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Jahrbuch
für
sexuelle Zwischenstufen
III. Jahrgang.
Der Berliner Sopransänger W. W.
(Nach eioer Photographie).'
Jahrbuch
für
sexuelle Zwischenstufen
mit besonderer Berüeksiehtlgrung: der
Homosexualität.
Herausgegeben
unter Mit^vi^kung namhafter Autoren
im Namen des
wissensehaftlieh-humanitären Comltöes
von
Dr. med. Magnus Hirschfeld,
prakt. Arzt in Charlottenburg.
III. Jahrgang.
Leipzig,
Verlag von Max Spohr.
1901.
• •'
V -, .
Inhalts- Verzeichnis.
Neue Studien auf dem Gebiete der Homosexualität. Von
R. von Krafft-Ebing, Wien 1
1. Zum Verständnis der konträren Sexualempfindung 1
2. Ueber tardive Homosexualität .... 7
3. Zur weiblichen Homosexualität .... 20
Sind sexuelle Zwischenstufen zur Ehe geeignet? Von
Dr. M. Hirschfeld-Charlottenburg .... 37
Uranismus oder Päderastie und Tribadie bei den Natur-
Völkern. Von Dr. F. Karsch, Privatdozent, Berlin 72
Abgrenzung der Begriffe Päderastie und Tribadie 75
Abgrenzung des Begriffes Naturvölker
Tribadie bei den Natuvölkern
I. Die negerartigen Naturvölker
IL Die malayischen Naturvölker
in. Die amerikanischen Naturvölker
IV. Die Arktiker oder Hyperboreer
Päderastie bei den Naturvölkern .
I. Die negerartigen Naturvölker
II. Die malayischen Naturvölker
III. Die amerikanischen Naturvölker oder Indianer 112
IV. Die Arktiker oder Hyperboreer . 158
Schlusswort 175
Literatur 182
H. C. Andersen. Beweis seiner Homosexualität von
Alb. Hansen, Kopenhagen . . * . . 203
Elagabal. Charakterstudie aus der römischen Kaiserzeit
von Ludwig von Scheffler, Weimar ... 231
Oskar Wilde. Ein Bericht von Dr jur. Numa Prätorius 265
82
85
85
88
oder Indianer 88
89
89
89
105
- Viil -
Oskar Wilde's „Dorian Gray." Von Johannes Qaulke. 2ti
Die Wahrheit über mich. Selbstbiographie einer
Konträrsexuellen 292
Wie ich es sehe. Von Frau M. F. .308
Vom Weibmann auf der Bühne. Eine Studie v. D r. m e d. W. S. 313
Die Bibliographie der Homosexualität für das Jahr 1900,
sowie Nachtrag zu der Bibliographie des ersten und
zweiten Jahrbuches. Von Dr. jur. Numa Prätorius. 326
Der Prozess von Georges Eekhoud wegen seines Romanes
„Escal-Vigor« 520
Zeitungsausschnitte 526
Jahresbericht 1900 598
Zeichner von Jahresbeiträgen 610
4. Abrechnung bis 31. Dezember 1900 .611
Verzeichnis der Abbildungen.
Berliner Sopransänger W. W Titelblatt
Ein Ehepaar 64
Beschäftigung der Hermaphroditen in Florida . . .116
Der Dichter H. C. Andersen 202
Büste Elagabals 232
Oskar WUde 266
Murray Hall, man-woman 584
Neue Studien auf dem Gebiete
der Homosexualität
i ' ' '
von.
R. von Kpaflft-Ebingr (Wien).
1.
Zum Verständnis
der konträren Sexualempfindung.
Als die medizinische Wissenschaft begann, sich ernst-
lich mit konträrer Sexualität, als einer Perversion des ge-
schlechtlichen Fühlen» zu beschäftigiBn und sie von bioser
Perversität (d. h. bei mangelndem Geschlechtsgeftihl
Personen des eigenen Geschlechts gegenüber erfolgende
sexuelle Akte an solchen, aus seiner Ziele und Zweckp
noch unklarem geschlechtlichem Drang im Stadium eines
noch nicht differenzierten Geschlechtsgefühls — bei jungen
Leuten, aus Eigennutz — bei männlichen Hetären, aus
sexualem Kitzel — bei verkommenen Wüstlingen, aus über-
grosser Libido — bei hypersexualen sonst normalen Menschen
faute de mieux) zu unterscheiden, da erschien die homo-
isexuale Perversion selbst dem ärztlichen Forscher als eine
solche Monstrosität, dass er sie als eine psychopathische
Erscheinung auffassen zu müssen glaubte.
Casper (Klinische Novellen 1863) hatte sich darauf
beschränkt zu erklären, dass es sich -hier um einen , wunder-
baren dunklen unerklärlichen angeborenen Drangt handle.
Jahrbuch III. \
— 2 —
Westphal (Archiv für Psychiatrie II), der die Anomalie
ebenfalls als eine angeborene erklärte, wobei aber der
Träger derselben das Bewusstsein ihrer Krankhaftigkeit
besitze, liess es unentschieden, ob sie Symptom eines neuro-
oder eines psychopathischen Zustandes sei oder als isolierte
Erscheinung vorkommen könne.
Die folgende wissenschaftliche Forschung hat für
alle diese von Westphal vorgesehenen Möglichkeiten Be-
lege beigebracht, ist aber immer deutlicher zur Erkennt-
nis vorgedrungen, dass die konträre Sexualempfindung an
und für sich keine Krankheit, sondern nur eine Anomalie
bedeutet und dass eventuell zugleich mit ihr vorfindliche
Neuro- und Psychopathien aus gleicher Quelle (Belastung
meist hereditäre) entstammende oder auch direkt oder in-
direkt, psychisch oder körperlich durch die konträre
Sexualempfindung vermittelte neurotische oder psychische
Krankheitszustände sind. Damit nähert sich die wissen-
schaftliche Erkenntnis dem Standpunkt der konträr
Sexualen selbst, die nicht müde wurden, im Gegensatz zu
den Anschauungen der Forscher zu betonen, dass ihre
eigenartige Geschlechteempfindung zwar im Widerspruch
mit der der übergrossen Majorität ihrer Geschlechts-
genossen sei und den Zwecken der Natur nicht ent-
sprechend, gleichwohl in ihrem Bewusstsein als eine
adaequate, natürliche und damit berechtigte sich ihnen
darstelle.
Ulrichs u. A. gingen sogar soweit, die staatliche und
soziale Anerkennung der urnischen Liebe aus solchen
Gründen zu verlangen, selbst mit der Konsequenz einer
„Ehe" unter Homosexualen. Ein schlagenderer Beweis
für die Tiefe und Lauterkeit einer solchen Geschlechts-
empfindung seitens zahlreicher ernst zu nehmender Mit-
bürger, die sich als Märtyrer ihrer Organisation und ge-
sellschaftlicher Zustände fühlen, könnte nicht erbracht
werden. Als Correlat steht die Thatsache da, dass die
-4
— 3 —
meisten derselben Horror vor Personen des anderen Ge-
schlechtes empfinden und zu sexualen Akten nur mit
solchen des eigenen fähig sind. Was der § 175 verpönt,
erscheint ihnen geradezu natürlich und sittlich, was er
zulässt, widernatürlich und unstatthaft! Nach mannig-
fachen Irrtümern über Wesen und Bedeutung der k. S.
auf Grund einseitiger psychologischer Auffassungen hat
sich wissenschaftlich die Ueberzeugung herausgebildet,
dass nur entwicklungsgeschichtliche, anthropologische, bio-
logische Thatsachen hier den Weg des Verständnisses
erschliessen können. Man hat sich davon überzeugt, dass
die k. 8. die Verletzung eines empirischen Naturgesetzes
darstellt, nach welchem die Geschlechtlichkeit eine mono-
sexuale ist und die psychische Artung des Geschlechts-
lebens (Gefühl, Trieb) conform der Art und Entwicklung
der Anlage der Keimdrüsen sich vollzieht, sodass der
Mann nach erreichter Geschlechtsreife ausschliesslich vom
Weibe, dieses vom Manne sinnlich sich angezogen fühlt.
Dasselbe gilt für die körperlichen Geschlechts-
charaktere, die sich dem Typus des männlichen resp. des
weiblichen Körpers entsprechend herausgestalten, je nach-
dem Hoden oder Ovarien sich aus der embryonalen bi-
sexuellen Anlage entwickelt haben. Unter dem Einfluss
noch recht dunkler Störungen, welche die empirisch ge-
setzliche Entwickelung aus der foetalen Existenz eines
Wesens zur monosexualen und der Keimdrüse kongruenten
geschlechtlichen Persönlichkeit erfährt, kann es nun ge-
schehen, dass die bisexuelle Anlage sich behauptet und
doppelseitig sich entwickelt, wobei aber regelmässig die
der Keimdrüse konträre (cerebrale) psychische Anlage
mehr ausgebildet ist als die homologe (psych. Herma-
phrodisie) oder dass gar die vermöge der Keimanlage
zur Entwicklung praedestinierte untergeht und statt ihrer
sich die psychischen (Geschlechtsgefühl, Geschlechtstrieb^
Charakter etc.) und eventuell auch körperlichen gegen-
1*
— 4 —
sätzlichen Geschlechtscharaktere entwickeln und behaupten
(konträre Sexualempfindung).
Die begreifliche Folge ist dann die, dass in solchem
Fall ein vermöge seiner primären Geschlechtscharaktere
(Hoden, Genitalien) als Mann anzusprechendes Individuum
leibliches Geschlechtsgefühl und damit ausschliesslich
Inclination zu sexuellem Umgang mit Personen des eigenen
Geschlechtes hat und umgekehrt Weiber (Scheinweiber,
weil sie männliches Geschlechtsgefühl haben und von
den psychischen und körperlichen Geschlechtscharakteren
des Weibes angezogen werden) zu Weibern.
Es ergeben sich innerhalb dieser anormalen Artung
Nuancen, Gradstufen, insofern blos das konträre Ge-
schlechtsgefühl entwickelt ist (Homosexualität) oder alle
psychischen Geschlechtscharaktere konträr geartet sind
(Effeminatio — Mann, Viraginität — Weib) oder daran
sogar die körperlichen Geschlechtscharaktere beteiligt
sind (Androgynie — Mann; Gynandrie — Weib).
Mit dieser Erkenntnis nähert sich die wissenschaft-
liche Auffassung des Problems den Anschauungen, welche
Ulrichs u. A., selbst Effeminierter, s. Zeit dem Wesen des
Uranismus entgegenbrachte, indem er von einer ^Anima
muliebris in corpore virili inclusa** allen Ernstes sprach.
Als Laie vermochte er sein weibliches Empfinden nicht
anders zu deuten. Hätte er erklärt, dass das Geschlechts-
gefühl, überhaupt das ganze Empfinden des Mannes (als
Scheinmann, re vera Weib) weiblich sein könne und da-
durch Personen des eigenen Geschlechtes zugewendet, so
wäre man eher zu einem gegenseitigen Verständnis ge-
langt und hätte die Schriften Ulrich's gelesen, die als
Anschauungen, Erfahrungen, Gefühle eines Weibmannes,
dazu eines gebildeten und wahrheitsliebenden, für die
Forschung auf diesem Gebiet nicht gering veranschlagt
werden dürfen.
— 5 —
Der ErkeDntnis gegenüber,- dass die k. S. eine ein-
geborene Anomalie, eine Störung in der Evolution des
Geschlechtslebens qua monosexualer und der Artung der
Geschlechtsdrüsen congruenter seelisch-körperlicher Ent-
wickelung darstellt, lässt sich der Begriff der , Krank-
heit" nicht festhalten. Viel eher kann man hier von
einer Missbildung sprechen und die Anomalie mit körper-
lichen Missbildungen, z. B, anatomischen Abweichungen
vom Bildungstypus in Parallele stellen. Damit ist aber
der Annahme einer gleichzeitigen Psychopathie nichts
praejudiziert, denn Personen, welche derartige anatomische
und auch funktionelle Abweichungen vom Typus (Stig-
mata degenerationis) darbieten, können zeitlebens psychisch
gesund bleiben, ja selbst überwertig sein. Immerhin wird
ein so schwerwiegendes Ausderartschlagen, wie die ver-
kehrte Geschlechtsempfindung, eine viel grössere Be-
deutung für die Psyche haben, als so manche anderweitige
anatomische oder funktionelle Entartungserscheinung. So
erklärt es sich wohl, dass die Störung in der Entwick-
lung eines normalen Geschlechtslebens öfters der Ent-
stehung eines . bestimmten und festen Charakters, der
Entwicklung einer harmonischen psychischen Persönlich-
keit abträglich werden kann.
Nicht selten stösst man bei konträr Sexualen auf
neuropathische und psychopathische Veranlagungen, so
z. B, auf konstitutionelle Neurasthenien und Hysterien, auf
mildere Formen periodischer Psychose, auf Entwicklungs-
hemmungen psychischer Energien (Intelligenz, moralischer
Sinn) unter welchen besonders die ethische Minderwertig-
keit, namentlich wenn zugleich Hypersexualität vorhanden
ist, zu den schwersten Verirrungen des Geschlechtstriebes
führen kann. Immerhin kann man nachweisen, dass,
relativ genommen, die Heterosexualen viel grössere Cyniker
zu sein pflegen, als die Homosexualen.
Auch weitere Entartungserscheinungen auf sexuellem
— 6 —
Gebiet in Gestalt von Sadismus, Masochismus^ Fetischis-
mus finden sich ungleich häufiger bei den Ersteren.
Alle diese Erscheinungen sind jedenfalls der konträren
Sexualempfindung an und für sich nicht zukommende,
sondern ihr koordinierte und aus der gemeinsamen Quelle
der Belastung herzuleitende.
Das Gleiche gilt für eine besondere Art des Feti-
schismus — die von mir so genannte Paedophilia erotica.
Auch diese finde ich häufiger bei Hetero- als Homo-
sexualen. Es ist eine Fabel oder eine Verleumdung, dass
der Konträrsexuale als solcher der Jugend gefährlich
wird. Es ist dies ebenso wenig annehmbar als beim
Heterosexualen an und für sich, denn die Homosexuali-
tät ist ein Aequivalent der Heterosexualität und der Ge-
schlechtstrieb des erwachsenen normalen Heterosexualen
niemals auf das Unreife gerichtet
Als die Bedingung für Paedophilia vera erscheint
ein besonderer fetischistischer Zwang, eine eigenartige
Perversion der Vita Sexualis. Ausserhalb dieser Per-
version besteht die Möglichkeit, dass ein Imbeciller oder
ein Senil- oder paralytisch Verblödeter, ein in einem
epileptischen oder sonstigen psychischen Ausnahmszustand
Befindlicher sich an der Jugend vergreift Dass die kon-
träre Sexualempfindung an und für sich nicht als psych-
ische Entartung oder gar Krankheit betrachtet werden
darf, geht u. A. daraus hervor, dass sie sogar mit geist-
iger Superiorität vereinbar ist. — Beweis dafür Männer
bei allen Nationen, deren konträre Sexualität festgestellt
ist und die gleichwohl als Schriftsteller, Dichter, Künstler,
Feldherrn, Staatsmänner der Stolz ihres Volkes sind.
Ein weiterer Beweis dafür, dass die konträre Sexual-
empfindung nicht Krankheit, aber auch nicht lasterhafte
Eingabe an das Unsittliche sein kann, liegt darin, dass
sie alle die edlen Regungen des Herzens, welche die
heterosexuale Liebe hervorzubringen vermag, ebenfalls
— 7 —
entwickeln kann — in Gestalt von Edelmut^ Aufopferung,
Menschenliebe, Kunstsinn, eigene schöpferische Thätig-
keit usw., aber auch die Leidenschaften und Fehler der
Liebe (Eifersucht, Selbstmord, Mord, unglückliche Liebe
mit ihrem deletären Einfluss auf Seele und Körper usw.)
Auf Grand dieser Thatsachen lässt sich annehmen:
1. Konträre Sexualempfindung ist eine gänzlich un-
verschuldete, weil durch Stönmg des Waltens
empirischer Naturgesetze begründete, Erscheinung.
2. Sie verdient Mitleid, nicht aber Verachtung, gleich
jeder anderen Missbildung oder Funktionsstörung.
3. Ihr Vorhandensein präjudiziert nicht der An-
nahme einer Ungetrübtheit der seelischen Funk-
tioneu, istmitnormaler geistiger Funktion verträglich.
2.
Ueber tardive Homosexualität.
Es geschieht zuweilen, dass homosexuelle Empfind-
ungen und Antriebe erst im späteren Leben auftreten,
als anscheinend erworbene, nach Umständen als gezüch-
tete Anomalie, während in der Regel die konträre Sexual-
empfindung schon pubisch oder selbst praepubisch zu Tage
tritt. Ein sorgfältiges Studium dieser hinter den ange-
borenen numerisch stark zurückbleibenden Fälle hat mir
folgendes ergeben:
1. seltene Fälle von tardiver Entwickelung des
Sexuallebens überhaupt, bei übrigens als primäre und an-
geborene Anomalie feststellbarer konträrer Sexualität.
2. Fälle von sog. psychischer Hermaphrodisie, in
welcher Wille und sittliche Widerstandskraft zu Gunsten
der (immerhin schwachen) heterosexualen Veranlagung
den Geschlechtstrieb im Sinne dieser ausschliesslich thätig
sein liessen, die Antriebe aus der konträren Veranlagung
™ 8 ^
zu reprimieren vermochten, bis aus äusseren Gründen
(Leidenschaft, Verführung, Ansteckung durch ein
Weib etc.) oder inneren (s. 3. Gruppe) jene eines Tages^
versagten und das konträre Geschlecbtsgebiet zur aus^
schliesslichen Herrschaft gelangen liessen.
Diese Gruppe ist jedenfalls die häufigste und wich-
tigste und nächst der folgenden, die für die Therapie
aussichtsvollste.
3. Diese Gruppe besteht aus mannigfachen, aus der
stärkeren oder geringeren Belastung, sich ergebenden
Uebergangsfällen zu heterosexual ursprünglich empfinden-
den Individuen, bei welchen allerdings zur Zeit der Ent-
wicklung des Geschlechtslebens die der Keimdrüse adaequate
cerebrale Organisation zur Herrschaft gelangt ist. Die
mangelhafte harmonische Entwicklung einer Heterosexuali-
tät bei diesen Existenzen giebt sich aber nicht blos
durch die folgende Katastrophe anlässlich geringfügiger
Anlässe kund, sondern auch durch Hinweise auf eine
nicht ganz zur Unterdrückung gelangte, mindestens latent
fortbestehende konträre Sexualität in Gestalt von verein-
zelten konträren körperlichen oder psychischen sekun-^
dären Gesohlechtscharßkteren, 4urch eventuell im Traum-
leben oder in psychischen Ausnahmszuständen z. B* im
Eausch zu Tage tretende Zeichen von Erregbarkeit der
sonst latenten konträren Sexualsphäre.
Niemals habe ich bei sog. erworbener, richtiger tar-
diver konträrer Sexualempfindung Hinweise auf eine bi-
sexuelle Veranlagung vermisst. Gewöhnlich bestand auch
ein abnorm starkes sexuelles Bedürfnis. (Hyperaesthesia
sexualis.)
Damit ein dergestalt ungünstig veranlagtes, d. b. mit
ungenügenden Streitkräften ausgestattetes, im Kampfe
um Hetero^ und Monosexualität nicht erstarktes Zentrum
eines Tages zu Gunsten des gegensätzlichen, bisher latent
gebliebenen depossediert wird und eventuell dauernid die
— 9 —
Herrschaft verliert, dazu bedarf es . aber bei dem über-
haupt Veranlagten einer , Reihe von weiteren seelischen
und körperlichen Schädigungen und nicht blos gering-
fügiger psychologischer Veranlassungen, die nur die Be-
deutung eines letzten Gliedes in der Kette der Ursachen
haben.
Gewöhnlich handelt es sich um belastete bypersexu-
ale Individuen von abnorm früh sich regenden Bedürf-
nissen, die schon .im frühen Kindesalter der Masturbation
verfallen. Bei solchen Belasteten, auch spinal wenig
Widerstandsfähigen, kommt es aber früh zu Neurasthenie.
Diese schwächt die ^Libido zuin anderen Geschlecht, ruft
psychische und phyöische Impotenz hervor jund Mangel
der Wollustempßndung (Anaphrodisie) beim geschlecht-
lichen Akt und drängt vom Weibe ab. In anderen Fällen
kommt dazu noch der üble Einfluss auf die Pgy^che in
Gestalt einer am Körper des Weibes erlittenen Infektion.
Immer wieder kehrt der sexuell abnorm Bedürftige zur
Masturbation zurück und fördert damit seine Neurasthenie,
die ihrerseits wieder schädigend auf Geist. und Körper
wirkt. In solchem Zustand physischen und moralischen
Unbehagens, auf dem Nullpunkt normaler geschlecht-
licher Empi^ndungsweise entwickelt sich nun aus seiner
bisherigen Latenz bei dem immer noch Libidinösen das
gegensätzliche sexuale Zentrum. Damit erwacht Ge-
schlechtsgefühl für das eigene Geschlecht und nun ver-
mag dann allerdings Verführung das letzte Glied in
der Kette der Ursachen abzugeben und eine neue Sexu-
alität zu schaffen. Hier hat die ärztliche Kunst Spiel-
raum insofern eine rechtzeitige Bekämpfung der Mastur-
bation und der Neurasthenie, eventuell unter Zuhülfe-
nahme suggestiver Behandlung die normale Sexualität
wieder herstellen kann, wobei allerdings die Gefahr be-
steht, dass jeweils mit Wiederkehr der alten Schädlich-
keiten neuerliche !Ekitgleisung erfolgt.
— 10 —
Immerhin sind dies die günstigsten Fälle für die
Therapie und hängt es im Allgemeinen nur von deren
rechtzeitigem Eingreifen^ ihrer Dauer und günstigen
äusseren Umständen ab^ um den Erfolg sicher zu stellen.
Da solche Fälle von , erworbener" Homosexualität
nicht sehr häufige noch seltener aber vorurteilsfrei beo-
bachtet sind^ lasse ich einige einschlägige Beobachtungen
hier folgen.
Beob. 1. Erworbene konträre Sexualempfindung.
Herr B., 32 J.^ Beamter^ seit 4 Jahren verheiratet,
Eltern angeblich unbelastet, Bruder Idiot, 2 Schwestern
hochgradig neuropathisch. B. war von Kindesbeinen an
schwächlich, nervös, emotiv, litt viel an Cephalaea, war
vom 16. Jahre ab, wo seine Vita sexualis erwachte, sehr
sinnlich, befriedigte sich zunächst durch Masturbation,
vom 17. Jahre an schon mit Coitus cum muliere, in dem
er häufig excedirte. Bis zum 26. Jahre hatte B. nur für
das Genus femininum Interesse und anlässlich Pollutionen
nur heterosexuelle Träume gehabt. Er erinnert sich, dass,
als ihn, etwa im 15. Lebensjahre, ein Kamerad verführen
wollte, er diesen nicht begreifen konnte und zurückwies.
Mit 25 Jahren hatte B. aus Neigung geheiratet. Seine
Frau ist eine frigide Persönlichkeit, verhielt sich ab-
stossend beim maritalen Verkehr. Ueberdies entdeckte er
bei ihr einen kleinen Schönheitsfehler, der ihn peinlich
berührte.
Sinnlich und auf seine Frau angewiesen, da er sich
nicht entschliessen konnte, sich Personen der demi-monde
zuzuwenden, forcirte er maritalen Coitus, in der Hoffnung,
die sinnliche Liebe der Frau zu erwerben.
Diese Hoffiiung erfüllte sich nicht. Der Coitus wurde
immer unbefriedigender, die Ejakulation trat tardiv und
ohne Wollustgefühl ein. B. wurde neurasthenisch, ver-
kehrte immer seltener cum uxore.
In dieser seelisch körperlichen Verfassung geschah
— li-
es ihm, dass er einen Soldaten erblickte, der sofort
seine Aufmerksamkeit fesselte. „Es war ein liebens-
würdiger junger Mann, der etwas Mädchenhaftes an sich
hatte''. Es zwang den B., sich diesem zu nähern und als
er dessen Hände berührte, fühlte er eine bisher nie ge-
kannte geschlechtliche Aufregung.
Von da ab war sein Interesse für das Weib fast er-
loschen. Er fand nur noch junge Männer hübsch und
begehrenswert, musste sich zusammennehmen, um solche
auf der Strasse nicht anzureden. Besonders gefährlich
waren ihm noch bartlose junge Männer von strammem
Körper und anständigem Aussehen. B. war sehr un-
glücklich über diese Entdeckung, die er peinlich tind un-
begreiflich fand. Er bemühte sich seinem Drang, sexuell
mit Männern zu verkehren, zu widerstehen, gab sich Mühe,
sich mit maritalem Coitus zu begnügen, suchte, als ihm
dies nicht gelang, zum Schutz gegen seine homosexualen
Antriebe, sexuellen Verkehr mit käuflichen Weibern auf,
fand aber dabei nicht die geringste Befriedigung mehr
und unterlag eines Tages seinem homosexuellen Drang.
Da blose Berührung seiner partes genitales durch Männer-
hand zur Ejakulation genügte, beschränkte er sich auf
Masturbatio passiva, die mit grossem sexuellem Genuss
verbunden war.
Nach solchem Akt empfand er aber Ekel vor der
Handlung und vor Demjenigen, der sich ihm hingegeben
hatte. Eines Tages, nach dem Zusammensein mit einem
jungen Mann, trat diese Ernüchterung aber nicht mehr ein.
B. verliebte sich sterblich in diesen Adonis und fand
Gegenliebe. Nachdem er alle Seligkeiten und Qualen
einer solchen Liebe durchgemacht hatte, erschrak er bezüg-
lich seiner Zukunft, zumal sein Genosse über diese unglück-
liche Richtung der Vita sexualis ebenso bestürzt war, wie
er. B. erkannte, dass ein solches homosexuales Verhältnis
der ßuin seiner Ehe und der B.uin seines Genossen sein
— 12 ^
müsste^ gewann es Über sich^ ihm zu entsagen^ erkannte
aber bald^ dass zu solchem Heroismus seine Kraft nicht
ausreichte und. wandte sich um Bat und Hilfe an den
Arzt. Bemerkenswert ist, da3 die homosexualen Ent-
gleisungen des B. regelmässig mit Exacerbationen seiner
Neurasthenie zusammengefallen waren. Energische Wach-
suggestionen und antineurasthenische Behandlung waren
die ärztlichen Massregeln.
B. ist eine stattliche, durchaus yirile Erscheinung»
Ausser massiger Neurasthenie bietet er seelisch imd
körperlich nichts Bemerkenswertes;
Beob. 2, L. 31 J. von an Hemicranie leidender
nervöser Mutter normal geboren, von Kindesbeinen , auf
selbst nervös, hat eine treffliche Erziehung genossen.
Vom IJ. Jahre ab litt er einige Zeit an Chorea. Im
14. Jahre verführte ihn ein Schulkamerad zur Onanie.
Von der Pubertät ab kamen zeitweise depressive
Stimmungen ohne allen Grund über ihn,, die wohl al&
milde Anfälle periodischer Melancholie zu deuten sind
und auch neuerlich wiederkehren, aber nach aussen hin
beherrschbar sind. Vom 17. Jahre ab, als seine- Kameraden
junge Damen anzuschwärmen begannen, wunderte er sich
stets, dass er kein rechtes Interesse für das weibliche Ge--
schlecht empfand. Er verweilte lieber in der Gesellschaft
von jungen Männern, aber ohne jegliche geschlechtliche
Neigung zu solchen.
Auf der Universität konnte er sich nicht entschliessen^
dem Beispiel der Anderen zu folgen und das Bordell zu
besuchen. Er zog sich dadurch manchen Spott zu. Zum
Teil um seine Onanie loszuwerden, versuchte er vom 20.
Jahre ab Coitus cum puella, hatte normale Erection aber
präcipitirte Ejaculation, empfand gar keinen Genuss beim
sexuellen Akt, sodass er es vorzog seinen Detumescenz-
trieb durch Masturbation zu befriedigen. Er wurde neu-
rasthenisch, erkannte als Ursache die Masturbation, suchte
— 13 —
sie thunlichst zu unterdrückeD, was ihm auch^ da sein
gesohlechtliehes Bedürfnis kein grosses war^ oft längere
Zeit gelang. In eine solche Episode gebesserter Neu-
rasthenie fiel eine Nöigüng zu einer jungen Dame. Sie
war aber nicht tief und verflüchtigte sich mit der Abreise
der Betreflenden. Vom 23. Jahr ab fingen' hübsche junge
Männer . an ihn zu interessieren. Er suchte ihre Gesell-
schaft auf, will aber damals noch keine sinnlichen Neig-
ungen zu ihnen gefühlt haben; Sein geschlechtlicher
Verkehr mit dem anderen Geschlecht beschränkte sich
zu jener Zeit auf seltene Cohabitationen, wobei ihn zwar
puella nuda einigermassen reizte, aber der Akt als solcher
nach wie vor ohne Befriedigung blieb. Das Interesse am
Weib schwand immer mehr. Nun erwachte Geschlechts-
gefühl gegenüber dem Manne und die Sehnsucht mit
Personen des eigenen Geschlechts sexuell zu verkehren,
die er mühsam bekämpfte. Mittlerweile hatte Z. sein
Domizil in der Grossstadt genommen. Dort fiölen ihm
bald die männlichen Hetären auf. Es trieb ihn förmlich
zu solchen und an Orte, wo sie sich hiBrum trieben. Nach
qualvollen Kämpfen erlag er, empfand momentan
die höchste Wollust, dann aber Scham über seinen
Fehltritt, wurde über diesen Gemütsbewegungen und durch
Surmenage, das er sich auf erlegte, um nicht rückfällig zu
werden, wohl auch durch Masturbation, schwer neu-
rasthenisch. Längerer Aufenthalt in einer Wasserheil-
anstalt wirkte günstig. Heimgekehrt vermochte er sich
längere Zeit durch intensive geistige Arbeit von aller
Sinnlichkeit frei zu halten und sein seelisches Gleich-
gewicht zu behaupten.
Eine Neigung zum Weibe stellte sich gleichwohl
nicht ein. Als der Geschlechtstrieb sich wieder stärker
regte, zwang er sich zum Umgang mit weiblichen Hetären
aber mit dem gleichen Erfolg wie früher. Nun kam eine
Zeit, wo ,, trotz fürchterlicher Gewissensbisse und des
— 14 —
Gefühls der tiefsten Erniedrigung und Selbstveraohtung''
sich die homosexualen Uebertretungen mehrere mal wieder-
holten. Da lernte er einen jungen Mann kennen, dessen
Freundschaft reinigend und erhebend auf ihn wirkte.
Die 9 unsauberen Gedanken* traten in dessen Gegenwart
ganz in den EKntergrund.
Z. fühlte sich beglückt^ veredelt in dessen Nähe.
Dieser Verkehr dauerte durch Wegzug des Betreffenden
nur kurze Zeit. Nun folgte eine Periode stark sinnlicher
Erregung, erfolgloser Versuche apud feminas und durch
Masturbation sich vor Rückfällen in homosexualen Ver-
kehr zu schützen, Flucht auf das religiöse Gebiet^ Versuch
ablenkender Berufsarbeit — Alles erfolglos. Mit exa-
cerbirender Neurasthenie homosexuelle Orgien, dannl^iebes-
Verhältnis mit einem jungen Mann. Dieses that moralisch
und physisch wohl. Z. wurde ruhiger und fing an seine
abnorme Vita Sexualis mit ßesignation und als ein krank-
haftes Etwas zu betrachten. Endlich versuchte er ärztlichen
Bat und Hilfe dagegen, was mir seine Bekanntschaft ver-
schaffte. Ich fand an ihm einen distinguierten, intellek-
tuell und ethisch hochstehenden Menschen, tief gebeugt
durch seine fatale Situation, durchaus viril, von normalen
Genitalien, ohne alle Degenerationszeichen, mit Erschein-
ungen allgemeiner Neurasthenie und riet zu Unterdrück-
ung der Masturbation, frugaler Lebensweise, Abstinenz
von Alkohol, Selbstzucht, Behandlung in einer Wasserr
heilanstalt, mit eventueller Zuhilfenahme einer Suggestions-
therapie.
Beob. 3. X. Jurist, 23 Jahr, von neuropathischen Eltern,
fing schon im 8. Jahre an sich für die Genitalien seiner
Gespielen zu interessieren, ohne sich geschlechtlicher Dinge
bewusst zu sein. Die Anteriora von Mädchen zu be-
schauen, kam ihm nicht in den Sinn. Eines Tages ent-
deckte er bei einem israelitischen Mitschüler ein be-
schnittenes Membrum, erfuhr den Sachverhalt und musste
— 15 —
von nun ab viel über die Beschneidung grübeln. Mit 13
Jahren erwachte seine Vita sexualis. Es war hypersexual,
masturbierte, besuchte seit dem 18. Jahr eifrig das Lupa-
nar, war potent, hatte aber nur sehr geringe Befriedig-
ung. Daneben Masturbation, die ihm mehr zusagte. Er
wurde neurasthenisch, hypochondrisch verstimmt, hatte eine
Zeit lang Lebensüberdmss, erkannte die Schädlichkeit der
Masturbation, bezwang sie eine Zeit lang, suchte Ersatz
beim Weib, ejaculierte aber zu früh, hatte auch gar keine
Befriedigung mehr und geriet wieder an Onanie^ die seine
Neurasthenie exacerbieren machte. Nun erwachte Interesse
an hübschen Männern, aber es war vorläufig ein blos
ästhetisches. Er besuchte fleissig öffentliche Bäder, um
ihres Anblickes teilhaftig zu werden. Glücklicherweise
nahte ihm kein Verführer. Er erkannte, dass er sexuell
auf Abwege gerate, zumal da es ihn zwang, an Anstands-
orten herumzulungern, um der Genitalien andrer Männer
ansichtig zu werden.
Erfolgreich gegen Masturbation ankämpfend, suchte
er neuerlich seinen Trieb im Lupanar zu befriedigen. Es
gelang ihm Coitus und er erzielte leidliche Befriedigung,
wenn er sich inter actum Genitalia virilia vorstellte.
Da er seiner Widerstandskraft gegen männliche
Attraktionen misstraute, suchte er ärztliche Hilfe. Unter
antineurasthenischer Behandlung und hypnotisch suggestiver
Kur mit dem Zweck, ihm Abscheu vor Masturbation und
vor Männerliebe einzupflanzen (Fat. erwies sich ziemlich
hypnotisierbar und suggestibel) gelang es, ihn dauernd von
homosexuellen Neigungen zu befreien und dem Weibe
gegenüber potent zu machen. Er coitierte seither ohne
Schwierigkeit und ohne in der Phantasie an membra
virilia denken zu müssen, mit ziemlicher Befriedigung.
Beob. 4. V. 23 Jahr, Privatbeamter, von hystero-
pathischem Vater und höchst nervöser Mutter, seit der
Kindheit mit Tic convulsif behaftet, als 12jähriger Knabe
— 16 —
von Kameraden zur Masturbation verführt, trieb sie seit-
Ler leidenschaftlich, selbst bis za dreimal an einem Tage,
coitierte seit dem 17. Jahre mit Potent, aber sehr geringer
Befriedigung. Er fühlte keine Neigung zum Weibe,
coitierte nur, um das auch mitzumachen, und fühlte sich
mehr befriedigt, weiin ihn die puella manustuprierte,
sowie durch tactus genitalium feminae. Seine Haupt-
befriedigung blieb solitäre Onanie. Vom 20. Jahr ab
wurde er neurasthenisch, anaphrodisisch im Umgang mit
dem Weibe, verrichtete auf Coitus und fühlte sich sehr
unglücklich, verstimmt, dabei von Pollutionen geplagt,
bei welchen anfangs auch Traumbilder von nackten noch
unentwickelten Mädchen, dann aber von mutuelle Mastur-
J)ation mit ihm vollziehenden Jünglingen sich einstellten.
In solcher Verfassung berührte eines Tages im Strassen-
gewühl ein junger Mann seine Genitalien. Sofort Erektion
und Ejakulation unter Wollustschauer. Von nun an
hatten nur noch etwa 18jährige junge Leute für ihn Reiz.
Es drängte ihn solche zu küssen, an sich zu drücken.
Er vermochte diesem Gelüste zu widerstehen, suchte und
fand Aufklärung über seine ihm selbst pathologisch er-
scheinende geschlechtliche Situation und war sehr ge-
tröstet, als er den Sachverhalt erfuhr. Pat. hat anatomische
Degenerationszeichen (verbildete Ohren etc.), die aber
grossenteils (verbildeter Schädel, Miss wachs der Zähne)
auf Bachitismus zurückgeführt werden konnten. Daneben
Tic, Neurasthenie. Genitalien normal gebildet. Pat.
wurde einer en^prechenden Behandlung zugeführt. Der
Erfolg derselben konnte nicht eruiert werden.
ßeob. 5. W. 28 Jahre, aus belasteter Familie, mit
12 Jahren von Kameraden zur Masturbation verleitet,
fröhnte ihr bis zum 19. Jahr und will oft Phantasien nach-
gehangen haben, er be&nde sich in der Gewalt kraftvoller
Männer, denjsa er in jeder Weise unterwürfig sein müsse.
Der sexuellen, speziell masochistischen Bedeutung solcher
— 17 —
Vorstellungen will er sich aber nicht bewusst gewor-
den sein.
Mit 19 Jahren wandte sich W. aus eigenem Antrieb
dem Weibe zu, coitierte mit Genuss, fühlte sich glück-
lich, so die Onanie los zu werden. Da kam das Ver-
hängnis in Gestalt einer Gonorhoe. Genesen, empfand er
Scheu vor derartigen ansteckenden Krankheiten, getraute
«ich nicht, den früheren Verkehr mit Hetären wieder
aufzunehmen, verfiel neuerlich in Onanie, wurde neu-
rasthenisch, entschloss sich, um von dieser Neurose los-
zukommen, das Lupanar wieder aufzusuchen, war aber
nun impotent und darüber untröstlich. In dieser seelisch
körperlichen misslichen Situation kamen wieder die
früheren homosexual masochistischen Phantasien aus der*
Pubertätszeit. Er hing ihnen nach, hatte auch bezügliche
Traumbilder zur Zeit von Pollutionen, fühlte sich immer
mehr zu kräftigen Männern geschlechtlich hingezogen und
erlag eines Tages der Verführung eines solchen.
Beob. 6. Erworbene konträre Sexualempfin-
dung. Unzucht wider die Natur. Keine Ver-
urteilung. Sanierung der Vita sexualis durch
ärztliche Behandlung.
Am 20. August 1898 wurde der 37 Jahre alte ledige
Handelsagent Z. in Haft genommen, weil gegen ihn der
begründete Verdacht sich ergeben hatte, dass er mit dem
Komptoiristen L. Unzucht wider die Natur durch gegen-
seitige Masturbation treibe.
Bei L. hatten sich Briefe vorgefunden, in welchen
Z. ihn als Gauner, Schuft, Scheusal in Menschengestalt,
als seinen bösen Dämon, Mitglied eines Ausbeuter-
konsortiums bezeichnet hatte. Gleichzeitig nannte er ihn
«einen lieben Freund, schilderte in überspannter Weise,
dass er ihn als seinen Schutzengel angesehen, für das
Heiligste auf Erden gehalten habe, für den 'er sein Ver-
mögen geopfert, da er ihn abgöttisch geliebt habe. Sich
Jahrbuch III. 2
— 18 —
selbst bezeichnet er als Unglücklichen^ am Abend seines
Lebens stehend^ dem Wahnsinne nahe. Seine Nervosität
steigere sich von Minute zu Minute — er müsse vor
seinem rasch zu gewärtigenden Tode noch mit L. ab-
rechnen, da er sich in ihm getäuscht habe.
In Haft und Verhören geberdet sich Z. wie ver-
zweifelt, weint fast beständig.
Ueber seine Familie, von der er mit 10 Jahren ge-
trennt worden, weiss er nur wenig zu berichten, unter
anderem, dass ein Bruder seines Vaters in der Irren-
anstalt starb. Er klagt über Vernachlässigung in seiner
Erziehung, habe als Kellner, seit 8 Jahren als Agent seine
Existenz gefunden, in den letzten Jahren viel Kummer
duröh einen Erbschaftsprozes^ gehabt, sei dadurch ina
Trinken geraten und habe immer weniger vertragen. Seit
der Kindheit leide er viel an Cephalaea. Seit Jahren
sei er immer nervöser, erregbarer geworden, seit Monaten,
schwer neurasthenisch.
Er will vom 16. Jahre ab in normaler Weise seinen-
Geschlechtstrieb befriedigt haben, bis er vor ungefähr
3 Jahren L. kennen lernte. Dieser habe ihn zu mutueller
Onanie verführt. Er sei ganz verliebt in L. geworden,,
habe alle Lust am natürlichen Geschlechtsverkehre ver-
loren und etwa einmal wöchentlich in L.'s Wohnung mit
diesem Unzucht getrieben. Er begreife jetzt gar nicht,,
wie diese Wandlung in ihm zu Stande gekommen sei.
Sichergestellt ist, dass diese Aenderung mit dem Beginne
der neurasthenischen Erkrankung des Z. zusammenfiel.
Er habe oft sich von L. losmachen \vollen, da dieser ihn
finanziell ruinierte, aber L., der, wie die Untersuchung
ergab, mit angeborener konträrer Sexualempfindung be-
haftet ist, habe durch Schmeicheleien oder auch durch
Drohungen mit gerichtlicher Anzeige ihn immer wieder
an sich zu fesseln gewusst.
Das Gutachten der Gerichtsärzte stellt schwere Neu-
— 19 —
rasthenie mit grosser psychischer Erregbarkeit, neuro-
pathische, respektive hereditäre Konstitution fest, dabei
sexuelle Hj^erästhesie und, daraus resultierend, abnorme
geschlechtliche Bedürftigkeit. Die erworbene Perversio
sexualis wird auf Belastung und Neurasthenie zurück-
geführt, der psychische Zustand des Z., so lange er im
Banne des L. sich befand, als pathologisch anerkannt und
die Unwiderstehlichkeit des Dranges zu geschlechtlichem
Verkehre mit L. zugegeben. Darauf wurde die Unter-
suchung gegen Z. und L. im November 1898 eingestellt.
Kaum aus der Haft entlassen, erwachte bei Z. die
frühere Leidenschaft zu L. wieder. Er verfolgte den L.,
der nichts mehr von ihm wissen wollte, mit unzüchtigen
Anträgen und drohte schliesslich, er werde L. erschiessen,
wenn dieser ihm nicht zu Willen sei. Schliesslich trieb
es Z. so toll, dass L. die Hilfe der Polizei gegen Z. an-
rufen musste.
Verhaftet behauptete Z., die Situation sei gerade um-
gekehrt. L. habe ihn neuerlich verführen wollen und er
sich vor ihm flüchten müssen. Durch Zeugen wurde aber
das Gegenteil konstatiert. So berichteten die Gerichts-
ärzte, dass Z. am zweiten Tage nach seiner Entlassung
aus der Haft höchst aufgeregt und angetrunken in ihrem
Bureau sich einfand, ganz verstört war, weinte und wie
verzweifelt sich geberdete, klagend, er könne von L., in
welchen er ganz verliebt sei, nicht lassen, man möge ihm
helfen.
Das neuerliche Gutachten konstatiert Zeichen von
Alkoholismus, schwere Neurasthenie. Psychisch wird Z.
charakterisiert als ein belasteter, äusserst überspannter,
leidenschaftlicher, von Eifersucht geplagter, seine krank-
haften Triebe und seine Affekte zu beherrschen unfähiger,
für die Bedeutung imd Folgen seiner Handlungsweise
einsichtsloser, in Affekt und Trunk geradezu gemein-
2*
— 20 —
gefährlicher Mensch, dessen Behandlung in einer Humani-
tätsanstalt dringend wünschenswert sei.
Am 24. Januar 1899 gelangte Z. auf meiner Klihik
zur Aufnahme.
Er bot psychisch nichts Auffälliges, beklagte seine
Leidenschaft für L. und war erfreut, als man ihm die
Möglichkeit einer Remedur in Aussicht stellte.
Seine Angaben quoad vitam sexualem ergänzte er da-
hin, dass ihn der Coitus cum muliere nie recht befriedigt
habe, dass er den homosexualen Verkehr weit vorziehe,
und dass dieser in Masturbatio mutua, coitus inter femora
aut in OS bestanden habe. In einer bestimmten sexuellen
Rolle habe er sich dabei nie gefühlt.
Die Isolierung in der Klinik, die Enthaltung von
Alkohol und antineurasthenische Behandlung wirkten sehr
günstig.
Im Februar und März versuchte man Suggestiv-
behandlung. Patient gelangte leicht in Engourdissement,
nahm Suggestionen contra Alkohol, Masturbation und
amorem praeternaturalem an, bot bei der Entlassung Mitte
März 1899 das Bild eines sittlich rehabilitierten und
körperlich wieder hergestellten Mannes. Die fernere Be-
obachtung ergab tadellose Lebensführung, normale Vita
sexualis und Abstinenz von Alkohol. (Eigene Beobachtung
in Jahrbücher für Psychiatrie.)
Zur weiblichen Homosexualität.
Ein noch wenig geklärtes Gebiet ist das der kon-
trären Sexualempfindung bei Frauen. Die Spärlichkeit
der bisherigen Casuistik verbürgt nicht die Seltenheit
der Erscheinung. Bedenkt man, dass eine Belastungs-
grundlage bei der konträren Sexualempfindung aetiologisch
— 21 —
das ausschlaggebende Moment ist und dass hereditär be-
lastende Einflüsse sich beim Weib ebenso geltend machen,
als beim Mann, so ist die Annahme gerechtfertigt, dass
konträre Sexualität qua Empfindung ebenso häufig
beim Weib vorkommen mag, als beim Mann. Da aber
beim normal sexualen Weib der Geschlechtstrieb nicht
so stark veranlagt zu sein pflegt als wie beim Manne und
die konträre Sexualität ein Aequivalent der normalen ist,
mag es geschehen, dass jene auf rudimentärer Stufe
vielfach bleibt, jedenfalls das konträr sexuale Weib
nicht so leicht in Not- und Zwangslagen bringt, wie sie
beim konträr sexual gearteten Mann an der Tagesordnung
sind. Schon darin liegt ein gewichtiger Grund, dass die
Anomalie beim Weib nicht oft zur Kenntnis kommt.
Noch wichtiger ist aber der Umstand, dass hier die
physische Fähigkeit zur Leistung des Coitus nicht be-
hindert ist, wie so häufig beim Manne, der durch psych-
ische Impotenz ex horrore feminae Erektion nicht er-
zwingen kann. Dazu kommt endlich, dass die homosexuale
Befriedigung unter Weibern nicht unter Straf drohung
steht, wie bei konträr sexualen Männern, womit öflfent-
liche Biosstellung durch Chantage und gerichtliche Ver-
folgung ausgeschlossen ist. Der deutsche Gesetzgeber
kennt bekanntlich nicht das Delikt der Sodomia ratione
sexus inter feminas begangen.
Es erklärt sich dies daraus, dass man bei der Ueber-
nahme des § 175 des deutschen Strafgesetzbuchs aus dem
früheren preussischen sich die Art des Delikts inter mares
nur als aktive und passive Paederastie dachte und da die
Genitalien des Weibes ein derartiges Delikt inter feminas aus
anatomischen Gründen ausschliessen, entfiel eine bezügliche
Straf drohung, ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Er-
findung der , beischlaf ähnlichen* Handlungen in der
neueren Judikatur als zum Thatbestand des Delikts inter
mares genügend, nicht dem Standpunkt des Gesetzgebers
— 22 —
entspricht, vielmehr eine unrichtige, ungerechte Inter-
pretation des § 175 darstellt.
Die unterlassene Einbeziehung der Weiber unter die
Strafdrohung des § 175 beruht auf zwei Irrtümern: 1. dass
der Akt inter mares Päderastie sei — eine, wie die heutige
Erfahrung lehrt, wenigstens bei Konträrsexualen nur ganz
ausnahmsweise Art der Befriedigung; 2. dass Weiber
unter einander sexual nicht deliktfähig seien.
Dies sind aber Weiber ebensogut als Männer, denn
physiologisch kommt es doch nur darauf an, dass durch
irgend einen sexualen Akt Orgasmus bis zur Ejakulation
und damit geschlechtliche Befriedigung hervorgerufen
werde.
Auch beim Weibe kommt es durch genügende Rei-
zung erogener Zonen zu einem der Ejakulation des
Mannes analogen Vorgang, und der diesen bewirkende
Akt wird damit zu einem Aequivalent des Coitus, ganz
abgesehen davon, dass durch Anwendung eines Priaps
der Geschlechtsakt dem natürlichen sehr sich nähern
kann. Die Reizung erogener Zonen geschieht beim Akt
inter feminas gewöhnlich durch Cunnilingus oder auch
durch frictio genitalium mutua, beides ^ beischlaf ähnliche"
Handlungen, wie sie die deutsche Strafrechtspraxis als
zur Statuierung des Delikts nach § 175 ausreichend er-
achtet.
Da erscheint die österr. Gesetzgebung konsequenter,
indem sie dieses Delikt auch inter feminas vorsieht.
Uebrigens scheint während der nunmehr halbhundert-
jährigen Wirksamkeit dieses Strafgesetzbuches niemals
ein Weib wegen eines homosexualen Deliktes unter An-
klage- gestanden zu sein, (in dem denkwürdigen Prozess
der Gräfin Sarolta geschah dies ja nur wegen Betrug
und Urkundenfälschung). Die öffentliche Meinung be-
trachtet in Oesterreich offenbar sexuelle Handlungen
inter feminas begangen nur als Handlungen contra bonos
- 23 —
mores, nicht aber contra leges. Nun sind aber Cunni-
lingus feminarum ganz analoge Akte wie die fellatio
inter viros, desgleichen die Tribadie ganz gleichstehend
den stossenden Bewegungen inter femora oder anderen
beischlafähnlichen Handlungen, wie sie bei Männern als
strafbare gelten.
Man kann der deutschen Gesetzgebung nnd nament-
lich der Rechtsprechung den Vorwurf nicht ersparen
dass sie inkonsequent, naiv und auf irrthümliche Voraus-
setzungen hin den § 175 schuf und ihn handhabt. Soll
man nun wünschen, dass der deutsche Gesetzgeber bei
«iner Revision dieses § die Deliktfähigkeit auch auf
Weiber ausdehne? Da scheint es doch vernünftiger, dass
er denselben eliminiert, denn die Gründe, welche den §
Männern gegenüber unhaltbar erscheinen lassen, können
auch Frauen gegenüber geltend gemacht werden.
Fragt man nach der Häufigkeit der lesbischen oder
sapphischen Liebe, so muss dieselbe nach allen neueren
Forschungen als sehr gross bezeichnet werden. Nament-
lich sollen es Bordelle, Gefängnisse, Pensionate und
aristokratische Kreise sein, in welchen derlei getroffen
wird.
In der Mehrzahl der Fälle scheint es sich aber nur
um Perversität, nicht um Perversion zu handeln. Es
kann nicht genug betont werden, dass geschlechtliche
Akte an Personen desselben Geschlechts an und für sich
durchaus nicht konträre Sexualität verbürgen. Von dieser
kann nur die Rede sein, wenn die physischen und psychischen
sekundären Geschlechtscharaktere einer Person des
eigenen Geschlechts Anziehungskraft für eine andere
haben und bei dieser den Impuls zu geschlechtlichen
Akten an jener hervorrufen.
Ich habe längst den Eindruck gewonnen, dass die
konträre Empfindung bei Weibern in der Anlage ebenso
häufig besteht als bei Männern, dass aber, da als Wirkung
— 24 —
von züchtender Erziehung der Geschlechtstrieb nicht die
dominierende Stelle spielt, wie bei Männern, da Ver-
führung in Gestalt mutueller Masturbation weniger an
das Mädchen herantritt, als an den Knaben, da der
Sexualtrieb des Weibes erst mit dem geschlechtlichen
Umgang sich entwickelt und dieser meist ein hetero-
sexualer ist — dass durch alle diese günstigen Umstände
die abnorme Veranlagung wirkungslos bleiben mag und
eventuell ihre Korrektur und Remedur durch den von
Gesetz und Sitte verlangten natürlichen Verkehr zwischen
Weib und Mann finden mag. Bestimmt lässt sich aber
annehmen, dass solche milde Fälle von unentwickelter
oder erstickter konträrer Sexualität eine erhebliche Quote
stellen zu jener Frigidät und Anaphrodisie als Dauer-
erscheinung, die so häufig bei Ehefrauen vorgefunden wird.
Ganz anders ist die Situation^ wenn die veranlagte
weibliche Person mit der weiteren Anomalie der Hyper-
sexualität belastet ist und dadurch an und für sich, oder
auch durch Verführung seitens Geschlechtsgenossinnen, zu
Masturbation und homosexualen Akten gelangt. In
solchen Fällen bestehen analoge Situationen, wie ich sie
oben beim Manne hinsichtlich erworbener konträrer Sexual-
erapfindung aus der Erfahrung geschildert habe.
Eine Veranlagung in Form der Bisexualität oder der
mangelhaften Fundierung einer der Entwickelung der
normalen Sexualität dienenden Einrichtung oder der kon-
trären Sexualität vorausgesetzt, lassen sich folgende Ent-
stehungsmöglichkeiten für homosexuelle Liebe anführen:
1. es besteht Hypersexualität, die zur Automastur-
bation drängt. Diese führt zu Neurasthenie mit
deren Folgen, so zur Anaphrodisie bei natürlichem
Geschlechtsverkehr, bei fortbestehender Libido.
2. auf gleicher Grundlage (Hypersexualität) kommt
es zu homosexuellem Verkehr faute de mieux
(Gefängnisinsassen, Töchter höherer Stände, die
— 25 —
vor Verführung durch Männer gehütet smd oder
vor Gravidität zurückschrecken). Diese Gruppe
ist die zahlreichste. Oft sind weibliche Dienst-
boten die Verführerinnen, gelegentlich auch kon-
trärsexuale Freundinnen und selbst Lehrerinnen
in Pensionaten.
3. Es handelt sich um Ehefrauen impotenter Männer,
die blos zu reizen, nicht aber zu befriedigen ver-
mögen und Libido insatiata, Nachhilfe mit Mas-
turbation, Pollutiones feminae, Neurasthenie imd
endlich Ekel vor dem Coitus, überhaupt dem
Verkehr mit Männern herbeiführen.
4. Prostituierte von grosser Sinnlichkeit die, ange-
widert von dem Umgang mit perversen oder im-
potenten Männern, von denen sie zu den abscheu-
lichsten geschlechtlichen Akten missbraucht wer-
den, sich zu sympathischen Personen des eigenen
Geschlechts flüchten und an ihnen sichregressieren.
Solche Fälle von vermeidbarer, weil gezüchteter k.
S., sind bei Weibern dieser verschiedenen Kategorien
überaus häufig.
Dass aber auch originäre Fälle von k. S. beim weib-
lichen Geschlecht nicht selten sind, geht teils aus der
bisher gesammelten Kasuistik hervor, teils aus der All-
tagserfahrung. Wer aufmerksam die Damen in der Gross-
stadt betrachtet, findet gar häufig Persönlichkeiten, die
durch kurze Haare, mehr männlichen Zuschnitt der Ober-
kleider etc. des üranismus verdächtig erscheinen.
Unvergesslich ist mir eine Dame von mehr harten
Gesichtszügen, sehnig muskulösem Bau, schmalem Becken,
männlicher Gehweise, die kurzgeschorene Haare trug
einen Männerhut, Zwicker, Herrenpaletot und Stiefel mit
Absätzen. Nähere Nachforschungen ergaben, dass sie
eine nicht untalentierte Malerin sei, die trank und rauchte
trotz einem Studenten, nur männlichen Sport liebte, aus-
— 26 —
schliesslich in Damengesellschaft sich bewegte, in welcher
sie wegen ihrer virtuosen Fähigkeit, zum Klavier pfeifend
sich zu begleiten, beliebt war. Auch Schauspielerinnen
und Operettensängerinnen sind nicht so selten Konträr-
sexuale, besonders solche, die in Hosenrollen brillieren,
denn hier sind sie in ihrem Element und spielen ihren
wahren d. h. männlichen Charakter.
Da die Kasuistik weiblicher konträrer Sexualität noch
dürftig ist, kaum 50 Fälle erreicht, als Vergleich mit
männlicher von grosser Bedeutung ist, lasse ich hier einige
prägnante Fälle folgen :
Beob. 1. Erworbene konträre Sexualempfin-
dung. Frau Z. Dame aus der höheren Gesellschaft,
40 Jahre, lernte ich 1897 in einem Sanatorium kennen.
Ueber die Gesundheitsverhältnisse der Eltern war nichts
Sicheres zu erfahren. Die Dame hat Spuren von Rachitis
am Schädel, keine anatomischen Degenerationszeichen,
war von Kindheit auf schwächlich, nervös gewesen, hatte
sich geistig und körperlich normal entwickelt, von der
Pubertät ab ein sinnliches Temperament gezeigt, aus-
schliesslich heterosexual empfunden, aber erst mit 29 J.
aus Familienrücksichten eine Ehe geschlossen. Der Mann
erwies sich impotent, Frau Z. wurde nur gereizt, nicht
aber befriedigt, half sich mit Onanie, wurde neurasthenisch,
schloss sich an eine Freundin an, fühlte sich mit der
Zeit geschlechtlich zu ihr hingezogen, empfand beim
Küssen und Liebkosen derselben Orgasmus und Befrie-
digung. Nach Entfernung dieser Freundin trat eine Ver-
wandte an deren Stelle. Wittwe geworden, verkehrte
Frau Z. nur mehr in Damenkreisen. Sie verliebte sich
in ihre Gesellschafterin. Ueber Liebkosungen ging der
Verkehr nicht hinaus. In einer bestimmten geschlecht-
lichen Rolle dachte sie sich nicht dabei. Nebenher excessive
Masturbation, wobei Fat. sich das Bild geliebter weib-
licter Personen vorstellte. Hie und da Pollutionen, von
— 27 —
ebensolchen Traumbildern begleitet. Wiederholte Kuren
in Wasserheilanstalten mit Zuhilfenahme von Suggestions-
behandlung, die tiefes Engourdissement erzielte. Temporäre
Beseitigung von Onanie und Besserung der Neurasthenie,
womit jeweils die heterosexuale Empfindungsweise wieder-
kehrte. Eine energisch während Monaten durchgeführte
derartige Behandlung erzielte endlich ein defiinitives Ke-
Bultat. Die homosexuale Empfindung machte einer
dauernden heterosexualen Platz. Pat. trug sich mit Ge-
danken zu heiraten, kam aber vernünftigerweise wieder
davon ab. Das gute Befinden hat sich seit Jahren er-
halten, obwohl es noch ab und zu zu Rückfällen in
Masturbation kam.
Beob. 2. Psychische Hermaphrodisie. Frl. X.,
36 Jahre, von hysteropathischer Mutter, hat in ihrer
Blutsverwandtschaft mehrere neuro- und psychopathische
Angehörige. Ein Bruder war irrsinnig in einer Anstalt.
Pat. hat leicht rachitisch hyderophalen Schädel von
55 Cf, ist von durchaus weiblichem Typus und ohne
anatomische Degenerationszeichen. Mit 13 Jahren Puber-
tät. Von da ab trieb das sinnlich veranlagte Mädchen
Masturbation. Ein ausgesprochenes Geschlechtsgefühl
bestand damals noch nicht. Sie wurde bald neurasthenisch
und nach einem psychischen Shok mit 15 Jahren schwer
hysteropathisch; mit 16 Jahren erwachte eine decidierte
ausschliessliche Neigung zum eigenen Geschlecht. Sie
verliebte sich in Freundinnen, später in die eigene einige
Jahre ältere Schwester. Erotische Träume, gelegentlich
von Pollutionen begleitet, hatten nur Amplexus feminarum
zum Inhalt. Es genügten ihr Küsse, brünstige Umar-
mungen von Geschlechtsgenossinnen. Es geschah zuweilen,
dass sie durch brünstige^ stürmische Liebkosungen sol-
cher unliebsames Aufsehen erregte. Mit 22 Jahren erster
Anfall einer schweren hysterischen Psychose mit mehr-
monatlichem Aufenthalt in einer Heilanstalt. Von dieser
— 28 —
genesen und von neurastheniscben Beschwerden ziemlich
befreit, hatte sie zum erstenmal in ihrem Leben Inclination
zu Männern. Sie war schon halb und halb entschlossen^
eine von ihrer Mutter dringend gewünschte Ehe einzu-
gehen. Da sie aber fühlte, dass sie doch nicht solche
Neigung zum Mann empfand, wie sie das Weib empfinden
müsse, Angst vor dem ehelichen Verkehr mit einem
Manne hatte und einen solchen nicht unglücklich machen
wollte, lehnte sie eine Heirat ab. Sie geriet bald wieder
auf konträrsexuale Bahnen unter dem Einfluss von Onanie
und Neurasthenie, entwickelte sogar mit 26 Jahren Trans-
formationsgefühle, indem es ihr vorlram, ihre Genitalien
bildeten sich zu männlichen um, sie harne wie ein Mann,,
wandle sich geistig und leiblich in einen solchen um.
Auch empfand sie gar keine Scham mehr in Gegenwart
eines Mannes Toilette zu machen, während sie sich vor
einem Weibe genierte. Diese Transformation schritt aber
nicht weiter vor, im Gegenteil kamen wieder Episoden,
in welchen sie mit Besserung ihrer Hysteroneurasthenie
in Kuranstalten wieder heterosexual empfand, das ganze
Gebiet homosexualer Empfindungsweise zurücktrat, Pat.
sich in Aerzte verliebte und ernstlich ans Heiraten dachte.
Diese Coincidenz von gebesserter Neurose mit Wieder-
kehr von HeteroSexualität wiederholte sich noch mehr-
mals, sodass an zufälliges Zusammentreten nicht gedacht
werden konnte.
Ein schwerer neuerlicher Anfall von hysterischer
Psychose, der viele Monate dauerte, brachte Patientin
in meine ständige Behandlung. Bemerkenswert war, das&
während dieser Psychose homo- und heterosexuale Ge-
fühlskreise förmlich um die Herrschaft kämpften, dass
eine nymphomanische Episode ausschliesslich in hetero-
sexualem Gebiete sich abspielte.
Von der Psychose genesen, wurde Patientin einer
dauernden antineurasthenischen und suggestiven Kur
— 29 —
unterworfen. Der Erfolg war ein sehr befriedigender,
insofern es gelang MasturbatioQ und konträre Sexualität
dauernd zu bannen, sodass Patientin, die glücklicherweise
auch von neuerlichen Psychoseanfällen verschont blieb,
ihre Hysteroneurasthenie losgeworden ist und ihre volle
Selbstbeherrschung wieder gewonnen hat, von ihrer zu
dem mit den Jahren abgeklungenen Sinnlichkeit nicht mehr
belästigt wird und anstandslos in der Gesellschaft ver-
kehrt. Nur menstrual und im Traumleben erscheinen
gelegentlich noch Andeutungen der früheren konträren
Sexualempfindung.
Beob. 3. Homosexualität. Eines Tages wurde
ich zu einer Familie gerufen deren 18jährige Tochter
Elsa wegen der Trennung von einer geliebten 19jährigen
Freundin Franziska gemütskrank geworden sei, die Nah-
rung weigere und energisch Fluchtversuche mache, um
wieder zur in der Provinz weilenden Freundin zu ge-
langen. Die Eltern fanden die Freundschaft dieser beiden
Mädchen sonderbar, da dieselben einander glühende
Liebesbriefe schreiben, einander anschmachten, beständig
nur mit einander allein sein wollen, sich stürmisch küssen
und umarmen und jeden gesellschaftlichen Verkehr mit
jungen Herren meiden.
Von Elsa wurde mir berichtet, dass sie von Kind-
heit eigentümlich, leutescheu, exzentrisch, nervös gewesen
sei, immer nur Bücher 'lesen wollte. Sie habe nie Tanz-
unterhaltungen mitmachen wollen. Die beiden Mädchen
hätten dieselbe Schule besucht, sich immer inniger be-
freundet. Im letzten Jahre sei Franziska durch ihre
Eifersucht, wenn Elsa mit anderen Mädchen verkehrte,
auffällig geworden. Auch dass dieselbe mit einem Herrn
tanze, wollte sie nicht leiden. Das „Freundschaftsverhält-
nis'^ sei schliesslich so exaltiert geworden, dass man die
beiden jungen Damen trennen musste. Ich fand in Elsa
eine gut gewachsene durchaus weiblich geartete Person-
— 30 —
lichkeit vor, ohne alle DegeneratioDSzeichen. Sie war
sehr gereizt gegen die Eltern, erklärte mit allen Mitteln
die Wiedervereinigung mit der Freundin anzustreben,,
ohne welche sie nicht leben könne. Sie ^sse sich nicht
hindern, das Urteil der Welt geniere sie nicht Sie werde
nie heiraten, hasse die Männer, wolle zeitlebens mit der
gleichgesinnten Freundin in separatem gemeinschaftlichen
Haushalt leben. Sie sei nicht für eine Ehe geschaffen,,
habe noch nie irgend eine Neigung zu einem Manne ge-
habt, wohl aber seit ihrem 14. Jahr für Mädchen. Sie
wäre lieber ein Knabe geworden. Um das Urteil der
erbärmlichea Menge kümmere sie sich nicht. Sie müsse
ihre Franziska haben, ertrage das Getrenntsein von ihr
nicht länger, würde lieber sterben. So ein herrliches
Geschöpf gebe es auf der Welt nicht wieder.
Aus einem Tagebuch der E. ersehe ich, dass dieser
die Freundin ein „Napoleon in Weibergestalt ist.* Die
beiden schenkten sich Blumen, die F. trägt ein von E..
geschenktes Armband.
Der Mutter der E. fiel auf, dass diese seit geraumer
Zeit sich geniere vor der Mutter die Toilette zu wechseln.
Die gleiche Erfahrung hat sie beim Zusammensein ihrer
Tochter mit der Freundin gemacht — also pudor dem
eigenen Geschlecht gegenüber!
Der Vater der E. ist eine degenerative Erscheinung.
Der Mutter Schwester war irrsinnig und hat durch Sui-
cidium geendet. Ein Bruder der E. ist an einer Gehirn-
krankheit gestorben, ein zweiter höchst neuropathisch.
Mein Rat lautete auf Ueberwachung der E. und
strenge Trennung von der Freundin, die offenbar gleich
der E. sexuell nicht normal empfinde.
Am folgenden Tage kam Franziska in meine Privat-
wohnung gestürmt, um meinen Consens zur Wieder-
vereinigung mit der Geliebten zu erlangen, eventuell mit
Hilfe der Gerichte die Befreiung der Freundin aus ihrer
— 31 —
Gefangenschaft zu erzwingen! Sie habe von der Not
dieser gehört und sei hergereist, um sie zu befreien. Sie
selbst werde nie heiraten, ihr ganzes Leben der E. dem
^herrlichsten Geschöpf" widmen. Die F. macht einen
exaltierten, sehr selbstbewussten Eindruck, ist von mehr
männlichen Allüren aber von durchaus femininem Typus.
Zu einem Eingehen auf ihre eigene Persönlichkeit war
sie nicht zu bewegen und stürmte fort, als sie erkannte
dass ich ihren Wünschen, die Freundin wieder zu er-
langen, nicht Vorschub leisten wollte.
Beob. 4. Frau v. T., Fabrikantensgattin, 26 J., seit
wenigen Monaten erst verheiratet, wurde mir von ihrem
Gemahl 1896 zur Konsultation gebracht, weil sie nach
einem Diner im Salon einer Dame aus der Gesellschaft
um den Hals gefallen war, sie abgeküsst und geliebkost
und damit einen Skandal provoziert hatte. Frau T. be-
hauptet, sie habe ihren Mann vor der Ehe über ihre
konträr sexualen Gefühle aufgeklärt, sowie, dass sie ihn
nur um seiner geistigen Eigenschaften willen schätzte.
Gleichwohl hatte sich die T. der ehelichen Pflicht unter-
worfen, sofern sie nicht anders konnte. Sie stellte nur
die Bedingung Incubus zu sein und will dabei sogar eine
leidliche Befriedigung erfahren haben indem sie ihre
Phantasie zu Hilfe nahm imd sich ein geliebtes Weib
als Succubus dachte. Der Vater der Dame ist neuropathisch^
von mehr weiblichem Typus, litt an hysterischen Anfällen
und soll nie sexuell bedürftig gewesen sein; dessen
Schwester soll ihrem Gatten die Leistung der ehelichen
Pflicht abgekauft haben, indem sie ihm eine Summe
schenkte und ihm die Freiheit gab, sich anderwärts zu
regressieren. Die Mutter der T. war hypersexual, soll
eine Messaline gewesen sein. Sie liess die Tochter bis
zum 14. Jahre bei sich im Bett schlafen. Erst im
15. Jahre wurde diese von der Mutter getrennt und
ihre Erziehung in einem Institute durchgeführt. Sie
— 32 —
war sehr begabt^ lernte leicht, spielte eine dominierende
Stelle in der Klasse. Mit 7 J. erfuhr sie ein psychisches
Trauma, indem ein Freund der Familie vor ihr sich zu
einem exibitionistischen Akte hinreissen liess. Menses
mit 12 J., in der Folge regelmässig und ohne nervöse
Begleiterscheinungen. Die T. versichert, schon mit 12 J.
sich zu anderen Mädchen hingezogen gefühlt zu haben.
Sie sei sich jahrelang dabei noch keiner sexuellen Em-
pfindungen bewusst geworden, habe aber gleich von An-
fang an diesen Zug zum eignen Geschlecht als eine
Anomalie empfunden. Sie will nur vor Personen des
eigenen Geschlechts sich geniert haben, sich zu entblössen.
Erst mit etwa 20 Jahren sei der eigentliche Geschlechts-
trieb erwacht. Er wendete sich nie Männern zu, sondern
gleich von Anfang an Mädchen und jungen Frauen. Es
folgte nun eine Reihe von höchst sinnlichen Liebschaf ben
mit solchen. Ins elterliche Haus aus dem Pensionat
zurückgekehrt, ungenügend überwacht und mit Geld reich-
lich versehen, fiel es ihr nicht schwer, ihre Gelüste zu
befriedigen. Sie fühlte sich von jeher als Mann dem
Weibe gegenüber. Ihre sexuelle Befriedigung fand sie in
Masturbatio feminae dilectae, später, nachdem sie durch
eine Kousine in die ihr bisher fremde lesbische Liebe
eingeweiht worden war, trieb sie auch Cunnilingus. Sie
war immer nur in aktiver Rolle und konnte es nicht
über sich bringen, am eigenen Körper Anderen Befriedigung
zu gewähren. Auch liebte sie nur heterosexuale feminae.
Homosexuale Weiber waren ihr ein GräueL Es gefielen
ihr auch nur ledige Damen von Stand, geistigen Vor-
zügen, mehr herbe Schönheiten, Dianagestalten, keusch,
zurückhaltend, nicht sinnlich.
Traf sie auf eine solche Persönlichkeit, so wurde die
hypersexuale und schwer belastete T. so erregt, dass sie
wiederholt ihre Brunst nicht beherrschen konnte und
sich, geradezu impulsiv auf die Betreffende stürzte. Sie
— 33 —
behauptet in solchen Momenten sei ihr Alles in rotem
Scheine erschienen und ihr Bewusstsein momentan getrübt
gewesen. Frau T. gab an, dass sie überhaupt sehr reiz-
bar sei und ihre Afl^kte mühsam beherrsche. So sei es
ihr einmal noch im Institut passiert, dass, als sie ein
Mädchen verspottete, es ihr rot vor den Augen wurde
und sie in förmlicher Wut sich auf die Kameradin ge-
stürzt habe und dieselbe fast erwürgt hätte.
Mit 23 J. durch den Umgang mit einer anscheinend
nicht homosexualen aber hypersexualen und durch Impotenz
ihres Mannes nicht zur Befriedigung gelangen könnenden
jungen Frau steigerte sich die Homosexualität und Be-
dürftigkeit der T. ausserordentlich. Sie hatte sich ein
Absteigequartier gemietet, wo sie wahre Orgien feierte,
-cum digito et lingua sich befriedigte, selbst stundenlang,
bis sie oft selbst ganz erschöpft war. Sie hatte eine
-Zeit lang ein festes Verhältnis mit einer Probiermamsell^
Hess sich in männlicher Kleidung mit dieser photogra-
phieren, erschien auch in gleichem Kostüm mit derselben
in öffentlichen Lokalen, ohne gerade aufzufallen, ausser
-einmal dem geübten Auge eines Polizisten, der sie auch
arretierte.
Sie kam mit einer Verwarnung davon und Hess es
nun bleiben, in männlicher Kleidung auf der Strasse zu
-erscheinen.
Ein Jahr vor der Eheschliessung war die T. vorüber-
gehend melancholisch. Damals schrieb sie, in der Absicht
aus dem Leben zu scheiden, einen Abschiedsbrief an
-eine frühere Freundin, eine Art von Konfession, aus der
Folgendes Charakteristisches hier mitgeteilt werden möge :
„Ich bin als Mädchen geboren, aber durch verfehlte
Erziehung ist meine glühende Phantasie schon früh in
-eine falsche Richtung gedrängt worden. Schon mit 12 J.
hatte ich die Manie, mich für einen Knaben auszugeben
Aind die Aufmerksamkeit der Damen auf mich zu lenken.
Jahrbuch III. 3
— 34 —
Ich erkannte wohl, dass diese Manie ein Irrwahn sei^
aber sie wuchs mit den Jahren wie ein Verhängnis. Ich
hatte nicht mehr die Kraft, mich von ihm zu befreien.
Er war mein Haschisch, meine Seligkeit. Er wurde zur
gewaltigen Leidenschaft. Ich fühlte mich masculin, nicht
zur passiven Hingabe sondern zur That gedrängt. Bei
meinem überschäumenden Temperament, meiner glühenden
Sinnlichkeit, bei meinem tiefgewurzelten perversen Instinkt
lies ich mich von der sog. lesbischen Leidenschaft nach
und nach total unterjochen. Ich hatte ein Interesse für
den Mann, aber bei der flüchtigsten Berührung von Frauen
vibrierte mein ganzes Nervensystem. Ich litt unsäglich
darunter.
Lektüre französischer Autoren und leichtfertiger
Umgang machten mich bald mit den Kiiifl^en einer un-
gesunden Erotik bekannt und der dumpfe Trieb wurde
zur bewussten Perversität. Bei mir hat die Natur in der
Wahl des Geschlechts einen Fehlgriff gethan und für
diesen Fehler werde ich mein ganzes Leben lang büssen
müssen, denn ich hatte nicht die moralische Kraft, das^
Unvermeidliche mit Würde zu tragen und so wurde ich
unaufhaltsam in die Wirbel meiner Leidenschaften ver-
strickt und von ihnen verschlungen
Ich dürstete nach deinem süssen Leib. Auf deinen
Victor war ich eifersüchtig wie der Rivale auf den andern.
Ich litt alle Höllenqualen der Eifersucht. Ich hasste
diesen Menschen und hätte ihn gern getötet. Ich fluchte
meinem Geschick, das mich nicht als Mann geschaffen
hat. Ich begnügte mich, dir eine alberne Komödie vor-
zuspielen, ein künstliches Glied anzulegen, das meinen
Trieb noch mehr erhitzte. Ich hatte nicht den M!ut, dir
die Wahrheit zu gestehen, weil sie so erbärmlich und
lächerlich gewesen wäre. Nun weisst du Alles. Du wirst,
mich nicht verachten, nur nachfühlen, was ich gelitten
habe. All meine Freuden gleichen eher einer momentanen.
— 35 -
Berauschung als dem echten Gold des Glückes. Alles
war nur ein Truggold. Ich habe das Leben genarrt
und dieses hat mich genarrt. Nun sind wir quitt. Ich
nehme Abschied. Gedenke auch in den Stunden des
Glückes zuweilen an den komischen armen Narren, der
dich treu und innig geliebt hat."
Bezüglich der Vita sexualis dieser Konträren ist noch
zu erwähnen, dass dieselbe auch Züge von Masochismus
und Sadismus enthält. So erzählt Frau T. dass ihr jedes
Schimpfwort von einer Angebeteten eine Wonne war
und dass selbst eine Ohrfeige von einer Solchen ihr eine
Lust gewesen wäre. Auch hätte sie, wenn sexuell auf-
geregt, lieber beissen als küssen mögen.
Ich lernte in Frau T. eine offenbar als d^gener^e
sup^rieure zu bezeichnende Persönlichkeit kennen. Sie
war sehr gebildet und intelligent, empfand die fatale
Situation, in welche sie geraten war, peinlich aber offen-
bar nur ihrer Familie wegen. Ihre Handlungsweise er-
schien ihr als ein Fatum, dem sie nicht entrinnen konnte.
Ihre Intelligenz war unversehrt. Sie beklagte ihre kon-
träre Sexualität, sei bereit Alles zu thun, um von der-
selben frei, eine honette Frau uijd gute Mutter zu
werden, die ihr Kind nicht so unvernünftig erziehen
würde, wie sie selbst erzogen wurde. Sie wolle ja Alles
thun, um den Gatten zu versöhnen und zufriedenzustellen,
ihm die eheliche Pflicht leisten, wobei nur sein Schnurr-
bart unausstehlich sei. Vor Allem aber müsse sie ihr
unglückseliges impulsives Wesen verlieren.
Die psychischen und physischen sekundären Ge-
schlechtscharaktere sind teils männlich, teils weiblich.
Männlich ist die Neigung zum Sport, zum Brauchen,
Trinken, die Bevorzugung von Kleidern mit mehr männ-
lichem Zuschnitt, der Mangel von Schick und Lust zu
weiblicher Handarbeit, die Vorliebe für ernste, selbst
philosophische Lektüre, der Gang, die Haltung, die kräftigen
8*
— 36 —
Linien des Gesichts^ die tiefe Stimme, das derb entwickelte
Skelett, die stark entwickelte Muskulatur und das spär-
liche Fettpolster. Auch das Becken (schmale Hüften,
Distantia spinarum 22 Cm, cristarum 26, trochanterum 31)
nähert sich dem männlichen. Vagina, Uterus, Ovarien
normal, Clitoris vergrössert. Mammae gut entwickelt^
Mons Veneris weiblich behaart.
In einer Wasserheilanstalt gelang es, während einiger
Monate einem erfahrenen Kollegen Pat. durch Hydro-
und Suggestionstherapie von jeglicher Homosexualität zu
befreien und zu einer dezenten, sexuell mindestens neu-
tralen Persönlichkeit zu gestalten, die seit langer Zeit
wieder bei ihren Verwandten weilt und sich höchst
korrekt benimmt.
-eK^J<^>^
Sind sexuelle Zwischenstufen
zur Ehe geeignet?
Von
Dr. H. Hirschfeld- Charlottenburg.
Die Erfahrung lehrt, dass eine beträchtliche Anzahl
homosexuell empfindender Männer und Frauen verheiratet
sind. Welches sind die Gründe dieser auf den ersten Blick
so befremdlichen Thatsache, da doch Ehe und konträre
Sexualempfindung fast wie ein Widerspruch in sich er-
scheinen?
Zweifellos giebt es zahlreiche männliche und weib-
liche Urninge, die erst nach der Verehelichung zur Er-
kenntnis ihrer eingeborenen Natur gelangten. Besonders
ist das bei Mädchen der Fall, deren Unerfahrenheit und
, Unschuld* vielfach als etwas geradezu Erstrebenswertes
gilt. Der erotische Charakter der überschwänglichen
Zärtlichkeiten für Freundinnen wird dabei meist über-
sehen. Zwar regte sich nichts von Liebe, als der Be-
werber kam, eher eine unbestimmte Abneigung, aber die
Ehe war doch nun einmal der Beruf des Weibes imd die
Angehörigen sprachen so viel von der guten Partie, der
glänzenden Versorgung, bis das brave Kind folgte. Wenn
sie in der Brautzeit den Küssen scheu auswich, den Um-
armungen sich wie geängstigt entzog, so hielt man diese
Zurückhaltung für Schamhaftigkeit, auch wohl für Prü-
derie, die sich mit der Zeit schon legen würde.
— 38 —
Auch urnische Männer^ die ohne Kenntnis ihres Zu-
standes in die Ehe treten, sind nicht selten. Sie haben
nie anders gedacht, als dass der Mann zum Weibe, das
Weib zum Manne gehöre. Alles, was sie in ihrer Um-
gebung sahen und hörten, wandelte sich in eine starke
Autosuggestion um, deren mächtigem Eindruck sie sich
nicht zu entziehen vermochten. Diese Annahme hat um-
somehr für sich, als ja Fälle konstatiert sind, in denen
Urninge durch hypnotische Suggestion wenigstens zeit-
weilig zum Aufgeben ihrer eigentlichen Natur bestimmt
wurden. Dass der unbewusst Homosexuelle als Bräutigam
sich und andern recht kühl, , vornehm reserviert*, vor-
kam, war um so weniger auffallend, als es sich ja um
eine Vemunftheirat handelte.
Wir finden in unserer Kasuistik einen alten Herrn,
der erst mit 53 Jahren über sich und seine Homosexuali-
tät klar wurde, nachdem er 20 Jahre zuvor wegen Impo-
tenz sich hatte scheiden lassen, ferner eine Ehefrau, die
erst mit nahezu vierzig Jahren in der konträren Sexual-
empfindung, die wahre Ursache ihres unglücklich hyster-
ischen Zustandes erkannte und zwar sehr zu ihrem Vorteil;
Fälle, wo die Aufklärung erst Ende der zwanzig, oder
in den dreissiger Jahren erfolgte, sind häufig, warum
sollte man da nicht annehmen, dass es Menschen giebt,
zumal leidenschaftsloser veranlagte, die überhaupt nie zum
Bewusstsein ihres Urningtums gelangen. Sie verbringen
ihr Geschlechtsleben in einer Art dumpfer Täuschung,
führen häufig eine besonders nach aussen befriedigend
erscheinende Ehe, kein Ineinander-Leben, aber ein er-
trägliches Nebeneinander, oft sogar ein ganz glückliches
Miteinander.
Verhältnismässig noch am günstigsten eignet sich
zur Ehe die nach unserer Erfahrung allerdings nur kleine
Gruppe von Personen, bei denen die Liebe zu einem be-
stimmten Typus, ihrem ,, Genre*, die Liebe zu einem
— 39 —
bestimmten Geschlecht überwiegt; es sind Frauen, welche
sich beispielsweise in gleicher Weise von feminin ge-
arteten, schon etwas älteren Männern sowie von ihnen
verwandten altjüngferlichen Frauen angezogen fühlen oder
€twa Männer aber auch viele Weiber, die ebensowohl zu
zarten Jünglingen als dem diesen verwandten Tjrpus
knabenhafter Mädchen meist im sogenannten Backfisch-
alter Neigung verspüren.
Eine recht ansehnliche Schar von Urningen schreitet
zur Ehe, weil sie sich über die Art und Tiefe ihrer ihnen
an und für sich bekannten homosexuellen Neigung täu-
schen und durch die Heirat von ihrer Anomalie befreit
zu werden hoffen. In letzterer Ansicht werden sie nicht
nur von Verwandten, sondern häufig von Aerzten, denen
sie sich anvertrauen, bestärkt. Sehr viele Aerzte sind
noch heute in dem Irrtum befangen, dass es sich bei Homo-
sexuellen um eine Verirrung handle, die durch Heirat
in normale Bahnen gelenkt werden könne. Dies ist in
der überwiegenden Zahl der Fälle ein verhängnisvoller
Irrtum. Mancher Urning hört in seiner "Verzweiflung,
selbst nicht genügend von der Unauslöschbarkeit seines
Triebes unterrichtet, auf den Rat des Arztes und ent-
schliesst sich zur Ehe. Aber er hat nicht den Trieb,
sondern der Trieb ihn. Verheiratet sieht er nur zu bald,
dass der Rat, welchen der Arzt ihm erteilte, ein recht
schlechter war.
Einer unserer Patienten schrieb:
„Sie wünschen zu wissen, wie ich dazu kam, mich zu
verheiraten und dann, welche Erfahrungen ich in der
Ehe gemacht habe.
Bevor ich mich dazu entschloss, mich zu verheiraten,
war ich in einer höchst traurigen sozialen Lage. Wie
Sie wissen, lebe ich in einer grossen Stadt. Ich war
meinem unglücklichen Triebe, der mich Umgang mit dem
eigenen Geschlecht suchen liess, häufiger gefolgt. Dies
— 40 —
musste bekannt geworden sein, wenigstens hatte ich stet»
das Gefühl, in manchen Fällen vielleicht unberechtigt,
dass man meinen Umgang zu meiden suchte. Zu fein-
fühlend, um in der Lage zu sein, irgend Jemanden
meinen Umgang aufdrängen zu können, zog ich mich
immer mehr von Geselligkeit und freundschaftlichem Ver-
kehr zurück.
Ich verbrachte Tage und Nächte in Verzweiflung-
hin, die besten Lebensjahre verstrichen im einförmigsten
Einerlei.
Dieser traurigen Lage wollte ich ein Ende machen.
Meine Altersgenossen waren verheiratet, Familie und
einige Bekannte rieten ebenfalls dazu. Aber den Grund,,
warum ich nicht heiraten wollte, durfte ich Niemanden
sagen. Dies gehört auch zu den traurigen Seiten unsere*
Schicksals, dass wir ein Geheimnis, das unser Linerstea
aufs tiefste bewegt. Niemand, nicht einmal den nächsten
Anverwandten, anvertrauen können. Ich sah andere
Menschen glücklich und zufrieden und wollte auch
glücklich werden.
Wenn mir auch der innere Drang zur Ehe fehlte, sa
hoffte ich doch innere Ruhe und Zufriedenheit in der-
selben zu finden.
Um mein Gewissen zu beruhigen und mich zu ver-
gewissem, ob ich meinen ehelichen Pflichten nachkommen
könne, wandte ich mich an einen Arzt. Derselbe sagte
mir, ich möge einmal zu einer puella gehen, um mich zu
überzeugen, ob ich im Stande sei, den coitus auszuführen.
Wenn mir nun auch der coitus nicht den geringsten oder
nur sehr wenig Genuss, ja eher Widerwillen bereitete, so
war ich doch im Stande ihn auszuführen. Ich sagte die&
meinem Arzte und riet er mir in Folge dessen zur Heirat.
Da ich mich aber noch mehr vergewissern wollte, um
meine Zweifel zu beruhigen, wandte ich mich noch an
einen auswärtigen bekannten Arzt, dem ich meinen Zu-
— 41 —
stand und mein Anliegen ausführlich berichtete. Der-
selbe antwortete mir Folgendes:
„Da Sie Erektionen haben^ können Sie unbedingt
ruhig heiraten, ich bin der Meinung, dass dadurch all-
mälig Ihre konträre Empfindungen sich calmieren werden."
Ich wandte mich schliesslich an Professor K., der
mir schrieb:
, Heirat ist möglich, da Potenz besteht. Ich kenne
manchen verheirateten Urning, der Familienvater ist. Eine
prekäre Sache ist immerhin die Heirat eines
Urnings.
Ich habe Ihnen dies, geehrter Herr Doktor, absicht-
lich etwas ausführlich mitgeteilt, um Ihnen zu zeigen,
dass ich nicht ohne grosse Bedenken in die Ehe ging,
die aber mehr oder weniger von den Herren Aerzten
beseitigt wurden. Jedenfalls ging ich mit der Hoffiiung
und dem Wunsche in die Ehe, dass ich durch dieselbe
von meiner Anomalie befreit würde.
Nachdem ich Ihnen in Vorstehendem auseinander-
setzte, wie ich zur Ehe kam, gehe ich jetzt dazu über,
Ihnen meine Erfahrungen während der Ehe mitzuteilen.
Schon auf der Hochzeitsreise machte ich die Bemerk-
ung, dass mir die Ausführung des coitus viel eher eine
lästige Verpflichtung war, denn ein Vergnügen. Dabei
blieb aber mein Hang zum eignen Geschlecht bestehen.
Ich gab mir die denkbar grösste Mühe, mich auch inner-
lich und geistig von dieser Neigung unabhängig zu machen,
aber vergeblich.
Wie war und ist nun das Verhältnis zu meiner Frau?
Ich liebe und schätze meine Frau ihrer vielen aus-
gezeichneten Eigenschaften willen ; wegen der Tiefe ihres
Gemüts, wegen ihrer Pflichttreue, auch finde ich sie
körperlich hübsch, aber trotz alledem ist diese Liebe
mehr einem innigen Freundschaftsverhältnis ähnlich, wie
einer Liebe, wie sie zwischen Eheleuten besteht und die
— 42 —
nach meiner Empfindung ausser in der moralischen Wert-
schätzung auch auf einer in sinnlichen und körperlichen
Gefallen beruhenden Grundlage aufgebaut sein muss.
Bei diesem Mangel an sinnlicher Liebe zu meiner
Frau, geht nebenher die sinnliche Liebe zum eignen Ge-
schlecht. Meine Frau fühlt diesen Mangel an sinnlicher
Liebe zu ihr wohl heraus, indem sie mir zuweilen den
Vorwurf des Mangels innerer Seelengemeinschaft macht.
Wir würden aber ganz glücklich zusammen leben, wenn
nicht ein Umstand wäre, der mir das Leben zur Qual macht.
Ich lebe in beständiger Furcht vor Entdeckung und
Ausstossung aus der Familie, sowie in dem Bewusstsein,
von meinen Mitmenschen verachtet zu sein. Dass ein
derartiges Leben mehr eine Qual, denn ein Glück ist,
werden Sie verstehen, etc. etc.*
Unter unseren Fällen finden wir nicht ein einziges
Mal durch die Ehe Heilung der Homosexualität, nur
selten Besserung, fast stets bleibt der Trieb sich gleich.
Ein Weinhändler, der sich später scheiden liess, berichtet,
dass bereits auf der Hochzeitsreise nach Italien die junge
Frau sein Interesse für Männer entdeckte, in einem
allerdings ganz exorbitanten Fall erfuhren wir, dass ein
Wirt die erste Nacht nach der Hochzeit statt mit der
Frau mit seinem im Hause aufgenommenen früheren
Geliebten verbrachte. Wir greifen einige concrete Bei-
spiele heraus.
1. K., Arbeiter, 45 Jahre, 4 Kinder, sexueller Verkehr mit
Männern vor und sehr stark nach der Ehe; ausserehelicher Ver-
kehr mit Weibern niemals. Die Frau hat Kenntnis von der kon-
trären Sexualempfindung des Mannes, trotzdem leidlich gutes
Zusammenleben, nur gelegentliehe Eifersucht der Frau und Aerger,
wenn der Mann zur Befriedigung seiner Leidenschaft zu viel
verausgabt.
2. Seh., Malermeister, 38 Jahre, 3 Kinder, vor und nach der
Ehe Geschlechtsverkehr mit Männern, niemals mit Frauen ausser
der Ehefrau. Die H.-S. des Mannes führte schon zu zeitweiliger
— 43 —
Trennung, jetzt wieder ausgesöhnt, aber ein gezwungenes, dis-
harmonisches Zusammenleben.
3. 0., Eommunalbeamter, 30 Jahre, neuvermählt, setzt den
mannmännlichen Verkehr nach der Ehe fort, wenn auch in be-
schränkterem Maasse, lebt bisher gut mit der nichts ahnenden
Ehefrau.
4. H., Zuckerbäcker, 36 Jahre, 1 Kind. Vor und nach der
Ehe sexueller Verkehr mit Männern, niemals mit Frauen ausser
der Ehefrau, lebte bald nach der Ehe von ihr völlig getrennt,
wollte sich schon scheiden lassen.
5. A., Arbeiter, 48 Jahre, 4 Kinder, zweimal verheiratet,
das erste Mal starb die Frau schon nach sechs Wochen. Vor
und nach der Ehe stärkerer geschlechtlicher Verkehr mit Männern.
Jahrelanges „festes Verhältnis^ mit einem jüngeren Arbeiter, den
er schliesslich als Kostgänger in die eheliche Wohnung auf-
nimmt. Die Frau hat Kenntnis von der H.-S. des Mannes,
insbesondere von der Natur des Verhältnisses mit dem jungen
Arbeiter. Trotzdem duldet sie letzteres und ist sogar damit zu-
frieden, da ihr Mann durch den ordentlichen^ sparsamen und sehr
gutmütigen jungen Arbeiter von seinem früheren ausschweifenden
Verkehr mit immer verschiedenen abgehalten, der Häuslichkeit
erhalten bleibt. Ausserehelicher Verkehr mit Weibern niemals.
Das Zusammenleben der Eheleute trotz der H.-S. des Mannes
kein unglückliches. Ihre letzte Schwängerung führt die Frau
auf den Neujahrstag zurück, wo der Mann in grosser Er-
regung, dass der junge Arbeiter die ganze Nacht mit einem
Freunde auswärts zubrachte, gleichsam „aus Bache an seinem
Oeliebten sich an seiner Frau entschädigte."
6. Seh., Wirt, 32 Jahre, 1 Kind. Vor und nach der Ehe
gleichgeschlechtlicher Umgang, niemals mit Weibern, ausser mit
der Ehefrau. Behandelt seine nichts ahnende, etwas beschränkte
Frau sehr schlecht, möchte ihrer gern entledigt sein. Es ist der
Manif, von dem wir oben mitteilten, dass er die Brautnacht mit
seinem Geliebten verlebte.
7. M., 40 Jahre. Heiratete eine schon ältere Person. Vor
der Ehe sehr starke h.-s. Bethätigung, namentlich ein längeres
Verhältnis mit einem Unteroffizier. Seit der Ehe fühlt er sich
glücklicher , er sei ein anderer Mensch , . die Gefühle für
Männer bestehen fort, doch sei er durch seine Frau immer be-
hindert. Die früheren weibischen Manieren haben sehr nach-
gelassen. Diese Ehe kann als eine glückliche bezeichnet werden.
— 44 —
8. H., 55 Jahre, wohlhabender Eanfinaim, war etwa 15 Jahre
verheiratet, 4 Kinder, hat in seiner Jngend, während der Ehe
und auch nach dem Tode der Frau viel h.-s. verkehrt. Lebte
sehr unglücklich mit seiner Frau, die seine Homosexualität ent-
deckte; behandelte sie sehr schlecht. Ein Sohn ertränkte sich,
vermutlich aus Kummer über die bei seinem Vater bemerkte
Leidenschaft.
9. W., Bureauvorsteher, 50 Jahre, sehr frommer und ange-
sehener Familienvater, 5 Kinder. Hat von Jugend auf mit Männern,
besonders Soldaten mutuell masturbiert. War in grosser Angst,
ob er seiner Frau beiwohnen könnte, es gelang, doch wurde der
gleichgeschlechtliche Verkehr fortgesetzt. Er lebt gut mit der
nichts ahnenden Frau.
10. S., besserer Kau^ann, 53 Jahre, 2 Kinder. Vor der
Ehe homosexualer Verkehr, ebenso nach der Heirat, doch nur
selten. Ein Erpressungsfall zwang ihn, als Zeuge vor Gericht
zu erscheinen, seitdem noch vorsichtiger. Vor mehreren Jahren
verliebte er sich in einen jungen Mann aus einer Bürgersfamilie,
mit dem er verkehrte; erklärt, er hätte niemals geheiratet, wenn
er den jungen Mann früher gekannt hätte. Seit einiger Zeit hat
er mit dem jungen Mann gebrochen, weil er fürchtet, er könne
sich kompromittieren und die Zukunft seiner im heiratsfähigen
Alter befindlichen Tochter gefährden.
11. E., 44 Jahr, Novellist, kinderlos, hat vor seiner Heirat
ungefähr vier Mal Verhältnisse mit Frauen gehabt, stets gebildete
Weltdamen, ohne aber jemals eine besondere Leidenschaft für
das Weib empfanden zu haben. Von jeher Neigung zum Manne,
wurde sich aber über seine Gefühle erst nach der Hochzeit klar.
Seitdem mannmännlicher Verkehr, obgleich selten, da sehr vor-
sichtig und nicht sehr bedürftig. Etwas feminines Wesen. Mit
seiner Frau, die auch nicht bedürftig, seltenen, mit anderen Frauen
nach der Ehe keinen sexuellen Umgang. Das harmonische Zu-
sammenleben mit seiner geistig und gesellschaftlich gut zu ihm
passenden Frau wird durch seine diskreten und vorübergehenden
Abenteuer mit Männern nicht berührt.
12. Seh., Versicherungsbeamter, kinderlos, 32 Jahr. Hat vor
der Ehe nie ein Weib berührt, dagegen mit Männern geschlecht-
lich verkehrt, namentlich mit einem Studenten ein leidenschaft-
liches Verhältnis gehabt. Er liebt seine jetzige Frau geistig, aber
auch sinnlich, glaubt in ihr das Ideal einer Frau gefunden zu
haben; leider gestattet ihr Gesundheitszustand nur selten den
— 45 —
Coitus. Wäre derselbe regelmässig möglich, so meint er der
Männerliebe entsagen zu können. So aber verkehrt er noch
homosexnal, namentlich auf Reisen. Verkehr mit einer anderen
Frau würde er als unmoralisch empfinden, während ihm seine
homosexuellen Beziehungen nicht als Untreue erscheinen. Gebildet
und ideal veranlagt, lebt er glücklich mit seiner ahnungslosen
Gattin, die er auf Händen trägt.
13. 0., Arbeiter, 30 Jahr, 1 Kind. Vor der Ehe niemals mit
einer Frau verkehrt, aber sehr häufig homosexual, setzt den gleich-
geschlechtlichen Verkehr auch nach der Ehe fort. Erst zwei
Jahre verheiratet, erklärt er, dass er die Heirat bereue, trotzdem er
mit seiner „herzensguten^ Frau in bestem Einvernehmen lebt.
Der Coitus mit ihr war ihm anfangs nicht unangenehm, doch
empfand er nie die Befriedigung, wie in dem ihm normalen Ver-
kehr mit dem Manne; er cohabitiert sein Weib im Monat zwei-
mal „weil man dies in der Ehe thun müsse^, das Verlangen
nach häufigerem Verkehr weist er mit Ausflüchten „zu grosser
Müdigkeit« u. dgl. ab.
14. Ein Herr W., normalsexueller, völlig gesunder Architekt,
will sich von seiner Frau wegen „Verkehrs mit dem Dienst-
mädchen« scheiden lassen, er wünscht von mir ein Gutachten,
dass, da seine Frau zweifellos homosexuell, der geschlechtliche
Verkehr ihrerseits mit dem Weibe dem Ehebruch gleichzusetzen sei.
Frau Elise W. geb. D., 26 Jahr, aus Berlin, ist seit 4 Jahren
verheiratet. Ihr Grossvater von B. sehr exzentrisch, Alkoholist,
mit starkem Hang zur Vagabondage, wurde als Amtsrichter seines
Amtes entsetzt. Elise ähnelt äusserlich diesem Grossvater. Ihr
Vater sehr jähzornig. Sie litt als Kind an Krämpfen, Bettnässen,
Kauen an den Fingernägeln, hatte ausgesprochene Abneigung
gegen Puppenspiele, liebte Schneeballwerfen, Kaufen mit Jungen,
hatte besonderes Interesse für Rechnen und Mathematik, schon auf
der Schule deutliche Neigung für schwache, zierliche, weibliche
Personen.
Gegenwärtiger Zustand: a. Elnochengerüst nicht besonders
kräftig, Becken schmal, Schädel breit, Körperkonturen eckig
Kjiochen treten hervor, Oberarm zylindrisch abgeflacht, Ober-
schenkel schlank, Hände schmal, robust, lebhafter, mehr männ-
licher Händedruck, Muskulatur schwach aber fest. Schritte fest,
gravitätisch, schnell, kann pfeifen, unreiner Teint, Brüste sehr
wenig entwickelt, Haupthaar schwach, Haartracht ungeordnet
leichter Bartflaum, grosse Ohren, ruhiger „herausfordernder" Blick,
— 46 —
männlicher Gesichtstypus, laute Sprache, kann nicht singen, Töne
werden in tiefer Alt- fast Bassstimme hervorgebracht. Sie leidet
an Schwindel, Herzklopfen, häufigem Farbenwechsel, unruhigem
Schlaf, steht nachts oft auf, ahmt während des Schlafs häufig die
Bewegungen des Mannes beim coitus nach.
b. Gemütsleben mehr männlich, für Freude und Schmers^
wenig empfänglich, Familiensinn gering, hatte sehnlichsten Wunsch^
von Kindern frei zu bleiben. Als im Anfang der Ehe die Periode
ausblieb, gab sie sich grösste Mühe durch fortwährendes Beiten^
Badfahren und Bergsteigen dieselbe „wiederzubekommen^, was
auch gelang. Sehr heftig, erregbar, ehrgeizig, Uebertreibung der
Personalität ; — herrschsüchtig, ausgesprochener Hang zum Wohl-
leben, sehr starker Trieb zum Vagabundieren. Elise blieb nie
Nachmittags zu Hause, sondern bummelte zwischen 3 und 8 Uhr
durch die Strassen Berlins. Nach häuslichen Szenen bestieg sie
sofort das Bad, um tagelang nicht nach Hause zu kommen.
Geistige Bildung im allgemeinen oberflächlich, sie studiert am
liebsten Prozesse, verfasst selbst Klagen, mit Begierde las sie
Darwins Werke, sie ist sehr veranlagt f tir Mathematik, künstlerische,^
litterarische Neigungen und Fähigkeiten sind kaum vorhanden. Vor-
liebe für Pferde, Sport, Schiessen, sie interessiert sich für Techniker-
und Seemannsberuf, bevorzugt enganliegende Kleidung, die Schrift
würde man für die eines Mannes halten.
c. Stets entschiedene Neigung zu Personen desselben Ge-
schlechts, Liebesträume bezogen sich ausschliesslich auf weibliche
Personen. In den Museen und Galerieen suchte sie besonder»
nach nackten Göttinnen. Vor dem normalen Coitus starker Wider-
wille, sie fühlte sich durchaus unbefriedigt, erklärte schon in den
Flitterwochen, sie könne nicht begreifen, „was man dabei finden
könne", sie verlangte von ihrem Manne, dass er nicht incubus^
sondern succubus, sie selbst aktiv sei. Der geschlechtslose Um-
gang mit Damen war sehr geniert, sie verkehrte ungern mit
Frauen der besseren Gesellschaft. Bei einer grösseren Badpartie
nach Fr. nahmen Damen teil, die zurück einen Wagen benutzten^
sie weigerte sich dem Manne gegenüber energisch, mit einzu-
steigen, „weil sie sich geniere" und fuhr zu seinem Verdruss den
ganzen Weg mit dem Bade als einzige Dame unter 12 Herren.
Der sexuelle Verkehr wurde bereits im Eltemhause am liebsten
mit Dienstmädchen gepflogen. In der Ehe dauerte die
Homosexualität unverändert fort. Sie nahm besonder»
kleine, zarte Dienstmädchen, die sie bald völlig beherrschte.
Der Mann, welcher bis zur Ehe überhaupt nichts vom Wesen der
— 47 —
konträren Sexualität kannte, wurde erst aufmerksam, als er wieder-
holt bei unverhofftem Eintreten in seine Wohnung die Frau mit
dem Dienstmädchen umschlungen oder letztere zu Füssen der
Frau fand. Die Frau hielt sich mit Vorliebe im Zimmer des
Dienstmädchens auf. Schliesslich setzte sie es durch, dass der
Mann das gemeinsame Schlafzimmer mit seiner Frau aufgab. Sie
nahm dann bald das Dienstmädchen in das Schlafzimmer und ver-
weigerte dem Manne jeglichen Eintritt. Die noch schwebende
Ehescheidung ist erschwert, da das neue bürgerliche Gesetzbuch,
gegenseitige Abneigung und Einwilligung nicht mehr als Schei-
dungsgrund anerkennt und Ehebruch einer Frau mit einer Frau
nicht vorgesehen ist.
Ist, wie wir sehen, die Hoffnung, dass die H.-S. in
der Ehe und durch die Ehe schwindet, fast stets eine
trügerische, so ist die Enttäuschung bei einem weiteren
Grunde, welcher viele Urninge zur Heirat veranlasst, bei
dem Verlangen nach eigenem Hausstand keine so all-
gemeine. Wie den meisten Menschen, so ist auch dem
umischen eine tief innere Sehnsucht eingepflanzt, mit einer
geliebten Person zusammenzuleben, mit welcher er Freuden
und Leiden, Gedanken und Empfindungen teilen kann.
Namentlich wenn die Betreffenden älter werden, feste-
Lebensstellungen errungen haben, in Amt und Würden
sind, macht sich häufig das Gefühl der Vereinsamung-
geltend, wenn sie die gleichaltrigen Freunde und Ge-
nossen einen nach dem andern ihr Weib heimführen
sehen. Es kommt hinzu, dass sehr viele Urninge gerade-
einen ausgesprochenen Familiensinn besitzen, ein hohes
Verständnis für das stille, friedliche Glück des eigenen
Herdes. Deshalb glauben Unkundige von ihnen auch
vielfach, dass sie ganz besonders 'gute Ehemänner ab-
geben würden. Ein konträrsexueller Herr schrieb uns:
«Der Anblick glücklich wandelnder Paare, ja, das Be-
trachten eines Bildes, auf welchem bräutliches oder
Familienglück dargestellt ist, konnte mich ofl unter aus-
brechenden Thränen in die Einsamkeit jagen.*
— 48 —
Bei der ürninde ist dieser häusliche Sinn bei weitem
nicht so stark entwickelt, vor allem ist der elterliche
Instinkt bei ihr gewöhnlich nur in sehr geringem Grade
vorhanden, sie macht sich nichts aus Kindern, doch wird
bei ihr der Trieb nach eigenem Heim vielfach ersetzt
durch den natürlichen Wunsch, versorgt zu sein. Ein
Umstand wirkt jedoch bei beiden günstig, das Verständ-
nis, welches der homosexuelle Teil für die Interessen des
anderen durch seine Veranlagung besitzt, der Urning für
die Toiletten, die Küche der Frau, die Uminde für den
Beruf des Mannes, seinen Sport, seine Politik. Diese
Interessengemeinschaflb ist oft stark genug, auf die Dauer
ein erträgliches Zusammenleben herbeizuführen, voraus-
gesetzt, dass der normale Teil nicht besonders sinnlich
veranlagt ist, es bildet sich ein freundschaftliches Ver-
hältnis heraus, wie zwischen Kameraden, zwischen Bruder
und Schwester, ein leidenschaftsloses Glück, oft noch er-
hellt durch den Glanz, den strahlende Kinderaugen über
ein Haus auszubreiten vermögen.
Das Verlangen nach Kindern ist beim Urning viel
grösser und häufiger, wie bei der Uminde. Allerdings
entspringt dasselbe nicht einem instinktiven Fortpflanzungs-
trieb, sondern der naiven Zuneigung für Kinder, oft auch
einem stark pädagogischen Hang, der namentlich vielen
supervirilen Urningen eigen ist. Der Wunsch, Nach-
kommen zu besitzen, fällt beim Eingehen einer Ehe für
den Urning noch mehr ins Gewicht, wenn er der Geburts-
oder Geldaristokratie oder gar einem regierenden Hause
angehört, sodass die ganze Familie auf den Erben harrt,
der die Dynastie, das Geschlecht, die bedeutende Firma
fortsetzen soll. Nur wenige besitzen den Mut, in letzter
Stunde zurück zu treten, wie Ludwig II. von Bayern
gegenüber der von ihm aufrichtig verehrten Braut Herzogin
Sophie in Bayern, der sp|lteren Alen9on. Nicht selten
dagegen sind bei diesen konventionellen Ehen die Fälle
— 49 —
von „rätselhaftein'' Selbstmord am Tage vor oder nach
der Hochzeit.
Den soeben genannten schliessen sich die vielen
Homosexuellen an^ welche aus Repräsentationsgründen
heiraten ^mussten", weil sie für ihre gesellschaftliche
Stellung, in ihrem Stande, ihrem Geschäft notwendiger-
weise eine Frau brauchten.
In noch höherem Maase sind praktische Gesichts-
punkte bei denjenigen Urningen massgebend, — und leider
giebt es auch deren mehr als genug — welche um der
Mitgift willen heiraten. Wiederholt haben uns Homo-
sexuelle mitgeteilt, sie würden keine Ehe eingegangen
sein, wenn sie nicht gezwungen gewesen wären, standes-
gemäss au£eutreten oder ihre Schulden zu decken, „sich
zu arrangieren'', wie der terminus technicus lautet; sie
nahmen nicht das Mädchen mit Geld, sondern das Geld
mit dem Mädohen. In ähnlicher Weise lassen sich auch
Uminden durch Rang und Titel des Bewerbers be-
stimmen, der Stimme ihres Herzens entgegen zu handeln.
Gewiss ist es oft schwer, standhaft zu bleiben, wenn die
Vennittler mit den ^ glänzenden Vorschlägen* kommen,
allein, sind diese materiellen Gründe bei den Heterosexu-
ellen schon nicht zu billigen, so stellen sie bei den homo-
sexuell Empfindenden ein grosses Unrecht dar.
Einige Urninge gaben uns endlich noch als Grund
an, sie hätten geheiratet, um nicht für homosexuell ge-
halten zu werden, ein sonderbarer Grund, aber immerhin
verständlich, wenn man die Auffassung bedenkt, welche
die öffentliche Meinung noch heute vielfach dem ur-
nischen Phaenomen gegenüber einnimmt. Namentlich in
kleinen Städten kommen ältere Junggesellen, welche viel
mit jungen Leuten verkehren und etwas «Mamselliges*
an sich haben, leicht in den Verdacht, «Päderasten** zu
sein. Schrieb doch ein sehr bekannter Schriftsteller, als
ihm die Eingabe zur Abschaffung des Umingsparagraphen
Jahrbach HI. d.
— 50 —
vorgelegt wurde, der einzige Grund, weshalb er nicht
unterschriebe, wäre, weil er «noch unverheiratet* sei.
Alle die genannten Gründe, welche die HomosexualcD
zur Heirat veranlassen, entsprechen dem Zweck der Ehe
nur insofern, als diese eine wirtschaftliche Verbindung
darstellt im Sinne des Allgemeinen preussischen Land-
rechts, welches den Satz aufstellte: „auch zur wechsel-
seitigen Unterstützung allein kann eine giltige Ehe ge-
schlossen werden*; sie entsprechen aber nicht dem natür-
lichen Grund, auf welchen die wirtschaftliche Vereinigung
sich stützen muss. Die Ehe soll ein Bund sein, welchen
Mann und Weib zur Befriedigung eines Naturtriebs aus
gegenseitiger Liebe eingehen. Die Liebe ist ja nach
Plato nichts anderes als der Wunsch nach genauester
Vereinigung mit dem geliebten Gegenstand, und mit
vollstem Beoht behauptet Paul Mongre in seinem Buche
«Aus der Landschaft Zarathustras*: „reine Konvenienz-
heirat ist Sünde gegen die Natur, ist widernatürlich. Wie
sich die Elemente im Alltagszustand nicht verbinden^
sondern nur unter erhöhtem Druck, erhöhter Temperatur^
80 bedarf auch die eheliche Verbindung einer gewissen
Erotik.*
An und für sich ausführbar ist allerdings die ge-
schlechtliche Vereinigung auch ohne sinnlichen Trieb.
Dafür liegen zweifellose Beweise vor, nicht nur von kon-
trär Veranlagten, sondern auch von normal Empfindenden
sowie monosexuellen und sexuell anästhetischen. Beim
Weibe ist das angesichts ihrer anatomischen und physio-
logischen Einrichtung ohne weiteres klar; sie kann den
Geschlechtsakt des Mannes dulden, wenn sie selbst auch
nichts dabei empfindet, ja sogar in der Hingabe an einen
ihr widerwärtigen Mann schwere seelische Qualen leidet.
Anders beim Manne, wo die potentia coeundi an die
Erektionsfähigkeit geknüpft ist. Eine beträchtliche An-
zahl von Urningen, namentlich stark femininer, besitzt
— 51 —
dieselbe dem Weibe gegenüber nicht, alle diesbezüglichen
Versuche fallen fruchtlos aus, aber sehr viele Homo-
sexuelle sind doch imstande, den normalen Akt zu voll-
ziehen. Nicht immer ist dazu ein heterosexuelles Budi-
ment erforderlich. Manche Autoren neigen dazu, jeden
verheirateten Urning für bisexuell, für einen psychischen
Hermaphroditen zu halten. Das ist nicht richtig. Nur
solche verdienen die Bezeichnung bisexuell, welche beiden
Geschlechtern gegenüber libido und Orgasmus empfinden,
das ist nach unserer Erfahrung fast nur in der bereits
oben erwähnten Gruppe der Fall, bei welcher nicht das
Geschlecht, sondern der Typus das Entscheidende ist.
Bei verheirateten Urningen kann selten von eigentlicher
libido die Bede sein. Die erforderliche Blutfüllung der
Corpora cavernosa penis wird bei vielen leicht durch
mechanische Beizungen, bei andern durch künstliche
Vorstellung, durch eine Selbstvorspiegelung falscher
Thatsachen hervorgerufen. Zahlreiche H.-S. geben
an, dass sie mid zwar häufig unter grosser WiUens-
anstrengung beim heterosexuellen Akt an Personen des-
selben Geschlechts denken, einer berichtete, dass er sich
hierbei männlicher Kosenamen bediene, wie «mein Hans'*,
ein anderer, verheirateter Urning von ungewöhnlicher
geistiger Bildung, schreibt folgende beachtenswerte Zeilen:
«So siedend heiss das Blut bei dem Anblick eines wahr-
haft GeUebten strömt, so träge rinnt es in einem er-
zwungenen Bunde. Wehe dem Armen, dem die tausend
abstossenden intima eines gemmnsamen Schlafraumes, bei
denen der Geruch nicht die kleinste Bolle, spielt, die
Augen öfihen über vorher nicht geahnte Einflüsse. Kleine
eheliche Verstimmungen werden am besten überwunden,
wenn die Macht der allgewaltigen Liebe in stiller Stunde
ihre Triebkraft entfaltet und Koseworte ungesucht auf
die Lippen treten. Erwarte diese Wirkung nicht
bei einer Pflichterfüllung, zu der Du Dich
4«
— 52 —
anständiger- oder mitleidigerweise wieder ein-
mal nach demKalender entschliessen musstesty
selten zu Beginn der Nachtruhe, sondern meist erst, wenn
Du in einem Liebestraum nach Deiner Art in der
nötigen Verfassung aufwachst Sage niemand, das seien
frivole Enthüllungen, nein es sind zu ernster Warnung
aufgedeckte drakonische Naturgesetze, die oft das Glück
eines armen betrogenen Weibes zermalmen, ganz abge-
sehen von dem schon durch ein Leben der Qualen mürbe
gemachten Mann. Wohl fehlt einer ehrbaren Frau der
Vergleich, aber ein volles Glücksgefühl kann ihr solche
Vereinigung nicht bringen und je feinfühliger sie ist,
desto mehr wird sie eine ihr, wenn auch noch so heroisch
verborgene Lebensuntiefe des geliebten Mannes ahnen
und — leiden. Warnen, auf das inständigste warnen lasse
sich jeder Homosexuelle, eine Ehe einzugehen. Es ist
die lähmendste Unwahrheit und Unwürdigkeit, und da
in den meisten Fällen aus hundert Bücksichten keine Be-
freiung möglich ist, im innersten ein tägliches Fegefeuer/'
Ebensowenig wie die libido gleicht der Orgasmus der
Urninge beim coitus demjenigen, wie er bei dem ihrer
Natur entsprechenden Verkehr eintritt. Man hat die rein
mechanische geschlechtliche Vereinigung als onania per
vaginam bezeichnet. Dieser Ausdruck erreicht bei H.-S.
die Wahrheit nicht. Nach übereinstimmender Schilderung
empfanden dieselben bei früher geübter Automasturbation
wesentlich mehr voluptas als beim coitus, wo sie nur eine
abgestumpfte Empfindung der eintretenden Ejakulation
verspüren, ein Patient vergleicht dieses Gefühl mit dem,
welches man in ^eingeschlafenen Füssen^ wahrnimmt.
Auch von Urninden liegen uns ähnliche Mitteilungen vor.
Auch das Verhalten post coitum ist bei männ-
lichen und weiblichen H.-S. sehr charakteristisch.
Während sich unter normalen Verhältnissen nach be-
endetem Akt ein Gefühl von Ruhe, Wohlbehagen, einer
— 53 —
gewissen Glückseligkeit bemerkbar macht, berichten
die H.-8. von Empfindungen des Widerwillens, Ekels,
grosser Zerscfalagenheit und Selbstunzufriedenheit; ver-
schiedene geben an , dass sie unmittelbar nach dem
Verkehr geradezu von Hass und Abscheu für den andern
Teil erfüllt waren.
Für die H.-S. gelten in ganz besonderem Maasse
die Worte, welche Mantegazza in der Physiologie der
Liebe im Kapitel über ^die eheliche Pflicht* im allge-
meinen ausspricht: «Es giebt wohl keine grössere Tortur
als die, welche ein menschliches Wesen zwingt, sich die
Liebkosungen einer ungeliebten Person gefallen zu lassen/'
Was dem einen zur Lust ist, ist dem andern zur Last.
Welche peinlichen, oft verzweifelten Situationen entstehen,
wenn der umische Teil nicht die geringste Neigung zum
Geschlechtsverkehr hat, während der andere sich danach
sehnt, bedarf nicht näherer Ausführung. Wohl lässt auch
in den Ehen Normalsexueller die gegenseitige Anziehung
oft viel zu wünschen übrig, aber nie ist doch der seelische
und geschlechtliche Unterschied zwischen den Ehegatten
in diesen ein so grosser wie in Urnings-Ehen.
Aus einem unbestimmten Schuldbewusstsein heraus
giebt sich der umische Teil vielfach Mühe, dem anderen
Liebe und Zuneigung zu bekunden, die in Wirklichkeit
nicht vorhanden ist, aber instinktiv fühlt doch der eine,
wenn ihm auch die anormalen Neigimgen des anderen
unbekannt sind, dieses heraus und klagt über Nicht-
verstandensein, Vernachlässigung, Kälte. Es fehlt eben
die wechselseitige Durchdringung der zwei, welche nach
Kant erst das ganze Menschenwesen bilden. Namentlich
das normale Weib mag in der Liebe nichts Halbes, wer
sie nicht stark und mächtig umfängt, wird von ihr nicht
geachtet. Ans der Gleichgiltigkeit entsteht die Lange-
weile, aus Langeweile innere Entfremdung, wenn nicht
gar Hass.
— 54 —
Der Homosexuelle bringt aber noch die Gefahr eines
die Ehefrau in Mitleidenschaft ziehenden Skandals mit
in die Ehe. Der Hochzeitstag bietet der homosexuellen
Leidenschaft und ihrer Bethätigung fast niemals Halt.
Legt der Urning sich Schranken auf^ so trägt er stets
ein unbefriedigtes Gefühl mit sich herum^ folgt er seinem
Triebe^ so kann er nicht nur sich und seine Angehörigen^
sondern auch seine Frau und deren Familie in grösste
soziale Unannehmlichkeiten stürzen. Aus diesem qual-
vollen Konflikt entspringen oft die traurigsten Folgen.
Wir kennen nach dieser Richtung den Fall einer in
Deutschland sehr bekannten Persönlichkeit. Der Be-
treffende verehrt seine Frau ausserordentlich und hat
auch anfangs mit ihr geschlechtlich verkehren können.
Seit Jahr und Tag lebt er in fortwährender Besorgnis,
dass seine umische Neigung ihn zu irgend einer Unbe-
sonnenheit hinteissen, der § 175 ihn ins Unglück stürzen
könne, wobei er immer die Frau im Auge hat. Tem-
peramentvoll wie er ist, konnte er nicht allen Versu-
chungen aus dem Wege gehen und verlebt oft Zeiten
grösster Kämpfe. Glücklicherweise gestatten die Ver-
hältnisse grössere Reisen und häufigen Wechsel des
Aufenthaltes, aber die ewigen Angstgefühle und das
Unterdrücken der eigenen Natur, die er nicht zum
Schweigen bringen kann, erzeugten Nervenstörungen, die
sich vor allem in Schlaflosigkeit und hochgradigen hy-
sterischen Anfällen äussern.
Ein sehr wichtiger Faktor für eheliches Glück sind
Kinder, deren Pflege, Erziehung und Versorgung fort-
gesetzte Ablenkung und Beschäftigung bringen. Besitzen
Urninge die potentia coeundi, so pflegt auch die potentia
generandi meist vorhanden zu sein. Nur stark feminine
Männer, besonders Gynäkomasten und vor allem sehr
virile Uminden sind nach unserer Erfahrung gewöhnlich
unfruchtbar. In Ehen mit urnischen Frauen beobachteten
— 55 —
wir häufiger Kinderlosigkeit^ als in Ehen homosexueller
Männer mit normalen Frauen. Fehlen Kinder, so fehlt
das stärkste Bindeglied zwischen den Ehegatten. Die
normal empfindende kinderlose Frau ist zudem in ihrem
unerfüllten Sehnen den Andeutungen gefälliger Zuträger
leichter zugänglich, sie grübelt mehr, und bei ihr ist die
Wahrscheinlichkeit grösser, dass sie von dritter Seite über
die wahre Natur des Mannes aufgeklärt sich in Zorn von
ihm wendet.
Und doch ist es schwer zu entscheiden, ob in Urnings-
ehen der Besitz oder der Mangel von Nachkommen das
wünschenswertere ist. Ganz abgesehen davon, dass auch
die Söhne und Töchter von dem Skandal betroffen werden
können, mit welchem der > homosexuelle Vater stets zu
rechnen hat, sind hier die Gesetze der Vererbung sehr
zu berücksichtigen. Denn nicht gering ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass von Urningen und Uminden Kinder
und Enkel stammen, welche ein ähnliches Schicksal mit
auf die Welt bringen, als die Vorfahren tragen mussten.
Und sind die Nachkommen auch nicht selbst homosexuell,
so sind sie doch stets hereditär belastet. Es ist zweifel-
los, dasi^ es unter den konträrsexüellen ' viele gesunde
und kräftige Menschen giebt, aber ebenso sicher ist es,
dass die Homosexualität vor allem auf dem Boden neu-
ropathischer Familiendisposition gedeiht. Dafür sprechen
die übereinstimmenden Familienanamnesen, in welchen
wir fast nie die mannigfachsten nervösen und psychischen
Störungen vermissen, dafür spricht das so häufige Vor-
kommen urnischer Geschwisterpaare. Unter den wenigen
Nachkommen urnischer Frauen, die ich prüfen konnte,
fanden sich mehrere homosexuelle junge Männer. Ich
will aus meinem Material die Familiengeschichte heraus-
greifen, welche mir Graf E] zur Verfügung stellte, sie
ist eine der lehrreichsten Beispiele für die Macht der
Vererbung. Ich will betonen, dass an der Wahrhaftig-
— 56 —
keit der Angaben nicht zu zweifeln ist^ nur manches gar
zu Krasse weggelassen wurde, weil es nach des Patienten
eigenem Ausspruch die Satyren 2, 6 und 9 des Juvenal
weit überbieten würde.
Graf R, jetzt 28 Jahr, war ein stilles, sehr frühreifes Kind^
das mit 6 Jahren dentsoh, englisch, französisch nnd slovakisch
fliessend sprach und sich mit Vorliebe in der Privatbibliothek
aufhielt, welche 8000 Bände umfasste. Sein Urgrossvater mütter-
licherseits war ein überaus jähzorniger Mann, er besass einen
Kammerdiener, an dem er mit so zärtlicher liebe hing, dass er
deshalb für geistesschwach galt. Aus seiner Ehe mit der sehr
hochmütigen, sozial TÖllig „untraktabelen'^ Urgrossmutter gingen
zwei Söhne und eine Tochter hervor. Der älteste Sohn, ein sehr,
yersohlossener, von Menschenhass erfüllter Charakter hatte fünf
Kinder, von diesen starb der älteste Sohn an Bückenmarks-
schwindsucht „trotz wiederholter Besuche des heiligen Wassers
von Lourdes'^, der zweite war von so furchtbarer Härte und so
grossem Geiz, dass seine Kinder gezwungen waren, wegen mangel-
hafter Verköstigung und unwürdiger Behandlung das Elternhaus
zu verlassen. Aehnliche Eigenschaften zeigte eine Tochter, die
einen schwachsinnigen Sohn hatte, eine zweite überaus religiöse
Tochter war an einen rein homosexuellen Mann verheiratet, der
sie auch nicht ein einziges Mal berührte, die jüngste Tochter
endlich war so religiös, dass sie sich in eine eigens gebaute
Klausnerhütte einsperrte, sich blutig geisselte und oft acht Tage
lang nur Wasser und Brot ass. Die einzige Tochter des Urgross-
vaters litt an einem chronischen Gesichtsausschlag und kam nur
ihrer hohen Mitgift wegen an einen Mann, der verarmt und Alko-
holiker war. Ihrer Ehe entstammte ein Sohn und vier Töchter.
Der Sohn mit einem Zungenpolyp behaftet, erkrankte an Syphilis,
steckte seine Frau an und erzeugte einen schwachsinnigen Sohn,
der nur lallende Laute stammelt, und eine völlig gelähmte Tochter,
deren eines Auge syphilitisch zerstört ist. Die älteste Tochter
hatte ein ganz männliches Gebahren. Sie war so menschenfeind-
lich und grausam, dass die Bauern sie 1848 ermorden wollten
und ihr mehrere Kugeln in den Rücken schössen. Sie marterte
eine kleine Stieftochter in haarsträubender Weise zu Tode, um
sich in den Besitz ihres Vermögens zu setzen. Die infolgedessen
anhängig gemachte gerichtliche Untersuchung wurde sistiert.
Wegen eines geringfügigen Vergehens lässt sie ihr Dienstmädchen
300 mal die Treppen des 4 Stock hohen Schlosses auf- und nieder-
— 57 —
steigen. Als die Unglüokliche beim 285 male zusammenbricht^
ohrfeigt sie dieselbe mit Vehemenz. Sie ist ausserdem von
grösstem Geiz beseelt. Der Sohn dieser Frau Hess als Leutnant
die Stallwaohe von 2 anderen Soldaten auf sein Kommando so-
lange prügeln, bis dieselbe ohnmächtig zusammen sank. Dann
zertrat er ihr mit den Stiefelabsätzen das Gesicht, bis es eine
unkenntliche, blutige Masse bildete. Der Grund war: Die Stall-
wache hatte nicht salutiert« Er wurde infam cassiert und zu
20 Jahren Festung verurteilt, jedoch nach 7 Jahren aus der Haft
entlassen. Von den drei anderen Töchtern der Urgrosstante ist
die eine höchst wahrscheinlich homosexuell, sie hasst die Männer,
blieb ledig und lebt seit 40 Jahren intim mit einer Dienerin, die
nächste ist wegen ihrer Boshaftigkeit allgemein gefürchtet und
gemieden, die jüngste wurde als fünfzehnjähriges Mädchen er-
tappt, wie sie bei einer Gasttafel von 60 Personen einen jungen
Of&zier unter der Tischdecke onanisierte.
Wir kommen nun zum zweiten Sohne des Urgrossvaters, dem
Grossvater unseres Grafen R. Dieser war so jähzornig, dass er
wiederholt Wilderer eigenhändig niederschoss, den Patronatspfarrer
wegen Meinungsverschiedenheiten zum Fenster des Schlossturmes
hinaus warf. Er war masslos im Begehren nach dem Weibe,
wurde mit Gewalt von einem Incest zurückgehalten, den er mit
seiner Tochter begehen wollte. Er ging schliesslich nach Ver-
schwendung des 10 Millionen Gulden betragenden Vermögens an
Gehirnerweichung zu Grunde. Von den zahlreichen Kindern dieses
Mannes war der älteste Sohn sehr ausschweifend mit einer nicht
weniger ausschweifenden Frau, illegitimen Kinde aus höchstem
Hause, verheiratet. Aus der Ehe, welche später gelöst wurde,
gingen 2 Kinder hervor. Der Sohn war ein Taugenichts, er wurde
aus der Schule entfernt, weil er in der dritten Lateinklasse dem
Professor vor den Kameraden hinterrücks ins Gesicht urinierte,
zur Besserung nach Australien geschickt, brachte er es später
doch noch durch Protektion mit grossen Kosten zum Reiteroffizier.
Seine Schwester stürzte sich, ihren eigenen Sohn und einen
18jährigen Kadetten, den sie liebte, bei Sturm vom Segelboot
ins Meer, aus Verzweiflung und Eifersucht, weil der Kadett ihrem
Sohne mehrzugethan war. Sie und der Kadett ertranken. Der ge-
rettete Sohn gab an, dass seine Mutter ihn noch im Wasser zu
erwtbrgen versuchte. Der zweite Sohn des Grossvaters hat Ver-
folgnngs Wahnideen, er hält sich in Wien vier Wohnungen, jede
mit Doppelausgang.
Das dritte Kind des Grossvaters war die Mutter des Grafen
— 58 —
B., sie fühlte sich bis zum 25. Jahr nur von Mädchen angezogen.
Ans der Zeit ihrer Ehe, die im 63. Lebensjahre getrennt wnrde,
sind homosexuelle Akte nicht bekannt, später scheint die alte
Neigung wieder stärker aufgetreten zu sein; sie war litterarisch
sehr begabt, ungemein wülensstark, überstand 5 schwere Geburten,
bei zweien trat Tetanus ein. Sie war von enormer Korpulenz
und starb an Kierenwassersucht Von den jüngeren Brüdern der
Mutter ist einer Junggeselle und starker Sonderling, er ttdpierte
dreimal handschriftlich die ganze Bibel, ein anderw, der sehr aus-
schweifend lebt, macht einen schwachsinnigen Eindruck, er liebt
esy auf offener Strasse ganz unbekannten Damen Blumenstriiusse
zu überreich^ welche ein angenommener Junge im offenen Korbe
nachtragen muss. Er hat zwei Töchter, welche in eine ge-
richtliche Untersuchung yer¥nckelt wurden, weil sie bei einer
gegenseitig vorgenommenen homosexuellen Handlung betroffen
wurden. Die Untersuchung wurde niedergeschlagen. Ein letzer
Onkel mütterlicherseits war so jähzornig wie sein Vater, ausser-
dem derart hochmütig, dass er als jimger-Mann aus dem Institut
entfernt werden musste, weil er sich konsequent weigerte, die
Professoren zu grüssen. Die beiden Kinder, welche er besass
nahmen sich an einem Tage das Leben, der Sohn erhängte sich
auf dem Dachboden, das Mädchen stürzte sich mit einem Stein
um die Hüften in den tiefen Schlossteich. In einem hinterlassenen
Schreiben . geben sie an, „sie wollten sehen, welcher Tod ange-
nehmer sei". Von den beiden Schwestern der Mutter trieb die
eine geschlechtliohe Ausschweifungen aller Art mit Männern, sie
lebte in kinderloser Ehe mit dem . Vetter, von welchen wir oben
berichteten, dass er an Bückenmarksdarre starb. Sie tritt schliess-
lich unter päpstlichem Dispens als Nonne in den sacre-coeur
Orden, nachdem sie ihr halbes Vermögen Leo XIII. in goldener
Kassette geopfert hatte. Ihr linkes Ohr ist- von Lupus zerfressen.
Die jüngste Schwester der Mutter blieb aus „Schamhaftigkeit"
jungfräulich. Sie war eine geistig hochbedeutende Persönlich-
keit, sehr geschätzt vom Fürsten Bi«marck) ausgezeichnet durch
Ideenreichtum, Originalität und Beherrschung der Philosophie.
Nur in religiöser Hinsicht war sie so extrem, dass sie sich mitten
im Winter mit einem Büsserhemde bekleidet 14 Tage und 14
Nächte mit geringen Unterbrechungen auf ein eigens dazu ver-
fertigtes Kreuz legte, das vor dem Hochaltar der kalten Schloss-
kapelle angebracht war.
Auch die väterliche Familie ist reich an Abnormitäten. Der
Vater des Vaters war Kleptomane. „Kein silberner Löffel, kein
~ 59 —
Bing'' war vor ihm sicher. Er verschwendete in wenigen Jahren
2 Millionen Gulden. Seine Frau war hochgebildet, geistreich, aber
80 frivol, dass sie sich jedem beliebigen Jklanne hingab. Die
Moral nannte sie „ein undeutsche» Wort ohne Inhalt. '^ Der älteste
Sohn dieses Ehepaares wurde bei einer Skandalaffäre vom Gatten
der beteiligten Dame getötet, der zweite, der Vater des Grafen,
war überwiegend homose^cuell. Sogar in der besten Zeit der Ehe
war längere Zeit die erste Person im Hause ein junger Bursche,
den er als Kutscher aufgenommen hatte und in dessen Zimmer
er stundenlang verweilte. Vor allem liebte er schwärmerisch
seinen Halbbruder, welchem er die grössten Opfer brachte. Die
Frau desselben, welche ihm nachstellte, wies er derb zurück. Der
Halbbruder besitzt 13 Kinder, meist Priester und Nonnen mit
teilweise konträrem Empfinden. Der Vater ist ausserdem Alko-
holist, und ist jetzt nach 30 Jahren stärkster Ausschweifungen
und zeitweiliger Intemierung in Anstalten völlig paralysiert. Seine
vier Söhne, von denen Graf R. der dritte ist, sind ohne Aus-
nahme konträrsexueU.
Der älteste ist zugleich Stiefelfetischist. Er hat hundertund-
achtzehn bemerkenswert hohe Stiefelpaare. Ein Mann ohne Stiefel
übt keine Anziehungskraft aus, wohl aber der Stiefel ohne Bursch,
besonders interessiert er' sich für die Knöchelfalten. Trotzdem
er ein überaus wohlhabender Mann ist, schmiert und putzt er die
Stiefel eigenhändig und entfernt etwaigen Staub mit Hülfe kost-
barer Seidentücher. Es war das schon in jungen Jahren beim
Militär seine Freude, wo er sich den Kameraden als Stiefelputzer
aufdrängte. Die mit bestem Gänsefett geschmierten lieblings-
paare werden mit ins Bett genommen. Ein Weib per vaginam
zu gebrauchen ist ihm total unmöglich, er fühlt sich, zu Burschen
niedersten, Standes hingezogen. Sein Geruchssinn zeigt merk-
würdige Anomalien. Seine sexuelle voluptas wird durch nichts
so angeregt wie durch flatus der nur mit Stiefel bekleideten
Burschen, er veranlasst daher dieselben gegen gute Bezahlung
schon tagelang vorher Bohnen, Sauerkraut und Knobel zu ge-
messen. Dagegen ist ihm der Geruch des Franenkörpers so zu-
wider, dass er, wenn er seine Nähe nicht meiden kann, Kampfer
schnupft. Auf einem Hofball liess er seine Tänzerm Herzogin
H. plötzlich zu allgemeiner Verwunderung im Saale stehen und
eilte nach Hause, weil ihm der Schweiss der hohen Dame trotz
angewandter Parfüms unerträglich roch. Infolge seines mehr als
sonderbaren Gebahrens kpnnte er es zu keinem Wirkungskreis
bringen, der seiner geistigen Befähigung entspricht. Er ist be-
— 60 —
sonders veranlagt für höhere Mathematik, mnsikalische Kompo-
sition und Schachspiel, gleich virtuos als Klavierspieler und —
Koch. Er leidet an melancholischen Zuständen, unter deren Ein-
fluss er öfter monatelang im Bett bleibt. Bei seiner Geburt, die
mittelst Zange erfolgte, wurde er nicht unerheblich am Hinter-
haupt verletzt.
Der zweite Bruder ist ebenfalls aktiver Paederast. Er ähnelt
geistig und körperlich sehr seiner Grossmutter, die sich durch
besondere Frivolität auszeichnete. Mit 22 Jahren wurde er in
Smyma im Verkehr mit einem männlichen Prostituierten syphilitisch.
Er ist verheiratet und hat ein Töchterchen. Von scharfem Ver-
stand und umfangreichen Wissen, weissagt man ihm eine grosse
Zukunft, zumal er die Homosexualität wohl zu verbergen weiss
und fast nur mit seinen Kousins, den Söhnen des Halbbruders
väterlicherseits, sexuellen Umgang pflegt
Von dem jüngsten Bruder ist ausser seiner zweifellosen Homo-
sexualität nichts Besonderes zu berichten.
Graf B. selbst ist, abgesehen von starken Hämorrhoiden ge-
sund und kräftig; Neigung zu Fettleibigkeit. Er lebt massig, ist
unauffällig gekleidet und sieht, wie er selbst sagt, darauf, dass
im Hause peinlichste Ordnung sowie thatsächliche, jedoch nicht
Übertriebene Religiosität herrschen. Er liebt sehr die Litteratur
und ist selbst nicht ohne dichterische Beanlagung. In seinem
Gesicht sind feminine Züge deutlich. Seine Stimme besitzt weib-
liche Klangfarbe und was die Höhe betrifft, so macht ihm sogar
die berühmte Arie der „Königin der Nacht" in der Zauberflöte
keine Schwierigkeit. Die Brustwarzen schwellen zeitweise an
und werden dann so empfindlich, dass er kein steifes Hemd tragen
kann. In seiner sexualen Geschichte führt er die erste Anregung
zur Masturbation auf einen Vorgang siurück, der sich ihm mit
photographischer Schärfe einprägte. Man hatte ihm wegen seiner
frühen geistigen Entwickelung bereits mit 4 Jahren einen Haus-
lehrer engagiei*t. Eines Abends sah er, als die Mutter verreist
war, aus seinem Bette, das Vom Schlafzimmer der Mutter nur durch
Vorhänge und eine Thür getrennt War, in allen Einzelheiten,
wie sein V^ter mit dem jungen Lehrer sexuell verkehrte. Von
da ab übte er Auto -Masturbation besonders in einem von Jesuiten
geleiteten Lehrinstitut, wo er sich „für den Hausknecht mehr inte-
ressierte als filr die Kameraden, ausschliesslich Söhne des reichsten
und ältesten europäischen Adels."
Im 16. Jahre siedelte er nach Paris über, wohin die Eltern
bereits früher gezogen waren. Hier wurde er von einem Abb6>
— 61 —
der zn seinen Lehrern gehörte, in alle homosexuellen Praktiken
eingeführt. Mit dem Weibe hat Graf R. trotz denkbarster Ver-
suche nicht verkehrt. Es war ihm stets unbegreiflich, „wie man
die Franen als das schöne Geschlecht bezeichnen könne.'' Im
homosexuellen Verkehr ist er passiv und zwar zieht er Soldaten,
Matrosen, Fleisoherburschen u. dergl. „Gebildeten'' vor. Graf B.
schliesst seine ausführliche Lebensgeschichte mit einer Bemerkung,
welche wir in ähnlicher Weise wiederholt in den Selbstbiographien
Homosexueller finden, und die sich nur dadurch erklären kann^
dass die Träger der Homosexualität dieselbe wie ein untrennbares
Stück ihres eigenen Selbst wahrnehmen; er schreibt: Ich empfinde
die Homosexualität nur insofern als Uebel, als sie sich am Ver-
fall unseres Hauses beteiligte und mich bereits öfter den Armen
der „Gerechtigkeit" nahe brachte. Sonst aber bildete gerade mein
Leiden für mich die Quelle jeder Lebensfreudigkeit. Am nächsten
Baumast, der 100 Elilo tragen kann — das ist mein Gewicht —
knüpfte ich mich auf, falls der Trieb erlöschen oder umsuggeriert
würde."
Wir aber möchten die Geschichte dieser Familie
und die Betrachtungen über die Vererbung mit einer
Frage schliessen: Sollte die Homosexualität, welche auf
dem Boden der neuropathischen Belastung reift, nicht
vielleicht eines der Mittel sein, mit welchem die Natur
einem Stamme in sich ein Ende zu setzen bestrebt ist?
Soviel steht fest: würde die normale Ehehälfte vor-
her über die Homosexualität der anderen aufgeklärt sein,
wären ihr die hier geschilderten wahrscheinlichen oder auch
nur möglichen Folgen dieser Veranlagung bekannt, sie
würde wohl in den meisten Fällen verzichtet haben*
Der umische Teil giebt dem anderen nicht, was er er-
wartet und worauf er Anspruch hat. Es ist nicht zu
viel gesagt, wenn wir behaupten, der über sich selbst
unterrichtete Urning, der, ohne sich als solcher zu er-
kennen zu geben, zur ehelichen Lebensgemeinschaft
schreitet, macht sich des Betruges schuldig. In ver-
stärktem Maasse gilt das gegenwärtig, wo nach dem neuen
bürgerlichen Gesetzbuch die Ehescheidung auf Grund un-
— 62 —
überwindlicher Abneigmig nicht mehr zulässig ist. Blosse
Andeutungen^ man mache sich nichts aus dem sexuellen
Verkehr, man betrachte die Ehe nur als eine gegenseitige
Unterstützung, genügen nicht, sie werden meist nicht
verstanden. Uns sind mehrere Falle bekannt, in denen
sich später die Männer darauf beriefen, sie hätten ja den
Frauen vorher Hinweise gegeben, wo in Wirklichkeit
aber die Frauen keine Ahnung hatten. Früher oder
später erreichen in den meisten Ehen Grerüchte vom
homosexuellen Verkehr des Mannes die Ohren des Weibes.
Oft sind es Chanteure, die unter jPSndeutung auf den
§ 175 R-Str.-G.-B. die Frau ängstigen. Wie gut ist es,
wenn sie den von Hass oder Gewinnsucht erfüllten Per-
sonen dann entgegnen kann: „Das weiss ich und wusste
es von Anfang an." In den meisten Fällen wird allerdings
die Aufklärung die Wirkung haben, dass der normale
Teil zurücktritt, es sei denn, dass rein praktische Gesichts-
punkte, manchmal auch wahre Sympathie den Ausschlag
geben. Würde über die Homosexualität die richtige Er-
kenntnis herrschen und der § 175 beseitigt sein, so würde
man vorkommenden Falles diesen Punkt wie andere Vor-
fragen ruhig und eingehend im Schosse der Familie be-
sprechen können.
Hierzu ist fireilich erforderlich, dass auch das weib-
liche Geschlecht von dem noch jetzt vielfach beliebten
Standpunkt grösster Unkenntnis aller sexuellen Dinge
geheilt werde und die Ausschreitungen der Prüderie auf-
hören, welche mit dem naturwissenschaftlichen Charakter
unserer Zeit in so grellem Widerspruche stehen. Ver-
zichten wir auf jenes künstliche Produkt völliger Harm-
losi^eit, das ja auf manchen Mann vorübergehend einen
gewissen Reiz ausübt und helfen wir den Frauen, dass
sie den Zustand kindlicher Unfreiheit abstreifen. Wenn
erst das Weib seine eigene Geschlechtsnatur, sowie die-
jenige des Mannes klar zu erkennen imstande ist, dann
— 63 —
werden auch die unzähligen Missverständnisse vor und
in so vielen Ehen nachlassen^ und auch über die umische
Gefühlsrichtung wird sich die so wünschenswerte Klar-
heit verbreiten.
Immerhin wird es Frauen geben, die sich entschliessen,
auch einem nicht normal empfindenden Manne die Hand
zum Lebensbunde zu reichen, vor allem solche, bei denen
geschlechtliche Wünsche gamicht oder nur in sehr ge-
ringem Grade hervortreten. Eine entschiedene nicht
selten zur Ehe führende Wahlverwandtschaft besteht
zudem zwischen homosexuellen Männern einerseits und
homosexuellen Frauen andererseits; die robuste, energie-
volle Uminde sympathisiert mit dem zartbesaiteten, oft
so hilflosen unselbstständigen Urning und umgekehrt.
Diese Ehen, wo beide Teile bewusst oder imbewusst
mehr oder weniger sexuelle Zwischenstufen darstellen,
sind viel häufiger als man glaubt, und sie' sind nicht die
unglücklichsten.
Wir bringen umstehend das Bild eines derartigen uns
bekannten Ehepaares; der blosse Augenschein lehrt^ wer in
dieser Ehe die aktiv virile, und wer die passive, feminine,
Hälfte ist.
Auch folgende uns übersandte Selbstbiographie, die
wir im Auszuge wiedergeben (unter Hinfortlassung der
ausführlichen Toilettenschilderungen) ist in dieser Hin-
sicht lehrreich.
„loh Btamme'^, heisst es in diesem Berioht, „aus guter, reicher
Familie, meine Mutter war eine seelensgute Frau, hie und da mit
etwas exoentrisohen Ideen behaftet, meinen Vater habe ich nicht
gekannt, da er knrz nach meiner Geburt starb; er soll ein sehr
kleiner, schmächtiger Mann gewesen sein mit sehr wenig Bart-
wuchs und auffallend hoher Stinune; meine Mutter sprach nicht
gerne von ihm, warum konnte ich nie erfahren. Ich hatte eine
Schwester, die um ein Jahr älter war als ich und der ich frappant
ähnlich sah. Ich war ein durch seine Schönheit auffaUendes, aber
ungemein zartes und kleines Kind und wurde bis zum 10. Jahre
mit meiner Schwester zusammen von einer Bonne erzogen. Mein»
Schwester war ganz normal, Ich jedoch war gu nJcht bo, wio
Andere Knaben, ich mied ihre OeaellBobaft, da sie mir zn tnrbn-
leot nnd roh waren, an ihren Spielen fand ich keinen Gesohmaok,
hingegen weilte ich gern bei den Gespielinnen meiner Sohweeter.
Mit Vorliebe sog iah männlichen Pnppen weibliche Kleider an
nnd umgelcehrt; für weibliche Arbeiten hatte ich deaädierten Sinn
und gtosae Geeohioklicbkelt, ieh stickte, häckelte und nähte
fleissig mit meiner Schwester. Etwas ganz Unwid erste hlichea zog
mich ZOT MSdohenkleidnng hin. Wenn ich mieh im Spiegel be-
sah, kam ich mir in meinen Hanneskleidem lächerlich vor. Mein
Etzieher, den ich im 11. Jahre bekam, schalt mich oft wegen
m^er Hädohenhaftigkeit; er hätte mieh gern zu einem wilden
— 65 —
Jungen gemacht, sodass ich oft weinen rnnsste. Ich stuidierte
privat, lernte gut und machte mit 17 Jahren die Matnrit&tsprüfong.
Am Klavier hatte ich derartige Fortschritte gemacht, ^ass ich
künstlerisch spielte.
Um diese Zeit sollte von Amateurs eine Theatervorstellong
veranstaltet werden und mir wurden zwei Damenr&Uen zugeteilt.
Endlich sollte m^ sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen, inich
als Mädchen kleiden und benehmen zu können und noch dazu
öffentlich. Mit Feuereifer ging ich an das Studium meiner Bollen,
wobei mir meine Schwester half. Als ich mich zuerst im Spiegel
ganz als Mädchen sah, bebte ich am ganzen Körper vor Freude
und Wonne ; ich fühlte mich wie neugeboren, mir war es, als ob
dies die Kleidung sei, die immer zu tragen mir bestimmt sei.
Ich konnte mich nicht vom Spiegel trennen, ich drehte mich, um
die Röcke fdegen zu lassen, hob sie an, um die Unterröcke und
Schuhe zu sehen, ging auf und ab, wobei das Batischen der
seidenen Unterröcke mich glücklich machte, betrachtete imch von
^ allen Seiten und konnte mich nicht satt sehen.
Die Proben zu luüerer Theatervorstellung hatten begonnen,
bei denen ich stets als Dame gekleidet erschien, worüber man
anfangs erstaunt war, doch sollte ich ja Frauenrollen gebexl und
• 80 fand man es bald natürlich, dass ich so angezogen kam. Mama
brachte mich gewöhnlich im Wagen hin und holte mich wieder
ab. Eines Tages schlug mein Kousin, der auch -mitspielte, vcr,
• mich zu Fuss nach Hause zu geleiten. Ich erschrak über diesen
Vorschlag: „So soll ich auf die Gasse? man wird mich ja gleich
in meiner Verkleidung erkennen?^ „Gar keine Spur, kein Mensch
wird eine Ahnung haben, denn du siehst ja aus, wie ein echtes
Mädel", war seine Antwort. Dies gab mir Mut, ich nahm seinen
Arm und wir gingen. Der erste Schritt in Weiberkleidem auf
der Gasse. Anfangs war ich doch etwas ängstlich, doch als ich
merkte, dass man mich nidit erkannte j gewann ich Vertrauen,
wir gingen sogar in eine Konditorei, wo ich als Fräulein tituliert
wurde, was uns köstlich amüsierte.
Endlich kam der Tag der Vorstellung, mein Erfolg war ein
durchschlagender; keine wirkliche Dame liatte besser gespielt.
Man fand nicht nur mein Aussehen, sondern auch mein Spiel
' echt weiblich. Man war so entzückt, dass, ^s eine Woche nach-
' her in demselben Hause ein kleiner Ball gegeben wurde, allgemein
der Wunsch geäussert wurde, ich möge auf demselben als Mäd-
chen gekleidet erscheinen. Mama war «o gut, es zu gestatten
. und als auf dem Balle meine Schwester, der ich zum Verwechseln
Jahrbuch lU. 5
— 66 —
ähnlich sah und ich hinter Mama eintraten, ging ein allgemeines
Ah dnrch den Saal, alle Tänzer rissen sich um mich, ich war
entschieden die Ballkönigin and bekam beim Kotillon die meisten
Bouquets.
Ein Jahr darauf starb meine Schwester am Typhus und aber-
mals ein Jahr später meine Mutter an Lungenentzündung. Da ich
ruhig und vernünftig war, liess mich mein Vormund mit 2 1 Jahren
grossjährig erklären. Bevor ich zu der jetzigen Phase meines
Lebens komme, wUl ich ein Bild von mir in diesem Momente
geben.
Obzwar 21 Jahr alt, sehe ich aus wie ein zarter, kleiner,
14jähriger Knabe, Gesichtszüge ungemein fein, Teint rosig, kleiner
Mund, grosse dunkelblaue Augen mit grossen Wimpern, voll-
kommen bartlos, ein wahres Mädchengesicht; Haut sehr weich
und weiss, Gestalt zierlich, Hüften breit, Arme rund, auf der Brust
etwas Fettpolster, sodass die Brüste etwa denen eines 15jährigen
Mädchens gleichen, Hände und Füsse klein, der ganze Körper
glatt, nur die Geschlechtsteile schwach behaart, der Penis so
klein, wie der eines 10jährigen Knaben, im Scrotum nur ein
Hoden, etwas grösser wie eine Haselnuss (Krjptorchismus), Stimme
sehr hoch, ein Geschlechtstrieb fehlt vollkommen; mein Kopfhaar^
das sich weich und seidig anfühlt, trage ich & la vierge gekämmt.
So war ich als ich ganz selbstständig wurde und ein bedeutendes-
Vermögen zu meiner Verfügung stand. Da meine Neigungen
stärker denn je, ging ich baldigst daran, mich ganz zu feminisieren.
Meine bisherige Wohnung war mir zu herrenmässig, ich richtete
mir daher in einigen Räumen, die früher von meiner Mutter und
Schwester bewohnt waren, eine Wohnung her mit allem Luxus
einer eleganten Modedame. Das Schlafzimmer wurde weiss, da»
Boudoir blau, das Toilettezimmer rosa, der eine Salon mit gelbem,
der andere mit rotem Damast eingerichtet, das Esszimmer weiss-
und gold.. Männliche Bedienung habe ich nie gemocht und wurde
dieselbe jetzt durch weibliche ersetzt. Marianne und ihre Tochter
Julie, die beiden Kammerfrauen, waren nach dem Tode meiner
Mutter und Schwester ohne Beschäftigung, beide dem fiause sehr
attachiert und da äie mein« Passionen genau kannten, für mich
sehr passend. Ich setzte sie von meinen Plänen in Kenntnis^
appellierte an ihre Anhänglichkeit und Verschwiegenheit, beid&
nahmen freudig an. Julie übernahm sogleich meine persönliche
Bedienung. Nun füllten sich bald die Kästen mit der besten
Damenwäsche, Hemden, Hosen ans feinstem Battist und Seide
mit Spitzen und Bändern geziert, seidene und Battist-Unterröcke,.
— 67 —
ebenMlfl mit Spitzen, seidene Strümpfe, Hüte, Schuhe etc., vor
allem die sohönsten Rolfen aller Art; es wairen ihrer viele,
solche für junge Madien und solche für junge Frauen, Ballroben
mit und ohne Schleppe, Soir^etoiletten, allerlei Strassen- und
Haustoiletten, Beshabill^es,. Matin^es, Mäntel, Jäckchen, auch
Kosttime für Maskenbälle, ich erwähne nur Bäuerin, Spanierin
Baby, Fantasieblumenmädchen, Schäferin ä la Watteau, Rococo-
dame, Marie Stuart, Empirekostüme. Was meine Tageseinteilung
anlangt, so nehme ich. nach dem Frühstück um 10 Uhr ein laues,
parfümiertes Bad, nacliher kleidet .mich Julie an, irgend eine ele-
gante mit Spitzen verzierte Matinee oder ein Hauskleid. Den Vor-
mittag verbrachte ich dann mit Stricken, Häckeln, Klavierspiel,
Lektüre. Nach dem Dejeuner, das um 1 Uhr serviert wird, musste
ich mich manches Mal noch als Mann kleiden, doch geschah dies
nur sehr selten, da ich mich aus meinem früheren Kreise mehr
und mehr zurückgezogen hatte. Die Männerkleider waren mir
sehr lästig, meist blieb ich Dame, auch wenn ich ausfuhr und
ausging, nien^and erkannte meine Verkleidung, ich war eben für den
Unterrock geboren. Marianne war als Gardedame herausstafiiert
worden. Um 7 Uhr war Dinerstunde, abends pflegte ich öfters
das Theater zu besuchen, hierzu kleidete ich mich als junges
Mädchen oder als junge Frau, Marianne chapronierte mich und
sah sehr' possierlich an . ihrem Ehrenplatze aus. Besonders gern
besuchte ich ein Operettentheater, dessen Star, eine Sängerin,
namens Lea, beinahe ausschliesslich in Hosenrollen auftrat. Sie
war für dieses Genre wie geschaffen, hoch und schlank ge-
wachsen, das Gesicht schön doch scharf geschnitten mit männ-
lichen Zügen, die Stimme mit merkwürdig tiefem Timbre. Wenn
sie als Mann auftrat, war sie ganz Mann, sie ging und bewegte
sich als solcher, alles weibliche war bei ihr verschwunden; sie
tnig kurz geschorenes Haa^ und ging zu Hause stets in Männer-
kleidem, auch hörte ich von ihr erzählen, sie fühle sich unglück-
lich in ihrem Geschlecht. Es drängte mich, ihre Bekanntschaft
zu machen. In einem Briefe entwarf ich ein Bild von mir, meinem
Fühlen und Denken und drückte den sehnlichsten Wunsch aus,
mich ihr vorzustellen. Umgehend erhielt ich eine bejahende
Antwort; sie lud mich für den folgenden Tag nach dem Theater
zu sich, mit dem Beifügen, dass wir allein sein würden,
da wir uns viel zu sagen haben würden. Ich machte
sorgfältige Toilette, mein Haar wurde in einen griechischen
Knoten gesteckt und mit Brillanten umgeben etc. etc., in einen
langen mit Seide gefütterten Mantel gehüllt, fuhr ich zu Lea,
— 68 —
welche mich in einem cliiken Frackanznge erwartete; sie machte
wirklieh ganz und gar den Eindruck eines feinen jungen Herrn.
Als ich eintrat, kam sie verwundert auf mich zu, wir standen
einen Moment unter dem Eindrucke, das s wir seelenverwandt,
uns gefunden; welche merkwtlrdige Metamorphose, sie
das Weib stand da, als eleganter junger Mann und ich der Mann
dagegen als sihhüchtemes Mädchen. Endlich ktlsste mir Lea ga-
lant die Hand und machte mir Komplimente über mein Aussehen
und meine Toilette, wir freundeten uns gleich an, wir waren ja
ganz dazu geschaffen, uns zu verstehen. Beim Thee sitzend,
spräichen wir lange, lange ttber unser Empfindet und Denken,
gleich am ersten Tage schütteten wir uns das Herz aus; ich hatte
richtig vermutet, Lea war das Gegenstück zu mir, mir gefiel
an ihr das männliche Wesen und sie wiederum fand
Gefallen an meiner Mädchenhaftigkeit. Erst spät in
der Nacht kehrte ich heim. Wir sahen uns beinahe täglich. Ich
lernte bei ihr auch einen Prinzen aus königlichem Hause, der im
gewöhnlichen Leben Leutnant in einetii Kavallerie-Begiment ist,
in einem reizenden duftigen Kleidchen aus weissem Thantropfen-
tüll mit Maiglöckchen etc. kennen. Er klagte sehr über seine
Stellung, wie gern würde er die Uniform mit Mädchenkleidem,
den Säbel mit dem Fächer vertauschen, der arme Junge! Bis
nun war ich wirklich ganz unverdorben, ganz unschuldig. Durch
Lea wurden mir die Augen ge()fihet, 'mein Staunen war gross,
doch der natürliche Trieb ist mächtiger, als alle Gesetze, ich
fürchte mich nur vor dehi Moment, wo ich wieder Mann werden
muss, wenn die Täucichung nicht mehr fortgesetzt werden kann.
Dennoch tröste ich mich mit dem Gedanken, dass ich mehr Glück
hatte, als viele meiner Leidensgenossen, indem ich eine Zeit lang
wirklich das sein konnte, was ich bin und dabei glücklich war."
Nur ein kleiner Bruchteil urnischer Männer und
Frauen werden unter den geschilderten Umständen zu
einer Art Scheinehe gelangen können, die meisten werden
auf die grossen Güter, die eine eigene Familie in sich
birgt, \^on vornherein verzichten müssen. Es ist zu ver-
stehen und zu verzeihen, wenn Urninge selbst in ihrer
traurigen Vereinsamung auf den sonderbaren Gedanken
verfielen, dass auch Ehen zwischen Personen desselben
Geschlechts eingegangen werden könnten, selbst ein Mann
wie Ulrichs spielte mit dieser Idee, deren Widersinnigkeit
— 69 —
doch schon daraus . erhellt^ dass.in solchen Fällen der
Hauptzweck der. Ehe, die Erhaltung, der Art, die Er-
zeugung und Erziehung von Kindern unn^öglich ist Fällt
aber auch für die Urninge der Zweck hinweg, so bleibt
doch auch für sie der Grund zur Einehe, die individuelle
Liebe bestehen. Denn nur in der Richtung, nicht in der
Stärke und Art ist die homosexuelle Liebe von der hetero-
sexuellen verschieden. Dort wie hier kommt neben der
Neigung zu einem bestimmten Genre die rein individuelle
Liebe vor mit ihrer starken Tendenz zur Dauerhaftigkeit,
mit ihrer Sehnsucht und Eifersucht, der Sorge um den
Alleinbesitz und den Schwüren ewiger Treue.
Hierdiurch erklärt es sich, dass auch unter Personen
gleichen Geschlechts Bündnisse von langer Dauer vor-
kommen, die . den Charakter der Ehe an sich tragen.
Namentlich unter Frauen ist uns eine beträchtliche
Anzahl , fester Verhältnisse* bekannt geworden ; die
eine »der Mann" steht im aktiven Erwerbsleben, die
andere versieht das Haus. Auch ürningspaare, welche
jähre- und jahrzehntelang, manchmal ihr Leben lang zu-
sammenwohnen und wirtschaften, gehören in Grossstädten
nicht zu den Seltenheiten. In Berlin giebt es ein Schau-
spielerpaar, wo der jüngere sogar den Namen des älteren
angenommen hat. Die Hochzeitsfeste römischer Cäsaren
mit Jünglingen, von denen die alten Schriftsteller be-
richten, sind weder ein Vorrecht der Cäsaren noch der
Antike. Die unterbrochene .Hochzeitsfeier des Amerikaners
Withney mit einem preussischen Ulanen erregte vor
einigen Jahren in Berlin grosses Aufsehen, aber dieser
Fall steht durchaus nicht vereinzelt da.
Es sind jetzt etwa fünf Jahre, dasa ich selbst einmal Ge-
legenheit hatte, einem solchen Vorgang beizuwohnen. Ein
Patient von mir, der mein Interesse für dieses noch so wenig
erforschte Gebiet menschlichen Lebens kannte, schrieb mir,
ob ich der Trauung eines homosexuellen Paares beiwohnen
— 70 —
wolle. Ich willigte ein und fand mich zur angegebenen
Stunde Sonntag Nachmittags in dem bezeichneten Lokal
der Friedrichstadt ein. Als ich eintrat^ sah ich gegen
50 Herren, die offenbar den besseren Ständen angehörten,
in Gesellschaftstoilette versammelt; ein Altar, von Blatt-
pflanzen umgeben/ war errichtet, ' zahlreiche Kerzen
brannten; nicht lange und es erschien ein älterer bartloser
Herr in der Tracht eines Geistlichen und betrat den
Altar; auf dem Harmonium wurde ein weihevolles Lied
gespielt, in das die Versammelten einstimmten. Unter
diesen Klängen zog das Brautpaar, von Brautjungfern,
ebenfalls Herren, geführt, ernst und feierlich in den
Raum, es waren zwei junge Leute, der eine Ende, der
andere Anfang der Zwanziger, beide im Frackanzug, der
ältere trug einen Myrthenstrauss im Knopfloch, der jüngere
einen Myrtenkranz und einen lang hetabwallenden Schleier.
Der Pseudogeistliche hielt eine Rede, in welcher er auf
die Innigkeit dieser Freuüdesliebe, den Entschluss, auch
äusserlich den Bund zu besiegeln hinwies und beide auf-
forderte, in allen Lagen des Lebeüs treu zu einander zu
halten. Beim Wechseln der Ringe sagte er:
Und nun vereinigt Euch das Sakrament,
Bis Zwietracht oder Tod Euch trennt.
Dann wieder Musik und allgemeines Beglückwünschen.
Auf mein Befragen teilte mir der „Kaplan", — so nannten
isie den Geistlichen, — mit, dass er zum neunten Mal in dieser
Weise amtiere. Für manche Teilnehmer schien der Vor-
gang etwas Scherzhaftes, für viele Leser wird er etwas
Blasphemisches haben, für mich hatte es etwas tief Er-
schütterndes. Uebrigens sah ich das Paar vor einigen
Wochen zum ersten Male wieder in einem Cafähause
und erfuhr, das bisher das Verhältnis ein ungetrübtes sei.
Wenn man auch aus naheliegenden Gründen solche
Geschehnisse nicht wird billigen können, so hat es doch
für einen Urning stets grossen Vorteil mit gleich Em-
— 71 —
pfindenden in nähere Beziehungen zu treten. Das ist vor
allem therapeutisch wohl zu beachten. Man denke dabei
nicht an sexuelle Verhältnisse, aber die Urninge haben
unter demselben Drucke stehend, so viele gemeinsame
Interessen, dass allein der Meinungsaustausch gleich
Fühlender Trost und Erleichterung in hohem Maasse ge-
währt. Schon der unverheiratete Urning hat den grossen
Vorzug vor den verheirateten, dass er wenigstens abends
in seinen vier Wänden die Maske der Heuchelei ablegen
kann^ welche der Tag ihm aufzwingt, er hat nicht zu
fürchten, dass die Seufzer, die sich seiner Brust ent-
ringen, jemanden verletzen. Gewiss liegt in dem Ver-
zicht auf eheliches Glück eine der grössten Entsagungen,
welche einem Menschen auferlegt werden kann, aber zur
Unfruchtbarkeit ist man damit nicht verurteilt. Unter
den Grössten aller Zeiten gab es solche, die nicht Menschen
der Ehe waren und sich vielleicht grade darum leichter
frei von vielen Kücksichten und Lasten zur Supervirilität
entwickelten. Kann der Homosexuelle auch nicht leib-
liche, so kann er doch auf allen Gebieten menschlichen
Fortschritts geistige Früchte hinterlassen, viele thaten es
und jedes strebe danach, im Kleinen oder im Grossen
jeglicher nach seiner Kraft.
üranismus
oder
Päderastie und Tribadie bei
den Naturvölkern.
Von
Dr. F. Karsch,
Privatdozent in Berlin.
„. . . trahit sua quemquc voluptas*'
V e rgi I i u s : Alesds 65.
' ■
Einleitung.
In einer Zeit^ welche die bewunderungswürdigsten
Erfindungen zum Gemeingute Aller macht, Erfindungen,
an die unablässig die verbessernde Hand gelegt wird, um
immer neue Geheimnisse der Materie und der Kräfte
aufzuspüren, bleibt ein Bestandteil des menschlichen
Liebestriebs zur Unfruchtbarkeit verurteilt und Unge-
zählten, Unterrichteten und Ununterrichteten, ein Buch
mit sieben Siegeln. Diesen Ungezählten erscheint ein
Liebestrieb, der zum Verkehr der beiden verschiedenen
Geschlechter mit einander drängt, an deren Zusammen trefiPen
die Erhaltung und Vermehrung ihrer Art gebunden ist,
als eine Selbstverständlichkeit und deshalb weiterer Be-
achtung kaum wert; und darüber hinaus giebt es nur
ein — Laster oder ein Nichts!
Nun aber drängte sich im sozialen Leben eines der
hervorragendsten Kulturvölker, der alten Griechen,
— 73 —
eioe andere Form des Liebestriebs mit aller Maoht an
die Oberfläche; sie musste dadurch aufFallen, dass sie dem
Bedür{biss& nach Erhaltung und Vermehrung in keiner
Weise Rechnung trug, demungeachtet aber als> eine leiden^
schaftliche, sinnige oder sinnliche Neigung von Personen
des gleichen Geschlechtes zu einander sich kundgab —
eine Form des Liebestriebs, welcher daher seitd^n die
Bezeichnung ,,griechische Liebe*' verblieben ist. Sie
trat überall im Volke hervor, ihr konnte kein Stand sich
entziehen, und gewaltige Persönlichkeiten, wie 8 ok rat es
und Sappho, wurden dermassen von ihr ergriffen, das&
sie von ihr sich vollkommen beherrscht fühlten. In
Deutschland beginnt eine analoge Entwickdung sich za
vollziehen: die griechische Liebe treibt hier aus schimpf-
licher Verborgenheit an das helle Licht des Tages und
kämpft mit allen erlaubten Mitteln für ihre gesellschaft-
liche Berechtigung. Aber noch überträgt, wer ihr fern-
steht in Deutschland und als Mann Plato's herrliche
Schriften geniessen will, den immer wiederkehrenden
«Knaben** oder «Jüngling^* in die ihm als Liebesgegen*
stand allein verständliche «Jungfrau* oder j,Maid". Die
von griechischer Liebe Erfüllten begreifen wohl die
deutsche Liebe des Mannes zum Weibe und des Weibe»
zum Manne und sie wissen deren möglichen hohen ethischen
Wert vollauf zu würdigen -i- allein verstanden werden
sie selbst noch nicht; Aufrichtigkeit, Erziehung und Ge*-
wohnbeit können da vielleicht Wandel schaffen, wenn man
mit Möry^s verständnislosem »^plaignons et passons" *) —
bedauern und dulden wir sie! — sich nicht zufriedengeben^
sondern als ebenbürtiges Glied mit den Anderen der
Kation,, gemäss den persönlichen Anlagen und Fähigkeiten^
auf seine Art, dem Ganzen sich nützlich erweisen will.
-r-
' *) Joseph M^ry, MonBieur Augnste, Nouvelle Edition, Paris^
1867, Michel Uvy fr^res, Seite 93.
— 74 —
Der griechischen Liebe wird nachgesagt, dass sie bei
Tieren nicht vorkomme und daher unnatürlich sei und
-dass sie nur als ein Ergebnis von Ueberkultur sich ein-
zustellen pflege. Beide Vorwürfe sind unberechtigt.
Ueber das häufige, unter Umständen regelmässige Vor-
kommen derselben im Tierreiche brachte der 2. Jahrgang
•dieses Jahrbuchs erst im vergangenen Jahre eiile Zu-
sammenstellung, welche leicht bereichert werden könnte,
und hier wird nunmehr der Versuch unternommen, eine
zusammenhängende Darstellung der griechischen Liebe
bei den Naturvölkern der Erde zu liefern, gegenüber
-denen aller Verdacht ausgeschlossen ist, dass Verfeiner-
ung der Sitten, dass Ueberdruss am Normalen, dass Ueber-
kultur in irgend einer Richtung sie könne herbeigeführt
haben. Von Friedrich von Hellwald liegt (456) der
allgemeine Ausspruch vor, dass «^unnatürliche Laster'',
wie man vorzugsweise die griechische Liebe, wenigstens
in einigen ihrer Formen, zu nennen beliebt, nirgends
Läufiger seien, als gerade unter wilden Stämmen.
. Josef Müller (Renaissance, Zeitschrift für Kultur-
geschichte, Religion und Belletristik, 1. Jahrgang, Heft
1 — 4, Augsburg, Lampart) hat 1900 eine Arbeit: ^Das
«exuelle Leben der Naturvölker* erscheinen lassen (auch
45eparat, 50 Seiten), in welcher mit keinem Worte der
griechischen Liebe gedacht wird. „Statt der Anhäuf-
•ung massenhaften Materiales, unkontrollierbarer Reise-
berichte u. s. w." suchte J. Müller „unter sorgfältiger
Sichtung und Kritik des reichen Stoffes das Prägnante
und Typische herauszustellen und den gefundenen That-
bestand möglichst einfach zu erklären.* Allein die
.griechische Liebe ist ein wesentlicher Bestandteil des
sexuellen Lebens der Naturvölker. Schon A. Er man
hat mit Nachdruck betont, dass ihr Vorkommen bei Ur-
völkern in der Anthropologie nicht dürfe übersehen
werden, sei es nun, dass man wegen derselben den Menschen
— 75 —
um so eher mit den Affen verwandt oder gerade um-
gekehrt seine Abstammung von irgend einem unver-
clerbten Tiere für unwahrscheinlich halten wolle (Er-
m an 1871, 163—164):
Obwohl mit der grössten Sorgfalt und ohne Schonung
der Zeit angelegt und durchgeführt, erhebt die vor-
liegende Arbeit dennoch nicht den Anspruch auf Voll-
iständigkeit und Musterhaftigkeit. Schon der Umfang der
grösstenteils äusserst schwer zu erlangenden, vielfach sehr
seltenen oder überaus kostspieligen Literatur liess diesen
Wunsch geradezu unausführbar erscheinen; auch bildete
xlie Mannigfaltigkeit der Sprachen, in denen der hier er-
<)rterte Gegenstand Behandlung gefunden, ein fast un-
iiberwindbares, in jedem Falle aber zeitraubendes Hinder-
nis. Für jede gefällige Mitteilung von Auslassungen wird
<Jer Verfasser daher herzlich dankbar sein!
Abgrenzung der Begriffe Päderastie und
Tribadie.
Päderastie und Tribadie sind hier im umfassendsten
Sinne genommen: jede Erregung geschlechtlicher Natur
(Orgasmus), in welche ein männliches Wesen durch
-ein anderes männliches Wesen seiner Art versetzt
wird, fällt unter den Begriff Päderastie (eigentlich
Liebe zu Knaben oder Jünglingen) ; jede Aufwallung der
•Geschlechtsthätigkeit, in welche ein weibliches Wesen
durch ein an deres weibliches Wesen seiner Art gerät,
fällt unter den Begriff Tribadie. Es kommt dabei gar
nicht in Betracht, ob der sexuelle Reiz ausgelöst werde
oder nicht und noch weniger, in welcher Weise er etwa
ausgelöst werde; es spielt dabei durchaus keine Rolle, ob
xlie sexuell erregte Person des Glaubens lebt, dass ledig-
lich allgemeine Schönheit eines menschlichen Wesens
des gleichen Geschlechtes, dass Liebenswürdigkeit odet eine
- 76 —
eigene Art von passiver Hingebung aeitena eines Knabeii^
eines Mannes qder eines weiblichen Individuums die
Ursache der sexuellen Erregung abgebe, oder ob die
sexuell erregte Person fühlt und weiss, dass ein bestimmter
Körperteil, der Geschlechtsteil, die Lenden, die Augen,
das Haar, oder ein dem geliebten. Körper entslxömender
Geruch, oder die Stinune, oder die Bewegungen des Er-
regers den Orgasmus hervorrufen; es ist auch nicht er-
forderlich, dass die sexuelle Erregung durch ein WjCSCu
des gleichen Geschlechts die einzig mögliche sei; wer
noch anders, wer als Mann ausser durch .ein männliches
Wesen auch noch durch ein, weihliches geschlechtlich er^
regt werden kann, ist eben, mehr als reiner Päderast, und
wer als Weib ausser durch ein weibliches. Wesen auch
noch durch ein männliches sexuell gereizt werden kann,
ist eben nicht blos reine Tribade. Innerhalb der un-
endlich mannigfaltigen Abstufungen und Kombinationen
von Erregung geschlechtlicher Thätigkeit oder von.Liebes-
empfindungen und Triebeshandlungen, zu denen der
päderastische und tribädiscbe Liebestrieb führen kann,,
scharfe Grenzen ziehen zu wollen und etwa nur die
Personen für Päderasten oder Tribaden anzuerkennen,
welche mit dem Kusse auf die Lippen des geliebten
Gegenstandes gleichen Geschlechts sich nicht, begnügen
können oder wollen, erscheint ebenso ungereimt, wie es
dem Helden in Fridolin's heimlicher Ehe von Adolf
Wilbrandt unmöglich war, Grenzen zwischen weissen
und schwarzen Menschen in Hinsicht ihrer Färbung auf-
zustellen: wer eine Lücke in der Reihe findet, der trete
nur hinein, denn er hatte sich selbst ausser Acht ge-
lassen; es giebt eben auch Uebergangspäderasten
und U e b e r g a n g s t r i b a d e n. Der geringere oder höhere
Grad vont Selbstbeherrschung ändert doch an) der ge-
gebenen sexuellen Anlage nichts; denn so gewiss der
ein Blumenfreund sein muss, welcher Blumen pflückt, nvß
— 77 —
mit ihnen seinen Wohnraum 'zu schmücken^ so gewiss ist
es auch der, der ihren Duft ' geniesst, ohne es über sich
^vrinnen- zu .können, ^ie 2u brechen; das Wesentliche
bei der Päderastie und Tribadie ist der durcli ein Wesen
desselben Greschlechtes hervorgerufen« Orgasmus.
Di« von mir für die vorliegende Arbeit gewählten
Bezeichnungen Päderastie und Tribadie haben nun aber
in der auf Naturvölker bezüglichen < Literatur fast gar
nicht Anwendung gefunden. Ausfeer gewissen, einer vor-
urteilslosen wissenschaftlichen Forschung unwürdigen und
d«m rücksichtslosen Bekenntnis ' der Thatsachen hinder-
lichen Umschreibungen^ wie ^Verbrechen wider die Natur**,
,veTabscheuungswürdige, unnatürliche Laster* und der-
gleichen mehr, kehrt' besonders häufig, wenigstens in den
französischen und italienischen W«rken, der Ausdruck
Sodomie wieder ; da er sowohl den Gebrauch des
Weibes durch den Mann an unrechter Stelle (ultra vas
debitüm) als auch den Gebrauch des M^innes durch den
Mann beim coitus in anum bez«ichnet, so fällt er nicht
ganz mit Päderastie zusammen; für den Geschlechts-
verkehr zwischen Mensch und Tier, der vielfach Sodomie
heisst, verwenden dann jene Schriftsteller -die Bezeichnung
Bestialität. Der geistvolle Montesquieu behandelt
die Päderastie ails ein« »jcrime contre nature*, ein Ver-
brechen gegen die Natur. Die spanisch«n Geschichts-
schreiber der Indianer ■ haben für den päderastischen
Verkehr den Ausdruck „pecado nefando* oder «pecado
abominable'^ oder ,^pecado aborrecible^, bald ohne Zusatz,
bald mit dem Zusätze ^contra hatura** oder ^de Sodoma*;
hier häufen sich in den Schriften G o m a r a^s und O v i e d o's,
bei der Empörung, in welche diese befangenen Be-
obachter der Naturvölker sich hineinschrieben, die
„schmückenden** Beiwörter, so in ^abominable 6 sucio
pecado** oder gar ^diabölico 4 nefando acto de Sodoma";
die der Päderastie Ergebenen aber nannten sie ^,sodomitas
— 78 —
abominables". Bei Peter Martyr findet sich der ge*
schmackvoUe Terminus „odia intestina''.
Es bedarf nun noch der Erläuterung einiger Aus«*»
drücke, welche gleichsam das Gerippe für die verschiedenen
Formen der Päderastie und Tribadie abgeben. Schwär-
merische Liebe des Päderasten heisst nach dem Philo-
sophen Plato platonische Liebe; sie wird unter den
Naturvölkern von' den Manghabei auf Madagaskar ange-
geben; schwärmerische Liebe bei den Tribaden wird nach
der Dichterin Sappho sapphische Liebe genannt; ihr
Gegensatz ist die rein sinnliche Liebe, die auch lesbische
Liebe heisst. Von den geschlechtlichen Akten zwischen
Personen desselben Geschlechts sind die wichtigsten:
1. die Auslösung des Orgasmus mit Hülfe der Hand
oder eines Instrumentes, die Masturbation oder Manustu-
pration, eine gegenseitige Onanie bei Päderasten und
Tribaden; über sie wird von den Mädchen mehrerer
Negerstämme Afrikas berichtet^ sowie von den Tribaden
Zanzibars mit Hülfe eines Penis aus Ebenholz; 2. die
Befriedigung des Wollustkitzels durch blosses Beiben
der Schamteile an den Schamteilen oder sonst am Körper
eines anderen Individuums des gleichen Geschlechtes,
ohne Eindringen in eine Körperöffnung, eine bei
Päderasten und Tribaden vorkommende Friktion; die so
Handelnden heissen Friktrices oder Fricatrices; ge-
schieht die Befriedigung beim Päderasten zwischen den
Schenkeln des Geliebten, so wird der Akt als eine Nach-
ahmung der Begattung (imitatio coitus) aufgefasst; ähn-
lich bei den Tribaden Kamtschatkas mit Hülfe der
Clitoris; 3. das Aufsuchen des Geschlechtsteiles des geliebten
Wesens gleichen Geschlechts mit den Lippen oder der Zunge ;
der das Glied des Partners in den Mund aufnehmende
Päderast heisst Fellator, der sein Glied Einführende
Irrumator, der entsprechende Akt Fellation, be-
ziehungsweise Irrumation; diese Art der Befriedigung
— 79 —
wird unter den Naturvölkern als der von den Indianern
Nordamerikas bevorzugte geschildert; die Tribade, welche
ihren Orgasmus durch Lecken der Scham der Geliebten
auszulösen sucht ^ ist ein Cunnilingus; 4. erfolgt
Eindringen des männlichen Gliedes in den After eines-
anderen männlichen Wesens, so heisst der Akt Pädi-
kation, der aktive (handelnde, einführende) Teil ist der
Pädikator, der passive (leidende) Teil Pathicus oder
Cinädus, der Putos der Spanier; nach der Literatur
ist diese Form des päderastischen Geschlechtsaktes bei
den Arktikem (Hyperboreern) die gewöhnh'che; Pädi-
kation heisst aber auch derselbe Akt, von einem Manne^
beim Weibe ausgeführt
Da nun Päderastie und Tribadie doch nur als Teil-
erscheinungen eines besonderen, auf das gleiche Geschlecht
gerichteten Sexualtriebessich darstellen, so ist es wünschens-
wert, eine Bezeichnung zu haben, welche beide zusammen-
fasst; und obwohl eine solche in dem Ausdruck „griech-
ische Liebe" bereits vorhanden war, so hat doch der
hannoverische Amtsassessor Karl Heinrich Ulrichs
(Numa Numantius) einen neuen Terminus dafür einge-
führt, den ich in die Ueberschrift der vorliegenden Studie
übernahm. In seiner ersten Schrift über mannmänn-
liche Liebe „Vindex", sozial-juristische Studien, Leipzig,
Matthes, 1864 (neue Aufl. 1898 bei Spohr), nennt Ulrichs
Seite 1 den mannliebenden Mann Urning, den weib-
liebenden Dioning und spricht von urnischer undv
dionischer Liebe; diese seine Bezeichnungen ent-
standen durch Umwandlung der griechischen Götternamen
Uranus und Dione, da eine poetische Fiction des-
Philosophen Plato in dessen Gastmahl, Kapitel 8 und 9,
den Ursprung der mannmännlichen Liebe vom Gotte
Uranus allein, ohne Mitwirkung eines Weibes ableitete^
den weibliebenden Mann dagegen auf dem üblichen Wege
von der Göttin Dione entstehen Hess (Ulrichs »Vindex*'
— 80 —
Seite 2). Für die Liebe der Urninge und der Tribaden
oder Uminginnen bediente sich dann später Ulrichs in
4seiner dritten Schrift über mannmännliche Liebe,
^ Vindicta", Kampf für Freiheit von Verfolgung, Leipzig,
Matthes, 1865 (1808 bei Spohr), Seite 20, des zusammen-
fassenden Terminus Uranismus. Für Uranismus ist
Jetzt -das sprachwidrige Wort Homosexualität (Liebe
zum gleichen Geschleohte) im Gegensätze zu Hetero-
^Sexualität (Liebe zum anderen Geschlechte) sehr in
Mode gekommen. Die Päderasten von heute reden von
Urningtum, und da sie den Worten Urning und Urningin
:als unschön klingend, abhold sind, so haben sie selbe in
U r an i e r und U r n i n d e umgewandelt. Unter seinen
Urningen unterschied Ulrichs scharf solche, die Männer
in den besten Lebensjaluren lieben imd oft ein mehr
weibisches als männliches Wesen zeigen, die er Weib-
lingiC nannte, und solche, welche an jungen Männern,
an Knaben im Pubertätsalter und an Jünglingen Gefallen
£nden und meist mehr männlich erscheinen mit nur dem
Eennerauge bemerkbaren weiblichen Zügen, die er Mann-
linge nannte, so dass das Urningtum aus einem Weib-
lingtum und einem Mannlingtimi sich zusammensetzt.
Das Studium des Uranismus bei den Naturvölkern
•ergiebt eine sehr merkwürdige Erscheinung, welche die
Naturvölker in einen gewissen Gegensatz zu den Kultur-
völkern bringt Bei dem Kulturvolke der alten Griechen
nicht nur, sondern anscheinend auch bei alleii heutigen
Kulturvölkern, herrscht unter den Päderasten das
Mannlingtum in einer so auffallenden Weise vor,
^ass man die Sittlichkeit der männlichen Jugend durch
sie bedroht glaubt und durch Gesetze sie zu schützen
sucht; bei den alten Griechen ward die mannmännliche
Liebe ebendaher auch als Päderastie, d. h. als Liebe zu
den Knaben oder Jünglingen, aus der Taufe gehoben.
•Ganz im Gegenteil tritt bei den Naturvölkern der
— 81 —
Mannling vollständig in den Hintergrund und auf der
Bildfläche erscheint ein ausgesprochenes Weibli ng tum,
welches sich nicht darauf beschränkt, von Männern auf-
gesucht zu werden, sondern selbst Männer aufsucht und
aich gern in die Tracht des Weibes kleidet, um, womög-
lich, die Verbindung mit dem geliebten Manne durch
eine Heirat gesetzlich zu krönen. Fast jede ihrer Sprachen
hat für die Weiblinge, Pathici oder Cinäden, der zuge-
hörigen Völkerstömme ein besonderes, oft überaus be-
zeichnendes Wort. Ich möchte nicht unterlassen, alle mir
bekannt gewordenen hier alphabetisch geordnet zusammen-
zustellen, obwohl der Leser ihnen allen im Kapitel
ijPäderastie bei den Naturvölkern" noch einmal begegnen
wird. Die Weiblinge heissen:
Achnutschik bei den Konjagen, nach Holmberg;
Agokwas bei den Tschippewäern, nach Tanner;
Bardaches bei den Canadiern, nach Prinz Max. zuWied;
Bote bei den Crow-Indianem, nach Holder;
Burdash in der Tulalip-Sprache, nach Holder;
Camayoa in der Cueva-Sprache, nach Oviedo;
Cudinas bei den Guaicurus, nach v. Martins;
Ousmos bei den Laches, nach Piedrahita:
Hanisi bei den Negern Zanzibar's, nach Baumann;
Joyas bei den Califomiem, nach Duflot de Mofras;
K^elgi bei den Korjaken, nach Erman;
K oiac h oder Koiachtschit seh bei denKamtschadalen,
nach Steller; Koj ektschutschi nach Erman;
Kotoruie (russisch) bei den Kamtschadalen, nach
Kras c he nin ik o w;
M ari con es bei Indianern der Anden Perus, nachPöppig;
Mahhus (Mahoos) auf Tahiti, nach Turnbull;
Mf hdäckä bei den Mandan, nach Prinz Max. zu Wied.
Mke-simume bei denNegern Zanzibar's, nachBaumann*
Mujerado bei den Pueblo-Indianem, nach Hammond^
Mzebe bei den Negern Zanzibar's, nach Baumann;
Jahrbuch III . 6
— 82 —
Sarimbavy bei den HovaMadagaskar's^ nach Lasnet;
Schoopan (russisch) beiden Konjagen, nach Lisi an sky«^
8 e c a t r a bei den Sakalaven Madagaskar's, nach Las n e t;
Secatses bei den Betanimenen, nach Lacombe;
T s e c a t s bei den Manghabei Madagaskar's, nach Flacourt.
Abgrenzung des Begriffes Naturvölker.
Die Naturvölker werden hier ungefähr in demselben
Umfange gefasst, welchen ihnen Waitz in seiner Anthro-
pologie derselben gegeben hat; nur die Abyssinier imd
die Nubier bleiben ausser Behandlung.
Die Begriffe Naturvölker und Kulturvölker
sind so alt wie die Ethnologie. Sie haben mannigfache
Wandlungen durchgemacht. Denn während z. B. im
18. Jahrhunderte der Zustand der Naturvölker noch mii
dem Zustande der Urzeit des Menschengeschlechtes von
den Ethnographen identifiziert wurde^ Hessen die Ethno-
logen des 19. Jahrhunderts diese Auffassung als irrig
und irreführend gänzlich fallen. Naturvölker sind nun
nicht mehr auf der Stufe der Urzeit stehen gebliebene
Völkerschaften^ sondern Yölkerstönune^ welche sich in
so vollständiger Harmonie mit ihrer Umgebung befinden^
dass ein Gefühl sorglosen Frohsinnes und ruhiger Zu-
friedenheit, eine freiwillige Beschränkung auf das Vor-
handene oder ohne grosse Mühe Erreichbare, eine Enge
des geistigen Umkreises sie an weiterem Fortschritt ver-
hindert. Naturvölker brauchen daher nicht weit ab von
aller Kultur zu leben oder den Einflüssen bestimmter
Klimate ausgesetzt zu sein, um Naturvölker zu bleiben;
sie können vielmehr neben, selbst mitten unter Kultur-
völkern wohnen, ohne dass eine Kulturübertragung ein-
tritt. Zwar ist nicht erforderlich für ein Naturvolk das^
völlige Fehlen jedweder Empränglichkeit für Kultur über-
haupt; sie können sogar weniger oder mehr zu ihr hin-
— 83 —
neigen; indessen bleibt die charakteristische Erscheinung
bestehen^ dass sie selbst durch die engste Berührung mit
Kulturvölkern kaum bemerkbar gefördert werden, also
Naturvölker bleiben und als solche, neuen Einflüssen er-
liegend, entweder aussterben oder aber in einem Kultur-
volke vöUig aufgehen und so ihre Selbständigkeit ver-
lieren. Das Wesentliche der Naturvölker liegt daher im
Stillstand, das der Kulturvölker in der unaufhaltsam fort-
schreitenden Entwicklung; in der Beharrung findet das
Naturvolk sein Lebensglück, im Fortschritt nach allen
Richtungen das Kulturvolk; Hauptbedürfnis ist den
Naturvölkern die ßuhe, den Kulturvölkern die Arbeit.
Die beachtenswerte Thatsache, dass innerhalb der Kultur-
völker ein individueller Gegensatz zwischen Fortschritt
und Selbstbeschränkung überall sich wiederfindet, spricht
dann viel weniger gegen einen fundamentalen Unter-
schied zwischen Naturvölkern und Kulturvölkern, als für
die von allen Ethnologen der Gegenwart vorausgesetzte
Einheit des Menschengeschlechtes.
Innerhalb des Begriffes Naturvölker ist unlängst ein
neuer Unterbegriff aufgetaucht, der Begriff der H or d en-
völker; als Horden Völker gelten zur Zeit in Afrika die
Buschmänner, die Batua, die Ew^ (Akkä), die Akkoa
(Abongo) und die Bojaeli, auf Ceylon die Wedda; alle
diese Hordenvölker kennzeichnen sich als Zwergvölker
(BernhardBruhns, Definition des Horden Völkerbegriffs
auf Grund einiger gegebener typischer Formen, Inaugural-
Dissertation, Leipzig, Naumann, 1898). Ueber Päderastie
und Tribadie bei den Hordenvölkem ist mir nichts be-
kannt geworden.
Wer den Wunsch hegt, sich über die hier in Kede
stehende schwierige Materie weiter zu unterrichten, findet
Ausführliches in den nachfolgend angeführten Schrift-
werken:
Th. Waitz, Anthropologie der Naturvölker. 1. Teil.
6*
— 84 —
Ueber die Einheit des Menschengeschlechtes und den
Natarzustand des Menschen. Leipzig, Fleischer, 1859.
2. Auflage von 6. Gerland, 1877.
Th. Achelis, Moderne Völkerkunde, deren Ekit-
wicklung und Angabe. Nach dem heutigen Stande der
Wissenschaft gemeinverständlich dargestellt. Stuttgart,
Enke, 1896 (Seite 316—330).
A. Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker.
Leipzig, Duncker & Humblot, 1896.
Heinr. Schurtz, Urgeschichte der Kultur, Leipzig,
Bibliographisches Institut, 1900 (Seite 63—77).
Die für Päderastie und Tribadie in Betracht
kommenden Naturvölker sind:
L Die negerartigen Naturvölker: die Austra-
lier, die Melanesier, die Neger Afrika's und Madagaskar's;
II. die malayischen Naturvölker: die Malayen
auf den ostindischen Inseln Sumatra, Java, Capul, die
Malayen auf Madagaskar und die Polynesier;
in. die amerikanischen Naturvölker mit
Ausschluss der Eskimo: die Indianer, und endlich
IV. die Arktiker oder Hyperboreer: die Es-
kimo, zumeist in Nordamerika (Grönländer, Konjagen) und
die mcmgolenartigen Beringsvölker des nordöstlichen
Asiens (Tuski, Kenntier-Tschuktschen, Korjaken, Itelmen
und Aleuten).
Während hinsichtlich der Päderastie bei den Natur-
völkern ein Material in der Literatur vorliegt, so umfang-
reich, dass es in den mir zugewiesenen Rahmen sich kaum
einzwängen lässt, stellt sich das Quellenmaterial bezüglich
der Tribadie als äusserst dürftig heraus. Ich schicke
deshalb das kurze Kapitel Tribadie dem längeren Kapitel
Päderastie voraus.
Was aber meine Darstellungsweise anbetrifft, so habe
ich vielfach die Schriftsteller, welche mir als Quelle
dienten, ganz oder fast wörtlich übernommen, da ich es
— 85 —
nicht als ein Verdienst anerkenne, deutlich und charak-*
teristisch Ausgedrücktes blos deshalb mit anderen Worten
zu geben, um den Eindruck zu verwischen, dass man den
Spuren Anderer gefolgt ist. Ueberall ist die Quelle ge-
nau bezeichnet; eine einfache arabische Zahl bedeutet
die Seite, nur wenn sie vierstellig ist, das Erscheinungs-
jahr; eine römische Zahl den Band; d ist decas (Decade),
1 ist liber (Buch), c ist Capitel, n ist Notiz.
Tribadie bei den Naturvölkern.
I. Die negerartigen Naturvölker.
Dass lesbische Liebe bei den Negern zu Hause sei,
hat schon Bastian (III 310; Schnitze 1900, 163) be-
merkt; jedoch sind seine Angaben ohne Quellennachweis
und viel zu allgemeiner Natur.
Unter den dunkelfarbigen Bantunegern kommt
bei den südwestlichen Ovaherero (Damara) eine Art Ver-
bindung zwischen Personen desselben Geschlechtes vor,
welche Oupanga oder Omapanga heisst; wenn Männer
in einem derartigen Verhältnisse stehen, so besitzen sie
ihre Frauen gemeinsam, sind aber Personen weiblichen
Geschlechtes omapanga, so bedeutet dieses, dass sie mit
einander geschlechtlichen Verkehr pflegen, was mit Wissen
und Willen ihrer Eltern geschehen kann (Fr it seh 227).
Konträrsexual angelegte Weiber sind nach Bau-
mann bei den Negervölkern Zanzibar^s nicht selten. Die
orientalische Sitte macht es ihnen zwar unmöglich,
Männerkleidung öffentlich zu tragen, doch thun sie solches
in häuslicher Zurückgezogenheit. Andere Weiber ihrer
Geschlechtsnatur erkennen sie an deren männlicher Hal-
tung, sowie daran, dass ihnen ihre weibliche Kleidung
nicht steht (kawapendezwi na nguo za kike). Sie zeigen
Vorliebe für männliche Verrichtungen. Geschlechtliche
Befriedigung suchen sie bei anderen Weibern, teils kon-
— 86 —
trär angelegten^ teils normalen Weibern, die sich
aus Zwang oder Gewinnsucht dazu hergeben. Die aus-
geführten Akte sind: einander lecken (kulambana), die
Geschlechtsteile an einander reiben (kusagana), und sich
den Ebenholz-Penis beibringen (kujitia mbo ya mpingo);
die letztgenannte Art des Genusses ist insofern bemerkens-
wert, als dazu ein besonderes Gerät erfordert wird; es
ist dieses ein Stab aus Ebenholz in der Form eines
männlichen Gliedes von ansehnlicher Grösse; derselbe
wird von schwarzen und indischen Handwerkern zu dem
bezeichneten Zwecke hergestellt und insgeheim verkauft;
er soll bisweilen aus Elfenbein gefertigt werden. Es
konmien zwei Formen des Stabes vor: die eine, einfache
Form hat am stumpfen Ende eine ringförmige Kerbe,
um welche eine Schnur geschlungen wird, die das eine
der Weiber sich um den Leib bindet, um an dem anderen
den männlichen Akt nachzuahmen; dieser Stab ist meist
durchbohrt, und es wird dann zur Nachahmung der Eja-
kulation warmes Wasser eingefüllt; bei der anderen Form,
einem Doppelpenis, ist der Stab an beiden Enden eichei-
förmig zugeschnitzt, so dass er von den beiden beteiligten
Weibern zugleich in die Scheide eingeführt werden kann,
zu welchem Behufe dieselben eine sitzende Stellung ein-
nehmen; auch dieser Stab ist durchbohrt. Vor dem
Gebrauche werden die Ebenholzstäbe eingeölt. Die be-
schriebenen Geräte werden ausser von Konträrsexualen
auch von normalen Weibern in den Harems der Araber
angewendet, in denen die Frauen bei strenger Abschliess-
ung genügende geschlechtliche Befriedigung nicht finden,
und gelten als eine arabische Erfindung. Nach den
arabischen Gesetzen wird Tribadie bestraft, ebenso machen,
sich auch die Handwerker, welche den Ebenholzstab liefern,
strafbar; dieser kann daher nur schwer und mit ziemlichen
Unkosten erworben werden (Baumann 669 — 671, mit
^wei Figuren der Ebenholzstäbe).
— 87 —
Unter den heDfarbigen Negervölkern Südafrika^s findet
sich bei den Hottentotten (Koi-koin) die Mastur-
bation der weiblichen Jugend als eine so häufige Art der
geschlechtlichen Befriedigung^ dass man versucht sein
könnte^ sie als Landessitte hinzustellen; Fritsch (283)
hält es nicht für ausgeschlossen, dass die regelmässige
Verlängerung der Schamlippen (sogenannte Hottentotten-
schürze) und auch die Verlängerung der Clitoris hev der
Hottentottin gar nichts Absonderliches darstelle, sondern
recht wohl wesentlich nur eine Hypertrophie in Folge
der ausserordentlich häufigen Masturbation sein könne.
Aus dieser wird auch nicht ein Geheimnis gemacht, viel-
mehr von ihr wie von der alltäglichsten Sache in den
Erzählungen und Sagen gehandelt; so erzählt man, einem
Mädchen sei dabei das Herz abgestossen worden; in
einem anderen Falle soll ein Mädchen von den auf ihm
hockenden Gespielinnen erdrückt worden sein ; aber diese
Vorgänge werden durchaus nicht ihrer Wunderbarkeit
halber erzählt, sondern sie dienen nur als Anknüpfungs-
punkte und Ausgangspunkte für nachfolgende Gespenster-
geschichten (Fritsch 351). Auf meine Anfrage, ob in
solchen Fällen Masturbation zu zweien, also Tribadie ge-
meint sei, hatte Herr Geheimrat Professor Dr. Gustav
Fritsch die Freundlichkeit, mir zu erwidern und die
Veröffentlichung seiner Erwiderung mir zu gestatten:
9 Wenn Mädchen mit einander ,omapanga' sind, so treiben
sie Unzucht mit einander. Dabei handelt es sich also
sicher um mindestens zwei Individuen; die Art der Un-
zucht ist wohl wechselnd, doch scheint lesbische Liebe
jedenfalls weniger verbreitet als gegenseitige Masturbation,
sei es manuell, sei es mittelst eines passenden oder un-
passenden Fremdkörpers. Auf einen Fall letzterer Art
bezieht sich die Stelle, wo die eine Gespielin der andern,
indem sie auf ihr hockte, das Herz abgestossen habe.
Dabei handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um
— 88 —
ein Durchstossen des Scheidengewölbes und Eröffnung
der Peritonealhöhle mittelst eines harten Gegenstandes^
Ich erinnere mich aus meiner Studienzeit eines von
Langenbeck erwähnten Falles^ wo ein Mädchen sich selbst
mittelst eines Bleistiftes masturbierte^ beim unerwarteten
Erscheinen der Lehrerin sich niedersetzend^ den Bleistift
durch das Scheidengewölbe in die Blase stiess und daran
zu Grunde ging.*
II. Die malayischen Naturvölker.
Auf Tahiti gab es nach Bastian unzüchtige Tänze
der Mädchen (Timoradi-Tänze), an denen Weiber nach
ihrer Verheiratung nicht mehr teilnehmen durften (Bas-
tian m 307); um welche Art Unzucht es hier sich han-
delt, wird nicht bezeichnet, auch eine Quelle nicht angegeben»
IIL Die amerikanischen Naturvölker oder Indianer.
Die Indianer Nordamerikas. Im Handbuche
der Geographie und Statistik für die gebildeten Stände,
begründet durch C. G. D. Stein und Ferd. Hörschel-
mann, neu bearbeitet von J. E. Wappäus, 7. Auflage,
1. Bandes 2. Abt. Nord-Amerika, Leipzig, Hinriehs 1855^
wird Seite 353 ausgeführt, der Hauptgrund des raschen
Aussterbens der Urbewohner von Neu-Caledonia scheine,
wenigstens bei vielen Stämmen, in einer tiefen sittlichen
und physischen Gesunkenheit der Kace gesucht werden
zu müssen; nicht am wenigsten hätten zu dieser Ge-
sunkenheit wohl die „beispiellosen Ausschweifungen" bei-
getragen, denen das weibliche Geschlecht schon in den
Kinderjahren sich hingebe und welche unmöglich so all-
gemein sein könnten, wenn sie erst durch den Verkehr
mit den Weissen wären veranlasst worden. Eine Quelle
für diese Notiz aufzufinden, habe ich mich vergeblich be-
müht: und da ich nicht zu erraten vermag, ob es sich
bei diesen beispiellosen Ausschweifungen, denen bereits
— 89 —
die Kindheit sich hingiebt, um Masturbation oder Tribadie
oderum beides handelt, so habe ich das oben zitierte Werk
in die Literatur am Ende dieser A^rbeit auch nicht auf^
genommen.
Die Indianer Süd-A merikas. Unter den bra-
silianischen Tupistämmen leben Indianerinnen, welche das
Keuschheitsgelübde ablegen; sie wollen sich mit einem
Manne nicht einlassen und würden auch selbst dann sich
einem Manne zu ergeben nicht einwilligen, wenn man sie
tötete; diese Personen widmen sich niemals einer ihrem
Geschlechte zustehenden Beschäftigung; sie ahmen in
Allem den Männern nach, als wenn sie aufgehört hätten,
Weiber zu sein; sie tragen ihr Haar wie bei Männern
geschnitten; in den Krieg ziehen sie mit einem Bogen
und Pfeilen; sie gehen mit den Männern auch auf die
Jagd. Jede von ihnen hat zu ihrer Bedienung eine In-
dianerin und sie sagt aus, dass sie mit dieser verheiratet
sei; beide leben zusammen wie Ehegatten (Gandavo
116-117; Bastian III 310; Schnitze 1900, 163).
IV. Die Arktiker oder Hyperboreer.
Tribadie wurde für die inongolenartigen isolierten
Naturvölker des nordöstlichen Asiens (Beringsvölker) fest-
gestellt. ^Auf Kamtschatka treiben auch Weiber mit
Weibern Unzucht, vermittelst der Clitoris, welche sie am
Bolschaia Beka Netschitsch nennen: vordem haben die
Weiber sehr stark Unzucht mit Hunden getrieben*
(Steller 289a; Klemm II 207; Wuttke I 184).
Päderastie bei den Naturvölkern.
I. Die negerartigen Naturvölker.
1. Die Australier.
Wenn die Knaben des Wiraijuri-Stammes auf Neu-
Süd-Wales mannbar werden, so wird ein Fest ihrer Ein-
— 90 —
weihung gefeiert. Die Sittenlehre, welche bei dieser Ge-
legenheit ihnen beigebracht wird^ erscheint auf den ersten
Blick im höchsten Grade unsittlich und lässt sich nicht
leicht wiedergeben. In pantomimischen Tänzen werden
ihnen verschiedene Verletzungen gegen Eigentum und
Xeuschheit vorgeführt^ aber indem die das Fest leitenden
Greise und die bestellten Wächter der Knaben diese Dar-
stellungen liefern^ teilen sie den Jünglingen mit, was die
Folgen wären^ wenn sie nach dem Verlassen des Ein-
weihungslagers die dargestellten Verletzungen begehen
würden. So sagt z. B. ein Greis: „wenn ihr von hier
nun fortgeht und etwas dem Ähnliches thut, was ihr hier
sehet, so sollt ihr sterben", d. h. entweder durch magische
oder durch unmittelbare Gewalt. Dasjenige nun, was
auf diese Art verboten wird, ist dadurch genügend ge-
kennzeichnet, dass unter Anderem darunter sich befinden:
der Mangel an Achtung vor den Greisen, die Notzucht,
die Päderastie, die Selbstbefleckung; den Jünglingen aber
wird es bei Todesstrafe untersagt, etwas von dem zu er-
zählen, was sie bei dieser Einweihungsfeierlichkeit zu
hören und zu sehen bekommen (Howitt 450; 454j.
2. Die Melanesien
Nach Waitz (VI 631) und Müller (310) sollen
„unnatürliche Laster" weder auf den Fidschiinseln noch
überhaupt in Melanesien und Australien bekannt sein;
indessen hat Foley vor etwa 20 Jahren sehr eingehende
Mitteilungen über die Lebensgewohnheiten der Neu-Cale-
donier veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass Päderastie
bei ihnen Volks sitte ist. Nach Foley giebt es auf Neu-
Caledonien Dörfer verschiedener Art. Reiche und be-
festigte, wie Poepo, liegen auf einem vollständig ge-
schützten Platze. Auf dem Wege von Poepo nach Bailad
xlagegen trifft man andere, ärmere und unbefestigte, weit-
hin sichtbare Dörfer in weniger günstiger Lage. Die
— 91 —
Hütten der Eingeborenen in diesen zweierlei Dörfern
sind ebenfalls verschieden. In den befestigten Dörfern
hat man zwei Arten von Hütten: grosse und höhere aus-
schliesslich zum Gebrauche der Männer^ und kleine^ nied-
rigere nur füj die Weiber mit ihren Kindern bestimmt.
Alle Hütten einer Art bilden eine für sich abgeschlossene
Gruppe. Die Hütten der Männer liegen einander gegen-
über und grenzen so nahe aneinander^ dass ein Labyrinth
von Gängen gebildet wird, durch welche ein Ortsun-
kundiger sich gar nicht hindurch findet; alle Männer-
hütten sind reich-, aber so gleichartig verziert, dass sie
«ich nicht von einander unterscheiden lassen ; die Gruppe
<ler Männerhütten wird ganz von Pfahlwerk eingeschlossen.
Die Hütten der Weiber sind einfach verziert und liegen
ausserhalb der Befestigung. In den ärmeren Dörfern
bewohnen zwar beide Geschlechter eine und dieselbe
Hütte, welche vollständig unter Bäumen verborgen liegt
und daher schwer zu finden ist; aber die Männer schlafen
auf der einen, die Frauen mit den Kindern auf der anderen
Seite der Hütte. Ausser den sesshaflen Dorfbewohnern
birgt die Insel noch umherziehende Nomadenstämme, die
weder Dörfer anlegen noch überhaupt feste Hütten be-
isitzen; diese Stämme werden in den Dörfern^ deren Nähe
sie aufsuchen, um zu lagern, nicht geduldet; sie reissen
dürres Kraut aus der Erde, fügen es zu einem Haufen
und zünden es an; halten sie den Boden durch die Glut
des Feuers für genügend erwärmt, so löschen sie das
Feuer und strecken sich in der Asche zum Schlafe aus;
auch bei diesen Nomaden aber schlafen die Männer von
den Frauen getrennt. Ausser der Sitte der nächt-
lichen Geschlechtertrennung haben alle Stämme Neu-
Oaledonien's noch die Sitte gemeinsam, dass sie ihren Ge-
schlechtstrieb niemals in der Hütte, sondern nur im Ge-
hölz befriedigen und dass der Begattungsakt in der Stellung
der Hunde vollzogen wird. Diese Naturvölker bilden
— 92 —
zwar Familienverbände^ in denen die Eltern ihre leib-
lichen Kinder^ die Kinder ihre Eltern und auch die Ge-
schwister einander als solche kennen ; aber es fehlt ihnen
der häusliche Herd und das gemeinsame Gattenlager; die
Einwohner eines Dorfes speisen gemeinsam und die beiden
Geschlechter schlafen getrennt. Die Männer stehen unter-
einander in einer mit Päderastie eng verflochtenen, viel-
leicht auf ihr beruhenden Waflenbrüderschaft. Die vielen
Frauen, welche zur Zeugung dienen, sind nur Sklaveti
und Lasttiere der Männer und werden von diesen nach
Laune Verstössen; neben ihnen giebt es in geringerer An-
zahl alte Weiber und in jedem Dorfe einige Buhlerinnenp
die alten Weiber wissen als Zauberinnen sich Achtung
zu verschaflen und fertigen die wenigen Gerätschaften^
deren man bedarf, an; die Buhlerinnen aber sind die ge-
borenen Feinde der Päderastie; sie suchen durch Putz
und herausfordernde Geberden, in denen sie es zu einer
grossen Kunst bringen, die Männer^ und zwar vornehm-
lich die Oberhäupter, für sich zu gewinnen (Foley
604—606; 678; Ellis-Symonds 5).
3. Die Neger.
Unter Negern sind hier nur die dunkelfarbigen, woll-
haarigen Eingeborenen Afrikas verstanden, alle hellfarb-
igen Südafrikaner und alle helleren, locken- und straff-
haarigen Ost- und Nordafrikaner aber davon ausge-
schlossen; von den Bewohnern der grossen Insel Mada-
gaskar gehören die Sakalaven den Negern zu.
Nach K.atzel(II14— 15) sollen „unnatürliche Laster*^
angeblich erst durch Fremde bei den Negern verbreitet
worden sein. Dieser Auffassung würde aber ein allge-
meiner Ausspruch von G. Fritsch schroff gegenüber-
stehen, welcher lautet: „Jedenfalls bedarf es keiner grossen
Einsicht, um zu erkennen, dass die Sinnlichkeit und die
— 93 —
beim Mangel an Moral daraus folgende Unsiitlichkeit im
afrikanischen Blute liegen" (F ritsch 55).
Die B antun eger. Oskar Baumann ist der ein-
zige Ethnograph, welcher den konträrsexuellen Erschein-
ungen bei den Negervölkern tiefere Aufmerksamkeit ge-
schenkt zu haben scheint; zu bemerken ist nur, dass die
Darstellung des von ihm Beobachteten sichtlich voll-
ständig unter dem Einflüsse der Lektüre der Krafft-
Eb in g- Moll-Literatur zu Stande kam. Nach Bau-
mann soll bei der männlichen Negerbevolkerung Zanzi-
bar's sowohl angeborene als auch erworbene konträre
Triebrichtung ziemlich häufig vorkommen, angeborene
unter den Stämmen Liner- Afrikas aber seltener auftreten;
die grössere Häufigkait in Zanzibar schreibt er dem Ein-
flüsse der Araber zu, welche zusammen mit Komorensern
und wohlhabenderen Swahili- Mischlingen das Hauptkon-
tingent zu den Erworben-Konträren stellen sollen. Bei
diesen Leuten trete, da sie meist sehr früh zum Geschlechts-
gen usse gelangten, bald Uebersättigung ein, welche es
ihnen nahe lege, durch konträre Akte neuen Anreiz zu
suchen, nebenher aber auch normale Akte auszuführen.
Später gingen sie jeder Libido zum weiblichen Geschlecht
verlustig und würden aktive Päderasten, um mit ein-
tretender Impotenz zu passiver Päderastie überzugehen;
ihre Objekte gehörten fast ausschliesslich der schwarzen
Sklaven-Bevölkerung an; nur selten gäben sich arme Freie,
Araber, Belutschen u. a. aus Gewinnsucht dazu her. Die
zur Pädikation auserlesenen halbwüchsigen Sklaven würden
von jeder Arbeit femgehalten, gut gepflegt und plan-
mässig verweichlicht. Anfangs fänden sie am normalen
Geschlechtsakte Gefallen und blieben auch normal, wenn
sie nicht zu lange als Lust-Knaben Verwendung fänden;
geschähe dieses, so schrumpfe allmählig das Scrotum,
das Glied verliere die Fähigkeit zur Erektion und das
Lidividuum fände nur noch an passiver Päderastie Ge-
— 94 —
schmack. und NachahmuDg dieser fremden Sitten sei
es, durch welche auch die Neger Zanzibar's zu konträren
Akten gelangten. Indem diesen nämlich eigene Sklaven
vielfach nicht zur Verfügung ständen, so habe sich eine
männliche Prostitution entwickelt, welche sich teils aus
früheren Lustknaben der Araber, teils aus anderen Negern
ergänze. Die Betreffenden lebten hauptsächlich in Ngambo
und betrieben ihr Gewerbe ganz öffentlich ; manche unter
ihnen trügen Weiber-Kleidung; bei fast jedem Tanze in
Ngambo könne man sie mitten unter den Weibern sehen;
andere erschienen in männUcher Tracht, trügen jedoch
an Stelle der Mütze ein Tuch um den Kopf geschlungen; viele
endlich verschmäheten jegUches Abzeichen. Die meisten
dieser Leute sollen nach Baumann an Mastdarm-Leiden^
die sie anfangs durch Verstopfen mit Tüchern und An-
wendung von Parfüms zu verbergen trachteten, zu Grunde
gehen; alle, sowohl aktive als passive Päderasten ständen
im Rufe, starke Trunkenbolde zu sein, woher es komme,
dass die Swahili-Bezeichnung für Säufer (walevi) vielfach
direkt für Päderast angewendet werde. Männer von an-
geboren-konträrer Sexualität zeigten von Jugend auf Trieb
zum Weibe nicht, fänden vielmehr an weiblichen Arbeiten,
wie Kochen, Mattenflechten u. dergl. Vergnügen; sobald
ihre Angehörigen dieses bemerkten, fügten sie sich ohne
Widerstreben dem Thatbestande dieser Eigenheit; der
junge Mann lege Weiberkleidung an, trage das Haar nach
Weiberart geflochten und benehme sich völlig als Weib;
sein Verkehr bestehe hauptsächlich aus Weibern und
männlichen Prostituierten ; geschlechtliche Befriedigung
suche er wesentlich in Pädikation und in beischlafähn-
lichen Akten; kufira heisse pädicieren, kufirwa pädiciert
werden; in ihrer äusseren Erscheinung seien die angeboren-
konträren Männer von männlichen Prostituierten nicht
zu unterscheiden; gleichwohl sähen die Eingeborenen
zwischen ihnen einen scharfen Unterschied, indem sie die
— 95 —
berufsmässigen Lustknaben verachteten^ das Verhalten
der geborenen Konträren dagegen als Willen Gottes (amri
ya muungu) zu dulden pflegten. Für homosexuale Männer
habe die Swahili-Sprache die Bezeichnung mke-simume
d. h. Weib^ kein Mann; doch fände auch der Ausdruck
mzebe und das dem Arabischen entlehnte^ eigentlich Im-
potente bedeutende hanisi auf sie Anwendung. Da»
arabische Gesetz sei in der Verfolgung der männlichen
Konträren^ obwohl der Korkn die Päderastie streng ver-
biete, ziemlich tolerant (Baumann 068—670).
Aus den Negerstämmen Inner-Afrikas waren Bau-
mann nur zwei Fälle von Effemination und passiver
Päderastie zur Kenntnis gekommen; der eine betraf einen
Mann aus Unyamwesi, der andere einen Mann aus Uganda
(Baumann 668, 1).
Johnston (408 — 409, l) hat sich mit grosser Ent-
schiedenheit gegen die Berechtigung ausgesprochen, ge-
wisse, das konventionelle Schicklichkeitsgef tihl verletzender
Missbräuche oder Unregelmässigkeiten im geschlechtlichen
Verkehr der Neger, wie sie z. B. bei festlichen Tänzen
unter Gebrauch des Phallus als Symboles der schöpfer-
ischen Kraft alljährlich einmal stattfinden, als lasterhaft
hinzustellen; solche Sitten möchten unrecht sein, den-
vitalsten Interessen der Gemeinschaft widerstreiten, auch
Aufsicht und Einschränkung erfordern, aber lasterhaft
seien sie nicht; der Neger sei überhaupt sehr selten laster-
haft, wenn er nur erst das Pubertätsalter überwunden
habe; er sei massig und viel mehr frei von Lastern als
die meisten europäischen Nationen. Einzig die Neger-
k n a b e n seien lasterhaft ; unter denen des Atonga-Stammes^
herrsche nach Mitteilung eines Missionars an ihn ein
Laster, das er nicht einmal mit verschleierndem Latein-
bezeichnen möge und von dem er vermute, dass ihm die^
männliche Jugend aller Negerstämme huldige.
Schneider (I 295 — 296) bemerkt, Päderastie und
— 96 —
andere «unnatürliche Laster*' in den östlichen Negerländern
seien durch die Nubier dorthin importiert worden ; in den
Quellenwerken von Werne und Combes^ auf die
Schneider sich beruft^ ist davon nichts enthalten.
Die Sudanneger. Nach Werne (120) ist das
, schändliche Laster der Päderastie*, welches in Griechen-
land wie im ganzen Oriente* überhaupt gleichsam zu
Hause,, selbst zum Gegenstande der Unterhaltung oline
alle Scham gebraucht werde, glückUcherweise im ganzen
Lande Sudan weder bei den Eingeborenen, noch bei den
arabischen Stämmen bekannt. Dass jedoch die Türken
von dem Grössten bis zum Kleinsten es zu verbreiten
bemüht seien und sich ihre Knaben halten, die man Pust
nenne, verstehe sich von selbst. Die von W erne alsdann
mitgeteilten Beispiele zur Belegung seiner Behauptung
sind so lebendig geschildert, aber zugleich so nichts-
beweiseud und andere Deutungen zulassend, dass ich nicht
unterlassen möchte, sie ausführlich wiederzugeben, ob-
schon sie strenge genommen nicht mehr in den Kahmen
vorliegender Arbeit gehören.
Feizulla Capitan hatte, aus Vorsicht, um bei ein-
tretender Epilepsie sogleich Hilfe zur Hand zu haben,
«inen ägyptischen Matrosen, mit Namen Chattap, zum
Koch, welcher mit einem jungen Dongolaner in Werners
Kajüte an der Erde schlief. Li der Nacht wollte dieser
Fellach den Kiiaben missbrauchen und hielt ihm die
Gurgel zu, während Werne von seinem Lager auf ihn
herabstürzte und ihn zur Thüre hinausriss, um ihn in den
Nil zu werfen, woran er jedoch durch die Wache ver-
hindert wurde. FeYzulla Capitan hatte bereits den Koran
wieder mit der Schneiderei vertauscht, bei Soliman Kaschef
von Neuem Araki getrunken und schlief dergestalt, dass
•er nicht aufzuwecken war. Als ihm Werne am Morgen
den Vorfall erzählte, geriet jener mehr in Verlegenheit,
wie er seinen Mundkoch und Calefaktor retten möge.
— 97 —
als darüber, ihn augenblicklich zu bestrafen. Eine solche
Gleichgiltigkeit hatte Werne wirklich nicht erwartet j
als der „unverschämte Mundkoch* nun auf die Kajüte
zukam, um dem Kapitän Kaffee zu bringen, verbot ihm
Wern e unter Androhung von Misshandlung den Eintritt,
während der Koch sein gewöhnliches langweiliges Gesicht
machte und dem jungen Dongolaner Befehl gab, den
Kaffee entgegen zu nehmen. Da die Päderastie nicht
allein durch den Koran, sondern auch durch die Kriegs-
artikel schwer verpönt wird, so trug Werne auf Be-
strafung des Kochs bei den beiden Kommandanten an,
da er ihn in flagranti gepackt habe und sein Vergewal-
tigungsversuch auch durch den Dongolaner bestätigt
werde. Aber auch die Kommandanten nahmen die Sache
nicht so ernsthaft; sie stundeten dem Koch die verdienten
500 Stockprügel und versetzten ihn auf ein anderes
Schiff, wo er ungeachtet vorgeblicher Krankheit gleich
den übrigen Matrosen arbeiten musste (Werne 120 — 121).
— Noch bunter gestaltet sich ein anderes päderastisches
Bild : An der Spitze steht Selim Capitan, dem es wahrer
Ernst um die Sache ist, ihm zur Seite SoHman Kaschef,
der dem würdigen Sohne von Kreta ,in der Kultur nichts
nachgeben und lachen und Zeitvertreib haben will*. Nicht
nur, dass sie auf ihren Schiffen obscöne Manipulationen
mit den Buben vornehmen, suchen sie auch die Knaben
der Eingeborenen mit Glaskorallen zu gewinnen und
lassen sie durch die türkischen Soldaten einfangen, was
natürlich blos im Scherze geschieht. Für Werne war
es ein empörender Anblick, besonders wenn, er bedachte,
auf welche ,,grässliche Art die Moralität dieser Völker
von vom herein durch die türkischen Bestien unter-
graben" werde. Was man dem Hauptmann Selim A^,
dem Russen, in Bezug auf die griechische Liebe
nachsagte, fand Werne hier zur Genüge bestötigt; da
stand er vor der Kajüte des Selim Kapitän und fasste
Jahrbuch III. 7
— 98 —
eiiien dort befindlicheii eingeborenen Knaben auf eine un-
anständige Art an. Die Eingeborenen selbst standen am
Ufer nahe dabei und lachten, ^da sie die Bedeutung
dieser Unanständigkeit nicht kannten **. Werne befand
sieh ebenfalls am Lande, wo er sich einige Hölzproben
absägen liess und schrie sogleich drohend dem Mosko-
witen zu; dieser aber hörte nicht auf ihn, bis Werne
ein Stück Holz nahm, um es dem Hauptmann an den
Kopf zu schleudern. Thibaut und Sabatier hinderten ihn
an der Ausführung dieser Absicht und meinten, man
müsse sich über eine solche Sache hinwegsetzen« Der
Russe zog sich danach sofort in die Kajüte zurück, wahr-
scheinlich um Werne bei Selim Capitan^ welcher als
Päderast seinem kretischen Ursprünge Ehre machte, zu
verklagen. Auch Achmet Sascha kannte den Bussen sehr
gut und wollte ihm daher nicht erlauben, seine Weiber von
Alexandrien nach Chartüm kommen zu lassen, um ihnen
den „trostlosen Anblick" seiner Buben oder Pust (wohl von
?} TToVrfij, das männliche Glied, neugriechisch xokovfxßaQag)
zu ersparen. Gerade deshalb hatte auch Werne sein An-
erbieten in Chartüm, auf seinem Schiffe die Fahrt mit-
zumachen, mit der geraden Erklärung ausgeschlagen, däss
er \ Weiberfeind" sei. „Wo wird — schliesst Werne —
die vom Korän angedrohte Todesstrafe vollzogen! — Die
Neugriechen schrieen, drakonische Gesetze!^, als das Gesetz-
buch von Maurer promulgiert wurde — " (Werne 383).
Auch nach Barth sind „unnatürliche Laster* in
B<5rüu (Zentral-Sudän) im Allgemeinen unbekannt; die
Erzählung, an welche diese Bemerkung geknüpft wird,
rechtfertigt die gemachte Einschränkung. Unter den Börnu-
Freunden Barth^s waren um diese Zeit die „belehrendsten"
Schitima Makar^mma und Amssakai. Der Erstere dieser
beiden, der ein Hofmann der alten Dynastie gewesen war
und sein Leben durch seine Intriguen gerettet hatte, war
ein höchst gescheidter alter Mann, aber ein anerkannter
— 99 —
Gauner, dem „unnatürliche Laster" zugeschrieben wurden,
„die im Allgemeinen in diesen Gegenden unbekannt zu
sein scheinen*. Er war der einzige mit der Geschichte
der alten Dynastie wohl bekannte Mann ; ausserdem sprach
er die Knaöri-Sprache mit so ausgezeichneter Schönheit,
wie Barth es von Niemanden ausser ihm hörte. Er
hatte zwei sehr schöne Töchter, deren eine er so glück-
lich war mit dem Vezier zu verheiraten, deren andere
mit dessen Gegner *Abd e' Rahmän. Das war der Glanz-
punkt seines intriguanten Daseins; aber bald darauf,' im
Dezember 1853, ward er mit dem einen dieser beiden
Schwiegersöhne, dem Vezier Hadj Beschir, von dem
anderen Schwiegersohne hingerichtet, und bei der Teil-
nahme, die Barth für das unglückliche Ende seines
Freundes, des Veziers, hatte, that ihm nichts mehr leid,
als dass er mit diesem Schurken zusammen war hinge-
richtet worden (Barth II 374—375).
Die Dahom ey-Neger. Ein völlig abweichendes
Bild zeigt die Päderastie, wie sie bei den Negervölkem
der Sklavenküste, im Königreiche Dahomey, sich ent-
wickelt hat. Die schrankenlose Selbstsucht des Herr-
schers von Dahomey, der, als vollkommen mit seinem
Laude identisch, einfach „der Dahomey" genannt wird,
belegte fast alle Frauen seines Landes für seine Person
mit Beschlag; die Mehrzahl der Männer im Volke, an
der ihnen zusagenden Befriedigungsweise des Geschlechts-
triebes hierdurch verhindert, ahmte das von Päderasten
ihnen gegebene Beispiel nach, und die Päderastie, ein-
mal Volkssitte geworden, wurde dann später von dem
Herrscher und den Vornehmen selbst angenommen, um
so zu einer, gesetzmässigen Einrichtung ausgestaltet
zu werden (Bastian III 305, Schnitze 1900, 162).
Nach Fleuriot de Langle (243) giebt es in Whydah
bei Hofe eine Art ^Eunuchentum", welches aber nicht,
wie anderwärts, nur eine private Wache für den Frauen-
— 100 —
harera des Herrschers darstellt, sondern eine Staatsein-
richtung ist; die Lagredis oder Effeminierten des
in jeder Beziehung unumschränkten Dahomeyherr-
schers werden unter den Söhnen der Vornehmen des
Landes ausgewählt und von ihrer frühesten Jugend zum
Genüsse solcher Getränke gezwungen, welche die Leiden-
schafben des Blutes ersticken; ihr Oberhaupt, selbst ein
Effeminierter, spielt am Hofe eine bedeutende Rolle und
gehört zum Staatsrate: Die Gesandten gehen nur in
Begleitung von zwei Lagredis auf Reisen, und diese sind
verpflichtet, deren Verträge zu überwachen und über
Ausführung derselben dem absoluten Könige unmittelbaren
Bericht zu erstatten. Nach Barret (I 164 — 165) wird
der Dahomeykönig von einem Rate seiner Landesgrössen,
die demütige Schmeichler seiner Willensäusserungen sind,
in der Regierung des Landes unterstützt; mit der Ver-
waltung des ganzen grossen Königreiches sind acht
hohe Beamte beauftragt: einM^hou als erster Minister,
ein Minghan als zweiter Minister, ein Kambod^ als
Kammerherr, einAvoghan oder Yavogan als Kommandant
von Whydah, ein Gao und Poissou als Kriegsminister,
ein Cab^cfere als Distriktsgouvemeur, ein Racad^re
als Adjutant des Königs und ein Tolonu (Tolonou) als
erster „Eunuch^' und Mundschenk des Königs; diesem
Tolonu sind die Frauen und Effeminierten des Königs
unterstellt, und sein Rang ist so hoch, dass er unmittelbar
zwischen den König und seinen ersten Minister sich ge-
stellt sieht. Als Residenz des Königs gilt nicht Whydah,
sondern Abomey (oder Agbom^, die durch Thore ge-
schlossene Stadt); nie erscheint der König in Whydah
(franz. Ouidah), welches die Stadt der Weissen ist (Barret
I 160). Bei Norris (415) wird ausser von Hängebetten -
Trägern noch von ^Verschnittenen" berichtet, welche die
Portechaise-Träger ablösten; ihrer nahmen (Norris 422)
dreissig, wie Weiber gekleidet, an einer Art Prozession
— 101 —
teil, und jeder hielt eine blinkende eiserne Gerte in
seiner Hand.
Die Neger der Insel Madagaskar. Bei den
Manghabei herrschten um die Mitte des 17. Jahr-
hunderts sehr lockere Sitten; schon kleine Knaben und
kleine Mädchen trieben Liebesspiele im Beisein ihrer
Eltern, welche darüber lachten und selbst dazu den An-
reiz gaben; bisweilen nahmen kleine Buben, ohne Scham,
in Gegenwart ihrer Eltern, Ausschweifungen an Kälbern
und Zicken vor. Die Sklaven in ihrer Mittellosigkeit,
die ihnen unmöglich machte, den Mädchen ihre Dienste
zu bezahlen, gebrauchten zur Befriedigung ihrer Begierden
ohne Strafe, ja ohne Tadel, die Kühe ihrer Herrschaft.
Auch gab es einige verweiblichte und als impotent
geltende Männer, welche man Tsecats nannte; diese
geberdeten und kleideten sich wie Weiber und stellten
den Jünglingen nach; sie «thaten, als seien sie in dieselben
verliebt*' und boten ihnen auch an, mit ihnen zu schlafen ;
sie legten sich selber Frauennamen bei und spielten die
Bolle verschämter und schüchterner Mädchen (Flacourt
86). Dennoch soll nach demselben Gewährsmanne bei den
Manghabei Päderastie nicht in Gebrauch, ja diesem
Stamme ganz unbekannt gewesen sein. Auf seine Er-
kundigungen nämlich bei den Tsecats selbst, weshalb sie
so lebten, erhielt Flacourt die Auskunft, sie widmeten
sich dieser Lebensführung seit ihrer Jugend, gemäss der
Sitte ihres Landes, hätten das Gelübde der Keuschheit
abgelegt, und dass sie die Gesellschaft junger Burschen
suchten, gehe weder aus niedrigen Absichten her-
vor, noch werde ihre Zuneigung von unanständigen
Handlungen begleitet; dieses alles wurde ihm auch von
seinen Negern und deren Frauen bestätigt; dieselben
erklärten, die Tsecats dienten durch ihre Lebensart Gott ;
sie verabscheuten die Weiber und wollten ihnen nicht
beiwohnen (Flacourt 86; Bastian HI 311). Nach
— 102 —
Lasnet (475) ist unter den männlichen Sakalaven diä
Päderastie ziemlieh verbreitet. Es giebt bei ihnen auch
normal gebildete Männer, welche sich vollkommen
als Weiber fühlen; schon in früher Jugend werden diese
ihres zarteren und schwächlicheren Aussehens wegen wie
Mädchen behandelt und, mit den Jahren als Frauen an-
gesehen, legen sie auch deren Kleidung und nehmen
deren Charakter und Gewohnheiten an. Grosse Sorgfalt
verwenden sie auf ihre weibliche Tracht; ihr Haar
tragen sie lang, in kugelförmig endende Zöpfe geflochten;
in ihren Ohren hängen Ringe mit Silberstücken; am
linken Nasenflügel haftet ein Geldstück; Handgelenk und
.Fußswurzel werden mit Bändern geschmückt; dem Weibe
noch mehr ähnlich zu sehen, bilden sie deren Brüste
durch Lappen nach; alle Behaarung wird sorgfältig vom
Körper entfernt; auch der wiegende weibliche Gang und
die weibliche Stimme ist ihnen eigen. Einen Mann, der
ihr Gefallen erregt, bezahlen sie, auf dass er bei ihnen
schlafe; sie lassen ihn in ein mit Fett gefülltes Ochsen-
horn, das sie zwischen die Beine klemmen, den Coi'tus
ausführen oder dulden Pädikation. Verlangen zum
Weibe kennen sie nicht, und eine durch Weiber bei ihnen
veranlasste Erection ist ausgeschlossen. Ihre Beschäftigung
besteht aus leichterer Frauenarbeit in Haushalt und
Küche, im Strohflechten und dergl. Sie hüten weder das
Vieh, noch beteiligen sie sich am Kriege. Die Ge-
schlechtsnatur dieser Männer, welche bei den Sakalaven
Sekatra heissen, wird von Jedermann anerkannt und
ihnen sogar eine gewisse übernatürliche Macht zuge-
schrieben, denn man f ürchtet, ein Sekatra könne ihm an-
gefügte Beleidigungen durch Fluch und Krankheit
rächen (Lasnet 494—495),
Ueber Päderastie beiden hellen Negern Süd-
afrika's ist nicht berichtet worden. Herr Geheimrat Professor
Dr. Gustav Fr itsch teilte mir unter dem 23. Dezember
— 103 —
1900 auf meine Anfragen brieflich mit: „Ueber Päderastie
unter südafrikanischen Eingeborenen habe ich überhanpt
nichts in, Erfahrung gebracht und bin überzeugt, dass si4,
damals wenigstens, überhaupt kaum vorgekommen ist.
Die Abneigung gegen diese Perversität sehe ich daher
als dem Naturzustand entsprechend an. Im Gegenteil iät
Päderastie bei den seit Jahrtausenden hochzivilisierteh
Persern in wahrhaft schreckenerregehder Verbreitung.
Als Ausfluss einer dekadenten Ueberkultur charakterisiert
sich bei den Persem diese Unsitte besonders dadurch, dass
mir von vornehmen Leuten im VoUbewusstsein ihrer
höheren Kultur ganz oflPen erklärt wurde: ,Im Winter
benutzt man die Frau, im Sommer den Knaben, denn im
Sommer stinkt die Frau!^ Auch hier haben wir es also
unzweifelhaft mit einer allmählig üblich gewordenen
Perversität zu thun. Bezeichnend ist in gleichem Sinne
auch der von Krafft-Ebing geführte Nachweis, dass
Päderastie (seil. Pädikation!) unter den sogenannten
Konträrsexuellen nur als grosse Ausnahme vorkommt.
„Ich will nun dabei nicht verschweigen, dass ich die
ganze Urnings-Theorie als vom wissenschaftlichen Stand-
punkte ungenügend fundiert erachte und die dabei zu
Tage tretenden Erscheinungen als Ausflüsse einer besonders
gearteten Perversität ansehe. Logischer Weise könnten
ja, da nur die entgegengesetzten Geschlechter sich
normaler Weise anziehen, zwei Urninge gar nicht mit
Genuss zusammen kommen, wie €s thatsächlich geschieht.
Der normalsexuelle Mann könnte sich doch von dem
konträrsexuellen Mann, für den ihm jedes Verständnis
mangelt, nicht angezogen fühlen; zwei konträrsexuelle
Männer zusammen gebracht, sollten -sich doch ebenso ab-
stossen wie zwei normal- weibliche Personen, so lange
nicht Perversität in's Spiel kommt.
«Man müsste also für den Umingsverkehr die offen-
bar recht gewagte Hypothese aufstellen, dass dabei die
— 104 —
VereinigUDg eines Konträrsexuellen mit einem Pervers-
sexuellen stattfände. Offenbar im Bewusstsein dieser
Schwierigkeit hat sich Krafft-Ehing stets eingehend be-
miihiy festzustellen, welcher Teil sich als der aktive,
welcher sich als der passive fühle. Auch gegen die hypo-
thetische Erklärung K r afft-Ebin g's über das anatomische
Zustandekomnaen der Abweichung muss ich Widerspruch
erheben. Es ist unerweislich, wie neuerdings so vielfach
behauptet wird, dass die ursprüngliche Anlage der Organe
eine hermaphroditische sei; denn alsdann müssten die ent-
scheidenden Keimdrüsen (Hoden und Eierstock) neben
einander aus verschiedenen Anlagen entstehen,
während dieselbe Keimanlage Hoden oder Eierstock
liefert. Die leitenden ursprünglich indifferenten, durch
Funktionswechsel aus anderen (Excretions-) Systemen
übernommenen Wege sind nicht entscheidend. Auch ist
in der Stammesgeschichte die ungeschlechtliche
und monogene Fortpflanzung älter als die zwei-
geschlechtliche, welche auf einer durch Arbeitsteilung
bedingten höheren Differenzierung ursprünglich gleich-
wertiger Zellen beruht. Es ist femer embryologisch un-
haltbar, anzunehmen, dass die konträr-sexuellen Erschein-
ungen auf einer falschen (gekreuzten) Verbindung der
zentralen, ebenfalls hermaphroditisch gedachten Anlagen
mit den peripherischen beruhen; denn die peripherischen
Organe sind längst fertig ausgebildet, ehe auch nur der
Anfang mit der Herstellung der zentralen Leitungsbahnen
gemacht ist; sie erscheinen bekanntlich erst ganz all-
mählig nach der Geburt im Zusammenhang mit der sich
einstellenden Funktion. Dass sich eine zentrale Leitungs-
bahn für ein gar nicht vorhandenes weibliches Organ
oder umgekehrt für ein nicht vorhandenes männliches
ausbilden sollte, ist gänzlich unerfindlich und widerspricht
auch dem je nach Bedarf eintretenden vikariierenden Ver-
halten benachbarter Rindengebiete.
— 105 —
^Auch in den konträr-sexuellen Erscheinungen glaube
ich daher eine besondere Form sehr früh und vielfach
wohl durch Zufälligkeiten besonders entwickelter ge-
schlechtlicher Perversität sehen zu sollen. In der Be-
urteilung dieser ausserordentlich schwierigen Sache befinde
ich mich mit einem grossen Teil unserer Spezialisten in
Widerspruch.**
II. Die malayischen NatuFvölker.
1. Die Malayen der ostiudischen Inseln.
Ueber das Sexualleben der B attaer (Battaker) auf
Sumatra teilt Junghuhn (II 157) mit, sie hätten ein
Gesetz, welches Ehebrecher ohne Gnade verurteile, auf-
gegessen zu werden, während sonst von allen übrigen,
selbst den schwersten. Vergehen Abkaufbarkeit möglich
sei; dieses Gesetz habe eine grosse Keuschheit der Wei-
ber in den Battaländern zur Folge, so dass Junghuhn
versichern zu können behauptet, diese Keuschheit komme
beinahe der der Nonnen gleich und leite sich davon ab,
dass die Weiber niemals in Versuchung kämen. Das ge-
nannte strenge Gesetz gegen Ehebrecher erscheine auf-
fallend bei einem Volke, das sonst gerade nicht als Muster
der Moralität dastehe, indem das ;, Laster der Sodomie"
allgemein verbreitet sei und nicht bestraft würde. Dem-
ungeachtet soll der Battaer nach Junghuhn (II 237)
„ohne bedeutende Wollust* sein, womit wieder nicht recht
die Angabe stimmen will, dass die Battaer ihre Särge
und nachher ihre Gräber mit unkeuschen Holzstatuen, die
sich hauptsächlich durch ihre unverhältnismässig grossen
.Genitalien auszeichneten, verzierten, — eine Eigentümlich-
keit, von der sich keine Spur bei den Javanen finde
(Junghuhn II 140; Wuttke I 184); diese aber sollen
stark wollüstig sein, doch der Gemeine weniger als der
Häuptling und die Fürsten ; die Fürsten von Solo und
— 106 —
Djocjo seien aller Art Wollust ergeben gewesen; die
zahlreichen Prinzen und Halbprinzen zu Djocjokarta hätten
um 1835 ihre geschlechtliche Wollust zuweilen auf eine
so unnatürliche Art ausgeübt, dass es an's Unglaubliche
grenze; so war einer von diesen feinen Herren unter allen
Geschöpfen vorzugsweisein Enten verliebt (Junghuhn II
241; Bastian III 315). Mit diesen Angaben deckt sich nicHt
die allgemeine Bemerkung von Waitz (V 1. Abtl. 157),
den Malayen seien geschlechtKche Ausschweifungen fremd.
Auf den Sulu -Inseln scheint Päderastie eine ver-
breitete Sitte gewesen zu sein. Als im Januar 1588 Tho-
mas Ca n diso h auf seiner Seefahrt die Insel Ca pul be-
rührte, traf er die meisten Leute nackt, die Mannet
höchstens mit einem aus Bananenblättem hergestellten,
ihre Geschlechtsteile bedeckenden Schurze; dieser Schurz
wurde zwischen die Beine geklemmt und vorn auf dem
Nabel befestigt. Die sämtlichen herangewachsenen männ-
lichen Eingeborenen zeigten eine merkwürdige Art von
Infibulation: jedem männlichen Kinde wurde nach der
Beschneidung ein Nagel von Zinn durch die Eichel der
Rute getrieben ; die Spitze des Nagels war gespalten und
dann umgebogen, der Nagelkopf bildete ein Krönchen;
die durch das Eintreiben des Nagels verursachte Ver-
wundung heilte im Kindesalter, ohne dem infibulierten
Kinde viel Pein zu bereiten ; die Leute zogen den Nagel
heraus und steckten ihn je nach Bedarf und Gefallen
wieder in die Eichel. Um sich von der Richtigkeit die-
ser Thatsache selbst zu überzeugen und wohl auch aus
begreiflicher Neugier, machten die Begleiter von Candisch
selber die Probe des Ausziehens und Einsteckens dieses
Nagels bei einem der Söhne des Häuptlings (Caciken),
einem zehnjährigen Knaben. Diese Sitte oder Gewohn-
heit war angeblich auf Betreiben der Weiber eingeführt
worden; als diese nämlich sahen, dasis die Männer stark
der Sodomie (Päderastie) ergeben waren, unterbreitete»
— 107 —
sie den Häuptlingen ein Gesuch und erlangten für die
Zukunft den Gebrauch der beschriebenen Infibulation, um
•der für sie so grossen Unannehmlichkeit vorzubeugeji
(Prettie 15—16; Brosse I 226—227; Mantegazza
83). Zu dem letzten Punkte bemerkt ganz richtig Pauw,
die Beschreibung Prettie 's gebe keine Vorstellung da-
von, in welcher Weise durch den Gebrauch des Nagels
der Erfolg erreicht werden könne, den man von ihm er-
wartet habe; es sei gewiss, dass er die Männer ebenso
hindere, wenn sie richtig, als wenn sie unrichtig
coitieren wollten (Pauw II 150).
2. Die Malayen auf Madagaskar.
Bei den Betanimenen bilden die Tänzer, welche
zur Erhöhung der Festfreuden in den Dörfern beitragen,
eine getrennte, wenn auch nicht zahlreiche Klasse voii
Männern. Sie haben besondere Sitten und Gebräuche,
leben abgesondert, verheiraten sich niemals und hassen
und verabscheuen die Weiber (d. h. wohl nur, den ge-
schlechtlichen Verkehr mit ihnen), obwohl sie deren
Kleidung tragen und deren Stimme, Gesten und Eigen-
tümlichkeiten kopieren; sie tragen in den Ohren breite
Ringe, um den Hals goldene oder silberne Bänder mit
Korallen oder gefärbten Glaskugeln und an den Armen
silberne Spangen; sie rasieren sich sorgfältig; man nennt
sie Sekatses d. h. Bastarde, „vielleicht, weil es unehe-
liche Kinder sind*. Uebrigens pflegen diese Tänzer
einfache Sitten zu führen, sie leben sehr massig, sind
beständig auf Reisen und werden überall, wohin sie ihr
Weg führt, gern aufgenommen; zuweilen erhalten sie
sogar beträchtliche Geschenke; Vornehme geben, nachdem
die Tänzer ihnen einige Tage hindurch die Zeit angenehm
.vertrieben haben, bei deren Abreise als Gieschenk zwei
— 108 —
oder drei Sklaven mit. Diese Tänzer sind zugleich die
Nationaldichter oder Barden der Betanimenen, indem sie
Lobgesänge erfinden auf diejenigen Personen, von denen
sie angemessen bezahlt werden (Legu^vel de Lacombe
I 97—98; Waitz II 438; Mantegazza 105).
Unter den Hova's kommen auch zur Jetztzeit effe-
minierte Männer, z. B. in Miarinarivo, vor; sie heissen
in Emymien Sarimbavy, von sar, Bild, und »vavy**,
Weib (nach Rencurel bei Lasnet 494); von ihnen
gilt im allgemeinen dasselbe, was von den Sakalaven, die
aber nicht Malayen, sondern Neger sind, mitgeteilt wurde
i(siehe vorher S. 102).
3. Die Polynesier.
Sowohl vor Zeiten als auch noch in den 60. Jahren
des 19. Jahrhunderts bestanden (nach Remy S. XLIII)
die Wohnungen der Eingeborenen von Hawaii aus Hütten
von Pandanus-Blättern oder von Rasen und bildeten nur
einen einzigen Raum, in welchem alle Familienangehörigen
und Gäste unter Matten nächtigten. In Folge dieses
engen Zusammenhausens bildete sich eine sittliche Ver-
weichlichung aus, die besonders die Kinder ergriff und
eine schrankenlose Vermischung herbeiführte. Scham war
ein unbekannter Begriff; die , Verbrechen wider die
Natur'', Sodomie und Bestialität, waren allgemein. Remy
liefert zu seiner Schilderung aber noch einen sehr merk-
würdigen Zusatz : unter 10 000 Geburten solle wenigstens
ein Hermaphrodit stecken, es solle solchen Misch-
wesen eine ebenso lange Lebensdauer wie. den anderen
beschieden sein, und sie sollen mehr den Geschmack der
Weiber als den der Männer hinsichtlich ihrer geschlecht-
lichen Begierden teilen.
Auf seiner Fahrt von den Marquesas-Inseln nach
— 109 —
Tahiti zu Ende des 18. Jahrhunderts traf Wilson (277)
in verschiedenen Distrikten Männer, welche sich wie
Weiber kleideten, mit diesen an der Verfertigung von
Zeugen arbeiteten, dieselben Nahrungsmittel zu sich nahmen
und überhaupt denselben Gesetzen unterworfen waren
wie die Weiber; diese durften auch weder mit den
Männern noch von deren Speisen essen, sondern besassen
eigene Pflanzungen zu ihrem Privatgebrauche. Wilson
hebt besonders hervor, dass die Polynesier „ungeachtet
dieser und anderer bei ihnen im Schwange befindlicher
Laster* in Gegenwart der Engländer niemals, weder in
Geberden noch Handlungen, irgend etwas Anstössiges
begingen.
Tahiti oder Otaheiti hatte eine Klasse von Männern,
welche sich in Weibertracht kleideten, weibliche Be-
schäftigungen aufsuchten, in Betreff ihrer Ernährung und
dergleichen denselben Einschränkungen unterworfen waren
wie die Frauenspersonen und gleich diesen die Gunst
der Männer zu gewinnen strebten; sie zogen dabei
die Männer allen anderen vor, welche mit ihnen zu-
sammen lebten und auch ihrerseits allem Umgange mit
Weibern entsagten. Solche Männer hiessen Mahhus
(Mahoos). Dieselben erwählten die angedeutete Lebens-
weise schon in früher Jugend. Da zur Zeit Wilson's
nur 6 bis 8 Mahhus vorhanden waren, so wurden diese
vorzugsweise von den vornehmsten Anführern begehrt
und gehalten. Selbst von den Weibern wurden diese
Menschen nicht verachtet, sondern beide lebten mit ein-
ander in Freundschaft. Wilson (318) hatte einen sach-
kundigen Begleiter gebeten, dass, wenn ein Mahhu auf
ihrem Wege sich blicken Hesse, er denselben ihm zeigen
möchte, und so bekam er einen in dem Gefolge des
Häuptlings Pomärre zu sehen; der Mahhu ging wie ein
Weib gekleidet und ahmte die Stimme und jede Eigen-
heit des Weibes nach. Als Wilson den Häuptling
— 110 —
P o m ä r r e fragte, wer jener sei, antwortete dieser : ,Taata,
mawhuV d. h. ein Mann, ein Mahhu, und als Wilson
seinen Blick auf den ,Kerl** heftete, verbarg dieser sein
Gesicht; anfangs legte der Unkundige dieses als Scham
aus, bald aber erkannte er, dass es ein Weibertric sein
solle (Wilson 818—319). Diejenigen Männer auf Tahiti,
welche nicht reich an Zeugen, an Schweinen oder an
englischen Artikeln waren, mit denen sie ein Weib sich
hätten erkaufen können, mussten ohne ein solches sich
behelfen; das führte nun zwar nicht zur Enthaltsamkeit,
wohl aber dahin, dass sie in erschreckendem Maasse Onanie
trieben, welche sie nachher unfähig machte, Weibern bei-
zuwohnen — aber Wilson lehnt es ab, alle „Verbrechen
dieser Art", welche bei den Tahitiern vorkamen, mitzu-
teilen, da sie ^zu entsetzlich* seien (311), und will lieber
einen Schleier über Gewohnheiten decken, die „zu scheuss-
lich* wären, als dass man ihrer erwähnen könnte (319).
Turnbull sah (282—283) Anfangs des 19. Jahrhunderts
zwei Mahhus, den einen im Gefolge Pomärre's, den
anderen, wie er an TurnbulPs Wohnung vorüberging-
Die „Gottlosigkeit* dieser Menschen schien ihm gross ge-
nug, um das unmittelbare Gericht des Himmels auf sie
herabzurufen; er glaubte, Gottes Hand sei unter ihneui
schon sichtbar, und die Tahitier würden, wenn sie sich
nicht änderten, unter der Zahl der Nationen nicht mehr
lange verbleiben; das Schwert der Krankheit sei nicht
minder wirksam als die Wasser der Sündflut! Tum-
bu 11 (282) bestätigt mit Genugthuung Wilson 's Angabe,
dass den Mahhus Gunst fast nur von Seite der Häupt-
linge zu Teil werde. Der Kronprinz Otoo, Sohn Po-
m ärre's, sei ein „Ungeheuer von Ausschweifung** gewesen:
und seine „Laster spotteten aller Beschreibung*. Ellis
traf gegen 1830 ähnliche Verhältnisse an; er weist
aber nur auf sie hin, ohne sie genau zu bezeichnen;
er wünscht alles in Dunkelheit zu lassen, so dass man
- 111 —
nie recht weiss, was er eigentlich meint. Es herrschten
nach ihm auf Tahiti „unnatürliche Gebräuche*, für deren
j^usübung man nicht nur die Sanktion der Priester fand,
sondern Qogar auf das direkte Beispiel einer Gottheit als
vorbildlich hinweisen konnte (Ellis I 340; Moeren-
h out II 168; Waitz-Gerland VI124; Müller 301).
Die Schilderung, welche der' Apostel Paulus (Römer 1, 27)
von den Heiden gebe, passe vollkommen auch auf die
Tahitier (Ellis II 25). Unter den späteren christlichen
Gesetzen in Huahine befand sich eins, das XVI., welches
^unnatürliche Verbrechen" (,unnatural crime') betraf und
lebenslängliche Verbannung oder siebenjährige ununter-
brochene schwere Arbeit als Strafe über den verhängte,
welcher ihrer Verübung schuldig befunden wurde (Ellis
II 432). Moerenhout kann (I 229—230) nicht umhin,
seiner Verwunderung über die naive Unbefangenheit
Ausdruck zu geben, mit welcher diese aller Verlogenheit *
baaren Naturmenschen, die Tahitier, Männer, Frauen und
Kinder, über alles sich aussprachen, jedes Ding beim
richtigen Namen nennend; sie kannten eine Ausschweifung,
die ihnen verwerflich schien, überhaupt nicht; sie fanden
in ihren Vergnügungen weder Regel noch Maass; es gab
für sie weder Schande noch Tadel, und Verbrechen
existierten nicht für sie. Schneider (I 278 — 279) meint.
Turnbull habe die Mahhus richtig als ,monster' be-
zeichnet, ein Ausdruck, den er mit ,Ungeheuer^ übersetzt
und acceptieft; £.atzel (I 177; 257) dagegen findet, dass
von den Ausschreitungen bei den Tahitiern viel dem
gesamten Kulturzustande der Polynesier zuzuschreiben sei
und dass vorzugsweise Leichtsinn und Müssiggang die
Bedingungen seien, welche die , geschlechtlichen Zügel-
losigkeiten", besonders der oberen Klassen, „ins Unglaub-
liche* hätten ausarten lassen. Siehe Ulrichs Memnon 07.
— 112 —
m. Die amerikanischen Naturvölker oder Indianer.
Ein genauer Kenner der amerikanischen Völker-
gruppe aus persönlicher Anschauung, Eduard Pöppig,
erklärte 1840 (374—375): dass die »Verirrungen^ des
Geschlechtstriebes unter den Indianern, von denen be-
sonders die älteren Schriftsteller viel erzählten, nicht in
Abrede zu stellen seien; sie kämen ebenso unter sehr
rohen und in Mangel lebenden Horden wie bei denjenigen
vor, welche in der entgegengesetzten Lage sich beränden;
man begegne ihnen in Canada, auf den Bergen von Quito
und in den Wäldern von Amazonas und Paraguay.
Diese Richtung im Geschlechtsleben bei den Urbewohnern
Amerikas erscheint um so auffallender, als derselbe Ge-
währsmann die vielerorts ausgesprochene Behauptung zu-
geben zu müssen glaubt, die Indianer legten im Allge-
meinen weniger Neigimg zmn geschlechüichen Umgange
an den Tag als andere Menschenracen; unter Berufung
auf Hennepin und Falkner legt Pöppig dar, dass
dieselbe Erscheinung an den beiden End^ Amerikas, in
Louisiana und in Patagonien, beobachtet worden ist.
Wilhelm Robertson (Geschichte von Amerika, aus
dem Englischen von Johann Friedrich Schiller, 2 Bände,
I, Leipzig 1777, S. 335 — 340) suchte einen Zusammen-
hang der schwächeren geschlechtlichen Begierden der
Indianer mit äusseren Verhältnissen ihrer Heimat nach-
zuweisen; jedoch steht damit der ausgesprochene Trieb
zur Päderastie in schreiendem und anscheinend unlös-
lichem Widerspruche. Den , Fluch der Unfruchtbarkeit"
hebt auch Martins (1832,27) hervor.
Eine seltsame Erscheinung unter den Indianern sind
nach Klemm (II 82) die Mannweiber, die unter
allen nordamerikanischen Indianerstämmen und seit den
Zeiten der ersten Entdeckung auch im Süden von Amerika
sich finden.
Nach Mantegazza (105) sieht man von Alaska bis
— 113 —
Darien als Frauen erzogene und gekleidete Jünglinge, die
mit den Fürsten und Herren im Konkubinat leben. Nach
Katze 1 (I 555; 562 — 563) scheinen Männer in Weiber-
tracht, „verweibte Männer", kaum einem Stamme Nord-
amerikas gefehlt zu haben; sie standen in Nordamerika
den Priestern nahe, wurden aber in Brasilien gering ge-
achtet.
Die Kenntnis der Mannweiber allein ist indessen
nicht ausreichend, ein klares Bild von der unter den In-
dianern verbreitet gewesenen und noch herrschenden
Päderastie zu liefern. Hennepin unterschied bereits
1697 drei Formen von Männern, welche mit mannmänn-
licher Liebe in Zusammenhang gebracht werden mussten,
nämlich 1. Hermaphroditen, d. h. Zwitter, Personen
mit angeblich männlichen und weiblichen Geschlechts-
organen, 2. Männer von weiblichem Aussehen,
die sich mit weiblichen Arbeiten beschäftigten und weder
auf die Jagd gingen noch als Krieger in den Krieg zogen;
sie unterschieden sich von den Hermaphroditen dadurch,
dass sie bloss als Männer galten; endlich 3. Männer,
welche sich anderer Personen männlichen Geschlechts,
unter ihnen auch der Männer von weiblichem Aussehen,
zur Befriedigung ihres Geschlechtstriebes bedienten. Die
Hermaphroditen aber wurden wohl mit Unrecht von den
Männern mit weiblichem Aussehen scharf getrennt ge-
halten und dürften höchstens einen Unterschied im Grade
der Verweiblichung (Effemination) geboten haben, was
denn auch von Co real (33 — 34) am Ende des 17. Jahr-
hunderts unbedenklich angenommen wird. Eine kurze
Uebersicht über die Geschichte dieser Effeminierten ge-
bietet indessen, sie vorläufig auseinander zu halten.
1. Die Hermaphroditen. Wenn man den zahl-
reichen Schriftstellern, welche Hermaphroditen oder
Zwitter unter den Indianern gesehen oder von solchen
gehört haben wollen oder die Angaben anderer über sie
Jahrbuch III. 8
— 114 —
in gutem Vertrauen hinnahmen, Glauben schenken wollte,
so müsste die neue Welt nicht nur zur Zeit, als sie ent-
deckt wurde, solche mit mehr oder weniger vollkommenen
Zeugungsorganen der beiden Geschlechter ausgestattete
Wesen in grosser Menge hervorgebracht haben, sondern
müsste auch noch jetzt von derlei Geschöpfen wimmeln
und ein Dorado für den Anatomen sein. Wenn jedoch,
was selten geschah, an einem solchen hypothetischen
Wunder einmal eine Ocularinspektion vorgenommen
wurde, so stellte es sich jedesmal als einen normal ge-
bauten Mann heraus, welchem weibliche Formen, Be-
wegungen und Triebe anhafteten, so dass es nicht um
einen rein somatischen, wie man vermutete, sondern um
einen psychophysischen Hermaphroditismus sich handelte.
Hermaphroditen in grosser Zahl sollten besonders die
nordamerikanischen, von vielen Indianerstämmen be-
wohnten Gebiete Florida und Louisiana zur Zeit ihrer
Unterwerfung unter europäischen Besitz beherbergt haben;
ihr Vorkommen in Florida behauptete anscheinend zu-
erst 1586 Laudonnifere (ed. 1853, 9) und 1591 le
Moyne (4), später, 1717 Dapper (56) und 1744Charle-
voix (127); eine ausführliche Abhandlung über die
Hermaphroditen von Florida verfasste 1769 Pauw: ^Des
Hermaphrodites de la Floride* (II 83 — 117), in der er
die Sage von ihnen für Gewissheit ihrer Existenz nahm
und eine Erklärung für sie zu geben versuchte ; der un-
gläubige Zimmermann (V 70 — 71) entschuldigt
ihre Erwähnung lediglich mit dem Ansehen, in welchem
Pauw stehe, und meint, Pauw habe sich von dem
Wunsche leiten lassen, durch ihre Hermaphroditen die
Ausartung der Amerikaaer noch deutlicher bewiesen zu
sehen; er giebt verschleiert der Ansicht Ausdruck, dass
es bei den Hermaphroditen nur um als W^eiber ver-
kleidete und gezierte Mannspersonen sich gehandelt habe.
Ganz ohne Bedenken äussert Schneider ([ 288),
— 115 —
der Elfer, mit welchem Pauw „diese Kinäden* zu Her-
maphroditen umzustempeln gesucht habe, könne ihm nur
ein Lächeln abnötigen. Lafitau (I 53) vermochte 1724
in den Hermaphroditen nur effeminierte Männer zu er-
blicken, deren Wesen er mit der griechischen Liebe in
Verbindung bringt und idealisiert, und auch Bruzen
La Martini ^re (93) schliesst sich 1726 ganz an Coreal
an, nach dem diese angeblichen Hermaphroditen eben
nichts als effeminierte Männer waren, welche, wie Coreal
(34) hinzufügte, in gewissem Sinne ja auch wirkliche
Hermaphroditen sind („qui en un sens sont de veritables
Hermaphrodites**, der Wortlaut, den La Martinifere
von Coreal übernimmt). Dumont (247 — 249) mochte
1753 zwar nicht behaupten, dass es in Louisiana Herma-
phroditen unter den Indianern nicht gegeben hätte, da
nach fast allen Schriftstellern dieses Land voll von
solchen Leuten gewesen sein solle; allein er ver-
sichert seinerseits, auf seinen weiten E.eisen in jenem
Lande nicht einen einzigen Hermaphroditen angetroffen
zu haben; er glaube, die Fabel von ihnen beruhe aut
einer Verkennung der Aufseher der Frauen bei den
Natchez und anderen Stämmen, welche nicht nur ihr
Haar lang trugen und in weiblicher Tracht einhergingen,
sondern den Barbaren wahrscheinlich auch zur Befriedig-
ung ihrer Lüste gedient hätten, wenn sie selbe auf deren
Jagd- und Kriegszügen, die unter Zurücklassung der
Frauen vor sich gingen, begleiteten. Nicht ohne wesent-
liches Interesse ist übrigens, dass in Louisiana auch die
in den Tempeln auf Fellen schlafenden Priester in weib-
licher Tracht erscheinen mussten (Bastian III 309).
Eine von einer Kupfertafel begleitete Schilderung
der Thätigkeit der Hermaphroditen in Florida Hegt vor
von Jacobus le Movne 1591; eine nach einem etwas
verkleinerten photographischen Abdruck dieser Kupfer-
tafel (Fol. XVII) hergestellte Textabbildung wurde der
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— 118 —
vorliegenden Abhandlung beigefügt ; die Hermaphroditen
sind hier in langem Haare, als Pfleger ihrer erkrankten
Landsleute, die sie teils auf dem Rücken, teils auf Bahren
in die für Kranke bestimmten Pflegestätten tragen, dar-
gestellt. Diese Hermaphroditen, von kräftigerer und mehr
ausdauernder Konstitution als die Weiber, wurden nach
le Moyne in Florida als Träger von Lasten aller Art
beschäftigt; besonders trugen sie den in den Krieg
ziehenden Häuptlingen deren Gepäck nebst Speisevor-
räten; die durch Verwundung oder Erkrankung Kampf-
unfähigen schafllen sie vom Platze, die Toten auf die
Grabstätte; von ansteckenden Krankheiten Befallene
brachten sie an abgelegene Orte und pflegten sie dort
bis zu ihrer Genesung.
Nach de Lahontan (142) gab es bei den Illinois
ausser notorischen Päderasten noch Hermaphroditen, welche
beider Geschlechter ohne Unterschied sich bedienten
(„mais ils fönt indifl*(^remment usage de deux sexes"),
eine Behauptung, welche wohl nur auf Vermutung be-
ruht. Ross Cox schilderte (169 — 171) seine seltsame Be-
gegnung mit einem „hermaphroditischen " Häuptlinge der
Kettle-Indianer; 1814 spricht de la Salle (283) von
Hermaphroditen bei den Illinois als einer Wirkung des
Klimas ihres Heimatlandes, und auch noch im vorletzten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist von sogenannten Herm-
aphroditen unter den Indianerstämmen Nordamerikas
im Osten und Westen des Felsengebirges seitens einiger
Aerzte im Dienste der Vereinigten Staaten die Rede
(Holder 623). Holder selbst hat einen im Absaroke-
Stamme lebenden jungen Indianer, der weiblich gekleidet
ging und den er deshalb für hermaphroditisch hielt, nach
dem Vorgange Hammond's körperlich genau unter-
sucht und zu seiner Ueberraschung als durchaus normalen
Mann befunden; mehrere Jahre hatte die junge Rothaut
als weiblicher Teil, wie man sagte, einer ehelichen Gemein-
— 119 —
Schaft mit einem wohl bekannten männlichen Indianer
des Absaroke-Stammes zusammengelebt (Holder 624);
Holder lüftet auch den Schleier über den unter den
Päderasten des Absaroke-Stammes üblichen Akt der ge-
schlechtlichen Befriedigung: es wird der Penis statt in
den Mastdarm^ den Mund eingeführt. Wenn Holder
auf Grund dieser Befunde das Vorkommen der Päderastie
bei den Indianern in Abrede stellt oder als einen selteneren
Vorgang bezeichnet, so ist das nur ein ungenauer Ausdruck;
die Päderasten unter den Indianern geben der Irrumation
und Fellation als Befriedigungsakt den Vorzug (während,
wie sich später zeigen wird, bei den Itelmen die Pädi-
kation ausgeübt zu werden pflegt),
2. Die verweibten Männer oder Effemi-
nierten. Von verweibten Männern unter den Indianern
handelte bereits 1555 Cabe9a de Vaca (fol. 36 am
Schlüsse; ferner ed. 1852, 537 — 538); er scheint sie für
Impotente angesehen zu haben. Wie weibliche Personen
von so männlicher Herzhaftigkeit, dass sie sich sogar aus
dem Kriegshandwerk eine Ehre machten, unter den In-
dianern gefunden wurden, so gab es auch andererseits
Mannspersonen, welche sich wie Weiber kleideten. Bei
den Illinois, den Sioux, in Florida, Louisiana und Yucatan
lebten junge Männer in Weibertracht, die sie dann zeitlebens
beibehielten; sie hatten Gefallen an weiblichen Beschäf-
tigungen, verheirateten sich niemals mit Weibern, zogen
nicht in den Krieg, wohnten aber mit Vorliebe religiösen,
auf das Gemüt wirkenden Zeremonien bei. An vielen
Orten erlangten sie dadurch ein Ansehen, welches sie als
einem über den gemeinen Mann erhabenen Stande ange-
hörig betrachten liess (Lafitau I 52 — 54; Baum-
garten I 25 — 26; Marquette 52—53). Martins
(1832, 27 — 28) ist nicht geneigt, die Männer, welche sich
als Weiber kleideten, sich ausschliesslich weiblichen Be-
schäftigungen widmeten, spannen, webten, Geschirre an-
— 120 —
fertigten u. dergl., als eine besondere Klasse anzusehen;
,dass diese Sitte so seltsam travestierter Männer^ welche
vorzugsweise und zuerst von den Illinois, den Sioux und
anderen Indianern in Louisiana, Florida und Yucatan be-
richtet worden, so fem von jenen Ländern, auch im süd-
lichen Brasilien wieder erscheint, ist um so merkwürdiger
^Is überhaupt das Wesen und die Bestimmung solcher,
Mannweiber ein Räthsel in der Ethnographie Amerikas
ausmacht. Uebrigens scheinen alle Berichte darin über-
einzustimmen, dass die Mannweiber bei den Indianern
in geringer Achtung stehen. Von einem besonderen
Kultus oder einer Ordensverbrüderung findet man keine
Spur. Es ist mir daher wahrscheinlicher, dass sie mit
der so tief eingewurzelten Sittenverderbnis der Indianer
zusammenhängen, als dass man von ihnen auf eine Seilte
von Entsagenden und sich in freiwilliger Demut Er-
niedrigenden schliessen, oder, wie Lafitau gethan, in
ihnen Priester der Dea syria, wenn gleich in tiefster Aus-
artung, erkennen dürfte • (Martins 1832, 28; 1867, 74—75).
Die Männer, welche sich gleich Weibern kleideten
und alle Geschäfte der Weiber besorgten, wurden von
den jungen Männern förmlich wie Weiber behandelt,
lebten auch in einem gewissen „unnatürlichen Umgange*
mit ihnen; der alte Charbonneau, nachdem er 37 Jahre
im Osten des Felsengebirges geweilt hatte, behauptete
sogar, dass in dieser Hinsicht die Mannweiber der Canadier
den Weibern vorgezogen würden; während Prinz
Maximilian zu Wied in Nordamerika weilte (1832
bis 1834), sollen sich nicht viele solcher Geschöpfe in
den von ihm besuchten Indianerstämmen befunden haben,
unter den Mandan's nur ein grosser, taubstummer Mann
und unter den Mönnitari's zwei bis drei solcher Individuen
(W ied n 133); Wied giebt (II 133, Fussnote) ausdrück-
lich an, dass der Gebrauch der Mannweiber für die In-
dianerstämme der Sank's, Foxes, Mandan's, Mönnitari's
— 121 —
Crow's, Blackfeet's, Dakota's, AssiniboiD's, Arrikkara's und
die meisten Nationen des innern Nordamerika erwiesen
sei, mit Ausnahme allein der Menomonie's (Folles avoines)
und der Ottäwa's (Courtes oreilles). Das Lebensalter, in
welchem diese männlichen Indianer zuerst ihr Geschlecht
verleugnen, indem sie ihren Körper in weibliche Kleidung
hüllen, ist nicht stets das gleiche. Bisweilen geschieht es
schon sehr früh, im kindlichen Alter, aus unbekannten
Gründen (Marquette 62); manche Väter haben dann
ihre Kinder von ihrem Vorhaben abzubringen gesucht,
ihnen zugeredet, auch schöne Waffen und männliche
Kleidungsstücke ihnen dargeboten, ihnen Gefallen an
männlichem Treiben einzuflössen sich bemüht, und wenn
nichts fruchtete, eine Sinnesänderung mit Strenge und
Gewalt herbeizuführen versucht, ja die Knaben gezüch-
tigt und geprügelt, ohne zum Ziele zu kommen (Wied
II 133). In anderen Fällen nehmen Indianer erst im
vorgerücktem Mannesalter diese Metamorphose vor; sie
erklären alsdann, dass ein Traum oder eine höhere Ein-
gebung ihnen dieselbe als Medizin oder als ihnen zum
Heile anempfohlen habe und sie beharren ohne Be-
denken bei ihrem Entschlüsse, welcher ihnen zwar eine
gewisse Verachtung zuzieht, aber dennoch dem ganzen
Stamme als heilig gilt. So ersetzte ein gefeierter Krieger
des Otoe-Stammes, einem Traume folgend, seinen Krieger-
schmuck durch ein Weiberkleid, wie John T. Irving
(207 — 212) in einem besonderen Kapitel «The Metamor-
phosis" ausführlich geschildert hat. Von dem starken
Einflüsse ihrer lebhaften Phantasie auf ihr äusseres Leben
legt auch die Erzählung eines Sauk-Indianers Zeugnis ab,
nach der ein Mann, dem die böse Gottheit in Gestalt des
Mondes erschiene, sich als Weib kleiden und als solches
sich hingeben müsse („become cinaedi* Keating I 210
—211). Auch erzählen nach Wied (II 133) die In-
dianer eine Fabel, an welche sie glauben: Man wollte
— 122 —
einst einen Mann zwingen, die Weiberkleidung nicht an-
zulegen; ein ausgezeichneter Krieger bedrohte ihn; es
kam zu heftigem Streite, in dessen Folge das Mannweib,
von einem Pfeile tötlich getroffen, zusammenbrach : statt
seiner Leiche jedoch fand man am Boden einen Haufen von
Steinen und zwischen ihnen den Pfeil. Seitdem mischt
sich niemand mehr in diese Angelegenheit, die man viel-
mehr als von höheren Mächten eingesetzt und geschützt
ansieht. — Männer in Weiberkleidung unter den Indianern
werden aber auch noch sonst vielfach erwähnt, so von
Bossu, Bemal Diaz, Duflot de Mofras, Dumont,
Falkner, Lopez de Gomara, Hennepin, de
Herrera, James, Peter Martyr, Mc Coy, Mc
Kenney, Oviedo, Perrin du Lac, Piedrahita,
Ramusio, de la Salle, Tanner; fast alle diese Schrift-
steller haben aus eigener Anschauung berichtet, während
andere, wie Bastian, Man tegazza,Peschel, Ratzel,
Schneider, Schnitze, Schurtz und nament-
lich Theodor Waitz das ihnen bekannt gewordene
Quellenmaterial zusammenstellten. Die Männer in Weiber-
tracht gaben zweifellos die Hauptveranlassung, dass die
Indianer ganz allgemein von den Ethnographen der
Päderastie beschuldigt werden, obwohl doch sicher derlei
Akte bei ihnen in den wenigsten Fällen offen zur Wahrneh-
mung gelangt sein dürften. Bei der ungeheuer grossen
Verbreitung aber, welche die ausgesprochene Neigung, als
Weib zu erscheinen, um die Gunst der Männer zu ge-
winnen, unter den Indianern hatte, ist es kaum verwun-
derlich, dass von Seite der Ethnographen eine Menge
von Namen berichtet wird, mit denen man bei den
verschiedenen Stämmen diese falschen Weiber belegte, wie
agokwas, bardaches, böte, burdash, camayoas, cudinas, cus-
mos, joyas, maricones, mihdäckä, mujerado. Uebrigens darf
nicht ausser Acht gelassen werden, dass Weibertracht bei
manchen Indianerstämmen auch zur Strafe als Beschimpfung
- 123 —
angelegt wurde. So erzählt Waitz (III 23), ein Krieg
der Delaware mit den Irokesen 1742 habe mit dem denk-
würdigen Ereignisse geendet, dass die gänzlich gebrochenen
Delaware's „zu Weibern gemacht**, d. h. ihnen Weiber-
röcke von den Irokesen angezogen wurden, um sie für einen
Vertragsbruch zu strafen, wie diese sagten, um sie als
allgemeine Friedenstifter zu bezeichnen, wie sie selbst an-
gaben ; nur die Deutung der Thatsache, nicht diese an sich
sei zweifelhaft. Auch wurde ihnen erklärt, sie könnten
Land nicht verkaufen, da sie besiegt und zu Weibern
gemacht seien. Und Bastian (III 313) teilt mit, über
die Niederlage Guanar-Auqui's erzürnt, habe Guascar
ihm Frauenkleider gesendet, damit er, mit diesen angethan,
nach Cuzco, der Residenz des Inca von Peru, zurückkehre.
Anderseits wird von vielen Stämmen angegeben, dass ihre
männlichen Priester Weiberkleider tragen mussten.
3. Von den Männern, die seitens der Mannweiber
begehrt werden und Erhörung gewähren, ist selten die
Rede; sie werden dem ungeübten Auge merkliche Unter-
schiede von den übrigen Männern Aveder in ihrer Tracht
noch in ihrer sonstigen Erscheinung aufgewiesen haben,
und das ist um so wahrscheinlicher, als vielmals von
Männern erzählt wird, welche einen Unterschied zwischen
Weibern und Mannweibern als Gegenstand des Liebes-
genusses nicht zu machen pflegten (Dumont 249;
Tann er I 208); indessen gab es auch solche, welche
jeden Umgang mit Weibern mieden, .es vorziehend,
sich ganz auf den geschlechtlichen Verkehr mit Manns-
personen zu beschränken und mit solchen einen Umgang
zu pflegen, dem bisweilen sogar durch eine Heirat eine
besondere Weihe verliehen ward. Quellenbelege dafür,
dass Ehen unter Männern bei den Indianern vorkamen,
bin ich nicht in der Lage beizubringen, da durch eine
unglückliche Verkettung von Umständen gerade die auf
die Heiraten unter Indianern Bezug nehmenden Werke
— 124 —
mir unzugänglich blieben. Von solchen manDmännlichen
Ehen teilt aber Bastian einige Beispiele mit. Bei den
californischen Indianern fanden ausser den gemischten
Ehen auch Heiraten von Männern mit Männern statt;
sie geschahen öffentlich, aber ohne die sonst gebräuchlichen
Zeremonien; die zur Weiberrolle bestimmten Männer
wurden schon in der Jugend ausgesucht und in den Ge-
schäften der Weiber, in ihrer Art, sich zu kleiden, zu
gehen und zu tanzen, unterrichtet, so dass sie fast ganz
den Weibern glichen. Da sie stärker waren als diese,
und deshalb zu den mühsamen Geschäften tauglicher, so
wurden sie gewöhnlich von den Häuptlingen und Aeltesten
geheiratet, denn während die Männer nichts thaten, als
fischen, jagen und ihre Waffen herrichten, waren den
Weibern alle häuslichen Arbeiten und Feldgeschäfte über-
tragen (Bastian III 314 nach Osswald, aus dem bei
Schnitze 1900, 163, ein Ostwald geworden ist, der
aber wahrscheinlich Oswald heisst; das von Bastian
nicht angegebene Quellenwerk habe ich bis jetzt nicht
eimittelt). Im Westen des Felsengebirges bei den gebildeten
„Tahus* verheirateten sich Männer mit Mannweibern nach
Castaileda und Alarcon bei Bastian (III 313).
Unter den Indianerstämmen wurde übrigens die
Päderastie sehr verschieden bewertet. Meistens nur ge-
duldet und von gewissen Ständen, z. B. dem Wehrstande,
verachtet war sie bei den Chacta's, den Mandan's, in
CaUfornien (Bossu 77; Catlin 1112—117; Duflot II
371), während ihr im alten Guatemala staatliche Pflege zu
Teil wurde (Brasseur II 77; Bastian III 307—308);
in Peru mit schweren Strafen bedroht (Montesinos
102 — 107) galt sie anderwärts, in Verapaz und bei den
Pueblo's eine religiöse Sitte, als heilig (Tor quem a da IL 1.
12 c. 11; Hammond 1891, 114).
Diesen Thatsachen gegenüber konnte de las Casas
1613 (149 — 150) mit der fast vollständigen Ableugnung
— 125 —
des Vorkommens der „abscheuligeu Sünde wider die
Natur" unter den Indianern nur den gewiss edlen Zweck
im Auge haben, die Spanier die Beschuldigung roher
Grausamkeit in ihrer Behandlung der halbnackten und
ihnen gegenüber fast wehrlosen Völker Amerika's, welche
durch eben „dieses Laster* vorwiegend gerechtfertigt
sein sollte (Oviedol. 3 c. 6), um so tiefer empfinden zu
lassen. „Man sagt wohl," so beschliesst de lasCasas den
Passus des 6. Beweises, Spanier beschuldigten die India-
ner fälschlich der Sodomiterei, „dass solcher Leute etwa
an einem Orte sein sollen, aber derselbigen halber sollte
nicht diese ganze neue Welt für solche ausgeschrieen
werden."
1. Die Indianer der Nordwestküste Amerika's
Nach Eoquefeuil (II 220) findet sich die „Art der
Ausschweifung orientalischer Völker* auch bei allen India-
ner-Stämmen der Nordwestküste von Amerika wieder;
die Tabakspfeifen und Stöcke der Nutka-(Nootka-)
Indianer sind oft mit Figuren geschmückt, welche die
„widerlichste und schmutzigste Verderbtheit" zur Dar-
stellung bringen ; der Cynismus der Männer dieser Stämme
steht in auffallendem Gegensatze zu dem zurückhaltenden
Wesen der Frauen, deren Tracht auch die vieler Männer
ist (Waitz lil 333; Schneider I 287; Mante-
gazza 105).
2. Die Indianer Nordamerika^s.
PerrinduLac(I 35) hier fand unter allen Nationen
Männer in Weiberkleidern, welche eben den Arbeiten
unterworfen waren, die die Weiber eigentlich verrichteten;
sie zogen nicht in den Krieg, gingen nicht auf die Jagd,
sondern dienten, den Umständen gemäss, zur Befriedigung
der Leidenschaft, oft beider Geschlechter; diese Männer,
— 12G —
welche , Liebe zur Trägheit und eine verabscheuungs werte
Sitten losigkeit zu dieser Lebensart verleitef* habe, würden
von den Kriegern, die sie auch zu den niedrigsten
Arbeiten gebrauchten, verachtet. Aehnliches berichtet
Tanner (I 205, Waitz III 113). Bromme (I 164)
lobt das züchtige und anständige Betragen der Indianer
Nordamerikas im Umgange beider Geschlechter; ein un-
gesittetes, geiles Betragen wäre öfiTentlich nie unter ihnen
wahrzunehmen und hierin überträfen sie die Völker der
alten Welt bei weitem; dessen ungeachtet seien sie von
der Unzucht nicht frei und ,, unnatürliche Sünden unter
ihnen nicht ungewöhnlich*. Ueber mehrere Indianer-
stämme berichteten Lafitau (I 52); Wied (I 401; IJ
132—134); Bastian (III 310; 312), der ihre Mannweiber
mit dem griechischen Worte Enareer bezeichnet, was
von Schnitze (1900, 163) gänzlich miss verstanden wurde;
Waitz (III 113); Mantegazza (105).
Die Tschippewäer (Ojibuä). Mc Kenney giebt
(315 — 316) an, die Tschippewäer hätten auch gleich den
Aleuten ihre schopans, und diese Mannweiber seien
wahren Weibern so ähnlich, dass man nicht einmal ihre
Stimme von der der Weiber zu unterscheiden vermöchte
(Wied II 132). Die frischeste Schilderung von dem
Treiben der Mannweiber, welche mir bekannt geworden
ist, rührt von Tanner her, und ich will nicht verab-
säumen, dieselbe nach der mir allein vorliegenden fran-
zösischen Uebersetzung von de Blosseville, in das
Deutsche übertragen, unverkürzt hier wieder zu geben:
„Im Laufe dieses Winters besuchte uns der Sohn des
berühmten Ojibbeway Häuptlings Wesh-ko-bug (der
Milde), welcher am Leech-See wohnt. Dieser Mann
gehört zur Zahl derer, welche sich dem Weiberberufe
widmen und welche die Indianer auch Weiber nennen.
Solche hat die Mehrzahl der Indianerstämme, vielleicht
sogar ein jeder Stamm; sie heissen gewöhnlich A-go-kwas.
— 127 —
Dieser Häuptlingssohn, mit Namen Ozaw-wen-dib (das
gelbe Haupt), war eine Person im Alter von fast 50 Jahren
und hatte mehrere Männer gehabt. Ich weiss nicht, ob
sie mich zuvor gesehen hatte oder mich nur vom Hören-
sagen kannte; allein sie zögerte nicht, mich wissen zu
lassen, sie käme von weit her, um mich zu sehen, und
hoffte, mit mir zusammen zu leben. Sie wiederholte des
öfteren ihre Anerbietungen, und ohne sich durch meine
Abweisung entmutigen zu lassen, verfolgte sie mich mit
ihren widerlichen Aufdringlichkeiten so lange, bis sie
mich gleichsam aus der Hütte verjagte.
„Die alte Net-no-kwa, die das vollkommen durch-
schaute, lachte über meine Verlegenheit und meine Scham-
haftigkeit, als das gelbe Haupt seine Verfolgungen wieder
aufnahm; ja sie schien den Häuptlingssohn fast zu er-
mutigen, in unserer Hütte zu verweilen. Der Agokwa
zeigte übrigens viel Geschicklichkeit in verschiedenen
weiblichen Obliegenheiten, die ihn ja sein ganzes Leben
lang beschäftigt hatten; schliesslich, am Erfolge seiner
Liebeswerbungen bei mir verzweifelnd oder auch vielleicht
durch den in unserer Familie allermeist herrschenden
Hunger verjagt, verschwand Ozawwendib, und ich
fasste schon Hoffnung, von seinen Nachstellungen befreit
zu bleiben. Allein nach Verlauf von 2 — 3 Tagen schleppte
er gedörrtes Fleisch herbei und sagte uns, er habe die
Truppe des Wa-ge-to-tha-gun getroffen und sei vom
Häuptlinge beauftragt worden, uns einzuladen, mit ihm
zusammenzustossen; dieser hatte das geizige Verhalten
Waw-zhe-kwaw-maish-koon's gegen uns in Erfahrung ge-
bracht, und der Agokwa sagte mir in seinem Namen:
,Mein Neffe, ich verstehe nicht, dass du ruhig Wild töten
siehst durch einen anderen Jäger, der viel zu geizig ist,
um mit dir zu teilen. Komm in meine Nähe; weder dir
noch deiner Schwester wird etwas von dem mangeln, was
ich im Stande sein werde euch zu verschaffen.' Diese
— 128 —
Einladung kam sehr zur rechten Zeit und wir brachen
ohne Verzug auf.
„Bei unserer ersten Rast hörte ich, als ich am Feuer
beschäftigt war, den Agokwa pfeifen, um mich aus ge-
ringer Entfernung in den Wald zu locken. Ich sah, als
ich mich näherte, dass er die Augen auf ein Stück Wild
gerichtet hielt, und ich erkannte ein Moostier. Ich schoss
zweimal, imd zweimal stürzte es und erhob es sich wieder.
Wahrscheinlich hatte ich zu hoch gezielt, denn sclilicss-
lich entfloh es. Die „alte Dame* aber machte mir lebhafte
Vorwürfe und sagte mir, dass sie befürchte, in mir nie-
mals einen trefflichen Jäger zu sehen. Erst am anderen
Tage gelangten wir, noch vor Einbruch der Nacht, zum
Lager des Wa-ge-to-te, wo unser Hunger gestillt wurde.
Dort sah ich mich auch endlich von den schier unerträg-
lich gewordenen Nachstellungen des Agokwa befreit.
Denn Wagetote, der schon zwei Frauen hatte, nahm ihn
als dritte „Frau". Diese Zuführung einer neuen Persön-
lichkeit in seine Familie regte einige Scherze an und ver-
anlasste verschiedene komische Zwischenfälle; aber es
ergab sich daraus weniger Uneinigkeit und Streit, als
wenn er eine dritte Frau weiblichen Geschlechts ge-
nommen hätte" (Tann er I 205—208).
Die Illinois. Schon 1697 schrieb Hennepin
(219 — 220) über die Illinois, viele unter ihnen seien
, Hermaphroditen"; sie seien „schamlos bis zum Laster gegen
die Natur** und steckten einige ihrer Knaben in die Kleidung
der Weiber, weil sie selbe als solche benutzten; diese
verrichteten dann weibliche Arbeiten und zögen weder
auf die Jagd noch in den Krieg. Seine Angaben wurden
1703 von de Lahontan (I 142) vollkommen bestätigt:
die zahlreichen „Hermaphroditen" trügen zwar Weiber-
kleidung, träten aber mit Männern und Weibern in ge-
schlechtlichen Verkehr; die Illinois und alle anderen
Indianerstämme am Mississipi besässen einen „unglück-
— 129 —
seligen Hang*^ zur Sodomie. Auch Charlevoix (1744
II 264; III 391) fand sie der „ungeheuerlichsten Unkeusch-
heit" ergeben. Nach de la Salle (237—238) lieben die
Illinois über alle Maassen das Weib^ und Ejiaben noch
mehr als die Weiber („they lowe women with excess, and
boys above women*), so sehr, dass durch dieses „schreck-
liche Laster" die Knaben sehr weibisch werden. Unge-
achtet ihrer „lasterhaften Jf eigung^^ aber haben sie gewisse
Normen, welche dieses „schändliche Laster" bestrafen;
sobald ein Knabe sich der Prostitution ergiebt, so wird
er aus seinem Geschlechte ausgestossen und es wird ihm
verboten, Männertracht zu tragen, einen Mannesnamen zu
führen und irgend eine für den Mann allein bestimmte
Arbeit oder Dienstleistung zu verrichten; nicht einmal die
Jagd wird ihm gestattet; solche Knaben gelten eben über-
haupt als Weiber und bleiben zeitlebens auf deren Be-
schäftigungen beschränkt, „werden aber von den Weibern
noch mehr verachtet und verabscheut als vom Manne '^ ;
dergestalt sind sie wegen ihres „Lasters" dem Gespötte
und der Verachtung beider Geschlechter preisgegeben.
Ohne jede Einwirkung, aus natürlicher Anlage, wurde den
Illinois ihr „Laster" fühlbar, und sie führten diese Normen
als einen Zügel zur Bändigung ihrer wilden Sinnlichkeit
ein, da ihnen jede Art zwangsweiser Einschränkung ver-
hasst ist. „Hermaphroditen" sollen ausserdem unter ihnen
sehr häufig sein; ob diese aber eine Wirkung des Klimas
seien oder nicht, wagt de la Salle nicht zu entscheiden.
Die Weiber und die prostituierten Knaben verfertigen
feine Matten zum Bekleiden ihrer Häuser, während die
Männer auf die Jagd gehen oder den Boden zur Aus-
saat des indischen Korns pflügen. Der Pater Marquette
(52 — 53) vermag nicht zu ergründen, welcher Aberglaube
einige Illinois und einige Nadouessi's, wenn sie noch jung
sind, veranlasse, das Weiberkleid (die Männer gehen
fast nackt) anzulegen und ihr Leben lang zu tragen; es
Jahrbuch III. 9
— 130 —
ist ihm ein Geheimnis geblieben; sie verheiraten nach ihm
sich niemals und suchen ihren Kuhm, indem sie sich zu
Arbeiten „erniedrigen*, welche die Frauen verrichten; sie
ziehen zwar mit in den Krieg, allein sie dürfen sich nur
der Keule bedienen, niemals aber Bogen und Pfeile ge-
brauchen, welche ausschliesslich Waffen der Männer sind ;
sie wohnen allen Zauberspielen und auch den Festtänzen
bei, die zur Ehrung des Calumet veranstaltet werden; sie
singen dort, dürfen aber nicht tanzen; sie werden in den
Ratsvcrsammlungen aufgerufen, in denen man ohne ihren
Einfluss nichts entscheiden kann; sie gelten in Folge
ihrer aussergewöhnlichen Lebensführung für Manitou's
d. h. für Genies oder für auserlesene Menschen. Man
vergleiche Waitz ITI 113; Peschel 410; Ratzel I
562—563.
Die Kri (Cree oder Knisteno). Die Kri's be-
sassen schon in ihrem wilden Zustande ihre „eigenen
Laster, deren einige für kultivierte und nachdenkende
Menschen abschreckend" seien, indem Blutschande und
Sodomiterei unter ihnen geherrscht hätten (Mackenzie
107—108; Wuttke 1 182; Schneider I 287; Schnitze
1871,51).
Die Blackfeet (Schw ar zf üsse). Die Black-
feet's hatten ihre Bardaches nach Wied (II 133,
Fussnote).
Die Sak (Sank oder Sakewe). Es gab unter
den Sak's richtige Kinäden, welche unter Preisgabe ihrer
männlichen Kleidung die der Weiber annahmen und mit
ihr auch deren Sklavenarbeit*; sie wurden überall mit
Geringschätzung behandelt, von einigen jedoch bemitleidet,
als hätten sie ihre Arbeit einer unglückseligen Bestim-
mung, der sie sich nicht entziehen könnten, zu verdanken;
man nehme an, sie seien zu dieser Lebensweise durch
eine Erscheinung seitens des weiblichen Geistes im Monde
— 131 —
gedrängt worden (Keating I 221—222; Wied 11
133, Fussnote).
Die Irokesen (Canadier). Charlevoix (1744
VI 4— 5) stellt die Irokesen als einen besonders keuschen
Indianerstamm dar, für so lange nämlich als sie ausser
Verbindung mit den Illinois und anderen Nachbarvölkern
Louisiana's geblieben seien; gewonnen hätten sie durch
solche neue Bekanntschaften nichts, als dass sie diesen
ähnlich geworden seien; Verweichlichung und Geilheit
habe sich hernach bei ihnen eingestellt und sei ins un-
geheure gewachsen ; man sähe bei ihnen seitdem auch
Männer, die sich nicht schämten, Weiberkleider anzulegen
und sich allen Beschäftigungen des weiblichen Geschlechts
zu unterziehen, was zu einer „unbeschreiblichen Verdorben-
heit" geführt habe ; man schütze zwar vor, es stehe dieser
Brauch mit religiösen Vorstellungen in Zusammenhang;
allein diese Eeligion entspringe, wie wohl auch andere
Vorstellungen, der Verdorbenheit des Herzens; wenn
der fragliche Brauch jedoch wirklich aus Religiosität
hervorgegangen sei, so habe er nichtsdestoweniger mit
der lüsternen Sinnlichkeit geendet; „Effeminierte* ver-
heirateten sich niemals und gäben sich den „schändlichsten
Leidenschaften" hin ; auch würden sie im höchsten Grade
verachtet. Vergl. die Stelle bei Waitz III 23, Seite 121
dieser Abhandlung.
Die Chochtha. Die Chochtha's werden von Boss u
(77) als sehr wild und roh geschildert; für das Christen-
tum fehle ihnen jedes Verständnis und in ihren Sitten
seien sie stark „pervers"; die meisten („la plupart") seien
der Sodomie ergeben; derartig „verderbte Männer" trügen
langes Haar und einen kleinen Rock, wie die Weiber,
von denen sie aus Rache auf's höchste verachtet würden.
Die Arikari (Ar rikkaras). Die Arikari^s haben
ihre Bardaches nach Wied (II 133, Fussnote).
Die Natchez. Ueber die weiblich gekleideten
9*
— 132 —
Aufseher der Frauen bei den Natchez siehe Dumont
(247—249) Seite 115 dieser Abhandlung.
Die Dakota (Siebenratfeuer^ Sioux^ Nado-
wessie oder Ochente-Schakoan). Von den Dakota-
oder Sioux-Indianern gab schon La fit au 1724 (I 53) an,
dass auch sie Männer hätten, die wie Weiber lebten.
1824 berichtete Keating (1418), die Zahl ihrer Kinäden
sei sicher nur sehr gering; er habe blos von zweien ge-
hört, von einem in der Stadt Keoxa und von einem
bei den Miakechakesa ; es gäbe wahrscheinlich aber noch
einige andere; sie ständen in äusserster Verachtung.
Nach demselben Gewährsmanne (Keating I 210—211)
haben die Dakota-Indianer den Glauben, die Sonne würde
von einer männlichen, der Mond von einer weiblichen
Gottheit bewohnt und das Hauptvergnügen der weiblichen
Gottheit bestehe darin, alle Bestrebungen des Mannes zu
durchkreuzen. Wem sie während des Schlafes in seinen
Träumen sich offenbare, der sähe das als eine Aufforder-
ung an, Kinäde zu werden und nehme gleich darauf
Weibertracht an; Keating bringt (I 211) die Kinäden
mit der Sage von den Hermaphroditen in Verbindung.
Im Jahre 1889 gab es unter den Dakota's „Herma-
phroditen", die Umgang mit Männern hatten (Graham
bei Holder 623). J.T.Irving erzählt ausführlich die
Verwandlung eines Kriegers der Otoe- Nation in ein
,Weib*; der Mann gehörte zu den stolzesten und höchsten
Kriegern. Nach der Rückkunft von einem Kriegszuge
gegen die Osagen traf ihn das Schicksal in Gestalt eines
Traumes. Am nächsten Morgen war er wie umgewandelt,
versammelte seine Familie um sich und erklärte, der
grosse Geist habe ihn im Traume besucht; seinen Krieger-
rang müsse er fallen lassen und die Tracht des Weibes
anlegen. Man hörte ihn mit Betrübnis an; man wies auf
seinen grossen und kriegerischen Namen hin; aber nichts
konnte ihn von seinem Entschlüsse abbringen; alsdann
— 133 —
that er der Nation seinen unwiderruflichen Entschluss
kund und man konnte nicht umhin, ihm beizupflichten,
Mc Coy (360—361) lernte bei den Osagen einen
mageren, geisterhaften 25jährigen Mann kennen, der in
Allem als Weib erschien, aber kränklich war. Bei den
Osagen und anderen rohen Stämmen des Nordens seien;
wenn auch nicht zahlreich, Kinäden unter den Weibern zu
sehen, deren Wesen und Erscheinung sie so vollkommen,
wie nur möglich kopierten und ihr ganzes Leben hindurch
beibehielten. Bei den Kansas war Päderastie ein nicht
seltenes , Verbrechen"; manche ihr ergebene Personen
waren öffentlich als solche bekannt, schienen aber weder
verachtet zu sein, noch Ekel zu erregen. Mit einer solchen
Person machte Say (bei James 129) Be.kannt8chaft.
Dieser Mann war in Folge eines ob seiner mystischen
Heilung geleisteten Schwures, welcher ihn verpflichtete,
seine Männertracht mit Weibertracht zu vertauschen, um
Weiberarbeit verrichten und seine Haare lang wachsen
lassen zu dürfen, Päderast geworden ; er habe sich selbst
mit einem Spiraldraht, einem für diesen Zweck gebräuch-
lichen Instrumente, aufs Sorgfältigste Kinn, Achselhöhlen,
Augenbrauen und Scham enthaart, und jedes Barthaar
entfernt, das bei ihm sich zeigte.
Die Fall-Indianer (Gro s-Ventres oder Pa-
wäustic-Eithinyook). Die Fall-Indianer hatten 1889
se chs Bote (Holder 623); diese Mannspersonen mit der
Kleidung und den Sitten der Weiber hatten Umgang mit
anderen Männern (Best bei Holder 623). — Ein Gleiches
gilt von den Re es -Indianern (Best bei Holder 623). —
Unter den Mönnitari's traf Wi cd (II 133) zwei bis drei
solcher Individuen an (Ratzel I 563).
Die Mandan. Bei den Mandan's wurden die
Mannweiber Mfh-Däckä (zusammengesprochen) genannt
(Wied II 132) und für geschlechtliche Genüsse den
Weibern vorgezogen (Charbonneau bei Wied II 133)
— 134 —
Auch der grosse Maler Catlin (I 96; 111; 112—114),
der sie „beau", ^^dandies or exquisites" nennt und über ihre
eigentliche Natur sich nicht ausspricht, ist ihnen begegnet
und erzählt eine sie betreffende sehr niedliche Geschichte:
Auf das Prächtigste herausgeputzt, aber baar aller der
ehrenvollen Siegeszeichen, wie Skalplocken und Bären-
krallen, stolzieren indianische Stutzer an schönen Tagen
um das Dorf herum. Sie lieben es nicht, in ehrenvollem
Kampfe ihr Leben aufs Spiel zu setzen oder dem Grizzli-
Bären zu begegnen, sondern bleiben gewöhnlich in der
Nähe ihres Dorfes und kleiden sich in die Felle solcher
Tiere, die sie leicht erlegen können, ohne die rauhen Fel-
sen nach dem Kriegs-Adler durchstreifen oder den Grizzli-
Bären in seinen Schlupfwinkeln aufsuchen zu müssen.
Sie schmücken sich mit Schwan-Dunen und Enten-Federn,
mit Geflecht von wohlriechenden Gräsern und anderen
harmlosen und unbedeutenden Dingen, welche, gleich
ihnen, kein weiteres Verdienst aufweisen, als dass sie
hübsch und zierlich aussehen. Diese zierlichen und ele-
ganten Herren, deren es in jedem Dorfe nur wenige giebt,
werden von den Häuptlingen und Kriegern gering ge-
achtet, da alle sehr wohl wissen, welchen gewaltigen Ab-
scheu sie vor Waffen haben, weshalb man sie „Feiglinge*
oder „alte Weiber" nennt. Sie scheinen jedoch hieraus
sich wenig zu machen, vielmehr mit der Berühmtheit, die
sie wegen der Schönheit und Eleganz ihrer persönlichen
Erscheinung bei den „Frauen und Kindern" erlangt haben,
sich zu bescheiden ; sie freuen sich ihres Lebens, obgleich
sie als die Müssiggänger im Dorfe gelten. An schönen
Tagen sieht man auf seinem scheckigen Pferdchen den
Reiter in seinem ganzen Staate: einen Fächer vom Schwänze
eines Truthahns in der Rechten, eine Pfeife und einen
Fliegenwedel an derselben Hand, auf weichem, mit
Büffelhaaren gepolsterten und mit Stachelschweinstacheln
und Hermelin besetzten Sattel von Hirschhaut, durch das
~ 135 —
Dorf und um dasselbe einige Male im Umkreise herum
reiten; dann nähert sich der Reiter behutsam dem Orte,
an welchem die Krieger und der jugendliche Nachwuchs
mit männlichen athletischen Spielen sich unterhalten.
Nach ein- bis zweistündiger Augenweide reitet er wieder
heim, sattelt sein Pferdchen ab, treibt es auf die Weide,
nimmt einige Erfrischungen zu sich, raucht eine Pfeife,
fächelt sich in den Schlaf und verbringt den Best des
Tages mit Nichtsthun. Während Catlin malte, kamen
täglich zwei oder drei dieser Stutzer in ihrem Putze an
die Thür seiner Hütte, ohne weiter etwas zu erfahren,
als was sie durch die Spalten seiner Hütte sehen konn-
ten. Die Häuptlinge gingen an ihnen vorüber, ohne sie
sonderlich zu beachten, und natürlich auch, ohne sie
zum Eintritt in des Malers Hütte aufzufordern, wäh-
rend sie selbst offenbar nur deshalb täglich vor seiner
Hütte erschienen, damit sie von ihm gemalt würden.
Catlin beschloss auch, sie zu malen, denn ihr Anzug
erschien ihm schöner, als irgend ein anderer im ganzen
Dorfe. Als er daher die Bildnisse aller angesehenen Män-
ner, die von ihm sich hatten malen lassen wollen,
vollendet hatte und nur zwei oder drei Häuptlinge in
seiner Hütte sich befanden, ging er an die Thür und be-
rührte einen der jungen Burschen an der Schulter; dieser
verstand auch sofort den Wink und folgte ihm, hoch er-
freut über die ehrenvolle Auszeichnung, die Catlin ihm
und seinem schönen Anzüge zu Teil werden liess. Un-
möglich schien es dem Maler, den Ausdruck der Dank-
barkeit in dem Gesicht dieses armen Burschen zu schildern,
dessen Herz in freudigem Stolze bei dem Gedanken
schlug, dass er auserwählt sei, neben den Häuptlingen
und Angesehenen, deren Bildnisse er in der Hütte sah,
unsterblich gemacht zu werden, und er hielt sich durch
diese Ehre gewiss dafür hinreichend belohnt, dass er nun
drei Wochen lang täglich, auf das Schönste bemalt und
— 136 —
gepatzt und bald auf dem einen, bald aof dem anderen Foss^
stehend, vor des fremden Malers Hütte aasgehalten hatte.
Catlin fing nnn an, ihn in ganzer Figur zu zeichnen ond
fand in ihm einen fiberaas hübschen Barschen; sein Anzug
war vom Kopfe bis zum Fasse aus dem Felle der Bergziege,
das an Weisse und Weiche fiist dem chinesischen Kreppe
gleichkommt, gefertigt und mit Hermelin and schön ge-
färbten Stachelschweinstacheln besetzt; sein langes Haar,
über Schalter uod Nacken herabfallend, reichte bald bis
zur Erde and war, gleich dem der Frauen, auf der Stirn
gescheitelt; er besass eine grosse und schone Figur und
eine Anmut und Lieblichkeit in den Bew^ungen, die
einer besseren Kaste würdig waren; in der linken Hand
hielt er eine prächtige Pfeife, in der rechten den Fächer,
und an derselben Hand hingen noch die Peitsche von
Elenshom und der aus einem Büffelschwanze verfertigte
Fliegenwedel; es war an ihm nichts Furchterr^endes und
gar nichts, was den zartesten und keuschesten Sinn hätte
verletzen können. So weit war unser Maler gekommen,
als die Häuptlinge, welche in seiner Hütte sassen, plötz-
lich sich erhoben, sich fest in ihre Büffelhäute wickelten
und schnell auf ungewohnte Art die Hütte Catlin's
verUessen. Wohl war dem Maler ihre Unzufriedenheit
aufgefallen, aber er fuhr fort zu malen, bis einige Augen-
blicke später der Dolmetscher in seine Hütte stürzte und
ausrief: ,Mein Gott, Herr, das geht nimmer gut — Ihr
habt die Häuptlinge beleidigt — sie haben sich über
Euer Benehmen beschwert — sie sagen, der da sei ein
unbedeutender, ein unwürdiger Mensch, und wenn Ihr
sein Bildnis malen wolltet^ so müsstet Ihr augenblicklich
das der Häuptlinge vernichten, — es bleibt Euch keine
Wahl, lieber Herr, — und je schneller Ihr dieses Bürsch-
chen aus Eurer Hütte fortschickt, um so besser !^ Dassdbe
erklärte sodann der Dolmetscher auch dem schönen jungen
Indianer, und dieser hängte seine Büffelhaut um, hielt den
— 137 —
Fächer vor sein Gesicht und entfernte sich schweigend^
aber mit einem erzwungenen Lächeln, aus der Hütte des
Malers; eine kurze Zeit noch nahm er seine frühere
Stellung an der Thür wieder ein und ging dann ruhig fort»
9 So hoch schätzen/' schliesst Catlin seine Erzählung,
„die Tapferen und Würdigen unter den Mandan's die
Ehre, gemalt zu werden, und so sehr schätzen sie Jeden
gering, wie reich auch sonst die Natur ihn mag ausge««
stattet haben, der nicht den Stolz und das edle Wesen
eines Kriegers zeigf Catlin gedenkt zwar nicht mit
einer Andeutung der wahrscheinlichen Natur der von
ihm mit Maleraugen geschauten und mit vollendeter
Malerkunst gezeichneten mädchenhaften Zierpuppe, aber
Er man hatte ohne Zweifel die oben mitgeteilte Erzählung
im Auge, als er (1871, 164 und Fussnote **) die Worte
niederschrieb, dass auch Catlin unter den kriegerischen
Stämmen, mit denen er auf der Ostseite des Felsenge-
birges umging, das Vorkommen einzelner Männer err
wähnt, die nur für ihren höchst auffallenden Putz zu
leben schienen, sich der äussersten Verachtung ihrer
Landsleute feige unterwarfen, seiner ihnen anfangs zu-
gewendeten Aufmerksamkeit durchaus unwert erklärt
wurden und bei den inner amerikanischen Stämmen
das seien, was die Kamtschadalen durch das Wort
Kojektschuchtschi und die Korjaken durch das
Wort K^elgi als eine eigene Abart ihrer Männer be-
zeichneten. Auch im Jahre 1889 gab es bei den
Mandan's Männer mit der Tracht und den Sitten der Wei-
ber und männlichem Geschlechtsverkehr (B e s t bei H o 1 der
623). Siehe ferner Bastian III 312, Schneider I 287,
Schnitze 1900, 163; in Schnitze ging der Druck-
fehler bei Bastian: Cordaches (statt Bar.da.ches)
über.
Die Crow (Krähen-Indianer, Absaroke, Up-
saroka). Den Gebrauch der Bardaches bei den Crow'er
— 138 —
erwähnt Wied I 401; siehe ferner Bastian III 313,
Schneider 1287 und Schnitze 1900, 163. Genauere
Angaben über diese Bardaches, in denen auch zum
ersten Male auf die Form päderastischer Befriedigung des
Geschlechtstriebes bei Indianern eingegangen wird, lieferte
erst 1889 Holder. Den Wunsch hegend, genaue Unter-
suchung über Sein oder Nichtsein der in der Literatur
als Hermaphroditismus bekannten Anomalie anzustellen,
suchte Holder den bei den CroVs von Montana ,Bote^
genannten Bardaches näher zu treten. Dieses Wort bo-te
bezeichnet buchstäblich „nicht Mann, nicht Weib*; ein
entsprechendes Tulalip-Wort , dessen die Indianer des
Washington -Gebietes sich bedienen, ist nach Holder
burdash, welches „halb Mann, halb Weib" bedeutet,
ohne damit eine anomale Bildung der Ge-
schlechtsorgane anzudeuten. Der Bote nimmt das
männliche Glied seines Partners zwischen seine Lippen
„und versucht wahrscheinlich gleichzeitig seine eigene
Befriedigung" ; fünf Bote wies 1889 der Crow-Stamm
auf und eine ungefähr gleiche Zahl hatte er auch früher;
sie bilden eine Klasse in jedem Stamme, kennen sich
unter einander und knüpfen freundschaftliche Beziehungen
mit Ihresgleichen in anderen Stämmen an, so dass sie
über die umischen Verhältnisse auch der Nachbarstämme
genau unterrichtet sind. Sie tragen weibliche Kleidung,
scheiteln ihr Haar in der Mitte und flechten es wie ein
Weib, besitzen oder erkünsteln weibliche Stimme und
Geberden und leben in beständiger Verbindung mit
Weibern, gleich als ob sie zu diesen gehörten; indessen
verlieren ihre Stimme, ihre Gesichtszüge und ihre Gestalt
nie so sehr die männlichen Eigenschaften, dass es einem
aufmerksamen Beobachter schwer wäre, einen Bote von
einem Weibe zu unterscheiden. Ein solcher Bote ver-
richtete bei den Crow weibliche Arbeit, wie fegen, scheuern,
Schüsseln spülen, mit solcher Anstelligkeit und Willigkeit^
— 139 —
dass er auch bei der weissen Bevölkerung häufig Be-
schäftigung erhielt. Gewöhnlich wird die weibliche Tracht
in der Kindheit angelegt und auch weibliche Sitten werden
schon früh angenommen; doch den Beruf, dem er sich später
widmet, übt ein Bote erst zur Zeit seiner Geschlechtsreife
aus. Ein kleiner Schüler einer Erziehungsanstalt (Knaben-
Pensionat einer Indianer- Agentur) wurde öfters dabei er-
tappt, wie er heimlich weibliche Kleidung anlegte; ob-
wohl jedesmal bestraft, bildete er sich doch, der Schule
entwachsen, zum Bote aus, welchem Berufe er seitdem treu
geblieben ist. Ein bei dem Crowstamme accreditierter
Bote, der zur Kundschaft des Arztes Dr. Holder gehörte,
war ein Dakota-Indianer; er wird als ein prächtig ge-
stalteter Bursche von einnehmenden Gesichtszügen, voll-
kommener Gesundheit, lebhafter Beweglichkeit und glück-
lichster Gemütsveranlagung geschildert; Holder zog ihn
zu seiner Bedienung heran und brachte ihn, wenn auch
nach langem Widerstreben, durch Erweisung von allerhand
Aufmerksamkeiten dahin, sich von ihm untersuchen zu
lassen. 5 Fuss 8 Zoll hoch, 158 Pfund schwer, 33 Jahre
alt, vollkommen bartlos, mit offenem, intelligenten Gesicht,
hatte dieser Bote die aus 4 Kleidungsstücken bestehende
weibliche Tracht bereits im sechsten Lebensjahre ange-
legt; er trug sein 24 bis 26 Zoll langes Haar in der
Mitte gescheitelt und Hess es in zwei Wellen locker hinter
den Schultern herabfallen; es ist das zwar die gewöhn-
liche Haartracht der Männer bei den Dakota, aber bei
den Crow teilen die Männer ihr Haar seitlich und tragen es
in langen Flechten. Nach seiner Entblössung zeigte sich die
Haut des Bote weich und haarlos, selbst Brust, Arme, Achsel-
höhlen und Beine waren vollkommen unbehaart, was aber
als bedeutungslos bezeichnet wird, weil alle Indianer der
Kundschaft Dr. Holderes, Männer wie Weiber, dieselbe
Eigentümlichkeit aufwiesen. Seine Brustwarzen waren
wie sonst beim Manne kümmerlich. Als der Bote das
— 140 —
seine Geschlechtsteile verdeckende Kleidungsstück ent^
femte^ gab er seinen Schenkeln eine solche Lage^ dass
sie die Geschlechtsorgane vollständig versteckten^ eine
Bewegung, welche Holder sonst nur bei der Unter-»
suchung schamhafter Frauen sah, bei denen sie wegen der
mehr zurücktretenden Genitalien und der starken Rundung
der Schenkel den Zweck leicht erreichte ; indess auch dem
Bote gelang das Kunststück vollkommen, vielleicht wegen
der Bildung seiner Schenkel, welche dem untersuchenden
Arzte von weiblicher Fülle zu sein schienen, oder in Folge
einer durch Uebung erlangten Geschicklichkeit; freund-
lichst gebeten, seine Schenkel zu trennen, Hess der Bote
männliche Organe zum Vorschein kommen, an Grösse
vielleicht nicht ganz so, wie die stattliche Gestalt des
Mannes sie hätte vermuten lassep, aber in Bildung und
Lage vollkommen normal. Der Penis hatte im schlaffen
Zustande 4V2 Zoll Länge bei 872 Zoll Umfang; Vorhaut
und Eichel waren normal, jeder Hoden hatte die Grösse
einer kleinen Mandel, die Scham bekleidete ein dünner
Wuchs kurzer Behaarung, wie gewöhnlich beim männlichen
Indianer. Vor der Untersucht^ng hatte der Bote dem
Arzte das Versprechen abgenommen, nichts über seinen
Befund zu verraten und nachher versicherte er ihm, dass
seit seiner Kindheit noch Niemand ausser dem Arzte seine
Geschlechtsteile gesehen habe ; seine ständigen Gefährten
seien Frauen ; und auf die Frage, wie er, mit Frauen zu-
sammen badend, es anfange, diesen den Anblick seines
Gemachtes zu entziehen, erwiderte er: „das mache ich so",
und schltig wiederum seine Schenkel so zusammen, wie
er es beim Ablegen des letzten Kleidungsstückes gethan
hatte; Penis und Hodensack waren wieder vollständig
unsichtbar, und es hätte einer Besichtigung aus aller--
nächster Nähe bedurft, um über sein Geschlecht ins Klare
zu kommen; er bestritt, jemals geschlechtlichen Umgang
mit einem Weibe gepflogen zu haben und fügte, auf seine
— Ul —
Scham deutend^ hinzu: ,,keiu Geschwür und keine Narbe!*
— nach Holder bei einem so venerischen Stamme wie
die Crow's auf keinen Fall ein schlechtes Argument. Nach
der Aussage anderer Indianer sollte der Bote dennoch
gelegentlich geschlechtlich mit Frauen verkehrt haben;
sein Hauptvergnügen bestände aber darin^ andere Männer
zu überreden, sich seinen Liebkosungen zu fügen. Zwei
Jahre hindurch habe der Bote als weiblicher Teil ver-
trautesten Umgang mit einem und demselben bekannten
Indianer gepflogen und mit diesem wie in richtiger ehe-
licher Gemeinschaft gelebt; doch sei das nicht der für einen
Bote gewöhnliche Zustand; er sei vielmehr, gleich den
Weibern des Stammes, bereit, jedem Manne zu will-
fahren, der seine Dienste verlange (Holder 623 — 624;
EUis-Symonds 8—9).
Die Assin ibo in. Ihre Bardaches haben auch die
Assiniboin's nach Wied (II 133, Fussnote).
Die Oregon-Indianer. Nach Smith bei Holder
(623) hatten die Oregon in ihrem Stamme zu Klamath
1889 einen „Hermaphroditen". Die Sahaptin (Nez
Perc^s) besassen 1389 zwei, die Seliph (Fleathead)
wiesen 1889 vier Bote auf (Holder 623).
Die Washington-Indianer. Auch die Indianer
des Washington-Territoriums haben ihre Bote, welche sie
hier in der Tulalip-Sprache Burdash, d. h. halb Mann,
halb Weib, nennen (Holder 623).
Die Pueblo-Indianer. Dem Dr. William A.
Hammond, der etwa um das Jahr 1850 in New-Mexiko
als Militärarzt stationiert war, wurde hinterbracht, dass
die Pueblo-Indianer in jedem ihrer Dörfer einen oder meh-
rere Stammesgenossen aussuchen, um ihn beziehungsw. sie
geschlechtlich impotent zu machen und zu päderastischen
Diensten zu verwenden. Diese Personen nannte man
Mujerado's, eine Bezeichnung, welche wie eine Um-
gestaltung des spanischen Wortes Mujeriego, d. h.
— 142 -
weiblich oder weibisch, klingt, aber ein spanisches Wort
nicht ist, das indess, wenn es vorkäme, auch nur «zum
Weibe gemacht* oder „in ein Weib verwandelt* würde
bedeuten können. Der Mujerado ist für die religiösen
Orgien, welche bei den Pueblo-Indianem, ebenso wie
unter den alten Griechen, Egyptern und anderen Nationen,
gefeiert werden, schlechthin tmentbehrlich. Er spielt die
passive Rolle bei den päderastischen Gebräuchen, die einen
wesentlichen Bestandteil der religiösen Zeremonien der
Pueblo-Indianer bilden. Diese Saturnalien finden bei den
Pueblo's im Frühlinge jeden Jahres statt und werden den
Nichtindianern gegenüber mit der allergrössten Heimlich-
keit betrieben. Zum Mujerado wird einer der kräftig-
sten Männer jedes Dorfes gewählt und an ihm täg-
lich vielmals Masturbation vorgenommen. Zugleich
wird er gezwungen, fast ununterbrochen zu reiten, wo-
durch seine Geschlechtsorgane anfangs in einen Zustand
so reizbarer Schwäche gerathen, dass schon die Bewegung
auf dem Pferde hinreicht, eine Pollution hervorzurufen;
und da das Reiten ohne Sattel geschieht, so wird durch
den Druck des Körpers auf den Rücken des Pferdes
gleichzeitig die weitere schnelle Ernährung der Genitalien
beeinträchtigt. Nun schreitet allmählig die Schwäche
so weit, dass, ungeachtet des eintretenden Orgasmus,
Samenentleerungen selbst bei stärkster Erregung nicht
mehr eintreten können, und am Ende wird auch die Ent-
stehung des Orgasmus ganz zur Unmöglichkeit; Penis
und Hoden beginnen zu schrumpfen und die Erections-
fahigkeit erlischt AuflFällige Veränderungen in Hang
und Neigungen gehen mit dieser Entmannung des Muje-
rado schrittweise einher; er verliert die Lust an seinen
früheren Beschäftigungen und sein früher bewiesener Muth
schwindet dahin; er wird so scheu, dass er, der vielleicht
eine hervorragende Stellung im Rate der Pueblo's beklei-
dete, um alle Macht, alle Verantwortlichkeit und um
— 143 —
jeden Eiufluss gebracht wird; war er Gatte und Vater,
so entziehen Weib und Kinder sich seiner Fürsorge und
betrachten ihn als Fremden — sei dieses aus eigenem
Entschlüsse, sei es auf seine Veranlassung, sei es auf
Grund von Stammesnormen. Mujerado zu sein ist für
einen Pueblo keine Schande; im Gegenteil geniesst er
den Schutz seiner Stammesgenossen und es werden ihm
gewisse Ehren zu Theil, indem er z. B., wenn er will,
jeder Arbeit sich enthalten darf. Seiner veränderten Ge-
müthsrichtung entsprechend sucht er mit Vorliebe das
weibliche Geschlecht auf und entäussert sich soviel wie
möglich aller körperlichen und geistigen Charakter-Eigen-
schaften der Männlichkeit. Männer sucht er nicht mehr
auf, obwohl diese ihn nicht meiden. Seine ganze Lage
wird ihm durch die Macht der üeberlieferung, der Sitte
und der öffentlichen Meinung aufgenöthigt; wird sie viel-
leicht auch anfangs von ihm mit Widerstreben über-
nommen, so zeigt er doch schliesslich bereitwilliges Ent-
gegenkommen; es ist ihm eben unmöglich, der Tradition
seines Stammes, deren Macht unter den Pueblo^s von New-
Mexiko von grösstem Einflüsse ist, sich zu entziehen;
und auf der Macht der Tradition fceruht auch, wenigstens
für die Gegenwart, die Daseinsberechtigung des Mujerado.
Ob der Mujerado als öfl*entliches Eigentum auch ausser-
halb der jährlichen Saturnalien für päderastische Zwecke
benutzt wird, wurde nicht ermittelt; es ist aber sicher,
dass wenigstens die Häuptlinge berechtigt sind, sich seiner
zu bedienen, und dass der Mujerado diesem Privilegium
sich nicht widersetzt. Jede derartige Anspielung des
ärztlichen Forschers liess der Mujerado unbeachtet; er gab
einfach an, davon nicht« zu wissen. Nur der alte La-
guna -Häuptling in Hammond's Begleitung war, ob-
wohl nach Indianerart sonst nicht sehr mitteilsam, be-
züglich dieses Punktes nicht verschwiegen, gab sogar
für seine Person mit vollster Seelenruhe zu, in seinen
— 144 —
jüDgeren Jahren den Mujerado seines Stammes zu ge-
schlechtlichen Genüssen gebraucht zu haben. Hammond
findet eine grosse Uebereinstimmung zwischen dem Mu-
jerado der Pueblo-Indianer und den Enareem der Scythen;
ein wesentlicher Unterschied liege aber in dem Umstände^
das» bei den Pueblo der Verlust der männlichen Potenz
mit voller Absichtlichkeit zu einem bestimmten Zwecke
angestrebt werde und der Mujerado eine staatliche Ein-
richtung sei, während die Impotenz bei den Scythen (Scy-
thenkrankheit) nur als eine ungewollte Folge ihrer Sitten
und Gebräuche sich eingestellt habe. Den Pueblo's scheine
es bekannt zu sein, einen wie grossen Einfluss das Reiten
auf die Geschlechtsthätigkeit ausübe, wenn es sich darum
handle, jemanden zum Mujerado zu machen; die nomaden-
haften Indianerstämme, gewissermassen die Repräsentanten
der Scythen in Amerika, insonderheit die Apachen und
Navajo's, besässen nach seiner persönlichen Erfahrung
kleine Geschlechtsorgane, schwachen Geschlechtstrieb und
geringe Potenz; schon in ihrer frühesten Kindheit ge-
wöhnten sie sich daran, selbst für die geringsten Ent-
fernungen zu Pferde zu steigen; sie gingen zu Fusse nur
an solchen Stellen, die ihre Pferde leicht zum Straucheln
brächten und blieben stets bei ihren Pferden; er sah
selber, wie sie, blos um den Sattel zu holen, eine Strecke
von 25 Fuss ritten. Eine Folge dieser Lebensgewohnheit
seien: schwache Muskulatur der Beine, dünne Schenkel,
handflache Waden und die Unrähigkeit, weite Märsche
zu Fusse zurückzulegen. Impotenz sei bei ihnen häufig
und er als „Medizinmann^^ von gesunden Männern um
Mittel zur Stärkung ihrer Potenz oft genug gebeten
worden; ein Weib dieser Stämme mit mehr als 2 bis 3
Kindern würde ein Unikum bleiben. Hammond hatte
Gelegenheit, zweiMujerados zu untersuchen. Der eine,
ein etwa 35 Jahre alter, grosser und schlanker Mann vom
Dorfe Laguna, war schon sieben Jahre Mujerado; er
— 145 —
trug WeiberkleiduDg und liess sich vom Arzte nur im
Beisein des alten Laguna-Häuptlings entblössen mid unter-
suchen; seine Genitalien erwiesen sich als klein und welk;
doch behauptete der Mujerado mit Stolz, ein grosses Glied,
und Hoden „so dick wie Eier" besessen zu haben, bevor
er Mujerado wurde, was auch der alte Häuptling sofort
bestätigte. Ueber den Befund war der Arzt dennoch
überrascht, da er erwartet hatte, irgend eine Art Herma-
phroditismus oder wenigstens Cryptorchismus vorzufinden.
Ein zweiter Mujerado vom Dorfe Acoma, etwa 20 Meilen
vom Dorfe Laguna entfernt, im Alter von 36 bis 37
Jahren und seit 10 Jahren im Amte, trug ebenfalls Frauen-
kleidung, war aber in dieser Tracht von den wirklichen
Weibern, mit denen er verkehrte, nicht zu unterscheiden
und sah auch nackt mehr einem Weibe als einem Mann
ähnlich; bei ihm bestanden die Hoden nur noch aus
Bindegewebe. Hammond hat eine sehr eingehende Be-
schreibimg dieser beiden Mujerado's gegeben, da er von
dem Drange geleitet wurde, möglichst viel Licht auf eine
alte Sitte zu werfen, welche die aufmerksamste Beachtung
nicht nur seitens der Neurologen, sondern auch der
Ethnologen verdiente und zweifellos schon bald vor der vor-
rückenden Macht der Kulturvölker gänzlich verschwinden
werde, wenn sie nicht schon verschwunden sei (Hammond
1891, 111—117; Holder 624—625).
Die Schoschoni (Shoshonee, Schlangen-
Indianer). Die Schoschoni's hatten 1889 einen Bote
nach Holder (623).
Die Sonora-Indianer. Eine in den Jahren 1768
bis 1770 nach den Provinzen Sonora und Cinalo unter-
nommene Expedition traf in dem weiter nördlich gelegenen
Neualbion, etwa gegen den 14. Breitegrad, viele als Weiber
gekleidete und gezierte Mannspersonen an; ganz besonders
war dieses der Fall in den Ortschaften der an der
Küste gelegenen Inseln des Santa Barbara Kanales; sie
Jahrbach III. 10
— 146 —
standen anscheinend hoch in Ehren (nach Bryant 226 und
Dalrymple 30 bei Waitz IV 243; Zimmermann V,
71). Der Wunsch Zimmermannes (V 71), die weiteren
Entdeckungen möchten auch diese Sonderbarkeit aufklären,
ist noch heute genau so berechtigt wie damals (1806). Nach
Duflot de Mofras (II 371) wies 1840 bis 1842 jeder
Indianerstamm im Thale de los Tulares Mannspersonen
auf, welche sich als Weiber kleideten, mit Weibern ge-
meinsamen Haushalt führten, an deren Arbeiten teil-
nahmen und Vorrechte vor ihnen erlangten, wenn sie
den , schimpflichsten Lüsten" (,d^bauches^) sich preisgaben;
sie hiessen Joyas, sollen in allgemeiner Verachtung
gestanden haben und durften WafPen nicht tragen (Mante-
gazza 105). Ueber mannmännliche Ehen unter Califor-
nischen Indianern wurde bereits an einer anderen Stelle
dieser Abhandlung (S. 122) berichtet.
Die Nahuatl-Indianer. In ganz Mexiko, be-
sonders aber im heissen Küstenlande, gingen ^schamlose
Mannspersonen" wie Weiber gekleidet und lebten vom
Ertrage der Freuden, die sie anderen Männern gewährten
Päderastie war allgemein (Diaz 1632, 248; 1852, 309
Oviedo IV 1. 42, c. 12; Eamusio 57 E, F; 160 A,B
Garcia 111; Waitz FV 279; Mantegazza 104—105
Ellis-Symonds 8, Fussnote 3); effeminierte (verweibte)
Männer erschienen beim Tepeilhuitl-(Berg-)Fest in Weiber-
tracht (Torquemada II 1. 10 c. 35). In Izcatlan
wurden päderastische Akte öffentlich straflos ausgeübt
(Herrera d. 3 1. 3. c. 15; Pöppig 375); am Panuco,
in Tampico de Tamaulipas (Santa Ana de Tamaulipas),
gab es öffentliche Freudenhäuser, in denen Männer Frauen-
rolle spielten (Gomara 1564 c. 47; 1749 Hist. c. 47;
Cron. c. 213; Mantegazza 104). Gegenüber diesen
Berichten von Zeitgenossen kann Wuttke's allgemeine
Behauptung (I 289): , unnatürliche Laster*^ seien bei den
Uebergangsstufen von den wilden zu den geschichtlichen
— 147 —
Völkern Mexiko's sehr selten gewesen und wären streng
bestraft worden, wohl nur bedingte Geltung beanspruchen;
es wird aber berichtet, dass in einzelnen Landesteilen
Fädikation nicht nur als Laster verabscheut (Sahagun
m 26), sondern mit schweren Strafen bedroht wurde (T o r-
quemada II 1. 12 c. 2; c. 4; Waitz IV 131; Müller
264); bei den Nicarao's (Nicaragua's) soll diese Strafe in
Steinigung bestanden haben (Gomara 1564 c. 205;
Martins 1832, 28, Fussnote **; 1867, 75, Fussnote *),
,weil es im Lande eine Kaste anerkannter Freudenmädchen
gab* (Popp ig 375); in Tezcuco (Texcuco, Texcoco) wurde
Fädikation unter Männern mit Todesstrafe geahndet
(Gomara 1749 Cron. c. 208; Garcia 1. 3 c. 6); auch
bei den Tlascalanern (Tlaxcalanern) wurde Fädikation
mit dem Tode bestraft (Herrera d. 2 1. 6 c. 16; Föppig
375). Die jungen Leute, welche in Tlascala den Tempel-
dienst versahen, wurden, wenn sie über 20 Jahre alt
waren und sich nicht verheiraten wollten, der beschim-
pfenden Strafe des Kahlscheerens unterworfen und vom
Tempeldienste ausgeschlossen (Vetancurt II tract. 3
c. 6 § 53), sei es, dass man sie dann im Verdacht von
Ausschweifungen hatte, oder solchen durch diesen indirekten
Zwang vorbeugen wollte (Waitz IV 131).
3. Die Indianer Mittelamerika's.
Von der sagenhaften üebervölkerung der Funta Santa
Elena (San Tomas), die, nach Aussage der benachbarten
Stämme, aus lauter Riesen bestand, wird mitgeteilt, sie
sei ob ihrer „ungeheuerlichen Sünden wider die Natur"
durch himmlisches Feuer vernichtet worden (Cieza de
Leon 1554 und 1853 c. 52; Garcia 1. 1 c. 4 § 1;
Veytia I c. 12 pg. 148—149; Föppig 375).
DieMayavölker (Macagual, d. h. Eingeborene
vom Maya-Lande). Die alten Quiname's waren allen
^Lastern" des klassischen Altertums ergeben und trieben
10*
— 148 —
gleich den „heutigen* Orientalen Pädikation (Brasse u r I
c. 3 p. 66 — 67). Der Entdecker von Yucatan soll
1517 — 1519 in Bildwerken unzweideutige Spuren von
Pädikation unter Männern gefunden haben (^figuras de
hombres hechados unos sobre otros, representando el
abominable pecado*'); als Fundstelle derselben wird von
Herrcra (d. 2 1. 2 c. 17) und Charlevoix (1733 II,
182—183) Cap Catöche, von Gomara (1749 Hist.
c. 49; 1852, 184) und Oviedo (I 532—533 1. 17 c. 17)
aber Laguna de Terminos angegeben (Waitz IV 307).
In Yucatan war Päderastie Volkssitte (Gomara 1564
c. 54; 1749 Hist. c. 54); junge Männer liebten es, in
Weiberkleidern zu gehen, wenn sie der Männerliebe er-
geben waren (Lafitau I 52; Baumgarten I 25).
Gott Chin hatte diese eingeführt indem er das erste Bei*
spiel derselben in einer religiösen Zeremonie gab; auch in
Verapaz galt die mannmännliche Liebe als durch Gott
Chin anerkannte und religiös geheiligte Sitte (Torque-
madall 1. 10 c. 11; Bastian III 312; 315; Schnitze
1900, 163). Bei der Hochzeit des Gagawitz mit Qomakaa
bei Panch^-Chiholom im 12. Jahrhundert nahmen die Sol-
daten die Gelegenheit wahr, Orgien aufzuführen, welche
noch lange durch Legenden in der Erinnerung der Cak-
chiquel's am Atitlan- (Atitan-) See fortlebten, Orgien, in
denen auch Pädikation eine Rolle spielte (Manuskript
Cakchiquel; Brasseur II 173 und nota 1). Als die
Olmequen das Thal Panchoy mit der Hauptstadt Gua-
temala erobert hatten, musste jede Stadt und jedes Dorf
des Landes zwei zu päderastischen Diensten bestimmte
junge Männer jährlich an die neue Eegierung abliefern
(Brasseur II 77); Bastian (III 308) hatte wohl diese
Stelle im Auge bei seiner Angabe, dass es im alten
Guatemala auf Staatskosten erhaltene Knabenbordelle ge-
geben habe. Brasseur macht (II 67) die Bemerkung?
in Mittelamerika wären zu den Ballets und zu allen
— 149 —
theatralischen Vorführungen, auch wenn es zu deren
Darstellung einer sehr grossen Zahl von Personen bedurfte,
fast nur männlichie Personen verwendet worden, welche
dann auch die Frauenrollen übernommen hätten.
Die Cuewa-Indianer. Männer mit baumwollenem
Mantel, d. h. in der Kleidung der Weiber, ergaben sich
der , schändlichen Sünde wider die Natur**; solcher waren
unter den Cuewa viele, besonders bei den Machthabern, und
die Vornehmen hielten sich zur Befriedigung ihrer Lust
junge Burschen (mozos), welche in der Cuewa-Sprache
Camayoa heissen (Oviedo Sum. 508). Als 1513 die
Spanier unter ihrem „Herkules," dem ebenso grausamen
wie goldgierigen Vasco Nun ez deBalboa, nach Quar^qua
(Cuareca, Careca, Esquaraqua) kamen, schlachteten sie
600 Indianer mit deren Herrscher Tarecha wie wilde
Tiere ab; sie trafen im Hause des Herrschers dessen
Bruder und viele andere Quarequaner als weiblich ge-
kleidete Cinäden (putos) an; der edle Baiboa liess auf
sie seine Doggen los, welche 40 von ihnen „gleich wilden
Ebern oder flüchtigen Hirschen" zerfleischten; auch mit
Negern (Mosquitos ?) sollen die Quarequaner „odia in-
testina" getrieben haben (Peter Martyr d. 2 1. 1 pg.
43C,D; Gomara 1564 c. 62; 1749 Hist. c. 62; c. 68;
1852 p. 193—194; Herrera d. 1 1. 10c. 1; OviedoHI
1. 29 c. 5; Ramusio 24 B; Pauw I 66; Lafitau I
53— 54; Baumgarten I 26; Pöppig 375; Bastian
in 312; Waitz IV 350; Peschel 410; Schneider I
237; Mantegazza 105; Schnitze 1900, 162). Nach
Ansicht nur eines Gewährsmannes war Päderastie auf
die Vornehmen beschränkt und wurde vom Volke ver-
abscheut (An dag oya bei Navarrete 400; Bastian III
312; Waitz IV 350; Schnitze 1900, 162).
Die Indianer der A ntillen. Unter denCibunay 's
auf Cuba gab es Päderasten (Gomara 1564 c. 51;
1852, 185; Ramusio 150 E, F). Bei den Taini\s auf
— 150 ~
San Domingo (Haiti, Hispaniola, Espagnola) wurden päde-
rastische Akte nicht nur straf los ausgeübt (Herr er a d. 1
1. 3 c. 4; Pöppig 375), sondern waren sehr stark im
Schwange; während indess auf den Antillen sowohl als
auf dem festen Lande Männer und Weiber „einem der
Natur entgegengesetzten Laster* ergeben waren, indem
auch die Weiber ultra vas debitum sich gebrauchen, d. h.
sich pädizieren Hessen^ nimmt Charlevoix die Weiber
der Insel Hispaniola ausdrücklich davon aus; aber diese
mieden es nicht etwa darum, weil sie es verabscheuten,
auch nicht aus Scham, denn sie seien die allerlieder-
lichsten in der ganzen neuen Welt gewesen; sondern blos
des Nachteils wegen, den dieses ,,schändliche Laster" ihnen
verursacht hätte (Oviedo IL 5 c. 3; IV 1. 4 c. 16;
Ramusionic.6 pg. 80 C; Charlevoix 1733,1 55 — 57
Baumgarten II 617—618).
4. Die Indianer Südamerika's.
Die Chibcha (Tschibtscha, Muyska oder
Moska). Die Muyska bestraften Pädikation (Herrera
d. 3 1. 4 c. 7; Pöppig 375); wer ihrer schuldig befun-
den war, erlitt in Cali (Neu-Granada) nach den Gesetzen
Nemequene's einen qualvollen Tod, „que se executasse
luego con asperos tormentos* (Piedrahita 11.2 c. 5 pg.
46} ; auch Auspeitschen und Abschneiden der Ohren oder
der Nase wurden vorgenommen (Gomara 1564 c.72; 1749
Hist. c. 72; 1852, 201; Pöppig 375; Waitz IV 361).
Die Coconuco (Popayan). Bei den Laches
muss die Päderastie Sitte gewesen sein, wenn sie auch förm-
lich nur dem Herrscher gestattet war; denn es entsprach
dem Herkommen, dass der sechste Knabe, den eine Frau
gebar, welche dazwischen ein Mädchen nicht zur Welt ge-
bracht hatte, als Cinäde erzogen wurde; die Cinäden, welche
manCusmos nannte, unterschieden sich in Folge der Er-
ziehung von den Frauen, deren Arbeiten sie auch ver-
— 151 —
richten mussten^ „in nichts als durch ihre männlichen
Kräfte" (Piedrahita I 1. 1 c. 2; Waitz IV 376).
Die Peruaner. Päderastie war , Volkslaster" bei
den Bewohnern des Küstenlandes von Peru (Quito, Gua-
yaquil); die spanischen Conquistadoren Pacheco und
Ol mos belegten ihre Ausübung mit den härtesten Strafen
(Cieza de Leon 1554 c. 49; 1853 c. 49; Oviedo IV
1. 46. c. 16 pg. 216; Pöppig 375); doch soll sie ander-
wärts in Peru nicht geherrscht haben (Cieza 1554 c.
64; 1853 c. 64; Waitz IV 417). Garcilasso erzählt
aus der Geschichte der Eroberungen der Incas: Der
Feldherr und die Hauptleute drangen, nachdem in den
neu eroberten Landschafben die Gesetzgebung und alle
dringendsten Anordnungen vorbereitet worden waren, in
die Wüste bei Huallaripa ein; hier befand sich ein
wegen seines Reichtumes an Gold berühmter Berg. Als
die Incaleute diese Wüste auf 35 Meilen durchstreift
hatten, gelangten sie zur Meeresküste. Das durchstreifte
Gebiet hiess bei den Urbewohnern Yunca oder heisses
Land, und dieser Name umfasste verschiedene an der
Küste gelegene Thäler. Bei Besichtigung des Küsten-
landes entdeckten die Hauptleute das fruchtbare Thal
Hacari, welches von mehr als 20000 Indianern bewohnt
war; diese ganze Bevölkerung wurde dem Beiche des
Inca, zu dessen grosser Freude ohne Blutvergiessen, ein-
verleibt Von Hacari aus weiterwandernd, gelangten die
Incas zu den Ortschaften Vuinna, Camana, Caravilli,
Picta, Quellca und noch in andere Küstenthäler von
insgesammt 60 Meilen Länge; an dieser Küste waren ver-
schiedene Flüsse von den ingeniösen Indianern durch
Ableitung verhindert worden, sich direkt in's Meer zu er-
giessen, um statt dessen ihre Felder und Wiesen zu
bewässern. Der Feldherr Auqui Titu und sein Feldoberster
machten dem Inca alle diese Thäler unterwürfig; als sie
dann auf Veranlassung des Inca Capac Yupanqui nähere
— 152 —
»
Erkundigungen über die Sitten der alten Einwohner, ihren
Gottesdienst u. dergl. einzogen, fanden sie bei denselben
auch das „schändliche Laster der Sodomiterei.* Nach
ihrer Berichterstattung befahl der Inca, alle dieses Lasters
fiir schuldig befundenen Männer zu verbrennen; auch
die Häuser der Schuldigen sollten nicht geschont und so-
gar ihre Felder vernichtet werden, damit selbst für die
Erinnerung an ein «so schändliches Laster^ nichts mehr
übrig bleibe. Dieser Befehl soll, zum Schrecken aller
Einwohner der genannten Thäler, prompt vollstreckt worden
sein. Den Unterthanen des Inca sei ein solcher Abscheu
vor der Päderastie eigen gewesen, dass sie nicht ein-
mal den Namen hätten ertragen können; habe ein Bür-
ger von Cuzco mit einem anderen Streit gehabt und diesen
aus Unbesonnenheit einen „Päderasten* gescholten, so sei
er als ehrlos angesehen worden, weil er sich nicht ent-
blödet habe, ein solches Wort in den Mund zu nehmen
(Garcilasso 1609 1. 3 c. 13; 1744 I c. 5; Baum-
garten II 267—268; Wuttke I 322). Pauw, welcher
(1 67 — 69)Garcilasso's Erzählung nach der französischen
Uebersetzung wiedergibt, bezeichnet den Verfasser als
schönfärberisch; er will gern an die Verbreitung der
Päderastie unter den Bewohnern jener Thäler, nicht aber
an die Ausführung solch' harter Strafen glauben; denn
dabei würde das Bleich des Inca nicht 10 Jahre
haben bestehen können; überdies hätte schon einige
Jahre nach der Regierung des Inca Capac Yupanqui ein
anderer Beherrscher des Landes die Gesetze gegen die
Päderastie erneuern müssen, ein Beweis, dass sie trotz
ihrer angeblichen Strenge den , Strom der Ausschweifung
nicht aufhalten konnten". Mit dem von Pa u w erwähnten
späteren Inca dürfte der Inca Boca gemeint sein, über
den Montesinos (c. 18) in einem besonderen Kapitel
,Del casamiento de Inga Roca, y penas que estableciö
contra los sodomistas* (p. 102 — 107) berichtet hat. Als
— 153 —
nämlich nach den Einfällen der Barbaren Päderastie und
, andere Laster* unter den Peruanern überhand nahmen^
sannen die klagenden Frauen, sich vernachlässigt sehend,
auf Abhülfe und verfertigten den goldenen Kürass, in
welchem der von seiner Mutter Mama-Ciuaco in der
Höhle von Chingana verborgene Inca Roca, als sei er
von der Sonne, ,seinemVaterV fortgeführt worden, dem Volke
erschien und die Befehle dieses seines erzürnten Vaters,
sich zu bekehren, mitteilte; er heiratete seine Schwester
Mama-Cura, um damit die Ehe wieder einzuführen, und
liei^s die Päderasten verbrennen (Bastian III 316).
Nach Müller (269) sollen „unnatürliche Laster" bei den
Peruanern (Quichuas) nicht vorgekommen sein. Schnei-
der (I 288) und Mantegazza (105) schliessen sich im
Allgemeinen der Auffassung des Garcilasso an. Von
dem Treiben der Peruaner der vorincaischen Zeit
scheint das der Bewohner dieses Landes im Anfange des
19. Jahrhunderts nicht sehr verschieden gewesen zu sein •
nach Zimmermannes Schilderung (VI 153) wirkt die zu
weit getriebene Sinnlichkeit des Frauenzimmers verweich-
lichend auf das männliche Geschlecht; die Stadt Lima habe
eine Menge Petit maitres, Jünglinge, weiblich in ihrem Gange
und Betragen, mit fein gekräuselten Haarlocken, vom Kopf
bis zum Fuss nach Ambra duftend; ihr Tagesgeschäft
sei ausschliesslich Musik, Tanz, Intrigue und Putz. Um
schon früh von ihren Eltern verlassene Kinder zu ver-
hindern, Taugenichtse zu werden, Laster und verderbte
Gewohnheiten („perversas costumbres") in sich aufzunehmen,
waren in einem Hospiz zu Santa Cruz de la Sierra
unter geschickte Meister gestellte Fabriken errichtet, in
denen Gespinnste und Gewebe von Baumwolle in immer
mehr vervollkommnetem Zustande hergestellt wurden; hier
sollten mechanische Künste und Erziehung der Jugend
zu öffentlichem Nutzen gedeihen (Viedma 119 § 440).
— Siehe Meier 152; Hössli II 235; Ulrichs Incl. 44;
Gl. für. 21.
— 154 —
Unter den Indianern der Andengegenden
Peru's war Päderastie um 1840 gewöhnlich, wenn
auch kaum mehr verbreitet, als unter den Weissen
jenes Landes; es gab dort „Freudenjünglinge ^, welche
ebenso wie Freudenmädchen aus dem geschlechtlichen
Verkehre mit Männern ein Gewerbe machten; man
nannte sie Marie ones (Pöppig 375).
Die Kariben (Caraiben oder Galibi). Von
der Päderastie auf Tierra firme wird aus verschiedenen
Gegenden berichtet; sie herrschte im Gebirge in der Nähe
von Coro oder Coriana; die spanischen Conquistadoren
trafen dort eine Kaste päderastischen Zwecken dienender
Männer, welche gezwungen waren, weibliche Arbeiten im
Hause zu verrichten und Weiberkleider zu tragen (Her-
rera d. 4 1. 6 c. 1; Simon I n. 2 c. 2; Pöppig 375;
Bastian III 312; Schnitze 1900, 162); ferner gab es
solche Männer im Golfe von Cenu (Oviedo 11 1. 27 c. 8)
und in anderen Gegenden (Oviedo III 1. 29 c. 5). In
Esmeralda wurde Pädikation bestraft (Gomara 1564 c.
72; 1852, 201); auch in Cumana soll die Päderastie sehr
verabscheut worden sein (Simon I n. 2 c. 25; Waitz
III 383; Mantegazza 105). Dass der , unnatürlichen
Lusf aber auch spanische Soldaten erlagen, wird von
Simon versichert (Simon I n. 3 c. 1; Waitz III 383).
In Santa Murta fanden die Spanier Bildnisse, welche den
Akt der Pädikation unter Männern darstellten (,uno
sobre otro por deträs*) und auf die Neigung der
Bewohner zu derlei Akten schliessen Hessen (Oviedo II
L 26 c. 10; Gomara 1564 c. 71; 1749 Hist. c. 72; 1852,
201; Kamusio 94 E, F; siehe ferner Kamusio 41 E
und Waitz HI 383).
Die Tupi-Stämme. Ler ins (1586, 295) hat be-
obachtet, dass die jungen Tuupimambolsier (Tuupinenkin)
beiderlei Geschlechts, wiewohl sie ein heisses Land be-
wohnen, ganz wider die Gewohnheit der Orientaler (wie
— 155 —
es gewöhnlich heisst), der Wollust nicht sehr ergeben
seien. Um ihnen jedoch nicht mehr nachzurühmen, als ihnen
zukommt, so erinnerte er sich, dass sie im Streite zu-
weilen das Schimpfwort „Tyuire", d.h. ^ Knabenschän-
der", sich einander zuzurufen pflegten; woraus sich dann
schliessen liesse, dass ^dieses Laster'' ihnen bekannt sei
— denn er wisse es nicht gewiss und wolle es nicht für
gewiss behaupten .*) Der deutsche Übersetzer (1794, 296*)
meint dazu: »Wie kämen sie sonst an dies Wort? — Aus
einer andern Sprache ? Allein auch dann müssten sie doch
die Bedeutung wissen.* — Lerius verbreitet sich
(293) auch über eine eigene Art von Freundschaft bei den
Indianern Brasiliens, die darin bestand, dass zwei Männer
alles Ihrige gemeinsam hatten, nur die Tochter der
Schwester des einen konnte der andere nicht zum Weibe
nehmen; ein solcher Freund hiess Aturassap (Atouras-
sap). Lafitau (I 607—608; Baumgarten I 279) meint,
diese alten Freundschaftsverbindungen gäben zu dem
Verdachte eines „Lasters* einen Anlass nicht, obschon
darunter dergleichen vielleicht wirklich verborgen sei oder
sein könne. Vergl. das Omapanga der Neger S. 85. — Nach
Soares (281—282 c. 156) ist Päderastie für die Tupi-
namba's erwiesen (Martins 18S2, 28**; 1867, 75—76*;
Pöppig 375).
Die Guaikuru. Unter den Guaikuru's befanden
sich Männer in Weiberkleidem, welche mit spinnen und
weben sich befassten, Geschirre verfertigten und andere
weibliche Arbeiten verrichteten (nach Eschwege II 283
bei Waitz III 472); sie fühlten sich als Weiber und wur-
den vom Volke Cudinas, d. h. Verschnittene, genannt
(nachPrado 23 bei Martins 1832, 28; 1867,74; EUis-
Symonds 8).
*) Diese Stelle fehlt in der ersten französischen Aus-
gabe von 1578.
— 156 —
Die Indianer der Magellanischen Meerenge
(Puelchen, Tuelchen, Aucae, Pechuenche, Serano) waren
um 1740 — 1744 den ^gröbsten Lastern" ergeben und
hatten nicht einmal den dem übrigen Teile der Mensch-
heit ganz natürlichen ersten Begriff von der Schamhaf-
tigkeit (Charlevoix 1756 III 240; 1768 II 302).
Martins schildert ein acht Tage hindurch währen-
des Jahresfest der Muras (d. h. Feinde), welches viel-
leicht den Eintritt der Jünglinge in die Mannbarkeit zu
feiern bestimmt war; bei diesem Feste reihten sich die
Männer paarweise nach gegenseitiger Wahl zusammen
und peitschten sich mit langen, aus der Haut des Tapirs
oder des Lamantin (Manati) gefertigten Riemen bis auf
das Blut. Diese Geisselungen waren nach Martins ein
Akt der Liebe und dürften als Ausdruck eines irrege-
leiteten Geschlechtsverhältnisses zu betrachten sein (Mar-
tins 1867, 110—112; Bastian III 316).
Die Araukaner oder Moluchen. Bei den Mo-
luchen besteht der Gottesdienst fast lediglich aus auf den
bösen Gott Camalasque gerichteten ßeligionsübungen
mit Ausnahme einiger besonderer Zeremonien, welche zu
Ehren der Verstorbenen angestellt werden. Zur Abhaltung
des Gottesdienstes versammeln sich die Gläubigen im
Zelte des Zauberers, welcher, den Augen des Volkes ent-
zogen, in einem Winkel des Zeltes verborgen sich auf-
hält. In diesem versteckten Aufenthalte hat er eine
kleine Trommel, eine oder zwei runde Kürbisklapper-
büchsen voll kleiner Öeemuscheln und einige viereckige
Säcke von bemalten Häuten, worauf sein Zaubercharakter
beruht. Die Zeremonie beginnt damit, dass der Zauberer
auf seiner Trommel einen entsetzlichen Lärm schlägt und
die Klapperbüchsen in Thätigkeit setzt; dann stellt er
sich, als wenn er mit dem bösen Gotte, der in ihn ge-
fahren, kämpfte, reisst mit vieler Mühe seine Augen
auf, verzerrt seine Gesichtszüge, lässt Schaum auf die
Lippen treten, verdreht seine Gelenke und bleibt nach
— 157 —
vielen gewaltsamen krümmenden Bewegungen, gleich einem
mit der fallenden Sucht behafteten Menschen, steif und
unbeweglich; erst nach einiger Zeit kommt er wieder zu
sich, als habe er nun den bösen Gott überwunden, und lässt
eine hellklingende, schmachtende Stimme erschallen, die
nicht von ihm, sondern vom überwundenen bösen Gotte
herzukommen scheint, von dem man nun wegen des
entsetzlichen ßöchelns glaubt, dass er sich selbst für über-
wunden bekenne. Damit hält sich der Zauberer für ge-
nügend vorbereitet, alle ihm vorgelegten Fragen auf einer
Art von Dreifuss beantworten zu können. Wegen des
Inhalts seiner Antworten braucht er aber nicht ängstlich
zu sein; wird er doch in beiden Fällen, ob sie richtig
oder falsch ausfallen, gut bezahlt ; sind sie falsch, so trifft nicht
ihn, sondern den bösen Gott die Schuld. Ungeachtet der
Ehrfurcht, welche diese Zauberer geniessen, ist doch ihr Beruf
ein sehr gefährlicher. Denn wenn z. B. ein patagonisches Ober-
haupt stirbt, so werden oft einige Zauberer, besonders wenn sie
vorher einen Wortwechsel mitihm gehabt hatten, getötet, in-
dem alsdann die Indianer denVerlust ihres Oberhauptes dem
Zauberer und dessen bösen Gotte zuschreiben ; auch haben
sie beim Ausbruch epidemischer Krankheiten, welche viele
Menschen hin wegraffen. Entsetzliches auszustehen. „Als
nach dem Tode des Mayu-Pilqui-Ya und seines Volkes
die Kinderpocken beinahe die ganze Nation der Checha-
hets aufgerieben hatten, gab Cangapol Befehl, alle Zau-
berer zu töten, damit man erführe, ob durch dieses Mittel
die Krankheit nachlassen würde". Diese Zauberer aber sind
von beiden Geschlechtem. Die männlichen Zaube-
rer werden genötigt, ihr Geschlecht zu verlassen
und weibliche Kleidung anzulegen; sie dürfen
nichtheiraten, wohl aber dürfen es die weiblichen Zaube-
rer. Gewöhnlich werden die männlichen Zauberer schon als
Kinder zu diesem Stande ausgesucht, wobei man den-
jenigen den Vorzug gibt, die schon in ihren jugend-
— 158 —
liebsten Jahren ein weibliches Betragen
äussern; diese werden in weibliche Zauberkleider gesteckt
und erhalten eine Trommel und Klapperbüchsen^ welche zu
dem Berufe gehören^ zu dem sie sich ausbilden sollen
(Falkner 1775, lU—UÖ; 1835, 48; Bastian III 310;
Waitz in 506).
IV. Die Arktiker oder Hyperboreer.
A. Die Eskimo (Eskimantsik d. i. Rohfleisch-
esser oder Innuit, d. i. Männer, Menschen) — vorwiegend
in Nordamerika.
1. Die Grönländer.
David Cranz hat 1765 das Leben der Grönländer
aus eigener Kenntnis anschaulich geschildert. Sobald ein
Knabe Hände undFüsse bewegen kann, gibt ihm der Vater
einen kleinen Pfeil und einen Bogen in die Hand und lässt
ihn damit, wie auch am See-Ufer mit Steinen, nach einem
Ziele werfen, oder er lässt ihn mit einem Messer Holz
zu Spiel-Gerätschaften schnitzen. Gegen das zehnte Jahr
schafft er ihm einen Kajak an, damit er sich in des
Vaters oder in anderer Knaben Gesellschaft im Fahren,
Umkantern und Aufstehen, im Vogelfang und Fisch-
fang übe. Im fünfzehnten oder sechzehnten Lebens-«^
jähre muss er mit auf den Seehundfang. Von dem ersten
Seehunde, den er erbeutet, wird den Hausleuten
und Nachbarn eine Gasterei gegeben. Während
des Essens muss der Knabe erzählen, wie er
den Fang angestellt hat. Die Gäste bewundern seine
Geschicklichkeit und rühmen das Seehundfleisch als
etwas Besonderes; und von nun an sind die Weiber da-
rauf bedacht, ihm eine Braut zu wählen. Denn wer
nicht Seehunde fangen kann, wird aufs Ausserste verachtet
und muss mit Weibemahrung, oder mit Alken, die er auf
dem Eise „fischen'' kann, mit Muscheln, trockenen Häringen
und dergl. sich durchbringen. Und deren gibt es doch einige,
die es zu dieser Geschicklichkeit nie bringen können.
— 159 —
C ranz hat selbst inKangek(215*) einen frischen, starken
Grönländer gesehen, der gar nicht im Kajak fahren ge-
lernt, „weil seine Mutter ihn daran gehindert hatte, aus
Furcht, sie möchte ihn ebenso wie ihren Mann und ältesten
Sohn, die zugleich ertranken, verlieren"; Und dieser
Mann diente bei anderen Grönländern als Magd
und verrichtete alle weibliche Arbeit, in der
er sehr fertig war (Cranz S.Buch, 2. Abschn. § 15
pg. 214—215). Wuttke (I 184) stützt sich wohl auf diese
auch von Bastian (III 314) erwähnte Schilderung, wenn
er die Grönländer als „übel berüchtigt" bezeichnet ; und
Schneider (I 281) dürfte eben dieselbe Stelle im
Auge gehabt haben, als er den Grönländern „erotische
Verirrungen" vorwarf.
2. Die Konjagen auf den Aleuten.
Auf seiner Beise in den nördlichen Gegenden Russ-
land^s 1785—1794 beobachtete Billings (210), dass
einige Eltern auf Kadjak ihren Knaben eine weibliche
Erziehung gaben und sich glücklich schätzten, wenn sie
ihre Buben an die Oberhäupter zur Befriedigung „unna-
türlicher.Begierden" ausliefern konnten, dass solche Kna-
ben als Weiber gekleidet wurden und alle häuslichen
Geschäfte verrichteten. Der Contreadmiral Sarytschew
(11, 31) erzählt als etwas Sonderbares seine Begegnung mit
einem als Weib gekleideten Konjagen. Im Juni 1790 seien
eines Nachmittags auf zwei- und dreispitzigen Baidaren
(Hautkähnen) mehrere Amerikaner an sein Schiff ge-
kommen und mit ihnen ein russischer Pelzjäger (Promy-
schlennik), der seiner Aussage nach von der Ansiedelung
des Kaufmanns Schelechow auf Kadjak mit 300 Insulanern
ausgeschickt war, um Seelöwen und Geflügel auf den
umherliegenden Inseln zu jagen. Einer von diesen mit-
gekommenen Kadjakern, ein ungefähr 40 Jahre alter
,)hässlicher Kerl", war nicht wie die andern, sondern wie
— J60 —
ein Weib gekleidet ; sein Gesicht war punktiert und in seiner
Nase trug er Ringe von Perlenschmelz ; der Pelzjäger
aber erzählte^ dieser Mann vertrete bei einem jungen
Insulaner die Stelle eines Weibes und verrichte alle dem
weiblichen Geschlechte zukommenden Arbeiten. Deut-
licher spricht sich über die Sitten der Konjagen Langs-
dorff (58) aus; es sei ihm versichert worden, dass der
ehelichen Gemeinschaft unter den nächsten Blutsver-
wandten nichts im Wege stände und geschlechtliche Ver-
mischungen unter Geschwistern, ja sogar zwischen Eltern
und ihren leiblichen Kindern vorkämen; ein Konjage,
den er darüber zur Bede stellen liess, habe ihm ganz
unbefangen geantwortet, dass seine Nation hierin dem
Beispiele der Seeottern und Seehunde folge. Die männ-
lichen Konkubinen sehe man auf Kadjak häufiger als in
Unalaschka (vergleiche den Schlussabschnitt dieses Ka-
pitels: die Aleuten). Die russische Verwaltung scheine,
setzt er hinzu, solche Sitten zu übersehen, ja es Hessen
sich die dort wohnenden Russen zuweilen selber Hand-
lungen dieser Art zu Schulden kommen; denn als er
eines Tages sich erkundigt habe, weshalb die Herren
Lieutenants Chwostow und Dawydow einen angestellten
Seeoffizier, der sehr wohl unterrichtet zu sein schien, bei
jeder Gelegenheit mieden, so wurde ihm mitgeteilt, dass
dieser Mann als „ Knabenschänder'' nach Sibirien geschickt
werden sollte, aber Mittel gefunden habe, in die Dienste
der russisch-amerikanischen Kompagnie zu treten; zwar
wurde er später von der genannten Gesellschaft entlassen,
jedoch nicht wegen seiner geschlechtlichen Skrupel-
losigkeit, sondern wegen zunehmenden Schuldenmachens.
Bei Lisiansky (199), der Kadjak im Mai 1805 besuchte,
erfährt man, dass die Männer in Weibertracht den Namen
Schoopan oder Schüpan führen; sie leben mit Männern
zusammen und vertreten bei diesen in allen Dingen die
Stelle des Weibes; in ihrer Kindheit werden sie mit
— 161 —
Mädchen aufgezogen und lernen alle weiblichen Geschäfte;
Sitten und Tracht des anderen Geschlechtes eignen sie
sich so vollkommen an^ dass ein Fremder sie naturgemäss
zu dem Geschlechte zählt, zu dem sie nicht gehören.
Und als einen schlagenden Beweis dafür, wie leicht ein
Irrtum vorkomme, erzählt er die Begebenheit, dass, als
einmal ein Häuptling mit einem Schoopan zur Kirche
ging, um sich mit ihm trauen zu lassen, erst, da die Feier-
lichkeit beinahe beendet war, ein Dolmetscher zufällig
hinzugekommen sei und den christlichen Priester ver-
ständigt habe, das Paar, das er ehelich verbinden wolle,
bestehe aus zwei Männern. Dieselbe Erzählung bringen
Dali (402-403) und Ellis-Symonds (8). Lisiansky
fügt noch hinzu, diese Art des geschlechtlichen Verkehrs
sei früher so bevorzugt gewesen, dass das Wohnen
eines solchen „Monstrums von Schoopan' in einem Hause
als glückbringend gegolten habe; dieses nähme aber
nunmehr sichtlich ab. Als etwas sehr Bemerkenswertes
wird das Vorkommen der griechischen Liebe bei den
Konjagen 1856 von Holmberg (400 resp. 120) ange-
geben; Holmberg meint (401 resp. 121), es möge diese
Sitte noch jetzt im Stillen, obzwar nicht mehr so allge-
mein wie früher, fortleben, denn er habe Gelegenheit ge-
funden, in der Ansiedelung Tschinjagmjut auf der Insel
Ljesnoi „ein solches Mannweib' selbst zu sehen, über das
sein Dolmetscher mit sehr geheimnisvoller Miene ge-
sagt habe: „Dieser Kerl ist ein Weib!" Als Beweis für
die früher grössere Häufigkeit der Schoopan^s bringt
er ausser der oben bereits mitgeteilten Erzählung von
Sarytschew noch die Uebersetzung einer weiteren
russischen Schilderung von Dawydow, die mir nur aus
dieser Quelle bekannt wurde; sie lautet (400 — 401 resp.
120—121) wörtUch:
„Es giebt hier (auf Kadjak) Männer mit tatuiertem
Kinne, die nur weibliche Arbeiten verrichten, stets mit
Jahrbuch HI. H
— 162 —
den Weibern zusammen wohnen und gleich diesen Männer,
manchmal sogar zu zweien, haben. Solche nennt man
Achnutschik. Sie werden nichts weniger als verachtet,
sondern gemessen Ansehen in den Ansiedelungen, und
sind meistenteils Zauberer. Der Konjage, der statt eines
Weibes einen Achnutschik hat, wird sogar als glücklich
betrachtet. Der Vater oder die Mutter bestimmen den
Sohn schon in seiner frühesten Kindheit zum Achnutschik,
wenn er ihnen mädchenhaft erscheint. Es kommt bis-
weilen vor, dass die Eltern sich im Voraus einbilden,
eine Tochter zu erhalten, und wenn sie sich in ihren
Hoffnungen getäuscht sehen, so machen sie den neuge-
borenen Sohn zum Achnutschik."
Ellis-Symonds (8), welche dieses Citat offenbar
ebenfalls nur aus Hol mberg^s Übersetzung kannten und
verwerten wollten, haben den Irrtum begangen, die wich-
tigste Stelle desselben, dass die für die Rolle
eines Achnutschik oder Schupan ausersehenen
Knaben infolge ihres mädchenhaften Wesens
von den Eltern dazu bestimmt würden, als zwei-
felhaft und aus den ursprünglichen Berichten
durchaus nicht hervorgehend hinzustellen; „wenn
es bewiesen werden könnte, wäre es recht interessant*;
aber die Effemination des Schupan scheine thatsächlich
nur auf Suggestion und auf die Umgebung zurück-
zudeuten, in der er von frühester Kindheit an aufwachse.
Ellis-Symonds schreiben den von Holmberg nur
übersetzten ursprünglich Dawydow^schen Be-
richt fälschlich Holmberg selbst zu. Dawydow
lässt aber für verschiedene Fälle beide Möglich-
keiten zu.
Auch von Schelechow wird nach Erman (1871,
164) die allgemeine Verbreitung der Päderastie auf Kad-
jak (sowie für die Kamtsohadalen und Aleuten) bestätigt.
Einen Teil der hier wiedergegebenen Mitteilungen ver-
— 163 —
werteten bereits Waitz III 314; Schultz e 1871, 5L
Peschel 220; 222; 223; 399,5); Schneider 1.281;
Ellis-Symonds 7—8. Wied hat wohl die Kon-
jagen im Sinne, wenn er meint, dass man bei den Aleuten
überhaupt einige Uehereinstimmung mit den Missouri-
Indianern fände (Wied IT 132***).
B. Die mongolenartigen isolierten Völker des
nordöstlichen Asiens (Beringsvölker).
1. Die Tuski (Küsten- oder Fischer-Tschuktschen
auch Namollo).
Die Tuski, von Müller (196), Ratzel (I 586)
und Schneider (1281) zu den Amerikanern gestellt,
werden von Schurtz (268; 300) zu den Mongoloiden
verwiesen. Ueber einen Päderasten unter ihnen berich-
tet der Kapitän zur See Lutk^ (197—198); Lutk^
war verblüfft, in einer ihm bekannten Familie eine Person
zu erblicken mit männlichem Gesichte, aber ganz be-
sonders sorgfältig und auf weibliche Art gekleidet; sie
gehörte, meint er, zu d er Klasse von Männern, die man
bei allen asiatischen Völkern antreffe, zu denen das Licht
des Christentums noch nicht gedrungen sei. Ihre Leiden-
schaft für das ^Verbrechen wider die Natur* führten
zwar die NamoUo's selbst auf den Teufel als den Schul-
digen zurück, „aber das könnten sie Niemandem einreden*.
Vergl. Peschel (399,5) und Schneider (I 281).
2. Die Tschuktschen (Renntier-Tschuktschen,
oder Korj aken).
Nach W ränge 1 (II 227) war Päderastie unter den
Tschuktschen 1823 etwas ganz Gewöhnliches und
wurde durchaus nicht im Mindesten geheim gehalten. Es
gab unter diesen rohen Naturmenschen junge, wohlgebil-
11*
— 164 —
dete BurscheD^ die sich zur Befriedigung dieser „wider-
natürlichen Lüste ^ hergaben. Solche Burschen kleideten
sich mit einer gewissen Sorgfalt^ putzten sich mit allerlei
weiblichen Zierraten, Glasperlen u. dergl. heraus und
scherzten und kokettierten mit ihren Verehrern eben so
»frei", wie etwa ein junges Mädchen mit ihrem Verlobten.
W ran gel und seine Begleiter konnten nicht umhin,
ihrem Abscheu darüber Ausdruck zu geben; doch das hätten
die Leutchen durchaus nicht begriffen, vielmehr hätten sie
gemeint, es sei ja nichts Arges und ein Jeder folge darin
seinem Geschmacke. Höchst auffallend erschien dem
Beobachter die Verbreitung der Päderastie bei einem
rohen Volke und unbegreiflich blieb ihm, wie dieses
nach seiner Auffassung durchaus unnatürliche Laster
unter Naturmenschen entstehen und bestehen konnte, da
es ihnen doch an Weibern nicht fehlte und bei
den Tschuktschen die Ehe nicht, wie es bei den Jakuten
und Jukahiren der Fall sei, durch Erlangung des Kalym
erschwert werde, sondern ohne alle Schwierigkeiten ge-
schlossen und auch ebenso leicht wieder aufgehoben
werden könne; siehe auch Er man (1871, 164). K. E.
vonBaer beiWenjaminow (1839, 220,i) bemerkt,
bei den Tschuktschen herrsche die Sitte, dass einige
Männer die Stelle der Weiber verträten. Vergleiche
ferner Müller (192), Peschel (399,5) und Schnei-
der (I 279).
Von den Korjaken oder Koräken (von Kora, Renntier),
wie sie bei den Russen nach Krascheninikow heissen
hat Er man (1848, 2. Abt. in, 250) mitgeteilt, dass
sie von jeher neben ihren eifersüchtig geliebten Frauen
auch noch männliche Personen oder K^elgi hielten;
und nicht nur solche, sondern auch noch weit rätsel-
haftere — steinerne, mit Fellen bekleidete Bettgenossen.
Ihre Liebesbezeugungen gegen unbelebte Wesen er-
innerten dann wieder an die der Ostjakinnen am Obi,
— 165 —
welche bekleideten Holzklötzen drei Jahre lang die Stelle
ihrer verstorbenen Ehemänner einräumten; auch die
Korjaken vermuteten von solch einem Steine^ zu dem
sie sich hingezogen fühlten, er sei ehemals beseelt ge-
wesen, und sie bemerkten sogar, sobald sie ihm sich
näherten, einen eigentümlichen Hauch, dem sie auch
Heilkräfte zuschrieben und welcher am Ende selbst noch
in Europa von den Kennern des tierischen Magnetismus
für eine ganz glaubliche und beachtenswerte Erscheinung
erklärt werden dürfte. Nach Er man (1871, 164) waren
die K^elgi als eine eigene Art benannte Männer, die,
durch ihre Kleidung ausgezeichnet, von dem übrigen
Volke aufs Aeusserste verachtet, von Einigen aber anstatt
Beischläferinnen gebraucht wurden. Ueber Erman's
Angaben berichteten später Müller (192), Peschel
(220), Schneider (I 279—280) und Mantegazza (105).
3. Die Itelmen (spr. Itenemen, d. h. Bewohner, Ur-
bewohner) oder Kamtschadalen.
Nach Steller (289 a) hatten die Männer auf Kamt-
schatka Schupannen, deren sie sich neben ihren
Frauen ohne alle Eifersucht per posterior a bedienten.
Steller's originelle Schilderung von Erzeugung und Auf-
erziehung der Kinder »bey denen Itälmenen* (350— 351 a)
sei, soweit sie hierher gehört, wörtlich in ihrer ganzen
Eigenart mitgeteilt: „Weilen die Itälmenen promiscue in
den Wohnungen und vor den Augen ihrer leiblichen
Kinder den Beyschlaf vollbringen und gebähren, so lernen
die Kinder von Jugend auf das Venushandwerk, und
probiren solches ihren Eltern nachzumachen. Wenn
solches auf ordentliche Art geschähe, so prahlten die
Eltern, dass ihre Kinder so balde zum Verstände ge-
kommen. Wo aber Knaben per anam*) einander schän-
X
*) 80 buchstäblich, ob mit oder ohne Absicht den anus verweiblichend !
— 166 —
deten, so verwiesen sie ihnen solches^ als eine ungewöhn-
liche Sache, dennoch aber hielten sie selbe nicht davon
ab, sondern sie mussten sich in Frauenkleider einkleiden,
unter den Weibern leben, ihre Verrichtung auf sich
nehmen, und sich in allem als Weiber stellen, und war
dieses in alten Zeiten so allgemein, dass fast ein jeder
Mann neben seiner Frau eine Mannsperson hielte, womit
die Weiber sehr wohl zufrieden waren, und auf das freund-
lichste mit ihnen lebten, und umgingen. Die Bussen
nennen solches tschupannen, die Itälmenen aber um
Bolschaia Reka Koiäch, umNischna Koiachtschitsch.
Diese Knabenschänderey hat bis auf die Taufung dieser
Nation gedauret, die Schupannen occupirten sich be-
sonders bey der Kosaken Ankunft, derselben Kleider aus-
zubessern, sie zu entkleiden, und ihnen allerhand Dienste
zu thun, und man hatte viel zu thun, ehe man sie von
den ächten Weibern unterscheiden konnte. Zeit meines
Aufenthalts auf Kamtschatka fand ich noch hin und
wieder viele von diesen unkeuschen und widernatürlichen
Personen.'* Steller (358) teilt mit, bei den Itelmen
heisse Köcüsikümäch ein „stachlicher Arsch wie Kosen
Strauch", dagegen Haüelläkümäch ein „glatter Arsch,
der allezeit zur Sodomiterey fertig ist**. Und ^von der
Religion derer Itälmenen" heisst es bei St eile r (263):
„Besonders beschreiben sie Kutka als den grössten Un-
fläther und Sodomitten, der alles zu stupriren versuchet.
Sie erzehlen, dass er einsmals Seemuscheln stupriret, und
weil sich diese zugeschlossen, dadurch um das genitale
gekommen seye, welches nach diesem Chachy von ohn-
gefehr in einer gekochten Muschel-Schale gefunden
und ihrem Manne wieder angeheilet. Chachy
wurde einsmals dergestalt auf Kutka erbittert, weil
er sie verschmähte und mit andern Unzucht triebe,
dass sie ihre muliebria in eine Ente verwandelte, auf
den Balayan setzte und Kutka einen panegy-
— 167 —
rium halten liesse, worüber sich Kutka dergestalt erfreuet,
dass er die Ente küsste. Unter dem Küssen verwandelte
sich dieselbe wieder in ihre natürliche Gestalt, und
Kutka erkannte, was er geküsst hatte, machte dabey den
Schluss, dass die Annehmlichkeit vom veränderten Bey-»-
schlaf nur allein in einer bezauberten Phantasie bestünde,
und dass man eigenthümliche Sachen niemals so heftig,
als fremde und verbothene liebe" (auch von Klemm II
324 und Schultze 1900, 163—164, zitiert). Kutka
oder Kutga nannten aber die Kamtschadalen den grössten
unter allen Göttern, den Schöpfer Himmelsund der Erde, und
wenn von ihren Göttern auf die Menschen ein Bückschluss
gestattet ist, so müssen die Kamtschadalen geschlecht-
lich ausserordentlich begehrlich angelegt gewesen sein. Fer-
ner berichtet Steller (274): „Eine Sünde überhaupt bey
denen Itälmenen ist eine jede Sache, so wider das Verboth
ihrer Vorältem, dadurch man in Unglück geräth, über-
haupt sind sie voller Aberglauben . . ." und (275) in einem
kleinen Register Kamschatzkischer Sünden, ihrer Gebote
und Verbote: „15) Wer den Concübitum verrichtet, der-
gestalt, dass er oben auflieget, begehet eine grosse Sünde
Ein rechtgläubiger Itälmen muss es von der Seite ver-
richten. Aus Ursache, weil es die Fische auch also machen
davon sie ihre meiste Nahrung haben* — siehe auch
Klemm II 329. Stell er's Beobachtungen datieren
aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Wuttke (184) hält
nach Steller's Schilderungen zu der Erklärung sich be-
rechtigt: ^viehisch aber war ehedem das Leben der Kamt-
schadalen; alle ihre Gedanken und ihre Phantasie waren auf
Unzucht gerichtet, der sich schon die kleinen Kinder zur
Freude der Eltern ergaben* . . und Schultze (1871, 51)
schreibt ihm das wörtlich nach; Schneider (I 279) findet
Ste 11 er' s Schilderung mit einem Worte ^haarsträubend".
Während des 19. Jahrhunderts aber scheint unter der
Herrschaft der Russen in diesen Verhältnissen die Lan-
— 168 —
dessitte auf Kamtschatka sich beträchtlich geändert zu
haben^ denn Er man (1848, 249*^ — 2t>0) bekennt, dass auf
seiner Reise in den Jahren 1828 — 1830 ihm von dem , ab-
normen*' Hange zu den Kojektschutschi (Er man selbst
schreibt an einer anderen Stelle 1871, 164: Kojektschuchtschi)
d. h. den mUnnlichen Beischläfern der Männer, vrelche sich
ehedem viele Jurtenbesitzer neben ihren Ehefrauen
ohne jede Störung des Hausfriedens hielten, nicht ein
Beispiel vorgekommen sei; man habe ihm aber inTigilsk
von der ehemaligen Allgemeinheit dieser Sitte durchaus
unumwunden und wie von einer ausgemachten Sache
erzählt; er halte es für nötig, die Bestätigung derselben
um so entschiedener hervorzuheben, als Kraschenini-
kow in Beziehung auf dieses merkwürdige Verhältnis
an einer Stelle seines Buches dasjenige wieder zurück-
nehme oder vielmehr in's Unverständliche hinein-
ziehe, was er selbst an mehreren anderen Stellen unzwei-
deutig ausgesprochen habe. So heisse es bei Krasche-
ninikow (III 125) , auch ihre (der Kamtschadalen) Wei-
ber sind nicht eifersüchtig, wie man daraus ersieht, dass
nicht blos zwei oder drei Frauen eines und desselben
Mannes gut mit einander leben, sondern dass sie auch
die Kojektschutschi ertragen, welche mehrere Männer
sich anstatt Beischläferinnen (wrajesto nalojniz) halten";
und an einer anderen Stelle (Kr ascheninikow III 24):
„Die Kamtschadalen haben eine, zwei oder auch drei
Frauen (teils in einer und derselben Jurte, teils an ver-
schiedeneu Orten, um abwechselnd mit ihnen zu ver-
kehren; III 124), und ausserdem unterhalten viele
noch die in ihrer Sprache sogenannten Kojekt-
schutschi, welche (im Russischen kotoruie, d. i. die
männliche Form des Relativum) in Weiberkleidem um-
hergehen, lauter Weiberarbeiten verrichten und mit (anderen)
Männern gar keinen Umgang pflegen, gleich als ob sie
vor deren Beschäftigungen Ekel hätten oder fürchteten,
sich in Dinge, die sich für sie nicht schicken, einzulassen.*^
— 169 —
Dann wieder (Krascheninikow III 27): „Die unbe-
queme Leiter^ die über dem Feuerplatze hinweg und
durch dessen Hauch aus der Dachöfinung der Erdjurte
hinausführt^ wird auch von den Frauen^ und oft mit
Kindern auf dem Rücken^ furchtlos gebraucht — und
dennoch haben sowohl sie (die Frauen) als auch die
Kojektschutschi die Erlaubnis^ aus- und einzugehen
durch den sogenannten jupan^ d. h. durch das nahe über
dem Boden in einer Seiten wand der Erdhütte befindliche
zweite Zugloch für das Feuer. Geht aber ein Mann
durch den jupan^ so wird er unausbleiblich verlacht,
und es scheint ihnen dieses so auffallend, dass sie alle
Kosaken, welche in der ersten Zeit jenen Weg wählten,
weil sie noch nicht wagten, durch den Rauch zu gehen,
für Kojektschutschi hielten"; und endlich (Kra-
8cheninikowIII40): „DieKosaken, welche man die
Nähnadel oder den Schusterpfriem führen gesehen hatte,
wurden für Kojektschutschi gehalten, denn bei ihnen
(den Kamtschadalen) werden Röcke und Fussbekleidungen
von den Frauen genäht und von den Kojektschut-
schi, welche auch in Frauenkleidem gehen und Frauen-
arbeiten verrichten, sich dagegen mit einer männlichen
Arbeit niemals befassen/^ Diesen ganz unzweideutigen
Angaben gegenüber findet sich nach Erman (1848, 250)
im Index des Buches von Krascheninikow (III 306)
eine in wörtlicher Uebersetzung also lautende Erklärung:
„Kojektschutschi sind Frauen, welche keinen Um-
gang mit den Männern haben, vergleiche III, 24, 40,
124," d. h. also die oben zitierten Angaben Krasche-
ninikow's. Erman lehnt sich gegen eine derartige
offensichtliche Fälschung der Thatsachen mit Nachdruck
auf; wenn die Kojektschutschi Frauen waren, was
habe dann so Auffallendes darin gelegen, dass sie Frauen-
kleider trugen und dass sie nur Frauenarbeiten ver-
richteten? Und weshalb sage man dann: ^die Männer
— 170 —
halten Kojektschutschi anstatt (wmjesto) Beischläfer-
innen"^ und gebrauche fortwährend den Ausdruck : „die
Weiber und die Kojektschutschi"? Es leuchte ein,
dass Krascheninikow oder sein Herausgeber ganz
2uletzt noch sowohl von übertriebener Verschämtheit be-
fallen worden seien als auch der seltsamen Ueberzeugung
gelebt hätten, nur das Begister ihres Buches würde der-
einst Leser finden! Was aber die Sache betreffe und den
Vorwurf, den man daraus gegen die Kamtschadalen ent-
nehmen dürfe — trotz der anerkanntesten Zärtlichkeit,
die sie ihren Frauen und ihren Kindern erwiesen — so
sei davon eben nichts abzulassen! Auch könnten
/die Bewohner dieses Teiles der Halbinsel leider nicht
auf die ihnen unbekannt gebliebenen Vorgänge im
klassischen Altertum sich berufen, sondern nur auf
ihre korjakischen Nachbarn!
Ich habe es für richtig gehalten, in obiger Schilderung
getreu Erm an zu folgen, dem das Verdienst gebührt, mit
seiner Darstellung ein überaus bezeichnendes Beispiel auf-
gedeckt und gegeiselt zu haben, in welcher Weise Ver-
suche angestellt werden, aus „moralischen" Grundsätzen
heraus die offenkundigsten Thatsachen zu fälschen. Ich
selbst kann der Aufdeckung Er man 's nur noch hinzu-
fügen, dass die versuchte Verbesserung der Geschichte
dem Uebersetzer des Werkes von Krascheninikow
in das Französische vorzüglicher und unverfäng-
licher als dem Verfasser selber gelungen ist. In dieser
Uebersetzung sind nämlich zugleich mit dem ganzen
Register alle urnischen Stellen einfach fort-
gelassen. Lediglich um dieses Werk als das zu kenn-
zeichnen, was es ist, eine erbärmliche Mache, sei hier
der volle Titel angemerkt, da es in die Literatur nicht
hineingehört: Histoire de Kamtschatka, des isles Kurilski,
€t des contr^es voisines, publice ä Petersbourg, en Langue
Kussienne, par ordre de Sa Majest^ Imperiale. On y a
— 171 —
Joint deux Gartes, Tune de Kamtschatka, et Pautre des isles
Kurilski. Traduite par M. E*** A Lyon, chez Benoit
Duplain. 1767. 2 Bändchen (6, XV und 327, resp. 6 und
359 Seiten). Nach I Seite 6 heisst der Uebersetzer, um
auch ihn gebührend an den Pranger zu stellen: Marc.
Ant. Eidous.
4. Die Aleuten.
Nach Sauer bei Billings (193) war ehemals der
Geschlechtstrieb der Bewohner von Unalaschka ,,bis zur
Knabenliebe ausgeartet". Die geliebten Knaben aber
trugen Weiberkleidung. L a n g s d o r f f (II 43) schildert,
wie im Anfange des 19. Jahrhunderts „einzelne
schöne junge Knaben" auf Unalaschka öfters ganz weib-
lich erzogen und in allen Verrichtungen der Mädchen
unterwiesen wurden; der keimende Bart wurde ihnen
sorgfältig ausgerupft und um den Mund wurden sie wie
die Weiber tatuiert (tätowiert); sie trugen Verzierungen
von Glasperlen an Händen und Füssen, banden und
schnitten ihr Haar nach weiblicher Art und ersetzten in
jedem Sinne die Stelle der Konkubinen. Man habe zu
seiner Zeit, fährt Langsdorff fort, Massregeln noch
nicht ergriffen, dieser „Sittenlosigkeit und unnatürlichen
Lust", die schon seit den ältesten Zeiten dort stattge-
funden, Einhalt zu thun, geschweige dieselbe gänzlich zu
vernichten; man kenne dergleichen Menschen unter dem
(russischen) Namen Schopan. Die Schopan mussten
aber schon zu Langsdorff s Zeit in Unalaska verhält-
nismässig selten geworden sein, denn Langsdorff (II 58)
weist darauf hin, dass man die männlichen Konkubinen
auf Kadj ak häufiger sehe als in Unalaska. Langsdorff's
Mitteilungen sind durch Druckfehler entstellt in Ellis-
Symonds (7,1) übergegangen, Billings und Langs-
dorff von Schneider (I 280) zum Teile übernommen
worden.
— 172 —
Weniaminow (1839, 220) führt als Charakterzug
der Aleuten von den Fuchsinseln an, dass viele von
ihnen mit wahrhaft christlicher Anstrengung gegen die
Sinnlichkeit ankämpften; er würde bemerkenswerte Beweise
dafür bringen können, wenn er nicht fürchten müsste, seine
Pflicht als Geistlicher und die Gesetze der Wohlanständig-
keit zu verletzen; der Hang zu Ausschweifungen sei, wenn
auch nicht ganz ausgerottet, doch in engere Grenzen zu-
rückgetreten. Karl Ernst von Baer bezieht bei Wen-
iaminow (1839, 220, Fussnote) diese ängstliche und
nach dem „naturam expellas furca ..." betreffs Dauerhaf-
tigkeit des Erfolges aussichtslose Äusserungauf die in jenem
Archipel ehemals herrschende Päderastie; und wohl mit
Recht; denn Erman (1871, 163 — 164) bemerkt, wenn
Pater Wenjaminow (Sapiski II 63) in seinem
Kapitel von den geschlechtlichen Gebräuchen der heid-
nischen Aleuten schliesslich den Ausspruch eines
Apostels anführe, „dass es sich nicht zieme, gewisse heim-
liche Vorgänge offen zu besprechen", so habe er ohne
Zweifel an die , ebenso widerlichen als rätselhaften Ent-
artungen des Geschlechtstriebes" gedacht, welche auch die
ältesten Beisenden an manchen Insulanern des Be-
rings-Meeres bemerkt hätten; ihre Ausübung bei Ur-
völkern dürfe in der Anthropologie nicht übersehen
werden; das Vorkommen der Päderastie bei der ur-
sprünglichen Bevölkerung der Inseln des Unalaschkaer
Bezirkes werde auch von Schelechow bestätigt. Ver-
gleiche ferner Wuttke (184 j, Peschel (220; 222; 223;
399,5; 401—402), Mantegazza (105).
Für die päderastischen Verbindungen, wie sie unter den
Aleuten und den Kamtschadalen (Itelmen) üblich gewesen,
hat Bastian (III 310) den neuen Terminus „Pantoioga-
mie" eingeführt.
*
Noch dürften bezüglich der Arktiker zwei in der
— 173 —
einschlägigen Literatur berührte allgemeine Gesichtspunkte
hierorts besonders hervorzuheben sein. Virey (I 289) und
Schneider (I 281 — 282) weisen auf die Thatsache hin,
dass dem Wollustkitzel erotischer ^Verirrungen" nicht
blos , verweichlichte" Südländer, sondern auch die ver-
härteten Bewohner des rauhen und kalten Nordens nach-
gehen. Es wäre dem noch hinzuzufügen, dass merkwürdi-
gerweise im Norden der bezeichnete Kitzel in noch viel
stärkerem Grade als im Süden wirksam zu sein scheint
und die Befriedigung desselben bei den Arktikem stets
straflos geschah, bei vielen Südländern dagegen schwer
bestraft oder wenigstens mit harten Strafen bedroht wurde.
Femer glaubt Stelle r (302), die Anlage zu den geschlecht-
lichen „Ausschweifungen" der Kamtschadalen der bei diesen
vorherrschenden Fischnahrung zuschreiben zu sollen;
er meint, was die Nation so geil und venerisch mache,
könne wohl nichts Anderes sein, als der Genuss des
vielen Fischrogens und der im Winter schimmlichten
Fische, wodurch nicht allein eine starke Produktion von
Zeugungsstoff hervorgerufen, sondern auch eine Stimu-
lierung der Gefässe bewirkt werde; einen Beweis für die
Bichtigkeit seiner Annahme fand Steller in der That-
sache, dass eine Itelmenin, welche ein halbes Jahr lang
zur Probe von seinem Tische speiste und so von ihrer
gewöhnlichen Kost abgehalten wurde, „viel moderader
und keuscher geworden seye". Peso hei (401 — 402) hat
dem beigefügt, dass, unter Voraussetzung der Berech-
tigung dieser Annahme Steileres, die Uebereinstimmung
zwischen den Beringsvölkern in diesem Punkte ebenfalls
nur dem Wohnorte entsprungen sein würde. — Woher
aber, fragt man billig, leitet alsdann die Geilheit der-
jenigen Naturvölker sich ab, welche nicht vorzugsweise
auf Fischnahrung sich angewiesen sehen? Virey (I 289)
glaubt, die mögliche Ursache der Päderastie bei den
Naturvölkern in der weiten Entfernung der daheim
— 174 —
bleibenden Weiber von ihren auf der Jagd befindlichen
Männern erblicken zu dürfen.
Ich möchte indessen hier auf einen anderen
Umstand die Aufmerksamkeit lenken, der, wenn man ein-
mal rein äusserliche Erscheinungen für bestimmt geartete
Liebestriebe verantwortlich zu machen durchaus not-
wendig findet, nicht ausser Acht gelassen werden sollte^
ich meine das von Steller an mehreren Orten seines
freimütigen und offenbarungsreichen Buches hervorge-r
hobene Nichtzusammenpassen der Geschlechtst
Organe der beiden Geschlechter bei den Itelmen«
,, . . . kleine membra genitalia und grosse und weite
muUehrm"^ sind es, „so beyde Völker (Itelmen und
Mongolen) noch bis diese Stunde gemein haben"
(Stelle r 251); , . . . dabey sind die Geburtsglieder (der
Männer) sehr klein, ohnerachtet sie grosse Venerei sind.
Die Weibespersonen haben kleine runde Brüste, die bey
vierzigiährigen Frauenzimmern noch so ziemlich hart sind,
und nicht bald hangend werden, die Schaam ist sehr
weit und gross, dahero sie auch nach denen Gosaken und
Ausländern allezeit begieriger sind, und ihre eigene Nation
verachten und verspotten. Ueber der Schaam haben sie
alleine ein Schöpf lein schwarzer dünner Haare, wie ein
Krochal auf dem Kopf, das übrige ist alles kahl. Ausser
diesem haben einige und zwar die mehresten sehr grosse
Nymphen, welche ausserhalb der Schaam auf 1. Zoll her-
vorragen, und wie Marienglas oder Pergament durch-
sichtig sind. Es werden dieselbe nunmehro vor eine
grosse Schande gehalten, und ihnen in der Jugend, wi^
denen Hunden die Ohren, abgeschnitten. Die Itälmenen
nennen diese ausserordentliche Nymphen Syraetm: und
lachen sie selbst einander damit aus" (Stell er 299 — 300).
Danach scheint es dem Unbefangenen, als seien die
Itelmen zur Befriedigung ihrer Wollust durch ihren Körper-
bau von der Natur selber auf Pädikation hingewiesen
— 175 —
worden; es bliebe nur noch ein Restbestand für die Er-
klärung zurück, weshalb die Itelmen mit ihren kleinen
Genitalien die Pädikation beim Manne, und nicht
beimWeibe ausüben. Man wird wohl annehmen dürfen,
dass Pädikation die besondere Form der päde-
rastischen Liebesbefriedigung nicht nur bei den Itelmen,
sondern auch die allgemein gebräuchliche der Berings-
völker überhaupt ist ; ihre Allgemeinheit und ihre weite
Verbreitung würde dann auf Grund gewohnheitsmässiger
Nachahmung, welche bei den Itelmen nach Stell er ja
eine überaus grosse Rolle spielt, leicht verständlich sein,
während eine ganz abweichende Form der päderastischen
Liebesbefriedigung, die Fellation, beziehungsweise I r -
rumation, bei den Indianerstämmen in Nordamerika, durch
Holder (625) dargelegt, uns früher schon beschäftigte.
Schi uss wort.
„Ce que j'en dirai lui laissera toutes
ses fl^trissures, et ne portera que eontre la
tyraxmie qui peut abuser de l'horreur rn^me
que l'on en doit avoir."
Montesquieu, Esprit des lois, \.l2c. 6.
Die in den beiden vorausgehenden Kapiteln überTriba-
die und Päderastie bei den Naturvölkern mitgeteilten That-
sachen gestatten einige zwanglos sich ergebende Schlüsse :
1) weder alle als Weiber, d. h. mit weiblichen
Geburtsorganen geborenen Personen, noch alle als
Männer, d. h. mit männlichen Begattungswerkzeugen
ausgestatteten Menschen, fühlen den Beruf, die
Rolle zu spielen, welche durch die Natur ihrer Ge-
schlechtsorgane ihnen auferlegt zu sein scheint: für die
Erhaltung und Vermehrung des Menschengeschlechtes
ihr Scherf lein beizutragen und in Verbindung damit die-
jenigen Arbeiten zu verrichten, welche die menschliche
Gesellschaft den lediglich nach ihren verschiedenen Ge-
schlechtsorganen klassifizierten beiden Geschlechtem an-
— 176 —
zuweisen pflegt; eine mehr oder minder grosse Anzahl
Individuen neigt dahin^ die Bolle des anderen, ihm
äusserlich entgegengesetzten Geschlechtes, sei es
in einigen, sei es in allen Beziehungen, zu übernehmen;
2) solche Personen haben oder hatten ohne Aus-
nahme alle Naturvölker aufzuweisen, als welche be-
kannt sind: I. die negerartigen Völker, IL die
Malayen, TIT. die Indianer und IV. die Arktiker
oder Hyperboreer;
3) die bei den Naturvölkern zur Beobachtung ge-
kommenen lumischen Erscheinungen machen auf jeden
Unbefangenen durchaus den Eindruck elementarster
Natürlichkeit; sie beruhen offensichtlich auf dem allen
gesunden Menschen natürlichen Trieb zur Wollust der
Liebe und zeigen sich gänzlich frei von rohem Eigen-
nutze, Grausamkeit und Mordgier; roher Eigennutz,
Grausamkeit und Mordgier haften dagegen denen unver-
kennbar an, welche als anders veranlagte Naturen die
urnischen Arten der Befriedigung des Geschlechtstriebes
nicht nur nicht dulden wollten, sondern durch schwere
Bestrafung und Tod ausrotten zu können für möglich
hielten (vergl. das Treiben Balboa's, Seite 149 dieser
Abhandlung) ; die urnischen Praktiken regelten sich bei
den Naturvölkern, wie jeder Handel und Wandel, durch
Angebot und Nachfrage; wo, wie in Peru, Gesetze
gegen urnischen Umgang bestanden, sahen die Behörden
sich genötigt, sie milde oder gar nicht zu handhaben,
vielleicht von der Erkenntnis durchdrungen, dass die
Gesetze der Völker wegen und nicht umgekehrt die Völker
der Gesetze wegen vorhanden sind; die Handhabung dieser
Gesetze würde auch nicht eine Ausrottung, sondern eine
Überhandnähme der Praktiken im Geheimen herbeige-
führt haben, so dass auf die entsprechenden Paragraphen
der Gesetzgebung der Schrei Martin Luther's An-
wendung finden könnte: »AchHerreGott, ich achte, dass
Unkeuschheit durch keine andere Weise hätte mögen mehr
— 177 —
und greulicher einreissen, denn durch solche Gebote und
Gelübde der Keuschheit* (Luther 's sämtliche Werke,
10. Band, Seite 441, Erlangen, 1827);
4) die Annahme oder die Behauptung, Tribadie und
Päderastie seien Laster, welche ausschliesslich bei in
Grund und Boden verderbten Kulturvölkern zur Aus-
bildung gelangten, beruht entweder auf vollkommenster
Unkenntnis oder gar auf zielbewusster Ableugnung längst
bekannter Thatsachen; Duflot de Mo fräs (II 371) ge-
stand, als er die Indianer kennen lernte, schmerzlich
überrascht(„ douloureusement surpris " ), diese Thatsachen
unumwunden ein, undFriedrich von Hell wald's Be-
merkung (456), die Päderastie herrsche „noch jetzt" bei den.
orientalischen Völkern, macht eben diesen Thatsachen
gewichtige Zugeständnisse.
Wer den behandelten umischen Erscheinungen gegen-
über auf der vorgefassten Meinung beharrt und dieselben
als „scheussliche Entartungen* (Bastian III 305) brand-
marken zu müssen, sie von psychischer Ansteckung
oder von einem epidemischen Hange zur Nachahmung
herleiten zu können, oder, wie Waitz (I 357), Viel-
weiberei für ihr Auftreten verantwortlich machen zu
dürfen glaubt, der mag in diesem oder jenem Einzelfalle
eine mitbestimmende Veranlassung zu einer besonders
eigenartigen Ausbildung umischer Bethätigung
aufgedeckt haben; allein eine Erklärung des umischen
Liebestriebs hat er damit nicht geliefert. Auch geht es
nicht an, den umischen Liebestrieb ganz allgemein als
blosse Begleiterscheinung tieferer körperlicher
oder seelischer Störungen aufzufassen, denn bei den in
dieser Arbeit vorkommenden Personen handelt es sich
um ursprünglich durchaus kerngesunde Naturen, wie des
öfteren ausdrücklich hervorgehoben wird, nur in einem
einzigen Falle um einen kranken Mann (vergl. Seite 133).
Für das praktische Leben ist übrigens eine Er**
Jahrbuch III. 12
— 178 —
klärung des Uranismus gänzlich belanglos ; es genügt
die Anerkennung seiner Natiirlichkeit. So lange
ein junges Volk seine schnelle und ausgiebige Vermehr-
ung als ein drückendes Bedürfnis empfindet^ wird mit
diesem auch die Gesetzgebung zu rechnen haben und
alle umischen Praktiken mit unfreundlichem Auge betrach-
ten; aber anders gestaltet sich die Lage und sogar eine
Begünstigung umischer Praktiken könnte am Platze sein^
sobald einer drohenden Uebervölkerung gesteuert werden
soll, „da die Beschränkung der in der Ehe zu zeugenden Kin-
der auf eine bestimmte Zahl sich selten durchführen lässt,
so sehr man sie auch durch die Aufforderung, sich nach
der Zeugung eines Sohnes dem beschaulichen Leben zu
widmen, unterstützen mag" (Bastian III 307).
Montesquieu, obwohl er die Befriedigung urni-
scher Neigungen als „Verbrechen gegen die Natur*
behandelt und ihnen grundsätzlich feindlich gegenüber
steht, hat (Esprit des lois, Livre XII ChapitreVI: „Du crime
contrenature**)in seiner geistreichen Weise und bewunderns-
werten Kürze zu Gunsten der Duldung urnischer Akte
wohl das Beste vorgebracht, was von einem entschiedenen
Gegner derselben darüber zu erwarten ist — ich kann
mir nicht versagen, seine dem Gegenstande gewidmeten
vier Abschnitte ungekürzt hierher zu setzen:
„Es wäre nicht Gott wohlgefällig, wenn ich den
Abscheu abzuschwächen versuchen wollte, den man gegen-
über einem Verbrechen empfindet, welches Religion, Sitt-
lichkeit und Politik der Reihe nach verurteilen. Man
würde es verfolgen müssen, wenn es auch allein die
Wirkung hätte, auf ein späteres Geschlecht die Schwäche
eines früheren zu übertragen und durch eine lasterhaft
verlebte Jugend auf ein ehrloses Greisenalter vorzuberei-
ten. Was ich über dasselbe zu sagen habe, lässt ihm
alle seine Brandmale und richtet sich allein gegen die
— 179 —
Tyrannei, welche Missbranch selbst mit dem Abscheu
treibt, den man über dasselbe empfinden muss.
^Da die Natur dieses Verbrechens es mit sich bringt
im Verborgenen ausgeübt zu werden, so ist es vorge-
kommen, dass Gesetzgeber auf die Aussage eines Kindes
hin bestraft haben: damit war also der Verleumdung
Thür und Thor geöfliiet. ,Justinian^, sagt Procop, ,erliess
ein Gesetz gegen dieses Verbrechen; er Hess diejenigen
zur Verantwortung ziehen, welche desselben beschuldigt
waren, und zwar nicht nur seit der Einführung des Ge-
setzes, sondern mit rückwirkender Kraft. Die Verleum-
dung eines Zeugen, sei es eines Kindes, sei es eines
Sklaven, genügte, besonders gegen die Reichen und die
Parteigänger einer missliebigen Richtung (der Grünen/.
^Es ist eine eigentümliche Thatsache, dass drei Ver-
brechen: die Zauberei, die Ketzerei und das Verbrechen
gegen die Natur, bei uns mit dem Feuertode bestraft
wurden; und dabei ist man im Stande zu beweisen: von
der Zauberei, dass sie nicht existiert, von der Ketzerei,
dass sie auf unendlich feinen Auslegungen, Erwägungen
und Abgrenzungen beruht, und von dem Verbrechen gegen
die Natur, dass es allermeist völlig verborgen bleibt.
„Ich stehe nicht an, zu behaupten, das Verbrechen
gegen die Natur erlange in keiner Gesellschaft eine gross-
artige Ausbildung, es müsste denn das Volk durch irgend
eine dasselbe begünstigende Gewohnheit darauf gebracht
werden, wie bei den Griechen, deren junge Männer alle
ihre athletischen Uebungen entblösst vornahmen, oder
wie bei uns, wo die häusliche Erziehung ausser Gebrauch
gekommen, oder wie bei den Asiaten, wo einzelne Männer
eine Menge Frauen haben, die ihnen verächtlich sind,
während die anderen keine haben können.
„Man möge sich hüten, dieses Verbrechen künstlich
hervorzurufen, man möge es vielmehr, wie alle anderen
Verletzungen der öffentlichen Sittlichkeit, durch eine um-
12*
— 180 —
sichtige Polizei verfolgen — und gar bald wird man
wahrnehmen, dass die Natur ihre Bechte selbst verteidigt
oder sie \vieder an sich reisst. Köstlich, liebenswert und
entzückend hat sie die Wollust mit offenen Händen aus-^
gestreut und, uns mit Wonnen überschüttend, bereitet sie
uns durch unsere Kinder, in denen wir uns selbst sozu-
sagen wiedergeboren erblicken, auf noch grössere Be-»
friedigung vor, als ihre Wonnen selbst im Stande sind
uns zu verschaffen" (Montesquieu 1. 12 c. 6, ^d. 1844,
159—160).
Wenn es nun auch vollkommen verständlich erscheint,
dass der weibliebende Mann und das mannliebende Weib
durch ihre gegebene Natur in einen feindlichen Gegen-
satz zum mannliebenden Manne und zum weibliebenden
Weibe sich gedrängt sehen, dass sie die „Umkehrung" ihrer
Natur nicht so ohne Weiteres nachzuempfinden vermögen,
und dass ein Normalsexueller, dem ein derartiger Fall noch
nie begegnete, sogar geneigt sein kann, die Möglichkeit
des Vorkommens zu bestreiten; — so ist es andererseits
verwunderlich, wenn nicht betrübend, zu beobachten, wie
selbst im eigenen Lager Einigkeit über die Beurteilung
der in die umische Sphäre fallenden Erscheinungen nicht
zu erzielen ist. Während der ehemalige hannoverische
Amtsassessor Karl Heinrich Ulrichs in seinen zwölf
geistvollen Schriften über mannmännliche Liebe, von
^Vindex" 1864 bis „Critische Pfeile'' 1879 (neue Ausgabe
1898 bei Spohr), den mannliebenden Mann (Urning oder
Uranier) und das weibliebende Weib (Umingin oder Ur-
ninde) in allen Gestaltungen als eine Spezies von
Hermaphroditen auffasst, indem er die Annahme zu
Grunde legt, im ersteren Falle wohne eine weibliche Seele
in einem männlichen Körper, im letzteren Falle eine
männliche Seele in einem weiblichen Körper (Ulrichs
— 181 —
„Critische Pfeile % Stuttgart 1879 S. 3), und während
Ulrichs, wie schon früher (Seite 80 dieser Abhandlung)
erörtert wurde, das Urningtum als aus Mannlingen und
Weiblingen mit allen möglichen Zwischenstufen bestehend
sich vorstellte, — erklärt ein neuerer Schriftsteller,
Elisarion von Kupffer, die Ulrichs'sche Theorie
vom Urninge und von der Effemination für „krankhaft"
und für „alles verwirrend und verzerrend", v. Kupffer
will Ja nicht läugnen, dass es solche extreme Erschei-
nungen giebt, denn die Natur ist unerschöpflich reich,
aber die Lieblingsminne deckt sich mit ihnen
keineswegs" (v. Kupffer, Lieblingsminne und
Freundesliebe in der Weltlitteratur. Eine Sammlung mit
einer ethisch-politischen Einleitung. Eberswalde bei Dyk,
1900, Seite 16). Um der Wirklichkeit nicht Gewalt an-
zuthun, verlangt er nichts Geringeres, als eine besondere
Theorie für den Mannling und eine besondere für den
Weibling. In Wirklichkeit ist aber die „Effemination"
genau ebenso typisch wie die ^ Lieblingsminne", wenn
auch V. Kupffer dieses weit von sich weist. Die hier
vorliegende Studie über die Naturvölker liefert dafür den
unwiderleglichen Beweis; sie dürfte auch ihm zeigen, wie
sehr er Unrecht hat, wie sehr er der Wirklichkeit Gewalt
anthut durch das Verallgemeinern, diesen Hauptfehler
aller Menschen (eigene Worte v. Kupffer's, Lieblings-
minne Seite 16). Ulrichs selbst, der erste, welcher in
Deutschland seine Stimme zur Befreiung der Urninge
vom heutigen § 175 des Strafgesetzbuches erhob, hat
überall, und noch in seiner letzten Streitschrift „Critische
Pfeile** 1879, Seite 3, die Urningsliebe nur als eine
besondere Form des allgemeinen Naturtriebes
der geschlechtlichen Liebe aufgefasst, und, unge-
achtet seiner eigenen Theorie von den Urningen als Herma-
phroditen, die Urningsliebe als ein „Naturrätsel**
hingestellt. Sie ist eben kein geringeres Naturrätsel als
— 182 —
alle geschlechtliche Liebe überhaupt; als das grössere
Bätsei erscheint sie deshalb, weil sie nicht, wie die
normale Liebe, zu den alleralltäglichsten Alltäglichkeiten
des menschlichen Lebens gehört. Und damit knüpfen
wir nun wieder an den Anfang unserer Studie an, an den
dieser Studie als Motto vorgesetzten Wahrspruch, den
der römische Dichter Publius Vergilius Maro seinem
in den schönen Alexis verliebten Helden Korydon in
den Mund legt, ein Wahrspruch, in dem die ganze
menschliche Weisheit von der Liebe überhaupt enthalten
ist — eine Philosophie in einer Nussschale — : „die Liebe,
ja, sie liegt im Blute" — oder wörtlicher:
„die eigene Lust bändigt Jeden!"
,,trahit sua quemque voluptas.'*'
Literatur.
(Erklärung: Die Werke, welche ich nicht selbst gesehen
habe, sind mit einem * bezeichnet.)
Barret, Paul, L'Afrique occidentale. La nature et l'homme
noir. Avec 2 cartes. 2 Bände. Paris, Bailliere & fils. 1888.
Barth, Heinrich, Reisen und Entdeckungen in Nord- und
Central- Afrika in den Jahren 1849 bis 1855. 2 Bände.
Mit Karten, Holzschnitten u. Bildern. Gotha, Perthes. 1857.
Bastian, Adolf, Der Mensch in der Geschichte. Zur Be-
gründung einer psychologischen Weltanschauung.
3 Bände. Leipzig, Wigand. 1860.
Baumann, Oskar, Conträre Sexual-Erscheinungen bei der
Neger-Bevölkerung Zanzibars. Zeitschrift für Ethno-
logie. Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropo-
logie, Ethnologie und Urgeschichte. 31. Jahrgang, 1899,
Heft 6, Seite 668-670, mit 2 Textfiguren Seite 669.
Berlin, Asher & Co. 1899.
— 183 —
Bauingarten^ Siegmund Jacob, Allgemeine Geschichte
der Länder und Völker von Amerika. Nebst einer
Vorrede (des Herausgebers). Mit vielen Kupfern.
2 Bände. Halle, Gebauer. 1. Theil 1752; 2. Theil 1753.
Billing^S, Joseph, Geographisch-astronomische Beise nach
den nördlichen Gegenden ßusslands und zur Unter-
suchung der Mündung des Kowima-Flusses, der ganzen
Küste der Tschutschken und der zwischen dem Fest-
lande von Asien und Amerika befindlichen Inseln. Auf
Befehl der Kaiserin von ßussland, Katharina der Zwei-
ten, in den Jahren 1785 bis 1794 unternommen vom
Kapitän Joseph Billings und nach den Original-Papieren
herausgegeben von Martin Sauer, Sekretär der Ex-
pedition. Aus dem Englischen übersetzt. Mit Kupfern
und einer Karte. Berlin bei Oehmigke dem Jünge-
ren. 1802.
Bossu, Nouveaux Voyages aux Indes Occidentales.
2 Teile. Amsterdam, Changuion. 1769.
Brasseur de Bourbourg, Histoire des nations civilis^es
du Mexique et de l'Am^rique-Centrale, durant les
si^cles ant^rieurs ä Christophore Colomb, ^crite sur des
documents originaux et enti^rement in^dits, puis^s aux
anciennes archives des indig^nes. 4 Bände. Paris,
Arthus Bertrand. 1857—1859.
Bromme, Traugott, Gemälde von Nord- Amerika in allen
Beziehungen von der Entdeckimg an bis auf die neueste
Zeit. Eine pittoreske Geographie für alle, welche unter-
haltende Belehrung suchen, und ein umfassendes Reise-
Handbuch für Jene, welche in diesem Lande wandern
wollen. 2 Bände. Stuttgart, Scheible. 1842.
de Brosse, Histoire des Navigations aux Terres Australes.
2 Bände. Paris, Durand. 1756.
*Bryant, Ed., Voyage en Californie. Traduit par Mar-
mier. Paris, Bertrand. 1849 [nach Waitz IV 243].
Cabe^a de Vaca, Aluar Nunez, La relacion y comentarios
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del gouemador Äluar Nuüez Cabe9a de Vaca, de lo
acaescfdo en las dos jornadas que hfzo a las Indias.
Con priuilegiOy ValladoUd, de Cordoua. 1555.
Cabeza de Vaca, Älvar Nuüez, Naufragios de A. N.
Cabeza de Yaca, y relacion de la jomada que hizo ä
la Florida con el Adelantado Pänfilo de Narvaez. Bib-
lioteca de autores espanoles, desde la formacion del
lenguale hasta nuestros dias. Tomo XXII. Historia-
dores primitivos de Indias. Coleccion dirigida ^ ilustrada
por Don Enrique de Vedia. Tomo I. Seite 517 — 599.
Madrid, ßivadeneyra. 1852.
de las Casas, Barth^lemi, Warhafftiger vnd gründlicher
Bericht der Hispanier grewlich vnd abschewlichen
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Welt genant, begangen. Oppenheim, de Bry. 1613.
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Catlin, Geo., Letters and notes on the manners, customs,
and condition of the North American Indians. W ritten
during eight years ^travel amongst the wildest tribes
of Indians in North America. In 1832, 33, 34, 35, 36,
o7, 38, and 39. With four hundred illustrations, care-
fuUy engraved from his original paintings. 2 Bände.
London; Tosswill and Myers. Iö41. — Eine deutsche
Uebersetzung von Heinrich Berghaus: Die Indianer
Nord- Amerikas etc. erschien in LBande, Brüssel u. Leipzig,
Carl Muquardt, 1848.
de Charlevoix, Pierre Fran9ois Xavier, Histoire de Pisle
Espagnole ou de S. Domingue. 4 Bändchen. Amster-
dam, Fran9ois L^Honord 1733.
de Charlevoix, Pierre Fran9ois Xavier, Histoire et de-
scription generale de la Nouvelle France avec le Journal
historique d^un voyage fait par ordre du Roi dans
PAmerique septentrionale. 2 Bände. Paris, Ganeau. 1744.
— 185 —
de Charlevoix, Pierre Fran9oi8 Xavier, Histoire et de-
scription generale de la Nouvelle France. 6 Bändchen
(Bändchen 5 und 6 f iihren den Sondertitel : Journal d'un
voyage fait par ordre du roi dans PAmerique septen-
trionnale, adress^ h Madame la Duchesse de Lesdiguieres).
Paris, Nyon fils. 1744.
de Charlevoix, Pierre Fran^ois Xavier, Histoire du Para-
guay. 3 Bände. Paris 1756. — Eine deutsche Ueber-
setzung, Geschichte von Paraguay und dem Missions-
werke der Jesuiten in diesem Lande, aus dem Franzö-
sischen des P. Franz Xaver de Charlevoix von der
Gesellschaft Jesu, 2 Bände, Nürnberg, Raspe, erschien 1 7(58.
de Cie^a de Leon, Pedro, La Chronica del Peru, nue-
vamente escrita. Anvers, Nucio. 1554.
de Cieza de Leon, Pedro, La Crönica del Peru, nueva-
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occidentales, conteuant ce qu'il y a vü de plus remar-
quable pendant son s^jour depuis 1666jusqu'en 1697.
Traduit de PEspagnol avec une relation de la Guiane
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Mer du Sud par le Detroit de Magellan. Traduit de
PAnglais. 3 Bändchen. Amsterdam, Bernard. 1722.
RosS Cox, Adventures on the Columbia River, including
the narrative of a residence of six years on the western
side of the Rocky Mountains, among various tribes of
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Cranz, David, Historie von Grönland, enthaltend die Be-
schreibung des Landes und der Einwohner &., insbe-
sondere die Geschichte der dortigen Mission der Evan-
gelischenBrüder zu Neu-Hermhut und Lichtenfels. Mit 8
Kupfertafeln und einem Register. Barby, Ebers. 1765.
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Dali, William H., Alaska and its resources. 2 Teile.
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*Dawydo W, Dvukratnoje putescbestwiew Ameriku morskicb
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nim (russiscb) [zweimalige Reise der Seeoffiziere Cbwostow
mid Dawydow nacb Amerika, dargestellt von Letzterem.
2 Bände] [nacb Holmberg 400 (120) Fussnote **)].
Dapperus Exoticus Curiosus, Das ist des vielbelesenen
Hn. Odoardi Dapperi Afrika — America — und Asi-
atiscbe Curiositäten, so in den drey Haupt-Tbeilen der
Welt verwundernd vorkommen; den Begierigen zur
Lust, den Armen zum Heyl, den Gelebrten zum Ge-
braucb, den Studirenden zum Nutz, Allen aber zur
Vergnügung. Auffs kürtzeste zusammengetragen von
Männling. Frankfurt und Leipzig, Robrlacb. 1717.
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Seite 1—317. Madrid, Rivadeneyra, 1853. — Eine
vollständige deutscbe Uebersetzung von Rebfuss
erscbien: Bonn, 1838, und eine für die Jugend bestimmte
von Adelina Seebeck: Hamburg und Gotba, 1848.
Dühren, Eugen, Studien zur Gescbicbte des menscblicben
Geschlechtslebens. I. Der Marquis de Sade und seine
Zeit. Ein Beitrag zur Cultur- und Sittengeschichte
des 18. Jahrhunderts. Mit besonderer Beziehung auf
die Lehre von der Psychopathia sexualis. 2. Auflage.
Berlin und Leipzig, Barsdorf, 1900. — [Seite 252—253.]
Duflot de Mofras, Exploration du territoire de POr^gon,
des Californiens et de la Mer Vermeille, ex^cut^e
— 187 -
pendant les ann^es 1840, 1841 et 1842. 2 Bände mit
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Dumont, M^moires historiques sur la Louisiana, contenant
ce qui y est arriv^ de plus m^morable depuie l'ann^e
1687, puisqu^ ä present; etc. 2 Bändchen. Paris,
Bauche. 1753.
EUiS, William, Polynesian researches, during a residence
üf nearly six years in the South Sea Islands; including
descriptions of the natural history and scenery of the
Islands — with remarks on the history, mythology,
traditions, govemment, arts, manners, and customs of
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Jackson. 1830.
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schlechtsgefühl. Deutsche Original-Ausgabe von Hans
Kurella. Bibliothek der Sozial Wissenschaft. 7. Band.
Leipzig, Wigand. 1896.
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Erman, Adolph, Heise um die Erde durch Nord-Asien
und die beiden Oceane, in den Jahren 1828, 1829 und
1830 ausgeführt. In einer historischen und einer physi-
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begleitet. 5 Bände. Berlin, Reimer. 1833 — 1848,
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de Gomara, Francisco Lopez, Cronica de la Nueva-Es-
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de Gomara, Francisco Lopez, Hispania Victrix. Primera
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HÖSSli, Heinrich, Eros — Die Männerliebe der Griechen;
ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur
— 190 —
und Gesetzgebung aller Zeiten. Mit dem Nebentitel:
Die UnZuverlässigkeit der äussern Kennzeichen im Ge-
schlechtsleben des Leibes und der Seele. Oder Forsch-
ungen über platonische Liebe, ihre Würdigung und
Entwürdigung für Sitten-, Natur- und Völkerkunde.
2 Bände. Band I (XIII und 304 Seiten) Glarus. 183G.
Band H (XXXH und 352 Seiten) St. Gallen, Scheitlin. 1838.
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■^.,^ L^
— 191 —
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dem holländischen Original übersetzt vom Verfasser.
2 Theile. Berlin, Reimer. 1847.
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souree of St. Peter's River, Lake Winnepeek, Lake of
the Woods, &c. &c. perform ed in the year 1823.
2 Bände. Philadelphia, Carey & Lea. 1824.
Klemm, Gustav, Allgemeine Culturgeschichte der Mensch-
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Band: Die Jäger- und Fischervölker der passiven
Menschheit Mit 31 Tafeln Abbildungen. 1843.
^KrascheninikoWy Etienne, Opisanie semli Kamtschatki
(russisch) [Beschreibung des Landes Kamtschatka].
4 Teile. — [Ueber eine französische Uebersetzung
von Marc. Ant. Eidous: Histoire de Kamt-
schatka etc. Lyon, Duplain. 1767, 2 Bändchen, vergl.
S. 170—171 dieser Abhandlung].
Lafltau, P., Moeurs des sauvages ameriquains compar^es
aux moeurs des premiers temps. Ouvrage enrichi de
figures en taille douce. 2 Bände. Paris, Saugrain et
Hochereau. 1724. — Eine deutsche Uebersetzung ist
die allgemeine Geschichte der Länder und Völker von
Amerika, Band 1. Siehe Baumgarten.
de LahontaD, Nouveaux voyages de Mr. Le Baron de
Lahontan dans TAmerique septentrionale, qui contien-
nent une r^lation des diflR^rens peuples qui y habitent.
Tome premier. A la Haye, frferes PHonor^. 1703,
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11 98, Fussnote *)].
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Texte et dessins in^dits. Le Tour du Monde, nouveau
— 192 —
Journal des voyages. Vol. XXXI, Seite 241—304.
Paris, Hachette et Cie. 1876.
von Langsdorffy G. H., Bemerkungen auf einer Reise um
die Welt in den Jahren 1803 bis 1807. 2 Bände.
Frankfurt a. M., Wilmans. 1812.
Lasnety Notes d'ethnologie et de m^decine sur les Saka-
laves du Nord-Ouest. Ännales d'hygi^ne et de m^de-
cine coloniales, recueil public par ordre du ministre
des colonies. Tome deuxi^me. Octobre, — Nov. — Dec,
Nr. 4, Seite 471—497, Paris, Doin. 1899.
Laudonntöre, L'histoire notable de la Floride situ^e es
Indes Occidentales. Mise en lumi^re par Basanier
Paris, Auvray. 1586. — Paris, Jannet. 1853.
Legfudvel de Lacombe, B.-F., Voyage h Madagascar et
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2 Bände. Paris, Desessart. 1811.
Lerlus, Joannes (Jean de Lery), Historia navigationis in
Brasiliam, quae et America dicitur. Vignon. 1586. —
Deutsch: Des Herrn Johann von Lery Iteise in
Brasilien. Nach der von dem Herrn Verfasser selbst
veranstalteten verbesserten und vermehrten lateinischen
Ausgabe übersetzt. Mit Anmerkungen und Erläuter-
ungen. Münster, Platvoet. 1794.
Lisiansky, Urey, A voyage round the world in the years
1803, 4, 5, & 6; performed by order of bis imperial
majesty Alexander the first, emperor of Russia, in
the Ship Neva. London. 1814.
Uorente, J.-A., Oeuvres de Don Barth^lemi de las Casas,
avec Portrait. Tome premier. Paris, Eymery. 1822.
Lutkö, Fr^d^ric, Voyage autour du monde, ex^cut^ par
ordre de sa majeste Pempereur Nicolas P^ , sur la cor-
vette S^niavine, dans les ann^es 1826, 1827, 1828 et
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du Russe sur le manuscrit original sous les yeux de
l'auteur par F. Boy^. 2 Bände. Paris, Didot fr^res. 1835.
— 193 —
Hackenzie, Alexander, Reisen von Montreal durch Nord*
Westamerika nach dem Eismeere und der Süd-See in
den Jahren 1789 und 1793. Nebst einer Geschieht^
des Pelzhandels in Canada. Aus dem Englischen, mit
einer allgemeinen Karte und dem Bildnisse des Ver-
fassers. Hamburg, Hoffmann. 1802.
Hantegfazza , Paul , Anthro])ologisch - kulturhistorische
Studien über die Geschlechtsverhältnisse des Menschen.
Aus dem Italienischen. Jena, Costenoble. 1886.
"'Manuscript: R. P. Boscana de la Mission de San
Juan Capistrano [Seite 23]; im Besitze des Herrn
Duflot de Mofras, Attaches der französischen Ge-
sandtschaft in Mexiko [nach DuflotdeMofrasII 371].
*Manuscript : Cakchiquel ou Memorial de Tecpan Atitlan
[nach Brasseur de Bourbourg II 173 nota 1].
Harquette, Jacques, ßecit des voyages et des d^couvertes
du R. P^re Jacques Marquette de la compagnie de
Jesus, en Pannee 1673 et aux suivantes; la continuation
de ses voyages par le R. P. Claude Alloüez, et le
Journal autographe du P. Marquette en 1674 & 1675.
Avec la carte de son voyage trac^e de sa main. Im-
prim^ d'apr^s le Manuscrit original restant au CoUfege
Ste Marie h Montreal. Albanie, N. Y., Weed, Parsons
& Cie. 1855.
Bruzen La Hartinlere, Le Grand Dictionnaire g^ographi-
que et critique par le M. Bruzen La Martiniere. Tome
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contenant des documents nouveaux sur la g^ographie
physique et politique, la langue, la litt^rature, la r^ligion,
les moeurs, les usages et les coutumes de leurs habi-
tans etc. 2 Bände. Paris, Bertrand. 1837.
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pollticas del Pirü. St. Thomas de Villanueva. 1642.
— Coleccion de libros espanoles raros <5 curiosos.
Tomo XVL Madrid, Ginesta. 1882. — Französische
Uebersetzung: M^moires historiques sur Fanden P^roUy
etc. Paris, Ternaux-Comp. 1840.
Montesquieu, Esprit des lois. Avec les notes de Tauteur
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taire, Mably, La Harpe, Servan, etc. Paris, Didot
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le Moyne, Jacobus, Indorum Floridam provinciam inha-
bitantium eicones, primüm ibidem ad vivum expressae^
addita ad singulas brevi earum declaratione. Nunc
verö recens a Theodoro de Bry Leodiense in aes inci-
sae & evulgatae. Mit besonderer Paginierung des 2»
— 195 —
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provincia Gallis acciderunt, secunda in illam navigatione
duce Renate de Laudonniere classis praefecto^ anno
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castellana y de los establecimientos espafioles en Indias
coordinada 6 ilustrada. Tomo III. Viages menores^
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in intellektueller^ aesthetischer, ethischer und religiöser
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aus Lissabon als Verfasser des anonymen Artikels
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Kamtschatka, dessen Einwohnern, deren Sitten, Namen,
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geben von J. B. S., mit vielen Kupfern. Frankfurt
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schlechtsliebe. Zweite Schrift. Leipzig, Matthes. 1864
(Neue Ausgabe 1898 bei Spohr).
Ulrichs, Karl Heinrich (Nnma Numantius), „Gladius
furens*. Das Naturräthsel der Urningsliebe und der
Irrtbum als Gesetzgeber. Eine Provocation an den
deutschen Juristentag. Sechste Schrift. Kassel^
Württenberger. 1868 (Neue Ausgabe 1898 bei Spohr).
Ulrichs, Karl Heinrich (Numa Numantius), ^Memnon*.
Die Geschlechtsnatur des mannliebenden Urnings. Eine
naturwissenschaftliche Darstellung. Körperlich-seelischer
Hermaphroditismus. Anima muliebris virili corpore
inclusa. Siebente Schrift. Abtheilung H. Schleiz,
Hübscher (Heyn). 1 868 (Neue Ausgabe 1 898 bei Spohr).
de Vetanevrt, Avgvstin, Teatro Mexicano. Description
breve de los svccessos exemplares, historicos, politicos,
militares y religiosos del nuevo mundo occidental de
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Veytia, Mariano, Historia antigua de M^jico. La publica
con varias notas y un apendice el C. F. Ortega. 3 Bände.
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de Viedma, Francisco, Descripcion geografica y estadi-
stica de la provincia de Santa Cruz de la Sierra.
Primera edicion. Coleccion de obras y documentos
relativos a la historia antigua y moderna de las pro-
vincias del Rio de la Plata (por de Angelis). Tomo IIX
Seite 1—106. Buenos-Aires. 183ß.
Virey, Jul. Jos., Histoire naturelle du genre humain,
ou recherches sur ses principaux fondemens physiques et
moraux;pr^c^deesd'un discours sur la nature des etres
organiques, et sur l'ensemble de leur physiologie.
On y a Joint une dissertation sur le sau vage de
l'Aveyron. Avec figures. 2 Bände. Paris. An IX.
Waitz, Theodor, Anthropologie der Naturvölker, fortgesetzt
von Georg Gerland. 6 Bände. Leipzig, Fleischer.
1859— 1872.— l.Theil: Ueber die Einheit des Menschen-
— 200 —
gescblechtes iind den Naturzustand des Menschen, 1859
(zweite Auflage von G. Gerland, 1877). — 2. Theil:
DieNegervölker und ihre Verwandten. 1860. — 3. Theil r
Die Amerikaner, 1. Hälfte, 1862. — 4. Theil: Die
Amerikaner, 2. Hälfte, 1864. — 5. Theil: Die Völker
der Stidsee, I.Heft, 1865; 2. Abtheilung v. G. Gerland,
1870. — 6. Theil: Die Völker der Südsee, 3. Ab-
theilung von G. Gerland, 1872.
Weniaminow, Joan, Charakter-Züge der Aleuten von den
Fuchs-Inseln. Mit Zusätzen von Karl Ernst von
B ae r in : Beiträge zur Xenntniss des russischen Reiches
und der angränzenden Länder Asiens. Erstes Bänd-
ohen: WrangelPs Nachrichten über die russischen
Besitzungen an der Nordküste von Amerika, Seite
177—225. St. Petersburg. 1839.
♦Wenjaminow, J., Sapiski ob ostrowach Unalaschkins-
kago otdjela (russisch) [Notizen über die Inseln des
Unalaschkaischen Bezirks
3 Bände (364,409 und 15^
, Seiten). St. Petersburg. 1840 [nach Er man 1871, 163].
Werne, Ferdinand, Expedition zur Entdeckung der Quellen
des Weissen Nil (1840 — 1841). Mit einer Karte und
einer Tafel Abbildungen. Berlin, Reimer. 1848.
Prinz zu Wied, Maximilian, Reise in das innere Nord-
Amerika in den Jahren 1832 bis 1834. Mit 33 Vig-
netten, vielen Holzschnitten und einer Charte. 2 Bände
und 1 Atlas mit 48 Kupfertafeln. Coblenz, Hoelscher.
1839 u. 1841.
Wilson, James, Voyage to the Southern Pacific Ocean
performed in the years 1796, 97, 98 in the ship Duff
etc. London, Chapmann. 1799. — Deutsch: Missions-
Reise in das südliche stille Meer, unternommen in den
Jahren 1796, 1797, 1798 mit dem Schiffe Duff. Über-
setzt von Canzler. Berlin, Voss. Magazin von
merkwürdigen neuen Reisebeschreibungen. 21. Band. 1800.
von Wrangel, Ferdinand, Reise längs der Nordküste von
— 201 —
Sibirien und auf dem Eismeere, in den Jahren 1820
bis 1824. Nach den handschriftlichen Journalen und
Notizen bearbeitet von G. Engelhard t. Herausge-
geben nebst einem Vorwort von C.Ritter. 2 Theile
Berlin, Voss. 1839 [der Autor muss nach K. E. von
Baer bei Weniaminow 1839, 328 im Deutschen
Wrangeil geschrieben werden].
Wuttke, Adolf, Geschichte des Heidenthums in Beziehung
auf Religion, Wissen, Kunst, Sittlichkeit und Staats-
leben. 2 Bände. Breslau, Max & Co. 1. Theil 1852
2. Theil 1853.
von Zimmermann, E. A. W\, Taschenbuch der Reisen
oder unterhaltende Darstellung der Entdeckungen des
18ten Jahrhunderts, in Rücksicht auf Länder- Menschen-
und Productenkunde. Für jede Klasse von Lesern.
Leipzig, Fleischer. 18 Jahrgänge oder Bändchen —
5. Bändchen, mit 12 Kupfern, 1806. — 6. Bändchen, mit
11 Kupfern, 1807.
Bild und Handschrift U. C- Atidersea's.
H. C Andersen.
Beweis seiner Homosexualität
von
Albert Hansen, Kopenhagren.
Literatur :
H. C. Andersen: Das Märchen meines Lebens.
Leipz. 1847.
H. C. Andersen: Mit Livs Eventyr. Kopen-
hagen 1855. Supplement. Koph. 1877.
E. C o 1 1 i n : H. C. A. og det CoUinske Hus. Koph. 1882.
C. Bille und Nie. Bögh: Breve fra H. C. A.
Koph. 1877. Breve til H. C. A. Koph. 1878.
Georg Brandes: Kritiker og Portraiter. Koph. 1870.
C. F. Holten: Ernidringer. Koph. 1899.
Nie. Bögh: Elisabeth Gerichau Baumann. En
Karakteristik. Koph. J886.
PeterHansen: Dansk Literatur-hist. Koph. 1898.
Zeitschriften und Tageblätter.
Die kleine dänische Literatur hat nur wenige be-
rühmte Grössen aufzuweisen. Das Ausland kennt ausser
dem Altvater Holberg und dem Märchendichter H. C.
Andersen etwa nur noch Sören Kierkegaard und J. P.
Jacobsen. Wie merkwürdig, dass gerade diese vier
oft als Homosexuelle bezeichnet werden! Freilich
bedarf dies, was Jacobsen betrifft, immer noch des
authentischen Beweises, und von dem uns so ferne liegenden
Ludwig Holberg weiss man ja fast nur, dass er ein un-
— 204 —
verbesserlicher Hagestolz und „Weiberfeind'* gewesen ist
und mehrere uranistische Charakterzüge aufweist.
Rücksichtlich Sören Kierkegaards und H. C. Andersens
sind wir dagegen völlig im Klaren. Dieselben bieten
eine solche Fülle von ßeurteilungsmaterial dar, dass ihre
wahre Naturanlage auch den Nichteingeweihten in die
Augen fallen muss. Vielleicht wird es mir vergönnt sein,
in einer späteren Ausgabe dieses Jahrbuches das so über-
aus interessante und packende Lebensbild des genialen
und edlen Schriftstellers Sören Kierkegaard zu entrollen.
Wenn ich zunächst H. C. Andersen behandeln will, ist
die Ursache davon nicht blos, dass er der weitaus be-
rühmteste Vertreter unserer Literatur ist, sondern auch,
weil er stets als ein Beispiel seelischer Reinheit und kind-
licher Unschuld aufgestellt wird. Und dies mit vollem
Rechte Dass er aber zugleich ein Homosexueller war,
werden die folgenden Blätter beweisen.
Allerdings hat H. C. Andersen so wenig wie Sören
Kierkegaard unmittelbare Bekenntnisse gemacht.
Aufgabe des Forschers wird es sein, aus der Fülle
unfreiwilliger und unbewusster, aber unverkennbarer
Aeusserungen den Beweis der Homosexualität zu erbringen.
H. C. Andersen wurde zu Odense auf Fünen als
einziges Kind eines blutarmen Schuhmachers geboren.
Obgleich nur wenig von der Ascendenz des Dichters be-
kannt ist, lassen sich hier mehrere schwere erblich be-
lastende Momente nachweisen. Sein Vater und sein
Vatersvater waren beide irrsinnig, die Mutter, ein riesen-
grosses, mannhaftes Frauenzimmer, war dem Trünke
sehr ergeben und starb im Armenhause an Delirium
tremens.
Hans Christian selbst war als Knabe eine höchst
absonderliche Erscheinung, überspannt und menschenscheu,
ein Gegenstand fortgesetzter Verfolgungen seitens der
— 205 —
anderen Jungen, welche frischweg behaupteten : „Der Kerl
ist ebenso verrückt wie sein Grossvater!* Die Gesell-
schaft dieser suchte Hans Christian jedoch nie, als er
aber schliesslich in die Armenschule geschickt wurde,
schloss er sich sogleich freundschaftlich an ein gleich-
altriges Mädchen, das einzige weibliche Wesen in der
ganzen Schule, an.
Uebrigena hockte der Knabe stets einsam in der
elterlichen Hütte, wo er mit Puppen spielte und sich mit
Näharbeiten die Zeit vertrieb. ,Es war meine grösste
Freude, Puppenkleider zu nähen und mit Puppen zu
spielen* sagt er in seiner berühmten Autobiographie
„Das Märchen meines Lebens*. Einer Nachbarin, die
ihn in weiblichen Handarbeiten notdürftig unterrichtet
hatte, nähte er nachher als Anerkennung ein weissseidenes
Nadelkissen, welches, da Andersen später ein namhafter
Dichter wurde, bei Fremdenbesuchen in Odense als eine
Art Sehenswürdigkeit vorgewiesen wurde.
Sechzehn Jahre alt, siedelte H. C. Andersen, „um
weltberühmt zu werden*, nach Kopenhagen über, wo er
Manches durchmachen musste, seine alte Vorliebe für
Puppen und weibliche Handarbeiten erlosch jedoch nicht.
Hierüber sagt die erwähnte Autobiographie: „Tagtäglich
sass ich daheim, Puppenkleider zu nähen, und um, mir
die dazu erforderlichen bunten Lappen zu verschaffen,
bat ich mir in Putzläden Muster von Stoffen und seidenen
Bändern aus. Meine Phantasie beschäftigte sich so ganz
mit diesem Puppenkram, dass ich oft auf der Strasse
stehen blieb, die eleganten Damen in Seide und Sammet
zu betrachten. In der Phantasie sah ich dann diesen
Putz unter meiner Scheere; es waren dies Gedanken-
übungen ganzer Stunden.* Noch als weitberühmter
Dichter und vielfach ausgezeichnete Persönlichkeit näht
H. C. Andersen selbst seine Hosenknöpfe an und stopft
— 206 —
eigeDhändig die Strümpfe, auf seinen zahlreichen Reisen
war er daher stets mit Nadeln und Zwirn versehen.
H. C. Andersen war bis zur Pubertät mit einer merk-
würdig klaren Sopranstimme begabt, er sang wie ein
Mädchen, sagten die Leute.
Eines Tages trug er in der Fabrik, wo ihn die
Mutter versuchsweise angebracht hatte, ein Lied vor,
und da die Arbeiter erstaunt ausriefen, er wäre ganz be-
stimmt kein Junge, sondern eine verkleidete Jungfrau,
fasste einer derselben H. C. Andersen an, um sich über
diesen Funkt etwas genauer aufzuklären. «Die anderen
Gesellen fanden diesen rohen Scherz amüsant und hielten
mich an Armen und Beinen fest, ich heulte aus vollem
Halse und, schamhaft wie ein Mädchen, stürzte ich aus
dem Hause zu meiner Mutter, die mir versprechen musste,
mich nimmer dahinsenden zu wollen." Um nichts besser
ging es, als er einige Jahre später versuchen wollte, als
Tischlerlehrling sein Brot zu erwerben. Nur zwei Stunden
blieb er bei der Hantierung, die Arbeiter waren ihm
wieder gar zu unanständig, „ihr Gerede schien mir sehr
leichtfertig, denn ich war jungfräulich schamhaft." Schliess-
lich trieben auch diese den Spass so weit, dass H. C.
Andersen in Weinen ausbrach und entsetzt von dannen floh.
Man wird schon bemerkt haben, wie sich H. C.
Andersen, um die Eigenart seines Charakters zu kenn-
zeichnen, immer wieder dem Weibe vergleicht. Auch in
seinen späteren Jahren spricht er öfters von seiner „mäd-
chenhaften'' oder „halb weiblichen* Natur, und die Zeit-
genossen hatten häufig diesen „Mangel an Mannhaftig-
keit" hervorgehoben.
Bekannt ist die sprichwörtliche Eitelkeit Andersens,
welche ja nicht blos seinen geistigen Fähigkeiten galt.
Obgleich der Dichter „von bizarrer Hässlichkeit" war,
konnte er nie an einem Spiegel vorbeigehen, ohne sich
selbstgerällig darin zu betrachten. Auf seinen schönen
— 207 —
Haarwuchs war er nicht wenig stolz, die Locken ent-
standen aber beim Haarkünstler, wo er sich alle Tage
sorgfältig kräuseln liess. ,» Jammerschade, dass ich heute
nicht gekräuselt werden kann" — ruft er einmal gelegent-
lich eines Festes zu seinen Ehren aus — „es steht mir
doch zu gut!* — Mit dem Barte wollte es dagegen nichts
werden, und da Andersen ausserdem einen ausgesprochenen
Widerwillen gegen diesen männlichen Schmuck hegte,
liess er sich alltäglich sorgfältig rasieren.
Grossen Wert legte Andersen darauf, elegant und
sorgsam gekleidet zu sein. Selbst da er als unbekannter
Legatpoet mit der Armut zu kämpfen hatte, wusste er
die Mittel zu finden, um im feinsten Putz zu erscheinen.
Li zahlreichen Briefen, insbesondere an seine vertraute
Freundin Henriette Wulff, beschreibt er mit kindlicher
Freude seine neu angeschafften, meistens ziemlich auf-
fallenden Kleidungsstücke und vergisst selten hinzu-
zufügen : „Ich sehe jetzt sehr niedlich aus* oder ,Ich
werde mit jedem Tag hübscher* etc. Ja, als er, 35 Jahre
alt, einmal auf einem Hof ball gewesen, schreibt er ganz
wie ein Backfisch: „Ich war reizend, sagte man.* —
Ein Stehkragen von auffallender Grösse verbarg
seinen langen Hals, weite Hosen seine dünnen Beine.
Die Freunde machten sich über seine Putzsucht lustig
und schalten ihn den grössten Modegecken der Stadt, und
man stimmt diesen unwillkürlich bei, wenn man aus dem
eigenen Munde des Dichters erfährt, dass er gelegentlich
eines Festes mehrere Tage vorher „Generalprobe auf
sämtliche Mysterien seiner Toilette* gemacht habe und
dass er „ausgestopft und ausstaffiert wie ein Dandy^^
stundenweise umherflanierte. Wie ein solches Flanieren'
vor sich ging, geht aus einem Pariser Brief hervor, worin
Andersen scherzend berichet, er -habe auf der Promenade
mit der Hand die Beinkleider etwas hoch gehoben, um>
— 208 —
seine «schönen seidenen Strümpfe doch ein bischen sehen
zu lassen.* —
Sogar die so überaus charakteristischen weiblichen
Verkleidungen können bei Andersen beobachtet werden,
wiederholt tritt er in Frauenrollen auf, doch erlaubt
ihm sein Aeusseres nur komische Typen darzustellen.
Bald spielt er als Student eine groteske Columbine ,,mit
nackten Armen und wallenden Flachslocken ", bald paro-
diert er die olympische Iris „in Reifrock undPfaufedem*.
— „Glauben Sie mir, ich werde entzückend/* schreibt er
an die besagte Freundin, «Gott weiss, welchen Eindruck
ich auf die jungen Studentenherzen machen werde!** —
Von sonstigen weiblichen Charakterzügen soll hier
das Verständnis Andersens für geschmackvolle Blumen-
arrangements angeführt werden, seine übertriebene Scham-
haftigkeit, seine geradezu komische Weinerlichkeit, die
ihm erlaubte, bei jeder geringfügigen Gelegenlieit Thränen
zu vergiessen, und seine grenzenlose Furchtsamkeit.
Sehr abergläubisch war er ebenfalls ; schon 50 Jahre
vor seinem Ableben beginnen grauenhafte Todesahnungen
ihn zu beunruhigen, und fortgesetzte Grübeleien über die
Vorbedeutung seiner bösen Träume machen ihm viel zu
schaffen. Für die Häuslichkeit besass er ausgesprochenen
Sinn, seine Wohnung war zwar klein, aber sauber und
niedlich, geschmückt mit Blumen und gestickten Decken
wie die eines Fräuleins. Hier machte er nicht selten
Kaffeekränzchen für Freunde imd Freundinnen. Tabak
war ihm ein Greuel, alkoholhaltige Getränke konnte er
nur schlecht vertragen, dagegen war er ein Freund von
allerhand Süssigkeiten und häufiger Gast in Konditoreien,
wo er im Kreise seiner Jungen Freunde" Schokolade und
Gebäck einnahm.
Ein unverbesserlicher Schwätzer war und blieb
Andersen sein Leben lang. Fortwährend verrät er Sachen,
die ihm unter Voraussetzung von Diskretion anvertraut
— 209 —
wurden^ und kolportiert die chronique scandaleuse. Seine
Briefe erinnern, in Form wie Inhalt, an die vertraute
Korrespondenz einer gebildeten Dame.
Als spezifisch Uranistisches Zeichen mag auch Andersens
krankhaft ent,wickelte Reizbarkeit hingestellt werden. «Seine
Sensitivität war wie eine blutige Wunde*,hat ein Historiker
treffend bemerkt.
Andersen wurde 70 Jahre alt und war bis an den
Tod ein unverbesserlicher Hagestolz. Er selbst und nach,
ihm seine Biographen haben sich den Anschein gegeben,
dass er wegen seines nichts weniger als einnehmenden
Aeusseren beim schönen Geschlechte keinen Erfolg hatte
und wiederholt von einer tiefen, aber unerwiderten Leiden-
schaft beseelt war. Gerade das Gegenteil ist indess zu-
treffend; die erotische Neigung Andersens zum andern
Geschlechte war gleich Null, während er andererseits selbst
häufig der — leider unentzündbare. — Gegenstand
einer weiblichen Liebesflamme gewesen. Wenigstens em-
pfing er nicht selten billet« doux, worin temperament-
volle Damen die zärtlichsten Gefühle an den Tag legten
und Andersen im Namen ihrer Liebe vergebens zu viel-
verheissenden Stelldicheins einluden.
Auch ganz direkte Attentate seitens der Frauenwelt
blieben bei Andersen ohne jeden Erfolg. Als sechzehn-
jähriger Bursche wurde er, als er bei seiner Ankunft in
Kopenhagen obdachlos in der Stadt imiherwandelte, zu-
nächst von einer umherstreichenden Puella aufgenommen,
die an seiner grossen Gestalt Gefallen fand. Nach Ver-
lauf von drei Tagen liess sie ihn jedoch enttäuscht laufen,
und aus einer Episode im autobiographischen Roman
^Der Improvisator* errät man, dass Andersen, aller Ver-
führungskünste ungeachtet, keusch wie ein Joseph davon
gekommen ist.
In diesem Falle könnte Andersens Abneigung zwar
Jahrbuch III. 14
— 210 —
durch seine grosse Jugend erklärt werden oder für den
erhabenen Abscheu einer unberührten Seele gegen die
sinplichen Annäherungen eines unreinen Weibes gelten.
Allein dieselbe Abneigung lässt sich bei Andersen im
reifen Mannesalter beobachten und unter Umständen, wo
die moralische Beschaffenheit der weiblichen Hälfte keines-
wegs zu Widerwillen Anlass geben konnte. So. war zum
Beispiel der von der viel umworbenen Primadonna einer
Provinzbühne gemachte Versuch, den Dichter erotisch
anzufeuern, von ebenso geringem Erfolg gekrönt. Beide
bewohnten im gleichen Hotel zwei nebeneinander liegende
Zimmer. Eines Abends trug die Schöne im anstossenden
Zimmer eine vielsagende Liebesarie vor, um den Dichter
die Gelüste ihres liebesbedürftigen Herzens erraten zu
lassen. Andersen wurde aber, wie er selbst in einem
Briefe naiv gesteht, »vor Schrecken dumm" und ver-
riegelte, eventuelle weitergehende Anschläge zu vereiteln,
schnell die Thüre.
Von einem anderen fruchtlosen Annäherungsversuch
berichtet William Bloch in seinem nach Andersens Tod
erschienenen Essay. Andersen erhielt eines Tages den
Besuch einer jungen, bildschönen Dame, welche ihm in
offenherzigster Weise ihre Liebe gestand und dabei allerlei
sehr gewagte Anerbietungen machte. Man sollte nun
denken, Andersen, der sich fortwährend über Kälte und
Nichtbeachtung seitens der Damenwelt so bitter beklagte,
würde eine derartige schöne Gelegenheit freudig begrüssen.
Aber Andersen ruft, weit davon entfernt, sich beglückt zu
fühlen, schnell seine Wirtsfrau herbei, um die Dame zum
Fortgehen zu bewegen, und es wird ihm sehr übel zu
Mute, da dies erst mittelst eines sehr energischen Ein-
schreitens seinerseits gelingen will. „Solche exaltierte,
alberne Geschöpfe waren ihm ein Greuel," fügt Bloch
als eine Art Erklärung hinzu.
Es ist begreiflich und verzeihlich, dass Andersen
— 211 —
dennoch für einen erfahrenen Kenner und Bewunderer
der weiblichen Schönheit gelten wollte, und wie zahl-
reiche andere Homosexuelle seine wahre Naturanlage
durch Simulation zu vertuschen suchte. Dem klar-
blickenden Beobachter wird indes die Eigenart des An-
dersenschen Frauenkultes nicht entgehen. In herkömmlicher
Kunstsprache voll wohlfeiler Superlative werden die un-
vermeidlichen Artigkeiten pflichtschuldigst abgeliefert.
Von Inspiration keine Spur. Mitunter kommen auch gar
wunderliche Betrachtungen zum Vorschein. So, wenn der
Dichter in einer Reisebeschreibung folgende tiefsinnige
Bemerkung macht: „Die Frauen in Arles sollen schön
sein. Man hat recht. Zu meiner Ueberraschung waren
selbst die armen Mädchen hübsch." Noch deutlicher
geht aus folgendem Zwischenfall hervor, dass Andersen's
Interesse an der weiblichen Schönheit gar sehr ober-
flächlich war. Andersen hatte oft einer älteren Freundin
von den „himmlisch schönen braunen Augen" Fräulein
N. N.'s mit anscheinender Begeisterung erzählt. Gross
war daher die Ueberraschung der besagten Freundin, als
sie beim ersten Zusammentreffen mit der Besitzerin dieser
vielgepriesenen braunen Augen sofort bemerkte, dass die-
selben blau waren. Da Andersen nicht farbenblind war,
kann die in Rede stehende ostentative Schönheitsbegeister-
ung also unmöglich die Frucht persönlicher Anschauung
gewesen sein.
Trotz aller derartigen Kniffe war die nächste Um-
gebung Andersens über seine Frigidität dem S(*hönen
Geschlecht gegenüber bald im Klaren und erlaubte sich
bisweilen einen unschuldigen Spass, um ihn in gewisse
heikle Situationen zu versetzen. «Was meinen Sie von
der Poesieeines solchen Gesichtes?", rief einmal ein junger
Mann lachend, indem er auf der Pariser Bai Mabille
dem Dichter eine sehr gefeierte Mabilleschönheit in die
Arme warf. Aber Andersen zeigte feierlich auf den VoU-
14*
— 212 —
mond und erwiderte: «Dies alte, ewigjunge Antlitz ist mir
lieber!*
Auch darf man es den verschmähten Schönen nicht
übel nehmen, dass sie, diese Kälte zu rächen, bei Ge-
legenheit mit der erhabenen Person des grossen Dicliters
ihren Scherz hatten. Andersen war, wie erwähnt, nicht
wenig abergläubisch, und die besagten Damen amüsierten
sich daher während seiner häufigen Besuche auf den
Landgütern Seelands zuweilen damit, grauenerregende
Gespenstererscheinungen zu arrangieren, so dass die sorg-
fältig frisierten Haare dem nicht gerade heldenhaften
Poeten zu Berge standen.
Die Art und Weise, auf welche Andersen in solchen
Fällen seinerseits Genugthuung suchte, ist für seinen völligen
Mangel an männlich galanten Gefühlen der Damenwelt
gegenüber sehr bezeichnend. Er ging beispielsweise mit
dem Gedanken um, sich als Gespenst vermummt in das
Bett einer der beteiligten Damen zu verbergen, um diese
in Schrecken zu setzen, wenn sie sich schlafen legen
wollte, und erst da eine ältere Freundin ihn errötend auf
Verschiedenes aufmerksam machte, besann er sich eines
Besseren.
Das weitaus berühmteste Gedicht Andersens an die
Frauen ist ein Pasquill, worin diese als ewig redende
Klatschbasen dargestellt sind. Und doch war Andersen
kein Weiberfeind. Nur Damen, welche auf sein Herz
Anschlag machten, waren ihm zuwider. Dagegen schloss
er sich im Laufe der Zeit freundschaftlich an eine Keihe
intelligenter, gereifter Frauen an, welche ihrerseits eine ge-
radezu mütterliche Zärtlichkeit für Andersen an den Tag
legten. Mit diesen stand Andersen fortwährend in brief-
lichem Verkehr, die intimsten Gedanken wurden aus-
getauscht, die Frauen betrachteten ihn offenbar als eine
Freundin, welcher man Alles anvertrauen und die man auch
gelegentlich mit kleinen Aufträgen belästigen darf. Bald
— 213 —
wird er von der einen gebeten, bei der Modehändlerin
einige Ellen Nesseltuch zu besorgen, bald verlangt er in
einem Brief an eine andere für die liebe Frau N. N. das
Rezept einer delikaten Selleriesuppe. Daher konnte der
Dichter J. L. Heiberg zum grössten Yerdrusse Andersens
behaupten, Andersens Publikum bestehe lediglich aus
Frauenzimmern.
Aber — wird der skeptische Leser einwenden —
Andersen hat ja, Biographien, Briefen und Ueberliefer-
ungen zufolge, drei oder vier Mal leidenschaftliche Liebe
für ein weibliches Wesen gehegt. Freilich scheint dies
beim ersten Blick der Fall zu sein. Es steht nicht zu
bezweifeln, dass des Dichters Herz wiederholt von einer
tiefen Liebesleiden schaft entflammt war, dass aber die
geliebte Person weiblichen Geschlechtes war, kann da-
gegen nicht behauptet werden, denn niemand kennt den
wahren Gegenstand der Liebesglut. Dieser Punkt be-
reitet sonst den Forschern keine Schwierigkeiten; wenn
auch der Dichter die Heldin seines Liedes in poetische
Pseudonyme hüllte, erschien er in Briefen und unter
Freunden so oflenherzig, dass die Nachwelt selten exakte
Aufschlüsse vermisste. Selbst rücksichtlich so fern
liegender Berühmtheiten wie Dante und Petrarca hat
man ja die Identität der besungenen Schönen leicht fest-
stellen können.
Anders mit den Geliebten Andersens. Er, der sonst
ewig von sich selbst redete und über sich selbst schrieb,
behauptete in diesem Kapitel eine imdurchdringliche
Diskretion. Zwar wurde alle Welt durch Verse und
Prosa von der Existenz seiner Liebe hinlänglich in Kennt-
nis gesetzt. Aber selbst die leisesten Andeutungen der
äusseren Umstände fehlen gänzlich. Ja, die angebetete
— 214 —
Person wird überhaupt nur ausnahmsweise als ein weib-
liches Wesen bezeichnet. Gewöhnlich liebt der Dichter
, einen Menschen* — „ein Wesen" — „einen Betreffenden*
— „zwei braune Augen* und dergleichen. Durch unbe-
stimmte Anspielungen und unpersönliche Aeusserungen
lässt er den Leser erraten, wie er eine kurze Weile ge-
liebt und vielleicht Gegenliebe gefunden. Und wie sonder-
bar, die Beziehungen entstehen stets, wenn der Dichter
auf Reisen ausserhalb des Gesichtskreises der besorgten
Freunde weilt. In der That ahnten selbst die intimsten
Freunde gar nichts, bevor dieselben durch die Veröffent-
lichung seiner letzten Gedichte plötzlich erfuhren, wie er
wieder einmal Jemand" gewaltig, aber unglücklich liebe.
Vergebens zerbrachen sie sich den Kopf, um zu erraten,
wer das Mädchen denn eigentlich sei. In einem Brief
schildert Andersen scherzend ein solches Stadtgespräch
und spottet über die vergeblichen Bemühungen gewisser
Leute, das Geheimnis seiner Liebe zu enthüllen. Nur
verdriesst es ihn, dass sein Name dabei mit „einer der
sogenannten Schönheiten Kopenhagens* in Verbindung
gesetzt wird.
Schliesslich machte man sich über die geheimnisvollen
Liebschaften Andersens lustig, nannte dieselben „Einbil-
dungen* und wandte auf sie das Dichterwort an: „Weil
er kein Elend hat, muss er sich elend machen.*
Auch in den erotischen Gedichten Andersens be-
gegnet uns diese schwebende, zweideutige Ausdrucksweise.
Georg Brandes macht in einem geistvollen Essay die
treffende Bemerkung, er kenne keinen andern Schrift-
steller, dessen Talent die Merkmale eines bestimmten Ge-
schlechtes so wenig aufweise, wie dasjenige Andersens.
Wie merkwürdig, dass dies gerade bei Andersens erotischer
Lyrik am meisten zutreffend sein soll! Während man
z. B. bei Heinrich Heine, dem von Andersen so sehr be-
wunderten und so wenig geschickt nachgeahmten Dichter,
— 215 —
keinen Augenblick rücksichtlich des Geschlechtes der be-
sungenen Person im Zweifel ist, können Andersens Liebes-
gedichte ebensowohl an einen Mann wie an ein Weib
gerichtet erscheinen. Häufig personifiziert er die Liebe^
gleich jenen antiken Poeten, hinter deren begeisterten
Schilderungen von der Schönheit des Gottes Amor man
unschwer die Liebe zu einem schönen Jünglinge errät.
Bei Andersen erscheint die Liebe ebenfalls als Jüngling,
und zwar als modemer Bauernjunge in Hose und Hemd
und ohne alle mythologischen Attribute, und wenn „der
alte Dichter* im gleichnamigen Märchen den als Bettler-
jungen vermummten Eros in seine Stube hereinlässt und
ihn am Ofen erwärmt, um nachher vom Pfeile des Un-
dankbaren ins Herz getroffen zu werden, so ist dies,
glaube ich, eine poetisch umgestaltete Erinnerung aus des
Verfassers vie priv^e.
Doch — mundus vult decipi, ergo decipiatur. An-
dersen hat wie so viele andere Homosexuelle, um dem
gehässigen Gerede der Welt vorzubeugen, einige kleine
Liebesangelegenheiten erfinden müssen. Niemand wird
ihm dies übel nehmen. Als Paradigma mag die bekann-
teste derselben, die angebliche „grande passion* Andersens
gelten. Der Dichter giebt vor, er habe irgendwo auf dem
Lande — wo, hat er nie gesagt — ein Mädchen, dessen
Namen er nie verraten wollte, getroffen. Gleich schlug
die Flamme einer tiefen Leidenschaft mächtig in seinem
Herzen auf. „Es war eine Selbsttäuschung* — klagt
er später in der Autobiographie — „sie liebte einen an-
deren und heiratete diesen." In einem gleichzeitigen
Briefe giebt er aber eine andere Version. Hiernach liebte
das besagte Mädchen zwar ihn, war aber mit einem An-
deren verlobt und durch Verhältnisse gezwungen, den-
selben zu heiraten. Noch eine dritte Fassung erfährt
dieselbe Liebesgeschichte einem vertrauten Freunde gegen-
über. Er habe allerdings Gegenliebe gefunden, das ano-
— 216 —
nyme Mädchen sei auch keineswegs durch Verhältnisse
gezwungen, jemand anderen zu heiraten, die wahre Ur^
Sache sei aber, dass seine Armut ihm nicht erlaubte,
eine Familie zu gründen. «Zwar hatte sie für uns beide
Keichtum genug, dann würde aber die Welt gesagt
haben, es sei eine Vernunftheirat, und das würde mich
sehr gekränkt haben.* —
Demnach soll Ajidersen also, um den lügenhaften
Verleumdungen gleichgiltiger Leute zu entgehen, auf das
grösste Liebesglück seines Lebens verzichtet haben!
Armut ist überhaupt die beliebteste Ausrede Andersens,
wenn er gelegentlich der wiederholten Liebesaffairen be-
fragt wird, weshalb er das Mädchen nicht heiratete.
Diese Armut dürfte indes etwas problematisch gewesen
sein, wenigstens hinterliess Andersen, der sein Leben lang
eine ziemlich grosse Jahresunterstützung beim Könige er-
hob, 60000 Thaler.
Von Andersens viel besprochenen Beziehungen zu
Jenny Lind, der berühmten «schwedischen Nachtigall",
muss auch ein Wort gesagt werden. Andersen hätte sich
gern den Anschein geben wollen, dass er Jenny Lind un-
glücklich liebte. Durch seinen Roman „Der Lnprovisator"
erhält man den Eindruck, dass ein geheimes Verhältnis
zwischen den beiden gewaltet habe. Aus der einschlägigen
Korrespondenz und aus vielen unfreiwilligen Beweisen
geht aber unverkennbar hervor, dass dies Verhältnis
lediglich ein Freundschaftsbündnis zwischen zwei ver-
wandten Künstlernaturen gewesen, das gar nichts mit der
Liebe gemein hatte.
Betrachten wir nunmehr den Freundschaftskultus
Andersens, so finden wir diesen ebenso unverhüllt, wie
«eine angeblichen erotischen Beziehungen zur Frauenwelt
— 217 —
zugeknöpft waren. Vor allem fällt es auf, dass Andersen
— von rein litterarischen Verbindungen abgesehen —
sich stets freundschaftlich an Jünglinge anschliesst.
Doch die Freundschaftsgefühle Andersens haben
einen ganz eigentümlichen Charakter. ^Ich habe* —
sagt er irgendwo — ^meinen Freunden gegenüber eine
Art Empfindsamkeit, welche mir oft viele Schmerzen ver-
ursacht.* — Er ist überschwäu glich, grenzenlos sensitiv
und ^im Ganzen genommen von weiblich zartem Gefühl.*
Er karessiert die Freunde, küsst sie und streicht ihnen
die Wangen, er eifert und ist voll Verzweiflung, weil
die Freunde seine Gefühle nicht in gleichem Masse er-
widern. In einem schwungvollen Gedichte besingt er als
junger Poet ein solches Verhältnis. In der mondhellen
Nacht wandelt er mit „seinem lieben, lieben Ludwig" im
stillen Haine. Den Arm hält er „um den Freund ge-
schlungen, Herz schmiegt sich an Herz*, und der Dichter
dankt Gott, dass er einen Freund gefunden, dessen Name
„in seiner Brust lebt und atmet* etc. etc.
Der besungene Ludwig erklärt aber später, A. habe
ihn „zum Freund eruiert*, obgleich er durch sein „ge-
radezu unnatürlich gefühlvolles Wesen" von ihm sehr
verschieden war. „Möchte doch diese allzu überschwäng-
liche Freundschaft etwas erkalten und derjenigen Neigung
gleich werden, welche Jünglinge, die Freunde sind, ge-
wöhnlich für einander hegen. Damit würde ich zufrieden
sein!*
Von einem anderen Freunde schreibt Andersen:
„Alltäglich bin ich mit meinem lieben Chr. V. zusammen.
An ihn fühle ich mich vor Allem gefesselt. In seiner
Gesellschaft weiss ich gar nicht, wo die Stunden bleiben,
obgleich ich stets sehr schwermütig und tief gestimmt
bin. Es ist, als ob er mich behext hätte. Weiss ich
doch gar nicht, warum ich ihn so lieb haben kann!* —
Aus einem späteren Brief geht aber hervor, dass der
— 218 —
Freund von schönem Aeussern war, ein Umstand, den
Andersen sehr zu schätzen wusste. Wenigstens scheint
die äussere Erscheinung der Freunde von Wichtigkeit
gewesen zu sein, denn sämtliche jungen Freunde Andersens
waren männliche Schönheiten.
Die schöne Männlichkeit wird überhaupt vom Dichter
im Gegensatze zu seiner obengeschilderten konventionellen
Beurteilung der femininen Schönheit mit gar tiefem Ver-
ständnis gefeiert. Das Ursprüngliche und Unmittelbare
der diesbezüglichen Auslassungen deuten auf tiefere
Motive. Sogar die Schönheit ganz gleichgiltiger junger
Mannspersonen, von Droschkenkutschern, Fährleuten,
Dienstmännem u. a., mit denen das Reiseleben ihn zu-
fällig in Berührung bringt, bespricht er mit Wohlgefallen.
Die Autobiographie hat zahlreiche derartige Aufzeich-
nungen. Ja, an einer Stelle gesteht er, zwar halb scher-
zend, aber mit sichtlicher Aufrichtigkeit, dass die Schön-
heit eines Jünglings bei ihm Liebe hervorgerufen habe:
„Ich habe das Unglück gehabt, von einem grausamen
Pfeile mitten ins Herz getroffen zu werden, und der
jüngste der Portugiesen ist schuld daran. Ich bin sterb-
lich verliebt in seine Augen und seine ganze Person!**
Viele Jahre später trifft er den „Portugiesen" als
Familienvater und Konsul in L. wieder. Aber während
er jetzt nur beiläufig des Konsuls Namen erwähnt, ist er
vou der Schönheit seines siebzehnjährigen Sohnes ganz
erfüllt. Nur dieser darf des Dichters Begleiter sein auf
allen Ausflügen in die Berge. „Der junge Karlos war
ein bildschöner Jüngling mit meerblauen Augen und
rabenschwarzem Haar. Wir lebten ein stilles, aber für
micli so abwechselndes und reiches Leben. Der junge
Karlos und ich ritten durch das Wäldchen, wo Orangen
und Magnolien blühten. Schwer war es mir, das herr-
liche Bonegos zu verlassen."
Das eben Geschilderte weist wieder einen Zug auf.
— 219 —
der dem leidenschaftlichen Freundschaftsgefühle Andersens
eigen ist Nur während kurzer Zeit besteht dasselbe
als solches. Mit dem Aelterwerden des Freundes er-
kaltet die Neigung allmählich, um schliesslich ganz zu
verschwinden oder dem lauen Dutzendgefühle der Nor-
mal&eundschaft Platz zu machen. Jüngere Freunde
tauchen nach und nach auf, der Sohn des Jugendfreundes
tritt an die Stelle seines Vaters, und der Altersunterschied
zwischen Ä^ndersen und den Freunden wird stets grösser.
Unter diesen Beziehungen scheint das Freundschafts-
verhältnis zu Eduard Collin, dem Sohne des väterlichen
Wohlthäters Andersens, und nach Andersens Tod dem
Verfasser einer überaus interessanten Arbeit über An-
dersen, von grösster Bedeutung gewesen zu sein. Als
die beiden sich kennen lernten, war Andersen etwa
20 Jahre, Eduard um 3 Jahre jünger. „Ich hatte noch
nie einen Jugendfreund gehabt, und mit meiner ganzen
Seele war ich ihm zugethan. — Das geradezu Mädchen-
hafte meiner Natur war ihm aber zuwider. Er war der
Besonnene und Praktische, der Leitende und Bestimmende.*
— Mit diesen Worten sucht Andersen als alter Mann das
Verhältnis zu schildern. Eduard aber, der im erwähnten
Buch das Verhältnis zur Sprache bringt, gesteht, dass er
seiner Natur nach nicht im Stande war, dem Andersen
ein solcher Freund zu sein, wie dieser einen begehrte.
Darin ist gerade die ganze verborgene Tragik dieser un-
gleichen Freundschaft enthalten. Das Verhältnis wurde,
was es logischerweise werden muss, wenn ein Urning
und ein Normalmensch sich in Freundschaft aneinander
schliessen. Ersterer in seinen Gefühlen viel zu über-
schwänglich, in seinen Forderungen viel zu anspruchsvoll,
letzterer wohlwollend, aber überlegen, und weit weniger
leidenschaftlich. Wenn man die jetzt veröffentlichte grosse
Reihe von Andersens Jugendbriefen an Eduard liest, ist
der Sachkundige keinen Augenblick im Zweifel, dass das
— 220 —
Gefühl^ welches Andersen für Eduard hegte^ etwas ganz
Anderes als Freundschaft war. Unwillkürlich muss man
sich an den erotischen Freundschaftsbund zwischen Mon-
taigne und Etienne de la Boetie und die Liebesbriefe
Michel Angelos an Cavalieri erinnern. Das Gefühl An-
dersens für Eduard ist eine regelrechte erotische Neigung,
eine überwältigende erste I^iebe mit allen unverkennbaren
Merkmalen der grande passion. Die Briefe sind in
den schwärmerischsten und zärtlichsten Ausdrücken ge-
halten. , Inniggeliebter Freund — teuerster Freund" etc.
lauten die Ueberschriften. Der Dichter küsst die Schrift-
züge seines Freundes, erwartet die Briefe mit brennender
Sehnsucht, bricht beim Lesen derselben in Weinen aus
und liest sie immer wieder.
Nachstehender Brief vom 28.8. 1835 ^um 11 Uhr
Nachts", beleuchtet recht deutlich die Stärke und Eigen-
art der Leidenschaft: „Ich fühle Sehnsucht nach Ihnen.
Ja, in diesem Augenblicke verlangt es mich nach Ihnen,
als ob Sie eine entzückende Calabreserin wären iliit
dunkeln Augen und flammendem Blick. — Nie
hatte ich einen Bruder, hätte ich aber einen, ich könnte
ihn unmöglich lieben, wie ich Sie liebe — aber ach, Sie
erwidern meine Liebe nicht, das quält mich. — Ihnen
war ich wie ein Kind anhänglich, Ihnen habe ich — —
Basta! — Ein gut italienisches Wort, das so viel heisst
wie: den Mund halten! — Niemanden habe ich wie Sie
geliebt. Ich würde verzweifeln, wenn ich Sie verlöre.
Eine Freundschaft wie die unserige scheint geradezu ent-
standen, um geschildert zu werden, und doch fürchte ich
wieder, dass dies geschehen könnte. Dieser Widerspruch
und zu gleicher Zeit diese so grosse Harmonie würde
vielleicht unnatürlich erscheinen. Meine ganze Seele, das
tiefe Geheimnis meines Herzens könnte ich erschliessen,
doch unsere Freundschaft ist wie die Mysterien, man soll
sie nicht analysieren." —
— 221 —
Welch' merkwürdiger Kontrast zwischen diesem iira-
nislischen Feuer und dem reservierten Wohlwollen und
der kühlen Sympathie Eduards. Andersen hat es tief
gefühlt: «Wie ich mich doch nach Ihnen gesehnt habe!
So können Sie nicht mein gedenken; das liegt in der
Verschiedenheit imserer Naturen."
Und dennoch kann er es nicht unterlassen, den
Freund um ein Bischen Gegenliebe, um ein paar liebe-
volle Worte zu flehen : «Ich sehe ein, dass dies ewige
Quälen um Mitgefühl etwas Hässliches imd Herab*
würdigendes an sich hat. Doch mein Stolz unterliegt
meiner Liebe zu Ihnen. Ich liebe Sie unsäglich und
könnte verzweifeln, weil Sie mir nicht der Freund sein
können noch wollen, wie ich, wäre unsere Lage umge-
kehrt, Ihnen einer sein würde. Was habe ich verbrochen?
Wodurch ist mein Charakter Ihnen zuwider ? Sagen Sie
es doch, damit ich es umändern kann.* u. s. w. u. s. w.
— «Ihr Herz kann vielleicht das meinige entbehren, mein
Herz aber das Ihrige nicht* — versichert er an einer
anderen Stelle — „und doch verliere ich Sie womöglich
— mir wird so sonderbar bang, und meine Angst sagt
mir wieder einmal, wie ich Sie innig liebe.*
« Verzeihen Sie, dass ich in der letzten Zeit ein wenig
zu gefühlvoll, ein wenig zu verliebt war" — schreibt er
später — «Es gefällt Ihnen nicht, ich war aber etwas
schwach, werde jedoch künftig kälter sein." —
Zuweilen vergleicht er sein Freundschaftsgefühl ge-
radeaus mit der Liebesleidenschaft einer Frau und in
der That weist dasselbe verschiedene Elemente der
spezifisch weiblichen Erotik auf. So z. B. das Gefühl
der Unterwürfigkeit: «Ich muss vor demjenigen Respekt
haben", — schreibt er, — «den ich recht lieben, dem ich
recht anhänglich sein soll. Lieber muss er mich in
Vielem überflügeln, als mir in irgend etwas nachstehen."
Stets weilt er in Gedanken beim Freunde und öfters
— 222 —
schreibt er — wie er selbst gesteht — an Eduard ge-
richtete Verse, die dieser jedoch nie zu Gesichte bekommt.
Auch die Eifersucht lässt sich beobachten. Eduard hat
ihm erzählt, dass er heute Abend Emil, einen anderen
Freund, erwarte: »Wie so! Den erwartet er! Ihm ist
er zugethan! Mit ihm geht er spazieren! — — Emil
habe ich ja auch sehr gern, aber ziehen Sie ihn mir vor,
dann werde ich ihm böse!"
Natürlich hatte Andersen gleich im Anfange dem
heissgeliebten Freunde vorgeschlagen, dass sie sich Du sagen
wollten. Man begreift, welchen Eindruck es auf die
liebende und so sensible Seele Andersens machte, als der
Freund sich weigerte, mit einer Motivierung, die nur all-
zu deutlich erraten Hess, dass Mangel an Sympathie die
wahre Ursache war. Andersen war zerschmettert. Diese
bittere Kränkung vergass er bis an seinen Todestag nicht.
„Ich weinte, aber schwieg. Stets war mir dies wie eine
offene Wunde — aber gerade meine Weichheit, meine
halbe Weiblichkeit Hess mich an Ihnen festhalten!* —
Eines Tages kam indes der unvermeidliche Konflikt,
Eduard verlobte sich mit einem schönen jungen Mädchen.
Andersen floh schleunigst nach Deutschland.
»Wäre ich nicht geflüchtet, ich würde zu Grunde
gegangen sein," schreibt er dem Freund aus Deutsch-
land, selbstverständlich ohne die wahre Ursache seines
Schmerzes zu verraten. Und zur Hochzeitsfeier Eduards
sendet er einen wahrhaft ergreifenden Brief, anstatt aller
üblichen Glückwünsche lauter bittere Worte der Ent-
sagung: »Wie Moses stehe ich am Berge und blicke ins
gelobte Land, wohin ich nie gelangen werde. Gott hat
mir zwar Vieles gegeben, vielleicht ist aber gerade das,
was ich entbehren muss, das Schönste und Glücklichste.
Mein Leben lang soll ich einsam bleiben, Freundschaft
muss mir Alles sein, daher sind meine Ansprüche
allzu gross. Ich soll und muss ja allein bleiben!* —
— 223 —
Er spricht von den heissen Thränen der schlaflosen
Nächte, er sehnt sich nach dem Grabe und erklärt, er
werde zu Grunde gehen, falls eine grosse geistige Um-
wandelung zum Besseren nicht bald bevorstehe. Zu Zeiten
übermannt ihn sein Unglück vollends, er weiss keinen
Ausweg, erblickt keinen Hafen: — — „Ich bin ein
Kranker, ein Seelenkranker, habe keine Lebensfreude
— — ich fühle, wie ich in Einsamkeit und Krankhaftig-
keit verwelke und vernichtet werde!" —
„Eine nervöse Liebe" nennt Eduard in seinem Buch
das Freundschaftsgefühl Andersens. Er berichtet auch,
wie er von einem Freunde, der auf einem Landgute tag-
täglich mit Andersen in Gesellschaft war, folgende Zu-
schrift erhielt: „Schreiben Sie doch um Gottes Willen
dem absonderlichen Menschen, Andersen, einen Brief.
Es verdirbt mir meine Freude, seine Seelenangst zu
sehen, Sie und die Ihrigen könnten vergessen, dass er
noch lebt und zum Teil nur in Ihnen existiert, und dass
sein erster Gedanke am Morgen und sein letzter des
Abends Eduard Collin ist" —
Aber auch dieses Verhältnis nahm nach Verlauf
einiger Jahre ganz den Charakter der gewöhnlichen
Freundschaft an, Andersens spätere Briefe an Eduard
beschäftigen sich lediglich mit alltäglichen Angelegen-
heiten und von Liebe ist nicht mehr die Kede.
Viele Jahre später sieht man indes Andersen im
regen freundschaftlichen Verkehr mit Jonas Collin, dem
jüngsten Sohne Eduards. Etliche Briefe aus dieser Periode
zeugen wieder von der Tragik der ungleichen Freund-
schaft zwischen Urningen und normal Veranlagten. Frei-
lich erscheint der Liebeshang Andersens jetzt resignierter
und verblümter als ehedem, der Widerspruch fällt aber
dennoch mehr auf, weil ein sehr grosser Altersunterschied
— 36 Jahre — hinzugekommen ist. „Ich habe, seitdem
— 224 —
Du das Kindesalter überschritten, eine mächtige Sympathie
für Dich gehegt^ — versichert er den Jonas in einem
Brief — „das war mir ein Bedürfnis, dass Du sie verstehen
solltest, und mein ganzes Streben ging darauf, Dir die*
selbe zu zeigen/
In der Einsamkeit gedenkt der greise Dichter der
seligen Stunden des Zusammenseins mit dem kaum zwan-
zigjährigen Freunde: j, Ja, ich habe mit Dir gelebt,
bald verstimmt, bald jauchzend — stets habe ich aber
gefühlt^ wie Du mir unendlich lieb bist. Oft schien es mir,
als wärest Du hier in der Stube, oder als ob Du gleich
hineintreten würdest, mit dem gesegneten Gesichte, das
Dir der liebe Gott geschenkt hat. Ich sehne mich nach
Dir, lieber Freund — ich bedarf Deiner, um leichten und
frohen Sinnes zu werden — Bist Du doch so entzückend
jung!* —
Er nennt sich und Jonas «die beiden Unzertrenn-
lichen", und in der That, als Andersen sich in der Folge
wieder auf Beisen begiebt, wird es ihm bald klar, dass
er unmöglich den Freund so lange entbehren kann:
, Vielleicht bin ich ab und zu in deinen Gedanken'' —
schreibt er ihm aus der Fremde. — „Du wirst aber schwer-
lich erraten können, wie ich mich stets nach Dir sehne
und wünsche. Du wärest bei mir!"
Schliesslich bittet er in einem Brief an den Jugend-
freund Eduard um Erlaubnis, Jonas als Reisegefährten zu
erhalten: «Ich würde glücklich sein, falls dies ge-
scheben könnte. Eine Bitte habe ich aber noch zu machen, ^
es muss für die Welt ein Geheimnis bleiben, dass Jonas
von mir eingeladen . ist, und dass ich die Kosten bestreite.
Ach wenn nur die Antwort lauten würde: „Indem der
Brief abgeht, reist Jonas ab." Sagen Sie doch Jonas,
dass, falls er kommt, er stets, wenn möglich, sein eigenes >
Zimmer erhalten wird nur in der «Pension Luise* ist er
— 225 —
genötigt, mit mir die Stube zu teilen, weil alles hier be-
setzt ist." *)
Auf dieser Breise kam es aber zu Misshelligkeiten.
Der befreundete Jonas scheint ein ziemlich blasierter
Student gewesen zu sein, und Andersen war seinerseits
viel zu verliebt und dabei empfindlich wie eine Kompass-
nadel. Die Demut des weltberühmten Dichters dem un-
reifen Jünglinge gegenüber macht einen peinlichen Ein-
druck. Wegen eines höchst geringfügigen Umstandes
wäre es bald zur Trennung gekommen, Andersen brach
aber in Thränen aus und bat um Verzeihung.
«Kein anderer Mensch hatte je wie Du in meinem
Herzen Wurzel gefasst," schrieb er ihm später nach Kopen-
hagen zurück — ,es hat mich gelähmt und innig tief
betrübt, dass ich erkennen musste. Du könntest da nicht
gedeihen. Die letzten Wochen sind mir wahre Leidens-
tage gewesen. Früher wurde ich, wenn ich Deine Schrift-
züge sah, glücklich und mir warm um's Herz — gestern
fühlte ich's aber wie einen Stich in die Brust. Du
scheinst mir oft unklug, sonderbar eigensinnig und
neckisch — ich habe deinetwegen viele Thränen geweint
^ — lass uns aber fest zusammenhalten — mir würde es
ein Glück, ein Segen sein.*
Vor einigen Jahren wurde ein dänischer Schriftsteller
M K . . wegen „Sittlichkeits Verbrechens* (d. h.
mutueller Masturbation mit einem jungen Manne) in
Kopenhagen verhaftet Die Sache erregte grosses Auf-
*) Andersen liebte es überhaupt, auf seine häufigen Reisen
„gesellschaftshalber'' irgend einen jungen Gefährten mitzunehmen.
Er berichtet hierüber selbst, wie er mitunter Wertsachen, welche
ihm als Zeichen der Gunst von Fürsten geschenkt waren, zur Deck-
ung der hierdurch entstehenden Mehrausgaben verwertet habe.
Jahrbuch lU. 15
— 226 —
•sehen jund wurde, weil der Beteiligte einer bestimmten
politischen Fraktion angehörte, von den Zeitungen der
Gegenpartei mit peinlicher Weitschweifigkeit erörtert Eine
derselben veröffentlichte eine Art Biographie von M. K.
und erzählte in dieser u. a. wie folgt: „Als Kind wurde
der hübsche und aufgeweckte Knabe auf ein Gut in
der Nähe Kopenhagens gebracht, hinter dessen alten
Mauern unter andern Gästen auch H. C. Andersen zu
finden war. Was M. K. über sein Verhältnis zu dieser
Berühmtheit berichtet, lässt sich hier nicht wiedergeben,
aber die Zukunft wird in den Memoiren des Unglück^
liehen (M. K's.) manchen Zug finden lassen, welcher sehr
geeignet erscheint für eine neue psychologische Beurteilung
unseres grossen Märchendichters, der sein Leben hindurch
ein Hagestolz blieb/
Da bis dahin nichts über die Homosexualität Andersens
in die Oeffentlichkeit gedrungen war, rief diese Enthüll-
ung, wie begreiflich, viel falsch angebrachte Indignation
hervor. Andersens noch lebender, letzterwähnter Freund,
Jonas CoUin, wandte sich spornstreichs an das Justiz-
ministerium, den Polizeidirektor, Untersuchungsrichter und
Krethi und Plethi, und das Ei^ebnis war, dass M. K.i
der sich damals noch in Haft befand, die Geschichte
dementieren Hess. Obgleich man selbstverständlich einer
unter dergleichen Umständen abgelegten Erklärung keinen
grossen Wert beimessen kann, darf es wohl für ausge-
schlossen gehalten werden, dass Andersen zu unreifen
Knaben in geschlechtlicher Beziehung ^gestanden habe.
Man darf aber auch nicht vergessen, dass M. K. vor
Andersens Tod sein 25. Lebensjahr erreicht hatte. Jede
sinnliche Liebe drängt ja in letzter Instanz nach sinnlicher
Befriedigung, und Andersen wird schwerlich auf jede Be-
th£i,tigung seiner sexuellen Neigung verzichtet haben. Von
noch lebenden älteren Homosexuellen sind mir Mitteil-
ungen gemacht worden, welche das Gegenteil glaubwürdig
— 227 —
erscheinen lassen. Uebrigeiis stand Andersen mit mehreren
hervorragenden Persönlichkeiten im Verkehr, deren Homo-
sexualität ausser allem Zweifel ist.
Allem Anschein nach ist der Geschlechtstrieb Andersens
allerdings erst spät gereift und nur wenig entwickelt ge-
wesen. Unter Andersens handschriftlichem Nachlass fand
sich eine Art phrenologische Beschreibung seiner Anlagen
und darin bezeichnet er ausdrücklich seinen Geschlechts-
trieb als klein. Bis w^eit in das Jünglingsalter hinein war
A., wie er selbst sagt, «ganz ein unschuldiges Kind, und
es fiel kein Schatten von Unreinheit in seine Seele." Die
Erscheinungen des Geschlechtslebens waren ihm eine
terra incognita. Sechzehn Jahre alt, logiert er monate-
lang in einer der berüchtigtsten Gassen Kopenhagens und
hat als unmittelbare Nachbarin eine Puella, welche täglich
Herrenbesuche empfing: „Das klingt sonderbar, ist aber
dennoch so, ich hatte keine Ahnung von der Welt, welche
sich um mich bewegte.*
Bereits damals lassen sich aber die unverstandenen
Regungen eines unbefriedigten Sexuallebens nachweisen.
Eines Frühlingstages, als er im Frederiksborg-Garten bei
Kopenhagen umherwandelte, schlingt er plötzlich, von den
undifferenzierten Empfindungen seiner Seele überwältigt, die
Arme um einen Baumstamm und küsst leidenschafllich
die Rinde. «Ich war in diesem Augenblick ganz ein
Naturkind," fügt er als Erklärung an.*) — Und später,
als A. über die Anormalität seiner Seelenverfassung im
Klaren sein musste, zeugen zerstreute halbverblümte
Aeusserungen von den Qualen einer notgedrungenen Ab-
stinenz auf dem Gebiete des Geschlechtslebens. So ver-
*) Vergl. Aug. Platen : „Oft ergreift mich eine kindische Raserei,
ich umarme dann meine an der Wand hängenden Kleider, um nur
etwas an mein Herz zu drücken." Cit. nach Ludw. Frey im Jahr-
buch für sex. Zwischenst. I. pag. 208.
15*
— 228 —
traut er als achtzehnjähriger Lateinschüler dem Tage-
buche an: „Wollüstige Schwärmereien martern mir die
Seele!'' und was meint man von nachstehender Herzens-
ergiessung aus derselben Zeit: „Wahnsinn^ friss Dich in
mein Gehirn hinein^ dass ich mein Dasein vergessen kann!
Wesen^ dessen wahren Namen ich nicht kenne, Üösse mei-
ner Seele Mut ein, sich los zu reissen! Schwelle Herz,
dass Du brichst! Ha, schwülstiger Thor, befriedige deine
Begierde die kurzen Augenblicke, da es dir vergönnt ist!"
Und noch in seinem 52. Lebensjahre klagt er einer älteren
Freundin : „Oh Himmel, mein Blut ist so heiss, mein Ge-
fühl so unbändig, Sie fassen es nicht, wie ich leide. Und
doch wollte ich nicht entbehren, dies zu sein, so schmerz-
lich es auch sein mag!''
Solche Bemerkungen lassen erraten, wie sehr A.
gegen seine anormale Veranlagung gekämpft hat.
Andere 'Aufzeichnungen bekunden seine Verzweiflung,
keine gleichgestimmte Seele gefunden zu haben, keinen
Naturgenossen, dem er sich recht anvertrauen konnte-
Als Dichter rauss er das Gefühl in die Kostüme der
legalisierten Liebe maskieren, als Mensch soll er schweigen.
„Ach, könnte ich Ihnen nur meine ganze Seele erschliessen",
— rief er seinem Freund zu — „das würde mir eine
Linderung sein, lässt sich aber gar nicht thun. Glauben
Sie mir nur, es giebt Leiden, die man nicht dem besten
seiner Freunde anvertrauen kann.** Und fünf Jahre
später: „Könnten Sie mir nur bis in den Grund meiner
Seele blicken, dann würden Sie die Quelle meiner Sehn-
sucht erst begreifen. Selbst die offene, durchsichtige See
hat grosse, unergründliche Tiefen, die kein Taucher
kennt."
Noch deutlicher drückt er sich in seiner Epistel an
die bereits erwähnte Henriette Wulff aus: „Es sind im
Tagebuch des Herzens Blätter, die so ganz zusammen-
geklebt sind, dass nur Gott dieselben erscliliessen kann.
— 229 —
Wie offenherzig ich auch sein möchte^ es giebt Schmerzen,
auf deren Ursprung zu deuten ich nicht wage. Es rührt
dies von einem mir innewohnenden Gefühle her,
dessen Namen ich nicht einmal kenne/
Man fragt sich imwillkürlich, ob denn A. — von der
notdürftigen Befriedigung des Geschlechtstriebes abge-
sehen — sein Leben hindurch vergebens nach dem waliren
Liebesglück geschmachtet und nie bei einem heissersehnten
Freund die Gegenliebe gefunden habe, die sein Herz
so leidenschaftlich verlangte. Ich glaube, dass A. etliche
Male eine kurze Weile einen Freund glücklich geliebt
hat, und dass der wahre Zusammenhang seiner so überaus
mysteriösen Liebesgeschichten hier zu finden sein
dürfte.
Lassen Sie uns zum Schluss noch eine derselben ins
Auge fassen: «A. schreibt während seines Sommeraufent-
haltes in G. auf Fünen die beiden ergreifenden Gedicht-
chen „Buhe sanft" und »Der Hagestolz" und erwähnt in
Briefen einer Neigung, welche der Gedanke zahlloser
Tage und Nächte gewesen sei, und der Geheimnisse seines
Herzens, in welche „auch die besten unserer Freunde nicht
hineinblicken dürfen.** Zweifelsohne liegt hier etwas that-
sächlich Erlebtes zu Grunde, aber was, darüber hüllt
sich der Dichter ganz in elastische Worte. Ich habe
mein Augenmerk auf diese Episode gerichtet, aber nichts
zur Aufklärung ermitteln können, als dass zur besagten
Zeit in G. — Einquartierung von schwedischen Frei-
willigen war, unter denen A. einen hübschen Tambour-
jungen getroffen, dessen er später mit unendlicher Sym-
pathie in der Biographie gedenkt. Das folgende Jahr
trifft, er denselben in Schweden wieder und erklärt offen,
diese Begegnung habe auf ihn tieferen Eindruck gemacht
als der Anblick Trollhättens, des mächtigen schwedischen
Wasserfalles.
— 230 —
Fassen wir Alles zusammen: Andersens Herz kannte
die Liebe nicht, welche er im dramatischen Gedichte
„Braut von Lammermor'' als den „schönsten Baum im
"Wäldchen* besingt.
Er war ein Urning und ein lautredendes Zeugnis,
dass man als solcher ein Mensch von grossem Geist und
hohem Seelenadel sein kann.
Elagabal.
Charakterstudie aus der römischen Kaiserzeit.
Von
Ludwig von SeheflBer- Weimar.
Von Michelangelo über Platen zu — Elagabal!*)
Der Weg scheint weit und rückt doch eng zusammen für
den^ welcher seine bestimmte Aufgabe vor sich sieht.
Es ist überdies eine Antwort, welche ich mit dieser Studie
über den übelst beleumundeten Kaiser erteile. Seit dem
Erscheinen meines , Michelangelo" werde ich mit einer
*) Drei antike Schriftsteller haben in besonderen Biographien
über Elagabal berichtet. Herodian in der „Geschichte seiner Zeit**,
lib. V; Cassius Dio im 5. Buche seiner „Römischen Geschichte",
Aelius Lampridius in seiner „Vita Heliogabali" („Scriptores Historiae
Augustae", XVU). Dio, welcher unter Commodus und seinen Nach-
folgern die höchsten Staatsämter bekleidet hatte, berichtet zwar
nicht mehr als eigentlicher Geschichtsschreiber, sondern nur als
rhetorischer Annalist. Doch trägt seine Darstellung durchaus den
„Stempel der Wahrheit", ebenso wie Herodian vielfach Selbsterlebtes
bringt. Beide, Griechen, überleben kurze Zeit den Kaiser. Als eine
kritiklose Kompilation stellt sich des Lampridius Vita H'i (Kaiser
Konstantin gewidmet!) daneben. Doch ist der Verfasser viel zu
beschränkt, um Neues zu erfinden. Er ist daher mit seinem Buche,
da er meist nur vom früheren Marius Maximus schöpft, auch gute
Quelle. Auch die noch späteren Epitomatoren aus dem Julianischen
Zeitalter, Aurelius Viktor (,J)e caesaribus" cap. 23 und „Epitome"
cap. 28.) und Eutropius, („Breviarium" VIU, 20) waren mir in diesem
Sinne von Nutzen. Von neueren Arbeiten über Elagabal ist mir
nur Gibbon's Darstellung in seiner „History of the decline and the
fall of the Boman empire", chap. U bekannt. * *
Heliograbalus.
— 233 —
Menge von Zuschriften bestürmt. Lebhaft meinen Resul-
taten beistimmend^ lassen diese oft sehr subjektiv ge-
haltenen Schreiben doch überall durchblicken^ dass ich
in meinen Definitionen „nicht klar genug'' gewesen sei.
Ich hätte „das Ding beim rechten Namen nennen^ müssen;
ich „kenne vielleicht überhaupt nicht genügend" das an-
geregte Problem. Broschüren, Bücher, mich eines Besseren
zu belehren, folgen. Eine mit der Fülle ihrer realen
Beobachtungen geradezu verblüffende Litteratur! ....
Ich habe mit dem Danke für die gewiss gut gemeinte
Aufklärung doch vor allem zu erwidern, dass ich auf
eigener Fährte zu der sogenannten „homosexuellen* Frage
gekommen bin. Ich kann auch fernerhin nur sehen und
finden auf meinem besonderen Anschauungsgebiet. Ja
mehr noch, die speziellen termini technici erscheinen
mir nicht nötig. Das Problem ist der Wissenschaft an
sich kein neues. Die alten Schriflsteller schon drücken
sich darüber in einer Sprache aus, die an Deutlichkeit
nichts vermissen lässt. Aristoteles beleuchtet nicht nur
an einer Stelle den „amor masculorum* als physiologisches
und psychologisches Problem. Sein Vorgang hat mir
denn auch vor allem den Mut gegeben, die oberste Sprosse
auf der Stufenleiter psychopathologischer Charakter-
schilderungen zu verlassen und auf der untersten der-
selben mich umzuschauen. Bei der Nähe der porno-
graphischen Quellen, welche ihren Schlamm hier wälzen,
gewiss keine stets behagliche Situation! Aber ich habe
doch bei dem Versuche stand gehalten, nicht nur in dem
Bewusstsein, der psychiatrischen Forschung ein wertvolles,
weil authentisches Material entdeckt zu haben: Auch
die Geschichtsauffassung kann meinem Empfinden nach
nur gewinnen, wenn sie ihr übliches Pathos lässt und
Personen und Dingen vorurteilsloser ins Auge sieht. Der
Blick der modernen Forschung wird ohnedies täglich mehr
der der Naturwissenschaft : Ein Fleisch und Bein durch-
— 234 —
schauender Lyokeus! Niclit von den ,, unsäglichen
Schmählichkeiten'*; mit denen selbst noch ein Gibbon
( — so wenig aufrichtig für ihn! — ) sein , Gemälde Hello-
gabals* ausstaffiert; wollen wir mehr hören^ sondern von
den von aller Moral unabhängigen Motiven^ welche die
Psyche jenes abnormen Kaisers bewegten.
Drei Eigenschaften erscheinen mir^ w^il konstant mit
dem Bewusstsein verbunden, für die richtige Beurteilung
Elagabals von Bedeutung. Bassian, — so lautet der eigent-
liche Name des Kaisers — , war Priester des Bai, war
Syrer und war — schön ! Seine Familie besass zu Emesa
erblich das Priestertum des syrischen Sonnengottes. Es
war auf Bassian schon als Knaben als den jeweilig ältesten
Sohn übergegangen. Der Abandon, mit dem derselbe
sich den lasciven Riten des Baidienstes hingab, erklärt
sich jedoch nicht allein aus traditioneller Gewohnheit.
Hier zeigt sich Individualität. Der Sinnenkultus des
Naturgottes war für Bassian ein seinem Wesen Zuge-
höriges, ein Wahlverwandtes. „Denn," wie Dio Cassius,
der Zeitgenosse, nach eigenem Eindrucke bemerkt, „er
war Mann und er war Weib**! Naturzwang mithin ist
es, unter dem Elagabal seine berüchtigten Ausschreitungen
begangen!
Das Heiligtum, in dem Bassian zum „El Gabal'',
zum , Liebling* des auch seinen Namen führenden Gottes
geworden ist auf einer Bronzemünze seiner Regierung
wiedergegeben: Ein jonisches Peristyl mit dem Einblick
in die Cella, in der sich statt der üblichen Götterstatue
„ein sehr grosser, runder, oben spitz zulaufender Stein",
ein gigantischer — Phallus erhebt ! Das drastische Symbol
des Leben zeugenden und formenden Gottes findet sich
ebenso auf Münzbildern von Heliopolis, von Byblos und
von Paphos. Es ist ja auch dem Occident nicht fremd.
Das hellenische Kind trägt es als Amulet am Halse, der
Wanderer begegnet ihm als Wahrzeichen der Hermen
— 235 —
auf der Strasse, von griechischen Frauen wird es bei ge-
wissen Dionysosfeiern in öffentlicher Prozession herum-
geführt. Aber eben weil das obscöne Motiv ganz zum
religiösen Abstraktum geworden, verlor es für den Be-
schauer seinen Sinnenreiz. Nicht so für , unseren Sar-
danapal'' ! Seine von abnormer Sinnenglut erhitzte Vor-
stellung gab dem Symbole vielmehr erst wieder Dasein.
Er übertrug den Kultus des Phallus ins Leben. Mit
weibischer Inbrunst fiel er auch vor seiner zufälligen
Erscheinung überall ins Knie. Er sah und empfand in
seiner überreizten Phantasie nichts mehr Anderes. Ein
Vorgang seiner Regierung kann hier umgekehrt als Sinn-
bild dienen : Sein Benehmen bei dem feierlich prächtigen
Umzüge, mit dem der „Stein von Emesa" jährlich von
seinem palatinischen Tempel in ein anderes Heiligtum
der Vorstadt Roms überführt wurde. Ein Sechsgespann
von weissen Pferden zog den Wagen des Gottes, der
scheinbar selbst die Zügel lenkte. „Antoninus aber" (der
andere Name des Kaisers) »ging vor dem Wagen einher,
lief manchmal zurück, sah die Gottheit an und zog die
Zügel rückwärts. So machte er es den ganzen Weg über,
dass er hin und herlief und die Gottheit beständig ansah.
Damit er aber nicht anstossen und fallen möchte, ohne
dass man bemerkte, wohin, so liess er den Boden mit
Goldstaub bedecken, und die Soldaten hielten ihn an
beiden Seiten" . . Ach, aber leider! Er kam trotzdem
in den starken Armen seiner Begleiter zum Fall. Er
liess auch keine goldenen Spuren dabei zurück. Er fiel
in den Schmutz ! Und es ist nicht eben leicht, ihn wieder
daraus zu erheben, offenbare Unsauberkeit mit der Per-
version seines Geschlechtstriebes zu erklären.
Aber Elagabal war anderseits Syrer! Das erklärt
nicht nur seinen ausgesprochenen Bacenstolz, der ihm als
Kaiser in anderer Weise wieder hinderlich, ja verderblich
werden sollte. Es bedingte vor allem auch den Besitz
— 236 -
der griechischen Sprache und Bildung. Denn im Gegen-
satz zu ihren Stammesgenossen in Palästina hatten die
Syrer den Hellenismus seit der Seleucidenherrschafl früh
und völlig in sich aufgenommen. Diese Kultur lag frei-
lich vielfach nur wie ein glänzender Firnis über dem
nationalen Fühlen und Wollen. Das Franzosentum bei
uns im 18. Jahrhundert! Aber sie vermittelte auf der
andern Seite eine Vorstellungswelt, in welcher der Syrer
jederzeit sich mit dem Hellenen oder hellenisierten Römer
auf gleichem Boden fühlte. Herodian, ein anderer Zeit-
genosse Elagabals, hatte es daher gar nicht so schwer, uns
das Leben dieses letzten Antoninus in griechischem Lichte
zu zeigen. Wie er »die schönsten Statuen des Dionysos*
zur Vergleichung ruft, um den bestrickenden Eindruck
, körperlicher Schönheit in Verbindung mit jugendlichem
Alter und üppig weichlichem Aufzuge* bei dem Kaiser
zu erläutern, so deutet er auch sonst dessen ausschwei-
fendes Betragen als eine fortgesetzte bacchische Orgie«
Mildernd breitet sich das hieratische Wort selbst über
wüsteste Tollheit. Ja, hätte der Zufall nur diese hero-
dianische Biographie erhalten, das Bild des Elagabal wäre
nicht in abschreckender Verzerrung auf uns gekommen.
Seine Obscönität zum Beispiel, die Seite seines Wesens,
auf welcher die Phantasie der späteren halbchristlichen
Epitomatoren mit solchem Behagen weilt, berührt Hero-
dian mit nur drei Worten. Immoralität konnte ihm als
einem noch ganz antik empfindenden Menschen ja auch
nur insofern als ein Verbrechen erscheinen, als sie Staats-
und Standesinteresse verletzte. In dieser Hinsicht jedoch
waren Elagabals Gesetzesübertretungen, wie auch Dio
Cassius zugiebt, ^noch ganz einfach und nicht eben be-
trächtlich." Strikt unterschied das antike ßaisonnement
in dem Kaiser den „privatus" und den ^Caesar*. Was
daher Elagabal als Privatperson begangen, entzog sich
der öfientlichen Censur. Seine Scherzreden bezweckten
- 237 —
nichts anderes^ als eben dieses Prärogativ einer individu-
ellen Ausgelassenheit zu bestätigen. Er beschönigte
sein herausforderndes Benehmen nicht sowohl, er stellte
der überschäumenden Sinnlichkeit nur eine Art Gesetzes-
freiheit aus. „Ich feiere meine Floralien!** rief Elagabal
seiner betroffenen Umgebung zu, als diese ihn bei einem
seiner weitgehendsten Phallicismen, nämlich, wie er seinem
Geliebten Hierokles inguina osculabatiu*, überraschte.
„Das heisst doch die Freude der Weinlese geniessen!**,
ein andermal, wo die Indecenz seiner Ausdrücke und
Gesten den zu einem Gartenfeste geladenen Konsularen
die Schamröte in die greisen Wangen getrieben hatte.
Aber es empfanden unter den Gästen, vornehmlich den
jüngeren, nicht alle so. Man fand zum Teil Geschmack
an Elagabals pikanten Bonmots. Man sammelte sie, über-
trug sie vom Griechischen ins Lateinische, gab sie als
Blüten syrischen Witzes aus. Was Wunder, wenn da
Herodian, der eben auch nicht „wie ein Küchenjunge",
sondern als einer, „der mit dem Cäsar bei Tafel gesessen*,
schreibt, in den obscönen und sonstigen Extravaganzen
des Kaisers nur die Hybris des Festgelages erblickt.
Scharf rücken hier in seiner Charakteristik die so gleich-
lautenden Begriffe auseinander. Nicht als „Paranoia*
(Verrücktheit) bezeichnet Herodian Elagabals Betragen,
sondern als eine ^Paroinia* (Weinrauschstimmung)!
Und jene dritte Eigenschaft kam hinzu, den Cäsar
im Bewusstsein seiner dionysischen Selbstherrlichkeit zu
erhalten: er war schön! Das ^Gefühl des schönen
Körpers", um den so bezeichnenden Goethe'schen Aus-
druck zu gebrauchen, gab den Ausschlag bei so manchem
seiner „Wagnisse". Es bedingt die Art seines Auftretens,
an der auch wir ein ästhetisches Interesse zu nehmen
vermögen. Freilich darf uns dabei nicht die Vorstellung
jener Antiken in den Museen Europas begleiten, welche
eine landläufige Annahme als Bildnisse des Elagabal
— 238 —
kennt. J. J. Bernonlli bat neuerdings in seiner „Ikono-
graphie'^ das Unzulängliche dieser Bezeichnungen nach-
gewiesen.*) Aber auch, was er selbst als Portraitbüste
des Kaisers dafür empfiehlt, hat für mich keine lieber-
zeugungskraft. Der ,,Jünglingskopf im Taubenzimmer des
Capitols'' ist ganz gewiss nicht ohne Bedeutung. In ihm
einen Elagäbal zu erblicken, verbietet aber gerade der
Grund, den BernouUi dafür anführt: die Aehnlichkeit
mit des Kaisers Münzbildern! Hat nicht der Gelehrte
kurz vorher treffend bemerkt, dass diese Aehnlichkeit
keine authentische, dass Elagäbal vielmehr auf seinen
Medaillen sich das Aussehen des Caracalla lieh, um auch
auf solche "Weise als der letzte Antoninus, der angebliche
Sohn jenes Kaisers, zu erscheinen? Will man daher
Familienzüge des Elagäbal konstruieren, so wird man
besser thun, sich an die beglaubigten Portraits seiner
Verwandten, der Grossmutter, Mutter, und vor allem
auch an die seines Vetters, des Alexander Severus, zu
halten. Welch brillanter Racentypus, jene Büste des
jugendlichen Kaisers in den UfSzien! . . Mehr als die
Vergegenwärtigung des letzteren braucht es auch nicht
für unseren Zweck. Wie Elagäbal im Leben sich be-
wegt, kann auch wieder nur die Wirklichkeit zeigen. In
den Jünglingsgestalten des Südens, in den Modellen der
römischen Künstlerateliers vor allem lebt noch täglich
das Urbild eines »^Heliogabalus" wieder auf. Nur wer
*) Vgl. „Eömisehe Ikonographie" n, 3. S. 85 ff. Die Volks-
wut hat wahrscheinlich jedes Bildnis des Kaisers zerstört. Sicher
(?) geben daher nur die Münzen sein Portrait wieder. Doch weisen
Bemoulli, und die ihm folgen, ausser dem , kapitolinischen Jüng-
lingskopfe" auf eine Büste im Louvre als mutmassliches Elagabal-
porträt hin (ebendaselbst S. 85, Fig. 5). Auch diese zeigt den
Kaiser bärtig! Elagäbal litt kein Haar an seinem Körper. Man
könnte den Bart hier also nur aus dem angeführten Grunde, wie
bei den Münzen, erklären. Ob aber treffend?
— 239 —
es hier mit erfahren, mit welcher Sicherheit, ja Selbst-
verständlichkeit diese römischen und neapolitanischen
Epheben posieren, wird entsprechende Schaustellangen
der nackten Schönheit bei Elagabal begreiflich finden.
Eine natürliche Charis bestimmt ihre Haltung und Be-
wegimg, welche Zweideutigkeit ebenso wenig kennt, als
sie von der blöden Scham des beständig in seinen Kleidern
steckenden Nordländers entfernt ist. Elagabal mochte
sich mit diesem ästhetischen Instinkte desgleichen als
lebendiges Kunstwerk fühlen. So besteigt er als Dionysos
den von Tigern gezogenen Wagen ; so lenkt er als Cybele
die Löwen; so zeigt er sich endlich — ohne alle Götter-
tracht, nur im Wettbewerb der körperlichen Schönheit^
— „selbst ganz nackt auf einem Gefährte, dessen Gespann
schöne nackte Frauen bilden'M . . . Gutmütig, wie die
meisten schönen Menschen es sind, glaubte er damit der
Menge besonders zu genügen: „Das", wie Lampridius,
sein Biograph, von ihm bemerkt, „für den grössten
Lebensgenuss erachtend, dass er würdig und geschickt
erscheinen möchte, die (Augen)-Lust recht vieler zu be-
friedigen."
Doch ich fälsche hier nicht sowohl einen Ausdruck,
als ich seinem brutalen Wortlaute nur eine mildere Be-
deutung gebe. Nicht von der Lust^ welche die Augen
allein ergötzt, spricht Lampridius als von Elagabals letztem
Ziele, sondern von dem groben Sinnenreize, der die
tierischen Triebe in uns weckt. Yon ^libido" ist bei ihm
die Bede. Das Kunstideal verflüchtigt sich gegenüber
einer solchen Thatsache. Die Möglichkeit einer opti-
mistischeren AufTassung von Elagabals Gebahren schwin-
det. Ein krasses Ejrankheitsbild bleibt nur übrig. Aber
eben dieses sollte und wollte ich ja entwickeln, eine
Motivierung für Elagabals Charakter damit zu geben^
die ihn, wo nicht entschuldbar, doch zum mindesten be-
greiflicher macht.
— 240 —
Schon die Art^ mit der Elagabals nächste Ange-
hörige seiner pathologischen Veranlagung ahnungslos
gegenüberstanden^ bleibt für diesen wie so viele andere
Fälle bezeichnend. Das fürstliche Priestergeschlecht war
mit Julia Domna zuerst in die Geschichte getreten. Eine
ebenso schöne als ehrgeizige Frau, wird sie durch das
Horoskop des Septimius Severus Gemahlin und besteigt
mit ihm den kaiserlichen Thron. In der Sala Rotonda
des vatikanischen Museums steht ihre kolossale Büste.
Ein wunderbares Gemisch von Energie und Sinnlichkeit
in den stolz-weichen Zügen; eine Art antiker Lady Mac-
beth, wie man sie mit Recht genannt hat. Mit echter
Racenpietät lässt sie ihre Verwandten nach Rom zu sich
kommen. Mäsa, die Schwester, Soämis und Mammäa,
deren Töchter, welche im Palatium die Mütter des Bassian
und Alexander werden : Alle drei Frauen, die der Kaiserin
nicht nur äusserlich, sondern auch dem Charakter nach
bis ins einzelnste ähneln. Wie furchtbar daher für die
Fürstinnen der Schlag, als des Macrinus Mörderhand sie
ihres Schutzherrn Caracalla beraubt, und sie, Rom ver-
lassend, „in den Privatstand*' zurückkehren müssen! Julia
Domna begiebt sich nach Antiochien, um als letztes
Hautgout übersättigten Lebensgenusses dort die Predigten
des Kirchenvaters Origines zu hören; Mäsa sucht mit
Töchtern imd Enkeln das heimatliche Emesa auf, schein-
bar nur der Erziehung der letzteren sich widmend, in der
That jedoch nur auf die günstige Gelegenheit wartend,
um noch einmal auf der Oberfläche des Lebens zu er-
scheinen. Bassian, der Soämis Sohn, bietet sie ihr! Sie
liebte ihn nicht, diesen weichen Knaben. Sie fand ihn
wohl an seinem rechten Platze, als er, das Priesterkleid
anziehend, in den Baisdienst trat. Aber wie es in neueren
Zeiten geschehen, dass ein prinzlicher Kardinal das Mess-
gewand ablegte, um einer Thronfolge in der Familie wegen
es mit der Uniform des weltlichen Herrschers zu ver-
— 241 —
tauschen, so glaubte Mäsa im gegebenen Zeitpunkte auch
an die Möglichkeit einer Metamorphose des Oberpriesters
«Elagabal'' zum Cäsar. Sie täuschte sich gründlich darin ,
so sehr auch der Beginn ihrer Intrigue diesen Erfolg zu
versprechen schien.
Das Elagabalon, in dem der Enkel der Mäsa als
Pontifex waltete, war „ein kostbar ausgeschmücktes,
ringsum verehrtes Heiligtum'^ Eine römische Legion lag
zum Schutze der Provinz in der Nähe. „Die Soldaten
gingen täglich in die Stadt, dem Gottesdienste beizu-
wohnen, weil sie den jungen Priester gerne sehen moch-
ten.* „Er war einer der schönsten Jünglinge seiner Zeit."
„Wenn er in reichem, langwallenden Priesterkleide, eine
Juwelenkrone auf dem Kopfe, nach dem Tone musika-
lischer Instrumente die Altäre umtanzte, zog seine Schön-
heit die Augen aller auf sich." „Mit grosser Begierde
verschlangen ihn aber besonders die Soldaten mit ihren
Blicken, weil Elagabal in der Blüte seiner Jugend stand
und" — hier setzten die Bänke der Mäsa ein — „er aus
kaiserlichem Geblüte war." Ohne Rücksicht auf die Ehre
ihrer Töchter hatte letztere Elagabal wie dessen Vetter
als Früchte ehebrecherischen Umgangs mit Caracalla aus-
gegeben. Was das Gerücht bei den Soldaten nicht zu
erreichen vermochte, thaten „Haufen Geldes*. Geld, das
die Schriftsteller jener Tage, die nicht mehr von oben
herab, sondern von unten auf die Volksseele analysieren,
als den wahren Beweggrund aller Söldneraufstände be-
stätigen! Was folgte, sagt die Geschichte: Die Ueber-
f ührung der fürstlichen Frauen mit dem jugendlichen
Thronprätendenten ins befestigte Lager; die Bebellion;
die Ueberwindung und Flucht Macrins, des Usurpators.
Elagabal, passiv wie er seiner Natur nach war, hatte
seine Entführung aus dem Tempel mit irreführendem
Gleichmut hingenommen. Ja, der Aufenthalt im Lager
schien ihm nicht unsympatisch. Er liebte die derben,
Jahrbuch III. 16
— 242 —
frischen Typen der Söhne des Volkes. Soldaten blieben
sein erstes und letztes Publikum. Willig liess er sich
von ihnen entkleiden und in den kaiserlichen Waffenrock
stecken. Aber nachdem ,die Komödie vorüber*, er
Cäsar, Sieger und ,,Kaiser Antoninus'' geworden war, sank
er sofort in seine frühere Lebensart zurück. Wieder er-
scheint er als Elagabal in kostbarem Gewände, Schmuck
an Hals und Armen, die Tiara auf dem Haupte. Der
Kaiser war erst vierzehn Jahre alt. Die Grossmutter, —
,er hörte allein auf sie,* — hofile noch auf ihn zu wirken.
Sie hielt ihm „das Unanständige seines Aufrugs* vor:
Dergleichen sei ,,ein Schmuck der Weiber, passe nicht
für Männer. ^^ Zu ihrem Schrecken bemerkte sie erst jetzt,
dass dasjenige, was sie ihrem Enkel zum Vorwurf machte,
nicht Sache freier Wahl war, sondern Folge eines natür-
lichen Instinktes. Elagabal hing an diesen weiten Aermeln
und wallenden Röcken nicht, weil sie zu seinem Priester-
anzuge gehörten — (nach Herodian trug er überhaupt
nicht mehr diesen, sondern ein Phantasiekostüm, das
„einem Mitteldinge von phönicischem Priesterkleide und
medischer Tracht glich* — ): das Frauenhafte seiner
Kleidung vielmehr war es, was ihn gerade entzückte I
Er fühlte sich darin als Weib!! .... Entsetzt be-
schwor Mäsa ihren Enkel, wenigstens nicht bei seinem
Einzüge in Rom „sofort den Blick der Zuschauer durch
das fremde, ausländische Kleid zu beleidigen.** Aber
Elagabal hasste ja die römische Gewandung nicht als
solche, sondern wegen der Wolle, der gewöhnlichen,
schlechten Materie." Für ihn (den Syrer!) passe nur die
, einheimische weiche Seide", Er werde jedoch die Ab-
neigung des römischen Volkes und Senates vor seinem
Aufzuge auf andre Art überwinden. Er lässt sich nun in
Lebensgrösse malen und das Bild in der Curie zu Rom
über der Statue der Viktoria anbringen. Und siehe da!
Ein Weiblein überlistet hier das andere! Wie der Senat
— 243 —
genötigt war^ diesem Porträt des Kaisers an geweihter
Stätte zu opfern^ so gewöhnte man sich auch sonst an
seine Vorstellung. „Sein Auftreten in Rom fiel nachher
gar nicht mehr auf". Mit einem wahren Frauenschliche
hatte hier Elagabal ein allgemeines Vorurteil überwunden.
Mäsa indess^ die ganze Energie ihrer Bace zu-
sammennehmend^ war inzwischen ^^an den ihr wohlbe-
kannten Hof' geeilt, dort, (ein Unikum in der Geschichte
Roms), die Zügel der Regierung für „den jungen, ge-
schäftsunkundigen Cäsar'' zu ergreifen. Elagabal, den
Winter in Italien weichlich fürchtend, war nicht höher
hinauf als bis Nikomedien gerückt. „Hier fing er denn
bald an, ausgelassen zu werden, seineu Gott mit über-
triebenem Pompe zu ehren" und dabei „der Liebe als
passiver Teil aufs unzüchtigste zu fröhnen". Die Soldaten
lachten darüber und betrachteten die sexuellen Aus-
schreitungendes jungen Kaisers ungefähr mit dem verständ-
nisvollen Wohlwollen, mit welchem ein heutiger Offiziers -
bursehe die erwachenden Triebe des ihm attachierten
Sohnes seines Vorgesetzten bemerkt. „Selber konnte er",
so gibt Aurelius Viktor dieses Raisonnement wieder,
„seine Begierde nach Unzucht aus Mangel an natürlichem
Vermögen noch nicht befriedigen. So machte er sich
selbst zum Gegenstande derselben." (Dasselbe blöde
Urteil, das heute der gesunde Mensch meist jener Er-
scheinung entgegenbringt!) Finsterer schaute die höhere
Umgebung darein bei diesem Gebahren des Cäsars. Nicht
als ob sittliche Entrüstung ihr Empfinden bestimmte.
Aber ihr Argwohn sagte ihnen sehr wohl, dass, wenn der
Herrscher jetzt schon Leute vorzog, deren „einziges Ver-
dienst darin bestand, dass sie zur Wollust recht gebaut
und vorzüglich stark beschlagen waren", er wohl auch
später ihre Stellen mit den Gefährten seiner Ausschweif-
ungen besetzen werde. Und die Folge bestätigte ihre
Befürchtungen. Elagabal, in Rom endlich angelangt,
16
— 244 —
setzte die Orgien von Nikomedien nur in grösserem Mass-
stabe fort. Seine Gesellschaft bildeten Matrosen, Kutscher,
Läufer, während er selbst, sonst zu jedem freundlich, nur
die Philister verachtete und „auf einen rechtschaffenen
Mann wie auf einen Verworfenen (quasi perditum) herab-
blickte^. Wenn daher der eine Biograph von Elagabal
behauptet, „sein Leben war nichts anderes^ — ja ich
kann das Wort ^laiQia" wirklich nicht treffender über-
setzen als mit: „Cochonnerie^^, so hat er von seinem Ge-
sichtspunkte aus ebenso recht wie der andere, welcher
in der „Hierurgie^ der Vornahme gottesdienstlicher
Handlungen, die „einzige Beschäftigung^' des Kaisers er-
blickt. Beide sehen dieselbe Sache nur von verschiedenen
Seiten, beide sind jedoch auch von der vmnderbaren Ein-
heit des zu schildernden Charakters erfüllt Eine Eigen-
schaft, die, ganz abgesehen von dem schmutzigen Detail,
auch den modernen Psychologen fesseln muss, welcher
anstatt „der gemischten und zweifelhaft^en*' Naturen der
neueren Geschichte hier einen solch einfachen, durch-
sichtigen Typus vor sich sieht. Freilich, dass der letzte
Grund von Elagabals einheitlichem Charakter in seiner natür-
lichen Perversion lag, spricht keiner der antiken Schrift-
steller deutlich aus. Und hier gilt es eben, unter dem
pornographischen Wust zu sichten, den springenden
Punkt des Besonderen daraus blos zu legen.
Niemals jedoch hätte die Geschichte den Hermar
phroditen auf dem Throne erlebt, nie hätte sich das
pathologische Individuum in Elagabal so grenzenlos ent-
falten können, wenn nicht eben die Unnmschränktheit
der Stellung ihn gleicherweise gereizt wie geschützt hätte.
Was Cäsar-sein in diesem Falle bedeutet, drückt mit ent-
setzlicher Deutlichkeit, aber am besten, ein Vorfall aus
der noch dazu eigenen Familientradition des Elagabal
aus. Die Geschichte „von der neuen Jokaste", welche
der freche alexandrinische Witz dem im Theater weilenden
— 245 —
Caracalla entgegeDnef! Aelius Spartianus erzählt die
Begebenheit als Thatsache. „Als Julia Domna, diese
überaus schöne Frau, sich Caracalla einstens wie von
ungefähr grösstenteils entblösst zeigte^ imd jener,
(Spatian macht wenigstens einen Stiefsohn aus ihm),
sagte: „Wäre es erlaubt, wie sehr wünschte ich* ,
so soll sie erwidert haben: ^Erlaubt ist es, wenn Du nur
willst Bist Du denn nicht Kaiser, der Gesetze gibt,
ohne selbst welche anzunehmen ?'' . . . Si libet, licet!!
«Erlaubt ist, was gefällf* !! .... Oder liegt sonst noch
etwas in der Luft Boms, was Gedanken und Empfin-
dungen steigert und den Menschen zu einer Art titani-
schen Uebermutes treibt? Wenn ich wenigstens lese, wie
Elagabal als Erstes in Bom ein Heliogabalum neben dem
Kaiserpalaste auf dem Palatin errichtete, sich vom Se-
nate in der Würde eines Oberpontifex seines Gottes be-
stätigen liess und in der Ausübung dieses priesterlichen
Amtes ein ungleich Höheres als in allen seinen sonstigen
Begierungsbefugnissen sah, - wenn er weiterhin im Be-
wusstsein dieses Priesterkönigtunis verachtend auf die
weltlichen Stände herabblickte, «den Senat als eine Ge-
sellschaft von Sklaven in Toga, das römische Volk als
blosse Bauern, die Bitter aber als gar nichts betrachtete*,
wenn er bei dieser Geringschätzung der Feldherm und
hohen Staatsbeamten dieselben einfach zu seinen Opfer-
handlungen kommandierte und sie, «wie auf dem Theater",
sagt Herodian, in «phönicischem" Kostüm um den Altar
seines Gottes postierte, ja ihnen seiner Ansicht nach noch
eine „grosse Ehre damit erwies!" — , so liegt für mich
eben die Vergleichung nicht fem mit dem Schauspiel,
welches in eben demselben Bom später einige «geistliche
Oberhirten* boten. Auch verstehen wir jetzt besser
einen Zug von Elagabal als die damaligen Bömer: seinen
Monotheismus! Sonst so tolerant gegen jeden eingeführ-
ten fremden Beligionsgebrauch, verletzte es sie in ihrer
— 246 —
nationalen Pietät, dass der Kaiser seinen Phallusgott über
alle anderen Götter setzte, ja letztere, den kapitolinischen
Jupiter an der Spitze, nur für „Bediente* des ersteren
erklärte. Und nicht genug, dass er die Numina degra-
dierte, er strebte auch danach, alle ihre Heiligtümer in
den Tempel des Bai zu übertühren : das Feuer der Vesta,
das Palladium, die Ancilien! Ja selbst die Eeligionsge-
brauche der Juden und Samaritaner und die Andachts-
übungen der Christen sollten dorthin verlegt werden,
„damit das Priestertum des Elagabal alle Kulte in sich
vereinige!" Das musste dem antiken Menschen naturge-
mäss barock vorkommen; „religiöse Blutschande" nennt es
ein entrüsteter Ausdruck. Milder im Urteil stand das
römische Publikum zunächst Elagabals praktischem Phallus-
kulte gegenüber. Aber es war doch etwas mehr als
nur ein syrischer Witz, wenn sich Elagabal im Kreise
seiner Vertrauten als „Augusta* anreden und behandeln
liess. Er war nicht „bald Er, bald Sie", wie Dio
Cassius in obscönem Sinne von Nero und Caligula be-
merkt, sondern stets feminin. „Er tänzelte*, nach des-
selben Schriftstellers Erfahrung, „wo er ging und stand."
„Er affektierte in Haltung, Stimme, Kleidung weibisches
Wesen." Und es erscheint mir bezeichnender noch als seine
Ausschweifungen, was die „Ausspäher seiner Handlungen*
in der Hinsicht uns überliefert haben, gezierte Wen-
dungen namentlich, wie sie im Munde einer modernen
Dame nicht geläufiger sein könnten. So „trug er, um
seine Schönheit zu erhöhen und ein mehr frauenzimmer-
liches Aussehen zu erhalten, ein mit Edelsteinen besetz-
tes Diadem" und, abgesehen von anderer Pracht, auch
^,einen mit Juwelen gesäumten Mantel.* Er klagte
dann aber beim Umlegen desselben affektiert „über
die Schwere seiner üppigen Kleidung," ebenso wie
man eine Prinzessin zu hören vermeint, wenn Ela*-
gabal „beim Ueberscbreiten des Ma^ktea sich über die
— 247 —
allgemeine Dürftigkeit wundert." Die eingeladenen Sena-
toren, denen er die kostbarsten Safranpolster auf ihre
Plätze hat legen lassen, begrüsst er mit den preciösen
Worten: „Dies sei nur das ihnen angemessene Heu!"
Ueber seinen Tafelluxus freilich, über welchen Lampri-
dius so viel Worte macht, werden wir heute weniger
entrüstet denken. Auch hierbei jedoch fällt wieder der
weibliche Zug seiner Geschmacksrichtung auf. Ganz ab-
gesehen davon, dass „seine Küche" auch nach dem Ge-
ständnis seiner Tadler besser war, als die der berühmten
ihm vorangegangenen Gourmets, so lag ihm weniger die
kopiöse als die ästhetisch zugerichtete Tafel am Herzen.
„Je nach der Jahreszeit (Lampridius spricht hier überall
als von „neuen Erfindungen"!) , wechselte die Farbe der
Gedecke. Die ,,Servietten gaben das Menü in Stickereien
wieder". Das „Silber des Services erstreckte sich bis
auf die Kohlenpfannen und -topfe. Niemals fehlte reich-
licher Blumenschmuck auf dem Tische." „Wohlgerüche
dufteten aus den Lampen". Ueberhaupt war alles
„parfümiert^ um Elagabal herum: die Zimmerwände,
Möbel, Bäder! Dazu brachte der Kaiser, „nach Frauen-
art*, der Kochkunst ein technisches Interesse entgegen.
Er erfand neue Ragouts, neue Saucen und Pasteten.
Stolz darauf, liess er sich „als Garkoch malen"! Das
Seltene, die „Delikatesse", war ihm hierbei Devise. Nie
erlaubte er zum Beispiel, Seefisch zu servieren, als wenn
er fem vom Meere speiste. Auch liess er willkürlich
„die Gerichte höher taxieren" um sie für seine Gäste
wertvoller zu machen, stets nur auf das Exquisite be-
dacht! . . . Dass dann sein Frauenfuss „ungern den Boden
der Erde berührte" und er den Grund der Portiken
des Palastes „mit Gold- und Silberstaub bedecken" und
auch die Zugänge zu letzteren mit einem kostbaren,
„eigens erfundenen Pavimente pflastern liess", wird uns
nach dem Bisherigen eben so wenig wundem, als dass er
— 248 —
im Tode selbst sich noch in einer ästhetischen Situation
wünschte. Prophezeiung und eigene trübe Ahnung hatten
ihm ein gewaltsames Ende gekündet. Er führte stets
Gift mit sichy ,,errichtete aber ausserdem einen sehr hohen
Turm, der unten herum mit Goldplatten und kostbaren
Steintafeln belegt war, um, wenn er sich herunterstürzte,
doch mit einem Scheine von Luxus zu sterben^M
Und dieses Prinzlein, das zu delikat^ um auch nur
die Berührung der männlichen römischen Toga zu ertragen,
sehen wir anderseits mit Brunst die Luft der niedrigsten
Weinschenken und Bordelle atmen ! ! Auch hierin freilich
eine „Augusta*^, wenn wir das Beispiel einer Poppäa, einer
Messalina oder das zeitlich viel näherliegende der
Mutter des Commodus, der Faustina, uns dabei vor Augen
führen. Die erotischen Instinkte der vornehmen Frauen
Boms überhaupt waren mit der Zeit sehr massiv ge-
worden. Schon Petronius lässt die Dienerin der schönen
„Circe^^ sagen, dass sie selbst zwar sich nie mit einem
Sklaven abgeben würde, ihre „Herrin jedoch, wie manche
andere Dame, erst in Hitze komme, wenn sie eben nur
Bediente, hochgeschürzte Portiers oder Leute von der
Strasse, der Arena, der Bühne hergenommen, vor sich
sähe^^ Messalina gab zu diesem Zwecke Gastrollen in
den römischen Bordellen, Faustina entfernte sich von der
Hauptstadt und „suchte sich in Cajeta ihre Liebhaber
unter den Marinesoldaten und Gladiatoren aus^^ Aber
wenn Elagabal nun auch Perrücke und Kapuze aufsetzt
und auf seinen nächtlichen Escapaden in öffentlichen
Häusern sich der Lust preisgiebt, so kopiert er zwar
scheinbar „als Weib" jene liederlichen Kaiserinnen, wie
er auch sonst wohl nur den Kodex der Unzucht, den ein
Nero und Commodus aufgestellt hat, befolgte, im Grunde
genommen trennt ihn jedoch eine Welt von jenen laster-
haften Männern und Frauen. Die genannten beiden
Kaiser waren sexuell normale Naturen. Es war nur die
- 249 —
y,envie de la boue^^, wie der Franzose so treffend sagt^
was sie, ebenso wie eine Faustina, zu den gröbsten Aus-
schweifungen führte. Schmutz, „nur weil es Schmutz war*^,
ward in einer Art Ekel der Uebersättignng von ihnen
gesucht. Bei Commodus streift dieser Zug allerdings an's
Perverse. Wie ward er aber auch schon von seiner
Mutter „empfangen^M Man lese diese scheusslichste Ge-
schichte römischen Hofskandals beim Capitolinus nach!
Commodus war schon als Knabe „unzüchtig und ein
Fressling". Die Entfernung der liederlichen Personen um
ihn herum half nichts. „Er wurde dann aus Sehnsucht
nach ihnen krank'^ Ihm galt das Obscöne als solches.
„Leute, die einen unanständigen, schändlichen, von den
Geburtsteilen beider Geschlechter hergenommenen Namen
führten^ liebte er leidenschaftlich und küsste er mit
Inbrunst.^ Kein Wunder, dass sein Harem nachher
alles in sich schloss, was die Wollust aktiv und passiv
ermöglichte. Aber wenn darunter auch sein „subactor^^
Saoterus sich befand, „der hinter ihm auf seinem Triumph-
wagen stand, und den er bei eben dieser seiner grossen
Pompa oder auch im Theater ganz öffentlich küsste'',
wenn er weiterhin , einen Menschen bei sich hielt^ der
stärker als ein Hengst begabt war, den er daher seinen
f^onos'^ (Esel) nannte" und später mit einem gewissen
Humor „zum Oberpriester des Sylvan" machte, so hat
man doch bei diesen und ähnlichen Extravaganzen den
Eindruck, als ob der Kaiser mit faunischem Grinsen über
ihnen gestanden. Wirklich beherrscht ward sein psy-
chischer und physischer Wille von einer Frau, und noch
dazu einer anscheinend guten und edlen Frau : der Christin
Marcia! Die Vorliebe für die Kommissluft jedoch (mein
Beispiel oben vom OfBziersburschen!) zog ihn immer
wieder zur Zote — , denn ein Anderes ist das alles bei
Commodus nicht — zurück. Die Gladiatoren bildeten
seine liebste Gesellschaft. In ihrer Kaserne verweilte er
— 250 —
auf eigensten Wunsch die Nacht vor dem Neajahrsfeste,
die letzte Nacht seines Lebens! Aber sein Verkehr mit
ihnen hatte nichts Weibisches. Er kämpfte mit ihnen,
Mann gegen Mann. Auch geben seine Biographen alle
zu, dass er ein vortrefflicher Schütze gewef^en. Und so
kann ich ebenso in Nero's sexuellen Parodien keine natür-
liche Perversion erblicken. Freilich nahm er den Pytha-
goras zum Mann und hat nachher umgekehrt den Sporns
„geheiratet". Das Pikante indess bei diesen Vorgängen
scheint mir für Nero weniger in der Umkehrung der
Natur als in der herausfordernden Verhöhnung ge-
heiligter Gebräuche zu liegen. Er liess sich beidemale
förmlich trauen! Das Verhältnis zu Sporus aber ent-
behrt sogar nicht eines gewissen gemütlichen Interesses.
Und das durchaus nicht im „homosexuellen" Sinne. Nero
hatte seine Gemahlin Sabina wirklich geliebt. Er bereute
tief und nachhaltig ihren durch ihn selbst verschuldeten
Tod. Da ward ihm ein Trost die grosse Aehnlichkeit,
die er mit der Verstorbenen in dem schönen Sporus ent-
deckte. Er liebte ihn also suggestiv, nicht als solchen,
sondern als sein ehemaliges Weib. Eine gewisse Zart-
heit der Empfindung waltet auch über dieser Liaison.
Sporus weilt als der Letzte bei dem sterbenden Cäsar und
gab sich selbst später den Tod. Er sollte unter Vitellius
„als entführtes Mädchen auf dem Theater erscheinen".
„Er fühlte die Satire" und zog — ein seltenes Beispiel
von Ehrgefühl in seiner Lage! — ein freiwilliges Ende
der Schande vor.
Was dagegen Elagabal in die rauhen Arme seiner
Buhler trieb, — ihn, den feinen, duflbenden Jüngling, der
die persische Hofetikette im Palatium eingeführt hatte
und sonst so peinlich sich an die ästhetische Seite der
Lebensführung hielt, — was hier als Ungeheuerlichstes
von Kontrasten auftritt, ist nicht durch Uebermut oder
zufällige Kreuzung der Instinkte, sondern nur durch die
— 251 —
dämonische Uebergewalt einer abnormen Physis zu
verstehen. Denn nicht in Elagabals perversen Un-
zuchtsakten selbst liegt das Besondere. Er hatte^ wie
leicht zu erweisen, Vorgänger darin, und es giebt viel-
leicht nicht eine Obscönität bei ihm, die nicht ebenso bei
dem normalen Commodns zu finden. Ganz er selbst ist
vielmehr Elagabal dort, wo seine Psyche erwacht ist, er
„seinen Mann'^ gefunden, als Weib hingebend liebt und
den ersten und einzigen Roman seines Lebens tragisch
zu Ende führt. Hier fühle ich mich auch erst im Recht,
von dem wahren Hermaphroditen in ihm zu sprechen,
während sein sonstiges perverses Wesen, — wie auch
schon bei den Römern selbst, — eine andere Deutung
übrig lässt. Mit dem Eintreten des „vir^^ in sein Dasein
verlassen Elagabal, wie es scheint, auch seine übelsten
Gewohnheiten. Er wird nicht züchtiger, aber doch sich
beschränkender, ruhiger. Für die Familie sowie für die
Welt dagegen hatte mit der Vermählung der „Bassiana^^
(sein Name!) mit dem schönen Kutscher Hierokles erst
recht der Skandal seiner Regierung begonnen, obschon,
was sie bisher gesehen, ihnen auch schon die Augen hätte
öfihen können.
Das Volk hatte seinen Cäsar in einem lächerlich
feierlichen Aufzuge erblickt, wie er seinem Gotte
einen wirklichen menschlichen Phallus zum Opfer
brachte. Symbolisch, wie die Handlung war, mochte man
das Anstössige daran schliesslich übersehen, wie auch
sonstige grobe Unzüchtigkeiten im Privatleben des Kaisers
in den Gewohnheiten des Baipriesters eine Art Rückhalt
fanden. Freilich war es ein starkes Stück, wenn Elagabal
seine Regierung in Rom damit begann, „dass er sich
Ausspäher hielt^ die ihm wohlbeschlagene Mannspersonen
aufsuchen und in den Palast bringen mussten, um sich
„visendis tractandisve partibus libidinum nefandarum^ zu
weiden! Wie er selbst sodann Umschau hielt, indem
„er im Palatium ein öffentliches Bad anlegte^ dessen sich
— 262 —
auch das Volk bedienen durfte, um bei dieser Gelegen-
heit sich Bekanntschaften mit seinen Lieblingstypen, den
„onobeli", (^^Matrosen, welche von der Natur vorzüg-
lich begabt waren, und die man überall aus der ganzen
Stadt ausfindig machen musste'^j zu verschaffen^^! Um
endlich eine Auswahl unter den Bestbeschlagenen zu
treffen und Leute niedrigster Herkunft, darunter einen
Mauleseltreiber, einen Barbier, einen Schlosser, in Ehren-
ämtern bei sich zu behalten!! . . Mätressen und Günstlings-
wirtschaft indess, wozu dergleichen von den Römern tole-
rant gerechnet wurde, hatte man an den Vorgängern Ela-
gabals so reichlich erlebt, dass auch diese „Passion^^ am
Kaiser nicht mehr Wunder nahm. Elagabal war frei-
gebig, zeigte Leutseligkeit und Humor bei seinen prunk-
vollen Festen. Seine scherzhaften Geschenke bei solcher
Gelegenheit, die teils aus wertvollsten Dingen (j,nuT nicht
unreinen Tieren^^ !) und belustigenden Attrappen bestanden,
waren äusserst beliebt. Erst als die „obacoeni et infames^'
in seiner Umgebung keine Scheu in ihrer Geldgier mehr
kannten und als Beamte zu Blutsaugern des Volkes
wurden, schwand das Wohlwollen der Menge. Zumal
der Cäsar selbst es in seinen Rechten zu kürzen begann,
die jährliche Getreideverteilung zum Beispiel nur den
Freudenmädchen zu Gute kommen liess und überhaupt
die Prostituierten einseitig bevorzugte. Einer der selt-
samsten Züge übrigens im Charakterbilde des kaiserlichen
Hermaphroditen! Ja, ich gestehe offen, dass mir die
Sympathie Elagabals für die Frauen unverständlich ge-
blieben wäre, wenn ein erhabenes Beispiel mir nicht auch
hier die Fährte gewiesen hätte: Platens Geständnisse!
Der Dichter sagt von sich in seinem Tagebuche : „Ich
bin schüchtern von Natur, aber am wenigsten bin ich es
in ganz ungemischter Gesellschaft von Weibern/ „Am
meisten gefiel mir die Zartheit der Weiber, aber ich sah
sie nicht als etwas Auswärtiges, sondern als etwas auch
— 253 —
meinem Wesen Innewohnendes an." In die trivial-sinn-
liche Sphäre des nur pathologisch verwandten Elagabal
übersetzt, bedeutet das: Der Hermaphrodit fühlte sich
als Weib wohl unter Weibern! ^Er badete vertraulich
mit ihnen, leistete ihnen mit einer Enthaarungssalbe Dienste
und wendete sie dann am eigenen Körper an!* „Er hielt
sich/ wie Cassius Dio erzählt, „einen ganzen Harem von
unechten Weibern im Palaste, nicht als ob sie ein Be-
dürfnis für ihn gewesen wären, sondern um von ihnen
die Modifikation des Liebesgenusses für seine Liebhaber
zu lernen und bei seinen Schändlichkeiten eine ganze
Schar von GeseUschafterinnen um sich her zu haben"!
Dass daneben Elagabal auch eines edleren Mitgefühls für
jenen Schlag von Frauen fähig war, zeigt sein Benehmen
gegenüber den Dienerinnen der städtischen Bordelle.
„Er kauft sie frei von ihren Herren* oder überrascht
sie, ohne sie zu benutzen, mit Geschenken, indem er sich
als den Cäsar zu erkennen gibt. Ja, das Urbild der
Cameliendame taucht sogar auf in diesem Kreise. Ein
Motiv von einer gewissen psychologischen Feinheit: „Ein
sehr bekanntes und sehr schönes Freudenmädchen*, be-
richtet Lampridius, „soll Elagabal freigekauft und ihr^
ohne sie zu berühren, als der reinsten Jungfrau mit der
grössten Achtung begegnet sein'M! Das Christentum
wählte sich ja auch mit Vorliebe seine Heiligen unter
den Sündigen und Beladenen. Dergleichen Anschauungs-
weise lag vielleicht damals in der Luft. Elagabal
wirkt mit dieser Vorurteilslosigkeit kaum mehr als
antiker Charakter. — Es erscheint nach dem Gesagten
dann auch nicht mehr überraschend, dass dieser CiSsar
drei Gemahlinnen gehabt hat Die Ehe der B.ömer wurde
selten aus Liebe geschlossen. Die Hochzeiten der Kaiser
vollends hatten etwas rein Konventionelles. Bezeichnend
hierfür ist die Antwort, welche Aelius Verus seiner
Gemahlin erteilte, als diese sich über seine Untreue be-
— 254 —
Schwerte. .Verzeihe es mir, wenn ich mein Vergnügen
anderswo suche. Der Name einer Gemahlin macht dich
zum Gegenstande der Verehrung, nicht aber der wollüstigen
Zärtlichkeit." So mussten es sich denn auch eine Julia
Paula, eine Aquilia Severa imd Annia Faustina gefallen
lassen, kurzer Hand von Elaeabal zur Aueusta erhoben
and Nieder in den Privatetand Verstössen zu werden. Die
Motive zu diesen Ehen werden verschieden gedeutet „Dass
er auch etwas Männliches thun könne^', wollte Elagabal
nach Herodian dabei zeigen. Verwandtschaftliche Be-
ziehungen mit der Familie Mark Aureis gaben als Ur-
sache der Kaiserinnenwahl Andere an. Die für die Römer
skandalöseste Erklärung für seine Vermählung war indess
diejenige, die der Kaiser selbst in Angelegenheiten der
Aquilia erteilte. Diese hatte er, in Missachtung heiligsten
Gesetzes, als Priesterinder Vesta ihrem Tempel entführt!
Seine synkretistischen Ideen halfen ihm hinweg über jedes
Bedenken. Kurz vorher hatte er in Eom seinen Gott
El Gabal mit der herbeigeholten Astarte von Karthago
vermählt. Nun folgte er dem göttlichen Beispiele. „Ich
entschloss mich zu dieser Ehe'^, schreibt er an den Senat,
„um aus ihr Kinder zu sehen, die eine Art von Gottheit
mit zur Welt brächten, wenn sie einen Erzpriester zum
Vater und eine Vestalin zur Mutter hätten." Uebrigens
„kehrte er zu seiner Severa," nachdem er auch sie von
sich entfernt hatte, „wieder zurück". Das nonnenhafb
Strenge der priesterlichen Dame mochte ihm bei diesem
geschwisterlichen Verhältnisse noch am sympathischesten
sein. „Augusta" aber war und blieb im Grunde nur
Elagabal selbst, „erwählte sich einen Gatten, liess sich Weib,
Geliebte nennen, setzte sich an den Spinnrocken, trug
eine netzförmige Haube und schminkte die Augen (ein
Anderer sagt: „verunstaltete sein von Natur aus schönes
Gesicht") mit Bleiweis und Karmin. Ein einzigesmal liess
er sich den Bart auf die gewöhnliche Art abnehmen und
— 255 —
gab deshalb ein grosses Fest. Dann aber liess er sich
die Haare ausrupfen^ um auch hierin das Weib zu machen,
wie er denn auch oft Senatoren in weiblichem Neglig^
im Bett empfing/^ (Dio Cassius.)
Der Koman, den hierauf eben derselbe Schriftsteller
erzählt, der seltsamste, der uns aus dem Altertum über-
kommen, findet sich an einer Stelle, die dem Leser
den Eindruck giebt, als habe Dio damit den Höhepunkt
von Elagabals perversem Liebesleben bezeichnen wollen.
Was vorhergeht, ist anderen Genres. So die widerwärtige
Scene, wo Elagabal, „nachdem er im Palatium selbst ein
eigenes Zinmier zu seiner Geilheit Beftiedigung einge-
richtet hatte" (Messalina, Lucius Verus waren Vorbilder
darin I), „wie eine Hetäre, nackt, in die Thüre trat, den in
goldenen Bingen hängenden Vorhang vor derselben auf-
und zuzog und mit schmachtender, gebrochener Stimme
die Vorübergehenden lockte, bei ihm einzukehren. Dass
immer Einige vorbeigehen mussten, war schon vorher auf
seinen Befehl veranstaltete . . . „Dafür mussten sie ihm
aber auch zahlen, und über keinen Gewinn brüstete er
sich mehr als über diesen, zankte sich sogar mit anderen
Wollüstlingen: ,ySeht, ich habe der Liebhaber weit mehr
als ihrl" Der letztere Zug ist in tieferem Sinne charak-
teristisch. Er zeigt nicht nur, dass Elagabal seine Bolle
consequent durchspielte, er giebt auch zu verstehen, dass
der Hermaphrodit sich — nach Gegenliebe sehnte und,
wenn auch nur erkauft^, dieses Glück sich zu verschaffen
suchte. Ich glaube daher überhaupt nicht, dass die Venus
aversa Sache von Elagabals Geschmack gewesen sei.
Aber er war mit weiblicher Psyche doch körperlich eben
Mann. Er konnte seinen Erwählten keinen anderen Ge-
nuss als die unnatürliche Unzucht bieten. Eine ästhetische
Natur aber, wie er im Grunde war, hätte er am liebsten
als wirkliches Weib seine Liebhaber mnfangen. Mit aller
nur wünschenswerten Klarheit sagt das Dio: ^r trieb
- 256 —
endlich seine Geilheit so weit^ dass er den Aerzten grosse
Summen bot, wenn ihr anatomisches Messer ihn auch zum
weiblichen Genuss der Liebe empfänglich machte!'^
Der Wunsch war unerfüllbar. Einmal in seinem
Leben jedoch glaubte Elagabal nicht nur einseitig in
Liebe zu brennen, sondern wie ein Weib dem Manne zu
genügen. Jenes milesische Märchen, welches uns Dio er-
zählt: „Und dieser Dame Gemahl war Hicrokles, ein
Sklave, aus Karlen gebürtig, ehemals Liebling des (be-
rühmten Wettfahrers) Gordius, von dem er auch die
Kunst des Wettfahrens gelernt, durch welche er sich
auf eine ganz sonderbare Art bei Elagabal in Gunst
gesetzt hatte. Bei einem Wettrennen stürzte er gerade
vor des Kaisers Sessel vom Wagen und verlor im Fallen
den helmf örmigen Hut. UnverhüUt stand der Jüngling
mit glattem Kinn und blondem Haare da, und sogleich
wurde er zu dem Palast mehr hingerissen als hingeführt
Hier legte er bei Nacht noch mehr Ehre ein als bei
Tage, und Elagabal erhob ihn zu so hohen Ehren, dass
er weit mehr als er selbst vermochte und dass man bei
dieser Macht des Sohnes es für eine Kleinigkeit hielt, dass
die Mutter desselben, damals noch immer Sklavin, von
den Soldaten nach Rom gebracht und den Gemahlinnen
der Konsularen an Rang gleich gesetzt werde." Ein
Zeichen gemütvoller Pietät, wodurch Elagabal sich der
Liebe seines „vir*^ noch mehr versichern wollte; der
Zug des guten Weibes, das im geliebten Gegenstande
auch dessen Verwandte ehrt! „Dame Elagabal" wandte
aber auch weniger edle Mittel an, ihren „Gatten" an sich
zu fesseln. Sie reizte ihn zu zorniger Eifersucht. „Sie
wollte gern auch als Ehebrecherin gelten und liess sich
gutwillig auf frischer That ertappen, wenn sie auch den
gröbsten Schimpfworten des beleidigten Mannes sich aus-
setzte oder wohl gar blaue Striemen als Beweise seiner
schweren Hand auf ihre Wangen erhielt. Aber wenn
— 257 —
ältere Liebe doch immer nur oberflächlich gewesen, war,
so war hingegen die Liebe zu dem jetzigen Eheberm mit
so haltenden Farben im Herzen aufgetragen, dass . das
zärtliche Weibchen über eine thäüiche Behandlung sich
nichts weniger als beleidigt, vielmehr zu desto innigerer
Liebe gestärkt fand.^ Die Proben, auf welche Elagabal
den Hierokles zuweilen stellte, waren allerdings hart. Am
gefährlichsten war die Rivalität des „Aurelius Zoticus aus
Smyrna, von, seines Vaters Kunst auch der Koch genannt
„Dieser Mann war am ganzen Körper vortrefflich zum
Athleten gebaut und vorzüglich von der Natur an einem
gewissen Teile dotiert (noXv de drj ndvrag %^ %C^v aliomv
fieyäx^ei inegaigmi), weshalb er auch, von den Aufspürem
solcher Talente dem Kaiser gepriesen, sogleich vom
Kampfplatz hinweggerissen und in einem so zahlreichen
Aufzuge nach Born gebracht ward, als weder Augarus
unter Sever's, noch Tiridat unter Nero's Regierung bei
sich gehabt hatten. Noch ehe ihn der Kaiser sah, machte
er ihn zu seinem Kammerherm, beehrte ihn mit seines
Grossvaters Avitus Namen, liess ihn festlich mit Kränzen
schmücken, und so hielt der Mann seinen Einzug in den
mit unzähligen Lampen erleuchteten Palast. Sobald ihn
der Kaiser sah, sprang er in tanzendem Takte auf.
Zoticus begrüsste ihn, wie sich^s gebührte, als Monarchen
i^nd Kaiser, aber jener verdrehte mit weiblicher Ziererei
Nacken und schmachtende Augen und konnte nicht genug
eilen, ihm zu befehlen: , Nenne mich doch nicht Gebieter.
Gebieterin bin ichl* Dann gingen beide sogleich ins
Bad, und weil der Kaiser bei der Entkleidung den Mann
seiner Erwartung völlig entsprechend fand, ward die
Brunst noch heftiger. Wie eine Geliebte lehnte er sich
an des Lieblings Brust und nahm in seinen Armen liegend
die Abendtafel ein. Weil aber Hierokles befürchtete,
Zoticus möchte den Kaiser noch näher an sich fesseln
als er selbst, und ihn, wie dies gewöhnlich der Fall bei
Jatarboeh m. 17
— 258 —
Nebenbahlem, unglücklich 2a machen bedacht sein
so liess er ihm durch die Mundschenken, seine Freunde,
einen entnervenden Trank beibringen. Dieser that seine
Wirkung. «Zoticus blieb die ganze Nacht hindurch zum
Geschäft der Liebe unvermögend, verlor alle bisher ge-
nossenen Vorteile, ward aus dem Palast, dann aus Eom,
und endlich aus ganz Italien fortgejagt und — rettete
dadurch sein Leben für die Zukunft.^ Elagabal aber
kehrte reuig zu seinem Eheherrn ztirttck, ;,war ent-
schlossen, ihn in der That zum Cäsar zu ernennen, drohte
der Grossmutter, die dies hindern wollte, mit völliger
Ungnade, verscherzte seinetwegen die Gunst der Soldaten
und bahnte sich selbst den Weg zu dem künftigen trau-
rigen Ende."
Der Konflikt mit der Mäsa war in der That das
Entscheidende im Leben des Kaisers. Die ehrgeizige
Frau hatte bis dahin keinen Grund zur Unzufriedenheit
mit ihrem Enkel gehabt. Elagabal führte sie sowie seine
Mutter gleich zur ersten Senatsversammlung in Born ein.
Die Fürstinnen nahmen Platz neben den Konsuln, sie
unterschrieben (ein unerhörter Greuel für den Altrömer I)
die Senatsedikte! Nichts fanden die „Väter^' so gesetz-
widrig als eben diesen Weibersenat I Er gab dann später
ebenso willig nach, als Mäsa ihm unter dem Verwände^
dass „menschliche Angelegenheiten für ihn, den Priester,
nicht passten", alle Kegierungssorgen abnahm, ihn den
Vetter zum Cäsar adoptieren und diesen fern vom Palaste
Elagabals in „männlich römischer Art^^ erziehen liess. Sie
hatte dann freilich auch mit ihrer Autorität die Unschick-
lichkeiten des Enkels stets wieder gut zu mach en gesucht.
Nun aber stand sie dem gefährlichen festen Willen des,
wie sie meinte. Wahnsinnigen gegenüber. Er musste
fort. Nicht der Hass der Soldaten (sie waren wieder
nur bezahlt und bestochen) sondern die Intriguen der
Grossmutter haben Elagabal vom Throne gefegt. Denn
— 259 —
während der Kaiser mit seine m Hierokles im Stadium
des Palatin-„Circus" oder in dem kleinen, jetzt wieder
gefundenen Theater seines, des severianischen, Palastes^
,,Pantomime spielte^^, — was für Gesichter mochten da
die eingeladenen Generäle, Konsularen und Damen machen
wenn „er das Urteil des Paris aufführte, wo er als Venus
deren Rolle er gab, auf einmal seine ganze Kleidung
fallen liess, ganz nackend dastand, mit einer Han4 die
freie Brust, mit der anderen die Scham bedeckte, darauf
sich niederkniete und die posteriora seinem subactor zu-
wendete"!! — (Man denke übrigens an den „Ilioneus^*,
der sich dem Auge in gerade der Stellung in der Glyp-
tothek zu München und im Goethehaus zu Weimar
bietet, und man wird auch hier noch den Elagabal in
seiner Eitelkeit begreiflich finden.) — Während Ela-
gabal solche „verliebte Possen" trieb, schärfte Mäsa das
Schwert der Prätorianer, das diesem Treiben ein Ende
machen sollte. Sie liess ein Gerücht ausstreuen, als
ob der Kaiser seinem Vetter nach dem Leben trach-
tete. Wirklich kam auch Elagabal auf den Gedanken,
sobald er sich dem fertigen Komplott gegenübersah.
Oder er that vielmehr so; »er wollte hören, was die
Soldaten dazu sagten.'' Als diese ihm jedoch den Wacht-
dienst verweigerten und sich in die Kaserne einschlössen,
merkte er den Ernst. Noch immer auf den Eindruck
seiner bezwingenden Persönlichkeit rechnend, fährt er
mit dem „Cäsar'' selbst ins Lager. Die Soldaten be-
ruhigen sich bei diesem Anblicke, machen ihm jedoch
bezüglich seiner Umgebung herbste Vorwürfe. Sie ver-
langen die Entfernung des »Hierokles und anderer un-
züchtiger Menschen, die mit ihm schändlichen Handel
trieben.'' (Allerdings hatte sich der maritus domini durch
Klatsch, durch insolente Stellenerteilung und -Verweigerung
viel zu schulden kommen lassen). Aber gerade diese
Forderung trifft Elagabal am empfindlichsten. Er ver-
17*
— 260 —
spricht Beasening^ um stets nur auf die Bitte^ ihm den
Hierokles wiederzugeben, zurückzukommen. „Er flehte
im kläglichsten Tone, weinte die lautersten Thränen/
„Nur den lasset mir, was ihr auch Arges von ihm
denken möget^ oder tötet mich lieber I*^ Endlich erzwang
er, was man ihm verweigerte, zog sich von der Oeffent-
lichkeit zurück und beschloss des Alexander, seines
Oegners, Mord. „Da er jedoch von Natur unbedachtsam
war und alles, was er vorhatte, offen sagte und that%
kam man ihm mit dem Aufstande zuvor. Zum letzten-
male zeigt er sich unter den Soldaten und verlangt die
Bestrafung der Meuterer. ,J)ie8e, in Erwägung ihrer be-
reits gethanen Schritte, töteten zuerst des Elagabal Ge-
folge, welches man für die Beförderer seiner Uebelthaten
hielt. Und zwar auf mancherlei Art^ indem sie einigen
die Eingeweide aus dem Leibe rissen, andere ima parte
an Pfähle spiessten, damit ihr Tod ihrem Leben ähnlich
sein möchte I'^ (Als ob Elagabal der aktive Teil bei seiner
Unzucht gewesen wäre!) „Hierauf fielen sie über ihn
selbst her, zerrten ihn aus dem Kasten, in den man ihn
zu seiner Sicherheit geworfen hatte, und stachen ihn zu-
gleich mit seiner Mutter nieder, die ihn fest umschlungen
hielt^^ Die Natur, die über den Tod hinaus die Allmacht
bewährte! „Beiden hieb man die Köpfe ab, entkleidete
ihre Leichname und schleifte sie anfangs in der Stadt
umher. Dann warf man den des Sohnes in die Elloake
und, da von ungefähr die zu enge Oeffnung ihn nicht
durchliess, in den Tiber, nachdem man vorher die Leiche
mit einem Steine beschwert hatte, damit sie nie wieder
heraufkommen und begraben werden könnte.'^ Der Senat
aber brandmarkte in seinem Hasse den Kaiser nach dem
Tode noch mit den Beinamen „Tiberinus^^, der „am Hacken
Geschleifte*', der „Unreinste"! Die Prätorianer sandten
ihm einen weniger pathetischen, aber um so derberen
— 261 —
Soldaten witz nach: Sie verglichen ihn mit einer ,^von
unbändiger und rasender Geilheit befallenen Hündin^M
Das letzte Urteil, so roh es erscheint, ist gerechter
als der moralische Entrüstungsschrei der gebildeten Ge-
sellschaft. Der gemeine Mann beherrscht sachlicher sei-
nen Horizont. Er steht näher der Mutter Erde und
ihrem übermächtigen Walten. Ja, selbst Elagabals Nach-
folger auf dem Throne, Kaiser Alexander Severus^ welcher
bei gleichem Blute zum strikten Gegensatze seines Vet-
ters erzogen war, scheint die Naturmacht in dem Cha-
rakter seines Gegners nicht verkannt zu haben. Er spricht
(und auch wohl zuerst?) von Elagabals Ej'eise als dem
„tertium genus hominum"", das er zwar nicht vertilgen
konnte, aber doch so weit wie möglich von sich entfernte.
„Das dritte Geschlecht^! Hätte ich nicht aus meinen Studien,
den früheren wie den heute vorliegenden, die Ueber-
zeugung gewonnen, dass es in der That ein solches, d. h.
Männer mit weiblicher Psyche und Weiber mit männ-
lichem Instinkte, giebt, mir wäre kaum der Atem bei
der Wanderung durch die wüste Orgie des Lebens Ela-
gabals verblieben. Damit fällt aber ein grösster Teil
von des Letzteren „Schuld^* auf seine abnorme physische
und psychische Organisation zurück. Der tiefste Kenner
menschlichen Wesens, dessen klares, vorurteilsloses Auge
gerade auch in diese Abgründe perverser Naturanlage
geblickt, Aristoteles, bestätigt mir es mit seinen Worten.
Er spricht im 7. Buche der Nikomaohischen Ethik (deiü
grossen Kapitel von der menschlichen Yerantwortlichkoit)
von den sogenannten „Bestialitäten^. Er versteht darjUBifai;
unnatürliche Begierden, „die es teils durch KrankliflCkigs
keit des Organismus, teils durch Gewohnheife^^ teib
durch perverse Naturanlagen^' sind. ^»Ajick ((diki/Iiti8&
an männlicher Unzucht gehört hierher, dilnnd^e jidb USih
Folge angeborener Natumeigung, teUafiöcoib^iiipgfeaäBde
aus Gewöhnung, wie z. B. bei soloUeiirf'^BdundiMli, (die
— 262 —
von ihrem Ejiabenalter an zu unnatürlicher Wollust
missbraucht wurden." ^^iejenigen nun, bei welchen
solche Neigungen natürliche Anlage sind, die kann Nie-
mand ausschweifend nennen, so wenig wie man die
Weiber darum schelten kann, dass sie nicht aktiv, sondern
passiv sich dem Mann gegenüber verhalten; und ebenso
ist es mit denen, welche durch Gewöhnung mit krank-
haften Gelüsten behaftet sind. Solche Neigungen an sich
zu haben, fällt ausserhalb der Bestimmungen der sitt-
lichen Schlechtigkeit!" . .
Dass Elagabal auch in diese Kategorie abnormer
Wesen zu rechnen sei, ist evident. Er war kein eigent-
licher Zwitter („durch Krankhaftigkeit des Organismus").
Bei vollkommen männlicher Körperbildung waren es
„Gewohnheit und angebome Natumeigung«, die ihn zum
pathicus machten — wobei es dem Erläuterer seiner
Seelenzustände überlassen bleibt, ob er mehr aus ersterem
oder letzterem Grunde seine Perversität herleiten will.
Denn wenn ich z. B., an Herodians Worte von Elagabals
Hierurgie anknüpfend, auch seine Unzucht nur die „Kehr-
seite der Medaille" genannt, so vergegenwärtigte ich mir
das eigentümliche Gewissen der Diener und Dienerinnen
des Bai, welche, indem sie sich, nicht nur im Tempel-
bezirk, der Sinnenlust für Geldlohn preisgaben, eben damit
eine religiöse Pflicht zu erfüllen glaubten. (Elagabals
Privatbordell im Palatium!) Ja, die Erscheinung des
Priesterkönigs Heliogabalus selbst, den Dio Cassius auch
consequent „unseren Sardanapalos" nennt, könnte als
„die praktisch gewordene Mythe von dem Löwen bändi-
genden und bei Omphale Wolle spinnenden Herkules",
(als welcher Sardanapal in der hellenischen Sage wieder
auftaucht), aufgefasst werden. Aber der tiefsinnige Mythus,
der die schroffen Gegensätze im Naturleben mit den
ebenso „unversöhnten Kontrasten von schlaffer Hingebung
und Obermenschlicher Anstrengung" in jenen Helden^-
■~i
— 263 —
gestalten bezeichnet, findet bei Elagabal doch nur nach
der einen Richtung hin seine Anwendung. Im übrigen
war es, abgesehen von seiner Naturanlage, die „vis fatalis'^
wie Kaiser Konstantin so treffend „das Schicksal, das die
Regenten auf den Thron ruft^^, nennt, welche Elagabals
„insania'' zur höchsten Spitze trieb. Und hier möchte
ich noch einer eigentümlichen Somphantasie über diesen
Kaiser gedenken, die sich mir ergab, als ich einige der
ungeheuerlichsten Stellen bei Lampridius in nähere Ver*
bindung zu bringen suchte.
Elagabal, weibisch wie er war, hat keine monumen-
talen Bauten, wie die männlicheren Kaiser, hinterlassen.
Dafür plante er jedoch ein Kolossaldenkmal seines
Gottes, dessen Ausführung unterblieb, weil man vor
seinem Tode den Riesenblock dafür in den ägyptischen
Steinbrüchen nicht fand. Ein gigantischer Phallus als
Wahrzeichen Roms auf dem Palatine! Und die Stadt
selbst dann in ihrer Einteilung, mit ihren Bewohnern,
ganz dem Dienste dieses Alleingottes unterstellt! „Bordell-
wirte übernehmen die Stadtpräfektur und stehen an der
Spitze der vierzehn Quartiere." Die Freudenmädchen und
Lustknaben werden zu Gemeinden organisiert, und indem
Elagabal in der That „sie von allen Orten in ein Staats-
gebäude einmal hatte bringen lassen, hielt er daselbst
eine Rede an sie, so wie ein Feldherr an seine Sol*
daten, und nannte sie Kameraden und Mitstreiterinnen".
„Bei ihrer Entlassung gab der Kaiser ihnen, nicht anders
als Soldaten, drei Goldstücke mit der Aufforderung
zu einem Gebete". „Sie möchten die Götter bitten, dass
sie ihn noch mehrere ihresgleichen finden Hessen!"
Rom als das Priesterkönigreich der unkeuschen Liebe!
Und daneben die andere Vision, nicht minder ein
Greuel fär den staatstreuen Römer. Ein Galgen,
ein Kreuz über der ewigen Stadt thronend! Die Quar-
tiere Roms in Kirchsprengel umgewandelt ! Die Priester
— 264 —
auch die Vorsteher der Paroohien! Das Heer des
Staates in die ^treiter Christi^ verkehrt! Ka-
meraden alle untereinander! Ein einziger Feldherr! Eiin
eimdges Kommando wort^ das sie leitet! Das Priester^
königtum der rein^i Liebe! Ungeduldig klopfte diese
Romanschaunng unter Elagabal an die Katakomben-
wände und — hat sich verwirkUoht. Aber was ist es
doch' für eine seltsame Empfindung, wehn ich die Kuppel
des Petersdoms von ferne aufsteigen sehe und dabei an
das palätiiüsche Balsymbol denke?
Osear Wilde.
Ein Bericht von Dr. jur. Numa Prätorius.
Am 1. Dezember 1900 starb in Paris im Alter von
44 Jahren der bekannte englische homosexuelle Schrift-
steller Oscar Wilde, dessen Prozess im Jahre 1895 grosses
Aufsehen in ganz Europa erregt hatte.
Oskar Flakertie Wills Wilde war 1856 geboren in
Dublin als Sohn eines Arztes und Schriftstellers. Schon
in Oxford zeigte er bedeutendes Talent und erhielt sämt-
liche Preise für Dichtung und Litteratur. Bald darauf,
erst 21 Jahre alt, machte er sich durch die VeröfiTent-
lichung eines Bandes von Gedichten bekannt. Sein Dichter-
talent und sein persönlicher Einfluss innerhalb der aristo-
kratischen Gesellschaft stellten ihn früh an die Spitze
der ästhetischen Bewegung, welche als Hauptprinzip den
Grundsatz „Part pöur Part* auf ihre Fahne schrieb.
Wilde gab nach und nach heraus: »Der Römer," „Das
Portrait von Dorian Gray,* einen Band Gedichte in Prosa,
ein Poem: „die Sphinx,* einen Band Novellen; dann folgten
seine Theaterstücke: »Der Fächer von Lady Windermere,*
»Eine Frau ohne Bedeutung,* „Der ideale Gatte* und
ein auch deutsch und französisch veröffentlichter Ein-
akter „Salome* und andere, welche alle den grössten
Erfolg errangen und seinen Ruf als Sohriflsteller über
England und Amerika^ sowie über ganz Europa ver-
breiteten.
Nach einer OrglnBlpboUigTspIue v. Allred EIUs A Wslei7, lioudon, W.
Oscar WUde.
— 267 —
Eine Zeitlang war er einer der am meisten geschätzten
und verhätschelten Dichter Englands, gleich beliebt beim
grossen Publikum und bei der geistigen Elite. Die Aristo-
kratie und die reichen Citymänner Londons empfanden
es als hohe Gunst, wenn der berühmte Dichter und ele-
gante Weltmann ihre Feste mit seinem Erscheinen beehrte^
Vom Zenith seines Kuhmes wurde er im Jahre 1895 jäh-
lings herabgestürzt. Wilde machte im Jahre 1891 die
Bekanntschaft des damals ungefähr 20jährigen Lord Doug-
las; beide wurden baJd intim befreundet. Der Vater von
Douglas, der Sprössling eines der ältesten mit der eng-
lischen Geschichte aufs Engste verwachsenen Adels-
geschlechter von Schottland, Marquis of Queensberry,
beschuldigte Wilde, seinen Sohn zu gleichgeschlechtlichem
Verkehr verführt zu haben, und schrieb ihm eine offene
Visitenkarte mit Schmähungen, die er ihm durch den
Portier des Albemarle-Klubs übergeben Hess. Wilde er-
hob Beleidigungsklage gegen Lord Queensberry. Letzterer
trat jedoch den Wahrheitsbeweis über die Sitten Wildes
an. Die Folge war Wilde's Verhaftung und Verfolgung
wegen Sittlichkeitsverbrechen. Douglas entfloh auf den
Kontinent
Wilde war in Gemeinschaft mit einem Mitschuldigen
der gewohnheitsmässigen Verführung von Minderjährigen
zur Unzucht sowie unzüchtiger Akte mit Jünglingen an-
geklagt. Im Laufe des Prozesses wurde der erste Punkt
fallen gelassen und nur der zweite aufrecht erhalten.
Da ein erstes Geschwornengericht sich über die Schuld-
frage nicht einigen konnte, musste Wilde vor ein zweites
gestellt werden. Dieses erklärte ihn der Vornahme un-
züchtiger Akte mit Männern für schuldig, worauf er vom
Richter zum Maximum der zulässigen Strafe, 2 Jahren
Zwangsarbeit, verurteilt wurde. Wäre statt blosser un-
züchtiger Berührungen vollendete oder nur versuchte
wirkliche Paederastie angenommen worden^ so hätte das
— 268 —
barbarische mittelalterliche Gesetz lebenslängliche und
auch beim blossen Versuch Zwangsarbeit bis zu 10 Jahren
gestattet
Die Frage der Homosexualität wurde seltsamer-
weise in dem Prozess gar nicht berührt^ es schien, als ob
eine solche Frage gar nicht existiere. Besonders auffällig
und für deutsche Begriffe geradezu unbegreiflich war die
Bolle der Behörde gegenüber den als Zeugen geladenen
männlichen Prostituierten und Erpressern. Dies waren
die Hauptzeugen gegen Wilde; obgleich sie zugestehen
mussten, von der Prostitution zu leben, und der Erpressung
überführt wurden, dachte Niemand daran, sie zu ver-
folgen, sie verliessen unbehelligt den Gerichtssaal und
der bisher unbescholtene berühmte Dichter, der über-
legene Geist, auf den England stolz sein durfte, musste
der beleidigten Moral zum Opfer fallen.
Ein allgemeiner und gewaltiger Sturm der Ent-
rüstung erhob sich über den „Fall Wilde*; die öffent-
liche Meinung geisselte ihn als den verworfensten
Menschen und grössten Verbrecher. Es schien, als sei
etwas Unerhörtes, nie Dagewesenes geschehen. Man be-
gnügte sich aber nicht, nur den Menschen Wilde zu be-
kämpfen, man wollte auch den Schriftsteller ausrotten.
Die Theaterdirektoren beseitigten seinen Namen aus den
Theatern, die Bibliotheken entfernten seine Bücher, Schau-
spielerinnen strichen die Rollen seiner Stücke aus ihrem
Spielplan.
Im Grunde galt der Prozess nicht bloss den Hand-
lungen, die Wilde begangen haben sollte, sondern seiner
ganzen Geistesrichtung, wie sie in seinen Werken hervor-
trat. Seine witzsprudelnden, von Sarcasmen und Paradoxien
erfüllten Schriften, sein überlegenes, der Schönheithuldigen-
des KünsÜertum, sein freier, die Rechte der Individualität
erfechtender, die Vorurteile verachtender Geist hatten
un schon längst — bisher machtlose — Feinde bei den
— 269 —
Moralphilistem und Pharisäern zugezogen. Jetzt konnte
Hass^ Neid und Bachsucht den eigenartigen Dichter
unter dem Vorwand entrüsteter Tugend in den Kot
ziehen.
Immer und immer wieder wurden daher in dem
Prozess Bruchstücke und einzelne aus seinen Werken heraus-
gerissene Sätze zur Charakterisierung seiner Dichtkunst
und Sinnesart hervorgezogen und dem Angeklagten zur
Schuld angerechnet. Nicht er allein^ auch seine Werke
wurden gebrandmarkt.
In England liessen ihn fast alle seine zahlreichen
Freunde im Stich. Alle, die sich noch vor kurzem durch
die Bekanntschaft mit dem gefeierten Dichter geschmeichelt
fühlten^ Alle^ die er unterstützt, Alle, die ihm Stellung
und Existenz verdankten.
Nur Wenige verleugneten ihn nicht, so namentlich
auch der ältere Sohn von Lord Queensberry und ein edler
Priester, der die Freilassung Wilde^s zwischen dem ersten
und zweiten Prozesse durch seine Mitbürgschaft sicherte,
dafür aber die unerhörtesten Schmähungen über sich er-
gehen lassen musste.
Es soll nicht geleugnet werden, dass Wilde das Leben
eines Oenusssexualen geführt und dass er seiner Sinnlich-
keit allzufreien Lauf liess, sein Leben soll sicherlich nicht
als Mustereines idealen Homosexuellen hingestellt werden;
aber das, was er gethan, ging nur ihn und sein Ge-
wissen an.
Wilde hat keine unerwachsenen Ejiaben verführt^ —
er hat nicht gegen die geschlechtliche Freiheit eines
Andern Verstössen. Wenn er mit erwachsenen Jüng-
lingen, di^ sich um Oeld hingaben, hinter geschlossenen
Thüren geschlechtliche Handlungen vorgenommen hat,
so verdient er, der Homosexuelle, keine schärfere Be-
urteilung als die Normalen, die den ausserehelichen Bei-
schlaf mit prostituierten Frauen ausüben.
— 270 —
In Paris^ wo Wilde eine Anzahl Freunde besass und
zwei Jahre früher glänzend gefeiert worden war^ fand
sich, wie immer in Frankreich, wenn es gilt, für Freiheit
und Humanität eine Lanze zu brechen, eine Keihe von
Männern, meist Schriftstellern, die eine Petition um Be-
gnadigung Wildes an die Königin von England richteten;
sie blieb jedoch erfolglos.*)
Trotzdem auch in Frankreich die meisten Zeitungen,
wenn auch nicht unter Schmähungen, so doch in iron-
ischem und entrüstetem Tone über den Prozess berichteten,
so erhob eine Anzahl Schriftsteller in verschiedenen
Zeitungen und Zeitschriften ihre Stimme zu Gunsten von
Wilde. So unter Andern der Kritiker Bauer im Echo
de Paris und der Dichter Hugues Rebell, der in einem
prachtvollen Aufsatz im Mercure de France (August 1895)
mit flammenden Worten die Ungerechtigkeit der Ver-
folgung und die englische Heuchelei geisselte.
Auch in Deutschland sind mir — wenigstens zwei —
Artikel bekannt, die in rechtlicher Weise den Fall Wilde
beleuchteten, von Dr. Handl in der ^Zeit*' vom 15. Juni
1895 und von Bernstein in der soziaUstischen Zeitschrift
„Die neue Zeit* Nr. 32 u. 34. (1894-95.)
Wilde musste die ganze furchtbare Strafe von zwei
Jahren Zwangsarbeit verbüssen. Keine Demütigung der
gewöhnlichen Gefangenen wurde ihm erspart^ keine Er-
leichterung ward ihm zu Teil.
Er litt namentlich körperlich entsetzlich unter der
Strafe, zeitweise war er dem Wahnsinn nahe, doch ge-
lang es ihm, die Strafzeit auszuhalten, ohne völlig körper-
lich und geistig zu verkommen. Nach Verbüssung seiner
Strafe verliess er England und nahm Domizil in Paris;
zeitweise reiste er nach Italien. Douglas, der vergeblich
*) Einen genauen Bericht über den Prozess nebst eigenen inte-
ressanten Bemerkungen über das Problem der Homosexualität in Dialog-
form brachte Sero (im Verlag von Spohr 1895 erschienen). Preis M; 1.50*
— 271 —
alles Mögliche für seine Befreiung gethan hatte^ blieb
sein Freund und war noch an seinem Sterbebette an-
wesend. In Paris lebte Wilde zurückgezogen und ziem-
lich einsam unter dem Namen Malmoth, dem Namen
eines einst berühmten englischen Romanhelden, einer Art
englischen Manfreds, der sich, von Liebe zur Schönheit
beseelt, wissentlich in die Verdammnis stürzt. Seine
Yermögensverhältnisse waren seit seinem Prozess sehr
dürftige, zuletzt war er sogar auf die Unterstützung von
Freunden, die ihm treu geblieben, angewiesen.
Auch in Paris hatten die meisten früheren Bewunderer
und Bekannten Wilde den Bücken gewandt, doch be-
wahrten ihm mehrere bekannte französische Schriftsteller
ihre Freundschaft. Noch den letzten Sommer konnte man
ihn in ihrer Gesellschaft täglich zu einer bestimmten Stunde
in einem bekannten Caf«^ auf dem Boulevard sehen.
Im Oktober hatte er sich einer lebensgefährlichen
Operation unterziehen müssen, an deren Folgen er im
Hospital de la Salpetrifere starb. Kurz vor seinem Tode
bekehrte sich Wilde, der protestantisch geboren war, zur
katholischen Religion.
Seit seinem Prozess hat Wilde nur wenig produziert.
Ich kenne aus dieser letzten Periode seines Lebens nur
die im ^Mercure de France*' im Jahre 1896 in französ-
ischer und in der „Wiener Rundschau*' vom 15. Oktober
1900 in deutscher Sprache veröffentlichte «Bidlade des
Blockhauses zu Reading'' zum Andenken eines im Ge-
fängnis hingerichteten Verbrechers, eines Reiters der
Leibgarde.
In dieser ergreifenden Ballade besingt Wilde die
Marter des Gefangnenlebens und die selbsterlebten Qualen.
Sodann findet sich von ihm in der , Gesellschaft" (in
einer der Mai- oder Juninunmiern 1900) seine kurze,
religiös angehauchte symbolistische Erzählung «Der gute
Riese.*
— 272 —
Schon äufiserlich fiel Wilde auf: gross^ stark, vob
ansehnlicher Körperfülle; das glattrasierte Gesicht halb
englischer Typus, halb römischer Cäsar, ein Gemisch von
Feinheit und Sinnlichkeit.
Zum ersten und letzten Mal sah ich ihn vergangene
Ostern in Rom. Das Selbstbewusstsein des überlegenen
Geistes, der seine Stütze in sich selbst findet und dessen
Innenleben keine Stürme zerstören können, lag in seinem
Wesen, aber die überstandenen Leiden schienen nicht
spurlos an ihm vorübergegangen zu sein: denn zugleich
erweckte er den Eindruck des Vereinsamten, Besignierten,
des Mannes, der auf immer in dem Grund seiner Liebe
erschüttert worden ist.
Es war im Colosseum, wo man mir ihn zeigte. Ln
Schein blendender bengalischer Feuer erglänzten die ge-
waltigen Trümmer, die Zeugen gewaltiger Zeiten ver-
gangener Kulturen. Buhig und in sich selbst gefestigt
stand er da, die hundertköpfige Menge mit seiner Ge-
stalt überragend, er selbst das Symbol einer verschwundenen
Grösse.
Von Charakter wird Wilde als gut und edel ge-
schildert. Bebell nennt ihn d^i zuverlässigsten Freund,
den diensteifrigsten, treuesten Menschen.
Wilde war, wie ich bestimmt weiss, homosexuell,
trotzdem er verheiratet war — nach einem Skandal liess
sich seine Frau von ihm scheiden. Diese Heirath, das
war ein Verbrechen, weit eher als die Thaten, wegen deren
er verurteilt wurde, die Verbindung mit einer Frau zu
dauerndem Bund, obgleich er wusste, dass er ihr keine
Liebe entgegen bringen konnte.
Seine Werke sind mehr geistreich als tief, mehr ge-
schmeidig und geschickt als kernig, keine Kost für das
grosse Publikum, Leckerbissen für verfeinerte Leser.
Glänzende Aper9us, blendende Paradoxien, frappante
Aphorismen flackern und gHtzern an hundert Stellen.
— 273 —
Sein berühmter Roman „Das Portrait des Dorian Gray "
«nthäit gleich zu Beginn der Schilderung homosexuelle
Gefühle, der Maler Hallward liebt deii jungen Dorian
Gray, der für ihn das Ideal körperlicher und geistiger
Schönheit bedeutet, dessen Gesellschaft und Anblick ihm
Lebensbedürfnis und Ansporn zu künstlerischem Sehaffen
geworden.
Die Zuneigung des Malers ist ganz ideal und geistig,
rein künstlerisch, ästhetisch verklärt gehalten, aber nichts
destoweniger homosexuell. Aus dem ganzen Ton und
Geist des Romans spricht die eigene umische Natur des
Verfassers selber, die weder männliche noch direkt weib-
liche Eigenart, die sich nur als homosexuelle bezeichnen
lässt. Worin dieser Charakter des urnischen Geistes be-
steht, lässt sich schwer ausdrücken und in bestimmte
Worte fassen, aber der Kenner der Homosexuellen wird
die Nuancen des homosexuellen Wesens herausfühlen.
Wilde selber hat auch die ideale Liebe des Malers
Hallward gekannt, nicht bloss die sinnlichere, die ihm
seine Verurteilung zuzog. Dies beweist seine anhängliche
Freundschaft mit Douglas und der Brief an diesen, den
man im Prozess gegen den Dichter ausnutzte.
Dieser Brief lautet:
,Mein einziger Junge! Dein Sonett ist ganz reizend,
und es ist wunderbar, dass Deine roten Rosenlippen
nicht minder zur Musik des Liedes sollten geschaffen
sein wie zur Leidenschaft des Kusses. Deine goldige
Seele schwebt zwischen der Trunkenheit der Leiden-
jschaft und der der Dichtung. Ich denke, Hyacinthus,
welchen Apoll so wahnsinnig liebte in den Tagen
Griechenlands, wärest Du. Warum bist Du allein in
London und warum gehst Du nicht nach Salisbury ? Gehe
hin und kühle Deine Hände in dem grauen Zwielicht
gothischer Altertümer und komme hierher, wann immer
Du magst. Es ist ein lieblicher Platz — nur Du fehlst
Jahrbuch III. 18
— 274 —
Aber geh' nur erst nach Salisbury. Immer, mit nie
ersterbender Liebe, der Deinige! Oskar.**)
Wie man auch über die Schwächen des Verstorbenen
denken mag, jedenfalls hat er büssen müssen in einer
Weise, die in keinem Verhältnis stand zu dem, was er
gethan. Selten ist die Wertschätzong eines Schriftstellers
so mit der Beurteilung eines Privatlebens verquickt worden
wie bei Wilde, selten hat sich die Gunst des Publikums
so plötzlich von einem Dichter abgewandt und durch
Momente beeinflussen lassen, die mit dem Kunstwert seiner
Werke nichts zu schaffen hatten.
Der Fall Wilde hat wieder deutlich gezeigt, welche
tief eingewurzelten Vorurteile über die Homosexualität
bestehen, wie mit doppeltem Masse hetero- und homo-*
sexuelle Neigungen gemessen werden, wie namentlich in
England eher wirklich verbrecherische Handlungen ver-
ziehen werden als gleichgeschlechtliche Leidenschaft.
*) Die Uebersetzung ist der Schrift von Sero (siehe oben Anm.)
entnommen.
Oskar Wilde's „Dorian Gray'',
Von
Johannes Gaulke,
Herausgeber des „Magazins fiir IJtteratur".
,Die Liebe, die in unserem Jahrhundert ihren Namen
nicht nennen darf, die Zuneigung eines älteren Mannes
zu einem jüngeren, wie sie zwischen David und Jonathan
bestand, wie sie Plato zur Grundlage seiner Philosophie
machte und wie wir sie in den Sonetten Michelangelos
und Shakespeare^s finden — jene tiefe geistige Neigung,
die ebenso rein wie vollkommen ist und die grössten
Künstler zu ihren bedeutendsten Werken begeistert hat
— jene Liebe wird in unserem Jahrhundert so missver-
standen, dass sie mich vor die Schranken des Gerichts
geführt hat. Aber dennoch ist sie schön und hoheils-
voll, die edelste Form jedweder Zuneigung. Sie ist nur
geistig, und sie besteht allein zwischen einem älteren
Mann und einem jüngeren, wenn der ältere geistvoll ist
und der jüngere noch seine unberührte, frische Hoffnungs-
und Lebensfreudigkeit besitzt. JDass es so sein muss, will
die Welt nicht verstehen. Sie höhnt und stellt bisweilen
den an den Pranger, der sie ausübt."
In diesen Worten hat der geistvolle englische Schrift-
steller und Dichter Oskar Wilde, der, einst von seiner
Gesellschaft vergöttert, dann in^s Elend gestürzt und
schliesslich heimat- und freudlos, sein Leben am SO.November
18*
— 276 —
1900 in Paris beschlossen hat^ sein ästhetisches und sitt-
liches Glaubensbekenntnis vor dem Central-Kriminal-Court
am 30. April 1895 niedergelegt Nach seiner Verurteil-
ung zu einer zweijährigen schweren Kerkerstrafe wegen
einer aus seiner homosexuellen Naturanlage hervorge-
gangenen That wurden über den unglücklichen Dichter
in der englischen Presse sowohl wie in der deutschen die
albernsten Märchen verbreitet, die auf den ersten Blick
das Gepräge einer böswilligen Erfindung trugen. Ich will
an dieser Stelle nicht untersuchen, wer an dem sogenannten
Verbrechen Wilde's schuldiger ist, er oder die Gesell-
schaft, die in Unkenntnis und ohne Berücksichtigung der
äusserst fein diiFerenzierten, höchst verschiedenartig
nuancierten Geschlechtsempfindungen der Einzelindividuen
einen starren Moralkodex aufgestellt hat — ich will nur
dem Dichter gerecht werden, der uns in seinem „Dorian
Gray***) ein Werk von litterarhistorischer und kultureller
Bedeutung hinterlassen hat, in dem das homosexuelle
Moment die tiefste und sachlichste Darstellung gefunden.
Dem oberflächlichen Leser wird allerdings die künst-
lerische Feinheit des leider noch nicht ins Deutsche über-
tragenen B»omans entgehen ; er dürfte wohl nur den Schmutz,
in welchem die Hauptfiguren herurawaten, bemerken, und
nicht die, im Grunde genommen, sittliche Tendenz, die den
Dichter bei der Abfassung seines Werkes geleitet hat.
Andere wiederum, welche der ästhetischen Anschauungs-*
weit Wilde's fremd gegenüberstehen, werden ihm in der
Entwickelung der Charaktere nicht zu folgen vermögen
und das Buch unbefriedigt aus der Hand legen. So ging
es mir, als ich „Dorian Gray" zum ersten Male las, ich
hatte wohl die Empfindung, dass ein starker Geist aus
dem Buche sprach, aber ich begrifi^ ihn nicht. Später,
nachdem ich mich mit dem Wesen und der Grundursache
*) Tho picture of Dorian Gray. Ward, Look & Co. Lim., London.
— 277 —
des Homosexualismus beschäftigt hatte und darauf das
Buch wieder zur Hand nahm^ da ging mir erst das Ver-
ständnis für dies eigenartige Werk auf, da erst lernte ich
die wunderbare Seelenanalyse, die der Dichter gegeben
hat, würdigen. Es giebt wenige Werke der modernen
Litteratur, die mich so anhaltend beschäftigt haben wie
„Dorian Gray". Es lässt uns in einen tiefen Abgrund
schauen, enthüllt uns aber auch die intimsten Kegungen
der Seele. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher
Meisterschaft Wilde die geheimen Fäden, welche sich von
Mensch zu Mensch spinnen, ohne dass sich der Einzelne
über die Grundursachen der Sympathien und Antipathien,
der leidenschaftlichen Zuneigung und des Hasses klar
wird, geschildert hat. „Dorian Gray" ist andererseits
auch ein höchst gefährliches Buch, aber nur für den, der
einen philiströsen Massstab an dasselbe legt und das Stoff-
gebiet der Litteratur und Kunst durch engherzige Moral-
vorstellungen eingeengt wissen will.
Der grosse Künstler — sei er Koman- oder Bühnen-
dicliter — kennzeichnet sich in erster Linie in der Cha-
rakteristik seiner Gestalten. Diese müssen stets so be-
schaffen sein, dass sich die Handlung notwendig aus ihrer
Anlage ergiebt, und nicht umgekehrt, wo der Charakter
der Handlung untergeordnet wird. In diesem Sinne hat
auch Wilde die drei Hauptcharaktere seines Romans, den
Lord Henry Wotton, Dorian Gray und den Maler Basil
Hallward aufgefasst. Jeder von ihnen repräsentiert einen
in sich abgerundeten Charakter. Bevor ich daher auf
die eigentliche Handlung des Romans eingehe, will ich
eine kurze Charakteristik der Hauptfiguren und des
Milieus, in dem sie leben, vorausschicken.
Der Lord Henry Wotton, dem, wie mir scheint, Oskar
Wilde sein eigenes ästhetisches Glaubensbekenntnis in den
Mund legt, der sonst aber in keiner weiteren Beziehung
zu dem Dichter steht, ist einer jener schönheitstrunkenen
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Mtissiggänger der „besten'' englischen Gesellschaft, der
, Upper ten*^, die, zu keinem bestimmten Beruf erzogen, ihre
Lebensaufgabe in der Befriedigung ihrer sinnlichen In-
stinkte erblicken. Lord Henry ist, wie man leicht zwischen
den Zeilen lesen kann, kein homosexuell Beanlagter, sondern
ein Mensch, der — um mich eines vulgären, aber sehr
zutreffenden Ausdrucks zu bedienen — alle Schulen durch-
gemacht, der das Liebesleben in allen Stadien so weit
durchkostet hat, bis er, angeekelt von dem eigenen Treiben
und dem Treiben der Welt, sich in sich selbst zurückzieht,
um nur noch seinem hochmütigen Personenkultus zu
huldigen. Lord Henry ist aber bei aller Blasirtheit kein
Dummkopf; zwar hasst er die produktive Arbeit, aber es
steckt dennoch etwas von einem Vollmenschen in ihm —
eine seltsame Mischung von Blasirtheit und ästhetischer
Kultur. Dorian Gray, der ihm wegen seines thatenlosen
Lebens das Ideal der Vollkommenheit ist, charakterisiert
er mit den Worten : ,Du bist der Typus, nach dem man
heute sucht, welchen man aber zu finden furchtet. Ich
bin glücklich, dass Du nie etwas gethan hast, weder eine
Statue gemeisselt, noch ein Bild gemalt, überhaupt
nichts Aeusserliches produziert hast. Das Leben ist Deine
Kunst gewesen. Du hast Dich in Musik umgesetzt. Deiae
Tage sind Deine Sonette gewesen." Ein Verfechter der
ästhetischen üeberkultur wie Lord Henry findet natürlich
Alles scheusslich, was unser praktisches Zeitalter hervor-
gebracht hat. Die Sünde allein ist für ihn das freudige
Element, das dem modernen Leben geblieben ist. Sehr
bemerkenswert ist eine Aeusserung über die Künstler, die
auf eine tiefe Erkenntnis der Dinge schliessen lässt : »Die-
jenigen Künstler, welche durch die Art ihres Auftretens
Andere entzücken, sind schlechte Künstler. Gute Künstler
geben Alles ihrer Kunst und sind daher an sich unin-
teressant. Ein wirklich grosser Künstler ist das un-
poetischste aller Lebewesen, dagegen sind die minder-
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wertigen Dichter durchgängig entzückend in ihren Um-
gangsformen. Je schlechter ihre Keime sind^ uiasomehr
machen sie von sich her. Die blosse Thatsache, eine
Sammlung schlechter Gedichte verö^fifentlicht zu haben,
macht einen Mann geradezu imwiderstehlich. Er lebt in
einer poetischen Stimmuog, der er keinen Ausdruck zu
geben vermag; die anderen dagegen halten die Poesie
fest, der sie in ihrem Privatleben nie Ausdruck verleihen
dürfen."
Wilde liebt es, sich in Paradoxen zu bewegen, doch
steckt in allen Aeusserungen, die er den Lord Henry
vortragen lässt, ein gesunder Kern und nicht selten auch
eine tiefe Lebensphilosophie. »Ich wähle zu meinen
Freunden Leute von angenehmem Aeusseren, zu meinen
Vertrauten solche von Charakter und zu meinen Feinden
Menschen von Verstand und Wissen. Ein Manu kann
nicht vorsichtig genug in der Wahl seiner Feinde sein.
Ich habe keinen Feind, der ein Dummkopf ist!" Und
weiter: „Leute, die nur einmal im Leben lieben, sind
Flachköpfe. Was sie als Zuneigung und Treue bezeichnen,
nenne ich geistige Unbeweglichkeit oder Mangel an Ein-
bildungskraft.** Es lässt sich über die in diesem Satze
enthaltene Anschauung debattieren, indessen lässt sich
nicht in Abrede stellen, dass derjenige, der einen solchen
Satz formulieren kann, tief hinter die Koulissen des Lebens
geblickt haben muss.
Die seltsame Mischung eines hyperästhetischen Em-
pfindens, einer Welt- und Menschenverachtung, einer sinn-
lichen Ueberreiztheit und einer moralischen Haltlosigkeit,
aus welchen Elementen Wilde seinen Lord Henry zu-
sammensetzt, gelangt am unmittelbarsten in seinen Aeusser-
ungen über das Weib und die heterosexuelle Liebe zum
Ausdruck. Die Weiber sind nach ihm jeder Romantik
bar, da sie stets versuchen werden, eine Liebesleidenschaft
zu verewigen. Die Ehe ist darum zu verwerfen. ^Die
— 280 —
Männer heiraten, weil sie erschlafil sind, die Weiber au»
Neugierde, aber beide sind nachher enttäuscht* Der
einzige Heiz, den man der Ehe vielleicht abgewinnen
könnte, ist der, dass sie beiden Teilen ein Leben voller
Enttäuschungen bereitet. Die eheliche Treue verschafft
uns allenfalls die stillen Freuden der Liebe, aber die
grosse, tolle Liebesleidenschaft kann nur der Treulose
empfinden. »Was die Leute doch für ein Geschrei von
der Treue machen! Und nach Allem hat sie doch nur
ein psychologisches Interesse. Mit unserem Willen hat
sie jedenfalls nichts zu thun; entweder beruht sie auf
reinen Zufälligkeiten oder sie ist eine Aeusserung des
Temperaments. Junge Leute möchten gern treu sein, aber
sie sind es nicht. Alte Leute wollen treulos sein und
können es nicht.* Mit einem ähnlichen Cynismus lässt
Wilde seinen Lord Henry auch über die Herzensbildung
und Güte der Menschen aburteilen. Es ist eben kein be-
sonderes Verdienst, gut zu sein. »Auf dem Lande kann
Jeder gut sein, weil es dort keine Versuchung giebt. Das
ist auch der Grund, dass Leute, die ausserhalb der Stadt
wohnen, so unzivilisiert sind. Zur Zivilisation gelangt
man nämlich nur auf zweierlei Art, entweder befleissigt
man sich der Kulturß,rbeit oder aber der Korruption.* —
Den Höhepunkt erreicht der Cynismus jedoch in dem Satz:
,Nur heilige Dinge sind wert, berührt zu werden."
Lord Henry treibt seinem Schüler Dorian Gray mit
einer bewunderungswürdigen Gründlichkeit alle feineren
Kegungen und namentlich die Achtung vor dem Weibe
aus. Die Weiber sind nach ihm nur ein dekoratives Ge-
schlecht. ^Sie repräsentieren den Triumph der Materie
über den Verstand, während die Männer den Triumph
des Verstandes über die Moral repräsentieren. Es giebt
nur zwei Arten von Weibern, die einfachen und die
temperamentvollen. Die einfachen sind durchaus nützlich»
Wepn Du in einen respektablen Ruf kommen willst, gehe
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mit einer von ihnen zum Souper. Die anderen Weiber"
sind in ihrer Art bezaubernd. Sie begehen aber einen
Fehler^ indem sie sich schminken, um gut auszusehen.
Unsere Grossmütter gaben sich einen anderen Anstrich,,
sie wollten nämlich in der Unterhaltung glänzen.
Schminke und Esprit sollten immer zusammengehen.
Damit ist es aber heute aus. Solange eine Frau zehn^
Jahre jünger aussieht als ihre Tochter, ist sie vollkommen
zufrieden gestellt. Was die Unterhaltung anbelangt, so-
giebt es in London eigentlich nur fünf Weiber, mit denen
zu sprechen es sich lohnt, und mit zweien von ihnen kann-
man sich nicht einmal in anständiger Gesellschaft sehen*
lassen.**
So sieht Lord Henry, der Lehrmeister Dorian Grays,.
aus. Im Ueberfluss und Luxus lebend, ist er zu einem
frivolen Spötter geworden, der jedes Verbrechen be-
schönigt, von Natur vielleicht nicht bösartig und pervers
angelegt, ist er durch die übermässige Befriedigung seiner
sinnlichen Instinkte und durch seinen Hang zum Müssig-
gang auf abschüssige Bahnen gebracht worden. Seine
glänzenden Geistesgaben vergeudet er in müssigen Speku-
lationen über ethische und ästhetische Begriffe, seine-
edleren Regungen sind abgestumpft, sein Geschlechts-
empfinden ist korrumpiert. Er hatte einst das Weib in*
brutaler Sinnlichkeit geliebt, nach seinem seelischen.
Bankrott hatte sich aber sein Verlangen auf die Jugend
konzentriert. Lord Henry ist demnach nichts weniger
als ein Homosexueller.
Ihm hat Wilde eine andere Gestalt gegenübergestellte-
die als der nobelste Typus eines homosexuell Beanlagten
gelten mag. Es ist der feinfühlige Maler Basil Hallward,,
dessen Liebe rein geistiger Natur ist, der nichts weiter
erstrebt, als die Gegenwart der angebeteten Person.
»Es ist wahr,* sagt er zu Dorian, „dass ich Dich
verehrt habe mit einer Stärke des Gefühls, wie es ge-
— 282 —
•wohnlich unter Freunden nicht der Fall ist. Ich habe
allerdings nie ein Weib geliebt Ich nehme an^ dass ich
nie Zeit dazu gehabt habe. Mag sein, dass eine wirkliche
grosse Leidenschaft auch nur das Vorrecht derjenigen ist,
die nichts zu thun haben. Von dem ersten Augenblick
£Ln, da ich Dich zum ersten Mal sah, gewannest Du einen
^ausserordentlichen Einfluss über mich. Ich muss ge-
«tehen^ dass ich Dich wahnsinnig anbetete. Ich war
eifersüchtig auf Jeden, der mit Dir sprach. Ich fühlte
mich nur in Deiner Nähe glüddk^ Wenn Du von mir
fort warst, warst Du doch in meiner Kuast gegenwärtig. . .
Ich habe Dich nie etwas hierüber wissen lassen, Du
würdest es auch nie verstanden haben, habe ich es doch
selbst nicht verstanden. Eines Tages entschloss ich mich,
ein herrliches Bild von Dir zu malen. Es sollte mein
Meisterstück werden. Und es ist mein Meisterstück ge-
-worden. Aber als ich daran malte, da schien jedes Atom
Farbe mir mein Geheimnis zu enthüllen."
Basil Hallward ist eine weniger faszinierende Per-
sönlichkeit als Lord Henry, aber in seinem Gefühlsleben
trotz seiner homosexuellen Anlage unendlich wahrer und
reiner als Jener. Während bei Henry die ästhetische
Kultur eine müssige Spielerei ist, ist es Basil bitterer
Ernst mit seiner Sache. Er gehört zu jenen proble-
matischen Naturen, von denen Goethe sehr zutreflFend
«agt, dass sie keiner Lebenslage gewachsen seien. ,,Die
Harmonie von Körper und Seele — wie gross ist sie?"
fragt er voller Bitterkeit. »Wir haben in unserer Be-
schränktheit beide von einander getrennt und haben einen
Healismus erfunden, der bestialisch ist, und einen Idealis-
mus, der leer ist.* —
Lord Henry Wotton und Basil Hallward sind die
beiden Personen, die im Leben Dorian Grays eine ver-
«hängnis volle Bolle spielen; der eine aus bewusster Frivo-
lität, der andere aus grenzenloser Liebe. Die Handlung
— 283 —
setzt in dem Atelier Hallward^s ein. Dieser hat das
Bildnis Dorian Grays, der zur Zeit noch ein unvwdorbener
Mensch war, gerade vollendet. Beide sind in inniger
Freundschaft mit einander verbunden, bis Lord Henry,
<der zu Dorian eine gewisse ästhetische Zuneigung empfand,
xiarüber hinzukam. Von nun ab vollzieht sich ein be-
merkenswerter Wandel im Charakter Dorian Gray's. Zu-
nächst wird er nur von der hyperästhetischen Kultur an-
gekränkelt. Henry hat ihm über die Vergänglichkeit
<der Jugend und die Schrecken des Alters des öfteren ein
Privatissimum gehalten. Nur das Leben in Jugend und
.Schönheit ist wert, gelebt zu werden! Dieser Gedanke
erfüllt ihn schliesslich mit Entsetzen. „Wie hässlich es
ist! Ich soll alt und runzelig werden, und mein Bild soll
ewig jung bleiben. . . Wenn ich es doch sein könnte,
der immer jung bliebe und das Bild, das älter würde!
Ich würde Alles — Alles dafür hingeben!* — Hier setzt
ein symbolistisches Moment ein, eine mysteriöse Hand-
lung, die neben der Haupthandlung einherläuft und diese
zu einem endgiltigen Abschluss bringt. Der Wunsch
geht in Erfüllung: Dorian bleibt jung, während sich an
dem Bildnis in dem Masse, wie er von Stufe zu Stufe
sinkt, eigenartige Wandlungen vollziehen. Diese That-
Lsache, die schliesslich nur in seiner Vorstellung lebt, er-
zeugt in ihm ein neues Gefühl des Entsetzens, aber auch
der Wollust.
Um diese Zeit macht er die Bekanntschaft einer ent-
zückenden, jugendfrischen Schauspielerin an einer Vor-
stadtbühne, die über eine grosse künstlerische Darstellungs-
kraft verfügt. Ihre Persönlichkeit wie ihre Künstler-
schaft zieht ihn im gleichen Grade an, und nicht lange
währte es, da hatte ihn eine heftige Leidenschaft zu ihr
ergriffen. Die Liebe macht ihn für den Augenblick
JEU einem besseren Menschen. ,Ihr Vertrauen macht mich
treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin.
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vergesse ich Alles, was Du (Lord Henry) mich gelehrt
hast. Ich werde ein anderer, als wofür Du mich bisher
gekannt hast. Ich bin total verändert, und der blosse
Druck von Sibyl Vane^s Hand lässt mich Dich und all
Deine unrechten, fascinierenden, aber giftigen Theorien
vergesseo." Es sind die Symptome einer echten, wahren
Liebe, die sich hierin kennzeichnen. Aber Dorian Gray
hatte schon zu viel von dem Gift, das ihm Lord Henry
durch seine verruchten Theorien eingeflösst hatte, in sich
aufgenommen, als dass die uneigennützige Liebe hätte
Bestand haben können. Als er eines Abends in Gesell-
schaft seiner Freunde das kleine Vorstadttheater besuchte,,
um ihnen seine angebetete Sibyl Vane zu zeigen, da er-
eignete es sich, dass sie aus ihrer Rolle fiel. Die Liebe
hatte eine seltsame Wirkung auf ihre Künstlerschaft aus-
geübt^ während sie vorher nur in ihrer Holle gelebt hatte,,
lebte sie jetzt in der Wirklichkeit. Das Theater erschien
ihr schal, die Vorgänge auf der Bühne erlogen, sie hatte
plötzlich die Fähigkeit eingebüsst, sich in das Gefühls-
leben Anderer hinein zu versetzen, weil sie jetzt ein eigenes
Gefühlsleben führte. Es schien ihr eine Profanierung,.
Gefühle zu erheucheln, die sie nicht mehr kannte.
Dorian, der schon zu stark von der hyperästhetischen
Kultur angekränkelt war, konnte diesen Umschwung der
Gefühle nicht verstehen. Ihr schlechtes Spiel hatte
seine Liebe zu ihr getötet. ,,Ich liebte Dich, weil Du
bewunderungswürdig warst, weil Du Genie und Intellekt
hattest, weil Du die Träume der grössten Dichter ver-
wirklicht und den Schatten der Kunst lebendige Gestalt
gegeben hattest. Du hast nun alles das von Dir geworfen.
Du bist jetzt flach und stupid. Mein Gott, wie habe ich
Dich einst geliebt! Welch ein Narr bin ich doch ge-
wesen ! . . Wenn ich Dich doch nie gesehen hätte ! Du
hast die Romantik meines Lebens vernichtet. . . . Geh',,
berühre mich nicht mehr."
— 285 —
Mit diesen Worten stösst er sie von sich. Sie bricht
-darüber zusammen^ wie ein verwundetes Tier, während
Dorian sie mit dem Ausdruck der höchsten Verachtung
betrachtet. ,iT>ie Leidenschaften Anderer haben immer
etwas Verächtliches für denjenigen, der aufgehört hat zu
lieben." Das ist die Philosophie, mit der er sich aus der
Affäre zieht. Er hat sich seines Meisters würdig er-
wiesen. Der aufmerksame Leser wird in diesem selt-
samen Umschwung der Gefühle einen feinen psycho-
logischen Zug entdecken. Als Dorian Gray das Ver-
hältnis mit Sibyl Vane anknüpfte, da regte sich schon
in seinem Unterbewusstsein eine, wenn auch noch nicht
ausgesprochen perverse, so doch stark von der Norm
abweichende Neigung. Seine Liebe war keine impulsive,
keine sittlich-sinnliche, sondern sie baute sich auf einer
ästhetischen Voraussetzung auf; er liebte nicht das Weib
an sich, sondern das, was schön und künstlerisch an ihr
war. Dass diese ästhetische Neigung, die mit seinem
Liebesbedürfnis unmittelbar verquickt ist, nicht auf das
entgegengesetzte Geschlecht beschränkt blieb, lehren
die weiteren Vorgänge in der Entwickelung Dorian Grays.
Sibyl Vane hatte die brutale Zurückweisung, die ihr
von dem Geliebten zu teil geworden war, nicht zu über-
leben vermocht. Am nächsten Morgen meldeten die
Zeitungen ihren plötzlichen Tod. Dorian, der sich doch
noch einen Best von Menschgefühl erhalten hatte, gerät
über diese Nachricht in den Zustand heftigster Erregung.
Er möchte Alles wieder gut machen, denkt auch schon
daran, fortan ein anderes Leben zu führen, da naht wieder
sein Verhängnis in der Gestalt Lord Henry's. Im Aus-
druck des grenzenlosesten Cynismus äussert er sich über
die Weiber und fährt dann fort: ,Du bist glücklicher
gewesen als ich, Dorian. Ich versichere Dich, dass keines
der Weiber, die ich gekannt habe, das für mich gethan
hätte, was Sibyl für Dich gethan hat. Gewöhnliche
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Weiber setzen sich bald darüber hinweg. Einige von
ihnen legen allenfalls noch sentimentale Farben an. Traue
nie einem Weibe, das sich mauve kleidet, wie alt sie auch
sein mag, am wenigsten aber einer fünfunddreissigiährigen,
die sich mit blassroten Bändern schmückt. Das lässt
immer auf eine Vergangenheit schliessen . . . Das Leben
wird Dir noch vieles bieten. Es ist jetzt an Dir, Deine
Siege zu behaupten. Bis jetzt ist Dir Alles in den Schooss
gefallen. Bewahre Dir nur Deine Seh önheit ! Wir leben
in einer Zeit, die nicht weise sein kann, weil zu viel ge-
lesen wird, und die nicht schön sein kann, weil zu viel
gedacht wird.**
Das Leben in Schönheit ist die Forderung, um die
sich bei Lord Henry Alles dreht, und er weiss sie in
so fascinierende Worte zu kleiden, dass er Dorian voll-
kommen für seine ruchlosen Theorien gewinnt. Alle
Selbstvorwürfe sind überwunden; noch an demselben
Abend finden wir beide Freunde in der Oper.
Bald darauf tritt Basil Hallward, der Maler, an ihn
heran mit der Absicht, ihn von dem moralischen Unter-
gang zu erretten, aber Dorian hatte schon zu viel von
den Theorien Lord Henry's in sich aufgenommen, als dass
er noch einer menschlichen Regung fähig gewesen wäre.
Die Vorstellungen d es Freundes weist er mit den Worten
zurück: „Sprich nicht über widerwärtige AfiFären. Eine
Angelegenheit, über die man nie spricht, hat sich nie er-
eignet. Es ist eigentlich nur der Ausdruck, der den
Dingen Realität verleiht ... Ich will nicht der Gnade
oder Ungnade meiner Gefühle unterworfen sein, sondern
über sie triumphieren." Entsetzt über diese Wandlung
wendet sich der Freund von ihm, zugleich dämmert aber
in ihm ein gewisses Schuldbewusstsein auf. Er hatte
für Dorian eine Liebe empfunden, die weit das Mass des
Gewöhnlichen überschritt. Auch für ihn war das Bild
zum Verhängnis geworden, indem es ihm seine mächtige
— 287 —
Leidenschaft vergegenwärtigte. Das Bild war ihm so
ans Herz gewachsen^ dass er es nicht einmal den profanen
Blicken auf der AussteHung zeigen wollte; nur Doria»
selbst durfte es besitzen.
Inzwischen hatten sich die merkwürdigsten Aender-
ungen an dem Bilde vollzogen. Dorian machte nach
seiner tragischen LiebesaiFaire die ihn mit Grauen und
Entsetzen erfüllende Beobachtung, dass der Ausdruck
stetig an Jugendfirische und Unschuld einbüsste und da^
für an Hässlichkeit und Frivolität zunahm. Um sich vor
diesem Mahner zu schützen, entschloss er sich endlich,,
das Bild in der entlegensten Bodenkammer zu verbergen.
Nun konnte er sich ungestört im Geiste seines Meisters
weiter entwickeln. Und dieser bot ihm die umfassendste
Gelegenheit dazu. Eines Tages schickte er ihm ein^
französisches Buch, von dessen Lektüre die letzte und
grösste Wandlung im Gefühlsleben Dorians zu erhofiFen
war. Es war von einem jungen Pariser geschrieben, dessen
Spezialität es war, sich in die Gedankengänge und Leiden-
schaften der verflossenen Jahrhunderte hineinzuleben, um
die Nichtigkeit alles dessen, was ist, zu beweisen, nament*
lieh aber jene Verzichtleistung auf den Lebensgenuss,
für welche man das Wort Tugend erfunden hat, als einen
grossen Unsinn hinzustellen. Es Meir ein gefährliches
Buch. Die Aeusserungen des Intellekts und der Sinne-
der verschiedensten Zeiten waren in einen so engen
Connex gebracht, dass der Leser kaum noch die spiritua-
listischen Ekstasen eines mittelalterlichen Heiligen von
den krankhaften Konfessionen eines modernen Sünder»
zu unterscheiden vermochte. Das sinnliche Leben war
mit einer mystischen Philosophie umkleidet, die den Leser
gefangen nehmen musste. Als Lord Henry seinen Schüler
später fragte, ob es ihm gefallen habe, da antwortete er :
i,Ich kann nicht sagen, dass es mir gefallen hat, es hat
mich aber fasciniert. Das ist ein gewaltiger Unterschied."
— 288 -
«Nachdem Du dies entdeckt hast^ hast Du eigentlich
^Ues entdeckt^" entgegnete Lord Henry. Er durfte mit
seinem Schüler zufrieden sein. —
Während vieler Jahre konnte Dorian den Eindruck
-dieses Buches nicht verwischen, und er wollte es auch
nicht. Denn die darin vertretene Philosophie beschönigte
alle Laster und Verirmngen. Dorian Gray sank immer
tiefer; es kursierten die merkwürdigsten Gerüchte über
ihn. Er war in der Gesellschaft fremder Seeleute in den
entlegensten Quartieren von Whitschapel gesehen worden,
•das Weib hatte nach der Affare mit Sibyl Vane aufge-
hört eine Rolle in seinem Leben zu spielen. Die Frauen,
die ihn einst leidenschaftlich verehrt hatten und die um
seinetwillen allen gesellschaftlichen Vorurteilen getrotzt
hatten, vergingen vor Scham und Entsetzen, wenn sie
seiner ansichtig wurden. Er hatte die chronique scanda-
leuse Londons um mehrere Kapitel bereichert. Alle seine
Freunde hatten sich von ihm zurückgezogen, nur Lord
Henry blieb ihm treu. Und bei aller Lasterhaftigkeit
erhielt er sich jugendfrisch und schön, für Jeden ein ver-
bindliches Lächeln auf den Lippen.
Wiederum vergingen mehrere Jahre, Dorian hatte
sein Bild und dessen Schöpfer vergessen und lebte nur
seinen sinnlichen Neigungen, da wollte es der Zufall, dass
er mit Basil Hallward wieder zusammentraf. Dieser war
gerade im Begriff, eine längere Reise zu unternehmen.
Hallward dringt wiederum in ihn, sein Leben nach an-
deren Grundsätzen einzurichten. Es kam zu einer leb-
haften Aussprache zwischen den einstigen Freunden;
Hallward äusserte den Wunsch, auf den Grund von
Dorians Seele zu sehen.
„Auf den Grund meiner Seele! — Ja, Du sollst es,*
-antwortete Dorian, abwechselnd blass und rot werdend.
Sie stiegen die Treppe zur Bodenkammer hinauf,
— 289 —
Dorian enthüllte sein Bildnis, gleich darauf entschlüpfte
Hallwards Munde ein Ausruf des Entsetzens. Das Bild,
•das er dort sah, war Dorian, und wiederum nicht, die
äussere Form war geblieben, aber der Ausdruck hatte
gewechselt. Alles, was Dorian in seinem Leben ver-
brochen hatte, alle Schuld, mit der er seine Seele beladen
hatte, dort in dem Bildnis war es niedergeschrieben. Der
Wunsch, den er einst leichtfertig geäussert hatte, war in
Erfüllung gegangen.
„Lass uns zusammen beten, Dorian, ** forderte ihn
Hallward auf. „Das Gebet Deiner Eitelkeit ist in Er-
füllung gegangen; das Gebet Deiner Reue soll es erst
recht. Oh, ich habe Dich zu tief verehrt. Ich bin dafür
bestraft worden, Du hast Dich selbst angebetet. Nun
jsind wir beide gestraft."
Dorian betrachtet abwechselnd das Bild, dann den
Freund, darauf bemächtigt sich seiner plötzlich eine
wahnsinnige Wut auf Hallward, in dem er den Urheber
seiner Qual vermutet, und seiner Sinne nicht mächtig,
^eift er zu einem Messer und ersticht den Freund. Kein
Angstgefühl, keine Keue über seine That empfindet er
mehr. Er lässt den Leichnam durch einen jungen Che-
miker, mit dem er einst in Beziehungen gestanden hat
und der aus Furcht, von Dorian verraten zu werden, auf
•die That eingeht, in seine Bestandteile auflösen. Dorian
ißt gerettet, sein seelisches Gleichgewicht ist wieder soweit
hergestellt, dass er noch einmal den Plan fasst, ein
besserer Mensch zu werden. Die mannmännliche Liebe
erfüllt ihn für den Augenblick mit Entsetzen und er
wendet sich einem unschuldigen Landmädchen zu. Ohne
ihrer zu begehren — was ihm nicht besonders schwer
gefallen sein dürfte — , kann er mit ihr verkehren. Das
war der Anfang zu einem neuen Leben. Nie wieder
wollte er die Unschuld versuchen.
Jahrbuch IIT. 19
— 290 —
Neugierig, ob diese Wandlung sich auch in dem Aus-
druck seines Bildes kennzeichnen würde, stieg er wieder
die Treppen zur Dachkammer empor, wie damals, als er
Basil Hallward zum letzten Mal dorthin begleitete. Aber
was er erhofil hatte, war nicht eingetreten. Das Bild
war schauerlicher anzusehen denn je — es war mit Blut
besudelt. Einst hatte es ihm ein gewisses Vergnügen
gemacht^ den Wechsel zu beobachten, jetzt erfüllte ihn
diese Erscheinung mit Furcht und Schrecken. Und
während er verzweifelt um sich blickte, da entdeckte er
das Messer, mit dem er Basil Hallward erstochen hatte»
Ein neuer Gedanke durchzuckte ihn. Wenn das Bild
vernichtet sein würde, sollte er da nicht befreit sein ? Er
griff nach dem Messer und durchschnitt die Leinwand
von oben bis unten. — — In demselben Augenblick
wurde ein furchtbarer Schrei im Hause vernommen, der
die Diener aus ihrer Nachtruhe erweckte.
„Als sie den Raum betraten, fanden sie an der Wand
das herrliche Bildnis ihres Herrn hängen, so wie sie ihn
zuletzt gesehen hatten in der ganzen Pracht seiner Jugend
und Schönheit. Auf dem Boden aber lag ein Mann in
Nachtkleidung, in dessen Brust ein Messer stak. Seine
Haut war verblüht und runzelig, und sein Gesicht trug
einen ruchlosen Ausdruck. Seine Identität mit Dorian
Gray konnte nur durch die Ringe, die dieser zu tragen
pflegte, nachgewiesen werden.*
Dorian Gray hatte die Schuld seines Lebens mit dem
Tode gebüsst. Das ist der versöhnende Schluss des Ro-
mans eines Mannes, der zu seinem Unglück unter Ver-
hältnissen lebte, die ihm jede Ausschweifung gestatteten^
und einer Gesellschaftsschichte angehörte, die überhaupt
den Sinn für die harmlosen Freuden des Lebens verloren
hatte. Aus diesem Milieu strebt nur eine Gestalt, die
des Malers Basil Hallward, empor zu lichten Höhen,
291
Aber auch ihm war das Kainszeichen seiner Geburt nur
zu stark aufgeprägt. Ein düsteres Geschick bereitet ihm
ein frühzeitiges Ende. Es steckt etwas von tragischer
Grösse in dieser Gestalt. Hier hat Wilde das Beste
gegeben, das in ihm war. Man hat bei der Lektüre die
Empfindung, dass der unglückliche Dichter sich in Basil
Hallward, sein Schicksal vorahnend, selbst gezeichnet hat.
Auch er hat seine Schuld gesühnt.
rxl
19*
Die Wahrheit über mich.
Selbstbiographie einer KoDträrsexuellen.
Selbstbiographie — Selbstberäucherung! Man sollte
die Hände davon lassen. Und doch thue ich es nicht.
Warum nicht? Weil ich wiederholt aufgefordert wurde,
mit der Wahrheit der guten Sache zu dienen. Allein —
— ich fürchte, fürchte!
Ich bin durchaus keine von denen, welche, unglück-
lich über ihren Zustand, das Köpfchen hängen lassen
und jedem zurufen mächten: »Ach, wir armen Ausnahmen!
Verzeiht, dass wir auf der Welt sind!" Nein, ich bin
stolz auf meine Ausnahmsstellung. Ich werfe das Haupt
in den Nacken, stampfe mit dem Fusse auf und spreche
keck: „Siehe, das bin ich!'
Ich wurde in einer kleinen Kesidenz, als Tochter
eines Privatgelehrten, geboren und bin das älteste von
acht Geschwistern. Ob erblich belastet oder nicht, das
bleibe hier unerörtert; denn wenn ich auch etwas in der
edlen Wissenschaft der Medizin Bescheid weiss, so
fühle ich mich augenblicklich doch nicht berufen, eine
gelehrte Abhandlung zu schreiben. Vielleicht später
einmal.
Meine Jugend ging hin wie diejenige aller — Knaben,
welche den herrlichen Vorzug gemessen, zugleich die
Freiheiten des Landlebens mit den Annehmlichkeiten der
Grossstadt verbinden zu können, was wohl nur eine kleine
Ecsidenz gewährt. Wenn ich sage, ich lebte wie die
— 293 —
Knaben, so bediene ich mich absichtlich dieses Aus-'
druckes ; denn erstens fühlte ich mich schon damals voll-
kommen als ^Bube", und zweitens wurde mir das un-
schätzbare Glück zuteil, eine vollständige Jungenerziehung
zu empfangen.
O wie bedauerte ich die armen Mädchen, welche
„ehrbar und sittsam", die Büchertasche unter dem Anne,
die Notenmappe an der Hand, dahin schreiten musst^n,
während ich mich mit meinen tollen Kameraden herum-
balgte und -jagte, dass die Wangen glühten und die
Haare wild im Winde flatterten. Man versuchte mich
auf diese Haare eitel zu machen und bewunderte den
natürlichen Kopfschmuck so lange, bis ich, kurz ent-
schlossen, zum Friseur ging und — mich scheeren liess.
Wozu auch dieses unnütze Anhängsel, welches mir beim
Laufen und Springen nur hinderlich war? Die Buben
hatten das viel bequemer. Weshalb sollte ich es ihnen
nicht gleich thun ? Der Haarkünstler war zuerst so ent-
setzt über meine Aufforderung, dass er mich ganz starr
ansah und in den Ausruf ausbrach: »Nein, das ist zu
schade! Ich thue es nicht!"
„So gehe ich einfach zu einem anderen."
Dieses half. Er machte noch einen schwachen Ver-
such, mich durch Ueberredung zurückzuhalten, mit dem
Hinweis, dass das »prächtige Haar* erst in drei Jahren
seine Jetzige Fülle und Länge" wiedererhalten haben
würde.
»Die soll es ja überhaupt nicht wieder bekommen.
Wozu lasse ich denn den Rummel herunternehmen?"
Als er sah, dass alles nichts nützte, machte er sich
mit einem schweren Seufzer ans Schneiden.
Hei, wie forsch kam ich mir nach vollendeter That
vor! Nun sollte es nur jemand wagen, mich „Mädchen"
zu schimpfen, wie es kürzlich Winterfelds Fritz gethan!
Ich war gerade so gut ein Junge wie er auch. Jetzt
— 294 —
blickte ich sogar, und zwar mit Stolz, in den Spiegel,
was ich sonst für eine höchst überflüssige Sache hielt.
„Soll ich das Haar vielleicht brennen ?**
Ich brach in schallendes Gelächter aus.
,0 nein, nein! Ich will mich doch nicht zum Dandy
heranbilden !'*
Der Künstler wickelte meinen Zopf säuberlich in
Seidenpapier und wollte mir denselben feierlich über-
reichen.
»Was sollich damit anfangen? Behalten Sie ihn nur!"
»Würden Sie ihn für zehn Mark verkaufen?"
Gern willigte ich ein. Dafür konnte ich mir ein
hübsches Buch anschaffen. Und Bücher, Bücher, die sind
stets meine Passion gewesen und auch geblieben. So
trollte ich denn wohlgemut nach Hause, wo es natürlich
gehörige »Dresche* gab. Wasthatdas?So etwas schüttelte
man bald wieder ab, und an der Hauptsache war nichts
zu ändern. Auch kam das redlich erworbene Geld, mit
dem ich noch an demselben Tage zum Buchhändler eilte,
mit inbetracht.
Wie schon gesagt: Bücher liebte ich leidenschaftlich.
Es waren aber keine »Herzblättchens Zeitvertreib'', Töchter-
albums etc., zu denen es mich zog, sondern Robinsonaden,
ludianergeschichten u. dgl. Darüber konnte ich mit den
Kameraden sprechen. Ja, wir sprachen nicht nur darüber,
wir spielten auch Indianer. Aus unserem „Räuber und
Gensdarme" war mit der Zeit eine ganze Räuber- und
schliesslich Zigeunerbande entstanden. Ich wurde zum
Hauptmanne erwählt und ein zarter, blonder Spielgenosse
war die »Köchin" des ganzen Trupps, »weil er so herr-
lich Spatzen braten konnte". Das Schiessen der Sperlinge
besorgten wir Uebrigen mit sogenannten Flitzbogen. Wir
besassen eine gehörige üebung darin und lachten uns bei
einem Fehlschusse gegenseitig aus.
Mitten auf dem Felde hatten wir einige Zelte auf-
— 295 —
geschlagen und in demeineu derselben einen steinerneu Herd
errichtet. Das Holz stahlen wir — Zigeuner müssen stehlen
— von einem benachbarten Bauplatze. Wartenbergs
Karl hatte eine Bratpfanne, eine Schachtel „Schweden* und
nach und nach ein ganzes Schock Eier aus der heimat-
lichen Küche nebst einem grossen Stück Speck, Butter
und einer Tüte Salz herbeigeschleppt. Aus den um-
h'egenden Feldern wurden Kartoffeln, Rüben u. dgl. auf-
gehoben. Und so litten wir, wenn wir von der Jagd oder
anderen wilden Streifzügen zurückkehrten, keine Not;
denn unsere ^famose Köchin" hatte in der Zwischenzeit
alles wohl zubereitet und sogar die Sperlinge ausgenommen
und gerupft.
Aber die Sache sollte ein Ende mit Schrecken nehmen,
als wir uns daran machten, in einem ziemlich entfernten
Dorfe einem Bauern ein Huhn zu stehlen. Der Alte
wolltiß unsere Erläuterung, dass wir Zigeuner wären, nicht
verstehen und erklärte sich erst dazu bereit, von einer
Anzeige abzustehen, nachdem wir unsere ganze Barschaft
zusammengeschossen und ihm dieselbe als Ersatz für den
fast gehabten Verlust zurückgelassen hatten.
Ich aber fühlte mich gedrängt, als Hauptmann der
Bande ein strenges Gericht über die unwürdigen Mit-
glieder zu halten, welche so dumm sein konnten, sich ab-
fassen zu lassen. Auf einen Wink von mir wurden die
Bösewichter von den Kameraden mit Taschentüchern und
Bindfäden, die wir zum Zwecke des ^Drachensteigen-
lassens** gewöhnlich bei uns trugen, gefesselt und in den
nahen Wald geschleppt. Ich stieg auf einen Baum —
klettern konnte ich aus dem ^ff**. — War damals auch
leider noch nicht die bequeme Mode eingeführt, ein „R^d-
fahrerkostüm", d. h. eine festgeschlossene ^Pumphose"
unter dem Frauenrock zu tragen, so konnte ich es doch
wegen einer sehr praktischen Methode den Knaben in
allen Leibesübungen, im Welleschlagen, Kopfstehen, auf
— 296 ~
den Händen gehen u. s. w. gleiehthun. Ich trag beständig
eine grosse „Sicherheitsnadel" bei mir. Mit derselben
befestigte ich das hintere ICnde meines Rockes^ indem ich
es durchzog, an den vorderen Teil des Kleides. So hatte
ich die mir leider versagte Hose. Ich muss gestehen^ dass^
ich fast bis zu meiner Universitätszeit den Glauben hegter
der ganze Unterschied zwischen den ^Jungens" und mir
bestände einzig und allein in der Kleidung, und ich war
zuweilen recht unzufrieden darüber, dass man mich von
Anfang an durch den Anzug zum Mädchen gestempelt
hatte. —
Nachdem ich zur Bestrafung der Uebelthäter meinen
erhöhten Sitz eingenommen hatte, fielen auf meinen Wink
die Fesseln, und ich hielt strenges Gericht. Die Haupt-
missethäter, d, h. die Dümmsten, empfingen den nieder-
schmetternden Urteilsspruch, dass sie heute »Hannchen* —
so nannten wir unsere Köchin, während man mir den
Namen „Haas* beigelegt hatte — im Haushalte assistieren
sollten, indessen wir auf einen frischen, fröhlichen Kriegs-
zug ausgehen würden.
Schweigend, mit finsteren Gesichtern, fügten sie sich
dieser Grausamkeit, da sie wohl wussten, dass ein Wider-
spruch ihr Schicksal nur verschlimmem konnte. Wie in
einer Leichenprozession gingen sie hinter uns her und
folgten uns nach Hause, das will sagen, in unsere Zelte.
Als wir aber ausgezogen waren und Hannchen den
einen bat, die Rüben „zu schaben'', den anderen, die
Kartoffeln ^zu schälen', brachen Unwille und Revolte aus,
„Wir sind keine Mädchen, wir können und werden
nicht kochen !**
Häuschen versuchte beide zu beruhigen. Umsonst^
Kurt ergriff einen brennenden Holzspahn und zündete das
Zelt an. Da auch die übrigen luftigen Wohnungen nicht
weit lagen und ein kräftiger Wind blies, so sprang die
Flamme lustig weiter und das Feuer flackerte hell empor^
— 297 —
Es hätte ein Unglück geben können; denn, wie schon«-
43rwähnt, lag ein grosser Bauplatz mit vielem Holze ganz
in der Nähe. Aber die dort beschäftigten Arbeiter hatten
den Brand sofort bemerkt. Sie eilten herbei, und es-
glückte ihnen in kurzer Zeit, zu löschen.
Natürlich wurde die Geschichte in der Stadt bekannt.
Und es war wohl keiner von unserer ganzen Zigeuner-
bande, der ohne Schläge davonkam. Was indessen noch
schlimmer war, man deckte die meisten unserer Streiche-
auf. So erzählte man sich z. B. — nicht ohne allen
Grund — dass wir im Nachbardorfe ein Schweinchen-
.„gemopst** hätten; dann aber sollten wir dasselbe, wahr-
scheinlich, weil wir nicht genau wussten, wie es schlachten,
braten oder zu Wurst machen, in einen Teich gesetzt haben..
Das Tierchen schwamm seelen vergnügt zum anderen Ufer.
Hier wurde es sofort von einem vorübergehenden Handels-
manne in Empfang genommen und auf die Schulter ge-
laden, wohl in der Absicht, dasselbe dem Eigentümer
zurückzubringen. Uns jedoch kam die Sache etwas un-
wahrscheinlich vor, und wir schickten zwei Abgesandte
unserer Gesellschaft auf das nächste Bürgermeisteramt, um
den ehrlichen Wanderer des Schweiiiediebstahlos zu zeihen^
Die weitere Folge war, dass der ursprüngliche Besitzer
sein Viehlein wiedererhielt.
Wie viel an der Sache wahr ist, will ich, meiner Kame-
raden wegen, nicht verraten, auch nicht, ob wir wirklich
die Fenster der Schlosskirche eingeworfen haben, wie
man behauptete. Genug, dass man uns dessen für fähig
hielt. Gegen jeden von uns wurden, da so etwas j^denn
doch über die Hutschnur ging*, gebieterische Massregeln
ergriffen, und mir untersagte man ein für alle Mal, mit
den Jungen zu spielen.
Nun, das war nicht so schlimm. Ich hatte vgenug
gespielt — dass ich mich mit Mädchenumgang entschädigen,
könnte, der Gedanke ist mir nie gekommen — jetzt nahm.
— 298 —
ich meine Zufluciit zw den lieben Büchern. Ich ging in
•des Vaters Bibliothek und las alles, was mir in die Hände
fiel, besonders Kriegsgeschichten und Seeabenteuer.
O, weshalb konnte ich nicht Soldat, weshalb nicht
Matrose werden?
Ich will nicht behaupten, dass ich besonders gern
lernte. Ich bewältigte mein Pensum hauptsächlich aus
Ehrgeiz. Das Arbeiten wurde mir leicht. Etwas einmal
hören oder einmal durchlesen, und die Sache sass, blieb
auch haften. Die schriftlichen Aufgaben schüttelte ich,
sozusagen, aus dem Aermel. Aber es wäre auch oft das
einmalige Durchlesen, das Ausdemärmelschütteln unter-
blieben, wenn es mir möglich gewesen wäre, in der Klasse
einen anderen Platz als den ersten innezuhaben.
Wir hatten in unserem Städtchen eine kleine Privat-
schule für Knaben. Da dieselbe hauptsächlich für meine
Vettern — meine Brüder waren damals noch zu jung —
und auf besondere Verwendung meines Vaters einge-
richtet worden war, so wurde mir die Erlaubnis erteilt,
im sämtlichen Unterrichtsfächern teilzunehmen. Das war
'etwas für mich! Natürlich bestärkte es mich noch mehr
in dem Glauben, dass ich , eigentlich* ein Knabe und
kein Mädchen sei.
Nebenbei hatte ich Handarbeitsstunden, Konversation
in den neueren Sprachen, usw. Es war indessen merk-
würdig: Eine so gute Schülerin ich in den Augen meiner
Lehrer war, eine ebenso unausstehliche, trotzige, eigen-
sinnige war ich den Lehrerinnen gegenüber, sobald ich
für dieselben nicht „schwärmen" konnte. Und zu diesem
Gefühle riss mich nur die zwanzigjährige Französin fort,
weil — sie so wunderbar grosse blaue Augen, so herr-
liches schwarzes Haar hatte, überhaupt so schön war.
Ich erfuhr bald, dass die Offiziere der Kesidenz meinen
<xeschmack teilten, worauf ich nicht wenig stolz war.
Als indessen einer derselben meine Angebetete als Gattin
— 299 —
heimführte, hätte ich diesen am h'ebsten gefordert. Nichts
konnte mich bewegen, zu der Hochzeitsfeierlichkeit, zu
welcher ich geladen war, zu gehen. Ich schloss mich den
halben Tag über in mein Arbeitszimmer ein und stampfte
von Zeit zu Zeit heftig auf den Boden. Damals war ich
14 Jahre alt.
Im nächsten Monat sollte unser Klassenunterricht
ein Ende haben. Die Knaben, meist älter als ich, hatten
ihr Einjährigen-Zeugnis „in der Tasche* und bezogen
das Gymnasium einer grösseren Stadt. Und ich, die ich
das beste Examen gemacht hatte? Ich wurde nicht
aufgenommen, weil — ich ein Mädchen war. Das war
die erste wirkliche Enttäuschung meines Lebens. Weinen
lag nicht in meiner Natur. Ich musste handeln, trotzen.
Ich wollte dennoch meine Abiturientenprüfung bestehen,
und noch früher als meine Freunde.
So verschaffte ich mir den Lehrplan der betreffen-
den Schule und arbeitete mit Hülfe meines Vaters nach
demselben. Nebenbei trieb ich Musik, in welcher ich es
jedoch nie zur Vollkommenheit gebracht habe. Eines
Tages hörte ich, wie die ganze Stadt in Aufregung war,
da eine Dame aus der Gesellschaft, welche mir sehr wohl
bekannt, in dem jugendlichen Alter von achtzehn Jahren
ihr Lehrerinnenexamen gemacht habe.
„Wenn es weiter nichts ist!" dachte ich, ging zu der
Vorsteherin der betreffenden Bildungsanstalt und Hess
mich von dieser zunächst privatim prüfen. Mir wurde
der Bescheid, dass ich wohl die nötigen Kenntnisse habe,
aber nicht das vorgeschriebene Alter. Selbst für die
Aufnahme in die Selekta sei ich noch zu jung. Was thnn?
Warten hiess die Losung! Ich hatte mir einmal vor-
genommen, auch dieses Examen zu bestehen, und darum
liess sich nichts an der Sache ändern.
Dass man mir, gleichfalls wieder privatim, die
Abiturientenprüfung abnahm — noch bevor meine früheren
- 300 —
Spielkameraden fertig waren — wurde mit vieler Mühe
durchgesetzt.
Nun ging es nach der Schweiz^ um mich fiir das-
Universitätsstudium zu immatrikulieren. Zunächst hiess
es , Philologie'. Ich musste ja noch das Lehrerinnen*
examen machen. Dieses wurde, nachdem ich „das vor*^
geschriebene Alter*' glücklich erreicht hatte, glänzend
absolviert. Bei der Prüfung hörte ich die Bemerkung,
dass jedes einigermassen begabte Mädchen nicht auT
halbem Wege stehen bleiben dürfe, d. h. dass dasselbe
selbstverständlich auch die Schulvorsteherinnenprüfung
machen müsse.
Ich erkundigte mich sofort nach den Bedingungen
und, o Schreck! erfuhr, dass fünf Jahre Unterrichts-
praxis, worunter zwei an einer öffentlichen Schule, ver-
langt würden. Jetzt war guter Rat teuer. Doch nicht
lange. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Adieu vor-
läufig schöne Studentenzeit, Freiheit und Jugendtollheit!
Nun zunächst die Brille auf die Nase gesetzt — ich be-
sann mich rechtzeitig eines Besseren und unt^rliess es,,
denn ich bin durchaus nicht kurzsichtig — -, das Antlitz
in ehrbare Falten gelegt und unsere Heranwachsenden
auf den Weg der Tugend und Wissenschaft geführt, den-
selben als glänzendes Muster vorangeleuchtet!
Vor dem engeingegrenzten Schulleben hatte ich
rechte Angst; aber es musste ja nicht sogleich sein. Ich
konnte während der drei ersten Jahre eine Erzieherinnen-
steile annehmen, trotzdem man mir sehr davon abriete
Indessen hörte ich auf keine Vorstellungen, bin ich doch
stets meinen ersten Eingebungen gefolgt und habe somit
die Wahrheit des Sprichwortes erfahren: „Dem Mutigen
gehört die Welt*.
Auch dieses Mal gelang es mir wieder. Ich fand
eine beneidenswerte Stelle, hatte eine vorzüglich begabte
Schülerin, wenig Arbeit, ein ideales Familienleben und
— 301 —
herrliche, köstliche freie Zeit. Dieselbe benutzte ich
hauptsächlich, um mich der Schriftstellerei hinzugeben
in welche ich schon seit meinem — zwölften Jahre hinein-
gepfuscht hatte.
Freilich musste ich mich zuweilen losreisseo, um die
Lieben, mit denen ich zusammenlebte, nicht damit zu
kränken, dass ich mich ganz von der Geselligkeit zurück-
zog. Ich fuhr zu Diners auf die Nachbargüter, zu Abend-
unterhaltungen, sogar zu Bällen. Und da ich ein fideles^
ausgelassenes Ding war, welches ich übrigens noch jetzt
bin, amüsierte ich mich stets königlich, wurde überall
gern gesehen und hatte genügend Anbeter.
— „Ah, ha!" wird man sagen, „endlich! Es ist zu
langweilig, immer und immer nur: Das that ich — das
machte ich — und dergl. — und dergl. Gar nichts von
Liebe?*
Nur Geduld ! Das sogenannte Gefühlsleben habe ich
mir bis zuletzt aufgespart. Erst den Hafer fertig ge-
droschen, die Schablone zu Ende gezirkelt! Es währt
nicht mehr lange.
Rechte Trauer empfand ich, als die herrlichen drei
Jahre vorübergeflogen waren. Gern wäre ich länger bei
den mir sehr teuer gewordenen Personen geblieben. Aber
durfte ich es denn? War denn nicht mein Aufenthalt
hier nur Mittel zum Zwecke? Nein, nein, es ging nicht!
Ich widerstand energisch allen Bitten; denn ich wollte
mein Ziel nicht aus dem Auge verlieren.
Also nur zu! Hinein in das wahre Philistertum!
Eine Stelle als Lehrerin war schnell gefunden, und ich
gewöhnte mich rascher an meinen neuen Beruf, als ich
gedacht hatte. Stand ich vor der Klasse, so war ich
Schulmeister, nichts als das — ich muss dieses Talent
wohl geerbt haben — ; hatte ich die Zöglinge, welche
mit einer wahren Begeisterung an mir hingen, verlassen,
60 war ich wieder eine ganz, ganz andere.
-- 302 —
Da ich in meiner Freizeit fleissig schrieb, so wai'en
die zwei Jahre unmerklich dahingeschwunden. Das Vor-
steherinnenexamen wurde gemacht, und — hurra, hurra!
— zurück ging es zum fröhlichen Studentenleben!
Wie ich dasselbe zugebracht? Nun: Wie alle. In
der ersten Zeit gebummelt, gekneipt, gespielt, die Freiheit
in vollen Zügen ausgekostet, auf die Beige geklettert etc.!
Ich bin eine enthusiastische Naturschwärmerin, und eine
schöne Landschaft kann mich bis zur Trunkenheit, bis
zum Wahnsinn begeistern. Ueberhaupt erfasse ich mir
sympathische neue Eindrücke mit einer inneren Glut,
einer Leidenschaft, die sonderbar mit meiner äusseren
Kälte und Ruhe kontrastieren. Man sollte meinen, dass
etwas in dieser Weise Aufgenommenes schnell ver-
schwinden, rasch verwischt werden müsste. Nein, es
bleibt; es haftet mit demselben Feuer, welches keiner
Steigerung mehr fähig ist.
Der zweite Teil des Universitätsprogramms ist jedoch:
Arbeiten. Ich hatte, neben Astronomie und alten Sprachen,
jetzt die Medizin als Hauptstudienfach ergriffen und
wollte auch hier meinen männlichen Herren Kollegen
nicht im Wissen und Können nachstehen. So machte
ich denn ein recht gutes Examen und Hess mich als
,, Privatgelehrte'* in einer der idyllischsten Gegenden
unseres Vaterlandes nieder, wo ich vereint mit »Ihr" noch
heute ein Leben führe, wie es im Eden nicht himmlischer,
nicht seliger sein kann.
Aber es gehört Mut, viel Mut dazu. Habt denselben,
meine Mitschwestern, zeigt, dass Ihr ebenso gut existenz-
und liebeberechtigt seid, wie die »normalfühlende" Welt!
— Trotzt derselben, und man wird Euch dulden, man
wird Euch anerkennen, und man wird Euch sogar be-
neiden! Die Waffen hoch! Es muss und es wird ge-
lingen. Ich habe es erreicht. Weshalb sollte es Euch
nicht allen, allen gelingen?
— 303 —
„Aber", höre ich erwidern, „du bist in Deutschland,-
Denke an die in Oesterreich! Ach, hättest du eine
Ahnung von den Qualen^ den Kämpfen, der Angst derer,,
die beständig das Damoklesschwert des Gesetzes über
sich schweben sehen!"
Ihr Armen, Armen! Wann wird Euch die Stunde-
der Erlösung schlagen ? Wann wird sie unsern Brüdern
schlagen, die mit uns das Geschick haben, Ausnahmen^
von der alltäglichen Schablone, von dem uralten, ewigen^
Naturgesetz zu sein? Kann Mutter Natur sich denn
irren? Dürfen wir überhaupt von Ausnahmen, krank-
hafter Veranlagung und Aehnlichem sprechen? Könnten"
wir nicht eher eine , Absicht* als eine „Zufälligkeit" sein?'
Ueber alle diese Fragen ist schon so unzählige Male ge-
stritten worden und wird noch so unzählige Male ge-
stritten werden, dass ich heute nicht näher darauf ein-
gehen mag. Werft mir nur den Handschuh hin! Ich
hebe ihn auf und werde Euch\ die Antwort nicht schuldig
bleiben.
Hoch die Waffen! Bis er fällt, dieser Unglücks-
paragraph! Wie viel Elend hat er schon angerichtet^,
wie viel Kummer verursacht! Warum sollen, warum
müssen die Unschuldigen leiden, „die der Himmel auch
fühlend schuf", jedoch in einer Weise, welche die All-
täglichkeit nicht begreifen will? Wohlverstanden! Iclv
verlange keine Ausnahmsmoral. Was ich fordere, ist
Menschlichkeit, Unparteilichkeit, gleiches Recht für alle.
Doch : Ich versprach, einige Züge aus meinem Liebes-
leben zu geben. Kurz gesagt: Ich hatte nie geliebt und
glaubte mich frei von aller ,, Gefühlsduselei*, aller Sinn-
lichkeit, bis ich vor einigen Jahren derjenigen begegnete^,
welche von der Zeit ab alle meine Sinne gefangen nimmt,,
der mein Leben geweiht sein wird bis zum letzten Atem-
zuge.
,, Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren mit
— 304 —
•«ünd'gen Flammen eitler Erdenlusf*^ so dachte ich oft,
wenn die grosse Frage an mich herantrat: , Willst du
•die Meine werden? Willst du mir folgen durch die Stürme
des Lebens?*
«Nein und abermals nein!" sagte ich mir stets.
Warum? Ich wusste es selbst nicht. Ich fühlte ein
•etwas, welches mich mit magischer Gewalt zurückhielt,
und ich bin diesem «etwas* sehr, sehr dankbar. Ich
lachte über Liebe und hielt das Ganze für albernes Zeug,
für eine Erfindung des müssigen Dichtergeistes, obwohl
ich selbst dichtete und mich zuweilen ins schwärmerische
Fach verstiegen hatte.
War es doch auch zunächst die hässliche Form, in
welcher die Liebe an mich herantrat! Er war vermählt.
Ich, kaum vierzehn Jahr alt, war seine Schülerin gewesen.
Mein Geist, meine schnelle Auffassungsgabe, meine Talente
fiatten ihn geblendet. In einer Stunde, welche er mir
allein gab, liess er sich von seiner Leidenschaft hinreissen.
Ich lief in der Bestürzung davon, war indessen so harm-
los, dass ich mich bald fragte, warum ich denn geflohen^
•ob es nicht Pflicht und Schuldigkeit gewesen wäre, meinem
fast vergötterten Erzieher den Kuss der Dankbarkeit zu
.:geben. Glücklicherweise besass er Ehrgefühl genug,
sich sofort versetzen zu lassen. Was hätte daraus ent-
stehen können? Mich schauderte später bei dem Gedanken.
Dann boten sich mehr oder weniger annehmbare
Partien. Wir Konträrsexuelle sind oft von Bewerbern
•und Anbetern umgeben. Was man nicht erreichen kann,
das reizt. Eine Festung, welche sich erst nach dem
hundertsten Sturme ergiebt, hat auch den hundertfachen
Wert.
Und leider, leider ergeben sich die meisten von uns
schliesslich doch. Fast alle Konträrsexuellen heiraten.
Ihr seht mich verdutzt an und wollt mir wohl gar heftig
antworten? Ihr wenigen Un vermählten, welche Ihr die
— 305 —
Schrift lest ? Seht Euch vor ! Hütet Euch ! Ich warne recht-
zeitig. Vielleicht wird auch einmal die Reihe an Euch kom-
men. Doch Ihr seid es weniger, für die ich fürchte, Ihr
Wissenden, Eingeweihten und Sehenden. Ich halte Euch für
mutig genug, selbst das bischen Lebensunterhalt zu er-
werben, für welches sich tausende und abertausende ver-
kaufen. Auch werdet Ihr nicht so kleinlich sein. Euch
-des armseligen Spottes wegen, der einer „alten Jungfer^'
anhaftet, in das Joch der Ehe mit einem Geschöpfe zu
49türzen, welches Ihr nicht verstehen und lieben könnt,
welches sein gebieterisches „Er soll dein Herr sein" schon
vom ersten Augenblicke Eurer Verbindung an zur Geltung
bringen möchte.
Warum übrigens immer noch in unserer aufgeklärten
Zeit das Vorurteil gegen „die alte Jungfer^^, welches viel,
^ehr viel Unheil anrichtet? Einer der Hauptgründe
dürfte der sein, dass man leider noch zu wenig mit dem
Wesen des Konträrsexualismus vertraut ist, dass man nichts
von der Ehe derjenigen versteht, welche scheipbar gleichen
Geschlechtes sind. Man sollte bedeutend mehr einschlä-
gige Schriften lesen. Ich hatte das Glück, dass mir wäh-
rend meines medizinischen Studiums verschiedene Sachen
von Krafft-Ebing in die Hand fielen.
O, wie schaute ich auf! Wie wurden mir die Augen
geöffnet! Wie leicht, wie zielbewusst fühlte ich mich
nach der Lektüre! Jetzt war es mir klar, dass ich nie,
nie einen Mann heirathen dürfe. Ich legte mir Rechen-
schaft über mein bisheriges Leben ab, erkannte meine
vollständige Kälte dem anderen Geschlechte gegenüber
und gestand mir ein, dass mich manches Weib durch
Schönheit, Anmut, Grazie, auch durch natürlichen Ver-
stand, bezaubert, wenn auch noch nicht zur Liebe hinge-
rissen hatte.
Ich wollte wachsam bleiben und die Augen offen be-
Jabrbuch III. 20
— 306 —
halten. Der aufmerksam um sich Blickende wird den
Weg nicht verfehlen, •
Aber, achl Wie viele liegen noch im Unbewusstsein,
ohne Ahnung von ihrem wahren Zustande? Und diese sind
es, für die ich zittere. Sie suchen sich unter ihren ver-
schiedenen Bewerbern, aus einem der oben angegebenen
Gründe oder aus einem anderen, denjenigen aus, welcher
ihnen als die vorteilhafteste Partie erscheint, nehmen
auch wohl den ersten besten und geben sich der sanften
Hoffnung hin: „Die Liebe kommt in der Ehe.** Aber
ach! ach!
Ich schweige von dem Leide, welches folgt, und das
ich so oft Gelegenheit hatte mit anzusehen. Wohl giebt
es einige unter uns, die Phantasie genug besitzen, sich
in die Arme der angebeteten Freundin hinein zu träu-
men, während sie in denen des Mannes liegen. Ja eine
Bekannte beichtete mir sogar, dass sie auf diese Weise
zweimal Mutter geworden sei. O über solchen Schein,
solche Heuchelei, solchen Betrug! —
Von meiner Ehe zu sprechen — so bezeichne ich
absichtlich mein Verhältnis zu meiner teuren Freundin
— , zögere ich immer wieder, weil mir dieselbe zu heilig
erscheint ; aber es würde unrecht sein, etwas zu verheim-
lichen. Ich lernte „sie* auf einem Waldfeste kennen.
Die Natur hatte mich berauscht. Am Ufer des See's
wollte ich mich ausstrecken, um ungestört mein erhitztes
Innere zu beruhigen. Da lag „sie** unter einer Eiche,
ganz in Rosa gekleidet.
Nicht weiter! Das Ganze ist so märchenduftig,
so thaufrisch, dass man die Erzählung schliesslich für
einen Roman halten könnte.
Sie war vermählt. Ich machte alle Stürme der
Eifersucht, der Verzweiflung durch, wollte mit ihr
fliehen, sie entführen, und musste mir doch sagen, dass
- 307 —
ich kein Recht dazu habe. Ich erfuhr auch erst
nach dem Tode ihres Gatten, welcher plötzlich auf
der Jagd erfolgte, dass sie mir gleichfalls in Liebe
zugethan. Von diesem Augenblicke an leben wir
zusammen als Ehepaar. Mein holdes, trautes Weib-
chen schaltet und waltet in unserem gemütlichen Heim
als echte deutsche Hausfrau, und ich arbeite und er-
werbe für uns beide als thatkräftiger, lebensfroher Mann.
E: Krause.
20*
Wie ich es sehe.
Von Frau M. F.
Sei stork — wirf's in die Welt! —
In der Schule sehwärmten alle Mädchen für den
Literaturlehrer — ich nicht. Mir verursachte die fran-
zösische Lehrerin Herzklopfen. Sie war nur für ein Jahr
engagiert^ während dieser Zeit stürzte ich mich mit Feuer-
eifer auf's Französische. Als sie die Stadt verliess, ward
mir so jämmerlich und elend zu Mute, dass ich selbst
nichts mit mir anzufangen wusste. Dann kam lange Zeit
nichts. Ich wuchs, das war Alles. — Zunächst belebte
mich wieder eine Lehrerin. Diesmal war's eine Eng-
länderin, die zu uns ins Haus genommen war. Ich zählte
etwa 14 Jahre. Miss Mary weckte alle weichen, zärt-
lichen Regungen in meinem Herzen. Es gab keine
willigere Schülerin, keine, die eifriger war, keine, die
schnellere Fortschritte machte. Allmählich lebte ich nur
durch die selbst noch junge, blonde Fremde, die sich
ebenfalls in heisser Sympathie mir zuneigte. Wir lasen
Elise Polko's „ Musikalische Märchen" und der Himmel hing
uns voller Geigen. Nach zwei Jahren hiess es : Scheiden.
Ich glaube, gemeinhin unterschätzt man die Leidens-
fähigkeit eines Kindes. Wenn ich jetzt zurückschaue,
wie ich damals durch die Wälder stürmte, so empfinde
ich förmliches Mitleid ob der zuckenden Herzschläge,
die die arme Kleine in Not und Verzweiflung jagten.
Wieder folgte eine Weile nichts. Die sogenannten
, Verehrer* kamen mir immer nur komisch vor. Dann
— 309 —
heiratete ich mit 17 Jahren. Ich glaube, ich galt für eiü
herziges Ding, dem man leicht gut sein konnte. Wir
waren viele Kinder daheim, vom „Beruf' war zu jener
Zeit bei Mädchen noch kaum die Rede, also fort mit ihnen.
Trotz aller elterlichen Liebe war jedes doch ein Esser
mehr im Hause. — Wenn mein Bräutigam nicht zärtlich,
war ich ganz zufrieden, sollte doch meine Ehe die Brücke
zu einem Wiedersehen mit Miss Mary bilden. Das Hess
mir Alles in rosigem Schimmer erscheinen. — Meine
geistige Entwicklung nahm, so weit ich mich zurück er-
innere, zu jener Zeit keine grossen Wandlungen an. Ich
war immer noch nicht ich selbst geworden, aber ich litt
nicht etwa tief unter der dicken Decke fremder Farbe,
die an mir klebte. Ich war Gattin und Mutter und —
nichts, — trotz alledem.
Jahrelang hatte ich die Engländerin nicht gesehen,
als mir eine Oesterreicherin begegnete, ein Geschöpf, das
in Allem scheinbar das strikteste Gegenteil von mir.
Alles trennte uns: Sie die Kraft, ich die Weichheit; sie
rücksichtslos bis zur Brutalität, wenn es galt, sich durch-
zusetzen, ich schwach bis zur Feigheit in dem gleichen
Falle. Nichts schien uns zu vereinen: Sie blauestem Ge-
blüt entstammend, ich Jüdin. Dennoch war etwas von
Anbeginn stärker als alle Schranken. Wir begegneten
uns auf rein geistigem Felde und wurden zur Notwendig-
keit Eine für die Andere. Ich wusste nicht, dass leiden-
schaftliche Freundschaft so einschneidend in ein Leben
eingreifen konnte.
Nur wenige Wochen blieben wir vereint, dann begann
ein Briefwechsel, der an Eigenart durch Jahre hinaus
nichts zu wünschen übrig Hess. Meiner Freundin Feder
trug Alles zu mir, was auf literarischem Gebiete, in Poli-
tik, in Kunst und Wissenschaft sich ereignete. Zärtlich-
keitsausbrüche ihrerseits existierten kaum. „Du bist da
und mein Geschöpf, das schien ihr so selbstverständlich.
— 310 —
dass nie daran gerüttelt wurde. — Was ich ihr zu sagen
hatte^ war stets in eine Hülle zarter Hingebung gekleidet.
Anfangs wusste ich manchmal gar nicht, was schreiben.
Aber nach und nach gewann mein Geist Kraft, meine
Seele Flügel, meine Brust weitete sich, meinem Auge er-
glänzte allmählich eine neue Welt. — Jahre kamen und
gingen. Die Kunst umschlang uns mit stärkstem Bande,
ich stets bereit, den Regungen ihrer Künstlerseele nach-
zuspüren, ihre Leiden zu tragen, ihre Erfolge zu bejubeln.
So gewann, was zuerst Anempfindung gewesen, eigenes
Leben. Keime, die brach gelegen, begannen kraftvoll in
mir zu spriessen. Freuden und Leiden lehrte sie mich
kennen.
Sonderbar blieb es, dass meiner Freundin Anwesen-
heit für mich durchaus nie eitel Sonnenschein brachte.
Im Gegenteil. Trotz der Freude, sie einige Tage oder
Wochen um mich zu wissen, zuckten meine Nerven gerade
dann in unbegreiflicher Rebellion — entweder ich weinte
oder ausgelassene Heiterkeit umfing mich. Ich wusste
mich nicht Herr dieser rätselhaften Stimmungen. Erst
getrennt von ihr erstarkte wieder meine Kraft.
Einst, als wir wieder nach kurzem Beisammensein
schieden, schlenderte ich, da mein Zug erst etliche Stun-
den später fällig, durch die Strassen Leipzigs. Der Ab-
schied lag mir dumpf und bleiern in den Gliedern, gleich-
zeitig fühlte ich mich unbefriedigt — leer — einsam.
Vor einem Buchladen blieb ich stehen. Mein Auge
streifte die Titel der Bücher. ,Die Enterbten des Liebes-
glückes •*, was hiess das? Magnetisch zogen mich die
Worte an, deren Bedeutung mir vollständig rätselhaft.
Dunkel dämmerte etwas in mir auf, dass mich, gerade
mich eben dieses Buch interessieren müsse. Sollte ich
es kaufen? Ich schwankte. Eigentlich graute mir vor
dem unbekannten Inhalt, und doch — und dennoch —
zitternd hielt ich es in Händen — zitternd, als ob mein
— 311 —
Todesurteil fallen sollte, durchflog ich die Seiten — eilte
zur Bahn^ riss die Blätter mitten durch und warf sie aus
dem Zuge. Am liebsten wäre ich ihnen nachgesprungen.
Ein wirres, verworrenes Bild war mir in die Seele ge-
glitten, etwas von „in Wahnsinn enden oder von Selbst-
mord*^ hatte ich behalten. Ich war damals 32 Jahre alt.
Der Abschied, die sommerliche Glut hatten meine
Nerven ohnehin gepeinigt — dies, vereint mit den Ein-
drücken des Buches^ warf mich auf's Krankenlager.
Sterben — schien mir nach der Enthüllung das letzte
Glück, die einzige Lösung. Ja, ich wollte sterben —
aber — ich starb nicht. Fortgesetzt schüttelte mich
wirres Entsetzen, dem mein Verstand thatsächlich leicht
zum Opfer hätte fallen können. Dennoch genas ich.
Wie ein dunkler Traum entschwand das Buch, an das
mich äusserlich nichts erinnerte, meinem Gedächtnis. An-
fangs hatte ich wohl versucht, die Freundin aufzugeben,
als ich aber der den Zusammenhang nicht Ahnenden etwas
vom „Aufhören und Ende machen" schrieb, lachte sie
mich einfach aus. So blieb Alles beim Alten. Bald
nachher erglühte sie für einen Mann. Ich litt alle Mar-
tern der Eifersucht, obgleich ich überzeugt war, der
Grösse meines Empfindens würde kein Mensch stand
halten, Niemand könne je den Spuren ihres Geistes
folgen gleich mir. — Leise imd allmählich vollzog sich
in mir dann die Wandlung, voll und ganz erfuhr
ich das: „Ich suchte Dich und hatte mich gefunden." —
Mich — mich — voll zagen Staunens, starr fühlte ich
mein Königtum. Alles war aufgegangen, jedes Samen-
korn, ihrem Einfluss entsprossen, trug Frucht. Und wonne-
voll dehnte ich die Glieder. Nichts mehr von qualvollen
Schauern — von Angst und Pein. Meine tief innerste
Veranlagung, die Alles, was das Dasein mir an Werden
und Wachsen beschieden, vom Weibe, von Wesen des
•eigenen Geschlechtes empfangen, schreckte mich nimmer
— 312 —
Eine fast selige Gewissheit überkam mich: Ich unter-
schied so viel seelische Hoheit und Lauterkeit in meinen
Empfindungen, dass ich lächelnd auf alP den Schlamm
und Schmutz sah, den das Leben fast überall bereit
hält.
Ich bin keiner Lebenswerte verlustig gegangen. Im
Gegenteil. Eine vielseitige, schattierungsreiche geistige
Sympathie bringt der hochstehende Mann mir entgegen.
Ich lehrte unbewusst Viele, dass eine Seele lieben tiefen
Zauber einschliesst. Meine Freunde haben mich nötig.
Ich teile ihre Interessen, eine schöne freiere Form waltet
im Verhältnis von mir zu ihnen, ja die wundersame Nu-
ance sympathischer Gefühle, die der Franzose so aus-
gezeichnet „l'amitie amoureuse** bezeichnet, löst meine
Wesensart sichtlich oft im Manne aus, eine besondere
Melodie schwingt zwischen ihm und mir. Und eine be-
sondere Melodie erklingt in der Stille meiner Seele : Alle
feinen, zarten Sensationen, die die Freundin mir gegeben,,
verdichten sich mir zur Schaffenskraft — die Ekstasen
meiner Brust nehmen Form und Gestalt an; aus der
Vergeistigung der Triebe strömt mir ein silbern klarer
Quell, sprudeln mir Leidenschaft und Glut, meine Aus-
nahmsseele hebt mich aufwärts, über Leiden und Qualen
hinweg; so ist ein Talent gezeugt und in Wonneschauern
geboren.
Vom Weibmann auf der Bühne-
Eine Studie von Dr. med. W. S.
Eine neuerdings sehr beliebte „Attraktion" unserer
Spezialitätentheater ist der als Dame verkleidete Mann^
der sich bald Damenimitator, bald Damendarsteller, bald
Soubrettenparodist, bald Sopransänger nennt, in jedem
Falle aber seine Haupttriumphe nicht sowohl durch seine
gesangskünstlerischen Leistungen (obwohl diese zum Teil
sehr respektable sind), als durch die graziöse Art feiert,
womit er Damenkleider zu tragen und im Auftreten,
Gestus und sonstigen Gehaben die Weiblichkeit mehr
oder weniger geschickt nachzuahmen, über sein wahres
Geschlecht zu täuschen versteht. Die Sache ist eine an-
genehme und für Leute, die guten Humor besitzen und
nicht a priori in jedem Mann im Weiberrock etwas ihr
ästhetisches und moralisches Empfinden Verletzendes er-
blicken, sehr unterhaltende Spielerei, die, mit Geschick
und Temperament durchgeführt, in die Programme der
Spezialitätentheater, Quartettsängergesellschaften etc. eine
aparte und frische Abwechselung hineinträgt. Dass diese
Spezialität (sie wird in Frankreich und England übrigens
weit mehr kultiviert, als z. Zt. noch bei uns in Deutsch-
land) auch in psychopathischer Hinsicht vieles Interessante
darbietet, das eine Behandlung dieses Gegenstandes in
unserem „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" gerecht-
fertigt erscheinen lässt, soll im Folgenden zu beweisen
versucht werden.
— 314 —
Der Wunsch, sich als Mädchen zu verkleiden, ist in
gewissen Jahren auch bei denjenigen Jungen, die nicht
im Entferntesten zur Homosexualität neigen, die vielmehr
später als wirkliche Repräsentanten robuster Männlichkeit
auftreten, weit verbreitet. Eine gewöhnliche Frage an
die katholischen Knaben bei der Ohrenbeichte lautet:
„Hast du etwa Mädchenkleider angezogen? Wann? Wie
oft?" die der so Interpellierte meist, wennschon imter
Erröten (die Vorliebe für Mädchenkleider ist zwar keine
Todsünde, aber doch, in Beibehaltung des alttestament-
liehen Standpunktes, ein „Greuel", ein Unrecht!) mit einem
„Peccavi !" beantworten wird. (? D. H.) Charakteristisch ist,
wie bei den in vielen Schulen veranstalteten theatralischen
Aufführungen die männlichen Darsteller der weiblichen
Bollen meist den Vogel abschiessen und sofort nach ihrer
Verkleidung, gleichsam als werde durch die Weiberkleider
der weibliche Teil ihrer Seele geweckt und frei gemacht,
das weibliche Wesen instinktiv mit verblüffender Korrekt-
heit treffen, sodass sie meist in den ungewohnten Kleidern
sich nicht nur nicht unbeholfen, sondern anmutig und mit
ungezwungener Selbstverständlichkeit zu bewegen wissen.
Man begreift^ wenn man diese jungen Herren und die
liebenswürdigen Leistungen ihres Talents (oder ihres Na-
turells) beobachtet, dass das althellenische Theater und
die Bühne Shakespeares wahrlich nicht schlecht versorgt
waren, indem sie sämtliche Frauenrollen männlichen Dar-
stellern zuwiesen. Bekannt ist, dass man in China und
Japan noch heutigen Tages soweit geht, die Darsteller
weiblicher Bollen zu verpflichten, auch ausserhalb des
Theaters Weiberkleider zu tragen, auch im Privatleben
sich als Weiber zu fühlen und zu beschäftigen. Die
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass auch im alten
Griechenland, wie jetzt noch in Japan und China, die für
Frauenrollen geeigneten Männer nach Erreichung eines
gewissen Alters als Mädchen gekleidet worden sind.
— 315 —
Auf unserer modernen Bühne begegnet man den\
Manne in Frauenkleidern höchstens liin und wieder in
einigen Possen und Schwänken, bei denen es keineswegs
auf eine virtuose Täuschung über das wahre Geschlecht,
sondern ausschliesslich auf burleske Spässe abgesehen ist.
Der Mann muss sich stellen, als seien ihm die Weiber-
kleider unbequem, als verstehe er nicht, sich darin zu
bewegen. Man wünscht hier über täppisches Zugreifen,
über ungeschicktes Operieren lachen, nicht über eine
wirkliche Täuschung lächeln zu machen. Statt dessen hat,
wie gesagt, der in Weiberkleider gehüllte und weibisch
geschmückte Mann auf unseren Spezialitätentheatern einen
bevorzugten Platz gefunden. Es giebt „Kenner", nament-
lich in den Grossstädten, die mit Vorliebe dann Speziali-
tätentheater besuchen, wenn ein Damenimitator auf dem
Programm angekündigt wird. Ein zweiter Teil des
Männerpublikums geht derartigen Produktionen geflissent-
lich aus dem Wege und wendet sich entrüstet ab, im Be-
wusstsein seiner absoluten Männlichkeit, sobald ein sol-
ches Herrchen im kurzen Röckchen auf die Bühne tän-
zelt, Kusshändchen wirft, mit dem Fächer kokettiert und
alles sonstige Raffinement einer temperamentvollen Brettl-
fiängerin entwickelt. Der dritte Teil des Männerpublikums
ist unbefangen, geniesst diese Scherze harmlos, hält sich
ausschliesslich an das Komische, bez. Groteske darin,
während ein letzter Teil den Glücklichen, der sich da
oben so vor aller Welt, so ganz sans g^ne, mit dem guten
Rechte, das ihm sein Beruf giebt, in den pikantesten
Toiletten zeigen kann, beneidet, an seiner Stelle zu stehen
oder wenigstens im stillen Kämmerchen sich ähnlich ge-
kleidet und geschmückt zu sehen wünscht. Auffällig ist
die direkte Antipathie eines grossen Teiles der sog. streng
bürgerlichen Frauen und Mädchen gegenüber den Be-
mühungen eines Imitators ihres Geschlechts. Sie finden
ihn fast stets „langweilig", , lächerlich**, ^affektiert**, sind
— 316 —
nie mit ihm und seiner Toilette zufrieden und resümieren
fast stets: „Der könnte eigentlich auch etwas Gescheidteres
machen!" Ebenso auffällig ist, dass der Damenimitator
von einer anderen Kategorie von Zuschauerinnen, die
etwas erlebt und den realen Wert des „stärkeren" Ge-
schlechts abzuschätzen gelernt haben, förmlich verhätschelt
und oft den wirklichen Soubretten und Liedersängerinnen
sowie allen Turnern und Komikern entschieden vorge-
zogen wird.
Die interessante Frage, ob die Damendarsteller in
Wirklichkeit Eifeminierte sind, ob sie infolge konträrer
Sexualempfindung sich gerade zu diesem Berufe ent-
schlossen haben, glaubte Verfasser am besten dadurch
beantwortet zu sehen, dass er den persönlichen Verkehr
einiger dieser Künstler aufsuchte und von anderen wenigstens
auf schriftlichem Wege etwas zu erfahren anstrebte.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen (es kann natürlich
auf Vollständigkeit keinen Anspruch erheben) ist folgendes:
Von 14 Damenimitatoren lernte Verf. im Laufe der
letzten 10 Jahre acht persöulich kennen. Er fand in
ihnen zum Teil ziemlich umfassend gebildete, zum Teil
wenigstens gesellschaftlich äusserst routinierte Männer.
Der jüngste (O. O.)*) zählte 20, der älteste (D. D.) 4a
Jahre. Vier von ihnen hatten wohlklingende Bariton-
stimmen (B. B., C. C, D. D., G. G.), drei ausgeprägte
Bassstimmen (E. E., H. H., M. M.), nur einer einen direkt
weiblich gefärbten Tenor (N. N.). Zwei waren von auf-
fallend kleiner, zierlicher Figur (G. G., M. M.), fünf von
Normalgrösse, einer grösser und stärker, als das Normale
(L. L.), zwei (N. N. und C. C.) hatten ein durchaus frauen-
haftes Embonpoint aufzuweisen und gestanden, dass sie sich
bis zum Platzen schnüren müssten, um eine einigermassen
*) Die Buchstaben beziehen sich auf die weiter unten ange-
führten eigenen Mitteilungen der betr. Herren.
— 317 —
präsentable Taille anziehen zu können. Fünf hatten
starken Bartwuchs, der sie nötigte, sich vor jeder Vor-
steUung zu rasieren, zwei nur schwachen Bartwuchs, aber
um so stärkere Kopf behaarung, einer (N. N.) war so gut
wie bartlos. Von den gesamten 14 Herren des vor-
liegenden Untersuchungsmaterials waren 8 verheiratet,
(5 davon in kinderloser, aber anscheinend glücklicher Ehe),
2 (G. G. und M. M.) bekannten sich als begeisterte Ver-
ehrer des wirklichen weiblichen Geschlechts. Sie sind,
wie mir bestätigt wurde, nachdem sie ihre Weiberröcke
abgelegt haben, höchst impulsive Don Juans. Von den
übrigen waren drei passive Pygisten (C. C, E. E. und L
L.), der vierte (N. N.) Mutueller. Indessen steht zu
vermuten, dass auch von den acht Verheirateten zum
Mindesten drei Homosexuale sind. Die Vorliebe für
weibliche Kleidung und weibisches Wesen ist fast allen
(G. G. und M. M. etwa ausgenommen) gleichermassen
eigen. Acht von den Herren (darunter fünf von den Ver-
heirateten) machen kein Hehl daraus, dass sie auch inner-
halb ihrer Wohnung fast ausschliesslich weibliche Kleidung
und schon seit Jahren während der Nacht Damennacht-
hemden, Nachtjäckchen, Häubchen etc. tragen, auch wohl,
um ihre Taille zu trainieren, im Bette das Korsett anbe-
halten. Drei von den Verheirateten pflegen (und zwar
nicht nur der üebung wegen!) mit ihren Frauen in
Damenkleidern jeder Zeit auf oflener Strasse spazieren zu
gehen, auch längere Reisen im Damencoup^ zu machen,
wobei sie stolz versichern, dass ihnen aus diesem aben-
teuerlichen Sport noch niemals eine Unannehmlichkeit er-
wachsen sei. In körperlicher Hinsicht bekennen sich alle
Objekte im Wesentlichen als vollkommen gesund, zwei
neigen ein wenig zu Asthma, fünf laborieren an nervösem
Kopfschmerz, der sich namentlich bei starkem Zigarren-
rauch in schlechtgelüfteten Theatern einstellt, drei an
vorübergehenden Harnbeschwerden und in Verbindung
— 318 —
d^mit an nervöser Reizbarkeit, zwei an gelegentlichen
Verdauungsstörungen. Acht haben beim Militär mit der
Waffe gedient, darunter drei als Einjährig-Freiwillige.
Im Anschluss hieran mögen einige, zum Teil sehr
interessante eigene Mitteilungen der Herren Damenimita-
toren folgen:
A. A.*) antwortete wie folgt:
, Eigentlich furchtbar simpel, verehrter Herr! Wurde
schon als Junge von meiner Mutter gern in Mädchen-
kleider gesteckt, entdeckte meine Stimme und mein Talent^
als ich 19 Jahre alt war, Hess mich ausbilden, reiste nach
Ableistung meiner Militärpflicht mit meiner Mutter und
meiner Schwester, die darin wetteifern, mich stets so
hübsch als möglich herauszuputzen. Wenn ich mich in
Damenkleidern nicht behaglich fühlte, würde ich mich
nicht darin auf der Bühne producieren. Ich habe eine
Vorliebe für echten Schmuck, namentlich Brillanten, und
für feine Wäsche, die ich nicht elegant genug bekommen
kann. Bei meinen Toiletten verlasse ich mich meist auf
den Geschmack meiner Mutler und Schwester. In Damen-
gesellschaft befinde ich mich am wohlsten, besuche auch
zuweilen als Dame kostümiert mit den Meinigen Kaffee-
gesellschaften, bin dort sehr beliebt und wird meine
Fertigkeit in weiblichen Handarbeiten (meine Spezialität
darin ist point-lace) sehr bewundert. Im Hauswesen
mache ich mich, wenn ich Zeit habe, gern nützlich. Betten-
machen, Abstäuben, Wäschelegen, Plätten gehört zu meinen
liebsten Beschäftigungen. Das hält mich nicht ab, mit
Vorliebe starke Zigarren zu rauchen und auch am Kneip-
tisch meinen Mann zu stellen. Aus Süssigkeiten mache
ich mir nichts. In meine Photographien, soweit sie mich
*) Die Namen der betr. Herren, ja selbst die eigentlichen An-
fangsbuchstaben ihrer Namen müssen ans begreiflichen Gründen
hier nnterdrückt werden.
— 319 —
als Dame darstellen, bin ich verliebt, Neigung zu Damen
habe ich nur vorübergehend gespürt. Etwaige Huldig-
ungen der Herren machen auf mich keinen Eindruck.
Nach dem Alter soll man „Damen" eigentlich nicht fragen.
Indess, wenn Sie es denn durchaus wissen wollen: Ich
bin auf dem besten Wege, 30 zu werden. Aber, bitte^
sorgen Sie dafür, dass es keiner meiner Agenten erfährt.
Genehmigen Sie etc. etc.*
B. B. schreibt:
„Ich bin kein Freund von vielem Schreiben, will
Ihnen also nur kurz mitteilen, dass ich sehr stolz und
glücklich bin, wenn ich mich in eleganter Damentoilette
auf der Bühne zeigen kann. Ich schmeichle mir, bei
meinen Kolleginnen und Kollegen sehr beliebt zu sein
— wissen Sie, was ein ,guates Miezerl" ist? Rauche
Zigaretten wie ein Schornstein. Mein Lieblingsgetränk ?
Na, allemal der Sekt! Meine Liebh'ngsbeschäftigung?
Mich anputzen und tarokeln! Weibliche Handarbeiten?
Nicht in die Hand ! Ob ich Damenkleider auch zu Hause
und auf der Strasse trage? Je nachdem ich Lust habe.
Wenn ich auf Abenteuer mit lieben Mädels ausgehe, lasse
ich jedoch meine Unterröcke meist zu Hause.*
C. C. erzählt, dass er dadurch auf die Damenkleider
gekommen, dass er als junger Mensch eines Abends
dabei gewesen sei, wie sich seine Schwester zu einem
Balle ankleidete. ,Nach ihrem Fortgang hüllte ich mich
mit Behagen in die von ihr abgelegten Sachen. Ich er-
wartete als Mädchen gekleidet die Rückkehr meiner
Schwester, die mich entzückt umarmte, meine echt-weib-
liche Tournüre lobte und so den Wunsch in mir weckte,
mein Glück als Dameudarsteller zu versuchen." C. C.
zeigt sich auf der Bühne mit Vorliebe als Baby in weissem
Stickereikleidchen, kurzen Strümpfchen, Hängeschürzchen,
eine Puppe im Arme. Im Schleppkleide fühle er sich
etwas geniert. Bei jedesmaligem Auftreten sei er i»
— 320 —
grosser Erregung, Wangen und Nacken glühten ihm
unter der Schminke (offenbar eine Art Schamempfindung).
Dieser Damenimitator bekannte, nicht zu rauchen, auch
Spirituosen entbehren zu können. Er war, als ich ihn kennen
lernte, 24 Jahre alt, stark umschwärmt, entwickelte in An-
wesenheit von Herren eine durchaus weibliche Koketterie,
sprach leise und schmachtend. Alles in Allem: Typisch-
effeminiert.
D. D., 43 Jahre alt, Franzose, verheiratet, Vater
zweier sehr hübscher Mädchen, von denen die eine (17
Jahre alt) mit dem Papa, der sie ausgebildet hatte, als
jugendliche Soubrette engagirt war. Viel Effekt machten
beide mit einer Pierrotscene, die Tochter als Pierrot, der
Valer als überaus graziöse Pierrette! Sehr solide, stille
Natur, sanftmütig, als praktischer Hausvater von den
Seinigen verehrt und geliebt. Von conträrer Sexual-
empfindung offenbar keine Spur, die Damenimitation für
D. D. nur eben Broterwerb. Infolge seiner Gewissen-
haftigkeit hätte er unter anderen Umständen einen vor-
züglichen Beamten, infolge seiner umfassenden Bildung
und Belesenheit einen ausgezeichneten Gelehrten abgeben
können.
E. E. lernte ich bei einem Artistenfeste kennen, bei
dem er als gewandter Festordner fungierte. Ein classisch-
Bchön geformtes Gesicht, sprechende dunkle Augen, leb-
hafte und geistreiche Konversation. Hatte die Hoch-
ischule besucht, war ursprünglich zum Geistlichen be-
istimmt gewesen. Mit seinem sonoren Organ und bei der
Geschmeidigkeit seines Gestus hätte er gewiss auch auf
der Kanzel Glück gehabt. Da er mir u. A. erzählte, dass
er sich mit der Textkritik eines auch von mir tractierten
antiken Autors beschäftige, nahm ich seine Einladung,
ihn in seiner Wohnung zu besuchen, an. Ich wurde in
ein hübsch möbliertes Zimmer geführt, das allerdings mit
Beiner ganzen Atmosphäre mehr den Eindruck eines
— 821 —
DameDboudoirs machte. Bald erschien E. E. in der Thür
des Kabinets, zu meiner Ueberraschung in einem hoch-
eleganten Damenmorgenrock von blauer Seide, er trug
ebensolche Pantöffelchen und hatte die blossen Arme mit
goldenen Keifen geschmückt. In diesem Kostüm erledigte
er unser wissenschaftliches Gespräch, entwickelte männ-
lich-scharfes und bestimmtes Urteil, wurde aber nach Be-
endigung dieser Materie wieder völlig zum Weibe, lehnte
sich kokett in ein Sopha und verschafile mir, offenbar
nicht ohne Absicht, den Anblick seiner seidenen, spitzen-
besetzten Unterröcke. Mit besonderem Stolze zeigte er
mir seine Photographien, die ihn zum Teil in den ver-
führerischsten Damentoiletten und Negliges darstellten,
dann die betr. Toiletten selbst und schliesslich seine Vor-
räte an Damenwäsche, Unterröcken etc. Er war ordent-
lich glücklich, als er mich auf die Schönheiten in Schnitt
und Besatz seiner Hemdchen, Höschen und Röckchen
aufmerksam machen konnte. Ohne Kenner zu sein,
glaube ich behaupten zu können, dass kaum eine Mode-
dame Eleganteres an Wäsche etc. besitzen dürfte, als
dieser Effeminierte — einer der geistreichsten und zu-
gleich weibischsten Männer, die ich kennen gelernt habe.
F. F. schreibt: «Meine Neigung zur DamendarsteUung
erwachte verhältnismässig spät. In meinem 26. Jahre
(ich war Buchhalter in einem Bankhause) verheiratete ich
mich. Bei einem Privatmaskenball, den ich mit meiner
Frau besuchte, trug ich zum ersten Male, auf Wunsch
meiner Frau, Damenkleider. Ich fühlte mich so wohl
darin, dass ich mich schliesslich, so oft ich konnte, als
Dame anzog. Meine Frau übernahm meine Ausbildung,
und im Alter von 29 Jahren konnte ich bereits bei einer
kleinen Gesellschaft debütieren. Ich habe mich besonders
im Koloraturgesang geübt und meine Stimme so in der
Gewalt^ dass kaum Jemand in meiner Sopranimitation den
tiefen Bass, meine natürliche Stimme, erkennen wird.
Jahrbach lU. 21
— 322 —
Ich raache wenige trinke lieber Kaffee und Thee ab Bier
und Wein. Habe mehr Vergnügen am Umgang mit
Damen als an dem mit Herren. Meine Frau ist auch
heute noch meine beste Freundin. Können Sie von dem
Vorstehenden etwas gebrauchen etc. etc.''
6. 6«, Engländer^ überaus zierlich und graziös in der
Erscheinung^ macht nicht. sowohl in Damenkleidem als
vielmehr im männlichen Kostüm den Eindruck des Ver-
kleideten. Trotzdem nicht effeminiert^ enragierter Damen-
freund. Baucht viel Zigarren^ bevorzugt Spirituosen.
In Bezug auf seine Damentoilette sehr anspruchsvoll,
lässt seine Kleider nur in den ersten Pariser Ateliers an-
fertigen, erzählt, dass er fast zwei Drittel seiner Gage für
Kostüme und elegante Dessins verwende. Hat eine
Passion für Spitzen, Stickereien, — Ansichtspostkarten
und das Fahrrad.
H. H« schildert sein Leben sehr abenteuerlich. Ent-
lief nach dem frühzeitigen Tode seiner Eltern der Schule,
ging als Schiffsjunge nach Amerika. In New- York wurde
er Musiker, entschloss sich, da er in einem Männer-
orchester keine Stellung fand, sich als Mädchen zu ver-
kleiden, um in einer Damenkapelle placiert zu werden.
Beiste mehrere Jahre mit dieser Kapelle als Flöten-
spielerin, ohne dass Jemand sein wahres Geschlecht ahnte.
Veränderungssüchtig, wie er war, verliess er diesen
Posten, hatte jedoch in der Zwischenzeit bereits soviel
Geschmack an der weiblichen Kleidung gefonden, dass
er sich nicht entschliessen konnte, sie abzulegen. Ver-
dingte sich hinter einander als Stubenmädchen, Soda-
wasserverkäuferin, Kellnerin und Buffetmamsell, schloss
sich dann einem Cirkus an und brachte es von einer
Statistin rasch bis zur zierlichen Panneausreiterin. Ein
Sturz vom Pferde, der eine Sehnendehnung zur Folge
hatte, machte diesem Abschnitte seines Lebens ein Ende.
Er producierte sich zunächst im Cirkus als weiblicher
— 323 —
Musik-Clown^ vereinigte sich dann mit zwei wirklichen
Damen zu einem Gesangsterzett, bei dem er die zweite Stimme
sang und sattelte schliesslich zur , Damenimitation*' um.
Die Sache musste gelingen, da er fast die Hälfte seines
bisherigen Lebens ausschliesslich in Unterröcken gesteckt
hatte. Ein sehr widerstandsfähiges Naturell, in Männer-
kleidem kräftig bis zur Derbheit. Keineswegs süsslich
oder affektiert. In Frauenkleidem, die er jetzt noch mit
Vorliebe auf der Strasse trägt, anmutig, liebenswürdig
und so sicher auftretend, dass man ihm seinen Boman
wohl glauben darf.
L I. schreibt kurz und bündige «Ihre Fragen einzeln
zu beantworten, fehlt es mir an Zeit und Lust. Ich kann
mir wirklich nicht denken, welches Interesse weitere
Ejreise daran haben könnten, zu wissen, wie ich dazu
gekonmien bin, mir durch die Verkleidung als Dame
mein Brot zu verdienen."
K. K. antwortet sogar in Versen:
Wer nie das Glück an sich erfuhr.
Den Unterrock zu tragen.
Hat von der Sache keine Spur
Und soll nicht darnach fragen.
Ein Jeder schaffi) sich seine Welt,
Fragt nicht, ob's Anderen gefällt!
L. L, fast zu gross und stark für die Damendar-
stellung, scheint gleichwohl durchaus effeminiert, wird
trotz seines Alters von 87 Jahren von 4—5 Herren sehr
umschwärmt, giebt sich auf der Bühne und im Leben
äusserst kokett, befindet sich mit seinen Kolleginnen, auf
die er eifersüchtig zu sein scheint, öfters im Streit, der
nicht selten auf seiner Seite mit regelrechten Wein-
krämpfen endet. Ist von sehr oberflächlichem Urteil
und scheint auf die Enge seines Gesichtskreises stolz
zu sein.
H. M. Ein dem unter G. G. geschilderten ziemlich
21*
— 324 —
gleichartiger Typus. Durchaus gesund, kräftig, viel
echter Humor, Damen gegenüber Schwerenöther, besondere
Geschicklichkeit in technischen Dingen, aber nicht in
weiblichen Handarbeiten, die er perhorresciert. Pflegt
gern Bälle in Damenkleidem zu besuchen, erklärt, nur
als Weib am Tanze wirkliches Vergnügen zu finden
N. N. Eine fast problematische Natur, neigt zu
Melancholie, ist überaus empfindlich. Hat eine besondere
Vorliebe für Kinder, namentlich für kleine Mädchen.
Hat sich zierliche Visitenkarten machen lassen, die einen
weiblichen Vornamen tragen. Es ist der Name seiner
von ihm überschwängUch verehrten Mutter, bei der er
regelmässig die engagementsfreie Zeit des Jahres ver-
lebt. Aus seinen Andeutungen ist zu entnehmen, dass
er während dieser Zeit ausschliesslich Frauenkleider trägt.
Einem mir zur Einsicht übergebenen Briefe der Mutter,
einer schlicht-bürgerlichen Frau, an den Sohn entnehme
ich mit seiner Erlaubnis die folgende nicht uninteressante
Stelle :
yKomme nur recht bald, liebstes Kind, ich kann es
schon kaum mehr erwarten, bis mein Herzensmäuschen
da ist und seiner Mama Gesellschaft leistet. Du wirst
gleich im Anfang Arbeit finden. Ich habe nämlich Frl.
B. (die Schneiderin) bestellt, da ich zum Frühjahr Manches
brauche oder ändern lassen will. Du wirst mir dabei
mit Deinem Geschmack helfen. Liebes Kind, vielleicht
hast Du von Deinen Toiletten auch etwas zum Ausputzen
für mich übrig. Dass Gretchen (eine Nichte der Mutter)
eines von Deinen Seidenkleidern haben soll, hat sie sehr
gefreut. Vielleicht, liebes Kind, hast Du auch einige
Hemden und Hosen für Gretchen, die Du nicht mehr
brauchst und die ihr jetzt sehr zu statten kämen. Mit
den beiden schönen Unterröcken, die Du ihr voriges Jahr
geschenkt hast, macht sie heute noch Staat Dass Du
mit Deinem Spiele so gefällst und so schönes Geld ver-
— 325 —
dienst, macht mich ordentlich stolz. Freilich möchte ich
mein Kind lieber immer um mich haben. Ich denke, es
kommt auch noch dahin. Gretchen lässt Dich fragen
ob Du für gehäckelte Spitzen auf Nachtjacken Ver-
wendung hast und ob sie Dir mit einem selbstgestrickten
Anstandsröckchen aus Zephyrwolle eine Freude machen
würde? Zum letzteren kann ich Dir niu* raten, liebes
Kind, ein solcher Rock ist mollig und schmiegt sich
warm an.* — Soweit der Brief der Mutter, der über
den Charakter dieses Damenkomikers und seine Art zu
leben hinlänglich Aufschluss gegeben haben dürfte.
0. 0. Der jüngste in der Reihe, 20 Jahre alt, sozu-
sagen noch ein unbeschriebenes Blatt, macht ganz den
Eindruck eines Backfisches, liebt es, auf der Bühne meist
in Schlepproben aufzutreten. Sehr musikalisch. Virtuos
auf dem Pianoforte, auch ansehnliche Fertigkeit im
Porzellanmalen. Bemerkenswert an ihm sind seine fast
unproportional kleinen Hände und Füsse, seine überaus
schlanke Taille und die sammetartige Weiche und tadel-
lose Reinheit seiner Oberhaut.
Die
Bibliographie der Homosexualität
für das Jahr 1900,
sowie
Hachtrag zo der Bibliographie des ersten tt. zweiten Jahrbuches.
Von
Dr. jur. Numa PFaetorius.
Inhaltsangabe.
L Abschnitt
Die Schriften des Jahres 1900 und die im vor^
jährigen Jahrbuch übergangenen des Jahres 1899.
KAPITEL 1:
Die Schriften über Homosexualität
mit Ausschluss der reinen Belletristik,
(Wissenschaftliches, Litterarisches, Varia.)
§ 1: Schriften der Mediziner.
Celesia: Sulla inversione sessuale in Lombroso's Archivio
di psichiatria. VoL XXL 1900.
Colin: Sur l'^tat mental et physique des individus con-
danm^ pour att^ntat k la pudeur in der Bevue de
Psychiatrie. Juni-Juliheft 1899.
Dühren : Der Marquis de Sade und seine Zeit. Ein Bei-
trag zur Cultur- und Sittengeschichte des 18. Jahr-
hunderts mit besonderer Beziehung auf die Lehre der
Psychopathia sexualis. 1900.
FÖFÖ; L/instinct sexuel: Evolution et dissolution. 1899.
— 327 —
Fuchs : Erfahrungen in der Behandlung conträrer Sexual-
empfindung. (Vortrag im Verein für Psychiatrie
und Neurologie in Wien am 13. Februar 1900). Ab-
gedruckt in der „Wiener klinischen Rundschau^
Nr. 14. 1900.
Haberlandt: Conträre Sexualerscheinungen bei der Neger-
bevölkerung Sansibars in den «Verhandlungen der
Berliner anthropologischen Gesellschaft^^ Bd. 31. 1899.
Heilbronner : Beitrag zur klinischen und forensischen Be-
urtheilung gewisser sexueller Perversitäten in der
j, Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffent-
liches Sanitätswesen.* 19. Bd. 2. Heft 1900 2. Heft
Nr. 9.
Kaan : Gerichtsärztliches Gutachten in , Friedreichs Blättern
für gerichtliche Medizin''. 50. Jahrgang. Heft 1.
Krafft-Eblng: Drei Conträrsexuale vor Gericht in den
„Jahrbüchern für Psychiatrie und Neurologie*. 19.
Bd. 2. Heft. 1900.
Krafft-Eblngf — Garnier: K^sum^ sur les perversions sexu-
elles obs^dantes et impulsives au point de vue medico-
l^gal in den , Archives de Neurologie*. Vol. X. Nr.
59 et 60. 1900.
Näcke: Die forensische Bedeutung der Träume in der
«Zeitschrift für Criminalanthropologie und Criminal-
statistik" von Gross. 1. Heft Bd. 5. September-
nummer 1900.
Näcke : Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt in
der „Wiener klinischen Rundschau«. 1899. Nr. 27—30.
Venturi: Corr^lations psycho-sexuelles. Biblioth^que de
criminalogie Bd. 18. 1899.
§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner.
Anonym: Die Tugendheuchler. Artikel in der , Neuen
Zeit« vom 10. November 1900.
- 328 —
Driesmans: Das Geschlechtsempfinden der Griechen in
dem „Magazin für Litterator*'^ Nummern vom 22.
und 29. December 1900.
Eekhoud: Chronique de Bruxelles im „Mercure de
France*. Nummern vom Juni und Dezember 1900,
Januar und März 1901.
Förster-Nietzsche : Friedrich Nietzsche über Weib, Liebe
und Ehe in der ^Neuen Deutschen Rundschau*'.
Oktoberheft 1899.
Hart: Platens Tagebücher im „Litterarischen Echo".
2. Septemberheft 1900.
Hermann: Genesis oder das Gesetz der Zeugung.
Bd. 1-4 1899 und 1900.
Kaufmann: Besprechung von Kupffer's Lieblingsminne
und Freundesliebe in der , Gesellschaft'', 1. Dezember-
heft 1900.
Kauftnann: Heine und Platen, eine Kevision ihrer litte-
rarischen Prozessakten in den «Zürcher Discussionen".
Nr. 16 und 17. 1900.
Kupffer: Lieblingsminne. und FreundesHebe in der Welt-
litteratur. 1900.
Meyer: Nietzsche, der Frauenfeind in der , Gegenwart"
vom 24. Februar 1900.
Nemanitsch: Homosexuelle Eifersucht in der ^Zeitschrift
für Criminalanthropologie und Criminalistik." 7. Bd.
Heft 3. 1900.
Panlzza: Arthur Kimbaud in der „Wiener Bundschau''.
1. Oktoberheft 1900.
Renou: Die Blumenschiffe in China im ^Mercure de
France", Septembemummer 1900.
Semidoff: Kodifichiie Lrthümer in der „Kritik^^ Nr. 91.
Heft 11. 1900.
— 829 —
Tannenberg: Die Psychopathia sexualis im Konitzer
Mord in der „Welt am Montag*^ 30. April 1900.
Windelband: Piaton. 1900.
Kapitel 2: Belletristik.
Dauthendey: Vom neuen Weib und seiner Sittlichkeit.
Boman 1900.
Dllsner: Jasminblüthe. Drama nebst Vorwort 1899.
Evers: „Einladung* und „An einen Jüngling". Gedichte
1900.
Gramont: Astart^. Oper 1901.
Hagenauer: Muspilli. Koman 1900.
Herdy, D' Luis: La Destin^e. Roman 1900.
Ives: Eros' Throne. 1900,
Kupffer: „Irrlichter». Drama 1900.
Louys, Pierre: Les aventures du roi Pausol 1900.
Meebold: Dr. Erna Kedens Thorheit und Erkenntnis in
der Novellensammlung «Allerhand Volk* 1900.
Mirbeau: Le joumal d'une femme de chambre. Roman 1900.
Nieman: Zwei Frauen. Roman 1901.
Pöladan: La vertu supr^me. Roman 1900.
Pemauhm: Ercole Tomei. Roman 1900.
Schlaf: Drittes Reich. Roman 1899.
Schlaf: Der Tod des Antichrist. 1900.
Seydlitz: Pierre's Ehe. Novelle 1900.
Tolstoi: Auferstehung. Roman 1899.
Kapitel 3: Besprechungen des Jahrbuchs.*^)
Anonym: Beilage zur ^llgemeinen_^ Zeitung*^ vom 27.
Dezember.
*) Sämtliche Besprechungen beziehen sich anf das 11. Jahr-
bach mit Ausnahme derjenigen von Herzberg, die sich mit dem
X. Jahrbuch beschäftigt.
Anonym: Deutsche Medicioische Presse vom 24. Juli.
Anonym: Zeitaclmft. „Die Zeit^' vom 30. Jtmi.
Anonym: Strassburger Post vodi 9. Jnli.
Anonym: Yossisohe ZeituDg vom 27. September.
Benzmann : Allgemeine Deutsche Universitätszeitimg
vom 1. Dezember.
Conrad : Zeitschrift ,J>ie Gesellsch&ft", I. Januarheft 1901.
Fuld: Zeitschrift „Das Recht" vom 10. Augast.
Gaulke: Das homosexuelle Problem in dem .Magazin fUr
Litteratnr* vom 2. März 1901.
Gross: Archiv für Criminalanthropologie und Crimiual-
statifltik. Bd. IV. Heft 3 und 4 vom 21. August
Gattzeit : Der neue Mensch. November- u. Dezemberheft,
Herzbe^: Bespreohnng des I. Jahrbuchs in der „Nenea
Zeit' vom 28. April 1900.
Htrschfeld : Litterarisches Echo. 2. Dezember 1900.
Hohler: Zeitschrift ^ie Umschau".
Näcke : Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. 57.
Placzek: Jahrbuch für gerichtliche Medizin. Nr. 1 1901.
Vleoten: Zeitschrift ^Das litterarische Echo".
2. Novemberheft.
n. Abschnitt.
Vor dem Jahre 1899 erschienene im ersten und
zweiten Jahrbuch nicht erwähnte Schriften.
Kapitel 1: Die Schriften mit Ausschluss der reinen
Belletristik.
§ 1: Schriften der Mediziner.
§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner.
Kapitel 2: Belletristik.
L Abschnitt.
Die Schriften des Jahres 1900*) und die im vop
jährigen Jahrbuch übergangenen des Jahres 1899.
KAPITEL 1:
Die Schriften über Homosexualität
mit Ausschluss der reinen Belletristik:
Wissenschaftliches, Litterarisches, Varia.
§ 1: Schriften der Mediziner.
1) Celesia**): Sulla inversione sessuale in Lom-
broso's Archivio di psichiatria: VoL ^^T. 1900.
S. 209.
Verfasser bespricht, ohne auf die juristische und
moralische Seite der Frage einzugehen, in längeren Aus-
führungen die physiologischen und psychischen Momente
sowie die medizinische Forschung auf gleichgeschlecht-
lichem Gebiet; er bringt jedoch keine neuen, von E^rafflr
Ebing, Moll etc. abweichenden Gesichtspunkte.
Nach ihm ist die Hauptquelle des Umingtumes der
Atavismus in den Familien, in denen, wenn auch in ent-
fernten Mitgliedern, der Hang zur Homosexualitöt vor-
handen gewesen sei. Celesia betont insbesondere das
häufige Vorkommen der gleichgeschlechtlichen Neigung
bei Genies, namentlich bei Künstlern. Die Homosexuali-
tät träte teils in ihren Werken klar hervor (z. B. bei
Michel Angelo), teils sei die Wirkung gewisser Werke
auf Urninge eine ausserordentliche (z. B. Richard Wagner
*) Soweit dies möglich war, sind auch die seit Beginn des
Jahres 1901 erschienenen Schriften t^^sprochcn,
**) MitgeteUt von Herrn X,
— 332 —
in Verbindung mit Ludwig II. von Bayern). Unter den
Musikern fänden sich nach seiner Meinung bis zu 60%
Homosexuelle.
2) Colin, H., Arzt im Asyl für geisteskranke Verbrecher zu
Gaillon (Frankreich): „Sur P^tat mental et
physique des individus condamn^s pour
attentat k la pudeur* in der , Revue de
Psychiatrie" Juni-Juliheft 1899. S. 122.
Colin teilt die von ihm untersuchten Sittlichkeits-
delinquenten in zwei Klassen:
1) die körperlich Schwachen, die Krüppel und Greise,
2) die geistig Schwachen,
In beiden Klassen sei das Vorkommen sexueller
Anomalien häufig. Diese Thatsache erkläre sich ins-
besondere aus der AengstUchkeit der betreffenden Leute,
denen ein körperlicher Fehler anhafte. In vielen Fällen
hätten die Verurteilten keinen normalen Verkehr mit der
Frau und oftmals gar keinen heterosexuellen überhaupt
gehabt.
Folgen sodann klinische Beispiele.
Bemerkungen t. Die Erklärung Colins ist, soweit es sich um solche
handelt, die homosexuell verkehrt haben, zweifellos nur
für die seltensten FäUe richtig.
8) Dühren, Eugen: Der Marquis de Sade und
seine Zeit. Ein Beitrag zur Cultur- und Sitten-
geschichte des 18. Jahrhunderts, mit besonderer Be-
ziehung auf die Lehre von der psychopathia sexualis.
Berlin imd Leipzig, Verlag von Barsdorf 1900.
Das Buch beginnt mit Erörterungen über das Ge-
schlechtsleben überhaupt. Die Liebe käme in Betracht
als physisches, historisches und metaphysisches Problem.
Das historische Problem beanspruche besondere Bedeutung.
Auch in der Geschichte kehrten regelmässig dieselben
Formen und Typen des Geschehens wieder. Diese
Bythmen seien aufzusuchen zur Erklärung der Liebe
Numa Prfttoriai.
— 333 —
als geschichtliche und soziale Erscheinung. Die Liebe
stehe in Wechselbeziehung zur Gesellschaft, zu dem Rechte
der Moral, der Religion, der Sprache und Dichtung.
Bei verschiedenen Völkern nähme sie gleichsam
nationale Färbung an. Die Weltlitteratur liefere das Bau-
material für eine historische Psychologie der Liebe. End-
lich werde das Geschlechtsleben durch die materielle
Kultur einer Epoche (Krieg, Frieden, städtisches Leben,
Kleidung, Nahrung etc.) beeinflusst.
Von diesem sozialpsychologischen Standpunkt aus
will dann Dühren die Persönlichkeit und die Werke des
Marquis de Sade untersuchen, jenes berühmten, merk-
würdigen Erotomanen des 18. Jahrhunderts, der dem
Sadismus seinen Namen gab, der eine Anzahl von Miss-
handlungen und Greuel aus Geschlechtslust beging, die
grösste Zeit seines Lebens im Gefängnis zubrachte und
die ungeheuerlichsten erotischen Romane schrieb, die die
Weltlitteratur kennt.
Dühren will Sade nicht, wie bisher die Aerzte es
gethan, aus seinem individuellen psychopathologischen
Zustand, sondern aus seiner Zeit heraus erklären. Er will
feststellen, was Sade von seiner Zeit empfangen und was
er ihr gegeben habe.
Dühren bringt deshalb im 1. Teil des Buches eine
Darstellung des Charakters des 18. Jahrhunderts in
Frankreich, der äusseren sozialen Verhältnisse und nament-
lich der Zustände auf sexuellem Gebiet, wo er die ver-
schiedensten geschlechtlichen Ausschweifungen bis ins
Einzelne verfolgt und auf die Wechselwirkung zwischen
der Wirklichkeit und ähnlichen Situationen und Schil-
derungen in der Litteratur, besonders aber in den Romanen
von Sade hinweist.
Hierbei finden sich in den einzelneu Kapiteln zer-
streut eine Anzahl Bemerkungen über gleichgeschlecht-
lichen Verkehr, sowie zusammenhängende Ausführungen
— 334 —
in den Abschnitten: Tribadie^ Päderastie und Italienische
Zustände im 18. Jahrhundert.
1. Weibweiblicher Geschlechtsverkehr: Die Tribadie
sei sehr verbreitet gewesen. Diderot's «Beligieuse* und
andere erotische Erzählungen über Nonnenklöster bewiesen
dies. Die Darstellungen Sade's über die Tribadie in den
Klöstern, über „die Kirchen, die zu Bordellen geworden*,
seien sicherlich der Wirklichkeit entnommen.
Die Tribaden mit männlichen Neigungen hätten sich
sehr vermehrt, sie seien durch männliche Kleidung auf-
gefaUen (S. 199).
üeber künstliche Apparate bei Ausübung lesbischer
Akte (S. 219).
Erzählung nach Casanova einer öffentlich vorgenom-
menen unzüchtigen Handlung zwischen zwei Frauen,
während sie einer Hinrichtung beiwohnten (S. 241).
üeber die lesbische Leidenschaft der Königin Karoline
von Neapel, ihr Verhältnis zu Lady Hamilton und die ähn-
lichen Schilderungen dieser Personen beiSade(S.278 — 276).
Ln Abschnitt über Onanie: Citate von Versen, aus
denen das häufige Vorkommen gegenseitiger Onanie her-
vorgehe (S. 169).
Das Kapitel über die Tribadie (S. 170—191): Selbst
im antiken Lesbos seien kaum ähnliche Zustände vor-
handen gewesen, wie im 18. Jahrhundert in Frankreich.
Die Werke Sade's spiegelten hinsichtlich der Tribadie ge-
treu das Bild jener Zeit.
Der Boman „Juliette'^ werde gleich eröfi&iet mit einer
wollüstigen Scene zwischen Nonnen. Die von glühendem
Männerhass erfüllte Clairwill bilde einen ausgezeichneten
Typus einer Tribade. Sade führe die Anlage zur les-
bischen Liebe zum Teil auf die Gestaltung der Clitoris
bei gewissen Frauen zurück. AuchfMirabeau in ,Ma
conversion** beschreibe eine von 30 Hofdamen aufgeführte
Tribadenscene.
— 335 —
Derartige Schilderungen hätten die Wirklichkeit nicht
überboten.
Dühren giebt nun an der Hand des Buches «L^espion
Angktis* eine eingehende Darstellung einer tribadischen
Vereinigung^ er schildert die Aufiiahme eines von einer
Weltdame verführten Mädchens in den Klub, die Prüfung
seiner körperlichen ßeize, die es zu bestehen hat^ die
Ceremonien der Einf ührung, die eigentümliche Ausstattung
der Lokalitäten, die ßede der Vorsitzenden, welche in
begeisterten Worten die Tribadie preist.
2. Mannmännlicher Geschlechtsverkehr: Erwähnung
eines der Päderastie ergebenen Priesters (S. 61). Die ob-
scönsten Bilder, auch mit Scenen der Päderastie, seien
öffentlich in Schaufenstern ausgehängt gewesen (S. 110).
Sade erwähne Bordelle und Klubs, wo Mädchen und
Knaben den Besuchern zur Verfügung gestanden (S. 137)
Ein verbreiteter Mädchen- und Knabenhandel habe zwei-
fellos stattgefunden (S. 158).
Das Kapitel über die Päderastie (S. 191—196):
Der Marquis de Sade singe das Lob der Päderastie
in allen Tonarten: in dem B>oman , Philosophie dans le
boudoir^^ besdireibe Dolmanc^ die Genüsse des mann-
männlichen Verkehrs. Dieser Dolmanc^ verschmähe
auch nicht gelegentlich paedicatio mulieris, ein anderer
Held von Sade, Bressac, sei dagegen völlig unempfindlich
gegenüber den Beizen der Frau. Es sei dieser Bressac
der einzige Typus mit hereditärer sexueller Liversion,
den Sade gezeichnet habe. Alle übrigen hätten die Per-
version allmählig während des Lebens erworben. So,
meint dann Dühren, sei es auch in der Wirklichkeit:
Die angeborene Liversion sei die Ausnahme, die Er-
werbung durch Verführung, lasterhafte Gewohnheit oder
Geisteskrankheit die Kegel.
Dühren giebt dann einen geschichtlichen Ueberbliok
über das Vorkonunen der Päderastie vom 16. bis zum 18.
— 336 —
Jahrh ändert. Unter Heinrich III. hätten sich die Männer
unter den Pforten des Louvre öffentlich provociert und
unter Ludwig XIY. habe die Päderastie ihre bestimmten
Gesetze und Organisationen gehabt. Während Heinrich IH.
selbst homosexuell gewesen^ habe Heinrich IV. die Ver-
breitung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs zu ver-
hindern gesucht; unter Ludwig XUI. sei er aber wieder
am Hofe ausgeübt worden.
Sodann Erwähnung des bekannten Homosexuellen
Philipp d'OrleanSy des Bruders von Ludwig XIV. Ferner
berichtet Dühren über den auch schon von Moll ange-
führten angeblichen Verführungs- Versuch des Königs
durch den Kardinal Mazarin, sowie über einen vornehmen
Päderastenklub aus. dem 17. Jahrhundert.
Auch im 18. Jahrhundert sei der Kultus der Päde-
rastie am Hofe anzutreffen^ zur Revolutionszeit habe sie
die grösste Blüte erlangt^ sie sei ganz offen aufgetreten.
Der Schriftsteller H^tif de la Bretonne habe die grosse
Verbreitung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs im Alter-
tume durch die allzu grosse Aehnlichkeit der männlichen
und weiblichen Kleidung erklären wollen. Auffällig sei
es allerdings^ dass die Zeit der grössten Ausbreitung
homosexueller Neigungen mit den Moden k la grecque
im 18. Jahrhundert zusammenfalle.
Im Kapitel: „Italienische Zustände im 18. Jahr-
hundert** Ausführungen über die Homosexualität in
ItaHen. (S. 266—268).
Italien sei das gelobte Land der Päderastie. Dies
habe auch de Sade hervorgehoben. Italien sei in dieser
Beziehung gefährlich für jeden, der begeistert von der
antiken Kultur seinen Boden betreten habe, dies beweise
Winckelmann. (I)
Dühren führt dann eine Anzahl berühmter Männer
und Päpste an, die der Homosexualität überführt oder
verdächtig seien: Sixtus IV., Michelangelo, Sodoma
— 337 —
Julius III., erwähnt einen gewerbsmässigen Prostituierten
in Padua und giebt die Berichte von Moll und Casper über
die heutige Verbreitung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs
in Italien wieder. An dem Ueberhandnehmen der homo-
sexuellen Praktiken im 18. Jahrhundert sei, so meint
üühren, der Clerus zum grossen Teil Schuld gewesen,
•da die Klöster die Stätten aller Ausschweifungen gebildet.
Nachdem Dühren im I. Teil seines Buches das Zeit-
:jiltcr des Marquis de Sade beschrieben, erzählt er im
II. Teil das Leben des erotischen Schriftstellers. Hier
ist zu vermerken, dass eine der Verurteilungen des
Marquis ausdrücklich wegen „Sodomie" erfolgte.
In Teil III wird der Inhalt der Werke von Sade
im Einzelnen angegeben, nebst seinen Theorien (S. 325 bis
4Ö5) und in Teil IV. und V. die Theorie und Geschichte
des Sadismus dargestellt (S. 405 — 433 und 433-479).
Diese Inhaltsangabe der Romane von Sade lässt erkennen,
•dass fast auf jeder Seite Episoden und Szenen geschlecht-
licher Art zwischen Personen des gleichen und ver-
schiedenen Geschlechts mit einer in Wollust schwelgenden
Phantasie^ beschrieben und alle möglichen Situationen
und Ungeheuerlichkeiten des normalen und anormalen
Geschlechtsverkehrs: Incest, Paedophilie u. s. w. mit
-einander combiniert werden ; namentlich aber geht hervor,
dass der in den Martern und Qualen seine Befriedigung
suchende, bis zur Mordlust gesteigerte Trieb — der nach
Sade den Namen erhalten hat (Sadismus) — wahre
Orgien in seinen Erzählungen feiert.
In der Auffassung der Natur der Homosexualität ist
Sade seiner Zeit vorausgeeilt. S. 402 berichtet Dühren:
Nach Sade sei es eine Barbarei, die Päderastie und Tri-
badie zu bestrafen, da eine , Abnormität des Geschmackes"
kein Verbrechen darstelle; die Päderastie insbesondere
«ei stets bei kriegerischen Völkern im Schwünge gewesen,
Jahrbuch III. 22
— 338 —
da sie Mut und Tapferkeit einflösse; und S. 420: An zwei
Stellen seiner Werke bezeichne Sade den Trieb zum.
gleichen Geschlecht als eine Funktion der Organe; der
sexuell Perverse sei ein Kranker, zu beklagen, aber niclit
zu tadeln. Gegen diese Anschauung wendet sich Dührea
S. 425: Die Mehrzahl der sexuell perversen Persone»
sei geistig gesund, ihre Perversion habe den Grund in
Verführung und geschlechtlicher Ueberreizung.
S. 472 und 473 schreibt sodann Dühren dem Ein-
fluss gewisser litterarischer und künstlerischer Erzeug-
nisse die Verbreitung anormaler sexueller Empfindungen
zu. Es sei wahrscheinlich, dass Winckelmann durch da&
Studium des griechischen Altertums und der griechischen
Kunst zur Knabenliebe ( — müsste doch mindestens
heissen: Jünglingsliebe. N. Pr. — ) sich gewendet habe.
Am häufigsten, fährt Dühren weiter fort, entstehe aber
die sexuelle Perversion durch direkte Verführung. Sa
würden in Paris Knaben von 12 — 14 Jahren zur Mastur-
bation und Päderastie herangezüchtet und zu denun-
zierenden Kinaeden ausgebildet. In diesem Zusammen-
hang bemerkt dann noch Dühren: „Und angesichts dieser
Thatsachen denkt man an Aufhebung des § 175 de»
Str.-G.-B. Das hiesse den Teufel durch Beizebub aus-
treiben. Mögen lieber die paar unglücklichen hereditäreu
Urninge leiden, als dass die Päderastie, das entsittlichendste
aller sexuellen Laster, für erlaubt und straflos erklärt wird.*
Das Buch von Dühren ist ein verdienstvolles Werk.
Es enthält auch zum Teil sehr interessante Mitteilungen
und Litteraturangaben über die Sittengeschichte des 18.
Jahrhunderts in Frankreich.
Die Bedeutung der sozialen und kulturellen Ver-
hältnisse für die Gestaltung der Liebe — der Haupt-
gesichtspunkt der Schrift — wird aber überschätzt. Viele-
Thatsachen und Vorkommnisse, die Dühren zur Unter-
stützung seines Grundgedankens anführt, trifit man auch
— 339 —
heute und hat man in jedem Zeitalter angetroffen, wes-
halb sie für die behauptete Sittenverderbnis im 18. Jahr-
hundert und speziell für Frankreich nicht besonders be-
weiskräftig sind. Zwischen Liebe und äusseren Verhält-
nissen besteht allerdings eine gewisse Wechselwirkung.
Die Kenntnis der Kultur wird auch einen genaueren Ein-
blick in das Geschlechtsleben gestatten; namentlich hat
Dühren darin Recht, dass aus der Litteratur einer Periode
sich wertvolle Aufschlüsse über die Liebe in dem be-
treffenden Zeitalter gewinnen lassen; dies Anerkenntnis
muss mit besonderer Genugthuung hervorgehoben werden,
heute, wo eine Anzahl von Stimmen das Studium der
Homosexualität in der Geschichte, dem Leben grosser
Männer und der Litteratur für unnütz und zwecklos
hält.
Umgekehrt soll auch die Wichtigkeit des Milieus und
der äusseren Faktoren für die Entwicklung des Geschlechts-
lebens nicht geleugnet werden, aber die Bedeutung, die
Dühren diesen Faktoren beilegt, haben sie nicht. Be-
sonders muss ihm darin widersprochen werden, dass
die Entstehung und Verbreitung der Homosexualität in
der Regel auf äussere Umstände zurückzuführen sei.
Gewisse Modalitäten innerhalb einer Geschlechtsrichtung
mögen je nach Zeit und Land wechseln, aber die Kultur-
zustände allein bringen nicht die konträre Sexual-
empfindung hervor. Die Homosexualität bedeutet nicht,
wie Dühren zu meinen scheint, eine Umwandlung eines
ursprünglich normalen Triebes in einen solchen zum
gleichen Geschlecht durch Angewöhnung, sondern
meist eine angeborene natürliche Anlage.
Gerade hinsichtlich des mannmännlichen Geschlechts-
verkehres ist es Dühren nicht gelungen, den Beweis für
seine Behauptungen zu erbringen, er hat vielmehr selbst
beinahe das Gegenteil durch seine Darstellung des ge-
schilderten Zeitalters bewiesen.
22*
— 340 —
Trotz des zahlreiclien angeführten Quellenmaterials
über das 18. Jahrhundert vermag Dühren über die Päde-
rastie nur Dürftiges zu citieren. Abgesehen von einigen
oben erwähnten zerstreuten, wenig bedeutungsvollen That-
sachen muss sich Düliren in dem Kapitel über die Päde-
rastie für das 18. Jahrhundert zunächst mit dem ganz
allgemeinen Satz behelfen: ^Jedenfalls rettete sich der
Kultus der Päderastie am französischen Hofe auch ins
18. Jahrhundert hinüber." Ausser einer unzüchtigen —
nicht notwendigerweise — mit gleichgeschlechtlichem Ver-
kehr zusammenhängenden Geste Ludwig XV. und Aeus-
serungen eines Regierungskommissars aus der Revolutions-
zeit sowie Bemerkungen des Romanschriftstellers Restif
de la Bretonne wird nichts Genaueres über diesen Kultus
mitgeteilt.
Bei seiner Auffassung von der Entstehung der Homo-
sexualität beruft sich Dühren mit Unrecht auf Schrenk-
Notzing. Dühren will die konträre Sexualempfindung
meist auf directe Verführung oder Uebersättigung am
normalen Geschlechtsgenuss zurückführen. In diesem
Sinne spricht eigentlich Schrenk-Notzing nicht von
Erwerbung; er ist viel zu guter Kenner der Homosexu-
alität, um diese alten, von der Wissenschaft nicht
mehr anerkannten Erklärungsversuche zu verteidigen.
Schrenk-Notzing schreibt lediglich dem occasionellen
Moment die Kraft zu, bei disponierten Naturen
durch zwingende Associationen in früher Jugend
oder im Pubertätsalter eine dauernde konträre Sexual-
empfindung hervorzurufen. Wie schon Näcke treffend be-
tont hat, ist der Unterschied zwischen dieser Erwerbung
und dem Angeborensein kein grosser.
Dass die Anschauung, welche die Theorie des Ange-
borenseins der Homosexualität ablehnt nicht an und für
Sich zur Aufrechterhaltung des § 175 R.-St.-G.-B. führt,
wie Dühren zu glauben scheint, hat ebenfalls Seh renk-
— 341 —
Notzing bewiesen, der die Abänderung des Strafgesetzes
für angezeigt erachtet.
Besonders seltsam ist die Art und Weise, wie Dühren
die Weitergeltung des § 175 R.-St.-G.-B. rechtfertigt. Es
ist ja nicht zu leugnen, dass gewisse Urninge sich an
Knaben vergreifen, — aber jedenfalls seltener als Nor-
male an unerwachsenen Mädchen, — deshalb jedoch die
homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen mit Strafe
zu belegen, hat ebensowenig einen Sinn, als wegen der
häufigen Verbrechen Normaler gegenüber Mädchen unter
14 Jahren den ausserehelichen Geschlechtsverkehr zwischen
Mann und Frau zu verbieten.
4) F6r6, Charles: „LMnstinct sexuell, Evolution
et dissolution". (Paris, AI can 1899.)
Ein Buch von 333 Seiten über den Sexualtrieb
und die sexuellen Anomalien, mit besonderer Berück-
sichtigung der Homosexualität. Kapitel 1: Sexualtrieb
— Allgemeines — Entwicklung. Kapitel H: Ver-
fall des Geschlechtstriebes, enthalten allgemeine
Erörterungen über den Sexualtrieb vom medizinisch-philo-
sophischen, anthropologisch-soziologischen weit mehr als
vom physiologischen, psychologischen Standpunkt. Eine
genaue physiologisch-psychologische Untersuchung wie die
von Moll in seiner „Libido sexualis",die dem Verfasser lei-
der unbekannt ist, findet nicht statt. Aus den allgemeinen
Anschauungen von F^r^ über den Sexualtrieb sowie
dessen Bedeutung uad kulturelle Entwicklung ergiebt sich
seine Beurteilung der Homosexualität, weshalb ich die
Ausführungen der Kapitel I und II, die nur gelegentlich
die Homosexualität berühren, in grossen Zügen wieder-
geben muss.
Kapitel I:
Der Trieb bedeute einen bestimmten angeborenen,
nicht durch persönliche Erfahrung erworbenen Drang,
im Gegensatz zur Gewohnheit. Letztere sowie die Nach-
— 342 —
ahmuDg spielten allerdings eine grosse Rolle. Der Trieb
sei eigentlich nur ein komplizierterer Reflex, der aber
blos durch äusserliche Reize in Bewegung trete, welche
die angeborene Erregungsfäbigkeit hervorriefen. Der
Sexualtrieb bezwecke ursprünglich nur die Erhaltung des
Individuums, dann die der Gattung und endlich die der
sozialen Gruppen. Er erstrebe zuerst nur den Kon-
jugationsakt, nach und nach träte der Drang der Ver-
folgung und sexuellen Anziehung hinzu, endlich das
Streben nach dauernder Verbindung und nach dem Schutz
der Jungen.
Alle äusseren, den Gesamtorganismus beeinflussenden
Reize seien auch fähig, auf den Sexualtrieb einzuwirken.
Bedeutsam seien nicht nur physische Reize, sondern auch
Gefühle und die Vorstellung moralischer und intellektu-
eller Eigenschaften, die bei gewissen Individuen entschei-
denden Einfluss auf den Geschlechtstrieb gewinnen könnten.
An sich sei der Trieb bezüglich der sexuellen Anziehung
gerade so automatisch und unbewusst wie der Konjugations-
trieb. Nicht immer sei aber die gegenseitige Ueberein-
stimmung in der sexuellen Auslese für die Gattung för-
derlich. Viele aus ganz instinktiven, impulsiven Trieben
geschlossene Ehen gäben oft eine fehlerhafte Nachkommen-
schaft. Auch die Degenerierten suchten und fänden sich
unbewusst, und nur indirekt würde ihre systematische
Anziehung der Gattung nützen, nämlich dadurch, dass
sie ihren Untergang beschleunige. In der zivilisierten
Gesellschaft nähme das intellektuelle Element eine her-
vorragende Stellung im sexuellen Leben ein, doch dürfe
die sexuelle Auswahl sich nicht allein auf intellektuelle
und moralische Faktoren stützen, sonst verfehle sie
ihren Zweck.
Die Entwicklung des Sexualtriebes beim Menschen
gehe nicht allein auf die Erzeugung von Individuen, die
den Interessen der Gattung am meisten angepasst seien,
— 343 —
sondern auch dahin, diesen die für den sozialen Fort"
schritt geeignetste Erziehung zuzusichern.
Die Liebe zum Kinde zeige sich beim intelligenteren
Typus. Mit grösserer Elternliebe und sorgfältigerer Er-
ziehung der Kinder gehe Hand in Hand eine Tendenz?
die Familie zu vermindern. Die Zunahme intellektueller
Kultur vermindere die Produktion. Aber die kultivier-
testen Typen zögen sich an, dies sei ein Fortschritt für
die Erziehung. Mit der Kultur änderten sich die Aeusser-
ungen des Sexualtriebes. Die Keuschheit der Frau sei
e\n Produkt des Fortschrittes, sie habe sich zuerst ge-
zeigt. Beim Manne habe sie sich später entwickelt. Die
gegenseitige Liebe begründe die Moral und Hygiene des
Lebens.
Die Zivilisation habe als Ergebnis die Unterwerfung
des Sexualtriebes unter den Willen. Nur bei Wenigen
könne das Bedürfnis völlig unterdrückt werden, eine Auf-
schiebung sei aber meist möglich, Schädlichkeiten ent-
ständen nicht daraus.
Der sexuelle Fortschritt gipfele in der Keuschheit;
die, welche sie beobachteten, seien die besten Eheleute und
Eltern. Sie hätten die Geschlechtskrankheiten vermieden
nnd hinterliessen Kinder ohne den Keim des Lasters und
der Degenerescenz. Die Erziehung bezwecke, die Triebe
des Menschen zu zügeln, dies unterscheide ihn vom Tier.
Dass die Keuschheit bei der Frau erstrebenswert sei,
leugpe niemand, aber für den Mann wolle man eine Aus-
nahme machen. Prostitution und venerische Krankheiten
seien jedoch nur wirksam einzuschränken, wenn auch die
Männer keusch blieben. Die Achtung vor der individu-
ellen Freiheit hindere ein gesetzliches Einschreiten gegen
die aussereheliche Befriedigung des Sexualtriebes, aber
die Erziehung solle auch beim Manne auf seine Ein-
schränkung hinwirken. Die sexuelle Moral hänge mit
der allgemeinen Moral zusammen. Die Keuschheit der
— 344 —
Frau sei die Grundlage der Zivilisation, das Gleiche gelte
aber auch bezüglich des Mannes, wenn man bedenke^
dass seine Fehler Ehebruch, Erzeugung unehelicher Kin-
der, Entehrung der Mütter, Verbreitung ansteckender
Krankheiten u. s. w. nach sich zogen.
Kapitel U:
Der Erfolg gehöre demjenigen, der sich am besten
den ungünstigen Bedingungen anzupassen wisse. Der
Verlust der sozialen Instinkte sei eng verknüpft mit dem
Verlust der höheren sexuellen Triebe. Nach den sozialen
Instinkten seien zuerst die auf die dauernde Vereinigung
bezüglichen Triebe bei der Auflösung des Geschlechts-
triebes angegriffen. Beide seien eng mit einander ver-
bunden.
Die Jungen würden die verschiedenen Stadien der
Artentwicklung durchmachen. Sie zeigten wie die Ur-
ahnen eine Tendenz zur sexuellen Verwischung und regel-
losen Polygamie. Deren Fortdauer bei Erwachsenen unter
normalen sozialen Bedingungen weise auf eine Störung
in der Entwickelung des Geschlechtstriebes hin. Die Auf-
lösung offenbare sich meist durch den Verlust der zu-
letzt erworbenen Eigenschaften, der auf das Interesse der
sozialen Gruppe und der Gattung bezüglichen Triebe,,
d. h. der den Schutz der Jungen und die dauernde Ver-
einigung betreffenden Instinkte. Ein schwereres Zeichen
der Auflösung sei der Verlust der auf die Verfolgung
und sexuelle Anziehung bezüglichen Triebe. Die Mittel
der Anziehung und Verfolgung seien bei Degenerierten
meist verkümmert und erschwerten somit auch die Aus-
wahl. Die Auflösung des Geschlechtstriebes zeige sich
auch in der Verminderung der sexuellen Neigungen»
Diese offenbare sich in der Häufigkeit der Effemination
beim Manne, der Viraginität bei der Frau, wodurch die
sexuellen Unterschiede verwischt würden. Die sexuellen
Perversitäten bildeten einen organischen Fehler. Die Päde-
— 345 —
rastie, und zwar auch die erworbene, beweise stets eine
anormale Konstitution, wenn sie sich in einer Umgebung
zeige, wo sie verpönt sei und ausnahmsweise vorkomme.
Unter gewissen Bedingungen, so z. B. bei den Griechen,
habe sie sich beim Mangel eines gemeinsamen Lebens zwi-
schen Mann und Frau und dem ständigen Zusammenleben
der Männer unter einander ohne angeborene Perversion
entwickeln können. Die beiden Arten von Perversionen
dürften nicht zusammengeworfen werden, wie dies manche
Aerzte thäten, die glaubten, die sexuelle Inversion habe
stets existiert, obgleich sie erst seit Westphal bekannt
und ihr früheres Vorkommen nicht feststellbar sei.
Die Vererbungsmöglichkeit der Inversion sei wahr-
scheinlich, jedenfalls sei eine Descendenz der Invertierten
nicht wünschenswert wegen der Gefahr einer Vererbung
ihrer Entartung. Deshalb sei nicht ein normaler Ge-
schlechtsverkehr der Invertierten, sondern lediglich die
Unterlassung aller geschlechtlichen Beziehungen zu er-
streben.
Die Degenerierten bedeuteten fehlerhafte Produkte
und eine soziale Last, allerdings seien sie manchmal auch
übernormal und spielten eine wichtige Rolle in der Ent-
wicklung der Gattung. Möge indess die krankhafte Natur
des Talentes und Genies zweifelhaft sein, so könne man
doch ihre Verwandtschaft mit den Neurosen nicht leugnen.
Die Bedingungen der Degenerescenz seien oft an die
Bedingungen der Kultur geknüpft, allgemeine Massregeln
zur Beseitigung der Entartung könne man nicht ergreifen.
Je grösser die Kultur, um so häufiger die Degenerescenz.
Die Degenerierten bildeten den Ausschutt der Zivili-
sation; die Entartung sei das von der Entwicklung er-
forderte Mittel zur Auslösung untauglicher Elemente.
Der Verfall des Geschlechtstriebes stelle das Phänomen
der Degenerescenz dar, aus welchem die Tendenz der Natur
zur Beseitigung der Degenerierten am klarsten hervortrete.
— 346 —
Im Kapitel III behandelt F^r^ die sexuellen Per-
versitäten bei den Tieren. Er unterscheidet solche be-
züglich 1) des Verhaltens gegenüber der Nachkommen-
schaft, 2) der Schwangerschaft oder Incubation, 3) der
geschlechtlichen Begierden und Beziehungen.
Unter letzteren bespricht er besonders die geschlecht-
lichen Akte zwischen Tieren des gleichen Geschlechts. Er
führt an und erörtert einen Teil der von K arsch im vor-
jährigen Jahrbuch ausführlich behandelten Litteratur und
entwickelt seine eigenen Anschauungen, über welche gleich-
falls Karsch eingehend berichtet hat. Nach P^r6 giebt es
keine eigentliche Inversion bei den Tieren, sondern es kämen
nur gleichgeschlechtliche Akte in Folge Mangels an Weib-
chen oder in Folge Täuschung vor. Letztere Behauptung
stützt F^r^ namentlich auf Experimente mit Maikäfern. Die
Männchen hätten nur solche Männchen geschlechtlich ge-
braucht, die unmittelbar zuvor den normalen Coitus ausge-
übt und den Geruch des Weibchens an sich getragen hätten.
Kapitel IV: Anomalien der Elternliebe
beim Menschen.
Kapitel V: Die Anomalien des Geschlechts-
sinnes beim Menschen im Allgemeinen.
Kapitel VI: Die Parästhesien, wo der Ge-
schlechtstrieb durch physische anormale Reize
erregt wird (z. ß. Mund, Finger, Ohr).
Kapitel VII: Die psychischeu Parästhes ien
(z. B.Sadismus, Masocliismus). Diese Kapitel enthalten nichts
Spezielles über Homosexualität, mit Ausnahme des Kap. V.
In letzterem einige Bemerkungen über das frühzeitige
Auftreten der Inversion wegen der Bedeutung der Ent-
wickelungsanomalie im Hinblick auf die Degenerescenz
der Gattung. Der Fehler sei grösser, wenn ein mangelndes
Gleichgewicht bestehe zwischen der Entwicklung des
Triebes und der Geschlechtsorgane. Die sexuelle Inversion
zeige sich allerdings öfters bei Kindern, die keine früh-
— 347 —
zeitige Entwicklung der Geschlechtsorgane aufwiesen
Die ersten Regungen des Geschlechtstriebes in der Puber-
tät zeichneten sich dadurch aus, dass gar keine Auswahl
getroffen werde, dass Alter und besondere Eigenschaften
gleichgültig erschienen. Die sexuelle Indifferenz des
Pubertätsalters habe den Gedanken erweckt, dass die
Inversion eine Entwicklungshemmung sei; die Nach-
ahmung, welche frühzeitig zu gleichgeschlechtlichen Akten
führe, beweise jedoch im Gegenteil eine Auflösung
früherer Erwerbungen der Ahnen, die mit der Degene-
rescenz verbunden sei.
Kapitel VIII: Die sexuelle Inversion.
Zuerst die verschiedenen angeblich möglichen Ur-
sachen der nicht angeborenen Inversion: Lasterleben,
Uebersättigung am normalen Verkehr, Furcht vor Ge-
schlechtskrankheiten oder Geburten, mangelhafte Aus-
bildung der Geschlechtsorgane, die den normalen Coitus
schwierig oder unmöglich machten, geistige Störungen,
welche den Trieb impulsiv auslösten.
Im Gegensatz zu diesen Fällen bestehe die instinktive
Inversion in dem automatischen Streben nach Befrie-
digung in anderer als der normalen Weise, ohne dass die
Neigung durch Gewohnheit erworben sei und ohne dass
besondere Bedingungen der Umgebung oder organisch
erworbene oder pathologische Bedingungen beständen.
Die Inversion bei Psychosen, wo der Geisteskranke
am Wahn der Geschlechtsurawandlung leide, habe mit
der eigentlichen Inversion nichts zu thun. Ganz ab-
gesehen von den Fällen der Inversion aus pathologischen
Bedingungen oder lasterhaften Neigungen, könne die eigent-
liche eingeborene Inversion niemals als eine mit einem
normalen Geisteszustand vereinbare Erscheinung betrachtet
werden, die ein direkter Ausfluss des sozialen Milieus wäre.
Nur wenn der gleichgeschlechtliche Verkehr, wie in Grie-
chenland, allgemein verbreitet, geduldet und von der öffent-
— 348 —
licheD Meinuog sogar gebilligt sei, müsse man an-
nehmen, dass die Gewohnheit von einer grossen Anzahl
Normaler geteilt sei. Heute, wo die Päderastie allgemein
als lasterhaft gelte, sei das nicht der Fall. Zweifellos
seien heute die Leute mit Neigung zum gleichen Ge-
schlecht auch in anderer Beziehung Anormale. Hierauf
folgen Ausführungen über die Zeit des ersten Auftretens
der Homosexualität beim Kind, über die psychischen
Eigentümlichkeiten und Eigenschaften der Urninge, ihren
äusseren Habitus etc., die Westphal und namentlich Moll
entnommen sind.
Sodann eine Beobachtung von F^r^: Die eines
34jährigen Gelehrten, der seit dem 10. Jahr sexuelle
Neigung zu jungen Burschen verspürt, manche Unannehm-
lichkeiten in Folge seiner Leidenschaft durchgemacht^
aber stets seine Begierde zur Vornahme gleichgeschlecht-
licher Akte unterdrückt hat, sich durch Masturbation und
erzwungenen, ihn anekelnden normalen Coitus behilft und
an verschiedenen nervösen Störungen, insbesondere an
eigentümlichen Zwangsvorstellungen, betreflTend syphili-
tische Ansteckung, leidet. Hieran reihen sich Auslassungen
über die von den Homosexuellen bevorzugten Objekte
und über die Art ihrer Befriedigung, welche ebenfalls
nur die Erfahrungen verschiedener Autoren, insbesondere
Molls, wiedergeben. Nach Bemerkungen über die mit
sonstigen sexuellen Anomalien komplizierte Inversion
bringt F^r^ die bekannte Einteilung der Inversion von
Krafft-Ebing in 4 Klassen, welche er im Allgemeinen
billigt. Das Kapitel endigt mit Angaben über die Homo-
sexualität bei der Frau, ebenfalls lediglich auf Grund der
Werke von Krafft-Ebing, Moll und EUis.
F^re schliesst das Kapitel mit den Sätzen: Die In-
version sei eine der charakteristischsten Formen der Auf-
lösung des Geschlechtstriebes und der Degenerescenz,
obgleich sie mit einer bedeutenden intellektuellen Ent-
— 349 —
Wicklung zusamraeutreffen könne. Ohne die vielen be-
rühmten Männer, die man ohne genügenden Grund zu
den Invertierten zähle, mit zu rechnen, könne man doch
manche hervorragende Männer nennen, deren Inversion
sicher bewiesen zu sein scheine.
Kapitel IX: Die sexuellen Inversionen von
symptomatischer Bedeutung:
Zunächst nochmals Unterscheidung zwischen ange-
borener und erworbener Inversion. Die Ursachen der
Erwerbung wirkten sehr verschieden; die Möglichkeit
ihrer Wirkung deute schon auf krankhafte Anlage; so
führe nur bei gewissen Individuen der Weibermangel
zu gleichgeschlechtlichen Akten; das obligatorische Cöli-
bat werde oft gerade von Leuten mit schwachem Ge-
schlechtstrieb gewählt. Furcht vor ansteckenden Krank-
heiten oder Geburten könne nur Personen mit eigen-
tümlicher Emotivität beeinflussen.
Die Masturbation könne allerdings indirekt auf spätere
Perversionen als Ursache der Impotenz wirken. Alle
Ursachen der Impotenz (Lasterleben und Uebersättigung)
könnten sexuelle Anomalien hervorbringen.
Während die konstitutionelle Inversion gewöhnlich
mit sexueller Hyperästhesie einhergehe, träfen die er-
worbenen Anomalien meist mit einem gewissen Grad der
Impotenz zusammen.
Das spätere Auftreten sexueller Perversionen sei oft
an geistige Störungen gebunden, namentlich begegne man
ilmen in den ersten Perioden der progressiven Paralyse.
Besonders die Epilepsie biete häufig sexuelle Ano-
malien. Fer^ erörtert in dieser Beziehung die Forschungen
von Tarnowsky, der darauf hinweise, dass die Inversion
oft ein Symptom der Epilepsie, eine Art des Paroxys-
mus sei.
Sodann bringt Fär^ fünf eigene Beobachtungen von
Fällen, wo die konträre Sexualempfindung entweder nur
— 350 —
Symptom, bezw. Vorläufer einer ganz bestimmten Krank-
heit gewesen und mit deren Auftreten verschwunden oder
wo wenigstens der Nachweis ganz bestimmter physischer
Zusammenhänge erbracht sei.
1) Prähemiplegische sexuelle Inversion. Ein 63 jäh-
riger Mann, der sein Leben lang an verschiedenen ner-
vösen Störungen gelitten, stets aber normal gefühlt und
verkehrt, verspürt Anfangs der 60. Jahre während
wechselnder Zustände heftiger Kopfschmerzen plötzlich
einen starken Impuls zu einem 18jährigen Burschen und
versucht sogar einen sexuellen Angriff auf ihn. Dieser
Impuls geht unmittelbar einem Anfall von Hemiplegie
voraus. Mit dem Ausbruch der Lähmung verschwinden
die homosexuellen Neigungen.
2) Inversion, gebunden an die „Ataxie locomo-
trice". 48 jähriger Mann, hat in der Jugend stark im
normalen Verkehr excediert, später geheiratet, nur noch
wenig coitiert; im 35. Jahre zum ersten Male stechende
Schmerzen in den unteren Gliedmassen, einige Jahre
später erneuter Anfall, drei Jahre später Störungen im
Gange, fortschreitende krankhafte Symptome, schliesslich
völlige Unfähigkeit zu sexuellem Verkehr.. In diesem Sta-
dium plötzliche Neigung zu jungen Leuten und Abscheu
vor Frauen. Nächtliche Pollutionen mit homosexuellen
Träumen. Strebte nunmehr danach, sich im Gedränge
an Burschen zu drücken und ihre Geschlechtsteile zu be-
rühren. Nach fünfmonatlichem Bestand dieses Zustandes
Paralyse der unteren Gliedmassen, zweifellose fortschrei-
tende Tabes dorsalis. Verschwinden jeglichen geschlecht-
lichen Dranges, Beseitigung der homosexuellen Gefühle
und des Abscheues gegen die Frauen.
3) Periodische Anfälle instinktiver Perversion bei
einem Gichtleidenden. Ein 46-jähriger früherer Fabrik-
besitzer, stets normal fühlend, empfindet gegen Ende der
30er plötzlich sexuelle Dränge für Knaben. Die Anfälle
— 351 —
dauern 5 — 7 Tage, ungerähr zweimal jährlich. Er sucht
Orte auf, wo er die Jungen beobachten kann, trifft seine
Wahl und geht schliesslich auf einen zu; in diesem Moment
hat er eine Pollution, die ihn sofort zurückhält. Nach
sieben Jahren wird er von Gicht befallen, die homosexu-
ellen Dränge verschwinden, wiederholen sich nicht mehr,,
werden dagegen ersetzt durch 5 — 7 Tage dauernde Gicht-
anfälle, etwa zweimal im Jahre.
4) Neurasthenie, Morphinomanie, impulsive sexuelle
Perversion während des Amorphinismus, Unterbrechung
der Morphinomanie. Ein Morphinomane empfindet, wenn
er seiner Morphiumsucht nicht nachkommt, homosexuelle
Dränge von impulsiver Gewalt, obgleich er früher stet&
normal fühlend gewesen. Mit der Einspritzung tritt so-
fort Beruhigung und Beseitigung des homosexuellen Im-
pulses ein. Patient wird allmählig von der Morphium-
sucht geheilt, homosexuelle Anwandlungen zeigen sich
nicht mehr.
5) Sexuelle Hyperästhesie im Zusammenhang mit der
Kürze der Vorhaut. 30jähriger Mann, im 17. Jahr Be-
gierde nach Frauen, aber Schwierigkeit des Coitus, stets
Ejaculatio ante portas, allmälig Abscheu vor den Frauen^
weitere Coitusversuche unterlassen. Nach und nach Träume
homosexuellen Inhalts, plötzlich heftiger sexueller Impuls^
zu einem seiner Arbeiter, einem kräftigen, an sich wenig
anziehenden, dem Trünke ergebenen Manne. Erneute
Coitusversuche immer nicht befriedigend. Durch Be-
schneidung der Vorhaut Coitus erleichtert, Ejaculation
normal verzögert, häufiger geschlechtlicher Verkehr mit
vollem Genuss, völlige Beseitigung der homosexuellen
Neigungen.
Kapitel X: , Somatische und psychische
Störungen, welche die sexuellen Beziehungen
begleiten oder ihnen nachfolgen,* enthält keine
auf die Homosexualität bezüglichen Ausführungen.
— 352 —
Kapitel XI: Die Anlage und die veran-
lassenden Faktoren in d er Aetiologie der sexu-
ellen Perversionen.
F^r^ bespricht zunächst eine Anzahl von Theorien
über die Entstehung der Inversion, von denen keine ihn
befriedigt. Die Erklärung als Erscheinung des Atavismus
unter Hinweis auf die bisexuelle Organisation gewisser
Tiere sei unbefriedigend, denn gerade bei Tieren sei eine
cMgentliche Inversion bis jetzt nicht erwiesen, ebenso
wenig sei die Annahme einer Vererbung von Anlagen in
vielen Fällen gerechtfertigt, auch das aus der Bisexualität
des Embryo gezogene Argument könne niclit genügen.
Der Umstand, dass eine Periode von Hermaphroditismus
bestehe, beweise nicht, dass in irgend einem Moment der
Entwicklung ein wirkliches sexuelles Indifferenzstadium
vorhanden sei. Die Tendenz zur Spezialisierung könne
schon zur Zeit des Zeugungsaktes existieren, die sexuellen
Charaktere seien nicht notwendigerweise in einer Gruppe
von Organen konzentriert, sondern in allen Elementen
des Organismus zerstreut.
Die Annahme der Erwerbung lediglich intra vitam habe
viel für sich. F^r^ entwickelt nun im Allgemeinen die
schon oben bei Dühren erwähnte bekannte Argumentation
von Schrenk-Notzing, wonach die Inversion und überhaupt
alle sexuelle Perversion auf ein zufälliges vererbendes
Moment zurückzuführen sei. Fdr^ schliesst sich dieser Auf-
fassung nicht an. Mit Recht betont er, dass, weil äussere
Umstände die Entwicklung der Perversion beeinflussen
könnten, noch nicht daraus folge, dass diese allein sie
hervorzubringen vermöchten. Viele Individuen, die den
gleichen Bedingungen wie die Perversen ausgesetzt seien,
würden doch nicht beeinflusst. Der Einfluss der äusseren
Umstände beweise nicht, dass keine organischen Beding-
ungen im Spiel seien, sondern nur, dass die organischen
Bedingungen eines erregenden Faktors bedürften. Wenn
— 85S —
der Invertierte unter dem Einfluss einer physischen Be-
dingung die Inversion erwerbe, so habe er eben von
Geburt her eine Fähigkeit, sie zu erwerben, mitgebracht,
die Andern, welche die gleichen Gelegenheiten durch-
gemacht, fehle. Gerade das frühzeitige Auftreten der Per-
version beim Kinde werde nicht durch die Associations-
theorie erklärt, namentlich wenn, was gewöhnlich der
Fall sei, die Entwicklung der Geschlechtsorgane einen
anomalen Verlauf aufweise.
Die congenitale Anomalie oder die erworbene patho-
logische Bedingung, welche beide die entscheidende An-
lage bilden könnten, dürfe man nicht den bloss äusseren
Bedingungen und der Association unterordnen.
Es folgen mehrere eigene Beobachtungen von F&^,
welche die jeweilige Bedeutung der Anlage und des occa-
sionellen Momentes beleuchten sollen.
1) Eine Frau fühlte sich als Kind in eigentümlicher
Weise durch die Brüste der Mutter angezogen und empfand
zugleich seltsame Eifersucht und Abscheu gegen den Vater,
seitdem sie ihn der Mutter beim Ausziehen der Kleider
behülflich sah. Zur Pubertätszeit Neigungen zu Frauen
und zugleich Abscheu vor den Männern. Trotzdem Heirat
mit einem äusserlich etwas schmächtigen, weibischen Mann.
Den geschlechtlichen Verkehr mit ihm stets nur mit Wider-
willen ausgeführt.
Fere bemerkt hierzu: Der sexuellen Anomalie sei
ein Widerwille gegen den Vater vorangegangen. Dieser
Widerwille sei an ein Gefühl der Eifersucht gebunden
gewesen, dessen krankhafter Charakter keinem Zweifel
unterliege. Der Hang für die mütterlichen Brüste sei
schon ein Stigma. Der Eindruck, welcher durch den
Anblick des eines Kontaktes mit diesen Organen ver-
dächtigen Vaters hervorgerufen worden sei, habe die
Gelegenheit für einen Widerwillen gegen das gesamte
männliche Geschlecht abgegeben und hierauf hätten sich
Jahrbneh m. 28
— 354 —
auofa die komoBexueUen Neigangen entwickelt. Der Ad-
bliokyder das occasionelle Moment gebildet, sei ein äusserst
gewöhnlicher, wie kein Ednd ihn noch verniieden.
Die Erwerbung der Perversion habe nur stattfinden
können, weil das Kind eine eigenartige Fähigkeit, sie zu
erwerben, besessen.
2) Mann von 41 Jahren, hat im dritten Lebensjahr
zufällig im Bett der Mutter deren mit Haaren bedeckten
Geschlechtsteil berührt. Dadurch sind in ihm Gedanken
eines an dem Leibe der Mutter befindlichen Tieres und
Angstgefühle erweckt worden. Seither haben ihm alle
Frauen, weil verdächtig, , einen gleichen Gegenstand zu
besitzen", Ekel erregt, der durch Lektüre anatomischer
Bücher und Beschreibungen von Geschlechtskrankheiten
noch bestärkt wurde. Im 15. Jahr Anziehung durch
einen kräftigen, männlich entwickelten Knaben, diese Nei-
gung bald auch in den Träumen bemerkbar.
Ln 27. Jahr zwang er sich zum Coitus, der zuerst
misslang und nur durch Gedanken an einen geliebten
Freund, aber ohne Genuss, möglich wurde. Seither kein
Versuch mehr, niemals Gelegenheit zu gleichgeschlecht-
lichem Verkehr. Nervöse Beschwerden gebessert durch
Kuren, aber homosexuelle Neigungen unverändert, und
homosexuellen Träumen unterworfen. Im Anschluss an
diesen Fall weist F^r^ auf die charakteristische Bedeutung
der Träume für das Vorhandensein der Inversion hin;
es könne indess Fälle geben, wo die Inversion sich lediglich
im Traume geltend mache bei sonst normaler vita sexualis.
Nach drei weiteren Beobachtungen über Sadismus,
Autofetischismus und Masochismus allgemeine Schlussfol-
gerungen, in denen F^r^ nochmals betont, dass die gewöhn-
liche Banalität des occasionellen Moments gerade die
Wichtigkeit der Anlage beweise und dass die Anlage,
die sich lediglich durch eine ofienliegende oder latente
Missbildung erkläre, eine Fähigkeit, die Anomalie zu er-
— 355 —
werben^ bilde. Nur diese Anlage sei erblich^ angeboren oder
entwickelbar; die Anomalie^ die nur wegen dieser Erwer-
bungsföbigkeit erworben werden könne, sei nichts desto
weniger an die erbliche, eingeborene oder entwickelbare
Ausbildung gebunden. Die unter diesen Bedingungen er-
worbene Anomalie untersckeide sich praktisch nicht von
einer erblichen, eingeborenen oder entwickelbaren Ano-
malie. Trotz alledem sei die Bedeutung der äusseren Um-
stände und der Association nicht zu leugnen, viele Prä-
disponirte entgingen sicherlich der Inversion mangels
Eintritts eines wirksamen Erregers. Die äusseren Umstände
seien besonders wichtig in der Kindheit.
Die frühzeitigen und anomalen Srcactionen Hessen sich
nur erklären durch eine anomale Reizbarkeit, die mit einer
Entwicklungsanomalie verbunden sei. Dieser an eine ver-
spätete oder gehemmte Entwicklung gebundenen anomalen
Reizbarkeit könne man in allen Verhältnissen anomaler
oder gestörter Evolution begegnen, in den Stadien physi-
ologischer Krisen oder infolge krankhafter Störungen der
Ernährung. Die sexuelle Indifferenz, so häufig zur Puber-
tätszeit, dass Dessoir sie als normal betrachtet habe, könne
sich bei Zuständen physischer Depression, in der Konva-
lescenzzeit gewisser Krankheiten, in den neurasthenischen
Krisen u. s. w. wiederholen. Die Wichtigkeit der konsti-
tutionellen Anlage erkläre die zahlreichen therapeutischen
Misserfolge. Aber die Thatsache, dass des öfteren die
anomalen sexuellen Störungen mit den sie veranlassenden
physischen Bedingungen beseitigt würden, liefere den Be-
weis, dass eine solche Störung nicht notwendigerweise für
immer sich eingenistet habe. Deshalb müsse man die mo-
ralischen und physischen Bedingungen aufsuchen, die ge-
eignet wären, die Inversion zu beeinflussen.
Kapitel XII: Die Descendenz der sexuellen
Anomalie.
Abermals zunächst Unterscheidung zwischen erwor-
23*
— 356 —
bener und angeborener Inversion ; Bemerkungen über die
Heilbarkeit durch Hypnose, die F^r^ im allgemeinen auch
bei der erworbenen Inversion nur dann lür möglich hält,
wenn die Inversion sich aus beeinflussbaren organischen
Bedingungen entwickelt habe oder als Folgezustand ge-
wisser Krankheiten mit deren Beseitigung verschwinde.
Die angeborene Inversion könne sich vererben, sei
es in gleicher oder zunehmender Stärke.
Folgen Erörterungen der Theorien der Inversion als
Degenerationszeichen (Krafllr-Ebing — Erklärung aus der
bisexuellen Fötalanlage — Dessoir — sexuelle Indifferenz
im Pubertätsalter — EUis — angeborene Veranlagung.)
Sodann die Anschauungen RafiFalovich's. Die Existenz von
Invertierten, die vom morphologischen Gesichtspunkt nor-
mal seien, rechtfertige auf den ersten Blick allerdings die
Meinung, die Invertierten brauchten weder Degenerierte
noch Verbrecher noch Kranke zu sein. Mit Recht unter-
scheide auch Raffalovich zwischen keuschen und massigen
einer- und sinnlichen und lasterhaften andererseits.
F^r^ giebt dann (S. 271 — 274) die Anschauungen von
Raffalovich im einzelnen wieder; er wendet sich aber ge-
gen dessen Behauptung, dass der höher geartete Inver-
tierte (der inverti sup^rieur) kein Degenerierter sei.
Die Abwesenheit von Stigmata schliesse nicht die
Degenerescenz aus. Dis Störung der sexuellen Funktion
könne das einzige krankhafte Symptom bilden oder we-
nigstens in keinerlei äusserlich wahrnehmbaren Missbil-
dungen sich offenbaren.
Wenn man auch annehmen wollte, dass die Inversion
so häufig bei bedeutenden Männern zu finden sei, als man
es behaupte, so könne man doch nicht daraus schliessen,
dass die Inversion eine normale Erscheinung darstelle.
Es träfen dann eben zwei Anomalien zusammen.
Was man conträre Sexualempfindung nenne, sei im
Grunde die Verneinung des Geschlechtstriebes.
— 357 —
Hierauf teilt F^r^ 2 eigene Beobachtungen mit, aus
denen hervorgehe, dass die Degenerescenz zeugungs-
fähiger Invertierter sich in der Entartung der Descendenz
zeigen könne :
1) Ein homosexueller Vater, der niemals Neigung zum
Weibe empfunden, hat auf Anraten des Arztes geheiratet,
trotz instinctivem Horror vor seiner Frau. Den Coitus
mit ihr nur unter heftigem Widerwillen ausgeführt. Drei
Söhne erzeugt : 2 ganz idiot, einer epileptisch. Letzterer
hat im 18. Lebensjahr auf den jüngeren Bruder einen
päderastischen Angriff gemacht.
An diesen Fall anschliessend, bemerkt F^r^: Die
falsche Auffassung, die Inversion sei eine Perversion der
Einbildungskraft ohne organische Basis und man müsse
sie durch Ueberredung und durch alle den normalen
Verkehr ermöglichenden Mittel überwinden, sei für seinen
Patienten eine Ursache unsäglicher Qualen und kranker
Nachkommenschaft gewesen.
2) Eine seit frühester Kindheit homosexuelle Frau
hat auf den Rat der Eltern und ihres Beichtvaters trotz
Abneigung gegen die Männer im 24. Lebensjahr ge-
heiratet. Den ehelichen Verkehr hat sie nur mit Ekel
geduldet; seit dem 38. Lebensjahr hat derselbe aufgehört.
Ihre homosexuellen Neigungen unverändert. Sie hat zwei
Töchter geboren. Die eine ist epileptisch, die andere
hat Selbstmord begangen, wie die Mutter glaubt, weil
sie bei sich homosexuelle Gefühle entdeckt habe.
Wie der Mann der ersteren Beobachtung, fügt F^r^
hinzu, habe auch diese Frau unter dem Bewusstsein ihrer
Anomalie schwer gelitten. Die meisten Invertierten hätten
das Bewusstsein ihrer Krankhaftigkeit; die, welche sich
für normal hielten, angesichts aller ihrer anders gearteten
Mitmenschen, seien nicht nur Invertierte, sondern Geistes-
kranke. Was die Vererbung der Inversion bei der Beo-
bachtung 2 angehe, so sei sie nicht genügend erwiesen.
— 358 —
aber jedenfalls lasse auch diese ersehen, dass die Ehe
und die Zeugung von Nachkommen bei Invertierten nicht
wünschenswert seien.
Am Schluss des Kapitels betont F^r^ nochmals, dass er
jedenfalls die angeborene Inversion für völlig unheilbar
halte. Man solle sich auch nicht bemühen, geborene In-
vertierte normal fühlend zu machen, dies könne nur eine
weitere Perversion bewirken. Derartige Versuche seien
entschuldbar, wenn es sich um impulsiv Veranlagte handele,
die durch ihre Handlungen Verbreiter der Perversion wer-
den könnten. Invertierten, welche aber im Stande seien,
keusch zu bleiben, sei eine ihrer Natur entgegengesetzte
sexuelle Angewöhnung ohne irgend welchen Nutzen. Ge-
rade weil die Invertierten Degenerierte seien, die ihre
Entartung in der Nachkommenschaft fortpflanzen könn-
ten, sollten sie von der Ehe ausgeschlossen werden.
Kapitel XIII: Sexuelle Erziehung und
Hygiene.
Allgemeine Erörterungen über die Kindererziehung,
Notwendigkeit, alles Sexuelle von ihnen fern zu halten,
Bedeutung geschlechtlicher Angriffe auf Kinder für ihr
späteres Leben. Gefährlichkeit und Schädlichkeit der
Masturbation auch für Erwachsene, sie sei aber nicht
durch Anraten ausserehelichen Geschlechtsverkehrs zu
bekämpfen, sondern durch Erziehung zur Enthaltsamkeit.
Diese völlig ungefährlich und unschädlich, die gegen-
teiligen Behauptungen beruhten auf Irrtum.
Der aussereheliche Geschlechtsverkehr die Quelle
aller möglichen Uebel: Prostitution, Ehebruch, unehe-
liche Kinder, Geschlechtskrankheiten.
Heute könnten allerdings die sexuelle Hygiene und
Moral nicht durch Gesetze geregelt werden. Man sei
nur im Stande, gegen Oeffentlichkeit und Gewaltthätig-
keit des Lasters einzuschreiten. Familie und Individuum
müssten von der absoluten Gefährlichkeit der sexuellen
j
— 359 —
Vermischung sowohl vom sozial eo als individuelleo, vom
moralischen als physischen Standpunkt aus durchdrungen
werden.
Die Notwendigkeit, die ersten Regungen des Ge-
schlechtstriebes zu überwachen, dränge sich besonders
bezüglich Individuen aus nervösen Familien auf, nament-
lich wenn sich schon psychosexuelle Anomalien geofienbart
hätten. Alle mit einer Geschlechtsanomalie irgendwie
zusammenhängenden oder auf eine solche deutenden Neig-
ungen müsse man so frühzeitig wie möglich bekämpfen.
Der Wert 'der Enthaltsamkeit müsse dem Geist ein-
gepflanzt werden. Viele Invertierte oder Anomale über-
haupt hätten keine wirklichen Impulse, oft seien sie im
Stande, ihren Begierden zu widerstehen, sogar ohne straf-
rechtliche Drohung.
Körperliche Anstrengungen und geistige Arbeiten
seien zur Ablenkung sehr nützlich. Normaler Geschlechts-
verkehr sei kein geeignetes Heilmittel. Für die von
Geburt Invertierten bilde er eine widernatürliche Handlung,
die ihnen £kel verursache und körperlich ungünstig wirke.
Nur bei Grenzfällen seien Aenderungen des Gefühls
durch den normalen Coitus zu erhoffen. Auch durch
Hypnotismus seien wenig Erfolge zu erzielen; den an-
geblichen Heilungen, auch den von Schrenk-Notzing be-
richteten, gegenüber verhält sich F^r^ skeptisch: Oft
glaubten sich die Kranken geheilt, weil sie es w ü n s c h t e n.
Aber auch der scheinbar Geheilte, der nunmehr
normalen Geschlechtsverkehrs fähig sei^ könne nicht als
ein gesundes, zur Zeugung geeignetes Individuum be-
trachtet werden. Die Behandlung habe darin zu bestehen,
der Onanie vorzubeugen und die anormalen Neigungen
zurückzudrängen. Das zu erreichende Ideal sei nicht
normaler Geschlechtsverkehr, sondern die Enthaltsamkeit
Wenn schon bei den Normalen aussereheliche Be-
ziehungen nicht angeraten werden dürften, solle man
— 860 —
umso weniger die Anormalen zu irgend einem Geschlechts-
verkehr oder zur Ehe drängen.
Die Fortpflanzung der Entarteten könne indess nicht
ganz allgemein verboten werden, weil zweifellos unter der
Descendenz der Entarteten sich auch für die Evolution
nützliche Individuen vorfänden. Diese Möglichkeit recht-
fertige die Duldung und Unterstützung der Degenerierten.
Die aber, welche Zeichen sexueller Auflösung an
sich trügen, zeichneten sich durch eine ausgesprochene
Tendenz schadhafter Fortpflanzung aus. Die Bolle des
Arztes sei es nicht, durch nicht zu rechtfertigende Mittel,
gegen ihre natürliche Tendenz des Aussterbens zu kämpfen.
KapitelXIV: Die Verantwortung und die
Anomalien des Geschlechtstriebes.
Der Geschlechtstrieb sei die Grundlage der moral-
ischen Entwicklung und eine Notwendigkeit für die Kace;
die das Geschlecht verneinenden Perversionen daher
schädlich und folglich unmoralisch, und zwar um so ge-
fährlicher, je impulsiveren Charakter diese Neigungen
aufwiesen; denn die Nachahmung sei um so mehr zu be-
fürchten bei unwiderstehlichen Tendenzen.
Von diesen Erwägungen ausgehend, wundert sich
F^r^, dass man in Deutschland die Beseitigung der Be-
strafung homosexueller Akte erstrebe, und wendet sich
dagegen. Wenn auch die Invertierten mehr als die Nor-
malen gerade wegen der Heftigkeit ihrer Triebe da-
runter litten und die Befriedigung als wohlthuend empfänden,
so sei dies kein Grund für die Gesellschaft, sie zu dulden,
ebenso wenig wie man Handlungen anderer Impulsiver,
z. B. der Pyromanen, gestatten könne. Alle seien gleich
schädlich. Wenn man annähme, dass Gewohnheit und
Beispiel allein die Inversion zur Entwicklung zu bringen
vermögen, so wäre der Verkehr mit den Invertierten schon
eine soziale Gefahr.
Die Krankhaftigkeit der Invertierten käme nicht in
— 361 —
Betracht: Vom Gesichtspunkt der sozialen Verteidigung
habe die Unterscheidung zwischen Kranken und Ver-
brechern keine wissenschaftliche Berechtigung. Diese
Unterscheidung könne nur auf der im Allgemeinen an-
genommenen Anschauung beruhen, dass alle anormale
Aeusserung des Geistes ein anormales Funktionieren der
nervösen Elemente zur Bedingung habe, die ihrerseits an
eine Entwicklungsanomalie oder eine Ernährungsstörung
gebunden seL Wenn der Zusammenhang bei den Geistes-
kranken zweifellos bestehe, so sei er gerade so notwendig
bei den Geistesgesunden. Wollte man eine Kategorie von
entschuldbaren Delinquenten wegen Störungen in der Ent-
wicklung oder in der Ernährung des Gehirns aufrecht
erhalten, so müsste man zuerst beweisen, dass es Ver-
brecher gebe, die unabhängig von solchen Störungen
handelten.
Wenn die Befriedigung der Triebe kein Verbrechen
sein könne, so gäbe es überhaupt kein Verbrechen. Wenn
die Notwendigkeit einer sexuellen Hygiene geboten sei,
so müsse das Gesetz diese Hygiene durchführen und
alle für die Gesellschaft schädlichen Aeusserungen zurück-
drängen, ohne Unterschied der Individualitäten. Es be-
stehe kein physiologischer Grund, um nicht den Ge-
schlechtstrieb wie die andern Triebe zu zügeln, die
utilitaristische Moral ebenso wie die Hygiene erforderten
die Einschränkung seiner Auswüchse.
Die Schrift von ¥6r6 ist ein Werk durchaus wissen-
schaftlichen Charakters, obgleich es keine besondere Tiefe
aufw^eist und sich mit den eine weit grössere eigene Er-
fahrung und selbständigere Verarbeitung des gesammelten
Materials aufweisenden Büchern von Kraflftr-Ebing, Moll,
Ellis, Schrenk-Notzing nicht messen kann. F^r^ giebt im
Wesentlichen nur die Ergebnisse anderer Forscher wieder
und zieht hieraus einige Schlussfolgerungen moral-philo-
sophischer und sozisd-hygienischer Art. Eigenartiges
— 362 —
bringt er eigentlich lediglich in dem Kapitel IX, so über
die als Symptom gewisser Krankheiten und körperlichen
Zustände vorübergehend auftretenden homosexuellen Neig-
ungen.
An dem Werke sind die häufigen Wiederholungen
sowie ein Mangel strafferer Komposition zu tadeln. Man
gewinnt oft den Eindruck, als habe F^r^ seine Kapitel
zu verschiedenen Zeiten einzeln verarbeitet und den
Ueberbliek über das Ganze verloren. An zahlreichen
Stellen kehren die gleichen oder wenig geänderten Aus-
führungen, namentlich über die Homosexualität, wieder,
wobei auch gewisse Widersprüche dann nicht vermieden
werden. Die Anschauungen von F^rä über die Homo-
sexuellen und ihre Behandlung vermag ich in vielen
Punkten nicht zu billigen.
Mit Recht betont allerdings F^r^ das Angeborensein
der Inversion in vielen Fällen und lässt das occasionelle
Moment im Sinne von Schrenk-Notzing zurücktreten, in-
dem er auch bei sog. erworbener Homosexualität doch
das entscheidende Gewicht auf die Anlage legt und da-
durch überhaupt der scharfen Unterscheidung Mancher
von angeborener und erworbener Inversion die Bedeutung
nimmt.
Dagegen folgt aus der Feststellung der angeborenen
Anlage nicht ohne Weiteres der Charakter der Homo-
sexualität als einer Entartung.
Zur Annahme der Krankhaftigkeit und Degenerescenz
neigt F^r^ um so eher,' als er gerade eine Anzahl von
Fällen krankhafter, durch körperliche Zustände und Stör-
ungen hervorgerufener Inversion beobachtet hat. Das
Vorkommen homosexueller Neigungen in solchen Fällen
beweist aber ebenso wenig die Krankhaftigkeit der Homo-
sexualität an und für sich, als z. B. die krankhafte Hyper-
ästhesie des heterosexuellen Triebes bei manchen Krank-
heiten, z. B. in der Schwindsucht, auf den Charakter der
— 363 —
normalen Sexualität an und für sieb Schlüsse zulässt.
Weil in gewissen Fällen krankhafte Zustände die Trieb-
richtung ändern können^ ist nicht die Krankhaftigkeit
der Triebrichtung im Allgemeinen festgestellt.
F^r^ gelangt zu der strengen Verurteilung des homo-
sexuellen Verkehres nicht nur in Folge seiner Auffassung
der Inversion als einer Degenerescenzerscheinung — denn
Andere, die die gleiche Meinung teilen, wollen die Duldung
homosexueller Handlungen — sondern weil er die Be-
deutung des Geschlechtstriebes für die Fortpflanzung ein-
seitig in's Auge fasst und diesem Gesichtspunkt alles
Andere unterordnet. *
Stellt man sich aber auch auf den Standpunkt von
F^r^, so ergeben sich doch nicht die gleichen von F^r^
gezogenen Folgerungen : Die Notwendigkeit einer — sogar
gewaltsamen — Depression der Homosexualität.
Zunächst ist es nach den dem deutschen Strafgesetz-
buch zu Grunde Hegenden Prinzipien nicht gestattet, wenn
man wie F^re die Homosexualität für krankhaft hält,
den Kranken mit dem Verbrecher zu identifizieren und
lediglich die Strafe aus Sicherheitsrücksichten der Gesell-
schaft zu rechtfertigen. Auch diese Sicherungszwecke füh-
ren nicht zu einer Bestrafung der Homosexualität. Die
verschiedenartigsten Handlungen können, von irgend einem
Gesichtspunkt betrachtet, für die Gesellschaft in irgend
einer Beziehung schädlich sein. Aber auch in dem von
dem Zweckgedanken geleiteten Strafrecht muss unter die-
sen möglicherweise schädlichen Handlungen eine Auswahl
getroffen werden der strafwürdigen, der Handlungen, welche
einen besonderen, die Sicherung der Gesellschaft durch
das Mittel der Strafe erheischenden Grad von Schädlich-
keit aufweisen. Gleichgeschlechtliche Akte können, was
Schädlichkeit anbelangt, doch nicht Brandstiftung und
Diebstahl gleichgestellt werden, wie Y6t6 andeutet.
Sodano dürfen {lapdlungen nicht gestraft werden,
— 864 —
die überhaupt einen geringeren Schaden anrichten als
andere, schädlichere, die straflos bleiben.
Eine grosse Anzahl von Schädlichkeiten hat die regel-
lose Befriedigung des normalen Geschlechtstriebes zur
Folge und F^r^ schildert trefiend diese Schädlichkeiten
des allgemeinen Volkswohls: Ehebruch, Prostitution, Ge-
schlechtskrankheiten etc.
In erster Linie müsste gegen diese verbreiteten und
schon im Hinblick auf die grössere Zahl der Hetero-
sexuellen weit gefahrlicheren Schädlichkeiten eingeschritten
werden. F^r^ giebt aber selbst z% dass es nicht angängig
sei, soziale Moral und Hygiene durch Eingrifle in die
individuelle Freiheit zu erzwingen. Deshalb ist es un-
logisch, eine Strafe gegen die Homosexuellen, die im
eigenen Lande F^r^'s nicht existiert und auch nicht ge-
wünscht wird, gutzuheissen, obgleich die aus dem homo-
sexuellen Verkehr zu befürchtenden Schädlichkeiten im
Verhältnis zu den aus dem heterosexuellen entstehenden
verschwindend gering zu nennen sind.
Die angeblichen seitens der Homosexuellen drohenden
Gefahren für die Gesellschaft sieht F^r^ selber nicht un-
mittelbar in den homosexuellen Handlungen und eigent-
lich nur darin, dass durch sie die gleichgeschlechtlichen
Neigungen verbreitet und dann durch die, welche sie er-
werben, weiter vererbt oder zur Ursache degenerierter
Nachkommen würden.
«
Sein Ziel geht dahin, die Homosexuellen namentlich
von der Zeugung und vom heterosexuellen Verkehr auszu-
schliessen, um eine Vererbung der Degenerescenz zu ver-
hüten. Diesem Verlangen kann nur beigestimmt werden
und diese Art der Enthaltsamkeit wird keinem Homosexu-
ellen schwer fallen, da er sich doch nur auf Anraten un-
verständiger Angehöriger oder Aerzte zur Ehe drängen
lässt. Man wird F^r^ auch darin Kecht geben müssen^
— 365 —
dass sich für die dazu fähigen Homosexuellen Enthaltsam-
keit von jeglichem Geschlechtsverkehr am besten empfiehlt.
Daraus ergiebt sich aber nicht, dass man die grössere Zahl,
welche diesen Rat zu befolgen nicht imstande ist, wegen
gleichgeschlechtlicher Handlungen ächten, strafrechtlich
verfolgen und überhaupt anders beurteilen soll, als die
ihren Trieb befriedigenden Normalen. Hält man die
Invertierten von der Ehe und überhaupt dem heterosexu-
ellen Verkehr ab, und dies geschieht gerade am besten
durch Duldung der homosexuellen Handlungen und durch
Beseitigung des allgemeinen Vorurteiles, welches die Ho-
mosexualität als schimpfliches Laster betrachtet, dann wird
auch die befürchtete Zeugung seitens Homosexueller ver-
mieden. Eine Ansteckung völlig Normaler durch die In-
vertierten dürfte aber nach den eigenen Anschauungen
von F6r^ ausgeschlossen sein, da doch nur Veranlagte in-
vertiert werden können. Werden die Disponierten aber
von dem heterosexuellen Verkehr abgelenkt, so wird auch
ihre schädliche Zeugung verhütet, ganz abgesehen davon,
dass solche Individuen, wenn sie krankhaft veranlagt sind,
eben infolge ihrer Krankhaftigkeit eine Degenerescenz
weiter vererben können, ohne Rücksicht darauf, ob sich
bei ihnen eine Inversion auf Grund ihrer Anlage ent-
wickelt oder nicht. Gerade wenn der von F^r6 behauptete
Zweck der Natur daraufgerichtet ist, durch instinktive ge-
genseitige Anziehung der Degenerierten ihre allmählige
Beseitigung herbeizuführen und so indirekt die Gattung
zu fördern, sollte F^r^ die Duldung der homosexuellen Akte
nicht für schädlich halten.
Der eigene Standpunkt von F^r^, die einseitige Be-
tonung von der Bedeutung des normalen Geschlechts-
triebes für die Gesellschaft, führt demnach nicht zu den
von F^r^ bezüglich der Homosexualität gezogenen Schluss-
folgerungen. Dieselben stellen sich aber noch ungerecht-
fertigter dar, wenn man dem Geschlechtstrieb in der
— 366 —
Zengung nicht die allein ausschlaggebende Wichtigkeit
ftir Kultur und Gesellschaft zuschreibt
Für das allgemeine Wohl und den Fortschritt sind
noch andere Faktoren massgebend: Gewisse^ von den
Aerzten als Degenerierte betrachtete Individuen können
das aus ihrer sogenannten Entartung der Gesellschaft er-
wachsende etwaige Defizit durch intellektuelle und
geistige Eigenschaften ersetzen^ derart^ dass doch schliess-
lich eher ein Gewinn als ein Verlust durch diese Indi-
viduen der Kultur und der Entwickelung erwächst.
F^r^ muss ja selbst zugeben^ dass aus diesem Grund
eine rücksichtslose Beseitigung der Degenerierten nicht
angebracht sei, femer kann er nicht leugnen, dass gerade
unter den Invertierten sich manche bedeutende Männer
vorfinden, obgleich er die Anzahl der gewöhnlich zu den
Homosexuellen gezählten für überschätzt erachtet. Jeden-
falls aber bei einer Beihe hervorragender Talente, ja
Genies treffen ihre aussergewöhnlichen Geistesgaben mit
Homosexualität zusammen und ein Zusammenhang beider
drängt sich auf. Mag man dann auch, wie F^r^ es thut,
eben von zwei Anomalien sprechen d. h. in seinem Sinne
von krankhaften Symptomen, so wird man doch bei Vielen
(einem Michelangelo, Platen, Friedrich dem Grossen) die
eine Anomalie — d.h. ihre Begabung, die für die Kultur
wertvoller ist, als die Normalität von Hunderten — nicht
missen wollen und lieber die geschlechtliche mit in den
Kauf nehmen, als die ganze Persönlichkeit ächten und
zu dem Ausschutt der Kultur zählen. Allerdings, nur
die wenigsten unter den Urningen sind Genies oder
Talente, aber die Verachtung und Bedrohung mit schimpf-
lichen Strafen bringt für alle Schädlichkeiten hervor, welche
die durch die Freigabe homosexueller Akte etwa entsteh-
^den weit übertreffen. Diese Schädlichkeiten — Zerstörung
von Familienglück, qualvolle Seelentortur, Verkümmerung
begabter Individualitäten, Erpressung, Hindrängen zu
— 367 —
unglücklichen Ehen u. s. w. sind schon so oft geschildert
worden, dass eine weitere Ausführung sich erübrigt.
Schliesslich ist aber noch Eines zu erwägen, ob nicht
die Homosexualität, ähnlich wie in Griechenland, für die
Kultur zu verwerten wäre, ob nicht in Folge ihrer Aechtung
wertvolle Kräfte verloren gehen.
F4r6 will das Beispiel Griechenlands nicht als be-
weiskräftig ansehen, weil nicht feststehe, ob es sich nicht
überhaupt lediglich um eine durch die besonderen damaligen
Umstände erworbene Gewohnheit gehandelt habe und
die wirkliche Inversion erst seit Westphal vorkomme.
Letzterer Behauptung, welche aus der Thatsache eines
späten wissenschaftlichen Studiums der Homosexualität
auf eine erst seit dieser Forschung existierende Erschei-
nung schliesst, dürfte man eigentlich bei einem Gelehrten
wie F^r4 nicht begegnen.
Aber auch wenn es sich bei den Griechen nicht um
angeborene Inversion gehandelt haben würde, so ist erst
recht die in der Natur des Invertierten wurzelnde Homo-
sexualität einer edleren Entwicklung fähig. Allerdings,
eine ähnliche Ausgestaltung wie in der Antike ist nicht
mehr möglich, dazu liegen die äusseren Verhältnisse in
der heutigen Kultur zu verschieden. Aber durch Auf-
klärung, Beseitigung der Strafe und der öffentlichen
Missachtung wird auch die Grandlage für eine grössere
Vergeistigung der Homosexualität, für edlere, denjenigen
der Antike ähnliche Bündnisse geschaffen werden, welche
der Allgemeinheit nicht schädlich sein können.
5) Fuchs, Alfred: ^Erfahrungen in der Behand-
lung konträrer Sexualempfindung. " (Vor-
trag im Vereine für Psychiatrie und Neurologie in
Wien am 13. Februar 1900), abgedruckt in der
,Wiener klinischen Rundschau' Nr. 14, 1900.
Verfasser beklagt zunächst, dass die Ergebnisse der
Forschung auf dem Gebiete der konträren Sexual-
- S68 -
empfindung noch immer nicht soweit vollwertig im An-
sehen seien, dass Soziologen und Gesetzgeber entsprechende
Nutzanwendung aus den Lehren der Aerzte gezogen
hätten. Noch immer ahnde das Gesetz unverschuldete
Anomalien des Geschlechtslebens: Die Vorurteile, gegen
welche sich schon vor Jahren Kraffib-Ebing gewendet,
bestünden noch. Das Bestreben müsse darauf gerichtet
sein, die konträre Geschlechtsempfindung ausschliesslich
zum Gebiete ärztlichen Einspruches und naturwissenschafl-
licher Beurteilung zu machen. Die Anomalien der vita
sexualis seien als funktionelle Störungen zu betrachten.
Die Homosexualität sei therapeutisch zu behandeln. Die
Schwierigkeiten seien besonders gross, namentlich wegen
der meistens sehr verwickelten seelischen Eigenart der
Konträren. Bei der Behandlung gehe Verfasser von der
Theorie aus, wonach eine mit der bisexuellen Anlage des
Foetus zusammenhängende, psychische, doppelseitige An-
lage bestehe. Diese Anlage werde durch die hereditäre
Belastung beeinflusst. In diesem Sinne sei die konträre
Sexualempfindung als funktionelles Degenerationszeichen
aufzufassen^ was nicht hindere, dass gerade intellektuell
und ethisch besonders empfängliche Individuen dieses
Stigma erhielten und den Typus der „D^g^ner^s sup^rieurs"
abgeben könnten, deren grosser Schar die Welt manchen
hervorragenden Genius zu verdanken habe. — Die Thera-
pie der konträren Sexualempfindung müsse eine psychische
sein, ihr Ziel Unterdrückung des floriden psychisch-
konträren sexualen Zentrums und die Erweckung des
latenten heterosexualen. — Dabei seien meist besondere
Nebenumstände in Betracht zu ziehen: Die meisten Homo-
sexuellen litten mehr oder weniger an schwerer Neu-
rasthenie, die allerdings nicht immer konstitutionell sei
und oft ihre Ursache in dem Konflikt des Konträren mit
der Aussenwelt und seinem eigenen „Ich** habe. Sehr oft
fände sich psychische und somatische Masturbation vor^
— 3(39 —
ferner sei oft der unglückliche Einfluss des Alkohols zu
bekämpfen. — Die eigentliche Psychotherapie der kon-
trären Sexualempfindung setze sich zusammen aus einem
gewissen pädagogischen Vorgehen und der wirklichen
Psychotherapie, welche am zweckentsprechendsten in die
äussere Form der hypnotischen Suggestion gekleidet
werde. — Wichtig sei zunächst die Frage, ob angeborene
oder erworbene konträre Sexualempfindung vorläge; aber
im ersten Stadium der Behandlung gewänne dieser Unter-
schied keine besondere Bedeutung, da auch die erworbene
konträre Sexualempfindung meist mit der gesamten Per-
sönlichkeit auf's innigste verwachsen sei. Wichtiger sei zu
Beginn das Suchen nach dem Fetisch d. h. demjenigen
Umstand, welcher die ursprünglich normale Empfindung
in konträre Bahnen gelenkt, worunter nicht nur Gegen-
stände, sondern auch jene Autosuggestionen zu verstehen
seien, welche im Geschlechtsleben des Einzelnen eine
Richtung gebende Rolle angenommen hätten. Die Auf-
nahme der Anamnese (Vorgeschichte) müsse eigentlich
schon als therapeutisches Vorgehen aufgefasst werden.
Besonderer Wert sei auf richtige Fragestellung zu legen
und auf die intimen psychischen Beziehungen, die sich
zwischen dem Therapeuten und dem Konträren entspinnen
müssten. — Die persönliche Eigenart des Konträren sei
zu berücksichtigen: die Autosuggestionen und Rechtfer-
tigungsversuche ihrer Empfindung müssten vorsichtig und
mit Geschick bekämpft werden. Die Konträren stellten
sich, indem sie den („brutalen") Akt der Kohabitation per-
horrescierten, in ihren eigenen Augen auf einen höheren
ästhetischen Standpunkt, ferner gereiche ihnen die in ihren
Reihen befindliche nicht geringe Anzahl bedeutender
Männer zur Genugthuung. — Viele Konträre gäben ihrem
Triebe nicht nach und vielen sei eine gewisse Reinheit
der Empfindungen nicht abzusprechen, mitunter führten
sie ein weit keuscheres Dasein als die normal Empfin-
Jahrbuch III. 24
— 370 —
denden. — In den Fällen, wo die Masturbation der Neu-
rastbenie Yorscbub leiste, gäbe diese eine wirksame Hand-
habe ab zum Angriff des Recht fertigungssystems des Pa-
tienten. Da, wo üble physische Folgen nicht vorhanden,,
bilde die Zufriedenheit des Konträren mit seinem Zustand
ein mächtiges Hindernis für die Therapie. Oft werde
nur wegen äusserer Umstände, wegen der sozialen
und strafrechtlichen Konsequenzen, eine Aendermig-
des Geschlechtslebens erwünscht. Das nächste Ziel sei
Gleichgiltigkeit gegen das eigene Geschlecht durch
Suggestion einzuflössen, dann Widerwillen gegen Ge-
schlechtsbeziehungen zu einer Person des eigenen Ge-
schlechtes. In manchen Fällen sei geschlechtliche Indiffe-
renz das Summum des Erreichbaren. Heterosexuelle
Suggestionen bildeten den letzten Abschnitt der Behand-
lung. Ein Gradmesser für den Fortschritt in der thera-
peutischen Bestrebung sei im Traumleben gegeben. —
Während der Dauer der Behandlung müsse die sexuelle
Bedürftigkeit des Patienten auf ein Minimum herabge-
drückt werden. Ein wirklicher Erfolg sei der erste phy-
siologisch ausgeübte heterosexuelle Coitus. Die erste
Cohabitation beweise aber nicht wirkliche Genesung, mass-
gebend sei das Quantum des Wollustgefühles, welches
beim ersten Coitus zu fehlen pflege. Vom ersten hetero-
sexuellen Geschlechtsverkehr an käme es auf den Um-
stand an, ob angeborene oder erworbene konträre Sexual-
empfindung vorliege. Der konträr Geborene erlange weit
schwerer normales Wollustgefühl und volle Befriedigung^
dies Ziel könne aber auch bei ihm erreicht werden. Bei
der angeborenen Form würden indess nach geregeltem
heterosexuellen Verkehr die Beziehungen zum entgegen-
gesetzten Geschlechte oft mehr aus Pflichtgefühl al»
impulsiv gepflegt. Konträre, bei denen sekundäre Ge-
schlechtscharaktere körperlicher oder psychischer Natur
auf eine Verkehrtheit der gesamten Persönlichkeit hin-
— 371 —
deuteteD, würden seltener über den Zustand der Indifferenz
hinausgebracht werden. — Erworbene konträre Sexual-
empfindung könne vom Moment regelrechter heterosexueller
Kohabitation an in gewisser Beziehung als geheilt be-
zeichnet werden, jedoch dürfe Patient sich nicht vorzeitig
weiterer psychischer Beeinflussung entziehen und müsse
Masturbation und Alkoholgen uss vermeiden, sonst sei
sofort Recidive zu befürchten. — Zur erfolgreichen
psychischen Behandlung sei volles Vertrauen des Patienten
zum Arzte notwendig. Dieser müsse dem Patienten klar
machen, dass das Wesen der Hypnose nichts Mystisches
an sich habe und dass der endgültige Erfolg vom Willen
des Konträren abhänge. Die Dauer der Therapie schwanke
zwischen G Wochen und ebensovielen Monaten, je nach
der Individualität des Konträren. Die Patienten hätten
mit der Erzielung des ersten Beischlafes die Möglichkeit
erlangt, durch weitere Behandlung oder im Notfall durch
Selbstdisziplin ierung eine normale vita sexual is zu er-
reichen. Denn selbst mit gewissen Resten von konträrer
Sexualempfindung könnten solche Menschen ein immerhin
erträgliches Dasein führen und hätten die Hoffnung, im
Wege der Gewöhnung auch diesen Rest zu verlieren. —
Abgesehen von Enthaltung von Masturbation und Alkohol
sei ein geregelter Geschlechtsverkehr anzustreben. Die
einzig richtige Lösung dieses Problems sei die Ehe mit
einer sympathischen Person. Die Ehe böte gerade für
Menschen, deren seelisches Dasein in jeder Hinsicht der
Stütze bedürfe, einen sicheren Port. Auf die Wahl einer
absolut sympathischen Individualität sei aber unbedingt
Gewicht zu legen. Wegen der Befürchtung einer kon-
trären Descendenz sei von der Ehe nicht abzuraten. Die
Vererblichkeit der Homosexualität sei nicht erwiesen,
sie spiele nur die Rolle eines allgemein belastenden Mo-
mentes ; jedem aber, der ein funktionelles oder somatisches
Degenerationszeichen an sich trage, könne man die Ehe
24*
— 372 —
Dicht verbieten. — Fuchs teilt dann mit, dass unter 42
behandelten Fällen 14 Geheilte sich befänden. Zu sexu-
eller Neutralität seien 8 gelangt. Die Fälle von psycho-
sexueller Herniaphrodisie seien nicht mitgerechnet. Bei
diesen sei das HeilungsergeJ)nis ein weit besseres, die
Mühe der Behandlung sei keine so grosse, ihre Bedeutung
aber eine ausserordentliche, insbesondere in Fällen, wo
sich die konträre Sexualempfindung bei Verheirateten
episodisch einstelle. — Zum Schluss betont Fuchs noch-
mals, dass die Konträren vom medizinischen uud nicht
juridischen Standpunkt zu beurteilen seien. Menschen,
die Kranke seien, müssten behandelt und geheilt werden.
Das Ziel sei, die Konträren den Armen der
blinden Justiz zu entreissen.
Der gediegene Vortrag bringt in klarer, anschaulicher
Weise den Hauptinhalt des im vorjährigen Jahrbuch be-
sprochenen Buches von Fuchs „Therapie der vita sexualis
bei Männern mit besonderer Berücksichtigung der kon-
trären Sexualempfindung." Vom Standpunkt des Arztes,
der die Homosexualität als Krankheit betrachtet, ist selbst-
verständlich eine therapeutische Behandlung notwendig,
aber auch derjenige, der wie ich, die Anomalie nicht für
notwendig krankhaft hält, wird wegen der sozialen, mög-
licherweise sogar strafrechtlichen Folgen der konträren
Sexualempfindung in allen Fällen, wo der Konträre Aen-
derung des Triebes wünscht, die Hypnose für angezeigt
erachten. — Hinsichtlich der Erfolge der Hypnose darf
man sich jedoch keinen allzu grossen Hoffnungen hin-
geben. Bei allen denjenigen, die nicht geändert sein
wollen, deren ganzes inneres Wesen sich gegen Beseitig-
ung ihres Triebes sträubt, wird die Suggestion, auch wenn
sie sich derselben aus irgend welchen Gründen unter-
ziehen, kaum etwas leisten. Viele Konträre sind nun
aber nicht im Stande, eine Aenderung zu wollen; darunter
gerade besonders ausgeprägte Individualitäten von festem
— 373 —
Charakter und starker Eigenart, denen ein fremder Ein-
griff in ihre Persönlichkeit und in ihre mit ihrer Indivi^
dualität verwachsene Geschlechtsart instinktiv wider-
strebt. Was Fuchs über die leichtere Heilung der psy-
chischen Hermaphroditen sagt, erscheint mir auch zweifel-
haft. Es giebt darunter Individuen, die vollen Genuss
bei Weibern finden, trotzdem aber eine stärkere Zuneigung
zum Manne haben und letzteren Trieb nicht zu unter-
drücken vermögen. Dass solche Menschen, die beide
Triebe in sich vereinen und gleichsam den Grad der Be-
friedigung und die Summe des WoUustgefüliles im Ver-
kehr mit beiden Geschlechtern bewasst und unbewusst
zu vergleichen im Stande sind, ohne grosse
Schwierigkeit dazu gebracht werden können, den stärkeren
Trieb ganz zu verlieren, möchte ich nicht unbedingt be-
jahen. Hier besteht gerade von vornherein, was man bei
rein Homosexuellen anstrebt und als Zeichen der Heilung
betrachtet, „ Wollust empfindung beim Weibe," und trotzdem
hat diese Empfindung nicht die Kraft, die gleichgeschlecht-
liche zu beseitigen. — Endlich dürfte auch bei den so-
genannten ,, Geheilten" die Ehe nur mit Vorsicht anzuraten
sein; denn abgesehen von der Möglichkeit einer Vererbung
der Anlage, kann der konträre Trieb doch jeder Zeit
wieder hervorbrechen und nicht nur den Verheirateten
in besonders traurige und missliche Konflikte verwickeln^
sondern auch das Unglück des völlig unschuldigen ande-
ren Eheteiles herbeiführen.
6) Haberlandt M.: „Konträre Sexualerscheinungen bei
der Negerbevölkerung Sansibars" in den Verhand-
lungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft.
Bd. 31, 1899, S. 668. *)
Konträre sexuelle Erscheinungen, sowohl erworbene
*) Nach dem Referat von Biischan in dem Zentralblatt für Ner-
venheükiinde und Psychiatrie Nr. 127 vom 6. August 1900 wieder-
gegeben.
— 374 —
als angeborene, kämen ziemlich häufig bei der Bevölkerung
Sanzibars vor, wo erstere zumeist dem Einflüsse der Ara-
ber zuzuschreiben seien, die zusammen mit Komorensern
und wohlhabenden Suaheli-Mischlingen auch das Haupt-
kontingent der Erworben - Konträren ausmachten. Der
frühzeitige Geschlechtsgenuss rufe bei diesen Leuten bald
eine üebersättigung hervor, die sie auf neue Mittel ge-
schlechtlicher Befriedigung verfallen liesse; so würden sie
zunächst zu aktiven, später, wenn impotent geworden, zu
passiven Päderasten. Ihre Opfer gehörten fast ausschliess-
lich der schwarzen Sklavenbevölkerung an, aus der aus-
erlesene halbwüchsige Burschen bereits frühzeitig zu die-
sem Zwecke trainiert würden. Die Sansibarneger würden
durch das Beispiel der Araber ebenfalls zur perversen
Befriedigung des Geschlechtstriebes verleitet. Da ihnen
Sklaven nicht zur Verfügung stünden, so entwickle sich
bei ihnen eine Art männlicher Prostitution. Die Betref-
fenden betrieben ihr Gewerbe sehr öflFentlich, trügen häufig
auch Wciberkleidung. — Der angeborene konträre Sexual-
trieb komme sowohl beim männlichen wie beim weib-
lichen Geschlecht vor. Die Knaben, die bereits an weib-
lichen Arbeiten Gefallen fänden, würden von den Eltern
nach dieser Richtung hin unterstützt, legten Weiberklei-
dung an, trügen das Haar ebenso und verkehrten haupt-
sächlich mit Weibern oder männlichen Prostituierten, von
denen das Volk sie jedoch scharf als „amri ya merungu"
=„ Wille Gottes" unterscheide, während es jene berufsmäss-
igen Lustknaben verachte. Die geborenen Konträr-Sexu-
ellen seion hauptsächlich passive Päderasten. — Die kon-
tra r-sexiullen Weiber zeigten ihrerseits Vorliebe für männ-
liche Vorrichtungen, verrieten männliches Verhalten, klei-
deten sich zu Hause nach Männerart und verkehrten
sexuell entweder mit Ihresgleichen oder normalen Weibern.
— Ueber die hier in Betracht kommenden Methoden und
Apparate lässt sich der Verfasser des Näheren aus.
— 375 —
Homosexuelle beider Geschlechter hiessen in der Suaheli-
Sprache „mkessimune" ^ ,Weib, kein Mann/
6) Heilbponner, Oberarzt der Klinik zu Halle a. S.
Privatdocent: „Beitrag zur klinischen und
forensischen Beurteilung gewisser sexueller
Perversitäten" in der Vierteljahrsschrift
für gerichtliche Medizin und öffentliches
Sanitätswesen von Schmidtmann und Strass-
mann. III. Folge, 19. Bd. 2. Heft, Jahrgang 1900.
2. Heft Nr. 9.
Im Anschluss an einen ausführlich mitgeteilten,
«igentümlichen, mit Masochismus vermischten Fall von
heterosexuellem Fetischismus äussert sich Verfasser des
Längeren über Entstehung und Beurteilung sexueller
Perversionen im Allgemeinen. Die Ausführungen sollen,
wie aus einer Bemerkung über den Kampf gegen den
§ 175 des Str.-G.-B. hervorgeht, auch für die Homo-
sexualität gelten. Heilbronner hält die sexuellen Ano-
malien stets für erworben. Die Erklärung von Schrenk-
Notzing genüge durchaus und sei befriedigender als die
Annahme angeborener Trifebe, welche eine bedenkliche
Annäherung an die frühere Monomanienlehre bedeute.
In seiner Auffassung wird Verfasssr hauptsächlich durch
den mitgeteilten Fall bestärkt, da sich bei demselben die
Erwerbung intra vitam deutlich nachweisen lasse und es
sich gerade auch um Masochismus handle," der nach
Krafft-Ebing stets angeboren sei.
Die Verschiedenheit der Auffassung über die Ent-
stehungsart der Perversion habe grosse praktische Be-
deutung. Wenn die Triebe angeboren seien, so sei nur
ein Schritt zu der Annahme, dass sie unwiderstehlich
und unausrottbar seien und die Bewegung zu Gunsten
der Homosexuellen beweise, dass dieser Schritt thatsäch-
lich von nicht Wenigen gethan werde.
Aus der Feststellung eines perversen Triebes dürfe
— 376 —
man nicht ohne Weiteres auf Unzurechnungsfähigkeit
schliessen; der Nachweis müsse vielmehr geführt werden^
dass die Gesanitpersönlichkeit eine abnorme und die Per-
versität nur ein Folgezustand sei ; die einzelnen Umstände^
unter denen die That geschehen, müssten genau ermittelt
werden, um ein richtiges Urteil zu gewinnen.
Für seine Behauptung, die sexuellen Anomalien seien
stets erworben, hat Verfasser keinen Beweis erbracht.
Abgesehen davon, dass auch in dem mitgeteilten Fall
die Erwerbung nicht ohne Weiteres feststeht, lassen sich
aus diesem Einzelfalle keine allgemeinen Schlüsse ziehen.
Ich halte die Hojnosexualität meist für angeboren.
Uebrigens bin ich mit Näcke *) der Ansicht, dass, im
Grunde genommen, der Streit über Erwerbung oder An-
geborensein der Homosexualität nur ein Wortstreit ist^
da auch die Erwerbung einen vorbereiteten Boden, eine
disponierte Anlage voraussetzt, welche mit der einge-
borenen Reaktionsfähigkeit Molls auf bestimmte Reize
nahe verwandt sein dürfte. Mit Heilbronner stimme ich
dagegen darin überein, dass die Homosexualität an und
für sich nicht ohne Weiteres Unzurechnungsfähigkeit
bedinge, wobei aber meiner Ansicht nach die Frage, ob
die Homosexualität erworben oder angeboren sei, keine
Rolle spielt. Der homosexuelle Trieb ist zwar unausrott-
bar und verlangt oft gebieterisch nach Befriedigung; da-
raus folgt aber nicht die Unzurechnungsfähigkeit des
Homosexuellen, sondern ergiebt sich nur ein Argument
für die Bestrebungen, welche die Aufhebung des § 175
St.-G.-B. verlangen.
*) Vgl. Näeke: Kritisches zum Kapitel der normaleii
und pathologischen Sexualität in dem Archiv für Psychi-
Me und Neurologie. Bd. 32. Heft 2, besprochen im IL Jahrbuch
^56 ff.
— 377 —
8) Kaan: „Gerichtsärztliches Gutachten" in Fried-
reichs Blättern für gerichtliche Medizin. 50. Jahrg.
Heft 1.
Der Fall eines wegen homosexueller Handlungen
verschiedentlich gerichtlich verfolgten Gasthauspächters
wird mitgeteilt. Derselbe, seit 24 Jahren verheiratet und
Vater von drei Kindern, hat im Jahre 1 893 einen 16 jährigen
Burschen an sich gelockt, trunken gemacht und dann
Penis in os genommen. Ueberrascht, zuerst Versuch, sich
als den Verführten hinzustellen, später Zugeständnis seiner
„unseligen Verirrung". Strafe: 4 Monat Kerker. Im
September 1895 gleiches Attentat an einem 21jährigen
Burschen und im Oktober an einem 18jährigen. In
beiden Fällen planmässiges Handeln. Aerztliche Unter-
suchung, physisch und psychisch, negativ. Für das Vor-
handensein epileptoider Dämmerungszustände, die der
Thäter angab, keinerlei Anhaltspunkte, üeber seine vita
sexualis hat er jede Auskunft verweigert. Nach 2 Jahren
wiederum gleiches Attentat an 23 jährigem Jüngling.
Kaan hält den Patienten für geistig normal und
normal fühlend, hebt aber hervor, dass die perverse Art
der Befriedigung auffällig sei. ♦
Mir scheint es, soweit sich dies aus den mitgeteilten
Thatsachcn beurteilen lässt, dass zweifellos konträre
Sexualempfindung, mindestens psychische Hermaphrodisie
bestand.
9) Krafift-Ebing": »Drei Konträrsexuale vor Ge-
richt" in den Jahrbüchern für Psychiatrie
und Neurologie in Wien. 19. Bd. 2. Heft 1900.
(Verlag Leipzig, Wien, Deutike).
I. Fall.
Ein 36 jähriger Religionslehrer, verhaftet, weil er
seine Schüler an den Genitalien betastete, bis Ejakulation
erfolgte, wird in der Landesirrenanstalt beobachtet und
später auch von Krafft-Ebing untersucht.
— 378 —
Die Ergebnisse der Untersuchung auf Grund der
Beobachtung und der Angaben des Patienten werden
mitgeteilt: '
Explorat sei nervös von Jugend an^ eine Zeit lang
leichtsinniges Leben (Spiel, Geldverschwendung); er habe
niemals ein Weib berührt, horror feminae, dagegen seit
dem 14. Jahre ästhetisch und sinnlich zu heranreifenden
Knaben hingezogen, verabscheue den Mann, nur erregbar
durch Knaben in beginnender Pubertät zwischen 13 und
15 Jahren. Vergeblicher Kampf gegen seine Neigungen
trotz zeitweiser Abstinenz von Alkohol und Fleischgenuss;
stets mehrmals jährlich seinem Drang erlegen. Explorat
halte seine Handlungen nicht für unrecht und unerlaubt,
er habe unter ^Unzucht* nur actus in vas verstanden;
er entschuldige sich damit, dass er keine Gewalt ge-
braucht und ohnehin als Beichtvater die Erfahrung ge-
macht, dass 80 ^/o aller Knaben onanierten und dass er
nur einem unabweisbaren Bedürfnis nachgegeben.
Die Gutachten der Irrenanstalt und Krafft-Ebing's
nehmen beide Ausschluss der Willensfreiheit an. Die
konträre Sexualempfindung des Patienten sei nur Teil-
erscheinung einer abnormen geistigen Artung auf Grund
hereditärer Belastung. Seine Delikte seien krankhafte
Folgezustände fehlerhafter natürlicher Anlagen, seine
sexuellen Triebe impulsiv. Krafft-Ebing hebt noch be-
sonders hervor:
Die ethischen Defekte des Explorat en hinderten ihn,
sich der Folgen seiner sexuellen Handlungen bewusst zu
werden, er empfände dieselben vielmehr als natürliche,
dem Gesetze in seinen Gliedern entsprechende Handlungen.
Dazu käme die krankhafte Steigerung seines Triebes, der
zeitweise geradezu die Bedeutung eines unwiderstehlichen
Zwanges annehme.
Hierauf Freisprechung des Angeklagten.
Nunmehr habe Explorat, ärztlichem Rate folgend,
— 379 —
vom Alkohol abstiniert, frugal gelebt und eine Suggestiv-
behandluDg in einer Wasserheilanstalt durchgemacht, dank
welcher es gelungen sei, seine konträre Sexualerapfindung
zu beseitigen. Er sei ein anderer Mensch geworden, habe
sich seit Jahresfrist korrekt benommen und sei an einer
— Mädchenschule angestellt.
II. Fall: Erworbene konträre Sexualempfindung.
Der 37jährige Handelsagent Z., wegen Masturbation
mit L. verhaftet, wird auf seinen Geisteszustand hin unter-
sucht. Vom 16. Jahre ab will Z. mit dem Weibe ver-
kehrt haben und erst vor 3 Jahren durch L. zur Mastur-
bation verführt worden sein. Seither heftige Liebe zu L.
und angeblich keine Lust mehr am normalen Geschlechts-
verkehr. Er selbst begreife seine Umwandlung nicht.
Das Gutachten stellt schwere Neurasthenie mit grosser
physischer Erregbarkeit, neuropathische, hereditäre Konsti-
tution, sexuelle Hyperästhesie und daraus resultierend ab-
norm sexuelle Bedürftigkeit fest.
Die erworbene Perversion sei auf Belastung und Neu-
rasthenie zurückzuführen, der ganze Zusfand pathologisch
und der Drang zum geschlechtlichen Verkehr mit L. un-
widerstehlich.
Darauf Einstellung des Verfahrens gegen beide: Auch
bei L. habe die Untersuchung konträre Sexual empfin düng,
und zwar angeborene, ergeben. Zwei Tage nach der Frei-
lassung Anzeige des L. gegen den Z., dieser verfolge ihn
mit seinen unsittlichen Anträgen und bedrohe ihn mit Tot-
schiessen, da er, L., nichts mehr von Z. wissen wolle.
Umgekehrte Behauptung des Z. : L. habe ihn ver-
führen wollen und er, Z,, habe sich vor L. flüchten müssen.
Durch Zeugen bestätigt, dass L. den Z. aufgesucht und
um seine Liebe gefleht habe, da er nicht von ihm lassen
könne.
Ein neues Gutachten stellt zeitweisen Alkoholismus
und schwere Neurasthenie fest: Der belastete, überspannte,
— 380 —
dem Impuls seiner Triebe völlig hingegebene gemeingefähr-
liche Z. sei unverantwortlich. Darauf Aufnahmein die Kli-
nik Krafft-Ebing's. Enthaltung von Alkohol und anti-
neurasthenische Behandlung hätten günstig gewirkt. Durch
die Suggestivbehandlung — Suggestion gegen Alkohol und
geschlechtlichen Verkehr — sei nach 2 Monaten völlige
Heilung eingetreten. Patient sei ein sittlich rehabilitierter
und körperlich wieder hergestellter Mann geworden.
Weitere Beobachtung habe tadellose Lebensführung>
normale vita sexualis und Abstinenz von Alkohol ergeben.
III. Fall: Erworbene konträre Sexualempfindung.
Betrifft einen wegen unsittlicher Attentate ver-
hafteten Gendarmeriewachtmeister K. Derselbe soll ver-
sucht haben, dem Zivilisten R. die Hosen herunterzuziehen^
ihn um Gestattung der Paedicatio gebeten und einen
andern Zivilisten J. sowie einem Gendarmen an den Geni-
talien angegriffen haben.
Delinquent leugnet die Absicht eines unsittlichen
Angriffs, er habe nur aus momentaner Geilheit gehandelt
und seine That für nichts Unerlaubtes gehalten. Vor
einem Jahre habe er Syphilis gehabt und sei dadurch
vom Verkehr mit dem Weibe abgeschreckt worden.
Das Militärgericht spricht ihn frei, es seien nur Vor-
bereitungshandlungen erwiesen, die straflos seien, dagegen
nicht der Versuch widernatürlicher Unzucht.
Es erfolgt darauf Revision des Urteils seitens des
obersten Militärgerichtshofes. Während dieser Unter-
suchung verschiedene Zwischenfälle: K. erkrankt an
Typhus abdominalis, in der Rekonvalescenz erleidet er
einen Anfall von Influenza. Dann Wiedereintritt in den
Dienst. Bald neue Attentate; mehreren Gendarmen soll
K. an den Genitalien herumgegriffen und überdies eines
schlafenden Civilisten J. Penis in os genommen haben.
Dem gleichen Civilisten soll er später auf der Strasse
versucht haben die Hosen zu öffnen.
— 381 —
Unterdessen wird das erste Urteil abgeändert und
K. wegen der früheren Angriffe auf die Civilisten zu
4 Monaten Kerker verurteilt. Hierauf wegen Zweifels an
K.'s geistiger 'Gesundheit Aufnahme in das Garnisons-
spital: Eine Anzahl Zeugen wollen ein völlig geändertes
Benehmen K's in den letzten Monaten wahrgenommen
haben. Nach dreimonatlicher Beobachtung geht das Gut-
achten dahin, dass bösartige Hirnsyphilis vorhanden, auf
diese seien wahrscheinlich seine Charakteränderung und
seine unsittlichen Handlungen zurückzuführen. Auch die
schwächliche, läppische Ausführung der Handlungen
unter ungünstigen äusseren Umständen deute auf krank-
haft herabgesetzte geistige Thätigkeit und mangelnde Ein-
sicht bei geradezu schwachsinniger Gleichgültigkeit für
den folgenschweren Ausgang der Sache.
K. verbleibt weiter in Spitalbeobachtung. Eine An-
zahl krankhafter Erscheinungen, die sich zeigen, wird
beschrieben: Der körperliche und geistige Verfall K.'s
schreite fort. Fortgesetzte Beobachtung. Hierauf Gut-
achten des Militärkomitees: Hirnsyphilis sei ausgeschlossen
und Simulation von Geistesstörung anzunehmen. Die
Delikte seien faute de mieux am Manne erfolgt in Folge
starker Libido und Abstinenz vom natürlichen Verkehr.
K. habe im Sinne einer erworbenen konträren Sexual-
empfindung eine krankhafte Aenderung seines geschlecht-
lichen Fühlens erfahren; obgleich eine Unwiderstehlich-
keit seines Triebes nicht anzunehmen sei, müssten weit-
gehendste Milderungsgründe anerkannt werden. Hierauf
wird ein Fakultätsgutachten begehrt. K. kommt zu Krafft-
Ebing in die Klinik zur Beobachtung: Das Verhalten
in der Klinik und die einzelnen Feststellungen werden
genau mitgeteilt. Das Gutachten selbst verneint das
Vorhandensein einer organischen Gehirnkrankheit, einer
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche. Dagegen bestehe
schwere Neurasthenie, geeignet, die Widerstandsrähigkeit
— 382 —
herabzusetzen. Unter allen Umständen sei K. ein moralisch
und physisch gebrochener, körperlich schwerkranker
Mann. Die Hauptursachen dieses Zustandest Die Syphilis
und die durchgemachten teilweise verfehlten Kuren, sowie
der Typhus.
Auf den ersten Blick erscheine es, als ob K.'s unsitt-
liche Handlungen nur aus einem übermässigen Drange und
Mangel an Verkehr mit dem Weibe erfolgt seien. Eine
solche Annahme sei jedoch unrichtig, namentlich spräche
die mit J. vorgenommene immissio penis in os für eine
Perversion des Gefühls. Diese Perversion sei erworben
und auf die schwere Neurasthenie zurückzuführen. Die
ganze Art der Ausführung, die beständige Wiederkehr
der gleichen perversen Handlungen, die geradezu scham-
los, rücksichtslos zu Tage getreten seien, und das Vor-
handensein der schweren zentralen Neurose, welche die
sittliche und Willensenergie in der Bekämpfung solcher
perverser Impulse herabgesetzt habe, mache die Annahme
höchst wahrscheinlich, dass K. unter einem unwidersteh-
lichen Zwang gehandelt habe.
Die 3 Fälle betreffen zweifellos kranke Homosexuelle.
Deshalb darf aber nicht auf die Krankhaftigkeit aller oder
auch nur der Mehrzahl der Homosexuellen, geschlossen
werden; ebensowenig als ein solcher Schluss gestattet
wäre, weil zahlreiche Heterosexuelle an sexueller Hyper-
ästhesie und Neurose leiden. Auch der Erfolg der Hyp-
nose in den zwei ersten Fällen berechtigt nicht etwa zur
Ansicht, dass eine Umwandlung der Homosexualität leicht
oder meist möglich sei. Die piir bekannten Homosexuellen^
die sich der Hypnose unterzogen, sind unverändert homo-
sexuell geblieben. Zwei davon wurden von Moll, einer
von Krafft-Ebing, einer von Schrenk-Notzing behandelt»
— 883 —
10) Krafft-Ebing und Garnier: „R^sum^ du rapport sur
les perversions sexuelles obs^dantes et impulsives
au point de vue m^dico-legal.* Bericht für den 13.
internationalen medizinischen Kongress zu Paris 1900,
Abgedruckt in den „ Archives de Neurologie* (fondees
par Charchot) Vol. X. 2"® s^rie 1900. Novembre et
D^cembre 1900 Nr. 59 et 60.
1) Der Bericht von Krafft-Ebing. — Die Zwangs-
ideen und Impulse (obsessions et impulsions) ebenso wie
die sexuellen Perversionen gehörten fast ausschliesslich
dem Gebiet der psychischen, meist hereditär bedingten
Degeneration an. Man könne sie als Stigmata dieser
Degeneration betrachten. Die Häufigkeit sexueller Hyper-
ästhesie und der besondere davon abhängige Zustand
der Erregbarkeit erklärten den bei den Degenerierten
oft vorhandenen Zusammenhang zwischen Zwangsideen
und der Sexualität. Die Zwangsvorstellung sei ^die
Art von Gehirnthätigkeit, wo ein Wort, ein Gedanke^
ein Bild sich dem Geist aufzwinge ausserhalb des Willens,
mit einem als quälend empfundenen Gefühl , das sie
unwiderstehlich mache**. (Magnan). Unter Impuls ver-
stehe man einen mit Bewusstsein ausgeführten Akt, der
aber durch den Willen nicht habe verhindert werden
können (Legrain). Die Bedingungen der Zwangsvor-
stellungen seien daher: Volles Bewusstsein des Obsedierten
im Kampf gegen den Impuls, der Erregungszustand mit
der Einsicht, dass die psychischen Kräfte in dem Kampfe
machtlos seien und dass nur die Verwirklichung der
Zwangsidee die Befreiung von dem qualvollen Zustand
herbeiführen könne. Demnach seien mit diesem Zustand
von Zwangsvorstellung nicht folgende Fälle zu ver-
wechseln : 1. Handlungen bei völligem Mangel an Intelli-
genz und moralischen Qualitäten. — 2. Rein impulsiv^
gleichsam automatisch ausgeführte Handlungen. — 3.
Handlungen im Zustand aufgehobenen Bewusstseins
— 384 —
z. B. Deliriums. — 4. Handlu ngen, herrührend von
sexueller Inversion, welche (wie sich Krafft-Ebing
wörtlich ausdruckt) «nach mir nur das Aequivalent
des normalen Geschlechtssinnes bildet." Folgen
hierauf nähere, hier nicht weiter interessierende Ausfüh-
rungen über die Zwangsideen und Impulse.
2) Der Bericht von Garnier. — Die krankhafte Ob-
session sei nur ein Zeiche ii der Degenerescenz. Die Er-
regbarkeit, das wahre moralische Stigma des Degenerierten,
sei Princip und U rsache des Phänomens. Die Obsession
bilde daher nur eine Art der automatischen, aber bewussten
Gehirnthätigkeit, sie präge zwangsmässig, hervorgerufen
durch den Erregbarkeitszustand, dem Geist ein Wort,
einen Gedanken trotz qualvollen Zustand es ein, werde
von bestimmten psychischen Störungen begleitet und höre
nur auf mit der Befriedigung des Bedürfnisses, das den
Anfall hervorgebracht. Man könne sagen, dass der Im-
puls eine Krisis des Bedürfnisses, während die Obsession
nur den Zustand des Bedürfnisses bedeute. Ebenso wie
Obsessionen und Impulse seien die sexuellen Perversionen
'Degenerationszeichen. Deshalb sei es nicht zu verwun-
dern, dass ihre beiderseitigen Aeusserungen sich begeg-
neten und kombinierten unter irgend einem Gefühlschoc,
in der Kindheit oder der Pubertät, der den Ausgang
zu zwangsmässigen und impulsiven Vorstellungen bilde,
welche fortan die vita sexualis beherrschten und diese
oder jene Art sexueller Perversion erzeugten. Der Ge-
schlechtstrieb stelle gerade das biologische Element dar,
welches am meisten geeignet sei, die krankhafte Erregbar-
keit des Degenerierten hervortreten zu lassen. Garnier
bespricht hierauf die Beziehungen zwischen den Obsessionen
und Impulsen mit den einzelnen sexuellen Perversionen.
Er behandelt den Exhibitionismus, den Fetischismus, den
Sadismus, die Erotomanie und die Inversion. Im Gegen-
satz zu Kraffi:-£bing bringt er auch die Inversion in
— 385 —
ZusammeDhang mit den Zwangsideen. Er äussert sich
hierüber wie folgt: Natürlich sei nur die Rede von der
konstitutionellen Inversion, nicht der aus Laster, An-
steckung, durch die Umgebung oder die Sitte gewisser
Länder entstandenen Päderastie. Der konstitutionelle
Livertierte sei stets ein Kranker mit einer unwidersteh-
lichen Neigung; er gehe im Leben herum, ohne dasjenige
Geschlecht zu besitzen, das er exteriorisiere, während
er das entgegengesetzte in sich trage. Er fühle sich zum
gleichen Geschlecht hingezogen, gegen seinen Willen und
instinktiv. Es frage sich, wie diese Geschlechtsrichtung
zu erklären sei. Sei der Livertierte mit dieser Sub-
stitution eines Weibes im Manne etwa geboren? Sei
dies als ein Zögern der Natur aufzufassen und schliess-
lich auf eine anatomische Zwitterhaftigkeit zurückzuführen?
Letzteres sei nicht anzunehmen, sonst müsste der embryo-
logische Irrtum häufiger in der somatischen Konstitution
seinen Wiederhall finden. Auch die Fälle körperlicher
Hermaphrodisie könnten nicht die Homosexualität er-
klären. Denn gewöhnlich besässen die Invertierten alle
Merkmale völliger Männlichkeit. Man müsse die Er-
klärung anderwärts suchen. Die Inversion habe ebenso
wie die anderen Anomalien eine und dieselbe Entstehungs-
ursache, nämlich krankhafte Erregbarkeit und funktionelle
Disharmonie. Ein zufälliger Choc erlange dank der
emotionellen Bezeptivität besondere Bedeutung. AUmälig
dränge sich in Erinnerung dieses Chocs ein bestimmter
Gedanke auf und die Homosexualität gewinne ihre zwangs-
mäflsige und impulsive Energie. Die Sache sei nur darum
so anziehend, weil die Furcht hinzukomnie. Diese Ten-
denz bilde zur Zeit der Unbestimmtheit des Geschlechts-
lebens zuerst nur eine vage und confuse, im unbewussten
Leben verborgene Neigung, erst später behaupte sie sich
mit der Klarheit einer krankhaften Begierde. Die In-
version sei scharf vom Laster zu trennen. Sie sei zu
Jahrbuch m. 25
definieren: AU eine Ferversion des Gescblechtslebeos mit
zwangsmäseiger, impulsiver Form, die eine eingewurzelte,
unwiderstehliche Neigung bedeute, meist von so aus-
echliessUchem Charakter, das» das gleiche Geschlecht
aliein im Stande sei, den Orgasmus zu erzeugen. Die
Inversion sei oA. mit anderen Perversionen, Sadismus,
Fetischismus u. s. w. vereinigt.
Der Bericht von BJ-afiftrEbing ist besonders be-
achtenäwert, weil er die Inversion von der Zwangsvoiv
Stellung sondert und sie als Äequivalent des normalen
Triebes betrachtet. Jedenfalls dürfte kein Zweifel darüber
besteheD, dass Krafft-Ebing völlig Recht hat, die Inver-
sion nicht mit der Zwangsvorstellung und den Impulsen
zusammenzuwerfen, wie dies Garnier thut Oft kann sich
die Inversion mit zwangsmSssiger Gewalt geltend machen
und mit krankhafter Inversion und N^eurasthenie zusammen-
treffen, ebenso wie beim normalen Trieb krankhafte, ner-
vöse Erscheinungen vorkommen. Aber in vielen Fällen
wird auch die Homosexualität, wie durchgängig der
normale Trieb, nicht in besonders krankhafter Weise
hervortreten. Garnier scbliesst sich hei der Erklärung
der Inversion ausserdem der bekannten Associationstbeorie
von Schrenk-Notzing an. Ich möchte hier noch betonen,
dasB Garnier insoweit jedenfalls irrt, als er meint, der
homosexuelle Trieb sei ursprünglich zur Zeit der Puber-
tät nur ganz unbestimmt und als vage Neigung vorhanden,
die sich erst allmälig entwickle. In den meisten Fällen
tritt die Homosexualität, oft gerade sehr frühzeitig, mit
grosser Bestimmtheit und Entschiedenheit auf, ein Um-
stand, der gerade gegen die Äsaociationstheorie und für
die Auffassung des Eingeborenseins spricht. Die von
Ciurnier gegen den Zusammenhang der Inversion mit der
etiilsrj'ODalen Uranlage vorgebrachte Einwendung der
durchschnittlichen völligen Männlichkeit der Urninge ist
nicht durchschlagend, denn die fMe, wo auch äusserlioh
^ 387 —
weiblicher Habitus^ manchmal Effemination vorliegt,
deuten auf diesen Ursprung hin, nicht minder die Fälle
körperlicher Hermaphrodisie, bei denen meist auch ein
Schwanken im geschlechtlichen Fühlen festzustellen ist,
wie dies namentlich aus den Untersuchungen von Neu-
gebauer*) hervorgeht.
11) Näcke, F.: »Die forensische Bedeutung der
Träume" in der Zeitschrift für Criminalanthropologie
von Gross, 1. Heft, Bd. 5, Septembemummer 1900.
S. 123 bemerkt Näcke^ dass bis jetzt nicht habe
festgestellt werden können, ob jede der einzelnen Kate-
gorien von Geisteskrankheiten ihre eigentümlichen
Träume habe.
Nur eine einzige Klasse von Menschen wisse er zu
nennen, welche vielleicht absolut Charakteristisches träume,
die sexuell Perversen. Er (Näcke) habe als der Erste
klipp und klar auf die hohe Bedeutung dieser Thatsache
für die Diagnose der Perversion aufmerksam gemacht.
Der echte Homosexuelle (also nicht der Bou^) werde so
gut wie ausnahmslos in seinen sexuellen Träumen sich
homosexuell verhalten, der psychische Hermaphrodit homo-
und heterosexuell, der Sadist als solcher sich bethätigen etc.
Bis in die feinsten Details fände sich in den erotischen
Träumen die sexuelle Perversion wieder.
Die Diagnose der Perversion sei in foro meist schwer
zu führen. Der Sachverständige solle den zu Unter-
suchenden seine Lebensgeschichte erzählen lassen und un-
vermerkt ihn auf die Träume bringen ; wenn die Träume
immer oder fast immer in der Richtung der Perversion
sich bewegten, so sei das Bestehen einer solchen fast
sicher. Ein einzelner Traum beweise allerdings noch
nichts, da er ein sogenannter Kontrasttraum, d. h. ein
dem wirklichen Wesen des Träumenden widersprechender
*) Z. vergl. Jahrbuch U.
25*
— 388 —
sein könne. Die Träume seien auch geeignet^ Aufschluss zu
geben über die Zeit des ersten Auftretens der Perversion.
12) Näcke: «Die sexuellen Perversitäten in der
Irrenanstalt" in der „Wiener klinischen Rund-
schau« 1899 Nr. 29—30.
Näcke berichtet über die von ihm an den Kranken
seiner Anstalt hinsichtlich etwaiger sexueller Perversitäten
angestellten Beobachtungen. Sein Beobachtungsmaterial
erstreckt sich auf 509 Männer, 277 mit einfacher Seelen-
störung, 47 Paralytiker, 185 Imbecillen und Idioten (da-
runter 50 Imbecillen) und auf 50 Frauen.
Die Onanie hat Näcke am häufigsten angetroffen,
aber auch die verschiedensten sonstigen Perversitäten
sind ihm begegnet.
Homosexuelle Handlungen hat er verhältnismässig
wenige gefunden: Mutuelle Onanie hatten 14 Per-
sonen = 2,8 Prozent sicher oder sehr wahrscheinlich ge-
trieben, indem sie sich von Andern masturbieren Hessen
oder gegenseitig dies gethan. Darunter 10 Idioten, 4 mit
einfacher Seelenstörung, 3 Paralytiker.
Zu verzeichnen seien femer: 2 Feilatoren, ein älterer
lasterhafter Idiot und 1 Paranoiker; eigentliche Päderastie
habe er mehrmals festgestellt, immerhin aber selten;
5 Personen seien beim aktiven Act ertappt worden,
(1 Prozent Aller), 2 hätten sich passiv verhalten,
2 weitere aktiv und passiv zugleich. Alle Päderasten
seien Onanisten gewesen, zum Teil mutuelle, der eine,
ein älterer Idiot, auch Fellator, alle Aktiven bis auf einen
Idioten, welche jüngere apathische Kranke als Passivum
benutzten. Weibliche mutuelle Onanie sei bei 4 Frauen
= 8 Prozent anzunehmen, die aber selbst nie onanierten.
Zwei seien Idiotinnen, die sich küssten und herzten,
das andere Paar Verrückte. 7 Kranke seien in den
Letten bei einander getroffen worden; eine Paranoica zeige
\ coitusartiges Benehmen mit einer Andern und 2
— 389 —
Idiotinnen setzten sich auf Stühlen einander gegenüber und
führten coitusartige Bewegungen aus.
Näcke fasst dann seine Beobachtungen zusammen
und zieht gewisse allgemeine Schlüsse daraus:
Unter den Männern, bei denen er gleichgeschlechtliche
Handlungen festgestellt, befände sich wohl kein echter
Invertierter. Die Päderasten hätten abwechselnd getrieben:
Onanie, mutuelle Onanie, Fellatio, Pädicatio. Es sei da-
her anzunehmen, dass sie die verschiedenen Formen von
einander gelernt; dagegen bleibe es allerdings eine offene
Frage, ob die Onanie zu den übrigen Perversitäten, ins-
besondere zur Pädicatio führe. Für die Feststellung, ob
echte, angeborene Inversion vorliege oder bloss erworbene
sei vielleicht das beste diagnostische Mittel die Erforsch-
ung des Trauminhalts. Echte Homosexuelle träumten
nur homosexuell, bei erworbener Homosexualität stellten
sich auch Träume heterosexuellen Inhalts ein.
Näcke hebt dann noch die merkwürdigen Freund-
schaftsbündnisse hervor, denen man zuweilen unter den
Geisteskranken begegne; oft hätten sie einen durch-
aus sexuellen Anstrich. Sie kämen vor zwischen Idioten,
von denen der eine agiler sei als der andere, oder zwischen
einem Paranoiker und einem Idioten mit passiver Natur.
Die Betreffenden sässen zusammen, gingen miteinander,
umschlängen und liebkosten sich. Solche Bündnisse seien
aber doch nur selten, da der Geisteskranke meist für sich
bliebe und nur selten ein reges Interesse für seine Mit-
kranken bekunde.
Die Beobachtungen von Näcke bieten ein grosses
Interesse und es wäre zu wünschen, dass auch andere
Psychiater, die die Gelegenheit dazu haben, ähnliche
Forschungen anstellten.
Wenn die Vermutung Näcke's richtig ist, dass unter
seinen Kranken sich kein echter Homosexueller befunden
habe, so würde dies den Schluss rechtfertigen, dass man
h
ODter dGD GeisteakrankeD weaig^ Invertierten begegne,
als unter sonstigeD erwachsenen Männern, denn nach
meiner Abechätzung kämen unter normalen Verhältnissen
auf 500 Männer etwa 2 — 3 Invertierte. Jedenfalls sprechen
die Feststellungen Näcke*B dafür, dass ein Zusammenhang
zwischen Geisteskrankheit und Inversion nicht besteht.
Uebrigens werden wohl unter den Irren Näcke's, die
gleichgeschlechtliche Handlungen begingen, einige ge-
borene Homosexuelle gewesen sein. Was Näcke über die
Bedeutung der Träume e>, ist sehr beherzigenswert, nur
darf man nicht aus Ti^nmen heterosexuellen Inhalts bei
Invertierten ohne Weiteres auf erworbene Homosexualität
sohliessen, da sie auch ein Beweis psychischer Herma-
phrodisie sein können.
13) VentUPi, Silvio, (Oberarzt der Provinzialirrenanstalt
zu Cantanzaro, Italien): „Corr^lations psycho-
sexuelles* (Biblioth^que de criminologie, Bd. X VIII,
Lyon, Starck; Paris, Masson 6ä. 1899).
Verfasser entwickelt in dem IranzSsisch geschrie-
benen Werk zwei Haaptgesichtepunkte :
1) Im Gegensätze zur älteren Psychiatrie betrachtet
er jede geistige Störung in erster Linie als eine Verän-
derung der psycho-BOciologischen Funktionen, als eine
Störung der Baziehang zwischen dem Kranken und der
Gesellschafb.
2) Er sucht die Wechselwirkungen zwischen geistigen
Anomalien imd dem Geschlechtstrieb darzulegen.
Obgleich Venturi gegen die neue italienische krimi-
nal untbropologische Schule polemisiert, finden sich doch hei
iliin manche Gedanken Lombroso's, so namentlich liher
den geborenen Verbrecher.
An Terschledenen Stellen berührt Venturi die Homo-
^xualität:
l) S. 139: Bei den Geisteskranken sei die Faederastie
N
— 391 —
nicht selten anzutreffen. In seiner Anstalt hätten auf
180 Kranke 7 Neigung zu aktiver Päderastie gezeigt.
Die verschiedensten Formen von Geisteskrankheiten und
die verschiedensten Altersstufen seien vertreten gewesen.
Verfasser habe zuerst geglaubt^ die Betreffenden hätten
lediglich ein Aequivalent für den fehlenden normalen Ko-
itus gesucht, er habe sich aber getäuscht,, da er nach-
träglich festgestellt habe, dass vor der Erkrankung die
Neigung schon bestanden.
2) S. 161: Gleichgeschlechtliche Akte kämen oft als
Vorläufer der progressiven Paralyse vor.
3) S. 289—290: Die Päderastie, insbesondere die
passive, sei nicht als ein atavistischer Rückschlag, als eine
Wiederholung von Eigenschaften früher Vorfahren zu be-
trachten, da sie keine das Leben fördernde Eigenschaft,
sondern eine Verneinung des Zeugungsaktes
darstelle. Sie sei vielmehr als das Ergebnis einer Ent-
wicklungshemmung aufzufassen.
Der im Altertume weitverbreitete gleichgeschlecht-
liche Verkehr sei lediglich ein Beweis, dass auch jene
Epochen ihre antibiologischen und antisozialen Elemente
besessen. Wir hätten unser sexuelles Verbrechertum, wie
ienes Zeitalter das seinige.
Heute sei dies sexuelle Verbrechertum weniger zahl-
reich wie früher, da unsere Zeit einen nennenswerten Fort-
schritt in der Bekämpfung des Malthusischen Gesetzes
zu verzeichnen habe.
Dem Päderasten entspräche die Tribade, die häufig
in Gefängnissen und weiblichen Erziehungsanstalten zu
finden sei; die soziale Hygiene erfordere, dass man die
Tribaden in Klöstern und Harems isoliere.
4) S. 295: Die Auffassung mancher Schriftsteller, so
z. B. von Raffalovich, dass viele Urninge verkannte Ge-
nies, Idealisten und Keusche seien, könne er (Venturi)
nicht teilen. Ea Beien Invertierte oder Lasterhafte. Aller-
dings hätten in neoerer Zeit einige moderne Dichter
kein Hehl aus ihren perversen Neigungen gemacht,
um gleichsam die Vervandtschaft ihrer Natur mit der
antiken Geistesrichtung zu betonen. Auch sie seien aber
nicht entschuldbar und geborene Invertierte oder Laster-
hafte. Nur der mit der Lust zugleich die Zeugung be-
zweckende Beischlaf sei normal und poetisch.
5) S. 330: Die sexuelle Perversion gehöre zun
sexuellen Verbrechertum, sie bilde ein Zeichen einer ein-
geborenen Tendenz zur Zerstörung der Gattung (eine de-
struktive Degen erescenz). Die moralische Degenerescenz
sei gewöhnlich auch von entsprechenden physischen Aen-
derungen begleitet. Der Urning habe gewöhnlich mehr
weibliches Aussehen, die Trihadc mehr männliches.
6} S. 380 : Die Invertierten hätten gewöhnlich eine
ihrem Geschlechte entg^engesctzte Stimme, die Urninge
eine weibliche und keinen Bart, die Tribaden meist eine
tiefe und rauhe Stimme. Letzteres habe Ver&sser bei
einer Tribade und mehreren durch sie verführten Eranken-
päegerinnen beobachtet.
Wie aus dem Voratehenden sich ergeben dürfte,
scheint Venturi keine erschöpfenden theoretischen Kennt-
nisse von der Homosexualität zu besitzen, insbesondere
aber der praktischen Erfahrung in dieser schwierigen Frage,
welche nicht mit allgemeinen Aufstellungen erledigt wird,
zu ermangeln.
N
— 393 —
§ 2. Schriften der Nicht-Medizinen
(Juristen, Ethiker, Philosophen etc.)
1) Anonym: „Neue Zeit", Nr. vom 10. Februar 1000.
In dem (anonymen) Leitartikel, betitelt „Die Tugend-
heuchler", ist gelegentlich der „lex Heinze" und des
Widerstandes gegenüber dem von der Sozialdemokratie
vorgeschlagenen Stra^aragraphen zum Schutze der Ar-
beiterinnen gesagt:
„Würde der Zweck des Widerstrebens gegen den
Paragraphen zum Schutz der Arbeiterinnen wirklich
Furcht vor Erpressung, Denunziationen etc. sein, so
müssten § 95 und § 175 aufgehoben werden, da beide
sich darin gleichen, dass sie gar keinen erkennbaren sitt-
lichen Wert besitzen, aber die moralische Pest der Denun-
ziation, Erpressung etc. in einem Umfang züchten, der
sich nicht vergleichen lässt mit dem Umfang der mora-
lischen Pest, die der Arbeiterparagraph der lex Heinze
beseitigen und einschränken will. Und doch heisst es
zur Rechten und Linken und von der Regierung be-
treffs beider Paragraphen beim Verlangen der Aufhebung :
Unannehmbar!^'
2) Driesmans, Heinrich: „Das Geschlechts-
empfinden der Griechen* im „Magazin für
Litteratur" von Gaulke und Philipps (Berlin, Ver-
lag Cronbach), Nr. 51 und 52 vom 22. und 29. De-
zember 1900.
Nach den Bildern, die sich der Mensch von seinen
Göttern schaffe, Hesse sich der Mensch selbst am besten
beurteilen ; dies gelte besonders von den Griechen. Die
griechische Götterwelt gestatte tiefe Einblicke in Wesen
imd Charakter ihrer Erzeuger. Diese Götter hätten keine
weltfremden Charaktere, wie die der anderen Völker, auf-
gewiesen, sondern eine intime Vermenschlichung, welche
das griechische Wesen in eigenartigem Lichte zeige. Ein
besonderer Charakterzug der Götterbilder, welcher auch
>-
— 394 —
den Griechen selbst wohl kaum zum deutlichen Bewiisst-
sein gekommen, sei bisher wenig beachtet worden, näm-
lich der Ausdruck des Harmoniegef Uhls der Griechen im
Geschlechts Verhältnis ihrer künstlerischen Darstellungen.
Die männlichen Gfitterbilder trtigen einen ausgesprochen
weiblicheren, die weiblichen einen ausgesprochen männ-
licheren Charakter, als man ihn in der Natur fände. Das
Geschlecht sei in diesen Bildern nicht so scharf unter-
schieden, wie wir es unterscheiden würden; z. B. die
Venus von Milo habe in der ganzen Haltung und Bil-
dung etwas entschieden Männliches.
Im weiblichen Körper sei das männliche, im männ-
lichen das weibliche Element gleichsam latent vorhanden,
jeweilig dominiere nur eines von beiden und verleihe der
Person dann den ausgeprägten Geschlechtscharakter.
Aber auch äusserlich komme das unterdrückte Geschlecht
zum Vorschein in den Brustwarzen des Mannes, in dem
Kitzler des Weibes. Die Betonung gerade des latent
vorhandenen, gewissemassen unterdrückten Geschlechts
in der Absicht, die geschlechtliche Harmonie, die mensch-
liche Totalität wieder herzustellen oder doch künstlerisch
als höchstes Menschentum zum Ausdruck zu bringen,
habe im Gefühl der Griechen gelegen und ein dahin-
gehendes Bestreben in ihren Kunstwerken sei deutlich
zu erkennen^
Alle männlichen Bilder zeigten etwas entschieden
Weibliches, leichte, sanfte Neigung des Hauptes, ge-
lockerte Gliedmassen, ein Sichgehenlassen in anmutiger,
milder Biegung aller Körperlinien. Sogar bei dem Typus
der Männlichkeit, Herakles, seien weiblich schöne Züge
imd auffallende Brustbildung vorhanden.
Der männlich-herbe Charakter der Hera, der strenge,
kriegerische der Pallas Athene, der knabenhaft-wilde der
Artemis seien im Sinne dieser Ausführungen leicht zu
erklären. Während die Göttinnen einen männlich-rdstigen
— S95 —
Charakter zeigten, verrieten die männlichen Olympier oft
weibische Schwäche und Wankelmut, neigten oft zu Weib-
lichkeit und Weibischkeit hin, z. ß. der aus dem Trojaner-
krieg unter Geschrei fliehende verwundete Ares.
Das Tier habe weniger scharf ausgeprägte Geschlechts-
merkmale als der Mensch. Je höher entwickelt das Tier,
um so stärker träten die Geschlechtsorgane hervor. Die
sexuelle Differenzierung könne als Massstab für die
Entwicklungsstufe gelten, dieselbe sei z. B. bei Natur-
völkern weniger ausgeprägt. (Z. vergl. die flachen, lappen-
artigen, gering entwickelten Brüste des Negerweibes.)
Aus den antiken Bildwerken sei zu schliessen, dass
das Geschlecht bei den Alten weniger markiert gewesen
als heute. Die körperliche Bildung sei wahrscheinlich
dem Harmoniegeftihl der Griechen gleichsam zu Hülfe
gekommen. Der Grieche sei noch um einen Grad „weib-
licher** als der moderne Mann, die Griechin „männlicher**
als das moderne Weib gewesen; in beiden sei Mann-
und Weibwesen noch embryonaler in einander ver-
schlungen gewesen.
Diese Thatsache erkläre die eigenartige Erscheinung
der griechischen Päderastie. Die Freundesliebe sei da-
mals heftiger und inniger gewesen, als die Geschlechts-
liebe. Die schwächer ausgeprägten Geschlechtsmerkmale
hätten auf den antiken Menschen einen geringeren Ein-
druck gemacht und ihn nicht in dem Masse gereizt, wie
den modernen die stärker entwickelten der Gegenwart.
Daher rühre denn die relative Gleichgültigkeit des antiken
Menschen gegenüber dem Geschlechtsleben, das nur als
Mittel zur Fortpflanzung und Erhaltung der Gattung
gegolten habe, dem gegenüber die Freundschaft als das
edlere, vergeistigtere Gefühl erschienen sei.
Diese Freundesliebe, anfangs völlig rein und ideal,
sei allmälig in eine Form ausgeartet, die sich uns als
(reschlechtsyerirriing darstelle, ^aus der Natur und den
Lebensverhältnissen der alten Griechen aber sich ganz
normnl und harmonisch erkläre. Das Liebesgeflihl im
höheren Sinne, welches der Grieche dem Weibe nicht
entgegenzubrJDgen vermocht habe, habe er auf den Freund
übertragen. In dem Freund habe der Grieche — zu-
nächst unbewusst — das Geschlecht gesucht, die weib-
liche Seite der Natur des Freundes habe ihn gereist.
Der sexuelle Grundtrieb habe sich mit der Zeit
immer mehr entwickelt und habe schliesslich völlig durch-
geschli^en und in dem physischen Kontakt seine Be-
friedigung gesucht. Der jugendfrische Jüngling habe
weiblich empfinden lernen, der liebebedürftige Mann habe
das weibliche Element in ihm geschätzt. Die einander an-
ziehenden männlichen Lebensalter seien immer weiter aus-
einander gerückt. Während anfänglich die Freunde Alters-
genossen gewesen, habe später der gereifte Mann den
Jüngling, der Erzieher den Zögling gesucht.
Das interessauteste Bild dieser Knabenliebe stelle
Sokratee dar. Er habe zwar konträr-sexual empfunden,
aber doch Gefühle rein geistiger Natur gehabt, nur das
Wohlgefallen an der Jugendlichkeit habe ihn geleitet,
wälu'ond seine decadenten Zeit^nossen, z. B. Alcibiades,
blus den sinnlichen Reiz erstrebten. Der Knabe im
Alter von 12^16 Jahren habe auf den Griechen gewirkt,
da.? Alter also, wo das Geschlechtsleben des Jünglings
kaum rege gewesen und seine weibliche Natur in Forrnen-
weichheit und Anmut geblüht habe. Im 20. Lebensalter,
dem Alter, wo die Männlichkeit zum Durchbruch gelangt,
habe der konträrsexuelle Grieche den Jüngling als „ver-
blüht" bezeichnet. Entzückende Bilder solcher Liebes-
verhältnisse wiesen die Gespräche Piatos auf Die Ver-
liebtheit zwischen Mann und Knabe zeige sich dort etwa
"u der Form, wie wir sie zwischen Backfisch und Primaner
Diese Verhältnisse böten ein getreues Abbild
\
— S91 —
der ersten reinen, himmelhoch jauchzenden Liebesgefühle
zwischen Jüngling und Mädchen unserer Zeit.
Driesmans fährt dann fort: Für den modernen
Menschen sei es schwer, sich in die Empfindungsweise
der alten Griechen zu versetzen. Eine „Jugendblüte*,
wie diese sich ihrer erfreuten, kennten wir nicht. Der
griechische Jüngling müsse eine Anmut in der Formen-
bildung und eine blühende Körperfrische besessen haben,
von der uns nur ein schönes Mädchen unserer Tage eine
schwache Vorstellung geben könne. Die blasse, schwäch-
liche selbst in ihren gelungensten Exemplaren un-
harmonisch gebaute, entweder zu magere oder zu feiste
Jugend von heute könne uns nicht entfernt ahnen lassen,
was die Griechen unter einem schönen, „blühenden"
Knaben verstanden hätten. Für das Umschwärmen eines
solchen Knaben fehle uns das Verständnis. Immerhin
sei aber auch heute die Knabenliebe nicht völlig ausge-
storben und die härtesten gesetzlichen Bestimmungen
hätten sie nicht auszurotten vermocht. Merkwürdig sei
es, dass man sie vorzugsweise bei hochbegabten, genial
veranlagten, also den Griechen in gewissem Sinne ver-
wandten Naturen fände. Das Genie besitze eine ent-
schiedene Neigung zu seinem eigenen Geschlecht.
Driesmans glaubt dann diese Neigung auf das Harmonie-
gefühl zurückführen zu müssen, welches von dem sexuell
unentschiedenen oder dem sexuellen Gleichge-
wichtszustand, in dem die Geschlechter noch embryo-
naler ineinander verschlungen seien, mehr angesprochen
werde, als von dem charakteristisch ausgeprägten, voll-
entwickelten Geschlechtswesen. Driesmans schliesst dann
wörtlich : „ Wir halten es daher für ungerechtfertigt, eine
solche Empfindungsweise durchaus für dekadent und
pervers zu erklären. Sie kann freilich entarten, ebenso
gut wie die Frauenliebe. So geschah es in der späteren
griechischen Zeit. Aber wer dürfte die Zeitgenossen des
— 398 —
Aesohylos und Sophokles decadent und pervers nennen?
Ihre sexuelle Empfindungsweise lag tief in ihrer Natur
begründet und will aus dieser erklärt und verstanden^
nicht nach unseren moralischen Kategorien beurteilt sein."
Der kleine, aber schöne und gedankenreiche Aufsatz
von Driesmans schien mir wert; ausführlich wiedergegeben
zu werden. Doch kann ich ihm nicht in allen Punkten
beistimmen. Ich möchte bezweifeln, dass ein so grosser
Unterschied in der Körperbildung und der Ausprägung
der Geschlechtsmerkmale zwischen uns und den Griechen
besteht, wie dies Driesmans behauptet. Der Zeitraum^
der uns von ihnen trennt, dürfte doch ein relativ zu
geringer sein, um derartige tiefgreifende anthropolog-
ische Aenderungen hervorzubringen. Allerdings erblicke
auch ich zwischen der bisexuellen Uranlage des Menschen
und der konträren Sexualempfindung einen direkten Zu-
sammenhang, welcher oft sich auch in dem äusseren
Gesamthabitus ausprägt, bei vielen Homosexuellen bildet
aber die konträre Gefühlsanlage das alleinige feststellbare
weibliche Element ihrer Natur.
Die mannweibliche Darstellung der Götter ist wohl
hauptsächlich lediglich auf das von Driesmans hervor-
gehobene Harmoniegefühl der Griechen zurückzuführen^
welches ihnen den Idealtypus in der Vereinigung und
Vermischung der jedem Geschlecht zukommenden Vor-
züge zeigte.
Was das von den Griechen bevorzugte Alter anlangt^
so erstreckte sich dasselbe wohl über das 15. Jahr hinaus,
etwa bis zum 20. Der Ausdruck nalg ist nicht als Knabe,
sondern Jüngling zu verstehen; dabei ist zu berücksich-
tigen, dass die körperliche Entwicklung des griechischen
Jünglings eine firühzeitigere war als bei uns. Uebrigens
kommen auch bei den Alten Liebesbündnisse zwischen
völlig Erwachsenen und Grossjährigen vor.
Die Bemerkung gegen Schluss des Au&atzes, dass
- 39Ö —
wir heute eine Jugendblüte bei Jünglingen wie*die, für
welche die Griechen schwärmten, nicht kennten und dass
nur ein schönes Mädchen einen Begriif davon geben
könne, verwundert etwas: denn nach Ansicht Kunstsach-
verständiger ist vom ästhetischen Standpunkt aus der
Mann und speziell der Jüngling dem Weibe überlegen,
mindestens aber gleichwertig; in dem Jüngling vom 16.
bis 20. Jahr findet sich auch heute durchschnittlich ein
höheres, jedenfalls gleiches Mass von körperlicher Schön-
heit und Jugendblüte als bei den Mädchen des gleichen
Alters.
3) Eekhoud, Georges: ^Chronique de Bruxelles*
im „Mercure de France", Juni, December 1900,
Januar und März 1901.
Chronik vom Juni: Eekhoud führt einige in
Deutschland erschienene homosexuelle Werke an, ins-
besondere die bei Spohr veröffentlichten, worunter er
namentlich „Eros und die Kunst**, „diese herrliche histo-
rische und ethische Studie von Frey** und das „von hoher
Eigenart zeugende** „Problem der Ethik** von Wächter
hervorhebt; er berichtet über die Petition und erwähnt
das Jahrbuch, bei welchem er auf die Antworten der
Priester hauptsächlich hinweist.-
Zur Widerlegung gewisser aus seinem Boman von der
Anklagebehörde gezogenen Schlüsse beruft sich Eekhoud
auf Goethe's „Wilhelm Meister**, aus dem er die unten
im zweiten Abschnitt angegebene homosexuell angehauchte
Stelle zwischen dem jungen Goethe und dem Fischer-
knaben zitiert, femer auf Tolstoi's ^Auferstehung**, wo
ebenfalls Küsse auf den Mund zwischen zwei Männern
(die Szene in der Neujahrsnacht) vorkämen, ohne dass
man deshalb an Päderastie denke.
Chronik vom Dezember: Bericht über den
Verlauf der Hauptverhandlung seines Prozesses.
Chronik vom Januar 1901: Mitteilung ver-
— 400 —
schiedeDer Interwiews einer Anzahl Schriflfiteller über
die homosexuelle Frage und das Recht des ßoman-
schriftstellers, sie zu behandeln. Zunächst erklärt Eekhoud
selber den Zweck seines Buches: „Er habe das Mitleid
nicht auf einen lasterhaften^ sondern einen von Natur
aus homosexuellen Menschen leuken wollen^ und giebt
dann einige Stellen aus Krafit-Ebiugs Einleitung zu
Molls „konträrer Sexualempfindung" wieder.
Er führt die AuffassuDg seines Vertheidigers, des
Schriftstellers und Bechtsanwalts Edmond Picard an, der
einen scharfen Unterschied macht zwischen grobsinnlicher
Päderastie und der innigen leidenschaftlichen Freund-
schaft gewisser hochbegabter Männer^ die man in der
Litteratur- und Kulturgeschichte häufig anträfe.
Der Dichter Giraud will dem Schriftsteller das
Studium jeder Leidenschaft gestatten, die Gesinnung
mache Alles aus.
Der hoch bedeutende belgische Dichter Verhaeren
betont, „Eekhoud habe sich durchaus in seinem Recht
befuuden, da er kühne, grossartige, erschütternde, heroische
Persönlichkeiten dargestellt habe, ja heroische, denn
Hehlwart gehöre zu den Leuten, die für das stürben,
was sie für schön hielten. Es handelte sich um eine
Leidenschaft, d. h. um die dem Herzen eingepflanzte Be-
gierde, deshalb verstände er die Bezeichnung „wider-
natürlich" nicht. Der Künstler dürfe jede Leidenschaft
schildern, ohne Rücksicht, ob diese Leidenschaft für die
Gesellschaft schädlich sei oder nicht, sonst müsste man
auch Shakespeare und Moli^re verpönen.**
Chronik vom März 1901: Eekhoud berichtet
weiter über die Umfrage, welche die Zeitung ,Le Peuple**
über das homosexuelle Problem und das Recht, es zu
behandeln, angestellt hatte, und führt insbesondere die
Ansicht eines bekannten belgischen Romanschriftstellers,
Eugen Demolder, an. Demolder tritt mit Wärme für
- 401 —
-das Becht des Schriftstellers ein, homosexuellea Empfinden
darstellen zu dürfen. Er erinnert an die häufigen der-
:artigen Schilderungen in der antiken Litteratur. Der
Uranismus sei im Altertume eine anerkannte und geübte
Leidenschaft gewesen, vielleicht noch intensiver habe er
stets im Orient existiert. Auch in Europa sei er heute nicht
verschwunden. Früher, im Altertum und in der Renais-
sancezeit, habe ein homosexueller Geisteszustand keinen
Makel nach sich gezogen. Bei uns würden die üranier
als moralisch Verpestete behandelt. Und doch seien sie
nicht Herren ihres Geistes, ihrer Physiologie. Wie früher
befänden sich unter ihnen Künstler und Könige, Denker
und Priester. In Mitten einer sie verdammenden Welt
kämpften sie mit ihrer Natur, mit dem in ihren Adern
fiiessenden seltsamen Blut, mit ihren eigenartigen Trieben,
die ihre Seele aufwühlten. Es heisst dann wörtlich: „Sie
kämpfen, manchmal unterliegen sie, und oft müssen sie
büssen. Und mit diesem so eigenartigen, so intensiven,
so fürchterlichen Drama sollte sich ein Schriftsteller nicht
beschäftigen dürfen? . . . Verurteilt dann Racine, weil
er in „Phfedre* mit wunderbaren Versen den Incest be-
sungen! Verurteilt Balzac wegen seiner ,Fille auxyeux
d'or", wo er das Herz der Frauen blosslegt, die sich
untereinander lieben ! Und verurteilt Balzac, weil er die
Liebe Vautrin's zu Lucien de Rubempr^ dargestellt hat!
Alles, was menschlich ist, gehört zum Gebiet der Littera-
tur, und Niemand hat das Recht, dies Feld zu beschrän-
ken.^ Demolder hebt dann eine grosse Anzahl bedeuten-
der Uranier aus Geschichte und Litteratur hervor. — Li
der gleichen „Chronique" bespricht dann Eekhoud ein-
gehend Kupffer's: ,,Lieblingsminne und Freundesliebe/
dessen Wert und Bedeutung er rühmend anerkennt.
DieChroniken sind,wie überhaupt Alles,was ausEekhouds
Feder kommt, mit dem diesem Schriftsteller eigenenKünsÜer-
temperament und charakteristischen Schwung geschrieben.
Jahrbuch III. 26
— 402 —
4) Förster-Nietzsche, Frau Elisabeth: „Friedrich
Nietzsche über Weib, Liebe und Ehe" in
der , Neuen deutschen Rundschau**, Oktoberheft 1899.
Nach den Ausführungen von Frau Förster-Nietzsche
über das Verhältnis ihres Bruders zum Weib; in welchem
die Geschlechts liebe zu fehlen scheint, lässt sie sich, wie
folgt, über die Gefühle Nietzsches für seine Freunde aus :
,,Auch darf man nicht vergessen, dass seine Ideale
und seine Freunde einen ungewöhnlich grossen Teil seiner
innigen Gefühle in Anspruch nahmen. Von Richard
Wagner und seiner Musik schreibt er im August 1896:
„Meine einzige Liebschaft, wenn man mir glauben will,"
und für die Gefühle seinen Freunden gegenüber hat er
immer die ergreifendsten Worte gefunden, wie denn über-
haupt die Freundschaft in seinem Leben den höchsten
Rang eingenommen hat. Er fasst einmal seine Empfin-
dungen in die Worte zusammen; „Ja, wenn man keine
Freunde hätte! Ob man's noch aushielte? ausgehalten
hätte? Dubito.'* Mein Bruder kannte noch jene höchste
Form edelster Männerfreundschaft, die das Altertum ver-
klärt hat.
Der unnatürliche Charakter indessen, den diese
Freundschaft damals zuweilen annahm, war ihm, wie alle
Unnatur, aufs Tiefste zuwider. Er schreibt über Freund-
schaft und Liebe:
,Das Altertum hat die Freundschaft tief und stark
ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich ins Grab gelegt.
Dies ist sein Vorzug vor uns. Dagegen haben wir die
idealisierte Geschlechtsliebe aufzuweisen. ADe grossen
Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren
Halt, dass Mann neben Mann stand, und dass nicht ein
Weib den Anspruch machen durfte, das Nächste, Höchste,
ja Einzige seiner Liebe zu sein — wie die Passion zu
empfinden lehrt.«
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich, entgegen
-^ 403 — •
der Auffassung vieler Horaosexuellen, Nietzsche nicht für
einen Konträrsexuellen halte. Jedenfalls ist bis jetzt ein
homosexuelles Gefühl bei ihm nicht erwiesen; die Briefe
an seine Freunde verraten lediglich schwärmerische Freund-
schaft, dagegen lassen Briefe an Frau L. O. (in dem ersten
Band der veröifentlichten Briefe) auf eine Neigung anderer
Natur schliessen; wie ich privaten Mitteilungen Bekannter
dieser Dame entnehme, soll Nietzsche thatsächlich eine
heftige Leidenschaft für Frau O. empfunden haben.
5) Hart, Julius: „Platens Tage bü che r**, besprochen
im „Litterarischen Echo" (Herausgeber Dr. Ett-
linger, Berlin) Heft 24, Nr. vom 15. September 1900.
Die vertrautesten Freunde Platens hätten mit Be-
sorgnis der Veröffentlichung seiner Tagebücher entgegen-
gesehen. Man habe es für bedenklich gehalten, die
Mysterien aus dem Leben des Dichters der grossen
Menge preiszugeben, die verständnislos den dunklen
Spielen der Natur gegenüberstehe. Um so verdienstvoller
sei die Herausgabe der Tagebücher. In ihnen habe sich
Platen ganz unverhüllt geoffenbart. Derartige Selbst-
bekenntnisse seien von grösstem Kulturwert.
Immer und immer wieder spräche der Dichter in
seinem Tagebuch von dem, was ihn ganz erfülle. Die
Gefühle, welche Heine dem Dichter in gehässiger Weise
vorgeworfen, habe Platen thatsächlich empfunden,
wenn auch in viel edlerer und höherer Form, als Heine ange-
nommen. Das Tagebuch zeige, wie tief und leidenschaftT
lieh die Männerliebe Platen bewegt habe. In diesem
Gefühl wurzle auch Platens Kunstwert. Das Eigenartige,
Besondere, Persönliche der Platenschen Muse hänge mit
seinem Eros zusammen.
Für die psychophysische Erkenntnis des Dichters
habe dieser Eros die höchste Bedeutung, aber auch für
das Verständniss der Männerliebe überhaupt, namentlich
26*
— 404 —
da die BekenntDisse gerade von einer «kranken'' Seele,
einem mitten in diesen Gefühlen Darinstehenden ausgingen.
Heute werde die mit dem unsinnigsten der Worte
als „widernatürlich* bezeichnete Liebe Platens verpönt^
verfolgt und bestraft. Die Vorurteile würden leider auch
die Tagebücher Platens nicht zerstören, aber wer erkannt
habe, wie alle Moral im Verstehen der Natur wurzele,
würde auch unbefangen über ein Gefühls- und Trieb-
leben urteilen, das noch so viel Geheimnisvolles in sich
berge und nach aller unserer Naturauffassung für den
Organismus irgendwie von Wert und Bedeutung sein müsse.
Für den Arzt wäre Platen allerdings „schwer be-
lastet* und weit entfernt vom «Normalmenschen*. Der
bedeutende Mensch sei aber krank, und Krankheit gehöre
im gewissen Sinne zum Wesen des genialen Menschen,
wobei dann freilich der Begriif der Krankheit sich in
denjenigen der höheren Gesundheit umkehre.
Bei Platen sei viel Gedrücktes, viel Missmut,
Klagen, Jammern und Selbstpeinigung zu finden. In
seinem Charakter läge etwas Unmännliches, mehr Weib-
liches, ja Weibisches, etwas Widerspenstiges und Zer-
fahrenes, Launenhaftes und Uebertriebenies. Man be-
gegne bei ihm vielen Widersprüchen, oft einem plötz-
lichen Umschlag in seinen Gefühlen, einer zwar feinen
Empfindung, die aber von Empfindlichkeit und Empfind-
samkeit unzertrennlich sei.
Sein starkes Liebesbedürfnis werde daher nur zu
leicht verletzt. Er tauge nicht für die reale Welt, flüchte
sich in sein Inneres imd suche in seinem Ideen- und
Phantasieleben sein Glück. Deshalb habe seine Dichtung
auch den Charakter einer Phantasiedichtung. Ein aus-
geprägter, phantastischer, idealistischer, spiritualistischer
Zug zeichne auch seine erotischen Neigungen aus, etwas
von der Vergeistigung der platonischen Liebe. In den
— 405 —
Personen, die er liebe, Hebe er im Grunde genommen
Geschöpfe seiner Einbildungskraft, Schemen, Idealge-
stalten seines Innern. Allem Anscheine nach habe er
seine recht harmlosen Jünglinge für begnadete Wesen
gehalten. Er habe glühende Leidenschaft für Jünglinge,
die er nicht näher gekannt, empfunden. Dabei habe jede
derartige Liebe mit Enttäuschung beider ersten Bekannt-
schaft geendet. Seine Liebe trage ein stark intellectuelles
Gepräge, er suche Freunde von geistigem Adel und hoher
Bildung. Da er von zarter Moralität gewesen, sei er mit
seinen Neigungen in Zwiespalt gerathen, dem unausrottr-
baren Trieb habe er aber nicht entrinnen können. Bald
klage er sich an, bald entschuldige er sich. Seine Lebens-
aufgabe sei es gewesen, seine Neigung zu vergeistigen,
der Welt der Sinnlichkeit sei er abgestorben für die Welt
der Abstraktion. Das Bild, das Platens physischer Or-
ganismus darbiete, sei auch in seinem Kunstwerk zu be-
obachten. Auch in diesem seien decadente Erscheinungen
nachweisbar. Ueberreizter Subjektivismus, Unfähigkeit
zu leben, Flucht aus der Wirklichkeitswelt in eine Ideen-
und Schattenwelt fänden sich viel in seiner Kunst. Was
bei den heutigen Decadenten sich zur Blüte entfaltet
sei bei Platen im Keim vorhanden.
Der verständnisvolle, feinsinnige und schöne Aufsatz
von Hart gehört mit zum Besten, was über Platens
Homosexualität und seine Tagebücher geschrieben worden
ist. Im wohlthuenden Gegensatz zu Andern (wie z. B.
Karl Busse: Blätter für litf erarische Unterhaltung vom
13. Mai 1897)*)**), welche trotz der beredten Sprache der
*) Z. vgl. die Entgegnung auf diesen Artikel von Numa
Praetorius: Die Tagebücher des Grafen Platen in Brand's „Eigenen",
Juli 1898, Heft I ; z. vgl. auch der treffliche Aufsatz im I. Jahrbuch
von Ludwig Frey.
**) Wenig verständnisvoll drückt sich auch aus ein gewisser
Dr. Harry Maync in der „Gesellschaft" von Conrad, 2. Januar-
— 406 —
Tagebücher noch die Natur von Platens Neigung zu ver-
dunkehi suchen, wird Hart dem Wesen der Platenschen
Gefühle und ihrer Bedeutung für seine ganze Persönlich*
keit gerecht, ohne die lächerliche Furcht, dadurch Anstoss
zu erregen oder Platen dadurch zu verkleinem.
7) Herman, G.: ^Genesis" oder „Das Gesetz der
Zeugung/ (Leipzig, Verlag von Arwed Strauch.
4 Bändchen, Bd. 1—3 1899, Bd. 4 1900.
In dem Band I „Sexualismus und Generation",
Beiträge zur Sexual-Physiologie, wird in Kapitel IV, bei
der Besprechung des von Moll unterschiedenen Kon-
trektations- und Detumescenztriebes, der sexuelle Trieb
überhaupt und insbesondere auch der Uranismus aus einem
bei dem Menschen angeblich vorhandenen Gesetz sexueller
Polarität erklärt. Mit Reichenbach nimmt Herman an,
dass der menschliche Körper ein Magnet sei, der polare
Gegensätze aufweise. Die polarische Anziehung erzeuge
in erster Linie die Kontrektation. Beim Nahen der gegen-
poligen Person werde das Annäheruügsbegehren als eine
Lust, zu umarmen oder lunarmt zu werden, empfunden.
Bei keuscheren Naturen brauche der Kontrektationstrieb
gar nicht mit dem Detumescenztrieb zusammenzufallen.
Die Berührung des geliebten Gegenstandes genüge, die
psychophysische Spannung auszulösen. (Letzteres ist aller-
dings bei einer gewissen Klasse von Urningen der Fall,
die durch blosse Küsse und Umarmungen schon befriedigt
werden. Bem. v. N. Pr.)
In Band IV „Animismus und Regeneration**, „Unter-
heft 1901, S. 123: £s heisst dort: Er ist ein unglückseliger Mensch,
der sich mit dem Leben nicht abfinden konnte und auf b ö s e Irrwege
gerieth. (!) Das Schlimmste war seine berüchtigte Erhitzung mit
schönen Jünglingen. In den Tagebüchern ist die offene Darlegung
dieser heiklen Dinge, weit entfernt, den Dichter noch mehr zu be-
lasten, nur dazu geeignet, ihn in unseren Augen, wenn auch nicht
zu reinigen, so doch zu entschuldigen.
— 407 —
suchuDgen über Sexual-Spiritismus", berührt Herman gleich-
falls die Homosexualität. Dieser IV. Band enthält eine
Darstellung des philosophischen und mystischen Kernes
gewisser Sagen^ Systeme und Religionen, eine Erörterung
des modernen Okkultismus und Spiritismus, nebst wissen-
schaftlichen Erklärungsversuchen, sowie eine Entwicklung
verschiedener Theorien über das Ich, die Seele, deren
Prae- und Postexistenz, über die Möglichkeit der ob-
jektiven Ausstrahlung der Psyche, und namentlich die
Darlegung der sog. Inschau, d. h. der Fähigkeit gewisser
Medien, sich in ein Doppel-Ich zu spalten, die exteriori-
sierte Psyche wahrzunehmen und die Vorgänge des
Seelenlebens zu schauen.
Diese Inschauexperimente seien besonders wertvoll
für die Erforschung der sexuellen Probleme, namentlich
auch der Homosexualität.
Die Inschauversuche ergäben drei Gattungen von
Homosexualität: Erstens die Bisexuellen, welche bei dem
normalen Geschlechtswechsel teilweise in Indifferenz
blieben und den embryonalen Zwitterzustand noch be-
sässen — männlicher Körper mit weiblicher Psyche oder
umgekehrt; — zweitens die Asexuellen, bei denen die
Polaritätsspannung so schwach sei, dass sie kaum empfunden
würde; drittens endlich die Suprasexuellen, welche das
Geschlecht tiberwunden hätten oder überwunden zu haben
vorgäben. Der historische Beweis scheine für Buddha
und Christus erbracht; für die Platoniker alter und neuer
Zeit aber fraglich. (S. 225 und 226.)
(Bei den Asexuellen und Suprasexuellen von Homo-
sexuellen zu sprechen, halte ich für unrichtig und ver-
wirrend, Bem. V. N. Pr.)
S. 232 behauptet Herman, dass bei Inschauversuchen
die Personifikation der Ich-Radien nach den Polen der
Aussenwelt meist konträrsexuelle Züge trage. Den weib-
lichen Somnambulen erscheine der Schutzengel (sein
— 408 —
Doppel-Ich) als Mann und umgekehrt. Wo dies nicht zu-
träfe, sei auf eine sexuelle Anomalie zu schliessen: So-
z. B. sei ein männlicher Somnambule, der seinen Doppel-
gänger immer als jungen, schönen Mann gesehen habe^
Urning gewesen.
8. 241 wird dann zusammenfassend darauf hin-
gewiesen, dass die Natur weibliche, männliche und andro-
gyne Individuen hervorbringe. Nach den Inschau-Befunden
sei jedes Einzelego an sich androgyn, also Zwitter. Eia
jeder Mensch sei in den ersten Monaten seines Aufent-
haltes im Mutterleib scheinbar androgyn und in anormalen
Fällen werde diese Zweigeschlechtlichkeit mangels ge-
nügender Differenziationskraft zu einer thatsächlichen
Herman denkt in erster Linie an physisch ejs Zwittertum^.
aber das Gesagte findet ebenso Anwendung auf die Homo-
sexualität.
Die Ausführungen Hermans über die Inschau bieten;
ein sehr grosses Interesse. Inwieweit diese Experimente
wirklich wissenschaftlichen Wert beanspruchen dürfen und
insbesondere, inwieweit sie für das Studium der Homo-
sexualität von Bedeutung sein können, vermag ich bei
meiner mangelnden theoretischen Kenntnis und praktischen
Erfahrung auf dem Gebiet des Okkultismus, Spiritismus
und der psychometrischen Psychologie nicht zu beurteilen.
7) Kaufmann,Max: Besprechung von Kupffers , Lieblings-
minne und Freundesliebe* in der , Gesellschaft", 1.
Dezemberheft 1900: S. 323—324.
Man dürfe nicht sensationelle Erotik in der Samm-
lung Kupffers suchen ; sie bilde einen wertvollen Beitrag
zur Kultur- und Litteraturgeschichte, der freilich vom
Standpunkte des geeichten Normalphilisters, wohl auch
des orthodoxen Litteraturmenschen mit Kopfschütteln und
Widerspruch gelesen würde. Kaufmann hebt dann
hervor, dass das Vorurteil gegen die gleichgeschlechtliche
Liebe so alt wie das Christentum sei und sich aus dem
— 409 —
Hass gegen alles „Heidnische" erkläre, denn die Lieblings-
minne stelle einen nicht unwesentlichen Bestandteil an-
tiker Moral und Sitte dar. Das Christentum bedeute Ne-
gierung, Tötung des Fleisches, daher die Verfolgung der
Homosexualität. Den gleichen Standpunkt habe auch die
Gesetzgebung eingenommen.
Hierauf führt der Kritiker die hauptsächlichsten in^
der Sammlung vertretenen Dichter an, mit guter Charak-
teristik, namentlich die modernen. Er schliesst mit un-
eingeschränktem Lob über das „der grössten Beachtung
werte Werk". An diese Besprechung anschliessend hat
in einer kurzen Nachschrift der (im Dezember 1900)
der Litteratur allzufrüh entrissene Herausgeber der
^Gesellschaft", Jacobowsky, bemerkt: Er könne das Urteil
des Referenten (Kaufmanns) nicht teilen. Im Uebereifer,,
möglichst viele Namen für das Buch zu reklamieren, habe
der Verfasser sich schwere Verfehlungen zu Schulden
kommen lassen, die das Verdienstliche und Unbefangene
seiner Sammlung bedenklich schmälerten. Einen Goethe
hier einzureihen, weil der „Erlkönig" die Zeile enthält:
„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt**, sei eine
Lächerlichkeit, und Christus anzuführen, weil es in Joh.
15 heisst: „Es war aber einer unter seinen Jüngern, der
zu Tisch lag an der Brust Jesu, welchen Jesus lieb hatte*,,
sei eine grobe Taktlosigkeit. „Es Hesse sich noch vieles
anführen."
Auch ich möchte die Deutung des Erlkönigs im Sinne
von Kupffer's nicht teilen, ebenso hätte ich lieber das Ver-
hältnis von Jesus zu Johannes nicht erwähnt und zwar
aus den verschiedensten Gründen, namentlich aber, weil
nur auf Grund eingehender theologischer Studien und ge-
nauer Quellenkenntnis ein Urteil über dasselbe möglich
sein dürfte.
Dagegen übertreibt Jacobowski mit den Worten:
,Es Hesse sich noch vieles anführen". Lediglich an
— 410 —
-wenigeo Stellen können Zweifel auftreten darüber, ob
wirklich homosexuelle Empfindungen im Spiele sind. Des-
halb gehören sie aber trotzdem fast alle in die Sammlung,
weil sie wenigstens die Freundesliebe behandeln und
Kupffer nicht nur die Lieblingsminne aufnehmen wollte.
Wie ich über diese Unterscheidung und Zusammensetzung
<ier Sammlung denke, darüber spreche ich mich weiter
ernten (Nr. 9) aus.
S) Kaufmann, M a X : ^Heine undPlaten**. Eine Revi-
sion ihrer litterarischen Prozessakten in den
Züricher Discussionen. Flugblätter aus dem
Gesamtgebiet des modernen Lebens. N. 16 — 17.
(Zürich 1899).
Zunächst eine allgemeine Verurteilung der Kampfes-
weise Heines gegenüber Platen. Heute würde eine Pole-
mik, welche die sexuellen Neigungen eines Künstlers in
die Kritik seiner Werke hereinzöge, unbedingt verworfen
werden. Aus der Homosexualität eines Dichters auf
schlechte Verse zu schliessen, sei heute undenkbar. Eine
Anzahl homosexueller oder weiblich veranlagter Sqhrifk-
-steller hätte gerade die moderne Litteratur mit neuen
Gefühlsnüancen bereichert. Die Heterosexualität sei
allerdings das grosse Gesetz der Fortpflanzung und der
menschlichen Ordnung ; die Natur kenne aber auch andere
Fortpflanzungsmöglichkeiten und überhaupt Wesen, die
sich gar nicht fortpflanzten, wie die Arbeits-Bienen, die
nur Honig und Waben schüfen, nur Geist und Aesthetik
konstruierten. Sollte es nicht Menschen geben auf künst-
lerischem, ästhetischem Gebiet, die rein geistig erzeugten
nind nur ästhetische Werke -den Mitmenschen darböten?
Derartige sensible, hoch geistig veranlagte Naturen dürfe
man aber nicht wegen des in ihnen unabänderlich
wirkenden Gesetzes ihren roheren Brüdern zur Knebelung
-übergeben und hinter Gefängnismauern einsperren.
Hierauf giebt Kaufmann einen kurzen geschichtlichen
— 411 —
Ueberblick über die Bestrafung des gleichgeschlechtlichen
Verkehrs seit Carpzow und einen solchen über die wissen-
schaftliche homosexuelle Forschung seit Casper unter Er-
wähnung einiger umischer belletristischer Erzeugnisse.
Dieser ganze Abschnitt bringt nur Allbekanntes.
Folgt hierauf eine Darstellung des bekannten Streites
zwischen Heine und Platen, worauf Kaufmann untersucht,
ob Platen wirklich homosexuell war. Nach Wiedergabe
der Ansicht verschiedener Schriftsteller über Platens
Homosexualität erblickt Verfasser (und mit Recht) die
unumstösslichsten Beweise für des Dichters konträre
Sexualempfindung in den Selbstbekenntnissen seiner Tage-
bücher. Aus den letzteren wird eine Anzahl charakteri-
stischer Stellen wiedergegeben. Gegen Schluss wird dann
noch aus Platens Liebe folgende Verallgemeinerung ge-
zogen: „Was auch hier wieder mit voller Evidenz her-
vorgeht, ist die, auch in Krafft-Ebings autobiographischen
Mitteilungen von Urningen bestätigte Thatsache, dass,
im Gegensatz zur heterosexualen Liebe zwischen Mann
und Weib, die sympathische Neigung unter Homosexualen
in der übergrossen Mehrzahl der Fälle eine in der
Psyche steckenbleibende, dem quietistischen Charakter des
Urnings entsprechende, sich passiv und reserviert ver-
haltende, nicht oder nur selten zum Sinnlichen und
Motorischen vordringende Seelenerschütterung darstellt
und dass dies insbesondere bei Platen der Fall war."
Diese letzteren Sätze sind, was Platen anbelangt,
insofern richtig, als seine Liebe keine brutal sinnliche
war, vielmehr eine ideale, schwärmerische, desshalb fehlte
ihr aber keineswegs das sinnliche Moment, wie dies
überall in den Bekenntnissen deutlich hervortritt. Wenn
Platen vor dem Gedanken gleichgeschlechtlichen Genusses
zurückschreckte, so ist dies nicht auf seinen Mangel an
Sinnlichkeit zurückzuführen, sondern weil der Dichter
bei der damaligen Unkenntnis der Wissenschaft über das
— 412 —
Wesen der Homosexualität, bei den bestehenden Vorurteilen^
in denen er selbst befangen war, und bei seiner fein be-
saiteten Seele sich selbst als einen Verbrecher hätte ver-
urteilen müssen, falls er seinen Trieben nachgegeben
hätte, mochte er noch so sehr die [Eigenart seiner Ge-
fühle vor sich selbst verantworten, sodann aber, weil
Platen niemals einen seiner würdigen, verständnisvollen
Geliebten gefunden hat und die feile Liebe verschmähte.
Muss man es schon als unrichtig bezeichnen, Platen
die Sinnlichkeit abzusprechen, so ist es noch weniger zu-
treffend. Derartiges von den Urningen im Allgemeinen za
behaupten, da Viele gerade einen besonders starken und
gebieterischen Geschlechtstrieb aufweisen.
Auch die zu Beginn des Aufsatzes gemachten Aus-
führungen bedürfen der Berichtigung, wonach die Homo-
sexuellen gleichsam die feineren, edleren Naturen im
Gegensatz zu ihren heterosexuellen Brüdern sein sollen.
Man hüte sich, von einem Extrem in das andere zu fallen.
So haltlos das bisherige Verdammungsurteil über die
gleichgeschlechtliche Liebe, so ungerechtfertigt uüd grau-
sam das die Homosexualität bestrafende Gesetz erscheint^
so übertrieben ist es andererseits, die Urninge als die
höheren, geistigeren jMenschen zu preisen. Die ideale An-
lage, der schöne Charakter, die natürliche Begabung für
Kunst und Poesie vieler Konträren ist nicht zu leugnen^
ebensowenig, dass eine nicht unbedeutende Anzahl Geistes-
heroen Urninge waren. Deshalb sind aber die edleren
oder bedeutenderen Homosexuellen doch nur die Aus-
nahme, wie die besseren oder hervorragenderen Menschen
überhaupt.
9) Kupffer, Elisar von: ^Lieblingsminne und
Freundesliebe in der Weltlitteratur* (mit>
einer ethisch-politischen Einleitung). Verlag: S. Dyck,
Eberswalde.
Die der Sammlung vorangehende gedankenreiche
— 413 —
und von idealem Streben enüllte Einleitung ist im vorigen
Jahrbuch besprochen und gewürdigt worden. Die Samm-
lung selbst besteht aus der Zusammenstellung, einer
Anzahl von Gedichten, Prosabruchstücken, Briefen u. s. w.
aus der Weltliteratur in deutscher Sprache. Die meisten
dieser Schöpfungen haben die homosexuelle Liebe —
Lieblingsminne, wie sie Kupffer nennt — zum Gegen-
stande, nur einige wenige bloss schwärmerische Freund-
schaft, — Freundschaftsliebe. —
In einem Anhang sind typische Aeusserungen und
Berichte namentlich aus Werken der Antike über homo-
sexuelle berühmte Männer wiedergegeben, sowie Nach-
träge von Gedichten und sonstigen litterarischen Erzeug-
nissen homosexuellen Inhalts einiger moderner Geistes-
heroen (Friedrich des Grossen, Goethe, Winckelmann usw.),
ferner ein Bruchstück aus einem japanischen ßoman.
In der Sammlung sind folgende Dichter und Schrift-
steller vertreten:
1. Hebräer: König David (Klage um Jonathan).
2. Griechen: Archilocfios, Mimnermos, Theognis,
Ibykos, Simonides, Anakreon, Pindar, Bacchylides,
Plato, Kallimachos, Theocrit, Meleager, Plutarch,
Xenophon, Parthenios, Achilleus Tatios.
S. Römer: CatuU, Vergil, Horaz, TibuU, Ovid,
Martial, Lucian, Aelian, Konstantinos.
4. Orientalen: Ibn at Tubi, AI Motamid, Abu
Mohammed von Basra, Moslicheddin Sadi, Hafis,
Ibn Chaldun.
5. Italiener: Michel Angelo, Giovanni della Casa.
6. Spanier: Garcilaso de la Vega, Zorilla.
7. Franzosen: Montaigne, Flaubert, Verlaine, Loti.
8. Engländer: Mario we, Shakespeare, Byron,
Schwinburne.
9. Russen: Lermontow.
— 414 —
10. Deutsche: Friedrich der Grosse, Winckelmann
Herder, Goethe, Schiller, Hölderlin, Rückert,
Grillparzer, Platen, Taylor, Wilbrandt, Graf Stadion,
Ludwig n., Bulthaupt, Linke, Kitir, v. Levetzow,
von Mayer, Brand, von KupfFer.
Bei allen diesen Dichtern wird die Lieblingsminne
als natürliches Liebesgefühl empfunden und dargestellt.
Bei den Griechen tritt es mehr mit naivem Wohlbehagen
an der jugendlichen männlichen Schönheit auf, mit dem
Streben, das Geschlechtlich-Sinnliche durch das ästhet-
ische Empfinden zu verklären, bis bei Plato und Sokrates
mit der Identifizierung des Guten und Schönen die
mannmännliche Liebe als die Liebe zum schöneren phys-
ischen und geistigen Objekt, als die Lehrmeisterin und
Erzieherin zu allem psychisch Schönen und Guten, als
die bessere, edlere Liebe erscheint.
Den Römern gilt die Lieblingsminne mehr als not-
wendiges Stück heiteren Lebensgenusses, sie suchen mehr
in ihr die freudige Sinnlichkeit, oft ohne tiefere Leiden-
schaft oder diese versteckt, unter tändelnder Liebelei.
Die Orientalen schlagen ergreifende Töne tief-
empfundenen Gefühls an, kleiden ihre Leidenschaft in die
Pracht orientalischen Bilderreichtums.
Alle diese Dichter, — die Antiken imd die Orien-
talen — besingen die Lieblingsminne ohne Scheu und ohne
Zagen als die der normalen Liebe gleichberechtigte, ja
als die hehrere Neigung. Den Dichtern des Mittelalters
fehlt die schöne Unbefangenheit
Unter dem Deckmantel des Wortes Freundschaft
suchen sie ihr wahres Gefühl zu viBrbergen, aber die Glut
des Empfindens dringt durch, verrät die Liebe eines
Michelangelo, eines Shakespeare in ihren schwärmerischen
erotischen Ergüssen.
Die zurückgedrängte Sinnlichkeit wird vergeistigt,
verleiht ihren Dichtungen einen exaltiert idealistischen
— 415 —
Zug, zugleich aber einen Adel der Gesinnung und eine
Tiefe des Empfindens, die den früheren Dichtem un-
bekannt waren und kaum bei den Dichtem der Frauen-
liebe in gleicher Vollendung zu finden sind.
Nachdem der heterosexuelle Göthe,der Weitblickende,.
All verstehende, tmd Winckelmann, der homosexuelle Ideal-
typus, mehr die äussere Schönheit betont und die Rück-
kehr zum reinen Griechentum angebahnt, wird bei den
Modernen und Modernsten das homosexuelle Gefühl frei
und offen als Liebe gepriesen und besungen unter dem
Druck des Märtyrer- und Pariabewusstseins, zugleich aber
mit einem gewissen Trotz und kampfeslustigem Auflehnen
gegen Vorurteile und Verfolgungen.
Trotz der Verschiedenheit der Ausdrucksweise und
der Gefühlsäusserungen ist der Gesamteindruck und der
Inhalt der Sammlung ein durchaus einheitlicher. Ueber-
all zeigt sich die Homosexualität als der Ausfluss de&
ureigensten Wesens der Persönlichkeit mit urwüchsiger
Spontaneität.
Die Dichter sind eben der Wissenschaft vorausge-
eilt und haben das, was diese jetzt langsam festzustellen
beginnt, um durch ihre Ergebnisse allmähg das Märchen
des Lasterlebens und der strafbaren Widernatürlichkeit
zu zerstören, schon längst erraten und gefühlt.
Ein Weiteres lehrt aber noch die Sammlung Kupffer's r
Ueberall, bei den verschiedensten Völkern, hat die mann-
männliche Liebe eine gleiche Vertiefung und poetische
Gestaltung erfahren, überall nimmt sie ein ideales Gepräge
an, weist die Fähigkeit nach eines von jeder Gemeinheit
und brutalen Sinnlichkeit baren Empfindens. Idealität
und Gesundheit des Gefühls sind die charakteristischen
Merkmale, mit denen uns die Homosexualität in diesem
Spiegel der Wirklichkeit, den Dichtungen, entgegentritt.
Hiermit stellt die Sammlung die von der heutigen
Wissenschaft oft übersehene gesunde Form der Homo-
— 416 —
43exualität in den Vordergrund gegenüber den von den Ärz-
ten meistens nur gekannten krankhaften Erscheinungen.
Eine weitere Erkenntnis muss sich aber jedem unbefange-
nen Leser der Sammlung aufdrängen: Dass eine Liebe^
die die Geistesheroen aller Zeiten und Orte^ die die
deutschen Klassiker, ein Goethe, Schiller, Winckelmann
besungen und gepriesen haben, nicht verbrecherisch
sein kann.
Die Sammlung Kupffer's hat nicht nur wegen der
Frage der Homosexualität Bedeutung, sondern ist über-
haupt von hohem litterarischen und kulturhistorischen
Interesse, gleich wertvoll für den Philologen, wie für
einen jeden gebildeten Laien. Schwer zugängliche,
ausländische und antike Dichtungen sind in deutscher
Sprache Jedem zugänglich gemacht; Manches ist zum
ersten Male übersetzt. Aber auch die Schöpfungen der
deutschen Literatur, die meist, wohl absichtlich, von
Philologen und Literaturhistorikern im Dunkel gelassen
worden sind, wirken überraschend und vielfach wie Neu-
heiten. Einiges ist überhaupt zum ersten Male veröffent-
licht, so z. B. die Klagen Friedrich des Grossen um
seinen geliebten Caesarion, Verlaine's Mille e tre.
Einen Punkt möchte ich nicht billigen, nämlich den
Titel: Lieblingsminne und Freundesliebe, sowie die Auf-
nahme von Bruchstücken, die keine homosexuellen, son-
dern lediglich schwärmerische oder innige freundschaft-
liche Gefühle zum Gegenstand haben. Allerdings kommen
Uebergänge von homosexuellen und freundschaftlichen
Empfindungen vor und Fälle, wo Zweifel bestehen, wel-
<5her Art Gefühle eigentlich vorliegen. Dieser Fälle wegen
darf man aber nicht den Begriff Freundesliebe als eine
Art homosexueller Liebe einführen. Regelmässig sind
beide getrennt und die Homosexuellen unterscheiden sie
meist auch ganz genau. Die Urninge haben Freunde,
oft sehr intime, gleich wie die Heterosexuellen, für die
— 417 —
sie eben nur Freundschaft, aber keine Geschlechtsliebe
empfinden. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass
die homosexuelle Zuneigung eine brutal sinnliche sein
müsse, sie kann vielmehr einen durchaus idealen, geistigen,
edlen Charakter an sich tragen und äusserlich nur das
Bild der Freundschaft bieten. Der Grundunterschied
zwischen einem Verhältnis blosser Freundschaft und einem
durch das homosexuelle Empfinden hervorgerufenen, wird
aber dem Homosexuellen mehr oder weniger bekannt sein.
In der Sammlung sind die Stücke bloss freundschaft-
lichen Charakters in ganz verschwindender Minderzahl.
Der mit der Homosexualität vertraute oder überhaupt
der aufmerksame Leser dürfte unschwer herausfühlen,
wo die Freundschaft und wo die Minne besungen wird.
Die unterschiedslose Aufnahme von Werken beider Ge-
fühlsarten, welche mindestens äusserlich hätte ersichtlich
gemacht werden müssen, kann aber nur verwirrend wirken
und sogar den Eindruck einer gewissen Tendenz erwecken.
Thatsächlich hat man schon Kupffer vorgeworfen^
dass er ohne Grund einer Anzahl Dichtern homosexuelle
Empfindungen unterschiebe.*) Trotz des auf die Zu-
sammenstellung verwandten grossen Fleisses wird das
eine oder das andere Charakteristische aus der modernen
Literatur vermisst, (z. B. von Walt Whitmann, Douglas),
und namentlich aus der französischen (z. B. Abel Her-
mant: Le disciple aim^; Gide: Les nourritures terrestres;
Cladel: Ompdrailles). Ein Schriftsteller hätte aber jeden-
falls nicht fehlen dürfen: Der Belgier Georges Eekhoud.
Wenn bei einer zweiten Auflage Kupfier seine Blüten-
lese erweitert, so wird er auch zweifellos die im Anhang
*) Vergl. oben Nachschrift von Jacobowsky zu der Rezension
von Kaufmann. Auch in einer Tageszeitung habe ich einen ähn-
lichen, versteckten Vorwurf gelesen.
Jahrbuch lU. 27
— 418 —
enthaltenen Gedichte und Bruchstücke dem Hauptteil
einfügen, andererseits möge er dann die Berichte über
berühmte Männer zu einem selbständigen zweiten Teile
verarbeiten. Wünschenswert wäre endlich, dass genau
die Werke angegeben würden, aus denen die Bruchstücke
und Gedichte entnommen sind.
Doch alles das sind nebensächliche Punkte. So wie
die Sammlung jetzt erscheint, bildet sie das bedeutendste
Ereignis auf dem Gebiet der homosexuellen Literatur
des Jahres 1900. Sie füllt eine Lücke aus nicht nur in
der homosexuellen Literatur, sondern in der Literatur-
geschichte überhaupt und trägt durch das beredte
Zeugnis der grössten Geister aller Zeiten zur richtigen
Erkenntnis der Homosexualität bei. Möge ihm der ver-
diente Erfolg und die erhoffte Wirkung zu Teil werden.
10) Meyer Heinrich (Göttingen) : „Nietzsche, der
Frauenfeind" in der Zeitschrift: „Die Gegen-
wart" (Herausgeber Th. Zolling, Berlin) vom
24. Februar 1900.
Nachdem Meyer festgestellt, dass Nietzsche nicht
nur ein Frauenfeind war, sondern dass auch .jede Liebe
zum Weib bei ihm fehlte, fährt er, wie folgt, fort:
,Der Mann, der die Frauenliebe nicht kennt, ist ja
nicht überhaupt unfähig zu lieben, nur dass seine ganze
Zärtlichkeit und Liebesfülle dem Kinde gilt. Aber da
diese Liebe im Kinde doch nicht den Körper will, bedarf
es da überhaupt der physischen Zeugung? Genügt da
nicht die geistige Vaterschaft, das Verhältnis des Meisters
zum Jünger? In der That, weit öfter als vom Kinde
redet Nietzsche vom Freunde, als vom grossen Fest des
Lebens, der Ahnung des Uebermenschen. An seine
„Brüder" wendet sich Zarathustra, ihnen offenbart er
die begierdefreie Selbstlosigkeit echter Liebe, den Seelen-
— 419 —
.reichtum, den der Geliebte our braucht, um sich seiner
eigenen Ueberfülle zu entledigen, die immerfort schenkt,
ohne je Gegengabe oder Dank zu verlangen, sich stets
hingiebt und doch nie ausgiebt. Nun verstehen wir
die seelische Eigenart Nietzsche's; er ist ein Mensch,
dessen eigentliche Lebensatmosphäre die platonische Liebe
ist. Wir nennen sie so im Gedanken an das verklärte
Idealbild, das Plato von seinem Meister Sokrates als dem
grössten Virtuosen dieser Liebeskunst entworfen hat —
ein Bild, das das Siegel der Wahrheit an sich trägt;
denn in ihm zittert noch die volle Glut der Liebe nach,
mit der er zuerst geliebt worden ist und die als ihren
Abglanz diese Gegenliebe geweckt hat. Diese Liebe war
das Vehikel der griechischen Kultur, gewiss ein edleres
als unsere Schulen mit allgemeiner Schulpflicht und
Normallehrplänen; sie hat nicht zum wenigsten ihrer
Blüte den frischen Jugendglanz, den warmen Lebens-
hauch gegeben.
Aber freilich — das ist die Kehrseite — in dieser
nur männlichen Gesellschaft ist die Frau schlimm daran.
Sie kann, wie es in Athen der Fall war, nur als Gebär-
maschine, höchstens nebenbei als Sklavin Verwendung
finden. Wie ein nachgeborener Spätling der Antike er-
scheint hier Nietzsche!*
Auch Meyer denkt an eine von jeglicher Beimisch-
ung der Sinnlichkeit freie Liebe. In diesem Falle ist
aber die Identifizierung dieser Liebe mit derjenigen des
Plato und Sokrates verfehlt, denn obgleich die Antike
und insbesondere Plato eine edlere und niedere Männer-
Hebe unterscheiden, so ist ihnen doch auch diese edlere
Liebe nicht ohne sinnliche Grundlage denkbar.
27*
— 420 —
11) Nemanitsch (A.); Staatsanwalt in Marburg a. d. D.:.
^HomosexuelleEif er such t* Inder Zeitschrift
für Kriminalanthropologie und Kriminalstatistik von
Gross, 3. Bd. Heft 3 1900, Nr. X S. 203—207.
Ein Bericht über einen Eximinalfall und die dem-
selben zu Grunde liegende Homosexualiät:
Drei junge , arbeitscheue, vielfach vorbestrafte Ita-
liener G . . ., D . . . und A . . . werden nach Verübung
schwerer Diebstähle in dem Zwangsarbeitshaus unterge-
bracht. Dort zunächst inniges Verhältnis zwischen D.
und G. Nachdem D. in eine andere Abteilung mit A.
zusammengekommen, wird er bald des G. überdrüssig
und bricht mit ihm ab; dagegen schliesst er innige
Freundschaft mit A. Darauf Wut und Eifer-
sucht des G., der mehrere Male schriftlich und münd-
lich den D. eine Putana (Dirne) schilt. ,Du bist
eine Hure, die sich von allen gebrauchen lässt, auch
früher in S . . .", und eines Abends droht er: ^Du Schwein
von einer Hure, morgen früh wirst du's schon sehen",
und dem A. gegenüber: ^Bewaffiie Dich morgen, Du und
auch diese Hure von D.*. D, und A. stecken scharfge-
schliffene Messer zu sich, und als sie am andern Morgen
im Gange dem G. begegnen, stösst ihm D. ohne weiteres
das Messer in die Brust, derart, dass G. kurz darauf stirbt.
Nemanitsch nimmt an (und sicherlich mit vollem
ßecht), dass zwischen G. und D. einer- imd D. und A.
andererseits homosexuelle Beziehungen bestanden hatten.
Bei G. fand man den Namen des D. eintätowiert, ferner
hatte er seinen Gefühlen zu D. in einem Liebesgedicht
Ausdruck verliehen. G. war von äusserst leidenschaft;-
lichem und sinnlichen Temperament, schon bestraft, weil
er einmal dadurch, dass er auf der Erde seine Glut
öffentlich stillte, Aergernis erregt hatte. D. dagegen hatte
einmal im Hofe einem Mitzwängling die Hosen gewalt-
sam herunterreissen wollen.
— 421 —
D. wird wegen Todschlages verurteilt, als Motiv giebt
er ao, G. habe ihm einige Geldstücke gestohlen.
Nemanitsch hält dieses Motiv für ein bloss vorgeschütztes^
es läge Mord, nicht Todschlag vor; das Motiv se^
auf dem Boden der homosexuellen Beziehungen zu
suchen. D. und A. hätten mit Ueberlegung das
Praevenire gespielt und den lästigen Neider ihres Ver-
hältnisses in blinder Leidenschaft beseitigen wollen.
Nemanitsch hat zweifellos Recht; nur muss wohl
noch betont werden, dass gerade der Vorwurf des G. ,
D. sei nur eine Dirne und habe sich allen Männern hin-
gegeben, also der Vorwurf der gewohnheitsmässigen
passiven Päderastie, nach den in Italien herrschenden
Anschauungen als eine sehr schwere Beleidigung von D.
empfunden werden musste; denn während die aktive
Päderastie in Italien nicht als entehrend gilt, wird die
passive Päderastie als schimpflich angesehen.
12) Panizza, Oskar: „Arthur Rimbaud* in der
Zeitschrift: , Wiener Rundschau", 1. Oktober-
heft 1900. S. 332-336.
Panizza erzählt die ziemlich bekannten Begeben-
heiten des Verhältnisses zwischen Rimbaud und Verlaine
und fügt einige interessante Bemerkungen bei.
Rimbaud erhielt im Laufe des Jahres 1900 in seiner
Vaterstadt Charleville ein Denkmal errichtet, er hat in
den Jahren 1869 — 1873 eine Anzahl Gedichte verfasst,
im Alter von 15 — 19 Jahren, derentwegen er berühmt
wurde. Rimbaud hatte an Verlaine, welcher als Vorstand
des Pressbureaus im Jahre 1871 während der Kommune
mit Frau und Schwiegermutter in Paris wohnte, einige
seiner Gedichte geschickt und besuchte dann Verlaine
persönlich. Verlaine, der in Rimbaud einen Dreissig-
j ährigen vermutet, war erstaunt, erst einen sechzehnjährigen
Jüngling vor sich zu sehen. Rimbaud blieb in Paris und nahm
Wohnung bei Verlaine. Es entstand nunmehr zwischen
— 422 —
beiden ein intimes Freundschaftsverhältnis. Neun Monate
lang wohnte Rimbaud bei der Familie Verlaine; dann
gingen die Freunde nach Belgien; eine drohende Ver-
haftung Verlaine's wegen Beteiligung an der Commune
bildete den Vorwand. Beide zogen längere Zeit in Belgien,
England und wieder in Belgien umher.
Panizza bemerkt bezüglich dieser berühmten Reise:*
, Verlaine hat den Mut gehabt, diese kostbare Kameraderie
in gemeinschaftlichem Schmausen, Kochen, Dichten,
Rauchen und Bechern in künstlerisch freier Weise zu be-
schreiben, wohl um sich selbst und Anderen Rechenschaft
zu geben. Er hat es stets behauptet und Ändere haben
es ihm geglaubt, dass es sich zwar um „Homosexualit^*,
aber nur „au point de vue psychique*, nicht um „faits
mat^riels*^ gehandelt habe.
Panizza zitiert dann vier Strophen aus dem Gedicht
^Laeti et Errabundi" aus „Parall^lement", die aber auf
mehr als eine bloss psychische Leidenschaft hindeuten.
„Der Mann und der Jüngling, sagt Panizza, mögen
in ihrem herzlichen Verkehr den Beschauern wohl ge-
legentlich zu denken gegeben haben. Verlaine war
hässlich, wie eine Tigerkatze, voller Kriminalität und Be-
lastungszeichen in dem Gesicht eines Würgers. Rimbaud
„mignon, si joli et si touchant — un visage parfaitement
ovale d'ange en exil" und, fügt Verlaine hinzu, „des jambes
Sans rivales".
In Brüssel kam es zwischen den Freunden zum
Bruch. Mutter, Gattin und Schwiegermutter Verlaine's
eilten von Paris herbei, aber Verlaine wollte sich von
Rimbaud nicht trennen, dieser dagegen war ernüchtert
und verweigerte den weiteren Verkehr. In seiner leiden-
schaftlichen Erregung schoss Verlaine mit einem Revolver
auf Rimbaud und verwundete ihn am Arm. Auf dem
Rückweg vom Spital, wo Rimbaud sich hatte verbinden
— 423 —
lassen, feuerte Verlaine auf offener Strasse abermals einen
Schuss auf ihn ab, da er sich neuerdings weigerte, das
frühere Zusammenleben wieder aufzunehmen. Rimbaud
wurde nur leicht verwundet, Verlaine dagegen konnte
seiner Verhaftung nunmehr • nicht entgehen und wurde
wegen Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnis ver-
urteilt. Im Anschluss an die Erzählung über das Attentat
teilt Panizza Einiges aus dem Buch von Paterne Berrichon
„Vie de Jean Arthur Rimbaud" (Paris 1899) mit: Berri-
chon sucht Verlaine und Rimbaud von dem Verdacht
sexueller Beziehungen zu reinigen und führt auch in
wirklich allzu naiver Weise als Grund dafür an, „dass
die Richter bei der Verurteilung Verlaine's ein derartiges
unsittliches Motiv hervorgehoben hätten." (!) Kaum ge-
nesen kehrte Rimbaud nach Paris zurück. Alle Bekannten
wandten sich von dem einst Gefeierten ab. Rimbaud be-
gab sich nunmehr in seine Vaterstadt. Dort veröffent-
lichte er „Une saison en enfer" (Brüssel 1873). Aus
diesem Buch giebt Panizza einige Stellen wieder, wo die
beiden verdammten Seelen der „thörichten Jungfrau*
(Verlaine) und des „höllischen Gatten" (Rimbaud) mys-
tische Zwiegespräche führen, welche in symbolistischer,
aber deutlich durchsichtiger Weise das durch Verlaine's
Einfluss entstandene eigentümliche Gefühlsleben Rimbaud's
und die Beziehungen beider wiederspiegeln.
Kaum hatte Rimbaud das Buch fertig, als er die
ganze Auflage bis auf wenige Geschenk-Exemplare, da-
runter das heimlich an Verlaine gesandte, ihm gewidmete,
zerstörte. Von da ab schrieb Rimbaud keine Zeile mehr.
Er starb 1891 im 37. Lebensjahre. Noch in seinen letzten
Lebensjahren hat er, so berichtet Panizza, wenn man auf
seine Jugendleistungen zu sprechen kam, die Erinnerungen
daran mit Heftigkeit von sich gewiesen mit den Worten:
„Absurde, ridicule, d^goütant! ..."
Rimbaud wurde später Kaufmann im Kolonialgebiet
— 424 —
und bat in Ostafrika neue Handelsgebiete seinem Vater-
land erschlossen.
Ueber den gegenseitigen Einfluss von Verlaine und
Rimbaud bemerkt Panizza: Ohne die Begegnung mit
Rimbaud wäre Verlaine vielleicht ein braver, formvoll-
endeter Dichter geworden, wie er es schon vorher ge-
wesen. Durch die Begegnung und das Zusammenleben
mit Rimbaud habe sich in ihm eine neue komplizierte
hysterisch-religiöse Seite entzündet, aus einem männlichen,
befruchtenden Prinzip sei ein weiblich - au&ehmendes
Prinzip entstanden, aus der Glut der neuen Situation sei
der katholisch-anbetende, sündenbegehende und sünden-
abbüssende Verlaine hervorgegangen. Rimbaud seiner-
seits wäre ohne das Zusammentreffen mit Verlaine sicher
zu einem der hervorragendsten Dichter Frankreichs ge-
worden, aber seine männliche Aktivität hätte sich weiter
entwickeln müssen, sie hätte nicht in eine falsche Passi-
vität hinuntergedrückt werden dürfen. Der impressioni-
stisch haltlose Knabe sei in zwittrige, seiner Naturanlage
entgegengesetzte Gefühle hineingetrieben worden, nach
einem kurzen Eitelkeitsrausch ausgeglitten, und da die
Poesie mit im Spiele gewesen, so sei die Ernüchterung
auch auf diesem Gebiet gefolgt. Litteratur und Dichtung,
fremde und eigene, sei ihm zum Ekel geworden, daher
der Rest seines Lebens Trostlosigkeit und Dürre. Der
Fall Verlaine-Rimbaud sei nicht nur nach der Seite der
Litteratur äusserst interessant, sondern auch medizinisch
gesprochen ; er bilde einen Schulfall für die vielfach auf-
gestellte Lehre, dass im Menschen die Fähigkeit zu allen
möglichen Entwicklungen schlummerte und dass im
biegungsfähigen Alter gewisse Einflüsse für das Leben
bestimmend zu wirken vermöchten. Verlaine sei von
Haus aus nicht homosexuell gewesen; dafür sprächen seine
Verheiratung, die Erzeugung eines Kindes und seine
guten Schulgedichte im Stile der „Parnassiens*, aber
— 425 -
durch zufällige Berührung und auf Grund einer Anlage,
wie sie vielleicht die meisten Menschen besässen, sei er
homosexual geworden und dies sei für ihn und die Welt
ein Glück gewesen. Denn diese neue Pfropfung habe den
Stamm zu erhöhter Reife gebracht und Rosen von
ungekannter Güte erzeugt. Rimbaud dagegen, der männ-
liche, virulente Knabe sei zu einem seiner Natur nicht
völlig entsprechenden Gegenstand der Liebe gedrängt
worden, ein volles Ausleben, eine volle Entwicklung daher
für ihn unmöglich gewesen.
Was Panizza hier über Rimbaud's Natur sagt, mag
vielleicht richtig sein, obgleich einige Aussprüche in
dessen Buch „Une saison en enfer" auf ursprüngliche
Homosexualität auch bei Rimbaud hinweisen; jedenfalls
ist die geistige Existenz von Rimbaud durch das Ver-
hältnis mit Verlaine nicht vernichtet worden, sondern es
hat nur zur Folge gehabt, dass er die Dichtung verliess,
um in anderer Richtung sich auszuleben. Thatsächlich
hat er auch seine Persönlichkeit und seine Männlichkeit
auf dem Gebiete des Kolonialwesens zur Geltung gebracht
und dort Tüchtiges geleistet. Auch die Auffassung
Panizza's von Verlaine's Homosexualität dürfte der Wahr-
heit nicht entsprechen. Sein ganzer Lebenslauf, insbe-
sondere sein späterer, oflPenkundiger homosexueller Ver-
kehr und die Art und Weise, wie er denselben, nament-
lich in seinen nicht veröffentlichten „Hommes**, besingt,
kann keinen Zweifel übrig lassen, dass es sich nicht nur
um gelegentliche, sondern tief eingewurzelte, eingeborene
Homosexualität handelte; dass Heirat und Kinderzeugung
nicht das Gegenteil beweisen und beides bei vielen Homo-
sexuellen anzutreffen ist, dürfte wohl jeder Kenner der
thatsächlichen Verhältnisse wissen. Bei Verlaine scheint
allerdings auch Hang zum Weib, also psychische Herma-
phrodisie, bestanden zu haben, worauf unter anderem auch
wohl seine erotische, nur in wenigen Exemplaren publi-
zierte Gedichtsammlung „Femmes" Schlüsse zulässt.
— 426 —
13) Renou, Henri: „Die Blumenschiffe in China"
im „Mercure de France*, September-Nummer 1900.
Der Artikel enthält Angaben über die homosexu-
elle Prostitution in China. Verfasser lässt sich, wie folgt,
darüber aus: „Die sog. unnennbaren Sitten (obgleich in
London und Paris ebensogut als in Berlin und Rom in
Uebung,) sind in China seit den fernsten Jahrhunderten
eingebürgert. In dem Land, wo wir uns gegenwärtig be-
finden, sind die in den Volkstheatern in den Weiberrollen
auftretenden Schauspieler die Epheben, welche von den
vornehmen Mandarinen bevorzugt werden, namentlich
während der heissen Jahreszeit. Diese Schauspieler,
meistens Jüngelchen von 12 — 15 Jahren, sind verdorbener
als die Dirnen unserer Seehäfen.**
Folgt dann die Erzählung eines Abenteuers, das
einem Seeoffizier während einer Reise nach China wider-
fahren sei.
Derselbe habe sich bei einer Theatervorstellung in
die Heldin des Stückes verliebt und sie durch Vermitt-
lung eines der offiziellen Kuppler, welche gleichsam zur
Theatergesellschaft gehörten, auf den anderen Abend zu
sich bestellen lassen. Die Schöne sei unter Begleitung
von Laternenträgern und Musikanten erschienen. Im
Schlafzimmer habe sie sich dann zum Entsetzen des
Offiziers als eine Person männlichen Geschlechts entpuppt.
14) Semydoff, K.: „Kodifizierte Irrtümer" im
Sprechsaal der Zeitschrift „Die Kritik*^ von Wrede.
XV. Bd. Nr. 191. Heft 11, 1900.
Ausgehend von dem Scheitern der lex Heinze wird
darauf hingewiesen, dass es schwerer sei, alte Irrtümer,
wie den § 175, zu beseitigen, als neue zu verhüten. Kein
Strafzweck rechtfertige diesen Paragraphen. Hössli und
Ulrich werden erwähnt sowie die Petition. Pic Auf-
geklärtesten der Nation, sogar Regierung und Polizei,
ständen der Bewegung zur Abschaffung der Strafandrohung
— 427 —
sympathisch gegenüber. Nur gewisse Finsterlinge hielten
an der alten Auffassung der Homosexualität als eines
Lasters fest; nachdem die Wissenschaft diese Anschau-
ung als unhaltbar nachgewiesen, zögen sie sich auf das
„Volksbewusstsein" zurück, jenen dehnbaren Begriff, auf
den schon der ^fromme** Minister von Mühler den
§ 143 des früheren Preussischen Strafgesetzes gestützt
habe. Dieses letzte Bollwerk sei aber morsch und würde
fallen, sobald das Volk über die Homosexualität auf-
geklärt werde.
Zum Schluss wird über das Komitee und das Jahr-
buch berichtet, dessen Aufsätze lobend angeführt werden.
Der kleine Artikel ist in warmem Tone und mit be-
redten Worten geschrieben.
15) Tannenberg*, Heinrich: „Die psychopathia
sexualis im Konitzer Mord** in der ^Welt am
Montag •* vom 30. April 1900.
Verfasser weist darauf hin, dass man bei denNach-
forschungen über den Mord des Gymnasiasten Winter zu
Konitz die Frage des Lustmordes ins Auge fassen sollte.
Manches spräche für einen solchen Mord und zwar für
einen, der auf dem Boden 'der Homosexualität gewachsen sei.
Winter sei wahrscheinlich das Opfer der konträren Sexual-
empfindung geworden. Man habe eine an ihn gerichtete
Karte mit einem Gedicht voll schwärmerischen Sehnens
gefunden, die von einem Manne herrühre. Dass sie mit
einem Weibernamen unterzeichnet sei, dürfe nicht, wie
man es gethan habe, so erklärt werden, als habe der Ab-
sender im Auftrage eines Mädchens geschrieben, sondern
nur als Maske, um den wahren Charakter des Verhält-
nisses zu verbergen. Bei der anormalen Sexualität seien
Exzesse, die schliesslich zum Lustmord führten, nicht
selten. Die Homosexualität gehe, namentlich wenn sie
eine erworbene Perversion darstelle, häufig mit gewissen
psychischen Störungen einher, welche die ßlutgier nährten
— 428 —
und das entgegenstehende moralische Bewusstsein beein-
trächtigen könnten. Beispiel der Marquis de Sade. Im
Konitzer Mord versagten alle gewöhnlichen Motive als
Erklärung ; die furchtbare Zerstückelung des Körpers deute
auf einen Sexualmord. Derartige entsetzliche Folgen
sexueller Entartung seien gerade im Hinblick auf die
ganze geistige Struktur der Bevölkerung der Konitzer
Gegend und der Provinz Westpreussen nicht befremdlich.
In der dortigen Landschaft herrsche noch der finsterste
Aberglaube, der schon oft zu nächtlichen Leichenausgra-
bungen und Leichenzerstückelungen zwecks Zubereitung
von Heilmitteln, ja sogar zu Kannibalismus u. drgl. ge-
führt habe. Ein aus einem derartigen Milieu hervor-
gegangenes, zugleich mit perverser Sexualität behaftetes
Individuum sei für die Abschlachtung seines Opfers gleich-
sam vorbereitet gewesen. Die Vermutung sei gerechtfertigt,
dass sexuelle Perversität und der anthropophagische Aber-
glaube das Konitzer Verbrechen hervorgebracht habe.
Bei diesen Ausführungen ist die Behauptung jeden-
falls irrig, dass die Homosexualität einen besonders
günstigen Boden zur Entwicklung der Blutgier und
des Lustmordes darstelle und häufig mit derartigen sadist-
ischen Neigungen vereint sei. Blutgier bei Homosexuellen
kommt natürlich auch vor, aber nicht häufiger als bei
Heterosexuellen und nur sehr selten. Regelmässig hat
die konträre Sexualempfindung mit dem Sadismus und
dem Lustmord nichts zu thun.
16) Windelband, Wilhelm: „Platon** (Stuttgart, Fr.
Fromman's Verlag [E. Hauff] 1900).
An verschiedenen Stellen sind Ausführungen über
den Platonischen Eros enthalten.
Seite 31 heisst es: „Nichts vielleicht in Platon's Dar-
stellungen ist so echt und rein socratisch wie seine
Schilderung der weihevollen Vereinigung, welche die ge-
trennten Menschenseelen im Erkenntnistriebe finden. Im
— 429 —
„Phaidros*, im , Symposion* hat er dies edelste Bekennt-
nis abgelegt. Die Verbindungen männlicher Persönlich-
keiten, welche das Griechentum kannte, erscheinen hier
in höchster, sublimster Vervollkommnung. Aus der
Freundschaft gleichstrebender Genossen, aus der Lebens-
verbindung ebenbürtiger Charaktere fällt, wie es schon
in dem früheren Dialoge ^Lysis** angebahnt war, alles
Utilistische praktischer Interessen fort, die q)iXla wird zu
einer Wechselwirkung sittlicher und intellektueller För-
derung: Und von jener eigenartigen Beziehung zwischen
dem reifen Manne und dem aufblühenden Jüngling, die
der griechischen Sitte geläufig war, wird bei Piaton
wie bei Socrates aller gemeine und sinnliche Neben-
geschmack abgestreift und es bleibt auch hier nur ein
geistiges Verhältnis des Gebens und Nehmens, des An-
regens und Entfaltens übrig. Durch die Gemeinschaft
des Denkens und Wollens in einander die Wahrheit zu
erzeugen, das ist für Piaton der Inbegriff aller Freund-
schaft und Liebe, die Menschen mit einander verbinden
soll. Aus dieser Vereinigung des Sterblichen erwächst
in immer neuem Leben das Unsterbliche. Das ist der
Sinn der , platonischen Liebe", der Lehre vom eQiog^
worin sich das tiefste Motiv des Philosophen ausge-
sprochen hat."
Seite 102: Nach Plato sei die Liebe nur die Sehn-
sucht des Vergänglichen nach dem Unvergänglichen, des
Sterblichen nach dem Unsterblichen.
Seite 111: Das Schöne sei das wertvollste und wirk-
samste Bindeglied zwischen der sichtbaren und der un-
sichtbaren Welt, der Faden, der die irrende Seele aus der
Verworrenheit der körperlichen Gestalten heraus- und
emporleite in die reine Höhe der Wesenwelt. In diesem
Sinne habe das , Symposion** den Siegeszug der Liebe
aus der Sinnenwelt in das übersinnliche Keich geschildert
An schönen Gestalten der Körperwelt entzünde sie sicb^
j
— 430 —
aber sie suche dahinter, wenn sie die echte Liebe sei, die
Schönheit der Seeleu, die sich in Werken der Sittlich-
keit, der Kunst und Wissenschaft^ in Erziehung und
politischer Thätigkeit entfalte; von da aber wende sie
sich der ganzen Welt zu, um schliesslich zu jener reinen
Schönheit aufzusteigen, die in der übersinnlichen Welt
ihre Heimat habe.
Seite 139 : Die Liebe Piatons bedeute nichts Anderes
als Heimweh der Seele nach ihrem überirdischen Ur-
sprung, nach dem göttlichen Leben^ das ihr dereinst zu
Teil geworden; denn die Seele sei göttlicher Natur und
habe die reinen Gestalten der unsichtbaren Welt dereinst
mit ihrem geistigen Wesen geschaut; die Liebe sei der
Schmerz, womit der gefallene Geist zurückstrebe in das
verlorene Paradies seines reinen und wahren Wesens.
Windelband hat lediglich die rein geistigen, abstrakten,
intellektuellen, philosophischen Seiten des Platonischen
Eros betont und lediglich diesen Kern herausgeschält
Den sinnlichen Teil hat er einfach bei Seite gelassen.
Die homosexuellen Verbindungen der Griechen hat er
kaum gestreift, das Verhältnis der Homosexualität und
des Platonischen Eros, die Verkörperung dieses Eros in
der homosexuellen Liebe hat er gar nicht erörtert. Man
sollte meinen, dass er die homosexuelle Frage gar nicht
kennt oder, was wahrscheinlicher ist, nicht kennen will.
Windelband hat in seiner Schrift eigentlich nur den
abstrakten, philosophischen und metaphysischen Kern des
Platonischen Eros entwickelt und das dargestellt, was Plato
als letz te Wesenheit der Liebe und höchstes Ideal galt Den
sinnlichen Teil dieses Eros, welcher im Symposion und Phai-
dros eine so grosse Rolle spielt und mit einer Natürlichkeit
und Selbstverständlichkeit geschildert wird, die heutzu-
tage bei einer ähnlichen Schrift das Einschreiten des
Staatsanwaltes beftirchten liesse (ich erinnere nur an den
Verführungsversuch des Socrates durch den Alkibiades),
— 431 —
hat Windelband bei Seite gelassen, desgleichen hat er
aber überhaupt das Verhältnis der Platonischen Liebe
zur Homosexualität kaum gestreift, obgleich dieser Eros
gerade in der Männerliebe seine Verkörperung finden soll.
Die Ausführungen Piatos über die Liebe haben so aus-
schliesslich die Männerliebe im Auge, dass Windelband
zur richtigen Würdigung und zum vollen Verständniss
Piatos die Erörterung des homosexuellen Problems und
die Beziehungen Piatos zur Homosexualität nicht hätte
übergehen dürfen.
Kapitel II: Reine Belletristik.
1) Dauthendey Elisabeth *)• »Vom neuen Weib
und seiner Sittlichkeit*. Ein Buch für
reife Geister. (Schuster und LöflFler, Berlin 1900).
Die Heldin des Buches sucht eine höhere, geschlechts-
lose Liebe zwischen Weib und Weib. Die Besten des
Weibergeschlechtes sollten sich nicht mehr dem Manne
hingeben, sondern dem Weib in ruhiger Beglückung.
Das neue Weib der Verfasserin wehrt sich gegen das
die feinem Nerven beleidigende brutal Physische. Ein
Kapitel schildert ein Erlebnis der Heldin mit einer Tri-
bade: „Sie war beglückt von diesem lebenssicheren, selbst-
bewussten, etwas mannhaften Wesen und glaubte in ihr
das Weib der Zukunft gefunden zu haben, bis sie in einer
wachen Nacht mit Deutlichkeit fühlte: Auch diese war
eine Enttäuschung, auch sie weiss noch nicht das roh
. Sexuelle von wahrer Liebe zu scheiden.*
2) Dllsner, Ludwig: „Jasmin blute". Drama in
5 Akten. Mit einem Vorwort. (Berlin, Verlag von
Berndt und Klette). Wahrscheinlich 1899 erschienen.
*) Mitgeteüt von Herrn Peter Hamecher.
— 432 —
1. Das Vorwort.*) Nach kurzem Hinweis auf
das Vielen unaufgeklärt gebliebene Verhältnis Ludwigs II.
zu seiner einstigen Verlobten, der Herzogin von Alen9on,
das im Drama in verschleierter Gestalt und verschiedenem
Milieu sich wiederspiegle, erörtert das Vorwort die Natur
der Homosexualität und das Recht der Urninge auf
Straffreiheit.
Die Homosexualität sei angeboren ; sie bedeute einen
die Wahl ausschliessenden, zwingenden Trieb, nicht zu
verwechseln mit dem Laster; nur verkommene Normale
liebten unreife Knaben. Der Trieb sei nicht sündhaft.
Völlige Abstinenz sei überhaupt nicht zu verlangen und
nur wenigen kalten Naturen möglich. Der Normale fände
im Institut der Ehe die erlaubte Gelegenheit zur Be-
friedigung des Geschlechtstriebes. Der Urning sei in der
Zwangslage, falls man ihn nicht wie jener Geistliche auf
den Selbstmord verweisen wolle, entweder der Onanie
sich hinzugeben oder unter seine Gesundheit zerrütten-
den Seelenqualen und dem Damoklesschwert drohen-
der Verhaftung Befriedigung zu suchen. Daher nur
ein Ausweg gerechtfertigt: Die Aufhebung der Straf-
bestimmung. Die öffentliche Meinung und das Gesetz
irrig und ungerecht. Der Einwand der Unmöglichkeit
der Fortpflanzung nicht stichhaltig. Denn gerade die
grössten Keligionsstifter seien der Ansicht, dass die
Menschheit sich nicht fortzupflanzen brauche.
Die von den Urningen vorgenommenen Geschlechts-
akte, mutuelle Onanie oder coitus inter femora, eher
ästhetischer als der coitus mit dem Weib. Eine um sich
greifende Zügellosigkeit in Folge der Freigabe nicht zu
befürchten. Beweis dafür Italien und Frankreich. Im
Gegenteil, der §175 verursache schwere soziale Schäden:
Die Erpressung, den Zwang der Urninge, zu heiraten und
*) Das Vorwort gehört eigentlich unter Kapitel 1 § 2, ich
musste es aber seines Zusammenhanges mit dem Drama wegen
hier anführen.
— 433 —
eomit die Erzeugung von Urningen durch Vererbung;
deshalb seien auch die Urninge so zahlreich ; nach Manchen
sei dieHäl fte der Männer homosexuell. Durch das Gesetz
würden nur die Kleinen getroffen; die Grossen schone
man. Nur die anständigen Urninge litten unter dem
Paragraphen; die Zügellosen lebten jetzt schon unbe-
kümmert um das Gesetz. An der ganzen Frage sei Jeder
interessiert wegen der Möglichkeit, in seiner Familie
Urninge zu entdecken.
Das Vorwort bringt nichts Neues. Dem mit der
Homosexualität nicht Vertrauten bietet es aber genügende
Aufklärung. Manches ist allerdings allzu kategorisch be-
hauptet, Manches direkt unrichtig, so z. B. die Angaben
über die Zahl der Urninge. (Nach meinen Erfahrungen
kommt schlimmsten Falles einer auf 200— 300 Männer);
ferner ist der namentlich in einer Anmerkung im 3. Akt
des Dramas gemachte scharfe Unterschied zwischen den
verschiedenen Modalitäten gleichgeschlechtlicher Befrie-
digung zu tadeln; wenn Dilsner in der erwähnten An-
merkung die immissio in anum und in os sogar als
Schweinerei bezeichnet, so ist nicht zu verwundem, dass
■die mit der Homosexualität Unbekannten die ganze Frage
mit diesem Worte abthun. Ich kann nur das im vor-
jährigen Jahrbuch über diesen Punkt Gesagte wieder-
holen (Jahrbuch II, S. 367, bei Besprechung der Schrift
,Eros und das Reichsgericht"): Viele Urninge, ja die
meisten lieben die getadelten Arten nicht, bei vielen
bilden sie aber die ihnen adäquate Befriedigungsart. Ein
ästhetischer Unterschied mag vorhanden sein ; in
moralischer Beziehung besteht aber keiner.
II. Das Drama.
1. Akt: Gespräch zwischen Oberlehrer Welcker und
seinem Freund und Kollegen Dr. Lerche über die Ho-
mosexualität. Für Lerche, der, mit der Frage bekannt,
flie mit Verständnis* und Milde beurteilt, ist die Homo-
Jahrbuch lU. 28
— 434 —
Sexualität lediglich ein Spiel der Natur, eine Z wischen-
8 1 u f e , vergleichbar der Jasrainblüte mit dem verkrüp-
pelten, halb zum Blumenblatt gewordenen Staubgefäss-
Welcker dagegen, welcher zum ersten Male ein Buch
über Homosexualität gelesen hat, erblickt in ihr nur eine
sittliche Verirrung oder mindestens eine sehr krankhafte
Neigung, für welche nur das Gefängnis oder das Irren-
haus am Platze sei.
Vergeblich sucht ihn Lerche eines Besseren zu be-
belehren und warnt ihn vor übereilter Verdammung^
da niemand davor sicher sei, in der eigenen Familie
einen Urning zu entdecken.
Aber vor dieser Gefahr wähnt sich Welcker geschützt.
Seine beiden Söhne sind blühende, kerngesunde Gymna-
siasten.
In den folgenden Szenen lernen wir beide kennen,
die Gegensätze in ihren Naturen treten deutlich hervor :
Hans, lebenslustig und ausgelassen, ein echter Junge,
schwärmt schon für Mädchen; Rudolf, schüchtern vor den
Mädchen und zurückgezogen, ist ein stiller, träumerischer
Primaner. Lerche hat seit einiger Zeit eine gewisse Aen-
derung in dem Benehmen Rudolfs bemerkt; er ahnt in
ihm den Urning. Das Verhalten Rudolfs am Schluss des
1. Aktes, der angeblich Pferde eines vorbeifahrenden
Wagens bewundert, natürlich aber seine Augen von dem
schönen Kutscher nicht trennen kann, scheint die Ver-
mutung Lerche's zu bestätigen, dem es nicht entgeht,
wen Rudolf schön findet.
2. Akt; Rudolf ist thatsächlich homosexuell. Er
sucht bei Pfarrer Bethmann Trost und offenbart ihm
sein Geheimnis. Aber der Pfarrer versteht ihn nicht; er
hat nur Worte der Verdammung gegen die Sodomiterbrut ;
als einziges Mittel kennt er lediglich das Gebet. Aber auch
dieses Mittel hat bei Rudolf nichts genützt. Als Beth-
mann, ratlos, die erhofften Worte des 'Verständnisses und
— 435 —
der Verzeihung nicht spenden kann, scheidet Rudolf,
entschlossen, auch ohne den Segen des Pfarrers seiner
Natur gemäss zu leben.
3. Akt: Rudolf hat sich in einen kräftigen Arbeiter,
Schröder, verliebt und ein schwärmerisches Freundschafts=»
Verhältnis mit ihm angeknüpft. Schröder, ein gemeiner
Schurke, der Rudolfs Natur erraten, beutet sein Geheimnis
aus. Er geht zu Welcker, verlangt in frecher Weise
Geld und spielt den durch Rudolf zur Unzucht Verführten.
Rudolf, Schröder gegenübergestellt, muss seine Bekannt-
schaft mit ihm zugeben. Welcker jagt Schröder fort,
der sich unter Drohungen mit Skandal entfernt; von
Rudolf verlangt der Vater sofortige Abreise nach Amerika.
Glücklicherweise kommt Lerche dazwischen. Von dem
schon zum Selbstmord bereiten Rudolf erfährt er, dass
dieser nichts Strafwürdiges getlian, sondern in seinem
überströmenden Gefühl sich lediglich zu einer inbrünst-
igen Umarmung hinreissen liess.
Lerche bestimmt Welcker, seinen Sohn nicht zu Ver-
stössen. Auf Ansuchen des herbeigerufenen Arztes, der
die Homosexualität als eine durch Ablenkung der Ge-
danken und frühzeitige Heirat leicht zu heilende Krank-
heit betrachtet, soll Rudolf nunmehr einen körperliche
Anstrengung erheischenden praktischen Beruf erlernen.
Welcker versöhnt sich mit ihm, in der Hoifnung, die
Heirat werde später jede Spur der ^vorübergehenden
Jugendverirrung ** beseitigen.
4. Akt: Einige Jahre sind vergangen. Rudolf, tüch-
tig in seinem Beruf, hat sich eine selbständige Stellung
erworben. Familie und Freunde drängen auf Heirat mit
seiner Jugendfreundin Marie. Frau Lerche^s Ermahnungen
scheitern an Rudolfs Gleichgültigkeit; den Bitten und
dem inständigen Flehen seines Vaters vermag er aber
nicht zu widerstehet!, und er verlobt sich, halb gezwungen.
28*
— 436 —
5. Akt: Rudolf hat nicht die Kraft^ die Heirat zu
voUziehen. Er gesteht seiner Braut seine Unfähigkeit^
sie zu lieben, und bittet sie, ihn seines Wortes zu ent*
binden. Marie aber, in der festen Zuversicht, durch ihre
Liebe den Geliebten zu gewinnen, giebt ihn nicht frei.
Rudolf will nicht mit einer Lüge im Herzen in die Ehe
eintreten und erschiesst sich.
Als die schmerzerfüllte, bisher ahnungslose Mutter
durch Lerche und Welcker den wahren Grund des Selbst-
mordes erfährt, versteht sie sofort in ihrer Mutterliebe,
was Pastor, Philologe und Arzt nicht begreifen konnten.
Sie verkündet das Recht des Verstorbenen, nach seiner
Natur zu leben; sie fühlt es, dass Rudolf in den Tod
getrieben wurde ; sie weiss, dass ihr Sohn gut und edel
war, und hätte ihm den Geliebten mit eigener Hand zu-
geführt, um sein Leben zu retten.
Das Stück hat zum ersten Male die Homosexualität
direkt und unverblümt dramatisch behandelt.
Das an sich tragische Los des Urnings und die zahl-
reichen durch die Homosexualität bedingten Konflikte
mit der Religion, der allgemeinen Meinung, dem Staate,
der Familie bilden schon an und für sich ein ergiebiges
Feld für den Dramatiker. Daher wird auch jede Drama-
tisierung der Homosexualität ihrer Wirkung sicher sein
und Dilsners „Jasminblüte** verfehlt gleichfalls ihre Wirk-
ung nicht. Dilsner hat unleugbar dramatisches Talent;
die Hauptkonflikte sind geschickt verwendet und eff*ekt-
voU dargestellt, so die Unterredung zwischen Rudolf und
dem Pfarrer, die Entdeckungs-, die Verlobungsszene und
namentlich der auch gedanklich schöne Schluss. Der in
Vorurteilen befangene Standpunkt des Pfarrers, des Arztes
und des gebildeten aber unaufgeklärten Bürgers ist der
Wirklichkeit abgelauscht und. die dramatische Behandlung
— 437 —
dieser Anschauungen lässt deutlich erkennen, mit welchem
Heer von Irrtümern der Held zu kämpfen hat.
Trotzdem ist das Stück kein wahres Kunstwerk.
Zunächst bildet es an vielen Stellen mehr eine dialogi-
sierte Verteidigung der Homosexualität als ein Drama.
Die Tendenz tritt zu sichtbar hervor. Die Personen sind
etwas schemenhaft gehalten. Man merkt zu sehr die
Absicht, das Ungerechte der Vorurteile in ihnen zu
geisein. Die Handlung ist zu äusserlich; das Ganze
nicht genug verinn erlicht. Namentlich aber stellt sich
die Hauptfigur, Rudolf, zu sehr als Sprachrohr des
Dichters dar. Man bekommt keinen unmittelbaren, er-
greifenden Einblick in das Seelenleben des Helden; jede
Entwicklung der Psyche, jede Schilderung der Seelen-
qualen und -kämpfe, die er durchmachen müsste, bis er
seine Natur erkannte, fehlt. Obgleich Rudolf in den
3 ersten Akten noch ein Gymnasiast ist, hat er schon
Klarheit über seine Geschlechtsnatur erlangt und spricht
wie ein gereifter Mann. Wenn aber Rudolf eine der-
artige, frühreife, fertige Ausnahmenatur ist, dann erscheint
auch seine Verlobung und sein Selbstmord unglaubwürdig.
Der Selbstmord entbehrt überhaupt genügender
Motivation. Warum tritt Rudolf, der überdies auch
pekuniär völlig selbständig und unabhängig von seiner
Familie geworden ist, nicht einfach von der Verlobung
zurück? Wenn er es wirklich deshalb nicht wagt, um das
der ziemlich einfältigen Braut gegebene — übrigens halb
erzwungene — Heiratsversprechen nicht zu brechen, so
kann man auch den Selbstmord des Helden kaum
bedauern.
Trotz der gerügten Mängel muss die Bedeutung des
Stückes als erste dramatische Behandlung der Homosexua-
lität ausdrücklich anerkannt werden. Dilsner verdient des-
halb besonderes Lob. - Da das Ganze massvoll und ernst
— 438 —
gehalten ist, so wäre eine Aufführung nicht nur erwünscht,
sondern auch durchaus möglich.'*')
3) Evers, Franz: , Einladung" und ^An einen
Jüngling* in der Gedichtsammlung: „Der Halb-
gott* (mit einem Bilde von Max Klinger.) [Verlag
Kreisende Ringe: Max Spohr, Leipzig 1900J.
In „Einladung* (S. 256) preist der Dichter den
gleichgesimiten Freund, den er erkannt. Er fordert ihn
in lyrischem Erguss zu Seelenharmonie und beglückender
Liebe auf. Homosexuelle Empfindungen bringt sodann
das Gedicht: ^An einen Jüngling* (8. 257). Es lautet:
„Holder Kjiabe, der mein Herz bezwungen,
Der die Stärke meiner Seele ahnte.
Als ich noch aus halben Dämmerungen
Mir den Weg nach weissen Höhen bahnte.
Lagst beglückt mit mir beim Griechenmahle
Unter Rosen, die von Düften thauten.
Fühltest tief beim purpurnen Pokale,
Was wir unter Rosen uns vertrauten.
Keine Schatten trübten solche Schöne,
Lauter wurde unser Thun und Trachten,
Von den Saiten klangen goldne Töne . . .
Und wir sanken selig hin und lachten.
O, wie schimmerten die Tage lichter!
Weisst Du noch? wir wurden Du und Du . . .
Und in Freundschaft, Bildner wir und Dichter,
Tranken wir den schönen Göttern zu.*
*) Htyse's: „Hadrian" und Wilbrandt's: ,,Rei8e nach Riva"
schildern gleichfalls homosexuelle Gefühle, aber in mehr verschlei-
erter Form, nicht als bewusst geschlechtliche Liebesgefiihle. In
Marlows: „Eduard II." (ins Französische übersetzt von Georges
Eekhoud) tritt zwar die Liebesleidenschaft Eduards zu Gaveston deut-
lich hervor; aber in allen diesen Stücken kommt der Konflikt die-
ser Gefühle mit der Aussenwelt wegen ihrer homosezuellen
Natur nicht zur Darstellung.
— 439 —
4) Gramont, Louis de: Astart^; Libretto zur Oper
in 4 Akten und 5 Bildern von Xavier Leroux (zum
ersten Male in der Pariser Grossen Oper Mitte
Februar 1901 aufgeführt).*)
Die zwei Episoden aus der Herkulessage : Herkules,
Liebesabenteuer mit Omphale und sein Tod in dem brennen-
den Gewände, werden zu einem Ganzen verschmolzen.
1, Akt: Herkules, Sieger über Tyrannen und Unge-
heuer, will noch grössere Gegner bestehen und selbst
Götterbekämpfen. Er will den schändlichen und blutigen
Kultus der Astarte, der unzüchtigen Göttin von Lesbos,
der 'Göttin der monströsen Liebe, vernichten; er will
Omphale, Königin von Lydien, die Priesterin und lebendige
Verkörperung der Astarte, töten. Trotz der Bitten seiner
Gattin Däjanira schiffib er sich mit seinen Getreuen
nach Lydien ein. Die bekümmerte Gattin sendet ihm
die Prinzessin Jole nach, um dem Helden das wunder-
bare, vom sterbenden Centauren vermachte Gewand zu
überbringen, dessen Berührung genügen soll, die Seele
Herkules' vor dem Zauber der Lyderin und ihrer un-
keuschen Liebe zu bewahren.
IL Akt: Vor den Mauern von Sardes: Die Be-
völkerung fürchtet die Ankunft Herkules\ aber der Hohe-
priester der Astarte Phur, der das Orakel in Lesbos be-
fragt, beruhigt sie. Auch Herkules und seine Krieger
werden der Wollust verfallen. Als sie erscheinen, werden
sie von den Töchtern Lydiens und Lesbos' empfangen,
und ihren Verführungskünsten widerstehen die Mannen
nicht.
ni. Akt.: Nur Herkules ist standhaft geblieben,
Phur führt ihn in den Palast zu Omphale. Von ihrer
Schönheit wird auch er bezwungen und fällt zu ihren
*) Bei der nachfolgenden Besprechung habe ich hauptsächlich
den Artikel des Musikkritikers des „Teraps", Pierre Lalo, in der
Nummer vom 20. Februar 1901 benutzt.
— 440 —
Fassen« Omphale versammelt das ganze Volk zum Zeugen
ihres Triumphes über den Helden, der ihr den Tod ge-
schworen. Vor Herkules und der Königin feiert Phur
den Kult der unkeuschen Göttin: Zuerst langsame Zere-
monien, dann Tänze und Umarmungen, dann frenetische
Freude, die bis zum Delirium steigt. Endlich sinken die
Priesterinnen nach einander, von Trunkenheit und Wollust
müde, hin und schlafen ein. Nacht und Schweigen.
Omphale ruft Herkules zu sich. Er wirft sich in ihre
Arme.
IV. Akt. 1. Bild: Omphale, die zum ersten Male
liebt, ^vill nicht, dass Herkules, wie ihre früheren Lieb-
haber, auf dem Altar der Astarte geopfert werde. Aber
Phur will das Blut des Helden. Er überredet ihn, in
dem Heiligtum der Göttin sich mit Omphale trauen zu
lassen. Herkules ist dazu bereit, aber Omphale weigert
sich, da sie weiss, dass der Augenblick der Trauung den-
jenigen seines Todes bedeuten würde. Inzwischen kommt
Jole mit dem Gewand. Die Königin, von der jungfräu-
lichen Grazie und Schönheit des Mädchens bezaubert^
wird von glühender Liebe zu Jole ergriffen; Herkules
kann wieder nach Argos zurück, Omphale lässt ihn gehen^
wenn nur Jole bei ihr bleibt. Herkules zieht das Ge-
wand an, worauf er sofort in Flammen gerät. Er ver-
brennt, und der Palast mit ihm. Omphale flieht mit Jole.
2. Bild: Die Insel Lesbos. Auf einem blumen-
bekränzten Schiff berühren Omphale, Jole und der Hohe-
priester die Küste. Unter den Tänzen und Gesängen
der Lesbierinnen schreiten sie dem Altar der Göttin
Astarte zu.
„Astarte " ist wohl die erste aufgeführte Oper und über-
haupt das erste Theaterstück, worin die lesbische Liebe zur
Darstellung gelangt. Man kann jedoch an und für sich
dem Librettisten ebenso wenig einen Vorwurf aus der
Benützimg dieses Themas machen, als heute Jemand daran
— 441 —
denkt, die musikalisch-dramatische Behandlung des Incestes^
in Wagner's „Walküre", wo der liebetrunkene Bruder
die bräutliche Schwester freit, zu beanstanden. Auch in
^Astarte" bewirkt die Wahl eines in grauer, sagenhafter
Zeit sich abspielenden Vorgangs und die notwendige
Idealisierung durch Gesang und Orchester, überhaupt
durch die Musik, dass das Ganze in weite Fernen ge-^
rückt wird und unmittelbare Beziehungen zur Wirklich-
keit nur schwer aufkommen. — Allerdings wird von dem*
Musikkritiker des „Temps", Pierre Lalo, das Bedenken
erhoben, dass der Verfasser der „ Astarte " allzu ausschliess-
lich die Wollust, die normale und anormale, besungen'
habe, namentlich sollen die Tänze im 2. und 3 Akt sowie
das letzte Bild etwas allzu deutlich die lesbische Liebe
versinnbildlichen. Diesen Charakter der Sinnlichkeit soll
auch die mehr an der Oberfläche haftende als tiefe, mehr
glänz- und prunkvolle als innerliche Musik tragen und
in packender, überwältigender Weise die Wollust der
Dichtung wiederspiegeln. „Aber mag man auch finden
dass der Ausdruck dieser Wollust oft etwas übertrieben,"
sagt Lalo, „so muss man doch anerkennen, dass man kaum
eine plastischere Wiedergabe, die vollständiger und vor-
züglicher wäre, wünschen kann. Insbesondere ist der
dritte Akt in dieser Beziehung charakteristisch. Wenn
nach Schluss der Orgie die müden Priesterinnen der
Astarte einschlummern, empfängt man von der ungeheuren
Szene, wo die Körper lagern und über ihnen ein dunkler
Dunst schwebt, einen Eindruck von Sinnlichkeit, welcher
der Grösse nicht entbehrt.*
5) Hagenauer, Arnold*): „Muspilli" (Linz, Oester-
reichische Verlagsanstalt). Koman. 1900. Psychologische
Autobiographie eines Lustmörders und Pyromanen.
Der Roman schildert das Entstehen und Zerfallen
einer innigen, jedoch nicht direkt homosexuellen Freund-
*) Mitgeteilt von Herrn Peter Hamecher.
— 442 —
Schaft. Zwischen den Zeilen lässt Verfasser indess genug
Momente gleichgeschlechtlicher Liebe durchblicken. S. 36
findet sich eine Bemerkung über die sexuelle Neigung
Fontana's^ einer Nebenperson. Es heisst dort: „Franz war
-während seiner Gymnasialzeit einer gewissen gymnasialen
Jugendkrankheit bis zu einem gewissen Grade ergeben
gewesen, die nur mehr pathologisch bestimmt werden
kann. Als er in vernünftige Bahnen einlenken wollte,
war er zu depra viert, um an dem gewöhnlichen Ge-
achlechtsgenuss die Befriedigung zu finden, welche eine
leidenschaftliche Jugend verlangt. Seine Nerven kannten
•das Weib nicht mehr."
6) Herdy, D'Luis: ,La Destin^e*. Roman. (Paris,
Vanier 1900).
Der Eoman hat nicht wie die beiden früheren,
im vorjährigen Jahrbuch besprochenen desselben Ver-
fassers ein homosexuelles Problem zum Gegenstand. Er
behandelt vielmehr die Schicksale und Nöten eines hete-
rosexuellen Schriftstellers, des jungen Maurice Fauvel.
Dieser hat zum Helden seines Erstlingswerkes Elagabal ge-
wählt, und dies giebt D'Herdy Gelegenheit, in Kapitel VIII
die Geschichte dieses römischen Kaisers, seinen
Charakter, seine Ausschweifungen und Excentricitäten
^u schildern. Dabei werden Elagabals gleichgeschlecht-
licher Verkehr und seine homosexuellen Leidenschaften
berührt. So wird erzählt, wie der Kaiser als Venus ver-
kleidet öffentlich auftritt und über die Natur seiner Lei-
denschaft keinen Zweifel übrig lässt, wie er in Weiber-
kleidern die Passanten anlockt und sich ihnen prostituiert.
Sein Verhältnis zu seinem Hauptgeliebten Hierocles und
seine Neigung zu Zoticus werden erwähnt. — In einem
andern Kapitel (XI S. 245) kommt dann eine homosexu-
elle Episode aus der Jetztzeit vor. Eines Abends begegnet
Fauvel auf der Strasse einer Person in Frauenkleidern,
die er auch für eine Frau hält. Sie bietet sich ihm an^
— 443 —
Fauvel will sie mitnehmen, worauf sie gesteht, dass er in
ihr einen Mann zu erwarten habe. Voll Entrüstung und
Ekel entfernt sich der Schriftsteller.
Das Kapitel über Elagabal bietet, weder was psycho-
logische Tiefe noch künstlerische Darstellung anbelangt, ein
besonderes Interesse ; es scheint mehr auf den Effekt, alsWürze
des Komans, berechnet zu sein, obgleich die eingehende Schil-
derung Elagabals eine gewisse Berechtigung insofern hat,
als die Bewunderung des Helden für den römischen Cäsar
zur Charakteristik Fauvels dient und das Verbrechen^
das er am Schluss des Romans begeht, mit erklärt. —
Wie ich aus einer Besprechung des Romans im „Mer-
cure de France" vom Monat Dezember 1900 ersehe, soll
das Kapitel über Elagabal fast wörtlich aus Aelius Lam-
pridius entnommen sein.
7) Ives, George: „Eros' Throne.* London 1900.
In sehr zarten Farben, deutlich nur für den Einge-
weihten, bringt dieser Gedichtband das Entzücken an
jugendlich männh'cher Anmut und das homosexuelle
Empfinden zum Ausdruck. Den Titel führt das Buch
nach einem Cyclus philosophischer Poesien, die in einer
mystischen Schönheitsfeier gipfeln. Erkennbar zwischen
den Zeilen ist des Verfassers Zorn über die Fesseln
unter denen die gleichgeschlechtliche Liebe schmachtet.
8) Kupffer, Elisar von: , Irrlichter." Drama in
3 Teilen. (Berlin, Verlag von E. Ehering 1900.)
Homosexuelle Beziehungen sind nur im 3. Teile
geschildert, der aber gedanklich ein Bruchstück des Ganzen
bildet. . — 1. Teil: Andrei. Der kranke, lebensmüde
Andrei wird durch seine Liebe zu Tamara, dem Mädchen
aus dem Volke, von neuem Lebensmut und frischer Freu-
digkeit beseelt. Doch ihm fehlt die Kraft zu wahrer
Lebens- und Liebesfreude. Zuerst die Furcht, seine Frei-
heit zu verlieren, dann unbegründete Eifersucht und Mangel
ÄU Vertrauen zur Geliebten zerstören sein Liebesglück.
— 444 —
In thörichtem Wahn weist er die Geliebte zurück, die
sieh aus Verzweiflung vergiftet. Zu spät erkennt er seine
Verblendung. — 2. Teil: Erich. Der brustleidende
totkranke Erich wird, als ihm sein Freund Otto seine
Verlobung ankündigt, von einer grenzenlosen Begierde
nach Lebens- und Liebesglück ergriffen. Er will sich
ausleben, die Lebenslust geniessen, und in krankhafter
Erregung glaubt er, sein Wille zum Leben müsse Krank-
heit und Tod überwinden. In fieberhaftem Sinnestaumel
stürzt er Becher auf Becher hinunter und achtet nicht
auf die verhängnisvolle Abendkühle. Vergeblich wollen
ihn die Verlobten und der Arzt beruhigen und zurück-
halten. Mit dem Ausruf: „Keine Welt hemmt meine
Kräfte — keine Welt! O ich bin der König des Lebens!*
bricht er tot zusammen, ein erlöschendes Irrlicht. —
3. Teil: Narkissos. Kleomenes, der Künstler, hat lange
in den Banden der koketten und schönen Normia ge-
legen. Er will ihr aber nicht weiter Freiheit und Mannes-
würde opfern. Der junge Narkissos fesselt den Künstler
durch seine Schönheit und Anmut, durch seine Frische
des Körpers und der Seele. Narkissos, von unnennbarem
Sehnen, von unbestimmtem Trieb zum Ausleben, zu Liebe
und Ergänzung erfüllt, nimmt freudig Kleomenes' Liebe
und Freundschaft an. Normia sieht in Narkisso»
einen neuen Anbeter, und bei dem Gastmahl hofft
sie auch ihn sich zu unterwerfen und gleichzeitig
Kleomenes wieder unter ihr Joch zurückzubringen. Die
Gäste, der Schlemmer Boetikos, der Philosoph des Genusses^
Lucian, und der biedere Ethikos werden von den Beizen
des jungen Narkissos bestrickt, aber mit jugendlicher
Schalkheit weiss Narkissos den • Liebkosungen des lüster-
nen Boetikos und des sinnlichen Lucian zu entgehen. Nor-
mia erscheint im Prachtgewand, strahlend von Schönheit
Auch Narkissos wird geblendet; alle huldigen ihr, nur
Kleomenes nicht, der zum Zeichen, dass er nie .mehr ihrer
— 445 —
Macht sich fügen werde, den Becher in die Flut schleu-
dert. Normia fordert Narkissos zur Kache auf, aber er
zögert. Zornerfüllt zieht sich Normia zurück. Doch bald
kehrt sie wieder, um abermals ihre Macht an dem schönen
Narkissos zu erproben. Liebeglühend fällt er ihr diesmal
zu Füssen, als er aber Erfüllung seiner Wünsche verlangt,
stösst sie ihn lachend von sich. Sie hat gesiegt, aber
nur scheinbar; denn als sie nun selbst von Liebe
zu Narkissos ergriffen, herablassend ihm ihre volle
Gunst gewähren will, weist er sie zurück. Er hat das
gleissnerische, verlogene, eigensüchtige Weib erkannt, jede
Liebe zu ihr ist in ihm erstorben. Vergeblich fleht nun
Normia um Liebe. Narkissos entfernt sich mit Kleomenes,
beide befreit von dem herrschsüchtigen Weib. „Herrscht
nach Gewohnheit über Sklavenseelen, •* ruft Kleomenes
der in Wut ausbrechenden Normia nach.
Ueber die tiefere Bedeutung des Dramas sagt Kupffer
selbst in seinem Vorwort: „Die drei Stücke sind innerlich
ein Ganzes und schildert das letzte Stück , Narkissos"
das Durchbrechen der jugendlichen Kraft, nachdem sie
sich aus den Banden der irrlichterirenden Dekadenz und
des verflachenden, lähmenden Herkommens befreit hat.*
Damit ist der Ideengehalt nicht erschöpft. Im ersten
Teile tritt uns die Unfähigkeit, zu lieben, die das eigene
Lebensglück zerstörende krankhafte Schwäche und Grübel-
sucht entgegen. — Im , Erich* ist die Lebenslust und
der Liebesdrang vorhanden, aber sie vermögen sich nicht
durchzusetzen; der Held, siech an Körper und Geist, ist
dem Untergang geweiht, sein Liebesziel und seine un-
begrenzte Sehnsucht bilden nur das letzte, krankhafte Auf-
flackern seiner gebrochenen Kräfte. Erst das letzte Stück
zeigt den Sieg dieser Lebenslust und Lebensfreude, aber
auch hier haben sie noch Kämpfe zu bestehen. Aus den
Fesseln erniedrigender Liebe haben sich Kleomenes und
Narkissos zu der schönen Freiheit harmonischer Seelen
— 446 —
durchgerungen. Zugleich verkörpert der Jüngling Narkis-
80S die Lebensfreude und Liebeslust in ihrer Naivetät
und Naturfrische. Das dritte, von griechischem Geiste
durchwehte Stück bildet ein abgerundetes Ganze für sich
und scheint mir das beste. — Der Konflikt, zwischen
Weibertücke und Frauenherrschsucht einerseits und
zwischen Männerstolz und Männerwürde andererseits so-
wie das Aufkeimen der ersten Liebesgefühle und die
naive, nach gefährlichem Schwanken in den Hafen edler
Neigung mündende Empfindung sind zu dramatischer
Gestaltung verwoben. — Das Homosexuelle in „Narkissos"
ist hauptsächlich mehr symbolistisch aufzufassen. Die
Liebe Kleomenes' zu einem Jüngling -soll den Gegensatz
zu der entwürdigenden Leidenschaft zum sinnlichen,
verdorbenen Weib darstellen; in dem unverdorbenen,
naiven, im Frühling des Lebens stehenden Narkissos
wollte Kupffer das Ideal unschuldvoller Jugendlichkeit
und Anmut, das Ideal der zu Leben und Liebe erwachenden
Menschenseele versinnbildlichen. Homosexuelle^ in psychi-
atrischer Beziehung ist wenig in „Narkissos" zu finden.
Die grobe Deutung, dass Kleomenes, nachdem er Weiber-
liebe zum Ueberdruss gekostet, zum Jüngling sich wendet
und somit eigentlich nicht aus Homosexualität, sondern
aus anderen Motiven handelt, wird wohl der geistige Ge-
halt und die ästhetische Ueberlegenheit der 3 Stücke
verhindern, die in erster Linie trotz ihrer sicherlich auch
bühnenwirksamen dramatischen Lebendigkeit als Ideologien
zu bezeichnen sind. Allerdings vor böotischen Lesern
und Kritikern sind auch die „Irrlichter" nicht sicher,
obgleich sie abseits vom Alltagsmarkt liegen.
9) Louys, Pierre: „Les aventures du roi Pausol" (in
das Deutsche übersetzt, Budapest 1900).
Die Prinzessin Alice, als sie zum ersten Male einer
Balletvorstellrmg beiwohnt, fasst eine lebhafte Zuneigung
zu der als Prinz verkleideten Ballettänzerin Mirabelle.
— 447 —
Sie bestellt sie Nachts in den Park Dort geloben
sich beide unter Küssen Freundschaft und lustwandeln
in zärtlichem Gespräch. Mirabelle empfindet Liebes-
leidenschaft nur für Frauen, während sie des Gelde»
wegen den Männern sich hingiebt. Sie ist entzückt von
der Prinzessin; sie beschliesst, ihre Truppe zu verlassen
und bestimmt Alice, mit ihr zu entfliehen. Beide machen
sich noch in derselben Nacht auf den Weg.
In der Bannmeile des Palastes kehren sie in einer
Herberge ein. Folgt nun die Schilderung einer Scene^
wo beide sich entkleiden: Mirabelle's männliche Gestalt,,
die Zwiefältigkeit ihrer Haltung, die flache Brust ohne
Brüste, ihre an den Mann erinnernden Formen, welche die
naive, von den eigentlichen Gefühlen ihi*er Freundin nichts
ahnende Alice zu dem Ruf verleiten: ^Ist es auch wahr^
du bist kein Mann?!" werden beschrieben.
Unterdessen hat sich König Pausol mit seinem Gross-
eunuchen Nixis, seinem Pagen Giglio und einer Leib-
wache zur Verfolgung seiner entschwundenen Tochter
aufgemacht. Giglio ermittelt den Aufenthalt der beiden
Frauen, verschweigt ihn aber dem König und weiss sich
selbst, dank einer Verkleidung, Zutritt in das Zimmer
der Flüchtigen zu verschaflen. Er warnt sie und bringt
sie dazu, in die Hauptstadt zurückzukehren, wo sie in
einem Asyl für die verwahrloste Jugend Unterkunft
suchen sollen. Die beiden Frauen steigen aber zunächst
in einem Gasthofe ab. Erneute Schilderung einer
intimen Scene zwischen beiden, diesmal mit direkten An-
deutungen, dass Mirabelle das Ziel ihrer Wünsche erreicht.
Die Polizei hat bald die Flüchtigen entdeckt; sie
benachrichtigt den König, dass sie die Prinzessin und die
andere Person belauscht und gar seltsame Dinge hinter
den Thüren vernommen habe. Giglio eilt wieder zu den
beiden; er findet Alice allein. Er macht ihr eine
Liebeserklärung und es gelingt ihm auch, sofort sich Ge-
- 448 —
liör zu verschaffen^ in einer Weise, dass Alice, nunmehr
Mirabelle vergessend, nur zu GiglioLiebesgeflihle empfindet.
Sie fürchtet, am andern Tag in den Palast zurück-
kehren zu müssen und dann, streng überwacht, den neu
gewonnenen Liebhaber, der sie bisher unbekannte Freuden
lehrte, zu verlieren. Giglio veranlasst sie, sich vorläufig
in das Asyl für verwahrloste Jugend zu begeben, bis er
alles zum Besten gewendet Er bringt es fertig, dass am
andern Tag der König das Asyl besucht. Dieser stimmt
den Ausführungen des Vorstehers über die Erziehungs-
methode des Hauses bei, wonach die Jugend frei ihren
Instinkten leben soll und ungehemmt ihren sinnlichen
Freuden. Plötzlich erscheint Alice und bittet den er-
staunten Vater, auch ihr die eben gerühmten, von ihm
gebilligten Freiheiten zu gewähren. Nach einigem Wider-
streben willigt Pausol ein. Alice wird fortan mit Giglio
vergnügte Stunden verleben, während Mirabelle mit einer
neuen Eroberung, einem Mädchen, das durch das Fern-
rohr die intimen Szenen im Gasthof zwischen Alice und
Mirabelle beobachtete und zu ungeahnten Liebesempfiind-
ungen aufgeweckt wurde, sich tröstet.
Das Abenteuer der Prinzessin Alice nimmt nur den
kleinsten Teil des Buches ein; die Keise des Königs zur
Entdeckung seiner Tochter, sein Verhältnis zu Frauen
Beines Harems, seine Gespräche mit Nixis und Giglio,
des letzteren verschiedene Liebschaften ziehen die Haupt-
aufmerksamkeit auf sich. Die geschilderten homosexuellen
Beziehungen erheben nicht den Anspruch auf poetische
Gestaltung oder psychologische Tiefe oder charakterist-
ische Realistik; sie sind ebensowenig ernst aufgefasst
und aufzufassen wie das ganze Buch; das Ganze ist nur
gleichsam das Szenarium, um dem Dichter Gelegenheit zu
geben, seinen Witz, seinen Humor, seine satyrische Ader,
«eine Paradoxien, namentlich über geschlechtliche Un-
gebundenheit, glänzen zu lassen. Louys will griechische
. _ 449 —
Naiyetät mit gallischem Geist vermengen. Der Esprit
fehlt nicht; aber die absichtlich gesuchte Naivetät lässt
von gesunder Natürlichkeit wenig übrig und grenzt oft
fast an Schlüpfrigkeit. Die Erzählung erinnert an
Voltaire^s ^Contes,* aber mit mehr operettenhaften Zügen
und Personen. Von dem griechischen Klassizismus der
, Chansons de Bilitis** und der vollendeten, poesievollen
Schönheit der „Aphrodite" ist in dem Koman wenig,
sehr wenig, übrig geblieben.
10) Meebold, Alfred: „Dr. Erna Redens' Thor-
heit und Erkenntnis." Novelle aus demNovellen-
band: „Allerhand Volk«. (Verlag Vita, Berlin 1900.)
Die Aerztin Dr. Erna Redens hat sich in einen
männlichen Kollegen verliebt. Der Malerin Lucie Brenner,
welche sich mit besonderer Zuvorkommenheit und teil-
nahmsvoller Freundschaft ihr genähert, gesteht sie ihre
unglückliche Leidenschaft. Beide Frauen reisen nach
Italien, Dr. Redens in der Hoffnung, allmälig Linderung
ihrer Seelenqualen zu finden. Lucie Brenner ist homo-
sexuell und liebt ihrerseits leidenschaftlich Dr. Redens,
verbirgt jedoch ihr Gefühl der anders gearteten Freundin.
Aus Anlass eines Streites der Brenner mit einer Bekannten,
einer excentrischen Malerin, errät Dr. Redens ihre wahre
Empfindung. Bald darauf tötet sich Lucie, nachdem sie
weiss, dass sie der Freundin nicht mehr unentbehrlich
ist, deren Leidenschaft zu dem Arzt die frühere Heftig-
keit verloren hat.
Von den 85 Seiten der in Tagebuch-Form ge-
schriebenen Novelle sind ungefähr 70 mit der Be-
schreibung der unglücklichen Liebe der Redens' und
ihrer bis zu Selbstmordgedanken gesteigerten seelischen
Qualen und Leiden angefüllt, wobei zahlreiche psycho-
logische, ästhetische und philosophierende Betrachtungen
eingestreut sind. Die Novelle erweckt trotz ihrer geist-
reichen Einzelheiten den Eindruck des nicht völlig Ab-
Jahrbuch UI. 29
— 450 —
gerundeten^ Bruchstückartigen. Zwei Stellen, welche von
einem feinen Verständnis und einer treffenden Beurteil-
ung der Homosexualität zeugen, verdienen ganz wieder-
gegeben zu werden. — S. 42 : »Ein seltsames Rätsel der
Natur, eine der Fragen, über die ich nicht in's Klare
kommen kann. Sie scheint das logische Gebäude der
Entwickelungsgeschichte über den Haufen zu werfen.
Jedenfalls bildet diese Erscheinung vorläufig eine krasse
Inkonsequenz gegenüber der sonstigen Zweckmässigkeit
der Schöpfung und kann, so lange nicht ihre mögliche
lokale Ursache nachgewiesen ist, als Gegenbeweis der
Darwin'schen Zuchtwahl ausgenützt werden, da gerade
unter den geistig hochstehenden Menschen ein grosser
Prozentsatz so veranlagt scheint oder wenigstens die Ver-
anlagung streift. Man müsste höchstens die Zuchtwahl
als bloss auf die körperliche Entwickelung gerichtet an-
nehmen, was jedoch, beim Menschen wenigstens, offenbar
nicht der Fall ist. Die Verschiedenheit in der Aus-
legung dieses Punktes mag wohl das Geschrei über De-
generation und Decadententum veranlasst haben. Mir
scheint, dies sei bloss eine Begriffsfrage, d. h. wir werden
eben mit der Zeit fortschreiten und unseren Begriff vom
sogenannten normalen Menschen ändern müssen. Wie
wenig das alles festUegt, weiss man erst, wenn man
Pathologie studiert und gesehen hat, dass es oft eine
quälende Gewissensfrage werden kann, ob man einen
Menschen für pathologisch erklären soll oder nicht.
Schliesslich entscheidet auch hier die Majorität — und
die irrt häufig, auch wenn sie sich aus gebildeten Leuten
zusammensetzt. Die bona fides kann darum doch bestehen;
unser Wissen ist noch lückenhaft, wir urteilen meist nach
der Theorie. Wie viele Theorien sind durch eine neue
Entdeckung umgestossen, wie viele dadurch bestätigt
worden? Das wird sich ziemlich die Wage halten." —
S. 78—80: »Der Hungernde, der Frierende, der Beranke,
— 451 -
der unglücklich Liebende wird verstanden und darum
sucht man seinem Elend abzuhelfen. Aber das! Es ist
nicht anerkanntes Elend. Die grosse Mehrzahl kennt
und versteht es nicht, und deshalb macht sie einen grossen
Strich darunter und erklärt es für nicht bestehend.
Diese Frage existiert nicht. Man rechnet nicht damit als
mit einer Erscheinung der Natur, man betrachtet es, wo man
auf seine Spuren stösst, als Ausfluss der Verderbtheit und
überweist es dem Strafrichter, oder als noch Schlimmeres
und schiebt es dann dem Irrenarzt zu. Ich sehe auch
nicht, wie da abzuhelfen ist, solange sich unsere ganzen
sozialen Verhältnisse auf dem sexuellen Unterschied von
Mann und Frau aufbauen. Es scheint mir, dass nur auf
eines hingearbeitet werden kann : die Verachtung aus der
Welt zu schaffen, die solchen Naturen anhängt. Wir
Normale können das nie verstehen, da wir uns nicht
hineindenken können, aber das ist kein Grund, es zu ver-
achten. Wenn wir Spargel nicht lieben, können wir auch
nicht verstehen, warum ein anderer ihn gern isst — wir
verachten ihn deshalb doch nicht. Ein Wagnerianer sieht
geringschätzig auf einen Don izetti- Verehrer herab: er
versteht das nicht, aber er verachtet darum nicht den
ganzen Menschen. Dasselbe könnte nach und nach in
dieser Frage erreicht werden, denn dass die vox populi
keine vox Dei ist, sondern oft irrt und, wo sie irrt, ge-
ändert werden muss, darüber sind sich längst alle Ver-
ständigen einig. Die Erreichung dieses Zieles steht frei-
lich noch in weiter Ferne, denn solange das Strafgesetz-
buch nicht seinen Standpunkt ändert, ist überhaupt nichts
zu machen. Und selbst dann mag es noch Jahrhunderte
dauern, ehe die wissenschaftliche und die Herzensbildung
soweit in die grosse Masse eingedrungen sind, um sie
mit diesem Vorurteil brechen zu lassen. Hindernd steht
dem auch entgegen, dass gewiss viele der so Veranlagten,
da sie sich vereinsamt fühlen, zu Sonderlingen werden;
29*
. — 452 —
kleine Anomalien, wie sie fast jeder Mensch heute be-
sitzty können sich dann in recht störender Weise ent-
wickeln. Hindernd wirkt femer, dass viele im Groll gegen
die Natur und die Ungerechtigkeit der Menschen das
Mass verlieren und sich jeder moralischen Verpflichtung
für enthoben erachten. Das alles erklärt sich sehr natür-
lich, denn jede Pflanze verkümmert und verwächst^ wenn
sie sich nicht nach ihrer Eigenart entwickeln kann, und
das alles wäre zu bessern. Man darf nur nicht immer
wieder den fatalen Trugschluss machen: diese Sache rufl
solche schädlichen Konsequenzen hervor, folglich ist sie
schlecht und muss ausgerottet werden. Der Antisemit
urteilt nicht anders; die Inquisition, die Christen Verfolg-
ungen entsprangen demselben Grundsatz. Und überall
stecken die Utilitätsgründe dahinter, deren falsche Moral
in die Augen springt. . ."
11) Mirbeau: „Octave". Le Journal d' une femme de
chambre. (Paris, Charpentier 1900.)
In diesem Tagebuch des Kammermädchens Cele-
stine kommen verschiedene Stellen über gleichgeschlecht-
lichen Verkehr vor.
1) In einer Familie zeigt die englische Gouvernante,
namentlich, wenn sie betrunken ist, homosexuelle Nei-
gungen zu Frauen.
Eine Scene wird mit brutaler, fast widerlicher Re-
alität geschildert, wo die trunkene Gouvernante, Liebes-
worte stammelnd, die spät nachts heimkehrende Herrin
mit aufdringlicher Zärtlichkeit, unzüchtigen Betastungen
und Umarmungen belästigt, um dann, von ihrer Herrin
zurückgestossen , ähnliche Versuche gegenüber dem sie
wegführenden Kammermädchen zu wagen (S. 150 — 152).
2) Unter den Gästen, welche der Romanschriftsteller
Charrigaud zu seinem Festessen einlädt, befinden sich auch
„Henry Kimberley, symbolistischer Musiker, glühender
Päderast, und sein junger Freund Lucien Sartory, schön
— 453 —
wie eine Frau, geschmeidig wie ein Handschuh aus schwed-
ischem Leder, schmal und blond wie eine Zigarre* (S. 256).
Sartory lässt bei Tisch in cynischer Form eine Bemerk-
ung fallen über sein widernatürliches Verhältnis zu
Frau en; worauf ein anderer Gast, den beabsichtigten Sinn
dieser Worte erratend, erwidert, es komme darauf an, wo
man die natürlichen Gefühle suche, während die Gast-
geberin dann taktlos in den Ruf ausbricht: , Sartory, es
ist also wahr? Auch sie sind so!" (S. 266—267.)
3) Celestine, eine Zeit lang stellenlos, hält sich einige
Wochen in einer von Schwestern geleiteten Anstalt auf,
wo allabendlich unter stillschweigender Duldung der
Schwestern die Mädchen im grossen Schlafsaal homo-
sexuellen Vergnügungen sich hingeben. Celestine wird
durch ihre Freundin Gliche zu gleichgeschlechtlichen
Praktiken verleitet, welche sie schon längst aus Neugierde
gern kennen lernen wollte. Während Glicht dauernd
homosexuell ist (vor Jahren durch eine ihrer Herrinnen
verführt), bildet der gleichgeschlechtliche Verkehr für
die mannstolle Gelestine nur eine vorübergehende, be-
deutungslose, in Ermangelung des Mannes erwünschte
angenehme Episode. (S. 344—346.)
4) Der achtzehnjährige bildhübsche Liebhaber der
älteren Köchin Eugenie wird vom Kutscher als Buhl-
knabe bezeichnet, über den der in der Nachbarschaft
wohnende Baron nähere Auskunft geben könne. (S. 453.)
Die Scenen sind in dem Geist des zwar amüsant,
aber sehr frei, raffiniert-brutal, absichtlich in der Denkungs-
art einer verdorbenen Pariser Kammerzofe geschriebenen
Komans gehalten, und die Homosexualität wird von dem
Standpunkt einer solchen Zofe als Ausfluss eines wenn auch
nicht schlimmen, so doch anderen geschlechtlichen Aus-
schweifungen gleichzustellenden Lasters ironisiert.
— 454 —
•
12) Niemann, August: i,Zwei Frauen*. Roman.*)
E. Pierson's Verlag. Dresden und Leipzig 1901.
Die Frau eines Konservatorium-Direktors knüpft
mit einer unverheirateten Klavierlehrerin, die der Mann
zuerst gegen den Willen seiner Frau für seine Unter-
richtsanstalt annimmt, später ein lesbisches Verhältnis
an. Der Direktor wird argwöhnisch; es erfolgen einige
Auftritte, die stark an Belot's : ^Mademoiselle Giraud ma
femme" erinnern. Die Direktorin geht mit ihrer Geliebten
durch, wird von ihrem Gatten zurückgeholt, verlässt ihn
aber nochmals. Es kommt zur Scheidungsklage. Ehe
diese beendet wird, stirbt die Frau, nachdem sie sich mit
ihrem Gatten versöhnt, an einer nicht näher bezeichneten
Krankheit, und der Koman ist damit zu Ende.
Etwas Weiteres als hergebrachtes Lesefutter für
Leihbibliotheken ist in dem Erzeugnis von Niemann nicht
zu suchen. Gegen Belot's angeführtes Urbild, das jedoch
selbst weit vom Kunstwerk entfernt ist, sticht das Mach-
werk in einer für das deutsche Schrifttum wenig schmeichel-
haften Weise ab.
13) P61adan (Le Sar): „La vert'u suprfeme". (Flam-
marion ^d. Paris 1900.)
In Kapitel 25 «Amitiö h^roique* wird die innige
Freundschaft dreier junger Leute geschildert, welche eine
gemeinsame Liebe zur Kunst und gleichartiges geistiges
Interesse zu festem Bund vereinigt. Hieran knüpft
Verfasser einige allgemeine Bemerkungen: Die intellek-
tuelle Freundschaft, die leidenschaftliche Gemeinschaft
der Geister sei der Frau unbekannt, die nur Wollust
oder Sentimentalität zu entwickeln vermöge.
Der hehren Freundschaft stellt P^ladan die starken,
aber in Laster ausartenden Verhältnisse der Sträflinge
und Matrosen entgegen. Die edle, geistige Freundschaft
*) Mitgeteüt von Herrn Dr. Hb.
— 455 —
fände sich namentlich bei jugendlichen Geistern zur
Pubertätszeit; das Streben nach einem gemeinsamen Ideal
verleihe ihr oft einen Charakter seltener Grösse.
Es sei nicht zu leugnen^ dass im Altertum^ z. B. bei
dem Verhältnis zwischen Sokrates und Alkibiades, sich
ein sinnliches Element in die geistige Freundschaft ge-
mischt: Die griechische Päderastie habe Geist und Wollust
vereinigen wollen — eine zu missbilligende Verirrung,
die bei Manchen wohl ernst gemeint gewesen sei.
Drei Kapitel (27, 29, 31), „Les Gynandres* über-
schrieben, beschäftigen sich mit der lesbischen Liebe.
Die Marquise von Faventine hat die gleichgesphlechtliche
Liebe gekostet und die lesbische Welt kennen gelernt.
Eine Zeit lang von Paris entfernt und dem Treiben der
Gynander entfremdet, kehrt sie zu ihren alten Bekannten
zurück. Sie findet den lesbischen Kreis aufgelöst und in
Verfall. Die einen haben sich verheiratet, die anderen
zurückgezogen etc. Der Lesbismus ist ausser Mode ge-
raten. Die Marquise giebt ein grosses Fest, zu welchem
auch zahlreiche Lesbierinnen erscheinen ; sie will ein junges,
unverdorbenes Mädchen aus der Provinz, das sie sich aus-
gewählt, verführen und der Gesellschaft offen als ihre
Geliebte vorstellen, aber einige Herren, Landsleute des
Mädchens, durchschauen ihre Pläne und bringen das un-
erfahrene Kind fort. Faventine wird durch den Aesthe-
tiker Baucens wieder zur normalen Liebe bekehrt.
Die trockene Lihaltsangabe kann keinen Begriff
des Charakters dieser 3 Kapitel geben, die hauptsächlich
in geistreichelnden Gesprächen zwischen der Marquise und
ihren Freundinnen sowie eigenen philosophierenden . Be-
trachtungen des Verfassers bestehen. P^ladan beabsichtigt
kaum eine realistische Darstellung der Gynander und nur
zum kleinsten Teil eine Sittenschilderung, er will vielmehr
den Lesbismus als Ausdruck gewisser Gedanken in sym-
bolistischer, halb ernster, halb satyrischer Form dem Roman
— 456 —
einfügen; dabei bieten diese Kapitel die gleiche Unklar-
heit, Verschwommenheit und teilweise Lächerlichkeit, wie
ein grosser Teil des Buches überhaupt. Der Boman an sich
bildet das übliche Gemengsei der heterogensten Auslass-
ungen, dem man auch in den früheren Werken von P^ladan,
dieses in litterarischen Kreisen nicht ernst genommenen
Poseurs und teilweise possenhaften Komödianten begegnet.
Einige feine und treffende Aper9us interessieren, ver-
schwinden aber in dem ungeordneten Conglomerat seltsamer
Philosophisterei. Auch in diesem Roman spielt eine Haupt-
rolle der Bund der Boseukreuz-Bitter , ein mystisch-
religiöser, philosophischer Verein mit Anklängen an die
Parsivallegende und Erinnerungen an mönchisches Leben.
Der Hauptgedanke des Buches lässt sich vielleicht
erblicken in der Verherrlichung der wahren, edlen Liebe,
welche auch der Sinnlichkeit und der dauernden, Körper
und Geist umfassenden Leidenschaft, die den Menschen
emporhebt und adelt, volle Berechtigmig gewährt. Im
Gegensatz zu diesem echten Gefühl steht die Ausartung
der Liebe und als schlimmste Form der Lesbismus einer-
seits und andrerseits die von dem Meister der Rosenkreuz-
Ritter gepredigte völlige Ueberwindung des Fleisches
und höchste Geistigkeit. Die Ritter dieses Ordens selber
haben aber die Macht der wahren Liebe entweder
empfunden oder sehnen sich nach einem solchen ihr
ganzes Leben erfüllenden Gefühle, das sie als das Ideal
der höchsten Tugend erkannt haben.
14) Pernauhm, Fritz, Geron: ^Ercole Tomei*. Roman.
(Verlag von Max Spohr, Leipzig 1900.)
. ErcoleTomei, der uneheliche Sohn einer italienischen
Mutter, und Büchner, der Spross* einer norddeutschen
Bürgerfamilie, haben sich auf dem Gymnasium eng an-
einander angeschlossen. Zwischen dem Primaner Büchner
und dem einige Jahre jüngeren Obertertianer Tomei
kommt es bald zu innigem Freundschafts- und Liebes-
— 457 —
bündnis. In Büchner's Zimmer^ durch dessen Fenster
Tomei nachts an einem herabgeworfenen Seile herauf-
kletternd einstieg, haben sie traute Stunden verbracht und
sich in leidenschaftlicher Jugendliebe gefunden. Ihr
Liebesbund dauert auf der Universität fort, kaum zeit-
weise durch kleine Liebeleien Tomei's mit Weibern
unterbrochen, bis Tomei ein Mädchen aus anständiger
Familie, in das er sich verliebt, heiratet. Das junge Ehe-
paar und auch der alleinstehende reiche Büchner siedeln
nach Berlin über. Tomei hat sich inzwischen zum
Künstler (Musiker) ausgebildet. Büchner bleibt Haus-
freund, aber die bisherigen Beziehungen hören auf; er
will nicht zu einer entwürdigenden Teilung sich bequemen
oder den Freund zum Bruch der beschworenen ehelichen
Treue verleiten. — Zwei Jahre lang verkehrt Büchner
fast täglich bei den jungen Eheleuten, kühle Freundschaft
erheuchelnd und seine immer noch glühende Leidenschaft
hinter gleichgültiger Maske verbergend. — Eines Tages
macht Tomei die Bekanntschaft des berühmten Sängers
Bullmann. Dieser veranlasst Tomei, mit ihm nach Genf
zu reisen, um dort in einem gemeinsamen Konzert auf-
zutreten. — Tomei hat an Blick und Benehmen des
Sängers den Homosexuellen erkannt und seine Absichten
erraten. Trotzdem begleitet er ihn nach der Schweiz,
halb aus Neigung, halb aus Schwäche und Eitelkeit. —
Büchner, der die Wahrheit vermutet, reist ihm nach. Er
will wohl entsagen, aber nur, wenn kein Anderer die
Gunst des Geliebten erwirbt. Tomei, der die Kälte
Büchner's als das Erlöschen seiner Liebe gedeutet hatte,
fällt ihm in die Arme. Bullmann reist ab. Die Liebe
der alten Freunde lodert neu auf, völlig versöhnt kehren
sie nach Berlin zurück und nehmen das frühere Liebes-
verhältnis wieder auf. Einige Wochen vergehen. Die
Liebe Büchner's wird immer gebieterischer, eifersüchtiger,
ausschliesslicher. — Er weiss Frau Tomei zu überreden.
— 458 —
einige Zeit zum Besuche ihrer Eltern Berlin zu verlassen,
angeblich, damit die Liebe ihres Mannes, dessen manch-
mal eigentümliches Benehmen den Argwohn der jungen
Frau erweckt hatte, aus der zeitweisen Trennung neu ge-
kräftigt hervorgehe. Die Freunde verbringen einige un-
getrübte Tage des Zusammenseins. — Eines Abends lässt
sich jedoch Tom ei zu einem vorübergehenden Abenteuer
mit einem jungen Arbeiter hinreissen. Büchner ist ihm
gefolgt und entdeckt seine Untreue. Es kommt zu leb-
hafter Auseinandersetzung; als Büchner sogar thätlich
wird, zieht der heissblütige Tomei einen Revolver.
Büchner entwindet ihm die Waffe und schiesst auf den
Freund, der getroffen niedersinkt. Tomei weiss durch die
erfundene Erzählung eines Raubanfalls jeglichen Verdacht
von dem Freunde abzulenken und verzeiht ihm. — Unter
der Pflege des Geliebten und der zurückgekehrten Frau
heilt die Wunde schnell; die Kugel ist aber nicht zu ent-
fernen. — Im Charakter Tomei's hat das Ereignis eine
Wendung hervorgebracht; jetzt, wo er empfunden, bis zu
welchem Grade Büchner ihn geliebt, gehört er ihm und
nur ihm voll und ganz an. Seiner Frau entgeht die Um-
wandlung in seinem Wesen nicht, sie fühlt, dass sie ihm
gleichgültig geworden, und entschliesst sich, ihren Mann
zu verlassen. Vergeblich will sie zuvor von Büchner die
wahre Ursache der Aenderung erfahren und nach der
Frau, die ihr, wie sie glaubt, die Liebe ihres Mannes ge-
stohlen, forschen. Büchner weiss jetzt, dass er den Freund
für immer gewonnen. Die Abreise der Frau, der Re-
volverschuss, die innige Freundschaft beider Männer er-
regen in der Gesellschaft Verdacht, die wahre Natur des
Verhältnisses beider Freunde „sickert durch*. Beide
verlassen Berlin und reisen nach Italien, aber in Rom
befällt Tomei eine beängstigende Schwäche : die nicht ent-
fernte Kugel ist dem Herzen gefährlich geworden. Tomei
stirbt in den Armen des Geliebten.
— 459 —
Der Roman ist eine wohlgelungepe homosexuelle
Studie. — Styl und Sprache hätte ich abgerundeter ge-
wünscht; die Katastrophe wäre wohl auch besser auf
andere Weise herbeigeführt worden, als durch den etwas
groben Effekt des Revolverschusses; der Entschluss der
Frau Tom ei, ihren Mann zu verlassen, und seine sofortige
Ausführung scheint mir nicht genügend motiviert; aber
andererseits dienen diese Mittel nur dazu, die Wandelung
in der Seele Tomei^s zu erklären, und diese Aenderung
ist mit Verständnis und Geschick entwickelt. Die Mängel
des Buches werden durch seine Vorzüge weit überwogen.
Auf den «ersten Blick wird man vielleicht geneigt sein
gewisse Widersprüche und manches Unwahrscheinliche
in den Gefühlen und Handlungen Tomei's zu finden, aber
das Gemisch von Schwäche, Eitelkeit und Güte, aus dem
sich sein Charakter zusammensetzt, sein heissblütiges
italienisches Temperament und die psychische Herma-
phrodisie, die den Urgrund seines Wesens bildet, machen
ihn vollauf begreiflich. — Obgleich der Verfasser psycho-
logische Einzelheiten vermeidet, lassen die Handlungen
und das Benehmen Tomei^s seine zwitterhafte Natur
hervortreten. Tomei vermag zu gleicher Zeit zweierlei
verschiedenartige Liebe in sich zu vereinbaren, die Liebe
zu seiner Frau und die Liebe zu Büchner. Solche Fälle
der Neigung zu beiden Geschlechtern sind nicht selten
und bei Tomei um so erklärlicher, als er aus einem
Lande stammt, wo man derartigen doppelseitigen Naturen
häufiger begegnet. — Büchner ist der echte Homosexuelle,
aber nicht der Durchschnittsurning, sondern der virile,
ernster Liebe fähige Konträre, der nur einmal liebt und
dann für's Leben. — Bullmann dagegen vertritt den
Typus des mehr weibischen, gutmütigen, flatterhaften, in
seinen Neigungen wechselnden, liebenswürdig oberfläch-
lichen Homosexuellen. — In dem Roman sind die sinn-
lichen Elemente in den Hintergrund gerückt und direkt
— 460 —
geschlechtliche Situationen diskret übergangen ; die soziale
und strafrechtliche Seite wird gleichfalls nicht behandelt; das
Interesse des Buches besteht vielmehr in der trefflichen
Seelenmalerei beider Helden, in der Schilderung ihrer
Charaktere und Gefühle und deren Reaktionen. Diese
psychologische Analyse wird mit derselben Selbstver-
ständlichkeit entwickelt, an die man bei der Darstellung
ähnlicher Beziehungen zwischen Mann und Weib gewöhnt
ist. Meist ist in den bisherigen belletristischen Erzeug-
nissen homosexuellen Inhalts die Homosexualität entweder
verschleiert, oder in überschwängliche oder auflfällige
Freundschaftsgefühle gekleidet, oder aber sie wird in
Auflehnung gegen die herrschenden Vorurteile als ausser-
gewöhnlicbes Gefühl, als die Empfindung, die erst nach
ihrer Berechtigung ringt, wiedergegeben. Ein Vergleich
z. B. mit den Werken Eekhoud's zeigt deutlich den zu-
letzt angedeuteten Unterschied. Eekhoud, dessen Romane
und Novellen in Gedanken, Sprache und Darstellung ein
grösseres künstlerisches Gepräge tragen, mehr poesievollen
Schwung und eine kraftvollere künstlerische Eigenart auf-
weisen, schildert die homosexuelle Liebe als Kampfgefühl
gegen die Norm, als verfehmte Empfindung, und die
Homosexuellen als Ausnahmsmenschen, als Parias der
Liebe. Bei Pemauhm reihen sich seine Homosexuellen
in die Gesellschaft ein, gleichsam als normale Glieder,
die leben, fühlen und handeln wie die Heterosexuellen;
aus ihrer Liebe entstehen zwar Konflikte, aber in ähn-
licher Weise und mit ähnlichen Konsequenzen wie
zwischen Mann und Frau. Die Ruhe und Selbstverständ-
lichkeit, mit der die Beziehungen der beiden Männer vom
Verfasser verfolgt und dargelegt werden, bringt den
Eindruck der Natürlichkeil des homosexuellen Empfindens
und der Gleichstellung mit der heterosexuellen Liebe
gerade durch die schöne Objektivität des Erzählens hervor
und vermag, ohne diese Absicht irgendwie zu verraten,
— 461 —
überzeugend und aufklärend zu wirken. — „Ercole Tomei"
kann nur wärmstens empfohlen werden.
15) Schlaf, Johannes: „Das dritte Reich."
S. 73 gelegentlich einer Schilderung des nächtlichen
Londons begegnet man folgender Stelle:. — „Da waren
alte Herren, welche mit jungen Soldaten, die für ein Pfund
Sterling schon ein übriges zu thun bereit warien, schönen,
strammen, rotblütigen Jungens Verhältnisse anknüpften,
und weiss der Teufel, was noch alles für Raritäten."
16) Schlaf, Johannes: „Der Tod des Antichrist"
in der „Gesellschaft" von Conrad und Jacobowski.
Nummern vom 15. November und 1. Dezember 1900.
In einem farbensatten Gemälde schildert Schlaf
die letzten Zeiten der Neronischen Herrschaft. Eine
Seite, welche die Beschreibung des Geliebten des Kaisers,
des Knaben Sporns, enthält, gebe ich wieder. Mit ryth-
mischer Vollendung der Sprache führt uns Schlaf ein
künstlerisch schönes Bild fortgeschrittener Effemination
greifbar vor die Augen: — „Rosenbekränzt, in weichen,
amethystfarbenen Gewändern, im Duft von Blumen, kost-
baren Salben und Räucherwerken lag der Caesar in
seinem goldenen Hause, von der Schaar seiner Günst-
linge umgeben, beim Mahle. — Immer würdeloser ist
diese Umgebung und Mahlgenossenschaft geworden. Dem
Caesar zur Seite liegt der schöne, verschnittene Knabe
Sporus. Nero hat ihn sich nach dem Tode der Poppäa
Sabina, die infolge eines Fusstrittes verschieden, den er
ihr, der Schwangeren, vor den Leib versetzt, mit
allem Pomp und mit allen üblichen Zeremonien als
seine rechtmässige Gemahlin antrauen und ihn mit
allen den Kaiserinnen eigenen Ehrenzeichen versehen
lassen. Gelegentlich seiner Reisen in Achaja ist ihm
Sporus unter dem Namen Sabina überall in einer Sänfte
vorangetragen worden. Den schlanken Leib in ein licht-
blaues, koisches Gewand gehüllt, liegt Sporus dem Caesar
^ _ 462 —
jetzt zur Seite. Duftendes Haupthaar fällt ihm, von
einem Kranz gelber Rosen umschlungen, mit dem lieb-
lichen Hyacinthenschwung kastanienbraunen Gelockes auf
die weiche Haut des Halses, eine linde, weisse Haut,
von zartbläulichem Geäder durchhaucht. Dies Gelock
umrahmt ein Antlitz von zart mädchenhafter Anmut.
Zwei tief braune, grosse Augen leuchten darin, zwei über-
grosse, verbuhlte Augen. Ihre Glut ist noch gehoben
durch die Schminke, die seine runden Wangen bedeckt
und nach orientalischer Sitte Brauen und Wimpern
schwärzt. Aber der Ausdruck einer frühreifen, gereizt-
nervösen Intelligenz, einer Verfeinerung der Depravation
ist in ihnen, zuckt um die Winkel des schönen Mundes
und spielt um die Flügel der Nase, spricht launisch und
böse, mit kurzen, klugen Gesten aus den weiss-zarten
Händen, lebt in den Biegungen und Bewegungen des
weichen, schlanken Körpers, und sie bestimmt den Aus-
druck der hellen Knabenstimme, die sich in frechen, früh-
reifen Hetären Worten ergeht; eine so seltsame Stimme,
wie die eines reifen, in allen Buhlkünsten erfahrenen,
gründlich verdorbenen Weibes, wechselnd in den Ueber-
gängen unstäter Launen und Stimmungen, denen keinerlei
Befriedigung versagt wird, vor denen die angesehensten
Männer des Imperiums zittern."
17) Seydlitz, R. V o n : ,,Pierre^s Ehe". Psychologisches
Problem. (München, August Schupp; wahrschein-
Uch 1900).
Pierre, der schönste, kräftigste Bauernbursche des
Vivarais in der Provence, hat sich in die wilde Jeanne,
das seltsamste Mädchen des Dorfes verliebt, in „diesen
Bub von einem Mädel, dieses tolle, muskelprotzige Frauen-
zimmer, mit den harten, braunen, gewaltigen Gliedern,
mit den trotzigen, festen Zügen im herben, magern Ge-
sicht, dies kaum je Weib gewesene, unnahbare, stolze Ding
mit den höhnenden Lippen, dem hochgetragenen, mann-
— 463 —
liehen Kopf und den stahlhart hlickenden grauen Augen".
Sie hatte alle Liebhaber ausgesehlagen; trotz ihres in-
stinktiven Hasses gegen jede Beeinträehtigung ihrer Frei-
heit hat sie den herrlichen Pierre angenommen. In ihm,
der alle die Aufgaben, die sie ihm gestellt, dureh beispiel-
losen Mut und unersehroekene Kühnheit gelöst, hat sie
ihren Meister und Geliebten gefunden. Am Hochzeits-
abend aber, als auf dem Heimweg Pierre sie zärtlich
umschUngen will, empört sich ihr männliches Wesen ge-
gen den Gedanken, einem Manne fürs Leben anzugehören.
Sie entreisst sieh ihrem Gatten und springt davon, die
gähnende Schlucht hinunter. Sie stürzt ab. Ohnmächtig,
aber im übrigen unversehrt, wird sie nach Hause getragen.
Bei der Untersuchung, die der herbeigerufene Arzt vor-
nimmt, entdeckt er mit Erstaunen, dass sie kein Weib,
sondern ein Mann ist. — Im zweiten Teil der Novelle
sind Pierre und die nunmehr zum Jean gewordene Jeanne
in eine andere Gegend gezogen, wo sie als Zimmerleute
arbeiten. Sie haben ihre Heimat verlassen, um dem
Arzte zu entgehen, der Jean den Gelehrten in Paris als
seltenen Fall vorstellen wollte. Niemand kennt ihre Ver-
gangenheit. Seit zwei Jahren leben sie als gute Kame-
raden zusammen, aber das eigentümliche Verhältnis wird
ihnen unerträglich. Pierre hat die Liebe zu Jeanne nicht
vergessen und seine einstigen Gefühle für das Mädchen
übertragen sich unwillkürlich auf seinen nunmehrigen
Freund. Jean seinerseits — jetzt anstatt des mannhaften
Weibes eher ein zarter Mann — liebt Pierre leidenschaft-
lich. Eine Nacht sind sie im Begriffe, sich liebend in die
Arme zu fallen, aber das Entsetzen vor einer ihn unbe-
greiflich dünkenden Leidenschaft treibt Jean aus dem
Zimmer fort. — Eine wohlbestallte sinnliche Nachbarin,
die Wäscherin Louma, hat es auf die beiden ru-
higen, verständigen Burschen abgesehen, einen von beiden
will sie zum Manne haben^ — An einem Festtag, wo
~ 464 —
Pierre und Jean etwas angetrunken sind,läs8t sicli Pierre
durch die Reize der Wittwe verlocken und verspricht
ihr in der Liebesumarmung die- Heirat. Kurze Zeit
darauf überrascht er unbemerkt seinen Freund^ den
Jean, in vertrauter Stellung mit einem Dienstmädchen.
Aber Jean^s Leidenschaft für Pierre ist trotzdem noch
unvermindert. Bei der Nachricht von Pierre's Verlobung
ergreift ihn tiefer Schmerz und Eifersucht. Als er den
Namen der Braut erfährt, gesteht er dem Freund, dass
auch er die Gunst von Frau Louma genossen und dass
sie ihn in den weiblichen Verkehr eingeweiht. Von Wut
über die Verspottung seiner Braut ergriflFen, stürzt sich
Pierre auf den Freund, sie ringen mit einander. Pierre
stösst mit einem steinernen Krug zu. Als er Jean blut-
überströmt niedersinken sieht, entflieht er, nimmt, Dienst
in der Kriegsmarine und stirbt nach Jahr und Tag in
Saigon. Jean ist von der Wunde genesen und lebt un-
verheiratet als Zimmermann im Dorfe weiter.
Die frisch und lebhaft geschriebene Novelle ist
namentlich psychologisch recht interessant, obgleich der
Verfasser die seelischen Vorgänge mehr andeutet als
ausführt und ohne tieferes Eindringen nur an der Ober-
fläche haften bleibt. Die zum Teil recht hässlichen, dem
Text beigegebenen Zeichnungen würde man gern entbehren.
In einem Nachwort giebt Verfasser selber eine Erläute-
rung seiner Novelle. Danach hat sich der Fall wirklich
in den Vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zugetragen.
Seydlitz bemerkt, er habe die wissenschaftlichen, trockenen
Notizen als erstes Gerippe der Darstellung stehen lassen
und der physiologischen Seite der Frage ihre Schärfe
dadurch benommen, dass er die psychologische heller als
jene beleuchtet habe. — Jean sei Pseudohermaphroditus
completus. Unmengen ähnlicher Fälle mögen der Wissen-
schaft entgangen sein, wie Kunstwerke des Altertums,
Gesetze und Sagen vermuten Hessen. Zugleich verweist
— 465 —
Verfasser des Näheren noch auf die medizinische Litteratur
(namentlich Virchow's Arohiv.)
18) Tolstoi, Leo, Graf: „Auferstehung*.
Im II. Teil, Kapitel XXI sprechen die Richter des
Eiassationshofes über den Fall des auf der Begehung homo-
sexueller Handlungen ertappten Departementsdirektors.
Während der eine Kichter seinen Absch«u kund giebt,
weist ein anderer (Skoworodnikow) auf das Projekt eines
deutschen Schriftstellers hin, der geradezu vorschlage, so
etwas nicht mehr für ein Verbrechen zu halten, so dass
die Ehe zwischen Männern möglich wäre, und auf die
Bemerkung eines dritten Richters, dass der Direktor zum
Gouverneur irgend einer sibirischen Stadt ernannt werden
soll, fügt Skoworodnikow ironisch hinzu: „Und es ist
ausgezeichnet. Ein Bischof mit dem Kruzifix wird ihn
empfangen. Man müsste nur auch einen eben solchen
Bischof haben. Ich würde ihnen einen solchen empfehlen. *
— Im Kapitel XXIV machen sich die kokette Mariette
und die Gräfin Iwanowna lustig über den Fall des Direktors
und im III. Teile von Kapitel XXIV trifflb Nechljudow
in Sibirien am Tische eines Generals und Gouverneurs
mit jenem Direktor zusammen, der inzwischen thatsäch-
lieh zum Gouverneur einer entfernten sibirischen Stadt
«mannt worden ist. Er schildert ihn ^als einen rund-
Jüchen Menschen mit gelichtetem, frisierten Haar, mit
zarten, blauen Augen, sehr breit nach unten, mit gepflegten,
weissen, von Ringen bedeckten Händen und mit ange*
nehmem Lächeln '', dadurch ausgezeichnet, „dass er in-
mitten käuflicher Beamter allein sich nicht bestechen Hess''.
Anmerkung 1 von Numa Prätorius.
Im Monat Mai 1901 erscheint im Verlag von Brückner
und Niemann in Leipzig ein homosexueller Roman des
bekannten Schriftstellers Wilhelm Walloth unter dem
Jahrbuch ni. 30
— 466 —
Titel »Ein Sonderling". Der Roman spielt zur Re-
naissancezeit und schildert einen fürstlichen Homosexuellen
und eine, abgesehen von der geschlechtlichen Seite^ chariak-
teristische umische Eigenart Soweit ich dies nach den
•mir zu Gesicht gekommenen Korrekturbogen beurteilen
kann^ wird sich der Roman namentlich auch durch die
spannende Gestaltung der Erzählung und durch drama-
tische Lebendigkeit auszeichnen. Ich möchte daher nicht
versäumen, schon jetzt auf dieses belletristische Erzeug*
nis besonders aufmerksam zu machen.
Anmerkung 2 von Numa Prätorius.
Ich habe absichtlich, um den Vorwurf der Vorein*
genommenheitund des tendenziösen Bestrebens möglichster
Heranziehung homosexueller Gefühle zu vermeiden, ver-
schiedene belletristische Schriften, bei welchen gewisse
Stellen zwar den Gedanken an eine homosexuelle Deutung
nahe legen, aber keinen sichern Schluss auf eine solche
zulassen, nicht in die Bibliographie aufgenommen.
So hat man mir die Vermutung ausgesprochen, dasd
Otto Ernst's „Jugen'd vonHeute", das in den letzten
Jahren mit grossem Erfolg in vielen Städten Deutschlands
aufgeführte Schauspiel,*) einen Homosexuellen schildere.
Der Held weist zwar einige verdächtige Züge auf, aber
ich glaube nicht, dass Verfasser in ihm einen Homo-
sexuellen darstellen wollte. Das Verhältnis zwischen den
zwei Männern ist nur als ein freundschaftliches, nicht als
ein homosexuelles aufzufassen.
Zweifelhafter erscheint die Natur des Kammer-
sängers in dem gleichlautenden geistreichen, reizenden
Einakter von Wedekind (München, Albert Langen, Ver-
*) Der litterarische Wert des Stückes steht nicht im Verhält-
nis zu dem Erfolg; Verfasser rechnet auf die gröberen Instinkte der
•Masse nnd operiert teilweise mit der yerbranchtesten Theatermache.
— 467 —
lag für Litteratur und Kunst, 1900). Der Sänger wird
kurz vor seiner Abreise von verschiedenen Personen- be^
lästigt, daroDter von einem jungen, verliebten Mädchen,
sodann von einer verheirateten Fraujdie sich ihm in
die Arme geworfen hatte und entführt sein will. Beide
weist er ab. Die Szene mit der Frau enthält einige
Stellen, die bedenklich an homosexuelles Empfinden er-
innern. Aber die Handlungsweise des Sängers wird uuch
ohne Zuhilfenahme der Homosexualität begreiflich: Das
kontraktmässige Verbot, mit einer Frau zu reisen, die
Eitelkeit des verwöhnten, an ähnliche Gefühlsausbrüche
gewohnten Sängers, sein Mangel an Sentimentalität und
Xicidenschaft, die Furcht vor unliebsamen Störungen in
seiner Künstlerlaufbahn etc. erklären vollauf sein Ver^-
halten. Ein Satz allerdings giebt besonders zu denken,
nämlich der Ausspruch G^rard's: ^Keiner von uns liebt
diesen oder jenen, ausser dem, der nur einen kennt.
Jeder liebt seine Art, die er überall wiederfindet, wenn
er einmal Bescheid weiss." — Es scheint fast, als habe
der Verfasser absichtlich die Vermutung auf homosexuelle
Natur seines „Helden* erwecken imd, in seiner geistreichen
Weise über die von ihm dargestellte Person und über
den Leser sich gleichsam lustig machend, zu erkennen
geben wollen, wofür e r den Sänger hält, dabei aber den
ganzen Dialog so zweideutig eingerichtet, dass ebensogut
eine heterosexuelle Deutung möglich ist.
Auch in Hax Kaufmann's „Leiden des modernen
Werter«, Roman*) (Zürich, Caesar Schmidt, 1901), sollen
sich Anklänge an Homosexualität finden, obgleich an
keiner Stelle das Problem offen und unzweideutig be-
handelt wird. „Der Held,, ein willensschwacher, nervöser
Mensch, schwankt zwischen zwei Frauen. Aber nebenbei
zeigt sein Charakter reichlich homosexuelle Züge und in
*) Mitgeteilt von Peter Hameefier.
30*
— 468 —
dem Verkehr mit seinem Schüler^ dem kranken^ blassen
.und zärtlichen Kommerzienratssöhnchen^ scheint es oft^
als ob das unter der Oberfläche Glühende plötzlich her-
vorbrechen wolle."
Kapitel III : Besprechungen des Jahrbuchs.
1) Anonym: Beilage zur ^Allgemeinen Zeitung'^
(vom 27. Dezember 1900).
Rezensent referiere mit einigem Widerstreben über
das Jahrbuch, weil der Hinweis auf dasselbe einer Ver-
breitung in Kreisen, wohin das Buch nicht gehöre, för-
derlich sein könne. Nachdem jedoch heute Lexica und
sonstige Schriften jegliche Orientierung leicht erlaubten,
brauche das Werk wegen seines Inhalts nicht übergangen
JIM werden. Als Zweck des Jahrbuchs wird dann die
Abschaffung des § 175 betont und das Streben des
Komitees hervorgehoben. Man wisse, dass viele bedeu-
tende Namen im Verdacht der Homosexualität gestanden.
Fraglos neige die heutige Wissenschaft dahin, den Trieb
als krankhaften zu bezeichnen, denn das Begehren und
Fühlen stehe in einem direkten Gegensatz zur körper-
lichen Beschaffenheit. Das dürfte ein Prüfstein sein, ob
etwas normal oder abnorm zu nennen sei. Ob der Trieb
angeboren oder erworben, stehe noch zur Diskussion^
man neige vom wissenschaftlichen Standpunkt mehr zur
ersteren Auffassung. Sobald man diese Ansicht gewonnen,
leuchte die Forderung nach Individualisierung und Toleranz
in der Rechtspflege ein. Unter den Aufsätzen wertet
Rezensent den von Richter Z. am höchsten. Er bemerkt
sodann noch ausdrücklich, dass das Komitee von der
lautersten Gesinnung geleitet sei. Wie weit seinen
Wünschen im modernen Staatsleben willfahrt werden
könne, liesse sich noch nicht absehen.
— 469 —
Wie in anderen Rezensionen wird auch hier Form,'
Ausstattung und Druck lobend hervorgehobeni
2) Anonym: „Deutsche Medizinische Presse" (Ee-
daktion Dr. Birnbaum), Nr. 14 vom 24. Juli 1900.
Das Jahrbuch bringe reichhaltiges Material für
di(B Entscheidung der Frage, ob die Ausübung des homo-
sexuellen Triebes als Verbrechen anzusehen sei oder
nicht. Wie es Jahrhunderte lang gedauert habe, ehe man
davon abgelassen, Geisteskranke als Verbrecher zu be-
handeln, so werde bis zur Streichung des § 175 noch
längere Zeit verfliessen. Heute werde kein Unterschied
gemacht bei Verletzung dieses Paragraphen, ob es sich
um einen Wüstling handle oder um einen von Natur mit
perversem Gefühl ausgestatteten Mann. In jedem ge-
richtlichen Falle sollten Sachverständige darüber ver-
nommen werden, ob Homosexualität vorliege oder nicht;
Der Inhalt des Aufsatzes von Moll wird dann kurz an-
gegeben und werden die übrigen Arbeiten näher erwähnt.
Hierbei wird das Kapitel von Jäger für wenig wertvoll
gehalten. Es fände sich hier, wie in einzelnen der an-
deren Aufsätze die Neigung, recht viele grosse Männer
zu den Homosexuellen zu rechnen, z. B. auch Goethe und
Humboldt. Jeder grosse Mann, der Junggeselle geblieben,
werde zum mindesten als homosexuell verdächtigt. Das
ginge entschieden zu weit Goethe sei so normal-sexuell
als möglich. Ganz verkehrt sei es, das Gedicht „An den
Mond* zur Beglaubigung heranzuziehen wegen seiner
beiden letzten Verse. Rezensent erörtert dann die Ver-
anlassung dieses an die innig geliebte Frau von Stein ge-
richteten Gedichtes, die Stimmung des von der Geliebten
entfernten, melancholisch gestimmten Goethe und betont,
dass Frau von Stein selber später das Gedicht zu einer
Nachdichtung benutzt habe, was sie nicht gethan hätte,
wenn es an einen Mann gerichtet gewesen wäre. Bei den,
Antworten der Priester wird der freimütige Ton einzelner
— 470 —
(reistlichen über den Glauben an die Bibel als bemerkens-
wert bezeichnet, die sich nicht verpflichtet fühlten, die
natürwissenschafUichen, teilweise sogar dÜB sittlichen An-
schauungen dei" Bibel unbedingt anzuerkennen.
Mit dem Wunsche, iauch die Aerzte möchten sich in
den Inhalt des Jahrbuchs vertiefen, schliesst die Kritik.
Däss das Gedicht „An den Mond* an eine Frau, eine
Geliebte gerichtet war und dass Goethe^s Heterosexualität
über alle Zweifel erhaben ist, nehme auch ich an, jedoch
möchte ich darauf hinweisen, dass bei Goethe in seiner
früheren Jugend, im Zeitalter der Pubertät, gewisse Züge
homosexuellen Empfindens gefunden werden dürften.
Auch später stand er derartigen Gefühlen nicht feind-
selig gegenüber und hat an manchen Stellen seiner Werke
ein gewisses Verständnis für die Homosexualität gezeigt.
T— Vor der Tendenz, grosse Männer allzu leicht für homo-
sexuell zu erklären, möchte auch ich warnen; mit Recht
legt man die bisherige Prüderie bei Seite und erforscht
die Homosexualität in Geschichte und Litteratur, aber
voreilige Schlüsse sind zu vermeiden, nur ein genau aus
dem Leben und den Werken der Geisteshelden geschöpf-
tes, auf triftige Gründe gestütztes Studium ist fruchtbar
und der Erforschung der Homosexualität in Kultur- und
Litteraturgeschichte nutzbringend.
3) Anonym: In der „Zeit", herausgegeben von Singer,
Burkhard und K an n e r (Wien), vom 30. Juni 1900.
Unter den Bücherbesprechungen wird auf das
Jahrbuch II aufmerksam gemacht. Eine eigentliche Be-
sprechung des Inhalts fehlt. Es wird ausgeführt, es
gäbe eine geheime Welt, eine den meisten Menschen un-
bekannte Art von Freimaurerei unter den Homo-
sexuellen. Der Arzt,^ Pädagoge, Soziologe, Strafrichter
habe die Pflicht, diese Welt zu erforschen; dagegen sei
es zweifelhaft, ob der Schleier des Geheimnisses auch
für das grosse Publikum zu lüften sei, deshalb könne auf
^ 471 —
eine Besprechung des Inhalts des Jahrbuchs nicht näher
eingegangen werden, auch nicht auf die Frage, ob die
Aufhebung des § 175 sittlich zulässig und sozial zweck-
mässig wäre. Zur Zeit hätten die Bestrebungen zur
Beseitigung der Strafe wenig Aussicht auf Erfolg. Ab-
gesehen von der bei der lex Heinze zu Tage getreteneu
scharfen Dichtung gegen Sexyaldelikte, fürchte die Re-
gierung grössere Verbreitung dieser Art , Unzucht" und
Beeinträchtigung der Volks Vermehrung als Folge der Auf-
bebung der Strafdrohung. Obgleich von tausend Fällen
nur einer höchstens zur Beurteilung gelange, wirke der
Paragraph als Abschreckungsmittel und verhindere offene
Propaganda. Die Fachmänner seien jedoch verpflichtet,
sich über den heiklen Gegenstand zu unterrichten und
dafür biete das Jahrbuch wirkliches, gutes und zu-
verlässiges Material dar.
4) Anonym : In der „Strassburger Post" vom 9. Juli 1900
unter der Rubrik: Wissenschaft, Kunst und Litter^tur.
Das Jahrbuch wird als bedeutsames Werk be-
zeichnet, die einzelnen Aufsätze unter knapper Charakter-
istik ihres Inhalts werden angeführt, die umfassende Biblio-'
graphie des Jahrbuches wird als Zeichen angesehen, welch,
ausserordentliches Interesse dieser nicht nur forensisch,
sondern allgemein-menschlich wichtigen Frage entgegen*:
gebracht werde.
5) Anonym: »Königlich privilegierte Berlinische Zeitung"
(Vossische Zeitung) vom 27. September 1900.
Unter der Zeitschriften- und Bücherschau wird
das Jahrbuch und sein Ziel, Aufhebung des § 175, er-
wähnt und beigefügt: »Derjenige, der sich wissenschaft-
lich mit den einschlägigen Fragen beschäftigt, der Jurist,
Arzt, Psychologe wird in dem etwas bunt ausgefallenen
Inhalt des Buches Mancherlei finden, was für seine.
Studien von Interesse ist."
— 472 —
6) Benzmann, Hans: ,, Allgemeine Deutsche Universitäts-
zeitung*^. (Berlin, Nr. 23 vom 1. Dezember 1900).
Die Hauptsätze des trefflichen Vorworts von
Dr. Hirsohfeld zum L Jahrbuch werden wörtlich angeführt
und die meisten Aufsätze genannt.
7) Conrad, M. 6.: In der von ihm herausgegebenen
Zeitschrift „Die Gesellschaft", 1. Januarheft 1901.
Die Autoren und einige der Aufsätze des II. Jahr-
buchs werden hervorgehoben. Conrad bemerkt dann
wörtlich: „Sämtliche Beiträge sind wertvoll und gereichen*
dem wissenschaftlich-humanitären Komitee zur Ehre. Das^
Jahrbuch kann jedem wärmstens empfohlen werden, der
sich für die fortschreitende Menschenkenntnis und den
menschenwürdigen Ausbau des Strafrechtß inter-
essiert.
8) Fuld, Rechtsanwalt (Mainz): In der Zeitschrift „Da?
Kecht*', Kundschau für den deutschen Juristenstand,
herausgegeben von Dr. Soergel, Freilassing, Nr. 15.
10. August 1900.
Durch die in Folge der Petition — unterzeichnet
von Männern, über deren sittliches Streben ein Zweifel
nicht obwalten könne — hervorgerufene lebhafte Er^
örterung der Homosexualität sei das Problem wesentlich
vertieft und gefördert worden.
Das Jahrbuch sei keine angenehme Lektüre, 4ie
Wissenschaft müsse sich aber auch mit dem Hässlichen
und Unschönen befassen. Gegenüber andern laut ge-
wordenen Stimmen sieht Verfasser die Herausgabe des
Jahrbuchs als nützlich an für die Aufklärung der öffent-
lichen Meinung; die gerichtsärztlichen, juristischen und
naturwissenschaftlichen Aufsätze seien im Geiste strengster
Objektivität abgefasst und gestatteten keine Bemängdung
unter dem sittlichen Gesichtspunkt. Dagegen solle man
i nicht in den Werken der Elite der Menschheit nach
! homosexuellen Gefühlen suchen. Die Homosexualität
— 473 —
vieler Dichter und Künstler sei ja nicht zu bestreiten^
aber deshalb dürfe man nicht jede nicht leicht verständ-
liche Stelle durch homosexuelles Empfinden erklären..
Die Homosexualität grosser Männer sei für die Gesetz-
gebung gleichgültig. Die Abänderung des Strafgesetzes,
durch 'welche eine Quelle schamloser Erpressung^
• verstopft würde, sei lediglich auf juristische und medizi-
nische, nicht auf litterarische Gründe zu stützen; Zum
Schluss meint Fuld, dass die einzelnen Verfasser der
* Beiträge mit ihrem vollen Namen auftreten sollten.
In der im allgemeinen anerkennenden Besprechung^
Fuld's muss ich den gegen das Studium der Homo-
sexualität der Geistesheroen und ihrer litterarischen Werke-
gerichteten Angriff zurückweisen.
Ebenso wie es unrichtig ist, die wissenschaftliche
Erforschung der Homosexualität zu verwerfen, ebenso ist
es verfehlt, die Bedeutung der in der Litteratur und Ge-
schichte hervortretenden Homosexualität zu verkennen^
Derartige, bisher in den Geschichts- und Litteraturwerken
absichtlich oder aus Unkunde missverstandene und
verdunkelte Erscheinungen sind nicht nur für die Kultur-
geschichte und die Erkenntnis der Homosexualität von'
der grössten Wichtigkeit, sondern dürften gerade auch
geeignet sein, die Auffassung der öffentlichen Meinung^
und des Gesetzgebers von der Strafwürdigkeit der Homo-
läexualität zu ändern. Denn die Feststellung, dass zahl-
reiche der berühmtesten Geisteshelden homosexuell wäre»
und sind, gestattet es nicht mehr, den Homosexuellem
zum Verbrecher und Wüstling zu stempeln.
Was endlich die Aufforderung Fuld's an die Mit-
arbeiter des Jahrbuchs anbelangt, mit ihren Namens
hervorzutreten, so würde die offene Nennung des Namen»
in vielen Fällen, namentlich für Leute in öffentlicher
Stellung, mehr eine, nicht jedermann zuzumutende Ver--
wegeuheit als einen besonderen Mut bedeuten. Denn»^
— 474 —
:virer nicht als Arzt sich gleichsam die Entschuldigung geholt .
liat^ das verpönte Gebiet der Homosexualität zu behandeln,
wird dank den noch immer aucli in gebildeten Kreisen
lierrschenden Vorurteilen und dem den Fragen der Homo-
sexualität oft entgegengebrachten Hohn und Spott be-
filrchten müssen^ den Argwohn eigenen Interesses^ eigener
Homosexualität auf sich zu laden und in seiner Existenz
unter Qmständen schwer geschädigt zu werden.
'9) Gaulke, Johannes: „Das homosexuelle Pro-
blem" im Magazin für Litteratur von Gaulke und '
Philipps, Nummer vom 2. März 1001.
Gaulke hebt zunächst lobend hervor, dass das Jahr^
t)uch II, wie das frühere, äusserst reichhaltiges und man-
nigfaltigem Material enthalte und entschieden dazu bei-r
tragen dürfte, Licht über das schwere Problem der Ho-
mosexualität zu verbreiten. Im Gegensatz zu Gross (siehe
•imten) erkennt er die Objektivität der Aufsätze an. Es
«berühre äusserst sympathisch, dass in allen Artikeln ein
— von einigen Exaltationen homosexuell Beanlagter ab-
gesehen — rein sachlicher Standpunkt beobachtet worden
sei. Sodann folgt zunächst eine eingehende Inhaltsangabe
•des Aufsatzes von Moll. Das „hochinteressante* Kapitel
von Karsch wird dann rühmend erwähnt, wobei Gaulke
<lie Behauptung gewisser Homosexueller zurückweist,
wonach die Natur mit der Homosexualität bestimmte
mützliche Zwecke verfolge: Vorbeugung einer Ueber-
völkerung oder Schaffung einer von allen familiären
Verpflichtungen entbundenen, lediglich allgemeinen Inter-
essen lebenden, zu Führern der Menschheit geborenea
Klasse von Männern. Dabei wendet sich Gaulke nament-
lich gegen die ähnliche, in der Zeitschrift »Der Eigene*
-von A. Brsmd verfochtene Auffassung. Er bemerkt, die
Natur arbeite durchaus nicht immer planvoll, man könne
•ebensogut die Homosexualität als ein verfehltes Experi-
ment der Natur betrachten, sicherlich aber könne sie nur
— 475 —
als eine pathologische Erscheinung in Betracht gezogen
werden. Des Weitern tadelt Gaulke die Neigung man-
cher Schriftsteller des Homosexualismus, möglichst vielen
hervorragenden Männern homosexuelle Neigungen „anzu-
dichten'', z. B. sogar Göthe. — In diesem Zusammenhang
geht Gaulke auf den Aufsatz von Professor Jäger über
und dessen „Super virilen*. Dass bei einer Anzahl grosser
Männer Homosexualität bestand, giebt Gaulke zu. So
nimmt er dies auch bei Michel Angelo an und teilt den
Hauptinhalt meines Aufsatzes über den grossen Künstler
mit. Gaulke hebt dabei hervor, dass Numa Prätorius die
für die Beurteilung des Liebesempfindens Michel Angelo's
wichtige Thatsache unberücksichtigt gelassen habe, dass
der Künstler fast nur männliche Körper dargestellt und
selbst den weiblichen einen männlichen Charakter ver-
liehen habe; in seinen kraftvollen Jünglingsgestalten er-
kenne man den begeisterten Sänger der männlichen Schön-
heit. — Nachdem Gaulke dann noch die Selbstbiographie
von Dr. M. Katte: »Aus dem Leben eines Homosexuellen*
gebührend gewürdigt und in den Hauptzügen wieder-
gegeben, endigt er mit dem Verlangen nach Aufhebung
des § 175. Die Erfahrung lehre, dass durch rigorose
Straf bestimmungen an einer Sache nichts zu ändern sei;
sie trügen nur dazu bei, die unglücklichen Homosexuellen
zu verbittern und zu Feinden der Gesellschaft zu machen.
Ausserdem werde durch derartige, auf vorgefassten Mein-
ungen beruhende Gesetzesparagraphen die wissenschaft-
liche Forschung auf dem noch seTir ungeklärten Gebiet
des Sexuallebens auf's Höchste gefährdet.
Die eingehende Besprechung von Gaulke verdient
wegen ihres sachgemässen, verständnisvollen Charakters
besonders gelobt zu werden. Demjenigen, was Gaulke an
den teilweise gewagten Auffassungen gewisser Schriftsteller
über die Homosexualität auszusetzen hat, stimme ich in-
sofern bei, als ich derartige teleologische Erklärungen
— 476 —
mindestens für verfrühte, noch unbewiesene Hypothesen
halte; doch möchte ich anderseits in der Homosexualität
nicht ohne Weiteres eine pathologische Erscheinung er-
blicken; Anomalie ist nicht notwendigerweise E[rankheit.
Was Gaulke über die für das homosexuelle Empfinden
Michel Angelo^s bedeutsamen Darstellungen des männlichen
Körpers sagt, erachte ich ebenfalls für durchaus gerecht-
fertigt. Ich habe diesen Punkt in meinem Aufsatz bei
Seite gelassen, weil ich der Meinung bin, dass seine er-
schöpfende Behandlung ein besonderes Kapitel erfordert
und ein in den bildenden Künsten völlig sachverständiges
Urteil voraussetzt. Dabei wäre namentlich eine genaue
Untersuchung der Gemälde der Sixtinischen Kapelle vor-
zunehmen, unter welchen hauptsächlich gewisse Decken-
gemälde recht deutliche und drastische Hinweise auf
homosexuelles Fühlen enthalten sollen. -^ Schliesslich
billige ich durchaus die Warnung Gaulke's, nicht leicht-
fertig bedeutende Männer der Homosexualität zu ver-
dächtigen, doch glaube ich, dass weitere Forschungen in
dieser Richtung noch manche Ueberraschungen in Be-
ziehung auf die geschlechtliche Natur einer ganzen Reihe
von Geistesheroen bringen werden.
10) Gross, Hans: „Archiv für Criminalanthro-
polögie und Criminalstatistik*, 4.Bd., 3. und
4. Heft vom 21. August 1900.
Die einzelnen Aufsätze werden angeführt und mit
Ausnahme desjenigen von Moll, der als beachtenswert
bezeichnet wird, mit wenig günstigen Bemerkungen ver-
sehen. Sie brächten wenig Neues. Aus dem Aufsatz^^
des Richters Z. wird ein Satz herausgegriffen unter Bei-
fügung von Ausrufungszeichen. Die Geruchserklärung
von Dr. Jäger wird bespöttelt. Ueber die Mitteilungen
der Priester drückt Gross seine Verwunderung aus, weil
Geheimnisse des Beichtstuhles zu wissenschaftlichen
'wecken benutzt würden.
— 477 —
An die abfällige Besprechung schliessen sich lange
Ausführungen über die Tendenz des Jahrbuches über-
haupt an. Die Frage der strafrechtlichen Seite der Homo-
sexualität sei allerdings eine hochwichtige, aber der von
den Herausgebern des Jahrbuches eingeschlagene Weg
unrichtig. Wissenschaftliche Forschung erfordere völlige
Objektivität; wenn man aber, wie das Jahrbuch es thue,
mit der Tendenz arbeite, ein im Voraus bestimmtes Ziel
zu erreichen, so könne man höchstens von einer guten
Verteidigung, nicht aber von unbefangener Forschung
sprechen. Das Jahrbuch habe nicht einmal neues Material
.vorgebracht, insbesondere nicht mit den Aufsätzen : »Aus
dem. Leben eines Homosexuellen" und „Ein Fall von
Effemination mit Fetischismus". Durch derartige ein-
gehende Schilderungen würde nur Widerwille erweckt
und di^ Frage nahe gelegt, ob nicht bei Aufhebung der
Strafe das Hervorzerren derartiger Dinge an das Tages-
licht noch schlimmer werden würde. Dass es Homo-
sexuelle gäbe, wisse man, ebenso dürfte allgemein zuge-
geben werden, dass es sich stets um eine angeborene
Naturanlage handle, nicht um eine böswillige, erworbene
Angewöhnung in Folge von Lasterhaftigkeit, Ueber-
^ättigung und Lüderlichkeit. Aber die Beweisthemata seien
andere und diese müssten von ganz unbefangenen, nicht
pro domo sprechenden, Berufenen erörtert werden. Fest-
zustellen sei, ob durch die homosexuellen Handlungen
überhaupt ein Angriff auf rechtlich geschützte Interessen
geschehe, ob namentlich die öffentliche Sittlichkeit ge-
fährdet werde, ob also durch Beseitigung der fraglichen
ausdrücklichen Verbote eine Verschlimmerung der Sitten
eintreten würde, endlich ob es möglich sei, durch gewisse
gesetzliche Schranken wirkliche grosse Gefahren hintan*
zuhalten. Wenn diese Fragen gelöst seien und, wie es
scheine, würden sie zu Gunsten der Homosexuellen ge-
löst werden, dann ergebe sich die Schlussfolgerung von
— 478 —
selbst. Das einzig Richtige wäre, dass did Homosexuellen
heterosexuelle Forscher veranlassten, die Frage wissen-
schaftlich zu behandeln, dann würde die Wahrheit zu Tage
treten. Petitionen würden da am allerwenigsten helfen.
Die Ausführungen von Gross atmen eine geradezu
feindselige Stimmung gegenüber den Bestrebungen des
wissenschaftlich-humanitären Komitees und berühren pein-
lich. Es ist ja menschlich erklärlich, wenn auf dem
sexuellen Gebiete, wo, wie auf keinem zweiten, instinktive
Anziehung und Antipathie eine Bolle spielen. Hetero-
sexuelle durch unwillkürlichen Abscheu ihr Urteil über die
Frage der Homosexualität trüben lassen; für einen Ge-
lehrten wie Gross ist aber eine derartige Beeinflussung
-durch seine instinktive Antipathie keine Entschuldigung
und muss ihm den den Mitarbeitern des Jahrbuchs ge-
machten Vorwurf der Parteilichkeit zuziehen. Nur Vor»-
eingenommenheit erklärt die ironisierende, einfach ab-
sprechende und ungerechte Beurteilung der einzelnen Auf-
sätze. Die Thatsache, dass sämtliche Mitarbeiter des
Jahrbuchs die Aufhebung der Strafbestimmung für er-
forderlich erachten, rechtfertigt Iteineswegs den von Gross
gezogenen Schluss mangelnder wissenschaftlicher Objek-
tivität. Sämtliche deutschen Spezialforscher auf dem Ge-
biete der Homosexualität halten auf Grund ihrer wissen-
schaftlichen Forschungen die Beseitigung des § 175 für
dringend geboten oder wenigstens für sehr wünchenswerfc
(Krafflb-Ebing, Moll, Hirschfeld, Eulenburg, Näcke,
Schrenk-Notzing, Fuchs etc.).
Wenn die Mitarbeiter des Jahrbuchs die gleiche An-
sicht vertreten und jene wissenschaftliche Erkenntnis
durch ihre Aufsätze zu unterstützen, weiter zu befestigen
und durch Herbeischaffung von neuem Material zu be-
leuchten suchen, so ist ihr Streben nicht zu beanstanden,
so lange sie — wie dies durchgehends geschieht — in
ruhiger und wissenschaftlicher Weise die Gegengründe
— 479 —
nicht einfach parteiisch übergiehen , sond^n üirer Beur-
^teilimg unterziehen.
Uebrigens sind gegnerisefae Aufsätze nicht vom Jahr'^
buch ausgeschlossen xani auch solchen^ die in objektiver
Weise zu andern Besultaten^ als den bislierigeu^ gelangen^
wird die Aufnahme nicht versagt werden.
Trotz der abfälligen Kritik von Gross ist es immer*
hin erfreulich, dass er in der Form wenigstens etwas^
höflicher geworden als in der vorjährigen. Während ea
dort noch hiess: „Das Gequick dieser Leute wird uns
nicht hindern . . .,* spricht er jetzt von den „Herren*
des Komitees.! Sodann aber sind seine jetzigen Zugeständ-
nisse wertvoll. Noch in der vorjährigen Besprechung von
MolPs »Konträrer Sexualempfindung" neigte Gross zu der
Auffassung, dass die konträre Sexualempfindung meist erst
im Laufe des Pubertätsalters erworben sei. Jetzt giebt
er zu, dass es sich stets um angeborene Natiu-anlage han-^
delt und nicht um böswillige, erworbene Angewöhnung.
Hiermit nähert sich Gross selbst der im Jahrbuch ver-
tretenen Richtung. Gerade auf die Feststellung der Er-
kenntnis von der wahren Natur der Homosexualität ist
aber Gewicht zu legen, auf dies Beweisthema kommt
es in erster Linie an ; die Gesichtspunkte, die Gross nun*
mehr in den Vordergrund gerückt haben will, sind schon
im 18. Jahrhundert von einer Anzahl Schriftsteller er-
örtert und als zur Rechtfertigung der Bestrafung des
gleichgeschlechtlichen Verkehrs an und für sich unge-
eignet erkannt worden. Die Straf bestimmung des deut-
schen Strafgesetzbuchs ruhte dann lediglich auf der Auf-
fassung der Homosexualität als eines durch Uebersättiguny
angewöhnten, von unsittlicher Gesinnung zeugenden Lasters.
Ist nun dieser Strafgrund als unrichtig dargethan,.
so fehlt es an jeder sonstigen Rechtfertigung der Strafe.
So halten denn auch gerade Schriftsteller, welche
nicht den Sühn-, sondern den Zweckgedanken betonen,.
— 480 —
^r— und namentlich der Führer der neueren Kriminalisten-
43chuley von Uszt — die Beseitigung des § 175 für geboten,
woraus folgt, dass gerade diese Schriftsteller, für welche
^e von Gross angefahrten Gesichtspunkte in erster Linie
massgebend wären, keinen Strafgrund mehr erblicken.
Uebrigens sind die betreffenden Beweisthemata auch
«chon oft in neuerer Zeit gewürdigt worden, nicht nur
von Krafft-Ebing und Moll, sondern auch im Jahrbuch
selbst, im I. Jahrbuch im Aufsatze von Numa Prätorius,
im II. in demjenigen des Richters Z.
11) Guttzelt, Johannes, in der von ihm herausgegebenen
Zeitschrift: „Der neue Mensch*, November-De-^
zemberheft 1900 (ausgegeben im Februar 1901).
Guttzeit führt den 2. Jahrgang des Jahrbuchs an
und hebt die hauptsächlichsten Aufsätze hervor. An der
gleichen Stelle wird eine auf die in der Zeitschrift ge-
stellte offene Anfrage über das homosexuelle Problem
eingegangene Antwort eines gewissen Doli aus Amerika
veröffentlicht. Der Betreffende stellt den Homosexuellen
mit einem körperlich Gebrechlichen auf gleiche Stufe, er
warnt aber vor ungeregeltem Mitleid gegenüber den
Homosexuellen, da hierin die Gefahr liege, die Zahl der
Oebrechlichen zu vermehren. Ein Kultus dürfe mit der
Homosexualität nicht getrieben werden. Ferner glaubt
■er, dass die öffentliche Besprechung der homosexuellen
Frage für das allgemeine Wohl gefährHch wirken könne.
— Mit Recht bemerkt Guttzeit bezüglich der letzten Be-
fürchtung, dass das Unterdrücken der öffentlichen
Besprechung gefährlicher wirke als die Besprechung
«eiber.
' Die Auffassung von der Ansteckung der Homosexuali-
i;ät habe ich schon oben widerlegt, ebenso schon früher be-
tont, dass die Bestrebungen zu Gunsten der Homosexuellen
nicht eine Verherrlichung der Homosexuellen, sondern
Duldung und Aufhebung des Strafgesetzes bezwecken.
— 481 —
12) Herzberg', Wilhelm: „Besprechung des I. Jahr-
buchs" in der: „Neuen Zeif*. Nr. 31 vom
28. AprU 1900.
Wohlwollendes Referat. Im Anschlüsse an die
Inhaltsangabe bemerkt Herzberg, dass der dem Aufsatze
von Hirschfeld beigegebene Fragebogen zu eingehend sei
Und nicht leicht oder unmöglich zu beantwortende Fragen
stelle, die sich auf psychische Merkmale bezögen. Die
Untersuchung solle sich auf somatische Merkmale be-
schränken, jedenfalls nicht auf solche psychischen, deren
Beantwortung durch verletzte oder geschmeichelte Eitel-
keit beeinflusst werde.
Die von Herzberg betonte Schwierigkeit besteht
allerdings, aber lieber zu viel, als zu wenig Fragen,
13) Mehler: „Umschau".
Die beiden Bildnisse von ßosa Bonheur und dem
Kleiderfetischisten Lehrer F. sind abgedruckt und werden
erläutert. Das Vorkommen der Homosexualität auch bei
Tieren wird betont, aus der einen Autobiographie die
frühzeitige ausschliessliche Richtung des Triebes auf das
gleiche Geschlecht hervorgehoben und dann der Schluss
auf die Unhaltbarkeit des die Homosexualität als Folge
ausschweifenden Lebens erklärenden Vorurteils gezogen.
Rezensent weist sodann noch auf die Ausführungen über
Erpressertum in der erwähnten Biographie hin, sowie
auf die durch § 175 begünstigte Stellung und Existenz
der Homosexuellen bedrohende Chantage hin, die wohl
manchen rätselhaften Selbstmord erkläre.
14) Näcke: , Besprechung des TL: Jahrbuchs" in der
«Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie."
Zunächst wird bemerkt, dass der zweite Jahrgang
des Jalirbuchs sich dem ersten würdig anschliesse, viel-
leicht sogar noch wissenschaftlicher gehalten sei und fast
durchwegs von grösstem Interesse.
Jahrbach m. 81
— 482 —
Mit den Ausf Ohrungen von Moll ist Rezensent fast
insgesamt einverstanden, nur vertritt er die Ansicht, dass
Homosexualität nicht immer pathologisch bedingt sei.
Die scharfe juristische £[ritik von Bichter Z. ^ird her-
vorgehoben, die Untersuchung von Jäger als interessant
und merkwürdig bezeichnet^ obgleich seine Theorien wohl
nur von ihm in dem entwickelten Umfang als richtig an-
erkannt würden. Karsch^s Aufsatz nennt Näcke einen
wertvollen Beitrag zur Zoologie.
Der Forderung, die von den meisten Priestern er-
hoben wird, nach Aufhebung des § 175 stimmt er aus-
drücklich bei. Sodann führt Näcke auch die übrigen
Arbeiten des Jahrbuchs in anerkennender Weise an.
15) Placzek in dem soeben erschienenen « Jahr buch
für gerichtliche Medizin,«* Nr. 1 (1901).
Er bespricht die beiden ersten Jahrbücher in sehr
anerkennender Weise, teilt ausführlich den Inhalt der
Aufsätze von Frey, Hirschfeld, Moll, Richter Z., sowie der
Arbeit von Numa Prätorius über die geschichtliche Ent-
wicklung des § 175 mit. Im Anschluss an die Besprech-
ung bemerkt Placzek, dass die erworbene Homosexualität
im Gegensatz zur angeborenen nicht genügend im Jahr-
buch berücksichtigt sei. Diese erworbene Homosexualität
existiere, rein oder gemischt, vorübergehend oder bleibend,
und müsse, gerade weil sie meist ein gemeines Laster
darstelle, gekannt und streng von der aDgeborenen ge-
trennt werden. — Dieser letzteren Auffassung ist Folgen-
des entgegenzustellen. Sobald Homosexualität vorliegt^
darf man nicht von Laster sprechen, mag sie nun an-
geboren oder erworben sein. Nicht zwischen angeborener
und erworbener Homosexualität ist der von Placzek ge-
wollte Unterschied zu machen, sondern zwischen Homo-
sexuellen überhaupt und Heterosexuellen, die trotz reiner
HeteroSexualität aus irgend welchen Motiven gleichge-
schlechtliche Handlungen vornehmen. Eine scharfe Trenn-
— 483 —
img zwischen angeborener und erworbener Homosexualität
ist überdies in vielen Fällen gar nicht möglich. Meist
wird die Homosexualität nur erworben, weil eben die
homosexuelle Anlage vorhanden ist. Ich verweise in
dieser Beziehung insbesondere auf die zutreffenden Aus'-
führungen von Moll.
16) Vleuten, L. F. v.: In „Litterarisches Echo*,
2. November, Heft 1900 S. 287.
Die Arbeit von Moll sei vortrefflich, ebenso der
Artikel von Karsch, und derjenige von Neugebauer lesens-
wert. Im übrigen sei die Haltung des Jahrbuchs wenig
erfreulich, die Perspektiven seien seltsam verschoben und
verzerrt. Ein immerfort fast zwangsmässiger Gegensatz:
Die Roheit der heterosexuellen Liebe und die Idealität
der Urninge, durchziehe das Buch. Der Schlusssatz des
Aufsatzes von Moll enthalte eine herbe, aber durchaus
zutreffende Beurteilung derartiger Bestrebungen.
Auf diese Kritik hin hat Dr. Hirschfeld im Namen
des wissenschaftlich-humanitären Komitees folgende im
2. Dezember-Heft des litterarischen Echos 1900 auf-
genommene Erwiderung veröffentlicht, welche das wieder-
giebt, was auch ich über die Ausführungen von Vleuten
zu sagen hätte. Sie lautet:
„In dem 2. Novemberheft des litterarischen Echos
befindet sich eine kurze Besprechung des Jahrbuchs, in
der es heisst, dass abgesehen von den Aufsätzen von
Moll, Karsch und Neugebauer, in dem übrigen Inhalt die
Perspektiven seltsam verschoben seien. „Ein immerfort
fast zwangmässiger Gegensatz: Die Roheit der sexuellen
Liebe und die Idealität der Urninge durchziehe das Buch.*
Ich möchte Verwahrung einlegen gegen diese Sätze, die
nur durch eine missverständliche Lektüre entstanden sein
können. Derartige Urteile erschweren nur das wissen-
schaftliche Aufklärungswerk des Jahrbuches, indem sie
geeignet sind, auf die ganze Bewegung ein falsches Licht
— 484 —
£a werfen. Mag es auch sein, dass in der einen oder
andern Arbeit, namentlich in den Bekenntnissen der Auto-
biographen — für deren Meinungen die Redaktion nicht
verantwortlich zu machen ist — ein oder der andere
Satz in dem von dem Herrn Rezensenten behaupteten
Sinn gedeutet werden kann, so darf man doch einen
derartigen Gegensatz der heterosexuellen Liebe einer-
nnd der homosexuellen andererseits dem Jahrbuch als
Grundzug nicht unterschieben. In den Aufsätzen von
iN^uma Prätorius wird insbesondere stets lediglich betont,
-dass die homosexuelle Liebe ebenso wie die normale
einer idealen Ausgestaltung fähig sei, dass sie eine poet-
ische, edle Seite habe, gleichwie die heterosexuellen und
dass auch sie bei den grössten Geistern z. B. Michel
Angelo anzutreffen sei. Keineswegs wird sie aber als die
hehrere, bessere, edlere Liebe hingestellt.
Die Redaktion des Jahrbuchs, ebenso wie Numa
Prätorius, stimmt völlig mit dem in der Kritik zitierten
Schlusssatz von MolPs Abhandlung überein. Das Jahr-
buch will Duldung der homosexuellen Liebe, Beseitigung
der Strafe, richtigere Beurteilung und Aufklärung, nicht
aber Verherrlichung des Urningtums.
II. Abschnitt.
Vor dem Jahre 1900 erschienene,
in der vorjährigen Bibh'ographie nicht erwähnte
Schriften.*)
Kapitel I: Wissenschaftliches.
§ 1: Schriften der Mediziner.
Bang, J. S.: „Sygelige Afrigelser fra den Nor-
male Sexualfolelse** et indlaeg i sedeiig heds-
sagen (Alb. Lammermeyers Forlag).
Norwegisches medizinisches Werk über die krank-
haften Abweichungen von dem normalen Sexualgefühl*
— Die Homosexualität wird ziemlich eingehend be-
sprochen. Neues findet sich wenig vor, dagegen sind
viele Auszüge aus der deutschen und französischen spe-
ziellen Litteratur wiedergegeben. — Bang nimmt bei
vielen Homosexuellen hereditäre Anlage oder Erwerb des
anormalen Triebes durch Krankheit an.
Lombroso**): Besprechung des Buches von^^Charles
Donos: Verlaine intime in seinem Archivio di
psichiatria, Vol. XIX. 1898. S. 483.
Lombroso will die erwiesene Homosexualität Ver-
laine's ebenso wie seine Exzesse sexueller und sonstiger
Art auf den Alkoholismus des Dichters zurückführen; er
berührt das bekannte Verhältnis Verlaine's zu Rimbaud,
*) Ein grosser Teil der Bibliographie des Abschnittes 2 rührt
von Dr. B. her, einen weiteren Teil hat ein österreichischer Priester
geliefert (namentlich die theologischen Schriften). Einiges haben
die Herren X. und Peter Hamecher mitgeteilt. Der Rest ist von
mir. Die mit b. K. bezeichneten Werke sind in der Sammlung von
Kupffer zu finden oder mit Bnicnstücken dort vertreten.
**) Mitgeteilt von Herrn X.
— 486 —
Penta: »Ueber einen Fall sexueller Perversion*
(italienisch) in ^Rivista mensile di psichiatria forense,
anthropologia criminale e scienze affini^^ 1898.
§ 2: SehrUten der Nieht-Hediziner.
Anonym: § 175 R..St..G.-B. in der Zeitschrift ,Der
Korrespondent für das Rettungswerk an den Ge-
fallenen und für die Arbeit zur Hebung der Sitt-
lichkeit*. Herausgegeben vom Vorstande des west-
deutschen Sittlichkeitsvereines. Nr. 4., April 1898.
Mit scharfen Worten wird in gehässiger Weise
gegen die Petition und die Bestrebungen zur Aufhebung
des § 175 polemisiert. Ohne Verständnis und Kenntnis
der Homosexualität werden die alten Gründe für die Bei-
behaltung der Strafe angeführt: Staatsgefährlichkeit des
gleichgeschlechtlichen Verkehrs, Gefahr der Ausbreitung
eines scheusslichen Lasters u. dgl.
Brüekmann, Arthur: «Homosexualität" im Sprech-
saal der Zeitschrift: «Die Kritik* von Wrede,
Xni. Bd. Nr. 161, 19. Februar 1898.
Bemerkungen über die Homosexualität im An-
schluss an einen in dem Januarheft der Zeitschrift ent-
haltenen, im vorjährigen Jahrbuch angeführten Artikel
von Ad. Ulrich. Verfasser verwirft die scharfe Unter-
scheidung zwischen angeborener und erworbener Homo-
sexualität und nimmt stets angeborene Anlage an. Heil-
barkeit sei ausgeschlossen. Er geisselt die Grausamkeit
des § 175 und verlangt seine Aufhebung. Sodann Er-
örterung über die Entstehungsursache der Homosexualität,
die unbekannt sei. Zum Schluss einige anerkennende
Worte über Ulrichs, den Vorkämpfer der Homosexuellen.
Die Charakteristik desselben ist treffend, weshalb ich
wörtlich einige Sätze wiedergebe: ,Wenn man mich
fragt, was dieser Mann wissenschaftlich geleistet hat, so
— 487 —
antworte ich: Nichts und Grosses! — Nichts, insofern er
haltlose Theorien*), in überschwängliche Worte gehüllt,
aufstellte, und Grosses, weil er den Forschern und der
ganzen Welt durch sie einen Einblick in seine Welt
verstattet hat. Aber nicht das ist es allein, was ihn wert
macht, gekannt zu sein, es ist vor allen Dingen die un-
geheuere Summe moralischen Muts, die dieser Mann an
den Tag gelegt. Er hat mit Leib und Seele für eine
von der Gesellschaft verfehmte Sache gefochten und ist
•deshalb von ihr verfehmt und mit Kot beworfen worden."
üwald, Paul: Besprechung von Dr. v. Erkelenz*
Schrift: „Strafgesetz und widernatürliche
Unzucht" in der Zeitschrift für Gesundheitspflege
von Ewald Paul, 6. Jahrgang, März 1897.
Der Inhalt der Schrift wird in knappen Zügen
angegeben. Ewald billigt die Forderungen von Erkelenz
auf Duldung der Homosexualität und Beseitigung der Strafe.
Joannes : Lesbianus si ve modus et via vera lesbiandi
sexus masculini, maxime compendialis carmine
elegiaco simplo et perbrevi comprehensa a luce
donata etc.
Erschienen im Jahre 1609.
NicefOPO, Alfrede**): I codici ed i reati sessuali
in Lombroso's: Archivio di psichiatria. Vol.
XrX 1898. S. 35.
Verfasser wirft dem italienischen Strafgesetzbuche
Mangel an Logik vor, weil es die Päderastie straflos
Jasse und sie nur ahnde bei Verführung Minderjähriger
unter 12, beziehungsweise 16 Jahren. In grösserem Masse
*) Alle seine Theorien triflft dieser Vorwurf nicht; namentlich
hat er zuerst die Homosexualität auf die bisexuelle Uranlage
zurückgeführt, eine Theorie, die heute von wissenschaftlichen Au-
toritäten auf dem Gebiete der Homosexualität (EUis, Hirschfeld,
£ra£ft-£bing) verfochten wird.
**) Mitgeteüt von Herrn X.
— 488 —
als bei diesen Minderjährigen treffe das Moment der
Willensunfreiheit bei denjenigen Individuen zu^ welche znm
Teil in Folge unglücklicher sozialer Verhältnisse durch
Verführung zur passiven Päderastie — Fälle erworbener
Päderastie — allmälich in neurasthenische, die Frei-
heit ihres Willens aufhebende Geisteszustände gelangt
seien. Verfasser schlägt daher Verfolgung der Päderastie
auf Antrag vor. Im Einzelfall mtissten dann Arzt und
Kichter sehen, in wieweit beim passiven Teile Willens-
unfreiheit vorliege.
Weitere Bemerkungen über die seltsamen Anschau-
ungen des italienischen Gelehrten sind wohl überflüssig»
Sein Vorschlag, aus der Päderastie ein Antragsdelikt zu
machen, dürfte kaum auf Zustimmung von irgend einer
Seite zählen können. Bemerkenswert ist die besondere Her-
vorhebung der passiven Päderastie. Die Ausführungen von
Niceforo in dieser Richtung beweisen die Richtigkeit der
von mir oben angedeuteten, in Italien herrschenden ver*
schiedenen Wertung der aktiven und der passiven
Päderastie.
Panormitae^ Antonii: Hermaphroditus (Primus in
Germania edidit et Apophoreta adjecit Frid. CaroL
Forb ergius. Coburgi, Sumptibus Meuseliorum 1824)*
Sinistrari, R. C. de Ameno (ordinis minorum obser-
vantiae reformatorum) : De sodomia tractatus^
in quo exponitur doctrina nova de sodomia foemi-
narum a tribadismo distincta. [In dem grossen
Werke von Sinistrari: , De delictis et poenis (ed. IL
Romae 1754) enthalten und selbständig erschienen
Paris, Liseux 1879.]
— 489 —
Kapitel II: Belletristik.
Balzac, de, Honorar Le P^re Goriot in ,Scfenes de-
la vie parisienne^
Die homosexuelle Neigung von Vautrin zu dem
schönen Rubempr^ wird ganz vorübergehend und flüchtig
angedeutet, während Balzac in der im vorjährigen Jahr-
buch angeführten „Derni^re incarnation de Vautrin" die
homosexuelle Natur von Vautrin ausdrücklicher hervorhebt.
Claudel: T^te d'or. (Librairie de Part ind^pendant.
Paris 1890.).
Die Szenen zwischen Simon und C^bfes und zwische»
Töte d'or und C^b^s sind direkt homosexuell und von«
grosser Schönheit.
Conrad, Michael Georg: Majestät. Improvisation»
in der Zeitschrift „Gesellschaft/ Heft 17, 1898, S.
290-296.
Einige phantastisch-poetische Stellen über Ludwig II.
von Bayern (unter der Maske eines orientalischen Königs}
und seine letzten Tage. Seine Neigung zu schönen Sol-
daten wird berührt. Eine teilweise etwas burleske Szene^
wo des Königs Versuch, einen prosaischen Marssohn in
seine idealen Höhen emporzuheben, kläglich scheitert.
Wassermann, Jacob: „Geschichte des jungen«
RenatusEuchs* (Zuerst im Jahrgang der ,Neuen
Deutschen Rundschau'; jetzt bei S.Fischer. Berlin 1901
S. 403 wird eine homosexuelle Züricher Studentin
erwähnt: Gertraud Werkmeister. Sie studiert National-
ökonomie und hat ein Verhältnis mit einer gewissen^
Viktoria Schönau. »Ihre Mutter war eine der bekanntesten
Dirnen Europas.*
Nachtrag zur Bibliographie.
1. Mediziner.
Jüithony, F.W.: The Question of Responsability
in bases of Sexual-Perve rsion. Boston. P. 139,
288-291.
Bacaloglu et Fossard: Deux cas de pseudo-hermaphro-
ditisme (gynandroides). Presse m^dicale 1897.
Bock: Der gesunde und kranke Mensch, neu be-
arbeitet von Dr. W. Camerer. In dem Abschnitt über
den „Geschlechtstrieb und seine Befriedigung (Onanie,
Prostitution, Ehe)" wird die konträre Sexualempfindung
kurz erwähnt. Es sei nur allzu viel darüber geschrie-
ben worden. Für den Strafrichter und Irrenarzt biete
-sie ein gewisses Interesse. Wer sich nicht von Berufs-
wegen damit abzugeben habe, thue besser, sich mit die-
sen rein pathologischen Verhältnissen nicht zu beschäf-
tigen, da sie dem geistig normalen Menschen nur Ekel
erregen könnten.
Derartige oberflächliche Abfertigungen durch wissen-
.ischafüich gebildete Männer sollten gerade in einem
viel verbreiteten Familienbuch, wie dem obigen Werk;
nicht vorkonmien, da sie eine völlig schiefe Auflassung
von der -ganzen Sache und ihrer Bedeutung bei dem
Laien hervorrufen.
Sonflgli,C.:I pervertimenti sessuali. Rom. Capanni
1897, 23 S.
— 491 —
Buchanan, Capt-ain Surgeon: Criminology. (CalcuttaKeview^
1895. März.) Spricht von Paul Verlaine als dem Typus
des geborenen Verbrechers und erwähnt seine sexuelle^
Abnormität.
Buehner, £.: Lehrbuch der gerichtL Medizin. 2. Aufl.
herausg. von C. Herzer. München 1872, pg. 197.
Carson, J. C. and Hrdlioha: An interesting case of
päeudo-hermap hroditismus masculinus com-
pletus. Contrib. of the Pathol. Instit. of New- York
1896,97. I u. n.
Cullerre, A.: Les frontaires de la folie. Paris 1888. Die
Grenzen des Irreseins. Deutsche Uebersetzung von
O. Domblüth. Hamburg 1890. Besonders Seite 190 fl;:
Geschlechtlich Abnorme. Seite 197 ff. : Verkehrungen
der Geschlechtsempfindung.
Dantee: La Sexualit^. (Evreux. Impr. H^rinez.) 1897.
Dantec: L'equivalence des deux sexes dans la
f^condation, Kevue generale des sciences pures et
appliqueds. B. 22, S. 854. (1897 ?).
Desmaze: Histoire de la m^dicine legale en France.
1880. pg. 122.
Duchesne : De la prostitution dans la ville d' Alger. Paris
1853. Enthält interessante Thatsachen über die Dienst-
willigkeit der Aufwärter in orientalischen Bädern.
Fahner:' System der gerichtlichen Arzneikunde. Bd. UI^
pg. 186.
Filippl, A. : Manuale di aphrodisiologia civile criminale e
Venere forense. Pisa 1878.
Frentzel: De sodomia. Erfurt 1723.
Friedreich: Handbuch der gerichtsärztlichen Praxis.
1843, I, pg. 271.
Giraldös et P. Horteloup: Sur un cas de meurtre avec
viol sodomique. (Ann. d'hygifene publ., 1874, vol. 41,
. pg. 419).
— 492 —
Guörieolas : De l'hermaphrodisme vrai chez Phomme ei
les animaux sup^rieurs (Lyon, Storck. 1898);
Hirsehfeld, Magnus: Das SÄtsel im Leben der Herzogin
Sophie von Alen9on. Eine psychologische Studie. In
Beilage zum „Hausdoctor", Nr. 392 vom 18. Juli 1897*
Anknüpfend an den Flammentod der Herzogin
von Alen9on in dem Pariser Bazardbrand erinnert
Hirschfeld au die einstmalige Verlobung der Herzogin
mit Ludwig IL von Bayern. Die Ursache der plötz-
lichen Entlobung sei lin der homosexuellen Natur des
Königs zu suchen, auf welche Hirschfeld näher ein-
geht, insbesondere unter Hinweis auf das Verhältnis
Ludwigs zu Richard Wagner. Hieran schliessen sich
allgemeine Bemerkungen über Homosexualität; den
Schlüssel zu ihrer Erklärung sieht Hirschfeld in der
bisexuellen Uranlage des Menschen.
Ein feinsinniges und doch gemeinverständliches kur-»
zes Eeuilleton.
Kraflt-Eblng: Gerichtliche Psychopathologie, pg. 160.
Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie. Stuttgart 1879.
I, pg. 67 ff.
Lacassagne: Ricerche on 1333 tatnaggi di deliüquentu
(Archiv, di psychiatria ed anthropologia criminale. 1880;
I, pg. 438).
Löfller, Eriedrich Berth: Das Preussische Physikatsexa-
men. 4. Aufl., Berlin 1878. pg. 219—222: Widernatür-
liche Unzucht. (Heftige Polemik gegen Ulrichs).
Lombroso, Cesare : Neue Fortschritte in den Verbrecher-»
Studien. Deutsch von Hans Merian. Leipzig 1894.
Kapitel VI, 3: »Weibischer Typus*. (Nach Brou*
ardel, Actes du II. Congrfes, 1889).
Hantegazza, Paul: Die Hygieine der Liebe. Deutsche
Ausgabe. 3. Aufl. Jena. I., Kap. 7.
Pelopl: De la pr^cocit^ et des perversions de
Pinstinct sexuel chez les enfants. Bord. (1897?)-
— 493 —
Prince, M.: Sexual Perversion or Vice. A patho-
logical and therapeutic inquiry. Jour. of Nerv, and Men-
' tal. 25 S. 237—255.
Verfasser bespricht die verschiedenen Theorien über
' konträre Sexualempfindung. Er glaubt^ es handle sich
um eine auf belasteter Grundlage erwachsende Psychose
der Pubertät (!), analog der starken Wirkimg einzelner
Vorstellungen bei Neurasthenischen und Hysterischen.
Pujia and Bieuchi: Degenerazione psico-sessuale.
Roma, Capauini (1897 od. 1898).
Baynauld: Perversion du sens genital. Revue de
. Psychiatrie N. S. S. 139— i41. (1897 od. 1898).
Schäle: Handbuch der Geisteskrankheiten. 1878. pg. 116.
Schurig: Gynäkologia. Sect. H, Kap. VH: De coitu
nefando seu sodomitico.
Tardieu: Annales d'hygi^ne publ., 1857, 2. pg. 133;
397; und 1858, 1, pg. 137 und 152. Titel?.
Tarussi, C: Intomo Pordinamento della teratologia 3
L'ermaphroditismo.
Tatzel: Die suggestive Behandlung einzelner
. Formen der Parästhesie der Geschlechts-
( empfindung. Zeitschrift für Hypnotismus. B. VEL
S. 249-256.
Taylor, A. S.: Medical Jurisprudence. 1873, 11, pg. 473.
(Männliche Prostitution in London.)
Thoinot: Attentats aux moeurs et perversions du gens
genital. (Paris Doin 1898.) 517 S.
Toulmouche : Des attentats k la pudeur et du viol. (Ann.
d'hygi^ne publ., 1868, 2, VI, pg. 100).
II. Nicht-Mediziner.
Aelianus, Claudius (um 200 n. Ch.) b. K.
Varia historia I, 30 (Die Geschichte vom edlen
Liebling).
— 494 —
n, 21 : Ueber den Dichter AgathoD, den Geliebten
des Pausanias und des Euripides.
Uly 9, lOy 12: (Die Bedeutung der Lieblingsminne
in Krieg und Frieden).
lY, 21: «Alcibiades ist des Sokrates Geliebter ge-
wesen^ Dion der des Piaton/
VII, 8: Die Trauer Alexanders über den Tod seines
Geliebten Hephaistion.
Xni, 608,a, b, c: Verschiedenes über die Männerliebe
Alexanders.
Aesehlnes: In Timarch., 137. (Tadelt die Päderastie
nur dann, wenn der eine Teil sich um Geld hingiebt).
Aesehlnes: I, c, 159, 119. (Es wird aus einem päderast-
ischen Mietskontrakt förmlich geklagt).
Aesehlnes : I, c B. (Gewerbesteuer der Knabenbordelle.)
Allgemeine ßealencyclopädie von Manz. (Regens-
bürg 1865—1873.)
Enthält daher gehörige Angaben an mehreren Stellen,
so in dem^ Artikel „Päderastie*, unter „Athen* und
„Rom."
Ammann, F. S.: Oeffnet die Augen, ihr Klösterverteid-
iger u. s. w. 7. Aufl. Bern 1841. (Homosexuelle
Klostersitten.)
Anonym: Die Geheimnisse der Berliner Passage. Berlin
(1877). Seite 12—14: , Die Männerfreunde oder Päde-
rasten" (sie!).
Anonym : Our Public Schools : Their Methods and Morals.
The New Review, July 1893.
(Ein anonymer Verfasser vergleicht die Schulmoral
in den grossen englischen Alumnaten mit den Zuständen
in Sodom und Gomorrha. In der Septembemummer
derselben Zeitschrift versucht J. E. C. Welldon diese
Vorwürfe abzuschwächen).
Aurellus, Viktor: Caesares, 28.
(Unter den späteren römischen Kaisem bis auf
- 495 —
Philippus war die päderastische Prostitution gegen eine-
Abgabe, gestattet.
Bayle, Pierre: Dict. Historique et Critique. Bd. L Die^
Artikel Anacreon und Bathyllus. Bd. 11. Artikel
Chrysippe, B. : Ejiabenliebe in der griechischen Mytho-r
logie.
Becker: Charikles. I, pg. 347 flfl
Hemer, Albert Triedrich : Lehrbuch des deutschen Straf-
rechtes. 8. Aufl., Leipzig, 1876. Seite 423 ff.
Blümnery Dr. H.: Leben und Sitten der Griechen.
Leipzig 1887.
I. Abteilung S. 195: Hinweis auf die allgemeine
Verbreitung der androphilen, beziehungsweise gleich-
geschlechtlichen Liebe im alten Griechenland sowie imr
gesamten — auch heutigen — Orient.
BÖlsehe, Wilhelm: Heinrich Heine. Leipzig, 1888.
(I V,Vn. Ueber Platen, dessen „päderastisches Motiv*
hier als ganz impotente Spielerei eines ehrbaren Phi-
listers von vollkommen spiessbürgerlicher Unbescholten-
heit angesehen wird).
Bossard, E. (abb^) et Haulle K. de: Gilles de Ray s^
mar^chal de France, dit Barbe-Bleue (Paris 1886), das
Scheusal, welches hunderte von Menschen, nament-
lich, Knaben seiner sexuellen Gier und Mordlust opferte^
Brosch, M.: Königin Maria Karolina von Neapel
in: Historische Zeitschrift, Bd. 53 (München und Leip-
zig 1885). S. 72—94.
Ueber die lesbischen Neigungen der Königin;
Widerlegung von Hilfert's Schrift: „Maria Karoline
von Oesterreich, Königin von Neapel" (Wien 1884),.
welcher sie bestritten hatte.
Bücher der Könige. (Bibel), HI, 14, 24: ,Sed et
effeminati fuerunt in terra" — »Und auch Buhl-
jungen waren im Lande."
in. 15,12: „Et abstuht (Asa) effeminatos de terra*-
— 496 —
— ,,Uiid Asa schaute die BuhljoDgeD aus dem Lande/'
Es ist hier, wie es scheint, von der Verbindung
männlicher Prostitution mit einem heidnischen Kultus
die Bede.
Bfieher der Haehabäer. (Bibel). II, 4, 12: ,,Ausus est
(Jason) sub ipsa arce gymnasium constituere et opti-
mosquosqueepheborum in lupanaribus ponere.*^
Bücke, Richard Maurice. WaJt Whitman. Philadelphia 1883.
Citiert pg. 166 eine abfällige Kritik der Ten-
denz von ^Calamus" von Standish O'Grady in »The
Gentleman's Magazine)."
Burchard, Bischof von Worms.« Beichtfragen.
Burekhardt, Ceremonienmeister Papst Alexander VI.
Diarium.
Bürette, Hist. de PAcad^mie des Inscriptions, tome I.
Drei Denkschriften über die Abschaffung des
Lendentuches {gmfia),
"Campe, J. H. Allgemeine Revision des gesamten Schul-
und Erziehungswesens. Wolfenbüttel 1787.
Bd. VI. J. F. O e s t : Wie man Kinder und junge
Leute — — vor der Unzucht — — und Selbst-
schwächung verwahren könne?
(Beispiele homosexuellen Verkehrs in Schulen).
M. A. von Winter feld: Ueber die heimlichen Sünden
<ier Jugend.
(Knabenliebe in Erziehungsanstalten^ «wo Onanisten^
Päderasten und Sodomiten gebildet werden*).
Bd. VII. Villaume: Ueber die Unzuchtsünden
der Jugend. (Geständnisse unbewusst Homosexueller).
<Carpenter, Edward: An Unknown People. (Reprinted
from ,The Reformer«). London 1897.
In dieser populären kleinen Schrift stellt der Ver-
fasser zunächst fest, dass die beiden Geschlechter keine
absoluten Gegensätze bilden, sondern durch Ueber-
gangstypen verschiedenster Grade zu einer zusanmien-
— 497 —
kängeuden Gruppe verbunden sind. Diese Zwischen-
stufen, bei denen ein Gleichgewicht des Männlichen und
Weiblichen besteht, hält er für heilsam und notwendig,
da sie gewissermassen als Dolmetscher der Geschlechter
unter einander dienen. Es scheint ihm deswegen mög-
lich, dass die Konträrsexuellen eine wichtige Rolle in
der Entwickelung der Kasse zu spielen haben. Doch
sei ihr Los tragisch; und da ihre Zahl sehr beträcht-
lich, liege der Gesellschaft die Pflicht ob, sie zu be-
greifen und ihnen zum Verständnis ihrer selbst zu ver-
helfen. Nachdrücklich betont er, dass sie nicht not-
wendig krankhaft veranlagt und in der Mehrzahl nicht
efleminiert seien; auch beherrsche ihre Leidenschaft
oftmals nur das Gemütsleben, ohne sich in geschlecht-
lichen Akten zu äussern. An den letzteren geht die
Schrift vorüber, um sich auf die psychologische Seite
der Homosexualität zu beschränken, deren extreme
Typen in beiden Geschlechtem, ebenso wie die viel
häufigeren anscheinend gesunden, sie ganz vortrefflich
charakterisiert
Cloecly Baffaele: Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten
der römischen Kirche im 19. Jahrhundert. Altenburg.
(Homosexuelles aus italienischen Klöstern;.
Clemens, Alexandrinus : Admonitio ad Gentes.
(Ueber die Knabenliebe der griechischen Götter).
Corvin: Historische Denkmäler des Christlichen Fanatis-
mus. Leipzig 1844.
(Bd. I behandelt die homosexuellen Praktiken der
Mönche und in den Klosterschulen als ^Folgen des
Cölibats". Bd. II berührt die homosexuelle Seite der
Geisselungen in Schulen etc).
Debreyne: Moechialogie. (Beichtfragen.)
Dio Casslus: Geschichte Roms. LXII, 28. LXIII, 13.
Dio Chrysostomos (um 50 n. Ch.)
Orationes 32 p. 274: Epaminondas soll die Schlacht-
Jahrbnch m. 32
— 498 —
Ordnung erfunden haben, wo Liebhaber und Liebling
zusammen kämpften (die sog. heilige Schar).
Orationes 33: Häufigkeit des fellare und irrumare
in Tarsos.
Diogenes Laertius (3. Jahrb. n. Ch.)
De vitis, dogmatibus et apophthegmatibus clarorum
virorum.
Bd. YUy 13 und 19 über Zenon, der auch die
Jünglinge liebte und mit ihnen — wenn auch nicht
oft — Umgang hatte.
Dühringy Eugen: Der Wert des Lebens. 1 Aufl.
Konstatiert die Häufigkeit des sinnlichen Charakters
der Jugendfreundschaften.
Faber, Mathias: Concionum opus tripartitum.
(Neapel 1860.)
Li der 2. Predigt auf das Fest der Epiphanie
(vol. HL pag. 191) ist die Rede von der weiten Ver-
breitung homosexualer Geschlechtlichkeiten und der
männlichen Prostitution im Altertum.
Greta, George: Plato and the other friends of Sokrates.
üebersicht über das „Symposion*.
Hettinger, Franz: Apologie des Christentums.
(Freiburg im Breisgau 1885.)
n. B., I. Abteilung^ S. 238 berichtet der Verfasser,
dass unter den Lidianem Amerikas schon vor der An-
kunft der Europäer homosexualer Verkehr vielfach
heimisch war. Er verweist auf Waitz, Anthropologie
der Naturvölker, I, S. 159. — II. B., III. Abteilung,
S. 278 erwähnt Verfasser der starken Verbreitung
. gleichgeschlechtlicher Liebe in der antiken Welt. Welche
Ausdehnung sie gewonnen, gehe aus den häufigen
Mahnungen und Verboten der ersten Earche hervor.
Er zitiert: Barnabas, Epist., cap. 19. — Athenagoras,
Bittschrift für die Christen, cap. 34. — Constitutiones
Apostolorum, VI, 28. — Amobius, Contra Gentes, 1, 64.
— 499 —
— Chrysostomus, In I. Cor. Hom. XIII, 5. — Concilium
Elvirense (305), CaDon 71. Ausserdem führt er an:
Lysias c. Sim, Orat. Attic. I, 191. — Xenoph. Conviv.
C. 8. — Seneca, Epist. XLVII, XCIVj «Scorta vi^üia^
— AureKus Victor, De Caesaribus, C. 28. — Eusebius,
Vit. Constant. III, 55. — Plutarch, Amator. C. 4. —
Xenoph. Memorab. IV, 2.
Herodianus: Vitae imperatorum, I, 16.
(Philocommodus, ein Lustknabe des Kaisers Commodus.)
Herodot: Neun Bücher griechischer Geschichte.
(I, 105, Verpflanzung der Päderastie aus Syrien zu
den Skythen.)
Hesychios aus Milet (6. Jahrh. nach Chr.) b. K. Welt-
geschichte.
B. XL: Ueber das treue Liebesverhältnis von Polemon
und Krates.
Jais, Aegydius: Handbuch des Seelsorgers für
Amt und Leben. Bearbeitet von Fr. J. Köhler.
Paderborn 1870.
S. 273 und anderwärts.
Janssen, Johannes : An meine Kritiker. Freiburg im
Breisgau 1883.
S. 144 wird unter Hinweis auf ,Lenz, Briefwechsel
Philipp's von Hessen mit Butzer (302)^ erwähnt, dass
Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, in dem Luther
eine der stärksten Stützen seines neuen Kirchentums
erblickte, der „Sodomiterei" ergeben war.
Joel: Weissagung. (Bibel.)
Cap. 3, V. 8 (8) sagt der Prophet von den ausser-
jüdischen Völkerschaften: ^Posuerunt puerum in pro-
stibulo** — „Sie machten die Knaben zu Buhljungen".
Justinus: Erste Apologie für die Christen.
Cap. 27 und 29.
Koch, Max : Shakespeare. (Stuttgart, Cotta'sche Bibliothek
der Weltlitteratur.)
32*
— 500 —
Seite 132-145: Die Sonette. Seite 315—316:
Litteratarangaben zur ErkläruDg der Sonette.
LactanÜUS: Institutiones divinae, II, 17.
Das Missgeschick Cannäs wird der Eifersucht der
Juno auf einen in den Jupitertempel eingeführten
schönen Jüngling beigemessen.
Lampridius: Commodus, 5, 10. fg.
Lampridius: Heliogabalus.
Lecky, W. E. H. : History of European Morals. (Sitten-
geschichte Europas von Augustus bis auf Karl den
Grossen. Deutsch von Jolowicz. 2. Aufl.).
Bd. n, Seite 244—247: Ueber die Knabenliebe der
Griechen.
Lichtenberg, Georg Christoph: Vermischte Schriften.
Göttingen 1867.
Bd. I, Seite 8: ^In meinem zehnten Jahre verliebte
ich mich in einen Knaben, namens S . . . ., eines
Schneiders Sohn, der in der Stadtschule Primus war, etc.*
Liguori, Der heilige Alphons M. von: Der Beichtvater.
Aus dem Italienischen. Begensburg 1841.
Luzzato: Israelitische Moraltheologie. Aus dem
Italienischen. Czernowitz 1870.
Der Autor betont, dass die Sünde Sodomas nicht,
wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, hauptsächlich
„Sodomiterei* gewesen sei, sondern Mangel an Barm-
herzigkeit und rohe Beschimpfung der
Fremden. Dasselbe wird, nebenher bemerkt, neuestens
auch von katholischen Theologen hervorgehoben. Es
ist nicht uninteressant, zu vernehmen, dass auch der
Name, mit dem die Bethätigung der homosexuellen
Natur vielfach bisher bezeichnet worden ist, auf einem
Irrtum beruht.
Lysias: Orationes. Ad versus Simonem.
Erzählt vor Gericht unbedenklich von einem päderast-
ischen Mietskontrakt.
— 501 —
Malthus, Thomas Robert: Essay on the Principle of
Population.
pg. 103: „Unnatürliches Laster* in der Türkei als
Hemmungsmittel gegen Uebervölkerung.
Maury: Histoire des Beligions de la Grfece antique, tome
in, pg. 35—39.
Mehler, Ludwig: Der Katholik in seinem Glauben,
ßegensburg 1848.
3. Band, S. 634. Der Verfasser führt die Stelle
Rom. 1, 26 — 27 an, erwähnt einer Predigt des Kirchen-
lehrers Johannes Chrysostomus, aus welcher hervor-
geht, dass gleichgeschlechtliche Liebe in der Stadt des
Heiligen ausserordentlich verbreitet war, und erzählt
von dem schönen Knaben Pelagius, der lieber in den
Tod ging, als dass er sich dem Könige, seinem Herrn,
zur Verfügung gestellt hätte.
Hehler, Ludwig: Beispiele zur gesamten christ-
katholischen Lehre. Regensburg 1861.
HL Bd., S. 386: Eine Geschichte daher gehörigen
Lihalts.
Mehring, Franz: Die deutsche Sozialdemokratie. 1878.
Mitteil, über den Agitator u. Lustspieldichter Schweizer.
Meiners, Christoph : Geschichte des Ursprungs, Fortgangs
und Verfalls der Wissenschaften in Griechenland und
Rom. Lemgo 1782.
Bd. II, Seite 52—57: Jugendschutz in der Solonischen
Gesetzgebung. Seite 531 ff. : Verteidigung des Sokrates.
Moses: Deuteronomium. (Bibel.)
Cap. 23, 17: »Non erit meretrix de filiabus Israel
nee scortator de filiis Israel.*
Cap. 23, 18: ,Non offeres mercedem prostibuli nee
pretium canis in domo Domini Dei tui . . . . quia
abominatio est utrumque apud Dominum Deum tuum.'^
Unter dem , Pretium canis'' ist von Knaben und Jüng-
lingen verdienter Prostituiertenlohn zu verstehen.
— 502 —
Die beiden Stellen weisen darauf hin, dass auch bei
den Jaden männliche Prostitution mehr oder minder
heimisch war.
Hüller, Josef: Der Reformkatholicismus. U. Teil.
Zürich 1899.
Verfasser kann (S. 123) nicht begreifen, dass Hafis,
der Sänger des Morgenlandes, den Jüngling geliebt
haben soll. Im Orient dürfe die Geliebte nicht be-
sungen werden, statt von ihr spreche der Dichter in
Liebesliedem durchgehends von einem ^ Freund '^I Es
ist doppelt bedauerlich, wenn Männer von der univer-
sellen Bildung und dem wissenschaftlichen Tiefblick
eines Dr. Müller sich der Aufklärung über diese Seite
des Geschlechtslebens immer noch verschlossen halten.
Nordau, Max: Entartung. Berlin, Duncker, 1892.
8 Bde.
Spricht von der Entartung im Allgemeinen; konträre
SexualempfinduBg wird nur erwähnt im I. Bd. und
dann einfach auf Exafit-Ebing verwiesen. S. 347, Bd. I
wird das in den Bomanen des Sar Peladan vorkommende
ungeschlechtliche Zwitterwesen als ein unbewusstes
mystisches Ideal konträrer Sexualempfindung bezeich-
net. S. 525, Bd. III wird in dem satirisch entworfenen
Zukunftsbild fortschreitender Degeneration die Ehe
zwischen Männern erwähnt.
Pausanias (2. Jahrh. n. Ch.) b. K. : Periegesis (Rundreise).
Bd. V, K. 11 und Bd. IX, K. 34 wird von den Ge-
liebten des Phidias erzählt.
Plinius: Historia naturalis.
XXXIV, 9: üeber Harmodios und Aristogeiton.
Plutarch: Leben des Agesilaus.
Ein Mann wird wegen der Unterdrückung seiner
Leidenschaft für den Knaben Megabetes als Heros
über Leonidas gesteUt.
— 503 —
Plutarch: Leben des Marcellus, 2.
Marcellus verklagt den Aedil Scatinius wegen päder-
astischer Anträge an seinen Sohn.
Plutareh; Leben des Pelopidas.
Die Thebaner erlaubten ihren Jünglingen unter
einander die Päderastie, um ihre Sitten zu veredeln.
Plutarch: Bd. V, Solonis 1: Aus einem Gesetz, worin
Solon die Lieblingsminne der Slilaven verboten habe,
gehe hervor, dass er sie für eine edle Neigung ge-
halten.
Bd. V: Aristides 2 und Themist ocles 3: Die Feind-
schaft beider habe ihren Grund in ihrer Leidenschaft
zu Stesilaos und ihrer daraus entspringenden Eifer-
sucht gehabt.
Post) Albert Hermann: Grundriss der ethnologischen
Jurisprudenz. Oldenburg und Leipzig 1894.
Bd. II, Seite 390-392: Die strafrechtliche Ahndung
der , Unnatürlichen Wollust* bei den verschiedenen
Völkern.
Reuss, Rudolphe: L'Alsace au 17. si^cle Bd. II.
P. 60 Anm. 2 und P. 96 Anm. 1 wird berichtet von
der Zunahme der „widernatürlichen Verbrechen* seit
dem 30jährigen Kriege, während sie bis dahin im
Elsass ziemlich unbekannt gewesen seien. Den Grund
dafür sieht Beuss in dem Durchzug der zahlreichen
Soldateska der verschiedensten Länder, insbesondere
der Italiener und Spanier. Von 1647 bis 1671 seien
in der Chronik von Walter nicht weniger als etwa 12
Individuen erwähnt, die wegen derartiger , Verbrechen*
zu Strassburg lebendig verbrannt oder geköpft worden
seien.
P. 486 ist die Rede von der Absetzung des Pfarrers
Martin Gross, weil er nach verschiedenen ungehörigen
Handlungen schliesslich sogar den Stadtmeister Zorn
des Incestes und der Sodomie beschuldigt habe.
— 504 —
Rolfus und Brändle: Die Glaubens- und Sitten-
lehre der katholischen Kirche. Einsiedeln 1875.
S. 660 Exposition über die „sodomitische Sünde*.
Geschichte von König Demetrius und dem Knaben
Damokles, welch letzterer, um sich der leidenschaft-
lichen Liebe seines Herrn zu entziehen, in einem mit
siedendem Wasser gefüllten Kessel den Tod suchte.
Hinweis auf eine Predigt., des heiligen Chrysostomus
und Aussprüche von heiligen Vätern.
Röscher, Wilhelm : Die Grundlagen der Nationalökonomie.
11. Aufl. Stuttgart 1874.
Buch V, Kap. 2 Geschichte der Bevölkerung. § 245,
Anm. 16 Verschneidung im Orient. § 249 C. Die
^unnatürlichen Laster*. Anm. 16 — 22 Zahlreiche Littera-
turangaben.
Rousseau, Jean Jacques: Les Confessions. I, 2 und 4.
Erzählt von zwei homosexuellen Verführungs-
versuchen, die ihm in seiner Jugend begegnet sind.
Sack, Eduard: Unsere Schulen im Dienste gegen die
Freiheit. — Gegen die Prügelpädagogen. — Beiträge zu
der Schule im Dienste gegen die Freiheit.
In einer dieser Broschüren werden päderastische
Thatsachen erwähnt.
Salier, Johann Michael : Handbuch der christlichen
Moral. München 1817.
ni. Bd., S. 216: Die Pflichten des aufblühenden
Alters sind: Beherrschung der erwachenden
Neigungen zu Freundschaft und Liebe. Liebe und
Freundschaft haben vielleicht unter allen Neigungen
am meisten blendenden und verführerischen Schein
und üben diese Uebermacht des Scheines vorzüglich
an dem blühenden Alter aus Das Bedürfiiis, zu
lieben und geliebt zu werden, das mit der erwachenden
Geschlechtsneigung erwacht, zieht mit ungekanntem,
schwer widersteblichen Zuge an. Da nun gerade in
— 505 —
diesem Alter die sinnlichen Triebe gewaltig hervorbrechen;
da anter den sinnlichen Trieben vorzüglich die Triebe zu
Freundschaft und Liebe sich mit Uebergewalt ankünden;
da beiden Trieben am meisten Leichtsinn und Unverstand
eingeboren ist; da beide mit dem Zauber der Einbildungs-
kraft kunstreich zu spielen und mit diesen Kunstspielen
zu bethören wissen: so ist die Beherrschung der beiden
Neigungen zu Freundschaft und Liebe eine besondere und
woh] die schwerste Aufgabe des zarten Alters
Bei frommen, keuschen Jünglingen verkleidet sich
die Geschlechtsneigung, als wenn sie das Geschlecht ver-
fehlt hätte, manchmal in Liebe zu Ihresgleichen.
Der unbekannte Trieb erscheint anfangs als Freundschaft
und offenbart erst später seine Tücke. Deshalb haben
weise Vorsteher in Erziehungshäusem, überzeugt, dass der
unbewusste Zug, der Knaben mit Knaben verbindet, die
schlafende Geschlechtslust aufregen und grosse Verwüst-
ungen anrichten kann, diese sogenannten amicitias parti-
culares nie aus ihrem wachenden Auge gelassen. '^
Salzmann, Christian Gotthilf: Ueber heimliche Sünden der
Jugend. 4. Aufl. Leipzig, 1819.
Mehrfache Selbstbekenntnisse mutueller Onanie in
Fällen, deren homosexueller Charakter heutzutage nicht
mehr bezweifelt werden kann.
Schuen, Josef: Der Katechismus auf der Kanzel.
(Paderborn 1879.) 2. Abteilung, S. 260. Es ist, wie
in den meisten Werken dieser Art, der Standpunkt
des naturwissenschaftlichen Lrtums vertreten: Die
„sodomitische Sünde* gehe wieder die Natur. Sie
werde auch als ^stunune Sünde' bezeichnet, da sie im
Beichtstuhl den Meisten den Mund verschliesse, so
dass aus geheimer Scham kein Sterbenswörtlein darüber
verlaute und das heilige Sakrament oft 'Jahre lang, so-
gar das ganze Leben lang, entehrt werde. Es geschehe
— 506 —
9 gar nicht selten ''^ dass in Häusern, die nach aussen
sehr anständig und ehrbar erscheinen, solche Dinge
vorkämen, und werden deshalb die Eltern und Vor-
gesetzten ermahnt^ wo nur immer möglich, jedem Haus-
genossen ein eigenes Bett zur Nachtruhe anzuweisen.
Stead, W. T. Review of Reviews, June 15, 1895. Seite
491 — 492. Artikel über die Verurteilung Oscar Wilde's.
Betont das Missverhältnis zwischen der Bestrafung
homosexuellen und heterosexuellen Verkehrs. Die all-
gemeine schweigende Duldung der Päderastie in den
grossen englischen Alumnatsschulen. «Wenn man jeder-
mann ins Gefängnis steckte, der sich der Vergehungen
Oscar Wilde's schuldig gemacht hat, so würde eine
sehr überraschende Auswanderung von den Schulen zu
Eton und Harrow, Rugby und Winchester nach den
Gefängnissen in Pentonville und HoUoway stattfinden.
. . . Bis dahin lässt man Knaben in öffentlichen Schulen
ungestraft Gewohnheiten nachhängen, die sie, wenn sie
die Schule verlassen, der Zwangsarbeit überliefern
würden."
Strabon (z. Z. Ch.) b, K. B. X. 483c. Ueber den Jüng-
lingsraub in Kreta und das Verhältnis von Liebhabern
und Geliebten (den „Rühmlichen") nach der Schilderung
des Historikers Ephoros.
Stolz, Alban: Erziehungskunst Freiburg im Breis-
gau 1875. S. 225 erwähnt der Verfasser des Homo-
sexualismus von Kindern: „Manchmal kehrt sich die
Verliebtheit einem Kinde des eigenen Geschlechtes zu,
ohne deshalb anderer Art zu sein als die vor-
her bezeichnete (heterosexuelle). Es ist der blind-
geborene Geschlechtstrieb *
Symonds, John Addington. Walt Whitman, a Study.
London, 1893. Kap. V, Seite 67—85 handelt von
Whitman's Ideal der männlichen Liebe.
— 507 —
Tanner, Adam, S. J.: Theologia scholastica. (Er-
schienen um das Jahr 1600.) Aufforderung an die
Obrigkeiten, gewisse Zusammenkünfte zu verbieten, bei
welchen Sodomie getrieben werde, da diese Zusammen-
küufbe die rechten Brutstätten und Nester der Hexerei
seien.
Tacltus, Annales, VI, 1 und XV, 37.
Tissot. L' Onanisme. 3™® Edition. Paris 1765. Beispiele
von Jugend Verführung und unbewusster Homosexualität.
Haximus Tyrius: (2. Jahr. n. Ch.) b. K. Dissertationes.
XXIV: Ueber die Liebe zwischen Achilles und Patroclos,
XXIV, 2: Ueber diejenige zwischen Harmodius und
Aristogeiton und über die Einrichtung der heiligen
Schar der Liebenden seitens Epaminondas^ XXIV 4:
Ueber Sokrates' Liebe zu zahlreichen Jünglingen. XXIV
9: Ueber die Jünglingsliebe des Dichters Anacreon.
Voltaire. M^moires pour servir ä la vie de M. de
Voltaire, Berits par lui-möme. (Ueber den homosexuellen
Verkehr Friedrich des Grossen.)
Weber, Carl Julius. Demokritos, Bd. V, Kap. 14.
Weninger, Franz Xaver: Standespredigten. (Mainz
1881.) In der 5. Konferenz werden die Männer auf-
gefordert, sich darüber zu erforschen, ob und in welcher
Weise sie vor ihrer Heirat wider die Keuschheit ge-
sündigt hätten, ob es Knaben oder Mädchen gewesen
wären, mit denen sie zu thun gehabt. (S. 30.)
Xenophon. Memorabilien von Sokrates.
Xenophon. Symposion.
Zeller^ Eduard. Die Philosophie der Griechen in ihrer
geschichtlichen Entwicklung. Bd. III: Die Ansichten
der Stoiker über Knabenliebe.
Quellen : Sext. Pyrrh. HI, 200, 245. — Math. XI, 190.
Clement. Homil. V, 18.
Zenos Ansichten : Sextus Math. XI, 190. — Pyrrh. III,
245. — Plut. qu. conv. HI. 6, 1, 6.
— 508 —
Bekämpfimg durch die späteren Stoiker: Musonius
bei Stob. Serm. 6, 61. — Cic. de Fin. III, 20, 68. —
Cic. Tuac. IV, 84, 72. — Diog. VII, 129 f. — Stob.
II, 288. — Alex. Aphr. Top. 75. o.
ni. Belletristisches.
Alan-a-Dale (Pseud.) A Marriage below Zero. New- York,
DilUngham & Co., 188—.
Die Erzählung einer jungen Gattin, deren Ehemann
die geheimnisvolle Umings-Beziehung zu einem Kapitän
im englischen Heere nicht abschütteln kann. Der
Schauplatz ist London. Das Buch ist mit dem gut
durchgeführten Bestreben geschrieben, durch die ganze
Erzählung die Art einer einfachen, ahnungslosen Natur
der jungen Gattin zu bewahren. Es enthält kein an-
stössiges Wort, und nur die, welche zwischen den Zei-
len lesen, werden die wahre Veranlassung zu dem B*uin
des Gatten verstehen. Er wird in Paris nach dem be-
rühmten ,Cleveland-Street"-Skandal als Selbstmörder
von seiner gekickten und verletzten Gattin gefunden.
Amphls, griechischer Dichter v. Chr. b. K. Ein Ge-
dicht bei Athenäos XIII, 568 e.
Anacreon (5. Jahrh. v. Chr.) b. K. Liebesgedichte.
Andersen, Hans Christian. „Der Freimdschaftsbund.*
(Sämtliche Märchen). Priesterliche Einsegnung eines
Bundes zwischen zwei neugriechischen Jünglingen, ohne
ausdrücklich sinnliche Elemente.
Anonym: »La chronique scandaleuse*. Paris 1791.
Bd. II. S. 167: Mutuelle Onanie zwischen Frauen.
Anonym: Hassan the Fellah. By New- York 1899.
Eine orientalische Romanze aus dem modernen Jeru-
salem und Egypten, von einem Amerikaner, der lange
im diplomatischen Dienst im Orient gestanden hat.
Das uranidische Gefühl für männliche Schönheit und
— 509 —
eine intime geschlechtliche Sympathie zwischen Mann
und Mann werden hie und da stark hervorgehoben,
mit Einschluss einer Episode der , Blut-Brüderschaft*
durch wechselseitiges Trinken.
Anonym: »Tel^ny." CosmopoHs, 189 — .
Ungeachtet der Thatsache, dass dieser Roman durch
Abschnitte entstellt ist, in denen der Autor den litter-
arischen Wert durch Stil und Sprache verringert, ist
das Buch dennoch von ausnehmender Wichtigkeit, in-
dem es eine Leidenschaft zwischen zwei Urningen dar-
stellt. Der Schauplatz ist Paris, und die beiden Hel-
den der Erzählung sind Musiker — einer von ihnen,
Teleny, ein berufsmässiger Klaviervirtuose. Die Er-
zählung entwickelt sich zu einer Tragödie. Stark be-
tont ist die Beziehung auf die nationale Tendenz des
Magyaren zum Uranismus als eine psychologische
Richtung.
Anonym: ^Les ddices du cloitre ou la nonne ^dair^e"
1760. Erotisches Buch: Lesbische Liebe.
Anonym: Aus den Memoiren einer Sängerin. Boston, Re-
ginald Chesterfield. Altena 1862. 2. Bd.
Berüchtigter obscöner Roman in der Art der , Justine"
des Marquis de Sade, mit Szenen aller möglichen ge-
schlechtlichen Combinationen; Amor lesbicus spielt
eine Hauptrolle.
Argens d'Harguis: Les Nonnes galantes. Erotisches Buch:
Lesbische Liebe in Nonnenklöstern.
Arehilochos (um 700 v. Chr.) b. K, Fragment eines
Liedes über die Lieblingsminne.
Aristophanes. Equites, 1280 ff. — Vespae, 1274 ff. 1347.
— Pax, 885. — Ranae, 1349.
Bacchylides (5. Jahr. v. Chr.) b. K. Gedicht: ,Der
Friede, '^ der es ermöglicht, dass „gastliche Mähler der
Liebe feiern die Städte, lodernd erstehen Sänger der
Lieblingsminne. '^
— 510 —
Biccadelli, Antonio degli (Panormita gen.). Hermaphroditus.
Herausg. von Forberg. Koburg 1824. Eine Sammlung
lateinischer Epigramme.
Brand, Adolph : b. K* Eine Anzahl Gedichte, die Männer-
liebe besingend (nicht im Band erschienen, sondern
meist in der eingegangenen von Brand herausgegebenen
Zeitschrift „Der Eigene«» 1898 und 1899). Teilweise
von urwüchsiger, schöner Begabung zeugend und fri-
schem Empfinden.
Bypon, George Noel Gordon, Lord. Manfred.
Durch Byron's Briefwechsel und durch andere per-
sönliche Zeugnisse ist die Tbatsache nun vollkommen
bekannt, dass das Gedicht ^Manfred** vom Anfang bis
zu Ende nicht nur ein Ausdruck des umischen Gefühls
für Natur und Einsamkeit ist, sondern auch ein ver-
stecktes persönliches Bekenntnis Byron's von seiner heim-
lichen Leidenschaft für einen Freund seines eigenen Ge-
schlechts, Lord Cläre, oder seinen späteren, gleichfalls
wohlbekannten Urning-Freund. Unter dem lediglich
allegorischen Bild der „ Astarte ** ist nicht ein weiblicher,
sondern ein männlicher Geliebter verborgen, und eine
Leidenschaft fiir einen Mann, die die Grenzen des Nor-
mal-Menschen so sehr überschritten hat, dass sie ein
Gegenstand lastenden Kummers und doch der endlosen
Sehnsucht ist. (Briefl. Mitteilung von Herrn Irenaeus
Prime-Stevenson.)
Casanova: Memoiren (ed. Alvensleben-Schmidt) Bd.
VUL S. 74 — 76: Bericht über eine lesbische Szene
zwischen zwei Frauen, während sie einer Hinrichtung
beiwohnten.
An anderer Stelle wird von dem Ueberfall eines
Italieners auf Casanova zu geschlechtlichen Zwecken
erzählt.
— 511 —
Catullus, Cajus Valerius, (geb. 87 v. Chr ) b. K. Gedichte
über die Männerliebe.
Chaldun, Ibn, (14. Jahrb., arabischer Historiker u. Dichter)
b. K. Gedicht: Er möchte ebenso wie die Fische
entwischen aus dem Netz, in dem der Knabe sein
Herz gefangen.
Friedrich der Grosse b. K. Gedichte: „Den Manen
Cesarions* (zum ersten Mal bei Kupffer in Ueber-
setzung abgedruckt). Klagelied über den Tod seines
Geliebten Cesarion.
^Widmung* und „An Cesarion*: Beide bringen
die unverbrüchliche Treue und Anhänglichkeit Friedrich
des Grossen für Cesarion zum Ausdruck.
Goethe, Job. Wolfgang: b. K. Win ekel mann und
sein Jahrhundert: , Heidnisches*, , Freundschaft*,
„Schönheit*. (Alle drei Abschnitte handeln von dem
Wesen der Männerliebe Winckelmanns).
Goethe, West-östlicher Divan: Saki Nameh
(Das Schenkenbuch), insbesondere die Wechselgespräche
zwischen dem Dichter und dem Schenken, in welchen
das sinnliche Wohlgefallen an dem Schenken in der
Manier der orientalischen Dichtung wiedergegeben wird.
Goethe, Faust, IL. Th., 5. Akt: Mephistopheles be-
trachtet die Engel mit päderastischen Gelüsten, seine
Wachsamkeit wird dadurch eingeschläfert, und sie ent-
führen ihm Faust.
Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, II. Buch,
Kap. 12. Die glühende Freundschaft des Knaben
Goethe zu dem Fischerknaben, das gemeinsame Bad,
die gegenseitige Zuneigung, („unter den feurigsten Küssen
schwuren wir eine ewige Freundschaft*) und Goethe's
fast unnatürlicher Schmerz beim Tode des Freundes.
(Er will dem Toten seinen Atem durch die kalten
Lippen einblasen.)
— 512 —
Goethe, Venetianische Epigramme. Epigramm
39: »Kehre nicht, liebUches Kind,* u. s. w. Epi-
gramm 88: „Eine einzige Nacht an deinem
Herzen!* u. s. w.
Notizbuch von der schlesischen Reise.
»Knaben liebt' ich wohl auch, doch lieber sind mir
die Mädchen, hab' ich als Mädchen sie satt, dient sie
als Knabe mir noch.*
Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Drittes
Buch, Kap. 18. In dem Schlusskapitel kommt wenigstens
Goethe's Entzücken an der nackten männlichen Ge-
stalt zum Ausdruck, wo der aus dem Wasser gerettete
Felix entkleidet auf dem Mantel des Vaters liegt,
»der holdeste Jüngling*, und Wilhelm ausruft: »Wirst
du doch immer au& Neue hervorgebracht, herrlich
Ebenbild Gottes!* Auch hier geht die Umarmung
des nackten Jünglings voraus. »So standen sie fest
umschlungen, wie Kastor und PoUux, Brüder, die sich
auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen.*
Gutzkow, Karl. Der Zauberer von Eom. Roman.
Spricht gelegentlich von homosexuellem Verkehr der
römischen Geistlichkeit und weist auf Horaz,
Shakespeare und Platen als Dichter der Männerliebe hin.
Heine, Heinrich. Die Bäder von Lucca. ßeisebilder li, II.
Verhöhnung Platens.
Herdep, Johann Gottfried v. : Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit, b. K. Einen sehr schönen
Abschnitt über die Männerliebe, ihre Entwickelung und
Bedeutung in Griechenland enthaltend.
Herondas, griechischer Dichter (3. Jahrh. v. Gh.),
Mimianben: Szenen aus dem griechischen Volksleben
in Form von Dialogen. In dem Mimianbus; »Die
beiden Freundinnen* oder „Das vertrauliche Gespräch*
ist von einem unter den Frauen von Kios bei Ausübung
- Mä -
lesbischer Akte damals gebräuchlichen, allgemein vei^-
breiteten Lederphall us die Rede.
Hopatius. b. K. Carmina I, 4. Odew II, 9. III, 20. IV, 1.
IV, 10. Epod. XI. „MoUibas in paeris aut in puellis
urere*.
Ibykos: (um 530 v. Ch.) b, K. Gedichte, die Männer-
liebe besingend. (Fragmente bei Athenaios. XIII 564,
XIII 601, XV.)
Kallimachos: (um 300 v. Ch.) Gedichte. N XLI b. K.
Die Hälfte der Seele des Dichters ist entschwunden
zu einem Knaben, von Eros geraubt.
Kitlp, Joseph: b. K. ^Strassenbild*, ^Zaudernde Liebe*,
„Sturmliebe*. (Alle drei beziehen sich auf die homo-
sexuelle Liebe).
Konstantinos ; (9. oder 10. Jahrh. n. Ch.) b. K. Gedicht,
den Knaben Eros verherrlichend.
Kupffer^ Elisar von: b, K. Gedichte. Antinous: Die
Klage Hadrians um seinen toten Liebling. — Der Ge-
nesende spricht — und ein unbe titelt es Gedicht.
LermontOW, Michael von: b. K. Gedichte, in denen zwar
nur von Freundschaft die Rede ist.
Levetzow, Karl, Freiherr von: b.K. Gedicht: Begegn ung.
Ludwig II. von Bayern: b. K. Briefe an Richard
Wagner, welche die glühendste Leidenschaft atmen.
Mairobert: L'Espion Anglais. London 1784.
Bd. X Lettre IX «Confession d'unejeune fille* S. 179
bis 208. Lettre XI , Suite de la confession d'une jeune
fiUe* S. 248—275. Lettre XIV „Suite et fin de la
confession d'une jeune fille** S. 179 — 208. Eingehende
Schilderung' der tribadischen Vereinigung, der ^secte
Anandryne", welche im „Tempel der Vesta* ihre My-
sterien feierte. Darstellung der Einführung eines neu-
gewonnenen Mitglieds in den Klub.
Sönac de Meilhan. La Foutromanie. Po^me lubrique
k Sardanopolis, aux depens des amateurs. 1775.
Jahrbuch lU. 33
— 614 —
Sehr bekanntes Gedicht (6 Gesänge zu je 300 Versen).
Im zweiten Gesang dringt ein von Satyriasis Ergriffener
in ein Nonnenkloster: Bei diesem Anlass Ausfall des
Dichters gegen Tribadie und Päderastie.
Hayer^ Eduard von: b. K. Zwei Gedichte, welche
der Wonne Ausdruck verleihen, den idealen Freund
für's Leben gefunden zu haben.
HeleagTOS, aus Gadara (um 80 v. Ch.) b. K. Gedichte,
eine grosse Anzahl an verschiedene geliebte Jünglinge
gerichtet.
Hirabeau: Ma Conversion (London 1783). S. 165
bis 168. Beschreibung einer grossen von 30 Hofdamen
ausgeführten Tribadenscene.
Mohammed Abu Elkasim Ben Allel Hariri. b. K,
M ak a m e n (übersetzt von Friedrich Rückert), insbesondere
die achte: Das Eidesformular. Erzählung von
dem Wali (Richter), dessen Neigung durch einen schönen
Jüngling und seinen Vater ausgenützt wird. Ferner di e
zehnte: ,Lass Labe dir schenken — Vom lieblichen
Schenken — Denn Liebe zu schenken — Das Herz ist
gemacht."
AI Hotamid, (König von Sevilla, 11. Jahrh.) b. K.
Gedichte, übersetzt von Graf von Schack. Glühende
Verherrlichung jugendlicher Schenken und Krieger.
Ovid (Publius Ovidius Naso.) b. K. Metamorphosen.
N. X. Hyacinthus: Phöbus tötet im Wettkampf
mit seinem Speer aus Unvorsichtigkeit seinen Geliebten
Hyacinth. Aus der mit dem Blut des Getöteten be-
sprengten Erde spriesst auf die Klagen des Gottes^ hin
seinem Wunsche entsprechend eine Blume empor
mit dem Zeichen seines Wehru& {cu, a&) auf den
Blättern.
N. in. Narcissus: Der in sein eigenes Bildnis
verliebte Jüngling; seine Schönheit wird von Ovid mit
verführerischen Farben gezeichnet.
-- 515 —
«
Palg^rave^ F. G. Hermann — Agha. London and New-
York. (New-York, Henry Holt, 1874.)
In dieser glänzenden und umständlich „einstudierten*'
orientalischen Liebesgeschichte, deren Schauplatz EHein-
Asien ist, erzählt der Verfasser nicht nur eine dionidische
Liebes-Episode, sondern giebt uns als ein wesentliches
Element die Urnings-Liebe zwischen zwei Soldaten, dem
Helden und seinem Waffenbruder Wödanih. Die Zere-
monie des wechselseitigen Bluttrinkens ist mit Einfalt
und Macht dargestellt, und der Tod des einen Teils
des Paares ist auffallend leidenschaftlich geschrieben.
Der Verfasser, ein ausgezeichneter orientalischer Reisen-
der,, starb vor einigen Jahren im Orient.
Parthenios, um 70 v. Cli. b. K. Leiden der Liebe-
Darin die zwei Erzählungen: 1. Antileon undHip-
parinos. Antileon holt die Glocke von der Burg, um
dadurch den geliebten Hipparinos, der die kühne That
verlangt, zu gewinnen, später tötet er den ihm nach-
stellenden Tyrannen, bei der Flucht stürzt er über zu-
sammengekoppelte Schafe und wird dadurch von den
Verfolgern erreicht. Den beiden Geliebten wird später
ein Standbild errichtet und das Verbot erlassen, dass
Niemand mehr die Schafe gekoppelt treiben dürfe. —
2. Hipparinos und Achaios. Hipparinos tötet aus
Versehen seinen siegreich aus der Schlacht zurückkehren-
den Geliebten Achaios.
Pindar: (500 V. Ch.) b. K. Gedichte.
Prime-Stevenson, E. Irenaeus. Left to Themselves or
the Fortunes of Philip and Gerald. (Londoner Aus-
gabe: , Philip and Gerald*). New-York, Philips & Hund;
London, Hodder & Stonghton.
Diese angeblich für jüngere Leser geschriebene
Erzählung ist dieser Leserklasse in Wirklichkeit weit
voraus, und gegen den Schluss ist sie ersichtlich für
ein erwachsenes Publikum. Sie beschreibt, etwa wie im
33*
— 516 —
Falle der englischen Schul-Erzählung »Tim", eine tiefe,
hochgespannte und selbstaufopfemde Liebe zwischen zwei
Jünglingen, besonders von Seiten des älteren, Philipp, zu
seinem Schützling Gerald. Die Erzählung ist gelegent-
lich dramatisch. Die Beschaffenheit des Verständnisses
für die erste Entwicklung der Urnings-Liebe, die ge-
heimnisvolle Urnings-Hingebung, ist sorgfältig und fein
gezeichnet.
Prime-Stevenson, E. Irenaeus. A Great Patience.
(Scribner's Magazine, Jahrg. 1899. New-York-London.)
Eine hochdramatische Skizze eines Urnings und eines
Dionid-Umings, deren lange und von Aussenstehenden
kaum geahnte Beziehung plötzlich im frühen Knaben-
alter begann, entwickelt sich zu einem tragischen Schluss.
Der Schauplatz ist London.
Prime-Stevenson, E. Irenaeus. Many Waters. (New-York,
The Chrt. Union, 1885).
Eine tief uranidische Erzählung von der leiden-
schaftlichen Neigung zweier Musiker, die beide Urninge
sind, in deren Bann der jüngere bereit ist, seinen
eigenen Ruf für den anderen zu opfern sowie einen
groben Ehebruch zu verzeihen.
Prime-Stevenson, E. Irenaeus. Weed and Flour.
(„Musik". Chicago 189—).
Rückerty Friedrich. Oestliche Rosen: Der Schenke.
(Poetische Werke, Bd. 5).
Rückerty Friedrich. Saul und David, Drama. (Szene
zwischen David und Jonathan. Poetische Werke, Bd. 9).
Sacher-Hasoch, Leop. v. Die Einsamen. Mannheim, 1891.
Die einfache, ruhige Zeichnung eines Urnings, welcher
der Einsamkeit und Verzweiflung durch die dionische
Liebe zu einem geringen Landmädchen entrissen wird,
das ihn bemitleidet und seine Gefährtin wird, ohne
seine Seele zu verstehen.
Sade, Marquis de: La nouvelle Justine ou les malheurs
— 517 —
de la vertu, suivi de Phistoire de JuHette, sa soeur ou
les prosp^rit^s du vice. Aufl. von 1797 10 Bände, 4
der „Justine", 6 der „Juliette* angehörend.
Die bekannten obscönen Komane des berüchtigten
Marquis (vergl. oben die Besprechung des Buches
von D Uhren: Der Marquis de Sade u. seine Zeit.)
Sade, Marquis de: La Philosophie dans le boudoir ou
les instituteurs inimoraux. 1. Aufl. 1795, 2. Aufl. 1805.
Das Hauptthema: Die Erziehung eines jungen
Mädchens zum Laster, wird in Form vou Dialogen und
langen, lebhaften Vorträgen eröffnet, die nur ab und
zu von praktischen Ausführungen der gepredigten Aus-
schweifungen unterbrochen werden. Die Handlung tritt
zurück hinter den theoretischen Erörterungen. (Dühren
S. 370).
Schaufert, Hippolyt August: Schach dem König.
Preisgekröntes Lustspiel. Wien 1869. König Jakob
I. lässt sich bestechen durch die Schönheit eines
Mädchens, das sich, als Jüngling verkleidet, ihm nähert
und von ihm für einen Jüngling gehalten wird.
Schiller, Friedrich, b. K. Freundschaft, ein noch
ungedruckter Roman: Die Briefe von Julius an Raphael
mit einer Stelle leidenschaftlichen Liebesergusses.
Swinbume, Algemon Charles. Anactoria (Poems and
Ballads). Dies Gedicht ist als leidenschaftlicher Aus-
druck für die Liebe der Sappho aus dem schon im
Jahrgang U aufgeführten Buche besonders hervor-
zuheben.
Tatios, Achilleus: (5. Jahrh. n. Ch.) b. K. Kleitophon
und Leukippe. Buch II, K. 35: Gespräch zwischen
Kleitophon und Menelaos ; sie vergleichen die Männer-
und Weiberliebe mit einander; der eine schätzt die
Umarmung und Küsse des Weibes, der andere die des
Jünglings höher.
Tausend und eine Nacht (arabische Erzählungen aus
— 518 —
dem 15. und 16. Jahrh.). Die Geschichte des
dritten Kalenders. Adjib tötet, wie prophezeit war,
den von ihm geliebten Jüngling aus ZufalL Die Ge-
schichte des Prinzen Kamr. Die Schönheit des
Geliebten und der Liebesgenuss, den er gewährt, wird
gepriesen.
TheogniS (um 540 v. Ch,) b. K. Gedichte: Verherr-
lichung der Lieblingsminne an vielen Stellen.
Tibullus, Albius (geb. um 52 v. Gh.) b. K. Elegien:
IV und IX an seinen Geliebten Marathus. N. IV: All-
gemeine Ratschläge über die Kunst, einen Geliebten
zu fesseln, Warnung vor käuflicher Hingabe. N. IX:
Klagen über die Untreue seines Geliebten, der sich
des Geldes wegen einem alten Mann hingegeben hatte.
Tleek, Ludwig. Der Dichter und sein Freund. Novelle
über Shakespeare's Sonette.
Verlaine, Paul, b. K. Les hommes, ungedruckte
Sammlung erotischer Gedichte über die Männerliebe.
Von einem Gedicht: Millee Treb. K. 3 Strophen
abgedruckt. Wohl das Talentvollste, aber auch Kühnste,
was über die sinnliche Seite der Männerliebe gedichtet
worden ist.
Virgfil (Publius Vergilius Maro, 1. Jahrh. v. Ch.) b. K.
Die Ekloge an Alexis. Die Klagen und die Sehn-
sucht des Hirten Korydon (Vergil) nach dem ihn ver-
schmähenden Alexis (Alexander, in den Virgil verliebt).
Aeneis. Buch V. Der Wettkampf, in welchem
Euryalus durch die Aufopferung seines Geliebten
Nisus siegt
Xenophon (um 300 v. Ch.) b. K. Habrokomes und
Antheia, daraus: Die Erzählung des Habrokomes von
seinem Geliebten Hyperanthes, der durch den Aris-
tomachos entführt, von Habrokomes unter Ermordung
des Entführers wieder zurückgewonnen^, auf der Flucht
p^b Asien umkommt,
— 519 —
Zola, Emile, Paris (Ed. CharpeDtier, Paris 1898). Eoman.
Hyacinthe, der Sohn des vielfachen Millionärs Duvillard,
wird als der Vertreter der entarteten Nachkommen-
schaft des verfaulten reichen Bürgertums geschildert,
als ein efieminierter, weichlicher, etwas dummer Konträr-
Sexualer, der seine Sucht nach dem Anormalen und
Seltsamen überhaupt und seinen Abscheu vor dem Weib
(er schwärmt im Namen der Schönheit für die uni-
sexuelle Heirat, . die keine Kinder erzeugt^ S. 520) in
abgeschmackter Selbstgefälligkeit und dünkelhafter
Eitelkeit hervorkehrt. Eine Nebenfigur, Bargez, der
Hochstapler, ist gleichfalls als Homosexueller gezeichnet,
z. vergl. namentlich S. 277, wo er mit seinen beiden
^Liebschaften** (S. 397), einem früheren .italienischen
Modell, der zur leichten Existenz der zweifelhaften
Berufe hinabgesunken*, und einem unbärtigen, wie ein
Mädchen gekämmten Pariser Jüngling den modischen
Tingeltangel besucht.
P. S. Ich konnte nur einen Teil der Korrekturen
durchsehen und diesen nur in der allergrössten Eile. Ich
muss deshalb die Verantwortung für Unrichtigkeiten,
Fehler und Unebenheiten ablehnen.
Numa Prätorius.
Der Prozess von Georges Eekhoud wegen
seines Romanes „Escal^Vigor".
Georges Eekhoud, der bekannte Schriftsteller, der
dem vorjährigen Jahrbuch die interessante Studie über
den homosexuellen Bildhauer Duquesnoy gewidmet hatte,
ist wegen Angriffs auf die öffentliche Schamhaftigkeit,
begangen durch seinen Boman „Escal-Vigor*, von der
Staatsanwaltschaft in Brügge gerichtlich verfolgt worden.
Selbst in Deutschland — trotz der in den letzten Jahren
so häufig hervorgetretenen rückschrittlichen Tendenzen
und Knebelungsversuche freier künstlerischer Produkte
— hätte sich doch kaum ein Staatsanwalt gefunden^ der
gegen die Veröffentlichung eines solchen Romans einge-
schritten wäre. Um so mehr setzt es in Erstaunen, dass
dies in dem sonst in jeder Beziehung so freien Belgien
möglich war. Noch unbegreiflicher erscheint es, dass
gerade das künstlerisch vollendetste Werk des Dichters
beanstandet wurde. Nirgends begegnet man bei Eekhoud
der Schilderung brutaler Sinnlichkeit, geschweige denn
lasciven Darstellungen, überall ist das geschlechtliche
Moment idealisiert und künstlerisch verschleiert, aber in
gewissen seiner Novellen sind derbere Szenen, gewagtere
Situationen homosexuellen Inhalts als in dem poetischen,
teilweise von Platonischem Geist durchwehten, wenn auch
aus dem feurigen Temperament eines modernen Künstlers
herausgewachsenen und von ihm durchglühten „Escal-.
Vigor* anzutreffen. — In meiner Besprechung von Eek-
— 521 —
houds Werken im vorjährigen Jahrbuch habe ich „E8cal==
Vigor", wie folgt, charakterisiert: — „,Escal-Vigor^, viel-
leicht der schönste, echt künstlerische Umingsroman, der
auch, was Aufbau, Geschick der Darstellung, psycho-
logisches Verständnis und lyrischen Schwung anbelangt,
als vortrefflich bezeichnet werden muss, behandelt die
Liebe eines jungen, mit allen Vorzügen des Geistes und
Körpers ausgestatteten Grafen zu Gidon, dem einfachen
Bauemburschen, dessen Erziehung der Graf unternimmt,
den er zu sich emporhebt und in dem er das Ideal von
Jugendschönheit und Charaktergüte findet. -■ — Per Roman
gewährt zugleich einen Einblick in die Seelenkämpfe und
-Qualen, die ein Homosexueller durchzumachen hat, bis
er sich zur Erkenntnis seiner Natur und der Berechtigung
seiner Liebe durchgerungen. Er schildert- sodann nicht
nur die Entwicklung der Leidenschaft des Grafen zu
Gidon, sondern auch den Eindruck dieser Leidenschaft
auf die Umgebung und den Ansturm der Vorurteile
gegen sie. Ueberall begegnet der Graf dem Misstrauen,
der Verleumdung, der Bosheit und dem Hass; pur eine
Frau, die ihn hofinungslos liebt, vermag ihm Mitleid und
Verständnis entgegenzubringen. In einer grandiosen
Schlussszene prachtvollen Kolorits wird der tragische
Untergang des Geliebten dargestellt, der an einem Tage
allgemeiner Volksbelustigung, wo die entfesselte Sinn-
lichkeit des Volkes wahre Orgien feiert, durch wütende
Frauen — echte Mänaden — getötet wird." — Ich will
dieser damaligen Charakteristik noch Folgendes hinzu-
fügen:
In dem Roman wird nirgends ein geschlechtlicher
Akt zwischen dem Grafen und Gidon angedeutet, ge-
schweige denn ausgemalt, das einzige sinnliche Vor-
kommnis ist eine Umarmung Beider, als der Graf dem
Jungen seine Liebe gestanden. Das ganze Verhältnis
wird yop Eekhoud nicht als grobsinnliches, sondern im
— 522 —
Sinne des Platonischen Eros als eine edle Leidenschaft^
als eine das Wohl und Beste des Geliebten, seine Bil-
dung und Vervollkommnung bezweckende Zuneigung auf-
gefasst. Gerade um jede Missdeutung auszuschliessen,
hat der Dichter den Diener des Grafen, den Schurken
Laudrillon, dessen gemeine Seele, unfähig, die wahre
Natur des Bundes zwischen seinem Herrn und Gidon zu
verstehen, ihn nur durch Motive der Lüsternheit und
niedrigster Geschlechtlichkeit zu erklären vermag, mit
besonderer Verachtung gezeichnet. — Eekhoud hat in
seinem Roman nicht nur das homosexuelle Problem be-
handelt, sondern auch den religiösen Fanatismus, die eng-
herzige, an dem Buchstaben klebende Orthodoxie und die
heuchlerische Scheinheiligkeit in oft sehr herben Worten
gegeisselt — Man wird sich nicht irren, wenn man den
Grund der Verfolgung und jedenfalls der Anzeige nicht
so sehr in einer Aergernisnahme an dem homosexuellen
Inhalt des Romans erblickt, als in dem Streben, den in
dem Werke unverhüllt sich entfaltenden freiheitlichen
Geist zu knebeln. — Die Anzeige an die Staatsanwalt-
schaft erfolgte im Sommer 1899 seitens eines Sittlichkeits-
vereins in Brügge. — Die Untersuchung dauerte monate-
lang und erst am 24. Oktober 1900 kam die Sache vor
dem Schwurgericht zu Brügge zur Verhandlung. Eine
grosse Anzahl französischer Schriftsteller — über Hun-
dert — und verschiedene ausländische, darunter die
glänzendsten Namen der Kunst und Litteratur, Männer
aller Konfessionen und aller Richtungen, veröffentlichten
folgende Protesterklärung:
„Georges Eekhoud, dessen gesamte Werke ernst und
gewissenhaft sind, hat eine Studie herausgegeben, die wie
seine übrigen Schriftwerke nur von dem philosophischen
und künstlerischen Streben erfüllt ist: ,Escal-Vigor*.
Trotzdem wird dieses Buch als gegen die guten Sitten
verstossend verfolgt. Bei dieser Gelegenheit fühlen sich
— 523 —
die unterzeichneten französischen Schriftsteller verpflichtet,
ihrem Kollegen Eekhoud ihre Hochachtung zum Ausdruck
zu bringen und sie bedauern den Angriff, der an seiner
Person gegen die Freiheit der Kunst und des Gedankens
unternommen worden ist."
Um die Aufrechterhaltung der Anklage zu ermög-
lichen, hat die Behörde nicht nur das, was in dem Boman
geschieht und geschildert wird, beanstandet — denn dies
hätte keinesfalls genügt — sondern vermutete Ab-
sichten und etwaige geschlechtliche Handlungen den
Personen des Romans nntergeschoben.
Ueber den Verlauf der Verhandlung berichtet Eekhoud
selber in der Dezembemummer des,Mercure de France^
Er sagt unter Anderm: ^Im Gefühl meiner reinen Ab-
sichten und meines guten Gewissens hatte ich während
der Voruntersuchung der Behörde auf ihr Verlangen hin
gewisse Spezialwerke geliehen, aus welchen ich einige er-
greifende Offenbarungen über den Zustand beständiger
moralischer Tortur der Invertierten entnommen hatte.
Was that die Staatsanwaltschaft? Sie liess die psycho-
logischen und seelischen Ergebnisse, die einzigen, die
mich in diesen Büchern für die Ausarbeitung meines
Romans interessiert hatten, bei Seite, suchte und hob in
den gesamten Schriften alle widrigen Einzelheiten, alle
Beschreibungen der rein geschlechtlichen Praktiken her-
vor und schrieb dann den beiden Helden aus ,Escal-
Vigor^ die Gesamtheit aller physiologischen Exzesse zu,
welche die Aerzte aufzählen. Sie wollte mich verur-
teilen lassen nicht wegen dessen, was ich geschrieben,
sondern was ich hätte schreiben können.*'
Zwei Irrenärzte waren von der Anklage als Sach-
verständige geladen, welche ^Escal-Vigor* wegen des
darin behandelten Problems für sozial schädlich erklärten.
Gegenüber diesen Sachverständigen bekundeten etwa
80 Zeugen der Verteidigung: Schriftsteller^ Uiuversitäta»
— 524 —
Professoren, Kritiker u. s. w. — die bekanntesten Namen
der Kunst und Litteratur Belgiens — den Kunstwert und
den sittlichen Ernst des Romans. «Unter den Zeugen,
berichtet Eekhoud, waren strenggläubige Katholiken und
Künstler, mit denen ich mich schon in Konflikt oder
wenigstens in Meinungsverschiedenheit befunden hatte.
Alle aber brachten mir den Ausdruck ihrer Achtung und
litterarischen Solidarität, einmütig die beleidigende und
phantasievolle Deutung zurückweisend, welche die An-
klage und ihre Helfershelfer „Escal-Vigor* gegeben
hatten. Die Staatsanwaltschaft hatte kein Glück. Sie hatte
sich geschmeichelt, wenigstens einen Künstler den von
der Verteidigung geladenen gegenüberstellen zu können,
sie brachte mir aber nur ein Zeugnis der Achtung mehr.
Georges Virrfes, der bekannte katholische Schriftsteller,
obgleich er von seinem Standpunkt als Katholik ge-
wisse Vorbehalte über die philosophische Tragweite meines
Buches machte, weigerte sich dennoch wie die übrigen,
in diesem etwas Anderes als ein Kunstwerk zu sehen
und wies ebenso energisch wie die Zeugen der Verteidigung
die von den sogenannten Wächtern der öffentlichen Sitt-
lichkeit erdachten Scheusslichkeiten zurück."
Nach einer glänzenden Verteidigungsrede des in
Belgien rühmlichst bekannten Schriftstellers und Advo-
katen Edmond Picard wurde Eekhoud, wie es ja ge-
schehen musste, freigesprochen.
Auch das wissenschaftlich-humanitäre Komit^ hatte
ein Gutachten über den ßoman vom medizinischen Stand-
punkt aus eingesandt. Dasselbe wurde jedoch zu spät
von Eekhoud einverlangt, um noch übersetzt und in der
Verhandlung benützt werden zu können. Eekhoud will
dasselbe in der nächsten Auflage des Bomans als Ein-
leitung veröffentlichen. In dem Gutachten wurde hervor-
gehoben, dass Eekhoud nicht etwa ein Laster verherrlicht,
sondern nur eine angeborene, höchstens als krankhaft«,
— 525 —
aber nicht als verbrecherisch zu bezeichnende Neigung
behandelt habe, dass dieser Trieb ebenso wie die normale
Liebe eine edlere, idealere Seite aufweise, dass Eekhoud
gerade einen geistig und sittlich höher stehenden Homo-
sexuellen zum Helden gewählt habe, dass von einer un-
sittlichen oder gar unzüchtigen Tendenz nicht im Ent-
ferntesten die Rede sein könne, dass, wenn man von
Tendenz bei einem Kunstwerk wie Escal-Vigor über-
haupt sprechen wolle, diese nur dahin gehe, den sinnlichen
und geschlechtlichen Charakter der Homosexualität des
Helden in einer Weise in den Hintergrund zu stellen,
wie es in der Wirklichkeit beim Homosexuellen nicht oft
der Fall wäre.
Der Prozess hat ganz andere Folgen gehabt, als die
Feinde Eekhouds erwartet hatten. Der Dichter ist nicht
nur freigesprochen, sondern sein Name weit über Belgiens
Grenzen hinaus bekannt geworden. Sein Buch hat in
den letzten Monaten rasch die 5. Auflage erlebt.
Dr. jur. Numa Prätorius.
Zeitungsausschnitte.
Vorbemerkung.
Wir bringen auch dieses Mal der Tagespresse
der letet.en und früheren Jahre entnommene Mitteilungen,
in bunter Beihenfolge, wie wir sie erhielten. Den Damen
und Herren, welche sie übersandten, verbindlichsten Dank!
Auch diejenigen, deren Zusendungen hier nicht abgedruckt
sind, zum Teil aus dem Grunde, weil . sie zu wenig
Charakteristisches enthielten, bitten wir um weitere Ueber-
weisungen.
Ein Mädchen in Männerkleidern. Vor dem Gebäude
der Polizeidirektion in Wien promenierte ein junger, bartloser
Mann, der sich durch sein scheues Benehmen auffällig machte. Er
schien unschlüssig zu sein, ob er das Gebäude betreten solle oder
nicht. Ein Polizeiagent, der den Betreffenden eine Weile beobachtet
hatte, trat auf ihn zu und fragte ihn, ob er vielleicht etwas suche,
worauf der junge Mann erwiderte, er wünsche ein Arbeitsbuch von
der Polizei zu erhalten, man habe ihn vom. Magistrat hierher ge-
wiesen. Man führte den jungen Mann zum Stadtkommissariat, dort
konnte aber seinem Wunsche nicht entsprochen werden, da er keiner-
lei Dokumente vorzulegen im Stande war. Bei dem Protokoll, das
mit ihm nun aufgenommen wurde, war sein ganzes Gehaben so
eigentümlich, dass der Polizeibeamte auf die Idee kam, der junge
Mann sei eigentlich ein — Frauenzimmer. Als der Beamte diesem
Verdachte Ausdruck gab, gestand alsbald der Junge Mann'' unter
Thränen, ein Mädchen zu sein. Aus den weiteren Geständnissen
ging hervor, dass dieses Mädchen seit dritthalb Jahren nur
— 627 —
Mannerkleider getragen habe. Als Grnnd der Verkleidung gab
das Mädchen an, dass es als Magd bei den Bauern, bei denen es
diente, sehr viel Nachstellungen ausgesetzt sei. Die letzte Zeit habe
es als „Feldarbeiter'' das Leben gefristet, und auf dem Lande habe
Niemand sein wahres Gesohlecht geahnt. Da die Angaben des
Mädchens, das weder schreiben noch lesen konnte, doch Argwohn
erweckten, leitete die Polizei Erhebungen ein. Dieselben ergaben,
dass das Mädchen, dessen geistige Entwickelung sehr zurückgeblieben
ist, sich in allen Angaben an die Wahrheit gehalten und nichts
Böses angestellt oder im Sinne hatte. Als arbeits- und subsistenz-
los wird nun das Mädchen in die Heimatsgemeinde gebracht und
ihm auch bedeutet werden, dass es nicht mehr in Männerkleidem
einhergehen dürfe. (20. 8. 99.)
Mainz, 12. Mai 1900. Einer geradezu unglaublich gemeinen
Erpressu ng ist ein hiesiger Handlungsgehülfe zum Opfer gefallen.
Derselbe gewährte dem 25jährigen Hammerschmied Karl Bernhard
Braun aus Pöllnitz Nachtquartier in seinem Zimmer und soll sich
dabei gegen den § 175 Str.-G.-B. vergangen haben. Braun schwindelte
dem Handlungsgehülfen nun vor, er sei ein Detektiv aus Wiesbaden
und mit seiner üeberwachung betraut. Da er ihn jetzt auf irischer
That abgefasst habe, so werde er Anzeige erstatten. Durch diese
Drohungen gelang es dem Gauner, von dem Handlungsgehülfen in
kurzer Zeit dessen ganze Ersparnisse im Betrage von Mk. 1000 zu
erpressen. Da er aber immer noch mehr verlangte, zeigte der
Düpierte endlich die Sache dem Gericht an, das in seiner gestrigen
Verhandlung vor der Strafkammer den Braun in Anbetracht der
Gemeingefährlichkeit seines Treibens zu drei Jahren Gefängnis ver-
urteilte und ihm die Ehrenrechte auf die gleiche Dauer aberkannte.
Der Anführer einer frechen Erpresserbande, welche
namentlich den l^ergarten unsicher zu machen pflegte, ist soeben in
der Person des Kellners Rudolph P riebe gefänglich eingezogen-
worden. In polizeilichen Kreisen wird P. als der „Schrecken des
Tiergartens'' bezeichnet. Er hat erst vor kurzer Zeit ein Jahr und
neun Monate Gefängnis wegen Erpressung abgebüsst, nach seiner
Haftentlassung aber sofort sein schändliches Gewerbe wieder auf-
genommen. Seine Thätigkeit bestand besonders darin, dass er sich
mit seinen Komplizen in der Nähe entlegener Partieen des Tier-
gartens in den Hinterhalt legte und einsam promenierenden Herren
auflauerte, die alsdann belästigt und mit frechen Erpressungsver-
Buohen wegei^ angeblicher lasterhafter Ausschweifungen verfolgt
- &2Ö —
wurden. Das Manöver blieb selten ohne Erfolg, weil die Opfer den
öffentlichen Skandal fürchteten. Der letzte Fall; welcher zur Ver-
haftung führte, betraf einen Kaufmann aus einer der fashionablesten
Strassen in der Nähe des Königsplatzes. Der Kaufmann hatte auch
zunächst ein Lösegeld gezahlt, als aber die Forderungen immer
frecher wurden, griff er zu dem allein richtigen Mittel, der Anzeige
bei der Staatsanwaltschaft.
Eine Verlobung, die in ihrer Art vereinzelt dastehen dürfte,
hat eine Beamtenfamilie in grosse Bestürzung versetzt. Vor kurzem
machte die 17jährige Tochter auf einem Balle die Bekannt-
schaft eines jungen Seemannes, der durch seine schmucke
Uniform und seine angenehmen Manieren sofort ihr Herz gewann.
Der hübsche Matrose war, wie er erzählte, auf längere Zeit beur-
laubt. Nach einigen Wochen schon willigten die Eltern in eine
Verlobung, die auch regelrecht bei Musik und Tanz gefeiert wurde.
Eines Tages war der Seemann verschwunden. Als sich die ver-
lassene Braut an Verwandte wendete, von denen der Bräutigam
früher gelegentlich gesprochen hatte, erfuhr sie zu ihrer grenzen-
losen Ueberraschung, dass der Auserwählte ihres Herzens gar kein
Mann, sondern weiblichen Geschlechts sei. Da das junge
Mädchen hieran nicht glauben wollte, wurde ein Zusammentreffen
mit dem Bräutigam, der Berlin noch gar nicht verlassen hatte, er-
möglicht. Hier erschien der Bräutigam, der keine Ahnung hatte,
wer ihn erwartete, in weiblicher Kleidung. Wie sich jetzt heraus-
gestellt hat, ist der Verlobte im Unterrock derselbe weibliche
Matrose, der, wie jüngst berichtet wurde, einen Schneidermeister
im Norden mit zwei Matrosen- Anzügen prellte. Der Person sieht
man allerdings kaum an, dass sie zu Evas Geschlecht gehört. Männ-
liche Gesichtszüge, kurzgeschnittenes Haar erleichtern die Maskerade
ganz bedeutend. Die Eltern sind dem Treiben ihrer Tochter gegen-
über vöUig machtlos. (21. 9. 1898.)
In Damenkleidern. Welche Sumpfpflanzen in der Gross-
stadtluft gedeihen, zeigte eine Diebstahlsanklage, die gestern vor
dem Schöffengericht gegen einen Schneidergesellen Namens Julius
Schulz verhandelt wurde. Der Angeklagte, ein Mensch mit ganz
weibischen Gesichtszügen und Körperbewegungen, ist, wie aus seinem
Strafregister hervorgeht, schon ein halbes Dutzend Mal mit Haft
bestraft worden, weil er in Damenkleidem Strassen durchstreift und
groben Unfug verübt. Jetzt stand er unter der Anklage, einen
Radmantel, einen Damenhut und eine Perrüoke gestohlen zu haben,
— 52d —
welche Eigentum eines Tafeldeckers waren. Dieser, sowie die üb-
rigen drei vernommenen Zeugen gehörten nun aber, wie die Ver-
handlung ergab, sämtlich zu derselben Spezies von jungen Männern,
welche sich in Damenkleidem des Abends in den Strassen Berlins
umhertreiben. Der Angeklagte wie die Zeugen machten kein Hehl
aus ihrer Vorliebe für die weibliche Tracht, und der Erstere ver-
kündete mit einem gewissen Stolz, dass er in seinen Kreisen als
„Julchen** weit bekannt sei, während die Belastungszeugen die
Ehrennamen „Schlamassel- Jette", „Tiger-Dame" und „ Plansch- Guste"
führen. Bei dieser Maskerade ist es natürlich auf unsauberen Er-
werb abgesehen. Interessant ist es jedenfalls, dass der Angeklagte
behauptete, die von ihm angeblich gestohlenen Damensachen seien
ihm zur Benutzung bei dem grossen Ball geliehen worden, welchen
die Herren und „Damen" dieser Art alljährlich abzuhalten pflegen.
Behufs weiterer Aufklärung musste die Verhandlung vertagt
werden.
Eine neue Sekte der „Mannweiber" hat sich, wie wir
den „St. Louis News" entnehmen, in diesem Monat in St. Louis ge-
bildet. Diese sonderbare Vereinigung wurde von einigen älteren
unverheirateten Damen des high life gegründet und zwar zum Be-
weise dessen, dass die Frauenwelt keineswegs zum Leiden, zum
Dulden dem Manne gegenüber als das schwächere Geschlecht ge-
boren sei. Die hagestolzen Damen, welche schon mehr als hundert
Anhängerinnen ihrer Tendenzen gefunden haben sollen, leben nach
folgendem Programm: Jedes Weib, welches der Vereinigung bei-
tritt, muss sich verpflichten, Männerkleidung zu tragen, zu rauchen,
zu trinken, wie die Männer, und wöchentlich zweimal des Abends
im Klnbhause zu erscheinen. Der Strickstrumpf und die Nadel sind
verbannt aus dem Kreise der emanzipationslustigen Frauen, während
Reiten, Fechten und Turnen die erste Stelle in dem Vereins-
programm einnehmen. Jedes Mitglied, welches in die Ehe tritt,
wird ausgestossen Mit einem religiösen Nimbus sucht sich diese
Sekte dadurch zu umgeben, dass sie sich eine Patriarchin als Ober-
haupt gewählt hat, welche jeden Monat einmal sechs Stunden ohne
Unterbrechung nach einem Religionskodex, der sich aus christ-
lichen und muhamedanisehen Glaubenssätzen aufbaut, predigen
muss. (19. 12. 90.)
Chemnitz, 22. Dezember. Ein eigentümlicher Er-
pressungsprozess, der durch die begleitenden Umstände die
allgemeine Aufmerksamkeit erregte, gelangte in den letzten Tagen
Jahrbuch III, 34
— 530 —
hier zur Aburteilung. Seitens eines Übel beleamundeten jungen
Menschen, des berufslosen Paul Heinrich Prengel, wurden an die
Witwe eines im April verstorbenen, zu Lebzeiten hochgeachteten
hiesigen Kaufmanns Geldforderungen gestellt, die diese Dame
schliesslich bewogen, die Hilfe der Staatsanwaltschaft anzurufen.
Es ergab sich jetzt, dass der genannte Bursche, der übrigens ans
ehrenwerter Familie stammt, dem verstorbenen Kaufmann in der
Zeit vom Februar 1889 bis März 1891 nicht weniger als 40000Mk.
abgepresst hat. Der Verstorbene scheint völlig im Banne des
Prengel gestanden zu haben, denn sobald er diesen Taugenichts ei>>
blickte, Hess er ihm unter den Zeichen äusserster Furcht grössere
Geldbeträge einhändigen. Aber Prengel hatte nur das Erbe eines
„Freundes" angetreten, eines jetzt verstorbenen Lehrlings im Ge-
schäft jenes Kaufmanns, der seinem Lehrherrn gleichfalls 20000 Mk.
abpresste. Dieser junge Verbrecher hat auf dem Sterbebette den
Prengel gebeten, nun dem Kaufmann weitere Gelder nicht mehr ab-
zupressen. Prengel hat sich daran jedoch nicht gekehrt, sondern
sein verbrecherisches Treiben fortgesetzt und selbst, wie bemerkt,
nach dem Tode des Kaufinanns die trauernde Witwe nicht ver-
schont. Welche Gründe der Kaufmann hatte, zu den Erpressungen
still zu schweigen, ist durch die Gerichtsverhandlung nicht genügend
aufgeklärt. Prengel hat die erhaltenen Summen in der unsinnigsten
Weise vergeudet, unter Anderem seinen Hund mit Cham-
pagner getränkt. Der Verbrecher wurde zu 4 Jahren
3 Monaten Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust verurteilt.
Eine dunkle Geschichte. Am letzten Sonntag wurde in
Perleberg ein Mann zu Grabe getragen, der aus einem recht
eigentümlichen Grunde seinem Leben ein Ende gesetzt.
Während der Feiertage erschoss sich in Birnbaum (Posen) der
32jährige Amtsrichter und Leutnant der Reserve Carl Thiele,
ohne dass man zunächst für die unselige That des hoffiiungsvoUen
jungen Mannes irgendwelchen Anhalt hatte. Wie nun verlautet,
soll folgender Vorgang den Amtsrichter veranlasst haben, in den
Tod zu gehen. Während seiner Studienzeit verkehrte Th. sehr
intim mit einem Kommilitonen, und beide hatten sich auf Ehren-
wort verpflichtet, niemals zu heiraten. Trotzdem verlobte sich
Th. vor Kurzem und machte auch seinem Freunde hiervon Mitteilung.
Dieser machte ihm nun die schwersten Vorwürfe, auch der Braut
liess er Mitteilung zukommen. Th. wusste sich wohl keinen anderen
Bat als den Bevolver. — Zum Begräbnis war auch der erwähnte
— 531 —
„Freund'' erschienen. Tags darauf kaufte derselbe drei Grabstellen
in unmittelbarer Nähe der Gruft des freiwillig aus dem Leben Ge-
schiedenen. — Wer soll wohl hier seine ewige Kühe finden?
Ein Mann — ein Weib. In der Zirkusgasse in der Leopold-
stadt wurde Sonntag auf offener Strasse ein dürftig gekleideter
Mann in tiefstem Schlafe gemächlich hingestreckt aufgefanden, und
es bedurfte nicht erst langer Beobachtung, um zu erkennen, dass
der Schläfer einen Kapitalsrausch hatte. Der Wachmann, der den
Mann wecken wollte, hatte nicht geringe Mühe, denselben auf die
Beine zu stellen und auf das Kommissariat zu eskortieren; dort
musste der Betrunkene vorerst in eine Zelle gebracht werden, damit
er sich ernüchtere, üeber Nacht war von dem Häftling der Rausch
einigermassen gewichen, und nun begann die polizeiübliche Pro-
zedur : ärztliche Visitation, Abnahme der Generalien etc. Der Arzt
machte gleich an dem Manne eine Entdeckung, die ihn nicht wenig
verdutzt machte; er kon»tatierte nämlich, dass der Arrestant keines-
wegs ein Mann, sondern ein Weib war. Im Verlaufe des un-
mittelbar nach dieser überraschenden Feststellung aufgenommenen
Verhörs gab diese merkwürdige Frau offen zu, dass sie schon
seit dreissig Jahren in Männerkleidern herumgehe . . .
Die Frau nannte sich P. £., ist gegenwärtig 53 Jahre alt, wohnt in
der Haidgasse Nr. 10 bei einem Schuhmacher und brachte sich
kümmerüch als Harfenist fort. Sie ist angeblich die Tochter eines
höheren Offiziers, nach dessen Tode sie in's Waisenhaus gebracht
wurde, welches sie noch im jugendlichen Alter verliess. Nun war
sie, da ihr die Mutter fehlte und sie weder Mittel noch an Ver-
wandten eine Stütze besass, darauf angewiesen, sich einen Erwerb
zu suchen. Da kam ihr, der von aller Welt Verlassenen und über
ihre Hässlichkeit Verbitterten, der sonderbare Einfall, die Frauen-
kleider abzulegen. So wurde aus dem Fräulein Paula ein Paul E.
Da sie das Violinspielen gelernt hatte, blieb sie bei der Musik und
zog nun von Loksd zu Lokal, bald allein, bald in Gesellschaft, von
dem Erträgnisse ihrer „Kunst" stets kümmerlich genug lebend . . .
Die Polizeibehörde wird nach dieser Sachlage gegen P. E. die An-
zeige wegen Falschmeldung an das Bezirksgericht leiten.
Aus dem Dunkel des Tiergartens. (23. 9. 1900.) Das
Treiben des lichtscheuen Gesindels, welches den Tiergarten so
oft unsicher macht, erhielt eine grelle Beleuchtung durch eine gestern
vor dem Schwurgericht des Landgerichts I verhandelte Anklage
wegen Raubes. Auf der Anklagebank sassen der noch jugend-
34*
— 532 —
liehe Haasdiener £mil Gräber, der Sohlächter Panl Schleicher
und der Klempner Otto Sadrinna, von denen die beiden Letzt-
genannten der Kriminalpolizei schon längere Zeit als Verbrecher
bekannt sind, die in sittlicher Beziehimg auf der niedrigsten Stufe
stehen. Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme, die unter Aus-
schluss der Oe£fentlichkeit stattfand, hat Gräber im Tiergarten Ge-
legenheit gesucht und gefunden, mit einem Techniker ein Gespräch
anzuknüpfen und diesen so für sich zu interessieren, dass der Fremde
sich herbeiliess, ihn mit in den Pariser Keller zu nehmen und, da
er über Hunger klagte, dort auf seine Kosten speisen zu lassen.
Beide gingen darauf wieder in den Tiergarten und setzten sich auf
eine Bank in der Nähe des Brandenburger Thores. Neben ihnen
nahmen bald noch zwei Personen Platz, die plötzlich dem Techniker
die Arme festhielten und ihn so in die Notlage brachten, ruhig zu
dulden, dass man ihm das Portemonnaie wegnahm. Es gelang der
Kriminalpolizei nach ganz kurzer Zeit, noch im Tiergarten, den
ersten Angeklagten festzunehmen. Aus den Beschreibungen, die
der Beraubte von den beiden anderen Männern gab, ersah Kriminal-
kommissar V. Tresckow, dass es sich nur um die beiden letzten
Angeklagten handebi könnte; er liess diese festnehmen und sie
wurden dann auch von dem Belastungszeugen wiedererkannt. Das
Trifolium hatte ein ganzes Lügengebäude errichtet und glaubte,
durch die Irrgänge desselben dem Staatsanwalt entschlüpfen zu
können. Sie hatten sich getäuscht, denn auf Grund des Wahr-
spruches der Geschworenen verurteilte der Gerichtshof den An-
geklagten Gräber zu 2 Jahren Gefängnis, die beiden anderen
Angeklagten zu je 5 Jahren Zuchthaus.
Von einem geheimnisvollen Doppelselbstmordmeldet
unser es-Korrespondent aus Werdau in Sachsen. Zwei dortige junge
Handwerksgehilfen, der Barbiergehilfe Alfred Wolf und der Müller-
geselle Gebert, haben sich durch Erschiessen entleibt. Die Beweg-
gründe zu der That stehen noch nicht fest. Durch Inserate in den
Werdauer Lokalblättern nahmen die Selbstmörder herzlichen Ab-
schied von allen Freunden und Bekannten. Nachmittags in der
zweiten Stunde begaben sie sich in die Dachkammer Wolfs, zogen
die besten Anzüge und frische Wäsche an, legten sich zusammen
auf das Bett, und bald darauf krachten zwei Schüsse. Die Hinzu-
eilenden, der Hauswirt und der Prinzipal des Barbiergehilfen, fanden
die Selbstmörder bereits entseelt vor. Gebert hatte sich mit einem
Teschin, Wolf mit einem Kevolver in die linke Schläfe geschossen.
(3. 2. 1900.)
— 533 —
Aus dem Gerichtssaal. Die Verhandlung gegen eine ans
8 Köpfen bestehende Diebesbande, welche gestern die 4. Straf-
kaminer des Landgerichts I beschäftigte, gestattete Einblicke in das
entsetzliche Treiben eines lichtscheuen Gesindels. Angeklagt waren
1. der Schlächtergeselle Wilhelm Hosemann (mit Spitznamen „Die
Hosemannsche'^X 2- ^^^ Stepper Karl Aug. Hildebrandt (Spitz-
name „Die Olle"), 3. der Scblächtergeselle Gust. Schonert (,J)ie
Schöne"), 4. der Hausdiener Gustav Grimm („Die Schminkjuste"),
5. der Hausdiener Wilhelm Lübke („Lockenrieke"), 6. der Haus-
diener Gustav Hermann Holweg („Seiden-Guste"), 7. der Büflfetier
Heinrich Suhr und 8. der Hausdiener Ernst Julius Koschinski
(,.Der Leutnant''). Schon die Spitznamen der Angeklagten, die sich
wegen bandenmässigen Diebstahls zu verantworten hatten, zeigen
deutlich, wess Geistes Kinder sie sind; zum Ueberfluss brachte der
Vorsitzende noch zur Sprache, dass sie sämtlich noch in verschiedenen
Lokalen, namentlich auch im Luisenstädtischen Konzerthause, in
Frauenkleidern Bälle zu besuchen pflegten. Sämtliche Angeklagte
gruppierten sich um Hildebrandt, bei dem verschiedene von ihnen
wohnten. Bei Hildebrandt wurden dann auch die Raubzüge geplant
und besprochen, die sie in verschiedenen Gruppen durch die Strassen
Berlins unternahmen. Sie pflegten die grossen Warenhäuser zu
besuchen; einer von ihnen unterhandelte zum Schein wegen An-
kaufes irgend eines Gegenstandes, und diese Zeit benutzten die
Helfershelfer, um unbemerkt Waren der verschiedensten Art ver-
schwinden zu lassen. Als die Polizei bei Hildebrandt Hausdurch-
suchung abhielt, fand sie ein ganzes Warenlager gestohlener Gegen-
stände, welche gestern, in drei grosse Eeisekörbe verpackt, dem
Gerichtshof vorgeführt wurden: hohe Ständerlampen mit Phantasie-
schirmen, Statuetten aus Bronze und Kupfer, Majolikateller, Damen-
umhänge, 45 Paar Lackstiefel usw. In der Weihnachtszeit stahlen
sie besonders Gänse, Hasen, Pfefferkuchen usw. Das Urteil lautete
gegen Hildebrandt auf 4 Jahre Zuchthaus, gegen Grimm und Lübke
auf je 2Vi Jahre Gefängnis, gegen Schonert auf 6 Monate, gegen
Holweg auf 4 Monate (unter Anrechnung von 2 Monaten), gegen
Suhr auf 1 Monat, gegen Koschinski auf 6 Wochen Gefängnis. Bei
den beiden zuletzt Genannten wurde die Strafe als verbüsst erachtet.
Hosemann wurde freigesprochen. (Tägl. Rundsch. 20. 3. 1898.)
42 Jahre in Männerkleidorn. Aus London schreibt man:
Catharina Coombes hat keine Armee befehligt, hat das Vaterland
nicht gerettet, läuft keine Gefahr, verbrannt, und hat wenig Aus-
sicht, heilig gesprochen zu werden. Aber sie hat 42 Jahre als
— 534 —
Maler in Männerkleidem gelebt und gearbeitet, obendrein, ohne dass
die Welt ihre Weiblichkeit ahnte. Erst jetzt, als im Alter von
68 Jahren Arbeitsunfähigkeit sie ins Armenhaus von West Harn
trieb, ist ihr Geheimnis an den Tag gekommen. Man hielt sie nicht
für recht gesoheidt, als sie ihr Gesuch um Aufnahme in die Anstalt
mit den Worten begann : „Ich bin eine Frau." Sie fuhr jedoch un-
beirrt fort: „Ich bin geboren in Axbridge io der Grafschaft Somerset
im Jahre 1884 und habe in der T(Jchterschule von Cheltenham eine
vortreffliche Erziehung genossen. Unglücklicherweise heiratete ich,
kaum 16 Jahre alt, meinen Vetter, und seiner schlechten Behand-
lung wegen trage ich seit über vierzig Jahren Männerkleidung. Er
war ein Taugenichts, der, nachdem er mein kleines Vermögen durch-
gebracht hatte, seinen Aerger täglich in der rohesten Weise an mir
auszulassen suchte. Ich lief ihm weg, aber er folgte mir tiberall
hin. Schliesslich wusste ich nun, um mich vor ihm zu verbergen,
keinen anderen Rat, als die Kleidung anzunehmen, die ich seitdem
getragen habe. Unter dem Namen Charles Wilson wurde ich Stuben-
maler und habe als solcher tiber ein Menschenalter wöchentlich über
2 Pfund Sterling (40 Mark) verdient. Ich hatte den ganzen Tag
über auswärts zu thun. Ein und dasselbe Mädchen hatte 13 Jahre
lang meine kleine Wirtschaft geführt. Sie so wenig wie irgend
jemand Anderer hatte je daran gezweifelt, dass ich dem Geschlecht
angehörte, dessen Kleider ich tnig. Jetzt bin ich alt und müde."
(12. 9. 1899.)
Braun schweig, 11. Dezember. Grosses Aufsehen erregt
hier das Verschwinden eines höheren Beamten des herzoglichen
Finanzkollegiums, des Eegierungsrats W. Derselbe wird der Ueber-
tretung des § 175 des Beichsstrafgesetzbuches beschuldigt und hatte
ein gerichtliches Einschreiten zu gewärtigen. Man bringt hier die
Sache in Zusammenhang mit der Verhaftung des Kaufmanns P. B.,
der gleicher Vergehen beschuldigt wird.
Wegen mehrfacher Verbrechen im Sinne des § 175 des
Strafgesetzbuchs wurde am Sonnabend der Kaufmann E. W. aus
Braunschweig bei seiner Ankunft in Berlin verhaftet. Zu denjenigen
Männern, welche mit dem Verhafteten Beziehungen unterhalten
haben, gehört ein Hofschauspieler in Braunsehweig. Die Verhaftung
erfolgte auf Requisition der dortigen Polizeibehörde, welcher der
Verhaftete auch zugeführt werden wird. Im Besitze des sonst als
mittellos geltenden Mannes wurden bei der Verhaftung 10000 Mk.
gefunden, die er auf der Eisenbahnfahrt von Braunschweig nach
— 535 —
Berlin von einem ihm unbekannten mitreisenden Herrn geschenkt
erhalten haben will, eine Angabe, die auf erhebliche Zweifel stösst.
Der wegen Sittlichkeitsverbrechen hier verhaftete
Kaufmann £. W. (vergL unsere gestrige Morgenausgabe) ist, wie
das Braunschweiger Tgbl. meldet, aus Wolfenbüttel gebürtig und
mehrerer der ihm zur Last gelegten Strafthaten geständig. Der in
unserem Bericht erwähnte Mitschuldige des W. soll dem zitierten
Blatte zufolge nicht Mitglied des herzoglichen Hoffcheaters zu Braun-
schweig sein.
Frankfurt a. M., 80 April. Eine Familientragödie.
Von unserem ^s^-Korrespondenten wird uns aus Paris, 29. April,
geschrieben: G*est beau, un beau crime! Das Wort ist historisch.
Der Name seines Autors ist mir entfallen, aber ich weiss, dass es
einem berühmten Franzosen, einem Juristen, Philosophen oder Volks-
vertreter zugeschrieben wird. Wenn dieser Mann zufällig noch lebt,
so wird er von dem Verbrechen, welches das Tagesgespräch in
Paris bildet, ästhetisch befriedigt sein. Es ist wirklich einmal wieder
ein „schönes^ Verbrechen, die Ermordung des siebzehnjährigen
Eellnerburschen Eugene Vasseur. Am letzten Samstag wurde die
Leiche im Gehölz von Vincennes, nahe der dort über das Plateau
von Gravelle führenden Landstrasse gefanden. Kein Wertgegen-
stand und kein Papier, das sich am Thatorte gefunden hätte, ge-
stattete im ersten Augenblick die Identität des Toten festzustellen.
Derselbe war, wie der seinen Hals umschnürende Strick bewies, an
Erstickung gestorben. Vielleicht hatte er durch Selbstmord geendet,
vielleicht hatte er sich an dem Baum, unter welchem er lag erhängt.
Doch nein! Dann wäre der Strick langfaserig zerrissen, und das
obere Enäe wäre noch an einem Baumast befestigt gewesen. Dieses
abgerissene Ende jedoch existierte nicht, und das Stück, welches
die Kehle des Toten zusammenpresste, war glatt abgeschnitten.
Mithin lag ein Mord vor. Der junge Mensch war im einsamen Ge-
hölz überfallen, wahrscheinlich angegriffen und erdrosselt worden.
Die Persönlichkeit des Ermordeten wurde ziemlich rasch ermittelt
Ein schmutziges Stück Briefipapier, das sich in seiner Hosentasche
fand, enthielt zwei halb verwischte Bleistiftnotizen: die Adressen
eines Logiswirtes und eines Weinschänken in einer südlichen Vor-
stadt. Zur Morgue geführt und der Leiche gegenüber gestellt,
wuBste der Herbergswirt sich nicht zu erinnern, dass er den Toten
jemals gesehen habe, der Weinschänke dagegen glaubte, einen seit
längerer Zeit stellenlosen Kellner zu erkennen, der in Gesellschaft
— 536 —
gewisser übel beleumundeter junger Leute mehrmals in seinem Lokale
gewesen war. Die Kriminalbehörde nahm die betreffenden jungen
Taugenichtse ins Verhör, und einer derselben erklärte sofort, der
Tpte sei sein Freund Eug^e Yasseur, der seit Jahren von seinen
Eltern verstossene Sohn eines Weinwirts im Faubourg Saint-Denis,
nahe dem Boulevard de Lachavelle. Man berief den Vater zur
Morgue, und ohne mit den Wimpern zu zucken, sagte derselbe
beim Anblick der Leiche: „In der That, das ist mein Sohn. Dass
er so endete, wundert mich nicht. Er war ein unverbesserlicher
Thunichtgut, die Schande und der Kummer seiner Familie. Nun er
tot ist, brauchen wir nicht mehr zu fürchten, ihn als Verbrecher
vor Gericht zu sehen." Sprach's, wandte der Leiche achselzuckend
den Eiicken und ging sichtbar erleichtert davon, lieber den Mörder
hatte der alte Biedermann nur die Vermutung, dass es einer der
Kumpane seines Sohnes gewesen sein dürfte, einer der Strolche,
welche denselben Lastern fröhnten wie der Tote, ein junger Strolch,
der den Mitwisser eines Verbrechens beseitigen oder sich aus sinn-
licher Leidenschaft „wegen Untreue" rächen wollte. Die Polizei
griff auf die betreffenden jungen Leute zurück. Einer derselben
begann damit, dass er sein Alibi in unanfechtbarer Weise nachwies und
sich somit vor dem Verdacht der Thäterschaft sicher stellte. So-
dann erzählte er, dass er zuletzt am Donnerstag Nachmittags mit
Eugene Vasseur zusammen getroffen und dass dieser ihm gesagt
habe, ihm sei eine Stellung als Aufwärter bei einem Gastwirt in der
Nähe von Vincennes angeboten worden. Sein Vetter, ein Eisen-
bahn-Beamter Namens Boucher, habe das Engagement vermittelt
und wolle ihn am nächsten Tage jenem Gastwirt vorstellen. Eigent-
lich habe das Eendozvous schon fUr jenen Donnerstag gegolten,
aber Boucher sei an diesem Tage nicht abkömmlich gewesen. Diese
Verspätung, so setzte Eugene Vasseur hinzu, sei ihm sehr lieb, denn
er wisse, dass Boucher am nächsten Tage zuerst zu seinem Vater,
zu dem Weinwirt L6on Vasseur, gehen wolle, um ein ihm ver-
heissenes Darlehen von 3000 Frcs. zu erheben. Voraussichtlich
werde er diese Summe noch bei sich haben, wenn er zum Dampf-
boot komme, um ihn, den Eugene Vasseur, nach Charenton und
von dort über Joinville nach Vincennes hin zu begleiten. Boucher
sei ein schwächlicher Mensch, und er, Vasseur, beabsichtige die
Gelegenheit wahrzunehmen, um ihm auf dem Fussmarsch durch die
einsame Landschaft das von seinem Vater entliehene Geld „abzu-
knöpfen". Der Strolch, dem die Polizei diese interessanten An-
gaben verdankte, deutete ausserdem nocb an, dass zwischen dem
Eugene Vasseur und dessen Vetter seit Jahren gewisse vertrauliche
— 537 —
Beziehungen bestanden, dass Boncher, obwohl verheiratet, einen
Hang zu Ausschweifangen hege, und dass er den jungen Eugene,
der ihn hätte verraten können, beständig mit kleinen Geldsummen
unterstützte. Auf Grund dieser Ermittelungen wurde Boucher in
aller Heimlichkeit unter polizeiliche Beobachtung gestellt. Da ent-
deckte man nun, dass er in der Nacht vom Freitag zum Samstag
ausserhalb seiner in der Rue Salute- Anne gelegenen Wohnung ver-
weilte, dass er erst am Samstag Morgen über und über mit Strassen-
kot . bedeckt, nach Hause gekommen sei, den grösseren Teil des
Tages schlafend verbracht, während der folgenden Nacht bei seiner
in der Nähe der Central-Markthallen wohnenden Mutter Obdach ge-
sucht, am Sonntag mit auffälligem Eifer sämtliche Pariser Blätter
zu lesen verlangt, dann seinen Schnurrbart wegrasiert und die beiden
folgenden Tage in unstäten Wanderungen und Besuchen verlebt
habe. Man nahm Boucher darauf hin ins Verhör und konstatierte
mit Erstaunen, dass er alle Beziehungen zu seinem „verstorbenen"
Vetter leugnete, dass er den jungen Menschen seit Monaten nicht
gesehen haben wollte, obwohl es doch feststand, dass er denselben
beinahe täglich auf gewissen versteckten Plätzen in der Nahe seines
Arbeitsbureaus getroffen und mit kleinen Geldgeschenken unterstützt
hatte. Sein Leugnen, die Abnahme des Schnurrbartes, sein ganzes
Benehmen machten Boucher verdächtig. Man zitierte ihn zur
Kriminalpolizei und behielt ihn zu eingehenderem Verhör zurück.
Unmittelbar hernach liess man Boucher's Gattin, die in der Bue
Sainte-Anne eine kleine Speisewirtsohaft betrieb, zur Präfektur
führen. Vor dem forschenden Blick des Kriminalkommissars verfiel
die Frau sofort in Ohnmacht, dann hatte sie einen Weinkrampf,
und plötzlich schrie sie, sich auf die Knie werfend, sie habe ein
furchtbares Geheimnis auf dem Gewissen, ein Geheimnis, an dem
sie ersticken müsste, wenn sie sich nicht durch ein offenes Be-
kenntnis entlaste. Und nun folgte mit der Heftigkeit eines Wasser-
sturzes die ganze Flut von Enthüllungen. Vasseur's eigener
Vater hatte den Jungen erwürgt, und ihr Mann, Boucher,
hatte den Vetter verräterischer Weise an den Ort ge-
lockt, wo der Alte im Gebüsch lauerte. Boucher und
Vasseur Senior hatten einen Tag lang mit der Ringbahn alle ein-
samen Plätze in der Bannmeile abgesucht, um eine geeignete Stelle
für die Vollbringung der Mordthat zu finden. Für den Dienst, den
Boucher als Helfershelfer leistete, wollte ihm Vasseur 3000 Francs
schenken, deren Jener zum 30. April behufs Befriedigung ver-
schiedener Gläubiger benötigte. Es war das die Summe, welche
der junge Vasseur, der aus seines Vetters eigenem Munde von dem
— 538 —
Darlehnsgesohäft gehört hatte, dem intimen Freund und Verwandten
„abzuknöpfen^' gedachte. Boucher hat die Angaben seiner Frau
sofort bestätigt, um „endlioh wieder schlafen zu können'', wie er
sagte. Der unmittelbar hernach verhaftete Weinwirt Vassenr leug-
nete ebenfalls nicht länger, als man ihm die Aussagen seines Kom-
plizen Yorlas. Er habe seinen ungeratenen Sohn schon seit Jahren
aus der Welt zu schaffen beabsichtigt, so sagte er, „um durch den-
selben nicht noch grössere Schande über die Familie bringen m
lassen." In der letzten Nacht — das Geständnis erfolgte gestern
Abend — hat sich dieser „Verbrecher aus verlorener Ehre" selber
entleibt. Unter den Augen der beiden Polizeibeamten, die ihn
bewachen sollten, die vermutlich jedoch eingeschlafen waren, hat er
sein Lager verlasseu, das ungefähr acht Meter über der Strasse
gelegene Fenster geöffnet und sich kopfUber auf die Fliesen vor
dem Jnstizpalast gestürzt, wo er dann mit zerschmettertem Schädel
aufgehoben wurde. Heute Nachmittag um 2 Uhr ist er, ohne in-
zwischen seine Besinnung wieder erlangt zu haben, gestorben.
Frau Boucher, die man gestern Abend frei Hess, ist nicht in ihre
Wohnung zurückgekehrt. Man vermutet, dass sie auf dem Heim-
wege von der Präfektur nicht weiter kam als bis an und — in die
Seine. In der That, ein „schönes" Verbrechen und eine grausige
Familien-Tragödie ! G e r m ai n.
Man wird sich vielleicht jener Affäre noch erinnern, die seiner-
zeit so grosses Aufsehen erregte, und in deren Mittelpunkt die
junge ungarische Komtesse Sarolta Vaj stand. Diese hatte
Männerkleider angelegt, dann flott, ungebunden darauf losgelebt und
war auf ihren heiter verbrachten Kreuz- und Querfahrteu schliess-
lich in eine österreichische Provinzialhauptstadt gelangt, wo sie
sich mit der Tochter einer angesehenen Familie verlobte und
auch verheiratete. Ueber einen ähnlichen Fall haben wir nun auch
heute zu berichten; die Affäre, die in Wien spielt, ist folgende:
Montag Vormittag bemerkte ein Wachmann in der Stiftgasse in
Hemals einen Passanten von schwächlichem Aussehen, der mühsam
ein FasB mit sich schleppte. Dem Wachmann kam die Sache ver-
dächtig vor, er schritt auf den Mann zu und forderte ihn zur Aus-
weisleistuDg auf. Der Angehaltene wurde verlegen, gab aber keine
genügende Aufklärung, weshalb er vom Wachmanne arretiert wurde.
Bei der üblichen Visitation entdeckte der Polizeiarzt, dass der
Häftling, der sich Josef G. nannte, ein — Weib sei, M. Josefa G.
mit Namen und 34 Jahre alt. In der Wohnung der Verhafteten,
Gschwandnergasse Nr. 26, einem kleinen Kabinet, traf man ein
— 539 —
Mädohen, die 27 Jahre alte Metallschleiferin Marie D., die sich als
die Geliebte der G. bezeichnete. Wie die Metallschleiferin erzählt,
hat sie die G. vor 5 Jahren in einer Fabrik, wo sie Beide arbeiteten,
kennen gelernt. Die G. trug auch damals Männerkleider. „Er''
bewarb sich geradezu sttinnisch und durch längere Zeit um die
Neigung der Metallschleiferin, die endlich nachgab und mit „ihm''
gemeinschaftlich eine Wohnung bezog. Marie D. blieb es nicht
lange verborgen, mit wem sie lebte. G. hatte ihr alsbald ihr Ge-
heimnis anvertraut und dabei unter Thränen beteuert, dass sie alle
Männer verabscheue und ohne die Geliebte das Dasein nicht er-
tragen könne. Aus Mitleid brach die Metallschleiferin das „Ver-
hältnis" nicht ab. G. hat die ganze Zeit über mit einem auf den
Namen Josef G. ausgestellten Arbeitsbuch Bestellung gesucht und
auch erhalten. J. G» trägt schon seit mehr als 14 Jahren Männer-
kleider. Ihr Anzug war, ihrem Stande entsprechend, der eines
Arbeiters : Rock, Hose, Weste, Alles von der einfachsten Art. Ihre
OberrOcke hatten immer einen ungewöhnlich breiten Kragen, den
sie, wie um sich zu verbergen, aufzuschlagen pflegte. Viele Jahre
hindurch arbeitete sie in einer Steindruckerei in LichtenthaL Schon
dort gab sie, so sehr sie sich auch bemühte, als Mann stramm aus-
zusehen, Anlass zu spöttelndem Gerede. Etwas Scheues, Weib-
liches offenbarte sich bei ihr, wenn auch durch Energie stark nieder-
gehalten, in Allem und Jedem. Man war in dieser Sache indess
niemals im Klaren und wurde dadurch sehr schwankend gemacht,
dass die G. beständig lebhaft mit den Kolleginnen charmierte. Wie
sehr sich der gegen ihr Geschlecht gehegte Argwohn allmälig ver-
flüchtigt hatte, beweist, dass, als bei einer Gelegenheit das männ-
liche Arbeitspersonal der Fabrik, in welcher die G. beschäftigt war,
sich in corpore photographieren liess, sie zu dieser Gruppe eben-
falls mit herangezogen wurde. Sie sieht da sogar recht schmuck
aus. Das „Mannweib'', das alle Männer aus tiefster Seele verab-
scheut, war eine geradezu leidenschaftliche Baucherin. (14. 1. 93.)
Der Geiger Brlndis, dessen Verhaftung wir meldeten, ist als
unschuldig wieder entlassen worden. Der „Saale-Ztg." wird von
seinem Impresario aus Braunschweig Folgendes geschrieben: „Brindis
wurde heute früh durch den Oberamtsrichter Ludwig in Wolfen-
bttttel in meiner Gegenwart aus der Haft entlassen und von der gegen
ihn erhobenen Beschuldigung völlig frei erklärt. Ich gebe Ihnen
den Sachverhalt, soweit i«h davon Kenntnis erhalten. Brindis wurde
von dem kaum 15jährigen Schneiderlehrling Schulze in Wolfen-
büttel der VerÜbung ganz unglaublicher, ans Romanhafte grenzender
— 540 —
Handlangen beschnldigt, anf Grund der Angaben dieses Burschen
verhaftet und nach Wolfenbüttel gebracht. Der Bursche wurde
vorgestern von Herrn Oberamtsrichter Ludwig vernommen und ver-
wickelte sich derartig in Widersprüche, dass seine Verhaftung sofort
beschlossen wurde. Noch gestern legte er folgendes Geständnis
ab : Die ganze Geschichte, die er über Brindis der Polizei in Wolfen-
büttel erzählt hätte, wäre vollkommen von ihm erfunden. Er
hätte einmal einen Roman gelesen, in welchem derartige Greuel-
thaten, die ein Neger an einem Knaben verübt haben sollte, erzählt
wurden. £r hätte dies einem ihm bekannten älteren Manne erzählt
und dieser habe ihm aufgetragen, vielleicht in dem Glauben, dass die
Geschichte den Mohren Brindis beträfe, denselben bei der Polizei
anzuzeigen, was der Bursche gethan, nachdem der betreffende Mann
schon vorher von der Erzählung des Knaben Polizeibeamten gegen-
über Andeutungen hatte fallen lassen. Sein Gewissen hätte ihn,
den Schneiderburschen, wegen der falschen Anschuldigung indess
die ganze Nacht nicht ruhen lassen. Die Angaben des Burschen
waren derartig, dass schon der Untersuchungsrichter in Halle da-
rüber den Kopf schüttelte, jedoch nicht umhin konnte, den Befehl
des Staatsanwalts, Brindis zu verhaften, auszuf ühren.*^ Zur Rehabi-
litierung des Rufes des unschuldig verdächtigten und 6 Tage in
Haft gewesenen Künstlers bitte ich Sie, diese auf Wahrheit beruhenden
Mitteilungen zu veröffentlichen, zumal derselbe das dort bereits an-
gesetzt gewesene Konzert dennoch in nächster Woche, vielleicht
schon nächsten Sonntag, geben wird.''
Ein Mann in Frauenkleidern trieb sich am Dienstag
Abend nach Art der bekannten galanten Dämchen in der Nähe
des Bahnhofs Zoologischer Garten umher. Er wurde verhaftet und
nach dem nächsten Polizei-Revier gebracht. (4. 5. 1900.)
Münster. Im hiesigen Polizeigefängnis war ein etwa 17jähriger
Knabe inhaftiert. Durch Zufall stellte sich jedoch heraus, dass der
Knabe eigentlich — ein Mädchen sei, trotz des angenommenen
männlichen Namens und der männlichen Tracht. Insofern ist der
Vorfall höchst merkwürdig, als das 17jährige Mädchen, wie wir
hören, behauptet, von Jugend auf in männlicher ELleidung gegangen
zu sein und noch niemals weibliche Eüeidung getragen zu haben.
Das Mädchen will seinem Vater, einem umherziehenden Künstler
— 541 —
oder Seiltänzer, wegen der ausgestandenen Misshandlung entlaufen
sein. Vielleicht wird die hoflFentlich einzuleitende Untersuchung
manches Interessante zu Tage fördern.
Franken thal, 8. Aug. 1900. Das Strafverfahren gegen den
gestern wegen Vertibung von Sittlichkeitsvergehen an jungen Ge-
sellen verhafteten bisherigen stellvertretenden Präses des hiesigen
katholischen Gesellenvereins K. W. ist eingestellt und der Beschuldigte
heute aus der Haft entlassen worden. Die Bestimmung in § 175
des Keichsstrafgesetzbuches ist auf den Fall nicht anwendbar.
Ein böses Abenteuer, welches einem Ausländer in Berlin
begegnete, kam gestern in einer Verhandlung zur Sprache, die vor
der dritten Strafkammer des Landgerichts I stattfand. Aus der
Untersuchungshaft wurden drei junge Leute, der Eelbier Johann
Nowack, der Elektrotechniker Fritz Boll und der Kellner Franz
Hank vorgeführt, welche der gemeinsamen Erpressung be-
schuldigt waren. Die Verhandlung ergab folgenden Sachverhalt;
Am Abend des 13. März d. J. traf hier der junge Kaufmann N. aus
Warschau ein. Er stieg im Savoy-Hotel ab und besuchte zunächst
das Apollo-Theater. Auf dem Heimwege schloss sich ihm der An-
geklagte Boll an. Dem Vorschlage des Letzteren, noch ein Glas
Bier zu trinken, stimmte der Fremde zu, und sie kehrten im „Franzis-
kaner^ ein. Sodann schlug Boll noch einen kleinen Spaziergang
nach dem Tiergarten vor, womit der Busse ebenfalls einverstanden
war. Auf dem Rückwege vom Tiergarten fiel es dem Fremden auf,
dass zwei Personen ihnen in auffallender Weise folgten, Boll wusste
ihn aber zu beruhigen. Sie hatten fast das Brandenburger Thor
erreicht, als plötzlich die beiden ihnen folgenden Männer, die An-
geklagten Nowack und Hank, ihnen den Weg vertraten und je einen
mit festem GriflF packten. „Ln Namen des Gesetzes, Sie sind ver-
haftet, Sie haben unsittliche Handlungen vorgenommen!" rief Nowack,
der den Bussen gepackt hielt, diesem zu. „Verhalten Sie sich ganz
ruhig, ein Pfiff, und die ganze Berliner Sohutzmannschaft ist auf
den Beinen!" — „Um des Himmels Willen, geben Sie dem Manne
etwas, dann lässt er Sie laufen," raunte der angeblich mit verhaftete
Boll seinem Leidensgefährten zu. Dieser befolgte den Bat, er bot
dem Pseudo-Beamten zwei Hundert-Bubelscheine und fand sofort
freundliches Entgegenkommen. Der Fremde musste noch seine
Wohnung im Hotel angeben und dann schlugen die beiden angeb-
lichen Beamten sich seitwärts in die Btlsche. Die beiden Spazier-
— 642 —
gäoger konnten nun unbehelligt nach Hause gehen. Nowaok hatte
die DreiBtigkeit, den Bussen am folgenden Morgen in seinem Hotel-
zimmer aufzusuchen. Er verlangte von ihm mehr Geld. Der Busse
entnahm seiner Brieftasche noch einen Hundert-Bub el-Schein ; es war
der letzte. Grossmütig gab Nowack ihm einen Hundertmarkschein
heraus, damit er seine Bechnung bezahlen und nach Hause reisen
könne. Als Nowack dann aber an dem Finger des Bussen einen
Brillantring' bemerkte, liess er sich auch diesen geben und erklärte
sich dann für befriedigt. Der Busse beeilte sich, die Heimreise an-
zutreten mit dem Gedanken, dass die Bestechlichkeit der Beamten
in Deutschland nicht minder gross sei als anderswo. Die drei An-
geklagten erweckten durch ihre Ausgaben Verdacht, sie verrieten
sich dann selbst. Der Staatsanwalt betonte, dass das fein abge-
karte Spiel, welches die Angeklagten betrieben, auf eine hochgradige
Verderbtheit schliessen lasse; er beantragte gegen Nowack andert-
halb, gegen Boll und Hank je ein Jahr Gefängnis. Die Verteidiger
Bechtsanwälte Dr. Schwindt und Löwenstein, mussten sich darauf
beschränken ein niedrigeres Strafmass zu erzielen. Nowack wurde
zu einem Jahre, Boll und Hank je zu sechs Monaten Gefängnis
verurteilt.
Aus Paris schreibt man uns: Ein Skandalgeschichte, die in
den sogenannten „besten Kreisen" spielt, beschäftigt gegenwärtig
die Pariser Gerichte und wird in der französischen Presse lebhaft
besprochen. Die Heldinnen dieser Tragikomödie sind zwei ungarische
Damen, die seit längerer Zeit in Paris leben. Vor fünf Jahren
machte die Baronin F . . ., die damals 20 Jahre alt war, in Pest
die Bekanntschaft einer jungen, hübschen Landsmännin gleichen
Alters, welche auf den Namen St. hörte. Die Baronin machte Fräu-
lein St. zur Vertrauten und Freundin ihres Herzens und unternahm
mit ihr grosse Beisen nach Südfrankreich und Norditalien. Die
beiden Frauen trennten sich nicht mehr von einander, und die mit
Diamanten und Juwelen geschmückte, verhätschelte, von zahlreichen
Kavalieren angeschmachtete Baronin lehnte aus Liebe zu ihrer
Freundin jeden Verkehr mit dritten Personen ab. So pilgerte man
glückselig wie ein Ehepaar auf der Hochzeitsreise von Monte Carlo
nach Nizza, von Nizza nach Genua, von Genua nach Venedig und
Mailand, bis die sehr reiche Baronin in Paris auf dem Boulevard
HauBsmann ein prächtiges Hdtel mietete. In den ersten Tagen dieses
Maienmonats reiste die Baronin nach ihrer ungarischen Heimat, wo
sie 14 Tage verweilte. Vor ihrer Abreise gab sie der vielgeliebten
St 2000 Francs, damit sie eine neue Wohnung miete. Auch ihre
— 64S —
Juwelen vertraute sie der Freundin an und gestattete ihr ausserdem
im Hanse nach Belieben zu schalten und zu walten Als die Baronin
dieser Tage wiederkam, fand sie zu ihrer Ueberrasohung in de^
Wohnung die traute Herzensfreundin nicht vor. In ihrer Erregung
klingelte sie sofort das ganze Dienstpersonal zusammen und nun
erfuhr sie, was vorgefallen war. Fräulein St. hatte bei ihren täg-
lichen Spazierfahrten im Bois die Bekanntschaft eines jungen Mannes
gemacht und diesen zu ihrem Geliebten erwählt Um diese Liebe
würdig feiern zu können, verkaufte sie bald nach der Abreise der
Baronin zwei Hinge im Werte von 10,000 Fr. und mietete eine
prächtige Wohnung in der Avenue ELl^ber. Dann wanderten auch
die Juwelen, das ganze Silber und die wertvollsten Kleidungsstücke
der Baronin zum Trödler. Als die Baronin solches vernahm, fuhr
sie direkt vom Boulevard Haussmann in die Avenue ELl6ber, aber
Fräulein St. war „nicht zu sprechen.'' Nun nahm die in ihren heiligsten
Gefühlen und auch sonst noch betrogene Baronin die Hilfe der
Polizei in Anspruch, — schweren Herzens aber gefasst Einem
Polizeiinspektor gelang es durch List und Ueberredung, Fräulein St.
aus ihrem Bau zu locken und zur Wache zu bringen, wo sie als
verhaftet erklärt wurde. Die Verhaftete erhob gegen die Baronin
die schwersten Anschuldigungen, die sich auch nicht einmal andeut-
ungsweise wiedergeben lassen. Fräulein St ist übrigens, wie sich
jetzt herausstellt, eine sehr gesuchte Persönlichkeit; sie hat in Oester-
reioh, besonders in Wien, zahlreiche Betrügereien verübt und wird
von den österreichischen Polizeibehörden dringend verlangt
Ein jnnger Mann in Frauenkleidern wurde am Sonn-
abend in das Moabiter Untersuchungsgefängnis eingeliefert Der
19jährige Kellner Franz Witzel aus Berlin liebte es des Abends
stets in Frauenkleidern auszugehen. Li dieser Verkleidung lockte
er Männer an und benutzte derartige Gelegenheiten, um Diebstähle?
Erpressungen und dgl. auszuf üren. Am Freitag fiel er der Kriminal-
polizei in die Hände. Im Polizeipalast am Alexanderplatz wurde
er zwar als männliches Individuum erkannt, da es dort aber keine
besondere Garderobe für Untersuohungsgefangene giebt, wurde er
in seinen Frauenkleidem nach Moabit überführt, woselbst er sein
Kostüm natürlich sofort mit einem Gefangenen- Anzüge vertauschen
musste.
Intimes aus der Londoner Gesellschaft Man schreibt
uns aus der englischen Hauptstadt: Die soeben von der schönen
jungen Marquise von Anglesey angestrengte Ehescheidungsklage
— 544 —
erregt nichts weniger als Verwunderung. Man hat es ja schon seit
Langem erwartet, dass die Lady, die sich bereits während der
Flitterwochen von ihrem Gatten trennte, sich bemühen würde, ihre
volle Freiheit zurückzugewinnen. Die geborene Miss Chetwynd,
Tochter von Sir George Chetwynd und der Marquise von Hastings,
zählte erst achtzehn Lenze, als sie vor zwei Jahren dem damaligen
£arl of Urbridge die Hand zum Lebensbunde reichte. Das fein
geschnittene, von goldroten Haarmassen umrahmte Gesicht der
jungen Aristokratin gilt mit seinen grossen veilchenblauen Augen
für eines der schönsten in ganz England. Auf die von zahlreichen
Bewerbern umschwärmte • Miss Chetwynd machte das fast sanft zu
nennende Wesen des £arl einen so günstigen Eindruck, dass sie
ihm vor allen andern Freiem den Vorzug gab. Sie ahnte aber
nicht, in welchem Masse ihr Erwählter einem verzärtelten, ex-
centrischen Weibe glich und dass er alle Launen und Schwächen
eines solchen besass. In der That hat der jetzt 25jährige Nobleman,
der bald nach seiner Eheschliessung durch den Tod der Vaters
fünfter Marquis of Anglesey wurde, das Aussehen einer schönen
Frau in Männerkleidung. Seidenweiche dunkle Locken umgeben
ein rosiges Gesicht mit weichen, sympathischen Zügen. Um blasser
und interessanter zu erscheinen, verschmäht er weder die Puder-
schachtel noch bleichmachende Toiletten-Wasser. Er ist immer
stark parfümiert, und seine zarten, schlanken Finger sind mit Rm-
gen überladen. Man sieht ihn bei seinen Promenaden durch Picca-
dilly oder auf den Pariser Boulevards meist mit einem schnee weis-
sen, schleifengeschmückten Pudel unter dem Arm, der ebenso wie
sein Herr nach Patchouli und L'eau d'Espagne duftet. Wie unglück-
lich seine Mutter mit ihrem Gatten lebte, beweist der Umstand,
dass sie nach dreijähriger Ehe Selbstmord beging. Sein Vater hei-
ratete dann eine Amerikaneiin. Kurz vorher hatte er einer anderen
Tochter des Dollarlandes Hofihungen gemacht und diese vergiftete
sich an seinem Hochzeitstage. Ueber die Abneigung, die seine
schöne Gemahlin gegen ihn hegt, ist der junge Marquis gerade
nicht untröstlich. Er hat ihr ein Jahreseinkommen von einer viertel
Million Mark ausgesetzt; ihm selber stehen vier Millionen Mark
im Jahr zur Verfugung. Seiner Verlobten schenkte er Schmuck-
sachen im Werte von anderthalb Millionen Mark. An dem adligen
Krösus ist eigentlich eine Serpentintänzerin verdorben. Die Lieb-
lingszerstreuung des Herrn Marquis besteht nämlich darin, sich auf
wirklichen — Spezialitätenbühnen als Imitator der graziösen Lo'ie
Füller zu produzieren ....
— 545 —
Nach der Verurteilung erschossen. Aus Giesseii,
31. Oktober, wird uns geschrieben: Heute fand vor unserer Straf-
kammer ein sensationeller Prozess, an dem vier volle Tage verhan-
delt wurde, seinen tragischen Abschluss. Seit dem Sommer 1898
schwebt das Strafverfahren gegen den Milchkutscher W. und den
Studiosus Th. von hier wegen Vergehens aus § 175 d. R.-St.-G.
Bei dem Dienstherm des W.^ dem Oekonomen Peters, fmd um die
angegebene Zeit ein Diebstahl statt, und der Verdacht, diesen be-
gangen zu haben, fiel auf W. Eine bei demselben vorgenommene
Nachsuchung hatte das Resultat, dass die Kriminalpolizei grössere
Geldmittel und Wertgegenstände bei dem Verdächtigen vorfand,
die derselbe von einem Herrn, wie er später zugestand, vom Stu-
diosus Th , erhalten haben wollte. Der letztere bestritt dies, doch
stellte es sich heraus, dass W. an dem Diebstahl unschuldig war.
Nun wurde auf Grund der Selbstbezichtigung des Inhaftierten W.
das Verfahren wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit eingeleitet
und auch Th. in Haft genommen, letzterer aber gegen Kaution
später auf freien Fuss gesetzt. Der Staatsanwalt Schilling-
Trygophorus, welcher diese Sache zuerst bearbeitete, ist in der
schmählichsten Weise verdächtigt worden, einen Unschuldigen,
nämlich Th., zu verfolgen, während von anderer Seite die Meinung
laut wurde, man wolle das Recht beugen, denn man konnte nicht
begreifen, warum beinahe V/^ Jahre nötig seien, um die Strafsache
zu erledigen. Man wusste im Publikum nicht, dass der Angeklagte
W. zweimal auf Antrag des Th. zur Untersuchung seines Geistes-
zustandes im Irrenhause zubringen musste. Die merkwtb-digsten
Legenden über diesen Fall machten die Runde in der Bevölkerung.
Mit einer Spannung ohnegleichen erwartete man daher den Urteils-
spruch in diesem Prozess, dessen Verhandlung hinter verschlossenen
Thüren stattfand; erst heute, am vierten Tage, bei den Plaidoyers
wurde die Oefifentlichkeit wieder hergestellt. Beinahe dreissig Zeu-
gen, darunter ein während der Verhandlung telegraphisch von Ber-
lin geladener Zeuge, wurden vernommen. Vier Experten gaben
über den Geisteszustand des geständigen W. ein Gutachten ab.
Mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit wurde die Beweisau&ahme
vom Landgerichtsrat Schäfer als Vorsitzenden durchgeführt. Die
meisterhafte Rode des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Gutfleisch
konnte den Angeklagten Th. vor dem Schul digspnich des Gerichtes
nicht retten. Der Verteidiger des W., Rechtsanwalt Grunewald,
sah seine Aufgabe hauptsächlich darin, über den angezweifelten
Geisteszustand seines Klienten keinen Zweifel aufkommen zu lassen.
Th. behauptete bis zum Schluss der Verhandlung seine Unschuld.
Jahrbuch lU. 35
— 546 —
Kaoh 2 Uhr mittags verkündete der Vorsitzende, dass das Urteil
um 7 Uhr abends pnbliciert würde. Dicht gedrängt stand der
grosse Zohörerraum unseres Strafkammersaales, wosste man doch,
dass es sich um das Wohl oder Wehe eines 24jährigen talentvollen
jungen Mannes handelte. Landgerichtsrat Schäfer verkündete das
Votum des Gerichtshofes dahin, dass beide Angeklagte der ihnen
zur Last gelegten Strafthat schuldig, dass W. mit 6 Monaten Ge-
fängnis, wovon 3 für erlittene Untersuchungshaft anzurechnen, der
Student Th. aber mit 7 Monaten Gefängnis zu bestrafen, der letz-
tere auch wegen Fluchtverdachts in Haft zu nehmen sei. Th.
wusste sich seiner Lihaftnahme dadurch zu entziehen, dass er nach
verkündetem Urteil schleunigst das Gerichtsgebäude verliess. Ge-
richtsboten machten sich an seine Verfolgung ; dies merkend, jagte
sich der Verurteilte einige hundert Schritte vom Gerichtsgebäude
entfernt mit einem bereit gehaltenen Bevolver eine tötliche Kugel
durch den Kopf. Der Tod trat nach 30 Minuten ein, ohne dass
der Selbstmörder vorher die Besinnung wieder erhielt.
Ein dunkles Kapitel aus „Berlin bei Nacht'' beschäf-
tigte die neunte Ferien-Strafkammer des Landgerichts I. Der Haus-
eigentümer S. wurde in einer Nacht von einem ihm unbekannten
Manne, wie sich später herausstellte, dem Hausdiener Friedrich
Wegner, auf der Strasse angesprochen. S. Hess sich mit ihm in
ein kurzes Gespräch ein, ging dann aber weiter, als er bemerkte,
dass Wegner stark angetrunken war. Dieser musste aber doch be-
obachtet haben, dass S. sein in der Nähe gelegenes Haus betrat,
er vermochte deshalb zu erfahren, mit wem er gesprochen. Noch
in derselben Nacht begab sich Wegner nach dem Polizeibureau
und gab zu Protokoll, dass S. ihm unsittliche Anträge gestellt, habe.
W. war jetzt so betrunken, dass er kaum vernehmungsfähig war.
£r musste von dem angeblich Erlebten wohl auch dem beschäfti-
gungslosen Bäckergesellen Ludwig Pinnick Mitteilung gemacht
haben, denn am folgenden Tage erschien dieser beim Hauseigentü-
mer S. und machte ihm die Hölle heiss. Er habe gesehen, was S.
mit dem Wegner vorgehabt und werde im Termine als Belastungs-
zeuge auftreten, wenn er nicht 20 Mark erhalte. S. Hess den Be-
sucher verhaften. Wegner sollte sich nun der wissentlich falschen
Anschuldigung und der Anstiftung zur versuchten Erpressung, Pin-
nick des letzteren Verbrechens schuldig gemacht haben. Es wurde
angenommen, dass sie gemeinschaftlich die Ausbeutung des S. ge-
plant hätten. Der Angeklagte Wegner erklärte im Termine, von
nichts zu wissen, er sei sinnlos betrunken gewesen. Der Gerichts-
— 54? —
hof schenkte ihm Glauben und sprach ihn frei. Dagegen wnrde
angenommen, dass der Angeklagte Pinnick, ein vielfach, darunter
wegen Raubes mit 3 Jahren Gefängnis vorbestrafter Mensch, den
Erpressungsversuch auf eigne Hand ausgeführt habe. Er wurde
zu einem Jahre Gefängnis verurteilt.
Die Frau mit dem Bart. Die Polizei von St. Louis hat
jüngst eine junge Dame wegen Selbstmordversuchs festgenommen.
Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, wo sie bis zu ihrer vollstän-
digen Wiederherstellung scharf bewacht werden soll. Ihr „Fall"
hat jetzt zu einer heftigen Polemik zwischen den Aerzten des
Hospitals und der Justiz von St. Louis Veranlassung gegeben. Die
Dame, die sich Anna Smith nennt, will von jetzt an Männerkleider
tragen, und wenn man ihr die Erlaubnis dazu verweigert, ist sie
entschlossen, wieder einen neuen Selbstmordversuch zu machen.
Fräulein Smith bat nämlich einen dichten, pechschwarzen Backen-
bart. Sie ist aus ihrer Vaterstadt St. Paul entflohen, weil man sie
dort wegen ihres Bartes und ihrer Männermanieren verspottete.
Sie hat sämtliche Enthaarungsmittel probiert, aber der Bart wurde
immer länger. Deshalb will die Smith wie ein Mann gekleidet sein
oder — sterben; Frauenkleider legt sie nie und nimmermehr an.
Den Behörden wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich
zu fügen. (S. I, 99).
Wien. Es erregte viel Aufmerksamkeit, als Mitte Januar vo-
rigen Jahres der durch seine zahlreichen gesellschaftlichen Bezie-
hungen bekannte 26jährige Freiherr von Levetzow, welcher sich
schriftstellerisch versuchte und zur modernsten Schule zählen wollte,
verhaftet und dem Landgericht eingeüefert wurde, v. L , der
durch seine elegante, hochgewachsene Gestalt eine auffällige Er-
scheinung darstellt, ist der Sohn eines Realitätenbesitzers und Ritt-
meisters im Ruhestand ; seine Verhaftung erfolgte, weil er gewisser
strafbarer Beziehungen beschuldigt war, welche das Verbrechen
des § 129b des St.-G.>B. bilden und seit einiger Zeit in erschreckend
vermehrter Zahl das Strafgericht beschäftigen. Diese gerichtliche
Verfügung war durch eine Zuschrift der Militärbehörde herbeigeführt
worden. Bei dem Husaren Moriz Schill, welcher sich wegen De-
sertion in militärgerichtlicher Untersuchung befand, hatte man kom-
promittierende Briefe L.'s vorgefunden. Es ergab sich, dass dieser
bedenkliche Freundesbeziehungen zu Schill unterhalten, ein elegantes
Logis für ihn gemietet und ihn mit Geschenken überhäuft hatte.
Wie der Husar angab, war er auf Anstiften L.'s desertiert, um sich
35*
— 548 —
ihm ganz widmen zu können. Noch andre Personen wurden, was
bis jetzt nicht in die Oeffentlichkeit gedrungen ist, als Mitschuldige
des L. in Haft gezogen. Es sind dies der Kammerdiener Joseph
Stockhammer, der Wäschergehilfe Karl Buchta und der Neger
William Johns, der als Ausrufer in Praterbuden beschäftigt war.
Ein Vierter, der Forsteleve Joseph Mohr, brauchte nicht verhaftet
zu werden, weil er sich schon wegen ähnlicher Delikte in Gewahrsam
befand. Er hatte wegen derselben bereits vor Gericht gestanden,
doch hatte der Gerichtshof die Verhandlung abgebrochen, um ihn
durch Psychiater untersuchen zu lassen. Diese Prüfung seiner psy-
chischen Beschaffenheit währte noch fort, als zu Tage trat, dass er
auch an der Angelegenheit L.'s beteiligt war. Ursprünglich glaubte
man noch an eine Reihe andrer, vornehmen Klassen angehörender
Mitschuldiger des L. Es ergaben sich jedoch keine Anhaltspunkte,
gegen diese einzuschreiten. L. hat seinen Leidenschaften den grössten
Teil seines beträchtlichen Vermögens geopfert. Nach der Verhaf-
tung des jungen Barons stellte dessen Verteidiger, Dr. Steger, unter
Beibringung umfassenden Materials das Ersuchen, den Geisteszustand
dieses Beschuldigten einer gerichtsärztlichen Beobachtung unter-
ziehen zu lassen. Diesem Antrag wurde stattgegeben, wobei zu-
gleich die psychiatrische Untersuchung auf die Mitbeschuldigten aus-
gedehnt wurde. Nach zweimonatlicher Untersuchung gaben die Sach-
verständigen, Regierungsrat Dr. Hinterstoisser und Dr. Sickinger,
ihr Gutachten ab. Dasselbe lautete — im Einklang mit einer neueren
starken wissenschaftlichen Strömung — dahin, dass Baron L., soweit
es sich um das Verbrechen nach § 129 handle, und Stockhammer
sich unter einem die Straflosigkeit herbeiführenden unwiderstehlichen
Zwange befunden hatten. Die übrigen Beschuldigten, welche zum
Teil ein lasterhaftes Gewerbe betrieben, wurden als normal befunden.
In Betreff der Verleitung zur Desertion durch L. wurde von den
Sachverständigen gleichfalls keine Entlastung durch Aufhebung der
Willensfreiheit vorgefunden. Die heute getroffene Entscheidung
ging jedoch dahin, dass das Strafverfahren gegen den Freiherm v.
L. gänzüch eingestellt werde. Abgesehen davon, dass eine Trennung
der beiden Delikte bei der Beurteilung schwer vorzunehmen sei,
weil das erstere ein Motiv für das letztere bilde, sei für die Ver-
leitung zur Desertion kein hinreichender Beweis vorhanden, nachdem
die Aussage Schubs einen solchen aus verschiedenen Gründen nicht
gebe. Natürlich wurde die Untersuchung gegen den Kammerdiener
Stockhammer (als dessen Rechtsfreund Dr. Pressburger fungierte)
eingestellt. Gegen Schill wird die Verhandlung bei dem Militärge-
richt, gegen die übrigen drei Beschuldigten beim Landgericht statt-
— 549 —
finden. Baron L. will Oesterreich yerlassen und sich nach Spanien
oder Italien begeben.
Zu dem geheimnisvollen Gymnasiastenmord, der, wie
wir kürzlich berichtet, in Russland grosses Aufsehen macht und
den man auf einen Anschlag der Nihilisten zurückführte, wird den
„Berl. Neuest. Nachr." aus Petersburg geschrieben: In Wirklichkeit
ist dieses Verbrechen durchaus keine politische That gewesen,
sondern einer jener Leidenschaffcsmorde, die in Russland in der letzten
Zeit sich erschrecklich vermehrt haben. Ich muss gestehen, dass
ich lange gezögert habe, bevor ich mich entschliessen konnte, über
diese Sensationssache zu schreiben, denn es handelt sich dabei um
recht unsaubere Dinge, die ich unseren Lesern lieber vorenthalten
hätte. Nur die seit einiger Zeit immer mehr einreissende Gewohn-
heit der ausländischen Korrespondenten, gleich alles Mögliche und
Unmögliche, was in Russland passirt, zu politischen Ereignissen zu
stempein, zwingt mich, die Wahrheit über den Gymnasiastenmord
— anzudeuten. Wohl handelt es sich dabei wirklich um eine weit-
verzweigte Konspiration, doch nicht etwa gegen das Zarenhaus der
Romanow, sondern gegen die Königin Moral und die elementarsten
Sittlichkeitsprinzipien. Der unglückliche, sechzehnjährige Junge fiel
nicht als Opfer der grausamen Nihilisten, sondern einer Bande
schamloser Lüstlinge, die ihn erst verdorben und später — aus
Furcht vor einer Denunziation — gemordet haben. Recht traurig
ist bei dieser Sache der Umstand, dass unter den Mitgliedern dieser
— seien wir höflich und sagen wir — Lebemänner-ßande sich manche
Persönlichkeit befinden soll, die allgemein geachtet wurde und ein-
flussreiche Stellungen bekleidete; ja, selbst höhere Offiziere und
. . . Familienväter I — Unglaublich, nicht wahr? — sollen sich, wenn
auch nicht an dem Morde direkt, so doch an Handlungen beteiligt
haben, die nicht näher zu bezeichnen sind. Selbstredend ist der
Skandal in Petersburg unglaublich gross und anhaltend Die ganze
Stadt spricht von nichts Anderem, so weit man über solche Dinge
überhaupt sprechen kann. Die russische medizinische Gesellschaft
hat in ihrer letzten Sitzung mehrere darauf bezügliche Referate an-
gehört, die aUe in der Behauptung gipfelten, dass derlei Verbrecher
eigentlich viel eher in die Kliniken für Geisteskranke gehören
sollten, als in das Zuchthaus. Mag sein, dass die Herren Aerzte
recht haben, aber die unglücklichen Eltern des ermordeten Jungen
— der, nebenbei gesagt, das einzige Kind war — werden solch'
gelehrte Aussprüche nicht trösten können.
— 550 —
Ein weiblicher Knecht. 'Ein seltsames Ergebnis hatte die
dieser Tage in Glanbitz bei Riesa erfolgte Festnahme eines Dienst-
kneohtes dnrch den dortigen Gendarmen. Der Verhaftete war ver-
dächtig, einen falschen Namen zn führen, mid wurde zur weiteren
Feststellung nach dem Amtsgericht in Riesa gebracht. Bei dem
Verhör stellten sich schliesslich Zweifei an der Person des Knechtes
heraus, und nach der Konsultation eines hinzugezogenen Arztes
wurde erwiesen, dass der Knecht ein — Mädchen war. Merkwürdiger-
weise ist die so Verkannte, die 22 Jahre alt ist, schon über ein Jahr
auf dem betreffenden Gute in Diensten und teilte mit anderen
Knechten denselben Wohn- und Schlafraum, ohne nur das geringste
Misstrauen zu erregen. Wegen Führung eines falschen Namens er-
hielt sie eine mehrtägige Qaftstrafe. 13./2. 1900.
lieber den Dichter Oskar Wilde, der bekanntlich zu 2
Jahren Zuchthaus mit harter Arbeit verurteilt ist, wurde aus London
die Meldung verbreitet, er sei im Gefängnisse zu Pentonville wahn-
sinnig geworden. Die Westminster Gazette setzte hinzu, man müsse
sich im Interesse des hochbegabten Verbrechers darüber freuen,
denn geistige Umnachtung sei offenbar das Beste, was ihm habe
zustossen können usw. Der radikale Abgeordnete Labouch6re stellte
jetzt in seinem Blatte Truth fest, dass jene Nachricht vollständig
erfunden seL Wilde sei geistig und körperlich völlig gesund, sagt
Labouch6re, der seine Nachricht wahrscheinlich vom Gouverneur
Mannig selbst erhalten hat. Unterdessen sind auch, wie man aus
London weiter meldet, die letzten Zweifel an Wilde's Schuld ge-
schwunden, und zwar durch einen Brief, den sein Freund Lord Al-
fred Douglas an Labonch^re gerichtet hat und den dieser veröffent-
lichte. Lord Alfred Douglas, der sich in Frankreich befindet, ge-
steht in diesem Briefe seine Mitschuld so deutlich ein, wie man es
thun kann. Labouch^re begleitet den Brief denn auch mit der Be-
merkung : „Lord Alfred Douglas hat den Mut seiner Ueberzeugung,
aber es ist zu bedauern, dass er nicht auch im Zuchthause von
Pentonville darüber nachdenken kann.''
Salzburg. Grosse Sensation erregte dahier der Prozess,
welcher durch eine Beschuldigung des Schönerianers Fächer gegen
den bekannten Parlamentarier St., den Führer der Deutschen Volks-
partei, veranlasst worden ist. St soll hiemach mit einem jungen
Wiener Kellner, der auch von andern hochgestellten Herren um-
schwärmt: und nfit kostbaren Geschenken überhäuft worden, in straf-
— 551 —
«
baren Beziehungen gestanden haben. Die Mutter des Kellners war
erschienen, um gegen St. auszusagen, wurde jedoch vom Gericht
nicht angehört. Der Prozess endete mit der Freisprechung des Be-
schuldigers. (Dezember 1900).
H. T. B. Petersburg, 16. Januar. Das Bezirksgericht in
Twer verurteilte bei geschlossenen Thüren mehrere Mönche aus
einem naheliegenden Kloster zu Zwangsarbeit wegen unnatürlicher
Verbrechen. Zwölf Mönche sind geflohen. Haarsträubende Sachen
sind enthüllt.
Eine gar merkwürdige „Räubergeschichte'' hat ein
junger Friseurgehilfe, welcher bei einem im Südwesten der Stadt
etablierten Friseur seit Mitte des vorigen Sommers in Kondition
stand, der Kriminalpolizei mitgeteilt. Der bei seinen Eltern am
Kottbuser Ufer wohnhafte Gehilfe Karl F. berichtete nämlich, dass
in dem Geschäft seines Prinzipals Öfter ein sehr reicher Amerikaner
Namens W. erschienen war, den er zumeist bedient und der ihn
dann jedes Mal durch hohe Trinkgelder ausgezeichnet habe. Eines
Tages habe ihn der reiche Amerikaner zu einem Besuche nach
seiner in der Französischen Strasse gelegenen Wohnung eingeladen
und hocherfreut habe er dieser Einladung noch am selben Abend
gegen 9 Uhr Folge geleistet. Im betrefifenden Hause der französi-
schen Strasse sei er mittels eines Fahrstuhles in die zweite Etage
befördert worden, in welcher die fürstlich ausgestattete Wohnung
seines Gönners liegt. Er fand dort eine reich besetzte Tafel, der
er auf unablässiges Zureden des Herrn W. eifrig zusprach, wobei
er noch viel Bier trank und eifrig Zigaretten rauchte. P. behauptet
nun, dass in dem Biere und in den Zigaretten ein Schlafmittelzusatz
sich befunden haben müsse, denn es habe sich alsbald eine Erschlaf-
fung seiner Glieder bemächtigt, gegen welche er vergeblich an-
kämpfte. Er habe die Absicht gehabt, nach Hause zu gehen, sei
aber in einen tiefen Schlaf verfallen. Als er gegen Mittemacht er-
wachte, habe er den Gastgeber bei einem Verbrechen betroflFen.
Gelegentlich seines Besuches will P. von dem Amerikaner dunkle
Andeutungen über gewisses Treiben in dem Geschäfte seines Prin-
zipals erhalten haben. — Die ganze Geschichte klingt so eigen-
tümlich, dass sich wohl erst durch eine eingehende Untersuchung
feststellen lassen wird, was hier Wahrheit oder Erfindung ist.
— 552 —
Ein e Auf sehen er rege ndeVerhaftung wird anB Schneide-
mübl gemeldet Dort wurde der auf dem benachbarten Bittergate
Rzadkowo auf Besuch weilende Graf von Skorzewski durch den
Distriktskommissar Milhring und einen berittenen Gendarmen ver-
haftet und als Untersuchungsgefangener dem Justizgetängnisse in
SchneidemUhl zugeführt Graf v. S. ist 43 Jahre alt und Broder
des derzeitigen Besitzers der Herrschaft Rzadkowo. Wie verlautet,
ist gegen den Grafen eine Untersuchung aus § 175 des R.-St-G.-B.
eingeleitet worden.
Ein gewerbsmässiger Zechpreller ist dieser Tage auf
frischer That abgefasst und der Polizei überliefert worden. Es ist
dies der 19jährige Arbeiter Gustav Sorge, in Verbrecherkreisen
bekannt unter dem Namen „Sohwenken-Guste**. Der Vater des
Verhafteten war seiner Zeit Inhaber des Schanklokals Fischerbrücke
9, einer der berüchtigtsten Verbrecherkneipen Berlins, genannt die
„Schwule Neune'', die vor etwa zwei Jahren polizeilich aufgehoben
wurde. Die Gesellschaft, welche dort verkehrte, scheint auf den
jungen Sorge nicht ohne Einfluss geblieben zu sein, denn derselbe
ist nicht allein Stammgast der wenigen noch in Berlin vorhandenen
Bierlokale, welche den Markt bilden ftir die Opfer reicher Wüstlinge,
er ist auch sonst schon wegen Diebstahl und Hehlerei bestraft
worden. In letzter Zeit ging Sorge in das erste beste Lokal, machte
eine ansehnliche Zeche und verschwand dann spurlos, ohne zu be-
zahlen. Solcher Fälle waren der Polizei schon zu Dutzenden an-
gezeigt worden, bis es endlich gelang, den Schwindler bei einem
erneuten Versuche dieser Art anzuhalten und festzunehmen.
i
4. März 1893. Ueber die Schiessaffaire in Moabit, über
welche wir bereits in der gestrigen Abend- Ausgabe berichtet haben,
ist uns inzwischen des weiteren mitgeteilt worden, dass der von
dem Militärposten verfolgte Herr auf der Polizeiwache als der in
der Spenerstrasse 6 wohnhafte Schauspieler Schaffer rekognosziert
worden ist Derselbe soll an den vor dem Packhofgebäude stehenden
Posten — Pionier Heimwarth — herangetreten sein und ihm eine
merkwürdige Zumutung gemacht haben, welche der Soldat kurz
zurückwies. Der etwas angeheiterte Herr stiess infolge der Ab-
weisung den H., worauf dieser ihn fasste, als Arrestanten in das
Schilderhaus stellte und sodann der Vorschrift gemäss sein Gewehr
mit Bcharien Patronen lud. Nach kurzer Zeit stiess der Arrestant
jedoch den Soldaten beiseite und ergrifif die Flucht nach der Moltke-
brücke, Da ef aijf df» dreimalige ^Halt", welches der Soldat ihm
— 553 —
nachrief, nicht stehen blieb, gab dieser zweimal Feuer auf den Flücht-
ling, ohne ihn zu trefifen. Nach dem zweiten Schusse warf der
Verfolgte sich zu Boden und wurde darauf festgenommen.
Eine Skandalaffaire schlimmster Art erregt in Kreisen
des Wassersports berechtigtes Aufsehen. Es handelt sich, wie ein
Berichterstatter zu melden weiss, um Orgien der schmutzigsten Sorte,
die auf dem Segelboot eines Berliner Kaufmanns auf dem Müggelsee
abgehalten worden sind. Das Treiben auf dem Fahrzeuge soliden
Anwohnern des Müggelsees schon seit längerer Zeit aufgefallen sein,
und auf eine bezügUche Andeutung hin soll ein Köpenicker Gendarm
dem Segelboote, als es gegen 11 Uhr nachts in den See hinaus-
gefahren, in einem kleinen Nachen heimlich gefolgt sein und die
Ueberraschung der Gesellschaft während ihres Treibens bewirkt
haben. Vier männliche Personen sind verhaftet worden und werden
sich wegen Vergehens wider die Sittlichkeit zu verantworten haben.
Eine gefährliche Kategorie von Verbrechern treibt
seit einiger Zeit im Tiergarten, nahe dem Brandenburger Thore,
in den Abendstunden ihr Unwesen. Das raffiniert angelegte Ma-
növer besteht in Folgendem. Feingekleidete, allein in den einsamen
Anlagen promenierende Herren werden von einem jungen Burschen
angesprochen, und während sie auf die beliebig gewählten Fragen
desselben Auskunft erteilen, taucht dann plötzlich eine zweite Basser-
mannsche Gestalt hinter dem Gebüsch hervor und tritt an die im
Gespräch Befindlichen mit der kategorischen Forderung heran, sie
möchten ihm sofort nach der Polizeiwache folgen, denn sie hätten
beide soeben unzüchtige Handlungen begangen. Da der erste der
Burschen, der „ Anreisser'' , diese freche Bezichtigung absichtlich
nicht bestreitet, so sieht der in dieser Weise Ueberfallene in der
Kegel zu spät ein, dass die beiden unter einer Decke stecken, und
kauft sich, um mit den Strolchen nicht den Weg zur Polizeiwache
machen imd sich noch sonstigen Unannehmüchkeiten aussetzen zu
müssen, durch irgend einen Geldbetrag los, in der Hofihung, dass
er damit die Verbrecher los ist. Diese Hoffiiung hat sich indess
in vielen Fällen als trügerische erwiesen, denn die Burschen folgten
zumeist ihren Opfern, oft bis in die Wohnung, und bedrohten die-
selben dann immer wieder mit Anzeigen, um aufs Neue Schweige-
gelder zu erpressen. Die Opfer der Erpresser haben in der Regel
später umsomehr von einer Anzeige Abstand nehmen zu müssen
geglaubt, als sie befürchteten, dass die mehrfach von ihnen gelei-
steten Zahlungen als Schuldbeweis ausgelegt werden könnten. Die
554 —
Bystematiscfaen Erpressungpen sind in mehreren Fällen so weit ge-
trieben worden, dass die Unglücklichen, welche jenen Blntsangem
nach und nach alles geopfert hatten, schliesslich aus Verzweiflung
selbst Hand an sich gelegt haben. Gegen diese Buschklepper, die
sich zumeist aus stellenlosem Gesindel, darunter auch Hausdienern,
Kellnern etc. rekrutieren, ist nur in sehr seltenen Fällen Anzeige
erstattet worden. Gestern ist es indess gelungen, einem solchen
Patron das Handwerk zu legen. Dieser Kerl hatte von einem Ka-
valier in der geschilderten Weise Geld erpresst, als er seinem Opfer
aber sogar nach dessen ausserhalb Berlins gelegenen Gute zu folgen
die Frechheit besass, erstattete der Kavalier Anzeige ; der Bursche
wurde verhaftet und sieht nunmehr einer exemplarischen Strafe
entgegen.
Ein Deserteur in Frauenkleidern ist kürzlich, wie die
„Nat.-Zeitung meldet, in Troppau (Oesterr. Schles.) gefasst worden.
Der Infanterist Jaskulsky vom 1. österreichischen Infanterie-Regiment
war wegen Desertion steckbrieflich verfolgt. Seine Auffindung war
deshalb erschwert, weil der Infanterist als — Dienstmädchen in
Beschäfügning stand. Sein mädchenhaftes Aussehen und der Um-
stand, dass er in früheren Jahren als Damen-Imitator sich
produziert und daher seine Stimm-Mittel entsprechend modulations-
fähig gemacht hatte, begünstigten die Täuschung Auf einer Tanz-
unterhaltung, die er als Dienstmädchen besuchte, wurde er trotz
seiner Frauenkleider von einem Soldaten erkannt, der ihn auf dem
Heimweg arretieren liess. Der Deserteur wurde dem Garnisons-
gericht eingeliefert, nachdem er seiner Frauenkleider entledigt und
in eine männliche Zivilkleidung gesteckt worden war. (19. 9. 1900).
Eine in ihren Einzelheiten noch dunkle Mordaffaire
beschäftigt die Potsdamer Kriminalpolizei. In der Kietzstrasse Nr.
27 dortselbst bewohnt seit einiger Zeit der 50 Jahre alte Rentier
Albert Schmidt eine aus drei Zimmern bestehende Hoch -Parterre-
wohnung. Schmidt ist Junggeselle und hielt starken Verkehr mit
einer gewissen nicht näher zu bezeichnenden Klasse von Männern.
Er war früher in Neu-Fahrland Besitzer eines umfangreichen Bauern-
gutes, das er vorteilhaft verkaufte; er war dort sehr geizig. Im
vorigen Jahre wurde Schmidt wegen Sittlichkeitsverbrechens zu einem
Jahre Getängnis verurteilt, welche Strafe er erst kürzlich, bevor er
die Wohnung in der Kietzstrasse bezog, verbüsst hat. Er ist durch
diese Strafe aber nicht von seinen fast krankhaften Neigungen ku-
nert wor4c^, deon fast allabendlich konnte man ihn in den Strassen
— 555 —
Potsdams umherlungern und sich namentlich an junge Soldaten heran-
drängen sehen. Schon vor etwa vier Wochen wurde ihm dies zum
Verhängnis, indem Schmidt im Lustgarten, wie auch seinerzeit von
uns mitgeteilt, eines Abends von drei Soldaten, von denen einer
zum Schein auf seine Wünsche eingegangen, aber zwei handfeste
Kameraden in der Nähe versteckt hatte, gehörig durchgeprügelt wurde.
Schon mehrere Tage war es den Bewohnern des Hauses Kietzstr.
27 aufgefallen, dass Schmidt sich nicht blicken Hess. Der in dem
Hause wohnende Schutzmann Mühlenschulte liess nun am Dienstag
die Thür zur Schmidt'schen Wohnung durch einen Schlosser Öfinen.
Im Wohnzimmer lag Schmidt als Leiche entkleidet auf den Dielen
in einer grossen Blutlache. Der Tod musste nach verschiedenen
Anzeichen schon vor drei bis vier Tagen eingetreten sein. Der
Beamte benachrichtigte sofort seine vorgesetzte Behörde. Am selben
Nachmittag erschienen in der Schmidt'schen Wohnung der Staats-
anwalt Dr. Mendelsohn, Polizeidirektor von Balan, Polizeirat Janke^
Kriminalkommissar Guban und der Kreisphysikus Sanitätsrat Dr.
Passauer zur Feststellung des Thatbestandes. Derselbe ergab, dass
Schmidt eines gewaltsamen Todes gestorben, denn am Hinterkopf
fand man eine tiefe, klaffende Wunde, die ihm anscheinend mit
einem dicken Stück Holz, das blutbesudelt in der Wohnung ge-
funden wurde, beigebracht war. Schmidt scheint durch die Ver-
letzung, die er anscheinend im Kampfe mit einem Mann erhalten,
nicht sofort tot gewesen zu sein, sondern erst später, nachdem sein
Angreifer entflohen und die Thür hinter ihm wieder verschlossen,
gestorben zu sein. Da bei ihm noch 80 Mark bares Geld, sowie
Uhr und Kette vorgefunden wurden, so scheint es auf eine Berau-
bung nicht abgesehen gewesen zu sein, vielmehr nimmt man an,
dass er mit einem seiner „Freunde'' in Konflikt geraten und von
diesem im Streit erschlagen worden ist. Man hat einen blonden,
jungen Menschen, anscheinend einen Schreiber, im Verdacht, der
öfter in Gesellschaft Schmidt's gesehen wurde und der erst vor
wenigen Tagen von einem Dienstmädchen aus der Nachbarschaft
in Schmidt's Wohnung bemerkt wurde. Schon vor einigen Jahren,
als der Ermordete noch in Neu-Fahrland wohnte, machte er durch
ein Abenteuer von sich reden. Er behauptete nämlich, dass er von
zwei vermummten Kerlen, die er für ehemalige Kirschenpflücker
gehalten haben wollte, in seiner Wohnung tiberfallen, geknebelt
und beraubt worden sei. Die eingeleitete Untersuchung hat damals
aber nichts ans Licht gebracht, so dass man annahm, die Sachlage
habe einen anderen, auf dem Gebiete der Unsittlichkeit liegenden
Binter^rund. üpbei* dep Obd]iktiQjisbefwid ist npoh pich^s bekfl-nnt
— 556 —
geworden, dass jedoch Schmidt eines gewaltsamen Todes gestorben,
steht fest Die Kriminalpolizei stellt namentlich bei Personen, welche
wegen ihrer Ausschweifnngen bekannt sind, Ermittelangen nach
dem Thftter an.
Znm Morde des Rentiers Schmidt in Potsdam wird
zu unseren bisherigen Mitteilungen weiter gemeldet, dass die Unter-
suchung auf eine Spur geführt hat, wonach anscheinend ein Soldat die
Blutthat vollführt haben könnte. Wie berichtet, hat die Obduktion
ergeben, dass Schmidt die tödtliche Kopfwunde nicht mit dem in
der Wohnung vorgefundenen Stück Holz, sondern mit einem scharfen
Gegenstand erhalten hat. Der Hieb rührt von einem Seitengewehr
her. Da nun Schmidt vielfach mit Soldaten verkehrt hat, so hat
sich, wie ein Potsdamer Korrespondent schreibt, der Verdacht auf
einen bestimmten Soldaten, dessen Name sogar bekannt ist, ge-
richtet. Die Ermittelungen werden nun sehr durch den Umstand
erschwert, dass die Truppen zum Manöver ausgerückt sind. Eine
von dem Staatsanwalt Dr. Mendelssohn dieserhalb abgesandte
Depesche musste dem betreffenden Truppenteil von Ort zu Ort
nachgeschickt werden. Bis die militärischen Ermittelungen abge-
schlossen sind, ruhen deshalb die Becherchen der Kriminalpolizei
nach dieser Richtung hin.
Geschieden wird die Ehe des Prinzen A. von A. mit Prinzessin
L. von Schl.-H. Der Prinz soll, wie „plötzlich bekannt" wird, ur-
nische Neigungen haben. In eingeweihten Kreisen war es seit
Jahren bekannt, dass der unglückliche Prinz sich vom Weibe ab-
gestossen fühle und seine jedenfalls angeborenen homosexuellen
Empfindungen verheimlichen musste. Prinz A. ist eine körperlich
vollendete Erscheinung, ein geist- und gemütvoller Mann, der nicht
zu verurteilen, sondern nur zu beklagen ist. 24. IX. 1900.
Innsbruck, 7. Juli. Vorletzte Nacht um 11 Uhr ist der auf
der Durchreise befindliche katholische Priester Georg Chabot aus
Nordamerika wegen eines mit einem Hausknecht im Innpark ver-
übten Sittlichkeitsvergehens verhaftet worden.
Innsbruck, 20. Juli. Heute wurde dahier der katholische
Priester Georg Chabot aus Canada, dessen Verhaftung kürzlich
bedeutendes Aufsehen erregt hat, wegen eines in den städtischen
Parkanlagen an einem Hausdiener verübten SittUchkeits Verbrechens
%u zwei Monaten schweren Kerkers verurteilt.
— 657 —
Freiwillig gestellt! Der Kleriker Stefan Jirgl ans Pest,
welcher von der hiesigen Kriminalpolizei gesucht wurde, weil er,
wie in Nummer 651 gemeldet, gegen einen hochgestellten Beamten
einen Erpressungsversuoh unternommen hat, soll sich, wie eine aus
Anwaltskreisen informierte Korrespondenz mitteilt, der Behörde
freiwillig gestellt haben, lieber das Auftreten des Jirgl in Berlin
bringt dieselbe Korrespondenz folgende Einzelheiten:
Vor etwa zehn Tagen erschien in dem Bureau eines hiesigen
yielbeschäfdgten Anwalts ein junger, leidend aussehender Mensch,
welcher sich als Kandidat der Theologie Stefan Jirgl aus Budapest
vorstellte und anfragte, ob der Anwalt geneigt sei, die Information
für eine Zivilklage gegen einen Freiherm entgegenzunehmen, der
seit Jahren bei einer hervorragenden Persönlichkeit eine Vertrauens-
stellung bekleide. Auf Ersuchen des Anwalts stellte J. nun den
Sachverhalt folgendermassen dar: Vor vier Jahren habe er den
Freiherm in der G^mäldegallerie zu München kennen gelernt, wo-
selbst er damals von seinen auf der Reise befindlichen Eltern zurück-
gelassen worden war. Der Freiherr habe ihn alsbald zu einem
splendiden Frühstück mit Champagner eingeladen und ihn nicht
mehr aus den Augen gelassen. Jirgl begleitete seinen neuen Freund
sodann durch die Schweiz und logierte mit ihm in Hotels, woselbst
wüste Orgien gefeiert wurden, wobei er von dem Freiherm oft be-
trunken gemacht worden sei. Sein Vater habe damals Telegramme
an alle möglichen Hotels mit dem Ersuchen gerichtet, die beiden
Reisenden anzuhalten. Der junge Mann will nun infolge jener Reise-
abenteuer körperlich heruntergekommen sein; der Arzt habe ihm
dringend angeraten, seine Studien zu unterbrechen und längere Zeit
sich ausschliesslich der Erholung zu widmen. Nun sei er nach
Berlin gekommen, um von dem Freiherm eine Entschädigung zu
erlangen.
Der Rechtsanwalt, welcher nicht geneigt war, in dieser pein-
lichen Sache das Mandat einer Zivilklage zu übemehmen, erklärte
sich bereit, eine Verständigung der beiden Parteien herbeizuführen;
er gestattete demzufolge, dass Jirgl in seinem Bureau ein Schreiben
an den Freiherm aufsetzte, welches der Anwalt alsdann durchlas
und für völlig unbedenklich erklärte. Es hiess darin nur nach rein
thatsächlichen Mitteilungen, dass Jirgl auf Grund seiner Erfahrungen,
die er beweisen könne, gewillt sei, eine Entschädigungsklage an-
zustrengen, es aber vorziehen würde, einen gütlichen Vergleich mit
dem Freiherm zu schliessen. Die Summe, die er verlangte, beUef
sich auf 15000 Mark. Gleichzeitig stellte Jirgl einen Schein aus,
worin er dem Anwalt ein entsprechendes Honorar versprach. Der
- 65Ö -
Anwalt erklärte jedoch^ dass ein derartiges Verfahren hier zu Lande
nicht üblich wäre und zerriss den Revers. Hierans moss nun wohl
Jirgl gefolgert haben, dass der Anwalt seine Sache nicht führen
wolle, denn er hat sich seitdem nicht wieder blicken lassen und
nur telephonisch angefragt, ob eine Antwort eingegangen sei. Der
Freiherr hatte das Schreiben sofort der Kriminalpolizei übergeben.
Infolgedessen Hess die Behörde bei dem Anwalt recherchieren und
auf Jirgl, der, wie gemeldet, aus dem Hotel, in welchem er logiert
hatte, unter Zurücklassung eines alten Plaids verschwunden war,
in Gasthöfen, Anwaltsbureaus etc. fahnden. Inzwischen nahm Jirgl
bei einer hiesigen Familie Wohnung; welche er auf der Reise kennen
gelernt hatte. £r that nunmehr weitere Schritte, um sein Recht
weiter zu verfolgen. Aber die Anwälte, an die er sich wandte,
lehnten eine Vertretung ab. £ndlich zog er den Rechtsanwalt G.
zu Rate. Als er hier den Sachverhalt erzählte, fiel ihm der Anwalt
ins Wort und sagte: „Ich kenne Ihre Sache bereits; denn erstens
bin ich von der Kriminalpolizei ersucht, Sie anzuhalten, und zweitens
— lesen Sie hier selbst diesen eben erschienenen Zeitimgsartikel. "
Jirgl las die Geschichte seines Erpressungsversuches und zeigte eine
tiefe Entrüstung über die angebliche Entstellung seiner Sache; zu-
gleich teilte er dem Anwalt die oben wiedergegebenen Einzelheiten
mit. Rechtsanwalt G. erklärte nun: „Gut, ich bin bereit, Ihre Sache
zu führen, wenn Sie sich sofort der Kriminalpolizei stellen. ** Jirgl
bemerkte: „Das war auch ohnedies mein fester Entschluss.** Zu-
nächst schrieb er seinem Rechtsanwalt noch ausführliche Informa-
tionen auf und lieferte sich sodann in der That der Behörde aus,
die ihn sofort in Haft nahm.
Durch die von den hiesigen Behörden mit aller Energie ge-
führte Untersuchung dürfte wohl bald festgestellt werden, ob die
Angaben des Jirgl nach irgend welcher Richtung hin als zutreffend
zu erachten seien.
Der stud. theol. Stefan Jirgl, dessen Verhaftung wegen
versuchter Erpressung semerzeit grösseres Aufsehen erregte, wurde
gestern der ersten Strafkammer hiesigen Landgerichts I aus der
Untersuchungshaft vorgeführt. Der Angeklagte, welcher sich auf
Anraten eines hiesigen Rechtsanwalts dem Gerichte selbst gestellt
hat, wird beschuldigt, den Versuch gemacht zu haben, von dem
Kammerherm Freiherm E. v. W. mehrere Tausend Mark zu er-
pressen, indem er denselben beschuldigte, sich sittlich an ihm ver-
gangen und dadurch seine Gesundheit untergraben zu haben. —
Als Verteidiger stand dem Angeklagten der Rechtsanwalt Munckel
— 65Ö —
zur Seite. Für die Verhandlung schloss der Gerichtshof die Oeffent-
lichkeit ans. Die Begründung des Erkenntnisses dagegen erfolgte
öffentlich. Aus derselben ist zu ersehen, dass der aus Ungarn
stammende Angeklagte durch Androhung eines Zivilprozesses und
Hinweis auf eventuelle Veröffentlichungen kompromittierender Art
versucht hat, von dem Baron v. W. 15000 Mark zu erhalten. Der
Gerichtshof hat geglaubt, dass dem bisher unbestraften Angeklagten
ein gleichfalls unbestrafter Zeuge gegenüberstehe, welchem noch der
Eid zur Seite stehe, und er hat deshalb genau geprüft, auf welche
Seite sich bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit die Wagschale
neige. Nach dieser sorgfältigen Prüfung habe der Gerichtshof den
Aussagen des Barons v. W. den Vorzug geben müssen, denn dieser
habe sich nicht in einem einzigen Punkte widersprochen, während
der Angeklagte auf zahlreichen Lügen ertappt sei. Der Gerichtshof
habe erwogen, dass der Angeklagte schon einmal dem Baron v.
W. 259 Mark abgelockt und dabei erzählt habe, dass seine Eltern
aus Gram über Verluste seines Vaters an der Börse plötzlich ge-
storben seien. Thatsächlich leben aber die Eltern des Angeklagten
noch, und die ganze Geschichte sei nur erfunden, um den Baron v.
W. weich zu stimmen. Einem Menschen, der so lügt, könne der
Gerichtshof nicht glauben. Der Gerichtshof halte für erwiesen,
dass die den Baron v. W. kompromittierenden Behauptungen des
Angeklagten nicht wahr sind und der Letztere sich einer ver-
suchten Erpressung schuldig gemacht habe. Bei der Strafabmessong
habe der Gerichtshof die Unbescholtenheit und Jugend des 20jährigen
Angeklagten berücksichtigt, anderseits aber die unglaubliche Frech-
heit und Halsstarrigkeit des Angeklagten, womit derselbe sogar
zwei Rechtsanwälte düpiert habe. Der Gerichtshof hat deshalb
nach dem Antrage des Staatsanwalts auf 1 Vj Jahre Gefängnis und
2 Jah^e Ehrverlust erkannt. — Der Angeklagte erklärte, sich bei
diesem Erkenntnisse nicht zu beruhigen.
Durch die Polizei geschlossen wurde gestern um die
Mittagszeit das Schanklokal von W., Schützenstrasse 55, „Der kleine
Salvator'' genannt. Es verkehrten dort zumeist der Prostitution
ergebene Männer, von denen viele Frauenkleidung zu tragen pflegten.
Das Treiben in diesem Lokale soll ein überaus skandalöses ge-
wesen sein.
Ein Mädchen in Männerkleidung. Letzthin verurteilte
das Landgericht zu Dresden den angeblichen Dienstkneoht Ernst
Schulze, der angeblich am 12. Mai 1881 zu Burg bei Hoyerswerda
— 560 —
geboren ist, wegen Unterochlagiing, Urknndentälschung und Be-
trages zn sechs Monaten GetlingniB. Als der Verurteilte zur Ver-
bfLssung der Strafe eingeliefert wurde, stellte der Gerichtsarzt He-
dizinalrat Dr. Donau fest, dass Schulze ein Mädchen sei. Die weitere
Untersuchung ergab, dass es sich um die am 6. April 1875 zu Neu-
dorf bei Hoyerswerda geborene Dienstmagd Jobanna Gasper handelte.
Sie hat, ohne dass jemand hinter das Geheimnis gekommen wäre,
eine ganze Beihe von Jahren Männerkleidung getragen, als Dienst-
kneoht gearbeitet und ist auch, wie bemerkt, als solcher verurteilt
worden. Weil sie sich eines ihr nicht zukommenden Namens einein
zuständigen Beamten gegenüber bedient hatte, wurde sie des wei-
teren zu einem Monat Haft verurteilt.
Köln, 8. Januar 1901. In jeder Grossstadt giebt es eine Menge
lichtscheuer Existenzen, die durch ihr niederträchtiges Treiben an-
dern Leuten mit E^ressungsversuchen schmutzigster Art zu Leibe
rücken und sie, falls die Ei^iressung abgewiesen wird, ruinieren und
Streit und Unfrieden in bis dahin glücklichen Familien stiften.
Leider konmit dieses Treiben nur selten ans Tagesücht. Ein solch
äusserst gemeingefährlicher Mensch ist der Tagelöhner Hermann
Bog mann von hier, der sich heute vor der Strafkammer des kgl.
Landgerichts wegen der Anklage der versuchten Erpressung und
der wissentlich falschen Beschuldigung zu verantworten hatte. Der
Angeklagte richtete im Oktober v. J. an einen hiesigen Kaufmann
einen Brief, worin er von dem Adressaten die Zahlung von 40 Mk.
verlangte, widrigenfalls er ihn wegen widernatürlicher Unzucht an-
zeigen werde. Als der Kaufinann auf den plumpen Erpressungs-
versuch nicht einging, führte Bogmann seine Drohung aus und
denunzierte jenen bei der Staatsanwi^tschaft. Aus dieser Beschul-
digung erwuchsen dem Kaufmann die grössten Unannehmlichkeiten
und Nachteile, denn er wurde auf der Beise plötzlich verhaftet,
dann 14 Tage in Untersuchungshaft gehalten und verlor schliesslich
dadurch auch noch seine Stellung. Die Untersuchung und die Ge-
richtsverhandlung, die bei verschlossenen Thüren geführt werden
musste, ergab, dass die Beschuldigung des Bogmanu gegen den
Kaufinann vollständig haltlos war. Das Gericht erkannte gegen
Bogmann auf 8 Jahre Gefängnis und 5 Jahre Ehrverlust
Ulm, 80. August. Wegen einer Beihe von Sittlichkeitsver-
brechen (§ 175 des B.-Str.-G.-B.) wurden der frühere Hauptmann
M. C. aus Kannstatt, die Friseure E. 0. Seh. aus Ulm und G. aus
Dndweiler und der Hutmacher K. aus Giengen von der Strafkammer
- m -.
des hiesigen Landgerichts zu Getängnisstrafen von 5, 2, 7 und
2 Monaten verurteilt. Die Verbrechen sind anlässlich der Nach*
forsohungen über die Ermordung des Friseurlehrlings Paul Müller
hier zu Tage gekommen.
Neues Wiener Tageblatt vom 10. Juli 1900. (Selbstmord
eines Majors.) In Herkulesbad hat sich dieser Tage der Major
des in Stuhlweissenburg gamisonierenden 69. Infanterie-Segiments,
Michael Cimpoca, durch einen Eevolverschuss entleibt. Major
Cimpoca, ein verhältnismässig junger, eleganter Stabsoffizier, war
Ende Juni nach Herkulesbad gekommen. Er zeigte sich sehr selten
in Gesellschaft und führte ein sehr zurückgezogenes Leben. Die
Ursache des Selbstmordes ist völlig unbekannt. Die That ist
um so unerklärlicher, als der Offizier in geordneten Verhält-
nissen lebte. Wie verlautet, war Major Cimpoca seit
einigen Monaten mit einem jungen Mädchen aus guter
Familie verlobt und hätte seine Braut schon demnächst
zum Traualtar führen sollen.
Ein dreister Erpressungsversuch ist dieser Tage gegen
einen hiesigen hochgestellten Beamten ausgeführt worden. Derselbe
lernte vor einigen Jahren in einer Gemälde-Sammlung zu München
einen jungen Kleriker, Namens Stefan Jiergel, kennen, mit welchem
er sich in ein Gespräch über Kunst und Litteratur einliess. Da der
junge Mann auf diesen imd anderen Gebieten wohlbewandert war,
auch sonst einen hohen Grad von Bildung verriet, so verkehrte der
Beamte damals noch öfters mit ihm, machte auch später, als er
seinen jungen Freund in Pest wiedertraf, von dort einen gemein-
schaftlichen Ausflug mit demselben. In voriger Woche meldete sich
der aus Pest gebürtige Jiergel bei dem hier wohnhaften Beamten
und suchte gleich bei Gelegenheit dieses ersten Besuches ein Dar-
lehn nach, was der Beamte indess abschlug. Wenige Tage darauf
empfing der Beamte einen Brief des J., in welchem dieser ihm mit
einer EJage drohte, weun der Beamte für ihn nicht umgehend
15,000 Mark Schweigegeld bei seinem Rechtsanwälte deponiere.
Da der Bedrohte sich eines unerlaubten Umganges, dessen er sich
mit dem Briefschreiber schuldig gemacht haben sollte, nicht bewusst
war, so übergab er das Schreiben einfach der Kriminalpolizei, welche
die Verhaftung Jiergels beschloss. Dieser war indess nirgends zu
ermitteln; das Hotel, in welchem er logierte, hatte er bereits wieder
verlassen, und auch bei seinem Bechtsanwalt erschien er nicht mehr
ptersöimcb, sondern fragte nur ab und zu telephonisch nach, ob
Jahrbuch m. 36
— 562 —
die 15,000 Mark eingegangen seien. Die Polizei vermutet gleich-
wohl, dasB Jiergel, der wahrscheinlich Wind von der Anzeige be-
kommen hat, sich hier — vielleicht bei Freanden, welche von seinem
getährlichen Treiben keine Kenntnis haben — noch aufhält. Der
Gesuchte ist zirka 20 Jahre alt, schlank, hat schmales, blasses
Gesicht und Anflug von kleinem, dunklem Schnurrbart; er spricht
das Deutsche mit fremdem Accent und trägt dunklen Ueberzieher
mit Pelzkragen und spitze, mit Knöpfen besetzte StiefeL
Angeborene, unverschuldete, geschlechtliche Abneigung ist'
gerade beim Manne verbreiteter als viele ahnen. Nicht alle Jung-
gesellen sind selbstsüchtige Ichmenschen. Auch Mädchen zeigen
mitunter unüberwindliche Abneigung gegen die Ebe. Es giebt zahl-
reiche sogenannte Altjungfem, deren Loos selbstgewollt ist. Sollen
diese auch besteuert werden? Junggesellenstener kann u. E. nur
begründet werden mit dem Hinweise, dass der Junggeselle steuer-
kräftiger ist als der Familienvater, welcher ausserdem um den
Beistand des Staates mehr bemüht ist, als jener. Aber als Strafe
für Selbstsucht?! Nein. Gegenüber der Thatsache, dass verkehrte
Geschlechtsempfindung durchaus angeboren sein, und einen unüber-
windlichen Abscheu vor den ehelichen Freuden begründen kann,
muss man mit solchen Vorwürfen vorsichtig sein. Die ärztlichen
Forschungen — man vergleiche insbesonders unter anderen Werken
„Psychopathia sexualis*^ von dem Wiener Psychiater Geh. Hofrat
Professor Dr. von Kraflft-Ebing — haben Licht in diese Verhältnisse
gebracht und ausserdem dargethan, dass die strafgesetzlichen Be-
stimmungen gegenüber der homogenen Liebe ein Unrecht sind.
Von ihrem Wesen bestehen in der OeflfentUchkeit ganz falsche Vor-
stellungen. Nicht immer ist jeder Junggeselle ein Ichmensch und
somit verdammenswert. (Schriftleitung des „Deutschen Burschen-
schafter'' in einer Anmerkung zu einem Aufsatz über Junggesellen-
steuer, No. 3. 1898.)
New-York, 12. Februar. Ein furchtbarer Skandal dürfte in
einigen Tagen platzen, und es stehen Verhaftungen von mehreren
des Giftmordes an Bamet und Frau Adams verdächtigen Persön-
lichkeiten bevor. Der Distriktsanwalt Gardiner, der den Fall führt,
gab heute den Vertretern der Presse eine Erklärung ab, indem er
ihnen mitteilte, er sei überzeugt, dass mindestens drei Personen
den Tod Bamet's und der Frau Adams herbeigeführt hätten. Er
kenne ihren Namen und das Motiv, das sie zur That trieb. „Es
muss ein f&rmlicher Verbrecherstall ausgekehrt werden,'' sagte Gar-
— 563 —
diner. „Die EnthtQlungen werden Personen blossstellen, die kd
sozialen Leben sehr hoch stehen, aber ich werde mich durch kei-
nerlei Bücksichten beeinflussen lassen und schonungslos vorgehen.''
Diese energische Sprache der leitenden Magistratsperson lässt keinen
Zweifel daran, dass es nunmehr ernst werden soll und dass weder
Stellung noch Reichtum die Schuldigen retten wird, wenn es ihnen
auch gelungen ist, die Enthüllung des Mordgeheimnisses durch fünf
Wochen zu yereiteln , indem sie das Geld mit vollen Händen aus-
streuten. Die Sensation wird aber dabei nicht stille halten und
es stehen noch viele skandalöse Enthüllungen bevor, es werden
perverse Zustände und Neigungen aufgedeckt werden,
welche selbst die Skandalaffären der Clevelandstreet und
des „Aesthetikers" Wilde bei weitem übertreffen sollen.
Die Untersuchung hat scheussliche Thatsachen an das Tageslicht
gebracht, und die Namen zahlreicher hervorragender Bürger und
Millionäre werden in unheilbarer Weise kompromittiert
werden. Viele Mitglieder des „Knickerbocker Atletioklub" haben
aus dem angedeuteten Laster einen förmlichen Kultus
gemacht. Wie es nunmehr feststeht, hatten dieselben luxuriöse
Bäumlichkeiten gemietet, woselbst sie bis vor kurzem wohnten.
Die Zimmer waren mit orientalischem Luxus eingerichtet;
nur ein Japanese, ein schweigsamer Bursche, hatte die Bedienung
zu besorgen. Im Atleticklub, der zahlreiche ehrenwerte MitgUeder
enthält, war der Charakter jener Wohnung bekannt geworden und
verschiedene Mitglieder, danmter namentlich Bamet und Cernish,
hatten sich offen in unzweideutigster Weise hierüber ausgesprochen.
Dies scheint den feigen Mördern den Plan eingegeben zu haben,
diese Männer aus dem Wege zu räumen, um nicht in der steten Furcht
zu schweben, eines Tages verraten zu werden. Sie wären aus der
öffentUchen Gesellschaft ausgestossen worden und für ewige Zeiten
gebrandmarkt gewesen. Dies sind die verbürgten Meldungen. Es
sind hier noch viele Versionen weit sensationellerer Natur
im Umlaufe, die vielfach geglaubt werden, aber noch nicht er-
wiesen sind. Es unterliegt keinem Zweifel, dass New-York vor
einem Skandale steht, wie er sensationeller selbst in der an derlei
Vortälien so reichen Chronik unserer Stadt seinesgleichen sucht.
Friedrich Wühelm L schenkte 1731 der Stadt Potsdam 313
Thaler zu Feuerlösch- Gerätschaften und 205 Thaler 21 Gr. Kosten,
welche durch die Hinrichtung der Kindesmörderin Petsch und des
Sodomiten Lepsch der Stadt erwachsen waren. (27 Thaler erhielt
der Scharfrichter für die Tortur und die Execution der Petsch,
36*
-^ &64 —
16 Thaler kostete das Geriist zum Sacken. — 27 Thaler bekam der
SoharMohter an Execntions- Gebühren für Lepsoh und 16 Thaler
5 Gr. wnrden f)ir 8 Haufen Holz, Stroh und Theer zur Verbrennung
gezahlt, 15 llialer erhielt das Schmiedegewerk für Halseisen,
Galgen und Bad.)
Wagner (Wie Potsdam eine Kämmerei erhält.) MitteiliiDgen des
Vereins für die Gesch. Potsdams. Nr. 258. Neue Folge, IL Teil
(Bd. VII), P. G. 180.
In der „Voss. Zeitg.'* vom Freitag, 28. Mai 1886, war berichtet,
dass der Handlungsreisende einer Leipziger Firma wegen eines Ver-
brechens gegen § 175, welches er in Suhl begangen, von dort
aus steckbrieflich verfolgt und in Leipzig verhaftet worden war.
Dort liess er sich von dem Polizisten noch einmal nach dem Hause
seines Prinzipals ftlhren, und während der Polizist mit diesem sprach,
trat jener an einen Kasten, angeblich um einige Kleidungsstücke
herauszunehmen, ergriff aus demselben einen Bevolver und er-
schoss sich,
Die lU. Strafkammer hiesigen Landgerichts I. beschäftigte sich
gestern mit einer Gesellschaft von Männern, die das Seeger'sche
Bestaurant, Jägerstrasse 10, zum Schauplatze ihrer unnennbaren
Lüste gemacht hatten. An ihrer Spitze befand sich der längere Zeit
unsichtbar gewordene Bestaurateur Seeger, welcher sich schliess-
üch selbst gestellt hatte, dann dessen Kellner, drei Kaufleute, ein
Eentier, ein SchuUehrer, ein Schneider, ein Diener und noch ein
Kellner. Der Staatsanwalt beantragte gegen die beiden Erst-
genannten je ein Jahr Gefängnis, gegen die übrigen Angeklagten
je 3 Monate Gefängnis. Der Gerichtshof verurteilte den Bestaurateur
Seeger zu 8 Monaten Gefängnis, einen schon bejahrten Kaufmann
zu 4 Monaten, die übrigen zu 3 Monaten Gefängnis und sprach den
SchuUehrer frei. Letzterer ist schon einige Zeit vom Amte sus-
pendiert und seinetwegen wohnte ein Magistratsbeamter der Ver-
handlung bei 1. 12. 85.
Breslau er Zeitung, 17. Juli 1886. Heute der Jubeltag der
sogenannten „Armensünderglocke** auf dem Magdalenenturm, welche
heute ein halbes Jahrtausend alt geworden ist Die von Wil-
helm Müller in seinem bekannten Gedicht „War einst ein Glocken-
giesser** behandelte Erzählung lässt sich als historisch wahr nicht
nachweisen. Fest steht, dass vom Jahre 1526 ab auf den An-
trag des Breslauer Beformators Johann Heiss der Bat der Stadt
— 565 —
den zur Bichtstatt geführten Delinquenten nur die Glocke von
Maria Magdalena und nicht mehr, wie bisher, auch noch die von
St. Elisabeth läuten Hess. Diese Verordnung trat zum ersten Male
bei einem Schreiber, Namens Johann Beer, einem Glogauer, in
Kraft; denn „dieser hatte mit einem Knaben Böses ver-
übt." — „Er wurde gerichtet und verbrannt."
G. Anzgr. v. 20. Dezbr. 1900. In Haft genommen wurde eine
Mannsperson, die in Frauenkleidern auf den Strassen Un-
fug verübte. Der Betreffende scheint aber auch schwere Straf-
thaten auf dem Kerbholz zu haben, denn man hat es für nötig be-
funden, ihn für das Verbrecheralbum zu photographieren.
London, 5. Juli 1886. Ein 17 jähriger Bursche, Namens John
Osborne, der von einem jungen Mann, Namens Marling, unter der
Drohung, ihn eines unnatürlichen Verbrechens zu bezichtigen, Geld
und eine Uhr im Werte von 40 Lstr. erpresst hatte, wurde im
Zentral-Kriminalgerichtshof in London zu lebenslänglicher Zucht-
hausstrafe verurteilt. (D. H.)
Straf kammerverhandlung, 5. Juli. Vorsitzender: Herr Landgerichts-
rat Dr. Gillischewsky. Staatsanwaltschaft : Herr Assessor Hoffstedt-
Wegen versuchter Erpressung stand der Hausdiener E. vor Gericht.
Der noch jugendliche Mensch ist baar jeglichen Gefühls der Dank-
barkeit. Auf der Strasse lernte er einmal den Zeugen, früheren
Eisenbahnassistenten, jetzigen Kaufmann W. kennen, der ihn beim
Betteln antraf und ermahnte, er solle dies lieber unterlassen. Als
der fremde Bettler nun ein recht klägliches Gesicht machte, nahm
W. ihn mit nach Hause, gab ihm zu essen und zu trinken und liess
ihn dann gehen. Am nächsten Tage kam E. wieder und war nun
fast täglicher Gast des Herrn W., den er nach allen Hegeln der
Bettelkunst „neppte", ihm Geld abborgte und sich Sachen schenken
liess. Als endlich nun die Sache zu bunt wurde und er dem Un-
dankbaren die Thür wies, schrieb dieser ihm einen Brief, in dem
er sofort 20 Mk. verlangte, da er andernfalls den W. wegen an ihm
begangener imsittlicher Handlungen denunzieren würde. Durch die
Verhandlung wurde nichts Diesbezügliches erwiesen und der Erpresser
auf 4 Monate ins Gefängnis geschickt. (Potsd. Int. Bl. 5. 7. 99.)
Ein Sprung aus dem Fenster. Eine eigentümliche Affäre,
die trotz ihrer Abscheulichkeit und Infamie einer gewissen Tragi-
komik nicht entbehrt, hat sich in der Lunkwitzstrasse abgespielt.
— 566 —
Am frühen Morgen des gestrigen Tages wurden die Bewohner des
Haoses Nr. 5 dnroh gellende Hilfemfe ans dem Schlafe geweekt
Die Hinzueilenden konnten noch wahrnehmen, dass aus einem
Fenster des ersten Stockwerkes ein junger Bursche, in dem
man den Diener eines im selben Hause wohnenden Studenten er-
kannte, in den Hof räum hinabs prang, wo er, scheinbar ver-
letzt, liegen blieb. Man glaubte, dass der jugendliche Diener,
dessen Name Richard Hine ist, einen Selbstmordversuch unter-
nommen habe. Er jammerte unausgesetzt und es dauerte eine
ziemliche Weile, ehe er dazu gebracht werden konnte, die nach-
stehende, sehr merkwürdige Darstellung von einem Vorfall zu geben,
der sich unmittelbar vorher in dem Schlafzimmer seines Herrn ab-
gespielt hatte. Der Dienstgeber ist der Student Theodor von
Gr., der Sohn eines Gutsbesitzers. Mit wissenschaftlichen Studien
scheint v. Gr. sich nicht sonderlich zu beschäftigen. Er liebt es, in
seiner aus mehreren hochelegant eingerichteten Zimmern bestehenden
Wohnung Zechgelage, bei denen es hoch hergeht und die bis zum
frühen Morgen währen, zu veranstalten. Auch gestern hatten die
Gäste des adeligen Studenten erst um die zweite Morgenstunde Ab-
schied genommen. Von Gr. war dann noch eine Weile sitzen ge-
blieben; seinen jugendlichen Diener forderte er auf, dass er doch
auch etwas trinken möge, dann möge er sich in sein, v. Gr.'s, Bett
schlafen legen. Der Bursche fand das letztere Ansinnen seines
Herrn etwas sonderbar, doch nachdem ihm der Baron erklärt hatte,
er müsse thun, was er ihm befehle, begab sich Hine in dem Schlaf-
zimmer seines Herrn zur Buhe. Bald darauf spielte sich eine nicht
zu schildernde Szene ab, in deren Verlauf der adelige Student einen
abscheulichen Angriff gegen den jungen Mann verübte.
Hine, der sich der Angriffe seines Herrn nicht zu erwehren ver-
mochte, schrie so laut um Hilfe, dass Personen in den Nachbar-
wohnungen aufmerksam wurden. Es gelang schliesslich dem Diener,
sich den Händen v. Gr. zu entwinden und in seine Kammer zu eilen.
Aber auch dahin verfolgte ihn sein Herr, und Hine, ausser sich vor
Angst und Entsetzen, vermochte sich nur dadurch zu helfen, dass
er aus dem Fenster in den Hofraum hinabsprang. Gleich-
zeitig schrie er laut um Hilfe. Bei dem Sprunge aus dem ersten
Stocke hatte er, wie später festgestellt wurde, auch innere Ver-
letzungen erlitten. Mittelst Krankenwagens wurde er zunächst
auf die Unfall-Station in der Belle- Alliancestrasse und von dort
nach dem Krankenhause am Urban gebracht. Der adelige Student,
der, wenn die Darstellung seines Dieners auf Richtigkeit beruht,
sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht hat, hält sich
— 567 —
in seiner Wohnung, in der er sich ganz allein befindet, einge-
schlossen. Es wird Niemandem geöffnet. An die in
Magdeburg wohnhaften Eltern des von seinem Herrn so schmählich
missbrauchten jungen Dieners ist von Hausleuten auf telegraphischem
Wege von dem Vorfalle Mitteilung gemacht worden. Der Polizei
dürfte wohl schon von ärztlicher Seite Anzeige erstattet worden sein.
V. 1900.
Ueber einen Skandal unangenehmster Art in Theater-
kreisen berichtet das „Berl. Tagebl." aus Weimar, den 30. Aug.:
Der bevorstehenden Eröffnung der neuen Spielzeit im grossherzog-
lichen Hoftheater geht ein Ereignis voraus, das einen traurigen
Einblick in die Verschiebung der Personalverhältnisse gewährt, die
sich früher mit Becht eines musterhaften Eufes erfreuten. Heute
ist in Weimar der Ausgang einer Gerichtsverhandlung bekannt
geworden, die sich in voriger Woche hinter verschlossenen Thtiren
in Berlin abspielte, worüber bisher noch nichts in die Oeffentlich-
keit gedrungen war. Der grossherzoglich sächsische Hofschau-
spieler Gregory, mit richtigem Namen Haupt, ist wegen versuchter
Erpressung zu sechs Monaten Gefängnis und sein angeblicher Diener,
ein gewisser Fritz Völker, wegen fortgesetzter Erpressung, wegen
Diebstahls in wiederholtem Eückfall und wegen Freiheitsberaubung
zu vier Jahren Zuchthaus, f ünQährigem Ehrverlust und Stellimg
unter Polizeiaufsicht verurteilt worden. Gregory kam im Sommer
vorigen Jahres vom Landestheater in Prag nach Weimar und ward
hier Nachfolger von Paul Riecke im Fache der jugendlichen Helden
und Liebhaber, nachdem Prange und Ludwig nach kurzer Zeit
ausgeschieden waren. Die Lebensverhältnisse Gregorys wurden
in Weimar bald zum Stadtgespräche, zumal das einsame Garten-
haus, in dem er wohnte, mehrfach von Polizeibeamten umstellt
wurde, die auf den Diener Fritz Völker fahndeten, der durch die
Gärten rechtzeitig die Flucht zu ergreifen wusste; doch konnte er
seiner Gefangennahme schliesslich nicht entgehen. Li künstlerischer
Hinsicht fand Gregory hier scharfe Verurteilung, doch erfreute er
sich der Gunst des Generalintendanten v. Vignau, in dessen Hause
und an dessen Tafel er zu einem gewissen Neide der Kollegen
sehr freundlich aufgenommen wurde. Gegen Ende der vorigen
Spielzeit verschwand Gregory plötzlich, und bald verbreitete sich
das Gerücht, dass er in Charlottenburg verhaftet sei. Die Einzel-
heiten der Vergehen entziehen sich aus Sittlichkeitsgründen der
Auseinandersetzung. Es kann nur angedeutet werden, dass Völker
eigenartige Beziehungen zu einem angesehenen höheren Beamten
— 568 —
id Berlin hatte, auf Gnmd deren es Ihm möglich wurde, kolossale
Erpressungen zn begehen, die sein Opfer fast bis zum Selbstmorde
getrieben haben. Endlich fasste der Beamte den Entschlass, den
Schutz des Gerichtes anzurufen, um sich seinem Peiniger zu ent-
ziehen. Nach dem Gerichtsurteil muss sich Gregory an den Er-
pressungsversuchen beteiligt haben. Gegen eine Kaution befindet
er sich jetzt auf freiem Fnss und verweilt in seinem idyllischen
Weimarer Gartenhaus. Seine Einrichtung war geschmackvoller als
diejenige der Weimarer Hofbühne, die zuweilen Gegenstände ent-
lieh, zum Beispiel war Bracco's „Untreue*' gänzlich mit dem Mobiliar
und den Teppichen Gregory's ausgestattet. Nun fordern aber die
Gläubiger ihre Möbel zurück, und die Schutzgemeinschaft für
Handel und Gewerbe ersucht in einem Inserat, die Forderungen
an Gregory bei ihr anzugeben. Es ist bekannt, dass das gross-
herzogliche Ministerium auf Wunsch des Generalintendanten Straf-
antrag gegen die Hildburghauser „Dorfzeitung" gestellt hat, weil
unter Anderem das Weimarer Hoftheater eine „Dunkelkammer^^ ge-
nannt war. Der Korrespondent des verklagten Blattes war aber
von den jetzt enthüllten Dingen offenbar schon unterrichtet, und
sein Verteidigungsmaterial soll noch Dinge enthalten, die am besten
tiefes Schweigen bedeckt hätte. Die Meininger Staatsanwaltschaft
ist mit den Voruntersuchungen betraut. Man ist gespannt, ob wirk-
lich auch jetzt noch die Klage erhoben werden wird.
Wien, den 29. Dezember 1900.*) — (In geheimer Verhand-
lung). Franz Knauer, ein sechzehnjähriger Bursche, stand heute
unter Ausschluss der Oeffentlichkeit vor Gericht, angeklagt des
Verbrechens nach § 129, b. St. G. In zwei Fällen waren die Teil-
nehmer an diesem Verbrechen gegen die Sittlichkeit nicht ausfindig
zu machen. Als Knauer in Haft war, gelangte an seine Wohnung-s-
adresse ein Brief, welcher mit „Kaltenegger" unterzeichnet war
und unter diesem Namen eine Poste-restante-Antwort erbat. Ans
*) Anmerkung des Herausgebers: Wir möchten, an diesen und
ähnliche Fälle anschliessend, den Homosexuellen den Bat erteilen,
sich vorkommenden Fall nicht auf Leugnen zu verlegen, sondern
sich als homosexuell empfindend zu bekennen und ein sachver-
ständiges Gutachten zu fordern. Die Erfahrung der letzten Jahre
hat gezeigt , dass unter diesen Umständen am ehesten auf Frei-
sprechung zu hoffen ist; wiederholt ist nach Feststellung der
Homosexualität von psychiatrischer Seite überhaupt von der Er-
(5fiilung des Hauptverfahrens abgesehen worden.
— 569 —
dem Ton des Briefes war zn ersehen, dass der Brief von einem
Herrn herrührte, der mit Knauer ebenfalls intime Beziehungen unter-
halten gehabt hatte. Es wurde polizeilich ermittelt, dass der an-
gebliche Kaltenegger ein Geistlicher, namens M. P., war. Die
Gerichtsärzte sahen sich veranlasst, zu konstatieren, dass der Geist-
liche unter unwiderstehlichem Zwang gehandelt habe, und so stand
Knauer heute allein vor Gericht. Er wurde, verteidigt von Dr.
Brauer, zu drei Monaten schweren Kerkers verurteilt.
„Graf Ahlefeld vom Hause Eschelmark, KOnigl. dänischer
Kavallerie-Offizier und Mitglied der schleswig-Holsteinischen Eitter-
schaff Eine Visitenkarte mit diesem hochtönenden Inhalt gab ein
Herr an einem Maiabende d. J. beim Pförtner des Westminster-
Hotels, Unter den Linden, ab, wobei er angab, dass er für längere
Zeit im Hotel Unterkunft nehmen würde. Der vornehme Gast fand
eine gebührende Aufiiahme. In den ersten zwei Wochen berichtigte
der Herr Graf seine Rechnung und befestigte dadurch das ihm ge-
schenkte Vertrauen. Der Geschäftsführer nahm auch keinen An-
stand, für den Gast eine Kleiderrechnung in Höhe von 230 Mark
zu bezahlen. Als dem letzteren dann wieder die Wochenrechnung
in Höhe von 140 Mark vorgelegt wurde, erklärte der Graf, dass er
auf Mittel von ausserhalb warte. Am folgenden Tage war er ver-
schwunden. Es meldeten sich nun verschiedene Geschäftsleute im
Hotel, die an den angeblichen Grafen Ansprüche hatten. So hatte
dieser sich u. a. bei der Firma Mohr & Speyer eine Phantasie-Uni-
form anfertigen lassen, wie sie seiner Angabe nach von den Mit-
gliedern der Schleswig-Holsteinischen Ritterschaft getragen würde.
Der angebliche Graf entpuppte sich als Hochstapler, der bald zur
Haft gebracht wurde. Er stand am Freitag vor der fünften Beru-
fungsstrafkammer des Landgerichts I. Das Schöffengericht hatte
ihn zu 2 Monaten Gefängnis und 3 Tagen Haft verurteilt, welches
Strafmass dem Staatsanwalt zu niedrig erschien. Der Angeklagte
ist erst 17 Jahre alt und macht den Eindruck eines völlig unreifen
Menschen. Er war Buchhandlungslehrling gewesen, hatte aber diese
Stellung aufgeben müssen, weil er gar zu arg — stotterte. Ein
Kommando von ihm hätte sich drollig anhören müssen. Ueber die
Herkunft des Angeklagten ist folgendes festgestellt worden: Er ist
der Sohn des verstorbenen Apothekers Sunge zu Eckemförde, der
eine Gräfin Ahlefeld geheiratet hatte. Als sein Vater gestorben
war, ohne Vermögen zu hinterlassen, zog dessen Witwe mit ihrem
Knaben nach Potsdam. Sie heiratete bald einen Gutsbesitzer, die
Ehe wurde aber im vorigen Jahre geschieden. Der Angeklagte
— 570 —
kam in der Schnle bis zur Ober-Tertia, dann brachte man ihn in
die Lehre. ALs seine Eltern sich trennten, kümmerte sich niemand
mehr am ihn ; seine Mutter war auf eine Einnahme von 2000 Mark,
die ihr aus einem Familienstift zufloss, aogewiesen. Jetzt verfiel
der Angeklagte auf das Gebiet der Hochstapelei. Als er sich im
Westminster-Hotel einquartierte, war er fast mittellos. Es wurde
ihm aber eine unerwartete, wenn auch höchst unlautere Einnahms-
quelle. Wie er angab, hat er von einem älteren Herrn, den er im
Tiergarten kennen lernte, 300 Mark erhalten. Dadurch wurde er
in den Stand gesetzt, die ersten Hotelrechnungen zu begleichen.
Durch die Beweisaufnahme wurde festgestellt, dass der Angeklagte
mit der Gewandtheit eines geriebenen Hochstaplers aufgetreten war,
wenn es andererseits auch auffallend erschien, dass Berliner Ge-
schäftsleute sich lediglich durch den hochtönenden Namen hatten
täuschen lassen. Der letztere Umstand hatte das Schöffengericht
bewogen, auf ein so niedriges Strafmass zu erkennen. Das Berufs-
gericht war mit dem Staatsanwälte der Ansicht, dass eine empfind-
lichere Strafe verhängt werden müsse; es wurde auf sechs Monate
Gefängnis und 14 Tage Haft erkannt.
Zu dem Selbstmord des englischen Botschafts-Sekretärs
Hugh Grosvenor in Wien, über den wir in der heutigen Morgen-
ausgabe berichteten, wird uns weiter telegraphisch gemeldet, dass
er ganz unerklärlich erscheint. Der Verstorbene lebte sehr be-
scheiden und zurückgezogen, er spielte und wettete nicht und hatte
keine Schulden. Der erst zwanzigjährige Mann neigte aber der
Melancholie zu. Er war erst seit Beginn dieses Jahres der Wiener
Botschaft zugeteilt. Er ist ein Vetter des jungen Herzogs von
Westminster. 7. 8. 1900.
Wien, 7. August 1900. (Privat-Telegramm.) lieber den Selbst-
mord des Botschaftssekretärs Grosvenor verlautet weiter, es sei
ganz ausgeschlossen, dass derselbe (Spiel- oder andere Schulden)
gehabt habe. Dagegen wäre vielleicht für die Vermutung Grund»
dass er eine imglückliche Leidenschaft gehabt, die ihn in den Tod
getrieben habe, namentlich da er in der letzten Zeit einsilbig war
und gern die Einsamkeit aufsuchte.
Voss. Zeitg., 29. Mai 1886. Aus Brüssel wird der „Frankf
Ztg." über das sittenlose Treiben in Genter aristokratischen Kreisen,
geschrieben: „Seit zwei bis drei Jahren bereits murmelte man in
Gent von einem oder selbst mehreren Klubs, unter denen einer den
— 571 —
Namen „Zwarte E^ravatten" (oravates noires) führte irnd die osten-
sibel blos dem Sport des Wettens bei Hennen oder dem Spiel ge-
widmet waren, deren Mitglieder aber, wie das immer lanter werdende
Gerücht behauptete, Unsittlichkeiten der schlimmsten Art sich
widmeten und ihre Opfer nicht blos in der weiblichen Jugend
suchten. Dies Treiben ist jetzt ans Licht gezogen worden, und
zwar, soweit man bis jetzt urteilen kann, in Folge der Enthüllungen
einiger wegen Betrugs im Spiel verhafteten frühreifen und Aus-
schreitungen ergebenen Mitglieder jenes Klubs. Diese jungen Leute
hätten die compromittierten Personen, von deren Lasten sie ge-
naue Kenntnis hatten, verraten. Eines der Opfer, das nicht einmal
den Namen des von ihm Beschuldigten kannte, wusste doch auf
die Spur desselben zu führen : Durch die Angabe, dass dieser einen
Stockdegen besitze. Herr E. — so lautet der Anfangsbuchstabe
des Biossgestellten — wurde zum Untersuchungsrichter entboten
und gefragt, ob er einen solchen Stock besitze. Er leugnete es.
Hierauf wurde sofort eine Hausdurchsuchung in dessen Wohnung
vorgenommen, wo man einen Stock von der angegebenen Art fand.
Noch am selben Tage und ehe noch die Untersuchung geschlossen
war, machte E. seinem Leben ein Ende. Ein Vizekonsul, der eben-
falls in diese Untersuchimg verwickelt war, versuchte gleichfalls, sich
durch einen Schuss in den Kopf zu töten, doch misslang dieser
Versuch. Dagegen ist noch von mehreren weiteren Selbstmorden,
von denen einer geraume Zeit zurück datiert, aber in engem Zu-
sammenhang mit den beregten Vorgängen steht, die Rede. That-
sache ist, dass bereits 57 Personen aus allen Schichten der Gesell-
schaft in Untersuchung wegen Verbrechen gegen die Sittlichkeit
gezogen sind. Compromittiert sind gleichmässig Personen, die zur
liberalen, und solche, die zur klerikalen Partei zählen. Erwiesen
ist ferner, dass die Hilfsquellen, über welche der Klub der „cravates
noires'' verfUgte, aus einer Industrie der infamsten Art stammten.''
Voss. Zeitg. 2. Juni 1886. Brüssel, 31. Mai. (Privat-Mitteüung).
Die bereits erwähnten Entdeckungen in den aristokratischen Kreisen
der Stadt Gent fähren zu immer traurigeren Ereignissen; schon
wieder eine ganze Beihe von Selbstmorden. Ein Staatsbeamter
hat sich erschossen, ein am Boulevard des Zoologischen Gartens
wohnhafter bemittelter Bürger hat durch Erhängen seinem Leben
ein Ende gemacht, ein anderer hat Gift genommen und sich von
der Brücke MarceUis ins Wasser gestürzt, — kurz, in wenigen Tagen
sechs Selbstmorde. Man fordert schnelle Untersuchung, aber die
Denunziationen gehen so massenhaft ein, dass Gericht und Polizei
— 574 —
werden, deshalb ist 0. noch bis heute Landrat des Grimmer
Kreises und muss es auch noch bis auf weiteres bleiben. Niemand
bedauert dies mehr als die kgl. Regierung. — Es wird Begierungs-
präsident ScheUer-Stralsund als Zeuge aufgerufen. Dieser bekundet
auf Befragen des Präsidenten : Anfangs Dezember 1899 wurde uns
mitgeteilt, dass gegen den Landrat 0. Gerüchte im Umlauf
seien, dieser begehe Handlungen, die die Sittengesetze verletzen.
Ich fragte sofort den Geheimen Oberregierungsrat Mejer, ob ihm
ebenfalls davon etwas bekannt sei. Da Geh. Oberregierungsrat
Mejer dies bestätigte, so telegraphierte ich sofort an den Landrat
0. sich unverzüglich, und zwar am Sonntag, den 10. De-
zember, bei mir eiuzufinden. Landrat 0. erschien auch am
10. Dezember bei mir. Auf meine Vorhaltung stellte der Landrat
alles in Abrede und bemerkte, es sei ihm nicht bekannt, dass irgend
welche Gerüchte gegen ihn im Unüauf seien. Ich bemerkte dem
Landrat, dass ich mich damit nicht beruhigen könnte. Er müsse
die umlaufenden Gerüchte in entschiedener Weise widerlegen, andern-
falls sei ich genötigt, dem Herrn Minister Anzeige zu machen. Ich
bemerke, dass Landrat 0. im Sommer 1899 mit dem Pferde
gestürzt ist und sich dabei eine Gehirnerschütterung zugezogen
hat. Ich reiste gleich darauf nach Berlin und hielt dem Herrn
Minister über den Fall 0. Vortrag. Der Herr Minister äusserte,
es müsse sofort in der Angelegenheit eine genaue Untersuchung
vorgenommen werden Nach meiner Bückkehr aus Berlin forderte
ich sogleich den Landrat auf, entweder gegen die umlaufenden
Gerüchte selbst vorzugehen oder seine Entlassung zu beantragen.
Der Landrat antwortete mir: Er habe sich keiner strafbaren
Handlung schuldig gemacht, er müsse aber bekennen, dass er in
sittlicher Beziehung nicht ganz rein dastehe, er ersuche daher, ihn
von seinem Amte zu suspendieren. Ich verfugte sofort die Sus-
pendierung des Landrats von den Amtsgeschäften und beauftragte
den von dem Herrn Minister zum Kommissar ernannten Herrn Geb.
Oberregierungsrat Mejer, diese Angelegenheit in die Hand zu nehmen.
Gleich darauf wurde mir von dem Geh. Oberregierungsrat Mejer
berichtet, dass der Landrat einen Selbstmordversuch begangen habe.
Der Landrat sei wohl nicht lebensgefährlich, aber immerhin schwer
verwundet. Einige Zeit darauf wurde von dem Bürgermeister zu
Grimmen mitgeteilt, dass er der Staatsanwaltschaft zu Greifswald
wegen einer unsittlichen Handlung des Landrats Anzeige erstattet
und dass die Staatsanwaltschaft deshalb den Haftbefehl gegen den
Landrat erlassen habe. Diese Mitteilung veranlasste mich, sofort
das Disziplinarverfahren gegen den Landrat 0. einzuleiten.
— 575 —
Der Haftbefehl konnte jedoch nicht ausgeführt werden, da 0.
angeblich anf Anraten seiner Verwandten in ärztUehe Be-
handlung nach Berlin sich begeben hatte und von dort sofort nach
der Schweiz abgereist war. Nun macht man mir den Vorwurf, dass
ich nicht schneller eingeschritten bin, um dem öffentlichen Skandal
vorzubeugen. Ich weiss in der That nicht, was ich noch hätte
machen sollen. Sollte ich schleunigst die Pensionierung oder die
Versetzung des Landrats bewirken? Abgesehen davon, dass dies
nicht so ohne weiteres gegangen wäre, so würde man mir, wenn
ich derartiges ausgeführt hätte, mit Becht den Vorwurf gemacht
haben, ich wollte etwas vertuschen. Man macht mir ausserdem
den Vorwurf, dass ich über den Verlauf des Disziplinarverfahrens
nicht der Öffentlichkeit Kenntnis gegeben habe. Ich bin ein alter
Verwaltungsbeamter, ich habe aber noch niemals gehört, dass man
über den Gang eines Disziplinarverfahrens der Öffentlichkeit Kenntnis
giebt. Im übrigen bestreite ich, dass im Kreise eine
Erregung vorhanden gewesen ist. Ich habe mit den E[reis-
eingesessenen bedeutend mehr Fühlung als Herr Becker, der einfach
auf seinem Gute sitzt. Ich bin jedenfalls sofort eingeschritten, als
ich von der Angelegenheit Kenntnis erhielt, und hatte keinerlei
Veranlassung, den Landrat 0. zu schonen. — Auf Befragen des
Ersten Staatsanwalts bemerkt der Begierungspräsident noch;
Von dem inkriminierten Artikel hat fast die gesammte liberale Presse
Notiz genommen. Die „Vossische Zeitung'', „Nationalzeitung'', das
„Berliner Tageblatt", die „Frankfurter Zeitung" und, wie mir mit-
geteilt wurde, auch die „Hessische Landeszeitung" in Marburg und
noch mehrere andere Zeitungen haben den inkriminierten Artikel
abgedruckt. Einige Zeitungen haben den Artikel gemildert Gegen
die „Vossisohe Zeitung", „Nationalzeitung" und das
, Berliner Tageblatt" habe ich Strafantrag gestellt.
Gegen die „Frankf. Zeitung" habe ich dies unterlassen, weil diese
eine mir genehme Berichtigung aufgenommen hat. Ich vermute
aber, dass der Angeklagte Becker den Abdruck des
Artikels in den genannten Zeitungen veranlasst hat.
— Becker bemerkt: Dem Abdruck des Artikels in der „Frank-
furter Zeitung" stehe ich fem, den Abdruck in den Berliner Blättern
und der „Hessischen Landeszeitung" habe ich allerdings veranlasst.
— Erster Staatsanwalt: Herr Begierungspräsident, ist Ihnen vielleicht
bekannt, welches Motiv den Angeklagten Becker bei dem Schreiben
des Artikels geleitet haben mag? — Begierungspräsident: Der An-
geklagte Becker lag in seiner Eigenschaft als Gutsvorsteher
mit dem Landrat 0. in unaufhörlicher Fehde,
— 576 —
der Landrat hat den Angeklagten Becker vielfach in
Geldstrafe genommen. Ans diesen Anlässen ging eine Reihe
von Beschwerden bei mir ein, die fast sämtlich als imbegrtindet
sorttckgewiesen werden mossten. Ich yermnte daher, Becker wollte
sich nicht nur an dem Liandrat 0., sondern auch an mir
rächen. — Der Verteidiger protestiert gegen diese Fragestellung.
Eventuell beantrage er zwecks Klarstellung dieser Angelegenheit
die Vorlegung sämtlicher diesbezüglicher Akten. — Der Gerichtshof
beschUesst, den Antrag des Verteidigers abzulehnen. — Hierauf
wird Gutsbesitzer Dr. Wendorff als Zeuge vernommen. Dieser be-
kundet: Der Fall 0. habe grosse Erregung im ganzen
Kreise hervorgerufen und es sei allgemein aufgefallen,
dass, obwohl das unsitüiohe Treiben des Landrats seit langer
Zeit bekannt war, nicht früher eingeschritten wurde, und ganz be-
sonders, dass 0. noch immer Landrat gewesen sei. — Der
erste Staatsanwalt bemerkt: Er habe sich nicht für berechtigt ge-
haltai, den Haftbefehl zu veröffentlichen, zumal es ihm zweifelhaft
gewesen sei, ob 0. sich im Sinne des§ 175 des
Strafgesetzbuches strafbar gemacht habe. Aus diesem
Grunde, und da ihm bekannt sei, dass des angedeuteten Vergehens
wegen die Schweiz überhaupt nicht ausliefere, habe er auch keinen
Steckbrief erlassen. Es sei ihm sogar zweifelhaft, ob,
wenn 0. hier wäre, er gegen denselben einen
Haftbefehl erlassen würde. Das Reichsgericht habe
bezüglich des angedeuteten Vergehens, das in vielen
Kulturländern straflos sei, die Grenze so eng gezogen,
dass es ihm (Erstem Staatsanwalt) sehr zweifelhaft sei,
ob die Eröffn4ing des Hauptverfahrens gegen 0.
beschlossen und, wenn das der Fall, ob er verurteilt
werden würde. — Auf die Vernehmung zweier weiteren Zeugen,
die dasselbe wie Dr. Wendorff bekunden sollen, wird hierauf all-
seitig verzichtet und danach die Beweisaufiiahme für geschlossen
erklärt. — Nach etwa einhalbstündiger Beratung des Gerichtshofes
verkündet der Priisident, Landgerichtsrat Professor Dr. Modem:
Der Gerichtshof hat die Angeklagten der öffentlichen Beleidigung
des Herrn Regierungspräsidenten Scheller für schuldig erachtet und
deshalb gegen Becker auf vier Wochen Gefängnis, gegen
Stechert auf 300 Mark Geldstrafe erkannt. Nachdem die
Beschlusskammer die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hatte,
konnte dieser Paragraph bei der Urteilställung nicht mehr in Be-
tracht kommen. Der inkriminierte Artikel enthält eine Beleidigung
gegen den Regierungspräsidenten Scheller, die geeignet ist, den-
I
■j >n.'
- 6?? -
selben verächtlich zu machen und in der öffentlichen Meinung herat>-
zusetzen. Es ist dem Regierungspräsidenten der Vorwurf gemacht
worden, dass er unvermögend gewesen sei, zur rechten Zeit
gegen den Landrat 0. einzuschreiten. In subjektiver Hinsicht hat
der Gerichtshof festgestellt, dass der Angeklagte Recker aus
H ass gegen den Landrat 0. und den Regierungspräsidenten
Soheller gehandelt hat ; dafür spricht auch der Umstand, dass er den
Abdruck dieses Artikels in noch anderen Zeitungen
veranlasst hat Daher konnte auch dem Angeklagten der Schutz
des § 193 des Strafgesetzbuches nicht zugebilligt werden, da aus
der Form und den Umständen die Absicht der Beleidigung hervor-
geht. Bei der Strafzumessung ist erwogen worden, dass die Be-
leidigung gegen den obersten Beamten des Regieru ngs.
bezirks gerichtet war. Bezüglich des Angeklagten Stechert liegt
die Sache ja bedeutend milder, immerhin ist nach Lage der Dinge
eine Geldstrafe von 800 Mark gegen diesen angemessen. Die Kosten
des Verfahrens haben die Angeklagten gemeinschaftlich zu tragen.
(Ein Unzurechnungsfähiger als Abgeordneter.) Der
schweizerische Wahlkreis La Ghaux-de-Fonds hat dieser Tage in
der Person des Arztes Dr. Favre einen Mann in den grossen Rat
geschickt, dem durch ein Gerichtsurteil die Zurechnungsfähigkeit
abgesprochen worden ist und dem nur wegen der ärztlichen Be-
scheinigung seiner Unzurechnungsfähigkeit Schlimmeres erspart blieb.
Dr. Favre stand wegen einer Anklage vor den Geschworenen, die
in der Zeitung aus guten Gründen gewöhnlich nur mit der Para-
graphenziffer des Strafgesetzbuches angedeutet wird. „Hannov.
Courier« v. 24 /lO. 1900 Nr. 22826.
Kopenhagen, 22. Juni. Das höchste Gericht verurteilte
heute Wilhelm Möller zum Tode. Möller hatte als „Vorsteherin''
eines Kopenhagener Knabenasyls Knaben, mit denen er Unzucht
getrieben, ermordet. Erst im Laufe der Untersuchung hatte sich
herausgestellt, dass Möller ein Mann ist. 1894.
(Selbstmord eines Geistlichen.) Pastor primarias Voigt
aus Friedeberg a. Queis, gegen welchen eine Untersuchung wegen
SittUchkeitsvergehens schwebte, hat sich erschossen. „Hannov
Courier** v. 30./10. 1900.
Sonderbare Menschenkinder in Madagaskar. Bei
dem Stamme der Sakalaven, der im nordwestlichen Teile der Insel
Madagaskar wohnt, giebt es zwei ganz merkwürdige Bevölkemngs-
Jahrbach III. 37
- 578 —
klassen, die mit dem Namen Fady und Sekatra bezeichnet werden
ond erat durch die neuen Forschungen von Lasnet bekannt ge-
worden sind. „Fady^ sind zunächst alle missgestalteten Kinder^
sie werden zum Tode verurteilt und in irgend einen Graben im
Urwald geworfen. Man ttberlfisst sie den wilden Tieren und den
Insekten zur Beute, wenn sie nicht etwa schon durch den Sturz
ums Leben kommen. Diese etwas mehr als spartanische Sitte würde
immerhin noch erklärlich sein. ,,Fady^' sind aber auch alle Kinder,
die am Dienstag geboren werden, sie werden allerdingB nicht dem
Verderben überliefert, aber doch von ihren Eltern an Fremde weiter-
gegeben, denen es überlassen bleibt, sie zu adoptieren und anzu-
ziehen. „Fady** sind endlich auch alle Kinder, die mit einer ver-
schlungenen Nabelschnur zur Welt kommen, nur ein Zauberer vermag
den Knoten zu lösen und das Unheil abzuwenden, das dieses Er-
eignis sonst unfehlbar über die Familie bringen würde. Ueberhaupt
ist der Zauberer bei den Sakalaven der einzige Mann, der die Ver.
urteilung der als „Fady** betrachteten Kinder hintanhalten kann.
Er wird daher auch in den meisten Fällen zu Bäte gezogen, und
die kleinen Würmer werden nur dann ausgesetzt, wenn er sich ausser
Stande erklärt, ihren unheilvollen Einfluss abzuwenden. Vor etwa
einem Jahre erwarb sich ein madagassischer Arzt das Verdienst
bei der Stadt Nossibe ein Dorf für Fadykinder zu gründen, die er
in der ganzen Umgebung sammeln liess; diese Niederlassung soll
heute in erfreulichem Aufschwung begriffen sein. Nicht weniger
sonderbar ist die abergläubische Einrichtung der „Sekrata**, männ-
licher lünder, die als weibliche aufgezogen werden. Sie finden sich
übrigens auch bei den Hovas, dem Hauptstamme der InseL Die
Sekrata sind immsr normal entwickelte männliche Personen, die man
nur aus dem Grunde als weibliche behandelt, weil sie sehr zart und
schwächlich sind. Schliesslich gelangen sie ganz dazu, sich selbst
für Mädchen zu halten. Sie nehmen die Tracht, die Gewohnheiten,
den Charakter des weiblichen Geschlechtes an, und die Autosug-
gestion geht so. weit, dass sie ihr wahres Geschlecht in allen Fällen
völlig vergessen. Sie verwenden die grösste Sorgfalt auf ihre Toi-
lette, tragen lange Kleider und lange, in einen zierlichen Knoten
verschlungene Haare. In den durchbohrten Ohren werden Silber-
münzen als Schmuck befestigt, die Arme und die Fnssknöchel
werden mit Spangen geziert. Die Sekrata haben das Benehmen von
Frauen und erhalten schliesslich infolge der Uebung und durch die
Nachahmung auch eine weibliche Stimme. Sie brauchen keine
schwere Arbeit zu thun und beschäftigen sich nur mit dem Haus-
wesen, der Küche und dem Flechten von Matten. Vom Kriegsdienst
- 679 —
Bind sie befreit und dürfen auch nicht die Rinder htiten, da dieser
Beruf den Männern vorbehalten ist. Niemand nimmt an dem Ge-
bahren der Sekrata Anatoss, man findet es im Gegenteil ganz na-
türlich, und irgend eine Aeusserung darüber würde sich schwer
rächen, da nach dem bestehenden Aberglauben alsdann der belei'
digte Sekrata über den Beleidiger das Los werfen und Krankheit
über ihn bringen würde.
Am 8. Februar 1899 wurde vor dem Landesgerichte in Olmütz
(Mähren) folgender interessanter Fall verhandelt: Franz Os^dal,
31 Jahre alt, ledig, Bauer aus Dubnan ist angeklagt des vorsätz-
lichen Mordes begangen an dem Bauer Ignaz Venera aus Dubnan
am 22. November desselben Jahres. Der Angeklagte zeigte schon
in frühester Kindheit einen eigentümlichen Charakter; er besuchte
das technische Gynmasium in Olmütz, trat aber, da er zum Lernen
keine Lust hatte, schon im dritten Jahre aus und wurde in seinem
Heimatsorte Bauer. Aber auch zu diesem Berufe zeigte er wenig
Neigung. Als er zu seinem Erbteile, Feldern im Werte von 14000
Gulden, gelangte, überliess er die Bewirtschafbung derselben seinem
Bruder und lebte nur seinen Neigungen. Er las viel, radelte und
bereitete sich selbst seine einzige Nahrung — Stissigkeiten. Wegen
seines Eigensmnes und Eigenwillens war er überall unbeliebt. Zu
dem Sohne eines reichen Bauern, dem 22jährigen Ignaz Ve'^era,
einem sehr schönen Jünglinge, der auch durch Studien an der Acker-
bauschule zu Pisek höher gebildet war, fasste er eine leidenschaft-
liche Liebe, die nicht unerwidert blieb, denn beide machten eine
Beise nach Prag zum Besuche der ethnographischen Ausstellung
des Jahres 1895; später änderte sich dieses Freundschaftsverhältnis ;
Ignaz fing an dem Franz auszuweichen und klagte schliesslich diesen
vor Gericht an, ihn mit unzüchtigen Anträgen zu verfolgen und ihn
mit dem Tode bedroht zu haben, falls er ihm nicht zu Willen wäre.
In der hierüber eröffneten Untersuchung stellte es sich heraus, dass
sich beide einmal auf der Rückkehr von einer Hochzeit in ange-
heitertem Zustande gegen den § 129 des österreichischen Strafgesetz-
buches (§ 175 des Deutschen) vergangen hätten. In einer Verhand-
lung beim Landesgerichte in Olmütz wurden beide Freunde daher
zu einem Monate schweren Kerkers verurteilt. Von der gefährlichen
Drohung wurde Franz freigesprochen. Dieser trat die Strafe am
10. Oktober an, während Ignaz ein Begnadigungsgesuch einreichte.
Als dies Franz bei seiner Rückkehr aus dem Gefängnisse erfuhr,
erkundigte er sich sofort in Olmütz bei zwei Gerichtsschreibem,
ob Ignaz wirklich Aussicht hätte, begnadigt zu werden und, als
87*
— 680 —
dies bejaht wurde, kaufte er sich noch am selben Tage Hevolver
und Patronen. Am 22. November fuhr Ignaz zur Düngung auf das
Feld seines Vaters hier trat ihm Franz entgegen und zwischen beiden
kam es zu einer Unterredung, bei der Franz dem Ignaz 2 Wunden
an Stirn und Nacken beibrachte, worauf er nach Olmütz entfloh.
Dort wurde er noch am selben Tage verhaftet. In der Gerichts-
verhandlung am 8. Februar erklärte der Angeklagte, niemals die
Absicht gehabt zu haben, seinen einstigen Freund zu töten. Er
habe am verhängnisvollen Tage nach Prossnitz fahren wollen, aber
den Zug versäumt und deshalb den Feldweg gewählt, um die Strecke
zu Fuss zurückzulegen. Unterwegs habe er Ignaz am Felde arbeitend
getroffen, ihn über das Gnadengesuch befragt und zur Rede gestellt,
weshalb er über ihn hässHche Geschichten erzähle. Ignaz hätte
ihn verhöhnt und übermütig abfertigen wollen. Hierüber erzürnt,
hätte der Angeklagte sich auf Ignaz stürzen wollen, dieser sich mit
einer Hacke zur Wehr gesetzt, worauf er ohne zu zielen schoss.
Hierauf habe er von Ignaz mit der Hacke einen Schlag auf die
Stirn erhalten. Auf das Übrige wisse er sich nicht mehr genau zu
besinnen, er meine aber zwei oder drei Schüsse abgegeben zu haben.
Erst jetzt sei Ignaz umgesunken und habe ihn angefleht, ihn nicht
zu ermorden. Er habe seinerseits nun Ignaz gebeten, ihn nicht zu
verrathen, sei nach Hause geeüt und habe seinen Bruder ersucht,
nach Ignaz zu sehen. Als dieser zurückkam und die Gefährlichkeit
von Ignaz' Wunden schilderte, sei er sofort nach Olmütz gefahren,
hätte seinen Bechtsanwalt befragt und auf dessen Bat sich selbst
dem Gerichte stellen wollen. Auf dem Wege zum Gerichte sei er
erkannt und verhaftet worden. Das Protokoll des Untersuchungs-
richters weicht von der gegebenen Darstellung insofern ab, als in
demselben Franz gesteht, auf Ignaz gezielt zu haben. Unter Thränen
behauptet er noch, überzeugt zu sein, am 30. September 1898 un-
schuldig verurteUt worden zu sein. Der Hanptzeuge Ignaz Venera,
der wegen seiner noch nicht verbüssten Strafe zum Eide nicht zu-
gelassen wird, giebt an, dass der Angeklagte ihm zur Zeit ihrer
Freundschaft aufgefordert habe, mit ihm nach Veräussernng ihres
ganzes Besitzes gemeinsam wirtschaftend in der Fremde zu leben.
Am Morgen des 22. November sei der Angeklagte am Felde zu-
ihm gekommee und habe ihm erklärt, das wäre die letzte Begegnung
wenn Zeuge ihm nicht nochmals geschlechtlichen Genuss gewähre.
Er habe dies natürlich verweigert und hätte seine Arbeit wieder
ruhig aufgenommen. Als er sich später nochmals umsah, erblickte
er, wie Franz in einer Entfernung von fünf Schritten mit dem Be-
volver auf ihn zielte. Nun suchte er zu entfliehen und während er
— 581 —
im Lanfen sich umsab, ging der Schuss los und traf ihn an der
Stirn. Er fiel zu Boden und hörte noch drei Schüsse, von denen
ihn aber nur einer am Nacken traf. Dann fiel Franz über ihn her
und legte den Revolver an sein Ohr. Zeuge hörte den Hahn knacken
aber der Schuss versagte. Als nun Franz die Hacke ergriff, um
nach seinem Kopfe zu schlagen, fing er den Schlag mit Aufgebot
seiner letzten Kräfte auf. Im letzten Augenblick sei ein Mann er-
schienen, vor dem Franz entfloh. Zeuge sei dann in die Wohnung
seiner Eltern gebracht worden, wo ihm erste Hülfe zuteil wurde,
später kam er ins Spital nach Prossnitz, wo es der Kunst der Arzte
gelang, ihn am Leben zu erhalten. Franz Oscadal erklärt Ignaz,
Aussage, sofern sie von seiner eigenen abweiche, für erlogen und
erwähnt noch, er habe Ignaz einst für seinen Freund gehalten, dem
er auch oft Geld geliehen habe, und erst später erkannt, dass er
sein grösster Feind sei. Die Geschworenen sprachen mit 9 gegen
3 Stimmen den Angeklagten schuldig, worauf ihn der Gerichtshof
zu 7 Jahren schweren Kerkers, in jedem Monat mit einem Fasttage
verschärft und Dunkelarrest am Jahrestage der That verurteilte.
In einer kleinen Stadt Mährens lebte ein 22jähriger Kaufmanns-
sohn, der, von Jugend auf nur vom eigenen Geschlechte angezogen,
ein leidenschaftliches Freundschaftsverhältnis mit einem 18jährigen
Fleischergesellen, einem bildschönen Jüngling einging. Wegen der
Ungleichheit des Standes fiel dies auf; Feinde der Kaufmannsfamilie
erstatteten Anzeige bei der Ortsgensdarmerie, der Fleischergeselle
wurde verhört und läugnete so lange, bis ein Gensdarm auf den
Einfall kam, zu behaupten, der Kaufmannssohn habe bereits alles
gestanden, der Fleischergeselle möge doch dasselbe thun. Nun
gestand dieser einmal ,4nter femora" und dreimal durch mutuelle
Masturbation geschlechtlich mit seinem Freunde verkehrt zu haben.
Beide wurden verhaftet, flinfzehn Tage in Untersuchung behalten
und, trotz aller Schritte des älteren Bruders des Kaufmannsohnes,
Begnadigung zu erzielen, verurteilt. Der ältere Freund erhielt
10 Tage, der jüngere acht Tage schweren Kerkers.
Eine Frau als Mann verkleidet! Einen gar seltsamen
Fang machte vor kurzer Zeit der Gensdarm Katzbichler von Pasing
auf seinem Patrouillengange nach Holzapfelkreut. Schon seit längerer
Zeit bemerkte er einen jungen, mittelgrossen, bartlosen Mann, in
einen schwarzen Sackanzug gekleidet, mit schwarzem, steifen Hut,
Stehkragen und schwarzer Kravatte angethan, der sich Tag für Tag
in dem Gehölze bei Holzapfelkreut herumtrieb. Endlich lief er dem
— 582 —
Gensdannen in die Hände, der ihn auch sofort kontrollierte. Der
BoFBche gab an, er heisse Max Berr, sei Schneidergeselle nnd zur
Zeit, da ausser Stelle, bei seinen Eltern in Haidhausen. Der Gens-
darm sah sich den Kunden genauest an und — stutzte. Nach ein-
dringlichem Befragen gab der Bursche auch zu, kein Mann, sondern
die stellenlose 19 Jahre alte Kellnerin Sophie Berr von hier zu sein.
Sie wurde verhaftet und stand vor dem Schöffengericht, angeklagt
einer Verübung des groben Unfugs, begangen durch Tragen von
Männerkleidem, eines weiteren der falschen Namensangabe und der
Arbeitsscheu. Die Angeklagte erscheint im Frauenstrafgewande
und macht genau den Eindruck, als wenn man — einen Mann in
Frauenkleider gesteckt hätte ! Die Berr hat männliche Gesichtszüge,
männlichen Gang und Bewegungen. Ihr Kopfhaar ist a la Fiesco
kurz geschnitten, hinter den Ohren abrasiert und verläuft nach
vorne zu einem kleinen Scheitel, den zu beiden Seiten niedliche
„Sechser" umrahmen. — Sie fühlt sich in der Frauenkleidung sehr
unbequem, da die Böcke keine — Hosentaschen haben, und sie die
Gewohnheit hat, die Hände in die Tasche zu stecken. Unumwunden
gesteht sie zu, seit längerer Zeit, auch bei Tage, meistens aber zur
Nachtzeit, in Männerkleidung in und ausserhalb der Stadt hernm-
spaziert zu sein, und will auf diesen Einfall dadurch gekommen sein?
dass ihr der Friseur den „Tituskopf ^ zu kurz geschnitten hätte. In
Wirklichkeit hatte aber die Berr von der Polizeibehörde wiederholt
Arbeitsauftrag bekommen, den sie nicht befolgte, und wollte auf
diese Weise der bevorstehenden Strafe entgehen. Charakteristisch
bei der ganzen Sache ist, dass niemand der Berr, selbst auf offener
Strasse ansah, dass sie ein Weib sei. Nach längerer Verhandlung
wird die Berr wegen der genannten Übertretungen zu einer SOtägigen
Haftstrafe verurteilt; von der Anschuldigung einer Verübung des
groben Unfugs, begangen durch Tragen von Männerkleidem auf
Strassen und öffentlichen Plätzen, wird die Berr freigesprochen.
Das Gericht ging hierbei von der Erwägung aus, dass es überhaupt
fraglich ist, ob das Tragen von Männerkleidem durch Frauenzimmer
unter den Paragraphen des groben Unfugs faÜt imd strafbar sei;
man könne höchstens einen groben Unfug dann für gegeben erachten,
wenn die betreffende Person öffentliches Ärgernis durch ihre Hand-
lungsweise hervorgemfen habe. Dies sei aber bei der Angeklagten,
die man allgemein für einen Mann hielt, nicht zutreffend, es fehle
deshalb das Moment des § 360 Ziff. 11 des B.-Str. G.-B., das eine
Bestrafung bedingt, und sei deshalb die Angeklagte von diesem
"Bäte freigesprochen gewesen.
— 583 —
Eine Frau, die als Mann lebte. Letzten Freitag starb in
New-York Herr Hnrray-Hall, der Inhaber eines Geednde-Verding-
biireaus nod einer der eifrigsten Politiker des dortigen Tammany-
lüngs. Der Arzt Dr. Galoger, der ihn in seiner Todeskrankheit,
Brustkrebs, behandelte, machte
nach demHinBoheidenHr.Murray'
HaHs dem Leichenbeschaner die
Anzeige, der Verstorbene sei —
eine Fran gevesen. Die Sache
gte in New-York nm so
grCsseres An&eben, da Hurraj-
Hall zw^mal verheiratet gewesen
war. Er hatte ein bartloses Ge-
sicht und machte den Eindruck
eines gutmütigen alten Herrn;
die Stimme, ein tiefer Alt, konnte
ganz gutalsHSnaersÜmme gelten.
Hall verkehrte viel in Gasthäusern
nnd Kneipen, sass aber meist mit
len oder Mädchen zusammen.
In politisohen Versammlungen
war Hall als kluger, sachkundiger
nnd besonnener Redner geachtet
und beferte somit den Ktopfer
mnen für Franenrechte starke
Beweise flir ihre Bestrebungen
In Halls Naohlaas tänd sich eine
Erklärung, in der etwa stand
„Ich bm als armes Mädchen ge-
boren und habe als Mann gelebt,
weil loh als ein solcher besser
lern Erwerbe nachgehen
konnte " Das ansehnliche Ver
mögen, welches Hall zurliokUsst,
bestätigt die Richtigkeit der m der
Erklärung bekundetes Ansohau
ung Die Adoptivtechter Halls
in voller Unkenntnis des
Bheunnisies ihres „Vaters", und Halls beide Frauen starben, ohne
das Geheimnis verraten zu haben.
— 684 —
Ein scheassliches Verbrechen ist am Dienstag morgen
an zwei weit auseinander liegenden Stellen von Paris entdeckt worden.
In dem Hause Bue du Faubourg-Saint-Denis Nr. 205 bemerkte die
Hausmeisterin beim Oe£fhen des Thores ein grosses Paket, das in
ein Stttck Teppich eingehüllt war. Sie rief einen Polizisten herbei^
der es auseinanderwickelte. Zuerst kam eine Schicht dickes Papier
zum Vorschein; als dieses abgestreift war, entrang sich ein Schrei
des Entsetzens dem herbeigeeilten Publikum. Der blutige Rumpf
eines 20- bis 25jährigen Mannes lag dort fest eingeschnürt. Arme,
Beine und Kopf waren abgeschnitten worden; erstere waren dem
Paket beigelegt. In der Haut waren ebenfalls Einschnitte zu be-
merken; die Mörder hatten dort wahrscheinlich Tätowierungen, die
zur Agnoszierung des Opfers hätten führen können, entfernt; auch
die Geschlechtsteile waren abgeschnitten imd die Eingeweide heraus-
gerissen worden. Man war noch mit den Erhebungen über den
grauenhaften Fund beschäftigt, als die Nachricht eintraf, dass in
der reichlich zwei Kilometer von dem Faubourg Saint -Denis ent-
fernten Rue des Plätriers am Kirchhote P^re-Lachaise auf einem
unbebauten Gelände ein genau wie das erste umhüllte Paket gefunden
worden war, das einen skalpierten Kopf und ßeine eines Mannes
enthielt. Die sofort angestellten Versuche und Messungen ergaben
die Zusammengehörigkeit der Körperteile der beiden Packete. Der
Ermordete muss, wie man glaubt, einer nicht näher zu bezeichnen-
den Klasse angehört haben, die sich zur Fröhnung widernatürlicher
Leidenschaften hergiebt. Er ist wahrscheinlich das Opfer einer
Bande von Zunftgenossen und Zuhältern geworden. Bis jetzt liegen
als Indizien zur Ermittelung der Verbrecher nur die Aussagen eines
alten Rentners vor, der von seiner auf den Bauplatz der Rue des
Plätrers hinausgehenden Wohnung in der Nacht sechs Personen mit
einem grossen Packete erblickt hatte, das von zweien derselben auf
das bedeutend tiefer als die Strasse belegene unbebaute Grundstück
geschleppt wurde. Die Feststellung der Identität des Opfers wird
dadurch erschwert, dass die Mörder die Lippen und einzelne Ge-
sichtsteile weggerissen und femer die Haare entfernt haben.
George Sand und Liszt. In einer letzthin in Genf er-
schienenen Biographie der Sand finden wir folgende Anekdote: Im
Jahre 1838, kurz nach Lösung ihrer unglückUchenEhe, begab sich die
Sand nach Genf, um dort Liszt aufzusuchen, der damals mit der
Gräfin d'Agoul auf seiner Schweizer Reise begri£fen war. Die Sand
hatte zu jener Zeit ein recht originelles Kostüm angelegt, durch
das sie nicht geringes Aufsehen erregte — sie trug eine blaue
— 585 —
Blouse, breite Beinkleider und Stiefel. Just an dem Tage, da die
Sand in Genf eintraf, weilte Liszt mit der Gräfin und einem gelehrten
Genfer Philologen, Adolf Pietet, in Chamounix, wohin ihm die Sand
sofort nachreiste. Sie begab sich hier direkt ins Hotel und frug
beim Portier nach „einem Herrn mit langen, zerzausten Haaren, mit
einem zerknitterten Hut und einer Cravatte, die ihm wie eine
Schnur um den Hals baumelt; weitere Kennzeichen: dieser alte
Herr pflegt fortwährend Melodien durch die Nase zu summen." Diese
Beschreibung gentigte, denn der Portier antwortete sofort: „Zimmer
No. 13". Die Sand begab sich in das Zimmer und hier fand folgende,
von ihr selbst beschriebene Begrüssung statt: Wir bildeten eine
eigenartige Gruppe, über die sich das Zimmermädchen, das gerade
anwesend war, wohl sattsam gewundert haben mag. Kam da ein
Kerlohen in grossen, staubigen Stiefeln, trat ins Zimmer und um-
armt und ktisst die Gräfin, als wäre er ihresgleichen. Das Zimmer-
mädchen hatte auch nichts Eiligeres zu thun, als im ganzen Hause
diese interessante Scene mitzuteilen, als sie davon auch zum Hotel-
koch sprach, zuckte dieser verächtlich die Schultern empor und
meinte wegwerfend: „Ach was, Komödiantenvolk !^*
Eine Hosenrolle. Eins der elMgsten und berühmtesten
Mitglieder der demokratischen Vereinigung von „Tammany Hall" in
New- York hat der Welt eine grossartige Ueberraschung bereitet,
indem er sich nach seinem Tode als — Weib entpuppte, das ein
langes Menschenleben hindurch mit Erfolg eine Hosenrolle spielte
und jedermann über sein Geschlecht zu täuschen wusste. Ja, diese
merkwürdige Frau hat in ihrer selbst gewählten Verkleidung noch
mehr gethan: sie hat sich sogar zweimal in ihrem Mannesdasein
verheiratet. Dass beide Gattinnen um das Geschlecht ihres „Mannes''
gewusst haben, ist natürlich mit Sicherheit anzunehmen. Entdeckt
wurde ihr Geschlecht offiziell aber erst, als ihr Tod dem Standes-
amte — dem Coroner — durch den Arzt, der sie behandelt und
ihren Totenschein ausgestellt hatte, gemeldet wurde, und der als
Todesursache Krebs in der linken Brust angab, zugleich auch er-
klärend hinzufügte, dass man es in dem verstorbenen Murray-Hall
mit einem Weibe zu thun habe. Der Coroner Hess darauf die Leiche
noch einmal, und zwar durch den Arzt der Behörde untersuchen,
wodurch sich die Angaben als Thatsache bestätigten. Die Nachricht
von dieser merkwürdigen Entdeckung erregte unter den Mitgliedern
Tammany Halls imd des Jrokesen-Klubs, dem die Verstorbene
angehört hatte, ungeheures Aufsehen. Alles war „shocked" und
entsetzt über diesen Skandal. Denn Murray-Hall hatte mit jeder-
— 586 —
mann doch auf das familiärste verkehrt, hatte als einer der lustigsten
Jungen gegolten und manchen wilden Spass mitgemacht. Die
Frauenwelt in Amerika ist über diese Enthüllung durchaus entzückt ;
denn nun kOnne es keine Schwierigkeit mehr haben, jedem anderen
Weibe in Böcken das Stimmrecht zu gewähren, das jene Frau in
Hosen so glänzend ausgeübt. Tag, 18. 1. 1901.
Eine sensationelle Verhaftung. Der 22jährige Bank-
beamte Gustav M. ist gestern vormittag festgenommen und dem
Untersuchungsgefängnis in Moabit eingeliefert worden. Die Festnahme
erfolgte auf Grund einer Denunziation, in welcher der junge Mann
schwerer Sittlichkeitsverbrechen beschuldigt wird. GustavM
stammt aus einer angesehenen auswärtigen Eaufmannsfamilie und
ist seit 1^/, Jahren in einem hiesigen Bankgeschätte thätig. Er
hatte bisher den besten Leumund und galt als ein tüchtiger Kauf-
mann, der am Beginn einer aussichtsreichen Carri^re stand. Bis
vor wenigen Monaten wohnte M. in einem Hotel. Um aber
den jungen Mann mehr unter seinen Augen zu haben, traf sein hier
lebender Onkel die Anordnung, dass Gustav M. ein Zimmer, das
mit den im Parterre gelegenen Geschäftsräumen des Onkels in Ver-
bindung steht, als Wohnraum benutzte. Doch scheint diese Ver-
fügung ihren Zweck verfehlt zu haben, denn gerade in der neuen
Junggesellenwohnung des Bankbeamten sollen sich die Szenen ab-
gespielt haben, die zur Einleitimg einer strafgerichtlichen Unter-
suchung geführt haben. Inwieweit die gegen M. erhobenen schweren
Beschuldigungen auf Richtigkeit beruhen , ist vorläufig noch nicht
festgestellt. Während der junge Mann in der Denunziation als ein
Wüstling schlimmster Sorte geschildert wird, geht eine andere Dar-
stellung dahin, dass M. sich höchstens in einem Falle vergangen
haben könne, aber auch da sei er der Verführte. Er soll vor einiger
Zeit mit einem jungen Manne, den er in der Friedrichstrasse kennen
lernte, intim verkehrt haben. Diese Strassenbekanntschaft ist für M.
von den unheilvollsten Folgen begleitet gewesen. Wiederholt soll
er unter Drohungen zu Geldleistungen gepretsst worden sein. Dann
habe er, da er in seiner Eigenschaft als Bankbeamter nur ein Gehalt
von 140 Mark bezog, den erpresserischen Forderungen nicht mehr
nachkommen können, und aus Rache sei gegen ihn eine strafgerioht-
liche Anzeige erstattet worden.
Stuttgart, 22. Oktober. Zur Erläuterung der Gerüchte,
welche von dem „amerikanischen'' ]Einfluss bei Hofe sprechen,
wird dem „Frankf. Journ." von hier geschrieben : „Der Geh. Hofrat
tf
~ 587 —
V. J. hat den hiesigen Hof verlassen. Man eiinnert sich der märchen-
haften Carri^re, die dieser junge Amerikaner gemacht hat. Früher
Schüler am hiesigen Eonservatorium und zeitweise Schreiber beim
amerikanischen Konsulat, ward er vor etwa drei Jahren in die nächste
Umgebung des Königs gezogen, geadelt und mit Titeln und Orden
überhäuft. Als Wohnung ward ihm ein hübscher Pavillon des kgl.
Schlosses angewiesen. Sein Verschwinden von der Bildfläche hat
aber niemanden, der die Vorgänge am hiesigen Hofe etwas näher
kennt, mehr überrascht. Man weiss schon lange, dass Herr von J.
aus der Freundschaft des Königs durch einen anderen Amerikaner,
Namens Woodcock, verdrängt wurde, dem eine glänzend ausgestattete
Wohnung in der Neckarstrasse eingerichtet worden ist. J.'s Stellung
bei Hofe war demnach schon lange keine beneidenswerte und er
hat jetzt vorgezogen, nach seiner Heimat zurückzukehren, wo er
mit seinen Titeln und Orden nicht wenig Effekt machen wird.^
Die Voss. Zeitg. hatte kurz vorher die Mitteilung gebracht,
Freiherr von Spitzenberg, der Freund des Königs Karl, habe sich
„aus Gesundheitsrücksichten '^ für ein halbes Jahr zur Disposition
stellen lassen, weil er mit der Stellung mehrerer junger Amerikaner
in der Umgebung des Königs unzufrieden sei. Sie bemerkte dazu,
es sei bisher immer nur von einem jungen Amerikaner die Bede
gewesen.
Die Erpressung an dem Hofrat. Aus Stuttgart wird dem
„Wien. TagbL" geschrieben: Die Erinnerung an die merkwürdigen
Vorgänge, deren Schauplatz der Stuttgarter Hof in den letzten
Lebensjahren des verstorbenen Königs Karl war, wird durch einen
interessanten Prozess, welcher am 13. Januar unter Ausschluss der
Oeffentlichkeit vor dem Stuttgarter Landgerichte stattfand, in eigen-
artiger Weise wieder aufgefrischt. Damals tauchten bekanntlich
bei Hofe zwei junge Amerikaner auf, welche sich in kurzer Zeit
die vollste Gunst des alten Königs errangen und von diesem mit
Ehren und Beichtümem überschüttet wurden. Ueber die Ursachen
dieser Zuneigung kursierten im Volke und bei Hofe die merk-
würdigsten Gerüchte, und die Gährung wurde so stark, dass das
Ministerium Mittnacht den König vor die Alternative stellte, ent-
weder die beiden Amerikaner oder das Ministerium zu entlassen.
Dem Drucke nachgebend willigte der König in die Entfernung der
beiden Günstlinge bei Hofe, nicht ohne ihnen noch in letzter Stunde
durch Schenkung eines herrlichen Schlosses und die Ernennung zu
„Geheimen Hofräten" ein letztes Zeichen seiner Gunst gegeben zn
— 588 —
haben. Der Erpressung angeschuldigt stand nun vor einigen Tagen
der sechsunddreissigjährige Herrschaftsdiener Karl Mann vor der
zweiten Strafkammer. Dieser hatte in den Jahren 1881 bis 1884 in
den Diensten des Geheimen Hofrates von Jackson — eines der
beiden bevorzugten Günstlinge König Earl's — gestanden. Dabei
seheint aber der Geheime Hofrat seinen Diener nicht blos zu den
gewöhnlichen Dienstleistungen eines Kammerdieners benutzt zu
haben, sondern bediente sich dessen Person zur fortgesetzten Ver-
übung einer Reihe nicht naher zu bezeichnender sträflicher Delikte.
Nachdem nun der Angeklagte die Dienste Jackson's verlassen hatte,
suchte er jenes frühere schmutzige Verhältnis sich nutzbar zu machen,
indem er von seinem früheren Herrn dadurch einzelne Geldsummen
zu erpressen wusste, dass er diesen mit Strafanzeigen bedrohte.
So gelang es ihm, von 1890 bis 1892 grosse Summen von Jackson
herauszupressen, bis diesem endlich die Sache zu viel wurde und
er bei der Staatsanwaltschaft die Anzeige wegen Erpressung er-
stattete. Sofort nach Erstattung der Anzeige verliess der Herr
Geheime Hofrat Stuttgart und soll sein gegenwärtiger Aufenthalt
nicht bekannt sein. Auf Grund der Gerichtsverhandlung wurde
der Kammerdiener schuldig erkannt und zu sechs Monaten | Ge-
fängnis verurteilt, aber mit folgender interessanter Motivierung
,Nach den Angaben des Angeklagten, die nicht zu widerlegen seien,
ist derselbe von seinem Dienstherm während des bestehenden Dienst-
verhältnisses in drastischer Weise zu Handlungen verleitet und
missbraucht worden. Bei der Strafbemessung ist zu Gunsten des
Angeklagten das merkwürdige Verhältnis berücksichtigt worden,
welches sich zwischen ihm und seinem Dienstherm herausgebildet
hatte, und dessen Bekanntwerden für den Herrn Hofrat sehr
empfindliche Folgen gehabt hätte, während sich daraus für den An-
geklagten eine sehr naheliegende Versuchung ergeben musste." —
Damit ist nun der Gerechtigkeit Genüge geschehen. Von einer
Verfolgung des Herrn Hofrats hört man nichts und scheint die
Stuttgarter Polizei gewichtige Gründe zu haben, seinen Aufenthalt
nicht zu entdecken. Nebenbei sei erwähnt, dass seit den Achtziger
Jahren die Gerichtsverhandlungen wegen gewisser unsittlicher
Delikte sich in Stuttgart in erschreckender Weise häufen.
Ausschnitte zum Ende des König Ludwig IL von Bayern
Voss. Zeitg. 22. Juni 1886. Mit der gestrigen Verhandlung der
bayerischen Kammer der Beichsräte über die Regentschaftsfrage
hat die Verlegung des Regierungsmaterials zur Erläuterung der
Katastrophe an die Oeffentlichkeit begonnen. Dass die Vorlegung
\
>.
— m -
nur eine beschränkte ist, wird ausser anderem auch durch den
Bahmen des öffentlichen Sittlich keitsgefühis geboten, inner-
halb dessen gewisse Teile des Aktenmaterials schlechterdings nicht
wiederzugeben sind. Was uns selbst an Einzelheiten in dieser Be-
ziehung von glaubwürdiger Seite in den letzten Tagen zugegangen
ist, übertri£ft an Beweisen geistiger und sittlicher De-
generaton Alles, was bisher für möglich gehalten wurde, und
macht es dem bayrischen Ministerium leicht, das Verlangen nach
„voller Oeffentlichkeit'' aus Gründen abzuweisen, welche auch dem
Bücksichtslosesten einleuchten müssen. Nicht was den Kammern
öffentlich gesagt wird, sondern was ihnen verschwiegen werden muss,
obwohl es von Mund zu Munde geht, bildet den schwärzesten Punkt
in dieser traurigen Episode, wenn auch schon das ö£fentUch vor-
gelegte Material an Beweiskraft für den entarteten Geisteszustand
des Königs nichts zu wünschen übrig lasst.
lieber die vorgestrige Sitzung des Ausschusses der Adgeordneten-
kammem wird der „Frankfurter Zeitung" berichtet: „Die Sitzung
begann mit einer grossen Klage von beiden Seiten, dass alles heraus
komme. Der Minister ist bekanntlich nicht genötigt, alles Material
vorzulegen. Das zur Sittengeschichte Gehörige ist nur gestreift
weil es unmöglich war, die Chevauxlegers vonHohenschwangau zur Ver-
nehmung kommen zu lassen, da der König Verdacht geschöpft hätte, v.
Gudden hatte in seinem Gutachten keinen Wert daraufgelegt, weil das-
selbe eine S c h w ä ch e sei, die auch bei gesunden Menschen vorkomme.
Kammerdiener Weier, welcher eine Aussage bei Lebzeiten des Kö-
mgs verweigerte, wurde nach dessen Tode vernommen; alle anderen
Aussagen sind vor dem Tode gemacht worden." — Hierher gehört
die Erzählung, ein Abgeordneter habe, nach dem Eindruck, den die
Verhandlungen auf ihn gemacht, befragt, mit dem einzigen Worte :
„Sueton!" geantwortet.
Voss. Zeitg. 24. Juni, Abendausg. München, 24. Juni.
Aus dem mündlich im Ausschuss der Abgeordnetenkammer abge-
gebenen Gutachten des Dr. Grashey geht hervor, dass fast während
der ganzen Regierungszeit König Ludwigs die Geistesstörung be-
stand. Schon als Knabe sei derselbe auffallend furchtsam und ängst-
lich gewesen; die Krankheit, welche logisches Denken nicht aus-
schloss, habe die Kraft des Willens, die Beschaffenheit des Cha-
rakters und die Regungen des Gemütes beeinträchtigt. Die Heilung
wäre möglich gewesen, wenn gleich nach dem Regierungsantritt
die ärztliche Behandlung eingeleitet worden wäre.
Dem „Frank. Courier" wird anscheinend ans parlamentarischen
— &9Ö —
Kreisen nach Vorlegung des gesamten Aktenmaterials über die
Geistesgestörtheit Ludwig II. geschrieben: „Kein Zweifel, dass der
unglückliche Monarch seit vielen, langen Jahren infolge geistiger
Störung regierungsuntähig war. Vor seinen Todesurteilen war zu-
letzt niemand mehr sicher. Bildnisse allerhöchster und höchster
Personen konnten nicht gegen seine Verunglimpfung geschützt werden.
Den Kabinetssekretären Ziegler und Müller schrieb er von Zärtlich-
keit überfliessende Briefe: „Mein angebeteter Friedrich'' und
„Ludwig'' — so lautete die briefliche Anredeformel des sonst so
selbstbewussten Fürsten, der seinen Lieblingen das kordiale „Da"
aufzudringen suchte. Solchen Freundschaftsbeteuerungen folgten
dann bei dem sich in beständigen Kontrasten bewegenden Könige
Anfälle von Wut, bisweilen Erzählungen von Träumen, z. B. dass
er seinen toten Vater im Grabe misshandelt habe, und ganz nero-
sche Aussprüche, wie: er wünsche seinem ganzen Volk einen ein-
zigen Kopf, um ihn abschlagen zu können; femer: er möchte
München an seinen vier Endpunkten anzünden. Es ist leider eine
durch die Minister vollerwiesene Thatsache, dass derselbe König,
der im Juli 1870 mit mannhaftem Entschlüsse sofort sein Heer gegen
Frankreich mobilisieren Hess, und der im November desselben Jahres
dem König von Preussen die deutsche Kaiserkrone anbot, schon
damals in Momenten geistiger Störung wiederholt die Siege des
deutschen Heeres über Frankreich verwünschte und die Hoffiiung
auf einen für Frankreich günstigen Ausgang des Feldzuges aussprach.
Ludwigs XTV. widersinnige Verhimmelung im bayerischen Ver-
sailles auf Herrenchiemsee bildet das Pendant hierzu. Ein fernes
Land, womöglich eine Insel wünschte sich der König zu persön-
lichem despotischen Begiment und beauftragte den Direktor von
Löher, der auch wirklich eine grosse Reise in seinem Namen unter-
nahm, mit Auffindung dieses Eilandes. Er glaubte an ein Leben
nach dem Tode, erklärte es aber für undenkbar, dass im Jenseits
der Unterschied der Stände fallen werde Zum Schluss
noch Eines, das Peinlichste, was ich auf dem Herzen trage. Was
den ganzen Winter hindurch in Kasernen und Soldaten-
kreisen stehender Gesprächsstoff war, was die Spatzen
auf den Dächern pfiffen, das sollte der Militärverwaltung nicht
zur Kenntnis gelangt sein? Und wenn doch, wie konnte und
durfte sie immer wieder Ghevauxlegers an das Hoflager
schicken.
Voss. Ztg. 28. Juni 1886. Aus der Sitzung der bayerischen
Abgeordnetenkammer vom 26. Juni. — — — — Einen grossen
— m —
Gegensatz «a dieser Mensohenschea, die sich zum Hasse steigerte,
bildete die schwärmerische Zuneigung zu den Kabinetssekretären
Y. Ziegler und v. Müller, die in eigenhändigen überschwängliohen
Briefen Ausdruck fand — eine Freundschaft, die freilich nur kurze
Zeit auszndauem pflegte. Stallmeister Hornig bekundet, dass der
König Anfangs noch ein grösseres Bedürfiiis hatte, mit Menschen
zu verkehren; er spricht von Waldfesten, die der König mit jungen
Stallbediensteten veranstaltete, bei denen Spiele wie das Ringver-
stecken, „Schneider leih' mir deine Scheer"' u. s. w., gemacht wurden.
Später unterblieb dies, doch kam es noch vor, dass auf dem
Sohaohen das Stallpersonal türkisch gekleidet und sitzend mit ihm
Sorbet trinken und türkische Pfeifen rauchen musste. Im Hunding-
hause zu Linderhot trank er mit den Dienern, auf Fellen ruhend,
nach der Sitte der alten Deutschen aus grossen Trinkhömem Meth.
Seit dem 9. Januar 18B3, als Ziegler aus dem Kabinete ausschied,
gab er sonst jeden Umgang mit gebildeten auf und verkehrte nur
noch mit der unteren Dienerschaft. Im letzten Jahre fand keine
Hoftafel, keine Audienz der Minister und der Hofdamen statt. Die
Befehle wurden nur durch die Dienerschaft, zuletzt Chevaiüegers
vermittelt.
Wir sohliessen hier noch einige neuerdings veröffentlichte Briefe
(auszugsweise) des Königs an Richard Wagner an.
Mein teurer Freund!
Heute ist der letzte Tag meines hiesigen Aufenthaltes, ich be-
gebe mich morgen nach Partenkirchen und werde am Dienstag
späi abend in München eintreffen. 0 mein geliebter Freund, der
letzten Tage Qual war gross, auch die ersten Tage in München
werden sehr anstrengend und trübe für mich sein, es wird lange
währen, bis ich zu der mir nötigen Ruhe gelangen kann. — Jener
Artikel in den Neuesten Nachrichten trug nicht wenig dazu bei,
mir den Schluss des hiesigen Aufenthalts zu verbittern, er ist ohne
Zweifel von einem Ihrer Freunde geschrieben, der Ihnen mit dem-
selben einen Dienst erweisen wollte, leider aber hat er Ihnen ge-
schadet, statt genützt. 0 mein Freund, wie fürchterlich schwer
macht man es uns, doch ich will nicht klagen, ich habe ja Ihn, den
Freund, den Einzigen. . . . Ich bitte Sie, nennen Sie mir die Ver-
leumdung, die gegen mich im Werke ist, ich beschwöre Sie, Teurer;
0 die schwarze, lästerhafte Welt, nichts ist ihr heilig, doch der
Gedanke an Sie richtet mich stets wieder auf, nie lasse ich von
dem Einzigen; ist das Wüten des Tages noch so folternd, wir bleiben
uns treu. Der Himmel liegt in diesem Gedanken.
loh will nun mit Ihnen in Siegfrieds Walde sein, mich geistig
- 6Ö2 -
an der Vöglein Sang erquicken, vergessen Sie die rauhe Umgebung',
die mit Nacht und Blindheit gesclüagen ist, nnsere Liebe leuchte
hell mid lauter! . . . Getreu bis in den Tod L.
Inniggeliebter Freundl
Es drängt mich Ihnen zu schreiben, Ihnen zu sagen, wie über-
glücklich ich bin, da ich hörte, dass Sie heiter und zufrieden sind,
und die Proben zu Tristan vollkommen nach Ihrem Wunsche von
statten gehen. — Wer hätte an dies herrliche GeUngen vor einem
Jahre gedacht! — Um diese Zeit sandte ich Pfistermeister nach der
Sonne meines Lebens aus, nach dem Urquell meines Heils! —
Vergeblich suchte er Sie in Wien und Zürich, alle Schauer der
höchsten Wonne durchbebten mich, als er mir sagte, der Ersehnte
ist hier, will hier nun bleiben. —
0 seliger Abend, als ich diese Kunde empfing!
„Doch als ich wahrhaft Dich so vor mir sehe.
Erkannt ich gleich. Du kämst auf Gottes Rat" u. s. w.
. . . Leben Sie wohl, teurer Freimd, Stern des Daseins; wie
immer Ihr ewig getreuer L.
Den 20. April 1865.
Ein und All!
Inbegriff meiner Seligkeit!
WonnevoUer Tag! — Tristan! Wie freue ich mich auf den
Abend! Käme er doch bald! Wann weicht der Tag der Nacht,
Wann löscht die Fackel aus, wann wird es Nacht im Haus? —
Heute, heute, wie zu fassen! — Warum mich loben und preisen!
Er vollbrachte die That! — Er ist das Wunder der Welt, was bin
ich ohne Ihn ! ? — Warum^ ich beschwöre Sie, warum finden Sie
keine Buhe, warum stets von Qualen gepeinigt! — Keine Wonne
ohne Weh, o wodurch kann endlich Buhe, endlich ewiger Friede
auf Erden, stete Freude fttr Ihn erblühen. — Warum stets betrübt
bei aller Freude, den tief geheimnisvollen Grund, wer macht der
Welt ihn kund? Meine Liebe fUr Sie, o ich brauche es ja nicht
zu wiederholen, bleibt Ihnen stets! — „Treu bis in den Tod!" —
Mir geht es wieder gut! — Tristan wird mich trotz der Ermüdimg
vollkommen wiederherstellen! — Die herrliche Maienluffc in Berg
wohin ich bald ziehen werde, wird mich vollends kräftigen! —
Bald hoffe ich meinen Einzigen wiederzusehen! . . . Dir geboren,
Dir erkoren! Dies mein Beruf! Ich grüsse Ihre Freunde, sie sind
die meinigen! Warum betrübt, bitte schreiben Sie! —
Tristan-Tag. Ihr treuer L.
— 593 —
Teurer Freund!
0 ich sehe wohl ein, dass Ihre Leiden tief begründet sind!
Sie sagen mir, geliebter Freund, Sie hätten tief in die Herzen der
Menschen geblickt, ihre Bosheit und Verdorbenheit darin erschaut i
o ich glaube Ihnen, begreife wohl, dass oft Augenblicke des Un-
mutes gegen das Menschengeschlecht bei Ihnen eintreten, doch
stets wollen wir bedenken (nicht wahr, Geliebter?) dass es doch
yiele edle und gute Menschen giebt, für welche zu leben und zu
schaffen es wahre Freude ist. Und doch sagen Sie, Sie taugen nicht
für diese Welt ! — Verzweifeln Sie nicht, Ihr Treuer beschwört Sie,
fassen Sie Mut: „Die Liebe hilft aUes tragen und dulden, sie führt
-endlich zum Sieg !" — Die Liebe erkennt selbst in den Verdorbendsten
den Keim des Guten, sie allein überwindet! — Leben Sie, Liebling
meiner Seele, Vergessen üben ist ein edles Werk, Ihre Worte rufe
ich Ihnen zu! — Bedecken wir mit Nachsicht die Fehler Anderer,
fUr Alle ja starb und litt der Erlöser! ... Bis in den Tod Ihr
treuer Freund Ludwig. Den 15. Mai 1865.
Einziger! — Vielgeliebter Freund! Vor allem spreche ich
Ihnen meinen herzlichsten Dank aus fUr zwei mir so werte Briefe,
den ersten erhielt ich im schönen Schlosse Oberschwangau, den
zweiten hier in der herrlichen Purschlinghütte. — Sie drücken mir
Ihren Kummer darüber aus, dass, wie Sie meinen, eine jede unserer
letzten Zusammenkünfte mir nur Schmerz und Sorge gemacht habe.
— Muss ich meinen Geliebten an Brünhilds Worte erinnern? —
Nicht nur in Freude und Lust, auch im Leiden macht die Liebe selig.
■Geliebter! Alles wird vollbracht werden! Jedes Sehnen gestillt.
— Das Feuer der Begeisterung, das mich mit jeder Woche heftiger
«ntflammt, soU nicht umsonst erglühen! — Die Frucht muss reifen
und gedeihen! — Heil Dir! HeU der Kunst! Gott gebe, dass der
Aufenthalt auf Bergeshöhen, das Weben in der freien Natur, in
unsem deutschen Wäldern dem Einzigen heUb ringend sei! Ihn froh
und heiter stimme, zum Schaffen entflamme! Wann gedenkt mein
Freund nach dem Hochkopfe zu ziehen, nach des Waldes würzigen
Lüften? — Sollte ihm der Aufenthalt daselbst nicht vollkommen
zusagen, so bitte ich den Teuren irgend eine meiner andern Gebirgs-
hütten sich zum Wohnorte zu erwählen. — Was mein ist, gehört
ja ihm ! Vielleicht begegnen wir uns dann auf dem Wege zwischen
Wald und Welt, wie mein Freund sich ausdrückte! .... Gegen-
wärtig bin ich wieder hoch in einsam stehender Berghütte, umweht
von erfrischenden Alpenlüften, selig in der freien Natur, und denke
an den Stern, der meinem Leben strahlt, an den Einzigen ! Möchte
Jahrbuch III. 38
— C94 —
ihn froh und glücklich wissen und beitragen können zn seiner Rnhe^
seiner Seligkeit. Heil ihm ! — Segne ihn, mein Herr und Gott gieb
ihm den raeden, den er bedarf, entziehe ihn den profanen Augeix
der eiüen, leeren Welt, bekehre sie durch ihn von dem Wahn, der
sie gefangen hält! — Dir bin ich ganz ergeben, nur Dir, nur Dir
zu leben! Bis in den Tod Ihr £igen.
Purschling, den 4. August 1865. Ihr getreuer Ludwig.
Ein und All! Ueber Alles geliebter Freund!
Es drängt mich Ihnen aus voller Seele meinen wärmsten Dank
auszusprechen für Ihren teuren Brief und das herrliche Geschenk:
Bheingold! Rheingold, o Entzücken, Jubel meines Herzens! Ich
kann Ihnen nicht beschreiben, mit welch jauchzender Freude mich.
Ihre Gabe erfüllt! Von des Herrlichen eigener Hand geschrieben!
Vollkommen weiss ich ihn zu schätzen, den Wert des himmlischen
Geschenkes! — Auch von Ihrer Freundin, von Frau v. Bülow, er-
hielt ich ein mir teures sinnvolles Geschenk, das mir im Augenblicke
jedes Ihrer hehren Werke vorzaubert! Nun wollen wir, Ihre
Freunde, rüstig arbeiten und fördern, während der Geliebte, der
göttliche Freund gänzlich der Erdenwelt entzogen werden soU, um
einzig in seinen wonnigen Reichen zu träumen, zu schaffen. Wie
schmerzlich war mir die Kunde von neuen Leiden meines Freundes^
Gott gebe, dass Ihre teure Gesundheit sich bald vollkommen wieder
kräftige ! — Wie hätte ich mich gefreut, meinen Geliebten auf dem
Hochkopfe besuchen zu können, ich wäre nach der Riss geritten,,
etwa Anfang September, um dort einige Tage zu verweilen, von
dort aus hätte ich so gerne den Freund in seiner Bergeswohnung
aufgesucht; welch' schöne Stimde hätten wir dort vereint verlebt t
Doch es sollte nicht sein! Im Geiste bin ich immer bei Ihnen!
Wie entzückt mich Ihr Geschenk, ich muss es immer wiederholen l
Heil Dir, Sonne! — Heil Dir, Licht! Ich muss schliessen. Leben
Sie wohl, Urquell des Lebenslichtes, wir handeln, verlassen Sie sich
darauf! Bis in den Tod
Hohenschwangau, den 27. August 1865. Ihr getreuer Ludwig.
Innig Geliebter! — Mein Alles!
Der Jubel meiner Seele lässt mir keine Ruhe; ich muss heute
noch einige Zeilen an den Teuersten richten, an dem Tage, der
mir durch Ihren göttlichen Brief unvergesslich bleiben wird. — Ja,
ich will Ihnen treu bleiben bis zum letzten Atemzuge, will Sie
schirmen mit mächtigstem Schutz! Feierlich gelobe ich Ihnen dies
aufs neue. — Mit Ihnen nur leb' ich, mit Ihnen wiU ich sterben.
— Hört diesen Schwur, Manen des verewigten Tristan, Heiliger
Gott, gieb Deinen Segen [ . . . Herzlichen Dank für die lieber-
— 595 —
ßendung des Briefes der Witwe unseres Tristan; sie fr^t mich, ob
ich die Todenmaske des Verblichenen annehmen wolle. Ich bitte
den Geliebten, ihr mitteilen za wollen, dass mich das Andenken
an den Verstorbenen innig erfreuen wird, dass es mir von Herzen
wert und teuer sein wird; desgleichen bitte ich den Freund, sie
wissen zu lassen, dass mich ihr Brief mit inniger, tiefer Rührung
erfüllte! — Ewig des Einzigen treuer L.
*
Mein Einziger! Mein göttlicher Freund!
Endlich finde ich einen freien Augenblick, endlich komme ich
dazu, dem Geliebten für den übersandten Entwurf zum „Parcival"
ans tiefster Seele zu danken, die Flammen der Begeisterung erfassen
mich; mit jedem Tage wird sie glühender, meine Liebe zu dem,
den ich einzig liebe auf dieser Welt, der meine höchste Freude,
mein Trost, meine Zuversicht, mein Alles ist! . . . Wie sehne ich
mich nacn Ihnen; selig kann ich nur bei Ihnen sein! — Hier ver-
lebe ich unruhige Tage ; ich werde am Sonntage mich wieder hinauf
flüchten in die heilige Buhe der Natur, in die reine Luft der Berge.'
dort werde ich endUch wieder aufatmen können nach den Mühen
bewegter Tage, lästiger Besuche, dort oben in wonniger Einsam-
keit, auf Bergeshohe, werde ich die mir so nötige Buhe finden;
die Hütten, die ich bewohnen werde, sind von hier nicht sehr
entfernt, will mein Teurer mir die Freude machen, mir zu schreiben,
so bitte ich Ihn, die Briefe hierher zu adressieren, sie werden mir
nachgesandt werden ! — Wie geht es dem Geliebten, herrscht Buhe
um Ihn, ist er froh und heiter?! . . . Geliebter, wir wollen Uns
treu stets zur Seite stehen, das Ideal, welches uns begeistert, wird
die Welt dereinst begeistern — o wie liebe ich Sie, mein angebeteter,
heiliger Freund! — Nur eine Frage erlaube ich mir an meinen ge-
liebten Freund bezüglich des Parcival zu richten. — Warum wird
unser Held erst durch Cundry's Kuss bekehrt, warum wird ihm
dadurch seine göttliche Sendung klar? Erst von diesem AugenbUck
kann er sich in die Seele des Amfortas versetzen, kann er sein
namenloses Elend begreifen, ndt ihm fühlen! — 0 könnten wir doch
immer zusammen sein! In München müssen wir uns jeder Woche
wenigstens einmal sprechen; länger halte ich es nicht aus, ohne
meinen Einzigen zu sein; Buhe, Buhe brauche auch ich so notwendig,
hier konnte ich sie gegenwärtig nicht finden; oben wird sie ge-
wonnen werden! Weiss ich den Gellebten wohlgemut, so bin ich
es auch, mein Denken und Fühlen geht einzig auf ihn, könnte ich
bald von ihm hören! — Heil und Segen dem Einzigen!
Sein treuer Ludwi^;.
* * 38*
— 596 —
Mein vielgeliebter Freund!
£s drängt mich, Ihnen heut noch zu schreiben, Ihnen zu sagen,
dass mein Geist sich immer nur mit Ihnen beschäftigt, dass ich nur
in der steten Erinnerung an Sie glücklich sein kann! — Heute be-
zog ich eine andere Hütte in einem stillen, trauten Gebirgsthale ;
so herrlich umragen mich die Gipfel der Berge, so anheimelnd um-
stehen mich die dunklen Fichten und Tannen. — Ich komme eben
von einem Spaziergange zurück in meine einsame Wohnung. Sieg-
friedsluft umwehte mich; die Sonne sank herab, es war der Tag
vollbracht, ein glühend roter Saum leuchtete auf den Bergen. —
Das Bild meines Einzigen umschwebte mich, trat mir immer näher
vor das geistige Auge, ein Bild, das meine Augen zu schauen sich
kaum getrauten, sogar im Rauschen des Gebirgsbaches erkannte
und hörte ich die Töne und Melodien aus den Werken des heiligen
Freundes. . . . „Stark ist der Zauber des Begehrenden, doch
grösser der des Entsagenden!'' — Welch grosse, welch eine er-
schütternde Wahrheit in diesen Worten! — 0 Parcival, Erlöser!
Heilige Nacht herrscht draussen im Thale, es leuchten die glitzernden
Sterne, der Tag birgt sich nur, aufs neue entflammt mich die Be-
geisterung! „Dir geweiht dies Haupt, Dir geweiht dies Herz!" —
Semper wird jetzt in München sein, der Platz wird bestimmt, der
Geliebte träumt in Seinen idealen Welten, die Erfüllung winkt.
Kreuzenalp, am 13. September 1865. Ludwig.
*
Mein einziger Freund! Mein heiss Geliebter!
Heute Nachmittag Va^ Uhr kam ich von einem herrlichen Aus-
fluge nach der Schweiz zurück! — Wie entzückte mich dieses
Land! — Da fand ich Ihren teuren Brief! Innigsten wärmsten
Dank für denselben. — Mit neuer flammender Begeisterung hat er
mich erfüllt, ich sehe, dass der Geliebte mutig und vertrauensvoll
unserem grossen, ewigen Ziele entgegenschreitet.
Ich will alle Hindemisse siegend wie ein Held damiederkämpfen;
ich bin Dir ganz zu eigen, nun lass mich Gehorsam zeigen. Ja
wir müssen uns sprechen, ich will alle Wetterwolken verscheuchen,
die Liebe hat Kraft zu Allem. Sie sind der Stern, der meinem
Leben strahlt, und wunderbar stets stärkt mich Ihr Anblick. —
Ich brenne nach Ihnen, o mein Heiliger! Angebeteter! Ich wwde
mich unendlich freuen, den Freund etwa in 8 Tagen hier zu sehen,
o wir haben uns viel zu sagen ! — Gelänge es mir doch den Ruch,
von welchem Sie mir sprechen, gänzlich zu bannen, zurückzusenden
in die nächtlichen Tiefen, aus denen er aufstieg! — Wie liebe, wie
lebe ich Sie mein Einziger, mein höchstes Gut! — Sonne des
-.ebens! . . . Kömmt mein geliebter Freund? Ich bitte Sie,
— 597 —
schreiben Sie bald. — Uns trennt man nie, ich biete Trotz dem
falschen Strahl des Tages. . . . Meine Begeisterung und Liebe
für Sie sind grenzenlos!
Auf das Neue schwöre ich Ihnen Treue bis in den Tod
Ihr für Sie glühender Ludwig.
* *
Mein einziger, geliebter Freund!
Wie die majestätische Sonne, wenn sie die trüben, beängsti-
genden Nebel verscheucht und Licht und Wärme, labende Wonne
rings verbreitet, so erschien mir heute Ihr teurer Brief, aus welchem
ich vernahm, dass Sie, geliebter Freimd, von den folternden
Schiperzen verlassen sind und der Besserung rasch entgegenschreiten.
Der Gedanke an Sie erleichtert mir das Schwere in meinem Beruf;
so lange Sie leben, ist auch für mich das Leben herrlich und be-
glückend. 0 mein Geliebter, mein Wotan soll nicht sterben müssen,
er soll leben, um sich lange noch an seinem Helden zu erfreuen!
Hier sende ich meinem teuren Freund eine gemalte Photographie
von mir, welche, wie ich glaube und höre, das gelungenste Bildnis
ist, welches von mir besteht. Ich sende es Ihnen, weil ich der
festen Ueberzeugung bin, dass Sie mich am meisten lieben von
allen Menschen, welche mich kennen, ich glaube mich hierin nicht
zu irren. Mögen Sie bei ihrem Anblick immer gedenken, dass der
üebersender Ihnen in einer Liebe zugethan ist, welche ewig dauern
wird, ja dass er Sie mit Feuer liebt, so stark, als nur irgend ein
Mensch zu lieben vermag. Ewig
Hohenschwangau, den 8. Nov. 1864. Ihr Ludwig.
*
Vielgeliebter Freund!
Obwohl ich in einigen Tagen wieder nach München zurück-
zukehren gedenke imd ich hoffe, möglichst bald meinem Teuren
und Einzigen wieder aus vollem Herzen — wie ja immer! — be-
grüssen zu können und viel mit ihm zu sein, so kann ich doch dem
Drang meines Innern nicht widerstehen, einige Zeilen an Ihn zu
richten. Seien Sie überzeugt, dass ich meinen Geliebten ver-
stehe, dass ich weiss und fühle , dass Er nur mehr für mich leben und
schaffen will , wie ja mein eigentliches , wahres Leben in ihm und
durch ihn einzig und allein besteht. — Kein Schmerz, keine Wolke
kann mir das Dasein trüben, wenn dieser Stern mir vom Himmel
strahlt — mein Alles hängt an ihm! Zu ewiger Liebe imd
Begeisterung
Hohenschwangau, den 26. November 1864.
Ihr treuer Freund Ludwig.
Jahresbericht 1900.
Wie in den drei Vorjahren, so wurde auch in dem
vergangenen eine umfangreiche Propaganda für die Be-
freiung der Homosexuellen vom Strafgesetz und von noch
immer vielfach verbreiteten Vorurteilen entfaltet. Die gesetz-
gebenden Körperschaften wurden fortgesetzt mit Material
versehen. Anfangs des Jahres 1900 erhielten sämtliche
Mitglieder des Reichstags und Bundesrats die im 2. Band
des Jahrbuchs abgedruckten Erklärungen römisch-katho-
lischer Priester, kurz darauf eine von Dr. M. verfasste
Brochüre: „Widerlegung der Gegenpetition betreffend
§ 175 R.-Str.-G.-B."
Am Tage seines Zusammentritts, dem 14. November
V. J., ging dem Reichstag wiederum unsere Petition behu&
Aufhebung des Urningsparagraphen zu, von einer be-
trächtlichen Anzahl neuer Unterschriften, namentlich aus
höheren Beamtenkreisen, bedeckt, der sich dann beim
Beginn dieses Jahres das folgende Anschreiben an alle
Abgeordneten, welche bisher dieser Angelegenheit ablehnend
oder gleichgültig gegenüberstanden, anschloss:
Hochverehrter Herr Abgeordneter!
Verzeihen Sie, wenn das unterfertigte Gomit^ sich
die Freiheit nimmt, Ihnen eine Bitte zu unterbreiten,
mit welcher es, angesichts der bteigenden Actualität
der homosexuellen Frage und angesichts der über-
wältigenden Fülle seelischer Not und Bedrängnis, diß
ihm aus den fortgesetzt sich mehrenden Zuschrifteii
liomosexueller Männer aller Stände und Gesellschafts-
— 599 —
kreise entgegentritt, nicht mehr länger zurückhalten
kann. Wir sind der festen Ueberzeugung und finden
uns keinen Augenblick im Zweifel darüber, dass die
Lösung der erwähnten Frage im Sinne von Recht und
Menschlichkeit auch schon so gut wie erreicht ist, so-
bald einmal die zur Gesetzgebung berufenen Mandatare
des Volkes diese Frage zum Gegenstand ihres per-
sönlichen Studiums machen und, mit Ausscheidung rein
aprioristischer Erwägungen, die hier offenbar nicht zum
Ziele führen können, an der Hand des täglich wachsen-
den Thatsachenmaterials nach allen Seiten hin unter-
suchen werden. Infolgedessen erfüllen wir eine For-
derung unseres Gewissens, wenn w4r an Sie, hoch-
verehrter Herr Abgeordneter, die dringende Bitte richten,
der Ehre und dem Lebensglück tausender von ab-
weichend veranlagten, aber unschuldigen Menschen
das Opfer eines solchen persönlichen Studiums zubringen.
Wir wissen, dass Euer Hochwohlgeboren auf diesem
Wege nur zu dem einen Ergebnis [gelangen können:
Hier ist, wie auch immer die religiös-moralische Taxation
lauten mag, eine strafrechtliche Schuld nicht vor-
handen, und es giebt sonach kein Motiv, wodurch sich
§ 175 mit seinen vernichtenden Konsequenzen recht-
fertigen liesse.
Sollten Sie indess, hochverehrter Herr Abgeord-
neter, nicht geneigt, bezw. nicht in der Lage sein, unserer
Bitte zu entsprechen, so erlauben wir uns den Vorschlag
zu unterbreiten, Sie mögen, sei es ausschliesslich für Ihre
Person, sei es in Verbindung mit den übrigen Herren
Abgeordneten Ihrer Partei oder doch wenigstens einem
Teil derselben, einen flir das Studium dieser Frage ge-
eigneten beliebigen Vertrauensmann designieren, dem wir
sodann eine Anzahl intellectuell und sittlich prominenter
Oonträrsexualen namhaft machen wollen, welche sich ihm
bereitwillig als Forschungsobjekte zur Verfügung stellen
— 600 —
und ihm dadurch ermöglichen werden^ sich ein völlig un-
mittelbares, selbständiges und unabhängiges Urteil über
den Gegenstand zu bilden. Euer Hochwohlgeboren wer-
den selbst anerkennen müssen, dass wir unsererseits nichts
mehr zu thun imstande sind, um für die bezeichnete Frage
eine möglichst objektive und durch das redliche Streben
nach Objektivität aller Leidenschaftlichkeit entrückte
Behandlung zu erzielen, und wir glauben uns darum der
Hoffnung hingeben zu dürfen, dass unsere Bitte, welche
zugleich die Bitte einer ganzen Klasse von unschuldig
verfolgten, für ein Stück ihrer konstitutionellen Natur
verantwortlich gemachten Menschen ist, nicht unberück-
sichtigt bleiben wird.
Einer freundlichen Aufnahme entgegensehend
für das wissenschaftlich-humanitäre Komltöei
Dr. M. Hirschfeld, Arzt in Charlottenburg.
Prof Dr. Fr. Karsch, J. H. Dencker,
Privatdozent in Berlin. Fabrikbes. in Sulingen, Han.
Die Petition wurde seitens der Kommission, wie
bereits das letzte Mal, der Regierung als Material über-
wiesen und gleichzeitig zur Erörterung im Plenum als un-
geeignet bezeichnet. In der Keichstagssitzung vom 21.Febr.
1901 wurde jedoch auf Antrag des Abg. Metzger die
Petitioü wieder an die Kommission zur Berichterstattung
an das Plenum zurückverwiesen, sodass also noch im
Laufe dieser Session eine Erörterung derselben im Hause
selbst zu erwarten steht.
Was die Aussichten auf Aufhebung des verhängnis-
vollen Gesetzes betrifft, so ist vor allen Dingen der
Empfang hervorzuheben, welchen der Unterzeichnete am
15. Mai V. J. gelegentlich der Ueberreichung der Jahr-
bücher bei dem Chef des Reichsjustizamts, dem Herrn
Staatssekretär W. G. R Nieberding, hatte. Seine Ex-
— 601 -
cellenz zeigte sich in der eingehenden Unterredung mit
der ganzen Frage wohl vertraut und über unsere Be-
strebungen völlig unterrichtet. „Ein bestehendes Gesetz za
entfernen," so äusserte er u. a., „sei sehr schwierig, einen
Antrag ad hoc halte er für nicht empfehlenswert, dagegen
stände in vier bis fünf Jahren eine Revision des Reichs-
strafgesetzbuchs sicher zu erwarten, das sei die passendste
Gelegenheit, in dieser Richtung vorzugehen. Er gebe uns
den Rat, die öffentliche Meinung, als deren Spiegelbild
der Reichstag doch erscheine, weiterzubearbeiten, damit
man in fünf Jahren den Paragraphen fallen lassen könne."
Zur Aufklärung der öffentlichen Meinung liessen wir
sämtlichen 2017 deutschen Tageszeitungen die letzte Pe-
tition mit folgendem Briefe zugehen:
Hochgeehrter Herr Redakteur!
Wir gestatten uns Ihnen beifolgende Eingabe zu
unterbreiten, welche wir soeben den gesetzgebenden
Körperschaften überreicht haben. Dieselbe wurde bereits^
dem letzten Reichstage vorgelegt und von diesem der
Regierung als Material überwiesen. Die Regierung ver-
schliesst sich, wie wir zuverlässig mitteilen können, nicht
den gewichtigen Gründen, welche für die Abschaffung
des § 175 R.-Str.-G.-B. sprechen. Einer ihrer mass-
gebendsten Vertreter hat uns geraten, die öffentliche
Meinung weiter aufzuklären, damit die Regierung ver-
standen wird, wenn sie selbst auf die Wiederaufnahme
des verhängnisvollen Paragraphen in das Strafgesetzbuch^
dessen Revision bevorsteht, verzichtet.
Wir übersenden Ihnen dieses Schriftstück in erster
Linie, damit Sie, wenn in Ihrem Kreise, Ihrem Ort^
Ihrer Umgebung Fälle aus § 175 vorkommen, unter-
richtet sind, dass eine grosse Zahl unserer bedeutendste!^
Persönlichkeiten zu der Ueberzeugung gelangte, es-
handle sich da nicht um verbrecherische, sondern von.
— 602 —
Geburt an abweichend geartete, durch das Gesetz tief
beklagenswerte Menschen.
Wir bitten Sie^ auch Ihren wertgeschätzten Kamen
'den Unterschriften derjenigen beizufügen, die sich aus
lautersten Motiven zur Beseitigung einer unzeitgemässen
Inhumanität zusammenfanden.
Ganz besonders würden Sie uns zu Dank
verpflichten, wenn Sie im Interesse der
Volksaufklärung in Ihrer wertgeschätzten
Zeitung über unser Vorgehen berichten wür-
den, wenn nicht ausführlich, so doch in Form
der untenstehenden Mitteilung etc.
Mit ausgezeichneter Hochachtung etc.
Eine ganze Anzahl Zeitungen nahm davon Kenntnis,
-wie denn überhaupt die Sprache der Blätter bei Berichten
über Fälle aus § 175 in den letzten Jahren eine weit
anildere und verständigere geworden ist wie früher.
Laut Beschluss der 5. Hauptkonferenz vom 24. Juni
1900 wurde ferner die Petition zur Orientierung nebst
Anschreiben an über 8000 höhere Verwaltungsbeamte,
Landräte, Bürgermeister, Justiz-, Polizei- und Eisenbahn-
beamte versandt. Als erfreuliches Zeichen fortschreiten-
der Aufklärung mag hervorgehoben werden, dass der
Magistrat der Stadt Horde in Westfalen die Petition
korporativ unterzeichnete.
Die bekanntesten Blätter wurden fortgesetzt mit
Material versehen, ausser den Priestererklärungen wurde
-die Schrift: „Laster oder Unglück? Besteht der § 175
jBU Recht? Eine Gewissensfrage an das deutsche Volk
von einem Freunde der Wahrheit" in grösserem Um-
fange versandt, vor allem aber ging das Jahrbuch zu
Propaganda- und Rezensionszwecken einer grossen Anzahl
politischer und wissenschaftlicher Organe, sowie vielen
Jiervorragenden und einflussreichen Persönlichkeiten zu.
Eine nicht geringe Menge von Antworten und Besprech-
— 603 —
UDgen legten Zeugnis davon ab, dass das Jahrbuch sich
•einer stetig steigenden Anerkennung zu erfreuen hat.
Auf wiederholt geäusserten Wunsch wurde auch der
Yersuch gemacht, durch einen kurzen Aufruf im In-
seratenteil von Zeitungen das Interesse weiterer Kreise
für unser sexuelles Befreiungswerk zu wecken. Auf eine
diesbezügliche Annonce in etlichen Tageszeitungen gingen
165 Anfragen ein, deren Einsendern wir ausreichendes
Material übermittelten.
Endlich wurde auf unserer 6. Hauptkonferenz am
13. Januar d. J., welche unter starker Beteiligung aus
allen Himmelsrichtungen Deutschlands — auch vom Aus-
lande waren Vertreter zugegen — einen besonders er-
freulichen Verlauf nahm, beschlossen, ein Preisausschreiben
zu erlassen für eine 2 bis 3 Bogen starke, allgemein ver-
ständliche und überzeugende Propagandaschrift, um in
den weitesten Schichten des Publikums die falschen Auf-
fassungen zu widerlegen, welche noch über das Wesen
des Uranismus vielfach herrschen. Aus der Brochüre
solle vor allem hervorgehen, dass es sich nicht um Be-
fürwortung von Unsittlichkeiten, sondern um Beseitigung
einer grausamen Ungerechtigkeit gegen unglückliche
Menschen handle. Der erste Preis wurde auf 150, der
zweite auf 50 Mark, der Termin für die Ablieferung an
das unterfertigte Komitee, das den Bewerbern auf Wunsch
nähere Mitteilungen macht, auf den 1. Juni 1901 fest-
gesetzt.
Besonders wurden immer wieder die Gerichte mit
einschlägigem Material versehen. Als sich im Herbst des
Jahres in der Provinz Hannover die Verurteilungen aus
§ 175 häuften, benutzten wir diesen Anlass, um den ersten
Staatsanwälten und Vorsitzern der Strafkammern im
ganzen Keich folgendes Schreiben zu übersenden, welches
uns von einem Landgerichtsdirektor zur Verfügung ge-
stellt war:
— 604 —
Ew. Hochwohlgeboren
wird es nicht unbekannt geblieben sein, dass in letzter
Zeit in Hannover zahlreiche Verurteilungen wegea
„widernatürlicher Unzucht* erfolgt sind. So lange der
§ 175 St.-G.-B. nicht aufgehoben ist, muss er freilich
angewendet werden. Er wird aber verschieden aus-
gelegt. Die Auslegung des Reichsgerichts dürfte nicht
die richtige sein, (vide die Schrift: „Eros vor dem
ßeichsgericht*).
Die Norm des § 175 — Verbot des Geschlechts-
verkehrs unter Männern — findet in dem heutigen
Strafrechtssystem, in der Lehre von dem Rechtsgüter-
schutz, eine Stelle nicht. Nach dem heutigen Stande
der Kriminologie und Pönologie muss die Aufhebung
des § 175 Str.-G,-B. kategorisch gefordert werden, (vide
den Aufsatz: „Schützt § 175 Rechtsgüter?" S. 30 ff.
im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, II. Jahrgang.)
Erwägt man dies, so wird man derjenigen Auslegung
des § 175 den Vorzug geben, welche die eingeschränkteste
Anwendung ermöglicht. Man wird also unter der , wider-
natürlichen Unzucht** inter mares nur immissio penis in»
anum vel os verstehen. Man wird ferner strikten Be-
weis der That verlangen und irgendwie zweifelhafte-
Fälle nicht verfolgen. Meine Bitte an Ew. Hochwohl-
geboren geht dahin, dass Sie der Anwendung des
§ 175 Ihre besondere Aufmerksamkeit geneigtest widmen
möchten.
Ich verkenne nicht, dass die Liebe des Mannes zum
Manne für den absolut weibliebenden Mann un-
verständlich ist. Wollen Sie sich daher mit dem Er-
fahrungssatze begnügen, dass diese Liebe vorhanden
und von Gott gesetzt ist, genau so wie die Liebe de&
Mannes zum Weibe.
Erwägt man dies, so wird man zu dem Schlusa
kommen müssen, dass, wenn einmal aus § 175 gestraft
— 605 —
werden muss, die gesetzlich mildeste Strafe, abgesehen
von erschwerenden Umständen, am Platze ist. Hier
kann nicht unerwähnt bleiben, dass die Päderastie im
engeren Sinne (immissio penis in os vel anumj eine
seltenere Form der Befriedigung des Geschlechtstriebes
inter mares ist, so dass richtig ausgelegt der § 175
nur in ganz vereinzelten Fällen wird angewendet werden
können. Ich verweise auch diesbezüglich auf die
Petition an die gesetzgebenden Körperschaften des
Reichs, welche von zahlreichen unserer hervorragendsten
Strafrechtslehrer und von nahezu tausend bekannten
Männern aus allen Zweigen der Wissenschaft und
Kunst unterzeichnet worden ist.
Se. Excellenz, der Herr Justizminister, wird sicher
der eingeschränktesten Anwendung des § 175 zustimmen.
Seine wohlwollende, menschenfreundliche Gesinnung
ist uns Justizbeamten allen ja wohlbekannt.
Ich zeichne als Ew. Hoch wohlgeboren
sehr ergebener
- Juris consultus.
In einer ganzen Reihe von Fällen gelang es durch
Äiündliche oder schriftliche Sachverständigen-Gutachten,
in denen überzeugend die angeborene Beeinträchtigung
der freien Willensbestimmung inbezug auf den Geschlechts-
trieb klargestellt war, zu bewirken, dass die Angeklagten
freigesprochen wurden oder von der Eröffnung des Haupt-
verfahrens überhaupt Abstand genommen wurde. Immerhin
kam noch eine recht beträchtliche Anzahl von Ver-
urteilungen Homosexueller vor, besonderes Aufsehen
erregte der Karlsruher Fall, in welchem von 13 An-
geklagten aus verschiedenen Berufsständen 12 zu Frei-
heitsstrafen von 6 Wochen bis 1 Jahr Gefängnis ver-
urteilt wurden. Wir können den Anwälten dieses Pro-
zesses den Vorwurf nicht ersparen, dass sie es trotz
— 606 ^
unserer wiederholten Aufforderung unterliessen, medi-
zinische Sachverständige beizuzieben.
Sehr häufig wurden wir von Homosexuellen in An-
spruch genommen, die in den Händen von Erpressern
ganz unsäglich litten, wiederholt haben wir in solchen
Fällen speziell die Hülfe der Berliner Kriminalpolizei
erbeten und bei derselben stets das grösste und dankens-
werteste Entgegenkommen gefunden. Mehrfach über-
sandten wir auf Wunsch Verwandten und vorgesetzten
Behörden von Konträrsexuellen aufklärendes Material.
Einige Fälle, wo wir Eltern ihre Söhne, an denen sie
irre geworden waren, wiedergaben, erfüllen uns mit be-
sonderer Genugthuung, einmal leider trafen unsere um-
gehend übersandten Mitteilungen und Schriften erst ein,,
nachdem eine Stunde zuvor ein 22 jähriger Offizier, dessen
Rehabilitierung sie galten, durch einen Revolverschus»
seinem Leben ein Ende bereitet hatte.
Die sich stark anhäufende Arbeit, welche die Zentral-
stellen in Charlottenburg und Leipzig zu leisten hatten^
machte es im Laufe des letzten Jahres erforderlich, in
mehreren Provinzen Deutschlands Vertrauensmänner zur
Entlastung heranzuziehen, deren Adressen Auskunft-
suchenden von den beiden Hauptstellen auf Wunsch
mitgeteilt werden. Von der Gründung eines Vereins^
wie er mehrfach angeregt wurde, ist dagegen nach wieder-
holter Erörterung auf den Konferenzen Abstand ge-
nommen worden.
Wir können diesen Bericht nicht schliessen, ohne
des Ablebens mehrerer Männer zu gedenken, welche»
unsere junge Bewegung im verflossenen Jahre zu be-
klagen hatte.
Ein sehr harter Schlag war für uns der Tod des
Beichstagsabgeordneten Sanitätsrats Dr. Kruse, welcher
am 17. Februar plötzlich im Reichstagsgebäude verschied.
AJs Vorsitzender der Petitionskommission und ärztlicher
— 607 —
Fachmann hatte er den Bestrebungen des wissenschaftlich-
humanitären Komitees von Anfang an das grösste Interesse-
entgegengebracht, und die Beachtung, welche die An-
gelegenheit im Reichstage fand, ist zum grossen Teile^
seinem Einfluss zu danken.
Nicht minder schmerzlich war für uns der Verlust
welchen wir kurz vor Weihnachten durch den Tod des
Berliner Polizeidirektors Leo Freiherm von Meerscheidt-
Hüllessem erlitten. Wir hatten auf diesen hochverdienten.
Mann, welcher ein Opfer des so unseligen Sternberg-
Prozesses wurde, grosse Hoflhung für die Entscheidungs-
stunde gesetzt. Ihm, der sich in jahrzehntelanger Thätig-
keit seine kriminalistischen Erfahrungen gesammelt hatte^
war es in erster Linie zuzuschreiben, dass die Berliner
Behörden den Urningen gegenüber seit Jahren eine so
einsichtsvolle Stellung einnehmen. Ich habe wiederholt
persönlich mit Herrn von Hüllessem verhandelt, wenn
Homosexuelle sich in ihrer Not an mich wandten, und
stets das grösste Verständnis gefunden, ohne dass er
je seiner Stellung auch nur das geringste vergeben
hätte. Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle
den Brief wörtlich abzudrucken, welchen ich kurz vor
seinem Tode als Antwort auf einige Zeilen erhielt, in
denen ich ihm anlässlich seiner Suspendierung vom Amt
Aufrichtung zu spenden suchte. Er schrieb:
Berün, 10. XL
Hochverehrter Herr Doktor!
Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Worte;
Sie zeigen mir mit so vielen anderen, dass eine Geld-
schuld gehabt zu haben noch nicht ehrlos sein heisst.
Erliege ich allen diesen Schlägen, nachdem Operation
und Tod meiner Frau vorher meine Nerven völlig
zerrüttet haben, so denke ich, werden die Kinder des
Mannes, der in einer Hinsicht Vorkämpfer für
Licht und Recht gewesen und hunderten un-
— 608 —
eigennützig mit Bat nnd That zur Seite*ge-
standen, viele vor Schande und Tod bewahrt
hat, nicht verloren sein, nicht zu betteln nötig haben,
obwohl ihnen ihr Vater nichts hinterlässt, als eine
unsichere Hypothek auf das berühmte Haus in Binz
und einen zwar hart und in erster Linie vom Berliner
Tageblatt angegriffenen, aber doch völlig unbe-
fleckten Namen.
In herzlicher Dankbarkeit
Ihr ergebener
Leo Hüllessem.
Am 1. Dezember starb in einem Pariser Spital
Oskar Wilde, einer der bedeutendsten homosexuellen
Dichter des verflossenen Jahrhunderts, ein Märtyrer seiner
Individualität, eines der beklagenswerten Opfer englischer
•Gerichtsbarkeit. An anderer Stelle dieses Buches ist
seiner ausführlich gedacht.
Ebenfalls fem von der Heimat, seinen Verwandten
und Freunden ist am 30. Dezember 1900 OttodeJoux
in Dresden einem Gehirnschlage in der Blüte seiner
Jahre erlegen. Durch seine populär gehaltenen Schriften :
„Die Enterbten des Liebesglückes** und „Die hellenische
Liebe* hat er vielen das Problem der Homosexualität
nahe gebracht, welche die rein wissenschaftlichen Werke
nicht in sich aufzunehmen vermochten. Von ihm erschien
auch der erste Aufruf an die Homosexuellen, in ihrem
Befreiungskämpfe selbst mitthätig zu sein. In den zwei
Jahren seines Berliner Aufenthaltes, wo ich ihm persönlich
nahe stand, habe ich ihn als einen ideal veranlagten
Menschen kennen gelernt, der etwas wie Sonnenschein
um sich verbreitete.
Unser Komitee wird das Andenken dieser Toten in
Ehren halten.
Die Kosten der ausgedehnten Propaganda wurden
-durch Jahresbeiträge und einmalige Beiträge gedeckt
c
- m -
Der Anfangs des vorigen Jahres veröffentlichte Aufruf
(vgl. Anhang im Jahrg. II.) wurde den Unterzeichnern der
Petition sowie zahlreichen uns bekannten Homosexuellen
übersandt E^ kam eine Summe zusammen^ mit der unter
Beachtung grosser Sparsamkeit viel gearbeitet werden
konnte^ aber sehr vieles konnte wegen Mangel an Kampf-
mitteln nicht zur Ausführung gelangen. Noch immer
müssen wir uns in der so notwendigen Agitation grosse
Beschränkungen auferlegen. Ist es nicht unbegreiflich,
dass so viele Männer der Geistes-, Geburts- und Geld-
aristokratie nichts übrig haben, wo es sich darum handelt,
ihnen oder ihren Verwandten und Freunden das Höchste
wiederzugeben, was ein Mensch besitzt, seine Ehre und
seine Freiheit? Welche Propaganda könnte entfaltet
werden, wenn jeder Homosexuelle nur 20 Pfennige im
Tag (76 Mark im Jahr) seinen höchsten Lebensinteressen
opfern würde I Möge doch jeder den Satz beherzigen,
welchen der grosse Rechtslehrer v. Ihering in seiner
Schrift: «Der Kampf ums Recht* aufstellte:
«Man muss, wenn einem ein Recht vorenthalten
wird, kämpfen und nicht nachgeben. Das ist eine
sittliche Pflicht.»
Charlottenburg, Berlinerstr. 104.
März 1901.
Dr. med. M. Hirschfeld.
•*.
Zeichner von Jahresbeiträgen
bis 1. März 1901.
Mark
1. B. L. in B. .
. 20
2. O. H. in V. .
. 00
3. Sek., München
. 60
*4. JustizratV., Berlin 10
5. Fabrikbes. D. i. 8
. 100
6. Dr. G., Berlin
. 100
7. Prof. Dr. Fr.
Karsch, Berlin
. 40
8. H. H. Schriftst,
Hessen ....
, 10
9. J., Ciseleur, Berlin
i 6
10. 0. in H. . .
, 100
11. Numa Prätorius
, 100
12. P. in K. . .
, 300
13. W. B., Fiandwirt
in Mecklenburg .
. 20
14. Dr. phil. J., Berlin
i 10
15. F. J., Bez. Osna-
brück . . .
. 10
16. L., Bern . . ,
, 10
17. G., Jena . . ,
5
18. Dr. M in L. . .
5
19. F. W., München ,
. 10
Mark
20. E. B., Schriftst.
in P 20
21. A. H., Mönchen . 50
22. E. R in K. . . 20
23. Rechtsanwalt Dr.
8. in H. ... 20
24. J. M., Hannover . 50
25. ü. in N. ... 20
26. Durch U. in N. aus
Rom 50 Lire . . 40
*27. G. Seh., BerKn . 20
28. V. G 12
29. Pherander^ Barmen 40
30. Amtsrichter S. . 80
31. Rechtsanwalt Dr.
G. in F. ... 100
32. C. N. in H. . . 20
33. Freiherr v. T., Ch. 20
34. Dr. K F. J., Berlin 20
35. Seelhorst (anonym)
Hannover ... 20
36. C. ü., Hamburg . 20
*37. S. in M. ... 20
*38 Graf W., BerKn . 50
Mark 1618
— 611 —
39. Emil S., Berlin . 10
40. Lehrer E., Berlin . 10
41. H. J., Freiburg . 20
42. S. L. W., Basel . 20
43. Oberl. H. W. . . 40
44. Dr. L. in C. . . 20
45. C. Gr., Bayern . 20
46. Institut f. Gesund-
heitspfl., Wiesb. . 10
47. E. B., Plauen . 20
48. E. R, Würtembg. 100
49. E. M. in N. . . 10
*50. C. Br., Berlin . 5
51. R Seh. in H. .20
52. R J. in N. . . 10
53. J. L., Breslau . 20
54. C. O. in Seh. . 20
55. J. R, cand. ph.,Ch. 20
Transport: Mark 1618
56. Richard S., Berlin 30
57. Emil F., B.-Ch. . 20
58. Apoth. R, Bayern 20
59. E. T. in F. . . 25
60. V. A. N., Hamb. 30
61. Dr. in Ch. . . 12
62. A. Kutöchbaoh, Ob.-
Feuerw., Spandau 20
63. R. Kalk, H. b. kaiserl.
Statist. Amt, Berlin 50
64. Robert R., B. . 25
65. Dr. med. Pr. in F. 20
66. Dr. phil. H. iu H. 10
67. Ingen. C. in N. . 20
68. C.-A., Sehriftst., B. 20
69. Graf Seh. ... 30
70. Fidkbes. R-D. 100
Summa: Mark 2425
IV. Abrechnung
bis 3Mt2. 1900.
Bei der Geschäftsstelle in Charlottenburg gingen ein :
1900
Januar 20. Von der Geschäftsstelle in Leipzig
« 25. Aus Italien 10 Lire
Februar 6. Prof. Dr. L. m B.
6. H. in V.
6. Seh. in B. .
8. Landwirt B., 'Mecklenburg
n
n
Mark
. 50,00
. 8,00
. 20,00
. 15,00
. 10,00
. 5,00
Übertrag: Mark 108,00
* Ausser wo volle Namensangabe ansdrüoklioh gewünscht
wurde« haben wir es vorgezogen, oie Spender durch Chiffem zu
bezeicnnen. Die mit * versehenen haben 1900 Beiträge gezeichnet,
bisher dieselben aber noch nicht übersandt
— 612 —
W
n
n
Mai
Februar 10. H. H.
„ 12. Lehrer J. .
, 28. A. H. in München
März 3. Von der Geschäflsstelle in Leipzig
April 3. Landwirt ß. .
, 4. Prof. L. in B.
, 7. Dr. G. in J. .
, 21. Ed. B. P.
22. F. W., München
24. Dr. M. L.
24. H. in V.
25. E. R, Köln .
1. Rd. Dr. S. in H.
10. J. M., Hannover
11. Dr. G., Berlin
12. V. G., Berlin
17. A. Jj., Altena
17. Pherander
30. Seh., Bamberg
31. Rd. G., Frkf.
9. Integer vitae
14. Licognitus
17. Cis. J. .
20. E. R. in K.
30. Baron v. T.
2. Dr. J.
3. H. H.
4. Seelhorst
6. H. in V.
7. O., Hannover
23. von N. N. durch Dr
August 6. aus Bruxelles anonym
„ 6. M., Hamburg
Transport: Mark 108,00
. 2,50
ff
n
ff
ff
Juni
n
n
JuU
>»
//
G.
10,00
50,00
55,50
5,00
10,00
5,00
20,00
10,00
5,00
15,00
20,00
20,00
25,00
100,00
12,00
50,00
40,00
20,00
100,00
20,00
20,00
6,00
20,00
20,00
20,00
4,00
5,00
15,00
25,00
100,00
50,00
20,00
Übertrag: Mark 1008,00
— 613 —
August 10. Seh., Bamberg .
, 10. Emil Seh.
« 12. J., Freiburg .
, 22. W. C, Hamburg .
Septbr. 9. W., Basel .
, 18. Dr. L., Anhalt
, 22 C. R., Bayern
„ 22. Fr. R.-D., Fideikommissbes.
, 23. E. B., Plauen
„ 25. Inst. f. Gesundheitspfl.
Oktober 1. O., Hannover
2. Eck. R. in O. .
5. A. R. in Seh.
5. M, in Hannover
6. R. Seh., Hanau
10. Lehrer J.
16. R. N. 100 Frcs.
16. R. J. . .
16. S. M. in N.
17. L., Breslau
19. Oberleutnant H,
23. R.-P. Op.
29. Dr. M. M„ Rom
29. oand. phil. J. R., Ch.
2. Apotheker R.
3. F. in Ch. .
14. Rieh. 8., Berlin .
19. Rechtsanwalt Dr. E., Berlin
23. Seh. . . * .
25. J., Nordhausen
Wiesbaden
n
n
ff
ff
n
Novbr.
//
n
Transport: Mark 1008,00
. 10,00
. 10,00
. 10,00
. 20,00
. 20,00
. 20,00
. 20,00
. 50,00
. 20,00
. 10,00
. 50,00
, 25,00
. 20,00
. 30,00
. 20,00
. 15,00
. 80,00
. 10,00
. 10,00
. 20,00
. 10,00
. 20,00
. 5,00
. 20,00
. 20,00
. 5,00
. 30,00
. 50,00
. 15,00
. 5,00
Dezbr. 3. R. Kalk, HOlfsarb. i. Kais. Statist Amt Berlin 3,00
»
12. G. L. .
12. A. N., Hamburg
30. H. in V.
100,00
30,00
15,00
in Summa: Mark 1806,0Q
— 6U —
Transport: Mark 1806,00
Die Oeschäftsstelle in Charlottenburg verausgabte
für Fertigstellung und Versandt von Propagandamaterial
an die Mitglieder des Bundesrats und Reichstags, ftir
Gratis-Exemplare der Jahrbt^cher an Abgeordnete, Zeit-
ungen, bekannte Persönlichkeiten, für Herstellung und
Versandt von 6500 Petitionen an höhere Beamte, 2017
Petitionen an die Tagesblätter mit Anschreiben, ftir
Übersendung von Materialien an Gerichte und Private,
für Inserate an die Firma Haasenstein & Vogler, für
kleinere» Drucksachen, wie Einladungen zu den Kon-
ferenzen, für Schreibgebühren und Porti Mk. 1672,00
Mithin XJberschuss der Geschäftsstelle]
Charlottenburg am 31. Dezember 1900:
"Mark 134,00
An der Geschäftsstelle in Leipzig gingen ein:
1900
Januar 4. E. O. in H
Februar 3. W. in W. (Rechnungstiberschuss)
„ 7. Integer vitae ....
März 20. R. R in F.1
, 20. W. J. in F. / <^"'^<'*' •^- "^ *^-
„ 20. W. J. in F. Jahresbeitrag für 1900
April 14. W. W. in München (RechnongsUbers.)
, 28. E. W. H, in Leipzig .
Mai 3. P. 8. in München ....
, 5. B. R. in Mannheim ....
, 11. Dorian Gray, Wien ....
, 18. Geschäftsstelle Charlottenborg
, 18. K. in G. Jahresbeitrag für 1900 ".
, 26. Ph. F. in O. (Rechnungsüberschuss)
Juni 27. F. Seh. in H
, 30. R. R. in F. (Rechnungsüberschuss).
Mark
25,00
2,70
5,00
52,50
50,00
1,20
5,00
10,00
12,70
80,00
7,00
15,00
12,70
1,00
23,20
Übertrag: Mark 303,00
— 615 —
Transport: Mark 303,00
Juli 21. K. H. in D 20,00
August 6. E. W. H. in Leipzig .... 5,00
25. G. H. H. auf H 4,70
Septbr. 6. F. Seh. in H 2,00
13. D. M. M. in Rom .... 20,00
„ 19. Numa Prätorius 100,00
, 20. G. R. in L. (Rechnungsübersch.) . 4,41
27. K. H. in D 20,00
Oktbr. 11. R. S. 123 Köln (Jahresbeitrag) . . 300,00
„ 11. P. Seh. in München .... 10,00
„ „Keine Unsittliehkeit, sondern Naturreeht"
aus Leipzig 50,00
Novbr. 1. A. S. in 0 15,00
2. R. S. in V. . . . . . . 10,00
3. G. B. in V. . . . . . . 24,60
, 15. B. R. in Mannheim .... 20,00
Dezbr. 6. Dorian Gray, Wien (60 Kr.) . . . 50,40
„ 10. W. H. in D 10,00
„ 11. Dorian Gray, Wien (Reehnungsübers.) 2,10
, 13. E. W. H. in Leipzig .... 5,00
Mark 976,21
Die Gesehäftsstelle in Leipzig verausgabte für Ver-
trieb der Aufrufe, Jahrbüeher an Fondszeichner, Büeher-
material an Untersuchungsrichter, Staatsanwälte, Gerichte,
Bibliotheken, 600 Eingaben an Strafkammervorsitzende
und Staatsanwälte, Satz, Druckpapier, Versandt, Porto etc.
Mark 850,99
Ueberwies femer der Geschäftsstelle Char-
lottenburg am 20. Januar 1900 .... 50,00
, 5. März 1900 .... 55,50
Mark 956,49
Mithin Ueberschuss der Geschäftsstelle
in Leipzig Mark 19,72
- 616 -
Oe8aniint>Eumahme Charlottenburg 1806,00
, „ Ijeipzig 976^1
Mark 2782,21
Gesammt-Ausgabe Charlottenburg • 1672,00
„ Leipzig ' . 956,49
Mark 2628,49
Überhaupt Einnahme Mk. 2782,21
, Ausgabe „ 2628,49
Gesammt^Überschuss am 31. Dezbr. 1900 Mark 154,72
Charlottenburg^ den 31. Dezember 1900.
Dr. med. H. Hirsehfeld.
Leipzig, den 31. Dezember 1900.
Max Spohp.
Dmok von G. Beichardt, Groitzsch.