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Full text of "Jehuda Halevi, zweiundneunzig Hymnen und Gedichte. Deutsch, mit einem Nachwort und mit Anmerkungen [von] Franz Rosenzweig. Der sechzig Hymnen und Gedichte zweite Ausgabe"

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FRANZ   ROSENZWEIG/ JEHUDA   HALEVI 


FRANZ    ROSENZWEIG 

JEHUDA  HALEVI 

ZWEIUNDNEUNZIG 
HYMNEN  UND  GEDICHTE 

DEUTSCH 


MIT   EINEM    NACHWORT 
UND   MIT  ANMERKUNGEN 


DER    SECHZIG    HYMNEN    UND 
GEDICHTE    ZWEITE    AUSGABE 


BERLIN 
VERLAG  LAMBERT  SCHNEIDER 


Fr 

Jß 


MARTIN    BUBER 
ZUGEEIGNET 


INHALT 

GEDICHTE 11 

NACHWORT 151 

ANMERKUNGEN 169 


GOTT  SEELE 

Gelobt 13  171  Hier  bin  ich 55  196 

Gewaltiger 18  173  Seele 56  197 

Sehnsucht 19  173  Seele  im  Exil 57  197 

Nachts 20  173  Bei  Dir 58  198 

Ereignis 21  174  Gebet 59  199 

All  meine  Glieder 22  176  Menschenschwäche 61  202 

Der  Unvergleichliche 23  177  Umkehr 62  203 

Keiner  sonst 24  178  Der  Lohn 64  204 

Die  Liebenden 25  178  Diese  Seele  hier 65  207 

Gerichtstag    26  179  Wahn  und  Wahrheit 67  208 

Heimkehr 28  180  Frau  Welt 68  208 

Hör 33  182  Weise  Lehren    69  210 

Der  Wahre 34  183  Knechte 71  211 

Dein  Gott 35  184  Welt 72  211 

Sein  Friede    38  184  Der  kranke  Arzt 73  212 

Das  All 39  185  An  den  Sabbat 74  212 

Der  Fem-und-Nahe 43  188  Frei 76  213 

Der  Name 45  190  Sabbatmorgen 77  214 

Geweiht 46  191  Leben 78  214 

Deine  Wohnungen 49  192  Der  Tag 79  216 

Der  Gott  der  Geister 50  192  Kehr  um,  kehr  um 80  216 

Heilig 51  193  Der  Aufstieg 81  217 

Der  Helfer 52  195  Hauch  allen  Lebens 82  217 


VOLK  ZION 

In  Ewigkeit 87  218      Auf 121  238 

Gott  spricht 88  218      Die  frohe  Botschaft 122  238 

Lichterfest 89  219     Heilsrechnung 123  239 

Morgendlicher  Dienst 90  219      Im  Heiligtum 124  240 

Licht 91  220     Teppiche  Salomos 125  242 

Besiegte  Finsternis 92  220     Nächtliche  Träne 126  242 

Am  Schilfmeertag 93  221      Die  hohe  Stadt 128  243 

Mein  König 94  221      Zwischen  Ost  und  West 129  243 

Aus  dem  Elend 95  223      Antwort 130  244 

An  den  Löser 96  223      Der  Pilger 133  245 

Auf  blick 98  227      Leicht  wiegt  das  alles 135  245 

Jungfrau  Israels  Sabbat 99  228      Der  Zwang 137  247 

Heim 101  229      Bitten 138  247 

Die  Eliawunder 103  230     Die  Flut 139  247 

Der  Jude 105  231      Zum  Herzen  gesagt 140  253 

Die  Verheißung 106  231      Stille  nach  dem  Sturm 141  253 

Feindesliebe 108  233      An  den  West 142  253 

Liebeswunder 109  233      Im  Hafen 143  254 

Zürnende  Liebe 110  234     Ägyptischer  Boden 144  255 

Traumgesicht 111  235      Der  Strom 145  255 

Treue 112  236      Hin 146  255 

Liebestrost 114  237      Vorgefühl 147  256 

Wiederfinden 116  237      An  Zion 148  257 


GOTT 


GELOBT! 

Ta  Herr  Dich 

dich  rühme  ich; 
dein  Recht,  durch  mich 
leucht'  es  weit. 

Horch,  ein  Ton  — 
gehorch  ich  schon, 
Frage  schmilzt 

und  Widerstreit. 

Und  glich'  es  dem 
nicht,  wie  wenn  Lehm 
den  Töpfer:  „Was 
tust  du!"  zeiht? 

Des  ich  verlang, 
den  ich  empfang 
zu  Turm  und  Wehr 
und  Sicherheit: 

AU-um  glühnd, 
Geleucht  aussprühnd, 
schleierlos, 

verhangbefreit  — 

Daß  gelobt, 

0  daß  umkränzt, 
o  daß  gerühmt 
er,  und  geweiht. 

13 


TJerr:  Deiner  Pracht, 

Werks  Deiner  Macht - 
die  Himmel  sind 
sein  Bericht, 

Ihr  Steigen  und 
ihr  Neigen  und    - 
wenn  tief  sich  beugt 
ihr  Gesicht. 

Und  Engel,  hin- 
wandelnd in 
Gemäuer  aus 

Flut  und  Licht, 

Bekennen  dich 
und  nennen  dich, 
der  du  schufst 

den  Laut,  der  spricht. 

Denn  du  wägst 
ohn'  Müh,  und  trägst, 
und  nicht  im  Arm, 
auf  Händen  nicht: 

Tiefsten  Grund, 
hochhimmlisch  Rund, 
den  Thronsitz  und 
die  sein  Geleit  — 

Daß  gelobt, 

o  daß  umkränzt, 
o  daß  gerühmt 
er,  und  geweiht. 

14 


T  Tnd  wes  Mund,  wes, 

war  würdig  Des, 
der  Wolken  ballt 

mit  seinem  Wort, 

Ewig  lebt 
—  Geheimnis  webt 
auf  Höhn  der  Höhn 
um  seinen  Ort  — 

Und  doch  vom  Thron 
ins  Zelt  zum  Sohn 
herab  sich  ließ, 

zu  wohnen  dort. 

Wohl  Abglanz-Schein 
den  Sehern  sein 
vergönnt  er  aus 

des  Wesens  Hort. 

Doch  ohne  Form 
mid  ohne  Norm 
zieht  hin  sein  Geist, 
und  ohne  Port. 

Profetie 

nur  sah  ihn  wie 
in  Königkleids 

Erhabenheit  — 

Daß  gelobt, 

o  daß  umkränzt, 
0  daß  gerühmt 
er,  und  geweiht. 

15 


T~\ie  Werke  groß, 

Gebild  zahllos  " 
wer  umzirkt 

des  Lobs  Gestalt? 

Heil  dem  Mann, 
der  früh  begann, 
in  ihm  zu  sehn 
die  Allgewalt, 

Und  kühn  sich  stellt 
auf  den,  der  hält 
fest  das  All 

in  ewgem  Halt, 

Mit  regem  Geist 
hoch  ihn  preist 
und  sein  Gericht 

nie  Unrecht  schalt 

Und  gibt  frei  zu, 
daß,  was  Gott  tu', 
seinem  Ziel 

das  Tun  stets  galt 

Und  daß  er  nah 
den  Tag  bringt,  da 
der  Welt  ihr  Spruch 
hängt  bereit  — 

Daß  gelobt, 

o  daß  umkränzt, 
o  daß  gerühmt 
er,  und  geweiht. 

16 


A  uftaue  dich, 

neu  baue  dich, 
klar  schaue  dich 
in  tiefster  Brust! 

Erfaß,  0  Geist, 
was  du  seist 
und  daß  aus  Nichts 
kam  all  dein  Blust. 

Wer  gab  dir  Kraft? 
wer  Wissenschaft  ? 
wer  ruft  dich  einst? 
ist  dirs  bewußt? 

So  schaue  an 
die  Macht,  und  dran 
entflamm  dein  Herz 
zu  heiiger  Lust! 

Erkenn  sein  Werk! 
Ihn  doch,  merk, 
unberührt 

lassen  mußt. 

Forsch  wie  viel! 
Keim  ruht  und  Ziel 
in  Wunder  und 

Verborgenheit  — 

Daß  gelobt, 
0  daß  umkränzt, 
o  daß  gerühmt 
er,  und  geweiht. 

17 


GEWALTIGER 

f^  ewaltger!  Wer    ohn'  Ihn!     wer  stritte  den  Rang  Ihm! 

Er  Bronn  des  AU     ringsum,     des  Schöpfung  entsprang  Ihm! 
Seine  Gestalt  -     kein  Aug    hat  sie  gesehn,  nur  das 

Herz  seelenvoll,     schaund  und     erkennend,  zudrang  Ihm. 
Sein  mächtger  Glanz     umringt     des  Weltalls  Rund;  so  heißt 

„Raum"  Er  dem  All,    weil  kein     Raum  rings  sich  umrang  Ihm. 
Schaunde,  die  nie     zu  schaun!     Schaundem,  der  nie  zu  schaun, 

nah'  du  und  bring    Preisdanks-    und  Segens worts  Klang  Ihm! 


18 


SEHNSUCHT 

'7u  ihm,  des  wahren  Lebens  Quell,  hintracht  ich. 

Das  Leben  drum,  das  schal  und  leer,  mißacht  ich. 
Schaun  meines  Königs  Antlitz  —  was  begehrt'  ich  noch! 

Nicht  kenne  andre  Macht  und  andre  Pracht  ich. 
O  dürfte  ich  ihn  sehen  doch,  wärs  nur  im  Traum! 

Gern  schlief  ich  ewgen  Schlaf  und  nie  aufwacht'  ich. 
Und  sah  sein  Antlitz  ich  in  meines  Herzens  Schacht, 

Nicht  gab  dem  Aug,  hinauszuspähn,  noch  Macht  ich. 


19 


NACHTS 

Tüngst  weckten  mich  Gedanken  Dir  zu  eigen 

und  ließen  schaun  mich  Deiner  Gnaden  Reigen. 
Hell  lehrten  sie,  wie  Dein  Gebild,  die  Seele, 

mit  mir  verflochten  -  Wunder,  nie  zu  schweigen! 
Und  sah  mein  gläubig  Herz  dich  nicht,  als  hätt  es 

gedurft  sich  mit  am  Sinai  erzeigen? 
Dich  suchten  meine  Schauungen.  In  mich  trat 

dein  Glanz,  in  mein  Gewölk  herabzusteigen. 
Aufscheuchte  da  mein  Sinnen  mich  vom  Lager, 

vor  Deiner  Herrlichkeit  mich,  Herr,  zu  neigen. 


20 


EREIGNIS 

"r\ie  Sphären  des  Himmels  sahn     dein  Glänzen,  da  wanken  sie. 
Die  Wogen  des  Abgrunds,  als     du  auszogst,  still  sanken  sie. 
Und  wie  soUn  die  Seelen  stehn,     dort  wo  Dein  Geheimnis  haust, 

wo  Feuer  durch  Felsen  schlägt,    daß  flammend  zerschwanken  sie. 
Doch  stark  wird  ihr  Herz  durch  Dich,     wofern  Du  sie  stärken  willst, 

daß  folgend  den  Geistern,  die     dein  Sein  schauen,  danken  sie. 
Drum  Lob  aller  Seelen  steig'     zu  Dir  auf,  o  Herregott, 

denn  Lobworte  finden  Dich,     den  prächtig  umranken  sie. 


21 


ALL  MEINE  GLIEDER 

Meine  Glieder  rufen  all-alle:  Herr,  wer  gleicht  dirl 

Ja  Leib  und  Leben,  von  Dir  hab  ichs. 

Mein  Herz,  wills  beben,  in  Dir  lab  ichs, 

Mein  dichtend  Streben,  Dir  ergab  ichs, 

Meiner  Lieder  Maß  —  Deiner  Halle  nahts,  geeicht  dir. 

Hauch,  den  ich  sauge,  von  Dir  stammt  er, 

Strahl,  mir  im  Auge,  aus  Dir  flammt  er, 

Rat,  den  ich  tauge,  in  Dir  rammt  er. 

Mein  Geist,  wider    was  er  auch  pralle,  schaut  Dich,  -  weicht  dir. 

Und  mag  mein  Schmachten  nach  dir  langen. 

In  Busens  Schachten  Dich  umfangen  - 

Die  Dich  umdachten,  fruchtlos  rangen, 

Mein  Gefieder,         wie's  traumhoch  walle,         nicht  zureicht  dir. 

Doch  Fahne  schwellst  du  Dich  Umstehnden, 

Panier  hoch  stellst  du  Dir  Nachgehnden, 

Daß  nie  entfällst  du  Dich  Anflehnden  - 

Mein  Trieb  wieder         wirkt,  daß  abfalle         ich,  weh,  leicht  dir. 

Ach  sieh,  du  schautest  all  mein  Sinnen, 

Als  einst  du  bautest  mein  Beginnen, 

Da  du  vertrautest  mir  dies  Innen: 

Mein  Herz  ^  nieder      zu  engstem  Walle      nichts  entschleicht  dir. 

22 


DER  UNVERGLEICHLICHE 

Wer  gleicht  Dir,  dem  Tiefen  helle, 
Lobumraunt  du,  Wunderquelle! 

Jäh  umschuf  er  Nichts  ins  Sosein; 
Herzen  naht  er,  Augen  floh  sein 
Bild;  drum  frag  nicht,  wie  und  wo!  Sein 
Voll  im  All  ist  jede  Stelle. 

riältst  dir  ferne  böse  Lust  du. 
Findest  Gott  in  deiner  Brust  du; 
Herzensstill  nur  wandeln  mußt  du  - 
Er  senkt,  hebt  des  Lebens  Welle. 

Und  Rätsel  sieh:  der  Seele  Pfade! 
In  dieser  Weisheit  selig  bade,  - 
Findest  drin  der  Freiheit  Gnade: 
Bist  ja  Häftling,  Welt  die  Zelle. 

iJenken  "  sends,  dich  Ihm  zu  einen! 
Lösch  deinen  Willen  und  tu  Seinen! 
Wohin  würd  nicht  Sein  Auge  scheinen? 
Sein  Tun  kennt  Grenze  nicht  noch  Schwelle. 

All-erst  lebt  vor  Weltstaubs  Krume 
Er.  Und  erschuf.  Und  trägt.  Wie  Blume, 
Die  welkt,  so  gehts  des  Menschen  Ruhme: 
Wie  ein  Blatt  welkt,  welkt  er  schnelle. 


23 


KEINER  SONST! 


Teder,  der  klagen 
„Was  beut",  schmähn  Fragen, 

,  Hymnus  und  Weisheit 
Ganz  Schöne  —  Preis  reiht 
Klagegeschreis  Kleid 

Wollt  Mitleid  tragen! 

Wollt  Trost  mir  sagen! 

Urfeu'r  geriegelt 

Name,  versiegelt 

Und  aufgewiegelt, 
Schelten  und  plagen 
Lästrungen  wagen 

Drohn  auszumerzen 
Schande  und  Schmerzen 
Heil,  Teil  dem  Herzen 

Wollt'  ich  ausschlagen 

Würd  mir  behagen 

An  dies  mein  Ohr  die 
Schilfmeer  und  Sinai 
Wie  brächt  mein  Mund,  wie 

Herz,  Augen  zagen. 

Seh  lim  ich  ragen. 


mich  sieht,  schürt  meines  Herzens  Brand. 
„Dein  Freund  vor  Freunden  süßern  Tand 

möchten  sein  Bild  umziehn, 

sich  ende  los  um  ihn. 

anlegt  ich  um  sein  Fliehn. 
macht,  daß  er  neu  für  mich  empfand! 
wie  trag  ichs:  Lieben  -  und  er  schwand! 

in  mich  -  so  brennt  mich  Sein 

ins  Herz  mir  und  Gebein. 

die  mein  Gesetz  bespein, 
mich,  der  zu  Seinem  Dienst  sich  wandt', 
sie,  wahr'  ich  Seiner  Ehren  Pfand. 

sie  Deine  heiige  Zucht, 

wähl  ich  vor  solcher  Flucht. 

Deines  Gesetzes  Frucht! 
Dich,  so  vergiß  mich,  rechte  Hand! 
fremd  Wort,  kleb,  Zung',  an  Gaumens  Wa 


Mär  Deines  Ruhmes  scholl, 

sind  Deiner  Größe  voll. 

wohl  einem  Zweiten  Zoll? 
zu  lockern  meines  Fußes  Band, 
Einzgen.  Bei  dem  kein  Zweiter  stand. 


24 


! 


DIE  LIEBENDEN 

Thm  flelin  seine  Liebenden,     sein  Lieben  umfragen  sie, 

des  Spätregens  seiner  Huld     zu  harren  doch  wagen  sie. 
Haust  nicht  seine  Gnade  nah,     er  thron  hoch  und  ragend  gleich? 

so  sind  seine  Taten  groß,     und  weitherrschend  ragen  sie. 
Und  jene  sahn  gern  sein  Licht,     mit  Augen,  drum  prüfen  sie 

ihr  Herz;  sehn  sie  dann  das  Licht,     sein  hehres,  so  ztigen  sie. 
Doch  seines  Gesetzes  Wort,     sein  Reich  —  auf  sich  nehmen  sies, 

getragen  von  seinem  Ruhm,     und  sein  Ruhm — den  tragen  sie. 
Au  Glanz,  alle  Herrlichkeit     errufen  und  künden  sie, 

und  wie's  ihre  Kehle  beut,     das  Größeste  sagen  sie. 


25 


GERICHTSTAG 

Ta  Unzählige  kommen 

sie,  die  Kinder  der  Erde, 
Und  werden  sämtlich  genommen 

untern  Stab  wie  die  Herde, 
So  die  Frevler,  die  Frommen, 

daß  allen  Spruchsprechung  werde. 
Vor  dem  Herrn,  denn  er  kommt, 

ja  kommt,  zu  richten  die  Erde. 


TTeut  wird  Schicksal  berufen 

und  Welt  muß  dem  Richter  stehen. 
Die  Kräfte,  die  einst  sie  schufen, 

ließ  heut  Gott  erstmalig  sehen. 
Erstellte  heut  des  Throns  Stufen, 

hoch  ob  Werden,  Vergehen, 
Tief  doch  schaund  fernste  Hufen 

im  Himmel  und  auf  der  Erde. 


T  Tmründet  sind  heut  Alls  Runden. 

Des  Weltbaus  Pfeiler,  sie  stunden. 
Unfruchtbarkeit  ist  heut  schwunden 

drei  Frauen,  Heilger  entbunden. 
Die  der  Fron  Druck  empfunden, 

hörten  heut  Freiheitskunden. 
So  bringen  einst  diese  Stunden 

den  Heimzug  aus  fremder  Erde. 


26 


T^u  heut  geladene  Schar!  Sprich 

„König!"  -  dein  König  scheucht  dir 
Die  Kön'ge.  Daß  er  gewahr'  dich, 

Lärmhörner,  schmettert,  keucht,  ihr! 
Zu  retten  aus  Grabs  Gefahr  dich, 

und  daß  sein  Angesicht  leucht'  dir. 
Schaff  neu  er  jung  wie  den  Aar  dich, 

tränk'  wie  Regen  die  Erde. 


A  US  der  Feme  Land  halle, 

Taube,  dein  arm  Gelalle. 
Rufrin  aus  Wogenschwalle, 

Dein  Sang  himmelan  pralle! 
Daß  der  Spruch  dann  bald  schalle 

der  Rose  im  Felsenwalle: 
Dein  Volk  Gerechte  sie  alle, 

die  ewigen  Erben  der  Erde! 


27 


HEIMKEHR 


,  Ted  Irrn,  du  trägst  mirs.  Breite 

den  Arm  dem  Heimwärtskehren! 
Doch  folg  ich  deiner  Leite, 

muß  eignen  Rats  entbehren. 
Dein  Licht  ums  Aug  mir  spreite! 

Heil'  Herzens  Sich  verkehren! 
Heimkehr  uns,  Herr,  bereite 

zu  dir,  daß  heim  wir  kehren.f 


Ta  köstlich  Eigentum  mir 

eu'r  Herz!  Mein  Busen  brennt  um  euch. 
Eh  tagt  Vergeltertum  mir, 

warnt  ich  im  Elende  euch. 
Ruf  im  Heiligtum  mir 

erscholl,  zu  bessern  endlich  euch. 
Kehrt  heim  zu  mir, 

so  kehr  ich  heim  zu  euch." 


28 


,TTast  uns  dein  Gesetz  gelehrt, 

das  wir  nicht  tauschten,  wandten, 
Die  wir  nur  deinen  Dienst  begehrt, 

nur  deinen  Namen  kannten. 
Wie  sind  die  Männer,  die  dir  wert, 

gleich  Beeren,  glut verbrannten! 
Den  Feind,  drisch  ihn  wie  Korn!  Dein  Schwert, 

zücks  auf  den  Schreckentmannten. 
Deiner  Furcht  sie  unbeschwert, 

wir  die  drein  Gebannten! 
Stift  schrieb,  diamanten, 

Judas  Aufbegehren. f 


TTeiligt  euch,  seid  rein,  flieh' 

jeder  Leichnams  Schwelen! 
Und  nahet  euch,  geht  ein  hie 
als  lebendge  Seelen. 
Wegschmilzt  Fleisch,  Gebein,  die 

verschlingen  Gräberkehlen. 
Wie  Scherben  wird  man  weihn  sie 

der  Höhlen  stummen  Hehlen, 
Die  Seelen  neu  zum  Sein,  die 

aufschweben,  Lichtjuwelen. 
Eilt!  hinan!  nicht  feucht'  um 

Scherben  sich  das  Auge  euch." 


29 


,T  Tnd  kann  Blutrot  sich  weißen? 

wie  Wolle  Purpur  arten  ? 
Herz  graniten,  gneißen  — 

o  machs  zum  fleischern  zarten. 
Spähst  du  am  Sohn  das  Gleißen 

der  Erbschuld,  der  bewahrten? 
Die  Ton  vor  dir  geheißen, 

ihr  Geist  zog  kühn  auf  Fahrten? 
Erbaun  kannst  du,  einreißen, 

wenn  Wort  zu  Wort  wir  paarten. 
Kann  Spreu  und  Stroh  der  heißen 

Flamme  sich  erwehren  ?f 


T  Tnd  Gottes  Söhne  enden 

gewühlt  ins  Grab  der  Lüste?! 
Da  Brot  euch  Geister  senden, 

getränkt  euch  Felsens  Brüste! 
Sühnwerk  ^  ihr  habts,  das  wenden 

der  Seelen  Siechtum  müßte: 
Gottes  strenge  Spenden: 

Gebots,  Gesetzes  Rüste. 
Laßt  Kerkers  Mauerblenden! 

zu  fernster  Hoffnung  Küste ! 
Gurte  um  die  Lenden, 

Schuhe  an  den  Füßen  euch." 


30 


^"TVein  Geist,  deine  Kraft  gießt 

aus  den  Geist,  die  Kräfte. 
Dein  die  Allherrschaft!  liehst 

du  wem,  daß  er  sie  äffte? 
An  deiner  Wage  Schaft  siehst 

du,  was  des  Manns  Geschäfte. 
Nur  deiner  Hoffnung  Saft  schießt 

in  irdscher  Stämme  Schäfte, 
Deines  Riegels  Haft  schließt 

aller  Riegel  Hafte. 
Wenn  du  mir  zornentrafft  fliehst, 

wes  Huld  soll  ich  gehren?^ 


T^en  Seelen  ruft  Befreiung 

von  dem  Dienst  der  Leichen. 
Annehmt  Erbbeleihung, 

statt  durchs  All  zu  streichen. 
Am  Tag  derWeltneureihung, 

wenn  Grabeshüllen  weichen 
Und  in  Geist-Fleisch-Entzweiung 

ich  füg  der  Knochen  Speichen: 
Dann,  dann  umstrahlt  euch  Weihung, 

Kronen  zu  erreichen,  — 
Wenn  der  Greuel  Zeichen 

abgewaschen  ward  von  euch." 


31 


,  Ach  ihn,  dir  nächst,  fern  stießest  du,  - 

wer  zeigt  ihm  Trostes  Sterne? 
Wer  hilft  dem  -  ihn  verließest  du, 

er  fiel  -,  daß  stehn  er  lerne! 
Wenn  nicht  Heil  rings  gießest  du 

und  sein  erbarmst  dich  gerne. 
In  Cherubflug  ihn  schließest  du 

und  Burgenfelsgekerne, 
Des  Tags  harrnd,  den  verhießest  du, 

ihn  hebst  aus  Schlammzisterne 
Ach  sei  uns  nicht  ferne, 

denn  es  naht  Verheeren  !f 


32 


HÖR 

Hör,  die  scheu-verwegen 
Flehnd  vor  dich  sich  legen. 
Vater,  Kindesregen 
Wolltst  dein  Ohr  verhegen? 

Ja  aus  Tiefen  schrien  sie. 
Aus  viel  Nöten  fliehn  sie. 
O  laß  leer  nicht  ziehn  sie 
Heut  von  deinen  Stegen. 

llerzens  Heißaufquillen, 
Schwall  der  Schuld  woU  stillen. 
Tusts  nicht  ihretwillen, 
Tus,  Hort,  deinetwegen. 

Und  ihr  Irrn  heut  schwicht  es. 
Opfer  nimm  ihr  schlichtes 
Flehn.  Ihr  Herz  dir  rieht  es. 
Und  neig  dein  Ohr  entgegen. 

Die  verweint,  bewirte, 
Das  Lamm  such,  das  verirrte, 
Mach,  daß  ersteh  ihr  Hirte, 
Woll  mild  der  Herde  pflegen. 

Auf  Richtsteigen  gehn  sie, 
Laß  heut  Vergebung  sehn  sie! 
Wenn  spättags  nun  flehn  sie, 
Finde  sie  dein  Segen. 

35 


DER  WAHRE 

l\/f  it  ganzer  Kraft,  Du  Wahrheit,  ganzer  Seele 

hab  ich  Dich  lieb,  im  Licht,  in  Busens  Hehle. 
Dein  Name  mein!  -  wo  gäbs,  der  den  mir  stehle? 

Mein  Liebster  Er!  -  wen  gäbs,  der  da  mir  fehle? 
Mein  Licht  Er!  -  meinem  Docht  gebrächs  an  Öle? 

Gäbs  Wank?  wo  solchem  Stab  ich  mich  empfehle! 
Ihr  Hohn  schmält  -  Toren!  wird  doch  Hohngeschmäle 

ob  Deiner  Krone  mir  zum  Kronjuwele! 
Mein  Lebensborn!  sei  Dir  Ein  Preis  mein  Leben 

und  Sang,  solang  noch  Hauch  in  meiner  Kehle. 


34 


DEIN  GOTT 


Tm  Schlummer  noch?  Genug  der  Ruh! 

Sag  ab  dem  Narrenspotte! 
Himmels  Sphärentritt  schau  du, 

fern  der  Menschen  Trotte. 
Urewgen  Felsens  Dienst  fahr  zu! 

so  fährt  der  Sterne  Flotte. 
Doch  genug,  nicht  fürder  ruh ! 

Auf!  ruf  deinem  Gotte! 


"LTeb  dich,  sein  Gewölb  zu  schaun, 

es  machtens  seine  Finger. 
Und  seinen  Zeltbau  hoch  im  Blaun, 

in  seinen  Armen  hing  er. 
Und  Sterne,  Siegel  ihm,  bestaun, 

eingrub  seinen  Ring  er. 
Bebe  du  vor  seinem  Graun, 

des  Heils  harr,  des  er  Bringer,  - 
Daß  Welt  dich  nicht  umrotte, 

und  so  dein  Herz  verrotte. 


35 


T  Tnd  stehe  auf  um  Mitternacht, 

der  Großen  Spur  zu  treten, 
Die,  auf  der  Zunge  Psalmenpracht, 

mit  Sinnen,  sinnig-steten. 
Fastend  ihren  Tag  verbracht, 

ihre  Nacht  mit  Beten, 
Gotte  in  ihr  Herz  ein  Schacht, 

sie  um  den  Thron  Planeten  - 
Steig  ihr  Weg,  hinauf,  mit  Macht, 

Ihm  zu,  deinem  Gotte. 


"p\ein  Aug  ström'  Tränen  fort  und  fort, 

daß  Sünden  deine  Reu  versöhn. 
Und  fleh  zu  deines  Walters  Ort, 

daß  Menschenhaß  er  dir  entwöhn'. 
Und  beuge  deinen  Stolz  bis  dort, 

und  wähl  das  Gute:  es  ist  schön. 
Ehre  Gott  aus  deinem  Hort,  - 

bis  einst  Heilande  walln  zu  Höhn 
Und  deiner  Schar  entbraust  das  Wort: 

Zuricht  dich  deinem  Gotte! 


36 


"T^ie  Armen!  Erdenbrut! 

wo  soll  da  Weisheit  sein? 
Des  Menschen  Sondergut 

vorm  Tier:  ein  Nichts  so  klein. 
Nur:  Schaun  umstrahlte  Hut 

—  Herzschau!  nicht  Augenschein  --, 
Und  dunkler  Bronnen  Flut, 

köstlicher  denn  Wein. 
So  aber,  Fleisch  und  Blut, 

nahst  du  deinem  Gotte. 


,Tch  bin,  der  ich  biuf,  so  spricht, 
des  Willen  Taten  proben, 
Der  Tod  schickt,  Leben,  dicht  bei  dicht, 
grabtief  senkt,  hebt  nach  oben. 
Du  stehe  seinem  Weltgericht 

und  lebe!  Laß  das  Toben, 
Das  auf  >Wann?f  und  >Wo?f  erpicht, 

>Was  drunten  ?<  und  >Was  droben  ?f 
Nein,  sondern  sei  du  ganz  und  schlicht 

mit  Ihm,  mit  deinem  Gotte. 


37 


SEIN  FRIEDE 

T^es  Lebendgen  Hand  —  ihr  Schatten  wird  dein  Dach, 
stellst  du  schlicht  und  redlich  nur  auf  Ihn  dein  Sach. 
Wenn  du  wandelst,  sorgt  er,  daß  dein  Fuß  nicht  schwank; 

wenn  du  h  andelst,  -  Er  wirkt,  daß  dein  Arm  nicht  schwach. 
Suche  Frieden,  jag  ihm  nach!  Bekennst  du  nicht, 

Er  sei:  >Herr  des  Friedens^,  und:  >Der  Frieden  machV? 


38 


DAS  ALL 


Tauchz'  der  Mund, 
was  Du  dies  Rund 
des  Augs  läßt  schaun 
an  Wunderschau! 

So  gut  er  kann, 
so  heb'  er  an,  - 
nicht  weil  er  vor 
Dir  sichs  trau'. 

Der  Sphären  Rad 
umhöht  dein  Pfad, 
und  nimmer  faßt 
Dich  ihr  Bau. 

Und  was  da  lebt, 
wie  kühn  sichs  hebt, 
hoch  ob  ihm 

thronst  Du  im  Blau. 


Im  Urgeball, 
im  Endzerfall 
tönt  ehrfurchtbang 
Widerhall: 

Gott  nur  Er 
im  Göttersaal! 

Er  der  Herr 
der  Herren  all! 

TJeut  und  Jetzt 

stets  ersetzt,  - 
ersatzlos  stets 

glänzt  Sein  Glast. 

Zwölfkreis  baut, 
den  Sieben  haut 
Er  den  Steig, 

die  dort  zu  Gast. 


Es  rings  in  der 
Geschöpfe  Heer  — 
dich  Wirkenden 
bezeugts  genau. 

Was  zeugt  ihr  Ruf? 
Wer  sie  schuf. 
Das  Wie  haust  fern 
in  Rätsels  Gau. 


Die  Sonn'  rückt  fort 
auf  Sein  Wort, 
macht  sich  auf, 
geht  zur  Rast, 

Durchziehnd  ihr  Reich, 
dem  König  gleich,  . 
von  Palast 

zu  Palast; 


39 


Der  Mond,  des  Licht, 
kreists  auch  nicht 
in  höherm  Kreis, 
rein  doch  blaßt,* 

Dann  rings  fern 
Stern  an  Stern, 
die  Zahlen  Ihm 
angepaßt, 

Der  sieht  klar 
Plejadenschar: 
sieben  um 

Leuchters  Ast; 

Der  größte  Kreis, 
der  tagesweis 
westwärts  neigt 
seine  Last,  — 

Hingebeugt 
stumm  er  zeugt: 
Einer  hält 

das  All  umfaßt. 

Erhaben  zwar, 
doch  offenbar 
Dem  Aug,  wie's  auf 
Sein  Werk  prall': 

Gott  nur  Er 
im  Göttersaal! 

Er  der  Herr 
der  Herren  all! 


T  Tnd  ringsum  stellt 
Er  ein  Zelt, 
dem  gab  die  Erd 
Er  zur  Hut, 

Daß  sie  stund 
nicht  auf  Grund, 
nein  schwebend  im 
Leeren  ruht; 

Ihre  Wucht 
sucht  abwärts  Flucht, 
nach  tiefstem  Ort 
steht  ihr  Mut; 

Heim  Feuer  flammt, 
von  wos  stammt, 
aufwärts  gen 

Himmels  Glut; 

Und  zu  den  zwein 
mittzwischenein 
Windeswehn 

und  Wasserflut: 

Was  sich  haßt 
und  was  sich  faßt, 
allem  rolln 

sie  im  Blut. 

Aus  ihnen  schoß 
Pflanzensproß 
wie  Adamssohn 

und  Tieresbrut. 


40 


Und  Feuchte  tränkt, 
wird  eingeschränkt, 
nach  Güte,  nach 
Zornes  Wut; 

Denn  sein  Pfeil 
wird  Lästrers  Teil; 
wem  er  hold, 

Huld  Überschwall. 

Gott  nur  Er 

im  Göttersaal! 
Er  der  Herr 

der  Herren  all! 

Tn^au'md  Vergehn 

und  dau'rnd  Entstehn 
Sein  Dauern  nur 

ohn  Jahr  und  Zahl. 

Vor  allem  Sein 
Er  allein, 
so  wieder  am 
End  einmal. 

Nicht  Arms  Kraft, 
Geist  nur  schafft 
Schöpfung,  die 
Er  befahl: 

Seelen  viel, 
Wissens  Spiel 
und  klugen  Sinns 
Leuchtfanal; 


Gewölbes  Pracht 
wölbt  er,  macht 
ob  ihm  sich  staun 
Wassers  Strahl; 

Tages  Quell 
und  Sterne  hell, 
die  scheinen  ins 
Erdental; 

Und  Drohender 
und  Lohender 
Ruf,  der  Sein 

Lob  empfahl; 

Und  Edelstein- 
sprühnde  weihn 
mit  Hymnus  Ihn, 
mit  Choral; 

Preisende, 
Kreisende, 
Flammende 

um  Ihn  ein  Wall: 

Gott  nur  Er 
im  Göttersaal! 

Er  der  Herr 
der  Herren  all! 

Ach,  der  denkt 

und,  ach,  der  lenkt 
und,  ach,  der  macht 
Künftges  kund. 


41 


Des  Blick  trifft 

Heiltrank,  Gift 

und  weiß  voraus 

den  Befund! 

O  hol  sie  ein 
die  Herde  Dein 
mitten  aus 

Löwenschlund! 

Lämmer  zart, 
zwanggeschart 
bei  Fremden  sie 
rings  im  Rund. 

Quältest  sie, 
stähltest  sie, 
und  tauchst  sie  in 
Höllengrund. 


Und  häufst  du  Harm  - 
Dich  hält  ihr  Arm, 
und  sie  traun 

Deinem  Bund. 

Dein  Name  gellt 
durch  Deine  Welt 
straßauf,  straßab 

aus  ihrem  Mund, 

Laut  preisen  sie,  — 
der  Schar  gleich,  die 
ward,  auf  daß 

dein  Thron  steh'  und 

des  „Dreimai- 
Heilig"  Strahl 
aufs  Haupt  ihm,  der 
ihr  Schöpfer,  fall': 


Gott  nur  Er 

im  Göttersaal! 
Er  der  Herr 

der  Herren  all! 


42 


DER  FERN-UND-NAHE 

Ta  Gott  wo  wirst  funden  Du, 

des  Raum  hüUn  Ätherweiten. 
Und  wo  nicht  wärest  funden  Du, 

des  Saum  füllt  Erdenbreiten. 


Herzensgrund-Bewohner 

Er,  und  stellt  Erd-Gränzen. 
Nahen  Erzbastion  er, 

Fernen  Hoffnungsglänzen. 
Du,  —  Cherubenthroner! 

Du,  -  in  Wolkenkränzen! 
Heerscharliedumwunden  Du  - 

es  lobt  Dich  Benedeiten. 
Sprengest  Sphärenrunden  Du  " 

wie  erst  Tempels  Seiten! 


Und  hast  Dich  erhoben 

hoch  in  Dunkels  Hehle, 
Ihnen  bleibst  verwoben 

mehr  als  Leib,  als  Seele. 
Hör,  wie  sie  geloben: 

Er  nur  uns  befehle. 
Wann  hättst  furchtentbunden  Du 

den  Deinem  Joch  Gefreiten? 
WoUtst  sein  Flehn  selbst  stunden  Du  - 

sein  Brot  mußt  ihm  bereiten! 


43 


Deiner  Nähe  wegen 

ging  aus  mein  Herz,  aufglomms  zu  Dir. 
So  kams  Dir  entgegen  — 

sieh!  entgegen  kommst  du  mir. 
Mit  der  Wunder  Regen, 

quellnd  wie  einst,  o,  frommst  du  mir. 
Wem  bUebst  unempfunden  Du ! 

Himmel,  Sterngezeiten 
Müssen  Dich  bekunden,  Du, 

in  schweigendem  Schreiten. 

Acht  will  Wohnsitz  teilen 

denn  Gott  mit  Adams  Söhnen? 
Kann  Ihn  ihr  Geist  ereilen? 

des  Urstaubs  sich  entwöhnen? 
Doch  ja!  wo  Du  willst  weilen, 

darf  Dich  ihr  Loblied  krönen. 
Tiergestalten  stunden,  zu 

tragen  den  geweihten. 
Deinen  Thron,  verbunden.  Du 

trägst  sie,  in  Ewigkeiten. 


44 


DER  NAME 

Tahraus,  jahrein     in  Deinem  Haus     faßt  Lagerstand 

das  Glücksvolk,  wo     Dein  Name  drin     sein  Lagerfand. 
Hoch,  welthoch  wohnt     der  Name  und     hat  Sein  doch  in 

zerschlagnem  Herz     und  wo  sich  wer     in  Jammer  wand. 
Und  Himmelshöhn     fassen  ihn  nicht,     ob  er  herab 

zum  Sinai     stieg,  wohnt  in  Buschs     Dornflammenbrand. 
Denn  nahe  ist     sein  Weg  gar  sehr    und  gleich  sehr  weit, 

da,  was  er  schuf,     ans  Selbst  er  und     ans  Andre  band. 
Allein  Gott  dank     ichs,  wenn  mein  Herz     Gedanken  spann, 

und  ihm  nur,  wenn    Rede  mein  Mund    und  Antwort  stand. 


45 


GEWEIHT 

Ruft  zu  drein 

Malen:  „Geweiht",        seraphenhaft 

Ihn  zu  weihn! 

lubel  kling' 

zum  Schöpfer,  der         mild  des  Geschöpfs 

Flehn  empfing. 
Lagers  Ring 

stellt  um  den  Thron      genüber  er 

Lagers  Ring. 
Ihn  umschwing' 

Dienstschar  aus  Feu'r,     drin  einst  der  Dorn 

nicht  verging, 
Suchend  sein 

Antlitz,  drin  Gnad'  und  Wahrheit  stehn 

im  Verein, 
Feuers  Schein 

beimengend  Naß,  und  schwach  wird  keins 

von  den  zwein. 


46 


TTier  zur  Stell!" 
'       meldet  sich  Dein 


Sind  so  Quell 
der  Lehre,  wie 

Künden  hell 

Dein  Weihelob, 

HüUn  sich  ein 

in  Scheu,  dein  Haupt 

Und  daß  Dein 
Werk  sie,  dazu 


Wind-Heer  am  Ziel 
zum  Appell. 

rings  Deines  Raums 
Runde  schwell'. 

das  weithin  sie 
breiten  schnell. 

umkrönend  mit 
Edelstein. 

spricht  Ja  ihr  Hauch, 
nimmer  Nein. 


T  Tnd  nun  ich, 

aus  Elends  Gruft,  ein  Schiff,  das  Sturms 

Wehn  umstrich,  — 
Hier  sieh  mich, 

rufend  „Geweiht",         daß  höchstem  Ring 

mein  Ring  glich. 
Nie  entwich 

meinWort  dem  Kreis,     den  Leiden  schloß 

brüderlich; 
Wurden  klein 

sie  vor  der  Magd  Söhnen  auch,  die 

einst  die  Fr  ein, 
Harrn  allein 

sie  Deines  Heils  doch,  wolln  dich  nie 

Unrechts  zeihn. 


47 


T~^  rückte  sie 

Druck  auch,  der  Lands  Herrlichkeit  fem 

rückte  sie, 
Riefen  sie, 

was  je  ums  End 


Fanden  sie 

in  Dir  doch  Heils 

Namens  Sein  ^ 
Urwissen  drum 

Busens  Schrein 

entrauschts:  Auch  ich 


ein  Mund  aus  Leids 
Tiefen  schrie, 

Brunnquelln,  die  noch 
schwanden  nie. 

raunt  Mund  zu  Mund 
erbgemein. 

kenn  Ihn  -  doch,  o, 

schweiget  fein. 


A  Ilkund  thront 

Dein  Glanz:  denn  ihr    Wort  sagts,  wie  Dein 

Holdsinn  lohnt. 
Klar  betont 

Dein  Zeuge,  wie's 


Der  dir  frohnt, 

entbeut  das  Volk, 

Lieder  reihn 

sollt  neu  ihr,  all 

Ruft  zu  drein 

Malen;  „Geweiht", 


Dein  Werk,  was  Dein 
Arm  umschont. 

das  Deinem  Rat 
nahe  wohnt: 

dies  wissen,  und 

wacker  sein. 

Seraphenhaft 

Ihn  zu  weihn! 


48 


DEINE  WOHNUNGEN 

Ta  lieblich  deine  Wohnungen 

und  deine  vier  Umzonungen. 
Hast  Löwenpracht  und  Stiereskraft 

als  deine  Unterthronungen. 
Und  Jakobs  Lagerzonen  so 

auf  Erden  deine  Schonungen. 
Du  ordnest  sie  zu  Fähnlein,  lehrst 

sie  deiner  Namen  Tonungen. 
Anschaun  dich  Heilgen,  und  dein  Werk 

zu  künden  -  o  Belohnungen! 


49 


DER  GOTT  DER  GEISTER 

Teder  Mund,  hoch  preist  er     Gott,  den  Gott  der  Geister. 

Hochsitz  huldumwoben. 
Hebend,  die  ihn  hoben, 
Ort,  der  jedes  Toben 
Schweigt;  wer  weise  heißt,  wer     Redner  ^  dorther  gleißt  er. 

Und  in  deiner  Knechte 
Herz  stehn  Tafeln,  echte 
Zeugen;  deine  Rechte 
Grub  drein  Urgeheiß  der    Pflicht,  das  nie  zerschleißt  wer. 

Dicht  Thronwagens  Rade 
Nahn  der  Seelen  Pfade; 
Denn  dein  Geist  in  Gnade 
Wonne  wassern  weist  er    zu  sie,  Wonnumkreister! 

Ach  —  der  Seelen  Schall:  Dein, 
Leiber  Niederfall:  Dein, 
Aller  Hoffen:  all  Dein, 
Hin  magdgleich  sie  reißt  der    Dienst  vor  dir,  dem  Meister. 


50 


HEILIG 


Jubelnd  Heilgenheercn 
Und  Seraphenchören 

Hohe  Pracht  gereinigt, 
Doch  sein  Blau  bescheinigt 
Und  sein  Schatten  einigt 
Seelenstrahlen  zehren 
Feur  aus  Wolkenflören, 

Und  die  Ihm -Verwandten 
In  den  Ihm-Entbrannten 
Die  sein  Wort  erkannten, 

Menschennacken  gehren, 

Müde  Seufzer  kören 

Des  Cheruben  Traben 
Seine  Rädernaben 
Seine  guten  Gaben, 
Rare  Werke,  deren 
Klare  Wunder  —  höh'ren 

Auf!  Mit  Heilig-Rufen 
Seigen  Erbes  Hufen 
Herzen,  stürmt  die  Stufen 
Ehrt,  wer  seine  Ehren 
Doch,  die  sich  empören, 


>Heiligf  ent-    tönts  für  ihn, 
oben  rings     stehnd  um  ihn. 

zwar  dem  Aug     unsichtbar, 
sie,  so  des    Himmels  Schar, 
Flamm-  und  Flut-    Geisterpaar, 
vom  Schein,  der  ihm  entschien, 
hat  sein  Ruf    losgeschrien. 

heiigen  Geists     Strom  umrann. 

brünstgen  Geist    facht  er  an. 

leben  drin.     Merks  daran: 
unter  sein     Joch  zu  knien, 
gern  sein  Dach,     hinzufliehn. 

hört  man  am     Weltensaum, 
ziehn  die  Spur    leicht  wie  Flaum, 
sie  doch  nahn     unserm  Raum, 
Glanz  und  Kraft    ihm  entliehn, 
Quells  quelln  sie     Prophetien. 

machet  euch     Obern  gleich, 
schafft  euch  in     ihrem  Reich, 
zu  der  Herrn     Herrn!  der  reich 

schirmt  als  sein     Paladin. 

läßt  nie  ins     Reich  er  ziehn. 


51 


DER  HELFER 

TaTrostdem  verstörten  Herz,    das,  krank,  sich  verwest  schon  sah, 
in  Ihm,  ihm    der  Heere  Gott,     der  spricht  „Ich,    derwese!"nah'. 

Hat  Macht  uns    zum  Tode  Er     im  Groll,  daß   wir  gar  vergehn, 
so  hilft  uns    zum  Leben  Er    in  Huld  -  und   wir  leben  ja. 

Und  so  ruft   dem  neuen  Licht     -  da  steht  es    im  Augenblick  - 
der  Mund,  der  „es  werde  Licht"     einst  sprach,  und   da  war  es  da. 


62 


SEELE 


HIER  BIN  ICH 

Wie  Dienst  gewinn  ich         bei  Ihm,  dem  danke  Beginn  ich! 
Gern  geh  dahin  ich  jedweden,  hab  Seine  Minn'  ich. 


Ja  Herr  und  Hirte, 
Dies  Selbst  entwirrte 
Wes  Wegs  ich  irrte, 
Du,  0  besinn  dich, 


Leib,  Seele,  die  Dein,  umfahst  du; 
sich  Dir,  mein  Inneres  sahst  du; 
Gehn,  Ruhen:  ihm  prüfend  nahst  du  - 
halfst,  wenn  mein  Fuß  müde  hinschlich. 


Obs  dem  der  Spinn'  glich,     hobst  aus  dem  Netz  mittenin  mich. 


Herz,  Eingeweide 
Doch  wenn  ich  leide. 
Daß  wieder  beide 

Dein  Wort  umspinn'  mich. 

Schau  mild  doch  in  mich. 


glühen  nach  Einkehr,  Herr,  nah  Dir; 
führt  sie  mein  Leiden  fernab  Dir, 
gehn,  nachzugehn  verlernen  Dir  — 

Hoch  leite  zu  Deiner  Zinn'  mich. 

und  daß  ich  sühnefrei  bin,  sprich. 


Unstern!  -  als  geil  noch        mein  Blust,  dawar  ich  Dir  erschlafft. 

Was  bleibt  meinTeil  noch,     wenn  einst  das  Alter  mich  errafft? 

O  Gott,  o  heil'  doch!  bei  Dir  ist,  Gott,  was  Heilung  schafft. 

Wenn  Kraft  einst  hinwich,     zahnlos  und  schlotternd  das  Kinn  wich. 
Nicht  tilg  dann  hin  mich,      und  nicht  das  Rohr,  das  ich  bin,  brich. 


Dorrend,  zerstoßen 
Barfuß,  den  bloßen 
Entweiht  von  großen 
Dir,  mir  mittinn  schlich 
Weh,  Weltglanz  sinnlich  - 


sitz  ich  in  ewiger  Enge, 
Leib  schleppend,  wo  Spott  mich  senge, 
Sünden,  von  Freveln  die  Menge  — 
trennend  mein  sündiger  Sinn  sich. 
Dein  Strahl  dem  inneren  Sinn  blich. 


Ach,  neig  mein  Herz  mir,      Dienst,  Herr,  zu  dienen  Deines  Reichs. 

Was  Spiel  und  Scherz  mir!     fern,  schau  ich  Deine  Gottheit,  weichs! 

Im  tiefen  Schmerz  mir  Dein  Heilkraut,  o  geschwind,  o  reichs. 

Wandt'  Deinen  Sinn  ich!      nicht  schweig  der  Not  du,  darin  ich! 
Hilf,  daß  entrinn  ich!  Sag  deinem  Knecht  es:  „Hier  bin  ich". 


55 


SEELE 
Ceele  - 

Jungfrau  allerschönste,  ihres  Jugendliebsten,  seiner  Süße  froh, 
Tagtäglich 

jauchzt  sie:  Meines  Gesellen  Lied  von  seinem  Weinberg  —  o 
Lied  der  Lieder,  das  von  Salomo. 

Seele  - 

hinaus  geht  das  Mädchen,  zu  schöpfen  Heils  Wasser  voll  Begier, 
Stimmt 

hell  an  beim  Gehn,  beim  Kommen,  die  Gespielinnen  mit  ihr: 
Zeuch  uns  dir  nach,  so  eilen  wir. 

Seele  " 

und  Gottes  Geist  erwecket  sie:  Nicht  zage  du! 
Noch  schmückst  du  dich  mit  Pauken 

undgehstimReigenderFröhlichenundbistmein,-stolz  rage  du! 
Mit  mir  vom  Libanon,  o  Braut,  mit  mir  vom  Libanon  o  jage  du. 

Seele, 

die  neidumschlungene,  feindumrungene,  spricht 
Still  ihren  Spruch: 

Der  mein  Freund,  -^  weiß  und  rot  aus  Tausenden  strahlt  er  licht. 
Mächtge  Wasser  mögen  löschen  die  Liebe  nicht. 

Seele  " 

anklagt  sie  sich  heute:  weh  daß  sein  Zorn  noch  nicht  schwand! 
Dann  singt  sie  froh: 

Anseht  mich,  ich  bin  eine  Mauer,  von  Edelstein  eine  Wand! 
Da  war  ich  in  seinen  Augen  vide  eine,  die  Frieden  fand. 


6b 


SEELEIM  EXIL 

Ach,  die  ums  Vaterhaus  voll  Sehnsucht  klagete 

und,  es  zu  schaun,  im  Traum  hinauf  sich  wägete. 
Wagte  hinauf  sich,  Trost  zu  finden,  doch  der  Traum 

schützt  nicht,  daß,  schwand  sein  Schaum,  Erwachen  plagete. 
Plagte  sie  krank  der  Tag,  wo  nicht  Sein  Lächeln  ihr 

strahlt,  ohne  dessen  Licht  sie  welkt  und  zagete. 
Zagte?  zu  neuer  Tat!  und  müht  sich  schwer?  zum  Sieg! 

weil  nicht  ums  Chaos  sie  dem  Glanz  absagete. 
Sagte  dem  Glanz  sie  ab,  so  schloß  den  Born  sie  auf, 

des  Tiefen  einzig  sie  hinfort  nachfragete. 
Fragte  dem  Kernpunkt  nach  -  und  Schwures  Band  sie  band, 

Weisheit,  an  dich,  solang  der  Tag  ihr  tagete. 


57 


BEI  DIR 

Tch  war  bei  Dir,  vor  Erdenleibs  Beschweren  ^ 

in  mir  nun  Deinen  Geist  woll  schirmen,  mehren. 
Hätt  Kraft  zu  stehn  ich,  woUtest  Du  mich  stören? 

und  Macht  zu  gehen,  wolHest  Dus  mir  wehren? 
Und  was  ich  sinn  —  es  bleibt  doch  Dein  Gedanke; 

was  ich  beginn  —  wie  wollt'  ich  Dich  entbehren. 
Dich  such  zur  Gnadenzeit  ich  —  woll  mich  hören; 

mit  Deiner  Gnade  Schild  woll  mich  bewehren. 
Anstelle  mich  zum  Dienst  vor  Deiner  Schranke, 

und  weck  mich  auf  zu  Deines  Namens  Ehren. 


58 


GEBET 

f^  Gott  Du,  wenn  ich  Dir  mein  Flehen  breite, 

hör  meine  Stimme,  meinen  Schrei,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  Deine  Hand  laß  sehn,  enthülle 

die  Allmacht  und  begnade  mich,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  stürmisch  geht  mein  Herz  im  Busen, 

ich  hüll  mich  ein  in  meine  Not,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  nah'  dir  freundlich  mein  Gedächtnis, 

gedenke  mein  und  walte  mein;  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  Deiner  Hilfe  immer  harr  ich, 

werd'  Deine  Liebe  mir  zum  Trost,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  mein  Erschaffer  Du,  mein  Felsen, 

wer  ist  mein  Helfer  außer  Dir,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  über  mich  wall'  Dein  Erbarmen, 

nicht  acht'  auf  meiner  Sünden  Zahl,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  einzig  Dich  will  all  mein  Denken, 

und  meine  Seele  spricht:  mein  Teil,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  meine  Angst  umhüllt  mein  Herze, 

dir  schütt  ich  meine  Seele  aus,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  höre  mich  um  Deinetwillen 

und  annimm  heute  mein  Gebet,  o  Du  Gott. 

O  Gott  Du,  sieh  in  Deiner  Hand  mein  Sinnen, 

mein  Herzgeheimnis,  Dir  ists  kund,  o  Du  Gott. 

O  Gott  Du,  bringe  Balsam  meinen  Schmerzen, 
tu  Deine  Augen  auf  und  sieh,  o  Du  Gott. 

O  Gott  Du,  stelle  meinen  Fuß  auf  Boden, 

vor  allem  Volk  bekenn  ich  Dich,  o  Du  Gott. 


59 


O  Gott  Du,  sieh  mich  Deiner  Hilfe  harren, 

bis  her  Du  blickst  und  wendest  Dich,  o  Du  Gott. 

O  Gott  Du,  neige  meinem  Schrei  die  Ohren, 
sei  gnädig  mir  und  merke  her,  o  Du  Gott. 

O  Gott  Du  und  mein  Gott,  zu  Dir  hin  hang  ich, 

mein  Herz,  nach  Deinem  Heil  verlangts,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  bürg  für  Deinen  Knecht  zum  Guten, 

nicht  blick  auf  seiner  Sünden  Zahl,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  sitzt  noch  lang,  der  Dir  verhaftet, 

in  seiner  Sünde  Haft  verstrickt,  o  Du  Gott? 
O  Gott  Du,  meinem  Herzen  rät  sein  Denken, 

sich  Dir  zu  weihn  in  seiner  Not,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  ja  denn!  ich  -  in  Dir  frohlock  ich, 

erlös  den  Armen  seiner  Pein,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  Herr  der  Welt,  zu  Dir  hin  hang  ich, 

dieweil  Du  liebst  den  Hang  zu  Dir,  o  Du  Gott. 

O  Gott  Du,.  Deinem  Knecht  zeig  Deine  Langmut, 

der  sich  an  Deine  Huld  gewandt,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  sieh,  ich  leg  Gebet  hier  nieder,  - 

bevor  ich  rufe,  antwortest  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  mach  mich  stark  durch  Deine  Liebe, 

und  Balsam  reich  dem  kranken  Herz,  o  Du  Gott. 
O  Gott  Du,  krank  gemacht  hat  mich  mein  Kummer, 

die  Seele  fiebert  Tag  und  Nacht,  o  Du  Gott. 
0  Gott  Du,  reiße  Du  mich  aus  dem  Abgrund 

und  Deines  Knechts  Gefängnis  wend,  o  Du  Gott. 


60 


MENSCHENSCHWÄCHE 

T^fT'as  trauest  du     der  Zeit,  in  der    nichts  Treue  ist? 

Ach  wie  währt  lang  mein  Werk !  wie  rasch  meinTag  schwand! 
Mahnt  jeder  doch     den  Bruder,  nicht     zu  sündigen: 

sorg,  daß,  was  in     dir  schafft,  dich  nicht    überwand! 
Naht  Sünde  dann,     heißts:  „Menschenhand  "     was  kann  sie  tun! 

Geschöpf  und,  was     drin  schafft,  ist  in     Schöpfers  Hand". 


61 


UMKEHR 

f^  Gott  nach  Dir  allein  steht  mein  Verlangen, 

auch  wenns  mir  von  den  Lippen  nie  gegangen. 
Lebt  einen  Augenblick  in  Deiner  Huld  ich, 

wie  gerne  würd  ich  dann  den  Tod  umfangen. 
Beföhle  meines  Geists  Rest  Deinen  Händen 

und  schliefe  sanft,  ein  Lächeln  um  die  Wangen, 
Von  Dir  entfernt  -  o  Tod  in  Lebens  Bechern! 

an  Dich  geschmiegt  --  o  Leben  in  Tods  Zangen! 
Jedoch  nicht  weiß  ich,  womit  ich  dir  nahn  soll 

und  welcher  Dienst,  welch  Tun  zu  Dir  hindrangen. 
WoU  Deine  Wege  doch,  o  Gott,  mich  lehren, 

mich  ziehn  aus  Torheits  Banden,  die  mich  zwangen. 
Und  weise  mich,  solang  noch  Kraft  zur  Buße 

in  mir,  und  nicht  mißacht  mein  büßend  Bangen, 
Eh  ich  mir  selbst  zur  Last  bin,  eh  sich  beugen 

dem  obern  Druck  der  untern  Knochen  Spangen 
Und  ich  mich  lege  wider  Willn,  und  Motte 

die  Knochen  frißt,  die  lang  sich  müde  schwangen. 
Und  hin  ich  zieh,  wohin  die  Väter  zogen, 

und  finde  Ruh,  wo  sie  sich  Ruhstatt  dangen. 
Ein  Beisaßfremdling  auf  der  Erde  Rücken, 

in  ihrem  Bauch  werd  ich  als  Erbherr  prangen. 
Die  jungen  Jahre  schafften  für  sich  selbst  nur  - 

wann  werd  ich  stecken  meines  Zeltes  Stangen? 

62 


Die  Welt  gab  er  ins  Herz  mir  —  deren  Lüste 

in  Schlummer,  der  des  Ends  vergaß,  mich  sangen. 
Wie  kann  ich  meinem  Bildner  dienen,  wo  ich 

gebildumstrickt,  ein  Knecht  noch  dem  Verlangen. 
Die  morgen  Brüder  Erdgewürmen,  —  dächt  man, 

daß  heut  sie  noch  um  Ehr'  und  Würden  rangen? 
Wie  mag  mein  Herz  an  Freudentagen  froh  sein! 

vielleicht  daß  sie  schon  morgen  mir  verklangen. 
Vereint  die  Tag'  und  Nächte  rastlos  an  dies 

mein  Fleisch,  den  Garaus  ihm  zu  machen,  sprangen. 
In  Luft  verstreut,  in  Staub  verkehrt  ich  ^  die  zwei 

sinds,  die  am  Ende  ihrem  Haß  gelangen. 
Was  sag  ich,  den  die  Triebe  hetzten,  feindgleich 

von  Jugend  an,  bis  daß  sie  mich  verschlangen! 
Was  hab  ich  in  der  Zeit,  wenn  Deine  Huld  nicht? 

Empfang  ich  Dich  nicht,  was  werd  ich  empfangen? 
Nackt  bin  und  bloß  ich  aller  guten  Werke  - 

Dein  Recht  allein  als  Mantel  mir  umhangen. 
Was  reg  ich  noch  die  Zunge  viel,  was  dräng  ich  — 

o  Gott,  nach  Dir  allein  steht  mein  Verlangen. 


63 


DER  LOHN 

Tuwel  sie,  das  im  Leibe  weilt, 

ein  Licht  in  Dunkel  eingekeilt  - 
Es  lockt  sie,  Flucht  zu  rüsten  hin 

zur  Werkstatt,  wo  ihr  Schmuck  gefeilt. 
Hin,  wo,  wenn  Flucht  sie  rüstet,  was 

von  Frucht  sie  lüstet,  wird  verteilt: 
Urseim  von  Eden,  Wonnesaft, 

und  Weisheit  reich  und  ausgefeilt. 
Des  Schöpfers  Wandel  schaut  sie  dann, 

von  Leids  Erinnerung  geheilt. 
All-aller  Seelen  Zeile  rings, 

die  Gott  lobsingen,  eingezeilt. 


64 


DIESE  SEELE  HIER 


Lied  zu  reihn  streben, 
Der  selber  gegeben 

Je  höh'r  die  Gedanken, 
Muß  erdlang  ich  ranken. 
Und  doch:  in  Geists  Schranken  — 
Weil  Lichtperlen  sanken 

Die  nun  in  Strahls  Revier 

Der  selber  gegeben 

Hier  zagt  mein  Sein  in 
Was  jung  mir  galt  klein,  -  hin 
Ach  Lust,  die  Erzfeindin, 
Zum  Tag  beb'  voll  Pein  hin 

Folgt  mir,  hinein  in 

Nein  Ihm,  der  gegeben 

Und  Ihm  gleich  sich  achten 
Der  nur  zu  schmachten, 
O  still,  Herz!  dein  Trachten, 
Dir  nah  möcht  ich  nachten! 

Jag,  o  nicht  verjag. 

Der  selber  gegeben 

Dich  sucht  im  Blaun  die 
Und  darf  Dich  nicht  schaun  sie. 
Darf  doch  dich  schaun  hie: 
Die  Magd  drum  -  den  Fraun  sie 

Die  bergen  sich  bei  Dir 

Der  selber  gegeben 


zu  schaun  sein  Leuchten  wir, 
uns  diese  Seele  hier. 

ferner  nur  sein  Fliehn. 
welthoch  kann  er  ziehn. 
das  Herz  findet  Ihn, 
vom  Thronbaldachin, 

ergreift  nach  Ihm  Begier, 

uns  diese  Seele  hier. 

Nacht,  es  sank  mein  Licht, 
gibts  mich  dem  Gericht, 
schlangengleich  besticht, 
ich,  wo  Seele  nicht 

diesen  Boden  hier,  — 

uns  diese  Seele  hier. 

wollt'  des  Staubes  Schlag? 
nur  zu  woUn  vermag? 
o  stills!  um  Alles  zag'! 
Und  kommt  dein  Gnadentag, 

die  als  Magd  weilt  hier,  - 

uns  diese  Seele  hier. 

Seele  Deines  Knechts, 
schaut  sie  links  und  rechts, 
das  Dunkel,  Wunder,  brechts! 
reih'  des  Bundgeschlechts, 

und  schaun,  Herr,  Deine  Zier,  - 

uns  diese  Seele  hier. 


65 


Auslosch  Licht,  zünde 
Daß  die  Nacht  Schwunde, 
Die  Dustwand  von  Sünde 
In  Zorns  finstre  Gründe 

Vom  Himmel  schaun  du  woll 

Der  selber  gegeben 


neu  es  wundervoll! 
drin  schlug  Zelt  dein  Groll, 
zwischen  uns  zerroU', 
Sternlicht  der  Gnade  quoll! 
auf  die  Rebe  hier,  " 
uns  diese  Seele  hier. 


66 


WAHN  UND  WAHRHEIT 

Ta  Traute  der  Wahrheit,  den  Wahn  mußt  du  stören; 

wohn  hier,  wie,  die  wohnen  im  Grab  unter  Floren. 
Erheb  und  verschön  Gottes  Dienst,  weil  du  lebest, 

der  Welt  Schönheit  laß  du  den  andern  gehören. 
Helf  lieber  dein  Dienst,  zu  beschwören  die  Frühe, 

als  daß  deinen  Schlaf  muß  die  Frühe  beschwören. 
Und  lern  aus  dem  Heute  dein  Morgen,  und  gern  laß 

die  Welt  denen,  welche  an  ihr  sich  betören. 
Denn  besser,  du  dienest  am  Antlitze  Gottes, 

als  daß  dich  zum  Diener  sich  Larven  erkören. 
Am  Antlitze  Gottes,  des  Sein  und  des  Namen 

lob' jegliche  Seele  in  Jubel  und  Chören. 


67 


FRAU  WELT 

^erwehrt  Gemahl  ward  dieser  Erde  Ball  mir, 

dieweil  dies  Selbst  ward  teurer  als  das  All  mir. 

Nun  teilt  sie  ihre  Herrlichkeit  an  andre; 

,  sie  sah,  Ein  Anteil  nur,  mein  Gott,  gefall'  mir. 

Soll  sie  mich  wählen,  und  ich  bin  ihr  Todfeind? 
ich  wählen  sie,  die  ward  zum  Sündenfall  mir? 

Ich  Pflichtgemahl  verschmäh  sie;  ab  den  Schuh  streift 
sie  mir,  sprüht  ins  Gesicht  des  Speichels  Schwall  mir. 


68 


WEISE  LEHREN 

XJerz,  auf  der  Hut!  Blieb  Einem  Mut, 

des  Herz  auf  Seiner  Wage  ruht? 
Verborgnes  trachte  nicht  zu  schaun, 

auf  daß  dich  nicht  verglüh'  die  Glut. 
Hand  laß  von  Seinem  Tun!  nicht  Dir 

enthüllt  er  Seiner  Macht  Statut. 
Kein  Engel  bist  du,  nicht  zum  Platz 

der  Großen  dräng'  dein  Übermut. 
Befiehl  du  deine  Wege  Ihm, 

in  unstet  flüchtger  Zeiten  Flut. 
Und  sei,  beglückt,  kein  Tunichtgut, 

nicht  angstgedrückt  vor  Unglücks  Rut'. 
Der  Menschen  Lockruf  horch  ihm  nicht, 

horch  nur,  wohin  dein  Herr  dich  lud. 
Was  dienst  der  Erde  Herrschern  du? 

küßt  einer  doch  des  andern  Knut'! 
In  ihrer  Gunst  -  welch  windig  Glück, 

in  Zornesbrunst  -  welch  wilde  Wut! 
Heil  drum  dir,  wenn  du  dem  Herrn  dienst, 

des  Macht  allein  herrscht  absolut. 
Er  gab  dir  reich  in  Wärters  Schoß, 

und  nimmer  sperrt  er  dir  sein  Gut. 
Harr  Seines  Rats  und  traue  nicht 

der  Neunmalweisen  Doktorhut. 
Dann  wirst  du  selbst  Frucht  schaun  und  einst 

in  fernster  Ferne  noch  dein  Blut. 
Bau  einen  Bußahar  und  bind 

drauf  deines  sündgen  Triebes  Brut. 


69 


Denn  hold  ist  Er  dem  Nahn;  doch  auch 

wer  fern,  heim  eil'  er,  leichtbeschuht. 
So  spüre  Seinem  Tun  nicht  nach, 

harr  still  in  seines  Torraums  Hut. 
Der,  ob  er  tötet,  ob  belebt, 

was  gut  in  Seinen  Augen  tut. 
Er  sprach:  Es  werde  Licht  —  da  wards; 

befahl  -  die  Erde  zollt  Tribut. 
Und  Gott  sah  an,  was  er  gemacht, 

und  siehe  da:  es  war  sehr  gut. 


70 


KNECHTE 

XT  nechte  der  Zeit     sind  Knechte  von     Knechten; 

nur  Gottes  Knecht,     als  einzger  ist     frei  er. 
Drum,  wenn  um  sein    Teil  jeder  Mensch    bittet, 

mein  Herz,  es  spricht:    Gott  selbst,  mein  Teil    sei  er! 


71 


WELT 

f~\  Herz,  was  jagst  du  nach  Besitz  und  Reichtum, 

nach  Welt,  die  krumm  und  nie  -  so  wilis  ihr  Fluch  -  schlicht! 

Sieh:  wer  erst  seines  Mantels  Schleppe  lang  macht, 
wie  leicht  ins  Knie  er  übers  eigne  Tuch  bricht. 

Der  Welt  Betrug  ist  ofFenkund,  und  gleichwohl 

suchst  hohen  Rang  in  ihr  du  noch?  o  such  nicht! 


72 


DER  KRANKE  ARZT 

XJeile  mich  Du,  mein  Gott,  so  bin  ich  heil. 

Nicht  brenn  mich  Deines  Zornes  Feuerkeil. 
Extrakt  und  Medizin  sind  Dein,  —  ob  gut 

ob  bös,  ob  stark  ob  schwach  sie  tun.  Dieweil 
Du  es,  der  auswähh.  Du,  nicht  ich,  und  Dein 

Allwissen  lenkt,  lenkt  nicht,  zum  Ziel  den  Pfeil. 
Nicht  setz  auf  meinen  Heiltrank  ich  Vertraun, 

nur  Deines  Heiltranks  werde  mir  zuteil. 


73 


AN  DEN  SABBAT 


Ta  Trank  der  Liebe  ihn     trink  Dir  ich  zu: 


Glück  auf,  o  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 


Sechs  Tage  Werktag,  Dir    zu  Dienst  verbunden, 
Hab  ich  an  ihnen  schon     Müh  satt  gefunden, 
Deuchten  mir  all  doch  gleich     einzelnen  Stunden, 
So  hab  ich  Dich  lieb,  Tag     Du  meiner  Ruh  - 
Glück  auf,  o  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 

Geh  ich  am  Ersten  Tag    auf  Werkers  Wegen, 
Wem  sonst  als,  Sabbat,  Dir    rüst  ich  entgegen! 
Der  alle  Himmel  lenkt,     schenkt  Dir  den  Segen. 
Sei  Du  mein  Teil,  was  sonst     ich  treib  und  tu  — 
Glück  auf,  o  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 

Heiliger  Lichtstrahl  aus     heiligem  Bronnen, 
Sonn',  Sterne  wolln  in  Licht     von  Dir  sich  sonnen. 
Am  Zweiten,  Dritten  was     hab  ich  gewonnen! 
Des  Vierten  Lichterheer     hüll'  Dunkels  Truh  - 
Glück  auf,  o  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 

Glückskunde  hör  ich  ihn,     Fünften,  bereiten. 

ßlühn,  Seele,  morgen  Nacht     dir  Seligkeiten? 

Früh  noch  im  Knechtsbann,  bringt     Nacht  frei  Geleiten, 
Lädt  Seinem  Königsmahl     mein  Hirt  mich  zu  - 
Glück  auf,  o  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 


74 


Froh  meiner  Seele  graut,     Sechster,  dein  Morgen. 

Spürt  sie  wohl  nahe  schon     Zeit  frei  von  Sorgen? 

Unstet  und  flüchtig  späh'nd,     wo  sie  geborgen. 
Aufatmend  nachts:  schwand  Flucht,     Unstatt  im  Nu  - 
Glück  auf,  0  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 

Ja  köstlich  kommt  dann  mir    Dein  Abendschatten, 
Drin  neu  ich  Aug  in  Aug     schau  heiigem  Gatten. 
Auf  doch,  mit  Äpfeln  naht,     schwellenden  Platten! 
O  seiger  Tag,  mein  Freund,     Geliebter  Du  - 
Glück  auf,  o  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 

So  sing  ich,  Sabbat  Dir,     Sang  Deinem  Preise, 
Daß  Deiner  Holdheit  ich    Huldgung  erweise. 
Tag  voller  Wonne  mir,     dreifacher  Speise, 
Wonnvolle  Tafelpracht,     wonnvolle  Ruh  - 
Glück  auf,  0  Tag,  Glück  auf,     mein  Siebter  Du! 


75 


FREI 

TT'in  Knecht,  der,  Dich     zu  suchen,  froh,     aufweckt 
die  Frühe  und     Dich  bittet  um     Freiheit  - 

Ruhtag  ist  heut!     Sonn'  Deiner  Macht     spend  dem 
Sohn  Deiner  Magd,     kommt  seHg  ihm    Freizeit. 

Tag,  wo  dir  Sang    möcht  rüsten  die    Seele 

und  Deinem  Ruhm    und  Ruf  ihr  Selbst    frei  weiht. 


76 


SABBATMORGEN 

Ja  schön  bist  Du,    Einzge,  so    lange  du  mein,    wonn'ger  mir 
Heut,  da  du  stehst  vor  dem  Herrn,   des  Name  mein  Heiland  hier. 
Und  Lohn  der  Müh    wird  die  Ruh,    nach  der  du  fragst   voll  Begier. 
Drum  schweig  und  bück  unter  das  Joch  Dich,  das  zu  tragen  Dir. 
Ahnst  doch  der  Zeit    Rätselmacht  ^   des  Herzens  Ohr,   öffn'esihr! 
Lern  Gutes  tun.    Böses  nicht!    solch  Tun  -  es  war'  Tollheit  schier. 
Weihe  dem  Hort     "  jeder  Hauch     lobsinge  ihm  -     edle  Zier 
Im  Jubelsang,     und  vor  ihm,     des  Name  Herr,    jubilier! 


77 


LEBEN 

Jauchz,  Eine,  Glaubens  Gotte  du,  dem  Einen, 

häuf  Lieder,  schwelg  in  Melodieen,  feinen. 
Erforschen  sein  Gesetz  sei  deins.  UndVoIlmaclit 

heisch  allzeit,  auszuschütten  flehend  Weinen. 
Halt  unwert  irdschen  Guts  Erwerb,  und  teuer 

sei  dir  Erwerb  von  weisem  Tun  und  Meinen. 
Um  Schlichtes  laß  du  Schlechtes,  des  Geschlechtes 

Schar:  Toren volk!  hat  Geist  so  gut  wie  keinen. 
Dein  Dasein,  wärs  schon  lang,  —  geringer  Spur  gleichts, 

dem  Augenblick  im  Zeitablauf,  dem  kleinen." 
Antwortet  sie:  „Ich  hab  es  bald  verstanden, 

mein  Freund,  daß  all  dies  richtig  und  im  reinen. 
Heb  an,  ein  Bettelmann  zu  Gottes  Antlitz, 

um  Dank  und  Jubels  Stimmen  zu  vereinen. 
Auch  wenn  du  meinst,  daß  ich  verstört  sei,  wisse: 

mein  Herz  ist  wach,  mag  ich  zu  schlafen  scheinen. 
Ließ  rückwärts  Höhen,  bin  nun  todverfallen, 

gebannt  in  Schatten  und  zu  Totenbeinen. 
Eh  Gott,  gewalt-rasch,  ruhn  mich  heißt  und  Lebens 

Bund  eingebunden  ich  in  dunklen  Schreinen. 
Weil  mein  Erlöser  lebt,  wird  sein  Gedenken 

noch  segnen  er  und  so  mich  eingemeinen, 
>Ins  Leben  !f  dem  Lebendgen  jubelnd,  Seelen, 

noch  lebenden  in  Lebens  Grund,  —  der  Seinen." 


78 


DER  TAG 

IVTach  meines  Lebens  Quell    soll  mein  Verlangen  flehn, 

eh'  meine  Tage  sich    zu  meiner  Erde  drehn. 
Wüßt  es  die  Seele  doch,     die  hinter  Wind  her  jagt, 

daß  ganz  allein  sie  selbst     rings  in  der  Welt  mein  Lehn. 
Und  würd  mein  Herz  doch  wach,     dächts  an  mein  Ende,  den 

Tag,  der  mein  Schlafengehn     wird  und  mein  Auferstehn, 
Tag,  der  mein  Händewerk     läßt  mir  ins  Auge  sehn, 

Tag,  da  in  Seine  Scheu'r    Seele  und  Geist  eingehn. 


79 


KEHR  UM,  KEHR  UM! 

Kehr,  o  Herz,  zur  Ruh  dein  Toben! 
Schon  gewährt  hat  Ers  dir  oben. 

Juwel  aus  deines  Schöpfers  Schätzen! 
Auf!  Willst  hier  zur  Ruh  dich  setzen? 
Lang  der  Weg!  Nimm,  dich  zu  letzen,  - 
Zeit  ists!  Wirk,  was  Er  kann  loben! 

Hier  ein  Beisaß,  gleich  den  Ahnen, 
Meine  Jahre  Schattens  Schwanen  - 
Wann  wenn  jetzt  nicht,  laß  dich  mahnen, 
Schaffst  dir  Leben  tod enthoben? 

Und  bist,  zu  suchen  ihn,  entglommen 
Und  hast  Gemeinem  dich  entnommen  - 
Mutig  wags,  zu  Ihm  zu  kommen! 
Geleit  sind  deiner  Taten  Proben. 

Du  Hochfahrge,  sieh  dein  Gleise! 
Verirr  dich  nicht  in  Traumeskreise! 
Kurz  dein  Tag  und  lang  die  Reise  — 
Was  sprichst  du,  wenn  der  Schein  zerstoben! 

An  Himmelsdurst  dein  Auge  litt? 
Ewig  vor  Ihm  stockt'  gern  dein  Schritt? 
Kehr  um,  kehr  um,  o  Sulamith, 
Wieder  heim  zum  Vater  droben! 


80 


DER  AUFSTIEG 

1^  ehr,  Einzge  Du,     an  Deine  Statt,     o  kehre! 

an  Gottes  Thron     zu  sitzen  stets     begehre! 
Throne  der  Weh  -     ausschlage  sie!     weißt  doch:  du  stiegst 

zur  Höh,  errangst     Siegs  Herrlichkeit,     hochhehre. 
So  beuge  Dich     und  Gotte  gib     Preis  Du  und  Ruhm, 

wo  Gottgeschlecht    steht,  zolle  Du     Sangs  Ehre. 


81 


HAUCH  ALLEN  LEBENS 

Gotte  opfre  ich  Dankgesangs  Rauch, 
In  Dessen  Hand  allen  Lebens  Hauch. 

Jeder  Ursach  und  Wirkung  Anfang: 

Gott,  in  Höhn  wo  kein  Maß  hinandrang. 

Ihn  zu  schaun,  das  Aug  heiß  anrang; 

Dem  Herz  doch  kund,  das  noch  Fleisches  Bann  zwang. 
Schaun  einst  werd  ich,  des  Leibs  los,  Ihn  auch  - 
In  Dessen  Hand  allen  Lebens  Hauch. 

Hat  gesenkt  dem  Erdsprossen  ein  die 
Seele:  weise  und  klug  zu  sein,  lieh 
Er  ihr  obern  Lichts  Widerschein  -  sieh: 
Noch  der  Abglanz  macht  lieblich  rein  sie, 

Meiner  Jahre  hab'  Nutz  sie  und  Brauch!  - 

In  Dessen  Hand  allen  Lebens  Hauch. 

Und  hinauf  zum  Urgrund  verzehrt  sie 
Sich,  harrt  des  Tages,  wo  erd-entschwert  sie. 
Dieweil  sie  noch  mir  einwohnt,  begehrt  sie. 
Daß  mein  Lob  ihren  Schöpfer  verehrt,  die 

Rede  Ihm  blühe  gleich  Knospen  am  Strauch  - 

In  Dessen  Hand  allen  Lebens  Hauch. 

Daß  er  einzig:  zeugt,  Zeit  an  Zeiten, 
Des  Geschöpfs  Vergehn  und  Vergleiten, 


82 


Drin  Er  allein  bleibt.  Rechtspruch  bereiten 
Wird  er  freveln  Sinns  Heimlichkeiten. 

Herschaut  Er,  ob  ich  ein  Frommer,  ein  Gauch,  " 

In  Dessen  Hand  allen  Lebens  Hauch. 

Ach  zum  Magdsohn  neig,  Deinem  Knecht,  Dich, 
Wenn  er  stellt  vor  Dein  Volksgeschlecht  sich! 
Tret  hinein  in  Dein  Erbgeflecht  ich: 
Lehr  die  Brüder  „Lob,  Sein  Lob  sprecht!"  ich, 

Daß  in  Deines  Bunds  Kindschafit  ich  tauch'  - 

In  Dessen  Hand  allen  Lebens  Hauch. 


83 


VOLK 


IN  EWIGKEIT 

Conn',  Mond,  die  beiden  ziehn     in  Ewigkeit  auf  Wacht; 

Tag,  Nacht,  ihr  Gleichlauf  wird     nie  aus  dem  Gleis  gebracht. 
Sinnbild  verordnet  sind     dem  Samen  Jakobs  sie, 

Volk  er  in  Ewigkeit    und  nie  zunichtgemacht. 
Fernt  Gottes  Linke  sie,     die  Rechte  bringt  sie  nah. 

So  haben  auch  in  Not     sie  Lästrung  nie  gedacht. 
Nein,  fest  vertraun  sie,  daß     in  Ewigkeit  sie,  und 

Daß  nie  ihr  Ende  kommt,     eh  enden  Tag  und  Nacht. 


87 


GOTT  SPRICHT 

Tung  bleib'  die  Hoffnung!     dein  Herz  es  sei     stark  zu  ihr! 

was  rechnest  aus  Du     des  Elends  Ziel,     mutlos  schier? 
Hochrichte  Dich,  sprich,     und  Liedes  wort     dichte  frisch! 

Dein  Schandenname     noch  sagt  es:  Mein     Zelt  in  dir. 
Und  acht  gering,  wer     da  höhnt,  ob  schon     laut  er  dröhnt! 

Sacht  treib  die  Herde,     -  du  kommst  zuletzt     ins  Quartier. 
Dein  Liebster  quält  Dich,     doch  Er,  er  quillt     Glück  dir  auch. 

Dein  Teil,  der  krank,  Er.     Er  Heiletranks    Elixier. 
Am  schönsten  liebst  Du,     des  hoffend,  der    Dich  erlöst. 

Dräng  nicht!  noch  schaun  wirst     du  meiner  Tat    Glanz  und  Zier. 
Wenn  ihres  Königs     sich  rühmen  die,     rühme  du: 

Er,  Jakobs  Heilger,    mein  König  ists.     Löser  mir. 


88 


LICHTERFEST 

Jeweils  durch  Dein  Licht,  Herre  licht,     schaun  wir  Licht. 

Hoffnung  -  dem  Volk,  des  Weltpfad  weist 
Nachtdurch,  wie  lang  ihr  Schein  nur  gleißt 
Und  Sund'  es  in  die  Ferse  beißt? 
O  daß  auf  ihm,  wie  Glut  auf  Licht,    throne  Licht! 

Ums  bloße  Haupt  bind  Weih-Ornat, 
Zerrissen  Kleid  —  durch  Priesterstaat 
Ersetz  es,  laß  des  Urlichts  Saat 
Neu  blühn,  wie  beim  „Es  werde  Licht"     und  es  ward  Licht. 

Dein  Zeichen  höh'  den  wanken  Knien, 
Laß  ihnen  vor  den  Engel  ziehn, 
Und  o  daß  bald  der  Tag  erschien'. 
Wo  Fromme  Heil,  Schmach  die  umflicht,     die  verschmähn  Licht ! 

Ach  der,  ein  Knecht,  nach  Schatten  keucht, 
Umgieß  ihm  Deines  Heils  Geleucht, 
Und  ruf  ihm  zu:  „Wo  Dunkel  kreucht. 
Wie  lang  noch  hockst  du?  Komm,  sei  licht!     Aufging  Licht." 

„Huld,  Huld"  -  0  rufs!  Ölbäume  laß 
Erstehen  zweigereiht,  auf  daß 
Im  Tempel  ström'  des  Öles  Naß, 
Lichter  zu  zünden  Dem,  der  licht.     Ihm  zum  Licht! 


89 


MORGENDLICHER  DIENST 

l\/f  orgengestime  all     zu  Dir  aufsingen, 

Denn  ihres  Strahls  Urquelln     aus  Dir  urspringen. 
Und  die  Gottes-Sprossen,    festgebannt  auf  ihre  Wacht, 

Nachts,  Tags  den  Überschwang     des  Lobs  ausschwingen. 
Und  die  Reichs-Genossen     lernten  es  von  ihnen,  wenn 

Froh  sie  der  Frühe  Licht    in  Dein  Haus  bringen. 


90 


LICHT 

Jung  sollen  tags,  nachts     Ihn  Lieder  umblühn, 

Glut  seines  Augs  ließ     in  meines  er  glühn. 
Hoch  zündend  Geleucht     verjagt  er  die  Nacht, 

so  riß  ins  Gewölb     mir  Fenster  er  kühn. 
Und  eigenen  Strahls     beschenkte  er  mich, 

sein  Geist  ward  mir  Wort     durch  Heiliger  Mühn. 
Der  Urlichtstroms  Weg     zur  Bahn  mir  gebahnt, 

von  Scir  her  schien     ob  Sinais  Flühn,  — 
Aufschlürft  seines  Worts     den  Seim  ich  und  jauchzt: 

O  kommt  doch,  o  seht    mein  Auge  Licht  sprühn! 


91 


BESIEGTE  FINSTERNIS 

Jagten  sie  dich,  Täubiein,  bis 
Harm  den  Klaglaut  selbst  zerriß  - 
Um  Ihn  her,  der  herzgewiß, 
Deiner  Streitmacht  Fahnen  hiß! 
Auch  für  Dich  ein  Tag  noch  gliß  - 
Er  schafft  Licht,  Er  Finsternis. 

Laut  erscholl  sein  schaffend  Ja, 
Augenblicks  stand  alles  da. 
Daß  die  Welt  ihn  mächtig  sah, 
Chaos  nicht  sie  rückempfah'. 
Rief  vom  Ost  herauf  er  nah 
Sein  Licht,  scheuchte  Finsternis. 

Wolkenschar  vernahm  das  Wort 
„Werde  Licht".  Ein  Felsenhort 
Ist  ^  erkannte  sie  sofort, 
Riß  entzwei;  an  seinen  Ort 
Sank  der  Grundstein.  Kund  ward  dort: 
Höher  Licht  als  Finsternis. 

In  mein  Dunkel  fahr  sein  Licht! 
Send'  er  ihn,  der  mich  erricht'. 
Daß  mein  Volk  ins  Helle  bricht, 
Daß  mein  Kleinod  Ruhm  umflicht  - 
Fels,  von  dem  mein  Rühmen  spricht. 
Er  mir  in  der  Finsternis. 


92 


AM  SCHILFMEERTAG 

Jauchz'  hell  sie  im  Morgenstrahl    am  Festtag    Deiner  Macht, 
Ergebne  dir,  Schar,  von  Dir    beschattet,    überdacht. 
Hier  st ehn  arm  sie  Deiner  Welt     vor  Dir  in     Bitfgeschmacht 
Und  bringen  vor  Deinen  Stuhl    der  Worte    schwere  Tracht. 
Des  Kleintempels  Pfad  gehn,  die    du  hast  zu    ewger  Pacht, 
Als  Richtpunkt  dein  Recht,  so  hat     das  Ohr  Dein    Wort  in  acht. 
Hilf  Deinem  Messias  Du!    heraus,  Hort,    auf  die  Wacht! 
Au  Welttage,  die  er  trug     dein  Joch,  sei'n    ihm  gedacht. 
Laß  Deinen  Erlöserarm,    der  einst  schlug    Deine  Schlacht, 
Erglänzen  wie  damals,  reiß     die  Fahne    aus  der  Nacht!! 
Voll  Hauches  die  Menschenbrust,    geeint  all    Deiner  Macht, 
Im  Morgensternjubel  soll    sie  jubeln    Deine  Pracht. 


95 


MEIN  KÖNIG 


Tung  strahl'  mein  Fürst 
Daß  Fahne  wall' 
Spotts  Wort  verschall', 

Ins  "Ohr  ihm  hall': 

noch  stürzt  die  Stadt 

Horch!  Wächters  Hörn: 
Es  zückt  der  Zorn, 

Reif  steht  das  Korn  " 

Und  radschnell  läuft 

Dir  Stadt  zu,  spricht: 
Sing  Singgediclit! 

Steh  auf,  sei  licht! 

Dem  Sohn  kor  Pfad 

Hob  Sündenflor, 

Bis,  der  verlor 
Und,  König  vor 

Ausfuhr  sein  Wort: 

Ein  Fenster  reißt 

Sternübergleißt 
Mond,  Sonne  kreist 


allüberall, 
zu  Marschtritts  Prall, 
der  fällte,  fall'. 

Bahnt  für  Gott  das  All! 

er  tiefen  Fall, 
quill,  blutger  Born! 
die  Gräser  dorm, 

Sicheln  in  den  Schwall! 

Frohbotschafts  Hall 
„Rieht  hoch  dich!  rieht! 
Messias  sieht! 

Fürst  sieh,  Heergewall." 

er  von  Kristall, 
erschloß  Augs  Tor, 
ihn,  neu  ihm  schwor 

Ihm,  betrat  Gilgal. 

umrollt  der  Ball, 
er:  Tal,  Berg  weist 
Lichts  lautren  Geist. 

auf  der  Sphären  Wall. 


94 


AUS  DEM  ELEND 

Ta  so  queir  Dein  Born  mir  Segen, 

wie  dein  Zorn  quoll  Feuerregen ! 
Ewig  sollte  meine  Sünde 

zwischen  mich  und  Dich  sich  legen? 
Hab  ich  Dich  nicht  lang  gesucht,  und 

nimmer  kommst  Du  mir  entgegen? 
Unter  Cherubsflügeln  hausend, 

welche  Deinen  Schrein  umhegen, 
Du,  versklavst  Du  Fremden  mich,  statt 

Deinen  Setzling  selbst  zu  pflegen  ? 
Auf,  mein  Löser,  mich  zu  lösen, 

steh!  schau  her  von  Sternen 'Wegen! 


95 


AN  DEN  LÖSER 

Tungtaube  -  trugst  sie     auf  Flügeln  von  Aaren, 
Sie  nistete  im  Schöße  dir     zu  trautem  Verwahren,  - 

Was  schlugst  du  sie,  nun    mußte  walddurch  sie  fahren, 

Wo  ringsum  in  Scharen     Schlingenbreiter  waren, 

Sie  lockend,  Barbaren,     zu  fremden  Altaren; 

Doch  sie- weint  dieklaren  Tränen  nachihm  undden  jungen  Jahren. 
Wenn  Feinds  Zunge,  die  glatte,     sie  umgarnt  schon  hatte,  - 
Ihr  Aug  fragt,  das  matte:     wo  bleibt  mein  Urgatte? 

Was  lassest  du  meine     Seele  dem  Grab? 

Ich  weiß,  daß  außer  dir    ich  keinen  Löser  hab. 

TJolde,  riß  entzwei  er     auf  ewig,  dein  Schleier? 

Raben  und  Geier     Raub  und  Gespei  er? 
Der  Magd  Sohn,  nun  Freier,  -     weh  der  grause  Freier! 
Ganz  Kraft  ohne  Weih  er,     spannt  Bogens  Geweih  er. 
Mein  Zelt:  Ort  der  Feier,     drein  gellt  Wortgeleier! 
Mein  Welthort,  wo  sei  er,    ich  frags!  Steht  noch  bei  er? 

Nicht  Wunder  mehr,  nicht  Zeichen.    Gesichte,  Träume  bleichen. 

Und  frag  ich:  wann  erreichen     den  Tag  wir  ohne  gleichen  - 
Propheten,  ach,  ausweichen:     dein  Fragen  begrab! 
Ich  weiß,  daß  außer  dir    ich  keinen  Löser  hab. 

T  Tnd  Töchter,  die  schlanken,     verschleppt  aus  Stadtschranken, 

Aus  Linnen,  den  blanken,     aus  Laubenumranken, 
Die  Völkern  zuwanken,     einsichtskranken, 
Barbarengespött  zu     und  Fremdzungenzanken, 
Doch  treu  dem  Gedanken,     dem  Betreuung  sie  danken, 

96 


Vor  Greulbilds  bunten  Planken    aufs  Knie  nimmer  sanken! 
Da,  der  mir  zum  Schilde,     in  Wolkcngefilde 
Jetzt  wich,  der  Milde,     hetzt  mich  der  Wilde!  - 

Zum  Ende  der  Tage    grab,  Frage,  o  grab! 

Ich  weiß,  daß  außer  dir    ich  keinen  Löser  hab. 

T^er  Einmut  Panier,     ach  von  mir  entfloh's, 

Und  Hochmut  trat  mir    in  Nacken  schweren  Stoß. 

Ich  der  Züchtigung  bloß,     in  der  Grausamkeit  Schoß, 

Bann  und  Bande  mein  Los,     verdrossen,  freudelos. 

Kein  Feldhaupt,  kein  Schwerttos,     kein  König,  keiner  groß. 

Der  hart,  auf  mich  los!     der  Hort  von  mir  los! 

Zerstört  den  Ort  in  Grimms  Extasen,   den  seine  Sohlen  sich  erlasen, 
Entzündet  in  Zorns  Rasen     das  Gebälk,  die  Basen, 

Feuer  schlägt  aus  seinem  Blasen,     das  brennt  bis  zum  Grab  - 

Ich  weiß,  daß  außer  dir    ich  keinen  Löser  hab. 

Ach  wird  er  ewig    mich  grollend  meiden? 

Gesichte  —  können     kein  Ziel  sie  mir  beeiden? 
Auf,  Gott!  zu  weiden    mich,  zu  zerstreun,  die  mich  neiden! 
Woll  neu  dich  bescheiden     hinter  Vorhangs  Seiden. 
Zeig  sinaigleich  dich  den  beiden     Augen  in  Strahlgeschmeiden. 
Und  zahle  den  Heiden     den  Lohn  meiner  Leiden. 

Herab  tau  Heils  Licht     auf  ihn,  den  Angst  zerbricht. 

Vom  Thron  ins  Gericht     stürz  den  Magdsohn,  den  Wicht. 
Bald!  auf  daß  ich  nicht    in  Kummer  fahr  zu  Grab. 
Ich  weiß,  daß  außer  dir    ich  keinen  Löser  hab. 


97 


AUFBLICK 

Tach  zück  Deinen  Arm,  Deine  starke  Rechte, 

zu  Hilf  Deiner  Restherde  zum  Gefechte! 
Hat  Kraft  zu  erlösen  dein  Arm  denn  nicht? 

rührt  Zeit  Dich  und  Zufall  gleich  Staubs  Geschlechte. 
Und  doch  -  Himmelslichter,  sie  kreisen  um  Dich, 

und  stehn  Deines  Munds,  Deines  Wortes  Knechte. 
Dein  Wort,  still  erharrn  es  die  Scharen  der  Höh; 

Gestirn  licht  bezeugt  Deines  Schatzes  Echte. 
Anzündet  ihr  Glanz  sich  an  Deinem  Gepräng, 

ihr  Strahl  sich  am  Kranz  Deiner  Sterngeflechte. 


98 


JUNGFRAU  ISRAELS  SABBAT 

Juwel  von  Tag,  das  Friede 
Und  Leben  rings  umschmeiden,  - 
Du  weihst  ihn,  daß  er  schiede 
Israel  und  die  Heiden. 

Hätten  gern  -  mit  Wortesdreh!  - 
Die  ihren  meinem  heiigen  Tag 
Gleich:  Rom  den  ersten  schon  von  eh. 
Den  sechsten  jüngst  Arabiens  Schlag. 
Ihr  Gespött  -  als  ob  es  je 
Irrn  der  Wahrheit  Herren  mag! 
Kann  Schmutzkleid  man,  Schmuck  seiden, 
Tod,  Leben  wohl  nicht  scheiden? 

Und  meine  Nachbarn  möchten  zu 
Gern  hinauf  zum  Königsthron 
Der  Gottes-  und  der  Menschenruh, 
Der  Er  beschied  den  Segenslohn, 
Festrufs  urerstes  Hie  und  Nu, 
Von  der  Schöpfung  Tagen  schon  - 

Dein  Wort  sät  Lebens  weiden: 

Drauf  leben  wir  bei  Heiden. 

Dir  Priestrin  sein  -  ihr  stolzes  Los! 
Dein  Nam'  in  Wogendrang  ihr  Floß! 
Sie  schluchzt  ihr  Leid  in  deinen  Schoß, 
Sie  jauchzt  an  deinem  Tische  bloß, 


99 


Satt  macht  sie  Manna,  leidenlos, 
Ein  Maß  blieb  übrig,  krügleingroß. 

Daß  Inseln  fern  sie  neiden, 

Ihr  Ruhm  läuft  zu  den  Heiden. 

Ausstreck  wieder,  Herr,  den  Arm, 
Des  alten  Reichs  dich  neu  erbarm. 
Lebt  dein  Volk  auch  tief  in  Harm, 
Zerstreut  in  Zonen  kalt  und  warm: 
Wie  stehn  Arabien,  Hellas  arm, 
Führst  heim  du  Ahrons  Priesterschwaiin! 

In  Levis  Lager  sei  denn 

Geweiht,  du  Lob  der  Heiden! 


100 


HEIM 


Herd'  umirrnd  in  Feinds  Verschlage 
Heim,  wo  Dein  Verheißner  trage 


laß  sie  gehn 
ihr  ewges  Lehn. 


Juble  einst  das  Heilsverlangen 
Weist  der  Bote  Sündenbangen 
Den  nie  Zeitschoß  sanft  umfangen, 
Und  wer  noch  Versuchung  wage, 
Läutrung  ihm,  dem  galt  die  Plage, 


im  Exil, 
nah  das  Ziel, 
froh  er  spiel'  — 

fliehn  laß  den. 
•    laß  geschehn. 


Horch!  „Den  Stumpfdie  Axt  abfresse!" 
Daß  mein  Reif  sein  Haupt  ummesse, 
Prahlt:  „Nun  sproßt  der  Wurzel  Jesse 
Daß  der  dürre  Stab  ausschlage. 
Hold  sei,  und  des  Schicksals  Wage 


Feinds  Geheiß, 
sinnt  sein  Fleiß, 
mehr  kein  Reis"  - 

laß  dich  flehn. 

laß  sich  drehn. 


Uns  aus  Zins  befreit  und  Frohnen 

Wach  ob  Zions  Hügelkronen 

In  des  Höchsten  Schirm  wird  wohnen 

Frevels  Flut,  getürmter  Lage, 

Ruhn  die  wilde  Totenklage 


führ  hinan, 

du  selbst  fortan. 

Dein  Volk  dann  -f 

laß  zergehn. 

laß  der  Seen. 


Des  Bedrängten  Weinen,  schweb'  es 
Unter  Leun  das  Lamm  —  entheb  es 
Hirt!  Dein  Herz,  in  Mitleid  beb'  es 

Deine  Herde,  sehnsuchtzage, 

Heilslicht,  fast  schon  loschs,  neu  rage,  " 


auf  zu  Dir, 
blutger  Gier, 
um  Dein  Tier  — 

laß  nicht  stehn. 

laß  es  sehn. 


101 


Aufschießt,  nun  die  Nacht  zerrissen,  Lichtes  Saat. 

Deines  Erstlings  Kümmernissen  schaffst  Du  Rat. 

Wohl  dem  Deines  Lichts  Gewissen,  dem  selbst  es  naht! 
Dann  herrschst  Du.  An  jenem  Tage  weithin  dehn 

Dein  Heil.  Und  all  mein  Leid  -  wie  Sage       laß  verwehn. 


102 


DIE  ELIAWUNDER 

"^yi/^under  täglich  uns  vermißter  - 
Ach,  Elias  Gott,  wo  ist  er? 

Seinen  Worten  horcht  sein  Samen, 
Schreit  vor  Not,  wenn  Feinde  kamen, 
Spricht:  wo  bleibt  der  Hort,  die  Namen? 
Tausend  Jahr  schon  uns  vergißt  er! 

Wegen  Nordreichs  Ungebühren 
Schloß  Elia  Himmels  Türen; 
Daß  auf  sein  Wort  niederführen 
Feuer,  Wasser,  sich  vermißt  er. 

Er  besprach  so  Krug  als  Schale, 
Segnet  sie  zu  üppgem  Strahle, 
Reißt  das  Kind  aus  Todes  Tale  — 
Wer  sah,  hört'  es,  den  ihr  wißt,  wer? 

Er  verbrannt  Kriegsherrn  und  -mächte. 
Fastet  vierzig  Tag  und  Nächte; 
Raben  kamen,  daß  man  dächte: 
Hergelockt,  -  ihr  Brot,  das  ißt  er. 

Als  er  auffuhr  in  Gewitter, 
Feuerwagens  Glutgezitter, 
Blieb  Elisa,  weinend  bitter: 
Vater,  Vater!  Antwort  mißt'  er. 

103 


Jordans  Fluten  sieh  versiegen, 
Daß  sie  nicht  zum  Knöchel  stiegen, 
Und  Elisan  auch  sich  schmiegen  - 
Sah  wer's,  starr  ward  sonder  Frist  er. 

Hofier  auf  Prophetenzeichen, 
Wann  sehn  sie  die  wunderreichen? 
Wann  tut  er  für  sie  dergleichen 
Und  die  Gottesfahne  hißt  er! 


104 


DER  JUDE 

Us  schmähn  mich  Deinethalb,  die  irrn  durch  Nächte, 
die  Diener  erzgegossner  Wahngemächte, 

Erwidert'  ich:  Gott  Dienen  ist  das  Rechte. 

Was  wirkten  jene,  was  nicht  Er  vollbrächte? 

Wenn  Er  mir  grollt,  bin  ich  der  Knecht  der  Knechte. 
Ist  Er  mir  hold,  bin  ich  die  Macht  der  Mächte. 


105 


DIE  VERHEISSUNG 

Tungtauben,  die  jäh  versetzt 

in  Land  wüst  und  umwindet, 
Auf!  da  hier  nicht  Ruh  euch  letzt, 

Heimatglanz,  nun  erblindet. 
Heim!  dorthin  wo  euch  ergetzt 

Luft  gesänftet,  gelindet  - 
So  gebe  es  Gott  euch  jetzt, 

daß  ihr  Ruhe  findet!" 


,TTerr!  seit  wir  Salem  entflogen, 

Töchtern,  die's  rings  umgaben, 
Und  hoch,  aus  Zion  weg  zogen, 

des  Aun  in  Wüste  begraben. 
Wir  -'  Pfad  nachtwärts  gebogen! 

Land  ^  Ruh- Jahre  wills  haben! 
Hoffen  doch  unbetrogen, 

daß  nie  Gebetslaut  Ihm  schwindet. 


T  Tnd  wer  gibt  mir  Taubenfittich! 
Aufflöge,  heimzu  glitt'  ich. 
Auf  Süds,  Nords  Rossen  ritt  ich, 

doch  Zionswind  nur  erbitt  ich. 
Daß  Endzeit,  Urzeit  quitt  sich, 

naht  Hirten-,  Fürsten-Schritt  sich. 
Da  schmerztauben  Schwertes  Schnitt  sich 

Rachschwert,  Rachschwert  entbindet.f 


106 


ir\u  wallnd  auf  der  Hoffnung  Hügeln, 

nicht  lügt  der  ferne  Schimmer. 
Entbracht  ihr  der  Eintracht  Zügeln, 

der  Eintracht  mit  mir  doch  nimmer. 
Schön  Töchterlein  kehrt  auf  Flügeln 
der  Jugend  meinem  Zimmer. 
Vom  Heilscherub-Luftdurchschwimraer 
späh  ich,  wo  Ruh  ihr  findet. 

A  cht  habt!  Trost  soll  euch  decken, 

gleich  Tau  in  dürrem  Jahre. 
Anpflanzt  verödete  Flecken. 

Auf  Trümmern  die  Stadt  hochfahre. 
Er  weckt,  wie  kriegrischen  Recken, 
Liebe  aus  Herzverwahre, 
Der  macht  die  Unfruchtbare 

zur  Mutter  froh  umkindet." 


107 


FEINDESLIEBE 

^on  eh  warst  Du  der  Liebe  Himmelsveste, 

mein  Lieben  nistete  bei  Dir  im  Neste. 
Scheltworte  meines  Feinds,  sie  freun  mich,  Deinethalb; 

laß  ihn  -  sein  Druck  preßt,  den  dein  Druck  längst  preßte. 
Es  lernte  Deinen  Grimm  der  Feind:  drum  lieb  ich  ihn; 

denn  seine  Faust  trifft  Deines  Schlags  Gebreste. 
Verwarfst  du  mich,  den  Tag  verwarf  ich  selber  mich, 

wie  gönnt'  ich  dem,  den  Du  verwarfst,  das  Beste! 
Bis  einst  dein  Groll  vergeht  und  Du  Erlösung  schickst 

des  einst  von  Dir  erlösten  Erbes  Reste. 


108 


LIEBESWUNDER 

Te  blickst  du  hold  auf  meines  Lieds 

und  Lobs  Geschmeid  und  Ausgesiebe? 
Herztrautcr,  der  mir  ferne  floh 

ob  meiner  Bosheit  irrem  Triebe! 
Und  halt  ich  Seinen  Saum  auch  nur, 

o  Wunderkraft,  die  noch  mir  bliebe! 
Dein  Name  war  mir  Lohns  genug, 

wenn  meine  Arbeit  mich  zerriebe. 
Ach  mehr'  du  Leid  -  mehr  liebe  ich ! 

Mein  Lebens  wunder:  Deine  Liebe. 


109 


ZÜRNENDE  LIEBE 

Te,  Liebster,  vergaßest  Du  den  Ruhplatz  auf  dieser  Brust? 

und  konntst  mich  verkaufen  je   du  meinen  Vertilgern  just? 
Hab  einst  ich  gezögert,  Dir   zu  folgen  in  wüstes  Land? 

Ihr  Berge,  o  Sinai,  gebt   mir  Zeugnis,  wie  euchs  bewußt. 
Und  Du  meiner  Liebe  reich   und  ich  Deiner  Gnade  voll  - 

ach  weh,  daß  ich  nun  den  Glanz   an  andre  verteilen  mußt'. 
Die  Edom  ich  zugeschleppt,   verstoßen  zu  Hagars  Stamm, 

gedrückt  unter  Perserjoch,   entrückt  in  hellen'schen  Blust. 
Ach  bis  tnicht  der  einzge  Gott?    und  harrt  noch  ein  andrer  Dein? 

O  spend  Deine  Kraft  mir!  Dir  spend'  neu  ich  der  Liebe  Lust. 


110 


TRAUMGESICHT 

Tn  Sternlicht  strahlt  mein  Dämmergrund. 

Kehrt  neu  mein  Fruchtherbst  mir  zurstund? 
Ein  wonnger  Hag,  ein  Wingert  mein, 

mein  Pauke,  mein  der  Flöte  Mund. 
Heim  kehrt  an  meinen  Arm  der  Reif, 

an  meine  Nase  goldnes  Rund. 
Und  sein  Palast  und  mein  Gelaß 

genüber  Schwell  gen  Schwelle  stund. 
Dann  ich  zu  seiner  Einung  heim 

gekehrt,  Herz,  Sinne  all  im  Bund. 
An  ihm  berausch'  die  Seele  sich, 

ihn  mach'  die  Zunge  jauchzend  kund. 


111 


TREUE 

Jahr,  Trauter,  stieß  um  Jahr  elendiglich 

Zu  Schlangenbiß,  zu  Skorpionenstich 
Mich  ins  Verließ  - 
Erbarm,  er-    barme  dich! 

liofft  doch  mein  Herz  sich  müd !  Zur  Morgenzeit 
Tagtäglich  siehts  das  Ziel  entfernt  gleich  weit. 
Ach  Liebster,  was  soll  ich  noch  sagen,  seit 
Edom  in  meinen  Saal  als  Eigner  schlich, 

Araber,  Norrman  herrschen  über  mich, 
Samt  Hundsvolk,  wie's 
Um  meine     Herde  strich, 

Und  meines  Namens  süße  Melodie 
Als  Schimpf  aus  fremdem  Munde  mich  anspie, 
Sie  -  wider  mich!  -  großtun  mit  Prophetie, 
Von  allem  Volk  jedweder  Wüterich, 

Ohn'  Acht  des  Geisterurteils  über  sich. 
Mich  drängt'  und  stieß, 
Daß  ich  zu      Lügen  wich'! 

Du!  laß  uns  wandeln  durch  der  Gärten  Luft, 
Schmecken  der  Narden  und  der  Rosen  Duft. 
Was  soll  die  Gemse  in  der  Füchse  Kluft! 
Wach  meiner  Harfe,  meiner  Glocke  sprich. 

Trink  meinen  Wein,  und  meine  Frucht,  o,  brich! 
Mein  Paradies 
Tu  auf,  des     Glanz  mir  blich!" 


112 


„„Ausharre!  seis  noch  Jahre  ungezählt. 

Ich  hab  mich  keinem  andern  Volk  vermählt. 

Du  wähltest  Mich,  so  hab  ich  Dich  erwählt. 

Wo  war  ein  Stamm,  in  welchem  Himmelsstrich, 

Der  meinem  Sohn,  Schlachtopfer,  Erstling  glich. 
Den  Freund  ich  hieß,  — 
Und  wo  ein     Gott  wie  Ich!"" 


113 


LIEBESTROST 

„Was,  Schwester,  soll  dir  Rechenschaft 

der  Tage,  die  du  liegst  in  Haft? 

Jagst,  Taube  Du,  und  flatternd  irrst 
Du  einsam  hin  von  First  zu  First, 
Fragst:  >Wann,  mein  Tag  du,  kommen  wirst ?f  - 
Hab  Mut,  Herz,  das  vor  Angst  zerbirst. 
Nicht  log  der  Hoffnung  Zeugenschaft, 

0  hoffe  nur  "  schon  steigt  der  Saft." 

„„Hofft'  wohl  ich  noch  auf  Heiletrank. 
Für  meine  Krankheit,  da  ich  krank 
An  Deinem  Zorn?  In  Dunkel  sank 
Mein  Bild  6b  meiner  Taten  Wank. 
In  Flammenpein  der  Witwenschaft 

sitz  ich,  mein  Glück  hat  Nacht  gerafft. 

Und  Feinde  sprechen :  >Der  gebricht 
Das  Heil!  es  läuft  auf  lange  Sicht. 
Ihr  Heiland  lebt?  was  kommt  er  nicht? 
In  unsre  Hand  fiel  ihr  Gericht. 
Gewiß,  sie  trog  Prophetenschaft, 

und  Trug  ists,  was  ihr  Seher  gafftf"" 

„Du  Liebe!  Dies  genüge  Dir: 
Ich  richte  neu  auf  mein  Panier. 
Ich  rein'ge  Deines  Erbs  Revier. 
Ich  breite  meinen  Namen.  Mir 
Auslös  ich  meine  Stammerbschaft 

und  heil,  die  Todesschlafs  erschlafft. 

114 


Aufwallt  mein  Herz,  gedenk  ich  der 
Liebe,  die  von  Urzeiten  her. 
Aussprechen  kanns  das  Wort  nicht  mehr. 
Wie  Kohlenfeuer  brennt  sie  sehr. 
Sturm  weht  durch  mich  der  Leidenschaft: 

stark  wie  der  Tod  ist  Liebeskraft. 


115 


WIEDERFINDEN 

„Wie  kann  ich  meinem  Süßen 

büßen?  "  ach  er  schwand! 
O  blüht'  er  doch  aufs  neue 

mir  aus  Morgenland!" 

„„Jungfraue,  taubenmilde, 

bringt  man  dich  zu  mir, 
Gurt  um  webbunt  Gebilde,  — 
lach'  mein  Auge  dir! 
Dann  gürt  ich  Wehr  um,  wilde, 
rächender  Begier. 
Im  Staub  noch?  sieh  schon  grüßen 

Heil  im  Knospenstand! 
Den  Söhnen  trägt  des  Treue, 

den  mein  >Geh!f  entsandt."" 

„Herzlieb,  ich  hab  geschrieen 

dir  aus  Wassers  Schwall, 
Hör  meiner  Melodieen 

himmelauf  den  Hall. 
Strafmaß  der  Prophetieen  - 

wann  erfüllts  mein  Fall? 
Schriebst  ein  der  Sund'  Aufschießen 

gleich  schon  im  Foliant, 
Drauf  Gnadenregen  streue, 

tilgs  mit  gütger  Hand. 

Unseiger  mir,  verlassen, 

Gnadenstunde  stift! 


116 


Den  Rest  der  Herdenmassen 

weid  auf  Deiner  Trift! 
Wie  lang  darf  beizend  fassen 

mich  des  Spottes  Gift? 
Ismael,  Edom  schließen 

mich  in  Kerkerwand, 
Einbüßt  das  messerscheue 

Haupt  sein  Weihepfand." 

,, „Danks!  Um  den  Rest  geschah  es, 
den  ich  nicht  verstieß. 
Dein  Heil  "  nun  schaust  du  nah  es. 
Wer  wars,  ders  verhieß! 
Der  stille  bleibt,  der  sah  es. 

Komm!  die  nie  ich  ließ. 
Wie  Myrrhngewürzes  Fließen 

riecht  dein  Opferbrand, 
Dein  Fest  mich  nun  erfreue, 

dran  ich  Graun  einst  fand. 

Aufwach,  0  du  mein  Eigen, 

die  noch  Gram  umflicht. 
Zu  deines  Gartens  Steigen 

kam,  der  Frucht  sich  bricht. 
Dein  Licht,  schon  woHt  sichs  neigen, 
flammt!  steh  auf,  sei  licht! 
Dein  Freund,  auf  Hirschesfüßen 

deinem  Schoß  entrannt. 
Kommt!  Gotteshimmels  Bläue 

ist  um  Dich  gespannt."" 


117 


ZION 


AUF 

Schläfer,  das  Herz  doch  wach, 
Voll  Glut  und  Wetterkrach,  - 
Auf!  laß  des  Schlummers  Dach, 
In  Meines  Blicks  Strahl  zieh! 

Glückhaft  beginn  den  Lauf! 
Schon  ging  dein  Stern  dir  auf. 
Der  totgeglaubt,  hinauf 
Stieg  er  zum  Sinai. 

Still  sei  dereinst  noch,  wer 
Jauchzt:  „Sündenlast  drückt  schwer 
Zion!"  -  sieh,  dennoch  kehr 
Herz,  Aug  ich  von  ihr  nie. 

Auftu  ich,  schließe  mich, 
Zorn  brenn,  Heil  sprieße  ich: 
Wie  wohl  verließe  ich 
Sie,  meine  Kinder,  sie! 


121 


DIE  FROHE  BOTSCHAFT 

Tungtaube  fern,     Dein  schönstes  Lied  ^     o  sing  es, 

Ihm,  der  dich  ruft,     was  süß  in  Dir  "     zudring'  es. 
Er  ists,  dein  Gott     selbst,  der  dich  ruft:     o  sei  geschwind. 

Neig  Dich  herab     erdtief!  Geschenk  -     darbring  es. 
Heb  Deinem  Nest     Dich  zu,  den  Weg     zu  Deinem  Zeh, 

Nach  Zion,  —  setz     Dir  Zeichen,  wes    Wegs  ging  es. 
Urfreund,  der  Dich     fortstieß,  weil  Dein    Tun  bös  sich  wies, 

Er  selbst  erlöst    Dich  heut.  Lob  -  wo     anfing'  es? 
Du  schick  dich  an     zur  Heimkehr  ins     vielschöne  Land; 

Arabiens  Reich,     Edoms,  -  o  in     Staub  ring  es! 
Aller,  die  Dich     einst  zwangen,  Haus  -     Zorn  zwing'  es, 

Und  Deines  Freunds     Haus  "  Liebeskranz     umschling'  es. 


122 


HEILSRECHNUNG 

Tungtaube  fern,     waldein wärts  fort    schwebet  sie; 

sie  fiel:  ihr  fehlt    wohl  Kraft  nun,  die    hebet  sie. 
Hinflog  sie  dort,    hinbog  sie  dort,    zog  sie  dort, 

um  ihren  Freund,     ein  Wirbelwind,     webet  sie. 
Und  rechnet  aus     eintausend  Jahr    als  Terrain, 

doch  jede  Zahl    bringt  tiefer  ins    Debet  sie. 
Der  Freund,  der  sie    nun  quält  schon  „acht!     acht  mal!"  Jahr 

länger,  ist  schuld,     daß  Grabs  Rand  nah     lebet  sie. 
Ausrief  sie:  „nicht    mehr  denk,  ich  den    Namen":  da 

ward  Flamme  er  —    herztiefentfacht    bebet  sie. 
Lebst  du,  ihr  Feind     zu  sein?  und  sie  -     lechzend  hin 

zu  deines  Heils     Spätregennaß     strebet  sie. 
Wie  fest  ihr  Herz!    nicht  wankts,  ob  sein    Name  sie 

stolz  hebt,  ob  um    ihn  tief  am  Staub    klebet  sie. 
In  Bälde  komm,     du  Gotteskraft,    schweige  nicht, 

und,  Wetter,  rings,     flammende,  um-    gebet  sie! 


123 


IM  HEILIGTUM 

TV/fein  Gott,  wie  lieblich  Deiner  Wohnung  Gaden! 

in  Schau  Dir  nah  sein,  nicht  auf  Gleichnispfaden! 
Es  brachte  mich  ein  Traum  in  Gottes  Weihstatt, 

ich  dürft  den  Blick  in  ihren  Werken  baden: 
Das  Brand-  samt  Speise-  und  samt  Trankgußopfer 

und  ringsumher  des  Rauches  dichte  Schwaden. 
Und  sehg  hört  das  Lied  ich  der  Leviten, 

in  ihrem  Kreis,  geschart  nach  Dienstes  Graden. 
Ich  wachte  auf,  und  noch  war  ich  bei  Dir,  Gott, 

und  dankte  Dir  '-  dir  danken,  o  der  Gnaden! 


124 


TEPPICHE  SALOMOS 

Ihr  Teppiche  Salomos 

in  Wüstenbewohners  Zelt, 
wie  ist  eure  Pracht  zermürbt 

und  euer  Gewirk  entstellt!" 
„„Hinging  die  gewaltge  Schar, 

die  zwischen  uns  heimisch  war, 
und  ließen  uns  wüst  und  bar  - 

wo  gäbs  dem  Verlust  Entgelt? 
Und  zog  das  geweihte  Gerät 

ins  Ausland  und  ward  gemein, 
wollt  Rosen  ihr  unentstellt, 

die  Distelgestrüpp  gesellt?"" 
„Die  jagt  jedermann,  nah,  fern, 

erfragt  nur  dem  eignen  Herrn, 
der  alle  beim  Namen  ruft 

-  fällt  keiner  aus  seiner  Welt  -', 
Aus  lenzlichem  Blütenglanz 

flecht'  Er  ihren  Erntekranz, 
daß  Leuchten  wie  Schöpfungslicht 

ihr  dunkles  Geleucht  erhellt." 


125 


NÄCHTLICHE  TRÄNE 

Terusalem,  weheklage, 

die  Träne,  Zion,  laß  fließen! 
Deiner  Söhne  Aug,  denkts  dein, 

kann  sein  Naß  nicht  verschließen. 
Hand,  vergiß  mich,  vergaß  ich 

Stadt  dich,  der  Psalmen  sprießen! 
Kleb,  Zung',  am  Gaumen,  ließ'  den 

Sinn  je  froh  ich  genießen! 


Hetzten  mich  meine  Sünden 

aus  meiner  Mutter  Lehre, 
Verlangt  nach  mir  Vaters  Strafe 

ob  meiner  Sünden  Schwere, 
Und  nahm  mein  Bruder  und  meiner 

Magd  Sohn  mir  Erstlings  Ehre,  - 
Könnt*  mit  all  dem  die  Seele 

vor  Gott  sich  flehend  ergießen! 


Und  gib  Schlägen  die  Wange, 

nicht  birg  dein  Antlitz  vor  Speien, 
Daß  nach  solchem  Kasteien 

Lasten  der  Schuld  leicht  seien. 
Und  leb,  wo  Schakale  schreien, 

mit  Straußen  in  Wüsteneien, 
Und  nachtgleichen  Herzens  wandle 

gehüllt  in  schwärzlich  Verdrießen. 


126 


Doch  sei  still  zu  ihm,  der  nicht 

ewig  vergißt  des  Armen, 
Der  nicht  gänzlich  vernichtet, 

nein  wendet  sich  zum  Erbarmen, 
Bis  daß  Israels  Tag  kommt, 

in  Zion  Heil  sie  umarmen, 
An  Seilen  der  Liebe  Er  dich 

zieht  aus  Elends  Verließen. 


Ach,  Gott,  zürne  nicht  zu  sehr, 

der  Schuld  woU  nicht  ewig  denken. 
Eifre  um  Zion!  woU  nicht 

dein  Restvolk  fürder  verschenken. 
Zum  Herzen  sprich  deinem  Erbe, 

nicht  tiefer  in  Gram  wolls  senken  - 
Und  früh  wird  Jubel  sein,  wo  des 

Nachts  die  Tränen  noch  schießen. 


127 


DIE  HOHE  STADT 

Täh  steigst,  prangst  entzücktem  Ball 

Du  Stadt,  des  Weltherrn  Thron. 
Nach  Dir  krankt  mein  Herz  hin  aus 
der  Erde  Westbastion. 
Heiß  wallt  mir  mein  Innres  auf, 

denk  ich  des  Einst,  wie's  war, 
der  Glorie,  im  Elend  nun, 

der  Wohnstatt,  nun  ein  Hohn. 
Und  flog  ich  auf  Fittichen 

des  Aars,  so  mischt'  ich  bald 
des  Augs  Naß  mit  Deinem  Staub, 
bis  bildsam  er  wie  Ton. 
Dich  such  ich,  auch  wenn  Dein  Herr 
Dir  ferne  ist  und,  wo 
dein  Balsamland  Gilead, 

nun  Viper  und  Skorpion. 
Ach  noch  Dein  Gestein  begehr 

zu  kosen,  küssen  ich, 
und  Schmack  Deiner  Scholle  war' 
mir  honigsüßer  Lohn. 


128 


ZWISCHEN  OST  UND  WEST 

Mein  Herz  im  Osten,  und  ich    selber  am  westlichsten  Rand. 

Wie  schmeckteTrank  mirundSpeis!    wie?  dran  Gefalln  jeich  fand? 

Weh,  wie  voUend  ich  Gelübd?    wie  meine  Weihung?  da  noch 

Zion  in  römischer  Haft,     ich  in  arabischem  Band. 

Spreu  meinem  Aug  alles  Gut    spanischen  Bodens,  indes 

Gold  meinem  Auge  der  Staub     drauf  einst  das  Heiligtum  stand ! 


129 


ANTWORT 

T^  ein  Wort  -'  es  ist  von  Myrrhenduft  durchdrungen, 

und  Myrrhngebirges  Felsen  abgerungen; 
Naeh  dein  und  deines  Vaterhauses  Werte 

kann  müde  nur  jedwedes  Lob  sich  langen. 
Du  nahtest  mir  mit  Worten,  mit  gefäll'gen, 

doch  drin  ein  Hinterhalt,  gewehrumhangen; 
Und  hinter  sanfter  Rede  Mienen  ^  Bienen, 

und  Dornen  unter  Honiganhäufungen. 
Wir  sollen  Salems  Seligkeit  nicht  suchen, 

weil  drin  heut  Blind-und-Lahme  sich  ergingen? 
So  müßten  wirs  um  unsres  Gottes  Tempel 

und  weil  die  Nächsten  hin,  die  Brüder  drängen. 
Ja  war  es  wie  ihr  sagt,  o  seht:  würd  Sünde, 

die  dorthin  knieend  sich  verneigt,  umfangen, 
Und  Sund'  die  Ahnen,  die  dort.  Fremde,  wohnten, 

Hausrecht  für  ihre  Toten  nur  empfingen. 
Und  wüstes  Tun  war  dann  die  Balsamierung 

der  Väter,  ihrer  Leichen  Heimsendungen. 
Und  sieh:  das  Land,  dem  ihre  Seufzer  klangen,  — 

doch  wars  in  schlechten  Volkes  Haft  gefangen. 
Um  nichts,  die  dort  sie  bauten,  die  Altäre!  * 

Umsonst,  daß  Opferdüfte  aufwärts  drangen! 
Der  Toten  soll  gedacht  sein  -  und  die  Lade, 

die  Tafeln  von  Vergessens  Nacht  verschlungen? 
Wir  suchen  Tods,  Gewürms  Ort  auf  --  den  Born  nicht, 

daraus  die  Wasser  ewgen  Lebens  sprangen? 
Winkt  Erbe  noch  uns  außer  Gottes  Weihtum  ? 

Erinnrung  dran  könnt  je  sich  uns  versprengen  ? 


130 


Winkt  uns  im  Morgen-  oder  Abendlande 

ein  Hoffnungsort  mit  Lebenssicherungen? 
Das  Land  allein,  das  voller  Tore,  welchen 

genüber  Himmelstore  aufgesprungen : 
Berg  Sinai,  der  Karmel,  Bethel  und  der 

Propheten  Häuser  sendungsruhmumklungen. 
Der  Gottesthrones-Priester  Throne  und  die 

der  Kön'ge  mit  des  Öls  Begnadigungen. 
Und  uns  verwahrt  er  es  und  unsern  Kindern, 

und  wenn  der  Wüste  Vögel  sich  drob  Schwüngen! 
Wards  so  nicht  auch  den  Vätern  einst  gegeben, 

ein  Feld,  das  Domen  nur  und  Disteln  düngen? 
Und  sie  durchwandeltens  die  Läng'  und  Breite, 

wie  wer  durchwandelt  eines  Gartens  Prangen, 
Und  waren  fremd,  Beisassen  nur,  Herberge 

und  Grab  erflehnd  in  Wunsches  höchsten  Sprüngen. 
So  wandelten  sie  dort  vor  Gottes  Antlitz, 

auf  Pfaden,  die  sich  zielwärts  stets  verjüngen. 
Auch  heißts,  daß  dort  die  Toten  auferstehen, 

aus  Grabeshüllen,  die  sie  dicht  umschlingen, 
Und  daß  die  Leiber  jubeln  dort,  die  Seelen 

dort  eingehn  in  der  Ruh  Beseligungen. 
O  sieh  doch,  sieh  mein  Guter  und  begreife, 

weich  aus  vor  Netz  und  Fallstrick,  die  rings  hängen. 
Und  nicht  verführe  dich  der  Griechen  Weisheit, 

die  nimmer  Frucht,  nur  Blüten  hat  empfangen. 
Und  ihre  Frucht:  die  Erde  nie  gegründet, 

nie  ausgespannt  des  Himmels  Zelt  Wölbungen; 


131 


Uranfang  keiner  Weltalls  Urgesetzen, 

Ziel  keins,  wenn  neu  und  neu  sich  Monde  schwangen. 
Hör  ihrer  Weisesten  verirrte  Worte, 

wo  Nacht  und  Chaos  die  Voraussetzungen  ^ 
Du  kehrst  zurück,  das  Herz  leer  und  verworren, 

den  Mund  voll  Wortkram  und  entlegnen  Dingen. 
Wärs  recht  drum,  wenn  ich  Seitenpfade  suchend, 

gewundne,  war  vom  Urpfad  abgegangen?? 


132 


DER  PILGER 

IVTach  Ihm  Sehnsucht,  dem  einzig  Todgefeiten, 

trieb  mich  zur  Thronstatt  meiner  Salbgeweihten, 
Bis  sie  mich  nicht  mehr  küssen  ließ  die  Kinder 

im  Haus  und  die  nach  ihnen  mir  die  Zweiten, 
Ich  nicht  bewein  den  Garten,  den  ich  pflanzte 

und  wässerte,  des  Sprossen  froh  sich  spreiten, 
Und  nicht  mehr  denke  Judas  und  Asarels, 

sie  meines  Beetes  blühndste  Kostbarkeiten, 
Und  meiner  Sonne  Frucht,  Wuchs  meiner  Monde, 

des  Isak,  der  mir  sohngleich  stand  zuseiten. 
Und  fast  vergaß  das  Bethaus  ich,  des  Lehrraum 

mir  offenstand  zu  Stunden,  drangbefreiten. 
Vergaß  die  Wonnen  meiner  Sabbat -Tage, 

Der  Feste  Pracht,  die  stolzen  Osterzeiten 
Und  gebe  meine  Ehren  fort  an  andre 

und  lasse  meinen  Ruhm  den  Ungeweihten. 
Strauchschatten  tausch  ich  ein  für  meine  Stuben, 

Dornhecken  für  der  Riegel  Sicherheiten, 
Und  meine  Seele,  satt  der  Wohlgerüche, 

schwelgt  im  Geruch  aus  wilden  Holzes  Scheiten, 
Und  ich  hör  auf,  zu  gehn  wo  Weg  und  Steg  ist, 

und  richte  meinen  Pfad  durch  Meeresweiten 
Zum  Schemel  hin  der  Füße  meines  Gottes, 

um  dort  den  Sinn,  die  Seele  hinzubreiten, 
Und  will  zu  seinem  heiigen  Berg,  durch  Tore, 

der  Wolkentoren  gegenüber,  schreiten 
Und  laß  im  Jordan  neu  blühn  meine  Narden, 

in  Flut  Siloas  meine  Blumen  gleiten. 


133 


Gott  ist  mit  mir  -  was  soll  mich  graun  und  ängsten, 
da  seiner  Gnade  Engel  mich  geleiten. 

Lob  bring  ich  Seinem  Namen,  weil  ich  lebe, 
und  Dank  in  Ewigkeit  der  Ewigkeiten. 


134 


LEICHT  WIEGT  DAS  ALLES 

T^ein  ist  dies  Herz,  mags  traun,  mag  Angst  es  pressen, 

dein  ist  mein  Knien,  mein  Danken  ungemessen. 
Dein  werd  ich  froh  sein,  dann,  unstet  und  flüchtig, 

dich  nennen,  wolln  mich  Flucht  und  Unrast  fressen. 
Spannt  über  dunkler  Flut  mein  Schiff  die  Flügel, 

wie  Storchenflügel  über  Waldzypressen, 
Tobt  unter  mir  die  Tiefe  dann  und  toset 

"  lernt  sies  von  meinem  Innern  oder  wessen?  " 
Und  läßt  die  Flut  wie  einen  Kessel  brodeln 

"  wie  heiß  Gebräue  wird  das  Meer  indessen  --, 
Kommt  Weststrands  Schiff  ins  Meer  dann  der  Philister, 

Hethitervolks,  auf  Seeraub  sehr  versessen. 
Und  höhnt  das  wilde  Flutgetier  des  Schiffleins 

und  Meeresdrachen,  hoffend  auf  ein  Fressen, 
Drängt  Not  dann  wie  bei  erstgebärndem  Weibe, 

^  die  Kinder  reif,  kraftlos  der  Wehen  Pressen: 
Dein  Name  sei  in  meinem  Mund  mir  Speise, 

um  die  ich  Trinken  gern  entbehr  und  Essen, 
Und  nicht  werd  sorgen  um  Gewinn,  Verlust  ich, 

und  nicht  um  Märkte  kümmern  mich  und  Messen, 
Verlassen  sie  sogar,  Sproß  meiner  Lenden, 

mir  Seelenschwester,  einzge  je  besessen. 
Vergessen  ihren  Sohn,  Pfeil  mir  im  Herzen, 

des  Bild  mich  füllt  statt  geistiger  Finessen, 
Frucht  meines  Leibes,  Kindlein  meiner  Wonnen  - 

Jehuda,  kann  Jehudas  er  vergessen? 
Leicht  wiegt  das  alles  gegen  deine  Liebe, 

werd  dankend  nahn  ich  deinen  Feueressen 


135 


Und  wohnen  dort  und  binden  dir  mein  Herz  auf 
den  Altar,  köstlicher  als  Tiereshessen, 

Und  werd  mein  Grab  in  deinem  Lande  haben, 
auf  daß  es  dort  mir  Zeugnis  sei  all  dessen. 


136 


DER  ZWANG 

Cchon  schwoll  mein  Herz     zum  Hause  der    hohen  Zeit, 
doch  graute  michs     noch  vor  der  Heim-     losigkeit. 

Da  schuf,  der  reich     an  Rat,  mir  Grund     heimlos  zu  sein; 
so  fand  für  Ihn     den  Sinn  ich  mir    wohlbereit. 

Drum  falle  ich    an  jeder  Rast    aufs  Angesicht, 

dank'  Ihm  den  Schritt,    jeglichen,  den    vor  ich  schreit. 


137 


BITTEN 

f^  Gott,  woll  nicht  zur  Ruh  die  Woge  wiegen 

und  nicht  befiehl  dem  Meergrund  zu  versiegen, 
Bis  ich  Dir  danke  Deine  Gnade,  danke 

der  Flut  ihr  Wallen  und  dem  West  sein  Fliegen. 
Sie  nähern  Deines  Liebesjoches  Ort  mich, 

nicht  mehr  muß  ich  arabschem  Joch  mich  schmiegen. 
Und  wie  ging*  in  Erfüllung  nicht  mein  Wünschen! 

dir  trau  ich  '-  Deine  Bürgschaft  ist  gediegen. 


138 


DIE  FLUT 

IT  am  neu  die  Flut,  drin  Land  und  Meer  versanken? 

Nicht  mehr  zu  sehn  der  festen  Erde  Schranken, 

Nicht  Mensch,  nicht  Tier,  nicht  Vogel  -  ist  denn  alles 

zu  Ende?  gings  dorthin,  wo  Schatten  schwanken? 
Und  sah  ich  Berg  und  Felsenfluh  -  o  Ruhe! 

nach  Steppdornranken  könnt  das  Herz  mir  kranken. 
Ich  späh  nach  allen  Seiten  -  keine  Seele. 

Nur  Wasser,  Himmel,  und  der  Arche  Planken. 
Und  Leviathan,  —  greisengrau  der  Abgrund, 

wenn  er  die  Tiefe  peitscht  mit  seinen  Flanken. 
Das  Herz  des  Meers  verhehlte  gern  das  Schifflein, 

als  war  es  Diebsgut  in  des  Meeres  Pranken. 
So  tobt  das  Meer.  Mein  Herze  jauchzt,  denn  bald  darfs 

im  Heiligtume  seines  Gottes  danken. 


139 


ZUM  HERZEN  GESAGT 

Tch  Sprech  im  Herz     der  Fluten  zum    Herzen, 

das  graust  und  bebt,     wenn  ihres  Lärms     Wut  gellt: 

Traust  du  auf  den     Gott,  der  die  Flut     machte, 
den  Namen,  drin     in  Ewigkeit    ruht  Welt, 

Dann  bebst  du  nicht,     ob  auch  die  Flut     sich  türmt, 
denn  bei  dir  ist,     wer  Grenzen  der    Flut  stellt. 


140 


STILLE  NACH  DEM  STURM 

Bruchstück 


Die  Nacht  dann!  Sonne  schied,  —  gestuft  die  Scharen 

der  Höh,  und  er,  Feldhauptmann  den  Genossen. 
Wie  eine  Mohrin  goldgewirkumhangen, 

wie  Purpur  von  Kristallen  rings  umschlossen. 
Und  Sterne,  durch  das  Herz  des  Meeres  irrnd  wie 

von  ihrem  Sitz  verwiesne  Himmelssprossen. 
Nach  ihrem  Bild  und  Gleichnis  hellen  sie  des 

Meers  Herz,  als  trieben  Feuerwerker  Possen. 
Des  Wassers  und  des  Himmels  Antlitz  "  meerweit 

und  nachttief  ruhn  sie,  klar,  wie  erzgegossen. 
Das  Meer  sieht  gleich  dem  Firmament:  die  beiden 

sind  nun  zwei  Meere,  die  ineinsgeflossen. 
Dazwischen  noch  ein  drittes  Meer:  mein  Herz,  wenn 

hoch  seiner  neuen  Sänge  Wogen  schössen. 


141 


AN  DEN  WEST 

"T^ein  Wind  ists,  West!     Sein  Flügelschlag     so  linde 

wie  Nardenruch     und  Apfelduft!     im  Spinde 
Des  Krämers  mit     Gewürzen  ist     dein  Ursprungsort, 

nicht  in  dem  Spind,     wo  aufbewahrt     die  Winde. 
Schwing,  Schwälblein,  dich,   künd  schwalbenfrei   mich,  Myrrhnsaft  gleicli 

schwalbflüchtgen  Dufts     entnommen  dem     Gebinde. 
Wie  krankt  nach  dir,     wer  immer  um     dich  rittlings  auf 

Meers  Rücken  und    Bretts  Rücken  sich    befinde! 
0  lasse  doch    nicht  deine  Hand    hier  von  dem  Schiff, 

ob  hell  der  Tag,     ob  nächtlich  er     erblinde. 
Seil'  Abgrunds  Kluft     du,  teil'  das  Herz     der  Meere,  eil', 

eh  ruhn  du  gehst,     zu  heiigem  Berg    geschwinde. 
Und  dräu  dem  Ost,     der  wühlt  im  Meer,     bis  es  dem  Topf 

gleicht,  den  aufs  Feu'r    des  Herds  stellt  das     Gesinde.  - 
Was  soll  man  tun,     an  ein  Geschöpf    gebunden,  das 

bald  greishaft  hockt,    bald  frei  spielt  gleich     dem  Kinde ! 
Doch  meines  Flehns     Geheimnis  steht    in  Höhn  bei  dem, 

der  bildete     Berghöhn  und  schuf    die  Winde. 


142 


IM  HAFEN 

Cchweig,  Meergebraus!  bis  nahbringt  Schiffskiels  Bug 

zum  Kuß  den  Jünger  Meisters  Augen  klug 
Und  Händen,  Meister  Ahrons,  dessen  Stab 

stets  schön  und  frisch  und  immer  neu  ausschlug. 
Er  lehrt  "  nie  sagt  er  seinem  Mund:  es  reicht! 

er  schenkt  -  nie  sagt  er  seiner  Hand:  genug! 
Heut  danke  ich  dem  Ost  sein  Flügelwehn, 

weil  morgen  ich  verwünsche  Westwinds  Flug. 
Wie  ließe  wer  den  Balsam  Gileads, 

in  dessen  Fleisch  grub  Schlangenzahnes  Pflug? 
Vertauschte  jemand  dichten  Laubes  Dach 

mit  Glut  und  Frost  und  Luftgespiegels  Lug? 
Des  Höchsten  Heim  mir  statt  Dachbalkenfug! 

mein  Dach  die  Stadt,  die  Seinen  Thronsitz  trug! 


143 


ÄGYPTISCHER  BODEN 

T^ie  Städte  sieh,  den  Sinn  tu  auf  den  Gauen, 

die  Israel  empfing  zu  Weideauen, 
Und  Ehre  zoll  Ägypten,  setz  den  Fuß  auf 

fein  sacht  und  schreite  nicht  in  Selbstvertrauen. 
Die  Straßen  hier  -  die  Gottheit  zog  drauf,  spähend 

nach  Pfosten,  die  vom  Blut  des  Bundes  tauen, 
Die  Feuersäule  und  die  Wolkensäulen, 

und  aller  Augen  hoffen  drauf  und  schauen. 
Hier  sind  gebrochen  Gottesbundes  Träger, 

des  ewgen  Volkes  Quadern  hier  behauen! 


144 


DER  STROM 

r^otf,  Deine  Wunder  durch  Geschlechter  wogen, 

aus  Vaters  Mund  zu  Söhnen,  unzerlogen. 
Der  Nil  hier  zeugts,  den  Du  in  Blut  gewandelt, 

-  kein  Werk,  von  Nekromanten,  Mystagogen, 
Dein  Name  nur  durch  Mose  und  durch  Ahron, 

der  Stab,  zuvor  zum  Schlangenleib  gebogen. 
So  hilf  dem  gläubgen  Knechte,  der,  zu  schauen 

die  Stätten  Deiner  Wunder,  kommt  gezogen. 


10  145 


HIN... 

/^  trag  hin  nach  Zoan  mich, 

zum  Schilfmeer,  zum  Horeb,  Flut, 
Dann  schweif  ich  nach  Silo  und 

wo  schuttief  dasWeihtum  ruht, 
Und  gehe  den  Zügen  nach 

der  Lade  des  Bunds,  bis  ich 
Geschmeckt  ihres  Grabes  Staub, 

der  linder  als  Honig  tut, 
Die  Wohnung  der  Wonnigen 

geschaut,  die  ihr  Nest  vergaß. 
Draus  Tauben  vertrieben  sind, 

nun  haust  drin  der  Raben  Brut. 


146 


VORGEFÜHL 

Xj^uer  Herz  -    will  es,  daß    mein  Wille    geschehe, 

laßt  mich,  daß     meinem  Herrn     ins  Antlitz     ich  sehe. 
Denn  nicht  find     Ruhe  ich     für  diese     zwei  Füße, 

bis,  wo  Er     haust,  ich  mir     Behausung     erstehe. 
Meinen  Schritt,     haltet  ihn     zurück  nicht     vom  Aufbruch, 

denn  mir  schwant,     daß  zuvor     mich  treffe     mein  Wehe. 
Mein  Gebet:     unterm  Glanz     der  Flügel     ein  Platz  und 

daß,  wo  mir    Väter  ruhn,     zur  Ruhe     ich  gehe! 


147 


AN  ZION 

'7ion!  nicht  fragst  Du  den  Deinen  nach,  die  Joch  tragen, 
Rest  Deiner  Herden,  die  doch  nach  Dir  allein  fragen? 
West,  Ost  und  Nordsturm  und  Süd, "  o  laß  von  ihnen  den  Gruß 

Dessen,  der  fern  ist  und  nah,  von  ringsher  Dir  sagen. 
Gruß  des,'^den  Sehnsucht  umstrickt,  des  Träne  wie  Hermons  Tau; 

O  sank'  auch  sie  doch  hinab  zu  Deinen  Berghagen. 
Wein  ich  dein  Leid,  Schakal  werd  ich;  träum  ich  Dich  fronbefreit. 

Bin  ich  die  Harfe,  zu  Deinen  Liedern  zu  schlagen. 
Nach  Machanajim,  nach  Bethel,  Pniel  hindrängt  mein  Herz, 

Und  wo  die  Deinen  noch  sonst  der  Gottesschau  pflagen. 
Hier  kam  der  Höchste  zu  Dir  herab;  und  der  Dich  erschuf. 

Brach  Deine  Tore  gemäß  den  Himmelstor-Lagen. 
Und  Gottes  Lichtglanz  umstrahlte  Dich,  —  wie  konnten  da  noch 

Sonne  und  Mond  und  der  Sterne  Lichter  Dir  tagen? 
Wie  könnt  die  Seel'  ich  da  auszugießen,  wo  Gottes  Geist 

Auf  Deine  Großen  sich  goß -« wie  könnt  ich  wohl  zagen. 
Königspalast  Du,  du  Gottesihron,  wie  dürfen  des  Knechts 

Enkel,  zu  sitzen  auf  Deiner  Herren  Thron,  wagen. 
O  trüge  dort  mich  der  Fuß,  wo  Deinen  Sendboten  Gott, 

Deinen  Propheten  er  Antwort  gab  auf  ihr  Fragen. 
O  hätt  ich  Flügel,  wie  wollt  ich,  mein  zerrissenes  Herz 

In  Deinen  Rissen  zu  bergen,  hin  zu  Dir  jagen. 
Aufs  Antlitz  sank  ich,  auf  Deinen  Boden,  und  Dein  Gestein 

Herzt  ich,  und  liebkoste  Deinen  Staub  mit  Wehklagen; 


148 


Und  stünde  dann  vor  der  Ahnen  Grüften  durchschüttert  ganz, 

In  Hebron  vor  Deinen  stolzesten  Sarkophagen, 
Durchstrich'  dein  Waldland,  die  Traubengärten,  und  stund  im  Süd 

Vor  Deinen  Randbergen,  neu  erschüttert  voll  Zagen, 
Hör  und  Abarim,  wo  sie,  Dein  großes  Doppelgestirn, 

Deine  zwei  Leuchter  und  Lehrer  einst  im  Tod  lagen. 
Leben  der  Seele  o  Deine  Luft!  Gewürzduft  vor  Myrrh'n 

Duftet  dein  Staub,  Honig  träuft  der  Welle  Anschlagen. 
Barfuß  und  bloß  durch  die  Trümmerwüsten  wandern,  die  einst 

Dein  Tempel  waren  ^  wo  gäbs  gleich  köstlich  Behagen. 
Dort  wo  gewohnt  Deine  Cherubim  im  innersten  Raum, 

Dort]wo  geruht,  der  entschwand,  des  Heiligtums  Schrägen. 
Ich  schere,  werfe  des  Haupts  Schmuck  hin;  mein  Fluch  meig  die  Zeit, 

Die  Hauptsgeweihte  in  unrein  Land  stieß,  anklagen. 
Wie  schmeckte  Speise  und  Trank  mir  wohl,  zur  Stund'  da  ich  seh 

Hundegezücht  Deine  Löwen  zerren  und  plagen. 
Oder  wie  war  meinen  Augen  noch  des  Tags  Leuchten  süß. 

Muß  sehn  ich  Raben  an  Deiner  Aare  Fleisch  nagen. 
Becher  der  Leiden,  o  laß!  ein  wenig  Ruh!  denn  schon  lang 

Ist  Deines  Gifts  schwer  mein  Herz,  voll  Galle  mein  Magen. 
Vom  Schaum  zur  Hefe  ausleer  ich  Dich,  wenn  Schomrons  ich  schau 

Und  Salems  Los  im  Gewand  prophetischer  Sagen. 
Zion,  du  Prachtreif,  von  Huld  und  Liebe  seit  je  umkragt, 

Sieh  Deine  Treuen  mit  Dir  wie  Wall  sich  umkragen. 


149 


Die  hell  mitjubeln  dein  Wohlergehn,  und  tragen  den  Gram 

Deiner  Verwüstung,  und  weinen  Deines  Ends  Plagen; 
Hinfalln  sie,  wo's  sei,  dorthin  gewandt,  wo  Dein  Tor  sich  hob, 

Und  fliehn  aus  Kerkern  zu  Dir  auf  Sehnsuchttraums  Wagen; 
Schar  Deiner  Herden,  vertriebne,  irrnd  von  Bergen  zu  Tal, 

Doch  nie  vergaß  sie  der  Zeit  in  Deinen  Verschlagen; 
Die  Deinen  Schleppsaum  erfassen,  die  sich  schwängen  wie  gern 

Auf  Deine  Palmbäume,  in  des  Astgezweigs  Tragen. 
Euphrat'  und  Nilland  "  wie  klein  vor  Dir  mit  all  ihrer  Pracht! 

Wind  ward  ihr  Wissen,  wenn  Dein  Recht,  Dein  Licht  weissagen. 
Wo  fand  dein  König,  dein  Seher,  wo  dein  Priester  und  wo 

Dein  Sänger,  wo  fand  er  rings  noch  Sippen,  noch  Magen? 
Wechsel  und  Wandel  umdroht  jedwedes  heidnische  Reich; 

Dein  Schatz  besteht.  Deine  Kronen  ewig-jung  ragen. 
Dich  gehrt  zurWohnstatt  er  selbst.  Dein  Gott  ^  und  selig  der  Mensch, 

Der  nah  ihm  ruhn  darf  auf  Deiner  Höfe  Steinlagen. 
Selig,  wer  harrt,  und  erlebts,  und  schaut,  wie  aufgeht  dein  Licht, 

Des  Strahlgeschosse  die  nächtgen  Schatten  durchschlagen. 
Deine  Erwählten  zu  schaun  im  Glück,  zu  jubeln  mit  Dir, 

Die  neu  du  jugendlich  prangst  wie  einst  in  Urtagen. 


IJO 


NACHWORT 


O  lieber  Leser,  lerne  Griechisch  und 
wirf  meine  Obersetzung  ins  Feuer. 

Friedrich  Leopold  v.  Stollberg, 
Iliasabersetzung,  Anmerkung  zu  VI,  484. 

JEHUDA  HALEVI  war  ein  großer  jüdischer  Dichter  in  hebräischer  Sprache. 
Die  vorstehende  kleine  Auswahl  sucht  dem  deutschen  Leser  davon  einen  Be- 
griff zu  geben.  Also  war  es  nicht  mein  Ziel,  dem  Leser  den  Glauben  beizubringen, 
Jchuda  Halevi  habe  in  deutscher  Sprache  gedichtet,  noch  auch,  er  habe  christ" 
liehe  Kirchenlieder  verfaßt,  noch,  er  sei  ein  Dichter  von  heute,  wenn  auch  nur 
ein  Familienblattdichter  von  heute  —  all  das  soviel  ich  sehe  die  Ziele  meiner  Über- 
Setzungsvorgänger,  insbesondere  des  neuesten.  Sondern  diese  Übersetzungen  wollen 
nichts  sein  als  Übersetzungen.  Sie  wollen  den  Leser  keinen  Augenblick  vergessen 
machen,  daß  er  nicht  Gedichte  von  mir,  sondern  von  Jehuda  Halevi  liest,  imd 
daß  Jehuda  Halevi  kein  deutscher  Dichter  und  kein  Zeitgenosse  ist.  Mit  einem 
Wort:  diese  Übersetzung  ist  keine  Nachdichtung,  und  wenn  sie  es  hier  und  da 
doch  ist,  so  nur  aus  Reimnot.  Grundsätzlich  war  meine  Absicht,  wörtlich  zu  über- 
setzen, und  bei  etwa  fünf  Sechsteln  der  vorliegenden  Verszeilen  mag  es  mir  ge- 
lungen sein.  Für  das  sechste  Sechstel,  wo  auch  ich,  wenn  auch  nur  in  vorsichtig- 
stem Umfang,  zum  „Nachdichten"  greifen  mußte,  bitte  ich  den  Leser  hier  in  aller 
Form  um  Verzeihung. 

Der  Begriff  des  Nachdichtens  ist  heute  als  Wertmaßstab  für  Übersetzungen  so 
allgemein  angenommen,  daß  er  einmal  eine  nähere  Beleuchtung  erfordert.  Wenn 
ein  großer  deutscher  Dichter  einen  fremden  nachdichten  zu  wollen  erklärt,  so 
werde  ich  mich  einer  leisen  Verwunderung  nicht  erwehren  können,  daß  er  nicht 
lieber  selber  etwas  dichtet.  Immerhin,  ein  Goethescher  Reinecke  Fuchs  nach  dem 
mittelniederdeutschen  Reineke  Vos  wird  mich  als  ein  Goethesches  Werk  zu  Respekt 
nötigen,  wenn  ich  auch  den  Verdacht  dabei  nicht  ganz  unterdrücken  kann,  es 
werde  ihm  also  damals  selber  nicht  viel  eingefallen  sein,  ^  was  mir  ja  dann  die 
Goethephilologen  bestätigen  werden.  Wenn  aber  Herr  Müller  oder  Herr  Schulze 
oder,  um  bei  der  Sache  zu  bleiben,  Herr  Cohn  nachzudichten  anfängt,  so  werden 
mich  die  Ergebnisse  ebensowenig  interessieren,  wie  die  eigenen  Gedichte  des 
Herrn  Müller,  Schulze  usw.  Wer  nicht  dichten  kann,  soll  auch  das  „Nachdichten" 
bleiben  lassen.  Es  wird  nicht  schöner. 

Der  Schutzpatron  der  heute  lebenden  Nachdichter,  jener  berühmte  Berliner  Pro- 
fessor, der  schon  bei  seinem  ersten  öffentlichen  Auftreten  die  Haupteigenschafien 

1^3 


eines  tüchtigen  Philologen:  „Takt"  und  Gefühl  für  das  Bedeutende  bewies,  indem 
er  den  größten  Denker,  den  (immerhin)  größten  Künstler  und  den  größten  Philo- 
logen seiner  Epoche  herausfand,  um  sich  an  ihnen  zu  vergreifen,  Wilamowitz,  hat 
als  Ziel  seiner  allgemein  beliebten  Übersetzungen  griechischer  Tragiker  ins  Garten- 
laubendeutsch es  ims  verraten:  er  wolle  Aischylos  dem  heutigen  Leser  verständ- 
licher machen,  als  er  dem  griechischen  Zeitgenossen  gewesen  seL  Ein  sehr  dankens- 
wertes Eingeständnis.  Auf  solches  „Verständlichermachen"  kommt  nämlich  in  der 
Tat  die  Arbeit  der  Herren  Nachdichter  heraus.  Sie  wollen  dem  unglücklichen 
Original  gar  zu  gern  ein  wenig  unter  die  Arme  greifen.  Poesie  ist  nun  einmal  nicht 
ganz  so  verständlich  wie  Prosa.  Offenbar  liegt  das  daran,  daß  der  Dichter  sich 
nicht  recht  auszudrücken  verstanden  hat,  so  wie  die  eigentümliche  Lebensfeme 
einer  ägyptischen  Skulptur  nur  daher  kommt,  daß  der  Künstler  es  noch  nicht  recht 
gekonnt  hat.^)  Nichts  leichter  und  nichts  dankbarer  als  hier  korrigierend  einzu- 
greifen imd  ein  bißchen  zu  ergänzen.  Daß  Dinge,  die  uns  fi-emdartig  sind,  es  xmter 
Umständen  aus  Stilgründen  sein  können,  will  dem  Nachdichter  nicht  in  den  Kopf, 
wie  ihm  überhaupt  der  Begriff  des  Stils  unsympathisch  ist.  Sein  Ehrgeiz  ist,  den 
Monumenten  der  Vergangenheit  und  der  Fremde  das  „Gewand  imsrer  Zeit"  an- 
zuziehn.  Ob  der  Apoll  von  Belvedere  aber  wirklich  durch  Cutaway  und  Steh- 
kragen wesentlich  gewinnen  würde? 

Die  Aufgabe  des  Übersetzens  ist  eben  ganz  mißverstanden,  wenn  sie  in  der  Ein- 
deutschung des  Fremden  gesehen  wird.  Eine  Eindeutschung  in  diesem  Sinne  ver- 
lange ich,  wenn  ich  als  Kaufmann  eine  Bestellung  aus  der  Türkei  erhalte  und  sie 
auf  das  Übersetzungsbüro  schicke.  Schon  bei  einem  Freundesbrief  eines  Türken 
würde  mir  aber  die  Büroübersetzimg  nicht  mehr  ausreichen.  Weshalb?  Weil  sie 
etwa  nicht  genau  genug  wäre?  Sie  wird  ebenso  genau  ausfallen,  wie  die  des  Ge- 
schäftsbriefs. Also  das  ist  es  nicht.  Deutsch  genug  wird  sie  werden.  Aber  nicht  — 
türkisch  genug.  Ich  werde  den  Menschen,  seinen  Ton,  seine  Meinung,  seinen  Herz- 
schlag nicht  hören.  Aber  ist  das  denn  möglich?  Wird  der  Sprache  nicht  mit  dieser 
Aufgabe,  den  fremden  Ton  in  seiner  Fremdheit  wiederzugeben,  also  nicht  das 
Fremde  einzudeutschen,  sondern  das  Deutsche  umzufremden,  etwas  Unmögliches 
abverlangt? 

Nicht  Unmögliches,  sondern  das  Notwendige,  und  das  nicht  bloß  beim  Über- 
setzen Notwendige.  Die  schöpferische  Leistung  des  Übersetzens  kann  nirgends  an- 
ders hegen  als  da,  wo  die  schöpferische  Leistung  des  Sprechens  selber  liegt.  Die  Ein- 
deutschimg  des  Fremden,  also,  um  den  legitimen  Fall  zu  nennen,  die  Büroüber- 

*)  Die  Gerechtigkeit  gebietet  es,  niclit  zu  verschweigen,  daß  die  bedeutendste  Autorität  auf 
dem  Gebiet  der  antilten  Geschichte,  Eduard  Meyer,  für  den  Zug  von  Schwermut,  der  über 
den  Pharaonengesichtern  aus  den  Jahrhunderten  des  mittleren  Reichs  liegt,  eine  andre  Er- 
klärung herausgefunden  hat:  schwere  Regierungssorgen.  So  zu  lesen  in  seiner  Geschichte  des 
Altertums. 


154 


setziuig  des  Geschäftsbriefs,  geschieht  in  das  Deutsch,  das  schon  da  ist.  Darauf 
beruht  ihre  Verständlichkeit,  und  darauf  beruht  die  „Beliebtheit",  die  nur  der  Neid 
den  obenerwähnten  Übersetzungen  von  Müller,  Schuke,  Cohn,  Wilamowitz  ab- 
streiten könnte.  Sie  übersetzen,  wie  ein  Mensch  redet,  der  ^  nichts  zu  sagen  hat. 
Da  er  nichts  zu  sagen  hat,  braucht  er  auch  der  Sprache  nichts  abzuverlangen, 
und  die  Sprache,  der  ihr  Sprecher  nichts  abverlangt,  erstarrt  zum  Mittel  der  Ver- 
ständigung, dem  jedes  Esperanto  die  Existenzberechtigung  nehmen  kemn.  Wer 
etwas  zu  sagen  hat,  wird  es  neu  sagen.  Er  wird  zum  Sprachschöpfer.  Die  Sprache 
hat,  nachdem  er  gesprochen  hat,  ein  andres  Gesicht  als  zuvor.  Der  Übersetzer  macht 
sich  zum  Sprachrohr  der  fremden  Stimme,  die  er  über  den  Abgrund  des  Raums 
oder  der  Zeit  vernehmlich  macht.  Wenn  die  fremde  Stimme  etwas  zu  sagen  hat, 
dann  muß  die  Sprache  nachher  anders  aussehn  als  vorher.  Dieser  Erfolg  ist  das 
Kriterium  für  die  pflichtgemäß  ausgeführte  Leistung  des  Übersetzers.  Es  ist  gar 
nicht  möglich,  daß  eine  Sprache,  in  die  Shakespeare  oder  Jesaja  oder  Dante  wirk- 
lich hincingesprochen  hat,  davon  imberührt  geblieben  wäre.  Sie  wird  eine  Er- 
neuerung erfahren,  genau  wie  wenn  ein  neuer  Sprecher  in  ihr  selbst  aufgestjuiden 
wäre.  Ja  mehr  noch.  Denn  der  fremde  Dichter  ruft  in  die  neue  Sprache  ja  nicht 
bloß  das,  was  er  selber  zu  sagen  hat,  hinein,  sondern  er  bringt  die  Erbschaft  des 
allgemeinen  Sprachgeists  seiner  Sprache  mit  zu  der  neuen,  so  daß  hier  nicht  bloß 
eine  Erneuerung  der  Sprache  durch  den  fremden  Menschen,  sondern  durch  den 
fremden  Sprachgeist  selber  geschieht. 

Daß  eine  solche  Erneuerung  einer  Sprache  durch  eine  fremde  überhaupt  möglich 
ist,  das  setzt  freilich  voraus,  daß,  wie  die  Sprache  jeden  ihrer  Sprecher  schon  selbst 
geboren  hat,  so  auch  alles  menschliche  Sprechen,  alle  fremden  Sprachen,  die  je 
gesprochen  sind  und  je  gesprochen  werden,  wenigstens  keimhaft  in  ihr  enthalten 
sind.  Und  das  ist  der  Fall.  Es  gibt  nur  Eine  Sprache.  Es  gibt  keine  Spracheigen- 
tümlichkeit der  einen,  die  sich  nicht,  xmd  sei  es  in  Mundarten,  Kinderstuben, 
Standeseigenheiten,  in  jeder  andern  mindestens  keimhaft  nachwcLsen  ließe.  Auf 
dieser  wesenhaften  Einheit  aller  Sprache  und  dem  darauf  beruhenden  Gebot  der 
allmenschlichen  Verständigung  ist  die  Möglichkeit  wie  die  Aufgabe  des  Übersetzens, 
ihr  Kann,  Darf  und  Soll,  begründet.  Man  kann  übersetzen,  weil  in  jeder  Sprache 
jede  andere  der  Möglichkeit  nach  enthalten  ist;  man  darf  übersetzen,  wenn  man 
diese  Möglichkeit  durch  Urbarmachung  solchen  sprachlichen  Brachlands  verwirk- 
lichen kann ;  und  man  soll  übersetzen,  damit  der  Tag  jener  Eintracht  der  Sprachen, 
die  nur  in  jeder  einzelnen,  nicht  in  dem  leeren  Raum  „zwischen"  ihnen  erwachsen 
kann,  komme. 

Ein  Beispiel  mag  das  erläutern.  Luther  konnte  die  Bibel  übersetzen,  weil  es  im 
Deutschen  möglich  ist,  Eigentümlichkeiten  des  Hebräischen  wie  auch  des  Hebrais- 
mus  des  neutestamentlichen  Griechisch  wiederzugeben,  etwa  die  neben-,  nicht 
unterordnende  Zusammenfügung  der  Sätze.  Wenn  er  hier  in  die  Sprache  seiner 

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eignen  Druckschriften  hätte  übersetzen  wollen,  die  ja  durchaus  den  humanistisch 
geschulten  Sprachbeherrscher  verraten,  so  wäre  ein  Kautzsch -Weizsäcker  oder 
etwas  noch  Schlimmeres  herausgekommen,  aber  nicht  die  Lutherbibel.  Er  aber 
hatte  den  Mut,  die  schon  damals  für  das  gebildete  deutsche  Sprachbewußtsein 
kyklopische  Satzbauart  des  Hebräischen  ins  Deutsche  einzuführen,  und  hat  auf 
diese  Weise  ein  das  damalige  Sprachbewußtsein  überdauerndes  Werk  geschaffen, 
'^  zu  dem  Bereich  des  damaligen  Deutsch  die  neue  Provinz  des  Bibeldeutsch  hin- 
zuerobert,  die  nun  ihre  eigne  Geschichte  innerhalb  der  deutschen  Sprachgeschichte 
haben  konnte  und  daher  nicht  ohne  weiteres  von  der  Fortentwicklung  des  Ge- 
semitkörpers  der  Sprache  widerstandslos  mitgespült  wurde,  sondern  in  diese  Ent- 
wicklung mithandelnd  eingriff  und  dadurch  in  ihrer  Eigenart  selber  erhalten  blieb. 
Und  Luther  durfte  übersetzen,  weil  er  zu  diesem  sprachlichen  Eroberungszug 
sowohl  den  nötigen  Mut  wie  die  nötige  Umsicht  besaß.  Sein  vielberufener  Kampf 
gegen  die  übersetzenden  „Esel"  und  ihre  schulmäßige  Wörtlichkeit  darf  nicht  so 
verstanden  werden,  als  ob  er  dagegen  eine  blinde  Willkür  angeraten  hätte.  Denn 
nicht  wahllose  Wörtlichkeit  führt  ja  zu  dem  Ziel,  das  hier  gemeint  ist  und  das 
Luther  erreicht  hat.  Nicht  das  Lexikon  darf  die  oberste  Instanz  für  den  Übersetzer 
sein.  Die  Sprache  besteht  nicht  aus  Wörtern,  sondern  aus  Worten.  Wörter  über- 
setzt der  Schüler  und  der  Schulmeister.  Wörter  stehen  im  Lexikon.  Worte  stehen 
nur  im  Satz.  „Stehen"  ist  da  eigentlich  schon  ein  falsches  Bild,  das  dem  wellen- 
haften Fließen  der  Worte  durch  das  Satzbett  nicht  gerecht  wird.  Die  Konturen, 
mit  denen  das  Wort  sich  in  den  Satz  einfügt  und  die  im  Lexikon,  das  seiner  Auf- 
gabe nach  verpflichtet  ist,  von  den  Konturen  zum  Schwerpimkt  oder  zu  den 
Schwerpunkten  des  Worts  vorzudringen,  nicht  gefunden  werden  können,  diese 
Konturen  und  gerade  sie  sind  es,  die  übersetzt  werden  wollen  und  müssen,  wie 
ja  das  eben  gegebene  Beispiel  der  ko-  und  subordinierenden  Satzkonstruktionen 
ein  solches  Konturenbeispiel,  nur  eben  für  den  Satz,  nicht  für  das  Wort,  ist.  Wie 
weit  dies  Aufsuchen  der  Konturen  in  die  Elemente  des  sprachlichen  Gebildes  vor- 
dringen kann,  ob  nur  bis  zu  den  Sätzen  oder  bis  zu  den  Worten  oder  selbst  bis 
zu  den  unterm  Wort  aufgrabbaren  Wortwurzeln,  das  kann  nur  von  Fall  zu  Fall  be- 
stimmt werden.  Immer  aber  handelt  es  sich  um  Konturen;  und  wenn  Luther  in 
seinem  berühmten  Beispiel  es  ablehnt,  das  Wort  des  englischen  Grußes  mit:  „Du 
voller  Gnaden"  zu  übersetzen,  so  hat  er  die  Kontur  des  Worts  mit  seiner  Über- 
setzung „holdselig"  getroffen,  ohne  deswegen  auf  die  im  griechischen  Wort  enthal- 
tene Wurzel  zu  verzichten,  die  ja  grade  „hold"  viel  besser  wiedergibt,  als  es  die 
Schullexikonsübersetzung  „Gnade"  tun  würde.  Daß  er  aber  auf  sein  im  Über- 
schwall der  Polemik  auftrumpfendes  „Du  liebe  Maria"  in  der  Übersetzung  selber 
doch  lieber  verzichtet  hat,  das  ist  nicht,  wie  die  Esel  von  heute  es  gerne  haben 
möchten,  eine  Feigheit  vor  seinen  eigenen  Konsequenzen,  sondern  ein  Beweis  für 
die  echte  Besonnenheit  seines  Übersetzens.  Mit  „Du  liebe  Maria"  hätte  er  die 

156 


Szene  zum  deutschen  Volkslied  gemacht  und  damit  grade  die  Spannung  zerstört, 
durch  die  sie  fähig  war,  Boden  für  das  Volkslied  zu  werden.  Nur  die  respektierte 
Distanz  macht  das  Überspringen  des  Grabens  möglich;  wer  ihn  zu  Anfang  aus- 
füllt, lähmt  die  Sprungkräfte  der  andern. 

Und  Luther  mußte  übersetzen,  weil  das  deutsche  Volk  jetzt  diesen  Zustrom 
fremden  Sprachgeists  brauchte.  Die  Bibel  ist  unter  allen  Büchern  das,  dessen  Be- 
Stimmung  es  ist,  übersetzt  zu  werden,  und  daher  auch  das  frühst  und  meist  über- 
setzte. Was  der  Sinn  alles  Übersetzens  ist,  das  Kommen  , jenes  Tags",  das  ist  für 
die  Bibel  mit  ihrem  in  aller  Literatur  einzigartigen  Miteinander  von  Erzählung, 
Forderung,  Verheißung  gradezu  der  Reif,  der  diese  Elemente  zusammenhält.  So 
ist  das  Eintreten  eines  Volks  in  die  Weltgeschichte  bezeichnet  durch  den  Augen- 
blick, wo  es  sich  die  Bibel  übersetzend  aneignet.  Dieser  Eintritt  fordert  stets  auch 
ein  Opfer  an  völkischer  Abgeschlossenheit,  ein  Opfer,  das  sich  spiegelt  in  der  mit 
einer  Bibelübersetzung  notwendig  verbundenen  Umschmelzung  der  nationalen 
Sprache.  Denn  während  andere  Übersetzimgen  inmier  nur  einen  Teil  des  Lebens 
berühren,  etwa  eine  Shakespeare-Übersetzung  nur  das  Theater,  greift  eine  Bibel- 
übersetzung in  alle  Sphären  des  Lebens  ein;  eine  „religiöse  Sphäre"  gibt  es  nicht. 
Der  Heliand  war  Folge  und  Symptom,  daß  das  deutsche  Volk  noch  nicht  welt- 
geschichtsreif  war;  keine  seiner  Leistxmgen  in  den  Jahrhunderten  des  Mittelalters 
ist  von  der  Welt  rezipiert  worden,  während  es  selbst  auf  allen  Gebieten  im  höch- 
sten Maß  rezipiert  hat.  Die  Reformation  ist  das  erste  deutsche  Ereignis,  das  in  die 
Welt  hinausgewirkt  hat  und  nicht  wieder  aus  ihr  geschwunden  ist.  Seitdem  ist  das 
deutsche  Schicksal  in  das  Weltschicksal  verwoben.  Luthers  Übersetzungstat  be- 
zeichnet diesen  Punkt.  Das  sogenannte  „religiöse  Genie"  ist  als  solches  {tllein  nie- 
mals eine  weltgeschichtliche  Persönlichkeit  ^  Meister  Eckhart  war  keine  — ,  es  ge- 
hört noch  eine  andre,  eine  weltliche  Seite  dazu.  Luthers  andre  Seite  war  der 
Übersetzer.  Diese  seine  „Weltlichkeit"  vollendete  ihn  zur  weltgeschichtlichen  Person. 

Doch  nun  zurück  zu  der  jüdischen  Dichtung  des  Mittelalters.  Das  Übersetzungs- 
problem ist  hier  zunächst  einmal  ganz  einfach  ein  äußeres  Formproblem.  Es  ist  in 
der  Geschichte  des  Übersetzens  beinahe  typisch,  daß  die  Erstkommenden  sich  vor 
der  poetischen  Form  des  Originals  scheuen.  Man  übersetzt  Homer  zunächst  in 
Blankversen,  Alexandrinern,  ottave  rime,  ehe  man  es  wagt,  moderne  Hexameter 
zu  bauen.  Daß  ein  deutscher  Hexameter  kein  griechischer  ist,  bleibt  dabei  wahr, 
auch  nach  Voß.  Aber  noch  weniger  ist  ein  deutscher  Alexandriner  ein  griechischer 
Hexameter,  und  so  kann  der  Übersetzer  auf  die  Dauer  der  Aufgabe  nicht  aas- 
weichen, ein  der  Form  des  Originals  möglichst  gleichwertiges  Gebilde  zu  erstellen. 
Er  wird  dabei  unter  Umständen  gezwungen  sein,  sich  noch  stärkere  formale  Bin- 
dungen aufzulegen,  als  die  Originalform  dem  Dichter  auferlegt  hat,  -'  wenn  näm- 
lich durch  solche  vermehrte  Bindungen  der  Übersetzimgssprache  der  Eindruck 
der  Originalform  in  engerer  Annäherung  erreicht  werden  kann.  Ein  Beispiel  ist  die 

157 


notwendige  Bevorzugung  von  einsilbigen  Wörtern  im  deutschen  Shakespeare,  die 
dem  Dichter  von  sprachwegen  natürlich  ist,  während  sie  der  Übersetzer  sich  be- 
wußt auferlegt 

Von  den  Übersetzern  J^uda  Halevis  hat  kein  einziger  bisher  dem  Metrum 
gegenüber  diese  Pflicht  grundsätzlich  anerkannt,  und  auch  dem  Reim  gegenüber 
nur  der  einzige  Heller,  der  auch  sonst  all  seine  Vorgänger  und  Nachfolger  um 
Haupteslänge  überragt  und  der  deshalb  von  der  communis  opinio  natürlich  als 
„ungenießbar"  bezeichnet  wird  (Heller,  Die  echten  hebräischen  Melodien,  Frank- 
fürt  a.  M.,  3.  Aufl.  1908).  Die  Scheu  vor  Nachahmung  der  Reimform  hat  den  ein- 
fachen Grund,  den  bei  näherem  Zusehn  überraschend  viele  menschlichen  Dinge 
haben,  nämlich  ^  Faulheit,  ganz  einfach  Faulheit,  Faulheit  sans  phrase.  Denn  mög- 
lich ist  die  Nachbildung  auch  der  kompliziertesten  Reimformen  im  Deutschen 
durchaus,  wie  Rückert  beweist.  Im  schlimmsten  Falle  verwende  man  doch  ruhig 
das  Reimlexikon;  man  braucht  es  ja,  wenn  man  durchaus  als  Nachdichter  figurieren 
will,  niemandem  zu  verraten;  ich,  der  ich  nur  Übersetzer  bin,  gestehe  hiermit  gern 
ein,  daß  ich  dem  Reimlexikon  des  Herrn  Steputat  manche  Erleichterung  verdanke, 
wenn  ihm  auch  die  schönsten  Reime  meistens  nicht  eingefallen  sind.  Wie  wichtig 
aber  die  Nachbildung  der  Reimform  ist,  das  geht  schon  daraus  hervor,  daß  in  den 
in  Frage  kommenden  Dichtungen  der  Reim  nicht  bloß  wie  in  den  modernen  For- 
men der  Mörtel  ist,  der  Stein  an  Stein  leimt,  sondern  fast  durchweg,  mindestens 
auch,  das  Baumaterial  selber,  dessen  einheitlicher  Ton  den  Gesamteindruck  der 
Fassade  bestimmt.  Man  denke  sich  einmal  einen  Baumeister,  der  >-  in  einer  Zeit, 
wo  solche  Aufträge  gegeben  wurden  ^  den  Palazzo  Pitti  in  jedem  Stockwerk  aus 
andersfarbigem  Haustein  nachgebaut  hätte.  So  ungefähr  muten  einen  vom  Original 
her  all  die  Nachbildungen  an,  die  den  entweder  streng  einheitlichen  Reim  oder, 
in  den  Strophengedichten,  die  Reimeinheit  der  Strophenschlüsse  rücksichtslos  zer- 
reißen. Was  bleibt  denn  von  der  Schönheit  dieser  „Gürtelgedichte",  bei  denen  die 
Reime  der  Einzelstrophen  durch  den  kostbaren  Verschluß  des  Rundreimsystems 
zusammengeschlossen  werden,  noch  übrig,  wenn  man  sie  in  deutsche  Liedstrophen 
zersplittert?  Dennoch  ist  das  mit  der  einzigen  Ausnahme  Heller  fast  stets  geschehen. 

Schwieriger  hegt  die  Frage  für  das  Metrum.  Hier  besteht  wirklich  eine  starke 
Fremdheit.  Zwar  ist  auch  der  Reim  nicht  ohne  weiteres  mit  dem  abendländischen 
Reim  gleichzusetzen,  der  ja  stets  vokaUsch  anlautet,  während  der  Reim  der  hier 
übersetzten  Gedichte  durchweg  schon  einen  Konsonanten  mit  in  das  Reimelement 
hineinzieht,  also  z.  B.  nicht  ajich,  sondern  rajich  oder  nicht  im,  sondern  bim  reimt. 
Das  ist  natürlich  nicht  nachzubilden.^)  Aber  die  Fremdheit  des  Metrums  geht  viel  tiefer. 

*)  Einen  Versuch  zur  Nachbildung  macht,  unter  Wahrung  der  Vorreimvoliale  des  Originals, 
die  Obersetzung  des  Gedichts  S.  130 ff.  Aber  es  ist  unvermeidlich,  daß  der  deutsche  Leser 
hier  nicht  so  sehr  die  Gleichheit  der  Endsilbe  empfindet,  als  vielmehr  die  vom  Standpunkt 
des  hebräischen  Reimgefflhls  zufälligen,  über  das  Gedicht  verstreuten  Reime  der  Vorreimsilben. 

158 


Man  pflegt  die  Metrik  der  spanischen  Hebraität  gewöhnlich  damit  zu  erledigen, 
daß  man  sie  als  eine  Nachahmung  der  arabischen  bezeichnet.  Das  ist  so  in  Kürze 
irreführend.  Die  Übernahme  der  arabischen  Metrik  ist  nicht  in  blinder  Nachahmung 
geschehen;  dcis  verbot  sich,  obwohl  es  an  sich  durchaus  mögÜch  gewesen  wäre, 
durch  die  bei  den  hebräischen  Philologen  der  Zeit  herrschende  Theorie  der  he- 
bräischen Silbe,  Aber  die  Eröf&ier  der  neuen  Dichtung  im  Hebräischen  ergriffen 
mit  kühnem  Griff  die  Eigentümlichkeit  des  Prosarhythmus  ihrer  Sprache,  die  sie 
vom  Arabischen  unterscheidet,  die  stmnmen  Silben,  die  ungefähr  klingen  wie  die 
Silbe  „Ge"  in  „Gewand"  oder  „Be"  in  „Bezug",  und  gaben  diesem  Laut  den  Wert 
jener  arabischen  Silbenart,  die  nach  der  Theorie  im  Hebräischen  fehlte.  So  ent- 
standen die  beiden  Elemente  der  hebräischen  Metrik,  eine  Art  Jambus  aus  Stumm- 
silbe und  Schwersilbe  und  eine  Schwersilbe,  die  zu  zwei,  drei  und  praktisch,  durch 
Aneinanderreihung  der  Versfüße,  auch  in  noch  größerer  Zahl  gehäuft  werden 
konnte.  Von  der  Prosabetonung  führte  nun  freilich  die  so  entstandene  Metrik  weit 
ab,  und  zwar  sowohl  von  der  sephardischen  der  Endungen  wie  von  der  aschke- 
nasischen  des  Stammes.  Und  hier  hegt  nun  die  Wurzel  der  Schwierigkeit  auch 
für  den  Übersetzer.  Denn  im  Deutschen  ist  seit  dem  siebzehnten  Jahrhundert  das 
Prinzip  aufgebracht  und  durch  die  klassische  Dichtung  von  1 800  imerschütterlich 
festgerammt,  daß  die  Prosabetonung  der  Worte  im  Vers  gewahrt  bleiben  müsse, 
ein  Prinzip,  das  erst  in  den  jüngsten  Jahrzehnten  durch  die  Georgesche  Schule 
mit  ihrer  Forderung  des  gleichschwebenden  Tons  eine  gewisse  Modifikation  zu 
erfahren  beginnt.  Die  Herrscheift  nun  dieses  Prinzips  ist  so  absolut,  daß  es  dem 
Heutigen  schwer  fällt,  auch  nur  die  Mögüclikeit  andrer  Prinzipien  für  die  Ver- 
gangenheit recht  zu  begreifen.  Daß  die  griechLsch-römische  Antike  ein  durchaus 
andres  Prinzip  hatte,  wird  mehr  als  Tatsache  füngenommen,  als  ästhetisch  nach- 
gefühlt Dabei  ist  die  Sache  gar  nicht  so  schwer  zu  erfassen.  Der  Moderne  braucht 
nur  an  die  musikalische  Deklamation  zu  denken,  in  der  ja  auch  er  eine  wortton- 
fremde  Betonung  sich  gefallen  läßt.  Der  Reiz  liegt  hier  —  und  lag  offenbar  auch 
beim  homerischen  Hexameter  -« in  der  stets  wechselnden  Spannung  zwischen  Prosei- 
ton  und  Verston,  die  sich  wechselseitig  fliehen  und  wiederfinden.  Jeder  homerische 
Hexameter  hat  so  sein  ihm  ganz  individuell  eigenes  Metrum,  —  ein  Reichtum,  von 
dem  die  Schulmetrik  sich  nichts  träumen  läßt  und  den,  nebenbei  gesagt,  in  der 
modernen  Vokalmusik  die  Wagnersche  Betonungsregel  mit  ihrer  einseitigen  Herr- 
schaft des  Rezitativstils  verschleudert. 

Von  hier  aus  ist  also  auch  die  sogenannte  „Unnatürlichkeit"  dieser  hebräischen 
Metrik  zu  verstehen.  Wer  sich  diese  Metrik  zu  Gefühl  bringen  will,  tut  gut,  die 
Verse  „georgesch"  zu  lesen,  also  mit  glcichschwebender  Betonung  aller  Vokalsilben, 
die  doch  den  —  in  diesem  Fall  natürlich  sephardischen  —  Wortton  nicht  ganz  ver- 
schwinden lassen  darf.  Die  Aufgabe  des  Übersetzers  aber  ist  mm,  im  Deutschen 
Verse  zu  bauen,  die  dem  Leser  eine  solche  schwebende  Betonung  aufzwingen, 

IJ9 


und  die  natürliche  Tendenz  der  deutschen  Sprache  zu  jambischen,  trochäischen, 
etwa  noch  daktylischen  und  allenfalls  anapästischen  Rhythmen  zu  überwinden,  die 
diesen  hebräischen  Versen  mit  ihren  Häufungen  von  SchwersUben  durchaus  nicht 
entgegenkommt.  Hier  liegt  ein  Fall  vor,  wie  ich  ihn  zuvor  meinte,  ein  Fall,  wo  der 
Übersetzer  durch  das  künstliche  Mittel  vermehrter  Bindungen  sich  bemühen  muß, 
in  der  Übersetzungssprache  einen  dem  Original  möglichst  ähnlichen  Eindruck  zu 
erreichen.  Es  bieten  sich  da  die  folgenden  Wege:  Künstliche  Hervorrufung  schwe- 
bender Betonung  durch  Zerstörung  der  jambischen  oder  trochäischen  Tendenz 
einer  Verszeile  in  der  nächsten,  starke  Verwendung  solcher  zweisilbigen  Worte,  die 
aus  gleich  wuchtigen  Silben  bestehen,  wie  „Miß  wachs",  „Lichtstrahl"  und  der- 
gleichen, sowie  auch  Häufung  von  gleichbetonten  Einsilbem  zu  eben  diesem  Zweck, 
endlich  die  künstüche  Einfühnmg  von  Zäsuren,  die  innerhalb  der  Verszeile  immer 
wieder  den  Rhythmus,  der  schon  sich  wieder  in  den  Trott  der  Jamben  oder  Tro- 
chäen zu  verschleudern  beginnt,  zurechtzurücken  gestatten.  Alle  diese  Mittel  ver- 
fangen jedoch  nur  bei  den  Gedichten  mit  strengem  Metrum;  bei  den  gerade  in 
der  Kidtpoesie  zahlreichen  Gedichten  in  freierem  Metrum,  das  nur  die  Schwer- 
silben zählt  und  regellos  Stummsilben  einzeln  zwischen  sie  streut  oder  auch  nicht 
streut,  bleibt  die  Aufgabe  einer  genauen  Nachbildung  des  Metrums  unlösbar.  Denn 
durch  kein  Mittel  wird  der  deutsche  Leser  sich  bei  gesprochener  Poesie  ^  bei 
nach  bekannter  Melodie  zu  singender  ist  es  anders  "  zwingen  lassen,  nur  eine 
Auswahl  der  die  Zeile  zusammensetzenden  Silben  für  rhythmisch  wesentlich  zu 
nehmen,  da  ein  solch  starker  Unterschied,  wie  er  im  Hebräischen  zwischen  Voll- 
silben und  Stummsilben  besteht,  im  Deutschen  mündlich  zwar  vorhanden,  aber 
metrisch  nicht  auswertbar  ist.  Hier  hilft  nur  der  Entschluß,  sich  im  Deutschen  auf 
die  Silbenzahl  zu  beschränken,  die  im  Hebräischen  gezählt  wird,  also  eine  Regu- 
lierung des  im  Hebräischen  viel  freier  dahinfließenden  Silbenstroms.  ^)  Die  einzige 
Stelle,  an  der  auch  im  Deutschen  die  Befreitheit  des  Metrums  nachgebildet  werden 
kann  (und  also,  nach  meinen  Prinzipien,  muß)  ist  der  Versanfang.  Doch  darf  die 
hier  vorgesetzte  Silbe  den  Charakter  eines  Vorschlags,  imd  zwar  eines  Vorschlags 
vor  einer  eher  noch  trochäischen  als  jambischen  Zeile,  nicht  verlieren.  Vom  Me- 
trum her  wird  übrigens  auch  das  Reimgeschlecht  für  die  Übersetzung  zu  bestimmen 
sein,  in  all  den  Fällen,  wo  das  Original  männlich  reimt,  aber  die  Zeile  mit  einer  graden 
Zahl  Schwersilben  schließt  und  infolgedessen  die  Übersetzung  weiblich  reimen  muß, 
was  übrigens  kein  Unglück  ist,  da  der  konsonantische  Reimanlaut  für  unser  Gefühl 
auch  die  männlichen  Reime  des  Originals  beinahe  wie  weibliche  erscheinen  läßt.  Im 
umgekehrten  Fall  ^  weil)licher  Reim  bei  ungradsilbigem  Versschluß  ^  läßt  sich  der 
weibliche  Reim  retten,  wenn  man  ihm  eine  schwerbetonte  Silbe  voranstellt. 

')  Ein  Beispiel  genauer  Nachbildung  des  Originalrhythmus  ist  in  dem  S.  248 ff.  der  Anmer- 
kungen mitgeteilten  Gedicht  gegeben.  Nur  vier  Silben  jeder  Zeile,  im  Deutschen  konstruiert 
als  Doppeljambus,  sind  rhythmisch  wesentlich,  die  andern  sind  Füllsel. 

160 


Die  Summe  all  dieser  Mittel  wird  sich  dann  zn  einem  Eindruck  addieren,  der 
wenigstens  in  der  Richtung  des  angestrebten  Ziels  einer  Einführung  der  fremden 
Rhythmik  ins  Deutsche  liegt.  Ein  dritter  Punkt,  der  zu  beachten  ist,  fällt  nicht  wie 
Reim  und  Metrum  ins  Formale,  sondern  ist  inhaltlicher  Natur.  Es  ist  das,  was  man 
mit  dem  Schlagwort  „Musivstil"  bezeichnet  und  was  man  für  ebenso  unnachbild- 
bar  hält  wie  Reim  und  Metrimi.  Worum  handelt  es  sich? 

Alle  jüdische  Dichtung  im  Exil  verschmäht  es,  dieses  ihr  Im-Exil'Sein  zu  igno- 
rieren. Das  würde  geschehen,  wenn  sie  jemals  wie  andre  Dichtung  die  Welt  un« 
mittelbar  aufnähme.  Denn  die  Welt,  die  sie  umgibt,  ist  Exil  und  soll  es  ihr  bleiben. 
Und  in  dem  Augenblick,  wo  sie  diese  Haltung  aufgäbe,  wo  sie  sich  dem  Einstrom 
dieser  Welt  öffnete,  würde  ihr  diese  Welt  heimisch,  hörte  auf,  Exil  zu  sein.  Diese 
Exilierung  der  Umwelt  aber  wird  geleistet  durch  die  ständige  Gegenwärtigkeit  des 
Schriftworts.  Mit  ihm  schiebt  sich  eine  andere  Gegenwart  vor  die  umgebende  und 
setzt  diese  zum  Schein,  genauer,  zum  Gleichnis  herab.  Also  nicht  etwa  das  Schrift- 
wort wird  gleichnisweise  zur  Illustration  des  gegenwärtigen  Lebens  herangezogen, 
sondern  gerade  umgekehrt  dienen  die  Ereignisse  zur  Erläuterung  des  Schriftworts, 
werden  zum  Gleichnis  für  dieses.  Das  Verhältnis  ist  also  genau  das  entgegen- 
gesetzte, wie  wir  es  uns  bei  dem  Wort  Musivstil  vorstellen.  Musivstil  ist  eine  Er- 
scheinung literarisch  unmündiger  Epochen.  Wenn  Einhard  Karl  den  Großen  mit 
Worten  aus  der  Suetonschen  Augustusbiographie  schildert,  so  will  er  ihn  im  Kostüm 
des  Augustus  zeigen,  ihn  von  Augustus  her  beleuchten,  nicht  umgekehrt.  Wenn 
ein  jüdischer  Dichter  Christenheit  und  Islam  mit  Edom  und  Ismael  bezeichnet,  so 
kommentiert  er  nicht  die  Gegenwart  aus  der  Schrift,  sondern  die  Schrift  aus  der 
Gegenwart.  Nicht  literarische  Unreife,  sondern  viel  eher  literarische  Überreife  liegt 
hier  zugnmde.  Man  ist  nicht  in  Verlegenheit  um  einen  eigenen  Stil,  sondern  man 
hat  seinen  Stil  so  eigen,  daß  man  gar  nicht  auf  die  Möglichkeit  kommt,  aus  ihm 
in  die  Stillosigkeit  herauszutreten.  Ein  solches  Verhältnis  zum  geschriebenen  Wort 
setzt  natürlich  voraus,  daß  dieses  Wort  nicht  bloß  formell,  sondern  auch  inhaltlich 
klassisch  ist,  ja  daß  die  Klassizität  des  Inhalts  und  der  Form  für  untrennbar  mit- 
einander verflochten  gelten.  Einen  entfernten  Vergleich  dafür  bietet  heute  die  Art, 
wie  die  europäischen  Völker  zitieren.  Wer  einmal  Engländer  Shakespeare  zitieren 
gehört  hat,  der  weiß,  wie  sehr  sie  ihn  auf  „schöne  Stellen"  hin  anführen.  Shake- 
speare im  Munde  eines  Engländers  zitiert,  gibt  durchaus  eine  „musivische"  Wir- 
kung. Man  zitiert  ihn  nämlich,  ohne  sich  ernstlich  mit  ihm  identisch  zu  fühlen.  Die 
Weltansicht  des  modernen  Engländers  stammt  aus  dem  Jahrhundert  Cromwells, 
nicht  aus  dem  Jahrhundert  Shakespeares.  Wenn  hingegen  der  gebildete  Deutsche 
Goethe  oder  Schiller  zitiert,  so  zitiert  er  mit  ihnen  zugleich  Kant,  Fichte,  Hegel, 
'"  mit  anderen  Worten:  er  glaubt  dem  Geist,  den  er  zitiert;  er  zitiert  ihn  nicht 
bloß  zur  gesellschaftlichen  Unterhaltung.  Soweit  man  von  einer  Überlegenheit  der 
Deutschen  über  die  westlichen  Völker  reden  kfmn,  ist  sie  in  diesem  historischen 

n  161 


Glücksfall  der  Verbindung  zwischen  den  letzten  Höhepunkten  seiner  formellen  und 
seiner  inhaltlichen  Kultur  begründet;  von  den  älteren  Völkern  hat  höchstens  der 
Italiener  mit  seinem  Dante,  von  den  jüngeren  vielleicht  der  Russe  mit  Dosto- 
jewski einen  ähnlich  gesicherten  Boden  unter  den  Füßen,  der  ihm  erlaubt,  für  das 
Höchste,  was  er  zu  sagen  hat,  das  schönste  Wort  zu  gebrauchen.  Diese  glückliche 
Einheit  nun  von  Sprechen  und  Denken  besitzt  in  stärkstem  Maße  und  in  ja  aller- 
dings teuer  erkaufter  Ausschließlichkeit  der  mittelalterliche  Jude.  Nicht  bloß  die 
höchsten  Gedanken  finden  bei  ihm  die  geprägte  Form,  sondern  jeder  Gedanke, 
der  überhaupt  sich  als  Gedanke  legitimieren  will,  sucht  diese  Form.  Das  Zitat  ist 
hier  ganz  imd  gar  nicht  ein  schmückendes  Anhängsel,  sondern  es  ist  der  Zettel 
für  den  Einschlag  der  Rede. 

Daraus  aber  ergibt  sich  wieder  eine  Aufgabe  für  den  Übersetzer.  Er  darf  nicht 
den  Anspielungsgehalt  der  Sprache  unterdrücken.  Diese  Aufgabe  hat  nicht  bloß 
für  unlösbar  gegolten,  sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  sie  es  wirklich. 
Denn  es  wäre  natürlich  keine  Lösung,  wollte  man  etwa  in  Anmerkungen  dem 
Leser  die  erforderliche  Bibelkenntnis  nachträglich  beibringen.  Für  den  hebräischen 
Leser  ist  die  Verbindung  mit  dem  Schriftwort  auch  keine  nachträgliche  Sache, 
sondern  eine  die  Lektüre  begleitende  Folge  von  momentanen  Stromschlüssen,  die 
eben  in  ihrer  nicht  aussetzenden  Folge  das  Fluoreszieren  des  Gelesenen  bewirken. 
Mit  diesem  Gleichnis  des  Problems  ist  nun  zugleich  auch  die  Möglichkeit  der  Lö- 
sung angedeutet.  Die  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Stromschlüsse  kann  im 
Deutschen  nicht  so  rasch  sein  wie  im  Hebräischen,  einfach,  weil  die  Zitierbarkeit 
der  deutschen  Bibel  geringer  ist  als  die  der  hebräischen.  Aber  immerhin,  es  be- 
steht auch  hier  eine  gewisse  Zitierbarkeit,  —  dank  der  Lutherbibel,  dank  einigen 
aus  der  Bibel  geschöpften  Kirchenliedern  und  dank  manchen  auch  dem  heutigen 
Menschen  noch  bekannten  biblischen  Inhalten.  Und  da  das  Bibelzitat  im  Deutschen 
ungewohnter  ist,  so  wirkt  es  vergleichsweise  soviel  wuchtiger,  daß  es  auch  in  spär- 
licherer Frequenz  noch  ein  gewisses  Fluoreszieren  erzeugt.  Also  hat  der  Über- 
setzer die  Aufgabe,  jedes  irgendwie  zu  Bewußtsein  zu  bringende  Bibelzitat  des 
Texts  auch  wirkhch  als  solches  herauszuarbeiten,  und  unter  Umständen  ein  dem 
heutigen  Menschen  fremdes  durch  ein  ihm  näheres  zu  ersetzen;  daß  er  damit  den 
zuvor  angeprangerten  Fehler  des  „Verständlichermachens"  begehe,  braucht  er 
nicht  zu  furchten;  dem  heutigen  Menschen  ist  es  knapp  so  bekannt,  daß  die 
Araber  sich  von  Ismael  herleiten  und  daß  Ismaels  Mutter  Hagar  hieß,  wie  den 
Lesern  oder  Hörern  des  Jehuda  Halevischen  Gedichts,  daß  Epher  ein  Sohn  der 
Ketura  war  und  daß  diese  von  der  Tradition  mit  Hagar  identifiziert  wird.  Übrigens 
aber  kommt  dem  heutigen  Leser  entgegen,  daß  gerade  die  dem  Gebildeten  heute 
noch  am  ehesten  bekannten  biblischen  Bücher,  wie  die  Psalmen,  der  Prophet 
Jesaja,  das  HoheUed,  auch  dem  hebräischen  Dichter  am  häufigsten  auf  die  Zunge 
kommen. 


162 


Einen  vierten  Punkt  habe  ich  in  der  ersten  Auflage  nicht  erwähnt,  weil  ich  ihn 
für  selbstverständlich  hielt.  Das  ist  er  aber,  wie  ich  inzwischen  gemerkt  habe, 
nicht.  So  spreche  ich  nun  also  auch  von  der  Wortwahl. 

Ks  ist  etwas  heikel  für  den  Übersetzer,  diesen  Punkt  zu  berühren.  Er  Ist  ja  noch 
mehr  als  der  richtige  Dichter  dem  Verdacht  ausgesetzt,  aus  seinen  technischen 
Nöten  poetische  Tugenden  zu  machen.  Insbesondere  der  Reim  ist  immer  suspekt, 
sich  aus  einem  gehorsamen  Diener  in  den  Herrn  des  poetischen  Gedankens  zu 
verwandeln.  Da  das  jeder  Diener  tut,  weil  es  die  in  der  Sache  selbst  liegende 
Wiedergubnachung  des  Dicnertums  ist,  so  kann  der  Dichter,  dem  ja  das  Wort  nur 
dazu  in  Dienst  gegeben  wird,  daß  es  über  ihn  Gewalt  kriege,  das  ruhig  zugeben. 
Anders  der  (-bersetzer.  Er  hat  nicht  das  Recht,  sich  von  dem  eigenen,  ihm  eigenen 
Wort  tragen  zu  lassen,  er  muß  dem  fremden  Wort  nachgehn.  Ihm  darf  nicht  Wort 
aus  Wort  entspringen,  er  muß  Wort  um  Wort,  wie  sie  ihm  gegeben  werden,  wieder* 
geben.  So  stellt  ihn  jedes  Wort  vor  die  Frage  der  Wiedergabe,  also  vor  eine  im 
weitesten  Sinn  wissenschaftliche  Frage.  Er,  und  nur  er,  der  Dichter  nicht,  wählt 
seine  Worte.  Er  muß  den  Ort  der  Worte  auf  dem  Gesichtsfeld  der  Sprache,  und 
dieser  besonderen  Sprache  dieses  Dichters,  kennen,  er  muß  zu  wissen  streben,  wie 
naher  oder  entlegener  Herkunft  dieses  Wort  dessen  Spur  er  folgt  ist,  ob  es  im 
Mittelpunkt  der  Sprache  oder  in  ihren  Randgebieten  zu  Hause  ist. 

Im  Hebräischen  der  spanischen  Dichter  ist  diese  Feststellung  an  sich  gar  nicht 
so  schwierig,  wegen  des  begrenzten,  nämlich  im  wesentlichen  rein  biblischen, 
Wortschatzes.  Mechanisches  Arbeiten  mit  Lexikon  und  Konkordanz  verbietet  sich 
zwar  auch  hier;  ein  Wort  etwa,  das  im  täglichen  Gebet  vorkommt,  ist  geläufig, 
auch  wenn  die  Konkordanz  es  als  hapax  Icgomenon  führt.  Nun  ist  aber  trotzdem, 
wie  ich  zwischen  der  ersten  imd  zweiten  Auflage  dieses  Buchs  festzustellen  Ge« 
legenheit  hatte,  das  Bewußtsein  dieser  Unterschiede  merkwürdig  wenig  verbreitet. 
Insbesondere  Jehuda  Halevi  steht  in  dem  Ruf  leichter  Anmut  und  sonderlicher 
Glätte.  Offenbar  meint  man,  da  man  selber  ziemlich  unterschiedslos  vom  Lexikon 
abhängig  ist,  Jehuda  Halevi  wäre  es  auch  gewesen.  Er  hat  aber  mehr  Hebräisch  ge- 
konnt, nicht  bloß  als  ich,  sondern  auch  —  in  aller  dem  Autor  geziemenden  Bescheiden- 
heit sei  es  gesagt  '-  als  meine  Kritiker.  Er  war  ein  vertrauter  Knecht  in  dem 
ganzen  weiten  Hause  der  heiligen  Sprache.  Und  hat  wohl  ein  Gefühl  dafür  ge- 
habt, ob  ein  Wort  zum  täglichen  Tischzeug  der  Sprache  gehört  oder  ob  es  nur  für 
seltene  Gelegenheiten  in  verschlossenem  Schrank  verwahrt  wird.  Daß  ihm  selber 
die  beiden  Schlüssel  sich  gleich  leicht  in  der  Hand  drehen,  bezeugt  seinen  treuen 
Schaffnerfleiß,  der  auch  das  seltener  gebrauchte  Schloß  nicht  einrosten  läßt,  sagt 
aber  nichts  gegen  die  Verschiedenheit  des  Geschirrs,  zu  dem  die  beiden  Schlüssel 
den  Zugriff  öffnen. 

Hier  hat  der  Übersetzer  nun  dem  Dichter  nachzugehn  und  wenn  nicht  Wort 
um  Wort,  wenigstens  Satz  um  Satz  den  Ungewöhnlichkeitsgehalt  des  Wortschatzes 

165 


in  seiner  Sprache,  so  gut  es  gehen  mag,  nachzubilden.  Selbst  auf  die  Gefahr  hin, 
daß  Leser,  deren  Kenntnis  der  deutschen  Sprachentwicklung  erst  bis  zum  Buch 
der  Lieder  vorgedrungen  ist  und  denen  also  die  Entdeckung  des  WestöstJichen 
Diwans  und  der  Hölderlinschen  Hymnen,  um  von  Neuerem  zu  schweigen,  noch 
bevorsteht,  sein  Deutsch  imverständlich  finden. 

Oder  steht  etwa  die  Dichtung  Jehuda  Halevis  selber  unter  Bedingungen,  die 
ihm  die  nachgerühmte  Glätte  ermöglichen,  und  seinem  Übersetzer  nicht?  Das  aller- 
dings ist  die  Belehrung,  die  ihm  diese  Kenner  des  Hebräischen  und  Nichtkenner 
des  Deutschen  mit  seltener  Einstimmigkeit  erteilen.  Die  Reimnot,  welche  den  Über- 
setzer zu  seinen  seltsamen  Wortgebilden  genötigt  habe  —  die  allerdings  merkwür- 
digerweise ebenso  auch  mitten  im  Vers  und  sogar  in  seinen,  des  Übersetzers,  gänz- 
lich ungereimten  Prosaschriillen  zu  finden  sind  ^,  habe  fiir  Jehuda  Halevi  nicht 
bestanden.  Er  habe  unbedenklich  Reim  an  Reim  in  anmutigem  Flusse  reihen 
können  und  es  so  nicht  nötig  gehabt,  ins  Erhabene  auszuarten.  Als  Begiündung 
für  diese  Ansicht  wird  dann  einstimmig  angeführt  die  Sage  vom  Suffixreim. 

Suffixreime  sind  Endungsreime,  wie  im  Deutschen  etwa  der  Reim  von  jubilieren 
mit  allen  andern  Zeitworten  auf  ieren.  Wirklich  sind  sie  im  Hebräischen  leichter 
möglich  als  im  Deutschen.  Grade  deshalb  scheuen  sich  die  anständigen  Dichter 
vor  ihnen  und  gebrauchen  sie  nur  so,  wie  schließlich  ja  auch  Goethe  bisweilen 
Liebe  auf  Triebe,  Sonne  auf  Wonne  reimt.  Es  ist  aber  unter  den  Kennern  die  Sage 
verbreitet,  die  spanisch-hebräischen  Dichter  machten  von  dieser  bequemen  Mög- 
lichkeit verschwenderischsten  Gebrauch  und  reimten  ihre  langen  einreimigen  Ge- 
dichte so  vergnügt  durch,  wie  etwa  ein  deutscher  Philosophieprofessor  eine  ganze 
Kollegstunde  mit  lauter  Reimen  auf  ismus  mühelos  bestreitet.  Diese  Sage  "  Sage 
bez.  der  spanisch-jüdischen  Dichter,  nicht  bez.  des  Philosophieprofessors  —  hat  me 
jede  Sage,  die  etwas  auf  sich  hält,  nun  aber  eine  reale  Grundlage,  und  meine 
Forschungen  danach  sind  denn  auch  von  Erfolg  gekrönt  worden.  In  der  Wiener 
Morgenzeitung  belehrt  mich  der  Kenner  folgendermaßen:  „Wenn  zum  Beispiel 
Jehuda  Halevi  in  seiner  Zionide  mehr  als  sechzigmal  den  Reim  >ajichr  (die  En- 
dung, die  >Deinr  bedeutet)  verwendet,  so  ist  es  sicherlich  eine  schwierigere  Bindung, 
wenn  der  Übersetzer  im  Deutschen  60  Reimworte  auf  > Fragen»-  finden  muß.  Im 
Hebräischen  reimt  oft  ein  Suffix,  das  wechselnden  Worten  gemeinsam  ist,  im 
Deutschen  das  Wort  selbst"  Das  ist  nun  ungefähr  so,  als  wenn  ein  Franzose  be- 
haupten würde,  die  Übersetzung  der  Zionide  in  diesem  Buch  reime  auf  die  En- 
dung en.  Der  Kenner  hat  nicht  erkannt,  daß  der  Reim  rajich  heißt,  also  aus  einem 
Wortelement  und  einer  Endung  zusammengesetzt  ist  genau  wie  der  deutsche  Reim 
auf  agen.  Er  kennt  eben  offenbar  das  unterscheidende  Merkmal  dieser  ganzen 
Reimtechnik  gegenüber  der  unsern  nicht,  obwohl  es  zum  Überfluß  auf  Seite  112 
des  Nachworts  (S.  158  in  dieser  Aufl.)  ihm  vorgestellt  worden  ist:  den  stets  kon- 
sonantischen Reimanlaut.  Das  klingt  unwahrscheinlich.   Wer  aber  die  gradezu 

164 


märchenhafte  Unwissenheit  kennt,  die  unter  uns  in  allen  mehr  wissenschaftlichen 
als  routinemäßigen  Dingen  herrscht  und  die  den  Ruhm  eines  Kenners  einerseits 
sehr  schwer  (nämlich  in  allem  was  nur  durch  Routine  zu  erwerben  ist)  erreichbar 
macht,  andererseits  aber  unverhältnismäßig  leicht  (nämlich  in  allem  was  mit  ein 
bißchen  Verstand  und  wissenschaftlichem  Sinn  erworben  werden  kann),  wird  sich 
nicht  weiter  darüber  wundern.  Ich  fragte  vor  Jahren  einmal  einen  Freund  nach 
dem  Metrum  der  Zionide,  die  er  von  Kindheit  an  alle  Jahre  am  9.  Ab  zu  sagen 
gewohnt  war;  er  antwortete,  er  habe  oft  schon  danach  gesucht,  aber  es  sei  keines 
vorhanden,  es  seien  freie  Rhythmen! 

Grade  an  der  Zionide  läßt  sich  aber  sehen,  wie  es  auch  im  Hebräischen  durch- 
aus kein  Kinderspiel  ist,  35  (immerhin  nicht  60)  Reime  zu  finden,  worauf  ja  übrigens 
das  sehr  frühe  Auftreten  von  Reimlexiken  schon  mit  Sicherheit  schließen  läßt.  Denn 
zu  der  Forderung  des  Wortendes  auf  r  tritt  noch  die  Bindung  des  Metrums,  die 
nur  gewisse  Gruppen  der  Worte,  die  der  Reimfordenmg  entsprechen,  zuläßt.  Tat- 
sächlich kommt  denn  auch  ^  im  sechsten  und  sechsundzwanzigsten  Zweizeiler  ^ 
zweimal  das  gleiche  Reimwort  in  der  gleichen  Bedeutung  vor.  Also  ist  das 
Reimen  auch,  oder  vielmehr  gerade,  damals  schon  so  schwierig  gewesen,  wie  die 
Gläubigen  der  Mythe  vom  Suffixreim  meinen,  daß  es  heute  ist,  -'  und  also  auch 
das  Dichten.  Und  unter  den  fünfunddreißig  Reimworten  der  Zionide  sind  zwei, 
die  in  der  ganzen  Bibel  nur  einmal,  und  weitere  zwei,  die  nur  zwei-  und  dreimal 
vorkommen.  Und  andrerseits  müssen  etwa  in  dem  Hymnus  Dein  Gott  (S.  35  ff.)  die 
Reimmöglichkeiten  des  nun  einmal  das  Ganze  inhaldich  und  formal  aus  sich  her- 
vortreibenden Worts  dieser  Überschrift  im  Original  nicht  weniger  ausgekauft  werden 
als  in  der  dem  Original  nachgehenden  Übersetzung,  —  weil  sich  der  Dichter  eben 
nicht  den  hier  möglichen  Suffixreim  gestattet  hat,  sondern  ungeachtet  der  Schwierig- 
keiten ehrlich  den  Stamm  mitreimen  läßt.  Also  mit  der  anmutigen  Glätte  dieses 
Dichters  und  mit  seiner  unabwegigen  Wortwedil  ist  es  nichts  —  wenigstens  soweit 
er  selbst  in  Betracht  kommt;  für  das,  was  seine  Übersetzer  aus  ihm  gemacht  haben, 
mögen  die  genannten  Kriterien  ja  wohl  zutreffen. 

Die  vorstehende  Auswahl  war  ursprünglich  eine  reine  Zufallsauswahl.  Ich  könnte, 
bei  jedem  einzelnen  der  zuerst  übersetzten  Gedichte  Rechenschaft  davon  geben 
wie  ich  zur  Übersetzung  gekommen  bin,  doch  es  wären  nur  persönliche  imd  zum 
Teil  wirklich  zufällige  Gründe.  Kein  Zufall  ist  es,  daß  die  weltliche  Dichtung,  die 
im  Gesamtwerk  des  Dichters  einen  ziemlichen  Raum  einnimmt  (wenn  auch  lange 
nicht  den,  welchen  ihr  die  üblichen  deutschen  Auswahlen  einzuräumen  beflissen 
sind),  bei  mir  fehlt.  Es  war  nicht  gerade  die  Scheu,  die  S.  D.  Luzzatto,  der  große 
und  echte  Philologe  unter  denen,  die  sich  mit  Jehuda  Halevi  beschäftigt  haben, 
für  seine  Auswahl  des  Diwans  angibt:  er  habe  das  Heilige  nicht  mit  dem  Pro- 
fanen vermengen  wollen;  sondern  es  ist  auch  hier  ein  persönlicher  Grund.  Es 

165 


kommt  im  Übersetzen  immer  irgendwami  ein  Augenblick,  wo  die  Scheidewand 
zwischen  Gedicht  und  Übersetzung,  und  sei  es  nur  für  einen  Augenblick,  fällt.  Um 
dieses  Augenblicks  willen  üliersetzt  man,  wenn  meui  es  auch  selber  nicht  weiß;  aber 
dieser  Augenblick  ist  auch  die  Schranke,  die  einen  in  der  Auswahl  beschränkt. 

Das  Zufällige  der  Auswahl  verlor  sich  dann  im  Laufe  der  Arbeit.  Ich  begann 
darauf  zu  achten,  daß  die  übersetzten  Gedichte  sich  inhaltlich  und  formal  mög- 
lichst zu  einem  Gesamtbild  des  Dichters  ergänzen  möchten.  In  einem  gewissen  Sta- 
dium der  Arbeit  war  das  so  ziemlich  erreicht.  Aber  dieses  Stadium  war,  kaum 
erreicht,  schon  wieder  überschritten.  Und  der  Zustand,  der  jetzt  kam,  war,  obwohl 
ästhetisch  weniger  erfreulich  £ils  der  vorher  schon  erreichte,  doch  der,  wenn  das 
Wort  erlaubt  ist,  getreuere.  Denn  eben  die  Wiederholungen,  die  nun  eintraten,  ge- 
hören zum  Bild. 

Es  ist  ja  nicht  so,  daß  sich  grade  ganze  Gedichtteile  wiederholen  -'  wofür  doch 
die  Weltliteratur  auch  Beispiele  bietet '-,  sondern  was  sich  wiederholt,  sind  viel- 
mehr die  Gedanken  und  Bilder.  Nicht  bloß  im  einzelnen,  sondern  grade  die  Ge- 
dichtganzen erscheinen  vielfach  als  Abwandlungen  von  festen  Typen.  Und  da  das 
wirklich  so  ist,  so  würde  dieser  Sammlung  etwas  fehlen,  wenn  sie  dem  Leser  kein 
Bild  hiervon  gäbe. 

Es  wäre  nun  aber  ganz  verfehlt,  wenn  dies  versucht  würde  durch  gruppen- 
weise Nebeneinanderstellung  der  gleichen  Typen,  der  Meoroth,  Ahaboth,  Geulotli 
und  wie  .sie  noch  heißen.  Dieses  Museumsverfahren  gäbe  gerade  die  allerverkehr- 
teste  Vorstellung.  Woher  kommt  denn  das  Typische  lüer?  Diese  Gedichte  sind 
natürlich  ursprünglich  nicht  zum  Gelesenwerden  bestimmt,  sondern,  wie  in  allen 
Zeiten,  wo  die  Dichtung,  oder  ein  Teil  der  Dichtung,  Volkssache  war,  zum  Vor- 
getragen- und  Gehört  werden.  Goethes  ohnmächtiger  Wunsch:  „Nur  nicht  lesen, 
immer  singen!"  -'  olmmächtig,  denn  noch  in  seiner  Zeit  begann  durch  Schubert 
die  Musik,  die  bei  Goethes  Hauskomponisten  noch  anspruchslos  der  Dichtung  ge- 
dient hatte,  sich,  grade  unter  dem  Vorgeben,  ihr  getreu  zu  folgen,  der  Herrschaft 
über  sie  zu  bemächtigen  '->  jener  damals  schon  machtlose  Wunsch  wird  in  solchen 
Zeiten  oder  in  Menschenkreisen,  für  die  dasselbe  gilt  wie  für  jene  bezeichneten 
Zeiten,  mit  Selbstverständlichkeit  erfüllt.  Es  kommt  dabei  auf  das  Vorhandensein 
des  Kreises,  des  „Volks",  viel  mehr  an,  als  auf  die  „Zeit".  Zu  dem  üblichen  schein- 
heiligen, in  Wahrheit  nur  trägen,  Traurigtun  über  die  „sinnlose"  oder  gar  „gott- 
feme"  Gegenwart  ist  gar  kein  Anlaß;  wo  Dichtung  für  einen  bestimmten  Menschen- 
kreis gedichtet  und  von  ihm,  von  seinen  Kehlen  natürlich,  nicht  etwa  nur  im 
Geiste,  aufgenommen  ist,  da  ist  die  „Zeit"  da.  Also  zum  Beispiel  in  der  bösen 
Jetztzeit  in  jedem  Heer  und  in  jeder  protestantischen  Kirchengemeinde,  imd  im 
schönen  Mittelalter  für  Walter  von  der  Vogelweide  zum  Beispiel  nicht. 

Jehuda  Halevis  und  seiner  Genossen  Dichtungen  also  sind,  großenteils  wenigstens, 
solche  Zweckkunst;  und  selbst  soweit  sie  es  nicht  sind,  werden  sie  sprachlich  und 

166 


formal  (sogar  auch  die  ausgesprochen  welüichen)  von  den  Gesetzen  jener  Kunst- 
form  bestimmt.  Der  Gebrauchszweck,  aber  ist  in  diesem  Fall  Vortrag  durch  den 
Vorsänger  und  Mitgesang  der  Gemeinde  an  bestimmten  Punkten  des  synagogalen 
Jahres.  Der  Fluß  der  all*  und  altbekannten  Worte  soll  von  ihnen  unterbrochen  sich 
zu  Seen  stauen,  die  dem  Blick  ungewohnte  Uferlandschaften  zeigen.  Im  Wieder- 
kehrenden sind  sie  das  Wechselnde,  aber  weil  in  ihrem  Wechsel  doch  an  Wieder- 
kehrendes gebunden,  darum  mit  Notwendigkeit  zu  einer  gewissen  Gleichartigkeit 
gedrängt.  Das  fällt  nicht  auf,  solange  sie  in  ihrem  natürlichen  Gebrauchszusammen- 
hang stehen;  die  verschiedenen  Gedichte  waren  ja  dann  diu-ch  ein  volles,  wirk- 
Uch  ein  volles,  von  Ereignissen  des  synagogalen  Lebens  volles  Jahr  getrennt. 
Wiederholungen  wurden  da  nicht  als  solche  emphmden,  oder  sofern  sie  empfun- 
den werden,  ist  es  ganz  in  der  Ordnung.  Denn  eben  diese  Wiederkehr  im  Jahr  ist 
ja  das  Wesen  des  Fests.  Wie  letzthin  überhaupt  die  Wiederholung  die  große  und 
einzige  Form  ist,  die  der  Mensch  zum  Aussprechen  seines  ganz  Wahren  hat.  Man 
kann  sich  etwa  in  diesen  Gedichten  an  den  immer  erneuten  Worten  der  Demut 
und  Hingabe,  der  Not  und  Erlösungszuversicht,  der  Weltscheu  und  Gottessehn- 
sucht, der  Sündenreue  und  des  Gnadenvertrauens  stoßen,  —  man  kanns,  aber  man 
schafft  damit  die  Tatsache  nicht  aus  der  Welt,  daß  eben  das  Herz  des  Dichters 
und  die  Herzen  derer,  für  die  er  gedichtet  hat,  von  diesen  Empfindungen  voll  sind 
und  für  sie  nach  Ausdruck  verlangen.  Die  Lüge  hat  viele  Möglichkeiten,  die 
Wahrheit  nur  wenige,  im  Grunde  immer  nur  eine.  Daß  sie  nicht  müde  wird,  dies 
immer  Eine  immer  wieder  neu  zu  sagen,  darin  bezeugt  sich  ihre  währende  Kraft. 
Im  Munde  des  Liebenden  wird  das  Wort  der  Liebe  nicht  alt,  das  aus  dem  Munde, 
der  die  Liebe  heuchelt,  schon  welkt,  wenn  es  das  erste  Mal  gesprochen  wird. 

Aber  das  praktische  Problem,  wie  man  sich  als  Herausgeber  und  Leser  einer 
Sammlung  verhalten  soll,  ist  damit  nicht  gelöst.  Man  könnte  sagen:  wie  Jehuda 
Halevi  selber,  nämlich  gar  nicht.  Er  hat  nämlich  seinen  „Diwan"  nicht  gesammelt 
Erst  nach  seinem  Tode  ist  es,  dann  aber  bald  mehrmals,  geschehen.  Praktisch 
hieße  das  für  unsre  Zeit,  daß  die  befugte  Stelle,  also  die  Synagoge,  und  zwar 
gerade  die  „Reform"- Synagoge  Mittel- und  Westeuropas  und  Amerikas,  sich  weit 
mehr  als  schon  bisher  auf  diese  Dichtungen  besänne.  Welche  Gelegenheit  für  die 
Vorsänger  und  die  komponierlustigen  Dirigenten  der  örtüchen  Synagogenchöre! 
Welche  Gelegenheit  aber  vor  allem  auch  für  die  Rabbiner!  Sie  könnten  sich  hier, 
indem  sie  ihrer  Predigt  die  schlichte  Interpretation  des  Gedichts  vom  Tage  zu- 
grunde legten,  zurückfinden  zum  einzigen  genuin  jüdischen  Predigtstil,  zum  lehr- 
haften, aus  dem  das  Mahnende  imd  Aufhifende  sich  ungesucht,  gelegentUch  im 
besten  Sinne,  ergäbe. 

Aber  das  eben  Ausgesponnene  gilt  ja  nur  für  die  Originale.  Für  das  Verhalten 
des  Übersetzers  ist  damit  noch  nichts  gewonnen.  Wie  konnte  ich  den  Leser  dieser 
Übersetzungssaramlung  verhindern,  sich  als  Leser  zu  benehmen,  mit  andern  Worten, 

167 


wie  konnte  ich  ihn  dazu  bringen,  die  Gedichte  nicht  wie  Kirschen,  sondern  wie 
Pfirsiche  zu  verspeisen,  also  nicht  das  nächste  schon  anzufangen,  wenn  er  noch 
das  vorige  kaum  herunter  hätte ,  sondern  jedes  hübsch  einzeln  und  mit  Bedacht 
und  mit  der  Vorstellung:  so  bald  gibts  nun  vielleicht  keins  wieder. 

Diesem  Zweck  sollen  die  Anmerkungen  dienen.  Natürlich  nicht  ihm  allein. 
Außerdem  sollen  sie  die  normale  Anmerkungspflicht  erfüllen,  dem  Leser  unter 
Wahrung  zivilisierter  Umgangsformen,  also  mehr  beiläufig  und  so,  als  ob  er  das 
alles  schon  wüßte,  die  zum  Verstehen  des  Gedichts  nützlichen  Dinge  beizubringen, 
die  er  sicher  nicht  weiß.  Aber  der  Hauptzweck  ist  der  andre:  den  Leser  zu  ver- 
anlassen, jedes  Gedicht  so  als  ein  Ding  für  sich  zu  nehmen,  wie  es  der  Dichter 
als  ein  Ding  für  sich  gedichtet  hat  und  wie  es  der  Sänger  und  der  Hörer  an  dem 
Ort,  für  den  es  bestimmt  ist,  s£mg  und  hörte,  singt  und  hört,  singen  und  hören 
wird.  Also  den  Leser  aus  einem  Leser  und  Vertilger  zu  einem  Gast  und  Freimd 
des  Gedichts  zu  machen. 

Über  Jehuda  Halevi  selber  will  ich  hier  nicht  sprechen.  Es  wird  sich  in  den  An* 
merkungen  zu  den  einzelnen  Gedichten  bessere,  weil  unmittelbarere,  Gelegenheit 
dazu  geben.  Die  Anmerkungen  werden  dann  auch  die  zu  Beginn  dieses  Nach* 
Worts  ausgesprochene  Entschuldigung  wegen  der  trotz  besten  Willens  zur  Wört- 
lichkeit doch  gelegentlich  vorkommenden  „Nachdichtimgs"- Partien  realisieren,  in- 
dem sie  zu  diesen  Stellen  den  Wortlaut  ergänzen. 

Wenn  ich  zum  Schluß  einen  Wunsch  äußern  darf,  so  ist  es  der  doppelte,  daß 
der  hier  an  einer  kleinen  Auswahl  aufgestellte  Pegel  bald  überflutet  wird,  daß 
aber  niemand  von  meinen  Nachfolgern  auf  diesem  Gebiet  mehr  den  Mut  der 
Trägheit  haben  möge,  hinter  dem  hier  erreichten  Maß  von  Genauigkeit  zurück- 
zubleiben. Die  Entschuldigung,  daß  es  „nicht  geht",  steht  nun  keinem  mehr  zur 
Verfügung. 

Franz  Rosenzweig 


168 


ANMERKUNGEN 


GELOBT  /  y2lS  fT' 

Luz.,  Div.  Nr.  65.  Harkavy  II  104ff.  Brody  III  230ff.  Hamburger  Tempelgebet- 
buch  68 ff.  Gebetbuch  der  Neuen  Synagoge  Berlin  II  420ff.  Seligmannsches  Gebet- 
buch U  307  ff.') 

Dieser  Hymnus  ist  eine  Einleitung  zum  Kaddischgebet,  aus  dessen  zweitem  Ab- 
satz der  Refrain  genommen  ist,  wie  auch  der  Rhythmus  des  Ganzen  aus  dem 
dieser  Eulogie  entwickelt  ist  So  ist  der  Refrain  hier  wie  oft  die  Keimzelle  des  Ge- 
dichts, der  Punkt  auf  den  jede  Strophe  zuläuft  und  der  ab  Richtpimkt  ihren  Lauf 
bestimmt.  Dieses  Einmünden  in  den  bekannten  Klang  des  Gebets,  das  im  jüdischen 
Kult  eine  Rolle  spielt,  mit  der  die  des  Vaterunsers  in  den  christlichen  Kulten  ver- 
glichen werden  kann,  ^  dieses  Einmünden,  bald  in  prachtvoller  Breite,  bald  in 
erhabener  Kaskade,  bald  in  stromsclmellenhafter  Wildheit,  bald  in  geheinmisvollem 
Rauschen,  bestimmt  die  Wirkung  des  Gedichts.  (Kein  Zufall  also,  daß  sowohl  der 
älteste  wie  der  neuste  Übersetzer  beide  den  Refrain  einfach  auslassen,  offenbar 
weil  er  sich  funfinal  wiederholt  und  also  „ermüden"  würde.) 

Die  Ströme  der  fünf  Strophen,  die  in  den  gemeinsamen  Ozean  des  „Djiß  ge- 
lobt . . ."  münden,  kommen  jeder  aus  einer  anderen  Richtung.  Die  erste  Strophe 
geht  aus  von  der  Lage  des  Geschöpfs,  des  Geschöpfs,  dem  doch  das  Verlangen 
nach  der  Hilfe  des  Schöpfers  unmittelbar  von  seinem  Empfangen  dieser  Hilfe  ge- 
reimt wird.  Dem  so  der  Hilfe  Gewissen  geht  der  Himmel  auf,  geblendet  stürzt 
er  nieder. 

')  Ich  gebe  möglichst  viele  Fundorte  an,  nicht  bloß  den  der  maßgebenden  Ausgabe,  weil 
ich  es  dem  Leser  nicht  durch  wissenschaftliche  Vornehmtuerei,  zu  der  ich  ohnehin  auf  diesem 
Gebiet  kein  Reclit  hätte,  erschweren  will,  die  Ausgabe,  die  etwa  in  seiner  Reich-  oder  Leih- 
weite ist,  zu  benutzen  -  im  Sinne  des  Mottos  zum  Nachwort.  -  Kurz  bezeichne  ich:  Luz., 
Bei.  =  Luzzatto,  Virgo  filia  Jehudae.  Prag  1840.  Luz.,  Div.  =  Luzzatto,  Divan  des  Jehuda 
ha-Levi.  Lyck  1864.  Sachs  ==  Religiöse  Poesie  der  Juden  in  Spanien.  2.  AuQ.  Berlin  1901. 
Harkavy  =  J.  H.  Sammlung  seiner  Gedichte.  2  Bde.  Warschau  1893  und  1895.  Brody- 
Albrccht  =^  Die  neuhebräische  Dicliterschule  der  spanisch-arabischen  Epoche.  Leipzig  1905. 
Brody  -^  Diwan  J.  H.s.  3  Bde.  Berlin  1901,  1909,  1910f.  Brody-Wlener  =  Anthologia 
Hebraica.  Leipzig  1922. 

171 


Die  zweite  Strophe  wagt  die  Augen  wieder  aufzuschlagen.  Der  Himmel  hat  sich 
geschlossen.  Die  Natur  liegt  ausgebreitet.  Aber  das  Gedicht  schwingt  sich  von 
Sphäre  zu  Sphäre  hinauf  zu  ihrem  selber  ruhenden  ersten  Beweger.  Hier  angelangt 
sieht  es  die  Wunder  des  göttlichen  Throns  aus  Hesekiels  Vision  und  fällt  abermals 
aufs  Angesicht. 

Erschüttert  von  der  Spannung  zwischen  Höhe  und  Tiefe,  die  er  jetzt  ermißt, 
faßt  der  Dichter  mm  das  Rätsel  der  Offenbanmg:  das  Stiftszelt  umschließt  den 
Ewigen,  dem  die  Welt  nicht  Raimi  genug  bietet.  Der  Denker  weiß  es,  daß  all  imser 
Erkennen,  auch  das  prophetische,  nur  Abglanz  schaut  ^  und  weiß  doch,  daß  dieses 
Nur  nicht  ein  bloßes  Nur  ist,  sondern  die  Form,  unter  der  dem  Menschen  Teil 
wird  an  „des  Wesens  Hort".  Aber  der  Gedanke  des  „Nur"  wirft  ihn  aufs  neue  zu 
Boden. 

Und  nun  blickt  er  um  sich  in  die  Menschenwelt,  die  ihn  umgibt,  und  erkennt 
das  Los  des  Menschen  in  seiner  Abhängigkeit  und  sein  Heil  in  dem  freien  und 
freudigen  Aufsichnehmen  dieser  Abhängigkeit,  im  Anerkennen  der  Vorsehung  und 
im  Erwarten  des  Gerichts.  Diesmal  sind  die  Worte  des  Gebets  nur  die  ruhige  imd 
selbstverständliche  Folge  dessen,  was  die  Weisheit  eingesehen  hat. 

Aber  es  bleibt  nicht  bei  dieser  Ruhe  der  Erkenntnis.  Tiefer  greift  der  Mensch 
in  seine  Brust.  Er  ist  nicht  weise,  er  ist  — ^  Nichts.  Und  aus  dieser  letzten  und  innersten 
Erfahrung  seines  Nichts  schaut  er  abermals  hinauf  zu  der  Größe  seines  Herrn. 
Zitternd  spricht  er  nun  erst  den  letzten  Gedanken  aus,  den  sein  Denken  erschwungen: 
nur  das  Tun  Gottes  erkennt,  verspürt  er;  an  ihn  selber  darf  er  --  er  sagts  mit 
denselben  Worten,  mit  denen  Gott  dem  Versucher  über  Hiobs  Leben  die  Macht 
vorenthält  ^  „nicht  Hand  anlegen".  Und  durchschauert  von  diesem  Gefühl  des 
Geheimnisses  über  ihm,  stammelt  er  die  Worte  des  Gebets,  die  nun,  von  dem  Ein- 
samen geflüstert,  weiter  tragen,  als  da  sie  zu  Anfang  vom  Chor  der  Schöpfung 
und  der  geschaflEnen  Geister  begleitet  wurden. 

Zur  Übersetzung'):  Strophe  2,  Zeile  23  und  24:  das  „Geleit"  sind  natürlich 
die  vier  Tiergestalten  aus  Hes.  1. 

')  Vgl.  Schluß  des  Nachworts.  Nicht  erwähnt  habe  ich  hier  Umschreibungen,  die  sich 
innerhalb  des  Anschauungskreises  des  wiederzugebenden  Begriffs  bewegen,  also  etwa  der  Teil 
fürs  Ganze  (z.  B.  für  „Flüsse":  „der  Flüsse  Wellen")  oder  Bejahung  durch  verneinte  Verneinung 
(z.  B.  „nicht  aufhören"  für  „fortfahren").  Wünschenswert  sind  zwar  auch  diese  kleinen  Frei- 
heiten nicht,  aber  doch  immer  verhältnismäßig  harmlos  gegenüber  den  Cancans  der  Nach- 
dichter. 


172 


GEWALTIGER  /  iH^a^i  inbn  ^a  inia  r:iiD7j 

Brody-Albrecht  105. 

Was  das  vorige  Gedicht  über  fünf  Strophen  breitet,  das  ballt  dieses  in  acht  über- 
volle Zeilen,  die  trotz  der  kleinen  Form  schon  durch  den  schwerdahindonnemden 
Rhythmus  etwas  Hymnisches  haben.  Inhaltlich  wird  diese  ungeheure  Konzentration 
erreicht  durch  das  Mittel,  das  der  Mensch  überhaupt  hat,  sein  Wissen  um  Gott 
sich  und  andern  über  die  Zeiten  weg  zu  überliefern:  die  dogmatische  Formel. 
Grade  weil  sie  erstarrt  ist,  weckt  sie,  wenn  nur  recht  zu  Gehör  gebracht,  eine  Un- 
endlichkeit mitschwingender  Töne.  Der  Unvergleichliche!  der  Schöpfer!  der  Un- 
sichtbare! der  Herzoffenbare!  der  Allumfasser,  — ■  „Raum",  wie  ihn  der  Talmud 
nennt!  und  der  Wesensverwandte  der  nach  seinem  Bilde  gebildeten  menschlichen 
Seele,  die,  wie  er,  sehend  unsichtbar  ist!  —  es  sind  lauter  vertraute  Worte  des 
biblisch-talmudischen  Kreises,  die  sich  hier  blockhaft  zu  einem  Riesendenkmal  zu- 
sammenfügen. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

SEHNSUCHT  |  nsiii«  n2ik  ^^n  1lpi3  nNipb 

Luz.,  Div.  Nr.  39.  Harkavy  II  88f.  Brody  II  2%.  Brody-Wiener  171. 

Eine  zarte  Verflechtung  von  Weltmüdigkeit  und  Himmelsverlangen.  Der  Knoten- 
punkt in  dem  Wunsch  nach  „ewgem  Schlaf".  Denn  Schlaf  und  Traum  sind  für 
diesen  Dichter,  den  Vorläufer  der  großen  kabbalistischen  Bewegungen,  dem  die 
Gottesschau  als  Israels  unverjährtes  und  auf  dem  heiligen  Boden  jederzeit  neu  zu 
aktualisierendes  Erbgut  galt,  die  legitimen  Wege  zu  diesem  Ziel.  Hier  aber  schießt 
die  Sehnsucht  nach  Schau  über  Tiefschlaf  imd  Wahrtraum  hinaus  zum  „Schlaf  der 
Ewigkeit". 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

NACHTS  /  -srj-i  "^'jToa  "sii^r 

Luz.,  Div.  Nr.  81.  Harkavy  11  120ff.  Brody  III  65.  Brody-Wiener  153. 

Das  Ersehnte  ist  geschehen.  Ein  Nachtgesicht  hat  dem  Dichter  das  Erlebnis  der 
Gottesschau  gebracht.  In  dem  Zustand  zwischen  Traum  und  Wachsein,  der  von 
jenem  die  Eigengesetzlichkeit,  von  diesem  die  Gültigkeit  hat,  naclisinnend  über  die 

173 


Verknüpfung  von  Leib  und  Seele,  schaut  er  Gott,  als  hätte  sein  Herz  „gedurft  sich 
mit  am  Sinai  erzeigen".  Das  Erlebnis  von  heute  bestätigt  und  wiederholt  die  ge^ 
schichtliche  Offenbarung. 

Was  bestätigt  imd  wiederholt  es?  Was  ist  offenbart?  Es  ist  ja  immittelbar  vor- 
her ein  Problem  genannt,  über  das  er  nachsann.  Bringt  die  Offenbarung  die  Lösung 
dieses  Problems?  Macht  sie  das  nie  zu  schweigende  Wunder  zum  handlichen  prak- 
tikabeln  Dogma,  wie  sichs  etwa  der  Katholizismus  vorstellt?  Davon  steht  kein  Wort 
da,  obwohl  doch  alle  Veranlassung  dazu  gegeben  wäre.  Was  denn? 

Gott  offenbart  in  der  Offenbarung  eben  immer  nur  ^  die  Offenbarung.  Anders 
gesagt:  er  offenbart  immer  nur  sich  selber  dem  Menschen,  dem  Menschen  sich 
selber.  Dieser  Akkusativ  und  Dativ  in  seiner  Verbindung  ist  der  einzige  Inhalt  der 
Offenbarung.  Was  nicht  aus  diesem  hier  gestifteten  Bund  zwischen  Gott  imd  Mensch 
unmittelbar  folgt,  was  nicht  seine  Unmittelbarkeit  zu  diesem  Bund  bewähren  kann, 
das  gehört  nicht  hinein.  Das  Problem  ist  dem  Seher  des  Gesichts  nicht  gelöst,  son- 
dern —  vergangen.  Das  Wunder  ist  ihm  nicht  entwundert,  sondern  die  Schau  hat 
ihm  den  Mut  gegeben,  sich  vor  dem  Quell  des  Wunders  zu  neigen.  Aus  einem 
Problem  des  Denkens  ist  eine  Kraft  des  Herzens  geworden. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

EREIGNIS  /  in:?n;i  ^nn  ixi  binr  ^Wj. 

Luz.,  Div.  Nr.  60.  Harkavy  II  98.  Brody  III  3. 

Offenbarung  ist  Erlebnis  und  Ereignis.  Echtes  Erlebnis  nur,  weil  und  wenn  sie 
auch  Ereigms  war,  echtes  Ereignis  nur,  weil  und  wenn  sie  immer  wieder  Erlebnis 
werden  kann.  Die  Gegenwart  scheut  vor  diesem  Zusammenhang.  Sie  möchte  in 
den  verschiedensten  Formen  und  auf  den  verschiedensten  Wegen  Gott  auf  das 
Nachts  des  Erlebnisses  beschränken  und  ihm  denWeg  in  den  Tag  des  Ereignisses  ver- 
legen. Aber  Gott  läßt  sich  keine  Wege  verlegen.  Das  Ereignis  ist  ihm  nicht  ferner 
als  das  Erlebnis,  die  Natur  nicht  unerreichbarer  als  die  Seele.  In  grobe  Objektivität, 
wie  die  Ängstlichen  fürchten,  wird  er  auch  da  nicht  hinabgezogen;  dafür  sorgt  er 
schon.  Es  ist  heute,  etwa  beim  Krieg,  der  ein  solches  offenbarendes  Ereignis  für  die 
Menschheit  war,  nicht  anders  als  bei  der  Offenbarung  vom  Sinai;  auch  dort  weiß  der 
Midrasch  zu  berichten,  daß  die  Völker  ein  jedes  anderes  herausvernommen  und 
ein  jedes  anders  geantwortet  haben.  Auf  die  Antwort  kommt  es  an  ^  auch  hier. 


174 


Deshalb  stürzt  das  kleine  gewaltige  Gedicht  -'  dem  Befreiungsfest  als  dem  ersten 
der  drei  Feste  der  geschichtlichen  Offenbarung  zugehörig  —  sofort  in  den  Abgrund 
der  Frage,  wie  die  Seelen  denn  bestehen  können  in  dem  Feuerkem  des  sich  offen* 
barenden  Geheimnisses,  und  weiß,  daß  aus  der  Offenbarung  selber  die  Kraft 
kommen  muß,  sie  zu  ertragen,  daß  sie  aber  aus  ihr  auch  kommt.  In  Dank  imd 
Lob  findet  sich  der  Mensch  nach  dem  Ereignis  wieder,  wie  nach  dem  Erlebnis. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

EXKURS:  OFFENBARUNGSTAG  \  ib'S^  ^^  D^nn  ^b?  mr 
Luz.,  Div.  Nr.  23.  Harkavy  II  83 f.  Brody  III  114 f. 

Joch,  Bergeshöh,  stiegst  Du  herab,  nicht  halten 

sie  Dich,  vor  des        Wucht  zitternd  sie      sich  spedten. 

Hätt'  Krafl  zu  stehn     mein  Herz  vor  Dir  am  Tjige,  da 

Gestirne  Du  bedräust:  und  sie        erkalten. 

Und  Himmelsvolk—     Dein  Name  heischt :  sie  stelln  sich  ein; 

und  Erdenvolk  harrt  Deiner  Treu,      der  alten. 

Das  Feurgesetz,  aus  Deinem  Mund  empfingen  sie's; 

Erinnrung,  Tun,  Gedanke  soll  drin  schalten. 

Anhör,  oh,  gern  Sang  derer,  die  Dir  nah.  Frohlock 

des  Volks,  das  selbst     frohlockt,  verehrts       Dein  Walten. 

Schon  der  Sammler  des  Diwans,  den  Luzzatto  benutzte,  bekannte  "  wenige  Jahr* 
zehnte  nach  des  Dichters  Tod  —  ,er  könne  nicht  dafür  bürgen,  daß  wirklich  nur 
Gedichte  von  Jehuda  Halevi  in  seiner  Sammlung  stünden.  Er  nennt  sogar  die  an* 
dem,  die  auf  Grund  des  gleichen  Akrostichons  für  eine  Verwechslung  in  Betracht 
kämen.  Das  vorstehend  übersetzte  Gedicht  gehört  zu  denen,  für  die  ich  gern  von 
dieser  Erlaubnis  des  Ahnherrn  der  Jehudahaleviphilologie  Gebrauch  machen  würde. 
Grade  der  Vergleich  mit  dem  stofflich  sehr  verwandten  „Ereignis"  zeigt,  welche 
Qualität  ihm  zu  einem  „echten"  Jehuda  Halevi  fehlt.  Nicht  die  sprachlichen  Einzel- 
qualitäten —  die  Sprachbehandlung  auf  Grund  des  Sprachstoffs  der  Bibel  ist  der 
ganzen  spanischen  Schule  so  gemeinsam,  daß  es  im  allgemeinen  schwer  oder  un- 
möglich sein  dürfte,  auf  solche  Kriterien  hin  Zuteilungen  oder  Absprechungen  vor- 
zunehmen. Vielmehr  im  gedanklichen  Inhalt  und  eigentlicher  noch  in  der  Führung 
des  Gedankens  unterscheiden  sich  die  Dichter.  Jehuda  Halevis  Charisma  ist  eine 


175 


ganz  eigentümliche  Knappheit,  ich  möchte  sagen:  Schlankheit  der  gedanklichen 
Linie.  Er  weiß  ganz  genau,  wie  viel  Raum  ein  Gedanke  zum  Ausschwingen  braucht 
Eben  dies  weiß  der  Dichter  des  vorstehenden  Gedichts,  wer  es  immer  gewesen 
sei,  nicht.  Jede  Zeile  fängt  neu  an,  und  keine  hat  Folge.  Diese  Kurzatmigkeit,  in 
der  die  herrlichsten  Schriftworte  und  -bilder,  vergeblich  beschworen,  ersticken, 
kontrastiert  aufs  schärfste  mit  dem  freien  Ausstrom,  den  die  beiden  Gedanken  der 
zwei  ersten  Doppelzeilen  von  „Offenbarungstag"  in  „Ereignb"  finden.  Ein  Grund, 
auf  solche  Eindrücke  hin  das  Gedicht  nun  etwa  Jehuda  Halevi  mit  Sicherheit  ab- 
zusprechen, besteht  gleichwohl  nicht.  Die  Philologie  kann  nie  genug  mit  dem  Schlaf 
Homers  rechnen.  Grade  bei  Dichtem,  die,  wie  Jehuda  Halevi  zumal  in  den  Vers- 
gedichten, einen  stark  persönlichen,  oft  selbst  bekenntnishaften  Zug  haben,  ist  bis- 
weilen mit  überraschenden  Versagern  zu  rechnen.  Bei  Goethe  in  seiner  Reifezeit 
finden  sich  Gedichte  von  einer  Minderwertigkeit,  die  einem  bei  Schiller,  dem 
Könner,  der  ob  seines  „der  Poesie  Kommandierens"  von  Goethe  bis  zuletzt  immer 
mit  einer  Art  scheu  entsetzter  Ehrfurcht  angesehen  wurde,  nie  begegnen  würden. 
Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

ALL  MEINE  GLIEDER  /  ^T\'\T2^  bj 

Luz..  Div.  Nr.  71.   Sachs  37f.    Harkavy  II   113ff.   Brody  III  7f.   Brody- 
Albrecht  103f. 

Der  Morgengottesdienst  der  Sabbate  und  Feiertage  enthält  an  der  Stelle,  wo  er 
aus  seinen  gewissermaßen  präludierenden  Teilen  zu  den  Kemgebeten  übergeht, 
einen  Hymnus,  in  den  der  Beter  all  das,  was  er  im  raschen  „Sagen"  der  vorher- 
gegangenen Fülle  von  Psalmen  nur  wie  in  einem  Überblick  berührt  hat,  breit  hin- 
einfluten läßt.  Der  Hymnus  ist  sehr  alt  ^  die  französischen  Juden  des  Mittelalters 
schrieben  ihn  allen  Ernstes  dem  Apostel  Petrus  zu  — ,  die  Sprache  der  Psalmen, 
nur  noch  ins  Monumentale  gesteigert,  klingt  darin  nach.  Und  die  Dichter  haben 
an  diesem  Bau  ihren  Efeu  anranken  lassen,  bis  er  ganz  davon  bedeckt  war.  Eine 
der  Stellen  —  sie  liegen  in  der  jüdischen  Liturgie  traditionell  fest,  wie  in  der  katho- 
lischen diejenigen  Punkte  des  Messetexts,  über  denen  die  großen  Sätze  der  musi- 
kalischen Messen  sich  aufbauen  ^  eine  der  Stellen  also  dieses  Gebets,  über  der 
sich  seit  dem  Wiedererwachen  unsrer  Dichtung  nach  den  vom  Talmud  erfüllten 
Jahrhunderten  die  Einlagen  gehäuft  haben,  ist  die,  wo  es  nach  gewaltiger,  .jeden 
Mund  ,  ,jede  Zimge",  ,jedes  Knie",  yjedes  Herz"  messianisch  versanmielnder  Stei- 

176 


geriing  in  das  Psalmwort,  „das  geschrieben  steht"  (Ps.  35,  lO),  und  in  ihm  für  einen 
Augenblick  in  den  einzelnen  betenden  Menschen,  mündet:  „Alle  meine  Gebeine 
müssen  sagen:  Herr  wer  ist  deines  Gleichen?" 

Jehuda  Halevis  Hymnus  vertieft  sich  in  diesen  Augenblick,  wo  das  Wir, 
der  „Hauch  alles  Lebendigen"  -*  dies  die  Anfangsworte  des  Gebets  -'  in 
das  Ich  versinkt.  „Meine  Glieder",  „Meine  Lieder",  „Mein  Geist",  „Mein  Ge^ 
fieder",  „Mein  Trieb",  „Mein  Herz",  —  immer  wieder  „mein":  es  ist  der 
Mensch,  der  einzelne  Mensch,  aber  dieser  einzelne  Mensch  vor  Gott.  Er  schaut 
nicht  in  sich  hinein,  er  breitet  sich  aus;  er  spricht  nur  Mein,  imi  dieses  Seine 
immer  wieder  zu  Gottes  Füßen  niederzulegen.  Er  spricht  Ich,  aber  nur  um  Sich 
zu  vergessen.  Immer  wieder  beginnen  seine  Worte  mit  Mein  imd  enden  immer 
wieder  mit:  Dir. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  2fF.:  Es  bekennen  meine  Glieder,  /  daß  in 
dir  sie  leben,  //  mit  dem  Opfer  meiner  Lieder  /  zu  dir  sie  streben,  //  und  als  mein 
Hebopfer  \  mein  dankend  Sinnen  |  bringen  sie  vor  dich.  '-  Strophe  2,  Zeile  4:  Und 
mein  Sinnen  \  stets  vor  mein  Antlitz  /  stellt  Dich  als  Zeichen.  — ^  Strophe  4,  Zeile  4 : 
Nur  meine  Sünden  /  vor  meinen  Augen  /  Dich  verbergen.  —  Strophe  5,  Zeile  4: 
Mein  Geheimnis  |  und  tief  Verborgnes  —  \  nicht  entgehfcs  dir. 

DER  UNVERGLEICHLICHE  /  üba  nipa?  ^las  ^Ü 

Brody-Albrecht  104f. 

Die  Unvergleichlichkeit  Gottes,  die  diese  Dichtimg,  zur  gleichen  Gebetsstelle  wie 
die  vorige,  singt,  kann  den  Menschen  grade  zimi  besinnlichen  Vergleich  veran" 
lassen:  was  ist  er  denn  neben  dem  Unvergleichlichen,  er  der  sehr  Vergleichliche, 
das  „welke  Blatt"?  er,  dessen  Erkenntnis  des  Schöpfers  im  Nichtfragen  gipfelt,  er, 
der  den  göttlichen  Halt  seines  Lebens  findet  in  der  Bindung  an  die  menschliche 
Pflicht,  er,  dem  nur  aus  dem  Geheimnis,  das  er  sich  selber  bleibt,  die  Seligkeit 
der  Freiheit  wächst,  er,  der  den  eignen  Willen  nur  in  der  Unterordnung  imter 
Seinen  verwirklichen  kann?  In  der  nachdenklichen  Abwandlung  dieses  Vergleichs 
umschreibt  das  Gedicht  die  Allmacht  des  Unvergleichlichen. 

Zur  Übersetzung:  Vorstrophe,  Zeile  1: der  Tiefen  offenbart;"  — ■  Zeile  2: 

Wundertäter!"  —  Strophe  2,  Zeile  4:  „zur  HimmeLssch welle"  ist  Zusatz.  ^ 

Strophe  4,  Zeile  4:  „kein  Ding  ist  ihm  zu  wunderbar." 

12  177 


KEINER  SONST  /  ^3ir  ^3>ir 

Luz.,  Div.  Nr.  84.   Harkavy  II  15f.  Brody  III  89f.  Brody-Albrecht  109f. 
Badisches  Gebetbuch  372f. 

Der  große  deutsche  Gelehrte  Lagarde,  dessen  Galle  womöglich  noch  größer 
war  als  seine  Gelehrsamkeit  «^  und  das  will  etwas  heißen  ^,  hat  einmal  gesagt, 
für  die  Juden  bedeute  Monotheismus:  von  Gott  gibt  es  nur  ein  Exemplar.  Wie  es 
in  Wahrheit,  nämlich  von  innen  her  gesehen,  damit  steht,  das  läßt  sich,  wenn  man 
es  sonst  nicht  weiß,  aus  diesem  Gedicht  erkennen,  das  zu  denen  gehört,  die  sich 
um  das  Davidwort  (I.  Chron.  17,  20,  vgl.  Jes.  45,  5  und  21,  Hos.  13,  4,  Ps.  18,  32) 
des  Morgengebets  herumschUeßen:  Und  ist  kein  Gott  denn  du.  Dies  „keiner  denn 
du",  „keiner  sonst",  „kein  Zweiter",  dies  wahre  Grundwort  des  Glaubens  an  den 
Einen,  wird  nämlich  hier  hervorgeholt  aus  der  zweifelnden  Frage  der  Gefährtinnen 
an  die  Braut  im  Hohenlied  (5,  9):  „was  ist  dein  Freund  vor  andern  Freunden,  o  du 
Schönste  imter  den  Weibern?"  und  wogt  in  der  Antwort  heran  auf  den  Wellen* 
kämmen  des  Lobgesangs,  des  Berufungsschicksals  (Jer.  20,  9),  der  Martyriumslei- 
denschaft und  der  Geschichtsgegenwärtigkeit,  über  denen  allen  es  am  Schluß 
riesenhaft  aufsteigt.  Denn  die  Einzigkeit  Gottes  ist  die  Ausschließlichkeit  der  Liebe. 
Von  Gott  gibt  es  nur  Ein  Exemplar. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

DIE  LIEBENDEN  /  TTOn  "n  bx  "'35  ibn" 
Luz.,  Div.  Nr.  24.  Harkavy  II  84f.  Brody  HI  3f. 

Aber  Lieben  ist  schwer.  Auch  Gott  Lieben.  Das  ist  sogar  die  schwerste  Liebe. 
Denn  das  Stück  unglücklicher  Liebe,  das  in  aller  Liebe  ist,  auch  der  glücklichsten, 
durch  die  Spannung  zwischen  der  Unendlichkeit  des  Liebenwollens,  Liebenmüssens 
und  der  Endlichkeit  des  Liebenkönnens,  ist  hier  ins  Unendliche  gesteigert.  Gott 
lieben  ist  immer  zugleich  glückliche  und  unglückliche,  die  glücklichste  und  unglück' 
hchste  Liebe.  Er  kommt  dem  Menschen  nah,  nächst  —  vmd  entzieht  sich  ihm  wieder 
in  die  fernste  Feme;  er  ist  der  Heißersehnteste  und  zugleich  der  am  wenigsten  zu 
Ertragende;  Zuflucht  ist  unter  den  ewigen  Armen,  aber  das  ewige  Angesicht  sieht 
keiner  imd  bliebe  leben.  So  ist  seine  Gegenliebe  dem  Liebenden,  der  sie  doch 
heischen  muß,  immer  umfragt  —  wie  Heischen  und  Fragen  hebräisch  nur  ein  Wort 
sind.  Die  Lösung  dieser  Nöte  und  Widerstreite  liegt  aber,  wie  die  Lösung  aller 

178 


Nöte  und  Widerstreite  der  Liebe,  beim  Liebenden,  bei  seiner  Kraft  zum  Dennoch, 
zum  Dennochtragen  und  Dennochsichtragenlassen.  Hier  also  beim  Menschen  und 
seiner  Kraft,  zu  verlangen  daß  Gott  ihn  "  widerliebe. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  1:  Zu  Gott  dem  Lebendgen  flehn  . . . 

GERICHTSTAG  /  naanbi  qbxb  ^t 

Brody  III  252f. 

Den  Gedanken  des  Weltgerichts,  der  in  den  Menschen  immer  aufwacht,  wenn 
die  Zeiten  sich  erneuem,  und  immer  wieder  einschläft,  wenn  die  Zeiten  wieder 
altern  und  „doch  alles  beim  alten  bleibt",  hat  sich  das  Judentum  lebendig  erhalten, 
indem  es  ihn,  unbeschadet  des  Endes  der  Zeiten,  ins  Jahr  gezogen  hat.  Der  Neu- 
jahrstag im  Herbst  ist  zum  „Tag  des  Gerichts"  geworden,  der  den  Einzelnen  all- 
jährlich vor  die  ganze  Furchtbarkeit  des  Weltgerichts  stellt.  Eines  Weltgerichts  ft-ei- 
lieh  nur  am  Mikrokosmos  der  Seele,  aller  Seelen.  Ihr,  ihnen,  wird  heut  das  Schick- 
sal bestimmt.  Diesem  inneren  Wissen,  dem  —  naturgemäß,  denn  das  Ende  kann 
der  Welt  nur  einmal,  nicht  jährlich  geschelm  -^  die  äußere  Verwirklichung  fehlen 
muß,  schafft  nun  die  Legende  wenigstens  einen  Ersatz  dieser  weltlichen  W^irklich- 
keit,  indem  sie  auf  das  Heute  dieses  Tags  die  großen  Tage  der  Welt,  ihren  An- 
fang und  ihre  messianische  Vollendung,  legt.  So  sieht  der  Mensch  nun  doch  den 
Jahreswendetag  seines  Lebens  eingerahmt  in  die  Erinnenmgs-  und  Hoflhungstage 
der  Welt.  Und  überdies  spiegelt  sich  ihm  in  den  Tag,  der  das  Hören  der  letzten 
Posaune  zur  Pflicht  im  Kreise  der  jüdischen  Pflichten  macht  und  Israel  die  all- 
gemeine Anerkennung  der  Gottesherrschaft  vorwegnehmen  heißt,  auch  das  Schick- 
sal der  Väter,  grade  an  dem  Punkt,  wo  der  Mensch  seine  Abhängigkeit  am  intim- 
sten und  zugleich  doch  ganz  real  spürt,  an  dem  Punkt,  wo  der  Ungläubige  so 
gläubig  ist  wie  der  Gläubige  und  der  Gläubige  nicht  gläubiger  sein  kann  als  jener 
die  Legende  legt  auf  diesen  Tag  die  Begnadung  der  drei  unfruchtbaren  Mütter 
Sarah,  Rahel,  Hannah;  eines  dieser  drei  Frauenschicksale,  das  der  Hannah  (L  Sam.  l), 
ist  darum  der  von  den  heißesten  und  heimlichsten  Gebeten  durchwobene  Schrift- 
abschnitt dieses  Tages  des  Weltgerichts  geworden. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  3:  Für  „sämtlich"  Zeile  4  des  Originals: 
„ohne  Ausnahme  und  ohne  Lücke";  Zeile  6:  „im  Tal  (JosaphaO  . . .".  "  Strophe  2, 
Zeile  5 f.:  „. . ,  den  erhabenen  Thron  I  Er  der  hoch  Thronende";  Zeile  7:  „fernste 

179 


Hufen"  ist  Zusatz.  ^  Strophe  3,  Zeile  6:  „heut  kam  ihnen  Hilfe  aus  ihrem  Elend". 
-^  Strophe  4,  Zeile  2f.:  „. . .  wird  über  dich  König  sein  \ . . ,".  -'  Strophe  5,  Zeile  5 f.: 
„Vielleicht  wird  Er  dann  den  Tag  herbeibringen,  zu  erfüllen  j  sein  Wort . . .". 

HEIMKEHR  /  ^31?  NTCD  "jra^ 
Harkavy  II  SlfiF.  Brody  III  298ff. 

Tut  Gott  oder  tut  der  Mensch  den  ersten  Schritt?  Kann  der  Mensch  ihn  über^ 
haupt  tun?  Das  ist  eine  wirkHche  Frage,  nicht,  wie  heut  protestantische  Theologen 
gern  wahrhaben  möchten,  eine  gelöste  Vorfrage.  Freilich  auch  nicht,  wie  es  die 
jüdischen  Theologen  in  begreiflichem  Bedürfiiis  nach  harmlosen  „Unterscheidungs- 
lehren"  gern  hätten,  „der  Unterschied  zwischen  Judentum  und  Christentum".  Son* 
dem  eine  wirkliche  Frage  des  wirklichen  Menschenherzens.  Denn,  um  noch  ein- 
mal jener  neuprotestantischen  Theologen  zu  gedenken,  es  ist  etwas  andres,  ob 
man  die  Paradoxie  des  „knechtischen  Willens"  als  ein  weltgeschichtlicher  Empörer 
behauptet  oder  als  ein  friedlicher  Professor  und  Bücherschreiber;  dort  ergänzt  §ich 
die  Theorie  durch  das  Leben  zur  Wahrheit,  hier  potenziert  sie  sich  durch  es  nur 
zur  potenzierten  —  imd  also  f2Jschen  —  Theorie.  Wenn  Luther  am  30.  Oktober  1517 
gestorben  wäre,  so  wären  alle  Kühnheiten  seines  Römerbrief  kommentars  auch  nur 
die  Extravaganzen  eines  Spätscholastikers. 

Die  wirkliche  Frage  entsteht,  weil  der  Mensch,  wenn  er  vor  Gott  steht,  immer 
seine  eigene  Ohnmacht  spürt  und  also  notwendig  den  ersten  Schritt  von  Gott  er- 
warten imd  erbitten  muß  und  doch  gleichzeitig  unüberhörbar  vernimmt,  daß  Gott 
ihn  von  ihm,  dem  Menschen,  verlangt.  Darüber  kommt  keine  Theorie  weg,  weder 
eine,  die  die  vernommene  fordernde  Gottesstimme,  noch  eine,  die  die  verspürte 
Menschenohnmacht  als  Satansblendwerk  zu  diskreditieren  sucht  Und  natürlich 
schon  gar  nicht  eme,  die  solcher  brutalen  Alternative  durch  weise  Rollenverteilung 
und  genaue  Dosierung  ausweichen  möchte.  Sondern  die  Sache  bleibt  ein  imend- 
liches  Gespräch,  wo  also  wie  in  jedem  Gespräch  der  „recht  hat",  der  grade  zuletzt 
gesprochen  hat  ^  und  also  Gott  nur  deshalb  schließlich  wohl  recht  haben  muß, 
weil  er  am  Ende  das  letzte  Wort  behält  Am  letzten  Ende! 

So  faßt  der  Midrasch  das  Problem,  wenn  er  Mensch  und  Gott  die  Gemeinde  Israel 
und  ihren  Herrn,  im  Gespräch  zeigt  und  sie  sich  einander,  in  Anlehnung  an  den 
Sclduß  der  Klagelieder  (5,21)  imd  an  das  Prophetenwort  des  Maleachi  (3,7),  das 
Verlangen  nach  dem  ersten  Schritt  entgegenhalten  läßt  als  Bedingung  für  den 

180 


zweiten,  den  dann  man  selber  tun  werde.  Und  auf  diesen  Midrasch  hat  Jehuda  Halevi 
das  große  Gespräch  zwischen  Mensch  und  Gott  aufgebaut,  das  alseinfünfthalbdoppeU 
strophiger  Hymnus  für  die  Mittagsstunden  des  großen  Versöhnungstags  bestimmt  ist. 

Die  erste  Doppelstrophe,  kürzer  als  die  folgenden,  stellt  mottohaft  die  beiden 
Leitsätze  einander  gegenüber,  in  starkem  Kontrast  des  menschlichen  Flehens  und 
des  göttlichen  Verweigemmüssens.  Dann  beginnt  der  eigentliche  Dialog,  der  sehr 
anders  geführt  wird  als  die  zahlreichen  andern  zwischen  Israel  und  Gott,  die  Jehuda 
Halevi  gedichtet  hat.  Denn  während  in  diesen  -^  unsre  Sammlung  bietet  auf  Seite  112 
bis  117  drei  Beispiele  -^  ein  wirkliches  Miteinandcrsprechen,  von  Angesicht  zu  An* 
gesiebt,  stattfindet,  bleibt  hier  ein  furchtbarer  Absteuid,  genau  der  Abstand,  der  in 
den  beiden  Eingangs«  und  Leitstrophen  festgelegt  ist.  Die  Menschenstimme  bleibt 
^  durch  rechtendes  Verlangen,  tiefe  Verzweiflung,  entschlossene  Demut,  leidenscheifl« 
liches  Flehen  -*  Schrei  aus  der  Tiefe,  die  Gottesstimme  —  in  Forderung,  Mahnung, 
Verheißung  —  Ruf  aus  der  Höhe.  Die  Spannung  zwischen  Gott  und  Mensch  scheint 
grade  an  diesem  Tage,  der  ganz  um  Versöhnung  geht,  unversöhnlich. 

Auch  das,  ja  grade  das,  wodurch  sie  sonst  am  leichtesten  ausgeglichen  wird, 
trägt  hier  nur  dazu  bei,  sie  zu  vermehren.  Wenn  sonst  Gottes  Wege  fem  von 
Menschenwegen  sind,  so  begegnen  sich  der  Weg  von  Israels  Gott  und  der  Weg 
seines  Volkes  am  ewig  rauchenden  Sinai.  Auch  heute,  an  diesem  Tag,  wo  der  Jude 
ganz  Mensch,  sein  Gott  ganz  Weltrichter  ist,  entschwindet  diese  Brücke  nicht  dem 
Bewußtsein.  Sie  wird  sogar  beschritten,  von  beiden  Seiten,  aber  sie  führt  nicht  bis 
zum  andern  Ufer.  Wenn  der  Mensch  ^  zweite  Doppelstrophe  —  Gott  als  der  Träger 
seines  jüdischen  Gesetzes  und  seines  jüdischen  Leidens  anspricht,  so  antwortet  Gott 
mit  der  steilsten  Forderung  an  den  Menschen  und  nur  den  Menschen;  und  wenn 
der  dann  -^  dritte  Doppektrophe  ^  aus  zerschlagenster  Ganz«  und  Nurmenschlich« 
keit  stammelt,  erinnert  ihn  Gott  an  seine  jüdische  Gottessohnschaft,  an  Wunder 
und  Gesetz.  Die  Nähe  selber  wird  so  an  diesem  furchtbaren  Tage  zu  einem  Ele- 
ment der  Ferne.  Das  Gespräch  läuft  weiter  in  dem  unendlichen  Abstand  der  beiden 
Stimmen,  aus  dem  es  entsprang. 

Aber  das  letzte  Wort  behält  hier  der  Mensch.  Die  Schlußstrophe  ist  keine  Doppel- 
strophe mehr,  die  Gottesstimme  schweigt  in  ihr.  Was  bedeutet  dies  Schweigen? 
Wenn  man  das  Gedicht  für  sich  betrachtet,  läßt  sich  das  nicht  entscheiden  —  eben 
weil  der  letzte  Schrei  des  Menschen,  sein  ganz  nackter  Notschrei,  ohne  Antwort 
bleibt.  Aber  das  Gedicht  ist  genau  so  wenig  aus  dem  Tag  und  der  Stimde,  für  die 

181 


es  bestimmt  ist  loszulösen,  wie  etwa  der  einzelne  Chor  aus  seiner  Tragödie  imd 
dem  Ort,  wo  er  innerhalb  ihrer  steht  Es  gehört  in  die  Mittagsstunden  des  „langen 
Tags";  imd  selbst  wenn  es,  wie  eigentlich  der  Anfang  mit  seinem  Zitat  aus  dem 
Schlußgebet  "  du  reichst  die  Hand  Sündern  und  deine  Rechte  breitet  sich,  zu 
empfangen  Heimkehrende  ^  vermuten  ließe,  zu  diesem  gehörte,  so  ist  doch  auch 
da  noch  alles  vorläufig  und  kein  Wort  das  letzte.  Ein  letztes  Wort  ist  erst  im  letzten 
Augenblick  möglich;  und  wenn  es  der  Mensch  sprechen  soll,  das  zu  sprechen  doch 
Gottes  Sache  ist,  so  kann  dies  letzte  Wort  ^  des  Tages,  des  Lebens,  der  Geschichte  -^ 
eben  nur  das  Wort  sein,  das  hinter  allem  Sprechen  Gottes  steht,  —  in  der  Weise 
wie  der  Mensch  dieses  göttliche  „Ich"  in  den  Mimd  nehmen  kann,  nämlich  ab  be- 
kennendes „Er".  In  diesem  Bekenntnis  der  letzten  Augenblicke  des  Tages  findet 
wie  der  ganze  Tag  so  auch  unser  Gedicht  erst  seine  Lösimg.  Der  Mensch  selber 
gibt  sich  unter  Gottes  Augen  die  Antwort,  die  ihm  für  diesen  einen,  vorwegge- 
nommenen  letzten  Augenblick  die  Erfüllung  seines  Heimkehrgebets  schenkt;  in 
diesem  Augenblick  ist  er  so  nah  bei  Gott,  so  dicht  an  seinem  Tlu-on,  wie  er  als 
Mensch  sein  kann.  In  der  Entzückung  dieser  Nähe  schweigt  ihm  das  Du,  nicht 
bloß  das  Du  des  Notschreis,  sondern  auch  der  Sehnsucht  und  der  Liebe.  Dem  Engel 
unterm  Thron  gleich  wendet  er  sich  um  und  bekennt,  bezeugt "  Ihn.  Er  darf  aber 
sich  diesen  höchsten,  letzten  Augenblick  vorwegnehmen,  weü  er  wenige  Minuten 
später,  wenn  der  Posaunenstoß  des  Freijahrs  (3.  M.  25,9  f.)  den  Festtag  beschlossen 
hat,  im  Abendgebet  des  wiederhereingebrochenen  Alltags  wieder  sagen  wird:  Ver- 
gib uns,  unser  Vater,  denn  wir  haben  gesündigt. 

Zur  Übersetzung.  Strophe  3,  Zeile  6:  . . .  Beeren  auf  der  Spitze  des  Zweigs! 
Zeile  7  und  8  gegen  das  OriginiJ  vertauscht  „. . ,  schüft  auf  ihn  deinen  Schreck".  — 
Strophe  4,  Zeile  10  ...  zu  höchsten  Höhen.  Zeile  7  imd  8  vertauscht.  Zeile  7:  Was 
sollen  sinnen  und  denken ...  —  Strophe  7,  Zeile  4:  und  nicht  gibt  es  außer  dir 
Herrschaft.  Zeile  7  f.  Und  wer  ist  Herr  außer  dir  /  zum  Hoffen  und  zum  Harren? 
Zeile  12:  wohin  soll  ich  mich  scheren?  —  Strophe  9,  Zeile  1:  Das  Volk, . . .  Zeile  5: 
Wenn  er  nicht  wohnen  darf  rings  mn  dich  . . . 

HÖR  /  ^svnx  yao  n" 

Brody  III  301.  Hamburger  Tempelgebetbuch  424.  Seligmannsches  Gebetbuch  351. 

Dies  Gebet  des  Vorbeters  am  Versöhnungstag,  wie  der  Schluß  zeigt  bestimmt 

für  den  Nachmittagsgottesdienst,  ist,  anders  als  der  vorhergehende  hymnische  Diii^ 

182 


log,  ganz  Anspruch.  Zu  seiner  Mitte  hat  es  die  Worte,  die,  genommen  aus  Hese- 
kiel  (36,22),  in  der  Liturgie  des  Tages  immer  wiederkehren.  Aber  sind  sie  bei 
Hesekiel,  wie  an  den  Torastellen,  die  ihre  Formulierung  vorbereiten  (2.  M.  32,12ff. 
4.  M.  14,13ff.  5.  M.  9,28),  aus  dem  Verhältnis  Gottes  zu  seinem  Volk  begründet,  so 
gründen  sie  sich  heute,  dem  Sinn  des  Tages  gemäß,  nur  auf  die  Sünde  des  Men- 
schen und  die  vergebende  Gnade  Gottes.  Man  hat  sich  über  sie  entsetzt,  hat  diesen 
Anspruch  des  Menschen  auf  Vergebung  um  —  ganz  wörtlich  ^  Gotteswillen  läster- 
lich gefunden,  ist  sogar  bis  zur  Ausmerzung  der  Worte  aus  den  Gebeten  gegangen. 
Und  gewiß  sind  sie  so  lächerlich  wie  die  kindisch-schlaue  Eltempsychologie:  Ge- 
schieht meinem  Vater  ganz  recht,  wenn  ich  mir  die  Hände  erfriere  "  warum  kauft 
er  mir  keine  Handschuh!  Aber  schließlich  —  hat  diese  Eltempsychologie  nicht 
recht?? 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  1:  Gott,  hör  deine  Bettler.  —  Strophe  3, 
Zeile  1 :  Ihren  Frevel  imd  ihren  Fehl.  —  Strophe  5,  Zeile  1 :  Blick  auf  die  Träne 
ihres  Angesichts.  —  Strophe  6,  Zeile  4:  Laß  sie  finden  deinen  . . . 

DER  WAHRE  /  '^tSOl  b531  tl^«  ^sb  b33 

Luz.,  Div.  Nr.  12.  Harkavy  I  56.  Brody  II  221.  Brody-Wiener  170. 

Dies  Gedicht  ist  eine  Anrede  an  die  Wahrheit,  oder  an  Den,  der  wahr  ist  —  bei- 
des ist  in  der  hebräischen  Sprache  und  für  das  jüdische  Gefühl  eins.  Es  fehlt  näm- 
lich beiden  an  einer  Besonderimg  des  Begriffs  der  Wahrheit;  wer  „Wahrheit"  sagt, 
weiß  daß  Gott  sie  ist.  So  sagt  es  Jeremia  (12,  12)  und  so  hat  es  der  tägliche  Ritus 
von  ilim  gelernt,  wenn  er  das  letzte  Wort  des  Höre-Israel-Gebets,  „der  Herr  euer 
Gott",  mit  dem  ersten  Wort  seines  Nachspruchs,  eben  „Wedirheit",  zu  Einem  lauten 
Ruf  zusammenzieht.  So  findet  dies  Gedicht  auch  wie  selbstverständlich  seinen  An- 
fang in  den  ersten  Worten  jenes  Gebets ,  dem  Gebot  der  Gottesliebe  (5.  M.  6,  5), 
die  hier  nun  zur  Liebe  der  Wahrheit  wird  und  doch  alle  sinnlich -übersinnliche 
Glut  der  Gottesliebe  behält.  Und  wer  dies  „und  doch"  verstanden  hat,  der  wird 
wissen,  was  es  mit  dem  , jüdischen  Rationalismus"  auf  sich  hat,  und  daß  dieser 
Rationalismus  sehr  rational  sein  mag,  und  doch  nie  so  rational  sein  kann,  wie  er 
—  jüdisch  ist.  Wer  Hermann  Cohen  gekannt  hat  —  auch  der  weiß  das. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  3  —  5  sind  in  den  zweiten  Hälften  etwas  umschrieben. 
Wörtlich:  Zeile  3:  „. . .  und  wie  mag  ich  allein  gehn";  Zeile  4:  „. . .  wie  mag  ich 
einsam  sitzen";  Zeile  5:  .,. . .  wie  kann  mein  Licht  verlöschen". 

183 


DEIN  GOTT  /  DTin  bs<  ]Tr^ 

Sachs  34,  Brody  III  203f.  Brody^Wiener  166£ 

Denn  Gott  ist  dein  Gott.  Dürften  wir  nichts  andres  von  ihm  wissen,  als  daß  er 
Gott  ist  ^  und  auf  die  Frage,  was  er  ist,  wäre  freilich  dies  die  zureichendste  Ant- 
wort — :  dann  wäre  es  vergeblich,  zu  ihm  zu  rufen;  imd  wäre  der  Aufblick,  zu 
den  Sternen  nur  Flucht  vor  der  Welt;  und  könnte  es  keinen  Weg  hin  bis  (Hos.  14,2) 
zu  semer  Höhe  geben;  und  wäre  die  Hoffnung,  sich  auf  dieser  Erde  (Ob.  1,21)  noch 
einmal  ganz  ihm  zuwenden  imd  zubereiten  (Am.  4, 12)  zu  dürfen,  eitel;  und  wäre 
es  ein  Wahn  des  Staubgeborenen,  in  den  liebestrunkenen  (Hl.  1, 2)  Herzschlägen 
der  Schau  ihn  zu  fuiden;  und  gäbe  es  mit  ihm,  dem  reinen  Sein  (2.  M.  3, 12),  keine 
andere  Gemeinschaft  als  die  der  im  Talmud  verrufenen  Fragen  nach  dem  Wann 
und  Wo,  dem  Dnmter  und  Drüber  der  Schöpfung,  und  grade  nicht  die  von  der 
Schrift  all  solchem  magischen Wissenszwang(5. M.  18,9^  15)  entgegengesetzte(l8,13) 
des  ganzen  und  schlichten  Lebens.  So  wäre  es,  wüßten  wir  wirklich  nichts  weiter 
als  jenes.  Aber  wie  wir  der  Grenzen  unsres  Wissens  zu  achten  haben,  so  auch, 
und  nicht  minder,  der  Grenzen  unsres  Nichtwissens.  Jenseits  all  unsres  Wissens 
wohnt  Gott.  Aber  ehe  unser  Nichtwissen  anfängt,  schenkt  sich  dir,  deinem 
Anruf,  deinem  Aufstieg,  deiner  Bereitschaft,  deiner  Schau,  deinem  Leben  -- 
dein  Gott. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  2,  Zeile  9f.:  Daß  nicht  Zeit  dich  erhöhe  |  und  stolz 
werde  dein  Herz  in  deiner  Höhe.  *-  Strophe  3,  Zeile  8 :  und  ihnen  an  seinem  Thron 
eine  Stätte.  ^  Strophe  5,  Zeile  10:  findest  du  deinen  Gott.  ^  Strophe  6,  Zeile  3: 
„dicht  bei  dicht"  ist  Zusatz;  Zeile  9:  „ganz  und  schlicht"  hebräisch  ein  Wort 

SEIN  FRIEDE  /  non^J  "^b  ■'JT'  "n  bx  "T  bs 
Luz.,  Div.  Nr.  35.  Harkavy  II  147 f. 

Mit  der  Bitte  um  Frieden  an  den  „Herrn  des  Friedens"  schließt  das  dreimal  täg- 
lich gesprochene  Hauptgebet,  mit  dem  „Der  Frieden  macht  in  Seinen  Höhn,  der 
mach'  auch  Frieden  über  ims  und  seinem  ganzen  Volke"  sein  Nachgebet  und  das 
Kaddisch.  Dieser  Schluß  der  Gebete  ist  auch  der  letzte  Schluß  der  menschlichen 
Weisheit  Aber  damit  es  der  Schluß  der  Weisheit  werde,  muß  es  der  Anfang  des 
Tuns  sein.  Eines  Tuns,  das  freilich  kein  Machen  ist 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

184 


DAS  ALL  /  ■jio-'X  nim  iifflb  w 

Luz„  Div.  Nr.  67.  Harkavy  II  107ff.  Brody  UI  75ff. 

Dieser  Hymnus  ergreift  einen  Satz  des  Deuteronomiums  (10,  17)  und  nimmt  ihn, 
wie  er  dasteht,  zum  strophenschließenden  Vierzeiler.  Der  Satz  fremdet  den  Men- 
schen von  heute  an  imd  der  Hymnus,  der  aus  ihm  entwickelt  ist,  auch.  Der  Satz 
setzt  nämlich  die  Wirkhchkeit  der  Götter  voraus,  imd  es  gilt  heut  allgemein  als 
eine  „Ernmgenschaft  der  religiösen  Entwicklimg",  daß  die  Menschheit  gelernt  hat, 
daß  es  die  Götter  nicht  gebe.  Selbst  der  Atheist  pflegt  den  „Monotheismus"  als 
eine  entwicklungsmäßig  notwendige  Stufe  auf  dem  Wege  von  vielen  Göttern  zu 
keinem  Gott  mit  einem  gewissen  Wohlwollen  zu  beurteilen.  Dieses  Wohlwollen 
würde  sich  also  der  Dichter  dieses  Hymnus  verbitten  müssen.  Für  ihn  sind  die 
Götter  wirklich,  und  Gott  „nur"  wirklicher.  Und  daß  dies  die  Wahrheit  ist,  wird 
uns  heute  verhüllt  durch  den  Wahn,  der  „Monotheismus"  sei  eine  Selbstverständ- 
lichkeit. Der  „Monotheismus"  vielleicht.  Der  Glaube  an  den  Einen  nicht.  Diesem 
Glauben  widersetzt  sich  vielmehr  die  Erfahiung  des  Lebens,  die  uns  alle  zwingen 
möchte,  an  vielerlei  Mächte  zu  glauben.  Die  Namen  wechseln,  das  Vielerlei  bleibt. 
Kultur  und  Zivilisation,  Volk  und  Staat,  Nation  und  Rasse,  Kunst  und  Wissenschaft, 
Wirtschaft  und  Klasse,  Ethos  und  Religiosität  -'  das  ist  eine,  sicher  nicht  vollstän- 
dige, Übersicht  des  Pantheons  von  heute.  Wer  wird  die  Wirklichkeit  dieser  Mächte 
leugnen?  Aber  nie  hat  ein  „Heide"  seinen  Göttern  anders  und  gläubiger  und  opfer- 
bereiter gedient  als  wir  Menschen  von  heute  jenen.  Und  begegnet  uns  der  Eine, 
so  ist  auch  heute  der  Kampf  mit  den  Vielen  unvermeidlich  und  sein  Ausgang, 
freilich  nur  soweit  es  ims  anljetrifft,  ungewiß.  Wollte  Gott  "  so  weiß  es  schon  der 
Talmud  —  die  Götter,  wollte  er  die  Mächte,  die  sich  der  Mensch  zu  vergötzen  in 
Versuchung  kommt,  ein  für  allemal  vernichten  —  er  müßte  nicht  weniger  ver- 
nichten als  seine  Welt.  Und  es  ist  doch  Seine  Welt,  von  ihm  kommend,  zu  ihm 
kehrend.  Es  ist  Sein  All. 

Und  so  singt  der  Hymnus,  der  um  jenen  Satz  gewoben  ist,  das  All,  Gottes  Welt. 
Aber  hier  fremdet  das  Kind  der  Gegenwart  abermals,  und  je  gegenwärtiger  es  ist,  um 
so  mehr;  denn  es  ist  ein  verhältnismäßig  junges  —  noch  nicht  hundertfünfzig  Jahre 
altes  —  Grunddogma  der  modernen  Bildung  und  infolgedessen  auch  der  modernen 
Religiosität,  man  dürfe  Gott  nicht  in  der  Natur  suchen.  An  der  Quelle  dieses  Vor- 
luieils  sitzt  Kant  mit  seiner  Widerlegung  des  „physikoteleologischen  Gottesbeweises", 
durch  die  der  vorher  auch  den  Begründern  der  modernen  Naturwissenschaft  selbst- 

185 


verständliche  Schritt  von  der  Schöpfung  zum  Schöpfer  mit  einem  Male  verboten 
schien.  Wahrhaftig  nur  schien;  niemand  hat  das  besser  gewußt  als  Kant  selbst, 
der  Kant,  der  die  Erzählung,  wie  er  in  einem  insektenarmen  Sommer  Schwalben 
beobachtet  habe,  die  ihre  Jungen  selbst  aus  dem  Nest  stießen,  mit  dem  Ausruf 
schloß:  Da  stand  mein  Verstand  stille,  da  war  nichts  dabei  zu  tun  als  hinzufallen 
und  anzubeten.  Er  hatte  den  „Beweis"  zerkritisieren  wollen,  nicht  das  „Anbeten". 

Aber  freilich,  die  Menschheit  hätte  sich  dies  Anbeten  nicht  so  leicht  ausreden 
lassen,  wäre  nicht  eben  in  diesem  jetzt  verflossenen  Jahrhundert  die  Welt  selber 
dem  Auge  immer  unsichtbarer  geworden.  Das  ist  vornehmlich  die  Schuld  der  doch 
erst  durch  die  allgemeine  Volksschule  des  letzten  Jahrhunderts  geschehenen  dog- 
matischen Popularisierung  der  kopemikanisch-newtonschen  Theorie.  An  dem  Licht- 
dunst  der  Großstädte  kaim  es  nicht  liegen,  denn  der  Bauer  ist  genau  so  stmnpf 
geworden.  In  diesem  Punkt  besteht  das  ganze  Volk  aus  „Gebildeten".  Man  findet 
heute  unter  zehn  Menschen  höchstens  einen,  der  weiß,  daß  auch  die  Sterne  auf- 
und  untergehen.  Die  neun  andern  antworten,  wenn  man  sie  fragt:  Nur  die  Pla- 
neten. Der  eine  wird  dann  gewöhnlich  auch  schwankend. 

Es  war  der  ungeheure  Vorzug  des  ptolcmäischen  Systems  vor  dem  kopemikei- 
nischen  —  den  wir  heut,  wo  sie  ja  beide  nicht  mehr  wahr  sind,  ruhig  anerkennen 
dürften  ^ ,  daß  in  ihm  der  Verstand  der  Verständigen  wenigstens  in  seinen  ersten 
Schritten  mit  der  Anschauung  des  kindlichen  Gemüts  einfrächtig  zusammenging. 
So  verschlug  er  diesem  nicht  den  Mut,  sich  nun  wirklich  umzuschauen  und  das 
auch  zu  sehen,  was  man  „wußte".  Da  sah  man,  glaubte  man  zu  sehen  die  inein- 
ander und  gleichzeitig  übereinander  angeordneten  Sphärenkreise,  in  denen  sich 
die  sieben  Planeten,  die  Sonne  und  der  Mond  als  der  niederste  erdnächste  mit 
eingerechnet,  um  die  im  tiefsten  Punkte  dieses  Sphärentrichters  schwebende  Erde 
schwangen,  bis  hinaus  zu  der  äußersten  Kugelschale  des  täglich  einmal  seine 
Drehung  vollendenden  Fixsternhimmels;  was  jenseits  war,  war  Jenseits.  Da  folgte 
man  noch  mit  den  Augen  der  Bewegung  der  einzelnen  Planeten  durch  die  zwölf 
Häuser  des  Tierkreises.  Da  hatte  man  noch  das  gute  Gewissen,  daß  Unten  wirk- 
lich Unten  war  und  Oben  Oben,  das,  ebenfalls  wie  wir  heute  wissen:  zu  Unrecht, 
Kopemikus  ^  der  „Narr"  nach  Luthers  ahnungslosem  imd  doch  ahnungsvollem 
Ausspruch  —  der  Menschheit  nahm;  „wo  man  steht,  ist  immer  unten",  beant- 
wortete ein  kleines  Kind  die  Frage  seiner  Schwester,  warum  denn  die  Anti- 
poden nicht  herunterfielen.  Und  weil  man  es  wußte,  so  konnte  man  in  dem,  was 

186 


immer  imten,  und  in  dem,  was  immer  oben,  und  in  dem,  was  immer  zwischen 
unten  imd  oben  war,  die  Elemente  aller  Dinge  —  wieder  nicht  bloß  wissen,  son- 
dern sehen.  Wo  dann  das  sehende  Wissen  aufhörte,  da  schaltete  man  auch  da- 
mals vor  der  letzten  Ursache  ein  System  von  Zwischengewalten  ein,  genau  wie 
jetzt  an  der  Grenze  unseres  errechneten  Wissens.  Die  Engel  des  mittelalterlichen 
Aristotclismus  und  die  Grundbegriffe  der  modernen  Physik,  entsprechen  sich  aufs 
genaueste,  indem  hier  wie  dort  alle  Welt  daran  glaubt  und  die  Laien  sich  meist 
nichts,  die  Kenner  meist  Unsinn  darunter  vorstellen.  Denn  die  geistige  Redlichkeit, 
die  es  über  sich  bringt,  das  wirklich  Erfahrene  rein  auszusprechen  imd  nicht  mit 
jenen  Erkenntnissen,  die  dem  Erfahrenden  unmittelbar  in  der  Erfahrung  aufgehen, 
mythologisch  fortzuwuchem,  ist  immer  gleich  selten  gewesen.  In  der  Engellehre 
etwa  des  Talmud  sind  echte  und  große  Erfahrungen  über  das  Wirken  Gottes  nie- 
dergelegt, aber  sie  sind  immer  allzuleicht  erstickt  worden  von  den  Ausschweifimgen 
eines  erfahrungslos  phantastischen  Verstandes,  wie  die  echten  und  großen  Erkennt- 
nisse der  Wissenschaft  durch  die  Ausschweifungen  einer  erfahrungsfremden,  verstan- 
desbesessenen Phantasie. 

Eine  Gefahr  liegt  freilich  in  dem  Lob  Gottes  aus  der  Natur,  und  diese  Gefahr 
züngelt  auch  in  diesen  HjTunus  herein,  in  die  letzten  Vierzeiler  der  dritten  Strophe. 
Sie  besteht  in  der  Versuchung,  bruchlos  von  der  Natur  -^  nicht  zum  Menschen, 
das  wäre  erlaubt,  aber:  ^  zu  uns  selbst  überzugehn  und  den  Ernst  des  eigenen 
Schicksals  mit  einem  allzu  billig,  nämlich  nicht  mit  dem  eignen  Leibe,  erkauften 
Halleluja  zu  übertönen.  Gegen  diese  Gefahr  bleiben  die  Hiobs  und  die  Iwan  Ka- 
ramasoffs,  die  an  Gott  glauben  aber  seine  Welt  nicht  anerkennen,  das  ewig  not- 
wendige Gegengift. 

Aber  Jehuda  Halevi  bedarf  dieser  Kur  nicht.  Er  ist  Jude  und  deshalb  nicht  in 
Gefahr,  voreilig  Halleluja  zu  singen.  Die  gewaltigen  Mittel -Vierzeiler  der  Schluß- 
strophe, die  auf  den  ersten  Blick  den  Zusammenhang  unterbrechen  und  den  schon 
erreichten  Engclschluß  noch  einmal  hinausschieben,  um  ihn  dann  freilich  in  uner- 
hörter Konzentration  wieder  aufzimehmen,  haben  hier  ihren  tiefsten  Daseinsgrund. 
So  kühn,  so  hart,  so  leidensstolz  und  so  rechtsbewußt  wie  hier  spricht  der  Dichter 
kaum  sonst  in  den  Gedichten,  die  eigens  diesem  Thema  gewidmet  sind.  Es  ist  diese 
imübcrtönbare  Leidensbewußtheit  allein,  die  ihm  das  Recht  gibt,  Gottes  Welt  an- 
zuerkennen. Dennoch.  Der  Leidende  allein  hat  die  Erlaubnis,  Gott  aus  seinen 
Werken  zu  preisen.  Aber  alle  Menschen  leiden.  DeshaU)  hat  die  Menschheit  jenes 

187 


Recht.  Nur  wer  sein  Leiden  verleugnet  oder  vergessen  will,  nur  dem  ist  es  nicht 
erlaubt.  Denn  wer  Sich  weglügen  will,  der  lügt  auch,  wenn  er  von  Ihm  spricht. 
Nur  im  Munde  der  Redlichen  will  er  gepriesen  werden. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  23 f.:  „Doch  nimmer  wissen  sie  das  Wie"; 
Zeile  30:  „der  Götter!"  -  Strophe  2,  Zeile  1:  „die  Zeiten";  Zeile  8  ist  Zusatz; 
Zeile  23 f.:  „allen  rechnet  Er  die  Zahl".  —  Strophe  4,  Zeile  16  ist  Zusatz;  die  Engel- 
namen  von  Zeile  25,  26,  29  f.,  33,  34,  35  entsprechen  den  Erellim,  Chaschmallim, 
Tarschischim,  Cherubim,  Ofannim,  Serafim  des  Textes.  -'  Strophe  5,  Zeile  15f.:  „zu 
Ismaelit  imd  Edomit";  Zeile  30^32:  „zu  gleichen  den  |  Cherubim  /  und  Chajjoth". 

DER  FERN.UND^NAHE  /  ^«23«  TOi*  n" 

Sachs  32f.  Harkavy  11 131  f.  Brody  III  150f.  Brody-Wiener  157. 

Dieser  Hymnus,  zugeordnet  jener  hymnenübersäten  Stelle  des  Morgengebets, 
die  von  den  himmlischen  Rad-  und  Tiergest2dten  der  Hesekielschen  Vision  redet, 
lebt  von  einem  einzigen  Gedanken.  Aber  es  ist  der  letzte  Gedanke,  den  das 
menschliche  Denken  erf liegen  kann,  und  der  erste,  den  das  jüdische  ergreift:  daß 
der  ferne  Gott  kein  andrer  ist  als  der  nahe,  der  unbekannte  kein  andrer  als  der 
offenbare,  der  Schöpfer  kein  andrer  als  der  Erlöser.  Diesen  Gedanken,  den  die 
kurze  Vorstrophe  in  epigrammatischer  Gefaßtheit  hinstellt  und  den  die  folgenden 
vier  in  weiten  hymnischen  Schwüngen  vom  Himmelsthron  zum  Menschenherzen 
und  wieder  zurück  ausschwingen  lassen,  diesen  Gedanken,  den  im  Kreise  der  Offen- 
barung immer  neu  entdeckten  und  innerhalb  wie  außerhalb  ihres  Kreises,  von 
Paulus  und  Marcion  bis  zu  Harnack  und  Barth,  immer  wieder  neu  vergessenen, 
singt  das  Gedicht. 

Immer  neu  entdeckt,  immer  neu  vergessen.  Denn  was  die  Menschen  entdecken, 
das  vergessen  die  Theologen.  Und  grade  mn  so  mehr,  um  so  bessere  Theologen 
sie  sind.  Die  richtigste  Theologie  ist  die  gefährlichste.  Wir  haben  heute,  nach  langer 
Dürre,  eine  Theologie,  meist  protest£uitisch,  die  an  Richtigkeit  nichts  zu  wünschen 
läßt.  Wir  haben  es  also  nun  heraus,  daß  Gott  der  Ganz-Andre  ist,  daß  von  ihm 
reden  ihn  verreden  heißt,  daß  wir  nur  sagen  können,  was  er  an  uns  tut.  Die  Folge 
dieser  ungeheuren  Richtigkeit  ist,  daß  wir  Richtigen  heute  allesamt  wie  die  Kinder 
im  Kreis  stehen,  einer  sagt  eine  Richtigkeit,  sein  Nachbar  fährt  ihm  mit  der  noch 
richtigeren,  daß  seine  Richtigkeit  eben  als  Richtigkeit  falsch  war,  über  den  Mund, 
und  so  geht  es  rundum,  bis  wieder  der  erste  dran  ist.  Das  Ganze  heißt  Theologie. 

188 


Wir  Theologen  können  es  eben  nicht  lassen,  aus  unsem  Erkenntnissen  Vor- 
schriften für  Gottes  Verhalten  zu  machen.  Wir  haben  erkannt,  daß  Gott  nur  in 
seiner  Gegenwart  erkannt  werden  kann;  gleich  machen  wir  daraus  ein  Gesetz  für 
ihn,  sich  nicht  in  seiner  Abwesenheit  erkennen  zu  lassen.  Wo  doch  in  Wahrheit 
wir  es  ihm  ruhig  überlassen  könnten,  wann  und  wie  und  was  von  sich  er  erkannt 
haben  will;  imd  wir  nur  in  aller  Ruhe  oder  in  aller  Unruhe  —  aber  auch  ob  Ruhe 
oder  Unruhe,  ist  nicht  unsre  Sache  ^  zu  sagen  haben,  und  zwar  so  genau  wie  uns 
möglich  —  und  diese  Genaiügkeit  ist  unsre  Sache  " ,  was  wir  wissen. 

Wenn  Gott  uns  nahkommt,  erkennen  wir  freilich  nur  djis  Unausssigbare.  Aber 
das  ist  nicht  unsre  Pflicht  (und  wie  es  im  ganzgeheimen  Herzen  ja  doch  statt  dessen 
heißt:  unser  Verdienst  —  weil  wir  nämlich  so  ausgezeichnete  moderne  Theologen 
sind),  sondern  wir  können  gar  nicht  anders;  es  liegt  eben  nur  an  seiner  Nähe.  Darum 
haben  wir  auch  durchaus  keinen  Grund,  ims  gegenseitig  über  den  Mund  zu  fedu-en, 
weil  wir  das  Unaussagbare  aussagen.  Solange  es  unaussagbar  ist  und  sein  will, 
sorgt  es  schon  selbst  dafür,  daß  wir  es  nicht  aussagen  können.  Wenn  wir  also  an- 
fangen, es  auszusagen,  geschieht  das  wohl,  weil  es  selber  uns  dcis  Sagen,  das  noch 
so  mangelhafte,  möglich  macht,  indem  es  —  nein,  indem  er,  Gott,  von  uns  zu  weichen 
beginnt,  sich  von  uns  entfernt  hidem  er  sich  von  uns  entfernt,  gibt  er  sich  uns  als 
den  Femen  zu  erkennen,  vmd  wenn  er  ganz  fern  ist,  nämlich  wenn  er  sich  ganz 
entfernt  hat,  können  wir  ihn  sogar  —  übergebt  mich  dem  weltlichen  Arm,  ihr  Inqui- 
sitoren der  neuen  Theologie!  ^  beweisen. 

Die  Möglichkeit  der  Gottesbeweise  ist  die  einfache  Folge  davon,  daß  Gott,  wie 
ihr  doch  nicht  müde  werdet  zu  wiederholen,  der  Ganz- Andre  ist  Oder  noch  nicht 
einmal  Folge.  Sondern  dies  „ganz-anders"  ist  selbst  der  moderne  Gottesbeweis, 
nämlich  der  auf  die  äußerste  Feme  der  Abstraktion  verdünnte  Rest  aller  übrigen. 
Die  finden  aber  ebenfalls  noch  vor  diesem  letzten  Fempunkt  ihren  Platz,  wo  sie, 
ein  jeder  für  seine  Entfernung,  den  genauen  Ausdruck  des  hier  Sichtbaren  bedeuten. 
Es  ist  also  durchaus  noch  kein  Zeichen  hoffnungsloser  Verlorenheit,  zu  wissen,  daß 
Gott  das  allervollkommenste  Wesen  oder  die  letzte  Ursache,  ja  sogar  daß  er  das 
Ideal  der  Sittlichkeit  ist.  Sondern  es  ist,  wo  es  als  ehrliche  Erkenntnis  ausgesagt 
wird,  nur  ein  Zeichen,  daß  dem  Erkennenden  im  Augenblick  dieser  Erkenntnis 
Gott  wirklich  so  weit  entfernt  war.  Was  heißt  aber  hier:  ehrliches  Erkennen? 
Nichts  andres  als  was  es  immer  heißt.  Also  nichts  sagen,  was  einen  nichts  angeht 
und  das  vaaca.  selber  nichts  angeht.  Ohne  solches  Angehen  ist  auch  eine  Unter- 

189 


suchung  über  den  deutschen  Getreidebau  im  15.  Jahrhundert  wertlos,  und  mit  ihm 
sind  Sätze  wie  „Gott  ist  heilig"  oder  sogar  „Gott  ist"  ebenso  wahr  wie  unsre 
modischen  Nahsätze. 

Denn  Nähe  und  Feme  besagen  an  sich  noch  gar  nichts  dafür,  ob  jenes  wechsel- 
seitige Sichangehen  statthat,  das  alles  Erkennen  erst  wahr  macht,  ob  also  hier  der 
Mensch  Gott  und  Gott  den  Menschen  an-geht.  Noch  in  der  schrecklichsten  Nähe 
kann  der  Mensch  wegsehen  und  weiß  dann  nicht  im  geringsten,  was  ihm  geschehen 
ist.  Und  auf  die  fernste  Feme  kann  Gottes  und  des  Menschen  Blick  ineinander- 
brennen,  daß  die  kältesten  Abstraktionen  warm  werden  im  Munde  des  Maimonides 
oder  Hermann  Cohens  —  mehr  als  all  unser  erschüttertes  Geschwätz.  Nähe,  Feme, 
gleichviel!  daraufkommt  es  an,  daß  hier  wie  dort,  was  gesprochen  wird,  vor  seinem 
Angesicht  gesprochen  wird  -'  mit  dem  keinen  Augenblick  abgewendeten  Du  der 
Rundreime  unsres  Gedichts. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  2,  Zeile  2:  „auf  zum  höchsten  Thron";  Zeile  7  — 10: 
„Wen  gäbs,  der  nicht  fürchtet  Dich?  /  Joch  Deines  Reichs  ist  sein  Joch!  /  Wen 
gäbs,  der  nicht  anfleht  Dich?  /  sein  Brod  bereitest  Du  ihm!"  ^^  Strophe  3,  Zeile  2: 
„.  .  .  aufschries  zu  Dir";  Zeile  6:  „schaut'  ich  Dich  im  Heiligtum".  —  Strophe  4, 
Zeile  7—10:  „Tiere  loben  Deme  Macht,  /  stehnd  auf  Weitenhöh',  —  auf  /  ihren 
Häuptern  mht  Dein  Thron,  /  jedoch  Du  trägst  sie  Alle." 


DER  NAME  /  Hina  ']n^nn  nnxb  n-iüi  ns^ 

Luz.,  Div.  Nr.  31.  Harkavy  II  86.  Brody  III  66. 

Der  Widerspruch,  daß  Gott  nah  und  fem  zugleich  ist,  schießt  zusammen  in  der 
Tatsache,  daß  er  einen  Namen  hat.  Was  einen  Namen  hat,  davon  kann  man  reden 
und  kann  es  anreden,  je  nachdem  es  abwesend  oder  anwesend  ist.  Gott  ist  nie 
abwesend,  deshalb  gibt  es  keinen  Gottesbegriff  (von  den  falschen  Göttern  gewiß, 
aber  von  dem  wahren  nicht).  Gott  ist  der  einzige,  dessen  Name  zugleich  sein  Be- 
griff, dessen  Begriff  zugleich  sem  Name  ist.  Man  nennt  Gott  nur  Gott,  und  jeder 
Name  hat  nur  diese  Bedeutung. 

Die  Fem-und-Nähe  löst  dem  Dichter  auch  das  Problem  des  Weltzwecks,  lun  das 
sich  die  Religionsphilosophie  der  Zeit  mühte.  Alles  Geschaffene  hat  eine  doppelte 
Beziehung:  es  ist  einmal  ganz  einfach  da,  hat  Sein,  Selbstsein,  ist  sich  Selbstzweck; 
dann  aber  ist  es  auch  um  eines  andern,  letzthin  mn  alles  andern  willen.  In  jener 

190 


seiner  Sclbsthaftigkeit  erfährt  es  den  nahen,  in  dieser  seiner  Gebundenheit  an 
andres  den  fernen  Gott;  denn  der  Feme  ist  der  Gott  der  Welt,  die  immer  das 
Ganze  und  ein  Ganzes  aus  lauter  anderm  ist,  der  Nalie  der  Gott  des  Herzens,  des 
Herzens,  das  nie  so  sehr  Selbst  und  nur  Selbst  ist  wie  wenn  es  leidet. 

Es  fällt  auf,  daß  in  dem  zweiten  Zweizeiler,  der  den  Gehalt  des  Gedichts  am 
kürzesten  und  einfachsten  formuliert,  für  das  welthoch-weltfeme  Sein  Gottes 
das  anschauliche  Wort  „wohnen"  gebraucht  wird,  das  grade  das  Wohnen  der  Gottes- 
herrlichkeit auf  Erden,  unter  ihrem  Volke,  in  ihrem  Hause  bezeichnet,  hingegen 
für  das  Wohnen  im  zerschlagnen  Herzen,  sogar  in  Abweichimg  vom  zugrunde- 
liegenden Bibelvers  (Jes.  57,15),  das  denkbar  abstrakteste  Wort  „Sein",  dies  richtige 
Philosophenwort,  das  die  abendländische  Scholastik  sich  mit  ihrem  „Existieren"  — 
„Dasein"  müßte  man  strenggenoiiunen  übersetzen  —  angeeignet  hat.  Dieser  Wider- 
spruch erschließt  eine  letzte  Tiefe  des  jüdischen  Wissens  und  Glaubens.  Der 
„Baure  Aulom",  der  Weltschöpfer,  meint  hier  nicht,  wie  man  denken  sollte,  etwas 
Fernes,  das  er  doch  seinem  Inhalt  nach  bezeichnet,  sondern  ist  im  Volksmunde  ein 
ganz  gefühlsnahes  Wort;  und  bei  dem  Gott  des  Herzens  vergißt  das  Herz  doch 
keinen  Augenblick,  daß  er  der  „Seiende"  ist.  So  springt  hier  der  Funke  nicht  bloß 
zwischen  den  beiden  Polen  der  Feme  und  Nähe  hin  und  her;  sondern  die  Pole 
selber  sind  jeder  noch  einmal  geladen  mit  den  beiden  polaren  Elektrizitäten,  nur 
in  verschiedener  Anordnung.  Der  weltcrhabne  Schöpfer  schlägt  „Wohnung"  auf, 
und  der  abstrakteste  Gott  der  Philosophie  hat  „Sein"  im  zerschlagnen  Herzen. 

Als  Hermann  Cohen  noch  in  Marburg  war,  setzte  er  einmal  einem  alten  Mar- 
burger Juden  die  Gottesidee  seiner  Ethik  auseinander.  Der  hörte  ehrfurchtsvoll  zu, 
nur  als  Cohen  fertig  war,  fragte  er:  „Und  wo  bleibt  der  Baure  Aulom?"  Da  ant- 
wortete Cohen  nichts  und  brach  in  Tränen  aus. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  1:  „Jahraus,  jahrein"  ist  Zusatz. 


GEWEIHT  /  wnp  iTobTO 

Luz.,  Div.  Nr.  68.  Harkavy  II  6ff.  Brody-Albrecht  105f. 

Dieser  reimfunkelnde  Hymnus  ist  wie  der  vorige  der  Stelle  im  Morgengebet  zu- 
geordnet, die  das  Dreimalheilig  der  himmlischen  Heere,  wie  es  Jesaja  (6,  3)  hörte, 
schildert.  Denn  alles  Untere  entspricht  einem  Oberen:  so  soll  Israel  dasDreimalgeweiht 
der  Engel  auf  Erden  widerhallen,  Israel,  dessen  Stadt  der  himmlischen  Gottesstadt 

191 


^  oder  wie  es  in  Erinnerung  der  Vorform  der  Stadt  während  der  Wüstenwande- 
rung auch  heißt:  das  irdische  dem  himmlischen  Lager  --  gegenüberliegt.  Der  Hym- 
nus ist  ganz  erfüllt  von  dem  Anblick  dieser  göttlichen  Doppelherrschaft  im  Him- 
mel und  auf  Erden.  Sie  ist  wunderbar,  da  wo  sie  die  engelischen  Kräfte  der  Gnade 
imd  Wahrheit,  die  sich  aufheben  müßten  wie  Feuer  und  Wasser,  vereinigt  und  wo 
sie  den  von  ihr  entsendeten  Boten  am  Ziel  -'  denn  sie  waltet  am  Ziel  genau  so 
wie  am  Ort  des  Auftrags  —  wieder  entgegentritt;  und  nicht  minder  wunderbar,  wo 
sie  die  menschlichen  Kräfte  des  Volks  stählt  zu  imendlicher  Leidensgeduld  und 
unermüdlicher  Zeugenschaft,  des  Volks,  an  das  der  Dichter  seine  Aufforderung, 
den  Engeln  gleichzutun,  richtet. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  3,  Zeile  llf.:  „. . .  und  \  nicht  befreit".  —  Strophe 4, 
Zeile  5f.:  „um  die  Tage  ihres  Endtermins,  die  wunderbar  sind". 

DEINE  WOHNUNGEN  /  yt\^T^  5315^1  ^^^550^  nil-'T 
Luz.,  Div.  Nr.  18.  Harkavy  II  82. 

Das  Brennglas  dieser  wenigen  Zeilen  sammelt  die  Strahlen  des  vorhergehenden 
großen  HjTimus:  die  Doppeltheit  des  himmlischen  und  irdischen  Heiligtums,  des 
„Lagers",  dort  die  wagenthrontragenden  Tierengel  der  Hesekielschen  Vision  (l,10), 
hier  Jakobs  Söhne,  die  Träger  des  Namens,  die  Zeugen  der  Werke. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  10:  „o  Belohmmgen!"  ist  Zusatz. 

DER  GOTT  DER  GEISTER  j  ninnon  ^b  inx^ 
Luz.,  Div.  Nr.  82.  Harkavy  II  121fr.  Brody  III  67£ 

Der  Geist,  sein  Geist  ist  der  stolzeste  Besitz  des  Menschen.  Diesen  Stolz  erschüttert 
das  Wort  vom  Gott  der  Geister,  das  Mose  in  einer  seiner  großen  Fürbitten  (4,16,22) 
zu  Gott  sjigt.  Eine  ganz  leichte  Erschütterung,  eine  die  den  Geist  da  stehen  läßt, 
wo  er  steht,  in  „allem  Fleisch",  und  die  doch  seinen  Stolz  ganz  entwurzelt.  Es  bleibt 
ihm  unangezweifelt  die  Weisheit,  der  Glanz  des  Worts,  aber  Weisheit  und  Wort 
dankt  er  dem  Ort  am  Himmelsthron,  von  wo  sie  entspringen.  Und  gewiß:  die  Tafeln 
der  Gebote  stehen  im  Menschenherzen  -^  aber  Gottes  Finger  hat  sie  beschrieben. 
Und  die  Seele  hat  einen  nahen  Weg  zu  himmlischer  Wonne  —  aber  Gottes  Geist 
muß  ihn  ihr  weisen.  Immer  nur  ein  kleines  Aber,  auf  dem  doch  die  „Selbstherr- 
lichkeit" des  Menschengeistes,  seine  „Autonomien"  erst  beruhen.  Und  so  stürzt  in 

192 


der  letzten  Strophe  der  Kunstbau  der  geistigen  Ordnung,  wo  die  Seele  ihren  legi- 
timen Platz  über  dem  Leibe  hat,  in  ein  großes  Nebeneinander  und  Durcheinander 
von  Leibern  und  Seelen  —  „aller"  —  zusammen,  und  es  bleibt  im  Bild  der  hinge- 
breiteten Mägde  an  Steile  der  stolzen  Ordnung  des  Geistes  das  Chaos  der  Demut. 
Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  1  f.: . . .  huldgegründet,  /  erhaben,  hebend,  • . . 


HEILIG  1  Ü^Wnp  "33  n- 

Luz..  Div.  Nr.  83.  Harkavy  II  124fiF.  Brody  III  124f. 

Das  Wort  Heilig  hat  im  Hebräischen  ursprünglich  die  Bedeutung  des  Abgeson- 
derten.  Gottes  Wirken  ist  einmal  das  leise,  fast  unhörbare  des  ersten  Beginnens; 
da  bleibt  alles,  zunächst,  stehen  wie  es  steht;  die  Schöpfimg  scheint  so  uralt,  daß 
sie  fast  „ewig"  sein  könnte,  und  die  Stimme  des  Gewissens  so  unbedingt,  daß  sie 
fast  „autonom"  heißen  dürfte.  Und  da  können  wohl  strenggläubige  Kantianer  auf 
den  Gedanken  kommen,  es  ändere  eigentlich  nichts,  wenn  man  Gottes  erste  Ur- 
heberschaft für  Sternenhimmel  und  Gewissen  dem  „religiösen  Standpunkt"  zugebe. 
Aber  so  billig  wird  dieser  „Standpunkt"  nicht  betreten.  Gott  ist  nicht  bloß  der, 
der  war.  Er  ist  nicht  bloß  Grund,  tragender,  der  Welt  und  des  Menschen;  ja  dies 
ist  ein  leerer  Glaube,  ein  bloßes  „Zugeben",  wenn  es  der  Erfahrung  der  lebendigen 
Gegenwart  ermangelt,  ja  nicht  gradezu  aus  ihr  stammt  Ohne  den  Gott,  der  gewaltig 
wirkend  in  den  Tag  unsres  gegenwärtigen  Lebens  eingreift,  wird  der  Leise  imd 
Unhörbare,  der  die  Welt  und  unser  Herz,  die  er  schuf,  erhält,  zum  Märchen, 
schlimmer:  zum  Dogma.  Es  ist  der  Heilige,  der  sich  selbst  besondert  imd  überall 
Besonderung,  Unerhörtes,  Erwählung,  Heiligkeit  setzt.  Ohne  diese  offenbaren  Wunder 
des  heutigen  Tags  wären  die  verborgenen  Wunder  jeden  Tags  unsichtbar,  min- 
destens als  Wunder  unsichtbar.  Erst  die  Offenbarung  des  Besonderen  lehrt  uns, 
auch  im  „Natürlichen"  den  Schöpfer  zu  ehren;  erst  die  Schauer  der  Heiligkeit 
heiligen  auch  den  Alltag  des  Profanen. 

Es  ist  also  dem  Wunder  wesentlich,  daß  es  in  die  lebendige  Gegenwart  der 
Heiligkeit,  also  in  die  Heiligung,  eingezogen  wird:  „Auf!  mit  Heiligrufen  . . ."  Die 
Frage,  weshalb  denn  „heut"  keine  Wunder  mehr  geschehen,  wie  sie  „einst"  ge- 
schehen seien,  ist  eine  einfache  Dummheit.  „Geschehen"  sind  Wunder  überhaupt 
nie.  Die  Vergangenheit  ist  eine  mörderische  Atmosphäre  für  das  Wunder.  Die  Bibel 
selbst  erklärt  das  Schilfmeerwunder  nachträglich  „natürlich".  Nachher  läßt  sich 

13  193 


jedes  Wunder  erklären.  Nicht  weil  das  Wunder  kein  Wunder  wäre,  sondern  weil 
das  Erklären  Erklären  ist.  Das  Wunder  steht  immer  im  Präsens  und  allenfalls  im 
Futurum.  Man  kann  es  erbitten  und  erfahren;  imd  solange  die  Gegenwart  der  Er- 
fahrung vorhält,  auch  verdanken;  ist  diese  Gegenwart  aber  erloschen,  dann  kann 
man  es  freilich  nur  noch  erklären.  Möglich  ist  jedes  Wunder,  auch  das  skurrilste, 
auch  daß  eine  Axt  schwimmt;  wenn  es  geschehen  ist,  wird  man  auch  um  eine  Er- 
klänmg  nicht  verlegen  sein.  Die  einzige  Bedingung  für  sein  Eintreten  ist,  daß  man 
es  erbeten  kann.  Mit  echtem,  also  dem  Willen  entzogenen  Gebet  natürlich,  nicht 
mit  dem  absichtlichen  Gebet  der  magischen  Technik  eines  Medizinmanns  oder 
einer  amerikanischen  Miß.  Nur  hierin  gibt  es  so  etwas  wie  einen  Unterschied  der 
Zeiten,  daß  die  eine  um  etwas  beten  kann,  um  was  die  andre  nicht  beten  kann. 
Aber  wenn  echtes  Gebet  möglich  ist,  dann  wird  djis  Unmöglichste  möglich;  und 
wo  es  nicht  möglich  ist,  wird  das  Möglichste  unmöglich.  So  kann  es  möglich  sein, 
daß  Tote  auferstehen,  und  unmöglich,  daß  Kranke  gesund  werden.  Es  gibt  nichts 
an  sich  Unmögliches,  nur  vieles  was  wir  für  so  unmöglich  halten,  daß  wir  nicht 
dämm  zu  bitten  imstande  sind,  und  andres  was  wir  durchaus  für  möglich  halten 
und  wo  wir  doch  aus  irgendwelchen  Gründen  keine  Kraft  haben,  darum  zu  bitten. 

Am  Wunder  ist  so  eigentiich  nichts  wunderbar,  als  daß  es  —  eintritt.  Hunderte 
von  Malen  hat  der  Ostwind  vielleicht  schon  die  Furt  im  Roten  Meer  freigelegt, 
und  Hunderte  von  Malen  wird  er  es  noch  tun;  daß  er  es  aber  in  dem  Augenblick 
tut,  wo  das  Volk  in  seiner  Not  hineinsteigt,  das  ist  das  Wunder.  Was  eben  noch 
erbetene  Zukunft  war,  das  wird  nun  eintretende  Gegenwart.  Diese  Anreicherung 
eines  Gegenwartsaugenblicks  mit  Vergangenheit,  seiner  Vergangenheit,  gibt  ihm 
Kraft,  als  gegenwärtiger,  nicht  vergangener,  Augenblick  fortzudauern,  und  hebt  ihn 
so  aus  dem  Fluten  der  Augenblicke,  deren  Genoß  er  doch  bleibt,  heraus.  So  wird 
das  Wunder  die  Keimzelle  der  Heiligkeit,  die  so  lange  in  Kraft  steht,  als  sie  mit 
diesem  Urspnmg  verbunden,  als  sie  wunderbar  bleibt.  Der  Scheidungen,  die  der 
Mensch  zu  setzen  versucht,  lacht  der  Schöpfer,  der  nur  Eine  Schöpfung  erschuf, 
und  läßt  sie  immer  wieder  von  dem  hervorbrechenden  urgeschaffenen  Chaos  über- 
fluten; die  Scheidungen  aber,  die  Gott  selber  setzt,  breiten  sich  aus  über  die  ganze 
Schöpfung  und  machen  in  ihrer  werdenden  Ein«  und  Allheit  das  schweigende  Ge- 
heimnis der  einen  Schöpfung  offenbar. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  1:  „gereinigt"  ist  Zusatz.  Strophe  3,  Zeile  5: 
...  —in  ihnen  offenbart,  ja  offenbart  er  sich. 


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DER  HELFER  /'  n^nsi  nbnsT  D?B3  nnb  Dnir 

Luz.,  Div.  Nr.  15.  Harkavy  II  140f. 

Dies  kleine  Gedicht  ist  nicht  bloß  formal  sehr  merkwürdig:  durch  das  eigen- 
tümliche Metrum,  das  eine  schwer  schleppende  Zeile  mit  einem  flinken  Doppel- 
jambus schließt,  sondern  noch  mehr  durch  die  Art,  wie  diese  Form  gefüllt  wird. 
In  den  Doppeljambus  wird  nämlich  in  jedem  der  drei  Halb-  und  der  drei  Voll- 
schlüsse die  Spitze  des  dichterischen  Gedankens  hineingetrieben:  das  erstemal  das 
Wissen  um  den  Gott,  der  sich  uns  den  Verwesenden  als  den  Wesenden,  uns  den 
zur  Passivität  und  zum  Vergangensein  Bestimmten  mit  dem  Ich  der  ewig  gegen- 
wärtigen Aktivität  offenbart;  das  zweitemal  der  verhaltene  Jubel,  daß  wir  —  nicht 
vergangen  sind,  sondern  ja  leben;  das  drittemal  die  frohe  Gewißheit  des  zukünf- 
tigen Augenblicks  aus  dem  „Und  es  ward  Licht"  des  ersten.  „Ich,  der  wese!",  „wir 
leben  ja",  „da  war  es  da"  —  ein  dreimaliger  Durchbruch  aus  der  nächtlichen 
Schwere  der  Not  in  die  beschwingte  Helle  der  Hilfe,  jedesmal  verstärkt,  weil  jedes- 
mal eine  innerere  Linie  der  Festung,  in  der  der  Schatz  der  Hilfe  verwahrt  ist,  er- 
stürmend. 

Das  drittemal  geschieht  dieser  Sturm  unter  dem  Feldgeschrei  des  Worts  vom 
„neuen  Licht".  So  haben  dies  Wort  genau  in  diesem  Sinne  die  Männer,  von  denen 
die  Gebetsordnung  der  Synagoge  stammt,  geschaffen,  wenn  sie  im  Morgengebet 
unmittelbar  vor  dem  Lob  Gottes  als  des  Schöpfers  der  HimmelsUchter,  der  Tag 
für  Tag  das  Werk  der  Schöpfung  erneut,  gelehrt  haben,  um  das  neue  Licht  für 
Zion  zu  beten.  Denn  es  gibt  für  den  Menschen  zweierlei  Gewißheit  der  göttlichen 
Hilfe.  Die  eine  die  Gewißheit  dessen,  dem  schon  einmal  geholfen  ist;  wir  wissen 
von  Jehuda  Halevi,  daß  er  gefreigt  hat,  warum  Gott  am  Sinai  sich  auf  die  ägyp- 
tische Befreiung  beruft,  nicht  auf  die  Schöpfung  der  Welt,  und  brauchen,  da  wir 
seinen  Kusari  haben,  die  törichte  Antwort,  die  Ihn  Esra,  der  Überlieferer  seiner 
Frage,  darauf  gibt,  ihm  nicht  zuziu-echnen.  Es  gibt  aber  eine  Tiefe  der  Not,  in  der 
jene  Gewißheit  versagt,  weil  eben  die  Erinnenmg  der  alten  Hilfe  selber  darin  er- 
stickt. Wenn  so  das  Nächste  dem  Menschen  in  die  Ferne  der  UnglaubhafÜgkeit 
entrückt  wird,  dann  bleibt  nur  die  Hilfe,  die  aus  der  fernsten  Feme  zu  ihm  kommt; 
dann,  und  nur  dann,  ist  es  Zeit  zum  letzten  Anruf,  zum  Anruf  des  Schöpfers, 
nicht  im  kultischen  Gebet,  wo  auch  hierfür  andre  Gesetze  gelten,  sondern  im 
Stoßgebet  des  Herzens.  Denn  in  dieser  Tiefe  der  Not  ist  von  dem  Menschen 
nichts  mehr  übrig  als  das  Geschöpf,  und  so  ist  es  da  der  Schöpfer  allein,  an 

195 


dem  er  wieder  lernen  kann,  dem  Offenbarer  zu  glauben  und  auf  den  Erlöser  zu 
hoffen. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

HIER  BIN  ICH  I  ^SfflV  nibit  TaJ  ^55n^  ^53 

Luz.,  Div.  Nr.  73.    Sachs  36f.   Harkavy  II  118ff.   Brody  III  228f.   Brody- 

Wiener  154f. 

In  der  Judengemeinde  eines  Dorfs  im  südlichen  Schwarzwald  war  ein  Mann 
namens  Mendele,  der,  weil  er  ein  wenig  schwachsinnig  war,  von  der  Gemeinde 
erhalten  wurde.  Eines  Tages  war  er  auf  dem  Platz  neben  der  Synagoge  mit  Holz- 
hacken beschäftigt.  Die  kleine  Synagoge  stand,  wie  es  sich  gehört,  auf  dem  höch- 
sten Platz  des  Ortes,  also  dicht  an  dem  steilen  Abhang  des  Berges,  an  dem  das 
Dorf  lag.  Als  nun  ein  paar  Burschen,  die  auf  dem  Weg  oberhalb  des  Steilabhangs 
vorüberkamen,  unten  den  Narren  sahen,  machten  sie  sich  einen  Spaß  und  riefen 
laut  herunter:  „Mendele!"  Mendele  schaute  hinauf,  aber  nichts  war  zu  sehen.  Eine 
Weile  später  rief  es  wieder,  diesmal  von  einer  anderen  Stelle:  „Mendele,  Men- 
dele!" Er  schaute  hinauf,  verwirrt.  Wieder  nichts.  Nach  einer  Weile  ruft  es  zum 
drittenmal:  „Mendele,  Mendele!"  Da  wirft  er  die  Axt  hin,  läuft  in  die  Synagoge 
auf  die  Empore  in  der  Mitte,  von  der  aus  die  Thora  vorgelesen  wird,  breitet  die 
Arme  aus  und  ruft  hebräisch,  was  Abraham  einst  gerufen  hat:  „Hier  bin  ich". 

Der  Mensch  kann  „Hier  bin  ich"  rufen,  weil  ihm  aus  Gottes  Mund  das  Echo 
dieses  Worts  zurückkommt.  Dieses  göttliche  „Hier  bin  ich"  ersehnt,  erklagt,  erbüßt, 
erbetet  im  dreiundzwanzigfachen  Pochen  seines  Reims  das  Gedicht,  bis  das  vier- 
undzwanzigste Mal  auf  das  Sehnen,  Klagen,  Büßen,  Beten  ihm  die  Antwort  reimt. 

Und  nicht  bloß  ersehnt,  erklagt,  erbüßt,  erbetet  wird  die  Antwort:  Nein,  so 
menschlich  muß  das  Wort  gesprochen  werden,  dem  die  göttliche  Antwort  ant- 
worten soll,  daß  in  diesem  Gedicht  ein  Augenblick  eintreten  kann,  wo  die  Ant- 
wort beinah  erdroht  wird:  „doch  wenn  ich  leide  . . .".  Das  menschliche  Herz  hat 
das  unveräußerliche  Recht,  die  große  Wahrheit  der  Offenbarung,  daß  das  Leiden 
ein  Geschenk  Gottes  ist,  wenn  sie,  wie  immer  wieder  geschieht,  zum  theologischen 
Schema  wird,  immer  wieder  zu  verleugnen  und  gegen  sie  den  alten  Urständ  der 
Natur  wiederherzustellen,  für  den  das  Leiden  Leiden  ist  und  nichts  andres.  Gott 
antwortet  nur  dem  Wort,  das  aus  der  Tiefe  aller  menschlichen  Kräfte,  der  aner- 
schafihen  wie  der  erweckten,  aufsteigt. 

196 


Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  4f.:  Wenn  Du  mein  Helfer, /wer  brächt' noch 
zum  Straucheln  mich?  //  Wenn  du  mich  bindest,  /wer,  wenn  du  nicht,  macht  mich  frei? 
—  Strophe  2,  Zeile  4 f.:  Gott,  du  belehr  mich!  /In  Deiner  Wahrheit  leit  mich!  //  Und 
sänfUich  führ  mich  |  im  Gericht,  und  frei  mich  sprich!  ^  Strophe  3,  Zeile  1:  „Un- 
stern!" ist  Zusatz.  Zeile  4 f.:  Wenn  einst  mich  ausreißt  /  das  Alter,  und  meine  Kraft 
mich  vergißt,  //  Nicht  rott  dann  aus  mich,  /  mein  Gott!  und  nicht  verlaß  mich.  — 
Strophe  4,  Zeile  5:  Und  umdunkelt  mich,  so  daß  . . .  ->  Strophe  5,  Zeile  2:  Rein'gc 
mein  Denken,  /  daß  ich  deine  Gottheit  schau'. 

SEELE  /  ni)jbs  ns'^  naiaa 

Brody  III  43 f. 

Diese  ganz  zarte,  ganz  schwebende,  ganz  seelenhafte  Phantasie  über  Motive  aus 
dem  Hohen  Lied,  bestimmt  für  den  Sabbat  der  Osterwoche,  an  dem  es  gelesen 
wird,  gehört  zu  den  metrisch  ungebundenen  Stücken,  die  im  Gesamtwerk  des 
Dichters,  besonders  dem  Umfang  nach,  mehr  Raum  einnehmen,  eds  diese  Auswahl 
merken  läßt.  Das  hier  vorliegende  ist  auch  inhaltlich  aus  dieser  Freiheit  der  Form 
heraus  konzipiert;  es  wäre  in  seiner  flüchtigen  Beweglichkeit  in  einem  gebundenen 
Metrum  kaum  denkbar.  Es  ist  als  Einleitung  zu  dem  schon  erwähnten  Sabbat'  imd 
Festgebet  „Die  Seele  alles  Lebendigen"  gedacht,  dessen  erstes  Wort  —  eben  „Seele"  -' 
es  fünfmal  präludierend  anschlägt,  und  zwar  anschlägt  in  der  grammatischen 
Form,  die  im  Hebräbchen  nur  immittelbar  vor  einem  Genitiv  möglich  ist;  der  doch 
fünfinal  nicht  kommt,  sondern  statt  dessen  fünfmal  in  die  Strophe  ausgewichen 
wird,  die  sich  auf  der  bittersüßen  Unaufgelöstheit  jenes  verminderten  Septimen- 
akkords aufbaut,  —  bis  das  sechste  Mal  keine  Strophe  mehr,  sondern  endlich  die 
Auflösung  bringt:  Seele  alles  Lebendigen  ^  sie  preise  Deinen  Namen  . . . 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

SEELE  IM  EXIL  /  7\tb'3  O:*  HäDiS  SN  n^nb  T033   . 

Luz.,  Div.  Nr.  57.  Harkavy  II  \5\t  Brody-Albrecht  98.  Brody  11306. 

Die  überkünstliche  Form  dieses  Gedichts,  die  das  Reimwort  jedes  Zweizeilers 
in  dem  Anfangswort  des  nächsten,  nur  durch  Weglassung  des  stummen  e  der 
Mittelsilbe  zur  Zweisilbigkeit  verkürzt,  wieder  aufnimmt,  ist  von  dem  Dichter  aus 
einem  technischen  Kunststück  zum  seelischen  Vehikel  des  kleinen  Ganzen  gemacht 

197 


worden.  Die  Reimschlüsse  werden  zu  nur  scheinbaren  Schlüssen,  aus  denen  sich 
in  den  ihnen  gleichlautenden  Anfängen  unmittelbar  ein  neuer  Beginn  enthüllt,  der 
doch  in  ihnen  schon  verborgen  war.  So  entsteht  an  den  Gelenkverbindungen  der 
Zweizeiler  ein  eigentümlicher  Schwebezustand,  durch  den  deis  ganze  scheinbar  so 
geformte  Gedicht  etwas  aufgelöst  Atmendes  bekommt.  Dabei  wird  die  Mitte  des 
Ganzen,  der  Übergang  vom  dritten  zum  vierten  Zweizeiler,  zu  einer  starken  Peri* 
petie.  Vorher  ein  klagendes,  blasses,  sich  von  Zweizeiler  zu  Zweizeiler  weiterquä- 
lendes Zurückblicken  auf  die  durch  den  Niederstieg  zur  Erde  eingebüßte  vor- 
geburtliche Seligkeit  in  Gottes  Vaterhaus;  dann,  nach  erreichtem  Tiefpunkt,  oder 
vielmehr  unmittelbar  in  diesem  Tiefpunkt,  der  Umschwung,  der  aus  dem  ver- 
zweifelten Bewußtsein  desWelkens  in  wunderbarem,  logLsch  nicht  zu  fassendem, 
aber  absolut  glaubwürdigem  Aufschwung  die  Gewißheit  der  neuen  Blüte  gewiimt, 
—  eine  Gewißheit  nicht  trotz  des  Welkens,  sondern  aus  ihm.  Und  von  da  an 
wechselt  der  Ton,  und  die  Übergänge  der  Zweizeiler  werden  zu  stolz-bestimmten 
Triumphrufen  eines  Siegers  über  das  Leben. 

Diese  für  das  Allmählichkeitsbedürftiis  des  „modernen  Menschen"  erschreckende 
Übergangslosigkeit  in  dem  zweihälftigen  Gedicht,  dieser  gewaltsam  unbegründete, 
weil  im  Tiefsten  gewaltig  gegründete  „Stimmungswechsel"  ist  der  gleiche,  der 
diesem  modernen  Menschen  immerhin,  sofern  seine  Erfahrung  nichts  davon  weiß, 
aus  zahllosen  Psalmen  geläufig  sein  könnte,  wenn  er  nicht  vorzöge,  diese  Psalmen 
lieber  in  zwei  Hälften  zu  zerschneiden,  durch  deren  Zuweisung  an  verschiedene 
Verfasser  er  sich  dann  vor  der  bestürzenden  Erfahrung,  was  alles  in  einer  Men- 
schenseele geschehen  kemn,  sichert. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  4  „schwand  sein  Schaum"  ist  Zusatz;  im  Original 
steckt  das  Wortspiel  mit  dem  „Traum"  der  vorhergehenden  Zeile  schon  in  dem 
„Schützt  nicht".  Zeile  12,  zweite  Hälfte  ist  Zusatz;  im  Original  Verdoppelung  des 
„Band  sie  band"  von  Zeile  1 1  durch  „Schwm-  sie  schwor". 


BEI  DIR  /  ■'nsn  Qltil  ^T\yT 

Luz.,  Div.  Nr.  30.  Harkavy  II  85.  Brody  II  ll6f.  Brody-Wiener  153. 

Es  hat  für  den  jüdischen  Dichter  nicht  erst  des  Piatonismus  bedurft,  um  zu  wissen, 
was  Jesaia  (45,  4)  und  der  Psalmist  (103,  14  und  139,  l)  gewußt  haben  und  was 
zu  Jeremia  (1,5)  bei  seiner  Berufung  wortwörtlich  gesagt  wurde,  daß  Gott  den 

198 


Menschen,  schon  ehe  er  ins  Leben  tritt,  erkannt  und  geliebt  hat  —  die  hebräische 
Sprache  drückt  beides  unübersetzbar  in  Einem  Wort  aus.  Dieses  Wissen  ist  eine 
tragende  Grundlage  des  menschlichen  Lebens,  mehr  noch  als  selbst  die  Hoffnung 
auf  das  was  jenseits  des  Grabes  uns  erwartet;  denn  diese  Hoffnung  ruht  nur  auf 
jenem  Wissen,  das  eine  im  Leben  selber  sich  bewährende  Gewißheit  besitzt.  Jeder 
Gebiulstag  bestätigt  sie.  So  hat  von  diesem  Wissen  der  Seele  um  ihr  Niedergestiegen- 
sein  mein  unvergeßlicher  Lehrer  im  Gesetz,  Nehemia  Nobel,  an  seinem  50ten  und 
letzten  Geburtstag  gepredigt. 

Zur  Übersetzung:  Die  ersten  vier  Worte  suchen  den  soeben  in  der  Anmer- 
kung bezeichneten  Doppelsinn  des  „Du  kanntest  mich"  herauszubringen. 

GEBET  I  •]iri<  "^b  DI"  "Dnx 
Brody  III  225f. 

Diese  Litanei  —  denn  das  ist  dies  Stück  und  will  es  sein  —  ist  für  den  Gottes- 
dienst des  seelenrichtenden  Neujahrstages  bestimmt.  Es  ist  nicht  zum  Gelesenwer" 
den  gedichtet,  sondern  zum  Gebetetwerden,  Wer  es  liest,  wie  man  ein  Gedicht 
liest,  wird  es  eintönig  und  ohne  Fortschritt  der  Gedanken  finden,  und  mit  Recht; 
man  könnte  die  meisten  Zeilen  auch  anders  reihen,  ohne  daß  es  auffiele.  Aber  es 
will  nicht  so  gelesen  werden,  sondern  jede  Zeile,  wie  sie  durch  den  doppelten  An- 
ruf abgeschlossen  ist,  für  sich.  Jede  Zeile  ist  ein  ganzes  Gebet,  schlicht  und  in  sich 
genug.  Daß  diese  fast  gleichförmigen  Ringe  dann  doch  zu  einer  Kette  gereiht  sind, 
mag  der  nicht  begreifen,  der  meint,  die  Seele  müßte  Gott  Vorträge  halten,  und 
nicht  weiß,  daß  sie  ihm  immer  nur  eines  zu  sagen  hat,  aber  dies  eine  immer  wieder. 

Eine  äußere  und  doch  nicht  bloß  äußere  Gliederung  hat  der  Urtext  doch,  die 
aber  die  Übersetzung  nicht  nachbilden  durfte.  Wie  jede  Zeile  mit  dem  Gottesan- 
ruf beginnt  und  schließt,  der  seit  alters  —  schon  die  Septuaginta  sagt  „Herr"  ^ 
als  Hülle  für  den  unaussprechlichen  Gottesnamen  der  Offenbarung  gebraucht  wird, 
so  ist  dieser  Name  selber  in  seinen  vier  stummen  Konsonanten  in  die  vier  Stro- 
phen hineingeheimnisst,  so  daß  immer  das  erste  Wort  jeder  Zeile,  das  dem  Anruf 
folgt,  mit  dem  Buchstaben  der  Strophe  beginnt  und  die  Zeilenzahl  jeder  Strophe 
—  10,  5,  6 ,  und  wieder  5  —  sich  nach  dem  Zahlenwert  ihres  Buchstaben  be- 
stimmt. 

Was  bedeutet  denn  eigentlich  die  Unaussprechbarkeit  des  Gottesnamens?  Ein 
Studienfreund  von  mir  kam  einst  vom  Besuch  eines  bekannten  Humboldtforschers 

199 


und  erzählte  mit  allen  Zeichen  des  Entsetzens:  „Und  von  Frau  v.  Humboldt  spricht 
er  per  Li!"  OfTenbar  ist  es  also  hier  genau  wie  bei  allen  andern  echten  theolo- 
gischen Problemen:  sie  sind  keine  theologischen  Probleme.  Namen  überhaupt  sind 
nämlich  nur  unter  ganz  besonderen  Bedingungen  aussprechbar.  Es  mißtönt  dem 
guten  Ton  und  dem  natürlichen  Gefühl,  in  einem  Gespräch  zu  dreien,  von  denen 
etwa  einer  sich  wesentlich  nur  hörend  beteiligt,  den  Namen  dieses  einen  auszu- 
sprechen; statt  dessen  wird  man,  wenigstens  für  einen  Augenblick,  diesen  einen 
mit  ins  Gespräch  hineinnötigen  imd  ihn  ^  ansprechen.  Der  Name  ist  also  in  An- 
wesenheit des  Genannten  nicht  aus-,  sondern  nur  anzusprechen,  und  jeder  Name. 
Aller  Name  steht  ursprünglich  im  Vokativ.  Erst  wenn  sein  Träger  herausgegangen 
ist,  kommen  die  andern  Kasus  in  Frage.  Spricht  man  den  Namen  eines  Anwesenden 
aus,  ohne  ihn  anzusprechen,  so  fühlt  sich  der,  wenigstens  in  diesem  Augenblick, 
so  etwas  wie  „herausgesetzt".  Gott  geht  aber  nie  heraus,  und  die  Versuche,  seinen 
Namen  auszusprechen,  hätten  nur  Sinn  als  Versuche,  ihn  herauszusetzen. 

Das  ist  aber  wirklich  die  Absicht.  Wenigstens  gegenüber  dem  „dten  Juden- 
gotte".  Die  Wissenschaft  hat  sich  mit  einer  Zweifellosigkeit  imd  einem  Enthusias- 
mus auf  die  Notiz  des  späten  griechischen  Autors,  welche  die  „wahre  Aussprache" 
des  vierkonsonantigen  Namens  (bei  den  Samaritanern!)  mitteilt,  gestürzt,  die  ihr 
doch  sonst  nicht  in  gleichem  Maße  eignen  —  welcher  wissenschaftliche  protestan- 
tische Theologe  dürfte  sonst,  um  nur  das  Nächstliegende  zu  nennen,  noch  von 
Jesus  und  Maria  sprechen  statt  von  Jeschu  und  Mirjam,  natürlich  mit  betonten 
Endsilben.  Ganz  abgesehen  davon,  daß  in  den  Zeiten,  auf  die  jene  Wissenschjift 
die  Abfassung  des  größten  Teils  der  Bibel  herunterzurücken  pflegt,  der  Deckname 
schon  ganz  allgemein  für  den  eigentlichen  eingetreten  war,  so  daß,  jene  Entstehungs- 
zeit vorausgesetzt,  die  beliebte  Lesung  ungefähr  so  wissenschaftlich  ist,  als  wollte 
man  im  Westöstlichen  Diwan  überall  für  Hafts  Goethe  drucken,  was  ja  bekannt- 
lich einmal  sogar  vom  Reim  gefordert  wird. 

Jenes  Sichverbeißen  hat  also  andere  Gründe,  die  sich  in  die  gelehrte  Eselshaut 
nur  verkriechen.  Man  möchte  den  alten  Judengott  heraussetzen,  man  möchte  ihn 
zu  einem  so  herausgegangenen,  so  „toten  Gotte"  machen,  wie  Zeus  und  ApoUon, 
Baal  und  Astarte  für  die  heutige  Welt  tot  sind.  Das  ist  etwas  sehr  andres  als  die 
altprotestantische  Naivität,  die  den  Namen  mit  den  gar  nicht  als  Vokalen  dieses 
Namens  gemeinten  Vokalen  des  überlieferten  hebräischen  Textes  aussprach  und 
in  Geliert  imd  Klopstock  „dir,  dir,  Jehova,  sang".  Das  war  echte  Naivität,  die  dea 

200 


Namen  nicht  objektivieren  wollte,  sondern  grade  möglichst  nahe  Auge  in  Auge 
mit  ihm  sein;  nur  in  der  Weise  unmöglich,  wie  weim  ein  Kind  den  Vornamen  der 
Mutter  aufgeschnappt  hat  und  nun  mit  diesem  in  seinem  Munde  unmöglichen 
Namen  die  Mutter  anzureden  versucht. 

Denn  allerdings,  es  kommt  nur  darauf  an,  ob  der  Name  in  meinem  Mimd  ein 
angesprochener  und  nicht  nur  ein  ausgesprochener  ist.  Droht  ihm  Gefahr,  das  letz- 
tere zu  werden,  so  rette  ich  mich  in  einen  neuen  Namen,  der,  bloß  zwischen  mir 
und  dem  andern  gesprochen,  den  eilten  überdeckt  Der  erste  wird  mir  dann  unaus- 
sprechlich, obwohl  er  durch  den  zweiten  noch  durchschimmert  und  stumm  mit- 
gesprochen wird;  aber  der  zweite  wird  zum  eigentlichen  Namen,  ansprechbar  für 
den,  der  djizugehört.  Wer  künstlich  auf  den  alten  zurückzugreifen  versucht,  schließt 
sich  selber  aus  dem  Kreis  der  Dazugehörigen  aus. 

Man  kann  in  nachträglicher  Rationalisierung  sich  diese  Verhältnisse  zurechtlegen 
als  Namenszauber  und  dergleichen.  Das  sind  Nachträglichkeiten,  auch  wenn  sie  von 
den  Namengebern  selbst  kommen.  Wer  keinen  so  ungeheuren  Wert  darauf  legt, 
sich  von  den  Negern  zu  unterscheiden,  wie  man  es  als  deutscher  Philosophie- 
professor allerdings  vielleicht  muß,  kann  in  den  Namen,  die  in  seinem  eigenen 
Munde  sind,  und  mit  denen  er  seine  nächsten  und  fernsten  Menschen  anredet,  alle 
Primitivitäten,  Numinositäten  und  Fascinositäten  der  vergleichenden  Religions- 
wissenschaft  entdecken. 

Aber  hat  denn  Gott  einen  Namen?  Sind  nicht  alle  Namen  hier  nichts  als  Ver- 
suche, den  Unnennbaren  zu  nennen?  Darf  man  also  hier  irgendeinen  Namen,  und 
sei  es  den  Namen  Gott  selbst  —  denn  auch  dies  ist  ein  Name  und  heut  der  Name  — 
so  ernst,  also  so  wirklich  nehmen,  wie  den  Namen,  den  der  Mensch  hat?  Das  ist 
eine  sehr  ernste  Frage. 

Aber  „hat"  denn  der  Mensch  seinen  Namen?  Wird  er  nicht  auch  ihm  erst  ge- 
geben? Und  hat  er  ihn  anderswo  als  im  Munde  derer,  die  ihn  ihm  geben?  Hat 
sein  Name  eine  andre  Wirkliclikeit  als  -»  genannt  zu  werden?  Wenn  Jehuda  Haie  vi 
und  die  Judenheit  der  Jahrtausende  Gott  mit  dem  vertrauten  Namen  dieses  Ge- 
dichts anspricht,  durch  den  doch,  wie  gleichfalls  in  diesem  Gedicht  ganz  deutlich, 
der  geheime  und  unaussprechliche  durchscheint,  so  heißt  Gott,  wenn  er  nur  der 
lebendige  Gott  ist  und  kein  toter  Götze,  wirklich  so  wie  er  angesprochen  wird. 
Und  wenn  Sabbatai  Zewi  den  Eintritt  des  Himmelreichs  in  diese  Welt  zu  erzwingen 
sich  vermißt,  indem  er  den  Namen  nach  seinen  Buchstaben  ausspricht,  so  stellt 

201 


sich  sein  Scheitern  eben  daran  dar,  daß  er  doch  nur  die  Vokale  aussprechen  kann, 
die  gar  nicht  den  Sinn  einer  Angabe  der  richtigen  Aussprache  haben,  und  daß 
ihm  also  der  Versuch,  das  Ende  der  jüdischen  Wehgeschichte  zu  erspringen,  genau 
so  mißlingt  wie  den  heutigen,  die,  indem  sie  statt  „Gott"  die  behauptete  „wissen- 
schaftliche Aussprache"  sagen,  aus  dem  Kreise  dieser  jüdischen  Weltgeschichte, 
der  sie  schon  eingekreist  hat,  wieder  herauszuspringen  suchen. 

>Aber  heißt  denn  Gott,  der  Gott  der  Welt  und  Weltgeschichte,  wirklich  so, 
wie  Jehuda  Halevi  ihn  nannte  und  ihr  ihn  nennt?f  ^  ,Jleißt"  denn  Frau  v.  Hum- 
boldt Li? 

Zur  Übersetzung:  Dritter  Absatz,  Zeile  12:  „dieweil  er  freundlich  ist  zu  allen, 
die  zu  ihm  hin  hangen." 


MENSCHENSCHWÄCHE  /  X\1Z^  "Q  "j^K  IfflX  pu  ]"'52i{n  n7J 
Luz.,  Div.  Nr,  46.  Harkavy  II  149f.  Brody  II  300. 

Diese  kleine,  ganz  bewegte  und  bewegliche  Reflexion,  die  aus  dem  reinen  Selbst- 
gespräch ins  Dramatisierte  Und  gar  in  zwei  Akten  Dramatisierte  —  und  alles  in 
drei  Zweizeilern  ^  gerät,  mündet  in  einem  Wortspiel,  das  doch  mehr  als  Spiel  ist. 
Denn  das  Derivat  der  Wurzel  „schaffen",  das  in  seiner  Form  vollkommen  beid- 
lebig  zwischen  aktiver  und  passiver  Möglichkeit  steht  ^  Luther  übersetzt  es  mit 
Sinn,  Gedanke,  Dichten,  Dichten  und  Trachten,  Gemachte  — ,  bezeichnet  in  dieser 
seiner  zweideutigen  Zwischenstellung  zwischen  Geschöpf  und  Schöpfer  wirklich 
aufs  allergenaueste  den  Sitz  unsrer  Schwäche.  Die  nämlich  grade  darin  liegt,  daß 
wir  stark  sind,  und  daß  diese  Stärke  erst  dann  versagt,  wenn  sie  beansprucht  wird. 
In  dieser  verzweifelten  Erfahrung,  daß  unser  eigenes  Wesen  immer  wieder  auf- 
hört, unser  Eigen  zu  sein,  lehrt  uns  die  Zeit,  die  treulose,  der  wir  doch  immer  wieder 
trauen  müssen,  eben  durch  ihre  Treulosigkeit,  daß  unser  Werk  so  wenig  ims  ge- 
hört wie  unser  Tag. 

So  dicht  beieinander  wohnen  Stärke  und  Schwäche  des  Menschen,  daß  die  Frage 
der  Vorsätzhchkeit  eigentlich  nur  in  der  Theorie  gestellt  werden  kann,  nur  um  der 
begriffcmäßigen  Scheidung  willen.  Also  praktisch  doch  nur,  wo  wir  den  Begriffen 
Herrschaft  über  das  Leben  zu  verschaffen  suchen,  im  Recht.  Der  Strafrichter  mag 
auseinanderzulegen  suchen,  wieviel  Vorsatz  und  wieviel  Unzurechnungsfähigkeit 
in  einer  Tat  steckten.  Aber  überall  dei,  wo  die  Tat  nicht  nachträglich  auseinander- 

202 


gelegt  wird,  sondern  in  ihrer  gegenwärtigen  Ganzheit  wirkt,  da  wird  diese  an« 
scheinend  bedeutsame  Unterscheidung  bedeutungslos.  Also  erstens  für  die  verletzte 
Weltordnnng,  die  nach  Wiederherstellung  durch  heilende  Gegentat  verlangt  — 
Gegentat,  die  immer  etwas  Symbolisches  behalten  muß,  weil  es  ja  unmittelbar  nur 
Taten  gibt  und  keine  „Gegentaten".  Zweitens  aber  auch  vor  der  göttlichen  Gnade, 
die  nach  dem  großen  Wort  des  Talmud  aus  Taten  des  Vorsatzes  Taten  der  Sinn- 
verwirrung macht.  Und  endlich,  am  erstaimlichsten,  auch  für  das  Bewußtsein  des 
Täters  selbst,  das,  wenn  und  weil  es  der  Tat,  der  eigenen  Tat,  nicht  mit  Versuchen 
wissenschaftlicher  Zergliederung  gegenübertreten  darf,  sondern  ihr,  die  für  es  noch 
Gegenwart,  lastende,  unerledigte  Gegenwart,  ist,  als  einem  unteilbaren  Ganzen  ins 
Auge  sehen  muß  und  das  infolgedessen  nicht  wissen  kann,  wo  das  Bewußtsein  auf- 
gehört und  die  Verwirrung  begonnen  hat;  es  muß  die  Berufung  auf  die  eigne  Ge- 
schöpfllchkeit,  die  doch  sein  Fürsprech  vor  Gottes  Thron  unüberhörbar  für  es  ein- 
legt, für  sich  selber  ab  eine  unwürdige  Ausflucht  verschmähen «-  wie  der  Dichter 
dieses  Gedichts. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 


UMKEHR  /  ^mxn  b5  "]nj3  ^315« 

Luz.,  Div.  Nr.  52.  Sachs  35f.  Harkavy  U  90ff.  Brody  III  226ff.  Brody- 
Wiener  167f. 

Nicht  zurück  auf  den  Ursprung,  sondern  aus  der  Mitte  des  Lebens  blickt  dieses 
Gedicht,  das  mancherorts  in  die  Morgenliturgie  des  Versöhnungstages  aufgenommen 
ist.  Aus  der  Mitte  des  Lebens,  die  auch  hier,  wie  in  dem  berühmten  lateinischen 
Hymnus,  vom  Tod  umfangen  ist.  Oder  um  es  wörtlich  mit  dem  Dichter  zu  sagen: 
die  Tod  schon  mitten  im  Leben  sein  kann.  Aber  auch  —  und  dies  ist  die  eigene 
Wendung  des  Gedichts  —  Leben  noch  mitten  im  Tod.  Dieses  Entweder-Oder  des 
von  Gott  Entfernt-  und  des  an  Ihn  Geschmiegtseins  sammelt  die  ganze  Energie 
in  deis  was  zwischen  beiden  liegt:  die  L^mkehr  der  Buße.  Vor  dem  Auge  steigt  in 
immer  neuen  Bildern  das  Ende  auf,  die  Jugend  ist  vorbei,  die  Gewalt  der  Triebe, 
der  Welt,  die  doch  Gott  selbst  dem  Menschen  ins  Herz  gegeben  (Pred.  3, 1 1),  scheint 
riesengroß,  unüberwindlich.  Der  Mantel  der  guten  Werke  ist  herabgesunken.  Nackt 
und  bloß  kann  sich  der  Mensch  mit  keiner  andren  Gerechtigkeit  bedecken  als 
mit  der  Gottes  selber.  Und  so  wird  das  letzte  Wort  seiner  Umkehr  kein  andres 

203 


sein  können  als  das,  womit  sie  anhub,  das  Wort  der  Sehnsucht.  Nach  allem  Regen 
der  Zunge  kein  andres  Wort  als  das  ihm  zuerst  und  als  erstes  von  den  Lippen 
ging.  Denn  diese  Sehnsucht  ist  die  Erfüllung,  wie  sie  die  Leere  war.  Sichsehnenmüssen 
wird  zu  Sichsehnendürfen.  Gott  gefunden  haben  ist  kein  Abschluß,  sondern  selber 
ein  Anfang.  Suchen  und  Finden  unterscheiden  sich  hier  nicht  wie  Präsens  imd 
Perfektum,  sondern  sind  beides  Futura,  nur  jenes  ein  zeitliches  und  dieses  ein 
ewiges.  Das  Wort  der  Sehnsucht  sprechen  beide. 

Zur  Übersetzung:  Seite  62,  Zeile  7f.:  Die  „Becher"  sind  ebenso  Zusatz  wie 
die  „Zangen".  Zeile  15f.: . . .  ehe  /  ein  Teil  von  mir  dem  andern  Teile  schwer  wird. 
Zeile  24:  wann  endlich  werde  schaffen  für  mein  Haus  ich?  ^  Seite  63,  Zeile  ll£: 
In  Wind  verstreun  sie  meine  eine  Hälfte,  dem  Staub  zuwenden  werden  sie  die 
andre. 


DER  LOHN  /  nns  HKID  Hlp^ 

Luz.,  Div.  Nr.  14.  Harkavy  U  139£  BrodyWiener  154. 

Der  dritte  Zweizeiler  dieses  kleinen  Gedichts,  der  ^  im  Original  mit  den  Worten, 
mit  denen  die  Kundschafter  (4  M.  13, 27)  die  Schilderung  der  Frucht  des  Landes 
einleiten  --  von  der  Sehnsucht  der  Seele  übergeht  zur  Beschreibung  des  Lohns,  der 
ihrer  harrt,  umschließt  eine  Reihe  von  Gedanken,  die  dem  Dichter  ebenso  selbst« 
verständlich  sind,  wie  seinem  heutigen  Leser  fremd. 

Schon  die  grundlegende  Voraussetzung,  daß  der  Mensch  überhaupt  beim  Tun 
an  Lohn  denken  darf,  ist  den  Heutigen  ein  überwundener  Standpunkt.  Der  ganze 
Stolz  des  Menschen  verschanzt  sich  heut  in  die  Burg  des  Gedankens  der  lohnlosen 
Tat.  Von  da  schaut  er  verachtungsvoll  herab  auf  die  „Ethik  der  Bibel",  nämlich 
leider  des  Neuen  Testaments  nicht  minder  wie  des  Alten,  die  sich  auf  derselben 
Heerstraße  bewegt  wie  die  ganz  unethische  Moral  des  Alltags,  die  das  Ehrlichsein 
empfiehlt,  weil  es  „am  längsten  währt",  und  vor  „allzuviel"  warnt,  weil  es  „unge* 
sund'  ist.  Die  Verwandtschaft  ist  unleugbar.  Man  hat  sich,  wenn  die  Diskrepanz 
mit  der  philosophischen  Ethik  einem  frommen  Denker  einmal  gar  zu  unerträglich 
wurde,  wohl  mit  dem  Gedanken  der  Erziehung  zu  helfen  gesucht,  doch  vom  Stand^- 
punkt  der  strengen  lohnlosen  Ethik,  der  es  niu-  auf  die  Gesinnung  ankommen  darf 
imd  gar  nicht  auf  die  Tat,  wäre  solche  Erziehung  nur  Verziehung.  Aber  sollte  nicht 
doch  ein  tieferer  Grund  für  jene  Begegnung  der  „Ethik  der  Bibel"  und  der  Unmoral 

204 


des  Alltags  vorhanden  sein?  Wie  heißt  denn  das  Flachland,  in  dem  sich  die  beiden 
tief  unter  der  Wolkenburg  der  Etliik  begegnen? 

Die  Ebene,  in  die  sich  die  Bibel  begibt,  ist  die  Ebene  der  Erfahrung.  Die  War- 
nungen und  Ratschläge,  die  der  gesunde  Menschenverstand  des  Sprichworts  zu 
geben  hat,  sind  nichts  als  Erfahrungen  ->  vom  goldenen  Boden,  den  das  Handwerk 
hat,  bis  zu  dem  Fall,  der  auf  den  Hochmut  folgt.  Eben  aus  dieser  Niederung  der 
Erfahrung  flüchtet  die  philosophische  Ethik  in  ihre  reineren  Höhen.  Eben  in  diese 
Niederungen  steigt  die  Bibel  hinab.  Und  nun  allerdings  umfaßt  die  Erfahrung,  auf 
die  sie  weist,  nicht  wahllos  alles,  was  der  Horizont  des  Lebens  einschließt,  wie  das 
bei  der  moralischen  Welterfahrung  des  Sprichworts  der  Fall  ist,  sondern  nur  einen 
kleinen  ausgewählten  Abschnitt,  der  freilich  die  Tendenz  hat,  sich  fortgesetzt  zu 
erweitem  bis  —  nicht  bis  an  den  Horizont,  sondern  bis  an  der  Welt  Enden.  Anders 
gesagt:  diese  Erfahrung  ist  nicht  einfach  die  Summe  der  gemachten  Erfahrung,  son- 
dern gestiftete  und  verheißene  Erfahrung.  Sie  ist  Erfahrung  nur  für  die,  die  aus 
jener  Stifhmg  zu  kommen  sich  bewußt  und  in  jene  Verheißung  zu  gehen  ent- 
schlossen sind.  Den  andern  ist  sie  unsichtbar.  Diesen  ist  sie  Erfahrung. 

Es  ist  aber  eine  große  Sache,  daß  diese  Erfahrung  dieselbe  brutale  Wirklichkeit 
hat,  wie  die  Erfahrung  des  Alltags.  Eine  so  große  Sache,  daß  sie  sicher  nur  sehr 
selten  vorkommt.  Denn  sie  kann  eben  nur  da  gemacht  werden,  wo  ein  Mensch 
ganz  zwischen  jener  Gewißheit  und  dieser  Entschlossenheit  ausgespannt  ist.  Zum 
Erziehen  ist  sie  gar  nicht  geeignet.  Sie  verlangt,  um  gemacht  zu  werden,  selber 
schon  Erzogene  "  Erzogene  des  Lebens.  Frage  sich  doch  einmal  jeder  selbst,  ob 
es  wirklich  so  leicht  leben  ist  in  der  Gewißheit,  daß  jede,  aber  auch  wirklich  jede 
Tat  ihre  Folgen  für  ihren  Täter  ^  nicht  für  „die  Welt"  ^  haben  wird.  Leichter, 
wirklich  leichter  als  in  der  Gewißheit,  daß  nur  die  Tat  "  nicht  etwa:  getan  wer- 
den, sondern:  für  gut  gelten  darf,  die  aus  einem  guten  Willen  kommt?  Was  fordert 
eigentlich  diese  Theorie,  außer  daß  sie  angenommen  wird?  Fordert  sie  eine  Tat? 
Oder  warnt  sie  nicht  vielmehr,  sich  vor  Taten  zu  hüten?  Vom  Daimonion  des 
Sokrates  bis  ziun  kategorischen  Imperativ,  bis  zur  Vemünftigkeit  des  Wiiklichen, 
bis  zum  Pathos  der  Distanz? 

Die  zweite  dem  Dichter  selbstverständliche,  dem  Leser  unselbstverständliche 
Voraussetzung  ist  die  völlige  Gleichgeordnetheit  des  „sinnlichen"  und  „geistigen" 
Lohns,  des  Wonnesafts  und  der  Weisheit.  Der  Dichter  scheint  hier  so  wenig  einen 
Unterschied  zu  sehen  wie  die  Bibel,  der  ja  ebenfalls  das,  was  man  heut  jenseitig 

205 


und  was  man  heut  diesseitig  nennt,  hoffnungslos  ineinanderfließt.  Unsre  Begriffe 
von  Jenseits  und  Diesseits  platonisieren;  sie  sind  viel  zu  statisch;  sie  machen  aus 
dieser  und  jener  Welt  zwei  nebeneinander  bestehende  Wesenheiten,  deren  Haupt- 
unterschied praktisch  der  ist,  daß  wir  an  diese  Welt  glauben  und  an  jene  nicht. 
Im  Sinn  jener  imfruchtbaren  Unterscheidung  ist  die  von  Gott  verheißene  und  vom 
Menschen  erhoffte  andre  Welt  sowohl  jenseitig  als  diesseitig:  jenseitig,  ganz  jenseitig 
gegenüber  dieser  jetzigen  Welt;  diesseitig,  ganz  diesseitig  für  uns,  die  wir  sie  er- 
warten. Diese  Welt  vergeht,  wenn  jene  kommt;  wir  bleiben.  Welchen  Sinn  hat 
gegenüber  dieser  Gewißheit  noch  die  Frage,  ob  sie  „jenseitig"  oder  „diesseitig"  sei  -^ 
eine  Frage,  die  unsre  Propheten  und  die  Apostel  des  Christentums  überhaupt  nicht 
verstanden  hätten.  Gebt  einem  Hungrigen  ein  Stück  Brot  —  er  wird  nicht  fragen, 
ob  es  aus  inländischem  oder  ausländischem  Mehl  gebacken  sei. 

Aber  auf  diesem  Grunde  hat  dann  jene  letzte  Freiheit  erwachsen  können,  die 
im  Überschwang  der  schon  in  der  jetzigen  Welt  gefühlten  Gottesliebe  die  Wonnen 
der  künftigen  verschmäht,  etwas  toto  coelo  "  wirklich  um  einen  ganzen  Himmel  ^ 
andres  als  die  stoisch-hochmütige  Lohn  Verachtung  des  Kantianers,  denn  hier  glaubt 
und  weiß  der  Liebende,  daß  „eine  Stunde  Seligkeit  der  kommenden  Welt  mehr  ist 
als  das  ganze  Leben  in  dieser",  und  zieht  dennoch  die  eine  Stunde  tätiger  Gottes- 
nähe  in  dieser  Welt  dem  ganzen  Leben  der  zukünftigen  vor,  aus  dem  höchsten 
Überfluß  der  Liebe,  dem  keine  Zukunft  mehr  die  ganz  erfüllende  Gegenwart  ver- 
drängen kann. 

Solche  letzte  Vermischung  der  beiden  Welten  findet  aber  eine  Grenze,  und  zwar 
grade  an  dem  Punkt,  wo  die  Heutigen  die  Scheidemauer  gern  niederrissen:  beim 
Tod.  Dies  ist  die  dritte  jener  Voraussetzungen,  die  in  den  beiden  Zeilen  enthalten 
sind.  Der  Tag  „ihrer  Trennung"  vom  Leibe,  der  im  Original  mit  noch  viel  tollerem 
Wortspiel  als  in  der  Übersetzung  zum  Tag  wird,  wo  die  Seele  die  „Frucht  ihres 
Glaubens"  schmaust,  dieser  Tag  hört  nicht  auf,  ein  Tag  zu  sein,  und  wird  diurch 
kein  „Ewigsein  in  jedem  Augenblick"  verdrängt.  Was  hindert  wohl  den  Dichter, 
dieses  „Ewigsein  im  Augenblick",  das  er  doch  -'  viele  Stellen  dieser  Gedichte  zeigen 
das  —  ebensogut  kennt  wie  seine  modernen  Leser  und  ihr  Gewährsmann,  an  Stelle 
des  Scheidetages  zu  setzen? 

Die  Ewigkeit  kann  freilich  in  jeden  Augenblick  einbrechen,  aber  was  sie  dann 
ergreift,  ist  auch  nur  eben  dieser  Augenblick.  Dzis  Leben  im  ganzen  ist  in  wenigen 
Augenblicken  so  enthalten,  daß  sie  es  in  ihnen  fassen  kann.  Im  Augenblick  der 

206 


Geburt  als  ein  bevorstehendes,  in  ein  oder  zwei  Momenten  des  währenden  Lebens 
als  ein  sich  entscheidendes,  im  Tod  als  ein  vollendetes.  Also  nur  im  Tod  als  ein 
wirkliches  „vorhandenes"  Ganzes.  Diese  weltmäßige  Wirklichkeit  hat  das  Leben 
nur  hier,  und  es  hier  dem  Zugriff  der  Ewigkeit  entziehen  wollen,  das  würde  heißen, 
daß  das  Leben  niemals  ein  gelebtes  Ganzes  sein  dürfte. 

Von  den  Dingen,  die  sich  im  Leben  ereignen,  wissen  wir  etwas.  Vom  Tode  wissen 
wir  weniger  und  mehr,  nämlich  nichts  und  alles.  Alles,  was  er  für  uns  Lebendige 
ist,  nichts,  was  er  für  uns  Gestorbene  sein  wird.  Jenes  Diesseitswissen  vom  Tode 
ist  unser  kostbarster  Wissensbesitz  und  wird  durch  jeden  Zuwachs  an  echtem  Wissen 
mitgemehrt;  wer  das  Geheimnis  jenes  Nichts  unsres  Jenseits wissens  vom  Tod  nicht 
respektiert,  sondern  sich  mit  den  Toren,  die  es  zu  jeder  Zeit  unter  wechselnden 
Namen  gibt,  daran  vergreift,  dem  geht  zur  Strafe  auch  jene  echte  Allwissenheit, 
die  er  besitzt,  verloren.  Wohl  besteht  ein  Zusammenhang  zwischen  dem,  was  uns 
ja  nur  deshalb  von  hier  aus  ganz  bekannt,  viel  bekannter  als  irgend  etwas,  sein 
kann,  weil  es  uns  von  dort  ganz  unbekannt  ist.  Es  ist  das  Gleiche,  was  wir  von 
hier  ganz  und  von  dort  gar  nicht  sehen.  Was  hier  wahr  ist,  ist  es  auch  dort  Aber 
diese  Gewißheit,  die  den  Fuß  nicht  wanken  läßt,  wenn  er  sich  der  Grenze  nähert, 
die  das  AUbekaimte  vom  Allunbekannten  scheidet,  erhellt  dem  Auge  das  Dunkel 
nicht,  worin  das  Unbekannte  liegt. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 


DIESE  SEELE  HIER  /  n^mb  112  DSDI  nDÄ<3  TV:  "jl-ub 
Luz.,  Div.  Nr.  64.  Harkavy  II  lOOff. 

Die  Seele  ist  kein  Ding.  An  dieser  Wahrheit  scheitert  alle  Psychologie,  von  Aristo- 
teles und  Thomas  bis  zu  Haeckel  und  Wimdt.  Der  Schein,  daß  sie  doch  ein  Ding, 
„Substanz",  „etwas"  sein  müsse,  wird  dadurch  erweckt,  daß  sie,  wie  die  Dinge,  „hier" 
ist.  Aber  die  Dinge  können  zwar  „hier"  sein,  aber  ebensogut  auch  „dort".  Die  Seele 
kann  immer  nur  „hier"  sein.  Eine  Seele  „dort",  eine  Seele  in  der  dritten  Person, 
gibt  es  nicht.  Sie  ist  immer  anwesend,  ^  meine  Seele,  deine,  eure,  unsre  Seele, 
immer  also:  diese  Seele  hier. 

Das  Gedicht,  dem  Hymnus  des  sabbatlich-festtäglichen  Morgengebets  „Die  Seele 
alles  Lebendigen"  zugeordnet,  richtet  sich  mit  einer  Intensität,  die  über  die  For- 
derungen der  Kunst  hinwegschreitet,  auf  diese  Hierhaftigkeit.  In  dreien  von  den 

207 


sechs  Gürteln  reimt  es  auf  das  „diese  hier"  der  Seele  (Jer.  38, 16)  das  „dieses  hier" 
einer  andern  Bibelstelle,  die  sich  in  diesem  Zusammenhang  auf  die  Seele  beziehen 
läßt.  So  steigen  für  die  vom  göttlichen  Thron  gesunkene  Perle,  die  nun  auf  Erden 
Magddienste  tut,  gleichnisweise  die  Gestalten  der  biblischen  Frauen,  einer  Rahel, 
einer  Hagar  herauf  --  „gleichnisweise"  ist  schon  zu  viel  gesagt  für  dieses  bloße 
Herausgreifen  des  einen  Wortes  „dieses  hier",  das  schließlich  in  der  Anwendung 
des  psalmistischen  (80, 15)  Vergleichs  Israels  mit  dem  Weinstock  auf  die  Seele  seinen 
Höhepunkt  findet. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  If.:  „Die  Hände  des  Gedankens  sind  zu 
kurz  /  um  sein  Wunder  zu  erreichen,  //  und  für  mich  sind  zu  erhaben  /  die  hohen 
Türme  seiner  Grröße." 

WAHN  UND  WAHRHEIT  /  d^plDH  "nl  niDlöK  fiyiT 
Luz.,  Div.  Nr.  29.  Harkavy  II  144f.  Brody  III  143. 

Einen  Ort  aber  hat  die  Seele  doch,  nur  ist  er  kein  Dort,  auf  das  der  Finger 
weisen  könnte,  sondern  ein  Zwischen.  Sie  bewegt  sich,  kann  sich  bewegen,  zwischen 
zwei  Polen,  Wahn  und  Wahrheit,  Welt  und  Dienst,  den  Larven  und  dem  Ange- 
sicht. Das  sind  drei  Bezeichnungen,  die  zwar  diu-chaus  nicht  „dasselbe  bedeuten"'- 
diese  beliebte  Kategorie  der  gelehrten  sowohl  wie  der  populären  Metaphysik  be- 
leidigt nicht  bloß  den  gesunden  Sprachverstand  des  Dichters,  sondern  des  Sprechen- 
den, jedes  Sprechenden,  überhaupt  --,  aber  die  für  die  Seele,  die  sich  zwischen 
ihnen  bewegt,  in  der  gleichen  Blickrichtung  liegen.  Indem  sie  sich  in  Wahn  ver- 
strickt, verfällt  sie  auch  der  Welt  und  ihren  Götzen;  wenn  sie  in  der  Wahrheit 
bleibt,  so  verharrt  sie  auch  im  Dienst  und  steht  vor  dem  göttlichen  Angesicht. 
Geistbestimmte  Ordnung,  leibhaftige  Form,  geheime  Schau  der  Seele  sind  nicht  eins, 
aber  fallen  in  diesem  Dichterleben  zusammen,  dessen  Einheit  grade  eine  Einheit 
des  vor-  imd  nachher,  auch  im  „altfüdischen"  Leben,  nur  zu  oft  Getrennten  ist. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  2:  „unter  Floren"  ist  Zusatz.  Zeile  8:  die  Erde  den 
Barbaren. 

FRAU  WELT  /  ^sib  b2T)  nn^n  msD 

Luz.,  Div.  Nr.  32.  Harkavy  I  58.  Brody  II  292. 

Deis  kleine,  mit  einem  ungeheuren  Explosivstofi^  geladene  Gedicht  nimmt  den 
allgemeinmittelalterlichen  Typus  der  „Frau  Welt"  auf.  Aber  weder  sein  Verhält- 

208 


nis  zur  Frau  noch  sein  Verhältnis  zur  Welt  erlaubt  dem  jüdischen  Dichter,  wie  es 
der  christlichmittelalterliche  Meister  in  Wort  und  Gcbild  tut,  die  Frau  schlechthin 
und  die  Welt  schlechthin  als  Versucherin  darzustellen.  Er  muß  das  Bild  vielfach 
spezialisieren,  damit  es  jüdisch  stimmt.  Das  Mittel  zu  solcher  Spezialisierung  gibt 
ihm  das  Gesetz. 

Nicht  das  Weib  ab  Versucherin,  sondern  eheliche  Verhältnisse  bilden  den  Stoff- 
kreis  der  Gleichnisse.  Die  gegenseitige  Verschmähung,  die  in  der  Mitte  des  kleinen 
Gedichts  das  allgemeine,  ehegesetzlich  unbelastete  Wort  der  Gattenwahl  gebraucht, 
legt  sich  in  den  Eckzweizeilern  in  zwei  Bilder  ganz  spezifischer  Verhältnbse  des 
jüdischen  Ehegesetzes  auseinander:  in  dem  wie  Hammerschlag  niederfallenden  Ein- 
gangsvers die  leibliche  Unreinheit  (3.  M.  15, 19  ff.),  die  dem  eignen  Gatten  und  nur 
ihm,  ihm  aber  absolut,  jede  Berühnmg  der  Gattin  verwehrt;  in  dem  messerscharf 
schneidenden  Sclilußzweizeiler  die  Zeremonie  (5.  M.  25, 5  ff.),  mit  der  die  Bruders- 
witwe den  Schwager,  der  sie  nicht  zur  Ehe  nehmen  will,  als  „Barfüßer'Verächtlich 
macht.  Beides  beruhend  auf  einem  natürlichen  Gefühl,  beides  vom  Gesetz  unge- 
heuer gesteigert,  das  eine  zeitlich  weit  über  die  Naturgrundlage  hinaus  zur  die 
Hälfte  des  Ehelebens  beherrschenden  Vorschrift,  das  andre  aus  einer  vom  Gesetz 
geformten  natürlichen  Reaktion  auf  eine  freiwillige  Handlung  zu  einer  den  Emp- 
fang der  nun  durch  Brauch  und  Gesetz  geforderten  und  erzwingbaren  AVeigcrung 
bestätigenden  bloßen  Geste,  damit  aber  zugleich  aus  einer  immerhin  individuellen 
Situation  zu  einer  allgemeinen  Norm.  Und  beides  doch  im  Rahmen  einer  in  Gesetz 
und  Sitte  gleichmäßig  gegründeten  Heiligung  der  Ehe.  Einer  absoluten  Heiligung, 
nicht  bloß  einer  relativ  zur  „menschlichen  Schwäche". 

Das  ist  nun  in  aller  Genauigkeit  das  jüdische  Verhältnis  zur  „Welt".  Es  ist  voller 
Askese  und  doch  gar  nicht  asketisch.  Prinzipiell  ist  es  sogar  ganz  unasketisch.  Die 
Welt  ist  dem  Juden  nicht  die  zur  Sünde  lockende  Buhlerin,  sondern  das  angeheüigte 
Eheweib.  Aber  sie  ist  „unrein"  geworden,  und  das  Gesetz  dehnt  den  Zaun  um  die 
Enthaltung  von  ihrem  Götzendienst  so  weit,  bis  schließlich  die  halbe  Welt  dem 
Juden  verboten  ist.  Aber  das  ihm  Erlaubte  soll  er  nicht  „haben,  als  hätte  er  es 
nicht",  sondern  wirklich  haben;  ungezählte  Speisen  sind  ihm  verboten,  aber  der 
erlaubten  soll  er  sich  freuen,  und  für  den  Sabbat  fordert  das  Gesetz  die  gesteigerte 
Freude  des  Mahls.  Und  nun  muß  das  anfängliche  Bild  als  unzureichend  verlassen 
werden,  denn  es  drückt  die  dramatische  Wechselseitigkeit  des  Verschmähens  nicht 
genug  aus;  und  das  Gedicht  steuert  los  auf  sein  Schlußbild:  die  Welt,  ihren  Ver- 

u  209 


ächter  verachtend;  was  ursprünglich  Leiden  aus  freier  persönlicher  Tat  war,  Mar- 
tyrium des  Propheten,  das  wird  nun  zu  gewohntem  schicksalhaftem  Leiden  aus 
gewohn t'pf lichtgemäßem  Tun  ^  Judenschicksal.  Weil  aber  Gewohnheit,  deshalb 
wieder  nicht  als  Askese  empfimden,  sondern  als  das  natürliche  Leben,  das  gar 
nicht  anders  sein  kann.  Das  Wissen,  daß  die  Welt  „eigentlich"  ihm  gehört,  zu  Arbeit 
und  Genuß,  läßt  bei  aller  Askese  keine  asketische  Stimmung  aufkommen,  sondern 
allenfalls  den  trotzigen  Kampfrhythmus  dieses  Gedichts.  Während  das  Bewußtsein 
des  mittelalterlichen  Christen  ganz  voll  Askese  ist  und  grade  deshalb  in  seinem 
Leben  die  Askese  nur  einen  ganz  geringen,  noch  dazu  sorgsam  ständisch  abge- 
grenzten Raum  einnimmt  und  ^  einnehmen  kann. 
Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 


WEISE  LEHREN  /  TlC3  ^13  "^  mtJJ  ^nb  .  '  ■ 

Luz.,  Div.  Nr.  10.  Harkavy  II  79ff.  Brody  11  218ff. 

Die  „Weisheit",  der  sich  der  Dichter  zugeschworen  hat,  besitzt  doch,  so  sehr 
sie  im  ganzen  auf  das  „Bescheide  dich"  herauskommt,  das  in  allen  Zeiten  die  selbst- 
auferlegte Zucht  grade  der  leidenschaftlichen  Naturen  war,  auch  ihre  Kasuistik. 
Eine  solche  Folge  von  Sprächen  liegt  hier  vor.  Man  spürt  hinter  dem  Inhalt  die 
reichen  Möglichkeiten,  aber  auch  Gefahren,  die  der  spanische  Boden  mit  seinen 
zahlreichen  kleinen  Fürstenhöfen  dem  Juden  damals  bot.  Der  formale  Reiz  des 
kleinen  Lehrgedichts  liegt  in  seinem  hurtigen  Rhythmus,  der  durch  den  Binnen- 
reim der  ersten  Zeile  die  Zäsur  gleich  anfangs  stark  betont  und  dadurch  selber 
noch  eine  sozusagen  innere  Beschleunigung  erfährt.  Die  inhaltliche  Schönheit  hängt 
an  der  Einziehung  der  moralischen  Klugheitsregeln  in  das  vor  aller  Klugheit  ge- 
legene Gottvertrauen,  das  in  dem  letzten  Zweizeiler  mit  der  schlichten  Wörtlich- 
keit seines  Bibelzitats,  das  nun  von  Anfang  an  in  dem  Rhythmus  geschlummert  zu 
haben  scheint,  einen  unendlich  rührenden,  stillen  Ausklang  findet. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  11  und  12:  „Nicht  mach'  dich  keck  des  Tanzens  Zeit 
und  nicht  die  Zeit  des  Klagens  zag."  ^  Zeile  16:  „Knechten  von  Knechten  dienst 
du  nur."  —  Zeile  20:  „dem  Pracht  und  Herrlichkeit  gebührt".  —  Zeile  24:  „was  irgend 
Freund  und  Nächster  rät". 


210 


KNECHTE  I  Dn  D^nn?  ^-n'j  -jöt  "Tny 

Luz.,  Div.  Nr.  50.  Brody  II  300.  Brody-Wiener  171. 

„Meine  Knechte  sind  sie",  sagt  die  Thora  zur  Begründung  des  großen  Freiwerdens 
der  Knechte  im  fünfzigsten  Jahr  und  zur  Normierung  der  Herrschaft,  die  ein  Mensch 
über  seinen  Bruder  ausübt  (3.  M.  25,  42  u.  55).  Aus  dieser  Quelle,  aus  der  ein  gut 
Teil,  der  beste  Teil,  aller  seitherigen  Weltgeschichte  geströmt  ist,  hat  der  Dichter 
auch  den  Becher  dieses  Epigramms  gefüllt,  das  ganz  epigrammatisch  beginnt  aU 
eine  enggeführte  Zusammenfassung  aller  ausgebreiteten  moralischen  Weisheit,  die 
je  zu  wissen  wäre,  und  ganz  lyrisch,  mit  dem  Sehnsuchtsruf  der  Klagelieder  (3, 24) 
nach  dem  Gott  des  Herzens,  schließt. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

WELT  /  -11251  -in  r^nn  n^^  ■'anb 

Luz.,  Div.  Nr.  48.  Harkavy  II  150.  Brody  II  289. 

Mit  wenig  Worten  sagt  das  kleine  Gedicht  das  gleiche  wie  manches  andre  mit 
vielen.  Das  Wort,  in  das  es  den  Gegenstand  seiner  Verneinung  hineinbannt  und 
das  ich  mit  „Welt"  wiedergegeben  habe,  heißt  eigentlich:  Zeit.  Es  ist  ein  sehr  merk- 
würdiger Grund,  weuimi  der  Dichter  nicht,  wie  es  z.  B.  doch  sein  großer  Anreger 
Ghazali  tut,  „Welt"  sagt:  In  der  Sprache  der  Bibel  hat  das  Wort,  das  später  für 
„Welt"  gebraucht  wird,  die  Bedeutung  „Ewigkeit".  In  der  späteren  Sprache  mrd 
dann  zwar  zwischen  „dieser"  und  „jener"  Welt  unterschieden,  aber  „Welt"  schlecht- 
weg kann  keinen  pessimistischen  Sinn  annehmen;  djizu  ist  das  Wort  zu  sehr  ge- 
füllt mit  der  Bedeutung  „Ewigkeit";  so  muß  djis  in  der  Sprache  der  Bibel  nicht, 
weder  positiv  noch  negativ,  wertbetonte  Wort  „Zeit"  herhalten. 

Die  Schrift  ist  als  eine  Macht  der  Scheidung  in  die  Welt  gefahren.  Selber  durfte 
sie  eben  deswegen  die  letzte  und  grundsätzlichste  Scheidung,  die  aus  ihr  hervor- 
gehn  sollte,  noch  nicht  enthalten.  Die  Schneide  eines  Messers  darf  nicht  selber  zer- 
schnitten sein.  So  hat  die  Schrift  selber  den  Zwiespalt  von  dieser  und  jener  Welt, 
der  überall,  auch  im  Judentum,  unter  ihrem  Anhauch  sich  auftat  (und  der,  weil 
beide  Welten  als  gleich  wirklich  gewußt  sind,  ein  ganz  andrer  ist  als  der 
griechische  einer  „wahren"  und  „scheinbaren"  Welt),  nicht.  Und  eben  deshalb 
ist  sie  die  Gewähr,  daß  dieser  Gegensatz,  den  sie  selbst  erst  hervorgerufen 
hat,  kein  endgültiger  ist  und  daß  diese  und  jene  Welt  bestimmt  süid,  einmal 

211 


wieder  in  der  Ewigkeit  zusammenzukommen,  aus  der  sie  sich  voneinander  ge^ 
trennt  haben. 

Jehuda  Halevis  Gedicht  ist  mittelalterlich,  nicht  biblisch  und  nicht  messianisch. 
Wer  freilich  meinen  würde,  dieses  Mittelalter  wäre  heute  schon  durch  eine  „Neu- 
zeit" abgelöst,  der  würde  sich  schwer  irren.  Dieses  Mittel-Alter  umfaßt  die  ganze  -* 
Weitgeschichte. 

Zur  Übersetzung:  Außer  dem  Vorstehenden  noch:  Zeile  2:  „. . .,  die  gewunden 
und  krumm  ist?"  -^  Zeile  4:  „zuletzt  geschiehts,  daß  er  ihm  wird  zum  Fallstrick". 

DER  KRANKE  ARZT  \  X31»1  ^:«S1  ^b« 
Luz.,  Div.  Nr.  36.  Harkavy  11  87f.  Brody  II  294. 

Jehuda  Hdevi  war  Arzt.  Deshalb  ist  er  frei  von  jenem  Wunderglauben  an  die 
Macht  der  ärztlichen  Kimst,  dem  auch,  wer  in  gesunden  Tagen  nicht  genug  über 
„die  Ärzte"  spotten  kann,  rettungslos  verfällt,  wenn  er  erst  selber  krank  geworden 
ist.  Und  deshalb  kann  er,  frei  von  jenem  Aberglauben,  um  so  stärker  den  Zusam- 
menhang zwischen  Heilung  und  Heil  spüren,  den  im  Deutschen  schon  die  Sprache 
anzeigt  und  den  das  Jeremiawort  (17,14)  meint. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  6:  nach  Deiner  Einsicht  ist,  was  bös,  was  gut. 

AN  DEN  SABBAT  /  "m^  nnffl«  "innnx  b? 

Harkavy  II  126f. 

Dies  Sabbathed,das  Nobel  am  häuslichen  Tisch  zu  einer  herrlichen,  selbsterfiindenen 
Melodie  sang,  gehört  in  den  Teil  „Seele".  Damit  ist  seine  Eigenart  unter  den  Sabbat- 
liedem,  auch  denen  des  Jehuda  Halevi  selber,  bezeichnet,  die  durchweg  in  den 
Teil  „Volk"  oder  etwa  noch  in  den  Teil  „Gott"  dieser  Sammlung  gehören  würden. 
Die  jüdische  Sabbatdichtung  ist  von  einer  großartigen  Objektivität.  Das  Subjektive, 
der  Sabbat,  der,  wie  die  Alten  doch  auch  wußten,  „dem  Menschen  gegeben  ist" 
(nicht  bloß  der  Mensch  dem  Sabbat),  versteht  sich  von  selbst.  Erst  die  Lurjanische 
Kabbala  bildet  die  Formen  aus,  in  denen  auch  diese  subjektive  Seite  zu  ihrem 
objektiven  Recht  kommt.  Aber  das  Lied  des  Jehuda  Halevi  bricht  für  sich  und 
gEuiz  aus  sich  heraus  die  Bahn.  Es  handelt  vom  Menschen  und  von  seinem  Sabbat  ^ 
nein,  es  handelt  nicht  davon,  es  spricht  selber  zum  Sabbat  und  ergreift  das  Sim- 

212 


pelste,  das  Urphänomen,  in  der  Tatsache  des  Siebenten  Tags,  die  es  hier  nicht 
etwa  polemisch  gegen  die  Feier  des  Ersten  und  Sechsten  wendet,  sondern  ganz  rein 
anschaut.  Weil  der  Scibbat  der  siebente  Tag  ist,  gliedert  sich  die  Woche  auf  ihn 
zu;  die  Tage  werden  zu  „einzelnen  Stunden",  wie  dem  Erzvater  Jakob  die  sieben  Jahre 
des  Dienstes  um  Rahel  zu  einzelnen  Tagen  ^  „so  lieb  hatte  er  sie".  In  fünf  Strophen 
wird  dieser  innere  Rhythmus  der  Woche  im  Spiegel  der  Seele  aufgefangen.  Daim 
mündet  die  sechste  Strophe  in  den  wunderbaren  Vergleich  mit  der  Vorschrift  für 
die  „sieben  Tage  des  Gelages",  die  siebentägige  Hochzeitsfeier,  während  deren 
Dauer  die  ganzen  „sieben  Segenssprüche"  der  Trauung  im  Tischdank  immer  neu 
wiederholt  werden  dürfen,  wenn  neue  Gäste,  „neue  Gesichter"  in  der  Sprache  des 
Gesetzes,  mit  zu  Tisch  sitzen:  so  wird  der  Sabbat  als  ein  „neues  Gesicht"  hoch- 
zeitlich empfangen,  doch  nicht  als  Gast,  sondern  selber  als  der  immer  neue  Hoch- 
zeiter, der  Geliebte  der  Seele.  Und  so  trinkt  ihm  der  Dichter  den  Trank  der  Liebe 
zu,  in  diesem  Lied,  das  nirgends  aus  der  Unmittelbarkeit  der  Anrede,  des  Ich  und 
Du,  herausspringt. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  6,  Zeile  2:  „zu  schaun  Sabbats  Antlitz  als  neues 
Antlitz"  (vergl.  das  in  der  Anmerkiuig  Gesagte). 


EREI  I  '^iniDb  TT  ITSN  135 
Luz.,  Div.  Nr.  49.  Harkavy  U  89£ 

Und  dennoch,  so  spät  es  im  mystischen  Denken  ergriffen  wurde,  ist  der  Sabbat 
ganz  ursprünglich  schon  der  Tag  der  Seele.  Schon  die  Einsetzungsworte,  die  ihn 
am  Abend  in  der  Gemeinde,  am  Morgen  im  Haus  als  das  Schöpfungszeichen 
zwischen  Gott  und  Israel  feiern  (2  M.  31,  I6f.),  gebrauchen  zur  Schilderung  der 
göttlichen  Schöpferruhe  ein  seltsames  Wort,  das,  mag  es  auch  ursprünglich  das  Auf- 
atmen  bedeuten,  doch  für  das  reife  Sprachgefühl  den  Sabb  at  zu  dem  Tag  macht, 
wo  der  Mensch  zu  seinem  Selbst,  zu  seiner  Seele  kommt. 

Dieser  Dreiklang  von  Freiheit,  seligem  Aufatmen,  erfüllendem  Zusichselber- 
kommen  der  Seele  bildet  nun  in  den  drei  Reimschlüssen  der  drei  Zweizeiler  den 
Grundakkord  des  Gedichts.  Er  bildet  aber  auch  den  Grundakkord  des  Sabbats 
selber,  aus  dem  kein  Ton  ausfallen  kann,  ohne  die  Harmonie  zu  zerstören.  Wenn 
man  die  „soziale"  Bedeutung  des  Sabbatgebots,  wie  sie  die  Fassung  des  fünften  Buchs 
der  Thora  hervorhebt,  gegen  die  „religiöse"  des  zweiten  Buchs  ausspielen  möchte, 

213 


so  zeigt  unser  Gedicht,  mit  seiner  Bindung  des  ersten  und  des  dritten  Zweizeilers 
durch  jenes  selige  Wort,  das,  von  der  Ruhe  des  Höchsten  genommen,  doch  für  das 
Aufatmen  des  Knechts  verwendet  wird  (2.  M.  23, 12),  die  Torheit  solchen  Unter- 
fangens. Jede  Trennung  des  „Sozialen"  vom  „Religiösen"  oder  umgekehrt  macht 
das  Soziale  zu  einer  ewig  offenen  Frage,  das  Religiöse  zu  einer  immer  fertigen 
Antwort,  Jener  Frage  entzieht  sie  die  Heilkraft  der  Immerwiederbeantwortharkeit, 
dieser  Antwort  die  Bewährung  der  Immemeufragwürdigkeit.  Die  Freiheit  des 
Knechts  ist  inhaltlos,  wenn  sie  nicht  Freiheit  des  Herrn  ist;  die  Freiheit  des  Herrn 
unwirklich,  wenn  sie  sich  nicht  in  Freiheit  des  Knechts  umsetzt.  Denn  jeder  ist 
Herr,  und  jeder  ist  Knecht. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  3:  Für  „Sonn  deiner  Macht"  hat  das  entsprechende 
Wortspiel  des  Originals  nur  „deine  Wahrheit". 

SABBATMORGEN  /  "1  ijnun  nTn-  n-'S" 

Luz.,  Div.  Nr.  25.  Harkavy  Ü  141  f. 

Ein  Selbstgespräch  des  Beters  mit  seiner  „Einzigen"  ^  so  nennt  der  Psalmist 
(22, 21  und  35, 17)  die  eigene  Seele  ^  über  das  „Geheimnis  der  Zeit":  den  Wechsel 
von  Mühe  imd  Ruhe,  den  der  Sabbat  in  siebentägigem  Rhythmus  der  Seele  bringt 
und  der  doch  zugleich  —  dies  das  Geheimnis  —  bestimmt  ist,  mehr  als  Rhythmus 
der  Seele  zu  sein:  Vorzeichen  des  Weges  der  Welt. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

LEBEN  /  riDi^ax  bN  i<D  "nn^  riTn" 

Luz.,  Div.  Nr.  33.  Harkavy  II  143ff. 

Die  Eine  bekennt  den  Einen  —  Hermann  Cohen  hat  sich  auf  dieses  Gedicht  be- 
rufen, als  er  seine  Alterserkenntnis  des  notwendigen  „Überschritts"  aus  der  „Ethik" 
in  die  „Religion",  die  Erkemitnis,  daß  vor  dem  einzigen  Gotte  auch  der  Mensch 
zum  einzigen,  zum  einen,  zum  einsamen  wird,  in  der  großen  Rechtfertigungsschrift 
seinen  Schülern  kundtat.  Es  ist  wieder  ein  Selbstgespräch  des  Menschen  mit  seiner 
Seele.  Wie  der  Vorbeter  sich  von  der  Gemeinde  bevollmächtigt  weiß,  ihr  für*  und 
vorzusprechen  —  woher  ja  auch  diese  ganze  Gattung  kurzer,  imstrophischer  Ein- 
leitungsgedichte für  den  Vorsänger  ihren  Namen:  Bevollmächtigungen  hat  —  so, 

214 


genau  so,  soll  Seele  für  und  vor  den  Menschen  eintretend,  die  Einzige  zu  dem  Ein« 
zigen,  sprechen.  Und  wie  einem  Bevollmächtigten  der  Auftraggeber  zwar  wohl  erst 
Sinn  und  Inhalt  des  Amts  in  hohen  Worten  sagt,  dann  aber  leicht  ins  einzelne  des 
Diensts  und  seiner  Forderungen  herabsteigt,  so  auch  hier.  Aber  diese  Bevollmäch- 
tigte entzieht  sich  mit  leichter  Bewegung  dem  schulmeisternden  Anspruch.  Sie  bedarf 
der  Bevollmächtigung  nicht,  sie  hat  Vollmacht.  Vollmacht  von  anderswoher,  von 
oben,  der  Heimat,  aus  der  sie,  ein  fremder  Gast '-  was  Wunder,  daß  sie  da  irdischem 
Auge  zu  tiäumcn  scheint,  grade  wo  sie  (Hl.  5, 2)  am  wachsten  ist!  -',  in  diese  Welt 
des  Leibes  imd  des  Todes  herabsank. 

Des  Todes.  Der  und  die  Kürze  des  irdischen  Daseins,  mit  der  die  Mahnrede 
des  Menschen  sie  zu  ihrer  Pflicht  treiben  wollte,  schreckt  sie  also  nicht:  sie  wartet 
grade  auf  den  Abruf,  der  ihr  ein  Heimruf  sein  wird.  Sie  wjir  tod verfallen  im  Leben; 
auf  dem  Stein  aber,  unter  dem  ihr  Leib  verborgen,  geborgen  ist,  wird  das  Wort 
stehn:  Es  sei  Seele  gebunden  in  das  Gebind  des  Lebens. 

Des  Lebens.  An  diesem  Punkt  —'  Übergang  vom  neunten  zum  zehnten  Zwei- 
zeiler '- ,  im  Hebräischen  noch  hervorgehoben  durch  den  beginnenden  Heilruf  des 
m  seiner  das  ganze  Gedicht  gliedernden  Dreiteilung  diesmal  nicht  nachzubildenden 
Namensachrostichons,  an  dieser  Stelle  also  beginnt  die  von  Anfang  an  seltsam  fremde 
Rede  der  Seele  das  Antworthafte  gänzlich  abzustreifen.  Diese  letzten  sechs  Zeilen 
des  Gedichts  sind  ein  einziges  Entschweben  von  unmittelbar,  ich  möchte  sagen, 
musikalLscher  Kraft;  ja  genauer  erinnert  es  mit  seinen  unaufhörlichen,  immer  dichter 
sich  folgenden,  immer  überschwenglicher  aufsteigenden  und  immer  ätherischer, 
immer  femer  entklingenden  Wiederholungen  ein  und  des  gleichen  Motivs  an  die 
entschwebenden  Schlüsse  mancher  langsamen  Sätze  Beethovens.  Das  immer  wieder- 
holte Motiv  ist  eben  das  Wort  Leben.  Von  seinem  ersten  Auftreten  in  dem  Zitat 
des  Grabspruchs  bis  zum  Schlüsse  hat  das  Original  zweiundzwanzig  Worte;  sechs 
davon,  jedes  dritte  also  beinahe,  sind  Worte  des  Lebens.  Immer  gesteigerterer,  immer 
überschwenglicherer,  immer  stillerer  Gewißheit. 

Solche  Gewißheit  aber,  die  im  irdischen  Leben  selber  nur  ein  schwaches,  zittern- 
des Flämmchen  ist,  das  jeden  Augenblick  auszulöschen  droht  — '  und  doch  nie  ver- 
Uscht,  zieht  dennoch  ihre  ganze  Nahrung  aus  diesem  irdischen  Leben,  aus  dem, 
was  in  ihm,  im  Leben  -'  Leben  ist.  Weil  in  dem  Doppclsinn  dieses  Wortes  Erde 
und  Himmel  sich  berühren  und  weil  jener  Grabspruch  voll  überirdischer  Hoffnung 
an  seinem  biblischen  Ursprungsort  (l.  Sam.  25,29)  ganz  diesseitig  gesagt  ist,  weil 

21.7 


also  nicht  bloß  ich,  heut  und  hier,  lebe,  sondern  auch  „mein  Erlöser  lebt"  (Hi.  19, 25) 
und  weil  Seele  sich  in  seinem  Gedenken  (Ps.  115, 12)  gedacht  und  bedacht  weiß, 
heut  und  immer,  hier  und  dort,  darum  ist  sie  auch  seines  fürderen  Segens  gewiß, 
heut  und  immer,  hier  und  dort,  weil  er  ^  lebt.  Und  so  wird  der  Ruf  „Leben!", 
„Zum  Leben!",  „Ins  Leben!",  mit  dem  wir  das  irdische  Leben  zu  grüßen  (l.  Sam.  25,6) 
meinen,  ihr  jetzt,  weil  Ihm,  dem  heut  und  immer,  hier  und  dort  Lebendigen  zugC" 
jubelt,  Einlaßwort  in  die  „Gemeinde  der  Seelen  seiner  Frommen",  die  im  geheimen 
Schöße  des  Lebens  noch  -» nun  zum  dritten  und  letzten  und  abschließenden  Mal, 
diesmal  an  einem  der  trüben  Worte  des  Predigers  (4, 2),  dem  Lob  der  Toten  und 
gar  der  Ungeborenen  vor  denen,  die  „noch"  am  Leben  sind,  die  Wendung  aus 
dem  Heut  und  Hier  in  das  Dort  und  Immer!  ^  „noch"  leben. 

Zur  Übersetzung:  Zeile?:  Dräng  Kummer  weg  vor  Freude, .. .  Zeile  20:  ...ich, 
dunkelverborgen.  Zeile  22fF.:  und  so  wird  „zum  Leben!"  dem  lebendigen  Gotte 
Laut  des  Jubels  /  die  Gemeinde  der  Seelen  seiner  Frommen  rüsten  \  im  Geheim- 
nis des  Lebens,  als  welche  eim  Leben  sind  -'  noch. 

DER  TAG  /  "ria^^j  -jrii^  -"t  -iiptj  rixnpb 

Luz.,  Div.  Nr.  56.  Harkavy  II  97.  Brody  III  118. 

Ein  Blick  aus  dem  Leben  der  Zeit  in  das  Leben  der  Ewigkeit,  der  sich  bricht 
an  der  Wand,  die  zwkchen  beiden  aufgerichtet  steht,  dem  Tag  des  Todes,  und  der, 
mm  hier  Posten  fassend,  von  dieser  Wasserscheide  aus  in  dreimaligem  großen  Augen- 
aufschlagen  beide  Welten  überschaut. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

KEHR  UM,  KEHR  UM  /  ^5^ni57ib  ^BS3  ^nitt 
Sachs  33f.  Brody  III  35f.  Brody-Wiener  156. 

Aus  dem  siebten  Vers  des  116.  Psalms,  den  der  Dichter  wörtlich  wie  er  ge- 
schrieben steht  als  einen  gereimten  Zweizeiler  seinem  Gedicht  voransetzen  konnte, 
hat  er  nicht  bloß  den  Gürtelreim  der  fünf  Strophen  und  den  Rhythmus  des  Ganzen, 
sondern  auch  den  Inhalt  entwickelt.  Das  Wort  der  Um-  imd  Einkehr  in  die  Ruhe 
der  Gewißheit,  daß  Gott  ihm  schon  getan  hat,  worum  sein  Herz  noch  tobt,  ruft 
das  Bild  der  Lebensreise  hervor,  die  nun  zu  einer  Heimreise  wird.  Wie  die  Erz- 

216 


Väter  (l.  M.  23,4)  ist  die  Seele  nur  ein  Fremdling  und  Beisaß  auf  Erden,  aber  die 
Heimat  ist  ilir  verheißen.  Und  der  Schluß  der  letzten  Strophe,  mit  seiner  Umdeutung 
des  taktmäßigen  Zurufs  der  Hochzeitsgäste  an  die  tanzende  Braut  des  Hohenlieds  (7,  l) 
in  den  Ruf  an  die  Seele  —  und  „Sulamith",  die  „Frieden  fand"  (8, 10),  ist  die  hoch- 
zeitende Seele  "  zur  Um-  und  Einkehr,  nimmt  in  seinem  ersten  Wort,  eben  jenem 
„kehr  um",  das  erste  Wort  des  Eingangs-Psalmverses  erfiillungkündend  wieder  auf. 

Zur  Übersetzung:  Vorstrophe,  Zeile  1:  „  ...  zu  deiner  Ruhe."  '-  Strophe  4, 
Zeile  4:  „Bedenk,  was  sagst  du  deinem  Meister!" 

DER  AUFSTIEG  /  "niffl  y^^Tn  bx  m^n"  -niio 

Luz.,  Div.  Nr.  5.  Harkavy  II  139.  Brody  II  217, 

Das  sinnschwere  Wort  der  Kehr  eröffnet  auch  dieses  kleine  Gedicht,  aber  in 
der  Tonart,  in  der  es  das  vorhergehende  große  erst  schließen  durfte.  Hier  ist  Seele 
nicht  erst  die  imruhvolle  Wandrerin,  sondern  gleich  die  aufsteigende,  ja  die  auf- 
gestiegene, die  Siegerin  —  die  Gottestochter,  die  unter  Gottessöhnen  anbetet 

Zur  Übersetzung:  Zeile  4:  . . .,  erbeutetest  Kriegsbeute. 

HAUCH  ALLEN  LEBENS  /  ^H^TCa  mi«  DV.b«  D« 
Luz.,  Div.  Nr.  63.  Harkavy  II  98flF. 

Dieser  große  Hymnus,  auch  er  wieder  für  das  Gebet  „Die  Seele  alles  Leben- 
digen" verfaßt,  dessen  Anfangsworte  sein  Rundreim  fast  wörtlich  auhiimmt,  mag 
die  Gesänge  von  der  Seele  beschließen.  Denn  er  enthält  fast  alles,  was  die  einzelnen 
Gedichte  dieses  Teils  gesungen  haben:  die  Sehnsucht  nach  Gottesschau  noch  im 
Fleisch  und  ihre  Gewißheit  für  den  Tag  des  Scheidens  von  diesen  Gliedern;  die 
himmlische  Herkimft  der  Seele  und  das  Heimverlangen  nach  ihrem  Ursprung;  die 
Unterwerfung  ihrer  Heimlichkeiten  unter  das  Gericht  des  Richters;  und  endlich 
die  erschüttert-erschütternden  Worte,  in  denen  der  Dichter  seine  Sonderstellung 
gegenüber  seinem  Volk,  eben  die  des  Dichters,  ohne  sie  zu  verleugnen,  demütig 
diesem  Volk  zurückgibt  und  sich  wie  in  einen  Gebetsmantel  einhüllt  in  die  Kind- 
schaft des  ihn  und  alle  umfassenden  Bunds.  Es  folgen  nun  die  Gesänge  vom  Volk. 

Zur  Übersetzung:  Umgestellt  sind  gegen  das  Original  Strophe  1,  Zeile  1  und  2; 
Strophe  3,  Zeile  4  und  5;  Strophe  5,  Zeile  4  und  5.  -'  Strophe  1,  Zeile  2:  „Gott  des 

217 


Allherm  Hand,  hoch,  erhaben."  ^  Strophe  3,  Zeile  5:  „Daß  meine  Rede  träufle" 
(nämlich  „wie  der  Regen",  5.  M.  32,2).  —  Strophe  4,  Zeile  5:  „Und  vom  Himmel 
blickt  er  auf  meine  Wege".  ^  Strophe  5  Zeile  4:  „Verkünde  deinen  Namen  meinen 
Brüdern." 


IN  EWIGKEIT  /  iniTD  Dbl5b  HTI  maffl 
Luz.,  Div.  Nr.  61.  Harkavy  I  72.  Brody  11  307. 

So  spricht  der  Herr,  der  die  Sonne  dem  Tage  zum  Licht  gibt  und  den  Mond 
und  die  Sterne  nach  ihrem  Lauf  der  Nacht  zum  Licht,  der  das  Meer  bewegt,  daß 
seine  Wellen  brausen,  Herr  Zebaoth  ist  sein  Name:  Wenn  solche  Ordnungen  ab- 
gehen vor  mir,  spricht  der  Herr,  so  soll  auch  aufhören  der  Same  Israels,  deiß  er 
nicht  mehr  ein  Volk  vor  mir  sei  ewiglich.  So  spricht  der  Herr;  Wenn  man  den 
Himmel  oben  kann  messen  und  den  Grund  der  Erde  erforschen,  so  will  ich  auch 
verwerfen  den  ganzen  Samen  Israels  um  alles,  was  sie  tun,  spricht  der  Herr. 

Jer.  31.  35-37. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

GOTT  SPRICHT  \  ^bn^  '^^j^ji  '^anb  ya»^ 

Luz.,  Div.  Nr,  27.  Harkavy  I  57f. 

Die  Kraft,  die  ewig  leben  läßt,  ist  die  Hoffnung.  Zur  Hoffnung  ruft  Gott  selber 
Israel  in  diesem  Gedicht  auf,  das  nicht  in  der  Bibel  stehen  könnte,  denn  es  ist  voll 
einer  Gewißheit,  die  so  erst  ein  tausendjähriges  Exil  reifen  konnte.  Die  Hoffnung 
ist  nun  die  „größeste"  geworden;  sie  hat  die  Kräfte  der  Liebe  in  sich  aufgesogen; 
das  Gedicht  spricht  dies  Geheimnis  des  Judentums,  daß  die  Liebe  hier  zur  Hoff- 
nung der  Erlösung  geworden  ist,  rund  aus  —  „am  schönsten  hebst  du.  Des  hoffend, 
der  dich  erlöst". 

Es  ist  eine  Hoffnung  nicht  weil,  sondern  trotz  alledem.  Eine  Hofihimg,  der  es  ver- 
boten ist,  Termine  auszurechnen  —  denn  sie  sind  alle  verstrichen  — ;  eine  Hoffnung, 
die  noch  aus  der  Schandenprophezeiung  des  Propheten  (Hes.  23)  das  im  Namen 
der  Israels  Verkommenheit  symbolisierenden  Weibsgestalt  Oholibah  enthaltene  stolze 
„Mein  Zelt  in  ihr"  heraushört;  eine  Hoffnung,  die  mit  dem  Midrasch  in  Jakobs  Ant- 
wort (l.  M.  33, 14)  an  den  raschen  Bruder  die  weltgeschichtliche  Ironie  dessen,  der 

218 


gemach  geht  und  doch  am  Ende  das  Ziel  erreicht,  wittert;  eine  Hoffnung,  die  es 
genau  weiß,  wie  gelirechlich  ihr  Träger  Ist  imd  w  ie  doch  eljen  an  dem  Punkt  der 
Gebrechlichkeit  auch  die  unsterWichen  Kräfte  der  Erneuerung  in  ihm  hausen;  eine 
Hoffnung,  die  allen  Königen  der  Erde  den  König  des  Himmek  entgegenzustellen 
den  Mut  hat. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  1:  „Stark  sei  dein  Herz  und  du  hoffe  auf  deinen  Tag." — 

Zeile  4:  „Denn  Oholibah  ist  dein  Name  und  ..."  —  Zeile  6:  und  beweg 

dich  fort." 


LICHTERFEST  |  IIKD  bx  ^llXS  ir' 
Luz.,  Div.  Nr.  70.  Harkavy  II  9ff. 

Dem  Sabbat  des  winterlichen  Lichterfests  ist  dies  Lied  gewidmet.  Aus  dem  Pro- 
phetenabschnitt (Sach.  2, 14  -^  4, 7)  dieses  Tages  nimmt  es  die  Bilder  des  beschmutzten 
und  wieder  in  reine  Kleider  gehüllten  Priesters,  den  Huldruf  und  die  beiden  Öl- 
bäume. Aus  der  Breite  der  Schrift  nimmt  es  die  Symbolik  des  Lichts,  das  Gottes 
und  des  Menschen,  der  Urschöpfung  und  der  Enderlösung  ist.  Aus  der  Tiefe  des 
Volksbewußtseins  nimmt  es  die  Verschmelzung  dieser  weltumfassenden  Lichtsym- 
bolik mit  der  nationalen  Befreiimg  und  Reinigung,  die  das  Fest  feiert.  Denn  die 
Lichter,  deren  Speise  fast  ausgegangen  schien  und  denen  sie  dann  in  einem  wunder- 
baren Trotzdem  doch  ausreichte,  diese  Lichter,  um  die  das  Brauchtum  des  Festes 
kreist,  dürfen  in  diesen  acht  Tagen  mit  Recht  dem  Volk  das  Gotteslicht  des  Psahns 
(36,  lO)  bedeuten,  in  dem  es  das  eigene  Lebens-  und  Schicksalslicht  schauen  darf. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  3,  Zeile  3f.:  „imd  mögest  du  segnen  /  den  Samen 
der  Frommen  am  Tage  wo  du  verfluchst, . . .". 

MORGENDLICHER  DIENST  j  ITTO-  ^b  -ip3  ^2513  bS 
Luz.,  Div.  Nr.  45.  Harkavy  II  89.  Brody-Albrecht  100.  Brody-Wiener  154. 
Eins  jener  kleinen  Gedichte,  die  im  Gottesdienst  der  Gemeinde  für  den  Vorbeter 
bestimmt  sind  als  Einleitung  zum  gewöhnlichen  Morgengebet,  etwa  wie  Bachs  Prä- 
ludien für  den  Organisten  vor  dem  Choral.  Die  kleine  betende  Gemeinde  im  ersten 
Morgendämmer,  rings  noch  Stille,  aber  um  sie  herum  in  w  eltweitem  Abstand  zwei 
ungeheure  Kreise,  der  Kreis  der  Sterne  und  der  Kreis  der  Engel,  und  aus  allen 

219 


dreien  der  gleiche  Lobgesang  ^  Israel  die  einsame  Mitte  der  Welt,  deren  Laut  die 
Himmel  widerhallen. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

LICHT  /  ^3ixb  bbn  nb^bT  Dar 

Luz.,  Div.  Nr.  34.  Harkavy  II  87.  Brody  HI  74f.  Badisches  Gebetbuch  372 
Israel  kann  die  Mitte  des  Weltraums  sein,  weil  die  Linie  der  Weltzeit  durch  seine 
Mitte  führt.  Diese  Mitte  wird  aber  in  dem  vorliegenden  Gedicht  auch  punktuell 
bezeichnet  in  dem  merkwürdigen  Vers,  wo  der  Dichter  auf  die  niederschmetternde 
Gottesfrage  an  Hiob  (38, 24)  „Auf  welchem  Weg  verteilt  sich  das  Eine  Licht  in  die 
Welt?"  statt  des  niedergeschmetterten  „Ich  weiß  es  nicht"  die  demütig'kühn  ver" 
trauende  Antwort  gibt,  die  das  Geheimnis  der  Schöpfung  in  das  Gebot  der  Offen- 
barung auflöst:  Dieser  rätselhafte  Weg  des  Urlichts  ^  er  ist  kein  andrer  als  der, 
den  Du  mir  zu  meinem  Wege  bestimmt  hast.  Und  so  kann  denn  in  diesen  zehn  Zeilen, 
durch  die  alles  Licht  des  Himmels  imd  der  Erde  schießt,  die  Linie  von  dem  Leuch- 
ten des  göttlichen  Gesichts  bis  in  den  Widerschein  dieses  Leuchtens  im  mensch- 
lichen gezogen  werden,  diese  Linie,  die  vom  Urlicht  der  Schöpfung  und  den  ge- 
schsifi&ien  Lichtern  über  den  blitzenden  Sinai  liinführt  bis  in  die  Augen  der  Beter 
am  Offenbarungsfeste,  zu  dem  das  Gedicht  gehört,  ^  Ein  Licht. 
Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

BESIEGTE  riNSTERNIS  /  ^-,123^  ^pi£  Db»  Wr 
Luz.,  Div.  Nr.  66.  Harkavy  II  63 f. 

Der  Zusammenhang  der  Lichtschöpfung  und  der  Erneuerung  des  erloschenen 
Lichts  des  Volks,  des  Volks,  dessen  Heiligtum  auf  dem  Weltgrundstein  gegründet 
steht,  ist  ein  unerschöpfliches  Thema.  Hier  ist  es  vom  Begriff  imd  Reimwort  der 
Finsternis  her  aufgerollt.  Denn  in  die  Partie  des  Morgengebets,  der  dies  Gedicht 
wie  die  meisten  seiner  Art  zubestimmt  ist,  ist  auch  das  große  Wort  des  Jesaja  (45, 7) 
eingegangen  von  dem  Gott,  der  Licht  schafft  und  Finsternis.  Um  dieses  Und  kreist 
das  Gedicht. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  1— '5:  „Taube  des  Verstummens,  gieß  aus 
dein  Flüstern,  /  du  Geschlagene  in  den  Wohnungen  Meschechs,  /  und  erhebe  zu 

220 


Gott  deine  Seele,  /  deine  Fahne,  Roß  und  Reiter!  |  Der  aufgehn  läßt  das  Licht 
deiner  Sonne,"  —  Strophe  3,  Zeile  5:  „.  .  .  und  sie  bekannten  ihrem  Schöpfer 
imd  wußten:" 

AM  SCHILFMEERTAG  /  'jbr  DV  ^niT^a  IIXS  -jlb^y 
Luz.,  Div.  Nr.  20.  Harkavy  II  82f.  Brody  III  42. 

Licht,  deis  Licht  des  Sonnenaufgangs  und  der  Schöpfungsjubel  der  Morgensterne 
(Hiob  38, 7)  umbrandet  die  Ränder  auch  dieses  Gedichts,  das  dem  Tag  des  Oster^ 
fests  angehört,  an  dem  der  Schriftabschnitt  vom  Untergang  der  ägyptischen  Ver- 
folger im  Schilfmeer  und  Israels  Triumphlied  verlesen  wird.  Seine  Binnenzeilen  aber 
sind  ganz  erfüllt  von  den  heutigen  Bitten  der  Schar,  der  damals  das  Wunder  ge- 
schehen. Sie  weiß  sich  in  dessen  Schatten  und  als  dessen  unveijährbares  Eigentum, 
in  dessen  vergänglicher  Welt  sie  doch  der  Arme  undElende  ist.  Sie  weiß  dieSynagoge 
mit  ihrem  Gottesrecht  und  Gotteswort  als  die  legitime  Platzhalterin  des  einstigen 
und  dereinstigen  Heiligtums,  als  den  „Kleintempel",  wie  es  im  Anschluß  an  die  tal- 
mudische Ausdeutung  einer  Hesekielstelle  (11, 16)  heißt.  Mehr  noch:  sie  weiß  sich 
in  Druck  und  Verborgenheit  als  den  verheißenen  Messias,  den  Gottesknecht  des 
Jesaja,  dessen  weltsühnendes  Leiden  und  welterlösende  Herrlichkeit  der  Dichter 
auch  in  seinem  philosophischen  Werk,  wie  seit  alters  bis  zu  Hermann  Cohen  so 
viele,  auf  Israels  Schicksal  verstand.  Und  weil  die  Schar  in  diesem  Wissen  sich  den 
Zusammenhang  der  Jahrtausende  walirt,  so  darf  sie  das  letzte  Wunder,  das  sie  er- 
fleht, ganz  schlicht  als  ein  Gleichnis  des  ersten,  des  Urwunders,  das  ihr  der  heutige 
Tag  wie  jeder  vergegenwärtigt,  erwarten.  Denn  das  letzte  Wunder  wird  freilich 
größer  sein  als  das  erste,  aber  nicht  anders.  Der  Gott  der  Welterneuerung  ist  Israels 
alter  Gott. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  4  „schwere  Fracht"  und  Zeile  10  „aus  der  Nacht"  ist 
Zusatz. 

MEIN  KÖNIG  /  bm  xin  -sba  n?r 

Brody-Albrecht  106f. 

Weil  aber  Gott  die  Welt  verjüngen  wird,  so  ist  er  selber  der  ewig  junge.  So 
sieht  ihn  das  Volk  mit  Schrift  und  Deute,  „in  schwarzen  Locken  am  Tag  der 
Schlacht";  so  singt  in  dem  Jubelgeschmetter  dieses  Hynmus  —  viersilbige  Zeilen  und 

221 


je  als  Strophenschlußfanfare  eine  fünfsill)ige  —  der  Dichter  das  Erscheinen  und  Offene 
banverden  der  Schönheit  seines  Königs. 

Denn  dies  ist  Quelle  zugleich  und  Mündung  alles  judischen  Messiasglaubens:  daß 
schließlich  doch  Gott  selbst  der  Erlöser  ist,  „er  selbst  und  kein  andrer";  mag  auch 
zwischen  Quelle  und  Mündung  der  Strom  der  Hof&iung  auf  seinen  Wogen  den 
davidischen  König  tragen,  ja  in  seiner  letzten  Verbreiterung  das  ganze,  leidende 
und  verherrlichte,  Volk.  Das  alles  könnte  noch  Mythologie  sein,  und  weil  auf  die 
Zukunft  gerichtete,  darum  zwar  unkontrollierbarer,  aber  um  nichts  besser  als  eine 
an  Vergangenes  geheftete, '-  ohne  jenes,  ohne  die  nie  verlernte  Übertragung  aller 
messianischen  Erwartungen  auf  den  einzig  gewissen  „König,  Helfer,  Heiland, 
Schild". 

Der  selbst  ist  es  jetzt,  der  -'  erste  Strophe  —  die  Fahne  der  Erlösung  erheben  wird, 
der  '"  zweite  ^  die  Strafverkündimg  der  Propheten  an  Babel  vollstreckt  und 
'"  dritte  ^  den  Frohboten  des  nahenden  Heils  zur  andern  Stadt,  nach  Jerusalem,  ent- 
sendet Derselbe,  der  "  Schlußstrophe  — '  in  der  ursprünglichen  Licht-  und  Lichter- 
spende an  die  Schöpfung  Zeichen  und  Bürgschaft  aller  künftigen  Erlösung,  wie  sie 
in  diesen  „Lichtgesängen"  des  Frühgebets  herangerufen  wird,  gab.  Das  „Steh  auf, 
sei  licht!"  der  messianischen  Frohbotschaft  (Jes.  60,  l)  wird  zur  Erneuerung  des 
„Werde  Licht!"- Worts  der  ersten  Schöpfung. 

Dazwischen,  zwischen  den  lichtrufenden  Gottesworten  vom  Anfang  imd  vom 
Ende  der  Tage,  steht  der  Mensch.  Er  wird  nicht  vergessen  über  der  Gotteskraft; 
ja  es  ist  der  ganze  Sinn  des  Messiasglaubens,  daß  er  nicht  vergessen  wird.  Denn 
der  Messias,  dessen  heerumwogten  Königseinzug  der  Frohbote  schauen  heißt,  ist  ja 
ganz  Mensch.  So  sehr  Mensch,  obwohl  doch  Sohn,  heute  gezeugter  (Ps.  2, 7),  daß 
sein  vom  Vater  selbst  ihm  erspähter  „Lichtpfad"  nur  ein  Pfad  zum  Licht  sein  kann: 
Das  Leben  Davids  wird  (2.  Sam.  11  —  19)  grade  in  dieser  seiner  Umkehr  aus  Schuld, 
Blindheit,  Frevel  durch  die  Gottesbuße  der  sclimerzlichsten  Haus»  und  Thronkämpfe 
hin  zu  dem  Wendetag  der  Rückeinholung  über  die  Jordanfurt  bei  Gilgal  (19,41), 
der  dem  Gedemütigten  und  eben  jetzt  (19, 22)  zum  ersten  und  einzigen  Male  in 
seiner  Geschichte  als  Messias  Angesprochenen  das  Bewußtsein  bringt,  nun  endlich 
in  Wahrheit  „König  über  Israel"  (19, 23)  zu  sein,  imd  aus  diesem  Bewußtsein  der 
göttlichen  Vergebung  die  Kraft,  seinem  größten  Feind,  in  dessen  Flüchen  sich  ihm 
der  Gottesfluch  verkörpert  hatte,  zu  vergeben  —  dies  Leben  wird  grade  in  dieser 
ganz  menschlichen  Umkehr  vorbildhaft  für  den  König  Messias.  Denn  mag  der  nun 

222 


auf  einem  Esel  reiten  oder  kommen  mit  den  Wolken  des  Himmels,  und  mag  er  als 
ein  ungekannter  Bettler  seiner  Stunde  harren  oder  in  von  Elia  selber  gehüteter 
Höhle,  dies  Ein  imd  Doppelte  ist  Wissen,  gewiß  über  alle  Weissagung  und  Deutung: 
der  Mensch  in  und  aus  seinen  Sünden,  und  anders  nicht,  zum  Werkgenoß  Gottes 
berufen  und  Gott  selbst  der  wahre  imd  einzige  Erlöser. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  1:  Die  Schönheit  meines  Königs  |  erscheine 
und  werde  offenbar,  Zeile  3b:  und  den  Vertreiber  vertreibe  er,  —  Strophe  2,  Zeile  1  f.: 
Siehe,  er  macht  /  die  Stadt  (Jes.  25,2)  zum  Steinhaufen.  \\  Plötzlich  kommt  ein 
Bote  I  zu  lesen  die  Lese!  —  Strophe  4,  Zeile  1 : . . .  von  Licht,  Zeile  3:  Löschte  aus 
seine  Frevel,  /  da  kehrte  er  um  zu  seinem  Herrn. 

AUS  DEM  ELEND  /  ^31S-|  ^b?  I^ar 

Luz.,  Div.  Nr.  21.  Harkavy  I  57.  Brody-Wiener  169. 

Die  Einzigartigkeit  des  Volkes,  die,  wo  man  sie  zur  Haustür  des  Verstandes  hinaus- 
zuweisen sucht,  durch  die  Hintertür  des  Gefühls  in  den  Paroxysmen  des  Juden- 
hasses  (der  nie  tollere  Formen  angenommen  hat  als  in  den  120  Jahren,  wo  man 
den  Juden  für  ganz  normal  zu  erklären  suchte)  sich  wieder  Einlaß  ertrotzt,  —  diese 
Einzigartigkeit  besteht  darin,  daß  dies  Volk  sich  selber  ebenso  sieht,  wie  es  von 
draußen  gesehen  wird.  Eine  ganze  Welt  nennt  den  jüdischen  Stamm  verworfen 
und  auserwählt;  imd  er  selber,  statt  den  Worten  der  andren  eigene  entgegenzustellen, 
bestätigt  sie.  Nur  daß  das  Ding  von  außen  die  Form  eines  äußerlichen  Zusammen- 
hangs, eines  Außer-  und  also  im  Geschichtlichen  Hintereinanders  annimmt,  wäh- 
rend von  innen  hier  eine  innere  Untrennbarkeit  erlebt  wird  und  die  Gefäße  des 
Fluchs  und  des  Segens  miteinander  derart  kommunizieren,  daß  dieses  nur  über- 
laufen kann,  wenn  auch  jenes  randvoll  ist. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  10:  „Und  ich  bin  doch  der  Setzling  deiner  Rechten!"  — 
Zeile  12: von  deiner  Himmelswohnung!" 

AN  DEN  LÖSER  /  D-^niTj  ^B3D  bj  nnx:r3  nsr 

Luz.,  Div.  Nr.  74.  Harkavy  I  64fr.  Brody-AIbrecht  112f. 

Dieser  düstere  Gesang  ist  in  den  Ländern  des  polnischen  Ritus  als  Erlösungs- 
hymnus in  die  Liturgie  des  letzten  Sabbats  der  Trauerzeit  zwischen  dem  Befreiungs- 

223 


und  OfFenbarungsfest  aufgenommen.  Er  verdankt  das  seinem  Refrain,  der  wortlich, 
wenn  auch  mit  Sinnverschiebung,  dem  Buch  Ruth  (4, 4)  entnommen  ist,  das  an  dem 
unmittelbar  auf  diesen  Sabbat  folgenden  Fest  gelesen  wird.  Oder  eigentlich  noch 
nicht  einmal  mit  Sinnverschiebung;  denn  der  Notschrei  des  Volks  nach  seinem  ein- 
zigen Erlöser  ist  ja  nicht  weniger  ernst  und  unmittelbar  und  wirklich  gemeint  als 
das  Wort  des  Boas  an  den  einlösungspf lichtigen  nächsten  Verwandten  der  Ruth; 
der  Ernst  und  die  Gewichtigkeit  des  Rechtsbegriffs  beschwert  und  bindet  auch 
den  jüdischen  BegrifiF  der  Erlösung,  der  gar  nichts  Himmelblaues  hat,  oder 
nur  das  Himmelblau  eines  schönen  Sommertages,  das  sich  über  einer  grünen 
Erde  wölbt 

In  der  Form  gehört  der  Hymnus  zu  den  metrisch  ungebundenen;  eine  gewisse 
Bindung  entsteht  dann  im  Original  doch,  dadurch  daß  die  meisten  Halbverse  nur 
zwei  Worte  enthalten,  also  zwei  hauptbetonte  Silben.  Durch  die  Reimgruppierung 
kommt  eine  weitere,  aber  gleichfalls  nicht  so  streng  wie  sonst  durchgeführte  Bindung 
hinzu.  Wortspiele,  entlegene  Bibelanspielungen  verklammern  dann  das  äußerlich 
lockerere  Gebilde  von  innen,  so  daß  schließlich  eine  gewisse  Annäherung  an  die 
„Piutim"  des  andern,  älteren  und  jüngeren,  Zweigs  unsrer  Dichtung,  an  die  italienisch- 
polnisch-deutsche Schule,  die  von  dem  großen  Namen  Kalir  ausgegangen  ist,  ent- 
steht. Jedenfalls  haben  die  Gedichte  dieser  Art  für  den  überlieferungsheimischen 
Juden  von  heute  etwas  weniger  Fremdes  als  die  metrisch  strengen,  die  den  eigent- 
lichen Ruhm  der  spanischen  Schule  ausmachen. 

Der  düstere  Grimdton  des  vorliegenden  Gedichts  wird  wesentlich  mitbestimmt 
durch  den  Umstand,  daß  das  Schriftwort,  mit  dem  jede  Strophe  schließt  und  mit 
dem  also  der  Refrain  reimt,  diesen  Reim  entweder  aus  dem  Wort  für  Grab  und 
Unterwelt  oder  aus,  diesem  Worte  gleichklingenden.  Formen  des  Worts  „bitten"  ge- 
winnt. So  steigt  der  Ruf  nach  Erlösung  hier  wirklich  aus  Grabestiefen. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  6:  Doch  sie  im  Verborgnen  ^...;  Zeile  7: 
statt  Feinds:  des  Sohns  DLschans  und  Dischons  (l.  M.  36, 20).  --  Strophe  2,  Zeile  2: 
Dem  Missa  und  Schamma  (l.  M.  36, 17) . . .  sie;  Zeile  3f.:  „Freier"  sowie  „Weih" 
und  „Geweih"  sind  Zusätze;  Zeile  5t:  Mein  Zelt:  ein  Götzentempel  für  Ahalibama 
(l.  M.  36, 41)!  Und  Ahaliba  (Hes.  23, 4)  was  kann  sie  noch  hoflFen  und  wieviel!  — ■ 
Strophe  5,  Zeile  4:  ...  in  meine  Wohnung  und  mein  innerstes  Heiligtum. 


224 


EXKURS:  EIN  SPRACHKUNSTSTÜCK  /  D^iC  Mbn  D^Älip 
Luz.,  Div.  Nr.  76.  Harkavy  I  67f.  Brody  III  63. 

Flehen  ihr  aus  Herzen  heiß 
Sollt,  daß  Salem  selig  heiß'. 

Jahre  schrie  und  Leiden  trug 

Zwischen  Schlangengift  und  'trug, 

Weide  fand  nicht,  Lager  schlug 
Nie  ich.  Mir  dein  Mitleid  leih's, 
Weh  mein  Weh  weg  traumgleich  leis. 

Herr,  den  Schritt  mir  feste  du, 

Neu  bau  meine  Feste  du, 

Feinds  Volk,  mir  zum  Feste,  du 
Rächer,  deine  Seihe  seih's. 
Und  mein  Kleinod,  mein  neu  sei's. 

Und  in  Acht  in  Nacht  und  Grau 

Hab  ich  meine  Dränger,  grau 

Mich.  Zurecht,  wer  Bildwerk  trau'. 
Weis!  womit  er  groß  sich  weiß, 
Weiß  erglühnden  Flammen  weih's. 

Dein  Volk  reiß  aus  Todes  Tor. 

Schon  fragts  nicht,  ein  blöder  Tor, 

Wann  der  Heilstag  komm',  des  Glor 
Hungernd  Herz  mit  Wonne  speis'. 
Aus  ob  seiner  Schuld  nicht  spei's. 

Als  Panier  dein  Heil  uns  führ', 

Dein  Volk  -'  samml'  es  für  und  für. 

O  daß  neu  hernieder  führ'. 
Der  den  Feind  in  Dunkel  reiß', 
Neu  auf  Zion  pflemz'  das  Reis. 

Was  in  vielen  dieser  Gedichte  gelegentlich  hervorbricht  ^  grade  im  vorher" 
gehenden  Hymnus  „An  den  Löser"  sehr  stark  ^ ,  davon  wird  dies  Stück  ganz  und 
gar  beherrscht:  von  der  Freude  am  Wortspiel,  genauer  an  dem  gleichen  Klang  bei 

15  22^ 


verschiedener  Bedeutung.  Es  ist  zum  Verwundem,  daß  eine  solche  Künstelei  nicht 
viel  abscheulicher  ausgefallen  ist;  man  kann  diesem  Gedicht  eine  gewisse  Grazie, 
Ja  an  einigen  Stellen  sogar  Schönheit  nicht  absprechen.  Aber  eben  weil  es  nur 
konzentriert  eine  Erscheinung  zeigt,  die  in  geringerer  Konzentration  Jehuda  Ha- 
levis  und  der  andern  Spanier  Dichtung  überall  durchzieht,  so  sei  hier  die  Frage 
aufgeworfen,  welches  Verhältnis  dieser  Dichter  zur  Sprache  einem  für  unser  Ge- 
fühl so  imdichterischen  Verhalten  zugrunde  liegt. 

Die  Dichtung  der  Spanier  ist  recht  eigentlich,  wjis  man  klassizistisch  nennt  An 
ihrer  Wiege  saß  ^  die  Grammatik.  Im  Gegensatz  zu  der  Dichtung  Kalirs  hat  sie 
zu  ihrem  Entstehen  das  Entstehen  einer  wissenschaftlichen  Grammatik  der  he- 
bräischen  Sprache  abgewartet.  Sie  stellt  sich  unter  das  Gesetz  der  Sprachrichtig- 
keit. Von  Kalirs  stürmisch  barockem  Schalten  mit  den  Möglichkeiten  der  Sprache, 
von  diesem  kühnen  Schöpfertum,  dem  alles  Sprachmögliche  für  erlaubt  gilt,  hat 
sie  nichts.  Sie  erlaubt  sich  nur  das  Sprachwirkliche,  nur  das  "  in  der  Schrift  Be- 
legbare. Denn  sowohl  jenes  Schöpfertum  wie  dieser  Klassizismus  sind  beide  doch 
etwas  sehr  andres  als  sie  in  einer  lebendiggesprochenen  Sprache  wären.  Die 
„Schrift",  nicht  die  „Sprache"  ist  hier  die  Norm,  die  jene  Kühnheiten  überspringen 
und  in  die  sich  diese  ehrfürchtige  Scheu  bannt  Es  sind  also  feste,  nicht  wie  bei 
einer  miindUchen  Sprache  elastische  Grenzen,  die  dort  übertreten,  hier  geachtet 
werden. 

Die  Starrheit  der  Grenzen  treibt  ganz  von  selber  einen  viel  barockeren  Barock 
und  einen  viel  klassizistischeren  Klassizismus  hervor,  als  er  bei  einer  lebenden 
Sprache,  wo  jede  Kühnheit  doch  gelegentliche  Vorgänger  hat  und  der  Wille  zur 
Ehrfurcht  ein  praktisch  unbegrenztes  Feld  der  Gelegenheiten,  überhaupt  möglich 
ist  Wer,  wie  die  Spanier,  zum  ehrfürchtigen  Verharren  innerhalb  der  Grenze  ent- 
schlossen ist,  wird  den  begrenzten  Bereich,  den  er  sein  eigen  nennt,  durchpflügen, 
bis  kein  Fleckchen  unfiiichtbaren  Bodens  übrig  ist  Das  Mittel  dazu  ist  die  junge 
Wissenschaft  der  Grammatik. 

Sie  ist  ungeschieden  zunächst  von  dem,  was  wir  Lexikographie  nennen  würden.. 
Ja,  sie  fühlt  sich  selber  in  diesen  Frühzeiten  als  eine  lexikographische  Hilfswissen- 
schaft. Den  Wort-Sinn  der  Schrift  gilt  es  ja  zu  ergründen.  Und  das  verwimderliche 
Phänomen  —  verwunderlich  gewiß  nur  für  eine  rationalistische  Sprachauffassung, 
die  in  der  Sprache  ein  Mittel  sieht  imd  folgerecht  in  den  Worten  Zeichen  (aber 
alle  primitive  Sprachwissenschaft  ist  so  rationalistisch)  ^,  das  verwunderliche  Phä- 

226 


nomen  also,  daß  klanggleiche  Worte  höclist  ungeschickterweise  verschiedene  Be- 
deutungen haben  können,  wird  durch  Grammatik  zu  einem  Teil  wenigstens  auf- 
gehellt. So  wird  der  Wortschatz  der  Schrift  auscinandergcbreitet  und  damit  erst 
vor  dem  betrachtenden  Auge  ausgebreitet.  Die  Dichter  aber  vollziehen  nun  die 
Aneignung  dieses  Reichtums,  indem  sie  au£s  neue  frei  mit  ihm  schalten  und  etwa 
ein  Wort,  das  in  der  Schrift  zufällig  nur  einmal  vorkommt  und  das  man  also  „kaiun 
kennt",  in  unbefangenen  Gebrauch  nehmen.  Der  ganze  Reichtum  dieses  Sprach- 
schatzes, den  die  vierundzwanzig  Bücher,  die  allein  von  der  althebräischen  Litera- 
tur gerettet  sind,  umschließen,  ist  dem  Volk  erst  durch  diese  spanische  Dichtung 
ganz  bewußter  Besitz  geworden  und  wird  es  noch  heut  jedem,  der  sich  der  Füh- 
rung dieser  Meister  anvertraut,  die  in  dem  Museum  der  Bibel  dauernd  die  Kost- 
biurkeiten  neu  ordnet,  bald  dieses,  bald  jenes  Stück  ins  rechte  Licht  rückt  und  so 
das  Ganze  vor  museeder  Erstarrung  bewahrt  Deis  ist  der  nationalhistorische  Sinn 
des  gewiß  kindschen  Spiels,  wie  es  dies  Gedicht  treibt. 

Zur  Übersetzung:  Ich  gebe  bei  diesem  Gedicht  nur  die  wirklichen  Ab- 
weichungen vom  Sinn  an,  da  sich  die  Notwendigkeit  abweichender  Formulierung 
bei  den  zahlreichen  Wortspielen  ja  von  selbst  versteht.  Strophe  1,  Zeile  4f.:  Nie 
die  Herde,  die  im  Korn  fett  wird  und  wenn  er  ihr  Gefängnis  wendet  wie  einen 
Traum.  Strophe  3,  Zeile  4 f.:  ...  sie  selbst  laß  in  Dunkel  gehen  und  brate  sie  an 
den  Kohlen  des  Bildes. 


AUFBLICK  1  TiTy  T^  bx  ^t?  -j^^j^ 

Luz,,  Div.  Nr.  17.  Harkavy  11  5.  Brody  III  150. 

Man  hat  oft  gefragt,  weshalb  das  jüdische  Volk  sich  durch  alle  Nöte  hindurch 
erhalten  habe,  und  viele  mehr  oder  weniger  kluge,  also  mehr  oder  weniger  dumme 
Antworten  darauf  gegeben.  Den  wahren  Grund,  der  eben  keinen  Plural  von  „Grün- 
den" leidet,  kann  dies  Gedicht  lehren.  Es  beginnt  mit  dem  Schrei  aus  einem  Ab- 
grund der  Not,  der  so  tief  ist,  daß  der  Angerufene,  Angeschrieene  zuerst  nur  — 
angeschrieen,  angezweifelt,  angelästert  werden  kann.  Und  in  diesem  Schrei  des 
Zweifels  und  der  Lästerung,  die  über  alle  biblischen  Vorbilder  hinaiisgehn,  weil 
sie  genährt  sind  von  den  Giftsäften  einer  zweifelnden  und  lästernden  Philosophie,  — 
noch  fast  in  diesem  Schrei  erkennt  das  Auge  in  dem  Angeschrieenen  den,  um  den 
die  Sterne  kreisen,  und  bekennt  der  Mund  aufatmend  die  Macht  des,  der  den 


227 


Heeren  der  Himmel  gebietet,  und  versinkt  das  Herz  entzückt  in  das  Anschaun  der 
göttlichen  Herrlichkeit  "  und  hat  aller  Not  vergessen. 
Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

JUNGFRAU  ISRAELS  SABBAT  /  Vian  MTS  DV  -|p^ 
Luz.,  Div.  Nr.  79.  Harkavy  II  11  f. 

Auf  Erden  lunmauert  der  Sabbat  den  „Bund  von  Frieden  und  Leben",  in  dessen 
Weihbezirk  sich  das  Volk  aus  der  Welt  der  Völker  flüchtet  Die  Scheidimg,  die 
in  der  letzten  Minute  des  Ruhetages  als  sein  Wesen  ausgesprochen  wird,  ist  die 
gleiche,  die  schon  der  erste  Schöpfungsmorgen  in  die  Welt  gebracht  —  zwischen 
Licht  und  Finsternis  ^  und  die  dann  von  der  Offenbarung  zunächst  erneuert  und 
vertieft  wurde:  zwischen  Heilig  und  Profjin,  zwischen  Israel  und  den  Völkern.  In 
diese  Scheidung  versenkt  sich  das  Sabbatiied  '-'  mit  allem  Feuer,  mit  aller  Leiden- 
schaft, aber  auch  mit  aller  Eifersucht,  die  jeder  Liebe,  und  gar  einer  so  umhöhnten, 
umgeiferten  Liebe,  eignen.  Es  sieht  ja  in  diesem  Lied  geradezu  so  aus,  als  wäre 
nicht  der  Bund  von  Frieden  und  Leben  der  Sinn  des  Sabbats,  sondern  die  Scheidung 
zwischen  Israel  und  den  Völkern,  die  sich  aus  jenem  Bund  ergibt.  Man  hat  diese 
Gesinnimg  Ressentiment  genannt;  das  ist  sie  doch  nicht.  Zum  Ressentiment  würde 
gehören,  daß  die  Ablehnung  das  Zentrale  wäre,  und  nicht  bloß  eine  peripherische 
'-'  wirklich  peripherische!  —  Folge.  Die  innere  Seligkeit  des  Besitzes  der  Wahrheit, 
des  Anrechts  auf  den  königlichen  Segen  des  Tages,  den  Gott,  wie  es  in  Anlehnung 
an  den  großen  am  Vorabend  gesagten  Weihspruch  des  Tages  heißt,  vor  allen  an- 
dern festlichen  Berufungen  zur  Heiligkeit  gebot  (3.  M.  23, 3),  ja  der  von  der  Schöpfung 
selber  urspringt,  endlich  der  priesterlichen  Verpflichtung  des  ganzen  Volks  (2.M.  19,6) 
-'  all  dieser  innere  Reichtum  ist  so  groß  und  erfüllend,  daß  alle  Stachligkeit  nach 
außen  nie  so  stachlig  sein  kann  wie  jene  Seligkeit  selig. 

Und  freilich  —  wenn  die  Lesart  richtig  ist,  die  für  die  Schlußzeile  zu  vermuten 
die  Übersetzung  unter  Vernachlässigung  der  unmittelbar  zugrundeliegenden  Stelle 
Hesekiel  36, 23  im  Anschluß  an  die  Aufforderung  des  Psahnisten  an  „alle  Heiden ', 
den  Herrn  zu  loben  (117,  l),  imd  Stellen  wie  Maleachi  1,11,  gewagt  hat,  dann 
öffnet  sich  auch  hier  der  Blick  ins  Freie,  den  der  andre  Sabbatausgangsspruch  er- 
öffnet, der  zum  Unterschied  von  dem  anfangs  angeführten  nicht  den  Sabbat  vom 
Werktag,  sondern  die  Weihe  des  Sabbats  von  der,  geringeren,  des  Feiertags  zu 

228 


scheiden  bestimmt  ist.  Da  werden  auch  alle  die  Scheidungen  genannt,  die  am  Sabbat- 
ausgang  sonst  genannt  werden  —  zwischen  Heilig  und  Profan,  zwischen  Licht  und 
Finsternis,  zwischen  Israel  imd  den  Völkern,  zwischen  Sabbat  und  Werktag  — ,  aber 
dann  in  dem  siegelnden  Schlußsatz  wird  der  Gott  gelobt,  der  scheidet  zwischen  — 
Heilig  und  Heilig. 

Die  Schlußzeilen  sind  nämlich  in  folgender  Form  überliefert:  In  Levis  Lager  sei 
denn  geweiht,  schmähn  dich  die  Heiden.  An  sich  ist  gegen  diesen  Text  nichts  zu 
sagen;  er  beruht  auf  der  genannten  Hesekielstelle  und  fallt  nicht  aus  dem  Gedicht 
heraus.  Die  in  der  Übersetzung  zugrundegelegte  Fassung  ist  nur  möglich.  Das  ist 
sie  aber  durchaus.  Beide  Fassungen  unterscheiden  sich  ja  nur  in  einem  Buchstaben, 
und  zwar  in  dem  leichtverwechselbarsten  Buchstaben.  Die  kleine  Abweichung  vom 
zugrunde  liegenden  Sclu-iflwort  konnte  vom  Dichter  grade  als  ein  Reiz  empfunden 
werden;  als  Beweis,  daß  so  etwas  vorkommt,  sei  das  Verhältnis  von  Gabirols  Ge- 
dicht Nr.  57  der  Bialikschen  Ausgabe,  20ter  Zweizeiler,  zu  Ri  1, 1,  wo  das  Spiel 
sogar  mit  den  gleichen  Wortwurzeln  wie  hier  geschieht,  angeführt.  Und  deiß  die 
innere  Disposition  für  ein  Hereinziehen  der  Heiden  vorhanden  ist,  versteht  sich  bei 
dem  Verfasser  des  Buches  Kusari;  das  zwar  in  aller  Schärfe  den  Vorrang  Israels 
auch  für  die  Zukunft  festhält,  aber  eben  doch  in  seinem  ganzen  Inhalt  eine  Missioas- 
Schrift  ist  "  freilich  eine  jüdische,  die  also  so  wenig  ein  inneres  wie  ein  äußeres 
coge  intrare  kennt,  sondern  ohne  solch  gewaltsames  Heranholen  nur  dem  aus  eigenem 
weltgeschichtlichem  Antrieb  Anklopfenden  das  Tor  öffnet  und  seinem  Fragen  die 
Antwort  eigentlich  nicht  sagt,  sei  es  auch  nur  mit  einem  „so  sind  wir",  sondern  im 
Grunde  niu',  mit  einem  „sieh  her",  zeigt. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  5:  Gespött  Kedars  (l.  M.25, 13)  und  Dischons 
(1.  M.  36, 20  u.  a.)  — . . .  Strophe  2,  Zeile  7f.:  Frucht  seines  Gebots  ist  ein  Lebens- 
baum; in  seinem  Schatten  leben  wir  unter  den  Heiden.  —  Strophe  3,  Zeile  2: ...  in 
ihrer  Hand  zum  Stab!  —  Strophe  4,  Zeile  7 f.:  vgl.  das  in  der  Anmerkung  Gesagte. 


HEIM  /  inb  niban  nnnj«  ]K22 

Lnz.,  Div.  Nr.  77.  Harkavy  I  69.  Brody-Albrecht  118f. 

Die  Stunde  des  Sabbatausgangs  ist  die  kritische  Stunde  des  jüdischen  Daseins. 
In  den  Sabbat  hat  sich  alles,  was  dies  Leben  von  Vollendung  wissen  und  vorweg- 
nehmen kann,  zusammengedrängt;  mm  droht  der  jähe  Sturz  von  der  in  fünfund- 


229 


zwanzigstündigem  Aufstieg  erreichten  Höhe  unmittelbar  in  den  Abgrund  des  Werk- 
tags. So  sammelt  sich  grade  in  den  letzten  Stunden  mit  ihrer  „Dritten  Mahlzeit" 
eine  Erregung,  die  von  messianischer  Sehnsucht  und  Exilsverzweiflung  gleichmäßig 
getragen  wird.  Und  Elia  der  Prophet,  dessen  Wiederkehr  als  des  Vorboten  des 
Messias  das  letzte  Wort  der  biblischen  Prophetie  (Mal.  3, 23)  war,  er  ist  in  diesen 
Stunden  zugegen  —  wie  ein  Abwesender  zugegen  ist,  um  den  alle  Gedanken  und 
Wort«!  eines  Menschenkreises  sich  bewegen. 

Diese  Stimmung  ist  in  dem  Lied,  das  dabei  mit  keinem  Wort  den  Sabbatausgang 
selber  und  nur  je  einmal,  zu  Anfang,  Elias  imd  Messias  erwähnt,  verdichtet  Schon 
in  dem  Rhythmus  der  einzelnen  Zeile,  die  aus  einer  breiten,  gewissermaßen  anschau- 
heben  ersten  Hälfte  jedesmal  in  das  kurze  Aufstöhnen  der  zweiten  Hälfte  mündet; 
stärker  noch  in  der  Ausbildung,  die  dieser  Rhythmus  in  den  Gürtelzeilen  erfahrt, 
wo  jene  zweite  Hälfte  nicht  bloß  rhythmisch,  sondern  auch  in  ihrem  sprachlichen 
Inhalt  zum  eintönig  bittenden,  drängenden  Schrei  wird:  laß,  o  laß,  o  laß . . . 

Zur  Übersetzung:  Vorstrophe,  Zeile  1  und  2:  „. . .  bring  zur  Ruh'.  Führ  sie 
durch  Elias  und  Mes-  /sias  du."  ^^  Strophe  1,  Zeile  2:  „Wenn  der  Retter  sich  Büß- 
fertgen  |  offenbart."  ^  Strophe  2,  Zeile  4:  „Tu  ein  Wunder!  meinen  Stecken  /  laß 
erblühn."  Zeile  5:  „. . .  und  all  mein  Tuen  /  laß  gedeihn."  -^  Strophe  3,  Zeile  1: 
„  . . .  aus  Dürre",  aber  ebenfalls  ein  antithetisches  Wortspiel  mit  „Zion".  Zeile  5: 
Brüllnde  See,  die  schon  mich  deckte,  /  laß  sie  ruhn." 

DIE  ELIAWUNDER  \  in^b«  ^nbx  tT'A  inaüann  irmni^< 

Luz.,  Div.  Nr.  80.  Harkavy  II  13f. 

Dies  ist  ein  solches  Eliaslied,  wie  es  in  der  Stimde  des  Sabbatausgangs  gesagt  wird. 
Eine  ganz  volkstümlich  schHchte  Aufreihung  der  Wundertaten  des  großen  „Tisbiten" 
(l  Kön.  17, 1  u.  a.),  die  nur  durch  den  Reimklang  immer  wieder  an  die,  aus  dem 
kühnen  Erbantritt  des  Nachfolgers  Elisa  (2  Kön.  2, 14)  umgestimmte,  klagende 
Frage  des  Anfangs,  in  der  jener  Reim  -*  im  Original  der  Name  Elias  selber  —  seine 
Heimat  hat,  erinnert.  Bis  am  Schluß  das  verzweifelte  Wo  des  Anfangs  sich  in  ein 
hoffendes  Wann  verwandelt  ^  eine  Frage  jenes  wie  dieses,  aber  jenes  ein  fragendes 
Umhergreifen  in  die  Finsternis,  dieses  ein  Hineilen  nach  dem  fernen,  doch  ge- 
wissen Licht. 

Denn  die  Wunder  bleiben  stets  aus,  wenn  ein  Wo  sie  sucht.  Sie  wollen  mit  Wann 
beschworen  werden. 

230 


Zur  Übersetzung:  Strophe  2,  Zeile  4:  Im  Original  noch  die  Ortsangabe  des 
Wunders:  der  Berg  Karmel.  "  Strophe  3,  Zeile  4:  „den  ihr  wißt"  ist  Zusatz.  -* 
Strophe  7,  Zeile  4:  Das  Werk  Gottes,  denn  es  ist  gewaltig! 

DER  JUDE  /  D^DTrn  ^5bn  "p  ■'Sia-'T 

Harkavy  II  31.  Brody  II  268. 

Ein  Nachklang  der  prophetischen  Polemik.  Die  Ewigkeit  des  Volks  äußert  sich 
auch  darin,  daß  nichts,  was  einmed  aktuell  war,  seine  Aktualität  verliert.  Das  ewige 
Volk  verewigt  auch  seine  Gegner. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

DIE  VERHEISSUNG  /  DDID  imsn  niDV 
Luz.,  Div.  Nr.  75.  Harkavy  I  9f. 

Ein  Gespräch  zwischen  Gott  und  seinen  verjagten  Tauben,  wie  Israel  im  An- 
schluß an  Stellen  wie  Hl.  2, 14.  5, 2.  5, 12.  6, 9  und  Ps.  56, 1  und  68, 14,  Jes.  60, 8, 
Hes.  7, 16,  Hos.  7, 11  heißt.  Es  ist,  hier  wie  anderswo,  mehr  ein  Heißen  als  ein 
eigentliches  gleichnishaftes  Sein.  Das  Gleichnis  zerrinnt  dem  Dichter  gradezu  unter 
den  Händen;  zu  Beginn  der  dritten  Strophe  stimmt  das  Volk  den  Sehnsuchtsruf 
des  Psalms  (SS,  7)  an,  der  doch  grade  in  Taubenmund  ganz  unmöglich  wäre;  und 
von  da  ab  ist  das  Gleichnis  verlassen. 

Das  ist  kein  Mangel  an  dichterische/ Kraft,  die  allerdings  im  Festhalten  des 
Gleichnisses  sich  zeigen  würde,  sondern  ein  undichterisch-überdichterischer  Wille, 
durch  jedes  Gleichnis,  wie  es  der  bildnerische  Hang  der  Sprache  immer  wieder 
dem  Sprecher  in  den  Mund  legt,  immer  wieder  durchzustoßen  in  die  bildlose  Wahr- 
heit der  Prosa.  Der  biblische  Stil  bt  poetisch  nur  wider  Willen.  Es  ist  die  unadäqua- 
teste Betrachtungsweise  etwa  für  die  Psalmen,  sie  als  „Poesie"  zu  nehmen.  Es  fehlt 
in  dieser  Atmosphäre  grade  das,  was  aller  Kunst,  auch  der  „wahrsten",  bekenntnis- 
mäßigsten  notwendig  eignet:  die  Lust  am  Spiel,  genauer  an  der  Maske.  Schlimm 
genug,  daß  das  Wort  selber,  weil  es  eben  nicht  bloß  das  Wort  dieses  Augenblicks 
ist,  sondern  immer  schon  die  Spuren  vergangener  Schicksale  in  seinem  Gesicht 
trägt,  immer  schon  etwas  Maskenhaftes  hat!  so  wird  dieser  Sprecher,  dem  es  um 
Wahrhaftigkeit  des  Worts  geht,  sich  nicht  an  das  eine  Wort  binden,  sondern  es, 

231 


kaum  gesagt,  noch  einmeil  anders  sagen,  ^  und  so  der  Dichter  dieses  Kreises  nicht 
an  das  einzelne  Bild. 

Eine  scheinbare  Ausnahme  gibt  es.  Die  Bilder  des  Königtums,  der  kindlichen, 
der  bräutlichen  und  ehelichen  Liebe  stehen  nicht  unter  diesem  Gesetz  des  zu  ver- 
lassenden Bildes.  Der  Grund  ist,  daß  auch  sie  zwar  Bilder  sind,  aber  keine  Abbilder, 
sondern  Urbilder,  Abbild  ist  hier  vielmehr  die  innerweltliche  Wirklichkeit  dieser 
Verhältnisse,  die  wir  nur  in  Mischungen  und  Trübungen  kennen  und  deren  reine 
Gestalt  nur  in  der  gott-menschlichen  Beziehung  offenbar  wird.  Nur  vor  Gott  kniet 
ganz  reine  Huldigung,  nur  in  Gott  ruht  ganz  reines  Vertrauen,  nur  zu  Gott  klagt 
ganz  reine  Sehnsucht,  nur  Gott  dankt  ganz  reiner  Dank. 

Das  Taubengleichnis  ergibt  sich  hier,  weil  der  Grundton  des  ganzen  Gedichts 
■^  und  der  Quell  seiner  Gürtelreime  -^  die  Verheißung  der  „Ruhe"  ist.  Ruhe  in  der 
Heimat,  die  jetzt  gemäß  der  mosaischen  Prophezeiung  (3.  M.  26, 34. 43)  brach  liegt, 
um  die  von  ihren  Bewohnern  versäumten  Sabbatjahre  nachzuholen,  und  über  deren 
endzeithch  erneuerten  Boden  einst  wieder  die  „sieben  Hirten  imd  acht  Könige", 
deren  Wiederkehr  der  Prophet  (Micha  5, 4)  geweissagt  hat  und  das  Volksbewußtsein 
im  Anschluß  an  die  talmudische  Deutung  des  Prophetenworts  erwartet,  schreiten 
werden.  Ruhe,  der  sich  die  Vertriebenen  zwar  nicht  durch  ihr  Verhalten  zueinander, 
aber,  wie  es  in  tiefer  Erkenntnis  jüdischen  Wesens  heißt,  durch  ihr  Verhalten  zu 
Gott  würdig  gemacht  haben,  durch  die  imermüdliche  Hut  der  HofJhung,  die  einst 
auch  die  jetzt  verborgene  Liebe  des  Vaters  zu  seinen  Kindern  neu  zu  stürmischer 
Gewalt  erwecken  muß.  Das  dritte  Exil  hat  die  Leiden  der  beiden  ersten,  des  ägyp* 
tischen  und  des  babylonischen,  in  sich  gesammelt,  aber  auch  die  Verheißung  ver- 
sammelt  in  sich  die  Kraft  des  Gesetzes  und  der  Propheten.  Die  Gewalt  der  letzten 
Strophen  übersteigt  die  GewjJt  auch  des  biblischen  Worts,  wie  das  Leiden  der 
Gegenwart  die  Leiden  der  Vergangenheit,  schon  weil  es  gegenwärtig  ist.  Die  bi" 
blischen  Verheißungen  sind  nämlich  allesamt  rein  zukünftig,  sie  haben  zur  FoHe  die 
Drohung;  so  sind  sie  einstimmig  -  göttlich  und  enthalten  die,  immer  zweistimmige, 
Gegenwart  nvu:  in  der  Form  der  Bedingung  '^  „wenn  ihr  . . .,  dann  . . .".  Hier  aber 
ist  die  volle  zweistimmig- gottmenschliche  Wirklichkeit  da,  imd  die  Verheißung 
leuchtet,  nicht  als  ein  bedingtes  Entweder-Oder,  sondern  als  ein  strahlendes  Ja  in 
die  Nacht  der  schon,  in  der  andern  Stimme,  gegenwärtigen  Klage  und  Reue  und 
Umkehr.  So  ist  der  Augenbück  nalie  herbeigekommen. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  6:   Gebiet  von  Tiberias  mid  Jemocha 

232 


(Jos.  16,  6  f.).  —  Strophe  3,  Zeile  6:  läßt  er  erstehn  Sieben  und  Acht  (vgl.  Anmer- 
kung). —  Strophe  4,  Zeile  7:  Auf  dem  Heilscherub  reit  ich.  --  Strophe  5,  Zeile  1 :  Ists 
euch  zu  wenig  . . . 

TEiNDESLiEBE  /  n^\i  nnnxn  pa  ths 

Luz.,  Div.  Nr.  58.  Harkavy  I  61.  Brody-Wiener  169. 

Man  wird  dem  „Liebet  eure  Feinde"  der  Bergpredigt  so  wenig  wie  andern  großen 
Wirklichkeiten  gerecht,  wenn  m£m  es  als  ethische  Forderung,  also  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Unwirklichkeit,  ansieht.  Die  christliche  Feindesliebe  ist  eine  Wirk- 
lichkeit, wo  sie  —  nichts  andres  sein  kann.  In  diesen  Stand  des  Nichtanderskönnens 
tritt  sie  da,  wo  die  Kirche  oder  der  Einzelne  dem  Urgebot  des  Christentums  folgen: 
zu  missionieren.  Die  Feindesliebe  wird  da  die  stärkste  Wiiffe  der  Weltbezwingung, 
der  Feind  geliebt  als  der  künftige  Bruder. 

Jüdische  Feindesliebe  muß  also  wohl  etwas  ganz  andres  sein,  wenn  sie  wirklich 
sein  soll.  Denn  hier  ist  die  Wirklichkeit  nicht  die  einer  mit  den  Gnaden  des  Siegens, 
sondern  mit  denen  des  Unterliegens  begnadeten  Gemeinschaft.  So  wird  hier  Feindes- 
liebe an  dem  Punkt  entstehn,  den  Jehuda  Halevi  in  diesem  Gedicht  enthüllt.  Derm 
um  ein  Enthüllen  handelt  es  sich;  das  Wirkliche  ist  selten  das  unmittelbar  Aus- 
gesprochene; das  Wort  fällt,  wenn  es  objektiv  zu  werden  versucht,  leicht  in  die 
Unwirklichkeit.  So  wird  hier  die  objektive  Wahrheit  enthüllt,  grade  weil  nur  ganz 
subjektiv  gesprochen  wird.  Der  Jude  liebt  im  Feind  den  Vollstrecker  des  göttlichen 
Gerichts,  das,  weil  er  es  auf  sich  nimmt  —  imd  es  bleibt  ihm  im  Gegensatz  zu  allen 
andern  Menschen  nichts  andres  übrig,  denn  er  als  einziger  hat  nicht  die  Juden  zur 
Verfügung,  die  daran  schuld  sind  ^,  zu  seinem  eigenen  wird.  Die  Liebe,  mit  der 
ein  Mensch  Gott  liebt,  wird  zum  Lebensgesetz  aller  Liebe,  mit  der  er  Menschen 
lieben  kann,  bis  hinaus  in  das  Extrem  —  aber  gibt  es  für  die  Liebe  ein  Extrem?  '" 
der  Feindesliebe.  „Von  eh  warst  Du  der  Liebe  Himmelsveste." 

ZurÜbersetzung:  Zeile  6 :  „denn  den  Erschlagnen  hetzt  er,  den  du  schlugest."  — 
Zeile  8:  „  . . .  verwarfst,  wohl  Ehre!" 

LIEBESWUNDER  /  ''bbriü  2t3^ai  "T'B  D"?!  ^TS'l  nü'"' 
Luz.,  Div.  Nr.  26.  Harkavy  I  57.  Brody-Wiener  170. 

Es  könnte  bei  diesem  Gedicht  wie  übrigens  auch,  trotz  der  Schlußzeile,  beim 
vorigen  zweifelhaft  erscheinen,  ob  sie  mit  Recht  in  dieser  Abteilung  stehen  und 

233 


nicht  vielmehr  in  die  vorige  gehören.  Die  Leidenssehnsucht  in  diesem  ist  so  xmge^ 
heuer  persönlich  ausgesprochen,  daß  man  es  trotz  des  gewaltigen  dritten  Zwei- 
zeilers, der  jenes  tragende  Bewußtsein  des  jüdischen  Volks,  noch  in  aller  Verworfen- 
heit erwählt  zu  sein,  aussagt,  schwer  finden  wird  anzunehmen,  Jehuda  Halevi  lasse 
hier  das  Volk  sprechen.  In  dieser  Formulierung  aber  steckt  schon  der  ganze  Irrtum. 
Der  Dichter  läßt  nicht  sprechen,  er  spricht  Er  spricht  nicht  in  der  Maske  des  Volks, 
sondern  aus  dem  Volk,  dessen  Glied  er  selber  ist.  Nur  als  Glied  des  Volks  weiß  er 
ursprünglich,  was  er  weiß.  Aber  ^  imd  in  diesem  Aber  kommt  nun  die  Entschuldigung 
für  jenen  Irrtum  und  zugleich  erst  seine  ganze  Irrtümlichkeit  —  was  er  ursprüng- 
lich als  Glied  des  Volkes  erfeihren  hat,  das  ist  er  nun  fähig,  auch  persönlich  auf 
Rechnung  der  eigenen  Seele  zu  erfahren.  Es  hegt  in  den  echten  Erfahrungen  eine 
Kraft,  sich  fortzupflanzen  und  zu  übertragen.  Nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  die  erste 
Erfahrung  zum  Symbol  für  andere  würde;  sondern  grade  weil  die  erste  Erfahnmg 
kein  Symbol  ist,  kann  sie  überspringen.  Ein  Symbol  würde  in  seinem  Kreise  bleiben. 
Wo  das  jüdische  Volk  zum  Symbol  geworden  ist,  wie  in  der  christlichen  Welt,  da 
erreicht  es  mit  seiner  symbolisierenden  Kraft  nur  die  Völker.  Für  den  Juden  selbst 
aber  wird  es  nicht  zum  Symbol,  imd  deswegen  überträgt  sich  ihm  alles,  was  er 
am  Volk  erfahren  hat,  auch  ins  Eigenleben  der  Seele.  Es  ist  genau  das  gleiche 
wie  mit  dem  Überspringen  der  Liebe  zu  Gott  in  die  Liebe  zu  den  Menschen.  Wer 
diese  Dinge  einmal  begriffen  hat,  wird  sehr  vorsichtig  in  religionsgeschichtlichen 
Konstruktionen  werden  und  wird  nicht  mehr  wagen,  auf  den  literarischen  Befund 
hin  —  „Literatur  ist  das  Fragment  der  Fragmente"  — '  Jeremia  eine  „persönüche 
Frömmigkeit"  zuzuschreiben,  die  der  „in  seiner  Religiosität  ganz  politisch  orientierte" 
Jesaja  „noch"  nicht  gehabt  habe.  Und  eine  Preisaufgabe  über  „das  Ich  in  den 
Psalmen"  wird  er  nicht  mehr  stellen,  selbst  wenn  er  die  theologische  Fakultät  einer 
preußischen  Universität  ist. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 


ZÜRNENDE  LIEBE  /  "iTD  "j^an  ^niin  nnSTDH  ^tt 

Luz.,  Div.  Nr.  11.  Harkavy  I  35.  Brody  UI  4.  Brody-Wiener  I69f. 

Die  Wirklichkeit  der  Liebe  zwischen  Gott  imd  Israel,  wie  sie  die  Propheten, 
das  Hohelied  und  der  Midrasch  ausgesagt  haben,  zeigt  sich  darin,  daß  sie  nicht 
ihr  Ende  darin  fand,  daß  sie  ausgesprochen  wurde,  wie  eine  „Dichterliebe"  ihr  Ende 


234 


findet  in  dem  Gedicht,  das  sie  aussagt.  Sondern  diese  Liebe  geht  in  unausschöpf- 
barer  Wirklichkeit  weiter  durch  die  Zeit.  So  werden  wir  in  diesem  Gedicht  für  den 
Morgengottesdienst  des  ohnehin  vom  Hohen  Lied  begleiteten  Befreiungsfests  hinein» 
gerissen  in  einen  Ausbruch  der  verlassenen,  ein  Jahrtausend  schon  ins  Elend  der 
Fremde  verstoßenen  Geliebten,  wie  ihn  jene  klassischen  Zeugnisse  dieser  Liebe 
einfach  schon  deshalb  nicht  kennen,  weil  damals,  am  Beginn  des  Jahrtausends,  zu 
einem  so  furchtbaren  Ausbruch  noch  kein  Grund  war.  Es  ist  kein  Ton  von  Buß- 
stimmung in  diesen  Worten,  nur  die  rechtende  Entrüstung  über  die  Treulosigkeit 
des  Geliebten,  dem  sie  alles  geopfert  hat.  Die  Geschichte  zweier  Jahrtausende,  vom 
Sinai  über  Perser,  Griechen,  Römer  bis  hin  zum  Islam  der  Gegenwart,  drängt  sich 
in  den  Vorwürfen  der  drei  mittleren  Zweizeiler  auf  einer  Zeugenbank  zusammen. 
Und  dann  kommt  der  Aufschrei,  den  man  dem  Ohr  kaum  zu  glauben  wetgt,  wo 
Israel  als  der  eine  Mensch  sich  vor  dem  einen  Gott  aufreckt  und  Gottes  Allmacht 
an  die  Erlösung,  die  er  ihm,  Israel,  schuldig  ist,  bindet.  Denn  es  gibt  keinen  andern 
noch,  der  auf  ihn  harrt,  es  darf  keinen  andern  geben,  die  Gewalt  der  Liebe  duldet 
kein  Draußen;  was  ist,  ist  in  ihr;  was  nicht  in  ihr  ist,  ist  nicht. 

Jüdisch?  Nein,  denn  alle  Liebe  vergißt  in  der  Liebe,  daß  es  noch  ein  Jenseits 
der  Liebe,  ein  Es  neben  Mir  und  Dir  gibt.  Jüdisch?  O  ja,  denn  die  Kraft,  diese 
Wahrheit  auszusprechen,  ist  dem  Menschen  nur  gegeben,  seit  und  weil  es  —  den 
Juden  gibt. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  4:  „und  Se!r  und  Parans  Berg  und  Sinai  und  Sin,  zeugt 
mir."  "  Zeile  8:  „gequält  unter  Perserjoch,  /  gestählt  in  hellen'scher  Glut." 

TRAUMGESICHT  /  ^STDD  ^3515  "I^I^K" 
Luz.,  Div.  Nr.  37.  Harkavy  II  6. 

Ein  Traumgesicht  der  Tochter  Zion,  der  ewig  jungen,  nimmer  alten,  deren  Jugend 
schon  ein  früchtereicher  Herbst  war  und  der  deshalb  die  Erneuerung  allzeit  in  der 
Gestalt  der  Wiederkehr  nahen  darf.  Wiederkehr  desjugendlichenHerbsts,  Wieder» 
kehr  des  jugendlichen  Schmucks,  Wiederkehr  der  jugendlichen  Einung,  die  zugleich 
mit  dem  Geliebten  und  an  ihm  und  in  ihr  geschah.  Aber  jenes  eine  Wiederkehr 
zu  ihr  und  dieses  ^  selbst  im  Traum  noch  ^  eine  Wiederkehr,  die  ihr,  ihr  selber 
obliegt. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

253 


TREUE  /  "'S?  ^"a^  "irsn  -yiv 

Brody  UI  20f. 

Das  jüdische  Urwort,  aus  dem  die  Welt  sich  den  Glauben  gewonnen  hat,  be- 
deutet eigentlich  Treue;  es  ist  ein  Wort  der  Gegenseitigkeit.  Diese  Gegenseitigkeit 
ist  stets  über  dem  jüdischen  Begriff  des  Verhältnisses  Von  Gott  und  Mensch  ge- 
blieben; sie  hat  die  fremdem  Auge  unbegreiflichsten  Formen  angenommen;  der 
alte  Eisenmenger,  der  sich  von  seinen  modernen  Nachfahren  und  Abschreibern 
dadurch  imterscheidet,  daß  er  sich  immerhin  um  die  Sache,  die  er  „entdecken" 
wollte,  redliche  Mühe  gegeben  hat,  stellt  unter  der  Überschrift  „Welche  abscheu- 
lichen und  lästerlichen  Vorstellungen  die  Juden  von  Gottvater  haben"  eine  viele 
Seiten  füllende  Reihe  von  haggadischen  Stellen  zusammen,  von  denen  eine  immer 
herrlicher  als  die  andre  ist. 

Wohl  eine  dieser  Stellen  schwebt  dem  Dichter  bei  dem  gewaltigen  Schlüsse  dieses 
Zwiegesprächs  vor,  das  schon  die  Klage  selber  fast  überdeckt  mit  dem  Stolz  dessen, 
der  sich  für  besser  halten  darf  als  seine  Dränger,  deren  Ende  ihm  überdies  aus 
dem  von  Daniel  (8, 13 f.)  vernommenen  engelischen  Gespräch  gewiß  ist,  und  mit 
der  Süßigkeit  des  Hohen  Lieds:  nämlich  die  berühmte  Frage  des  Talmud,  was  denn 
in  Gottes  Gebetskapseln  steht;  denn  auch  Gott  legt  Gebetriemen,  wie  der  Mensch 
es  zum  Zeichen  seiner  Gottesliebe  ^  im  „Buch  der  Liebe"  verzeichnet  Maimonides 
in  seinem  großen  Codex  die  Bestimmungen  über  ihre  Beschaffenheit  und  ihr  An- 
legen —  tut.  In  den  Gebetskapseln  des  Menschen  steht  das  Gotteseinzigkeitsbekenntnis 
mit  dem  anschließenden  Gebot  der  Gottesliebe  (5.  M.  6, 4ff.),  —  was  aber  steht  in 
denen,  die  Gott  „legt"?  „Und  wer  ist  wie  dein  Volk  Israel,  ein  einziger  Stamm  auf 
Erden?"  (l.  Chr.  17,  2l).  Dem  Bekenntnis  des  Menschen  zum  einzigen  Gott  hallt 
das  Bekenntnis  Gottes  zum  einzigen  Volk  wider,  zu  dem  Volk,  dem  die  Schicksale 
der  Väter,  Isaaks  Opferbereitschaft,  Jakobs  Listen  imd  Leiden  um  die  Erstgeburt, 
Abrahams  Gottesfreundschaft,  zu  Zügen  in  seinem  dreitausendjährigen  Antlitz  ge- 
worden sind. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  2,  Zeile  4f.:  Hagars,  Moabs  und  Ammons  Sohn,  /  ver- 
achtend das  Wort  des  „Heiligen"  imd  des  „Unbekannten"  (Dan.  8, 13  f.)  —  Strophe  3, 
Zeile  2:  „Pflücken  dort  Narden  und  Lilien."  Zeile  6 f.:  „Und  die  Geliebte  |  führ 
zurück  in  meine  Wohnstatt."  —  Strophe  4,  Zeile  2:  „Denn  ich  habe  dich  mit  keinem 
andern  Volk  vertauscht." 


236 


LIEBESTROST  /  niTcn  ^3  Tiinj^b  nij 

Sachs  38f.  Harkavy  II  29f.  Brody-Wiener  160, 

Ein  Gespräch  zwischen  Gott  und  Israel,  der  „Schwester^Braut"  des  Hohen  Lieds 
(4, 9. 1 1. 12;  5, 1.  2),  das  denn  auch  auf  die  berühmten  Worte  von  der  Liebe  mit  all 
seinen  Gürteireimen  von  Anfang  an  lossteuert.  Ts  beginnt  mit  Trost,  dem  —  zweite 
und  dritte  Strophe  --  untrösthche  Verzweifixmg  antwortet,  worauf  der  Trost  in  ver- 
stärkten Tönen  wieder  einsetzt  und,  die  vierte  Strophe  lang,  sehr  göttlich,  dann 
"  Schlußstrophe  ^  sehr  menschlich  spricht  und  so  in  das  menschlichst'göttlichste  der 
Worte  mündet 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  6:  „ . . .  schon  nahet  sie."  ^  Strophe  2,  Zeile  4: 
„ . . .:  Frucht  eß  ich  meines  Tuns."  Zeile  5:  „der  Witwenschaft"  ist  Zusatz.  —  Strophe  3, 
Zeile  3:  „  . . .  wie  wird  sie  nicht  befreit?"  —  Strophe  4,  Zeile  2f.:  „Ich  bringe  zurück 
Ehre  zu  meinem  Lager  |  Ich  rotte  den  Fremden  aus  dem  Erbe  meines  Sohnes." 

WIEDERFINDEN  /  niKTO  135  iB^n  tlT\»  HS 
Luz.,  Div.  Nr.  69.  Harkavy  I  72flF. 

In  diesem  ganz  menschlich-süßen  Liebesgespräch,  in  dem  der  Liebste  mit  dem 
Kosenamen  der  weltlichen  Liebesdichtung  gerufen  wird  („Wie  kann  ich  meinem 
Friedel . . ."  könnte  man  den  Anfang  übersetzen),  wird  der  zukünftige  Augenblick 
des  Wiederfindens  traumhaft  vorweggenommen.  Alles  heut  Vergangene  und  heut 
Gegenwärtige  imd  heut  noch  Zukünftige  ist  da  auf  der  einen  Ebene  der  Vergangen- 
heit vereinigt  und  wird  als  solches  Vergangenes  im  vertrauten  „Weißt  du  noch?", 
„Gedenkt  es  dich?",  „Vorm  Jahr  um  diese  Zeit"  des  Liebesgesprächs  vergegen- 
wärtigt; die  Liebe  Abrahams,  die  Psalmlieder  Israels,  Jesajas  (40, 2)  Verheißung  der 
Erlösung  nach  verbüßter  zwiefacher  Strafe,  das  Buch  des  göttlichen  Gerichts,  Spott 
und  Entweihung  der  trüben  Gegenwart,  die  Verheißung  des  bleibenden  Rests 
(Jes.  10,  20  f.  u.  a.),  die  Zusicherung  der  Hilfe  für  den,  der  stille  bleibt  (Jes.  30, 15), 
das  Grauen,  das  Gott  durch  den  Mund  des  Propheten  (Jes.  1,14)  vor  Israels  Opfer- 
festen geäußert  hatte,  der  Jubel  des  Bräutigams  des  Hohen  Lieds  (5,1),  der  in  seinen 
Garten  kommt,  und  der  Ruf  der  Braut,  die  ihn  gleich  einem  Hirsch  entfliehen  sah 
(Hl.  8,14)  —  das  alles  und  noch  mehr  wird  in  der  Wechselrede  der  „Liebenden  sich 
wiederfindend"  aufs  neue  holde,  vom  Zittern  der  ersten  frohen  Ahnung  bis  zum 
Jubel  der  endlichen  Erfüllung  schwellende  Gegenwart. 

237 


Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  9f.:  „So  denk,  ich  meinen  Kindern  /  des 
Terachsohnes  Lieb'".  ^  Strophe  2,  Zeile  5:  „Gedoppelt  Maß  der  Strafe  . . ."  — 
Strophe  3,  Zeile  7^10:  In  Edoms  Volk  und  Ephers  /  schrie  ich  heiß  zu  Dir  |  aus 
Kerkern  Kummerstöhnen;  /  's  fiel  des  Weihhaupts  Zier.  --  Strophe  4,  Zeile  If.: 
„Schweig!  weur's  nicht  zum  Heil,  daß  /  ich  als  Rest  dich  ließ".  —  Strophe  5,  Zeile  3: 
„'s  kam  zu  des  Lobes  Garten  . . ."  Zeile  9 f.:  „Kehrt!  Gottes  Herrlichkeit  ist )  über 
dir  entbrannt." 


AUF  /  ny  inbi  ■jyj'' 

Brody  IIl  67. 

Kein  Zwiegespräch  mehr  wie  die  letzten  Gedichte  des  vorigen  Teils,  sondern 
nur  noch  einer  spricht,  der  Eine.  Also  nicht  mehr  Gegenwart,  sondern  Zukunft, 
nicht  mehr  Drama,  sondern  Vision.  Die  Klage,  die  immer  Ausdruck  der  Gegen- 
wart ist,  ist  verstummt;  auch  Trost,  Verheißung,  selbst  Hoffnung,  die  alle  zwar  in 
die  Zukunft  blicken,  aber  aus  der  Gegenwart,  schweigen;  es  spricht  nur  die  rein 
gegenwärtige  Zukunft,  der  Aufruf,  das  „Sei  bereit"  der  gekommenen,  endlich  ge- 
kommenen  Stunde.  Und  spricht  aus  dem  Mund  dessen,  der  sie  herbeigeführt  hat, 
der  durch  alle  Widersprüche  seines  Wesens  und  in  den  Wellengängen  imsres  Schick" 
sals  den  Seinen  die  Liebe  wahrt,  ^  des  Herrn  der  Zukunft. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 


DIE  FROHE  BOTSCHAFT  /  "n^Ü-'S"!  ■'23D  D''plni  riDV 
Luz.,  Div.  Nr.  6.  Harkavy  I  74f. 

Dies  Gedicht,  an  sich  nicht  sehr  bedeutend,  gehört  gleichwohl  an  diese  Stelle, 
um  seiner  Veranlassung  willen.  Denn  wohl  mit  Recht  —  Geigers  und  anderer  Wider- 
spruch überzeugt  mich  nicht  ^  hat  sein  Herausgeber  Luzzatto  angenonmien,  daß 
es  unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  der  Nachrichten  vom  Auftreten  eines  mes- 
siemischen  Prätendenten,  wie  deren  mehrere  für  das  Jahrhundert  anderweitig  be- 
zeugt sind,  entstanden  ist.  Es  ist  nicht  Jehuda  Halevis  Art,  die  Situationen  zu  seinen 
Gedichten  zu  fingieren.  Und  wo  ein  Traum  oder  ein  Gesicht  die  Veranlassung  ist,  da 
sagt  er  es.  Also  wird  es  schon  eine  wirkliche,  kurz  oder  lang  geglaubte  Nachricht 
gewesen  sein. 

238 


So  hätte  auch  Jehuda  Halevi  diesen  Zoll  seines  Glaubens  entrichtet.  Denn  die 
Erwartung  des  Messias,  von  der  und  um  derentwillen  das  Judentum  lebt,  wäre  ein 
leeres  Theologumcn,  eine  bloße  „Idee",  ein  Geschwätz,  —  wenn  sie  sich  nicht  immer 
wieder  verwirklichte  und  entwirklichte,  täuschte  und  enttäuschte  an  der  Gestalt 
des  „falschen  Messias".  Der  falsche  Messias  ist  so  alt  wie  die  Hoffnung  des  echten. 
Er  ist  die  wechselnde  Form  dieser  bleibenden  Hofi&iung.  Jedes  jüdische  Geschlecht 
teilt  sich  durch  ihn  in  die,  welche  die  Glaubenskraft  haben,  sich  täuschen  zu  lassen, 
und  die,  welche  die  Hoffhungskraft  haben,  sich  nicht  täuschen  zu  lassen.  Jene  sind 
die  Besseren,  diese  die  Stärkeren.  Jene  bluten  als  Opfer  auf  dem  Altar  der  Ewig- 
keit des  Volks,  diese  dienen  als  Priester  vor  diesem  Altar.  Bis  es  einmal  umgekehrt 
sein  wird  und  der  Glaube  der  Gläubigen  zur  Wahrheit,  die  Hoffnung  der  Hoffen- 
den zur  Lüge  wird.  Dann  ^  und  niemand  weiß,  ob  dies  „Dann"  nicht  noch  heute 
eintreten  wird  —  dann  ist  die  Aufgabe  der  Hoffenden  zu  Ende,  und  wer  dann, 
wenn  der  Morgen  dieses  Heute  angebrochen  ist,  noch  zu  den  Hoffenden  und  nicht 
zu  den  Glaubenden  gehört,  der  läuft  Gefahr,  verworfen  zu  werden.  Diese  Gefahr 
hängt  über  dem  scheinbar  gefahrloseren  Leben  des  Hoffenden. 

Hermann  Cohen  sagte  einmal  zu  mir  -^  er  war  schon  über  siebzig  —:  „Ich 
hoffe  doch  noch,  den  Anbruch  der  messianischen  Zeit  zu  erleben."  Damit  meinte 
er,  ein  Gläubiger  des  falschen  Messias  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  die  Bekeh- 
rung der  Christen  zum  „reinen  Monotheismus"  seines  Judentums,  die  er  in  der 
liberalen  protestantischen  Theologie  sich  vorbereiten  zu  sehen  meinte.  Ich  fuhr  zu- 
sammen vor  dieser  Gewalt  des  „bald,  in  unsem  Tagen"  und  wagte  nicht  zu  sagen, 
daß  diese  Zeichen  mir  keine  Zeichen  wären,  sondern  erwiderte  nur,  ich  glaubte 
es  nicht  zu  erleben.  Darauf  er:  „Aber  wann  meinen  Sie  denn?"  Da  hatte  ich  nicht 
das  Herz,  keine  Zahl  zu  nennen  und  sagte:  Wohl  erst  nach  Hunderten  von  Jahren. 
Er  aber  verstand:  wohl  erst  nach  hundert  Jahren,  und  rief:  „O  bitte  sagen  Sie 
fünfzig!" 

Zur  Übersetzung:  Zeile  12:  „. . .  |  das  Haus  der  Liebe  -'  weit'  es." 


HEILSRECHNUNG  /  mr  nms  n^pri  wr 

Luz.  Nr.  43.  Harkavy  I  74f. 

So  wird  der  Termin  der  Erlösung  herangerechnet.  Immer  wieder.  Und  doch 
bricht  jede  Rechnung  zusammen,  so  daß  schon  im  Talmud  gesagt  wird,  alle  Ter- 


239 


mine  seien  verstrichen,  und  es  bleibe  nur  noch  die  Kraft  der  Umkehr.  Jehuda 
Halevis  Lebenszeit  fällt  ja  ganz  in  solch  eine  Epoche,  wo  der  errechnete  Termin 
verstrichen  war:  auf  das  tausendste  Jahr  des  Exils,  also  nach  der  damaligen  histo- 
rischen Chronologie  auf  das  Jahr  1068  der  christlichen  Ära,  hatte  man  die  Er* 
lösung  erhofft.  Vierundsechzig  Jahre  "  der  Dichter  umschreibt  die  Zahl  gemäß 
dem  Taubengleichnis  des  Gedichts  mit  dem  Summenzahlwert  der  Buchstaben  des 
Worts  „entschwebe",  was  die  Übersetzung  natürlich  nur  sehr  entfernt  nachbilden 
kann,  ^  vierundsechzig  Jahre  sind  nun  schon  wieder  im  Elend  vergangen;  die 
verflossenen  Jahre  werden  gezählt,  die  Zukunft  wagt  keine  Rechnung  mehr  zu  er- 
reichen.  Wagt  nicht  mehr?  Doch  grade  aus  der  Verzweiflung  an  £illem  Errechnen 
schlägt,  wie  einst  dem  Propheten  (Jen  20,  9)  aus  seinem  verzweifelten  Versuch,  des 
Namens  „nicht  mehr  zu  gedenken",  die  Flamme  der  Glaubenskr£ift  neu  empor  und 
trägt  mit  letzter  Gewalt  das  „Er  komme!"  des  Psalms  (50,  3)  himmelwärts,  das  in 
dem  scheinbar  so  künstlichen  Rhythmus  des  Gedichts  nun  von  Anfang  an  seiner 
Auferstehung  entgegengeharrt  zu  haben  scheint. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  7  Vgl.  Anmerkung. -' Zeile  15:  Es  komme  unser  Gott .. . 

IM  HEILIGTUM  /  niTT'  '^^MSSTBa  ^Hbx 

Luz.,  Bet.  54.  Luz.,  Div.  Nr.  51.  Harkavy  I  8f.  Brody  II  160. 

Die  Zionssehnsucht  des  jüdischen  Volks  ist  niemals  bloß  die  Sehnsucht  des  Ge* 
plagten  nach  Ruhe  gewesen,  sondern  immer  auch  Verlangen  aus  gemindertem  nach 
höherem  Leben.  Wenn  das  tägliche  Gebet  die  Bitte,  Gott  möge  in  die  große  Po* 
.saune  stoßen  zu  unsrer  Befreiung,  am  Sabbat  imd  Festtag,  wo  die  Bitten  irdischer 
Bedürftigkeit  schweigen  sollen,  wegläßt  ^  die  Bitte  um  Wiederherstellung  des 
Opferdiensts  schweigt  auch  da  nicht: 

Sei  hold,  o  du  Gott  unser  Gott, 

Deinem  Volke  Israel  und  ihrem  Flehn 
Und  schenk  neu  heiigen  Brauch  deines  Hauses  Zelle. 
Und  Feuerbrand  und  Gebete  der  Liebe,  o  annimm  sie  in  Huld,  Gott, 
Und  allzeit  leuchte  auf  Israels  Dienst  deiner  Gnaden  Helle. 
Und  mögen  sehn  unsre  Augen, 

wie  du  heimkehrst  nach  Zion  erbarmungsmild. 
Lob  nun,  ja  Lob  dir,  o  Gott, 

der  seinen  Glanz  läßt  neu  wohnen  auf  Zion. 

240 


Jehuda  den  Leviten  versetzt  sein  Traum  in  die  Mitte  seiner  dienenden  Brüder. 
Er  schwelgt  in  dem  Anblick  der  Opfer.  Sie  bedeuten  ihm  die  wiederhergestellte 
Unmittelbarkeit  der  Gottesnähe.  Noch  im  gleichen  Jahrhundert  hat  Maimonides, 
der  in  seinem  Codex  die  Opfergesetze,  wie  sie  nach  Aufbau  des  Tempels  wieder 
in  Kraft  sein  würden,  genau  verzeichnet,  in  seinem  philosophischen  Werk,  an- 
schließend an  3.  M.  17, 7,  die  Opfergesetzgebung  als  eine  bloße  pädagogische  Kon- 
zession Moses  behandelt.  Heute  ist  sie  und  die  Gebete  um  ihre  Wiederherstellung 
eine  Verlegenheit  geworden,  eine  allgemein  anerkannte  bei  den  Liberalen,  eine 
imeingestandene  bei  den  Orthodoxen. 

Die  Gründe,  die  für  diese  AI)lehnung  angeführt  zu  werden  pflegen,  sind  so 
schwach,  daß  sie  offenbar  nicht  die  wahren  sind.  Denn  das  Entsetzen  über  den 
„Mord  unschuldiger  Tiere"  ist  im  Munde  von  tätigen  Nichtvegetarianem  eher  ko- 
misch als  ernst  zu  nehmen.  Was  aber  darüber  hinaus  angeführt  wird,  das  trifft 
jeden  andern  sichtbaren  und  festgelegten  Kultakt  genau  so  wie  die  im  Opfer  ge- 
schehende anschauliche  Beziehung  der  natürlichen  Notwendigkeit  der  Nahnmgs« 
aufnähme  auf  den,  der  die  Nahrung  gibt;  und  das  ist  wohl  auch  die  Absicht 

Trotzdem  aber  besteht  auch  für  den,  der  sich  hierüber  ganz  klar  ist,  ein  gefühls- 
mäßiger Unterschied.  Die  Bitte  um  Wiederherstellung  der  Opfer  ist  auch  für  ihn 
eine  schwere  Bitte.  Aber  sie  soll  es  sein.  Es  ist  der  Unterschied  des  verordneten 
vom  augenblicksgeborenen  Gebet,  daß  dieses  aus  einer  vorhandenen  Not  hervor- 
gestoßen wird,  jenes  aber  seinen  Beter  lehren  soll,  eine  Not,  die  er  sonst  nicht 
fühlen  würde,  zu  spüren.  Dies  trifft  grade  für  die  Gebete  um  die  messianische  Zeit 
zu,  soweit  sie  nicht  auf  die  bloße  Erlösimg  von  dem  Druck  der  Gegenwart  gehen. 
In  jedes  Leben,  auch  in  das  schwerste,  ist  der  Mensch  soweit  eingewurzelt,  daß 
er  Grund  hat,  zwar  teilweise  Veränderung  immer  zu  wünschen,  aber  eine  radikale 
Veränderung  zu  scheuen.  Und  eine  solche  radikale  Veränderung,  die  radikale  Ver- 
änderung, ist  die  messianische  Zeit,  die  zwar  der  Hölle  der  Weltgeschichte  ein 
Ende  setzt,  aber  auch  ihren  Zweideutigkeiten  und  scheinbaren  Verantwortimgs- 
losigkeiten;  da  wird  alles  sichtbar,  und  vor  dieser  Allsichtbarkeit  imd  der  damit 
verbundenen  eindeutigen  Verantwortung  scheut  der  Mensch  wie  —  vor  der  Gottes- 
nähe des  Todes,  die  er  ebenfalls  ersehnen  mag,  ohne  doch  sich  von  der  Liebe  des 
Lebens,  auch  des  mangelhaften  und  sündigen  Lebens,  freimachen  zu  können.  Denn  die 
Veränderung  ist  zu  radikal.  Er  soll  aber  lernen,  um  die  radikale  Veränderung  zu  bitten, 
auch  wenn  ihm  diese  Bitte  solange  schwer  fällt,  bis  die  Veränderung  eingetreten  ist. 

16  241 


Daß  Gott  auch  in  dieser  jetzigen  Welt  der  Halbheiten,  der  Mischungen,  der 
Spukhaftigkeiten  bei  dem  Menschen  ist  oder  vielmehr  daß  der  Mensch  bei  ihm 
sein,  zu  ihm  finden  kann,  das  erfährt  Jehuda  Haie  vi,  wie  er  aus  seinem  Traum 
wieder  in  diese  Welt  erwacht.  Es  wäre  Lüge,  wollte  die  Sehnsucht  vergessen,  was 
sie  schon  besitzt,  aber  es  wäre  der  Tod,  wollte  der  Besitz  verlernen,  sich  zu  sehnen. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

TEPPICHE  SALOMOS  /  mp  "bnx  ^inn  y»,  nabTc  t\'v^t 

Luz.,  Div.  Nr.  41.  Harkavy  I  59.  Brody-Wiener  158. 

Das  Gedicht,  das  mancherorts  in  die  Liturgie  der  sommerlichen  Trauerzeit  um  die 
Zerstörung  Jerusalems  Aufiiahme  gefunden  hat,  trifft  das  Herz  auf  einem  Umweg 
über  die  größtmögliche  Ferne  der  Objektivität.  Es  spricht  nicht  aus  dem  Schicksal 
der  Betroffenen  heraus,  sondern  dramatisiert  dies  Schicksal  zu  einem  Dialog  zwischen 
den  „Teppichen  Salomos"  imd  einem  Wanderer,  der  sie  in  ihrer  früheren  Herr- 
Uchkeit  kannte  und  ihnen  nun  im  Beduinenzelt  des  Ismaeliters  wieder  begegnet. 
So  wird  die  Klage  den  Teppichen,  die  Trauer  und  die  Hoffiiung  samt  dem  Wissen 
um  Israels,  in  kühner  Wendung  den  Sternen  (Jes.  40,  26)  verglichene,  Gottesnähe 
dem  Wanderer  in  den  Mvmd  gelegt,  imd  Trauer,  Klage,  Bewußtsein  und  Hoffnung 
kehren  aus  dieser  Entfremdung  heißer  noch  in  die  Brust  des  Beters  zurück. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  17£:  „Ihr  Glänzen  wie  einst  zuerst  |  laß'  wieder  er 
kehren  zuletzt". 

NÄCHTLICHE  TRÄNE  /  ^njHH  bb«1T 
Harkavy  1 15.  Brody  III  187. 

Die  Zionsklage,  der  die  drei  Wochen  des  Sommers  gehören,  verstummt  doch 
das  ganze  Jahr  nicht;  sie  mischt  sich  in  jede  andre  Klage  mit  hinein.  So  klagt  sie 
auch  durch  die  Nachtklagen  der  Zeit  vor  den  großen  Gerichts-  und  Sühnetagen 
des  Herbsts  und  mischt  die  Träne  um  Zion  dem  Bekenntnis  der  Sünde  und  die 
Hoffnung  Zions  der  Bitte  um  Vergebung. 

Zur  Übersetzung:  Strophe  1,  Zeile  7f.:  „. . .,  wenn  ich  dein  nicht  gedenke". 
'^  Strophe  2,  Zeile  2:  „. . .  Gemache."  ^  Strophe  4,  Zeile  6:  „und  er  gibt  ihr  Heil 
aus  Zion." 

242 


DIE  HOHE  STADT  |  ban  TBiffl73  r|i3  ns^ 

Luz.,  Bet.  53.  Luz.,  Div.  Nr.  1.  Harkavy  I  7.  Brody-Albrecht  35.  Brody 
11  167f.  Brody-Wiener  183. 

Es  sind  in  diesem  Gedicht,  das  anhebt  mit  der  Psalmenvision  (48,  3)  der  hoch- 
gebauten Stadt,  Klänge,  die  in  den  Sehnsuchts-  und  Reisegedichten  bis  liin  zur 
großen  Zionide  immer  wiederkehren,  und  doch  könnten  sie  hier  noch  poetische 
Wendmigen  sein,  hervorgewachsen  aus  dem  lebendigen  Schrifttum,  bestimmt  für 
den  kultischen  Gebrauch  der  Sommerwochen,  in  den  tatsächlich  auch  dieses  Ge- 
dicht Eingang  gefunden  hat,  ^  enthielte  nicht  die  letzte  Zeile  eine  fast  schamhaft 
verborgene  Andeutung,  aus  der  man  spürt,  daß  es  dem  Dichter,  wie  in  späteren 
Jahrhunderten  vielen  Tausenden,  persönlicher  Ernst  ist  mit  dem  Wunsch,  in  Jeru- 
salem zu  sterben.  Denn  dies,  und  nicht,  wie  man  denken  könnte,  eine  Fortspinnung 
der  vorhergehenden  Doppelzeile,  ist  der  versiegelte  Sinn  der  schließenden  Doppel» 
zeile,  die  mit  dem  Wort  für  „Scholle"  auf  die  eine  der  beiden  einzigen  Stellen 
seines  Vorkommens  in  der  Schrift  anspielt  und  dabei  doch  vermeidet,  die  Anspie- 
lung durch  Gebrauch  andrer  Worte  jenes  Verses  dem  Leser  offenkundig  zu 
machen  —  vom  Toten  sagt  Hiob  (21,33):  „süß  munden  ihm  die  Schollen  des  Tals". 

Zur  Übersetzung:  Zeile  12:  „bis  ganz  er  ist  gemischt." 


ZWISCHEN  OST  UND  WEST  \  niJÜ  ^102  'DSI  niTOn  "ab 

Luz.,  Bet.  53.    Luz.,  Div.  Nr.  7.    Harkavy  I  7f.  Brody  11   155.    Brody- 
Wiener  179. 

Jehuda  HalevLs  Zionssehnsucht,  die  Gespaltenheit  der  Person  zwischen  Ost  und 
West,  die  er  selber  noch  steigerte  durch  das  Gelidide,  das  er  erst  in  Zion  lösen 
konnte,  ist  in  der  Geschichte  des  Exilsjudentums  ein  Wendepunkt,  Ein  Jahrtausend 
lang,  nachdem  die  heldenhaften  Zuckungen  der  ersten  Jahrhunderte  in  den  Lehr- 
hallen Babyloniens  verebbt  waren,  bleibt  die  Sehnsucht  nach  Zion  ein  totes  Gut  ^ 
„Religion".  Mit  dem  Jahrtausend  nach  der  Zerstörung,  an  dessen  Beginn  Jehuda 
Halevi  geboren  wurde,  beginnt  der  Rückstrom  des  jüdischen  Lebens  ins  alte  Land. 
In  historischer  Breite  erst  ein  Jahrhundert  später  mit  der  Auswanderung  der  fran- 
zösischen Gelehrten;  aber  Jehuda  Halevis  einsames  Seelenschicksal  ist  das  erste 
Feuerzeichen  der  neuen  Bewegung,  die  dann,  nur  mit  der  einen,  doch  stärkenden, 
Atempause  des  nachmendelssohnschen  Jahrhunderts,  in  der  die  führende  West- 

243 


judenheit  den  Zusammenh£ing  radikal  zu  verleugnen  suchte,  bis  in  unsre  Gegen- 
wart trägt 
Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 


ANTWORT  I  DTpi  "0?  lai  y^yi 

Luz.,  Bet.  54ff,  Luz.,  Div.  Nr.  86.  Harkavy  I  l6fiF.  Brody  II  I64ff.  Brody- 
Wiener  181f. 

Der  Entschluß  des  berühmten  Mannes  wird  bekannt,  und  er  erhält  eine  Ab- 
mahnung in  Form  einer  poetischen  Epistel,  deren  Inhalt  wir  nur  aus  seiner  Ant- 
wort entnehmen  können,  die  aber  auf  jeden  Fall  zeigt,  wie  ungeheuerlich  sein  Ent- 
schluß damals  scheinen  komite. 

Der  Schreiber  jener  Epistel  ist  unbekannt  und  kommt  uns  doch  so  bekannt  vor, 
als  ob  wir  ihn  nicht  in  einer,  sondern  in  hundert  Gestalten  mit  Namen  bezeichnen 
könnten.  Zu  den  ewigen  Figuren  des  Judentums  gehört  eben  auch  der  Assimilant. 
Und  seine  Argumente  sind  die  ^  soll  man  sagen:  erschreckend?  —  gleichen  ge- 
blieben: Jerusalem  geht  uns  heute  nichts  mehr  an,  weil,  wie  als  David  es  eroberte 
es  wieder  von  „Blinden  und  Lahmen"  (2.  Sam.  5,  6.8),  fremden  Völkern,  bewohnt 
wird;  imd  dies  unhistorisch-historische  Argument  verbindet  sich,  damals  wie  eben- 
falls heute,  mit  dem  unphilosophisch-philosophischen  (nur  das  unpolitisch-politische 
fehlt,  aber  es  wäre  ja  auch  einem  einzelnen  Mann  gegenüber  schlecht  angebracht); 
und  die  Philosophie,  die  herhalten  muß,  um  der  nationalen  Vergeßlichkeit  ein  Re- 
lief zu  geben,  ist,  damals  wie  heute,  der  Abkömmling  der  griechischen,  die  nur 
von  anfangs-  und  endloser  Ewigkeit  weiß,  nicht  von  einem  Ewigen,  der  Anfang 
setzt  und  Ende. 

Die  Antwort  schlägt  mit  ihrem  Zitat  von  Ps.  122,  8f  gleichfalls  sofort  den  un- 
sterblichen Doppelklang  der  Zionsliebe,  Gott  und  dzisVolk,  an:  um  des  Tempels 
und  um  der  Brüder  willen  bleibt  ims  Jerusalem,  was  es  war.  Im  einzelnen  geht 
die  Argumentation  dann  ausführlich  auf  den  „historischen"  Einwand  des  „Nicht- 
mehr"  ein  und  widerlegt  ihn  mit  Hinweisen  auf  die  der  unsern  entsprechenden 
Situation  des  „Nochnicht",  nämlich  die  Zeit  der  Erzväter,  denen  das  Land,  das 
ebensowenig  ihr  Eigentum  war,  demioch  heilig  war.  Dazwischen  weist  sie  auf  die 
Orgien,  welche  die  Pietät  an  den  Toten  feiert  und  mit  denen  sie  sich  von  der 
echten  zukunftsträchtigen  Vergegenwärtigung  des  Lebendigen  loskauft,  imd  preist 

244 


das  Land  als  den  einzigen  sichern  Zuflnchtsort  und  als  die  Stätte  der  historischen 
Erinnerungen  sowohl  wie  der  eschatologischen  Hoffnungen.  Und  sie  weiß  sich  auf 
der  Hauptstraße,  gegenüber  der  alle  Wendiuigen  und  Einwendungen  des  Worts 
des  andern  nur  gewundene  Seitenpfade  sind. 

Das  Wort  ist  vergessen,  die  Antwort  ist  geblieben. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

DER  PILGER  /  ^n  b«b  ^HpiTcn  ^3np^2n 

Luz.,  Bet.  62f.  Harkavy  I  20f.  Brody  11  172ff.  Brody-Wiener  183 f. 

Leicht  ist  Jehuda  Halevi  die  Auswanderung  nicht  geworden.  Was  er  aufgab, 
zeigt  dies  Gedicht.  Und  wie  sich  in  Augenblicke  des  Scheidens  alles  hineinzusam« 
mein  pflegt,  was  man  verläßt,  und  man  Besessenes  erst  im  Moment  des  Verlusts 
ganz  ergreift,  so  lunschreibt  der  Dichter  hier  in  vierzehn  Zeilen  den  Kreis  des 
Lebens,  das  er  aß.  die  Jahre  lang  gelebt  imd  geliebt  hat:  Familie,  Freunde,  ein 
Schülerkreis,  aus  dem  er  ein  paar  Namen  vergoldet,  die  Synagoge,  der  sein  Dich- 
ten, das  Lehrhaus,  dem  sein  Denken  geweiht  war,  der  Rhythmus  des  jüdischen 
Jahres  mit  seinen  Sabbaten  und  Festtagen,  der  Dichterruhm,  der  ihn  weit  im  Land 
lunwob.  Nur  kurz  spricht  er  von  den  Mühen  der  Pilgerschaft,  denen  er  sich  unter- 
wirft; schon  werden  sie  verschlungen  von  dem  mit  allen  Süßigkeiten  seiner  Sprache 
umspielten  Sehnsuchtsbild  dessen,  was  ihm  am  Ziele  seiner  Fahrt  winkt.  Man  spürt: 
es  ist  wirklich  die  „Sehnsucht  nach  dem  lebendigen  Gott",  die  ihn  eine  ihm 
lebendige  Welt  klaglos  --  fast  klaglos  ^  aufgeben  läßt.  Fast  klaglos  -«  die  leisen 
Töne  der  Klage,  die  noch  in  ihm  klingen,  bewahrt  dies  Gedicht. 
i  Zur  Übersetzung:  Zeile  1: ...  dem  lebendigen Gotte.  ^  Zeile  4: . . .  imd  meine 
Freunde,  meine  Brüder.  —  Zeile  21  habe  ich  ebenso  wenig  verstanden  wie  irgend 
jemand  vor  mir.  Brodys  Interpretation,  die  man  als  Übersetzer  etwa  wiedergeben 
müßte:  „und  ich  hör  auf,  zu  schwenzeln  und  scherwenzeln",  geht  mir  gegen  den 
Geschmack  imd  den  Zusammenbang;  die  Konjekturen  der  andern  sind  mir  zu  kühn. 

LEICHT  WIEGT  DAS  ALLES  /  mnr  ^S<  nnlüa  ^1233  "jb 
Luz.  Nr.  9.  Harkavy  I  31  ff.  Brody  II  170. 

Das  Gedicht  hat  nicht  bloß  das  gleiche  Versmaß,  sondern  auch  den  gleichen 
Inhalt  wie  das  vorhergehende.  Doch  merkt  man  diese  Gleichheit  kaum,  so  ver- 

245 


schieden  ist  die  Stimmung.  Die  Phantasie  des  Dichters  fliegt  hier  dem  trägen 
Gang  der  Dinge  voraus  und  nimmt  die  Zukunft  vorweg.  Vorweggenommen  wird 
das  leidenschaftliche  gotthörige  Dein  der  Pilgerschaft;  vorweggenommen  die  kunst- 
reich beschriebenen  Schrecken  der  Meerfahrt  auf  christlichem  Schiff  in  islamische 
Gewässer;  vorweggenommen  auch,  was  im  vorhergehenden  Gedicht  der  ganz 
gegenwärtige  Inhalt  ist:  der  Schmerz  um  die,  die  er  verläßt;  auch  der  erscheint 
hier  so,  wie  er  ihn  empfinden  wird,  nicht  wie  er  ihn  heut  empfindet;  darum  statt 
der  vielen  Namen  und  Güter  des  Lebens,  die  jenes  Gedicht  mit  dem  Goldglanz 
der  Scheidestunde  bestrahlt,  nur  zwei,  nur  die  beiden  Nächsten,  nur  dieser  innerste 
Ring  seines  Herzens,  nur  die  Wunde,  die  keine  Zeit  verharschen  lassen  wird:  das 
einzige  Kind,  von  dem  er  an  dieser  Stelle,  in  diesem  scheulosen  Augenblick  des 
Schmerzes  verrät,  was  sie  ihm  war,  und  ihr  Sohn,  der  offenbar  noch  jugendliche 
Enkel,  der  seinen  Namen  trägt.  Und  dann  das  einzige  nicht  in  der  Form  der  Zu- 
kunft stehende  Wort  des  Ganzen:  leicht  wiegt  das  alles  gegen  deine  Liebe  —  den 
Punkt  der  Gegenwart,  der  gottessehnsüchtigen  Gegenwart  bezeichnend,  von  dem 
aus  alle  Vorwegnahme  geschah.  Von  dem  aus  auch  die  letzte  geschieht,  die  der 
Erfüllung,  des  Ziels,  wenn  er  sein  Herz  an  der  heiligen  Stätte  als  Brandopfer  dar- 
bringen wird  ^  d£is  Opfer  des  Herzens  dem  Dichter,  der  von  Wiederherstellung 
der  sichtbaren  Opfer  träumt,  nicht  als  ihr  Ersatz  gemeint,  sondern,  so  gut  wie  in 
dem  prophetisch-psalmistischen  Kampf  um  die  Opfer,  als  Ergänzung  und  Über- 
höhung — ,  und  die  allerletzte  der  letzten  Erfüllung  und  des  letzten  Ziels:  das  Grab 
in  der  heiligen  Erde,  das  ihm  die  Tat  seines  Lebens  bezeugt;  denn  als  solche  hat 
der  Dichter,  der  ein  so  reiches  Leben  gelebt  hatte,  diesen  Lebensschluß  gemeint, 
wie  er  ihn  als  solchen  in  dem  paradoxen  und  deshalb  neben  Piatons  Phädon, 
nein  über  Piatons  Phädon  '"  denn  kein  Piaton  'steht  hier  zwischen  dem  So- 
krates  des  Dialogs  und  dem  Sterbenden  der  Wh-kllchkeit  ^  leibhaftigsten  und 
erschütterndsten  aller  philosophischen  Buchschlüsse,  dem  Schluß  des  Kusari,  vor- 
gedeutet hat. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  4:  ...  in  allem  Unstet-  und  Flüchtigsein.  Zeile  5f.: 
„über  dunkler  Flut"  und  „über  Waldzypressen"  ist  Zusatz.  Zeile  19 f.:  im  Original 
umgekehrt.  Zeile  23:  ....  —  er  spaltet  meine  Leber  '-.  Zeile  24:  ...  aller  Rätsel. 
Zeile  29 f.:  .  .  .  und  ansehen  mein  Herz  für  ein  auf  deinem  Altar  gebundenes 
Brandopfer. 


2^ 


DER  ZWANG  |  nsin  tV±  ^«33  n£03D  DV 

Luz.,  Bet.  57.  Luz.,  Div.  Nr.  8.  Harkavy  I  8.  Brody  II  167. 

Und  dennoch,  trotz  aller  Pilgersehnsiicht  ist  die  Angst  nm  das,  was  er  aufgeben 
muß,  um  das  Leben,  in  das  ihn  mehr  als  fünfzig  Lebensjahre  heimatlich  verwurzeln 
ließen,  das  Grauen  vor  der  Heimlosigkeit,  noch  stärker.  Da  geschieht  etwas,  was 
ihm  das  gibt,  was  ihm  noch  fehlte:  den  Zwang.  Nun  geht  er  gem. 

Was  das  ist,  was  geschah,  das  verrät  er  nicht.  Wir  wissen  es  nicht,  welches  Er- 
eignis ihm  das  Verlassen  der  Heimat  lieb  oder  gar  zur  Notwendigkeit  gemacht 
hat.  Es  ist  schon  beinahe  wimderbar,  daß  er  auch  nur  soviel  verrät.  Denn  dies  ist 
etwas,  worüber  die  Menschen  meist  schweigen,  obwohl  vielleicht  jeder  es  einmal 
erfährt.  Denn  es  verletzt  im  tiefsten  ihren  Stolz. 

Der  Mensch  sucht  seine  Ehre  in  der  Tat.  Aber  es  gibt  in  jeder  solchen  Tat 
einen  Augenblick,  wo  dem  Menschen  der  Mut  ausgeht,  grade  weil  er  ihn  ganz 
darangesetzt  hat.  Wenn  an  diesem  Punkt  nicht  ein  Zwang  käme,  welcher  der  Tat 
dennoch  zur  Geburt  hülfe,  so  erblickte  sie  niemals  das  Licht  der  Welt.  Aber  dieser 
Zwang  kommt.  Der  Mensch  hat  ein  Recht  darauf,  das  von  Gott  anerkannt  wird. 
Alles  Beten  ist  letzthin  ein  Beten  um  diesen  Zwang,  alles  Danken  ein  Danken  für 
ihn.  Aber  die  Scham,  die  das  Gebet  umgibt,  hat  hier  ihren  Grund. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

BITTEN  I  D-  "nnioa  -ayjn  bx  "nbx 

Luz.,  Bet.  65.  Luz.,  Div.  Nr.  2.  Harkavy  I  23.  Brody  II  168. 

Wie  sonderbar  dieses  kleine  Gebet  auf  der  Meerfahrt,  das  Flut  und  Wind  und 
Gottes  Gnade  nur  noch  als  Vehikel  der  Sehnsucht  sieht!  Ist  sie  gestillt,  —  dann 
mag  die  Woge  ruhn,  das  Meer  vertrocknen.  „Welt  geh  nicht  unter,  Himmel  fall 
nicht  ein,  eh  ich  mag  bei  meiner  Liebsten  sein!" 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 


DIE  FLUT  /  rann  bnn  dtoi  binia  «nn 

Luz.,  Bet.  65f.    Luz.,  Div.  Nr.  3.    Harkavy  I  23f.    Brody  II  169.    Brody- 
Wiener  183. 

Unter  den  Gedichten  dieser  Seefjihrt  ist  dies  wohl  das  schönste.  Es  hält  sich 
gleich  frei  von  dem  billigen  Bombast  wie  von  dem  ebenso  billigen  Moralisieren, 

247 


zu  denen  beiden  das  Thema  leicht  verführt,  und  bleibt  im  Kreise  der  unmittel- 
barsten Tatsachen.  Zu  diesem  Kreise  gehört  für  den  Dichter  die  biblische  Erin- 
nerung, die  ihm  durch  die  Einsamkeit  der  hohen  See  notwendig  Gegenwart  werden 
muß:  die  Sintflut.  Er  spricht  die  natürlichste  Empfindung  des  Menschen  auf  dem 
Meere  aus,  das  noch  durch  keine  Natursentimentalität  seines  guten  Gewissens  be- 
raubte Grauen.  Und  nimmt  grade  aus  dieser  Unvermischtheit  des  Gefühls  das  zu- 
gleich schlichteste  und  gewaltigste  Wort  und  Bild.  Und  findet  grade  in  dieser  Rein- 
heit der  Anschauung  den  Mut  zu  dem  großen  Schluß,  der  dem  Toben  des  un- 
geheuren Meeres  das  Jauchzen  seines  eignen  zum  Ziele  pilgernden  Herzens 
entgegenzustellen  wagt  —  imd  wagen  darf. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  4:  „gings  zur  Stätte  hin  der  Schmerzen?"  ^  Zeile  6r 
„an  wüstem  Land  ich  mir  Gefallen  wüßte." 


EXKURS:  STURM  /  D^pHTD  DUM  üy^2^  ^JV 

Luz.,  Bet.  74fiF.  Brody  II  176ff.  Brody-Albrecht  97f.  Brody-Wiener  184fiF. 


Ta  plant  und  vollbringt 
auch  wolkenumringt 
er,  ^  meerferne  doch  dringt 
hin  Sein  Gericht. 

Maimes  Ruhm  die  Tat? 
wenn  ihr  ferne  Sein  Rat 
bleibts  falscher  Staat, 
Bemühn  ohn'  Gewicht. 

Aus  Landes  Haft 
zum  Meer  froh  aufrafft 
sich  die  heldische  Kraft, 
die  Bahn  sich  bricht. 


Bis  er  gewahrt: 
nicht  gelenk,  nicht  gelahrt 
hilft  ziu-  sichern  Fahrt, 
und  gibt  nimmer  die  Rieht'. 

Einkehrend  alsdann 
erkennt  bebend  er  an, 
was  noch  mitten  im  Bann 
sein  Seufzen  spricht: 

Wo  geh  ich  hin 
vor  Deinem  Geist 
und  wo  flieh  ich,  ach, 
Dein  Angesicht! 


Doch  Sünde  dreht 
das  Steuer;  Fjihrt  geht 
nach  West  hin,  und  seht, 
wie  Ost  zu  es  sticht. 


TToch  walki  die  Seen 

in  der  Wirbel  Wehn, 
und  meerüberhin  gehn 
sie  getürmt,  sie  kraus. 


248 


Himmel  schwarze  Nacht, 
Gewässers  Toben  kracht, 
der  Höllabgrund  erwacht 
mit  tiefem  Donnerbrans. 

Der  Flutkessel  stöhnt, 
des  Meers  Lärm  erdröhnt, 
ach  weh,  wer  versöhnt 
den  ertosenden  Graus. 

Doch  Kraft  selber  verschlingt 
sich:  der  Schwall  er  zerspringt! 
halb  sinkt  er,  halb  schwingt 
er  berghoch  hinaus. 

Das  Schifflein  wie  es  jagt 
aufwärts,  abwärts!  es  zagt 
das  Aug,  und  es  fragt 
der  Mannschaft  nach  des  Baus. 

Mein  Herz  steirrt  wie  Stein; 
ich  harr':  lösts  wer  der  Pein, 
wie  einst  Mose  sein 
Zwiegeschwisterpaar,  aus? 

Ich  schriee  zum  Herrn 
wohl  lautflehend,  wie  gern, 
doch  Sünden  -^  versperm 
den  Weg  sie  nicht? 

TTnd  rings  Woge  kreißt, 

und  Osts  Hämmern  zerreißt 
des  Schiffs  Zedern  und  schleißt 
Gischtmassen  umher. 

Schiffs  Dom  entstrebt, 
und  Schiffs  Kiel  erbebt, 
Schiffs  Mast  umschwebt 
kein  Flügelpaar  mehr. 


Da  kocht  es  ohn'  Feu'r; 
der  Mut  macht  sich  teu'r: 
sich  selbst  setzt  das  Steu'r 
dem  Steu'rmanne  zur  Wehr. 

Schiffs  Herr  zahm  und  stumm, 
und  SchiSis  Knecht  lahm  und  krumm, 
und  Schiffes  Mann  gram  und  dumm, 
und  Schi£k  Ausguck  leer. 

Und  Schifflein  —  taumelt  imd  stampft, 
wie  wenn  Rausch  es  umdampft, 
die  Faust  läßt  entkrampft, 
danklos,  was  ihr  zu  schwer. 

Und  Levjathan,  Held 

in  Meers  Flur,  bestellt 

in  Hochzeitmahls  Zelt 

zu  Gast  sein  gesamt  Heer. 

Und  Fürst  Ozeans  Hand 
hält  gar  fest  ihr  Pfand  — 
nicht  gibts  Unterstand, 
und  kein  Hoffnungslicht! 

T\ie  Augen  fem 

schaun  zu  Dir  auf,  ziun  Herrn, 
ja  Dir  opfre  ich  gern 
der  Bitten  Schar. 

Ich  erzittre  in  mir 
und  bang  steh  ich  hier, 
und  bring  Schreiens  Laut  Dir 
wie  einst  Jona  dar. 

In  Schilfs  Kranz  das  Meer  -' 
ich  denks  stets,  begehr 
nur  einzig:  wie  ehr 
im  Lied  ichs  wahr? 


249 


Daß  Jordans  Flut  zurück 
geströmt,  draus  pflück 
ich  mir  edengleich  Glück, 
Ihm  offenbar, 

Der  Naß,  bittres,  süßt, 
daß  noch  hold  der  Tag  grüßt, 
der  zornig  und  wüst, 
ein  Tag  Haders  erst  war. 

Die  zwei  Augen  fliehn 
empor,  suchend  Ihn, 
des  Pfade  durchziehn 
Wildwassers  Gefahr. 

Der  Erde  Glut  - 
aus  seiner  Wut; 
er  haucht:  sieh  da  ruht 
rings  Flockenschicht. 


Abwandte  die  Wut 

vom  Knecht  er,  daß  Mut 
er  neu  haucht,  der  ruht 
mm  nicht  in  Nacht. 


Von  Höhn  niederwärts  quoll 
Wort,  das  friedereich  scholl 
in  Höllengroll  — 
da  schwieg  stille  die  Schlacht. 

Und  Sturms  Eifertrank 
ward  sahnegleich  blank, 
daß  Furcht  fern  versank 
und  Zutrauen  erwacht. 

Da  horcht  bedrückter  Schar  Ohr 
zu  Höhn  himmelempor, 
und  Gnadenchor 
hörts  nahen  sacht.  — 

So  nah'  des  Heils  Bot- 
schaft ihm,  dem  Volk  in  Not, 
das  müd  Kerker,  Despot 
und  Druck  starr  gemacht. 

Die  Sturm  erfahren  und  Qual 
gleich  dem  Schiffe,  erstrahl 
zum  anderen  Mal 
in  Dankespsalms  Pracht: 


Entschreit',  Treue,  aus  stern- 
los wolkdunkler  Nacht  Kern, 
weil  die  Glorie  des  Herrn 
dich  neu  umflicht! 

Dies  Gedicht  ist  seit  seiner  Entdeckung  und  Veröffentlichung  durch  Luzzatto 
vielleicht  dzis  nächst  der  Zionide  gefeiertste  Jehuda  Halevische  Gedicht  geworden. 
Es  verdankt  diesen  Ruhm  sicher  zum  Teil  der  Überraschung,  daß  Jehuda  Halevi 
oder  gar  daß  „man  damals"  „auch  schon  so  etwas  konnte".  Heines  Nordseebilder 
und  wohl  auch  die  Weltlichkeitstendenzen  in  der  neuhebräischen  Dichtung  haben 
bei  der  Begeisterung  des  neunzehnten  Jahrhunderts  für  dies  Gedicht  Gevatter  ge- 
standen und  spuken  auch  in  die  zahlreichen  Übersetzungen  hinein. 


250 


In  Wahrheit  ist  es  ein  glänzendes  Prunkstück,  heut  würde  man  wohl  sagen: 
Rezitatorenstück;  dichterisch  steht  es,  um  nur  etwas  stofflich  Verwandtes  zu  nennen, 
weit  unter  einem  kleinen  Gedicht  wie  „Die  Flut".  Aber  die  Kunst,  die  Teclme, 
Jehuda  Halevis  läßt  sich  vielleicht  gerade  deshalb  an  diesem  Stück  studieren. 

Es  ist  von  einer  monumentalen  Objektivität.  Man  könnte  selbst  zweifeln,  ob  es 
wirklich  der  Zionfahrt  des  Dichters  seine  Entstehung  schuldet,  angesichts  der 
Himmelsrichtungen,  die  der  vierte  Vierzeiler  der  ersten  Strophe  nennt;  wenn  diese 
Abstraktion  von  der  selbsterlebten  Wirklichkeit  nicht  so  gut  in  das  Gedicht  paßte, 
das  mit  keinem  Wort  den  Reisezweck  des  Dichters  erwähnt.  Es  ist  eben  ein  ganz 
allgemeines  Ich,  das  hier  zu  Worte  kommt,  und  anfangs  noch  nicht  einmal  dieses. 

Die  erste  Strophe  ist  nämlich  rein  gnomisch;  sie  nimmt  den  Inhalt  des  mit  be- 
wußtester Kunst  gegliederten  Ganzen  in  größter  Allgemeinheit  voraus,  wie  wieder- 
um innerhalb  ihrer  der  erste  Vierzeiler,  der  zu  dem  moralischen  Inhalt  der  Strophe 
die  theologische  Grundlage  gibt.  Das  Subjekt  der  Strophe  ist  „der  Mann".  Der 
Mann,  der  voll  Selbstvertrauen  ausfälirt  und  durch  die  Seefahrt  zur  Buße  und  zur 
Anerkennung  des  göttlichen  Gerichts  geführt  wird,  so  daß  er  die  Worte  des  Psal- 
misten  (139,7)  in  ihrer  Wahrheit  aussprechen  lernt.  Dann  beginnt  der  eigentliche 
Inhalt  des  Gedichts. 

Er  verteilt  sich  auf  die  vier  Strophen  so,  daß  die  zweite  und  dritte  den  Sturm, 
die  vierte  und  fünfte  die  Errettung  zum  Gegenstand  haben.  Und  zwar  ist  die  Schil- 
derung des  Sturms,  mit  Ausnahme  einer  gleich  zu  besprechenden  Stelle,  ganz  in 
der  Objektivität  der  dritten  Person  gehalten,  ichlos,  sachlich,  während  in  der  Schil- 
derung der  Errettung  die  vierte  Strophe  die  erste  Person,  also  das  Ich  des  Sprechers, 
die  fünfte  die  persönliche,  gewissermaßen  anredegetragene,  dritte  Person  des  seg- 
nenden Wunsches  vorwalten  läßt.  Und  diese  beiden  Teile  sind  nun  ineinander  ver- 
zahnt durch  dasselbe  Mittel,  durch  das  auch  die  beiden  eben  charakterisierten 
Hälften  des  zweiten  Teils  aneinandergenietet  sind,  durch  ein  Mittel,  das,  wenn  es 
kein  Produkt  höchster  künstlerischer  Bewußtheit  wäre,  nur  Stümperei  sein  könnte, 
und  eine  leicht  zu  vermeidende  und  noch  dazu,  damit  man  sie  ja  merke,  in  strenger 
Symmetrie  über  das  Gedicht  verteilte  Stümperei:  der  erste  Vierzeiler  der  dritten, 
der  erste  der  vierten  und  der  letzte  der  fiinften  Strophe,  also  der  Mittelpunkt  des 
ersten  und  die  Eckpfeiler  des  zweiten  Teils  sind  untereinander  zusammengeschlossen 
durch  den  gleichen  Reim,  zum  Teil  sogar  durch  die  gleichen  Reimworte,  deren 
eines,  der  göttliche  Gnadenname  „Herr",  in  allen  dreien  und  nur  in  ihnen  steht  " 

251 


sonst  kommt  kein  Gottesname  in  dem  Gedicht  vor.  Die  erste  dieser  drei,  wie  die 
Reimverbindung  zweier  Terzinen,  über  das  Gedicht  verteilten  Stellen  läßt  mitten 
in  das  Toben  der  losgelassenen,  wirklich  gott'  und  ichlosen  Elemente  zum  ersten 
Male  das  Ich  des  Gedichts  und  den  Gottesnamen  hereinfallen,  diesen  aber  noch 
in  der  dritten  Person  und  jenes  noch  zaghaft  und  in  seinem  Siindenbewußtsein 
sich  noch  nicht  zum  Anruf  aufschwingend.  Es  muß  noch  die  ganze  zweite  Hälfte 
des  Sturmteils  vorübergehn  und  sich  die  Selbständigkeit  der  Elemente  bis  zu  den 
Schrecken  mythischer  Personifikation  —  die  beiden  Schlußvierzeiler  der  dritten 
Strophe  —  gesteigert  haben,  bis  der  Mensch  in  der  höchsten  Angst  seine  Angst, 
Gott  anzurufen,  überwindet.  Den  Augenblick  dieses  Anrufs  bezeichnet  nun  jener 
Eingangsvierzeiler  der  vierten  Strophe.  Und  diesen  Anruf  spinnt  die  Strophe,  also 
die  erste  Hälfte  des  zweiten  Teils,  gewissermaßen  die  Skizze  zu  einem  Bittgedicht 
in  Wassersnot  gebend,  weiter:  da  das  Schicksal  Jonas  der  einzige  biblische  Parallel- 
fall ist,  so  müssen  andere  Fälle,  in  denen  sich  die  Macht  Gottes  über  das  feuchte 
Element  erwiesen  hat,  zu  Hilfe  gezogen  werden,  die  Wunder  am  Schilfmeer 
(2.  M,  14)  und  am  Jordan  (Jos.  3),  die  Süßung  der  Bitter-  (2.  M.  15,  22-25)  und 
das  Hervorquellen  der  Haderwasser  (2.  M.  17,  1  --  7).  Schließlich  mündet  das  Gebet 
nach  den  Jesajaworten  (43,  16)  von  dem  Gott,  der  in  starken  Wassern  Bahn  macht, 
in  der  einfachen  Anerkennung  der  göttlichen  Allmacht  über  Wind  und  Wetter.  Und 
hier,  vom  Schlußvierzeiler  der  vierten  zum  Eingangsvierzeiler  der  fünften  Strophe, 
geschieht  jene  andre  zuvor  erwähnte  völlige  Reim-  und  fast  völlige  Reimwort- 
Gleichung,  durch  die  der  Anfang  der  Erfüllung  zum  Reim  auf  das  Ende  der  Bitte 
wird.  Und  wie  nun  die  Erfüllung  sich  vollzogen  hat  und  die  Wasser  sich  wieder 
verwandelt  haben,  gleich  dem  Probetrank  der  Eifersucht  (4.  M.  5),  der  nach  dem 
Talmud  den  Leib  der  ungerecht  Verdächtigten  nicht  tötete,  sondern  fruchtbar 
machte,  da  sieht  das  Gedicht  in  dem  Geschehenen  das  Gleichnis  der  „verstürm- 
ten, gequälten"  (Jes.  54,  11)  Jungfrau  Israel  und  nennt  und  reimt  nun  zum  dritten 
Male  den  Namen  Gottes,  jetzt  wieder  nicht  mehr  in  der  Form  der  Anrede,  aber 
nicht  wie  das  erste  Mal  aus  Scheu,  sondern  aus  Gewißheit,  und  ruft  mit  der  Nen- 
nung des  göttlichen  Namens  Segen  auf  die  nunmehr  Angeredete,  das  Volk,  herab. 
Zur  Übersetzung:  Strophe  2,  Zeile  24:  der  Text  nennt  Ahron  imd  Mirjam 
(4.  M.  12).  ~-  Zeile  26  —  28:  „doch  fürchte  ich  meine  Sünden,  \  daß  etwa  mein 
Flehen  /  zur  Last  werde."  —  Strophe  3,  Zeile  16:  „der  Späher  blind."  —  Strophe  5, 
Zeile  15:  im  Text  nur  ein  Gnadenengel. 

2J2 


ZUM  HERZEN  GESAGT  /  D-'^i^  nbn  1Ü« 
Luz.  Bet  73,  Harkavy  I  31.  Brody  II  174. 

Der  wesentliche  Inhalt  des  im  vorstehenden  Exkurs  mitgeteilten  großen  Hym- 
nus hier  in  sechs  epigrammatischen  Zeilen,  l^nd  doch  kein  Epigramm,  sondern  in 
der  Erhabenheit  ihres  Rhythmus  mit  der  bald  dröhnenden  bald  jauchzenden  Wucht 
der  zweisilbigen  Zeilenschlüsse  eine  echte  lyrische  Dichtung,  mehr  als  jener  an- 
spruchsvolle Hymnus. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  4:  und  in  Ewigkeit  steht  sein  Name  fest. 

STILLE  NACH  DEM  STURM  /  D^fflar  IHK  nilJS  Cllinn 

Bruchstück  (Vers  65  bis  Schluß) 

Harkavy  I  30f.  Brody  II  163.  Brody-Wiener  181. 

Diese  Zeilen  bilden  den  Schluß  eines  langen  Gedichts,  worin  sich  der  Dichter  selbst 
ermahnt,  doch  endlich  den  Genüssen  der  heimatlichen  Welt  abzusagen  und  sich 
zur  Pilgerreise  zu  entschließen.  Die  vorweggenommene  Scliilderung  der  Unannehm- 
lichkeiten dieser  Reise,  insbesondere  eines  Seesturms,  füllt  dann  den  größten  Teil 
des  Gedichts.  Sie  erinnert  in  ihrer  technischen  Meisterschaft  imd  „Gekonntheit" 
stark  an  das  im  Exkurs  „Sturm"  mitgeteilte  Gedicht,  bei  dem  ja  auch  wenigstens 
die  Vermutung,  daß  es  schon  vor  der  Reise  entstanden  sei,  nicht  unterdrückt 
werden  konnte.  Da  aber  kommen  die  Schlußzeilen,  die,  ob  nun  nachträglich  erst 
unter  dem  wirklichen  Eindmck  geschrieben  oder  in  genialer  Antizipation  entstan- 
den, jedenfalls  zum  Größten  gehören,  was  Jehuda  Halevi  gedichtet  hat.  Es  ist  ganz 
objektive  Dichtimg,  Gleichnis  an  Gleichnis,  Anschauung  an  Anschauung,  —  doch 
jede  Anschauung  schwingt  in  sich  voll  aus,  es  entsteht  in  aller  Fülle  kein  Ge- 
dränge der  Gesichte,  sondern  aus  allen  Bildern  doch  nur  ein  Bild,  das  des  nächt- 
lich ruhenden  Meers. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  8:  „. . .  wie  Flammen  und  wie  Feuer." 

AN  DEN  WEST  |  nnr»  12  imn  nr 

Luz.  Bet.  66f.  Harkavy  I  24t  Brody  11  171f. 

So  steht  auch  unter  den  Gedichten  Jehuda  Halevis  eins  „An  Zephyr".  Und  nicht 
unter  den  Liebesliedern,  sondern  imter  den  Liedern  der  Pilgerfahrt,  —  die  ja  frei- 

255 


lieh  ebenfalls  Lieder  einer  Liebe  sind.  Und  an  Süßigkeit  gibt  dieses  keinem  der 
berühmten  West-Gedichte  der  Weltliteratur  etweis  nach,  das  die  feuchten  Schwingen 
preist,  weil  sie  das  Schiff  zum  Ort  des  Liebesjochs  tragen.  Das  Reimwort  Wind 
selbst  hat  ja  im  Hebräischen  schon  die  schmelzende  Süße,  wie  sein  deutsches  Bru- 
derwort die  linde  Weichheit.  Und  aus  dieser  Grundstimmung  eines  Schwingens  und 
Dülmens,  und  ohne  sie  zu  zerstören,  kann  der  Dichter  doch,  wie  es  sein  mit  Kin- 
dern imd  Narren  geteiltes  hohes  Amt  verlangt,  edles  sagen,  kann  er  immittelbar 
nach  dem  humorvollen  Achselzucken  des  vorletzten  Zweizeilers,  das  die  Bindung 
des  Geschöpfs  an  ein  „Geschöpf"  belächelt,  in  die  demütig-ernste  Erhcdjenheit  des 
letzten  übergehn,  die  hinauf  zu  dem  blickt,  der  "  mit  dem  Wort  des  Propheten 
(Am.  4, 13)  ^  „schuf  die  Winde". 

Zur  Übersetzung:  Zeile  14:  . , .,  der  zum  Kochen  gebracht  ist.  Zeile  16:  bald 
eingeschlossen  ist  und  bald  entsendet! 

IM  HAFEN  1  D''  -jlÄ^tD  Clin 

Luz.  Bet.  77 f.  Harkavy  r37f.  Brody  I  lOf. 

Aber  dauernder  Ostwind  drängt  das  Schiff  von  seinem  Kurs  ab  und  zwingt  es 
zur  Landung  in  ägyptischem  Hafen.  Aus  dem  offnen  Meer,  dessen  Brausen  des 
Dichters  Ohr  jetzt  wochenlang  erfüllt  hatte,  lenkt  es  in  den  Hafen  von  Alexandria. 
Und  dann  geschieht,  was  wir  am  wenigsten  erwartet  hätten:  bei  dem  Gedanken 
an  seinen  Gastfreund,  den  er  dort  aufsuchen  wird,  gewinnt  die  süße  Gewohnheit 
des  Daseins,  des  alten  Lebens,  das  er  in  Ägyptens  glücklicher  und  kultivierter 
Judenschaft  wiederfinden  wird,  Macht  über  das  schwache  Menschen-  imd  Dichter- 
herz des  Pilgers,  der  schon  alle  irdische  Bindung  hinter  sich  geworfen  zu  bedien 
glaubte.  Schon  in  diesem  ersten  Augenblick  mit  solcher  Gewalt,  daß  er  bei  der 
bloßen  Vorstellung  eines  vertrauten  Dachs  schon  nur  mit  einem  Aufschrei  —  frei- 
lich des  Jubels,  aber  dennoch  erschütternd  in  seiner  schrillen  Plötzlichkeit  —  sich 
erinnert,  daß  sein  Dach  dort  sein  wird,  wo  keine  Dächer  mehr  stehen.  So  ruft 
dieser  Schrei  im  Augenblick  der  Landung  die  lebenssüchtige  Seele  des  Landen- 
den, der  doch  „morgen"  weiterzufahren  denkt,  zurück  zur  selbstgesetzten  Ordnung 
des  hohen  Ziels.  Und  dann  werden  dennoch  aus  dem  „morgen"  —  Monate. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  If.:  ...  bis  naht  zum  Kuß  der  Jünger  Meisters 
Antlitz. 

254 


ÄGYPTISCHER  BODEN  /  MtIB  "jDinnm  Q^n?  SlXI 
Luz.  Bet.  109.  Ilarkavy  II  3.  Brody  II  180. 

Wenn  er  so  das  Land,  überall  Gast  jüdischer  Großer,  überall  gefeiert,  überall 
liebevoll  zum  Bleiben  genötigt,  durchzieht,  kann  er  sich  doch  vor  sich  selber  wegen 
der  Verzögerung  rechtfertigen,  daß  auch  hier  historischer  Boden  ist  und  daß  die 
Ehre,  die  er  Ägypten  zollt,  dem  Schauplatz  der  jüdischen  Urgeschichte  gilt.  So 
sehr  ist  dies  Gedicht  auf  den  Ton  der  Selbstrechtfertigung  gestimmt,  daß  man  gar 
vermutet  hat,  hier  nicht  die  Stimme  des  Dichters  selbst  zu  vernehmen,  sondern 
eben  die  Mahnung  eines  der  ägyptischen  Freunde,  der  ihn  auffordert,  von  dem 
sonderbaren  Eigensinn  des  Pilgertums  abzulassen  und  in  ihrer  Mitte  zu  bleiben. 
Eine  solche  Verteilung  der  Stimmen  auf  verschiedene  Personen  ist  doch  kaum 
nötig;  das  folgende  Gedicht,  das  durch  den  Schluß  für  Jehuda  Halevi  gesichert  ist, 
zeigt,  wie  er  selber  von  dem  Zauber  des  historischen  Bodens  ergriffen  war;  in  ihm 
selbst  sprechen  jetzt  die  Stimmen,  die  ihn  warnen  möchten,  ob  er  nicht  „allzu  ge- 
recht" hatte  sein  wollen  und  ob  nicht,  was  andern  genug,  auch  ihm  genügen  müsse. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

DER  STROM  |  TDrv  nii  in  "jxbs  ^nbi« 

Luz.,  Bet.  91.  Luz.,  Div.  Nr.  47.  Harkavy  I  45f.  Brody  II  183f. 

An  Strömen  haften  historische  Erinnerungen  noch  anders  als  am  festen  Land. 
Denn  das  Land  haben  die  verstrichenen  Jahrhunderte  mannigfach  verändert,  ob- 
wohl,  nein  weil  es  fest  ist;  aber  der  Strom,  der  es  durchströmt,  ist,  grade  weil  er  nie, 
keinen  Augenblick  lang,  derselbe  war,  noch  heut  der  gleiche  wie  vor  Jahrtausen- 
den. So  redet  er  noch  unmittelbareres  Zeugnis  dessen,  was  an  und  mit  ihm  ge- 
schehen ist,  als  das  Land  umher. 

Zur  Übersetzung:  Nichts  zu  bemerken. 

HIN  ...  I]^2  "bH  -n  nco 

Luz.  Bet.  91  f.  Luz.  Div.  Nr.  4.  Harkavy  I  46.  Brody  II  183. 

Der  Strom  aber  grade  erweckt  auch  die  alten  Sehnsuchtsklänge.  Denn  seine  viel- 
verzweigte  Flut  könnte  das  Fahrzeug  tragen,  das  von  dem  nordöstlichen  „tani- 
tischen '  Arm  des  Nildeltas  —  und  Tanis  ist  nach  der  Septnaginta  das  biblische 
Zoan  —  auf  einer  der  schmalen  Querverbindimgen  den  Dichter  hinüber  nach  den 

265 


Seen  der  Landenge  von  Suez  und  von  dort  ins  Rote  Meer  führen  -^  könnte.  So  ver- 
liert er  sich  ganz  in  der  Sehnsucht  und  vergißt  einmal  den  Zwiespalt  seines  Innern. 
Oder  sollten  jene  Schluß verse  echt  sein,  mit  denen  das  Gedicht  in  den  Ritus  der 
sommerlichen  Trauerwochen  um  Jerusalems  Fall  mancherorts  aufgenommen  ist  und 
die  von  den  älteren  Herausgehern  wegen  ihrer  metrischen  Abweichungen  vom 
übrigen  verworfen  wurden,  während  grade  diese  Abweichungen  eher  für  Echtheit, 
mindestens  für  Vertrautsein  ihres  Verfassers  mit  den  Feinheiten  arabischer  Metrik 
sprechen? 

Drum  krankt  gar  sehr  dies  mein 

Herz  und  bekümmert  sich. 
Morgen  wird  Nacht  ja  durch 

mein  sündig  Fleisch  und  Blut. 
Mein  Busen  vergehet  ganz 

und  schmachtet  zum  Myrrhenberg, 
Leben  begehrt  so  nach 

Hausung  in  Leibes  Hut. 

Dann  würde  sogar  in  dies .  Gedicht  in  der  spondeischen  Verrückung  des  jam- 
bischen Sehnsuchtsrhythmus  das  zwiespältige  Bewußtsein  der  selbstverschuldeten 
Zögerung  hineinhämmern. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  2:  „Flut"  ist  Zusatz. 

VORGEFÜHL  /  DSTOS3  -JISI  DK 

Luz.  Bet.  110.  Harkavy  I  161.  Brody  I  211. 

Und  dann  bricht  aus  allem  Wirrsal  des  Gefühls  doch  wieder  das  einfältige  Wort 
der  Wahrheit  des  Herzens  hindurch  -^  es  kann  ja  nicht  anders  sein.  Das  Gedicht 
steht  in  einer  poetischen  Epistel,  wie  grade  aus  den  ägyptischen  Monaten  mehrere 
erhalten  sind;  zufällig  ist  der  Teil  des  Briefs  vor  dem  Gedicht  verloren,  der  nach- 
her nimmt  keinen  Bezug  darauf.  Aber  es  ist  so  schon  klar.  Der  Dichter  beschwört 
die  ägyptischen  Freunde  bei  ihrer  Freundschaft,  ihn  ziehen  zu  lassen.  Diesmal  kein 
Abwägen  des  Vorzugs  des  heiligen  Landes  vor  den  Auchvorzügen  Ägyptens,  kein 
Argumentieren,  keine  poetischen  Höflichkeiten.  Nur  ganz  leise  Worte,  aber  das 
Herz  spricht.  Und  die  immer  wieder  aufbebende  Sehnsucht  nach  dem  Grab  in 
der  heiligen  Erde  verbindet  sich  nun  mit  der  angstvollen  Ahnung,  es  könne  ihn, 
wenn  er  länger  zögere,  das  Geschick,  sein  Geschick,  vorher  ereilen.  Und  Bitte, 

256 


Unruhe  und  Ahnung  stimmen  ein  in  das  leise  Gebet  des  Schlusses.  Der  so  betet, 
hat  sich  —  mindestens  in  diesem  Augenblick  -'  wiedergefunden. 

Aber  wie  war  es  möglich  gewesen,  daß  er  sich  verlor?  Wer  so  fragen  würde, 
weiß  nicht,  wie  schmal  der  Raum  ist,  der  grade  im  Letzten  und  Entscheidenden 
dem  Menschen  und  seiner  Freiheit  gelassen  ist.  Wenn  je  ein  ganzes  Leben  die 
Frucht  einer  einzigen  Tat  gereift  hat,  so  dies.  Und  dennoch  mußte  der  Zwang 
kommen,  damit  die  Tat  wirklich  begonnen  wurde  getan  zu  werden.  Und  als  ob 
Gefahr  wäre,  daß  sie  sich  auch  dann  noch  überheben  könnte  und  des  damals  ge- 
lobten Danks  für  jeglichen  Schritt,  der  ihr  vorzuschreiten  gegönnt  wird,  vergessen 
könnte,  erlahmt  ihr  unmittelbar  vor  der  endlichen  Verwirklichung  noch  einmal  die 
Kraft;  die  Wasser  des  irdischen  Lebens  drohen  den  Schwimmer  aufs  neue  zu  ver- 
schlingen, und  er  muß  wieder,  in  und  aus  Not,  beten  lernen,  ^  das  Gebet  der  Not, 
das  ganz  plötzliche,  unmittelbare,  für  den  Beter  selbst  überraschende,  wie  es  ihm 
hier  aus  der  Bitte  an  die  Freunde,  der  Unruhe  der  Füße,  dem  Zittern  des  Herzens 
hervorbricht,  kaum  in  Form  des  Gebets,  nur  der  Gedanke  eines  Gebets,  ein  Beten- 
möchten. 

Gott  gibt  dem  Menschen  die  Freiheit  zur  höchsten  Entscheidung,  ja  grade  zu 
ihr,  nur  zu  ihr.  Aber  indem  er  sie  gibt,  behält  er  doch  die  Kräfte  der  Verwirk- 
lichung in  seinem  Schatz  und  spendet  daraus  grade  dem  Entschiedenen  nur  auf 
inuner  erneuten  Anruf.  Denn  er  will  sich  durch  die  Gabe  der  Freiheit  nicht  über- 
flüssig machen,  sondern  im  Gegenteil  höchst  notwendig.  Er  belehnt  den  Menschen 
mit  einem  Heute,  und  macht  sich  so  zum  Herrn  des  Morgen.  Darum  muß  der 
Mensch  um  sein  Heute  zittern,  solange  noch  ein  Morgen  kommen  kann;  und  wenn 
am  Anfang  der  Verwirklichung  der  gottgesendete  Zwang  stand,  so  steht  am  Ende, 
hart  vor  dem  Ziel,  als  Treiberin  die  Angst,  die  gotterregte  Angst,  daß  diesem 
Heute  kein  Morgen  mehr  folgen  könnte.  Und  dann  wird  in  dieser  Angst  endlich 
doch  die  Tat  geboren,  die  das  Heute  ins  ewige  Morgen  hebt. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  2:  .  .  .,  daß  ich  zu  meinem  Herrn  gehe. 

AN  ziON  /  "i^ixK  Dibfflb  ^b^irn  xbn  "iVS 

Luz.,  Div.  Nr.  16.  Harkavy  I  lOff.  Brody  II  155fr.  Brody-Wiener  179f. 
Außerdem  in  den  üblichen  Sammlimgen  der  Klagelieder  zum  9.  Ab. 

Dieses  Klagelied  wird  jährlich  am  9.  Ab,  dem  Tage  des  Brandes  des  ersten  und 
zweiten  Tempels,  in  allen  Synagogen  der  Welt  gesagt.  Y1&  ist  da  nur  eines  in  einer 

"  257 


Menge  Geschwister,  von  denen  noch  dazu  eine  ganze  Reihe  ihm  unmittelbar  nach- 
gebildet sind  bis  auf  das  Metrum,  bis  auf  den  Reim,  bis  auf  die  Anfangsworte. 
Denn  Jehuda  Halevi  hat  die  Gattung  geschaffen.  Er  übernahm  als  erster  jenes 
Metrum  der  arabischen  Dichtimg,  das  in  seiner  Wirkung  durch  den  Wechsel  einer 
dreizehn-  und  einer  vierzehnsilbigen  Zeile  eine  merkwürdige  Ähnlichkeit  mit  dem 
elegischen  Versmaß  der  Alten  bekommt,  eine  Ähnhchkeit,  die  doch,  auch  abgesehn 
davon,  daß  dort  die  längere  Zeile  den  Vortritt  hat,  durch  die  ungeheure  schlep- 
pende Schwere  des  dreihebigen  Ausgangs  der  Endzeile  wieder  verschwindet.  Er 
gab  diesem  Versmaß  durch  den  gewählten  Reim,  obwohl  er  ihn  auch  sonst  an- 
gewandt hatte,  etwa  in  Liebesgedichten  —  es  ist  das  weibliche  besitzanzeigende 
Fürwort  der  zweiten  Person  ^ ,  vielleicht  also  unbewußt,  einen  Anklang  an  das  Ach, 
mit  dem  die  an  jenem  Tage  verlesenen  Klagelieder  des  Jeremia  beginnen,  einen  An- 
klang, der,  wie  man  sicher  richtig  bemerkt  hat,  dazu  beigetragen  hat,  diesen  Reim  zum 
klassischen  Reim  der  Klagelieder  des  Tages  zu  machen.  Aber  das  alles  ist  Vorder- 
grund. Die  Wirkung  des  Gedichts  beruht  auf  etwas  anderem:  auf  der  in  aller 
Poesie  immer  wieder  erstrebten  und  nur  äußerst  selten  erreichten  Realität  der  An- 
rede, also  kurz  gesagt  auf  der  Wahrheit  des  ersten  Worts:  „Zion!" 

Zion  ist  die  Angeredete.  Sie  wird  nicht  etwa  „personifiziert"  —  dazu  würde  ge- 
hören, daß  noch  von  ihrem  Sein  vor  der  Anrede  etwas  durchklänge.  Aber  das  ist 
nicht  der  Fall.  Zion  ist  nur  in  der  Anrede  da,  sie  ist  nur  die  Angeredete.  Nicht 
sie,  sondern  alles  andere,  einzig  der  Dichter  selber  als  der  Anredende  ausgenommen, 
sinkt  in  die  dritte  Person  zurück  und  gewinnt  Leben  nur  insofern  es  in  das  mehr 
als  sechzigmal  im  Reim  und  in  der  Zeile  wiederkehrende  „deine"  aufgenommen 
wird.  Nicht  bloß  das  Volk  verüert  jede  andre  Existenz  als  die  der  „Deinen",  son- 
dern der  sonst  Angeredetste,  der  schlechthin  Angeredete,  Gott  selbst,  ist  nur  der, 
dessen  Geist  auf  „Deine  Großen"  sich  goß,  ist  nur  „Dein  Erschaffer",  „Deine 
Leuchte",  der  „sich  Deinen  Propheten  und  Sehern  offenbarte",  der  ^  letzte  Stei- 
gerung '-'  „selber  Dich  zur  Wohnstatt  gehrt".  Diese  durch  vierunddreißig  Zwei- 
zeiler, ein  zweimaliges,  das  erste  Mal  kaum  merkbar  kurzes  Aussetzen  abgerech- 
net, in  unverminderter  Glut  fortbrennende  Flamme  der  Gegenwärtigkeit  ^  nicht 
der  Dichter  hätte  die  Kraft  besessen,  sie  anzufachen,  und  nicht  als  Dichter:  es  sind 
die  Jahrtausende,  die  verflossenen  wie  die  künftigen,  des  Volkes,  aus  denen  ihm 
die  Kraft  dieser  Unmittelbarkeit  zuströmt,  die  groß  genug  ist,  deiß  ihm  jene  Quellen 
selber  versinken  können  imd  nun  in  seitdem  anhaltendem  Rückstrom  die  Kraft 

258 


dieser  Unmittelbarkeit  wieder  den  Quellen,  aus  denen  sie  gekommen  ist,  jährlich 
zuströmt. 

Jenes  erwähnte  zweimalige  Aussetzen  der  Flamme  des  „Du"  gliedert  den  sonst 
in  der  Ununterbrochenheit  der  Klage  dahinlaufenden  Fluß  des  Gedichts.  Sehn- 
sucht ist  das  Wort  des  ersten  Drittels  bis  zum  fünfzehnten  Zweizeiler,  Sehn- 
sucht, die  durch  Fretge,  Wunsch,  Preis  und  träumende  Vorwegnahme  der  Erfüllung 
hindurchgeht,  bis  sie  ^  sechzehnter  Zweizeiler  "  in  einen  der  Sehnsucht  selber 
vergessenden  Jubelruf  des  Entzückens  ausbricht.  Eben  in  diesem  Jubelruf  erwacht 
sie  aus  der  geträumten  Erfüllung  zum  Bewußtsein  des  Leidens  und  des  Ich  ^  sieb- 
zehnter bis  einundzwanzigster  Zweizeiler.  Dies  Erwachen  ist  jäh  genug,  um,  was 
der  entzückte  Traum  im  sechzehnten  Zweizeiler  nicht  vermochte,  einen  Augenblick 
lang  selbst  sprachlich  den  Zauberkreis  des  Ich  und  Du  zu  durchbrechen:  im  zwei- 
undzwanzigsten Zweizeiler  redet  das  herausgerissene  Ich  nicht  mehr  mit  Zion,  son- 
dern apostrophiert  zwei  Zweizeiler  lang  sein  Leiden  selber  —  „Becher  der  Leiden 
0  laß  . . .".  Aber  eben  in  diese  Apostrophe  drängt  sich  Jerusalems  Los  hinein,  und 
im  vierundzwanzigsten  Zweizeiler  wird  in  erneuter  Anrede,  die  nun  bis  zum  Schluß 
vorhält,  Zion  wieder  angesprochen:  „Zion  du  Prachtreif . . .".  Und  nun  ists  nicht 
mehr  träiunende  Sehnsucht,  aber  auch  nicht  mehr  erwachte  Verzweiflung,  sondern 
helles  männliches  Bewußtsein,  klare  begeisterte  Schau,  Wissen  um  Israels  Leiden 
imd  Israels  Größe,  und  Wissen,  daß  beide  bestimmt  sind,  Zion  mit  ewiger  Krone 
zu  krönen.  Und  so  dürfen  die  letzten  Zweizeiler  der  Klage  vergessen  imd  den  zu- 
künftigen Jubel  vorausjubeln:  Selig  wer  harrt  und  erlebts  und  schaut. 

Man  pflegt  die  Erzählung,  daß  Jehuda  Haie  vi  am  Ziele  seiner  Pilgerschaft  im 
Angesicht  der  heiligen  Stadt  sein  Lied  auf  den  Lippen  von  einem  Araber  er- 
schlagen sei,  als  Sage  abzutun.  Sie  ist  es  ohne  Zweifel.  Aber  noch  weniger  Zweifel 
ist,  daß  auch  die  Geschichte  nicht  viel  anders  gewesen  sein  kann.  Wer  dieses  Ge- 
dicht gedichtet  hat,  den  mußte  es  in  seine  Todesstunde  begleiten.  Es  ließ  keinen 
Ramn  mehr  für  anderes. 

Zur  Übersetzung:  Zeile  10:  „Und  wo  die  Reinen  dein  sonst . . .".  Zeile  20: 
„ ...  Gott  sich  offenbarte."  Zeile  24 :  „mit  Wehklagen"  ist  Zusatz.  -'  Seite  1 49,  Zeile  3 : 
„Waldland",  „Traubengärten",  „Süd"  für :  Jaar,  Karmcl,  Gilead.  Zeile  2 1  f. :  „ . . .  wenn 
ich  der  Ohola  und  der  Oholiba  gedenke".  Zeile  24:  „wie  Wall"  ist  Zusatz.  — 
Seite  150,  Zeile  9f.:  „Schinear  und  Patros  .  .  .,  wenn  deine  Tummim  und  deine 
Urim  .  .  .". 

259 


ALPHABETISCHES  VERZEICHNIS  DER 
ORIGINALANFÄNGE 

199    59 I^JS  "^b  ÜT  '^31K 

203   62 ^nisn  bi  ^nas  -3ib« 

230  103 in^bK  ''nbK  n^i«  i-:anann  i3Tiinijt 

247  138 D^  ■'in^ra  ■'mrn  bx  ^nbx 

240  124 n'n^-'^  ']^ni5i"j;a  "nbx 

255  145 mn-i''  111  111  ']i5bs  %nbK 

212     73 XB"I«1  "iS^SI  ■'bK 

253  140 D-^a-  nbn  na« 

256  147 DD'^rsa  iiitn  DX 

183   34 _ •'nKü  bsai  naü^  "'nb  bsa 

174   21 inynji  ^m  ixi  bi2T  ^b^ba 

244  130 D"nlp"l  "Oy  "l4D3  "^■•■Q'l 

247  139 nnin  bnr\  rnci  bina  i^ain 

245  133 r  b«b  "nprcn  ^Dnp-'sn 

254  143 D'  ^ISU:  r|in 

253  141 D"©»-!  ms  niiys  t|-nnn 

253  141 nibyan  -Äaifl  i«n5  b-bm 

253  142 nn^a  i2  ^nn  nt 

235  111 ^BT233  ^3S1D  "jin^«^ 

218   88 ■'bn^  -jiyai  -^nnb  yax^ 

192  50 mrsyjn  "jb  ms 

221    93 -b-'n  DT  iniTa  nisi  pb^y 

208   67 D^np^n  -n^  nisias  nyiT 

192  49 ymsna  yansi  -j^issiaa  nn-'-' 

234  110 ■'mi)  i-^an  -jinir  nnsirn  "'■■'■<■' 

198   58 "si^in  niüa  ^sn?'-' 

188   43 -sica«  n;s  rr' 

193  51 ; D^cnp  "sn  n" 


260 


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171  13 -ya'S  n^ 

182  33 -]3rn«  yaa  n- 

236  112 "sy   ■'Ü"  ■'32''Sn  ^yiT 

178  24 •'V\y  ^TT 

220   91 ■'snxb  bbn  nVbi  Dar 

247  137 -Tyin  n^sb  ^csd  nsD53  DV 

223     96 Q-'-nSJ  ^SDD  b?  nriKtt3  HS"'"' 

231  106 ü'Din  irnrn  ni3r 

220  92 -^Tcnb  ^ps  Db«  nsr 

238  122 ■^a-Ü-'n  '353  D^pim  wv 

239  123 niy^  n'Ti3  D-'pim  ror 

248  w D^pna  Dii?jn  cpai  pv 

175  -- ^b^^  Kbi  D^in  ■'bj?  111" 

219     89 ■ 11«3  bX  -pISn  IJf 

185   39 ■ji'cx  nirn  "ji^b  irr' 

214  78 n3ia«  bx  X3  -"T"  r.T)-;"' 

178  25 r^^cr  Ti  bx  ^33  ibr' 

233  109 "bbna  nü^ai  "tib  d":'3  'i^s'^yn  lao'"' 

180     28 ■'317  XB3  "]3^a"' 

227  98 "^IT?  'T'l  bx  -;t5  ']^a'' 

195  52 n^nsi  nbn3'i  d5S3  nnb  ün^y 

223     95 "j31S1  "by  1'DJ'' 

173   20 ''3r5"i  ']aoa  "sii^r 

179  26 nns-ibi  t]bi<b  ibr 

190  45 ri3rra  '^n-'na  Tinxb  niüi  ns" 

243  128 bnn  TSitra  qis  ns'' 

214   77 -'S  "^^lyn  hTTT'  n"*" 

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204  64 n'^'ia  n3:iD  nv 

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231  105 Q''z\Dr  ^zbn  -p,  "sin"-!'' 

242  125 T-p  ^bni«  -jina  i^k  naba  t^^rr 

184     35 Ü-^T\  b»  "jU?' 


261 


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238  121 15  inbl  ]1D^ 

219  90 ^r'O"  'p   1p3  "3515  b5 

176  22 -niass  bi 

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243  129 3iy:3  IqlDl  ^2«1  mTSa  "ib 

210     69 Ilca  "33  "'S  ^7:27  "'Sb 

245  135 mm  IS  nmm  ^issa  ^b 

207   65 mtnb  112  D?3i  i:«a  n^ra  ^iisb 

173   19 nain«  nis«  ^^n  iipa  nxnpb 

216  79 'inaaa  in«  "■'n  nipa  n^-ipb 

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237  114 Ti^isr  "i  Tiinxb  nt] 

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196    55 "3U5V  nibX  125  ^53r\^  "» 

177  23 nb3  nipa?  -las  ^a 

173   18 inaii  inbn  ^a  insn  s^3«a 

255  146 -j^s  ^b«  ^n  nt:3 

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229  101 inb  nibja  niiai<  -jSS 

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184   38 non7j  ^b  ^n"  "n  bx  "^t  ba 

225   -   Db'j;  aaba  D'^siip 

255  144 niTis  ijianni  n-'i?  n»n 

217  81 "^aiiD  ^niDa  b«  n'T'n'^  "ai^s 

216  80 ■^a^nisab  "Csd  "aiw 

191     46 TClIp  lab'a 

217  82 ^n^m  n'^i<  D^"^bi^  d^j 

218  87 iniiD  Dbi5b  ri''i  aauj 


GEDRUCKT  BEI 

POESCHEL  &  TREPTE 

IN  LEIPZIG 


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filNDING  SECT.     NOV  8    1974 


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PJ  Judaia,   ha-Levi 

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