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JEAN LEMAIRE
DER ERSTE HUMANISTISCHE DICHTER
ERAXKREICHS
PH. AUG. BECKER
Las, que peu de gens sont qu'on
sache avoir vescu.
Lemaire.
STRASSBURG
VERLAG VON KARL J. TRÜBNER
1893
768461
JEAN LEMAIRE
DER ERSTE HUMANISTISCHE DICHTER
FRANKREICHS
VON
PH. AUG. BECKER
Las, QlTE PEU ]JE GENS SONT ,QÜ'ON
sache avoik vescu.
Lemaire.
STRASSBURG
VERLAG VON KARL J. TRÜRNER
1893
Druck, d. „Strassb. Neuesten Nachrichten", vorm. H. I^. Kaysei
Meinem verehrten Lehrer,
Herrn Professor Dr. Gustav Gröber,
in Dankbarkeit
zugeeignet.
Wer die Geschichte der fransösischen Kultur-
entwickelung im XVI. Jahrhundert verfolgt hat
oder erforscht, der wird bekemten , dass die
Regier ungsscit Karls des VIII. und Ludwigs
des XII. dett Anbruch eines neuen Welttages
bedeutet: was in jenen Stunden des Dämtnerns
und Tastens begonnen worden ist, das ist das
Tageivcrk , an dem die folgenden Geschlechter
unter Jubel oder Seufzen gearbeitet, das ist die
weltgeschichtlicJic Aufgabe, deren Lösung sie
gefördert, gefunden, erschwert oder aufgegeben
haben. Das Land hat sich erholt von den hundert-
jciJirigcn Kämpfen mit England; die Einheit der
königlichen Selbstherrschaft ist abgeschlossen;
Italien wird der Tummelplatz; der europäischen
Wajfen und das System der Koalitionen ge-
staltet die internasionalen Besiehungen um;
Burgund verschwindet aus der Geschichte; in
den Vordergrund tritt der weltbewegende Gegen-
sats von Frankreich u)id dem Hause Oesterreicli.
Die Zeit der grossen Kirchenspaltungen ist vor-
über, es erhebt sich aber von anderer Seite ein
— VI —
AnsHtrm gegen das Papsttum , der mit der
Reformation eine unerwartete Bedeutung be-
kommen soll. Das gesellschaftliche Leben ge-
winnt durch die Zusammensetzung des Hofes
und die individuelle Ausbildung andere Formen.
Die Kunst seitigt neue Ideale: in der Baukunst
begegnen sich italienische Renaissance mit
nordischer Gothik; die Dar Stellung smittel der
Malerei ' haben sich mit dem Oelgemälde er-
weitert; in der Musik haben sich neue Schulen
gebildet. Mit Erfindung der Buchdruckerkunst
haben sich für die Litteratur unbetretene Bahnen
eröffnet , ihr Wirkungskreis erstreckt sich über
weitere Gebiete, leichtere und schnellere Ver-
breitung und gesteigertes Lesebedürfniss er-
höhen die Anforderungen und versprecheti
schönere Erfolge. Der Geschmack gestaltet steh
um unter dem Einßuss der allgemeinen geistigen
Strömungen, die jedes Individuum mächtig er-
fassen; dettn der Einzelne tritt hervor aus der
Enge der Heimat, der Erziehungseinflüsse , der
bürgerlichen Schranken ; er tritt hinaus in die
Welt , lernt fremde Menschen und Zustände
kennen; überall findet er eine Heimat: als Welt-
bürger verkehrt er mit Weltbürgern. Nicht ein
Land ist seine Lehrmutter, ein abgeschlossener
Anschauungskreis sein Horizont, eine Kunst
seine Bethätigung. Alle Errungenschaften der
Zeit sind Gemeingut und Jeder will an dem
Gänsen Anteil haben. Die alte Welt durchweht
- vn ~
das ßewusstsci'n , dass die Zeiten der Barbarei
vorüber sind, luid Wissenschaft und Kunst von
den Schlacken befreit in hergestellter Reinheit
erstrahlen.
Die Wende des Jahrhunderts ist die Zeit
der Vorbereitung und der Aussaat, sie hat auf
die gedeihliche Entfaltung der folgenden Jahr-
zehnte cineti bestinuncnden Einßuss ausgeübt.
Man kann aber nicht sagen, dass ihr von Seitot
ernster und gründlicher Forschung in allen
Gebieten die Beachtung geschenkt worden ist,
die sie bei der Wichtigkeit der Erscheinungen
verdiente und bei der Fülle des vorhandenen
Materials auch reichlich belohnen würde. Das
folgende möchte in dem Rahmen einer einfachen
Lebensbeschreibung ein Beitrag sein sur Er-
iveiterung unserer Erkenntniss jener vielgestal-
tigen Uebergangsepoche.
Jean Lemaire ist seiner Zeit ein Bahnbrecher
u)i(l Vorläufer gewesen; er ist das Bindeglied
zwischen der untergehenden burgundischen
Dichterschule und der neuerstehenden franzö-
sischen; er ist ein Vermittler der italienischen
Litter atur bei den Franzosen ; und zu gleicher
Zeit tritt er uns als eine eigene, ausgeprägte
Dichtererscheinung entgegen: im Leben wie im
Schaffen und Streben steht er mitten im Getriebe
der Epoche und in seiner beschränkteren Sphäre
gibt er uns ein Bild ihres vielseitigen Trachtens
und Beginnens.
— VIII —
Lemaires Leben ist schon mehrfach sunt
Gegenstand der Darstellung gemacht worden.
Die Artikel von La Croix du Maine und Du
Verdier , Bihliothäques franfoises ed. Rigoley
de Juvigny I, 522. IV, 455 sind sehr dürftig.
Im XVIII. Jahrhundert widmete ihm abbe Sallier
einen Aufsats in deti Mämoires de l'Academie
des Inscriptions et Beiles Lettres XIII, 593 sqq.
(1740). ' Daraus schöpfte Goujet , Bibliothäque
franQoise X, 68 sqq. (1745); Paquot, Memoires
pour servir ä l'histoire litteraire des Pays-Bas
III, 1 (1745), ergänzte die Bibliographie. Wich-
tige Beiträge zur Lebensbeschreibung Lemaires
waren die Briefe, die Leglay in den Analectes
und Nouveaux Analectes historiques (1839. 1845)
und Charavay in der Revue des documents
historiques III (1876) veröffentlichten. Das
regere Interesse, das sich allniälig den früheren
Jahrhunderten zuwendet, kam auch Lemaire
zu Gute. Ch. Fitis , Mdmoires couronn^s par
l'Acadömie royale de Belgique , Collection in-8o.
XXI, 1 sqq. (1870), versuchte ihn als Prosa-
schriftsteller und Dichter zu würdigen. Fr. Thi-
baut, Marguerite d'Autriche et Jean Lemaire
de Beiges, tMse. Parts 1888, entwarf sein Bild
im Rahmen der Zeit. J. Stecher, Oeuvres de
Jean Lemaire de Beiges. 4 vol. Louvain 1882-92,
mit ausführlicher Biographie und Bibliographie,
hat sich ein wesentliches Verdienst durch diese
Ausgabe erworben. Denn die alte Ausgabe von
- IX —
Jean de Tournes, Lyon 1849, ist fast nicht mehr
ziifiän^lich. Im Folgenden führe ich stets die
neue Ausgabe an.
Der Versuch einer neuen Lebensbeschreibung
möge sich selber rechtfertigen; mein Wunsch
wäre, nicht blos zu beweisen^ dass Jean Lemaire
ein ehedem klangvoller Name war, dass er ein
Dichter ist, aus dem sich eine Blumenlese
schöner Stellen ausheben lässt, nicht blos dass
er seiner Zeit vorangegangen ist und den Schrift-
stellern des XVI. Jahrhunderts die Wege ge-
wiesen, die sie gewandelt sind: ich möchte auch
zeigen, dass Lemaire eine Persönlichkeit vor-
stellt, die trotz der Jahrhunderte, die verßiessen,
lebendig und anschaulich vor unsere Augen
tritt und unsere Zuneigung gewinnen kann.
Er soll nicht umsonst gesagt haben :
Fac et spera.
Inhalt.
Seite
]'oiu'orf III
I. Lemaires Kimlhcit und jiii;ciul. Erste W'rsuche.
Jean Perreal 1
II. Peter der IL, Herzosr von Hourbon. Le Temple
d'Honneur et de Vertu 15
III. Ludwig von LuxemhurfT, Graf von Li^ny. La plainte
du Desire l.*S
IV. Margareta von Ocsterreich und Philiberl von Sa-
voycn. La Couronne margaritique 43
V. Lcs epistrcs de TAmant vcrt '>l
VI. Lemaire Historiograph des Königs von Kastilien.
Erste Romreise. Symphorien Champier KL'
\'II. Les Regretz de la Dame infortunce. Reise nach den
Niederlanden. Chansons de Xamur, kleinere Gedichte
und historische Arbeiten 95
\1II. Zweite Romreise. La Legende des Venitiens, Les
Gestes du Sophy. Cornelius Agrippa IIS
IX. Lcs Illustrations de (iaule et Singularitcz de Troye,
erstes Buch 134
X. Der Klosterbau in Brou. Alabastergruben von Saint-
Lothain 14"
XI. La DilTerence des Scismes et des Concilles .... 161
XII. La Concorde des deux Langaiges 174
XIII. Reise nach Tours. Epistre du Roy a Hector de
Troye. Uebertritt in französische Dienste. .'. . . 191
- XII —
Seite
XIV. Anna von Bretagne und ihr Hof. La valitude et
convalescence de la roine und kleinere Gedichte.
Clement Marot 212
XV. Lcs Illustrations de Gaule, zweites Buch .... 222
XVI. Les Illustrations de Gaule, drittes Buch 229
XVII. Letzte Nachrichten über Lemaire und letzte Ver-
suche. Pierre de Saint-Julicn • . 24-1
XVIII. Les deux contes de Cupido et d'Atropos. Der ano-
nyme Verfasser des dritten Märchens 254
XIX. Lemaires Wesen und Charakter. Sein Bild . . . 270
XX: Litterargeschichtliche Einflüsse 283
XXI. Lemaires Verdienste als Schriftsteller 304
XXII. Lemaires Sprache und Metrik. Schluss 320
Allhang. Belege und Bibliographie 839
I.
Jean Leinaire wurde um 1473 geboren, denn
als er im Jahre 1500 die Illustrations de Gaule
zu schreiben begann, war er nach eigener Angabe
etwa 27 Jahre alt^ Seine Vaterstadt Bavay
war ein festes Städtchen der kaiserlichen Pfalz-
grafschaft Hennegau zwischen Valenciennes und
Maubeuge; sie war zwar nicht, wie Meister
Jakob von Guise in seiner Chronik erzählt, von
Priams Vetter gegründet und zuerst Belgis
genannt worden, wesshalb sich auch unser Dich-
ter den Beinamen de Beiges beilegte; immer-
hin war sie eine alte Römerstadt, dereinst Kreu-
zungspunkt von sieben Strassen, noch aus-
gezeichnet durch stattliche Ueberreste alter
Bauten, eines Circus, eines 25 Kilometer langen
Aquädukts, und Fundort zahlreicher Altertümer^
Durch den Nimweger Frieden an Frankreich
abgetreten, wurde Bavay auf Befehl Ludwigs
> Illustrations de Gaule. Oeuvres I, 4. cf. Oeuvres IV. 440.
^ Bavais en Haynnau : laquelle a present n'est qu'une pctite
villc deserte et desemparee : mais les ruines d'icclle monstrent
bien que au temps passö eile ha est6 de merveilleuse estendue.
Illustrations III. Oeuvres II, 290.
Becker, Jean Lemaire. 1
— 2 —
des XIV. zerstört und ist heute nur noch ein
unbedeutender Marktflecken.
Von Lemaires Eltern ist uns nichts bekannt;
er scheint sich aus guten aber einfachen Ver-
hältnissen emporgearbeitet zu haben K Er hatte
mehrere Geschwister: ein älterer Bruder fiel
(1507 oder 1508?) in Geldern als wackerer Reiters-
mann im Dienste der Tochter Maximilians, und
überliess dem Dichter die Pflege zweier Neff"en,
deren Eltern noch lebten, aber vermutlich zu
unbemittelt waren, um ihnen die erwünschte
Erziehung angedeihen zu lassend
Einen mehr vermögenden Verwanten hatte
unser Dichter an Jean Molinet, dem Historio-
graphen des Hauses Burgund^ Ursprünglich
' Auf das gehässige Gerede des Hofmalers Jean Perreal,
der von Armut und Lausigkeit spricht, gebe ich gar nichts.
Brief von 17. Oktober 1512. Oeuvres IV, 390.
'' Lemaire an Margareta (1509) : < du bien que vous me
faictcs, Madame, j'en faj' participans deux petits nepveux de
bon esperit, delaissez comme orphenins de mon frere aisn^, leur
oncle, lequel est derrenierement mort bon gentdarme en vostre
Service en la guerre de Gheldres, sous la Charge de Monsieur
d'Aymeries, lesquelz deux jeunes enfants et leurs povres parentz
prieront Dieu toujours pour vostre bonne santö et prosperit6. »
Oeuvres IV, 394. — Die Gens d'armes waren besoldete Berufs-
soldaten seit Einführung stehender Truppen unter Karl dem
Kühnen, cf. Guillaume, Histoire de l'organisation militaire
sous les ducs de Bourgogne (1848). Möm. cour. p. l'Ac. de
Bruxelles XXII.
" «M*^ Jehan Molinet, mon precepteur et parcnt» Oeuvres
IV, 522, cf. IV, 190. — In dem Gedichte, das Guillaume Cretin für
Lemaires Tcmple d'Honneur schrieb (Oeuvres IV, 188), heisst es:
Do»t Moliiict qtti t'advouc ä pareut
Acquiert hoittwur, brtiyt et los apparent,
Veu que sous luy tu as si bicn appris
Que ton laheur vaut estre mys ä pris.
— 3 -
Musiker, warMolinet zur Rhetorik übergegangen;
als Schüler und Nachfolger Chastcllains war er
das angesehene Haupt des burgundischen Dich-
terkreises und starb 1507 als Indiziarius und
Kanonikus von Valencienncs. Aus der Gleich-
heit des Namens hat man die Vermutung gezogen,
er sei auch Lemaires Pathe gewesen. Jedenfalls
blieb er nicht ohne Einfluss auf die Erziehung
und den dichterischen Beruf seines jungen Ver-
wanten. Zum Geistlichen bestimmt und vielleicht
auch zum dereinstigen Nachfolger ausersehen,
wuchs der Knabe vermutlich zu Valenciennes
unter der Obhut des gelehrten Historiographen
auf. Als er Margareta von Oesterreich 1507 auf
ihrer Huldigungsreise begleitete, erinnerte er
sich mit Rührung, dass er in früher Jugend in
der Liebfrauenkirche zu Valenciennes das Be-
nedicamus gesungen hatte, und dass ihm von
dem unlängst verstorbenen Bischof von Cam-
bray, Heinrich von Bergen, die geistliche Ton-
sur erteilt worden war '.
In den Niederlanden keimten damals die
ersten Triebe humanistischer Bildung unter der
Anregung des weltberühmten Rudolf Agricola;
derSchulunterricht erhielt durch die Bemühungen
' Chronique annale : « Et led. jour sa grace et clemence
liberalle me donna une prebende et chanoinie en l'eglise de
nostrc Dame de la salle le conte en Valenciennes en laquelle
en ma prime jeunesse j'avoie chantö benedicamus. » Oeuvres
IV, 489. — « feu mons*" Henry de Berghes, que Dieu absoille, lequel
en ma jeunesse m'avoit conferö l'ordre de tonsure clericalle. »
Ibid. 512. - Heinrich war Bischof 1480— löO.'.
— 4 -
der Fraterherrn einen neuen Aufschwung. Frei-
lich wurde Lemaire nicht so direkt von jenen
klassischen Einflüssen ergriffen wie der sechs
oder sieben Jahre ältere Erasmus von Rotter-
dam, den sie aus der Enge des Klosterlebens
mit dem Triebe der Sehnsucht hinauszogen'.
Seinen ersten Umgang scheinen eher die Künstler
seiner Heimat gebildet zu haben, jene Maler,
Bildhauer, Musiker, Goldschmiede, die er mit
so freudiger Begeisterung preist ; zu ihnen zogen
ihn verwante Naturanlagen hin.
Jean Lemaire verliess die Heimat, um an
der Hochschule zu Paris, wo auch Molinet seine
Bildung geholt hatte, seine Studien zu vollenden.
Mit Entzücken spricht er in den Illustrations de
Gaule von der erhabenen Königsstadt am Flusse
der Seine, der Kelten und Beiger verbindet,
dem glücklichen Paris, Hauptstadt der Krone
Frankreich, Mutter und unübertreffliche Lehr-
meisterin der Wissenschaft für die ganze Welt,
mehr als je Athen oder Rom. „Von ihr, ruft er
aus, habe ich die ganze Milch der Wissenschaft
gesogen (wie wenig es auch sei), die meinen
Geist belebt ^" Auch in Paris regte sich der
Geist des Humanismus und wurde durch hoch-
verdiente Lehrer verbreitet. Robertus Guagui-
' 1591—% war Erasmus SekretUr des ebengenannten Bischofs,
Heinrich von Bergen ; die beiden jungen Leute scheinen sich
aber nicht kennen gelernt zu haben.
'■' Illustr. I, 17. Oeuvres I, 106. Wie ganz verschieden spricht
Erasmus von Paris!
— 5 —
nus, aus der Diozüse Arras, galt als eine Zierde
derUniversität : er war ein Schüler von Guillermus,
Fichet, der die erste Buchdruckerei in der Sor-
bonne errichtete, und sein Nachfolger in dem
von ihm begründeten Lehrstuhl der Rhetorik;
er zeichnete sich aus als Theologe, Rechts-
gelehrter, Redner, Dichter, Diplomat, Geschichts-
schreiber, und hatte die grössten Fürsten zu
Beschützern, die berühmtesten Männer zü Freun-
den '. Neben ihm las der sprachgewante neu-
lateinische Dichter Faustus Andrelinus aus Forli
seit 1489 Poetik und Rhetorik und entzückte
seine Zuhörer durch seine Rednergabe. Die
Zeit und die Dauer von Lemaires Aufenthalt in
Paris sind uns unbekannt; wir verlieren seine
Spur um die Zeit ganz aus den Augen.
Um 1498 taucht er in Villefranche, der Haupt-
stadt von Beaujolais, auf als geschulter Schatz-
beamter (clerc de finances) im Dienste des
Königs und des Herzogs Peter vonBourbon '-'. Wie
war der Hennegauer in französische Dienste
getreten? Was hatte ihn an die Ufer der Saone
geführt? W^ir wissen es nicht. Lemaires Bio-
graphen nehmen allgemein an, er sei nicht lange
im Amte verblieben, er habe es dem Studium
' Lemaire erwühnt Gagruin häufig: als Schriftsteller und
Geschichtsschreiber, nie als seinen Lehrer, cf. Temple d'Hon-
ncur, Oeuvres IV, 231. Couronne margaritique, ibid. 6'J. Gaguin
starb löOl.
" Cf. Oeuvres II, 253. IV, 440. Schatzmeister war Jean
Robertet und nach ihm sein Sohn Fran(;ois.
— 6 -
zu Liebe aufgegeben und sei Erzieher der Söhne
des Herrn von Saint-Julien geworden aufSchloss
Balleure im Sprengel von Mäcon. In der That
nennt Claude von Saint-Julien, der Herausgeber
der Coiironne ntargaritiqiie , Lemaire seinen
lieben Lehrer: Dank seiner Anregung, sagt er,
habe er in jüngeren Jahren die wenigen Bücher
gesammelt, die er besitze, und unter denen er
später das noch nicht veröffentlichte Werk vor-
fand. Und sein Sohn Pierre, Dekan von Chälons
und Grossarchidiakonus von Mäcon, beruft sich
im 2. Buche vom Ursprung der Burgunder auf
einen alten Roman, den Lemaire angeblich auf
Schloss Balleure zurückgelassen haben soll, als
er dort Hauslehrer war '. Claude war aber 1544
ein alternder Mann, der das Kriegshandwerk
* Widmung der Couronne margaritique an Eleonore von
Oesterreich, datiert vom 23. April 1544 : «Venant doncques ä
ouvrir les enrouiil^es serrures du lieu auquel estoit confusement
ce peu de livres que j'avois assembl^s en mes jeunes ans, ä la
suasion d*i feu maistre Jean le Maire de Beiges mon bon pre-
cepteur : entre autres l'oeuvre present cheut en mes mains.»
Oeuvres IV, 11. — «J'ay trouvö l'opinion portee par le precedent
Chapitre en un vieil Roman, que Jean le Maire de Beiges (luv
estant precepteur de feuz Monsieur de Balleure mon pere, et
d'un sien frere mon oncle, lorsque tous deux estoient encore
jeunes enfans) avoit laissö en nostre maison : oü il seroit encores,
n'eust cst6 que le Rev"^^ et 111™*^ Charles Cardinal de Lorrayne
estant en son Abbaye de Clunj', et m'ayant oui parier de cette
antiquitß des Bourgongnons, me pria de lui communiqucr mon
Roman : ce que je fis de teile heurc que Jamals depuis ne Tay
sceu recouvrer.> P. de St-Julien, de TOrigine des Bourgongnons,
Paris 1581. p. 566. Es handelt sich darum,' dass die Burgunder
kein Germanenstamm sein sollen, sondern ihren Namen vom
Bourg Ogne haben, der ehemals im Val d'Ogne gestanden
hätte. Ich halte P. de St-Julien für den Erfinder dieser schönen
Etymologie und glaube nicht an jenen alten Roman.
- 7 -
mit einem litterarischen Stillleben vertauschen
musste, nachdem seine geistige Kraft mit der
Körperfrische sehr abgenommen hatte. Mithin,
scheint mir, könnte Lemaires Thätigkeit als
Erzieher auch vor das Jahr 1498 gefallen sein,
zwischen seinen Aufenthalt in Paris und seine
Anstellung beim Schatzamte in Villefranche.
Denn nichts deutet an, dass sein Verhältniss
zum Herzog von Bourbon vor dessen Tod unter-
brochen worden wäre'.
In Villefranche bekam Lemaire für seine
dichterische Thätigkeit eine bedeutende Auf-
munterung durch den Besuch des Meisters in
allen schwierigen Reimkünsten, Guillaume Cre-
tin, dem IVIolinet gleich nach Octovien de Saint-
Gelais den Preis unter den Dichtern Frankreichs
zuerkennt. Cretin, Schatzmeister der heiligen
Kapelle zu Vincennes und ordentlicher Kaplan
des Königs, stand — etwa um jene Zeit — mit
Molinet in poetischem Briefverkehr; er besuchte
auf einer zufälligen Durchreise dessen jungen
Vervvanten und redete dem Fünfundzwanzig-
jährigen zu, die Feder zu ergreifen und sich
der schönen Kunst der Rhetorik zu widmen '■'.
' Lemaire sagt in der Vorrede des Temple d'Honneur,
Oeuvres IV, 191 : «lesquelles louenges je jadis frequentant sa
maison et ses pays ouyz mettre en avant aux pastoureaux».
Wie der Verfolg des Gedichtes zeigt, meint er damit den Monat
Mai des Todesjahres des Herzogs, 1503.
' Widmung des 3. Buches der lilustraiions au Cretin: «je
le fais present de la lecture de ce troisieme livre . . comme Ä
ccluv . ., qui as estö la cause premiere, que je me suis enhardy
— 8 —
Wahrscheinlich hatte Lemaire diese zufällige
Anregung nicht erst abgewartet, um sich im
Reimen und Abmessen der Verse zu üben; die
Versuchung lag für einen gut beanlagten Ver-
wanten und Zögling Molinets zu nah. Eine neuer-
dings erst an das Licht gezogene Handschrift
gewährt uns einen Einblick in Lemaires geistige
Beschäftigung in jener Zeit:
Ce petit livret sotrifnaire
De la main niaistre Regnault,
Appartient a Jehan le maire
Nö du pa'is de Hainault.
De riches niots et grant sens
Chascun voit quil n'est pas vuid:
Escrit Vau inil qiiatre cens
Qiiatre vingts et dix huit.
So lautet die Aufschrift '. Darauf folgt ein Ge-
dicht über die Flüchtigkeit des Lebens:
et entremesie de mettre la main ä cscrire en ccste nostre languc
Fratifoise et Gallicanc. Car (si bien il souvient ä ta debonnairet(5)
passant par ville Franche en Beaujolois, tu me donnas encou-
ragemenl de mettre la main ä la plume, et de clerc de finances,
que j'estoye pour lors, en l'aage de vingt et cinq ans au service
du Roy, et de monseigneur le hon Duo, Pierre de Bourbon, je
devins soudain enclin ä l'art oratoire, au moyen de la tienne
persuasion (ce que je creuz de leger h cause de l'estimation que
j'avoye de ta doctrine et vertu . . .)»• Oeuvres II, 255. — Der
Briefwechsel zwischen Molinet und Cretin (Po^sies de G. Cr6tin,
Paris 1723, p. '_'()7) ist vor S. Gelais Tod (1502) geschrieben. Cretin
war noch jung und hatte noch nicht viel geleistet. Genau be-
trachtet ist eher Cretin ein Schüler Lemaires zu nennen als
umgekehrt.
' Bibliothöque nationale, nouv. acquisit. fr. 4061. — 76 Per-
gamentblatter kl. 4'. Die Hs. enthält einige französische Verse
von Chastellain, Molinet und Lemaire, lateinische Citate, das
Notre caige est hrief ainsi comme des ßeurs
Dont les couleiirs relitisent peu d'espasse,
Le temps est court et tout remplis de pleurs
Et de douleurs, qiii tout voit et cotnpasse.
Joye se passe, on s'csbat, on solasse
Et eut relasse tin peu de intel begnin
Avec l'anier du monde et le venin.
'Und weil Alles verwelkt, so geben wir die
weltlichen Vergnügungen aut und pflanzen in
unserem Herzen nur drei Blumen, drei pensees,
Symbole der Hoffnung, des Glaubens und der
Liebe.' Man sieht am künstlichen Bau der Strophe
und der weitausgesponnenen moralischen Deu-
tung, dass der jugendliche Dichter formell unter
dem Banne seines Lehrmeisters Molinet und
dessen Vorgänger steht; aber diesen poetischen
Erstling zeichnet bereits ein eigener lyrischer
Schwung aus, in dem wir eine persönliche An-
lage unseres Dichters und eine schöne Verheis-
sung für die Zukunft begrüssen^ Noch deut-
licher trägt ein anderes Gedicht das Gepräge
der Rhetorikerschulen : es ist ein Mariengebet,
durch das sich wie ein roter Faden, senkrecht
Hohelied und eine kurze sclbsbiofrraphische Aufzeichnung. Cf.
Anhang I. — Maistre Rcgnault ist wohl der Verfertiger des
Pergamentheftes. — Obige Achtzeile, wenn sie von Lemaire
ist, enihUlt die einzigen Siebensilber, die er geschrieben hat,
der letzte Vers hat nur sechs Silben. Die Reime sind einfach
gekreuzt.
» Oeuvres IV, 335. Es sind 10 siebenzeilige Zchnsilber-
strophen: a(a)ba(a)b(b)b(b)cc. Der Reim wechselt von Strophe
zu Strophe ohne Beachtung des Geschlechts.
- 10 -
herunter, kreuzweise, in symmetrischen Zick-
zacklinien die Silben des Salve regina ziehen ^ ;
der Inhalt des Gedichts hat unter der Schwierig-
keit der Form sehr gelitten ; es atmet im übrigen
zarteä Gefühl und kindliche Frömmigkeit. Le-
maire bittet die Jungfrau um die Gnade, dass
sein bischen Wissen ihr zu Lob und Ruhm ge-
reiche.
Je ne quiers pas par £?spess^ d'envie
Oh par orgiieü qiii corronipt nostre vie
Surpasser tous en science abstrsictive,
Mais seulleinent coinnte ysope ou ^aAvie
Vous rendre oudeur en ceste vie actire.
Das ist die Bitte, mit der Lemaire seiner lang-
jährigen Schriftstellerlaufbahn entgegengeht;
bescheiden verzichtet er auf den Stolz höheren
Wissens und will sich fromm ergeben den
Pflichten des thätigen Lebens fügen-'.
Neben diesen französischen Versen enthält
die Handschrift auch lateinische, welche Lemaire
' Das Salve regiua steht in jedem Handbuch der Liturgik ;
in der dritten Strophe sind die Worte: ad te clatnamus exules
/ilii Eve, von rechts nach links zu lesen.
2 Oeuvres IV, 326. Das Gedicht steht in der Handschrift
hinter einem Serventots von Jean Molinet, der an den Prince
du Puy gerichtet ist. Daraus dürfen wir nicht gleich den Schluss
ziehen, dass auch Lemaircs Oyaison in Valcnciennes verfasst
und den Preisrichtern des Puy vorgelegt worden ist. — Es zählt
das Gedicht 10 Strophen und Envoi in zehnsilbigen Versen; die
Zahl der Verse ist ungleich: Str. 1— ö sind elfzeilig, 1. 2. 5. 6 —
aabaabccdcd, 3. 4 = abaabccdccd. Str. 7. 8 sind zwölfzeilig:
aabaabccdccd. Str. 9. 10 vierzehnzeilig: aabaaabccdcccd; der
Schluss ist fünfzeilig: aabab. Der Reim ist vorwiegend weiblich.
- 11 —
aus Ovid, Virgil, Seneca und der Parthenice des
Johannes Baptista Mantuanus ausgelesen hat.
Fast will es scheinen, als ob die Neigung des
Jünglings zuerst zwischen französischer und
lateinischer Poesie geschwankt hätte und wir
es dem Besuche Cretins verdankten, dass er
sich entschlossen der Pflege der französischen
Dichtkunst zuwendete *.
Andauernde Anregung musste der junge
Finanzbeamte in seiner neuen Heimat durch die
unmittelbare Nähe von Lyon erhalten, das nur
fünf Stunden von Villefranche entfernt ist. Um
die Wende des 15. Jahrhunderts nahm Lyon
einen Anlauf, als wollte es zum geistigen Mittel-
punkt Frankreichs w'erden. Hier machte sich
zuerst der Einfluss des humanistischen Italiens
geltend: Lyon vermittelte den Verkehr mit den
italienischen Städten; eine ansehnliche italieni-
sche Colonie,politische Flüchtlinge und Geschäfts-
leute hatten sich im Verlauf des Jahrhunderts
hier angesiedelt und lehrten durch ihr Beispiel,
wie sich Handel und Gewerbthätigkeit mit Adel
der Geburt, Feinheit der Sitten, litterarischer
und künstlerischer Bildung vereinen lassen ^ Die
Buchdruckerkunst fand frühzeitig eine Pflanz-
' Cf. p. 7. Anm. 2. — Von Lemaire selbst sind vielleicht
zwei Gebete an die Jungfrau. Das ganze Heft legt Zeugniss ab
von seiner Frömmigkeit und seiner Verehrung für die Gnaden-
mutter, und bekundet zugleich sein dichterisches Trachten und
eine gewisse zärtliche GemUtsanlagc, die sich in der Auswahl
der weichen, einschmeichelnden Dichterstellen offenbart.
^ Cf. Christie, Etienne Dolet.
12
Stätte in Lyon und erreichte bald eine bewun-
dernswerte Vollkommenheit. Es blühten Kunst
und Wissenschaft. Und vollends seitdem die
italienischen Feldzüge den König und den Hof
zu wiederholtem und längerem Aufenthalt in der
Rhonestadt nötigten und immer wieder Anlass
zu feierlichen Einzügen und grossartigen Fest-
lichkeiten gaben, strömte die Blüte des fran-
zösischen Adels, strömten Fremde, Vertreter
auswärtiger Mächte, Gelehrte, Künstler zusam-
men, und Mancher Hess sich durch die Reize
der Stadt und die Anmut ihrer Frauen längere
Zeit fesseln.
Durch die Einflüsse, welche die Nähe der
Grossstadt, das dort herrschende intellektuelle
Leben und vor allem der Kulturaustausch mit
Italien ausübten, scheint die geistige Entwicke-
lung Lemaires erst ihre endgültige Bestimmung
erhalten zu haben; jetzt erst verspürte er den
vollen Hauch der Renaissance, und welche tief-
gehende und nachhaltige Eindrücke er davon
empfangen hat, das spricht aus allen seinen
Werken. Wer weiss, ob er ohne die Verpflanzung
in das Flussgebiet der Rhone zum ersten huma-
nistischen Dichter Frankreichs, zum Vorläufer der
neuen Dichterschule geworden wäre? Von beson-
derem Wert für den jungen Hennegauer war
es aber, dass er in Lyon Freunde fand, die sei-
nen Bestrebungen teilnehmend entgegenkamen,
und ihn durch Anerkennung und Beifall zu
- 13 -
zuversichtlichem Schaffen anfeuerten. Honos '-
alit artes, omnesque incenduntur ad studia glo-
ria : dieser Satz Ciceros ist der Lieblingsspruch
unseres Dichters geworden.
Zu den ältesten Bekannten Lemaires gehört
der Maler Jean Perreal, dessen Lebensgeschichte
eng mit der seinen verflochten ist K Perreal oder '
Jean de Paris, wie er häufig genannt wird,
muss mindestens zehn Jahre älter gewesen sein
als Lemaire; seit 1483 leitet er im Auftrage
der Stadt Lyon die Anordnung zu den vorkom-
menden Empfangsfeierlichkeiten. Zur Zeit, wo
Lemaire seine Bekanntschaft gemacht haben
kann, war er königlicher Kammerdiener und
Hofmaler, und hatte Familie. Rührigkeit, Unter-
nehmungslust, Lebensfreude und Selbstbewusst-
sein sprechen aus den Briefen, die uns von ihm
erhalten sind. Als Maler muss er sich durch
Kunstfertigkeit und Erfindungsgabe ausgezeich-
net haben; wie es scheint, beschränkte er sich
keineswegs auf ein bestimmtes Feld der Thätig-
keit; zu allem war er zu brauchen, überall
war er mit neuen Einfällen zur Hand; ich glaube,
eine gewisse Freude am Kabalieren und ein
> Das Leben des Hofmalers Jean Perreal ist Gegenstand
wiederholter Darstellung geworden, bedarf aber noch immer
der kritischen Sichtung. Ich habe benutzt: Charvet, Biographie
d'architcctcs, Jean Perreal, etc. Lyon 1874. Bancel, J. Perreal,
Paris 1885, stark phantastisch, aber bequem zugangliches Material
bietend. AusscrdemJ.Baux, Histoirede l'^glisedeBrou, Lyonl854.
Unzugänglich waren mir Dufay, Essai biographique surj. Per-
real, 1864. Renouvier, J. de Paris 1861.
- 14 —
bestimmter Grad von Rücksichtslosigkeit fehlten
ihm auch nicht. Seine Beziehungen bei Hofe
machten ihn zu einer angesehenen Persönlich-
keit, deren Bekanntschaft gesucht und gepflegt
wurde.
Das smd die einzigen einigermassen sicheren
Angaben, die wir über Lemaires Jugendjahre
machen können. Im übrigen wissen wir nicht,
welche Beschäftigungen, welche poetische Ver-
suche, welche ernstere Studien die ersten Jahre
seines Aufenthaltes im südlichen Frankreich aus-
füllten, bis ihm der Gedanke zu jenem grossen
Werke aufging, an das sich sein Schriftsteller-
ruhm knüpfen sollte.
Im Jahre 1500, in jener glücklichen, blühen-
den Zeit der Herrschaft Maximilians, wo die
Wissenschaft in höherem Glänze strahlte denn
je — es war das 27. Lebensjahr unseres Dichters
— forderte Merkur ihn auf, die hohen Thaten
der Troer und die Ankunft der Herrscherge-
schlechter Europas, die kein französischer Schrift-
steller bis dahin ohne Irrtümer erzählt hatte, in
ihrer reinen Wahrheit herzustellen. Denn es
schien dem Gotte bedauerlich, dass alle moder-
nen Malereien und Stickereien, wie kostbar auch
die Stoffe sein mochten, wenn sie nach jenen
verfälschten Geschichten angefertigt wurden, in
den Augen der Gelehrten und Kenner viel von
ihrem Wert und Preis einbüssten K Sofort fand sich
^ Illustrations de Gaule, prologue. Oeuvres I, 4.
- 15 -
Lemaire zu diesem grossen Werke bereit. Es han-
delte sich um eine recht umfassende Arbeit, und er
ging mit dem Ernste eines wirklichen Geschichts-
schreibers daran. Bevor er aber seine Quellen-
werke alle zusammengetragen und verarbeitet
hatte, bevor auch nur der erste Band seiner
Herrlichkeiten Galliens und Sonderheiten Trojas
in Druck gehen konnte, sollte er im äusseren
Leben manchen Wechsel erfahren*.
II.
Am 10. Oktober 1503 wurde Herzog Peter von
Bourbon, der zweite des Namens, im 64. Lebens-
jahre zu Clun}' durch ein schweres Fieber weg-
gerafft. In ihm erlosch der Mannesstamm der
ersten Linie des königlichen Hauses Bourbon,
der seit dem Tode seines älteren Bruders (1488)
auf ihm beruhte. Er war der einzige Prinz von
Geblüt gewesen, den der argwöhnische Ludwig
der XI. bis zuletzt liebte und um sich behielt,
weil er in ihm eine ruhige, gutmütige und willige
Natur ohne Trug und Falsch erkannt hatte;
darum gab er ihm auch seine ältere Tochter
Anna zur Frau und empfahl ihm, als er starb,
seinen vierzehnjährigen Sohn Karl den VIII. an.
Anna von Frankreich war eine begabte Frau;
sie hatte den energischen Sinn ihres Vaters und
seine hohe politische Fähigkeit geerbt ; durch die
Umsicht und Thatkraft, mit der sie während der
' Siehe Anhang II.
16
Jugendjahre ihres Bruders das Reich verwaltete
und die Politik Ludwigs des XL fortführte, hat
sie einen ehrenvollen Namen in der Geschichte
erworben. Als Lemaire in die Dienste des Herzogs
trat, hatte dieser sich bereits vom Staatsleben
zurückgezogen. Bei seinem Regierungsantritt
hatte Ludwig der XII. das herzogliche Paar mit
Hintansetzung aller früheren Zwistigkeiten auf
das freundlichste an sich gezogen und ihm die
Erblichkeit seiner ausgedehnten Besitzungen,
welche die Herzogtümer Bourbonnais und
Auvergne, die Grafschaften Clermont-en-Beau-
vaisis, Forez, Gien, la Marche, die Herrschaften
Beaujolais u. s. w. umfassten, auch in weiblicher
Linie zugesichert; auf ihre Verwaltung hatte
Peter von Bourbon seine letzten Lebensjahre
verwendet.
Wenn Jean Lemaire im Jahre 1503 noch im
Dienste des Herzogs stand, wie ich glaube, so
musste er es als Pflicht empfinden, das Trauer-
ereigniss, das die Familie traf, als Dichter zu
beklagen und zu verewigen. So war die Gepflo-
genheit aller in persönlichem Verhältnisse ste-
henden Schriftsteller; so hatte Jean Molinet,
sein Lehrer und Verwanter, den Tod des Her-
zogs Philipp des Guten von Burgund (1467) mit
dem Throsne d'honneur , den seines Sohnes
(1477) mit dem Trespas du Duc Charles, sur-
nommä le Hardi ou le Tenieraire , feierlich
begangen, indem er in der Art Alain Chartiers
- 17 -
Verse mit Prosa zu einem allegorischen Gedichte
vereinigte.
Lemaire — und* auch darin folgt er dem
Beispiel Molinets — lügt zu deni allegori-
schen Element noch ein bukolisches : April
entweicht, der liebliche Mai herrscht in den
Landen; Tityrus ruft die Schäfer Amyntas,
Mopsus, Argus, Meliböus und die Schäfermäd-
chen Aegle und Galathea, welche die Stamm-
lande des Herzogs und der Herzogin von Bour-
bon vorstellen, zusammen und stimmt mit ihnen
abwechselnd einen Gesang an, in dem sie die
Reize des Frühlings, die Sicherheit ihres Daseins
in Pans Garten, das Wohlwollen und die Mild-
ihätigkeit ihrer Herrschaft preisen; die Götter
des Feldes und des Waldes werden zu ihren
Spielen herbeigerufen, auch der gelehrten Sänger
bei den oberen Göttern wird gedacht. Dazwischen
klingt die Klage um den hellen Titan, der einst
diesen Weltteil erleuchtete und Auroras Bruder
war, und tröstend weisen die Schäfer auf seine
himmlische Glückseligkeit hin\ Wiederum besingt
einer das eheliche Glück Pans und Auroras und
die liebliche Blume, die verheissungsvoU ihnen
spriesst*. Und mit Segnungen schliesst der Hirten
Gesang.
> Karl der VIII. von Frankreich war am 7. April 1497
pestorben.
^ Susanna von Bourbon war 1491 geboren; 1505 vermählte
sie sich mit Karl von Bourbon -Montpensier, dem bekannten
Konnetabel; sie starb 1521.
Becker, Jean Lemaire. 2
- 18 -
Aber während sie sich in Spiel und Lied
ergehen, sinnen Mars und Neptun Unheil und
verschwören sich gegen Sol und Jupiter ; vier-
zehn Tage, bevor ihre geplante Vereinigung
stattfindet, ist der ganze Himmel trüb und ver-
hängt, die Winde heulen, die ganze Natur ist
in Aufruhr. „Gott, seufzt Tityrus, was sollen
diese schlimmen Wahrzeichen bedeuten? Wir
haben Sterne fallen sehen, Planeten schimmern,
Eulen herumfliegen; die ganze Nacht haben die
Hunde geheult und die Stiere gebrüllt, die
Raben haben Unheil geächzt, die Hähne ausser
der Zeit geschrien. Di«^ Wölfe, die unsere Hür-
den bedrohen, werden so frech, dass wir sie
nächstens von uns selbst nicht abwehren können."
Während die Hirten so jammern und beten und
schlimmes befürchten, verlässt die Sonne die
Wage und tritt in das Zeichen des Skorpions
(Oktober). Aurora erschien ganz blass an jenem
Tage, ein schwarzer, verderbenschwangerer
Nebel wälzt sich von Norden heran; Meliböus,
der scharfe Wacht hält, ruft mit schriller Stimme
die übrigen Hirten herbei, sie eilen und beten
in ihrem Herzen, Gott möge Pan beschützen:
es war zu spät, die Schatten des Todes haben
den guten Herzog umfangen, es bleibt Aurora
und den Hirten nichts übrig als zu klagen und
den Verewigten seiner letzten Ruhestätte anzu-
befehlen. Gross ist der Jammer und die Klage,
die ganze Natur nimmt daran Teil, bis zuletzt
— 19 —
Aurora, vor Leid und Trauer erschöpft, auf ihr
Lager sinkt und entschlummert.
Da scheint es ihr, als riefe eine Stimme und
fordere sie auf zu kommen und die Verklärung
des Gatten zu schauen. Sofort sieht sie sich mit
ihrer Tochter und den Hirten auf die Kuppe
eines hohen Berges versetzt, der mit blühendem
Gesträuch und duftenden Kräutern bewachsen
ist. Inmitten der weiten Fläche erhebt sich in
reichem Schmucke ein antiker Tempel. In der
Vorhalle stehen sechs neuerrichtete Standbilder,
welche sich in sechs Sprüchen als Prudence,
Justice, Esperance, Raison, Religion, Equite zu
erkennen geben, sechs Tugenden, deren Initialen
den Namen des Herzogs bilden. Während Aurora
sich in Ehrfurcht verbeugt, erscheint ein Jüng-
ling, geflügelt wie Merkur; auf dem Saume
seines Kleides steht gestickt : Entendement, Bei-
stand und Wächter der Tugenden : „W^eine nicht,
spricht er zur Fürstin, über den Hingang deines
Gatten; denn die sind nicht zu beweinen, deren
edle Thaten im Angedenken der Menschen fort-
leben. Denke vielmehr daran, ihm ein Denkmal
zu setzen, das sein Gedächtniss auf ewig ehrt,
und als dessen Muster ich dir diesen Tempel
zeigen will. Dieser Tempel hier ist zwei gött-
lichen Wesenheiten geweiht: der Ehre und der
Tugend; er ist unvergänglich. In der Vorhalle
siehst du die Bilder der Eigenschaften, die den
Verstorbenen hierher geführt haben; nicht die
— 20 -
einzigen, die ihn zierten, denn die Tugenden
sind von einander untrennbar." — Und nun
beschreibt Entendement, wie der Selige beim
Eintritt in den Tempel von seinen nächsten Ver-
wanten empfangen und darin von seinen Ahnen
bis zu Ludwig dem Heiligen begrüsst wurde,
wie ihn ein reicher Sessel zu den Füssen der
Ehre und der Tugend erwartete, wie ein Wett-
streit begann zwischen den hervorragendsten
Fürsten und den berühmtesten Rednern, Ge-
schichtsschreibern und Dichtern alter und neuer
Zeit über die Eigenschaften des neu Angekom-
menen \ und wie ihm schliesslich die Beinamen
des Guten, Glücklichen und Friedfertigen zuer-
kannt wurden, glücklich besonders im Hinblick
auf seine keusche Gemahlin.
Schliesslich lässt Entendement Aurora und
ihre Tochter in das Innere des Tempels ein;
die Hirten, die nicht folgen dürfen, ritzen mit
ihren Messern einfache Grabsprüche in die
Mauern des Tempels. Unterdessen geht Enten-
dement hin zu den königlichen und fürstlichen
Verwanten des Herzogs von Bourbon, um auch
sie zu trösten, und nachdem er dies vollbracht,
* Die Schriftsteller, welche Lemaire im Tempel lindet, sind
zunächst die Alten: Josephus, Titus Livius, Cicero, Herodot,
Homer, Virgil, Seneca, Sueton, Valerius, Plinius, Orosius, Justinus,
und dazu Vincentius von Beauvais (l'hystorial) ; dann die Italiener :
Dante, Petrarca, Bocacio, schliesslich die Franzosen: Froissart,
Allain Charretier, Symon Greban. George Chastelain, Meschinot,
Martin Franc, Jehan Robcrtet, Gaguin, Messire Octovien de
Saint-Gelais, der zuletzt verstorbene.
- 21 -
setzt er sich auf die Ruinen des Augustustempels
bei Lyon, wo er von der Höhe die Länder des
Verstorbenen überschaut, und fordert in einem
Gedichte die jüngeren Milnner, Angouleme usw.,
auf, ihm in seinen Tugenden nachzustreben.
Dies ist der Temple d'Honneiir et de Vertu *,
ein Werk, das beweist, wie Abb6 Sallier sagt,
dass Jean Lemaire gar nicht ungeschickt war
im Entwurf seiner Pläne und in der Anordnung
der einzelnen Teile seines Stoffes.
Im ersten Teil, bei den Gesängen der Hir-
ten, ist es ihm das eine und andere Mal gelungen,
einen recht anmutigen Ton anzuschlagen und
zu treffen; man darf z. B. das ganze zweite
Liedchen anführen, welches er der Schäferin
Galathea in den Mund legt:
Galathee, ber giere belle,
Cy endroit Auvergne s'appelle.
Arbres feuilhts, revestus de verdure,
Qtiant l'yver diire, on vous voit desolez
Mais inaintenant aucun de vous n'endure
Nulle laidure, ains vous donne nature
Riche paincture et flourons ä tous les,
Ne vous bninlcs, ne trenibles, ne crousles,
Soyes mesles de j'oye et flourissance :
Zephyre est sus donnant aux fleurs yssance.
Gefites bergerettes
Parlant d^amourettes
' Oeuvres IV, 183—242.
- 22 -
Dessouhs les coitdrettes
Jeimes et tendrettes
Cueillent fleiirs jolies,
Framboises, meurettes,
Pommes et poirettes,
Rondes et durettes,
Flourons et ßourettes
Sans melancolies.
Sur les preaux de cynople avestus
Et d'oY batus autour des entellettes,
De sept Couleurs selon les sept vertus
Serons vestus. Et de joncs non tortus
Droicts et poinctus ferons sept corbillettes :
Violettes, ou nombre des planetes,
Fort honnestes mettrons en rondelet
Pour faire ä Pan ung joly chappelet.
La viendront driades
Et amadriades,
Faisans soubs feuillades
Rys et resveillades
Avec autres fees.
La feront naiades
Et les oreades
Dessus les herbades
Aubades, gambades.
De joye eschauffees.
Quant Aurora la princesse des fleurs
Rend les couleurs aux boutonceaux barbus,
- 23 -
La iiiiit i^'cnfuyt avecqiies ses donleurs:
Ai'nsi fönt pleurs, tristesses et malhetirs.
Et sont valctirs cn viguetir sans abus.
Les rays Phebtis rcdoublent les tributs
Des Pres herbus et des nobles vergiers
Qiti sont ä Patt et ä ses bons bergiers.
Choiiettes s'ennnyent,
Cotilenvres s'estnycnt,
Crtiels lotips s'enftdent,
Pastoureaux les hnyent
Et Pari les poursuit.
Les oiseletz brnyetit,
Les cerfs aux boys ruyent,
Les champs s'enjolyetit,
Tons Clemens ryent
Quant Aurora luyt.
Natürlich kommt es bei Liedern dieser Art
weniger auf den Inhalt als auf den Schwung
und den Klang der Verse an; hier feiert die
Reim- und Sprachgewantheit des Dichters ihre
Triumphe. Ja, Lemaire freut sich nicht bloss,
die Schwierigkeit der gehäuften End- und Bin-
nenreime wie spielend zu überwinden, er ver-
schmäht auch die abgeschmacktesten Spielereien
seiner Lehrmeister nicht; wie muss sich Meli-
böus abgeplagt haben, bis er folgende Strophe
herausbrachte ?
Pinsieurs bergiers sont e/t lacs tnortels telz
Heurtes, boutes: que poti letir dediiit diiyt.
- 24
Et leiirs nwutons en maiix fortitnes nes,
Venes, vanes, de fers mal pares res,
Leurs bleds emhles, ayans sauf conduit vuyd,
La nuit leiir nuit, la mort qiii destruit mit,
Leur fruit s'en fuit venant aperte perte:
Mais Pan nous tient en asseurance experte.
Freier bewegt sich Lemaire in dem folgen-
den Teile, wo er einen mehr erzählenden Ton
anschlägt. Mit feinem Gefühl hat er sich eine
der gefügigsten metrischen Formen zu eigen
gemacht, die sich dem Ausdruck der ver-
schiedensten Stimmungen anpassen lässt. Es ist
nemlich das erste Mal, dass ein französischer
Dichter den Italienern die Terzinen entlehnt, und
gleich in seinem ersten Werke beglückwünschen
wir den jungen Hennegauer als geschickten
Neuerer. Ich greife, um ein Beispiel anzuführen,
die Klagen des Tityrus heraus:
O Dien du ciel, qiii ce inonde regentes^
Qiie vont ensemble ainsi coinmurtnurant
Les elemens et les pianettes gentes?
Tont l'univers semble estre conspirant
Mesmes en soy. Le ciel a briin visaige,
Qui or estoit ses beautes coulourant.
S'il est bergier qui par chanipestre usaige,
Ait cognoissance auciine au v faicts Celestes
Je tiens cecy pour ung dolent presaige.
— 25 —
Pastciirs auront attaintes et molestcs
Par quclquc gyicve outraigcuse Uißiiencc,
Et si perdront leiirs j'oycs et Icurs festes.
O Dien puissant, ta hantaiue afflnence
Y peilt donner obstacle et contredit:
Mais je crairis fort la tatit triste apparence.
Le ciieur ine bat, et riens hon ne me dit:
J'ay souspeQons d'aucun mauvais portentes
N'ouc ä nies yeiix tant d'eaue ne sourdit.
Nous avons veu en l'air ßanihes patentes,
Estoilles choir, pianettes scintiller
Ell deinonstrant les grans ires latentes.
Nous avons veu les chats huants voler
Autour des pures, les chiens assavagir
Et toute nuit bien fort braire et urler.
Aussi avons oui torcaux mugir
Piteusement , les coqz chanter outre Jieiire,
Corbeaux crier et toul mal presagir.
Et qui pis vault veu avons la demeure
Du noble Pan en ceste annee acerbe,
Ardoir en feu qui tout riffle et deveure '.
Ha que je crains qu'ung grief serpent soubs
l'herbe
Mussä ne soit, poiir nous tnordre en aguet.
Et nos plaisirs tourner en dur proverbe.
' Im Verlauf des Jahres war das Hostel Bourbon in Paris
abgebrannt, wie Lemaire in der Vorrede erzählt. Oeuvres IV, 190.
- 26 -
Je voy ä l'oeil qu'on ne pent faire guet
Si deligent contre les loups mandits
Que nos moutons n'empoignent au gorguet.
Depuis ung peu, ces faiix loups que je dis,
Sont si priv^s que tous nos bons mastins
Ont estrangles en parcB et en taudits.
Et si plus guiere en durent les hutins
A douter fait que nous niesme Hb
n'assaillent
Cormne rabis et faniilleux luitins
De tous costes monstres de terre saillent
Si tres hideux que cheveux m'en herissent.
Et ä mon cueur frayeur et crainte baillent.
Der letzte Teil des Werkes ist ein geschick-
ter, aber nicht mehr neuer Kunstgriff, um alle
hohen Verwanten, lebende und tote, und die
Reihe der Ahnen um den Sarg des Verewigten
zu vereinen, und um sein Lob auszusprechen.
Dieser Abschnitt mochte für die Zeitgenossen
der wichtigste sein, auf ihn spitzt das Ganze
sich zu ; litterarisch ist er notwendigerweise der
unbedeutendste. Der Leser weiss ebensowenig
wie die handelnden Personen, ob er vor einer
plastischen Erscheinung steht, oder ob er es
mit einem Spiele des allegorisierenden Ver-
standes zu thun hat. Trug der Dichter künst-
lerische Absichten in sich, so werden sie gelähmt
durch die phantasielose,vernunf tgemässe Sprache,
■welche die pedantisch deduktive Verfahrungs-
weise noch nicht verlernt hat und sich nur
künstlich zu rhetorischem Pathos aufbauscht.
Eines wollen wir aber zum Lobe des Dichters
hervorheben: er hat es verstanden, dem ganzen
Werke einen unpersönlichen Charakter zu ver-
leihen ; er als Verfasser tritt in den Hintergrund ;
wir wohnen dem Spiele und Gesang der Hirten
bei, wir nehmen Teil an ihren Sorgen und an
ihrer Trauer, wir folgen der Herzogin und der
Schaar ihrer treuen Begleiter zum erhabenen
Tempel; überall ist der Dichter bestrebt, anschau-
lich und objektiv zu sein. Wir dürfen daher
unser Urteil über den Temple d'Honneur et de
Vertu in dem einen Worte zusammenfassen,
das Lemaire zu seiner Devise gewählt hat, und
dem wir hier zum ersten Male begegnen: De peu
asscs. Der Dichter hat es verstanden, ein abge-
nutztes Thema originell und frisch zu behandeln *.
* Die 7 Chansons der Hirten wiederholen siebenmal die
gleiche Form: zwei Achtsilber nennen den betreffenden Hirten
und das Land, das er vorstellt. Dann wechseln drei achtzeilige
Zehnsilberstrophen: a(a)ba(a)a(a)b(b)b(b)cc mit ebensoviel zchn-
zeiligcn Fünfsilberstrophen aaaabaaaab. Es folgen tvrsc rhne,
was eigentümlicherweise nicht einmal der Herausgeber gemerkt
hat: es sind 247 Zehnsilber in 82 GesUtzen mit ein<>m Schlussvers.
Der letzte Teil ist Prosa. Eingestreut sind: Ein Rondeau der
Stimme: Au bruyt — Zehnsilber: abbaab-abba-. — Sechs
Spruchstrophen der Tugenden; Zehnsilber mit weiblichem Reim,
die ungeraden zwölfzeilig: aabaabccbccb, die geraden achtzeilig:
ababahab. — Eine Doppelbalade Entendements: sechs durch-
gereimte Achtsilberstrophen, die geraden: ababccbcb, die un-
geraden: bdbddada mit doppeltem Refrain (a, b), ohne Envoi. —
Zum Schluss zwei achtzeilige Achtsilberstrophen des Verfassers:
ababbcbc.
28
Wenige Wochen hatten Lemaire genügt,
um sein Werk zu vollenden : zur Widmung hatte
er sich auf Perreals Rat einen Verwanten des
Hauses ßourbon ausersehen, Ludwig von Luxem-
burg, Grafen von Ligny, der selbst schwer
daniederlag. Der neue Beschützer sollte die
Klage der verwittweten Herzogin vorlegen und
ihr den Dichter empfehlen; Ligny starb aber
am 31. Dezember des gleichen Jahres (1503), und
Lemaire musste sich entschliessen, das Werk,
das er mittlerweile in Druck gegeben hatte,
selbst der hohen Frau zuzueignen \ Um sich in
die Gunst des Lesers einzuschmeicheln, hatte
er sich von Guillaume Cretin ein empfehlendes
Gedicht schreiben lassen. Mit diesen Zuthaten
erschien der Temple d'Honneur in den ersten
Monaten des Jahres 1504.
III.
Die Widmung des Temple d'Honneur et de
Vertu an den Grafen von Ligny war nicht ohne
Erfolg gewesen. Als Lemaire ihm das Werkchen
nur wenige Tage vor seinem Tode in L3'on über-
' Als Probe der Geschmacklosigkeit, zu der sich die Dichter
iener Zeit hinreissen Hessen, um nicht zu sagen Taktlosigkeit^
diene dieser eine Satz der Widmung: «Si sai ge bien qu'il disposoit
vous envoyer ce petit traict^ consolatoire: Affin que vous veissiez
vos cris dedans escriptz couleur de douleur plains de tous plaintz.
Et que voz soulaz qui sont laz et v.oz ris qui sont peritz prissent
quelque sourse: Affin que l'honneur de Bourbon bon resplendist
cn triumphant, triumphast en florissant et flourist en accroissant
par la diuturnit^ de tous siedes advenir». — CI. Marot hat sich
auch noch dergleichen gestattet.
- 29 -
reichte, nahm er es freundlich an und behielt
den Verfasser in seinem persönlichen Dienste
unter seinen vertrautesten Hausgenossen ; er wies
ihm auch aus eigenem Antrieb seinen Wohnort
mit dem entsprechenden Gehalt und dem Ver-
sprechen der ersten freiwerdenden Pfründe in
der Stadt Ligny an, indem er sagte, der Dichter
bedürfe der Ruhe, um besser arbeiten zu können,
der ewige Lärm bei Hofe sei ihm nur nach-
teilig'. Und nun war der Graf gestorben, und
Lemaire, der die Feder, mit der er dem Herzog
von Bourbon ein Totendenkmal gesetzt hatte»
noch in der Hand hielt, musste einen neuen
Verlust beklagend
Ludwig von Luxemburg, Graf von Ligny,
war einer der ausgezeichnetsten Männer seiner
Zeit durch Geburt, Schönheit, Tapferkeit und
Kunstsinn. Die Luxcmbourg-Ligny bildeten eine
jüngere Seitenlinie des Hauses Luxemburg, aus
dem mehrere Kaiser hervorgegangen sind, und
das eben im Hause Oesterreich aufgegangen
' «Lequcl (pctit ediffice) je luy presentay peu de jours avant
son trespas ä Lyon. Si le receut en grd . . . tellement quc a
ceste occasion . . nonobstant que j'en fussc indigne, il mc rctint
entre ses plus privez et sccretz domcstiques.» Widmung an Anna
von Bourbon. Oeuvres IV, 185. — «Fcu monseigneur de Ligny,
mon maistrc quc Dieu par sa grace absoille, de son propre
mouvemcnt avoil assign^ mon lieu avec estat competent et
promesse de la premicr prebende vacante, en sa ville de Ligny,
disant que Ic repos m'estoit necessaire pour miculx labourer
et le bruit continuel de court contraire.» Bittgesuch an Mar-
garcta 1509. Oeuvres IV, 392.
^ Oeuvres III, 186. Schluss der Plainte du Desirö.
— 30 —
war. Ludwig war der jüngste Sohn des Konne-
tabels von Saint-Pol, der lange Jahre ein eigenes
politisches Spiel zwischen Frankreich und Bur-
gund zu halten versucht hatte, und den Ludwig
der XL 1475 hinrichten Hess. Durch seine Mutter,
Maria von Savoyen, war er der Vetter Karls
des VIII., der ihm die Hand Eleonorens von
Guevara-de-Baux und die Titel eines Prinzen
von Altamura und Herzogs von Andria und
Venusa verschafifte. Bei den italienischen Feld-
zügen führte Ligny die kampflustige Schaar der
Edelleute, welche die Garde des Königs bildeten,
und zu denen auch Bayard gehörte; an ihrer
Spitze zeichnete er sich in der Schlacht bei
Fornovo (1495) aus, und bei der Einnahme von
Novarra (1500) gelang es ihm, Ludovico Moro
zum Gefangenen zu machen. Ludwig der XII.
ernannte ihn zu seinem Oberst-Kämmerer und
zum Gouverneur der Picardie. Einen Augenblick
schien sich das gute Verhältniss zum König
trüben zu sollen, doch nur vorübergehend \ Ligny
starb in Lyon in seinem sechsunddreissigsten
Lebensjahre nach längerem Siechtum.
' Lemaire spricht eindringlich von der Entfremdung des
Königs durch Lignys Neider; der Vorfall muss in Unteritalien
gespielt haben. '('!) fust destourb^ par un faux encombrage
du haut exploit de Naples se chevir, und doch verfolgte er nie
in seinem Leben eine andere Absicht, als dem König zu dienen.'
Oeuvres III, 180 sq. Vgl. Maulde de la Claviöre zu J. d'Auton,
Chroniques de Louis XII. Paris 1889. 1,7. — Thibaut hat auf
den gleichen Vorfall bezogen, was Lemaire ibid. 177 von Ludo-
vico Sforza sagt: mis en privee personne et despouille de son
pompeux arroj'.
- 31 -
Die Person und das Leben des Herrn von
Ligny boten einen ganz geeigneten Stofif zur
dichterischen Behandlung, namentlich für einen
begeisterten Bewunderer wie Lemaire ; die Dicht-
kunst war aber noch nicht so weit gereift, dass
sie ein solches Thema ohne Umschweif in Angriff
genommen hätte. Nicht der hochherzige Ritter,
der leutselige Fürst, der in seiner vollsten Kraft
gebrochene Mann wird uns vor Augen gehalten,
sondern die Natur, die an der Leiche trauert
und vor Jammer kein Wort finden kann.
Während die Sonne im Sternbilde des Krebses
weilte (d. i. im Dezember), wurde der Dichter
eines Tages durch die lauten Klagen einer
weinenden Schaar geweckt, — es war in Lyon — ;
da erblickte er Frau Natura naturata sprachlos
in unsäglichem Schmerze, neben ihr ihre ver-
trautesten Dienerinnen, Malerei und Rhetorik,
in Tränen zerflossen. Nach einander ergreifen
diese das Wort und fordern ihre Pfleglinge auf,
dem Schmerze der Natur mit Hülfe ihrer Kunst
Ausdruck zu verleihen. Das ist der einfache
Rahmen, in den Lemaire seine Klage um den
Vermtssten gefasst hat \
„Wer hätte dies traurige Schauspiel voraus-
sagen können, ruft die Malerei aus, oder mit
* La Platnte du Di'sirt', Oeuvres III, 157—187. Einleitung
Uebergang und Schluss sind kurz in Prosa gefasst. Die Rede
der Malerei bildet 31 achtzeilige Zehnsilberstrophen: abaabbcc
die Rede der Rhetorik 34 vierzchnzeiligc Zehnsilberstrophen
aabaaabYYt'YYY*'' °^''- ^Vahrung des Reimgeschlechts.
- 32 -
seiner Prophezeihung Glauben gefunden? Trost-
loses Leid hat uns betroffen und am alier-
schwersten die Mutter Natur. Seht, ihr edlen
weiblichen Herzen, wie sie sich härmt vor
Schmerz und Gram und vor Verdruss, dass sie
dem herben Verlust nicht bei Zeiten gewehrt hat:
Le laitrier verd, le cedre sotnpttieiix
Et le cypres souef, odorifere,
Le pin hautain, l'olivier fructueux,
Qui par un vent froid et impetiieux
Est ruä jus en inort soporifere.
Ha, fieve niort horrible et pestifere.
As-tiL osäj Sans respit, sans recoeuvre,
Faire tarir un si noble chef d'oeuvre?
Wo war Natur beschättigt, dass sie es übersehen
hat? Ich will ihr aber keine Vorwürfe machen;
Gott hat es gewollt, und ihr Leid ist so gross,
es lässt sich nicht mehr steigern. Helft mir,
Schwester Rhetorik, es gebührend auszudrücken.
Ich habe Pinsel und Farben und reiche Erfindungs-
gabe, Nichts fehlt mir.
Et si je n'ay Parrhase on Apelles,
Dont le notn bruit par tnemoires anciennes,
J'ay des esprits recents et nouvelets,
Plus ennoblis par leiirs beaux pincelets
Que Marmion jadis de Valenciennes,
Oll que Fouquet, qui tant eut gloires siennes,
Ne que Poyer, Roger, Hugues de Gand,
Ou Joannes qui tant fut elegant.
- 33 -
Brsognc.:; (foiic, mcs (liiiinms modci'ftcs,
Mes beaiix cftfaiis nonrns de ma nianiclle,
Toy Leonard, qiii as graces supernes,
Gentil Bellin, dont les los sont eternes,
Et Penisin, qui si hicn coiileiirs niesle:
Et toy, Jean Hay, ta noble main chomme eile?
Vten voir Natiire avec Jean de Paris
Potir luy donner ombrage et esperits '.
Nehmt aber nicht helle und fröhliche Farben,
reibt nur Farben des Leids, schwarze und blasse,
an. Seht, wie die Natur dasteht, die Brauen
traurig über die Augen gesenkt, regungslos,
die rechte Hand auf die Brust gelegt, die Lippen
entfärbt, den Blick auf den Toten geheftet : denn
ach ! ihr Liebling ist ihr genommen in der Blüte
der Jahre.
1 Unter den verstorbenen Meistern nennt Lemaire obenan
seinen Landsmann den Miniaturmaler Simon Marmion von
Valonciennes (t 1J89), dem er eine besondere Verehrung ge-
widmet hat ; offenbar kannte er ihn und seine Familie — Marie
Marmionne ist wohl seine Schwester ? — von seiner Kindheit
her. Es folgen Jean Fouquet, Hofmaler Karls des VII. und
Ludwigs des XL, und Jean Poyet, der 1479 die Miniaturen des
herrlichen Gebetbuches für Anna von Bretagne ausführte. Die
nächsten sind die bekannten HUupter der niederliindischen
Schule : Johannes van Eyck (f 1445). Regier van der Weyden
it 146^1) und Hugo van der Goes (f 148L'). Von den lebenden
Malern macht Lemaire in erster Linie die Italiener' Leonardo
da Vinci (f löl9). Gentile Bellini, der schon 1501 gestorben war,
aber sein Bruder Giovanni lebte noch, und Pietro Vannucci il
Pcrugino ( 1524) namhaft — ein neuer Beweis, wie nahe ihm
schon damals Italien stand. Jean de Paris ist uns schon hin-
länglich bekannt ; Jean Haj- scheint Jeannet zu sein, d. i. Jean
Clouet, der spätere Hofmaler Franz des I. Vgl. AI. Pinchart
Annotations zu Crowe et Cavalcaselle, Les peintres flamands
trad. p. O. Delcpierre, t. II, Bruxelles 1865. p, CCXX— LXVIII.
Becker, Jean Lemaire. 3
- 34 —
Fait l'avoit eile en ses diinensions
Grand ^ corpulent et de belle croisitre ;
TailU, poiirtrait sans imperfections ,
Fort et puissant en toiites actions,
Benin, affable et hardi par niesitrc,
Doitx et hnniain, sans fante, et sans brisiire:
Large , coiirtois , eloquent, prompt , et sage,
Ayant le coeiir de niesnie le corsage.
Fait et forma l'avoit Natur e, digne
D'estre iin grand Prince au mondain territoire:
De coeur hautain, d'accointance benigne.
Bei en habit, en armes fort insigne,
Aimant honneur et vertu meritoire,
Aimi de tous: c'est chose bien notoire,
Bien conseillant et mieux executant,
Gueres de gens n'ont eu de graces tant.
Geknickt ist nun die schönste Blume im Garten
der Natur, vernichtet die Zierde der Edelleute.
Peintres prudents, le defunt vous aimoit:
Mettes Nature aupres de luy dolente,
El le tires ainsi que s'il dormoit,
Ou se les yeux en veillant ilfermoit:
Car point n'est mort d'achoison violente,
Ains est secM par langueur longue et lente,
Qui ha niatt^ ses beaux niembres inassifs.
L'an de son aage environ trentesix.
Peignes Nature obscure, obnubilee
Aupres du corps, miserable, esperdue.
- 35 -
Coniiiii' inipossib/c ä estrc corisolce,
Conuiie Thiimar par forcc violec:
Comme Venus qui sa joyc ii pcrdiic,
Quand eile vid Ici per sonne estendite
De son niignon Adonis le trcs bei,
Oll comme Eva pleurant son fils Abel \
Pourtrayes la, si voiis scaves entendre,
Comme une tourbe ayattt adversit^:
Comme une gent qui se vent le ccenr fendre
Ponr qnelque grief qiii lest venu offendre,
Ainsi qii'on treuve en maint Heu reciti\
Pouyfyayez la cotnme la grand citd
J/icrusalem Machabce plaignant,
Ou Rotntne autour du corps Cesar saignant.
Doch nein, lasst ab von dem Beginnen, es ist
unmöglich, den richtigen Ausdruck zu finden,
meine Kunst reicht dazu nicht aus."
Verstärktes Schhichzen hatte die letzten
Worte der Malerei begleitet; die Natur verharrte
in ihrer betrübten Haltung, nur warf sie der Rhe-
torik einen stummen Blick zu, worauf diese ihrer
Schwester unter allgemeiner Aufmerksamkeit
der Umstehenden folgendermassen antwortete:
„Wenn dem so ist, liebe Schwester, dass du
das Leid der Natur nicht schildern und darstellen
kannst, wie soll ich es thun mit meinen beschei-
' Zwei Strophen vorher heisst es noch:
El qii'oii la fasse ainsi qtt'estoit jadis
Audrouiacha, qiiaiid d'iiti coetir ricsoW
Son niary vcit murlry et affoh'.
— 36 -
denen Mitteln? Was du nicht vollbringen kannst,
darf ich nicht wagen; wir gehören so eng
zusammen, dass ich immer fröhlich bin, wenn
du dich freust; wo man dich hinruit, bittet man
auch mich zu Gaste; wenn du aber siechst, ist
es mit meinem Leben und Gedeihen aus. Du
bist das Abbild der Natur, der wahre Spiegel,
der sie uns wiedergibt; deine kunstvolle Hand
lehrt uns Gegenstände kennen, die unsern Blicken
entrückt sind.
Tu es des Grecs l'invention produite,
Et des Romains l'amour et la poursuite :
De toutes gens la richesse et l'avoir :
Des Roys l'accueil.des Princesses la siiite :
Des moins lettres la lecture bien duite ;
Pour recreer les yeux humains construite.
Et pour aux sens voluptd concevoir.
Wenn nun deine Pinsel und Farben nicht aus-
reichen, um den Schmerz der Natur darzustellen,
wie kann ich es versuchen? Kann überhaupt das
Lob den Ruhm hoher Thaten erhöhen? Soll
ich die Musen, Nymphen, Winde und ver-
schlossenen Wasser herbeiruien, um unsere
Tränen zu mehren? Das wären schwache Er-
findungen.
Que feray donc en ces dures hatailles?
Formeray je Lays de diverse tailles?
Chants d' Elegie, ou queruleux respons?
Tout nie duiroit, et les grains et les pailles,
- 37 -
Pour dcplorcr ccs fristes furicraillcs,
Et pour bldsmer In Moyf et scs toiaillcs,
Qiii scai't livrcr de si tcrribles bonts.
Mais je n'ay plus un Virgille qui plaigne
Son Mecenas \ ne Catulle qui daig)ie
Gemir la tnort des petis passerons 'K
Maistre Alain dort,dontde dueil nion coeursaigne,
Qui pour Millet sa pluute en tristcur baigne ',
Grebant, qui pleure uri bon Roy, l'aco)upaigue*,
Si ne scay plus desormais qiie ferons.
Encore est hors de ce mondain fabrique
Un fnien privö, Robertet magnißque.
' Anspielung: auf die im 15. Jahrhundert entdccklcn Elcjjia
ad Macccnatcm.
•■' CatuU, Carm. III.
' Charticrs angebliches Trauergedicht über Millet (f 14W>)
steht in der Pariser Hs. Bibl. nat. fr. 1716 f*'. 15 v"^. Jaques Millet,
der Verfasser des Mystere: Destruction de Troye la grant 1540
(ed. Stempel, Marburg 1883), ist in jener Zeit einer der geschütz-
testen Schriftsteller. Lemaire erwähnt ihn abermals in der
Concorde des deux langagcs, Oeuvres III, 99. Cretin gedenkt
seiner in der Deploration sur le trespas d'Okcrgam; O. de Saint-
Gelays bedauert seinen frühen Tod im Sejour d'Honneur. Ct. La
Croix du Maine, Biblioiht-que fran^oise.
* In der Ausg. v. 1549 steht: Grebant qui pleure d'un bon Roy
la compaigne. So hat es auch La Croix du Maine aufgefasst; im
Artikel von Simon Greban, secretaire de M. le comte du Maine.
Charles d'Anjou, und Verfasser des Mystere des Actes des Apotres,
sagt er: II a escrit plusieurs Elegies, complaintcs et deplorations
sur la mort d'une Koine de F'rance, desquelles fait mention Jean
le Maire en ses poesies. Epitaphes sur la mort du Roi de France,
Charles VII, ecrits en forme d'Eglogue ou Pastouralle, imprimös
;\ Paris. Er kennt also das angebliche Klagelied über den Tod
einer Königin von Frankreich nur aus dieser Stelle von Lemaire,
wahrend er das Grablied für Karl den VII. im Drucke gesehen
hat. Bei der überlieferten Fassung des \'erscs fehlt das Verbum
im Satze und ist die Caesur klingend. Die erste Ausgabe führt
übrigens den Vers an, wie er oben steht.
- 38 -
Qtii inon feu George en griind plenv honnora *,
Et Saint Gelais coiiloiirant niaint cantique,
Pleurant son Roy, plus der que nul antique,
Les a stiivy-: si croy que Rhetorique
Finableinent avec eux se inourra.
Un bien y ha, qu'encor nie reste et diire
Mon Molinet nioulant fleur et verdure,
Dont le haut bruit januiis ne perira,
Et unCretin tout plein de floiiriture,
Que je conserve en vigueur et nature,
Et toy Danton, car la sienne escriture,
Et ta chronique ä tousjours ßourira ".
Si ay je encor quelque autre arny en regne,
Qui mon beau dos cultive ä plaine resne,
Et bien y scait niaint plantage renger :
' Jehan Robertet bailli d'Usson, secretaire du roy et de
monseigneur de Bourbon, etc. Seine Complainte de la mort de
maistre George Chastellain, geschrieben am letzten April 1476
in Tours hat Kervyn de Lettenhove abgedruckt in den Oeuvres
de G. Chastellain t. 8. Bruxelles 1866. p. 347 sqq. In einem
Traume sieht der Verfasser Xatur, Kunst uud Nacliahitiuug,
die um den Verstorbenen klagen und ihn den berühmtesten
Schriftstellern des Altertums an die Seite stellen. Vgl. 1. c. t. 7.
p. 145—86 und Rondeaux et autr^s po^sies des X V^ et XVI^ sifecles
p. p. G. Raynaud, Paris 1889 (Soc. des Anc. Textes) p. XXXI.
- O. de Saint-Gelais. »Complainte et Epitaphe sur la mort
de Charles VIII», ein Dialog zwischen dem Dichter und der
Personifikation von Frankreich und eine Lobrede auf den König,
gedruckt im Vergier d'Honneur von Andry de la Vigne.
3 Guillaume Cretin schrieb eine Chronik Frankreichs in
Versen, sie ist noch ungedruckt. Die Prosachronik von Jean
d' Anton, Abt von Angle, ist von Buchon 1839 und von Maulde
la Ciavifere, 1889 ft". herausgegeben worden. Immer noch wird
er d'Auton statt d'Anton genannt.
- 39 -
('est im S('COH(f Rohertet, qiii lüicmie
Toujours dcdcii's, et jamais tie s'y tcnnc:
Mais si trcs hicn y tauche et v assennc,
Qite c'est l'lionfieur de nion riebe vergerK
Dottt se toiis cetix en leiir gloire sommaire,
Vivans du lait des Muses et grammaire,
Daignent icy leur chef d'oeuvre f orger,
Et desployer les hicns de leur ainnaire,
Pour secourir leur huuible Jean le Maire,
Eu lann'utaiit nu si piteux affaire,
Je les supply ue vouloir prolonger.
Lc<;t alle Hand an das Werk, fährt die Rhetorik
fort; und auch ihr, ihr Musiker, helft mit euern
Trauerliedern; komme du, Josquin, mit deinen
Motetten und Compositionen, und ihr, Agricola
und Hilaire, Evrart, Conrad, Pregent erinnert euch
des wohlwollenden Gönners*.
' Dieser zweite Robertet, allem Anscheine nach einer der
Söhne von Jean Robertet, wird wohl Franvois Robertet, Schatz-
meister des Köni};:s und des Herzogs von Bourbon sein; ver-
schiedene Werkchen von ihm sind gedruckt von A. Joly, la
vraye histoire de Triboulet et autres po6sies in^dites des XV^
et XVl^ si^cles, Lyon 18()7, p. 45— 1>4, s. daselbst sein Epitaphe.
Auch Florimond Robertet, der einflussreiche Ratgeber des
Königs, war ein kunstsinniger Beschützer der Litteratur.
'■' Die Musiker die Lemaire anruft, sind die Meister,
welche aus der Schule Okeghems hervorgegangen sind : der
genialste unter ihnen ist Josquin des Prez (f 1521), den er
obenanstellt, ganz Europa stritt sich um ihn. Fast ebenso
berühmt war .Alexander Agricola. der mit Philipp dem Schönen
nach Spanien ging und im 60. Lebensjahre einem Fieber erlag.
Hilaire und Conrad sind mir unbekannt. Pregent war Hof-
musiker der Königin Anna. Evrard ist vielleicht der Stell-
vertreter Okeghems und sein Nachfolger in Tours, als er sich
zur Ruhe setzte.
- 40 -
Quel untre plus en tonte art vertneuse
Se delicta, sans forme impetiieuse ,
Suivant le train des bons nobles anciens?
Qui aima plus peinture suniptnense ,
L'art de bien dire, histoire fructuense,
Musiqne aussi douce et volnptnense,
Ou qui inist plus son estude en tons bi'ens ?
Stimmt alle an und sprecht eine Invektive
gegen den Tod zuerst, der sich rühmt, einen so
jungen, edlen, rüstigen Mann gefällt zu haben,
den Sprossen eines so ehrwürdigen Geschlechts,
den wackeren Krieger, der Ludovico Sforza
gefangen nahm, — und dann gegen den Neid,
der am meisten dazu beigetragen hat, sein Leben
zu verkürzen. Zu spät und erst durch Schaden
belehrt, hat man das Unrecht, das man ihm an-
gethah hat, bereut.
On cognoit bien ä present la droiture,
Mais c^est trop tard de sonder la fracture :
Car quant le chat a pris sa fourniture,
II n'est pas tenips de feriner le cabas.
Er aber vergisst das erlittene Unrecht und führt
mit Gottes Erlaubniss himmlische Heerschaaren
seinem geliebten Lo3'S d'Ars zu Hülfe '. Darum
' Louis d'Ars war der Lieutenant Lignvs gewesen, so lange
er die Ordonnanz-Kompagnie führte. In den Jahren lö03— 1504,
als Neapel für Frankreich wieder verloren ging, war er der
letzte, der sich mit einer Schaar französischer und albanesischer
Abenteurer gegen Gonsalvo von Cordova hielt; schliesslich
bahnte er sich den Rückweg mit bewaft'ncter Hand.
41
fasse Mut, du sein Nachfolger, und rette die
Ehre der Deinen, oder viehnehr furchte auch für
dich den Unbestand des Glückes. — Doch siehe am
Himmel leuchtet sein Banner, erblicke im Tier-
kreis den Löwen im Silberleld, das Savoyische
Kreuz auf der Schulter, unfern der Jungfrau,
die man in allen Nöten anruft. Schreitender Löwe
in triumphierender Höhe, du hast uns verlassen,
gerufen durch den verewigten Herzog von Bour-
bon und deinen königlichenVetter (Karl denVIII.);
eingeführt bist du worden durch den Heiligen
eures Geschlechts, Peter von Luxemburg, um
dessen Kanonisation du so sehr bemüht warst.
— Wohlauf ihr Geschichtsschreiber, verkündigt
den Ruhm des Verstorbenen, und sagt es allen
Damen, Edelfräulein und Rittern, dass er nun-
mehr in ewiger Glückseligkeit lebt."
Als die Rhetorik diese Worte gesprochen,
verneigte sich die Natur über die Leiche, wendete
sich dann um und war mit ihrem Gefolge ver-
schwunden. Die Anwesenden trugen aber dem
Dichter auf das, was sie eben gehört hatten, auf-
zuzeichnen.
Dies ist der Inhalt der Plainte du DcsirtK
Ein neuer Gedanke liegt auch diesem Werkchen
nicht zu Grunde; doch muss man die Einheitlich-
keit der Durchführung und die plasti.sche An-
schaulichkeit, deren sich der Dichter noch con-
sequenter als im ersten Gedichte beflissen hat,
loben. Die metrische Form ist ebenso glücklich
42
gewählt, als meisterhaft gehandhabt; die breite
Anlage der Strophen, die H.äufung und harmo-
nische Verschlingung des Reimes, der getragene
Schluss haben etwas weihevolles und eindring-
liches, das den lyrischen Schwung kräftig unter-
stützt. Die Ausführung ist reich an poetischen
Gedanken und der Ausdruck häufig gelungen;
manche Verse würden auch ein modernes Gedicht
zieren. • Ganz eigentümlich ist der Eindruck,
den der Schluss in fortlaufenden Apostrophen
hervorbringt. Ganz rein ist freilich der Ge-
schmack des Dichters noch nicht, obwohl er
sich im Vergleich zur Zeit sehr geläutert hat. Im
Uebrigen legt das Gedicht ein beredtes Zeugniss
ab von Lemaires Liebe und Begeisterung für die
Kunst, die Malerei und Musik ebenso wie die
Poesie. Die Anrufung der Zeitgenossen, die in
diesen Fächern sich auszeichneten, bildet den
Gipfelpunkt der Klage und gibt kunst- und
litterarhistorisch manche interessante Winke.
Die Klage um den Grafen von Ligny er-
schien erst 1509 im Anhang an die Legende
des Veniciens und schliesst dort mit einer
Peroratio an Margaretavon Oesterreich : Lemaire
dankt ihr für die Zuflucht, die sie ihm als Ersatz
lür den Verlust seines Herrn gewährt hat, und
widmet ihr das kleine Werk als Erstlingsgabe.
Augenscheinlich hatte sich der Dichter zu gleicher
Zeit bei der verwittweten Herzogin von Bourbon
und der jungen Herzogin von Savoyen durch
- 43 -
seine Schriften zu empfehlen gesucht, die letzteren
Schritte wurden mit Erfolg gekrönt'.
IV.
In kurzer Frist hatte Lemaire zwei Herren
verloren und ihnen als Dichter die letzte Ehre
zu erweisen gehabt. Der Anfang zu seiner
Berühmtheit war gemacht. Nun musste er nach
mehr als fünfjährigem Aufenthalt die Ufer der
Saone verlassen, die Statte, wie er sagt, wo er
sich zuerst aus seiner Geringfügigkeit erhoben,
und freundliche Aufnahme gefunden und Anse-
hen, Gunst und Freundschaft erworben, wie
schwerlich ein anderer junger Ausländer; darum
blieb ihm auch das Andenken an jene Grenz-
marken von Burgund, Lyonnais und Bourbonnais
immer teuer, und auch die Freunde, die er dort
zurückliess, vergassen ihn nicht, sondern begrüss-
ten jedes neue Erzeugniss seiner Feder mit
Freude und wünschten Exemplare seiner Werke
zu besitzen, sei es in Abschrift oder in Drucken *.
Die vierundzwanzigjährige Herrin, in deren
Dienst Lemaire überging, war Margareta von
' In einer Pariser Handschrift ist das Werk der spiltern
Beschützerin, Königin Anna von Frankreich, mit den gleichen
Worten zugeeignet. Es folgen in derselben Hs. Grabinschriften
für Ligny, in denen man den Verstorbenen zu Gott, dem König,
den Edelleuten und den Damen reden lUsst. Es sind eine Zehn-
zeile: ababbccdcd, eine Zwölfzeile: aaba.abbc.cdcd, eine Sieben-
zeile, ababbcc. und wieder eine Zehnzeile, alle in Zehnsilbern.
Cf. Oeuvres IV, 331. Ich weiss nicht, ob man diese Verse
Lemaire zuschreiben soll.
^ Bittgesuch an Margareta 1509. Oeuvres IV, 393.
44
Oesterreich, die Tochter Kaiser Maximilians und
Marias, der Erbin von Burgund. Sie war am
10. Januar 1480 geboren und trotz ihrer Jugend
hatte sie viel Wechsel und Prüfung erfahren.
Als zweijähriges Kind verlor sie ihre Mutter
und wurde dem Dauphin Karl angetraut; sie
erhielt in Frankreich, unter der Aufsicht der
Regentin Anna, eine gründliche Erziehung, die
ihre vorzüglichen Anlagen und den vom Vater
und den burgundischen Vorfahren ererbten Sinn
für Kunst und Bildung reich entwickelte; sie
sprach und schrieb gewant, sie zeichnete und
malte vorzüglich und war in Gesang und Instru-
mentalmusik geübt. Als sich aber für Karl den
VIII. die Aussicht eröffnete, die Bretagne mit der
Krone zu verbinden, ward Margareta ein Opfer
der politischen Berechnung: Verstössen kehrte
sie 1493 zu ihrem Vater zurück. Vier Jahre spä-
ter vermählte sie sich mit Johann von Kastilien,
dessen Schwester seit einem Jahre mit ihrem
Bruder Philipp verheiratet war. Nach den
Gefahren einer stürmischen Ueberfart landete
sie in Spanien; aber das Jahr war noch nicht
verflossen, da hatte ein Fieber sie zur Wittwe
gemacht, und eine Frühgeburt beraubte sie der
Hoffnung, dem Hause Kastilien einen Erben zu
geben. Zwei Jahre trauerte sie in Spanien und
kam dann durch das Unglück gereift und ein-
geweiht in die Kenntniss der Menschen und.
die Schleichgänge der Politik in die Heimat
- i5 —
zurück. Unter den vielen Bewerbern, die sich
um ihre Hand bemühten, wählte sie den gleich-
altrig^en Herzog von Savoyen , Philibert den
Schönen. Die VermUhlung fand im Jahre 1501
statt, und nun verlebte die junge Frau einige
glückliche Jahre auf dem Schlosse der Herzöge
von Savoyen zu Pont-d'Ain, auf der Grenze von
Bresse und Bugey. Philibert war kein besonders
begabter Fürst, aber ein stattlicher, kräftig
gebauter Mann von sehr gefälligem Aeussern,
dazu ein leidenschaftlicher Reiter und Jäger,
der seine Zeit mit Vorliebe anstrengenden
Hebungen widmete '.
Lemaires erste Bitte an Margareta, als er
in ihren Dienst trat, war, dass ihm zum Auf-
enthalt ein stiller, einsamer Ort angewiesen
würde, wo er ungestört an seinem grossen
Werke arbeiten könnte; Margareta bestimmte
Annecy^ Der Dichter scheint aber die Ruhe,
die er wünschte, nicht gefunden zu haben; er
blieb wahrscheinlich am herzoglichen Hof und
folgte ihm im Frühjahr nach Piemont; seine
Gegenwart ist bezeugt durch eine Quittung über
zehn goldene Kronenthaler, ein Geschenk Marga-
> F. Thibaut, Marguerite d'Autriche et Jean Leraaire de
Beiges, thfcse, Paris 1888. Quinsonas, Mat^riaux pour servir
iX l'histoire de Marguerile d'Autriche, I— III. Paris 1860.
Samuel Guichenon, Histoire genealogique de la royale maison
de Savoye, nouv. 6d. Turin 1778. Leglay, Correspondance de
l'cmpereur Maximilien et de Marguerile d'Autriche, 2 vol.
Paris 1839.
■^ Bittgesuch an Margareta 1509. Oeuvres IV, 393.
46
retas, die er am 12. Juni 1504 in Turin ausstellte \
Die Anwesenheit des herzoglichen Paares auf
dem Schlosse zu Carignano und in Turin
wurde durch grosse Turniere gefeiert, an denen
Philibert sich mit Eifer beteiligte; am 12. Mai
unter andern verrichtete Simon von Blonna)',
Herr von Saint-Pol Wunder der Tapferkeit im
Anschluss an ein Gespräch, in dem er in Gegen-
wart der jungen Fürstin sich anheischig gemacht
hatte zu erweisen, dass die Verheirateten ebenso
rüstig als die Ledigen und die Frauen ebenso
tugendsam und achtbar seien als die Mädchen-.
Solche Unterhaltungen werden Margareta den
Gedanken des allegorischen Werkes: le Palais
d'Honneur feminin, eingegeben haben, mit dessen
Ausführung sie Lemaire in Turin betraute; den
Vorwurf hatte sie selbst ersonnen und den Plan
besprach sie ausführlich mit dem Dichter. Noch
sechs Jahre später arbeitete er an dem Bau ■'.
Ein eigentümliches Verhängniss scheint Le-
maire zu verfolgen: kaum war er einige Monate
in Margaretas Dienst, als der junge Herzog, ihr
' «Je Jehan Lemaire confesse avoir rc<^u de Lo\ s Vionnet,
tresorier ma dame, ]a somme de dix escus d'or A la coronne,
chascun escu de quarante deux sols monayc de Piemont, pour
ung don que ma dicte dame ma faict, de quoj- je la quite. —
Faict ä Thurins, le XII*^ de juing l'an mil cinq cent et qualre:
Leinatre.» Im Archiv von Turin. Mitgeteilt vonThibaut l.c.139.—
Da wir nicht wissen, wann Lemaire in Margaretas Dienst ge-
treten ist, bleibt immerhin die Möglichkeit offen, dass er das
herzogliche Paar aus eigener Initiative in Italien aufgesucht hat.
ä Guichenon 1. c. III, 468 sqq.
=> Oeuvres IV, 395. 397.
— 47 —
Gemahl, sich auf der Jagd an einer Quelle erkäl-
tete und bald darauf, am 9. September, auf dem
Schlosse zu Pont d'Ain in dem Zimmer, in dem
er geboren war, verschied. Tief war der Schmerz
der vielgeprüften Wittwe, sie ertrug ihn aber
mit männlicher Seelenstärke und widmete sich
zunächst der einen Pflicht, ihrem verstorbenen
Gatten ein würdiges Denkmal zu errichten.
Um ein Gelübde des letzten Herzogspaares zu
erfüllen , wollte sie ihn neben seiner Mutter
Margareta von Bourbon in Brou bei Bourg-en-
Bresse beisetzen und an der Stelle eine neue
Kirche errichten. Die Architektur und die bilden-
den Künste genügten aber ihrem frommen
Wunsche nicht; auch die Dichtkunst musste sicli
zur Verherrlichung des Hingegangenen auf-
machen.
Die Aufforderung, den Tod Herzog Phili-
berts und die Trauer seiner Wittwe in einem
neuen Klagelied zu verewigen, kam Lemaire
sehr unerwünscht: Ziemlich unzufrieden spricht
er sich im Prolog aus:
Pliiine infelice, oustil calamiteux,
Matiere obscure, object povrc et piteux,
Ditcs pourqiioy inon ctigin peii fertilc
Vous retires de sott empyise utile
Pour le tourner en ce prescut traveil?
Comment peut taut vostre soudaiu rcsveil
Que ina uiaiu rüde, outre grö rappelles
A vostre obseque, et taut la conipelles.
— 48 -
Qiie force ni'cst briser tnon doiix estiide,
Laisser escrits de noble claritude,
Pour La plonger es profondes tenebres
De cas divers, violents et ftinebres
Pleins d' infortune , accurnules de deuil,
Lardes de pleiirs, farcis de larmes d'ceil?
O grief eschange! o inuance odieuse!
Labeur ingrat, et ceuvre tedieuse,
Quand laisser faut fructueuse escriture,
Pour expliquer triste niesaventure.
O dur employ, peu retnply d'amytii!
Si ce n'estoit que divoir et pitid
Chassent de moy tont present subterfuge,
Voulentiers qiiisse ä refus nion refuge:
Mais je ne puis, et si ne doy nier,
Qu'il ne nie faille en tristeur manier
Mon papier noir, et derechef le teindre
De grands regrets, malaises ä esteindre,
Va donc, ma plume ä douleur consacree,
Va si tu peux, et point ne te recree,
Jusques avoir fourny ton dur office.
Or voulsist Dieu, qu'ainsi poittt ne se ßsseK
Es half aber nichts; Lemaire musste sich
wohl oder übel noch einmal in die Geheimnisse
der Allegorie und Symbolik versenken. Die
Couronne Margaritique, die Perlenkrone, die er
Philibert von Savoyen und seiner Wittwe zu
Ehren verfertigte, ist die umfangreichste von
^ Couronne Margraritique, prologue. Oeuvres IV, 15. Dieses
Stück findet sich vereinzelt in zwei Pariser Handschriften wieder.
- 49 -
seinen Gelciaenhcitsschrirtcn und die selbstän-
digste in Be/.ug auf Erfindung, wenn aueh nicht
die anziehendste. Sie beginnt mit der Erzählung
vom Tode und der Bestattung des Herzogs in
poetischer Ausschmückung; bei weitem der
grösste Teil ist aber der Verherrlichung Mar-
garetas gewidmet.
Nach der üblichen astrologischen Zeitbestim-
mung schildert der Dichter den jungen Fürsten
in seiner Jugendfülle, seinem Eheglück und vor
allem in seiner Leidenschaft für die Jagd, in der
er mit Herkules, Meleager und Kephalos wett-
eiferte. Eines Tages hatte er sich diesem Ver-
gnügen wieder mit solchem Eifer hingegeben,
dass seine Leute ihm nicht mehr folgen konnten
und seine Pferde verendet oder abgearbeitet
waren; eben schritt er zu Fuss in der Mittags-
hitze ein langgestrecktes Thal herunter, aut zwei
seiner Edelleute gestützt und ganz erschöpft;
da begegnete er dem Unglücksgreis Infortune
und seiner Frau Atropos. Wie der Alte ihn
erschaut, redet er seine Gefährtin an: „Hier
bietet sich eine schöne Gelegenheit, unsere ]\L'icht
zu zeigen und allen Menschen Schrecken und
Furcht einzujagen. In Jahresfrist hast du Bour-
bon und Lign}' weggerafft ; beide waren aber
durch Alter oder Krankheit geschwächt: triffst
du diesen, so gibt es einen jähen Fall wie
unlängst der Tod Karls des VIII. In den letzten
fünfzig Jahren hast du sieben Herzöge des Hauses
Becker, Jean Lcmaire. 4
- 50 —
Savoyen bezwungen, werfe nun auch den achten
nieder. Seine Gemahlin habe ich in Flandern.
Frankreich, bis nach Spanien verfolgt, ohne ihre
Standhaftigkeit brechen zu können; lass sehen,
wie sie diesen neuen Streich erträgt. Achte auf
das, was ich thue, und halte deinen Pfeil bereit."
Sprach's und nahm die Gestalt eines schlichten
alten Bauernweibes an, das in einem irdenen
Krug Wasser am Quell geholt hat, und stellt
sich dem Herzog auf den Weg ; dieser freut sich
tiber die glückliche Begegnung und glaubt, die
Götter selbst hätten ihm von ihrem Nektar
geschickt. Kaum hat er aber den eiskalten Trunk
gierig heruntergeschlürft, so fühlt er dessen
schlimme Wirkung. Er will einen Augenblick in
einer Bauernhütte ausruhen; die Gelegenheit
erfasst Atropos, um ihren giftigenPfeil abzuschies-
sen und bis zum Gefieder in seine Eingeweide zu
bohren. Hell lachte Infortune über den gelun-
genen Streich und schlug in die Hände. Der
Herzog erbebte, mit Mühe bestieg er ein Pferd,
und wie der Hirsch, der hitziger Verfolgung
entronnen ist und sich unter schattigem Laub
in das Gras gelegt hat, wenn zufällig ein frem-
der Jäger heranschleicht und ihn heimtückisch
mit scharfem Geschosse trifft, aufspringt und in
seiner Angst nicht an den Diptamdosten denkt,
der ihn heilen könnte, sondern klagend seine
Lagerstätte aufsucht, um hier in grosser Drang-
sal zu verenden : so kehrte der edle Fürst lang-
- 51 --
sam auf sein Geburtsschloss zurück und warf
sich dumpf auf sein Feldbett '. Von banger
Ahnung gequält, eilt die junge Herzogin her-
bei, sie lässt Aeskulaps Diener rufen und sieht
selbst zu, wie ihre kostbaren Perlen zu Arznei-
mitteln zerrieben werden. Einige Tage hielt sich
der Zustand des Fürsten ohne merkliche Ver-
schlimmerung; unglücklicherweise hatte sich
aber der Mond eben erneut. Da der Herzog sein
Ende herannahen fühlte, erhob er sich noch ein-
mal, um von seiner Gemahlin Abschied zu
nehmen. In ihrem Schmerze hätte sich diese
zum Fenster hinabgestürzt, wenn die Umste-
henden sie nicht gehalten und vom Sterbelager
fortgeführt hätten. So verschied Philibert von
Savoyen, nachdem er die Pflichten der Religion
erfüllt, im 24. Jahre seines Lebens.
' «Alors de noble Duc, fremissant du coup dont il nc voyait
pas l'acteur, jetta un grand souspir. remonta ä pcine sur un
cheval qui luv fut amenö: mit la main i\ la poilrine, puis coni-
men(,-a i\ baisser le chef, et ä se douloir grandement. Et tout
ainsi qu'un grand Cerf ramö, aprijs longues courses et grans
perilz eschappcz, estant k la grosse haieine, pource qu'il n'oyoii
plus nulz chiens glattir, ne nutz cors bondir parmy la forest
retcntissant, se couche sur l'herbe verde en l'ombre d'un boscage
fueillu pour respirer ä loisir sans souspe(;on quelconque de
poril eminent. Et neantmoins par quelque veneur estranger,
errant tout coyement parmy le bois, ce gentil Cerf reposant ä
son grand malheur est entreveu, et tantost atteint insidieusemeni,
d'un raillon bien trenchant: Adonques la noble beste navree i\
mort se leve toute effrayee, ä tout le vireton mortel qui luy ha
percd ncrfz et veines. Et ne luy souvient d'aller chercher la
bonne herbe appellee Dictamus, approprice k sa guerison. Mais
en gemissant bien piteusement, se prend ;\ repairier en son giste
pour illfc mourir en grand detresse.
Ainsi feit ce tresillustre Prince.» etc. Oeuvres IV, 28 sq.
- 52 -
Während seine Diener und sein Hausgesinde
ihn beweinten, wie einst die Kinder Israel Jona-
than oder die Römer Titus beweint hatten,
erschien Hebe, die Göttin der Jugend, am Parade-
bette, auf dem die Leiche ausgestellt war, und
Hess eine Klage hören, in der sie alle Damen,
ihre Schwestern, aufforderte, an ihrem Leid und
dem der verwittweten Fürstin Teil zu nehmen.
Als sie Verschwand, kamen etliche von der
Familie Apollos, um den Leichnam einzubalsa-
mieren, worauf ihn der neue Herzog Karl, der
Bruder des verstorbenen, in aller Stille, um den
Schmerz der Wittwx nicht zu erneuern, neben
seiner Mutter, Margareta von Bourbon, beisetzen
liess. Unterdessen hatte Vertu vom Tempel ihres
Bruders Honneur das Leid der Herzogin von
Savoyen gesehen und schickte ihre beiden älte-
ren Töchter Prudence und Fortitude, um ihr
Trost zuzusprechen; was ihnen gelang, so dass
Infortune, in der Hoffnung, die edle Fürstin zu
beugen, getäuscht, sich in den nächsten Fluss
stürzte und von da in die Hölle fuhr.
Um die Standhaftigkeit ihres Lieblings zu
belohnen, beschliesst Vertu ein kostbares Ge-
schenk zu bereiten. Sie lässt durch Noblepenser
ihren Goldschmied Merite rufen. Merite war
eben in seiner Werkstätte beschäftigt : er schmie-
dete zwei wunderkräftige Rüstungen, mit haute
emprise, puissance, foy pure, bonne querelle und
justice ausstaffiert, für den Kaiser und seinen
- 53 —
Sohn, wenn sie gegen die Türken zu F'elde zie-
hen würden. Auch Kronen und Ringe mit ähn-
lichen Eigenschaften Hess Vertu anfertigen, um
die Tugenden ihrer Freunde zu belohnen ; soeben
vollendete man ein Diadem lür den Herzog von
Savoyen, den seine hohen Anverwanten em-
pfangen hatten, und zwei andere für. Johann von
Kastilien , der seine beiden Eltern , die ruhm-
gekrönten Herrscher Spaniens, erwartete. So
herrschte ein emsiges Treiben in der Werkstätte,
als Noblepenser seine Bestellung überbrachte.
Si oyait on bruire et freinir
Ouvriers leans, comme mouchettes,
Litigots d'or et d'argent geiuir
Dedens l'eaiie, entre les piucettes.
L'un les essayoit aux touchettes,
Un autre les applatissoit :
L'iin les pesoit aux balaucettes,
El l'autrc les arrotutissoit.
Fournaise , enclunte, crosets, inosles,
LtnieSj biirins et martelets,
N'otit Ulli sejour es niairis peii molles
De ces ouvriers, qiii ne sont lets:
Car tous sont ntaistres, non varlets,
Bien apris d'eslever fetiilUire,
Et faire uiaiiits traits iioiivelets
D'iniages en bosse et nesliire.
Et certes bon voir faisoit il
Comnient par viagistrale adresse
- 54 -
Chascun nianie son oustil,
Soude sa piece, oh tournc, oii dresse.
Et par une Industrie expresse,
Aux gemnies scait lustre baüler
Polir Vor, poiir oster l'aspresse,
Friser, graver oii esntaüler.
Mittlerweile hatte Vertu durch einen anderen
Boten, Savoirhumain , zehn der hervorragend-
sten Philosophen und Redner, die sie einzeln
bestimmte, rufen lassen ; sie selbst wählte unter
den Nymphen ihres Gefolges zehn der schönsten
Tugenden besonders aus, bekleidete sie mit kost-
baren Gewändern, nahm aus ihrer Truhe zehn
meisterhaft gearbeitete Edelsteine und heftete
mit schwarzseidener Schnur einer Jeden einen
Stein auf die Stirn nach italienischer Mode, was
ihnen sehr wohl stand; sie Hess sie dann Arm
in Arm verschlungen einen Kreis bilden, das
Antlitz dem Zuschauer zugewendet, und hiess
sie so abmalen als Vorbild für den gewünschten
Schmuck, die Couronne Margaritique'. Während
das geschah, sollten die Redner, die auf ihr
Geheiss erschienen waren, sehen, ob die Ini-
tialen der zehn Tugenden, wie sie dastanden,
und der Edelsteine, die sie trugen, nicht den
Namen der tugendhaftesten und unglücklichsten
Fürstin, die auf Erden lebte, ergäben, und ob
> Beauftragt wird mit dieser Arbeit Martia, die Tochter
des Römers Varro, zu ihren Lebzeiten vor allen Malern aus-
gezeichnet, jetzt der Liebling von Science, der Vertu Schwester.
55
nicht Edelsteine und Tugenden eine gewisse
Beziehung unter sich und zur Fürstin hUtten;
sie selbst gab ferner das Beispiel und erzählte
zum ersten Buchstaben die Erlebnisse einer
anderen Frau, deren Namen identisch anlautete,
und deren Schicksale mit denen Margaretas zu
vergleichen waren '.
' Die zehn Tugenden, welche die Krone Margaretas bilden
sollten, sind: Moderation die MUssigung, Animositt? die Beherzt-
heit, Rectitude de conseil die umsichtige Ueberlegung. Grace
die Anmut und (Jnade, Urbanitö die Artigkeit, Erudition die
(ielehrsamkcit, Regnati ve prudenoe die Herrscherklugheit, Inno-
ccnce die Unschuld, Tolerance der Duldcrmut, Expcrience die
Erfahrung. — Die Edelsteine, die sie schmückten, sind: Mar-
garite, Adamas oder Diamant, Rubis, Gorgonic oder corail,
V'eneris gemma oder amethyste, Esmeraude, Radiane der im
Kamme des Hahnes gefundene Stein. Jaspe, Topace und Escar-
boucle. — Die Frauen, deren Lebensschicksale erzUhlt werden,
sind : Margareta von DUnemark, die Stifterin der Calmarer Union;
Artemisia. die treue Wittwe des Königs Mausolus; Radegunde
von Thüringen, die keusche und fromme Gattin Chlothars des I.;
(iisela von Sachsen, Gemahlin des heiligen Stephan von Ungarn;
Vesta, die ewige Jungfrau und V^erwante der höheren Götter;
Eriphvla, die Sibylle, welche von Christus prophezeit hat;
Rachel, um die Jakob so lange warb, die trostlose Mutter Josephs
und Benjamins; Ingeborg von Dänemark, die verstossene Ge-
mahlin Philipps des H. von Frankreich ; Theodolinde von Bayern,
welche ihren zwoitpn Gemahl, den Longobardenkönig Agilulf,
zum Katholizismus bekehrte; Elissa oder Dido, die unter grossen
(Gefahren vor ihrem Bruder fliehen musste.
Die Schriftsteller, welche den Auftrag bekommen, die Zu-
sammenstellung der genannten Tugenden, Frauen und Edelsteine
zu rechtfertigen, sind: Robert Gaguin, Albertus Magnus, Jean
Robertet, Isidorus von Sevilla, George Chastellain, Boccaccio,
-Arnaldus Villanovanus, Marsilius Ficinus, Martin Franc, \incent
de Beauvais, also neben den Vertretern der französischen Dicht-
kunst und Beredsamkeit die grossen EncyklopUdisten des Mittel-
alters und die F"örderer des Humanismus und Erneuerer der
Philosophie. Die Werke des Einen oder Andern können Lemaire
als Fundgrube des vorgetragenen Wissens gedient haben. Be-
sondere Anlässe, diesen oderjencn zu nennen, mögen z.B. gewesen
- 56 -
Was uns in den zehn Prunkreden , dem
Hauptteile der Couronne Margaritique, fesseln
kann, das ist weder die Unterhaltung über die
Zehnzahl, noch die Auseinandersetzung über
den Ursprung der Sitte, Kränze zu tragen, auch
nicht die trockene Beschreibung der Edelsteine,
oder die scholastisch spitzfindige Begriffsbestim-
mung der Tugenden und ihre genealogische
Gliederung, oder die Geschichtchen, die so fehler-
haft erzählt werden, dass man an eine Wieder-
gabe aus dem Gedächtniss glauben möchte«:
nein, was diese schwülstige Rhetorik lesens-
wert machen kann, das sind die Voriälle aus
Margaretas Leben, die der Dichter hineinge-
woben hat, wenn sie auch leider nicht in ihrem
natürlichen Zusammenhang erzählt werden. Da
schildert der Eine ihre Bildung, oder er ergötzt
uns mit ihren sinnigen Einfällen in schwierigen
sein, dass Boccaccio ein Buch de claris mulieribus geschrieben
hat, ein gern nachgeahmtes Werk, z. B. Temple de Boccace von
G. Chastellain; Arnaldus' gesammelte alchimistische Schriften
wurden soeben in Lyon gedruckt usw. — Die Reden sind ver-
schieden disponiert und verschieden lang, sie umfassen von
4 bis 14 Seiten.
' Die Quellen Lemaires zu entdecken, ist nicht leicht, denn
wahrscheinlich fliessen sie nicht allein aus bekannten Werken,
sondern aus eigenen Aufzeichnungen, vielleicht aus den in Paris
gehörten Vorlesungen. Es lässt sich daher vorläufig nicht
sagen, wie viel eigenes er in den Prunkreden geboten hat.
Deutlich ist die Spur des alteren Plinius zu verfolgen, aus dem
die Beschreibungen der Edelsteine wörtlich ergänzt sind, oft
mit Verschmelzung verschiedener Stellen. Auf dem Schlosse
zu Pont d'Ain befand sich das Steinbuch des Johannes de Manda
Villa scriptum manu in papiro (Quinsonas III, 3%). Lemaire
scheint es aber nicht benutzt zu haben.
Lebenslagen; Andere beschreiben eingehend
ihre gefahrvolle Reise nach Spanien, den begei-
sterten Empfang, den sie in Burgos fand, ihre
traurige Lage als Wittwe; Andere wiederum
bringen Anekdoten von ihrem Aufenthalt in
Savoyen; am häufigsten bedauern sie ihren
Abschied aus Frankreich und geissein dabei den
Wortbruch Karls des VIIT. mit so scharfen Wor-
ten, dass die ersten Herausgeber den Text an
mehreren Stellen milderten und in Vorwort und
Anmerkungen zur Entschuldigung des Verfas-
sers bemerkten, die Anhänglichkeit an seine
Herrin mache ihn ungerecht, oder er spreche
eben in höherem Auftrage. \'iel erfahren wir
gerade nicht aus Margaretas Leben; aber die
Angabe der Einzelheiten ist so ausführlich und
eingehend, dass sie auf dem Berichte eines
Augenzeugen beruhen müssen, etwa der Erzäh-
lung der Fürstin selbst oder ihres Hofgesindes;
oder durfte Lemaire jene Aufzeichnungen be-
nutzen, in denen Margareta, wie er sagt, in zier-
licher französischer Prosa und in Reimen den
ganzen Verlauf ihrer Missgeschicke und ihres
bewunderungswürdigen Lebens erzählt hat ' ?
Mittlerweile war die Zeichnung vollendet
worden. A'ertu fügte zur Ergänzung noch einige
' Coufonne Margaritique, Oeuvres IV, 111. Die könitrliohc
Bibliothek zu Brüssel besitzt eine handschriftliche Autobiographic
Margaretas mit der Bezeichnung: Discours sur sa vie et scs in-
fortunts (Ms. 10, 92(>); sie ist mit Lemaires Nachrichten meines
Wissens noch nicht verglichen worden.
- 58 —
Anweisungen hinzu, die Lemaire bis ins Einzelne
mit kunstgerechter Genauigkeit ausführt; nach
diesen Angaben vervollständigte die Malerin ihre
Skizze und schaltete aus eigener Initiative zwi-
schen je zwei Tugenden ein Rundbild ein, das
eine der vergleichsweise angeführten Frauen
darstellte. Den fertigen Entwurf überreichte
Vertu ihrem Goldschmied mit den nötigen Edel-
steinen und sonstigen Zuthaten. Auf dem Wege
zur Werkstatt begegnete Merite einigen von
seinen Freunden, die sehen wollten, was er mit-
brachte; er konnte es ihnen nicht abschlagen:
Cay l'un d'iceux estoit niaistre Roger
L'aiitre Foiiquet, en qiii tont los s'etnploye.
Hiigues de Gand qui tant ent les trets nets
Y fut aussi, et Dieric de Lonvain,
Avec le roy des peintres Johannes,
Duquel les faits parfaits et mignonnets
Ne totnberont janiais en oiihli vain:
Ne, se je fusse un peii hon escrivain,
De Marniion, prince d'enluminure,
Dont le noni croist, comtne paste en levain,
Pav les effects de sa noble tournure.
II y survint de Bruges tnaistre Hans,
Et de Francfort ntaistre Hugnes Martin,
lous deux ouvriers tres clers et trioniphans.
Puis de Peintnre autres nobles enfans,
D'Amyens Nicole, ayant bruit argentin,
Et de Tonrnay, plein d' eng in celestin.
— 59 -
Maistye Loys, dont tiuit discrct fut l'icil:
Et eil qu'on prisc au soir et au matin,
Faisant patrons, Baudouyn de Bailleul.
Encore y fut Jaqucs Lombard de Mons
Accojnpaignö du bon Lievin d'Auvcrs.
Trcstous lesquels autant nous estimons
Que les ancicns jadis par longs scrmons
Firent Parrhase, et maints autres divers^.
Nachdem alle der Zeichnung reiches Lob
gespendet, empfiehlt sich Merite und tritt in
seine Werkstätte. Auf seine Frage, wer das
schöne Werk unternehmen solle, melden sich
Gilles Steclin von Valenciennes und sein Vater
Hans Steclin von Köln, und nun breitet der
Meister die mitgebrachten Schätze auf dem
' Die Schaar der Maler hat sich vermehrt im Vergleich
zu der Phiintc du Desirö; Merite trift't im Jenseits natürlich
nur die Hingegangenen. Von den Franzosen ist hier nur
Kouquet genannt. Zu den NiedcrlUndern , Johann van Eyck,
Rogier van der We\ den und Hugo van der Goes, sind Dierick
Bouts oder Stuerbout (f 1475) und Hans Memling von Brügge
hinzugekommen ; ihnen schliesst sich Martin Schöngauer von
Colmar (f 14ii8) an, denn Hugues Martin ist soviel als Hübsch
Martin. Nicolaus von Amiens entwarf 1482 das Bild Ludwigs
des XI. für sein Grabmal ; weniger bekannt ist Maistre Loys,
wohl Loys Lcduc, seit 1453 Meister in Tournai. Balduin von
Bailleul zeichnete Entwürfe für Wandteppiche, 1449 entwarf er
die Geschichte Gideons für Philipp den Guten : Martin p-ranc
hat ihn seiner Zeit im Champion des Dames verherrlicht.
Jacques Lombart liess sich 1471 in Tournay nieder und arbeitete
für Karl den Kühnen. Der Miniaturmaler Lievin van Lathem
lebte unter demselben F"ürsten in .Antwerpen. Vgl. AI. Pinchart
I. c. — Diese begeisterten Aufzilhlungen beweisen, wie vertraut
Lemaire mit der Kunst seiner Zeit war, und wie er sich bei
seinem Wanderleben immer eingehender mit derselben bekannt
machte.
- 60 —
Tische aus: „Was meint Ihr dazu, Kinder?" ruft
er aus, „ist das nicht eine herrliche Augenweide;
was sagst du, Andrieu Mangot von Tours, und
du Christofle Hieremie aus Rom, Donatello von
Florenz, petit Antoine von Bordeaux, Johann
von Nymwegen, Robert le noble aus Burgund,
Corneille von Gent, Johann von Rouen, was
sagt ihr alle dazu?"
Voi4s donques totis Ics recents et modernes,
Lesquels Honneiir eqiiipare aiix antiqiies.
Et vous fait luire aussi der que lanternes
En gloire ardue et louenges eternes,
Tant que Science en chante maints cantiques.
Employes cy vos hauts esprits celiques
Tant bien niesles, et juges, je vous prie,
S'en nuls tresors, couronnes ou reliques
Vous vistes onc plus riche pierrerie^.
Mit diesen Worten bricht die Schilderung ab.
' Zu den Malern fügt Lemaire die Goldschmiede, d. h. die
Bildhauer, Erzgiesser, Kunststecher usw. Den Reigen eröffnen
Avieder seine Landsleute, Egidius Steclin von Valenciennes und
sein Vater Hans Steclin von Köln. Andrieu Mangot wurde um
1475 in Tours von Ludwig dem XI. beschäftigt. Christoforo
Hieremia , den Lemaire einen Römer nennt, arbeitete um
1470 als Stecher in Neapel. Donatello (f 1480) ist der Erneuerer
der italienischen Bildhauerkunst. Antoine de Bordeaux ist
nicht bekannt. Die Folgenden sind Zeitgenossen Lemaires, an
die er sich am Schlüsse des Werkes richtet, wie wenn er sie
um ihr Urtheil über seine eigene Arbeit, die Couronne Marga-
ritique, bitten wollte: Jan van Vlierden von Nymwegen stach
die Pragstempel für die Münzen von Antwerpen und Mccheln,
Corneille de Bont von Gent hatte für Karl den Kühnen gearbeitet.
Robert Le Noble ist unbekannt, vielleicht war er ein Ver-
wanter von Blanchart Le Noble aus Chälons sur Saone,
- 61 -
Die Couronnc Margaritique wurde jcdcnralls
sofort nach dem Tode des Herzogs in Angriff
genommen und wahrscheinlich noch im Jahre
1304 zur Ausführung gebracht'. Es ist, wie
gesagt, das umfangreichste der kleineren Werke
Lemaires, wenn auch nicht das anziehendste.
Er hat sich geschickt aus der schwierigen Auf-
gabe gezogen , man muss es gestehen ; dem
Lobe des Verstorbenen hat er eine glückliche
Wendung gegeben , indem er ein lebendiges
Gemälde seiner Leidenschaft für die Jagd ent-
warf, ähnlich wie Ronsard in einer schwung-
vollen Hymne auf Heinrich den IL, den gewanten
Reiter, Ballspieler und Turner preist und mit
einer gewissen Geringschätzung über die son-
stigen Regenteneigenschaften weggeht ; die Miss-
billigung des jugendlichen Eigensinnes des Her-
zogs hat Lemaire unter dem Lobe der Umsicht
Margaretas verborgen. Durch die Verwebung
der beim Sultan und den Venezianern Geschützgiesser gewesen
war, und den Lemaire als Goldschmied der Prinzessin Klaudia
kennen gelernt hat. cf. Illustr. II. 81. Margeric d'Avignon
und Jean de Roucn sind auch unbekannt Vgl. AI. Pinchart 1. c.
' Cf. Oeuvres IV, 149. «en son jcune aage moderne, qui
aujourd'hui n'excede point vingt cinq ans.> Margareta vollendete
ihr 2ö. Lebensjahr am 10. Januar 150,'). Als ihr Wittum werden
ibid. 118 die Grafschaften Villars und Sommerive und die Herr-
schaften Bresse, Wadtland und Faucigny genannt; nach dem
Vertrage von Strassburg, 5. Mai l.'jOö, waren es nur noch Villars,
Bresse, Wadtland, Gourdans und Faucigny. Von Margaretas
Nichten wird Maria, geb. 15. Sept. löOö, nicht angeführt; Philipp
ihr Bruder wird nur Prinz von Kastilien und Arragon genannt,
wahrend er im Dezember lö04 den Königstitel von Kastilien
annahm (ibid. 101).
- 62 -
der allegorischen Figuren in die Handlung hat
er der Erzählung eine poetische Färbung gege-
ben, und ihr durch den Schmuck der Bilder
Glanz und Weihe verliehen. Die eingeschalteten
Gedichte sind geschickt gereimt, aber etwas
lang und ärmlich'.
DieVerherrlichungMargaretasineinemRede-
turnier, das Lemaire in seinen früheren Schriften
nur flüchtig angedeutet aber nicht in Szene
gesetzt hatte, ist von ermüdender Breite; die
Rhetorik, die seine Kämpen entfalten, ist recht
schwerfällig. Die Düftelei über die zehn Buch-
staben des Namens der Fürstin gemahnt uns
wieder des guten Lehrmeisters Molinet, der im
Chapelet des Dames einen ähnlichen durch
Vertu gefertigten Kranz beschreibt; der Kranz
ist aus fünt Blumen zusammengesetzt, deren
Namen mit einem der Buchstaben des Namens
* Die Couronne Margaritique besteht aus Prosa und Versen :
ausser dem Prolog, 30 paarweise gereimte Zehnsilber, sind in
Versen geschrieben: die Rede Infortunes, Ivi achtzeilige Acht-
silberstrophen: abaabbcc; Hebes Klage, 28 sechszeilige Strophen,
deren drei erste und letzter Vers Zehnsilber, der vierte und
fünfte Sechssilber sind; die Reimstellung ist aabba, der mittlere
Reim jeder Strophe wird als umschlingender in der nächsten
verwendet, so dass sich eine Reimkette durch das ganze Gedicht
zieht, mit Ausnahme von Str. 11—13 und 27 wechseln männliche
und weibliche Reime unter sich ab. Die Sendung Noblepensers
ist in 31 achtzeiligen Achtsilberstrophen mit der beliebten Reim-
folge ababbcbc, erzählt. Jeder der zehn Reden ist eine Vier-
zeile, die Redner und Gegenstand namhaft macht, vorgesetzt,
Zehnsilber mit umschlungenen Reimen: abba. Der letzte Teil
ist in 38 neunzeiligen Zehnsilberstrophen : abaabbcbc geschrieben.
Der Herausgeber Claude von Saint-Julien hat als Abschluss
noch zwei Strophen gleichen Baus hinzugefügt.
— b3 -
Marias, Margaretas Mutter, anlautet; auch Molinet
sucht nach Prinzen und Prinzessinnen, deren
Namen mit einem dieser fünf Buchstaben beginnt ' .
Wir werden durch diese Spielereien, die Per-
sonifizierung der Tugenden, die moralische Deu-
tung der Edelsteine in die schwüle Luft des aus-
gehenden Mittelalters versetzt. Im Rosenroman
hat Lemaire den Goldschmied Merite kennen
gelernt, aus ihm entnahm er in einem späteren
Werk den Erzpriester Genius ; es war die
geistige Atmosphäre, in der er aufgewachsen
war, und in der er sich noch gern bewegte.
Freilich richtet sich auch in diesem Werk sein
Bestreben auf möglichst sinnfällige Anschau-
lichkeit. Ein Künstler könnte nach seiner Beschrei-
bung die Krone zeichnen, wie er sich dieselbe
sichtbar vorgestellt hat. Wo seine Einbildungs-
kraft nicht durch das selbstauferlegte Schema
gehemmt wird, z. B. wo er uns in die Gold-
schmiedswerkstätte einführt , da bricht seine
lebensfrische Auffassung des menschlichen Trei-
bens wieder durch, da sucht er ganz im Gei.ste
seiner Zeit durch die Bestimmtheit des hand-
werksmässigen Details den realistischen Eindruck
zu verstärken.
Die Couronne Margaritique wurde nicht von
Lemaire selbst herausgegeben; offenbar betrach-
tete er sie als unvollendet, im Jahre 1509 spricht
er von einem zweiten Teil, der schon fertig
» Dictz et faictz de J. Molinet, Paris 1530.
64
entworfen sei und nur in das Reine geschrieben
werden müsse'. Nun trat er bald darauf in
französische Dienste, und da gestattete der oft
feindselige Ton die Veröffentlichung nicht mehr.
Im Jahre 1544 fand Claude de Saint-Julien ein
handschriftliches Exemplar auf seinem Schlosse
ßalleure, wahrscheinlich eine jener Abschriften,
die Lemaires Freunde so eifrig von ihm verlang-
ten, selbst wenn das betreffende Werk zum
Lob seiner Herrin und zu Ungunsten der Fran-
zosen geschrieben war'-^. Saint-Julien bedachte
die Couronne Margaritique mit einer Widmung
an Eleonore von Oesterreich, Königin von Frank-
reich, und Jean de Tournes nahm sie in die
Lyoner Gesammtausgabe vom Jahre 1549 auf.
V.
Nach dem Tode Philiberts von Savoyen
scheint Lemaire zunächst ohne besondere Eigen-
schaft im Dienste Margaretas geblieben zu sein.
Sein Wunsch wäre gewesen, BesanQon zum
Aufenthalte zu wählen ; er konnte ihm aber aus
unbekannten Gründen nicht gewährt werden 3.
Die verwittwete Herzogin beanspruchte als Leib-
gedinge die Grafschaften Villars und Sommerive
und die Herrschaften Bresse, Wadtland und Fau-
cigny; es erwuchsen ihr aber Schwierigkeiten
von Seiten ihres Schwagers, des Herzogs Karl,
^ Bittgesuch an Margareta (1509), Oeuvres IV, 395.
■^ ibid. 394.
■' ibid. 393.
— 0.) —
dessen beste Einkünfte durch Wittwengchülter
verschlungen wurden. Margareta sah sich ver-
anlasst, zu ihrem Vater nach Deutschland zu
reisen und seine Vermittlung für die Regelung
ihres Wittums in Anspruch zu nehmen ; ein
Abkommen wurde zwischen Maximilian und den
Boten Karls am o. Mai 1505 zu Strassburg ge-
troffen ; im Monat August war die Herzogin-
wittwe wieder in Pont d'Ain'.
Während der Abwesenheit Margaretas starb
auf dem Schlosse Pont d'Ain ihr Lieblingstier,
ein schöner grüner äthiopischer Sittich mit rotem
Ring; ich glaube, er wurde von einem Wind-
hunde zerrissen'^. Dieser Vorfall gab Lemaire
Anlass zu einem anmutigen poetischen Scherze,
der Epistel des grünen Liebhabers: epistrc de
l'AiiKDit verd ä Madame Margiierite Auguste.
Es ist ein Abschiedsschreiben des untröstlichen
Tieres an seine abwesende Herrin, deren Ent-
fernung seinen Tod verursacht,
„Wenn es wahr ist, Tochter des mächtigen
Kaisers, dass du mich ehedem scheinbar geliebt
hast, so schenke einen Blick deiner hellen Augen
diesem meinem letzten Schreiben; dem letzten,
denn ich bin entschlossen, meinem kurzen Leben
' Guichenon II, 188. Quinsonas III. 161 sqq.
^ Nach meiner Ansicht ist der Tod des Sittichs (perruche
a Collier rouge, palacornis torquata) nicht blos eine poetische
Fiktion, sondern ein wirklicher Vorfall, den Lemaire in eigener
Weise benutzt hat. In der ersten Epistel heisst es nur: un
ma.stin, in der zweiten steht bestimmter: un levrier (v. 382).
Becker, Jean Lemaire. 5
— 66 —
ein Ende zu bereiten ; wie könnte ein so grosses
Herz in einem so schwachen Körper den Tag
deiner Abreise erleben, ohne zu brechen! O ihr
Halbgötter, ländliche Satyrn, Nymphen desWaldes
und der Quellen, hört mich, und du Echo, wieder-
hole meine Klage. Ihr wisst es, dass die Götter
mir das denkbar grösste irdische Glück beschieden
hatten, die Blume der Blumen, die auserlesenste
der Perlen. Warum muss ich sie verlieren? Sie
geht fort und lässt mich hier allein, sie will
Deutschland, ihren Vater und ihren Bruder be-
suchen — ohne mich. Was habe ich verbrochen?
habe ich dir missfallen, deine Geheimnisse aus-
geplaudert? Nein, mein Missgeschick ist es, das
mich verfolgt und um die Hoffnung täuscht, mein
Leben bei dir zu verbringen. Ich bin dir durch
so viele Länder und Meere gefolgt, in so manchen
Gefahren und Stürmen war ich dein einziger
Trost, und nun verlässt du deinen Liebhaber.
Grausam bist du (ich kann das harte Wort nicht
unterdrücken), dass du nur an schwarzer Farbe
Freude findest. Ach, wäre ich schwarz wie ein
Rabe und mein Purpurring braun wie ein Mohr,
dann würde ich dir gefallen. Wenn nur Jemand
käme und mich mit schwarzer Tinte färbte, oder
dir wenigstens weiss machte, dass Grün eine
Trauerfarbe ist. So werde ich wie Narciss oder
Hippolyt durch meine eigene Schönheit zu Grunde
gehen. Wenn ich schw^atzte, pfiff und plauderte,
geschahs, um dich zu ergötzen: ich will mir
- 67 -
lieber Schweiften auferlejjfen, als allein an diesem
traurigen Orte zurückbleiben ; ich werde sein
wie der Pelikan, der sich selbst zerfleischt. Bei-
nahe möchte ich den verwünschen, von dem ich
Sprechen und Singen erlernt habe : ehedem
liebtest du meine süssen Töne, küsstest mich,
nanntest mich: mein Freund! da fühlte ich mich
beinahe wie ein Gott; wie oft habe ich dir die
Bissen vom Munde genommen, zu geschweigen
von anderen Vertraulichkeiten; wenn ich dich
beim Ankleiden sah, wenn du dein goldenes
Haupthaar flochtest, war je ein Liebhaber glück-
licher, geehrter denn ich. Hätte auch je einer
mehr Grund zur Eifersucht gehabt, als wenn
ich dich deine beiden Gatten herzen sah? und
doch Hess ich keine Silbe verlauten, sondern
plapperte und schwatzte fort, um deine Freude
nicht zu trüben. Gern sah ich dich von zwei
so hohen Herrn geliebt, von Spanien der eine,
der andere von Savoj-en, keinen schönern gab
es auf Erden. Gern sah ich dich singen, lachen,
tanzen, spielen, und so schön lesen und schreiben,
malen, zeichnen, Instrumente stimmen, deren
Saiten unter deinen Fingern so herrlich rauschten.
Das alles verschmähst du jetzt, deine Augen
zerrtiessen in Thränen, und mich hast du ganz
vergessen. Kann mein Herz den Verlust ertragen
und in diesem öden Turme leben bis zu deiner
Rückkehr? Mit mir trauern hier dein Aff"e, dein
Murmeltier, und Broutique, die Tochter des
— 68 —
(Windhundes) Brutus, von dem Spanien noch
spricht, und ihre Jungen werden mit ihr zu
Grunde gehen. O wir Armen ! Eine Menge
Raubvögel und bissige Hunde führt unsere
Fürstin mit sich, und uns, die sich menschlicher
Natur nähern, die aus ihrer zarten Hand assen,
uns lässt sie in der Fremde zurück; zum Lohn
für meine langjährige Treue muss ich auf diesem
verpestetet! Schlosse verenden, wo ich meinen
Herrn und meine Herrin verloren habe. Ver-
wünscht sei der traurige Ort. — Als letzte Gabe
bitte ich um eines: lass meinen Leib nicht hier
begraben, sondern an einer anmutigen Stätte,
mit bunten Blumen besät, wo Hirten Liebes-
gespräche führen, Vögel plaudern und flöten,
farbige Schmetterlinge sich wiegen, an einem
Bache mit silberner Flut, den Bäume mit grünem
Laub, wilde Rosenstöcke und duftender Weiss-
dorn umrahmen. Wenn dann vorüberwallende
Pilger hier Schatten und Ruhe suchen und auf
den Stein zu treten sich scheuen, weil er der
Venus geheiligt ist, so wird eine liebliche Maid,
die auf grasiger Trift die Schaafe weidet, zu-
fällig zum Quell kommen, und wird ihnen dann
mein Leben und meinen Tod erzählen: „Unter
diesem Steine, wird sie sagen, ruht der grüne
Liebhaber, der seine Heimat Aethiopien aus
jugendlicher Liebe zu seiner Dame verliess, für
sie kam er in die kalte Gegend, wo der Nord-
wind weht, für sie lernte er franzö.sisch, vlämisch,
- 69 —
spanisch, latein, es fehlte nur noch das Deutsche
und dazu hatte er die beste Hoffnung; aber ach,
es wurde ihm verweigert, da starb er vor Gram
und wurde hier begraben." So wird die Schäferin
sagen, und die Pilger werden grüne Zweige und
Blumen auf mein Grab streuen und meinen Ruhm
in alle Weltgegenden tragen. Und des Xachts
beim Mondschein werden Silvanus, Pan und
die Halbgötter der nahen Wälder mit den Feen
und Nymphen kommen und auf meinem Grabe
tanzen und singen. Hast du nicht bemerkt, o
meine schöne Frau, als du mir Lebewohl sagtest,
wie ich nur stumm, in der Vorahnung meines
Endes, dir die Hand zum letzten Abschied ge-
kUsst habe? Nun naht die letzte Stunde: ich
habe weder Gift noch Stahl ; allein — Portia
half sich in ähnlicher Lage mit glühenden Kohlen;
ich habe schon gefunden, ich sehe da einen alten
Hund, der seit gestern früh fastet, ihm gebe ich
mich preis als freiwilliger Aktäon. Warte nur,
wüstes Geschöpf, du sollst eine edle Speise
kriegen, warte nur, bis ich die Epistel fertig
habe, fürchte aber die Rache, die dich ereilen
wird. Dich aber bitte ich, Prinzessin, wenn man
dir die blutige Hülle deines Freundes zeigen
wird, so härme dich nicht, du trägst ja grössere
Leiden; verwünsche nur das Tier, das mich
zerrissen hat, obwohl ich gern den Tod als
Ende meines Unsterns suche. Mein Geist aber
wird dir öfters im Traume erscheinen und dich
— 70 -
durch Hecken und Büsche begleiten, die Vögel
auffordernd, dir mit fröhlichem Gesang ihr Ge-
leite zu geben, den Zephyr ersuchend, dich mit
süssem Hauche zu umwehen, und Flora bittend,
Feld, Wiesen, Berg und Thal mit Blumen zu
schmücken, wohin du gehst. Und nun lebe wohl,
und lasse auf meinen Marmorstein diese Worte
graben : Hier ruht in hartem Gemach der grüne
Liebhaber, dessen hohes Herz, mit wahrer, reiner
Liebe erfüllt, den Verlust seiner Dame nicht
zu überleben vermochte."
Ich müsste mich in meinem Urteile sehr
irren, oder hier ist wirklich in Gedanken und
in Ausdruck — abgesehen von gewissen Längen
und einzelnen Flickworten — Poesie in jenem
anmutig tändelnden Scherztone, in dem Marot
der Meister ist. W^ie wahr empfunden spricht
sich die Liebe zur Herrin und der Schmerz um
ihren Verlust aus, wie einheitlich hält sich der
Ton zwischen gelinder Rührung und leichtem
Scherze, wie lieblich spielt die Freude an der
Natur in die Todessehnsucht hinein:
Aumoins, Princesse, en extreme guerdon
Je te requiers et te siipplie un don:
C'est que rnon corps n'y soit ensevely '.
Ains le nie niets en quelque Heu joly^
Bien tapissä de diverses flourettes,
Ou pastoureaux Uevisent d'amoureltes,
'■ Au pont d'Ains.
— 71 —
Oll Ics oiseuux ja)'i^o}nu'iit et ßajolent.
Et papillons bieit conloiirc.'; y volciit.
Pres d'un riiisseau, ayant l'ondc aygeiitinc,
Autour diiqiiel Ics arhres fönt courtine
De feuille verd, de jqlis englentiers,
Et d'auhespins flairans par les sentiers.
S'il advicut lors qiie pelerins passans,
ChercJunis imibnige, et les lieux verdissans,
Pres de um tiunhe, en estd se reposent,
Et qiie dessus la pierre niarcher n'osent,
(Veit qiie sacree ä Venus sera eile)
Vers CHX vietidra quelque gente pucelle,
Gardant brebis par les preaux hcrbus,
Qui poitr fuyr l'ardeur du der Phebus,
Puravetiture aiipres de la fontanw
Se voudra seoir: Et pour chose certaine.
Apres avoir estanchö sa soif seiche,
En devisant dessus V herbette fr esche,
Leur contera tout le cours de ma vie,
Et de ma niort fdont je prens or envie)
Et leur dira:
La pucelle dit aux passans:
Seigneurs, se Dieu voiis gard
Surf?) ce noir niarbrCj ou vous Jettes regard,
Git l'Amant Verd, de petisee loyalle.
Lequel servit une danie Royalle,
Sans que jantais il luy feist quelque faute.
Natif estoit d'Lthiope la haute
Passa la 7ner taut fiere et taut diverse^
Ou il souffrit mainte grant controverse:
Abandonttant son pays et ses getis,
Poitr venir cy par exploits diligens.
Laissa Egypte et le fleuve du Nil,
Espris d'amoiirs en iin cceur juvenil,
Quant le renoni de sa tresclere danie,
Luy ent esmit tout le courage et l'anie,
Si vint chercher ceßte region froide,
Ou couVt la Bise impetueuse et roide,
Pour veoir la face illustre, clere et belle,
Qu'il perdit, puis, par Fortune rcbelle.
Et pour avoir l'accointance anioureuse
De son desir, sa langue malheureuse
Laboura tant ä son futur dommage
Qu'elle oublia son langage ramage,
Pour savoir faire ou sermon ou harengue
Tanten Fran^ois, comnie en langue Flaniengue,
En Castillan, et en Latin ausst,
Dont ä Vaprendre, il souffrit niaint soucy.
Or estoit il un parfait Trucheniant ,
Et ne restoit fors savoir l'Allemant,
En quoy gisoit son esperance seure,
Si grief rebout ne luy eust couru seure.
Mais laissi fut en un trop dur sejour:
Dont il mourut de dueil ce propre jour.
Et luy fut fait ce nionunient et twnbe,
Dessus leqiiel pluye et rousee tonibe.
Si aura il (par faveur supernelle)
Louenge et bruit en memoire eternelle.
- 73 -
L'amant vcrd :
ui/nsi (iira la bcrgerc au corps gent,
Atix pelerins, et a rnaitit autre gen/
Qtii vouh'iitieys la miennc histoire ovrout.
Et de pitii^, peilt estre, ploureront ,
Et semeront des branches verdelettes
Siir inoii ttinibel, et ßeiirs et violettes:
Pitts s'en iront contans par maiute terre,
Comtnent Amours in'ortt fait cruelle guerre:
Parquoy sera mon bruit tant plus ouvert,
Que du Verd Conte, ou du Chei^alier Verd '.
Et sera dit l'Aniant Verd noble et preux,
Qitaiit il uiourut vray ntartyr aiuoureux.
Et oultreplus^ ä tua tunibe, de nuii,
Quant tont repose, et que la litne luit,
Viendront Silvan, Pan et les Detnydieux
Des bois prochains, et circonvoisins lieiix.
Et avec eux, les Fees et Nyniphettes
Tout alentour faisans joyeuses festes:
Menans deduit, en danses et Caroles,
Et en Chansons d'anioureuses paroles.
Ce seid soitlas auray je apres ina niort.
Quant ä l'esprit, saches que sans niensonge,
11 t'apperra asses de fois en songe.
Et te suivra par hayes et buissons,
Sollicitant que les tauf Joyeux sons
' Ist der Comte verd Aniadcus der \'l., Heizoff von Savo\ en
(1353 — 83)? Paradin, Chronique de Savoye, p. '-21 sqq.
74
Des oiselets, cn toiis liciix te convoyent,
Et par les bois douccment te resjoyent,
Ainsi que celle, ä gut äoivent homniage
Tons beaux oyseatix de quelconque plmnage.
Aussi diray je an gracieux Zephyre
Que desormais luy seid vente et souspire
Bien souefment , ä tont sa doiice haieine:
Et que Flora qiii de totis biens est pleine,
Voist tapissant de floiirettes ineslees,
Les chanips, les pves, les nionts et les valees,
Tant que senibler il puisse que tout rie
Par ou iva ta noble Seigneurie.
Begreiflicherweise fehlte dem Dichter der
Dank seiner Herrin nicht; ähnlich wie Marga-
reta von Valois Marots Genius in einem Epi-
gramme feierte, antwortete unsere Margareta,
welche die Reihe der feinsinnigen Frauen dieses
Namens, die Kunst und Litteratur des 16. Jahr-
hunderts als ihre Gönnerinnen verehren, eröffnet,
mit folgenden vier Versen:
Ton escritoire ha st bonne pyatique,
Que si m'en crois sera bien estimee.
Parquoy concluds: Ensuis ta Rhetorique:
Cav tu scais bien que par inoy est aymee.
Und später, als Lemaire sich dem französischen
Hofe näherte, fand auch Königin Anna Gefallen
an seinem Briefe und liebte es, Verse daraus
anzuführen.
— /o —
Der erste Brief des grünen Liebhabers ist
während der Reise Margaretas nach Deutsch-
land nicht lange nach dem Tode ihres Gemahls
geschrieben, wie der ganze Ton des Briefes
zeigt. Das Jahr l'iOo ist durch den Umstand,
dass sie ihren Bruder, den König, zu sehen hofft,
unzweideutig bestimmt.
Elle va vcoiy In noble Genniinic,
Elle va veoir le Roy Rojiiaiii so>i peye,
Et l'autre Roy son seid frere prospere.
Erst im Dezember 1.t04 nahm Philipp den Königs-
titcl von Kastilien an, und im Januar 1506 trat
er die Reise nach Spanien an, von der er nicht
wieder zurückkehren sollte >.
Der zweite Brief ist vier oder fünf Jahre
später entstanden, zur Zeit als Lemaire im Begriff
stand, den Druck des ersten Buches seiner Illu-
strations fertig zu legen. Jedenfalls ist er nach
dem Frieden von Cambray geschrieben. Er ist
wie der erste an Margareta gerichtet, eigent-
lich ist er aber für die Königin Anna von Frank-
reich bestimmte
' Die erste Epistel /Uhll 380 paarweise jjereimte Zehn-
silbcr ohne Wechsel mUnnlicher und weiblicher Reime.
•^ „Par les liennes dernieres letlres . . . j'ay \eu et entendu,
comment nostre premiere epistre de l'Amant verd, ha despieca
trouv<? grace devant les yeux de la Royne, voire tant qu'elle
la ramentoit encores quelque fois . . . Dont comme je fusse
prochain de metire fin i\ Tiinpression du premier livre des
Illustrations et Singularitez, je me suis avis6, que ce ne seroit
— 76 —
Der grüne Liebhaber schreibt aus dem Jen-
seits an Margareta, nachdem sie von ihrer Reise
an den Rhein, die Maas und die Seine zurück-
gekehrt ist, in welcher Glückseligkeit er lebt,
wenn er nur recht oft den Namen seiner Herrin
hört, bei dessen süssem Klang er ganz vor
Liebesverlangen erbebt ; er dankt ihr für die ihm
gesetzte Grabschrift, die seinen Ruhm durch
ganz Europa verbreitet hat: alle Frauen läsen
sein Abschiedsschreiben und suchten unter sich
die rührendsten Stellen heraus, um sich zu Mit-
leid bewegen zu lassen. Um der Fürstin seine
Erkenntlichkeit zu beweisen, erzählt er ihr, wie
es ihm seit seinem Tode gegangen war, w^ie
Merkur seine Seele abgeholt, am Tenarusfelsen
in den Tartarusschlund geführt, wie Cerberus
ihnen das eiserne Höllenthor geöffnet, Charon
sie über den Styx gesetzt. Hier zeigte ihm Mer-
kur die beiden Flüsse der Unterwelt; im flam-
menden Schw^efelstrome erblickte er in Marter-
qualen die Hydra des Herkules, die Stiere des
Jason, den Stier der Pasiphae, den Drachen, den
Sankt Georg überwand , denjenigen , der die
heilige Margareta verschlingen wollte, den Raben
aus derArcheNoah, den Minotaurus, die Schlange,
die Eurydice biss, die Rosse, die den heiligen
point chose malseant, ne desagreable au lecteur, d'aussi faire ini-
primer ladite epistre, Et encores y adjouster la seconde, pour
cstre cnsemble publiees, souz la tresheureuse guide, et dcco-
ration du nom de sa hautesse et majestö tres clere". Widmung
an Ican Perreal. 1. Mitrz 1510.
- 77 -
Hippolytus vierteilten, die, welche Theseus' Sohn
zu Tode schleiften, das Pferd, das den Tod des
Prinzen von Portugal (Alfons, Sohn Johanns des IL,
t 1491) verursachte, die bekannten Pferde,
welche mit Menschenfleisch genährt wurden,
den Passgänger, von dem Maria von Burgund
stürzte, das Maultier, in dessen Huf das Gift
für Alexander aufbewahrt wurde, den Eber,
der Adonis verwundete, die Hunde, die Aktäon
zerfleischten, seinen eigenen Mörder, und im
tiefsten Grunde das Seeungetüm, das Andromeda
verschlingen wollte, und Schlangen, Skorpionen,
Basilisken und aller Art giftiges Gewürm; im
Acheron daneben zitterten vor Frost und klap-
perten mit den Zähnen Löwen, Bären, Tiger,
Wölfe, wüthende Hunde, Böcke, Ziegen, Wach-
teln, Rebhühner, Mücken, Bremsen, Wespen,
Ratten und Mäuse, Schnecken und Spinnen,
Flöhe, Läuse und Wanzen (puces et poux et
punaises puantes), Füchse, Eulen, Schweine,
Drosseln, Geier, Nachtkäuze, Raubvögel, Affen,
Kobolde, Krokodile, Harpyen, Greife, Werwölfe
usw.; und das gesammte Getier heulte und biss
und stiess und schlug gegeneinander.
Nachdem Minos auf Merkurs Fürsprache
dem treuen Liebhaber den Eintritt in die Ely-
säischen Felder gestattet, und dieser sich am
Lethe beinahe einen Rausch angetrunken (Si en
bus tant que presque je fus yvre) stiegen sie
durch eine enge, steile Schlucht an das Tages-
- 78 -
licht empor und gelangten zu den Inseln der
Glückseligen. Hier verabschiedete sich Merkur
und der Neuangekommene beschaute von einem
Orangenbaum die herrliche Insel; da gesellte
sich Esprit vermeil zu ihm, der Geist des kar-
mesinroten Papageis, den einst Erzherzog Sigis-
mund, Maximilian's Ohm, Maria von Burgund
geschenkt, und den eine Genette tötete; es kamen
auch die übrigen Gäste des weiten Reiches : der
Phönix, Fasane, Pellikane, Tauben, SchAvalben,
Nachtigallen, Buchfinken, Hähne, Grünfinken,
Zeisige, Amseln, Haselhühner, Schwäne, Lerchen,
Kraniche, Königsadler, Störche und hundert
andere liebliche Vögel', und stimmten alle auf
die Bitte des grünen Liebhabers einen viel-
stimmigen Preisgesang auf die Prinzessin Mar-
gareta an; daraufführte der rote Papagei seinen
grünen Freund herum und wies ihm die berühm-
ten Tiere, die dort weilten: Lesbias Sperling,
die Gans des Capitols, den beredten Raben,
den Plinius rühmt, den weisen Gerfalken Maxi-
milians, die Tauben, die mit dem Jesuskinde im
Tempel vorgestellt wurden, den Hahn, der Petrus
warnte, die Taube, die den Oelzweig zur Arche
zurückbrachte, den Adler Karls des Grossen,
den Schwan von Kleve, das Stachelschwein von
Orleans (Ludwigs des XII.), das englische Her-
melin, die Bienen, die Piaton Honig auf die
Lippen legten, die Fliege, die Virgil beweint,
1 Cf. Ovid, Am. II, 6.
- 7^) -
die Heuschrecken, von denen Johannes der Täu-
fer sich nährte, das Kameel, mit dessen Fell er
sich bekleidete, den Esel, der Maria trug, den
Ochsen, der das Christuskind in der Krippe
erwärmte, das Osterlamm, das Schaaf, dessen
Vliess Jason eroberte, den Bären des heiligen
Vedastus, das Schwein des heiligen Antonius,
den Hund des heiligen. Kochus, die Bärin, die
Ourson nährte, die Wölfin des Romulus, den
Löwen des heiligen Hieronj-mus , das Pferd
Sankt Georgs, Montaigne (?), Bucephalus, Savoie,
das Pferd Karls des VIII., Bayart, der nicht mehr in
den Ardennen weilt, die Lämmer der heiligen
Margareta, die Hirsche des heiligen Eustachius
und Hubertus, die Hindin des Sertorius , und
Brutus denWindhund, die Schlange derLusignan ;
alle Tiere lebten unter sich im schönsten Frieden.
Ziemlich lange schon Aveilte der grüne Lieb-
haber in diesem Paradiese, ohne dass Merkur
neue Geister hingebracht hätte. Eines Tages
schaute er vom Ufer dem Spiele des Delphins,
der Arion gerettet hatte, zu : da kamen ein Hirsch
und eine Hindin mit dem Wappen Margaretas
an ihren Halsbändern, sofort grüsste er ihren
Führer und hörte nun, wie seine Herrin Frieden
gestiftet imter allen Fürsten Europas, und Avie
sie allgemein geliebt werde; der Schreiber des
Briefes beruft sich auf die Königin Anna von
Frankreich und schliesst mit Segnungen auf
beide Fürstinnen.
- 80 —
Icy prend fin Ic inien joyeux escrire
Dont 011 veyra plusieurs gens asses rire.
Dieser zweite Brief, in dem Lemaire seinen
Scherz fortsetzte, ist mit gleicher Frische und
vielleicht mit noch mehr Humor geschrieben
als der erste, er legt Zeugniss ab von dem Reich-
thum und der Fruchtbarkeit der Einbildungs-
kraft ihres Verfassers. Die Erzählung verläuft
auf das anmutigste in Gesprächen zwischen
dem grünen Liebhaber und Merkur oder Esprit
vermeil. In der Schilderung der Unterwelt wett-
eifert Lemaire mit Virgil und Dante:
Quant OH est outre^, alors la clavti faut
Et ne voit on goiitc ne bas tie haut:
Mais bien ot on des cris espouventables,
Fiers nrlemens de bestes redoiitables.
Lors j'eus frayeur de tels inugissernens,
Briiit de rnarteaux, chaines et ferremens,
Grans tombemens de niontaigne en ruyne.
Et grand soufflis de vents avec byuyne.
J'avoye aussi bien pres de mes oreilles
Oiseaux bruyans de stridenrs nonpareilles
Batans de l'esle, et faisans grans nmrntures,
Claquans du bec, conimeun droit son d'arntures.
Si nie tapis au plus pres de ma guide:
Car de chaleur ma poitrine estoit vuide.
Taut peur avoie.
> le Stvx.
- 81 -
Als Gegenstück cmplichlt sich die Schilderung
der glückseligen Inseln:
Le tcms esioit tont der et saphiriii,
Le soleil haut; et le vent Zephyrin
Oriental, doucement soupiroit,
Voire si cfoitx, qne plus i'l ne pourroit.
Alors, content de nui riche Fortune,
Je vois choisir une place opportune
Pour speculer tout le noble pourpris,
Ou vo)it Volant taut de joyeux esprits.
Si me hranchay sur un Oranger verd,
De fleurs, de fruits, de fueilles bien couvert:
Et regarday la grand nier spacieuse,
Qui Circuit l'islc delicieuse.
Iranquille estoit et calme la marine,
Clere et luisant conime belle verrine.
L'isle eslevee, ou niylieu grande et lee:
Ayant maint tertre et ombreuse valee.
Mais le Soleil combien qiCil y fut haut,
N'y estoit point excessif ne trop chaut ;
Ains y fut tout riant en ßouriture,
Souef flairant, de diverse peinture.
Et comme ainsi je conteniplasse tout,
Asseoir se vint pres de moy ä un bout
Un der esprit, portant plume naive
De cramoisi, tres vermeille et tres vive^.
' Die zweite Epistel znhlt 576 paarweise gereimte Zehn-
silbcr ohne Wechsel des Reimgeschlechts.
Becker, Jean Lemaire. 6
- 82 -
Die beiden Briefe erschienen zusammen im
Jahre 1510 mit einer Widmung an Jean Perreal
im Anhang an das erste Buch der Illustrations.
Der erste Brief bildet das erste rein künstlerische
Werk Lemaires: er hat seinen Ruhm als Dich-
ter begründet und wird ihm noch heute als ein
Hauptverdienst angerechnet. Durch die Leicht-
fertigkeit seiner ersten Biographen hatten diese
Episteln eine unverdiente Bedeutung für seine
Lebensgeschichte erhalten. Sallier nahm an,
Lemaire bezeichne sich selbst als grünen
Liebhaber, und Goujet machte darüber allerlei
hübsche Hypothesen.
Um beide Briefe zusammenhängend zu be-
sprechen, haben wir einen Sprung gemacht;
wir müssen nun wieder zurückgreifen.
VI.
Margareta begnügte sich nicht damit, dem
Dichter ihren Dank für seine W^idmung in
Versen auszudrücken, sie sorgte auch für sein
weiteres Fortkommen. Auf ihre ausdrückliche
Bitte sicherte ihr Bruder, König Philipp, Jean
Lemaire die Anwartschaft auf das Amt eines
Historiographen und Indiciarius des Hauses
Oesterreich, Kastilien und Burgund zu, wenn es
durch das Hinscheiden des bereits siebzigjährigen
Molinet erledigt w^erden würde: das geschah
auf dem Schlosse zu Kleve in Gegenwart und
mit Genehmigung des Kaisers, also wohl im
- 83 -
Juni löO.")'. Eigentlich war Molinet Historio-
graph des Hauses Burgund wie sein VorgUnger
Chastellain ; ich weiss nicht, ob er auch den Titel
Indiciarius des Königs von Kastilien annahm:
jedenfalls wird dieser von Margaretas Leibarzt
Pierre Picot am 10. Mai 1506 Lemaire gegeben,
Petrus P/cofns physicns Johanni Mario archi-
diicis PhiUppi et regis Ciistelle hystoriographo
et suo cotifmniliari S. P. D., während Lemaire
sich in der Antwort indiciaire et hystoriographe
de ma dame la duchesse de Snvoye ßlle ä l'evi-
pereur Maxi)}iilian nennt'-.
Uebcr den Verbleib Lemaires im Jahre 1505
sind wir nicht unterrichtet ; wir können nur aus
der ersten Epistel des grünen Liebhabers schlies-
sen, dass er das Frühjahr in Savoyen, wahr-
scheinlich in Pont-d'Ain verbrachte. Im folgen-
den Jahre führten ihn die Geschäfte seiner
Herrin nach Italien.
Philibert der Schöne war in der Kirche von
Brou beigesetzt worden; die ehemalige Stifts-
' Chronique annale : „Et pouice qu'il sembla k rexcellencc
de ma tres rcdoubtee dame que ma petitesse avoit quelque
Industrie en faits d'histoires et que le feu Roj- ä la requeste
expresse d'elle, ou chasteau de Cleves et en la presence et par
l'adveu et consentemcnt du Roy son pere, m'avoit reservö led.
Oflfice de indiciaire et hystoriographe de la maison d'Autriche,
Casiille et Bourgogne, quand il echerroit k vacquer par le trespas
dud. M*^ Molinet , mon precepteur et parent . . ." Oeuvres
IV, 52*2. — Ueber die Reise des Kaisers cf. Collection des
voyages des souverains des Pays-Bas ed. Gachard I, 394.
* Beide Briefe, auf die wir gleich zurückkommen, sind zu
linden im Sammelbande von S. Champier, de medicine claris
scriptoribus etc., dessen Druck im Sommer IciOö im Gange war.
84
kirche, welche beim ersten Meilenstein ausser-
halb der Mauern von Bourg-en-Bresse lag, war
säkularisiert und wurde von Geistlichen aus
der Stadt versehen. Margareta wollte an dieser
Stätte eine neue Kirche unter der Anrufung
des heiligen Nikolaus de Tolentino nebst einem
Kloster für zwölf Augustinermönche der lom-
bardischen Kongregation erbauen, während die
Priorei und alle Rechte der bisherigen Sankt-
Peterskirche an die Liebfrauenkirche von Bourg
übergehen sollten. Auf ihr Ansuchen ernannten
die inkorporirten Priester der betreffenden Kir-
chen am 27. April 1506 ihre Prokuratoren bei
der römischen Kurie, nemlich den apostolischen
Protonotar Philibert Naturel, Domprobst von
Utrecht, und die Magister Benediktus Bordis,
Berardus de Molario, Reginaldus Decorne und
Johannes Lemayre. Philibert Naturel weilte
in Rom als Gesanter Philipps von Kastilien.
Lemaires Reise ging über Lyon und Venedig.
Im Mai war er in der Rhonestadt, in Venedig
verbrachte er das Pfingstfest und im Juli war
er in Rom, wie er selbst gelegentlich in der
Legende des Veniciens mitteilt. Am 17. Juli stellte
der Papst die Bulle aus und am 27. August
nahmen die Augustinermönche die Kirche in
Besitz'.
' Vgl. J. Baux, Histoire de Töglise de Brou, Ljon 1854.
Documents II, p.321 und die folgenden. — Legende des Veniciens:
»je scay bien, que l'an mille cinq cens et six, es festes de Pen-
tecouste moy estant k Venise , on me dit que l'abbö Joachim
— K) —
Ueber Lcmaires vorübergehenden Aufent-
halt in Lyon erfahren wir interessante Einzel-
heiten aus dem Briefwechsel des Arztes Sym-
phorien Champier und seiner Freunde,
Symphorien Champier ist einer der vielseitig-
sten und unruhigsten Köpfe jener gährenden
Zeit der FrUhrenaissance. Er war 1472 in Saint-
Symphorien an der Coise im Lyonnais von einer
namhaften Familie geboren ; er studierte um 1490
in Paris, die Humanitcät unter Guido Juvenalis,
Johannes Ferdinandus, Faustus Andrclinus und
Hieronymus Baibus, die Künste und Philosophie
unter Cornelius Oudendyk und Johannes Colet ;
hierauf widmete er sich dem Studium der Medi-
cin zu Montpellier unter Nicolaus de Pulchro-
bosco und Honoratus Piquetus und Hess sich
dann als Arzt in Lyon nieder. Hier begann er
1498 seine litterarische Thätigkeit, die sich gleich
mit den ersten Schriften über allerlei philoso-
phische, geheimwissenschaftliche und medici-
nische Fragen erstreckte; bald wendete er sich
auch der französischen Schriftstellerei zu und
gab 1502 das Fürstenschiff, ein Sammelband
prosaischer und metrischer Schriften über Erzie-
hung und dergleichen , und im folgenden Jahre
Caliibrois leur avoit pretigurt- Icur dccadcnce . . .» Oeuvres
III, ;V)2. «moy estant ä Romme en Juillet MDVI. un Chevalier
de Rhodes — me conta — » ibid 397. — In Lyon wurde am 1. Mai
die Zustimmung- zweier dort weilender inkorporierter Priester
der beiden Kirchen zu der in Bourg aufgesetzten Urkunde
notariell aufgenommen. \gl. J. Baux 1. c. p. 3'J5.
— So-
das Schiff der tugendhaften Frauen, ebenfalls
mehrere Schriftchen moralisierender Tendenz
über Frauen, Liebe und Ehe, heraus. Durch letz-
teres Buch, das er Anna von Bourbon und ihrer
Tochter widmete, gewann Champier vollends
die Gunst der Frauen, die ihm nie abhold gewesen
waren ; ihm verdankte er die Hand der schönen
Margareta von Terrail, der Cousine des tadel-
losen Ritters Bayard. Nach einander Hess er
nun seine Bücher de medicine claris scriptori-
bus (1506), de quadriiplici vita (1507), de triplici
discipUna (1509), erscheinen, neue Sammelbände
des allerverschiedensten philosophischen, medi-
zinischen, historischen Inhalts. Um diese Zeit
trat er in den Dienst des Herzogs Anton von
Lothringen, und begleitete ihn auf dem Feld-
zuge nach Italien (1509). Im Jahre 1515 nahm er
in seinem Gefolge an der Schlacht bei Marignano
Teil und gewann dabei die Rittersporen. Cham-
pier hatte sich in Nancy niedergelassen, er
kehrte aber wieder nach Lyon zurück und beklei-
dete zweimal das Amt eines Konsuls und Stadt-
raths 1520 und 1534, nachdem er in der Zwischen-
zeit die Stadt eine Weile gemieden, weil ihm
1529 sein Haus bei einem Volksauflauf geplündert
worden war. Unterdessen hörte er nicht auf zu
schreiben und zu drucken; bekannt sind seine
Geschichte Lothringens, le Recneil oii croniques
des hystoires des royatanes d'Austyasie , ou
France Orientale, dite ä present Lorrayne etc.
— 8/ —
ir)10, und das Leben seines Vetters: Ics Gcstes,
cnsemblc la vic du prcux Chevalier Bayavd 1525,
Hlr überschritt das 65. Lebensjahr'.
Champier verband mit seinem vielseitigen
Wissen ein unerschütterliches Selbstbevvusst-
sein, das stark an Eitelkeit streifte; die Kunst,
sich von Freunden und Bekannten loben zu
lassen, trieb er bis zur Mei.sterschaft. Im Jahre
1506 musste auch Lemaire sein Scherflein bei-
tragen; Pierre Picot, Margaretas Leibarzt, trieb
ihn dazu an: in einem Brief, den Champier
abgedruckt hat, dankt Picot Lemaire lür ein
uns nicht erhaltenes Schreiben, dessen geist-
reichen Ton und gediegenen Inhalt er rühmt,
und fordert ihn auf, in Champiers Lob uner-
müdet fortzufahren, zum Schlüsse bittet er ihn,
den Lyoner Arzt und dessen Freund Gondi-
salvus Toledo in seinem Auftrage zu grüssen;
offenbar war Lemaire in Lyon, wenn er diese
Grüs.se bestellen sollte'^. Kurz nachdem er Lyon
verlassen hat, schreibt er seinerseits an Picot:
A Monseigneur, M. Pierre Picot docteur
es ars et en medecine, Physicien, sti-
» P. Allut, Etüde biographique et bibliographique sur
S\ mphorien Champier, Lyon 1859, hat das biographische Material
unvollständig ausgenützt ; obige kurze .\ngaben sind nach den
(>)uellen richtig gestellt und ergänzt, als solche sind vor allem
Champiers Schriften zu betrachten.
^ Picots Brief (s. Anh. III, 1) ist vom 10. Mai 1506. Da
Lemaire schon am 1. Mai in Lyon war (s. p. 84, Anm. 1), so
wird er wahrscheinlich den verloren gegangenen Brief von
Lyon an Picot gerichtet haben.
— HS —
pendiaire de ma tres redoubtee dame, ma
dame la duchesse de Savoye fille u
l'empereur Maximilian, Jehan Lemaire
indiciaire et h3'Storiographe de ladicte
princesse. Salut.
Nuperrime cum Lugduni essem, vir orna-
tissime, ainsi que par curiosite naturelle, je
m'emploie voulentiers ä investiguer choses
nouvelles, perscrutans diligenter officinas calco-
graphorum nostrorum, je trouvay preste ä
mettre sur leurs formes impressoires une euvre
nouvelle de ce treselegant philosophe orateur
hystorien et physicien messire Symphorien
Champier lyonnais, tractans des hommes
illustres antiques et recentz, lesquels de doc-
trina vestra apollinea benemeriti sunt, en-
semble ung aultre recueil de ceulx qui ont
redige par escript les loix divines, et oultre ce
une impugnation tresvehemente contre la secte
mahumeticque. Quae quidem omnia, et si doc-
trinam ingentem hominis pre se ferant, venam-
que divitem eloquentie ostendent, magis tarnen
demiratus sum laborem illum, et quidem labo-
riosissimum, obstupuique cum ex tam inextri-
cabili laberintho in lucem limpidissimam eum
facile conspexi prodiisse, presertim virum alijs
negocijs preperditum, persuasique mihi illum
non nisi ad instructionem publicam se natum
putare. Car desja j'avoye autreffoys veu assez
de ses louables labeurs imprimez: tant en
— 89 —
latin comme en nostre languc gallicamc. Ratus
igitur sententiam hanc esse verissimam, quod
bonos alit artes, omnesque accendunt//r ad
studia gloria, neque ab ofiicio meo abhorrere
laudationem eins qui a cunctis extolli meretur,
j'ay escript ä sa louenge hoc epigrammati-
culum vernaculum, qualecunque est ruditer
fabrelactum, lequel j'envoye ä ton humanittS,
ut scias me eum, qui familiam tuam tarn mul-
timodis scriptionibus honorat, etiam honore
non vulgari prosequi. Vale.
Chaiit iioifcel.
Champier s;cntil, richc chanip, pur, cntier,
Ton noin, ton los janiais ne soiit tcnii.::.
Ta gloire croist eu sublime sentier,
En bruit haultain et en biens infinit s ;
Tu floriras en tous lieux par droicture
Et seras dict territoire fertil,
Chainp piain d'honneur et piain de flouriture,
Bien cultivö, noble Champier gentil.
Ne crains envie et sa rüde poincture,
Car leurs meffaicts en fin seront pugniz :
Mais suy tousjours ta bienfaisant nature,
Dont les exploits sont laues et beniz.
Gentil Champier, honnorable et tttil,
Qui nous produi.z doctrinalle pasture,
Tant sont soue/~ les biens de ton courtil,
Qu'd iexpriutcr faible est nion escripture.
— QO —
Ta)it sollt tes faits bien faits et bieii fouvnits
Qtie ne souffit nion euere et nion papier,
Ains servent peii nies vevs trop mal itnis
Poiir extoller iiiig si geritil Chanipier.
Fac et speraK
Der hyperbolische Ton dieser Lobpreisung
entspricht ganz dem Geiste und der Weise des
16. Jahrhunderts und bedeutet an und für sich
kein innigeres Freundschaftsverhältniss zwischen
Champier und Lemaire. Hätte ein solches bestan-
den, oder hätte der Lyoner Arzt dem Henne-
gauer Dichter die Bedeutung seiner lateinisch
schreibenden Bekannten beigemessen, so hätte
er ihn wohl in den Katalog seiner Freunde auf-
genommen, den er 1508 in sein Buch de triplici
disciplina einschaltete. Lemaires Name steht
nicht darin, wir werden mithin auch auf seine
Beziehungen zu Champier kein besonderes Ge-
wicht legen. Diese Briefe lehren uns nur, dass
Lemaire mit seiner zuthunlichen Natur auch
mit den Lyoner Aerzten auf freundschaftlichem
Fusse stand.
Gleichfalls nur vorübergehender Art und
weit entfernt auch nur im geringsten den Cha-
' Dieser Brief, ebenso wie die darin erwähnten Schriften
belinden sich im Sammelbande vom Jahre 1506, de medicine
claris scriptoribus. Champier hat ihn abermals mit den nötigen
Aenderungen für seine austrasische Chronik benutzt, daraus
hat ihn de Colonia fehlerhaft abgedruckt, von diesem hat ihn
Stecher, Oeuvres IV, 428, übernommen. — Der angehängte
Chant nouvel ist ein zwanzigzeiliges Refraingedicht in Zehn-
silbern : abab, cdcd. caca. dcdc, baba. Der Form nach ist es
eigentlich ein Double Virelai de nouvelle taille.
— m —
raktcr einer regelrecht eingerichteten Akademie
zu tragen, wie de Colonia gemeint hat', sind
die Beziehungen, die Lemaire während seines
Aufenthaltes in Lyon mit einem anderen Kor-
respondenten Champiers anknüpfte. Humbertus
I^\)urnerius schildert in einem Brief an den
Lyoner Arzt die Reize seines Musseiebens auf
dem ehemals der Venus, jetzt der heiligen Jung-
frau geweihten Berge in der Nähe von Lyon;
dieser Berg ist ohne Zweifel der die ganze
Stadt überschauende Hügel von Fourvi^re am
rechten Ufer der Saone; auf dessen Rücken
erhebt sich die Liebfrauenkirche, ein berühmter
Wallfahrtsort, die nach dem Glauben der dor-
tigen Gelehrten auf der Stätte eines alten Venus-
tempels aufgebaut wäre. Notre-Dame de Four-
viere hatte ein Kapitel von zehn Chorherren,
die meist in der Stadt unten wohnten, aber auf
der Höhe ihr Haus mit umliegenden Gärten und
einem sehr tiefen Brunnen hatten K Humbert
Fournier, der mir übrigens nur aus diesen Briefen
bekannt ist, lebt also hier mit Andreas Victonius,
seinem Sokrates, dessen seltene Begabung, Sit-
tenreinheit und makelloses geistliches Leben er
in überschwenglichen Worten rühmt; möglicher-
weise war Victonius Kanonikus der Liebfrauen-
' De Colonia S. J., Histoirc litteraire de Lyon II, 466.
- Jodoci Sinceri Itincrarium Galliae Ib'Ii. p. L'37. Ich weiss
nicht, ob ich diese Einzelheiten mit Fug auf den Beginn des
Ib. Jahrhunderts übertrage. — Fourvifere ist eher Forum vetus
als Veneris.
92
kirchei. Als Gäste sind dabei der Leibarzt der
Königin von Frankreich und königliche Electus
von Lyon Gondisalvus Toledo, 'das zweite Auge
der Akademie', ein Verwanter Champiers. den
Fournier Musäus nennt, und ein anderer Unbe-
kannter, dem er den Beinamen Orpheus gibt.
Die Mussestunden werden, wie es sich für
Männer der Frührenaissance geziemt, dazu be-
nutzt, das ganze humanistische Wissen in umfas-
sender Weise durchzuackern, um die leider ver-
geudeten Jugendjahre wieder einzuholen. Mit
Victonius ergeht sich das Gespräch über die
Religion, den Tod, die Besserung der Sitten,
die Zucht der Seele. Wenn sich die Gesellschaft
nach den ernsten Arbeitsstunden zu heiterem
und scherzhaftem Geplauder vereinigt, da ent-
faltet Gondisalvus, Gelehrter und Künstler in
einer Person, seine mannigfaltigen Gaben; hier
erzählt einer eine witzige Geschichte, dort spricht
ein anderer von den Uebergriffen der Türken,
Fournier tragiert den etruskischen Sänger, ein
anderer gibt dramatische Schaustellungen zum
besten und macht allerlei Zauberkunststücke
vor, bis Victonius die Gedanken der fröhlich
Erregten wieder auf die ernsten Fragen des
ewigen Seelenheils zurücklenkt; dann ergreift
Orpheus seine Lejer, und Musäus entlockt der
' Im Abdruck des anderen Briefes von Fournier im An-
hang des 1. Buches der Illustrations fügt Lemaire ein: domini
Andree Vitonis philosophi, thcologi ac jureconsulti celeberrimi.
cf. Oeuvres IV, 429.
— 93 —
Flöte süsse Töne. Ein ander Mal stärken sich
die Männer Leib und Seele mit unschuldigen
Turnübungen. Oder sie betrachten, von einem
santten Windhauch gefächelt, die vprüberglei-
tende Saone und die Häuser der Stadt; der
Lärm der Maschinen steigt bis zu ihnen hin-
auf, Funken durch.sprühen die Luft ; dann ruhen
ihre Augen auf dem grasbewachsenen Umkreis
der Gegend, den knospenden und sauber umge-
grabenen Reben im Vorhofe, den blumigen Rasen-
plätzen, den grauen Weiden, den lachenden
Wiesen, den fröhlichen Saaten, dem üppigen
Getreide, dem grasigen Gefilde, den waldigen
Bergen, die weithin im Umkreise grünen. Dabei
fehlen freilich die ernsten Sorgen nicht, welche
ein Prozess oder eine ähnliche unangenehme
Geschichte verursacht.
So schreibt F'ournier von der Höhe von
Fourvi^re 1506 im Mai, dem Monat, in dem Alles
grün ist und die Reben zu knospen beginnen
und umgegraben werden. Aus einem späteren
Briefe erfahren wir, dass auch Lemaire damals
in den Freundeskreis eingeführt wurde. Wie
Fournier nemlich seiner Gewohnheit gemäss die
Buchdruckerwerkstätte nach besseren Büchern
durchsuchte fiel ihm Champiers Schrift über
die Krankheiten der Seele und des Leibes —
der vierte Traktat des Sammelbandes von 1506
— , dessen Druck eben begonnen war, in die
Hände, und er fand den anmutigen Brief Lemaires
— 94 —
am Ende der zum Druck gegebenen Handschrift
angeheftet. Durch diesen Fund wurde seine
Freude und seine Ueberraschung verdoppelt;
denn im vergangenen Sommer, als er noch bei
seinem Sokrates im Heiligtume der Jungtrau
wohnte, da hatte er den geistvollen Hehnegauer,
seine stets schlagfertige Beredsamkeit, seine
Kunstgriffe, seine abgerundeten Rythmen, seine
vielseitige Kenntniss der Geschichte und Heroen
kennen gelernt, und war durch eine Rede, die
Lemaire aus dem Stegreif in französischer und
ausonischer Sprache hielt ', so entzückt, dass er,
der schon längst durch seinen Ruf eingenommen
war, sich sofort mit jugendlicher Liebe zu ihm
hingerissen fühlte. Ja, er wähnte sich auf den
Inseln der Glückseligen durch den Besitz des
Mannes, der ohne eigentlich einen Lehrer gehabt
zu haben und trotz seiner vielen Nebengeschäfte
im königlichen Dienste, doch so schmuckvoll
und klangreich vom Reichtum der Worte und
den hellsten Gedankenbächen überströmte, dank
der freundlichen Unterstützung der Natur.
Trotz des Schwulstes lernen wir aus diesem
Briefe Lemaire kennen, wie er im Freundes-
verkehr erschien: eine offene gewinnende Natur,
frisch, unmittelbar, beredt, seines Wertes bewusst,
gern erzählend, dass er alles nur sich selbst ver-
> Ausonius soll wohl lateinisch bedeuten, oder hat Lemaire
sich soviel italienisch angeeignet gehabt, dass er es vor der Rora-
reise zur Schau tragen konnte?
— 05 —
d;uike und wie er leider durch die vielen ander-
weitigen Aufträge vom ruhigen litterarischen
Studium abgezogen werde; kurz eine spontane,
impulsive Künstlernatur".
VII.
Nach seiner italienischen Rei.se hielt sich
Lemaire wahrscheinlich in der NäheMargaretas;
die Bauangelegenheiten von Brou werden die
Herzogin -Wittwe häufiger nach Bourg geführt
haben, wenn sie nicht überhaupt sich dort nieder-
liess. Hier wurde Lemaire durch die unerwar-
tete Nachricht vom Tode Philipps des Schönen
überrascht; der junge König war endlich am
10. Januar von Fiessingen aufgebrochen und
nach einer bedrohten Ueberfahrt am 26. April
in Coruna gelandet; am '2ö. September starb er
zu Burgos, als Opfer seiner Unvorsichtigkeit
oder des Giftes, wie Einige behaupteten.
Lemaire hatte auf die Gunst Philipps grosse
Hoffnungen gesetzt ; recht niedergeschlagen
schreibt er am 11. Oktober aus Bourg an Cham-
pier, indem er ihm einen jungen Mediziner, der in
Montpellier studieren wollte, empfiehlt : „Eigent-
lich sollte ich an nichts denken als an das Leid,
das mich betroffen hat, da ich meinen Fürsten
' Die Briefe Fourniers gebe ich im Anhang III wieder,
damit sich Jedermann an den authentischen Texten überzeugen
kann, was an der berufenen Akademie von Fourviöre ist, dessen
Gespenst in allen Litteraturgcschichten spukt, obwohl Allut,
Etüde sur S. Champier, und Christie, Eticnne Dolct, es Hingst
in seiner Truggestalt enthüllt haben.
— 96 —
und Herrn verloren habe, durch dessen Gunst
ich nicht nur die Armut zu verjagen hoffte,
sondern Reichtümer und ewigen Namen zu
erwerben gedachte, indem ich seine zukünftigen
hohen Thaten besungen hätte'."
Es war der vierte Herr, den Lemaire durch
den Tod verlor. Das Trauerlied über sein Hin-
scheiden: les Regrets de la Dame iiifortiinee
sur le trespas de son tres eher frere uniqiie, ist
seiner Schwester Margareta in den Mund gelegt
und mit ihrer Devise: Fortune infortune fort
ime gezeichnet. Da Margareta es liebte, ihr Leid
in Versen zu klagen, so hat man die Frage auf-
geworfen, ob diese Trauerklage nicht etwa von
ihr gedichtet wäre. Indessen trägt das Gedicht
zu sehr das Gepräge von Lemaires Manier und
metrischer Fertigkeit, als dass wir es ihm ab-
sprechen möchten^.
Die 'Trauerklage der unglücklichen Frau'
ist ein unmittelbarer lyrischer Erguss, verhält-
nissmässig kurz und von einheitlicher Stimmung.
Zwar kann Lemaire von seinen Spitzfindeleien
nicht lassen :
» Vgl. Anh. III, 3.
2 Man kann vielleicht eine Anspielung auf dieses Klage-
gedicht in dem Virelay double auf den Tod der Königin Anna
von Frankreich sehen :
Du bon Bourbon le trespas stirvcitant
Me fit plourer, et puis tont d'tin tciiant,
J'ay dcplori la perte de Ligny,
Savoye atissi et Castille plaigny,
Vvcy la stiite et le pis advenatit.
— 97 —
Mc soit la lati^uc cn licii de cinq ccns »lille,
J'üxe la voix (fe tonte la fuDiiUe
D'Adatn yssiie, et l'alaine de inesme:
Encor »era mo}i hriiit sobre et hnniilt,
Non coniparablc au dueil, ntais dissitnile,
Taut sui le chef des peu heureuses femnies,
Souibre et piteuse en doulotireux achesmes:
Sans or, sans pourpre et precieuses genimes,
A par moy pleiire ayant cause fcrtile,
Voyant tous uonis qui cotntnencent par M, M,
Ja soieut ils ornez de diadesnies,
Designer niort et malheur inutile,
M, eut ou noni de madame de niere,
Dont le trespas est de memoire amere,
Causant regret qui point ne nie respite.
M, est aussi inille fois peu prospere,
Ou chef du nom de monseigneur et pere:
Lequel forlune asses trouble et despiie.
Puis on void M, ou nom de Marguerite,
Qui signifie, et sans mon demerite,
Meschef malin, martyre, et mal austere.
Si croy de vray que sous ceste M, habite
Misere et mort ou malheurtä maudite,
Marrisson morne et tout mauvais mystere.
Daneben erzielt der Dichter mit einfachen, natür-
lichen Mitteln viel ergreifendere Wirkungen. Es
will Margareta scheinen, als müsste die ganze
Natur an ihrer Trauer Teil nehmen.
Becker, Jean Lemaire. 7
— 98 —
Or ni'appert il qiie tont le monde trenible,
Tont arhrefend, pin, poiiplier, chesne et tremble,
Chasctin d'eux verse esrachant sa rächte,
Roch contre roch hideiisenient s'asseinble,
Un grief orage effondre tont ensenible.
La terre crosle et donrie horrible sigrie.
N'est riens vivant qui de pleiir ne se nieste,
L'enfant au bers refiise ta niainelle,
La liiere attssi se dit lasse et chetive:
Le pasteiir inort, tous les troiipeanx mngissent :
Les nioiitons d'or qui leur inaux presagissent
Latssent le paistre, et jettent vois piteuse.
Lyons rampans horriblement niugissent,
Fiers Leopars dolens a terre gisent.
Brief tonte chose en est matte et honteuse.
Denn der Tod, nicht zufrieden mit der früheren
Beute, hat ihr den Bruder genommen, dessen
wachsender Ruhm sie über die erlebten Verluste
tröstete :
Helas mon frere estant jadis nia joye,
Ta inort nous fait de ces inaux tel inontjoye.
Et ton aniour m'est bien chere or ä prime.
Jeune, beau, riche, autant que nul que j'oye,
Comme plus grand tous les jours te sonjoye:
Tu m'es failly par inort et par son crime'^.
' Die Regretz, Oeuvres III, 187 ff., wurden 1509 mit der
Plainte du Desir6 im Anhang an die Legende des Veniciens
— 99 —
WUhrcnd Johanna von Kastilien von den
Schatten des Trübsinns befangen die Leiche
ihres Gatten langsam durch Spanien führte,
um sie in Granada beizulegen: übernahm Mar-
garcta im Auftrage ihres \'aters die Vormund-
schaft ihrer Neffen und die Regentschaft in den
Niederlanden. Sie nahm Abschied von ihrem
Wittwensitz und in Winterszeit überschritt sie
den Rhein, um dem Kaiser entgegen zu gehen.
In Donaueschingen zeigte ihr Ulrich von Für-
stenberg, der sie geleitete, die Quelle der Donau
und Hess ihr von ihrem Wasser in einer gol-
denen Schale reichen, sie kostete es und sagte
dann in dieser sanften und menschenfreundlichen
Weise, wie es Fürstinnen thun, lächelnd: Gott
und dem Schicksale zu Danke, habe sie in ihrem
Leben gethan, was seit langer Zeit keine andere
Frau aus vornehmem Hause gethan, denn sie
habe die grössten Flüsse der Christenheit in
Frankreich, Spanien, Savoyen, Italien und nun
auch in Deutschland gesehen, was seit lange
keiner Prinzessin geschehen war. Dieses Wort,
welches den Umstehenden alle ihre Unglücks-
fälle in das Gedächtniss zurückrief, rührte die
meisten bis zu Tränen, um sie aber zu trösten,
wendeten sie es zum Scherz und zogen weiter.
Lemaire, der sich in dem Gefolge von drei-
hundert Reitern oder mehr befand, Hess sich
gedruckt. Das Gedicht z.'lhlt 14 zwölfzcilige Zehnsilberstrophen:
aabaabbbcbbc, weiblichen Reims.
— 100 —
bei der Gelegenheit erzählen, dass von dem-
selben Gebirge drei der grössten und vornehm-
sten Flüsse Europas entsprängen, um nach ent-
gegengesetzten Himmelsrichtungen zu fliessen:
Donau, Rhone und Rhein. Der Schwarzwald
aber war rings mit Schnee bedeckt, und darunter
grünte er von hohen, mit schweren Aesten
behangenen Tannen'.
In Strassburg trat Margareta mit ihrem
Vater zusammen. Auch diesen Aufenthalt be-
nutzte Lemaire, um Nachrichten und Inschriften
in der Stadt und der Umgegend zu sammeln.
Durch Urkunde vom 18. März 1507 erteilte Maxi-
milian seiner Tochter Vollmacht als unwider-
rufliche Statthalterin der Niederlande und betraute
sie mit der Vormundschaft seiner Enkel. Mar-
gareta feierte das Osterfest in Mecheln und hielt
dann mit zahlreichem Gefolge Umzug, um die
Huldigung der Stände und Städte entgegenzu-
nehmen. Ihr Weg ging über Löwen, Brüssel,
Soignies, Mons, Valenciennes , Douai, Arras,
Lille, Gent, Brügge, von da zur See nach Hol-
land und Seeland, und über Antwerpen zurück
nach Mecheln. Lemaire begleitete sie auf dieser
Reise, welche von Ende April bis Anfang Juli
dauerte. Mit innigem Behagen sah Lemaire die
jubelnden Freudebezeugungen der Hennegauer,
' Illustrations III, Oeuvres II, 309. — la Noirc monlaitrne,
laquelle pour lors blanchissoit toute de neige et verdoyoit de
hauts sapins bien revestuz et bien branchuz.
— 101 —
die alle Strassen von Mons bis Valenciennes
belagerten; es wollte ihm dünken als wären
seine Landsleute nicht bloss freier und offener
in ihrer Liebe, sondern hätten auch eine lebhaf-
tere und beredtere Weise, ihr Wohlwollen und
ihre Ergebenheit in Worten, Zurufen, Geberden
und Gesichtsausdruck zu bekunden. Es waren
ungewisse Zeiten, einerseits musste man die
Grenzbezirke, die von Frankreich beunruhigt
wurden, in ihrer Treue bestärken, andererseits
durfte man sich von Flandern, wo Leidenschaft
und Meuterei gährten, nicht zu weit entfernen.
In Arras wurde ein Anschlag, die Stadt den
Franzosen auszuliefern, von einem der Mitwis-
senden, der durch den Anblick der Fürstin so
mächtig ergriffen war, zur Anzeige gebracht
und der Rädelsführer auf dem Marktplatze ent-
hauptet, ein brauner, breitschultriger Mensch
mittleren Alters, neben dem der alte Scharf-
richter, blass und vertattert, eher dem Verurteilten
gleichsah als Jener. Ueber den Einzug in Gent
musste zuerst mit der Bürgerschaft, welche ihre
Privilegien durch weitg^ehende Forderungen er-
weitern wollte, verhandelt werden. Es war eines
der häufigen Schauspiele städtischen Trotzes und
Unabhängigkeitssinnes, die Lemaire bei seiner
Darstellung der trojanischen Begebenheiten und
des Verhältnisses der Prinzen von Priamus' Geblüt
zu der Einwohnerschaft vor dem Geiste schwebten.
Vor dem energischen Auftreten der Statthalterin
— 102 —
gab die Bürgerschaft nach und bereitete ihr einen
glänzenden Empfang bei Fackelschein in der
festlich beleuchteten Stadt. Solche Vorfälle und
die Nachrichten, welche von auswärts eintrafen,
zeichnete Lemaire genau auf; denn nunmehr galt
es Ernst zu machen mit seinem Amt als Hof-
geschichtsschreiber '.
In diesen Tagen erhielt Lemaire auch mehrere
Beweisedes besonderen Wohlwollens der Fürstin.
Am 20. Mai verlieh sie ihm in Lille eine Pfründe
und Domherrnstelle an der Liebfrauenkirche zu
Valenciennes; und als Molinet am 23. August
verschied, vollzog sie das von Philipp gegebene
Versprechen und stellte Lemaire das Patent als
Historiograph des Hauses Oesterreich, Kastilien,
Burgund usw. aus und nahm seinen Eid entgegen,
was bald darauf vom Kaiser gutgeheissen und
bestätigt wurde'-*.
Nachdem Margareta die Huldigungen des
Landes entgegengenommen hatte, versammelte
sie die Stände in Mecheln und bereitete die
Totenfeier für ihren Bruder vor. Vigilie und
Totenmesse wurden am 18. und 19. Juli in der
festlich geschmückten Rumolduskirche gesungen,
und Erzherzog Karl feierlich als Prinz von
Kastilien, Herzog von Burgund, Lothringen und
' Chronique annale, Oeuvres IV, 47J sqq. bcsondei-s 480 f.
484 ff. — 492 ff. — Vielleicht nahm Lemaire an der Reise nach
Holland und Seeland nicht teil, jedenfalls ist hier eine Lücke
in seinen Aufzeichnungen. 1. c. 513.
' Chronique annale, Oeuvres IV, 489. 521 sq.
— 103 —
Brabant, Limburg, Luxemburg und Geldern,
Graf von Flandern, Artois und Bourgogne, Pfalz-
graf von Hennegau, Holland, Seeland, Namur
und Zutphen, Markgraf des römischen Reiches,
Herr von Friesland, Salins und Meoheln aus-
gerufen. Margareta wohnte der Feier in ihrer
Betkapelle in stiller Trauer bei. In ihrem Auf-
trage und an sie gerichtet schilderte Lemaire
den pomphaften Trauerzug und die übrigen Zere-
monien und eröffnete damit seine Thätigkeit als
Historiograph. Die Bedeutung der zur Wappen-
erklärung nötigen Ausdrücke hatte er sich von
den Wappenkönigen Toison d'or undLuxembourg
erklären las.sen. Die Beschreibung der Bestat-
tungsfeierlichkeit für Philipp den Schönen erschien
zu Anfang des folgenden Jahres in französischer
Sprache und vlämischer Uebersetzung; denn
solche Schaustellungen und ihre Schilderung war
für alle Stände eine sehr gesuchte Unterhaltung».
Kurz vorher hatte Lemaire für IVIargareta
eine kleine Abhandlung über die Totenfeier bei
den Alten und Neueren verfas.st, in der er zeigen
wollte, wie von jeher die Menschen dazu neigten,
ihre verstorbenen Fürsten, Verwanten und
Freunde mit feierlichen Leichenbegängnissen und
mit Grabdenkmälern zu ehren, und wie auch die
christliche Religion dieser men.schlichen Neigung
' La pompe funcralle des obsecqucs de feu tres catholique
prince le roy don Phelippes de Castille, de Leon et Grenade etc.
Antwerpen 1508. Oeuvres IV, 243—66.
104
durch löbliche und heilsame Zeremonien Rech-
nung trägt'. Mit seiner durchaus unhistorischen
Auffassung wirft Lemaire poetische und geschicht-
liche Ueberlieferung durcheinander und stellt die
Griechen der epischen Zeit mit den Römern der
Kaiserzeit auf eine Linie : Als Beispiele der Ge-
bräuche der klassischen Völker dienen ihm die
Bestattung des Patroklos bei Homer, des Pallas
bei Virgil, des Archemorus bei Statius, des Julius
Caesar bei Plutarch, des Augustus bei Sueton;
zum Schlüsse erzählt er von den Gebräuchen,
welche die Aegypter beim Begräbnisse ihrer
Könige beobachteten, nach Diodorus Siculus und
bespricht die Beisetzung der Erzväter Abraham,
Isaak und Jakob nach dem Berichte der Genesis"^.
Hier bricht die Handschrift ab und eigentlich ist
es zu bedauern; denn es wäre lehrreich gewesen
zu sehen, wie Lemaire über christliche Gebräuche
im Gegensatz zu heidnischen denkt und spricht^.
Die politische Lage war im Jahre 1507 sehr
drohend. Ludwig der XII. hatte das aufständische
Genua niedergeworfen und sich mit Venedig
» Oeuvres IV, 243.
2 Homer, Odyssee XXIII übersetzt von. Laurentius Valla
Virgil, Aeneis XI ; Statius. Thebais VI. Von Plutarch gab es
auch lateinische Uebersetzungen , beiläulig führt Lemaire auch
das Leben von Pelopidas und Philopoemen an. Diodorus'
Siculus a Pogio Florentino in lat. trad. 1. II. fo. XXVI.
3 Trait(S des pompes funebres antiques et modernes, Oeuvres
IV, 269—91.'. Die Handschrift war für Klaudia von Frankreich
bestimmt, also eine Abschrift von 1514. La Croix: du Maine art.
Lemaire kannte dieselbe Abhandlung aus der Bibliothek dos
Herrn von Mont-Justin in Lyon.
— 105 —
verbündet : man erwartete jeden Augenblick das
Eingreifen Maximilians in Italien. Der Geldern-
sche Krieg, der einige Monate geruht hatte, war
auch wieder aufgeflammt. Im September fielen
die Franzosen im Verein mit Robert von der
Mark in die Niederlande ein, überschritten die
Maas oberhalb Lüttich und zogen plündernd bis
vor Löwen und Diest. Die Uneinigkeit der Führer;
die Unzufriedenheit der Landsknechte und die
energischen Massregeln zur Gegenwehr, die
freilich spät getroffen wurden, zwangen sie zur
Rückkehr. Robert kam glücklich durch; aber
die beutebeladenen Franzosen und die von
Geldern wurden in der Nacht des 18. Oktober
in Saint-Hubert in den Ardennen von einer Schaar
Handwerker, Arbeiter, Köhler, Jäger und Bauern
von Namur und der Umgegend unter Führung
einiger Ritter umringt, niedergemacht oder ge-
fangen genommen und ihres Raubes entledigt.
Diese wackere That, welche die Ruhe für dies
Jahr sicherte, erregte den freudigsten Jubel im
ganzen Land. Lemaire besang sie in einem
Triumphliede, les Chansorts de Namur, das er
Margareta zueignete, und mit Fug; denn sie
hatte die patriotische Begeisterung im Lande zu
wecken gewusst:
„Schweigt Trompeten und Zinken, Pfeifen
und Trommeln, bis euch die Barone und Ritter
ertönen lassen, ruft der begeisterte Dichter aus;
es erschalle die Hirtenflöte, die Sackpfeife und
— 106 —
die Schalmei; denn Mars hat die Schaafe und
Hürden erschreckt, aber Gott Pan hat seine
Wölfe zerstreut. Freut euch, ihr lieblichen
Hirtenmädchen, flechtet Kränze und schwingt
euch im Reigen, denn Jedermann preist euch ob
der Tapferkeit eurer Freunde. Singet alle, dass
Frankreich sich wundere, singt, welche empfind-
liche Schlappe eure Hirtenknaben, ihr Leben für
das Vaterland opfernd, diesen stolzen Prahlern
zugefügt haben.
Aucuns bergiers, ä pie et sans holette,
A Sainct-Hubert vouerent ung voyaige.
La furent cenx qiie nourrit et alette
France au pillaige, ayans inainte inalette
Plaine d'argent et plantureux bagaige.
NoB pelerins sans guieres de langaige
Ont faict au sainct prieres tres devotes
Et dechargö leurs bourdons sur leurs hostes.
De ce Corps saint jadis noble veneur
Le cor sembla bondir coinme ä la chasse.
N'y fut claron ne tronipette en honneur,
Peu chailloit lors de leur contre ou teneur.
L'un se deffent, l'autre assaillir pourchasse,
De ce deduit fut ouy longue espace
Le bruit perchant mur, trenchis et dodenne,
Retomhissant par la forest d'Ardenne.
La nos Untiers, levriers et bons brachets,
Encontre loups et senglers estriverent,
Nos braconniers vestus de blancs rochets
De leurs fors dars sans autres trebuchetz
— 107 —
Lcs porcs i'picz Jwrnblotient grevcyciit ;
Les ccrfz volans an courre sc satilvercnt.
Mais hl pourtant n'attaindront les rivaiges,
Ains seront pris par les hommes sauvaiges. >
Und nun nennt Lemaire einige von denen»
die sich bei diesemjagen besonders auszeichneten,
bei Namen, Ritter und einfache Leute', und
schildert die reiche Beute, die sie heimbrachten.
Dann bricht er in Vorwürfe gegen Frankreich aus:
Qne t'a meffait, o nation fran^oise,
Ce noble enfant, le jeune archiduc Charles.
Qnand ta croix droicte encontre lui se croise^
Ponr soubstenir desleantd gheldroise?
Point n'ensuys tti ces preux gisans en Arles,
Car les Rolans dont encoires tu parles
Ne firent oncq gnerre ä un orphenin
Et encor tnains au sexc feminin.
So geht das Gedicht in gehobener Stimmung
fort, zwischen Triumphgesang und bitterem Sar-
kasmus abwechselnd. Der Preis wird Gott ge-
geben und der heiligen Jungfrau und in zweiter
Linie der edlen Margareta, die die Vaterlands-
liebe im Lande zu entfachen verstand. Zum
' Alle konnte er nicht erwähnen, er war ja selbst vom
Schauplatz entfernt. Philippe Haneton, Sekretär des Kaisers,
tler das Gedicht von Jan von Marnix, Sekretär Margaretas,
zujreschickt bekommen hatte, sendet es zurück mit den Worten :
• Le poete y a grandement et elegammcnt besogn^, mais il a
oubli^ le berger . . . ainsi que le paysan . . . etc.» Oeuvres
IV, 308. Leglay, Negociations diplomatiques entre la France
et l'Autriche durant les 30premi6res ann^es du XVI. s. I, LXXX VI.
(Collection de documents in^dits pour servir k l'histoire de
France.)
— 108 —
Schlüsse wird der Kaiser aufgefordert, in Bälde
seinen unteren Landen zu Hülfe zu kommen.
Et cependant prends en grä ces doux chants
De tes her gier s en triomphe exaltes:
Bien fut noblesse alors arrnee aux champs
Cherchant aussi de soubsmettre aux trenchants
Ceux qui nous fönt guerre et hostüttes,
Mais fortune a les bas nobilites;
Les haulx n'ont en leur emprise opportune:
Tonsjoitrs vertu ne rencontre fortune K
Lemaire hat dies Gedicht gleich in der ersten
Siegesfreude geschrieben. Am Montag dem
25. Oktober trafen die genaueren Nachrichten
über das fröhliche Ereigniss ein, vor Ende der
Woche war das Lied in Antwerpen, wo der Hof
eben weilte, gedruckt 2. Am Sonntage, dem Tage
vor Allerheiligen, schickt Lemaire sein Werkchen
von Mecheln an den Herold Luxembourg mit
der Bitte es zu verbreiten, im beigegebenen Brief
gesteht er die gereizte Stimmung des Adels über
.seine Verherrlichung des Bauernsieges.
Monsieur de Luxembourg, je me recom-
mande a vostre bonne grace.
Je vous envoye ceste mienne petite euvre,
affin que vous la publiez et que par vostre bon
* Les Chansons de Namur. Oeuvres IV, '293. Es sind
39 achizeilige Zehnsilberstrophen : abaabbcc.
■* Chronique annale, Oeuvres IV, 4*4 sq. Die Unterschrift
der Chansons de Namur lautet : En Octobre mil cinq cens et
sept. Imprimö h Anvers par Henri Heckert.
Non nimor hie labor est. Quae . . . •. singtila viiilti
Fortiter egerunt, ego proseqtiar omnia solus.
— 109 —
moyen, je puisse estre en la cognoissance de
la seigneurie de par delä. PriantNostreSeigneur
qu'il vous doint faire vos besoignes ainsi que
je le desire et brief retourner. A Malines la
veille de Toussains.
Quia praeclara nobilissimorum rusticorum
facinora carminibus nostris celebravimus, in-
lensa est nobis quam tu nosti nobilitas; sed
parum curamus, cum veritatem sequimur.
Vostre serviteur et ami de euer
Lemaire^.
Das Lied von Namur ist von erhöhter Vater-
landsliebe eingegeben: ein gewisser demokra-
tischer Zug ist freilich nicht zu verkennen, es
freut den Dichter innerlich, dass die Leute aus
dem Volke das vollbracht haben, was von den
hohen Herrn versäumt worden war. Das fran-
zösische Nationalgefühl ist dabei so wenig ge-
schont, dass begreiflicherweise dies Gedicht
später nicht wieder abgedruckt worden ist.
In den ersten Novembertagen ging Lemaire
nach V^alenciennes , wohin ihn persönliche An-
gelegenheiten, vielleicht Schwierigkeiten betreffs
seiner Domherrnpfründe, riefen^. Auf der Rück-
reise, in Brüssel, beauftragte ihn Aegidius von
Busleiden, erster Rat und Rentmeister der Rech-
' Oeuvres IV, 373, nach einem unterzeichneten Konzept.
'^ Rcdieram incolumis a Vallencenis ... — Litteras quas
pro me impetrasti ab Illustrissima Principe adeo valuerunt,
ut reccptor ille, lentus atque recalcitrans more asinino, nunc
sponte sua, ad instar equi generosi, crinem gestiat. Hoc eflfecit
Stimulus ille tuus litterarius. Brief an Jan von Marnix.
— 110 —
nungskammer von Brabant, seinem Bruder Hie-
ronymus, Domprobst von Aire und Mitglied des
hohen Rates in Mecheln, dem bekannten Freunde
des Erasmus und Thomas Morus, Abbildungen
gewisser Altertümer, die jüngst in Brüssel ge-
funden worden waren , zu überbringen ; wahr-
scheinlich jener Denkmünzen von Nero, Antonius,
Augustus und Faustina, die der dortige Rent-
meister Regnier Cleraaig an das Licht gezogen
hatte '. Da Lemaire aber noch einmal umkehren
wollte, um einen Bekannten bis nach Soignies
zu begleiten 2, so schickte er das Exemplar der
Abbildungen nach Mecheln an den Sekretär Jan
von Marnix, seinen 'hochzuverehrenden Herrn
und vertrauten Freund', mit der Bitte, sie Mar-
gareta vorzuzeigen, wenn sie zufällig etwas
Müsse hätte, nicht ohne wohlwollende Erwähnung
des Senders, non sine qiiadain benivola mentione
niei (ut soles amice et hunianiter facere); Marnix
möge aber darauf achten, sie wiederzubekommen,
damit Lemaire seinen Auftrag ausführen könne.
Leben Sie wohl, verehrtester Freund, so schliesst
der Brief, und grüssen Sie in meinem Namen
Ihre und meine gemeinsamen Freunde und liebens-
1 Cf. Oeuvres IV, 4o3.
^ ... et sue nune retrocedo Sonegias usque, est domino
Petro obsequar. Brief an Marnix. Gieser Bekannte ist vielleicht
-der sire Pierre Le Fevre, dessen Pfründe Margareta nach seinem
Tode (1510) an Marnix verlieh, (cf. Leglaj-, Correspondance
I, 397) ; Pierre Le Fevre war vermutlich ein Verwandter des
kaiserlichen Rats und Generalschatzmeisters Roland Le Fevre,
seigneur de Thamise.
— 111 —
würdigen Tischgenossen. Brüssel, den 17. No-
vember, vor Tagesanbruch. Ihr Diener Eriamel
von Beiges, durch Ihre Empfehlung und Ihre
Bemühung königlicher Indiciarius und Kanonikus
von Valencienncs'.
Man sieht, welch bewegtes Leben Lemaire
in diesem Jahre führte , und wie erfolglos sein
Wunsch blieb , sich in Löw^en niederlassen zu
dürfen wegen der Universität 2.
Abgesehen von zufälligen Reisen, scheint er
sich zur Zeit im Gefolge Margaretas aufgehalten
zu haben. Ende Dezember war er wahrscheinlich
wieder in Mecheln, als die Eheverabredung des
österreichischen Erbprinzen mit Maria von Eng-
land getroffen wurde. Der Kaiser bewarb sich
um dies neue Bündniss, seit das Heiratsver-
sprechen zwischen Karl und Klaudia von Frank-
reich gebrochen worden war. Am I.Januar löOS
wurde der vorläufige Abschluss des Vertrages
in Mecheln öffentlich gefeiert und bei diesem
Anlass ein neues Lied — wahrscheinlich von
Lemaire — aufgesetzt:
Chant nouvel.
Plus Hills regrets, grands, moyens ne nteniis,
De joye niids. ne soient dicts n'escripts.
» Vale valentissime et lepidos illos tuos et meos consodales
atque convivas verbis meis salvere iube. Bruxellae, hac die
mercurii, XVII. novembris, nondum lucis orto sidere. Tuus
servus Eriamel belga, tua ope et tua opera indiciarius rcgius
et canonicus Vallencenensis. — Oeuvres IV, 371.
- Bittgesuch an Margareta. 1509. Oeuvres IV, 393.
— 112 —
Ores revient le hon tenips Saturnus
Ou peu cogneus furent plainctifs et cris.
Se rnars nous tolt la blanche fleur de lis
Sans nuls delicts, si nous donne Venus
Rose inerveille amouveuse de pvis
Dont nos esprits n'auront regrets plus nuls^.
In Notre-Dame de la Salle-le-Conte in Valen-
ciennes Schlief Jean Molinet des ewigen Schlafes
zur Seite seines Lehrmeisters und Vorgängers
George Chastellain. Da Lemaire nicht reich
genug war, um ihnen ein würdiges Denkmal er-
richten zu können, that er wenigstens, was an
ihm war, und dichtete ihnen zu Ehren eine Grab-
schrift in Alexandrinern, die Vers um Vers
zwischen Frage und Antwort abwechselnd, die
Verdienste der Verstorbenen priesen.
Dy-moy qui gist icy sans que point tu in'abuses?
— Cy gist l'amy privi d' Apollo et des muses; etc.
Ein Vergleich mit Virgil und Ovid ist für Lemaire
verehrungsvolle Bewunderung nicht zu viel:
1 Oeuvres IV, 267. sq. — Es ist wie der Chant nouvel für
Champier eigentlich ein Double Virelay de nouvelle Taille,
d. h. ein zwanzigzeiliges Refraingedicht in drei resp. fünf Ab-
sätzen in Zehnsilbern, diesmal mit Binnenreim: a(a)ba(a)b.
b(b)cb(b)c.a(a)ba(a)b.c(c)bc(c)b.b(b)ab(b)a. — Van Hasselt, Essai
sur l'histoire de la po6sie francaise en Belgique (Mem. cour.
p. l'Acad. de Bruxelles. XIII. 1838) p. 277 druckt das Gedicht
aus den «Albums de Marguerite d'Autriche», indem er die
Langzcilen mit Binnenreim in Kurzzeilen zerlegt.
— 113 —
Mais () qui coniparer les pciit o)i satis ntcspyisP
— L'nn poity Viriiille, et l'autrc cstpour Ovicfcpris.
L'iin doncqiu's fut plus gravc, et l'aiilre plus
facille?
— Plus luinuüu fut Ovide et plus divin Vtrgille^.
Aus eigenem Antrieb erbot sich der Kriegs-
schatzmeister Charles Le Clerc, diese Inschrift
auf Kupfer oder Marmor eingraben zu lassen,
um sie an der Begräbnissstätte aufzustellen. In
der That befand sich lange die Gedenktafel mit
den Versen Lemaires in goldenen Buchstaben
den beiden Gräbern gegenüber in der Marien-
kirche zu Valenciennes.
In dem Briefe, mit dem Lemaire dem frei-
gebigen Gönner seine Verse zueignet, weist er
die Missgunst derjenigen, die ihn um sein Amt
als Indiciarius beneiden, angelegentlich ab : „Wenn
Jemand sich ärgert, schreibt er, oder sich verletzt
fühlt, dass er zu diesem Amte nicht befördert
und vorgezogen worden ist, sintemal er sich
dazu geeigneter wusste, so meine ich, er müsste,
um von seiner Befähigung und Tauglichkeit (die
noch nicht hinlänglich bekannt sind) besser zu
überzeugen, eines thun : nemlich sofort ebensoviel
Arbeit und Studium aufwenden, wie ich zu Ehr
und Dienst dieses erlauchten Hauses aufgewendet
* Epitaphe en maniere de dialogue de feus . . Messire
Georges Chastellain . . et de Maistre Jean Molinet, en vers
alexandrins interrogatifs et responsifs. Oeuvres IV, 318. Es sind
36 paarweise gereimte Zwölfsilber.
Becker, Jean Lemaire. 8
— 114 —
habe. Nicht ebenso viel; denn das wäre mehr als
er leisten könnte. Sondern einfach nur so viel,
als man erkennen kann am ersten Buche der
Couronne Margaritique, das bereits veröffentlicht
ist, und von dem du eine Abschrift besitzest, und
weiter an den beiden ersten der Singularitez de
Troye et de Turquie, die noch nicht bekannt ge-
geben sind, es sei denn mit Wissen meiner Herrin,
welche mir befohlen hat, dieselben recht sorg-
fältig zu überarbeiten und zu erweitern, bevor
ich sie zu Tage fördere. Also, wenn dieser unbe-
kannte Bewerber seine Werke dementsprechend
vorlegt, wenn ich nicht darüber hinaus noch
etwas grösseres vorzeige, so soll er den Vorrang
vor mir haben'."
An Selbstvertrauen fehlt es unserem Dichter
nicht. Er durfte aber auch mit einem gewissen
stolzenBe wusstsein von seinen Arbeiten sprechen ;
denn gerade dieser Anfang der dreissiger Jahre
war die ergiebigste und fruchtbarste Zeit seines
Lebens: er stand in der Fülle seiner Schaffens-
kraft, und alle Lebensbedingungen und die gesell-
schaftlichen Beziehungen fingen an sich für ihn
möglichst günstig und anregend zu gestalten.
In der zweiten Februarwoche hatte sich
Margareta nach Antwerpen begeben; hier schrieb
Lemaire den Brief an Le Clerc, den 15. Februar
' Oeuvres IV. 321. Charles Le Clerc wurde vom Kaiser
sehr geschätzt ; 1509 wurde er dem Generalschatzmeister als
Ersetzender beigegeben.
- 115 -
1508, und besorgte den Druck der noch nicht
veröffentlichten Erzcup^nissc des verflossenen
Jahres'. Von dem Zeitpunkt an bis Anfang 1509
hören wir nichts mehr von ihm, seine anna-
listischcn Aulzeichnungcn hören auf; wir er-
fahren blos beiläulig aus der Legende der Vene-
zianer, dass er sich im Jahre 1508 in Rom befand.
Bevor wir ihn aber weiter begleiten, müssen
wir ein Wort von seinen zeitgeschichtlichen Ar-
beiten sagen.
Lemaire trug sich mit den Plänen zu zwei
grossen Geschichlswcrken: das eine sollte ein
Abriss der Zeitgeschichte Margaretas werden
sammt deren Fortsetzung, so weit es .sich fügen
würde, das andere eine Genealogie ihres Hauses
von der Sündflut bis zu den lebenden Fürsten.
Zur letzteren, sagt Lemaire, hatte er das Material
in den besten Büchereien der Christenheit
gesammelt^. Die Vorarbeiten zur ersteren sind
noch erhalten, zum Teil von seiner Hand ge-
schrieben s; sie bestehen in einem ausführlichen
Auszug von Antoine de Lalaings Beschreibung
der Reise Philipps im Jahre 1501, einer Abschrift
des anonymen Berichts über seine zweite Reise,
einige Bemerkungen zum Jahre 1505, und schliess-
* Pompe funeralle , Epitaphe en maniere de dialogue,
.•\lliance d'Angleterre und Brief an Le Clerc.
'^ Oeuvres IV, 395. In dem Bittgesuch an Margareta, 1509.
=> Bibl. nat. Dupuy 503 cf. Gachard, la Biblioth^que nationale,
notices et extraits, Bruxelles 1875 I, 95 (Collection de chroniques
beiges in^dites).
- 116 ~
lieh seine eigenen Aufzeichnungen und aus-
gearbeiteten Entwürfe. Seine Aufzeichnungen,
die memovalia indtciaratus, erstrecken sich vom
25. August 1507 bis zum 9. Februar 1508 mit
einem Anhang vom 16. Januar bis 13. Februar 1509 ;
sie zeigen Lücken, so oft Lemaire vom Hofe
abwesend war. Ausgearbeitet, aber auch lücken-
haft, ist der Bericht von Margaretas Reise durch
die Niederlande, April bis Juli 1507; er schliesst
mit der Erwähnung von Molinets Tod. Da die
Erzählung das erste volle Jahr seiner Amts-
thätigkeit umfassen sollte, bezeichnet sie Lemaire
als Chronique annale. Die nicht vorhandene
Chronique semiannale vom Tode Philipps bis
Ostern 1507, die in der ersteren mehrfach erwähnt
wird, war möglicherweise nur projektiert. Ent-
worfen ist der Anfang der Chronique abregee,
nemlich die einleitenden Worte, Margaretas
Geburt und Horoskop; für die Folgezeit hat
Lemaire nur kurze Notizen und Jahreszahlen
aufgezeichnet'.
Da der Bericht über die zweite Reise Philipps
ohne Namen des Verfassers überliefert ist, und
nicht von Antoine de Lalaing sein kann, so hat
man an Lemaire gedacht, da er uns nur durch
seine Aufzeichnung erhalten ist^. Es ist aber
nicht denkbar, dass er Philipp den Schönen nach
1 Oeuvres IV, 4^11 sqq.
* Vgl. Gachard, les voyages des Souverains des Pays-Bas I.
der ganz richtig Lemaires Verfasserschaft ausschliesst.
- 117 -
Kastilicn begleitet hätte ; denn der Berichterstatter
spricht als Augenzeuge der Ereignisse von
Dezember 1504 bis September 1507. Uebcrhaupt
stimmt der Ton des Berichtes, der ausgesprochene
Dialekt, der politische Sinn, den er bekundet,
die Freiheit der Aeusserungen und die Furcht,
der König möchte von seiner Schriftstellerei etwas
erfahren, das Grausen bei dem blossen Gedanken,
sich in Frankreich niederlassen zu müssen, nicht
im Geringsten zu Lemaires Wesen und zu seiner
Eigenschaft als offizieller Historiograph.
Lemaire war kein geborener Geschichts-
schreiber; er war ein loyaler Verehrer seiner
Fürstin: alles, was ihre Person betrifft, vor
allem das Gepränge des öffentlichen Auftretens,
fand an ihm einen bewundernden Zuschauer und
getreuen Erzähler. \'on den politischen Begeben-
heiten kennt er meistens nur das auffällige, welt-
kundige; es fehlt ihm ein gewisser feinerer
Sinn, der ihn die verborgenen Fäden der Politik
und die Hintergedanken der handelnden Personen
errathen Hesse; er ist zu sehr ein stiller, das
lärmende Getriebe scheuender Gemütsmensch.
Indessen gewinnen seine Aufzeichnungen dadurch
an Bedeutung, dass sie von einem Augenzeugen
gleichzeitig gemacht worden sind und einige
Lücken in den sonstigen Denkmälern der Zeit,
namentlich im Briefwechsel Maximilians und
Margaretas, in gewisser Hinsicht ergänzen. Vor
allem aber verdanken wir ihm — das dürfen
- US -
wir nicht unterschätzen — den sonst dem Unter-
gang preisgegebenen Bericht über die zweite
Reise; dass er denselben ebenso wie die Be-
schreibung von Antoine de Lalaing ausfindig
machte und seiner Sammlung einverleibte,
bekundet doch eine Rührigkeit und einen Spür-
sinn, die für den Geschichtsschreiber von unschätz-
barem Werte sind. Wir dürfen auch nicht ver-
gessen, dass wir kein vollständig ausgearbeitetes
Geschichtswerk von ihm besitzen, um uns ein
Urteil zu bilden.
VIII.
Im Jahre 1508 war Lemaire zum zweiten
Male in Rom'. W^as ihn dahinzog lässt sich
denken: Italien mit seinen Altertümern und
Bücherschätzen war mehr als je das gelobte
Land derLernbegierigenundGelehrten. Schwerer
lässt sich erraten, welcher besondere Anlass
seine Reise verursachte, und was ihm die Mög-
lichkeit zu einem kürzeren oder längeren Auf-
enthalt auf der Apeninnenhalbinsel gewährte 2.
Man möchte annehmen, dass er diesmal nicht
blos vorübergehend jenseits der Alpen weilte;
denn er brachte von seiner Reise eine reiche
Ernte neuer Bücher mit, vor allem einige
' «Bien est il vray, que ainsi que par curiosit^ je cherche
plusieurs livres, j'ay trouvö un passage en l'cpisire de Sibjlle
Erythree, laquelle je recouvray ä Romme l'annee passee, mil
cinq cens et huit.» Legende des Vcniciens. Oeuvres III, 363.
^ Vielleicht steht die Reise Lemaires mit der Errichtung
eines Bistums in Bourg im Zusammenhang.
- 119 —
italienische Werke, die er später in französischer
Sprache zu bearbeiten gedachte'.
Wenn Lemairc den Abschluss der Feind-
seligkeiten zwischen Kaiser und Venezianern,
die im Frühjahr 1508 Italien unzugänglich machten,
abgewartet hat, so wird er nicht vor Juni über
die Alpen gegangen sein; er, kann aber bis zum
Ende des Jahres in Rom geblieben sein. Es hat
den Anschein, als wäre er noch dort gewesen,
als Philipp Bastard von Burgund mit Johann
von Chastillon, Archidiakonus von Campigne in
derLütticher Kirche, als Oratoren des Erzherzogs
Karl dahin kamen, um den Papst des Gehorsams
des Fürsten und des Landes zu versichern; jeden-
falls ist er über die Rede, welche Chastillon in
der feierlichen Audienz vom 14. Januar 1509 vor
dem Papst und dem Kollegium der Kardinäle
hielt, genauer unterrichtet 2. Andererseits scheint
» Los Gestes du Sophy et la prinse d'Orant en Barbarie
cf. Oeuvres III, L'OO. IV. 377. Le navigaige des Indes recueilly
par plusieurs pieces en Ytalie. ibid. IV. 3^)5. und wohl auch
Materialien zur Geschichte des Hauses Burgund. cf. 1. c. Da-
mals wird er wohl auch den Annius von Viterbo entdeckt
h.iben. Margarcta hatte Lemairc befohlen, seine Singularitez
noch zu erweitern, Brief an Le Clerc, Oeuvres IV, 321. Die
Reise dürfte zum Zweck gehabt haben , Material dafür zu
sammeln.
^ «Et cette histoire (wie der falylhafte Austrasius Chlodo-
wech bewegte, das Christentum zu bekennen) fut recitee
devant le Papc Julies ä present scant et tout le consistoire des
Cardinaux, par messire Jean de Chastillon, archidiacre de Cam-
pigne en l'cglise du Liege, en faisant son oraison de l'obedience
liliale des paYs de pardega, comme Orateur ä ce envoy^ de par
l'Empereur et l'Archiduc , avcc monsieur l'Amiral , messire
- 120 —
er sich während des Aufenthaltes Maximilians
in den Niederlanden wieder in Margaretas Um-
gebung befunden zu haben'.
Grosse Aenderungen waren inzwischen vor
sich gegangen. Am 10. Dezember 1508 war der
Friede vonCambrai geschlossen worden, welcher
die entzweite Christenheit in Eintracht zu einen
verhiess; Margaretas politisches Geschick hatte
die Aussöhnung der Gegensätze ermöglicht und
den Abschluss herbeigeführt. Für Lemaires
stilles Hoffen bedeutete dieser Frieden nichts
weniger als der Beginn einer neuen Aera: nun-
mehr würden die Fürsten Europas in gemein-
samem Bunde auftrechen und den Türken
Griechenland und Kleinasien wieder entreissen
und ein christliches Reich an der Stätte ihres
trojanischen Erbteils errichten. Desshalb wob
Phelippes de Bourgogne, l'an mille cinq cens et huit.» Illustra-
tions III, Oeuvres II, 365. — Nach den Diarii des Venezianers
Marino Sanuto (t. VII. ed R. Fulin, Venezia 1882) reisten die
beiden Oratoren im Dezember durch Italien (am 13. waren sie
in Verona), kamen Anfang Januar in Rom an, wurden am 14.
zur Oboedienz vorgelassen. Vom 4.— 18. Februar hielten sie sich
in der Nähe des Papstes in Ostia auf. Cf. 1. c. 684. 689. 692.
694. 716. 719. 746. 748. 756. Lemaire sagt nicht, dass er bei
der Audienz anwesend war ; es liesse sich denken, dass
er eine Abschrift der offiziellen Rede in den Niederlanden zu
lesen bekam, wenn er sich gerade bei Hofe befand.
" Cf Oeuvres IV, 459. Die zeitgeschichtlichen Aufzeich-
nungen Lemaires beginnen wieder am 16. Januar (nicht XVI^ de
febvrier) und gehen bis zum 23. Februar. — Dass wir über
Lemaires Thun und Treiben im Jahre 1508 so schlecht unter-
richtet sind , darf uns nicht wundern, es fehlen infolge der Kriegs-
zeiten auch für Maximilian, Margareta, Ludwig den XII. usw.
sichereNachrichten. Geschichtlich existiert dasjahrl508eigentlich
gar nicht bis zum Frieden von Cambrai.
121
sich vor seinen Augen um Margaretas Haupt
der Glorienschein der Friedensstifterin. Es
wäre nicht undenkbar, dass er aus Anlass dieser
Weltereignisse schon im Januar eine Flugschrift
fertig gehabt und sie im Fluge stolzer Hoff-
nungen die Eintracht des Metischeugeschlechtes
betitelt hätte; mit Sicherheit können wir ihm
aber diese verloren gegangene Schrift nicht
zuschreiben'.
Während der Anwesenheit Maximilians in
Brüssel machte Margareta Ansprüche auf die
Grafschaften Burgund und Charolais nebst den
Herrschaften Salins, No3'ers, Chastelchinon,
Chaulcin und La Perri^re geltend, sei es als
versprochene Mitgitt, sei es als mütterliches
Erbteil; und der Kaiser vollzog die Schenkung
in Anerkennung der vorgebrachten Gründe und
ihrer Verdienste alsStatthaltcrin am 17. Februar-.
' La Concorde du jjendre humain. Imprimö dcdcns
Bruxcllcs le nioys que le prince volt premier entrer cn icelle,
qui fust cn janvicr mil cinq cens et wyt et madame nasquit
cn laditc bonnc villc le semblable moys mil cccc quatre vinjftz etc.
— Der Einzug Maximilians und seines Enkels fand am 16. Januar
1509 statt. — Um diese Schrift Lemaire zuzuschreiben, haben
wir lediglich nur die Autorität Bruneis, Manuel III, 960. Es
dürfte die Attribution auf einer Verwechslung beruhen, cf. Con-
corde des dcux langages. Stecher, .Art. Lemaire in der Bio-
graphie nationale p. p. l'Acadömie de Belgique, denkt an Nicaisc
Ladan als Verfasser. Die ganze .\bfassung des Titels und die
übrigen Bemerkungen auf dem Titelblatt machen es mir per-
sönlich unglaubhaft, dass die Schrift von Lemaire ist. Sie
enthielt übrigens \'erse und Prosa.
^ Quinsonas, Matöriaux pour servir il l'histoire de Mar-
guerite d'Autriche, III, 199. Die Schenkungsurkunde ist vom
Jahre 1509 römischen Stils, d. i. 1508 alten Stils.
- 122 —
Lemaire erfasste diesen Umstand als geeignete
Gelegenheit, um der Fürstin durch ihren Geheim-
schreiber Barangier die Bitte vorlegen zu lassen,
sie möchte ihm hinfort seinen ständigen Aufent-
halt mit Versorgung und Wohnsitz in der Graf-
schaft Burgund anweisen, und zwar in Dole
wegen der dortigen Hochschule. Der Verbleib in
der Heimat war ihm verleidet : denn das Hofleben
zog ihn zu sehr von seinen Studien ab und war
zu kostspielig für seine Verhältnisse, und dann
hatte er erfahren müssen, dass kein Prophet
daheim etwas gilt. Allerlei Neid und A^er-
unglimpfung hatten ihn gezwungen, gerichtlich
gegen seine Verleumder einzuschreiten, und
hatten ihm gezeigt, wie leicht anhaltende An-
schw^ärzungen das Wohlwollen entfremden
können. Im Süden hingegen hatte er stets nur
Ireundliche Aufnahme gefunden und hatte ja
dort seinen Rut als Schriftsteller begründet.
Damit seine Herrin aber nicht glaube, es sei
blos Unbeständigkeit seinerseits, erinnert er sie
daran, dass ein stiller Aufenthalt stets sein
innigster Wunsch gewesen , dass es ihm aber
weder unter seinem früheren Herrn vergönnt
gewesen, sich in Ligny festzusetzen, noch, seit
er in Margaretas Dienst war, in Annecy,Besan(;on
oder Löwen zur Ruhe zu kommen; nun wäre
seine letzte Bitte, eine Wohnstätte in Burgund
zu finden. Das Gute, das Margareta ihm erweisen
würde, werde er übrigens mit seinen beiden
- 123 -
Neffen, deren Pflege ihm anheimgefallen, teilen.
Schliesslich zählt er alle Werke aut, die er im
Auftrage oder zu Ehren der Fürstin in Arbeit
hatte, und die der Vollendung harrten, und
erinnert sie an die vier Verse, die sie dereinst
eigenhändig an ihn gerichtet hatte, eine Aner-
kennung seiner Bemühungen, die ihm Zeit seines
Lebens teuer bleiben würde.
Dieses Bittgesuch legte Lemaire der Fürstin
vor, um sie zu bewegen, die Zusage, die sie
bereits mündlich ihrem Geheimschreiber gegeben
hatte, durch eine ausdrückliche Verordnung zu
bestätigen ; und er that es schriftlich, weil er sich
beim Schreiben sicherer fühlte als beim münd-
lichen Vortrag'.
Von den Werken, die Lemaire bei dieser
Gelegenheit erwähnt, beschäftigten ihn einige
schon lange : das zweite Buch der Couroiine
» Cf. Oeuvres IV. 392 sqq. Das Bittgesuch trnpt kein
Datum ; die Sachlage verweist es in das Frühjahr löO«. Im
Sommer ist Lemaire bereits im Süden und schickt die Ulustra-
tions zum Drucke .während er hier nur die Hoffnung ausspricht,
er würde das von allen Seiten verlangte Buch mit Margaretas
Einwilligung bald in Lyon drucken lassen können. Vgl. den
Brief an Le Clerc 15. Februar 1508, Oeuvres IV. 31'1. und den
an Barangier 15. Juli 1509, ibid. 374. Aus den Worten : plaise
vous Ics ententre par cestc escripture qui m'est plus ydoine
que le parier, geht hervor, dass Lemaire noch die Wahl zwischen
mündlichem und schriftlichem Vortrag offen stand, dass er mit-
hin noch in den Niederlanden war. Das Schreiben ist also kein
durch Kurrier abgesandter Brief, sondern eine persönlich oder
durch Vermittlung eines Freundes, etwa Barangier, eingereichte
Bittschrift; so erklärt sich das Fehlen von Ort, Datum und
Unterschrift.
- 124 -
-margaritique ist vollständig entworfen und harrt
der Reinschrift. Die Singiilarites de Troye sind
auf drei Bücher angewachsen, welche noch zu
verbessern und zu vollenden stehen, aber in
Kürze druckfertig sein können. Nächstdem
kommt la forte haye du vergier, das so Gott
will, zuerst abgefertigt werden soll, und der
Auszug aus Margaretas Zeitgeschichte nebst
deren Fortsetzung, die nur im Laufe der Zeit
gefördert ' w^erden kann. Das sind die Haupt-
werke, dazu kommen: der Anfang des Palais
d'Honneur, eine Erfindung Margaretas, deren
Ausführung sie dem Dichter in Turin anvertraut
hatte ; er sollte baldim Anschluss an dieCouronne
margaritique folgen. Ferner l'abc mondain ; der
Seeweg nach Indien, le navigaige des Indes
nouvelleinent trouvi, worüber Lemaire kürzlich
verschiedene Schriften in Italien gesammelt; und
endlich die Genealogie des Hauses Burgund,
für die er die besten Büchereien des Christen-
heit zu Rate gezogen hatte.
Von allen diesen Werken sind nur die drei
Bücher der Illustrations fertig geworden; die
historischen Schriften sind Bruchstücke geblieben ;
von den andern : dem zweiten Buche der Couronne
margaritique, la forte ha5'e du vergier, l'abc
mondain, le navigaige des Indes, hören wir über-
haupt nicht mehr reden ; an dem von Margareta
bestellten Palais d'honneur feminin, wie der volle
Titel heisst, arbeitete Lemaire noch im November
— 125 —
des folgenden Jahres, doch ist auch diese be-
gonnene Arbeit spurlos verschwunden'.
Margareta scheint in der That auf die Bitte
ihres Indiziarius eingegangen zu sein und ihm
gegen Tausch seiner Domherrnpfründe in Valen-
ciennes irgend eine Versorgung in ihren süd-
burgundischen Besitzungen angewiesen zu
habend. Vom Sommer 1509 an treffen wir ihn
bald in Bourg, bald in Lyon, bald in DOle mit
seinen litterarischen Arbeiten und auch ander-
weitigen Nebengeschäften befasst.
Im Juli ist ihm die ehrenvolle Aufgabe zuge-
fallen, die Vorbereitung zum feierlichen Empfang
Ludwigs des XII., den man in Lyon auf der
Rückreise aus Italien erwartete, zu treffen; die
Stadt hatte ihn gebeten, die Anordnung der Fest-
lichkeit zu übernehmen, Lemaire hatte die Ge-
nehmigung des Statthalters von Bresse eingeholt
und hegte die Zuversicht, für seine Herrin Ehre
einzulegend
' Cf. Oeuvres IV. 397.
' Stecher, Oeuvres de J. Lemaire I. XIII. Anm. 1. «AI.
Pinohart a trouvö aux Archives du Royaume la trace de cette
pcrmutation au proüt de Nicolas Perly (Comptes des Droits
du grand Sceau, n" 20402. fol. 4 recto).»
' Oeuvres IV, 374. Brief an Louis Barangier. Der Brief
beginnt; j'ai receu vos lettres escriptes ä la Haye le premier
jour de Jtiillet, und schliesst: Escript ä la haste ä Bourg.
ce XV de juitig. Der Widerspruch ist zu Gunsten des ersteren
Datums zu entscheiden, und cc XV de j'uitig in cc XV de fuillct
zu verbessern: denn erst nach dem Falle von Padua am 17. Juli
cntschloss sich Ludwig über die Alpen zu gehen. Am 15. Juni
wüsste ich nicht , welche günstige Nachrichten aus Italien
Lemaire über den Haag erhalten konnte. Hätte er seine
126
Ausserdem hatte Lemaire Abschriften seiner
Singularitez und einer eben verfassten Gelegen-
heitsschrift nach Lj^on geschickt, in der Hoff-
nung, vom Grosskanzler auf Empfehlung des
Stadthauptmanns und Conservators der Messe,
Claude Thomassin, das Privileg zum Drucke zu
erhalten; in der That wurde es ihm am 30. Juli
erteilt und am 20. August eingetragen. So konnte
denn der Satz des ersten Buches der Illustrations
in Angriff genommen werden, neun Jahre waren
es her, dass das grosse Werk unternommen war;
seit sechs Jahren arbeitete Lemaire unter Mar-
garetas Auspizien daran'. Die andere Schrift
war in den letzten Monaten entstanden und gegen
die Venezianer gerichtet.
Die Liga von Cambrai war im Grunde ge-
nommen eine Verschwörung der Mächte gegen
Venedig, welches durch seine unzuverlässige
Haltung die eine nach der andern gegen sich
aufgebracht hatte. Ludwig der XII. war zuerst
zum verabredeten Einfall bereit gewesen und
hatte mit dem Siege "von Agnadello den Zweck
seines Feldzugs erreicht, bevor Maximilian
seinerseits Vorbereitungen zum Angriff getroffen
hatte. Ludwig hielt eben die Mittel in der Hand
und verfügte auch über Schriftsteller, die seine
Schriften schon Anfang Juni eingereicht, so wUre das Privileg-
wahrscheinlich schon vor dem 30. Juli ertheilt worden.
' Vgl. den Brief vom 15. Juli, Oeuvres IV, 374, und den um
diese Zeit entstandenen Prolog und das I.Kapitel der Illustrations
ibid. I, 1 sqq.
127
Politik mit Ucberzeugung und Geschick vor dcr
OcfTcntlichkcit vertraten. Einen ahnlichen Dienst
unternahm Lemaire, aus patriotischer Begeister-
un,i?, dem Kaiser zu leisten, indem er in der
Legende des Vcnitiens die ganze Scheusslichkeit
dieser Aristokratenrepublik enthüllte'.
Uebcrall wurden Prophezeihungen vom
bevorstehenden Untergang Venedigs herum-
getragen, Lemaire selbst hatte auf seiner
italienischen Reise einige aufgelesen ; damit aber
Niemand glaube, dass die Venezianer blos durch
die blinde Bestimmung des Schicksals, und nicht
durch die gerechte Fügung Gottes zu Grunde
gehen, gibt er unter drei Hauptpunkte gruppiert
einen kurzen Abriss ihrer Geschichte : im ersten
Kapitel hält er den Venezianern die Grausam-
keit, mit der sie ihre Herzöge behandelten, und
die "Willkürhcrrschaft, mit der sie ihre Unter-
thanen unterdrückten, vor; im zweiten schildert
er ihre Treulosigkeit gegen die Kaiser von Karl
dem Grossen bis Maximilian; im dritten legt er
ihr Benehmen Papst und Kirche gegenüber blos
und macht sie für die Fortschritte der Türken
verantwortlich. Darum hat auch Gott beinahe
am Tage ihrer Niederlage bei Agnadello den
Christen in Algerien den Sieg bei Oran gewährt.
In einer Doppelballade feiert Lemaire den Triumph
Ludwigs mit dem zweifachen Refrain: Or est
^ La Legende des Vcnitiens oii Icur Chronique abiejrcc,
Oeuvres III, 361— »07.
— 128 -
Pviani hien veugd d'Antenor und Cent ans
accreii, tout se paye en nne heure^.
Die Legende der Venezianer ist absichtlich
in schlichter Sprache geschrieben, aber der Ver-
fasser kann nicht umhin, sie mitunter in 'excla-
matorischer Invective' ansuschreien, was er mit
leidenschafthchem Pathos thut^. Der Grundton
der Schrift ist der einer zurückgehaltenen
moralischen Empörung und eines vernichtenden
Unwillens. Lemaire entwickelt bedeutende Ge-
schichtskenntnisse und ein unverkennbares Ge-
schick als politischer Pamphletschreiber.
Seine Streitschrift vollendete Lemaire in
Bourg3; von hier zeigt er in dem vorhin ange-
führten Brief Barangier den Empfang einer
Sendung vom 1. Juli an ; dieser Sendung aus dem
Haag lagen Briefe des Kaisers bei, die Lemaire
sofort vervielfältigen Hess und nach Genf,
Savoyen, Piemont und Lyon schickte ; durch die
Frau des Hofmalers Perreal liess er sie auch
der Königin in die Hände spielen. Zu seiner
grossen Unlust wurden nemlich von französischer
1 Die Ballade double besteht aus 6 abwechselnd elf- und
zehnzeiligen Zehnsilberstrophen mit neunzeiligem Envoi; sie ist
auf die gleichen Reime durchgeführt : ababccddcde.effeflfggaga.
Envoi : ddeegaga. Inhaltlich ist das Gedicht nicht bedeutend ;
einige kräftige, sprichwörtliche Redensarten und die Durch-
führung der Reime z. B. der auf cus sind das Bemerkenswerteste.
^ Lemaire hat vielleicht aus Sabellicus' Enneaden, die er
kennt, cf. Illustr. III, geschöpft.
' Die erste Ausgabe ist Ludwig von Gorrevod, Bischof von
Maurienne, gewidmet unter dem Datum: Bourg en Bresse,
Juni 1509. Siehe Anhang IV.
— 129 —
Seite die allcrschlimmsten Nachrichten ausge-
sprengt; nun freute er sich, dieselben siegreich
widerlegt zu sehen'. Diese frohe Botschaft des
Kaisers kann nur seine Erfolge in Italien in den
ersten Junivvochen betroffen haben. In der That
haben wir den Beweis, dass Lemaire Maximilians
Brief vom 8. Juni kannte. Das Schlusswort der
Legende ist nemlich an Claude Thomassin in
Form eines Sendschreibens gerichtet; es schliesst
in der deutschen Uebersetzung mit einer Auf-
zählung der Eroberungen der Verbündeten,
davon ist das, was den Kaiser betrifft, fast wört-
lich jenem Briefe entnommen. Der ganze Passus
fehlt in der französischen Ausgabe aus dem ein-
fachen Grunde, weil sich inzwischen die Sach-
lage durch die Ueberrumpelung von Padua am
17. Juli sehr ungünstig verändert hatte. Indessen
Hess Lemaire die fragliche Stelle nicht ver-
loren gehen, sondern verwendete sie als Nach-
wort zu den Regretz de la Dame infortunee^.
Wahrscheinlich lag demnach dem deutschen
Uebersetzer, dem Sekretär Nicolaus Mengin von
Nanzei, eine Fassung der Legende vor, die kurz
nach dem 15. Juli aus Lemaires Feder ge-
flossen war3.
» Oeuvres IV, 374.
» Oeuvres III, 194, sq. Vgl. Leglay, Corresp. I, 152.
' Die Königl. Bibliothek in Berlin besitzt drei Drucke der-
selben Verdeutschung durch Nicolaum Mengin von Xanzei,
Secretarien etc. 1. Venedische Chronica. Zu Franckfurth,
truckts Cyriacus | Jacob zum Bart. 12. Venedische Chronica.
Mit angezöigten Ursachen des schädlichen Kryegs etc. Ein
Becker, Jean Lemaire. »
— 130 —
Die veränderte Widmung der französischen
Ausgabe trägt das Datum: L3'on, den 12. August
1509. An Stelle des gestrichenen Schlusses sind
Nachrichten persönlicher Art getreten. Lemaire
erwartet mit gespannter Neugier die Rückkehr
des Hofmalers Jean Perreal , der in Italien
Studien als Schlachtenmaler gemacht hatte und
seinen Freunden die mitgebrachten Entwürfe
begleitet von erläuternden Erzählungen vor-
zeigen würde. Mit ihm sollte auch Symphorien
Champier der Arzt zurückkommen; in Italien
hatte er dem infolge allzugrosser Anstrengungen
und Entbehrungen erkrankten Maler das Leben
gerettet. In Lyon, wo er die Anordnungen zum
Festempfang Ludwigs leitete, hatte Lemaire
den Prior frere Pierre d'Anton, ülustrateur des
chroniques de France, gesprochen und dem Ein-
züge des gefangenen venezianischen Feldherrn
Bartolomeo Alviano als Zuschauer beigew^ohnt'.
Lemaire hatte einen Auftrag von seiner
Herrin an Perreal, wie wir aus einem Briefe des
Hofmalers erfahren. In Brou sollten nemlich
drei Grabmäler errichtet werden; mehrere Ent-
Buchdruckerzeichen. 3. Venedische Chronica. Ein Holzschnitt
(Basel 1509?). Mengin scheint im Dienste Margaretas gestanden
zu haben. Durch Lemaires Brief vom 8. September 1511 ersehen
wir, dass er Briefe von ihr überbracht hatte und Bücher und
Briefe hätte mitnehmen sollen, wenn er sich nur einen Tag
länger hätte aufhalten lassen wollen. Oeuvres IV, 383. --
Stecher LXIII. erwähnt auch eine vlämische Uebersetzung
ohne nähere Angabe.
' Oeuvres III, 405 sqq. Der Vorname Pierre für Jean
d'Anton ist wohl ein Irrtum oder Schreibfehler.
- 131 -
würfe waren schon gremacht worden, sie hatten
aber die Fürstin nicht befriedigt ; darum licss
sie dem Maler sagen, dass, wenn er etwas recht
denkwürdiges entwerfen könnte, es ihr genehm
sein sollte; ausserdem möchte er sich nach einem
geeigneten Alabaster umsehen. Sofort durch-
suchte Perreal seine Zeichnungen, namentlich
was er von Antiken in Italien abgebildet hatte,
und machte eine Skizze, die er Lemaire zeigte.
Am 15. November arbeitete er den ganzen Ent-
wurfaus und hatte auch einen schönen Alabaster
•gefunden. Lemaire aber war, wie Perreal schreibt,
schon geraume Zeit von Lyon weg und nach
Döle gegangen'.
In Dole war Lemaires neuer Wohnsitz, auch
hier ruhte seine Feder nicht. Am 18. Dezember
kündigt er Margareta den baldigen Abschluss
einer aus dem Italienischen übersetzten Ge-
schichtserzählung: ics Gestes cht Sophy et la
prinse d'Oran en Barbarie, an. Gleichzeitig
dankt er für die Erhöhung seines Gehaltes um
vier Sous täglich und für die feste Zusicherung
weiterer Wohlthaten^,
' Perreal an Margareta, den 15. Nov. 1509. Cf. Charvet,
Jehan Perreal p. 44. 51. — Seit 1504 erhielt Perreal eine Pension
von Margareta ; sie war ihm in den drei letzten Jahren nicht
bezahlt worden, oflcnbar weil in der Zwischenzeit keine Dienste
von ihm verlangt worden waren.
' Oeuvres IV, 376. Lemaire an Margareta. Dole, le
18 decembre 1509. Die Gehaltserhöhung kann eine Belohnung
ftlr die Widmung der Illustrations, oder eine Folge der An-
stellung Lemaires beim Bau der Kirche von Brou, wovon
spilter, gewesen sein.
- 132 -
Seit einigen Jahren machte Schah Isma'il,
der Begründer des neupersischen Reiches, viel
von seiner w^ilden Eroberungslust und seinem
fanatischen Hass gegen die sunnitischen Türken
reden; wiederholt hatte er die Fürsten der
Christenheit aufgefordert, sich am Kampfe gegen
den gemeinsamen Feind zu beteiligen. Nach
Berichten, die er in Venedig und Rom gesammelt
hatte, mit Ergänzungen aus brieflichen Mit-
teilungen an den Kaiser und Margareta, entwarf
Lemaire eine kurze Lebensskizze des persischen
Eroberers, den er als willkommenen Bundes-'
genossen der Christen beim inbrünstig ersehnten
Kreuzzug gegen die Türken betrachtete ; die
scharfe Zuspitzung gegen den Papst erhielt das
Schriftchen erst später ^
Im Sommer des Jahres, in dem Lemaire
seinen Wohnsitz in Döle erwählte , tauchte
daselbst ein junger Mann von dreiundzwanzig
Jahren auf, dem sein Ruf als Eingeweihter der
geheimen Wissenschaften vorausgegangen war,
und fing an ohne Lehrauftrag öffentliche Vor-
lesungen zu halten, zu denen er bald die ganze
Stadt, Senatoren, Professoren, Doktoren, zog.
Der Gegenstand der Vorträge war Reuchlins
Buch de Verbo mirißco; der Alle bezaubernde
' Oeuvres III, 199—219. Herausgegeben wurden die Gestes
im Anhang an den Trait6 de la difference des Schismes et des
Conciles 1510. — Ueber Isma'il s. Müller, der Islam II, 347.
(Oncken, Allg. Gesch. II, IV). Den versprochenen Bericht über
die Einnahme von Gran hat Lemaire nicht gegeben.
- 133 -
Lehrer Henricus Cornelius Agrippa, ein offener,
feuriger Geist, aber ein bis zur Haltlosigkeit
unruhiger Kopf. In Köln geboren und bis zum
Magisterium vorgebildet, hatte er sich in Paris
mit den verschiedensten Studien befasst, war
dann einige Zeit auf Abenteuerreisen gewesen,
bevor er sein Glück in DOle versuchte. Aller
Wahrscheinlichkeit nach hat Lemaire nicht ver-
säumt, den glänzenden Redner zu hören, ja man
k()nnte vermuten, dass er derjenige war, der
ihm das Anerbieten machte, eine von ihm ge-
haltene Lobrede auf Margareta in das Fran-
zösische zu übersetzen, derselbe, dem Agrippa
die Gunst des königlichen Hofmalers Perreal
verdankt". Agrippa selbst erinnerte sich seiner
noch zwanzig Jahre später, als er in das
früher von ihm bekleidete Amt eintrat. „Durfte
nicht mein ehemaliger Vorgänger, Johannes
Lemaire aus Bavay, als er das Amt eines Indi-
ziarius bekleidete, bald in Italien, bald in GalHen
und Frankreich weilen, und bezog trotzdem
stets und überall seinen Gehalt 2?" so fragt er in
einem Gesuch an Maria von Ungarn, und das sind
sicherlich Erinnerungen aus dem Jahre 1509, wo
Lemaire eben in Südfrankreich ansässig ge-
* H. Cornelius Agrippa, Epistolae 1, 15. cf. 1.16 und 1. 17. Mög-
licherweise wilreer auch der, welcher ihn dem Erzbischof von
Besannen empfohlen hat. Ep. I, 13. 14. Vgl. Anhang V.
^ «Nonne olim praecessor meus Johannes Marius Belga in-
diciarii muncre functus, nunc in Italiam, nunc in Galliam et
Franciam immorabatur, semper ubique suo fretus stipendio ?>
Epist. VII. 21.
- 134 -
worden und kurz vorher von seiner italienischen
Reise zurückgekehrt war. Im Frühjahr musste
der jugendliche Hitzkopf Dole wieder verlassen,
er ging nach London und von dort über Köln
nach der Lombardei, wo er bis 1518 blieb, bis
1520 war er dann in Metz, bis Januar 1524 in der
Schweiz; erst dann kommt er nach Lyon als
Leibarzt der Königin-Mutter, Luise von Savoyen,
und bleibt daselbst nach Aufgabe seiner Stellung
bis Ende 1527; nach einem mehrmonatlichen
Aufenthalt in Paris siedelte er nach den Nieder-
landen über'. Er kann also nur in DOle im
Jahre 1509 mit Lemaire zusammengetroffen
sein. Später hat sich ihre Lebensfärte nicht
mehr gekreuzt, und das war wichtig festzustellen,
weil es bei einem polemischen Ausfall Pierre
de Saint-Julien eingefallen ist , Lemaire und
Agrippa trotz des Altersunterschiedes von vier-
zehn Jahren zu einem Freundespaare zu vereinen,
und diese unbelegbare Behauptung Lemaires
Biographen trotz ihrer inneren Unwahrschein-
lichkeit bestochen hat^.
IX.
Endlich trat der längst angekündigte erste
Band der Illustrations de Gaule et Singularites
de Troye vor die Oeffentlichkeit. Im Jahre 1500
^ Cf. Aug. Prost, Corneille Agrippa, sa vie et ses oeuvres,
2 vol. Paris 1881— 8->.
^ P. de S. -Julien, de l'origine des Bourgognons, Paris 1681.
p. 389. Wir kommen später noch einmal auf die Stelle zurück.
— 135 —
in Angriff genommen, unter wechselvoUenLebens-
verhältnissen gefördert, war das umfassende Werk
allmälig auf zwei und drei Bücher angewachsen;
das letzte freilich bedurfte noch einer gründlichen
Ueberarbeitung. Einstweilen ging das erste unter
den Auspizien Margaretas von Oesterreich und
den Frauen französischer Zunge zugedacht ver-
suchsweise von Stappel.
Der Verfasser hatte sich vorgenommen, den
ehrwürdigen Ursprung der Herrscherhäuser
sowohl des keltischen als des belgischen Galliens
darzuthun; zu dem Behufe wollte er zunächst die
minder bekannten Einzelheiten der trojanischen
Geschichte, die noch Niemand ausführlich und
zusammenhängend behandelt hatte, nach den
besten Quellen erzählen, alsdann die Besiedelung
Europas durch die Prinzen trojanischer Abkunft
schildern, und zum Schluss die trojanische Ab-
stammung der Türken sowie alle Unternehmungen
und Kreuzfarten der europäischen Fürsten zur
Wiedereroberung ihrer kleinasiatischen Erblande
besprechen. Neuheit des Stoffes und Würde und
Zuverlässigkeit der Gewährsmänner sollten seine
Erzählung empiehlen; nebenbei freute er sich,
der französischen Sprache ein Denkmal zu setzen,
der Sprache, die die Italiener mit Unrecht bar-
barisch nannten, während sie im Gegenteil zu
einer der elegantesten geworden war und sich
der grössten Beliebtheit an allen Fürstenhöfen
erfreute.
- 13b -
Die beiden ersten Bücher, welche zuerst voll-
endetwaren, sind der Geschichte Trojas gewidmet ;
der Krieg, den Helenas Entführung herauf-
beschwor, und der Untergang der Stadt wird
im zweiten erzählt; den Inhalt des ersten bildet
die Vorgeschichte. Dieses erste Buch zerfällt in
zwei Teile, welche nicht blos dem Gegenstande
nach, sondern auch nach Quelle, Auffassung,
Erzählungsweise und Wert grundverschieden
sind: der* erste bringt die Geschlechtsreihe der
Vorahnen Trojas von Noah bis auf Priamus, der
andere das Leben des jungen Paris bis zu seiner
Wiederaufnahme ins elterliche Haus.
Die Kenntniss der nachsintflutlichen Welt-
geschichte verdankte Lemaire den Altertümern
des Dominikaners Johannes Annius von Viterbo.
Da war ihm Merkur in einer eigentümlichen Ver-
kleidung erschienen. Im Jahre 1498 waren die
Antiquitaturn variaruni voluniina XVII ver-
öffentlicht worden: ein abgeschmacktes Mach-
werk, das an einem Gerippe trockener Annalen,
mit Hülfe eines weitschichtigen Kommentars ein
neues Bild der Weltgeschichte aufzubauen ver-
. meinte; die mythischen Heroen der Griechen
sind darin mit den legendarischen Stammvätern
der Genesis durch razionalistisch-phantastische
Auslegungen auf das abenteuerlichste verquickt,
in der Absicht, die in Nacht getauchten Jahr-
hunderte der Urgeschichte mit bestimmten Namen
und Jahreszahlen auszufüllen. Als Vorbild diente
- 137 -
Fulgentius l'lauciades, als Hauptquelle Diodorus
Siculus nebst einigen Stellen aus Virgil, Pro-
perz u. A.
Es war ein bedauerliches Missgescbick für
Lemaire, dass er auf diese traurige Fälschung
verfiel und ihr Glauben beimass; er Hess sich
aber durch die vorgeschützten Namen des Chal-
däers ßerosus und des Aegypters Manethon
blenden. Immerhin hat er alles Mögliche aus
seiner Vorlage gemacht: die annalistischen Be-
richte hat er in sachlichen Zusammenhang ge-
bracht und gelegentlich die Früchte seiner um-
fassenden Belesenheit verwertet.
Die Erzählung beginnt mit der Sintflut,
welche das lasterhafte Geschlecht der Riesen
vernichtete. Allein aus der Flut gerettet, sinnt
Noah-Janus mit den Seinen zunächst auf Xeu-
bevölkcrung der Erde; der rasch entstehenden
Menschheit gibt er nach Vermögen tugendhafte
Fürsten und macht zu dem Zwecke mehrere
Reisen um die Welt. Die Schlechtigkeit ist nicht
ganz von der Erde geschwunden, alle Laster
leben wieder auf in Cham-Zoroaster, dem ersten
Zauberer. Osiris, dessen Sohn und einziges gute
Werk, macht sich verdient durch die Erfindung
des Ackerbaus und die Bekämpfung der Titanen,
die allenthalben die Menschen bedrücken ; nach-
dem er von seinem Bruder TNphon ermordet
worden ist, setzt sein ältester Sohn Herkules
Libyus dieses Werk fort. Herkules ist der Stamm-
— 133 —
vater aller Fürstengeschlechter: nachdem er in
Asien einen Sohn Tuscus gezeugt, wirbt er auf
seinen Karten um die riesenschöne Königstochter
Galatea von Gallien, deren Ahnenreihe in gerader
Linie bis Japhet aufstieg. Von seinen vielen
Reichen weist Herkules Italien seinem Sohne
Tuscus, Gallien Galateus zu. In der fünften
Generation vereinigt Jasius beide Länder wieder
in einer Hand, er fällt aber dem Neide seines
Bruders Dardanus zum Opfer. Dardanus wird
flüchtig und gründet ein neues Reich auf klein-
asiatischem Boden: hier herrschen seine Nach-
kommen, während in Gallien eine andere Linie
aus Herkules Geschlecht auf den Thron steigt.
Zur Zeit der ersten Zerstörung Trojas unter
Laomedon ist die Zahl der gallischen Könige
in fortlaufender Reihe zum dreiundzwanzigsten
gelangt.
Soweit folgt Lemaire Berosus und Manethon
und ihrem Commentator. Dieses traurige Durch-
einander von abgerissenen Erzählungen und
dürren Stammbäumen füllt die Kapitel II— XVIII
aus. Mit besonderer Liebe hat der Verfasser
die Geschichte iMoahs behandelt; er versäumt
nicht, die Entdeckung der Weinrebe, ihr Begiessen
mit dem Blute des Löwen, Schweines, Lammes
und Affen zu erzählen ^ und Noahs Betäubung,
in der er von Cham behext wird (p. 22 f.) ; unbe-
^ Nach Jacobus Bergomensis, supplcmentum chronico-
rum, 1482.
— 139 —
denklich würde Lemaire den Erzvater (mit Ver-
laub der Kirche) als Heiligen verehren (p. 39) :
für den Stammvater des dritten Erdteils hingegen
verspürt er nur Abscheu; nach ihm scheinen
sich die Tartarenhäuptlinge Grosskan zu nennen^
während bei frohen Festen die freudige Kinder-
schaar No'ö NoS NoS jubelt (p. 42). Auch Osiris-
und seine Gattin Isis haben seine Phantasie an-
geregt: auf Grund eines drolligen Irrtums be-
schreibt er die Wappen, welche Osiris und seine
Söhne tragen' (p. 48); er weiss auch zu berichten^
wie Osiris die Deutschen Korn säen, Bäume
pfropfen, Reben pflanzen lehrte, et lä ou le
tcrroir n'estoit point ydoine ä porter vin, ü letir
aprint ä faire un bnivagc d'orge d'asses bon
goiist lequel il nomnin ccrvoise, du jtoni de sa
sa'iir, snrnommee Ceres (p. 50) ; das geschah zur
Zeit des Königs Gambrivius. Und weil immer
von Riesen die Rede ist, beruft sich Lemaire auf
einen von Boccaccio berichteten Fund auf Sici-
lien ; von Geschlecht zu Geschlecht nehmen eben
die Menschen ab und werden wohl am Ende der
Welt Zwerge sein (p. 56). Herkules Liebschaft
mit Galatea fängt wie eine Riesenidylle an, zer-
läuft aber bald in Nichts. — Ausser diesen ein-
' EigenUich sind es die Thierköpfc der Aegvptischen
Götter, welche die Verwechslung verursacht haben. Lemaire
hat die Dissertation des Annius, Antiq. P XXVII, missverstanden,
oder falsch ausgelegt, um zu zeigen : que l'usage des blasons
est de merveilleuse antiquit6. Vgl. cap. XVI. den Adler des
Jupiter als Flaggenschmuck gedeutet.
140
zelnen Einfällen oder freien Ausschmückungen
fügt Lemaire den Angaben des Annius eigentlich
nur Geographisches bei, wofür er ein besonderes
Interesse hatte. Im übrigen hat er sich durch
die razionalistische Verzerrung der alten Sagen
und Legenden, auf die die Fälschungen seines
Gewährsmanns hinausliefen, durchaus bestricken
lassen, wurde er doch auch durch Boccaccios
Genealogie der Götter in dieser Auffassung
bestärkt '.
Diese unpoetische Anschauungsweise war
ursprünglich Lemaire fremd gewesen; beim
ersten Entwürfe der Singularitez de Troye konnte
von jener apokryphen Geschichtser Weiterung
noch nicht die Rede sein; denn erst bei einer
seiner Romreisen, womöglich erst bei der letzten,
1508, fielen ihm die Antiquitates variae in die
Hände 2. Auf diese Weise konnte er zwar an
die Spitze des Werkes diese Kapitel setzen, die
wir nur mit Verdruss und Bedauern lesen; die
bereits ausgearbeiteten Abschnitte im Sinne seiner
neuen Gewährsmänner umzuschreiben oder sie
überhaupt fallen zu lassen, dazu fehlte ihm die
Zeit oder die Lust; sein kritischer Sinn nahm
überdies am inneren Widerspruch, der dadurch
" Vgl. z. B. p. 107 sq. die Auslegung der Sage von
Ganymedes.
'^ Illustrations III. Oeuvres II, 268. «de laquelle communi-
cation ... je m'ose bien vanter sans arrogance avoir estö le
Premier inventeur, quand j'euz recouvrö les oeuvres dudit
commentateur ä Rome.»
— 141 -
entstand, keinen Anstoss, mit cini<xcn moralischen
Deutungen half er sich darüber weg. Dank
diesem Mangel an Folgerichtigkeit hat der zweite
Teil des ersten Buches sein naives Gepräge und
seine poetische Frische behalten.
Den Uebergang zum zweiten Teil bildet
Kap. XIX; es macht uns bekannt mit Bavo, dem
späteren Gründer von Bavay, und seinem Vetter
Priamus, der Troja wieder aufbaute. Die übrigen
25 Kapitel des Buches sind der Kindheit des
Paris gewidmet.
Paris' Erziehung unter den Hirten und seine
Jugendliebe zur Nymphe Oenone bilden eine
anmutige Idylle und sind von Lemaire mit
plastischer Anschaulichkeit und dem ihm eigenen
Schwung der Rede erzählt worden. Die dich-
terische Leistung ist dabei um so bedeutender,
als die eingehende Ausschmückung der Einzel-
heiten in ihrer gefälligen Darstellung und Lebens-
wahrheit eigene Erfindung ist. Drei Herolden
Ovids und die Skizze einer dramatischen Auf-
führung bei Apuleius haben die Umrisse abge-
geben, nach denen Lemaire sein Hirtengemälde
ausgeführt hat'.
Hekuba hat im Traume eine lodernde Fackel
gesehen, die einheimischen Seher und der dcl-
' Ovidii Heroides, Ep. V. Oenone Paridi, XVI. Paris
Helenae, XVII. Helena Paridi. — Apuleius, Metamorphoseon
1. X. c. XXX— XXXIV. der Urteilsspruch des Paris als Pan-
tomime dargestellt. An letztere Quelle würde man kaum denken,
wenn Lemaire sie nicht selbst angUbe. cf. Oeuvres I, 271.
- 142 -
phische Gott haben prophezeit, dass das Kind,
dessen Geburt erwartet wurde, den Untergang
der Stadt verursachen würde. Es ist beschlossen,
den Knaben auszusetzen; er ist aber so schön,
wie er zur Welt kommt, dass die Mutter sich nur
zu leicht durch das Zureden ihrer Hofdame be-
stimmen lässt, sein Leben zu schonen. Das Kind
wird einem Hirten am Berge Ida anvertraut und
wächst, ohne seine Eltern zu kennen, unter den
Hirtenkindern auf. In jenen behaglichen Auf-
zählungen, die Rabelais in seinem Gargantua
parodiert hat, doch nicht in ermüdender Breite
oder mit pedantischer Trockenheit, sondern in
gemütlichem Eingehen auf die Poesie des Klein-
lebens, beschreibt Lemaire seine Kinderspiele:
hier sehen wir ihn sich tummeln, laufen, springen,
schwimmen. Steine schleudern, Hirtenflöte blasen,
Bogen schiessen; bald ist er der Führer seiner
Gespielen beim Erhaschen der Vög'el und des
Meineren Getiers des Waldes; dann folgen un-
gestümere Uebungen, unter denen seine Glied-
massen zu schlanker Fülle auswachsen, so dass
nicht nur die Mädchen des Dorfes ihn gern zu
Tanz und Gesang auffordern, sondern auch die
Nymphen und Feen ihn aus ihren Verstecken
mit Wohlbehagen und bald mit stillem Verlangen
bewundern. Unterdessen wird er von seinem
Pflegevater in der Schäferei unterrichtet; der
ehrwürdige Greis kann das Lob des Hirtenstandes
nicht warm genug erheben : der Schäfer scheint
- 143
ihm einem Feldherrn gleich zu sein, seine Heerdc
einer Armee, wie er in humorvollem Vergleiche
ausführt. Zum Jüngling herangewachsen wagt
sich Paris auch an das grössere Wild, und bald
gibt es kein Tier mehr im Gebirge, das er nicht
siegreich bestünde. Auch in der Mannerschlacht
seine Kraft und Unerschrockenheit zu bewähren,
findet er Gelegenheit bei einemRaubanfall benach-
barter Hirten ; mit der ihm folgenden Jugend eilt
er den beutebeladenen Plünderern nach und
rächt die erlittene Unbill glänzend an ihnen.
Kurz nach dieser Heldenthat, für die er den
Namen Alexander erhielt, war Paris eines Tages
an einer Quelle eingeschlummert. Beim Erwachen
sieht er sich von lauschenden Nymphen umringt,
er springt auf, holt eine der Fliehenden ein,
nötigt sie durch Bitten zu einem längeren Ge-
spräch, in dem sie ihm seine königliche Abkunft
entdeckt. Schon längst hatte die N3'mphe Pegasis
Oenone den schönen Paris Alexander zu ihrem
Geliebten ausersehen; wie nun auch in des Jüng-
lings Brust ungewohnte Gefühle wach werden,
kann sie seinem Liebesdrängen nicht länger
widerstehen ; als die Sonne sank, führte sie Paris
als seine Frau in seine einfache Hütte ein. Mit
besonderem Wohlgefallen hat Lemaire diesen
bukolischen Liebesroman ausgemalt; es lässt
sich schwer in kurzen Worten ein Begriff geben
von der Anmut der Schilderungen, von der
Naivität, mit der sich in den Reden der Ton
144
gewählter Höflichkeit und ländlicher Einfachheit
paaren, von der Lebensfülle, mit der Lemaire
die alte Halbgötter- und Menschenwelt hervor-
zaubert, von der Meisterschaft, mit der er die
Prachtentfaltung der Natur mit dem Weben
menschlicher Gefühle sich verschlingen und zu-
sammenwirken lässt, von der jugendlichen Glut,
mit der er die natürliche Zuneigung zweier ein-
facher Gemüter geschildert hat. Losgelöst von
den späteren Zuthaten und den moralisierenden
Einschiebseln, vertrüge Lemaires Idylle wohl
den bescheidenen Vergleich mit dem Hirtenroman
von Longus; Paris und Oenone würden unzweifel-
haft neben Daphnis und Chloe noch heute ihre
Liebhaber und Verehrer finden, und die bedeutend
gekürzten Singularitez de Troye allgemein als
ein Meisterwerk der naiv-gelehrten Erzählungs-
kunst des XVI. Jahrhunderts bewundert werden.
Jetzt wechselt die Szenerie; aus der länd-
lichen Stille sehen wir uns mitten unter die
höheren Götter versetzt, welche auf dem Berge
Pelion die Hochzeit des Peleus mit Thetis feiern :
eine schöne Gelegenheit für Lemaire, seine Ge-
lehrsamkeit leuchten zu lassen, und zugleich ein
vortrefflicher Anlass, die volle Farbenpracht
seiner Beschreibungskunst zu entfalten. Mit der
höheren Aufgabe hebt sich auch sein Stil; der
Dichter vergisst nicht, dass er neue Vorwürfe
für den Maler schafft: seine Schilderungen sind
Entwürfe zu grossartigen Wandgemälden, For-
- 145 —
dcrt nicht jenes Festmahl der (iüitcr auf dem
breiten Bergesrücken, wo Flora ihren duftenden
Blumenteppich ausgebreitet hat, wo die Hymniden
ihre natürliche Lauben schlingen, wo die Naiaden
ihre Quellen springen lassen, Pinsel und Farben
heraus ? Soll der Maler nicht begeistert werden
durch jenen Jupiter auf dem Herrscherthrone,
der die Wolken mit dem Glänze seines Antlitzes
erleuchtet; jenen Mars, der kaum vom blut-
bespritzten, erzbeschlagenen Wagen gestiegen,
von den Damen empfangen, seiner Wafifenrüstung
entledigt, mit Rosenwasser begossen und in eine
angenehme Unterhaltung hineingezogen wird;
jenen Bacchus, der seinen schweren Humpen
ein Mal um das andere füllen lässt, um den
Göttern vor- und nachzutrinken, dem aber keiner
ohne Schaden Bescheid thun kann ? Das Götter-
mahl ist ein grosses Hoffest; alle Hofchargen
sind zur Stelle: Priapus versieht die Küche mit
Grünem und bereitet die Saucen; Vulkan hat
die Aufsicht über das Tafelgerät; Vorschneider
sind die jüngst unter die Gestirne verrückten Per-
seus und Jason, letzterer mit dem göttlichen Orden
des goldenen Vliesses geschmückt; Schenken
sind Hebe und Ganymed. Zum Schlüsse des
Essens singen die Sirenen so süss, dass mancher
beim ungewohnten Klang sich vergisst und bei
Tische einschläft , und Jupiter selbst , um nicht
zu schlummern, die Tafel aufhebt und den Tänzen
Pans und den Vorträgen der Musen Raum macht.
Becker, Jean Lemaire. lU
- 146 -
Jedermann weiss, wie das Fest verlief, wie
der Apfel der Zwietracht der Freude ein Ende
machte. Ein neues Bild entwickelt sich vor
unsern Augen. Im friedlichen Thale Mesaulon
weidete Paris seine Heerde; eben hatte er sein
einfaches Mahl, Brod und Datteln, zu sich ge-
nommen und ergötzte sich im Schatten am
Harfenspiel, als die drei Göttinnen, von jMerkur
geführt wie ein Kranichzug erschienen und sich
vor dem erstaunten Hirten niederliessen. Es
beginnt ein Wettkampf der Reden und Ver-
sprechungen, der nicht blos eine oratorische
Musterleistung darstellen soll, sondern einen
tieferen moralischen Hintergedanken birgt: Paris
steht vor der Wahl zwischen irdischer Macht,
Weisheit und sinnlicher Lust ; alle Verlockungen
der Güter, die sie ihm gewähren können, breiten
die Göttinnen mit den leuchtendsten Farben der
Rhetorik vor ihm aus. Zu gleicher Zeit schürzt
sich der Knoten, der im zweiten Buche seine
tragische Lösung finden soll : Paris wird Oenone
vergessen , sein eigenes Leben wird verkürzt
werden, und mit ihm und durch seine Schuld
wird Troja fallen. Es ist um den Hirten ge-
schehen, sobald er die nackte Schönheit der drei
Göttinnen zu sehen verlangt, seine Sinne sind
bethört, sein Schicksal ist besiegelt und wird in
der gestörten Versammlung der Götter von
Apollo verkündet. In der Wahl, die Paris trifft,
und in dem Verhängniss, das sich daran knüpft,
- 147 -
Hegt rein menschlich und dramatisch eine tiefe
Lehre, ohne dass Lemaire in einem besonderen
Kapitel alle möglichen allegorischen, moralischen,
astrologischen Deutungen beizugeben brauchte;
freilich hat er diesmal einen nicht zu verachtenden
Gewährsmann am Apostel Petrus selbst, nach
dem Romane der Wicdcrerkcunungcu.
Unverzüglich naht die Erfüllung der gött-
lichen Verheissung. Zur Vermählung des Thraker-
königs Poh'^mnestor mit Priams Tochter Ilione
wird ein grosses Spiel und Turnier vorbereitet.
Oenone, welche ihren Gatten seit jener Er-
scheinung, deren Geheimniss ihr nur halb offen-
bart ist, in seinem Wesen verändert sieht, Hekuba,
die auf eine Gelegenheit lauert, ihren Sohn wieder
ins Vaterhaus einzuführen, alles treibt ihn, am
Spiele teilzunehmen; nur seine Pflegemutter lässt
sich schwer für den Plan gewinnen. In der turnier-
frohen Zeit Kaiser Maximilians war Lemaire
schon oft Zuschauer grosser Hoffeste gewesen;
nach ihrem Muster schildert er die Wettkämpfe
in der Skamanderebene mit der umständlichen
Genauigkeit, auf die er sich so meisterhaft ver-
steht. Die Fussreise der Hirtenfamilie, ihr Lagern
unter dem Feigenbaum, die Musterung der Zu-
schauer und wie Oenone ihrem Gatten seine
hohen Verwanten einzeln bezeichnet, das ist
frisch aus dem Leben gegriffen. Dramatisch be-
flügelt sich die Schlussszene. Paris besteht seinen
Bruder Hektor, dieser gerät ausser sich und will
148
den Hirten töten, Paris rettet sich, indem er sich
nennt, der alte Hirte kommt mit den Erkennungs-
zeichen; unter Freudenthränen wird Paris von
seinen Eltern anerkannt und Oenone, wie ihre
Schönheit es verdient, als Schwiegertochter
Priams aufgenommen. Paris stolzes Sehnen ist
damit erfüllt und mit dem Auseinandergehen der
Gäste schliesst das erste Buch der Illiistratioiis.
Lemaire überlässt es seinen Lesern, sich vor-
zustellen, welche Mühe und Sorgfalt es dem Ver-
fasser gekostet haben mag, seinen umfangreichen
Stoff aus so vielen alten Schriftstellern zusammen-
zutragen, zu sichten und zu einem einheitlichen
Ganzen zu verarbeiten, und empfiehlt sich ihrem
Wohlwollen mit den beiden Versen aus Lukrez:
Floriferis ut apes in saltibus omnia libant,
Omnia nos itidem decerpsimus aurea dictaK
' Nach der Gewohnheit der damaligen Zeit hing Lemaire
dem ersten Buche auch einige Briefe an ; zuerst einen teil-
weisen Abdruck des zweiten Schreibens von Fournier an
Champier, die Lobrede auf ihn ; dann eine Epistola Johannis
Regis Parrhisiensis (philosophi atque poetae insignis) an ihn
selbst, ein Dankschreiben für einen Auszug über die Germanen
aus Jacob von Guise mit einer langen Abschweifung über die
Neuerstehung der schönen Wissenschaft, die auch die National-
sprachen betrifft ; der Schreiber hegt grosse Hoffnungen von
Lemaire : Novatorem tcrminorum Apuleium imitaberis, sincerum
et brevitate gaudentem in historia Sallustium, copiosum et
fertilem Ciceronem,florentem Plinium ; et tu quoque, cum operae
precium erit , siccum et jejunum sterilemqe Frontonem referes
et instaurabis. Haec paucis dixerim, non assentator, sed tua
humanitate fretus. Solent enim libera ingenia esse magnifica
et quodammodo gaudere benefactorum gloria. — Das Schreiben
ist aus Valenciennes datiert. Bene valere te exopto ex insigni
Valencenarum urbe. Bene habet nepos tuus qui tuam indolem
— 149 -
X.
Als Lemaire im Begriff stand, den Druck
des ersten Buches der Illustrations de Gaule ab-
zuschliessen, bedachte er, dass es nicht unschick-
lich wäre und von den Lesern freundlich auf-
genommen werden würde, wenn er den ersten
Brief des Grünen Liebhabers , der seit 1505 un-
gedruckt dalag, dem Bande beifügte. Wohl befand
sich die Epistel handschriftlich im Umlauf, und
der Dichter hatte jedenfalls selbst dafür gesorgt,
dass der Königin von Frankreich -— vielleicht
während ihres langen Aufenthaltes in Lyon —
eine Abschrift vorgelegt wurde. Nun hatte er
eben durch einen Brief seines Freundes Perreal
an Claude Thomassin, Stadthauptmann von Lyon,
erfahren, dass Anna soviel Gefallen an dem Ge-
dichte gefunden hatte, dass sie es noch jetzt
gelegentlich anführte. Dieser hohe Beifall war
es, der ihn bcwog, den ersten Brief in Druck zu
geben, und ihn anfeuerte, den zweiten zu dichten,
jenen Bericht des gestorbenen Sittichs über seine
Ankunft im Paradies der seligen Tiere; wir haben
gesehen, welch frischen Humor und welche Ueber-
fülle von Gelehrsamkeit er dabei entwickelte.
videtur rcdolere. Es folgt dann ein Brief des Predigermönches
Petrus Lavinius von Langres an Franz von Rohan, Erzbischof
von Lyon, nebst einigen empfehlenden Gedichten desselben,
alles in lateinischer Sprache. Man sieht aus dem Briefe und
den Versen, dass die Annius entlehnten Stammbilume den
grössten Eindruck auf die ersten Leser gemacht haben. Dieser
Petrus Lavinius stand spUter auch mit Cornelius .Agrippa in
brieflichem Verkehr. — Cf. Oeuvres IV, 431 sqq.
— 150 -
Die beiden Episteln widmete Lemaire seinem
Gönner dem Hofmaler, damit er sie der Königin
als eine bescheidene Gabe und einen Beweis
seiner Ergebenheit zu lesen geben könne >. Per-
real hatte viele Verbindungen am französischen
Hofe, vielleicht war er selbst in Blois anwesend
und hörte dort die freundliche Aeusserung der
Königin, die er eiligst seinen Bekannten in
Lyon mitteilte.
Wie wir sahen, hatte Lemaire im Vorjahre
den Lyoner Künstler im Auftrage Margaretas
aufgefordert, Entwürfe für die Grabdenkmäler
in Brou zu zeichnen; als dieselben fertig waren,
übermittelte er sie auch der Fürstin, und diesmal
wahrscheinlich persönlich; denn er war im Verlauf
des Sommers 1510 in den Niederlanden. Perreal
schreibt am 4. Januar 1511, er habe Lemaire,
als er nach Flandern ging, auf seine Frage mit-
geteilt; dass die drei Grabstätten zusammen wohl
zweitausend fünfhundert Thaler kosten würden,
er dürfe aber die hohe Frau nicht damit er-
schrecken, um keine Verzögerung zu verursachen ;
und Lemaire klagt am 20. November 1510, der
Obereinnehmer von Hennegau habe den ge-
schlossenen Brief Margaretas, in dem ihm aus-
drücklich befohlen war, dem Indiziarius mit
' Oeuvres III, 1. Je;in Lemaire de Beiges tres humble dis-
ciple et loingtain imitateur des meilleurs indiciaires et historio-
graphes au sien tres singulier patron et protecteur maistre Jean
Perreal de Paris, peintre et varlet de chambre ordinaire du
roy tres chrestien. A Lyon, le premier de mars 1510.
- 151 —
Rücksicht auf seine Reise und seinen Auftrag
den vollen Gehalt für das am letzten September
ablaufende Jahr auszubezahlen, nicht beachtet,
sondern hochmüti«^ geantwortet, er gebe auf den
Inhalt des Briefes nichts; Marnix, der denselben
ausgefertigt hatte, habe den Ueberbringer zum
Besten gehalten'.
Es ist begreiflich, dass nach solchen Er-
fahrungen Lemaire kein besonders festes Zu-
trauen in die Versprechungen setzte, die man
ihm machte, ihn beim Bau von Brou ständig an-
zustellen und entsprechend zu belohnen 2. Xichts-
' In einer Zahlungsanweisung' an Perrcal, die am L'7. Juli
lölO veriliziert wurde, heisst es ä cause des pourtraictz par luy
faiz, et qu'il nous a derreniercmenl cnvoyez par Jean Le Maire,
nostre indiciairc. Charvet, Jean Perreal p. 45. — Perreal schreibt
isn Louis BaranRier, am 4. Januar 1511. «Premierement je vous
di que je dis ä Maistre Jean Lemaire, quand il ala en Flandres,
pour ce qu'il me demandoit que le tout pourroit bien couster
deux mille cinq cens escus, c'est ä dire les trois sepultures,
maiz qu'il ne falloit pas estonner Madame, aün de ne reculer
Toeuvrc.» — Lemaires Brief vom L*0. November 1510 bei Stecher,
Oeuvres IV, 408. «i\ cause de mon voyage et commission.» —
Lemaire war am 1. M.'lrz noch in Lyon gewesen, im September
ist die Arbeit in den Steinbrüchen von S. Lothain schon im
Gange, da Margarethe .Anfangs Oktober Muster erhält. Lemaire
wird also wohl schon im Juli zurückgekehrt sein.
'' Auf diese Reise scheint sich ein Brief Lemaires zu be-
ziehen, von dem Siecher Oeuvres IV, 40- -Anm. '_' nur einen Aus-
zug nach einer Mitteilung von .AI. Pinchart giebt: Lemaire schreibt,
er habe die patrons et pourtraictz et plattes formes en parchemin
in den Händen des Wappenkönigs Toison d'or gelassen. Weiter
sagt er: «Madame pourra deliberer cependant s'ellc se veut
.servir de moy en cest affaire et que je soie chief quant k la
sollicitation d'icelle avecques recompense et estat condigne et
comme on me l'a promis. Mais j'ay grand pcine que je ne
soie celui qui bat les buissons et ung autrc prend les
oisillons. S'il est ainsy,' il faudra que j'aie patience.»
- 152 -
destoweniger entwickelte er eine grossartige
Rührigkeit, der der Erfolg auch nicht fehlte.
Durch eifriges Nachforschen entdeckte er den
Wert der infolge der Kriege verlassenen Ala-
basterbrüche von Saint - Lothain bei Poligny,
vierzig Kilometer südlich von Dole in der Herr-
schaft Salins, die zu Margaretas Leibgedinge
gehörte ; in alten Urkunden des Klosters Baume-
les-Messieurs hatte er gefunden, dass die Brüche
seit mehr als zweihundert Jahren in Rufe standen;
er wusste, dass Meister Anthoinet von Paris,
der doch eigens nach England gereist war, für
das Grabmal Philipps des Guten in Dijon weder
dem englischen Alabaster noch dem von Grenoble,
sondern einzig dem vonSaint-Lothain den Vorzug
gegeben hatte ; ferner hatten ihm die alten Leute
der Umgegend, wie er sie ausfragte, bezeugt,
dass Ludwig der XL durch denselben Anthoinet
bedeutende Ankäufe hatte machen lassen. Sofort
nahm Lemaire die Brüche in Margaretas Namen
in Besitz und Hess trotz des Murrens der Mönche
von Baume ihr Wappen aufpflanzen, indem er
sich auf den Rechtssatz gründete, dass alle unter
der Erde verborgenen Schätze und Gänge dem
Landesherrn gehören. Allein er war noch nicht
über die ersten Abraumarbeiten hinaus, als
Margareta eine vorgebliche Musterprobe erhielt,
woraufhin sie sofort (am 10. Oktober 1510) schrieb,
der Stein scheine ihr zur Verwendung bei ihren
Arbeiten nicht tauglich, es sollten daher keine
— 153 -
weiteren Ausgaben gemacht, sondern andere
Bezugsquellen gesucht werden. Lemaire, der
nichts von den zugeschickten Proben wusste,
geriet über den Brief in grosse Bestürzung;
er berichtete sogleich in einem ausführlichen
Schreiben, wie er auf die Alabasterbrüche auf-
merksam geworden war und was für Ergebnisse
er erzielt hatte; es wurden bereits Blöcke ge-
fördert, die nicht an einem Stücke herauszuziehen
waren, und die zerlegt immer noch zwölf Pferde
oder vierundzvvanzig Ochsen anstrengten. Freilich
musste man bis zu den Knien im Wasser arbeiten,
trotzdem dass Tag und Nacht gepumpt wurde,
und schwebte dabei in steter Lebensgefahr wegen
der nachrutschenden Erde. Hätte Lemaire Mar-
garetas Brief an Ort und Stelle erhalten, so hätte
er Alles liegen lassen und wäre anderswohin
gegangen, um sein Unglück zu beweinen. Denn
aus keinem andern Grunde, sagte er sich, wurden
jetzt die Steinbrüche herabgewürdigt, als weil
er es sei, der sie wieder aufgefunden habe. So
war es ihm schon wiederholt gegangen, immer
klopfte er die Büsche aus, andere fingen die
Vögel '. So habe man der Fürstin nur berichtet,
> Lemaire erwähnt zwei Fälle: erstens sagt er. .quand
j'euz mis en avant la prcvalue des deniers d'Espaigne et que
j'avertiz Madame qu'elle perdoit de son douaire mil ou XII ^'
ducatz par an au moyen des charges du temps du collateral
Pyosachz et que le maniement des dictz deniers fut baille ä
ceux qui le faisoient mieulx valoir d'autant en baillant bons
pleigcs, dönt en partin ne fut riens tenu'. Soll es nicht heissen
au moyen des changes? Jean Loys de Pyoczasc(o) war coUa-
- 154 -
er habe Alabaster in den Salzwerken von Tour-
mond gefunden, weil man hoffte, er würde sich
dabei lächerlich machen. Spuren von Gips
habe er entdeckt; um auf Alabaster zu kommen,
müsste man zu tief graben, darum habe er sich
an das sicherste gehalten und Saint-Lothain er-
worben. Wenn er nicht wüsste, dass alles, was
er sagt, doch missachtet wird, würde er sich an-
heischig machen, seiner Herrin einen ganz her-
vorragenden Dienst zu leisten. Zu einer Arbeit,
wie die bei den Salzquellen, brauchte man einen
Mann, dem es nicht um eigenen Gewinn zu thun
sei, sondern um die Ehre und um das Ansehen
des Fürsten, einen, der Mathematik und Geo-
metrie theoretisch wie praktisch beherrschte,
um die Höhe des Bodens und das Gefäll des
Wassers zu messen und Maschinen anzufertigen,
mit denen man ohne viel Leute und Ausgaben
beträchtliches leisten könnte. In den Salzwerken
habe er Keinen gefunden, der dies sonderlich
verstände; Margareta besitze aber an Perreal
einen Mann, der reich sei an Wissen, Freunden,
teral du magnitique conseil, resident avec le duc de Savoye,
et administrateur des tinances de Madame Marguerite duchesse
de Savoye, wenigstens bis 1504;ö cf. Quinsonas 1. c. III. n° XVI.
— 'Et de reschief quand madame commenija son bastiment
deBroujevfeizprouflitdeplusdellll'^livres au pris fait par l'ad-
vertissement d'envoyer quenr des maistres massons partout.'.
Das würde zu dem doppelten Kontrakt stimmen, einer vom
23. April 1505 mit fünf Accordarbeitern von Bourg, der andere
vom 7. April löOö mit zwei andern Maurermeistern. Cf. Char-
vet 1. c. p. 48.
— löö —
Eründungsgabc, Unternehmungslust, Ehre, Ver-
mögen und Ansehen, und ihr zu Liebe gern zu
diesem Geschäfte erbötig wäre. Und wenn man
sie über die Betriebsamkeit, mit der Lemairc
die Arbeiten in den Brüchen geleitet hatte, wahr-
heitsgetreu unterrichtet hätte, so könnte sie sich
denken, dass auch er es wohl wagen würde»
Grösseres zu unternehmen, wenn man ihn nur
verwenden wollte. An einem Festtage sei er
einmal mit fünfzehn oder sechzehn seiner Ge-
sellen zu dem Salzwcrke hinübergegangen und
habe in einer Viertelstunde mehr Wasser aus-
gepumpt, als die dortigen Arbeiter sonst an
einem Tage; es herrsche dort eine grosse Lässig-
keit. Da Lemaire nun einmal im Zuge ist, bringt
er noch drti weitere Beschwerden vor: zuerst
war er bei der Verwesung einer Pfründe in
Dole trotz der mündlichen Zusage Einem, der
nie etwas geleistet hatte, zu Liebe übergangen
worden ; ferner war der Befehl, dass die Kloster-
brüder von Brou ihm und den Bildhauermeistern
das alte Gebäude einräumen sollten, wieder
zurückgenommen worden, so dass er noch immer
im Gasthofe wohnen musste; endlich hatte der
Obereinnehmer von Hennegau, wie wir sahen^
sich geweigert, ihm seinen Gehalt zu bezahlen'.
Lemaires Schreiben ist ein leidenschaftlicher
Herzenserguss, aber mit dem Geschicke eines
• Lemairc an Maifrareta, Bourjj en Bressc. den 20. No-
vember i:>10. Oeuvres IV, 39(>-409.
— 156 —
gewiegten Schriftstellers eingeleitet. Keine andere
Urkunde gibt uns ein so lebhaftes und bewegtes
Bild von seiner praktischen Thätigkeit; keine
lehrt uns seine Betriebsamkeit und seinen Eifer
für den Dienst seiner Herrin mehr schätzen.
Sein rücksichtsloses Vorgehen bei Anlässen, wie
denen, die er anführt, mag ihm die Feindschaft
derjenigen, deren rechtliche oder unrechtliche
Interessen dabei verletzt wurden, leicht zuge-
zogen haben ; er selbst scheint die Zurücksetzung,
die er empfindet, auf tiefere Gegensätze in Mar-
garetas engerer Umgebung und in ihren eigenen
Neigungen zurückzuführen; ,je suis certain,
Madame, sagt er mit etwas dunkeln Ausdrücken,
que si quelque autre qui eust eu port de sa
nation envers vostre excellence, eust este inven-
teur et executeur d'un tel Service, il en eust fait
un grand cas. Mais le proverbe commun dit
que toujours a povres gens menue monnoye.'
Es spricht sich in diesen Worten das bittere
Gefühl des Mannes aus, der weiss, was er leisten
könnte, und dabei sieht, dass er den hochadligen
Vertrauten der Fürstin gegenüber doch nur ein
untergeordnetes Werkzeug bleiben wird; des
ergebenen Dieners , der empfindet , dass der
Widerstreit der politischen Strömungen eine
allmälige Entfremdung zwischen dem Lande und
der Statthalterin herbeiführt; vielleicht will
Lemaire eine bestimmte Person andeuten, durch
— 157 —
deren Missgunst und Einfluss er sich bedroht
glaubt'.
Am 10. Oktober waren auch die Verträge
über die Bildhauerarbeiten für die GrabmHler
von Brou abgeschlossen worden und Lemaire
hatte seinen Neffen nach den Niederlanden ge-
schickt, um Margareta mündlich Bericht zu er-
statten. Die getroffene Uebereinkunft fand aber
keine Billigung und der Brief, den Margareta
darüber an Lemaire und ihren in Burgund an-
wesenden Geheimschreiber Barangier schrieb,
Hess beide befürchten, dass sie ernstlich erzürnt
sei. Wir haben einen langen Brief, den Perreal
am 4. Januar 1511 an Barangier schrieb, um
seinen Standpunkt zu verteidigen: die zwei
Hauptpunkte sind der Wert des Alabasters,
dessen geringer Härtegrad, wenn er frisch ge-
brochen ist, eine natürliche Eigenschaft und kein
Fehler ist, und die Redlichkeit der abgeschlos-
senen Verträge. Der Alabaster findet bereits
Absatz, der Geifenwirt in Lyon hat zwei oder
' I" Die Oberaufsicht über die Salzwcrke von Salins (ich
weiss nicht, ob die von Tourmond mit eingeschlossen waren),
das Amt , das Lemaires Ehrgeiz gereizt hUtte , wurde im
April 1512 dem Präsidenten von Bressc, Laurent de Gorrevod,
verliehen. Le Glay, Corresp. II, 1. 11" Margareta wurde bedr.'lngt
durch den Gegensatz der niederländischen einheimischen Politik,
welche den Anschluss an Frankreich festhalten wollte, und der-
jenigen, die das Interesse ihres Vaters des Kaisers und ihres
Neffen des Thronerben von Spanien vertraten. III" Lemaire
bezeichnet später selbst Diego Flores, den Schatzmeister Mar-
garctas, als denjenigen, dem er seine Entsetzung verdankt.
— 158 -
drei grosse Blöcke nach Tours verkauft, wo
Michel Coulombe das Grabmal eines Bischofs
daraus hauen will'. Da Barangier im Begriff
ist, nach Dijon zu gehen, wird er in der Rech-
nungskammer finden, woher der Alabaster tür
die Gräber der Herzoge von Burgund bezogen
worden ist, und was er gekostet hat. Bei den
Verträgen mit dem Bildhauer Thibault von Salins
hat Perreal allerdings seine Nebengedanken; er
glaubt nicht, dass Thibault im Stande sein wird,
das zu leisten, wozu er sich verpflichtete; von
vornherein ging seine Absicht dahin, den be-
rühmten Michel Coulombe, der das Grabmal des
Herzogs Franz des IL von Bretagne, des Vaters
der Königin, gemeisselt hatte, für die Denkmäler
von Brou zu gewinnen. Da Margareta beti effs
des Stoffes, der verwendet werden sollte, noch
unentschieden war, empfiehlt ihr Perreal den
weissen Marmor von Genua und den schwarzen
von Lüttich, welche beide in Nantes Verwendung
gefunden hatten; denn Alabaster sei nicht so
dauerhaft wie Marmor, und gegossenes Metall
zu roh in der Ausführung. Dieser Rat des
Künstlers scheint für die Denkmäler von Brou
befolgt worden zu sein^.
Den Gedanken, Thibault durch einen besseren
Künstler zu ersetzen, Hess Perreal nicht fallen.
> Nach B. Fillon ist es offenbar das Grabmal des Bischofs
■Guillaume Guegruen von Nantes.
- Perreal an Barangier, Lyon, den J.Januar 1511. Charvet
1. c. p. bl— 67. Derselbe an Margareta, ibid. 68—71.
— ir)9 —
Am 30. März schreibt er von Blois an Barangier,
der wieder nach den Niederlanden zurückgekehrt
war, Coulombe habe sich ihm zu Liebe bereit
erkUirt, die Arbeiten mit seinem Xeffen zu über-
nehmen, und er verlange keine anderen Be-
dingungen als die, welche mit Thibault verab-
redet worden waren. In der Zwischenzeit hatte
er auf Margaretas Ansuchen einen Plan für die
neben das Kloster zu bauende Kirche entworfen,
mit grossem Kopfzerbrechen von wegen der
Erfindungen und Verzierungen, wie er wieder-
holt betont. Für die Steinbrüche, fügte Perreal
hinzu, müsste Jemand gefunden werden, um
Lcmaire zu ersetzen, der jetzt gerade, wo man
Alabaster in Menge brauchte, sehr vermisst
werde '.
Lemaire hatte das Unglück gehabt, den
rechten Arm zu brechen, und infolge der Unzu-
länglichkeit der wundärztlichen Behandlung war
die Hand erkrankt, so dass er sich in L3'on mit
schweren Kosten pflegen lassen musste. Am
2. Mai musste er seine Briefe noch schreiben
lassen und konnte nur den Namen unterzeichnen.
Seine Krankheit hatte ihn gehindert, das Buch
des Papstes Plus, de miseria curialium, wie er
versprochen hatte, zu übersetzen-; als Ersatz
schickte er dem Geheimschreiber Marnix Alain
* Perreal an Barangier, den 30. März löU. Stecher
Oeuvres de J. Lemaire, IV, 377. Die Adresse fehlt ; es ist aber
kein Zweifel möglich, dass Barangier der Adressat ist.
=" Ein Gegenstand, der ganz seiner Stimmung entsprach!
160
Chartiers Curia!, den er ebensohoch, wenn nicht
höher schätzte, als das Buch des Papstes. Während
er sich pflegen Hess und nicht schreiben konnte,
hatte er aber, um keine Zeit zu verlieren, zwei
eigene Bücher drucken lassen, die Margareta
zu Ehren ihr Wappen tragen sollten; er hoffte
sie bis Ende der Ostermesse fertig zu sehen.
Was Lemaire längst befürchtet hatte, war auch
eingetreten; durch den Einfluss des Schatzmeisters
Diego Flores oder eines Andern war ihm sein
Amt als Geschäftsführer beim Errichten der
Grabmäler in Brou entzogen worden unter dem
Vorgeben, der Alabaster sei nicht gut und die
eingegangenen Verträge zu kostspielig. Auf
beide Punkte mochte Barangier auf Grund dessen,
was er in der Rechnungskammer zu Dijon ge-
funden hatte, bereits geantwortet haben, seiner-
seits beabsichtigte Lemaire ausführlich darüber
zu schreiben, wenn er die Bücher schicken würde ' .
So war also Lemaire unterlegen, bei der
Fürstin stand er in Ungunst und seine ehr-
geizigen Hoffnungen und seine Aussichten auf
eine feste Lebensstellung hatten sich noch einmal
zerschlagen.
XL
Die Bücher, welche Lemaire im Frühjahr
1511 während seiner Krankheit drucken liess,
sind unzweifelhaft die verloren gegangene kurz-
' Lemaire an Jan von Marnix , Lyon, den 2. Mai 1511.
Oeuvres IV, 381.
161
ijefas.ste Geschichte der Kreuzfarten und die
berUchtiyte Streitschrift vom Unterschied der
Kirchenspaltungen und Kirchenversammlungen.
Den kurzen Abyiss der Geschiclite der Krcits-
farten erwähnt er in der ebengenannten Streit-
schrift als ein von ihm zusammengetragenes
Werk'; er ist spurlos verloren gegangen; denn
er hat nichts zu thun mit der Schrift, welche
Jean le Feron in seinem Buch von den Wappen-
königen und Herolden als Abhandlung von der
Erciffnung des heiligen Grabes erwähnt, und die
nichts anderes ist als der Geleitsbrief des Sultans,
von dem gleich die Rede sein wird 2. Auch sind
die von Lemaire wiederholt versprochene Genea-
logie und Thaten der Türken und die Beschreib-
ung ihres Landes keine Fortsetzung des besagten
Abrisses oder des Geleitsbriefes, sondern sie
waren dazu bestimmt, den Abschluss der Illu-
strations de Gaule zu bilden. Ursprünglich sollte
das dritte Buch ausser den Stammtafeln der euro-
päischen Fürsten trojanischer Abkunft noch die
Geschichte der Nachkommenschaft des Turcus
und sämmtlicher von den Herrschern Europas
gegen sie gerichteter Meerfarten und Unter-
' Cf. Oeuvres III. 288. 'un rccueil sommairc de tous les
passiiges, en unc autrc ocuvre par moy compilee'.
- Jean le Feron, Traitö de la primitive inslitution der rois,
hcraulls et poursuyvans d'armcs, Paris 1505. f "^ 39. Vgl. Oeuvres
III, 224. J. le Feron hat auf eigene Faust einen empereur dv
Constautivoplc gcschaften. Dass Montjoye eine Nachricht in
drei Tagen von Mailand nach Blois gebracht, ist nicht aus Le-
maire entnommen.
Becker, Jean Lemaire. , 11
— 162 -
nehmungen enthalten; später zeigte es sich, dass
der Stoff für ein Buch zu umfangreich war und
der letzte Teil blieb für ein viertes vorbehalten,
das aus anderen Gründen nie erschien. Als nach
der Veröffentlichung des ersten Buches der Druck
der Illustrations in ein gewisses Stocken kam,
scheint Lemaire die Materialien, die er zu jenem
letzten Teil gesammelt hatte, vorläufig für ein
Kompendium verwertet zu haben. Gerade damals
sammelte und arbeitete er eben an jenem Ab-
schnitte seines grossen Werkes. In den zuletzt
entstandenen Stücken des ersten Buches kündigte
er bereits das Werk über Griechenland und die
Türkei an, welches nichts anderes ist als das
beabsichtigte letzte Buch der Illustrations; es
sollte unter anderem von Samos, Armenien, dem
Tartarenkhan redend Im zweiten Buche, das
Mai 1512 erschien, verweist er auf dasselbe als
ein vollendetes Werk, in dem der I.eser ausführ-
lichere Auskunft finden kann z. B. über Pentesilea
und das Reich der Amazonen, oder über die
Insel Cytherea, wo Philipp von Ravenstein nach
seinem Schiftbruch so schlecht ankamt.
Die zweite Schrift, vom Unterschiede der
Kirchenspaltungen nnd Kirchoiversaninilungen
und vom Vorzüge der Versammlu/igen der galli-
kanischen Kirche, verdankt ihre Entstehung der
' JUustrations I. Oeuvres I, 21. XI. 9ö.
2 Illustrations II. Oeuvres II. 45. 183. Cf. ibid. 103. \'^l.
den Schluss des 1. und des 3. Buches und im dritten Buche
Oeuvres II, 31ö.
— \«\ -
Schwenkung (.kr päpstlichen Politik, WL-lchc im
Jahre 1510 einen neuen europäischen Krieg ent-
flammte. Nachdem Julius der II. alle An-
sirenguniren gemacht hatte, um Venedig zu
demütigen, richtete er nun seine ganze Kraft
gegen das drohend gewordene Uebergewicht
Frankreichs. Seine \'erbündeten waren Venedig,
das er kürzlich vom Banne losgesprochen, die
Schweizer, denen Ludwig der XII. die gestellten
Forderungen nicht bewilligt hatte, und Ferdinand
der Katholische, der durch die Belehnung mit
Neapel gewonnen wurde. Maximilian hatte ge-
schwankt, bis er merkte, dass er doch nur hin-
gehalten wurde , und er sich schiesslich zum
engsten Bündniss mit Frankreich gedrängt sah.
Ludwig, der vor kurzem seinen Ratgeber Georg
von Amboise verloren hatte, ging nicht mit der
Fntschlossenheit und dem Nachdruck vor, mit
denen er früher seine Gegner überraschte. Statt
der energischen Mittel, die nach Macchiavelli
allein zum Ziele führen konnten, versicherte er
sich zuerst der Zustimmung des französischen
Klerus und begann den Krieg mit den geistlichen
Waffen, bevor er zu den weltlichen griff. Im
September vereinigte er die Prälaten und Doktoren
seines Reiches zum Konzil in Tours und legte
ihnen die Frage vor, ob ein Fürst, der vom
Papste unrechtmässigerweisc mit Krieg über-
zogen werde, berechtigt sei, gegen denselben
angriffsweise vorzugehen und sich in weltlichen
— 164 -
Dingen seinem Gehorsam zu entziehen. Die Ver-
sammlung bejahte die Fragen einhellig und be-
schloss, eine Gesantschaft der gallikanischen
Kirche an den Papst zu schicken, um ihn zu
Frieden und Eintracht zu ermahnen, und vertagte
sich dann auf den 1. März nach l^yon. Julius
Hess sich durch solche Vorstellungen in seinem
kühnen und rücksichtslosen Vorgehen nicht auf-
halten. Ohne sich um das Aergerniss, das er gab,
zu kümmern, leitete er persönlich im Harnisch
die militärischen Operationen, pflanzte selbst die
Batterien auf und ritt durch die Bresche in das
eroberte Mirandola ein.
Bei der allgemeinen Aufregung der Geister,
welche diese ungewohnten Ereignisse hervor-
riefen, hielt es Lemaire für seine Pflicht als
Indiziarius, das Volk über die Gerechtigkeit der
Händel seines Fürsten zu belehren, besonders in
einem Falle, wo leicht Jemand an dem Befremd-
lichen der Sachlage Anstoss nehmen und minder
bereit sein konnte, dem Herrscher nach Kräften
in seiner guten Sache beizustehen. Zu dem Zwecke
wollte er zeigen, dass solcher Zank nichts neues
sei, und dass er nur durch Konzilien beigelegt
werden könne ; dass die Kirchenspaltungen aber
meistens von dem geistlichen Oberhaupte aus-
gingen, die heilenden Kirchenversammlungen
hingegen von den weltlichen Fürsten i. Uebrigens
> Prologue de toute l'oeuvre d. h. der vereinigten Schriftin :
Differcnce des Schismes et des Conciles, Gestes du Sophj' und
— K-ü -
hatten ja die in Basel versammelten VUter die
Vorteile einer häuHgen Wiederholung der Kon-
zilien und den Schaden ihrer Unterlassung aus-
drücklich in ihren Beschlüssen ausgesprochen.
Lemaires Schrill zerfällt regelrecht in drei
Teile: im ersten soll gezeigt werden, wie die
Schenkungen, welche Konstantin, Pipin, Karl der
Grosse, Ludwig der Fromme und andere Fürsten
der Kirche gemacht, alle verderblichen Laster
in derselben erzeugt haben, so dass zur Behebung
ihrer schlimmen Folgen die ersten Konzilien be-
rufen werden mussten; der zweite ist den Ver-
sammlungen der gallikanischen Kirche gewidmet
und soll ihren Nutzen für den katholischen Glauben
erhärten ; der dritte soll die übrigen Spaltungen
von der achten bis dreiundzwanzigsten enthalten
und des zukünftigen 24. Schismas Erwähnung
thun, das nach den Prophezeiungen das grösste
sein wird. Drei Dinge haben vor allem der
allgemeinen Kirche geschadet: HerT.schsucht,
die Mutter der Habgier, die Vernachlässigung
der allgemeinen Konzilien und das Eheverbot
für die Priester der lateinischen Kirche. Für
diese Behauptungen ruft Lemaire drei ent-
scheidende Autoritäten an: Pius den II., Robertus
Guaguinus und Piatina.
Sauf-conduit du Soudan. In diese Vorrede hat Lemaire die
Standrede des Kaisers an den Venezianischen Gesantcn Giusti-
niano aufjfenommen, als Belejj der Loyalität, mit der Maximilian
am N'eriraji von Cambrai fcsih.'llt.
- 166 -
Gleich das erste Schisma ist nach Lemaire
durch die Bereicherung der Päpste hervorgerufen
worden ; die Spaltung, die der Häretiker Novatus
betrieb, war blos die Folge davon, dass die
'ersten christlichen Kaiser' Philippus und sein
gleichnamiger Sohn dem Papste Fabianus ihre
Schätze vermachten, als sie durch Decius in
Bedrängniss gerieten. Die folgenden aber sind
die Fruchtf welche die Konstantinische Schenkung
der Kirche einbrachte. Zwar scheint Laurentius
Valla die Schenkung 'mit fast unwiderleglichen
Gründen' als unächt nachgewiesen zu haben;
indessen der gemeine Glauben und der that-
sächliche Besitzstand scheinen sie doch zu be-
stätigen; wie dem auch sei, angesichts der Gefahr,
in ketzerischen Irrtum zu verlallen, hält sich
Lemaire an die gesündere Ansicht, w^as ihn nicht
hindert, aus der problematischen Schenkung vor-
läufig die nötigen Schlussfolgerungen für seine
These zu ziehen. Mit der unerwarteten Macht-
er Weiterung der Kirche hören die Päpste auf,
Heilige und Märtyrer zu sein, eine Häresie nach
der andern erhebt das Haupt, und während die
Kirche durch innere Spaltungen zerrissen wird,
dringen die Feinde der Christenheit allenthalben
vor. So entstanden bis zu Pipins Zeit sieben
Schismen, welche ebensoviel ökumenische Kon-
zilien nötig machten, um die Einheit der Kirche
zu retten.
Die Reihe der Kirchenspaltungen unter-
brechend, wendet sich Lemaire den in Frankreich
- 167 -
.'ibgehaltcncn Versammlung'en sowohl der all-
«iemeinen als der gallikanischen Kirche zu; es
ist die Lichtseite des von ihm entrollten Gemilldes.
Den Glanzpunkt bildet darin das Konzil zu Cler-
niont, wo das Kreuz zum ersten Male genommen
wurde; mit Begeisterung übersetzt er die 'ele-
gante' Rede Urbans des IT., die wie Donnerschall
der Ruf 'Gott will es' begrüsste. Besonders ein-
gehend beleuchtet er dann den Streit Philipps
des Schönen mit Bonifazius dem VIII. ; denn die
damaligen Ereignisse sind ein treues Gegenbild
der Vorfälle, um derentwillen er die Feder zur
Hand genommen hat. Ueber die Veranlassung
und Beschlüsse der letzten Konzilien zu Tours
und Lyon schweigt er aber, weil er nicht genau
unterrichtet ist und auch keinen Auftrag hat,
darüber zu reden ; sonst gäben sie Stoft zu einem
neuen Traktat, ja zu einem ganzen Buche; für
diesmal genügt es ihm zu zeigen, wie die Ver-
gangenheit auf Gegenwart und Zukunft einiges
Licht werfen kann.
Der letzte Abschnitt setzt die Skandal-
geschichte der Päpste weiter fort, wofür die
Zeit der Kämpfe zwischen Kaiser und Kurie und
neuerdings die der grossen Konzilien reichen
Stoff bieten. Das Thema ist immer das gleiche:
die Bosheit, Herrschsucht und Geldgier der
schlechten Päpste verursachen alles Unheil auf
der Welt. Lemaire selbst wird es bei der
Schilderung dieser traurigen Wirrsale unbehag-
lich, nur der gute Zweck seines Vorhabens
— 168 —
ermutigt ihn fortzufahren ; aber um in einen
schönen Garten zu kommen, muss man oft durch
enge, schmutzige Gassen gehen; man muss die
Rosen unter Dornen pflücken und findet das
Korn unter der Spreu. Dreiundzwanzig Schismen
zählt Lemaire bis zum Basler Konzil; das vier-
undzwanzigste, das ärgste von allen, der Vorbote
des Antichrists, steht noch bevor; mehrere Pro-
pheten, Sibyllen, heilige Leute, Astrologen und
Mathematiker habe dasselbe prophezeit; an ihre
Wahrsagungen will aber Lemaire nur glauben,
soweit sie durch die Ereignisse bestätigt werden
und die Kirche es erlaubt.
Mit den schwungvollen Schlussworten Alain
Chartiers in seinem Buche l'Exil fasst Lemaire
noch einmal die Substanz seiner Auseinander-
setzungen zusammen, und beinahe möchte ich
sagen, dass die bittere Klage des alten Meisters
das Kraftvollste und Beste an der ganzen Schrift
ist; denn abgesehen von der scharfen Polemik
gegen die Päpste, zeichnet sie sich weder durch
die Kühnheit der Gedanken, noch durch die
Feinheit der Form aus. Der Ausfall gegen das
weltliche Papsttum ist freilich rücksichtslos und
direkt herausfordernd; mit beissender Ironie
spricht Lemaire vom 'modernen Pontifex, der
ganz marzialisch und widerborstig in seinem
Harnisch vom Kriege nicht lassen will, obwohl
er ihm ansteht wie einem gestiefelten Mönche
das Tanzen. Und doch wird er die Missgeburt
- 16Q -
einer neuen Welt nicht erzeugen, wie er glaubt:
denn immer werden die Schweine Eicheln fressen,
die Eiche wird ihr Laub zur rechten Zeit fallen
lassen, und das Holz wird den Gebrauch linden,
zu dem es sich eignet. Aber die schöne ge-
stirnte Krone und Jupiters Adler, welches
strahlende Himmelskörper sind, werden fest und
unbeweglich bleiben am Firmamente, so lange
die Welt besteht'. Mit hämischer Schadenfreude
vergleicht er Diocletian, der den Fusskuss ein-
führte, 'mit den jetzigen Päpsten, die die bar-
barische Anmassung der Perserkönige nach-
machen'. Oder er übertrumpft den Spott Piatinas
über 'die Tiara, welche hoch und spitz ist wie
eine Kapuze und reich wie eine orientalische
Edelsteintruhe'. Im Allgemeinen, zumal in den
letzten Teilen, begnügt sich Lemairc mit dem
Aufzählen der nackten Begebenheiten. Aber
gerade der dogmatische Ton, die Bestimmtheit
seiner Argumentierung, die Zuversicht, mit der
er die Thatsachen vorbringt und seine Gewährs-
männer anführt, die Klarheit der aufgestellten
Sätze und die Verständlichkeit der Rede, die
volkstümliche oft sprichwörtliche Sprache, unbe
schadet des oratorischen Pathos, diese Eigen-
schaften gerade mögen auf seine wenig ver-
wöhnten Zeitgenossen gewirkt haben : sein Buch,
wie es ist, stellt eine Rüstkammer dar, aus der
eine kritisch dürftige Zeit Waffen in Fülle zu
dem immer drohender Averdenden Kampfe ent-
- 170 -
nehmen konnte; und dabei war die Erörterung
dieser kirchlichen Angelegenheiten in der Volks-
sprache doch etwas Neues.
Lemaires hervorragendster Gewährsmann,
neben Guaguinus, Volaterranus, den kanonischen
Dekreten und andern guten Geschichtsschreibern,
ist der Biograph der Päpste, Bartolomäus Piatina ;
ihm folgt er zumeist. Ganz harmlos schenkt er
seinen Erzählungen Glauben, ob er von der
Päpstin Johanna, oder von den Teufelskünsten
Gerberts, oder von der Erscheinung Benedikts auf
einem Rappen spricht, gleichviel. Wenn man von
Piatinas Freimütigkeit gesprochen hat, so ist doch
kein Vergleich mit dem feindseligen Tone Le-
maires: die herausfordernd agressive Wendung
ist durchaus Eigentum des Pamphletschreibers,
der desshalb auch mit Recht auf dem Index
erster Klasse steht. Dass Lemaire dabei aus
redlicher Ueberzeugung handelte, und sich nur
durch seine angeborene Loyalität leiten Hess,
das unterliegt keinem Zweifel; persönliche
Motive mögen bei seinem Einspruch gegen das
Cölibat mitgespielt haben , doch überlässt er
das Wort in dieser Nebenfrage dem von der
Schädlichkeit der neuen Satzung tiefdurch-
drungenen Alain Chartier. Von einem anderen
Vorwurfe kann man ihn nicht freisprehen: das
ist die Leichtgläubigkeit und Flüchtigkeit der
Arbeit. Die Zeit scheint ihn gedrängt zu haben ;
— 17t -
der Umfanij des Stolfes, das Gebot der Aktua-
litUt, der Wunsch, das Buch möglichst rasch auf
den Markt zu bringen, persönliche VerhUltnisse
endlich mögen den Mangel an Gründlichkeit
entschuldigen '.
Die Streitschrift Lemaires erhielt mehrere
Beigaben, alle mit der gleichen feindlichen Zu-
spitzung gegen Julius den 11. Die vor einigen
jMhren vertassten Thatcn des Sophi ScJuih
Isnia'il sollten den Gegensatz zwischen dem
Todfeinde der sunnitischen Muhamedaner und
dem Oberhaupt der Christenheit, das den feierlich
beschworenen Kreuzzug gegen die Türken durch
seine Aergerniss erregende vStreitsucht unmöglich
macht, hervorheben. Das letzte Stück, die IVr-
(iiilassung und der Gegenstand des jüngst vom
Sultan ertliciltcn Geleitsbriefes filr die Wall-
fahrer Silin heiligen Grab, soll dem Hasse des
Papstes das Wohlwollen des Sultans gegen den
Kcinig von Frankreich entgegenhalten; der Ge-
leitsbriet , eine Folge des letzten Sieges der
Rhodiserritter, war in L_von während der Oster-
messe 1511 verölifentlicht worden; er bot Lemaire
die Gelegenheit, auf sein Lieblingsthema, den
' Lc traictO de hi diffcrcncc des schismcs et des conciles
de rEfjlise et de la preeminence et utilit(5 des conciles de la
sainte Eglise (iailicane. Oeuvres III, 231 -Xi9. — .Als Beweise
der FlUchtijjkeit, vgl. z. B. das 7. Schisma, p. L*()9 oder p. L'73, wo
er aus dem Primicerius Paschalis zwei Personen macht. Den
Schein der Gründlichkeit hat seine Dissertation über Con-
stantins Mutter, p. L*ö4.
- 172 —
allg^emeinen Kreuzzug gegen die Türken zurück-
:zukommen.'.
Endlich gab Lemaire noch die Legende der
Venesianer seinem Pamphlete bei, und fügte ihr
poetisches Wappenschild hinzu:
Le Blason des armes des Venitiens.
Lyon najant, Lyon trotant,
Lyon yssant, Lyon passant,
Lyon niordant et ravissant.
Tu te disois Lyon volant,
Lyont courant, Lyon saillant,
USW.2
Wem hätte Lemaire seine Streitschrift widmen
sollen, wenn nicht dem, dessen Fehde er so un-
bedingt verfocht, dem Könige von Frankreich.
Im April war der König in Lyon gewesen, in
■den folgenden Monaten hielt er sich dann in
Grenoble oder Valence aufs. Wenn Lemaire
ihm sein Buch auch nicht persönlich überreichte,
so hatte er doch einen Freund, der ihn empfehlen
1 L'occasion et la matierc du recent et nouveau Sauf-
■conduit donnö de plein vouloir par le Souldan, aux subjetz du
Roy treschrestien, tant pour aller en pelerinage au saint Sepul-
cre, comme trafiquer marchandcmens en ses terres et sei-
^neuries d'Oultremcr. Oeuvres III, 2'-'l— L'Ä
- Le Blason des armes des Venitiens. Oeuvres III, -107.
Es sind 28 einreimige Achtsilber.
» Lemaire war Mitte August noch oder wieder in Lyon
(cf. Oeuvres IV, 383), Ende des Monats kam der König auf der
Rückreisenach Blois durch die Stadt ; damals waren die Bücher
fertig gedruckt. Lemaire muss auch wohl in Valence gewesen
sein. Illustr. III. Oeuvres II. LW.
- 173 -
konnte, Jean Perreal, den kr>ni<:liclun Holmaler
und Kammerdiener; er versilumt es auch nicht,
sich auf ihn zu berufen, um seine Kühnheit zu
entschuldiii^en, mit der gleichen Bescheidenheit,
mit der er sich auf den L3-oner Künstler bezog,
als er 1503 den Tempel der Ehre und Tugend
dem Herrn von Ligny widmen wollte.
Die Schrift vom Unterschiede der Kirchen-
spaltungen und Kirchenversammlungen ist liir
Lemaires weiteres Leben von grosser Bedeutung
geworden. Mit ihr ist er in das Fahrwasser der
französischen Politik eingelaufen. Während er
bisher im Dienste Margaretas schrieb, wendet
er sich jetzt fremden Interessenkreisen zu, und
diese Schwenkung trifft gerade mit der im
letzten Abschnitt berichteten Entfremdung seiner
früheren Herrin zusammen.
Schliesslich hatten diese politischen Pamphlete
für den belgischen Historiographen noch eine
andere, pekuniäre Bedeutung. Sie fanden riesigen
Absatz; kaum ein Jahr nach ihrem Erscheinen
waren bereits an sechs tausend Exemplare in
der ganzen Welt verbreitet'. Lange blieb das
Buch von den Schismen als bequemes Nach-
schlagebuch (promptuarium, heissen spätere Auf-
lagen) populär, die Protestanten griffen es als
Kampfschrift wieder auf und im Verlauf des
' Brief Lemaires anMargareta vom 28. März l.M'J. Oeuvres
1\', 421. — Von jeder Schrift etwa 3000 Exemplare, w.'lrc ein
riesiger Erfolg!
174
Jahrhunderts wurde es zweimal in lateinische
und einmal in englische Sprache übersetzt'. Wohl
aber dürfte Mancher, der Lemaire als Dichter
lieb gewonnen und schätzen gelernt hat, ihn mit
Bedauern vom Strudel der Gelegenheitsschrift-
stellerei und Tagespublizistik ergriffen und fort-
gerissen sehen, während seine eigentliche Natur-
anlage brach liegen bleibt.
XII.
Lemaires dichterische Ader war nicht ver-
siegt; mitten unter den Baugeschäften und Streit-
schriften besuchte ihn die Muse und gab ihm
eines seiner besten poetischen Werke, die Ein-
tracht der beiden Sprachen, ein. Die prachtvoll
illuminierte Handschrift von Carpeutras trägt
die Jahreszahl 1511, damit steht es in Einklang,
wenn von Venezianern mit Bundesgenossen als
Feinden Frankreichs die Rede ist-. Diese Be-
stimmung betrifft aber blos den Rahmen mit
Sicherheit; die eingefassten Gedichte könnten
immerhin früher entstanden sein ; für die eine
Einlage wenigstens, die Beschreibung des
Tempels der Venus, drängt sich die Frage auf,
ob das jugendliche Verlangen nach Lebens-
genuss und Liebesglück, das aus jeder Zeile
spricht, nicht auf ein Jugendwerk schliessen lässt.
' Von Simon Schardius lö66 und Ludovicus Camerarius
lö/L'. Englisch 1Ö39. cf. Stecher CIV.
- Oeuvres III, 100. Im Jahre 1309 -waren die Venezianer
isoliert, 1512 fand die Versöhnung mit Frankreich statt.
- 17:> —
Allein weder die Lebensyesehichte des Dichters,
noch allgemeine psychologische Erwiigungen
bieten einen festen Anhaltspunkt; im Gegenteil
lassen sich alle \^oraussetzungen des Gedichts
sehr wohl dem jähre 1510 oder 11 zuweisen.
Erst im Sommer 1509 kam Lemaire für längere
Zeit nach Lyon, wo die Schrift wohl entstanden
sein muss, und blieb von da an in der Nähe^
der Stadt und in steter Verbindung mit seinen
dortigen Freunden; die Veröffentlichung seines
historischen Romans und seiner Streitschriften
machten ihn bald zu einem der berühmtesten
Dichter Frankreichs, ein gewisses Hochgefühl
erfüllte ihn. Und dann wird auch diese Schrift
wie seine übrigen poetischen Erzeugnisse aus
einem Guss entstanden sein.
Der Rahmen, der die Benennung 'Eintracht
der beiden Sprachen' rechtfertigt, ist eine rein
äusserliche Umfassung für das Dichterwerk,
ohne innere Beziehung zu dessen Inhalt. Der
Dichter ist angeblich Zeuge eines Privatgesprächs
gewesen, bei dem zwei von Jugend an be-
freundete Personen über die Vorzüge der fran-
zösischen und italienischen Sprache stritten ; die
eine behauptete, die französische Sprache besitze
alle erforderliche Lieblichkeit, Ausdruckskraft
und ästhetische Durchbildung, um das, was die
italienische über Liebesthemata oder sonst
dichten oder aussinnen ktinne, getreulich und
sachgemäss wiederzugeben, und führte zum
- 176 -
Beweis ältere und neuere Dichter an, wie Jean
de Mehun, Froissart, Alain Chartier, Meschinot,
beide Greban, Millet, Molinet, George Chastellain
und andere, deren Angedenken lange im Munde
der Menschen fortleben wird; ganz abgesehen
von den lebenden, als deren Meister und Fürst
Guillaume Cretin genannt wird. Die andere
gab der italienischen Sprache den Vorzug, weil
sie ihre Gedanken, sei es über die Liebe, sei es
über andere Gegenstände bündiger und ein-
dringlicher zum Ausdruck bringen könne, und
berief sich auf Dante, Petrarca, Boccaccio, die
drei grossen Florentiner, auf Filelfo, Serafino
und viele andere berühmte Dichter. Wer diese
beiden Personen waren, lässt sich rieht erraten;
die eine scheint eine Frau gewesen zu sein, man
hat an Margareta und an Anna gedacht, wohl
beides mit Unrecht; denn Lemaire hätte sich
dann schwerlich mit der unbestimmten Widmung
an Minerva begnügt. Als Zeuge des Gespräches
wurde Lemaire gebeten, die Diskussion und
die mögliche friedliche Lösung der Streit-
frage schriftlich niederzusetzen. Diesem Wunsche
willfahrte er um so lieber, als zur Zeit viele
Edelleute beim häufigen Aufenthalt in Ita-
lien die toskanische Sprache wegen ihres
Glanzes, ihrer Eleganz und ihres Wohlklangs
liebgewannen und sich anzueignen suchten,
während umgekehrt Italiens hervorragende
Geister die französische Sprache schätzten und
— 177 -
ehrten und mehr Gelallen an ihr landen, als an der
eigenen, weffcn ihres vollen Klangs, ihrer Lieb-
lichkeit und ihres leutselig höflichen Tones.
Gern hUtte er auch den beiden Sprachen, die
ja aus^glcichem Stamm und Wurzel entsprungen
sind, ncmlich aus der lateinischen Sprache, der
Mutter aller Beredsamkeit, zugeredet, dass sie
wie zwei Räche, die aus gleicher Quelle fliessen,
in friedlicher Eintracht neben einander einher-
schreiten sollten. Leider ist Lemaire auf die
angekündigte Diskussion nicht weiter einge-
gangen; seine Auseinandersetzungen über die
\'orzügc der beiden Sprachen hätten einen
interessanten Beitrag geliefert zur Geschichte der
litterarischen Anschauungen des 16. Jahrhun-
derts und der Bemühungen der Franzosen , ihre
Sprache in der Wertschätzung der Nationen auf
die Stufe der anderen Kultursprachen zu heben.
Die Lösung der Frage wird durch eine poetische
Fiktion umgangen: Lemaire erzählt, wie es ihn
als Jüngling zum Tempel der Venus hinzog, und
nach welchen Erfahrungen er nunmehr den Weg
zum Heiligtume Minervas sucht.
Der erste Teil, die Beschreibung des Tempels
der Venus, beginnt mit der Klage über eine un-
crhiirt gebliebene Jugendliebe:
Ell la vefdciir du inien ßoiin'ss<iiit (Uiiie,
D'aiiiours seri'ir nie votdiis enlreniettre:
Mais je n'y eits iie pron/it ii\ivantage.
Becker, Jean Lemaire. 1-J
- 178 -
Je f eis inaint vers, niaint couplet et nuiint nictre,
Cuydant suivir, par noble Poesie,
Le hon Petrarque, en anionrs le vray niaistre.
Tant nie foiirray dedens tel fantaisie,
Que bien pensoye en avoir apparence,
Contme celni qiii ä grd l'eus choisie.
De Iny ä moy se tronvoit Conference :
Veii qu'il esleut sa daine Avignonnoise,
Ja nonobstant qu'il fnst nd de Florence.
Et je qiii Jus, en temps de giierre et noise,
Nd de Hainaut, pa'is enclin aux armes,
Vins de bien loing querre antotir Lyonnoise.
Or quittay je tuniultes et alarnies :
Si changeay Mars au noble Dieu d'aniours,
Et chant belliquc aux anioureuses larnies.
Bien ine senibloit que plus loing qu'ä Nemours
On m'eust ouy plourer, geinir et plaindre:
Tant für ent grans ines cris, et mes clamours.
Um seinen Schmerz zu beschwichtigen, gelobte
der Dichter eine Wallfahrt nach dem Tempel
der Venus, und brach mit vielen Seufzern auf.
Unterwegs legte er sich der Klage müde zum
Schlaf, seine Sorgen aber verfolgten ihn bis in
den Traum. Da erscheint ihm in seiner Betrüb-
niss Venus selbst, die stolze, mächtige Gottheit,
in ihrem herrlichsten Aufzuge. Bei ihrem An-
blick verstummten Boreas und Auster, die Sonne
— 1?> —
iral in das Stcrnliiki ck-s Widders, die Erde
lachte und ricl' den l<*riihlinfj herbt-i.
Piiiitcnips joycitx feit vcni'r cciit c/Kirrccs
De fueille verde et d' herbette jolie,
Doiit Zcphynis lui /es hnidcs parees.
Piiis vifit Flora qui son tresor dcslie,
Pnrrsfcfidafif ses beaux tapis seines
De iiKiintc rose, et de maiiitc aiicolie.
Mars, Avri7, May, de Jlonrettes annes,
Ti)idrent lenr rengs, par champs et par prairics,
Sons pavillotis de bcanx arhrrs rtinies.
Les pastonreaiix, des vallees ßonries,
Font resonner tes hants nionts verdoyans
De Icnrs ßageols et mnsettes series.
Pan et Einli^ ä cJianter s'eniployans^
Tons d'nn accord fonrnissent donce noise,
Resjonissans les esprits des oyans.
Mais plns qne nnls, s'esjonit et degoise
Le franc Tityre, en donx et j'oyenx sons.
Parqiioy le prix Iny denieure, on qn'il voise.
Die Götter des Feldes bewillkommnen die Göttin,
die Nymphen der Quellen und des Waldes stehen
zu ihrem Dienste bereit.
Qnand ]'enns vid les regions inibnes
De ßair plus donx qn'odenr anibrosiane,
Partant du dos des ßonrettes barbues:
- ISO —
Elle appcla la Jllle de Diane,
Rosee douce, et de refreschir plaiites
Luv enchargea eure cotidiane.
Et Celle ä qtii tels ceuvres sont plaisautcs.
Feit uu milier de perles rondelettes.
Plus que crystal cleres, resplendissantes.
Puls les pendit autour des entelettes,
Siir les 'vainceaux des espineux rosiers,
Et au soinniet des flairans violettes.
Ce teinps pendant, les ßns joyeux gosiers
Des oiselets Aurora saluerent,
Qui couloiiroit desja fleurs et frasiers.
Tous elenieus de joye transmuerent,
En adniiraut sa hlancheur rubiconde:
Et les clers cieux leurs beautes desnuerent.
Hier, o Clio, spende mir der Rede Gabe, die
hohen Thaten der Göttin zu preisen. Es steht
ein Tempel — einen schönem sah kein mensch-
liches Auge — auf einem alten Felsen am Zu-
sammenfluss von Arar und Rhodanus. Dort ist
das Haupt des keltischen Galliens, ein zweites
Ilion: dort wohnt ein königliches 'Volk, Löwen-
herzen in der Brust ; eine Million Nymphen sieht
man dort:
NytupJws d'honneur , de beauti^ uaturee,
Bcaux esperits, visages augeliques.
— isl —
Halb architektonisch, halb allcjj^orisch ist der
Tempel gedacht :
Les pilicrs sout de dyatnans polt's,
Lc fondentciit est d'argent bien duisant,
L'aDatitportal tont da sapphirs j'o/ts.
L'ordye du conil)lc, ordoiutec i'ii croissant,
Fait ciilaccy /es tx'diix pi/i'crs vnscnihh',
Qiii sollt d'ivoii'c et de fni or liiisont.
De ce haut teuiple et luerveilleux oracle,
Les autels sont de lits tres bien pares,
Eiicourtinez, pour cvitcr spectaele.
Les cloches sont de uietal argeutin,
Et qui nc tirc, ninsi qii'ä Vidxiudou,
II aura beau cliqiwtcr lc patiu '.
Der Itrzbischol" dieses Ortes, der körper-
liches Paradies heisst, ist eine bekannte Figur
des Rosenromans, die Lemaire mit besonderer
Vorliebe hervorgezogen hat, der Erzpriester
Genius, oberster Primas von ganz Gallien.
Wie der Morgen anbricht, lässt \'enus das
Hauptthor öffnen. Die Vöglein allzumal er-
heben einen vielstimmigen Gesang, und wie
sie schweigen, treten die neuen Sünger vor,
welche die Alten sUmmtlich verdunkelt haben.
' Lc po{;tc a su Otrc piquant, cn rcstant «.lans los limites
d'unc parfaitc convenancc cl'imajres et d'cxpression. Ch. F^iis
1. c. lo. Etwas bedenklich wird die Anspielunjr doch mitunter.
- 1S2 -
Au noiiveati chant, ä la nouvelle gorre,
Venus s'endort rnieux qii'au chant des Seraines,
Oll qn'a menger pavots et niandragore.
Tons vieux flageots, gnistcrnes priuieraines,
Psalterions, et anciens dicacordes,
Sont assourdis par harpes sonveraines. "
Par le doux son des nouveaux monocordes,
Ont mis sous banc les gens du Roy Clovis
Leurs viiesle, leurs vienx plectres et cordes.
An ßn niilicu du coeur, onyr pourres
Entrebriser niusique Alexandrine,
Et de Josquin les vcrbes coulourcs.
Puis d'Ockeghcni l'harnionie tresfine,
Les terntes doux de Lojset Compere
Font melodie attx cieux mesme conßne.
Les neuf beaux cieux que Dien tourne et tempere,
Rendent tel bruit en leurs spheres diffuses,
Que le son vient jusqu'en nostre hemisphere^.
Zum Tempel drängen sich auch die Dichter,
welche ihre Gedanken in hohem, pindarischem
1 Der Erneuung:, welcher die Poesie entjjcgenstrebte, war
eine Umwälzung im Gebiete der Musik vorausgegangen, die
Lcmaire mit den Farben der glühendsten Begeisterung aus-
malt: Instrumental- und Chormusik hatten sich vollständig um-
gestaltet. Die Tn'lger der neuen Kunst waren Okeghem und
seine Schüler, Alexander Agricola und Josquin des Prez.
Loiset Compere, der mit ihnen wetteiferte, übte die Kunst in
Saint-Quentin bis zu seinem Tode (l.')18) aus.
- 1S3 -
Schwun.ije ausdrücken (Icurs (•(tm-t.\ nir^ li.iiitf-
ment pindarisent).
Factettrs, Rinicurs inaint bean dicticr recordent,
A hl Umenge et bruit de la Deesse,
Et de beatix mots leurs dits ornent et bordent.
La ne voit on qiic gloire qiii foisonnc,
La se p/odiiit lascii'iti' Cotniqitc,
Lyriques vers dont amours on blasonne.
La recite on dHnvention sapphiqtie
Maint noble dit, cantilenes et ödes,
Dont le style est subtil et mirifiqne.
Tont ce qui est en Uwes oii en codes,
Se niet avant, hymnes et elegies,
Chansons, motets, de cent tailles et modes.
La maint gosier barytonnant bondit,
Qui Lay prononce, ou Balade acccntue,
Virelay vire, ou Rondel arondit.
Maint Serventois hl endroit se punctue,
CJuint Royal maint s'y chante et psahnodie.
Brief, un cliacun s'y peine et esveytiw.
Während all diese Prosen gesungen wurden,
hatte Genius Weihrauch und Rosen dargebracht.
Nunmehr setzte er sich auf seinen Thronsessel,
liess zwei grosse Becken bringen und bestellte
seinen Diakonus Danger und seinen Subdiakonus
Belaccucil zu WUchtern, während Venus die
— 184 —
Grazien beauftragte, die Spender mit ihren Reizen
herbeizulocken. Als Genius sah, dass sein Werk
nach Wunsche ging, schickte er sich an zu einer
kleinen Predigt; alles schwieg und bereitete sich
zu horchen. Der Prediger wählte seinen Text
und begann:
„Aetatis breve ver. Diese Worte haben eine
tiefe Bedeutung. Das Alter ist für uns der Winter,
die Jugend ist der Frühling des Lebens. Die
Jugend verrauscht, ein Thor wer sie nicht ge-
niesst. Seht Ihr nicht, wie alle Lebewesen in
der Jugend und zu dieser schönen Frühlingszeit
der Natur gehorchen?
Les cerfs au bois tiltre d'mnours ohservent:
Les oiselets maintenant s'apparioit,
Et par grand sens leiirs especes conservent.
Les elenients les uns aux autres rient,
Celestes corps l'un ä l'autre se jouent,
loutes choses d'amours ore se pricnt.
Tous sexes or eu Concorde se vouent.
MaslCj fenielle ont accord reciproque :
Jusqu'aux poissons qui sous les ondes nouent.
Mutuel nieuf, uuiou univoque,
Font connexer la machine du nunide
Sous un Moteur, qui ä paix les provoque.
Et de lä vient, que le cid noble et niondc
Aspire en terre une aniour affective
De procrecr tout ce qui y abonde.
- IK") —
Allüberall schalll und mall und wobt die
Natur zum Schmucke des Weltalls, und allem
Erschaffenen haucht Venus den glühenden Dranjf
und das süsse Verlangen der Liebe ein. Und
wenn jedes Thier, ob nützlich, ob überflüssig,
dem Gebote der Liebe folgt, wollt Ihr, die er-
habensten unter den Geschöpfen und die Lieb-
linge der Natur, Euch allein diesem Gesetze ent-
ziehen ?
N'attcncie::; ponit le froid tcnips liyvcnuil.
Auquel scres dcstituez de forccs,
Et de vigiii'iir pcrdres Ic gouvvriKil.
Ell ce tenips lä, vos ridees escones
De graiid vieillessc aspres seront et diires:
Et vos braiicJics imiiiiees et torses.
Lars ]'ii/ftiniiis et ses iioires froidiires,
Cifflaiis. In'iiyaiis, vons feront escroler,
F/astii', jener vos ßeiirs et vos verdiires.
Lars verre::: voits vos fett illettes volcr,
Vos bruHS eheveux seines de neige
blanche,
Et vo:~ Jiaiits ti'oncs desnuer et peler
Si voiis fand IUI appiiyer tige et brauche
De bastonneaiix et antres snstentac/es,
Qne vent aiiciin iie vons tonibe et desbranche
Pour voits gninder il faudra bien cent cables.
Plus ne voudres sinon an fen cronpir
laut seres vons niorfoiidiis, miserables.
— 1S6 —
On voiis verrn toiis fvoidiiyeitx tapir
Soiis pellissons, sons chmides vicillcs uattes,
Toiissans, crachans et jettans inaint souspir.
Chacun de voiis alors s'accnsera
De ses beaux joiirs perdiis et onblies,
Et ses genonx de plettr arrosera.
Mais tard sera: Car famais en vieillesse
Venus n'ottroyc ä personue pardon,
Qiii n'aiD'a fait son devoir en jeunesse.
Und ich Euer Oberhaupt, ich Genius, der
oberste Primas von ganz Gallien und mehreren
anderen Völkern, werde Euch vom ersten bis
zum letzten prüfen; und wenn sich Einer findet,
der in der Jugend versäumt haben sollte, Venus
seiner Herrin zu dienen, der wird unbegnadigt
sterben, der sei verflucht und ewig ausge-
schlossen von den schönen elysäischen Feldern,
dem Wohnsitze der Glückseligen. Aber ich
glaube nicht, dass Ihr so verblendet seid, gegen
den Stachel zu locken ; die Wunde des Liebes-
pfeiles ist Euch Ehre und Ruhm. Darum, so
sollt Ihr Venus und ihren Sohn Cupido verehren
und ihnen folgen. Verlasst Euch auf meine
Worte ; denn Gott hat mich bestellt, um Euch
zu führen und zu leiten. Mein Wesen ist geistig,
Merkur ist mein Vater und Laris meine Mutter;
ich bin Euer Hüter und Beistand.
- 1S7 -
l'os/rr pviisi'i', i'osti'f imniinuitivc
Sollt sons nia low cor j'cii scay ies secn'/s.
Et aitssi est la force genitive.
A Genius vos /fonts soiit consacres,
Vos beaiix senih/dus, foiitcs voz hoiincs chcres,
Vos (fits plaisdfis, vos niots donx et sncrez.
Vos yeitx gentils, et vos plaisants mattieren,
Vos i'is, vos chatits. vos faits itigenteiix,
Sons Getiius observetit leiirs battieres.
Mein gehören Alle, die liebenswürdig, freisinnig'
lebensfroh, gut beanlagt und ohne Falsch sind;
sie sind ja unter dem Sterne der Venus geboren.
Lern' oraiso/i est pure rhetoriqne,
Leiir Hesse est propice et geniale,
Lenr attrait est atnonreiix et Inbriqne.
Lenr faQott est hutnaine et sociale,
Savant sa conrt, tresbien tnondanisant,
Et lenrs habits de gorre speciale.
Tels estes vons, o penple relnisant,
Penple de Ganle, anssi blanc conune lait,
Gent tattt conrtoise, et taut propre et dnisant.
Fran^ois faitis, francs, forts, fertties, ati fait.
Eins, frais, de fer, feroces, sans frayenr,
Tels sont 2'os noins concordans <l l'effect.
Penple hardi, de perils essayenr,
Illustre sang, Troycnne inition,
Noti espargtiant sou sattg ne sa stiettr.
— 188 —
Neveiix d'Hector, enfans de Francion,
Qui siir les bords du grand fleiive Dnnoc
Fonda Sicanibre, et y feit niansion.
Vostre hant los en parfond Jionnenr iione,
Vostre noin der vole jnsques aiix cienx,
Mydi vons craint, Septentrion vons Tone.
Tont Occident, tons Orientanx lienx,
Indes, Persans, Scythes et Parthes scaivent
Qne vons estes les biens vonlns des Dienx.
Vos clers penons en Aste se lievent:
Les Tnrqs ont peur de vostre brnit et famc,
Et vos fiertes redontent et eschievcnt.
Grece a ßance en l'ardant Aurißaninie,
Qni d'iceux Tnrqs les yenx esblonira,
C'est tont l'espoir qn'elle attend et reclanie.
Vostre Jiantenr de ce l'esjonira
Dedens brief tenips: car j'en voy les apprests.
Dotit nnchacnn vostre norn benira '.
Um aber Irischer an das Werk gehen zu können,
ruht einstweilen ein bischen aus, atmet auf und
lasst die Arbeit ruhen; ein Bogen kann Ja nicht
immer gespannt bleiben.
J Dieses Lob der Fninzosen, das so groll absticht gcj,'en
die VerstimmunfT der Chansons de Namur (l.V)7), ist im Munde
Lemaires in den Jahren lölOll wohl be}>:reit1ich ; ebenso diese
trojanischen Anspieluntfen. Der Kreuzzug gegen die Türken
-schwebte in der Luft seit dem Frieden von Cambrai.
— IS^) —
Eiitrcdcux laut ä vohtpti'' ctitcndrc,
Et y vuqucr ä l'cxcniple de Mars,
Qiii s'diro/'/itoit de Venus blanche et tendrc,
Et nu'ttoit jus escus et braquentars ' -
Ohne das Ende der Predigt abzuwarten, —
so erzUhlt Lemaire in Prosa weiter, — driinjjtcn
sich die jungen Franzosen mit wildem Ungestüm
zur Opt'erspcnde. Wer konnte, warf Ciold, Silber,
Wohlgcrüchc, Geschmeide und allerlei Kostbar-
keiten in ein Becken oder heftete Kerzen an das
Gitter des Hochaltars, so dass Belaccueils Diener
vollaui zu thun hatten, die Becken zu leeren
und die Lichter einzusammeln. Wer aber mit
leeren Händen kam, den wies Danger mit harten
Drohungen zurück. Seines Gelübdes eingedenk
trat der Dichter vor und bot als Gabe ein kleines
Gemälde seiner Erfindung, das ihm ein Meister-
werk dünkte, dar, hübsch geschrieben und mit
Vignetten und Blumen verziert, damit es vor dem
Bilde seiner Halbgöttin aufgestellt würde. In der
That gestattete ihm Belaccueil, die Korallenlippen
des Bildes zu küssen. Als aber Danger in seinem
priesterlichen Geize sah, dass der Dichter nur
etwas in Holz gefas.stes Pergament darbrachte,
züchtigte er ihn unmanierlich mit seinem Stocke,
und schleuderte das Buch hinter den Hochaltar,
ohne zu bedenken, dass doch Alles der Göttin
zur Ehre gereichte.
' Die Beschreibung des Tempels der Venus be-^teht aus
<>1() Zehnsilbern in LU") Terzinen nebst Schlussver-*.
190
Trostlos über seine Zurückweisung" und
schamerfüllt eilte der Dichter durch die Menge,
jede Begegnung mit Bekannten, die sich zum
Opfer drängten, scheu meidend. Lange irrte
er über Land und See, bis ihn der Zufall in
eine grosse, steinigte Wüste führte, die ganz
unbewohnt schien; vereinzelte Fussstapfen im
dürren Sand regten seine Neugier an, und nach
neuem Forschen und neuem Irren kam er endlich
an einen Felsen, dessen Haupt sich in den
Wolken verlor. Zwischen dem spärlichen Busch-
werk kauerten kleine Eidechsen, Grillen zirp-
ten laut, einige unreife Beeren erquickten seinen
Gaumen. Er war von der Mittagsseite ge-
kommen; wie er nun um den Felsen herum-
zugehen suchte, kam er an eine Höhle, aus
der eine silberhelle Quelle floss, von Bäumen
und dürftigem Grün umgeben. In der kühlen
Flut löschte er seinen Durst und wusch sich
den Schweiss von der Stirne, alsdann blickte
er nach allen Seiten und richtig, auf der P'els-
wand stand in alter Schrift folgendes einge-
graben :
„Das ist der berühmte Fels, der die Wolken
überragt und bis zum Himmel aufsteigt. Glatt
ist der Stein, hart und zackig; dornigtes Gebüsch
wächst ringsum; die wenigen, selten betretenen
Pfade sind von scheusslichen Untieren umlagert.
Wer aber durch Mut und Ausdauer zum Gipfel
gelangt, der findet dort ewige Ruhe und Glück-
- 101 -
Seligkeit; denn oben auf der breiten Kuppe ist
Honneurs Palast und Lustgarten'.
La est () toiisjoitrs nid/s /'n/r /luijuiiti/c c/ scni/ii,
Co/nnw cn im Pciiuk//^ /crrcsfrc, pnnii'm/n.
Tont y ßa/rc et ßouromic et rem/ sone/ve (x/e/tr,
Tont y est p/e/n de joye et de r/che verdeur.
L'air i/lec retentist de tres doi/ce harmon/e,
Et pa/x est tä cndro/t richemeiit espanie.
Amoiir y regne, et Grace et Concorde y ßonrit,
P/aisant P/aisir y dnre, et Joye s'y nonrr/t.
La i'erres vons sonvent cheva/iers tonrnoyer,
El panni /es verds pres danies estxinoyer,
Qni /es ßiiirs vonl cue/t/ant ponr beanx chappe-
tets tistre,
Et d'ice//es on sent nn ßair nterveilteux ystre.
La /es void on dansans, par Inendes et caro/es,
C/iantans Lays p/eins (/'antonr et de donces
paro/es.
Et /ors /es oise/ets respondent ä tenrs chants,
Qni tons donx et privez: se taissent premire anx
r/ianips,
Et vont partont seniant /enrs p/nniettes dorees,
D'asnr, de verd, de jaune et pourpre coulourees.
Entonr des arbrisseanx et des rtves herbncs,
Et dessus l'oiivertnre anx ßonrettes barbnes,
' Die folgende Stelle zeijjt wieder Lemaires Farbenreich-
tum in der Schilderung der Natur. Sic diene als Beispiel fUr
die Art und Weise, wie er den Alexandriner zu handhaben ver-
steht. Die Inschrift besteht aus 108 paarweise gereimten Zwölf-
silbern ohne Wechsel des (ieschlechts, die weiblichen Keime
herrschen vor.
192
Les uiouschettes ot on par doiice noise bvuire,
Qui cueilleut la savetir pour cire et miel con-
striiire.
Dort herrscht ewiger Frühling, murmelnde Bäche
wiegen in Schlaf. Mitten im Lustgarten steht
der Palast v^on Marmor, Jaspis, Kristall und
Porphyr.
Dedens cc palais est de Minerve le teviph .
Auquel mdiut Juiiit espn't en haut savoir con-
temple
Les beaiix faits vertiieiix en cJironiqne ethistoire,
En science niorale et en art oratoire.
La se ti'onvent conjoints, vivans en paix sans
noise,
Le langage Toscan et la langue Fran^oise.
Dort unterhält Honneur seinen Hofstaat; zu mehr
als tausend Millionen wohnt um den Palast seine
himmlische Familie und Ingesinde. Ewiger
Tag herrscht dort und ewige Jugend. Wer
also zum Tempel der Minerva kommen will, er-
Avarte hier das freie Geleit Honneurs. Dieser
Ort heisst Arbeit, Studium und Fleiss; wer
nicht irre gehen will, harre hier aus, bis ihm
Honneur zu guter Letzt seinen sichern Führer
sendet."
Nachdem der Dichter diese Inschrift gelesen
hatte, versank er in tiefes Nachsinnen, bis er
entschlief. Da erschien ihm ein Schutzgeist, der
ihn mitunter aufsuchte, Labeur historien, der
- 1^)3 -
sich nie heraun^eschwören liisst, als wenn Natur
es ihm gebietet, und dann immer in (iestalt
eines ernsten, ehrwürdigen Greises mit weissem
Barte sich zeigt. Bei seinem Anblick sprang
der Dichter ehrerbietig auf, und erfuhr auf seine
Frage, dass jene Inschrift von Jean de Mehun
aufgesetzt worden sei, vom ersten, der die (ran-
Ziisische Sprache in Ruf gebracht, ebenso wie
Dante, -ein Zeitgenosse, die toskanische. Wie
beide in Freundschaft um den gleichen Ruhm
gewetteifert haben, meinte der Greis, so sollten
auch Frankreich und Florenz , die mit dem
gleichen Buchstaben anfangen und dieselb?n
I.ilien im Schilde tühren, vereinigt sein und
bleiben, wie sie es seit Beginn der italienischen
Züge waren. — Hocherfreut über diese Worte
bat der Dichter den Alten, er möge ihn bei sich
behalten und sein Famulus sein lassen. Labeur
historien gewährte ihm die Bitte und führte ihn
in seine anmutige Klause, reich ausgestattet mit
alter und neuer Bücherei, indem er ihm ver-
sprach, dass er ihm dereinst, nach Ablauf seines
Lebens, wenn er ihn für würdig befände in den
Tempel Minervas einzugehen, zwei himmlische
Beisteher geben würde, Ruhe und Belohnung,
die ihm die erfolgte Eintracht der beiden
Sprachen im Tempel der Göttin zeigen sollten;
einstweilen Hess er ihn in einem Zauberspiegel
die Bilder derselben sehen, wie sie sich vor dem
Antlitze der Göttin umarmten.
Becker, Jean Lcmairc. M
— 194 —
Mit diesem Theile, den Lemaire den Weg
8um Tempel der Minerva genannt hat, schliesst
die Allegorie der Eintracht der italienischen
und französischen Sprache'. In dieser Allegorie
erblicken wir einen Ausdruck seines eigenen
schriftstellerischen Schaffens und Strebens: er,
der erste, welcher der starren Poesie der bürger-
licheni Meistersänger durch die freie Nachahmung
der Italiener frisches Leben eingehaucht hat,
erwartet als Lohn seines Verzichtes auf irdischen
Lebensgenuss und seiner stillen Versenkung in
die geschichtliche Forschung den ewigen Nach-
ruhm seiner Werke und das Bewusstsein, die
Annäherung beider Völker und Kulturen nach
bestem Können gefördert zu haben.
XIII.
Lemaire hatte sich nicht getäuscht: wie er
erwartete, wurde Margareta durch den Bericht,
den Barangier bei seiner Rückkehr aus Burgund
erstattete, umgestimmt; am 8. Juli 1511 schrieb
sie ihrem Indiziarius, sie habe ihre Ansicht über
den Alabaster und die Verträge mit Thibault
geändert. Man kann sich denken, mit welcher
Freude Lemaire seiner Erkenntlichkeit Ausdruck
gab. Zugleich mit einem ausführlichen Briefe
schickte er der Fürstin die beiden unlängst ange-
kündigten Bücher. Seine Thätigkeit in Brou hatte
1 Le traict€ intitulö hi Concortic des dcux lanjjagcs.
Oeuvres III, 98-iai.
M-)
er nunmehr wieder ;iur<icn()minen; wie er schreibt,
erwartete er Perreal mit den Lyoner Maurer-
meistern Henriet und [can de Lorraine in Bourg,
um an den Rissen für die Kirche zu arbeiten'.
Diese Arbeit wurde rasch betrieben ; kaum
war sie beendet, so unternahm Lemaire in Mar-
garetas Geschälten die Reise nach Frankreich,
von der er nicht wiederkehren sollte. Er hatte,
wie wir aus seinen Briefen erfahren , Perreals
Sohn zum Rechtsstudium an die Universität in
Dole geführt, in der Hoffnung, den Vater durch
diese neue Verpflichtung enger an Margaretas
Dienst zu fesseln. Von DOle beabsichtigte er
nach Tours zu reisen , um sich mit Coulombe
ins Einvernehmen zu setzen. Es hatte sich gezeigt,
dass Thibaut thatsächlich nicht zu brauchen war;
kein namhafter Bildhauer wollte mit ihm arbeiten,
weil er als schlechter Zahler galt, und seine
eigenen Leistungen waren höchst mittelmässig;
schliesslich hatte er sich trotz des Drängens der
Ratsherrn von Bourg geweigert, Lemaire nach
Tours zu begleiten. Darum bittet dieser in .seinem
Briefe, man mcichte ihm einen Beamten als Be-
gleiter mitgeben, um ihm beim Ab.schlüss der
Verträge beizustehen -.
' Lemaire an Baranjriir, Bourjr. den S. September 1311.
Oeuvres IV, SSI'. Margaretas Brief und Lemaires .Antwort sind
nicht erhalten. Die fraglichen Risse nahm Lemaire mit nach
Tours, um sie Coulombe ein/uhUndigen , cf. Oeuvres IV. 41«».
^Lemaire an .Margareta , Döle . den 9. Octobcr l.Ml.
Oeuvres IV, 385.
196
Die Reise ging von Dole über Blois, wo der
französische Hof weilte'. Hier hatte Lemaire
mehr als einen Bekannten, unter Andern den
gelehrten Abt von Angle, Jean d'Anton, den er
1509 in Lyon kennen gelernt hatte, Damals hatte
der Chronist des Königs von Frankreich eine
Epistel Hektors an Ludwig den XII. verfasst,
in der er den trojanischen Helden sich nach
seinem Efikel erkundigen und sein Bedauern
aussprechen Hess, an der Schlacht bei Agnadello
und dem Kampf gegen Antenors Nachkommen
nicht teilgenommen zu haben. Lemaire machte
eine kurze Rast in Blois und am Tage vor Martini
dichtete er eine Gegenepistel im Namen des
Königs.
Frage um Frage beantwortet der König
Hektors Brief: er dankt ihm für das gespendete
Lob, bewundert die geschickte Handhabung der
französischen Sprache, bedauert, dass Hektor
Heide w^ar, hofft aber, dass er im Jenseits der
Segnungen des Glaubens teilhaftig geworden
ist, wie einst Trajan durch das Gebet eines
heiligen Papstes der Hölle entrissen wurde. Ja,
wenn man jetzt einen solchen Papst hätte, der
' Wenn Lemaire die Reise über Orleans Loire abwilris
machte, so konnte er den Hof in der dritten oder vierten Ok-
toberwoche in Clery und Beaugcncy jjetroffen haben. War er
direkt nach Tours gegangen — was ja möglich ist. da er vor
Mitte Oktober von DOle abgereist sein kann, — so verlockte
ihn die Nähe des Hofes zu einem Abstecher nach Blois, und
du war der Sonntag, Montag und Dienstag, der Martinitag,
sehr geeignet.
— ^>7 —
sich mit Chorrock und Mitra lx'J4^u;4^ n wollu-,
ohne sich zu verkleiden, dass man ihn ^ar nicht
mehr erkennt: dann könnte der Künig auch seiner
grossen Lebensaufgabe, der Befreiung des von
den IHirken usurpierten Reichs des Priamos,
nahe treten. Bevor er dies unternehmen durfte,
musste er aber die mit Griechen und Türken ver-
bündeten Venezianer niederwerfen. Der Dichter
erfasst die Gelegenheit, um die Schlacht bei
Agnadello zu beschreiben, das Gewitter, dessen
Tosen sich mit dem Kanonendonner paarte, das
Gebet des Königs und dessen wunderbare Er-
hörung, indem Gott den Regen den Feinden in
das Gesicht wehte, die weisse Taube, die sich
auf den Helmbusch des Königs niederliess. Und
für wen hatte Ludwig diese Mühen übernommen
und sein eigenes Leben auf das Spiel gesetzt?
hauptsächlich um dem heiligen Stuhl seine
entrissenen Besitzungen zurückzugeben : und
welchen Lohn erntete er nun dafür! Als Gott
auf Erden wallte, liess er, der Allmächtige, den
Fürsten den Besitz der Reiche und nahm blos
den Zehnten für sich; der Stellvertreter» den er
hinterliess, um denselben zu erheben, soll Allen
in Demut vorangehen ; aber weit entfernt das
gute Beispiel zu geben, sinnt der lebende Papst
nur darauf, Andere um ihr Eigentum zu be-
trügen, Aufruhr zu stiften, \'erschwörungen an-
zuzetteln. Einen Armeebefehl will der König
erlassen, dass jeder Soldat das Leben des Papstes
198
schone, gegen seine Hülfstruppen aber sich un-
barmherzig zeige. Zum Schluss erzählt er seinem
Ahnherrn die ganze trojanisch-fränkische Stamm-
sage im Abriss, ohne einige Erscheinungen und
Beschwörungen des Geistes Hektors zu über-
gehen, und endet, indem er noch einmal den
Kreuzzug recht bald heranwünscht.
Lemaires Epistel zählt 574 Verse, sie ist
etwas lang und poetisch nicht besonders hervor-
ragend. Interessant ist es, den Dichter über die
neuen Schiesswaffen reden zu hören:
Si dois savoir, poiir iin cas anonual,
Que notis avorts autre tonnoire et foudre
Faite par art, de merveilleuse poiidre,
Qiti fait partir un si soiidain bonlet,
Qii'autant resiste hornine arme qn'nn poiilet.
Ha Prince Hector, peiises y bien et jiige,
Tu ne vis onc si estrange deluge:
Car de ton tenips les guerres et victoires
On les faisait en bras fultninatoires
Tant seulernent : Mais nostre artillerie,
Sans point de f ante, est une diablerie.
Die Figur des kriegerischen Papstes ist wieder
mit bitterer Ironie gezeichnet :
II fait beau voir nn ancieii prestre en armes,
Crier l'assault, enhorter aux alarmes,
SouilU de sang en Heu de sacrijice,
Contre l'estat de son tresdigne office :
— 19^) -
Ju'niirr son cdnips cn tcnips nidc et (hvrrs,
Illec soiiffrir Ic pfus diir des hyvers,
Pottr ä chaciin ^yands mervci/lcs dotuter.
Pnis, cn la fin scs gens abandonner,
Laisser lä taut, honihardes et canons,
Menbles de guerre, enseignes, confanons ;
Sans qne nies gens le d<ngnassant poiiystiivre:
Car de le luiincre il ne s'en pent ensnivre
Los )ie protißt, trop nioins que d'tme feninie^.
Der Grundgedanke der Epistel ist der Kreuz-
zug gegen die Türken als Endziel aller Politik;
sie atmet heftigen Unwillen gegen den Papst,
der durch seine Intrigen die V'erwirklichung
dieses Ideals verhindert. Der Kampf zwischen
Ludwig dem XII. und Julius dem II. war noch
lange nicht beigelegt: eben tagte in Pisa das
gegen den Papst zusammenberufene Konzil*.
Lemaire hielt sich nicht lange in Blois auf;
in den nächsten vierzehn Tagen nach Martini
hatte er die Unterhandlungen mit Michel Cou-
lombe und seinen Neffen in Tours in vollen
Gang gebracht. Margareta hatte davon Abstand
genommen, ihm einen Kollegen beizugeben, so
dass die Geschäfte und das Geld ohne weitere
' Anspielung auf die Xicdcrlugc der päpstlichen Truppen
bei Bologna unter dem Herzog von Urbino, der sein ganzes
(icpilck und (ieschUt/ und die pJlpsllichc Standarte verlor.
(Ende Mai 1511 )
^ Epistre du roy ä Hcctor, Oeuvres III, 68—86. Es sind
574 paarweise gereimte Zehnsilber, fltschricbrn Mm 1<\ \'>
vember 1511, Tag vor Martini.
— 200 —
Kontrolle durch seine Hände gingen. Den Bild-
hauer hatte Lemaire ziemlich alt und schwer-
fällig gefunden, er ging auf die Achtziger, war
gichtbrüchig und kränklich infolge seiner früheren
Arbeiten, man musste ihn daher mit Freund-
lichkeit und Geduld gewinnen; aber die Freude
an der schönen Arbeit schien ihn ganz zu ver-
jüngen. Die nächste Aufgabe war die Anferti-
gung eines. Modells in verkleinertem Massstabe;
Coulombe verlangte Frist bis Ostern, Lemaire
hoffte die Zeit auf drei Monate zu beschränken.
Inzwischen, sobald das Werk im Gange sein
würde, versprach er sich, Margareta seine Auf-
wartung machen zu gehen und sie mit einigen
hübschen Geschenken zu überraschen; unter
anderem Hess er von Coulombe einen Kopf der
heiligen Margareta aus einem Stück von seinem
Alabaster meisseln. Dieser Alabaster lag ihm
immer noch am Herzen; auf der ganzen Welt,
sagt er, giebt es keinen schöneren und besseren,
keinen, der sich feiner glätten Hesse. Uebrigens
bewunderte und lobte man allgemein das schöne
Werk, das Margareta unternommen hatte. Die
Entwürfe hatte Lemaire dem kaiserlichen Ge-
santen gezeigt, und der Ruf war bis zu den
Ohren des Königs und der Königin gedrungen.
— So schreibt Lemaire in voller Freude am
22. November \
1 Lemaire an Marjrareta. Tours, den 2'J. November löll
Oeuvres IV, 410. Der Kaiserliche Gesante, Andrea da Bürge,
'JOl
Am 3. Dezember stellte .Michel Coulombe
in seinem und seiner drei Neffen Namen den
Vertrag über die Bildhauer- und Maurerarbeiten
für die Grabdenkmäler von Brou aus. Gegen
die vierundneunzig deutsche Goldgulden, die ihm
Lemaire einhändigte, machte er sich verbindlich,
bis Ostern die Modelle der Gräber Philibcrts,
seiner Mutter und seiner Wittwe sowie des
Portals anzufertigen. Da er selbst 2um Reisen
zu alt Avar, versprach er, seine Neffen Guillaume
Regnault und Bastien Franvois nach Brou zu
schicken. Dieselben sollten auch, gegen Ver-
gütung der Reisekosten , die Modelle nach den
Niederlanden bringen, und Lemaire verpflichtete
sich, seinen Neffen Jean de Maroilles oder seinen
Diener Jean Poupart als Führer mitzugeben.
Ausserdem versprach Coulombe die obener-
wähnte Büste der Schutzheiligen Margaretas als
Geschenk für die Fürstin zu hauen. Ueber den
Alabaster von Saint-Lothain stellt der greise
Künstler, der die Meister der Grabdenkmäler
von Dijon, Klaus Sluter und Anthoinet von
Pari.s, in seiner Jugend gekannt hatte, ein glän-
zendes Zeugniss aus.
Den Vertrag unterzeichneten M. Coulombe,
Macö Formon, königlicher Notar in Tours, und
Lemaire, dem bei dieser Gelegenheit, und Sün.sl
nie wieder, der Titel kaiserlicher Notar und
reiste am '_'.">. November von Blois ab, vom Kaiser zurUck-
Kc rufen.
— 202 —
Geschäftsführer der Erzherzogin Margareta von
Oesterreich beigelegt Avird. Augenscheinlich
hatte die Fürstin ihm diese Eigenschaft zur
Vollziehung der kontraktlichen Abmachungen
verliehen '.
Nun hat es doch den Anschein, als hätte
unseres Dichters Dasein seine feste Bahn gefun-
den: seine gegenwärtige Stellung hat sich nach
Wunsch gebessert, die Zukunft scheint gesichert;
er hat ja das Vertrauen seiner Herrin wieder-
gefunden, der Abschluss wichtiger Geschäfte
ruht in seiner Hand, durch urkundlichen Erlass
ist ihm die Oberaufsicht der Alabasterbrüche ver-
liehen worden: seinem Unternehmen ist nicht
bloss eine glänzende Rechtfertigung zu Teil
geworden, im Betriebe der Brüche eröffnet sich
ihm eine Quelle einträglicher Nebeneinnahmen'-.
Warum lässt er sich gerade jetzt durch solche
Bande an Frankreich knüpfen, dass bei der
schwebenden politischen Lage seine bisherigen
Beziehungen zu Margareta grosse Gefahr laufen
jählings zerrissen zu werden? Ueberschauen
wir Lemaires Lebensstellung, wie sie sich in
den letzten Jahren gestaltet hat. Als die Gunst
und das Wohlwollen seiner Herrin den Höhe-
punkt erreicht zu haben schienen, machten sich
bereits die Unzuträglichkeiten des Verhältnisses
bemerkbar. Der Aufenthalt in der Heimat war
' Kontrakt vom 3. Dezember löU. Oeuvres IV, 413.
- Vgl. den Brief vom 14. Mai lölL'. Oeuvres IV, 425.
— 2o;{
dem Indiziarius durch allerlei Händel und Mis-s-
jrunst verleidet, wenn nicht unmöjjlich gemacht
worden. Südburgund, seine zweite Heimat, schien
ihm eine Zuflucht und die ersehnte Ruhe zu
bieten : in dem eben verflossenen Jahre hatte er
erfahren müssen, wie wenig Bestand der Grund
hatte, auf dem er bauen wollte. Mittlerweile
hatten ihn neue Interessensphären an sich gezogen,
deren Schwerpunkt nach Frankreich neigte. In
den letzten Streitschriften hatte er beim Kampfe
zwischen König und Papst die gallikanische
Sache mit aller Entschiedenheit verfochten ; dabei
hatte er nicht versäumt sich durch Widmung
der Schrift zu empfehlen, und kürzlich hatte er
die Aufmerksamkeit Ludwigs durch die Epistel
an Hektor neuerdings auf sich gelenkt. In Frank-
reich fand Lemaire vorwiegend seine Leser;
die Pariser Buchhändler bemühten sich, seine
Werke in ihren Verlag zu bekommen, die Königin
selbst gehörte zu seinen Bewunderern. Und nun
kam der Umschwung der Politik; der Augen-
blick stand bevor, wo der Friede von Cambrai
durch die Aussöhnung des Kaisers mit Papst
und Venedig und bald darauf durch .seinen Bei-
tritt zur Liga gebrochen werden sollte. Marga-
reta, die .sich persönlich nie sonderlich mit der
französischen Politik befreundet hatte , trieb
ihren Vater in dieser Richtung vorwärts. Wie
sollte sich Lemaire verhalten, wenn die bereits
fühlbare Spannung zwischen Ludwig und Max
— 204 -
den Riss erzeugte? Sollte er seiner immer
wieder bedrohten Stellung in Margaretas Dienst
zu Liebe neue Aussichten, die sich etwa mit
schöneren Versprechungen eröffneten, von sich
w^eisen? Unsicher und vom Zufall abhängig
war in beiden Fällen die Zukunft; aber er Avar
ja sein ganzes Leben hindurch auf den Zufall
angewiesen gewesen.
Angesichts der Sachlage wäre es kaum zu
verwundern, wenn Lemaire schon geheime
Absichten gehegt hätte, als er die Reise nach
Frankreich unternahm. Er scheint dergleichen
selbst anzudeuten, indem er an Barangier schreibt:
„Wenn ich Ihnen diesseits einen Dienst erweisen
kann, so geben Sie mir Ihre Aufträge, und ich
werde sie herzlich gern erfüllen, so wahr mir
Gott helfe, lieber als irgend einem Menschen
auf der Welt; denn Sie haben mir den Weg
hieher gf niesen^' '. Demnach hätte Barangier,
der Augenzeuge der Vorfalle des verflossenen
Jahres war und als Geheimschreiber Margaretas
die Wendung der Dinge voraussah, seinem
Freunde geraten, anderswo eine gesichertere
Stellung zu suchen. Man hat wohl gemeint, Per-
real der Hofmaler habe Lemaire der Königin
empfohlen, er habe ihn veranlasst, in den Dienst
des französischen Hofes überzugehen. Gegen
diese Bezichtigung verwahrt sich Perrcal in
seinem letzten Brief an Margareta ausdrücklich :
' Lemaire an Baranjrier, den '.'8. M;lrz 1012, Oeuvres IV, 4'_*3.
- 20Ö —
seit Ostern etwa sei er mit dem früheren Indi-
ziarius ernstlich überwerfen, gerade weil er ihm
seine Undankbarkeit gegen die Fürstin, der er
doch alles verdanke, vorffeworfen habe; über
diese Vorwürle sei jener so aufgebracht worden,
dass er sich zu den schlimmsten Drohungen
verstieg'.
Vielleicht hatte Lemaire die Folgen seines
Schrittes nicht voll bedacht; als er die Aner-
bietungen des französischen Hofes annahm,
glaubte er vielleicht nicht, dass es ihn zum
Zerwürfniss und zum Bruch mit Margareta
führen Avürde. Jedenfalls scheint zu den berühr-
ten Beweggründen das Spiel des Zufalls, die
entscheidende Wirkung der günstigen (ielegen-
heit gekommen zu sein. Clement Marot, der
Lemaire gekannt hat, schreibt der Frau von
Soubise, einer hochherzigen Beschützerin der
schönen Wissenschaften, das Verdienst zu, Le-
maire aus Flandern nach Frankreich gezogen
zu haben. Bei ihrem Abschied aus Ferrara (1536),
ruft er ihr zu:
Aäien la maiii qiii de t'landrc cn la Fnnicc
Tira jadis Jean Lemaire Belgeois
Qiti l'anic avoit d' Homere le Gregeois*.
Mit Flandern hat es freilich .sein Bedenken;
unwahrscheinlich ist es aber nicht, dass die
' Pcrieal an Margareta. den 17. Oktober lör.'.Ocuvres IV-iSi*».
• Cl. Mirot ed. Jannet, Epistre LV.
- 206 -
Frau, welche Jean Marot bei seiner Ankunft in
Paris in ihren Schutz nahm und ihr Wohlwollen
später dem Sohne zuwendete, den berühmten
Verfasser des Briefes des grünen Liebhabers
und der Liebesidylle von Paris und Oenone an
sich gezogen und der Königin empfohlen hätte,
als er nach Tours kam und das Interesse des
Hofes für das Prachtdenkmal, das Margareta
ihrem verstorbenen Gemahl errichten liess, anzu-
regen verstand.
Wie dem auch sei, Thatsache bleibt, dass
Lemaire die Stelle als Indiziarius und Historio-
graph der Königin von Frankreich annahm, und
dass Margareta seinen Abfall mit Unwillen
empfand.
Böswillige Verleumdungen scheinen das
Ihrige dazu beigetragen zu haben, die Fürstin
zu entfremden. Es war ihr hinterbracht worden,
dass eine von Lemaire gegen sie verfasste
Schrift in Paris öffentlich umlaufe. Bis dahin
hatte Lemaire trotz seines neuen Amtes fort-
gefahren, sich mit ihren Geschäften zu befassen ;
eben wollte er ihr noch in Angelegenheit der
mit Coulombe getroffenen Abmachungen schrei-
ben. Als er aber hörte, in welch niederträchtiger
Weise er angeschwärzt wurde, stand er davon
ab. Barangier hatte ihm zwar versichert, die
Fürstin schenke seinen Verlästerern keinen
Glauben ; aber das frühere Vertrauen und Wohl-
wollen schien untergraben. Lemaire argwöhnte,
- 2()7 -
(lass jeiu- vcrkiimdcrischcn Nachreden nur br»s-
willige Erfindungen seien, um ihn um das
Gtlialt, das ihm noch geschuldet wurde, zu
bringen. Darum schüttet er sein Herz aus vor
dem Geheimschreiber, dem einzigen, der seine
Sache stets redlich vertreten hatte: Was er in
Paris habe drucken lassen, das sei eine zweite
Auflage der Illustrations, und das nur unter der
Bedingung, dass sie wie die Lyoner das Wap-
pen Margaretas trüge, darin glaube er nicht
gefehlt zu haben, und habe zudem ein schönes
Handgeld dafür bekommen; ferner hätten die
Pariser Buchdrucker sein Buch von den Kon-
zilien und die Legende der Venezianer erhalten,
auch diese zur Ehre der Fürstin. Das alles sei
kein Grund, ihn um seine gerechten Ansprüche,
um seinen so sauer erworbenen Verdienst zu
betrügen. Sollte er sich je soweit vergessen,
über seine frühere Herrin etwas schlimmes zu
sagen oder zu schreiben, so möge ihn Gott auf
der Stelle und ohne Beichte sterben lassen.
Denn wenn er sie nicht so geliebt hätte, so
hätte er nicht so viel schöne Sachen zu ihrem
Lobe geschrieben. Und ebensoviel wie für sie,
werde er jetzt für die Königin schreiben, seine
edle Herrin, die ihm so viel Gutes erweist. Und
damit werde er kein Unrecht gegen Margareta
begehen, denn da ivo ihn sein Gefühl hinsieht,
da gibt sich sein Herz gans hin, und dei-
N'erstand billige es. Ursprünglich hatte er vor-
208
i^ehabt, ausser seiner Gebühr noch um ein
kleines Privilegium oder einen Ehrengehalt für
seine vergangenen Dienste zu bitten, jetzt ver-
zichte er darauf; aber die Fürstin werde nun-
mehr begreifen, wesshalb er aus ihrem Dienste
getreten ist; nicht ihin solle sie es verargen,
sondern denen, die daran Schuld sind, und die
nicht ungestraft bleiben sollen, das verspreche
er, — denn Gott ist gerecht, sie sollten sich nur
wacker vor seiner Feder hüten ; aber es solle
so spät sein als er könne. — Zum Schluss lässt
sich Lemaire der Fürstin noch in aller Demut
als ihr armer Diener, der er war, empfehlen,
was er nie ohne Tränen wird schreiben können :
denn so habe ihn das Glück in ihrem Dienste
herumgejagt, herumgezerrt, herumgeschleppt und
herumgeworfen, dass er nicht begreife, wie er
dem entronnen sei'.
Es hält schwer, bei diesen Ereignissen,
welche Lemaires Bruch mit Margareta herbei-
führten, den objektiven Thatbestand festzustellen ;
denn wir hören immer nur den Dichter allein,
und in dessen naiv empfindsamer Seele ruft der
geringste Vorfall gleich einen hochwogenden
Sturm hervor. Thatsächlich hatte Margareta ihr
Wohlwollen nicht ganz von ihm abgezogen; sie
nahm ihm den letzten Brief nicht übel und Hess
' Lemaire an Margareta, Blois, den 28. März 1512. Oeuvres
IV, 419. Ob Lemaire 1511 oder 12 geschrieben hat, ist gleich-
gültig, es ist offenbar 1512 neuen Stils zu lesen, da der 28. März
auf einen Sonntag liel.
- 209 —
durch Raran^ier crwicdern, er möchte der Küni-
üin von Frankreich ebenso treu dienen, als er
ihr ^ethan. Dies ermunterte Lemaire, noch ein-
mal an sie zu schreiben, um ihr zu danken und
die Versicherung zu geben, dass er ihrer fUrder-
hin in seinen Schriften stets mit der schuldigen
Verehrung und Bewunderung gedenken werde.
Anna schickte ihn nach der Bretagne, um die,
Chronik ihres Hauses zusammenzustellen, er
sollte in den alten Klöstern und Schlössern das
Material dazu sammeln ; bei dieser neuen Arbeit
würde unfehlbar seine frühere Herrin auch
Erwähnung finden. Zum letzten Male erstattet
er ihr Bericht über die nunmehr fertig gestellten
Modelle: Frant;ois Coulombe, der eine Xefte
des alten Meisters , war gestorben , an seiner
Statt hatte Perreal die nötigen Malerarbeiten
übernommen. Noch einmal bittet Lemaire um
sein Gehalt, das ja für die Fürstin wenig, für
ihn aber viel bedeute; als letzte Gnade ersucht
er sie, ihm die Oberaufsicht der Alabasterbrüche
zu lassen, es wäre für ihn ein kleines Ein-
kommen, ohne dass es sie etwas kostete. Ob er
auch im hintersten Winkel der Bretagne wohnen
sollte , kein Jahr würde er es versäumen , ihre
Gebäude in Brou, die er mit so grosser Sorg-
falt verw^altet hatte, einmal zu besuchen, wenn
sie ihm die freundliche Erlaubniss dazu gäbe.
Da Margareta einen neuen Indiziarius ernannt
hatte, den Burgunder Remi du Fuy, stellt ihr
Becker, Jean Lemaire. 14
— 210 —
Lemaire seine zeitgeschichtlichen Sammlungen
und Arbeiten zur Verfügung, sie könnten seinem
Nachfolger von Nutzen sein, er würde sie aber
nur in ihre Hände abgeben. Dem Briefe legte er
auch die 24 Strophen über die Genesung der
Königin bei'. — Das ist der letzte Brief, den
Lemaire unseres Wissens an Margareta richtete.
Ob er sein Gehalt noch erhielt und die Ober-
aufsicht über die Brüche weiter führte, ist uns
nicht bekannt. Der Abschied aber klang wenig-
stens in einen versöhnlicheren Ton aus.
Lemaires Austritt aus dem Dienste Marga-
retas hatte noch ein Nachspiel, dessen wir in
Kürze gedenken müssen. Sei es dass der Krieg,
der zwischen Frankreich und ihrem Vater ent-
brannte, sie veranlasste, die französischen Künst-
ler womöglich durch einheimische zu ersetzen,
sei es dass sie gegen Perreal persönlich erzürnt
war, weil auf ihn der Verdacht gelenkt wurde,
er habe ihr Lemaire abspenstig gemacht, jeden-
falls blieb der Lyoner Maler nicht mehr lang in
ihrem Dienst. Schon am 20. Juli spricht er die
Befürchtung aus, man sei seiner müde vielleicht
wegen irgend einer Angeberei, und in seinem
letzten Briefe spricht er von Lemaire in einem
Tone der Gereiztheit, die der offene, redliche
Hennegauer sicherlich nicht um ihn verdient
hatte. Jean Lemaire, sagt er, habe ihm mit
* Lemaire an Marjjfaictu, Blois den 14. Mai lölL'. Oeiu i
IV, 423.
— 211 —
Prügel, ja mit Todschlag gedroht, weil er ihm
seine Geburt und Erziehung vorgehalten hatte
und die Güte seiner Beschützerin, eben der hohen
Frau, die ihn aus Lausigkeit und Armut gezogen
und emporgelioben habe, so dass jeder nun
Avisse, was an ihm wäre, und er nach der Bre-
tagne übergesiedelt sei, weil Jedermann ihn
brandmarke.
Perreals letzte Briefe an Margarela sind in
einem Tone des Trotzes geschrieben, der stark
an Dreistigkeit streift. Offenbar fühlte er sich
stark in dem Bewusstsein, dass er für die Fürstin
mehr gethan, als er Lohn dafür erhalten hatte.
„Gnädigste Frau, schreibt er, wenn Sie
Avohl geruhten, mir die Freude zu geben, mir
zu befehlen, dass ich davon abstehen soll, Ihnen
fürderhin zu schreiben, und es Ihnen so gefiele
so würde ich mich geduldig fügen, auch wider
meinen Willen. Und es wird mir ewig Schmerz
bereiten, die Liebe einer solchen Herrin ver-
loren zu haben, die ich Zeit meines Lebens
geliebt habe und lieben werde, wie wenig es
mir auch einträgt.
„Nun denn, gnädigste Frau, bitte ich Sie
um Gottes Ehre willen, Sie möchten mir be-
fehlen, dass ich schweigen soll, oder dass ich
Ihr Diener bin, denn an den Gütern der Welt
ist mir nichts gelegen.
„Aber ich bitte Gott, er möge Ihnen Gesund-
heit und langes Leben geben und Ihnen und
— 212 —
Ihren Tagen Frieden. Indem ich Sie flehentlich
ersuche, mir durch den Ueberbringer Ihren
gnädigsten Willen zu wissen zu thun'."
So hatte denn auch dieses Band der Freund-
schaft, das Lemaire durch so viele Jahre ge-
leitet hatte, den Stürmen der letzten Monate
nicht Stand zu halten vermocht.
XIV.
Der gesellschaftliche Kreis, den Anna \on
Bretagne um sich vereinigte, war wohl geeignet,
einen Dichter durch seine Verlockungen an sich
zu ziehen. Die Königin unterhielt einen glänzenden
Hofstaat; sie umgab sich mit einem Gefolge von
Frauen und Mädchen vornehmer Abkunft, denen
sie durch ihr Beispiel Sinn und Liebe für Zucht
und Ehrbarkeit einflösste; die Sittsamkeit, der
geistreiche Ton, der gesellschafthche Anstand,
die in ihrem Kreise herrschten, waren in ganz
Europa berühmt. Als souveräne Herzogin hielt
sie ausser ihren ständigen Kammerherren
noch eine Schaar von hundert bretagnischen
Edelleuten um sich. Kunst und Wissenschaft
fanden in ihr eine einsichtige Beschützerin. Sie
selbst hatte eine vorzügliche Erziehung genossen.
Lateinisch und Griechisch waren ihr nicht fremd.
Sie blieb stets den Künstlern und Dichtern ge-
wogen. Jean Meschinot war ein alter Diener
' Perreal an Margareta, Blois den 2(i. Juli und den 17. Ok-
tober 1512. Oeures IV, 387. 389.
213
ihres Hauses gewesen. Jean Marot nannte sich
ihren Hofdichter, ihre Geheimschreiber waren
Faiistus Andrclinus und Andr}' de la Vigne,
jener als lateinischer, dieser als französischer
Poet bekannt, die Musiker Pregent Jagu und
Ivon Le Brun standen in ihrem Dienste, Durch
Vereinigung der Bibliothek ihres Vaters und
der aus Italien nach Paris geschafften Bände
hatte sie eine stattliche Bücherei gebildet; sie
hegte eine besondere Vorliebe für Prachthand-
schrilten, besass eine schöne Sammlung von Oel-
gernälden und teilte die Lust ihrer Zeit an kost-
barer Ausstattung, wertvollen Tapeten und
reichem Gold- und Silberschmuck. Ein herrliches
Denkmal ihres Kunstsinnes ist das Grabmal, das
sie für ihren Vater in Nantes errichten Hess.
Wenn Margareta von Oesterreich der Königin
Anna an persönlicher Begabung, an politischer
Einsicht und Charaktertiefe überlegen sein
mochte, der Glanz des Hofes von Blois blieb
unübertroffen '.
In Blois wollte also Lemaire noch einmal
das glcissendc Glück des Hoflebens versuchen.
Der entgegenkommende Empfang, den er fand,
berechtigte ihn zu grösseren Hoffnungen. „Die
Königin, meine edle Herrin, die mir so viel
Gutes erweist", so schrieb er am 28. März.
Jugendlicher Eifer erfüllte ihn für ihren Dienst;
' Vgl. Lcroux de Lincy, AnriL' de Bretagne. Paris 18(i<i.
4 vol. r.'.
— 214 —
nach den Erfahrungen der Vergangenheit konnte
er sich aber nicht verhehlen, dass er sein Lebens-
glück auf den Zufall eines glücklichen Wurfs
gesetzt hatte. Gelang er, so durfte er auf allge-
meine Billigung seines Schrittes rechnen; ging
der Versuch fehl, so war alle Hoffnung zu
Schanden. Diese Empfindungen spricht er in
dem Doppel-Virela}- aus, mit dem er sich dem
Kreise der Hofdichter zum Willkomm empfahl :
Haultaiiis esprits du graiid royal poiirpvis
Je suis espris par nioiivementB certaitis
De hien servir la Royne de hault pris .
Sej'y attaings par grand laheiirs loingtains, ..
Oll dira lors qiie hien l'ay cntrepris.
Et qiie j'aiiray d'auciin hien nies sacqs plains.
J'ay hon vouloir, niais j'ay peiir d'estre pris
Ainsi qu'en treuve une jarbe sans grains.
J'ay ma deesse et l'aynie, honneure et crains.
Se j'ay du bien, vous y seres conipris;
S'autrenient va, tous nies biens sont restrains,
Douleur m'assault, desespoir et despris
Aides nioy doncq, nobles esprits Jiaitltains^.
Grund zu Besorgniss mochte der Gesund-
heitszustand der Königin geben. Am 21. Januar
» Oeuvres IV, 331. Der sj?. double virelay de nouvelle
taille besteht aus zwei symmetrisch sich entsprechenden Ab-
schnitten von 12 Zehnsilbern mit der Reimfolge (a)a(a)ba(a)ab
(b)baababa, resp. (b)b(b)ab(b)baabbabab. Die erste Haihzeile
wird am Schluss des betreffenden Abschnitts wiederholt.
- 215 -
war sie- mit einem Knaben niedergekommen, der
nicht am Leben blieb. Kaum hatte der kaiser-
liche Gesante ihre vollständige Herstellung ge-
meldet, als sie in der Nacht vom 27. auf den
2S. März von einem so heftigen Fieber befallen
wurde, dass man mehrere Tage an ihrem Auf-
kommen verzweifelte. Die überraschende Besser-
ung erschien wie ein Wunder. Aus Anlass dieser
Erkrankung der Königin dichtete Lemaire die
XXIV Couplets de In valitute et de la convales-
cence de la Royne, ein Gebet, das der Dichter
wie eine Art Wechselgesang den allegorischen
Erscheinungen von Frankreich und Bretagne
in den Mund legt. Gott, die Jungfrau und die
Heiligen werden angerufen, alle Menschen, Mann
und Weib, Jung und Alt, selbst die Natur soll
an der Trauer des Königs teilnehmen.
Fratice:
Vrai Dien du ciel, piiissant Dien de iiatKre,
Dien qiii foriiias l'hiimaiiie ereature
A tu seniblance digne,
Escoute inoy, par tu grace benigne :
Cur niise suis en grand dcsconfitnre
Et niortelle ruine,
Si ton soleil (ä ina bonnc aventure)
N'esclarcist nni brnine.
B r e t a i g n e :
O inon vniy Dien, dont le ponvoir ne Jine,
Dien qui resplends en Vordre serapliine
- 216 -
Sur tonte essence pure,
Las prends de iiioy mijoiird'huy soiug et eure:
Oll aiitrement tont bieii de nioi decline,
Et faiidra qiie j'endnre
Taus les malheiirs, que de faire est encline
La Mort cruelle et diire.
France:
Votre roy pleure, ö noble sang de France,
D'nn cöeiir pitenx, de loyalle sonffrance,
Perc^ de diieil, au vif et ä oultrance,
Seconres le, soyes luy conipassibles.
Sa fille aisnee en ha tel desplaisance
Comnie eile doit par naturelle Usance,
L'autre fort jeiine est encore en enfance,
Qni ne cognoit les meschefs tant nuisibles.
Bretaigne:
Ha francs Bretons, par tous nioyens possibles
Veilles en pleurs et larmes indicibles:
Ne ne soyes joyeiix, gays ne risibles:
Tant que sachies que soit ä delivrance
Vostrc Princesse, ayant douleurs sensibles,
Aux medecins du tout incognoissibles,
Mais ä Dien seid cogniies et visibles,
Qiii donner peut salut et recouvrance.
Fr ance:
Despouille toy de fleurs et de verdure,
Si cecy durc.
Et prens noire vesture,
Printemps nouvel entrant au nioys de Mars.
— 217 ~
7><>/) luüi'oiis iioiis tu verde ßonvitiirc,
Si ia Jiiiii) c
Ha si niaiivais. (iiiii/irc,
Qii'a ton vctiir Mort )ions jettc ses diirs.
Br etaig }iv:
Ne chaiitcs plus, votis oiselets i'spars,
De toutes pars,
Laisse.? vos chants gaillards,
Si lanii'ute;- cn tres piteitx inurniure,
Jns(]iics ä taut quo jcuncs et vieillayds,
Pasteuys en parcs,
Geiidarmes et soiildars,
Ne doiiteut plus ceste tnortelle itijitye.
So beteten die beiden Frauen ; die wunderbare
Rettung der Königin bewirkte, wenn wir dem
Nachworte glauben, Ludwig, indem er sich in
seiner Eigenschaft als allerchristlichster König
an den Himmel wendete'.
Ludwigs des XII. Ehe war ohne lebende
männliche Nachkommen geblieben ; seine älteste
Tochter Klaudia war seit ihrem siebten Leben.s-
' Ouvrcs III. M<). — Die L'4 Coiiplcls 'ditil'crcns cn resonance
harmonicuse' cmsprcchcn sich abwechselnd, so dass die {reradcn
jeweils die beiden Reime der unjreraden in umgekehrter Ord-
nung;" wiederholen. Die 8 ersten bestehen aus .ö Zchnsilbern
und drei Sechssilbern gruppiert wie folgt aa^'ab'^a'^. Die nächsten 8
sind acht/eilige Zehnsilberstrophen: aaabaaab. Die letzten 8 sind
sechszeiligc Zchnsilberstrophen mit Binnenreim: a(a)aba(a)ab ;
man könnte sie auch als achtzeilige hetcrometrische Strophen
betrachten. In den ersten Strophen ist der Reim weiblich.
Str. 11, IL', IT), 1() milnnlich. In den letzten wechselt das Reim-
geschlccht.
— 218 —
jähre mit Franz von Augouleme verlobt, der in
Ermangelung direkter männlicher Erben Thron-
folger war. Die Vermälung des jungen Paares
wurde durch den Willen der Königin noch ver-
zögert. An die junge Prinzessin scheint sich
das Rondeau zu richten, das in einer Handschrift
von Blois mit Lemaires Namensunterschrift er-
halten ist :
Fletir fleiirissaiit, nymphe claire et jolye.
Fleurant Flora, helle Aurora polye,
Blanche Herniyonne aux yeux ryans et vers,
Oh ne saurait reciter par nuls vers
La grand heaiiti qiii en vous se relye.
L'ardant Phebits envers vous s'huniilye,
Car vostre amour trop plus le scrre et lye
Que de Daphni doiit sortent lauriers vers,
Fleur fleurissant.
Amour aussi vous requiert et supplye
Qu'ä son desir vostre gent cueur se plye
Sans avoir pcur de ses dards st divers;
Et Jupiter ses hauts cieux tient ouvers
Pour mieulx choisir vostre forme acomplyc,
Fleur ßeurissautK
Wir haben hier die ausgebildete Hofmy-
thologie, welche nicht erst die Plejade erfunden
hat : Jupiter, der König, erscheint in seinem be-
1 Oeuvres IV, 347. Nach der Hs. Bibl. nat. ms. fr. 1721
fo 22. Das Rondeau hat die moderne Form: aabba.aab.-.aabba.-.
— '2V) —
rechtigten Valerstulz ; IMiocbu^, der nächst-
stehende unter den oberen Göttern, legt seine
Liebe der blühenden Blume, dem jungfräu-
lichen Sprössling des kciniglichen Paares, zu
Füssen, und Amor selbst bittet sie, diese Liebe
y.u erwiedern.
Im königlichen Schlosse zu Blois wird
Lemaire vor allem den Umgang der Dichter des
Hofkreises gesucht haben. Damals machte eben
der fünfzehnjährige Sohn des Hofdichters Jean
Marot seine ersten metrischen \''ersuche. Mit
einer Uebersctzung der ersten Virgilschen Ekloge
trat der jugendliche Reimschmied vor den ge-
reiften und ruhmgekrönten Meister. Ob Lemaire
in dem stellenweise etwas verschwommenen
Erstling schon jene spielende Anmut und leicht-
llüssige Sprache, durch welche Clement Marot
bald seine Vorgänger überstrahlen sollte, er-
kannte, wissen wir nicht. Doch musste ihn,
dünkt mich, den idyllischen Sänger des grünen
Liebhabers, der bukolische Ton sympatisch an-
sprechen, er konnte einen begabten Schüler an
Versen wie die folgenden nicht verkennen :
HcurcHX vicillani , dcsoniiuis cii ccs pnrs,
Entrc niisscaitx et fontaiiies sacrces,
A ton pluisir tu tc rafraischiras;
Cur d'iiH costi' joiguant de tov aiiras
La gyant clostiirc d'iinc saiilsayc espcssc,
La oh viendront mattger la fleur saus cesse
— 220 —
Mouches ä miel, qiii de leiir hruyt tant doiilx
Tinciteront ä dorinir toiis les coups.
De l'autre pari, sur im hault roc sera
Le i'ossignol qui en l'air chantera.
Mais cependant la palombe enrouee,
La tourtre aussi, de chastetö louee,
Ne laisseront de geniir saus se taire
Siis im gvand ornie, et tont ponr te complaire^.
"Wahrscheinlich fiel Lemaires Urteil mild und
ermunternd aus. Am Versbau aber fand er
eines zu tadeln : der junge Kadurzäer gebrauchte
noch die weibliche Caesur mit überschüssiger
unbetonter Silbe; diese verwies ihm Lemaire,
wie Marot in der Vorrede der Adolescence Cle-
mentine erzählt, und belehrte ihn eines bessern'-^.
In der That vermied Marot von da an diese Art
der Cäsur und merzte in den späteren Ausgaben
seiner Werke die wenigen, die er früher zu-
gelassen, allmälig aus.
Clement Marot hat es sich stets zur Ehre
angerechnet, Lemaires Schüler zu sein. Wer
sieht, mit welcher Innigkeit er stets von 'seinem
Jean Lemaire' spricht, der wird die Ueber-
zeugung teilen, dass der königliche Indiziarius
ihn nicht blos auf gewisse technische Feinheiten
aufmerksam gemacht hat, sondern ihm mit der
Wärme eines väterlichen Gemüts entgegen-
' Premiere cglogue de Virgile, Oeuvres de Cl. Marot «Jd.
Janet III, 121.
•i Pr^face d 1' Adolescence C16mentine 1Ö31.'. öd. Janet IV. 189.
— 221 —
ockommen sein muss". Wer aber wissen will,
welchen Einlhiss Lcmaire auf seinen junj^cn
Schüler ausgeübt hat, der vergleiche dessen
Tempel Cupidos mit dem Venustempel in der
Concorde des deux langages und beachte die
Anspielungen, wie die auf das herrliche Thal,
wo der junge Hirte Paris um die Liebe der
schönäugigcn Pegasis flehte, oder auf die Pracht
des Göttcrmales auf dem Berge Pelion^.
Während der Tage von Bleis dachte Lemairc
auch wieder an seine Illustrations de Gaule,
welche über die Ereignisse der letzten Monate
vernachlässigt worden waren. Am 1. Mai erhielt
er das königliche Privileg für den Druck und
widmete das zweite Buch im Namen Merkurs
der jungen Erbin der Bretagne, Klaudia von
Frankreich, als ein Geschenk der Göttin Venus,
nicht jener Gc)ttin , welche Paris bestrickte,
sondern der Venus, welche den Herzen der
Frauen und Mütter Liebe zur Ehrbarkeit ein-
llösst und ihnen die Macht verleiht, durch ihre
sanfte Uebcrredungsgabe und edle Haltung den
flatterhaften Sinn der Männer zu fesseln.
Vierzehn Tage später meldete Lemaire seiner
früheren Herrin , dass die Königin ihn nach
ihrem Stammlande, der Bretagne, schicke, mit
dem Auftrage, in den alten Klöstern und Schloss-
' Complainte V, öd.Janet II. 270. cf. Epifframmc CLXXV.
Od. Janet III, 71. — S. Stecher, Oeuvres LXXVI. sqq.
- Tcmplc de Cupido (1514) ^d. Janet 1, 11'. — Rondeau XXXIII.
(LMK)) ^d. Janet II, l-i:>.
archiven das Material zu einer Geschichte ihres
Hauses zu sammeln, ein Werk, das noch ver-
misst wurde. Bald darauf wird er sich an den
Ort seiner neuen Wirksamkeit begeben haben.
Dort vollendete er im Dezember das dritte Buch
seines grossen Werkes '.
XV.
Das sweite Buch der Illustrations de Gaule
schliesst sich auf das engste an das erste an.
Es bildet den anderen Teil des Romans von
Paris, seinen tragischen Abschluss. Mit dem
Raube der Helena geht das Verhängniss in Er-
füllung: die buhlerische Griechin verdrängt die
verschmähte Jugendgeliebte und beschwört den
Untergang Trojas und des stolzen Geschlechtes
der Priamiden herauf. Paris, Helena und Oenone
bleiben die Hauptfiguren und heben sich in
schärferer Beleuchtung vom bewegten Hinter-
grund des grossen Völkerkrieges ab.
Antenor, der die Festgäste geleitete, hatte
den Nebenauftrag gehabt, die von Herkules ge-
raubte und von Telamon in unebenbürtiger
Stellung zurückgehaltene Schwester Priams,
Hesione, zurückzufordern, er hatte aber blos
abweisende Antworten erhalten. Im Rate der
königlichen Prinzen tritt jetzt Paris mit seinen
1 Widmung des 2. Buches des Illustrations, Oeuvres II, 1.
Lcmaires Brief an Margareta vom 14. Mai 1512. Oeuvres IV, 424. cf.
Pcrreals Bemerkung- vom 17. Oktober Oeuvres IV, 390. Schluss
t'es 3. Buches der Illustrations, Oeuvres II, 47.").
>)>r^
w.iiihalsigen Vorschläj^cn hcrxor, und Hol/ dtr
Warnungen der Scher IHsst sich Alles durch
die hochherzige Kühnheit und Unternehmungslust
des Jünglings bestricken. Grosse Vorbereitungen
werden eilends getroffen, und nach einem trau-
rigen Abschiede von Oenone sticht Paris mit
dem kleinen Geschwader in die hohe See.
Die Fart ging nach Sparta, wo Helena als
glückliche Gattin des Königs Menelaus lebte.
Die Geschichte ihrer Ahnen , ihre Entführung
als Kind durch Theseus, ihre Umwerbung durch
die Schaar der griechischen Fürsten, die eigene
Wahl des Gemals, die ganze Vorgeschichte, die
Lemaire nach verschiedenen Quellen erzählt,
bilden für sie eine bewegte Vergangenheit,
namentlich da der Dichter die mythologischen
Erzählungen wieder razionalistisch auslegt. Wie
sehr er sich bemüht, der schönen Griechin gerecht
zu werden, seine Zweifel und Bedenken und
überhaupt sein Befremden über die Sitten der
heroischen Zeit vermag der redliche Hennegauer
nicht zu verbergen. So werden wir auf den
Empfang, den Paris findet, wie er als vorgeblicher
Gesanter in Lacedaemon landet, vorbereitet. Mit
einer Gutmütigkeit, die an Blindheit grenzt,
nimmt Menelaus die fremden Gäste auf und stellt
sie seiner Gattin vor, die schon beim ersten
Anblick des schtmen Paris den Funken der Liebe
verspürt hat. Rasch entbrennt die gegenseitige
Neigung und weiss sich bald in Blicken, ver-
— 224 —
kappten Worten und Zeichen zu erkennen zu
geben. Der Gatte allein merkt Nichts. Eine Erb-
schaftsteilung ruft ihn nach Kreta; die Briefe,
welche die Verliebten in seiner Abwesenheit
wechseln (vgl. Ovids Herolden) , sind nur ein
Vorspiel der gewaltsamen Entführung. Sparta
in Blut und Flammen hinter sich lassend, feiern
die ehebrecherischen Buhlen ihre Brautnacht
auf Cx'therea, von den Fackeln der Eumeniden
beleuchtet und vom Geheul der Nachtvögel
gewiegt. Das ist der unselige Wendepunkt in
Paris' Leben: mit allem Glänze der Redekunst
hat Lemaire die Erzählung geschmückt, um
ihre Bedeutung recht hervortreten zu lassen.
Als Schüler der Römer und der niederländischen
Rhetoriker hat er die Gelegenheit nicht ent-
gehen lassen, viele schön stilisierte Reden in
die Handlung einzuflechten.
Natürlicher und ansprechender wird der Ton,
sobald wir zu Oenone zurückkehren : die Arme,
die Nichts ahnte von den Plänen ihres Gatten,
die sich durch die dunkeln Reden Kassandras
kaum beunruhigen Hess, sie muss jetzt durch
die Abgesanten der Griechen die Vorfälle in
Sparta hören, sie muss sehen, wie der Treulose,
dem sie entgegeneilt, auf dem Vorderdecke des
Schiffes stolz einherfährt, die falsche Griechin
auf dem Schosse, nachdem er seine Heimkehr
mit weiteren Greuelthaten befleckt hat. An der
Stätte ihres Jugendglückes verbirgt die Trost-
k
— '225 -^
lose ihren Gram, der Einsamkeit des Idagebirges
ihre Klagen anvertrauend. Wörtlich übersetzt
Lemaire an dieser Stelle Ovids fünfte Heroide,
deren naive Wiedergabe zu den anmutigsten
Seiten dieses Abschnittes gehört.
Der auffallende Gegensatz in der Behandlung
der beiden Teile des Romans beruht im tieferen
Grunde auf der Stellung, die der Dichter über-
haupt zu den handelnden Personen einnimmt.
Lemaires Anlage, sein stetes Bestreben zielen
auf eine objektiv-plastische Darstellung; aber
blos in künstlerischer Hinsicht übt er die volle
Selbstcntäusserung, in der moralischen Beur-
teilung bleibt er subjektiv befangen. Daher ver-
senkt er sich blos dann ohne Rückhalt in seinen
Gegenstand, wenn er ihm seelenverwant ist.
Werden die tieferen Saiten seines Herzens
angeschlagen, da klingt seine ganze Seele mit,
und da gelingt es ihm auch mit einfacheren
Mitteln unsere Teilnahme zu erregen. W^ird aber
sein Missfallen geweckt oder glaubt er dem
lehrhaften Nebenzwecke seines Buches zu liebe
seinen Unwillen äussern zu müssen, so hält er
sich fremd und nimmt seine Zuflucht zu den
äusseren Mitteln der Rhetorik, zu Exclamationen,
Apostrophen, Aposiopesen usf. Er verleiht der
Erzählung an Glanz, was er ihr an Innigkeit
nicht zu geben vermag.
Nicht ein Epos schreibt Lemaire, sondern
einen Roman ; nur erweitert sich jetzt das Schau-
Bccker, lean Lemaire. l'»
— 226 —
spiel; das Schicksal des Einzelnen ordnet sich
dem Geschicke der Völker unter. Im weiteren
Verlauf hält sich der Verfasser vorwiegend an
Dictys von Kreta, den er in frommem Glauben
als Zeitgenossen und Augenzeugen der Ereig-
nisse betrachtet. Ihm gefiel dessen Bericht
besser, weil er ihn ausführlicher, umfassender
imd zugleich wahrscheinlicher und besser geord-
net fand. Ueber diese Vorzüge vernachlässigt
er aber die anderen Gewährsmänner wie Dares,
Herodot, Thukydides nicht; häufig, w^enn ihre
Angaben sich widersprechen, lässt er sie alle-
sammt zu Worte kommen, ohne den Versuch
zu machen, ihre Aussagen in Einklang zu bringen
oder kritisch gegen einander abzuwägen. Auch
der Dichterfürst Homer ist ihm durch die latei-
nische Uebersetzung des Laurentius Valla
bekannt; der Reiz seiner mit poetischen Blumen
reich geschmückten Erzählung hat ihn bewogen,
den Zweikampf zwischen Paris und Menelaus
(II. t'. Teixo0KOTTia) wörtlich wiederzugeben, pource
qu'il est beau et delectable et sent bien son
antiquite. Der Trieb der eigenen Natur musste
Lemaire zu Homer ziehen mit seiner Fülle von
ausgeführten Bildern, mit der naiven Behaglich-
keit der Erzählung und den breiten Reden. Es
ist das erste Mal, dass ein Stück homerischer
Poesie in französischer Zunge wiederklang.
Die wechselvollen Ereignisse des trojani-
schen Krieges werden in kurzen Abrissen dar-
227 —
gestellt: acht Jdhre dauern die Rüstunpfen, im
neunten erst landen die Griechen in Kleinasien,
Achill und Ajax verwüsten die umliegenden
Landschaften, der Versuch, Polydorus gegen
Helena einzutauschen, scheitert, Achill überwirft
sich mit Agamemnon, Paris misst sich im Ein-
zelkampf mit Menelaus, während des Winters
findet Achills Aussöhnung statt, er verliebt
sich in Polyxene; im Frühjahr beginnt der
Kampf von frischem, Patroklus füllt, Hektor
wird im Hinterhalte getötet, Achill lässt sich in
Unterhandlungen ein und wird von Paris meuch-
lings erstochen, Paris unterliegt im Einzelkample
mit Philoktet, Troja fällt durch List; Helena,
welche Deiphobus geheiratet hatte, gibt den-
selben verräterischer Weise preis und versöhnt
sich mit ihrem ersten Gatten. Hiermit sind die
Wahrsagungen in Erfüllung gegangen ; die Auf-
gabe des Dichters ist erfüllt. Anhangsweise
erzählt er blos noch die weiteren Schicksale
Helenas und ihre spätere Verherrlichung als
Gottheit. Das ist der Verlauf der Erzählung.
Nur die Szenen, in denen Paris oder Helena
eine Rolle spielen, sind weiter ausgesponnen;
besonders rührend ist der Tod des Helden und
dessen tragisches Nachspiel: der letzte Wunsch
des tötlich Getroffenen scheint es gewesen zu
sein, in der Nähe der ersten Gemahlin, der
treulos verlassenen Oenone begraben zu werden ;
als die Unglückliche das hörte, eilte sie dem
— 228 —
Toten entgegen und unter rührenden Klagen
brach sie über der Bahre zusammen und gab
ihren Geist in den Armen des Geliebten auf.
Im Nachworte des zweiten Buches setzt sich
Lemaire allen Ernstes mit dem Rhetor Dion
von Prusias auseinander, dessen Prunkrede vom
nicht eroberten Troja neuerdings in das Latei-
nische übersetzt worden war. Alle Kampfmittel^
Ironie, psychologische Analyse, die Wucht der
Zeugnisse und Gewährsmänner führt er gegen
ihn ins Feld; freilich gegen seine Sprache, die
ganz rein oratorisch ist, findet er nichts einzu-
wenden.
Damit schliesst der Hauptteil der Illustrations
de Gaule et Singularitez de Troye, welcher die
zweite Hälfte des ersten Buches und das ganze
zweite umfasst. Es ist der Kern des ganzen
Werkes, die einzige Partie, die nach einem ein-
heitlichen Gedanken ausgearbeitet ist. Schalten
wir die moralischen Einschiebsel und die Ver-
suche einer allegorischen Deutung als fremde
Zuthaten aus, so bleibt uns eine planvoll ange-
legte Erzählung, deren Ton sich getreu dem
Gegenstande anschmiegt. Vor unseren Augen
entrollt sich in wechselvollem Spiele ein Lebens-
bild von der Kindheit bis zum Tode und hält
uns in seinen beiden Phasen eine tiefe Lehre
entgegen durch das Schauspiel der Leiden-
schaften, die uns und unsere Umgebung glück-
lich machen oder in das Verderben stürzen
— 229 —
können. Das Verdienst des Verfassers ist nach
seiner eigenen Ansicht das, die geschichtliche
Wahrheit wieder in ihrer Reinheit hergestellt
und die altüberlieferten Irrtümer Guido Colon-
nas und seiner Nachahmer in Versen und in
Prosa ausgerottet zu haben. Nunmehr kann sich
Jedermann zufrieden geben, denn jetzt kennt er
den wahren Verlauf der Ereignisse, und in
Zukunft werden in Malereien und Stickereien
jene bedauerlichen Fehlgriffe, die aus Unwissen-
heit begangen wurden, nicht mehr vorkommen '.
XVI.
Nach Lemaires eigener Angabe sollten die
lllustrations de Gaule zwei Hauptteile umfassen :
der erste, der nunmehr abgeschlossen vorlag,
war der Geschichte Trojas gewidmet, mit Paris
als Haupthelden, wie Avir sahen; der zweite
sollte die einzelnen Völkerstammsagen und in
Sonderheit die Kämpfe der europäischen Fürsten
mit den Türken um die kleinasiatischen Stamm-
lande enthalten; das war der Gegenstand des
dritten Buches. Zur Zeit, wo die beiden ersten
Bücher ihren Abschluss fanden, war das dritte
entworfen worden: Lemaire spricht zum ersten
Male davon in seinem Bittgesuch an Margareta
(1509); im Nachwort des ersten Buches heisst es
dann, dasselbe müsse noch gründlich durch-
gesehen, verbessert und erweitert werden, in
> lllustrations de Gaule II, Schluss. Oeuvres II, 244.
™ 230 -
Anbeträcht der Wichtigkeit und Mannigfaltigkeit
des Inhalts'. Als nun das immer sich mehrende
Material hinlänglich überarbeitet war, fand sich,
dass die Geschlechtssage Karl des Grossen allein
Stoff genug für einen neuen Band bot. Ausser
dem eigenen Wissenstrieb hatte jedenfalls das
Interesse, das die fürstlichen Gönner dem Gegen-
stand entgegenbrachten, den Verfasser ange-
spornt, sich bohrender in die genealogischen
Fragen zu vertiefen.
Gienge Lemaire nicht mit dem vom Mittel-
alter ererbten naiven Kinderglauben an das
Werk, so müsste man das dritte Buch der
lUustrations , was Zusammentragen der That-
sachen und Auffinden von Quellen anbelangt,
als eine ernste historische Leistung anerkennen ;
denn er hat wirklich keine Mühe der Forschung
gescheut, um gründlich unterrichtet zu sein ;
keine Gelegenheit hat er vorbeigehen lassen,
sich alte Handschriften, neuerscheinende Bücher,
Inschriften, mündliche Unterweisung, wo er sie
finden konnte, zu Nutzen zu machen ; wo es Not
that, hat er mit geistreichen Vermutungen die
Wiedersprüche der Ueberlieferung zu lösen ver-
sucht. Nichtsdestoweniger bleibt seine Stamm-
geschichte des fränkischen Karolingerhauses
eine bunte Märchensammlung. Ja, auf den ersten
1 Cf. Oeuvres IV, 395. 1 , 348. — Im Briefe an Leclerc
(15. Febr. 1508) Oeuvres IV, 321. ist erst von zwei Büchern
die Rede. Auch die Quellen, die Lemaire benutzt hat, zeigen,
dass die Ausarbeitung hauptsächlich nach 1507 erfolgte.
- 231 -
Anblick scheint das Buch noch wirrer, als es
thatsächlich ist, weil die Einheitlichkeit in jeder
Hinsicht fehlt: hier haben wir trockene Stamm-
bäume, dort ruhige, breite Erzählung, dazwischen
gelehrte Erörterungen und geographische Ex-
kurse. Indessen, wenn wir die deutlich erkenn-
baren jüngeren Schichten abheben, so lUsst sich
der Aul bau des Grundbestandes leicht durch-
schauen.
Das dritte Buch der Illustratioiis de Gaule,
das den Nebentitel de France Orientale et occi-
dentale oder Genealogie historiale de l'emperenr
Charleniagne führt, zerfällt in drei Teile oder
Abhandlungen ; der ersute bringt den Stammbaum
der nach Europa verpflanzten Troer bis -auf
Austrasius, der zweite greift auf die Burgunder
und fränkischen Merovinger zurück, um Blitildis
einzuführen, der dritte führt die vereinigten Ge-
schlechter bis auf Karls des Grossen Vater
Pipin (p. 259 sq.).
Die einzelnen Teile des Buches sind in sich
nicht homogen. Zunächst wird die Urgeschichte
von Herkules Libyus bis Frankus nach Berosus
und Manethon kurz wiederholt, um die Altehr-
würdigkeit des Namens Pipin darzuthun (261—68).
Nach einer Erörterung über die Bezeichnung
Kelten und deren geographische Ausdehnung
(269—72) und einer kritischen Auseinandersetzung
über die Söhne Hektors (272 sq.), beginnt (p. 274)
im Anschluss an Dict3-s die Erzählung von den
— 232 —
Geschicken der Wittwe und Nachkommen Rek-
tors; Lemaire identifiziert Frankus mitLaodamas,
indem der Doppelname an sich nichts befremden-
des hat. Da Frankus unter der Obhut seines
Onkels Helenus autwuchs, wird diesem ein be-
sonderes Kapitel gewidmet (276—83). Schon vor
Helenus hatte Priams Vetter Bavo, durch seine
Sehergabe gewarnt, Kleinasien verlassen und
ein neues Reich in Europa gegründet mit Belgis
d. 1. Bavay als Hauptstadt. So erzählte der ebenso
fleissige als leichtgläubige Kompilator, Meister
Takobus de Guisia, dessen Annalen der Fürsten
von Hennegau in zwei schönen und grossen
Bänden in lateinischer Sprache Lemaire jeden-
falls schon in der Jugend häufig durchgeblättert
hatte J. In kurzen Zügen fasst Lemaire die Ge-
schichte des Gründers seiner Vaterstadt, seiner
Genossen und nächsten Nachfolgers zusammen
(283—85. 290—97), dazwischen einen längern Ex-
kurs über Götzendienst nach Berosus (286—90).
Noch andere Geschlechter rühmten sich tro-
janischer Abkunft: von den Arvernern wussten
es schon die Alten, von Tours und Toulouse
lehrt es die Bretonische Sage , das gemeine
Gerücht behauptet es von den Häusern Tournon
und Neuchätel, Reuchlin (de verbo mirifico) rühmt
' Illustr. III, Oeuvres II, 184. Vgl.Jacobi de Guisia Annaics
historiae illustrium principum Hanonire ed. Ernestus Sackur,
Mon. Germ. bist. XXX, 44 sqq. — J. de Guise (t 1390) schrieb seine
Annalen pcgen Ende seines Lebens nach lateinischen (?. T. roman-
haften) und französischen Schriftstellern. S. oben p. 148, Anm. 1.
- 233 -
es von Pforzheim (297—300). So begann Trojas
Adel allenthalben wieder aufzublühen um die
Zeit, da Frankus Sikambria, das spätere Budapest,
an der Donau erbaute , der erste Sitz der
fränkischen Sikambrer, die sich im Verlauf der
Zeit nach dem Nicderrhcine ausdehnten (301 sq.).
Von dieser Stadt weis.s der Roman von Buscalus,
der sich in der reichen Bücherei Ludwigs des XII.
zu Blois befand, viel zu erzählen'. Mit vielem
Fleisse trägt hier Lemaire die Zeugnisse der
Alten über die Sikambrer bei und beleuchtet sie
mit dichterischer Phantasie (302—8); alsdann er-
geht er sich in einem geographischen Exkurs
über Pannonien d. i. Ungarn (308-20); viel spricht
er von Attila, dessen Leben er durch Juvencus
Coclius Calanus genauer kannte. Als besonderer
Beleg dienen ihm die Fragmente eines alten
Dichters, den er in der Kollegialkirche des
heiligen Justus zu Lyon gefunden liatte (316)*
So weit müssen wir uns durch die planlos zu-
sammengeschichteten Materialien durcharbeiten,
bis Lemaire endgültig zu Frankus zurückkehrt
und nunmehr die Geschichte seiner Nachkommen
' Dieser Roman , früher auch Quelle Jacobs von Guisc
beschilfiiptc sich vor allem mit Tournai. Buscalus ist nicht der
Autor des Romans, wie Jacob von Guise zuerst behauptete.
sondern der Held des Romans, cf. Mömoires de l'Acaddmie de
Bruxclles t. V. und E. Sackur 1. c.
" Es ist das Pantheon Gottfrieds von Viterbo, particula
XIV, 21 und r*. Monum. Germ. hist. SS. XXII, i39 sq. Die
von Lemaire benutzte Handschrift gehört der Redaktion D an, ist
aber nicht der Codex Lugdunensis.
234
in einem Zuge bis auf Austrasius und im dritten
Abschnitte bis auf Pipin von Heristal nach eigenen
Ueberlieferungen erzählt. (320—66. 422 sqq.).
Nicht Jakob von Guise, der Annalist seiner
Vaterstadt, nicht Annius von Viterbo, dem er
so unerschütterlich Glauben schenkt, vor Allem
nicht Trithemius und sein Hunibald, die er gar
nicht kennt, nicht diese sind die Quellen, aus
denen Lemaire seine fränkisch-sikambrisch-karo-
lingische Stammsage geschöpft hat; nein, es ist
ein unbekannter Gewährsmann , dessen Werk
er als Geschichte oder Chronik von Tongern
bezeichnet". Alle Forscher, welche die lllustra-
tions besprochen haben, sind scheu an diesem
rätselhaften Abschnitte vorbeigegangen; und
doch muss es jedem aufmerksamen Leser klar
werden, dass diese einheitliche und zusammen-
hängende Erzählung, die von Frankus bis Karl
den Grossen keine Lücke, keinen Sprung auf-
weist, den Kern des dritten Buches bildet, in den
die Abhandlung über Burgunder und Merovinger
mitten hineingekeilt ist, und um den sich wie
eine Schale die Erörterungen der Einleitung und
des Schlusses angesetzt haben.
^ Oeuvres II, 295. l'histoire de Tongres sagt, dass nichi
Turguncius (cf. J. de Guise), sondern Torgotus Tongern ge-
gründet hat, cf. ib. 321. Ib. 301, 302. Selon les chroniques de
Tongres soll Sikamber b'2 Jahre, regiert haben, sollen die
Sikambrer später Kleve, Geldern, Jülich in Besitz genommen
haben. Ib. 322 für die letzten Fürsten, die er nicht alle auf-
zählen will , verweist Lemaire ä l'histoire de Beiges ou de
Tongres.
— 235 -
Wer mag aber dieser spurlos verloren ge-
gangene Chronist, Lemaires Gewährsmann, sein?
Lucius von Tongern oder einer der anderen
Auetoren, die Jacob von Guise benützte, ist es
nicht. Die neue Geschichte von Tongern scheint
vielmehr im Gegensatz zu den älteren, die Bavay,
Tournay, Trier oder andere Städte zum Mittel-
punkt machten, entstanden zu sein; nach der
genaueren Chronologie und Kenntniss der
römischen Geschichte zu urteilen, muss der Ver-
fasser jünger gewesen sein, wahrscheinlich schrieb
er wohl lateinisch. Wie dem auch sei, wir stehen
vor einem interessanten Problem: Lemaire hat
offenbar eine Chronik benutzt, welche Karl den
Grossen als Sprossen der von der Donau an
den Niederrhein — mit Tongern als Hauptstadt
des neuen Reiches — übergesiedelten Nach-
kommen des Priamidcn Frankus darstellte und
zwischen den beiden äusseren Gliedern eine der
Zahl der verflossenen Jahrhunderte entsprechende
Reihe von Zwischengliedern in den phantastischen
Stammbaum einschaltete. Von dieser Chronik
bleibt aber keine Spur weder in der früheren
noch in der späteren Litteratur, sie selbst ist
verschwunden oder liegt noch irgendwo be-
graben. Dass aber Lemaire sie blos vorge-
schützt und selbst die ganze Geschichte erfunden
hätte, das ist nicht denkbar, das Aviderspräche
seiner sonstigen Gewissenhaftigkeit: er kombi-
niert, er erweitert, aber er erdichtet nicht.
— 236 -
Die ersten Könige, die auf Frankus folgen,
sind blos Eponymen verschiedener Städte und
Stämme; dem Verfasser der Illustrations wird
es selbst zuletzt lästig, sie aufzuzählen. Erst
mit dem Eingreifen der Römer in die Stammsage
wird die Erzählung gehaltvoller. Menapius,
König der Kimbern, Beiger und Tongrer, weigert
sich, dem Beispiel der Trierer zu folgen und
mit den Römern einen Bund zu schliessen. Er
wiedersteht ihnen siegreich und zwingt den
Konsul Lucius Cassius zu einem schimpflichen
Frieden. Der Konsul entgeht der drohenden
Strafe durch freiwillige Verbannung. Darüber
ergrimmt Menapius und lässt seine Söhne
schwören, Rom zu zerstören, wie einst Brennus
und Belgius. Sie bieten sofort ihre Verwanten
und Bundesgenossen auf und versuchen in
mehrere Züge getrennt, in Italien einzufallen;
da tritt ihnen Marius entgegen mit dem bekannten
Erfolg. Seiner Gewohnheit gemäss hat Lemaire
die Kimbernkriege mit Zuhülfenahme der römi-
schen und christlichen Geschichtsschreiber aus-
führlicher dargestellt. — Von allen Kimbern-
fürsten rettet sich allein Gottfried, der in sein
bedeutend geschwächtes Reich zurückkehrt
und wegen seines zurückgezogenen Lebens den
Beinamen Karl erhält. Gottfried hat einen Sohn
Karl Ynach, den verbannt er wegen einer
Schandthat. Karl Ynach geht nach Rom, findet
dort freundliche Aufnahme, macht den Mithri-
— 237 —
datischen Krieg unter Lucius Caesar mit, ver-
liebt sich in Arkadien in die Tochter des Pro-
konsuls, Hermine (Germaine), die Halbschwester
des späteren Diktators, verführt sie und flieht
mit ihr nach Deutschland. Auf der Flucht, bei
Valenciennes, nimmt sie von einem Schwan, der
schutzsuchend zu ihr flieht und den sie von da
an bei sich behält, den Namen Swana an. Karl
Ynach findet seinen Vater tot; er übernimmt das
Reich, seine Herrschaft dauert aber nicht lange,
er fällt mit Ariovist in der Schlacht gegen Julius
Caesar. Seine Wittvve zieht sich mit ihren beiden
Kindern auf das Schloss Megen an der Maas
zurück. Inzwischen geht die Eroberung Galliens
vor sich : gern erholte sich Caesar von den Stra-
patzen des Krieges auf Schloss Kleve; in dem
kleinen Gefolge, das er dann bei sich führte,
befand sich ein Ritter Salvius Brabon ebenfalls
aus Hektors Geschlecht, von einer schon in
Pannonien abgezweigten und in Arkadien sess-
haften Seitenlinie. Seinen Gedanken nachgehend,
erblickt dieser eines Tages einen Schwan am
Ufer des Rheins mit einem Nachen spielend,
er setzt sich in den Nachen und wird unversehens
in die Nähe des Schlosses Megen geführt. Eben
will er nach dem Schwane schiessen, als er in
griechischer Sprache angerufen wird; er ant-
wortet ebenso, wird in das Schloss eingelassen
und muss die Versöhnung zwischen Caesar und
seiner Halbschwester vermitteln. Als Lohn er-
— 238 —
hält er die Hand der jüngeren Swana, Caesars
Nichte, und wird mit dem Lande vom ruthenischen
Meere bis an die Grenzen der Nervier belehnt.
Dies Land, Tongern und Brabant, behalten seine
Nachkommen als Herzöge; sie gehören stets zu
den treuesten Anhängern der Römer , deren
Kaiser sich nicht bedenken, ihre Töchter mit
diesem Hause zu vermalen. Erst Lando folgt
dem Umschwung der Dinge und schliesst sich
den Franken an. Sein Sohn Austrasius lebte zu
Chlodowechs Zeiten und war derjenige, der ihm
in der Alemannenschlacht zurief, er möchte doch
das Christentum bekennen. Diese letzten Herzöge
sind meistens auch solche, die irgend einer Stadt
den Namen gegeben haben sollen.
Jetzt naht der Augenblick, wo sich die ge-
schichtlichen Persönlichkeiten in den fabelhaften
Stammbaum einreihen sollen. Um sie einzu-
führen, versucht Lemaire im zweiten Theile
seines Buches eine Geschichte der Burgunder
und der Merovinger zu geben. Nirgends hatte
er sie in Zusammenhang dargestellt gefunden
und hat daher selbst seine Kenntnisse mit vieler
Mühe allenthalben sammeln müssen. Schon die
Lage und Ausdehnung des alten Burgund hatten
ihm Schwierigkeiten bereitet, bis er bei Gervasius
von Tilbury und im Ligurinus Auskunft fand'.
; 1 Oeuvres II, 368. 370. Die Otia imperinlia des Gervasius
■von Tilburj-, 1211 Otto dem IV. gewidmet, waren noch nicht
- 239 -
Den Anfang? macht natürlich der unvermeidliche
Berosus, der seinen Abschreiber aber bald im
Stich lässt. Erst zur Zeit des Augustus, nach
einer Lücke von sechzehnhundert Jahren hören
wir wieder von den V'andalcn oder Vindeliziern
und ihren Streifzüg-en bis an den Rhein reden.
Drusus und Tiberius, die sie zurückdrängten,
sollen sie gezwungen haben, oftcne Wohnstätten,
Zelte, Hütten, in ihrer Sprache Burgen genannt,
zu wählen, woher ihr Name Burgunden. Bald
mehrten sie sich wieder und suchten neue Wohn-
sitze, zuerst auf der wunderbaren Insel Skan-
davia, dann am Rheine, etwa im Elsass, eine der
besten und reichsten Gegenden, die man kennt.
Hier blieben sie, bis Stilicho, seine ehrgeizigen
Pläne betreibend, den ganzen Schwärm der Ger-
manen über den Rhein lockte: bei der Gelegen-
heit eroberten die Burgunder das südöstliche
Gallien. Bald wurden sie hier durch die Hunnen
belästigt, bestanden sie aber siegreich, und als
jene unter Attila zurückkehrten, nahmen .sie auch
an der Vernichtungsschlacht bei Chälons teil.«
Diese Thatsachen hat Lemaire sorgfältig aus
älteren und jüngeren Schriftstellern wie Hierony-
mus, Cassiodor, Jacobus Bergomensis, Gaguinus,
Coelius Calanus, Michele Riccio, Flavius Blondus
Jredriickt. Von den jetzt bekannten Handschriften ist es wahr-
scheinlich die Brüsseler, die Lemaire zugJlnglich war. Der
Ligurinus wurde 1507 von Konrad Celles' Freunden heraus-
gegeben.
— 240 —
gesammelt'. Für die Folgezeit, die Brautwerbung
Chlodowechs und den Untergang des Burgunder-
reichs, hatte er das Glück in der Bücherei des
heiligen Hieronymus zu Dole eine alte Chronik
zu entdecken, die nichts anderes war, als das
Buch der Geschichte der Frankens. So verfolgt
Lemaire die fränkische Geschichte durch ihre
Wirrnisse bis auf Chlothar den I. des Namens,
den achten König von Burgund, Frankreich und
Niederösterreich (d. h. Austrasien), dessen jüngste
Tochter, Blithildis, das Band zwischen dem
burgundisch-fränkischen und dem karolingischen
Hause werden sollte.
Im dritten Abschnitte nimmt Lemaire den
abgerissenen Faden wieder auf. Austrasius'
Nachfolger ist Karl Nason, der die ältere Tochter
des Thüringerfürsten Berkarius zur Frau nimmt,
während Haymon, der Vater Rainalds von Mon-
tauban und seiner dreiBrüder,diejüngereheiratete.
Auf ihn folgte Karl Hasbain, wie seine Väter
ein treuer Beistand der austrasischen Herrscher.
Als Theudebert von seinen Onkeln bedrängt
^ Cassiodor war im 15. Jahrhundert bereits mehrmals ge-
druckt worden. Die Geschichte Attilas des dalmatischen Bischofs
Juvencus Coelius Calanus (12. 13. Jahrh.) wurde 150- in Venedig
im Anhang an den lat. Plutarch gedruckt. Der Napolitancr
Michele Riccio war in den Dienst Karls des VIII. und Ludwigs
des XII. getreten, seine Geschichte der franz. Könige, die Neapel
besessen haben, erschien 1505. Flavius Blondus, Historiarum
ab inclinatione Romani imperii usque ad 1411 decades III. Venc-
tiis 1483.
'•ä Liber historite Francorum c. 11 sqq. (früher Gesta Fran-
corum) Mon. Germ. hist. Script, rer. Merov. II.
241
wurde, übernahm^ Karl die Gesantschaft um
Hülfe an den oströmischen Hof; die nahm aber
einen unerwarteten Verlauf. Justinian behaup-
tete nemlich, er habe die Mark an der Scheide
widerrechtlich in Besitz, und veranlasste ihn,
sie dem Senator Anseibert abzutreten, was Karl
seinem Könige zu Liebe gern that. Dieser
Anseibert, der gewöhnlich die karolingischen
Stammbäume eröffnet, heiratete die heilige
Blithildis und wurde der Stammherr der Karo-
linger in männlicher Linie. Seine Nachkommen
sind Arnold, Arnulf und Anchises, der die Erbin
des Hauses Brabant, Begga, die Schwester des
kinderlosen Grimoald, Tochter Pipins von Landen,
Enkelin Karlmanns und Urenkelin Karl Has-
bains heimführte. So vereinigten sich die alten
Königsgeschlechter, erneut durch römisches
Blut, um im Verfolg den grossen Kaiser zu er-
zeugen. Die Sagen der Chronik von Tongern
schliessen mit diesen Persönlichkeiten wieder
an die Geschichte an, und Lemaire kann hinfort
die Chronik von Brabant als Beleg anrufen, oder
die gereimten Grabschriften, die er in Brabant
in einer alten Handschrift gefunden hatte'. Mit
Pipin von Heristal und Karl Martell wird die
Erzählung wieder breiter; wir sehen das karo-
lingische Haus emporsteigen, während das
* Vgl. die Genealogiae ducum Brabantire, Mon. Germ. hist.
SS. XXV. 387 sqq. Die gercimlen Grabinschriften sind nichts
anderes als die Genealogia ducum Brabantire metrica 1. c.
400 sq.
Becker, Jean Lemaire. 16
— 242 —
merovingische sinkt. Das Buch endigt mit der
■ Krönung Pipins des Kurzen.
Lemaire beschliesst aber sein Werk mit
philosophischen Betrachtungen über den Wechsel
der Herrscherhäuser. Zwei Ursachen pflegen
ihren Umsturz herbeizuführen, die göttliche Vor-
sehung und die Einmischung der Priester; wie
Pipin sich an den Papst Zacharias wendete,
so bestach Hugo Capet den Bischof Anselm von
Laon. Die Hand der göttlichen Vorsehung ist
aber offenbar: denn wie die Bäume und wie die
Tiere, so altert und versiegt und verliert seine
Kraft nicht nur das Menschengeschlecht im all-
gemeinen, sondern noch vielmehr die Familien
und Geschlechter im einzelnen. Als Gott sah,
wie die Nachkommen Merowechs entartet und
verkümmert waren, da erweckte er, wie die Not
des christlichen Gemeinwesens es erheischte,
das edle Blut der Pipine und Karle, gleichwie
er dem pflichtvergessenen Saul David aus dem
Hause des Hirten Jesse zum Nachfolger gab,
das Spiel aber führten die Hände des Propheten
Samuel, des Hohepriesters der Juden. Ja, als
der Allschauende sah, wie die Kaiser Ostroms
sich in innerem Zwist aufrieben und der katho-
lische Glauben durch Verfolgungen und durch
den Anprall der Sarrazenen und Türken bis im
Herzen Europas gefährdet war, da Hess er im
Westen ein neues Haus erstehen, das wie die
Makkabäer sein Volk vor der Bedrückung durch
— 243 —
die Ungläubigen zu retten vermöchte: das war
das edle Geschlecht der Karolinger, kräftig und
erlaucht von Alters her und noch geadelt durch
die Würde der allerchristlichsten Krone Frank-
reichs und das heilige römische Kaisertum, den
beiden schönsten Zierden der zeitlichen Welt;
kraft dieser Vorzüge hat es die fremden Völker
zurückgeworfen und den wankenden Glauben
aufgerichtet, und es ist nicht nötig, wie einige
thun, um dem Geschlechte höheren Glanz zu
verleihen, Karls Mutter Berta zu einer Tochter
des Kaisers Heraklius zu machen gegen alle
Wahrscheinlichkeit. Dessgleichen aber, als das
Karolingerhaus sank , übertrug Gottes ver-
borgener Ratschluss das Reich auf die Nach-
folger Hugo Capets vom Hause Sachsen. Das
karolingische Blut bewahrte er aber in den Her-
zögen von Flandern und Artois, die es dann
wieder mit dem der Könige von Frankreich ver-
banden, um Ludwig den heiligen zu erzeugen.
So ist und bleibt das Blut Karls des Grossen in
dem französischen Königshause, damit es stets
der Schutz und Hort des katholischen Glaubens
und der heiligen römischen Kirche sei, die Miss-
bräuche in Welt und Kirche abstelle, die Tyrannen
bändige, die Ketzer vernichte und schliesslich
mit starker Hand und erhobenem Arme die
fluchwürdige Nazion der Türken und die andern
Anhänger Muhameds in Furcht und Schrecken
halte, die Türken, welche aus ihren alten Schlupf-
— 2M —
winkeln und Sümpfen derTartarei hervorbrachen
zur Zeit, wo Pipin die Herrschaft über Frank-
reich erwarb.
Das ist Lemaires Geschichtsphilosophie, das
seine politische Lebensansicht ein Jahrzehnt bevor
Franz, der allerchristlichste König, die deutschen
Protestanten und die verabscheuten Türken zu
seinen Bundesgenossen gegen Karl, den römischen
Kaiser und. Erben Oesterreichs und Burgunds,
machen sollte.
XVII.
Jean Lemaire eignete das dritte Buch der
lUustrations seiner neuen Beschützerin, der Köni-
gin von Frankreich, zu als das vornehmste
Geschenk, das er bis dahin der weiblichen Lese-
welt dargebracht: die beiden früheren waren
nur die Knospen und Blumen , dieses aber die
Frucht in voller Reife. Eine Pflicht der Dankbar-
keit zu erfüllen, wie er sagt, vollzog er eine zweite
Widmung an Guillaume Cretin, seinen Lehrer»
der ihn zuerst für die französische Schriftstel-
lerei gewonnen hatte: nun bittet er ihn, sein
Verteidiger zu sein gegen etwaige Anfeindungen,
obwohl er keine zu befürchten habe ; denn wenn
auch Ausländer, habe er stets durch seine Werke
seine Liebe für das öffentliche Wohl Frank-
reichs gezeigt. Im Nachwort endlich empfiehlt
er sich der Nachsicht seiner Leser: die Schwäche
menschlichen Verstandes lässtuns ja nicht immer
erreichen, was wir möchten. Er habe sich be-
— 245 —
müht, das, was die Geschichtsschreiber gewöhn-
lich übergingen, sorgfältig nachzusammeln und
sei sich dabei vorgekommen wie einer, der die
einzelnen Aehren hinter den Schnittern oder
die übersehenen Trauben hinter den "Winzern
nachlese. Man möge ihm verzeihen, wenn er
mitunter etwas viel Latein zitiert habe; er
dürfte es sich zwar als berufener Historiker
ebensowohl gestatten als die Prediger in ihren
Kanzelreden vor den Bauern weibern; er habe
es aber nicht des leeren Prunkes wegen gethan,
sondern um dem bedenklichen Leser durch Vor-
führen der Belege die letzten Zweifel zu be-
nehmen. Dieses Buch verdanke man dem Wohl-
wollen der Beschützerin, der es auch gewidmet
sei; der noch ausstehende und wiederholt ver-
sprochene Band, der die Genealogie der Tür-
ken und ihre Thaten bis auf unsere Zeit, nebst
der Beschreibung der Türkei, Griechenlands
und der benachbarten Inseln enthalten sollte,
würde nachfolgen, sobald seine fürstlichen Gön-
ner ihm Müsse verschaffen würden zu den Nach-
forschungen, die ein so grosses Werk verlangte.
Dann würde er das feierliche Gelübde erfüllen,
welches er auf dem Hochaltar der Peterskirche
zu Rom abgelegt hatte; denn sein Buch sollte
ein Führer und Tröster werden für die, welche
sich waffnen würden zum allgemeinen Kreuz-
zuge, sobald sich die Fürsten mit dem heiligen
Stuhle in Eintracht vereinen würden, um die
— 246 —
Türken aus Asien, ihrem trojanischen Erbteil,
zu vertreiben. ,Und das lasse uns Gott noch
zu unseren Lebzeiten schauen.'
Die lUustrations de Grece et de Turquie»
der Abschluss des ganzen Werkes sahen die
Vollendung nicht, es blieb bei dem Vorhaben.
Noch ein Anderes kam nicht zur Ausführung»
die Geschichte der Besiedelung Albions durch
Brutus, die Lemaire gern in einer besonderen
Schrift behandelt hätte'.
"Wie wir sahen, war Lemaire im Herbst 1512
nach der Bretagne geschickt worden, um Mate-
rialien zu einer Chronik der Landesfürsten zu
sammeln. Im Dezember vollendete er dort das
dritte Buch der lUustrations. Im Anfang des
folgenden Jahres scheint er nach Blois oder Tours
zurückgekehrt zu sein 2, dort überwachte er den
Druck seiner Schrift. Dem Bande gab er noch
einige kleinere Werke bei, von denen nur eines
neu war: die Grabschrift des am 11. April 1512
bei Ravenna gefallenen dreiundzwanzigjährigen
Gaston de Foix, aus dem Lateinischen übersetzt
,et rendu le Frangois correspondant au nombre
des syllabes du Latin' d. h. die Hexameter durch
Alexandriner wiedergegeben s. Ausserdem fügte
» Cf. lUustrations III. Oeuvres II, 296.
2 Im Briefe an Fr. Le Rouge, der den 1513 erschienenen Band
beschliesst, spricht er von Ockeghera, der in Tours lebte, als
von seinem Nachbar.
3 Oeuvres III, 1%. Es sind 20 Alexandriner mit gepaarten
Reimen. Die Beigaben sind: Epistre du roN- ä Hector, la Vali-
tude de la royne, Epitaphe de G. de Foix, la Concorde des deux
— 247 —
er ein Gedicht von Crctin hinzu: La plainte
du tyespas defeu mcssireGuillaume de Bisstpat.
Dasselbe sollte zeigen, wie die französische
Sprache durch die Schriften des königlichen
Kaplans bereichert wird, ebenso wie die Musik
veredelt werde durch den Schatzmeister der
Martinskirche zu Tours, Ockeghem, ,meinen
Nachbar und von unserer selben Nazion'. So
schreibt Lemaire an Meister Fran(;ois Le Rouge,
vortragenden Rat und Requetenmeister der
Königin, auf dessen Einfluss er ziihltc zur Erfül-
seines Wunsches, mit der Beschreibung und
Verherrlichung der Bretagne betraut zu werden:
denn er brenne vor Begier, die alten und neuen
Wunder dieses Landes, die Andere noch nicht
erwähnt, zu schildern, um seines Amtes gehörig
und nach Gebühr zu walten '.
Lemaire wusste nicht, dass ein Kind des
Landes bereits dieses Werk in Angriff genommen
hatte, und sich anschickte, es in kurzem der
Königin vorzulegen^. Der Tod sollte aber Beiden
einen Strich durch die Rechnung machen. Am
^l Januar 1514 starb Anna von Bretagne in ihrem
siebenunddreisigsten Lebensjahre.
langaiges, la Plainte de Bissipat von Cretin mit dem Brief an
Fr. Le Rouge.
' Oeuvres III, 197. Der Brief trägt kein Datum, und bietet
sonst keinen Anhalt, als dass er eben am Schluss des 3. Buches
nebst Beigaben steht.
- Alain Bouchard bereitete schon längst seine Grandes
chroniques de Bretaigne vor, sie erschienen in Paris 1514, neu-
gedruckt von der Soci6l6 des Antiquaircs de Bretagne. Schon
seit 14% arbeitete der Dekan Pierre Lebaud von Laval an
— 248 —
Der königliche Historiograph machte noch
einen schwachen Versuch, die Gunst der Toch-
ter, der jungen Erbin der Bretagne und als
Braut des vermutlichen Thronfolgers auch zu-
künftigen Königin von Frankreich, zu gewinnen ;
indem er ihr seine Abhandlung über die Toten-
feier bei den Alten und Neueren widmete'. Im
Virelay double, den er der Abschrift als Anru-
fung vorsetzte, klagt er Gott sein Unglück:
Quant ü te piaist, o hault Altitonant,
Qu' eil tont labeur, jadis et maintenant,
Aye prins paine en nion sens peu fourny,
Te plaise aussi de ton bien infiny
Me tendre ung peu de faveur soustenant,
Quand il t'a pleu, o haut Altitonant.
Tu sces et vois que papier je ne dore
Ny embellis de riens dont an puist rire,
Ains Sans cesser ay matiere d'escripre
Les faicts dolents de tnort qui tont devore,
Quant il te plait, o haut Altinonant.
Du hon Bourbon le trespas survenant
Me fit plourer, et puls tout d'un tenant
J'ay deploj'ö la perte de Ligny,
Savoye apres, et Castille plaigny,
einer Geschichte der Bretagne im Auftrage Annas. Sie wurde
erst 1638 gedruckt.
1 Vielleicht dichtete er jetzt das früher erwähnte Rondeau"
Fleur /lourissant. Es ist niimlich affallend, dass in demselben
die Mutter, Königin Anna, nicht erwähnt wird. Es dürfte vielleicht
zur Vermähluug des jungen Paares geschrieben worden sein.
- 249 -
Vecy la suite et le pis avenant,
Quand il te plait, o haut AUitonant.
S'il faut totisjours qu'en la fin je deplore
Prince oti princesse, en qiioy faisant souspirc,
II m'en desplait. Mais si de ton enipire
Gracc je n\iy, je la qtiicrs et implore,
Quant il te plait ^.
Aus der Vorrede erfahren wir, dass Lemaire
der Beisetzungsfeier für die verstorbene Köni-
gin beigewohnt und, wie seiner Zeit bei der
Totenfeier Philipps von KastiHcn, einen Bericht
über dieselbe aufgesetzt hatte 2.
Die Abschrift der Abhandlung blieb unvol-
lendet, sei es dass die öffentlichen Ereignisse
den Verfasser von seinem Vorhaben ablenkten,
sei es dass er persönlich durch irgend welchen
Unglücksfall betroffen wurde, der ihn im Beginn
der Vierziger vom Schauplatze abberief*. Ludwig
der XII. war kurz verwittwet, als der Plan der
englischen Heirat auftauchte, die am 13. August
des Jahres (1514) vollzogen wurde. Am 11. Oktober
wurde die junge Königin von ihrem Gemahl
feierlich empfangen. Ihre Herrlichkeit dauerte
' Oeuvres IV, 269. Das Doppelvirelay besteht aus zweimal
zwei Abschnitten von vier Versen mit umschlungenem Reim,
mit einem drcim.il wiederholten Refrain : AabbaA.cddcA ; der
Vers ist zehnsilbij?.
'^ Oeuvres IV, 271. Den offiziellen Bericht verfasste der
AVappenherold Bretagne.
" Möglicherweise war die erhaltene Abschrift nur der
Kntwurf für eine definitive Reinschrift, sie ist sehr fehlerhaft.
250
aber kein Vierteljahr; am 1. Januar 1515 ver-
schied Ludwig der XII. und hinterliess das Reich
seinem Schwiegersohn, Franz dem I. Was that
Lemaire bei dem raschen Wechsel der Dinge?
Es bleibt keine Spur, dass er nach dem Verlust
seiner Beschützerin Anna von Bretagne in den
Dienst ihrer Tochter, sei es jetzt, sei es nach
ihrer Thronbesteigung, oder, was die kurze Dauer
ihrer Herrschaft vielleicht vereitelte, in den der
Königin Maria getreten wäre; bis zu den späte-
sten Ausgaben blieb er den Buchdruckern der
Historiograph der Königin Anna. Auch als
Schriftsteller verschwindet Lemaire vollständig ;
von all den versprochenen Werken ist keines
erschienen, selbst das heilig gelobte Buch von
den Türken und von Griechenland blieb aus.
Nicht etwa dass die Gunst der Leser sich von ihm
abgewendet hätte ; denn fast Jahr für Jahr werden
seine früheren Schriften frisch aufgelegt, etwa
noch unbekannte werden an das Licht gefördert.
Aber Neues fliesst Nichts mehr aus seiner Feder.
Was liess den sonst unermüdlichen Schriftsteller
plötzlich verstummen, ihn, der früher kein Jahr
verstreichen liess , ohne ein neues Werk zu
schreiben und alsbald seinen Gönaern oder der
Oeffentlichkeit zu übergeben?
In jedem anderen Falle würde man annehmen,
dass der Verschollene den Weg des Fleisches
gegangen ist; denn dass Niemand sich finde,
seinen Tod zu verzeichnen und die Stunde des-
2öl
selben der Nachwelt mitzuteilen, das ist damals
noch eine durchaus gewöhnliche Erscheinung.
Wer weiss, wann Alain Chartier, Jean Marot,
Cretin, Gringore, Symphorien Champier, wann
zahllose andere Männer, die jahrelang eine öffent-
liche Rolle gespielt haben, gestorben sind? Mit
Lemaire stirbt eine Dichterschule aus, ihre
Reihen sind längst gelichtet, und die neue Schule,
die Lemaire vorbereitet hat, die ist geblendet
durch den Glanz der neuen Zeit; eine mit weit-
greifenden Plänen eröffnete Herrscherlautbahn
fesselt die allgemeine Aufmerksamkeit.
Allerdings stand Lemaire im rüstigsten Man-
nesalter, aber früher oder später fällt das Loos,
das uns zu ewiger Verbannung auf den Kahn
setzt. Wie vielen Zufällen ist des Menschen
gebrechliches Dasein ausgesetzt! Ein Schleier,
der nicht zu lüften ist, liegt auf Lemaires Lebens-
ende; mit einem Male mitten in der eifrigsten
Schöpfungszeit tritt er von dem Schauplatze ab,
um nicht wieder aufzutauchen'.
Nur ein Schriftsteller hat über Lemaires
Ende genauere Angaben gemacht, die, wenn sie
wahr wären y ein trauriges Licht auf unseren
1 Wie leicht konnte Lemaire ein {Ihnlicher Unfall treffen,
wie am Tage, wo er sich den Arm in den Steingruben brach.
Nehmen wir z. B. an, Familienangelegenheiten hüiten ihn nach
Valenciennes gerufen, wo eben die Pest Tag fUr Tag 24 Tote
in jeder Pfarrei unter die Erde legte und in dem einen lahr
151415 über 6000 Menschenleben gefordert hat. Wer hätte je
davon etwas erfahren, wenn Lemaire ein Opfer der Seuche
wurde ?
— 252 —
Dichter werfen würden: es ist Pierre de Saint-
Julien in seinem Buch vom Ursprung der Bur-
gunder. Bei einem Ausfall gegen die, welche
sich auf die Seite Satans, ihres Lehrmeisters,
stellen, um gegen die Kirche zu bellen, obwohl
sie sie so wenig beissen können wie die Hunde
den Mond --, lährt er fort: „Ich weiss wohl,
dass Jean le Maire de Beiges, ein Mann von
grosser Belesenheit und sehr emsigem Fleisse,
letztere Ansicht vertreten hat in seiner Abhand-
lung über die Kirchenspaltungen und Kirchen-
versammlungen. Aber wie es gewiss ist, dass
alle gelehrten und unzufriedenen Männer, wenn
sie arm gewesen sind, ihre Vergeltung nur mit
der Feder und auf dem Papier, das Alles duldet,
ausüben konnten, so ist es gefährlich, solchen
Leuten Glauben zu schenken. Und es sind zu
augenscheinliche Gründe — ja solche, die bei-
nahe ein Jeder kennt — , aus dem das Zeugniss
Piatinas, Laurentius Vallas, Jean le Maires usw.
nicht angenommen werden darf, wenn es sich
um die Päpste und überhaupt um den geistlichen
Stand der römischen Kirche handelt. Da ja ausser-
dem (was den benannten Jean le Maire betrifft)
alle die, welche ihn persönlich gekannt haben,
wissen, dass zur Gebrechlichkeit seines Gehirns
der Wein so viel hinzuthat, dass er schliesslich
geistesgestört und wahnsinnig in einem Spital
gestorben ist. Und wenn er und Agrippa Freunde
gewesen sind, so hat die Gleichheit der Stellung
— 253 —
diese Freundschaft unter ihnen erzeugt, und das
Ende des Einen wie des Andern hat enthüllt,
dass ihr Wissen sehr schlecht untergebracht
war'."
Was soll man zu diesem wilden Ausfall
eines verbissenen Polemikers und ultramontanen
Ligisten sagen ? Einen Augenblick hat vielleicht
Lemaire, als gereifter Mann, Cornelius Agrippa
bei seinen glänzenden Anfängen gesehen, ist
aber seither nicht wieder mit ihm zusammen-
getroffen. Dass Agrippa sich gern mit den
phantastischen Seiten menschlichen Wissens
abgegeben , und dass er in einem Kranken-
hause gestorben , ist wahr ; doch irrsinnig
und wahnwitzig war er nicht. Lemaire war
wohl nie mit Glücksgütern gesegnet , er
hat aber stets freundliche Aufnahme und eine
freiere Stellung an den Höfen seiner fürstlichen
Gönner gefunden. Dass er aus Missvergnügen
und Bettlerneid seine Angriffe gegen das welt-
liche Papsttum geschleudert hätte, das ist reine
Verleumdung. Wer ist aber Saint-Julien , dass
wir ihm Glauben schenken und auf seine hin-
geworfene Aussage hin das Bild, das wir uns
nach zahlreichen Dokumenten, nach Zeugnissen
der Zeitgenossen, nach den Schriften des Dichters
' Pierre de Saint-Julien, de rOriginc des Bourgougnons 'J 1.
Paris 1581 p. 389. Durch Paquot wurde diese Stelle ausge-
graben und wird seitdem als die einzige authentische Notiz
ilber Lemaires Ende und Charakter angeführt.
- 254 —
von ihm machen können, gerade in das Gegen-
teil verwandeln sollten? Ich bezweifle überhaupt,
dass der Archidiakonus von Chälons den könig-
lichen Historiographen je gesehen hat. Im Tahre
1581 war es ein leichtes, sich auf Alle zu berufen,
die einen im ersten Viertel des Jahrhunderts
gestorbenen Menschen persönlich gekannt
haben. Mag wer will diesen Ausbruch der Lei-
denschaft der Beachtung würdigen, ich vermisse
an Pierre de Saint-Julien die Eigenschaften, die
man von einem geschichtlich glaubwürdigen
Zeugen verlangen kann und soll, und lehne sein
Zeugniss ab. Und sollte auch Lemaire das
Unglück betroffen haben, dass ihn am Lebens-
abende vorzeitig Geistesnacht befing, was ich
nicht glaube, so ist jedenfalls jene böswillige
Verdächtigung seiner Lebensführung unbedingt
abzuweisen. Läge dieser Schatten auf seinen
letzten Tagen, so würden die, welche ihn sicher
gekannt haben, wohl eine etwas getrübte Erin-
nerung an ihn behalten haben, und Clement
Marot hörte nicht mit gleicher Rührung seinen
seligen Vater auf den Himmel verweisen, wo
die verstorbenen Dichter wallen, und unter ihnen
Ton Jean Lemaire entre eux haut colloqui.
XVIII.
Lemaire war ein fruchtbarer Dichter, hat
sich aber selten beeilt, seine Schöpfungen durch
den Druck zu veröffentlichen, einige blieben
— 2rx^) —
un<:jedruckt in den Händen seiner Freunde und
wurden erst nach Jahren herausgegeben; Anderes
mag verloren gegangen sein'. Im Jahre 1525
hatte der Buchhändler Galliot du Prd das Glück
ein Ineditum auflindig zu machen und an die
Spitze einer Auslese seltener Werke der ver-
storbenen Meister setzen zu können. Neben
Chastellain, Molinet und Crestin ist Lemaire in
diesem Sammclbande durch die drei Märchen
von Ciipido loid Atropos vertreten 2.
Das erste Märchen soll Erfindung des Dich-
ters Serafino dell'Aquila sein 3.
Seigneurs, oyes un bien nouvean propos
De Cupido le Dieu des arnourettes
Et de 1(1 Mort qii'ou appelle Atropos.
Auf seinem Fluge stösst Amor mit Mors
zusammen und findet ihre Rippen etwas hart:
„Törichte, blinde Alte, ruft er aus, ich kann Dich
nicht sehen mit meinen verbundenen Augen und
bin gehörig angerannt." — „Schöner Herrgott,
verzeiht, ich habe es eilig und Ihr haltet mich
' Thibaut glaubte eine Reihe von Gedichten Lemaires aus
den Tagen von Blois wieder gefunden zu haben in der Hs. 1721
der Nazionalbiblioihek ; er Hess sich zu dem Schlüsse bewegen
dadurch, dass die Handschrift in der That zwei Stücke von
ihm enthüll : Plume infellce, und Fleur fleurissant. Es spricht
aber Alles gegen diese Zueignung. Siecher hat einige davon
abgedruckt. Oeuvres IV, 339— "0.
■■' Les trois contes de Cupido et d'Atropos, Oeuvres
III, 39 sqq.
=• Es ist eine freie Nachbildung des 42. Sonnets der Opere
dello elegantissimo poeta Seraphino Aquilano (Vcnezia 1538).
Ich gebe es als Anhang VI wieder.
- 256 -
auf." — „Nette Eile, schöne Frau, wir wollen
lieber eins trinken: man braucht doch nicht
immer Schlimmes zu thun." — „Du thust noch
Schlimmeres als ich; Du lässt die Leute ver-
schmachten und nimmst ihnen Sinn und Ver-
stand." — „Und Du bettest sie mit grossem
Schmerz unter die Erde, während ich ihnen
freudiges Sehnen und Verlangen einhauche.
Jedermann verehrt mich, ich bin ein siegreicher
Gott, Dich aber flieht ein Jeder wie den Teufel,
frostig bist Du, ich aber erwärme." — „Du bist
ein vornehmer und angesehener Herr, erwiedert
Atropos; wir wollen uns vertragen und zu
Tische setzen." — „Unrecht hätte, wer nicht
zustimmte, sagt Cupido, ich bin wirklich durstig,
so viel habe ich mit meinem schönen und starken
Bogen geschossen." — „Und ich erst bei meiner
Birsch auf die Menschen^ die ich Tag und Nacht
rastlos betreibe." Mit diesen Worten treten sie
in die Schenke, ohne ihre unschuldigen Hände
zu waschen. Der Tod trinkt wie eine Zisterne,
Amor steht nicht zurück.
Atropos pleige et Cupido s'enyvre.
Der Wirt wäre die hochmütigen Gäste bald gern
losgewesen. In einem schönen Zustande ver-
lassen Beide die Kneipe.
Tons empennes, ainsi que volle une oye,
Ils s'en vont hors puis d'un les, puls de l'autre,
Sans dire adieu, saus tcnir bovine voye.
- 257 -
Atropos hat sich beim Weggehn Cupidos Bogen
an<fecignet, Cupido in der Trunkenheit den
ihren genommen. So kommen sie mitten in ein
grosses Menschengedränge und fangen an zu
schiessen. Bei jedem Pfeil, den Amor abschickt,
fällt ein kraftvoller Jüngling zu Tode getroffen,
während Atropos' Geschosse gebrechliche Greise
in Liebe entflammen. So wird die Welt durch
zwei Bösewichte regiert, die uns um die Wette
verderben: Tod und Liebe, beide blind, beide
Trunkenbolde, beide gleich übermütig und falsch.
Mort ne void goittc, et Ciipido est lotiche:
L'im nie nienasse, ä moy Vaiitre ne conte :
L'iin niet cn terre, et l'autre niet en coitche.
Ainsi, seignettrs, ay achevd tnon conte^.
Dieser launigen Erzählung hat Lemaire eine
Fortsetzung gegeben: Vor nicht langer Zeit
wurde mir erzählt, wie Amor den Bogen des
Todes genommen und damit schönes Unheil
angerichtet hatte. In dem bedenklichen Zustand,
in dem er sich befand, kehrte der Gott zum
Schlosse seiner Mutter zurück; er fand Venus
mit ihren Nymphen beim Mittagsschlafe :
Elle est deesse, de vien il ne lui chaut.
St dormoit lors dtdens un poeslc chaut,
' Das erste Märchen besteht aus 33 Terzinen nebst Schluss-
vcrs. das sind zusammen 100 zehnsilbige Verse. — Die ganze
Kntwickelung der Erzählung und der Schlussgedanke weichen
beträchtlich von Seratinos geistreichem Sonnett ab, in dieser
Fassung sind sie durchaus Lemaires Eigentum.
Becker, Jean Lemaire. 17
— 258 —
Sur tili niol lit de pluinettes deslies,
Bien tapissd de verdures jolies.
Tom alentour sont ses Nymphes et Graces
Nues dormans, bien ref altes et grasses.
Bon les fait voir ainsi taut rondelettes,
Ell soiispirant branler leiirs rnaminelettes.
Le poesle estoü bien garni de verrines
Claires luisans, vermeüles, sapphirines,
Sonef flairant comme un beaii paradis,
Plein d'oiselets joyeiix et esbaudis,
Qtii lä dedens un plaisant brnit menoient
Et le pourpris en dednit inaintenoicnt.
Alles schlief also, nur Voluptas, Amors Tochter,
spielte draussen mit nackten Kindern und ergötzte
sich an einem Male voller Freude und Liebes-
gekose. Zur Erfrischung trank Cupido beim Ein-
tritt drei Schluck süssen Weines, Volupte ergriff
eine Harfe und stimmte ein Lied an, um ihren
Vater zu bewillkommnen, der auf dem Schosse
der Mutter einschläft, und schnarcht und bläst
und den Bogen auf ein Kissen sinken lässt. Auf
das Kissen setzt sich Voluptd aus Unachtsam-
keit und verletzt sich an dem todbringenden
Pfeile. Auf ihren Schmerzesschrei wacht Venus
auf, sieht ihre Enkelin erblassen, fasst sie in die
Arme, fühlt wie sie erstarrt; sie sieht das Blut
auf ihrer sonst so weissen Hüfte, sie will es
abwischen, fällt aber selbst in Ohnmacht. Die
Grazien und Nymphen eilen und mit Balsam
— 259 —
und Nektar und Ambrosia haben sie bald Beide
zur ßesinnuno und zum Leben zurückgerufen.
'Wer hatte Dich denn so verwundet?' fragt Venus
ihren Liebling-, und wie sie ihr den Bogen weist,
erkennt sie die Wafle des Todes. Sie lUsst Bogen
und Pfeil durch ihre Nymphen sorgsam ein-
gewickelt vor das Schloss hinaus in den Graben
werfen. Das Bett, auf dem Amor, vom Weine
blass, liegt, wird sachte ergriffen und in den
Vorhof getragen, und Alle schwören, der Misse-
thätcr solle nicht mehr in das Schloss eingelassen
werden , bevor er seinen Bogen zurückhätte.
Während das geschah, erhob sich draussen ein
Getöse von Leuten, die der Tod in Schwärmen
vor sich hertrieb. \'enus schaut zum Fenster
hinaus und lässt durch die Thorwächter die
Thore schliessen und Brücken aut2iehen. Ihr
Gefolge, das wähnt, es seien ihre Liebhaber die
kommen, schmückt sich und bereitet sich auf die
Künste vor, mit denen die Schönen ihre Ver-
ehrer in Schmerzen hinhalten, so lange es ihnen
beliebt, bevor sie sich ergeben. Sie erblassen
aber und es sinkt ihnen das Herz, wie sie den
Tod erblicken, an den sie nimmer dachten, und
in den Schaaren, die er vor sich hertrieb, alte
bresthafte Greise erkennen , von denen jeder
einen toten Jüngling herschleppt. Die Leichen
lässt Atropos auf einen Haufen werfen, wie man
Schweine aufschichten würde, und peitscht die
unglücklichen Greise mit dem Bogen der Liebe,
- 260 -
dassCupido, vom erschütternden Geheul auf-
geweckt, ganz betäubt aufsteht und sich, vor
Angst und Kälte zitternd, vergebens nach seiner
Waffe umsieht Von einer Galerie redet Venus
ihren Sohn an: ,Wirst Du denn immer trunken
sein? wo hast Du Deinen herrlichen Bogen,
wolltest Du uns alle mit dem des Todes um-
bringen ? Sieh nur, wer Dich draussen erwartet.'
Da' erkennt Cupido seine Schuld, und bittet um
Verzeihung, und verspricht, seinen Bogen von
Atropos zurückzubekommen , wenn man ihm
nur den der Alten weist. ,Wenn Du ihr ihn
zurückgeben willst, so kannst Du ihn im Graben
auffischen', erwiedert Venus , ,draussen steht
Atropos und handhabt Deinen Bogen; geh nur
hin, wo Du hergekommen bist (va t'en soupper
lä ou tu as disne)'. Unterdessen spottete Atropos
draussen: ,Ha, Venus, Göttin, freue Dich der
Thaten Deines Sohnes, sieh, wie viel blühende
Jugend er hingeschlachtet hat. Oefifnet mir den
Platz; denn wer sich nicht ergibt, den werde
ich durch Cupido töten lassen, der meinen Bogen
sehr gut zu führen weiss. Antwortet, oder ich
werde euch alle liebesschmachtend machen, wie
die Schaar, die ich führe.' Bestürzung ergriff
Alles bei diesen Worten ; Cupido aber stieg auf
einen Thurm und mit Schmähreden drohte er
Atropos, er würde sie mit ihren eigenen Pfeilen
von der Schiess scharte aus töten, wenn sie ihm
seinen Bogen nicht zurückgäbe. ,Ha, junger
Trunkenbold, erwiederte die Unerbittliche, mich
- 261 —
töten? Ich kann ja nicht sterben, und werde
auch nach Dir ewig bestehen. Aber ich will
nicht nur den Bogen, sondern auch den Namen
mit Dir tauschen; Du sollst Tod und ich die
Liebe heissen, jeder soll Dich fluchen und hassen
und die Menschen sollen lieber in meine als in
Deine Hände fallen. Das soll Dich lehren mit
mir um die Wette zu trinken.'
Unterdessen, fährt der Dichter fort, brach
die Nacht herein, und ich weiss nicht, was aus
Cupido und Atropos geworden ist, aber seit-
dem habe ich mir erzählen lassen, dass von
dem Bogen und dem Pfeil, die man in den
Graben geworfen hatte, das Wasser so ver-
pestet wurde, dass Venus und ihre Frauen zur
Abhülfe zahllose Blumen aus dem Garten der
Liebe und Honig hineinwarl'en, bis das Wasser
wieder klar floss und süss schmeckte, was
für manche Menschen eine arge Verlockung
Avar; denn das Gift hatte seine Wirkung nicht
verloren.
Aiiis quaiiä cc vint que la largc vallec
De ce beati monde etit reprins ßoriture,
Plusieurs inondains d'une et d'autre nalnrc
Pur Ics vcrds pres jouer ensouble alloieiit,
Et Ics douxfniits de letirs atnoiirs ciicilloient,
Ell escoutant des oiseaux le doux chant:
Et poitr aller Icur grand soif estanchatit ,
Bcuvoioit lors la liquciir argcntiiic,
Pleine de mort et poison Serpentine,
— 262 —
Qui decouroit des fossez veneriques,
Et arrosoit les herbettes bien frisques,
Ayant sa course en plaine de luxure,
Qui semble douce, et piiis ainere et sure.
Tantfort plaisoit aiix hornmes et auxfermnes,
Mesmes aiix bons. dont ils sont plus infames,
Ce tres doux boire et ce joyeiix bvnvage,
Qne maint beau jour ne fivent autre ouvrage.
Allein, als schliesslich das Gift reif wurde, da
brach die scheussliche Pest aus, die wie keine je
die menschliche Natur in ihrem schönen Aeussern
entstellte, und den Betroffenen mit ihrem schlei-
chenden Gift unausstehliche Marter bereitete,
gegen die es keine Abhülfe gibt als schreien,
stöhnen und klagen, weinen und seufzen und
den Tod sich zu wünschen. Und kein noch so
berühmter Arzt hat der Seuche einen zukom-
menden Namen geben können, jedes Volk nennt
sie anders. Man weiss auch nicht, welchen Hei-
ligen man anrufen soll; wenige sind geheilt
worden, viele gestorben. Ja, da hat man Manche
den Tod anrufen sehen, und ihn aus Verlangen
ihre Liebe nennen hören, während der Name
Amors und seiner Mutter Venus geschmäht
und verwünscht wird. Da hat die Furcht Man-
chen zur Tugend zurückgeführt. Die Keuschheit,
die beinahe verschwunden war, ist plötzlich
Avieder erstanden; denn wenn einer aus Liebe
zur Tugend sich vor der Sünde nicht bewahrt,
— 263 —
wird er schliesslich durch die Strafe zurück-
-;i:cschrcckt.
5/ vaiit il inieiix tousjours tard qiic jainais.
Ol' ay je dit, si mc tat's desormais^.
In diesen beiden Gedichten, derenEntstehungs-
zeit nicht mehr festzustellen ist, zeigt sich Le-
maire noch einmal in der vollen Kraft seines
dichterischen Schaffens und Könnens. Im ersten
zeigt sich die eine Seite seines Talents, seine
humorvolle Weise mit der schlagenden Wechsel-
rede, den gutmütig scherzhaften Vergleichen,
den gedrängten Gegensätzen und lebhaften
Skizzen. Im zweiten entfaltet sich seine vollere
Ader: hier finden wir die liebevoll ausgemalten
Bilder, die anmutig breite Erzählung, die Fülle
des eingehauchten Lebens, die sinnfällige, durch
Lebenswahrheit der kleinsten Züge packende
Darstellung mit der tieferen poetischen Weihe,
welche aus allen Worten atmet : und zum Schluss
mit einer überraschenden Wendung die alle-
gorische Auslegung mit dem schmerzvollen Blick
auf das unheimliche Leid und Weh, das die
herrliche Gotteswelt zu einem Thale des Jammers
macht, und dem entsagungsvoll trostsuchenden
Schlussgedanken.
Hiermit nehmen wir Abschied von unserem
Dichter ; denn das dritte Märchen ist leider
' Das zweite M.'lrchen enthalt 401.' Zehnsilber mit
J:rcpaartem Reime.
264
nicht mehr von Lemaire, oder besser, zum Glück
für ihn, blos untergeschoben. Wir wissen nicht, in
wessen Händen die Abschrift der Märchen von
Cupido und Atropos geblieben war, augen-
scheinlich war eine im Besitz eines der Dichter
des französischen Hofkreises, wie mir scheinen
will, eines in Tours ansässigen Rechtsgelehrten.
Dem schien das Werk unvollendet zu sein; in
der That erfahren wir nicht, ob und wie Amor
seinen Bogen zurückerlangte. Diese Lücke suchte
der unbekannte Dichter in Anlehnung an Lemaire
und mit ziemlicher Nachbildung seines Stils
auszufüllen:
Kummervoll und unwillig begibt sich Venus
zu Jupiter und klagt ihm als dem obersten der
Götter und ihrem Vater ihr Leid und fleht um
Abhülfe. Jupiter, dem der Zwist unter den Un-
sterblichen verhasst ist, lässt durch Merkur die
hadernden Parteien auf den 1. September 1520
nach Tours zur gerichtlichen Verhandlung laden.
Zur anberaumten Frist erscheinen als Rechts-
vertreter für Venus Voluptas, Megära für Atropos.
Rede und Gegenrede fruchten Nichts, der Zank
wird immer ärger ; da sendet Jupiter abermals
seinen Boten mit zwei neuen Bogen, welche die
gleiche Kraft haben wie die vertauschten ; dafür
soll aber Amor gewarnt sein und sich denselben
nicht wieder entwenden lassen, Atropos ihrer-
seits das Recht behalten, Greise zu Liebe zu
entzünden, nur sollten diese nicht auf Amors
— 265 -
Gunst bei den Frauen rechnen dürfen, sondern
höchstens auf ihreReichtümer bauen. DasUng^lück
mit dem in den Graben geworfenen Bogen sei
einmal geschehen und nicht mehr abzustellen:
C'cst dit commun, il faut que Teaue ait cours.
Der Schaden der Betroffenen soll Andern zur
Warnung dienen. — Den Lauf dieser Verhand-
lung will der Dichter von Hebe erfahren haben,
die bei ihm ihr Absteigequartier genommen hatte.
Was mich veranlasst, in dem dritten Märchen
(.'in untergeschobenes Gedicht und nicht Lemaires
Werk zu erblicken, ist vorerst der auffallende
Unterschied des Stils und der Darstellungsweise.
Schon die Fortsetzung an sich ist durchaus
müssig. Nicht ohne Grund hatte Lemaire das
zweite Märchen mit den Worten geschlossen :
Ich habe gesagt und schweige fürderhin. —
Dichterisch war seine Aufgabe erfüllt, und wahr-
lich es ist nicht seine Art und Weise, einen
Gedanken weiterzuspinnen, ohne ihm eine neue
Wendung zu geben. Erfindung und Handlung
sind die charakteristischen Merkmale seines
Dichtergenius; in grossen Schritten eilt seine
Erzählung vorwärts und bei jedem Schritte
eröffnen sich ihm weitausschauende Femsichten,
nirgends in seinen Werken ist Stillstand und
müssiges Hin- und Hergerede um einen toten
Punkt. Das Ergebniss, zu dem aber sein Fort-
setzer nach vielen Anstrengungen gelangt, ist
wirklich ärmlich : so viel vergeudete Worte, um
— 265 —
schliesslich seine Verlegenheit zu bekennen.
Und erst die Tiefe des in die Allegorie gehüllten
Erfahrungssatzes ! — Wir haben stets hervor-
gehoben, dass Lemaires Schilderung und Rede
durchaus drastisch, auf das sinnfällige, anschau-
liche gerichtet ist; das Werk des Fortsetzers
ist abstrakte Poesie, ein Redeturnier, kein Leben
mit Fleisch und Blut. Ueberall bekundet sich
der Rechtsbeflissene von Fach, der die Verhand-
lung über die Bogen in die Form eines gewöhn-
lichen Zivilprozesses zu kleiden bestrebt ist und
dabei in einer Weise mit Fachausdrücken um-
geht, für die sich Lemaire hätte Zwang anthun
müssen. Selbst in Reden wie das Wechselgespräch
der Malerei und Rhetorik oder die Predigt des
Erzpriesters Genius, selbst bei Schilderungen
technischer V^orgänge mit Anwendung des hand-
werksmässigen Ausdrucks folgt Lemaire frei
der Eingebung der Einbildungskraft; er gehorcht
einem inneren Schwung; während sein Nach-
ahmer die Reden disponiert, Punkt für Punkt
argumentiert und widerlegt und alle Beweise
mit Sorgfalt abwägt. Der Sprache vermag er
dabei auch nimmermehr den Glanz zu verleihen,
den sie bei Lemaire immer spontan erhält. Er ist
verlegen und verwickelt sich in langen Perioden,
er benutzt gern stereot3'pe Redewendungen und
schöpft auch aus den früheren Märchen, während
sich Lemaire nie wiederholt. In der Fülle des
Reimes übertrifft der Nachdichter freilich sein
— 267 —
Vorbild; der Reim fliesst ihm aber nicht von
selbst in die Feder; er findet sich nur ffe/wungen
ein und hie und da mit starker Versündi^^un<x an
Gedanken und Sprache'. Auch im Einzelnen
weicht das dritte Märchen auffallend von Lemaires
sonstiger Vorstellungsweise ab. Wir haben schon
hervorgehoben, dass der Unbekannte ein Rechts-
gelehrter zu sein scheint; durch Hebe lässt er
sich folgendermassen anreden:
or si tu ii'es aböd
Ou gratid prclat ayiuit la teste rase,
Je logeray aujourdhiiy en tu rase.
Würde Lemaire, der Kanonikus, sich auf diese
Weise zum geistlichen Stande in Gegensatz
stellen? Endlich aber — und das wird wohl der
schwerwiegendste Einwand sein — der Verfasser
des dritten Märchens macht sich im Schlussverse
selber kenntlich durch seine Devise:
Cay atitrement qui blasiner ni'eu von droit
Je inonstrerois avoir c<pur ä boii «hoil.
Es ist bekannt, welche Bedeutung die Devise
im 16. Jahrhundert hatte ; für den eingeweihten
» Vgl. /.. B.
Qu' il feit csc/iaiifie •ymit viii d»' trop pots
De soll hei arc ä reliiy ci'Atrof>os.
Weiter nennt er Venus grand tantc seiner nicce Volupt^ zum
Reim auf patente. Patent, triomphant , prell x , das sind so
LiebiingsausdrUcke des Continuators. Man könnte mit Recht
auch auf die syntaktische Behandlung des Verses aufmerksam
machen, der F"ortsetzer Lemaires bindet sich gern an die paar-
wcis abfolgendcn Zehnsilberpaare.
- 268 -
Leser war es so viel wie die Namensunterschrift
des Verfassers. Wer war aber der Unbekannte
der Cceur ä bon droit zum Wahlspruch genommen
hatte? In einer Pariser Handschrift steht ein
Klagelied auf Johanna von Orleans, lante des
Königs^ Herzogin von Valois und Gräfin von
Taillebourg, das zweimal mit derselben Devise
gezeichnet ist. Wir ersehen aus dem Gedicht,
das am 6. November 1520 geschrieben wurde, dass
der Verfasser noch jung war und an demselben
Tage seine Mutter verloren hat'. Es scheint,
dass er eben in diesem Jahre 1520 sein Glück
als Dichter versuchte. Ob es ihm gelang, wissen
wir nicht ; jedenfalls ist sein Märchen im Anhang
an Lemaire gut durch die Welt gekommen 2.
■ Bibl. nat. ms. fr. 1721. f° 107. Louangcs et epitaphes etc..
Fin des louanges et epitaphes sur le trespas de . . . Madame
Jehanne d'Orleans, tante du Roy duchesse de Valois et coniesse
de Taillebourg faict par moy ce VI*^ de novembre 1520.
Cuetir a bon droit.
fO 109 v^ Soycs moy doiic ctt cc cas sccourablcs
Je votts supply oratcitrs et poetes . .
Et admcndes Ics a-uvres iviparfaites
De eil qiii a totisioiirs Ciicur a bon droit,
i'^ 107. Jeuncssc fait mon sens cqiiivoquer.
Vgl. fo 108 v-o
Tu as sotivcnt — In verite est teile —
Executd sentence criminelle
Par pcnitence adittgcr en temps den.
'^ J. Stecher, Oeuvres IV, 339 Anm., hat zuerst den
auffallenden Schluss des dritten Märchens hervorgehoben,
aber ohne weitere Schlüsse daraus zu ziehen. — Lemaires
Märchen von Cupido und Atropos haben eine weitere Fort-
setzung gefunden in dem Triumphe de iri^s haultc et puissantc
danic Verolle, royne du puy d'Amours, nouvellcment composö
par rinventeur des menus plaisirs honnestes, Lyon lö39
- 269 —
Ist CS nun aber Thatsachc, — und wer sollte
es noch bestreiten? — dass der Verfasser des
dritten Märchens sich selbst dazu bekannt hat»
so ist die irreleitende Bemerkung, dass das erste
von Serafino erfunden und von Lemaire über-
setzt, die beiden folgenden aber Lemaires eigene
Erfindung sind, lediglich dem Buchhändler zur
Last zu legen, der bei ungenügender Aufmerk-
samkeit nicht besser unterrichtet war, oder der
sich aus Berechnung lieber an einen Namen
von so gutem Klang wie den des hennegauer
Historiographen hielt. Für Lemaires Biographie
ergibt sich aber die wichtige Thatsachc, dass
im Jahre 1520, dem durch das Gedicht selbst
angedeuteten Datum der Abfassung, ein mit ihm
befreundeter Dichter sich berechtigt glaubte,
ein Werk von ihm, das er für unvollendet hielt,
fortzusetzen und zu vervollständigen. Dieser
Umstand aber bestätigt unsere Schlüsse aut
das frühe Hinscheiden des begabten Meisters.
(2. Auflage 1540), wieder abjj:cdruckt von A. de Montaiglon in
dem Rccueil de po^sics fran(;oises des XV*-' et XVI*^ siC;cle^i
t. IV. Paris 185(.. p. 214 ff. Das Büchlein enthalt das 2. Milrchen
von Lemaire und das ihm zugeschriebene dritte, letzteres mit
Stichen, darauf folgt der eigentliche Trionfo, d. h. eine Reihe
von Bildern mit erläuternden Sprüchen, mit Ausnahme des
ersten, eines Rondeaus, und letzten, einer Zehnzeile, in Acht-
zeilcn der Form ababbcbc geschrieben, 29 in Achtsilbern, 2 in
Zchnsilbern. Vorausgeschickt ist ein Brief Martin d'Orchesino's
an seinen Vetter Gilles Meleanc, der die Veranlassung und
Entstehung des Schriftchens auseinandersetzt. Dann folgt die
Einleitung des Verfassers, zum Schlüsse ein Nachwort an den
Leser. Der Verfasser ist ein Verehrer Rabelais'. Rouen spielt
eine Hauptrolle und dürfte der Ort sein, wo das Buch entstand.
— 270 —
XIX.
So entrollt sich vor unseren Augen die
Laufbahn eines Dichters, dem kaum mehr als
vierzig Jahre des Lebens und nur zehn Jahre
litterarischer Thätigkeit beschieden waren, und
wahrlich ein reich ausgefülltes Dasein. Von
Lemaires Kindheit, von den bleibenden Ein-
drücken der engeren Heimat lässt sich mehr
träumen als belegte Thatsachen anführen: in ßa-
vay auf den verwitternden Trümmern römischer
Herrlichkeit', in Valenciennes, wo die Klöster
und Bibliotheken, die gesammelten Schätze mit-
telalterlichen Wissens bargen, und sich auf den
Strassen daneben das rege Leben eines handeis-,
gewerbe- und kunstbeflissenen Volkes bewegte,
im Hause des gelehrten und beredten Molinet,
des weltberühmten Meisters der Rhetorik, in
den Werkstätten der Maler und Goldschmiede,
zu denen ihm vielleicht Familien- und Freund-
schaftsbeziehungen Einlass verschafften, in den
ehrwürdigen Domchören, in denen seine helle
Knabenstimme erklang, wird sein Geist durch
den offenen Einblick in das Thun und Treiben
der Menschen früh geweckt und angeregt worden
sein, wird der Zauber verklungener Zeiten
seine Einbildungskraft beschlichen und mit Bil-
dern erfüllt haben. Früh wird er auch das ein-
1 Wer weiss, wie lange Lemaire in Bavay blieb, und ob
nicht die Kriege zwischen Frankreich und Burgund schon
früh seine UebersicdcUing nach Valenciennes veranlassten?
— 271 -
s.ime Studium fern vom Getriebe der Welt lieb-
gewonnen haben ; da fesselte ihn neben den alle-
äj^orischen Gestalten des Rosenromans, denen
Molinet so mannigfache Deutungen zu geben
wusste, vor allem Ovids weiche und schmuck-
reiche Redcfülle, die das idyllische Heldenzeit-
alter seiner kindlichen Auffassung näherbrachte;
da übte er sich nach dem Vorbilde seines be-
rühmten Vcrwanten in allen Künsten der Rhe-
torik und eignete sich in \'ers und Prosa jene
nie verlegene Fertigkeit und Gewantheit an, die
ihm sptäter vorzüglich zu Statten kam. Die
Hochschule zu Paris, noch immer die grosse
Lehrmeisterin der Welt, vollendete seine Erzie-
hung; hier wird er den Grund gelegt haben zu
seiner umfassenden Kenntniss der alten Schrift-
steller, hier wird der Drang, an der Quelle zu
schöpfen, zur bewussten Lebensaufgabe heran-
gereift sein, hier mag auch sein kindlich frommes
Gemüt etwas vom ernsten Trotz gallikanischer
Ueberzeugung angenommen haben.
So vorbereitet trat Lemaire in das prak-
tische Leben ein, redlich gesonnen sich in gott-
gefälligem Wandel der Berufspflicht zu unter-
ziehen. Allein unter den neuen Anregungen,
welche die Weltstadt am Zusammenfluss der
Rhone und Saone ihm bot, unter den Aufmun-
terungen zuvorkommend bewundernder Freunde,
unter dem Hauch, der wie Lenzesmahnen von
Italien herwehte, brach der Trieb der eigenen
Natur durch; ganz im Stillen scheint er inner-
lich gereift zu sein , ohne dass Jemand um ihn
ahnte, was aus ihm werden sollte; Jean Robertet,
der Generalschatzmeister, ebenso wie seine
Söhne standen im poetischen Briefverkehr mit
Molinet; man sucht umsonst eine Erwähnung-
des jungen Finanzbeamten, eine Andeutung der
Hoffnungen, zu denen er berechtigte'.
In den Jahren der Reife wurde dem Dichter
sein Beruf klar; er betrat die Bahn, und unbe-
irrt durch den Wechsel der Verhältnisse, durch
die vielseitigen Geschäfte, die auf seinen Armen
lasteten, durch das Schwanken der Hofgunst,
schritt er langsam und stetig voran. Wenn man
seine Thätigkeit als Finanzbeamter^, seine Rüh-
rigkeit als Bauführer in Brou, seine wieder-
holten Reisen, zwei mehrmonatliche nach Italien,
zwei oder drei nach den Niederlanden, den
Umzug durch die Provinzen mit der Statthalterin,
die Reise nach Frankreich, den Aufenthalt in
der Bretagne, ferner den Unfall mit dem gebro-
chenen Arm und zeitweise die Unsicherheit
seiner Stellung in Betracht zieht, und dabei
^ Man muss sich überhaupt hüten, Lemaires Verwant-
schaftsverhältniss zu Molinet als ein zu enges aufzufassen ;
Lemaire ist Molinets Schüler als Dichter, unstreitig; was er
ihm sonst verdankt, das wissen wir nicht. In seinem Testament
hat Molinet seinen Nachfolger im Amte nicht bedacht.
'^ Seine Thätigkeit als Hauslehrer mag ich hier nicht
erwähnen , weil ich immer noch daran zweifle. Claude de
Saint-Julien kann precepteur sehr wohl als Ausdruck hoch-
achtender Verehrung gebraucht haben; sein Sohn Pierre war
aber im Stande, einen ganzen Roman darauf zu bauen.
- 273 —
bedenkt, was er als Schriftsteller Alles versucht
und vollendet hat, so wird man sich der Ach-
tung vor der Leistung und der durch sie bekun-
deten unermüdlichen Emsigkeit und geistigen
Fruchtbarkeit nicht erwehren können.
Mit offenem Sinn und einer das Neue und
Unbekannte aus eigenem Antrieb aufspürenden
Empfänglichkeit kam Lemaire einer Zeit ent-
gegen , welche die Schätze zweier Welten ent-
deckt, die schlummernden des vergessenen
vMtertums und die ungeahnten der überseeischen
Erdteile. Unermüdlich späht und sammelt er
auf Reisen und zu Hause Nachrichten und wert-
volles Material für seine Werke, Antikes und
Modernes; hier erwirbt er neue Drucke, und
wie freut er sich und ist stolz über einen glück-
lichen Fund; dort stöbert er fast unleserliche
Handschriften auf; in Städten und Klöstern ent-
ziffert er Inschriften, in einsamen Alpenthälern
besucht er die Gräber alter Burgunderkönige,
in Donaueschingen lässt er sich von den Wun-
dern des Schwarzwaldes erzählen, in Venedig
und Rom liest er Prophezeiungen auf; wo er
kann, fragt er die Weitgereisten aus; er merkt
sich die Neuigkeiten, die ihm aus der politischen
Korrespondenz des Kaisers und seiner Tochter
zu Gehör kommen: Alles zeichnet er auf und
weiss es gelegentlich vorzubringen. So ist er
stets ausgezeichnet unterrichtet und überrascht
seine Bekannten durch die Allseitigkeit seiner
Becker, Jean Lemaire. 18
- 274 -
Kenntnisse und die Wärme und Beredsamkeit
mit der er sie vorzutragen versteht.
Freilich unanfechtbar ist sein Wissen nicht;
denn Kritik übt er in geringem Masse; vor
allem ist er das Kind seiner Einbildungskraft.
Es strömt des Neuen so viel auf ihn zu, er
empfängt von allen Seiten so starke Eindrücke,
dass er mit kindlichem Glauben Alles aufnimmt,
was ihm von ernsten Gewährsmännern, ob Dich-
ter, ob Chronist, ob Reisender, ob Fremden-
führer, bestätigt wird; und er bleibt bei dem,
was in ihm zu lebendiger Anschauung geworden
ist. Ist nur Jemand gut unterrichtet wie Annius,
oder scheint der Zeuge den Begebenheiten nahe
gestanden zu sein wie Dictys, eine innere Zer-
gliederung kennt Lemaire nicht, — wenn nur
das Bild vollständig wird. Allzueinschneidende
Kritiker wie Laurentius Valla beunruhigen ihn
nur; das blosse Verneinen fremdet ihn an; das
Positive, das Fassbare allein beseelt sich für ihn.
Im Grunde seines Wesens ist Lemaire eben
Dichter; ein kleiner, unbeachteter Zug, ein Wort,
das ihn packt, schlägt zündend in seine Phan-
tasie und erzeugt eine ganze Reihe lebender
Bilder; ein Sittich, der von einem Hunde zer-
rissen wird, gibt ihm den ersten Brief des grünen
Liebhabers ein; ein anerkennendes Wort aus
königlichem Munde diktiert ihm den zweiten.
Aus drei Heroiden Ovids baut er den Roman
von Paris; aus zwei schmückenden Beiwörtern
- 275 -
liest er eine ganze Schilderung der Franken
heraus'. Diese Lebhaftigkeit der Einbildungs-
kraftwird durch die überströmende Gabe der Rede
mächtig unterstutzt, oft beinahe überwuchert. Die
Fülle und der Reichtum der Worte - und welcher
klangvollen und farbenprächtigen Worte! — steht
ihm jederzeit zur Verfügung und harrt nur des
Winkes, um sich in breiter, üppiger Periode zu er-
giessen. Lemaire gehört nicht zu den Dichtern, die
sich an Witz oder neckischem Gedankenspiel er-
lustigen, die ihre gemütliche Plauderei zur Poesie
erheben; er ist auch nicht derjenige, der von
einer abstrakten Vorstellung ausgeht und ihr
bedächtig ein allegv>risches Gewand als keusche
oder blendende Hülle des Gedankens zurecht-
legt. Das Erste bei ihm — ob sinnbildlich, ob
wirklich gedacht - ist die innere Anschauung,
er erlebt innerlich, was er zum Ausdruck bringt.
Daneben und unabhängig davon besitzt er die
äussere Gestaltungskraft; er beherrscht Form
1 Nous avons le pocte Mariial cn ses epig:rammcs, et luvc-
nal cn ses satyres, qui fönt mention des Sicambriens, et desij;nent
et pourtrayent leurs favons et habitudes, presques comme si on
veoit ä l'tcil, de quel forme et sortc ils estoyent adonc, telle-
ment que im peintre bien enttndu Ics pourroit bien contrefaire
apres los deux vcrs qui s'ensuivent. Dont run monstre, qu'itz
avoyent les cheveux crepelez, recercelez et retortillez, tout ainsi
que les hauts Allemans les portent jusques aujourdhui. L'auirc
dit qu'ilz avoyent la face et le regard terrible, eflroyeuse et
redoutable. Et c'est quant aux Sicambriens.
Martialis :
Criiiihiis in iiodiiin tortis vciicrc Sicaiiibri.
Iiivenalis:
Tainqiiain de Gc/is aliqnid lorvisqiic Sicaiiihria.
— 276 -
und Ausdruck und zwingt sie zum Gehorsam.
Die metrische und stilistische Schukmg, die er
unter Molinets Fuchtel durchgemacht hat, trägt
ihre Früchte. Er kennt bis in die feinsten Schat-
tierungen die künstlerischen Mittel der Sprache,
die volltönenden Worte, die lieblichen Aus-
drücke, die farbigen Bilder, den harmonischen
Tonfall der Sprachklänge, den unfassbaren Ryth-
mus, der ihn wie ein Fluss wiegend davonträgt.
Bald ergiesst sich aus dem schaffenden Innern
das vollendete poetische Gebilde wie aus einem
Guss, wenn sich der geheimnissvolle Bund der
inneren Anschauung und der äusseren Form
durch das unbestimmbare Mitschwingen der
intimsten Herzensfaser vollzogen hat. Bald, wenn
es ihm so beliebt, entbietet er das allzeit willige
Heer der Bilder, Metaphern und Worte und
lässt sie in prunkendem Aufzug vorbeimar-
schieren und freut sich des strahlenden Anblicks
und des dröhnend gewappneten Klanges. Ein
Herrscher, frohlockt er über das Gepränge seiner
Macht.
In der Gewalt über die Rede besitzt Lemaire
eine Kraft, deren er sich bewusst ist. Nach bei-
läufigen Aeusserungen hat es allerdings den
Anschein, als ob er sich gelegenthch im Gespräch
eingeschüchtert gefühlt hätte, jedenfalls nicht so
sicher wie beim Schreiben. Hier aber, in der
Begeisterung und beim abgerundeten Vortrag
ist er unbedingter Herr der Sprache und übt seine
- 277 —
Meisterschaft ungehemmt, ohne jede Beklom-
menheit.
MUchtig und pedantisch hat man Lcmaire
genannt, weil man ihn einscitigbeurteilte. Man hat
vergessen, dass er doch nicht immer auf feier-
lichem Kothurn cinherschreitct. Die gespreizte
Sprache, die er Götter und C.öttinnen reden
lässt, schlägt öfters in einen ungezwungenen,
vertraulichen Ton um. Nicht nur stolze Metaphern,
auch kräftige Spruch Wörter stehen ihm zu Gebote.
Der Verfasser der Illustrations de Gaule ist
zugleich der volkstümliche Polemiker der Le-
gende des Venitiens und der Difference des
schismes et des conciles. Aus derselben Feder
sind die Prunkreden der Couronne margaritique
und die Hirtenlieder des Temple d'Honneur et
de Vertu geflossen. Und wiederum ist es der
gleiche Schriftsteller, der in den Epistres de
l'Amant verd den anmutigen Scherz mit gelin-
der Rührung zu paaren verstand, der gleiche,
der in der Concorde des deux langages den
kräftigen Ton strotzender Lebenslust anschlug
und in den Contes de Cupido et d'Atropos die
poetische Weihe mit neckischem Spiele ver-
band. Es zeigt sich in diesen Werken eine
humorvolle Seite, welche der gewöhnlichen
ieierlichen Würde das Gegengewicht hält und
zur Beurteilung seines Wesens und seiner Eigen-
art als Schriftsteller nicht unbeachtet bleiben
darf.
278
Ebenso einseitig wäre das Urteil über Le-
maire, wenn man in ihm blos den Dichter, der
ohne kritisches Bedenken dem Impulse der Ein-
bildungskraft folgt, den Stilisten, der sich durch
den Zauber der Worte berauschen lässt, erblickte.
Ihm leuchtet ein höherer Leitstern vor, die Wahr-
heit, der er sich verdungen fühlt als Geschichts-
forscher. Sein Schutzgeist ist Labeur historien,
zu dem er eine natürliche Zuneigung hegt; in
seiner Nähe möchte er sein Leben verbringen.
Veritatem sequimur, ist sein Trostgedanke, wenn
er angefochten oder sein Streben verkannt wird.
Ein Kampf gegen althergebrachte Irrtümer waren
seine Illustrations de Gaule; seine Streitschriften
sind getragen vom Bewusstsein, ein Verfechter
der rechten Sache zu sein. Auch wo der Dichter
hervorbricht, fühlt sich Lemaire als Geschichts-
schreiber; wenn er ausschmückt und in seinem
Sinne weiterdichtet, so glaubt er nicht zu er-
finden, sondern nur das Verborgene und Ver-
kannte in ein helleres Licht zu stellen.
Majestätische Feierlichkeit und neckischer
Humor, prunkhafter Redeschwall und idyllische
Einfalt, unmittelbare Ursprünglichkeit und uner-
müdliche Emsigkeit, lebensfrischer Realismus
und allegorische Deutungssucht, kritiklose Leicht-
gläubigkeit und begeisterter Drang nach Wahr-
heit, kindliche Frömmigkeit und trotziger Frei-
mut, das sind Gegensätze — und sie lassen sich
häufen — , die sich in Lemaire vereinigen, ohne
— 279 —
innere Widersprüche zu bilden. Der Trieb des
Humanismus macht sich hier geltend und will
den Menschen mit all seinen FUhigkeiten zur
vollen Entfaltung bringen. Diese Vielseitigkeit
ist kein Spiel des Zufalls, es ist ein Zeichen der
Zeit; sie hängt auch bei Lemaire mit einem be-
wussten und ausgesprochenen Ideal zusammen,
das er mit einer eigenen Innigkeit aufgefasst hat*.
Wenn bei ihm diese Gegensätze sich nicht voll-
ständig zur höheren Einheit zu klären scheinen,
so mag das wohl an der Ungunst der Verhält-
nisse, an seiner untergeordneten Stellung, an
einer gewissen Schüchternheit und Weichheit
des Charakters liegen, an der Unsicherheit auch
des Geschmacks, der bei der Unfertigkeit der
französischen Sprache deutlicher hervortritt als
bei denen, die sich des klassischen Lateins be-
dienten. Das Gefühl der Persönlichkeit und ihres
Wertes, das Merkmal der Renaissance, besitzt
auch Lemaire, aber nicht in der schroffen Weise
Perreals; es ist gemildert durch eine mitunter
übertriebene Ehrfurcht gegen seine Umgebung.
Einmal droht er, zum Zorne gereizt, mit der
Feder, deren Schärfe er kennt ; aber es wird so
spät sein wie möglich, fügt er sogleich in sich
kehrend hinzu. Lemaire ist nicht ausgezogen
' Man gedenke der Schilderung des Grafen von Ligny, be-
sonders des bedeutungsvollen Wortes:
Qncl aiitrc plus cii tonte art vertitciisc
Sc delita, satts forme iutpetucuse,
Siiivatit le traiii des boiis nobles aticieiis?
280
in die Schlacht mit Champier, sich Rittersporen
zu holen. Gegen die Fesseln, die ihm Stellung
und Stand auferlegten, hat er sich nie gesträubt;
nur eine halb resignierte Klage lässt er laut
werden'.
Sein ganzes Leben seit seinem ersten Auf-
treten als Schriftsteller hat Lemaire in der Um-
gebung fürstlicher Persönlichkeiten verbracht,
ohne in vertrautere Beziehungen zu ihnen zu
treten; seine näheren Bekannten sind die Hof-
dichter und Hofmaler, die Geheimschreiber, die
Wappenkönige, der ganze Kreis der höher ge-
schulten Hofbeamten und Hofkünstler, zu denen
er als Hofgeschichtsschreiber gerechnet werden
konnte. Häufig hat es ihn hinausgezogen aus
der beklemmenden Umgebung zur freieren Be-
thätigung seiner Natur; bald sehnte er sich nach
einem der Muse und der Forschung geweihten
Stillleben ; bald ergriff er eine praktische Thätig-
keit; immer Avieder führten ihn Hoffnung oder
Ehrgeiz in die Nähe der Fürsten zurück. Unwill-
kommen war er nicht, namentlich die Frauen
scheinen den Dichter inniger Herzensidyllen gern
gesehen zu haben, wenn er auch klagt, dass sein
Liebes werben trotz aller Mühe und aller schönen
Lieder ohne Erhörung geblieben ist. Für die
Frauenwelt schreibt Lemaire sein grosses Werk;
' Um Lemaire nicht zu sentimental aufzufassen, muss man
auch hier wieder den wehmütigen Ausbrüchen in den Briefen
den kecken Uebermut der Rede des Erzpriesters Genius ent-
gegenhalten.
— 281 --
es schmeichelt seinem Dichterstolz, wenn er sie
findet, wie sie aus seiner Schcrzepistcl die
rührendsten Stellen aussuchen, um sich erweichen
zu lassen. Ihre Anerkennung, zumal aus lürst-
lichem Munde, ist ihm reicher Lohn für alle seine
Mühe; so crlullt ihn jedes entgegengebrachte
Wohlwollen mit Erkenntlichkeit und Dank. Dafür
fehlte ihm auch die warme Begeisterung nicht,
welche jüngere Männer wie Fournier und Clement
Marot unter dem sympathischen Eindruck seiner
Persönlichkeit ihm widmeten, und die treue Er-
innerung, in der sie ihn bewahrten.
Unvollständig bleibt die Vorstellung, die wir
uns von Lemaire machen können ; denn es fehlt
uns das Bild seiner äusseren Erscheinung, seiner
leiblichen Züge. Das Widmungse.xemplar des
dritten Buches der Illustrations enthält zwar eine
Miniaturzeichnung, auf der wir den Dichter zu
erkennen glauben'. Auf dem Throne sitzt Königin
Anna mit den Abzeichen der (Göttin Juno; rechts
vor ihr steht, wie mich dünkt, ihre Tochter
Klaudia ; im Vordergrunde unterhalten sich drei
Hofdamen auf Polstern sitzend, neben ihnen ein
Papagei im Käfig. Ein Genius überreicht der
Königin den Band und weist mit der Hand auf
das Bild Merkurs über der Thüre links. Hinter
' Stadlbihlioihik zu Bern, Hs. Xr. J-U, ein sehön j^rcschrii-
bcner Fuliohantl, auf Pergament. Dem Bilde wird wohl bis zu
einem {gewissen Grade Portriltilhnlichkeii zuerkannt werden
dtirten; für die Könijrin scheint sie mir ihatsilchlich angestrebt
und jJTelrolTen worden /u sein.
- 282 -
ihm tritt der Verfasser in geistlichem Anzug durch
die Thür und verneigt sich ehrerbietig gegen die
Fürstin; die Figur ist durch die Perspektive und
die Verbeugung stark verkürzt; die Tracht ist
die der Zeit Ludwigs des XII.: ein dunkler Talar,
pelzverbrämt, kennzeichnet den Kanonikus, der
Rand des ausgeschnittenen Unterkleides kräuselt
sich um den nackten Hals ; braunes Haar fällt
bis in den Nacken und bedeckt etwas die Stirn ;
das gefällig ovale Gesicht ist bartlos; die hoch-
gezogenen Brauen legen leichte Falten in die
Stirn. Bedeutend ist der Blick der schönen
grossen Augen, die sich ehrfurchtsvoll auf die
Königin richten; man sieht sie leuchten und kann
sich vorstellen, wie .sie die Rede des Dichters
belebten, vi'enn Begeisterung aus ihnen flammte.
Leider sind die übrigen Teile des Gesichtes stark
beschädigt, es fehlt die Nase und der Mund, dem
einst der Fluss der Worte entströmte; der Ein-
druck des Bildes bleibt unvollständig und lässt
sich nicht mehr ergänzen". Nicht Ehrfurcht ge-
bietend , sondern Zuneigung und Freundschaft
einflössend erscheint uns Lemaire, wenn wir die
Zeichnung betrachten. Sein Aeusseres bekundet
die Sorgfalt des Hofmannes, der in den gebil-
detsten Kreisen der Gesellschaft verkehrt; der
offene Ausdruck des Gesichtes verrät die rasch-
' Am besten und richtigsten könnte diese ErfrUnzung viel-
leicht geschehen, wenn man der Miniatur das Bild Molinets
(Boulogne s. M. , Museum Nr. 15) entgegenhält, eine hohe Nase
und einen leicht sich öffnenden Mund.
— 283 —
wiederspiegelnde Empfänglichkeit für die Ein-
drücke; man schwankt beim Anblick, ob man
den vveltkundigcn Gesellschafter oder den stillen
Denker, der die Einsamkeit liebt, vor sich hat;
dabei kann man sich die bewegliche Gestalt, die
trotz der vierziger noch die Frische der Jugend
bewahrt hat, sehr wohl in den Steingruben von
Saint-Lothain unter den zusammenrutschenden
Erdmassen, im Wasser bis an die Knie vorstellen:
man kann sich den Mann denken, wie er am
Sonntag schnell seine sechzehn Gesellen in das
Salzwerk, über dessen vernachlässigten Betrieb
er sich ärgert, mitnimmt und zur Probe eine
Viertelstunde pumpen lässt. Und wehmütig
stimmt es, wenn man die blasse Schläfe und das
grosse Auge betrachtet und des Wortes gedenkt,,
das er als Fünfundzwanzigjähriger aufsein Heft
schrieb: Nulla sors longa est, gleichsam in Vor-
ahnung der kurzen ihm beschiedenen Lebensfrist.
Auch dieses kleine, und wer weiss wie weit zu-
verlässige Denkmal seiner irdischen Erscheinung»
es zerfällt, und der Mantel der Zeit verdeckt mit
dunkeln Falten das Bild des Mannes, in dem ein
Jahrhundert den Bahnbrecher für die Dichtung
und künstlerische Handhabung der Sprache er-
blickt hat.
:xx.
Sprünge gibt es in der Litteraturgeschichte
eigentlich nicht; selbst zu Zeiten, wo sich der
Geschmack umgestaltet, wie um die Wende des.
284
15. Jahrhunderts, wurzelt jeder einzelne Schrift-
steller mit zahlreichen Fasern im Boden der
Vergangenheit und nährt sich von den Stoffen,
welche die früheren Geschlechter verschafft und
nutzbar gemacht haben.
Für Lemairc wie für seine Zeitgenossen
und Vorgänger beginnt die französische Lit/e-
ratur mit Jean de Meun. Vom Rosenroman,
ihrem ersten. Lesebuch, kommt die Eingebung
ihrer vorwiegend allegorischen Dichtung, die
sich nach seinem Vorbild gei'n in das Gewand
eines Traumes hüllt und in einer metaphysischen
Gegend abspielt; aus ihm lernen sie die psycho-
logische Anah'se durch künstliche Personifizie-
rungen ersetzen, welche nicht blos allgemeine
Eigenschaften bedeuten, sondern zufälliges Ver-
halten und vorübergehende Stimmungen um-
schreiben und in eine sonst rein menschliche
Handlung wirksam eingreifen \ Gerade der
zweite Teil des Romans, die Fortsetzung von
Jean Clopinel, hat die folgenden Geschlechter
mit seiner freien Moral, seiner aus den heid-
nischen Schriftstellern geschöpften Weltaufifas-
sung, den langen gelehrten Abschweifungen
und der derben Satire, dem ungeschminkten
Tone, den kräftigen Ausdrücken und den viel
bewunderten Schilderungen bestrickt. Eine Figur
hat Lemaire mit unverholener Vorliebe dem
Rosenroman entnommen und ihr eine hervor-
> Cf. G. Paris, la litl^nitiirc fran(;aise au moycn agc, § 111 sqq.
- '2f\) - -
ragende Bedeutung gegeben, dies ist jener Erz-
priester der Natur, Genius, der Schutzgeist der
natürlichen Erzeugung; er darf beim Male der
Götter nicht fehlen, im Verein mit Hymeniius
segnet er das junge Paar; er ist der Hohe-
priester im Tempel der Venus, ihm sind die
Menschen mit ihren natürlichen Neigungen
unterthan'.
Von den älteren Schätzen der französischen
Litteratur, von der nazionalen Heldensage, ist
dem Belgier nur das bekannt, was Gemeingut
des Volkes geworden ist; wenn er auf Roland^
die gefallenen Helden von Arles, Ogier, das
Pferd Bayart, oder Ourson anspielt, so sind es
Gestalten, die Jedermann kennt, weil noch all-
gemein von ihnen gesprochen wird. Man könnte
sich denken, dass er als Kind die eine oder
andere von jenen beliebten Prosaautlösungen
aus dem mittelalterlichen Sagenkreis gelesen
hätte; selbst in seinem kunstreichen Stil finden
sich Züge ihrer kindlich naiven, kunstlosen
Erzählungsweise wieder: jedenfalls lebten jene
lirinnerungen in seiner Umgebung fort, und er
gedenkt ihrer ohne Verachtung. Die klassische
Sage muss er bei seinem gediegeneren Wissen
in ihrer mittelalterlichen \'erkleidung als ver-
fälscht verwerfen. Er kennt sie in dieser Fas-
' Dieser Er/pricstcr Genius, der mit Danger und Bel-
accueil als Diakonus und Subdiakonus im Tempel der Venus
fungiert, ist von hier in Cl.Marots Tempel Cupidos übergegangen.
- 286 —
sung aus Guido delle Colonne und aus jüngeren
Chroniken'; es lässt sich nicht erweisen, dass
•erWace, Benoit de Saint-More, Philippe Mousket,
den Schvvanenritter usw. gelesen hätte, wie Fr.
Thibaut meinte. Nur vom Alexanderroman weiss
er bestimmt, dass er in dem nach ihm benannten
Versmasse geschrieben ist, aber auch diese That-
sache war bei den Verskundigen seiner Zeit
xdlgemein anerkannt.
Die Schriftsteller, welche Lemaire an ver-
schiedenen Stellen als Vertreter der älteren
französischen Litteratur namhaft macht, sind
Froissart, Alain Chartier, Martin Franc, die
"beiden Greban, Millet, Meschinot, George Chas-
tellain, Jean Robertet und Octovien de Saint-
Gelais ; sie sind zumeist die Träger jener vom
Rosenroman ausgehenden allegorischen Dich-
tung, wie sie an den Höfen von Frankreich und
Hurgund und neuerdings auch der Bretagne
gepflegt wurde, und je nach der Zeit und der
Anlage der Dichter einen mehr subjektiv lyri-
schen, oder mehr lebhaften Charakter annimmt,
"bald auch zur offiziösen Gelegenheitspoesie wird.
In gemeinsamer Hochachtung vereinigt Lemaire
diese Schriftsteller, welche in seinen Augen der
Ruhm der französischen Sprache sind; sie haben
' *L'erreur invctcree de Guy de la Colonne et de ceux
<iui Tont ensuivy, tant en rime comme en prose, lesquelz je ne
veux pas nommer. > Illustrations II, Schluss. Oeuvres II, 214.
Er könnte hier Benoit meinen, vor allen ist aber an Millet /.u
■denken.
- 287 -
ihr einen Glanz verliehen, dass sie vor der ita-
lienischen selbst nicht zurückzustehen braucht.
An ihrem Muster hat sich auch seine dichte-
rische Anschauuni4 und Ausdrucksweise gebil-
det; ihr EinfUiss ist aber ebenso sehr ein mora-
lischer und idealer j^ewesen als ein litterarischer.
Besondere Verehrung hat der Zögling Molinets
Alain Chartier gewidmet und mit Recht; denn
seine edle vaterländische Gesinnung, der bittere
Ernst seiner Klagen über den Zerfall seiner Zeit
in Staat und Kirche, haben in den schlimmsten
Stunden der Erniedrigung an der Erweckung
des nazionalcn Bewusstseins in Frankreich ge-
arbeitet; an seine Mahnschriften, getragen
durch den gehaltvollen, an Senecas philosophi-
schen Schriften geglätteten Stil, schliesst sich
in Form und Inhalt eine ernstere Strömung in
der französischen Litteratur des 15. Jahrhunderts
an. Dann steht auch der Vorgänger seines Vor-
gängers, Chastellain, der sich eine so angesehene
Stellung am Hofe der Fürsten erworben hatte,
verklärt vor seinen Augen.
Die nächste und bedeutendste Einwirkung
hat Molinet auf Lemaires Schaffen gehabt. Da,
wo jener stehen blieb, hat sein Schüler ange-
setzt, um unter der Gunst der Zeitverhältnisse
und dank seiner Begabung die französische
Litteratur einen Schritt weiter zu bringen. Molinet
ist ein Meister der rhetorischen Wissenschaft,
ein erstaunlich fruchtbarer Dichter, ein unglaub-
288
lieber Reimkünstler, fromm, geistreich, leicht-
fertig, pedantisch um die Wette; seine besten
Leistungen sind die Gelegenheitsschriften, mit
denen er stets aufmerksam und teilnehmend die
Ereignisse der Freude oder Trauer begleitete,
welche das burgundische Herzoghaus betrafen.
Lemaire hat keine zahllosen Chants royaux
gedichtet wie seine Vorgänger, wir kennen nur
ein Marienlied aus seiner Jugendzeit, er hat auch
keine leichtfertigen Rondeaux über schlüpfrige
Gegenstände geschrieben, wie sein ehrwürdiger
Meister es leider gethan hat'; seine Laufbahn
hat er aber mit Gelegenheitsschriften über die
Trauerfälle, die in seiner Nähe vorfielen, und
die sich in unerwarteter Weise häuften, begonnen,
bis er sich selbst eines höheren Berufes bewusst
wurde, und er anfing, diese Hofschriftstellerei,
die ihn von erspriesslicheren Arbeiten abzog,
als eine Last zu empfinden.
Molinet huldigt der Sitte , die allegorischen
Erfindungen in das Gewand eines Traumes zu
kleiden 2. Nur einmal, im Trespas du duc Charles,
>■ Bibl. nat. ms. fr. 1721
- Z. B. im Throsne d'Honncur : "Durant Ic icmps qucTiton
triomphoit au haut signe du Cancer zodiaque cn haut sphere
approchant le tres gloricux regne du lyon pere des douze
signes (d. h. gegen Ende Juni), lorsque tous arbrisseaux sont
joyeusement revcstuz et que les douces flourettes ont plaisam-
ment rendu leurs oudeurs, vueillant recreer et esjouir mos
esperitz et oujt le melodieux chant des plaisants oiscaux, je
m'en alloy au jolj' bois, ou je m'endormis souefmcnt soubz un
bcau chesne fucillu. » Im Chapelet des Dames geht er im Mai
hinaus und schlummert ein. — Hier haben wir auch das Vor-
- 289 -
ist er von dem Schema abgewichen und hat es
gewagt, uns das Bild der mllchtigen Eiche, die
im fruchtbaren Weinberge von Burgund blühte,
und unter deren Aeste mehrere wackere Hirten
und edle Hirtenmiidchen ihren Schutz gesucht
hatten, unmittelbar vor Augen zu führen'. Hier
haben wir den direkten Anlehnungspunkt für
Lemaires objektiv plastische Anlage seiner ersten
Totenklagen, hier auch die erste Skizze, den
ersten tastenden Entwurf der bukolischen Szenen,
die er in seinen frischen Hirtenliedchen hin-
geworfen hat'-.
In den Traum versunken , verkehrt der
Dichter mit abstrakten Personifizierungen. Im
Chapelet des Dames zeigt ihm Experience, wie
bild der astrologischen Zeitbestimmung, welcher Lcmaire eine
solche Bedeutung gegeben hat.
' « II n'y a pas dix ans que au tres fructueux et opulent
vignoble de Bourgoigne flourissoit un gros arbre de mirablc
altitude... Et pour ce qu'il donnoit refcction aux famys , leur
recreance aux cueurs desolcz, protection aux envahis et asseu-
rance aux espovantez, plusieurs gcntiz compaignons pastou-
reaux et nobles bergeronnettess'estoient logez sous ses ramyers. •
— Das Bild der Eiche hat Molinet sehr hübsch ausgeführt: «Sc
ce tres haut et puissant arbre eust voulu ou daign^ fleschir
ainsy comme fönt plusieurs joncz et roseaux qui ploient i\ tous
les vens, j'espere qu'il eust evit<5 ce tres grief et mortel orage.
Mais il avoit le cueur si vif, le tronc si dur, et l'escorce si
ferme, que lu)' ne ses branches fort roides ne voulurent jamats
ployer; car tant plus avoit grande attainte, tant plus estoit
percus de vent. » Molinet war eben selbst ergriffen, der Sturz
des tollkühnen Kriegshelden hat ihn erschüttert und das klingt
in dem Werke poetisch wieder.
^ Solche Pastorale K Hinge hört man im ganzen 15. Jahr-
hundert; sie tönen fort durch das lo.; vgl. z. B. Marot, Eglogue
au roy soubs les noms de Pan et de Robin, ed. Janct 1, 39.
Becker, Jean Lemaire. 19
- 290 -
Vertu eben einen Kranz aus fünf Blumen windet,
die fünf gleich anlautende Tugenden vorstellen,
ihre Initialen ergeben den Namen Marie. Im
Throsne d'Honneur enthüllt Vertu der klagenden
Noblesse die Verklärung der geknickten Lilie
durch neun Himmel, wo sich neun Buchstaben,
neun Tugenden, neun Helden befinden; so zer-
legt Molinet den Namen Philippus. Diese Spie-
lereien haben Lemaire noch bestochen: im
Temple d'Honneur et de Vertu erscheint Enten-
dement als Führer in das sinnbildliche Jenseits,
sechs Standbilder stellen den Namen Pierre
dar; der Hauptteil der Couronne Margaritique
ist ganz nach dem Grundriss des Chapelet des
Dames angelegt; endlich gedenken wir auch
der Ausbeutung des M in den Regretz de la
dame infortunee.
Die verklärte Lilie kommt schliesslich vor
Honneur und erhält ihren Platz zur Rechten
seines Thrones angewiesen. Diesem Könige
Honneur haben auch Octovien de Saint-Gelais im
Sejour d'Honneur, Andr}^ de la Vigne im Vergier
d'Honneur ihren Zoll dargebracht. Lemaire hat
Honneur und Vertu in mystischem Bunde ver-
einigt uud ihnen als Wohnsitz einen Tempel an-
gewiesen, der für sein poetisches Denken und
Fühlen ebenso bedeutsam geworden ist wie der
Tempel des guten Geschmacks für Voltaire«.
> Honneur, Vertu und ihr Tempel spielen eine Hauptrolle
im Temple d'Honneur et de Vertu, der Plainte du Desir6, der
2Q1
Mit Fug kann man s:i<(cn, dass Lemaire in
seinen ersten Werken eine verbesserte Auflage
von Molinet ist, ursprünglicher, lebendiger und
anschaulicher in der Darstellung. Und doch hat
Molinet vor ihm den Vorzug gehabt, Ereignisse
von wahrhaft geschichtlicher Bedeutung zum
Vorwurf zu haben. Was hUtte nicht vielleicht
Lemaire aus einer Katastrophe wie Karls des
Kühnen Fall gezogen? Soviel Kunst und dich-
terische Erfindung ist für nichtssagende Bege-
benheiten verschwendet worden, — das ist der
Fluch der Gclegenheitspoesic.
Totenklagen waren überhaupt um die Wende
des 15. Jahrhunderts eine vielgepflegte littera-
rische Gattung. Lemaire hat in der Plainte du
Desirc^ die Schriftsteller aufgeführt, welche sich
darin versucht hatten. In dieser Klage hat Le-
maire ein anderes Schema zu Grunde gelegt.
Er lässt allegorische Figuren erscheinen und
an der Bahre des Toten trauern'. Vor i^»m hatte
der anonyme Verfasser des Trauerliedes für
Millet die neun Musen mit der Rhetorik in einem
Traume über den frühen Tod des begabten
Schriftstellers jammern hören*; in gleicher Lage
Couronne Margaritiquc und der Concorde des deux langages,
wo der Tempel Minervas in Honneurs Lustgarten dargestellt
wird. Schon Martin Franc erwähnt im Champion des Damcs
den Temple d'Honneur et de Vertu : dieses symbolische Gebäude
ist also schon von Früheren errichtet worden.
' Achnlich erscheint Hebe am Faradcbctt des Herzogs von
Savoyen in der Couronne margaritiquc.
' Die Klage um Millet (Bibl. nat. ms. fr. 1716 P 15«») ist irr-
tümlich A. Chartier zugeschrieben worden. Der Dichter schläft
292
war Jean Robertet Zeuge des Schmerzes von
Natur, Kunst und Nachahmung über Chatellains
Ende gewesen. Lemaire, für den der Traum
ein überwundener Standpunkt ist ' , lässt die
übersinnlichen Wesen leibhaftig unter die Schaar
der Leidtragenden treten und verleiht ihnen auf
Grund dieser künstlerisch aufgefassten Ueber-
tragung in die Wirklichkeit einen Ton persön-
licher Empfindung, welche die reflektierende
Poesie seiner Vorgänger nicht getroffen hatte.
Mit zunehmender Reife verscheucht der
Freund Perreals immer mehr die allegorischen
Dünste, mit denen seine Vorgänger ihre Gedan-
ken zu umhüllen liebten, und sucht dem ein-
fachen menschlichen Thun und Erleben die
inneliegende Poesie abzugewinnen. Mag auch
die Einmischung der Personifizierungen in die
Erzählung menschlicher Geschicke unserem
Geschmack weniger zusagen, im ersten Teile
bei Sonnenaufirang ein, lautes Wehklagen ertönt, ei- schleicht
heran und sieht zehn Frauen, Caliope spricht im Namen der
Musen, nach ihr ergreift die Rhetorik das Wort; Merkur holt
dann die orateurs du temps passe?, welche Millet das Geleitc
geben und das Totenamt singen: Jehan de Mehun dit l'obsequc
Du Lorris y officia. Alain setzt die Grabschrift. Wir erfahren
aus der Klage, dass Millet in seiner Jugend zu Ehren sein-jr
Geliebten la Forest de Tristessc und andere Werke gedichtet,
dass er für Agnes, dame de beautö, die Grabschrift Fulgor
apollineus, die auf ihrem Steine in Loches stand, verfasst, und
dass er noch jung 1466 an einer Epidemie gestorben ist.
' Nur einmal verwendet er den Traum als dichterische
Fiktion, im Temple d'Honneur et de Vertu sieht sich Aurora
in einer Vision in den Tempel verzückt. Vgl. ferner in der
Concorde des deux langages, Schluss.
— 293 -
der Couronnc mar^^aritiquc finden wir zugleich
am meisten sclbständij^e Erfindunj? und wirk-
liche AnschauunjLr ; das langgestreckte Thal in
der Mittagshitze, das alte Weib mit dem Wasser-
krug, die beklommene Rast in der BauernhUtte,
der Heimriti, das sind lauter denkwürdige Ein-
zelheiten und VorföUe des verhUngnissvollen
Tages ; und Lcmaire selbst hat durch den \'er-
gleich mit dem Hirschen gezeigt, welche Fülle
von Poesie die Natur birgt, ohne dass wir die
Sphäre der sinnlichen Anschauung zu verlassen
brauchen.
Den Höhepunkt der Entwickelung bezeichnen
die Regretz de la dame infortunee, hier waltet
das reine subjektive Gefühl, hier haben wir ohne
jede Fiktion den unmittelbaren lyrischen Erguss.
Wie der Schmetterling sich entpuppt, so streift
der Dichter langsam die Hülle des allegorischen
Gespinstes ab, um sich Irei in der reinen Luft
der Poesie zu wiegen'.
' Die Totcnklapc als (Kattun); und ihn- bclkbtcn Kunst-
jrriHV veralteten bald. Der Dichter, der Ciicnr il bon droit
zeichnet, sagt in der Complainte für Johanna Herzogin von
Valois (t 1520):
Quc fcray cy? dois jf poiiit iiivoqiirr
A inoti sccotifs iiyinphc, dccssc oii luiise/
Xon, c'fst Iwiiquaii oittique vi X'U'illc riisi:
Ft'inriray je Kf">" ''" Iniiicitlacioii
De poc^ic, Oll nittff iin'ciirioii
Fondcc eil p/iiira «7 cn rinrcta eterius.'
Ä'oii, sonl Ions cas rcmplis de Jiciion
Atithoriscz assce pcti des modernes.
Bibl. nat. ms. fr. 17L'l. f» lf.7 v».
294
Frankreich im engeren Sinne hatte — von
den älteren Meistern abgesehen — keinen Dich-
ter, der eine besondere Einwirkung auf Lemaire
haben konnte. Der natürliche, derbe Ton Villons
war dem Hofdichter Margaretas zu fremd, er
wird die Werke des Pariser Galgenstricks kaum
gekannt haben. Ein reichbegabter Dichter, Oc-
tovien de Saint-Gelais, hatte unter der Regierung
Karls des VIII. geblüht, und Lemaire hat ihn
freilich gekannt und sehr hoch geschätzt. Als
neunzehnjähriger Jüngling, als er den Vers noch
kaum handhaben konnte, hat Octovien die Liebes-
geschichte von Lukrezia und Euryalus nach der
Erzählung des Aeneas Silvius in französische
Strophen übertragen. In den Werken seiner
zwanziger Jahre, le Sejour d'Honneur und la
Chasse et le Depart d'Amours, hat er Reisen in
das Land der Allegorie unternommen, wie Dante
in das Jenseits. Schliesslich hat er durch Ueber-
setzung von Virgils Aeneis und Ovids Herolden
am grossen Werke der Renaissance vorgear-
beitet. Kaum sechsunddreissig Jahre alt bettete
ihn ein unerbittliches Geschick in das Grab und
verwehrte es seiner dichterischen Persönlichkeit,
zur vollen Entfaltung zu gelangen. Schwer-
mut, Folge eines chronischen Fiebers, schwebt
über seinen Dichtungen und lehnt sich im dich-
terischen Ausdruck an Chartiers durch die Zeit
Verhältnisse erzeugte Verbitterung an; wie er
aber an die Schilderung der schönen Welt kommt,
295
bricht der Uebermut der Jugend, die Lebenslust
des glänzenden Gesellschafters durch: da ver-
gisst er, dass unser Dasein weniger Bestand
hat als ein Spinngewebe, verlockende Erinne-
rungen umgaukeln seine Sinne; die fröhlichen
Jagden, das Schauspiel des lUndlichen Treibens,
und in den Städten die Feste, Schmaus und
Tanz, der freundliche Empfang der Damen, die
geheimen Seufzer, die verstohlenen Küsse, sich
für Vetter ausgeben zur bequemeren Annähe-
rung, und das tolle Leben, Musik bis in die
tiefe Nacht, um den Andern zu sagen, dass man
wacht, während sie schlafen. Der Weltmann
birgt aber einen tieferen Denker, als der ele-
gante Hofpoet Mellin, sein Neffe, es war, die
Probleme des Lebens beschäftigen Octovien und
das Sinnen darüber prägt in sein Gemüt einen
mystisch wehmütigen Zug. So verkörpert Saint-
Gelais die eigentlich französische Hofpoe.sie für
die glänzende, aber kurze Regierungszeit Karls
des VIII.; er ist der letzte allegorisierende Dichter
von Bedeutung; in seinen Dichtungen bricht
überall Gefühl und subjektive Empfindung durch ;
das der eigenen Anschauung entnommene Detail
belebt seine allegorische Welt'.
" O. de Saint-Gelais un J Jean Lcmaire sind die bedeutend-
sten Erscheinungen der Uebergangszeit vom 15. zum 16. Jahr-
hundert; sie ergUnzen sich gegenseitig zu einem vollständigen
Bild der in der besseren französischen Gesellschaft gepflegten
Littcratur. Vielleicht finde ich Gelegenheit, auf Ersteren zurück-
zukommen.
296
Durch die Uebersetzung der Herolden Ovids
hat Saint-Gelais eine neue Gattung in die fran-
zösische Poesie eingeführt, die Epistel, und
durch die geschmeidige Form der paarweise
gereimten Langzeilen, die er ihr gab, machte
er den ersten Schritt zur Befreiung der Vers-
kunst von der verzwickten Reimkünstelei der
Rhetoriker. In einer glücklichen Stunde grift
Lemaire diese Form auf, und mit dem Briefe
des Sittichs an die abwesende Herrin dichtete
er die erste selbständige Epistel in französischer
Sprache. Mit diesem poetischen Scherz hatte er
zugleich seine originellste Ader gefunden, die
er nur auszubeuten brauchte, um bei den Frauen
und der Nachwelt Beifall und Liebe zu finden.
Die Gattung aber blieb für die französische
Dichtung gewonnen, Lemaire fand einen Nach-
ahmer an Jean d'Anton, der Hektor an Ludwig
den XII. schreiben Hess, worauf er selbst im
Namen des Königs erwiederte. Clement Marot
aber befreite die Epistel vom Charakter der
Heroide und gab ihr die weiteste Bedeutung
als poetisches Sendschreiben zurück. So ver-
einigt Lemaire die Schätze, welche die Dichter
des französischen Hofkreises ihm bieten, mit
dem Erbe, das er aus der burgundischen Hei-
mat mitbringt, und lässt sie Zinsen tragen.
Von den Schriftstellern, welche im Dienste
Ludwigs des XII. und der Königin Anna standen,
wüsste ich keinen, dem Lemaire etwas sonder-
— 297 —
liches verdankte. Guillaume Cretin mag persön-
lich auf ihn gewirkt und ihn für die Litteratur
gewonnen haben ; die Wege hat er ihm nicht
gezeigt, sondern ist selber von ferne gefolgt;
als Lemaire seine Bahn bereits durchflogen
hatte, dichtete Jener immer noch Totenklagen
im alten Stil und Marienlieder und moralische
Sprüche und dergleichen mehr'.
Um so bedeutungsvoller ist der Einfluss, den
Italien auf den Belgier gewann. Dante, Petrarca,
Boccaccio, nebst Filelfo und Serafino sind die
Dichter, die er namentlich erwähnt; es handelt
sich aber nicht um einzelne Namen und bestimmte
Nachbildungen, es muss die ganze Einwirkung
einer reich entwickelten Kultur und der durch
sie erzeugten kunstvollendeten Litteratur in
Rechnung gezogen werden.
Im Verlauf des 15. Jahrhunderts, während
sich in Frankreich eine neue litterarische Tra-
dition gestaltete, war mancher Faden von der
italienischen Poesie allmälig durchgesickert. Auf
Dante haben die jünger des Rosenromans ihre
Blicke zuerst gerichtet, weil .sie in ihm einen
verwanten symbolischen und enc^-klopädischen
' Doch eines! Cretin, der es untirnommcn, die französische
Geschichte in Verse zu setzen, vornemlich nach den Chroniques
^e France, und mit .Schwunj; und Frische sein Vorhaben in's
Werk sresetzt hat, kilnnie wohl in Lemairo den Ehrnci/ ijewcckt
haben, die Urgeschichte Frankreichs nicht durch bloses Reimen
der umlaufenden Tradition, sondern aufgrund eigener Quellcn-
forschun« in neuer (lestalt herzustellen. V^l. die herrlichen
Hss. Bibl. nat. fr. L'SIO '.WJ, für Franz den I. ausgeführt.
— 298 -
Geist erkannten, der die Verquickung ermög-
lichte, und er ihnen zugleich das Muster eines
bequemen Rahmens bot, in den sich das Bild
ihrer Zeit in einzelnen Miniaturen einfügen liess ;
der eine oder andere von seinen fernen Nach-
ahmern fühlte wohl auch die Grösse seiner
Gemälde, die düstere Kraft seiner Poesie. Vor
allen Andern war Martin Franc, Sekretär der
Päpste Felix des V. (Amadeus von Savoyen)
und Nikolaus des V., berufen, die Vermittler-
rolle zu übernehmen. Sein Champion des Dames,
ein Turnier um die Ehre der Frauen, ist ein
Nachspiel der Kämpfe im Rosenroman ; dass
ihm aber ebensosehr Dantes Comedia vor-
schwebte, ist sichtbar, wenn auch der Floren-
tiner nicht selbst genannt würde'. Die Pilger-
schaft, welche der Dichter, von Valentin geführt,
ganz unmotiviert durch Amors Schloss unter-
nimmt, ahmt unzweifelhaft die Höllenfart in
Virgils Begleitung nach. Derselben in diesem
Zusammenhang zu gedenken, ist geboten; denn
Lemaire hat sich ihrer erinnert, als er in der
Eintracht der beiden Sprachen ein Stück italie-
nischer Poesie in französischer Nachbildung zu
geben versuchte. Martin Franc hat eben den
Tempel der Venus besucht: unter dem Portal
' Le Champion dt-s Damcs, Pariser Ausgabe von 1530 f*' XXV,
Le florciitin poctc. Dante
A escrit mcrvcilleuscmvttl
La pcine et la vie meschaittc
Des esprits danipttcz justeincut.
— 299 -
sah er Bacchus' Standbild, im Innern fungierte
Sens abesti, mit seinen Bärentatzen und Esels-
ohren, als Priester; einen Humpen statt des
Kelches in der Hand, lehnte er sich an den
Altar: Hört, hört, stammelte er, heute ist der
Tag des grossen Ablasses, dient der Göttin
ohne Verstellung, schont nicht das Verwesliche»
Bann und Fluch über den Säumigen. Es rinnt
die Zeit, kehrt eure Herzen und Wünsche zu
aller Erdenlust, das Leben verfliegt, die Zeit
tötet in ihrem Fluge, nur wer die Freude er-
hascht, er allein kennt das Glück".
Boccaccio nachahmen, hiess die nationalen
Schätze auf Umwegen wieder einführen; kein
Wunder, dass der Decamerone und die Casus
mulierum illustrium frühzeitig Uebersetzer und
selbständige Nachahmer fanden. Am Hofe Phi-
lipps von Burgund entstanden die Cent nou-
velles nouvelles, für Margareta von Anjou
schrieb Chastellain seinen Temple de Bocace.
Von Petrarcas Werken waren es die rührende
Geschichte von Griselidis und die Trionli, welche
mit Vorliebe nachgebildet wurden; bei letzteren
dachte man vorwiegend an Vorwürfe für die
Teppichweberei; in diesem Sinne fassten die
beiden Robertets dieselben, der Vater in Sprü-
chen, der Sohn in Rondeaux zusammen 2.
■Cef» XXXVI sqq. Siehe .Anhang VII.
^ Bibl. nat. m-;. fr. 1717. 1721.
300
Um die Wende des Jahrhunderts war man
sich dessen wohl bewmsst, dass Italien eine
Liebeslyrik besass, der Frankreich nichts ent-
gegenhalten konnte. „Keine Sprache ist der ita-
lienischen an die Seite zu stellen, wenn es gilt,
mit wahrer Empfindung und treffendem Aus-
druck die Gefühle der Liebe und auch andere
Dinge wiederzugeben," so hörte Lemaire seine
Bekannten sagen, und der Vorzug, den man
der italienischen Sprache und Poesie zuerkannte,
erregte in ihm einen heiligen Eifer zu zeigen,
dass die französische Zunge ihrer Schwester
an Kraft, Klarheit und Lieblichkeit keineswegs
nachstehe; es wurmte ihn, wenn seine Mutter-
sprache barbarisch gescholten wurde. Es galt
also für ihn einen ernsten Wettstreit.
Je f eis inaint vers, niaint couplet et inaint
nietre
Ciiydant snivir par noble poesie
Le hon Petrarque en aniour le vrai niaistre.
Thatsache oder Fiktion, diese Worte drücken
eiri Ideal aus'.
Lyon war, wie wir sahen, der Mittelpunkt des
Kulturaustauschs zwischen den beiden Nazionen;
durch die Fügung des Schicksals in die Nähe
dieser Stadt verpflanzt und in Kreise versetzt,
wo die Bewunderung für Italien an der Tages-
' Concorde des dcux lansages, Oeuvres III, 99 sq. Cf.
lllustrations I, proIo{!;ue, ibid. I, 11.
- 301 —
ordnunjT war, konnte sich Lemaire mit dem
offenen Sinn, der ihn auszeichnet, den Eindrücken
des ausländischen Geisteslebens nicht verschlies-
sen, und da er erst spät zu schreiben begann,
so sind seine ersten Werke bereits keine reinen
Erzeugnisse der meistersängerlichen Redekunst
mehr, sondern Vorboten der Renaissancepoesie.
Gleich im Temple d'Honneur et de Vertu bringt
er eine lange Erzählung in Terzinen und hand-
habt diese Form mit einer Meisterschaft, die in
Erstaunen setzt. Eine fremde Form eignet man
sich aber schwerlich an, ohne den Geist tiefer
durchdrungen zu haben. Lemaire , der ein so
warmer Verehrer der Kunst ist, kennt auch die
italienischen Künstler und ehrt sie so hoch wie
die seiner Heimat; man sieht an der Plainte du
Desir^, mit welcher Aufmerksamkeit sein Auge
auf Italien gerichtet war, bevor sein Fuss dessen
Boden berühren durfte. Das gelobte Land blieb
ihm aber nicht länger verschlossen, lö04 folgte
er dem savoyischen Hofe nach Turin, 1506 führten
ihn die Geschäfte der Fürstin nach Venedig und
Rom, 150S weilte er abermals in der Hauptstadt
der Welt. Wenn uns ein glücklicher Zufall Briefe
von ihm aus jener Zeit auftinden Hesse wie für
Erasmus, so würde sich bestätigen, dass auch
für unsern Dichter Italien eine Offenbarung, eine
Erlösung und Neugeburt gewesen ist. Die leben-
digen Erinnerungen an die klassische Erde, die
in .seinen Werken vorkommen, sind äusserst
- 302 —
spärlich; hier eine Besonderheit der itaUenischen
Tracht, die ihm gefallen hat, dort Bücher, die er
entdeckt oder erstanden. Was aber nicht zu
Tinterschätzen ist, die Zeit der ausgiebigsten
Fruchtbarkeit beginnt für ihn nach den Rom-
reisen, seine bedeutendsten und besten Werke
sind alle in der kurzen Frist von 1509 bis 1512
-entstanden oder vollendet worden. Das beredte
Zeugniss des neuen Strebens, das ihn erfüllte,
ist die Abhandlung von der Eintracht der beiden
Sprachen. In französischer, toskanischer und
lateinischer Mundart ertönt die Stimme der Dich-
ter im Tempel der Venus:
La se prodiiit lasciviU coniique^
Lyriqiies vers dont Ainours on blasonne.
La recite on d'invention sapphique
Maint noble dit, cantüenes et ödes . . .
Tout ce qui est en livres on en codes
Se inet avant. hymnes et clegies,
Chansons, motets, de cent faules et niodes.
Es ist beinahe das Programm der Plejade:
Sapphische Verse, Oden, Hymnen, Elegien, und
die Mannigfaltigkeit des Reichtums lyrischer
Formen ; sie erhalten ihr Bürgerrecht in der fran-
;?ösischen Poesie durch Lemaires Anerkennung,
wenn er auch selbst diese Gattungen noch nicht
gepflegt hat, wenn er auch selbst sich an den
Weisen seiner Vorgänger genügen liess. Woher
kam ihm aber die Ahnung einer Blütenentfaltung,
ri'):'
die er selbst nicht mehr schauen sollte, von wem
lernte er diese verborgenen Schätze kennen, wo
nicht von den Italienern, welche auch Ronsard
und seinen Freunden dieselben spUter ofilen-
barten ' ?
Das wären in einigen Zügen zusammengefasst
und angedeutet die litterarischen Einflüsse, unter
denen Lemaire mitten in seiner Zeit stand, teils
Fesseln der erhaltenen Erziehung, teils befreiende
Einwirkungen der weiteren Kreise, in die ihn
das Leben einführte. Wenn es schwer fällt, die-
selben genau zu bestimmen, so ist es fast un-
möglich zu sagen, was der Dichter seiner Um-
gebung verdankt, in wie weit seine eigene
Rntwickclung durch die hiihere gesellschaftliche
Bildung der Zeit bedingt worden ist. Was be-
wahrten die Niederlande von der Blüte, deren
sie sich unter den burgundischen Herzögen er-
freut hatten ? welche Anregung fand Lemaire in
Villefranche durch die Robertet, von deren Liebe
für die Poesie zahlreiche Sammlungen und Hand-
schriften Zeugniss ablegen? was bot ihm Lyon?
was sah und erlebte er in Italien? Sein Leben
verfloss an den Höfen der drei ausgezeichneten
Frauen , die in verschiedenem Masse die Ent-
wickelung feinerer Sitten durch ihren persön-
' Gedenken wir in diesem Zusanimenh<ing auch derMnrchen
von Cupido und Atropos, welche Lemaire durch ein Sonett Sera-
finos eingegeben wurden. Ucber Filelfos Einfluss zu sprechen,
hillt schwer, da seine lyrischen Gedichte verloren gegangen
sind, soviel ich weiss.
- 304 -
liehen Einfluss so wesentlich gefördert haben :
Anna von Frankreich, Margareta von Oesterreich,
Anna von Bretagne. Die hervorragende Stellung,
welche die Fürstinnen an den Höfen von Moulins,
Turin, Mecheln und Blois einnahmen, ihre geistige
Bedeutung, ihr moralischer Einfluss und ihre
Liebe für Kunst und Wissenschaft haben die
feinere Geselligkeit in Frankreich im Beginn des
16. Jahrhunderts eigentlich geschaffen. Was ver-
dankt ihnen Lemaire? Sicherlich nicht wenig.
Das allermeiste verdankte er aber seiner
eignen reichen Begabung.
XXI.
Was unseren Dichter von vornherein aus-
zeichnet, das ist der mächtige l3Tische Hauch,
der von seinen Lippen weht. Diese Gabe, die
ihm die Natur in ihrer Freigebigkeit spendete,
bildet das hervorragendste Merkmal seiner dich-
terischen Erscheinung und verleiht seinen Werken
in stetig zunehmender Vollkommenheit ihren
dauernden Wert. Was auch Gegenstand seiner
Dichtung sein mag, er weiss dem einfachsten
Dinge eine poetische Seite abzugewinnen. Er
hat eine merkwürdige Weise, Alles lebendig und
belebt aufzufassen; daher die Anschaulichkeit
seiner Werke, sei es dass er einen schlichten
Vorfall erzählt oder stimmungsvolle Natur-
bilder entwirft, sei es dass er Allegorien in die
Handlung einwebt oder die Götter- und Halb-
— 3()5 —
ijöttcrwelt der Griechen wieder erweckt; er
lasst uns mit der Macht der Begeisterung und
trägt uns mit sich in das Land der Phantasie,
wo Alles lebt und sich bewegt und fühlt und
Gestalt gewinnt, wo ein Puls durch das Ganze
schlägt und dem kleinsten Teilchen Leben zuführt.
Anfänglich in der Manier seiner Vorgänger
befangen, ist Lemairc immer selbständiger
geworden in der. Erfindung und hat Züge von
unvergänglicher Schönheit gefunden. Mit einer
seltenen Objektivität paart sich bei ihm ein
durchaus persönlicher Ton; in wessen Namen
er auch spricht, nie fällt er aus der Rolle, und
doch fühlt man stets an der inneren Bewegung,
dass der Dichter nahe ist; aber auch die Ein-
heitlichkeit und der beflügelte Schwung seiner
Dichtungen.
Die lyrische Inspiration belebt auch seine
Sprache und gibt ihm die reizenden Bilder und
herrlichen Verse ein, welche Jeden überraschen
und entzücken, der seine Dichtungen mit Liebe
durchfliegt. Sie reisst ihn lort zu jenen uner-
warteten Ausrufen, Flügelschläge der Phantasie,
die sich plötzlich über das Alltägliche erhebt;
sie lehrt ihn auch, ganz einfachen Worten dra-
matischen Ausdruck zu verleihen; vor Allem
flösst sie ihm aber Wendungen von wahrer
Poesie ein, welche einen neuen Horizont eröff-
nen und wie mit einem Sonnenblick aus Wolken
beleuchten. Als gottbegnadeter Dichter findet
Becker, Jean Lemaire. 40
306
Lemaire ungesucht die weitbeschwingten Verse
— Bild, Ausdruck und Rythmus, alles im Ein-
klang — , die kein Suchen, keine Ueberlegung
fertig bringt, wenn nicht höhere Eingebung sie
zuraunt. Bilder, eine ganze Fülle von Bildern,
fliessen von selbst in seine Rede ein; der poetische
Vergleich ist für ihn eine natürliche Anschauungs-
weise, instinktmässig ist er darin Homer ent-
gegengekommen.
Und dabei sind es nicht blos einzelne Anläufe,
sein Flug hält sich auf der Höhe, die er erreicht
hat, und strebt eher weiter und weiter hinauf
Die Fähigkeit, die er besitzt, die Stimmung fest-
zuhalten und bis zum Ende zu steigern, gestattet
ihm, sich ungehemmt der Eingebung des Augen-
blicks hinzugeben; wie der Vogel, der in den
Lüften kreist, schwebt er hin und her und fürchtet
nicht zu fallen, wenn er unterwegs sich spielend
erlustigt. Weit entfernt, sich künstlich zu er-
wärmen, scherzt Lemaire mit der Begeisterung,
dämpft sie, hält sie zurück; denn er braucht
ja blos die Schwingen auszubreiten, um von
ihrem Hauche davongetragen zu werden.
Ausserordentlich beachtenswert ist es, dass
die schönsten und im reinsten Sinne dichterischen
Werke Lemaires, die Briefe des grünen Lieb-
habers, der Tempel der Venus, die Märchen
von Cupido und Atropos, scherzhafte Fiktionen
sind, denen er freiwillig ein persönliches Gepräge
gegeben hat, launige Einfälle, welche seiner
307
Einbildungskraft einen unbegrenzten Spielraum
err)ftncn ; in diesen wundervollen Schöpfungen
seiner Phantasie hat er sich ganz der Freude
am Gestalten und am ungehemmten Ausströmen
der Empfindung hingegeben. Bei dem fami-
liären Ton, den er dabei anschlug, lag die Ge-
fahr fern, dass er als neuer Ikarus die Wachs-
iUigel an der Sonnenglut einbUssen würde; das
heisst, Lemaire, der erste wahrhaftige Lyriker
des 16. Jahrhunderts, ist trotz seiner unbestreit-
baren Anlage kein Dichter im Geiste Ronsards
geworden, ein junger Aar, der auf Pindars
Parten die Höhen der Luft durchlliegt. \'or
dem schwindelnden Abgrund zurückbebend, ist
er bescheiden in niederen Regionen auf den
blumigen Triften gewandelt, wo Catull einher-
geht, w^enn er Lesbias Sperling besingt. Die ersten
Werke deuteten diese Umkehr nicht an; Weihe,
Schwung und Wärme bleiben bis zum Schluss
Eigenschaften seiner Dichtungen; die Eingebung
ist aber eine andere geworden. Woran liegt es?
— Am Zufall des Lebens; am Beifall, den er
land. Jedenfalls hat sein Ruhm dadurch nichts
eingebüsst; seine schönsten dichterischen Leist-
ungen bleiben immerhin diese frischen, phantasie-
vollen Ergüsse seines Genius, wo sich lyrische
Kraft mit neckischem Humor paart, wo er in
ihrer ganzen Fülle die Schütze seines Geistes
und seines Gemütes, seinen lieblichen Natur-
sinn, seine lebendige Gestaltungskraft, seine
— 308 —
künstlerisch drastische Lebensauffassung, aus-
geschüttet hat. Auch Ronsard ist schliesslich
von Pindar zu Anakreon übergegangen und
wahrlich nicht zum Schaden seines Nachruhms.
Die lyrische Begabung Lemaires geht Hand
in Hand mit seiner Liebe zur Natur und einem
innigeren Verständniss für ihren geheimniss-
vollen Zauber. Seine Vorgänger haben um die
Wette den Mai geschildert, um dann unter
einem Baume in einen allegorienschwangeren
Traum zu versinken. Lemaire ist der erste, der
unserem wehmutsvollen Sehnen nach der Natur
Ausdruck verliehen, der die Stille des Grabes
mit ihrem lieblichen Vorhang umflochten hat,
nicht in romantischer Schwermut, sondern in
lebenswarmer Freude an der schönen, herrlichen
Welt. Im Liebesroman der Illustrations de Troye
hat er dann die Pracht und die Anmut ihrer
wechselnden Reize mit dem Knospen und Blühen
menschlicher Gefühle verwoben. In seiner naiv
selbstbewussten Sprache hat er wundervolle
Ausdrücke gefunden, um den heissen Sommer-
tag zu schildern, an dem zwei in Liebe erglü-
hende Herzen sich einander erschlossen haben,
oder die rauhen Wintertage, wo sie in ihrer
ärmlichen Hütte, deren Strohdach unter der Last
des Schnees nachgibt, nur ihre Jugend und Liebe
haben, um sich warm zu haltend Auch die
> Endementiers que les dcux vra3s amants cueilloicnt Je
doux fruit d'amoureusc jouissancc, le der Titan r^issant par
— 309 —
Schauer und Schrecknisse, welche den Menschen
umgeben, wo verblendete Leidenschaft ihn in
die Irre führt, hat er angedeutet. Ob gut oder
schlecht unser Wandel ist, in der Natur spiegelt
er sich wieder, und ihre Stimme spricht, wo die
des Gewissens erstickt wird'. Wenn Trauer
uns befällt, so will es uns scheinen, als nähmen
alle Geschöpfe, lebende und leblose, an unserem
Schmerze Teil ; Sturm erschüttert sie und Angst
beklemmt ihre Herzen. Wenn aber Venus er-
scheint, da schweigen die Elemente, und die Erde
kleidet sich in frischen Frühlingsschmuck 2.
Xicht bloss für das Malerische der Land-
schaft in seinen mannigfaltigen Schattierungen,
auch für die Anmut und den Reiz menschlicher
Schönheit hat Lemaire Farben gefunden , lieb-
los arcures du Zodiaquc, par dcvant la maison de la Vicrjfc,
jcltoii son ro)Lrard cn lorrc, et voyoit 1c noble .^oust, un moys
imperial lout nud, tout hasKJ, recueillaiit ses espics avec la
deesse Ceres; les cvRales et les joycux crinchonncts cstrivans
parm> les ehaumcs et Ics buissons du fremissement de Icurs
resonnances, faisoient retentir l'air et la campaigne. LaqucUc
de grand ardeur scmbloit fumer et cstre prochaine il combus-
tion. si n'eust est(J que le gracieux vent Eurus vcnant des par-
lies Orientales sc parfor<;nit de adoucir la vehemence du chaud
cstival, et faisoit mouvoir la sommile des arbres, bransler dou-
cettement les branches et bruire les fueillettes, pour rcndre
l'ombre plus dclicieuse aux amants. ». lllustrations I, 36. Oeuvres 1,
184. — Cf. I, 37. ibid. 193. «Et quand ce vint que le riche temps
d'auiomne eut mis en {rrcnici tout son tresor et amas fructueux
de l'annee, ponr le vivre et Provision des animaux marchans
sur terrc, etc. >
' Z. B. bei der Entführung Helenas. Ulustrations II, 8.
Oeuvres 11, 80.
" Vgl. z, B. die Rcgretz de la Dame infortunee und die
Beschreibung des Tempels der Venus.
- 310 -
liehe und glühende. Mit welchem Wohlbehagen
hat er das Bild der Nymphe Oenone in ihrer
anspruchslosen Grazie ausgemalt, oder die For-
menfülle der Venus mit ihrem blendenden Lieb-
reiz! Eine Reihe hübscher Skizzen Hesse sich
aus seinen Werken zusammenstellen, alle mit
feinbeobachteten Einzelzügen, wie Fingerzeige
für den Maler; denn seine Dichtungen verlangten
eigentlich die fortlaufende Auslegung durch die
Hand des Künstlers. Statt dessen haben sie
unverdienter Weise nur Druckerschwärze zur
Verzierung erhalten, während so manches litte-
rarisch unbedeutende Produkt des 15. Jahrhun-
derts durch hervorragende Meister mit den
herrlichsten Miniaturen geschmückt worden ist.
Der Liebesroman von Paris und Oenone von
Lemaires kalligraphischer Hand geschrieben und
von Perreal im frischen Renaissancegeschmack
illustriert, welche Pracht wäre solch ein Denkmal!
Wie ein Grieche belebt Lemaire die Natur
mit Göttern und Halbgöttern. Faune und Feen
tanzen im Mondenschein. Nymphen lauschen
hinter dem grünenden Gebüsch. Sonne, Winde,
Jahreszeiten, Monate werden zu fühlenden und
teilnehmenden Wesen; es ist ein Spuk und der
Dichter glaubt beinahe daran. Bisweilen aber be-
sinnt er sich, und mitten in das anmutige Spiel der
Phantasie keilt er eine jener razionalistischen
Deutungen ein, von denen Boccaccio in seiner
unerfreulichen Genealogie der Götter ein dickes
— 311 —
Buch zusammengestellt hat. Am burgundischen
Hof hatte , wie es scheint , diese undichte-
rische Ueberführung der alten Heidengötter und
Heroen in die Plattheit menschlicher Verhält-
nisse lebhaften Anklang gefunden; sie entsprach
der mittelalterlichen Gewohnheit die Gestalten
früherer Jahrhunderte in das zeitgenössische
Gewand zu kleiden'. Lemaire hat sich grosse
Mühe gegeben, seinen Lesern die alte Welt in
ihrer Eigenart und vor allem ihre mythischen
Figuren, so wie sie ihm aus den römischen
Dichtern, aus Ovid, aus Virgil, lieb und vertraut
waren, anschaulich vor Augen zu führen. Sicher-
lich dachte er dabei an die darstellende Kunst
und suchte ihr neue Wege zu weisen. Hatte
der Maler bisher Jupiter, Herkules oder Hcktor
in voller Rüstung zu Fuss oder zu Pferd mit
Schwert und Lanze k.ämpfen lassen, wUhrend
die Schaar der Reisigen am Umrang einer
Anhöhe den Augenblick zum Anprall abwartete,
so zeigte ihm Lemaire mit Aufwand grosser
Gelehrsamkeit den bemannten Streitwagen im
Getümmel der Schlacht, und in der Paliistra
den nackten Ringkämpfer mit Oel gesalbt. F"rei-
lich bei der Ueberarbeitung, oder wenn er an
seine Leser dachte, wandelten den Dichter man-
cherlei Bedenken an; er machte dann allerlei
kleine Zusätze, welche die Frische der ursprüng-
' Vgl. z. B. die Geschichte des Trojanerkrieges von Kuoul
Le Febvre mit ihren herrlichen Miniaturen. Bibl. nat. ms. fr.225.">;;.
— 312 —
liehen Auffassung mit unangenehmen Wider-
sprüchen durchklüften.
Für die Dichtkunst wie für die bildenden
Künste bedeutet die Renaissance eine Rückkehr
zur Natur. Die Italiener glaubten dieselbe in
den Ueberresten der alten Kunst zu erblicken
und eigneten sich bald deren Schönheitsideal
an. Die Nordländer, denen jene Schätze ungleich
schwerer zugänglich waren, suchten die Natur
in einem gewissen Realismus, welche sie durch
die tiefempfundene Wiedergabe des seelischen
Ausdrucks veredelten. Ganz anders stand die
Poesie auch im Norden dem Altertume gegen-
über; die klassischen Schriftsteller hatten nie
aufgehört als Muster zu gelten ; die Buchdrucker-
kun^t legte ihre Werke einem Jeden in schönen
Exemplaren nahe; die Griechen wurden in ele-
ganten Uebersetzungen verbreitet. Dem Alter-
tum wendete sich die Dichtkunst naturgemäss zu
und bemühte sich, dasselbe mit unbefangenem
Urteil zu begreifen und das Ideal, das seine Schrift-
steller erreicht hatten, in den modernen Sprachen
zu verwirklichen. Mehr als irgend einer seiner
Zeitgenossen hat Lemaire in dieser Hinsicht
geleistet. Mitunter hat er sich rückhaltlos der
antiken Eingebung überlassen; freilich hat er
sich niemals vollständig frei gemacht von der
Anschauungsweise seiner Zeit, die oft uner-
wartet in naiven Bemerkungen durchbricht und
unser Lächeln hervorruft. Trotzdem bleibt es
- 313 -
wahr, dass er der Poesie des 16. Jahrhunderts
die Bahn eröffnet, und dass Mancher von den
Späteren aus ihm gelernt hat.
Lemaire ist kein Humanist wie Erasmus
oder Jakobus Faber; es fehlte ihm der Beruf
dazu; nicht für die gelehrte Welt schreibt er,
sondern für die weiteren gebildeten Kreise, vor
allem für die Frauen, zu deren gewählter Unter-
haltung das Lesen verschiedentlicher Bücher
gehört. Nichtsdestoweniger bleibt er ein gelehrter
Schriftsteller von recht umfassendem Wissen.
Er hat gründliche vStudien gemacht und verfolgt
aufmerksam die neuen Erscheinungen. In erster
Linie hat er natürlich die alten Dichter gelesen
und sich an ihrem Stil gebildet; seine Lieblinge
sind Ovid, Virgil, Lucanus, Apuleius und Seneca.
Horaz führt er nirgends an. Griechi.sch verstand
Lemaire nicht; Vallas Uebersetzung erlaubte
ihm aber Homer zu lesen, und Erasmus machte
ihn mit Euripides bekannt.
Sein Hauptstudium waren die Geschicht.s-
schreiber ; da kennt er nicht bloss Caesar, Livius,
Sueton, Tacitus, Vopiscus, Florus, Josephus,
Hieronymus, Orosius, Cassiodor, Sigebert, Vin-
centius von Beauvais, Jakob von Guise, Jacobus
Bergomensis, sondern auch Homer, Herodot,
Thukydides, Plutarch, Diodorus Siculus, Dion
von Prusias, welche neuerdings in lateinischer
Sprache gedruckt worden waren; er hat in
Handschriften die Gesta Francorum, den Ligu-
— 314 —
rinus, Gottfrieds Pantheon, die Chronik von
Brabant und deren metrische Fassung gefunden ;
iur spezielle Partien hat er Juvencus Coelius,
Flav'ius Blondus, Sabellicus, Michele Riccio,
Piatina, Laurentius Valla, Volaterra, Petrus
Crinitus, u. v. A. zu Rate gezogen. Leider schenkt
er den mittelalterlichen Fälschungen des Darcs
und Dictys noch Glauben und ist auf die trau-
rige Sammlung der Altertümer des Annius von
Viterbo verfallen. Auf Grund seiner umfassenden
Lektüre und emsigen Forschungen fühlt er sich
berechtigt, seinen Meister Guaguinus zurecht zu
weisen und der Leichtfertigkeit zu zichtigen.
Mit Vorliebe hat sich Lemaire auch mit
Länderkunde befasst und unzählige geogra-
phische Exkurse in seine Werke eingestreut.
Sein bester Gewährsmann ist Strabo; daneben
hat er sich zahlreiche Notizen aus Plinius, Ptole-
mäus, Caesar und seinem Kommentator Marlian,
Vibius Sequester, Gervasius von Tilbury, Pius
des II. Beschreibung von Asien, Bernhard von
Breitenbachs Reise nach dem gelobten Land,
auch nach mündlichen Erkundigungen und
eigener Anschauung gemacht; freilich zeigen
diese, wie sehr die zeitgenössischen Kenntni.sse
noch im Argen lagen. Die Mythologie und
Geschichte der Heroen lernte man am besten
aus den alten Dichtern kennen, welche meistens
mit älteren oder neueren Kommentaren aus-
gestattet vorlagen; Lemaire führt eine ansehn-
— 3ir> —
liehe Schaar derselben an: ausserdem schöpfte
er eine eigentümlich verdrehte Auslegung der
alten Sagen aus Fulgentius und Boccaccio. Für
die Astrologie, die ihm sehr vertraut ist, stützt
er sich auf Iginius und Firmicus. Ferner kennt
er alle medizinischen und astrologischen Geheim-
nisse der mittelalterlichen Steinkunde und er-
gänzt sie sorgfältig aus Plinius' Naturgeschichte.
In seiner Weise bricht Lemaire Bahn und
arbeitet an einem Werke der Popularisierung»
wenn ihm gleich eine feste Methode und Folge-
richtigkeit fehlen. Bald wurde er in Frankreich
von wirklichen Humanisten überholt; man sieht
aber schon bei ihm die charakteristische Nei-
gung nach den Realien, die den französischen
Humanismus auszeichnet, und jedenfalls muss
man ihm die Ehrlichkeit zu Gute anrechnen^
mit der er all diesen Wissensstoff den französi-
schen Lesern zugänglich zu machen bemüht war'.
Die gelehrten Zugaben in allen Gebieten
sind aber doch nur Nebenwerk. In erster Linie
ist und bleibt Lemaire Poet und Stilist; diese
Eigenschaften sichern seinen dauernden Nach-
ruhm. Wir haben hinlänglich dargethan, dass die
Illustrations de Gaule hauptsächlich als anmutiger
Roman, als lebensfrische Darstellung bukolischer
Szenen unsere Bewunderung verdienen. Die
* Ueber diese ausserordentliche Uelesenhcit Lemaires und
seine vielseitigen Interessen orientiert ein Blick in die Ver-
zeichnisse der von ihm benutzten Schriftsteller im Anh:ing an
die drei Bücher der Illustrations.
— 316 —
Idylle ist das Gebiet, in dem Lemaire eigentlich
heimisch ist, und man kann sagen, dass er in
dieser Sphäre das Ideal der Liebe erneuert hat.
Das ganze 15. Jahrhundert hatte sich vom Land-
leben ein lächelndes Bild entworfen und von der
Liebe der Hirten und Hirtenmädchen geschwärmt;
er betrachtete sie mit den Augen der Städter,
welche die Landbevölkerung um ihr ungezwun-
genes Dasein und ihren ungetrübten Genuss
beneiden'. Lemaire hat — mit soviel Glück und
Geschick, als Jeder ihm zuerkennen mag — den
spätgriechischen Hirtenroman durch selbständige
Erfindung neuerstehen lassen ; est ist das harmlose
Schauspiel des ungehemmten Aufwachens un-
verfälschter Liebe in zwei jugendlichen Herzen.
Die ländliche Umgebung gehört dazu als Bedin-
gung der Unschuld und vollen Weltabgeschlos-
senheit, sie umrahmt die idyllische Szene mit
ihrem malerischen und stimmungsvoll mitwir-
kenden Hintergrund; die beiden Helden aber
gehören durch ihre Abstammung höheren Krei-
sen an und sind nur durch Zufall in diese Nie-
drigkeit versetzt, das verlangt ihre Schönheit
und die Zartheit ihres Empfindens. Unseren
Roman unter diesem Gesichtspunkt betrachtet,
ist es beachtenswert, dass Paris' Liebe zu Oenone
' Es ist ein aller Gemeinplatz der französischen Poesie,
der sich von Alain Chartier bis Octovien de Saint-Gelais bei
allen Dichtern wiederfindet, obwohl gerade im lö. Jahrhundert
die Lage des Bauernstandes nach den langen Kriegen keines-
wegs beneidenswert war.
— 317 —
nur eine Episode bildet; nur seine Geschichte
verfolgen wir von Anfang bis zu Schluss, selbst
nachdem er die Jugendgeliebte Verstössen hat ;
ihn sehen wir aufwachsen, zum Jüngling heran-
reifen, bis eines Tages die Nymphe wie eine
höhere Erscheinung vor ihn tritt. Mystisches
Geheimniss umgibt sie; Apollo, das hören wir,
hat sie ihrer jungfräulichen Unschuld beraubt;
es liegt aber in ihr etwas so erhabenes, reines
und zugleich zur Liebe zwingendes, dass Paris
ihrem Zauber nicht widerstehen kann. Mit dem
ersten Funken der Liebe flammt in des Jüng-
lings Herzen auch zugleich das Verlangen auf,
und die Lösung erfolgt so unvermittelt, dass
der Dichter das Ueberraschende der Situation
nur durch eines seiner herrlichen Bilder ver-
decken konnte •. Die eroberte Gunst ist aber
für den Mann eine ewige Verpflichtung; sein
Glück und sein guter Geist ziehen mit der jun-
gen Frau in sein Haus. Wird er ihr untreu, so
tauscht er gegen die im versiegbare Liebe, die
ihn nie vergessen wird bis in den Tod, die ehe-
brecherische Leidenschaft ein, die ihn und sein
Geschlecht zum Verderben führen soll.
> « Car ainsi comme il advient aucunesfois quc Ics pus-
toureaux des champs par inadvcrtance ont laissö un charbon
de feil cntre les seichcs foutfieres, et il survicnt aucun impe-
lueux vent chaud et mcridional , qui allume les festuz et
fueillettes gisans alentour, tantost la flambe csparsc prenanc
vigueur, surprcnt ce qui luy est voisin, et ne cesse de forscncr
parmj- les bruycres, jusques i\ cc qu'ellc ayt tout mls en cendre:
Ainsi pareillemcnt ...» Oeuvres I, 183.
- 318 -
Im Vergleich zu ihrem poetischen Gehalt
tritt meines Erachtens die Bedeutung der lUu-
strations als Geschichtswerk stark zurück und
sie wird für uns durch den fabelhaften Charakter
ihres Inhalts noch vermindert. Die Ueberrasch-
ung der ersten Leser über die staunenerregenden
Mitteilungen aus Annius von Viterbo machte
bald dem gerechten Umschwung Platz, und die
Spötter fielen über diese Merkwürdigkeit her'.
Ernster war die Leistung des dritten Buches;
■ein achtenswerter Wissensdrang hatte den Ver-
fasser wirklich tiefer gründen lassen, aber die
Nacht war noch so dicht, dass ein Einzelner in
seinen Mussestunden die Finsterniss nicht zu
durchbrechen vermochte 2. Das letzte Buch, das
nie erschien, hätte eine gewisse politische Ak-
tualität erhalten, indem es dem Gedanken eines
allgemeinen Kreuzzuges neue Nahrung gab.
Die Erzählung sämmtlicher von den Christen
gegen die Türken geric:hteten Unternehmungen,
die Beschreibung Griechenlands und Kleinasiens,
die es enthalten sollte, wäre sicherlich unter
Lemaires Feder ein begeisterter Mahnruf zum
heiligen Kriege geworden.
Allerdings — der neue Glanz, den die Illu-
strations um die Trojanersage als französische
1 Z. B. der anonyme Discours non plus mclancolique que
•divers. Cf. Leber, Collection des meilleurs dissertations etc.
I, 36, Paris 1838.
2 Auch dieser Teil wurde angefochten z. B. von J. Bouchct,
Annales d'Aquitaine auf Grund von Trithemius'Pseudo-Hunibald.
- 319 -
Stammsajjc woben, wirkte nach, indem sie die
I^opularität dieses Glaubens frisch belebte. In
diesem Sinne bereitete Lemaire Ronsards Fran-
ciade vor; als Quelle aber hat er ihm nicht
iifcdicnt, da die Abschnitte der Illustrations, die
sich mit Frankus befassen, doch zu summarisch
sind.
Mit dem lebhaftesten Interesse vcrfolj^te
Lemaire die Ereignisse der Tagesgeschichte;
er betrachtete sie nicht als gleichgültiger Zu-
schauer, sondern mit feurigem, leicht erregbarem
Eifer und einem auf das Praktische gerichteten
Geist. Seine offizielle Stellung als Indiziarius
gewährte ihm einen gewissen Einblick in das
Getriebe der Politik, die nahen Beziehungen zu
den Fürsten reiften die loj-ale Anhänglichkeit
seines Gemütes zu thatkräftiger Ueberzeugung.
Der Friede von Cambrai .Hess ihn ein Ideal
erschauen, an dessen Verwirklichung er glaubte:
die Eintracht der Herrscher Europas und der
vereinte Kreuzzug gegen die Türken. Vom
Standpunkt dieser idealen Ueberzeugung aus
suchte er zweimal auf die öffentliche Meinung
einzuwirken. Den litterarischen Wert der beiden
Schriften haben wir besprochen ; ihre Bedeutung
als Flugschrift wurde durch den riesigen Erfolg
besiegelt. Das Geheimniss ihrer Wirkung liegt
in der Kraft der Sprache, der Klarheit der
Sätze, der Heftigkeit der Polemik und vor allem
in dem Reichtum der Thatsachen, welche der
— 320 —
Verfasser in einfacher, gemeinverständlicher
Weise den Lesern vorlegt; er beruft sich auf ihr
Urteil; sie sollen selbst sehen, wie die Vergan-
genheit auf Gegenwart und Zukunft Licht werfen
kann Für die Geschichtsforschung bleiben die
Streitschriften, namentlich die zweite, ein Denk-
mal der aufgeregten Stimmung, welche dem
grossen kirchlichen Zerwürfniss des 16. Jahr-
hunderts vorausging und die Reformation ^vor-
bereitete.
XXIT.
Früh hat sich in Frankreich eine einheitliche
Schriftsprache gebildet, und alle politischen
Stürme scheinen die fortlaufende Tradition nicht
unterbrochen zu haben. Im Verlauf des 14. und
15. Jahrhunderts hat allerdings die französische
Sprache tiefgreifende Veränderungen erfahren;
ihr Bau wurde durch das Eingehen der Dekli-
nationsformen ergriffen; der Wortschatz erhielt
einen neuen Charakter durch das unaufhaltsame
Einsickern fremder Bestandteile. Indem die Ver-
allgemeinerung der scholastischen Bildung in den
bürgerlichen Kreisen die Kenntnisse erweiterte,
schuf sie die Anschauungsweise der mass-
gebenden Stände um und erzeugte neue Bedürf-
nisse für Ausdruck und Verkehr ; Litteratur und
Sprache bekamen gleichzeitig ein gelehrtes Ge-
präge. Als nach den Wirrnissen des englischen
Krieges Frankreich zu festerer Einheit erstarkte,
vollzog sich auch der Klärungsprozess der
— 321 —
Sprache; gegen Ende des 15. Jahrhunderts schien
sie mit ihrer abschliessenden Form auch das
alte Ansehen wiedergewonnen zu haben. Mit
vollem Recht konnte Lemaire sagen, dass dies-
seits der Berge keine Sprache so elegant, so
verbreitet und an den Fürstenhrilon so beliebt
war wie die französische'.
Wohl hatte das Französische noch nicht die
feste Geschlossenheit wie heutzutage; es ver-
trug innerhalb gewisser Grenzen landschaftliche
Färbung; allein der rege Verkehr zwischen den
grossen Kulturmittelpunkten und die engen Be-
ziehungen, welche die massgebenden fürstlichen
Persönlichkeiten verknüpften, werden auch in
dieser Hinsicht einen Ausgleich bedingt haben.
Es ist nicht wohl denkbar, dass man am Hofe
von Bourbon um Anna von Frankreich erheblich
anders gesprochen hätte als in der Umgebung
ihres Bruders, Karls des VIII. Margareta, welche
unter ihrer Aufsicht erzogen worden war, wird
wohl in Turin, wie in den Niederlanden die
Sprache ihrer Kindheit beibehalten haben. Sollte
sich Perreal in Lyon anders ausgedrückt haben
als inBlois? An Lemaires Redeweise sind keine
merklichen Unterschiede wahrzunehmen, obwohl
er bald im Norden, bald im Süden gelebt hat;
seine Schriften waren nicht für eine Provinz,
sondern für ganz Frankreich bestimmt. Freilich
seine Sonderheiten hat er wohl; Palsgrave, der
* Ulustrations I, 1.
Becker, Jean Lemaire. 21
— 322 —
sich um jene Zeit mit französischer Grammatik be-
schäftigte, hat mehrere angemerkt und es wird
die Aufgabe einer kritischen Ausgabe sein,
wenn wir endlich eine erhalten, festzustellen,
was bei Lemaire heimatliche Eigentümlichkeit,
was blos überlegte Rechtschreibung, was all-
gemeiner Zeitgebrauch ist'.
Wir wissen zu gut, dass die menschliche
Rede sich in ewigem Fluss befindet, als dass
wir heute noch behaupten sollten, dieser oder
jener Schriftsteller habe eine Sprache fixiert,
am allerwenigsten im 16. Jahrhundert, wo ein
Geschlecht nach dem andern in stürmischem
Drang seine Eigenart zur Herrschaft zu bringen
sucht und durch Missachtung des Früheren den
Wechsel beschleunigt. Lemaires Bedeutung für
die Geschichte der französischen Sprache scheint
mir in seiner Meisterschaft als Stilist zu liegen,
in der Kunst und dem inneren Verständniss,
mit denen er die dichterischen Ausdrucksmittel
der Sprache ausgebeutet hat, und in der bewun-
dernden Anerkennung, die seine Zeitgenossen
und die nächsten Generationen seinen Bemü-
hungen gezollt haben. In seinen Schriften prangt
' Palsgrave, dclaircisscmcnt de la langue fran^aise (Docu-
ments in€dits pour servir ä l'histoire de France) Paris 18öl'.
(Erschienen 1530—31.) Die Autoritäten, die er anführt, sind vor-
züglich A. Chartier, O. de Saint Gelais, J. Lemaire. Seine
Bemerkungen sind durch das ganze Buch zerstreut und betrcflcn
meist nur Einzelheiten. — Wie ein kritischer Text der Werke
Lemaires herzustellen ist, beabsichtige ich demnächst im Litte-
raturblatt für germ. und rom. Philologie zu besprechen.
— 323 —
ein üppiger Blütenwuchs von Worten, \\ ■ :
düngen und Bildern, aus dessen Fülle die Xach-
kommen mit vollen Händen pflücken und Striiusse
binden durften. Die Farbenpracht, die er ent-
faltet, lässt vielleicht die Weichheit der Ab-
tönung vermissen ; aber die Harmonie der satten
T()ne ist sorgfältig beobachtet und kunstvoll
zurechtgelegt ; der Sprache fehlt noch das rechte
Bindemittel, welches das zartere Verschmelzen
der Farben möglich macht: gewisse Schat-
tierungen sind in der schweren lateinischen
Periode mit den ellenlangen Partikeln nicht
erreichbar. Mit den hervorragend schönen Seiten,
die er geschrieben, hat Lemaire im Beginn des
16. Jahrhunderts der französischen Litteratur
einen ähnlichen Dienst erwiesen wie Chateau-
briand an der Schwelle des unseren, er hat die
Macht des Sprachrythmus und Sprachklanges
und ihre verborgenen Beziehungen zu unserm
Affekte erfasst, und den Andern durch sein
Vorgehen zur Erkenntniss gebracht. Neuere
Beispiele zeigen, was die Initiative eines begabten
Schriftstellers vermag.
Wir können daher Estienne Pasquier nur
zustimmen, wenn er sagt: „Le premier qui ä
bonnes enseignes donna vogue ä nostre poesie,
fut Maistre Jean le Maire de Beiges, auquel
nous sommes infiniment redevables, non seule-
ment pour son livre de Tlllustration des Gaules,
mais aussi pour avoir grandement enrichy nostre
— 324 -
langue d'une infinite de beaux traits tant Prose
qua Poesie, dont les mieux escrivans de nostre
temps se sont sceu quelques-fois fort bien aider.
Car il est certain que les plus riches traits de
cette belle hymne que nostre Ronsard fit sur
la mort de la Reine de Navarre, sont tirez de
luy au jugement que Paris donna aux trois
Deessesi."
Lemairc . hat die französische Sprache be-
reichert; darunter hat man meistens verstanden,
dass er ihr eine Unmenge neuer Ausdrücke
zugeführt hat, indem er Römer und Griechen
ausplünderte. Ich weiss nicht, welcher unberufene
Kritiker so weit gegangen ist, ihn als den limou-
sinischen Schüler hinzustellen, über den sich Ra-
belais lustig macht. Gelehrte Ausdrücke findet
man in grosser Zahl in seinen Schriften, er hat
sie aber nicht eingeführt, sondern v-orgefunden,
wie sie ja grösstenteils heute noch fortleben,
teilweise in etwas abweichender Form. Hin und
wieder spielt er wohl mit Latinismen, das ist
sein Recht als Dichter 2. Oft muss er seine Zu-
flucht zu ihnen nehmen, weil der heimische
1 Estienne Pasquier, Rcchcrches de la France (1586) VII, 5
Er fährt fort : Cot autheur florit sous le regne de Louis XII et
veit celuy de Fran^ois I. — Pasquier spricht wiederholt von
Lemalre: VU, 9 hat er z. B. die Frage von dem Vorzug der
italienischen und französischen Sprache wieder aufgenommen.
- Solche Ausdrücke sind z. B. cheveux colubrins, chcf
auricome, der et irradiant usf. Vgl. '2. Ep. de l'amant vert:
leans trotte et ambullc
Le passeron de l'ainie Catiille...
- 32Ö -
Wortschatz ihn im Stich iJisst; namentlich wenn
er Gemütsbewegungen in gehobener Rede schil-
dern will, ist er verlegen und verHUlt hUufig
auf recht hüssliche Wendungen '. Der Eindruck,
den ich gewonnen habe, ist eher der, dass
Lemaire gegen den Latinismus ankiimpft. Er
bemüht sich, man sieht es, eine einheitliche
dichterische Sprache zu schaffen, eine höhere
Form der gewählten Umgangssprache; das volks-
tümliche Wort umgeht er nicht, wo es litterarisch
zulässig ist, er liebt sprichwörtliche Wendungen.
Allein oberstes Gesetz ist, die Würde der Sprache
zu wahren ; barbarisch und ungebildet darf sie
nicht sein. Schliesslich ist es nicht gleichgültig,
ob man einen alltäglichen Ausdruck gebraucht
oder ein schönes, seltenes Wort, dürfte es auch
manchen Leser anfremden, und Lemaire ist ein
zu feiner Stilist, um den Wert eines solchen Edel-
steins in gehöriger Einfassung zu übersehen.
Ein wilder Neuerer war Lemaire nicht; das
zeigt am deutlichsten seine Zurückhaltung im
Gebrauch neuer metrischer Formen. Es hängt
diese Bescheidenheit zum Teil damit zusammen,
da.ss er nicht dichtet um zu dichten, aus blos.ser
Freude neue Gebilde in die Welt zu setzen;
jeweils hat ihm ein besonderer Anlass die Feder
in die Hand gerückt, und unter diesen Um-
ständen genügten ihm die von selbst sich bieten-
' Z. B. Oeuvres I, 183. Le fort mouvement de naturc csmu
;ui joune Pjiris par Rrand calcfaction d'amoureusc concupisccncc.
- 326 -
den Formen mit einigen naheliegenden Abände-
rungen; ihre Einfachheit stand dem Gedanken,
der zum Ausdruck kommen sollte, wohl an, ohne
ihn ärmlich oder eintönig zu kleiden.
Nur eine Neuerung ist als Lemaires eigenstes
Verdienst zu betrachten, das ist die Einführung
der terse riine (vers tiercets) in die französische
Poesie, 'ce que nul autre de nostre langue
Gallicane ha encores attente d'ensuivre, au moins
que je sache''. Gleich in seinem ersten Werk-
chen that er diesen glücklichen Wurf, und zwei-
mal wiederholte er den Versuch mit gleichem
Geschick, in der Beschreibung des Venustempels
und im ersten Märchen von Cupido und Atropos.
Es ist bekannt, dass nach ihm Melin de Saint-
Gelais und die Plejade dieser eleganten Form
bleibendes Bürgerrecht in der französischen
Poesie verliehen haben-.
Eine grosse Zukunft erwartete die paar-
weis gereimten Zehnsilber, nachdem Octo vien
de Saint-Gelais diese vernachlässigte Form durch
seine Heroiden wieder zu Ehren gebracht hatte ;
mit Glück bediente Lemaire sich ihrer in Episteln
und selbständiger im zweiten Märchen von
Cupido und Atropos -^ Alexandriner paarweise
» Oeuvres III. 101.
•* Die Späteren haben gern in den Terzinen lauter weib-
liche Reime verwendet in Erinnerung an den italienischen
endecasillabo ; diese Spielerei lag Lemaire fern. In den folgenden
Jahrhunderten sind die terze rime zeitweise wieder ausser Ge-
brauch gekommen.
^ Paarweise gereimte Zehnsilber verwendet Lemaire im.
Prolog der Couronne margaritique. in den Episteln des grünen
zusammeri/cufüffen lernte Lemaire von Molinet;
wie sein Meister verwendete er sie in Grab-
schriften, angezogen, wie es scheint, durch den
Vergleich mit dem Hexameter'. Ferner ge-
brauchte er sie zu der Inschrift, die über den
Weg zum Minervatempel Aufschluss gibt: 'ce
beau dittier, wie er wörtlich sagt, compos^ de
rythme Alexandrinc, grave en la planure du
rocher ample et spacieux, laquelle taille jadis
avoit grand bruit en France, pource que les
prouesses du roy Alexandre le grand en sont des-
crites es anciensrommans: dont aucuns modernes
ne tiennent conte aujourdhuy; toutesvoyes ceux
qui mieux scavent en fönt grand estime'*. In
der That hatte die zwölfsilbige Langzeile in
Frankreich längst die Beliebtheit eingcbüsst,
deren sie sich um die Wende des 13. Jahrhun-
derts in so hohem Masse erfreute ; in den Nieder-
landen scheint aber ihre Pflege nie ganz auf-
gehört zu haben 3. Jedenfalls verhallte das Wort,
das Lemaire für diesen Vers einlegte, nicht
Liebhabers, der Epistel an Hektor und dem /weiten M.trchen
von Cupido und Atropos.
> Molinct, Epitaph Philipps des Guten im Anhang an den
Throsne d'Honneur. Lemaire, Epitaph für Molinei und Chas-
teUain, und Uebersetzunjr der lat. Epitaphiums für Gaston de
Foix 'rendu le Fran<;ois correspondant au nombre des syllabes
du Latin'. Oeuvres III, 196.
ä Oeuvres III, 131 Eigentümlicherweise wirft G. Tory im
Champfleury (1531) Lemaire vor, seine besten Züge aus jenem
Alexanderroman gezogen zu haben , ohne die Verfasser zu
nennen.
' Z. B. braucht Olivier de la Marche Alexandriner in der
alten Form der einreimigen Vierzeile. Ucberhaupt waren sie
auch in Frankreich nicht ganz vergessen.
— 328 -
fruchtlos. Clement Marot zwar betrachtet die
Alexandriner, wie sie nunmehr heissen, noch
immer als etwas ungewöhnliches und macht
seine Leser durch eine besondere Aufschrift
aufmerksam, wenn er sie zufällig verwendet.
Die Plejade aber gab dem Zwülfsilber die Hege-
monie unter den französischen V^ersmassen zu-
rück, und seitdem hat er sie nicht wieder ver-
loren.
Die strophischen Formen, die Lemaire ver-
wendet, sind ziemlich mannigfaltig; die Ver-
schiedenheit besteht aber meist nur in kleinen
Zuthaten oder Abzügen, so dass man sie auf
wenige Grundschemata zurückführen kann; im
wesentlichen ist es eine Auswahl der gebräuch-
lichsten Formen des Meistergesanges. Hier haben
wir die beliebte achtzeilige Strophe mit der Reim-
folge abaabbcc, welche Saint-Gelais und Molinet
so oft gebraucht haben, und ihre Abarten,
die Siebenzeile: ababbcc, und die Neunzeile:
abaabbcbc, oder die andere Achtzeile: ababbcbc.
Dort finden wir die grösseren Strophen, welche
in zwei S3'mmetrische, durch den Reim verbundene
Hälften zerfallen , Zwölfzeilen : aabaab bbcbbc,
oder Vierzehnzeilen: aabaaabccbcccb. Selbst die
Hirtenliedchen im Temple d'Honneur et de Vertu
in ihrer kunstreichen Zusammensetzung ahmen
genau Molinets ABC sauvaige nach. Gern ge-
braucht Lemaire nach dem Muster seiner Vor-
gänger Binnenreime, um neue Variationen zu er-
— 329 —
zeugen. Daneben hat er einige \'er.sucheg:cmacht,
Strophen aus verschiedenen Versmassen zu-
sammenzusetzen'. Die Kunst, mit der Lemaire
diese gelehrten Formen handhabt, die spielende
Leichtigkeit, mit der er die Schwierigkeiten des
Reimes überwindet, den kräftigen Schwung, den
er der rythmischen Periode verleiht, haben wir
an den Beispielen gesehen. Einen gemeinsamen
Zug haben fast alle diese strophischen Gebilde,
nemlich die Bedeutung des letzten Verses; er
bildet immer ein rythmisches Glied für sich, wird
nie durch Binnenreim zerlegt, und der Gedanke,
den er enthält, gewinnt leicht die prägnante
Schärfe einer Sentenz; man wird häufig an
Molinets Art und Weise, die Strophe mit einem
Sprichwort abzuschliessen, erinnert.
Neben diesen Gedichten freier Bildung ver-
wendet Lemaire auch einige Refraingedichte
fester Form, mit Vorliebe zu Gelegenheits-
gedichten; nemlich das Rondeau, die Ballade
zumal mit doppeltem Refrain, den ihm eierentüm
liehen Chant nouvel und das Doppel -Virelay-.
' Charakteristisch für den üinnenreim ist das Verhalten
ijegen die Caesurpcsetze, denen er natur),'emUss unterworfen
ist. Dieses Merkmal unterscheidet ganz besonders isometrische
Strophen mit Caesurreim von den hoterometrischen, wie die
Hede Hebes in der Couronne marijaritique und ein Teil der
Couplets de la valitude et convalescence de la royne. Die hier
verwendeten Verse sind Zehn- und Sechssilber.
ä Lemaire hat zwei Rondeaux geschrieben, eines älterer
Form, (24 4) h 4 Zeilen, in seinem ersten Werk, eines jüngerer
Form, (3 + 5) + 'i Zeilen, nach seiner Ankunft in Blois. Als Ballade
im weiteren -Sinne kann man die Oraison der Hs 40bl betrachten.
— 330 —
Regelmässigen Wechsel zwischen männ-
lichem und weiblichem Reim kennt Lemaire
natürlich nicht; dass er den weiblichen vorzieht,
liegt sicherlich am volleren Klang dieser En-
dungen und an der besseren Wirkung, welche
die grössere Seltenheit der Reimworte erzeugt.
Ganz gleichgültig gegen die Geschlechtsunter-
schiede der Reime war Lemaire aber nicht, in
der Rede der Rhetorik hat er genau die gleich-
massige Wiederkehr männlicher und weiblicher
Verse beachtet, und in der Klage um Philipp
den Schönen nur weibliche verwendet'.
Unserem Dichter verdankt der französische
\'ers auch eine technische Verbesserung, wenn
man es als solche gelten lassen will, doch nur
indirekt; es ist das moderne Caesurgesetz,
welches gebietet, dass jedesmal, wenn ein Wort
die Form ist ganz frei. Die Doppelballadcn (Temple d'Honneur
und Legende des Venitiens) haben zweifachen Refrain, erster
und letzter Vers jeder Strophe, die geraden in umgekehrter
Ordnung; die ungeraden Strophen haben jeweils einen "Vers
mehr als die geraden; sie sind durchgereimt; der Envoi fehlt. —
Chants nouveaux sind zwanzigzeilige Refraingedichtc, die in
drei Abschnitte von 8, 4, 8 Zeilen zerfallen. Das erste Vers-
glied, zwei M'^orte, wird als Versschluss am Ende des ersten
Abschnitts wiederholt, und dessgleichcn mit Umstellung der
beiden Worte im Anfang und Schluss des dritten Abschnitts
(vgl. Champier gcritil oben S. 90. Jicfi^ri'ts plus nula S. 112).
Aehnlich ist der Virclay double de nouvelle taille: Hautaitts
(Sprits, das in zwei zwölf/eilige Abschnitte zerfällt (S. 214).
Eher dem Rondeau ähnlich ist der Virelaj- double: Qiiatid il te
pinit, o haut Ältitonaiit (S. 248).
' Die Rede der Rhetorik in der Plainte du Dcsir<5 hat die
Reimform: aabaaab-,''|'b'j^Y'i'b , wobei a und *,' weibliche Reime
bezeichnen. Die Regretz de la Dame infortunee reimen ent-
sprechend: aa^jaa^ßßaßßa.
— :m —
weiblicher Endung vor den Verscinschnitt /u
stehen kommt, seine unbetonte Schlusssilbe durch
vokalischcn Anlaut des zweiten Vcrsgliedes eli-
diert werden muss. Anders war das Verfahren
der älteren Zeit; im Bcjuinn stand an einer be-
stimmten Stelle der Caesurverse, an vierter im
Zehnsilber, an sechster im Zwölfsilber, eine feste
Tonsilbe gerade wie im Reim, auf dieselbe durfte
ohne jede Bcschränl'ung eine unbetonte Silbe
folgen, die ebenso wenig gezählt wurde als die
Schlusssilbc weiblicher Reime. Um die Mitte des
13. Jahrhunderts kam man auf den Gedanken,
die Silbenzahl des ersten \'crsgliedcs unbedingt
festzusetzen, so dass man bei weiblicher Caesur
die früher feste Tonsilbe um eine Stelle zurück-
ziehen musste. Diese Neuerung hatte grossen
Erfolg, bald schien das jüngere Verfahren den
Sieg über das ältere davongetragen zu haben.
Denn selbstverständlich gebrauchten nur wenige
Dichter, wie Froissart, beide bunt durcheinander,
eine Scheidung vollzog sich naturgemäss, und
so kam es, dass Lemaire als Schüler der bel-
gischen Dichter nur die weibliche Caesur mit
beweglichem Accent, nicht die mit überschüssiger
Silbe verwendet, natürlich neben den gewöhn-
lichen männlichen Caesuren und den Elisions-
caesuren. Dass dies seine Absicht war, sieht
man aus den Strophen mit Binnenreim ; denn er
elidiert unweigerlich jeden weiblichen Caesur-
reim, und wo es wegen der Endung nicht angeht,
— 332 —
7Äeht er eben die Tonsilbe zurück, um die feste
Silbenzahl nicht zu überschreiten'. In vielen Ge-
dichten meidet er überhaupt die weiblichen Cae-
suren, in anderen aber und gerade in den späteren
lässt er sie ungezählt zu, und immer nur in dieser
•einen Form. Nun fügte es sich andererseits, dass
Clement Marot gerade dem entgegengesetzten
Verfahren huldigte, und in dem Gedichte, das
-er Lemaire zur Billigung vorlegte, mehrere un-
elidierte, überzählige Silben zugelassen hatte 2.
' Vgl. z. B. die Gedichte: A'ostrc eaige est brief und
Temple d'Honneur, Oeuvres IV, 336. ib. 194. S. oben p. 22. —
Alle Beispiele von weiblichen Caesuren mit überschüssiger Silbe
sind erst durch Entstellung des Textes in die späteren Ausgaben
hineingekommen; sie fehlen in den Originalausgaben. Die Fälle
von Belang sind:
PL du Dcsir^ I. str. 19.
Louis dousieinc oii fraiicigciic throne (1509).
Louis doiisieme du fraiicigeue throne (1512).
II. Str. 18. Grcbon qui pleurv un hon roy laccoinpaigne (1509).
Greban qui plcurc un bon roy la compaignc (1512).
Greban qui pleure d'un bon roy la compaignc (1549).
Str. 27. Et tousjoiirs tarhc ä Ictir bruit niactilcr (1509).
Et tousjours tachc Icur bruit inaculer (1512).
Et tousjours tachc Icur bon bruit niaculcr (1549).
R. de la D. infort. str. 12.
Hclas nion frcrc cslaut jadis /na joic (1509).
Hclas inon frcrc cstant jadis ina grand joie (1512).
Hclas nton frcrc jadis ina grandc joic (1549).
So bleibt denn nur der Vers der Chanson'» de Namur, str. 26.
Or chantcs donc, Bouvincs et Namur
Ardennc, Marchc, Poity, Bcauraiii, Bastoignc.
Die Eigennamen könnten die Ausnahme entschuldigen. Ich muss
aber bemerken, dass ich Pouy in jener Gegend nirgends gefunden
habe, wohl aber ist Hu>- an der Maas, östlich von Ardenne, ein
bekannter Ort. Liegt also hier nicht auch ein Druckfehler vor?
- Man mu'.s die ersten Ausgaben der Adolescence Cle-
mentine zur Hand nehmen, weil Marot später die betreffenden
Stellen geändert hat. Siehe z. B. oben S. 219 f., wo wir die
iiltcren Lesarten eingetragen haben.
- 333 -
Dies verwies ihmLemaire und machte ihn darauf
aufmerksam , dass in solchen Füllen die Elision
unbedingt erforderlich sei. Marot aber, nachdem
er noch einige Zeit geschwankt, wie seine nilchst-
folgenden Werke zeigen, folgte seiner Lehre
und Hess fürderhin nur männliche oder elidierte
Caesurschlüsse zu. Ein Zufall scheint es zu sein,
dass er nicht weiterging und sich als Ersatz für
die aufgegebenen weiblichen Caesuren mit über-
schiessender Silbe die mit beweglichem Accent
zu eigen machte; wahrscheinlich wollte sich .sein
Ohr nicht dazu bequemen, oder er übersah es
in seinem Leichtsinn. So entstand das neufran-
züsische Caesurgesetz, nicht durch die bewus.ste
Wahl eines Dichters, sondern durch das zußillige
Zusammentreffen der beiden gebräuchlichen Ver-
fahren und den dadurch hervorgerufenen Aus-
gleich : Lemaire, der angesehene Lehrer, verbot
die weibliche Caesur mit überzähliger Silbe,
weil er sie für falsch hielt; Marot, der folg-
same Schüler, verschmähte die mit beweglichem
Accent, weil er sie nie geübt hatte. Marots Vor-
gehen und Beispiel bestimmte aber das Verhalten
der folgenden Dichter, und ihre Praxis ist noch
heutzutage Gesetz.
Lemaire fand den Lohn seiner Arbeit in der
Anerkennung seinerzeit und der Nachwelt. Seine
Hauptwerke wurden seit 1515 fast Jahr für Jahr,
ie nachdem Bedürfniss da war, neu aufgelegt.
334
bis 1548 und 1549 ziemlich vollständige Gesammt-
ausgaben erschienen, welche für die Folgezeit
der Nachfrage genügten ' .
Das ganze 16. Jahrhundert bewahrte das An-
denken des Dichters in treuer Verehrung. Marot
erkannte in ihm, der Homers Geist besessen,
seinen inniggeliebten Lehrer. Palsgrave führt
ihn als sprachliche Autorität an. Halb aner-
kennend, halb spottend hat ihm Rabelais in seiner
allesumfassenden grotte.sken Epopcie seinen Platz
angewiesen. „Je veiz, so erzählt Epistemon, der
eben die Hölle gesehen hatte, maistre Jean le
Maire, qui contrefaisoit du pape, et ä tous ces
pauvres roys et papes de ce monde faisoit baiser
ses pieds; et en faisant du grobis leur donnoit
sa benediction, disant: Gaignez les pardons,
coquins, gaignez, ilz sont a bon marche ; je vous
absous de pain et de souppe, et vous dispense
de valoir jamais rien, et appella Caillette et Tri-
boulet, disant: Messieurs les Cardinaux, des-
peschez leurs bulles, a chascun un coup de pau
sus les reins. Ce que fut fait incontinent^."
Die Dichterplejade, welche die zweite Hälfte
des 16. Jahrhunderts mit so grossem Glanz er-
1 S. die Bibliographie, Anhang VIII.
2 Pantagruel II, 30. Lcmaire steht zwischen Patelin und
Villon; die lustige Travestie Rabelais' bestätigt den Erfolg der
Streitschrift von den Schismen und Konzilien; man denke an
Lemaires Aeusserungen tlbcr den Fusskuss. — Ich begreife nicht,
wie J. Stecher sagen kann: Kabelais ne s'est pas content^ de
railler ses etymologies et ses n(5ologismes; il l'a bafotii' pour
sa polömique gallicane et son trop grand attachcment ä Cr^tin-
Raminagrobis.
— IßT) —
füllte, hat es laut ausgesprochen, dass Lemaire
ihr auf der rechten Bahn vorangegangen war.
„Bitin dirai je, sagt Joachim Du Bellay in seinem
Manifeste, que Jan le Maire de Beiges me semble
avoir premier illuströ et Ics Gaules et la langue
fran(;o3se: luv donnant beaucoup de motz et
manieres de parier poetiques, qui ont bien servy
mesmes aux plus excellents de nostre tens"
Worauf der spiessbürgerliche Charles Fontaine
erwidert: „Je ne voeil point debatre avec les
mors, mais je demanderai hardiement cela: quel
est celuy qui voudroit ainsi parier que Jean le
Maire t'a escrit?" Sein Urteil stimmt aber mit
dem seines Gegners überein, wo er dessen Gering-
schätzung für die Gattung der Epistel „ces deux
epistres de l'Amant verd, tant riches en diversite
de plusieurs choses et propos que c'est merveille,"
entgegenhält'.
Ronsard, das Haupt der Schule, unterliess
es nicht, als er bereits für die neue Richtung
gewonnen war, immer wieder den Rosenroman,
Jan Lemaire de Beiges und Clement Marot zur
Hand zu nehmen, wie sein Biograph Claude ßinet
bezeugt, und Pasquier meint, dass er thatsächlich
von ihm gelernt hat; und als er ausging, das Feld
der Epopöe zu erobern und in Francions Ge-
schichte einen Stoff gefunden zu haben meinte,
der durch den alten Volksglauben und die nazio-
' Du Bellay, Dcffcnsc et Illustration de la langruc frsin«,"oisc
*d. Em. Person, Paris 1887 (1892) p. 103 Ch. Fontaine. Quintil
Horaticn ibid. '.'00. Ii05.
— 336 -
nalen Annalen gestützt sei, fühlte er sich in erster
Linie gedeckt durch die Autorität Lemaires, in
dem auch seine Freunde einen emsigen Forscher
des nazionalen Altertums erkannten'.
Das Urteil des 16. Jahrhunderts hat Etienne
Pasquier zusammengefasst, indem er Lemaire
als den ersten bezeichnet, der unter gutem Feld-
zeichen der französischen Poesie einen Auf-
schwung verliehen, so dass alle Späteren von
ihm gelernt haben'-.
Was Lemaire geleistet und angestrebt hat,
es verklang nicht lautlos in der Wüste. Als
Dichter fand er wenig direkte Nachahmer, aber,
was unendlich höher zu schätzen ist, originelle
Schüler, welche, auf eigenen Färten weitergehend,
bezeugten, dass mit ihm Leben und frischer Trieb
in die Poesie gekommen ist. Seine politischen
Wünsche und Träume, der europäische Frieden
und der allgemeine Türkenkrieg, blieben schöne
Utopien. Nur seine Streitschrift von den Kirchen-
spaltungen und Kirchenversammlungen blieb
als handliches Nachschlagebuch beliebt, selbst
als kühnere Hände an den Missbräuchen der
^ Cl. Binet, Discours sur la vie de Pierre de Ronsard 15t«<
(Archives curieuses de l'histoire de France s. I, t. x.). Ronsard,
preface de la Franciadc. — Du Ballay 1. c. 135. Jean le Maire
de Beiges, diligent rechercheur de l'Antiquit^.
•^ S. oben p. 323.— Unter den Schriftstellern des lö.Jahrh.,
die Lemaires Werke besessen haben, ist es interessant, Montaigne
zu finden, dessen Namen die Ausgabe von 1">49. Bibl. nat. L 96,
trägt. Die Ausgabe des Temple d'Honneur B. nat. Inv. Res.
Y*^ 219 trügt die Unterschrift von V. Brodeau.
- 337 -
Kirche zu rühren begonnen hatten. Am frucht-
bringendsten aber erwies sich sein Versuch, die
Urgeschichte der Franzosen zu ergründen, sein
abenteuerlichstes Beginnen in unseren Augen;
seine Illustrations de Gaule, wo sich soviel Mittel-
alterlich-fabelhaftes mit anerkennenswerter selb-
stUndiger Forschung im urkundlichen Material
verbindet, regten das allgemeine Interesse t^r
diese dunkeln Fragen an; viele Geschichtsbücher-
schreibcr begnügten sich zwar damit, ihn aus-
zuschreiben. Andere wurden aber durch ihn ver-
anlasst, weiter zu suchen, und haben auch ge-
funden. Es war ein Leichtes, ihn zu überholen,
er steht aber obenan in der Reihe derjenigen,
welche die französische Vorgeschichte einer
ernstlichen Erörterung unterzogen haben.
Es ist bekannt, wie das 16. Jahrhundert mit
seinen Hoffnungen und Bestrebungen in den heil-
losen Kriegen der Liga Schiffbruch erUtt, und
es zwei Jahrhunderte dauerte, bis man ernstlich
daran ging, das "Wrack zu heben und die ver-
senkten Schutze wieder zu sammeln. Endlich
scheint auch für Lemairc die Stunde der Ge-
rechtigkeit gekommen zu sein und die alte Zug-
kraft seines Namens scheint wieder die Aufmerk-
samkeit weiterer Kreise wecken zu sollen. Seine
historischen Versuche und seine Flugschrift ge-
hören nunmehr der Geschichte an und werden
von den Forschern im Auge behalten werden.
Fragt man aber, ob er als Dichter, vom Usthe-
Becker, Jean Lemaire. -'-•
- 338 —
tischen Standpunkt beurteilt, für den heutigen
Leser noch etwas sein kann, so würde ich ant-
worten: Ja, wenn sich Jemand fände, der mit
geschickter Hand die wirklich schönen Teile aus
seinen Werken hervorzöge, ich meine etwa : die
Liebesgeschichte von Paris und Oenone, und von
seinen Gedichten vor andern die Briefe des
grünen Liebhabers, die Eintracht der beiden
Sprachen, und die beiden Märchen von Cupido
und Atropos; wenn das geschähe, so bin ich
überzeugt, dass eine derartige Blumenlese unter
den Freunden der alten Litteratur einen Kreis
von Liebhabern und Bewunderern gewinnen
und für die Zukunft bewahren würde; namentlich
wenn die Hand des Künstlers dem kleinen Bande
die Ausschmückung geben wollte, die er wohl
verdiente.
DE FEV ASSEZ.
Anliaiiß- I.
Lcmaiics Livrot sommaire vom Jahre 1498.
Die Handschrift, Bibliothöque nationale Acq.
nouv. fr. 4061, ist ein Heftchen von 7b Pergament-
blUttern kl. 4" zu 14 Zeilen, wie scheint von Le-
maires eigener Hand, sorgfältig geschrieben und
hübsch ausgestattet, p. 3. Niilla sofs longa est,
auf der Mitte der Seite aus Seneca. — p. 4.
Ovidius, Ars. amat. II, 467-78. — p. 5. Ein Gebet:
Virgo CHI telliis, ciii ponf/ins servit et et her,
Da stabilem sine Iahe d/t/iui/ni, da corpus
opimum
Viribus integrum patiens algoris et estns;
Cetera qiie fluitant vario discrimine sortis,
Et labor et cura et solers industria queret.
Darunter ein "Wappen, drei blaue Pens^es auf
goldenem Feld, mit der Devise: Penser penser
penser Dire. — p. 6. Die Achtzeile : Ce petit l irret
sotnmaire etc. = Oeuvres IV, 334. Darunter das
Wort Ovids : Utendum est etate. — p. 7. Ovidius
naso de poetis = Ars. amat. III, 403—16. 397 sqq. —
p. 8. Virgilius = Anthol. lat. Tetrast, de IV. temp.
340
Euptorbii. — p. 9—12. Piiblii Virgilii Mavorns
Rose — Poet. lat. min. ed. Lemaire VII, 114 .sqq.
(Ausonii?). — p. 13. Ovid, Ars. amat. III, 65—70.
Darunter ein Engel mit einem Palmzweig in der
Linken, mit der ausgestreckten Rechten dasselbe
Wappen mit den blauen Blumen auf goldenem
Grunde tragend. — p. 14—19. Das Gedicht Nostre
eaige est hrief usw. = Oeuvres IV, 335. — p. 19.
Ein Spruch aus Seneca : Si prudens est aninnis
tuus etc. — p. 20. Baptista Mantuanus de Visi-
tatione Marie et Helizabeth. Ex sua prima Par-
thenice. — p. 30. Eiusdem Baptiste Mantuani Marie
ad Christum de cruce depositum gemitus atque
lamentabilis oratio. — p. 39. Ein Gebet: Dive
Marie virgini.
Alma redeinptoris niater, que pervia cell
Porta manens et Stella iiiaris, siicctirre cadenti,
Surgere qui curat, populo tu qiii geniiisti
Natura rnirante tuuni sanctum genitoretn,
Virgo prius ac posterius, Gabrielis ab ore
Sumens illid ave peccatoruni niiserere.
Amen. Secuntur cantica canticorum Salomonis
regis. — p. 59. Expliciunt cantica canticorum. —
Sensuivent les nobles dictiers composez ä lonneur
de la vierge Marie par feu messire George
Chastelain orateur du duc Phelippes de Bour-
gogne en son temps demourant en la bonne ville
de Vallenciennes. — p. 110. Finent les nobles
dictiers. — Serventois fait par maistre Jehan
— 341 —
Molinet orateur de larchiduc resident en la diele
villc de Vallcncienncs. — p. 116. Scnsuit une
oraison composee par Jehan le mairc de la dicte
ville de Vallenciennes = Oeuvres IV, 326. —
p. 127. V. Ora pro fiobt's sancta dci f^cnitn'x.
K. Ut tiigni cjjfhitmiitf proniissiouibus Christi.—
Oremus. Oiunipotcns et inisericors deus qui pro-
thophmstum pntrcni nostrutn Adam etc. — p. 144.
Ovidii Ars. amat. II, 113 — 120. Forma Iwniim fra-
iiile est etc. Jo Mario vallencenati. — p. 145 sq.
ausgerissen. — p. 147 sq. der Schluss der anna-
listischen Aufzcichnuno; = Oeuvres IV, 44(). Dar-
unter noch einmal die Devise: Penser penser
penser Dire. — p. 149 sq. Seneca Thyestes 596—99.
(i()7— 22. — p. 151 sq. leer.
Beachtenswert ist, dass sich Lemaire hier
Johannes Marius V^illcncenas nicht Belga nennt
und drei Pens^es als Wappen mit Peiiser penser
pcnsvr Dire als Devise gewühlt zu haben .scheint.
Das Gedicht Nostre caige est brief ist eigentlich
eine Auslegung des Wappens und des Wahl-
spruches.
Anliang II.
Der Name Jean Le Maire (Hans der Meier)
ist kein seltener Name. Im Jahre 14S4 arbeiteten
in Bourges ein Jehan de Paris und ein Jehan
Lemaire beide als enluniineiirs. Wie leicht, wenn
wir nicht eine solche Fülle von urkundlichen
Zeugnissen über unseren Dichter hätten, könnte
Jemand sich verführen lassen, in jenen beiden
Malern Jehan Perreal und den späteren Indi-
feiarius zu erkennen und ihre Freundschaft auf
ein gemeinsames Gewerbe und auf früheres Zu-
sammenarbeiten zurückzuführen. (Cf. Charvet,
J. Perreal p. 10.) — Einem anderen Jehan Le Mayre
machte König Philipp von Kastilien am 24. Ok-
tober 1503 am Tage seiner Hochzeit (d. h. offenbar
Lemayres) ein Geschenk von 131. 15 s. (Stecher,
Notice XXXII Anm.) — Einen dritten Jean Le-
maire fand Thibaut als Schöffe von Arras im
Jahre 1517. (Thibaut, Marguerite d'Autriche et
Jehan Lemaire p. 134.) — Die beiden letzteren
dürften vielleicht eine Person sein, jedenfalls
haben sie mit unserem Lemaire nichts zu thun.
Aiiliaii^ III.
1.
Petrus Picotus physicus Johanni Mario archi-
ducis Philippi et regis Castelle hystorio-
graphü et suo conramiliari S. F. D.
Ante lucanum cum surrexissem, mi Johannes
Mari, die pristini : quam mihi coniocasti lepidis-
simam epistolam inter cetera primum selegendam
occurrisse scias: quam semel atque iterum et
repetitis vicibus legi: illamque multo leporc
suavem et sententiarum gravitate relertam com-
peri. Quo fit ut credam Champcrium pegaseo
potatum (sicj fuisse equo: trans Heliconem et ad
sydereos usque pervenisse deos illos, s. apud
quos et doctrine et eloquentie favor est. Et ne
indonatus abiret a Mercurio inventionem, a Phebo
iuventorum illucidationem: a Venere illucida-
torum amorosam delectationem : a Saturno firmam
cunctorum rememorationem. Aberat enim pacis
ille turbativus Mars biliosus : veneratrixque Dyana
pituite cantiva: quoe vicissim turbant ingenia. Sed
non detuit ille divum summus Juppiter: a qui
- 344 -
Champerius ipse divino quodam coniugio Mi-
nervam accepit. Nee puto Numam Pompilium
plus suam Egeriam consuluisse: quam is Cham-
perius consulat Minervam: qua facile cunctis
sequacibus suis totam nedum satis explicatam
doctrinam attingens a fine usque ad finem fortiter
atque suaviter explicabit. Unum quantum illi
pro tanto munere debeamus haud facile dictu:
attamen Champerium donemus non illa mercede
quam ab Eunathlo sophista ille Prothagoras cor-
rogabat nee accepit: sed ea quam Thaies milesius
a Mandnato diseipulo petiit et accepit: ut sc
laudaret. Prosequere igitur, mi Johannes, et uti
oecepisti ealamo tuo aureo eelesti rore perfuso
Champerii laudes : et virtutes tabulis tuis immor-
talibus non cesses depingere. Ego vero qui
viribus impar ore pro tuba tantummodo utar et
mea pro virili clangore: licet rauco: illius vir-
tutum meme predicatorem efficiam. Et vale:
meque divo Champerio vati summo recommissum
reddas: immortales illi gratias referendo: quod
mee parvitatis vir tantus se recommissum facere
dignatus est. Insuper et nostro Gondisalvo Tho-
ledo parte mea id idem facito velim. Et iterum
vale ex camerula nostra a maij sole X.
Index librorum in hoc volumine contenlorum.
Domini Symphoriani Champerii physici
Lugduncnsis libelli duo. Primus de mcdicinc
Claris scriptoribus in quinqucpartilus tractatus.
Secundusdelegum divinarumconditoribusetc.
s. I. s. a. — Lyon IöWj). Auf der 10. nichi-
nummcrierten Seite.
- 345 -
A Monseigncur M. l'ii rre Picot doctcur es
ars et en medccine Physicien: stipendiaire
de ma tres redoutee dame ma dame la
duchcsse de Savoye fille a l'empereur Maxi-
milian JehanLemaire indiciaire et hystorio-
graphe de la dicte princesse. Salut.
Nuperrime cum Lugduni essem, vir orna-
tissime etc.
et", p. .S7.
Aus ikni ifkichcn Sammelhandc ; im fünften
pafrinicrtcn Traktate: Dumini Syinphoriani
Champcrii physici ex variis: tum Philosophie,
tum medicine professorihus aphorismorum
sive collcctionum libcllus in decem divisus
oapita. r'XXVIl. (Mai \y^O
«).
Johannes Marius belga indiciariu.s domino
atque preceptori suo colendissimo Domino
Simphoriano Champerio S. P. D.
Quanquam, dominc mi honorandissime, nulli
alii rei vacare deberem quam luctui, quippe qui
principem atque herum meum amisi, per quem
non solum pellere pauperiem spcrabam, sed et
divitias et nomcn eternum mihi conciliarc, gesta
.sua fortissima futura canendo; non tamen luctus
hie luiTcndissimus adco me ab ofliciis humanitatis
distrahit, quin amicorum negociis invigilem. Ita-
que is qui has litteras tibi dabit (cui quidem nomcn
est Sansoni Cottardo), arlium doctor parhisiensis,
intimus amicu.s meus est atque consodalis. Is
— 346 —
nunc Montepessulanum petit studii medicinalis
gratia. Videbis hominem apprime litteratum, et
bonis artibus deditum. Et quia novi humanitatem
tuam maxime bis ingeniis favere quc et doctrina
imbuta sunt, et rursus ad maiorem aspirant:
eapropter te oratum maxime velim, ut in sui
favorem amicis tuis Montepessulani, quos plures
esse non ignoro, scribere digneris, et quidem
affectuose ufsoles. Auspiciis enim tuis hanc pro-
vinciam eum aggredi suasi, dedique sibi librum
a te nuperrime compositum, quem magni muneris
loco neque abs re estimat. Quam primum videbis
dominum electum Gondisalvum, rogo ut verbis
meis eum salutare digneris. De chalcographis,
si aliquid cum eis egeris, certiorem me facies.
Interea bene vale. Ex Burgo undecima die
octobris anno milesimo quingentesimo sexto.
Domini Symphoriani Champcrii lugduncnsis über
de quadruplici vita etc. impressum Lugduni
A. d. MCCCCCVII. linitum pridie kal'.
Augusti. — Am Schlüsse : Epistolc varie ad
cundem d. Symphorianum.
4.
Humbertus Fournerius domino Simphoriano
Champerio peonie artis interpreti solertis
simo S. P. D.
Quid nunc potissime agamus in hoc olim
famigerabili Veneris emporio deipare virginis
sacro monte scire cupis. Ecce vivimus in celi-
batu et ocio litterario: diurna nocturnaque manu
- 347 -
strictis (ut aiunt) ulnis humaniores literas am-
plcxantes. iacturam perditi evi : si id fieri potest :
olei impensa sarcire connitimur: tot segne»
horas: tot annos prodigo luxu expendisse meren-
tes: tum infausti dispendii trudele luimus sup-
plicium, hie labor omnis ingenuus. Imprimis
sermo agitur de religione: de mortc: de insti-
tuendis moribus et anime disciplinis cum Socrate
meo Andrea Victonio tantc virtutis viro: ut si
singulatim hominis merita refcrre velim: augustia
epistolari perstringere que solidum volumen de-
poscerent: non est instituti nostri. Miraberc ad
stuporem: raras animi et ingenii doics: reli-
gionem: morum candorem: et illibatum vite
theologiceflorem: si acutius cognoveris. Artluunt
et huc hospites: qui esto rari: rara tarnen virtulc
conspicabiles. Adest non leve curarum levamen
D. Gondisalvus alter achademie nostre oculus:
Idcm et Apollo et Praxiteles: qui cum liberalium
artium disciplinis candidissime Sit insignitus: tum
omnium ingenuorum artificum benevolentüs in-
sinuatus: non tam Studiosus amator quam sedulus
imitator existit. Postquam camenis indultum est:
scdentariis lectionibus inducie dale remisso studio
utrinque sermo facetus: sales sine dente; grata
urbanitas reciprocatur. hie commcntum argu-
ciolum: ille efferatam Thurcorum in nostros
rabiem texere: ego nee opera inter talia segnis
plausibili Corona cinctus ethruscum vatem agere.
Ille eloquentie et personarum varios agens pr<»
— 348 —
tempore vultus : ridicula f abella magica prestigia
precipitantium lapsus: immanitatem fere: fratri-
cide atrocitatera: errorem meduseum: circeam
metamorphosim : anilia territamenta exprimens:
suspensa tenet hiatibus ora circumstantium. Ad
hec Socrates meus non de gemmis et auro Mide :
non de robore Milonis: aut magniloquentia
Maronis et eiusmodi caducarum supellectilium
mercimoniis nundinandum: nee ignavi ocio tempus
periclitandum: sed et de presentaneo mortis in-
teritu: quae vera est anime philosophia: impen-
sissime cogitandum. theologicarum sententiarum
margaritis voluptatem et luxum non tam spernere
quam irredituris exiliis relegare gravissime dis-
serit. hinc fidibus canoris ad amplam aurium
voluptatem docto pollice testudinem cavam Or-
pheus discapedinat. Quibus avicule discrimi-
nantium vocularum concentibus alternis modulis
fringulciunt. Nunc girovagus flexus concave et
multiforatile arundinis fervido articulorum axe
concitato levivola lingua perstrepente tinnitu
argutulo Museus sororius tuus auris suaviter
demulcet cantu sireneo. Nunc palestratione inno-
cua animum corpusque curamus. Nunc molli
aure afflati sibilo Ararim preterlabentem domos
urbis conspicimus. crepitus machinarum altisonos
audimus. ignifos favillarum globulos aera rädere
cernimus. echo respondet. pulse resonant ad
sydera valles. et quod visu amenum a sublimi
.specula speculum quoddam rerum pulcherri-
349
inarum discumbentium cernere est oculis : herbi-
tcruni rcgionis ambitum: «jemiriiitas vites in
propatulo pulchcrrime ablaqucatas. variejfata
floribus vircta: glaucas salices: prata ridentia:
Icta sata: segetes luxuriantes: gramineos campos:
intonsos montes: late undiquc vircntcs. Scd iam
satis iocatum. et abunde: ut arbitror: successus
Studiorum nostrorum: fata fortunasque prescnti
cartha dcpinximus. Ceterum cum virtutcs nostras
ingenium mores: que quam exiguole sint pauxillu-
lique compendii ceca amoris in me tui charitas
nescia esse non debuit. Istic et extcris abunde
prcdicaveris. ista est tua cui pro viribus gratias
ago: ingens in nos et in omnes humanitas que
neminem tuorum illaudatum esse sinit: qui vcl
virtutis scintillula sufiultus sit: quo fit ut uni tibi
omncs omnia debere velint. Adde quod dum
alienas virtutes tantopere cordi geris ostendis
quibus ipse prefulgeas. Que vero de me ex-
pectatio istis optimatibus haberi potest: qui ut
liquido cognoscis ab adversario meo litium de
pectore acerrimo exanhelatis tot erumnis: ex-
haustis paternis loculis: hac insigni qua nihil
infelicius inter ceteras iacture irreparabilis con-
tumelia nos affecit: ut longissimis litterarum
postliminiis a limine musarum tandiu relega-
verit: Pro rccenti victoria monticuli nostri id satis
supplicii sumptum ad vindictam ut opinor ratus :
qui uberiore proventu disciplinarum exinanitos
meliori parte detraudaverit. Quare affixum et
- 350 —
insculptum gerens animi nostri tabellis memo-
rabile Stilponis dictum illud siccis genis non
possum in mentem revocare : qui ceteris bona
fortune asportantibus rogatur a Demetrio an ali-
quid suarum rerum unce militum manus corra-
sissent: haud equidem, inquit Stilpo: neminem
enim se vidisse scientiam auferentem assevera-
bat. Rem tenes. Utcunque vero futurum sit, mi
Simphoriane, is sum de quo peculiari quodam
iure omnia de me polliceri possis : que ab homine
grato prestari queant. Vale diu felix. Lugduni
anno domini millesimo. CCCCC. VI.
Ibidem (Mai 1506).
5.
Humbertus Fournerius domino Simphoriano
Champerio undecunque doctissimo S. P. D.
Voluptuario litterarum tuarum papulo mirifice
delectatus sum. tuis inquam, mi Simphoriane
litteris: quibus (comodum enim fores pluthei
nostri attigerant) letabundus occurri obviam sie
prefatus. Quibus tandem venistis ab oris lepi-
dissime littere: que nos tandiu anxiose suspensos
diutina expectatione attenuavistis : scilicet tali nos
dignos honore ut pervius foret apud nos vester
aditus. vobis gratias agimus quam maximas: et
successus optatos hero vestro comprecamur. Ille
ut ingenue institute urbaniores referunt vices:
venimus, inquiunt, ut te munere licet sero con-
geminata ob id voluptate conpensemus. Rem
- a-)i -
profecto mihi gratissimam non leve amicilic
piirnus: cl quod tc dij:jnum est fecisti. Cum enim
ex harum lectionc sa<4inatus cruditionis succu-
Icntia mcllificalus consilii salubritate compotus
ahundc fiierim. Quantum fecisse lucri: quid in
mc oraudii esse putas : amicissime morem gessisti
mihi ultra quod sperare licuerat. Ex quo medul-
litus in te liquescens indeCcssus succedo oneri et
quibus reluctari nullus nisi mentis incompos votis
parco tuis. tibi vero vel in hoc pauxillulum diffi-
dere tantum a mc abest quantum tu a vivis
remotior. Quod autem per nunoium intellexerim
te cucullati calumniatoris emuli petulantem im-
pudentiam expertum: molosseum latratus rabiem
et dentes livoris cote acuminatos vix evasisse:
non tam tibi molestum esse debet: quam iocun-
dum te habere qui tua facili victoria lamam tuam
extcndat clariorem. Evenit enim fere convitia-
loribus et eiusmodi invidulis quod candentium
favilhirum ai^itatoribus soiet. ut cum suo flatu
nituntur extinguere fortius illuminent : sed de his
alias tecum. Ad alterum caput accedo. magna
me molestia scrupulo hesitabunde mentis enodato
liberasti veris sophie tue cauteriis memoristelum
penitissimo ut pridem tecum questus eram animi
medullis insidens solus, mi Simphorianc, detru-
sisti. Antidoto consilii tui adversus tam eminens
malum oppido occursum est opportune : cum ncc
antea cuiquam fas esset tot olim vallatus er-
rnribus oram animum tentare precando: quibus
- 352 —
vero tuis tantis in me humanitatis officiis respon-
deam nescio: nisi te cum opes nunquam sint
siiffecture vicissim araando observ^andoque: quod
faciam dum Spiritus hos reget artus. Dabo in-
super operam ut nee te consuluisse: nee me
frustra consiliis tuis paruisse cognoveris. Vale.
Ibidem.
6.
Humbertus Fournerius domino Simphoriano
Champerio artium et medicine professori
benemerito S. P. D.
Cum ad officinam librariam argutioris lime
auctores ut moris et mei cunctando seligerem:
tuus ille candidus liber nescio quo bono omine:
qui de curandis anime et corporis egritudinibus
Sit indictus ad manus nostras pervenit commodum
enim formulis ereis excudi ceperat. cumque nos
duplici et inopino afifecit gaudio. tergo archetipi
tui inherens comes subsequitur epistola Johannis
le maire. Cognomentum sane ut par est suis
consonum virtutibus: ut qui maioritate quadam
percellentis ingenii dote augustiori facundia reli-
quos sue sortis homines antestet: Nam cum su-
periori aestate dum fata deusque sinebant miti
frui contubernio mei Socratis olim Veneris : nunc
Parthenices phanum : tunc incolens expertus sum
hominis ingenium: temporariam eloquentiam:
stratagemata : rotondos rythmos: multisciam
rerum heroumque peritiam. Et ita expertus ut
- aö3 -
;i binde et ignavie et studiorum pertesum sub-
puduerit instituti : quippe qui et gallica et ausonia
oratione promptiloqua squatet , qua habita re-
pente adamantina intcr nos conflata est amicitia:
ita stupidum: ita attonitum rcddidit: ut illius
imago mentcni meam ingrcssa : ut Didoni de Enea
evenit: cuius vivi in pectore herebant vultus
verbaque : complures permanserit dies : effecerit-
que ut vix memincrim mei. nempe olim illius
lama tactus mihi mens iuvenili ardebat amore:
compellare virum et dextre iungere dextram.
Cuius consortio in insulis fortunatis esse videbar:
cum ille tam ornate : tam canore nullo vel parum
preceptore usus subsicivis et regalibus occupato
negociis verborum censu: candidissimis senten-
tiarum rivulis: amica suparasitante natura totus
scateret. Ex quibus quidem factum est, mi Sim-
phoriane, ut duplici simphonia sie fuerim delcnitus
illius candore et rythmis : quibus suavibus verbis
flosculos intexens Champcrianum hortulum co-
miler excolit: melliteo laudum illitio irrigat. huius
pascuoso eruditionis tue campo ut ad solidam
voluptatem nihil rcliqui feccritis. nunquam igitur
de vobis ita magnitice dicam id virtus quin superet
vestra. Sed iam ad te redeo philosophantium
optime: qui et utroque morbo anime et corporis
et humano generi sie consulis ut quod nee redimi
copiis: nee mederi auro aut gemmis vitari potest:
redivivis tarnen philosophic tue potionibus ab
interitu vendicas: illicibiles voluptatum lemas
Becker, Jean Lemairc. 23
354
explodis: omnigenas morborum diritates detru-
dis: detrusas salubribus foves medicinis. hoc
inquam ingenii tui talento multiplici: quo nos
ampliter ditasti: at non sine numine divum: immo
potius sine sudore largifluo et insigni erga
patriam pietate factum : tametsi olim primigenii
tui vigili olis de ea satis promeritus fueris : nunc
vero non tarn amorem ingenuum quam gene-
rosum laborem tuum ostendes: vel hoc mani-
festario argumento tuo hoc egregio partu decla-
rare voluisti: quantum tibi tutura sit obnoxia.
Quibus igitur muneribus vices condignas repen-
demus : qua civica aut laurea optimum civem
demerebimur: quibus gratiis officium adimple-
bimus nostrum: quas te satis dignas laudes pro
lucubratione hac afferam : que nee meo nee cuius-
quam preconio egeant : cum satis suis fulgoribus
refulgeant. Age quod si commendatione aut
patrocinio opus foret: supervacaneum esset texere
ad Minervam quando ita firmissimo columne pre-
sidio suffultum sit ut precisa ansa calumniatoribus
videatur. hoc est ab antistire amplissimo elo-
quentie tuba famigerabili viro undecunque doc-
tissimo Laurentio Burello. sed heu hunc abstulit
atra dies : et funere mersit acerbo. et virum al-
terum nature elementum admirandi potius quam
imitandi ingenii: que solos fortune rotatus sup-
plantat: improba mors sustuHt: cuius lerales
exequias lugere nunquam satis poteritposteritas:
tarn insigni erumna afflicti : tanta et tam calami-
— a^x) —
tosa iactura illius orbitale damnificati sumus: ut
huius sevo intcrritu et muse et charites et vencres
et sales et quicquid optandum una occiderint.
Adde quod et lueem quam cecis hominum igno-
rantiis doetrine sue radiis cffundebat: illam et
secum pariter abstulit. Hunc ergo facetiarum
archetipum de deo: de virtute et hominibus pro-
meritus: antequam felicem exhalaret animam
urbnnitate sua leporibus in termixtis ut dicacule
admodum et facete solebat perfricatis sale dis-
cumbantium catervis: non modo hunc aureum
inj»enii tui monumentum dignum duxit enchiridio:
verum et sulüraganeo nostro haud inferioris vir-
tutis viro: tum aliis optimatibus qui aderant: et
cumulatis laudibus et chirographo illustravit.
Quod vero silentio non pretereundum uberiore
eloquentie sue lilo atque suaviloquenti carmine
pierio (vocem bis auribus hausi) preciosissimis
velut unionibus insignire ultro se sponsorem fir-
missimo fidei pignore addidit. Memini etenim
dum vitales carperet aures: sepiuscule accitum
esse voluerit: consuetudine tua delectatus cum
valitudinis et convictus gratia: tum ut seriis in
rebus opera tua persepe uteretur. Nee mirum
quippe qui gnarus tuarum virtutum norat ingenii
tui opulentiam : iuge Studium : incredibilcm me-
morie tenacitatem : morum elegeutiam : vite inte-
gritatem: corporis proceritatem : oris dignitatem :
promptuariam gentium rerum ubique gestarum
peritiam. Hominem oculatissimum non latebant
— 356 —
que acutius ab ipso spectatata te illi non vulgari
familiaritate conciliatum reddiderant. Que cum
ita sint quid dubitas dare vela ventis. ego ut
Misenus ere ciebo viros et non martern: sed
navim tuam ascendam cantu. Accipite ergo
letis animis heu veneranda litteratorum cohors
si qui ex vestro grege conscensuri sint nostram
ut gratius naulum persolvatis. Scitote hanc navim
non Alexandrinam: sed simphorianam : que non
caducis supellectilibus : non fucatis cincinniis
non prolectibilibus phaleratis : non pixidibus su-
dentem: non adulteriis fatiscentem: sed unio-
nibus refertam: gemmis luculentam: auro radi-
antem : doctrinarum sententiis succinctam et eins
modi mercibus onustam : que vos ad eruditionis
campum: ad virtutis fastigium: ad utriusque
hominis salutem modo hinc mentis acies fingatis
ad Sophie portum placide advectabit. Quid timetis :
omnia sunt tuta: classis solida: non quatefacta
ruinis; aut rimis fatiscentibus : et his feta que
usui sunt opportuna ad viaticum : institutor noster
subvectus est remigio dextero: ingenii validissimo
prudentie malo fultus: contis energie armatus:
anchora doctrine cinctus: maturi consilii ruden-
tibus stipatus: et his similibus. Huc huc omnes
prepeti cursu accurrite. quid oscitabundi statis?
hem iterum accipite paucis. si quid formidinis
inhesit pectoribus vestris. si malefidam stationem
carine aut tridentis minasque pelagi metuitis.
Bono estote animo : res in vado. lam iamque
- 357 -
terroris nubilum cxcutite. ccce zephiri Icniter
perflant. dcdalei adsunt comitcs qui et cerula
verrant astu ulixeo laurcntiano tcmone auri-
gantes: quibus acutos dentium scopulos detru-
dere: nimbosas luridorum tempestates fugare:
scyllcam rabiem compescere: procellifcros invi-
dorum lluctus sulcare secure poterunt. Sed iam
provehordimidio longiusquam institueram. finem
faxo ne bis verborum quisquiliis scurriliter diutius
palpare videar: a quibus ut est modcstia tua
longe es alienus. ego quoque non parum abtorrco.
Supercst mi Simphorianc ut bis te facibus in-
cendam: bis stimulis quamquam sponte currentem
incitem : utque generöse calcare alvum ingenii
fodiam. hoc est hac meritoria gloria officioso
labore : et quod magnanimos decet : eterne fame
excellentia: cuius dulcedine priscorum mentes
ignite: uberrimum nobis proventum reliquere:
ad virtutuni laudumque tuarum non leve incre-
mentum: et noministui gloriam perpetuam. Vale.
Lugduni anno salutis nostre. M. CCCCC. VI.
Ibidem und am Schluss des ersten Buches der
lllustrations des Gaules z. T. wieder ab-
gedruckt.
Anhang IV.
Widmung der Legende des Venitiens.
A reverend pere en Dieu, noble et digne
prelat, et mon tres honore Seigneur, Mon-
seigneiir Loys de Gorrevod: Evesque de
Maurienne en Savoie, abbö de Bournay etc.
Jehan le Maire de Beiges, tres humble indi-
ciaire et historiographe de tres hault et
excellent prince, rarchiduc Charles d' An-
striche, prince des Espaignes etc. et de
tres clere princesse, Madame Marguerite
Auguste, sa tante, duchesse douagiere de
Savoie, contesse palatine de Bourgoigne,
dame du pais de Bresse etc., regente et
gouvernante des pais de monditseigneur
son nepveu.
Honneur. Salut, et Reverence.
La decoration de vostre nom tres venerable
mise en front de ceste mienne petite euvre, Mon-
seigneur reverend, ä qui eile est par droit in-
titulee, luv donra faveur et autorit^ entre les
lisans, selon la coustume ancienne: et paraventure
— 3öO -
aussi que la lecture d'icelle monstrant par le
particulier les propres fondemens de la trcs juste
gfuerre contre la nation vcnitienne, trouvera grace
devant vos yeulx, h tout le moins pour vous
rccreer sur le dueil que par instinct de nature
avez eu participalement avecques vostre tres
amö frere germain, Monseigneur Laurens de
Gorrevod baron de Montanay, gouverneur et
licutenant general es pays du douaire de Madame,
sur la mort tres honnorable de feu vostre nepveu
et bien amee nourriture, Philibert de Gorrevod,
lequel soubz la victorieuse cnseignc de tres noble
prince, Monseigneur Philippe de Savoic, conte
de Genevoys, et au Service de la couronne trium-
phale de France, plus par trop grand exuberance
de propre vertu bouillonnant en son magnanime
couraige que par fortune martialle sinistre, a
estö du nombre des nobles hommes, lesquelz
ont estd desirds en la bataille ä tousjours memo-
rable de Aignadel pres de Vela que l'on dit
vulgairement la rencontre de Caravagio, ouquel
le non plus supportable orgueil venitien a este
domptd et abatu par le fort bras fulminatoire du
roy Loys douzieme qui peut bien estre sumomm^
Grand, et la haulte prouesse et fortitude en armes
des nobles cueurs de Savoye et de Bresse exaltec
jusques aux cieulx et honnoree en beaucoup de
personnaiges de la dignitd de chevalerie par la
propre dextre royalle; du nombre desquelx
vivans se vostre dit nepveu bien meritant n'a peu
— 360 -
estre, si a il pour recompense tumbel de riche
estoffe entre ceulx qui par leur vertueux porte-
ment desserv^ent renommee immortelle en la
bouche des hommes. Dieu soit au surplus pro-
pice ä son ame. Et vostre seigneurie reverende
soit tousjours prosperant et heureuse.
A Bourg en Bresse, ou mois de juing mil
cinq cens et neuf.
(Diese Widmung findet sich nur in der Ausgabe
• von 1509.)
Anhang IVa.
Maximilian an Margareta,
Brief vom 8. Juni 1509.
(Legflay. Corrcspondancc de l'empcreur Maximilien F*" et de
Margueritc d'Autrichc I. 1 ''_'.)
Nous vous avisons que, grace ü Dicu, nous
avons toute bonne fortune et prosperit<5 en notre
emprise sur nos communs ennemis Ics Ven6-
ciens; et desjä pour le premier sc sont rendues
cn nos mains la viUe de Reyf et le chAteau, la
vüle de Roeveret et le chäteau, et tenons main-
tenant le lac de Garde et tout le plat pays que
l'on dit estrc le plus beau pays et lac, et le plus
fructueux de toutes les Ytales; et nous ont fait
ceulx dudit quartier le serment de fid(^lit(^. Nostre
fr^re et cousin, le roy de France, tient tout ce
qui est de l'austre cost^ dudit lac, et sommes
de bien prez par le costt3 deqä voisin Tun ü
l'autre.
Les villes de Poortenauw, de Goriz, de
Treviz, de Dryez, les deux escluses et le chAteau
de Godenay praticquent devers nous leur ap-
pointement.
362
Nous avons aussy le chäteau de Tibin qui
estoit imprenable et a este prins par grand sub-
tilite de nos gens d'armes d'Esclavonie.
Par menaces que nostre dit frere et coiisin,
le roy de France, a faict a ceux de la ville de
Veronne de se rendre ä nous, y joinct que lesdits
de Veronne aymoient et desiroient plus d'estre
en nos mains que de nul autre si sont renduz
avec tous les chäteaux et fort du plat pa3"s ds
Veronnois et est la plus belle ville de toute
ritalie : et a cent et dlx mille ducaz de revenuz
par ans. Ils ont receu dedens ladite ville messire
Andrieu de Burgo nostre ambassadeur, et luy
faict serment de fidelite pour nous.
Semblablement s'est rendu ä nous la ville
de Vincens et tout le plat pays et fort dudit
Vincens, et esperons avoir demain de bonnes
nouvelles de la ville de Padua; car nos gens
d'armes accompagnes bien de Xm Veneciens
malcontens de la seigneurie, qui se sont rendus
a nous, tirent devant ledit Padua.
Depuis ces lettres escriptes, nous avons eu
nouvelle que . . . sur nos fronti^res d'Esclavonie
se sont rendues ä nous . . . la tres grande ville
de Vayda, et sont nos capitaines dedans. Ceux
de Padua ont envoie devers nos capitaine faire
obeissance, et sur ce disposent nos dits capitaine
V aler ax
- 363 -
Escript le VIII»^ dudit juinp. Vostrc bon pfere
Maxiniilien. — Haniiart.
P. S. Madame, dcpuis ces Icttres escrites
et closes, l'Empereur vostre pöre a eu
nouvelles que scs j^ens d'armes sont
dedans la ville de Portenauw, de Trebiz,
de Goriz et de Dryes. Vostre tri^s humble
et trös oböissant serviteur,
y. HtuiUiirt.
2. Leinairc , Oeuvres III, 194 sq.
Ainsi se lamentoit ladite Dame et Princesse
apres la mort de son Irere le Roy Phelippcs de
Castille', Mais maintenant eile ne se doit plus
nommer Infortunee, aingois doit plustot estre
dite Bienheureuse : attcndu quc par son sens et
vertu, s'est finablement trouvee, et moyenn6
entre noz tres hauts Princes de Chrestient<5 le
fruit de paix et de concorde eternelle. Dont
s'est ensuyvie la tresclere victoire du Roy tres-
chrestien contre les Venitiens, communs euneniis
* Diese Worte weisen auf die voraufjjehcndc RcgrcU de
la Dame infortunee hin. Bei Meftgin von Nanzei lautet der
Anfang folgendermasscn : «Die weil sich die hoch erleuchte
ufl klarhochgeborne Fürstin, fraw Margaretha augusta, kcyscr
Maximilians einige tochter, lange Zeit hilr kläglich und betrübt,
von wegen des mächtigsten, durchleUchtigsien Fürsten, Künig
Philipsen von Castilien etc. hochlöbliche gedilchtnUss irs liebca
bruders absterben, nit unbillich gehalten, und sich desshalb ayn
unglückhafftige Fürstin voll aller trübsal genannt hat, sol sie
dassclbig nunmehr nit gedenken, sonder geacht und genant
werden die aller glUckhafftigstc. Angesehen, . . .»
— 364 -
du monde. Au moyen de laquelle chacun desdits
Princes ha recouv^ert le sien sur lesdits usur-
pateurs.
L'empire et la inaison d'Austriche.
Les villes et chasteaux de Reif et Royveret,
et tout le pais de l'autre coste du Lac du Garde.
Et sur les marches d'Esclavonnie , les villes de
Portenau et Goris, et aussi Trevis et Dries, Triest,
et le pais circonvoisin : les deux Escluses et les
chasteaux de Godenay et de Tibin imprenable,
lequel ha este prins par grand subtilite des
gendarmes Esclavons de l'Empereur. Semblable-
ment la tres grand ville de Va5'da: et les citez
Imperiales de Verone, de Vincence, et Padua,
avec leurs appendences. Desquelles le Roy tres-
clM-estien apres sa victoire ha refus^ l'ouverture :
et les ha contraint par menasscs eux aller rendre
audit Empereur.
Anhang V.
Epistolarititi
Henrici Cornclii Agiippae
ad familiäres et eorum ad ipsum
Über primiis.
Epistola XV.
Amicus Agrippac S. D.
Interrogatus aliquando Dcmosthenes, quid
potissimum esset in Oratore? respondit, pronun-
ciationem, iterum atque iterum interrogatus, idem
respondit, neque aliud amplius. Audivimus ita-
que die hesterna, atque revera experti sumus in
oratione tua, verissimum fuisse oraculum De-
mosthenis. Felix es, Agrippa, qui copiosam illam
atque inundantem dicendi fertilitatem ita inira
limites sinceritatis illius orationis tua? conclu-
sisti: cui neque aliquid addi neque demi possit,
et, quod maximum artificium ipse censeo, ut ne
unius verbi auditores meminerint, quod in illa
verbosa copiositate secus est. Peto igitur instan-
tissime, ut mihi liceat eandem orationem tuam
luculentissimam interpretari : non quod in eadem
- 3t)6 -
majestate eam reddere gallicanam aut sperem
aut pollicear, verum ingenioli rudis periclitandi
gratia, et etiam, iit ipsa illustrissima princeps
nostra intelligat, quam preeclare in ejus laudem
orasti: eoque rebus tuis libentius faveat, quando-
quidem rem hanc apud eam multum admodum
tuarum virtutum opinionem semper adaucturam
esse arbitror. Vale.
• EpistolaXVI.
Idejn Agrippas.
Ecce ornatissime Agrippa, orationem, quam
nieo more tuam interpretatus sum: non, quod
singula verba singulis reddidi, sed sententias
sententiis, prout pro decore linguae nostrcE galli-
canse observando mihi visum est. Dominus Vice-
cancellarius erat censor atque corrector. Tu
€um meis verbis orato, ut prologum lucubratio-
num nostrarum videre dignetur: puto eum non
magnifacturum. Quod si non improbet, satis erit
meo studio factum. Si autem favore illud pro-
sequi dignabitur, dii boni, quam cito ex pygmaso
gigas efficerer. Vale, et me, tui amantissimum,
redamato, quam primum me tibi discipulum
reprassentaturum. Vale.
Epistola XVII.
Agrippa amico suo.
Perspicuus est mihi jamdudum tuus in me
amor, amice observandissime; sed nunc ex literis,
— :^)7 —
quas ex Lugduno ad te scripsit vir pneclarus,
Joannes Perrealis, cubicularius regius, quasque
mihi legendas tradidisti, plane cognovi, te honoris
nostri atque famae ita esse sollicitum, ut non
modo expectationem, scd votum nostrum supef-
averis, cum orationcm nostram, quam ex tempore
fere habuimus, et Gallicam effeceris, et Lugdunum
usque pergerc compuloris, ad eos pracsertim,
quorum Judicium non injuria reformidem. Quan-
tum enim ex literis magnifici illius cubicularii
videre licet, et quantum ex tua fideli relationi
accepi, vir est, a quo potius doctrinam exigcre
debeamus, quam ut ipse nos de aliqua intcrrogct.
Compellis me tandem, quae tua est de ingenio
nostro confidentia, amore scilcet caecutiente,
ut ejus petitis rospondeamus: quod quidem et
libenter facio, & simul cum his litteris transmitto:
non tam, quod tibi morem gerere velim et cupiam,
quam ne tu vcl hi , apud quos scripta nostra
divulgas, vel me (ut scribunt) divini aliquid haben-
arbitrentur, vel ne hujusmodi quicquam mihi
arrogem: sed ut humanitatis nostrtt medio-
critatem plane agnoscatis. Vale & me in ami-
corum numerum referre digneris. Ex Dola Bur-
gundiae, anno 1509.
EpiStola XVIIL
Amicus Agrippac suo.
Salve, doctissime Agrippa, Decanus, tibi et
mihi semper venerandus, mavult te orantem sive
- 368 —
declamantem audire: nam suse partes sunt, tan-
quam ad hoc natus, et qui ipse in arte oratoria
plurimum valet. Ego autem (quae differentia inter
nos est) et si cum domino Decano caeterisque
tui nominis studiosis te orante aut declamante
plurimum delecter, ac etiam proficiam: quiatamen
Studium meum, quantulumcunque est, versatur
potius circa scriptionem et lectionem, quam erga
orationem et auditionem, et quod expertus scio,
plus conferre ad famam aucupandam scriptionis
Studium, quam declamatiortis: (nam semel tantum
profertur oratio, lectio autem ter et quater repe-
tita placebit) ideo ingenium tuum, certe rarissi-
mum, jamjam hortor, ut at scriptionem te con-
feras: etiamsi ipse d. Decanus repugnaret, quod
ab ejus humanitate alienum est, iterum libere
hortor. Quod si rem meam meipsum curare, ut
par est, moneas (suem namque non docere Mi-
nervam inter adagia receptum est) facile absti-
nebo, modo pro mea ineptia atque impudentia
dixero, quod prius incepit Christus facere, quam
docere: quod quidem, sicuti quidam nostra ver-
nacula lingua hoc Proverbium protulerunt, Mul-
tum interesse inter dicere et facere. Neque enim
ipse Capnion, quem interpretaris , neque Picus,
neque Politianus, neque Laurentius Valla, qui
omnes publice oraverunt, tantum profecissent in
nanciscenda fama suis publicis orationibus, quan-
tum adepti sunt, nisi in scribendo etiam operam
aliquam collocassent. Exemplum familiäre ex
— 369 -
meipso profcram, qui supra bis mille ducentos
versus per me compositos, memoriter absquc
intcrvallo aliquando recitavi, sed ni:lla mihi
<2:loria fuit, nisi in loco illo et pro tempore illo.
De scriptis antem secus est. Quod si etiam splen-
didissimi quiquc Doctores et lectores nullam
scriptorum suorum memoriam relinquerint, non
erit eorum fama dilatata neque perpetua, sed
tundaxat inter augustos limites, suaeque vittc
tempusculum coacta. Vale, et stude famam ex-
tcndere tactis, et mihi des veniam, quod sie epi-
logo. non enim ut censor loquor, sed ut fautor.
Epistola XIX.
Amicus Agrippoe suo.
Candidissime Agrippa salve, et me non minus
tuum, quam tu ipse es tibi puta, utpote qui ad-
mirabili ingenio eloquioque tuo allectus, tuae
lamae famatissimse nunquam favere desinam
Precor itaque, ut aliquando mei memineris. Nova
quae circumtcruntur hie, sunt haec: Regem pro-
pediem Lugduni ad fore, copiasque in Venetos
redintegrare. Venetos autem nuperrime magna
clade affectos a Francigenis, una cum duce Fera-
riae militantibus, ita ut supra sex millia Venetorum
in ea pugna pessundati fuerint, et biremes circa
trigenta super Padum captic: properabant enim
obsidere Ferrariam. Adeo nihil audet superbum
illud atque pertinax genus hominum. Dicuntur ea
clade in maximam desperatione adducti. Tu si
Becker, Jean Leraaire. 24
— 370 —
quid de Imperatore nostro habeas, quae in ista
dieta aliqua proculdubio divulgabuntur, me cer-
tiorem facere dignare. Vale doctringe atque elo-
quentiae columen atque fulmen.
Vorstehende Briefe stehen in Agrippas
Briefwechsel, wie so viele andere, ohne An-
gabe des Korrespondenten. Sie könnten von
Lemaire sein, der eben Herbst und Winter
1509 in Dole verbrachte. Agrippas Rede, vor-
nemlich eine Lobrede auf Margareta, zu über-
setzen, konnte Lemaire leicht reizen, jedenfalls
war er der nächste, um Agrippas Bekannt-
schaft mit Perreal zu vermitteln. Ep. XVIII
und XIX scheinen von dem gleichen Korre-
spondenten zu sein wie Ep. XV und XVI.,
wären sie demnach von Lemaire, so verdienten
die Aeusserung über den Vorzug der schrift-
stellerischen Thätigkeit vor der rednerischen
und die Erwähnung der zweitausend vier
hundert Verse eigener Dichtung, die er eines
Tages aus dem Gedächtniss vorgetragen hat, —
welche möchten es sein? — besondere Auf-
merksamkeit. Die Anspielungen auf die öffent-
lichen Ereignisse verweisen Ep. XIX in die
letzten Februar wochen 1510, der Schreiber ist,
wie scheint, nach Lyon gegangen ; hier vollzog
in der That Lemaire am 1. März die Widmung
der Epistres de l'amant vert an Perreal; es
— 371 -
wUre auch recht seine Weise, Nachrichten von
überallher haben zu wollen; Agrippa konnte
durch seine Kölner Korrespondenten leicht über
deutsche Verhältnisse und den Reichstag in
Augsburg Neues erfahren. — Die Ep. Xlll
und XIV habe ich hier nicht aufgenommen,
weil es nach dem Datum derselben unwahr-
scheinlich ist, dass sie zwischen Agrippa und
Lemaire gewechselt wurden. Für die vor-
stehenden ist es möglich, aber immerhin pro-
blematisch.
Anhang VI.
Opere dello elegantissinw Poeta Seraphino
Aquüano,
Venczia 1538 (die erste Ausgabe Roma 1502).
Sonetto XLI.
Quel niniico rnortal della natura
Che ardi ferir piü volte homini e dei,
In martno ä qui converso da costei
Che col dolce mirar li anhni fiira.
Ferir la volse nn dt, sensa haver cura
A quellt ardcnti sgiiardi Mednsei,
E a qiiesti alti inonti che per lei
D'huomini son conversi in pietra dura.
O quanto Aniore ha variato stile:
Qui freddo giace, e fu si fiero ardore,
Fii lieto spirto, hör ponderoso e vile.
Ma un tale exenipio a ogn'un nietta terrore,
Ne sia giamrnai nessun tanto sottile
Che non presuma haver superiore.
- 373 -
Sonetto XLII.
Quel ßero Ctipido, assidtw c tcnacc,
Per vincer quella dea qui armato apparse;
Ma indarno fu, che al fin stanco gli parse
Per suo mt'fflior di far scco In pacc.
E se a lui nianca el stral, l'arco, la face.
Dato l'ha alqitanto a lei per rcposarse;
E da qucl di per piü securo starse,
Lei fa V officio, e lui dortnendo giace.
Ben fece Amor con lei farsi ligatOj
Che'l sguardo suo ch'ogn'altra luce amorsa
Fa piii faciou che lui quäl suole armato.
Lei volontario ha ognun, lui sempre Sforza,
E val piii assai per conscrvarc un statch
Un volontario cor, che mille a forsa.
Anhang VII.
Peinture du Temple de Venus.
(Martin Franc, Champion des Dames f^ XXVI.)
Sens abesti ä tont sa barbe
De bouc et ses larges pieds d'ours,
Faisant au dien de feurre gerbe
Est lä le curi lait et lours;
Qui ne devroit pas estre soiirs,
Car or eitles a comme ung asne ;
S'il ne scet l'office des jours
Si scet il bien sa ricordane.
En sa main en Heu de calice
Tient ung hanap de graut ntesure,
Pas il ne lit l'apocalipse
Aux parrochiens de sa eure,
Et semble bien que sans usure
Ne vouldroit bailler blef ne seigle,
Sa main est armee d'onglure
Plus fort que n'est le pied d'un aiglc.
II ne peilt regarder le ciel,
Le soleil lui fait mal es yeux,
Si voit il bien par tont l'autel
Tout ceux qui aourent les dieux.
— 375 —
Sachez qii'il est tres atricux
A ses reliqttes blasonncr,
Qu'il n'ait motit de religicux
II ne tient pas ä sertnonner.
II est sttr l'aiitcl aconstes
Contrcfaisant Ic hon moyse,
Et dit: Escoiites, cscoutes,
Huy sont les pardons de l'eglise.
Serves la dame sans faintise,
N'esparg)ies ce qiii poiirrira,
J'exconiunie et debaptise
Tont komme qtii l'cspargnera.
Le temps s'etifuit, or l'employes
A V08 povoirs joyeusement,
Vo3 desirs et vos cueurs ployes
A tont mondain cshatcmcut ;
Vie humaine est ung passement,
Le temps de soy inesme voits tue,
Malheiireux est certainement
Qui a plaisir ne' s'esvertue.
Le temps voiis prent et votis tnspasse,
Quant on est venu et iillt\
Tout par le cul d'un singe passe.
Tont passe avant doux et sali.
Vises du long, viscs du lö,
Vous n'aves joie ne plaisir
Et fusses vous Mathusalö
Se vous ne le saves saisir.
Anhang VIII.
Bibliographische Uebersicht.
I, Originalausgaben.
1. Le Temple dhonneur et de vertus. Com-
pose par Jehan le maistre discipse de Molinet.
Imprime a Paris par Michel le noir (1504). kl. 4oi.
B. nat. Inv. Res. Ye 219.
Id. ibid. le 6^ jour d'avril 1504. kl. 4«. (Brunet).
Id. o 0. oj. sehr schlechter Nachdruck. B. nat.
Inv. R^s. Ye 859.
2. Les Chansons de Namur. Composees par
Jehan Lemaire de Beiges, indiciaire et historio-
graphe de la maison d' Austriebe. En Octobre 1507.
Imprime en Anvers par Henri Heckert. Einziges
exemplar im Besitz des Herzogs von Aremberg.
Photographische Wiedergabe, Brüssel, Van Hom-
berch. Brüssel, Königl. Bibl.?
3. La pompe funeralle des obseques du feu
roy don Phelippes etc. Ung chant nouvel de
laliance Dengleterre. Lepitaphe de feu messire
' Es ist zu vermuten, dass G. Cretin dem jungen und un-
bekannten Finanzbeamten den Pariser Verleger verschafft hat,
wie er ja dem Werkchen ein empfehlendes Gedicht beigab.
c:2'j(c-n
— 377 —
George Chastellain et de maistre Jehan Molinet,
par Jehan Lemaire Beigyen. Imprimc a Anvers
Ic 15 fevricr I'tOI. Photolitographischer Abdruck
von Ruggieri, Harlem 1868. Ein Exemplar auf
der Stadtbibliothek zu Besangon.
Die fimcralliii cii ticcriikv triiiinphvii o/t poinpfti cw.
4. La legende des Venitiens ou autrement
leur cronicque abregee. La plaincte du Desire,
cest a dire la deploration du trespas de feu mon-
seigneur le conte de Ligny. Les regretz de la
dame infortunee. Lyon Jehan de Vingle (1509).
So. B. nat. Lb-'^ 27 Rd-s. Arsenal 6436 BL.
Vi'twäischc Chronica aus dem frausösisc/icn tlurc/i
Xicolattni Mciigitt von Nanzei. FranckfurI , Cyriaktis,
Jacob Silin Bart. ZKci Nachdrucke. KOuigl.Bibl. in Berlin.
Veiicüieii oft es de cause daer oinc dattet neschil rijsl
tiisschen den Venelianen en den Roomschen Keyser en
den Coninck van Vranckrijck Rhenarreert.
Id. Paris Geuftroy de marnef (1512). 4o. B. nat.
La- 3. Arsenal 8031 H.
5. Les Illustralions de Gaule et Singularitez
de Troye. Avec les deux epistres de Lamant
Verd. Composees par Jan le Maire de Beiges.
Imprime a Lyon par Estienne Baland (1510). 4o.
Arsenal 8031 H.
Daraus die Epistres de l'aniant verd einsein. H. mit.
Im' 1. Ris.
Id. Imprimc a Paris par GeofTroy de Marnef,
Janvier 1512'. B. nat. La- 4.
» In dieser Ausgabe wird Lemaire noch indiciairc cest
•A dire hystoriographc de madamo MarKiiorite d'.Autriche
— 378 —
6. Le traictie intitule de la difference des
scismes et des concilles. Avec lequel sont com-
prises plusieurs autres choses curieuses et dignes
de scavoir. Sicome de lentretenement de lunion
des princes. La vraye histoire et non fabuleuse
du prince Syach Ysmail dit Sophy. Et le saufcon-
duit que le Souldan baille aux Francois pour
frequenter en la terre saincte. Avec le blason
des armes des Veoitiens. Imprime a Lyon par
Estienne ßal'and, may 1511 pour J. le M. Expensis
propriis. 4». Arsenal 8031 H.
Id. Imprime a Paris par G. de Marnef, janvier
1512. B. nat. La-' 2.
7. Le second livre des Illustrations de Gaule
et Singularitez de Troye. Imprime a Paris par
G. de Marnef, Aoust 1512. 4«. B. nat. La'^ 4. Ar-
senal 8031 H.
8. Le tiers livre des Illustrations de Gaule
et Singularitez de Troye, intitule nouvellement
de France Orientale et Occidentale. Imprime a
Paris par G. de Marnef, juillet 1513. 4». B. nat.
La2 4. Arsenal 8031 H.
9. Lepistre du Roy a Hector de Troye, Et
uucunes aultres oeuvres Assez dignes de veoir.
Imprime a Paris par G. de Marnef, aoust 1513.
4o. B. nat. La- 4 R^s velin, unvollständig. Ar-
senal 8031 H.
grenannt. Er wird demnach etwa im Februar in französische
Dienste getreten sein.
— 379 —
Anlaut- sinn vorlicrzchcndcn. Enthalt: Lcpistrc du
Roy a Hcctor de Troyc. Lcs XXIII J tonfirts de la I 'ali-
tude et convaicsccttce de la royne. Epitaphe de fett tnon-
seigneur Gaston de Foix. Le traicte intitule La Coneordc
des deux langai^es. La Plainle suf le Irespas de messire
Gnillaninv de Bissipat (von (7. Cretin). A nionsieiir inaistre
Frniicois le lionge.
10. Les Contes de Cupido et d'Atropos, üt
Traictcz singulicrs contenus ou present Opus-
cuUe. Les troys comptes intitulez de Cupido et
d'Atropos etc. — Fin du present Opuscullc nuquel
sont comprises plusicurs ocuvres de Rhetorique
faictes et composees par feu maistrc Jehan le
mayre etc. Paris Galliot du Pro fevrier ITViTr 8».
B. nat. Y*^ 1256 Rds.
Id. Paris, Jehan Sainct Denys s. a. 12". V*-
1257 R(5s.
11. La Couronnc margaritique, herau.sgcgcben
von Claude de Saint Julien in der Ausgabe von
Lyon, Jean de Tournes, 1549. fol.
II. Zugeschriebene Werke.
1. La Concorde du f^endre hinnain, Brnxelles, I lionias
de la Noet, janvier LV)9. <$". Xach lirnnel III, <V»f> heg,innt
/" 2 der Prologne de Jean Lcmatre de Belt^es. VerseholtcM.
2. Larrest dn roy des roniniains Donne an %rant con^
seil de Frame (150S). Cf. Goujet, Biht. franf. X. 93. 43iK
Der Dichter Maximien nennt sich im Akrostichon der
leisten Zehn seile. B. nat. ><" 430S. Res.
3. Un recneil sonnnaire de tons lcs passoRcs des
Chrestiens en la terre saincte en une iriivre par moy
compilec, s. oben p. 161. Xach genauer BetrachlnnR der
— 380 —
Ausgaben bin ich nunmehr der Uebersengiing, dass die
beiden Werke, die Leniaire 1511 drucken Hess, die sivci
siisammcngehörigen Teile von I, 6 sind: 1) La dijfercncc
des Scismes et des concilles tind 2) La vraye histoire di"
Syach Ysmail nebst Sanfconduit tind Blasott. Der Rccueil
sommaire ist dann nichts anderes als das 1511 entworfene
vierte Buch der Illustrations, welches auch als Oeuvre de
Grece et de Turqiiie bezeichnet wird, und dessen Inhalt
die gcnealogic des Turcs et leurs gcstcs iusques a nostre
tcnips et la geographie de la tcrrc de Turquie et de Grece
et des isles circonvoisincs sein sollte. Paquots Angaben
haben mir Verwirrung gestiftet '.
4. Le troisienie conte de Cupido et d'Atropos, gehört
einem Dichter dessen Devise Cuetir a hon droit
war. S. oben p. 267 -.
III. Spätere Ausgaben.
1. Die Ausgaben von G. de Marnef bildeten
die Grundlage der späteren Neudrucke, welche —
wenn vollständig — sechs Teile enthalten: Le
Premier livre des Illustrations de Gaule avec les
deux epistres de l'amant vert. — Le second livre
des Illustrations de Gaule. — Le tiers livre des
Illustrations de Gaule. — Lepistre du Roy a Hector
de Tro5'e avec aucunes autres oeuvres assez
dignes de voir. — De la difference des Scismes
et des Conciles etc. — La Legende des Veni-
' Jean le Feron hat, wie oben gesagt, die falsche Bezeich-
nung Traite de l'ouverture du Sainct Sepulchre für den Sauf-
conduit gebraucht. Paquot hat diese dumme Stelle ausgegraben.
- Le triumphe de treshaulte et trespuissante Dame Verolle,
Lyon 1539, auch von Paquot Lemaire zugeschrieben, weil sein
zweites Märchen von Cupido und Atropos und das anonyme
dritte darin verwertet sind, ist zu streichen. S. oben p. 268
Anm. '1.
— 381 —
tiens etc. — Bekannt sind solche Neudrucke des
Ganzen oder einzelner Teile aus den Jahren 1515.
1516. 1517. (um 1518). 1519. (um 152(J). 1521. 1523.
1524 (Lyon). Die erhaltenen Exemplare vereinigen
sehr häufig Teile von verschiedenen Auflagen
(cf. Brunet, GrUsse u. A.).
2. Neue Ausgaben in anderem Format sind
die von: Paris Fr. Regnaut und Lyon Antoine
du Ry lv528. 4» 2 col.; Paris Ambroise Girault
1528-29. fo.; Paris Galiot du Pro 1531. 8o. (nur
Illustrations nebst epistres de l'amant vert); Paris
Ambroise Girault 1533. 4o 2 col. ; Paris Guillaumc
le Bret 1540. 2 vol. 8».; Paris Poncet le Preu.x
1548. 4o.
3. Le temple dhonneur et de vertu, Paris
Alain Lothrian et Denys Janot (um 1536). 8°. —
Le triumphc de l'amant verd (die beiden epistre
de l'amant verd mit Werken anderer Dichter)
Paris, Denys et Simon Janot, 1535. 16. — Le
Promptuaire des conciles de l'Eglise catholique
avec les Scismes et la differences diceux 1.532.
1545. 1547'.
4. Erweiterte Ausgaben:
a) Les Illustrations de Gaule et Singularitez
de Troye, contenant troys parties avec l'Epistre
du Roy a Hector de Troye, Le traicte de la
> Danach scheint woht die ensrüsche Uebersetzunff gemacht :
The abbrevyacion of oll gencral Concellys holden in Grecin,
Germania, Italia and Gallia, compyled by John Le Mcyrc in 1519
and translated by John Gowgh the Printer herof. 1539. f>.
- 382 —
difference des Scismes et des Concilles etc. Le tout
compose par excellent hystoriographe Maistre
Jean le Maire de Beiges en son vivant secretaire
de sacree princesse madame Anne de Bretaigne
deux fois ro3me de France. Avec plusieurs autres
additions faicte par ledit Aiitheur. Nouvellement
revu et corrige. Imprime a Paris (Jehan Longis
et Jehan Real) 1548—49. 8°. B. nat. La-' 12.
Enthält ausser den geivöfmlich ^edrncktcn Werken
den Tcniple 'd'lionneur et de vertu. Den cinsclnen Teilen
sind frans, tind tat. Verse von Franfois Barat d'Ar^cnton
en Bcrry beigegeben. Stecher Oeuvres IV, 437.
b) Les Illustrations de Gaule et Singularitez
de Troye par maistre Jean le Maire de Beiges.
Avec la Couronne Margaritique et plusieurs
autres oeuvres de lu}", non iamais encore impri-
mees. Lyon Jean de Tournes 1549. fo. B. nat.
La2 13.
Enthält ausser den geivöhnlich gedruckten Werken
die Couronne margaritique tmd die trois Contes de Cupido
et d'Atropos, aber nicht den Teniplc d'hanncur et de vertu.
c) Oeuvres de Jean Lemaire de Beiges
publikes par J. Stecher, membre de l'Academie
royale de Belgique, gedruckt zu Löwen 1882.85.91.
4 vol. 8o. — Auf dem Rücken : Acadömie ro3\ale
de Belgique.
Enthält alle jetzt bekannten Werke Lcinaires, auch
ungedrucktes, fast vollständig, ausserdem einige über-
flüssigen Beigaben. Der Text ist der von 1549. Wichtige
Varianten fehlen. Die Ausgabe kann xvedcr als kritisch
noch als endgültig betrachtet werden.
3S3
IV. Handschriften.
1. Paris, B. nat. ms. fr. nouv. acq. 4061. kl. 4«». pg.
Enthält zwei Gedichte von Lemairc und eine
kur/c biographische Aufzeichnung, wovon der
Anfang fehlt. Vgl. Anhang I. (Autograph?)
2. Paris, B. nat. ms. fr. 1683. pap. Sensuit La
plainte du desire etc. Die Klage schliesst mit
folgendem Nachwort: Et pour cc que vous tres
haulte et tres excellente priricesse, ma dame Anne
roytie de France et duchesse de Bretaignc , par
l'instaiuct de vostre bonti* ttnttirelle aves tenu
et estinu^ les vertiis du deß'iiuct cn son vivant et.
Icelltiy maintesfois visiti et consolö beniguement
diirant le tenips de sa laiigiiettr, et ett prenant
grant soUicitude de sa santif et encores apres
son trespas l'aves vous bien daignä honnorer de
graut plante^ de lernies. et vous monstrer refuge
ä ses tres desoles serviteurs. pour ses raisons il
nie semble que je ne pourroys intituler ne des-
dier ceste petite oevre a plus digne princesse ne
qui miculx l'aymast que vous. Si vous en fais
ung tres hutublc present vous suppliant tres
haulte et tres excellente princesse selon vostre
clemencc accoustutnee le vouloir prendre en gn',
en excusant l'imbccilitö de mon jeune scavoir.
Et ainsi je cuideray avoir grandement satisfait
ä mon desir et moyennement assouvy l'intencion
de ses bienvueillans. — Diese Worte deuten an,
dass Lemaire, der eben seinen Herrn, den Qrafen
— 384 —
von Ligny, verloren hatte, sich durch Widmung
der Klage der Königin, die in Lyon weilte, zu
empfehlen suchte; dem entspricht auch der
Charakter der Handschrift, die sorgsame Ab-
schrift und die schöne Miniatur der ersten Seite.
Kurz vorher hatte der Dichter den Temple
d'Honneur et de Vertu in gleicher Absicht der
verwittweten Herzogin von Bourbon gewidmet,
ohne Erfolg, wie es scheint. Die Schritte, die er
nach dem Obigen bei der Königin von Frankreich
machte, blieben auch fruchtlos, wahrscheinlich,
weil damals der König in eine schwere Krankr
heit verfiel, dass man an seinem Aufkommen ver-
zweifelte, und sobald die eintretende Besserung
seines Zustandes es zuliess, der Hof nach Blois
zurückkehrte (vgl. J. d'Anton, chron. de L ouis XII) ;
über diese schweren Ereignisse blieb Lemaire
unbeachtet. Erst dann wird er sich wohl an die
Herzogin von Savoyen, Margareta von Oester-
reich, gewendet haben, diesmal mit Glück. Ihr
widmete er dann das Werkchen, als er es 1509
drucken Hess, beinahe mit obigen Worten, cf
Oeuvres III, 187. Dies wäre oben S. 42 nachzu-
tragen. Der Text der Hs. weicht beträchtlich
von dem der Ausgabe ab, man sieht, dass Lemaire
das Gedicht vor dem Drucke noch einmal über-
arbeitete. Die Hs. ist von einem Schreiber an-
gefertigt, der das Konzept des Dichters häufig
miss verstau den hat und zudem andere Sprach-
gewohnheiten hatte. Interessant ist es, dass die
— 385 —
Namen der Musiker, die angeführt werden
andere sind: Statt Josquin steht Hylaire, statt
Agricola maistre Evrad, dann heisst.es:
J'aiirai anssi poitr In niiculx faire bruirc,
Vcrjtts, Franfois qui bicn s'y voiidroiit duirc,
Et puis Conrard n'aura votiloir de fuire
Et croy qn'aussi ne fern ja Prcgent.
Die gleiche Hs. enthält zum Schluss: l'Epi-
taphe de monseigneur de Lign}-. Es sind vier
Spruchstrophen, welche J. d'Anton, chron. de
Louis Xn, ebenfalls anführt als Sprüche, die an
den vier Kanten des Katafalks angebracht waren
(B. nat. ms. fr. 5081 fo 194) ; ihr Vorkommen in
dieser Hs. macht es wahrscheinlich, dass sie
von Lemaire sind.
3. Paris, B. nat. ms. fr. 12077. La couronne
margariticque composee par Jeh. Lemaire etc.
Eine Initiale trägt den Namen Andrö DuprO,
daneben J. Foucre m'a fait. Die Hs. enthält einige
Stellen, die im Drucke gestrichen worden sind.
4. Paris, B. nat. ms. fr. 22326. 4o. pap. Ein
Sammelband, f» 51. La pompe funeralle des ob-
seques de feu tres catholique prince le roy dom
Phelippes de Castille etc. — !<> 79. Oraison de
l'acteur par manicre de invocation cn forme de
virelay double. Sensuyt ung petit traictie intitule
des pompes funebres antiques et modernes dedie
ä vostre excellence Treshaulte et tres noble
Becker, Jean Lemaire. 25
386
princesse Madame Claude . . par vostre tres
humble et tres obeissant serviteur Jan le maire
de beiges. (Unvollendet.)
5. Paris, B. nat. ms. fr. Dupuy 503. fol. pap.
Einige leere Blätter, fo 5 — 32. Le premier Voyage
d' Espagne , kurze Auszüge aus Antoine de La-
laing, Relation du premier voyage de Philippe
le beau en Espagne, ed Gaehard, Collection des
voyages des souverains des Pays Bas I, 125—300
(Chroniques beiges inedites); nur wenige Zusätze
von Lemaire, z. B. einiges, das vermuten Hesse,
er sei am 22. März 1503 in Lyon gewesen, als
Philipp von Kastilien in die Stadt einzog. —
fo 33—49. Voyage de monseigneur l'archiduc Phe-
lippes prince de Castille etc. ä son retour d'Es-
pagne depuis le partement de Dole au conte
de Bourgogne jusques au rentrer en sa ville
de Bruxelles. Ausführlicher Auszug aus dem
gleichen Bericht, stilistisch überarbeitet; Rein-
schrift; cf Gachard 1. c. 300—340. — fo 50-94.
Ausführliche Auszüge aus einem anonymen Be-
richt über die zweite Reise Philipps, von De-
cember 1504 — September 1507, herausgegeben von
Gachard 1. c. 389-480. - fo 102—110. Pour Van
M. V<: V. Notizen und Auszüge aus Briefen des
Königs und seiner Begleiter, einiges davon ge-
druckt bei Gachard 1. c. 501. — fo 111—120. Me-
moralia Indiciaratus, Notizen von Sommer 1507
bis Januar 1508 und Januar, Februar 1509. —
- 387 -
fo 125—154. Chronique des princes et princesses
de Ja frcs tllustn- ntaison d' Altstriche , CastiHv
et Bourgoigiie Poiir lati de la creation 6706 et
du regne de Maximilian cesarauguste vingt et
demy, nach einem ausgestrichenen Prolog folgt
fo 126 Chronique annale, z. T. ausgearbeiteter
Bericht über Margaretas Umzug durch die Nieder-
lande Ostern— August 1507. — fo 155 steht der
Name Tehan le Maire. — fo 156—160. Chronique
abregee de la tres illustre ntaison d'Austriche
et de Bourgoignc . . . depuis la nativite de tres
clere princcsse inndame Marguerite . . jusques
au trespas de niadame Marie sa mere. Kurze
Notizen von 1480—1506. Diese drei Teile hat
J. Stecher herausgegeben Oeuvres IV, 441 sqq. —
fo 161—64. Ein Heft, auf dessen erster Seite Auf-
zeichnungen über die Nymphen, in der Mitte
Tafeln von Päpsten und römischen Kaisem
standen, letztere mit besonderer Beziehung aut
Julianus, in lat. Sprache; fo 161 vo, 162 ro und
164 ro und vo hat Lemaire Notizen über das Haus
Parthenay und Soubize eingetragen, die er augen-
scheinlich an Ort und Stelle gesammelt hat. Es
wären also Aufzeichnungen, die er von der Reise
in der Bretagne mitgebracht hat; sie scheinen
das zu bestätigen, was Cl. Marot von einer
näheren Beziehung Lemaires zu Frau von Sou-
bise andeutet, fo 164 steht : Thony charente (d. i.
Tonnay-Charente) est ung hourg d deux Heues
de Soubise, lä oü les bretons venoient charger
les hledB de niadame d'Angoulesme quand je y
passay, cest assavoir le lendemain du joiir St.
Nycolas en inay mil Vc et XI IL Am Rande:
Madame de Beauregard Vestus fut nion hostesse
ä Sonhise. — Aiitograph, vielleicht mit Ausnahme
von fo 33—49.
6. Carpentras, Bibl. de la ville 408. fol. pg. Le
traictie intitule la Concorde des deux langaiges,
L'an 1511. (Cf. C. G. A. Lambert, Catal. des mss.
de la bibl. de Carpentras. 1862. I, 252.) Offenbar
ein Widmungsexemplar. Eine genauere V"er-
gleichung der Hs. fehlt.
7. Geneve, Bibl. de la ville et de la republ.
ms. fr. 74. De la destruction de Troye. fol. pap.
Das zweite Buch der Illustrations. Lan de grace
1512, le Premier jour du moys de may. Les XXIIII
Couplets de la Valitude de la royne, fait fi Blois
le second jour d'avril, lan de grace 1511 avant
pasques. Double virelay de nouvelle taille. (Cf.
Senebier, Catal. des mss. de la Bibl. de la ville
et republ. de Geneve 1779. 337.)
8. Bern, Stadtbibliothek Nr. 241. fol. pg. Troi-
sieme livre des Illustrations de France orientalle
et occidentalle cest a dire de Gaule et de
Troye. (Cf H. Hagen, Catal. cod. Bernensium,
Bernae 1874. p. 282.)
9. Paris, B. nat. ms. fr. 1721. fo 22. Fleur
fleurissant. — f« 104. Pluine infelice (Prologue
- 389 —
de la Couronne margaritique). — Ib. ms. fr. 1717.
fo 96. Epitaphe de fcux mcssire George Chastellain
et de maistre Jehan Molinet. Lan 1510 (!).
V. Ikonographie.
1. Holzschnitte: Ein Titclholzschnitt, Lemaircs
Wappen mit Helm und Devise: De peu assez.
Darüber: Si non est utile quod facimus stulta
est gloria. Links ein Hahn: Gallis icternum decus,
rechts ein Sittich eine Honigwabe naschend:
Favus distillans labia mea. Scheint für die Aus-
gabe von 1510 gestochen und ziert alle folgenden
Werke. — Margaretas Wappen, darüber: For-
tune infortune fort une. Für dieselbe Ausgabe
geschnitten, findet sich in den Pariser Ausgaben
bis zu Lemaires Uebertritt, fehlt also vom 2. Buch
der lUustrations an. — Doppehvappen des Königs
und der Königin von Frankreich, darüber: Vivite
feliccs^ darunter Hermeline und Stachelschweine;
für die Differencc des Scismes et des Conciles
geschnitten, fehlt auch vom 2. Buch ab. Wenn
diese Schnitte von J. Perreal gezeichnet waren,
was leicht zu vermuten wäre, so würde das
Zerwürfniss der beiden Freunde erklären, warum
Lemaire darauf verzichtete, sie weiter zu ver-
wenden. — Widmungsbild: ein Genius reicht
Juno aut dem Thron das Buch dar, links Hebe (?),
rechts in den Wolken Merkur, im Vordergrunde
spielen drei Damen mit einem Windhund oder
Hermelin (?). Figuren von reicher Formenlillle
— 390 —
in bewegten Stellungen ohne Porträtähnlichkeit'.
Findet sich in den beiden Drucken von 1513
(sicher nicht von Perreal). — Zwei erläuternde
Schnitte: Noah und Tytea die Welt umsegelnd,
Herkules mit seinen beiden Frauen und deren
zwei Kindern, wahrscheinlich auch für das erste
Buch 1510 geschnitten. — Ausserdem einzelne
interessante Lettern.
2. Miniaturen: B. nat. ms. fr. n. acq. 4061. cf
Anhang I. — B. nat. ms. fr. 8031. Ligny auf dem
Totenbett, Natur. Rhetorik und Malerei beklagen
ihn, zwei schwarze Schwestern trauern im
Vordergrund, sehr fein gezeichnet. — Bibl. de
Carpentras ms. 408. Der Tempel der Venus und
das Heiligtum Minervas, zwei ganze Seiten. --
Bibl. zu Bern Nr. 241. Widmungsbild. S. oben
p. 281. Eine zweite Miniatur: zwei Männer den
französischen Stammbaum betrachtend.
1 Jedenfalls schiene es mir seltsam, in dem dickbackigen
Genius Lemaire sehen zu wollen, wie Stecher vorschlägt.
Nachlraj;» zur JUbliograpliic.
1, 2. Les Chansons de Namur, photolithojjr-
Reproduction, Brüssel, G.-A. van Trig^t. Hrit.
Mus. 11475 bbb 28, 4o.
In der That ist Str. 26, 2 Poun' nur ein Schreib-
fehler (S. oben p. 332 Anm. 1); es steht unzwei-
deutig Yvuy d. i. Ivuy zwischen Cambrai und
Valenciennes. Somit lallt die letzte epische
Caesur in Lemaires Werken fort; dass der
Dichter soweit greifen musste, um einen voka-
lisch anlautenden Ortsnamen zu linden, zeigt
wie sehr er die Elision für notwendig erachtete.
I, "). Les Illustrations de Gaule et Singularitez
de Troye etc. Imprime a Paris par G. de Marncf.
Septembre ir)12. Hrit. Mus. G 10249 (1). 4o.
Verla« von KAUL J. TRCBNEI; in SUussbuig.
3citcn, SBöIfer luib 9}?cii[d)cu
Don
tlnrl t)illrbl•nu^.
7 93äiibc tl. 8". >|.Uciö pro iütiiib (ftatt m. (i.^t 0);. 4.—,
flcl). W. :..— .
$b. T. (Vrnitfrrid) iiitl» btc (Vranjofm.
o. itiuf ncvmelntc 'Jlufhuic mü einem 'JKidiviifc uon ^ttinri^
■•öomlievrtcr. S". XX. ;iiM; 8. W8(>.
i^n()alt: il^oncbc .yir 2. iii(b :$, 9UifInt]f. — (finleitenbf*. —
3*lc «:kU|d)aft uitb ^?ittcratiir. — UoHttfdic» Vcbcn.
*^li. H. i^iilfdjce iiiiti ^cntfdic«'.
8". XIV II. 4-".s 3. is'.ij.
;>ii{)alt: 9.Hnuiovt. — I. ^iw JHcuniffaiicf. — II. $tiU
(\cuöfrifdK«i nu« ^tnlicu. — III. Jvrrt"»örifd]f«. —
IV. *ilH«( bcm iünftii\cn «dirifninim TciitidilnuÄ*. —
V. ''lim bcm uit,\üitfti(KH 2dirifttlium Teiitid)iant>l.
^.Sti. HI. ^ilu0 iiitb über (vtitiiitiib.
S". VllI lt. tos 8. ISD-J.
3nf)rt(t: a.Un[ieiiicvfiin(V — I. Briefe itii« t^iiAlrtitb. —
II. rtrrtii,',ö|tfd)c «tubicit cufllifdicr cUitflciioffcii. —
III. ^iitr VittcnUui' uiib 3ittcii{Kfd)id)tc bc» iid|t')Cl)nt(n
Jnl)rl)unbcrt<(.
':i^b. IV. %-vo\Hc. 2. 'JhiöQabc. 8^ VIII u. 37G S. 1886.
üBb. y. 9(ii<$ bcm ;>al)rliuubcrt brr Mrboditioti.
2. ^^luogabc. s". VIII. :?(i(> 8. issc.
JBb. VI. ^Icitflc II offen imb ^Uitflcitöfnfdic«'.
2. 3luoaabe. S". VIII. 400 8. issc.
m. yi[. Cfulturflffd)td)tlidK<*. 8". XII. :«■> 8.
Wit bem ^^ilbtüB bcö SJcrfaflcrä in <t>oIif<^»itt- l^''^''-
Jwölf grifff finf0 ßflljftifdifn firtfra
8". IV II. 118 S. 1874. flcl). !ül. 2.— flcb. W. :{.- .
Uie Verlagshandlunjr ergreift die Gelegen-
heit der Erwerbung von Hillebrands Werken, um
durch Ermässigung des Ladenprjeises vonMk. f». —
auf Mk. 4. — pro Band deren Verbreitung ihrerseits
nach Kräften zu fördern.
Verlag von KARL J. TRÜBNER in Strassburg.
COcfrijirijtc
bev
^talieitifdjen Stteratuv
ßrftcr 33aiib : Sic italicuifrfjc Sitcvrttur im SDJittclaltcr.
8«. 550®. 1885. 9J1.9., geb. 5JI. 11.— .
3nl)a(t: Giiilcituiu]. — 3)ie Siciliaiiifdic 5)id)terid)ule. —
^•ortiebitng bcr Ujrijdjeit 3^id)titiu] in DJcittcIitnlieit. —
©iüt)o (SiünicelH uon 23oIogna. — Sic fraiislif. 3ittttn =
bid)tuiu] in Cbcvitalien. — Steligiöic iinb inovalifrfK
^^oefie in Obcritalicn. — Sic religibie Sl)vif in llm--
bvien. — Sie ''^voia im 13. ^abtl). — Sie al(eijoriid)=
bibatttfd)e Sid^tnng iinb bie ))l)i(o|opf). ^ijri! ber nenen
floventiniid)cn Qd}nii. — Sante. — Sie (Somöbie. —
Sn§ 14. 3»i')i-"t)i'iJ'^''i't- — ^H'travcQ. — ^Mvavca'^i (ynn=
moniere. — 3lnf)ang (nf)Uograpf)i)d)cv u. fvitijdjev 93e=
merfiingen. — 9iegifter.
3ti>ctter S3anb:
^ic italicuifrfjc IMtcratur bcr 9tcuni|fniuc]cit.
8'\ 704 e. 1888. m. 12.—, geb. m. 14.—.
3n()ün; ^Boccaccio. — Sie Gpigoncn bcr grofjen 3füven=
tincv. — Sie .s*">umttniftcn beS 15. 3iil)vl)unbertö. — Sie
JBnIgävipradjc im 15. 3ttl)i-"l). unb i()ve UMteratuv. —
^Polijiano unb Sorcnso be 9Jiebici. — Sie 9{ittevbid)tung.
i^ulci ittib 23ojnrbo. — 9}capef. — ^'Ontanp unb i£aunrt=
jaro. — 5Jtacd)itn)e(Ii uub Wniccinvbiui. — a3enibo. —
Slvtofto. — Gaftiglione. — ^Uetvo 3h-ctinu. - - Sie lCl)vit
im 16. 3ftf)vi)unbevt. — Saß ^■>elbengebid)t im 16. '^\al)x^
{)unbert. — Sie Sragöbie. — Sie Gomöbie. — ?lnl)ang
bibliograpbiirflfv "• tritiidjer 33emevfuugen.
iL ^'^T®''' ^^^^PP A«ß"8t
J-^'^^ö Jean Lemaire
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