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Full text of "Jean Lemaire; der erste humanistische Dichter Frankreichs"

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PROFESSOR  J.S.  WILL 


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JEAN  LEMAIRE 

DER  ERSTE  HUMANISTISCHE  DICHTER 
ERAXKREICHS 


PH.  AUG.  BECKER 


Las,  que  peu  de  gens  sont  qu'on 
sache  avoir  vescu. 

Lemaire. 


STRASSBURG 
VERLAG   VON   KARL   J.   TRÜBNER 

1893 


768461 


JEAN  LEMAIRE 

DER  ERSTE  HUMANISTISCHE  DICHTER 
FRANKREICHS 

VON 

PH.  AUG.  BECKER 


Las,  QlTE  PEU  ]JE  GENS  SONT  ,QÜ'ON 

sache  avoik  vescu. 

Lemaire. 


STRASSBURG 

VERLAG    VON   KARL   J.   TRÜRNER 

1893 


Druck,  d.  „Strassb.  Neuesten  Nachrichten",  vorm.  H.  I^.  Kaysei 


Meinem  verehrten  Lehrer, 

Herrn  Professor  Dr.  Gustav  Gröber, 


in  Dankbarkeit 


zugeeignet. 


Wer  die  Geschichte  der  fransösischen  Kultur- 
entwickelung im  XVI.  Jahrhundert  verfolgt  hat 
oder  erforscht,  der  wird  bekemten ,  dass  die 
Regier ungsscit  Karls  des  VIII.  und  Ludwigs 
des  XII.  dett  Anbruch  eines  neuen  Welttages 
bedeutet:  was  in  jenen  Stunden  des  Dämtnerns 
und  Tastens  begonnen  worden  ist,  das  ist  das 
Tageivcrk ,  an  dem  die  folgenden  Geschlechter 
unter  Jubel  oder  Seufzen  gearbeitet,  das  ist  die 
weltgeschichtlicJic  Aufgabe,  deren  Lösung  sie 
gefördert,  gefunden,  erschwert  oder  aufgegeben 
haben.  Das  Land  hat  sich  erholt  von  den  hundert- 
jciJirigcn  Kämpfen  mit  England;  die  Einheit  der 
königlichen  Selbstherrschaft  ist  abgeschlossen; 
Italien  wird  der  Tummelplatz;  der  europäischen 
Wajfen  und  das  System  der  Koalitionen  ge- 
staltet die  internasionalen  Besiehungen  um; 
Burgund  verschwindet  aus  der  Geschichte;  in 
den  Vordergrund  tritt  der  weltbewegende  Gegen- 
sats  von  Frankreich  u)id  dem  Hause  Oesterreicli. 
Die  Zeit  der  grossen  Kirchenspaltungen  ist  vor- 
über, es  erhebt  sich  aber  von  anderer  Seite  ein 


—    VI    — 

AnsHtrm  gegen  das  Papsttum ,  der  mit  der 
Reformation  eine  unerwartete  Bedeutung  be- 
kommen soll.  Das  gesellschaftliche  Leben  ge- 
winnt durch  die  Zusammensetzung  des  Hofes 
und  die  individuelle  Ausbildung  andere  Formen. 
Die  Kunst  seitigt  neue  Ideale:  in  der  Baukunst 
begegnen  sich  italienische  Renaissance  mit 
nordischer  Gothik;  die  Dar  Stellung  smittel  der 
Malerei '  haben  sich  mit  dem  Oelgemälde  er- 
weitert;  in  der  Musik  haben  sich  neue  Schulen 
gebildet.  Mit  Erfindung  der  Buchdruckerkunst 
haben  sich  für  die  Litteratur  unbetretene  Bahnen 
eröffnet ,  ihr  Wirkungskreis  erstreckt  sich  über 
weitere  Gebiete,  leichtere  und  schnellere  Ver- 
breitung und  gesteigertes  Lesebedürfniss  er- 
höhen die  Anforderungen  und  versprecheti 
schönere  Erfolge.  Der  Geschmack  gestaltet  steh 
um  unter  dem  Einßuss  der  allgemeinen  geistigen 
Strömungen,  die  jedes  Individuum  mächtig  er- 
fassen; dettn  der  Einzelne  tritt  hervor  aus  der 
Enge  der  Heimat,  der  Erziehungseinflüsse ,  der 
bürgerlichen  Schranken ;  er  tritt  hinaus  in  die 
Welt ,  lernt  fremde  Menschen  und  Zustände 
kennen;  überall  findet  er  eine  Heimat:  als  Welt- 
bürger verkehrt  er  mit  Weltbürgern.  Nicht  ein 
Land  ist  seine  Lehrmutter,  ein  abgeschlossener 
Anschauungskreis  sein  Horizont,  eine  Kunst 
seine  Bethätigung.  Alle  Errungenschaften  der 
Zeit  sind  Gemeingut  und  Jeder  will  an  dem 
Gänsen  Anteil  haben.    Die  alte  Welt  durchweht 


-  vn  ~ 

das  ßewusstsci'n ,  dass  die  Zeiten  der  Barbarei 
vorüber  sind,  luid  Wissenschaft  und  Kunst  von 
den  Schlacken  befreit  in  hergestellter  Reinheit 
erstrahlen. 

Die  Wende  des  Jahrhunderts  ist  die  Zeit 
der  Vorbereitung  und  der  Aussaat,  sie  hat  auf 
die  gedeihliche  Entfaltung  der  folgenden  Jahr- 
zehnte cineti  bestinuncnden  Einßuss  ausgeübt. 
Man  kann  aber  nicht  sagen,  dass  ihr  von  Seitot 
ernster  und  gründlicher  Forschung  in  allen 
Gebieten  die  Beachtung  geschenkt  worden  ist, 
die  sie  bei  der  Wichtigkeit  der  Erscheinungen 
verdiente  und  bei  der  Fülle  des  vorhandenen 
Materials  auch  reichlich  belohnen  würde.  Das 
folgende  möchte  in  dem  Rahmen  einer  einfachen 
Lebensbeschreibung  ein  Beitrag  sein  sur  Er- 
iveiterung  unserer  Erkenntniss  jener  vielgestal- 
tigen Uebergangsepoche. 

Jean  Lemaire  ist  seiner  Zeit  ein  Bahnbrecher 
u)i(l  Vorläufer  gewesen;  er  ist  das  Bindeglied 
zwischen  der  untergehenden  burgundischen 
Dichterschule  und  der  neuerstehenden  franzö- 
sischen;  er  ist  ein  Vermittler  der  italienischen 
Litter atur  bei  den  Franzosen ;  und  zu  gleicher 
Zeit  tritt  er  uns  als  eine  eigene,  ausgeprägte 
Dichtererscheinung  entgegen:  im  Leben  wie  im 
Schaffen  und  Streben  steht  er  mitten  im  Getriebe 
der  Epoche  und  in  seiner  beschränkteren  Sphäre 
gibt  er  uns  ein  Bild  ihres  vielseitigen  Trachtens 
und  Beginnens. 


—    VIII    — 

Lemaires  Leben  ist  schon  mehrfach  sunt 
Gegenstand  der  Darstellung  gemacht  worden. 
Die  Artikel  von  La  Croix  du  Maine  und  Du 
Verdier ,  Bihliothäques  franfoises  ed.  Rigoley 
de  Juvigny  I,  522.  IV,  455  sind  sehr  dürftig. 
Im  XVIII. Jahrhundert  widmete  ihm  abbe  Sallier 
einen  Aufsats  in  deti  Mämoires  de  l'Academie 
des  Inscriptions  et  Beiles  Lettres  XIII,  593  sqq. 
(1740).  '  Daraus  schöpfte  Goujet ,  Bibliothäque 
franQoise  X,  68  sqq.  (1745);  Paquot,  Memoires 
pour  servir  ä  l'histoire  litteraire  des  Pays-Bas 
III,  1  (1745),  ergänzte  die  Bibliographie.  Wich- 
tige Beiträge  zur  Lebensbeschreibung  Lemaires 
waren  die  Briefe,  die  Leglay  in  den  Analectes 
und  Nouveaux  Analectes  historiques  (1839. 1845) 
und  Charavay  in  der  Revue  des  documents 
historiques  III  (1876)  veröffentlichten.  Das 
regere  Interesse,  das  sich  allniälig  den  früheren 
Jahrhunderten  zuwendet,  kam  auch  Lemaire 
zu  Gute.  Ch.  Fitis ,  Mdmoires  couronn^s  par 
l'Acadömie  royale  de  Belgique ,  Collection  in-8o. 
XXI,  1  sqq.  (1870),  versuchte  ihn  als  Prosa- 
schriftsteller und  Dichter  zu  würdigen.  Fr.  Thi- 
baut,  Marguerite  d'Autriche  et  Jean  Lemaire 
de  Beiges,  tMse.  Parts  1888,  entwarf  sein  Bild 
im  Rahmen  der  Zeit.  J.  Stecher,  Oeuvres  de 
Jean  Lemaire  de  Beiges.  4  vol.  Louvain  1882-92, 
mit  ausführlicher  Biographie  und  Bibliographie, 
hat  sich  ein  wesentliches  Verdienst  durch  diese 
Ausgabe  erworben.   Denn  die  alte  Ausgabe  von 


-    IX    — 

Jean  de  Tournes,  Lyon  1849,  ist  fast  nicht  mehr 
ziifiän^lich.  Im  Folgenden  führe  ich  stets  die 
neue  Ausgabe  an. 

Der  Versuch  einer  neuen  Lebensbeschreibung 
möge  sich  selber  rechtfertigen;  mein  Wunsch 
wäre,  nicht  blos  zu  beweisen^  dass  Jean  Lemaire 
ein  ehedem  klangvoller  Name  war,  dass  er  ein 
Dichter  ist,  aus  dem  sich  eine  Blumenlese 
schöner  Stellen  ausheben  lässt,  nicht  blos  dass 
er  seiner  Zeit  vorangegangen  ist  und  den  Schrift- 
stellern des  XVI.  Jahrhunderts  die  Wege  ge- 
wiesen, die  sie  gewandelt  sind:  ich  möchte  auch 
zeigen,  dass  Lemaire  eine  Persönlichkeit  vor- 
stellt, die  trotz  der  Jahrhunderte,  die  verßiessen, 
lebendig  und  anschaulich  vor  unsere  Augen 
tritt  und  unsere  Zuneigung  gewinnen  kann. 
Er  soll  nicht  umsonst  gesagt  haben  : 

Fac  et  spera. 


Inhalt. 


Seite 

]'oiu'orf III 

I.  Lemaires    Kimlhcit    und    jiii;ciul.     Erste    W'rsuche. 

Jean  Perreal 1 

II.  Peter   der   IL,    Herzosr    von    Hourbon.     Le    Temple 

d'Honneur  et  de  Vertu 15 

III.  Ludwig  von  LuxemhurfT,  Graf  von  Li^ny.  La  plainte 

du  Desire l.*S 

IV.  Margareta   von   Ocsterreich    und    Philiberl    von   Sa- 
voycn.    La  Couronne  margaritique 43 

V.  Lcs  epistrcs  de  TAmant  vcrt '>l 

VI.  Lemaire   Historiograph    des   Königs   von    Kastilien. 

Erste  Romreise.    Symphorien  Champier KL' 

\'II.  Les  Regretz  de  la  Dame  infortunce.   Reise  nach  den 
Niederlanden.  Chansons  de  Xamur,  kleinere  Gedichte 

und  historische  Arbeiten 95 

\1II.  Zweite  Romreise.    La  Legende   des   Venitiens,   Les 

Gestes  du  Sophy.    Cornelius  Agrippa IIS 

IX.  Lcs  Illustrations  de  (iaule  et  Singularitcz  de  Troye, 

erstes  Buch 134 

X.  Der  Klosterbau  in  Brou.  Alabastergruben  von  Saint- 

Lothain 14" 

XI.  La  DilTerence  des  Scismes  et  des  Concilles    ....     161 

XII.  La  Concorde  des  deux  Langaiges 174 

XIII.  Reise   nach   Tours.     Epistre    du   Roy    a   Hector   de 

Troye.    Uebertritt  in  französische  Dienste.    .'.    .    .    191 


-    XII    — 

Seite 
XIV.  Anna  von  Bretagne  und  ihr  Hof.    La  valitude  et 
convalescence  de  la  roine  und  kleinere   Gedichte. 

Clement  Marot 212 

XV.  Lcs  Illustrations  de  Gaule,  zweites  Buch      ....  222 

XVI.  Les  Illustrations  de  Gaule,  drittes  Buch 229 

XVII.  Letzte  Nachrichten  über  Lemaire  und  letzte  Ver- 
suche.   Pierre  de  Saint-Julicn •    .  24-1 

XVIII.  Les  deux  contes  de  Cupido  et  d'Atropos.   Der  ano- 
nyme Verfasser  des  dritten  Märchens 254 

XIX.  Lemaires  Wesen  und  Charakter.    Sein  Bild     .    .    .  270 

XX:  Litterargeschichtliche  Einflüsse 283 

XXI.  Lemaires  Verdienste  als  Schriftsteller 304 

XXII.  Lemaires  Sprache  und  Metrik.    Schluss 320 

Allhang.    Belege  und  Bibliographie 839 


I. 

Jean  Leinaire  wurde  um  1473  geboren,  denn 
als  er  im  Jahre  1500  die  Illustrations  de  Gaule 
zu  schreiben  begann,  war  er  nach  eigener  Angabe 
etwa  27  Jahre  alt^  Seine  Vaterstadt  Bavay 
war  ein  festes  Städtchen  der  kaiserlichen  Pfalz- 
grafschaft Hennegau  zwischen  Valenciennes  und 
Maubeuge;  sie  war  zwar  nicht,  wie  Meister 
Jakob  von  Guise  in  seiner  Chronik  erzählt,  von 
Priams  Vetter  gegründet  und  zuerst  Belgis 
genannt  worden,  wesshalb  sich  auch  unser  Dich- 
ter den  Beinamen  de  Beiges  beilegte;  immer- 
hin war  sie  eine  alte  Römerstadt,  dereinst  Kreu- 
zungspunkt von  sieben  Strassen,  noch  aus- 
gezeichnet durch  stattliche  Ueberreste  alter 
Bauten,  eines  Circus,  eines  25  Kilometer  langen 
Aquädukts,  und  Fundort  zahlreicher  Altertümer^ 
Durch  den  Nimweger  Frieden  an  Frankreich 
abgetreten,  wurde  Bavay  auf  Befehl  Ludwigs 


>  Illustrations  de  Gaule.   Oeuvres  I,  4.  cf.  Oeuvres  IV.  440. 

^  Bavais  en  Haynnau :  laquelle  a  present  n'est  qu'une  pctite 
villc  deserte  et  desemparee :  mais  les  ruines  d'icclle  monstrent 
bien  que  au  temps  passö  eile  ha  est6  de  merveilleuse  estendue. 
Illustrations  III.    Oeuvres  II,  290. 

Becker,  Jean  Lemaire.  1 


—    2    — 

des  XIV.  zerstört  und  ist  heute  nur  noch  ein 
unbedeutender  Marktflecken. 

Von  Lemaires  Eltern  ist  uns  nichts  bekannt; 
er  scheint  sich  aus  guten  aber  einfachen  Ver- 
hältnissen emporgearbeitet  zu  haben  K  Er  hatte 
mehrere  Geschwister:  ein  älterer  Bruder  fiel 
(1507  oder  1508?)  in  Geldern  als  wackerer  Reiters- 
mann im  Dienste  der  Tochter  Maximilians,  und 
überliess  dem  Dichter  die  Pflege  zweier  Neff"en, 
deren  Eltern  noch  lebten,  aber  vermutlich  zu 
unbemittelt  waren,  um  ihnen  die  erwünschte 
Erziehung  angedeihen  zu  lassend 

Einen  mehr  vermögenden  Verwanten  hatte 
unser  Dichter  an  Jean  Molinet,  dem  Historio- 
graphen    des   Hauses    Burgund^    Ursprünglich 

'  Auf  das  gehässige  Gerede  des  Hofmalers  Jean  Perreal, 
der  von  Armut  und  Lausigkeit  spricht,  gebe  ich  gar  nichts. 
Brief  von  17.  Oktober  1512.    Oeuvres  IV,  390. 

''  Lemaire  an  Margareta  (1509) :  <  du  bien  que  vous  me 
faictcs,  Madame,  j'en  faj'  participans  deux  petits  nepveux  de 
bon  esperit,  delaissez  comme  orphenins  de  mon  frere  aisn^,  leur 
oncle,  lequel  est  derrenierement  mort  bon  gentdarme  en  vostre 
Service  en  la  guerre  de  Gheldres,  sous  la  Charge  de  Monsieur 
d'Aymeries,  lesquelz  deux  jeunes  enfants  et  leurs  povres  parentz 
prieront  Dieu  toujours  pour  vostre  bonne  santö  et  prosperit6. » 
Oeuvres  IV,  394.  —  Die  Gens  d'armes  waren  besoldete  Berufs- 
soldaten seit  Einführung  stehender  Truppen  unter  Karl  dem 
Kühnen,  cf.  Guillaume,  Histoire  de  l'organisation  militaire 
sous  les  ducs  de  Bourgogne  (1848).  Möm.  cour.  p.  l'Ac.  de 
Bruxelles  XXII. 

"  «M*^  Jehan  Molinet,  mon  precepteur  et  parcnt»   Oeuvres 
IV,  522,  cf.  IV,  190.  —  In  dem  Gedichte,  das  Guillaume  Cretin  für 
Lemaires  Tcmple  d'Honneur  schrieb  (Oeuvres  IV,  188),  heisst  es: 
Do»t  Moliiict  qtti  t'advouc  ä  pareut 
Acquiert  hoittwur,  brtiyt  et  los  apparent, 
Veu  que  sous  luy  tu  as  si  bicn  appris 
Que  ton  laheur  vaut  estre  mys  ä  pris. 


—    3    - 

Musiker,  warMolinet  zur  Rhetorik  übergegangen; 
als  Schüler  und  Nachfolger  Chastcllains  war  er 
das  angesehene  Haupt  des  burgundischen  Dich- 
terkreises und  starb  1507  als  Indiziarius  und 
Kanonikus  von  Valencienncs.  Aus  der  Gleich- 
heit des  Namens  hat  man  die  Vermutung  gezogen, 
er  sei  auch  Lemaires  Pathe  gewesen.  Jedenfalls 
blieb  er  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Erziehung 
und  den  dichterischen  Beruf  seines  jungen  Ver- 
wanten.  Zum  Geistlichen  bestimmt  und  vielleicht 
auch  zum  dereinstigen  Nachfolger  ausersehen, 
wuchs  der  Knabe  vermutlich  zu  Valenciennes 
unter  der  Obhut  des  gelehrten  Historiographen 
auf.  Als  er  Margareta  von  Oesterreich  1507  auf 
ihrer  Huldigungsreise  begleitete,  erinnerte  er 
sich  mit  Rührung,  dass  er  in  früher  Jugend  in 
der  Liebfrauenkirche  zu  Valenciennes  das  Be- 
nedicamus gesungen  hatte,  und  dass  ihm  von 
dem  unlängst  verstorbenen  Bischof  von  Cam- 
bray,  Heinrich  von  Bergen,  die  geistliche  Ton- 
sur erteilt  worden  war '. 

In  den  Niederlanden  keimten  damals  die 
ersten  Triebe  humanistischer  Bildung  unter  der 
Anregung  des  weltberühmten  Rudolf  Agricola; 
derSchulunterricht  erhielt  durch  die  Bemühungen 


'  Chronique  annale :  «  Et  led.  jour  sa  grace  et  clemence 
liberalle  me  donna  une  prebende  et  chanoinie  en  l'eglise  de 
nostrc  Dame  de  la  salle  le  conte  en  Valenciennes  en  laquelle 
en  ma  prime  jeunesse  j'avoie  chantö  benedicamus. »  Oeuvres 
IV,  489.  —  «  feu  mons*"  Henry  de  Berghes,  que  Dieu  absoille,  lequel 
en  ma  jeunesse  m'avoit  conferö  l'ordre  de  tonsure  clericalle. » 
Ibid.  512.  -  Heinrich  war  Bischof  1480— löO.'. 


—    4    - 

der  Fraterherrn  einen  neuen  Aufschwung.  Frei- 
lich wurde  Lemaire  nicht  so  direkt  von  jenen 
klassischen  Einflüssen  ergriffen  wie  der  sechs 
oder  sieben  Jahre  ältere  Erasmus  von  Rotter- 
dam, den  sie  aus  der  Enge  des  Klosterlebens 
mit  dem  Triebe  der  Sehnsucht  hinauszogen'. 
Seinen  ersten  Umgang  scheinen  eher  die  Künstler 
seiner  Heimat  gebildet  zu  haben,  jene  Maler, 
Bildhauer,  Musiker,  Goldschmiede,  die  er  mit 
so  freudiger  Begeisterung  preist ;  zu  ihnen  zogen 
ihn  verwante  Naturanlagen  hin. 

Jean  Lemaire  verliess  die  Heimat,  um  an 
der  Hochschule  zu  Paris,  wo  auch  Molinet  seine 
Bildung  geholt  hatte,  seine  Studien  zu  vollenden. 
Mit  Entzücken  spricht  er  in  den  Illustrations  de 
Gaule  von  der  erhabenen  Königsstadt  am  Flusse 
der  Seine,  der  Kelten  und  Beiger  verbindet, 
dem  glücklichen  Paris,  Hauptstadt  der  Krone 
Frankreich,  Mutter  und  unübertreffliche  Lehr- 
meisterin der  Wissenschaft  für  die  ganze  Welt, 
mehr  als  je  Athen  oder  Rom.  „Von  ihr,  ruft  er 
aus,  habe  ich  die  ganze  Milch  der  Wissenschaft 
gesogen  (wie  wenig  es  auch  sei),  die  meinen 
Geist  belebt  ^"  Auch  in  Paris  regte  sich  der 
Geist  des  Humanismus  und  wurde  durch  hoch- 
verdiente Lehrer  verbreitet.    Robertus  Guagui- 


'  1591—%  war  Erasmus  SekretUr  des  ebengenannten  Bischofs, 
Heinrich  von  Bergen ;  die  beiden  jungen  Leute  scheinen  sich 
aber  nicht  kennen  gelernt  zu  haben. 

'■'  Illustr.  I,  17.  Oeuvres  I,  106.  Wie  ganz  verschieden  spricht 
Erasmus  von  Paris! 


—    5    — 

nus,  aus  der  Diozüse  Arras,  galt  als  eine  Zierde 
derUniversität :  er  war  ein  Schüler  von  Guillermus, 
Fichet,  der  die  erste  Buchdruckerei  in  der  Sor- 
bonne errichtete,  und  sein  Nachfolger  in  dem 
von  ihm  begründeten  Lehrstuhl  der  Rhetorik; 
er  zeichnete  sich  aus  als  Theologe,  Rechts- 
gelehrter, Redner,  Dichter,  Diplomat,  Geschichts- 
schreiber, und  hatte  die  grössten  Fürsten  zu 
Beschützern,  die  berühmtesten  Männer  zü  Freun- 
den '.  Neben  ihm  las  der  sprachgewante  neu- 
lateinische Dichter  Faustus  Andrelinus  aus  Forli 
seit  1489  Poetik  und  Rhetorik  und  entzückte 
seine  Zuhörer  durch  seine  Rednergabe.  Die 
Zeit  und  die  Dauer  von  Lemaires  Aufenthalt  in 
Paris  sind  uns  unbekannt;  wir  verlieren  seine 
Spur  um  die  Zeit  ganz  aus  den  Augen. 

Um  1498  taucht  er  in  Villefranche,  der  Haupt- 
stadt von  Beaujolais,  auf  als  geschulter  Schatz- 
beamter (clerc  de  finances)  im  Dienste  des 
Königs  und  des  Herzogs  Peter  vonBourbon '-'.  Wie 
war  der  Hennegauer  in  französische  Dienste 
getreten?  Was  hatte  ihn  an  die  Ufer  der  Saone 
geführt?  W^ir  wissen  es  nicht.  Lemaires  Bio- 
graphen nehmen  allgemein  an,  er  sei  nicht  lange 
im  Amte  verblieben,   er  habe  es  dem  Studium 


'  Lemaire  erwühnt  Gagruin  häufig:  als  Schriftsteller  und 
Geschichtsschreiber,  nie  als  seinen  Lehrer,  cf.  Temple  d'Hon- 
ncur,  Oeuvres  IV,  231.  Couronne  margaritique,  ibid.  6'J.  Gaguin 
starb  löOl. 

"  Cf.  Oeuvres  II,  253.  IV,  440.  Schatzmeister  war  Jean 
Robertet  und  nach  ihm  sein  Sohn  Fran(;ois. 


—    6    - 

zu  Liebe  aufgegeben  und  sei  Erzieher  der  Söhne 
des  Herrn  von  Saint-Julien  geworden  aufSchloss 
Balleure  im  Sprengel  von  Mäcon.  In  der  That 
nennt  Claude  von  Saint-Julien,  der  Herausgeber 
der  Coiironne  ntargaritiqiie ,  Lemaire  seinen 
lieben  Lehrer:  Dank  seiner  Anregung,  sagt  er, 
habe  er  in  jüngeren  Jahren  die  wenigen  Bücher 
gesammelt,  die  er  besitze,  und  unter  denen  er 
später  das  noch  nicht  veröffentlichte  Werk  vor- 
fand. Und  sein  Sohn  Pierre,  Dekan  von  Chälons 
und  Grossarchidiakonus  von  Mäcon,  beruft  sich 
im  2.  Buche  vom  Ursprung  der  Burgunder  auf 
einen  alten  Roman,  den  Lemaire  angeblich  auf 
Schloss  Balleure  zurückgelassen  haben  soll,  als 
er  dort  Hauslehrer  war '.  Claude  war  aber  1544 
ein  alternder  Mann,   der   das  Kriegshandwerk 

*  Widmung  der  Couronne  margaritique  an  Eleonore  von 
Oesterreich,  datiert  vom  23.  April  1544  :  «Venant  doncques  ä 
ouvrir  les  enrouiil^es  serrures  du  lieu  auquel  estoit  confusement 
ce  peu  de  livres  que  j'avois  assembl^s  en  mes  jeunes  ans,  ä  la 
suasion  d*i  feu  maistre  Jean  le  Maire  de  Beiges  mon  bon  pre- 
cepteur :  entre  autres  l'oeuvre  present  cheut  en  mes  mains.» 
Oeuvres  IV,  11.  —  «J'ay  trouvö  l'opinion  portee  par  le  precedent 
Chapitre  en  un  vieil  Roman,  que  Jean  le  Maire  de  Beiges  (luv 
estant  precepteur  de  feuz  Monsieur  de  Balleure  mon  pere,  et 
d'un  sien  frere  mon  oncle,  lorsque  tous  deux  estoient  encore 
jeunes  enfans)  avoit  laissö  en  nostre  maison  :  oü  il  seroit  encores, 
n'eust  cst6  que  le  Rev"^^  et  111™*^  Charles  Cardinal  de  Lorrayne 
estant  en  son  Abbaye  de  Clunj',  et  m'ayant  oui  parier  de  cette 
antiquitß  des  Bourgongnons,  me  pria  de  lui  communiqucr  mon 
Roman :  ce  que  je  fis  de  teile  heurc  que  Jamals  depuis  ne  Tay 
sceu  recouvrer.>  P.  de  St-Julien,  de  TOrigine  des  Bourgongnons, 
Paris  1581.  p.  566.  Es  handelt  sich  darum,'  dass  die  Burgunder 
kein  Germanenstamm  sein  sollen,  sondern  ihren  Namen  vom 
Bourg  Ogne  haben,  der  ehemals  im  Val  d'Ogne  gestanden 
hätte.  Ich  halte  P.  de  St-Julien  für  den  Erfinder  dieser  schönen 
Etymologie  und  glaube  nicht  an  jenen  alten  Roman. 


-    7    - 

mit  einem  litterarischen  Stillleben  vertauschen 
musste,  nachdem  seine  geistige  Kraft  mit  der 
Körperfrische  sehr  abgenommen  hatte.  Mithin, 
scheint  mir,  könnte  Lemaires  Thätigkeit  als 
Erzieher  auch  vor  das  Jahr  1498  gefallen  sein, 
zwischen  seinen  Aufenthalt  in  Paris  und  seine 
Anstellung  beim  Schatzamte  in  Villefranche. 
Denn  nichts  deutet  an,  dass  sein  Verhältniss 
zum  Herzog  von  Bourbon  vor  dessen  Tod  unter- 
brochen worden  wäre'. 

In  Villefranche  bekam  Lemaire  für  seine 
dichterische  Thätigkeit  eine  bedeutende  Auf- 
munterung durch  den  Besuch  des  Meisters  in 
allen  schwierigen  Reimkünsten,  Guillaume  Cre- 
tin,  dem  IVIolinet  gleich  nach  Octovien  de  Saint- 
Gelais  den  Preis  unter  den  Dichtern  Frankreichs 
zuerkennt.  Cretin,  Schatzmeister  der  heiligen 
Kapelle  zu  Vincennes  und  ordentlicher  Kaplan 
des  Königs,  stand  —  etwa  um  jene  Zeit  —  mit 
Molinet  in  poetischem  Briefverkehr;  er  besuchte 
auf  einer  zufälligen  Durchreise  dessen  jungen 
Vervvanten  und  redete  dem  Fünfundzwanzig- 
jährigen zu,  die  Feder  zu  ergreifen  und  sich 
der  schönen  Kunst  der  Rhetorik  zu  widmen '■'. 


'  Lemaire  sagt  in  der  Vorrede  des  Temple  d'Honneur, 
Oeuvres  IV,  191 :  «lesquelles  louenges  je  jadis  frequentant  sa 
maison  et  ses  pays  ouyz  mettre  en  avant  aux  pastoureaux». 
Wie  der  Verfolg  des  Gedichtes  zeigt,  meint  er  damit  den  Monat 
Mai  des  Todesjahres  des  Herzogs,  1503. 

'  Widmung  des  3.  Buches  der  lilustraiions  au  Cretin:  «je 
le  fais  present  de  la  lecture  de  ce  troisieme  livre  .  .  comme  Ä 
ccluv  . .,  qui  as  estö  la  cause  premiere,  que  je  me  suis  enhardy 


—    8    — 

Wahrscheinlich  hatte  Lemaire  diese  zufällige 
Anregung  nicht  erst  abgewartet,  um  sich  im 
Reimen  und  Abmessen  der  Verse  zu  üben;  die 
Versuchung  lag  für  einen  gut  beanlagten  Ver- 
wanten  und  Zögling  Molinets  zu  nah.  Eine  neuer- 
dings erst  an  das  Licht  gezogene  Handschrift 
gewährt  uns  einen  Einblick  in  Lemaires  geistige 
Beschäftigung  in  jener  Zeit: 

Ce  petit  livret  sotrifnaire 
De  la  main  niaistre  Regnault, 
Appartient  a  Jehan  le  maire 
Nö  du  pa'is  de  Hainault. 
De  riches  niots  et  grant  sens 
Chascun  voit  quil  n'est  pas  vuid: 
Escrit  Vau  inil  qiiatre  cens 
Qiiatre  vingts  et  dix  huit. 
So  lautet  die  Aufschrift '.    Darauf  folgt  ein  Ge- 
dicht über  die  Flüchtigkeit  des  Lebens: 

et  entremesie  de  mettre  la  main  ä  cscrire  en  ccste  nostre  languc 
Fratifoise  et  Gallicanc.  Car  (si  bien  il  souvient  ä  ta  debonnairet(5) 
passant  par  ville  Franche  en  Beaujolois,  tu  me  donnas  encou- 
ragemenl  de  mettre  la  main  ä  la  plume,  et  de  clerc  de  finances, 
que  j'estoye  pour  lors,  en  l'aage  de  vingt  et  cinq  ans  au  service 
du  Roy,  et  de  monseigneur  le  hon  Duo,  Pierre  de  Bourbon,  je 
devins  soudain  enclin  ä  l'art  oratoire,  au  moyen  de  la  tienne 
persuasion  (ce  que  je  creuz  de  leger  h  cause  de  l'estimation  que 
j'avoye  de  ta  doctrine  et  vertu  .  .  .)»•  Oeuvres  II,  255.  —  Der 
Briefwechsel  zwischen  Molinet  und  Cretin  (Po^sies  de  G.  Cr6tin, 
Paris  1723,  p.  '_'()7)  ist  vor  S.  Gelais  Tod  (1502)  geschrieben.  Cretin 
war  noch  jung  und  hatte  noch  nicht  viel  geleistet.  Genau  be- 
trachtet ist  eher  Cretin  ein  Schüler  Lemaires  zu  nennen  als 
umgekehrt. 

'  Bibliothöque  nationale,  nouv.  acquisit.  fr.  4061.  —  76  Per- 
gamentblatter kl.  4'.  Die  Hs.  enthält  einige  französische  Verse 
von  Chastellain,  Molinet  und  Lemaire,  lateinische  Citate,  das 


Notre  caige  est  hrief  ainsi  comme  des  ßeurs 
Dont  les  couleiirs  relitisent  peu  d'espasse, 
Le  temps  est  court  et  tout  remplis  de  pleurs 
Et  de  douleurs,  qiii  tout  voit  et  cotnpasse. 
Joye  se  passe,  on  s'csbat,  on  solasse 
Et  eut relasse  tin  peu  de  intel  begnin 
Avec  l'anier  du  monde  et  le  venin. 

'Und  weil  Alles  verwelkt,  so  geben  wir  die 
weltlichen  Vergnügungen  aut  und  pflanzen  in 
unserem  Herzen  nur  drei  Blumen,  drei  pensees, 
Symbole  der  Hoffnung,  des  Glaubens  und  der 
Liebe.'  Man  sieht  am  künstlichen  Bau  der  Strophe 
und  der  weitausgesponnenen  moralischen  Deu- 
tung, dass  der  jugendliche  Dichter  formell  unter 
dem  Banne  seines  Lehrmeisters  Molinet  und 
dessen  Vorgänger  steht;  aber  diesen  poetischen 
Erstling  zeichnet  bereits  ein  eigener  lyrischer 
Schwung  aus,  in  dem  wir  eine  persönliche  An- 
lage unseres  Dichters  und  eine  schöne  Verheis- 
sung  für  die  Zukunft  begrüssen^  Noch  deut- 
licher trägt  ein  anderes  Gedicht  das  Gepräge 
der  Rhetorikerschulen :  es  ist  ein  Mariengebet, 
durch  das  sich  wie  ein  roter  Faden,  senkrecht 


Hohelied  und  eine  kurze  sclbsbiofrraphische  Aufzeichnung.  Cf. 
Anhang  I.  —  Maistre  Rcgnault  ist  wohl  der  Verfertiger  des 
Pergamentheftes.  —  Obige  Achtzeile,  wenn  sie  von  Lemaire 
ist,  enihUlt  die  einzigen  Siebensilber,  die  er  geschrieben  hat, 
der  letzte  Vers  hat  nur  sechs  Silben.  Die  Reime  sind  einfach 
gekreuzt. 

»  Oeuvres  IV,  335.  Es  sind  10  siebenzeilige  Zchnsilber- 
strophen:  a(a)ba(a)b(b)b(b)cc.  Der  Reim  wechselt  von  Strophe 
zu  Strophe  ohne  Beachtung  des  Geschlechts. 


-    10    - 

herunter,  kreuzweise,  in  symmetrischen  Zick- 
zacklinien die  Silben  des  Salve  regina  ziehen  ^ ; 
der  Inhalt  des  Gedichts  hat  unter  der  Schwierig- 
keit der  Form  sehr  gelitten ;  es  atmet  im  übrigen 
zarteä  Gefühl  und  kindliche  Frömmigkeit.  Le- 
maire  bittet  die  Jungfrau  um  die  Gnade,  dass 
sein  bischen  Wissen  ihr  zu  Lob  und  Ruhm  ge- 
reiche. 

Je  ne  quiers  pas  par  £?spess^  d'envie 
Oh  par  orgiieü  qiii  corronipt  nostre  vie 
Surpasser  tous  en  science  abstrsictive, 
Mais  seulleinent  coinnte  ysope  ou  ^aAvie 
Vous  rendre  oudeur  en  ceste  vie  actire. 

Das  ist  die  Bitte,  mit  der  Lemaire  seiner  lang- 
jährigen Schriftstellerlaufbahn  entgegengeht; 
bescheiden  verzichtet  er  auf  den  Stolz  höheren 
Wissens  und  will  sich  fromm  ergeben  den 
Pflichten  des  thätigen  Lebens  fügen-'. 

Neben  diesen  französischen  Versen  enthält 
die  Handschrift  auch  lateinische,  welche  Lemaire 


'  Das  Salve  regiua  steht  in  jedem  Handbuch  der  Liturgik  ; 
in  der  dritten  Strophe  sind  die  Worte:  ad  te  clatnamus  exules 
/ilii  Eve,  von  rechts  nach  links  zu  lesen. 

2  Oeuvres  IV,  326.  Das  Gedicht  steht  in  der  Handschrift 
hinter  einem  Serventots  von  Jean  Molinet,  der  an  den  Prince 
du  Puy  gerichtet  ist.  Daraus  dürfen  wir  nicht  gleich  den  Schluss 
ziehen,  dass  auch  Lemaircs  Oyaison  in  Valcnciennes  verfasst 
und  den  Preisrichtern  des  Puy  vorgelegt  worden  ist.  —  Es  zählt 
das  Gedicht  10  Strophen  und  Envoi  in  zehnsilbigen  Versen;  die 
Zahl  der  Verse  ist  ungleich:  Str.  1— ö  sind  elfzeilig,  1.  2.  5.  6  — 
aabaabccdcd,  3.  4  =  abaabccdccd.  Str.  7.  8  sind  zwölfzeilig: 
aabaabccdccd.  Str.  9.  10  vierzehnzeilig:  aabaaabccdcccd;  der 
Schluss  ist  fünfzeilig:  aabab.  Der  Reim  ist  vorwiegend  weiblich. 


-  11  — 

aus  Ovid,  Virgil,  Seneca  und  der  Parthenice  des 
Johannes  Baptista  Mantuanus  ausgelesen  hat. 
Fast  will  es  scheinen,  als  ob  die  Neigung  des 
Jünglings  zuerst  zwischen  französischer  und 
lateinischer  Poesie  geschwankt  hätte  und  wir 
es  dem  Besuche  Cretins  verdankten,  dass  er 
sich  entschlossen  der  Pflege  der  französischen 
Dichtkunst  zuwendete  *. 

Andauernde  Anregung  musste  der  junge 
Finanzbeamte  in  seiner  neuen  Heimat  durch  die 
unmittelbare  Nähe  von  Lyon  erhalten,  das  nur 
fünf  Stunden  von  Villefranche  entfernt  ist.  Um 
die  Wende  des  15.  Jahrhunderts  nahm  Lyon 
einen  Anlauf,  als  wollte  es  zum  geistigen  Mittel- 
punkt Frankreichs  w'erden.  Hier  machte  sich 
zuerst  der  Einfluss  des  humanistischen  Italiens 
geltend:  Lyon  vermittelte  den  Verkehr  mit  den 
italienischen  Städten;  eine  ansehnliche  italieni- 
sche Colonie,politische  Flüchtlinge  und  Geschäfts- 
leute hatten  sich  im  Verlauf  des  Jahrhunderts 
hier  angesiedelt  und  lehrten  durch  ihr  Beispiel, 
wie  sich  Handel  und  Gewerbthätigkeit  mit  Adel 
der  Geburt,  Feinheit  der  Sitten,  litterarischer 
und  künstlerischer  Bildung  vereinen  lassen  ^  Die 
Buchdruckerkunst  fand    frühzeitig  eine  Pflanz- 

'  Cf.  p.  7.  Anm.  2.  —  Von  Lemaire  selbst  sind  vielleicht 
zwei  Gebete  an  die  Jungfrau.  Das  ganze  Heft  legt  Zeugniss  ab 
von  seiner  Frömmigkeit  und  seiner  Verehrung  für  die  Gnaden- 
mutter, und  bekundet  zugleich  sein  dichterisches  Trachten  und 
eine  gewisse  zärtliche  GemUtsanlagc,  die  sich  in  der  Auswahl 
der  weichen,  einschmeichelnden  Dichterstellen  offenbart. 

^  Cf.  Christie,  Etienne  Dolet. 


12 


Stätte  in  Lyon  und  erreichte  bald  eine  bewun- 
dernswerte Vollkommenheit.  Es  blühten  Kunst 
und  Wissenschaft.  Und  vollends  seitdem  die 
italienischen  Feldzüge  den  König  und  den  Hof 
zu  wiederholtem  und  längerem  Aufenthalt  in  der 
Rhonestadt  nötigten  und  immer  wieder  Anlass 
zu  feierlichen  Einzügen  und  grossartigen  Fest- 
lichkeiten gaben,  strömte  die  Blüte  des  fran- 
zösischen Adels,  strömten  Fremde,  Vertreter 
auswärtiger  Mächte,  Gelehrte,  Künstler  zusam- 
men, und  Mancher  Hess  sich  durch  die  Reize 
der  Stadt  und  die  Anmut  ihrer  Frauen  längere 
Zeit  fesseln. 

Durch  die  Einflüsse,  welche  die  Nähe  der 
Grossstadt,  das  dort  herrschende  intellektuelle 
Leben  und  vor  allem  der  Kulturaustausch  mit 
Italien  ausübten,  scheint  die  geistige  Entwicke- 
lung  Lemaires  erst  ihre  endgültige  Bestimmung 
erhalten  zu  haben;  jetzt  erst  verspürte  er  den 
vollen  Hauch  der  Renaissance,  und  welche  tief- 
gehende und  nachhaltige  Eindrücke  er  davon 
empfangen  hat,  das  spricht  aus  allen  seinen 
Werken.  Wer  weiss,  ob  er  ohne  die  Verpflanzung 
in  das  Flussgebiet  der  Rhone  zum  ersten  huma- 
nistischen Dichter  Frankreichs,  zum  Vorläufer  der 
neuen  Dichterschule  geworden  wäre?  Von  beson- 
derem Wert  für  den  jungen  Hennegauer  war 
es  aber,  dass  er  in  Lyon  Freunde  fand,  die  sei- 
nen Bestrebungen  teilnehmend  entgegenkamen, 
und    ihn    durch    Anerkennung    und   Beifall   zu 


-    13    - 

zuversichtlichem    Schaffen     anfeuerten.    Honos  '- 
alit  artes,  omnesque  incenduntur  ad  studia  glo- 
ria :  dieser  Satz  Ciceros  ist  der  Lieblingsspruch 
unseres  Dichters  geworden. 

Zu  den  ältesten  Bekannten  Lemaires  gehört 
der  Maler  Jean  Perreal,  dessen  Lebensgeschichte 
eng  mit  der  seinen  verflochten  ist  K  Perreal  oder  ' 
Jean  de  Paris,  wie  er  häufig  genannt  wird, 
muss  mindestens  zehn  Jahre  älter  gewesen  sein 
als  Lemaire;  seit  1483  leitet  er  im  Auftrage 
der  Stadt  Lyon  die  Anordnung  zu  den  vorkom- 
menden Empfangsfeierlichkeiten.  Zur  Zeit,  wo 
Lemaire  seine  Bekanntschaft  gemacht  haben 
kann,  war  er  königlicher  Kammerdiener  und 
Hofmaler,  und  hatte  Familie.  Rührigkeit,  Unter- 
nehmungslust, Lebensfreude  und  Selbstbewusst- 
sein  sprechen  aus  den  Briefen,  die  uns  von  ihm 
erhalten  sind.  Als  Maler  muss  er  sich  durch 
Kunstfertigkeit  und  Erfindungsgabe  ausgezeich- 
net haben;  wie  es  scheint,  beschränkte  er  sich 
keineswegs  auf  ein  bestimmtes  Feld  der  Thätig- 
keit;  zu  allem  war  er  zu  brauchen,  überall 
war  er  mit  neuen  Einfällen  zur  Hand;  ich  glaube, 
eine   gewisse  Freude    am  Kabalieren   und  ein 


>  Das  Leben  des  Hofmalers  Jean  Perreal  ist  Gegenstand 
wiederholter  Darstellung  geworden,  bedarf  aber  noch  immer 
der  kritischen  Sichtung.  Ich  habe  benutzt:  Charvet,  Biographie 
d'architcctcs,  Jean  Perreal,  etc.  Lyon  1874.  Bancel,  J.  Perreal, 
Paris  1885,  stark  phantastisch,  aber  bequem  zugangliches  Material 
bietend.  AusscrdemJ.Baux,  Histoirede  l'^glisedeBrou,  Lyonl854. 
Unzugänglich  waren  mir  Dufay,  Essai  biographique  surj.  Per- 
real, 1864.    Renouvier,  J.  de  Paris  1861. 


-    14    — 

bestimmter  Grad  von  Rücksichtslosigkeit  fehlten 
ihm  auch  nicht.  Seine  Beziehungen  bei  Hofe 
machten  ihn  zu  einer  angesehenen  Persönlich- 
keit, deren  Bekanntschaft  gesucht  und  gepflegt 
wurde. 

Das  smd  die  einzigen  einigermassen  sicheren 
Angaben,  die  wir  über  Lemaires  Jugendjahre 
machen  können.  Im  übrigen  wissen  wir  nicht, 
welche  Beschäftigungen,  welche  poetische  Ver- 
suche, welche  ernstere  Studien  die  ersten  Jahre 
seines  Aufenthaltes  im  südlichen  Frankreich  aus- 
füllten, bis  ihm  der  Gedanke  zu  jenem  grossen 
Werke  aufging,  an  das  sich  sein  Schriftsteller- 
ruhm knüpfen  sollte. 

Im  Jahre  1500,  in  jener  glücklichen,  blühen- 
den Zeit  der  Herrschaft  Maximilians,  wo  die 
Wissenschaft  in  höherem  Glänze  strahlte  denn 
je  —  es  war  das  27.  Lebensjahr  unseres  Dichters 
—  forderte  Merkur  ihn  auf,  die  hohen  Thaten 
der  Troer  und  die  Ankunft  der  Herrscherge- 
schlechter Europas,  die  kein  französischer  Schrift- 
steller bis  dahin  ohne  Irrtümer  erzählt  hatte,  in 
ihrer  reinen  Wahrheit  herzustellen.  Denn  es 
schien  dem  Gotte  bedauerlich,  dass  alle  moder- 
nen Malereien  und  Stickereien,  wie  kostbar  auch 
die  Stoffe  sein  mochten,  wenn  sie  nach  jenen 
verfälschten  Geschichten  angefertigt  wurden,  in 
den  Augen  der  Gelehrten  und  Kenner  viel  von 
ihrem  Wert  und  Preis  einbüssten  K  Sofort  fand  sich 

^  Illustrations  de  Gaule,  prologue.    Oeuvres  I,  4. 


-     15    - 

Lemaire  zu  diesem  grossen  Werke  bereit.  Es  han- 
delte sich  um  eine  recht  umfassende  Arbeit,  und  er 
ging  mit  dem  Ernste  eines  wirklichen  Geschichts- 
schreibers daran.  Bevor  er  aber  seine  Quellen- 
werke alle  zusammengetragen  und  verarbeitet 
hatte,  bevor  auch  nur  der  erste  Band  seiner 
Herrlichkeiten  Galliens  und  Sonderheiten  Trojas 
in  Druck  gehen  konnte,  sollte  er  im  äusseren 
Leben  manchen  Wechsel  erfahren*. 

II. 

Am  10.  Oktober  1503  wurde  Herzog  Peter  von 
Bourbon,  der  zweite  des  Namens,  im  64.  Lebens- 
jahre zu  Clun}'  durch  ein  schweres  Fieber  weg- 
gerafft. In  ihm  erlosch  der  Mannesstamm  der 
ersten  Linie  des  königlichen  Hauses  Bourbon, 
der  seit  dem  Tode  seines  älteren  Bruders  (1488) 
auf  ihm  beruhte.  Er  war  der  einzige  Prinz  von 
Geblüt  gewesen,  den  der  argwöhnische  Ludwig 
der  XI.  bis  zuletzt  liebte  und  um  sich  behielt, 
weil  er  in  ihm  eine  ruhige,  gutmütige  und  willige 
Natur  ohne  Trug  und  Falsch  erkannt  hatte; 
darum  gab  er  ihm  auch  seine  ältere  Tochter 
Anna  zur  Frau  und  empfahl  ihm,  als  er  starb, 
seinen  vierzehnjährigen  Sohn  Karl  den  VIII.  an. 
Anna  von  Frankreich  war  eine  begabte  Frau; 
sie  hatte  den  energischen  Sinn  ihres  Vaters  und 
seine  hohe  politische  Fähigkeit  geerbt ;  durch  die 
Umsicht  und  Thatkraft,  mit  der  sie  während  der 


'  Siehe  Anhang  II. 


16 


Jugendjahre  ihres  Bruders  das  Reich  verwaltete 
und  die  Politik  Ludwigs  des  XL  fortführte,  hat 
sie  einen  ehrenvollen  Namen  in  der  Geschichte 
erworben.  Als  Lemaire  in  die  Dienste  des  Herzogs 
trat,  hatte  dieser  sich  bereits  vom  Staatsleben 
zurückgezogen.  Bei  seinem  Regierungsantritt 
hatte  Ludwig  der  XII.  das  herzogliche  Paar  mit 
Hintansetzung  aller  früheren  Zwistigkeiten  auf 
das  freundlichste  an  sich  gezogen  und  ihm  die 
Erblichkeit  seiner  ausgedehnten  Besitzungen, 
welche  die  Herzogtümer  Bourbonnais  und 
Auvergne,  die  Grafschaften  Clermont-en-Beau- 
vaisis,  Forez,  Gien,  la  Marche,  die  Herrschaften 
Beaujolais  u.  s.  w.  umfassten,  auch  in  weiblicher 
Linie  zugesichert;  auf  ihre  Verwaltung  hatte 
Peter  von  Bourbon  seine  letzten  Lebensjahre 
verwendet. 

Wenn  Jean  Lemaire  im  Jahre  1503  noch  im 
Dienste  des  Herzogs  stand,  wie  ich  glaube,  so 
musste  er  es  als  Pflicht  empfinden,  das  Trauer- 
ereigniss,  das  die  Familie  traf,  als  Dichter  zu 
beklagen  und  zu  verewigen.  So  war  die  Gepflo- 
genheit aller  in  persönlichem  Verhältnisse  ste- 
henden Schriftsteller;  so  hatte  Jean  Molinet, 
sein  Lehrer  und  Verwanter,  den  Tod  des  Her- 
zogs Philipp  des  Guten  von  Burgund  (1467)  mit 
dem  Throsne  d'honneur ,  den  seines  Sohnes 
(1477)  mit  dem  Trespas  du  Duc  Charles,  sur- 
nommä  le  Hardi  ou  le  Tenieraire ,  feierlich 
begangen,  indem  er  in  der  Art  Alain  Chartiers 


-    17    - 

Verse  mit  Prosa  zu  einem  allegorischen  Gedichte 
vereinigte. 

Lemaire  —  und*  auch  darin  folgt  er  dem 
Beispiel  Molinets  —  lügt  zu  deni  allegori- 
schen Element  noch  ein  bukolisches :  April 
entweicht,  der  liebliche  Mai  herrscht  in  den 
Landen;  Tityrus  ruft  die  Schäfer  Amyntas, 
Mopsus,  Argus,  Meliböus  und  die  Schäfermäd- 
chen Aegle  und  Galathea,  welche  die  Stamm- 
lande des  Herzogs  und  der  Herzogin  von  Bour- 
bon  vorstellen,  zusammen  und  stimmt  mit  ihnen 
abwechselnd  einen  Gesang  an,  in  dem  sie  die 
Reize  des  Frühlings,  die  Sicherheit  ihres  Daseins 
in  Pans  Garten,  das  Wohlwollen  und  die  Mild- 
ihätigkeit  ihrer  Herrschaft  preisen;  die  Götter 
des  Feldes  und  des  Waldes  werden  zu  ihren 
Spielen  herbeigerufen,  auch  der  gelehrten  Sänger 
bei  den  oberen  Göttern  wird  gedacht.  Dazwischen 
klingt  die  Klage  um  den  hellen  Titan,  der  einst 
diesen  Weltteil  erleuchtete  und  Auroras  Bruder 
war,  und  tröstend  weisen  die  Schäfer  auf  seine 
himmlische  Glückseligkeit  hin\  Wiederum  besingt 
einer  das  eheliche  Glück  Pans  und  Auroras  und 
die  liebliche  Blume,  die  verheissungsvoU  ihnen 
spriesst*.  Und  mit  Segnungen  schliesst  der  Hirten 
Gesang. 


>  Karl  der  VIII.  von  Frankreich  war  am  7.  April  1497 
pestorben. 

^  Susanna  von  Bourbon  war  1491  geboren;  1505  vermählte 
sie  sich  mit  Karl  von  Bourbon -Montpensier,  dem  bekannten 
Konnetabel;  sie  starb  1521. 

Becker,  Jean  Lemaire.  2 


-    18    - 

Aber  während  sie   sich  in  Spiel  und  Lied 
ergehen,  sinnen  Mars  und  Neptun  Unheil  und 
verschwören  sich  gegen  Sol  und  Jupiter ;  vier- 
zehn  Tage,    bevor   ihre   geplante  Vereinigung 
stattfindet,  ist  der  ganze  Himmel  trüb  und  ver- 
hängt,  die  Winde  heulen,  die  ganze  Natur  ist 
in  Aufruhr.    „Gott,   seufzt  Tityrus,   was  sollen 
diese  schlimmen  Wahrzeichen  bedeuten?    Wir 
haben  Sterne  fallen  sehen,  Planeten  schimmern, 
Eulen  herumfliegen;  die  ganze  Nacht  haben  die 
Hunde   geheult    und    die    Stiere    gebrüllt,    die 
Raben  haben  Unheil  geächzt,  die  Hähne  ausser 
der  Zeit  geschrien.   Di«^  Wölfe,  die  unsere  Hür- 
den bedrohen,   werden  so  frech,   dass  wir  sie 
nächstens  von  uns  selbst  nicht  abwehren  können." 
Während  die  Hirten  so  jammern  und  beten  und 
schlimmes   befürchten,    verlässt  die  Sonne  die 
Wage  und  tritt  in  das  Zeichen  des  Skorpions 
(Oktober).  Aurora  erschien  ganz  blass  an  jenem 
Tage,    ein    schwarzer,    verderbenschwangerer 
Nebel  wälzt  sich  von  Norden  heran;   Meliböus, 
der  scharfe  Wacht  hält,  ruft  mit  schriller  Stimme 
die  übrigen  Hirten  herbei,   sie  eilen  und  beten 
in  ihrem  Herzen,  Gott  möge  Pan  beschützen: 
es  war  zu  spät,   die  Schatten  des  Todes  haben 
den  guten  Herzog  umfangen,  es  bleibt  Aurora 
und  den  Hirten  nichts  übrig  als  zu  klagen  und 
den  Verewigten  seiner  letzten  Ruhestätte  anzu- 
befehlen.   Gross  ist  der  Jammer  und  die  Klage, 
die  ganze  Natur  nimmt  daran  Teil,  bis  zuletzt 


—    19    — 

Aurora,  vor  Leid  und  Trauer  erschöpft,  auf  ihr 
Lager  sinkt  und  entschlummert. 

Da  scheint  es  ihr,  als  riefe  eine  Stimme  und 
fordere  sie  auf  zu  kommen  und  die  Verklärung 
des  Gatten  zu  schauen.  Sofort  sieht  sie  sich  mit 
ihrer  Tochter  und  den  Hirten  auf  die  Kuppe 
eines  hohen  Berges  versetzt,  der  mit  blühendem 
Gesträuch  und  duftenden  Kräutern  bewachsen 
ist.  Inmitten  der  weiten  Fläche  erhebt  sich  in 
reichem  Schmucke  ein  antiker  Tempel.  In  der 
Vorhalle  stehen  sechs  neuerrichtete  Standbilder, 
welche  sich  in  sechs  Sprüchen  als  Prudence, 
Justice,  Esperance,  Raison,  Religion,  Equite  zu 
erkennen  geben,  sechs  Tugenden,  deren  Initialen 
den  Namen  des  Herzogs  bilden.  Während  Aurora 
sich  in  Ehrfurcht  verbeugt,  erscheint  ein  Jüng- 
ling, geflügelt  wie  Merkur;  auf  dem  Saume 
seines  Kleides  steht  gestickt :  Entendement,  Bei- 
stand und  Wächter  der  Tugenden :  „W^eine  nicht, 
spricht  er  zur  Fürstin,  über  den  Hingang  deines 
Gatten;  denn  die  sind  nicht  zu  beweinen,  deren 
edle  Thaten  im  Angedenken  der  Menschen  fort- 
leben. Denke  vielmehr  daran,  ihm  ein  Denkmal 
zu  setzen,  das  sein  Gedächtniss  auf  ewig  ehrt, 
und  als  dessen  Muster  ich  dir  diesen  Tempel 
zeigen  will.  Dieser  Tempel  hier  ist  zwei  gött- 
lichen Wesenheiten  geweiht:  der  Ehre  und  der 
Tugend;  er  ist  unvergänglich.  In  der  Vorhalle 
siehst  du  die  Bilder  der  Eigenschaften,  die  den 
Verstorbenen  hierher  geführt  haben;   nicht  die 


—    20    - 

einzigen,  die  ihn  zierten,  denn  die  Tugenden 
sind  von  einander  untrennbar."  —  Und  nun 
beschreibt  Entendement,  wie  der  Selige  beim 
Eintritt  in  den  Tempel  von  seinen  nächsten  Ver- 
wanten  empfangen  und  darin  von  seinen  Ahnen 
bis  zu  Ludwig  dem  Heiligen  begrüsst  wurde, 
wie  ihn  ein  reicher  Sessel  zu  den  Füssen  der 
Ehre  und  der  Tugend  erwartete,  wie  ein  Wett- 
streit begann  zwischen  den  hervorragendsten 
Fürsten  und  den  berühmtesten  Rednern,  Ge- 
schichtsschreibern und  Dichtern  alter  und  neuer 
Zeit  über  die  Eigenschaften  des  neu  Angekom- 
menen \  und  wie  ihm  schliesslich  die  Beinamen 
des  Guten,  Glücklichen  und  Friedfertigen  zuer- 
kannt wurden,  glücklich  besonders  im  Hinblick 
auf  seine  keusche  Gemahlin. 

Schliesslich  lässt  Entendement  Aurora  und 
ihre  Tochter  in  das  Innere  des  Tempels  ein; 
die  Hirten,  die  nicht  folgen  dürfen,  ritzen  mit 
ihren  Messern  einfache  Grabsprüche  in  die 
Mauern  des  Tempels.  Unterdessen  geht  Enten- 
dement hin  zu  den  königlichen  und  fürstlichen 
Verwanten  des  Herzogs  von  Bourbon,  um  auch 
sie  zu  trösten,  und  nachdem  er  dies  vollbracht, 


*  Die  Schriftsteller,  welche  Lemaire  im  Tempel  lindet,  sind 
zunächst  die  Alten:  Josephus,  Titus  Livius,  Cicero,  Herodot, 
Homer,  Virgil,  Seneca,  Sueton,  Valerius,  Plinius,  Orosius,  Justinus, 
und  dazu  Vincentius  von  Beauvais  (l'hystorial) ;  dann  die  Italiener : 
Dante,  Petrarca,  Bocacio,  schliesslich  die  Franzosen:  Froissart, 
Allain  Charretier,  Symon  Greban.  George  Chastelain,  Meschinot, 
Martin  Franc,  Jehan  Robcrtet,  Gaguin,  Messire  Octovien  de 
Saint-Gelais,  der  zuletzt  verstorbene. 


-    21    - 

setzt  er  sich  auf  die  Ruinen  des  Augustustempels 
bei  Lyon,  wo  er  von  der  Höhe  die  Länder  des 
Verstorbenen  überschaut,  und  fordert  in  einem 
Gedichte  die  jüngeren  Milnner,  Angouleme  usw., 
auf,  ihm  in  seinen  Tugenden  nachzustreben. 

Dies  ist  der  Temple  d'Honneiir  et  de  Vertu  *, 
ein  Werk,  das  beweist,  wie  Abb6  Sallier  sagt, 
dass  Jean  Lemaire  gar  nicht  ungeschickt  war 
im  Entwurf  seiner  Pläne  und  in  der  Anordnung 
der  einzelnen  Teile  seines  Stoffes. 

Im  ersten  Teil,  bei  den  Gesängen  der  Hir- 
ten, ist  es  ihm  das  eine  und  andere  Mal  gelungen, 
einen  recht  anmutigen  Ton  anzuschlagen  und 
zu  treffen;  man  darf  z.  B.  das  ganze  zweite 
Liedchen  anführen,  welches  er  der  Schäferin 
Galathea  in  den  Mund  legt: 

Galathee,  ber giere  belle, 

Cy  endroit  Auvergne  s'appelle. 

Arbres  feuilhts,  revestus  de  verdure, 
Qtiant  l'yver  diire,  on  vous  voit  desolez 
Mais  inaintenant  aucun  de  vous  n'endure 
Nulle  laidure,  ains  vous  donne  nature 
Riche  paincture  et  flourons  ä  tous  les, 
Ne  vous  bninlcs,  ne  trenibles,  ne  crousles, 
Soyes  mesles  de  j'oye  et  flourissance : 
Zephyre  est  sus  donnant  aux  fleurs  yssance. 

Gefites  bergerettes 
Parlant  d^amourettes 

'  Oeuvres  IV,  183—242. 


-    22    - 

Dessouhs  les  coitdrettes 
Jeimes  et  tendrettes 
Cueillent  fleiirs  jolies, 
Framboises,  meurettes, 
Pommes  et  poirettes, 
Rondes  et  durettes, 
Flourons  et  ßourettes 
Sans  melancolies. 

Sur  les  preaux  de  cynople  avestus 
Et  d'oY  batus  autour  des  entellettes, 
De  sept  Couleurs  selon  les  sept  vertus 
Serons  vestus.  Et  de  joncs  non  tortus 
Droicts  et  poinctus  ferons  sept  corbillettes  : 
Violettes,  ou  nombre  des  planetes, 
Fort  honnestes  mettrons  en  rondelet 
Pour  faire  ä  Pan  ung  joly  chappelet. 

La  viendront  driades 
Et  amadriades, 
Faisans  soubs  feuillades 
Rys  et  resveillades 
Avec  autres  fees. 
La  feront  naiades 
Et  les  oreades 
Dessus  les  herbades 
Aubades,  gambades. 
De  joye  eschauffees. 

Quant  Aurora  la  princesse  des  fleurs 
Rend  les  couleurs  aux  boutonceaux  barbus, 


-    23    - 

La  iiiiit  i^'cnfuyt  avecqiies  ses  donleurs: 
Ai'nsi  fönt  pleurs,  tristesses  et  malhetirs. 
Et  sont  valctirs  cn  viguetir  sans  abus. 
Les  rays  Phebtis  rcdoublent  les  tributs 
Des  Pres  herbus  et  des  nobles  vergiers 
Qiti  sont  ä  Patt  et  ä  ses  bons  bergiers. 

Choiiettes  s'ennnyent, 
Cotilenvres  s'estnycnt, 
Crtiels  lotips  s'enftdent, 
Pastoureaux  les  hnyent 
Et  Pari  les  poursuit. 
Les  oiseletz  brnyetit, 
Les  cerfs  aux  boys  ruyent, 
Les  champs  s'enjolyetit, 
Tons  Clemens  ryent 
Quant  Aurora  luyt. 

Natürlich  kommt  es  bei  Liedern  dieser  Art 
weniger  auf  den  Inhalt  als  auf  den  Schwung 
und  den  Klang  der  Verse  an;  hier  feiert  die 
Reim-  und  Sprachgewantheit  des  Dichters  ihre 
Triumphe.  Ja,  Lemaire  freut  sich  nicht  bloss, 
die  Schwierigkeit  der  gehäuften  End-  und  Bin- 
nenreime wie  spielend  zu  überwinden,  er  ver- 
schmäht auch  die  abgeschmacktesten  Spielereien 
seiner  Lehrmeister  nicht;  wie  muss  sich  Meli- 
böus  abgeplagt  haben,  bis  er  folgende  Strophe 
herausbrachte  ? 

Pinsieurs  bergiers  sont  e/t  lacs  tnortels  telz 
Heurtes,  boutes:  que  poti  letir  dediiit  diiyt. 


-    24 

Et  leiirs  nwutons  en  maiix  fortitnes  nes, 
Venes,  vanes,  de  fers  mal  pares  res, 
Leurs  bleds  emhles,  ayans  sauf  conduit  vuyd, 
La  nuit  leiir  nuit,  la  mort  qiii  destruit  mit, 
Leur  fruit  s'en  fuit  venant  aperte  perte: 
Mais  Pan  nous  tient  en  asseurance  experte. 

Freier  bewegt  sich  Lemaire  in  dem  folgen- 
den Teile,  wo  er  einen  mehr  erzählenden  Ton 
anschlägt.  Mit  feinem  Gefühl  hat  er  sich  eine 
der  gefügigsten  metrischen  Formen  zu  eigen 
gemacht,  die  sich  dem  Ausdruck  der  ver- 
schiedensten Stimmungen  anpassen  lässt.  Es  ist 
nemlich  das  erste  Mal,  dass  ein  französischer 
Dichter  den  Italienern  die  Terzinen  entlehnt,  und 
gleich  in  seinem  ersten  Werke  beglückwünschen 
wir  den  jungen  Hennegauer  als  geschickten 
Neuerer.  Ich  greife,  um  ein  Beispiel  anzuführen, 
die  Klagen  des  Tityrus  heraus: 

O  Dien  du  ciel,  qiii  ce  inonde  regentes^ 
Qiie  vont  ensemble  ainsi  coinmurtnurant 
Les  elemens  et  les  pianettes  gentes? 

Tont  l'univers  semble  estre  conspirant 
Mesmes  en  soy.  Le  ciel  a  briin  visaige, 
Qui  or  estoit  ses  beautes  coulourant. 

S'il  est  bergier  qui  par  chanipestre  usaige, 
Ait  cognoissance  auciine  au  v  faicts  Celestes 
Je  tiens  cecy  pour  ung  dolent  presaige. 


—    25    — 

Pastciirs  auront  attaintes  et  molestcs 
Par  quclquc  gyicve  outraigcuse  Uißiiencc, 
Et  si  perdront  leiirs  j'oycs  et  Icurs  festes. 

O  Dien  puissant,  ta  hantaiue  afflnence 

Y  peilt  donner  obstacle  et  contredit: 

Mais  je  crairis  fort  la  tatit  triste  apparence. 

Le  ciieur  ine  bat,  et  riens  hon  ne  me  dit: 
J'ay  souspeQons  d'aucun  mauvais  portentes 
N'ouc  ä  nies  yeiix  tant  d'eaue  ne  sourdit. 

Nous  avons  veu  en  l'air  ßanihes  patentes, 

Estoilles  choir,  pianettes  scintiller 

Ell  deinonstrant  les  grans  ires  latentes. 

Nous  avons  veu  les  chats  huants  voler 
Autour  des  pures,  les  chiens  assavagir 
Et  toute  nuit  bien  fort  braire  et  urler. 

Aussi  avons  oui  torcaux  mugir 
Piteusement ,  les  coqz  chanter  outre  Jieiire, 
Corbeaux  crier  et  toul  mal  presagir. 

Et  qui  pis  vault  veu  avons  la  demeure 
Du  noble  Pan  en  ceste  annee  acerbe, 
Ardoir  en  feu  qui  tout  riffle  et  deveure '. 

Ha  que  je  crains  qu'ung  grief  serpent  soubs 

l'herbe 
Mussä  ne  soit,  poiir  nous  tnordre  en  aguet. 
Et  nos  plaisirs  tourner  en  dur  proverbe. 


'  Im  Verlauf  des  Jahres  war  das  Hostel  Bourbon  in  Paris 
abgebrannt,  wie  Lemaire  in  der  Vorrede  erzählt.  Oeuvres  IV,  190. 


-    26    - 

Je  voy  ä  l'oeil  qu'on  ne  pent  faire  guet 

Si  deligent  contre  les  loups  mandits 

Que  nos  moutons  n'empoignent  au  gorguet. 

Depuis  ung  peu,  ces  faiix  loups  que  je  dis, 
Sont  si  priv^s  que  tous  nos  bons  mastins 
Ont  estrangles  en  parcB  et  en  taudits. 

Et  si  plus  guiere  en  durent  les  hutins 
A  douter  fait  que  nous  niesme  Hb 

n'assaillent 
Cormne  rabis  et  faniilleux  luitins 

De  tous  costes  monstres  de  terre  saillent 
Si  tres  hideux  que  cheveux  m'en  herissent. 
Et  ä  mon  cueur  frayeur  et  crainte  baillent. 

Der  letzte  Teil  des  Werkes  ist  ein  geschick- 
ter, aber  nicht  mehr  neuer  Kunstgriff,  um  alle 
hohen  Verwanten,  lebende  und  tote,  und  die 
Reihe  der  Ahnen  um  den  Sarg  des  Verewigten 
zu  vereinen,  und  um  sein  Lob  auszusprechen. 
Dieser  Abschnitt  mochte  für  die  Zeitgenossen 
der  wichtigste  sein,  auf  ihn  spitzt  das  Ganze 
sich  zu ;  litterarisch  ist  er  notwendigerweise  der 
unbedeutendste.  Der  Leser  weiss  ebensowenig 
wie  die  handelnden  Personen,  ob  er  vor  einer 
plastischen  Erscheinung  steht,  oder  ob  er  es 
mit  einem  Spiele  des  allegorisierenden  Ver- 
standes zu  thun  hat.  Trug  der  Dichter  künst- 
lerische Absichten  in  sich,  so  werden  sie  gelähmt 
durch  die  phantasielose,vernunf  tgemässe  Sprache, 


■welche  die  pedantisch  deduktive  Verfahrungs- 
weise  noch  nicht  verlernt  hat  und  sich  nur 
künstlich  zu  rhetorischem  Pathos  aufbauscht. 
Eines  wollen  wir  aber  zum  Lobe  des  Dichters 
hervorheben:  er  hat  es  verstanden,  dem  ganzen 
Werke  einen  unpersönlichen  Charakter  zu  ver- 
leihen ;  er  als  Verfasser  tritt  in  den  Hintergrund ; 
wir  wohnen  dem  Spiele  und  Gesang  der  Hirten 
bei,  wir  nehmen  Teil  an  ihren  Sorgen  und  an 
ihrer  Trauer,  wir  folgen  der  Herzogin  und  der 
Schaar  ihrer  treuen  Begleiter  zum  erhabenen 
Tempel;  überall  ist  der  Dichter  bestrebt,  anschau- 
lich und  objektiv  zu  sein.  Wir  dürfen  daher 
unser  Urteil  über  den  Temple  d'Honneur  et  de 
Vertu  in  dem  einen  Worte  zusammenfassen, 
das  Lemaire  zu  seiner  Devise  gewählt  hat,  und 
dem  wir  hier  zum  ersten  Male  begegnen:  De peu 
asscs.  Der  Dichter  hat  es  verstanden,  ein  abge- 
nutztes Thema  originell  und  frisch  zu  behandeln  *. 

*  Die  7  Chansons  der  Hirten  wiederholen  siebenmal  die 
gleiche  Form:  zwei  Achtsilber  nennen  den  betreffenden  Hirten 
und  das  Land,  das  er  vorstellt.  Dann  wechseln  drei  achtzeilige 
Zehnsilberstrophen:  a(a)ba(a)a(a)b(b)b(b)cc  mit  ebensoviel  zchn- 
zeiligcn  Fünfsilberstrophen  aaaabaaaab.  Es  folgen  tvrsc  rhne, 
was  eigentümlicherweise  nicht  einmal  der  Herausgeber  gemerkt 
hat:  es  sind  247  Zehnsilber  in  82  GesUtzen  mit  ein<>m  Schlussvers. 
Der  letzte  Teil  ist  Prosa.  Eingestreut  sind:  Ein  Rondeau  der 
Stimme:  Au  bruyt  —  Zehnsilber:  abbaab-abba-.  —  Sechs 
Spruchstrophen  der  Tugenden;  Zehnsilber  mit  weiblichem  Reim, 
die  ungeraden  zwölfzeilig:  aabaabccbccb,  die  geraden  achtzeilig: 
ababahab.  —  Eine  Doppelbalade  Entendements:  sechs  durch- 
gereimte Achtsilberstrophen,  die  geraden:  ababccbcb,  die  un- 
geraden: bdbddada  mit  doppeltem  Refrain  (a,  b),  ohne  Envoi.  — 
Zum  Schluss  zwei  achtzeilige  Achtsilberstrophen  des  Verfassers: 
ababbcbc. 


28 


Wenige  Wochen  hatten  Lemaire  genügt, 
um  sein  Werk  zu  vollenden :  zur  Widmung  hatte 
er  sich  auf  Perreals  Rat  einen  Verwanten  des 
Hauses  ßourbon  ausersehen,  Ludwig  von  Luxem- 
burg, Grafen  von  Ligny,  der  selbst  schwer 
daniederlag.  Der  neue  Beschützer  sollte  die 
Klage  der  verwittweten  Herzogin  vorlegen  und 
ihr  den  Dichter  empfehlen;  Ligny  starb  aber 
am  31.  Dezember  des  gleichen  Jahres  (1503),  und 
Lemaire  musste  sich  entschliessen,  das  Werk, 
das  er  mittlerweile  in  Druck  gegeben  hatte, 
selbst  der  hohen  Frau  zuzueignen  \  Um  sich  in 
die  Gunst  des  Lesers  einzuschmeicheln,  hatte 
er  sich  von  Guillaume  Cretin  ein  empfehlendes 
Gedicht  schreiben  lassen.  Mit  diesen  Zuthaten 
erschien  der  Temple  d'Honneur  in  den  ersten 
Monaten  des  Jahres  1504. 

III. 

Die  Widmung  des  Temple  d'Honneur  et  de 
Vertu  an  den  Grafen  von  Ligny  war  nicht  ohne 
Erfolg  gewesen.  Als  Lemaire  ihm  das  Werkchen 
nur  wenige  Tage  vor  seinem  Tode  in  L3'on  über- 


'  Als  Probe  der  Geschmacklosigkeit,  zu  der  sich  die  Dichter 
iener  Zeit  hinreissen  Hessen,  um  nicht  zu  sagen  Taktlosigkeit^ 
diene  dieser  eine  Satz  der  Widmung:  «Si  sai  ge  bien  qu'il  disposoit 
vous  envoyer  ce  petit  traict^  consolatoire:  Affin  que  vous  veissiez 
vos  cris  dedans  escriptz  couleur  de  douleur  plains  de  tous  plaintz. 
Et  que  voz  soulaz  qui  sont  laz  et  v.oz  ris  qui  sont  peritz  prissent 
quelque  sourse:  Affin  que  l'honneur  de  Bourbon  bon  resplendist 
cn  triumphant,  triumphast  en  florissant  et  flourist  en  accroissant 
par  la  diuturnit^  de  tous  siedes  advenir».  —  CI.  Marot  hat  sich 
auch  noch  dergleichen  gestattet. 


-    29    - 

reichte,  nahm  er  es  freundlich  an  und  behielt 
den  Verfasser  in  seinem  persönlichen  Dienste 
unter  seinen  vertrautesten  Hausgenossen ;  er  wies 
ihm  auch  aus  eigenem  Antrieb  seinen  Wohnort 
mit  dem  entsprechenden  Gehalt  und  dem  Ver- 
sprechen der  ersten  freiwerdenden  Pfründe  in 
der  Stadt  Ligny  an,  indem  er  sagte,  der  Dichter 
bedürfe  der  Ruhe,  um  besser  arbeiten  zu  können, 
der  ewige  Lärm  bei  Hofe  sei  ihm  nur  nach- 
teilig'. Und  nun  war  der  Graf  gestorben,  und 
Lemaire,  der  die  Feder,  mit  der  er  dem  Herzog 
von  Bourbon  ein  Totendenkmal  gesetzt  hatte» 
noch  in  der  Hand  hielt,  musste  einen  neuen 
Verlust  beklagend 

Ludwig  von  Luxemburg,  Graf  von  Ligny, 
war  einer  der  ausgezeichnetsten  Männer  seiner 
Zeit  durch  Geburt,  Schönheit,  Tapferkeit  und 
Kunstsinn.  Die  Luxcmbourg-Ligny  bildeten  eine 
jüngere  Seitenlinie  des  Hauses  Luxemburg,  aus 
dem  mehrere  Kaiser  hervorgegangen  sind,  und 
das  eben  im   Hause    Oesterreich   aufgegangen 


'  «Lequcl  (pctit  ediffice)  je  luy  presentay  peu  de  jours  avant 
son  trespas  ä  Lyon.  Si  le  receut  en  grd  .  .  .  tellement  quc  a 
ceste  occasion  . .  nonobstant  que  j'en  fussc  indigne,  il  mc  rctint 
entre  ses  plus  privez  et  sccretz  domcstiques.»  Widmung  an  Anna 
von  Bourbon.  Oeuvres  IV,  185.  —  «Fcu  monseigneur  de  Ligny, 
mon  maistrc  quc  Dieu  par  sa  grace  absoille,  de  son  propre 
mouvemcnt  avoil  assign^  mon  lieu  avec  estat  competent  et 
promesse  de  la  premicr  prebende  vacante,  en  sa  ville  de  Ligny, 
disant  que  Ic  repos  m'estoit  necessaire  pour  miculx  labourer 
et  le  bruit  continuel  de  court  contraire.»  Bittgesuch  an  Mar- 
garcta  1509.  Oeuvres  IV,  392. 

^  Oeuvres  III,  186.    Schluss  der  Plainte  du  Desirö. 


—    30    — 

war.  Ludwig  war  der  jüngste  Sohn  des  Konne- 
tabels von  Saint-Pol,  der  lange  Jahre  ein  eigenes 
politisches  Spiel  zwischen  Frankreich  und  Bur- 
gund  zu  halten  versucht  hatte,  und  den  Ludwig 
der  XL  1475  hinrichten  Hess.  Durch  seine  Mutter, 
Maria  von  Savoyen,  war  er  der  Vetter  Karls 
des  VIII.,  der  ihm  die  Hand  Eleonorens  von 
Guevara-de-Baux  und  die  Titel  eines  Prinzen 
von  Altamura  und  Herzogs  von  Andria  und 
Venusa  verschafifte.  Bei  den  italienischen  Feld- 
zügen führte  Ligny  die  kampflustige  Schaar  der 
Edelleute,  welche  die  Garde  des  Königs  bildeten, 
und  zu  denen  auch  Bayard  gehörte;  an  ihrer 
Spitze  zeichnete  er  sich  in  der  Schlacht  bei 
Fornovo  (1495)  aus,  und  bei  der  Einnahme  von 
Novarra  (1500)  gelang  es  ihm,  Ludovico  Moro 
zum  Gefangenen  zu  machen.  Ludwig  der  XII. 
ernannte  ihn  zu  seinem  Oberst-Kämmerer  und 
zum  Gouverneur  der  Picardie.  Einen  Augenblick 
schien  sich  das  gute  Verhältniss  zum  König 
trüben  zu  sollen,  doch  nur  vorübergehend  \  Ligny 
starb  in  Lyon  in  seinem  sechsunddreissigsten 
Lebensjahre  nach  längerem  Siechtum. 

'  Lemaire  spricht  eindringlich  von  der  Entfremdung  des 
Königs  durch  Lignys  Neider;  der  Vorfall  muss  in  Unteritalien 
gespielt  haben.  '('!)  fust  destourb^  par  un  faux  encombrage 
du  haut  exploit  de  Naples  se  chevir,  und  doch  verfolgte  er  nie 
in  seinem  Leben  eine  andere  Absicht,  als  dem  König  zu  dienen.' 
Oeuvres  III,  180  sq.  Vgl.  Maulde  de  la  Claviöre  zu  J.  d'Auton, 
Chroniques  de  Louis  XII.  Paris  1889.  1,7.  —  Thibaut  hat  auf 
den  gleichen  Vorfall  bezogen,  was  Lemaire  ibid.  177  von  Ludo- 
vico Sforza  sagt:  mis  en  privee  personne  et  despouille  de  son 
pompeux  arroj'. 


-    31    - 

Die  Person  und  das  Leben  des  Herrn  von 
Ligny  boten  einen  ganz  geeigneten  Stofif  zur 
dichterischen  Behandlung,  namentlich  für  einen 
begeisterten  Bewunderer  wie  Lemaire ;  die  Dicht- 
kunst war  aber  noch  nicht  so  weit  gereift,  dass 
sie  ein  solches  Thema  ohne  Umschweif  in  Angriff 
genommen  hätte.  Nicht  der  hochherzige  Ritter, 
der  leutselige  Fürst,  der  in  seiner  vollsten  Kraft 
gebrochene  Mann  wird  uns  vor  Augen  gehalten, 
sondern  die  Natur,  die  an  der  Leiche  trauert 
und  vor  Jammer  kein  Wort  finden  kann. 

Während  die  Sonne  im  Sternbilde  des  Krebses 
weilte  (d.  i.  im  Dezember),  wurde  der  Dichter 
eines  Tages  durch  die  lauten  Klagen  einer 
weinenden  Schaar  geweckt,  —  es  war  in  Lyon — ; 
da  erblickte  er  Frau  Natura  naturata  sprachlos 
in  unsäglichem  Schmerze,  neben  ihr  ihre  ver- 
trautesten Dienerinnen,  Malerei  und  Rhetorik, 
in  Tränen  zerflossen.  Nach  einander  ergreifen 
diese  das  Wort  und  fordern  ihre  Pfleglinge  auf, 
dem  Schmerze  der  Natur  mit  Hülfe  ihrer  Kunst 
Ausdruck  zu  verleihen.  Das  ist  der  einfache 
Rahmen,  in  den  Lemaire  seine  Klage  um  den 
Vermtssten  gefasst  hat  \ 

„Wer  hätte  dies  traurige  Schauspiel  voraus- 
sagen können,  ruft  die  Malerei  aus,   oder  mit 


*  La  Platnte  du  Di'sirt',  Oeuvres  III,  157—187.  Einleitung 
Uebergang  und  Schluss  sind  kurz  in  Prosa  gefasst.  Die  Rede 
der  Malerei  bildet  31  achtzeilige  Zehnsilberstrophen:  abaabbcc 
die  Rede  der  Rhetorik  34  vierzchnzeiligc  Zehnsilberstrophen 
aabaaabYYt'YYY*''  °^''-  ^Vahrung  des  Reimgeschlechts. 


-    32    - 

seiner  Prophezeihung  Glauben  gefunden?  Trost- 
loses Leid  hat  uns  betroffen  und  am  alier- 
schwersten  die  Mutter  Natur.  Seht,  ihr  edlen 
weiblichen  Herzen,  wie  sie  sich  härmt  vor 
Schmerz  und  Gram  und  vor  Verdruss,  dass  sie 
dem  herben  Verlust  nicht  bei  Zeiten  gewehrt  hat: 

Le  laitrier  verd,  le  cedre  sotnpttieiix 
Et  le  cypres  souef,  odorifere, 
Le  pin  hautain,  l'olivier  fructueux, 
Qui  par  un  vent  froid  et  impetiieux 
Est  ruä  jus  en  inort  soporifere. 
Ha,  fieve  niort  horrible  et  pestifere. 
As-tiL  osäj  Sans  respit,  sans  recoeuvre, 
Faire  tarir  un  si  noble  chef  d'oeuvre? 

Wo  war  Natur  beschättigt,  dass  sie  es  übersehen 
hat?  Ich  will  ihr  aber  keine  Vorwürfe  machen; 
Gott  hat  es  gewollt,  und  ihr  Leid  ist  so  gross, 
es  lässt  sich  nicht  mehr  steigern.  Helft  mir, 
Schwester  Rhetorik,  es  gebührend  auszudrücken. 
Ich  habe  Pinsel  und  Farben  und  reiche  Erfindungs- 
gabe, Nichts  fehlt  mir. 

Et  si  je  n'ay  Parrhase  on  Apelles, 

Dont  le  notn  bruit  par  tnemoires  anciennes, 

J'ay  des  esprits  recents  et  nouvelets, 

Plus  ennoblis  par  leiirs  beaux  pincelets 

Que  Marmion  jadis  de  Valenciennes, 

Oll  que  Fouquet,  qui  tant  eut  gloires  siennes, 

Ne  que  Poyer,  Roger,  Hugues  de  Gand, 

Ou  Joannes  qui  tant  fut  elegant. 


-    33    - 

Brsognc.:;  (foiic,  mcs  (liiiinms  modci'ftcs, 
Mes  beaiix  cftfaiis  nonrns  de  ma  nianiclle, 
Toy  Leonard,  qiii  as  graces  supernes, 
Gentil  Bellin,  dont  les  los  sont  eternes, 
Et  Penisin,  qui  si  hicn  coiileiirs  niesle: 
Et  toy,  Jean  Hay,  ta  noble  main  chomme  eile? 
Vten  voir  Natiire  avec  Jean  de  Paris 
Potir  luy  donner  ombrage  et  esperits '. 

Nehmt  aber  nicht  helle  und  fröhliche  Farben, 
reibt  nur  Farben  des  Leids,  schwarze  und  blasse, 
an.  Seht,  wie  die  Natur  dasteht,  die  Brauen 
traurig  über  die  Augen  gesenkt,  regungslos, 
die  rechte  Hand  auf  die  Brust  gelegt,  die  Lippen 
entfärbt,  den  Blick  auf  den  Toten  geheftet :  denn 
ach !  ihr  Liebling  ist  ihr  genommen  in  der  Blüte 
der  Jahre. 

1  Unter  den  verstorbenen  Meistern  nennt  Lemaire  obenan 
seinen  Landsmann  den  Miniaturmaler  Simon  Marmion  von 
Valonciennes  (t  1J89),  dem  er  eine  besondere  Verehrung  ge- 
widmet hat ;  offenbar  kannte  er  ihn  und  seine  Familie  —  Marie 
Marmionne  ist  wohl  seine  Schwester  ?  —  von  seiner  Kindheit 
her.  Es  folgen  Jean  Fouquet,  Hofmaler  Karls  des  VII.  und 
Ludwigs  des  XL,  und  Jean  Poyet,  der  1479  die  Miniaturen  des 
herrlichen  Gebetbuches  für  Anna  von  Bretagne  ausführte.  Die 
nächsten  sind  die  bekannten  HUupter  der  niederliindischen 
Schule :  Johannes  van  Eyck  (f  1445).  Regier  van  der  Weyden 
it  146^1)  und  Hugo  van  der  Goes  (f  148L').  Von  den  lebenden 
Malern  macht  Lemaire  in  erster  Linie  die  Italiener'  Leonardo 
da  Vinci  (f  löl9).  Gentile  Bellini,  der  schon  1501  gestorben  war, 
aber  sein  Bruder  Giovanni  lebte  noch,  und  Pietro  Vannucci  il 
Pcrugino  (  1524)  namhaft  —  ein  neuer  Beweis,  wie  nahe  ihm 
schon  damals  Italien  stand.  Jean  de  Paris  ist  uns  schon  hin- 
länglich bekannt ;  Jean  Haj-  scheint  Jeannet  zu  sein,  d.  i.  Jean 
Clouet,  der  spätere  Hofmaler  Franz  des  I.  Vgl.  AI.  Pinchart 
Annotations  zu  Crowe  et  Cavalcaselle,  Les  peintres  flamands 
trad.  p.  O.  Delcpierre,  t.  II,  Bruxelles  1865.  p,  CCXX— LXVIII. 

Becker,  Jean  Lemaire.  3 


-    34    — 

Fait  l'avoit  eile  en  ses  diinensions 

Grand ^  corpulent  et  de  belle  croisitre  ; 

TailU,  poiirtrait  sans  imperfections , 

Fort  et  puissant  en  toiites  actions, 

Benin,  affable  et  hardi  par  niesitrc, 

Doitx  et  hnniain,  sans  fante,  et  sans  brisiire: 

Large ,  coiirtois ,  eloquent,  prompt ,  et  sage, 

Ayant  le  coeiir  de  niesnie  le  corsage. 

Fait  et  forma  l'avoit  Natur e,  digne 

D'estre  iin  grand  Prince  au  mondain  territoire: 

De  coeur  hautain,  d'accointance  benigne. 

Bei  en  habit,  en  armes  fort  insigne, 

Aimant  honneur  et  vertu  meritoire, 

Aimi  de  tous:  c'est  chose  bien  notoire, 

Bien  conseillant  et  mieux  executant, 

Gueres  de  gens  n'ont  eu  de  graces  tant. 

Geknickt  ist  nun  die  schönste  Blume  im  Garten 
der  Natur,  vernichtet  die  Zierde  der  Edelleute. 

Peintres  prudents,  le  defunt  vous  aimoit: 
Mettes  Nature  aupres  de  luy  dolente, 
El  le  tires  ainsi  que  s'il  dormoit, 
Ou  se  les  yeux  en  veillant  ilfermoit: 
Car  point  n'est  mort  d'achoison  violente, 
Ains  est  secM  par  langueur  longue  et  lente, 
Qui  ha  niatt^  ses  beaux  niembres  inassifs. 
L'an  de  son  aage  environ  trentesix. 

Peignes  Nature  obscure,  obnubilee 
Aupres  du  corps,  miserable,  esperdue. 


-    35    - 

Coniiiii'  inipossib/c  ä  estrc  corisolce, 
Conuiie  Thiimar  par  forcc  violec: 
Comme  Venus  qui  sa  joyc  ii  pcrdiic, 
Quand  eile  vid  Ici  per  sonne  estendite 
De  son  niignon  Adonis  le  trcs  bei, 
Oll  comme  Eva  pleurant  son  fils  Abel  \ 

Pourtrayes  la,  si  voiis  scaves  entendre, 
Comme  une  tourbe  ayattt  adversit^: 
Comme  une  gent  qui  se  vent  le  ccenr  fendre 
Ponr  qnelque  grief  qiii  lest  venu  offendre, 
Ainsi  qii'on  treuve  en  maint  Heu  reciti\ 
Pouyfyayez  la  cotnme  la  grand  citd 
J/icrusalem  Machabce  plaignant, 
Ou  Rotntne  autour  du  corps  Cesar  saignant. 

Doch  nein,  lasst  ab  von  dem  Beginnen,  es  ist 
unmöglich,  den  richtigen  Ausdruck  zu  finden, 
meine  Kunst  reicht  dazu  nicht  aus." 

Verstärktes  Schhichzen  hatte  die  letzten 
Worte  der  Malerei  begleitet;  die  Natur  verharrte 
in  ihrer  betrübten  Haltung,  nur  warf  sie  der  Rhe- 
torik einen  stummen  Blick  zu,  worauf  diese  ihrer 
Schwester  unter  allgemeiner  Aufmerksamkeit 
der  Umstehenden  folgendermassen  antwortete: 
„Wenn  dem  so  ist,  liebe  Schwester,  dass  du 
das  Leid  der  Natur  nicht  schildern  und  darstellen 
kannst,  wie  soll  ich  es  thun  mit  meinen  beschei- 


'  Zwei  Strophen  vorher  heisst  es  noch: 

El  qii'oii  la  fasse  ainsi  qtt'estoit  jadis 
Audrouiacha,  qiiaiid  d'iiti  coetir  ricsoW 
Son  niary  vcit  murlry  et  affoh'. 


—    36    - 

denen  Mitteln?  Was  du  nicht  vollbringen  kannst, 
darf  ich  nicht  wagen;  wir  gehören  so  eng 
zusammen,  dass  ich  immer  fröhlich  bin,  wenn 
du  dich  freust;  wo  man  dich  hinruit,  bittet  man 
auch  mich  zu  Gaste;  wenn  du  aber  siechst,  ist 
es  mit  meinem  Leben  und  Gedeihen  aus.  Du 
bist  das  Abbild  der  Natur,  der  wahre  Spiegel, 
der  sie  uns  wiedergibt;  deine  kunstvolle  Hand 
lehrt  uns  Gegenstände  kennen,  die  unsern  Blicken 
entrückt  sind. 

Tu  es  des  Grecs  l'invention  produite, 

Et  des  Romains  l'amour  et  la  poursuite  : 

De  toutes  gens  la  richesse  et  l'avoir : 

Des  Roys  l'accueil.des  Princesses  la  siiite  : 

Des  moins  lettres  la  lecture  bien  duite ; 

Pour  recreer  les  yeux  humains  construite. 

Et  pour  aux  sens  voluptd  concevoir. 

Wenn  nun  deine  Pinsel  und  Farben  nicht  aus- 
reichen, um  den  Schmerz  der  Natur  darzustellen, 
wie  kann  ich  es  versuchen?  Kann  überhaupt  das 
Lob  den  Ruhm  hoher  Thaten  erhöhen?  Soll 
ich  die  Musen,  Nymphen,  Winde  und  ver- 
schlossenen Wasser  herbeiruien,  um  unsere 
Tränen  zu  mehren?  Das  wären  schwache  Er- 
findungen. 

Que  feray  donc  en  ces  dures  hatailles? 
Formeray  je  Lays  de  diverse  tailles? 
Chants  d' Elegie,  ou  queruleux  respons? 
Tout  nie  duiroit,  et  les  grains  et  les  pailles, 


-    37    - 

Pour  dcplorcr  ccs  fristes  furicraillcs, 
Et  pour  bldsmer  In  Moyf  et  scs  toiaillcs, 
Qiii  scai't  livrcr  de  si  tcrribles  bonts. 
Mais  je  n'ay  plus  un  Virgille  qui  plaigne 
Son  Mecenas  \  ne  Catulle  qui  daig)ie 
Gemir  la  tnort  des  petis  passerons  'K 
Maistre  Alain  dort,dontde  dueil  nion  coeursaigne, 
Qui  pour  Millet  sa  pluute  en  tristcur  baigne ', 
Grebant,  qui  pleure  uri  bon  Roy,  l'aco)upaigue*, 
Si  ne  scay  plus  desormais  qiie  ferons. 

Encore  est  hors  de  ce  mondain  fabrique 
Un  fnien  privö,  Robertet  magnißque. 

'  Anspielung:  auf  die  im  15.  Jahrhundert  entdccklcn  Elcjjia 
ad  Macccnatcm. 

•■'  CatuU,  Carm.  III. 

'  Charticrs  angebliches  Trauergedicht  über  Millet  (f  14W>) 
steht  in  der  Pariser  Hs.  Bibl.  nat.  fr.  1716  f*'.  15  v"^.  Jaques  Millet, 
der  Verfasser  des  Mystere:  Destruction  de  Troye  la  grant  1540 
(ed.  Stempel,  Marburg  1883),  ist  in  jener  Zeit  einer  der  geschütz- 
testen Schriftsteller.  Lemaire  erwähnt  ihn  abermals  in  der 
Concorde  des  deux  langagcs,  Oeuvres  III,  99.  Cretin  gedenkt 
seiner  in  der  Deploration  sur  le  trespas  d'Okcrgam;  O.  de  Saint- 
Gelays  bedauert  seinen  frühen  Tod  im  Sejour  d'Honneur.  Ct.  La 
Croix  du  Maine,  Biblioiht-que  fran^oise. 

*  In  der  Ausg.  v.  1549  steht:  Grebant  qui  pleure  d'un  bon  Roy 
la  compaigne.  So  hat  es  auch  La  Croix  du  Maine  aufgefasst;  im 
Artikel  von  Simon  Greban,  secretaire  de  M.  le  comte  du  Maine. 
Charles  d'Anjou,  und  Verfasser  des  Mystere  des  Actes  des  Apotres, 
sagt  er:  II  a  escrit  plusieurs  Elegies,  complaintcs  et  deplorations 
sur  la  mort  d'une  Koine  de  F'rance,  desquelles  fait  mention  Jean 
le  Maire  en  ses  poesies.  Epitaphes  sur  la  mort  du  Roi  de  France, 
Charles  VII,  ecrits  en  forme  d'Eglogue  ou  Pastouralle,  imprimös 
;\  Paris.  Er  kennt  also  das  angebliche  Klagelied  über  den  Tod 
einer  Königin  von  Frankreich  nur  aus  dieser  Stelle  von  Lemaire, 
wahrend  er  das  Grablied  für  Karl  den  VII.  im  Drucke  gesehen 
hat.  Bei  der  überlieferten  Fassung  des  \'erscs  fehlt  das  Verbum 
im  Satze  und  ist  die  Caesur  klingend.  Die  erste  Ausgabe  führt 
übrigens  den  Vers  an,  wie  er  oben  steht. 


-    38    - 

Qtii  inon  feu  George  en  griind  plenv  honnora  *, 
Et  Saint  Gelais  coiiloiirant  niaint  cantique, 
Pleurant  son  Roy,  plus  der  que  nul  antique, 
Les  a  stiivy-:  si  croy  que  Rhetorique 
Finableinent  avec  eux  se  inourra. 
Un  bien  y  ha,  qu'encor  nie  reste  et  diire 
Mon  Molinet  nioulant  fleur  et  verdure, 
Dont  le  haut  bruit  januiis  ne  perira, 
Et  unCretin  tout  plein  de  floiiriture, 
Que  je  conserve  en  vigueur  et  nature, 
Et  toy  Danton,  car  la  sienne  escriture, 
Et  ta  chronique  ä  tousjours  ßourira ". 

Si  ay  je  encor  quelque  autre  arny  en  regne, 
Qui  mon  beau  dos  cultive  ä  plaine  resne, 
Et  bien  y  scait  niaint  plantage  renger : 


'  Jehan  Robertet  bailli  d'Usson,  secretaire  du  roy  et  de 
monseigneur  de  Bourbon,  etc.  Seine  Complainte  de  la  mort  de 
maistre  George  Chastellain,  geschrieben  am  letzten  April  1476 
in  Tours  hat  Kervyn  de  Lettenhove  abgedruckt  in  den  Oeuvres 
de  G.  Chastellain  t.  8.  Bruxelles  1866.  p.  347  sqq.  In  einem 
Traume  sieht  der  Verfasser  Xatur,  Kunst  uud  Nacliahitiuug, 
die  um  den  Verstorbenen  klagen  und  ihn  den  berühmtesten 
Schriftstellern  des  Altertums  an  die  Seite  stellen.  Vgl.  1.  c.  t.  7. 
p.  145—86  und  Rondeaux  et  autr^s  po^sies  des  X  V^  et  XVI^  sifecles 
p.  p.  G.  Raynaud,  Paris  1889  (Soc.  des  Anc.  Textes)  p.  XXXI. 

-  O.  de  Saint-Gelais.  »Complainte  et  Epitaphe  sur  la  mort 
de  Charles  VIII»,  ein  Dialog  zwischen  dem  Dichter  und  der 
Personifikation  von  Frankreich  und  eine  Lobrede  auf  den  König, 
gedruckt  im  Vergier  d'Honneur  von  Andry  de  la  Vigne. 

3  Guillaume  Cretin  schrieb  eine  Chronik  Frankreichs  in 
Versen,  sie  ist  noch  ungedruckt.  Die  Prosachronik  von  Jean 
d' Anton,  Abt  von  Angle,  ist  von  Buchon  1839  und  von  Maulde 
la  Ciavifere,  1889  ft".  herausgegeben  worden.  Immer  noch  wird 
er  d'Auton  statt  d'Anton  genannt. 


-    39    - 

('est  im  S('COH(f  Rohertet,  qiii  lüicmie 
Toujours  dcdcii's,  et  jamais  tie  s'y  tcnnc: 
Mais  si  trcs  hicn  y  tauche  et  v  assennc, 
Qite  c'est  l'lionfieur  de  nion  riebe  vergerK 
Dottt  se  toiis  cetix  en  leiir  gloire  sommaire, 
Vivans  du  lait  des  Muses  et  grammaire, 
Daignent  icy  leur  chef  d'oeuvre  f orger, 
Et  desployer  les  hicns  de  leur  ainnaire, 
Pour  secourir  leur  huuible  Jean  le  Maire, 
Eu  lann'utaiit  nu  si  piteux  affaire, 
Je  les  supply  ue  vouloir  prolonger. 

Lc<;t  alle  Hand  an  das  Werk,  fährt  die  Rhetorik 
fort;  und  auch  ihr,  ihr  Musiker,  helft  mit  euern 
Trauerliedern;  komme  du,  Josquin,  mit  deinen 
Motetten  und  Compositionen,  und  ihr,  Agricola 
und  Hilaire,  Evrart,  Conrad,  Pregent  erinnert  euch 
des  wohlwollenden  Gönners*. 


'  Dieser  zweite  Robertet,  allem  Anscheine  nach  einer  der 
Söhne  von  Jean  Robertet,  wird  wohl  Franvois  Robertet,  Schatz- 
meister des  Köni};:s  und  des  Herzogs  von  Bourbon  sein;  ver- 
schiedene Werkchen  von  ihm  sind  gedruckt  von  A.  Joly,  la 
vraye  histoire  de  Triboulet  et  autres  po6sies  in^dites  des  XV^ 
et  XVl^  si^cles,  Lyon  18()7,  p.  45— 1>4,  s.  daselbst  sein  Epitaphe. 
Auch  Florimond  Robertet,  der  einflussreiche  Ratgeber  des 
Königs,  war  ein  kunstsinniger  Beschützer  der  Litteratur. 

'■'  Die  Musiker  die  Lemaire  anruft,  sind  die  Meister, 
welche  aus  der  Schule  Okeghems  hervorgegangen  sind :  der 
genialste  unter  ihnen  ist  Josquin  des  Prez  (f  1521),  den  er 
obenanstellt,  ganz  Europa  stritt  sich  um  ihn.  Fast  ebenso 
berühmt  war  .Alexander  Agricola.  der  mit  Philipp  dem  Schönen 
nach  Spanien  ging  und  im  60.  Lebensjahre  einem  Fieber  erlag. 
Hilaire  und  Conrad  sind  mir  unbekannt.  Pregent  war  Hof- 
musiker der  Königin  Anna.  Evrard  ist  vielleicht  der  Stell- 
vertreter Okeghems  und  sein  Nachfolger  in  Tours,  als  er  sich 
zur  Ruhe  setzte. 


-    40    - 

Quel  untre  plus  en  tonte  art  vertneuse 
Se  delicta,  sans  forme  impetiieuse , 
Suivant  le  train  des  bons  nobles  anciens? 
Qui  aima  plus  peinture  suniptnense , 
L'art  de  bien  dire,  histoire  fructuense, 
Musiqne  aussi  douce  et  volnptnense, 
Ou  qui  inist  plus  son  estude  en  tons  bi'ens  ? 

Stimmt  alle  an  und  sprecht  eine  Invektive 
gegen  den  Tod  zuerst,  der  sich  rühmt,  einen  so 
jungen,  edlen,  rüstigen  Mann  gefällt  zu  haben, 
den  Sprossen  eines  so  ehrwürdigen  Geschlechts, 
den  wackeren  Krieger,  der  Ludovico  Sforza 
gefangen  nahm,  —  und  dann  gegen  den  Neid, 
der  am  meisten  dazu  beigetragen  hat,  sein  Leben 
zu  verkürzen.  Zu  spät  und  erst  durch  Schaden 
belehrt,  hat  man  das  Unrecht,  das  man  ihm  an- 
gethah  hat,  bereut. 

On  cognoit  bien  ä  present  la  droiture, 
Mais  c^est  trop  tard  de  sonder  la  fracture : 
Car  quant  le  chat  a  pris  sa  fourniture, 
II  n'est  pas  tenips  de  feriner  le  cabas. 

Er  aber  vergisst  das  erlittene  Unrecht  und  führt 
mit  Gottes  Erlaubniss  himmlische  Heerschaaren 
seinem  geliebten  Lo3'S  d'Ars  zu  Hülfe '.  Darum 


'  Louis  d'Ars  war  der  Lieutenant  Lignvs  gewesen,  so  lange 
er  die  Ordonnanz-Kompagnie  führte.  In  den  Jahren  lö03— 1504, 
als  Neapel  für  Frankreich  wieder  verloren  ging,  war  er  der 
letzte,  der  sich  mit  einer  Schaar  französischer  und  albanesischer 
Abenteurer  gegen  Gonsalvo  von  Cordova  hielt;  schliesslich 
bahnte  er  sich  den  Rückweg  mit  bewaft'ncter  Hand. 


41 


fasse  Mut,  du  sein  Nachfolger,  und  rette  die 
Ehre  der  Deinen,  oder  viehnehr  furchte  auch  für 
dich  den  Unbestand  des  Glückes.  —  Doch  siehe  am 
Himmel  leuchtet  sein  Banner,  erblicke  im  Tier- 
kreis den  Löwen  im  Silberleld,  das  Savoyische 
Kreuz  auf  der  Schulter,  unfern  der  Jungfrau, 
die  man  in  allen  Nöten  anruft.  Schreitender  Löwe 
in  triumphierender  Höhe,  du  hast  uns  verlassen, 
gerufen  durch  den  verewigten  Herzog  von  Bour- 
bon  und  deinen  königlichenVetter  (Karl  denVIII.); 
eingeführt  bist  du  worden  durch  den  Heiligen 
eures  Geschlechts,  Peter  von  Luxemburg,  um 
dessen  Kanonisation  du  so  sehr  bemüht  warst. 
—  Wohlauf  ihr  Geschichtsschreiber,  verkündigt 
den  Ruhm  des  Verstorbenen,  und  sagt  es  allen 
Damen,  Edelfräulein  und  Rittern,  dass  er  nun- 
mehr in  ewiger  Glückseligkeit  lebt." 

Als  die  Rhetorik  diese  Worte  gesprochen, 
verneigte  sich  die  Natur  über  die  Leiche,  wendete 
sich  dann  um  und  war  mit  ihrem  Gefolge  ver- 
schwunden. Die  Anwesenden  trugen  aber  dem 
Dichter  auf  das,  was  sie  eben  gehört  hatten,  auf- 
zuzeichnen. 

Dies  ist  der  Inhalt  der  Plainte  du  DcsirtK 
Ein  neuer  Gedanke  liegt  auch  diesem  Werkchen 
nicht  zu  Grunde;  doch  muss  man  die  Einheitlich- 
keit der  Durchführung  und  die  plasti.sche  An- 
schaulichkeit, deren  sich  der  Dichter  noch  con- 
sequenter  als  im  ersten  Gedichte  beflissen  hat, 
loben.  Die  metrische  Form  ist  ebenso  glücklich 


42 


gewählt,  als  meisterhaft  gehandhabt;  die  breite 
Anlage  der  Strophen,  die  H.äufung  und  harmo- 
nische Verschlingung  des  Reimes,  der  getragene 
Schluss  haben  etwas  weihevolles  und  eindring- 
liches, das  den  lyrischen  Schwung  kräftig  unter- 
stützt. Die  Ausführung  ist  reich  an  poetischen 
Gedanken  und  der  Ausdruck  häufig  gelungen; 
manche  Verse  würden  auch  ein  modernes  Gedicht 
zieren.  •  Ganz  eigentümlich  ist  der  Eindruck, 
den  der  Schluss  in  fortlaufenden  Apostrophen 
hervorbringt.  Ganz  rein  ist  freilich  der  Ge- 
schmack des  Dichters  noch  nicht,  obwohl  er 
sich  im  Vergleich  zur  Zeit  sehr  geläutert  hat.  Im 
Uebrigen  legt  das  Gedicht  ein  beredtes  Zeugniss 
ab  von  Lemaires  Liebe  und  Begeisterung  für  die 
Kunst,  die  Malerei  und  Musik  ebenso  wie  die 
Poesie.  Die  Anrufung  der  Zeitgenossen,  die  in 
diesen  Fächern  sich  auszeichneten,  bildet  den 
Gipfelpunkt  der  Klage  und  gibt  kunst-  und 
litterarhistorisch  manche  interessante  Winke. 

Die  Klage  um  den  Grafen  von  Ligny  er- 
schien erst  1509  im  Anhang  an  die  Legende 
des  Veniciens  und  schliesst  dort  mit  einer 
Peroratio  an  Margaretavon  Oesterreich :  Lemaire 
dankt  ihr  für  die  Zuflucht,  die  sie  ihm  als  Ersatz 
lür  den  Verlust  seines  Herrn  gewährt  hat,  und 
widmet  ihr  das  kleine  Werk  als  Erstlingsgabe. 
Augenscheinlich  hatte  sich  der  Dichter  zu  gleicher 
Zeit  bei  der  verwittweten  Herzogin  von  Bourbon 
und  der  jungen  Herzogin  von  Savoyen  durch 


-    43    - 

seine  Schriften  zu  empfehlen  gesucht,  die  letzteren 
Schritte  wurden  mit  Erfolg  gekrönt'. 

IV. 

In  kurzer  Frist  hatte  Lemaire  zwei  Herren 
verloren  und  ihnen  als  Dichter  die  letzte  Ehre 
zu  erweisen  gehabt.  Der  Anfang  zu  seiner 
Berühmtheit  war  gemacht.  Nun  musste  er  nach 
mehr  als  fünfjährigem  Aufenthalt  die  Ufer  der 
Saone  verlassen,  die  Statte,  wie  er  sagt,  wo  er 
sich  zuerst  aus  seiner  Geringfügigkeit  erhoben, 
und  freundliche  Aufnahme  gefunden  und  Anse- 
hen, Gunst  und  Freundschaft  erworben,  wie 
schwerlich  ein  anderer  junger  Ausländer;  darum 
blieb  ihm  auch  das  Andenken  an  jene  Grenz- 
marken von  Burgund,  Lyonnais  und  Bourbonnais 
immer  teuer,  und  auch  die  Freunde,  die  er  dort 
zurückliess,  vergassen  ihn  nicht,  sondern  begrüss- 
ten  jedes  neue  Erzeugniss  seiner  Feder  mit 
Freude  und  wünschten  Exemplare  seiner  Werke 
zu  besitzen,  sei  es  in  Abschrift  oder  in  Drucken  *. 

Die  vierundzwanzigjährige  Herrin,  in  deren 
Dienst  Lemaire  überging,  war  Margareta  von 


'  In  einer  Pariser  Handschrift  ist  das  Werk  der  spiltern 
Beschützerin,  Königin  Anna  von  Frankreich,  mit  den  gleichen 
Worten  zugeeignet.  Es  folgen  in  derselben  Hs.  Grabinschriften 
für  Ligny,  in  denen  man  den  Verstorbenen  zu  Gott,  dem  König, 
den  Edelleuten  und  den  Damen  reden  lUsst.  Es  sind  eine  Zehn- 
zeile: ababbccdcd,  eine  Zwölfzeile:  aaba.abbc.cdcd,  eine  Sieben- 
zeile, ababbcc.  und  wieder  eine  Zehnzeile,  alle  in  Zehnsilbern. 
Cf.  Oeuvres  IV,  331.  Ich  weiss  nicht,  ob  man  diese  Verse 
Lemaire  zuschreiben  soll. 

^  Bittgesuch  an  Margareta  1509.    Oeuvres  IV,  393. 


44 


Oesterreich,  die  Tochter  Kaiser  Maximilians  und 
Marias,  der  Erbin  von  Burgund.  Sie  war  am 
10.  Januar  1480  geboren  und  trotz  ihrer  Jugend 
hatte  sie  viel  Wechsel  und  Prüfung  erfahren. 
Als  zweijähriges  Kind  verlor  sie  ihre  Mutter 
und  wurde  dem  Dauphin  Karl  angetraut;  sie 
erhielt  in  Frankreich,  unter  der  Aufsicht  der 
Regentin  Anna,  eine  gründliche  Erziehung,  die 
ihre  vorzüglichen  Anlagen  und  den  vom  Vater 
und  den  burgundischen  Vorfahren  ererbten  Sinn 
für  Kunst  und  Bildung  reich  entwickelte;  sie 
sprach  und  schrieb  gewant,  sie  zeichnete  und 
malte  vorzüglich  und  war  in  Gesang  und  Instru- 
mentalmusik geübt.  Als  sich  aber  für  Karl  den 
VIII.  die  Aussicht  eröffnete,  die  Bretagne  mit  der 
Krone  zu  verbinden,  ward  Margareta  ein  Opfer 
der  politischen  Berechnung:  Verstössen  kehrte 
sie  1493  zu  ihrem  Vater  zurück.  Vier  Jahre  spä- 
ter vermählte  sie  sich  mit  Johann  von  Kastilien, 
dessen  Schwester  seit  einem  Jahre  mit  ihrem 
Bruder  Philipp  verheiratet  war.  Nach  den 
Gefahren  einer  stürmischen  Ueberfart  landete 
sie  in  Spanien;  aber  das  Jahr  war  noch  nicht 
verflossen,  da  hatte  ein  Fieber  sie  zur  Wittwe 
gemacht,  und  eine  Frühgeburt  beraubte  sie  der 
Hoffnung,  dem  Hause  Kastilien  einen  Erben  zu 
geben.  Zwei  Jahre  trauerte  sie  in  Spanien  und 
kam  dann  durch  das  Unglück  gereift  und  ein- 
geweiht in  die  Kenntniss  der  Menschen  und. 
die    Schleichgänge    der  Politik    in    die   Heimat 


-     i5    — 

zurück.  Unter  den  vielen  Bewerbern,  die  sich 
um  ihre  Hand  bemühten,  wählte  sie  den  gleich- 
altrig^en  Herzog  von  Savoyen ,  Philibert  den 
Schönen.  Die  VermUhlung  fand  im  Jahre  1501 
statt,  und  nun  verlebte  die  junge  Frau  einige 
glückliche  Jahre  auf  dem  Schlosse  der  Herzöge 
von  Savoyen  zu  Pont-d'Ain,  auf  der  Grenze  von 
Bresse  und  Bugey.  Philibert  war  kein  besonders 
begabter  Fürst,  aber  ein  stattlicher,  kräftig 
gebauter  Mann  von  sehr  gefälligem  Aeussern, 
dazu  ein  leidenschaftlicher  Reiter  und  Jäger, 
der  seine  Zeit  mit  Vorliebe  anstrengenden 
Hebungen  widmete '. 

Lemaires  erste  Bitte  an  Margareta,  als  er 
in  ihren  Dienst  trat,  war,  dass  ihm  zum  Auf- 
enthalt ein  stiller,  einsamer  Ort  angewiesen 
würde,  wo  er  ungestört  an  seinem  grossen 
Werke  arbeiten  könnte;  Margareta  bestimmte 
Annecy^  Der  Dichter  scheint  aber  die  Ruhe, 
die  er  wünschte,  nicht  gefunden  zu  haben;  er 
blieb  wahrscheinlich  am  herzoglichen  Hof  und 
folgte  ihm  im  Frühjahr  nach  Piemont;  seine 
Gegenwart  ist  bezeugt  durch  eine  Quittung  über 
zehn  goldene  Kronenthaler,  ein  Geschenk  Marga- 


>  F.  Thibaut,  Marguerite  d'Autriche  et  Jean  Leraaire  de 
Beiges,  thfcse,  Paris  1888.  Quinsonas,  Mat^riaux  pour  servir 
iX  l'histoire  de  Marguerile  d'Autriche,  I— III.  Paris  1860. 
Samuel  Guichenon,  Histoire  genealogique  de  la  royale  maison 
de  Savoye,  nouv.  6d.  Turin  1778.  Leglay,  Correspondance  de 
l'cmpereur  Maximilien  et  de  Marguerile  d'Autriche,  2  vol. 
Paris  1839. 

■^  Bittgesuch  an  Margareta  1509.    Oeuvres  IV,  393. 


46 


retas,  die  er  am  12.  Juni  1504  in  Turin  ausstellte  \ 
Die  Anwesenheit  des  herzoglichen  Paares  auf 
dem  Schlosse  zu  Carignano  und  in  Turin 
wurde  durch  grosse  Turniere  gefeiert,  an  denen 
Philibert  sich  mit  Eifer  beteiligte;  am  12.  Mai 
unter  andern  verrichtete  Simon  von  Blonna)', 
Herr  von  Saint-Pol  Wunder  der  Tapferkeit  im 
Anschluss  an  ein  Gespräch,  in  dem  er  in  Gegen- 
wart der  jungen  Fürstin  sich  anheischig  gemacht 
hatte  zu  erweisen,  dass  die  Verheirateten  ebenso 
rüstig  als  die  Ledigen  und  die  Frauen  ebenso 
tugendsam  und  achtbar  seien  als  die  Mädchen-. 
Solche  Unterhaltungen  werden  Margareta  den 
Gedanken  des  allegorischen  Werkes:  le  Palais 
d'Honneur  feminin,  eingegeben  haben,  mit  dessen 
Ausführung  sie  Lemaire  in  Turin  betraute;  den 
Vorwurf  hatte  sie  selbst  ersonnen  und  den  Plan 
besprach  sie  ausführlich  mit  dem  Dichter.  Noch 
sechs  Jahre  später  arbeitete  er  an  dem  Bau  ■'. 

Ein  eigentümliches  Verhängniss  scheint  Le- 
maire zu  verfolgen:  kaum  war  er  einige  Monate 
in  Margaretas  Dienst,  als  der  junge  Herzog,  ihr 


'  «Je  Jehan  Lemaire  confesse  avoir  rc<^u  de  Lo\  s  Vionnet, 
tresorier  ma  dame,  ]a  somme  de  dix  escus  d'or  A  la  coronne, 
chascun  escu  de  quarante  deux  sols  monayc  de  Piemont,  pour 
ung  don  que  ma  dicte  dame  ma  faict,  de  quoj-  je  la  quite.  — 
Faict  ä  Thurins,  le  XII*^  de  juing  l'an  mil  cinq  cent  et  qualre: 
Leinatre.»  Im  Archiv  von  Turin.  Mitgeteilt  vonThibaut  l.c.139.— 
Da  wir  nicht  wissen,  wann  Lemaire  in  Margaretas  Dienst  ge- 
treten ist,  bleibt  immerhin  die  Möglichkeit  offen,  dass  er  das 
herzogliche  Paar  aus  eigener  Initiative  in  Italien  aufgesucht  hat. 

ä  Guichenon  1.  c.  III,  468  sqq. 

=>  Oeuvres  IV,  395.  397. 


—    47    — 

Gemahl,  sich  auf  der  Jagd  an  einer  Quelle  erkäl- 
tete und  bald  darauf,  am  9.  September,  auf  dem 
Schlosse  zu  Pont  d'Ain  in  dem  Zimmer,  in  dem 
er  geboren  war,  verschied.  Tief  war  der  Schmerz 
der  vielgeprüften  Wittwe,  sie  ertrug  ihn  aber 
mit  männlicher  Seelenstärke  und  widmete  sich 
zunächst  der  einen  Pflicht,  ihrem  verstorbenen 
Gatten  ein  würdiges  Denkmal  zu  errichten. 
Um  ein  Gelübde  des  letzten  Herzogspaares  zu 
erfüllen ,  wollte  sie  ihn  neben  seiner  Mutter 
Margareta  von  Bourbon  in  Brou  bei  Bourg-en- 
Bresse  beisetzen  und  an  der  Stelle  eine  neue 
Kirche  errichten.  Die  Architektur  und  die  bilden- 
den Künste  genügten  aber  ihrem  frommen 
Wunsche  nicht;  auch  die  Dichtkunst  musste  sicli 
zur  Verherrlichung  des  Hingegangenen  auf- 
machen. 

Die  Aufforderung,  den  Tod  Herzog  Phili- 
berts  und  die  Trauer  seiner  Wittwe  in  einem 
neuen  Klagelied  zu  verewigen,  kam  Lemaire 
sehr  unerwünscht:  Ziemlich  unzufrieden  spricht 
er  sich  im  Prolog  aus: 

Pliiine  infelice,  oustil  calamiteux, 
Matiere  obscure,  object  povrc  et  piteux, 
Ditcs  pourqiioy  inon  ctigin  peii  fertilc 
Vous  retires  de  sott  empyise  utile 
Pour  le  tourner  en  ce  prescut  traveil? 
Comment  peut  taut  vostre  soudaiu  rcsveil 
Que  ina  uiaiu  rüde,  outre  grö  rappelles 
A  vostre  obseque,  et  taut  la  conipelles. 


—    48    - 

Qiie  force  ni'cst  briser  tnon  doiix  estiide, 
Laisser  escrits  de  noble  claritude, 
Pour  La  plonger  es  profondes  tenebres 
De  cas  divers,  violents  et  ftinebres 
Pleins  d' infortune ,  accurnules  de  deuil, 
Lardes  de  pleiirs,  farcis  de  larmes  d'ceil? 
O  grief  eschange!  o  inuance  odieuse! 
Labeur  ingrat,  et  ceuvre  tedieuse, 
Quand  laisser  faut  fructueuse  escriture, 
Pour  expliquer  triste  niesaventure. 
O  dur  employ,  peu  retnply  d'amytii! 
Si  ce  n'estoit  que  divoir  et  pitid 
Chassent  de  moy  tont  present  subterfuge, 
Voulentiers  qiiisse  ä  refus  nion  refuge: 
Mais  je  ne  puis,  et  si  ne  doy  nier, 
Qu'il  ne  nie  faille  en  tristeur  manier 
Mon  papier  noir,  et  derechef  le  teindre 
De  grands  regrets,  malaises  ä  esteindre, 
Va  donc,  ma  plume  ä  douleur  consacree, 
Va  si  tu  peux,  et  point  ne  te  recree, 
Jusques  avoir  fourny  ton  dur  office. 
Or  voulsist  Dieu,  qu'ainsi  poittt  ne  se ßsseK 

Es  half  aber  nichts;  Lemaire  musste  sich 
wohl  oder  übel  noch  einmal  in  die  Geheimnisse 
der  Allegorie  und  Symbolik  versenken.  Die 
Couronne  Margaritique,  die  Perlenkrone,  die  er 
Philibert  von  Savoyen  und  seiner  Wittwe  zu 
Ehren  verfertigte,   ist    die   umfangreichste  von 

^  Couronne  Margraritique,  prologue.  Oeuvres  IV,  15.  Dieses 
Stück  findet  sich  vereinzelt  in  zwei  Pariser  Handschriften  wieder. 


-    49    - 

seinen  Gelciaenhcitsschrirtcn  und  die  selbstän- 
digste in  Be/.ug  auf  Erfindung,  wenn  aueh  nicht 
die  anziehendste.  Sie  beginnt  mit  der  Erzählung 
vom  Tode  und  der  Bestattung  des  Herzogs  in 
poetischer  Ausschmückung;  bei  weitem  der 
grösste  Teil  ist  aber  der  Verherrlichung  Mar- 
garetas  gewidmet. 

Nach  der  üblichen  astrologischen  Zeitbestim- 
mung schildert  der  Dichter  den  jungen  Fürsten 
in  seiner  Jugendfülle,  seinem  Eheglück  und  vor 
allem  in  seiner  Leidenschaft  für  die  Jagd,  in  der 
er  mit  Herkules,  Meleager  und  Kephalos  wett- 
eiferte.   Eines  Tages  hatte  er  sich  diesem  Ver- 
gnügen wieder  mit  solchem  Eifer  hingegeben, 
dass  seine  Leute  ihm  nicht  mehr  folgen  konnten 
und    seine   Pferde   verendet    oder   abgearbeitet 
waren;   eben  schritt  er  zu  Fuss  in  der  Mittags- 
hitze ein  langgestrecktes  Thal  herunter,  aut  zwei 
seiner  Edelleute   gestützt   und  ganz   erschöpft; 
da  begegnete  er  dem  Unglücksgreis  Infortune 
und   seiner  Frau  Atropos.    Wie    der  Alte   ihn 
erschaut,  redet   er  seine   Gefährtin   an:    „Hier 
bietet  sich  eine  schöne  Gelegenheit,  unsere  ]\L'icht 
zu  zeigen  und  allen  Menschen  Schrecken  und 
Furcht  einzujagen.    In  Jahresfrist  hast  du  Bour- 
bon  und  Lign}'  weggerafft ;   beide  waren  aber 
durch  Alter  oder  Krankheit  geschwächt:  triffst 
du    diesen,    so    gibt   es    einen   jähen    Fall   wie 
unlängst  der  Tod  Karls  des  VIII.    In  den  letzten 
fünfzig  Jahren  hast  du  sieben  Herzöge  des  Hauses 

Becker,  Jean  Lcmaire.  4 


-    50    — 

Savoyen  bezwungen,  werfe  nun  auch  den  achten 
nieder.  Seine  Gemahlin  habe  ich  in  Flandern. 
Frankreich,  bis  nach  Spanien  verfolgt,  ohne  ihre 
Standhaftigkeit  brechen  zu  können;  lass  sehen, 
wie  sie  diesen  neuen  Streich  erträgt.  Achte  auf 
das,  was  ich  thue,  und  halte  deinen  Pfeil  bereit." 
Sprach's  und  nahm  die  Gestalt  eines  schlichten 
alten  Bauernweibes  an,  das  in  einem  irdenen 
Krug  Wasser  am  Quell  geholt  hat,  und  stellt 
sich  dem  Herzog  auf  den  Weg ;  dieser  freut  sich 
tiber  die  glückliche  Begegnung  und  glaubt,  die 
Götter  selbst  hätten  ihm  von  ihrem  Nektar 
geschickt.  Kaum  hat  er  aber  den  eiskalten  Trunk 
gierig  heruntergeschlürft,  so  fühlt  er  dessen 
schlimme  Wirkung.  Er  will  einen  Augenblick  in 
einer  Bauernhütte  ausruhen;  die  Gelegenheit 
erfasst  Atropos,  um  ihren  giftigenPfeil  abzuschies- 
sen  und  bis  zum  Gefieder  in  seine  Eingeweide  zu 
bohren.  Hell  lachte  Infortune  über  den  gelun- 
genen Streich  und  schlug  in  die  Hände.  Der 
Herzog  erbebte,  mit  Mühe  bestieg  er  ein  Pferd, 
und  wie  der  Hirsch,  der  hitziger  Verfolgung 
entronnen  ist  und  sich  unter  schattigem  Laub 
in  das  Gras  gelegt  hat,  wenn  zufällig  ein  frem- 
der Jäger  heranschleicht  und  ihn  heimtückisch 
mit  scharfem  Geschosse  trifft,  aufspringt  und  in 
seiner  Angst  nicht  an  den  Diptamdosten  denkt, 
der  ihn  heilen  könnte,  sondern  klagend  seine 
Lagerstätte  aufsucht,  um  hier  in  grosser  Drang- 
sal zu  verenden :  so  kehrte  der  edle  Fürst  lang- 


-    51    -- 

sam  auf  sein  Geburtsschloss  zurück  und  warf 
sich  dumpf  auf  sein  Feldbett '.  Von  banger 
Ahnung  gequält,  eilt  die  junge  Herzogin  her- 
bei, sie  lässt  Aeskulaps  Diener  rufen  und  sieht 
selbst  zu,  wie  ihre  kostbaren  Perlen  zu  Arznei- 
mitteln zerrieben  werden.  Einige  Tage  hielt  sich 
der  Zustand  des  Fürsten  ohne  merkliche  Ver- 
schlimmerung; unglücklicherweise  hatte  sich 
aber  der  Mond  eben  erneut.  Da  der  Herzog  sein 
Ende  herannahen  fühlte,  erhob  er  sich  noch  ein- 
mal, um  von  seiner  Gemahlin  Abschied  zu 
nehmen.  In  ihrem  Schmerze  hätte  sich  diese 
zum  Fenster  hinabgestürzt,  wenn  die  Umste- 
henden sie  nicht  gehalten  und  vom  Sterbelager 
fortgeführt  hätten.  So  verschied  Philibert  von 
Savoyen,  nachdem  er  die  Pflichten  der  Religion 
erfüllt,  im  24.  Jahre  seines  Lebens. 

'  «Alors  de  noble  Duc,  fremissant  du  coup  dont  il  nc  voyait 
pas  l'acteur,  jetta  un  grand  souspir.  remonta  ä  pcine  sur  un 
cheval  qui  luv  fut  amenö:  mit  la  main  i\  la  poilrine,  puis  coni- 
men(,-a  i\  baisser  le  chef,  et  ä  se  douloir  grandement.  Et  tout 
ainsi  qu'un  grand  Cerf  ramö,  aprijs  longues  courses  et  grans 
perilz  eschappcz,  estant  k  la  grosse  haieine,  pource  qu'il  n'oyoii 
plus  nulz  chiens  glattir,  ne  nutz  cors  bondir  parmy  la  forest 
retcntissant,  se  couche  sur  l'herbe  verde  en  l'ombre  d'un  boscage 
fueillu  pour  respirer  ä  loisir  sans  souspe(;on  quelconque  de 
poril  eminent.  Et  neantmoins  par  quelque  veneur  estranger, 
errant  tout  coyement  parmy  le  bois,  ce  gentil  Cerf  reposant  ä 
son  grand  malheur  est  entreveu,  et  tantost  atteint  insidieusemeni, 
d'un  raillon  bien  trenchant:  Adonques  la  noble  beste  navree  i\ 
mort  se  leve  toute  effrayee,  ä  tout  le  vireton  mortel  qui  luy  ha 
percd  ncrfz  et  veines.  Et  ne  luy  souvient  d'aller  chercher  la 
bonne  herbe  appellee  Dictamus,  approprice  k  sa  guerison.  Mais 
en  gemissant  bien  piteusement,  se  prend  ;\  repairier  en  son  giste 
pour  illfc  mourir  en  grand  detresse. 

Ainsi  feit  ce  tresillustre  Prince.»  etc.  Oeuvres  IV,  28  sq. 


-    52    - 

Während  seine  Diener  und  sein  Hausgesinde 
ihn  beweinten,  wie  einst  die  Kinder  Israel  Jona- 
than oder  die  Römer  Titus  beweint  hatten, 
erschien  Hebe,  die  Göttin  der  Jugend,  am  Parade- 
bette, auf  dem  die  Leiche  ausgestellt  war,  und 
Hess  eine  Klage  hören,  in  der  sie  alle  Damen, 
ihre  Schwestern,  aufforderte,  an  ihrem  Leid  und 
dem  der  verwittweten  Fürstin  Teil  zu  nehmen. 
Als  sie  Verschwand,  kamen  etliche  von  der 
Familie  Apollos,  um  den  Leichnam  einzubalsa- 
mieren, worauf  ihn  der  neue  Herzog  Karl,  der 
Bruder  des  verstorbenen,  in  aller  Stille,  um  den 
Schmerz  der  Wittwx  nicht  zu  erneuern,  neben 
seiner  Mutter,  Margareta  von  Bourbon,  beisetzen 
liess.  Unterdessen  hatte  Vertu  vom  Tempel  ihres 
Bruders  Honneur  das  Leid  der  Herzogin  von 
Savoyen  gesehen  und  schickte  ihre  beiden  älte- 
ren Töchter  Prudence  und  Fortitude,  um  ihr 
Trost  zuzusprechen;  was  ihnen  gelang,  so  dass 
Infortune,  in  der  Hoffnung,  die  edle  Fürstin  zu 
beugen,  getäuscht,  sich  in  den  nächsten  Fluss 
stürzte  und  von  da  in  die  Hölle  fuhr. 

Um  die  Standhaftigkeit  ihres  Lieblings  zu 
belohnen,  beschliesst  Vertu  ein  kostbares  Ge- 
schenk zu  bereiten.  Sie  lässt  durch  Noblepenser 
ihren  Goldschmied  Merite  rufen.  Merite  war 
eben  in  seiner  Werkstätte  beschäftigt :  er  schmie- 
dete zwei  wunderkräftige  Rüstungen,  mit  haute 
emprise,  puissance,  foy  pure,  bonne  querelle  und 
justice  ausstaffiert,  für  den  Kaiser  und  seinen 


-    53    — 

Sohn,  wenn  sie  gegen  die  Türken  zu  F'elde  zie- 
hen würden.  Auch  Kronen  und  Ringe  mit  ähn- 
lichen Eigenschaften  Hess  Vertu  anfertigen,  um 
die  Tugenden  ihrer  Freunde  zu  belohnen ;  soeben 
vollendete  man  ein  Diadem  lür  den  Herzog  von 
Savoyen,  den  seine  hohen  Anverwanten  em- 
pfangen hatten,  und  zwei  andere  für. Johann  von 
Kastilien ,  der  seine  beiden  Eltern ,  die  ruhm- 
gekrönten Herrscher  Spaniens,  erwartete.  So 
herrschte  ein  emsiges  Treiben  in  der  Werkstätte, 
als  Noblepenser  seine  Bestellung  überbrachte. 

Si  oyait  on  bruire  et  freinir 
Ouvriers  leans,  comme  mouchettes, 
Litigots  d'or  et  d'argent  geiuir 
Dedens  l'eaiie,  entre  les  piucettes. 
L'un  les  essayoit  aux  touchettes, 
Un  autre  les  applatissoit : 
L'iin  les  pesoit  aux  balaucettes, 
El  l'autrc  les  arrotutissoit. 

Fournaise ,  enclunte,  crosets,  inosles, 
LtnieSj  biirins  et  martelets, 
N'otit  Ulli  sejour  es  niairis  peii  molles 
De  ces  ouvriers,  qiii  ne  sont  lets: 
Car  tous  sont  ntaistres,  non  varlets, 
Bien  apris  d'eslever  fetiilUire, 
Et  faire  uiaiiits  traits  iioiivelets 
D'iniages  en  bosse  et  nesliire. 

Et  certes  bon  voir  faisoit  il 
Comnient  par  viagistrale  adresse 


-    54    - 

Chascun  nianie  son  oustil, 
Soude  sa  piece,  oh  tournc,  oii  dresse. 
Et  par  une  Industrie  expresse, 
Aux  gemnies  scait  lustre  baüler 
Polir  Vor,  poiir  oster  l'aspresse, 
Friser,  graver  oii  esntaüler. 

Mittlerweile  hatte  Vertu  durch  einen  anderen 
Boten,  Savoirhumain ,  zehn  der  hervorragend- 
sten Philosophen  und  Redner,  die  sie  einzeln 
bestimmte,  rufen  lassen ;  sie  selbst  wählte  unter 
den  Nymphen  ihres  Gefolges  zehn  der  schönsten 
Tugenden  besonders  aus,  bekleidete  sie  mit  kost- 
baren Gewändern,  nahm  aus  ihrer  Truhe  zehn 
meisterhaft  gearbeitete  Edelsteine  und  heftete 
mit  schwarzseidener  Schnur  einer  Jeden  einen 
Stein  auf  die  Stirn  nach  italienischer  Mode,  was 
ihnen  sehr  wohl  stand;  sie  Hess  sie  dann  Arm 
in  Arm  verschlungen  einen  Kreis  bilden,  das 
Antlitz  dem  Zuschauer  zugewendet,  und  hiess 
sie  so  abmalen  als  Vorbild  für  den  gewünschten 
Schmuck,  die  Couronne  Margaritique'.  Während 
das  geschah,  sollten  die  Redner,  die  auf  ihr 
Geheiss  erschienen  waren,  sehen,  ob  die  Ini- 
tialen der  zehn  Tugenden,  wie  sie  dastanden, 
und  der  Edelsteine,  die  sie  trugen,  nicht  den 
Namen  der  tugendhaftesten  und  unglücklichsten 
Fürstin,  die  auf  Erden  lebte,  ergäben,  und  ob 


>  Beauftragt  wird  mit  dieser  Arbeit  Martia,  die  Tochter 
des  Römers  Varro,  zu  ihren  Lebzeiten  vor  allen  Malern  aus- 
gezeichnet, jetzt  der  Liebling  von  Science,  der  Vertu  Schwester. 


55 


nicht  Edelsteine  und  Tugenden  eine  gewisse 
Beziehung  unter  sich  und  zur  Fürstin  hUtten; 
sie  selbst  gab  ferner  das  Beispiel  und  erzählte 
zum  ersten  Buchstaben  die  Erlebnisse  einer 
anderen  Frau,  deren  Namen  identisch  anlautete, 
und  deren  Schicksale  mit  denen  Margaretas  zu 
vergleichen  waren '. 

'  Die  zehn  Tugenden,  welche  die  Krone  Margaretas  bilden 
sollten,  sind:  Moderation  die  MUssigung,  Animositt?  die  Beherzt- 
heit, Rectitude  de  conseil  die  umsichtige  Ueberlegung.  Grace 
die  Anmut  und  (Jnade,  Urbanitö  die  Artigkeit,  Erudition  die 
(ielehrsamkcit,  Regnati ve  prudenoe  die  Herrscherklugheit,  Inno- 
ccnce  die  Unschuld,  Tolerance  der  Duldcrmut,  Expcrience  die 
Erfahrung.  —  Die  Edelsteine,  die  sie  schmückten,  sind:  Mar- 
garite,  Adamas  oder  Diamant,  Rubis,  Gorgonic  oder  corail, 
V'eneris  gemma  oder  amethyste,  Esmeraude,  Radiane  der  im 
Kamme  des  Hahnes  gefundene  Stein.  Jaspe,  Topace  und  Escar- 
boucle.  —  Die  Frauen,  deren  Lebensschicksale  erzUhlt  werden, 
sind :  Margareta  von  DUnemark,  die  Stifterin  der  Calmarer  Union; 
Artemisia.  die  treue  Wittwe  des  Königs  Mausolus;  Radegunde 
von  Thüringen,  die  keusche  und  fromme  Gattin  Chlothars  des  I.; 
(iisela  von  Sachsen,  Gemahlin  des  heiligen  Stephan  von  Ungarn; 
Vesta,  die  ewige  Jungfrau  und  V^erwante  der  höheren  Götter; 
Eriphvla,  die  Sibylle,  welche  von  Christus  prophezeit  hat; 
Rachel,  um  die  Jakob  so  lange  warb,  die  trostlose  Mutter  Josephs 
und  Benjamins;  Ingeborg  von  Dänemark,  die  verstossene  Ge- 
mahlin Philipps  des  H.  von  Frankreich ;  Theodolinde  von  Bayern, 
welche  ihren  zwoitpn  Gemahl,  den  Longobardenkönig  Agilulf, 
zum  Katholizismus  bekehrte;  Elissa  oder  Dido,  die  unter  grossen 
(Gefahren  vor  ihrem  Bruder  fliehen  musste. 

Die  Schriftsteller,  welche  den  Auftrag  bekommen,  die  Zu- 
sammenstellung der  genannten  Tugenden,  Frauen  und  Edelsteine 
zu  rechtfertigen,  sind:  Robert  Gaguin,  Albertus  Magnus,  Jean 
Robertet,  Isidorus  von  Sevilla,  George  Chastellain,  Boccaccio, 
-Arnaldus  Villanovanus,  Marsilius  Ficinus,  Martin  Franc,  \incent 
de  Beauvais,  also  neben  den  Vertretern  der  französischen  Dicht- 
kunst und  Beredsamkeit  die  grossen  EncyklopUdisten  des  Mittel- 
alters und  die  F"örderer  des  Humanismus  und  Erneuerer  der 
Philosophie.  Die  Werke  des  Einen  oder  Andern  können  Lemaire 
als  Fundgrube  des  vorgetragenen  Wissens  gedient  haben.  Be- 
sondere Anlässe,  diesen  oderjencn  zu  nennen,  mögen  z.B. gewesen 


-    56    - 

Was  uns  in  den  zehn  Prunkreden ,  dem 
Hauptteile  der  Couronne  Margaritique,  fesseln 
kann,  das  ist  weder  die  Unterhaltung  über  die 
Zehnzahl,  noch  die  Auseinandersetzung  über 
den  Ursprung  der  Sitte,  Kränze  zu  tragen,  auch 
nicht  die  trockene  Beschreibung  der  Edelsteine, 
oder  die  scholastisch  spitzfindige  Begriffsbestim- 
mung der  Tugenden  und  ihre  genealogische 
Gliederung,  oder  die  Geschichtchen,  die  so  fehler- 
haft erzählt  werden,  dass  man  an  eine  Wieder- 
gabe aus  dem  Gedächtniss  glauben  möchte«: 
nein,  was  diese  schwülstige  Rhetorik  lesens- 
wert machen  kann,  das  sind  die  Voriälle  aus 
Margaretas  Leben,  die  der  Dichter  hineinge- 
woben hat,  wenn  sie  auch  leider  nicht  in  ihrem 
natürlichen  Zusammenhang  erzählt  werden.  Da 
schildert  der  Eine  ihre  Bildung,  oder  er  ergötzt 
uns  mit  ihren  sinnigen  Einfällen  in  schwierigen 

sein,  dass  Boccaccio  ein  Buch  de  claris  mulieribus  geschrieben 
hat,  ein  gern  nachgeahmtes  Werk,  z.  B.  Temple  de  Boccace  von 
G.  Chastellain;  Arnaldus'  gesammelte  alchimistische  Schriften 
wurden  soeben  in  Lyon  gedruckt  usw.  —  Die  Reden  sind  ver- 
schieden disponiert  und  verschieden  lang,  sie  umfassen  von 
4  bis  14  Seiten. 

'  Die  Quellen  Lemaires  zu  entdecken,  ist  nicht  leicht,  denn 
wahrscheinlich  fliessen  sie  nicht  allein  aus  bekannten  Werken, 
sondern  aus  eigenen  Aufzeichnungen,  vielleicht  aus  den  in  Paris 
gehörten  Vorlesungen.  Es  lässt  sich  daher  vorläufig  nicht 
sagen,  wie  viel  eigenes  er  in  den  Prunkreden  geboten  hat. 
Deutlich  ist  die  Spur  des  alteren  Plinius  zu  verfolgen,  aus  dem 
die  Beschreibungen  der  Edelsteine  wörtlich  ergänzt  sind,  oft 
mit  Verschmelzung  verschiedener  Stellen.  Auf  dem  Schlosse 
zu  Pont  d'Ain  befand  sich  das  Steinbuch  des  Johannes  de  Manda 
Villa  scriptum  manu  in  papiro  (Quinsonas  III,  3%).  Lemaire 
scheint  es  aber  nicht  benutzt  zu  haben. 


Lebenslagen;  Andere  beschreiben  eingehend 
ihre  gefahrvolle  Reise  nach  Spanien,  den  begei- 
sterten Empfang,  den  sie  in  Burgos  fand,  ihre 
traurige  Lage  als  Wittwe;  Andere  wiederum 
bringen  Anekdoten  von  ihrem  Aufenthalt  in 
Savoyen;  am  häufigsten  bedauern  sie  ihren 
Abschied  aus  Frankreich  und  geissein  dabei  den 
Wortbruch  Karls  des  VIIT.  mit  so  scharfen  Wor- 
ten, dass  die  ersten  Herausgeber  den  Text  an 
mehreren  Stellen  milderten  und  in  Vorwort  und 
Anmerkungen  zur  Entschuldigung  des  Verfas- 
sers bemerkten,  die  Anhänglichkeit  an  seine 
Herrin  mache  ihn  ungerecht,  oder  er  spreche 
eben  in  höherem  Auftrage.  \'iel  erfahren  wir 
gerade  nicht  aus  Margaretas  Leben;  aber  die 
Angabe  der  Einzelheiten  ist  so  ausführlich  und 
eingehend,  dass  sie  auf  dem  Berichte  eines 
Augenzeugen  beruhen  müssen,  etwa  der  Erzäh- 
lung der  Fürstin  selbst  oder  ihres  Hofgesindes; 
oder  durfte  Lemaire  jene  Aufzeichnungen  be- 
nutzen, in  denen  Margareta,  wie  er  sagt,  in  zier- 
licher französischer  Prosa  und  in  Reimen  den 
ganzen  Verlauf  ihrer  Missgeschicke  und  ihres 
bewunderungswürdigen  Lebens  erzählt  hat '  ? 

Mittlerweile    war    die    Zeichnung    vollendet 
worden.  A'ertu  fügte  zur  Ergänzung  noch  einige 


'  Coufonne  Margaritique,  Oeuvres  IV,  111.  Die  könitrliohc 
Bibliothek  zu  Brüssel  besitzt  eine  handschriftliche  Autobiographic 
Margaretas  mit  der  Bezeichnung:  Discours  sur  sa  vie  et  scs  in- 
fortunts  (Ms.  10,  92(>);  sie  ist  mit  Lemaires  Nachrichten  meines 
Wissens  noch  nicht  verglichen  worden. 


-    58    — 

Anweisungen  hinzu,  die  Lemaire  bis  ins  Einzelne 
mit  kunstgerechter  Genauigkeit  ausführt;  nach 
diesen  Angaben  vervollständigte  die  Malerin  ihre 
Skizze  und  schaltete  aus  eigener  Initiative  zwi- 
schen je  zwei  Tugenden  ein  Rundbild  ein,  das 
eine  der  vergleichsweise  angeführten  Frauen 
darstellte.  Den  fertigen  Entwurf  überreichte 
Vertu  ihrem  Goldschmied  mit  den  nötigen  Edel- 
steinen und  sonstigen  Zuthaten.  Auf  dem  Wege 
zur  Werkstatt  begegnete  Merite  einigen  von 
seinen  Freunden,  die  sehen  wollten,  was  er  mit- 
brachte; er  konnte  es  ihnen  nicht  abschlagen: 

Cay  l'un  d'iceux  estoit  niaistre  Roger 
L'aiitre  Foiiquet,  en  qiii  tont  los  s'etnploye. 

Hiigues  de  Gand  qui  tant  ent  les  trets  nets 
Y  fut  aussi,  et  Dieric  de  Lonvain, 
Avec  le  roy  des  peintres  Johannes, 
Duquel  les  faits  parfaits  et  mignonnets 
Ne  totnberont  janiais  en  oiihli  vain: 
Ne,  se  je  fusse  un  peii  hon  escrivain, 
De  Marniion,  prince  d'enluminure, 
Dont  le  noni  croist,  comtne  paste  en  levain, 
Pav  les  effects  de  sa  noble  tournure. 

II  y  survint  de  Bruges  tnaistre  Hans, 
Et  de  Francfort  ntaistre  Hugnes  Martin, 
lous  deux  ouvriers  tres  clers  et  trioniphans. 
Puis  de  Peintnre  autres  nobles  enfans, 
D'Amyens  Nicole,  ayant  bruit  argentin, 
Et  de  Tonrnay,  plein  d' eng  in  celestin. 


—    59    - 

Maistye  Loys,  dont  tiuit  discrct  fut  l'icil: 
Et  eil  qu'on  prisc  au  soir  et  au  matin, 
Faisant  patrons,  Baudouyn  de  Bailleul. 

Encore  y  fut  Jaqucs  Lombard  de  Mons 
Accojnpaignö  du  bon  Lievin  d'Auvcrs. 
Trcstous  lesquels  autant  nous  estimons 
Que  les  ancicns  jadis  par  longs  scrmons 
Firent  Parrhase,  et  maints  autres  divers^. 

Nachdem  alle  der  Zeichnung  reiches  Lob 
gespendet,  empfiehlt  sich  Merite  und  tritt  in 
seine  Werkstätte.  Auf  seine  Frage,  wer  das 
schöne  Werk  unternehmen  solle,  melden  sich 
Gilles  Steclin  von  Valenciennes  und  sein  Vater 
Hans  Steclin  von  Köln,  und  nun  breitet  der 
Meister    die    mitgebrachten    Schätze    auf    dem 


'  Die  Schaar  der  Maler  hat  sich  vermehrt  im  Vergleich 
zu  der  Phiintc  du  Desirö;  Merite  trift't  im  Jenseits  natürlich 
nur  die  Hingegangenen.  Von  den  Franzosen  ist  hier  nur 
Kouquet  genannt.  Zu  den  NiedcrlUndern ,  Johann  van  Eyck, 
Rogier  van  der  We\  den  und  Hugo  van  der  Goes,  sind  Dierick 
Bouts  oder  Stuerbout  (f  1475)  und  Hans  Memling  von  Brügge 
hinzugekommen ;  ihnen  schliesst  sich  Martin  Schöngauer  von 
Colmar  (f  14ii8)  an,  denn  Hugues  Martin  ist  soviel  als  Hübsch 
Martin.  Nicolaus  von  Amiens  entwarf  1482  das  Bild  Ludwigs 
des  XI.  für  sein  Grabmal ;  weniger  bekannt  ist  Maistre  Loys, 
wohl  Loys  Lcduc,  seit  1453  Meister  in  Tournai.  Balduin  von 
Bailleul  zeichnete  Entwürfe  für  Wandteppiche,  1449  entwarf  er 
die  Geschichte  Gideons  für  Philipp  den  Guten :  Martin  p-ranc 
hat  ihn  seiner  Zeit  im  Champion  des  Dames  verherrlicht. 
Jacques  Lombart  liess  sich  1471  in  Tournay  nieder  und  arbeitete 
für  Karl  den  Kühnen.  Der  Miniaturmaler  Lievin  van  Lathem 
lebte  unter  demselben  F"ürsten  in  .Antwerpen.  Vgl.  AI.  Pinchart 
I.  c.  —  Diese  begeisterten  Aufzilhlungen  beweisen,  wie  vertraut 
Lemaire  mit  der  Kunst  seiner  Zeit  war,  und  wie  er  sich  bei 
seinem  Wanderleben  immer  eingehender  mit  derselben  bekannt 
machte. 


-    60    — 

Tische  aus:  „Was  meint  Ihr  dazu,  Kinder?"  ruft 
er  aus,  „ist  das  nicht  eine  herrliche  Augenweide; 
was  sagst  du,  Andrieu  Mangot  von  Tours,  und 
du  Christofle  Hieremie  aus  Rom,  Donatello  von 
Florenz,  petit  Antoine  von  Bordeaux,  Johann 
von  Nymwegen,  Robert  le  noble  aus  Burgund, 
Corneille  von  Gent,  Johann  von  Rouen,  was 
sagt  ihr  alle  dazu?" 

Voi4s  donques  totis  Ics  recents  et  modernes, 
Lesquels  Honneiir  eqiiipare  aiix  antiqiies. 
Et  vous  fait  luire  aussi  der  que  lanternes 
En  gloire  ardue  et  louenges  eternes, 

Tant  que  Science  en  chante  maints  cantiques. 
Employes  cy  vos  hauts  esprits  celiques 

Tant  bien  niesles,  et  juges,  je  vous  prie, 
S'en  nuls  tresors,  couronnes  ou  reliques 

Vous  vistes  onc  plus  riche  pierrerie^. 

Mit   diesen  Worten  bricht   die  Schilderung  ab. 


'  Zu  den  Malern  fügt  Lemaire  die  Goldschmiede,  d.  h.  die 
Bildhauer,  Erzgiesser,  Kunststecher  usw.  Den  Reigen  eröffnen 
Avieder  seine  Landsleute,  Egidius  Steclin  von  Valenciennes  und 
sein  Vater  Hans  Steclin  von  Köln.  Andrieu  Mangot  wurde  um 
1475  in  Tours  von  Ludwig  dem  XI.  beschäftigt.  Christoforo 
Hieremia ,  den  Lemaire  einen  Römer  nennt,  arbeitete  um 
1470  als  Stecher  in  Neapel.  Donatello  (f  1480)  ist  der  Erneuerer 
der  italienischen  Bildhauerkunst.  Antoine  de  Bordeaux  ist 
nicht  bekannt.  Die  Folgenden  sind  Zeitgenossen  Lemaires,  an 
die  er  sich  am  Schlüsse  des  Werkes  richtet,  wie  wenn  er  sie 
um  ihr  Urtheil  über  seine  eigene  Arbeit,  die  Couronne  Marga- 
ritique,  bitten  wollte:  Jan  van  Vlierden  von  Nymwegen  stach 
die  Pragstempel  für  die  Münzen  von  Antwerpen  und  Mccheln, 
Corneille  de  Bont  von  Gent  hatte  für  Karl  den  Kühnen  gearbeitet. 
Robert  Le  Noble  ist  unbekannt,  vielleicht  war  er  ein  Ver- 
wanter    von   Blanchart     Le  Noble    aus    Chälons    sur   Saone, 


-    61     - 

Die  Couronnc  Margaritique  wurde  jcdcnralls 
sofort  nach  dem  Tode  des  Herzogs  in  Angriff 
genommen  und  wahrscheinlich  noch  im  Jahre 
1304  zur  Ausführung  gebracht'.  Es  ist,  wie 
gesagt,  das  umfangreichste  der  kleineren  Werke 
Lemaires,  wenn  auch  nicht  das  anziehendste. 
Er  hat  sich  geschickt  aus  der  schwierigen  Auf- 
gabe gezogen ,  man  muss  es  gestehen ;  dem 
Lobe  des  Verstorbenen  hat  er  eine  glückliche 
Wendung  gegeben ,  indem  er  ein  lebendiges 
Gemälde  seiner  Leidenschaft  für  die  Jagd  ent- 
warf, ähnlich  wie  Ronsard  in  einer  schwung- 
vollen Hymne  auf  Heinrich  den  IL,  den  gewanten 
Reiter,  Ballspieler  und  Turner  preist  und  mit 
einer  gewissen  Geringschätzung  über  die  son- 
stigen Regenteneigenschaften  weggeht ;  die  Miss- 
billigung des  jugendlichen  Eigensinnes  des  Her- 
zogs hat  Lemaire  unter  dem  Lobe  der  Umsicht 
Margaretas  verborgen.    Durch  die  Verwebung 


der  beim  Sultan  und  den  Venezianern  Geschützgiesser  gewesen 
war,  und  den  Lemaire  als  Goldschmied  der  Prinzessin  Klaudia 
kennen  gelernt  hat.  cf.  Illustr.  II.  81.  Margeric  d'Avignon 
und  Jean  de  Roucn  sind  auch  unbekannt  Vgl.  AI.  Pinchart  1.  c. 
'  Cf.  Oeuvres  IV,  149.  «en  son  jcune  aage  moderne,  qui 
aujourd'hui  n'excede  point  vingt  cinq  ans.>  Margareta  vollendete 
ihr  2ö.  Lebensjahr  am  10.  Januar  150,').  Als  ihr  Wittum  werden 
ibid.  118  die  Grafschaften  Villars  und  Sommerive  und  die  Herr- 
schaften Bresse,  Wadtland  und  Faucigny  genannt;  nach  dem 
Vertrage  von  Strassburg,  5.  Mai  l.'jOö,  waren  es  nur  noch  Villars, 
Bresse,  Wadtland,  Gourdans  und  Faucigny.  Von  Margaretas 
Nichten  wird  Maria,  geb.  15.  Sept.  löOö,  nicht  angeführt;  Philipp 
ihr  Bruder  wird  nur  Prinz  von  Kastilien  und  Arragon  genannt, 
wahrend  er  im  Dezember  lö04  den  Königstitel  von  Kastilien 
annahm  (ibid.  101). 


-    62    - 

der  allegorischen  Figuren  in  die  Handlung  hat 
er  der  Erzählung  eine  poetische  Färbung  gege- 
ben, und  ihr  durch  den  Schmuck  der  Bilder 
Glanz  und  Weihe  verliehen.  Die  eingeschalteten 
Gedichte  sind  geschickt  gereimt,  aber  etwas 
lang  und  ärmlich'. 

DieVerherrlichungMargaretasineinemRede- 
turnier,  das  Lemaire  in  seinen  früheren  Schriften 
nur  flüchtig  angedeutet  aber  nicht  in  Szene 
gesetzt  hatte,  ist  von  ermüdender  Breite;  die 
Rhetorik,  die  seine  Kämpen  entfalten,  ist  recht 
schwerfällig.  Die  Düftelei  über  die  zehn  Buch- 
staben des  Namens  der  Fürstin  gemahnt  uns 
wieder  des  guten  Lehrmeisters  Molinet,  der  im 
Chapelet  des  Dames  einen  ähnlichen  durch 
Vertu  gefertigten  Kranz  beschreibt;  der  Kranz 
ist  aus  fünt  Blumen  zusammengesetzt,  deren 
Namen  mit  einem  der  Buchstaben  des  Namens 


*  Die  Couronne  Margaritique  besteht  aus  Prosa  und  Versen : 
ausser  dem  Prolog,  30  paarweise  gereimte  Zehnsilber,  sind  in 
Versen  geschrieben:  die  Rede  Infortunes,  Ivi  achtzeilige  Acht- 
silberstrophen: abaabbcc;  Hebes  Klage,  28  sechszeilige  Strophen, 
deren  drei  erste  und  letzter  Vers  Zehnsilber,  der  vierte  und 
fünfte  Sechssilber  sind;  die  Reimstellung  ist  aabba,  der  mittlere 
Reim  jeder  Strophe  wird  als  umschlingender  in  der  nächsten 
verwendet,  so  dass  sich  eine  Reimkette  durch  das  ganze  Gedicht 
zieht,  mit  Ausnahme  von  Str.  11—13  und  27  wechseln  männliche 
und  weibliche  Reime  unter  sich  ab.  Die  Sendung  Noblepensers 
ist  in  31  achtzeiligen  Achtsilberstrophen  mit  der  beliebten  Reim- 
folge ababbcbc,  erzählt.  Jeder  der  zehn  Reden  ist  eine  Vier- 
zeile, die  Redner  und  Gegenstand  namhaft  macht,  vorgesetzt, 
Zehnsilber  mit  umschlungenen  Reimen:  abba.  Der  letzte  Teil 
ist  in  38  neunzeiligen  Zehnsilberstrophen :  abaabbcbc  geschrieben. 
Der  Herausgeber  Claude  von  Saint-Julien  hat  als  Abschluss 
noch  zwei  Strophen  gleichen  Baus  hinzugefügt. 


—    b3    - 

Marias, Margaretas  Mutter,  anlautet;  auch  Molinet 
sucht  nach  Prinzen  und  Prinzessinnen,  deren 
Namen  mit  einem  dieser  fünf  Buchstaben  beginnt ' . 
Wir  werden  durch  diese  Spielereien,  die  Per- 
sonifizierung der  Tugenden,  die  moralische  Deu- 
tung der  Edelsteine  in  die  schwüle  Luft  des  aus- 
gehenden Mittelalters  versetzt.  Im  Rosenroman 
hat  Lemaire  den  Goldschmied  Merite  kennen 
gelernt,  aus  ihm  entnahm  er  in  einem  späteren 
Werk  den  Erzpriester  Genius  ;  es  war  die 
geistige  Atmosphäre,  in  der  er  aufgewachsen 
war,  und  in  der  er  sich  noch  gern  bewegte. 
Freilich  richtet  sich  auch  in  diesem  Werk  sein 
Bestreben  auf  möglichst  sinnfällige  Anschau- 
lichkeit. Ein  Künstler  könnte  nach  seiner  Beschrei- 
bung die  Krone  zeichnen,  wie  er  sich  dieselbe 
sichtbar  vorgestellt  hat.  Wo  seine  Einbildungs- 
kraft nicht  durch  das  selbstauferlegte  Schema 
gehemmt  wird,  z.  B.  wo  er  uns  in  die  Gold- 
schmiedswerkstätte einführt ,  da  bricht  seine 
lebensfrische  Auffassung  des  menschlichen  Trei- 
bens wieder  durch,  da  sucht  er  ganz  im  Gei.ste 
seiner  Zeit  durch  die  Bestimmtheit  des  hand- 
werksmässigen  Details  den  realistischen  Eindruck 
zu  verstärken. 

Die  Couronne  Margaritique  wurde  nicht  von 
Lemaire  selbst  herausgegeben;  offenbar  betrach- 
tete er  sie  als  unvollendet,  im  Jahre  1509  spricht 
er  von    einem   zweiten  Teil,    der    schon   fertig 

»  Dictz  et  faictz  de  J.  Molinet,  Paris  1530. 


64 


entworfen  sei  und  nur  in  das  Reine  geschrieben 
werden  müsse'.  Nun  trat  er  bald  darauf  in 
französische  Dienste,  und  da  gestattete  der  oft 
feindselige  Ton  die  Veröffentlichung  nicht  mehr. 
Im  Jahre  1544  fand  Claude  de  Saint-Julien  ein 
handschriftliches  Exemplar  auf  seinem  Schlosse 
ßalleure,  wahrscheinlich  eine  jener  Abschriften, 
die  Lemaires  Freunde  so  eifrig  von  ihm  verlang- 
ten, selbst  wenn  das  betreffende  Werk  zum 
Lob  seiner  Herrin  und  zu  Ungunsten  der  Fran- 
zosen geschrieben  war'-^.  Saint-Julien  bedachte 
die  Couronne  Margaritique  mit  einer  Widmung 
an  Eleonore  von  Oesterreich,  Königin  von  Frank- 
reich, und  Jean  de  Tournes  nahm  sie  in  die 
Lyoner  Gesammtausgabe  vom  Jahre  1549  auf. 

V. 

Nach  dem  Tode  Philiberts  von  Savoyen 
scheint  Lemaire  zunächst  ohne  besondere  Eigen- 
schaft im  Dienste  Margaretas  geblieben  zu  sein. 
Sein  Wunsch  wäre  gewesen,  BesanQon  zum 
Aufenthalte  zu  wählen ;  er  konnte  ihm  aber  aus 
unbekannten  Gründen  nicht  gewährt  werden  3. 
Die  verwittwete  Herzogin  beanspruchte  als  Leib- 
gedinge die  Grafschaften  Villars  und  Sommerive 
und  die  Herrschaften  Bresse,  Wadtland  und  Fau- 
cigny;  es  erwuchsen  ihr  aber  Schwierigkeiten 
von  Seiten  ihres  Schwagers,  des  Herzogs  Karl, 

^  Bittgesuch  an  Margareta  (1509),  Oeuvres  IV,  395. 
■^  ibid.  394. 
■'  ibid.  393. 


—     0.)     — 

dessen  beste  Einkünfte  durch  Wittwengchülter 
verschlungen  wurden.  Margareta  sah  sich  ver- 
anlasst, zu  ihrem  Vater  nach  Deutschland  zu 
reisen  und  seine  Vermittlung  für  die  Regelung 
ihres  Wittums  in  Anspruch  zu  nehmen ;  ein 
Abkommen  wurde  zwischen  Maximilian  und  den 
Boten  Karls  am  o.  Mai  1505  zu  Strassburg  ge- 
troffen ;  im  Monat  August  war  die  Herzogin- 
wittwe  wieder  in  Pont  d'Ain'. 

Während  der  Abwesenheit  Margaretas  starb 
auf  dem  Schlosse  Pont  d'Ain  ihr  Lieblingstier, 
ein  schöner  grüner  äthiopischer  Sittich  mit  rotem 
Ring;  ich  glaube,  er  wurde  von  einem  Wind- 
hunde zerrissen'^.  Dieser  Vorfall  gab  Lemaire 
Anlass  zu  einem  anmutigen  poetischen  Scherze, 
der  Epistel  des  grünen  Liebhabers:  epistrc  de 
l'AiiKDit  verd  ä  Madame  Margiierite  Auguste. 
Es  ist  ein  Abschiedsschreiben  des  untröstlichen 
Tieres  an  seine  abwesende  Herrin,  deren  Ent- 
fernung seinen  Tod  verursacht, 

„Wenn  es  wahr  ist,  Tochter  des  mächtigen 
Kaisers,  dass  du  mich  ehedem  scheinbar  geliebt 
hast,  so  schenke  einen  Blick  deiner  hellen  Augen 
diesem  meinem  letzten  Schreiben;  dem  letzten, 
denn  ich  bin  entschlossen,  meinem  kurzen  Leben 


'  Guichenon  II,  188.    Quinsonas  III.  161  sqq. 

^  Nach  meiner  Ansicht  ist  der  Tod  des  Sittichs  (perruche 
a  Collier  rouge,  palacornis  torquata)  nicht  blos  eine  poetische 
Fiktion,  sondern  ein  wirklicher  Vorfall,  den  Lemaire  in  eigener 
Weise  benutzt  hat.  In  der  ersten  Epistel  heisst  es  nur:  un 
ma.stin,  in  der  zweiten  steht  bestimmter:  un  levrier  (v.  382). 

Becker,  Jean  Lemaire.  5 


—    66    — 

ein  Ende  zu  bereiten ;  wie  könnte  ein  so  grosses 
Herz  in  einem  so  schwachen  Körper  den  Tag 
deiner  Abreise  erleben,  ohne  zu  brechen!  O  ihr 
Halbgötter,  ländliche  Satyrn,  Nymphen  desWaldes 
und  der  Quellen,  hört  mich,  und  du  Echo,  wieder- 
hole meine  Klage.  Ihr  wisst  es,  dass  die  Götter 
mir  das  denkbar  grösste  irdische  Glück  beschieden 
hatten,  die  Blume  der  Blumen,  die  auserlesenste 
der  Perlen.  Warum  muss  ich  sie  verlieren?  Sie 
geht  fort  und  lässt  mich  hier  allein,  sie  will 
Deutschland,  ihren  Vater  und  ihren  Bruder  be- 
suchen —  ohne  mich.  Was  habe  ich  verbrochen? 
habe  ich  dir  missfallen,  deine  Geheimnisse  aus- 
geplaudert? Nein,  mein  Missgeschick  ist  es,  das 
mich  verfolgt  und  um  die  Hoffnung  täuscht,  mein 
Leben  bei  dir  zu  verbringen.  Ich  bin  dir  durch 
so  viele  Länder  und  Meere  gefolgt,  in  so  manchen 
Gefahren  und  Stürmen  war  ich  dein  einziger 
Trost,  und  nun  verlässt  du  deinen  Liebhaber. 
Grausam  bist  du  (ich  kann  das  harte  Wort  nicht 
unterdrücken),  dass  du  nur  an  schwarzer  Farbe 
Freude  findest.  Ach,  wäre  ich  schwarz  wie  ein 
Rabe  und  mein  Purpurring  braun  wie  ein  Mohr, 
dann  würde  ich  dir  gefallen.  Wenn  nur  Jemand 
käme  und  mich  mit  schwarzer  Tinte  färbte,  oder 
dir  wenigstens  weiss  machte,  dass  Grün  eine 
Trauerfarbe  ist.  So  werde  ich  wie  Narciss  oder 
Hippolyt  durch  meine  eigene  Schönheit  zu  Grunde 
gehen.  Wenn  ich  schw^atzte,  pfiff  und  plauderte, 
geschahs,   um   dich   zu  ergötzen:   ich   will   mir 


-    67    - 

lieber  Schweiften  auferlejjfen,  als  allein  an  diesem 
traurigen  Orte  zurückbleiben ;  ich  werde  sein 
wie  der  Pelikan,  der  sich  selbst  zerfleischt.  Bei- 
nahe möchte  ich  den  verwünschen,  von  dem  ich 
Sprechen  und  Singen  erlernt  habe :  ehedem 
liebtest  du  meine  süssen  Töne,  küsstest  mich, 
nanntest  mich:  mein  Freund!  da  fühlte  ich  mich 
beinahe  wie  ein  Gott;  wie  oft  habe  ich  dir  die 
Bissen  vom  Munde  genommen,  zu  geschweigen 
von  anderen  Vertraulichkeiten;  wenn  ich  dich 
beim  Ankleiden  sah,  wenn  du  dein  goldenes 
Haupthaar  flochtest,  war  je  ein  Liebhaber  glück- 
licher, geehrter  denn  ich.  Hätte  auch  je  einer 
mehr  Grund  zur  Eifersucht  gehabt,  als  wenn 
ich  dich  deine  beiden  Gatten  herzen  sah?  und 
doch  Hess  ich  keine  Silbe  verlauten,  sondern 
plapperte  und  schwatzte  fort,  um  deine  Freude 
nicht  zu  trüben.  Gern  sah  ich  dich  von  zwei 
so  hohen  Herrn  geliebt,  von  Spanien  der  eine, 
der  andere  von  Savoj-en,  keinen  schönern  gab 
es  auf  Erden.  Gern  sah  ich  dich  singen,  lachen, 
tanzen,  spielen,  und  so  schön  lesen  und  schreiben, 
malen,  zeichnen,  Instrumente  stimmen,  deren 
Saiten  unter  deinen  Fingern  so  herrlich  rauschten. 
Das  alles  verschmähst  du  jetzt,  deine  Augen 
zerrtiessen  in  Thränen,  und  mich  hast  du  ganz 
vergessen.  Kann  mein  Herz  den  Verlust  ertragen 
und  in  diesem  öden  Turme  leben  bis  zu  deiner 
Rückkehr?  Mit  mir  trauern  hier  dein  Aff"e,  dein 
Murmeltier,    und    Broutique,    die    Tochter   des 


—    68    — 

(Windhundes)  Brutus,  von  dem  Spanien  noch 
spricht,  und  ihre  Jungen  werden  mit  ihr  zu 
Grunde  gehen.  O  wir  Armen !  Eine  Menge 
Raubvögel  und  bissige  Hunde  führt  unsere 
Fürstin  mit  sich,  und  uns,  die  sich  menschlicher 
Natur  nähern,  die  aus  ihrer  zarten  Hand  assen, 
uns  lässt  sie  in  der  Fremde  zurück;  zum  Lohn 
für  meine  langjährige  Treue  muss  ich  auf  diesem 
verpestetet!  Schlosse  verenden,  wo  ich  meinen 
Herrn  und  meine  Herrin  verloren  habe.  Ver- 
wünscht sei  der  traurige  Ort.  —  Als  letzte  Gabe 
bitte  ich  um  eines:  lass  meinen  Leib  nicht  hier 
begraben,  sondern  an  einer  anmutigen  Stätte, 
mit  bunten  Blumen  besät,  wo  Hirten  Liebes- 
gespräche führen,  Vögel  plaudern  und  flöten, 
farbige  Schmetterlinge  sich  wiegen,  an  einem 
Bache  mit  silberner  Flut,  den  Bäume  mit  grünem 
Laub,  wilde  Rosenstöcke  und  duftender  Weiss- 
dorn umrahmen.  Wenn  dann  vorüberwallende 
Pilger  hier  Schatten  und  Ruhe  suchen  und  auf 
den  Stein  zu  treten  sich  scheuen,  weil  er  der 
Venus  geheiligt  ist,  so  wird  eine  liebliche  Maid, 
die  auf  grasiger  Trift  die  Schaafe  weidet,  zu- 
fällig zum  Quell  kommen,  und  wird  ihnen  dann 
mein  Leben  und  meinen  Tod  erzählen:  „Unter 
diesem  Steine,  wird  sie  sagen,  ruht  der  grüne 
Liebhaber,  der  seine  Heimat  Aethiopien  aus 
jugendlicher  Liebe  zu  seiner  Dame  verliess,  für 
sie  kam  er  in  die  kalte  Gegend,  wo  der  Nord- 
wind weht,  für  sie  lernte  er  franzö.sisch,  vlämisch, 


-    69    — 

spanisch,  latein,  es  fehlte  nur  noch  das  Deutsche 
und  dazu  hatte  er  die  beste  Hoffnung;  aber  ach, 
es  wurde  ihm  verweigert,  da  starb  er  vor  Gram 
und  wurde  hier  begraben."  So  wird  die  Schäferin 
sagen,  und  die  Pilger  werden  grüne  Zweige  und 
Blumen  auf  mein  Grab  streuen  und  meinen  Ruhm 
in  alle  Weltgegenden  tragen.  Und  des  Xachts 
beim  Mondschein  werden  Silvanus,  Pan  und 
die  Halbgötter  der  nahen  Wälder  mit  den  Feen 
und  Nymphen  kommen  und  auf  meinem  Grabe 
tanzen  und  singen.  Hast  du  nicht  bemerkt,  o 
meine  schöne  Frau,  als  du  mir  Lebewohl  sagtest, 
wie  ich  nur  stumm,  in  der  Vorahnung  meines 
Endes,  dir  die  Hand  zum  letzten  Abschied  ge- 
kUsst  habe?  Nun  naht  die  letzte  Stunde:  ich 
habe  weder  Gift  noch  Stahl ;  allein  —  Portia 
half  sich  in  ähnlicher  Lage  mit  glühenden  Kohlen; 
ich  habe  schon  gefunden,  ich  sehe  da  einen  alten 
Hund,  der  seit  gestern  früh  fastet,  ihm  gebe  ich 
mich  preis  als  freiwilliger  Aktäon.  Warte  nur, 
wüstes  Geschöpf,  du  sollst  eine  edle  Speise 
kriegen,  warte  nur,  bis  ich  die  Epistel  fertig 
habe,  fürchte  aber  die  Rache,  die  dich  ereilen 
wird.  Dich  aber  bitte  ich,  Prinzessin,  wenn  man 
dir  die  blutige  Hülle  deines  Freundes  zeigen 
wird,  so  härme  dich  nicht,  du  trägst  ja  grössere 
Leiden;  verwünsche  nur  das  Tier,  das  mich 
zerrissen  hat,  obwohl  ich  gern  den  Tod  als 
Ende  meines  Unsterns  suche.  Mein  Geist  aber 
wird  dir  öfters  im  Traume  erscheinen  und  dich 


—     70     - 

durch  Hecken  und  Büsche  begleiten,  die  Vögel 
auffordernd,  dir  mit  fröhlichem  Gesang  ihr  Ge- 
leite zu  geben,  den  Zephyr  ersuchend,  dich  mit 
süssem  Hauche  zu  umwehen,  und  Flora  bittend, 
Feld,  Wiesen,  Berg  und  Thal  mit  Blumen  zu 
schmücken,  wohin  du  gehst.  Und  nun  lebe  wohl, 
und  lasse  auf  meinen  Marmorstein  diese  Worte 
graben :  Hier  ruht  in  hartem  Gemach  der  grüne 
Liebhaber,  dessen  hohes  Herz,  mit  wahrer,  reiner 
Liebe  erfüllt,  den  Verlust  seiner  Dame  nicht 
zu  überleben  vermochte." 

Ich  müsste  mich  in  meinem  Urteile  sehr 
irren,  oder  hier  ist  wirklich  in  Gedanken  und 
in  Ausdruck  —  abgesehen  von  gewissen  Längen 
und  einzelnen  Flickworten  —  Poesie  in  jenem 
anmutig  tändelnden  Scherztone,  in  dem  Marot 
der  Meister  ist.  W^ie  wahr  empfunden  spricht 
sich  die  Liebe  zur  Herrin  und  der  Schmerz  um 
ihren  Verlust  aus,  wie  einheitlich  hält  sich  der 
Ton  zwischen  gelinder  Rührung  und  leichtem 
Scherze,  wie  lieblich  spielt  die  Freude  an  der 
Natur  in  die  Todessehnsucht  hinein: 

Aumoins,  Princesse,  en  extreme  guerdon 
Je  te  requiers  et  te  siipplie  un  don: 
C'est  que  rnon  corps  n'y  soit  ensevely '. 
Ains  le  nie  niets  en  quelque  Heu  joly^ 
Bien  tapissä  de  diverses  flourettes, 
Ou  pastoureaux  Uevisent  d'amoureltes, 


'■  Au  pont  d'Ains. 


—    71    — 

Oll  Ics  oiseuux  ja)'i^o}nu'iit  et ßajolent. 
Et  papillons  bieit  conloiirc.';  y  volciit. 
Pres  d'un  riiisseau,  ayant  l'ondc  aygeiitinc, 
Autour  diiqiiel  Ics  arhres  fönt  courtine 
De  feuille  verd,  de  jqlis  englentiers, 
Et  d'auhespins  flairans  par  les  sentiers. 

S'il  advicut  lors  qiie  pelerins  passans, 
ChercJunis  imibnige,  et  les  lieux  verdissans, 
Pres  de  um  tiunhe,  en  estd  se  reposent, 
Et  qiie  dessus  la  pierre  niarcher  n'osent, 
(Veit  qiie  sacree  ä  Venus  sera  eile) 
Vers  CHX  vietidra  quelque  gente  pucelle, 
Gardant  brebis  par  les  preaux  hcrbus, 
Qui  poitr  fuyr  l'ardeur  du  der  Phebus, 
Puravetiture  aiipres  de  la  fontanw 
Se  voudra  seoir:  Et  pour  chose  certaine. 
Apres  avoir  estanchö  sa  soif  seiche, 
En  devisant  dessus  V herbette  fr esche, 
Leur  contera  tout  le  cours  de  ma  vie, 
Et  de  ma  niort  fdont  je  prens  or  envie) 
Et  leur  dira: 

La  pucelle  dit  aux  passans: 

Seigneurs,  se  Dieu  voiis  gard 
Surf?)  ce  noir  niarbrCj  ou  vous  Jettes  regard, 
Git  l'Amant  Verd,  de  petisee  loyalle. 
Lequel  servit  une  danie  Royalle, 
Sans  que  jantais  il  luy  feist  quelque  faute. 
Natif  estoit  d'Lthiope  la  haute 


Passa  la  7ner  taut  fiere  et  taut  diverse^ 
Ou  il  souffrit  mainte  grant  controverse: 
Abandonttant  son  pays  et  ses  getis, 
Poitr  venir  cy  par  exploits  diligens. 
Laissa  Egypte  et  le  fleuve  du  Nil, 
Espris  d'amoiirs  en  iin  cceur  juvenil, 
Quant  le  renoni  de  sa  tresclere  danie, 
Luy  ent  esmit  tout  le  courage  et  l'anie, 
Si  vint  chercher  ceßte  region  froide, 
Ou  couVt  la  Bise  impetueuse  et  roide, 
Pour  veoir  la  face  illustre,  clere  et  belle, 
Qu'il  perdit,  puis,  par  Fortune  rcbelle. 
Et  pour  avoir  l'accointance  anioureuse 
De  son  desir,  sa  langue  malheureuse 
Laboura  tant  ä  son  futur  dommage 
Qu'elle  oublia  son  langage  ramage, 
Pour  savoir  faire  ou  sermon  ou  harengue 
Tanten  Fran^ois,  comnie  en  langue  Flaniengue, 
En  Castillan,  et  en  Latin  ausst, 
Dont  ä  Vaprendre,  il  souffrit  niaint  soucy. 
Or  estoit  il  un  parfait  Trucheniant , 
Et  ne  restoit  fors  savoir  l'Allemant, 
En  quoy  gisoit  son  esperance  seure, 
Si  grief  rebout  ne  luy  eust  couru  seure. 
Mais  laissi  fut  en  un  trop  dur  sejour: 
Dont  il  mourut  de  dueil  ce  propre  jour. 
Et  luy  fut  fait  ce  nionunient  et  twnbe, 
Dessus  leqiiel  pluye  et  rousee  tonibe. 
Si  aura  il  (par  faveur  supernelle) 
Louenge  et  bruit  en  memoire  eternelle. 


-    73    - 

L'amant  vcrd : 

ui/nsi  (iira  la  bcrgerc  au  corps  gent, 
Atix  pelerins,  et  a  rnaitit  autre  gen/ 
Qtii  vouh'iitieys  la  miennc  histoire  ovrout. 
Et  de  pitii^,  peilt  estre,  ploureront , 
Et  semeront  des  branches  verdelettes 
Siir  inoii  ttinibel,  et ßeiirs  et  violettes: 
Pitts  s'en  iront  contans  par  maiute  terre, 
Comtnent  Amours  in'ortt  fait  cruelle  guerre: 
Parquoy  sera  mon  bruit  tant  plus  ouvert, 
Que  du  Verd  Conte,  ou  du  Chei^alier  Verd '. 
Et  sera  dit  l'Aniant  Verd  noble  et  preux, 
Qitaiit  il  uiourut  vray  ntartyr  aiuoureux. 
Et  oultreplus^  ä  tua  tunibe,  de  nuii, 
Quant  tont  repose,  et  que  la  litne  luit, 
Viendront  Silvan,  Pan  et  les  Detnydieux 
Des  bois  prochains,  et  circonvoisins  lieiix. 
Et  avec  eux,  les  Fees  et  Nyniphettes 
Tout  alentour  faisans  joyeuses  festes: 
Menans  deduit,  en  danses  et  Caroles, 
Et  en  Chansons  d'anioureuses  paroles. 
Ce  seid  soitlas  auray  je  apres  ina  niort. 

Quant  ä  l'esprit,  saches  que  sans  niensonge, 
11  t'apperra  asses  de  fois  en  songe. 
Et  te  suivra  par  hayes  et  buissons, 
Sollicitant  que  les  tauf  Joyeux  sons 


'  Ist  der  Comte  verd  Aniadcus  der  \'l.,  Heizoff  von  Savo\  en 
(1353 — 83)?  Paradin,  Chronique  de  Savoye,  p.  '-21  sqq. 


74 


Des  oiselets,  cn  toiis  liciix  te  convoyent, 
Et  par  les  bois  douccment  te  resjoyent, 
Ainsi  que  celle,  ä  gut  äoivent  homniage 
Tons  beaux  oyseatix  de  quelconque  plmnage. 
Aussi  diray  je  an  gracieux  Zephyre 
Que  desormais  luy  seid  vente  et  souspire 
Bien  souefment ,  ä  tont  sa  doiice  haieine: 
Et  que  Flora  qiii  de  totis  biens  est  pleine, 
Voist  tapissant  de  floiirettes  ineslees, 
Les  chanips,  les  pves,  les  nionts  et  les  valees, 
Tant  que  senibler  il  puisse  que  tout  rie 
Par  ou  iva  ta  noble  Seigneurie. 

Begreiflicherweise  fehlte  dem  Dichter  der 
Dank  seiner  Herrin  nicht;  ähnlich  wie  Marga- 
reta  von  Valois  Marots  Genius  in  einem  Epi- 
gramme feierte,  antwortete  unsere  Margareta, 
welche  die  Reihe  der  feinsinnigen  Frauen  dieses 
Namens,  die  Kunst  und  Litteratur  des  16.  Jahr- 
hunderts als  ihre  Gönnerinnen  verehren,  eröffnet, 
mit  folgenden  vier  Versen: 

Ton  escritoire  ha  st  bonne  pyatique, 
Que  si  m'en  crois  sera  bien  estimee. 
Parquoy  concluds:  Ensuis  ta  Rhetorique: 
Cav  tu  scais  bien  que  par  inoy  est  aymee. 

Und  später,  als  Lemaire  sich  dem  französischen 
Hofe  näherte,  fand  auch  Königin  Anna  Gefallen 
an  seinem  Briefe  und  liebte  es,  Verse  daraus 
anzuführen. 


—    /o    — 

Der  erste  Brief  des  grünen  Liebhabers  ist 
während  der  Reise  Margaretas  nach  Deutsch- 
land nicht  lange  nach  dem  Tode  ihres  Gemahls 
geschrieben,  wie  der  ganze  Ton  des  Briefes 
zeigt.  Das  Jahr  l'iOo  ist  durch  den  Umstand, 
dass  sie  ihren  Bruder,  den  König,  zu  sehen  hofft, 
unzweideutig  bestimmt. 

Elle  va  vcoiy  In  noble  Genniinic, 

Elle  va  veoir  le  Roy  Rojiiaiii  so>i  peye, 

Et  l'autre  Roy  son  seid  frere  prospere. 

Erst  im  Dezember  1.t04  nahm  Philipp  den  Königs- 
titcl  von  Kastilien  an,  und  im  Januar  1506  trat 
er  die  Reise  nach  Spanien  an,  von  der  er  nicht 
wieder  zurückkehren  sollte  >. 

Der  zweite  Brief  ist  vier  oder  fünf  Jahre 
später  entstanden,  zur  Zeit  als  Lemaire  im  Begriff 
stand,  den  Druck  des  ersten  Buches  seiner  Illu- 
strations  fertig  zu  legen.  Jedenfalls  ist  er  nach 
dem  Frieden  von  Cambray  geschrieben.  Er  ist 
wie  der  erste  an  Margareta  gerichtet,  eigent- 
lich ist  er  aber  für  die  Königin  Anna  von  Frank- 
reich bestimmte 


'  Die  erste  Epistel  /Uhll  380  paarweise  jjereimte  Zehn- 
silbcr  ohne  Wechsel  mUnnlicher  und  weiblicher  Reime. 

•^  „Par  les  liennes  dernieres  letlres  . . .  j'ay  \eu  et  entendu, 
comment  nostre  premiere  epistre  de  l'Amant  verd,  ha  despieca 
trouv<?  grace  devant  les  yeux  de  la  Royne,  voire  tant  qu'elle 
la  ramentoit  encores  quelque  fois  .  .  .  Dont  comme  je  fusse 
prochain  de  metire  fin  i\  Tiinpression  du  premier  livre  des 
Illustrations  et  Singularitez,  je  me  suis  avis6,  que  ce  ne  seroit 


—    76    — 

Der  grüne  Liebhaber  schreibt  aus  dem  Jen- 
seits an  Margareta,  nachdem  sie  von  ihrer  Reise 
an  den  Rhein,  die  Maas  und  die  Seine  zurück- 
gekehrt ist,  in  welcher  Glückseligkeit  er  lebt, 
wenn  er  nur  recht  oft  den  Namen  seiner  Herrin 
hört,  bei  dessen  süssem  Klang  er  ganz  vor 
Liebesverlangen  erbebt ;  er  dankt  ihr  für  die  ihm 
gesetzte  Grabschrift,  die  seinen  Ruhm  durch 
ganz  Europa  verbreitet  hat:  alle  Frauen  läsen 
sein  Abschiedsschreiben  und  suchten  unter  sich 
die  rührendsten  Stellen  heraus,  um  sich  zu  Mit- 
leid bewegen  zu  lassen.  Um  der  Fürstin  seine 
Erkenntlichkeit  zu  beweisen,  erzählt  er  ihr,  wie 
es  ihm  seit  seinem  Tode  gegangen  war,  w^ie 
Merkur  seine  Seele  abgeholt,  am  Tenarusfelsen 
in  den  Tartarusschlund  geführt,  wie  Cerberus 
ihnen  das  eiserne  Höllenthor  geöffnet,  Charon 
sie  über  den  Styx  gesetzt.  Hier  zeigte  ihm  Mer- 
kur die  beiden  Flüsse  der  Unterwelt;  im  flam- 
menden Schw^efelstrome  erblickte  er  in  Marter- 
qualen die  Hydra  des  Herkules,  die  Stiere  des 
Jason,  den  Stier  der  Pasiphae,  den  Drachen,  den 
Sankt  Georg  überwand ,  denjenigen ,  der  die 
heilige  Margareta  verschlingen  wollte,  den  Raben 
aus  derArcheNoah,  den  Minotaurus,  die  Schlange, 
die  Eurydice  biss,  die  Rosse,  die  den  heiligen 

point  chose  malseant,  ne  desagreable  au  lecteur,  d'aussi  faire  ini- 

primer  ladite  epistre, Et  encores  y  adjouster  la  seconde,  pour 

cstre  cnsemble  publiees,  souz  la  tresheureuse  guide,  et  dcco- 
ration  du  nom  de  sa  hautesse  et  majestö  tres  clere".  Widmung 
an  Ican  Perreal.     1.  Mitrz  1510. 


-    77    - 

Hippolytus  vierteilten,  die,  welche  Theseus'  Sohn 
zu  Tode  schleiften,  das  Pferd,  das  den  Tod  des 
Prinzen  von  Portugal  (Alfons,  Sohn  Johanns  des  IL, 
t  1491)  verursachte,  die  bekannten  Pferde, 
welche  mit  Menschenfleisch  genährt  wurden, 
den  Passgänger,  von  dem  Maria  von  Burgund 
stürzte,  das  Maultier,  in  dessen  Huf  das  Gift 
für  Alexander  aufbewahrt  wurde,  den  Eber, 
der  Adonis  verwundete,  die  Hunde,  die  Aktäon 
zerfleischten,  seinen  eigenen  Mörder,  und  im 
tiefsten  Grunde  das  Seeungetüm,  das  Andromeda 
verschlingen  wollte,  und  Schlangen,  Skorpionen, 
Basilisken  und  aller  Art  giftiges  Gewürm;  im 
Acheron  daneben  zitterten  vor  Frost  und  klap- 
perten mit  den  Zähnen  Löwen,  Bären,  Tiger, 
Wölfe,  wüthende  Hunde,  Böcke,  Ziegen,  Wach- 
teln, Rebhühner,  Mücken,  Bremsen,  Wespen, 
Ratten  und  Mäuse,  Schnecken  und  Spinnen, 
Flöhe,  Läuse  und  Wanzen  (puces  et  poux  et 
punaises  puantes),  Füchse,  Eulen,  Schweine, 
Drosseln,  Geier,  Nachtkäuze,  Raubvögel,  Affen, 
Kobolde,  Krokodile,  Harpyen,  Greife,  Werwölfe 
usw.;  und  das  gesammte  Getier  heulte  und  biss 
und  stiess  und  schlug  gegeneinander. 

Nachdem  Minos  auf  Merkurs  Fürsprache 
dem  treuen  Liebhaber  den  Eintritt  in  die  Ely- 
säischen  Felder  gestattet,  und  dieser  sich  am 
Lethe  beinahe  einen  Rausch  angetrunken  (Si  en 
bus  tant  que  presque  je  fus  yvre)  stiegen  sie 
durch  eine  enge,  steile  Schlucht  an  das  Tages- 


-    78    - 

licht  empor  und  gelangten  zu  den  Inseln  der 
Glückseligen.  Hier  verabschiedete  sich  Merkur 
und  der  Neuangekommene  beschaute  von  einem 
Orangenbaum  die  herrliche  Insel;  da  gesellte 
sich  Esprit  vermeil  zu  ihm,  der  Geist  des  kar- 
mesinroten Papageis,  den  einst  Erzherzog  Sigis- 
mund,  Maximilian's  Ohm,  Maria  von  Burgund 
geschenkt,  und  den  eine  Genette  tötete;  es  kamen 
auch  die  übrigen  Gäste  des  weiten  Reiches :  der 
Phönix,  Fasane,  Pellikane,  Tauben,  SchAvalben, 
Nachtigallen,  Buchfinken,  Hähne,  Grünfinken, 
Zeisige,  Amseln,  Haselhühner,  Schwäne,  Lerchen, 
Kraniche,  Königsadler,  Störche  und  hundert 
andere  liebliche  Vögel',  und  stimmten  alle  auf 
die  Bitte  des  grünen  Liebhabers  einen  viel- 
stimmigen Preisgesang  auf  die  Prinzessin  Mar- 
gareta  an;  daraufführte  der  rote  Papagei  seinen 
grünen  Freund  herum  und  wies  ihm  die  berühm- 
ten Tiere,  die  dort  weilten:  Lesbias  Sperling, 
die  Gans  des  Capitols,  den  beredten  Raben, 
den  Plinius  rühmt,  den  weisen  Gerfalken  Maxi- 
milians, die  Tauben,  die  mit  dem  Jesuskinde  im 
Tempel  vorgestellt  wurden,  den  Hahn,  der  Petrus 
warnte,  die  Taube,  die  den  Oelzweig  zur  Arche 
zurückbrachte,  den  Adler  Karls  des  Grossen, 
den  Schwan  von  Kleve,  das  Stachelschwein  von 
Orleans  (Ludwigs  des  XII.),  das  englische  Her- 
melin, die  Bienen,  die  Piaton  Honig  auf  die 
Lippen  legten,   die  Fliege,   die  Virgil  beweint, 

1  Cf.  Ovid,  Am.  II,  6. 


-    7^)    - 

die  Heuschrecken,  von  denen  Johannes  der  Täu- 
fer sich  nährte,  das  Kameel,  mit  dessen  Fell  er 
sich  bekleidete,  den  Esel,  der  Maria  trug,  den 
Ochsen,  der  das  Christuskind  in  der  Krippe 
erwärmte,  das  Osterlamm,  das  Schaaf,  dessen 
Vliess  Jason  eroberte,  den  Bären  des  heiligen 
Vedastus,  das  Schwein  des  heiligen  Antonius, 
den  Hund  des  heiligen. Kochus,  die  Bärin,  die 
Ourson  nährte,  die  Wölfin  des  Romulus,  den 
Löwen  des  heiligen  Hieronj-mus ,  das  Pferd 
Sankt  Georgs,  Montaigne  (?),  Bucephalus,  Savoie, 
das  Pferd  Karls  des  VIII.,  Bayart,  der  nicht  mehr  in 
den  Ardennen  weilt,  die  Lämmer  der  heiligen 
Margareta,  die  Hirsche  des  heiligen  Eustachius 
und  Hubertus,  die  Hindin  des  Sertorius ,  und 
Brutus  denWindhund,  die  Schlange  derLusignan ; 
alle  Tiere  lebten  unter  sich  im  schönsten  Frieden. 
Ziemlich  lange  schon  Aveilte  der  grüne  Lieb- 
haber in  diesem  Paradiese,  ohne  dass  Merkur 
neue  Geister  hingebracht  hätte.  Eines  Tages 
schaute  er  vom  Ufer  dem  Spiele  des  Delphins, 
der  Arion  gerettet  hatte,  zu :  da  kamen  ein  Hirsch 
und  eine  Hindin  mit  dem  Wappen  Margaretas 
an  ihren  Halsbändern,  sofort  grüsste  er  ihren 
Führer  und  hörte  nun,  wie  seine  Herrin  Frieden 
gestiftet  imter  allen  Fürsten  Europas,  und  Avie 
sie  allgemein  geliebt  werde;  der  Schreiber  des 
Briefes  beruft  sich  auf  die  Königin  Anna  von 
Frankreich  und  schliesst  mit  Segnungen  auf 
beide  Fürstinnen. 


-    80    — 

Icy  prend  fin  Ic  inien  joyeux  escrire 
Dont  011  veyra  plusieurs  gens  asses  rire. 

Dieser  zweite  Brief,  in  dem  Lemaire  seinen 
Scherz  fortsetzte,  ist  mit  gleicher  Frische  und 
vielleicht  mit  noch  mehr  Humor  geschrieben 
als  der  erste,  er  legt  Zeugniss  ab  von  dem  Reich- 
thum  und  der  Fruchtbarkeit  der  Einbildungs- 
kraft ihres  Verfassers.  Die  Erzählung  verläuft 
auf  das  anmutigste  in  Gesprächen  zwischen 
dem  grünen  Liebhaber  und  Merkur  oder  Esprit 
vermeil.  In  der  Schilderung  der  Unterwelt  wett- 
eifert Lemaire  mit  Virgil  und  Dante: 

Quant  OH  est  outre^,  alors  la  clavti  faut 
Et  ne  voit  on  goiitc  ne  bas  tie  haut: 
Mais  bien  ot  on  des  cris  espouventables, 
Fiers  nrlemens  de  bestes  redoiitables. 
Lors  j'eus  frayeur  de  tels  inugissernens, 
Briiit  de  rnarteaux,  chaines  et  ferremens, 
Grans  tombemens  de  niontaigne  en  ruyne. 
Et  grand  soufflis  de  vents  avec  byuyne. 
J'avoye  aussi  bien  pres  de  mes  oreilles 
Oiseaux  bruyans  de  stridenrs  nonpareilles 
Batans  de  l'esle,  et  faisans  grans  nmrntures, 
Claquans  du  bec,  conimeun  droit  son  d'arntures. 
Si  nie  tapis  au  plus  pres  de  ma  guide: 
Car  de  chaleur  ma  poitrine  estoit  vuide. 
Taut  peur  avoie. 

>  le  Stvx. 


-    81     - 

Als  Gegenstück  cmplichlt  sich  die  Schilderung 
der  glückseligen  Inseln: 

Le  tcms  esioit  tont  der  et  saphiriii, 

Le  soleil  haut;  et  le  vent  Zephyrin 

Oriental,  doucement  soupiroit, 

Voire  si  cfoitx,  qne  plus  i'l  ne  pourroit. 

Alors,  content  de  nui  riche  Fortune, 

Je  vois  choisir  une  place  opportune 

Pour  speculer  tout  le  noble  pourpris, 

Ou  vo)it  Volant  taut  de  joyeux  esprits. 

Si  me  hranchay  sur  un  Oranger  verd, 

De  fleurs,  de  fruits,  de  fueilles  bien  couvert: 

Et  regarday  la  grand  nier  spacieuse, 

Qui  Circuit  l'islc  delicieuse. 

Iranquille  estoit  et  calme  la  marine, 

Clere  et  luisant  conime  belle  verrine. 

L'isle  eslevee,  ou  niylieu  grande  et  lee: 

Ayant  maint  tertre  et  ombreuse  valee. 

Mais  le  Soleil  combien  qiCil  y  fut  haut, 

N'y  estoit  point  excessif  ne  trop  chaut ; 

Ains  y  fut  tout  riant  en  ßouriture, 

Souef  flairant,  de  diverse  peinture. 

Et  comme  ainsi  je  conteniplasse  tout, 

Asseoir  se  vint  pres  de  moy  ä  un  bout 

Un  der  esprit,  portant  plume  naive 

De  cramoisi,  tres  vermeille  et  tres  vive^. 


'  Die  zweite  Epistel   znhlt  576   paarweise   gereimte  Zehn- 
silbcr  ohne  Wechsel  des  Reimgeschlechts. 

Becker,  Jean  Lemaire.  6 


-    82    - 

Die  beiden  Briefe  erschienen  zusammen  im 
Jahre  1510  mit  einer  Widmung  an  Jean  Perreal 
im  Anhang  an  das  erste  Buch  der  Illustrations. 
Der  erste  Brief  bildet  das  erste  rein  künstlerische 
Werk  Lemaires:  er  hat  seinen  Ruhm  als  Dich- 
ter begründet  und  wird  ihm  noch  heute  als  ein 
Hauptverdienst  angerechnet.  Durch  die  Leicht- 
fertigkeit seiner  ersten  Biographen  hatten  diese 
Episteln  eine  unverdiente  Bedeutung  für  seine 
Lebensgeschichte  erhalten.  Sallier  nahm  an, 
Lemaire  bezeichne  sich  selbst  als  grünen 
Liebhaber,  und  Goujet  machte  darüber  allerlei 
hübsche  Hypothesen. 

Um  beide  Briefe  zusammenhängend  zu  be- 
sprechen, haben  wir  einen  Sprung  gemacht; 
wir  müssen  nun  wieder  zurückgreifen. 

VI. 

Margareta  begnügte  sich  nicht  damit,  dem 
Dichter  ihren  Dank  für  seine  W^idmung  in 
Versen  auszudrücken,  sie  sorgte  auch  für  sein 
weiteres  Fortkommen.  Auf  ihre  ausdrückliche 
Bitte  sicherte  ihr  Bruder,  König  Philipp,  Jean 
Lemaire  die  Anwartschaft  auf  das  Amt  eines 
Historiographen  und  Indiciarius  des  Hauses 
Oesterreich,  Kastilien  und  Burgund  zu,  wenn  es 
durch  das  Hinscheiden  des  bereits  siebzigjährigen 
Molinet  erledigt  w^erden  würde:  das  geschah 
auf  dem  Schlosse  zu  Kleve  in  Gegenwart  und 
mit  Genehmigung  des  Kaisers,    also   wohl    im 


-    83    - 

Juni  löO.")'.  Eigentlich  war  Molinet  Historio- 
graph  des  Hauses  Burgund  wie  sein  VorgUnger 
Chastellain ;  ich  weiss  nicht,  ob  er  auch  den  Titel 
Indiciarius  des  Königs  von  Kastilien  annahm: 
jedenfalls  wird  dieser  von  Margaretas  Leibarzt 
Pierre  Picot  am  10.  Mai  1506  Lemaire  gegeben, 
Petrus  P/cofns  physicns  Johanni  Mario  archi- 
diicis  PhiUppi  et  regis  Ciistelle  hystoriographo 
et  suo  cotifmniliari  S.  P.  D.,  während  Lemaire 
sich  in  der  Antwort  indiciaire  et  hystoriographe 
de  ma  dame  la  duchesse  de  Snvoye  ßlle  ä  l'evi- 
pereur  Maxi)}iilian  nennt'-. 

Uebcr  den  Verbleib  Lemaires  im  Jahre  1505 
sind  wir  nicht  unterrichtet ;  wir  können  nur  aus 
der  ersten  Epistel  des  grünen  Liebhabers  schlies- 
sen,  dass  er  das  Frühjahr  in  Savoyen,  wahr- 
scheinlich in  Pont-d'Ain  verbrachte.  Im  folgen- 
den Jahre  führten  ihn  die  Geschäfte  seiner 
Herrin  nach  Italien. 

Philibert  der  Schöne  war  in  der  Kirche  von 
Brou  beigesetzt  worden;    die  ehemalige  Stifts- 

'  Chronique  annale :  „Et  pouice  qu'il  sembla  k  rexcellencc 
de  ma  tres  rcdoubtee  dame  que  ma  petitesse  avoit  quelque 
Industrie  en  faits  d'histoires  et  que  le  feu  Roj-  ä  la  requeste 
expresse  d'elle,  ou  chasteau  de  Cleves  et  en  la  presence  et  par 
l'adveu  et  consentemcnt  du  Roy  son  pere,  m'avoit  reservö  led. 
Oflfice  de  indiciaire  et  hystoriographe  de  la  maison  d'Autriche, 
Casiille  et  Bourgogne,  quand  il  echerroit  k  vacquer  par  le  trespas 
dud.  M*^  Molinet ,  mon  precepteur  et  parent  .  .  ."  Oeuvres 
IV,  52*2.  —  Ueber  die  Reise  des  Kaisers  cf.  Collection  des 
voyages  des  souverains  des  Pays-Bas  ed.  Gachard  I,  394. 

*  Beide  Briefe,  auf  die  wir  gleich  zurückkommen,  sind  zu 
linden  im  Sammelbande  von  S.  Champier,  de  medicine  claris 
scriptoribus  etc.,  dessen  Druck  im  Sommer  IciOö  im  Gange  war. 


84 


kirche,  welche  beim  ersten  Meilenstein  ausser- 
halb der  Mauern  von  Bourg-en-Bresse  lag,  war 
säkularisiert  und  wurde  von  Geistlichen  aus 
der  Stadt  versehen.  Margareta  wollte  an  dieser 
Stätte  eine  neue  Kirche  unter  der  Anrufung 
des  heiligen  Nikolaus  de  Tolentino  nebst  einem 
Kloster  für  zwölf  Augustinermönche  der  lom- 
bardischen Kongregation  erbauen,  während  die 
Priorei  und  alle  Rechte  der  bisherigen  Sankt- 
Peterskirche  an  die  Liebfrauenkirche  von  Bourg 
übergehen  sollten.  Auf  ihr  Ansuchen  ernannten 
die  inkorporirten  Priester  der  betreffenden  Kir- 
chen am  27.  April  1506  ihre  Prokuratoren  bei 
der  römischen  Kurie,  nemlich  den  apostolischen 
Protonotar  Philibert  Naturel,  Domprobst  von 
Utrecht,  und  die  Magister  Benediktus  Bordis, 
Berardus  de  Molario,  Reginaldus  Decorne  und 
Johannes  Lemayre.  Philibert  Naturel  weilte 
in  Rom  als  Gesanter  Philipps  von  Kastilien. 
Lemaires  Reise  ging  über  Lyon  und  Venedig. 
Im  Mai  war  er  in  der  Rhonestadt,  in  Venedig 
verbrachte  er  das  Pfingstfest  und  im  Juli  war 
er  in  Rom,  wie  er  selbst  gelegentlich  in  der 
Legende  des  Veniciens  mitteilt.  Am  17.  Juli  stellte 
der  Papst  die  Bulle  aus  und  am  27.  August 
nahmen  die  Augustinermönche  die  Kirche  in 
Besitz'. 


'  Vgl.  J.  Baux,  Histoire  de  Töglise  de  Brou,  Ljon  1854. 
Documents  II,  p.321  und  die  folgenden.  — Legende  des  Veniciens: 
»je  scay  bien,  que  l'an  mille  cinq  cens  et  six,  es  festes  de  Pen- 
tecouste  moy  estant  k  Venise ,  on   me  dit  que  l'abbö  Joachim 


—    K)    — 

Ueber  Lcmaires  vorübergehenden  Aufent- 
halt in  Lyon  erfahren  wir  interessante  Einzel- 
heiten aus  dem  Briefwechsel  des  Arztes  Sym- 
phorien  Champier  und  seiner  Freunde, 

Symphorien  Champier  ist  einer  der  vielseitig- 
sten und  unruhigsten  Köpfe  jener  gährenden 
Zeit  der  FrUhrenaissance.  Er  war  1472  in  Saint- 
Symphorien  an  der  Coise  im  Lyonnais  von  einer 
namhaften  Familie  geboren ;  er  studierte  um  1490 
in  Paris,  die  Humanitcät  unter  Guido  Juvenalis, 
Johannes  Ferdinandus,  Faustus  Andrclinus  und 
Hieronymus  Baibus,  die  Künste  und  Philosophie 
unter  Cornelius  Oudendyk  und  Johannes  Colet ; 
hierauf  widmete  er  sich  dem  Studium  der  Medi- 
cin  zu  Montpellier  unter  Nicolaus  de  Pulchro- 
bosco  und  Honoratus  Piquetus  und  Hess  sich 
dann  als  Arzt  in  Lyon  nieder.  Hier  begann  er 
1498  seine  litterarische  Thätigkeit,  die  sich  gleich 
mit  den  ersten  Schriften  über  allerlei  philoso- 
phische, geheimwissenschaftliche  und  medici- 
nische  Fragen  erstreckte;  bald  wendete  er  sich 
auch  der  französischen  Schriftstellerei  zu  und 
gab  1502  das  Fürstenschiff,  ein  Sammelband 
prosaischer  und  metrischer  Schriften  über  Erzie- 
hung und  dergleichen ,   und  im  folgenden  Jahre 


Caliibrois  leur  avoit  pretigurt-  Icur  dccadcnce  .  .  .»  Oeuvres 
III,  ;V)2.  «moy  estant  ä  Romme  en  Juillet  MDVI.  un  Chevalier 
de  Rhodes  —  me  conta  — »  ibid  397.  —  In  Lyon  wurde  am  1.  Mai 
die  Zustimmung-  zweier  dort  weilender  inkorporierter  Priester 
der  beiden  Kirchen  zu  der  in  Bourg  aufgesetzten  Urkunde 
notariell  aufgenommen.    \gl.  J.  Baux  1.  c.  p.  3'J5. 


—  So- 
das Schiff  der  tugendhaften  Frauen,  ebenfalls 
mehrere  Schriftchen  moralisierender  Tendenz 
über  Frauen,  Liebe  und  Ehe,  heraus.  Durch  letz- 
teres Buch,  das  er  Anna  von  Bourbon  und  ihrer 
Tochter  widmete,  gewann  Champier  vollends 
die  Gunst  der  Frauen,  die  ihm  nie  abhold  gewesen 
waren ;  ihm  verdankte  er  die  Hand  der  schönen 
Margareta  von  Terrail,  der  Cousine  des  tadel- 
losen Ritters  Bayard.  Nach  einander  Hess  er 
nun  seine  Bücher  de  medicine  claris  scriptori- 
bus  (1506),  de  quadriiplici  vita  (1507),  de  triplici 
discipUna  (1509),  erscheinen,  neue  Sammelbände 
des  allerverschiedensten  philosophischen,  medi- 
zinischen, historischen  Inhalts.  Um  diese  Zeit 
trat  er  in  den  Dienst  des  Herzogs  Anton  von 
Lothringen,  und  begleitete  ihn  auf  dem  Feld- 
zuge nach  Italien  (1509).  Im  Jahre  1515  nahm  er 
in  seinem  Gefolge  an  der  Schlacht  bei  Marignano 
Teil  und  gewann  dabei  die  Rittersporen.  Cham- 
pier hatte  sich  in  Nancy  niedergelassen,  er 
kehrte  aber  wieder  nach  Lyon  zurück  und  beklei- 
dete zweimal  das  Amt  eines  Konsuls  und  Stadt- 
raths  1520  und  1534,  nachdem  er  in  der  Zwischen- 
zeit die  Stadt  eine  Weile  gemieden,  weil  ihm 
1529  sein  Haus  bei  einem  Volksauflauf  geplündert 
worden  war.  Unterdessen  hörte  er  nicht  auf  zu 
schreiben  und  zu  drucken;  bekannt  sind  seine 
Geschichte  Lothringens,  le  Recneil  oii  croniques 
des  hystoires  des  royatanes  d'Austyasie ,  ou 
France  Orientale,  dite  ä  present  Lorrayne  etc. 


—    8/    — 

ir)10,  und  das  Leben  seines  Vetters:  Ics  Gcstes, 
cnsemblc  la  vic  du  prcux  Chevalier  Bayavd  1525, 
Hlr  überschritt  das  65.  Lebensjahr'. 

Champier  verband  mit  seinem  vielseitigen 
Wissen  ein  unerschütterliches  Selbstbevvusst- 
sein,  das  stark  an  Eitelkeit  streifte;  die  Kunst, 
sich  von  Freunden  und  Bekannten  loben  zu 
lassen,  trieb  er  bis  zur  Mei.sterschaft.  Im  Jahre 
1506  musste  auch  Lemaire  sein  Scherflein  bei- 
tragen; Pierre  Picot,  Margaretas  Leibarzt,  trieb 
ihn  dazu  an:  in  einem  Brief,  den  Champier 
abgedruckt  hat,  dankt  Picot  Lemaire  lür  ein 
uns  nicht  erhaltenes  Schreiben,  dessen  geist- 
reichen Ton  und  gediegenen  Inhalt  er  rühmt, 
und  fordert  ihn  auf,  in  Champiers  Lob  uner- 
müdet  fortzufahren,  zum  Schlüsse  bittet  er  ihn, 
den  Lyoner  Arzt  und  dessen  Freund  Gondi- 
salvus  Toledo  in  seinem  Auftrage  zu  grüssen; 
offenbar  war  Lemaire  in  Lyon,  wenn  er  diese 
Grüs.se  bestellen  sollte'^.  Kurz  nachdem  er  Lyon 
verlassen  hat,  schreibt  er  seinerseits  an  Picot: 

A  Monseigneur,  M.  Pierre  Picot  docteur 
es  ars   et   en   medecine,  Physicien,  sti- 


»  P.  Allut,  Etüde  biographique  et  bibliographique  sur 
S\  mphorien  Champier, Lyon  1859,  hat  das  biographische  Material 
unvollständig  ausgenützt ;  obige  kurze  .\ngaben  sind  nach  den 
(>)uellen  richtig  gestellt  und  ergänzt,  als  solche  sind  vor  allem 
Champiers  Schriften  zu  betrachten. 

^  Picots  Brief  (s.  Anh.  III,  1)  ist  vom  10.  Mai  1506.  Da 
Lemaire  schon  am  1.  Mai  in  Lyon  war  (s.  p.  84,  Anm.  1),  so 
wird  er  wahrscheinlich  den  verloren  gegangenen  Brief  von 
Lyon  an  Picot  gerichtet  haben. 


—    HS    — 

pendiaire  de  ma  tres  redoubtee  dame,  ma 
dame  la  duchesse  de  Savoye  fille  u 
l'empereur  Maximilian,  Jehan  Lemaire 
indiciaire  et  h3'Storiographe  de  ladicte 
princesse.  Salut. 
Nuperrime  cum  Lugduni  essem,  vir  orna- 
tissime,  ainsi  que  par  curiosite  naturelle,  je 
m'emploie  voulentiers  ä  investiguer  choses 
nouvelles,  perscrutans  diligenter  officinas  calco- 
graphorum  nostrorum,  je  trouvay  preste  ä 
mettre  sur  leurs  formes  impressoires  une  euvre 
nouvelle  de  ce  treselegant  philosophe  orateur 
hystorien  et  physicien  messire  Symphorien 
Champier  lyonnais,  tractans  des  hommes 
illustres  antiques  et  recentz,  lesquels  de  doc- 
trina  vestra  apollinea  benemeriti  sunt,  en- 
semble  ung  aultre  recueil  de  ceulx  qui  ont 
redige  par  escript  les  loix  divines,  et  oultre  ce 
une  impugnation  tresvehemente  contre  la  secte 
mahumeticque.  Quae  quidem  omnia,  et  si  doc- 
trinam  ingentem  hominis  pre  se  ferant,  venam- 
que  divitem  eloquentie  ostendent,  magis  tarnen 
demiratus  sum  laborem  illum,  et  quidem  labo- 
riosissimum,  obstupuique  cum  ex  tam  inextri- 
cabili  laberintho  in  lucem  limpidissimam  eum 
facile  conspexi  prodiisse,  presertim  virum  alijs 
negocijs  preperditum,  persuasique  mihi  illum 
non  nisi  ad  instructionem  publicam  se  natum 
putare.  Car  desja  j'avoye  autreffoys  veu  assez 
de    ses    louables   labeurs  imprimez:    tant   en 


—    89    — 

latin  comme  en  nostre  languc  gallicamc.  Ratus 
igitur  sententiam  hanc  esse  verissimam,  quod 
bonos  alit  artes,  omnesque  accendunt//r  ad 
studia  gloria,  neque  ab  ofiicio  meo  abhorrere 
laudationem  eins  qui  a  cunctis  extolli  meretur, 
j'ay  escript  ä  sa  louenge  hoc  epigrammati- 
culum  vernaculum,  qualecunque  est  ruditer 
fabrelactum,  lequel  j'envoye  ä  ton  humanittS, 
ut  scias  me  eum,  qui  familiam  tuam  tarn  mul- 
timodis  scriptionibus  honorat,  etiam  honore 
non  vulgari  prosequi.    Vale. 

Chaiit  iioifcel. 

Champier  s;cntil,  richc  chanip,  pur,  cntier, 

Ton  noin,  ton  los  janiais  ne  soiit  tcnii.::. 

Ta  gloire  croist  eu  sublime  sentier, 

En  bruit  haultain  et  en  biens  infinit s ; 

Tu  floriras  en  tous  lieux  par  droicture 

Et  seras  dict  territoire  fertil, 

Chainp  piain  d'honneur  et  piain  de  flouriture, 

Bien  cultivö,  noble  Champier  gentil. 

Ne  crains  envie  et  sa  rüde  poincture, 
Car  leurs  meffaicts  en  fin  seront  pugniz : 
Mais  suy  tousjours  ta  bienfaisant  nature, 
Dont  les  exploits  sont  laues  et  beniz. 

Gentil  Champier,  honnorable  et  tttil, 
Qui  nous  produi.z  doctrinalle  pasture, 
Tant  sont  soue/~  les  biens  de  ton  courtil, 
Qu'd  iexpriutcr  faible  est  nion  escripture. 


—    QO    — 

Ta)it  sollt  tes  faits  bien  faits  et  bieii  fouvnits 
Qtie  ne  souffit  nion  euere  et  nion  papier, 
Ains  servent  peii  nies  vevs  trop  mal  itnis 
Poiir  extoller  iiiig  si  geritil  Chanipier. 

Fac  et  speraK 
Der  hyperbolische  Ton  dieser  Lobpreisung 
entspricht  ganz  dem  Geiste  und  der  Weise  des 
16.  Jahrhunderts  und  bedeutet  an  und  für  sich 
kein  innigeres  Freundschaftsverhältniss  zwischen 
Champier  und  Lemaire.  Hätte  ein  solches  bestan- 
den, oder  hätte  der  Lyoner  Arzt  dem  Henne- 
gauer  Dichter  die  Bedeutung  seiner  lateinisch 
schreibenden  Bekannten  beigemessen,  so  hätte 
er  ihn  wohl  in  den  Katalog  seiner  Freunde  auf- 
genommen, den  er  1508  in  sein  Buch  de  triplici 
disciplina  einschaltete.  Lemaires  Name  steht 
nicht  darin,  wir  werden  mithin  auch  auf  seine 
Beziehungen  zu  Champier  kein  besonderes  Ge- 
wicht legen.  Diese  Briefe  lehren  uns  nur,  dass 
Lemaire  mit  seiner  zuthunlichen  Natur  auch 
mit  den  Lyoner  Aerzten  auf  freundschaftlichem 
Fusse  stand. 

Gleichfalls  nur  vorübergehender  Art  und 
weit  entfernt  auch  nur  im  geringsten  den  Cha- 

'  Dieser  Brief,  ebenso  wie  die  darin  erwähnten  Schriften 
belinden  sich  im  Sammelbande  vom  Jahre  1506,  de  medicine 
claris  scriptoribus.  Champier  hat  ihn  abermals  mit  den  nötigen 
Aenderungen  für  seine  austrasische  Chronik  benutzt,  daraus 
hat  ihn  de  Colonia  fehlerhaft  abgedruckt,  von  diesem  hat  ihn 
Stecher,  Oeuvres  IV,  428,  übernommen.  —  Der  angehängte 
Chant  nouvel  ist  ein  zwanzigzeiliges  Refraingedicht  in  Zehn- 
silbern :  abab,  cdcd.  caca.  dcdc,  baba.  Der  Form  nach  ist  es 
eigentlich  ein  Double  Virelai  de  nouvelle  taille. 


—  m   — 

raktcr  einer  regelrecht  eingerichteten  Akademie 
zu  tragen,  wie  de  Colonia  gemeint  hat',  sind 
die  Beziehungen,  die  Lemaire  während  seines 
Aufenthaltes  in  Lyon  mit  einem  anderen  Kor- 
respondenten Champiers  anknüpfte.  Humbertus 
I^\)urnerius  schildert  in  einem  Brief  an  den 
Lyoner  Arzt  die  Reize  seines  Musseiebens  auf 
dem  ehemals  der  Venus,  jetzt  der  heiligen  Jung- 
frau geweihten  Berge  in  der  Nähe  von  Lyon; 
dieser  Berg  ist  ohne  Zweifel  der  die  ganze 
Stadt  überschauende  Hügel  von  Fourvi^re  am 
rechten  Ufer  der  Saone;  auf  dessen  Rücken 
erhebt  sich  die  Liebfrauenkirche,  ein  berühmter 
Wallfahrtsort,  die  nach  dem  Glauben  der  dor- 
tigen Gelehrten  auf  der  Stätte  eines  alten  Venus- 
tempels aufgebaut  wäre.  Notre-Dame  de  Four- 
viere  hatte  ein  Kapitel  von  zehn  Chorherren, 
die  meist  in  der  Stadt  unten  wohnten,  aber  auf 
der  Höhe  ihr  Haus  mit  umliegenden  Gärten  und 
einem  sehr  tiefen  Brunnen  hatten  K  Humbert 
Fournier,  der  mir  übrigens  nur  aus  diesen  Briefen 
bekannt  ist,  lebt  also  hier  mit  Andreas  Victonius, 
seinem  Sokrates,  dessen  seltene  Begabung,  Sit- 
tenreinheit und  makelloses  geistliches  Leben  er 
in  überschwenglichen  Worten  rühmt;  möglicher- 
weise war  Victonius  Kanonikus  der  Liebfrauen- 


'  De  Colonia  S.  J.,  Histoirc  litteraire  de  Lyon  II,  466. 

-  Jodoci  Sinceri  Itincrarium  Galliae  Ib'Ii.  p.  L'37.  Ich  weiss 
nicht,  ob  ich  diese  Einzelheiten  mit  Fug  auf  den  Beginn  des 
Ib.  Jahrhunderts  übertrage.  —  Fourvifere  ist  eher  Forum  vetus 
als  Veneris. 


92 


kirchei.  Als  Gäste  sind  dabei  der  Leibarzt  der 
Königin  von  Frankreich  und  königliche  Electus 
von  Lyon  Gondisalvus  Toledo,  'das  zweite  Auge 
der  Akademie',  ein  Verwanter  Champiers.  den 
Fournier  Musäus  nennt,  und  ein  anderer  Unbe- 
kannter, dem  er  den  Beinamen  Orpheus  gibt. 
Die  Mussestunden  werden,  wie  es  sich  für 
Männer  der  Frührenaissance  geziemt,  dazu  be- 
nutzt, das  ganze  humanistische  Wissen  in  umfas- 
sender Weise  durchzuackern,  um  die  leider  ver- 
geudeten Jugendjahre  wieder  einzuholen.  Mit 
Victonius  ergeht  sich  das  Gespräch  über  die 
Religion,  den  Tod,  die  Besserung  der  Sitten, 
die  Zucht  der  Seele.  Wenn  sich  die  Gesellschaft 
nach  den  ernsten  Arbeitsstunden  zu  heiterem 
und  scherzhaftem  Geplauder  vereinigt,  da  ent- 
faltet Gondisalvus,  Gelehrter  und  Künstler  in 
einer  Person,  seine  mannigfaltigen  Gaben;  hier 
erzählt  einer  eine  witzige  Geschichte,  dort  spricht 
ein  anderer  von  den  Uebergriffen  der  Türken, 
Fournier  tragiert  den  etruskischen  Sänger,  ein 
anderer  gibt  dramatische  Schaustellungen  zum 
besten  und  macht  allerlei  Zauberkunststücke 
vor,  bis  Victonius  die  Gedanken  der  fröhlich 
Erregten  wieder  auf  die  ernsten  Fragen  des 
ewigen  Seelenheils  zurücklenkt;  dann  ergreift 
Orpheus  seine  Lejer,  und  Musäus  entlockt  der 

'  Im  Abdruck  des  anderen  Briefes  von  Fournier  im  An- 
hang des  1.  Buches  der  Illustrations  fügt  Lemaire  ein:  domini 
Andree  Vitonis  philosophi,  thcologi  ac  jureconsulti  celeberrimi. 
cf.  Oeuvres  IV,  429. 


—    93    — 

Flöte  süsse  Töne.  Ein  ander  Mal  stärken  sich 
die  Männer  Leib  und  Seele  mit  unschuldigen 
Turnübungen.  Oder  sie  betrachten,  von  einem 
santten  Windhauch  gefächelt,  die  vprüberglei- 
tende  Saone  und  die  Häuser  der  Stadt;  der 
Lärm  der  Maschinen  steigt  bis  zu  ihnen  hin- 
auf, Funken  durch.sprühen  die  Luft ;  dann  ruhen 
ihre  Augen  auf  dem  grasbewachsenen  Umkreis 
der  Gegend,  den  knospenden  und  sauber  umge- 
grabenen Reben  im  Vorhofe,  den  blumigen  Rasen- 
plätzen, den  grauen  Weiden,  den  lachenden 
Wiesen,  den  fröhlichen  Saaten,  dem  üppigen 
Getreide,  dem  grasigen  Gefilde,  den  waldigen 
Bergen,  die  weithin  im  Umkreise  grünen.  Dabei 
fehlen  freilich  die  ernsten  Sorgen  nicht,  welche 
ein  Prozess  oder  eine  ähnliche  unangenehme 
Geschichte  verursacht. 

So  schreibt  F'ournier  von  der  Höhe  von 
Fourvi^re  1506  im  Mai,  dem  Monat,  in  dem  Alles 
grün  ist  und  die  Reben  zu  knospen  beginnen 
und  umgegraben  werden.  Aus  einem  späteren 
Briefe  erfahren  wir,  dass  auch  Lemaire  damals 
in  den  Freundeskreis  eingeführt  wurde.  Wie 
Fournier  nemlich  seiner  Gewohnheit  gemäss  die 
Buchdruckerwerkstätte  nach  besseren  Büchern 
durchsuchte  fiel  ihm  Champiers  Schrift  über 
die  Krankheiten  der  Seele  und  des  Leibes  — 
der  vierte  Traktat  des  Sammelbandes  von  1506 
— ,  dessen  Druck  eben  begonnen  war,  in  die 
Hände,  und  er  fand  den  anmutigen  Brief  Lemaires 


—    94    — 

am  Ende  der  zum  Druck  gegebenen  Handschrift 
angeheftet.     Durch    diesen    Fund  wurde    seine 
Freude    und    seine   Ueberraschung  verdoppelt; 
denn  im  vergangenen  Sommer,  als  er  noch  bei 
seinem   Sokrates    im   Heiligtume    der  Jungtrau 
wohnte,  da  hatte  er  den  geistvollen  Hehnegauer, 
seine    stets    schlagfertige    Beredsamkeit,    seine 
Kunstgriffe,  seine  abgerundeten  Rythmen,  seine 
vielseitige  Kenntniss  der  Geschichte  und  Heroen 
kennen  gelernt,  und  war  durch  eine  Rede,   die 
Lemaire  aus  dem  Stegreif  in  französischer  und 
ausonischer  Sprache  hielt ',  so  entzückt,  dass  er, 
der  schon  längst  durch  seinen  Ruf  eingenommen 
war,  sich  sofort  mit  jugendlicher  Liebe  zu  ihm 
hingerissen  fühlte.    Ja,  er  wähnte  sich  auf  den 
Inseln   der  Glückseligen   durch   den  Besitz  des 
Mannes,  der  ohne  eigentlich  einen  Lehrer  gehabt 
zu  haben  und  trotz  seiner  vielen  Nebengeschäfte 
im  königlichen  Dienste,   doch  so   schmuckvoll 
und  klangreich  vom  Reichtum  der  Worte  und 
den  hellsten  Gedankenbächen  überströmte,  dank 
der  freundlichen  Unterstützung  der  Natur. 

Trotz  des  Schwulstes  lernen  wir  aus  diesem 
Briefe  Lemaire  kennen,  wie  er  im  Freundes- 
verkehr erschien:  eine  offene  gewinnende  Natur, 
frisch,  unmittelbar,  beredt,  seines  Wertes  bewusst, 
gern  erzählend,  dass  er  alles  nur  sich  selbst  ver- 


>  Ausonius  soll  wohl  lateinisch  bedeuten,  oder  hat  Lemaire 
sich  soviel  italienisch  angeeignet  gehabt,  dass  er  es  vor  der  Rora- 
reise  zur  Schau  tragen  konnte? 


—    05     — 

d;uike  und  wie  er  leider  durch  die  vielen  ander- 
weitigen Aufträge  vom  ruhigen  litterarischen 
Studium  abgezogen  werde;  kurz  eine  spontane, 
impulsive  Künstlernatur". 

VII. 

Nach  seiner  italienischen  Rei.se  hielt  sich 
Lemaire  wahrscheinlich  in  der  NäheMargaretas; 
die  Bauangelegenheiten  von  Brou  werden  die 
Herzogin -Wittwe  häufiger  nach  Bourg  geführt 
haben,  wenn  sie  nicht  überhaupt  sich  dort  nieder- 
liess.  Hier  wurde  Lemaire  durch  die  unerwar- 
tete Nachricht  vom  Tode  Philipps  des  Schönen 
überrascht;  der  junge  König  war  endlich  am 
10.  Januar  von  Fiessingen  aufgebrochen  und 
nach  einer  bedrohten  Ueberfahrt  am  26.  April 
in  Coruna  gelandet;  am  '2ö.  September  starb  er 
zu  Burgos,  als  Opfer  seiner  Unvorsichtigkeit 
oder  des  Giftes,  wie  Einige  behaupteten. 

Lemaire  hatte  auf  die  Gunst  Philipps  grosse 
Hoffnungen  gesetzt  ;  recht  niedergeschlagen 
schreibt  er  am  11.  Oktober  aus  Bourg  an  Cham- 
pier,  indem  er  ihm  einen  jungen  Mediziner,  der  in 
Montpellier  studieren  wollte,  empfiehlt :  „Eigent- 
lich sollte  ich  an  nichts  denken  als  an  das  Leid, 
das  mich  betroffen  hat,   da  ich  meinen  Fürsten 


'  Die  Briefe  Fourniers  gebe  ich  im  Anhang  III  wieder, 
damit  sich  Jedermann  an  den  authentischen  Texten  überzeugen 
kann,  was  an  der  berufenen  Akademie  von  Fourviöre  ist,  dessen 
Gespenst  in  allen  Litteraturgcschichten  spukt,  obwohl  Allut, 
Etüde  sur  S.  Champier,  und  Christie,  Eticnne  Dolct,  es  Hingst 
in  seiner  Truggestalt  enthüllt  haben. 


—    96    — 

und  Herrn  verloren  habe,  durch  dessen  Gunst 
ich  nicht  nur  die  Armut  zu  verjagen  hoffte, 
sondern  Reichtümer  und  ewigen  Namen  zu 
erwerben  gedachte,  indem  ich  seine  zukünftigen 
hohen  Thaten  besungen  hätte'." 

Es  war  der  vierte  Herr,  den  Lemaire  durch 
den  Tod  verlor.  Das  Trauerlied  über  sein  Hin- 
scheiden: les  Regrets  de  la  Dame  iiifortiinee 
sur  le  trespas  de  son  tres  eher  frere  uniqiie,  ist 
seiner  Schwester  Margareta  in  den  Mund  gelegt 
und  mit  ihrer  Devise:  Fortune  infortune  fort 
ime  gezeichnet.  Da  Margareta  es  liebte,  ihr  Leid 
in  Versen  zu  klagen,  so  hat  man  die  Frage  auf- 
geworfen, ob  diese  Trauerklage  nicht  etwa  von 
ihr  gedichtet  wäre.  Indessen  trägt  das  Gedicht 
zu  sehr  das  Gepräge  von  Lemaires  Manier  und 
metrischer  Fertigkeit,  als  dass  wir  es  ihm  ab- 
sprechen möchten^. 

Die  'Trauerklage  der  unglücklichen  Frau' 
ist  ein  unmittelbarer  lyrischer  Erguss,  verhält- 
nissmässig  kurz  und  von  einheitlicher  Stimmung. 
Zwar  kann  Lemaire  von  seinen  Spitzfindeleien 
nicht  lassen : 


»  Vgl.  Anh.  III,  3. 

2  Man  kann  vielleicht  eine  Anspielung  auf  dieses  Klage- 
gedicht in  dem  Virelay  double  auf  den  Tod  der  Königin  Anna 
von  Frankreich  sehen : 

Du  bon  Bourbon  le  trespas  stirvcitant 
Me  fit  plourer,  et  puis  tont  d'tin  tciiant, 
J'ay  dcplori  la  perte  de  Ligny, 
Savoye  atissi  et  Castille  plaigny, 
Vvcy  la  stiite  et  le  pis  advenatit. 


—    97    — 

Mc  soit  la  lati^uc  cn  licii  de  cinq  ccns  »lille, 
J'üxe  la  voix  (fe  tonte  la  fuDiiUe 
D'Adatn  yssiie,  et  l'alaine  de  inesme: 
Encor  »era  mo}i  hriiit  sobre  et  hnniilt, 
Non  coniparablc  au  dueil,  ntais  dissitnile, 
Taut  sui  le  chef  des  peu  heureuses  femnies, 
Souibre  et  piteuse  en  doulotireux  achesmes: 
Sans  or,  sans  pourpre  et  precieuses  genimes, 
A  par  moy  pleiire  ayant  cause  fcrtile, 
Voyant  tous  uonis  qui  cotntnencent  par  M,  M, 
Ja  soieut  ils  ornez  de  diadesnies, 
Designer  niort  et  malheur  inutile, 

M,  eut  ou  noni  de  madame  de  niere, 
Dont  le  trespas  est  de  memoire  amere, 
Causant  regret  qui  point  ne  nie  respite. 
M,  est  aussi  inille  fois  peu  prospere, 
Ou  chef  du  nom  de  monseigneur  et  pere: 
Lequel  forlune  asses  trouble  et  despiie. 
Puis  on  void  M,  ou  nom  de  Marguerite, 
Qui  signifie,  et  sans  mon  demerite, 
Meschef  malin,  martyre,  et  mal  austere. 
Si  croy  de  vray  que  sous  ceste  M,  habite 
Misere  et  mort  ou  malheurtä  maudite, 
Marrisson  morne  et  tout  mauvais  mystere. 

Daneben  erzielt  der  Dichter  mit  einfachen,  natür- 
lichen Mitteln  viel  ergreifendere  Wirkungen.  Es 
will  Margareta  scheinen,  als  müsste  die  ganze 
Natur  an  ihrer  Trauer  Teil  nehmen. 

Becker,  Jean  Lemaire.  7 


—    98    — 

Or  ni'appert  il  qiie  tont  le  monde  trenible, 
Tont  arhrefend,  pin,  poiiplier,  chesne  et  tremble, 
Chasctin  d'eux  verse  esrachant  sa  rächte, 
Roch  contre  roch  hideiisenient  s'asseinble, 
Un  grief  orage  effondre  tont  ensenible. 
La  terre  crosle  et  donrie  horrible  sigrie. 

N'est  riens  vivant  qui  de  pleiir  ne  se  nieste, 
L'enfant  au  bers  refiise  ta  niainelle, 
La  liiere  attssi  se  dit  lasse  et  chetive: 

Le  pasteiir  inort,  tous  les  troiipeanx  mngissent : 
Les  nioiitons  d'or  qui  leur  inaux  presagissent 
Latssent  le  paistre,  et  jettent  vois  piteuse. 
Lyons  rampans  horriblement  niugissent, 
Fiers  Leopars  dolens  a  terre  gisent. 
Brief  tonte  chose  en  est  matte  et  honteuse. 

Denn  der  Tod,  nicht  zufrieden  mit  der  früheren 
Beute,  hat  ihr  den  Bruder  genommen,  dessen 
wachsender  Ruhm  sie  über  die  erlebten  Verluste 
tröstete : 

Helas  mon  frere  estant  jadis  nia  joye, 
Ta  inort  nous  fait  de  ces  inaux  tel  inontjoye. 
Et  ton  aniour  m'est  bien  chere  or  ä  prime. 
Jeune,  beau,  riche,  autant  que  nul  que  j'oye, 
Comme  plus  grand  tous  les  jours  te  sonjoye: 
Tu  m'es  failly  par  inort  et  par  son  crime'^. 


'  Die   Regretz,  Oeuvres   III,    187  ff.,   wurden    1509  mit  der 
Plainte   du   Desir6  im   Anhang  an   die   Legende   des  Veniciens 


—    99    — 

WUhrcnd  Johanna  von  Kastilien  von  den 
Schatten  des  Trübsinns  befangen  die  Leiche 
ihres  Gatten  langsam  durch  Spanien  führte, 
um  sie  in  Granada  beizulegen:  übernahm  Mar- 
garcta  im  Auftrage  ihres  \'aters  die  Vormund- 
schaft ihrer  Neffen  und  die  Regentschaft  in  den 
Niederlanden.  Sie  nahm  Abschied  von  ihrem 
Wittwensitz  und  in  Winterszeit  überschritt  sie 
den  Rhein,  um  dem  Kaiser  entgegen  zu  gehen. 
In  Donaueschingen  zeigte  ihr  Ulrich  von  Für- 
stenberg, der  sie  geleitete,  die  Quelle  der  Donau 
und  Hess  ihr  von  ihrem  Wasser  in  einer  gol- 
denen Schale  reichen,  sie  kostete  es  und  sagte 
dann  in  dieser  sanften  und  menschenfreundlichen 
Weise,  wie  es  Fürstinnen  thun,  lächelnd:  Gott 
und  dem  Schicksale  zu  Danke,  habe  sie  in  ihrem 
Leben  gethan,  was  seit  langer  Zeit  keine  andere 
Frau  aus  vornehmem  Hause  gethan,  denn  sie 
habe  die  grössten  Flüsse  der  Christenheit  in 
Frankreich,  Spanien,  Savoyen,  Italien  und  nun 
auch  in  Deutschland  gesehen,  was  seit  lange 
keiner  Prinzessin  geschehen  war.  Dieses  Wort, 
welches  den  Umstehenden  alle  ihre  Unglücks- 
fälle in  das  Gedächtniss  zurückrief,  rührte  die 
meisten  bis  zu  Tränen,  um  sie  aber  zu  trösten, 
wendeten  sie  es  zum  Scherz  und  zogen  weiter. 
Lemaire,  der  sich  in  dem  Gefolge  von  drei- 
hundert Reitern   oder  mehr  befand,   Hess  sich 


gedruckt.  Das  Gedicht  z.'lhlt  14  zwölfzcilige  Zehnsilberstrophen: 
aabaabbbcbbc,  weiblichen  Reims. 


—    100    — 

bei  der  Gelegenheit  erzählen,  dass  von  dem- 
selben Gebirge  drei  der  grössten  und  vornehm- 
sten Flüsse  Europas  entsprängen,  um  nach  ent- 
gegengesetzten Himmelsrichtungen  zu  fliessen: 
Donau,  Rhone  und  Rhein.  Der  Schwarzwald 
aber  war  rings  mit  Schnee  bedeckt,  und  darunter 
grünte  er  von  hohen,  mit  schweren  Aesten 
behangenen  Tannen'. 

In  Strassburg  trat  Margareta  mit  ihrem 
Vater  zusammen.  Auch  diesen  Aufenthalt  be- 
nutzte Lemaire,  um  Nachrichten  und  Inschriften 
in  der  Stadt  und  der  Umgegend  zu  sammeln. 
Durch  Urkunde  vom  18.  März  1507  erteilte  Maxi- 
milian seiner  Tochter  Vollmacht  als  unwider- 
rufliche Statthalterin  der  Niederlande  und  betraute 
sie  mit  der  Vormundschaft  seiner  Enkel.  Mar- 
gareta feierte  das  Osterfest  in  Mecheln  und  hielt 
dann  mit  zahlreichem  Gefolge  Umzug,  um  die 
Huldigung  der  Stände  und  Städte  entgegenzu- 
nehmen. Ihr  Weg  ging  über  Löwen,  Brüssel, 
Soignies,  Mons,  Valenciennes ,  Douai,  Arras, 
Lille,  Gent,  Brügge,  von  da  zur  See  nach  Hol- 
land und  Seeland,  und  über  Antwerpen  zurück 
nach  Mecheln.  Lemaire  begleitete  sie  auf  dieser 
Reise,  welche  von  Ende  April  bis  Anfang  Juli 
dauerte.  Mit  innigem  Behagen  sah  Lemaire  die 
jubelnden  Freudebezeugungen  der  Hennegauer, 


'  Illustrations  III,  Oeuvres  II,  309.  —  la  Noirc  monlaitrne, 
laquelle  pour  lors  blanchissoit  toute  de  neige  et  verdoyoit  de 
hauts  sapins  bien  revestuz  et  bien  branchuz. 


—    101    — 

die  alle  Strassen  von  Mons  bis  Valenciennes 
belagerten;  es  wollte  ihm  dünken  als  wären 
seine  Landsleute  nicht  bloss  freier  und  offener 
in  ihrer  Liebe,  sondern  hätten  auch  eine  lebhaf- 
tere und  beredtere  Weise,  ihr  Wohlwollen  und 
ihre  Ergebenheit  in  Worten,  Zurufen,  Geberden 
und  Gesichtsausdruck  zu  bekunden.  Es  waren 
ungewisse  Zeiten,  einerseits  musste  man  die 
Grenzbezirke,  die  von  Frankreich  beunruhigt 
wurden,  in  ihrer  Treue  bestärken,  andererseits 
durfte  man  sich  von  Flandern,  wo  Leidenschaft 
und  Meuterei  gährten,  nicht  zu  weit  entfernen. 
In  Arras  wurde  ein  Anschlag,  die  Stadt  den 
Franzosen  auszuliefern,  von  einem  der  Mitwis- 
senden, der  durch  den  Anblick  der  Fürstin  so 
mächtig  ergriffen  war,  zur  Anzeige  gebracht 
und  der  Rädelsführer  auf  dem  Marktplatze  ent- 
hauptet, ein  brauner,  breitschultriger  Mensch 
mittleren  Alters,  neben  dem  der  alte  Scharf- 
richter, blass  und  vertattert,  eher  dem  Verurteilten 
gleichsah  als  Jener.  Ueber  den  Einzug  in  Gent 
musste  zuerst  mit  der  Bürgerschaft,  welche  ihre 
Privilegien  durch  weitg^ehende  Forderungen  er- 
weitern wollte,  verhandelt  werden.  Es  war  eines 
der  häufigen  Schauspiele  städtischen  Trotzes  und 
Unabhängigkeitssinnes,  die  Lemaire  bei  seiner 
Darstellung  der  trojanischen  Begebenheiten  und 
des  Verhältnisses  der  Prinzen  von  Priamus'  Geblüt 
zu  der  Einwohnerschaft  vor  dem  Geiste  schwebten. 
Vor  dem  energischen  Auftreten  der  Statthalterin 


—    102    — 

gab  die  Bürgerschaft  nach  und  bereitete  ihr  einen 
glänzenden  Empfang  bei  Fackelschein  in  der 
festlich  beleuchteten  Stadt.  Solche  Vorfälle  und 
die  Nachrichten,  welche  von  auswärts  eintrafen, 
zeichnete  Lemaire  genau  auf;  denn  nunmehr  galt 
es  Ernst  zu  machen  mit  seinem  Amt  als  Hof- 
geschichtsschreiber '. 

In  diesen  Tagen  erhielt  Lemaire  auch  mehrere 
Beweisedes  besonderen  Wohlwollens  der  Fürstin. 
Am  20.  Mai  verlieh  sie  ihm  in  Lille  eine  Pfründe 
und  Domherrnstelle  an  der  Liebfrauenkirche  zu 
Valenciennes;  und  als  Molinet  am  23.  August 
verschied,  vollzog  sie  das  von  Philipp  gegebene 
Versprechen  und  stellte  Lemaire  das  Patent  als 
Historiograph  des  Hauses  Oesterreich,  Kastilien, 
Burgund  usw.  aus  und  nahm  seinen  Eid  entgegen, 
was  bald  darauf  vom  Kaiser  gutgeheissen  und 
bestätigt  wurde'-*. 

Nachdem  Margareta  die  Huldigungen  des 
Landes  entgegengenommen  hatte,  versammelte 
sie  die  Stände  in  Mecheln  und  bereitete  die 
Totenfeier  für  ihren  Bruder  vor.  Vigilie  und 
Totenmesse  wurden  am  18.  und  19.  Juli  in  der 
festlich  geschmückten  Rumolduskirche  gesungen, 
und  Erzherzog  Karl  feierlich  als  Prinz  von 
Kastilien,  Herzog  von  Burgund,  Lothringen  und 


'  Chronique  annale,  Oeuvres  IV,  47J  sqq.  bcsondei-s  480  f. 
484  ff.  —  492  ff.  —  Vielleicht  nahm  Lemaire  an  der  Reise  nach 
Holland  und  Seeland  nicht  teil,  jedenfalls  ist  hier  eine  Lücke 
in  seinen  Aufzeichnungen.  1.  c.  513. 

'  Chronique  annale,  Oeuvres  IV,  489.    521  sq. 


—    103    — 

Brabant,  Limburg,  Luxemburg  und  Geldern, 
Graf  von  Flandern,  Artois  und  Bourgogne,  Pfalz- 
graf von  Hennegau,  Holland,  Seeland,  Namur 
und  Zutphen,  Markgraf  des  römischen  Reiches, 
Herr  von  Friesland,  Salins  und  Meoheln  aus- 
gerufen. Margareta  wohnte  der  Feier  in  ihrer 
Betkapelle  in  stiller  Trauer  bei.  In  ihrem  Auf- 
trage und  an  sie  gerichtet  schilderte  Lemaire 
den  pomphaften  Trauerzug  und  die  übrigen  Zere- 
monien und  eröffnete  damit  seine  Thätigkeit  als 
Historiograph.  Die  Bedeutung  der  zur  Wappen- 
erklärung nötigen  Ausdrücke  hatte  er  sich  von 
den  Wappenkönigen  Toison  d'or  undLuxembourg 
erklären  las.sen.  Die  Beschreibung  der  Bestat- 
tungsfeierlichkeit für  Philipp  den  Schönen  erschien 
zu  Anfang  des  folgenden  Jahres  in  französischer 
Sprache  und  vlämischer  Uebersetzung;  denn 
solche  Schaustellungen  und  ihre  Schilderung  war 
für  alle  Stände  eine  sehr  gesuchte  Unterhaltung». 
Kurz  vorher  hatte  Lemaire  für  IVIargareta 
eine  kleine  Abhandlung  über  die  Totenfeier  bei 
den  Alten  und  Neueren  verfas.st,  in  der  er  zeigen 
wollte,  wie  von  jeher  die  Menschen  dazu  neigten, 
ihre  verstorbenen  Fürsten,  Verwanten  und 
Freunde  mit  feierlichen  Leichenbegängnissen  und 
mit  Grabdenkmälern  zu  ehren,  und  wie  auch  die 
christliche  Religion  dieser  men.schlichen  Neigung 


'  La  pompe  funcralle  des  obsecqucs  de  feu  tres  catholique 
prince  le  roy  don  Phelippes  de  Castille,  de  Leon  et  Grenade  etc. 
Antwerpen  1508.    Oeuvres  IV,  243—66. 


104 


durch  löbliche  und  heilsame  Zeremonien  Rech- 
nung trägt'.  Mit  seiner  durchaus  unhistorischen 
Auffassung  wirft  Lemaire  poetische  und  geschicht- 
liche Ueberlieferung  durcheinander  und  stellt  die 
Griechen  der  epischen  Zeit  mit  den  Römern  der 
Kaiserzeit  auf  eine  Linie :  Als  Beispiele  der  Ge- 
bräuche der  klassischen  Völker  dienen  ihm  die 
Bestattung  des  Patroklos  bei  Homer,  des  Pallas 
bei  Virgil,  des  Archemorus  bei  Statius,  des  Julius 
Caesar  bei  Plutarch,  des  Augustus  bei  Sueton; 
zum  Schlüsse  erzählt  er  von  den  Gebräuchen, 
welche  die  Aegypter  beim  Begräbnisse  ihrer 
Könige  beobachteten,  nach  Diodorus  Siculus  und 
bespricht  die  Beisetzung  der  Erzväter  Abraham, 
Isaak  und  Jakob  nach  dem  Berichte  der  Genesis"^. 
Hier  bricht  die  Handschrift  ab  und  eigentlich  ist 
es  zu  bedauern;  denn  es  wäre  lehrreich  gewesen 
zu  sehen,  wie  Lemaire  über  christliche  Gebräuche 
im  Gegensatz  zu  heidnischen  denkt  und  spricht^. 
Die  politische  Lage  war  im  Jahre  1507  sehr 
drohend.  Ludwig  der  XII.  hatte  das  aufständische 
Genua  niedergeworfen    und   sich   mit   Venedig 


»  Oeuvres  IV,  243. 

2  Homer,  Odyssee  XXIII  übersetzt  von.  Laurentius  Valla 
Virgil,  Aeneis  XI ;   Statius.  Thebais  VI.    Von  Plutarch  gab  es 
auch  lateinische  Uebersetzungen ,  beiläulig  führt  Lemaire  auch 
das    Leben    von    Pelopidas    und    Philopoemen    an.     Diodorus' 
Siculus  a  Pogio  Florentino  in  lat.  trad.  1.  II.  fo.  XXVI. 

3  Trait(S  des  pompes  funebres  antiques  et  modernes,  Oeuvres 
IV,  269—91.'.  Die  Handschrift  war  für  Klaudia  von  Frankreich 
bestimmt,  also  eine  Abschrift  von  1514.  La  Croix:  du  Maine  art. 
Lemaire  kannte  dieselbe  Abhandlung  aus  der  Bibliothek  dos 
Herrn  von  Mont-Justin  in  Lyon. 


—    105    — 

verbündet :  man  erwartete  jeden  Augenblick  das 
Eingreifen  Maximilians  in  Italien.  Der  Geldern- 
sche  Krieg,  der  einige  Monate  geruht  hatte,  war 
auch  wieder  aufgeflammt.  Im  September  fielen 
die  Franzosen  im  Verein  mit  Robert  von  der 
Mark  in  die  Niederlande  ein,  überschritten  die 
Maas  oberhalb  Lüttich  und  zogen  plündernd  bis 
vor  Löwen  und  Diest.  Die  Uneinigkeit  der  Führer; 
die  Unzufriedenheit  der  Landsknechte  und  die 
energischen  Massregeln  zur  Gegenwehr,  die 
freilich  spät  getroffen  wurden,  zwangen  sie  zur 
Rückkehr.  Robert  kam  glücklich  durch;  aber 
die  beutebeladenen  Franzosen  und  die  von 
Geldern  wurden  in  der  Nacht  des  18.  Oktober 
in  Saint-Hubert  in  den  Ardennen  von  einer  Schaar 
Handwerker,  Arbeiter,  Köhler,  Jäger  und  Bauern 
von  Namur  und  der  Umgegend  unter  Führung 
einiger  Ritter  umringt,  niedergemacht  oder  ge- 
fangen genommen  und  ihres  Raubes  entledigt. 
Diese  wackere  That,  welche  die  Ruhe  für  dies 
Jahr  sicherte,  erregte  den  freudigsten  Jubel  im 
ganzen  Land.  Lemaire  besang  sie  in  einem 
Triumphliede,  les  Chansorts  de  Namur,  das  er 
Margareta  zueignete,  und  mit  Fug;  denn  sie 
hatte  die  patriotische  Begeisterung  im  Lande  zu 
wecken  gewusst: 

„Schweigt  Trompeten  und  Zinken,  Pfeifen 
und  Trommeln,  bis  euch  die  Barone  und  Ritter 
ertönen  lassen,  ruft  der  begeisterte  Dichter  aus; 
es  erschalle  die  Hirtenflöte,  die  Sackpfeife  und 


—    106    — 

die  Schalmei;  denn  Mars  hat  die  Schaafe  und 
Hürden  erschreckt,  aber  Gott  Pan  hat  seine 
Wölfe  zerstreut.  Freut  euch,  ihr  lieblichen 
Hirtenmädchen,  flechtet  Kränze  und  schwingt 
euch  im  Reigen,  denn  Jedermann  preist  euch  ob 
der  Tapferkeit  eurer  Freunde.  Singet  alle,  dass 
Frankreich  sich  wundere,  singt,  welche  empfind- 
liche Schlappe  eure  Hirtenknaben,  ihr  Leben  für 
das  Vaterland  opfernd,  diesen  stolzen  Prahlern 
zugefügt  haben. 

Aucuns  bergiers,  ä  pie  et  sans  holette, 
A  Sainct-Hubert  vouerent  ung  voyaige. 
La  furent  cenx  qiie  nourrit  et  alette 
France  au  pillaige,  ayans  inainte  inalette 
Plaine  d'argent  et  plantureux  bagaige. 
NoB  pelerins  sans  guieres  de  langaige 
Ont  faict  au  sainct  prieres  tres  devotes 
Et  dechargö  leurs  bourdons  sur  leurs  hostes. 

De  ce  Corps  saint  jadis  noble  veneur 

Le  cor  sembla  bondir  coinme  ä  la  chasse. 

N'y  fut  claron  ne  tronipette  en  honneur, 

Peu  chailloit  lors  de  leur  contre  ou  teneur. 

L'un  se  deffent,  l'autre  assaillir  pourchasse, 

De  ce  deduit  fut  ouy  longue  espace 

Le  bruit  perchant  mur,  trenchis  et  dodenne, 

Retomhissant  par  la  forest  d'Ardenne. 

La  nos  Untiers,  levriers  et  bons  brachets, 
Encontre  loups  et  senglers  estriverent, 
Nos  braconniers  vestus  de  blancs  rochets 
De  leurs  fors  dars  sans  autres  trebuchetz 


—    107    — 

Lcs  porcs  i'picz  Jwrnblotient  grevcyciit ; 
Les  ccrfz  volans  an  courre  sc  satilvercnt. 
Mais  hl  pourtant  n'attaindront  les  rivaiges, 
Ains  seront  pris  par  les  hommes  sauvaiges.  > 

Und  nun  nennt  Lemaire  einige  von  denen» 
die  sich  bei  diesemjagen  besonders  auszeichneten, 
bei  Namen,  Ritter  und  einfache  Leute',  und 
schildert  die  reiche  Beute,  die  sie  heimbrachten. 
Dann  bricht  er  in  Vorwürfe  gegen  Frankreich  aus: 

Qne  t'a  meffait,  o  nation  fran^oise, 

Ce  noble  enfant,  le  jeune  archiduc  Charles. 

Qnand  ta  croix  droicte  encontre  lui  se  croise^ 

Ponr  soubstenir  desleantd  gheldroise? 

Point  n'ensuys  tti  ces  preux  gisans  en  Arles, 

Car  les  Rolans  dont  encoires  tu  parles 

Ne  firent  oncq  gnerre  ä  un  orphenin 

Et  encor  tnains  au  sexc  feminin. 

So  geht  das  Gedicht  in  gehobener  Stimmung 
fort,  zwischen  Triumphgesang  und  bitterem  Sar- 
kasmus  abwechselnd.  Der  Preis  wird  Gott  ge- 
geben und  der  heiligen  Jungfrau  und  in  zweiter 
Linie  der  edlen  Margareta,  die  die  Vaterlands- 
liebe  im   Lande    zu    entfachen    verstand.    Zum 

'  Alle  konnte  er  nicht  erwähnen,  er  war  ja  selbst  vom 
Schauplatz  entfernt.  Philippe  Haneton,  Sekretär  des  Kaisers, 
tler  das  Gedicht  von  Jan  von  Marnix,  Sekretär  Margaretas, 
zujreschickt  bekommen  hatte,  sendet  es  zurück  mit  den  Worten : 
•  Le  poete  y  a  grandement  et  elegammcnt  besogn^,  mais  il  a 
oubli^  le  berger  .  .  .  ainsi  que  le  paysan  .  .  .  etc.»  Oeuvres 
IV,  308.  Leglay,  Negociations  diplomatiques  entre  la  France 
et  l'Autriche  durant  les  30premi6res  ann^es du  XVI.  s.  I,  LXXX VI. 
(Collection  de  documents  in^dits  pour  servir  k  l'histoire  de 
France.) 


—    108    — 

Schlüsse  wird  der  Kaiser  aufgefordert,  in  Bälde 
seinen  unteren  Landen  zu  Hülfe  zu  kommen. 

Et  cependant  prends  en  grä  ces  doux  chants 
De  tes  her  gier  s  en  triomphe  exaltes: 
Bien  fut  noblesse  alors  arrnee  aux  champs 
Cherchant  aussi  de  soubsmettre  aux  trenchants 
Ceux  qui  nous  fönt  guerre  et  hostüttes, 
Mais  fortune  a  les  bas  nobilites; 
Les  haulx  n'ont  en  leur  emprise  opportune: 
Tonsjoitrs  vertu  ne  rencontre  fortune  K 

Lemaire  hat  dies  Gedicht  gleich  in  der  ersten 
Siegesfreude  geschrieben.  Am  Montag  dem 
25.  Oktober  trafen  die  genaueren  Nachrichten 
über  das  fröhliche  Ereigniss  ein,  vor  Ende  der 
Woche  war  das  Lied  in  Antwerpen,  wo  der  Hof 
eben  weilte,  gedruckt  2.  Am  Sonntage,  dem  Tage 
vor  Allerheiligen,  schickt  Lemaire  sein  Werkchen 
von  Mecheln  an  den  Herold  Luxembourg  mit 
der  Bitte  es  zu  verbreiten,  im  beigegebenen  Brief 
gesteht  er  die  gereizte  Stimmung  des  Adels  über 
.seine  Verherrlichung  des  Bauernsieges. 

Monsieur  de  Luxembourg,  je  me  recom- 

mande  a  vostre  bonne  grace. 
Je  vous  envoye  ceste  mienne  petite  euvre, 
affin  que  vous  la  publiez  et  que  par  vostre  bon 

*  Les  Chansons  de  Namur.  Oeuvres  IV,  '293.  Es  sind 
39  achizeilige  Zehnsilberstrophen  :  abaabbcc. 

■*  Chronique  annale,  Oeuvres  IV,  4*4  sq.  Die  Unterschrift 
der  Chansons  de  Namur  lautet :  En  Octobre  mil  cinq  cens  et 
sept.    Imprimö  h  Anvers  par  Henri  Heckert. 

Non  nimor  hie  labor  est.    Quae  .  .  .  •.  singtila  viiilti 

Fortiter  egerunt,  ego  proseqtiar  omnia  solus. 


—    109    — 

moyen,  je  puisse  estre  en  la  cognoissance  de 
la seigneurie de par  delä.  PriantNostreSeigneur 
qu'il  vous  doint  faire  vos  besoignes  ainsi  que 
je  le  desire  et  brief  retourner.  A  Malines  la 
veille  de  Toussains. 

Quia  praeclara  nobilissimorum  rusticorum 
facinora  carminibus  nostris  celebravimus,  in- 
lensa  est  nobis  quam  tu  nosti  nobilitas;  sed 
parum  curamus,  cum  veritatem  sequimur. 

Vostre  serviteur  et  ami  de  euer 
Lemaire^. 

Das  Lied  von  Namur  ist  von  erhöhter  Vater- 
landsliebe eingegeben:  ein  gewisser  demokra- 
tischer Zug  ist  freilich  nicht  zu  verkennen,  es 
freut  den  Dichter  innerlich,  dass  die  Leute  aus 
dem  Volke  das  vollbracht  haben,  was  von  den 
hohen  Herrn  versäumt  worden  war.  Das  fran- 
zösische Nationalgefühl  ist  dabei  so  wenig  ge- 
schont, dass  begreiflicherweise  dies  Gedicht 
später  nicht  wieder  abgedruckt  worden  ist. 

In  den  ersten  Novembertagen  ging  Lemaire 
nach  V^alenciennes ,  wohin  ihn  persönliche  An- 
gelegenheiten, vielleicht  Schwierigkeiten  betreffs 
seiner  Domherrnpfründe,  riefen^.  Auf  der  Rück- 
reise, in  Brüssel,  beauftragte  ihn  Aegidius  von 
Busleiden,  erster  Rat  und  Rentmeister  der  Rech- 


'  Oeuvres  IV,  373,  nach  einem  unterzeichneten  Konzept. 

'^  Rcdieram  incolumis  a  Vallencenis  ...  —  Litteras  quas 
pro  me  impetrasti  ab  Illustrissima  Principe  adeo  valuerunt, 
ut  reccptor  ille,  lentus  atque  recalcitrans  more  asinino,  nunc 
sponte  sua,  ad  instar  equi  generosi,  crinem  gestiat.  Hoc  eflfecit 
Stimulus  ille  tuus  litterarius.    Brief  an  Jan  von  Marnix. 


—    110    — 

nungskammer  von  Brabant,  seinem  Bruder  Hie- 
ronymus,  Domprobst  von  Aire  und  Mitglied  des 
hohen  Rates  in  Mecheln,  dem  bekannten  Freunde 
des  Erasmus  und  Thomas  Morus,  Abbildungen 
gewisser  Altertümer,  die  jüngst  in  Brüssel  ge- 
funden worden  waren  ,  zu  überbringen ;  wahr- 
scheinlich jener  Denkmünzen  von  Nero,  Antonius, 
Augustus  und  Faustina,  die  der  dortige  Rent- 
meister Regnier  Cleraaig  an  das  Licht  gezogen 
hatte  '.  Da  Lemaire  aber  noch  einmal  umkehren 
wollte,  um  einen  Bekannten  bis  nach  Soignies 
zu  begleiten  2,  so  schickte  er  das  Exemplar  der 
Abbildungen  nach  Mecheln  an  den  Sekretär  Jan 
von  Marnix,  seinen  'hochzuverehrenden  Herrn 
und  vertrauten  Freund',  mit  der  Bitte,  sie  Mar- 
gareta  vorzuzeigen,  wenn  sie  zufällig  etwas 
Müsse  hätte,  nicht  ohne  wohlwollende  Erwähnung 
des  Senders,  non  sine  qiiadain  benivola  mentione 
niei  (ut  soles  amice  et  hunianiter  facere);  Marnix 
möge  aber  darauf  achten,  sie  wiederzubekommen, 
damit  Lemaire  seinen  Auftrag  ausführen  könne. 
Leben  Sie  wohl,  verehrtester  Freund,  so  schliesst 
der  Brief,  und  grüssen  Sie  in  meinem  Namen 
Ihre  und  meine  gemeinsamen  Freunde  und  liebens- 


1  Cf.  Oeuvres  IV,  4o3. 

^  ...  et  sue  nune  retrocedo  Sonegias  usque,  est  domino 
Petro  obsequar.  Brief  an  Marnix.  Gieser  Bekannte  ist  vielleicht 
-der  sire  Pierre  Le  Fevre,  dessen  Pfründe  Margareta  nach  seinem 
Tode  (1510)  an  Marnix  verlieh,  (cf.  Leglaj-,  Correspondance 
I,  397) ;  Pierre  Le  Fevre  war  vermutlich  ein  Verwandter  des 
kaiserlichen  Rats  und  Generalschatzmeisters  Roland  Le  Fevre, 
seigneur  de  Thamise. 


—  111   — 

würdigen  Tischgenossen.  Brüssel,  den  17.  No- 
vember, vor  Tagesanbruch.  Ihr  Diener  Eriamel 
von  Beiges,  durch  Ihre  Empfehlung  und  Ihre 
Bemühung  königlicher  Indiciarius  und  Kanonikus 
von  Valencienncs'. 

Man  sieht,  welch  bewegtes  Leben  Lemaire 
in  diesem  Jahre  führte ,  und  wie  erfolglos  sein 
Wunsch  blieb ,  sich  in  Löw^en  niederlassen  zu 
dürfen  wegen  der  Universität  2. 

Abgesehen  von  zufälligen  Reisen,  scheint  er 
sich  zur  Zeit  im  Gefolge  Margaretas  aufgehalten 
zu  haben.  Ende  Dezember  war  er  wahrscheinlich 
wieder  in  Mecheln,  als  die  Eheverabredung  des 
österreichischen  Erbprinzen  mit  Maria  von  Eng- 
land getroffen  wurde.  Der  Kaiser  bewarb  sich 
um  dies  neue  Bündniss,  seit  das  Heiratsver- 
sprechen zwischen  Karl  und  Klaudia  von  Frank- 
reich gebrochen  worden  war.  Am  I.Januar  löOS 
wurde  der  vorläufige  Abschluss  des  Vertrages 
in  Mecheln  öffentlich  gefeiert  und  bei  diesem 
Anlass  ein  neues  Lied  —  wahrscheinlich  von 
Lemaire  —  aufgesetzt: 

Chant  nouvel. 
Plus  Hills  regrets,  grands,  moyens  ne  nteniis, 
De  joye  niids.  ne  soient  dicts  n'escripts. 


»  Vale  valentissime  et  lepidos  illos  tuos  et  meos  consodales 
atque  convivas  verbis  meis  salvere  iube.  Bruxellae,  hac  die 
mercurii,  XVII.  novembris,  nondum  lucis  orto  sidere.  Tuus 
servus  Eriamel  belga,  tua  ope  et  tua  opera  indiciarius  rcgius 
et  canonicus  Vallencenensis.  —  Oeuvres  IV,  371. 

-  Bittgesuch  an  Margareta.    1509.    Oeuvres  IV,  393. 


—    112    — 

Ores  revient  le  hon  tenips  Saturnus 

Ou  peu  cogneus  furent  plainctifs  et  cris. 

Se  rnars  nous  tolt  la  blanche  fleur  de  lis 
Sans  nuls  delicts,  si  nous  donne  Venus 
Rose  inerveille  amouveuse  de  pvis 
Dont  nos  esprits  n'auront  regrets plus  nuls^. 

In  Notre-Dame  de  la  Salle-le-Conte  in  Valen- 
ciennes  Schlief  Jean  Molinet  des  ewigen  Schlafes 
zur  Seite  seines  Lehrmeisters  und  Vorgängers 
George  Chastellain.  Da  Lemaire  nicht  reich 
genug  war,  um  ihnen  ein  würdiges  Denkmal  er- 
richten zu  können,  that  er  wenigstens,  was  an 
ihm  war,  und  dichtete  ihnen  zu  Ehren  eine  Grab- 
schrift in  Alexandrinern,  die  Vers  um  Vers 
zwischen  Frage  und  Antwort  abwechselnd,  die 
Verdienste  der  Verstorbenen  priesen. 

Dy-moy  qui  gist  icy  sans  que  point  tu  in'abuses? 
—  Cy  gist  l'amy  privi  d' Apollo  et  des  muses;  etc. 

Ein  Vergleich  mit  Virgil  und  Ovid  ist  für  Lemaire 
verehrungsvolle  Bewunderung  nicht  zu  viel: 


1  Oeuvres  IV,  267.  sq.  —  Es  ist  wie  der  Chant  nouvel  für 
Champier  eigentlich  ein  Double  Virelay  de  nouvelle  Taille, 
d.  h.  ein  zwanzigzeiliges  Refraingedicht  in  drei  resp.  fünf  Ab- 
sätzen in  Zehnsilbern,  diesmal  mit  Binnenreim:  a(a)ba(a)b. 
b(b)cb(b)c.a(a)ba(a)b.c(c)bc(c)b.b(b)ab(b)a.  —  Van  Hasselt,  Essai 
sur  l'histoire  de  la  po6sie  francaise  en  Belgique  (Mem.  cour. 
p.  l'Acad.  de  Bruxelles.  XIII.  1838)  p.  277  druckt  das  Gedicht 
aus  den  «Albums  de  Marguerite  d'Autriche»,  indem  er  die 
Langzcilen  mit  Binnenreim  in  Kurzzeilen  zerlegt. 


—    113    — 

Mais  ()  qui  coniparer  les  pciit  o)i  satis  ntcspyisP 

—  L'nn  poity  Viriiille,  et  l'autrc  cstpour  Ovicfcpris. 
L'iin  doncqiu's  fut  plus  gravc,  et  l'aiilre  plus 

facille? 

—  Plus  luinuüu  fut  Ovide  et  plus  divin  Vtrgille^. 

Aus  eigenem  Antrieb  erbot  sich  der  Kriegs- 
schatzmeister Charles  Le  Clerc,  diese  Inschrift 
auf  Kupfer  oder  Marmor  eingraben  zu  lassen, 
um  sie  an  der  Begräbnissstätte  aufzustellen.  In 
der  That  befand  sich  lange  die  Gedenktafel  mit 
den  Versen  Lemaires  in  goldenen  Buchstaben 
den  beiden  Gräbern  gegenüber  in  der  Marien- 
kirche zu  Valenciennes. 

In  dem  Briefe,  mit  dem  Lemaire  dem  frei- 
gebigen Gönner  seine  Verse  zueignet,  weist  er 
die  Missgunst  derjenigen,  die  ihn  um  sein  Amt 
als  Indiciarius  beneiden,  angelegentlich  ab :  „Wenn 
Jemand  sich  ärgert,  schreibt  er,  oder  sich  verletzt 
fühlt,  dass  er  zu  diesem  Amte  nicht  befördert 
und  vorgezogen  worden  ist,  sintemal  er  sich 
dazu  geeigneter  wusste,  so  meine  ich,  er  müsste, 
um  von  seiner  Befähigung  und  Tauglichkeit  (die 
noch  nicht  hinlänglich  bekannt  sind)  besser  zu 
überzeugen,  eines  thun :  nemlich  sofort  ebensoviel 
Arbeit  und  Studium  aufwenden,  wie  ich  zu  Ehr 
und  Dienst  dieses  erlauchten  Hauses  aufgewendet 


*  Epitaphe  en  maniere  de  dialogue  de  feus  .  .  Messire 
Georges  Chastellain  .  .  et  de  Maistre  Jean  Molinet,  en  vers 
alexandrins  interrogatifs  et  responsifs.  Oeuvres  IV,  318.  Es  sind 
36  paarweise  gereimte  Zwölfsilber. 

Becker,  Jean  Lemaire.  8 


—    114    — 

habe.  Nicht  ebenso  viel;  denn  das  wäre  mehr  als 
er  leisten  könnte.  Sondern  einfach  nur  so  viel, 
als  man  erkennen  kann  am  ersten  Buche  der 
Couronne  Margaritique,  das  bereits  veröffentlicht 
ist,  und  von  dem  du  eine  Abschrift  besitzest,  und 
weiter  an  den  beiden  ersten  der  Singularitez  de 
Troye  et  de  Turquie,  die  noch  nicht  bekannt  ge- 
geben sind,  es  sei  denn  mit  Wissen  meiner  Herrin, 
welche  mir  befohlen  hat,  dieselben  recht  sorg- 
fältig zu  überarbeiten  und  zu  erweitern,  bevor 
ich  sie  zu  Tage  fördere.  Also,  wenn  dieser  unbe- 
kannte Bewerber  seine  Werke  dementsprechend 
vorlegt,  wenn  ich  nicht  darüber  hinaus  noch 
etwas  grösseres  vorzeige,  so  soll  er  den  Vorrang 
vor  mir  haben'." 

An  Selbstvertrauen  fehlt  es  unserem  Dichter 
nicht.  Er  durfte  aber  auch  mit  einem  gewissen 
stolzenBe  wusstsein  von  seinen  Arbeiten  sprechen ; 
denn  gerade  dieser  Anfang  der  dreissiger  Jahre 
war  die  ergiebigste  und  fruchtbarste  Zeit  seines 
Lebens:  er  stand  in  der  Fülle  seiner  Schaffens- 
kraft, und  alle  Lebensbedingungen  und  die  gesell- 
schaftlichen Beziehungen  fingen  an  sich  für  ihn 
möglichst  günstig  und  anregend  zu  gestalten. 

In  der  zweiten  Februarwoche  hatte  sich 
Margareta  nach  Antwerpen  begeben;  hier  schrieb 
Lemaire  den  Brief  an  Le  Clerc,  den  15.  Februar 


'  Oeuvres  IV.  321.  Charles  Le  Clerc  wurde  vom  Kaiser 
sehr  geschätzt ;  1509  wurde  er  dem  Generalschatzmeister  als 
Ersetzender  beigegeben. 


-    115    - 

1508,  und  besorgte  den  Druck  der  noch  nicht 
veröffentlichten  Erzcup^nissc  des  verflossenen 
Jahres'.  Von  dem  Zeitpunkt  an  bis  Anfang  1509 
hören  wir  nichts  mehr  von  ihm,  seine  anna- 
listischcn  Aulzeichnungcn  hören  auf;  wir  er- 
fahren blos  beiläulig  aus  der  Legende  der  Vene- 
zianer, dass  er  sich  im  Jahre  1508  in  Rom  befand. 
Bevor  wir  ihn  aber  weiter  begleiten,  müssen 
wir  ein  Wort  von  seinen  zeitgeschichtlichen  Ar- 
beiten sagen. 

Lemaire  trug  sich  mit  den  Plänen  zu  zwei 
grossen  Geschichlswcrken:  das  eine  sollte  ein 
Abriss  der  Zeitgeschichte  Margaretas  werden 
sammt  deren  Fortsetzung,  so  weit  es  .sich  fügen 
würde,  das  andere  eine  Genealogie  ihres  Hauses 
von  der  Sündflut  bis  zu  den  lebenden  Fürsten. 
Zur  letzteren,  sagt  Lemaire,  hatte  er  das  Material 
in  den  besten  Büchereien  der  Christenheit 
gesammelt^.  Die  Vorarbeiten  zur  ersteren  sind 
noch  erhalten,  zum  Teil  von  seiner  Hand  ge- 
schrieben s;  sie  bestehen  in  einem  ausführlichen 
Auszug  von  Antoine  de  Lalaings  Beschreibung 
der  Reise  Philipps  im  Jahre  1501,  einer  Abschrift 
des  anonymen  Berichts  über  seine  zweite  Reise, 
einige  Bemerkungen  zum  Jahre  1505,  und  schliess- 


*  Pompe  funeralle ,  Epitaphe  en  maniere  de  dialogue, 
.•\lliance  d'Angleterre  und  Brief  an  Le  Clerc. 

'^  Oeuvres  IV,  395.    In  dem  Bittgesuch  an  Margareta,  1509. 

=>  Bibl.  nat.  Dupuy  503  cf.  Gachard,  la  Biblioth^que  nationale, 
notices  et  extraits,  Bruxelles  1875  I,  95  (Collection  de  chroniques 
beiges  in^dites). 


-    116    ~ 

lieh  seine  eigenen  Aufzeichnungen  und  aus- 
gearbeiteten Entwürfe.  Seine  Aufzeichnungen, 
die  memovalia  indtciaratus,  erstrecken  sich  vom 
25.  August  1507  bis  zum  9.  Februar  1508  mit 
einem  Anhang  vom  16.  Januar  bis  13.  Februar  1509 ; 
sie  zeigen  Lücken,  so  oft  Lemaire  vom  Hofe 
abwesend  war.  Ausgearbeitet,  aber  auch  lücken- 
haft, ist  der  Bericht  von  Margaretas  Reise  durch 
die  Niederlande,  April  bis  Juli  1507;  er  schliesst 
mit  der  Erwähnung  von  Molinets  Tod.  Da  die 
Erzählung  das  erste  volle  Jahr  seiner  Amts- 
thätigkeit  umfassen  sollte,  bezeichnet  sie  Lemaire 
als  Chronique  annale.  Die  nicht  vorhandene 
Chronique  semiannale  vom  Tode  Philipps  bis 
Ostern  1507,  die  in  der  ersteren  mehrfach  erwähnt 
wird,  war  möglicherweise  nur  projektiert.  Ent- 
worfen ist  der  Anfang  der  Chronique  abregee, 
nemlich  die  einleitenden  Worte,  Margaretas 
Geburt  und  Horoskop;  für  die  Folgezeit  hat 
Lemaire  nur  kurze  Notizen  und  Jahreszahlen 
aufgezeichnet'. 

Da  der  Bericht  über  die  zweite  Reise  Philipps 
ohne  Namen  des  Verfassers  überliefert  ist,  und 
nicht  von  Antoine  de  Lalaing  sein  kann,  so  hat 
man  an  Lemaire  gedacht,  da  er  uns  nur  durch 
seine  Aufzeichnung  erhalten  ist^.  Es  ist  aber 
nicht  denkbar,  dass  er  Philipp  den  Schönen  nach 


1  Oeuvres  IV,  4^11  sqq. 

*  Vgl.  Gachard,  les  voyages  des  Souverains  des  Pays-Bas  I. 
der  ganz  richtig  Lemaires  Verfasserschaft  ausschliesst. 


-    117    - 

Kastilicn  begleitet  hätte ;  denn  der  Berichterstatter 
spricht  als  Augenzeuge  der  Ereignisse  von 
Dezember  1504  bis  September  1507.  Uebcrhaupt 
stimmt  der  Ton  des  Berichtes,  der  ausgesprochene 
Dialekt,  der  politische  Sinn,  den  er  bekundet, 
die  Freiheit  der  Aeusserungen  und  die  Furcht, 
der  König  möchte  von  seiner  Schriftstellerei  etwas 
erfahren,  das  Grausen  bei  dem  blossen  Gedanken, 
sich  in  Frankreich  niederlassen  zu  müssen,  nicht 
im  Geringsten  zu  Lemaires  Wesen  und  zu  seiner 
Eigenschaft  als  offizieller  Historiograph. 

Lemaire  war  kein  geborener  Geschichts- 
schreiber; er  war  ein  loyaler  Verehrer  seiner 
Fürstin:  alles,  was  ihre  Person  betrifft,  vor 
allem  das  Gepränge  des  öffentlichen  Auftretens, 
fand  an  ihm  einen  bewundernden  Zuschauer  und 
getreuen  Erzähler.  \'on  den  politischen  Begeben- 
heiten kennt  er  meistens  nur  das  auffällige,  welt- 
kundige; es  fehlt  ihm  ein  gewisser  feinerer 
Sinn,  der  ihn  die  verborgenen  Fäden  der  Politik 
und  die  Hintergedanken  der  handelnden  Personen 
errathen  Hesse;  er  ist  zu  sehr  ein  stiller,  das 
lärmende  Getriebe  scheuender  Gemütsmensch. 
Indessen  gewinnen  seine  Aufzeichnungen  dadurch 
an  Bedeutung,  dass  sie  von  einem  Augenzeugen 
gleichzeitig  gemacht  worden  sind  und  einige 
Lücken  in  den  sonstigen  Denkmälern  der  Zeit, 
namentlich  im  Briefwechsel  Maximilians  und 
Margaretas,  in  gewisser  Hinsicht  ergänzen.  Vor 
allem   aber  verdanken   wir  ihm  —   das  dürfen 


-    US    - 

wir  nicht  unterschätzen  —  den  sonst  dem  Unter- 
gang preisgegebenen  Bericht  über  die  zweite 
Reise;  dass  er  denselben  ebenso  wie  die  Be- 
schreibung von  Antoine  de  Lalaing  ausfindig 
machte  und  seiner  Sammlung  einverleibte, 
bekundet  doch  eine  Rührigkeit  und  einen  Spür- 
sinn, die  für  den  Geschichtsschreiber  von  unschätz- 
barem Werte  sind.  Wir  dürfen  auch  nicht  ver- 
gessen, dass  wir  kein  vollständig  ausgearbeitetes 
Geschichtswerk  von  ihm  besitzen,  um  uns  ein 
Urteil  zu  bilden. 

VIII. 

Im  Jahre  1508  war  Lemaire  zum  zweiten 
Male  in  Rom'.  W^as  ihn  dahinzog  lässt  sich 
denken:  Italien  mit  seinen  Altertümern  und 
Bücherschätzen  war  mehr  als  je  das  gelobte 
Land  derLernbegierigenundGelehrten.  Schwerer 
lässt  sich  erraten,  welcher  besondere  Anlass 
seine  Reise  verursachte,  und  was  ihm  die  Mög- 
lichkeit zu  einem  kürzeren  oder  längeren  Auf- 
enthalt auf  der  Apeninnenhalbinsel  gewährte  2. 
Man  möchte  annehmen,  dass  er  diesmal  nicht 
blos  vorübergehend  jenseits  der  Alpen  weilte; 
denn  er  brachte  von  seiner  Reise  eine  reiche 
Ernte    neuer    Bücher    mit,    vor    allem    einige 


'  «Bien  est  il  vray,  que  ainsi  que  par  curiosit^  je  cherche 
plusieurs  livres,  j'ay  trouvö  un  passage  en  l'cpisire  de  Sibjlle 
Erythree,  laquelle  je  recouvray  ä  Romme  l'annee  passee,  mil 
cinq  cens  et  huit.»    Legende  des  Vcniciens.    Oeuvres  III,  363. 

^  Vielleicht  steht  die  Reise  Lemaires  mit  der  Errichtung 
eines  Bistums  in  Bourg  im  Zusammenhang. 


-    119    — 

italienische  Werke,  die  er  später  in  französischer 
Sprache  zu  bearbeiten  gedachte'. 

Wenn  Lemairc  den  Abschluss  der  Feind- 
seligkeiten zwischen  Kaiser  und  Venezianern, 
die  im  Frühjahr  1508  Italien  unzugänglich  machten, 
abgewartet  hat,  so  wird  er  nicht  vor  Juni  über 
die  Alpen  gegangen  sein;  er, kann  aber  bis  zum 
Ende  des  Jahres  in  Rom  geblieben  sein.  Es  hat 
den  Anschein,  als  wäre  er  noch  dort  gewesen, 
als  Philipp  Bastard  von  Burgund  mit  Johann 
von  Chastillon,  Archidiakonus  von  Campigne  in 
derLütticher  Kirche,  als  Oratoren  des  Erzherzogs 
Karl  dahin  kamen,  um  den  Papst  des  Gehorsams 
des  Fürsten  und  des  Landes  zu  versichern;  jeden- 
falls ist  er  über  die  Rede,  welche  Chastillon  in 
der  feierlichen  Audienz  vom  14.  Januar  1509  vor 
dem  Papst  und  dem  Kollegium  der  Kardinäle 
hielt,  genauer  unterrichtet 2.  Andererseits  scheint 


»  Los  Gestes  du  Sophy  et  la  prinse  d'Orant  en  Barbarie 
cf.  Oeuvres  III,  L'OO.  IV.  377.  Le  navigaige  des  Indes  recueilly 
par  plusieurs  pieces  en  Ytalie.  ibid.  IV.  3^)5.  und  wohl  auch 
Materialien  zur  Geschichte  des  Hauses  Burgund.  cf.  1.  c.  Da- 
mals wird  er  wohl  auch  den  Annius  von  Viterbo  entdeckt 
h.iben.  Margarcta  hatte  Lemairc  befohlen,  seine  Singularitez 
noch  zu  erweitern,  Brief  an  Le  Clerc,  Oeuvres  IV,  321.  Die 
Reise  dürfte  zum  Zweck  gehabt  haben ,  Material  dafür  zu 
sammeln. 

^  «Et  cette  histoire  (wie  der  falylhafte  Austrasius  Chlodo- 
wech  bewegte,  das  Christentum  zu  bekennen)  fut  recitee 
devant  le  Papc  Julies  ä  present  scant  et  tout  le  consistoire  des 
Cardinaux,  par  messire  Jean  de  Chastillon,  archidiacre  de  Cam- 
pigne en  l'cglise  du  Liege,  en  faisant  son  oraison  de  l'obedience 
liliale  des  paYs  de  pardega,  comme  Orateur  ä  ce  envoy^  de  par 
l'Empereur    et   l'Archiduc ,   avcc    monsieur    l'Amiral ,   messire 


-    120    — 

er  sich  während  des  Aufenthaltes  Maximilians 
in  den  Niederlanden  wieder  in  Margaretas  Um- 
gebung befunden  zu  haben'. 

Grosse  Aenderungen  waren  inzwischen  vor 
sich  gegangen.  Am  10.  Dezember  1508  war  der 
Friede  vonCambrai  geschlossen  worden,  welcher 
die  entzweite  Christenheit  in  Eintracht  zu  einen 
verhiess;  Margaretas  politisches  Geschick  hatte 
die  Aussöhnung  der  Gegensätze  ermöglicht  und 
den  Abschluss  herbeigeführt.  Für  Lemaires 
stilles  Hoffen  bedeutete  dieser  Frieden  nichts 
weniger  als  der  Beginn  einer  neuen  Aera:  nun- 
mehr würden  die  Fürsten  Europas  in  gemein- 
samem Bunde  auftrechen  und  den  Türken 
Griechenland  und  Kleinasien  wieder  entreissen 
und  ein  christliches  Reich  an  der  Stätte  ihres 
trojanischen  Erbteils   errichten.    Desshalb  wob 

Phelippes  de  Bourgogne,  l'an  mille  cinq  cens  et  huit.»  Illustra- 
tions  III,  Oeuvres  II,  365.  —  Nach  den  Diarii  des  Venezianers 
Marino  Sanuto  (t.  VII.  ed  R.  Fulin,  Venezia  1882)  reisten  die 
beiden  Oratoren  im  Dezember  durch  Italien  (am  13.  waren  sie 
in  Verona),  kamen  Anfang  Januar  in  Rom  an,  wurden  am  14. 
zur  Oboedienz  vorgelassen.  Vom  4.— 18.  Februar  hielten  sie  sich 
in  der  Nähe  des  Papstes  in  Ostia  auf.  Cf.  1.  c.  684.  689.  692. 
694.  716.  719.  746.  748.  756.  Lemaire  sagt  nicht,  dass  er  bei 
der  Audienz  anwesend  war ;  es  liesse  sich  denken,  dass 
er  eine  Abschrift  der  offiziellen  Rede  in  den  Niederlanden  zu 
lesen  bekam,   wenn  er  sich  gerade  bei   Hofe  befand. 

"  Cf  Oeuvres  IV,  459.  Die  zeitgeschichtlichen  Aufzeich- 
nungen Lemaires  beginnen  wieder  am  16.  Januar  (nicht  XVI^  de 
febvrier)  und  gehen  bis  zum  23.  Februar.  —  Dass  wir  über 
Lemaires  Thun  und  Treiben  im  Jahre  1508  so  schlecht  unter- 
richtet sind  ,  darf  uns  nicht  wundern,  es  fehlen  infolge  der  Kriegs- 
zeiten auch  für  Maximilian,  Margareta,  Ludwig  den  XII.  usw. 
sichereNachrichten.  Geschichtlich  existiert  dasjahrl508eigentlich 
gar  nicht  bis  zum  Frieden  von  Cambrai. 


121 


sich  vor  seinen  Augen  um  Margaretas  Haupt 
der  Glorienschein  der  Friedensstifterin.  Es 
wäre  nicht  undenkbar,  dass  er  aus  Anlass  dieser 
Weltereignisse  schon  im  Januar  eine  Flugschrift 
fertig  gehabt  und  sie  im  Fluge  stolzer  Hoff- 
nungen die  Eintracht  des  Metischeugeschlechtes 
betitelt  hätte;  mit  Sicherheit  können  wir  ihm 
aber  diese  verloren  gegangene  Schrift  nicht 
zuschreiben'. 

Während  der  Anwesenheit  Maximilians  in 
Brüssel  machte  Margareta  Ansprüche  auf  die 
Grafschaften  Burgund  und  Charolais  nebst  den 
Herrschaften  Salins,  No3'ers,  Chastelchinon, 
Chaulcin  und  La  Perri^re  geltend,  sei  es  als 
versprochene  Mitgitt,  sei  es  als  mütterliches 
Erbteil;  und  der  Kaiser  vollzog  die  Schenkung 
in  Anerkennung  der  vorgebrachten  Gründe  und 
ihrer  Verdienste  alsStatthaltcrin  am  17.  Februar-. 


'  La  Concorde  du  jjendre  humain.  Imprimö  dcdcns 
Bruxcllcs  le  nioys  que  le  prince  volt  premier  entrer  cn  icelle, 
qui  fust  cn  janvicr  mil  cinq  cens  et  wyt  et  madame  nasquit 
cn  laditc  bonnc  villc  le  semblable  moys  mil  cccc  quatre  vinjftz  etc. 
—  Der  Einzug  Maximilians  und  seines  Enkels  fand  am  16.  Januar 
1509  statt.  —  Um  diese  Schrift  Lemaire  zuzuschreiben,  haben 
wir  lediglich  nur  die  Autorität  Bruneis,  Manuel  III,  960.  Es 
dürfte  die  Attribution  auf  einer  Verwechslung  beruhen,  cf.  Con- 
corde des  dcux  langages.  Stecher,  .Art.  Lemaire  in  der  Bio- 
graphie nationale  p.  p.  l'Acadömie  de  Belgique,  denkt  an  Nicaisc 
Ladan  als  Verfasser.  Die  ganze  .\bfassung  des  Titels  und  die 
übrigen  Bemerkungen  auf  dem  Titelblatt  machen  es  mir  per- 
sönlich unglaubhaft,  dass  die  Schrift  von  Lemaire  ist.  Sie 
enthielt  übrigens  \'erse  und  Prosa. 

^  Quinsonas,  Matöriaux  pour  servir  il  l'histoire  de  Mar- 
guerite  d'Autriche,  III,  199.  Die  Schenkungsurkunde  ist  vom 
Jahre  1509  römischen  Stils,  d.  i.  1508  alten  Stils. 


-    122    — 

Lemaire  erfasste  diesen  Umstand  als  geeignete 
Gelegenheit,  um  der  Fürstin  durch  ihren  Geheim- 
schreiber Barangier  die  Bitte  vorlegen  zu  lassen, 
sie  möchte  ihm  hinfort  seinen  ständigen  Aufent- 
halt mit  Versorgung  und  Wohnsitz  in  der  Graf- 
schaft Burgund  anweisen,  und  zwar  in  Dole 
wegen  der  dortigen  Hochschule.  Der  Verbleib  in 
der  Heimat  war  ihm  verleidet :  denn  das  Hofleben 
zog  ihn  zu  sehr  von  seinen  Studien  ab  und  war 
zu  kostspielig  für  seine  Verhältnisse,  und  dann 
hatte  er  erfahren  müssen,  dass  kein  Prophet 
daheim  etwas  gilt.  Allerlei  Neid  und  A^er- 
unglimpfung  hatten  ihn  gezwungen,  gerichtlich 
gegen  seine  Verleumder  einzuschreiten,  und 
hatten  ihm  gezeigt,  wie  leicht  anhaltende  An- 
schw^ärzungen  das  Wohlwollen  entfremden 
können.  Im  Süden  hingegen  hatte  er  stets  nur 
Ireundliche  Aufnahme  gefunden  und  hatte  ja 
dort  seinen  Rut  als  Schriftsteller  begründet. 
Damit  seine  Herrin  aber  nicht  glaube,  es  sei 
blos  Unbeständigkeit  seinerseits,  erinnert  er  sie 
daran,  dass  ein  stiller  Aufenthalt  stets  sein 
innigster  Wunsch  gewesen ,  dass  es  ihm  aber 
weder  unter  seinem  früheren  Herrn  vergönnt 
gewesen,  sich  in  Ligny  festzusetzen,  noch,  seit 
er  in  Margaretas  Dienst  war,  in  Annecy,Besan(;on 
oder  Löwen  zur  Ruhe  zu  kommen;  nun  wäre 
seine  letzte  Bitte,  eine  Wohnstätte  in  Burgund 
zu  finden.  Das  Gute,  das  Margareta  ihm  erweisen 
würde,  werde    er    übrigens  mit  seinen  beiden 


-    123    - 

Neffen,  deren  Pflege  ihm  anheimgefallen,  teilen. 
Schliesslich  zählt  er  alle  Werke  aut,  die  er  im 
Auftrage  oder  zu  Ehren  der  Fürstin  in  Arbeit 
hatte,  und  die  der  Vollendung  harrten,  und 
erinnert  sie  an  die  vier  Verse,  die  sie  dereinst 
eigenhändig  an  ihn  gerichtet  hatte,  eine  Aner- 
kennung seiner  Bemühungen,  die  ihm  Zeit  seines 
Lebens  teuer  bleiben  würde. 

Dieses  Bittgesuch  legte  Lemaire  der  Fürstin 
vor,  um  sie  zu  bewegen,  die  Zusage,  die  sie 
bereits  mündlich  ihrem  Geheimschreiber  gegeben 
hatte,  durch  eine  ausdrückliche  Verordnung  zu 
bestätigen ;  und  er  that  es  schriftlich,  weil  er  sich 
beim  Schreiben  sicherer  fühlte  als  beim  münd- 
lichen Vortrag'. 

Von  den  Werken,  die  Lemaire  bei  dieser 
Gelegenheit  erwähnt,  beschäftigten  ihn  einige 
schon    lange :   das   zweite   Buch   der   Couroiine 


»  Cf.  Oeuvres  IV.  392  sqq.  Das  Bittgesuch  trnpt  kein 
Datum ;  die  Sachlage  verweist  es  in  das  Frühjahr  löO«.  Im 
Sommer  ist  Lemaire  bereits  im  Süden  und  schickt  die  Ulustra- 
tions  zum  Drucke  .während  er  hier  nur  die  Hoffnung  ausspricht, 
er  würde  das  von  allen  Seiten  verlangte  Buch  mit  Margaretas 
Einwilligung  bald  in  Lyon  drucken  lassen  können.  Vgl.  den 
Brief  an  Le  Clerc  15.  Februar  1508,  Oeuvres  IV.  31'1.  und  den 
an  Barangier  15.  Juli  1509,  ibid.  374.  Aus  den  Worten :  plaise 
vous  Ics  ententre  par  cestc  escripture  qui  m'est  plus  ydoine 
que  le  parier,  geht  hervor,  dass  Lemaire  noch  die  Wahl  zwischen 
mündlichem  und  schriftlichem  Vortrag  offen  stand,  dass  er  mit- 
hin noch  in  den  Niederlanden  war.  Das  Schreiben  ist  also  kein 
durch  Kurrier  abgesandter  Brief,  sondern  eine  persönlich  oder 
durch  Vermittlung  eines  Freundes,  etwa  Barangier,  eingereichte 
Bittschrift;  so  erklärt  sich  das  Fehlen  von  Ort,  Datum  und 
Unterschrift. 


-    124    - 

-margaritique  ist  vollständig  entworfen  und  harrt 
der  Reinschrift.  Die  Singiilarites  de  Troye  sind 
auf  drei  Bücher  angewachsen,  welche  noch  zu 
verbessern  und  zu  vollenden  stehen,  aber  in 
Kürze  druckfertig  sein  können.  Nächstdem 
kommt  la  forte  haye  du  vergier,  das  so  Gott 
will,  zuerst  abgefertigt  werden  soll,  und  der 
Auszug  aus  Margaretas  Zeitgeschichte  nebst 
deren  Fortsetzung,  die  nur  im  Laufe  der  Zeit 
gefördert '  w^erden  kann.  Das  sind  die  Haupt- 
werke, dazu  kommen:  der  Anfang  des  Palais 
d'Honneur,  eine  Erfindung  Margaretas,  deren 
Ausführung  sie  dem  Dichter  in  Turin  anvertraut 
hatte ;  er  sollte  baldim  Anschluss  an  dieCouronne 
margaritique  folgen.  Ferner  l'abc  mondain  ;  der 
Seeweg  nach  Indien,  le  navigaige  des  Indes 
nouvelleinent  trouvi,  worüber  Lemaire  kürzlich 
verschiedene  Schriften  in  Italien  gesammelt;  und 
endlich  die  Genealogie  des  Hauses  Burgund, 
für  die  er  die  besten  Büchereien  des  Christen- 
heit zu  Rate  gezogen  hatte. 

Von  allen  diesen  Werken  sind  nur  die  drei 
Bücher  der  Illustrations  fertig  geworden;  die 
historischen  Schriften  sind  Bruchstücke  geblieben ; 
von  den  andern :  dem  zweiten  Buche  der  Couronne 
margaritique,  la  forte  ha5'e  du  vergier,  l'abc 
mondain,  le  navigaige  des  Indes,  hören  wir  über- 
haupt nicht  mehr  reden ;  an  dem  von  Margareta 
bestellten  Palais  d'honneur  feminin,  wie  der  volle 
Titel  heisst,  arbeitete  Lemaire  noch  im  November 


—    125    — 

des  folgenden  Jahres,  doch  ist  auch  diese  be- 
gonnene Arbeit  spurlos  verschwunden'. 

Margareta  scheint  in  der  That  auf  die  Bitte 
ihres  Indiziarius  eingegangen  zu  sein  und  ihm 
gegen  Tausch  seiner  Domherrnpfründe  in  Valen- 
ciennes  irgend  eine  Versorgung  in  ihren  süd- 
burgundischen  Besitzungen  angewiesen  zu 
habend.  Vom  Sommer  1509  an  treffen  wir  ihn 
bald  in  Bourg,  bald  in  Lyon,  bald  in  DOle  mit 
seinen  litterarischen  Arbeiten  und  auch  ander- 
weitigen Nebengeschäften  befasst. 

Im  Juli  ist  ihm  die  ehrenvolle  Aufgabe  zuge- 
fallen, die  Vorbereitung  zum  feierlichen  Empfang 
Ludwigs  des  XII.,  den  man  in  Lyon  auf  der 
Rückreise  aus  Italien  erwartete,  zu  treffen;  die 
Stadt  hatte  ihn  gebeten,  die  Anordnung  der  Fest- 
lichkeit zu  übernehmen,  Lemaire  hatte  die  Ge- 
nehmigung des  Statthalters  von  Bresse  eingeholt 
und  hegte  die  Zuversicht,  für  seine  Herrin  Ehre 
einzulegend 


'  Cf.  Oeuvres  IV.  397. 

'  Stecher,  Oeuvres  de  J.  Lemaire  I.  XIII.  Anm.  1.  «AI. 
Pinohart  a  trouvö  aux  Archives  du  Royaume  la  trace  de  cette 
pcrmutation  au  proüt  de  Nicolas  Perly  (Comptes  des  Droits 
du  grand  Sceau,  n"  20402.  fol.  4  recto).» 

'  Oeuvres  IV,  374.  Brief  an  Louis  Barangier.  Der  Brief 
beginnt;  j'ai  receu  vos  lettres  escriptes  ä  la  Haye  le  premier 
jour  de  Jtiillet,  und  schliesst:  Escript  ä  la  haste  ä  Bourg. 
ce  XV  de  juitig.  Der  Widerspruch  ist  zu  Gunsten  des  ersteren 
Datums  zu  entscheiden,  und  cc  XV  de  j'uitig  in  cc  XV  de  fuillct 
zu  verbessern:  denn  erst  nach  dem  Falle  von  Padua  am  17.  Juli 
cntschloss  sich  Ludwig  über  die  Alpen  zu  gehen.  Am  15.  Juni 
wüsste  ich  nicht ,  welche  günstige  Nachrichten  aus  Italien 
Lemaire    über    den    Haag    erhalten    konnte.     Hätte    er    seine 


126 


Ausserdem  hatte  Lemaire  Abschriften  seiner 
Singularitez  und  einer  eben  verfassten  Gelegen- 
heitsschrift nach  Lj^on  geschickt,  in  der  Hoff- 
nung, vom  Grosskanzler  auf  Empfehlung  des 
Stadthauptmanns  und  Conservators  der  Messe, 
Claude  Thomassin,  das  Privileg  zum  Drucke  zu 
erhalten;  in  der  That  wurde  es  ihm  am  30.  Juli 
erteilt  und  am  20.  August  eingetragen.  So  konnte 
denn  der  Satz  des  ersten  Buches  der  Illustrations 
in  Angriff  genommen  werden,  neun  Jahre  waren 
es  her,  dass  das  grosse  Werk  unternommen  war; 
seit  sechs  Jahren  arbeitete  Lemaire  unter  Mar- 
garetas  Auspizien  daran'.  Die  andere  Schrift 
war  in  den  letzten  Monaten  entstanden  und  gegen 
die  Venezianer  gerichtet. 

Die  Liga  von  Cambrai  war  im  Grunde  ge- 
nommen eine  Verschwörung  der  Mächte  gegen 
Venedig,  welches  durch  seine  unzuverlässige 
Haltung  die  eine  nach  der  andern  gegen  sich 
aufgebracht  hatte.  Ludwig  der  XII.  war  zuerst 
zum  verabredeten  Einfall  bereit  gewesen  und 
hatte  mit  dem  Siege  "von  Agnadello  den  Zweck 
seines  Feldzugs  erreicht,  bevor  Maximilian 
seinerseits  Vorbereitungen  zum  Angriff  getroffen 
hatte.  Ludwig  hielt  eben  die  Mittel  in  der  Hand 
und  verfügte  auch  über  Schriftsteller,  die  seine 


Schriften  schon  Anfang  Juni  eingereicht,  so   wUre  das  Privileg- 
wahrscheinlich  schon  vor  dem  30.  Juli  ertheilt  worden. 

'  Vgl.  den  Brief  vom  15.  Juli,  Oeuvres  IV,  374,  und  den  um 
diese  Zeit  entstandenen  Prolog  und  das  I.Kapitel  der  Illustrations 
ibid.  I,  1  sqq. 


127 


Politik  mit  Ucberzeugung  und  Geschick  vor  dcr 
OcfTcntlichkcit  vertraten.  Einen  ahnlichen  Dienst 
unternahm  Lemaire,  aus  patriotischer  Begeister- 
un,i?,  dem  Kaiser  zu  leisten,  indem  er  in  der 
Legende  des  Vcnitiens  die  ganze  Scheusslichkeit 
dieser  Aristokratenrepublik  enthüllte'. 

Uebcrall  wurden  Prophezeihungen  vom 
bevorstehenden  Untergang  Venedigs  herum- 
getragen, Lemaire  selbst  hatte  auf  seiner 
italienischen  Reise  einige  aufgelesen ;  damit  aber 
Niemand  glaube,  dass  die  Venezianer  blos  durch 
die  blinde  Bestimmung  des  Schicksals,  und  nicht 
durch  die  gerechte  Fügung  Gottes  zu  Grunde 
gehen,  gibt  er  unter  drei  Hauptpunkte  gruppiert 
einen  kurzen  Abriss  ihrer  Geschichte  :  im  ersten 
Kapitel  hält  er  den  Venezianern  die  Grausam- 
keit, mit  der  sie  ihre  Herzöge  behandelten,  und 
die  "Willkürhcrrschaft,  mit  der  sie  ihre  Unter- 
thanen  unterdrückten,  vor;  im  zweiten  schildert 
er  ihre  Treulosigkeit  gegen  die  Kaiser  von  Karl 
dem  Grossen  bis  Maximilian;  im  dritten  legt  er 
ihr  Benehmen  Papst  und  Kirche  gegenüber  blos 
und  macht  sie  für  die  Fortschritte  der  Türken 
verantwortlich.  Darum  hat  auch  Gott  beinahe 
am  Tage  ihrer  Niederlage  bei  Agnadello  den 
Christen  in  Algerien  den  Sieg  bei  Oran  gewährt. 
In  einer  Doppelballade  feiert  Lemaire  den  Triumph 
Ludwigs  mit  dem  zweifachen  Refrain:   Or  est 


^  La  Legende  des   Vcnitiens  oii   Icur   Chronique   abiejrcc, 
Oeuvres  III,  361— »07. 


—    128    - 

Pviani  hien  veugd  d'Antenor  und  Cent  ans 
accreii,  tout  se  paye  en  nne  heure^. 

Die  Legende  der  Venezianer  ist  absichtlich 
in  schlichter  Sprache  geschrieben,  aber  der  Ver- 
fasser kann  nicht  umhin,  sie  mitunter  in  'excla- 
matorischer  Invective'  ansuschreien,  was  er  mit 
leidenschafthchem  Pathos  thut^.  Der  Grundton 
der  Schrift  ist  der  einer  zurückgehaltenen 
moralischen  Empörung  und  eines  vernichtenden 
Unwillens.  Lemaire  entwickelt  bedeutende  Ge- 
schichtskenntnisse und  ein  unverkennbares  Ge- 
schick als  politischer  Pamphletschreiber. 

Seine  Streitschrift  vollendete  Lemaire  in 
Bourg3;  von  hier  zeigt  er  in  dem  vorhin  ange- 
führten Brief  Barangier  den  Empfang  einer 
Sendung  vom  1.  Juli  an ;  dieser  Sendung  aus  dem 
Haag  lagen  Briefe  des  Kaisers  bei,  die  Lemaire 
sofort  vervielfältigen  Hess  und  nach  Genf, 
Savoyen,  Piemont  und  Lyon  schickte ;  durch  die 
Frau  des  Hofmalers  Perreal  liess  er  sie  auch 
der  Königin  in  die  Hände  spielen.  Zu  seiner 
grossen  Unlust  wurden  nemlich  von  französischer 


1  Die  Ballade  double  besteht  aus  6  abwechselnd  elf-  und 
zehnzeiligen  Zehnsilberstrophen  mit  neunzeiligem  Envoi;  sie  ist 
auf  die  gleichen  Reime  durchgeführt :  ababccddcde.effeflfggaga. 
Envoi :  ddeegaga.  Inhaltlich  ist  das  Gedicht  nicht  bedeutend  ; 
einige  kräftige,  sprichwörtliche  Redensarten  und  die  Durch- 
führung der  Reime  z.  B.  der  auf  cus  sind  das  Bemerkenswerteste. 

^  Lemaire  hat  vielleicht  aus  Sabellicus'  Enneaden,  die  er 
kennt,  cf.  Illustr.  III,  geschöpft. 

'  Die  erste  Ausgabe  ist  Ludwig  von  Gorrevod,  Bischof  von 
Maurienne,  gewidmet  unter  dem  Datum:  Bourg  en  Bresse, 
Juni  1509.    Siehe  Anhang  IV. 


—    129    — 

Seite  die  allcrschlimmsten  Nachrichten  ausge- 
sprengt; nun  freute  er  sich,  dieselben  siegreich 
widerlegt  zu  sehen'.  Diese  frohe  Botschaft  des 
Kaisers  kann  nur  seine  Erfolge  in  Italien  in  den 
ersten  Junivvochen  betroffen  haben.  In  der  That 
haben  wir  den  Beweis,  dass  Lemaire  Maximilians 
Brief  vom  8.  Juni  kannte.  Das  Schlusswort  der 
Legende  ist  nemlich  an  Claude  Thomassin  in 
Form  eines  Sendschreibens  gerichtet;  es  schliesst 
in  der  deutschen  Uebersetzung  mit  einer  Auf- 
zählung der  Eroberungen  der  Verbündeten, 
davon  ist  das,  was  den  Kaiser  betrifft,  fast  wört- 
lich jenem  Briefe  entnommen.  Der  ganze  Passus 
fehlt  in  der  französischen  Ausgabe  aus  dem  ein- 
fachen Grunde,  weil  sich  inzwischen  die  Sach- 
lage durch  die  Ueberrumpelung  von  Padua  am 
17.  Juli  sehr  ungünstig  verändert  hatte.  Indessen 
Hess  Lemaire  die  fragliche  Stelle  nicht  ver- 
loren gehen,  sondern  verwendete  sie  als  Nach- 
wort zu  den  Regretz  de  la  Dame  infortunee^. 
Wahrscheinlich  lag  demnach  dem  deutschen 
Uebersetzer,  dem  Sekretär  Nicolaus  Mengin  von 
Nanzei,  eine  Fassung  der  Legende  vor,  die  kurz 
nach  dem  15.  Juli  aus  Lemaires  Feder  ge- 
flossen war3. 


»  Oeuvres  IV,  374. 

»  Oeuvres  III,  194,  sq.  Vgl.  Leglay,  Corresp.  I,  152. 

'  Die  Königl.  Bibliothek  in  Berlin  besitzt  drei  Drucke  der- 
selben Verdeutschung  durch  Nicolaum  Mengin  von  Xanzei, 
Secretarien  etc.  1.  Venedische  Chronica.  Zu  Franckfurth, 
truckts  Cyriacus  |  Jacob  zum  Bart.  12.  Venedische  Chronica. 
Mit   angezöigten   Ursachen    des   schädlichen    Kryegs   etc.     Ein 

Becker,  Jean  Lemaire.  » 


—    130    — 

Die  veränderte  Widmung  der  französischen 
Ausgabe  trägt  das  Datum:  L3'on,  den  12.  August 
1509.  An  Stelle  des  gestrichenen  Schlusses  sind 
Nachrichten  persönlicher  Art  getreten.  Lemaire 
erwartet  mit  gespannter  Neugier  die  Rückkehr 
des  Hofmalers  Jean  Perreal ,  der  in  Italien 
Studien  als  Schlachtenmaler  gemacht  hatte  und 
seinen  Freunden  die  mitgebrachten  Entwürfe 
begleitet  von  erläuternden  Erzählungen  vor- 
zeigen würde.  Mit  ihm  sollte  auch  Symphorien 
Champier  der  Arzt  zurückkommen;  in  Italien 
hatte  er  dem  infolge  allzugrosser  Anstrengungen 
und  Entbehrungen  erkrankten  Maler  das  Leben 
gerettet.  In  Lyon,  wo  er  die  Anordnungen  zum 
Festempfang  Ludwigs  leitete,  hatte  Lemaire 
den  Prior  frere  Pierre  d'Anton,  ülustrateur  des 
chroniques  de  France,  gesprochen  und  dem  Ein- 
züge des  gefangenen  venezianischen  Feldherrn 
Bartolomeo  Alviano  als  Zuschauer  beigew^ohnt'. 

Lemaire  hatte  einen  Auftrag  von  seiner 
Herrin  an  Perreal,  wie  wir  aus  einem  Briefe  des 
Hofmalers  erfahren.  In  Brou  sollten  nemlich 
drei  Grabmäler  errichtet  werden;  mehrere  Ent- 

Buchdruckerzeichen.  3.  Venedische  Chronica.  Ein  Holzschnitt 
(Basel  1509?).  Mengin  scheint  im  Dienste  Margaretas  gestanden 
zu  haben.  Durch  Lemaires  Brief  vom  8.  September  1511  ersehen 
wir,  dass  er  Briefe  von  ihr  überbracht  hatte  und  Bücher  und 
Briefe  hätte  mitnehmen  sollen,  wenn  er  sich  nur  einen  Tag 
länger  hätte  aufhalten  lassen  wollen.  Oeuvres  IV,  383.  -- 
Stecher  LXIII.  erwähnt  auch  eine  vlämische  Uebersetzung 
ohne  nähere  Angabe. 

'  Oeuvres  III,  405  sqq.  Der  Vorname  Pierre  für  Jean 
d'Anton  ist  wohl  ein  Irrtum  oder  Schreibfehler. 


-     131    - 

würfe  waren  schon  gremacht  worden,  sie  hatten 
aber  die  Fürstin  nicht  befriedigt ;  darum  licss 
sie  dem  Maler  sagen,  dass,  wenn  er  etwas  recht 
denkwürdiges  entwerfen  könnte,  es  ihr  genehm 
sein  sollte;  ausserdem  möchte  er  sich  nach  einem 
geeigneten  Alabaster  umsehen.  Sofort  durch- 
suchte Perreal  seine  Zeichnungen,  namentlich 
was  er  von  Antiken  in  Italien  abgebildet  hatte, 
und  machte  eine  Skizze,  die  er  Lemaire  zeigte. 
Am  15.  November  arbeitete  er  den  ganzen  Ent- 
wurfaus und  hatte  auch  einen  schönen  Alabaster 
•gefunden.  Lemaire  aber  war,  wie  Perreal  schreibt, 
schon  geraume  Zeit  von  Lyon  weg  und  nach 
Döle  gegangen'. 

In  Dole  war  Lemaires  neuer  Wohnsitz,  auch 
hier  ruhte  seine  Feder  nicht.  Am  18.  Dezember 
kündigt  er  Margareta  den  baldigen  Abschluss 
einer  aus  dem  Italienischen  übersetzten  Ge- 
schichtserzählung: ics  Gestes  cht  Sophy  et  la 
prinse  d'Oran  en  Barbarie,  an.  Gleichzeitig 
dankt  er  für  die  Erhöhung  seines  Gehaltes  um 
vier  Sous  täglich  und  für  die  feste  Zusicherung 
weiterer  Wohlthaten^, 

'  Perreal  an  Margareta,  den  15.  Nov.  1509.  Cf.  Charvet, 
Jehan  Perreal  p.  44.  51.  —  Seit  1504  erhielt  Perreal  eine  Pension 
von  Margareta ;  sie  war  ihm  in  den  drei  letzten  Jahren  nicht 
bezahlt  worden,  oflcnbar  weil  in  der  Zwischenzeit  keine  Dienste 
von  ihm  verlangt  worden  waren. 

'  Oeuvres  IV,  376.  Lemaire  an  Margareta.  Dole,  le 
18  decembre  1509.  Die  Gehaltserhöhung  kann  eine  Belohnung 
ftlr  die  Widmung  der  Illustrations,  oder  eine  Folge  der  An- 
stellung Lemaires  beim  Bau  der  Kirche  von  Brou,  wovon 
spilter,  gewesen  sein. 


-    132    - 

Seit  einigen  Jahren  machte  Schah  Isma'il, 
der  Begründer  des  neupersischen  Reiches,  viel 
von  seiner  w^ilden  Eroberungslust  und  seinem 
fanatischen  Hass  gegen  die  sunnitischen  Türken 
reden;  wiederholt  hatte  er  die  Fürsten  der 
Christenheit  aufgefordert,  sich  am  Kampfe  gegen 
den  gemeinsamen  Feind  zu  beteiligen.  Nach 
Berichten,  die  er  in  Venedig  und  Rom  gesammelt 
hatte,  mit  Ergänzungen  aus  brieflichen  Mit- 
teilungen an  den  Kaiser  und  Margareta,  entwarf 
Lemaire  eine  kurze  Lebensskizze  des  persischen 
Eroberers,  den  er  als  willkommenen  Bundes-' 
genossen  der  Christen  beim  inbrünstig  ersehnten 
Kreuzzug  gegen  die  Türken  betrachtete ;  die 
scharfe  Zuspitzung  gegen  den  Papst  erhielt  das 
Schriftchen  erst  später  ^ 

Im  Sommer  des  Jahres,  in  dem  Lemaire 
seinen  Wohnsitz  in  Döle  erwählte ,  tauchte 
daselbst  ein  junger  Mann  von  dreiundzwanzig 
Jahren  auf,  dem  sein  Ruf  als  Eingeweihter  der 
geheimen  Wissenschaften  vorausgegangen  war, 
und  fing  an  ohne  Lehrauftrag  öffentliche  Vor- 
lesungen zu  halten,  zu  denen  er  bald  die  ganze 
Stadt,  Senatoren,  Professoren,  Doktoren,  zog. 
Der  Gegenstand  der  Vorträge  war  Reuchlins 
Buch  de  Verbo  mirißco;  der  Alle  bezaubernde 


'  Oeuvres  III,  199—219.  Herausgegeben  wurden  die  Gestes 
im  Anhang  an  den  Trait6  de  la  difference  des  Schismes  et  des 
Conciles  1510.  —  Ueber  Isma'il  s.  Müller,  der  Islam  II,  347. 
(Oncken,  Allg.  Gesch.  II,  IV).  Den  versprochenen  Bericht  über 
die  Einnahme  von  Gran  hat  Lemaire  nicht  gegeben. 


-    133    - 

Lehrer  Henricus  Cornelius  Agrippa,  ein  offener, 
feuriger  Geist,  aber  ein  bis  zur  Haltlosigkeit 
unruhiger  Kopf.  In  Köln  geboren  und  bis  zum 
Magisterium  vorgebildet,  hatte  er  sich  in  Paris 
mit  den  verschiedensten  Studien  befasst,  war 
dann  einige  Zeit  auf  Abenteuerreisen  gewesen, 
bevor  er  sein  Glück  in  DOle  versuchte.  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  hat  Lemaire  nicht  ver- 
säumt, den  glänzenden  Redner  zu  hören,  ja  man 
k()nnte  vermuten,  dass  er  derjenige  war,  der 
ihm  das  Anerbieten  machte,  eine  von  ihm  ge- 
haltene Lobrede  auf  Margareta  in  das  Fran- 
zösische zu  übersetzen,  derselbe,  dem  Agrippa 
die  Gunst  des  königlichen  Hofmalers  Perreal 
verdankt".  Agrippa  selbst  erinnerte  sich  seiner 
noch  zwanzig  Jahre  später,  als  er  in  das 
früher  von  ihm  bekleidete  Amt  eintrat.  „Durfte 
nicht  mein  ehemaliger  Vorgänger,  Johannes 
Lemaire  aus  Bavay,  als  er  das  Amt  eines  Indi- 
ziarius  bekleidete,  bald  in  Italien,  bald  in  GalHen 
und  Frankreich  weilen,  und  bezog  trotzdem 
stets  und  überall  seinen  Gehalt  2?"  so  fragt  er  in 
einem  Gesuch  an  Maria  von  Ungarn,  und  das  sind 
sicherlich  Erinnerungen  aus  dem  Jahre  1509,  wo 
Lemaire    eben    in    Südfrankreich    ansässig    ge- 

*  H.  Cornelius  Agrippa,  Epistolae  1, 15.  cf.  1.16  und  1. 17.  Mög- 
licherweise wilreer  auch  der,  welcher  ihn  dem  Erzbischof  von 
Besannen   empfohlen   hat.    Ep.  I,  13.  14.    Vgl.  Anhang  V. 

^  «Nonne  olim  praecessor  meus  Johannes  Marius  Belga  in- 
diciarii  muncre  functus,  nunc  in  Italiam,  nunc  in  Galliam  et 
Franciam  immorabatur,  semper  ubique  suo  fretus  stipendio  ?> 
Epist.  VII.  21. 


-    134    - 

worden  und  kurz  vorher  von  seiner  italienischen 
Reise  zurückgekehrt  war.  Im  Frühjahr  musste 
der  jugendliche  Hitzkopf  Dole  wieder  verlassen, 
er  ging  nach  London  und  von  dort  über  Köln 
nach  der  Lombardei,  wo  er  bis  1518  blieb,  bis 
1520  war  er  dann  in  Metz,  bis  Januar  1524  in  der 
Schweiz;  erst  dann  kommt  er  nach  Lyon  als 
Leibarzt  der  Königin-Mutter,  Luise  von  Savoyen, 
und  bleibt  daselbst  nach  Aufgabe  seiner  Stellung 
bis  Ende  1527;  nach  einem  mehrmonatlichen 
Aufenthalt  in  Paris  siedelte  er  nach  den  Nieder- 
landen über'.  Er  kann  also  nur  in  DOle  im 
Jahre  1509  mit  Lemaire  zusammengetroffen 
sein.  Später  hat  sich  ihre  Lebensfärte  nicht 
mehr  gekreuzt,  und  das  war  wichtig  festzustellen, 
weil  es  bei  einem  polemischen  Ausfall  Pierre 
de  Saint-Julien  eingefallen  ist ,  Lemaire  und 
Agrippa  trotz  des  Altersunterschiedes  von  vier- 
zehn Jahren  zu  einem  Freundespaare  zu  vereinen, 
und  diese  unbelegbare  Behauptung  Lemaires 
Biographen  trotz  ihrer  inneren  Unwahrschein- 
lichkeit  bestochen  hat^. 

IX. 

Endlich  trat  der  längst  angekündigte  erste 
Band  der  Illustrations  de  Gaule  et  Singularites 
de  Troye  vor  die  Oeffentlichkeit.    Im  Jahre  1500 


^  Cf.  Aug.  Prost,  Corneille  Agrippa,  sa  vie  et  ses  oeuvres, 
2  vol.  Paris  1881— 8->. 

^  P.  de  S. -Julien,  de  l'origine  des  Bourgognons,  Paris  1681. 
p.  389.    Wir  kommen  später  noch  einmal  auf  die  Stelle  zurück. 


—    135    — 

in  Angriff  genommen,  unter  wechselvoUenLebens- 
verhältnissen  gefördert,  war  das  umfassende  Werk 
allmälig  auf  zwei  und  drei  Bücher  angewachsen; 
das  letzte  freilich  bedurfte  noch  einer  gründlichen 
Ueberarbeitung.  Einstweilen  ging  das  erste  unter 
den  Auspizien  Margaretas  von  Oesterreich  und 
den  Frauen  französischer  Zunge  zugedacht  ver- 
suchsweise von  Stappel. 

Der  Verfasser  hatte  sich  vorgenommen,  den 
ehrwürdigen  Ursprung  der  Herrscherhäuser 
sowohl  des  keltischen  als  des  belgischen  Galliens 
darzuthun;  zu  dem  Behufe  wollte  er  zunächst  die 
minder  bekannten  Einzelheiten  der  trojanischen 
Geschichte,  die  noch  Niemand  ausführlich  und 
zusammenhängend  behandelt  hatte,  nach  den 
besten  Quellen  erzählen,  alsdann  die  Besiedelung 
Europas  durch  die  Prinzen  trojanischer  Abkunft 
schildern,  und  zum  Schluss  die  trojanische  Ab- 
stammung der  Türken  sowie  alle  Unternehmungen 
und  Kreuzfarten  der  europäischen  Fürsten  zur 
Wiedereroberung  ihrer  kleinasiatischen  Erblande 
besprechen.  Neuheit  des  Stoffes  und  Würde  und 
Zuverlässigkeit  der  Gewährsmänner  sollten  seine 
Erzählung  empiehlen;  nebenbei  freute  er  sich, 
der  französischen  Sprache  ein  Denkmal  zu  setzen, 
der  Sprache,  die  die  Italiener  mit  Unrecht  bar- 
barisch nannten,  während  sie  im  Gegenteil  zu 
einer  der  elegantesten  geworden  war  und  sich 
der  grössten  Beliebtheit  an  allen  Fürstenhöfen 
erfreute. 


-    13b    - 

Die  beiden  ersten  Bücher,  welche  zuerst  voll- 
endetwaren, sind  der  Geschichte  Trojas  gewidmet ; 
der  Krieg,  den  Helenas  Entführung  herauf- 
beschwor, und  der  Untergang  der  Stadt  wird 
im  zweiten  erzählt;  den  Inhalt  des  ersten  bildet 
die  Vorgeschichte.  Dieses  erste  Buch  zerfällt  in 
zwei  Teile,  welche  nicht  blos  dem  Gegenstande 
nach,  sondern  auch  nach  Quelle,  Auffassung, 
Erzählungsweise  und  Wert  grundverschieden 
sind:  der*  erste  bringt  die  Geschlechtsreihe  der 
Vorahnen  Trojas  von  Noah  bis  auf  Priamus,  der 
andere  das  Leben  des  jungen  Paris  bis  zu  seiner 
Wiederaufnahme  ins  elterliche  Haus. 

Die  Kenntniss  der  nachsintflutlichen  Welt- 
geschichte verdankte  Lemaire  den  Altertümern 
des  Dominikaners  Johannes  Annius  von  Viterbo. 
Da  war  ihm  Merkur  in  einer  eigentümlichen  Ver- 
kleidung erschienen.  Im  Jahre  1498  waren  die 
Antiquitaturn  variaruni  voluniina  XVII  ver- 
öffentlicht worden:  ein  abgeschmacktes  Mach- 
werk, das  an  einem  Gerippe  trockener  Annalen, 
mit  Hülfe  eines  weitschichtigen  Kommentars  ein 
neues  Bild  der  Weltgeschichte  aufzubauen  ver- 
. meinte;  die  mythischen  Heroen  der  Griechen 
sind  darin  mit  den  legendarischen  Stammvätern 
der  Genesis  durch  razionalistisch-phantastische 
Auslegungen  auf  das  abenteuerlichste  verquickt, 
in  der  Absicht,  die  in  Nacht  getauchten  Jahr- 
hunderte der  Urgeschichte  mit  bestimmten  Namen 
und  Jahreszahlen  auszufüllen.  Als  Vorbild  diente 


-    137    - 

Fulgentius  l'lauciades,  als  Hauptquelle  Diodorus 
Siculus  nebst  einigen  Stellen  aus  Virgil,  Pro- 
perz  u.  A. 

Es  war  ein  bedauerliches  Missgescbick  für 
Lemaire,  dass  er  auf  diese  traurige  Fälschung 
verfiel  und  ihr  Glauben  beimass;  er  Hess  sich 
aber  durch  die  vorgeschützten  Namen  des  Chal- 
däers  ßerosus  und  des  Aegypters  Manethon 
blenden.  Immerhin  hat  er  alles  Mögliche  aus 
seiner  Vorlage  gemacht:  die  annalistischen  Be- 
richte hat  er  in  sachlichen  Zusammenhang  ge- 
bracht und  gelegentlich  die  Früchte  seiner  um- 
fassenden Belesenheit  verwertet. 

Die  Erzählung  beginnt  mit  der  Sintflut, 
welche  das  lasterhafte  Geschlecht  der  Riesen 
vernichtete.  Allein  aus  der  Flut  gerettet,  sinnt 
Noah-Janus  mit  den  Seinen  zunächst  auf  Xeu- 
bevölkcrung  der  Erde;  der  rasch  entstehenden 
Menschheit  gibt  er  nach  Vermögen  tugendhafte 
Fürsten  und  macht  zu  dem  Zwecke  mehrere 
Reisen  um  die  Welt.  Die  Schlechtigkeit  ist  nicht 
ganz  von  der  Erde  geschwunden,  alle  Laster 
leben  wieder  auf  in  Cham-Zoroaster,  dem  ersten 
Zauberer.  Osiris,  dessen  Sohn  und  einziges  gute 
Werk,  macht  sich  verdient  durch  die  Erfindung 
des  Ackerbaus  und  die  Bekämpfung  der  Titanen, 
die  allenthalben  die  Menschen  bedrücken ;  nach- 
dem er  von  seinem  Bruder  TNphon  ermordet 
worden  ist,  setzt  sein  ältester  Sohn  Herkules 
Libyus  dieses  Werk  fort.  Herkules  ist  der  Stamm- 


—    133    — 

vater  aller  Fürstengeschlechter:  nachdem  er  in 
Asien  einen  Sohn  Tuscus  gezeugt,  wirbt  er  auf 
seinen  Karten  um  die  riesenschöne  Königstochter 
Galatea  von  Gallien,  deren  Ahnenreihe  in  gerader 
Linie  bis  Japhet  aufstieg.  Von  seinen  vielen 
Reichen  weist  Herkules  Italien  seinem  Sohne 
Tuscus,  Gallien  Galateus  zu.  In  der  fünften 
Generation  vereinigt  Jasius  beide  Länder  wieder 
in  einer  Hand,  er  fällt  aber  dem  Neide  seines 
Bruders  Dardanus  zum  Opfer.  Dardanus  wird 
flüchtig  und  gründet  ein  neues  Reich  auf  klein- 
asiatischem Boden:  hier  herrschen  seine  Nach- 
kommen, während  in  Gallien  eine  andere  Linie 
aus  Herkules  Geschlecht  auf  den  Thron  steigt. 
Zur  Zeit  der  ersten  Zerstörung  Trojas  unter 
Laomedon  ist  die  Zahl  der  gallischen  Könige 
in  fortlaufender  Reihe  zum  dreiundzwanzigsten 
gelangt. 

Soweit  folgt  Lemaire  Berosus  und  Manethon 
und  ihrem  Commentator.  Dieses  traurige  Durch- 
einander von  abgerissenen  Erzählungen  und 
dürren  Stammbäumen  füllt  die  Kapitel  II— XVIII 
aus.  Mit  besonderer  Liebe  hat  der  Verfasser 
die  Geschichte  iMoahs  behandelt;  er  versäumt 
nicht,  die  Entdeckung  der  Weinrebe,  ihr  Begiessen 
mit  dem  Blute  des  Löwen,  Schweines,  Lammes 
und  Affen  zu  erzählen  ^  und  Noahs  Betäubung, 
in  der  er  von  Cham  behext  wird  (p.  22  f.) ;  unbe- 

^  Nach  Jacobus  Bergomensis,  supplcmentum  chronico- 
rum,  1482. 


—    139    — 

denklich  würde  Lemaire  den  Erzvater  (mit  Ver- 
laub der  Kirche)  als  Heiligen  verehren  (p.  39) : 
für  den  Stammvater  des  dritten  Erdteils  hingegen 
verspürt  er  nur  Abscheu;  nach  ihm  scheinen 
sich  die  Tartarenhäuptlinge  Grosskan  zu  nennen^ 
während  bei  frohen  Festen  die  freudige  Kinder- 
schaar  No'ö  NoS  NoS  jubelt  (p.  42).  Auch  Osiris- 
und  seine  Gattin  Isis  haben  seine  Phantasie  an- 
geregt: auf  Grund  eines  drolligen  Irrtums  be- 
schreibt er  die  Wappen,  welche  Osiris  und  seine 
Söhne  tragen'  (p.  48);  er  weiss  auch  zu  berichten^ 
wie  Osiris  die  Deutschen  Korn  säen,  Bäume 
pfropfen,  Reben  pflanzen  lehrte,  et  lä  ou  le 
tcrroir  n'estoit  point  ydoine  ä  porter  vin,  ü  letir 
aprint  ä  faire  un  bnivagc  d'orge  d'asses  bon 
goiist  lequel  il  nomnin  ccrvoise,  du  jtoni  de  sa 
sa'iir,  snrnommee  Ceres  (p.  50) ;  das  geschah  zur 
Zeit  des  Königs  Gambrivius.  Und  weil  immer 
von  Riesen  die  Rede  ist,  beruft  sich  Lemaire  auf 
einen  von  Boccaccio  berichteten  Fund  auf  Sici- 
lien ;  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  nehmen  eben 
die  Menschen  ab  und  werden  wohl  am  Ende  der 
Welt  Zwerge  sein  (p.  56).  Herkules  Liebschaft 
mit  Galatea  fängt  wie  eine  Riesenidylle  an,  zer- 
läuft aber  bald  in  Nichts.  —  Ausser  diesen  ein- 


'  EigenUich  sind  es  die  Thierköpfc  der  Aegvptischen 
Götter,  welche  die  Verwechslung  verursacht  haben.  Lemaire 
hat  die  Dissertation  des  Annius,  Antiq.  P  XXVII,  missverstanden, 
oder  falsch  ausgelegt,  um  zu  zeigen :  que  l'usage  des  blasons 
est  de  merveilleuse  antiquit6.  Vgl.  cap.  XVI.  den  Adler  des 
Jupiter  als  Flaggenschmuck  gedeutet. 


140 


zelnen  Einfällen  oder  freien  Ausschmückungen 
fügt  Lemaire  den  Angaben  des  Annius  eigentlich 
nur  Geographisches  bei,  wofür  er  ein  besonderes 
Interesse  hatte.  Im  übrigen  hat  er  sich  durch 
die  razionalistische  Verzerrung  der  alten  Sagen 
und  Legenden,  auf  die  die  Fälschungen  seines 
Gewährsmanns  hinausliefen,  durchaus  bestricken 
lassen,  wurde  er  doch  auch  durch  Boccaccios 
Genealogie  der  Götter  in  dieser  Auffassung 
bestärkt '. 

Diese  unpoetische  Anschauungsweise  war 
ursprünglich  Lemaire  fremd  gewesen;  beim 
ersten  Entwürfe  der  Singularitez  de  Troye  konnte 
von  jener  apokryphen  Geschichtser Weiterung 
noch  nicht  die  Rede  sein;  denn  erst  bei  einer 
seiner  Romreisen,  womöglich  erst  bei  der  letzten, 
1508,  fielen  ihm  die  Antiquitates  variae  in  die 
Hände  2.  Auf  diese  Weise  konnte  er  zwar  an 
die  Spitze  des  Werkes  diese  Kapitel  setzen,  die 
wir  nur  mit  Verdruss  und  Bedauern  lesen;  die 
bereits  ausgearbeiteten  Abschnitte  im  Sinne  seiner 
neuen  Gewährsmänner  umzuschreiben  oder  sie 
überhaupt  fallen  zu  lassen,  dazu  fehlte  ihm  die 
Zeit  oder  die  Lust;  sein  kritischer  Sinn  nahm 
überdies  am  inneren  Widerspruch,  der  dadurch 


"  Vgl.    z.   B.   p.    107    sq.    die    Auslegung    der    Sage    von 
Ganymedes. 

'^  Illustrations  III.  Oeuvres  II,  268.  «de  laquelle  communi- 
cation  ...  je  m'ose  bien  vanter  sans  arrogance  avoir  estö  le 
Premier  inventeur,  quand  j'euz  recouvrö  les  oeuvres  dudit 
commentateur  ä  Rome.» 


—    141    - 

entstand,  keinen  Anstoss,  mit  cini<xcn  moralischen 
Deutungen  half  er  sich  darüber  weg.  Dank 
diesem  Mangel  an  Folgerichtigkeit  hat  der  zweite 
Teil  des  ersten  Buches  sein  naives  Gepräge  und 
seine  poetische  Frische  behalten. 

Den  Uebergang  zum  zweiten  Teil  bildet 
Kap.  XIX;  es  macht  uns  bekannt  mit  Bavo,  dem 
späteren  Gründer  von  Bavay,  und  seinem  Vetter 
Priamus,  der  Troja  wieder  aufbaute.  Die  übrigen 
25  Kapitel  des  Buches  sind  der  Kindheit  des 
Paris  gewidmet. 

Paris'  Erziehung  unter  den  Hirten  und  seine 
Jugendliebe  zur  Nymphe  Oenone  bilden  eine 
anmutige  Idylle  und  sind  von  Lemaire  mit 
plastischer  Anschaulichkeit  und  dem  ihm  eigenen 
Schwung  der  Rede  erzählt  worden.  Die  dich- 
terische Leistung  ist  dabei  um  so  bedeutender, 
als  die  eingehende  Ausschmückung  der  Einzel- 
heiten in  ihrer  gefälligen  Darstellung  und  Lebens- 
wahrheit eigene  Erfindung  ist.  Drei  Herolden 
Ovids  und  die  Skizze  einer  dramatischen  Auf- 
führung bei  Apuleius  haben  die  Umrisse  abge- 
geben, nach  denen  Lemaire  sein  Hirtengemälde 
ausgeführt  hat'. 

Hekuba  hat  im  Traume  eine  lodernde  Fackel 
gesehen,  die  einheimischen  Seher  und  der  dcl- 


'  Ovidii  Heroides,  Ep.  V.  Oenone  Paridi,  XVI.  Paris 
Helenae,  XVII.  Helena  Paridi.  —  Apuleius,  Metamorphoseon 
1.  X.  c.  XXX— XXXIV.  der  Urteilsspruch  des  Paris  als  Pan- 
tomime dargestellt.  An  letztere  Quelle  würde  man  kaum  denken, 
wenn  Lemaire  sie  nicht  selbst  angUbe.  cf.  Oeuvres  I,  271. 


-    142    - 

phische  Gott  haben  prophezeit,  dass  das  Kind, 
dessen  Geburt  erwartet  wurde,  den  Untergang 
der  Stadt  verursachen  würde.  Es  ist  beschlossen, 
den  Knaben  auszusetzen;  er  ist  aber  so  schön, 
wie  er  zur  Welt  kommt,  dass  die  Mutter  sich  nur 
zu  leicht  durch  das  Zureden  ihrer  Hofdame  be- 
stimmen lässt,  sein  Leben  zu  schonen.  Das  Kind 
wird  einem  Hirten  am  Berge  Ida  anvertraut  und 
wächst,  ohne  seine  Eltern  zu  kennen,  unter  den 
Hirtenkindern  auf.  In  jenen  behaglichen  Auf- 
zählungen, die  Rabelais  in  seinem  Gargantua 
parodiert  hat,  doch  nicht  in  ermüdender  Breite 
oder  mit  pedantischer  Trockenheit,  sondern  in 
gemütlichem  Eingehen  auf  die  Poesie  des  Klein- 
lebens, beschreibt  Lemaire  seine  Kinderspiele: 
hier  sehen  wir  ihn  sich  tummeln,  laufen,  springen, 
schwimmen.  Steine  schleudern,  Hirtenflöte  blasen, 
Bogen  schiessen;  bald  ist  er  der  Führer  seiner 
Gespielen  beim  Erhaschen  der  Vög'el  und  des 
Meineren  Getiers  des  Waldes;  dann  folgen  un- 
gestümere Uebungen,  unter  denen  seine  Glied- 
massen zu  schlanker  Fülle  auswachsen,  so  dass 
nicht  nur  die  Mädchen  des  Dorfes  ihn  gern  zu 
Tanz  und  Gesang  auffordern,  sondern  auch  die 
Nymphen  und  Feen  ihn  aus  ihren  Verstecken 
mit  Wohlbehagen  und  bald  mit  stillem  Verlangen 
bewundern.  Unterdessen  wird  er  von  seinem 
Pflegevater  in  der  Schäferei  unterrichtet;  der 
ehrwürdige  Greis  kann  das  Lob  des  Hirtenstandes 
nicht  warm  genug  erheben :  der  Schäfer  scheint 


-    143 

ihm  einem  Feldherrn  gleich  zu  sein,  seine  Heerdc 
einer  Armee,  wie  er  in  humorvollem  Vergleiche 
ausführt.  Zum  Jüngling  herangewachsen  wagt 
sich  Paris  auch  an  das  grössere  Wild,  und  bald 
gibt  es  kein  Tier  mehr  im  Gebirge,  das  er  nicht 
siegreich  bestünde.  Auch  in  der  Mannerschlacht 
seine  Kraft  und  Unerschrockenheit  zu  bewähren, 
findet  er  Gelegenheit  bei  einemRaubanfall  benach- 
barter Hirten ;  mit  der  ihm  folgenden  Jugend  eilt 
er  den  beutebeladenen  Plünderern  nach  und 
rächt  die  erlittene  Unbill  glänzend  an  ihnen. 

Kurz  nach  dieser  Heldenthat,  für  die  er  den 
Namen  Alexander  erhielt,  war  Paris  eines  Tages 
an  einer  Quelle  eingeschlummert.  Beim  Erwachen 
sieht  er  sich  von  lauschenden  Nymphen  umringt, 
er  springt  auf,  holt  eine  der  Fliehenden  ein, 
nötigt  sie  durch  Bitten  zu  einem  längeren  Ge- 
spräch, in  dem  sie  ihm  seine  königliche  Abkunft 
entdeckt.  Schon  längst  hatte  die  N3'mphe  Pegasis 
Oenone  den  schönen  Paris  Alexander  zu  ihrem 
Geliebten  ausersehen;  wie  nun  auch  in  des  Jüng- 
lings Brust  ungewohnte  Gefühle  wach  werden, 
kann  sie  seinem  Liebesdrängen  nicht  länger 
widerstehen ;  als  die  Sonne  sank,  führte  sie  Paris 
als  seine  Frau  in  seine  einfache  Hütte  ein.  Mit 
besonderem  Wohlgefallen  hat  Lemaire  diesen 
bukolischen  Liebesroman  ausgemalt;  es  lässt 
sich  schwer  in  kurzen  Worten  ein  Begriff  geben 
von  der  Anmut  der  Schilderungen,  von  der 
Naivität,  mit  der  sich  in  den  Reden  der  Ton 


144 


gewählter  Höflichkeit  und  ländlicher  Einfachheit 
paaren,  von  der  Lebensfülle,  mit  der  Lemaire 
die  alte  Halbgötter-  und  Menschenwelt  hervor- 
zaubert, von  der  Meisterschaft,  mit  der  er  die 
Prachtentfaltung  der  Natur  mit  dem  Weben 
menschlicher  Gefühle  sich  verschlingen  und  zu- 
sammenwirken lässt,  von  der  jugendlichen  Glut, 
mit  der  er  die  natürliche  Zuneigung  zweier  ein- 
facher Gemüter  geschildert  hat.  Losgelöst  von 
den  späteren  Zuthaten  und  den  moralisierenden 
Einschiebseln,  vertrüge  Lemaires  Idylle  wohl 
den  bescheidenen  Vergleich  mit  dem  Hirtenroman 
von  Longus;  Paris  und  Oenone  würden  unzweifel- 
haft neben  Daphnis  und  Chloe  noch  heute  ihre 
Liebhaber  und  Verehrer  finden,  und  die  bedeutend 
gekürzten  Singularitez  de  Troye  allgemein  als 
ein  Meisterwerk  der  naiv-gelehrten  Erzählungs- 
kunst des  XVI.  Jahrhunderts  bewundert  werden. 
Jetzt  wechselt  die  Szenerie;  aus  der  länd- 
lichen Stille  sehen  wir  uns  mitten  unter  die 
höheren  Götter  versetzt,  welche  auf  dem  Berge 
Pelion  die  Hochzeit  des  Peleus  mit  Thetis  feiern : 
eine  schöne  Gelegenheit  für  Lemaire,  seine  Ge- 
lehrsamkeit leuchten  zu  lassen,  und  zugleich  ein 
vortrefflicher  Anlass,  die  volle  Farbenpracht 
seiner  Beschreibungskunst  zu  entfalten.  Mit  der 
höheren  Aufgabe  hebt  sich  auch  sein  Stil;  der 
Dichter  vergisst  nicht,  dass  er  neue  Vorwürfe 
für  den  Maler  schafft:  seine  Schilderungen  sind 
Entwürfe  zu  grossartigen  Wandgemälden,  For- 


-     145    — 

dcrt  nicht  jenes  Festmahl  der  (iüitcr  auf  dem 
breiten  Bergesrücken,  wo  Flora  ihren  duftenden 
Blumenteppich  ausgebreitet  hat,  wo  die  Hymniden 
ihre  natürliche  Lauben  schlingen,  wo  die  Naiaden 
ihre  Quellen  springen  lassen,  Pinsel  und  Farben 
heraus  ?  Soll  der  Maler  nicht  begeistert  werden 
durch  jenen  Jupiter  auf  dem  Herrscherthrone, 
der  die  Wolken  mit  dem  Glänze  seines  Antlitzes 
erleuchtet;  jenen  Mars,  der  kaum  vom  blut- 
bespritzten, erzbeschlagenen  Wagen  gestiegen, 
von  den  Damen  empfangen,  seiner  Wafifenrüstung 
entledigt,  mit  Rosenwasser  begossen  und  in  eine 
angenehme  Unterhaltung  hineingezogen  wird; 
jenen  Bacchus,  der  seinen  schweren  Humpen 
ein  Mal  um  das  andere  füllen  lässt,  um  den 
Göttern  vor-  und  nachzutrinken,  dem  aber  keiner 
ohne  Schaden  Bescheid  thun  kann  ?  Das  Götter- 
mahl ist  ein  grosses  Hoffest;  alle  Hofchargen 
sind  zur  Stelle:  Priapus  versieht  die  Küche  mit 
Grünem  und  bereitet  die  Saucen;  Vulkan  hat 
die  Aufsicht  über  das  Tafelgerät;  Vorschneider 
sind  die  jüngst  unter  die  Gestirne  verrückten  Per- 
seus  und  Jason,  letzterer  mit  dem  göttlichen  Orden 
des  goldenen  Vliesses  geschmückt;  Schenken 
sind  Hebe  und  Ganymed.  Zum  Schlüsse  des 
Essens  singen  die  Sirenen  so  süss,  dass  mancher 
beim  ungewohnten  Klang  sich  vergisst  und  bei 
Tische  einschläft ,  und  Jupiter  selbst ,  um  nicht 
zu  schlummern,  die  Tafel  aufhebt  und  den  Tänzen 
Pans  und  den  Vorträgen  der  Musen  Raum  macht. 

Becker,  Jean  Lemaire.  lU 


-    146    - 

Jedermann  weiss,  wie  das  Fest  verlief,  wie 
der  Apfel  der  Zwietracht  der  Freude  ein  Ende 
machte.  Ein  neues  Bild  entwickelt  sich  vor 
unsern  Augen.  Im  friedlichen  Thale  Mesaulon 
weidete  Paris  seine  Heerde;  eben  hatte  er  sein 
einfaches  Mahl,  Brod  und  Datteln,  zu  sich  ge- 
nommen und  ergötzte  sich  im  Schatten  am 
Harfenspiel,  als  die  drei  Göttinnen,  von  jMerkur 
geführt  wie  ein  Kranichzug  erschienen  und  sich 
vor  dem  erstaunten  Hirten  niederliessen.  Es 
beginnt  ein  Wettkampf  der  Reden  und  Ver- 
sprechungen, der  nicht  blos  eine  oratorische 
Musterleistung  darstellen  soll,  sondern  einen 
tieferen  moralischen  Hintergedanken  birgt:  Paris 
steht  vor  der  Wahl  zwischen  irdischer  Macht, 
Weisheit  und  sinnlicher  Lust ;  alle  Verlockungen 
der  Güter,  die  sie  ihm  gewähren  können,  breiten 
die  Göttinnen  mit  den  leuchtendsten  Farben  der 
Rhetorik  vor  ihm  aus.  Zu  gleicher  Zeit  schürzt 
sich  der  Knoten,  der  im  zweiten  Buche  seine 
tragische  Lösung  finden  soll :  Paris  wird  Oenone 
vergessen ,  sein  eigenes  Leben  wird  verkürzt 
werden,  und  mit  ihm  und  durch  seine  Schuld 
wird  Troja  fallen.  Es  ist  um  den  Hirten  ge- 
schehen, sobald  er  die  nackte  Schönheit  der  drei 
Göttinnen  zu  sehen  verlangt,  seine  Sinne  sind 
bethört,  sein  Schicksal  ist  besiegelt  und  wird  in 
der  gestörten  Versammlung  der  Götter  von 
Apollo  verkündet.  In  der  Wahl,  die  Paris  trifft, 
und  in  dem  Verhängniss,  das  sich  daran  knüpft, 


-    147    - 

Hegt  rein  menschlich  und  dramatisch  eine  tiefe 
Lehre,  ohne  dass  Lemaire  in  einem  besonderen 
Kapitel  alle  möglichen  allegorischen,  moralischen, 
astrologischen  Deutungen  beizugeben  brauchte; 
freilich  hat  er  diesmal  einen  nicht  zu  verachtenden 
Gewährsmann  am  Apostel  Petrus  selbst,  nach 
dem  Romane  der  Wicdcrerkcunungcu. 

Unverzüglich  naht  die  Erfüllung  der  gött- 
lichen Verheissung.  Zur  Vermählung  des  Thraker- 
königs Poh'^mnestor  mit  Priams  Tochter  Ilione 
wird  ein  grosses  Spiel  und  Turnier  vorbereitet. 
Oenone,  welche  ihren  Gatten  seit  jener  Er- 
scheinung, deren  Geheimniss  ihr  nur  halb  offen- 
bart ist,  in  seinem  Wesen  verändert  sieht,  Hekuba, 
die  auf  eine  Gelegenheit  lauert,  ihren  Sohn  wieder 
ins  Vaterhaus  einzuführen,  alles  treibt  ihn,  am 
Spiele  teilzunehmen;  nur  seine  Pflegemutter  lässt 
sich  schwer  für  den  Plan  gewinnen.  In  der  turnier- 
frohen Zeit  Kaiser  Maximilians  war  Lemaire 
schon  oft  Zuschauer  grosser  Hoffeste  gewesen; 
nach  ihrem  Muster  schildert  er  die  Wettkämpfe 
in  der  Skamanderebene  mit  der  umständlichen 
Genauigkeit,  auf  die  er  sich  so  meisterhaft  ver- 
steht. Die  Fussreise  der  Hirtenfamilie,  ihr  Lagern 
unter  dem  Feigenbaum,  die  Musterung  der  Zu- 
schauer und  wie  Oenone  ihrem  Gatten  seine 
hohen  Verwanten  einzeln  bezeichnet,  das  ist 
frisch  aus  dem  Leben  gegriffen.  Dramatisch  be- 
flügelt sich  die  Schlussszene.  Paris  besteht  seinen 
Bruder  Hektor,  dieser  gerät  ausser  sich  und  will 


148 


den  Hirten  töten,  Paris  rettet  sich,  indem  er  sich 
nennt,  der  alte  Hirte  kommt  mit  den  Erkennungs- 
zeichen; unter  Freudenthränen  wird  Paris  von 
seinen  Eltern  anerkannt  und  Oenone,  wie  ihre 
Schönheit  es  verdient,  als  Schwiegertochter 
Priams  aufgenommen.  Paris  stolzes  Sehnen  ist 
damit  erfüllt  und  mit  dem  Auseinandergehen  der 
Gäste  schliesst  das  erste  Buch  der  Illiistratioiis. 
Lemaire  überlässt  es  seinen  Lesern,  sich  vor- 
zustellen, welche  Mühe  und  Sorgfalt  es  dem  Ver- 
fasser gekostet  haben  mag,  seinen  umfangreichen 
Stoff  aus  so  vielen  alten  Schriftstellern  zusammen- 
zutragen, zu  sichten  und  zu  einem  einheitlichen 
Ganzen  zu  verarbeiten,  und  empfiehlt  sich  ihrem 
Wohlwollen  mit  den  beiden  Versen  aus  Lukrez: 

Floriferis  ut  apes  in  saltibus  omnia  libant, 
Omnia  nos  itidem  decerpsimus  aurea  dictaK 


'  Nach  der  Gewohnheit  der  damaligen  Zeit  hing  Lemaire 
dem  ersten  Buche  auch  einige  Briefe  an ;  zuerst  einen  teil- 
weisen Abdruck  des  zweiten  Schreibens  von  Fournier  an 
Champier,  die  Lobrede  auf  ihn ;  dann  eine  Epistola  Johannis 
Regis  Parrhisiensis  (philosophi  atque  poetae  insignis)  an  ihn 
selbst,  ein  Dankschreiben  für  einen  Auszug  über  die  Germanen 
aus  Jacob  von  Guise  mit  einer  langen  Abschweifung  über  die 
Neuerstehung  der  schönen  Wissenschaft,  die  auch  die  National- 
sprachen betrifft ;  der  Schreiber  hegt  grosse  Hoffnungen  von 
Lemaire  :  Novatorem  tcrminorum  Apuleium  imitaberis,  sincerum 
et  brevitate  gaudentem  in  historia  Sallustium,  copiosum  et 
fertilem  Ciceronem,florentem  Plinium  ;  et  tu  quoque,  cum  operae 
precium  erit ,  siccum  et  jejunum  sterilemqe  Frontonem  referes 
et  instaurabis.  Haec  paucis  dixerim,  non  assentator,  sed  tua 
humanitate  fretus.  Solent  enim  libera  ingenia  esse  magnifica 
et  quodammodo  gaudere  benefactorum  gloria.  —  Das  Schreiben 
ist  aus  Valenciennes  datiert.  Bene  valere  te  exopto  ex  insigni 
Valencenarum  urbe.    Bene  habet  nepos  tuus   qui  tuam  indolem 


—    149    - 

X. 

Als  Lemaire  im  Begriff  stand,  den  Druck 
des  ersten  Buches  der  Illustrations  de  Gaule  ab- 
zuschliessen,  bedachte  er,  dass  es  nicht  unschick- 
lich wäre  und  von  den  Lesern  freundlich  auf- 
genommen werden  würde,  wenn  er  den  ersten 
Brief  des  Grünen  Liebhabers ,  der  seit  1505  un- 
gedruckt dalag,  dem  Bande  beifügte.  Wohl  befand 
sich  die  Epistel  handschriftlich  im  Umlauf,  und 
der  Dichter  hatte  jedenfalls  selbst  dafür  gesorgt, 
dass  der  Königin  von  Frankreich  -—  vielleicht 
während  ihres  langen  Aufenthaltes  in  Lyon  — 
eine  Abschrift  vorgelegt  wurde.  Nun  hatte  er 
eben  durch  einen  Brief  seines  Freundes  Perreal 
an  Claude  Thomassin,  Stadthauptmann  von  Lyon, 
erfahren,  dass  Anna  soviel  Gefallen  an  dem  Ge- 
dichte gefunden  hatte,  dass  sie  es  noch  jetzt 
gelegentlich  anführte.  Dieser  hohe  Beifall  war 
es,  der  ihn  bcwog,  den  ersten  Brief  in  Druck  zu 
geben,  und  ihn  anfeuerte,  den  zweiten  zu  dichten, 
jenen  Bericht  des  gestorbenen  Sittichs  über  seine 
Ankunft  im  Paradies  der  seligen  Tiere;  wir  haben 
gesehen,  welch  frischen  Humor  und  welche  Ueber- 
fülle  von  Gelehrsamkeit   er   dabei   entwickelte. 


videtur  rcdolere.  Es  folgt  dann  ein  Brief  des  Predigermönches 
Petrus  Lavinius  von  Langres  an  Franz  von  Rohan,  Erzbischof 
von  Lyon,  nebst  einigen  empfehlenden  Gedichten  desselben, 
alles  in  lateinischer  Sprache.  Man  sieht  aus  dem  Briefe  und 
den  Versen,  dass  die  Annius  entlehnten  Stammbilume  den 
grössten  Eindruck  auf  die  ersten  Leser  gemacht  haben.  Dieser 
Petrus  Lavinius  stand  spUter  auch  mit  Cornelius  .Agrippa  in 
brieflichem  Verkehr.  —  Cf.  Oeuvres  IV,  431  sqq. 


—    150    - 

Die  beiden  Episteln  widmete  Lemaire  seinem 
Gönner  dem  Hofmaler,  damit  er  sie  der  Königin 
als  eine  bescheidene  Gabe  und  einen  Beweis 
seiner  Ergebenheit  zu  lesen  geben  könne  >.  Per- 
real hatte  viele  Verbindungen  am  französischen 
Hofe,  vielleicht  war  er  selbst  in  Blois  anwesend 
und  hörte  dort  die  freundliche  Aeusserung  der 
Königin,  die  er  eiligst  seinen  Bekannten  in 
Lyon  mitteilte. 

Wie  wir  sahen,  hatte  Lemaire  im  Vorjahre 
den  Lyoner  Künstler  im  Auftrage  Margaretas 
aufgefordert,  Entwürfe  für  die  Grabdenkmäler 
in  Brou  zu  zeichnen;  als  dieselben  fertig  waren, 
übermittelte  er  sie  auch  der  Fürstin,  und  diesmal 
wahrscheinlich  persönlich;  denn  er  war  im  Verlauf 
des  Sommers  1510  in  den  Niederlanden.  Perreal 
schreibt  am  4.  Januar  1511,  er  habe  Lemaire, 
als  er  nach  Flandern  ging,  auf  seine  Frage  mit- 
geteilt; dass  die  drei  Grabstätten  zusammen  wohl 
zweitausend  fünfhundert  Thaler  kosten  würden, 
er  dürfe  aber  die  hohe  Frau  nicht  damit  er- 
schrecken, um  keine  Verzögerung  zu  verursachen ; 
und  Lemaire  klagt  am  20.  November  1510,  der 
Obereinnehmer  von  Hennegau  habe  den  ge- 
schlossenen Brief  Margaretas,  in  dem  ihm  aus- 
drücklich   befohlen    war,    dem   Indiziarius    mit 


'  Oeuvres  III,  1.  Je;in  Lemaire  de  Beiges  tres  humble  dis- 
ciple  et  loingtain  imitateur  des  meilleurs  indiciaires  et  historio- 
graphes  au  sien  tres  singulier  patron  et  protecteur  maistre  Jean 
Perreal  de  Paris,  peintre  et  varlet  de  chambre  ordinaire  du 
roy  tres  chrestien.    A  Lyon,  le  premier  de  mars  1510. 


-    151    — 

Rücksicht  auf  seine  Reise  und  seinen  Auftrag 
den  vollen  Gehalt  für  das  am  letzten  September 
ablaufende  Jahr  auszubezahlen,  nicht  beachtet, 
sondern  hochmüti«^  geantwortet,  er  gebe  auf  den 
Inhalt  des  Briefes  nichts;  Marnix,  der  denselben 
ausgefertigt  hatte,  habe  den  Ueberbringer  zum 
Besten  gehalten'. 

Es  ist  begreiflich,  dass  nach  solchen  Er- 
fahrungen Lemaire  kein  besonders  festes  Zu- 
trauen in  die  Versprechungen  setzte,  die  man 
ihm  machte,  ihn  beim  Bau  von  Brou  ständig  an- 
zustellen und  entsprechend  zu  belohnen  2.  Xichts- 


'  In  einer  Zahlungsanweisung'  an  Perrcal,  die  am  L'7.  Juli 
lölO  veriliziert  wurde,  heisst  es  ä  cause  des  pourtraictz  par  luy 
faiz,  et  qu'il  nous  a  derreniercmenl  cnvoyez  par  Jean  Le  Maire, 
nostre  indiciairc.  Charvet,  Jean  Perreal  p.  45.  —  Perreal  schreibt 
isn  Louis  BaranRier,  am  4.  Januar  1511.  «Premierement  je  vous 
di  que  je  dis  ä  Maistre  Jean  Lemaire,  quand  il  ala  en  Flandres, 
pour  ce  qu'il  me  demandoit  que  le  tout  pourroit  bien  couster 
deux  mille  cinq  cens  escus,  c'est  ä  dire  les  trois  sepultures, 
maiz  qu'il  ne  falloit  pas  estonner  Madame,  aün  de  ne  reculer 
Toeuvrc.»  —  Lemaires  Brief  vom  L*0.  November  1510  bei  Stecher, 
Oeuvres  IV,  408.  «i\  cause  de  mon  voyage  et  commission.»  — 
Lemaire  war  am  1.  M.'lrz  noch  in  Lyon  gewesen,  im  September 
ist  die  Arbeit  in  den  Steinbrüchen  von  S.  Lothain  schon  im 
Gange,  da  Margarethe  .Anfangs  Oktober  Muster  erhält.  Lemaire 
wird  also  wohl  schon  im  Juli  zurückgekehrt  sein. 

''  Auf  diese  Reise  scheint  sich  ein  Brief  Lemaires  zu  be- 
ziehen, von  dem  Siecher  Oeuvres  IV,  40-  -Anm. '_'  nur  einen  Aus- 
zug nach  einer  Mitteilung  von  .AI.  Pinchart  giebt:  Lemaire  schreibt, 
er  habe  die  patrons  et  pourtraictz  et  plattes  formes  en  parchemin 
in  den  Händen  des  Wappenkönigs  Toison  d'or  gelassen.  Weiter 
sagt  er:  «Madame  pourra  deliberer  cependant  s'ellc  se  veut 
.servir  de  moy  en  cest  affaire  et  que  je  soie  chief  quant  k  la 
sollicitation  d'icelle  avecques  recompense  et  estat  condigne  et 
comme  on  me  l'a  promis.  Mais  j'ay  grand  pcine  que  je  ne 
soie  celui  qui  bat  les  buissons  et  ung  autrc  prend  les 
oisillons.    S'il  est  ainsy,'  il  faudra  que  j'aie  patience.» 


-    152    - 

destoweniger  entwickelte  er  eine  grossartige 
Rührigkeit,  der  der  Erfolg  auch  nicht  fehlte. 
Durch  eifriges  Nachforschen  entdeckte  er  den 
Wert  der  infolge  der  Kriege  verlassenen  Ala- 
basterbrüche von  Saint  -  Lothain  bei  Poligny, 
vierzig  Kilometer  südlich  von  Dole  in  der  Herr- 
schaft Salins,  die  zu  Margaretas  Leibgedinge 
gehörte ;  in  alten  Urkunden  des  Klosters  Baume- 
les-Messieurs  hatte  er  gefunden,  dass  die  Brüche 
seit  mehr  als  zweihundert  Jahren  in  Rufe  standen; 
er  wusste,  dass  Meister  Anthoinet  von  Paris, 
der  doch  eigens  nach  England  gereist  war,  für 
das  Grabmal  Philipps  des  Guten  in  Dijon  weder 
dem  englischen  Alabaster  noch  dem  von  Grenoble, 
sondern  einzig  dem  vonSaint-Lothain  den  Vorzug 
gegeben  hatte ;  ferner  hatten  ihm  die  alten  Leute 
der  Umgegend,  wie  er  sie  ausfragte,  bezeugt, 
dass  Ludwig  der  XL  durch  denselben  Anthoinet 
bedeutende  Ankäufe  hatte  machen  lassen.  Sofort 
nahm  Lemaire  die  Brüche  in  Margaretas  Namen 
in  Besitz  und  Hess  trotz  des  Murrens  der  Mönche 
von  Baume  ihr  Wappen  aufpflanzen,  indem  er 
sich  auf  den  Rechtssatz  gründete,  dass  alle  unter 
der  Erde  verborgenen  Schätze  und  Gänge  dem 
Landesherrn  gehören.  Allein  er  war  noch  nicht 
über  die  ersten  Abraumarbeiten  hinaus,  als 
Margareta  eine  vorgebliche  Musterprobe  erhielt, 
woraufhin  sie  sofort  (am  10.  Oktober  1510)  schrieb, 
der  Stein  scheine  ihr  zur  Verwendung  bei  ihren 
Arbeiten  nicht  tauglich,  es  sollten  daher  keine 


—    153    - 

weiteren  Ausgaben  gemacht,  sondern  andere 
Bezugsquellen  gesucht  werden.  Lemaire,  der 
nichts  von  den  zugeschickten  Proben  wusste, 
geriet  über  den  Brief  in  grosse  Bestürzung; 
er  berichtete  sogleich  in  einem  ausführlichen 
Schreiben,  wie  er  auf  die  Alabasterbrüche  auf- 
merksam geworden  war  und  was  für  Ergebnisse 
er  erzielt  hatte;  es  wurden  bereits  Blöcke  ge- 
fördert, die  nicht  an  einem  Stücke  herauszuziehen 
waren,  und  die  zerlegt  immer  noch  zwölf  Pferde 
oder  vierundzvvanzig  Ochsen  anstrengten.  Freilich 
musste  man  bis  zu  den  Knien  im  Wasser  arbeiten, 
trotzdem  dass  Tag  und  Nacht  gepumpt  wurde, 
und  schwebte  dabei  in  steter  Lebensgefahr  wegen 
der  nachrutschenden  Erde.  Hätte  Lemaire  Mar- 
garetas  Brief  an  Ort  und  Stelle  erhalten,  so  hätte 
er  Alles  liegen  lassen  und  wäre  anderswohin 
gegangen,  um  sein  Unglück  zu  beweinen.  Denn 
aus  keinem  andern  Grunde,  sagte  er  sich,  wurden 
jetzt  die  Steinbrüche  herabgewürdigt,  als  weil 
er  es  sei,  der  sie  wieder  aufgefunden  habe.  So 
war  es  ihm  schon  wiederholt  gegangen,  immer 
klopfte  er  die  Büsche  aus,  andere  fingen  die 
Vögel '.    So  habe  man  der  Fürstin  nur  berichtet, 


>  Lemaire  erwähnt  zwei  Fälle:  erstens  sagt  er.  .quand 
j'euz  mis  en  avant  la  prcvalue  des  deniers  d'Espaigne  et  que 
j'avertiz  Madame  qu'elle  perdoit  de  son  douaire  mil  ou  XII  ^' 
ducatz  par  an  au  moyen  des  charges  du  temps  du  collateral 
Pyosachz  et  que  le  maniement  des  dictz  deniers  fut  baille  ä 
ceux  qui  le  faisoient  mieulx  valoir  d'autant  en  baillant  bons 
pleigcs,  dönt  en  partin  ne  fut  riens  tenu'.  Soll  es  nicht  heissen 
au  moyen  des  changes?  Jean  Loys   de  Pyoczasc(o)   war   coUa- 


-     154    - 

er  habe  Alabaster  in  den  Salzwerken  von  Tour- 
mond gefunden,  weil  man  hoffte,  er  würde  sich 
dabei  lächerlich  machen.  Spuren  von  Gips 
habe  er  entdeckt;  um  auf  Alabaster  zu  kommen, 
müsste  man  zu  tief  graben,  darum  habe  er  sich 
an  das  sicherste  gehalten  und  Saint-Lothain  er- 
worben. Wenn  er  nicht  wüsste,  dass  alles,  was 
er  sagt,  doch  missachtet  wird,  würde  er  sich  an- 
heischig machen,  seiner  Herrin  einen  ganz  her- 
vorragenden Dienst  zu  leisten.  Zu  einer  Arbeit, 
wie  die  bei  den  Salzquellen,  brauchte  man  einen 
Mann,  dem  es  nicht  um  eigenen  Gewinn  zu  thun 
sei,  sondern  um  die  Ehre  und  um  das  Ansehen 
des  Fürsten,  einen,  der  Mathematik  und  Geo- 
metrie theoretisch  wie  praktisch  beherrschte, 
um  die  Höhe  des  Bodens  und  das  Gefäll  des 
Wassers  zu  messen  und  Maschinen  anzufertigen, 
mit  denen  man  ohne  viel  Leute  und  Ausgaben 
beträchtliches  leisten  könnte.  In  den  Salzwerken 
habe  er  Keinen  gefunden,  der  dies  sonderlich 
verstände;  Margareta  besitze  aber  an  Perreal 
einen  Mann,  der  reich  sei  an  Wissen,  Freunden, 


teral  du  magnitique  conseil,  resident  avec  le  duc  de  Savoye, 
et  administrateur  des  tinances  de  Madame  Marguerite  duchesse 
de  Savoye,  wenigstens  bis  1504;ö  cf.  Quinsonas  1.  c.  III.  n°  XVI. 
—  'Et  de  reschief  quand  madame  commenija  son  bastiment 
deBroujevfeizprouflitdeplusdellll'^livres  au  pris  fait  par  l'ad- 
vertissement  d'envoyer  quenr  des  maistres  massons  partout.'. 
Das  würde  zu  dem  doppelten  Kontrakt  stimmen,  einer  vom 
23.  April  1505  mit  fünf  Accordarbeitern  von  Bourg,  der  andere 
vom  7.  April  löOö  mit  zwei  andern  Maurermeistern.  Cf.  Char- 
vet  1.  c.  p.  48. 


—     löö    — 

Eründungsgabc,  Unternehmungslust,  Ehre,  Ver- 
mögen und  Ansehen,  und  ihr  zu  Liebe  gern  zu 
diesem  Geschäfte  erbötig  wäre.  Und  wenn  man 
sie  über  die  Betriebsamkeit,  mit  der  Lemairc 
die  Arbeiten  in  den  Brüchen  geleitet  hatte,  wahr- 
heitsgetreu unterrichtet  hätte,  so  könnte  sie  sich 
denken,  dass  auch  er  es  wohl  wagen  würde» 
Grösseres  zu  unternehmen,  wenn  man  ihn  nur 
verwenden  wollte.  An  einem  Festtage  sei  er 
einmal  mit  fünfzehn  oder  sechzehn  seiner  Ge- 
sellen zu  dem  Salzwcrke  hinübergegangen  und 
habe  in  einer  Viertelstunde  mehr  Wasser  aus- 
gepumpt, als  die  dortigen  Arbeiter  sonst  an 
einem  Tage;  es  herrsche  dort  eine  grosse  Lässig- 
keit. Da  Lemaire  nun  einmal  im  Zuge  ist,  bringt 
er  noch  drti  weitere  Beschwerden  vor:  zuerst 
war  er  bei  der  Verwesung  einer  Pfründe  in 
Dole  trotz  der  mündlichen  Zusage  Einem,  der 
nie  etwas  geleistet  hatte,  zu  Liebe  übergangen 
worden ;  ferner  war  der  Befehl,  dass  die  Kloster- 
brüder von  Brou  ihm  und  den  Bildhauermeistern 
das  alte  Gebäude  einräumen  sollten,  wieder 
zurückgenommen  worden,  so  dass  er  noch  immer 
im  Gasthofe  wohnen  musste;  endlich  hatte  der 
Obereinnehmer  von  Hennegau,  wie  wir  sahen^ 
sich  geweigert,  ihm  seinen  Gehalt  zu  bezahlen'. 
Lemaires  Schreiben  ist  ein  leidenschaftlicher 
Herzenserguss,  aber  mit  dem  Geschicke  eines 

•  Lemairc   an   Maifrareta,  Bourjj   en   Bressc.   den  20.   No- 
vember i:>10.    Oeuvres  IV,  39(>-409. 


—    156    — 

gewiegten  Schriftstellers  eingeleitet.  Keine  andere 
Urkunde  gibt  uns  ein  so  lebhaftes  und  bewegtes 
Bild  von  seiner  praktischen  Thätigkeit;  keine 
lehrt  uns  seine  Betriebsamkeit  und  seinen  Eifer 
für  den  Dienst  seiner  Herrin  mehr  schätzen. 
Sein  rücksichtsloses  Vorgehen  bei  Anlässen,  wie 
denen,  die  er  anführt,  mag  ihm  die  Feindschaft 
derjenigen,  deren  rechtliche  oder  unrechtliche 
Interessen  dabei  verletzt  wurden,  leicht  zuge- 
zogen haben ;  er  selbst  scheint  die  Zurücksetzung, 
die  er  empfindet,  auf  tiefere  Gegensätze  in  Mar- 
garetas  engerer  Umgebung  und  in  ihren  eigenen 
Neigungen  zurückzuführen;  ,je  suis  certain, 
Madame,  sagt  er  mit  etwas  dunkeln  Ausdrücken, 
que  si  quelque  autre  qui  eust  eu  port  de  sa 
nation  envers  vostre  excellence,  eust  este  inven- 
teur  et  executeur  d'un  tel  Service,  il  en  eust  fait 
un  grand  cas.  Mais  le  proverbe  commun  dit 
que  toujours  a  povres  gens  menue  monnoye.' 
Es  spricht  sich  in  diesen  Worten  das  bittere 
Gefühl  des  Mannes  aus,  der  weiss,  was  er  leisten 
könnte,  und  dabei  sieht,  dass  er  den  hochadligen 
Vertrauten  der  Fürstin  gegenüber  doch  nur  ein 
untergeordnetes  Werkzeug  bleiben  wird;  des 
ergebenen  Dieners ,  der  empfindet ,  dass  der 
Widerstreit  der  politischen  Strömungen  eine 
allmälige  Entfremdung  zwischen  dem  Lande  und 
der  Statthalterin  herbeiführt;  vielleicht  will 
Lemaire  eine  bestimmte  Person  andeuten,  durch 


—    157    — 

deren  Missgunst  und  Einfluss   er  sich  bedroht 
glaubt'. 

Am  10.  Oktober  waren  auch  die  Verträge 
über  die  Bildhauerarbeiten  für  die  GrabmHler 
von  Brou  abgeschlossen  worden  und  Lemaire 
hatte  seinen  Neffen  nach  den  Niederlanden  ge- 
schickt, um  Margareta  mündlich  Bericht  zu  er- 
statten. Die  getroffene  Uebereinkunft  fand  aber 
keine  Billigung  und  der  Brief,  den  Margareta 
darüber  an  Lemaire  und  ihren  in  Burgund  an- 
wesenden Geheimschreiber  Barangier  schrieb, 
Hess  beide  befürchten,  dass  sie  ernstlich  erzürnt 
sei.  Wir  haben  einen  langen  Brief,  den  Perreal 
am  4.  Januar  1511  an  Barangier  schrieb,  um 
seinen  Standpunkt  zu  verteidigen:  die  zwei 
Hauptpunkte  sind  der  Wert  des  Alabasters, 
dessen  geringer  Härtegrad,  wenn  er  frisch  ge- 
brochen ist,  eine  natürliche  Eigenschaft  und  kein 
Fehler  ist,  und  die  Redlichkeit  der  abgeschlos- 
senen Verträge.  Der  Alabaster  findet  bereits 
Absatz,  der  Geifenwirt  in  Lyon  hat  zwei  oder 


'  I"  Die  Oberaufsicht  über  die  Salzwcrke  von  Salins  (ich 
weiss  nicht,  ob  die  von  Tourmond  mit  eingeschlossen  waren), 
das  Amt ,  das  Lemaires  Ehrgeiz  gereizt  hUtte ,  wurde  im 
April  1512  dem  Präsidenten  von  Bressc,  Laurent  de  Gorrevod, 
verliehen.  Le  Glay,  Corresp.  II,  1.  11"  Margareta  wurde  bedr.'lngt 
durch  den  Gegensatz  der  niederländischen  einheimischen  Politik, 
welche  den  Anschluss  an  Frankreich  festhalten  wollte,  und  der- 
jenigen, die  das  Interesse  ihres  Vaters  des  Kaisers  und  ihres 
Neffen  des  Thronerben  von  Spanien  vertraten.  III"  Lemaire 
bezeichnet  später  selbst  Diego  Flores,  den  Schatzmeister  Mar- 
garctas,  als  denjenigen,  dem  er  seine  Entsetzung  verdankt. 


—    158    - 

drei  grosse  Blöcke  nach  Tours  verkauft,  wo 
Michel  Coulombe  das  Grabmal  eines  Bischofs 
daraus  hauen  will'.  Da  Barangier  im  Begriff 
ist,  nach  Dijon  zu  gehen,  wird  er  in  der  Rech- 
nungskammer finden,  woher  der  Alabaster  tür 
die  Gräber  der  Herzoge  von  Burgund  bezogen 
worden  ist,  und  was  er  gekostet  hat.  Bei  den 
Verträgen  mit  dem  Bildhauer  Thibault  von  Salins 
hat  Perreal  allerdings  seine  Nebengedanken;  er 
glaubt  nicht,  dass  Thibault  im  Stande  sein  wird, 
das  zu  leisten,  wozu  er  sich  verpflichtete;  von 
vornherein  ging  seine  Absicht  dahin,  den  be- 
rühmten Michel  Coulombe,  der  das  Grabmal  des 
Herzogs  Franz  des  IL  von  Bretagne,  des  Vaters 
der  Königin,  gemeisselt  hatte,  für  die  Denkmäler 
von  Brou  zu  gewinnen.  Da  Margareta  beti  effs 
des  Stoffes,  der  verwendet  werden  sollte,  noch 
unentschieden  war,  empfiehlt  ihr  Perreal  den 
weissen  Marmor  von  Genua  und  den  schwarzen 
von  Lüttich,  welche  beide  in  Nantes  Verwendung 
gefunden  hatten;  denn  Alabaster  sei  nicht  so 
dauerhaft  wie  Marmor,  und  gegossenes  Metall 
zu  roh  in  der  Ausführung.  Dieser  Rat  des 
Künstlers  scheint  für  die  Denkmäler  von  Brou 
befolgt  worden  zu  sein^. 

Den  Gedanken,  Thibault  durch  einen  besseren 
Künstler  zu  ersetzen,  Hess  Perreal  nicht  fallen. 


>  Nach  B.  Fillon  ist  es  offenbar  das  Grabmal  des  Bischofs 
■Guillaume  Guegruen  von  Nantes. 

-  Perreal  an  Barangier,  Lyon,  den  J.Januar  1511.  Charvet 
1.  c.  p.  bl— 67.    Derselbe  an  Margareta,  ibid.  68—71. 


—   ir)9  — 

Am  30.  März  schreibt  er  von  Blois  an  Barangier, 
der  wieder  nach  den  Niederlanden  zurückgekehrt 
war,  Coulombe  habe  sich  ihm  zu  Liebe  bereit 
erkUirt,  die  Arbeiten  mit  seinem  Xeffen  zu  über- 
nehmen, und  er  verlange  keine  anderen  Be- 
dingungen als  die,  welche  mit  Thibault  verab- 
redet worden  waren.  In  der  Zwischenzeit  hatte 
er  auf  Margaretas  Ansuchen  einen  Plan  für  die 
neben  das  Kloster  zu  bauende  Kirche  entworfen, 
mit  grossem  Kopfzerbrechen  von  wegen  der 
Erfindungen  und  Verzierungen,  wie  er  wieder- 
holt betont.  Für  die  Steinbrüche,  fügte  Perreal 
hinzu,  müsste  Jemand  gefunden  werden,  um 
Lcmaire  zu  ersetzen,  der  jetzt  gerade,  wo  man 
Alabaster  in  Menge  brauchte,  sehr  vermisst 
werde '. 

Lemaire  hatte  das  Unglück  gehabt,  den 
rechten  Arm  zu  brechen,  und  infolge  der  Unzu- 
länglichkeit der  wundärztlichen  Behandlung  war 
die  Hand  erkrankt,  so  dass  er  sich  in  L3'on  mit 
schweren  Kosten  pflegen  lassen  musste.  Am 
2.  Mai  musste  er  seine  Briefe  noch  schreiben 
lassen  und  konnte  nur  den  Namen  unterzeichnen. 
Seine  Krankheit  hatte  ihn  gehindert,  das  Buch 
des  Papstes  Plus,  de  miseria  curialium,  wie  er 
versprochen  hatte,  zu  übersetzen-;  als  Ersatz 
schickte  er  dem  Geheimschreiber  Marnix  Alain 


*  Perreal  an  Barangier,  den  30.  März  löU.  Stecher 
Oeuvres  de  J.  Lemaire,  IV,  377.  Die  Adresse  fehlt ;  es  ist  aber 
kein  Zweifel  möglich,  dass  Barangier  der  Adressat  ist. 

="  Ein  Gegenstand,  der  ganz  seiner  Stimmung  entsprach! 


160 


Chartiers  Curia!,  den  er  ebensohoch,  wenn  nicht 
höher  schätzte,  als  das  Buch  des  Papstes.  Während 
er  sich  pflegen  Hess  und  nicht  schreiben  konnte, 
hatte  er  aber,  um  keine  Zeit  zu  verlieren,  zwei 
eigene  Bücher  drucken  lassen,  die  Margareta 
zu  Ehren  ihr  Wappen  tragen  sollten;  er  hoffte 
sie  bis  Ende  der  Ostermesse  fertig  zu  sehen. 
Was  Lemaire  längst  befürchtet  hatte,  war  auch 
eingetreten;  durch  den  Einfluss  des  Schatzmeisters 
Diego  Flores  oder  eines  Andern  war  ihm  sein 
Amt  als  Geschäftsführer  beim  Errichten  der 
Grabmäler  in  Brou  entzogen  worden  unter  dem 
Vorgeben,  der  Alabaster  sei  nicht  gut  und  die 
eingegangenen  Verträge  zu  kostspielig.  Auf 
beide  Punkte  mochte  Barangier  auf  Grund  dessen, 
was  er  in  der  Rechnungskammer  zu  Dijon  ge- 
funden hatte,  bereits  geantwortet  haben,  seiner- 
seits beabsichtigte  Lemaire  ausführlich  darüber 
zu  schreiben,  wenn  er  die  Bücher  schicken  würde ' . 

So  war  also  Lemaire  unterlegen,  bei  der 
Fürstin  stand  er  in  Ungunst  und  seine  ehr- 
geizigen Hoffnungen  und  seine  Aussichten  auf 
eine  feste  Lebensstellung  hatten  sich  noch  einmal 
zerschlagen. 

XL 

Die  Bücher,  welche  Lemaire  im  Frühjahr 
1511  während  seiner  Krankheit  drucken  liess, 
sind  unzweifelhaft  die  verloren  gegangene  kurz- 


'  Lemaire   an  Jan    von   Marnix ,   Lyon,   den   2.  Mai   1511. 
Oeuvres  IV,  381. 


161 


ijefas.ste  Geschichte  der  Kreuzfarten  und  die 
berUchtiyte  Streitschrift  vom  Unterschied  der 
Kirchenspaltungen  und  Kirchenversammlungen. 
Den  kurzen  Abyiss  der  Geschiclite  der  Krcits- 
farten  erwähnt  er  in  der  ebengenannten  Streit- 
schrift als  ein  von  ihm  zusammengetragenes 
Werk';  er  ist  spurlos  verloren  gegangen;  denn 
er  hat  nichts  zu  thun  mit  der  Schrift,  welche 
Jean  le  Feron  in  seinem  Buch  von  den  Wappen- 
königen und  Herolden  als  Abhandlung  von  der 
Erciffnung  des  heiligen  Grabes  erwähnt,  und  die 
nichts  anderes  ist  als  der  Geleitsbrief  des  Sultans, 
von  dem  gleich  die  Rede  sein  wird  2.  Auch  sind 
die  von  Lemaire  wiederholt  versprochene  Genea- 
logie und  Thaten  der  Türken  und  die  Beschreib- 
ung ihres  Landes  keine  Fortsetzung  des  besagten 
Abrisses  oder  des  Geleitsbriefes,  sondern  sie 
waren  dazu  bestimmt,  den  Abschluss  der  Illu- 
strations  de  Gaule  zu  bilden.  Ursprünglich  sollte 
das  dritte  Buch  ausser  den  Stammtafeln  der  euro- 
päischen Fürsten  trojanischer  Abkunft  noch  die 
Geschichte  der  Nachkommenschaft  des  Turcus 
und  sämmtlicher  von  den  Herrschern  Europas 
gegen    sie    gerichteter   Meerfarten    und   Unter- 


'  Cf.  Oeuvres  III.  288.  'un  rccueil  sommairc  de  tous  les 
passiiges,  en  unc   autrc    ocuvre   par  moy  compilee'. 

-  Jean  le  Feron,  Traitö  de  la  primitive  inslitution  der  rois, 
hcraulls  et  poursuyvans  d'armcs,  Paris  1505.  f "^  39.  Vgl.  Oeuvres 
III,  224.  J.  le  Feron  hat  auf  eigene  Faust  einen  empereur  dv 
Constautivoplc  gcschaften.  Dass  Montjoye  eine  Nachricht  in 
drei  Tagen  von  Mailand  nach  Blois  gebracht,  ist  nicht  aus  Le- 
maire entnommen. 

Becker,  Jean  Lemaire.  ,        11 


—    162    - 

nehmungen  enthalten;  später  zeigte  es  sich,  dass 
der  Stoff  für  ein  Buch  zu  umfangreich  war  und 
der  letzte  Teil  blieb  für  ein  viertes  vorbehalten, 
das  aus  anderen  Gründen  nie  erschien.  Als  nach 
der  Veröffentlichung  des  ersten  Buches  der  Druck 
der  Illustrations  in  ein  gewisses  Stocken  kam, 
scheint  Lemaire  die  Materialien,  die  er  zu  jenem 
letzten  Teil  gesammelt  hatte,  vorläufig  für  ein 
Kompendium  verwertet  zu  haben.  Gerade  damals 
sammelte  und  arbeitete  er  eben  an  jenem  Ab- 
schnitte seines  grossen  Werkes.  In  den  zuletzt 
entstandenen  Stücken  des  ersten  Buches  kündigte 
er  bereits  das  Werk  über  Griechenland  und  die 
Türkei  an,  welches  nichts  anderes  ist  als  das 
beabsichtigte  letzte  Buch  der  Illustrations;  es 
sollte  unter  anderem  von  Samos,  Armenien,  dem 
Tartarenkhan  redend  Im  zweiten  Buche,  das 
Mai  1512  erschien,  verweist  er  auf  dasselbe  als 
ein  vollendetes  Werk,  in  dem  der  I.eser  ausführ- 
lichere Auskunft  finden  kann  z.  B.  über  Pentesilea 
und  das  Reich  der  Amazonen,  oder  über  die 
Insel  Cytherea,  wo  Philipp  von  Ravenstein  nach 
seinem  Schiftbruch  so  schlecht  ankamt. 

Die  zweite  Schrift,  vom  Unterschiede  der 
Kirchenspaltungen  nnd  Kirchoiversaninilungen 
und  vom  Vorzüge  der  Versammlu/igen  der  galli- 
kanischen  Kirche,  verdankt  ihre  Entstehung  der 


'  JUustrations  I.    Oeuvres  I,  21.  XI.  9ö. 

2  Illustrations  II.  Oeuvres  II.  45.  183.  Cf.  ibid.  103.  \'^l. 
den  Schluss  des  1.  und  des  3.  Buches  und  im  dritten  Buche 
Oeuvres  II,  31ö. 


—   \«\   - 

Schwenkung  (.kr  päpstlichen  Politik,  WL-lchc  im 
Jahre  1510  einen  neuen  europäischen  Krieg  ent- 
flammte. Nachdem  Julius  der  II.  alle  An- 
sirenguniren  gemacht  hatte,  um  Venedig  zu 
demütigen,  richtete  er  nun  seine  ganze  Kraft 
gegen  das  drohend  gewordene  Uebergewicht 
Frankreichs.  Seine  \'erbündeten  waren  Venedig, 
das  er  kürzlich  vom  Banne  losgesprochen,  die 
Schweizer,  denen  Ludwig  der  XII.  die  gestellten 
Forderungen  nicht  bewilligt  hatte,  und  Ferdinand 
der  Katholische,  der  durch  die  Belehnung  mit 
Neapel  gewonnen  wurde.  Maximilian  hatte  ge- 
schwankt, bis  er  merkte,  dass  er  doch  nur  hin- 
gehalten wurde ,  und  er  sich  schiesslich  zum 
engsten  Bündniss  mit  Frankreich  gedrängt  sah. 
Ludwig,  der  vor  kurzem  seinen  Ratgeber  Georg 
von  Amboise  verloren  hatte,  ging  nicht  mit  der 
Fntschlossenheit  und  dem  Nachdruck  vor,  mit 
denen  er  früher  seine  Gegner  überraschte.  Statt 
der  energischen  Mittel,  die  nach  Macchiavelli 
allein  zum  Ziele  führen  konnten,  versicherte  er 
sich  zuerst  der  Zustimmung  des  französischen 
Klerus  und  begann  den  Krieg  mit  den  geistlichen 
Waffen,  bevor  er  zu  den  weltlichen  griff.  Im 
September  vereinigte  er  die  Prälaten  und  Doktoren 
seines  Reiches  zum  Konzil  in  Tours  und  legte 
ihnen  die  Frage  vor,  ob  ein  Fürst,  der  vom 
Papste  unrechtmässigerweisc  mit  Krieg  über- 
zogen werde,  berechtigt  sei,  gegen  denselben 
angriffsweise  vorzugehen  und  sich  in  weltlichen 


—    164    - 

Dingen  seinem  Gehorsam  zu  entziehen.  Die  Ver- 
sammlung bejahte  die  Fragen  einhellig  und  be- 
schloss,  eine  Gesantschaft  der  gallikanischen 
Kirche  an  den  Papst  zu  schicken,  um  ihn  zu 
Frieden  und  Eintracht  zu  ermahnen,  und  vertagte 
sich  dann  auf  den  1.  März  nach  l^yon.  Julius 
Hess  sich  durch  solche  Vorstellungen  in  seinem 
kühnen  und  rücksichtslosen  Vorgehen  nicht  auf- 
halten. Ohne  sich  um  das  Aergerniss,  das  er  gab, 
zu  kümmern,  leitete  er  persönlich  im  Harnisch 
die  militärischen  Operationen,  pflanzte  selbst  die 
Batterien  auf  und  ritt  durch  die  Bresche  in  das 
eroberte  Mirandola  ein. 

Bei  der  allgemeinen  Aufregung  der  Geister, 
welche  diese  ungewohnten  Ereignisse  hervor- 
riefen, hielt  es  Lemaire  für  seine  Pflicht  als 
Indiziarius,  das  Volk  über  die  Gerechtigkeit  der 
Händel  seines  Fürsten  zu  belehren,  besonders  in 
einem  Falle,  wo  leicht  Jemand  an  dem  Befremd- 
lichen der  Sachlage  Anstoss  nehmen  und  minder 
bereit  sein  konnte,  dem  Herrscher  nach  Kräften 
in  seiner  guten  Sache  beizustehen.  Zu  dem  Zwecke 
wollte  er  zeigen,  dass  solcher  Zank  nichts  neues 
sei,  und  dass  er  nur  durch  Konzilien  beigelegt 
werden  könne ;  dass  die  Kirchenspaltungen  aber 
meistens  von  dem  geistlichen  Oberhaupte  aus- 
gingen, die  heilenden  Kirchenversammlungen 
hingegen  von  den  weltlichen  Fürsten  i.  Uebrigens 

>  Prologue  de  toute  l'oeuvre  d.  h.  der  vereinigten  Schriftin : 
Differcnce  des  Schismes  et  des  Conciles,  Gestes  du  Sophj'  und 


—    K-ü    - 

hatten  ja  die  in  Basel  versammelten  VUter  die 
Vorteile  einer  häuHgen  Wiederholung  der  Kon- 
zilien und  den  Schaden  ihrer  Unterlassung  aus- 
drücklich in  ihren  Beschlüssen  ausgesprochen. 
Lemaires  Schrill  zerfällt  regelrecht  in  drei 
Teile:  im  ersten  soll  gezeigt  werden,  wie  die 
Schenkungen,  welche  Konstantin,  Pipin,  Karl  der 
Grosse,  Ludwig  der  Fromme  und  andere  Fürsten 
der  Kirche  gemacht,  alle  verderblichen  Laster 
in  derselben  erzeugt  haben,  so  dass  zur  Behebung 
ihrer  schlimmen  Folgen  die  ersten  Konzilien  be- 
rufen werden  mussten;  der  zweite  ist  den  Ver- 
sammlungen der  gallikanischen  Kirche  gewidmet 
und  soll  ihren  Nutzen  für  den  katholischen  Glauben 
erhärten ;  der  dritte  soll  die  übrigen  Spaltungen 
von  der  achten  bis  dreiundzwanzigsten  enthalten 
und  des  zukünftigen  24.  Schismas  Erwähnung 
thun,  das  nach  den  Prophezeiungen  das  grösste 
sein  wird.  Drei  Dinge  haben  vor  allem  der 
allgemeinen  Kirche  geschadet:  HerT.schsucht, 
die  Mutter  der  Habgier,  die  Vernachlässigung 
der  allgemeinen  Konzilien  und  das  Eheverbot 
für  die  Priester  der  lateinischen  Kirche.  Für 
diese  Behauptungen  ruft  Lemaire  drei  ent- 
scheidende Autoritäten  an:  Pius  den  II.,  Robertus 
Guaguinus  und  Piatina. 


Sauf-conduit  du  Soudan.  In  diese  Vorrede  hat  Lemaire  die 
Standrede  des  Kaisers  an  den  Venezianischen  Gesantcn  Giusti- 
niano  aufjfenommen,  als  Belejj  der  Loyalität,  mit  der  Maximilian 
am  N'eriraji  von  Cambrai  fcsih.'llt. 


-     166    - 

Gleich  das  erste  Schisma  ist  nach  Lemaire 
durch  die  Bereicherung  der  Päpste  hervorgerufen 
worden ;  die  Spaltung,  die  der  Häretiker  Novatus 
betrieb,  war  blos  die  Folge  davon,  dass  die 
'ersten  christlichen  Kaiser'  Philippus  und  sein 
gleichnamiger  Sohn  dem  Papste  Fabianus  ihre 
Schätze  vermachten,  als  sie  durch  Decius  in 
Bedrängniss  gerieten.  Die  folgenden  aber  sind 
die  Fruchtf  welche  die  Konstantinische  Schenkung 
der  Kirche  einbrachte.  Zwar  scheint  Laurentius 
Valla  die  Schenkung  'mit  fast  unwiderleglichen 
Gründen'  als  unächt  nachgewiesen  zu  haben; 
indessen  der  gemeine  Glauben  und  der  that- 
sächliche  Besitzstand  scheinen  sie  doch  zu  be- 
stätigen; wie  dem  auch  sei,  angesichts  der  Gefahr, 
in  ketzerischen  Irrtum  zu  verlallen,  hält  sich 
Lemaire  an  die  gesündere  Ansicht,  w^as  ihn  nicht 
hindert,  aus  der  problematischen  Schenkung  vor- 
läufig die  nötigen  Schlussfolgerungen  für  seine 
These  zu  ziehen.  Mit  der  unerwarteten  Macht- 
er Weiterung  der  Kirche  hören  die  Päpste  auf, 
Heilige  und  Märtyrer  zu  sein,  eine  Häresie  nach 
der  andern  erhebt  das  Haupt,  und  während  die 
Kirche  durch  innere  Spaltungen  zerrissen  wird, 
dringen  die  Feinde  der  Christenheit  allenthalben 
vor.  So  entstanden  bis  zu  Pipins  Zeit  sieben 
Schismen,  welche  ebensoviel  ökumenische  Kon- 
zilien nötig  machten,  um  die  Einheit  der  Kirche 
zu  retten. 

Die  Reihe  der  Kirchenspaltungen  unter- 
brechend, wendet  sich  Lemaire  den  in  Frankreich 


-     167    - 

.'ibgehaltcncn  Versammlung'en  sowohl  der  all- 
«iemeinen  als  der  gallikanischen  Kirche  zu;  es 
ist  die  Lichtseite  des  von  ihm  entrollten  Gemilldes. 
Den  Glanzpunkt  bildet  darin  das  Konzil  zu  Cler- 
niont,  wo  das  Kreuz  zum  ersten  Male  genommen 
wurde;  mit  Begeisterung  übersetzt  er  die  'ele- 
gante' Rede  Urbans  des  IT.,  die  wie  Donnerschall 
der  Ruf 'Gott  will  es' begrüsste.  Besonders  ein- 
gehend beleuchtet  er  dann  den  Streit  Philipps 
des  Schönen  mit  Bonifazius  dem  VIII. ;  denn  die 
damaligen  Ereignisse  sind  ein  treues  Gegenbild 
der  Vorfälle,  um  derentwillen  er  die  Feder  zur 
Hand  genommen  hat.  Ueber  die  Veranlassung 
und  Beschlüsse  der  letzten  Konzilien  zu  Tours 
und  Lyon  schweigt  er  aber,  weil  er  nicht  genau 
unterrichtet  ist  und  auch  keinen  Auftrag  hat, 
darüber  zu  reden ;  sonst  gäben  sie  Stoft  zu  einem 
neuen  Traktat,  ja  zu  einem  ganzen  Buche;  für 
diesmal  genügt  es  ihm  zu  zeigen,  wie  die  Ver- 
gangenheit auf  Gegenwart  und  Zukunft  einiges 
Licht  werfen  kann. 

Der  letzte  Abschnitt  setzt  die  Skandal- 
geschichte der  Päpste  weiter  fort,  wofür  die 
Zeit  der  Kämpfe  zwischen  Kaiser  und  Kurie  und 
neuerdings  die  der  grossen  Konzilien  reichen 
Stoff  bieten.  Das  Thema  ist  immer  das  gleiche: 
die  Bosheit,  Herrschsucht  und  Geldgier  der 
schlechten  Päpste  verursachen  alles  Unheil  auf 
der  Welt.  Lemaire  selbst  wird  es  bei  der 
Schilderung  dieser  traurigen  Wirrsale  unbehag- 
lich,   nur    der   gute    Zweck    seines   Vorhabens 


—    168    — 

ermutigt  ihn  fortzufahren ;  aber  um  in  einen 
schönen  Garten  zu  kommen,  muss  man  oft  durch 
enge,  schmutzige  Gassen  gehen;  man  muss  die 
Rosen  unter  Dornen  pflücken  und  findet  das 
Korn  unter  der  Spreu.  Dreiundzwanzig  Schismen 
zählt  Lemaire  bis  zum  Basler  Konzil;  das  vier- 
undzwanzigste, das  ärgste  von  allen,  der  Vorbote 
des  Antichrists,  steht  noch  bevor;  mehrere  Pro- 
pheten, Sibyllen,  heilige  Leute,  Astrologen  und 
Mathematiker  habe  dasselbe  prophezeit;  an  ihre 
Wahrsagungen  will  aber  Lemaire  nur  glauben, 
soweit  sie  durch  die  Ereignisse  bestätigt  werden 
und  die  Kirche  es  erlaubt. 

Mit  den  schwungvollen  Schlussworten  Alain 
Chartiers  in  seinem  Buche  l'Exil  fasst  Lemaire 
noch  einmal  die  Substanz  seiner  Auseinander- 
setzungen zusammen,  und  beinahe  möchte  ich 
sagen,  dass  die  bittere  Klage  des  alten  Meisters 
das  Kraftvollste  und  Beste  an  der  ganzen  Schrift 
ist;  denn  abgesehen  von  der  scharfen  Polemik 
gegen  die  Päpste,  zeichnet  sie  sich  weder  durch 
die  Kühnheit  der  Gedanken,  noch  durch  die 
Feinheit  der  Form  aus.  Der  Ausfall  gegen  das 
weltliche  Papsttum  ist  freilich  rücksichtslos  und 
direkt  herausfordernd;  mit  beissender  Ironie 
spricht  Lemaire  vom  'modernen  Pontifex,  der 
ganz  marzialisch  und  widerborstig  in  seinem 
Harnisch  vom  Kriege  nicht  lassen  will,  obwohl 
er  ihm  ansteht  wie  einem  gestiefelten  Mönche 
das  Tanzen.    Und  doch  wird  er  die  Missgeburt 


-    16Q    - 

einer  neuen  Welt  nicht  erzeugen,  wie  er  glaubt: 
denn  immer  werden  die  Schweine  Eicheln  fressen, 
die  Eiche  wird  ihr  Laub  zur  rechten  Zeit  fallen 
lassen,  und  das  Holz  wird  den  Gebrauch  linden, 
zu  dem  es  sich  eignet.  Aber  die  schöne  ge- 
stirnte Krone  und  Jupiters  Adler,  welches 
strahlende  Himmelskörper  sind,  werden  fest  und 
unbeweglich  bleiben  am  Firmamente,  so  lange 
die  Welt  besteht'.  Mit  hämischer  Schadenfreude 
vergleicht  er  Diocletian,  der  den  Fusskuss  ein- 
führte, 'mit  den  jetzigen  Päpsten,  die  die  bar- 
barische Anmassung  der  Perserkönige  nach- 
machen'. Oder  er  übertrumpft  den  Spott  Piatinas 
über  'die  Tiara,  welche  hoch  und  spitz  ist  wie 
eine  Kapuze  und  reich  wie  eine  orientalische 
Edelsteintruhe'.  Im  Allgemeinen,  zumal  in  den 
letzten  Teilen,  begnügt  sich  Lemairc  mit  dem 
Aufzählen  der  nackten  Begebenheiten.  Aber 
gerade  der  dogmatische  Ton,  die  Bestimmtheit 
seiner  Argumentierung,  die  Zuversicht,  mit  der 
er  die  Thatsachen  vorbringt  und  seine  Gewährs- 
männer anführt,  die  Klarheit  der  aufgestellten 
Sätze  und  die  Verständlichkeit  der  Rede,  die 
volkstümliche  oft  sprichwörtliche  Sprache,  unbe 
schadet  des  oratorischen  Pathos,  diese  Eigen- 
schaften gerade  mögen  auf  seine  wenig  ver- 
wöhnten Zeitgenossen  gewirkt  haben  :  sein  Buch, 
wie  es  ist,  stellt  eine  Rüstkammer  dar,  aus  der 
eine  kritisch  dürftige  Zeit  Waffen  in  Fülle  zu 
dem  immer  drohender  Averdenden  Kampfe  ent- 


-     170    - 

nehmen  konnte;  und  dabei  war  die  Erörterung 
dieser  kirchlichen  Angelegenheiten  in  der  Volks- 
sprache doch  etwas  Neues. 

Lemaires  hervorragendster  Gewährsmann, 
neben  Guaguinus,  Volaterranus,  den  kanonischen 
Dekreten  und  andern  guten  Geschichtsschreibern, 
ist  der  Biograph  der  Päpste,  Bartolomäus  Piatina ; 
ihm  folgt  er  zumeist.  Ganz  harmlos  schenkt  er 
seinen  Erzählungen  Glauben,  ob  er  von  der 
Päpstin  Johanna,  oder  von  den  Teufelskünsten 
Gerberts,  oder  von  der  Erscheinung  Benedikts  auf 
einem  Rappen  spricht,  gleichviel.  Wenn  man  von 
Piatinas  Freimütigkeit  gesprochen  hat,  so  ist  doch 
kein  Vergleich  mit  dem  feindseligen  Tone  Le- 
maires: die  herausfordernd  agressive  Wendung 
ist  durchaus  Eigentum  des  Pamphletschreibers, 
der  desshalb  auch  mit  Recht  auf  dem  Index 
erster  Klasse  steht.  Dass  Lemaire  dabei  aus 
redlicher  Ueberzeugung  handelte,  und  sich  nur 
durch  seine  angeborene  Loyalität  leiten  Hess, 
das  unterliegt  keinem  Zweifel;  persönliche 
Motive  mögen  bei  seinem  Einspruch  gegen  das 
Cölibat  mitgespielt  haben ,  doch  überlässt  er 
das  Wort  in  dieser  Nebenfrage  dem  von  der 
Schädlichkeit  der  neuen  Satzung  tiefdurch- 
drungenen Alain  Chartier.  Von  einem  anderen 
Vorwurfe  kann  man  ihn  nicht  freisprehen:  das 
ist  die  Leichtgläubigkeit  und  Flüchtigkeit  der 
Arbeit.  Die   Zeit  scheint  ihn  gedrängt  zu  haben  ; 


—    17t     - 

der  Umfanij  des  Stolfes,  das  Gebot  der  Aktua- 
litUt,  der  Wunsch,  das  Buch  möglichst  rasch  auf 
den  Markt  zu  bringen,  persönliche  VerhUltnisse 
endlich  mögen  den  Mangel  an  Gründlichkeit 
entschuldigen  '. 

Die  Streitschrift  Lemaires  erhielt  mehrere 
Beigaben,  alle  mit  der  gleichen  feindlichen  Zu- 
spitzung gegen  Julius  den  11.  Die  vor  einigen 
jMhren  vertassten  Thatcn  des  Sophi  ScJuih 
Isnia'il  sollten  den  Gegensatz  zwischen  dem 
Todfeinde  der  sunnitischen  Muhamedaner  und 
dem  Oberhaupt  der  Christenheit,  das  den  feierlich 
beschworenen  Kreuzzug  gegen  die  Türken  durch 
seine  Aergerniss  erregende  vStreitsucht  unmöglich 
macht,  hervorheben.  Das  letzte  Stück,  die  IVr- 
(iiilassung  und  der  Gegenstand  des  jüngst  vom 
Sultan  ertliciltcn  Geleitsbriefes  filr  die  Wall- 
fahrer Silin  heiligen  Grab,  soll  dem  Hasse  des 
Papstes  das  Wohlwollen  des  Sultans  gegen  den 
Kcinig  von  Frankreich  entgegenhalten;  der  Ge- 
leitsbriet ,  eine  Folge  des  letzten  Sieges  der 
Rhodiserritter,  war  in  L_von  während  der  Oster- 
messe 1511  verölifentlicht  worden;  er  bot  Lemaire 
die  Gelegenheit,  auf  sein  Lieblingsthema,  den 

'  Lc  traictO  de  hi  diffcrcncc  des  schismcs  et  des  conciles 
de  rEfjlise  et  de  la  preeminence  et  utilit(5  des  conciles  de  la 
sainte  Eglise  (iailicane.  Oeuvres  III,  231  -Xi9.  —  .Als  Beweise 
der  FlUchtijjkeit,  vgl.  z.  B.  das  7.  Schisma,  p.  L*()9  oder  p.  L'73,  wo 
er  aus  dem  Primicerius  Paschalis  zwei  Personen  macht.  Den 
Schein  der  Gründlichkeit  hat  seine  Dissertation  über  Con- 
stantins  Mutter,  p.  L*ö4. 


-    172    — 

allg^emeinen  Kreuzzug  gegen  die  Türken  zurück- 
:zukommen.'. 

Endlich  gab  Lemaire  noch  die  Legende  der 
Venesianer  seinem  Pamphlete  bei,  und  fügte  ihr 
poetisches  Wappenschild  hinzu: 

Le  Blason  des  armes  des  Venitiens. 
Lyon  najant,  Lyon  trotant, 
Lyon  yssant,  Lyon  passant, 
Lyon  niordant  et  ravissant. 
Tu  te  disois  Lyon  volant, 
Lyont  courant,  Lyon  saillant, 

USW.2 

Wem  hätte  Lemaire  seine  Streitschrift  widmen 
sollen,  wenn  nicht  dem,  dessen  Fehde  er  so  un- 
bedingt verfocht,  dem  Könige  von  Frankreich. 
Im  April  war  der  König  in  Lyon  gewesen,  in 
■den  folgenden  Monaten  hielt  er  sich  dann  in 
Grenoble  oder  Valence  aufs.  Wenn  Lemaire 
ihm  sein  Buch  auch  nicht  persönlich  überreichte, 
so  hatte  er  doch  einen  Freund,  der  ihn  empfehlen 


1  L'occasion  et  la  matierc  du  recent  et  nouveau  Sauf- 
■conduit  donnö  de  plein  vouloir  par  le  Souldan,  aux  subjetz  du 
Roy  treschrestien,  tant  pour  aller  en  pelerinage  au  saint  Sepul- 
cre,  comme  trafiquer  marchandcmens  en  ses  terres  et  sei- 
^neuries  d'Oultremcr.    Oeuvres  III,  2'-'l— L'Ä 

-  Le  Blason  des  armes  des  Venitiens.  Oeuvres  III,  -107. 
Es  sind  28  einreimige  Achtsilber. 

»  Lemaire  war  Mitte  August  noch  oder  wieder  in  Lyon 
(cf.  Oeuvres  IV,  383),  Ende  des  Monats  kam  der  König  auf  der 
Rückreisenach  Blois  durch  die  Stadt ;  damals  waren  die  Bücher 
fertig  gedruckt.  Lemaire  muss  auch  wohl  in  Valence  gewesen 
sein.    Illustr.  III.  Oeuvres  II.  LW. 


-    173    - 

konnte,  Jean  Perreal,  den  kr>ni<:liclun  Holmaler 
und  Kammerdiener;  er  versilumt  es  auch  nicht, 
sich  auf  ihn  zu  berufen,  um  seine  Kühnheit  zu 
entschuldiii^en,  mit  der  gleichen  Bescheidenheit, 
mit  der  er  sich  auf  den  L3-oner  Künstler  bezog, 
als  er  1503  den  Tempel  der  Ehre  und  Tugend 
dem  Herrn  von  Ligny  widmen  wollte. 

Die  Schrift  vom  Unterschiede  der  Kirchen- 
spaltungen und  Kirchenversammlungen  ist  liir 
Lemaires  weiteres  Leben  von  grosser  Bedeutung 
geworden.  Mit  ihr  ist  er  in  das  Fahrwasser  der 
französischen  Politik  eingelaufen.  Während  er 
bisher  im  Dienste  Margaretas  schrieb,  wendet 
er  sich  jetzt  fremden  Interessenkreisen  zu,  und 
diese  Schwenkung  trifft  gerade  mit  der  im 
letzten  Abschnitt  berichteten  Entfremdung  seiner 
früheren  Herrin  zusammen. 

Schliesslich  hatten  diese  politischen  Pamphlete 
für  den  belgischen  Historiographen  noch  eine 
andere,  pekuniäre  Bedeutung.  Sie  fanden  riesigen 
Absatz;  kaum  ein  Jahr  nach  ihrem  Erscheinen 
waren  bereits  an  sechs  tausend  Exemplare  in 
der  ganzen  Welt  verbreitet'.  Lange  blieb  das 
Buch  von  den  Schismen  als  bequemes  Nach- 
schlagebuch (promptuarium,  heissen  spätere  Auf- 
lagen) populär,  die  Protestanten  griffen  es  als 
Kampfschrift  wieder  auf  und   im  Verlauf   des 


'  Brief  Lemaires  anMargareta  vom  28.  März  l.M'J.  Oeuvres 
1\',  421.  —  Von  jeder  Schrift  etwa  3000  Exemplare,  w.'lrc  ein 
riesiger  Erfolg! 


174 


Jahrhunderts  wurde  es  zweimal  in  lateinische 
und  einmal  in  englische  Sprache  übersetzt'.  Wohl 
aber  dürfte  Mancher,  der  Lemaire  als  Dichter 
lieb  gewonnen  und  schätzen  gelernt  hat,  ihn  mit 
Bedauern  vom  Strudel  der  Gelegenheitsschrift- 
stellerei  und  Tagespublizistik  ergriffen  und  fort- 
gerissen sehen,  während  seine  eigentliche  Natur- 
anlage brach  liegen  bleibt. 

XII. 
Lemaires  dichterische  Ader  war  nicht  ver- 
siegt; mitten  unter  den  Baugeschäften  und  Streit- 
schriften besuchte  ihn  die  Muse  und  gab  ihm 
eines  seiner  besten  poetischen  Werke,  die  Ein- 
tracht der  beiden  Sprachen,  ein.  Die  prachtvoll 
illuminierte  Handschrift  von  Carpeutras  trägt 
die  Jahreszahl  1511,  damit  steht  es  in  Einklang, 
wenn  von  Venezianern  mit  Bundesgenossen  als 
Feinden  Frankreichs  die  Rede  ist-.  Diese  Be- 
stimmung betrifft  aber  blos  den  Rahmen  mit 
Sicherheit;  die  eingefassten  Gedichte  könnten 
immerhin  früher  entstanden  sein ;  für  die  eine 
Einlage  wenigstens,  die  Beschreibung  des 
Tempels  der  Venus,  drängt  sich  die  Frage  auf, 
ob  das  jugendliche  Verlangen  nach  Lebens- 
genuss  und  Liebesglück,  das  aus  jeder  Zeile 
spricht,  nicht  auf  ein  Jugendwerk  schliessen  lässt. 


'  Von  Simon  Schardius  lö66  und  Ludovicus  Camerarius 
lö/L'.    Englisch  1Ö39.    cf.  Stecher  CIV. 

-  Oeuvres  III,  100.  Im  Jahre  1309  -waren  die  Venezianer 
isoliert,  1512  fand  die  Versöhnung  mit  Frankreich  statt. 


-   17:>  — 

Allein  weder  die  Lebensyesehichte  des  Dichters, 
noch  allgemeine  psychologische  Erwiigungen 
bieten  einen  festen  Anhaltspunkt;  im  Gegenteil 
lassen  sich  alle  \^oraussetzungen  des  Gedichts 
sehr  wohl  dem  jähre  1510  oder  11  zuweisen. 
Erst  im  Sommer  1509  kam  Lemaire  für  längere 
Zeit  nach  Lyon,  wo  die  Schrift  wohl  entstanden 
sein  muss,  und  blieb  von  da  an  in  der  Nähe^ 
der  Stadt  und  in  steter  Verbindung  mit  seinen 
dortigen  Freunden;  die  Veröffentlichung  seines 
historischen  Romans  und  seiner  Streitschriften 
machten  ihn  bald  zu  einem  der  berühmtesten 
Dichter  Frankreichs,  ein  gewisses  Hochgefühl 
erfüllte  ihn.  Und  dann  wird  auch  diese  Schrift 
wie  seine  übrigen  poetischen  Erzeugnisse  aus 
einem  Guss  entstanden  sein. 

Der  Rahmen,  der  die  Benennung  'Eintracht 
der  beiden  Sprachen'  rechtfertigt,  ist  eine  rein 
äusserliche  Umfassung  für  das  Dichterwerk, 
ohne  innere  Beziehung  zu  dessen  Inhalt.  Der 
Dichter  ist  angeblich  Zeuge  eines  Privatgesprächs 
gewesen,  bei  dem  zwei  von  Jugend  an  be- 
freundete Personen  über  die  Vorzüge  der  fran- 
zösischen und  italienischen  Sprache  stritten ;  die 
eine  behauptete,  die  französische  Sprache  besitze 
alle  erforderliche  Lieblichkeit,  Ausdruckskraft 
und  ästhetische  Durchbildung,  um  das,  was  die 
italienische  über  Liebesthemata  oder  sonst 
dichten  oder  aussinnen  ktinne,  getreulich  und 
sachgemäss   wiederzugeben,    und    führte    zum 


-     176    - 

Beweis  ältere    und  neuere  Dichter  an,  wie  Jean 
de  Mehun,  Froissart,  Alain  Chartier,  Meschinot, 
beide  Greban,  Millet,  Molinet,  George  Chastellain 
und  andere,  deren  Angedenken  lange  im  Munde 
der  Menschen  fortleben  wird;  ganz   abgesehen 
von  den  lebenden,  als   deren  Meister  und  Fürst 
Guillaume   Cretin   genannt  wird.      Die    andere 
gab  der  italienischen  Sprache  den  Vorzug,  weil 
sie  ihre  Gedanken,  sei  es  über  die  Liebe,  sei  es 
über    andere    Gegenstände    bündiger    und    ein- 
dringlicher zum  Ausdruck  bringen   könne,   und 
berief  sich  auf  Dante,  Petrarca,  Boccaccio,  die 
drei    grossen   Florentiner,   auf  Filelfo,  Serafino 
und  viele  andere  berühmte  Dichter.    Wer  diese 
beiden  Personen  waren,  lässt  sich  rieht  erraten; 
die  eine  scheint  eine  Frau  gewesen  zu  sein,  man 
hat  an  Margareta  und  an  Anna  gedacht,    wohl 
beides  mit   Unrecht;   denn  Lemaire   hätte  sich 
dann  schwerlich  mit  der  unbestimmten  Widmung 
an  Minerva  begnügt.  Als  Zeuge  des  Gespräches 
wurde  Lemaire    gebeten,    die    Diskussion    und 
die     mögliche     friedliche     Lösung     der    Streit- 
frage schriftlich  niederzusetzen.  Diesem  Wunsche 
willfahrte    er  um  so    lieber,  als    zur    Zeit  viele 
Edelleute    beim     häufigen     Aufenthalt    in     Ita- 
lien    die     toskanische    Sprache     wegen     ihres 
Glanzes,  ihrer  Eleganz   und  ihres  Wohlklangs 
liebgewannen    und     sich    anzueignen    suchten, 
während     umgekehrt     Italiens     hervorragende 
Geister  die  französische  Sprache  schätzten  und 


—    177    - 

ehrten  und  mehr  Gelallen  an  ihr  landen,  als  an  der 
eigenen,  weffcn  ihres  vollen  Klangs,  ihrer  Lieb- 
lichkeit  und    ihres    leutselig    höflichen    Tones. 
Gern  hUtte  er  auch  den  beiden  Sprachen,  die 
ja  aus^glcichem  Stamm  und  Wurzel  entsprungen 
sind,  ncmlich  aus  der  lateinischen  Sprache,  der 
Mutter  aller  Beredsamkeit,  zugeredet,  dass  sie 
wie  zwei  Räche,  die  aus  gleicher  Quelle  fliessen, 
in  friedlicher  Eintracht  neben  einander  einher- 
schreiten   sollten.     Leider  ist  Lemaire   auf  die 
angekündigte    Diskussion    nicht    weiter   einge- 
gangen;  seine   Auseinandersetzungen   über  die 
\'orzügc    der    beiden    Sprachen    hätten    einen 
interessanten  Beitrag  geliefert  zur  Geschichte  der 
litterarischen   Anschauungen    des    16.    Jahrhun- 
derts und  der  Bemühungen  der  Franzosen ,  ihre 
Sprache  in  der  Wertschätzung  der  Nationen  auf 
die  Stufe  der  anderen  Kultursprachen  zu  heben. 
Die  Lösung  der  Frage  wird  durch  eine  poetische 
Fiktion  umgangen:  Lemaire  erzählt,  wie  es  ihn 
als  Jüngling  zum  Tempel  der  Venus  hinzog,  und 
nach  welchen  Erfahrungen  er  nunmehr  den  Weg 
zum  Heiligtume  Minervas  sucht. 

Der  erste  Teil,  die  Beschreibung  des  Tempels 
der  Venus,  beginnt  mit  der  Klage  über  eine  un- 
crhiirt  gebliebene  Jugendliebe: 

Ell  la  vefdciir  du  inien  ßoiin'ss<iiit  (Uiiie, 
D'aiiiours  seri'ir  nie  votdiis  enlreniettre: 
Mais  je  n'y  eits  iie  pron/it  ii\ivantage. 

Becker,  Jean  Lemaire.  1-J 


-     178    - 

Je  f eis  inaint  vers,  niaint  couplet  et  nuiint  nictre, 

Cuydant  suivir,  par  noble  Poesie, 

Le  hon  Petrarque,  en  anionrs  le  vray  niaistre. 

Tant  nie  foiirray  dedens  tel  fantaisie, 
Que  bien  pensoye  en  avoir  apparence, 
Contme  celni  qiii  ä  grd  l'eus  choisie. 

De  Iny  ä  moy  se  tronvoit  Conference : 
Veii  qu'il  esleut  sa  daine  Avignonnoise, 
Ja  nonobstant  qu'il  fnst  nd  de  Florence. 

Et  je  qiii  Jus,  en  temps  de  giierre  et  noise, 
Nd  de  Hainaut,  pa'is  enclin  aux  armes, 
Vins  de  bien  loing  querre  antotir  Lyonnoise. 

Or  quittay  je  tuniultes  et  alarnies  : 

Si  changeay  Mars  au  noble  Dieu  d'aniours, 

Et  chant  belliquc  aux  anioureuses  larnies. 

Bien  ine  senibloit  que  plus  loing  qu'ä  Nemours 
On  m'eust  ouy  plourer,  geinir  et  plaindre: 
Tant  für ent  grans  ines  cris,  et  mes  clamours. 

Um  seinen  Schmerz  zu  beschwichtigen,  gelobte 
der  Dichter  eine  Wallfahrt  nach  dem  Tempel 
der  Venus,  und  brach  mit  vielen  Seufzern  auf. 
Unterwegs  legte  er  sich  der  Klage  müde  zum 
Schlaf,  seine  Sorgen  aber  verfolgten  ihn  bis  in 
den  Traum.  Da  erscheint  ihm  in  seiner  Betrüb- 
niss  Venus  selbst,  die  stolze,  mächtige  Gottheit, 
in  ihrem  herrlichsten  Aufzuge.  Bei  ihrem  An- 
blick verstummten  Boreas  und  Auster,  die  Sonne 


—   1?>   — 

iral  in  das  Stcrnliiki  ck-s  Widders,  die  Erde 
lachte  und  ricl'  den  l<*riihlinfj  herbt-i. 

Piiiitcnips  joycitx  feit  vcni'r  cciit  c/Kirrccs 
De  fueille  verde  et  d' herbette  jolie, 
Doiit  Zcphynis  lui  /es  hnidcs  parees. 

Piiis  vifit  Flora  qui  son  tresor  dcslie, 
Pnrrsfcfidafif  ses  beaux  tapis  seines 
De  iiKiintc  rose,  et  de  maiiitc  aiicolie. 

Mars,  Avri7,  May,  de  Jlonrettes  annes, 
Ti)idrent  lenr  rengs,  par  champs  et  par  prairics, 
Sons  pavillotis  de  bcanx  arhrrs  rtinies. 

Les  pastonreaiix,  des  vallees  ßonries, 
Font  resonner  tes  hants  nionts  verdoyans 
De  Icnrs  ßageols  et  mnsettes  series. 

Pan  et  Einli^  ä  cJianter  s'eniployans^ 
Tons  d'nn  accord  fonrnissent  donce  noise, 
Resjonissans  les  esprits  des  oyans. 

Mais  plns  qne  nnls,  s'esjonit  et  degoise 
Le  franc  Tityre,  en  donx  et  j'oyenx  sons. 
Parqiioy  le  prix  Iny  denieure,  on  qn'il  voise. 

Die  Götter  des  Feldes  bewillkommnen  die  Göttin, 
die  Nymphen  der  Quellen  und  des  Waldes  stehen 
zu  ihrem  Dienste  bereit. 

Qnand  ]'enns  vid  les  regions  inibnes 
De  ßair  plus  donx  qn'odenr  anibrosiane, 
Partant  du  dos  des  ßonrettes  barbues: 


-    ISO    — 

Elle  appcla  la  Jllle  de  Diane, 
Rosee  douce,  et  de  refreschir  plaiites 
Luv  enchargea  eure  cotidiane. 

Et  Celle  ä  qtii  tels  ceuvres  sont  plaisautcs. 
Feit  uu  milier  de  perles  rondelettes. 
Plus  que  crystal  cleres,  resplendissantes. 

Puls  les  pendit  autour  des  entelettes, 
Siir  les  'vainceaux  des  espineux  rosiers, 
Et  au  soinniet  des  flairans  violettes. 

Ce  teinps  pendant,  les  ßns  joyeux  gosiers 

Des  oiselets  Aurora  saluerent, 

Qui  couloiiroit  desja  fleurs  et  frasiers. 

Tous  elenieus  de  joye  transmuerent, 
En  adniiraut  sa  hlancheur  rubiconde: 
Et  les  clers  cieux  leurs  beautes  desnuerent. 

Hier,  o  Clio,  spende  mir  der  Rede  Gabe,  die 
hohen  Thaten  der  Göttin  zu  preisen.  Es  steht 
ein  Tempel  —  einen  schönem  sah  kein  mensch- 
liches Auge  —  auf  einem  alten  Felsen  am  Zu- 
sammenfluss  von  Arar  und  Rhodanus.  Dort  ist 
das  Haupt  des  keltischen  Galliens,  ein  zweites 
Ilion:  dort  wohnt  ein  königliches 'Volk,  Löwen- 
herzen in  der  Brust ;  eine  Million  Nymphen  sieht 
man  dort: 

NytupJws  d'honneur ,  de  beauti^  uaturee, 
Bcaux  esperits,  visages  augeliques. 


—    isl     — 

Halb  architektonisch,  halb  allcjj^orisch  ist  der 
Tempel  gedacht : 

Les  pilicrs  sout  de  dyatnans  polt's, 

Lc  fondentciit  est  d'argent  bien  duisant, 

L'aDatitportal  tont  da  sapphirs  j'o/ts. 

L'ordye  du  conil)lc,  ordoiutec  i'ii  croissant, 
Fait  ciilaccy  /es  tx'diix  pi/i'crs  vnscnihh', 
Qiii  sollt  d'ivoii'c  et  de  fni  or  liiisont. 

De  ce  haut  teuiple  et  luerveilleux  oracle, 
Les  autels  sont  de  lits  tres  bien  pares, 
Eiicourtinez,  pour  cvitcr  spectaele. 

Les  cloches  sont  de  uietal  argeutin, 
Et  qui  nc  tirc,  ninsi  qii'ä  Vidxiudou, 
II  aura  beau  cliqiwtcr  lc  patiu '. 

Der  Itrzbischol"  dieses  Ortes,  der  körper- 
liches Paradies  heisst,  ist  eine  bekannte  Figur 
des  Rosenromans,  die  Lemaire  mit  besonderer 
Vorliebe  hervorgezogen  hat,  der  Erzpriester 
Genius,  oberster  Primas  von  ganz  Gallien. 

Wie  der  Morgen  anbricht,  lässt  \'enus  das 
Hauptthor  öffnen.  Die  Vöglein  allzumal  er- 
heben einen  vielstimmigen  Gesang,  und  wie 
sie  schweigen,  treten  die  neuen  Sünger  vor, 
welche  die  Alten  sUmmtlich  verdunkelt  haben. 


'  Lc  po{;tc  a  su  Otrc  piquant,  cn  rcstant  «.lans  los  limites 
d'unc  parfaitc  convenancc  cl'imajres  et  d'cxpression.  Ch.  F^iis 
1.  c.  lo.    Etwas  bedenklich  wird  die  Anspielunjr  doch  mitunter. 


-    1S2    - 

Au  noiiveati  chant,  ä  la  nouvelle  gorre, 

Venus  s'endort  rnieux  qii'au  chant  des  Seraines, 

Oll  qn'a  menger  pavots  et  niandragore. 

Tons  vieux  flageots,  gnistcrnes  priuieraines, 

Psalterions,  et  anciens  dicacordes, 

Sont  assourdis  par  harpes  sonveraines.    " 

Par  le  doux  son  des  nouveaux  monocordes, 
Ont  mis  sous  banc  les  gens  du  Roy  Clovis 
Leurs  viiesle,  leurs  vienx  plectres  et  cordes. 

An  ßn  niilicu  du  coeur,  onyr  pourres 
Entrebriser  niusique  Alexandrine, 
Et  de  Josquin  les  vcrbes  coulourcs. 

Puis  d'Ockeghcni  l'harnionie  tresfine, 
Les  terntes  doux  de  Lojset  Compere 
Font  melodie  attx  cieux  mesme  conßne. 

Les  neuf  beaux  cieux  que  Dien  tourne  et  tempere, 
Rendent  tel  bruit  en  leurs  spheres  diffuses, 
Que  le  son  vient  jusqu'en  nostre  hemisphere^. 

Zum  Tempel    drängen    sich    auch   die   Dichter, 
welche  ihre  Gedanken  in  hohem,  pindarischem 


1  Der  Erneuung:,  welcher  die  Poesie  entjjcgenstrebte,  war 
eine  Umwälzung  im  Gebiete  der  Musik  vorausgegangen,  die 
Lcmaire  mit  den  Farben  der  glühendsten  Begeisterung  aus- 
malt: Instrumental-  und  Chormusik  hatten  sich  vollständig  um- 
gestaltet. Die  Tn'lger  der  neuen  Kunst  waren  Okeghem  und 
seine  Schüler,  Alexander  Agricola  und  Josquin  des  Prez. 
Loiset  Compere,  der  mit  ihnen  wetteiferte,  übte  die  Kunst  in 
Saint-Quentin  bis  zu  seinem  Tode  (l.')18)  aus. 


-     1S3    - 

Schwun.ije  ausdrücken  (Icurs  (•(tm-t.\ nir^  li.iiitf- 
ment  pindarisent). 

Factettrs,  Rinicurs  inaint  bean  dicticr  recordent, 

A  hl  Umenge  et  bruit  de  la  Deesse, 

Et  de  beatix  mots  leurs  dits  ornent  et  bordent. 

La  ne  voit  on  qiic  gloire  qiii  foisonnc, 
La  se  p/odiiit  lascii'iti'  Cotniqitc, 
Lyriques  vers  dont  amours  on  blasonne. 

La  recite  on  dHnvention  sapphiqtie 
Maint  noble  dit,  cantilenes  et  ödes, 
Dont  le  style  est  subtil  et  mirifiqne. 

Tont  ce  qui  est  en  Uwes  oii  en  codes, 
Se  niet  avant,  hymnes  et  elegies, 
Chansons,  motets,  de  cent  tailles  et  modes. 

La  maint  gosier  barytonnant  bondit, 
Qui  Lay  prononce,  ou  Balade  acccntue, 
Virelay  vire,  ou  Rondel  arondit. 

Maint  Serventois  hl  endroit  se  punctue, 
CJuint  Royal  maint  s'y  chante  et  psahnodie. 
Brief,  un  cliacun  s'y  peine  et  esveytiw. 

Während  all  diese  Prosen  gesungen  wurden, 
hatte  Genius  Weihrauch  und  Rosen  dargebracht. 
Nunmehr  setzte  er  sich  auf  seinen  Thronsessel, 
liess  zwei  grosse  Becken  bringen  und  bestellte 
seinen  Diakonus  Danger  und  seinen  Subdiakonus 
Belaccucil   zu  WUchtern,   während  Venus   die 


—    184    — 

Grazien  beauftragte,  die  Spender  mit  ihren  Reizen 
herbeizulocken.  Als  Genius  sah,  dass  sein  Werk 
nach  Wunsche  ging,  schickte  er  sich  an  zu  einer 
kleinen  Predigt;  alles  schwieg  und  bereitete  sich 
zu  horchen.  Der  Prediger  wählte  seinen  Text 
und  begann: 

„Aetatis  breve  ver.  Diese  Worte  haben  eine 
tiefe  Bedeutung.  Das  Alter  ist  für  uns  der  Winter, 
die  Jugend  ist  der  Frühling  des  Lebens.  Die 
Jugend  verrauscht,  ein  Thor  wer  sie  nicht  ge- 
niesst.  Seht  Ihr  nicht,  wie  alle  Lebewesen  in 
der  Jugend  und  zu  dieser  schönen  Frühlingszeit 
der  Natur  gehorchen? 

Les  cerfs  au  bois  tiltre  d'mnours  ohservent: 

Les  oiselets  maintenant  s'apparioit, 

Et  par  grand  sens  leiirs  especes  conservent. 

Les  elenients  les  uns  aux  autres  rient, 
Celestes  corps  l'un  ä  l'autre  se  jouent, 
loutes  choses  d'amours  ore  se  pricnt. 

Tous  sexes  or  eu  Concorde  se  vouent. 
MaslCj  fenielle  ont  accord  reciproque : 
Jusqu'aux  poissons  qui  sous  les  ondes  nouent. 

Mutuel  nieuf,  uuiou  univoque, 

Font  connexer  la  machine  du  nunide 

Sous  un  Moteur,  qui  ä  paix  les  provoque. 

Et  de  lä  vient,  que  le  cid  noble  et  niondc 
Aspire  en  terre  une  aniour  affective 
De  procrecr  tout  ce  qui  y  abonde. 


-     IK")     — 

Allüberall  schalll  und  mall  und  wobt  die 
Natur  zum  Schmucke  des  Weltalls,  und  allem 
Erschaffenen  haucht  Venus  den  glühenden  Dranjf 
und  das  süsse  Verlangen  der  Liebe  ein.  Und 
wenn  jedes  Thier,  ob  nützlich,  ob  überflüssig, 
dem  Gebote  der  Liebe  folgt,  wollt  Ihr,  die  er- 
habensten unter  den  Geschöpfen  und  die  Lieb- 
linge der  Natur,  Euch  allein  diesem  Gesetze  ent- 
ziehen ? 

N'attcncie::;  ponit  le  froid  tcnips  liyvcnuil. 
Auquel  scres  dcstituez  de  forccs, 
Et  de  vigiii'iir  pcrdres  Ic  gouvvriKil. 

Ell  ce  tenips  lä,  vos  ridees  escones 

De  graiid  vieillessc  aspres  seront  et  diires: 

Et  vos  braiicJics  imiiiiees  et  torses. 

Lars  ]'ii/ftiniiis  et  ses  iioires  froidiires, 
Cifflaiis.  In'iiyaiis,  vons  feront  escroler, 
F/astii',  jener  vos  ßeiirs  et  vos  verdiires. 

Lars  verre:::  voits  vos  fett illettes  volcr, 
Vos  bruHS  eheveux  seines  de  neige 

blanche, 
Et  vo:~  Jiaiits  ti'oncs  desnuer  et  peler 

Si  voiis  fand  IUI  appiiyer  tige  et  brauche 

De  bastonneaiix  et  antres  snstentac/es, 

Qne  vent  aiiciin  iie  vons  tonibe  et  desbranche 

Pour  voits  gninder  il  faudra  bien  cent  cables. 
Plus  ne  voudres  sinon  an  fen  cronpir 
laut  seres  vons  niorfoiidiis,  miserables. 


—     1S6     — 

On  voiis  verrn  toiis  fvoidiiyeitx  tapir 

Soiis  pellissons,  sons  chmides  vicillcs  uattes, 

Toiissans,  crachans  et  jettans  inaint  souspir. 

Chacun  de  voiis  alors  s'accnsera 

De  ses  beaux  joiirs  perdiis  et  onblies, 

Et  ses  genonx  de  plettr  arrosera. 

Mais  tard  sera:  Car  famais  en  vieillesse 
Venus  n'ottroyc  ä  personue  pardon, 
Qiii  n'aiD'a  fait  son  devoir  en  jeunesse. 

Und  ich  Euer  Oberhaupt,  ich  Genius,  der 
oberste  Primas  von  ganz  Gallien  und  mehreren 
anderen  Völkern,  werde  Euch  vom  ersten  bis 
zum  letzten  prüfen;  und  wenn  sich  Einer  findet, 
der  in  der  Jugend  versäumt  haben  sollte,  Venus 
seiner  Herrin  zu  dienen,  der  wird  unbegnadigt 
sterben,  der  sei  verflucht  und  ewig  ausge- 
schlossen von  den  schönen  elysäischen  Feldern, 
dem  Wohnsitze  der  Glückseligen.  Aber  ich 
glaube  nicht,  dass  Ihr  so  verblendet  seid,  gegen 
den  Stachel  zu  locken ;  die  Wunde  des  Liebes- 
pfeiles ist  Euch  Ehre  und  Ruhm.  Darum,  so 
sollt  Ihr  Venus  und  ihren  Sohn  Cupido  verehren 
und  ihnen  folgen.  Verlasst  Euch  auf  meine 
Worte ;  denn  Gott  hat  mich  bestellt,  um  Euch 
zu  führen  und  zu  leiten.  Mein  Wesen  ist  geistig, 
Merkur  ist  mein  Vater  und  Laris  meine  Mutter; 
ich  bin  Euer  Hüter  und  Beistand. 


-     1S7    - 

l'os/rr  pviisi'i',  i'osti'f  imniinuitivc 

Sollt  sons  nia  low  cor  j'cii  scay  ies  secn'/s. 

Et  aitssi  est  la  force  genitive. 

A  Genius  vos  /fonts  soiit  consacres, 

Vos  beaiix  senih/dus,  foiitcs  voz  hoiincs  chcres, 

Vos  (fits  plaisdfis,  vos  niots  donx  et  sncrez. 

Vos  yeitx  gentils,  et  vos  plaisants  mattieren, 
Vos  i'is,  vos  chatits.  vos  faits  itigenteiix, 
Sons  Getiius  observetit  leiirs  battieres. 

Mein  gehören  Alle,  die  liebenswürdig,  freisinnig' 
lebensfroh,  gut  beanlagt  und  ohne  Falsch  sind; 
sie  sind  ja  unter  dem  Sterne  der  Venus  geboren. 

Lern'  oraiso/i  est  pure  rhetoriqne, 
Leiir  Hesse  est  propice  et  geniale, 
Lenr  attrait  est  atnonreiix  et  Inbriqne. 

Lenr  faQott  est  hutnaine  et  sociale, 
Savant  sa  conrt,  tresbien  tnondanisant, 
Et  lenrs  habits  de  gorre  speciale. 

Tels  estes  vons,  o  penple  relnisant, 
Penple  de  Ganle,  anssi  blanc  conune  lait, 
Gent  tattt  conrtoise,  et  taut  propre  et  dnisant. 

Fran^ois  faitis,  francs,  forts,  fertties,  ati  fait. 
Eins,  frais,  de  fer,  feroces,  sans  frayenr, 
Tels  sont  2'os  noins  concordans  <l  l'effect. 

Penple  hardi,  de  perils  essayenr, 

Illustre  sang,  Troycnne  inition, 

Noti  espargtiant  sou  sattg  ne  sa  stiettr. 


—    188    — 

Neveiix  d'Hector,  enfans  de  Francion, 
Qui  siir  les  bords  du  grand  fleiive  Dnnoc 
Fonda  Sicanibre,  et  y  feit  niansion. 

Vostre  hant  los  en  parfond  Jionnenr  iione, 
Vostre  noin  der  vole  jnsques  aiix  cienx, 
Mydi  vons  craint,  Septentrion  vons  Tone. 

Tont  Occident,  tons  Orientanx  lienx, 
Indes,  Persans,  Scythes  et  Parthes  scaivent 
Qne  vons  estes  les  biens  vonlns  des  Dienx. 

Vos  clers  penons  en  Aste  se  lievent: 

Les  Tnrqs  ont  peur  de  vostre  brnit  et  famc, 

Et  vos  fiertes  redontent  et  eschievcnt. 

Grece  a  ßance  en  l'ardant  Aurißaninie, 
Qni  d'iceux  Tnrqs  les  yenx  esblonira, 
C'est  tont  l'espoir  qn'elle  attend  et  reclanie. 

Vostre  Jiantenr  de  ce  l'esjonira 

Dedens  brief  tenips:  car  j'en  voy  les  apprests. 

Dotit  nnchacnn  vostre  norn  benira '. 

Um  aber  Irischer  an  das  Werk  gehen  zu  können, 
ruht  einstweilen  ein  bischen  aus,  atmet  auf  und 
lasst  die  Arbeit  ruhen;  ein  Bogen  kann  Ja  nicht 
immer  gespannt  bleiben. 


J  Dieses  Lob  der  Fninzosen,  das  so  groll  absticht  gcj,'en 
die  VerstimmunfT  der  Chansons  de  Namur  (l.V)7),  ist  im  Munde 
Lemaires  in  den  Jahren  lölOll  wohl  be}>:reit1ich ;  ebenso  diese 
trojanischen  Anspieluntfen.  Der  Kreuzzug  gegen  die  Türken 
-schwebte  in  der  Luft  seit  dem  Frieden  von  Cambrai. 


—     IS^)     — 

Eiitrcdcux  laut  ä  vohtpti''  ctitcndrc, 

Et  y  vuqucr  ä  l'cxcniple  de  Mars, 

Qiii  s'diro/'/itoit  de  Venus  blanche  et  tendrc, 

Et  nu'ttoit  jus  escus  et  braquentars '  - 

Ohne  das  Ende  der  Predigt  abzuwarten,  — 
so  erzUhlt  Lemaire  in  Prosa  weiter,  —  driinjjtcn 
sich  die  jungen  Franzosen  mit  wildem  Ungestüm 
zur  Opt'erspcnde.  Wer  konnte,  warf  Ciold,  Silber, 
Wohlgcrüchc,  Geschmeide  und  allerlei  Kostbar- 
keiten in  ein  Becken  oder  heftete  Kerzen  an  das 
Gitter  des  Hochaltars,  so  dass  Belaccueils  Diener 
vollaui  zu  thun  hatten,  die  Becken  zu  leeren 
und  die  Lichter  einzusammeln.  Wer  aber  mit 
leeren  Händen  kam,  den  wies  Danger  mit  harten 
Drohungen  zurück.  Seines  Gelübdes  eingedenk 
trat  der  Dichter  vor  und  bot  als  Gabe  ein  kleines 
Gemälde  seiner  Erfindung,  das  ihm  ein  Meister- 
werk dünkte,  dar,  hübsch  geschrieben  und  mit 
Vignetten  und  Blumen  verziert,  damit  es  vor  dem 
Bilde  seiner  Halbgöttin  aufgestellt  würde.  In  der 
That  gestattete  ihm  Belaccueil,  die  Korallenlippen 
des  Bildes  zu  küssen.  Als  aber  Danger  in  seinem 
priesterlichen  Geize  sah,  dass  der  Dichter  nur 
etwas  in  Holz  gefas.stes  Pergament  darbrachte, 
züchtigte  er  ihn  unmanierlich  mit  seinem  Stocke, 
und  schleuderte  das  Buch  hinter  den  Hochaltar, 
ohne  zu  bedenken,  dass  doch  Alles  der  Göttin 
zur  Ehre  gereichte. 

'  Die  Beschreibung  des  Tempels  der  Venus  be-^teht  aus 
<>1()  Zehnsilbern  in  LU")  Terzinen  nebst  Schlussver-*. 


190 


Trostlos  über  seine  Zurückweisung"  und 
schamerfüllt  eilte  der  Dichter  durch  die  Menge, 
jede  Begegnung  mit  Bekannten,  die  sich  zum 
Opfer  drängten,  scheu  meidend.  Lange  irrte 
er  über  Land  und  See,  bis  ihn  der  Zufall  in 
eine  grosse,  steinigte  Wüste  führte,  die  ganz 
unbewohnt  schien;  vereinzelte  Fussstapfen  im 
dürren  Sand  regten  seine  Neugier  an,  und  nach 
neuem  Forschen  und  neuem  Irren  kam  er  endlich 
an  einen  Felsen,  dessen  Haupt  sich  in  den 
Wolken  verlor.  Zwischen  dem  spärlichen  Busch- 
werk kauerten  kleine  Eidechsen,  Grillen  zirp- 
ten laut,  einige  unreife  Beeren  erquickten  seinen 
Gaumen.  Er  war  von  der  Mittagsseite  ge- 
kommen; wie  er  nun  um  den  Felsen  herum- 
zugehen suchte,  kam  er  an  eine  Höhle,  aus 
der  eine  silberhelle  Quelle  floss,  von  Bäumen 
und  dürftigem  Grün  umgeben.  In  der  kühlen 
Flut  löschte  er  seinen  Durst  und  wusch  sich 
den  Schweiss  von  der  Stirne,  alsdann  blickte 
er  nach  allen  Seiten  und  richtig,  auf  der  P'els- 
wand  stand  in  alter  Schrift  folgendes  einge- 
graben : 

„Das  ist  der  berühmte  Fels,  der  die  Wolken 
überragt  und  bis  zum  Himmel  aufsteigt.  Glatt 
ist  der  Stein,  hart  und  zackig;  dornigtes  Gebüsch 
wächst  ringsum;  die  wenigen,  selten  betretenen 
Pfade  sind  von  scheusslichen  Untieren  umlagert. 
Wer  aber  durch  Mut  und  Ausdauer  zum  Gipfel 
gelangt,  der  findet  dort  ewige  Ruhe  und  Glück- 


-      101      - 

Seligkeit;  denn  oben  auf  der   breiten  Kuppe  ist 
Honneurs  Palast  und  Lustgarten'. 

La  est  ()  toiisjoitrs  nid/s  /'n/r  /luijuiiti/c  c/  scni/ii, 
Co/nnw  cn  im  Pciiuk//^  /crrcsfrc,  pnnii'm/n. 
Tont  y  ßa/rc  et ßouromic  et  rem/  sone/ve  (x/e/tr, 
Tont  y  est  p/e/n  de  joye  et  de  r/che  verdeur. 
L'air  i/lec  retentist  de  tres  doi/ce  harmon/e, 
Et  pa/x  est  tä  cndro/t  richemeiit  espanie. 
Amoiir  y  regne,  et  Grace  et  Concorde  y  ßonrit, 
P/aisant  P/aisir  y  dnre,  et  Joye  s'y  nonrr/t. 
La  i'erres  vons  sonvent  cheva/iers  tonrnoyer, 
El  panni  /es  verds  pres  danies  estxinoyer, 
Qni  /es  ßiiirs  vonl  cue/t/ant  ponr  beanx  chappe- 

tets  tistre, 
Et  d'ice//es  on  sent  nn  ßair  nterveilteux  ystre. 
La  /es  void  on  dansans,  par  Inendes  et  caro/es, 
C/iantans   Lays   p/eins    (/'antonr   et  de  donces 

paro/es. 
Et  /ors  /es  oise/ets  respondent  ä  tenrs  chants, 
Qni  tons  donx  et  privez:  se  taissent  premire  anx 

r/ianips, 
Et  vont  partont  seniant  /enrs  p/nniettes  dorees, 
D'asnr,  de  verd,  de  jaune  et  pourpre  coulourees. 
Entonr  des  arbrisseanx  et  des  rtves  herbncs, 
Et  dessus  l'oiivertnre  anx  ßonrettes  barbnes, 


'  Die  folgende  Stelle  zeijjt  wieder  Lemaires  Farbenreich- 
tum in  der  Schilderung  der  Natur.  Sic  diene  als  Beispiel  fUr 
die  Art  und  Weise,  wie  er  den  Alexandriner  zu  handhaben  ver- 
steht. Die  Inschrift  besteht  aus  108  paarweise  gereimten  Zwölf- 
silbern ohne  Wechsel  des  (ieschlechts,  die  weiblichen  Keime 
herrschen  vor. 


192 


Les  uiouschettes  ot  on  par  doiice  noise  bvuire, 
Qui  cueilleut  la  savetir  pour  cire  et  miel  con- 

striiire. 

Dort  herrscht  ewiger  Frühling,  murmelnde  Bäche 
wiegen  in  Schlaf.  Mitten  im  Lustgarten  steht 
der  Palast  v^on  Marmor,  Jaspis,  Kristall  und 
Porphyr. 

Dedens  cc  palais  est  de  Minerve  le  teviph  . 
Auquel  mdiut  Juiiit  espn't  en  haut  savoir  con- 

temple 
Les  beaiix  faits  vertiieiix  en  cJironiqne  ethistoire, 
En  science  niorale  et  en  art  oratoire. 
La  se  ti'onvent  conjoints,  vivans  en  paix  sans 

noise, 
Le  langage  Toscan  et  la  langue  Fran^oise. 

Dort  unterhält  Honneur  seinen  Hofstaat;  zu  mehr 
als  tausend  Millionen  wohnt  um  den  Palast  seine 
himmlische  Familie  und  Ingesinde.  Ewiger 
Tag  herrscht  dort  und  ewige  Jugend.  Wer 
also  zum  Tempel  der  Minerva  kommen  will,  er- 
Avarte  hier  das  freie  Geleit  Honneurs.  Dieser 
Ort  heisst  Arbeit,  Studium  und  Fleiss;  wer 
nicht  irre  gehen  will,  harre  hier  aus,  bis  ihm 
Honneur  zu  guter  Letzt  seinen  sichern  Führer 
sendet." 

Nachdem  der  Dichter  diese  Inschrift  gelesen 
hatte,  versank  er  in  tiefes  Nachsinnen,  bis  er 
entschlief.  Da  erschien  ihm  ein  Schutzgeist,  der 
ihn    mitunter   aufsuchte,   Labeur    historien,   der 


-     1^)3    - 

sich  nie  heraun^eschwören  liisst,  als  wenn  Natur 
es  ihm  gebietet,  und  dann  immer  in  (iestalt 
eines  ernsten,  ehrwürdigen  Greises  mit  weissem 
Barte  sich  zeigt.  Bei  seinem  Anblick  sprang 
der  Dichter  ehrerbietig  auf,  und  erfuhr  auf  seine 
Frage,  dass  jene  Inschrift  von  Jean  de  Mehun 
aufgesetzt  worden  sei,  vom  ersten,  der  die  (ran- 
Ziisische  Sprache  in  Ruf  gebracht,  ebenso  wie 
Dante,  -ein  Zeitgenosse,  die  toskanische.  Wie 
beide  in  Freundschaft  um  den  gleichen  Ruhm 
gewetteifert  haben,  meinte  der  Greis,  so  sollten 
auch  Frankreich  und  Florenz ,  die  mit  dem 
gleichen  Buchstaben  anfangen  und  dieselb?n 
I.ilien  im  Schilde  tühren,  vereinigt  sein  und 
bleiben,  wie  sie  es  seit  Beginn  der  italienischen 
Züge  waren.  —  Hocherfreut  über  diese  Worte 
bat  der  Dichter  den  Alten,  er  möge  ihn  bei  sich 
behalten  und  sein  Famulus  sein  lassen.  Labeur 
historien  gewährte  ihm  die  Bitte  und  führte  ihn 
in  seine  anmutige  Klause,  reich  ausgestattet  mit 
alter  und  neuer  Bücherei,  indem  er  ihm  ver- 
sprach, dass  er  ihm  dereinst,  nach  Ablauf  seines 
Lebens,  wenn  er  ihn  für  würdig  befände  in  den 
Tempel  Minervas  einzugehen,  zwei  himmlische 
Beisteher  geben  würde,  Ruhe  und  Belohnung, 
die  ihm  die  erfolgte  Eintracht  der  beiden 
Sprachen  im  Tempel  der  Göttin  zeigen  sollten; 
einstweilen  Hess  er  ihn  in  einem  Zauberspiegel 
die  Bilder  derselben  sehen,  wie  sie  sich  vor  dem 
Antlitze  der  Göttin  umarmten. 

Becker,  Jean  Lcmairc.  M 


—     194    — 

Mit  diesem  Theile,  den  Lemaire  den  Weg 
8um  Tempel  der  Minerva  genannt  hat,  schliesst 
die  Allegorie  der  Eintracht  der  italienischen 
und  französischen  Sprache'.  In  dieser  Allegorie 
erblicken  wir  einen  Ausdruck  seines  eigenen 
schriftstellerischen  Schaffens  und  Strebens:  er, 
der  erste,  welcher  der  starren  Poesie  der  bürger- 
licheni  Meistersänger  durch  die  freie  Nachahmung 
der  Italiener  frisches  Leben  eingehaucht  hat, 
erwartet  als  Lohn  seines  Verzichtes  auf  irdischen 
Lebensgenuss  und  seiner  stillen  Versenkung  in 
die  geschichtliche  Forschung  den  ewigen  Nach- 
ruhm seiner  Werke  und  das  Bewusstsein,  die 
Annäherung  beider  Völker  und  Kulturen  nach 
bestem  Können  gefördert  zu  haben. 

XIII. 

Lemaire  hatte  sich  nicht  getäuscht:  wie  er 
erwartete,  wurde  Margareta  durch  den  Bericht, 
den  Barangier  bei  seiner  Rückkehr  aus  Burgund 
erstattete,  umgestimmt;  am  8.  Juli  1511  schrieb 
sie  ihrem  Indiziarius,  sie  habe  ihre  Ansicht  über 
den  Alabaster  und  die  Verträge  mit  Thibault 
geändert.  Man  kann  sich  denken,  mit  welcher 
Freude  Lemaire  seiner  Erkenntlichkeit  Ausdruck 
gab.  Zugleich  mit  einem  ausführlichen  Briefe 
schickte  er  der  Fürstin  die  beiden  unlängst  ange- 
kündigten Bücher.  Seine  Thätigkeit  in  Brou  hatte 


1  Le    traict€    intitulö    hi    Concortic    des    dcux    lanjjagcs. 
Oeuvres  III,  98-iai. 


M-) 


er  nunmehr  wieder  ;iur<icn()minen;  wie  er  schreibt, 
erwartete  er  Perreal  mit  den  Lyoner  Maurer- 
meistern Henriet  und  [can  de  Lorraine  in  Bourg, 
um  an  den  Rissen  für  die  Kirche  zu  arbeiten'. 
Diese  Arbeit  wurde  rasch  betrieben ;  kaum 
war  sie  beendet,  so  unternahm  Lemaire  in  Mar- 
garetas  Geschälten  die  Reise  nach  Frankreich, 
von  der  er  nicht  wiederkehren  sollte.  Er  hatte, 
wie  wir  aus  seinen  Briefen  erfahren  ,  Perreals 
Sohn  zum  Rechtsstudium  an  die  Universität  in 
Dole  geführt,  in  der  Hoffnung,  den  Vater  durch 
diese  neue  Verpflichtung  enger  an  Margaretas 
Dienst  zu  fesseln.  Von  DOle  beabsichtigte  er 
nach  Tours  zu  reisen ,  um  sich  mit  Coulombe 
ins  Einvernehmen  zu  setzen.  Es  hatte  sich  gezeigt, 
dass  Thibaut  thatsächlich  nicht  zu  brauchen  war; 
kein  namhafter  Bildhauer  wollte  mit  ihm  arbeiten, 
weil  er  als  schlechter  Zahler  galt,  und  seine 
eigenen  Leistungen  waren  höchst  mittelmässig; 
schliesslich  hatte  er  sich  trotz  des  Drängens  der 
Ratsherrn  von  Bourg  geweigert,  Lemaire  nach 
Tours  zu  begleiten.  Darum  bittet  dieser  in  .seinem 
Briefe,  man  mcichte  ihm  einen  Beamten  als  Be- 
gleiter mitgeben,  um  ihm  beim  Ab.schlüss  der 
Verträge  beizustehen  -. 


'  Lemaire  an  Baranjriir,  Bourjr.  den  S.  September  1311. 
Oeuvres  IV,  SSI'.  Margaretas  Brief  und  Lemaires  .Antwort  sind 
nicht  erhalten.  Die  fraglichen  Risse  nahm  Lemaire  mit  nach 
Tours,   um  sie  Coulombe   ein/uhUndigen  ,   cf.  Oeuvres  IV.  41«». 

^Lemaire  an  .Margareta ,  Döle .  den  9.  Octobcr  l.Ml. 
Oeuvres  IV,  385. 


196 


Die  Reise  ging  von  Dole  über  Blois,  wo  der 
französische  Hof  weilte'.  Hier  hatte  Lemaire 
mehr  als  einen  Bekannten,  unter  Andern  den 
gelehrten  Abt  von  Angle,  Jean  d'Anton,  den  er 
1509  in  Lyon  kennen  gelernt  hatte,  Damals  hatte 
der  Chronist  des  Königs  von  Frankreich  eine 
Epistel  Hektors  an  Ludwig  den  XII.  verfasst, 
in  der  er  den  trojanischen  Helden  sich  nach 
seinem  Efikel  erkundigen  und  sein  Bedauern 
aussprechen  Hess,  an  der  Schlacht  bei  Agnadello 
und  dem  Kampf  gegen  Antenors  Nachkommen 
nicht  teilgenommen  zu  haben.  Lemaire  machte 
eine  kurze  Rast  in  Blois  und  am  Tage  vor  Martini 
dichtete  er  eine  Gegenepistel  im  Namen  des 
Königs. 

Frage  um  Frage  beantwortet  der  König 
Hektors  Brief:  er  dankt  ihm  für  das  gespendete 
Lob,  bewundert  die  geschickte  Handhabung  der 
französischen  Sprache,  bedauert,  dass  Hektor 
Heide  w^ar,  hofft  aber,  dass  er  im  Jenseits  der 
Segnungen  des  Glaubens  teilhaftig  geworden 
ist,  wie  einst  Trajan  durch  das  Gebet  eines 
heiligen  Papstes  der  Hölle  entrissen  wurde.  Ja, 
wenn  man  jetzt  einen  solchen  Papst  hätte,  der 


'  Wenn  Lemaire  die  Reise  über  Orleans  Loire  abwilris 
machte,  so  konnte  er  den  Hof  in  der  dritten  oder  vierten  Ok- 
toberwoche in  Clery  und  Beaugcncy  jjetroffen  haben.  War  er 
direkt  nach  Tours  gegangen  —  was  ja  möglich  ist.  da  er  vor 
Mitte  Oktober  von  DOle  abgereist  sein  kann,  —  so  verlockte 
ihn  die  Nähe  des  Hofes  zu  einem  Abstecher  nach  Blois,  und 
du  war  der  Sonntag,  Montag  und  Dienstag,  der  Martinitag, 
sehr  geeignet. 


—     ^>7    — 

sich  mit  Chorrock  und  Mitra  lx'J4^u;4^  n  wollu-, 
ohne  sich  zu  verkleiden,  dass  man  ihn  ^ar  nicht 
mehr  erkennt:  dann  könnte  der  Künig  auch  seiner 
grossen  Lebensaufgabe,  der  Befreiung  des  von 
den  IHirken  usurpierten  Reichs  des  Priamos, 
nahe  treten.  Bevor  er  dies  unternehmen  durfte, 
musste  er  aber  die  mit  Griechen  und  Türken  ver- 
bündeten Venezianer  niederwerfen.  Der  Dichter 
erfasst  die  Gelegenheit,  um  die  Schlacht  bei 
Agnadello  zu  beschreiben,  das  Gewitter,  dessen 
Tosen  sich  mit  dem  Kanonendonner  paarte,  das 
Gebet  des  Königs  und  dessen  wunderbare  Er- 
hörung, indem  Gott  den  Regen  den  Feinden  in 
das  Gesicht  wehte,  die  weisse  Taube,  die  sich 
auf  den  Helmbusch  des  Königs  niederliess.  Und 
für  wen  hatte  Ludwig  diese  Mühen  übernommen 
und  sein  eigenes  Leben  auf  das  Spiel  gesetzt? 
hauptsächlich  um  dem  heiligen  Stuhl  seine 
entrissenen  Besitzungen  zurückzugeben :  und 
welchen  Lohn  erntete  er  nun  dafür!  Als  Gott 
auf  Erden  wallte,  liess  er,  der  Allmächtige,  den 
Fürsten  den  Besitz  der  Reiche  und  nahm  blos 
den  Zehnten  für  sich;  der  Stellvertreter»  den  er 
hinterliess,  um  denselben  zu  erheben,  soll  Allen 
in  Demut  vorangehen ;  aber  weit  entfernt  das 
gute  Beispiel  zu  geben,  sinnt  der  lebende  Papst 
nur  darauf,  Andere  um  ihr  Eigentum  zu  be- 
trügen, Aufruhr  zu  stiften,  \'erschwörungen  an- 
zuzetteln. Einen  Armeebefehl  will  der  König 
erlassen,  dass  jeder  Soldat  das  Leben  des  Papstes 


198 


schone,  gegen  seine  Hülfstruppen  aber  sich  un- 
barmherzig zeige.  Zum  Schluss  erzählt  er  seinem 
Ahnherrn  die  ganze  trojanisch-fränkische  Stamm- 
sage im  Abriss,  ohne  einige  Erscheinungen  und 
Beschwörungen  des  Geistes  Hektors  zu  über- 
gehen, und  endet,  indem  er  noch  einmal  den 
Kreuzzug  recht  bald  heranwünscht. 

Lemaires  Epistel  zählt  574  Verse,  sie  ist 
etwas  lang  und  poetisch  nicht  besonders  hervor- 
ragend. Interessant  ist  es,  den  Dichter  über  die 
neuen  Schiesswaffen  reden  zu  hören: 

Si  dois  savoir,  poiir  iin  cas  anonual, 
Que  notis  avorts  autre  tonnoire  et  foudre 
Faite  par  art,  de  merveilleuse  poiidre, 
Qiti  fait  partir  un  si  soiidain  bonlet, 
Qii'autant  resiste  hornine  arme  qn'nn  poiilet. 
Ha  Prince  Hector,  peiises  y  bien  et  jiige, 
Tu  ne  vis  onc  si  estrange  deluge: 
Car  de  ton  tenips  les  guerres  et  victoires 
On  les  faisait  en  bras  fultninatoires 
Tant  seulernent :  Mais  nostre  artillerie, 
Sans  point  de  f ante,  est  une  diablerie. 

Die  Figur  des  kriegerischen  Papstes  ist  wieder 
mit  bitterer  Ironie  gezeichnet : 

II  fait  beau  voir  nn  ancieii  prestre  en  armes, 
Crier  l'assault,  enhorter  aux  alarmes, 
SouilU  de  sang  en  Heu  de  sacrijice, 
Contre  l'estat  de  son  tresdigne  office : 


—    19^)    - 

Ju'niirr  son  cdnips  cn  tcnips  nidc  et  (hvrrs, 
Illec  soiiffrir  Ic  pfus  diir  des  hyvers, 
Pottr  ä  chaciin  ^yands  mervci/lcs  dotuter. 

Pnis,  cn  la  fin  scs  gens  abandonner, 
Laisser  lä  taut,  honihardes  et  canons, 
Menbles  de  guerre,  enseignes,  confanons ; 
Sans  qne  nies  gens  le  d<ngnassant  poiiystiivre: 
Car  de  le  luiincre  il  ne  s'en  pent  ensnivre 
Los  )ie protißt,  trop  nioins  que  d'tme  feninie^. 

Der  Grundgedanke  der  Epistel  ist  der  Kreuz- 
zug gegen  die  Türken  als  Endziel  aller  Politik; 
sie  atmet  heftigen  Unwillen  gegen  den  Papst, 
der  durch  seine  Intrigen  die  V'erwirklichung 
dieses  Ideals  verhindert.  Der  Kampf  zwischen 
Ludwig  dem  XII.  und  Julius  dem  II.  war  noch 
lange  nicht  beigelegt:  eben  tagte  in  Pisa  das 
gegen  den  Papst  zusammenberufene  Konzil*. 

Lemaire  hielt  sich  nicht  lange  in  Blois  auf; 
in  den  nächsten  vierzehn  Tagen  nach  Martini 
hatte  er  die  Unterhandlungen  mit  Michel  Cou- 
lombe  und  seinen  Neffen  in  Tours  in  vollen 
Gang  gebracht.  Margareta  hatte  davon  Abstand 
genommen,  ihm  einen  Kollegen  beizugeben,  so 
dass  die  Geschäfte  und  das  Geld  ohne  weitere 


'  Anspielung  auf  die  Xicdcrlugc  der  päpstlichen  Truppen 
bei  Bologna  unter  dem  Herzog  von  Urbino,  der  sein  ganzes 
(icpilck  und  (ieschUt/  und  die  pJlpsllichc  Standarte  verlor. 
(Ende  Mai  1511  ) 

^  Epistre  du  roy  ä  Hcctor,  Oeuvres  III,  68—86.  Es  sind 
574  paarweise  gereimte  Zehnsilber,  fltschricbrn  Mm  1<\  \'> 
vember  1511,  Tag  vor  Martini. 


—    200    — 

Kontrolle  durch  seine  Hände  gingen.  Den  Bild- 
hauer hatte  Lemaire  ziemlich  alt  und  schwer- 
fällig gefunden,  er  ging  auf  die  Achtziger,  war 
gichtbrüchig  und  kränklich  infolge  seiner  früheren 
Arbeiten,  man  musste  ihn  daher  mit  Freund- 
lichkeit und  Geduld  gewinnen;  aber  die  Freude 
an  der  schönen  Arbeit  schien  ihn  ganz  zu  ver- 
jüngen. Die  nächste  Aufgabe  war  die  Anferti- 
gung eines. Modells  in  verkleinertem  Massstabe; 
Coulombe  verlangte  Frist  bis  Ostern,  Lemaire 
hoffte  die  Zeit  auf  drei  Monate  zu  beschränken. 
Inzwischen,  sobald  das  Werk  im  Gange  sein 
würde,  versprach  er  sich,  Margareta  seine  Auf- 
wartung machen  zu  gehen  und  sie  mit  einigen 
hübschen  Geschenken  zu  überraschen;  unter 
anderem  Hess  er  von  Coulombe  einen  Kopf  der 
heiligen  Margareta  aus  einem  Stück  von  seinem 
Alabaster  meisseln.  Dieser  Alabaster  lag  ihm 
immer  noch  am  Herzen;  auf  der  ganzen  Welt, 
sagt  er,  giebt  es  keinen  schöneren  und  besseren, 
keinen,  der  sich  feiner  glätten  Hesse.  Uebrigens 
bewunderte  und  lobte  man  allgemein  das  schöne 
Werk,  das  Margareta  unternommen  hatte.  Die 
Entwürfe  hatte  Lemaire  dem  kaiserlichen  Ge- 
santen  gezeigt,  und  der  Ruf  war  bis  zu  den 
Ohren  des  Königs  und  der  Königin  gedrungen. 
—  So  schreibt  Lemaire  in  voller  Freude  am 
22.  November  \ 


1  Lemaire  an  Marjrareta.   Tours,   den   2'J.   November  löll 
Oeuvres  IV,  410.    Der  Kaiserliche  Gesante,  Andrea  da  Bürge, 


'JOl 


Am  3.  Dezember  stellte  .Michel  Coulombe 
in  seinem  und  seiner  drei  Neffen  Namen  den 
Vertrag  über  die  Bildhauer-  und  Maurerarbeiten 
für  die  Grabdenkmäler  von  Brou  aus.  Gegen 
die  vierundneunzig  deutsche  Goldgulden,  die  ihm 
Lemaire  einhändigte,  machte  er  sich  verbindlich, 
bis  Ostern  die  Modelle  der  Gräber  Philibcrts, 
seiner  Mutter  und  seiner  Wittwe  sowie  des 
Portals  anzufertigen.  Da  er  selbst  2um  Reisen 
zu  alt  Avar,  versprach  er,  seine  Neffen  Guillaume 
Regnault  und  Bastien  Franvois  nach  Brou  zu 
schicken.  Dieselben  sollten  auch,  gegen  Ver- 
gütung der  Reisekosten ,  die  Modelle  nach  den 
Niederlanden  bringen,  und  Lemaire  verpflichtete 
sich,  seinen  Neffen  Jean  de  Maroilles  oder  seinen 
Diener  Jean  Poupart  als  Führer  mitzugeben. 
Ausserdem  versprach  Coulombe  die  obener- 
wähnte Büste  der  Schutzheiligen  Margaretas  als 
Geschenk  für  die  Fürstin  zu  hauen.  Ueber  den 
Alabaster  von  Saint-Lothain  stellt  der  greise 
Künstler,  der  die  Meister  der  Grabdenkmäler 
von  Dijon,  Klaus  Sluter  und  Anthoinet  von 
Pari.s,  in  seiner  Jugend  gekannt  hatte,  ein  glän- 
zendes Zeugniss  aus. 

Den  Vertrag  unterzeichneten  M.  Coulombe, 
Macö  Formon,  königlicher  Notar  in  Tours,  und 
Lemaire,  dem  bei  dieser  Gelegenheit,  und  Sün.sl 
nie   wieder,    der  Titel    kaiserlicher  Notar   und 


reiste    am   '_'.">.    November    von    Blois    ab,    vom    Kaiser   zurUck- 

Kc  rufen. 


—    202    — 

Geschäftsführer  der  Erzherzogin  Margareta  von 
Oesterreich  beigelegt  Avird.  Augenscheinlich 
hatte  die  Fürstin  ihm  diese  Eigenschaft  zur 
Vollziehung  der  kontraktlichen  Abmachungen 
verliehen '. 

Nun  hat  es  doch  den  Anschein,  als  hätte 
unseres  Dichters  Dasein  seine  feste  Bahn  gefun- 
den: seine  gegenwärtige  Stellung  hat  sich  nach 
Wunsch  gebessert,  die  Zukunft  scheint  gesichert; 
er  hat  ja  das  Vertrauen  seiner  Herrin  wieder- 
gefunden, der  Abschluss  wichtiger  Geschäfte 
ruht  in  seiner  Hand,  durch  urkundlichen  Erlass 
ist  ihm  die  Oberaufsicht  der  Alabasterbrüche  ver- 
liehen worden:  seinem  Unternehmen  ist  nicht 
bloss  eine  glänzende  Rechtfertigung  zu  Teil 
geworden,  im  Betriebe  der  Brüche  eröffnet  sich 
ihm  eine  Quelle  einträglicher  Nebeneinnahmen'-. 
Warum  lässt  er  sich  gerade  jetzt  durch  solche 
Bande  an  Frankreich  knüpfen,  dass  bei  der 
schwebenden  politischen  Lage  seine  bisherigen 
Beziehungen  zu  Margareta  grosse  Gefahr  laufen 
jählings  zerrissen  zu  werden?  Ueberschauen 
wir  Lemaires  Lebensstellung,  wie  sie  sich  in 
den  letzten  Jahren  gestaltet  hat.  Als  die  Gunst 
und  das  Wohlwollen  seiner  Herrin  den  Höhe- 
punkt erreicht  zu  haben  schienen,  machten  sich 
bereits  die  Unzuträglichkeiten  des  Verhältnisses 
bemerkbar.    Der  Aufenthalt  in  der  Heimat  war 

'  Kontrakt  vom  3.  Dezember  löU.    Oeuvres  IV,  413. 
-  Vgl.  den  Brief  vom  14.  Mai  lölL'.    Oeuvres  IV,  425. 


—    2o;{ 

dem  Indiziarius  durch  allerlei  Händel  und  Mis-s- 
jrunst  verleidet,  wenn  nicht  unmöjjlich  gemacht 
worden.  Südburgund,  seine  zweite  Heimat,  schien 
ihm  eine  Zuflucht  und  die  ersehnte  Ruhe  zu 
bieten :  in  dem  eben  verflossenen  Jahre  hatte  er 
erfahren  müssen,  wie  wenig  Bestand  der  Grund 
hatte,  auf  dem  er  bauen  wollte.  Mittlerweile 
hatten  ihn  neue  Interessensphären  an  sich  gezogen, 
deren  Schwerpunkt  nach  Frankreich  neigte.  In 
den  letzten  Streitschriften  hatte  er  beim  Kampfe 
zwischen  König  und  Papst  die  gallikanische 
Sache  mit  aller  Entschiedenheit  verfochten ;  dabei 
hatte  er  nicht  versäumt  sich  durch  Widmung 
der  Schrift  zu  empfehlen,  und  kürzlich  hatte  er 
die  Aufmerksamkeit  Ludwigs  durch  die  Epistel 
an  Hektor  neuerdings  auf  sich  gelenkt.  In  Frank- 
reich fand  Lemaire  vorwiegend  seine  Leser; 
die  Pariser  Buchhändler  bemühten  sich,  seine 
Werke  in  ihren  Verlag  zu  bekommen,  die  Königin 
selbst  gehörte  zu  seinen  Bewunderern.  Und  nun 
kam  der  Umschwung  der  Politik;  der  Augen- 
blick stand  bevor,  wo  der  Friede  von  Cambrai 
durch  die  Aussöhnung  des  Kaisers  mit  Papst 
und  Venedig  und  bald  darauf  durch  .seinen  Bei- 
tritt zur  Liga  gebrochen  werden  sollte.  Marga- 
reta,  die  .sich  persönlich  nie  sonderlich  mit  der 
französischen  Politik  befreundet  hatte ,  trieb 
ihren  Vater  in  dieser  Richtung  vorwärts.  Wie 
sollte  sich  Lemaire  verhalten,  wenn  die  bereits 
fühlbare  Spannung  zwischen  Ludwig  und  Max 


—    204    - 

den  Riss  erzeugte?  Sollte  er  seiner  immer 
wieder  bedrohten  Stellung  in  Margaretas  Dienst 
zu  Liebe  neue  Aussichten,  die  sich  etwa  mit 
schöneren  Versprechungen  eröffneten,  von  sich 
w^eisen?  Unsicher  und  vom  Zufall  abhängig 
war  in  beiden  Fällen  die  Zukunft;  aber  er  Avar 
ja  sein  ganzes  Leben  hindurch  auf  den  Zufall 
angewiesen  gewesen. 

Angesichts  der  Sachlage  wäre  es  kaum  zu 
verwundern,  wenn  Lemaire  schon  geheime 
Absichten  gehegt  hätte,  als  er  die  Reise  nach 
Frankreich  unternahm.  Er  scheint  dergleichen 
selbst  anzudeuten,  indem  er  an  Barangier  schreibt: 
„Wenn  ich  Ihnen  diesseits  einen  Dienst  erweisen 
kann,  so  geben  Sie  mir  Ihre  Aufträge,  und  ich 
werde  sie  herzlich  gern  erfüllen,  so  wahr  mir 
Gott  helfe,  lieber  als  irgend  einem  Menschen 
auf  der  Welt;  denn  Sie  haben  mir  den  Weg 
hieher  gf  niesen^' '.  Demnach  hätte  Barangier, 
der  Augenzeuge  der  Vorfalle  des  verflossenen 
Jahres  war  und  als  Geheimschreiber  Margaretas 
die  Wendung  der  Dinge  voraussah,  seinem 
Freunde  geraten,  anderswo  eine  gesichertere 
Stellung  zu  suchen.  Man  hat  wohl  gemeint,  Per- 
real der  Hofmaler  habe  Lemaire  der  Königin 
empfohlen,  er  habe  ihn  veranlasst,  in  den  Dienst 
des  französischen  Hofes  überzugehen.  Gegen 
diese  Bezichtigung  verwahrt  sich  Perrcal  in 
seinem  letzten  Brief  an  Margareta  ausdrücklich  : 


'  Lemaire  an  Baranjrier,  den  '.'8.  M;lrz  1012,  Oeuvres  IV,  4'_*3. 


-    20Ö    — 

seit  Ostern  etwa  sei  er  mit  dem  früheren  Indi- 
ziarius  ernstlich  überwerfen,  gerade  weil  er  ihm 
seine  Undankbarkeit  gegen  die  Fürstin,  der  er 
doch  alles  verdanke,  vorffeworfen  habe;  über 
diese  Vorwürle  sei  jener  so  aufgebracht  worden, 
dass  er  sich  zu  den  schlimmsten  Drohungen 
verstieg'. 

Vielleicht  hatte  Lemaire  die  Folgen  seines 
Schrittes  nicht  voll  bedacht;  als  er  die  Aner- 
bietungen des  französischen  Hofes  annahm, 
glaubte  er  vielleicht  nicht,  dass  es  ihn  zum 
Zerwürfniss  und  zum  Bruch  mit  Margareta 
führen  Avürde.  Jedenfalls  scheint  zu  den  berühr- 
ten Beweggründen  das  Spiel  des  Zufalls,  die 
entscheidende  Wirkung  der  günstigen  (ielegen- 
heit  gekommen  zu  sein.  Clement  Marot,  der 
Lemaire  gekannt  hat,  schreibt  der  Frau  von 
Soubise,  einer  hochherzigen  Beschützerin  der 
schönen  Wissenschaften,  das  Verdienst  zu,  Le- 
maire aus  Flandern  nach  Frankreich  gezogen 
zu  haben.  Bei  ihrem  Abschied  aus  Ferrara  (1536), 
ruft  er  ihr  zu: 

Aäien  la  maiii  qiii  de  t'landrc  cn  la  Fnnicc 
Tira  jadis  Jean  Lemaire  Belgeois 
Qiti  l'anic  avoit  d' Homere  le  Gregeois*. 

Mit  Flandern  hat  es  freilich  .sein  Bedenken; 
unwahrscheinlich   ist    es   aber   nicht,    dass  die 


'  Pcrieal  an  Margareta.  den  17.  Oktober  lör.'.Ocuvres  IV-iSi*». 
•  Cl.  Mirot  ed.  Jannet,  Epistre  LV. 


-    206    - 

Frau,  welche  Jean  Marot  bei  seiner  Ankunft  in 
Paris  in  ihren  Schutz  nahm  und  ihr  Wohlwollen 
später  dem  Sohne  zuwendete,  den  berühmten 
Verfasser  des  Briefes  des  grünen  Liebhabers 
und  der  Liebesidylle  von  Paris  und  Oenone  an 
sich  gezogen  und  der  Königin  empfohlen  hätte, 
als  er  nach  Tours  kam  und  das  Interesse  des 
Hofes  für  das  Prachtdenkmal,  das  Margareta 
ihrem  verstorbenen  Gemahl  errichten  liess,  anzu- 
regen verstand. 

Wie  dem  auch  sei,  Thatsache  bleibt,  dass 
Lemaire  die  Stelle  als  Indiziarius  und  Historio- 
graph  der  Königin  von  Frankreich  annahm,  und 
dass  Margareta  seinen  Abfall  mit  Unwillen 
empfand. 

Böswillige  Verleumdungen  scheinen  das 
Ihrige  dazu  beigetragen  zu  haben,  die  Fürstin 
zu  entfremden.  Es  war  ihr  hinterbracht  worden, 
dass  eine  von  Lemaire  gegen  sie  verfasste 
Schrift  in  Paris  öffentlich  umlaufe.  Bis  dahin 
hatte  Lemaire  trotz  seines  neuen  Amtes  fort- 
gefahren, sich  mit  ihren  Geschäften  zu  befassen ; 
eben  wollte  er  ihr  noch  in  Angelegenheit  der 
mit  Coulombe  getroffenen  Abmachungen  schrei- 
ben. Als  er  aber  hörte,  in  welch  niederträchtiger 
Weise  er  angeschwärzt  wurde,  stand  er  davon 
ab.  Barangier  hatte  ihm  zwar  versichert,  die 
Fürstin  schenke  seinen  Verlästerern  keinen 
Glauben  ;  aber  das  frühere  Vertrauen  und  Wohl- 
wollen schien  untergraben.  Lemaire  argwöhnte, 


-    2()7    - 

(lass  jeiu-  vcrkiimdcrischcn  Nachreden  nur  br»s- 
willige  Erfindungen  seien,  um  ihn  um  das 
Gtlialt,  das  ihm  noch  geschuldet  wurde,  zu 
bringen.  Darum  schüttet  er  sein  Herz  aus  vor 
dem  Geheimschreiber,  dem  einzigen,  der  seine 
Sache  stets  redlich  vertreten  hatte:  Was  er  in 
Paris  habe  drucken  lassen,  das  sei  eine  zweite 
Auflage  der  Illustrations,  und  das  nur  unter  der 
Bedingung,  dass  sie  wie  die  Lyoner  das  Wap- 
pen Margaretas  trüge,  darin  glaube  er  nicht 
gefehlt  zu  haben,  und  habe  zudem  ein  schönes 
Handgeld  dafür  bekommen;  ferner  hätten  die 
Pariser  Buchdrucker  sein  Buch  von  den  Kon- 
zilien und  die  Legende  der  Venezianer  erhalten, 
auch  diese  zur  Ehre  der  Fürstin.  Das  alles  sei 
kein  Grund,  ihn  um  seine  gerechten  Ansprüche, 
um  seinen  so  sauer  erworbenen  Verdienst  zu 
betrügen.  Sollte  er  sich  je  soweit  vergessen, 
über  seine  frühere  Herrin  etwas  schlimmes  zu 
sagen  oder  zu  schreiben,  so  möge  ihn  Gott  auf 
der  Stelle  und  ohne  Beichte  sterben  lassen. 
Denn  wenn  er  sie  nicht  so  geliebt  hätte,  so 
hätte  er  nicht  so  viel  schöne  Sachen  zu  ihrem 
Lobe  geschrieben.  Und  ebensoviel  wie  für  sie, 
werde  er  jetzt  für  die  Königin  schreiben,  seine 
edle  Herrin,  die  ihm  so  viel  Gutes  erweist.  Und 
damit  werde  er  kein  Unrecht  gegen  Margareta 
begehen,  denn  da  ivo  ihn  sein  Gefühl  hinsieht, 
da  gibt  sich  sein  Herz  gans  hin,  und  dei- 
N'erstand  billige  es.    Ursprünglich  hatte  er  vor- 


208 


i^ehabt,  ausser  seiner  Gebühr  noch  um  ein 
kleines  Privilegium  oder  einen  Ehrengehalt  für 
seine  vergangenen  Dienste  zu  bitten,  jetzt  ver- 
zichte er  darauf;  aber  die  Fürstin  werde  nun- 
mehr begreifen,  wesshalb  er  aus  ihrem  Dienste 
getreten  ist;  nicht  ihin  solle  sie  es  verargen, 
sondern  denen,  die  daran  Schuld  sind,  und  die 
nicht  ungestraft  bleiben  sollen,  das  verspreche 
er,  —  denn  Gott  ist  gerecht,  sie  sollten  sich  nur 
wacker  vor  seiner  Feder  hüten ;  aber  es  solle 
so  spät  sein  als  er  könne.  —  Zum  Schluss  lässt 
sich  Lemaire  der  Fürstin  noch  in  aller  Demut 
als  ihr  armer  Diener,  der  er  war,  empfehlen, 
was  er  nie  ohne  Tränen  wird  schreiben  können : 
denn  so  habe  ihn  das  Glück  in  ihrem  Dienste 
herumgejagt,  herumgezerrt,  herumgeschleppt  und 
herumgeworfen,  dass  er  nicht  begreife,  wie  er 
dem  entronnen  sei'. 

Es  hält  schwer,  bei  diesen  Ereignissen, 
welche  Lemaires  Bruch  mit  Margareta  herbei- 
führten, den  objektiven  Thatbestand  festzustellen ; 
denn  wir  hören  immer  nur  den  Dichter  allein, 
und  in  dessen  naiv  empfindsamer  Seele  ruft  der 
geringste  Vorfall  gleich  einen  hochwogenden 
Sturm  hervor.  Thatsächlich  hatte  Margareta  ihr 
Wohlwollen  nicht  ganz  von  ihm  abgezogen;  sie 
nahm  ihm  den  letzten  Brief  nicht  übel  und  Hess 

'  Lemaire  an  Margareta,  Blois,  den  28.  März  1512.  Oeuvres 
IV,  419.  Ob  Lemaire  1511  oder  12  geschrieben  hat,  ist  gleich- 
gültig, es  ist  offenbar  1512  neuen  Stils  zu  lesen,  da  der  28.  März 
auf  einen  Sonntag  liel. 


-    209    — 

durch  Raran^ier  crwicdern,  er  möchte  der  Küni- 
üin  von  Frankreich  ebenso  treu  dienen,  als  er 
ihr  ^ethan.  Dies  ermunterte  Lemaire,  noch  ein- 
mal an  sie  zu  schreiben,  um  ihr  zu  danken  und 
die  Versicherung  zu  geben,  dass  er  ihrer  fUrder- 
hin  in  seinen  Schriften  stets  mit  der  schuldigen 
Verehrung  und  Bewunderung  gedenken  werde. 
Anna  schickte  ihn  nach  der  Bretagne,  um  die, 
Chronik  ihres  Hauses  zusammenzustellen,  er 
sollte  in  den  alten  Klöstern  und  Schlössern  das 
Material  dazu  sammeln ;  bei  dieser  neuen  Arbeit 
würde  unfehlbar  seine  frühere  Herrin  auch 
Erwähnung  finden.  Zum  letzten  Male  erstattet 
er  ihr  Bericht  über  die  nunmehr  fertig  gestellten 
Modelle:  Frant;ois  Coulombe,  der  eine  Xefte 
des  alten  Meisters ,  war  gestorben ,  an  seiner 
Statt  hatte  Perreal  die  nötigen  Malerarbeiten 
übernommen.  Noch  einmal  bittet  Lemaire  um 
sein  Gehalt,  das  ja  für  die  Fürstin  wenig,  für 
ihn  aber  viel  bedeute;  als  letzte  Gnade  ersucht 
er  sie,  ihm  die  Oberaufsicht  der  Alabasterbrüche 
zu  lassen,  es  wäre  für  ihn  ein  kleines  Ein- 
kommen, ohne  dass  es  sie  etwas  kostete.  Ob  er 
auch  im  hintersten  Winkel  der  Bretagne  wohnen 
sollte ,  kein  Jahr  würde  er  es  versäumen ,  ihre 
Gebäude  in  Brou,  die  er  mit  so  grosser  Sorg- 
falt verw^altet  hatte,  einmal  zu  besuchen,  wenn 
sie  ihm  die  freundliche  Erlaubniss  dazu  gäbe. 
Da  Margareta  einen  neuen  Indiziarius  ernannt 
hatte,   den  Burgunder  Remi  du  Fuy,   stellt  ihr 

Becker,  Jean  Lemaire.  14 


—    210    — 

Lemaire  seine  zeitgeschichtlichen  Sammlungen 
und  Arbeiten  zur  Verfügung,  sie  könnten  seinem 
Nachfolger  von  Nutzen  sein,  er  würde  sie  aber 
nur  in  ihre  Hände  abgeben.  Dem  Briefe  legte  er 
auch  die  24  Strophen  über  die  Genesung  der 
Königin  bei'.  —  Das  ist  der  letzte  Brief,  den 
Lemaire  unseres  Wissens  an  Margareta  richtete. 
Ob  er  sein  Gehalt  noch  erhielt  und  die  Ober- 
aufsicht über  die  Brüche  weiter  führte,  ist  uns 
nicht  bekannt.  Der  Abschied  aber  klang  wenig- 
stens in  einen  versöhnlicheren  Ton  aus. 

Lemaires  Austritt  aus  dem  Dienste  Marga- 
retas  hatte  noch  ein  Nachspiel,  dessen  wir  in 
Kürze  gedenken  müssen.  Sei  es  dass  der  Krieg, 
der  zwischen  Frankreich  und  ihrem  Vater  ent- 
brannte, sie  veranlasste,  die  französischen  Künst- 
ler womöglich  durch  einheimische  zu  ersetzen, 
sei  es  dass  sie  gegen  Perreal  persönlich  erzürnt 
war,  weil  auf  ihn  der  Verdacht  gelenkt  wurde, 
er  habe  ihr  Lemaire  abspenstig  gemacht,  jeden- 
falls blieb  der  Lyoner  Maler  nicht  mehr  lang  in 
ihrem  Dienst.  Schon  am  20.  Juli  spricht  er  die 
Befürchtung  aus,  man  sei  seiner  müde  vielleicht 
wegen  irgend  einer  Angeberei,  und  in  seinem 
letzten  Briefe  spricht  er  von  Lemaire  in  einem 
Tone  der  Gereiztheit,  die  der  offene,  redliche 
Hennegauer  sicherlich  nicht  um  ihn  verdient 
hatte.    Jean   Lemaire,    sagt    er,    habe   ihm   mit 


*  Lemaire  an  Marjjfaictu,  Blois  den  14.  Mai  lölL'.     Oeiu  i 
IV,  423. 


—    211    — 

Prügel,  ja  mit  Todschlag  gedroht,  weil  er  ihm 
seine  Geburt  und  Erziehung  vorgehalten  hatte 
und  die  Güte  seiner  Beschützerin,  eben  der  hohen 
Frau,  die  ihn  aus  Lausigkeit  und  Armut  gezogen 
und  emporgelioben  habe,  so  dass  jeder  nun 
Avisse,  was  an  ihm  wäre,  und  er  nach  der  Bre- 
tagne übergesiedelt  sei,  weil  Jedermann  ihn 
brandmarke. 

Perreals  letzte  Briefe  an  Margarela  sind  in 
einem  Tone  des  Trotzes  geschrieben,  der  stark 
an  Dreistigkeit  streift.    Offenbar  fühlte  er  sich 
stark  in  dem  Bewusstsein,  dass  er  für  die  Fürstin 
mehr  gethan,  als  er  Lohn  dafür  erhalten  hatte. 
„Gnädigste   Frau,   schreibt   er,   wenn   Sie 
Avohl  geruhten,  mir  die  Freude  zu  geben,  mir 
zu  befehlen,  dass  ich  davon  abstehen  soll,  Ihnen 
fürderhin  zu  schreiben,  und  es  Ihnen  so  gefiele 
so  würde  ich  mich  geduldig  fügen,  auch  wider 
meinen  Willen.  Und  es  wird  mir  ewig  Schmerz 
bereiten,  die  Liebe  einer  solchen  Herrin  ver- 
loren zu  haben,  die  ich  Zeit  meines  Lebens 
geliebt  habe  und  lieben  werde,  wie  wenig  es 
mir  auch  einträgt. 

„Nun  denn,  gnädigste  Frau,  bitte  ich  Sie 
um  Gottes  Ehre  willen,  Sie  möchten  mir  be- 
fehlen, dass  ich  schweigen  soll,  oder  dass  ich 
Ihr  Diener  bin,  denn  an  den  Gütern  der  Welt 
ist  mir  nichts  gelegen. 

„Aber  ich  bitte  Gott,  er  möge  Ihnen  Gesund- 
heit und  langes  Leben  geben  und  Ihnen  und 


—    212    — 

Ihren  Tagen  Frieden.  Indem  ich  Sie  flehentlich 
ersuche,   mir   durch  den  Ueberbringer  Ihren 
gnädigsten  Willen  zu  wissen  zu  thun'." 
So  hatte  denn  auch  dieses  Band  der  Freund- 
schaft,  das  Lemaire   durch  so  viele  Jahre  ge- 
leitet  hatte,    den   Stürmen   der  letzten   Monate 
nicht  Stand  zu  halten  vermocht. 

XIV. 

Der  gesellschaftliche  Kreis,  den  Anna  \on 
Bretagne  um  sich  vereinigte,  war  wohl  geeignet, 
einen  Dichter  durch  seine  Verlockungen  an  sich 
zu  ziehen.  Die  Königin  unterhielt  einen  glänzenden 
Hofstaat;  sie  umgab  sich  mit  einem  Gefolge  von 
Frauen  und  Mädchen  vornehmer  Abkunft,  denen 
sie  durch  ihr  Beispiel  Sinn  und  Liebe  für  Zucht 
und  Ehrbarkeit  einflösste;  die  Sittsamkeit,  der 
geistreiche  Ton,  der  gesellschafthche  Anstand, 
die  in  ihrem  Kreise  herrschten,  waren  in  ganz 
Europa  berühmt.  Als  souveräne  Herzogin  hielt 
sie  ausser  ihren  ständigen  Kammerherren 
noch  eine  Schaar  von  hundert  bretagnischen 
Edelleuten  um  sich.  Kunst  und  Wissenschaft 
fanden  in  ihr  eine  einsichtige  Beschützerin.  Sie 
selbst  hatte  eine  vorzügliche  Erziehung  genossen. 
Lateinisch  und  Griechisch  waren  ihr  nicht  fremd. 
Sie  blieb  stets  den  Künstlern  und  Dichtern  ge- 
wogen.   Jean  Meschinot   war  ein  alter  Diener 


'  Perreal  an  Margareta,  Blois  den  2(i.  Juli  und  den  17.  Ok- 
tober 1512.    Oeures  IV,  387.  389. 


213 


ihres  Hauses  gewesen.  Jean  Marot  nannte  sich 
ihren  Hofdichter,  ihre  Geheimschreiber  waren 
Faiistus  Andrclinus  und  Andr}'  de  la  Vigne, 
jener  als  lateinischer,  dieser  als  französischer 
Poet  bekannt,  die  Musiker  Pregent  Jagu  und 
Ivon  Le  Brun  standen  in  ihrem  Dienste,  Durch 
Vereinigung  der  Bibliothek  ihres  Vaters  und 
der  aus  Italien  nach  Paris  geschafften  Bände 
hatte  sie  eine  stattliche  Bücherei  gebildet;  sie 
hegte  eine  besondere  Vorliebe  für  Prachthand- 
schrilten,  besass  eine  schöne  Sammlung  von  Oel- 
gernälden  und  teilte  die  Lust  ihrer  Zeit  an  kost- 
barer Ausstattung,  wertvollen  Tapeten  und 
reichem  Gold-  und  Silberschmuck.  Ein  herrliches 
Denkmal  ihres  Kunstsinnes  ist  das  Grabmal,  das 
sie  für  ihren  Vater  in  Nantes  errichten  Hess. 
Wenn  Margareta  von  Oesterreich  der  Königin 
Anna  an  persönlicher  Begabung,  an  politischer 
Einsicht  und  Charaktertiefe  überlegen  sein 
mochte,  der  Glanz  des  Hofes  von  Blois  blieb 
unübertroffen '. 

In  Blois  wollte  also  Lemaire  noch  einmal 
das  glcissendc  Glück  des  Hoflebens  versuchen. 
Der  entgegenkommende  Empfang,  den  er  fand, 
berechtigte  ihn  zu  grösseren  Hoffnungen.  „Die 
Königin,  meine  edle  Herrin,  die  mir  so  viel 
Gutes  erweist",  so  schrieb  er  am  28.  März. 
Jugendlicher  Eifer  erfüllte  ihn  für  ihren  Dienst; 


'  Vgl.  Lcroux  de  Lincy,    AnriL'    de   Bretagne.   Paris   18(i<i. 
4  vol.  r.'. 


—    214    — 

nach  den  Erfahrungen  der  Vergangenheit  konnte 
er  sich  aber  nicht  verhehlen,  dass  er  sein  Lebens- 
glück auf  den  Zufall  eines  glücklichen  Wurfs 
gesetzt  hatte.  Gelang  er,  so  durfte  er  auf  allge- 
meine Billigung  seines  Schrittes  rechnen;  ging 
der  Versuch  fehl,  so  war  alle  Hoffnung  zu 
Schanden.  Diese  Empfindungen  spricht  er  in 
dem  Doppel-Virela}-  aus,  mit  dem  er  sich  dem 
Kreise  der  Hofdichter  zum  Willkomm  empfahl : 

Haultaiiis  esprits  du  graiid  royal  poiirpvis 
Je  suis  espris  par  nioiivementB  certaitis 
De  hien  servir  la  Royne  de  hault  pris  . 
Sej'y  attaings  par  grand  laheiirs  loingtains, .. 
Oll  dira  lors  qiie  hien  l'ay  cntrepris. 
Et  qiie  j'aiiray  d'auciin  hien  nies  sacqs  plains. 

J'ay  hon  vouloir,  niais  j'ay  peiir  d'estre  pris 
Ainsi  qu'en  treuve  une  jarbe  sans  grains. 
J'ay  ma  deesse  et  l'aynie,  honneure  et  crains. 
Se  j'ay  du  bien,  vous  y  seres  conipris; 
S'autrenient  va,  tous  nies  biens  sont  restrains, 
Douleur  m'assault,  desespoir  et  despris 
Aides  nioy  doncq,  nobles  esprits  Jiaitltains^. 

Grund  zu  Besorgniss   mochte    der   Gesund- 
heitszustand der  Königin  geben.   Am  21.  Januar 


»  Oeuvres  IV,  331.  Der  sj?.  double  virelay  de  nouvelle 
taille  besteht  aus  zwei  symmetrisch  sich  entsprechenden  Ab- 
schnitten von  12  Zehnsilbern  mit  der  Reimfolge  (a)a(a)ba(a)ab 
(b)baababa,  resp.  (b)b(b)ab(b)baabbabab.  Die  erste  Haihzeile 
wird  am  Schluss  des  betreffenden  Abschnitts  wiederholt. 


-    215    - 

war  sie-  mit  einem  Knaben  niedergekommen,  der 
nicht  am  Leben  blieb.  Kaum  hatte  der  kaiser- 
liche Gesante  ihre  vollständige  Herstellung  ge- 
meldet, als  sie  in  der  Nacht  vom  27.  auf  den 
2S.  März  von  einem  so  heftigen  Fieber  befallen 
wurde,  dass  man  mehrere  Tage  an  ihrem  Auf- 
kommen verzweifelte.  Die  überraschende  Besser- 
ung erschien  wie  ein  Wunder.  Aus  Anlass  dieser 
Erkrankung  der  Königin  dichtete  Lemaire  die 
XXIV  Couplets  de  In  valitute  et  de  la  convales- 
cence  de  la  Royne,  ein  Gebet,  das  der  Dichter 
wie  eine  Art  Wechselgesang  den  allegorischen 
Erscheinungen  von  Frankreich  und  Bretagne 
in  den  Mund  legt.  Gott,  die  Jungfrau  und  die 
Heiligen  werden  angerufen,  alle  Menschen,  Mann 
und  Weib,  Jung  und  Alt,  selbst  die  Natur  soll 
an  der  Trauer  des  Königs  teilnehmen. 

Fratice: 
Vrai  Dien  du  ciel,  piiissant  Dien  de  iiatKre, 
Dien  qiii  foriiias  l'hiimaiiie  ereature 
A  tu  seniblance  digne, 
Escoute  inoy,  par  tu  grace  benigne  : 
Cur  niise  suis  en  grand  dcsconfitnre 
Et  niortelle  ruine, 
Si  ton  soleil  (ä  ina  bonnc  aventure) 
N'esclarcist  nni  brnine. 

B  r  e  t  a  i  g  n  e  : 
O  inon  vniy  Dien,  dont  le  ponvoir  ne  Jine, 
Dien  qui  resplends  en  Vordre  serapliine 


-    216    - 

Sur  tonte  essence  pure, 

Las  prends  de  iiioy  mijoiird'huy  soiug  et  eure: 

Oll  aiitrement  tont  bieii  de  nioi  decline, 

Et  faiidra  qiie  j'endnre 

Taus  les  malheiirs,  que  de  faire  est  encline 

La  Mort  cruelle  et  diire. 

France: 
Votre  roy  pleure,  ö  noble  sang  de  France, 
D'nn  cöeiir  pitenx,  de  loyalle  sonffrance, 
Perc^  de  diieil,  au  vif  et  ä  oultrance, 
Seconres  le,  soyes  luy  conipassibles. 
Sa  fille  aisnee  en  ha  tel  desplaisance 
Comnie  eile  doit  par  naturelle  Usance, 
L'autre  fort  jeiine  est  encore  en  enfance, 
Qni  ne  cognoit  les  meschefs  tant  nuisibles. 

Bretaigne: 
Ha  francs  Bretons,  par  tous  nioyens  possibles 
Veilles  en  pleurs  et  larmes  indicibles: 
Ne  ne  soyes  joyeiix,  gays  ne  risibles: 
Tant  que  sachies  que  soit  ä  delivrance 
Vostrc  Princesse,  ayant  douleurs  sensibles, 
Aux  medecins  du  tout  incognoissibles, 
Mais  ä  Dien  seid  cogniies  et  visibles, 
Qiii  donner  peut  salut  et  recouvrance. 

Fr  ance: 
Despouille  toy  de  fleurs  et  de  verdure, 
Si  cecy  durc. 

Et  prens  noire  vesture, 
Printemps  nouvel  entrant  au  nioys  de  Mars. 


—    217    ~ 

7><>/)  luüi'oiis  iioiis  tu  verde  ßonvitiirc, 
Si  ia  Jiiiii)  c 

Ha  si  niaiivais.  (iiiii/irc, 
Qii'a  ton  vctiir  Mort  )ions  jettc  ses  diirs. 

Br  etaig  }iv: 
Ne  chaiitcs  plus,  votis  oiselets  i'spars, 
De  toutes  pars, 

Laisse.?  vos  chants  gaillards, 
Si  lanii'ute;-  cn  tres  piteitx  inurniure, 
Jns(]iics  ä  taut  quo  jcuncs  et  vieillayds, 
Pasteuys  en  parcs, 

Geiidarmes  et  soiildars, 
Ne  doiiteut  plus  ceste  tnortelle  itijitye. 

So  beteten  die  beiden  Frauen ;  die  wunderbare 
Rettung  der  Königin  bewirkte,  wenn  wir  dem 
Nachworte  glauben,  Ludwig,  indem  er  sich  in 
seiner  Eigenschaft  als  allerchristlichster  König 
an  den  Himmel  wendete'. 

Ludwigs  des  XII.  Ehe  war  ohne  lebende 
männliche  Nachkommen  geblieben ;  seine  älteste 
Tochter  Klaudia  war  seit  ihrem  siebten  Leben.s- 


'  Ouvrcs  III.  M<).  —  Die  L'4  Coiiplcls  'ditil'crcns  cn  resonance 
harmonicuse' cmsprcchcn  sich  abwechselnd,  so  dass  die  {reradcn 
jeweils  die  beiden  Reime  der  unjreraden  in  umgekehrter  Ord- 
nung;" wiederholen.  Die  8  ersten  bestehen  aus  .ö  Zchnsilbern 
und  drei  Sechssilbern  gruppiert  wie  folgt  aa^'ab'^a'^.  Die  nächsten  8 
sind  acht/eilige  Zehnsilberstrophen:  aaabaaab.  Die  letzten  8  sind 
sechszeiligc  Zchnsilberstrophen  mit  Binnenreim:  a(a)aba(a)ab ; 
man  könnte  sie  auch  als  achtzeilige  hetcrometrische  Strophen 
betrachten.  In  den  ersten  Strophen  ist  der  Reim  weiblich. 
Str.  11,  IL',  IT),  1()  milnnlich.  In  den  letzten  wechselt  das  Reim- 
geschlccht. 


—    218    — 

jähre  mit  Franz  von  Augouleme  verlobt,  der  in 
Ermangelung  direkter  männlicher  Erben  Thron- 
folger war.  Die  Vermälung  des  jungen  Paares 
wurde  durch  den  Willen  der  Königin  noch  ver- 
zögert. An  die  junge  Prinzessin  scheint  sich 
das  Rondeau  zu  richten,  das  in  einer  Handschrift 
von  Blois  mit  Lemaires  Namensunterschrift  er- 
halten ist : 

Fletir  fleiirissaiit,  nymphe  claire  et  jolye. 
Fleurant  Flora,  helle  Aurora  polye, 
Blanche  Herniyonne  aux  yeux  ryans  et  vers, 
Oh  ne  saurait  reciter  par  nuls  vers 
La  grand  heaiiti  qiii  en  vous  se  relye. 

L'ardant  Phebits  envers  vous  s'huniilye, 
Car  vostre  amour  trop  plus  le  scrre  et  lye 
Que  de  Daphni  doiit  sortent  lauriers  vers, 
Fleur  fleurissant. 

Amour    aussi  vous  requiert  et  supplye 
Qu'ä  son  desir  vostre  gent  cueur  se  plye 
Sans  avoir  pcur  de  ses  dards  st  divers; 
Et  Jupiter  ses  hauts  cieux  tient  ouvers 
Pour  mieulx  choisir  vostre  forme  acomplyc, 
Fleur  ßeurissautK 

Wir  haben  hier  die  ausgebildete  Hofmy- 
thologie, welche  nicht  erst  die  Plejade  erfunden 
hat :  Jupiter,  der  König,  erscheint  in  seinem  be- 


1  Oeuvres  IV,  347.    Nach   der   Hs.   Bibl.  nat.   ms.   fr.   1721 
fo  22.  Das  Rondeau  hat  die  moderne  Form:  aabba.aab.-.aabba.-. 


—    '2V)    — 

rechtigten  Valerstulz ;  IMiocbu^,  der  nächst- 
stehende unter  den  oberen  Göttern,  legt  seine 
Liebe  der  blühenden  Blume,  dem  jungfräu- 
lichen Sprössling  des  kciniglichen  Paares,  zu 
Füssen,  und  Amor  selbst  bittet  sie,  diese  Liebe 
y.u  erwiedern. 

Im  königlichen  Schlosse  zu  Blois  wird 
Lemaire  vor  allem  den  Umgang  der  Dichter  des 
Hofkreises  gesucht  haben.  Damals  machte  eben 
der  fünfzehnjährige  Sohn  des  Hofdichters  Jean 
Marot  seine  ersten  metrischen  \''ersuche.  Mit 
einer  Uebersctzung  der  ersten  Virgilschen  Ekloge 
trat  der  jugendliche  Reimschmied  vor  den  ge- 
reiften und  ruhmgekrönten  Meister.  Ob  Lemaire 
in  dem  stellenweise  etwas  verschwommenen 
Erstling  schon  jene  spielende  Anmut  und  leicht- 
llüssige  Sprache,  durch  welche  Clement  Marot 
bald  seine  Vorgänger  überstrahlen  sollte,  er- 
kannte, wissen  wir  nicht.  Doch  musste  ihn, 
dünkt  mich,  den  idyllischen  Sänger  des  grünen 
Liebhabers,  der  bukolische  Ton  sympatisch  an- 
sprechen, er  konnte  einen  begabten  Schüler  an 
Versen  wie  die  folgenden  nicht  verkennen : 

HcurcHX  vicillani ,    dcsoniiuis  cii  ccs  pnrs, 
Entrc  niisscaitx  et  fontaiiies  sacrces, 
A  ton  pluisir  tu  tc  rafraischiras; 
Cur  d'iiH  costi'  joiguant  de  tov  aiiras 
La  gyant  clostiirc  d'iinc  saiilsayc  espcssc, 
La  oh  viendront  mattger  la  fleur  saus  cesse 


—    220    — 

Mouches  ä  miel,  qiii  de  leiir  hruyt  tant  doiilx 

Tinciteront  ä  dorinir  toiis  les  coups. 

De  l'autre  pari,  sur  im  hault  roc  sera 

Le  i'ossignol  qui  en  l'air  chantera. 

Mais  cependant  la  palombe  enrouee, 

La  tourtre  aussi,  de  chastetö  louee, 

Ne  laisseront  de  geniir  saus  se  taire 

Siis  im  gvand  ornie,  et  tont  ponr  te  complaire^. 

"Wahrscheinlich  fiel  Lemaires  Urteil  mild  und 
ermunternd  aus.  Am  Versbau  aber  fand  er 
eines  zu  tadeln :  der  junge  Kadurzäer  gebrauchte 
noch  die  weibliche  Caesur  mit  überschüssiger 
unbetonter  Silbe;  diese  verwies  ihm  Lemaire, 
wie  Marot  in  der  Vorrede  der  Adolescence  Cle- 
mentine  erzählt,  und  belehrte  ihn  eines  bessern'-^. 
In  der  That  vermied  Marot  von  da  an  diese  Art 
der  Cäsur  und  merzte  in  den  späteren  Ausgaben 
seiner  Werke  die  wenigen,  die  er  früher  zu- 
gelassen, allmälig  aus. 

Clement  Marot  hat  es  sich  stets  zur  Ehre 
angerechnet,  Lemaires  Schüler  zu  sein.  Wer 
sieht,  mit  welcher  Innigkeit  er  stets  von  'seinem 
Jean  Lemaire'  spricht,  der  wird  die  Ueber- 
zeugung  teilen,  dass  der  königliche  Indiziarius 
ihn  nicht  blos  auf  gewisse  technische  Feinheiten 
aufmerksam  gemacht  hat,  sondern  ihm  mit  der 
Wärme    eines    väterlichen    Gemüts    entgegen- 


'  Premiere  cglogue  de  Virgile,  Oeuvres   de  Cl.  Marot  «Jd. 
Janet  III,  121. 

•i  Pr^face  d  1'  Adolescence  C16mentine  1Ö31.'.  öd.  Janet  IV.  189. 


—    221    — 

ockommen  sein  muss".  Wer  aber  wissen  will, 
welchen  Einlhiss  Lcmaire  auf  seinen  junj^cn 
Schüler  ausgeübt  hat,  der  vergleiche  dessen 
Tempel  Cupidos  mit  dem  Venustempel  in  der 
Concorde  des  deux  langages  und  beachte  die 
Anspielungen,  wie  die  auf  das  herrliche  Thal, 
wo  der  junge  Hirte  Paris  um  die  Liebe  der 
schönäugigcn  Pegasis  flehte,  oder  auf  die  Pracht 
des  Göttcrmales  auf  dem  Berge  Pelion^. 

Während  der  Tage  von  Bleis  dachte  Lemairc 
auch  wieder  an  seine  Illustrations  de  Gaule, 
welche  über  die  Ereignisse  der  letzten  Monate 
vernachlässigt  worden  waren.  Am  1.  Mai  erhielt 
er  das  königliche  Privileg  für  den  Druck  und 
widmete  das  zweite  Buch  im  Namen  Merkurs 
der  jungen  Erbin  der  Bretagne,  Klaudia  von 
Frankreich,  als  ein  Geschenk  der  Göttin  Venus, 
nicht  jener  Gc)ttin ,  welche  Paris  bestrickte, 
sondern  der  Venus,  welche  den  Herzen  der 
Frauen  und  Mütter  Liebe  zur  Ehrbarkeit  ein- 
llösst  und  ihnen  die  Macht  verleiht,  durch  ihre 
sanfte  Uebcrredungsgabe  und  edle  Haltung  den 
flatterhaften  Sinn  der  Männer  zu  fesseln. 

Vierzehn  Tage  später  meldete  Lemaire  seiner 
früheren  Herrin ,  dass  die  Königin  ihn  nach 
ihrem  Stammlande,  der  Bretagne,  schicke,  mit 
dem  Auftrage,  in  den  alten  Klöstern  und  Schloss- 

'  Complainte  V,  öd.Janet  II.  270.  cf.  Epifframmc  CLXXV. 
Od.  Janet  III,  71.  —  S.  Stecher,  Oeuvres  LXXVI.  sqq. 

-  Tcmplc  de  Cupido  (1514)  ^d.  Janet  1, 11'.  —  Rondeau  XXXIII. 
(LMK))  ^d.  Janet  II,  l-i:>. 


archiven  das  Material  zu  einer  Geschichte  ihres 
Hauses  zu  sammeln,  ein  Werk,  das  noch  ver- 
misst  wurde.  Bald  darauf  wird  er  sich  an  den 
Ort  seiner  neuen  Wirksamkeit  begeben  haben. 
Dort  vollendete  er  im  Dezember  das  dritte  Buch 
seines  grossen  Werkes '. 

XV. 

Das  sweite  Buch  der  Illustrations  de  Gaule 
schliesst  sich  auf  das  engste  an  das  erste  an. 
Es  bildet  den  anderen  Teil  des  Romans  von 
Paris,  seinen  tragischen  Abschluss.  Mit  dem 
Raube  der  Helena  geht  das  Verhängniss  in  Er- 
füllung: die  buhlerische  Griechin  verdrängt  die 
verschmähte  Jugendgeliebte  und  beschwört  den 
Untergang  Trojas  und  des  stolzen  Geschlechtes 
der  Priamiden  herauf.  Paris,  Helena  und  Oenone 
bleiben  die  Hauptfiguren  und  heben  sich  in 
schärferer  Beleuchtung  vom  bewegten  Hinter- 
grund des  grossen  Völkerkrieges  ab. 

Antenor,  der  die  Festgäste  geleitete,  hatte 
den  Nebenauftrag  gehabt,  die  von  Herkules  ge- 
raubte und  von  Telamon  in  unebenbürtiger 
Stellung  zurückgehaltene  Schwester  Priams, 
Hesione,  zurückzufordern,  er  hatte  aber  blos 
abweisende  Antworten  erhalten.  Im  Rate  der 
königlichen  Prinzen  tritt  jetzt  Paris  mit  seinen 


1  Widmung  des  2.  Buches  des  Illustrations,  Oeuvres  II,  1. 
Lcmaires  Brief  an  Margareta  vom  14.  Mai  1512.  Oeuvres  IV,  424.  cf. 
Pcrreals  Bemerkung-  vom  17.  Oktober  Oeuvres  IV,  390.  Schluss 
t'es  3.  Buches  der  Illustrations,  Oeuvres  II,  47."). 


>)>r^     

w.iiihalsigen  Vorschläj^cn  hcrxor,  und  Hol/  dtr 
Warnungen  der  Scher  IHsst  sich  Alles  durch 
die  hochherzige  Kühnheit  und  Unternehmungslust 
des  Jünglings  bestricken.  Grosse  Vorbereitungen 
werden  eilends  getroffen,  und  nach  einem  trau- 
rigen Abschiede  von  Oenone  sticht  Paris  mit 
dem  kleinen  Geschwader  in  die  hohe  See. 

Die  Fart  ging  nach  Sparta,  wo  Helena  als 
glückliche  Gattin  des  Königs  Menelaus  lebte. 
Die  Geschichte  ihrer  Ahnen ,  ihre  Entführung 
als  Kind  durch  Theseus,  ihre  Umwerbung  durch 
die  Schaar  der  griechischen  Fürsten,  die  eigene 
Wahl  des  Gemals,  die  ganze  Vorgeschichte,  die 
Lemaire  nach  verschiedenen  Quellen  erzählt, 
bilden  für  sie  eine  bewegte  Vergangenheit, 
namentlich  da  der  Dichter  die  mythologischen 
Erzählungen  wieder  razionalistisch  auslegt.  Wie 
sehr  er  sich  bemüht,  der  schönen  Griechin  gerecht 
zu  werden,  seine  Zweifel  und  Bedenken  und 
überhaupt  sein  Befremden  über  die  Sitten  der 
heroischen  Zeit  vermag  der  redliche  Hennegauer 
nicht  zu  verbergen.  So  werden  wir  auf  den 
Empfang,  den  Paris  findet,  wie  er  als  vorgeblicher 
Gesanter  in  Lacedaemon  landet,  vorbereitet.  Mit 
einer  Gutmütigkeit,  die  an  Blindheit  grenzt, 
nimmt  Menelaus  die  fremden  Gäste  auf  und  stellt 
sie  seiner  Gattin  vor,  die  schon  beim  ersten 
Anblick  des  schtmen  Paris  den  Funken  der  Liebe 
verspürt  hat.  Rasch  entbrennt  die  gegenseitige 
Neigung  und  weiss  sich  bald  in  Blicken,  ver- 


—    224    — 

kappten  Worten  und  Zeichen  zu  erkennen  zu 
geben.  Der  Gatte  allein  merkt  Nichts.  Eine  Erb- 
schaftsteilung ruft  ihn  nach  Kreta;  die  Briefe, 
welche  die  Verliebten  in  seiner  Abwesenheit 
wechseln  (vgl.  Ovids  Herolden) ,  sind  nur  ein 
Vorspiel  der  gewaltsamen  Entführung.  Sparta 
in  Blut  und  Flammen  hinter  sich  lassend,  feiern 
die  ehebrecherischen  Buhlen  ihre  Brautnacht 
auf  Cx'therea,  von  den  Fackeln  der  Eumeniden 
beleuchtet  und  vom  Geheul  der  Nachtvögel 
gewiegt.  Das  ist  der  unselige  Wendepunkt  in 
Paris'  Leben:  mit  allem  Glänze  der  Redekunst 
hat  Lemaire  die  Erzählung  geschmückt,  um 
ihre  Bedeutung  recht  hervortreten  zu  lassen. 
Als  Schüler  der  Römer  und  der  niederländischen 
Rhetoriker  hat  er  die  Gelegenheit  nicht  ent- 
gehen lassen,  viele  schön  stilisierte  Reden  in 
die  Handlung  einzuflechten. 

Natürlicher  und  ansprechender  wird  der  Ton, 
sobald  wir  zu  Oenone  zurückkehren :  die  Arme, 
die  Nichts  ahnte  von  den  Plänen  ihres  Gatten, 
die  sich  durch  die  dunkeln  Reden  Kassandras 
kaum  beunruhigen  Hess,  sie  muss  jetzt  durch 
die  Abgesanten  der  Griechen  die  Vorfälle  in 
Sparta  hören,  sie  muss  sehen,  wie  der  Treulose, 
dem  sie  entgegeneilt,  auf  dem  Vorderdecke  des 
Schiffes  stolz  einherfährt,  die  falsche  Griechin 
auf  dem  Schosse,  nachdem  er  seine  Heimkehr 
mit  weiteren  Greuelthaten  befleckt  hat.  An  der 
Stätte  ihres  Jugendglückes  verbirgt  die  Trost- 


k 


—    '225    -^ 

lose  ihren  Gram,  der  Einsamkeit  des  Idagebirges 
ihre  Klagen  anvertrauend.  Wörtlich  übersetzt 
Lemaire  an  dieser  Stelle  Ovids  fünfte  Heroide, 
deren  naive  Wiedergabe  zu  den  anmutigsten 
Seiten  dieses  Abschnittes  gehört. 

Der  auffallende  Gegensatz  in  der  Behandlung 
der  beiden  Teile  des  Romans  beruht  im  tieferen 
Grunde  auf  der  Stellung,  die  der  Dichter  über- 
haupt zu  den  handelnden  Personen  einnimmt. 
Lemaires  Anlage,  sein  stetes  Bestreben  zielen 
auf  eine  objektiv-plastische  Darstellung;  aber 
blos  in  künstlerischer  Hinsicht  übt  er  die  volle 
Selbstcntäusserung,  in  der  moralischen  Beur- 
teilung bleibt  er  subjektiv  befangen.  Daher  ver- 
senkt er  sich  blos  dann  ohne  Rückhalt  in  seinen 
Gegenstand,  wenn  er  ihm  seelenverwant  ist. 
Werden  die  tieferen  Saiten  seines  Herzens 
angeschlagen,  da  klingt  seine  ganze  Seele  mit, 
und  da  gelingt  es  ihm  auch  mit  einfacheren 
Mitteln  unsere  Teilnahme  zu  erregen.  W^ird  aber 
sein  Missfallen  geweckt  oder  glaubt  er  dem 
lehrhaften  Nebenzwecke  seines  Buches  zu  liebe 
seinen  Unwillen  äussern  zu  müssen,  so  hält  er 
sich  fremd  und  nimmt  seine  Zuflucht  zu  den 
äusseren  Mitteln  der  Rhetorik,  zu  Exclamationen, 
Apostrophen,  Aposiopesen  usf.  Er  verleiht  der 
Erzählung  an  Glanz,  was  er  ihr  an  Innigkeit 
nicht  zu  geben  vermag. 

Nicht  ein  Epos  schreibt  Lemaire,  sondern 
einen  Roman ;  nur  erweitert  sich  jetzt  das  Schau- 

Bccker,  lean  Lemaire.  l'» 


—    226    — 

spiel;  das  Schicksal  des  Einzelnen  ordnet  sich 
dem  Geschicke  der  Völker  unter.  Im  weiteren 
Verlauf  hält  sich  der  Verfasser  vorwiegend  an 
Dictys  von  Kreta,  den  er  in  frommem  Glauben 
als  Zeitgenossen  und  Augenzeugen  der  Ereig- 
nisse betrachtet.  Ihm  gefiel  dessen  Bericht 
besser,  weil  er  ihn  ausführlicher,  umfassender 
imd  zugleich  wahrscheinlicher  und  besser  geord- 
net fand.  Ueber  diese  Vorzüge  vernachlässigt 
er  aber  die  anderen  Gewährsmänner  wie  Dares, 
Herodot,  Thukydides  nicht;  häufig,  w^enn  ihre 
Angaben  sich  widersprechen,  lässt  er  sie  alle- 
sammt  zu  Worte  kommen,  ohne  den  Versuch 
zu  machen,  ihre  Aussagen  in  Einklang  zu  bringen 
oder  kritisch  gegen  einander  abzuwägen.  Auch 
der  Dichterfürst  Homer  ist  ihm  durch  die  latei- 
nische Uebersetzung  des  Laurentius  Valla 
bekannt;  der  Reiz  seiner  mit  poetischen  Blumen 
reich  geschmückten  Erzählung  hat  ihn  bewogen, 
den  Zweikampf  zwischen  Paris  und  Menelaus 
(II.  t'.  Teixo0KOTTia)  wörtlich  wiederzugeben,  pource 
qu'il  est  beau  et  delectable  et  sent  bien  son 
antiquite.  Der  Trieb  der  eigenen  Natur  musste 
Lemaire  zu  Homer  ziehen  mit  seiner  Fülle  von 
ausgeführten  Bildern,  mit  der  naiven  Behaglich- 
keit der  Erzählung  und  den  breiten  Reden.  Es 
ist  das  erste  Mal,  dass  ein  Stück  homerischer 
Poesie  in  französischer  Zunge  wiederklang. 

Die    wechselvollen    Ereignisse    des    trojani- 
schen Krieges  werden  in  kurzen  Abrissen  dar- 


227    — 

gestellt:  acht  Jdhre  dauern  die  Rüstunpfen,  im 
neunten  erst  landen  die  Griechen  in  Kleinasien, 
Achill  und  Ajax  verwüsten  die  umliegenden 
Landschaften,  der  Versuch,  Polydorus  gegen 
Helena  einzutauschen,  scheitert,  Achill  überwirft 
sich  mit  Agamemnon,  Paris  misst  sich  im  Ein- 
zelkampf mit  Menelaus,  während  des  Winters 
findet  Achills  Aussöhnung  statt,  er  verliebt 
sich  in  Polyxene;  im  Frühjahr  beginnt  der 
Kampf  von  frischem,  Patroklus  füllt,  Hektor 
wird  im  Hinterhalte  getötet,  Achill  lässt  sich  in 
Unterhandlungen  ein  und  wird  von  Paris  meuch- 
lings erstochen,  Paris  unterliegt  im  Einzelkample 
mit  Philoktet,  Troja  fällt  durch  List;  Helena, 
welche  Deiphobus  geheiratet  hatte,  gibt  den- 
selben verräterischer  Weise  preis  und  versöhnt 
sich  mit  ihrem  ersten  Gatten.  Hiermit  sind  die 
Wahrsagungen  in  Erfüllung  gegangen ;  die  Auf- 
gabe des  Dichters  ist  erfüllt.  Anhangsweise 
erzählt  er  blos  noch  die  weiteren  Schicksale 
Helenas  und  ihre  spätere  Verherrlichung  als 
Gottheit.  Das  ist  der  Verlauf  der  Erzählung. 
Nur  die  Szenen,  in  denen  Paris  oder  Helena 
eine  Rolle  spielen,  sind  weiter  ausgesponnen; 
besonders  rührend  ist  der  Tod  des  Helden  und 
dessen  tragisches  Nachspiel:  der  letzte  Wunsch 
des  tötlich  Getroffenen  scheint  es  gewesen  zu 
sein,  in  der  Nähe  der  ersten  Gemahlin,  der 
treulos  verlassenen  Oenone  begraben  zu  werden ; 
als  die  Unglückliche  das  hörte,   eilte  sie  dem 


—    228    — 

Toten  entgegen  und  unter  rührenden  Klagen 
brach  sie  über  der  Bahre  zusammen  und  gab 
ihren  Geist  in  den  Armen  des  Geliebten  auf. 

Im  Nachworte  des  zweiten  Buches  setzt  sich 
Lemaire  allen  Ernstes  mit  dem  Rhetor  Dion 
von  Prusias  auseinander,  dessen  Prunkrede  vom 
nicht  eroberten  Troja  neuerdings  in  das  Latei- 
nische übersetzt  worden  war.  Alle  Kampfmittel^ 
Ironie,  psychologische  Analyse,  die  Wucht  der 
Zeugnisse  und  Gewährsmänner  führt  er  gegen 
ihn  ins  Feld;  freilich  gegen  seine  Sprache,  die 
ganz  rein  oratorisch  ist,  findet  er  nichts  einzu- 
wenden. 

Damit  schliesst  der  Hauptteil  der  Illustrations 
de  Gaule  et  Singularitez  de  Troye,  welcher  die 
zweite  Hälfte  des  ersten  Buches  und  das  ganze 
zweite  umfasst.  Es  ist  der  Kern  des  ganzen 
Werkes,  die  einzige  Partie,  die  nach  einem  ein- 
heitlichen Gedanken  ausgearbeitet  ist.  Schalten 
wir  die  moralischen  Einschiebsel  und  die  Ver- 
suche einer  allegorischen  Deutung  als  fremde 
Zuthaten  aus,  so  bleibt  uns  eine  planvoll  ange- 
legte Erzählung,  deren  Ton  sich  getreu  dem 
Gegenstande  anschmiegt.  Vor  unseren  Augen 
entrollt  sich  in  wechselvollem  Spiele  ein  Lebens- 
bild von  der  Kindheit  bis  zum  Tode  und  hält 
uns  in  seinen  beiden  Phasen  eine  tiefe  Lehre 
entgegen  durch  das  Schauspiel  der  Leiden- 
schaften, die  uns  und  unsere  Umgebung  glück- 
lich  machen    oder   in    das    Verderben    stürzen 


—    229    — 

können.  Das  Verdienst  des  Verfassers  ist  nach 
seiner  eigenen  Ansicht  das,  die  geschichtliche 
Wahrheit  wieder  in  ihrer  Reinheit  hergestellt 
und  die  altüberlieferten  Irrtümer  Guido  Colon- 
nas  und  seiner  Nachahmer  in  Versen  und  in 
Prosa  ausgerottet  zu  haben.  Nunmehr  kann  sich 
Jedermann  zufrieden  geben,  denn  jetzt  kennt  er 
den  wahren  Verlauf  der  Ereignisse,  und  in 
Zukunft  werden  in  Malereien  und  Stickereien 
jene  bedauerlichen  Fehlgriffe,  die  aus  Unwissen- 
heit begangen  wurden,  nicht  mehr  vorkommen '. 

XVI. 

Nach  Lemaires  eigener  Angabe  sollten  die 
lllustrations  de  Gaule  zwei  Hauptteile  umfassen : 
der  erste,  der  nunmehr  abgeschlossen  vorlag, 
war  der  Geschichte  Trojas  gewidmet,  mit  Paris 
als  Haupthelden,  wie  Avir  sahen;  der  zweite 
sollte  die  einzelnen  Völkerstammsagen  und  in 
Sonderheit  die  Kämpfe  der  europäischen  Fürsten 
mit  den  Türken  um  die  kleinasiatischen  Stamm- 
lande enthalten;  das  war  der  Gegenstand  des 
dritten  Buches.  Zur  Zeit,  wo  die  beiden  ersten 
Bücher  ihren  Abschluss  fanden,  war  das  dritte 
entworfen  worden:  Lemaire  spricht  zum  ersten 
Male  davon  in  seinem  Bittgesuch  an  Margareta 
(1509);  im  Nachwort  des  ersten  Buches  heisst  es 
dann,  dasselbe  müsse  noch  gründlich  durch- 
gesehen, verbessert  und   erweitert   werden,  in 


>  lllustrations  de  Gaule  II,  Schluss.    Oeuvres  II,  244. 


™    230    - 

Anbeträcht  der  Wichtigkeit  und  Mannigfaltigkeit 
des  Inhalts'.  Als  nun  das  immer  sich  mehrende 
Material  hinlänglich  überarbeitet  war,  fand  sich, 
dass  die  Geschlechtssage  Karl  des  Grossen  allein 
Stoff  genug  für  einen  neuen  Band  bot.  Ausser 
dem  eigenen  Wissenstrieb  hatte  jedenfalls  das 
Interesse,  das  die  fürstlichen  Gönner  dem  Gegen- 
stand entgegenbrachten,  den  Verfasser  ange- 
spornt, sich  bohrender  in  die  genealogischen 
Fragen  zu  vertiefen. 

Gienge  Lemaire  nicht  mit  dem  vom  Mittel- 
alter ererbten  naiven  Kinderglauben  an  das 
Werk,  so  müsste  man  das  dritte  Buch  der 
lUustrations ,  was  Zusammentragen  der  That- 
sachen  und  Auffinden  von  Quellen  anbelangt, 
als  eine  ernste  historische  Leistung  anerkennen ; 
denn  er  hat  wirklich  keine  Mühe  der  Forschung 
gescheut,  um  gründlich  unterrichtet  zu  sein ; 
keine  Gelegenheit  hat  er  vorbeigehen  lassen, 
sich  alte  Handschriften,  neuerscheinende  Bücher, 
Inschriften,  mündliche  Unterweisung,  wo  er  sie 
finden  konnte,  zu  Nutzen  zu  machen ;  wo  es  Not 
that,  hat  er  mit  geistreichen  Vermutungen  die 
Wiedersprüche  der  Ueberlieferung  zu  lösen  ver- 
sucht. Nichtsdestoweniger  bleibt  seine  Stamm- 
geschichte des  fränkischen  Karolingerhauses 
eine  bunte  Märchensammlung.  Ja,  auf  den  ersten 

1  Cf.  Oeuvres  IV,  395.  1 ,  348.  —  Im  Briefe  an  Leclerc 
(15.  Febr.  1508)  Oeuvres  IV,  321.  ist  erst  von  zwei  Büchern 
die  Rede.  Auch  die  Quellen,  die  Lemaire  benutzt  hat,  zeigen, 
dass  die  Ausarbeitung  hauptsächlich  nach  1507  erfolgte. 


-    231    - 

Anblick  scheint  das  Buch  noch  wirrer,  als  es 
thatsächlich  ist,  weil  die  Einheitlichkeit  in  jeder 
Hinsicht  fehlt:  hier  haben  wir  trockene  Stamm- 
bäume, dort  ruhige,  breite  Erzählung,  dazwischen 
gelehrte  Erörterungen  und  geographische  Ex- 
kurse. Indessen,  wenn  wir  die  deutlich  erkenn- 
baren jüngeren  Schichten  abheben,  so  lUsst  sich 
der  Aul  bau  des  Grundbestandes  leicht  durch- 
schauen. 

Das  dritte  Buch  der  Illustratioiis  de  Gaule, 
das  den  Nebentitel  de  France  Orientale  et  occi- 
dentale  oder  Genealogie  historiale  de  l'emperenr 
Charleniagne  führt,  zerfällt  in  drei  Teile  oder 
Abhandlungen ;  der  ersute  bringt  den  Stammbaum 
der  nach  Europa  verpflanzten  Troer  bis  -auf 
Austrasius,  der  zweite  greift  auf  die  Burgunder 
und  fränkischen  Merovinger  zurück,  um  Blitildis 
einzuführen,  der  dritte  führt  die  vereinigten  Ge- 
schlechter bis  auf  Karls  des  Grossen  Vater 
Pipin  (p.  259  sq.). 

Die  einzelnen  Teile  des  Buches  sind  in  sich 
nicht  homogen.  Zunächst  wird  die  Urgeschichte 
von  Herkules  Libyus  bis  Frankus  nach  Berosus 
und  Manethon  kurz  wiederholt,  um  die  Altehr- 
würdigkeit des  Namens  Pipin  darzuthun  (261—68). 
Nach  einer  Erörterung  über  die  Bezeichnung 
Kelten  und  deren  geographische  Ausdehnung 
(269—72)  und  einer  kritischen  Auseinandersetzung 
über  die  Söhne  Hektors  (272  sq.),  beginnt  (p.  274) 
im  Anschluss  an  Dict3-s  die  Erzählung  von  den 


—    232    — 

Geschicken  der  Wittwe  und  Nachkommen  Rek- 
tors; Lemaire  identifiziert  Frankus  mitLaodamas, 
indem  der  Doppelname  an  sich  nichts  befremden- 
des hat.  Da  Frankus  unter  der  Obhut  seines 
Onkels  Helenus  autwuchs,  wird  diesem  ein  be- 
sonderes Kapitel  gewidmet  (276—83).  Schon  vor 
Helenus  hatte  Priams  Vetter  Bavo,  durch  seine 
Sehergabe  gewarnt,  Kleinasien  verlassen  und 
ein  neues  Reich  in  Europa  gegründet  mit  Belgis 
d.  1.  Bavay  als  Hauptstadt.  So  erzählte  der  ebenso 
fleissige  als  leichtgläubige  Kompilator,  Meister 
Takobus  de  Guisia,  dessen  Annalen  der  Fürsten 
von  Hennegau  in  zwei  schönen  und  grossen 
Bänden  in  lateinischer  Sprache  Lemaire  jeden- 
falls schon  in  der  Jugend  häufig  durchgeblättert 
hatte  J.  In  kurzen  Zügen  fasst  Lemaire  die  Ge- 
schichte des  Gründers  seiner  Vaterstadt,  seiner 
Genossen  und  nächsten  Nachfolgers  zusammen 
(283—85.  290—97),  dazwischen  einen  längern  Ex- 
kurs über  Götzendienst  nach  Berosus  (286—90). 
Noch  andere  Geschlechter  rühmten  sich  tro- 
janischer Abkunft:  von  den  Arvernern  wussten 
es  schon  die  Alten,  von  Tours  und  Toulouse 
lehrt  es  die  Bretonische  Sage ,  das  gemeine 
Gerücht  behauptet  es  von  den  Häusern  Tournon 
und  Neuchätel,  Reuchlin  (de  verbo  mirifico)  rühmt 


'  Illustr.  III,  Oeuvres  II,  184.  Vgl.Jacobi  de  Guisia  Annaics 
historiae  illustrium  principum  Hanonire  ed.  Ernestus  Sackur, 
Mon.  Germ.  bist.  XXX,  44  sqq.  —  J.  de  Guise  (t  1390)  schrieb  seine 
Annalen  pcgen  Ende  seines  Lebens  nach  lateinischen  (?.  T.  roman- 
haften) und  französischen  Schriftstellern.  S.  oben  p.  148,  Anm.  1. 


-    233    - 

es  von  Pforzheim  (297—300).  So  begann  Trojas 
Adel  allenthalben  wieder  aufzublühen  um  die 
Zeit,  da  Frankus  Sikambria,  das  spätere  Budapest, 
an  der  Donau  erbaute ,  der  erste  Sitz  der 
fränkischen  Sikambrer,  die  sich  im  Verlauf  der 
Zeit  nach  dem  Nicderrhcine  ausdehnten  (301  sq.). 
Von  dieser  Stadt  weis.s  der  Roman  von  Buscalus, 
der  sich  in  der  reichen  Bücherei  Ludwigs  des  XII. 
zu  Blois  befand,  viel  zu  erzählen'.  Mit  vielem 
Fleisse  trägt  hier  Lemaire  die  Zeugnisse  der 
Alten  über  die  Sikambrer  bei  und  beleuchtet  sie 
mit  dichterischer  Phantasie  (302—8);  alsdann  er- 
geht er  sich  in  einem  geographischen  Exkurs 
über  Pannonien  d.  i.  Ungarn  (308-20);  viel  spricht 
er  von  Attila,  dessen  Leben  er  durch  Juvencus 
Coclius  Calanus  genauer  kannte.  Als  besonderer 
Beleg  dienen  ihm  die  Fragmente  eines  alten 
Dichters,  den  er  in  der  Kollegialkirche  des 
heiligen  Justus  zu  Lyon  gefunden  liatte  (316)* 
So  weit  müssen  wir  uns  durch  die  planlos  zu- 
sammengeschichteten Materialien  durcharbeiten, 
bis  Lemaire  endgültig  zu  Frankus  zurückkehrt 
und  nunmehr  die  Geschichte  seiner  Nachkommen 


'  Dieser  Roman ,  früher  auch  Quelle  Jacobs  von  Guisc 
beschilfiiptc  sich  vor  allem  mit  Tournai.  Buscalus  ist  nicht  der 
Autor  des  Romans,  wie  Jacob  von  Guise  zuerst  behauptete. 
sondern  der  Held  des  Romans,  cf.  Mömoires  de  l'Acaddmie  de 
Bruxclles  t.  V.  und  E.  Sackur  1.  c. 

"  Es  ist  das  Pantheon  Gottfrieds  von  Viterbo,  particula 
XIV,  21  und  r*.  Monum.  Germ.  hist.  SS.  XXII,  i39  sq.  Die 
von  Lemaire  benutzte  Handschrift  gehört  der  Redaktion  D  an,  ist 
aber  nicht  der  Codex  Lugdunensis. 


234 


in  einem  Zuge  bis  auf  Austrasius  und  im  dritten 
Abschnitte  bis  auf  Pipin  von  Heristal  nach  eigenen 
Ueberlieferungen  erzählt.    (320—66.    422  sqq.). 

Nicht  Jakob  von  Guise,  der  Annalist  seiner 
Vaterstadt,  nicht  Annius  von  Viterbo,  dem  er 
so  unerschütterlich  Glauben  schenkt,  vor  Allem 
nicht  Trithemius  und  sein  Hunibald,  die  er  gar 
nicht  kennt,  nicht  diese  sind  die  Quellen,  aus 
denen  Lemaire  seine  fränkisch-sikambrisch-karo- 
lingische  Stammsage  geschöpft  hat;  nein,  es  ist 
ein  unbekannter  Gewährsmann ,  dessen  Werk 
er  als  Geschichte  oder  Chronik  von  Tongern 
bezeichnet".  Alle  Forscher,  welche  die  lllustra- 
tions  besprochen  haben,  sind  scheu  an  diesem 
rätselhaften  Abschnitte  vorbeigegangen;  und 
doch  muss  es  jedem  aufmerksamen  Leser  klar 
werden,  dass  diese  einheitliche  und  zusammen- 
hängende Erzählung,  die  von  Frankus  bis  Karl 
den  Grossen  keine  Lücke,  keinen  Sprung  auf- 
weist, den  Kern  des  dritten  Buches  bildet,  in  den 
die  Abhandlung  über  Burgunder  und  Merovinger 
mitten  hineingekeilt  ist,  und  um  den  sich  wie 
eine  Schale  die  Erörterungen  der  Einleitung  und 
des  Schlusses  angesetzt  haben. 


^  Oeuvres  II,  295.  l'histoire  de  Tongres  sagt,  dass  nichi 
Turguncius  (cf.  J.  de  Guise),  sondern  Torgotus  Tongern  ge- 
gründet hat,  cf.  ib.  321.  Ib.  301,  302.  Selon  les  chroniques  de 
Tongres  soll  Sikamber  b'2  Jahre,  regiert  haben,  sollen  die 
Sikambrer  später  Kleve,  Geldern,  Jülich  in  Besitz  genommen 
haben.  Ib.  322  für  die  letzten  Fürsten,  die  er  nicht  alle  auf- 
zählen will ,  verweist  Lemaire  ä  l'histoire  de  Beiges  ou  de 
Tongres. 


—    235    - 

Wer  mag  aber  dieser  spurlos  verloren  ge- 
gangene Chronist,  Lemaires Gewährsmann,  sein? 
Lucius  von  Tongern  oder  einer  der  anderen 
Auetoren,  die  Jacob  von  Guise  benützte,  ist  es 
nicht.  Die  neue  Geschichte  von  Tongern  scheint 
vielmehr  im  Gegensatz  zu  den  älteren,  die  Bavay, 
Tournay,  Trier  oder  andere  Städte  zum  Mittel- 
punkt machten,  entstanden  zu  sein;  nach  der 
genaueren  Chronologie  und  Kenntniss  der 
römischen  Geschichte  zu  urteilen,  muss  der  Ver- 
fasser jünger  gewesen  sein,  wahrscheinlich  schrieb 
er  wohl  lateinisch.  Wie  dem  auch  sei,  wir  stehen 
vor  einem  interessanten  Problem:  Lemaire  hat 
offenbar  eine  Chronik  benutzt,  welche  Karl  den 
Grossen  als  Sprossen  der  von  der  Donau  an 
den  Niederrhein  —  mit  Tongern  als  Hauptstadt 
des  neuen  Reiches  —  übergesiedelten  Nach- 
kommen des  Priamidcn  Frankus  darstellte  und 
zwischen  den  beiden  äusseren  Gliedern  eine  der 
Zahl  der  verflossenen  Jahrhunderte  entsprechende 
Reihe  von  Zwischengliedern  in  den  phantastischen 
Stammbaum  einschaltete.  Von  dieser  Chronik 
bleibt  aber  keine  Spur  weder  in  der  früheren 
noch  in  der  späteren  Litteratur,  sie  selbst  ist 
verschwunden  oder  liegt  noch  irgendwo  be- 
graben. Dass  aber  Lemaire  sie  blos  vorge- 
schützt und  selbst  die  ganze  Geschichte  erfunden 
hätte,  das  ist  nicht  denkbar,  das  Aviderspräche 
seiner  sonstigen  Gewissenhaftigkeit:  er  kombi- 
niert, er  erweitert,  aber  er  erdichtet  nicht. 


—    236    - 

Die  ersten  Könige,  die  auf  Frankus  folgen, 
sind  blos  Eponymen  verschiedener  Städte  und 
Stämme;  dem  Verfasser  der  Illustrations  wird 
es  selbst  zuletzt  lästig,  sie  aufzuzählen.  Erst 
mit  dem  Eingreifen  der  Römer  in  die  Stammsage 
wird  die  Erzählung  gehaltvoller.  Menapius, 
König  der  Kimbern,  Beiger  und  Tongrer,  weigert 
sich,  dem  Beispiel  der  Trierer  zu  folgen  und 
mit  den  Römern  einen  Bund  zu  schliessen.  Er 
wiedersteht  ihnen  siegreich  und  zwingt  den 
Konsul  Lucius  Cassius  zu  einem  schimpflichen 
Frieden.  Der  Konsul  entgeht  der  drohenden 
Strafe  durch  freiwillige  Verbannung.  Darüber 
ergrimmt  Menapius  und  lässt  seine  Söhne 
schwören,  Rom  zu  zerstören,  wie  einst  Brennus 
und  Belgius.  Sie  bieten  sofort  ihre  Verwanten 
und  Bundesgenossen  auf  und  versuchen  in 
mehrere  Züge  getrennt,  in  Italien  einzufallen; 
da  tritt  ihnen  Marius  entgegen  mit  dem  bekannten 
Erfolg.  Seiner  Gewohnheit  gemäss  hat  Lemaire 
die  Kimbernkriege  mit  Zuhülfenahme  der  römi- 
schen und  christlichen  Geschichtsschreiber  aus- 
führlicher dargestellt.  —  Von  allen  Kimbern- 
fürsten rettet  sich  allein  Gottfried,  der  in  sein 
bedeutend  geschwächtes  Reich  zurückkehrt 
und  wegen  seines  zurückgezogenen  Lebens  den 
Beinamen  Karl  erhält.  Gottfried  hat  einen  Sohn 
Karl  Ynach,  den  verbannt  er  wegen  einer 
Schandthat.  Karl  Ynach  geht  nach  Rom,  findet 
dort  freundliche  Aufnahme,  macht  den  Mithri- 


—    237    — 

datischen  Krieg  unter  Lucius  Caesar  mit,  ver- 
liebt sich  in  Arkadien  in  die  Tochter  des  Pro- 
konsuls,  Hermine  (Germaine),  die  Halbschwester 
des  späteren  Diktators,  verführt  sie  und  flieht 
mit  ihr  nach  Deutschland.  Auf  der  Flucht,  bei 
Valenciennes,  nimmt  sie  von  einem  Schwan,  der 
schutzsuchend  zu  ihr  flieht  und  den  sie  von  da 
an  bei  sich  behält,  den  Namen  Swana  an.  Karl 
Ynach  findet  seinen  Vater  tot;  er  übernimmt  das 
Reich,  seine  Herrschaft  dauert  aber  nicht  lange, 
er  fällt  mit  Ariovist  in  der  Schlacht  gegen  Julius 
Caesar.  Seine  Wittvve  zieht  sich  mit  ihren  beiden 
Kindern  auf  das  Schloss  Megen  an  der  Maas 
zurück.  Inzwischen  geht  die  Eroberung  Galliens 
vor  sich :  gern  erholte  sich  Caesar  von  den  Stra- 
patzen  des  Krieges  auf  Schloss  Kleve;  in  dem 
kleinen  Gefolge,  das  er  dann  bei  sich  führte, 
befand  sich  ein  Ritter  Salvius  Brabon  ebenfalls 
aus  Hektors  Geschlecht,  von  einer  schon  in 
Pannonien  abgezweigten  und  in  Arkadien  sess- 
haften  Seitenlinie.  Seinen  Gedanken  nachgehend, 
erblickt  dieser  eines  Tages  einen  Schwan  am 
Ufer  des  Rheins  mit  einem  Nachen  spielend, 
er  setzt  sich  in  den  Nachen  und  wird  unversehens 
in  die  Nähe  des  Schlosses  Megen  geführt.  Eben 
will  er  nach  dem  Schwane  schiessen,  als  er  in 
griechischer  Sprache  angerufen  wird;  er  ant- 
wortet ebenso,  wird  in  das  Schloss  eingelassen 
und  muss  die  Versöhnung  zwischen  Caesar  und 
seiner  Halbschwester  vermitteln.    Als  Lohn  er- 


—    238    — 

hält  er  die  Hand  der  jüngeren  Swana,  Caesars 
Nichte,  und  wird  mit  dem  Lande  vom  ruthenischen 
Meere  bis  an  die  Grenzen  der  Nervier  belehnt. 
Dies  Land,  Tongern  und  Brabant,  behalten  seine 
Nachkommen  als  Herzöge;  sie  gehören  stets  zu 
den  treuesten  Anhängern  der  Römer ,  deren 
Kaiser  sich  nicht  bedenken,  ihre  Töchter  mit 
diesem  Hause  zu  vermalen.  Erst  Lando  folgt 
dem  Umschwung  der  Dinge  und  schliesst  sich 
den  Franken  an.  Sein  Sohn  Austrasius  lebte  zu 
Chlodowechs  Zeiten  und  war  derjenige,  der  ihm 
in  der  Alemannenschlacht  zurief,  er  möchte  doch 
das  Christentum  bekennen.  Diese  letzten  Herzöge 
sind  meistens  auch  solche,  die  irgend  einer  Stadt 
den  Namen  gegeben  haben  sollen. 

Jetzt  naht  der  Augenblick,  wo  sich  die  ge- 
schichtlichen Persönlichkeiten  in  den  fabelhaften 
Stammbaum  einreihen  sollen.  Um  sie  einzu- 
führen, versucht  Lemaire  im  zweiten  Theile 
seines  Buches  eine  Geschichte  der  Burgunder 
und  der  Merovinger  zu  geben.  Nirgends  hatte 
er  sie  in  Zusammenhang  dargestellt  gefunden 
und  hat  daher  selbst  seine  Kenntnisse  mit  vieler 
Mühe  allenthalben  sammeln  müssen.  Schon  die 
Lage  und  Ausdehnung  des  alten  Burgund  hatten 
ihm  Schwierigkeiten  bereitet,  bis  er  bei  Gervasius 
von  Tilbury  und  im  Ligurinus  Auskunft  fand'. 


;         1  Oeuvres  II,  368.  370.    Die  Otia  imperinlia  des  Gervasius 
■von  Tilburj-,   1211  Otto  dem  IV.  gewidmet,  waren  noch  nicht 


-    239    - 

Den  Anfang?  macht  natürlich  der  unvermeidliche 
Berosus,  der  seinen  Abschreiber  aber  bald  im 
Stich  lässt.  Erst  zur  Zeit  des  Augustus,  nach 
einer  Lücke  von  sechzehnhundert  Jahren  hören 
wir  wieder  von  den  V'andalcn  oder  Vindeliziern 
und  ihren  Streifzüg-en  bis  an  den  Rhein  reden. 
Drusus  und  Tiberius,  die  sie  zurückdrängten, 
sollen  sie  gezwungen  haben,  oftcne  Wohnstätten, 
Zelte,  Hütten,  in  ihrer  Sprache  Burgen  genannt, 
zu  wählen,  woher  ihr  Name  Burgunden.  Bald 
mehrten  sie  sich  wieder  und  suchten  neue  Wohn- 
sitze, zuerst  auf  der  wunderbaren  Insel  Skan- 
davia,  dann  am  Rheine,  etwa  im  Elsass,  eine  der 
besten  und  reichsten  Gegenden,  die  man  kennt. 
Hier  blieben  sie,  bis  Stilicho,  seine  ehrgeizigen 
Pläne  betreibend,  den  ganzen  Schwärm  der  Ger- 
manen über  den  Rhein  lockte:  bei  der  Gelegen- 
heit eroberten  die  Burgunder  das  südöstliche 
Gallien.  Bald  wurden  sie  hier  durch  die  Hunnen 
belästigt,  bestanden  sie  aber  siegreich,  und  als 
jene  unter  Attila  zurückkehrten,  nahmen  .sie  auch 
an  der  Vernichtungsschlacht  bei  Chälons  teil.« 
Diese  Thatsachen  hat  Lemaire  sorgfältig  aus 
älteren  und  jüngeren  Schriftstellern  wie  Hierony- 
mus,  Cassiodor,  Jacobus  Bergomensis,  Gaguinus, 
Coelius  Calanus,  Michele  Riccio,  Flavius  Blondus 


Jredriickt.  Von  den  jetzt  bekannten  Handschriften  ist  es  wahr- 
scheinlich die  Brüsseler,  die  Lemaire  zugJlnglich  war.  Der 
Ligurinus  wurde  1507  von  Konrad  Celles'  Freunden  heraus- 
gegeben. 


—    240    — 

gesammelt'.  Für  die  Folgezeit,  die  Brautwerbung 
Chlodowechs  und  den  Untergang  des  Burgunder- 
reichs, hatte  er  das  Glück  in  der  Bücherei  des 
heiligen  Hieronymus  zu  Dole  eine  alte  Chronik 
zu  entdecken,  die  nichts  anderes  war,  als  das 
Buch  der  Geschichte  der  Frankens.  So  verfolgt 
Lemaire  die  fränkische  Geschichte  durch  ihre 
Wirrnisse  bis  auf  Chlothar  den  I.  des  Namens, 
den  achten  König  von  Burgund,  Frankreich  und 
Niederösterreich  (d.  h.  Austrasien),  dessen  jüngste 
Tochter,  Blithildis,  das  Band  zwischen  dem 
burgundisch-fränkischen  und  dem  karolingischen 
Hause  werden  sollte. 

Im  dritten  Abschnitte  nimmt  Lemaire  den 
abgerissenen  Faden  wieder  auf.  Austrasius' 
Nachfolger  ist  Karl  Nason,  der  die  ältere  Tochter 
des  Thüringerfürsten  Berkarius  zur  Frau  nimmt, 
während  Haymon,  der  Vater  Rainalds  von  Mon- 
tauban und  seiner  dreiBrüder,diejüngereheiratete. 
Auf  ihn  folgte  Karl  Hasbain,  wie  seine  Väter 
ein  treuer  Beistand  der  austrasischen  Herrscher. 
Als    Theudebert   von    seinen  Onkeln    bedrängt 


^  Cassiodor  war  im  15.  Jahrhundert  bereits  mehrmals  ge- 
druckt worden.  Die  Geschichte  Attilas  des  dalmatischen  Bischofs 
Juvencus  Coelius  Calanus  (12. 13.  Jahrh.)  wurde  150-  in  Venedig 
im  Anhang  an  den  lat.  Plutarch  gedruckt.  Der  Napolitancr 
Michele  Riccio  war  in  den  Dienst  Karls  des  VIII.  und  Ludwigs 
des  XII.  getreten,  seine  Geschichte  der  franz.  Könige,  die  Neapel 
besessen  haben,  erschien  1505.  Flavius  Blondus,  Historiarum 
ab  inclinatione  Romani  imperii  usque  ad  1411  decades  III.  Venc- 
tiis  1483. 

'•ä  Liber  historite  Francorum  c.  11  sqq.  (früher  Gesta  Fran- 
corum)  Mon.  Germ.  hist.  Script,  rer.  Merov.  II. 


241 


wurde,    übernahm^  Karl   die  Gesantschaft    um 
Hülfe  an  den  oströmischen  Hof;  die  nahm  aber 
einen  unerwarteten  Verlauf.    Justinian  behaup- 
tete nemlich,  er  habe  die  Mark  an  der  Scheide 
widerrechtlich   in   Besitz,  und   veranlasste  ihn, 
sie  dem  Senator  Anseibert  abzutreten,  was  Karl 
seinem   Könige    zu    Liebe    gern    that.      Dieser 
Anseibert,   der  gewöhnlich   die  karolingischen 
Stammbäume     eröffnet,    heiratete     die     heilige 
Blithildis  und  wurde  der  Stammherr  der  Karo- 
linger in  männlicher  Linie.   Seine  Nachkommen 
sind  Arnold,  Arnulf  und  Anchises,  der  die  Erbin 
des  Hauses  Brabant,  Begga,  die  Schwester  des 
kinderlosen  Grimoald,  Tochter  Pipins  von  Landen, 
Enkelin   Karlmanns    und    Urenkelin   Karl  Has- 
bains  heimführte.    So  vereinigten  sich  die  alten 
Königsgeschlechter,    erneut     durch     römisches 
Blut,  um  im  Verfolg  den  grossen  Kaiser  zu  er- 
zeugen.   Die  Sagen  der  Chronik  von  Tongern 
schliessen  mit   diesen  Persönlichkeiten    wieder 
an  die  Geschichte  an,  und  Lemaire  kann  hinfort 
die  Chronik  von  Brabant  als  Beleg  anrufen,  oder 
die  gereimten  Grabschriften,  die  er  in  Brabant 
in  einer  alten  Handschrift  gefunden  hatte'.    Mit 
Pipin  von  Heristal  und  Karl  Martell  wird  die 
Erzählung  wieder  breiter;  wir  sehen  das  karo- 
lingische    Haus     emporsteigen,     während     das 

*  Vgl.  die  Genealogiae  ducum  Brabantire,  Mon.  Germ.  hist. 
SS.  XXV.  387  sqq.  Die  gercimlen  Grabinschriften  sind  nichts 
anderes  als  die  Genealogia  ducum  Brabantire  metrica  1.  c. 
400  sq. 

Becker,  Jean  Lemaire.  16 


—    242    — 

merovingische  sinkt.    Das  Buch  endigt  mit  der 
■  Krönung  Pipins  des  Kurzen. 

Lemaire    beschliesst    aber    sein   Werk    mit 
philosophischen  Betrachtungen  über  den  Wechsel 
der  Herrscherhäuser.     Zwei  Ursachen  pflegen 
ihren  Umsturz  herbeizuführen,  die  göttliche  Vor- 
sehung und  die  Einmischung  der  Priester;  wie 
Pipin    sich   an    den   Papst   Zacharias    wendete, 
so  bestach  Hugo  Capet  den  Bischof  Anselm  von 
Laon.    Die  Hand  der  göttlichen  Vorsehung  ist 
aber  offenbar:  denn  wie  die  Bäume  und  wie  die 
Tiere,  so  altert  und  versiegt  und  verliert  seine 
Kraft  nicht  nur   das  Menschengeschlecht  im  all- 
gemeinen, sondern  noch  vielmehr  die  Familien 
und  Geschlechter  im  einzelnen.    Als  Gott  sah, 
wie  die  Nachkommen  Merowechs  entartet  und 
verkümmert  waren,  da  erweckte  er,  wie  die  Not 
des    christlichen    Gemeinwesens    es    erheischte, 
das  edle  Blut  der  Pipine  und  Karle,  gleichwie 
er  dem  pflichtvergessenen  Saul  David  aus  dem 
Hause   des  Hirten  Jesse    zum  Nachfolger  gab, 
das  Spiel  aber  führten  die  Hände  des  Propheten 
Samuel,  des  Hohepriesters  der  Juden.    Ja,   als 
der  Allschauende  sah,  wie  die  Kaiser  Ostroms 
sich  in  innerem  Zwist  aufrieben  und  der  katho- 
lische Glauben  durch  Verfolgungen  und  durch 
den  Anprall  der  Sarrazenen  und  Türken  bis  im 
Herzen  Europas  gefährdet  war,  da  Hess  er  im 
Westen  ein  neues  Haus  erstehen,  das  wie  die 
Makkabäer  sein  Volk  vor  der  Bedrückung  durch 


—    243    — 

die  Ungläubigen  zu  retten  vermöchte:  das  war 
das  edle  Geschlecht  der  Karolinger,  kräftig  und 
erlaucht  von  Alters  her  und  noch  geadelt  durch 
die  Würde  der  allerchristlichsten  Krone  Frank- 
reichs und  das  heilige  römische  Kaisertum,  den 
beiden  schönsten  Zierden  der  zeitlichen  Welt; 
kraft  dieser  Vorzüge  hat  es  die  fremden  Völker 
zurückgeworfen  und  den  wankenden  Glauben 
aufgerichtet,  und  es  ist  nicht  nötig,  wie  einige 
thun,  um  dem  Geschlechte  höheren  Glanz  zu 
verleihen,  Karls  Mutter  Berta  zu  einer  Tochter 
des  Kaisers  Heraklius  zu  machen  gegen  alle 
Wahrscheinlichkeit.  Dessgleichen  aber,  als  das 
Karolingerhaus  sank ,  übertrug  Gottes  ver- 
borgener Ratschluss  das  Reich  auf  die  Nach- 
folger Hugo  Capets  vom  Hause  Sachsen.  Das 
karolingische  Blut  bewahrte  er  aber  in  den  Her- 
zögen von  Flandern  und  Artois,  die  es  dann 
wieder  mit  dem  der  Könige  von  Frankreich  ver- 
banden, um  Ludwig  den  heiligen  zu  erzeugen. 
So  ist  und  bleibt  das  Blut  Karls  des  Grossen  in 
dem  französischen  Königshause,  damit  es  stets 
der  Schutz  und  Hort  des  katholischen  Glaubens 
und  der  heiligen  römischen  Kirche  sei,  die  Miss- 
bräuche in  Welt  und  Kirche  abstelle,  die  Tyrannen 
bändige,  die  Ketzer  vernichte  und  schliesslich 
mit  starker  Hand  und  erhobenem  Arme  die 
fluchwürdige  Nazion  der  Türken  und  die  andern 
Anhänger  Muhameds  in  Furcht  und  Schrecken 
halte,  die  Türken,  welche  aus  ihren  alten  Schlupf- 


—    2M    — 

winkeln  und  Sümpfen  derTartarei  hervorbrachen 
zur  Zeit,  wo  Pipin  die  Herrschaft  über  Frank- 
reich erwarb. 

Das  ist  Lemaires  Geschichtsphilosophie,  das 
seine  politische  Lebensansicht  ein  Jahrzehnt  bevor 
Franz,  der  allerchristlichste  König,  die  deutschen 
Protestanten  und  die  verabscheuten  Türken  zu 
seinen  Bundesgenossen  gegen  Karl,  den  römischen 
Kaiser  und.  Erben  Oesterreichs  und  Burgunds, 
machen  sollte. 

XVII. 

Jean  Lemaire  eignete  das  dritte  Buch  der 
lUustrations  seiner  neuen  Beschützerin,  der  Köni- 
gin von  Frankreich,  zu  als  das  vornehmste 
Geschenk,  das  er  bis  dahin  der  weiblichen  Lese- 
welt dargebracht:  die  beiden  früheren  waren 
nur  die  Knospen  und  Blumen ,  dieses  aber  die 
Frucht  in  voller  Reife.  Eine  Pflicht  der  Dankbar- 
keit zu  erfüllen,  wie  er  sagt,  vollzog  er  eine  zweite 
Widmung  an  Guillaume  Cretin,  seinen  Lehrer» 
der  ihn  zuerst  für  die  französische  Schriftstel- 
lerei  gewonnen  hatte:  nun  bittet  er  ihn,  sein 
Verteidiger  zu  sein  gegen  etwaige  Anfeindungen, 
obwohl  er  keine  zu  befürchten  habe ;  denn  wenn 
auch  Ausländer,  habe  er  stets  durch  seine  Werke 
seine  Liebe  für  das  öffentliche  Wohl  Frank- 
reichs gezeigt.  Im  Nachwort  endlich  empfiehlt 
er  sich  der  Nachsicht  seiner  Leser:  die  Schwäche 
menschlichen  Verstandes  lässtuns  ja  nicht  immer 
erreichen,  was  wir  möchten.    Er  habe  sich  be- 


—    245    — 

müht,  das,  was  die  Geschichtsschreiber  gewöhn- 
lich übergingen,  sorgfältig  nachzusammeln  und 
sei  sich  dabei  vorgekommen  wie  einer,  der  die 
einzelnen  Aehren  hinter  den  Schnittern  oder 
die  übersehenen  Trauben  hinter  den  "Winzern 
nachlese.  Man  möge  ihm  verzeihen,  wenn  er 
mitunter  etwas  viel  Latein  zitiert  habe;  er 
dürfte  es  sich  zwar  als  berufener  Historiker 
ebensowohl  gestatten  als  die  Prediger  in  ihren 
Kanzelreden  vor  den  Bauern weibern;  er  habe 
es  aber  nicht  des  leeren  Prunkes  wegen  gethan, 
sondern  um  dem  bedenklichen  Leser  durch  Vor- 
führen der  Belege  die  letzten  Zweifel  zu  be- 
nehmen. Dieses  Buch  verdanke  man  dem  Wohl- 
wollen der  Beschützerin,  der  es  auch  gewidmet 
sei;  der  noch  ausstehende  und  wiederholt  ver- 
sprochene Band,  der  die  Genealogie  der  Tür- 
ken und  ihre  Thaten  bis  auf  unsere  Zeit,  nebst 
der  Beschreibung  der  Türkei,  Griechenlands 
und  der  benachbarten  Inseln  enthalten  sollte, 
würde  nachfolgen,  sobald  seine  fürstlichen  Gön- 
ner ihm  Müsse  verschaffen  würden  zu  den  Nach- 
forschungen, die  ein  so  grosses  Werk  verlangte. 
Dann  würde  er  das  feierliche  Gelübde  erfüllen, 
welches  er  auf  dem  Hochaltar  der  Peterskirche 
zu  Rom  abgelegt  hatte;  denn  sein  Buch  sollte 
ein  Führer  und  Tröster  werden  für  die,  welche 
sich  waffnen  würden  zum  allgemeinen  Kreuz- 
zuge, sobald  sich  die  Fürsten  mit  dem  heiligen 
Stuhle  in  Eintracht  vereinen   würden,    um  die 


—    246    — 

Türken  aus  Asien,  ihrem  trojanischen  Erbteil, 
zu  vertreiben.  ,Und  das  lasse  uns  Gott  noch 
zu  unseren  Lebzeiten  schauen.' 

Die  lUustrations  de  Grece  et  de  Turquie» 
der  Abschluss  des  ganzen  Werkes  sahen  die 
Vollendung  nicht,  es  blieb  bei  dem  Vorhaben. 
Noch  ein  Anderes  kam  nicht  zur  Ausführung» 
die  Geschichte  der  Besiedelung  Albions  durch 
Brutus,  die  Lemaire  gern  in  einer  besonderen 
Schrift  behandelt  hätte'. 

"Wie  wir  sahen,  war  Lemaire  im  Herbst  1512 
nach  der  Bretagne  geschickt  worden,  um  Mate- 
rialien zu  einer  Chronik  der  Landesfürsten  zu 
sammeln.  Im  Dezember  vollendete  er  dort  das 
dritte  Buch  der  lUustrations.  Im  Anfang  des 
folgenden  Jahres  scheint  er  nach  Blois  oder  Tours 
zurückgekehrt  zu  sein  2,  dort  überwachte  er  den 
Druck  seiner  Schrift.  Dem  Bande  gab  er  noch 
einige  kleinere  Werke  bei,  von  denen  nur  eines 
neu  war:  die  Grabschrift  des  am  11.  April  1512 
bei  Ravenna  gefallenen  dreiundzwanzigjährigen 
Gaston  de  Foix,  aus  dem  Lateinischen  übersetzt 
,et  rendu  le  Frangois  correspondant  au  nombre 
des  syllabes  du  Latin'  d.  h.  die  Hexameter  durch 
Alexandriner  wiedergegeben  s.  Ausserdem  fügte 


»  Cf.  lUustrations  III.    Oeuvres  II,  296. 

2  Im  Briefe  an  Fr.  Le  Rouge,  der  den  1513  erschienenen  Band 
beschliesst,  spricht  er  von  Ockeghera,  der  in  Tours  lebte,  als 
von  seinem  Nachbar. 

3  Oeuvres  III,  1%.  Es  sind  20  Alexandriner  mit  gepaarten 
Reimen.  Die  Beigaben  sind:  Epistre  du  roN-  ä  Hector,  la  Vali- 
tude  de  la  royne,  Epitaphe  de  G.  de  Foix,  la  Concorde  des  deux 


—    247    — 

er  ein  Gedicht  von  Crctin  hinzu:  La  plainte 
du  tyespas  defeu  mcssireGuillaume  de  Bisstpat. 
Dasselbe  sollte  zeigen,  wie  die  französische 
Sprache  durch  die  Schriften  des  königlichen 
Kaplans  bereichert  wird,  ebenso  wie  die  Musik 
veredelt  werde  durch  den  Schatzmeister  der 
Martinskirche  zu  Tours,  Ockeghem,  ,meinen 
Nachbar  und  von  unserer  selben  Nazion'.  So 
schreibt  Lemaire  an  Meister  Fran(;ois  Le  Rouge, 
vortragenden  Rat  und  Requetenmeister  der 
Königin,  auf  dessen  Einfluss  er  ziihltc  zur  Erfül- 
seines  Wunsches,  mit  der  Beschreibung  und 
Verherrlichung  der  Bretagne  betraut  zu  werden: 
denn  er  brenne  vor  Begier,  die  alten  und  neuen 
Wunder  dieses  Landes,  die  Andere  noch  nicht 
erwähnt,  zu  schildern,  um  seines  Amtes  gehörig 
und  nach  Gebühr  zu  walten '. 

Lemaire  wusste  nicht,  dass  ein  Kind  des 
Landes  bereits  dieses  Werk  in  Angriff  genommen 
hatte,  und  sich  anschickte,  es  in  kurzem  der 
Königin  vorzulegen^.  Der  Tod  sollte  aber  Beiden 
einen  Strich  durch  die  Rechnung  machen.  Am 
^l  Januar  1514  starb  Anna  von  Bretagne  in  ihrem 
siebenunddreisigsten  Lebensjahre. 

langaiges,  la  Plainte  de  Bissipat  von  Cretin  mit  dem  Brief  an 
Fr.  Le  Rouge. 

'  Oeuvres  III,  197.  Der  Brief  trägt  kein  Datum,  und  bietet 
sonst  keinen  Anhalt,  als  dass  er  eben  am  Schluss  des  3.  Buches 
nebst  Beigaben  steht. 

-  Alain  Bouchard  bereitete  schon  längst  seine  Grandes 
chroniques  de  Bretaigne  vor,  sie  erschienen  in  Paris  1514,  neu- 
gedruckt von  der  Soci6l6  des  Antiquaircs  de  Bretagne.  Schon 
seit    14%   arbeitete   der   Dekan   Pierre   Lebaud   von  Laval   an 


—    248    — 

Der  königliche  Historiograph  machte  noch 
einen  schwachen  Versuch,  die  Gunst  der  Toch- 
ter, der  jungen  Erbin  der  Bretagne  und  als 
Braut  des  vermutlichen  Thronfolgers  auch  zu- 
künftigen Königin  von  Frankreich,  zu  gewinnen ; 
indem  er  ihr  seine  Abhandlung  über  die  Toten- 
feier bei  den  Alten  und  Neueren  widmete'.  Im 
Virelay  double,  den  er  der  Abschrift  als  Anru- 
fung vorsetzte,  klagt  er  Gott  sein  Unglück: 

Quant  ü  te  piaist,  o  hault  Altitonant, 
Qu' eil  tont  labeur,  jadis  et  maintenant, 
Aye  prins  paine  en  nion  sens  peu  fourny, 
Te  plaise  aussi  de  ton  bien  infiny 
Me  tendre  ung  peu  de  faveur  soustenant, 
Quand  il  t'a  pleu,  o  haut  Altitonant. 

Tu  sces  et  vois  que  papier  je  ne  dore 
Ny  embellis  de  riens  dont  an  puist  rire, 
Ains  Sans  cesser  ay  matiere  d'escripre 
Les  faicts  dolents  de  tnort  qui  tont  devore, 
Quant  il  te  plait,  o  haut  Altinonant. 

Du  hon  Bourbon  le  trespas  survenant 
Me  fit  plourer,  et  puls  tout  d'un  tenant 
J'ay  deploj'ö  la  perte  de  Ligny, 
Savoye  apres,  et  Castille  plaigny, 


einer  Geschichte  der  Bretagne  im  Auftrage  Annas.    Sie  wurde 
erst  1638  gedruckt. 

1  Vielleicht  dichtete  er  jetzt  das  früher  erwähnte  Rondeau" 
Fleur  /lourissant.  Es  ist  niimlich  affallend,  dass  in  demselben 
die  Mutter,  Königin  Anna,  nicht  erwähnt  wird.  Es  dürfte  vielleicht 
zur  Vermähluug  des  jungen  Paares  geschrieben  worden  sein. 


-    249    - 

Vecy  la  suite  et  le  pis  avenant, 
Quand  il  te  plait,  o  haut  AUitonant. 

S'il  faut  totisjours  qu'en  la  fin  je  deplore 
Prince  oti  princesse,  en  qiioy  faisant  souspirc, 
II  m'en  desplait.  Mais  si  de  ton  enipire 
Gracc  je  n\iy,  je  la  qtiicrs  et  implore, 
Quant  il  te  plait  ^. 

Aus  der  Vorrede  erfahren  wir,  dass  Lemaire 
der  Beisetzungsfeier  für  die  verstorbene  Köni- 
gin beigewohnt  und,  wie  seiner  Zeit  bei  der 
Totenfeier  Philipps  von  KastiHcn,  einen  Bericht 
über  dieselbe  aufgesetzt  hatte  2. 

Die  Abschrift  der  Abhandlung  blieb  unvol- 
lendet, sei  es  dass  die  öffentlichen  Ereignisse 
den  Verfasser  von  seinem  Vorhaben  ablenkten, 
sei  es  dass  er  persönlich  durch  irgend  welchen 
Unglücksfall  betroffen  wurde,  der  ihn  im  Beginn 
der  Vierziger  vom  Schauplatze  abberief*.  Ludwig 
der  XII.  war  kurz  verwittwet,  als  der  Plan  der 
englischen  Heirat  auftauchte,  die  am  13.  August 
des  Jahres  (1514)  vollzogen  wurde.  Am  11.  Oktober 
wurde  die  junge  Königin  von  ihrem  Gemahl 
feierlich  empfangen.    Ihre  Herrlichkeit  dauerte 


'  Oeuvres  IV,  269.  Das  Doppelvirelay  besteht  aus  zweimal 
zwei  Abschnitten  von  vier  Versen  mit  umschlungenem  Reim, 
mit  einem  drcim.il  wiederholten  Refrain :  AabbaA.cddcA ;  der 
Vers  ist  zehnsilbij?. 

'^  Oeuvres  IV,  271.  Den  offiziellen  Bericht  verfasste  der 
AVappenherold  Bretagne. 

"  Möglicherweise  war  die  erhaltene  Abschrift  nur  der 
Kntwurf  für  eine   definitive   Reinschrift,  sie   ist  sehr   fehlerhaft. 


250 


aber  kein  Vierteljahr;  am  1.  Januar  1515  ver- 
schied Ludwig  der  XII.  und  hinterliess  das  Reich 
seinem  Schwiegersohn,  Franz  dem  I.  Was  that 
Lemaire  bei  dem  raschen  Wechsel  der  Dinge? 
Es  bleibt  keine  Spur,  dass  er  nach  dem  Verlust 
seiner  Beschützerin  Anna  von  Bretagne  in  den 
Dienst  ihrer  Tochter,  sei  es  jetzt,  sei  es  nach 
ihrer  Thronbesteigung,  oder,  was  die  kurze  Dauer 
ihrer  Herrschaft  vielleicht  vereitelte,  in  den  der 
Königin  Maria  getreten  wäre;  bis  zu  den  späte- 
sten Ausgaben  blieb  er  den  Buchdruckern  der 
Historiograph  der  Königin  Anna.  Auch  als 
Schriftsteller  verschwindet  Lemaire  vollständig ; 
von  all  den  versprochenen  Werken  ist  keines 
erschienen,  selbst  das  heilig  gelobte  Buch  von 
den  Türken  und  von  Griechenland  blieb  aus. 
Nicht  etwa  dass  die  Gunst  der  Leser  sich  von  ihm 
abgewendet  hätte ;  denn  fast  Jahr  für  Jahr  werden 
seine  früheren  Schriften  frisch  aufgelegt,  etwa 
noch  unbekannte  werden  an  das  Licht  gefördert. 
Aber  Neues  fliesst  Nichts  mehr  aus  seiner  Feder. 
Was  liess  den  sonst  unermüdlichen  Schriftsteller 
plötzlich  verstummen,  ihn,  der  früher  kein  Jahr 
verstreichen  liess ,  ohne  ein  neues  Werk  zu 
schreiben  und  alsbald  seinen  Gönaern  oder  der 
Oeffentlichkeit  zu  übergeben? 

In  jedem  anderen  Falle  würde  man  annehmen, 
dass  der  Verschollene  den  Weg  des  Fleisches 
gegangen  ist;  denn  dass  Niemand  sich  finde, 
seinen  Tod  zu  verzeichnen  und  die  Stunde  des- 


2öl 


selben  der  Nachwelt  mitzuteilen,  das  ist  damals 
noch  eine  durchaus  gewöhnliche  Erscheinung. 
Wer  weiss,  wann  Alain  Chartier,  Jean  Marot, 
Cretin,  Gringore,  Symphorien  Champier,  wann 
zahllose  andere  Männer,  die  jahrelang  eine  öffent- 
liche Rolle  gespielt  haben,  gestorben  sind?  Mit 
Lemaire  stirbt  eine  Dichterschule  aus,  ihre 
Reihen  sind  längst  gelichtet,  und  die  neue  Schule, 
die  Lemaire  vorbereitet  hat,  die  ist  geblendet 
durch  den  Glanz  der  neuen  Zeit;  eine  mit  weit- 
greifenden Plänen  eröffnete  Herrscherlautbahn 
fesselt  die  allgemeine  Aufmerksamkeit. 

Allerdings  stand  Lemaire  im  rüstigsten  Man- 
nesalter, aber  früher  oder  später  fällt  das  Loos, 
das  uns  zu  ewiger  Verbannung  auf  den  Kahn 
setzt.  Wie  vielen  Zufällen  ist  des  Menschen 
gebrechliches  Dasein  ausgesetzt!  Ein  Schleier, 
der  nicht  zu  lüften  ist,  liegt  auf  Lemaires  Lebens- 
ende; mit  einem  Male  mitten  in  der  eifrigsten 
Schöpfungszeit  tritt  er  von  dem  Schauplatze  ab, 
um  nicht  wieder  aufzutauchen'. 

Nur  ein  Schriftsteller  hat  über  Lemaires 
Ende  genauere  Angaben  gemacht,  die,  wenn  sie 
wahr  wären  y   ein   trauriges  Licht   auf  unseren 


1  Wie  leicht  konnte  Lemaire  ein  {Ihnlicher  Unfall  treffen, 
wie  am  Tage,  wo  er  sich  den  Arm  in  den  Steingruben  brach. 
Nehmen  wir  z.  B.  an,  Familienangelegenheiten  hüiten  ihn  nach 
Valenciennes  gerufen,  wo  eben  die  Pest  Tag  fUr  Tag  24  Tote 
in  jeder  Pfarrei  unter  die  Erde  legte  und  in  dem  einen  lahr 
151415  über  6000  Menschenleben  gefordert  hat.  Wer  hätte  je 
davon  etwas  erfahren,  wenn  Lemaire  ein  Opfer  der  Seuche 
wurde  ? 


—    252    — 

Dichter  werfen  würden:   es  ist  Pierre  de  Saint- 
Julien  in  seinem  Buch  vom  Ursprung  der  Bur- 
gunder.   Bei  einem  Ausfall  gegen  die,   welche 
sich  auf  die  Seite  Satans,   ihres  Lehrmeisters, 
stellen,  um  gegen  die  Kirche  zu  bellen,  obwohl 
sie  sie  so  wenig  beissen  können  wie  die  Hunde 
den  Mond  --,   lährt  er  fort:    „Ich  weiss  wohl, 
dass  Jean  le  Maire  de  Beiges,   ein  Mann  von 
grosser  Belesenheit  und  sehr  emsigem  Fleisse, 
letztere  Ansicht  vertreten  hat  in  seiner  Abhand- 
lung über  die  Kirchenspaltungen  und  Kirchen- 
versammlungen.   Aber  wie  es  gewiss  ist,   dass 
alle  gelehrten  und  unzufriedenen  Männer,  wenn 
sie  arm  gewesen  sind,  ihre  Vergeltung  nur  mit 
der  Feder  und  auf  dem  Papier,  das  Alles  duldet, 
ausüben  konnten,   so  ist  es  gefährlich,  solchen 
Leuten  Glauben  zu  schenken.    Und  es  sind  zu 
augenscheinliche  Gründe  —  ja  solche,  die  bei- 
nahe ein  Jeder  kennt  — ,  aus  dem  das  Zeugniss 
Piatinas,  Laurentius  Vallas,  Jean  le  Maires  usw. 
nicht  angenommen  werden  darf,  wenn  es  sich 
um  die  Päpste  und  überhaupt  um  den  geistlichen 
Stand  der  römischen  Kirche  handelt.  Da  ja  ausser- 
dem (was  den  benannten  Jean  le  Maire  betrifft) 
alle  die,  welche  ihn  persönlich  gekannt  haben, 
wissen,  dass  zur  Gebrechlichkeit  seines  Gehirns 
der  Wein  so  viel  hinzuthat,  dass  er  schliesslich 
geistesgestört  und  wahnsinnig  in  einem  Spital 
gestorben  ist.  Und  wenn  er  und  Agrippa  Freunde 
gewesen  sind,  so  hat  die  Gleichheit  der  Stellung 


—    253    — 

diese  Freundschaft  unter  ihnen  erzeugt,  und  das 
Ende  des  Einen  wie  des  Andern  hat  enthüllt, 
dass  ihr  Wissen  sehr  schlecht  untergebracht 
war'." 

Was  soll  man  zu  diesem  wilden  Ausfall 
eines  verbissenen  Polemikers  und  ultramontanen 
Ligisten  sagen  ?  Einen  Augenblick  hat  vielleicht 
Lemaire,  als  gereifter  Mann,  Cornelius  Agrippa 
bei  seinen  glänzenden  Anfängen  gesehen,  ist 
aber  seither  nicht  wieder  mit  ihm  zusammen- 
getroffen. Dass  Agrippa  sich  gern  mit  den 
phantastischen  Seiten  menschlichen  Wissens 
abgegeben ,  und  dass  er  in  einem  Kranken- 
hause gestorben ,  ist  wahr  ;  doch  irrsinnig 
und  wahnwitzig  war  er  nicht.  Lemaire  war 
wohl  nie  mit  Glücksgütern  gesegnet ,  er 
hat  aber  stets  freundliche  Aufnahme  und  eine 
freiere  Stellung  an  den  Höfen  seiner  fürstlichen 
Gönner  gefunden.  Dass  er  aus  Missvergnügen 
und  Bettlerneid  seine  Angriffe  gegen  das  welt- 
liche Papsttum  geschleudert  hätte,  das  ist  reine 
Verleumdung.  Wer  ist  aber  Saint-Julien ,  dass 
wir  ihm  Glauben  schenken  und  auf  seine  hin- 
geworfene Aussage  hin  das  Bild,  das  wir  uns 
nach  zahlreichen  Dokumenten,  nach  Zeugnissen 
der  Zeitgenossen,  nach  den  Schriften  des  Dichters 


'  Pierre  de  Saint-Julien,  de  rOriginc  des  Bourgougnons  'J  1. 
Paris  1581  p.  389.  Durch  Paquot  wurde  diese  Stelle  ausge- 
graben und  wird  seitdem  als  die  einzige  authentische  Notiz 
ilber  Lemaires  Ende  und  Charakter  angeführt. 


-    254    — 

von  ihm  machen  können,  gerade  in  das  Gegen- 
teil verwandeln  sollten?  Ich  bezweifle  überhaupt, 
dass  der  Archidiakonus  von  Chälons  den  könig- 
lichen Historiographen  je  gesehen  hat.  Im  Tahre 
1581  war  es  ein  leichtes,  sich  auf  Alle  zu  berufen, 
die  einen  im  ersten  Viertel  des  Jahrhunderts 
gestorbenen  Menschen  persönlich  gekannt 
haben.  Mag  wer  will  diesen  Ausbruch  der  Lei- 
denschaft der  Beachtung  würdigen,  ich  vermisse 
an  Pierre  de  Saint-Julien  die  Eigenschaften,  die 
man  von  einem  geschichtlich  glaubwürdigen 
Zeugen  verlangen  kann  und  soll,  und  lehne  sein 
Zeugniss  ab.  Und  sollte  auch  Lemaire  das 
Unglück  betroffen  haben,  dass  ihn  am  Lebens- 
abende vorzeitig  Geistesnacht  befing,  was  ich 
nicht  glaube,  so  ist  jedenfalls  jene  böswillige 
Verdächtigung  seiner  Lebensführung  unbedingt 
abzuweisen.  Läge  dieser  Schatten  auf  seinen 
letzten  Tagen,  so  würden  die,  welche  ihn  sicher 
gekannt  haben,  wohl  eine  etwas  getrübte  Erin- 
nerung an  ihn  behalten  haben,  und  Clement 
Marot  hörte  nicht  mit  gleicher  Rührung  seinen 
seligen  Vater  auf  den  Himmel  verweisen,  wo 
die  verstorbenen  Dichter  wallen,  und  unter  ihnen 
Ton  Jean  Lemaire  entre  eux  haut  colloqui. 

XVIII. 
Lemaire  war   ein  fruchtbarer  Dichter,    hat 
sich  aber  selten  beeilt,  seine  Schöpfungen  durch 
den  Druck   zu    veröffentlichen,    einige    blieben 


—  2rx^)  — 

un<:jedruckt  in  den  Händen  seiner  Freunde  und 
wurden  erst  nach  Jahren  herausgegeben;  Anderes 
mag  verloren  gegangen  sein'.  Im  Jahre  1525 
hatte  der  Buchhändler  Galliot  du  Prd  das  Glück 
ein  Ineditum  auflindig  zu  machen  und  an  die 
Spitze  einer  Auslese  seltener  Werke  der  ver- 
storbenen Meister  setzen  zu  können.  Neben 
Chastellain,  Molinet  und  Crestin  ist  Lemaire  in 
diesem  Sammclbande  durch  die  drei  Märchen 
von  Ciipido  loid  Atropos  vertreten  2. 

Das  erste  Märchen  soll  Erfindung  des  Dich- 
ters Serafino  dell'Aquila  sein 3. 

Seigneurs,  oyes  un  bien  nouvean  propos 
De  Cupido  le  Dieu  des  arnourettes 
Et  de  1(1  Mort  qii'ou  appelle  Atropos. 

Auf  seinem  Fluge  stösst  Amor  mit  Mors 
zusammen  und  findet  ihre  Rippen  etwas  hart: 
„Törichte,  blinde  Alte,  ruft  er  aus,  ich  kann  Dich 
nicht  sehen  mit  meinen  verbundenen  Augen  und 
bin  gehörig  angerannt."  —  „Schöner  Herrgott, 
verzeiht,  ich  habe  es  eilig  und  Ihr  haltet  mich 

'  Thibaut  glaubte  eine  Reihe  von  Gedichten  Lemaires  aus 
den  Tagen  von  Blois  wieder  gefunden  zu  haben  in  der  Hs.  1721 
der  Nazionalbiblioihek  ;  er  Hess  sich  zu  dem  Schlüsse  bewegen 
dadurch,  dass  die  Handschrift  in  der  That  zwei  Stücke  von 
ihm  enthüll :  Plume  infellce,  und  Fleur  fleurissant.  Es  spricht 
aber  Alles  gegen  diese  Zueignung.  Siecher  hat  einige  davon 
abgedruckt.    Oeuvres  IV,  339— "0. 

■■'  Les  trois  contes  de  Cupido  et  d'Atropos,  Oeuvres 
III,  39  sqq. 

=•  Es  ist  eine  freie  Nachbildung  des  42.  Sonnets  der  Opere 
dello  elegantissimo  poeta  Seraphino  Aquilano  (Vcnezia  1538). 
Ich  gebe  es  als  Anhang  VI  wieder. 


-    256    - 

auf."  —  „Nette  Eile,  schöne  Frau,  wir  wollen 
lieber  eins  trinken:  man  braucht  doch  nicht 
immer  Schlimmes  zu  thun."  —  „Du  thust  noch 
Schlimmeres  als  ich;  Du  lässt  die  Leute  ver- 
schmachten und  nimmst  ihnen  Sinn  und  Ver- 
stand." —  „Und  Du  bettest  sie  mit  grossem 
Schmerz  unter  die  Erde,  während  ich  ihnen 
freudiges  Sehnen  und  Verlangen  einhauche. 
Jedermann  verehrt  mich,  ich  bin  ein  siegreicher 
Gott,  Dich  aber  flieht  ein  Jeder  wie  den  Teufel, 
frostig  bist  Du,  ich  aber  erwärme."  —  „Du  bist 
ein  vornehmer  und  angesehener  Herr,  erwiedert 
Atropos;  wir  wollen  uns  vertragen  und  zu 
Tische  setzen."  —  „Unrecht  hätte,  wer  nicht 
zustimmte,  sagt  Cupido,  ich  bin  wirklich  durstig, 
so  viel  habe  ich  mit  meinem  schönen  und  starken 
Bogen  geschossen."  —  „Und  ich  erst  bei  meiner 
Birsch  auf  die  Menschen^  die  ich  Tag  und  Nacht 
rastlos  betreibe."  Mit  diesen  Worten  treten  sie 
in  die  Schenke,  ohne  ihre  unschuldigen  Hände 
zu  waschen.  Der  Tod  trinkt  wie  eine  Zisterne, 
Amor  steht  nicht  zurück. 

Atropos  pleige  et  Cupido  s'enyvre. 

Der  Wirt  wäre  die  hochmütigen  Gäste  bald  gern 
losgewesen.  In  einem  schönen  Zustande  ver- 
lassen Beide  die  Kneipe. 

Tons  empennes,  ainsi  que  volle  une  oye, 

Ils  s'en  vont  hors  puis  d'un  les,  puls  de  l'autre, 

Sans  dire  adieu,  saus  tcnir  bovine  voye. 


-    257    - 

Atropos  hat  sich  beim  Weggehn  Cupidos  Bogen 
an<fecignet,  Cupido  in  der  Trunkenheit  den 
ihren  genommen.  So  kommen  sie  mitten  in  ein 
grosses  Menschengedränge  und  fangen  an  zu 
schiessen.  Bei  jedem  Pfeil,  den  Amor  abschickt, 
fällt  ein  kraftvoller  Jüngling  zu  Tode  getroffen, 
während  Atropos' Geschosse  gebrechliche  Greise 
in  Liebe  entflammen.  So  wird  die  Welt  durch 
zwei  Bösewichte  regiert,  die  uns  um  die  Wette 
verderben:  Tod  und  Liebe,  beide  blind,  beide 
Trunkenbolde,  beide  gleich  übermütig  und  falsch. 

Mort  ne  void  goittc,  et  Ciipido  est  lotiche: 
L'im  nie  nienasse,  ä  moy  Vaiitre  ne  conte  : 
L'iin  niet  cn  terre,  et  l'autre  niet  en  coitche. 
Ainsi,  seignettrs,  ay  achevd  tnon  conte^. 

Dieser  launigen  Erzählung  hat  Lemaire  eine 
Fortsetzung  gegeben:  Vor  nicht  langer  Zeit 
wurde  mir  erzählt,  wie  Amor  den  Bogen  des 
Todes  genommen  und  damit  schönes  Unheil 
angerichtet  hatte.  In  dem  bedenklichen  Zustand, 
in  dem  er  sich  befand,  kehrte  der  Gott  zum 
Schlosse  seiner  Mutter  zurück;  er  fand  Venus 
mit  ihren  Nymphen  beim  Mittagsschlafe : 

Elle  est  deesse,  de  vien  il  ne  lui  chaut. 
St  dormoit  lors  dtdens  un  poeslc  chaut, 


'  Das  erste  Märchen  besteht  aus  33  Terzinen  nebst  Schluss- 
vcrs.  das  sind  zusammen  100  zehnsilbige  Verse.  —  Die  ganze 
Kntwickelung  der  Erzählung  und  der  Schlussgedanke  weichen 
beträchtlich  von  Seratinos  geistreichem  Sonnett  ab,  in  dieser 
Fassung  sind  sie  durchaus  Lemaires  Eigentum. 

Becker,  Jean  Lemaire.  17 


—    258    — 

Sur  tili  niol  lit  de  pluinettes  deslies, 
Bien  tapissd  de  verdures  jolies. 
Tom  alentour  sont  ses  Nymphes  et  Graces 
Nues  dormans,  bien  ref altes  et  grasses. 
Bon  les  fait  voir  ainsi  taut  rondelettes, 
Ell  soiispirant  branler  leiirs  rnaminelettes. 
Le  poesle  estoü  bien  garni  de  verrines 
Claires  luisans,  vermeüles,  sapphirines, 
Sonef  flairant  comme  un  beaii  paradis, 
Plein  d'oiselets  joyeiix  et  esbaudis, 
Qtii  lä  dedens  un  plaisant  brnit  menoient 
Et  le  pourpris  en  dednit  inaintenoicnt. 

Alles  schlief  also,  nur  Voluptas,  Amors  Tochter, 
spielte  draussen  mit  nackten  Kindern  und  ergötzte 
sich  an  einem  Male  voller  Freude  und  Liebes- 
gekose.  Zur  Erfrischung  trank  Cupido  beim  Ein- 
tritt drei  Schluck  süssen  Weines,  Volupte  ergriff 
eine  Harfe  und  stimmte  ein  Lied  an,  um  ihren 
Vater  zu  bewillkommnen,  der  auf  dem  Schosse 
der  Mutter  einschläft,  und  schnarcht  und  bläst 
und  den  Bogen  auf  ein  Kissen  sinken  lässt.  Auf 
das  Kissen  setzt  sich  Voluptd  aus  Unachtsam- 
keit und  verletzt  sich  an  dem  todbringenden 
Pfeile.  Auf  ihren  Schmerzesschrei  wacht  Venus 
auf,  sieht  ihre  Enkelin  erblassen,  fasst  sie  in  die 
Arme,  fühlt  wie  sie  erstarrt;  sie  sieht  das  Blut 
auf  ihrer  sonst  so  weissen  Hüfte,  sie  will  es 
abwischen,  fällt  aber  selbst  in  Ohnmacht.  Die 
Grazien   und  Nymphen   eilen    und    mit   Balsam 


—    259    — 

und  Nektar  und  Ambrosia  haben  sie  bald  Beide 
zur  ßesinnuno  und  zum  Leben  zurückgerufen. 
'Wer  hatte  Dich  denn  so  verwundet?'  fragt  Venus 
ihren  Liebling-,  und  wie  sie  ihr  den  Bogen  weist, 
erkennt  sie  die  Wafle  des  Todes.  Sie  lUsst  Bogen 
und  Pfeil  durch  ihre  Nymphen  sorgsam  ein- 
gewickelt vor  das  Schloss  hinaus  in  den  Graben 
werfen.  Das  Bett,  auf  dem  Amor,  vom  Weine 
blass,  liegt,  wird  sachte  ergriffen  und  in  den 
Vorhof  getragen,  und  Alle  schwören,  der  Misse- 
thätcr  solle  nicht  mehr  in  das  Schloss  eingelassen 
werden ,  bevor  er  seinen  Bogen  zurückhätte. 
Während  das  geschah,  erhob  sich  draussen  ein 
Getöse  von  Leuten,  die  der  Tod  in  Schwärmen 
vor  sich  hertrieb.  \'enus  schaut  zum  Fenster 
hinaus  und  lässt  durch  die  Thorwächter  die 
Thore  schliessen  und  Brücken  aut2iehen.  Ihr 
Gefolge,  das  wähnt,  es  seien  ihre  Liebhaber  die 
kommen,  schmückt  sich  und  bereitet  sich  auf  die 
Künste  vor,  mit  denen  die  Schönen  ihre  Ver- 
ehrer in  Schmerzen  hinhalten,  so  lange  es  ihnen 
beliebt,  bevor  sie  sich  ergeben.  Sie  erblassen 
aber  und  es  sinkt  ihnen  das  Herz,  wie  sie  den 
Tod  erblicken,  an  den  sie  nimmer  dachten,  und 
in  den  Schaaren,  die  er  vor  sich  hertrieb,  alte 
bresthafte  Greise  erkennen ,  von  denen  jeder 
einen  toten  Jüngling  herschleppt.  Die  Leichen 
lässt  Atropos  auf  einen  Haufen  werfen,  wie  man 
Schweine  aufschichten  würde,  und  peitscht  die 
unglücklichen  Greise  mit  dem  Bogen  der  Liebe, 


-    260    - 

dassCupido,   vom   erschütternden   Geheul   auf- 
geweckt, ganz  betäubt  aufsteht  und  sich,   vor 
Angst  und  Kälte  zitternd,  vergebens  nach  seiner 
Waffe  umsieht    Von  einer  Galerie  redet  Venus 
ihren  Sohn  an:    ,Wirst  Du  denn  immer  trunken 
sein?    wo    hast  Du    Deinen    herrlichen    Bogen, 
wolltest  Du   uns   alle   mit   dem  des  Todes   um- 
bringen ?  Sieh  nur,  wer  Dich  draussen  erwartet.' 
Da'  erkennt  Cupido  seine  Schuld,  und  bittet  um 
Verzeihung,   und  verspricht,  seinen  Bogen  von 
Atropos   zurückzubekommen ,    wenn    man   ihm 
nur   den   der   Alten   weist.    ,Wenn  Du   ihr  ihn 
zurückgeben  willst,  so  kannst  Du  ihn  im  Graben 
auffischen',    erwiedert  Venus ,    ,draussen    steht 
Atropos  und  handhabt  Deinen  Bogen;   geh  nur 
hin,  wo  Du  hergekommen  bist  (va  t'en  soupper 
lä  ou  tu  as  disne)'.  Unterdessen  spottete  Atropos 
draussen:    ,Ha,  Venus,  Göttin,  freue  Dich  der 
Thaten  Deines  Sohnes,  sieh,  wie  viel  blühende 
Jugend  er  hingeschlachtet  hat.    Oefifnet  mir  den 
Platz;   denn  wer  sich  nicht  ergibt,   den  werde 
ich  durch  Cupido  töten  lassen,  der  meinen  Bogen 
sehr  gut  zu  führen  weiss.    Antwortet,   oder  ich 
werde  euch  alle  liebesschmachtend  machen,  wie 
die  Schaar,   die  ich  führe.'    Bestürzung  ergriff 
Alles  bei  diesen  Worten ;  Cupido  aber  stieg  auf 
einen  Thurm  und  mit  Schmähreden  drohte  er 
Atropos,  er  würde  sie  mit  ihren  eigenen  Pfeilen 
von  der  Schiess  scharte  aus  töten,  wenn  sie  ihm 
seinen   Bogen   nicht   zurückgäbe.     ,Ha,  junger 
Trunkenbold,  erwiederte  die  Unerbittliche,  mich 


-    261    — 

töten?  Ich  kann  ja  nicht  sterben,  und  werde 
auch  nach  Dir  ewig  bestehen.  Aber  ich  will 
nicht  nur  den  Bogen,  sondern  auch  den  Namen 
mit  Dir  tauschen;  Du  sollst  Tod  und  ich  die 
Liebe  heissen,  jeder  soll  Dich  fluchen  und  hassen 
und  die  Menschen  sollen  lieber  in  meine  als  in 
Deine  Hände  fallen.  Das  soll  Dich  lehren  mit 
mir  um  die  Wette  zu  trinken.' 

Unterdessen,  fährt  der  Dichter  fort,  brach 
die  Nacht  herein,  und  ich  weiss  nicht,  was  aus 
Cupido  und  Atropos  geworden  ist,  aber  seit- 
dem habe  ich  mir  erzählen  lassen,  dass  von 
dem  Bogen  und  dem  Pfeil,  die  man  in  den 
Graben  geworfen  hatte,  das  Wasser  so  ver- 
pestet wurde,  dass  Venus  und  ihre  Frauen  zur 
Abhülfe  zahllose  Blumen  aus  dem  Garten  der 
Liebe  und  Honig  hineinwarl'en,  bis  das  Wasser 
wieder  klar  floss  und  süss  schmeckte,  was 
für  manche  Menschen  eine  arge  Verlockung 
Avar;  denn  das  Gift  hatte  seine  Wirkung  nicht 
verloren. 

Aiiis  quaiiä  cc  vint  que  la  largc  vallec 
De  ce  beati  monde  etit  reprins  ßoriture, 
Plusieurs  inondains  d'une  et  d'autre  nalnrc 
Pur  Ics  vcrds  pres  jouer  ensouble  alloieiit, 
Et  Ics  douxfniits  de  letirs  atnoiirs  ciicilloient, 
Ell  escoutant  des  oiseaux  le  doux  chant: 
Et  poitr  aller  Icur  grand  soif  estanchatit , 
Bcuvoioit  lors  la  liquciir  argcntiiic, 
Pleine  de  mort  et  poison  Serpentine, 


—    262    — 

Qui  decouroit  des  fossez  veneriques, 
Et  arrosoit  les  herbettes  bien  frisques, 
Ayant  sa  course  en  plaine  de  luxure, 
Qui  semble  douce,  et  piiis  ainere  et  sure. 
Tantfort  plaisoit  aiix  hornmes  et  auxfermnes, 
Mesmes  aiix  bons.  dont  ils  sont  plus  infames, 
Ce  tres  doux  boire  et  ce  joyeiix  bvnvage, 
Qne  maint  beau  jour  ne  fivent  autre  ouvrage. 

Allein,  als  schliesslich  das  Gift  reif  wurde,  da 
brach  die  scheussliche  Pest  aus,  die  wie  keine  je 
die  menschliche  Natur  in  ihrem  schönen  Aeussern 
entstellte,  und  den  Betroffenen  mit  ihrem  schlei- 
chenden Gift  unausstehliche  Marter  bereitete, 
gegen  die  es  keine  Abhülfe  gibt  als  schreien, 
stöhnen  und  klagen,  weinen  und  seufzen  und 
den  Tod  sich  zu  wünschen.  Und  kein  noch  so 
berühmter  Arzt  hat  der  Seuche  einen  zukom- 
menden Namen  geben  können,  jedes  Volk  nennt 
sie  anders.  Man  weiss  auch  nicht,  welchen  Hei- 
ligen man  anrufen  soll;  wenige  sind  geheilt 
worden,  viele  gestorben.  Ja,  da  hat  man  Manche 
den  Tod  anrufen  sehen,  und  ihn  aus  Verlangen 
ihre  Liebe  nennen  hören,  während  der  Name 
Amors  und  seiner  Mutter  Venus  geschmäht 
und  verwünscht  wird.  Da  hat  die  Furcht  Man- 
chen zur  Tugend  zurückgeführt.  Die  Keuschheit, 
die  beinahe  verschwunden  war,  ist  plötzlich 
Avieder  erstanden;  denn  wenn  einer  aus  Liebe 
zur  Tugend   sich  vor  der  Sünde  nicht  bewahrt, 


—    263    — 

wird  er  schliesslich   durch    die  Strafe    zurück- 
-;i:cschrcckt. 

5/  vaiit  il  inieiix  tousjours  tard  qiic  jainais. 
Ol'  ay  je  dit,  si  mc  tat's  desormais^. 

In  diesen  beiden  Gedichten,  derenEntstehungs- 
zeit  nicht  mehr  festzustellen  ist,  zeigt  sich  Le- 
maire  noch  einmal  in  der  vollen  Kraft  seines 
dichterischen  Schaffens  und  Könnens.  Im  ersten 
zeigt  sich  die  eine  Seite  seines  Talents,  seine 
humorvolle  Weise  mit  der  schlagenden  Wechsel- 
rede, den  gutmütig  scherzhaften  Vergleichen, 
den  gedrängten  Gegensätzen  und  lebhaften 
Skizzen.  Im  zweiten  entfaltet  sich  seine  vollere 
Ader:  hier  finden  wir  die  liebevoll  ausgemalten 
Bilder,  die  anmutig  breite  Erzählung,  die  Fülle 
des  eingehauchten  Lebens,  die  sinnfällige,  durch 
Lebenswahrheit  der  kleinsten  Züge  packende 
Darstellung  mit  der  tieferen  poetischen  Weihe, 
welche  aus  allen  Worten  atmet :  und  zum  Schluss 
mit  einer  überraschenden  Wendung  die  alle- 
gorische Auslegung  mit  dem  schmerzvollen  Blick 
auf  das  unheimliche  Leid  und  Weh,  das  die 
herrliche  Gotteswelt  zu  einem  Thale  des  Jammers 
macht,  und  dem  entsagungsvoll  trostsuchenden 
Schlussgedanken. 

Hiermit  nehmen  wir  Abschied  von  unserem 
Dichter ;    denn    das    dritte   Märchen   ist   leider 


'  Das     zweite     M.'lrchen     enthalt     401.'      Zehnsilber     mit 
J:rcpaartem  Reime. 


264 


nicht  mehr  von  Lemaire,  oder  besser,  zum  Glück 
für  ihn,  blos  untergeschoben.  Wir  wissen  nicht,  in 
wessen  Händen  die  Abschrift  der  Märchen  von 
Cupido  und  Atropos  geblieben  war,  augen- 
scheinlich war  eine  im  Besitz  eines  der  Dichter 
des  französischen  Hofkreises,  wie  mir  scheinen 
will,  eines  in  Tours  ansässigen  Rechtsgelehrten. 
Dem  schien  das  Werk  unvollendet  zu  sein;  in 
der  That  erfahren  wir  nicht,  ob  und  wie  Amor 
seinen  Bogen  zurückerlangte.  Diese  Lücke  suchte 
der  unbekannte  Dichter  in  Anlehnung  an  Lemaire 
und  mit  ziemlicher  Nachbildung  seines  Stils 
auszufüllen: 

Kummervoll  und  unwillig  begibt  sich  Venus 
zu  Jupiter  und  klagt  ihm  als  dem  obersten  der 
Götter  und  ihrem  Vater  ihr  Leid  und  fleht  um 
Abhülfe.  Jupiter,  dem  der  Zwist  unter  den  Un- 
sterblichen verhasst  ist,  lässt  durch  Merkur  die 
hadernden  Parteien  auf  den  1.  September  1520 
nach  Tours  zur  gerichtlichen  Verhandlung  laden. 
Zur  anberaumten  Frist  erscheinen  als  Rechts- 
vertreter für  Venus  Voluptas,  Megära  für  Atropos. 
Rede  und  Gegenrede  fruchten  Nichts,  der  Zank 
wird  immer  ärger ;  da  sendet  Jupiter  abermals 
seinen  Boten  mit  zwei  neuen  Bogen,  welche  die 
gleiche  Kraft  haben  wie  die  vertauschten  ;  dafür 
soll  aber  Amor  gewarnt  sein  und  sich  denselben 
nicht  wieder  entwenden  lassen,  Atropos  ihrer- 
seits das  Recht  behalten,  Greise  zu  Liebe  zu 
entzünden,   nur  sollten  diese   nicht  auf  Amors 


—    265    - 

Gunst  bei  den  Frauen  rechnen  dürfen,  sondern 
höchstens  auf  ihreReichtümer  bauen. DasUng^lück 
mit  dem  in  den  Graben  geworfenen  Bogen  sei 
einmal  geschehen  und  nicht  mehr  abzustellen: 
C'cst  dit  commun,  il  faut  que  Teaue  ait  cours. 
Der  Schaden  der  Betroffenen  soll  Andern  zur 
Warnung  dienen.  —  Den  Lauf  dieser  Verhand- 
lung will  der  Dichter  von  Hebe  erfahren  haben, 
die  bei  ihm  ihr  Absteigequartier  genommen  hatte. 
Was  mich  veranlasst,  in  dem  dritten  Märchen 
(.'in  untergeschobenes  Gedicht  und  nicht  Lemaires 
Werk  zu  erblicken,  ist  vorerst  der  auffallende 
Unterschied  des  Stils  und  der  Darstellungsweise. 
Schon  die  Fortsetzung  an  sich  ist  durchaus 
müssig.  Nicht  ohne  Grund  hatte  Lemaire  das 
zweite  Märchen  mit  den  Worten  geschlossen : 
Ich  habe  gesagt  und  schweige  fürderhin.  — 
Dichterisch  war  seine  Aufgabe  erfüllt,  und  wahr- 
lich es  ist  nicht  seine  Art  und  Weise,  einen 
Gedanken  weiterzuspinnen,  ohne  ihm  eine  neue 
Wendung  zu  geben.  Erfindung  und  Handlung 
sind  die  charakteristischen  Merkmale  seines 
Dichtergenius;  in  grossen  Schritten  eilt  seine 
Erzählung  vorwärts  und  bei  jedem  Schritte 
eröffnen  sich  ihm  weitausschauende  Femsichten, 
nirgends  in  seinen  Werken  ist  Stillstand  und 
müssiges  Hin-  und  Hergerede  um  einen  toten 
Punkt.  Das  Ergebniss,  zu  dem  aber  sein  Fort- 
setzer nach  vielen  Anstrengungen  gelangt,  ist 
wirklich  ärmlich :  so  viel  vergeudete  Worte,  um 


—    265    — 

schliesslich  seine  Verlegenheit  zu  bekennen. 
Und  erst  die  Tiefe  des  in  die  Allegorie  gehüllten 
Erfahrungssatzes !  —  Wir  haben  stets  hervor- 
gehoben, dass  Lemaires  Schilderung  und  Rede 
durchaus  drastisch,  auf  das  sinnfällige,  anschau- 
liche gerichtet  ist;  das  Werk  des  Fortsetzers 
ist  abstrakte  Poesie,  ein  Redeturnier,  kein  Leben 
mit  Fleisch  und  Blut.  Ueberall  bekundet  sich 
der  Rechtsbeflissene  von  Fach,  der  die  Verhand- 
lung über  die  Bogen  in  die  Form  eines  gewöhn- 
lichen Zivilprozesses  zu  kleiden  bestrebt  ist  und 
dabei  in  einer  Weise  mit  Fachausdrücken  um- 
geht, für  die  sich  Lemaire  hätte  Zwang  anthun 
müssen.  Selbst  in  Reden  wie  das  Wechselgespräch 
der  Malerei  und  Rhetorik  oder  die  Predigt  des 
Erzpriesters  Genius,  selbst  bei  Schilderungen 
technischer  V^orgänge  mit  Anwendung  des  hand- 
werksmässigen  Ausdrucks  folgt  Lemaire  frei 
der  Eingebung  der  Einbildungskraft;  er  gehorcht 
einem  inneren  Schwung;  während  sein  Nach- 
ahmer die  Reden  disponiert,  Punkt  für  Punkt 
argumentiert  und  widerlegt  und  alle  Beweise 
mit  Sorgfalt  abwägt.  Der  Sprache  vermag  er 
dabei  auch  nimmermehr  den  Glanz  zu  verleihen, 
den  sie  bei  Lemaire  immer  spontan  erhält.  Er  ist 
verlegen  und  verwickelt  sich  in  langen  Perioden, 
er  benutzt  gern  stereot3'pe  Redewendungen  und 
schöpft  auch  aus  den  früheren  Märchen,  während 
sich  Lemaire  nie  wiederholt.  In  der  Fülle  des 
Reimes  übertrifft  der  Nachdichter  freilich  sein 


—    267    — 

Vorbild;  der  Reim  fliesst  ihm  aber  nicht  von 
selbst  in  die  Feder;  er  findet  sich  nur  ffe/wungen 
ein  und  hie  und  da  mit  starker  Versündi^^un<x  an 
Gedanken  und  Sprache'.  Auch  im  Einzelnen 
weicht  das  dritte  Märchen  auffallend  von  Lemaires 
sonstiger  Vorstellungsweise  ab.  Wir  haben  schon 
hervorgehoben,  dass  der  Unbekannte  ein  Rechts- 
gelehrter zu  sein  scheint;  durch  Hebe  lässt  er 
sich  folgendermassen  anreden: 

or  si  tu  ii'es  aböd 
Ou  gratid  prclat  ayiuit  la  teste  rase, 
Je  logeray  aujourdhiiy  en  tu  rase. 

Würde  Lemaire,  der  Kanonikus,  sich  auf  diese 
Weise  zum  geistlichen  Stande  in  Gegensatz 
stellen?  Endlich  aber  —  und  das  wird  wohl  der 
schwerwiegendste  Einwand  sein  —  der  Verfasser 
des  dritten  Märchens  macht  sich  im  Schlussverse 
selber  kenntlich  durch  seine  Devise: 

Cay  atitrement  qui  blasiner  ni'eu  von  droit 
Je  inonstrerois  avoir  c<pur  ä  boii  «hoil. 

Es  ist  bekannt,  welche  Bedeutung  die  Devise 
im  16.  Jahrhundert  hatte ;    für  den  eingeweihten 


»  Vgl.  /..  B. 

Qu' il  feit  csc/iaiifie  •ymit  viii  d»'  trop  pots 

De  soll  hei  arc  ä  reliiy  ci'Atrof>os. 
Weiter  nennt  er  Venus  grand  tantc  seiner  nicce  Volupt^  zum 
Reim  auf  patente.  Patent,  triomphant ,  prell x ,  das  sind  so 
LiebiingsausdrUcke  des  Continuators.  Man  könnte  mit  Recht 
auch  auf  die  syntaktische  Behandlung  des  Verses  aufmerksam 
machen,  der  F"ortsetzer  Lemaires  bindet  sich  gern  an  die  paar- 
wcis  abfolgendcn  Zehnsilberpaare. 


-    268    - 

Leser  war  es  so  viel  wie  die  Namensunterschrift 
des  Verfassers.  Wer  war  aber  der  Unbekannte 
der  Cceur  ä  bon  droit  zum  Wahlspruch  genommen 
hatte?  In  einer  Pariser  Handschrift  steht  ein 
Klagelied  auf  Johanna  von  Orleans,  lante  des 
Königs^  Herzogin  von  Valois  und  Gräfin  von 
Taillebourg,  das  zweimal  mit  derselben  Devise 
gezeichnet  ist.  Wir  ersehen  aus  dem  Gedicht, 
das  am  6.  November  1520  geschrieben  wurde,  dass 
der  Verfasser  noch  jung  war  und  an  demselben 
Tage  seine  Mutter  verloren  hat'.  Es  scheint, 
dass  er  eben  in  diesem  Jahre  1520  sein  Glück 
als  Dichter  versuchte.  Ob  es  ihm  gelang,  wissen 
wir  nicht ;  jedenfalls  ist  sein  Märchen  im  Anhang 
an  Lemaire  gut  durch  die  Welt  gekommen  2. 


■  Bibl.  nat.  ms.  fr.  1721.  f°  107.  Louangcs  et  epitaphes  etc.. 
Fin  des  louanges  et  epitaphes  sur  le  trespas  de  .  .  .  Madame 
Jehanne  d'Orleans,  tante  du  Roy  duchesse  de  Valois  et  coniesse 
de  Taillebourg  faict  par  moy  ce  VI*^  de  novembre  1520. 

Cuetir  a  bon  droit. 
fO  109  v^  Soycs  moy  doiic  ctt  cc  cas  sccourablcs 
Je  votts  supply  oratcitrs  et  poetes  .  . 
Et  admcndes  Ics  a-uvres  iviparfaites 
De  eil  qiii  a  totisioiirs  Ciicur  a  bon  droit, 
i'^  107.  Jeuncssc  fait  mon  sens  cqiiivoquer. 

Vgl.  fo  108  v-o 

Tu  as  sotivcnt  —  In  verite  est  teile  — 
Executd  sentence  criminelle 
Par  pcnitence  adittgcr  en  temps  den. 
'^  J.    Stecher,    Oeuvres    IV,    339    Anm.,    hat    zuerst    den 
auffallenden    Schluss     des    dritten    Märchens    hervorgehoben, 
aber   ohne   weitere    Schlüsse    daraus    zu    ziehen.   —   Lemaires 
Märchen  von  Cupido   und    Atropos   haben    eine   weitere   Fort- 
setzung gefunden  in  dem  Triumphe  de  iri^s  haultc  et  puissantc 
danic  Verolle,  royne  du  puy  d'Amours,   nouvellcment  composö 
par    rinventeur     des     menus    plaisirs    honnestes,    Lyon   lö39 


-    269    — 

Ist  CS  nun  aber  Thatsachc,  —  und  wer  sollte 
es  noch  bestreiten?  —  dass  der  Verfasser  des 
dritten  Märchens  sich  selbst  dazu  bekannt  hat» 
so  ist  die  irreleitende  Bemerkung,  dass  das  erste 
von  Serafino  erfunden  und  von  Lemaire  über- 
setzt, die  beiden  folgenden  aber  Lemaires  eigene 
Erfindung  sind,  lediglich  dem  Buchhändler  zur 
Last  zu  legen,  der  bei  ungenügender  Aufmerk- 
samkeit nicht  besser  unterrichtet  war,  oder  der 
sich  aus  Berechnung  lieber  an  einen  Namen 
von  so  gutem  Klang  wie  den  des  hennegauer 
Historiographen  hielt.  Für  Lemaires  Biographie 
ergibt  sich  aber  die  wichtige  Thatsachc,  dass 
im  Jahre  1520,  dem  durch  das  Gedicht  selbst 
angedeuteten  Datum  der  Abfassung,  ein  mit  ihm 
befreundeter  Dichter  sich  berechtigt  glaubte, 
ein  Werk  von  ihm,  das  er  für  unvollendet  hielt, 
fortzusetzen  und  zu  vervollständigen.  Dieser 
Umstand  aber  bestätigt  unsere  Schlüsse  aut 
das  frühe  Hinscheiden  des  begabten  Meisters. 


(2.  Auflage  1540),  wieder  abjj:cdruckt  von  A.  de  Montaiglon  in 
dem  Rccueil  de  po^sics  fran(;oises  des  XV*-'  et  XVI*^  siC;cle^i 
t.  IV.  Paris  185(..  p.  214  ff.  Das  Büchlein  enthalt  das  2.  Milrchen 
von  Lemaire  und  das  ihm  zugeschriebene  dritte,  letzteres  mit 
Stichen,  darauf  folgt  der  eigentliche  Trionfo,  d.  h.  eine  Reihe 
von  Bildern  mit  erläuternden  Sprüchen,  mit  Ausnahme  des 
ersten,  eines  Rondeaus,  und  letzten,  einer  Zehnzeile,  in  Acht- 
zeilcn  der  Form  ababbcbc  geschrieben,  29  in  Achtsilbern,  2  in 
Zchnsilbern.  Vorausgeschickt  ist  ein  Brief  Martin  d'Orchesino's 
an  seinen  Vetter  Gilles  Meleanc,  der  die  Veranlassung  und 
Entstehung  des  Schriftchens  auseinandersetzt.  Dann  folgt  die 
Einleitung  des  Verfassers,  zum  Schlüsse  ein  Nachwort  an  den 
Leser.  Der  Verfasser  ist  ein  Verehrer  Rabelais'.  Rouen  spielt 
eine  Hauptrolle  und  dürfte  der  Ort  sein,  wo  das  Buch  entstand. 


—    270    — 

XIX. 

So  entrollt  sich  vor  unseren  Augen  die 
Laufbahn  eines  Dichters,  dem  kaum  mehr  als 
vierzig  Jahre  des  Lebens  und  nur  zehn  Jahre 
litterarischer  Thätigkeit  beschieden  waren,  und 
wahrlich  ein  reich  ausgefülltes  Dasein.  Von 
Lemaires  Kindheit,  von  den  bleibenden  Ein- 
drücken der  engeren  Heimat  lässt  sich  mehr 
träumen  als  belegte  Thatsachen  anführen:  in  ßa- 
vay  auf  den  verwitternden  Trümmern  römischer 
Herrlichkeit',  in  Valenciennes,  wo  die  Klöster 
und  Bibliotheken,  die  gesammelten  Schätze  mit- 
telalterlichen Wissens  bargen,  und  sich  auf  den 
Strassen  daneben  das  rege  Leben  eines  handeis-, 
gewerbe-  und  kunstbeflissenen  Volkes  bewegte, 
im  Hause  des  gelehrten  und  beredten  Molinet, 
des  weltberühmten  Meisters  der  Rhetorik,  in 
den  Werkstätten  der  Maler  und  Goldschmiede, 
zu  denen  ihm  vielleicht  Familien-  und  Freund- 
schaftsbeziehungen Einlass  verschafften,  in  den 
ehrwürdigen  Domchören,  in  denen  seine  helle 
Knabenstimme  erklang,  wird  sein  Geist  durch 
den  offenen  Einblick  in  das  Thun  und  Treiben 
der  Menschen  früh  geweckt  und  angeregt  worden 
sein,  wird  der  Zauber  verklungener  Zeiten 
seine  Einbildungskraft  beschlichen  und  mit  Bil- 
dern erfüllt  haben.    Früh  wird  er  auch  das  ein- 


1  Wer  weiss,  wie  lange  Lemaire  in  Bavay  blieb,  und  ob 
nicht  die  Kriege  zwischen  Frankreich  und  Burgund  schon 
früh  seine  UebersicdcUing  nach  Valenciennes  veranlassten? 


—    271     - 

s.ime  Studium  fern  vom  Getriebe  der  Welt  lieb- 
gewonnen haben ;  da  fesselte  ihn  neben  den  alle- 
äj^orischen  Gestalten  des  Rosenromans,  denen 
Molinet  so  mannigfache  Deutungen  zu  geben 
wusste,  vor  allem  Ovids  weiche  und  schmuck- 
reiche Redcfülle,  die  das  idyllische  Heldenzeit- 
alter seiner  kindlichen  Auffassung  näherbrachte; 
da  übte  er  sich  nach  dem  Vorbilde  seines  be- 
rühmten Vcrwanten  in  allen  Künsten  der  Rhe- 
torik und  eignete  sich  in  \'ers  und  Prosa  jene 
nie  verlegene  Fertigkeit  und  Gewantheit  an,  die 
ihm  sptäter  vorzüglich  zu  Statten  kam.  Die 
Hochschule  zu  Paris,  noch  immer  die  grosse 
Lehrmeisterin  der  Welt,  vollendete  seine  Erzie- 
hung; hier  wird  er  den  Grund  gelegt  haben  zu 
seiner  umfassenden  Kenntniss  der  alten  Schrift- 
steller, hier  wird  der  Drang,  an  der  Quelle  zu 
schöpfen,  zur  bewussten  Lebensaufgabe  heran- 
gereift sein,  hier  mag  auch  sein  kindlich  frommes 
Gemüt  etwas  vom  ernsten  Trotz  gallikanischer 
Ueberzeugung  angenommen  haben. 

So  vorbereitet  trat  Lemaire  in  das  prak- 
tische Leben  ein,  redlich  gesonnen  sich  in  gott- 
gefälligem Wandel  der  Berufspflicht  zu  unter- 
ziehen. Allein  unter  den  neuen  Anregungen, 
welche  die  Weltstadt  am  Zusammenfluss  der 
Rhone  und  Saone  ihm  bot,  unter  den  Aufmun- 
terungen zuvorkommend  bewundernder  Freunde, 
unter  dem  Hauch,  der  wie  Lenzesmahnen  von 
Italien  herwehte,   brach  der  Trieb  der  eigenen 


Natur  durch;  ganz  im  Stillen  scheint  er  inner- 
lich gereift  zu  sein ,  ohne  dass  Jemand  um  ihn 
ahnte,  was  aus  ihm  werden  sollte;  Jean  Robertet, 
der  Generalschatzmeister,  ebenso  wie  seine 
Söhne  standen  im  poetischen  Briefverkehr  mit 
Molinet;  man  sucht  umsonst  eine  Erwähnung- 
des  jungen  Finanzbeamten,  eine  Andeutung  der 
Hoffnungen,  zu  denen  er  berechtigte'. 

In  den  Jahren  der  Reife  wurde  dem  Dichter 
sein  Beruf  klar;  er  betrat  die  Bahn,  und  unbe- 
irrt durch  den  Wechsel  der  Verhältnisse,  durch 
die  vielseitigen  Geschäfte,  die  auf  seinen  Armen 
lasteten,  durch  das  Schwanken  der  Hofgunst, 
schritt  er  langsam  und  stetig  voran.  Wenn  man 
seine  Thätigkeit  als  Finanzbeamter^,  seine  Rüh- 
rigkeit als  Bauführer  in  Brou,  seine  wieder- 
holten Reisen,  zwei  mehrmonatliche  nach  Italien, 
zwei  oder  drei  nach  den  Niederlanden,  den 
Umzug  durch  die  Provinzen  mit  der  Statthalterin, 
die  Reise  nach  Frankreich,  den  Aufenthalt  in 
der  Bretagne,  ferner  den  Unfall  mit  dem  gebro- 
chenen Arm  und  zeitweise  die  Unsicherheit 
seiner  Stellung   in    Betracht   zieht,   und    dabei 

^  Man  muss  sich  überhaupt  hüten,  Lemaires  Verwant- 
schaftsverhältniss  zu  Molinet  als  ein  zu  enges  aufzufassen ; 
Lemaire  ist  Molinets  Schüler  als  Dichter,  unstreitig;  was  er 
ihm  sonst  verdankt,  das  wissen  wir  nicht.  In  seinem  Testament 
hat  Molinet  seinen  Nachfolger  im  Amte  nicht  bedacht. 

'^  Seine  Thätigkeit  als  Hauslehrer  mag  ich  hier  nicht 
erwähnen ,  weil  ich  immer  noch  daran  zweifle.  Claude  de 
Saint-Julien  kann  precepteur  sehr  wohl  als  Ausdruck  hoch- 
achtender Verehrung  gebraucht  haben;  sein  Sohn  Pierre  war 
aber  im  Stande,  einen  ganzen  Roman  darauf  zu  bauen. 


-    273    — 

bedenkt,  was  er  als  Schriftsteller  Alles  versucht 
und  vollendet  hat,  so  wird  man  sich  der  Ach- 
tung vor  der  Leistung  und  der  durch  sie  bekun- 
deten unermüdlichen  Emsigkeit  und  geistigen 
Fruchtbarkeit  nicht  erwehren  können. 

Mit  offenem  Sinn  und  einer  das  Neue  und 
Unbekannte  aus  eigenem  Antrieb  aufspürenden 
Empfänglichkeit  kam  Lemaire  einer  Zeit  ent- 
gegen ,  welche  die  Schätze  zweier  Welten  ent- 
deckt, die  schlummernden  des  vergessenen 
vMtertums  und  die  ungeahnten  der  überseeischen 
Erdteile.  Unermüdlich  späht  und  sammelt  er 
auf  Reisen  und  zu  Hause  Nachrichten  und  wert- 
volles Material  für  seine  Werke,  Antikes  und 
Modernes;  hier  erwirbt  er  neue  Drucke,  und 
wie  freut  er  sich  und  ist  stolz  über  einen  glück- 
lichen Fund;  dort  stöbert  er  fast  unleserliche 
Handschriften  auf;  in  Städten  und  Klöstern  ent- 
ziffert er  Inschriften,  in  einsamen  Alpenthälern 
besucht  er  die  Gräber  alter  Burgunderkönige, 
in  Donaueschingen  lässt  er  sich  von  den  Wun- 
dern des  Schwarzwaldes  erzählen,  in  Venedig 
und  Rom  liest  er  Prophezeiungen  auf;  wo  er 
kann,  fragt  er  die  Weitgereisten  aus;  er  merkt 
sich  die  Neuigkeiten,  die  ihm  aus  der  politischen 
Korrespondenz  des  Kaisers  und  seiner  Tochter 
zu  Gehör  kommen:  Alles  zeichnet  er  auf  und 
weiss  es  gelegentlich  vorzubringen.  So  ist  er 
stets  ausgezeichnet  unterrichtet  und  überrascht 
seine  Bekannten  durch  die  Allseitigkeit  seiner 

Becker,  Jean  Lemaire.  18 


-    274    - 

Kenntnisse  und  die  Wärme  und  Beredsamkeit 
mit  der  er  sie  vorzutragen  versteht. 

Freilich  unanfechtbar  ist  sein  Wissen  nicht; 
denn  Kritik  übt  er  in  geringem  Masse;  vor 
allem  ist  er  das  Kind  seiner  Einbildungskraft. 
Es  strömt  des  Neuen  so  viel  auf  ihn  zu,  er 
empfängt  von  allen  Seiten  so  starke  Eindrücke, 
dass  er  mit  kindlichem  Glauben  Alles  aufnimmt, 
was  ihm  von  ernsten  Gewährsmännern,  ob  Dich- 
ter, ob  Chronist,  ob  Reisender,  ob  Fremden- 
führer, bestätigt  wird;  und  er  bleibt  bei  dem, 
was  in  ihm  zu  lebendiger  Anschauung  geworden 
ist.  Ist  nur  Jemand  gut  unterrichtet  wie  Annius, 
oder  scheint  der  Zeuge  den  Begebenheiten  nahe 
gestanden  zu  sein  wie  Dictys,  eine  innere  Zer- 
gliederung kennt  Lemaire  nicht,  —  wenn  nur 
das  Bild  vollständig  wird.  Allzueinschneidende 
Kritiker  wie  Laurentius  Valla  beunruhigen  ihn 
nur;  das  blosse  Verneinen  fremdet  ihn  an;  das 
Positive,  das  Fassbare  allein  beseelt  sich  für  ihn. 

Im  Grunde  seines  Wesens  ist  Lemaire  eben 
Dichter;  ein  kleiner,  unbeachteter  Zug,  ein  Wort, 
das  ihn  packt,  schlägt  zündend  in  seine  Phan- 
tasie und  erzeugt  eine  ganze  Reihe  lebender 
Bilder;  ein  Sittich,  der  von  einem  Hunde  zer- 
rissen wird,  gibt  ihm  den  ersten  Brief  des  grünen 
Liebhabers  ein;  ein  anerkennendes  Wort  aus 
königlichem  Munde  diktiert  ihm  den  zweiten. 
Aus  drei  Heroiden  Ovids  baut  er  den  Roman 
von  Paris;  aus  zwei  schmückenden  Beiwörtern 


-    275    - 

liest  er  eine  ganze  Schilderung  der  Franken 
heraus'.  Diese  Lebhaftigkeit  der  Einbildungs- 
kraftwird durch  die  überströmende  Gabe  der  Rede 
mächtig  unterstutzt,  oft  beinahe  überwuchert.  Die 
Fülle  und  der  Reichtum  der  Worte  -  und  welcher 
klangvollen  und  farbenprächtigen  Worte!  —  steht 
ihm  jederzeit  zur  Verfügung  und  harrt  nur  des 
Winkes,  um  sich  in  breiter,  üppiger  Periode  zu  er- 
giessen.  Lemaire  gehört  nicht  zu  den  Dichtern,  die 
sich  an  Witz  oder  neckischem  Gedankenspiel  er- 
lustigen, die  ihre  gemütliche  Plauderei  zur  Poesie 
erheben;  er  ist  auch  nicht  derjenige,  der  von 
einer  abstrakten  Vorstellung  ausgeht  und  ihr 
bedächtig  ein  allegv>risches  Gewand  als  keusche 
oder  blendende  Hülle  des  Gedankens  zurecht- 
legt. Das  Erste  bei  ihm  —  ob  sinnbildlich,  ob 
wirklich  gedacht  -  ist  die  innere  Anschauung, 
er  erlebt  innerlich,  was  er  zum  Ausdruck  bringt. 
Daneben  und  unabhängig  davon  besitzt  er  die 
äussere   Gestaltungskraft;   er   beherrscht  Form 


1  Nous  avons  le  pocte  Mariial  cn  ses  epig:rammcs,  et  luvc- 
nal  cn  ses  satyres,  qui  fönt  mention  des  Sicambriens,  et  desij;nent 
et  pourtrayent  leurs  favons  et  habitudes,  presques  comme  si  on 
veoit  ä  l'tcil,  de  quel  forme  et  sortc  ils  estoyent  adonc,  telle- 
ment  que  im  peintre  bien  enttndu  Ics  pourroit  bien  contrefaire 
apres  los  deux  vcrs  qui  s'ensuivent.  Dont  run  monstre,  qu'itz 
avoyent  les  cheveux  crepelez,  recercelez  et  retortillez,  tout  ainsi 
que  les  hauts  Allemans  les  portent  jusques  aujourdhui.  L'auirc 
dit  qu'ilz  avoyent  la  face  et  le  regard  terrible,  eflroyeuse  et 
redoutable.  Et  c'est  quant  aux  Sicambriens. 
Martialis  : 
Criiiihiis  in  iiodiiin  tortis  vciicrc  Sicaiiibri. 

Iiivenalis: 
Tainqiiain  de  Gc/is  aliqnid  lorvisqiic  Sicaiiihria. 


—    276    - 

und  Ausdruck  und  zwingt  sie  zum  Gehorsam. 
Die  metrische  und  stilistische  Schukmg,  die  er 
unter  Molinets  Fuchtel  durchgemacht  hat,  trägt 
ihre  Früchte.  Er  kennt  bis  in  die  feinsten  Schat- 
tierungen die  künstlerischen  Mittel  der  Sprache, 
die  volltönenden  Worte,  die  lieblichen  Aus- 
drücke, die  farbigen  Bilder,  den  harmonischen 
Tonfall  der  Sprachklänge,  den  unfassbaren  Ryth- 
mus,  der  ihn  wie  ein  Fluss  wiegend  davonträgt. 
Bald  ergiesst  sich  aus  dem  schaffenden  Innern 
das  vollendete  poetische  Gebilde  wie  aus  einem 
Guss,  wenn  sich  der  geheimnissvolle  Bund  der 
inneren  Anschauung  und  der  äusseren  Form 
durch  das  unbestimmbare  Mitschwingen  der 
intimsten  Herzensfaser  vollzogen  hat.  Bald,  wenn 
es  ihm  so  beliebt,  entbietet  er  das  allzeit  willige 
Heer  der  Bilder,  Metaphern  und  Worte  und 
lässt  sie  in  prunkendem  Aufzug  vorbeimar- 
schieren und  freut  sich  des  strahlenden  Anblicks 
und  des  dröhnend  gewappneten  Klanges.  Ein 
Herrscher,  frohlockt  er  über  das  Gepränge  seiner 
Macht. 

In  der  Gewalt  über  die  Rede  besitzt  Lemaire 
eine  Kraft,  deren  er  sich  bewusst  ist.  Nach  bei- 
läufigen Aeusserungen  hat  es  allerdings  den 
Anschein,  als  ob  er  sich  gelegenthch  im  Gespräch 
eingeschüchtert  gefühlt  hätte,  jedenfalls  nicht  so 
sicher  wie  beim  Schreiben.  Hier  aber,  in  der 
Begeisterung  und  beim  abgerundeten  Vortrag 
ist  er  unbedingter  Herr  der  Sprache  und  übt  seine 


-    277    — 

Meisterschaft   ungehemmt,    ohne  jede  Beklom- 
menheit. 

MUchtig  und  pedantisch  hat  man  Lcmaire 
genannt,  weil  man  ihn  einscitigbeurteilte.  Man  hat 
vergessen,  dass  er  doch  nicht  immer  auf  feier- 
lichem Kothurn  cinherschreitct.  Die  gespreizte 
Sprache,  die  er  Götter  und  C.öttinnen  reden 
lässt,  schlägt  öfters  in  einen  ungezwungenen, 
vertraulichen  Ton  um.  Nicht  nur  stolze  Metaphern, 
auch  kräftige  Spruch  Wörter  stehen  ihm  zu  Gebote. 
Der  Verfasser  der  Illustrations  de  Gaule  ist 
zugleich  der  volkstümliche  Polemiker  der  Le- 
gende des  Venitiens  und  der  Difference  des 
schismes  et  des  conciles.  Aus  derselben  Feder 
sind  die  Prunkreden  der  Couronne  margaritique 
und  die  Hirtenlieder  des  Temple  d'Honneur  et 
de  Vertu  geflossen.  Und  wiederum  ist  es  der 
gleiche  Schriftsteller,  der  in  den  Epistres  de 
l'Amant  verd  den  anmutigen  Scherz  mit  gelin- 
der Rührung  zu  paaren  verstand,  der  gleiche, 
der  in  der  Concorde  des  deux  langages  den 
kräftigen  Ton  strotzender  Lebenslust  anschlug 
und  in  den  Contes  de  Cupido  et  d'Atropos  die 
poetische  Weihe  mit  neckischem  Spiele  ver- 
band. Es  zeigt  sich  in  diesen  Werken  eine 
humorvolle  Seite,  welche  der  gewöhnlichen 
ieierlichen  Würde  das  Gegengewicht  hält  und 
zur  Beurteilung  seines  Wesens  und  seiner  Eigen- 
art als  Schriftsteller  nicht  unbeachtet  bleiben 
darf. 


278 


Ebenso  einseitig  wäre  das  Urteil  über  Le- 
maire,  wenn  man  in  ihm  blos  den  Dichter,  der 
ohne  kritisches  Bedenken  dem  Impulse  der  Ein- 
bildungskraft folgt,  den  Stilisten,  der  sich  durch 
den  Zauber  der  Worte  berauschen  lässt,  erblickte. 
Ihm  leuchtet  ein  höherer  Leitstern  vor,  die  Wahr- 
heit, der  er  sich  verdungen  fühlt  als  Geschichts- 
forscher. Sein  Schutzgeist  ist  Labeur  historien, 
zu  dem  er  eine  natürliche  Zuneigung  hegt;  in 
seiner  Nähe  möchte  er  sein  Leben  verbringen. 
Veritatem  sequimur,  ist  sein  Trostgedanke,  wenn 
er  angefochten  oder  sein  Streben  verkannt  wird. 
Ein  Kampf  gegen  althergebrachte  Irrtümer  waren 
seine  Illustrations  de  Gaule;  seine  Streitschriften 
sind  getragen  vom  Bewusstsein,  ein  Verfechter 
der  rechten  Sache  zu  sein.  Auch  wo  der  Dichter 
hervorbricht,  fühlt  sich  Lemaire  als  Geschichts- 
schreiber; wenn  er  ausschmückt  und  in  seinem 
Sinne  weiterdichtet,  so  glaubt  er  nicht  zu  er- 
finden, sondern  nur  das  Verborgene  und  Ver- 
kannte in  ein  helleres  Licht  zu  stellen. 

Majestätische  Feierlichkeit  und  neckischer 
Humor,  prunkhafter  Redeschwall  und  idyllische 
Einfalt,  unmittelbare  Ursprünglichkeit  und  uner- 
müdliche Emsigkeit,  lebensfrischer  Realismus 
und  allegorische  Deutungssucht,  kritiklose  Leicht- 
gläubigkeit und  begeisterter  Drang  nach  Wahr- 
heit, kindliche  Frömmigkeit  und  trotziger  Frei- 
mut, das  sind  Gegensätze  —  und  sie  lassen  sich 
häufen  — ,  die  sich  in  Lemaire  vereinigen,  ohne 


—    279    — 

innere  Widersprüche  zu  bilden.  Der  Trieb  des 
Humanismus  macht  sich  hier  geltend  und  will 
den  Menschen  mit  all  seinen  FUhigkeiten  zur 
vollen  Entfaltung  bringen.  Diese  Vielseitigkeit 
ist  kein  Spiel  des  Zufalls,  es  ist  ein  Zeichen  der 
Zeit;  sie  hängt  auch  bei  Lemaire  mit  einem  be- 
wussten  und  ausgesprochenen  Ideal  zusammen, 
das  er  mit  einer  eigenen  Innigkeit  aufgefasst  hat*. 
Wenn  bei  ihm  diese  Gegensätze  sich  nicht  voll- 
ständig zur  höheren  Einheit  zu  klären  scheinen, 
so  mag  das  wohl  an  der  Ungunst  der  Verhält- 
nisse, an  seiner  untergeordneten  Stellung,  an 
einer  gewissen  Schüchternheit  und  Weichheit 
des  Charakters  liegen,  an  der  Unsicherheit  auch 
des  Geschmacks,  der  bei  der  Unfertigkeit  der 
französischen  Sprache  deutlicher  hervortritt  als 
bei  denen,  die  sich  des  klassischen  Lateins  be- 
dienten. Das  Gefühl  der  Persönlichkeit  und  ihres 
Wertes,  das  Merkmal  der  Renaissance,  besitzt 
auch  Lemaire,  aber  nicht  in  der  schroffen  Weise 
Perreals;  es  ist  gemildert  durch  eine  mitunter 
übertriebene  Ehrfurcht  gegen  seine  Umgebung. 
Einmal  droht  er,  zum  Zorne  gereizt,  mit  der 
Feder,  deren  Schärfe  er  kennt ;  aber  es  wird  so 
spät  sein  wie  möglich,  fügt  er  sogleich  in  sich 
kehrend  hinzu.    Lemaire   ist   nicht   ausgezogen 


'  Man  gedenke  der  Schilderung  des  Grafen  von  Ligny,  be- 
sonders des  bedeutungsvollen  Wortes: 

Qncl  aiitrc  plus  cii  tonte  art  vertitciisc 
Sc  delita,  satts  forme  iutpetucuse, 
Siiivatit  le  traiii  des  boiis  nobles  aticieiis? 


280 


in  die  Schlacht  mit  Champier,  sich  Rittersporen 
zu  holen.  Gegen  die  Fesseln,  die  ihm  Stellung 
und  Stand  auferlegten,  hat  er  sich  nie  gesträubt; 
nur  eine  halb  resignierte  Klage  lässt  er  laut 
werden'. 

Sein  ganzes  Leben  seit  seinem  ersten  Auf- 
treten als  Schriftsteller  hat  Lemaire  in  der  Um- 
gebung fürstlicher  Persönlichkeiten  verbracht, 
ohne  in  vertrautere  Beziehungen  zu  ihnen  zu 
treten;  seine  näheren  Bekannten  sind  die  Hof- 
dichter und  Hofmaler,  die  Geheimschreiber,  die 
Wappenkönige,  der  ganze  Kreis  der  höher  ge- 
schulten Hofbeamten  und  Hofkünstler,  zu  denen 
er  als  Hofgeschichtsschreiber  gerechnet  werden 
konnte.  Häufig  hat  es  ihn  hinausgezogen  aus 
der  beklemmenden  Umgebung  zur  freieren  Be- 
thätigung  seiner  Natur;  bald  sehnte  er  sich  nach 
einem  der  Muse  und  der  Forschung  geweihten 
Stillleben ;  bald  ergriff  er  eine  praktische  Thätig- 
keit;  immer  Avieder  führten  ihn  Hoffnung  oder 
Ehrgeiz  in  die  Nähe  der  Fürsten  zurück.  Unwill- 
kommen war  er  nicht,  namentlich  die  Frauen 
scheinen  den  Dichter  inniger  Herzensidyllen  gern 
gesehen  zu  haben,  wenn  er  auch  klagt,  dass  sein 
Liebes  werben  trotz  aller  Mühe  und  aller  schönen 
Lieder  ohne  Erhörung  geblieben  ist.  Für  die 
Frauenwelt  schreibt  Lemaire  sein  grosses  Werk; 


'  Um  Lemaire  nicht  zu  sentimental  aufzufassen,  muss  man 
auch  hier  wieder  den  wehmütigen  Ausbrüchen  in  den  Briefen 
den  kecken  Uebermut  der  Rede  des  Erzpriesters  Genius  ent- 
gegenhalten. 


—    281     -- 

es  schmeichelt  seinem  Dichterstolz,  wenn  er  sie 
findet,  wie  sie  aus  seiner  Schcrzepistcl  die 
rührendsten  Stellen  aussuchen,  um  sich  erweichen 
zu  lassen.  Ihre  Anerkennung,  zumal  aus  lürst- 
lichem  Munde,  ist  ihm  reicher  Lohn  für  alle  seine 
Mühe;  so  crlullt  ihn  jedes  entgegengebrachte 
Wohlwollen  mit  Erkenntlichkeit  und  Dank.  Dafür 
fehlte  ihm  auch  die  warme  Begeisterung  nicht, 
welche  jüngere  Männer  wie  Fournier  und  Clement 
Marot  unter  dem  sympathischen  Eindruck  seiner 
Persönlichkeit  ihm  widmeten,  und  die  treue  Er- 
innerung, in  der  sie  ihn  bewahrten. 

Unvollständig  bleibt  die  Vorstellung,  die  wir 
uns  von  Lemaire  machen  können ;  denn  es  fehlt 
uns  das  Bild  seiner  äusseren  Erscheinung,  seiner 
leiblichen  Züge.  Das  Widmungse.xemplar  des 
dritten  Buches  der  Illustrations  enthält  zwar  eine 
Miniaturzeichnung,  auf  der  wir  den  Dichter  zu 
erkennen  glauben'.  Auf  dem  Throne  sitzt  Königin 
Anna  mit  den  Abzeichen  der  (Göttin  Juno;  rechts 
vor  ihr  steht,  wie  mich  dünkt,  ihre  Tochter 
Klaudia ;  im  Vordergrunde  unterhalten  sich  drei 
Hofdamen  auf  Polstern  sitzend,  neben  ihnen  ein 
Papagei  im  Käfig.  Ein  Genius  überreicht  der 
Königin  den  Band  und  weist  mit  der  Hand  auf 
das  Bild  Merkurs  über  der  Thüre  links.    Hinter 


'  Stadlbihlioihik  zu  Bern,  Hs.  Xr.  J-U,  ein  sehön  j^rcschrii- 
bcner  Fuliohantl,  auf  Pergament.  Dem  Bilde  wird  wohl  bis  zu 
einem  {gewissen  Grade  Portriltilhnlichkeii  zuerkannt  werden 
dtirten;   für  die  Könijrin  scheint  sie  mir  ihatsilchlich  angestrebt 

und  jJTelrolTen   worden  /u  sein. 


-    282    - 

ihm  tritt  der  Verfasser  in  geistlichem  Anzug  durch 
die  Thür  und  verneigt  sich  ehrerbietig  gegen  die 
Fürstin;  die  Figur  ist  durch  die  Perspektive  und 
die  Verbeugung  stark  verkürzt;  die  Tracht  ist 
die  der  Zeit  Ludwigs  des  XII.:  ein  dunkler  Talar, 
pelzverbrämt,  kennzeichnet  den  Kanonikus,  der 
Rand  des  ausgeschnittenen  Unterkleides  kräuselt 
sich  um  den  nackten  Hals ;  braunes  Haar  fällt 
bis  in  den  Nacken  und  bedeckt  etwas  die  Stirn ; 
das  gefällig  ovale  Gesicht  ist  bartlos;  die  hoch- 
gezogenen Brauen  legen  leichte  Falten  in  die 
Stirn.  Bedeutend  ist  der  Blick  der  schönen 
grossen  Augen,  die  sich  ehrfurchtsvoll  auf  die 
Königin  richten;  man  sieht  sie  leuchten  und  kann 
sich  vorstellen,  wie  .sie  die  Rede  des  Dichters 
belebten,  vi'enn  Begeisterung  aus  ihnen  flammte. 
Leider  sind  die  übrigen  Teile  des  Gesichtes  stark 
beschädigt,  es  fehlt  die  Nase  und  der  Mund,  dem 
einst  der  Fluss  der  Worte  entströmte;  der  Ein- 
druck des  Bildes  bleibt  unvollständig  und  lässt 
sich  nicht  mehr  ergänzen".  Nicht  Ehrfurcht  ge- 
bietend ,  sondern  Zuneigung  und  Freundschaft 
einflössend  erscheint  uns  Lemaire,  wenn  wir  die 
Zeichnung  betrachten.  Sein  Aeusseres  bekundet 
die  Sorgfalt  des  Hofmannes,  der  in  den  gebil- 
detsten Kreisen  der  Gesellschaft  verkehrt;  der 
offene  Ausdruck  des  Gesichtes  verrät  die  rasch- 

'  Am  besten  und  richtigsten  könnte  diese  ErfrUnzung  viel- 
leicht geschehen,  wenn  man  der  Miniatur  das  Bild  Molinets 
(Boulogne  s.  M. ,  Museum  Nr.  15)  entgegenhält,  eine  hohe  Nase 
und  einen  leicht  sich  öffnenden  Mund. 


—    283    — 

wiederspiegelnde  Empfänglichkeit  für  die  Ein- 
drücke; man  schwankt  beim  Anblick,  ob  man 
den  vveltkundigcn  Gesellschafter  oder  den  stillen 
Denker,  der  die  Einsamkeit  liebt,  vor  sich  hat; 
dabei  kann  man  sich  die  bewegliche  Gestalt,  die 
trotz  der  vierziger  noch  die  Frische  der  Jugend 
bewahrt  hat,  sehr  wohl  in  den  Steingruben  von 
Saint-Lothain  unter  den  zusammenrutschenden 
Erdmassen,  im  Wasser  bis  an  die  Knie  vorstellen: 
man  kann  sich  den  Mann  denken,  wie  er  am 
Sonntag  schnell  seine  sechzehn  Gesellen  in  das 
Salzwerk,  über  dessen  vernachlässigten  Betrieb 
er  sich  ärgert,  mitnimmt  und  zur  Probe  eine 
Viertelstunde  pumpen  lässt.  Und  wehmütig 
stimmt  es,  wenn  man  die  blasse  Schläfe  und  das 
grosse  Auge  betrachtet  und  des  Wortes  gedenkt,, 
das  er  als  Fünfundzwanzigjähriger  aufsein  Heft 
schrieb:  Nulla  sors  longa  est,  gleichsam  in  Vor- 
ahnung der  kurzen  ihm  beschiedenen  Lebensfrist. 
Auch  dieses  kleine,  und  wer  weiss  wie  weit  zu- 
verlässige Denkmal  seiner  irdischen  Erscheinung» 
es  zerfällt,  und  der  Mantel  der  Zeit  verdeckt  mit 
dunkeln  Falten  das  Bild  des  Mannes,  in  dem  ein 
Jahrhundert  den  Bahnbrecher  für  die  Dichtung 
und  künstlerische  Handhabung  der  Sprache  er- 
blickt hat. 

:xx. 

Sprünge  gibt  es  in  der  Litteraturgeschichte 
eigentlich  nicht;  selbst  zu  Zeiten,  wo  sich  der 
Geschmack  umgestaltet,  wie  um  die  Wende  des. 


284 


15.  Jahrhunderts,  wurzelt  jeder  einzelne  Schrift- 
steller mit  zahlreichen  Fasern  im  Boden  der 
Vergangenheit  und  nährt  sich  von  den  Stoffen, 
welche  die  früheren  Geschlechter  verschafft  und 
nutzbar  gemacht  haben. 

Für  Lemairc  wie  für  seine  Zeitgenossen 
und  Vorgänger  beginnt  die  französische  Lit/e- 
ratur  mit  Jean  de  Meun.  Vom  Rosenroman, 
ihrem  ersten.  Lesebuch,  kommt  die  Eingebung 
ihrer  vorwiegend  allegorischen  Dichtung,  die 
sich  nach  seinem  Vorbild  gei'n  in  das  Gewand 
eines  Traumes  hüllt  und  in  einer  metaphysischen 
Gegend  abspielt;  aus  ihm  lernen  sie  die  psycho- 
logische Anah'se  durch  künstliche  Personifizie- 
rungen ersetzen,  welche  nicht  blos  allgemeine 
Eigenschaften  bedeuten,  sondern  zufälliges  Ver- 
halten und  vorübergehende  Stimmungen  um- 
schreiben und  in  eine  sonst  rein  menschliche 
Handlung  wirksam  eingreifen  \  Gerade  der 
zweite  Teil  des  Romans,  die  Fortsetzung  von 
Jean  Clopinel,  hat  die  folgenden  Geschlechter 
mit  seiner  freien  Moral,  seiner  aus  den  heid- 
nischen Schriftstellern  geschöpften  Weltaufifas- 
sung,  den  langen  gelehrten  Abschweifungen 
und  der  derben  Satire,  dem  ungeschminkten 
Tone,  den  kräftigen  Ausdrücken  und  den  viel 
bewunderten  Schilderungen  bestrickt.  Eine  Figur 
hat  Lemaire  mit  unverholener  Vorliebe  dem 
Rosenroman  entnommen    und  ihr  eine   hervor- 


>  Cf.  G.  Paris,  la  litl^nitiirc  fran(;aise  au  moycn  agc,  §  111  sqq. 


-    '2f\)    -  - 

ragende  Bedeutung  gegeben,  dies  ist  jener  Erz- 
priester der  Natur,  Genius,  der  Schutzgeist  der 
natürlichen  Erzeugung;  er  darf  beim  Male  der 
Götter  nicht  fehlen,  im  Verein  mit  Hymeniius 
segnet  er  das  junge  Paar;  er  ist  der  Hohe- 
priester im  Tempel  der  Venus,  ihm  sind  die 
Menschen  mit  ihren  natürlichen  Neigungen 
unterthan'. 

Von  den  älteren  Schätzen  der  französischen 
Litteratur,  von  der  nazionalen  Heldensage,  ist 
dem  Belgier  nur  das  bekannt,  was  Gemeingut 
des  Volkes  geworden  ist;  wenn  er  auf  Roland^ 
die  gefallenen  Helden  von  Arles,  Ogier,  das 
Pferd  Bayart,  oder  Ourson  anspielt,  so  sind  es 
Gestalten,  die  Jedermann  kennt,  weil  noch  all- 
gemein von  ihnen  gesprochen  wird.  Man  könnte 
sich  denken,  dass  er  als  Kind  die  eine  oder 
andere  von  jenen  beliebten  Prosaautlösungen 
aus  dem  mittelalterlichen  Sagenkreis  gelesen 
hätte;  selbst  in  seinem  kunstreichen  Stil  finden 
sich  Züge  ihrer  kindlich  naiven,  kunstlosen 
Erzählungsweise  wieder:  jedenfalls  lebten  jene 
lirinnerungen  in  seiner  Umgebung  fort,  und  er 
gedenkt  ihrer  ohne  Verachtung.  Die  klassische 
Sage  muss  er  bei  seinem  gediegeneren  Wissen 
in  ihrer  mittelalterlichen  \'erkleidung  als  ver- 
fälscht verwerfen.    Er  kennt  sie  in  dieser  Fas- 

'  Dieser  Er/pricstcr  Genius,  der  mit  Danger  und  Bel- 
accueil  als  Diakonus  und  Subdiakonus  im  Tempel  der  Venus 
fungiert,  ist  von  hier  in  Cl.Marots  Tempel  Cupidos  übergegangen. 


-    286    — 

sung  aus  Guido  delle  Colonne  und  aus  jüngeren 
Chroniken';  es  lässt  sich  nicht  erweisen,  dass 
•erWace,  Benoit  de  Saint-More,  Philippe  Mousket, 
den  Schvvanenritter  usw.  gelesen  hätte,  wie  Fr. 
Thibaut  meinte.  Nur  vom  Alexanderroman  weiss 
er  bestimmt,  dass  er  in  dem  nach  ihm  benannten 
Versmasse  geschrieben  ist,  aber  auch  diese  That- 
sache  war  bei  den  Verskundigen  seiner  Zeit 
xdlgemein  anerkannt. 

Die  Schriftsteller,  welche  Lemaire  an  ver- 
schiedenen Stellen  als  Vertreter  der  älteren 
französischen  Litteratur  namhaft  macht,  sind 
Froissart,  Alain  Chartier,  Martin  Franc,  die 
"beiden  Greban,  Millet,  Meschinot,  George  Chas- 
tellain,  Jean  Robertet  und  Octovien  de  Saint- 
Gelais ;  sie  sind  zumeist  die  Träger  jener  vom 
Rosenroman  ausgehenden  allegorischen  Dich- 
tung, wie  sie  an  den  Höfen  von  Frankreich  und 
Hurgund  und  neuerdings  auch  der  Bretagne 
gepflegt  wurde,  und  je  nach  der  Zeit  und  der 
Anlage  der  Dichter  einen  mehr  subjektiv  lyri- 
schen, oder  mehr  lebhaften  Charakter  annimmt, 
"bald  auch  zur  offiziösen  Gelegenheitspoesie  wird. 
In  gemeinsamer  Hochachtung  vereinigt  Lemaire 
diese  Schriftsteller,  welche  in  seinen  Augen  der 
Ruhm  der  französischen  Sprache  sind;  sie  haben 

'  *L'erreur  invctcree  de  Guy  de  la  Colonne  et  de  ceux 
<iui  Tont  ensuivy,  tant  en  rime  comme  en  prose,  lesquelz  je  ne 
veux  pas  nommer.  >  Illustrations  II,  Schluss.  Oeuvres  II,  214. 
Er  könnte  hier  Benoit  meinen,  vor  allen  ist  aber  an  Millet  /.u 
■denken. 


-    287    - 

ihr  einen  Glanz  verliehen,  dass  sie  vor  der  ita- 
lienischen selbst  nicht  zurückzustehen  braucht. 
An  ihrem  Muster  hat  sich  auch  seine  dichte- 
rische Anschauuni4  und  Ausdrucksweise  gebil- 
det; ihr  EinfUiss  ist  aber  ebenso  sehr  ein  mora- 
lischer und  idealer  j^ewesen  als  ein  litterarischer. 
Besondere  Verehrung  hat  der  Zögling  Molinets 
Alain  Chartier  gewidmet  und  mit  Recht;  denn 
seine  edle  vaterländische  Gesinnung,  der  bittere 
Ernst  seiner  Klagen  über  den  Zerfall  seiner  Zeit 
in  Staat  und  Kirche,  haben  in  den  schlimmsten 
Stunden  der  Erniedrigung  an  der  Erweckung 
des  nazionalcn  Bewusstseins  in  Frankreich  ge- 
arbeitet; an  seine  Mahnschriften,  getragen 
durch  den  gehaltvollen,  an  Senecas  philosophi- 
schen Schriften  geglätteten  Stil,  schliesst  sich 
in  Form  und  Inhalt  eine  ernstere  Strömung  in 
der  französischen  Litteratur  des  15.  Jahrhunderts 
an.  Dann  steht  auch  der  Vorgänger  seines  Vor- 
gängers, Chastellain,  der  sich  eine  so  angesehene 
Stellung  am  Hofe  der  Fürsten  erworben  hatte, 
verklärt  vor  seinen  Augen. 

Die  nächste  und  bedeutendste  Einwirkung 
hat  Molinet  auf  Lemaires  Schaffen  gehabt.  Da, 
wo  jener  stehen  blieb,  hat  sein  Schüler  ange- 
setzt, um  unter  der  Gunst  der  Zeitverhältnisse 
und  dank  seiner  Begabung  die  französische 
Litteratur  einen  Schritt  weiter  zu  bringen.  Molinet 
ist  ein  Meister  der  rhetorischen  Wissenschaft, 
ein  erstaunlich  fruchtbarer  Dichter,  ein  unglaub- 


288 


lieber  Reimkünstler,  fromm,  geistreich,  leicht- 
fertig, pedantisch  um  die  Wette;  seine  besten 
Leistungen  sind  die  Gelegenheitsschriften,  mit 
denen  er  stets  aufmerksam  und  teilnehmend  die 
Ereignisse  der  Freude  oder  Trauer  begleitete, 
welche  das  burgundische  Herzoghaus  betrafen. 
Lemaire  hat  keine  zahllosen  Chants  royaux 
gedichtet  wie  seine  Vorgänger,  wir  kennen  nur 
ein  Marienlied  aus  seiner  Jugendzeit,  er  hat  auch 
keine  leichtfertigen  Rondeaux  über  schlüpfrige 
Gegenstände  geschrieben,  wie  sein  ehrwürdiger 
Meister  es  leider  gethan  hat';  seine  Laufbahn 
hat  er  aber  mit  Gelegenheitsschriften  über  die 
Trauerfälle,  die  in  seiner  Nähe  vorfielen,  und 
die  sich  in  unerwarteter  Weise  häuften,  begonnen, 
bis  er  sich  selbst  eines  höheren  Berufes  bewusst 
wurde,  und  er  anfing,  diese  Hofschriftstellerei, 
die  ihn  von  erspriesslicheren  Arbeiten  abzog, 
als  eine  Last  zu  empfinden. 

Molinet  huldigt  der  Sitte ,  die  allegorischen 
Erfindungen  in  das  Gewand  eines  Traumes  zu 
kleiden  2.  Nur  einmal,  im  Trespas  du  duc  Charles, 


>■  Bibl.  nat.  ms.  fr.  1721 

-  Z.  B.  im  Throsne  d'Honncur :  "Durant  Ic  icmps  qucTiton 
triomphoit  au  haut  signe  du  Cancer  zodiaque  cn  haut  sphere 
approchant  le  tres  gloricux  regne  du  lyon  pere  des  douze 
signes  (d.  h.  gegen  Ende  Juni),  lorsque  tous  arbrisseaux  sont 
joyeusement  revcstuz  et  que  les  douces  flourettes  ont  plaisam- 
ment  rendu  leurs  oudeurs,  vueillant  recreer  et  esjouir  mos 
esperitz  et  oujt  le  melodieux  chant  des  plaisants  oiscaux,  je 
m'en  alloy  au  jolj'  bois,  ou  je  m'endormis  souefmcnt  soubz  un 
bcau  chesne  fucillu. »  Im  Chapelet  des  Dames  geht  er  im  Mai 
hinaus  und  schlummert  ein.    —    Hier  haben  wir  auch  das  Vor- 


-    289    - 

ist  er  von  dem  Schema  abgewichen  und  hat  es 
gewagt,  uns  das  Bild  der  mllchtigen  Eiche,  die 
im  fruchtbaren  Weinberge  von  Burgund  blühte, 
und  unter  deren  Aeste  mehrere  wackere  Hirten 
und  edle  Hirtenmiidchen  ihren  Schutz  gesucht 
hatten,  unmittelbar  vor  Augen  zu  führen'.  Hier 
haben  wir  den  direkten  Anlehnungspunkt  für 
Lemaires  objektiv  plastische  Anlage  seiner  ersten 
Totenklagen,  hier  auch  die  erste  Skizze,  den 
ersten  tastenden  Entwurf  der  bukolischen  Szenen, 
die  er  in  seinen  frischen  Hirtenliedchen  hin- 
geworfen hat'-. 

In  den  Traum  versunken ,  verkehrt  der 
Dichter  mit  abstrakten  Personifizierungen.  Im 
Chapelet  des  Dames  zeigt  ihm  Experience,  wie 


bild  der  astrologischen  Zeitbestimmung,  welcher  Lcmaire  eine 
solche  Bedeutung  gegeben  hat. 

'  « II  n'y  a  pas  dix  ans  que  au  tres  fructueux  et  opulent 
vignoble  de  Bourgoigne  flourissoit  un  gros  arbre  de  mirablc 
altitude...  Et  pour  ce  qu'il  donnoit  refcction  aux  famys ,  leur 
recreance  aux  cueurs  desolcz,  protection  aux  envahis  et  asseu- 
rance  aux  espovantez,  plusieurs  gcntiz  compaignons  pastou- 
reaux  et  nobles  bergeronnettess'estoient  logez  sous  ses  ramyers.  • 
—  Das  Bild  der  Eiche  hat  Molinet  sehr  hübsch  ausgeführt:  «Sc 
ce  tres  haut  et  puissant  arbre  eust  voulu  ou  daign^  fleschir 
ainsy  comme  fönt  plusieurs  joncz  et  roseaux  qui  ploient  i\  tous 
les  vens,  j'espere  qu'il  eust  evit<5  ce  tres  grief  et  mortel  orage. 
Mais  il  avoit  le  cueur  si  vif,  le  tronc  si  dur,  et  l'escorce  si 
ferme,  que  lu)'  ne  ses  branches  fort  roides  ne  voulurent  jamats 
ployer;  car  tant  plus  avoit  grande  attainte,  tant  plus  estoit 
percus  de  vent. »  Molinet  war  eben  selbst  ergriffen,  der  Sturz 
des  tollkühnen  Kriegshelden  hat  ihn  erschüttert  und  das  klingt 
in  dem  Werke  poetisch  wieder. 

^  Solche  Pastorale  K Hinge  hört  man  im  ganzen  15.  Jahr- 
hundert; sie  tönen  fort  durch  das  lo.;  vgl.  z.  B.  Marot,  Eglogue 
au  roy  soubs  les  noms  de  Pan   et  de  Robin,  ed.  Janct  1,  39. 

Becker,  Jean  Lemaire.  19 


-    290    - 

Vertu  eben  einen  Kranz  aus  fünf  Blumen  windet, 
die  fünf  gleich  anlautende  Tugenden  vorstellen, 
ihre  Initialen  ergeben  den  Namen  Marie.  Im 
Throsne  d'Honneur  enthüllt  Vertu  der  klagenden 
Noblesse  die  Verklärung  der  geknickten  Lilie 
durch  neun  Himmel,  wo  sich  neun  Buchstaben, 
neun  Tugenden,  neun  Helden  befinden;  so  zer- 
legt Molinet  den  Namen  Philippus.  Diese  Spie- 
lereien haben  Lemaire  noch  bestochen:  im 
Temple  d'Honneur  et  de  Vertu  erscheint  Enten- 
dement  als  Führer  in  das  sinnbildliche  Jenseits, 
sechs  Standbilder  stellen  den  Namen  Pierre 
dar;  der  Hauptteil  der  Couronne  Margaritique 
ist  ganz  nach  dem  Grundriss  des  Chapelet  des 
Dames  angelegt;  endlich  gedenken  wir  auch 
der  Ausbeutung  des  M  in  den  Regretz  de  la 
dame  infortunee. 

Die  verklärte  Lilie  kommt  schliesslich  vor 
Honneur  und  erhält  ihren  Platz  zur  Rechten 
seines  Thrones  angewiesen.  Diesem  Könige 
Honneur  haben  auch  Octovien  de  Saint-Gelais  im 
Sejour  d'Honneur,  Andr}^  de  la  Vigne  im  Vergier 
d'Honneur  ihren  Zoll  dargebracht.  Lemaire  hat 
Honneur  und  Vertu  in  mystischem  Bunde  ver- 
einigt uud  ihnen  als  Wohnsitz  einen  Tempel  an- 
gewiesen, der  für  sein  poetisches  Denken  und 
Fühlen  ebenso  bedeutsam  geworden  ist  wie  der 
Tempel  des  guten  Geschmacks  für  Voltaire«. 


>  Honneur,  Vertu  und  ihr  Tempel  spielen  eine  Hauptrolle 
im  Temple  d'Honneur  et  de  Vertu,  der  Plainte  du  Desir6,  der 


2Q1 


Mit  Fug  kann  man  s:i<(cn,  dass  Lemaire  in 
seinen  ersten  Werken  eine  verbesserte  Auflage 
von  Molinet  ist,  ursprünglicher,  lebendiger  und 
anschaulicher  in  der  Darstellung.  Und  doch  hat 
Molinet  vor  ihm  den  Vorzug  gehabt,  Ereignisse 
von  wahrhaft  geschichtlicher  Bedeutung  zum 
Vorwurf  zu  haben.  Was  hUtte  nicht  vielleicht 
Lemaire  aus  einer  Katastrophe  wie  Karls  des 
Kühnen  Fall  gezogen?  Soviel  Kunst  und  dich- 
terische Erfindung  ist  für  nichtssagende  Bege- 
benheiten verschwendet  worden,  —  das  ist  der 
Fluch  der  Gclegenheitspoesic. 

Totenklagen  waren  überhaupt  um  die  Wende 
des  15.  Jahrhunderts  eine  vielgepflegte  littera- 
rische Gattung.  Lemaire  hat  in  der  Plainte  du 
Desirc^  die  Schriftsteller  aufgeführt,  welche  sich 
darin  versucht  hatten.  In  dieser  Klage  hat  Le- 
maire ein  anderes  Schema  zu  Grunde  gelegt. 
Er  lässt  allegorische  Figuren  erscheinen  und 
an  der  Bahre  des  Toten  trauern'.  Vor  i^»m  hatte 
der  anonyme  Verfasser  des  Trauerliedes  für 
Millet  die  neun  Musen  mit  der  Rhetorik  in  einem 
Traume  über  den  frühen  Tod  des  begabten 
Schriftstellers  jammern  hören*;  in  gleicher  Lage 

Couronne  Margaritiquc  und  der  Concorde  des  deux  langages, 
wo  der  Tempel  Minervas  in  Honneurs  Lustgarten  dargestellt 
wird.  Schon  Martin  Franc  erwähnt  im  Champion  des  Damcs 
den  Temple  d'Honneur  et  de  Vertu  :  dieses  symbolische  Gebäude 
ist  also  schon  von  Früheren  errichtet  worden. 

'  Achnlich  erscheint  Hebe  am  Faradcbctt  des  Herzogs  von 
Savoyen  in  der  Couronne  margaritiquc. 

'  Die  Klage  um  Millet  (Bibl.  nat.  ms.  fr.  1716  P  15«»)  ist  irr- 
tümlich A.  Chartier  zugeschrieben  worden.  Der  Dichter  schläft 


292 


war  Jean  Robertet  Zeuge  des  Schmerzes  von 
Natur,  Kunst  und  Nachahmung  über  Chatellains 
Ende  gewesen.  Lemaire,  für  den  der  Traum 
ein  überwundener  Standpunkt  ist ' ,  lässt  die 
übersinnlichen  Wesen  leibhaftig  unter  die  Schaar 
der  Leidtragenden  treten  und  verleiht  ihnen  auf 
Grund  dieser  künstlerisch  aufgefassten  Ueber- 
tragung  in  die  Wirklichkeit  einen  Ton  persön- 
licher Empfindung,  welche  die  reflektierende 
Poesie  seiner  Vorgänger  nicht  getroffen  hatte. 
Mit  zunehmender  Reife  verscheucht  der 
Freund  Perreals  immer  mehr  die  allegorischen 
Dünste,  mit  denen  seine  Vorgänger  ihre  Gedan- 
ken zu  umhüllen  liebten,  und  sucht  dem  ein- 
fachen menschlichen  Thun  und  Erleben  die 
inneliegende  Poesie  abzugewinnen.  Mag  auch 
die  Einmischung  der  Personifizierungen  in  die 
Erzählung  menschlicher  Geschicke  unserem 
Geschmack  weniger  zusagen,   im   ersten  Teile 


bei  Sonnenaufirang  ein,  lautes  Wehklagen  ertönt,  ei-  schleicht 
heran  und  sieht  zehn  Frauen,  Caliope  spricht  im  Namen  der 
Musen,  nach  ihr  ergreift  die  Rhetorik  das  Wort;  Merkur  holt 
dann  die  orateurs  du  temps  passe?,  welche  Millet  das  Geleitc 
geben  und  das  Totenamt  singen:  Jehan  de  Mehun  dit  l'obsequc 
Du  Lorris  y  officia.  Alain  setzt  die  Grabschrift.  Wir  erfahren 
aus  der  Klage,  dass  Millet  in  seiner  Jugend  zu  Ehren  sein-jr 
Geliebten  la  Forest  de  Tristessc  und  andere  Werke  gedichtet, 
dass  er  für  Agnes,  dame  de  beautö,  die  Grabschrift  Fulgor 
apollineus,  die  auf  ihrem  Steine  in  Loches  stand,  verfasst,  und 
dass  er  noch  jung  1466  an  einer  Epidemie  gestorben  ist. 

'  Nur  einmal  verwendet  er  den  Traum  als  dichterische 
Fiktion,  im  Temple  d'Honneur  et  de  Vertu  sieht  sich  Aurora 
in  einer  Vision  in  den  Tempel  verzückt.  Vgl.  ferner  in  der 
Concorde  des  deux  langages,  Schluss. 


—    293    - 

der  Couronnc  mar^^aritiquc  finden  wir  zugleich 
am  meisten  sclbständij^e  Erfindunj?  und  wirk- 
liche AnschauunjLr ;  das  langgestreckte  Thal  in 
der  Mittagshitze,  das  alte  Weib  mit  dem  Wasser- 
krug, die  beklommene  Rast  in  der  BauernhUtte, 
der  Heimriti,  das  sind  lauter  denkwürdige  Ein- 
zelheiten und  VorföUe  des  verhUngnissvollen 
Tages ;  und  Lcmaire  selbst  hat  durch  den  \'er- 
gleich  mit  dem  Hirschen  gezeigt,  welche  Fülle 
von  Poesie  die  Natur  birgt,  ohne  dass  wir  die 
Sphäre  der  sinnlichen  Anschauung  zu  verlassen 
brauchen. 

Den  Höhepunkt  der  Entwickelung  bezeichnen 
die  Regretz  de  la  dame  infortunee,  hier  waltet 
das  reine  subjektive  Gefühl,  hier  haben  wir  ohne 
jede  Fiktion  den  unmittelbaren  lyrischen  Erguss. 
Wie  der  Schmetterling  sich  entpuppt,  so  streift 
der  Dichter  langsam  die  Hülle  des  allegorischen 
Gespinstes  ab,  um  sich  Irei  in  der  reinen  Luft 
der  Poesie  zu  wiegen'. 


'  Die  Totcnklapc  als  (Kattun);  und  ihn-  bclkbtcn  Kunst- 
jrriHV  veralteten  bald.  Der  Dichter,  der  Ciicnr  il  bon  droit 
zeichnet,  sagt  in  der  Complainte  für  Johanna  Herzogin  von 
Valois  (t  1520): 

Quc  fcray  cy?  dois  jf  poiiit  iiivoqiirr 

A  inoti  sccotifs  iiyinphc,  dccssc  oii  luiise/ 

Xon,  c'fst  Iwiiquaii  oittique  vi  X'U'illc  riisi: 

Ft'inriray  je  Kf">"  ''"  Iniiicitlacioii 

De  poc^ic,  Oll  nittff  iin'ciirioii 

Fondcc  eil  p/iiira  «7  cn  rinrcta  eterius.' 

Ä'oii,  sonl  Ions  cas  rcmplis  de  Jiciion 

Atithoriscz  assce  pcti  des  modernes. 

Bibl.  nat.  ms.  fr.  17L'l.  f»  lf.7  v». 


294 


Frankreich  im  engeren  Sinne  hatte  —  von 
den  älteren  Meistern  abgesehen  —  keinen  Dich- 
ter, der  eine  besondere  Einwirkung  auf  Lemaire 
haben  konnte.  Der  natürliche,  derbe  Ton  Villons 
war  dem  Hofdichter  Margaretas  zu  fremd,  er 
wird  die  Werke  des  Pariser  Galgenstricks  kaum 
gekannt  haben.  Ein  reichbegabter  Dichter,  Oc- 
tovien  de  Saint-Gelais,  hatte  unter  der  Regierung 
Karls  des  VIII.  geblüht,  und  Lemaire  hat  ihn 
freilich  gekannt  und  sehr  hoch  geschätzt.  Als 
neunzehnjähriger  Jüngling,  als  er  den  Vers  noch 
kaum  handhaben  konnte,  hat  Octovien  die  Liebes- 
geschichte von  Lukrezia  und  Euryalus  nach  der 
Erzählung  des  Aeneas  Silvius  in  französische 
Strophen  übertragen.  In  den  Werken  seiner 
zwanziger  Jahre,  le  Sejour  d'Honneur  und  la 
Chasse  et  le  Depart  d'Amours,  hat  er  Reisen  in 
das  Land  der  Allegorie  unternommen,  wie  Dante 
in  das  Jenseits.  Schliesslich  hat  er  durch  Ueber- 
setzung  von  Virgils  Aeneis  und  Ovids  Herolden 
am  grossen  Werke  der  Renaissance  vorgear- 
beitet. Kaum  sechsunddreissig  Jahre  alt  bettete 
ihn  ein  unerbittliches  Geschick  in  das  Grab  und 
verwehrte  es  seiner  dichterischen  Persönlichkeit, 
zur  vollen  Entfaltung  zu  gelangen.  Schwer- 
mut, Folge  eines  chronischen  Fiebers,  schwebt 
über  seinen  Dichtungen  und  lehnt  sich  im  dich- 
terischen Ausdruck  an  Chartiers  durch  die  Zeit 
Verhältnisse  erzeugte  Verbitterung  an;  wie  er 
aber  an  die  Schilderung  der  schönen  Welt  kommt, 


295 


bricht  der  Uebermut  der  Jugend,  die  Lebenslust 
des  glänzenden  Gesellschafters  durch:  da  ver- 
gisst  er,  dass  unser  Dasein  weniger  Bestand 
hat  als  ein  Spinngewebe,  verlockende  Erinne- 
rungen umgaukeln  seine  Sinne;  die  fröhlichen 
Jagden,  das  Schauspiel  des  lUndlichen  Treibens, 
und  in  den  Städten  die  Feste,  Schmaus  und 
Tanz,  der  freundliche  Empfang  der  Damen,  die 
geheimen  Seufzer,  die  verstohlenen  Küsse,  sich 
für  Vetter  ausgeben  zur  bequemeren  Annähe- 
rung, und  das  tolle  Leben,  Musik  bis  in  die 
tiefe  Nacht,  um  den  Andern  zu  sagen,  dass  man 
wacht,  während  sie  schlafen.  Der  Weltmann 
birgt  aber  einen  tieferen  Denker,  als  der  ele- 
gante Hofpoet  Mellin,  sein  Neffe,  es  war,  die 
Probleme  des  Lebens  beschäftigen  Octovien  und 
das  Sinnen  darüber  prägt  in  sein  Gemüt  einen 
mystisch  wehmütigen  Zug.  So  verkörpert  Saint- 
Gelais  die  eigentlich  französische  Hofpoe.sie  für 
die  glänzende,  aber  kurze  Regierungszeit  Karls 
des  VIII.;  er  ist  der  letzte  allegorisierende  Dichter 
von  Bedeutung;  in  seinen  Dichtungen  bricht 
überall  Gefühl  und  subjektive  Empfindung  durch ; 
das  der  eigenen  Anschauung  entnommene  Detail 
belebt  seine  allegorische  Welt'. 

"  O.  de  Saint-Gelais  un J  Jean  Lcmaire  sind  die  bedeutend- 
sten Erscheinungen  der  Uebergangszeit  vom  15.  zum  16.  Jahr- 
hundert; sie  ergUnzen  sich  gegenseitig  zu  einem  vollständigen 
Bild  der  in  der  besseren  französischen  Gesellschaft  gepflegten 
Littcratur.  Vielleicht  finde  ich  Gelegenheit,  auf  Ersteren  zurück- 
zukommen. 


296 


Durch  die  Uebersetzung  der  Herolden  Ovids 
hat  Saint-Gelais  eine  neue  Gattung  in  die  fran- 
zösische Poesie  eingeführt,  die  Epistel,  und 
durch  die  geschmeidige  Form  der  paarweise 
gereimten  Langzeilen,  die  er  ihr  gab,  machte 
er  den  ersten  Schritt  zur  Befreiung  der  Vers- 
kunst von  der  verzwickten  Reimkünstelei  der 
Rhetoriker.  In  einer  glücklichen  Stunde  grift 
Lemaire  diese  Form  auf,  und  mit  dem  Briefe 
des  Sittichs  an  die  abwesende  Herrin  dichtete 
er  die  erste  selbständige  Epistel  in  französischer 
Sprache.  Mit  diesem  poetischen  Scherz  hatte  er 
zugleich  seine  originellste  Ader  gefunden,  die 
er  nur  auszubeuten  brauchte,  um  bei  den  Frauen 
und  der  Nachwelt  Beifall  und  Liebe  zu  finden. 
Die  Gattung  aber  blieb  für  die  französische 
Dichtung  gewonnen,  Lemaire  fand  einen  Nach- 
ahmer an  Jean  d'Anton,  der  Hektor  an  Ludwig 
den  XII.  schreiben  Hess,  worauf  er  selbst  im 
Namen  des  Königs  erwiederte.  Clement  Marot 
aber  befreite  die  Epistel  vom  Charakter  der 
Heroide  und  gab  ihr  die  weiteste  Bedeutung 
als  poetisches  Sendschreiben  zurück.  So  ver- 
einigt Lemaire  die  Schätze,  welche  die  Dichter 
des  französischen  Hofkreises  ihm  bieten,  mit 
dem  Erbe,  das  er  aus  der  burgundischen  Hei- 
mat mitbringt,  und  lässt  sie  Zinsen  tragen. 

Von  den  Schriftstellern,  welche  im  Dienste 
Ludwigs  des  XII.  und  der  Königin  Anna  standen, 
wüsste  ich  keinen,   dem  Lemaire  etwas  sonder- 


—    297    — 

liches  verdankte.  Guillaume  Cretin  mag  persön- 
lich auf  ihn  gewirkt  und  ihn  für  die  Litteratur 
gewonnen  haben ;  die  Wege  hat  er  ihm  nicht 
gezeigt,  sondern  ist  selber  von  ferne  gefolgt; 
als  Lemaire  seine  Bahn  bereits  durchflogen 
hatte,  dichtete  Jener  immer  noch  Totenklagen 
im  alten  Stil  und  Marienlieder  und  moralische 
Sprüche  und  dergleichen  mehr'. 

Um  so  bedeutungsvoller  ist  der  Einfluss,  den 
Italien  auf  den  Belgier  gewann.  Dante,  Petrarca, 
Boccaccio,  nebst  Filelfo  und  Serafino  sind  die 
Dichter,  die  er  namentlich  erwähnt;  es  handelt 
sich  aber  nicht  um  einzelne  Namen  und  bestimmte 
Nachbildungen,  es  muss  die  ganze  Einwirkung 
einer  reich  entwickelten  Kultur  und  der  durch 
sie  erzeugten  kunstvollendeten  Litteratur  in 
Rechnung  gezogen  werden. 

Im  Verlauf  des  15.  Jahrhunderts,  während 
sich  in  Frankreich  eine  neue  litterarische  Tra- 
dition gestaltete,  war  mancher  Faden  von  der 
italienischen  Poesie  allmälig  durchgesickert.  Auf 
Dante  haben  die  jünger  des  Rosenromans  ihre 
Blicke  zuerst  gerichtet,  weil  .sie  in  ihm  einen 
verwanten  symbolischen  und  enc^-klopädischen 

'  Doch  eines!  Cretin,  der  es  untirnommcn,  die  französische 
Geschichte  in  Verse  zu  setzen,  vornemlich  nach  den  Chroniques 
^e  France,  und  mit  .Schwunj;  und  Frische  sein  Vorhaben  in's 
Werk  sresetzt  hat,  kilnnie  wohl  in  Lemairo  den  Ehrnci/  ijewcckt 
haben,  die  Urgeschichte  Frankreichs  nicht  durch  bloses  Reimen 
der  umlaufenden  Tradition,  sondern  aufgrund  eigener  Quellcn- 
forschun«  in  neuer  (lestalt  herzustellen.  V^l.  die  herrlichen 
Hss.  Bibl.  nat.  fr.  L'SIO    '.WJ,  für  Franz  den  I.  ausgeführt. 


—    298    - 

Geist  erkannten,  der  die  Verquickung  ermög- 
lichte, und  er  ihnen  zugleich  das  Muster  eines 
bequemen  Rahmens  bot,  in  den  sich  das  Bild 
ihrer  Zeit  in  einzelnen  Miniaturen  einfügen  liess ; 
der  eine  oder  andere  von  seinen  fernen  Nach- 
ahmern fühlte  wohl  auch  die  Grösse  seiner 
Gemälde,  die  düstere  Kraft  seiner  Poesie.  Vor 
allen  Andern  war  Martin  Franc,  Sekretär  der 
Päpste  Felix  des  V.  (Amadeus  von  Savoyen) 
und  Nikolaus  des  V.,  berufen,  die  Vermittler- 
rolle zu  übernehmen.  Sein  Champion  des  Dames, 
ein  Turnier  um  die  Ehre  der  Frauen,  ist  ein 
Nachspiel  der  Kämpfe  im  Rosenroman ;  dass 
ihm  aber  ebensosehr  Dantes  Comedia  vor- 
schwebte, ist  sichtbar,  wenn  auch  der  Floren- 
tiner nicht  selbst  genannt  würde'.  Die  Pilger- 
schaft, welche  der  Dichter,  von  Valentin  geführt, 
ganz  unmotiviert  durch  Amors  Schloss  unter- 
nimmt, ahmt  unzweifelhaft  die  Höllenfart  in 
Virgils  Begleitung  nach.  Derselben  in  diesem 
Zusammenhang  zu  gedenken,  ist  geboten;  denn 
Lemaire  hat  sich  ihrer  erinnert,  als  er  in  der 
Eintracht  der  beiden  Sprachen  ein  Stück  italie- 
nischer Poesie  in  französischer  Nachbildung  zu 
geben  versuchte.  Martin  Franc  hat  eben  den 
Tempel  der  Venus  besucht:    unter  dem  Portal 


'  Le  Champion  dt-s  Damcs,  Pariser  Ausgabe  von  1530  f*'  XXV, 
Le  florciitin  poctc.  Dante 
A  escrit  mcrvcilleuscmvttl 
La  pcine  et  la  vie  meschaittc 
Des  esprits  danipttcz  justeincut. 


—    299    - 

sah  er  Bacchus'  Standbild,  im  Innern  fungierte 
Sens  abesti,  mit  seinen  Bärentatzen  und  Esels- 
ohren, als  Priester;  einen  Humpen  statt  des 
Kelches  in  der  Hand,  lehnte  er  sich  an  den 
Altar:  Hört,  hört,  stammelte  er,  heute  ist  der 
Tag  des  grossen  Ablasses,  dient  der  Göttin 
ohne  Verstellung,  schont  nicht  das  Verwesliche» 
Bann  und  Fluch  über  den  Säumigen.  Es  rinnt 
die  Zeit,  kehrt  eure  Herzen  und  Wünsche  zu 
aller  Erdenlust,  das  Leben  verfliegt,  die  Zeit 
tötet  in  ihrem  Fluge,  nur  wer  die  Freude  er- 
hascht, er  allein  kennt  das  Glück". 

Boccaccio  nachahmen,  hiess  die  nationalen 
Schätze  auf  Umwegen  wieder  einführen;  kein 
Wunder,  dass  der  Decamerone  und  die  Casus 
mulierum  illustrium  frühzeitig  Uebersetzer  und 
selbständige  Nachahmer  fanden.  Am  Hofe  Phi- 
lipps von  Burgund  entstanden  die  Cent  nou- 
velles  nouvelles,  für  Margareta  von  Anjou 
schrieb  Chastellain  seinen  Temple  de  Bocace. 
Von  Petrarcas  Werken  waren  es  die  rührende 
Geschichte  von  Griselidis  und  die  Trionli,  welche 
mit  Vorliebe  nachgebildet  wurden;  bei  letzteren 
dachte  man  vorwiegend  an  Vorwürfe  für  die 
Teppichweberei;  in  diesem  Sinne  fassten  die 
beiden  Robertets  dieselben,  der  Vater  in  Sprü- 
chen, der  Sohn  in  Rondeaux  zusammen  2. 


■Cef»  XXXVI  sqq.  Siehe  .Anhang  VII. 
^  Bibl.  nat.  m-;.  fr.  1717.  1721. 


300 


Um  die  Wende  des  Jahrhunderts  war  man 
sich  dessen  wohl  bewmsst,  dass  Italien  eine 
Liebeslyrik  besass,  der  Frankreich  nichts  ent- 
gegenhalten konnte.  „Keine  Sprache  ist  der  ita- 
lienischen an  die  Seite  zu  stellen,  wenn  es  gilt, 
mit  wahrer  Empfindung  und  treffendem  Aus- 
druck die  Gefühle  der  Liebe  und  auch  andere 
Dinge  wiederzugeben,"  so  hörte  Lemaire  seine 
Bekannten  sagen,  und  der  Vorzug,  den  man 
der  italienischen  Sprache  und  Poesie  zuerkannte, 
erregte  in  ihm  einen  heiligen  Eifer  zu  zeigen, 
dass  die  französische  Zunge  ihrer  Schwester 
an  Kraft,  Klarheit  und  Lieblichkeit  keineswegs 
nachstehe;  es  wurmte  ihn,  wenn  seine  Mutter- 
sprache barbarisch  gescholten  wurde.  Es  galt 
also  für  ihn  einen  ernsten  Wettstreit. 

Je  f eis  inaint  vers,  niaint  couplet  et  inaint 

nietre 
Ciiydant  snivir  par  noble  poesie 
Le  hon  Petrarque  en  aniour  le  vrai  niaistre. 

Thatsache  oder  Fiktion,   diese  Worte  drücken 
eiri  Ideal  aus'. 

Lyon  war,  wie  wir  sahen,  der  Mittelpunkt  des 
Kulturaustauschs  zwischen  den  beiden  Nazionen; 
durch  die  Fügung  des  Schicksals  in  die  Nähe 
dieser  Stadt  verpflanzt  und  in  Kreise  versetzt, 
wo  die  Bewunderung  für  Italien  an  der  Tages- 

'  Concorde  des  dcux  lansages,  Oeuvres  III,  99  sq.  Cf. 
lllustrations  I,  proIo{!;ue,  ibid.  I,  11. 


-    301    — 

ordnunjT  war,  konnte  sich  Lemaire  mit  dem 
offenen  Sinn,  der  ihn  auszeichnet,  den  Eindrücken 
des  ausländischen  Geisteslebens  nicht  verschlies- 
sen,  und  da  er  erst  spät  zu  schreiben  begann, 
so  sind  seine  ersten  Werke  bereits  keine  reinen 
Erzeugnisse  der  meistersängerlichen  Redekunst 
mehr,  sondern  Vorboten  der  Renaissancepoesie. 
Gleich  im  Temple  d'Honneur  et  de  Vertu  bringt 
er  eine  lange  Erzählung  in  Terzinen  und  hand- 
habt diese  Form  mit  einer  Meisterschaft,  die  in 
Erstaunen  setzt.  Eine  fremde  Form  eignet  man 
sich  aber  schwerlich  an,  ohne  den  Geist  tiefer 
durchdrungen  zu  haben.  Lemaire ,  der  ein  so 
warmer  Verehrer  der  Kunst  ist,  kennt  auch  die 
italienischen  Künstler  und  ehrt  sie  so  hoch  wie 
die  seiner  Heimat;  man  sieht  an  der  Plainte  du 
Desir^,  mit  welcher  Aufmerksamkeit  sein  Auge 
auf  Italien  gerichtet  war,  bevor  sein  Fuss  dessen 
Boden  berühren  durfte.  Das  gelobte  Land  blieb 
ihm  aber  nicht  länger  verschlossen,  lö04  folgte 
er  dem  savoyischen  Hofe  nach  Turin,  1506  führten 
ihn  die  Geschäfte  der  Fürstin  nach  Venedig  und 
Rom,  150S  weilte  er  abermals  in  der  Hauptstadt 
der  Welt.  Wenn  uns  ein  glücklicher  Zufall  Briefe 
von  ihm  aus  jener  Zeit  auftinden  Hesse  wie  für 
Erasmus,  so  würde  sich  bestätigen,  dass  auch 
für  unsern  Dichter  Italien  eine  Offenbarung,  eine 
Erlösung  und  Neugeburt  gewesen  ist.  Die  leben- 
digen Erinnerungen  an  die  klassische  Erde,  die 
in   .seinen  Werken   vorkommen,    sind    äusserst 


-     302    — 

spärlich;  hier  eine  Besonderheit  der  itaUenischen 
Tracht,  die  ihm  gefallen  hat,  dort  Bücher,  die  er 
entdeckt  oder  erstanden.  Was  aber  nicht  zu 
Tinterschätzen  ist,  die  Zeit  der  ausgiebigsten 
Fruchtbarkeit  beginnt  für  ihn  nach  den  Rom- 
reisen, seine  bedeutendsten  und  besten  Werke 
sind  alle  in  der  kurzen  Frist  von  1509  bis  1512 
-entstanden  oder  vollendet  worden.  Das  beredte 
Zeugniss  des  neuen  Strebens,  das  ihn  erfüllte, 
ist  die  Abhandlung  von  der  Eintracht  der  beiden 
Sprachen.  In  französischer,  toskanischer  und 
lateinischer  Mundart  ertönt  die  Stimme  der  Dich- 
ter im  Tempel  der  Venus: 

La  se  prodiiit  lasciviU  coniique^ 
Lyriqiies  vers  dont  Ainours  on  blasonne. 
La  recite  on  d'invention  sapphique 
Maint  noble  dit,  cantüenes  et  ödes  . . . 
Tout  ce  qui  est  en  livres  on  en  codes 
Se  inet  avant.  hymnes  et  clegies, 
Chansons,  motets,  de  cent  faules  et  niodes. 

Es  ist  beinahe  das  Programm  der  Plejade: 
Sapphische  Verse,  Oden,  Hymnen,  Elegien,  und 
die  Mannigfaltigkeit  des  Reichtums  lyrischer 
Formen ;  sie  erhalten  ihr  Bürgerrecht  in  der  fran- 
;?ösischen  Poesie  durch  Lemaires  Anerkennung, 
wenn  er  auch  selbst  diese  Gattungen  noch  nicht 
gepflegt  hat,  wenn  er  auch  selbst  sich  an  den 
Weisen  seiner  Vorgänger  genügen  liess.  Woher 
kam  ihm  aber  die  Ahnung  einer  Blütenentfaltung, 


ri'):' 


die  er  selbst  nicht  mehr  schauen  sollte,  von  wem 
lernte  er  diese  verborgenen  Schätze  kennen,  wo 
nicht  von  den  Italienern,  welche  auch  Ronsard 
und  seinen  Freunden  dieselben  spUter  ofilen- 
barten '  ? 

Das  wären  in  einigen  Zügen  zusammengefasst 
und  angedeutet  die  litterarischen  Einflüsse,  unter 
denen  Lemaire  mitten  in  seiner  Zeit  stand,  teils 
Fesseln  der  erhaltenen  Erziehung,  teils  befreiende 
Einwirkungen  der  weiteren  Kreise,  in  die  ihn 
das  Leben  einführte.  Wenn  es  schwer  fällt,  die- 
selben genau  zu  bestimmen,  so  ist  es  fast  un- 
möglich zu  sagen,  was  der  Dichter  seiner  Um- 
gebung verdankt,  in  wie  weit  seine  eigene 
Rntwickclung  durch  die  hiihere  gesellschaftliche 
Bildung  der  Zeit  bedingt  worden  ist.  Was  be- 
wahrten die  Niederlande  von  der  Blüte,  deren 
sie  sich  unter  den  burgundischen  Herzögen  er- 
freut hatten  ?  welche  Anregung  fand  Lemaire  in 
Villefranche  durch  die  Robertet,  von  deren  Liebe 
für  die  Poesie  zahlreiche  Sammlungen  und  Hand- 
schriften Zeugniss  ablegen?  was  bot  ihm  Lyon? 
was  sah  und  erlebte  er  in  Italien?  Sein  Leben 
verfloss  an  den  Höfen  der  drei  ausgezeichneten 
Frauen ,  die  in  verschiedenem  Masse  die  Ent- 
wickelung  feinerer  Sitten   durch   ihren  persön- 


'  Gedenken  wir  in  diesem  Zusanimenh<ing  auch  derMnrchen 
von  Cupido  und  Atropos,  welche  Lemaire  durch  ein  Sonett  Sera- 
finos  eingegeben  wurden.  Ucber  Filelfos  Einfluss  zu  sprechen, 
hillt  schwer,  da  seine  lyrischen  Gedichte  verloren  gegangen 
sind,  soviel  ich  weiss. 


-    304    - 

liehen  Einfluss  so  wesentlich  gefördert  haben : 
Anna  von  Frankreich,  Margareta  von  Oesterreich, 
Anna  von  Bretagne.  Die  hervorragende  Stellung, 
welche  die  Fürstinnen  an  den  Höfen  von  Moulins, 
Turin,  Mecheln  und  Blois  einnahmen,  ihre  geistige 
Bedeutung,  ihr  moralischer  Einfluss  und  ihre 
Liebe  für  Kunst  und  Wissenschaft  haben  die 
feinere  Geselligkeit  in  Frankreich  im  Beginn  des 
16.  Jahrhunderts  eigentlich  geschaffen.  Was  ver- 
dankt ihnen  Lemaire?  Sicherlich  nicht  wenig. 
Das  allermeiste  verdankte  er  aber  seiner 
eignen  reichen  Begabung. 

XXI. 

Was  unseren  Dichter  von  vornherein  aus- 
zeichnet, das  ist  der  mächtige  l3Tische  Hauch, 
der  von  seinen  Lippen  weht.  Diese  Gabe,  die 
ihm  die  Natur  in  ihrer  Freigebigkeit  spendete, 
bildet  das  hervorragendste  Merkmal  seiner  dich- 
terischen Erscheinung  und  verleiht  seinen  Werken 
in  stetig  zunehmender  Vollkommenheit  ihren 
dauernden  Wert.  Was  auch  Gegenstand  seiner 
Dichtung  sein  mag,  er  weiss  dem  einfachsten 
Dinge  eine  poetische  Seite  abzugewinnen.  Er 
hat  eine  merkwürdige  Weise,  Alles  lebendig  und 
belebt  aufzufassen;  daher  die  Anschaulichkeit 
seiner  Werke,  sei  es  dass  er  einen  schlichten 
Vorfall  erzählt  oder  stimmungsvolle  Natur- 
bilder entwirft,  sei  es  dass  er  Allegorien  in  die 
Handlung  einwebt  oder  die  Götter-  und  Halb- 


—    3()5    — 

ijöttcrwelt  der  Griechen  wieder  erweckt;  er 
lasst  uns  mit  der  Macht  der  Begeisterung  und 
trägt  uns  mit  sich  in  das  Land  der  Phantasie, 
wo  Alles  lebt  und  sich  bewegt  und  fühlt  und 
Gestalt  gewinnt,  wo  ein  Puls  durch  das  Ganze 
schlägt  und  dem  kleinsten  Teilchen  Leben  zuführt. 
Anfänglich  in  der  Manier  seiner  Vorgänger 
befangen,  ist  Lemairc  immer  selbständiger 
geworden  in  der. Erfindung  und  hat  Züge  von 
unvergänglicher  Schönheit  gefunden.  Mit  einer 
seltenen  Objektivität  paart  sich  bei  ihm  ein 
durchaus  persönlicher  Ton;  in  wessen  Namen 
er  auch  spricht,  nie  fällt  er  aus  der  Rolle,  und 
doch  fühlt  man  stets  an  der  inneren  Bewegung, 
dass  der  Dichter  nahe  ist;  aber  auch  die  Ein- 
heitlichkeit und  der  beflügelte  Schwung  seiner 
Dichtungen. 

Die  lyrische  Inspiration  belebt  auch  seine 
Sprache  und  gibt  ihm  die  reizenden  Bilder  und 
herrlichen  Verse  ein,  welche  Jeden  überraschen 
und  entzücken,  der  seine  Dichtungen  mit  Liebe 
durchfliegt.  Sie  reisst  ihn  lort  zu  jenen  uner- 
warteten Ausrufen,  Flügelschläge  der  Phantasie, 
die  sich  plötzlich  über  das  Alltägliche  erhebt; 
sie  lehrt  ihn  auch,  ganz  einfachen  Worten  dra- 
matischen Ausdruck  zu  verleihen;  vor  Allem 
flösst  sie  ihm  aber  Wendungen  von  wahrer 
Poesie  ein,  welche  einen  neuen  Horizont  eröff- 
nen und  wie  mit  einem  Sonnenblick  aus  Wolken 
beleuchten.    Als  gottbegnadeter  Dichter  findet 

Becker,  Jean  Lemaire.  40 


306 


Lemaire  ungesucht  die  weitbeschwingten  Verse 
—  Bild,  Ausdruck  und  Rythmus,  alles  im  Ein- 
klang — ,  die  kein  Suchen,  keine  Ueberlegung 
fertig  bringt,  wenn  nicht  höhere  Eingebung  sie 
zuraunt.  Bilder,  eine  ganze  Fülle  von  Bildern, 
fliessen  von  selbst  in  seine  Rede  ein;  der  poetische 
Vergleich  ist  für  ihn  eine  natürliche  Anschauungs- 
weise, instinktmässig  ist  er  darin  Homer  ent- 
gegengekommen. 

Und  dabei  sind  es  nicht  blos  einzelne  Anläufe, 
sein  Flug  hält  sich  auf  der  Höhe,  die  er  erreicht 
hat,  und  strebt  eher  weiter  und  weiter  hinauf 
Die  Fähigkeit,  die  er  besitzt,  die  Stimmung  fest- 
zuhalten und  bis  zum  Ende  zu  steigern,  gestattet 
ihm,  sich  ungehemmt  der  Eingebung  des  Augen- 
blicks hinzugeben;  wie  der  Vogel,  der  in  den 
Lüften  kreist,  schwebt  er  hin  und  her  und  fürchtet 
nicht  zu  fallen,  wenn  er  unterwegs  sich  spielend 
erlustigt.  Weit  entfernt,  sich  künstlich  zu  er- 
wärmen, scherzt  Lemaire  mit  der  Begeisterung, 
dämpft  sie,  hält  sie  zurück;  denn  er  braucht 
ja  blos  die  Schwingen  auszubreiten,  um  von 
ihrem  Hauche  davongetragen  zu  werden. 

Ausserordentlich  beachtenswert  ist  es,  dass 
die  schönsten  und  im  reinsten  Sinne  dichterischen 
Werke  Lemaires,  die  Briefe  des  grünen  Lieb- 
habers, der  Tempel  der  Venus,  die  Märchen 
von  Cupido  und  Atropos,  scherzhafte  Fiktionen 
sind,  denen  er  freiwillig  ein  persönliches  Gepräge 
gegeben   hat,   launige  Einfälle,   welche   seiner 


307 


Einbildungskraft  einen  unbegrenzten  Spielraum 
err)ftncn ;  in  diesen  wundervollen  Schöpfungen 
seiner  Phantasie  hat  er  sich  ganz  der  Freude 
am  Gestalten  und  am  ungehemmten  Ausströmen 
der  Empfindung  hingegeben.  Bei  dem  fami- 
liären Ton,  den  er  dabei  anschlug,  lag  die  Ge- 
fahr fern,  dass  er  als  neuer  Ikarus  die  Wachs- 
iUigel  an  der  Sonnenglut  einbUssen  würde;  das 
heisst,  Lemaire,  der  erste  wahrhaftige  Lyriker 
des  16.  Jahrhunderts,  ist  trotz  seiner  unbestreit- 
baren Anlage  kein  Dichter  im  Geiste  Ronsards 
geworden,  ein  junger  Aar,  der  auf  Pindars 
Parten  die  Höhen  der  Luft  durchlliegt.  \'or 
dem  schwindelnden  Abgrund  zurückbebend,  ist 
er  bescheiden  in  niederen  Regionen  auf  den 
blumigen  Triften  gewandelt,  wo  Catull  einher- 
geht, w^enn  er  Lesbias  Sperling  besingt.  Die  ersten 
Werke  deuteten  diese  Umkehr  nicht  an;  Weihe, 
Schwung  und  Wärme  bleiben  bis  zum  Schluss 
Eigenschaften  seiner  Dichtungen;  die  Eingebung 
ist  aber  eine  andere  geworden.  Woran  liegt  es? 
—  Am  Zufall  des  Lebens;  am  Beifall,  den  er 
land.  Jedenfalls  hat  sein  Ruhm  dadurch  nichts 
eingebüsst;  seine  schönsten  dichterischen  Leist- 
ungen bleiben  immerhin  diese  frischen,  phantasie- 
vollen Ergüsse  seines  Genius,  wo  sich  lyrische 
Kraft  mit  neckischem  Humor  paart,  wo  er  in 
ihrer  ganzen  Fülle  die  Schütze  seines  Geistes 
und  seines  Gemütes,  seinen  lieblichen  Natur- 
sinn,   seine    lebendige    Gestaltungskraft,    seine 


—    308    — 

künstlerisch  drastische  Lebensauffassung,  aus- 
geschüttet hat.  Auch  Ronsard  ist  schliesslich 
von  Pindar  zu  Anakreon  übergegangen  und 
wahrlich  nicht  zum  Schaden  seines  Nachruhms. 
Die  lyrische  Begabung  Lemaires  geht  Hand 
in  Hand  mit  seiner  Liebe  zur  Natur  und  einem 
innigeren  Verständniss  für  ihren  geheimniss- 
vollen Zauber.  Seine  Vorgänger  haben  um  die 
Wette  den  Mai  geschildert,  um  dann  unter 
einem  Baume  in  einen  allegorienschwangeren 
Traum  zu  versinken.  Lemaire  ist  der  erste,  der 
unserem  wehmutsvollen  Sehnen  nach  der  Natur 
Ausdruck  verliehen,  der  die  Stille  des  Grabes 
mit  ihrem  lieblichen  Vorhang  umflochten  hat, 
nicht  in  romantischer  Schwermut,  sondern  in 
lebenswarmer  Freude  an  der  schönen,  herrlichen 
Welt.  Im  Liebesroman  der  Illustrations  de  Troye 
hat  er  dann  die  Pracht  und  die  Anmut  ihrer 
wechselnden  Reize  mit  dem  Knospen  und  Blühen 
menschlicher  Gefühle  verwoben.  In  seiner  naiv 
selbstbewussten  Sprache  hat  er  wundervolle 
Ausdrücke  gefunden,  um  den  heissen  Sommer- 
tag zu  schildern,  an  dem  zwei  in  Liebe  erglü- 
hende Herzen  sich  einander  erschlossen  haben, 
oder  die  rauhen  Wintertage,  wo  sie  in  ihrer 
ärmlichen  Hütte,  deren  Strohdach  unter  der  Last 
des  Schnees  nachgibt,  nur  ihre  Jugend  und  Liebe 
haben,   um    sich   warm   zu    haltend    Auch   die 


>  Endementiers  que  les  dcux  vra3s  amants  cueilloicnt  Je 
doux  fruit    d'amoureusc  jouissancc,    le    der  Titan   r^issant  par 


—    309    — 

Schauer  und  Schrecknisse,  welche  den  Menschen 
umgeben,  wo  verblendete  Leidenschaft  ihn  in 
die  Irre  führt,  hat  er  angedeutet.  Ob  gut  oder 
schlecht  unser  Wandel  ist,  in  der  Natur  spiegelt 
er  sich  wieder,  und  ihre  Stimme  spricht,  wo  die 
des  Gewissens  erstickt  wird'.  Wenn  Trauer 
uns  befällt,  so  will  es  uns  scheinen,  als  nähmen 
alle  Geschöpfe,  lebende  und  leblose,  an  unserem 
Schmerze  Teil ;  Sturm  erschüttert  sie  und  Angst 
beklemmt  ihre  Herzen.  Wenn  aber  Venus  er- 
scheint, da  schweigen  die  Elemente,  und  die  Erde 
kleidet  sich  in  frischen  Frühlingsschmuck  2. 

Xicht  bloss  für  das  Malerische  der  Land- 
schaft in  seinen  mannigfaltigen  Schattierungen, 
auch  für  die  Anmut  und  den  Reiz  menschlicher 
Schönheit  hat  Lemaire  Farben  gefunden ,  lieb- 


los arcures  du  Zodiaquc,  par  dcvant  la  maison  de  la  Vicrjfc, 
jcltoii  son  ro)Lrard  cn  lorrc,  et  voyoit  1c  noble  .^oust,  un  moys 
imperial  lout  nud,  tout  hasKJ,  recueillaiit  ses  espics  avec  la 
deesse  Ceres;  les  cvRales  et  les  joycux  crinchonncts  cstrivans 
parm>  les  ehaumcs  et  Ics  buissons  du  fremissement  de  Icurs 
resonnances,  faisoient  retentir  l'air  et  la  campaigne.  LaqucUc 
de  grand  ardeur  scmbloit  fumer  et  cstre  prochaine  il  combus- 
tion.  si  n'eust  est(J  que  le  gracieux  vent  Eurus  vcnant  des  par- 
lies  Orientales  sc  parfor<;nit  de  adoucir  la  vehemence  du  chaud 
cstival,  et  faisoit  mouvoir  la  sommile  des  arbres,  bransler  dou- 
cettement  les  branches  et  bruire  les  fueillettes,  pour  rcndre 
l'ombre  plus  dclicieuse  aux  amants. ».  lllustrations  I,  36.  Oeuvres  1, 
184.  —  Cf.  I,  37.  ibid.  193.  «Et  quand  ce  vint  que  le  riche  temps 
d'auiomne  eut  mis  en  {rrcnici  tout  son  tresor  et  amas  fructueux 
de  l'annee,  ponr  le  vivre  et  Provision  des  animaux  marchans 
sur  terrc,  etc.  > 

'  Z.  B.  bei  der  Entführung  Helenas.  Ulustrations  II,  8. 
Oeuvres  11,  80. 

"  Vgl.  z,  B.  die  Rcgretz  de  la  Dame  infortunee  und  die 
Beschreibung  des  Tempels  der  Venus. 


-    310    - 

liehe  und  glühende.  Mit  welchem  Wohlbehagen 
hat  er  das  Bild  der  Nymphe  Oenone  in  ihrer 
anspruchslosen  Grazie  ausgemalt,  oder  die  For- 
menfülle der  Venus  mit  ihrem  blendenden  Lieb- 
reiz! Eine  Reihe  hübscher  Skizzen  Hesse  sich 
aus  seinen  Werken  zusammenstellen,  alle  mit 
feinbeobachteten  Einzelzügen,  wie  Fingerzeige 
für  den  Maler;  denn  seine  Dichtungen  verlangten 
eigentlich  die  fortlaufende  Auslegung  durch  die 
Hand  des  Künstlers.  Statt  dessen  haben  sie 
unverdienter  Weise  nur  Druckerschwärze  zur 
Verzierung  erhalten,  während  so  manches  litte- 
rarisch unbedeutende  Produkt  des  15.  Jahrhun- 
derts durch  hervorragende  Meister  mit  den 
herrlichsten  Miniaturen  geschmückt  worden  ist. 
Der  Liebesroman  von  Paris  und  Oenone  von 
Lemaires  kalligraphischer  Hand  geschrieben  und 
von  Perreal  im  frischen  Renaissancegeschmack 
illustriert,  welche  Pracht  wäre  solch  ein  Denkmal! 
Wie  ein  Grieche  belebt  Lemaire  die  Natur 
mit  Göttern  und  Halbgöttern.  Faune  und  Feen 
tanzen  im  Mondenschein.  Nymphen  lauschen 
hinter  dem  grünenden  Gebüsch.  Sonne,  Winde, 
Jahreszeiten,  Monate  werden  zu  fühlenden  und 
teilnehmenden  Wesen;  es  ist  ein  Spuk  und  der 
Dichter  glaubt  beinahe  daran.  Bisweilen  aber  be- 
sinnt er  sich,  und  mitten  in  das  anmutige  Spiel  der 
Phantasie  keilt  er  eine  jener  razionalistischen 
Deutungen  ein,  von  denen  Boccaccio  in  seiner 
unerfreulichen  Genealogie  der  Götter  ein  dickes 


—    311    — 

Buch  zusammengestellt  hat.  Am  burgundischen 
Hof  hatte ,  wie  es  scheint ,  diese  undichte- 
rische Ueberführung  der  alten  Heidengötter  und 
Heroen  in  die  Plattheit  menschlicher  Verhält- 
nisse lebhaften  Anklang  gefunden;  sie  entsprach 
der  mittelalterlichen  Gewohnheit  die  Gestalten 
früherer  Jahrhunderte  in  das  zeitgenössische 
Gewand  zu  kleiden'.  Lemaire  hat  sich  grosse 
Mühe  gegeben,  seinen  Lesern  die  alte  Welt  in 
ihrer  Eigenart  und  vor  allem  ihre  mythischen 
Figuren,  so  wie  sie  ihm  aus  den  römischen 
Dichtern,  aus  Ovid,  aus  Virgil,  lieb  und  vertraut 
waren,  anschaulich  vor  Augen  zu  führen.  Sicher- 
lich dachte  er  dabei  an  die  darstellende  Kunst 
und  suchte  ihr  neue  Wege  zu  weisen.  Hatte 
der  Maler  bisher  Jupiter,  Herkules  oder  Hcktor 
in  voller  Rüstung  zu  Fuss  oder  zu  Pferd  mit 
Schwert  und  Lanze  k.ämpfen  lassen,  wUhrend 
die  Schaar  der  Reisigen  am  Umrang  einer 
Anhöhe  den  Augenblick  zum  Anprall  abwartete, 
so  zeigte  ihm  Lemaire  mit  Aufwand  grosser 
Gelehrsamkeit  den  bemannten  Streitwagen  im 
Getümmel  der  Schlacht,  und  in  der  Paliistra 
den  nackten  Ringkämpfer  mit  Oel  gesalbt.  F"rei- 
lich  bei  der  Ueberarbeitung,  oder  wenn  er  an 
seine  Leser  dachte,  wandelten  den  Dichter  man- 
cherlei Bedenken  an;  er  machte  dann  allerlei 
kleine  Zusätze,  welche  die  Frische  der  ursprüng- 


'  Vgl.  z.  B.  die  Geschichte  des  Trojanerkrieges  von  Kuoul 
Le  Febvre  mit  ihren  herrlichen  Miniaturen.  Bibl.  nat.  ms.  fr.225.">;;. 


—    312    — 

liehen   Auffassung   mit    unangenehmen   Wider- 
sprüchen durchklüften. 

Für  die  Dichtkunst  wie  für  die  bildenden 
Künste  bedeutet  die  Renaissance  eine  Rückkehr 
zur  Natur.  Die  Italiener  glaubten  dieselbe  in 
den  Ueberresten  der  alten  Kunst  zu  erblicken 
und  eigneten  sich  bald  deren  Schönheitsideal 
an.  Die  Nordländer,  denen  jene  Schätze  ungleich 
schwerer  zugänglich  waren,  suchten  die  Natur 
in  einem  gewissen  Realismus,  welche  sie  durch 
die  tiefempfundene  Wiedergabe  des  seelischen 
Ausdrucks  veredelten.  Ganz  anders  stand  die 
Poesie  auch  im  Norden  dem  Altertume  gegen- 
über; die  klassischen  Schriftsteller  hatten  nie 
aufgehört  als  Muster  zu  gelten ;  die  Buchdrucker- 
kun^t  legte  ihre  Werke  einem  Jeden  in  schönen 
Exemplaren  nahe;  die  Griechen  wurden  in  ele- 
ganten Uebersetzungen  verbreitet.  Dem  Alter- 
tum wendete  sich  die  Dichtkunst  naturgemäss  zu 
und  bemühte  sich,  dasselbe  mit  unbefangenem 
Urteil  zu  begreifen  und  das  Ideal,  das  seine  Schrift- 
steller erreicht  hatten,  in  den  modernen  Sprachen 
zu  verwirklichen.  Mehr  als  irgend  einer  seiner 
Zeitgenossen  hat  Lemaire  in  dieser  Hinsicht 
geleistet.  Mitunter  hat  er  sich  rückhaltlos  der 
antiken  Eingebung  überlassen;  freilich  hat  er 
sich  niemals  vollständig  frei  gemacht  von  der 
Anschauungsweise  seiner  Zeit,  die  oft  uner- 
wartet in  naiven  Bemerkungen  durchbricht  und 
unser  Lächeln  hervorruft.    Trotzdem  bleibt  es 


-    313    - 

wahr,  dass  er  der  Poesie  des  16.  Jahrhunderts 
die  Bahn  eröffnet,  und  dass  Mancher  von  den 
Späteren  aus  ihm  gelernt  hat. 

Lemaire  ist  kein  Humanist  wie  Erasmus 
oder  Jakobus  Faber;  es  fehlte  ihm  der  Beruf 
dazu;  nicht  für  die  gelehrte  Welt  schreibt  er, 
sondern  für  die  weiteren  gebildeten  Kreise,  vor 
allem  für  die  Frauen,  zu  deren  gewählter  Unter- 
haltung das  Lesen  verschiedentlicher  Bücher 
gehört.  Nichtsdestoweniger  bleibt  er  ein  gelehrter 
Schriftsteller  von  recht  umfassendem  Wissen. 
Er  hat  gründliche  vStudien  gemacht  und  verfolgt 
aufmerksam  die  neuen  Erscheinungen.  In  erster 
Linie  hat  er  natürlich  die  alten  Dichter  gelesen 
und  sich  an  ihrem  Stil  gebildet;  seine  Lieblinge 
sind  Ovid,  Virgil,  Lucanus,  Apuleius  und  Seneca. 
Horaz  führt  er  nirgends  an.  Griechi.sch  verstand 
Lemaire  nicht;  Vallas  Uebersetzung  erlaubte 
ihm  aber  Homer  zu  lesen,  und  Erasmus  machte 
ihn  mit  Euripides  bekannt. 

Sein  Hauptstudium  waren  die  Geschicht.s- 
schreiber ;  da  kennt  er  nicht  bloss  Caesar,  Livius, 
Sueton,  Tacitus,  Vopiscus,  Florus,  Josephus, 
Hieronymus,  Orosius,  Cassiodor,  Sigebert,  Vin- 
centius  von  Beauvais,  Jakob  von  Guise,  Jacobus 
Bergomensis,  sondern  auch  Homer,  Herodot, 
Thukydides,  Plutarch,  Diodorus  Siculus,  Dion 
von  Prusias,  welche  neuerdings  in  lateinischer 
Sprache  gedruckt  worden  waren;  er  hat  in 
Handschriften  die  Gesta  Francorum,  den  Ligu- 


—    314    — 

rinus,  Gottfrieds  Pantheon,  die  Chronik  von 
Brabant  und  deren  metrische  Fassung  gefunden ; 
iur  spezielle  Partien  hat  er  Juvencus  Coelius, 
Flav'ius  Blondus,  Sabellicus,  Michele  Riccio, 
Piatina,  Laurentius  Valla,  Volaterra,  Petrus 
Crinitus,  u.  v.  A.  zu  Rate  gezogen.  Leider  schenkt 
er  den  mittelalterlichen  Fälschungen  des  Darcs 
und  Dictys  noch  Glauben  und  ist  auf  die  trau- 
rige Sammlung  der  Altertümer  des  Annius  von 
Viterbo  verfallen.  Auf  Grund  seiner  umfassenden 
Lektüre  und  emsigen  Forschungen  fühlt  er  sich 
berechtigt,  seinen  Meister  Guaguinus  zurecht  zu 
weisen  und  der  Leichtfertigkeit  zu  zichtigen. 

Mit  Vorliebe  hat  sich  Lemaire  auch  mit 
Länderkunde  befasst  und  unzählige  geogra- 
phische Exkurse  in  seine  Werke  eingestreut. 
Sein  bester  Gewährsmann  ist  Strabo;  daneben 
hat  er  sich  zahlreiche  Notizen  aus  Plinius,  Ptole- 
mäus,  Caesar  und  seinem  Kommentator  Marlian, 
Vibius  Sequester,  Gervasius  von  Tilbury,  Pius 
des  II.  Beschreibung  von  Asien,  Bernhard  von 
Breitenbachs  Reise  nach  dem  gelobten  Land, 
auch  nach  mündlichen  Erkundigungen  und 
eigener  Anschauung  gemacht;  freilich  zeigen 
diese,  wie  sehr  die  zeitgenössischen  Kenntni.sse 
noch  im  Argen  lagen.  Die  Mythologie  und 
Geschichte  der  Heroen  lernte  man  am  besten 
aus  den  alten  Dichtern  kennen,  welche  meistens 
mit  älteren  oder  neueren  Kommentaren  aus- 
gestattet vorlagen;  Lemaire  führt  eine  ansehn- 


—  3ir>  — 

liehe  Schaar  derselben  an:  ausserdem  schöpfte 
er  eine  eigentümlich  verdrehte  Auslegung  der 
alten  Sagen  aus  Fulgentius  und  Boccaccio.  Für 
die  Astrologie,  die  ihm  sehr  vertraut  ist,  stützt 
er  sich  auf  Iginius  und  Firmicus.  Ferner  kennt 
er  alle  medizinischen  und  astrologischen  Geheim- 
nisse der  mittelalterlichen  Steinkunde  und  er- 
gänzt sie  sorgfältig  aus  Plinius'  Naturgeschichte. 

In  seiner  Weise  bricht  Lemaire  Bahn  und 
arbeitet  an  einem  Werke  der  Popularisierung» 
wenn  ihm  gleich  eine  feste  Methode  und  Folge- 
richtigkeit fehlen.  Bald  wurde  er  in  Frankreich 
von  wirklichen  Humanisten  überholt;  man  sieht 
aber  schon  bei  ihm  die  charakteristische  Nei- 
gung nach  den  Realien,  die  den  französischen 
Humanismus  auszeichnet,  und  jedenfalls  muss 
man  ihm  die  Ehrlichkeit  zu  Gute  anrechnen^ 
mit  der  er  all  diesen  Wissensstoff  den  französi- 
schen Lesern  zugänglich  zu  machen  bemüht  war'. 

Die  gelehrten  Zugaben  in  allen  Gebieten 
sind  aber  doch  nur  Nebenwerk.  In  erster  Linie 
ist  und  bleibt  Lemaire  Poet  und  Stilist;  diese 
Eigenschaften  sichern  seinen  dauernden  Nach- 
ruhm. Wir  haben  hinlänglich  dargethan,  dass  die 
Illustrations  de  Gaule  hauptsächlich  als  anmutiger 
Roman,  als  lebensfrische  Darstellung  bukolischer 
Szenen    unsere    Bewunderung    verdienen.    Die 


*  Ueber  diese  ausserordentliche  Uelesenhcit  Lemaires  und 
seine  vielseitigen  Interessen  orientiert  ein  Blick  in  die  Ver- 
zeichnisse der  von  ihm  benutzten  Schriftsteller  im  Anh:ing  an 
die  drei  Bücher  der  Illustrations. 


—    316    — 

Idylle  ist  das  Gebiet,  in  dem  Lemaire  eigentlich 
heimisch  ist,  und  man  kann  sagen,  dass  er  in 
dieser  Sphäre  das  Ideal  der  Liebe  erneuert  hat. 
Das  ganze  15.  Jahrhundert  hatte  sich  vom  Land- 
leben ein  lächelndes  Bild  entworfen  und  von  der 
Liebe  der  Hirten  und  Hirtenmädchen  geschwärmt; 
er  betrachtete  sie  mit  den  Augen  der  Städter, 
welche  die  Landbevölkerung  um  ihr  ungezwun- 
genes Dasein  und  ihren  ungetrübten  Genuss 
beneiden'.  Lemaire  hat  —  mit  soviel  Glück  und 
Geschick,  als  Jeder  ihm  zuerkennen  mag  —  den 
spätgriechischen  Hirtenroman  durch  selbständige 
Erfindung  neuerstehen  lassen ;  est  ist  das  harmlose 
Schauspiel  des  ungehemmten  Aufwachens  un- 
verfälschter Liebe  in  zwei  jugendlichen  Herzen. 
Die  ländliche  Umgebung  gehört  dazu  als  Bedin- 
gung der  Unschuld  und  vollen  Weltabgeschlos- 
senheit,  sie  umrahmt  die  idyllische  Szene  mit 
ihrem  malerischen  und  stimmungsvoll  mitwir- 
kenden Hintergrund;  die  beiden  Helden  aber 
gehören  durch  ihre  Abstammung  höheren  Krei- 
sen an  und  sind  nur  durch  Zufall  in  diese  Nie- 
drigkeit versetzt,  das  verlangt  ihre  Schönheit 
und  die  Zartheit  ihres  Empfindens.  Unseren 
Roman  unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet, 
ist  es  beachtenswert,  dass  Paris' Liebe  zu  Oenone 


'  Es  ist  ein  aller  Gemeinplatz  der  französischen  Poesie, 
der  sich  von  Alain  Chartier  bis  Octovien  de  Saint-Gelais  bei 
allen  Dichtern  wiederfindet,  obwohl  gerade  im  lö.  Jahrhundert 
die  Lage  des  Bauernstandes  nach  den  langen  Kriegen  keines- 
wegs beneidenswert  war. 


—    317    — 

nur  eine  Episode  bildet;  nur  seine  Geschichte 
verfolgen  wir  von  Anfang  bis  zu  Schluss,  selbst 
nachdem  er  die  Jugendgeliebte  Verstössen  hat ; 
ihn  sehen  wir  aufwachsen,  zum  Jüngling  heran- 
reifen, bis  eines  Tages  die  Nymphe  wie  eine 
höhere  Erscheinung  vor  ihn  tritt.  Mystisches 
Geheimniss  umgibt  sie;  Apollo,  das  hören  wir, 
hat  sie  ihrer  jungfräulichen  Unschuld  beraubt; 
es  liegt  aber  in  ihr  etwas  so  erhabenes,  reines 
und  zugleich  zur  Liebe  zwingendes,  dass  Paris 
ihrem  Zauber  nicht  widerstehen  kann.  Mit  dem 
ersten  Funken  der  Liebe  flammt  in  des  Jüng- 
lings Herzen  auch  zugleich  das  Verlangen  auf, 
und  die  Lösung  erfolgt  so  unvermittelt,  dass 
der  Dichter  das  Ueberraschende  der  Situation 
nur  durch  eines  seiner  herrlichen  Bilder  ver- 
decken konnte  •.  Die  eroberte  Gunst  ist  aber 
für  den  Mann  eine  ewige  Verpflichtung;  sein 
Glück  und  sein  guter  Geist  ziehen  mit  der  jun- 
gen Frau  in  sein  Haus.  Wird  er  ihr  untreu,  so 
tauscht  er  gegen  die  im  versiegbare  Liebe,  die 
ihn  nie  vergessen  wird  bis  in  den  Tod,  die  ehe- 
brecherische Leidenschaft  ein,  die  ihn  und  sein 
Geschlecht  zum  Verderben  führen  soll. 


>  « Car  ainsi  comme  il  advient  aucunesfois  quc  Ics  pus- 
toureaux  des  champs  par  inadvcrtance  ont  laissö  un  charbon 
de  feil  cntre  les  seichcs  foutfieres,  et  il  survicnt  aucun  impe- 
lueux  vent  chaud  et  mcridional ,  qui  allume  les  festuz  et 
fueillettes  gisans  alentour,  tantost  la  flambe  csparsc  prenanc 
vigueur,  surprcnt  ce  qui  luy  est  voisin,  et  ne  cesse  de  forscncr 
parmj-  les  bruycres,  jusques  i\  cc  qu'ellc  ayt  tout  mls  en  cendre: 
Ainsi  pareillemcnt  ...»  Oeuvres  I,  183. 


-    318    - 

Im  Vergleich  zu  ihrem  poetischen  Gehalt 
tritt  meines  Erachtens  die  Bedeutung  der  lUu- 
strations  als  Geschichtswerk  stark  zurück  und 
sie  wird  für  uns  durch  den  fabelhaften  Charakter 
ihres  Inhalts  noch  vermindert.  Die  Ueberrasch- 
ung  der  ersten  Leser  über  die  staunenerregenden 
Mitteilungen  aus  Annius  von  Viterbo  machte 
bald  dem  gerechten  Umschwung  Platz,  und  die 
Spötter  fielen  über  diese  Merkwürdigkeit  her'. 
Ernster  war  die  Leistung  des  dritten  Buches; 
■ein  achtenswerter  Wissensdrang  hatte  den  Ver- 
fasser wirklich  tiefer  gründen  lassen,  aber  die 
Nacht  war  noch  so  dicht,  dass  ein  Einzelner  in 
seinen  Mussestunden  die  Finsterniss  nicht  zu 
durchbrechen  vermochte  2.  Das  letzte  Buch,  das 
nie  erschien,  hätte  eine  gewisse  politische  Ak- 
tualität erhalten,  indem  es  dem  Gedanken  eines 
allgemeinen  Kreuzzuges  neue  Nahrung  gab. 
Die  Erzählung  sämmtlicher  von  den  Christen 
gegen  die  Türken  geric:hteten  Unternehmungen, 
die  Beschreibung  Griechenlands  und  Kleinasiens, 
die  es  enthalten  sollte,  wäre  sicherlich  unter 
Lemaires  Feder  ein  begeisterter  Mahnruf  zum 
heiligen  Kriege  geworden. 

Allerdings  —  der  neue  Glanz,  den  die  Illu- 
strations  um  die  Trojanersage  als  französische 


1  Z.  B.  der  anonyme  Discours  non  plus  mclancolique  que 
•divers.  Cf.  Leber,  Collection  des  meilleurs  dissertations  etc. 
I,  36,  Paris  1838. 

2  Auch  dieser  Teil  wurde  angefochten  z.  B.  von  J.  Bouchct, 
Annales  d'Aquitaine  auf  Grund  von  Trithemius'Pseudo-Hunibald. 


-    319    - 

Stammsajjc  woben,  wirkte  nach,  indem  sie  die 
I^opularität  dieses  Glaubens  frisch  belebte.  In 
diesem  Sinne  bereitete  Lemaire  Ronsards  Fran- 
ciade  vor;  als  Quelle  aber  hat  er  ihm  nicht 
iifcdicnt,  da  die  Abschnitte  der  Illustrations,  die 
sich  mit  Frankus  befassen,  doch  zu  summarisch 
sind. 

Mit  dem  lebhaftesten  Interesse  vcrfolj^te 
Lemaire  die  Ereignisse  der  Tagesgeschichte; 
er  betrachtete  sie  nicht  als  gleichgültiger  Zu- 
schauer, sondern  mit  feurigem,  leicht  erregbarem 
Eifer  und  einem  auf  das  Praktische  gerichteten 
Geist.  Seine  offizielle  Stellung  als  Indiziarius 
gewährte  ihm  einen  gewissen  Einblick  in  das 
Getriebe  der  Politik,  die  nahen  Beziehungen  zu 
den  Fürsten  reiften  die  loj-ale  Anhänglichkeit 
seines  Gemütes  zu  thatkräftiger  Ueberzeugung. 
Der  Friede  von  Cambrai  .Hess  ihn  ein  Ideal 
erschauen,  an  dessen  Verwirklichung  er  glaubte: 
die  Eintracht  der  Herrscher  Europas  und  der 
vereinte  Kreuzzug  gegen  die  Türken.  Vom 
Standpunkt  dieser  idealen  Ueberzeugung  aus 
suchte  er  zweimal  auf  die  öffentliche  Meinung 
einzuwirken.  Den  litterarischen  Wert  der  beiden 
Schriften  haben  wir  besprochen ;  ihre  Bedeutung 
als  Flugschrift  wurde  durch  den  riesigen  Erfolg 
besiegelt.  Das  Geheimniss  ihrer  Wirkung  liegt 
in  der  Kraft  der  Sprache,  der  Klarheit  der 
Sätze,  der  Heftigkeit  der  Polemik  und  vor  allem 
in  dem  Reichtum  der  Thatsachen,  welche  der 


—    320    — 

Verfasser  in  einfacher,  gemeinverständlicher 
Weise  den  Lesern  vorlegt;  er  beruft  sich  auf  ihr 
Urteil;  sie  sollen  selbst  sehen,  wie  die  Vergan- 
genheit auf  Gegenwart  und  Zukunft  Licht  werfen 
kann  Für  die  Geschichtsforschung  bleiben  die 
Streitschriften,  namentlich  die  zweite,  ein  Denk- 
mal der  aufgeregten  Stimmung,  welche  dem 
grossen  kirchlichen  Zerwürfniss  des  16.  Jahr- 
hunderts vorausging  und  die  Reformation  ^vor- 
bereitete. 

XXIT. 
Früh  hat  sich  in  Frankreich  eine  einheitliche 
Schriftsprache  gebildet,  und  alle  politischen 
Stürme  scheinen  die  fortlaufende  Tradition  nicht 
unterbrochen  zu  haben.  Im  Verlauf  des  14.  und 
15.  Jahrhunderts  hat  allerdings  die  französische 
Sprache  tiefgreifende  Veränderungen  erfahren; 
ihr  Bau  wurde  durch  das  Eingehen  der  Dekli- 
nationsformen ergriffen;  der  Wortschatz  erhielt 
einen  neuen  Charakter  durch  das  unaufhaltsame 
Einsickern  fremder  Bestandteile.  Indem  die  Ver- 
allgemeinerung der  scholastischen  Bildung  in  den 
bürgerlichen  Kreisen  die  Kenntnisse  erweiterte, 
schuf  sie  die  Anschauungsweise  der  mass- 
gebenden Stände  um  und  erzeugte  neue  Bedürf- 
nisse für  Ausdruck  und  Verkehr ;  Litteratur  und 
Sprache  bekamen  gleichzeitig  ein  gelehrtes  Ge- 
präge. Als  nach  den  Wirrnissen  des  englischen 
Krieges  Frankreich  zu  festerer  Einheit  erstarkte, 
vollzog    sich    auch    der    Klärungsprozess    der 


—    321    — 

Sprache;  gegen  Ende  des  15. Jahrhunderts  schien 
sie  mit  ihrer  abschliessenden  Form  auch  das 
alte  Ansehen  wiedergewonnen  zu  haben.  Mit 
vollem  Recht  konnte  Lemaire  sagen,  dass  dies- 
seits der  Berge  keine  Sprache  so  elegant,  so 
verbreitet  und  an  den  Fürstenhrilon  so  beliebt 
war  wie  die  französische'. 

Wohl  hatte  das  Französische  noch  nicht  die 
feste  Geschlossenheit  wie  heutzutage;  es  ver- 
trug innerhalb  gewisser  Grenzen  landschaftliche 
Färbung;  allein  der  rege  Verkehr  zwischen  den 
grossen  Kulturmittelpunkten  und  die  engen  Be- 
ziehungen, welche  die  massgebenden  fürstlichen 
Persönlichkeiten  verknüpften,  werden  auch  in 
dieser  Hinsicht  einen  Ausgleich  bedingt  haben. 
Es  ist  nicht  wohl  denkbar,  dass  man  am  Hofe 
von  Bourbon  um  Anna  von  Frankreich  erheblich 
anders  gesprochen  hätte  als  in  der  Umgebung 
ihres  Bruders,  Karls  des  VIII.  Margareta,  welche 
unter  ihrer  Aufsicht  erzogen  worden  war,  wird 
wohl  in  Turin,  wie  in  den  Niederlanden  die 
Sprache  ihrer  Kindheit  beibehalten  haben.  Sollte 
sich  Perreal  in  Lyon  anders  ausgedrückt  haben 
als  inBlois?  An  Lemaires  Redeweise  sind  keine 
merklichen  Unterschiede  wahrzunehmen,  obwohl 
er  bald  im  Norden,  bald  im  Süden  gelebt  hat; 
seine  Schriften  waren  nicht  für  eine  Provinz, 
sondern  für  ganz  Frankreich  bestimmt.  Freilich 
seine  Sonderheiten  hat  er  wohl;  Palsgrave,  der 

*  Ulustrations  I,  1. 

Becker,  Jean  Lemaire.  21 


—    322    — 

sich  um  jene  Zeit  mit  französischer  Grammatik  be- 
schäftigte, hat  mehrere  angemerkt  und  es  wird 
die  Aufgabe  einer  kritischen  Ausgabe  sein, 
wenn  wir  endlich  eine  erhalten,  festzustellen, 
was  bei  Lemaire  heimatliche  Eigentümlichkeit, 
was  blos  überlegte  Rechtschreibung,  was  all- 
gemeiner Zeitgebrauch  ist'. 

Wir  wissen  zu  gut,  dass  die  menschliche 
Rede  sich  in  ewigem  Fluss  befindet,  als  dass 
wir  heute  noch  behaupten  sollten,  dieser  oder 
jener  Schriftsteller  habe  eine  Sprache  fixiert, 
am  allerwenigsten  im  16.  Jahrhundert,  wo  ein 
Geschlecht  nach  dem  andern  in  stürmischem 
Drang  seine  Eigenart  zur  Herrschaft  zu  bringen 
sucht  und  durch  Missachtung  des  Früheren  den 
Wechsel  beschleunigt.  Lemaires  Bedeutung  für 
die  Geschichte  der  französischen  Sprache  scheint 
mir  in  seiner  Meisterschaft  als  Stilist  zu  liegen, 
in  der  Kunst  und  dem  inneren  Verständniss, 
mit  denen  er  die  dichterischen  Ausdrucksmittel 
der  Sprache  ausgebeutet  hat,  und  in  der  bewun- 
dernden Anerkennung,  die  seine  Zeitgenossen 
und  die  nächsten  Generationen  seinen  Bemü- 
hungen gezollt  haben.  In  seinen  Schriften  prangt 


'  Palsgrave,  dclaircisscmcnt  de  la  langue  fran^aise  (Docu- 
ments  in€dits  pour  servir  ä  l'histoire  de  France)  Paris  18öl'. 
(Erschienen  1530—31.)  Die  Autoritäten,  die  er  anführt,  sind  vor- 
züglich A.  Chartier,  O.  de  Saint  Gelais,  J.  Lemaire.  Seine 
Bemerkungen  sind  durch  das  ganze  Buch  zerstreut  und  betrcflcn 
meist  nur  Einzelheiten.  —  Wie  ein  kritischer  Text  der  Werke 
Lemaires  herzustellen  ist,  beabsichtige  ich  demnächst  im  Litte- 
raturblatt  für  germ.  und  rom.  Philologie  zu  besprechen. 


—    323    — 

ein  üppiger  Blütenwuchs  von  Worten,  \\  ■  : 
düngen  und  Bildern,  aus  dessen  Fülle  die  Xach- 
kommen  mit  vollen  Händen  pflücken  und  Striiusse 
binden  durften.  Die  Farbenpracht,  die  er  ent- 
faltet, lässt  vielleicht  die  Weichheit  der  Ab- 
tönung vermissen ;  aber  die  Harmonie  der  satten 
T()ne  ist  sorgfältig  beobachtet  und  kunstvoll 
zurechtgelegt ;  der  Sprache  fehlt  noch  das  rechte 
Bindemittel,  welches  das  zartere  Verschmelzen 
der  Farben  möglich  macht:  gewisse  Schat- 
tierungen sind  in  der  schweren  lateinischen 
Periode  mit  den  ellenlangen  Partikeln  nicht 
erreichbar.  Mit  den  hervorragend  schönen  Seiten, 
die  er  geschrieben,  hat  Lemaire  im  Beginn  des 
16.  Jahrhunderts  der  französischen  Litteratur 
einen  ähnlichen  Dienst  erwiesen  wie  Chateau- 
briand an  der  Schwelle  des  unseren,  er  hat  die 
Macht  des  Sprachrythmus  und  Sprachklanges 
und  ihre  verborgenen  Beziehungen  zu  unserm 
Affekte  erfasst,  und  den  Andern  durch  sein 
Vorgehen  zur  Erkenntniss  gebracht.  Neuere 
Beispiele  zeigen,  was  die  Initiative  eines  begabten 
Schriftstellers  vermag. 

Wir  können  daher  Estienne  Pasquier  nur 
zustimmen,  wenn  er  sagt:  „Le  premier  qui  ä 
bonnes  enseignes  donna  vogue  ä  nostre  poesie, 
fut  Maistre  Jean  le  Maire  de  Beiges,  auquel 
nous  sommes  infiniment  redevables,  non  seule- 
ment  pour  son  livre  de  Tlllustration  des  Gaules, 
mais  aussi  pour  avoir  grandement  enrichy  nostre 


—    324     - 

langue  d'une  infinite  de  beaux  traits  tant  Prose 
qua  Poesie,  dont  les  mieux  escrivans  de  nostre 
temps  se  sont  sceu  quelques-fois  fort  bien  aider. 
Car  il  est  certain  que  les  plus  riches  traits  de 
cette  belle  hymne  que  nostre  Ronsard  fit  sur 
la  mort  de  la  Reine  de  Navarre,  sont  tirez  de 
luy  au  jugement  que  Paris  donna  aux  trois 
Deessesi." 

Lemairc .  hat  die  französische  Sprache  be- 
reichert; darunter  hat  man  meistens  verstanden, 
dass  er  ihr  eine  Unmenge  neuer  Ausdrücke 
zugeführt  hat,  indem  er  Römer  und  Griechen 
ausplünderte.  Ich  weiss  nicht,  welcher  unberufene 
Kritiker  so  weit  gegangen  ist,  ihn  als  den  limou- 
sinischen Schüler  hinzustellen,  über  den  sich  Ra- 
belais lustig  macht.  Gelehrte  Ausdrücke  findet 
man  in  grosser  Zahl  in  seinen  Schriften,  er  hat 
sie  aber  nicht  eingeführt,  sondern  v-orgefunden, 
wie  sie  ja  grösstenteils  heute  noch  fortleben, 
teilweise  in  etwas  abweichender  Form.  Hin  und 
wieder  spielt  er  wohl  mit  Latinismen,  das  ist 
sein  Recht  als  Dichter  2.  Oft  muss  er  seine  Zu- 
flucht  zu   ihnen    nehmen,    weil    der    heimische 


1  Estienne  Pasquier,  Rcchcrches  de  la  France  (1586)  VII,  5 
Er  fährt  fort :  Cot  autheur  florit  sous  le  regne  de  Louis  XII  et 
veit  celuy   de  Fran^ois  I.   —   Pasquier  spricht  wiederholt  von 
Lemalre:  VU,  9  hat  er   z.  B.  die  Frage  von  dem  Vorzug  der 
italienischen  und  französischen  Sprache  wieder  aufgenommen. 
-  Solche    Ausdrücke   sind   z.   B.   cheveux   colubrins,    chcf 
auricome,  der  et  irradiant  usf.  Vgl.  '2.  Ep.  de  l'amant  vert: 
leans  trotte  et  ambullc 
Le  passeron  de  l'ainie  Catiille... 


-    32Ö    - 

Wortschatz  ihn  im  Stich  iJisst;  namentlich  wenn 
er  Gemütsbewegungen  in  gehobener  Rede  schil- 
dern will,  ist  er  verlegen  und  verHUlt  hUufig 
auf  recht  hüssliche  Wendungen '.  Der  Eindruck, 
den  ich  gewonnen  habe,  ist  eher  der,  dass 
Lemaire  gegen  den  Latinismus  ankiimpft.  Er 
bemüht  sich,  man  sieht  es,  eine  einheitliche 
dichterische  Sprache  zu  schaffen,  eine  höhere 
Form  der  gewählten  Umgangssprache;  das  volks- 
tümliche Wort  umgeht  er  nicht,  wo  es  litterarisch 
zulässig  ist,  er  liebt  sprichwörtliche  Wendungen. 
Allein  oberstes  Gesetz  ist,  die  Würde  der  Sprache 
zu  wahren ;  barbarisch  und  ungebildet  darf  sie 
nicht  sein.  Schliesslich  ist  es  nicht  gleichgültig, 
ob  man  einen  alltäglichen  Ausdruck  gebraucht 
oder  ein  schönes,  seltenes  Wort,  dürfte  es  auch 
manchen  Leser  anfremden,  und  Lemaire  ist  ein 
zu  feiner  Stilist,  um  den  Wert  eines  solchen  Edel- 
steins in  gehöriger  Einfassung  zu  übersehen. 

Ein  wilder  Neuerer  war  Lemaire  nicht;  das 
zeigt  am  deutlichsten  seine  Zurückhaltung  im 
Gebrauch  neuer  metrischer  Formen.  Es  hängt 
diese  Bescheidenheit  zum  Teil  damit  zusammen, 
da.ss  er  nicht  dichtet  um  zu  dichten,  aus  blos.ser 
Freude  neue  Gebilde  in  die  Welt  zu  setzen; 
jeweils  hat  ihm  ein  besonderer  Anlass  die  Feder 
in  die  Hand  gerückt,  und  unter  diesen  Um- 
ständen genügten  ihm  die  von  selbst  sich  bieten- 

'  Z.  B.  Oeuvres  I,  183.  Le  fort  mouvement  de  naturc  csmu 
;ui  joune  Pjiris  par  Rrand  calcfaction  d'amoureusc  concupisccncc. 


-    326    - 

den  Formen  mit  einigen  naheliegenden  Abände- 
rungen; ihre  Einfachheit  stand  dem  Gedanken, 
der  zum  Ausdruck  kommen  sollte,  wohl  an,  ohne 
ihn  ärmlich  oder  eintönig  zu  kleiden. 

Nur  eine  Neuerung  ist  als  Lemaires  eigenstes 
Verdienst  zu  betrachten,  das  ist  die  Einführung 
der  terse  riine  (vers  tiercets)  in  die  französische 
Poesie,  'ce  que  nul  autre  de  nostre  langue 
Gallicane  ha  encores  attente  d'ensuivre,  au  moins 
que  je  sache''.  Gleich  in  seinem  ersten  Werk- 
chen that  er  diesen  glücklichen  Wurf,  und  zwei- 
mal wiederholte  er  den  Versuch  mit  gleichem 
Geschick,  in  der  Beschreibung  des  Venustempels 
und  im  ersten  Märchen  von  Cupido  und  Atropos. 
Es  ist  bekannt,  dass  nach  ihm  Melin  de  Saint- 
Gelais  und  die  Plejade  dieser  eleganten  Form 
bleibendes  Bürgerrecht  in  der  französischen 
Poesie  verliehen  haben-. 

Eine  grosse  Zukunft  erwartete  die  paar- 
weis gereimten  Zehnsilber,  nachdem  Octo vien 
de  Saint-Gelais  diese  vernachlässigte  Form  durch 
seine  Heroiden  wieder  zu  Ehren  gebracht  hatte ; 
mit  Glück  bediente  Lemaire  sich  ihrer  in  Episteln 
und  selbständiger  im  zweiten  Märchen  von 
Cupido  und  Atropos -^    Alexandriner  paarweise 


»  Oeuvres  III.  101. 

•*  Die  Späteren  haben  gern  in  den  Terzinen  lauter  weib- 
liche Reime  verwendet  in  Erinnerung  an  den  italienischen 
endecasillabo ;  diese  Spielerei  lag  Lemaire  fern.  In  den  folgenden 
Jahrhunderten  sind  die  terze  rime  zeitweise  wieder  ausser  Ge- 
brauch gekommen. 

^  Paarweise  gereimte  Zehnsilber  verwendet  Lemaire  im. 
Prolog  der  Couronne  margaritique.  in  den  Episteln  des  grünen 


zusammeri/cufüffen  lernte  Lemaire  von  Molinet; 
wie  sein  Meister  verwendete  er  sie  in  Grab- 
schriften, angezogen,  wie  es  scheint,  durch  den 
Vergleich  mit  dem  Hexameter'.  Ferner  ge- 
brauchte er  sie  zu  der  Inschrift,  die  über  den 
Weg  zum  Minervatempel  Aufschluss  gibt:  'ce 
beau  dittier,  wie  er  wörtlich  sagt,  compos^  de 
rythme  Alexandrinc,  grave  en  la  planure  du 
rocher  ample  et  spacieux,  laquelle  taille  jadis 
avoit  grand  bruit  en  France,  pource  que  les 
prouesses  du  roy  Alexandre  le  grand  en  sont  des- 
crites  es  anciensrommans:  dont  aucuns  modernes 
ne  tiennent  conte  aujourdhuy;  toutesvoyes  ceux 
qui  mieux  scavent  en  fönt  grand  estime'*.  In 
der  That  hatte  die  zwölfsilbige  Langzeile  in 
Frankreich  längst  die  Beliebtheit  eingcbüsst, 
deren  sie  sich  um  die  Wende  des  13.  Jahrhun- 
derts in  so  hohem  Masse  erfreute ;  in  den  Nieder- 
landen scheint  aber  ihre  Pflege  nie  ganz  auf- 
gehört zu  haben  3.  Jedenfalls  verhallte  das  Wort, 
das    Lemaire    für    diesen  Vers    einlegte,    nicht 


Liebhabers,  der  Epistel  an  Hektor  und  dem  /weiten  M.trchen 
von  Cupido  und  Atropos. 

>  Molinct,  Epitaph  Philipps  des  Guten  im  Anhang  an  den 
Throsne  d'Honneur.  Lemaire,  Epitaph  für  Molinei  und  Chas- 
teUain,  und  Uebersetzunjr  der  lat.  Epitaphiums  für  Gaston  de 
Foix  'rendu  le  Fran<;ois  correspondant  au  nombre  des  syllabes 
du  Latin'.  Oeuvres  III,  196. 

ä  Oeuvres  III,  131  Eigentümlicherweise  wirft  G.  Tory  im 
Champfleury  (1531)  Lemaire  vor,  seine  besten  Züge  aus  jenem 
Alexanderroman  gezogen  zu  haben ,  ohne  die  Verfasser  zu 
nennen. 

'  Z.  B.  braucht  Olivier  de  la  Marche  Alexandriner  in  der 
alten  Form  der  einreimigen  Vierzeile.  Ucberhaupt  waren  sie 
auch  in  Frankreich  nicht  ganz  vergessen. 


—    328    - 

fruchtlos.  Clement  Marot  zwar  betrachtet  die 
Alexandriner,  wie  sie  nunmehr  heissen,  noch 
immer  als  etwas  ungewöhnliches  und  macht 
seine  Leser  durch  eine  besondere  Aufschrift 
aufmerksam,  wenn  er  sie  zufällig  verwendet. 
Die  Plejade  aber  gab  dem  Zwülfsilber  die  Hege- 
monie unter  den  französischen  V^ersmassen  zu- 
rück, und  seitdem  hat  er  sie  nicht  wieder  ver- 
loren. 

Die  strophischen  Formen,  die  Lemaire  ver- 
wendet, sind  ziemlich  mannigfaltig;  die  Ver- 
schiedenheit besteht  aber  meist  nur  in  kleinen 
Zuthaten  oder  Abzügen,  so  dass  man  sie  auf 
wenige  Grundschemata  zurückführen  kann;  im 
wesentlichen  ist  es  eine  Auswahl  der  gebräuch- 
lichsten Formen  des  Meistergesanges.  Hier  haben 
wir  die  beliebte  achtzeilige  Strophe  mit  der  Reim- 
folge abaabbcc,  welche  Saint-Gelais  und  Molinet 
so  oft  gebraucht  haben,  und  ihre  Abarten, 
die  Siebenzeile:  ababbcc,  und  die  Neunzeile: 
abaabbcbc,  oder  die  andere  Achtzeile:  ababbcbc. 
Dort  finden  wir  die  grösseren  Strophen,  welche 
in  zwei  S3'mmetrische,  durch  den  Reim  verbundene 
Hälften  zerfallen ,  Zwölfzeilen :  aabaab  bbcbbc, 
oder  Vierzehnzeilen:  aabaaabccbcccb.  Selbst  die 
Hirtenliedchen  im  Temple  d'Honneur  et  de  Vertu 
in  ihrer  kunstreichen  Zusammensetzung  ahmen 
genau  Molinets  ABC  sauvaige  nach.  Gern  ge- 
braucht Lemaire  nach  dem  Muster  seiner  Vor- 
gänger Binnenreime,  um  neue  Variationen  zu  er- 


—    329    — 

zeugen.  Daneben  hat  er  einige  \'er.sucheg:cmacht, 
Strophen  aus  verschiedenen  Versmassen  zu- 
sammenzusetzen'. Die  Kunst,  mit  der  Lemaire 
diese  gelehrten  Formen  handhabt,  die  spielende 
Leichtigkeit,  mit  der  er  die  Schwierigkeiten  des 
Reimes  überwindet,  den  kräftigen  Schwung,  den 
er  der  rythmischen  Periode  verleiht,  haben  wir 
an  den  Beispielen  gesehen.  Einen  gemeinsamen 
Zug  haben  fast  alle  diese  strophischen  Gebilde, 
nemlich  die  Bedeutung  des  letzten  Verses;  er 
bildet  immer  ein  rythmisches  Glied  für  sich,  wird 
nie  durch  Binnenreim  zerlegt,  und  der  Gedanke, 
den  er  enthält,  gewinnt  leicht  die  prägnante 
Schärfe  einer  Sentenz;  man  wird  häufig  an 
Molinets  Art  und  Weise,  die  Strophe  mit  einem 
Sprichwort  abzuschliessen,  erinnert. 

Neben  diesen  Gedichten  freier  Bildung  ver- 
wendet Lemaire  auch  einige  Refraingedichte 
fester  Form,  mit  Vorliebe  zu  Gelegenheits- 
gedichten; nemlich  das  Rondeau,  die  Ballade 
zumal  mit  doppeltem  Refrain,  den  ihm  eierentüm 
liehen  Chant  nouvel  und  das  Doppel -Virelay-. 


'  Charakteristisch  für  den  üinnenreim  ist  das  Verhalten 
ijegen  die  Caesurpcsetze,  denen  er  natur),'emUss  unterworfen 
ist.  Dieses  Merkmal  unterscheidet  ganz  besonders  isometrische 
Strophen  mit  Caesurreim  von  den  hoterometrischen,  wie  die 
Hede  Hebes  in  der  Couronne  marijaritique  und  ein  Teil  der 
Couplets  de  la  valitude  et  convalescence  de  la  royne.  Die  hier 
verwendeten  Verse  sind  Zehn-  und  Sechssilber. 

ä  Lemaire  hat  zwei  Rondeaux  geschrieben,  eines  älterer 
Form,  (24  4)  h  4  Zeilen,  in  seinem  ersten  Werk,  eines  jüngerer 
Form,  (3  +  5)  +  'i  Zeilen,  nach  seiner  Ankunft  in  Blois.  Als  Ballade 
im  weiteren  -Sinne  kann  man  die  Oraison  der  Hs  40bl  betrachten. 


—    330    — 

Regelmässigen  Wechsel  zwischen  männ- 
lichem und  weiblichem  Reim  kennt  Lemaire 
natürlich  nicht;  dass  er  den  weiblichen  vorzieht, 
liegt  sicherlich  am  volleren  Klang  dieser  En- 
dungen und  an  der  besseren  Wirkung,  welche 
die  grössere  Seltenheit  der  Reimworte  erzeugt. 
Ganz  gleichgültig  gegen  die  Geschlechtsunter- 
schiede der  Reime  war  Lemaire  aber  nicht,  in 
der  Rede  der  Rhetorik  hat  er  genau  die  gleich- 
massige  Wiederkehr  männlicher  und  weiblicher 
Verse  beachtet,  und  in  der  Klage  um  Philipp 
den  Schönen  nur  weibliche  verwendet'. 

Unserem  Dichter  verdankt  der  französische 
\'ers  auch  eine  technische  Verbesserung,  wenn 
man  es  als  solche  gelten  lassen  will,  doch  nur 
indirekt;  es  ist  das  moderne  Caesurgesetz, 
welches  gebietet,  dass  jedesmal,  wenn  ein  Wort 

die  Form  ist  ganz  frei.  Die  Doppelballadcn  (Temple  d'Honneur 
und  Legende  des  Venitiens)  haben  zweifachen  Refrain,  erster 
und  letzter  Vers  jeder  Strophe,  die  geraden  in  umgekehrter 
Ordnung;  die  ungeraden  Strophen  haben  jeweils  einen  "Vers 
mehr  als  die  geraden;  sie  sind  durchgereimt;  der  Envoi  fehlt.  — 
Chants  nouveaux  sind  zwanzigzeilige  Refraingedichtc,  die  in 
drei  Abschnitte  von  8,  4,  8  Zeilen  zerfallen.  Das  erste  Vers- 
glied,  zwei  M'^orte,  wird  als  Versschluss  am  Ende  des  ersten 
Abschnitts  wiederholt,  und  dessgleichcn  mit  Umstellung  der 
beiden  Worte  im  Anfang  und  Schluss  des  dritten  Abschnitts 
(vgl.  Champier  gcritil  oben  S.  90.  Jicfi^ri'ts  plus  nula  S.  112). 
Aehnlich  ist  der  Virclay  double  de  nouvelle  taille:  Hautaitts 
(Sprits,  das  in  zwei  zwölf/eilige  Abschnitte  zerfällt  (S.  214). 
Eher  dem  Rondeau  ähnlich  ist  der  Virelaj-  double:  Qiiatid  il  te 
pinit,  o  haut  Ältitonaiit  (S.  248). 

'  Die  Rede  der  Rhetorik  in  der  Plainte  du  Dcsir<5  hat  die 
Reimform:  aabaaab-,''|'b'j^Y'i'b ,  wobei  a  und  *,'  weibliche  Reime 
bezeichnen.  Die  Regretz  de  la  Dame  infortunee  reimen  ent- 
sprechend: aa^jaa^ßßaßßa. 


—  :m   — 

weiblicher  Endung  vor  den  Verscinschnitt  /u 
stehen  kommt,  seine  unbetonte  Schlusssilbe  durch 
vokalischcn  Anlaut  des  zweiten  Vcrsgliedes  eli- 
diert werden  muss.  Anders  war  das  Verfahren 
der  älteren  Zeit;  im  Bcjuinn  stand  an  einer  be- 
stimmten Stelle  der  Caesurverse,  an  vierter  im 
Zehnsilber,  an  sechster  im  Zwölfsilber,  eine  feste 
Tonsilbe  gerade  wie  im  Reim,  auf  dieselbe  durfte 
ohne  jede  Bcschränl'ung  eine  unbetonte  Silbe 
folgen,  die  ebenso  wenig  gezählt  wurde  als  die 
Schlusssilbc  weiblicher  Reime.  Um  die  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  kam  man  auf  den  Gedanken, 
die  Silbenzahl  des  ersten  \'crsgliedcs  unbedingt 
festzusetzen,  so  dass  man  bei  weiblicher  Caesur 
die  früher  feste  Tonsilbe  um  eine  Stelle  zurück- 
ziehen musste.  Diese  Neuerung  hatte  grossen 
Erfolg,  bald  schien  das  jüngere  Verfahren  den 
Sieg  über  das  ältere  davongetragen  zu  haben. 
Denn  selbstverständlich  gebrauchten  nur  wenige 
Dichter,  wie  Froissart,  beide  bunt  durcheinander, 
eine  Scheidung  vollzog  sich  naturgemäss,  und 
so  kam  es,  dass  Lemaire  als  Schüler  der  bel- 
gischen Dichter  nur  die  weibliche  Caesur  mit 
beweglichem  Accent,  nicht  die  mit  überschüssiger 
Silbe  verwendet,  natürlich  neben  den  gewöhn- 
lichen männlichen  Caesuren  und  den  Elisions- 
caesuren.  Dass  dies  seine  Absicht  war,  sieht 
man  aus  den  Strophen  mit  Binnenreim ;  denn  er 
elidiert  unweigerlich  jeden  weiblichen  Caesur- 
reim,  und  wo  es  wegen  der  Endung  nicht  angeht, 


—    332    — 

7Äeht  er  eben  die  Tonsilbe  zurück,  um  die  feste 
Silbenzahl  nicht  zu  überschreiten'.  In  vielen  Ge- 
dichten meidet  er  überhaupt  die  weiblichen  Cae- 
suren,  in  anderen  aber  und  gerade  in  den  späteren 
lässt  er  sie  ungezählt  zu,  und  immer  nur  in  dieser 
•einen  Form.  Nun  fügte  es  sich  andererseits,  dass 
Clement  Marot  gerade  dem  entgegengesetzten 
Verfahren  huldigte,  und  in  dem  Gedichte,  das 
-er  Lemaire  zur  Billigung  vorlegte,  mehrere  un- 
elidierte,  überzählige  Silben  zugelassen  hatte  2. 

'  Vgl.  z.  B.  die  Gedichte:  A'ostrc  eaige  est  brief  und 
Temple  d'Honneur,  Oeuvres  IV,  336.  ib.  194.  S.  oben  p.  22.  — 
Alle  Beispiele  von  weiblichen  Caesuren  mit  überschüssiger  Silbe 
sind  erst  durch  Entstellung  des  Textes  in  die  späteren  Ausgaben 
hineingekommen;  sie  fehlen  in  den  Originalausgaben.  Die  Fälle 
von  Belang  sind: 

PL  du  Dcsir^  I.  str.  19. 

Louis  dousieinc  oii  fraiicigciic  throne  (1509). 

Louis  doiisieme  du  fraiicigeue  throne  (1512). 
II.  Str.  18.  Grcbon  qui  pleurv  un  hon  roy  laccoinpaigne  (1509). 

Greban  qui  plcurc  un  bon  roy  la  compaignc  (1512). 

Greban  qui  pleure  d'un  bon  roy  la  compaignc  (1549). 
Str.  27.  Et  tousjoiirs  tarhc  ä  Ictir  bruit  niactilcr  (1509). 

Et  tousjours  tachc  Icur  bruit  inaculer  (1512). 

Et  tousjours  tachc  Icur  bon  bruit  niaculcr  (1549). 
R.  de  la  D.  infort.  str.  12. 

Hclas  nion  frcrc  cslaut  jadis  /na  joic  (1509). 

Hclas  inon  frcrc  cstant  jadis  ina  grand  joie  (1512). 

Hclas  nton  frcrc  jadis  ina  grandc  joic  (1549). 
So  bleibt  denn  nur  der  Vers  der  Chanson'»  de  Namur,  str.  26. 

Or  chantcs  donc,  Bouvincs  et  Namur 

Ardennc,  Marchc,  Poity,  Bcauraiii,  Bastoignc. 
Die  Eigennamen  könnten  die  Ausnahme  entschuldigen.  Ich  muss 
aber  bemerken,  dass  ich  Pouy  in  jener  Gegend  nirgends  gefunden 
habe,  wohl  aber  ist  Hu>-  an  der  Maas,  östlich  von  Ardenne,  ein 
bekannter  Ort.  Liegt  also  hier  nicht  auch  ein  Druckfehler  vor? 
-  Man  mu'.s  die  ersten  Ausgaben  der  Adolescence  Cle- 
mentine zur  Hand  nehmen,  weil  Marot  später  die  betreffenden 
Stellen  geändert  hat.  Siehe  z.  B.  oben  S.  219  f.,  wo  wir  die 
iiltcren  Lesarten  eingetragen  haben. 


-    333    - 

Dies  verwies  ihmLemaire  und  machte  ihn  darauf 
aufmerksam ,  dass  in  solchen  Füllen  die  Elision 
unbedingt  erforderlich  sei.  Marot  aber,  nachdem 
er  noch  einige  Zeit  geschwankt,  wie  seine  nilchst- 
folgenden  Werke  zeigen,  folgte  seiner  Lehre 
und  Hess  fürderhin  nur  männliche  oder  elidierte 
Caesurschlüsse  zu.  Ein  Zufall  scheint  es  zu  sein, 
dass  er  nicht  weiterging  und  sich  als  Ersatz  für 
die  aufgegebenen  weiblichen  Caesuren  mit  über- 
schiessender  Silbe  die  mit  beweglichem  Accent 
zu  eigen  machte;  wahrscheinlich  wollte  sich  .sein 
Ohr  nicht  dazu  bequemen,  oder  er  übersah  es 
in  seinem  Leichtsinn.  So  entstand  das  neufran- 
züsische  Caesurgesetz,  nicht  durch  die  bewus.ste 
Wahl  eines  Dichters,  sondern  durch  das  zußillige 
Zusammentreffen  der  beiden  gebräuchlichen  Ver- 
fahren und  den  dadurch  hervorgerufenen  Aus- 
gleich :  Lemaire,  der  angesehene  Lehrer,  verbot 
die  weibliche  Caesur  mit  überzähliger  Silbe, 
weil  er  sie  für  falsch  hielt;  Marot,  der  folg- 
same Schüler,  verschmähte  die  mit  beweglichem 
Accent,  weil  er  sie  nie  geübt  hatte.  Marots  Vor- 
gehen und  Beispiel  bestimmte  aber  das  Verhalten 
der  folgenden  Dichter,  und  ihre  Praxis  ist  noch 
heutzutage  Gesetz. 


Lemaire  fand  den  Lohn  seiner  Arbeit  in  der 
Anerkennung  seinerzeit  und  der  Nachwelt.  Seine 
Hauptwerke  wurden  seit  1515  fast  Jahr  für  Jahr, 
ie  nachdem  Bedürfniss  da  war,  neu  aufgelegt. 


334 


bis  1548  und  1549  ziemlich  vollständige  Gesammt- 
ausgaben  erschienen,  welche  für  die  Folgezeit 
der  Nachfrage  genügten  ' . 

Das  ganze  16.  Jahrhundert  bewahrte  das  An- 
denken des  Dichters  in  treuer  Verehrung.  Marot 
erkannte  in  ihm,  der  Homers  Geist  besessen, 
seinen  inniggeliebten  Lehrer.  Palsgrave  führt 
ihn  als  sprachliche  Autorität  an.  Halb  aner- 
kennend, halb  spottend  hat  ihm  Rabelais  in  seiner 
allesumfassenden  grotte.sken  Epopcie  seinen  Platz 
angewiesen.  „Je  veiz,  so  erzählt  Epistemon,  der 
eben  die  Hölle  gesehen  hatte,  maistre  Jean  le 
Maire,  qui  contrefaisoit  du  pape,  et  ä  tous  ces 
pauvres  roys  et  papes  de  ce  monde  faisoit  baiser 
ses  pieds;  et  en  faisant  du  grobis  leur  donnoit 
sa  benediction,  disant:  Gaignez  les  pardons, 
coquins,  gaignez,  ilz  sont  a  bon  marche ;  je  vous 
absous  de  pain  et  de  souppe,  et  vous  dispense 
de  valoir  jamais  rien,  et  appella  Caillette  et  Tri- 
boulet,  disant:  Messieurs  les  Cardinaux,  des- 
peschez  leurs  bulles,  a  chascun  un  coup  de  pau 
sus  les  reins.    Ce  que  fut  fait  incontinent^." 

Die  Dichterplejade,  welche  die  zweite  Hälfte 
des  16.  Jahrhunderts  mit  so  grossem  Glanz  er- 

1  S.  die  Bibliographie,  Anhang  VIII. 

2  Pantagruel  II,  30.  Lcmaire  steht  zwischen  Patelin  und 
Villon;  die  lustige  Travestie  Rabelais'  bestätigt  den  Erfolg  der 
Streitschrift  von  den  Schismen  und  Konzilien;  man  denke  an 
Lemaires  Aeusserungen  tlbcr  den  Fusskuss. —  Ich  begreife  nicht, 
wie  J.  Stecher  sagen  kann:  Kabelais  ne  s'est  pas  content^  de 
railler  ses  etymologies  et  ses  n(5ologismes;  il  l'a  bafotii'  pour 
sa  polömique  gallicane  et  son  trop  grand  attachcment  ä  Cr^tin- 
Raminagrobis. 


—    IßT)     — 

füllte,  hat  es  laut  ausgesprochen,  dass  Lemaire 
ihr  auf  der  rechten  Bahn  vorangegangen  war. 
„Bitin  dirai  je,  sagt  Joachim  Du  Bellay  in  seinem 
Manifeste,  que  Jan  le  Maire  de  Beiges  me  semble 
avoir  premier  illuströ  et  Ics  Gaules  et  la  langue 
fran(;o3se:  luv  donnant  beaucoup  de  motz  et 
manieres  de  parier  poetiques,  qui  ont  bien  servy 
mesmes  aux  plus  excellents  de  nostre  tens" 
Worauf  der  spiessbürgerliche  Charles  Fontaine 
erwidert:  „Je  ne  voeil  point  debatre  avec  les 
mors,  mais  je  demanderai  hardiement  cela:  quel 
est  celuy  qui  voudroit  ainsi  parier  que  Jean  le 
Maire  t'a  escrit?"  Sein  Urteil  stimmt  aber  mit 
dem  seines  Gegners  überein,  wo  er  dessen  Gering- 
schätzung für  die  Gattung  der  Epistel  „ces  deux 
epistres  de  l'Amant  verd,  tant  riches  en  diversite 
de  plusieurs  choses  et  propos  que  c'est  merveille," 
entgegenhält'. 

Ronsard,  das  Haupt  der  Schule,  unterliess 
es  nicht,  als  er  bereits  für  die  neue  Richtung 
gewonnen  war,  immer  wieder  den  Rosenroman, 
Jan  Lemaire  de  Beiges  und  Clement  Marot  zur 
Hand  zu  nehmen,  wie  sein  Biograph  Claude  ßinet 
bezeugt,  und  Pasquier  meint,  dass  er  thatsächlich 
von  ihm  gelernt  hat;  und  als  er  ausging,  das  Feld 
der  Epopöe  zu  erobern  und  in  Francions  Ge- 
schichte einen  Stoff  gefunden  zu  haben  meinte, 
der  durch  den  alten  Volksglauben  und  die  nazio- 

'  Du  Bellay,  Dcffcnsc  et  Illustration  de  la  langruc  frsin«,"oisc 
*d.  Em.  Person,  Paris  1887  (1892)  p.  103  Ch.  Fontaine.  Quintil 
Horaticn  ibid.  '.'00.  Ii05. 


—    336    - 

nalen  Annalen  gestützt  sei,  fühlte  er  sich  in  erster 
Linie  gedeckt  durch  die  Autorität  Lemaires,  in 
dem  auch  seine  Freunde  einen  emsigen  Forscher 
des  nazionalen  Altertums  erkannten'. 

Das  Urteil  des  16.  Jahrhunderts  hat  Etienne 
Pasquier  zusammengefasst,  indem  er  Lemaire 
als  den  ersten  bezeichnet,  der  unter  gutem  Feld- 
zeichen der  französischen  Poesie  einen  Auf- 
schwung verliehen,  so  dass  alle  Späteren  von 
ihm  gelernt  haben'-. 

Was  Lemaire  geleistet  und  angestrebt  hat, 
es  verklang  nicht  lautlos  in  der  Wüste.  Als 
Dichter  fand  er  wenig  direkte  Nachahmer,  aber, 
was  unendlich  höher  zu  schätzen  ist,  originelle 
Schüler,  welche,  auf  eigenen  Färten  weitergehend, 
bezeugten,  dass  mit  ihm  Leben  und  frischer  Trieb 
in  die  Poesie  gekommen  ist.  Seine  politischen 
Wünsche  und  Träume,  der  europäische  Frieden 
und  der  allgemeine  Türkenkrieg,  blieben  schöne 
Utopien.  Nur  seine  Streitschrift  von  den  Kirchen- 
spaltungen und  Kirchenversammlungen  blieb 
als  handliches  Nachschlagebuch  beliebt,  selbst 
als   kühnere  Hände   an   den  Missbräuchen   der 


^  Cl.  Binet,  Discours  sur  la  vie  de  Pierre  de  Ronsard  15t«< 
(Archives  curieuses  de  l'histoire  de  France  s.  I,  t.  x.).  Ronsard, 
preface  de  la  Franciadc.  —  Du  Ballay  1.  c.  135.  Jean  le  Maire 
de  Beiges,  diligent  rechercheur  de  l'Antiquit^. 

•^  S.  oben  p.  323.—  Unter  den  Schriftstellern  des  lö.Jahrh., 
die  Lemaires  Werke  besessen  haben,  ist  es  interessant,  Montaigne 
zu  finden,  dessen  Namen  die  Ausgabe  von  1">49.  Bibl.  nat.  L  96, 
trägt.  Die  Ausgabe  des  Temple  d'Honneur  B.  nat.  Inv.  Res. 
Y*^  219  trügt  die  Unterschrift  von  V.  Brodeau. 


-    337    - 

Kirche  zu  rühren  begonnen  hatten.  Am  frucht- 
bringendsten aber  erwies  sich  sein  Versuch,  die 
Urgeschichte  der  Franzosen  zu  ergründen,  sein 
abenteuerlichstes  Beginnen  in  unseren  Augen; 
seine  Illustrations  de  Gaule,  wo  sich  soviel  Mittel- 
alterlich-fabelhaftes mit  anerkennenswerter  selb- 
stUndiger  Forschung  im  urkundlichen  Material 
verbindet,  regten  das  allgemeine  Interesse  t^r 
diese  dunkeln  Fragen  an;  viele  Geschichtsbücher- 
schreibcr  begnügten  sich  zwar  damit,  ihn  aus- 
zuschreiben. Andere  wurden  aber  durch  ihn  ver- 
anlasst, weiter  zu  suchen,  und  haben  auch  ge- 
funden. Es  war  ein  Leichtes,  ihn  zu  überholen, 
er  steht  aber  obenan  in  der  Reihe  derjenigen, 
welche  die  französische  Vorgeschichte  einer 
ernstlichen  Erörterung  unterzogen  haben. 

Es  ist  bekannt,  wie  das  16.  Jahrhundert  mit 
seinen  Hoffnungen  und  Bestrebungen  in  den  heil- 
losen Kriegen  der  Liga  Schiffbruch  erUtt,  und 
es  zwei  Jahrhunderte  dauerte,  bis  man  ernstlich 
daran  ging,  das  "Wrack  zu  heben  und  die  ver- 
senkten Schutze  wieder  zu  sammeln.  Endlich 
scheint  auch  für  Lemairc  die  Stunde  der  Ge- 
rechtigkeit gekommen  zu  sein  und  die  alte  Zug- 
kraft seines  Namens  scheint  wieder  die  Aufmerk- 
samkeit weiterer  Kreise  wecken  zu  sollen.  Seine 
historischen  Versuche  und  seine  Flugschrift  ge- 
hören nunmehr  der  Geschichte  an  und  werden 
von  den  Forschern  im  Auge  behalten  werden. 
Fragt  man  aber,  ob  er  als  Dichter,  vom  Usthe- 

Becker,  Jean  Lemaire.  -'-• 


-    338    — 

tischen  Standpunkt  beurteilt,  für  den  heutigen 
Leser  noch  etwas  sein  kann,  so  würde  ich  ant- 
worten: Ja,  wenn  sich  Jemand  fände,  der  mit 
geschickter  Hand  die  wirklich  schönen  Teile  aus 
seinen  Werken  hervorzöge,  ich  meine  etwa :  die 
Liebesgeschichte  von  Paris  und  Oenone,  und  von 
seinen  Gedichten  vor  andern  die  Briefe  des 
grünen  Liebhabers,  die  Eintracht  der  beiden 
Sprachen,  und  die  beiden  Märchen  von  Cupido 
und  Atropos;  wenn  das  geschähe,  so  bin  ich 
überzeugt,  dass  eine  derartige  Blumenlese  unter 
den  Freunden  der  alten  Litteratur  einen  Kreis 
von  Liebhabern  und  Bewunderern  gewinnen 
und  für  die  Zukunft  bewahren  würde;  namentlich 
wenn  die  Hand  des  Künstlers  dem  kleinen  Bande 
die  Ausschmückung  geben  wollte,  die  er  wohl 
verdiente. 


DE  FEV  ASSEZ. 


Anliaiiß-  I. 

Lcmaiics  Livrot  sommaire  vom  Jahre  1498. 

Die  Handschrift,  Bibliothöque  nationale  Acq. 
nouv.  fr.  4061,  ist  ein  Heftchen  von  7b  Pergament- 
blUttern  kl.  4"  zu  14  Zeilen,  wie  scheint  von  Le- 
maires  eigener  Hand,  sorgfältig  geschrieben  und 
hübsch  ausgestattet,  p.  3.  Niilla  sofs  longa  est, 
auf  der  Mitte  der  Seite  aus  Seneca.  —  p.  4. 
Ovidius,  Ars.  amat.  II,  467-78.  —  p.  5.  Ein  Gebet: 

Virgo  CHI  telliis,  ciii  ponf/ins  servit  et  et  her, 
Da  stabilem  sine  Iahe  d/t/iui/ni,  da  corpus 

opimum 
Viribus  integrum  patiens  algoris  et  estns; 
Cetera  qiie  fluitant  vario  discrimine  sortis, 
Et  labor  et  cura  et  solers  industria  queret. 

Darunter  ein  "Wappen,  drei  blaue  Pens^es  auf 
goldenem  Feld,  mit  der  Devise:  Penser  penser 
penser  Dire.  —  p.  6.  Die  Achtzeile :  Ce  petit  l irret 
sotnmaire  etc.  =  Oeuvres  IV,  334.  Darunter  das 
Wort  Ovids :  Utendum  est  etate.  —  p.  7.  Ovidius 
naso  de  poetis  =  Ars.  amat.  III,  403—16.  397  sqq.  — 
p.  8.  Virgilius  =  Anthol.  lat.  Tetrast,  de  IV.  temp. 


340 


Euptorbii.  —  p.  9—12.  Piiblii  Virgilii  Mavorns 
Rose  —  Poet.  lat.  min.  ed.  Lemaire  VII,  114  .sqq. 
(Ausonii?).  —  p.  13.  Ovid,  Ars.  amat.  III,  65—70. 
Darunter  ein  Engel  mit  einem  Palmzweig  in  der 
Linken,  mit  der  ausgestreckten  Rechten  dasselbe 
Wappen  mit  den  blauen  Blumen  auf  goldenem 
Grunde  tragend.  —  p.  14—19.  Das  Gedicht  Nostre 
eaige  est  hrief  usw.  =  Oeuvres  IV,  335.  —  p.  19. 
Ein  Spruch  aus  Seneca :  Si  prudens  est  aninnis 
tuus  etc.  —  p.  20.  Baptista  Mantuanus  de  Visi- 
tatione  Marie  et  Helizabeth.  Ex  sua  prima  Par- 
thenice.  —  p.  30.  Eiusdem  Baptiste  Mantuani  Marie 
ad  Christum  de  cruce  depositum  gemitus  atque 
lamentabilis  oratio.  —  p.  39.  Ein  Gebet:  Dive 
Marie  virgini. 

Alma  redeinptoris  niater,  que  pervia  cell 
Porta  manens  et  Stella  iiiaris,  siicctirre  cadenti, 
Surgere  qui  curat,  populo  tu  qiii  geniiisti 
Natura  rnirante  tuuni  sanctum  genitoretn, 
Virgo  prius  ac  posterius,  Gabrielis  ab  ore 
Sumens  illid  ave  peccatoruni  niiserere. 

Amen.  Secuntur  cantica  canticorum  Salomonis 
regis.  —  p.  59.  Expliciunt  cantica  canticorum.  — 
Sensuivent  les  nobles  dictiers  composez  ä  lonneur 
de  la  vierge  Marie  par  feu  messire  George 
Chastelain  orateur  du  duc  Phelippes  de  Bour- 
gogne  en  son  temps  demourant  en  la  bonne  ville 
de  Vallenciennes.  —  p.  110.  Finent  les  nobles 
dictiers.   —    Serventois    fait   par  maistre  Jehan 


—    341    — 

Molinet  orateur  de  larchiduc  resident  en  la  diele 
villc  de  Vallcncienncs.  —  p.  116.  Scnsuit  une 
oraison  composee  par  Jehan  le  mairc  de  la  dicte 
ville  de  Vallenciennes  =  Oeuvres  IV,  326.  — 
p.  127.  V.  Ora  pro  fiobt's  sancta  dci  f^cnitn'x. 
K.  Ut  tiigni  cjjfhitmiitf  proniissiouibus  Christi.— 
Oremus.  Oiunipotcns  et  inisericors  deus  qui  pro- 
thophmstum  pntrcni  nostrutn  Adam  etc.  —  p.  144. 
Ovidii  Ars.  amat.  II,  113 — 120.  Forma  Iwniim  fra- 
iiile  est  etc.  Jo  Mario  vallencenati.  —  p.  145  sq. 
ausgerissen.  —  p.  147  sq.  der  Schluss  der  anna- 
listischen Aufzcichnuno;  =  Oeuvres  IV,  44().  Dar- 
unter noch  einmal  die  Devise:  Penser  penser 
penser  Dire.  —  p.  149  sq.  Seneca  Thyestes  596—99. 
(i()7— 22.  —  p.  151  sq.  leer. 

Beachtenswert  ist,  dass  sich  Lemaire  hier 
Johannes  Marius  V^illcncenas  nicht  Belga  nennt 
und  drei  Pens^es  als  Wappen  mit  Peiiser  penser 
pcnsvr  Dire  als  Devise  gewühlt  zu  haben  .scheint. 
Das  Gedicht  Nostre  caige  est  brief  ist  eigentlich 
eine  Auslegung  des  Wappens  und  des  Wahl- 
spruches. 


Anliang  II. 


Der  Name  Jean  Le  Maire  (Hans  der  Meier) 
ist  kein  seltener  Name.  Im  Jahre  14S4  arbeiteten 
in  Bourges  ein  Jehan  de  Paris  und  ein  Jehan 
Lemaire  beide  als  enluniineiirs.  Wie  leicht,  wenn 
wir  nicht  eine  solche  Fülle  von  urkundlichen 
Zeugnissen  über  unseren  Dichter  hätten,  könnte 
Jemand  sich  verführen  lassen,  in  jenen  beiden 
Malern  Jehan  Perreal  und  den  späteren  Indi- 
feiarius  zu  erkennen  und  ihre  Freundschaft  auf 
ein  gemeinsames  Gewerbe  und  auf  früheres  Zu- 
sammenarbeiten zurückzuführen.  (Cf.  Charvet, 
J.  Perreal  p.  10.)  —  Einem  anderen  Jehan  Le  Mayre 
machte  König  Philipp  von  Kastilien  am  24.  Ok- 
tober 1503  am  Tage  seiner  Hochzeit  (d.  h.  offenbar 
Lemayres)  ein  Geschenk  von  131.  15  s.  (Stecher, 
Notice  XXXII  Anm.)  —  Einen  dritten  Jean  Le- 
maire fand  Thibaut  als  Schöffe  von  Arras  im 
Jahre  1517.  (Thibaut,  Marguerite  d'Autriche  et 
Jehan  Lemaire  p.  134.)  —  Die  beiden  letzteren 
dürften  vielleicht  eine  Person  sein,  jedenfalls 
haben  sie  mit  unserem  Lemaire  nichts  zu  thun. 


Aiiliaii^  III. 

1. 

Petrus  Picotus  physicus  Johanni  Mario  archi- 
ducis  Philippi  et  regis  Castelle  hystorio- 
graphü  et  suo  conramiliari  S.  F.  D. 

Ante  lucanum  cum  surrexissem,  mi  Johannes 
Mari,  die  pristini :  quam  mihi  coniocasti  lepidis- 
simam  epistolam  inter  cetera  primum  selegendam 
occurrisse  scias:  quam  semel  atque  iterum  et 
repetitis  vicibus  legi:  illamque  multo  leporc 
suavem  et  sententiarum  gravitate  relertam  com- 
peri.  Quo  fit  ut  credam  Champcrium  pegaseo 
potatum  (sicj  fuisse  equo:  trans  Heliconem  et  ad 
sydereos  usque  pervenisse  deos  illos,  s.  apud 
quos  et  doctrine  et  eloquentie  favor  est.  Et  ne 
indonatus  abiret  a  Mercurio  inventionem,  a  Phebo 
iuventorum  illucidationem:  a  Venere  illucida- 
torum  amorosam  delectationem :  a  Saturno  firmam 
cunctorum  rememorationem.  Aberat  enim  pacis 
ille  turbativus  Mars  biliosus :  veneratrixque  Dyana 
pituite  cantiva:  quoe  vicissim  turbant  ingenia.  Sed 
non   detuit  ille  divum  summus  Juppiter:  a  qui 


-    344    - 

Champerius  ipse  divino  quodam  coniugio  Mi- 
nervam  accepit.  Nee  puto  Numam  Pompilium 
plus  suam  Egeriam  consuluisse:  quam  is  Cham- 
perius consulat  Minervam:  qua  facile  cunctis 
sequacibus  suis  totam  nedum  satis  explicatam 
doctrinam  attingens  a  fine  usque  ad  finem  fortiter 
atque  suaviter  explicabit.  Unum  quantum  illi 
pro  tanto  munere  debeamus  haud  facile  dictu: 
attamen  Champerium  donemus  non  illa  mercede 
quam  ab  Eunathlo  sophista  ille  Prothagoras  cor- 
rogabat  nee  accepit:  sed  ea  quam  Thaies  milesius 
a  Mandnato  diseipulo  petiit  et  accepit:  ut  sc 
laudaret.  Prosequere  igitur,  mi  Johannes,  et  uti 
oecepisti  ealamo  tuo  aureo  eelesti  rore  perfuso 
Champerii  laudes :  et  virtutes  tabulis  tuis  immor- 
talibus  non  cesses  depingere.  Ego  vero  qui 
viribus  impar  ore  pro  tuba  tantummodo  utar  et 
mea  pro  virili  clangore:  licet  rauco:  illius  vir- 
tutum  meme  predicatorem  efficiam.  Et  vale: 
meque  divo  Champerio  vati  summo  recommissum 
reddas:  immortales  illi  gratias  referendo:  quod 
mee  parvitatis  vir  tantus  se  recommissum  facere 
dignatus  est.  Insuper  et  nostro  Gondisalvo  Tho- 
ledo  parte  mea  id  idem  facito  velim.  Et  iterum 
vale  ex  camerula  nostra  a  maij  sole  X. 

Index  librorum  in  hoc  volumine  contenlorum. 
Domini  Symphoriani  Champerii  physici 
Lugduncnsis  libelli  duo.  Primus  de  mcdicinc 
Claris  scriptoribus  in  quinqucpartilus  tractatus. 
Secundusdelegum  divinarumconditoribusetc. 
s.  I.  s.  a.  —  Lyon  IöWj).  Auf  der  10.  nichi- 
nummcrierten  Seite. 


-    345    - 

A  Monseigncur  M.  l'ii  rre  Picot  doctcur  es 
ars  et  en  medccine  Physicien:  stipendiaire 
de  ma  tres  redoutee  dame  ma  dame  la 
duchcsse  de  Savoye  fille  a  l'empereur  Maxi- 
milian JehanLemaire  indiciaire  et  hystorio- 
graphe  de  la  dicte  princesse.    Salut. 

Nuperrime  cum  Lugduni  essem,  vir  orna- 
tissime  etc. 

et",  p.  .S7. 

Aus  ikni  ifkichcn  Sammelhandc ;  im  fünften 
pafrinicrtcn  Traktate:  Dumini  Syinphoriani 
Champcrii  physici  ex  variis:  tum  Philosophie, 
tum  medicine  professorihus  aphorismorum 
sive  collcctionum  libcllus  in  decem  divisus 
oapita.      r'XXVIl.    (Mai   \y^O 

«). 

Johannes   Marius   belga   indiciariu.s   domino 

atque  preceptori  suo  colendissimo  Domino 

Simphoriano  Champerio  S.  P.  D. 

Quanquam,  dominc  mi  honorandissime,  nulli 

alii  rei  vacare  deberem  quam  luctui,  quippe  qui 

principem  atque  herum  meum  amisi,  per  quem 

non  solum  pellere  pauperiem  spcrabam,  sed  et 

divitias  et  nomcn  eternum  mihi  conciliarc,  gesta 

.sua  fortissima  futura  canendo;  non  tamen  luctus 

hie  luiTcndissimus  adco  me  ab  ofliciis  humanitatis 

distrahit,  quin  amicorum  negociis  invigilem.   Ita- 

que  is  qui  has  litteras  tibi  dabit  (cui  quidem  nomcn 

est  Sansoni  Cottardo),  arlium  doctor  parhisiensis, 

intimus  amicu.s  meus  est  atque  consodalis.    Is 


—    346    — 

nunc  Montepessulanum  petit  studii  medicinalis 
gratia.  Videbis  hominem  apprime  litteratum,  et 
bonis  artibus  deditum.  Et  quia  novi  humanitatem 
tuam  maxime  bis  ingeniis  favere  quc  et  doctrina 
imbuta  sunt,  et  rursus  ad  maiorem  aspirant: 
eapropter  te  oratum  maxime  velim,  ut  in  sui 
favorem  amicis  tuis  Montepessulani,  quos  plures 
esse  non  ignoro,  scribere  digneris,  et  quidem 
affectuose  ufsoles.  Auspiciis  enim  tuis  hanc  pro- 
vinciam  eum  aggredi  suasi,  dedique  sibi  librum 
a  te  nuperrime  compositum,  quem  magni  muneris 
loco  neque  abs  re  estimat.  Quam  primum  videbis 
dominum  electum  Gondisalvum,  rogo  ut  verbis 
meis  eum  salutare  digneris.  De  chalcographis, 
si  aliquid  cum  eis  egeris,  certiorem  me  facies. 
Interea  bene  vale.  Ex  Burgo  undecima  die 
octobris  anno  milesimo  quingentesimo  sexto. 

Domini  Symphoriani  Champcrii  lugduncnsis  über 
de  quadruplici  vita  etc.  impressum  Lugduni 
A.  d.  MCCCCCVII.  linitum  pridie  kal'. 
Augusti.  —  Am  Schlüsse :  Epistolc  varie  ad 
cundem  d.  Symphorianum. 

4. 
Humbertus  Fournerius  domino  Simphoriano 
Champerio  peonie  artis  interpreti  solertis 
simo  S.  P.  D. 

Quid  nunc  potissime  agamus  in  hoc  olim 
famigerabili  Veneris  emporio  deipare  virginis 
sacro  monte  scire  cupis.  Ecce  vivimus  in  celi- 
batu  et  ocio  litterario:  diurna  nocturnaque  manu 


-    347    - 

strictis  (ut  aiunt)  ulnis  humaniores  literas  am- 
plcxantes.  iacturam  perditi  evi :  si  id  fieri  potest : 
olei  impensa  sarcire  connitimur:  tot  segne» 
horas:  tot  annos  prodigo  luxu  expendisse  meren- 
tes:  tum  infausti  dispendii  trudele  luimus  sup- 
plicium, hie  labor  omnis  ingenuus.  Imprimis 
sermo  agitur  de  religione:  de  mortc:  de  insti- 
tuendis  moribus  et  anime  disciplinis  cum  Socrate 
meo  Andrea  Victonio  tantc  virtutis  viro:  ut  si 
singulatim  hominis  merita  refcrre  velim:  augustia 
epistolari  perstringere  que  solidum  volumen  de- 
poscerent:  non  est  instituti  nostri.  Miraberc  ad 
stuporem:  raras  animi  et  ingenii  doics:  reli- 
gionem:  morum  candorem:  et  illibatum  vite 
theologiceflorem:  si  acutius  cognoveris.  Artluunt 
et  huc  hospites:  qui  esto  rari:  rara  tarnen  virtulc 
conspicabiles.  Adest  non  leve  curarum  levamen 
D.  Gondisalvus  alter  achademie  nostre  oculus: 
Idcm  et  Apollo  et  Praxiteles:  qui  cum  liberalium 
artium  disciplinis  candidissime  Sit  insignitus:  tum 
omnium  ingenuorum  artificum  benevolentüs  in- 
sinuatus:  non  tam  Studiosus  amator  quam  sedulus 
imitator  existit.  Postquam  camenis  indultum  est: 
scdentariis  lectionibus  inducie  dale  remisso  studio 
utrinque  sermo  facetus:  sales  sine  dente;  grata 
urbanitas  reciprocatur.  hie  commcntum  argu- 
ciolum:  ille  efferatam  Thurcorum  in  nostros 
rabiem  texere:  ego  nee  opera  inter  talia  segnis 
plausibili  Corona  cinctus  ethruscum  vatem  agere. 
Ille  eloquentie  et  personarum  varios  agens  pr<» 


—    348    — 

tempore  vultus :  ridicula  f abella  magica  prestigia 
precipitantium  lapsus:  immanitatem  fere:  fratri- 
cide  atrocitatera:  errorem  meduseum:  circeam 
metamorphosim :  anilia  territamenta  exprimens: 
suspensa  tenet  hiatibus  ora  circumstantium.  Ad 
hec  Socrates  meus  non  de  gemmis  et  auro  Mide : 
non  de  robore  Milonis:  aut  magniloquentia 
Maronis  et  eiusmodi  caducarum  supellectilium 
mercimoniis  nundinandum:  nee  ignavi  ocio  tempus 
periclitandum:  sed  et  de  presentaneo  mortis  in- 
teritu:  quae  vera  est  anime  philosophia:  impen- 
sissime  cogitandum.  theologicarum  sententiarum 
margaritis  voluptatem  et  luxum  non  tam  spernere 
quam  irredituris  exiliis  relegare  gravissime  dis- 
serit.  hinc  fidibus  canoris  ad  amplam  aurium 
voluptatem  docto  pollice  testudinem  cavam  Or- 
pheus discapedinat.  Quibus  avicule  discrimi- 
nantium  vocularum  concentibus  alternis  modulis 
fringulciunt.  Nunc  girovagus  flexus  concave  et 
multiforatile  arundinis  fervido  articulorum  axe 
concitato  levivola  lingua  perstrepente  tinnitu 
argutulo  Museus  sororius  tuus  auris  suaviter 
demulcet  cantu  sireneo.  Nunc  palestratione  inno- 
cua  animum  corpusque  curamus.  Nunc  molli 
aure  afflati  sibilo  Ararim  preterlabentem  domos 
urbis  conspicimus.  crepitus  machinarum  altisonos 
audimus.  ignifos  favillarum  globulos  aera  rädere 
cernimus.  echo  respondet.  pulse  resonant  ad 
sydera  valles.  et  quod  visu  amenum  a  sublimi 
.specula    speculum    quoddam    rerum   pulcherri- 


349 


inarum  discumbentium  cernere  est  oculis :  herbi- 
tcruni  rcgionis  ambitum:  «jemiriiitas  vites  in 
propatulo  pulchcrrime  ablaqucatas.  variejfata 
floribus  vircta:  glaucas  salices:  prata  ridentia: 
Icta  sata:  segetes  luxuriantes:  gramineos  campos: 
intonsos  montes:  late  undiquc  vircntcs.  Scd  iam 
satis  iocatum.  et  abunde:  ut  arbitror:  successus 
Studiorum  nostrorum:  fata  fortunasque  prescnti 
cartha  dcpinximus.  Ceterum  cum  virtutcs  nostras 
ingenium  mores:  que  quam  exiguole  sint  pauxillu- 
lique  compendii  ceca  amoris  in  me  tui  charitas 
nescia  esse  non  debuit.  Istic  et  extcris  abunde 
prcdicaveris.  ista  est  tua  cui  pro  viribus  gratias 
ago:  ingens  in  nos  et  in  omnes  humanitas  que 
neminem  tuorum  illaudatum  esse  sinit:  qui  vcl 
virtutis  scintillula  sufiultus  sit:  quo  fit  ut  uni  tibi 
omncs  omnia  debere  velint.  Adde  quod  dum 
alienas  virtutes  tantopere  cordi  geris  ostendis 
quibus  ipse  prefulgeas.  Que  vero  de  me  ex- 
pectatio  istis  optimatibus  haberi  potest:  qui  ut 
liquido  cognoscis  ab  adversario  meo  litium  de 
pectore  acerrimo  exanhelatis  tot  erumnis:  ex- 
haustis  paternis  loculis:  hac  insigni  qua  nihil 
infelicius  inter  ceteras  iacture  irreparabilis  con- 
tumelia  nos  affecit:  ut  longissimis  litterarum 
postliminiis  a  limine  musarum  tandiu  relega- 
verit:  Pro  rccenti  victoria  monticuli  nostri  id  satis 
supplicii  sumptum  ad  vindictam  ut  opinor  ratus : 
qui  uberiore  proventu  disciplinarum  exinanitos 
meliori    parte  detraudaverit.    Quare  affixum  et 


-    350    — 

insculptum  gerens  animi  nostri  tabellis  memo- 
rabile  Stilponis  dictum  illud  siccis  genis  non 
possum  in  mentem  revocare :  qui  ceteris  bona 
fortune  asportantibus  rogatur  a  Demetrio  an  ali- 
quid suarum  rerum  unce  militum  manus  corra- 
sissent:  haud  equidem,  inquit  Stilpo:  neminem 
enim  se  vidisse  scientiam  auferentem  assevera- 
bat.  Rem  tenes.  Utcunque  vero  futurum  sit,  mi 
Simphoriane,  is  sum  de  quo  peculiari  quodam 
iure  omnia  de  me  polliceri  possis :  que  ab  homine 
grato  prestari  queant.  Vale  diu  felix.  Lugduni 
anno  domini  millesimo.  CCCCC.  VI. 

Ibidem  (Mai  1506). 

5. 
Humbertus  Fournerius  domino  Simphoriano 
Champerio  undecunque  doctissimo  S.  P.  D. 

Voluptuario  litterarum  tuarum  papulo  mirifice 
delectatus  sum.  tuis  inquam,  mi  Simphoriane 
litteris:  quibus  (comodum  enim  fores  pluthei 
nostri  attigerant)  letabundus  occurri  obviam  sie 
prefatus.  Quibus  tandem  venistis  ab  oris  lepi- 
dissime  littere:  que  nos  tandiu  anxiose  suspensos 
diutina  expectatione  attenuavistis :  scilicet  tali  nos 
dignos  honore  ut  pervius  foret  apud  nos  vester 
aditus.  vobis  gratias  agimus  quam  maximas:  et 
successus  optatos  hero  vestro  comprecamur.  Ille 
ut  ingenue  institute  urbaniores  referunt  vices: 
venimus,  inquiunt,  ut  te  munere  licet  sero  con- 
geminata   ob   id   voluptate   conpensemus.    Rem 


-  a-)i   - 

profecto  mihi  gratissimam  non  leve  amicilic 
piirnus:  cl  quod  tc  dij:jnum  est  fecisti.  Cum  enim 
ex  harum  lectionc  sa<4inatus  cruditionis  succu- 
Icntia  mcllificalus  consilii  salubritate  compotus 
ahundc  fiierim.  Quantum  fecisse  lucri:  quid  in 
mc  oraudii  esse  putas :  amicissime  morem  gessisti 
mihi  ultra  quod  sperare  licuerat.  Ex  quo  medul- 
litus  in  te  liquescens  indeCcssus  succedo  oneri  et 
quibus  reluctari  nullus  nisi  mentis  incompos  votis 
parco  tuis.  tibi  vero  vel  in  hoc  pauxillulum  diffi- 
dere  tantum  a  mc  abest  quantum  tu  a  vivis 
remotior.  Quod  autem  per  nunoium  intellexerim 
te  cucullati  calumniatoris  emuli  petulantem  im- 
pudentiam  expertum:  molosseum  latratus  rabiem 
et  dentes  livoris  cote  acuminatos  vix  evasisse: 
non  tam  tibi  molestum  esse  debet:  quam  iocun- 
dum  te  habere  qui  tua  facili  victoria  lamam  tuam 
extcndat  clariorem.  Evenit  enim  fere  convitia- 
loribus  et  eiusmodi  invidulis  quod  candentium 
favilhirum  ai^itatoribus  soiet.  ut  cum  suo  flatu 
nituntur  extinguere  fortius  illuminent :  sed  de  his 
alias  tecum.  Ad  alterum  caput  accedo.  magna 
me  molestia  scrupulo  hesitabunde  mentis  enodato 
liberasti  veris  sophie  tue  cauteriis  memoristelum 
penitissimo  ut  pridem  tecum  questus  eram  animi 
medullis  insidens  solus,  mi  Simphorianc,  detru- 
sisti.  Antidoto  consilii  tui  adversus  tam  eminens 
malum  oppido  occursum  est  opportune :  cum  ncc 
antea  cuiquam  fas  esset  tot  olim  vallatus  er- 
rnribus  oram  animum  tentare  precando:  quibus 


-    352    — 

vero  tuis  tantis  in  me  humanitatis  officiis  respon- 
deam  nescio:  nisi  te  cum  opes  nunquam  sint 
siiffecture  vicissim  araando  observ^andoque:  quod 
faciam  dum  Spiritus  hos  reget  artus.  Dabo  in- 
super  operam  ut  nee  te  consuluisse:  nee  me 
frustra  consiliis  tuis  paruisse  cognoveris.   Vale. 

Ibidem. 

6. 
Humbertus  Fournerius  domino  Simphoriano 
Champerio  artium  et  medicine  professori 
benemerito  S.  P.  D. 

Cum  ad  officinam  librariam  argutioris  lime 
auctores  ut  moris  et  mei  cunctando  seligerem: 
tuus  ille  candidus  liber  nescio  quo  bono  omine: 
qui  de  curandis  anime  et  corporis  egritudinibus 
Sit  indictus  ad  manus  nostras  pervenit  commodum 
enim  formulis  ereis  excudi  ceperat.  cumque  nos 
duplici  et  inopino  afifecit  gaudio.  tergo  archetipi 
tui  inherens  comes  subsequitur  epistola  Johannis 
le  maire.  Cognomentum  sane  ut  par  est  suis 
consonum  virtutibus:  ut  qui  maioritate  quadam 
percellentis  ingenii  dote  augustiori  facundia  reli- 
quos  sue  sortis  homines  antestet:  Nam  cum  su- 
periori  aestate  dum  fata  deusque  sinebant  miti 
frui  contubernio  mei  Socratis  olim  Veneris :  nunc 
Parthenices  phanum :  tunc  incolens  expertus  sum 
hominis  ingenium:  temporariam  eloquentiam: 
stratagemata :  rotondos  rythmos:  multisciam 
rerum  heroumque  peritiam.    Et  ita  expertus  ut 


-  aö3  - 

;i binde  et  ignavie  et  studiorum  pertesum  sub- 
puduerit  instituti :  quippe  qui  et  gallica  et  ausonia 
oratione  promptiloqua  squatet ,  qua  habita  re- 
pente  adamantina  intcr  nos  conflata  est  amicitia: 
ita  stupidum:  ita  attonitum  rcddidit:  ut  illius 
imago  mentcni  meam  ingrcssa  :  ut  Didoni  de  Enea 
evenit:  cuius  vivi  in  pectore  herebant  vultus 
verbaque :  complures  permanserit  dies :  effecerit- 
que  ut  vix  memincrim  mei.  nempe  olim  illius 
lama  tactus  mihi  mens  iuvenili  ardebat  amore: 
compellare  virum  et  dextre  iungere  dextram. 
Cuius  consortio  in  insulis  fortunatis  esse  videbar: 
cum  ille  tam  ornate :  tam  canore  nullo  vel  parum 
preceptore  usus  subsicivis  et  regalibus  occupato 
negociis  verborum  censu:  candidissimis  senten- 
tiarum  rivulis:  amica  suparasitante  natura  totus 
scateret.  Ex  quibus  quidem  factum  est,  mi  Sim- 
phoriane,  ut  duplici  simphonia  sie  fuerim  delcnitus 
illius  candore  et  rythmis :  quibus  suavibus  verbis 
flosculos  intexens  Champcrianum  hortulum  co- 
miler  excolit:  melliteo  laudum  illitio  irrigat.  huius 
pascuoso  eruditionis  tue  campo  ut  ad  solidam 
voluptatem  nihil  rcliqui  feccritis.  nunquam  igitur 
de  vobis  ita  magnitice  dicam  id  virtus  quin  superet 
vestra.  Sed  iam  ad  te  redeo  philosophantium 
optime:  qui  et  utroque  morbo  anime  et  corporis 
et  humano  generi  sie  consulis  ut  quod  nee  redimi 
copiis:  nee  mederi  auro  aut  gemmis  vitari  potest: 
redivivis  tarnen  philosophic  tue  potionibus  ab 
interitu  vendicas:  illicibiles   voluptatum  lemas 

Becker,  Jean  Lemairc.  23 


354 


explodis:  omnigenas  morborum  diritates  detru- 
dis:  detrusas  salubribus  foves  medicinis.  hoc 
inquam  ingenii  tui  talento  multiplici:  quo  nos 
ampliter  ditasti:  at  non  sine  numine  divum:  immo 
potius  sine  sudore  largifluo  et  insigni  erga 
patriam  pietate  factum :  tametsi  olim  primigenii 
tui  vigili  olis  de  ea  satis  promeritus  fueris :  nunc 
vero  non  tarn  amorem  ingenuum  quam  gene- 
rosum  laborem  tuum  ostendes:  vel  hoc  mani- 
festario  argumento  tuo  hoc  egregio  partu  decla- 
rare  voluisti:  quantum  tibi  tutura  sit  obnoxia. 
Quibus  igitur  muneribus  vices  condignas  repen- 
demus :  qua  civica  aut  laurea  optimum  civem 
demerebimur:  quibus  gratiis  officium  adimple- 
bimus  nostrum:  quas  te  satis  dignas  laudes  pro 
lucubratione  hac  afferam :  que  nee  meo  nee  cuius- 
quam  preconio  egeant :  cum  satis  suis  fulgoribus 
refulgeant.  Age  quod  si  commendatione  aut 
patrocinio  opus  foret:  supervacaneum  esset  texere 
ad  Minervam  quando  ita  firmissimo  columne  pre- 
sidio  suffultum  sit  ut  precisa  ansa  calumniatoribus 
videatur.  hoc  est  ab  antistire  amplissimo  elo- 
quentie  tuba  famigerabili  viro  undecunque  doc- 
tissimo  Laurentio  Burello.  sed  heu  hunc  abstulit 
atra  dies :  et  funere  mersit  acerbo.  et  virum  al- 
terum  nature  elementum  admirandi  potius  quam 
imitandi  ingenii:  que  solos  fortune  rotatus  sup- 
plantat:  improba  mors  sustuHt:  cuius  lerales 
exequias  lugere  nunquam  satis  poteritposteritas: 
tarn  insigni  erumna  afflicti :  tanta  et  tam  calami- 


—  a^x)  — 

tosa  iactura  illius  orbitale  damnificati  sumus:  ut 
huius  sevo  intcrritu  et  muse  et  charites  et  vencres 
et  sales  et  quicquid  optandum  una  occiderint. 
Adde  quod  et  lueem  quam  cecis  hominum  igno- 
rantiis  doetrine  sue  radiis  cffundebat:  illam  et 
secum  pariter  abstulit.  Hunc  ergo  facetiarum 
archetipum  de  deo:  de  virtute  et  hominibus  pro- 
meritus:  antequam  felicem  exhalaret  animam 
urbnnitate  sua  leporibus  in  termixtis  ut  dicacule 
admodum  et  facete  solebat  perfricatis  sale  dis- 
cumbantium  catervis:  non  modo  hunc  aureum 
inj»enii  tui  monumentum  dignum  duxit  enchiridio: 
verum  et  sulüraganeo  nostro  haud  inferioris  vir- 
tutis  viro:  tum  aliis  optimatibus  qui  aderant:  et 
cumulatis  laudibus  et  chirographo  illustravit. 
Quod  vero  silentio  non  pretereundum  uberiore 
eloquentie  sue  lilo  atque  suaviloquenti  carmine 
pierio  (vocem  bis  auribus  hausi)  preciosissimis 
velut  unionibus  insignire  ultro  se  sponsorem  fir- 
missimo  fidei  pignore  addidit.  Memini  etenim 
dum  vitales  carperet  aures:  sepiuscule  accitum 
esse  voluerit:  consuetudine  tua  delectatus  cum 
valitudinis  et  convictus  gratia:  tum  ut  seriis  in 
rebus  opera  tua  persepe  uteretur.  Nee  mirum 
quippe  qui  gnarus  tuarum  virtutum  norat  ingenii 
tui  opulentiam :  iuge  Studium :  incredibilcm  me- 
morie  tenacitatem :  morum  elegeutiam :  vite  inte- 
gritatem:  corporis  proceritatem :  oris  dignitatem : 
promptuariam  gentium  rerum  ubique  gestarum 
peritiam.    Hominem  oculatissimum  non  latebant 


—    356    — 

que  acutius  ab  ipso  spectatata  te  illi  non  vulgari 
familiaritate  conciliatum  reddiderant.  Que  cum 
ita  sint  quid  dubitas  dare  vela  ventis.  ego  ut 
Misenus  ere  ciebo  viros  et  non  martern:  sed 
navim  tuam  ascendam  cantu.  Accipite  ergo 
letis  animis  heu  veneranda  litteratorum  cohors 
si  qui  ex  vestro  grege  conscensuri  sint  nostram 
ut  gratius  naulum  persolvatis.  Scitote  hanc  navim 
non  Alexandrinam:  sed  simphorianam :  que  non 
caducis  supellectilibus :  non  fucatis  cincinniis 
non  prolectibilibus  phaleratis :  non  pixidibus  su- 
dentem:  non  adulteriis  fatiscentem:  sed  unio- 
nibus  refertam:  gemmis  luculentam:  auro  radi- 
antem :  doctrinarum  sententiis  succinctam  et  eins 
modi  mercibus  onustam :  que  vos  ad  eruditionis 
campum:  ad  virtutis  fastigium:  ad  utriusque 
hominis  salutem  modo  hinc  mentis  acies  fingatis 
ad  Sophie  portum  placide  advectabit.  Quid  timetis : 
omnia  sunt  tuta:  classis  solida:  non  quatefacta 
ruinis;  aut  rimis  fatiscentibus :  et  his  feta  que 
usui  sunt  opportuna  ad  viaticum :  institutor  noster 
subvectus  est  remigio  dextero:  ingenii  validissimo 
prudentie  malo  fultus:  contis  energie  armatus: 
anchora  doctrine  cinctus:  maturi  consilii  ruden- 
tibus  stipatus:  et  his  similibus.  Huc  huc  omnes 
prepeti  cursu  accurrite.  quid  oscitabundi  statis? 
hem  iterum  accipite  paucis.  si  quid  formidinis 
inhesit  pectoribus  vestris.  si  malefidam  stationem 
carine  aut  tridentis  minasque  pelagi  metuitis. 
Bono  estote  animo :  res  in  vado.    lam  iamque 


-    357    - 

terroris  nubilum  cxcutite.  ccce  zephiri  Icniter 
perflant.  dcdalei  adsunt  comitcs  qui  et  cerula 
verrant  astu  ulixeo  laurcntiano  tcmone  auri- 
gantes:  quibus  acutos  dentium  scopulos  detru- 
dere:  nimbosas  luridorum  tempestates  fugare: 
scyllcam  rabiem  compescere:  procellifcros  invi- 
dorum  lluctus  sulcare  secure  poterunt.  Sed  iam 
provehordimidio  longiusquam  institueram.  finem 
faxo  ne  bis  verborum  quisquiliis  scurriliter  diutius 
palpare  videar:  a  quibus  ut  est  modcstia  tua 
longe  es  alienus.  ego  quoque  non  parum  abtorrco. 
Supercst  mi  Simphorianc  ut  bis  te  facibus  in- 
cendam:  bis  stimulis  quamquam  sponte  currentem 
incitem :  utque  generöse  calcare  alvum  ingenii 
fodiam.  hoc  est  hac  meritoria  gloria  officioso 
labore :  et  quod  magnanimos  decet :  eterne  fame 
excellentia:  cuius  dulcedine  priscorum  mentes 
ignite:  uberrimum  nobis  proventum  reliquere: 
ad  virtutuni  laudumque  tuarum  non  leve  incre- 
mentum:  et  noministui  gloriam  perpetuam.  Vale. 
Lugduni   anno  salutis  nostre.  M.  CCCCC.  VI. 

Ibidem  und  am  Schluss  des  ersten  Buches  der 
lllustrations  des  Gaules  z.  T.  wieder  ab- 
gedruckt. 


Anhang  IV. 

Widmung  der  Legende  des  Venitiens. 


A  reverend  pere  en  Dieu,  noble  et  digne 
prelat,  et  mon  tres  honore  Seigneur,  Mon- 
seigneiir  Loys  de  Gorrevod:  Evesque  de 
Maurienne  en  Savoie,  abbö  de  Bournay  etc. 

Jehan  le  Maire  de  Beiges,  tres  humble  indi- 
ciaire  et  historiographe  de  tres  hault  et 
excellent  prince,  rarchiduc  Charles  d' An- 
striche, prince  des  Espaignes  etc.  et  de 
tres  clere  princesse,  Madame  Marguerite 
Auguste,  sa  tante,  duchesse  douagiere  de 
Savoie,  contesse  palatine  de  Bourgoigne, 
dame  du  pais  de  Bresse  etc.,  regente  et 
gouvernante  des  pais  de  monditseigneur 
son  nepveu. 
Honneur.  Salut,  et  Reverence. 

La  decoration  de  vostre  nom  tres  venerable 
mise  en  front  de  ceste  mienne  petite  euvre,  Mon- 
seigneur  reverend,  ä  qui  eile  est  par  droit  in- 
titulee,  luv  donra  faveur  et  autorit^  entre  les 
lisans,  selon  la  coustume  ancienne:  et  paraventure 


—    3öO    - 

aussi  que  la  lecture  d'icelle  monstrant  par  le 
particulier  les  propres  fondemens  de  la  trcs  juste 
gfuerre  contre  la  nation  vcnitienne,  trouvera  grace 
devant  vos  yeulx,  h  tout  le  moins  pour  vous 
rccreer  sur  le  dueil  que  par  instinct  de  nature 
avez  eu  participalement  avecques  vostre  tres 
amö  frere  germain,  Monseigneur  Laurens  de 
Gorrevod  baron  de  Montanay,  gouverneur  et 
licutenant  general  es  pays  du  douaire  de  Madame, 
sur  la  mort  tres  honnorable  de  feu  vostre  nepveu 
et  bien  amee  nourriture,  Philibert  de  Gorrevod, 
lequel  soubz  la  victorieuse  cnseignc  de  tres  noble 
prince,  Monseigneur  Philippe  de  Savoic,  conte 
de  Genevoys,  et  au  Service  de  la  couronne  trium- 
phale de  France,  plus  par  trop  grand  exuberance 
de  propre  vertu  bouillonnant  en  son  magnanime 
couraige  que  par  fortune  martialle  sinistre,  a 
estö  du  nombre  des  nobles  hommes,  lesquelz 
ont  estd  desirds  en  la  bataille  ä  tousjours  memo- 
rable  de  Aignadel  pres  de  Vela  que  l'on  dit 
vulgairement  la  rencontre  de  Caravagio,  ouquel 
le  non  plus  supportable  orgueil  venitien  a  este 
domptd  et  abatu  par  le  fort  bras  fulminatoire  du 
roy  Loys  douzieme  qui  peut  bien  estre  sumomm^ 
Grand,  et  la  haulte  prouesse  et  fortitude  en  armes 
des  nobles  cueurs  de  Savoye  et  de  Bresse  exaltec 
jusques  aux  cieulx  et  honnoree  en  beaucoup  de 
personnaiges  de  la  dignitd  de  chevalerie  par  la 
propre  dextre  royalle;  du  nombre  desquelx 
vivans  se  vostre  dit  nepveu  bien  meritant  n'a  peu 


—    360    - 

estre,  si  a  il  pour  recompense  tumbel  de  riche 
estoffe  entre  ceulx  qui  par  leur  vertueux  porte- 
ment  desserv^ent  renommee  immortelle  en  la 
bouche  des  hommes.  Dieu  soit  au  surplus  pro- 
pice  ä  son  ame.  Et  vostre  seigneurie  reverende 
soit  tousjours  prosperant  et  heureuse. 

A  Bourg  en  Bresse,  ou  mois  de  juing  mil 
cinq  cens  et  neuf. 

(Diese  Widmung  findet  sich  nur  in  der  Ausgabe 
•  von  1509.) 


Anhang  IVa. 

Maximilian  an  Margareta, 

Brief  vom  8.  Juni  1509. 

(Legflay.  Corrcspondancc   de  l'empcreur  Maximilien  F*"  et  de 
Margueritc  d'Autrichc  I.  1 ''_'.) 


Nous  vous  avisons  que,  grace  ü  Dicu,  nous 
avons  toute  bonne  fortune  et  prosperit<5  en  notre 
emprise  sur  nos  communs  ennemis  Ics  Ven6- 
ciens;  et  desjä  pour  le  premier  sc  sont  rendues 
cn  nos  mains  la  viUe  de  Reyf  et  le  chAteau,  la 
vüle  de  Roeveret  et  le  chäteau,  et  tenons  main- 
tenant  le  lac  de  Garde  et  tout  le  plat  pays  que 
l'on  dit  estrc  le  plus  beau  pays  et  lac,  et  le  plus 
fructueux  de  toutes  les  Ytales;  et  nous  ont  fait 
ceulx  dudit  quartier  le  serment  de  fid(^lit(^.  Nostre 
fr^re  et  cousin,  le  roy  de  France,  tient  tout  ce 
qui  est  de  l'austre  cost^  dudit  lac,  et  sommes 
de  bien  prez  par  le  costt3  deqä  voisin  Tun  ü 
l'autre. 

Les  villes  de  Poortenauw,  de  Goriz,  de 
Treviz,  de  Dryez,  les  deux  escluses  et  le  chAteau 
de  Godenay  praticquent  devers  nous  leur  ap- 
pointement. 


362 


Nous  avons  aussy  le  chäteau  de  Tibin  qui 
estoit  imprenable  et  a  este  prins  par  grand  sub- 
tilite  de  nos  gens  d'armes  d'Esclavonie. 

Par  menaces  que  nostre  dit  frere  et  coiisin, 
le  roy  de  France,  a  faict  a  ceux  de  la  ville  de 
Veronne  de  se  rendre  ä  nous,  y  joinct  que  lesdits 
de  Veronne  aymoient  et  desiroient  plus  d'estre 
en  nos  mains  que  de  nul  autre  si  sont  renduz 
avec  tous  les  chäteaux  et  fort  du  plat  pa3"s  ds 
Veronnois  et  est  la  plus  belle  ville  de  toute 
ritalie  :  et  a  cent  et  dlx  mille  ducaz  de  revenuz 
par  ans.  Ils  ont  receu  dedens  ladite  ville  messire 
Andrieu  de  Burgo  nostre  ambassadeur,  et  luy 
faict  serment  de  fidelite  pour  nous. 

Semblablement  s'est  rendu  ä  nous  la  ville 
de  Vincens  et  tout  le  plat  pays  et  fort  dudit 
Vincens,  et  esperons  avoir  demain  de  bonnes 
nouvelles  de  la  ville  de  Padua;  car  nos  gens 
d'armes  accompagnes  bien  de  Xm  Veneciens 
malcontens  de  la  seigneurie,  qui  se  sont  rendus 
a  nous,  tirent  devant  ledit  Padua. 

Depuis  ces  lettres  escriptes,  nous  avons  eu 
nouvelle  que  .  .  .  sur  nos  fronti^res  d'Esclavonie 
se  sont  rendues  ä  nous  .  .  .  la  tres  grande  ville 
de  Vayda,  et  sont  nos  capitaines  dedans.  Ceux 
de  Padua  ont  envoie  devers  nos  capitaine  faire 
obeissance,  et  sur  ce  disposent  nos  dits  capitaine 
V  aler  ax 


-    363     - 

Escript  le  VIII»^  dudit  juinp.  Vostrc  bon  pfere 
Maxiniilien.  —  Haniiart. 

P.  S.  Madame,  dcpuis  ces  Icttres  escrites 
et  closes,  l'Empereur  vostre  pöre  a  eu 
nouvelles  que  scs  j^ens  d'armes  sont 
dedans  la  ville  de  Portenauw,  de  Trebiz, 
de  Goriz  et  de  Dryes.  Vostre  tri^s  humble 
et  trös  oböissant  serviteur, 

y.  HtuiUiirt. 

2.  Leinairc ,  Oeuvres  III,  194  sq. 

Ainsi  se  lamentoit  ladite  Dame  et  Princesse 
apres  la  mort  de  son  Irere  le  Roy  Phelippcs  de 
Castille',  Mais  maintenant  eile  ne  se  doit  plus 
nommer  Infortunee,  aingois  doit  plustot  estre 
dite  Bienheureuse :  attcndu  quc  par  son  sens  et 
vertu,  s'est  finablement  trouvee,  et  moyenn6 
entre  noz  tres  hauts  Princes  de  Chrestient<5  le 
fruit  de  paix  et  de  concorde  eternelle.  Dont 
s'est  ensuyvie  la  tresclere  victoire  du  Roy  tres- 
chrestien  contre  les  Venitiens,  communs  euneniis 


*  Diese  Worte  weisen  auf  die  voraufjjehcndc  RcgrcU  de 
la  Dame  infortunee  hin.  Bei  Meftgin  von  Nanzei  lautet  der 
Anfang  folgendermasscn :  «Die  weil  sich  die  hoch  erleuchte 
ufl  klarhochgeborne  Fürstin,  fraw  Margaretha  augusta,  kcyscr 
Maximilians  einige  tochter,  lange  Zeit  hilr  kläglich  und  betrübt, 
von  wegen  des  mächtigsten,  durchleUchtigsien  Fürsten,  Künig 
Philipsen  von  Castilien  etc.  hochlöbliche  gedilchtnUss  irs  liebca 
bruders  absterben,  nit  unbillich  gehalten,  und  sich  desshalb  ayn 
unglückhafftige  Fürstin  voll  aller  trübsal  genannt  hat,  sol  sie 
dassclbig  nunmehr  nit  gedenken,  sonder  geacht  und  genant 
werden  die  aller  glUckhafftigstc.     Angesehen,  .  .  .» 


—    364    - 

du  monde.  Au  moyen  de  laquelle  chacun  desdits 
Princes  ha  recouv^ert  le  sien  sur  lesdits  usur- 
pateurs. 

L'empire  et  la  inaison  d'Austriche. 

Les  villes  et  chasteaux  de  Reif  et  Royveret, 
et  tout  le  pais  de  l'autre  coste  du  Lac  du  Garde. 
Et  sur  les  marches  d'Esclavonnie ,  les  villes  de 
Portenau  et  Goris,  et  aussi  Trevis  et  Dries,  Triest, 
et  le  pais  circonvoisin :  les  deux  Escluses  et  les 
chasteaux  de  Godenay  et  de  Tibin  imprenable, 
lequel  ha  este  prins  par  grand  subtilite  des 
gendarmes  Esclavons  de  l'Empereur.  Semblable- 
ment  la  tres  grand  ville  de  Va5'da:  et  les  citez 
Imperiales  de  Verone,  de  Vincence,  et  Padua, 
avec  leurs  appendences.  Desquelles  le  Roy  tres- 
clM-estien  apres  sa  victoire  ha  refus^  l'ouverture : 
et  les  ha  contraint  par  menasscs  eux  aller  rendre 
audit  Empereur. 


Anhang  V. 

Epistolarititi 

Henrici   Cornclii   Agiippae 

ad  familiäres  et  eorum  ad  ipsum 

Über  primiis. 


Epistola  XV. 
Amicus  Agrippac  S.  D. 
Interrogatus  aliquando  Dcmosthenes,  quid 
potissimum  esset  in  Oratore?  respondit,  pronun- 
ciationem,  iterum  atque  iterum  interrogatus,  idem 
respondit,  neque  aliud  amplius.  Audivimus  ita- 
que  die  hesterna,  atque  revera  experti  sumus  in 
oratione  tua,  verissimum  fuisse  oraculum  De- 
mosthenis.  Felix  es,  Agrippa,  qui  copiosam  illam 
atque  inundantem  dicendi  fertilitatem  ita  inira 
limites  sinceritatis  illius  orationis  tua?  conclu- 
sisti:  cui  neque  aliquid  addi  neque  demi  possit, 
et,  quod  maximum  artificium  ipse  censeo,  ut  ne 
unius  verbi  auditores  meminerint,  quod  in  illa 
verbosa  copiositate  secus  est.  Peto  igitur  instan- 
tissime,  ut  mihi  liceat  eandem  orationem  tuam 
luculentissimam  interpretari :  non  quod  in  eadem 


-    3t)6    - 

majestate  eam  reddere  gallicanam  aut  sperem 
aut  pollicear,  verum  ingenioli  rudis  periclitandi 
gratia,  et  etiam,  iit  ipsa  illustrissima  princeps 
nostra  intelligat,  quam  preeclare  in  ejus  laudem 
orasti:  eoque  rebus  tuis  libentius  faveat,  quando- 
quidem  rem  hanc  apud  eam  multum  admodum 
tuarum  virtutum  opinionem  semper  adaucturam 
esse  arbitror.  Vale. 

•  EpistolaXVI. 
Idejn  Agrippas. 
Ecce  ornatissime  Agrippa,  orationem,  quam 
nieo  more  tuam  interpretatus  sum:  non,  quod 
singula  verba  singulis  reddidi,  sed  sententias 
sententiis,  prout  pro  decore  linguae  nostrcE  galli- 
canse  observando  mihi  visum  est.  Dominus  Vice- 
cancellarius  erat  censor  atque  corrector.  Tu 
€um  meis  verbis  orato,  ut  prologum  lucubratio- 
num  nostrarum  videre  dignetur:  puto  eum  non 
magnifacturum.  Quod  si  non  improbet,  satis  erit 
meo  studio  factum.  Si  autem  favore  illud  pro- 
sequi  dignabitur,  dii  boni,  quam  cito  ex  pygmaso 
gigas  efficerer.  Vale,  et  me,  tui  amantissimum, 
redamato,  quam  primum  me  tibi  discipulum 
reprassentaturum.  Vale. 

Epistola  XVII. 
Agrippa  amico  suo. 
Perspicuus  est  mihi  jamdudum  tuus  in  me 
amor,  amice  observandissime;  sed  nunc  ex  literis, 


—    :^)7    — 

quas  ex  Lugduno  ad  te  scripsit  vir  pneclarus, 
Joannes  Perrealis,  cubicularius  regius,  quasque 
mihi  legendas  tradidisti,  plane  cognovi,  te  honoris 
nostri  atque  famae  ita  esse  sollicitum,  ut  non 
modo  expectationem,  scd  votum  nostrum  supef- 
averis,  cum  orationcm  nostram,  quam  ex  tempore 
fere  habuimus,  et  Gallicam  effeceris,  et  Lugdunum 
usque  pergerc  compuloris,  ad  eos  pracsertim, 
quorum  Judicium  non  injuria  reformidem.  Quan- 
tum enim  ex  literis  magnifici  illius  cubicularii 
videre  licet,  et  quantum  ex  tua  fideli  relationi 
accepi,  vir  est,  a  quo  potius  doctrinam  exigcre 
debeamus,  quam  ut  ipse  nos  de  aliqua  intcrrogct. 
Compellis  me  tandem,  quae  tua  est  de  ingenio 
nostro  confidentia,  amore  scilcet  caecutiente, 
ut  ejus  petitis  rospondeamus:  quod  quidem  et 
libenter  facio,  &  simul  cum  his  litteris  transmitto: 
non  tam,  quod  tibi  morem  gerere  velim  et  cupiam, 
quam  ne  tu  vcl  hi ,  apud  quos  scripta  nostra 
divulgas,  vel  me  (ut  scribunt)  divini  aliquid  haben- 
arbitrentur,  vel  ne  hujusmodi  quicquam  mihi 
arrogem:  sed  ut  humanitatis  nostrtt  medio- 
critatem  plane  agnoscatis.  Vale  &  me  in  ami- 
corum  numerum  referre  digneris.  Ex  Dola  Bur- 
gundiae,  anno  1509. 

EpiStola  XVIIL 
Amicus  Agrippac  suo. 
Salve,  doctissime  Agrippa,  Decanus,  tibi  et 
mihi  semper  venerandus,  mavult  te  orantem  sive 


-    368    — 

declamantem  audire:  nam  suse  partes  sunt,  tan- 
quam  ad  hoc  natus,  et  qui  ipse  in  arte  oratoria 
plurimum  valet.  Ego  autem  (quae  differentia  inter 
nos  est)  et  si  cum  domino  Decano  caeterisque 
tui  nominis  studiosis  te  orante  aut  declamante 
plurimum  delecter,  ac  etiam  proficiam:  quiatamen 
Studium  meum,  quantulumcunque  est,  versatur 
potius  circa  scriptionem  et  lectionem,  quam  erga 
orationem  et  auditionem,  et  quod  expertus  scio, 
plus  conferre  ad  famam  aucupandam  scriptionis 
Studium,  quam  declamatiortis:  (nam  semel  tantum 
profertur  oratio,  lectio  autem  ter  et  quater  repe- 
tita  placebit)  ideo  ingenium  tuum,  certe  rarissi- 
mum,  jamjam  hortor,  ut  at  scriptionem  te  con- 
feras:  etiamsi  ipse  d.  Decanus  repugnaret,  quod 
ab  ejus  humanitate  alienum  est,  iterum  libere 
hortor.  Quod  si  rem  meam  meipsum  curare,  ut 
par  est,  moneas  (suem  namque  non  docere  Mi- 
nervam  inter  adagia  receptum  est)  facile  absti- 
nebo,  modo  pro  mea  ineptia  atque  impudentia 
dixero,  quod  prius  incepit  Christus  facere,  quam 
docere:  quod  quidem,  sicuti  quidam  nostra  ver- 
nacula  lingua  hoc  Proverbium  protulerunt,  Mul- 
tum  interesse  inter  dicere  et  facere.  Neque  enim 
ipse  Capnion,  quem  interpretaris ,  neque  Picus, 
neque  Politianus,  neque  Laurentius  Valla,  qui 
omnes  publice  oraverunt,  tantum  profecissent  in 
nanciscenda  fama  suis  publicis  orationibus,  quan- 
tum  adepti  sunt,  nisi  in  scribendo  etiam  operam 
aliquam    collocassent.    Exemplum   familiäre    ex 


—    369    - 

meipso  profcram,  qui  supra  bis  mille  ducentos 
versus  per  me  compositos,  memoriter  absquc 
intcrvallo  aliquando  recitavi,  sed  ni:lla  mihi 
<2:loria  fuit,  nisi  in  loco  illo  et  pro  tempore  illo. 
De  scriptis  antem  secus  est.  Quod  si  etiam  splen- 
didissimi  quiquc  Doctores  et  lectores  nullam 
scriptorum  suorum  memoriam  relinquerint,  non 
erit  eorum  fama  dilatata  neque  perpetua,  sed 
tundaxat  inter  augustos  limites,  suaeque  vittc 
tempusculum  coacta.  Vale,  et  stude  famam  ex- 
tcndere  tactis,  et  mihi  des  veniam,  quod  sie  epi- 
logo.  non  enim  ut  censor  loquor,  sed  ut  fautor. 

Epistola  XIX. 
Amicus  Agrippoe  suo. 
Candidissime  Agrippa  salve,  et  me  non  minus 
tuum,  quam  tu  ipse  es  tibi  puta,  utpote  qui  ad- 
mirabili  ingenio  eloquioque  tuo  allectus,  tuae 
lamae  famatissimse  nunquam  favere  desinam 
Precor  itaque,  ut  aliquando  mei  memineris.  Nova 
quae  circumtcruntur  hie,  sunt  haec:  Regem  pro- 
pediem  Lugduni  ad  fore,  copiasque  in  Venetos 
redintegrare.  Venetos  autem  nuperrime  magna 
clade  affectos  a  Francigenis,  una  cum  duce  Fera- 
riae  militantibus,  ita  ut  supra  sex  millia  Venetorum 
in  ea  pugna  pessundati  fuerint,  et  biremes  circa 
trigenta  super  Padum  captic:  properabant  enim 
obsidere  Ferrariam.  Adeo  nihil  audet  superbum 
illud  atque  pertinax  genus  hominum.  Dicuntur  ea 
clade  in  maximam  desperatione  adducti.  Tu  si 

Becker,  Jean  Leraaire.  24 


—    370    — 

quid  de  Imperatore  nostro  habeas,  quae  in  ista 
dieta  aliqua  proculdubio  divulgabuntur,  me  cer- 
tiorem  facere  dignare.  Vale  doctringe  atque  elo- 
quentiae  columen  atque  fulmen. 


Vorstehende  Briefe  stehen  in  Agrippas 
Briefwechsel,  wie  so  viele  andere,  ohne  An- 
gabe des  Korrespondenten.  Sie  könnten  von 
Lemaire  sein,  der  eben  Herbst  und  Winter 
1509  in  Dole  verbrachte.  Agrippas  Rede,  vor- 
nemlich  eine  Lobrede  auf  Margareta,  zu  über- 
setzen, konnte  Lemaire  leicht  reizen,  jedenfalls 
war  er  der  nächste,  um  Agrippas  Bekannt- 
schaft mit  Perreal  zu  vermitteln.  Ep.  XVIII 
und  XIX  scheinen  von  dem  gleichen  Korre- 
spondenten zu  sein  wie  Ep.  XV  und  XVI., 
wären  sie  demnach  von  Lemaire,  so  verdienten 
die  Aeusserung  über  den  Vorzug  der  schrift- 
stellerischen Thätigkeit  vor  der  rednerischen 
und  die  Erwähnung  der  zweitausend  vier 
hundert  Verse  eigener  Dichtung,  die  er  eines 
Tages  aus  dem  Gedächtniss  vorgetragen  hat,  — 
welche  möchten  es  sein?  —  besondere  Auf- 
merksamkeit. Die  Anspielungen  auf  die  öffent- 
lichen Ereignisse  verweisen  Ep.  XIX  in  die 
letzten  Februar wochen  1510,  der  Schreiber  ist, 
wie  scheint,  nach  Lyon  gegangen ;  hier  vollzog 
in  der  That  Lemaire  am  1.  März  die  Widmung 
der  Epistres  de  l'amant  vert  an  Perreal;  es 


—    371    - 

wUre  auch  recht  seine  Weise,  Nachrichten  von 
überallher  haben  zu  wollen;  Agrippa  konnte 
durch  seine  Kölner  Korrespondenten  leicht  über 
deutsche  Verhältnisse  und  den  Reichstag  in 
Augsburg  Neues  erfahren.  —  Die  Ep.  Xlll 
und  XIV  habe  ich  hier  nicht  aufgenommen, 
weil  es  nach  dem  Datum  derselben  unwahr- 
scheinlich ist,  dass  sie  zwischen  Agrippa  und 
Lemaire  gewechselt  wurden.  Für  die  vor- 
stehenden ist  es  möglich,  aber  immerhin  pro- 
blematisch. 


Anhang  VI. 

Opere  dello  elegantissinw  Poeta  Seraphino 
Aquüano, 

Venczia  1538  (die  erste  Ausgabe  Roma  1502). 


Sonetto  XLI. 

Quel  niniico  rnortal  della  natura 

Che  ardi  ferir  piü  volte  homini  e  dei, 
In  martno  ä  qui  converso  da  costei 
Che  col  dolce  mirar  li  anhni  fiira. 

Ferir  la  volse  nn  dt,  sensa  haver  cura 
A  quellt  ardcnti  sgiiardi  Mednsei, 
E  a  qiiesti  alti  inonti  che  per  lei 
D'huomini  son  conversi  in  pietra  dura. 

O  quanto  Aniore  ha  variato  stile: 

Qui  freddo  giace,  e  fu  si  fiero  ardore, 
Fii  lieto  spirto,  hör  ponderoso  e  vile. 

Ma  un  tale  exenipio  a  ogn'un  nietta  terrore, 
Ne  sia  giamrnai  nessun  tanto  sottile 
Che  non  presuma  haver  superiore. 


-    373    - 

Sonetto  XLII. 

Quel  ßero  Ctipido,  assidtw  c  tcnacc, 

Per  vincer  quella  dea  qui  armato  apparse; 
Ma  indarno  fu,  che  al  fin  stanco  gli  parse 
Per  suo  mt'fflior  di  far  scco  In  pacc. 

E  se  a  lui  nianca  el  stral,  l'arco,  la  face. 
Dato  l'ha  alqitanto  a  lei  per  rcposarse; 
E  da  qucl  di  per  piü  securo  starse, 
Lei  fa  V officio,  e  lui  dortnendo  giace. 

Ben  fece  Amor  con  lei  farsi  ligatOj 

Che'l  sguardo  suo  ch'ogn'altra  luce  amorsa 
Fa  piii  faciou  che  lui  quäl  suole  armato. 

Lei  volontario  ha  ognun,  lui  sempre  Sforza, 
E  val  piii  assai  per  conscrvarc  un  statch 
Un  volontario  cor,  che  mille  a  forsa. 


Anhang  VII. 

Peinture  du  Temple  de  Venus. 

(Martin  Franc,  Champion  des  Dames  f^  XXVI.) 

Sens  abesti  ä  tont  sa  barbe 
De  bouc  et  ses  larges  pieds  d'ours, 
Faisant  au  dien  de  feurre  gerbe 
Est  lä  le  curi  lait  et  lours; 
Qui  ne  devroit  pas  estre  soiirs, 
Car  or eitles  a  comme  ung  asne ; 
S'il  ne  scet  l'office  des  jours 
Si  scet  il  bien  sa  ricordane. 

En  sa  main  en  Heu  de  calice 

Tient  ung  hanap  de  graut  ntesure, 

Pas  il  ne  lit  l'apocalipse 

Aux  parrochiens  de  sa  eure, 

Et  semble  bien  que  sans  usure 

Ne  vouldroit  bailler  blef  ne  seigle, 

Sa  main  est  armee  d'onglure 

Plus  fort  que  n'est  le  pied  d'un  aiglc. 

II  ne  peilt  regarder  le  ciel, 
Le  soleil  lui  fait  mal  es  yeux, 
Si  voit  il  bien  par  tont  l'autel 
Tout  ceux  qui  aourent  les  dieux. 


—    375    — 

Sachez  qii'il  est  tres  atricux 
A  ses  reliqttes  blasonncr, 
Qu'il  n'ait  motit  de  religicux 
II  ne  tient  pas  ä  sertnonner. 

II  est  sttr  l'aiitcl  aconstes 
Contrcfaisant  Ic  hon  moyse, 
Et  dit:  Escoiites,  cscoutes, 
Huy  sont  les  pardons  de  l'eglise. 
Serves  la  dame  sans  faintise, 
N'esparg)ies  ce  qiii  poiirrira, 
J'exconiunie  et  debaptise 
Tont  komme  qtii  l'cspargnera. 

Le  temps  s'etifuit,  or  l'employes 
A  V08  povoirs  joyeusement, 
Vo3  desirs  et  vos  cueurs  ployes 
A  tont  mondain  cshatcmcut ; 
Vie  humaine  est  ung  passement, 
Le  temps  de  soy  inesme  voits  tue, 
Malheiireux  est  certainement 
Qui  a  plaisir  ne'  s'esvertue. 

Le  temps  voiis  prent  et  votis  tnspasse, 

Quant  on  est  venu  et  iillt\ 

Tout  par  le  cul  d'un  singe  passe. 

Tont  passe  avant  doux  et  sali. 

Vises  du  long,  viscs  du  lö, 

Vous  n'aves  joie  ne  plaisir 

Et  fusses  vous  Mathusalö 

Se  vous  ne  le  saves  saisir. 


Anhang  VIII. 

Bibliographische  Uebersicht. 

I,  Originalausgaben. 

1.  Le  Temple  dhonneur  et  de  vertus.  Com- 
pose  par  Jehan  le  maistre  discipse  de  Molinet. 
Imprime  a  Paris  par  Michel  le  noir  (1504).  kl.  4oi. 
B.  nat.  Inv.  Res.  Ye  219. 

Id.  ibid.  le  6^  jour  d'avril  1504.  kl.  4«.  (Brunet). 
Id.  o  0.  oj.  sehr  schlechter  Nachdruck.  B.  nat. 
Inv.  R^s.  Ye  859. 

2.  Les  Chansons  de  Namur.  Composees  par 
Jehan  Lemaire  de  Beiges,  indiciaire  et  historio- 
graphe  de  la  maison  d' Austriebe.  En  Octobre  1507. 
Imprime  en  Anvers  par  Henri  Heckert.  Einziges 
exemplar  im  Besitz  des  Herzogs  von  Aremberg. 
Photographische  Wiedergabe,  Brüssel,  Van  Hom- 
berch.    Brüssel,  Königl.  Bibl.? 

3.  La  pompe  funeralle  des  obseques  du  feu 
roy  don  Phelippes  etc.  Ung  chant  nouvel  de 
laliance  Dengleterre.    Lepitaphe  de  feu  messire 


'  Es  ist  zu  vermuten,  dass  G.  Cretin  dem  jungen  und  un- 
bekannten Finanzbeamten  den  Pariser  Verleger  verschafft  hat, 
wie  er  ja  dem  Werkchen  ein  empfehlendes  Gedicht  beigab. 


c:2'j(c-n 


—    377    — 

George  Chastellain  et  de  maistre  Jehan  Molinet, 
par  Jehan  Lemaire  Beigyen.  Imprimc  a  Anvers 
Ic  15  fevricr  I'tOI.  Photolitographischer  Abdruck 
von  Ruggieri,  Harlem  1868.  Ein  Exemplar  auf 
der  Stadtbibliothek  zu  Besangon. 

Die  fimcralliii  cii  ticcriikv  triiiinphvii  o/t  poinpfti  cw. 

4.  La  legende  des  Venitiens  ou  autrement 
leur  cronicque  abregee.  La  plaincte  du  Desire, 
cest  a  dire  la  deploration  du  trespas  de  feu  mon- 
seigneur  le  conte  de  Ligny.  Les  regretz  de  la 
dame  infortunee.  Lyon  Jehan  de  Vingle  (1509). 
So.  B.  nat.  Lb-'^  27  Rd-s.  Arsenal  6436  BL. 

Vi'twäischc  Chronica  aus  dem  frausösisc/icn  tlurc/i 
Xicolattni  Mciigitt  von  Nanzei.  FranckfurI ,  Cyriaktis, 
Jacob  Silin  Bart.  ZKci  Nachdrucke.  KOuigl.Bibl.  in  Berlin. 

Veiicüieii  oft  es  de  cause  daer  oinc  dattet  neschil  rijsl 
tiisschen  den  Venelianen  en  den  Roomschen  Keyser  en 
den  Coninck  van  Vranckrijck  Rhenarreert. 

Id.  Paris  Geuftroy  de  marnef  (1512).  4o.  B.  nat. 
La-  3.  Arsenal  8031  H. 

5.  Les  Illustralions  de  Gaule  et  Singularitez 
de  Troye.  Avec  les  deux  epistres  de  Lamant 
Verd.  Composees  par  Jan  le  Maire  de  Beiges. 
Imprime  a  Lyon  par  Estienne  Baland  (1510).  4o. 
Arsenal  8031  H. 

Daraus  die  Epistres  de  l'aniant  verd  einsein.  H.  mit. 
Im'  1.  Ris. 

Id.  Imprimc  a  Paris  par  GeofTroy  de  Marnef, 
Janvier  1512'.    B.  nat.  La-  4. 

»  In  dieser  Ausgabe  wird  Lemaire  noch  indiciairc  cest 
•A    dire     hystoriographc    de    madamo    MarKiiorite    d'.Autriche 


—    378    — 

6.  Le  traictie  intitule  de  la  difference  des 
scismes  et  des  concilles.  Avec  lequel  sont  com- 
prises  plusieurs  autres  choses  curieuses  et  dignes 
de  scavoir.  Sicome  de  lentretenement  de  lunion 
des  princes.  La  vraye  histoire  et  non  fabuleuse 
du  prince  Syach  Ysmail  dit  Sophy.  Et  le  saufcon- 
duit  que  le  Souldan  baille  aux  Francois  pour 
frequenter  en  la  terre  saincte.  Avec  le  blason 
des  armes  des  Veoitiens.  Imprime  a  Lyon  par 
Estienne  ßal'and,  may  1511  pour  J.  le  M.  Expensis 
propriis.  4».  Arsenal  8031  H. 

Id.  Imprime  a  Paris  par  G.  de  Marnef,  janvier 
1512.  B.  nat.  La-'  2. 

7.  Le  second  livre  des  Illustrations  de  Gaule 
et  Singularitez  de  Troye.  Imprime  a  Paris  par 
G.  de  Marnef,  Aoust  1512.  4«.  B.  nat.  La'^  4.  Ar- 
senal 8031  H. 

8.  Le  tiers  livre  des  Illustrations  de  Gaule 
et  Singularitez  de  Troye,  intitule  nouvellement 
de  France  Orientale  et  Occidentale.  Imprime  a 
Paris  par  G.  de  Marnef,  juillet  1513.  4».  B.  nat. 
La2  4.  Arsenal  8031  H. 

9.  Lepistre  du  Roy  a  Hector  de  Troye,  Et 
uucunes  aultres  oeuvres  Assez  dignes  de  veoir. 
Imprime  a  Paris  par  G.  de  Marnef,  aoust  1513. 
4o.  B.  nat.  La-  4  R^s  velin,  unvollständig.  Ar- 
senal 8031  H. 


grenannt.    Er  wird  demnach  etwa  im  Februar  in  französische 
Dienste  getreten  sein. 


—    379    — 

Anlaut-  sinn  vorlicrzchcndcn.  Enthalt:  Lcpistrc  du 
Roy  a  Hcctor  de  Troyc.  Lcs  XXIII J  tonfirts  de  la  I 'ali- 
tude  et  convaicsccttce  de  la  royne.  Epitaphe  de  fett  tnon- 
seigneur  Gaston  de  Foix.  Le  traicte  intitule  La  Coneordc 
des  deux  langai^es.  La  Plainle  suf  le  Irespas  de  messire 
Gnillaninv  de Bissipat  (von  (7.  Cretin).  A  nionsieiir  inaistre 
Frniicois  le  lionge. 

10.  Les  Contes  de  Cupido  et  d'Atropos,  üt 
Traictcz  singulicrs  contenus  ou  present  Opus- 
cuUe.  Les  troys  comptes  intitulez  de  Cupido  et 
d'Atropos  etc.  —  Fin  du  present  Opuscullc  nuquel 
sont  comprises  plusicurs  ocuvres  de  Rhetorique 
faictes  et  composees  par  feu  maistrc  Jehan  le 
mayre  etc.  Paris  Galliot  du  Pro  fevrier  ITViTr  8». 
B.  nat.  Y*^  1256  Rds. 

Id.  Paris,  Jehan  Sainct  Denys  s.  a.  12".  V*- 
1257  R(5s. 

11.  La  Couronnc  margaritique,  herau.sgcgcben 
von  Claude  de  Saint  Julien  in  der  Ausgabe  von 
Lyon,  Jean  de  Tournes,  1549.  fol. 

II.  Zugeschriebene  Werke. 

1.  La  Concorde  du  f^endre  hinnain,  Brnxelles,  I  lionias 
de  la  Noet,  janvier  LV)9.  <$".  Xach  lirnnel  III,  <V»f>  heg,innt 
/"  2  der  Prologne  de  Jean  Lcmatre  de  Belt^es.  VerseholtcM. 

2.  Larrest  dn  roy  des  roniniains  Donne  an  %rant  con^ 
seil  de  Frame  (150S).  Cf.  Goujet,  Biht.  franf.  X.  93.  43iK 
Der  Dichter  Maximien  nennt  sich  im  Akrostichon  der 
leisten  Zehn  seile.  B.  nat.   ><"  430S.  Res. 

3.  Un  recneil  sonnnaire  de  tons  lcs  passoRcs  des 
Chrestiens  en  la  terre  saincte  en  une  iriivre  par  moy 
compilec,  s.  oben  p.  161.    Xach  genauer  BetrachlnnR  der 


—    380    — 

Ausgaben  bin  ich  nunmehr  der  Uebersengiing,  dass  die 
beiden  Werke,  die  Leniaire  1511  drucken  Hess,  die  sivci 
siisammcngehörigen  Teile  von  I,  6  sind:  1)  La  dijfercncc 
des  Scismes  et  des  concilles  tind  2)  La  vraye  histoire  di" 
Syach  Ysmail  nebst  Sanfconduit  tind  Blasott.  Der  Rccueil 
sommaire  ist  dann  nichts  anderes  als  das  1511  entworfene 
vierte  Buch  der  Illustrations,  welches  auch  als  Oeuvre  de 
Grece  et  de  Turqiiie  bezeichnet  wird,  und  dessen  Inhalt 
die  gcnealogic  des  Turcs  et  leurs  gcstcs  iusques  a  nostre 
tcnips  et  la  geographie  de  la  tcrrc  de  Turquie  et  de  Grece 
et  des  isles  circonvoisincs  sein  sollte.  Paquots  Angaben 
haben  mir  Verwirrung  gestiftet '. 

4.  Le  troisienie  conte  de  Cupido  et  d'Atropos,  gehört 
einem  Dichter  dessen  Devise  Cuetir  a  hon  droit 
war.    S.  oben  p.  267  -. 

III.  Spätere  Ausgaben. 
1.  Die  Ausgaben  von  G.  de  Marnef  bildeten 
die  Grundlage  der  späteren  Neudrucke,  welche  — 
wenn  vollständig  —  sechs  Teile  enthalten:  Le 
Premier  livre  des  Illustrations  de  Gaule  avec  les 
deux  epistres  de  l'amant  vert.  —  Le  second  livre 
des  Illustrations  de  Gaule.  —  Le  tiers  livre  des 
Illustrations  de  Gaule.  —  Lepistre  du  Roy  a  Hector 
de  Tro5'e  avec  aucunes  autres  oeuvres  assez 
dignes  de  voir.  —  De  la  difference  des  Scismes 
et  des  Conciles  etc.  —  La  Legende  des  Veni- 

'  Jean  le  Feron  hat,  wie  oben  gesagt,  die  falsche  Bezeich- 
nung Traite  de  l'ouverture  du  Sainct  Sepulchre  für  den  Sauf- 
conduit  gebraucht.  Paquot  hat  diese  dumme  Stelle  ausgegraben. 

-  Le  triumphe  de  treshaulte  et  trespuissante  Dame  Verolle, 
Lyon  1539,  auch  von  Paquot  Lemaire  zugeschrieben,  weil  sein 
zweites  Märchen  von  Cupido  und  Atropos  und  das  anonyme 
dritte  darin  verwertet  sind,  ist  zu  streichen.  S.  oben  p.  268 
Anm.  '1. 


—    381    — 

tiens  etc.  —  Bekannt  sind  solche  Neudrucke  des 
Ganzen  oder  einzelner  Teile  aus  den  Jahren  1515. 
1516.  1517.  (um  1518).  1519.  (um  152(J).  1521.  1523. 
1524  (Lyon).  Die  erhaltenen  Exemplare  vereinigen 
sehr  häufig  Teile  von  verschiedenen  Auflagen 
(cf.  Brunet,  GrUsse  u.  A.). 

2.  Neue  Ausgaben  in  anderem  Format  sind 
die  von:  Paris  Fr.  Regnaut  und  Lyon  Antoine 
du  Ry  lv528.  4»  2  col.;  Paris  Ambroise  Girault 
1528-29.  fo.;  Paris  Galiot  du  Pro  1531.  8o.  (nur 
Illustrations  nebst  epistres  de  l'amant  vert);  Paris 
Ambroise  Girault  1533. 4o  2  col. ;  Paris  Guillaumc 
le  Bret  1540.  2  vol.  8».;  Paris  Poncet  le  Preu.x 
1548.  4o. 

3.  Le  temple  dhonneur  et  de  vertu,  Paris 
Alain  Lothrian  et  Denys  Janot  (um  1536).  8°.  — 
Le  triumphc  de  l'amant  verd  (die  beiden  epistre 
de  l'amant  verd  mit  Werken  anderer  Dichter) 
Paris,  Denys  et  Simon  Janot,  1535.  16.  —  Le 
Promptuaire  des  conciles  de  l'Eglise  catholique 
avec  les  Scismes  et  la  differences  diceux  1.532. 
1545.  1547'. 

4.  Erweiterte  Ausgaben: 

a)  Les  Illustrations  de  Gaule  et  Singularitez 
de  Troye,  contenant  troys  parties  avec  l'Epistre 
du  Roy  a  Hector  de  Troye,  Le  traicte  de  la 

>  Danach  scheint  woht  die  ensrüsche  Uebersetzunff  gemacht : 
The  abbrevyacion  of  oll  gencral  Concellys  holden  in  Grecin, 
Germania,  Italia  and  Gallia,  compyled  by  John  Le  Mcyrc  in  1519 
and  translated  by  John  Gowgh  the  Printer  herof.  1539.  f>. 


-    382    — 

difference  des  Scismes  et  des  Concilles  etc.  Le  tout 
compose  par  excellent  hystoriographe  Maistre 
Jean  le  Maire  de  Beiges  en  son  vivant  secretaire 
de  sacree  princesse  madame  Anne  de  Bretaigne 
deux  fois  ro3me  de  France.  Avec  plusieurs  autres 
additions  faicte  par  ledit  Aiitheur.  Nouvellement 
revu  et  corrige.  Imprime  a  Paris  (Jehan  Longis 
et  Jehan  Real)  1548—49.  8°.  B.  nat.  La-'  12. 

Enthält  ausser  den  geivöfmlich  ^edrncktcn  Werken 
den  Tcniple  'd'lionneur  et  de  vertu.  Den  cinsclnen  Teilen 
sind  frans,  tind  tat.  Verse  von  Franfois  Barat  d'Ar^cnton 
en  Bcrry  beigegeben.    Stecher  Oeuvres  IV,  437. 

b)  Les  Illustrations  de  Gaule  et  Singularitez 
de  Troye  par  maistre  Jean  le  Maire  de  Beiges. 
Avec  la  Couronne  Margaritique  et  plusieurs 
autres  oeuvres  de  lu}",  non  iamais  encore  impri- 
mees.  Lyon  Jean  de  Tournes  1549.  fo.  B.  nat. 
La2  13. 

Enthält  ausser  den  geivöhnlich  gedruckten  Werken 
die  Couronne  margaritique  tmd  die  trois  Contes  de  Cupido 
et  d'Atropos,  aber  nicht  den  Teniplc  d'hanncur  et  de  vertu. 

c)  Oeuvres  de  Jean  Lemaire  de  Beiges 
publikes  par  J.  Stecher,  membre  de  l'Academie 
royale  de  Belgique,  gedruckt  zu  Löwen  1882.85.91. 
4  vol.  8o.  —  Auf  dem  Rücken :  Acadömie  ro3\ale 
de  Belgique. 

Enthält  alle  jetzt  bekannten  Werke  Lcinaires,  auch 
ungedrucktes,  fast  vollständig,  ausserdem  einige  über- 
flüssigen Beigaben.  Der  Text  ist  der  von  1549.  Wichtige 
Varianten  fehlen.  Die  Ausgabe  kann  xvedcr  als  kritisch 
noch  als  endgültig  betrachtet  werden. 


3S3 


IV.  Handschriften. 

1.  Paris,  B.  nat.  ms.  fr.  nouv.  acq.  4061.  kl.  4«».  pg. 
Enthält  zwei  Gedichte  von  Lemairc  und  eine 
kur/c  biographische  Aufzeichnung,  wovon  der 
Anfang  fehlt.    Vgl.  Anhang  I.    (Autograph?) 

2.  Paris,  B.  nat.  ms.  fr.  1683.  pap.  Sensuit  La 
plainte  du  desire  etc.  Die  Klage  schliesst  mit 
folgendem  Nachwort:  Et  pour  cc  que  vous  tres 
haulte  et  tres  excellente  priricesse,  ma  dame  Anne 
roytie  de  France  et  duchesse  de  Bretaignc ,  par 
l'instaiuct  de  vostre  bonti*  ttnttirelle  aves  tenu 
et  estinu^  les  vertiis  du  deß'iiuct  cn  son  vivant  et. 
Icelltiy  maintesfois  visiti  et  consolö  beniguement 
diirant  le  tenips  de  sa  laiigiiettr,  et  ett  prenant 
grant  soUicitude  de  sa  santif  et  encores  apres 
son  trespas  l'aves  vous  bien  daignä  honnorer  de 
graut  plante^  de  lernies.  et  vous  monstrer  refuge 
ä  ses  tres  desoles  serviteurs.  pour  ses  raisons  il 
nie  semble  que  je  ne  pourroys  intituler  ne  des- 
dier  ceste  petite  oevre  a  plus  digne  princesse  ne 
qui  miculx  l'aymast  que  vous.  Si  vous  en  fais 
ung  tres  hutublc  present  vous  suppliant  tres 
haulte  et  tres  excellente  princesse  selon  vostre 
clemencc  accoustutnee  le  vouloir  prendre  en  gn', 
en  excusant  l'imbccilitö  de  mon  jeune  scavoir. 
Et  ainsi  je  cuideray  avoir  grandement  satisfait 
ä  mon  desir  et  moyennement  assouvy  l'intencion 
de  ses  bienvueillans.  —  Diese  Worte  deuten  an, 
dass  Lemaire,  der  eben  seinen  Herrn,  den  Qrafen 


—    384    — 

von  Ligny,  verloren  hatte,  sich  durch  Widmung 
der  Klage  der  Königin,  die  in  Lyon  weilte,  zu 
empfehlen  suchte;  dem  entspricht  auch  der 
Charakter  der  Handschrift,  die  sorgsame  Ab- 
schrift und  die  schöne  Miniatur  der  ersten  Seite. 
Kurz  vorher  hatte  der  Dichter  den  Temple 
d'Honneur  et  de  Vertu  in  gleicher  Absicht  der 
verwittweten  Herzogin  von  Bourbon  gewidmet, 
ohne  Erfolg,  wie  es  scheint.  Die  Schritte,  die  er 
nach  dem  Obigen  bei  der  Königin  von  Frankreich 
machte,  blieben  auch  fruchtlos,  wahrscheinlich, 
weil  damals  der  König  in  eine  schwere  Krankr 
heit  verfiel,  dass  man  an  seinem  Aufkommen  ver- 
zweifelte, und  sobald  die  eintretende  Besserung 
seines  Zustandes  es  zuliess,  der  Hof  nach  Blois 
zurückkehrte  (vgl.  J.  d'Anton,  chron.  de  L  ouis  XII) ; 
über  diese  schweren  Ereignisse  blieb  Lemaire 
unbeachtet.  Erst  dann  wird  er  sich  wohl  an  die 
Herzogin  von  Savoyen,  Margareta  von  Oester- 
reich,  gewendet  haben,  diesmal  mit  Glück.  Ihr 
widmete  er  dann  das  Werkchen,  als  er  es  1509 
drucken  Hess,  beinahe  mit  obigen  Worten,  cf 
Oeuvres  III,  187.  Dies  wäre  oben  S.  42  nachzu- 
tragen. Der  Text  der  Hs.  weicht  beträchtlich 
von  dem  der  Ausgabe  ab,  man  sieht,  dass  Lemaire 
das  Gedicht  vor  dem  Drucke  noch  einmal  über- 
arbeitete. Die  Hs.  ist  von  einem  Schreiber  an- 
gefertigt, der  das  Konzept  des  Dichters  häufig 
miss verstau  den  hat  und  zudem  andere  Sprach- 
gewohnheiten hatte.   Interessant  ist  es,  dass  die 


—    385    — 

Namen    der    Musiker,    die    angeführt    werden 
andere  sind:  Statt  Josquin  steht  Hylaire,   statt 

Agricola  maistre  Evrad,  dann  heisst.es: 

J'aiirai  anssi  poitr  In  niiculx  faire  bruirc, 
Vcrjtts,  Franfois  qui  bicn  s'y  voiidroiit  duirc, 
Et  puis  Conrard  n'aura  votiloir  de  fuire 
Et  croy  qn'aussi  ne  fern  ja  Prcgent. 

Die  gleiche  Hs.  enthält  zum  Schluss:  l'Epi- 
taphe  de  monseigneur  de  Lign}-.  Es  sind  vier 
Spruchstrophen,  welche  J.  d'Anton,  chron.  de 
Louis  Xn,  ebenfalls  anführt  als  Sprüche,  die  an 
den  vier  Kanten  des  Katafalks  angebracht  waren 
(B.  nat.  ms.  fr.  5081  fo  194) ;  ihr  Vorkommen  in 
dieser  Hs.  macht  es  wahrscheinlich,  dass  sie 
von  Lemaire  sind. 

3.  Paris,  B.  nat.  ms.  fr.  12077.  La  couronne 
margariticque  composee  par  Jeh.  Lemaire  etc. 
Eine  Initiale  trägt  den  Namen  Andrö  DuprO, 
daneben  J.  Foucre  m'a  fait.  Die  Hs.  enthält  einige 
Stellen,  die  im  Drucke  gestrichen  worden  sind. 

4.  Paris,  B.  nat.  ms.  fr.  22326.  4o.  pap.  Ein 
Sammelband,  f»  51.  La  pompe  funeralle  des  ob- 
seques  de  feu  tres  catholique  prince  le  roy  dom 
Phelippes  de  Castille  etc.  —  !<>  79.  Oraison  de 
l'acteur  par  manicre  de  invocation  cn  forme  de 
virelay  double.  Sensuyt  ung  petit  traictie  intitule 
des  pompes  funebres  antiques  et  modernes  dedie 
ä  vostre   excellence  Treshaulte   et   tres   noble 

Becker,  Jean  Lemaire.  25 


386 


princesse  Madame  Claude  .  .  par  vostre  tres 
humble  et  tres  obeissant  serviteur  Jan  le  maire 
de  beiges.  (Unvollendet.) 

5.  Paris,  B.  nat.  ms.  fr.  Dupuy  503.  fol.  pap. 
Einige  leere  Blätter,  fo  5 — 32.  Le  premier  Voyage 
d' Espagne ,  kurze  Auszüge  aus  Antoine  de  La- 
laing,  Relation  du  premier  voyage  de  Philippe 
le  beau  en  Espagne,  ed  Gaehard,  Collection  des 
voyages  des  souverains  des  Pays  Bas  I,  125—300 
(Chroniques  beiges  inedites);  nur  wenige  Zusätze 
von  Lemaire,  z.  B.  einiges,  das  vermuten  Hesse, 
er  sei  am  22.  März  1503  in  Lyon  gewesen,  als 
Philipp  von  Kastilien  in  die  Stadt  einzog.  — 
fo  33—49.  Voyage  de  monseigneur  l'archiduc  Phe- 
lippes  prince  de  Castille  etc.  ä  son  retour  d'Es- 
pagne  depuis  le  partement  de  Dole  au  conte 
de  Bourgogne  jusques  au  rentrer  en  sa  ville 
de  Bruxelles.  Ausführlicher  Auszug  aus  dem 
gleichen  Bericht,  stilistisch  überarbeitet;  Rein- 
schrift; cf  Gachard  1.  c.  300—340.  —  fo  50-94. 
Ausführliche  Auszüge  aus  einem  anonymen  Be- 
richt über  die  zweite  Reise  Philipps,  von  De- 
cember  1504 — September  1507,  herausgegeben  von 
Gachard  1.  c.  389-480.  -  fo  102—110.  Pour  Van 
M.  V<:  V.  Notizen  und  Auszüge  aus  Briefen  des 
Königs  und  seiner  Begleiter,  einiges  davon  ge- 
druckt bei  Gachard  1.  c.  501.  —  fo  111—120.  Me- 
moralia  Indiciaratus,  Notizen  von  Sommer  1507 
bis  Januar   1508  und  Januar,   Februar   1509.  — 


-    387    - 

fo  125—154.  Chronique  des  princes  et  princesses 
de  Ja  frcs  tllustn-  ntaison  d' Altstriche ,  CastiHv 
et  Bourgoigiie  Poiir  lati  de  la  creation  6706  et 
du  regne  de  Maximilian  cesarauguste  vingt  et 
demy,  nach  einem  ausgestrichenen  Prolog  folgt 
fo  126  Chronique  annale,  z.  T.  ausgearbeiteter 
Bericht  über  Margaretas  Umzug  durch  die  Nieder- 
lande Ostern— August  1507.  —  fo  155  steht  der 
Name  Tehan  le  Maire.  —  fo  156—160.  Chronique 
abregee  de  la  tres  illustre  ntaison  d'Austriche 
et  de  Bourgoignc  .  .  .  depuis  la  nativite  de  tres 
clere  princcsse  inndame  Marguerite  .  .  jusques 
au  trespas  de  niadame  Marie  sa  mere.  Kurze 
Notizen  von  1480—1506.  Diese  drei  Teile  hat 
J.  Stecher  herausgegeben  Oeuvres  IV,  441  sqq.  — 
fo  161—64.  Ein  Heft,  auf  dessen  erster  Seite  Auf- 
zeichnungen über  die  Nymphen,  in  der  Mitte 
Tafeln  von  Päpsten  und  römischen  Kaisem 
standen,  letztere  mit  besonderer  Beziehung  aut 
Julianus,  in  lat.  Sprache;  fo  161  vo,  162  ro  und 
164  ro  und  vo  hat  Lemaire  Notizen  über  das  Haus 
Parthenay  und  Soubize  eingetragen,  die  er  augen- 
scheinlich an  Ort  und  Stelle  gesammelt  hat.  Es 
wären  also  Aufzeichnungen,  die  er  von  der  Reise 
in  der  Bretagne  mitgebracht  hat;  sie  scheinen 
das  zu  bestätigen,  was  Cl.  Marot  von  einer 
näheren  Beziehung  Lemaires  zu  Frau  von  Sou- 
bise  andeutet,  fo  164  steht :  Thony  charente  (d.  i. 
Tonnay-Charente)  est  ung  hourg  d  deux  Heues 
de  Soubise,  lä  oü  les  bretons  venoient  charger 


les  hledB  de  niadame  d'Angoulesme  quand  je  y 
passay,  cest  assavoir  le  lendemain  du  joiir  St. 
Nycolas  en  inay  mil  Vc  et  XI IL  Am  Rande: 
Madame  de  Beauregard  Vestus  fut  nion  hostesse 
ä  Sonhise.  —  Aiitograph,  vielleicht  mit  Ausnahme 
von  fo  33—49. 

6.  Carpentras,  Bibl.  de  la  ville  408.  fol.  pg.  Le 
traictie  intitule  la  Concorde  des  deux  langaiges, 
L'an  1511.  (Cf.  C.  G.  A.  Lambert,  Catal.  des  mss. 
de  la  bibl.  de  Carpentras.  1862.  I,  252.)  Offenbar 
ein  Widmungsexemplar.  Eine  genauere  V"er- 
gleichung  der  Hs.  fehlt. 

7.  Geneve,  Bibl.  de  la  ville  et  de  la  republ. 
ms.  fr.  74.  De  la  destruction  de  Troye.  fol.  pap. 
Das  zweite  Buch  der  Illustrations.  Lan  de  grace 
1512,  le  Premier  jour  du  moys  de  may.  Les  XXIIII 
Couplets  de  la  Valitude  de  la  royne,  fait  fi  Blois 
le  second  jour  d'avril,  lan  de  grace  1511  avant 
pasques.  Double  virelay  de  nouvelle  taille.  (Cf. 
Senebier,  Catal.  des  mss.  de  la  Bibl.  de  la  ville 
et  republ.  de  Geneve  1779.  337.) 

8.  Bern,  Stadtbibliothek  Nr.  241.  fol.  pg.  Troi- 
sieme  livre  des  Illustrations  de  France  orientalle 
et  occidentalle  cest  a  dire  de  Gaule  et  de 
Troye.  (Cf  H.  Hagen,  Catal.  cod.  Bernensium, 
Bernae  1874.  p.  282.) 

9.  Paris,  B.  nat.  ms.  fr.   1721.  fo  22.    Fleur 
fleurissant.  —  f«  104.  Pluine  infelice  (Prologue 


-    389    — 

de  la  Couronne  margaritique).  —  Ib.  ms.  fr.  1717. 
fo  96.  Epitaphe  de  fcux  mcssire  George  Chastellain 
et  de  maistre  Jehan  Molinet.  Lan  1510  (!). 

V.  Ikonographie. 
1.  Holzschnitte:  Ein  Titclholzschnitt,  Lemaircs 
Wappen  mit  Helm  und  Devise:  De  peu  assez. 
Darüber:  Si  non  est  utile  quod  facimus  stulta 
est  gloria.  Links  ein  Hahn:  Gallis  icternum  decus, 
rechts  ein  Sittich  eine  Honigwabe  naschend: 
Favus  distillans  labia  mea.  Scheint  für  die  Aus- 
gabe von  1510  gestochen  und  ziert  alle  folgenden 
Werke.  —  Margaretas  Wappen,  darüber:  For- 
tune infortune  fort  une.  Für  dieselbe  Ausgabe 
geschnitten,  findet  sich  in  den  Pariser  Ausgaben 
bis  zu  Lemaires  Uebertritt,  fehlt  also  vom  2.  Buch 
der  lUustrations  an.  —  Doppehvappen  des  Königs 
und  der  Königin  von  Frankreich,  darüber:  Vivite 
feliccs^  darunter  Hermeline  und  Stachelschweine; 
für  die  Differencc  des  Scismes  et  des  Conciles 
geschnitten,  fehlt  auch  vom  2.  Buch  ab.  Wenn 
diese  Schnitte  von  J.  Perreal  gezeichnet  waren, 
was  leicht  zu  vermuten  wäre,  so  würde  das 
Zerwürfniss  der  beiden  Freunde  erklären,  warum 
Lemaire  darauf  verzichtete,  sie  weiter  zu  ver- 
wenden. —  Widmungsbild:  ein  Genius  reicht 
Juno  aut  dem  Thron  das  Buch  dar,  links  Hebe  (?), 
rechts  in  den  Wolken  Merkur,  im  Vordergrunde 
spielen  drei  Damen  mit  einem  Windhund  oder 
Hermelin  (?).    Figuren  von  reicher  Formenlillle 


—    390    — 

in  bewegten  Stellungen  ohne  Porträtähnlichkeit'. 
Findet  sich  in  den  beiden  Drucken  von  1513 
(sicher  nicht  von  Perreal).  —  Zwei  erläuternde 
Schnitte:  Noah  und  Tytea  die  Welt  umsegelnd, 
Herkules  mit  seinen  beiden  Frauen  und  deren 
zwei  Kindern,  wahrscheinlich  auch  für  das  erste 
Buch  1510  geschnitten.  —  Ausserdem  einzelne 
interessante  Lettern. 

2.  Miniaturen:  B.  nat.  ms.  fr.  n.  acq.  4061.  cf 
Anhang  I.  —  B.  nat.  ms.  fr.  8031.  Ligny  auf  dem 
Totenbett,  Natur.  Rhetorik  und  Malerei  beklagen 
ihn,  zwei  schwarze  Schwestern  trauern  im 
Vordergrund,  sehr  fein  gezeichnet.  —  Bibl.  de 
Carpentras  ms.  408.  Der  Tempel  der  Venus  und 
das  Heiligtum  Minervas,  zwei  ganze  Seiten.  -- 
Bibl.  zu  Bern  Nr.  241.  Widmungsbild.  S.  oben 
p.  281.  Eine  zweite  Miniatur:  zwei  Männer  den 
französischen  Stammbaum  betrachtend. 


1  Jedenfalls  schiene  es  mir  seltsam,  in  dem  dickbackigen 
Genius  Lemaire  sehen  zu  wollen,  wie  Stecher  vorschlägt. 


Nachlraj;»  zur  JUbliograpliic. 


1,  2.  Les  Chansons  de  Namur,  photolithojjr- 
Reproduction,  Brüssel,  G.-A.  van  Trig^t.  Hrit. 
Mus.  11475  bbb  28,  4o. 

In  der  That  ist  Str.  26, 2  Poun'  nur  ein  Schreib- 
fehler (S.  oben  p.  332  Anm.  1);  es  steht  unzwei- 
deutig Yvuy  d.  i.  Ivuy  zwischen  Cambrai  und 
Valenciennes.  Somit  lallt  die  letzte  epische 
Caesur  in  Lemaires  Werken  fort;  dass  der 
Dichter  soweit  greifen  musste,  um  einen  voka- 
lisch anlautenden  Ortsnamen  zu  linden,  zeigt 
wie  sehr  er  die  Elision  für  notwendig  erachtete. 

I,  ").  Les  Illustrations  de  Gaule  et  Singularitez 
de  Troye  etc.  Imprime  a  Paris  par  G.  de  Marncf. 
Septembre  ir)12.  Hrit.  Mus.  G  10249  (1).  4o. 


Verla«  von  KAUL  J.  TRCBNEI;  in  SUussbuig. 

3citcn,  SBöIfer  luib  9}?cii[d)cu 

Don 

tlnrl  t)illrbl•nu^. 

7  93äiibc  tl.  8".    >|.Uciö  pro  iütiiib  (ftatt  m.  (i.^t  0);.  4.—, 

flcl).  W. :..— . 

$b.  T.   (Vrnitfrrid)  iiitl»  btc  (Vranjofm. 

o.  itiuf  ncvmelntc  'Jlufhuic  mü  einem  'JKidiviifc  uon  ^ttinri^ 
■•öomlievrtcr.  S".    XX.    ;iiM;  8.    W8(>. 

i^n()alt:  il^oncbc  .yir  2.  iii(b  :$,  9UifInt]f.  —  (finleitenbf*.  — 
3*lc  «:kU|d)aft  uitb  ^?ittcratiir.  —  UoHttfdic»  Vcbcn. 

*^li.  H.    i^iilfdjce  iiiiti  ^cntfdic«'. 

8".  XIV  II.  4-".s  3.  is'.ij. 

;>ii{)alt:   9.Hnuiovt.  —  I.  ^iw  JHcuniffaiicf.  —  II.  $tiU 
(\cuöfrifdK«i   nu«   ^tnlicu.   —    III.   Jvrrt"»örifd]f«.    — 

IV.  *ilH«(  bcm  iünftii\cn  «dirifninim  TciitidilnuÄ*. — 

V.  ''lim  bcm  uit,\üitfti(KH  2dirifttlium  Teiitid)iant>l. 

^.Sti.  HI.    ^ilu0  iiitb  über  (vtitiiitiib. 

S".     VllI   lt.   tos  8.    ISD-J. 

3nf)rt(t:   a.Un[ieiiicvfiin(V   —   I.   Briefe   itii«  t^iiAlrtitb.   — 

II.  rtrrtii,',ö|tfd)c  «tubicit   cufllifdicr   cUitflciioffcii.  — 

III.  ^iitr  VittcnUui'  uiib  3ittcii{Kfd)id)tc  bc»  iid|t')Cl)nt(n 
Jnl)rl)unbcrt<(. 

':i^b.  IV.  %-vo\Hc.  2.  'JhiöQabc.  8^  VIII  u.  37G  S.  1886. 

üBb.  y.  9(ii<$  bcm  ;>al)rliuubcrt  brr  Mrboditioti. 

2.  ^^luogabc.  s".  VIII.  :?(i(>  8.  issc. 

JBb.  VI.   ^Icitflc II offen  imb  ^Uitflcitöfnfdic«'. 

2.  3luoaabe.  S".  VIII.  400  8.  issc. 

m.  yi[.    Cfulturflffd)td)tlidK<*.    8".    XII.  :«■>  8. 
Wit  bem  ^^ilbtüB  bcö  SJcrfaflcrä  in  <t>oIif<^»itt-   l^''^''- 


Jwölf  grifff  finf0  ßflljftifdifn  firtfra 

8".  IV  II.  118  S.  1874.  flcl).  !ül.  2.—   flcb.  W. :{.-  . 

Uie  Verlagshandlunjr  ergreift  die  Gelegen- 
heit der  Erwerbung  von  Hillebrands  Werken,  um 
durch  Ermässigung  des  Ladenprjeises  vonMk.  f». — 
auf  Mk.  4. —  pro  Band  deren  Verbreitung  ihrerseits 
nach  Kräften  zu  fördern. 


Verlag  von  KARL  J.  TRÜBNER  in  Strassburg. 


COcfrijirijtc 


bev 


^talieitifdjen  Stteratuv 


ßrftcr  33aiib :  Sic  italicuifrfjc  Sitcvrttur  im  SDJittclaltcr. 

8«.    550®.    1885.    9J1.9.,  geb.  5JI.  11.— . 

3nl)a(t:  Giiilcituiu].  —  3)ie  Siciliaiiifdic  5)id)terid)ule. — 
^•ortiebitng  bcr  Ujrijdjeit  3^id)titiu]  in  DJcittcIitnlieit.  — 
©iüt)o  (SiünicelH  uon  23oIogna.  —  Sic  fraiislif.  3ittttn  = 
bid)tuiu]  in  Cbcvitalien.  —  Steligiöic  iinb  inovalifrfK 
^^oefie  in  Obcritalicn.  —  Sic  religibie  Sl)vif  in  llm-- 
bvien.  —  Sie  ''^voia  im  13.  ^abtl).  —  Sie  al(eijoriid)= 
bibatttfd)e  Sid^tnng  iinb  bie  ))l)i(o|opf).  ^ijri!  ber  nenen 
floventiniid)cn  Qd}nii.  —  Sante.  —  Sie  (Somöbie.  — 
Sn§  14.  3»i')i-"t)i'iJ'^''i't-  —  ^H'travcQ.  —  ^Mvavca'^i  (ynn= 
moniere.  —  3lnf)ang  (nf)Uograpf)i)d)cv  u.  fvitijdjev  93e= 
merfiingen.  —  9iegifter. 


3ti>ctter  S3anb: 
^ic  italicuifrfjc  IMtcratur  bcr  9tcuni|fniuc]cit. 

8'\   704  e.    1888.  m.  12.—,  geb.  m.  14.—. 

3n()ün;  ^Boccaccio.  —  Sie  Gpigoncn  bcr  grofjen  3füven= 
tincv.  —  Sie  .s*">umttniftcn  beS  15.  3iil)vl)unbertö.  —  Sie 
JBnIgävipradjc  im  15.  3ttl)i-"l).  unb  i()ve  UMteratuv.  — 
^Polijiano  unb  Sorcnso  be  9Jiebici.  —  Sie  9{ittevbid)tung. 
i^ulci  ittib  23ojnrbo.  —  9}capef.  —  ^'Ontanp  unb  i£aunrt= 
jaro.  —  5Jtacd)itn)e(Ii  uub  Wniccinvbiui.  —  a3enibo.  — 
Slvtofto.  —  Gaftiglione.  —  ^Uetvo  3h-ctinu.  -  -  Sie  lCl)vit 
im  16.  3ftf)vi)unbevt.  —  Saß  ^■>elbengebid)t  im  16.  '^\al)x^ 
{)unbert.  —  Sie  Sragöbie.  —  Sie  Gomöbie.  —  ?lnl)ang 
bibliograpbiirflfv  "•  tritiidjer  33emevfuugen. 


iL  ^'^T®'''    ^^^^PP    A«ß"8t 

J-^'^^ö  Jean  Lemaire 

L5BA 


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