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Full text of "Jenaische Zeitschrift f©r Medizin und Naturwissenschaft"

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^ibrarn  of  tbc  ßliiscum 

OK 

COMPARAin  E    ZOÖLOGY, 

AT  HARVARD  COLLEGE,  f AMBRIDf.E,  HASS. 
jJ^ountietJ  1)1)  pvibate  subscrfption.  fn  1861. 


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Deposited  by  ALEX.  AGASSIZ. 

No.   (0(0  <A^ 


Ci^i^-^^      UJ  4/^^.6^ 


Jenaische  Zeitschrift 

für 

MEDICIN 


ixnd 


NATURWISSENSCHAFT 

herausgegeben 
von  der 

medicinisch-naturwissenschaftlichen  Gesellschaft 

zu  Jena. 


Sechster  Band. 


JVüt  fünfzehn  Tafeln. 


Leipzig, 

Verlag  von  Wilhelm  Engelmann. 
"1871. 


Inhalt. 


Seite 
Ha e ekel,  Ernst,  Die  Catallacten,  eine  neue Protisten-Gruppe.  (Mit  Taf.  I.)       1 

Nachträge  zur  Monographie  der  Moneren.   (Mit  Taf.  II.) 23 

Geuther,A.,  und  Free  lieh,  O.,  Ueber  die  flüchtigen  Säuren  des  Crotonöls     45 
Müller,  Fritz,  Bruchstücke  zur  Naturgeschichte  der  Bopyriden.   (Mit  Taf. 

III  und  IV.) 53 

Ueber  den  Trimorphismus  der  Pontederien 74 

Michaelis,  Dr.  A.,  Ueber  die  Einwirkung  von  Ammoniak  auf  Thionylchlo- 

rür  und  Selenylchlorür 79 

Ueber  die  Einwirkung  von  Phosphorchlorür  auf  Selenigsäureanhydrid 

und  Selenylchlorür 93 

Dohrn,  Dr.  Anton,  Geschichte  des  Krebsstammes,  nach  embryologisehen, 

anatomischen  und  palaeontologischen  Quellen 96 

Gegenbaur,  Carl,  Beiträge  zur  Kenntniss  des  Beckens  der  Vögel.    (Mit 

Taf.  V.  VI.  Vn.  und  5  Holzschnitten) 157 

Geuther,  A.,  Ueber  den  dreibasischen  Essigsäure-Aether 221 

Ueber  die  Chlorsubstitutionsproducte  des  Chloräthyls 228 

Michaelis,  Dr.  A.,  Ueber  Schwefelsäurechloride 235 

Ueber    die    Einwirkung    von    Phosphorchlorür    auf  Anhydride    und 

Chloride 239 

Geuther,  A.  und  Michaelis,  A.,  Ueber  die  Quantivalenz  des  Phosphors 
und  über  die  Einwirkung  von  Phosphorchlorür  und  Brom  auf  Benzoe- 
säure   242 

Strasburger,  Dr.  Eduard,   Die  Bestäubung  der  Gymnospermen.     (Mit 

Taf.  VIII) 249 

Abbe,  E.,  Ueber  die  Bestimmung  der  Lichtstärke  optischer  Instrumente. 

(Mit  6  Holzschnitten) 263 

Michaelis  ,  Dr.  A.,  Ueber  Schwefelsäurechloride 292 

Ueber  die  Einwirkung  von  Phosphorbromchlorid  auf  Schwefligsäure- 
Anhydrit  296 

Erk,  Dr.  Carl,  Ueber  die  Ceritmetalle 299 


IV  Inhalt. 

Seite 
Müller,  Wilhelm,  Beobachtungen  des  pathologischen  Instituts  zu  Jena. 

Erste  Reihe.    (Mit  Taf.  IX,  X,  XI  u.  XII) 327 

Gegenbaur,    Carl,    Ueber  die  Kopfnerven  von  Hexanchus  und  ihr  Ver- 

hältniss  zur  ,, Wirbeltheorie"  des  Schädels.   (Mit  Taf.  XIII) 497 

Geuther,  A.,  Ueber  die  Aethyldiacetsäure  und  einige  Abkömmlinge  der- 
selben     560 

Dohrn,   Dr.  Anton,   Untersuchungen  über  Bau   und  Entwickelung  der 

Arthropoden.   (Mit  Taf.  XIV  u.  XV) 580 

Haeckel,  Ernst,  Ueber  die  sexuelle  Fortpflanzung  und  das  natürliche  System 

der  Schwämme 642 


Kleinere  Mittheilungen. 

stapf,  Dr.  E.,  Eine  gute  Methode  zur  Darstellung  des  dreibasischen  Ameisensäureäthers   .32.i 
Müller,  W.,  An  die  Redaction  der  Jenaischen  Zeitschrift  etc 652 


Die  Catallaeteii, 

eine  neuo  P  ro listen -Gru|)pe , 


Ernst  Haeckel. 


(Hierzu  Taf.  I.) 


1.  Entwickelungszustände  von  Magosphaera  planula. 

Die  Enl\vickelun£;sgeschichte ,  der  »wahre  Lichttriiger  für  alle  Unter- 
suchungen über  organische  Körper«,  lässt  uns  ihren  unschätzbaren 
Werth  nirgends  lebhafter  empfinden  ,  als  bei  den  wenig  bekannten 
niederslenOrganisalions-Forincui,  über  deren  wahre  Stellung  im  System 
uns  die  Anatomie  allein  keinen  Aufschluss  zu  geben  vermag.  Nirgends 
so  wie  hier  tritt  uns  die  Wahrheit  entgegen ,  dass  alle  Systematik  ohne 
die  Leuchte  der  Entwickelungsgeschichle  ein  unsicheres  Tappen  im 
Dunkeln  ist.  Nur  indem  wir  die  ganze  Formenreihe  überschauen, 
welche  der  Organismus  während  seiner  individuellen  Existenz  durch- 
läuft, vermögen  wir  über  seine  Yerwantltschaiis-Veihältnisse  und  seine 
»Stellung  in  der  Natur«  Klarheit  und  Gewissheit  zu  gewinnen.  Einen 
neuen  Beleg  für  die  Richtigkeit  dieses  Grundsatzes  liefert  der  nach- 
stehend beschriebene  Organismus,  welcher  eine  neue  selbstständige 
Gruppe  in  dem  neutralen,  zwischen  Thier-  und  Pflanzen-Reich  in  der 
Mitte  stehenden  Protistenreiche  zu  vertreten  scheint.  Isolirt  für  sich 
betrachtet  würde  man  die  verschiedenen  Formzustände  desselben  bald 
als  einzellige  Alge,  bald  als  Volvocine,  bald  als  bewimpertes  Infusorium, 
bald  als  Amoebe  angesprochen  haben.  Im  Zusammenhange  der  Ent- 
wickelungsgeschichte  dagegen  zeigen  sich  alle  diese  verschiedenen 
Formen  als  Glieder  einer  Kette,  welche  aufs  Neue  den  innigem  und  nahen 
verwandlsehaftlichen  Zusammenhang  jener  niedersten  Organismen- 
Gruppen  bestätigt. 

Bd.  VI.   1.  'I 


4  Ernst  Haeckel, 

kommen  structuilos.  Doch  kann  man  bei  sehr  starker  Vergrösserung 
•  (700)  sehr  zarte  concentrische  Kreislinien  in  Herseiben  wahrnehmen, 
die  offenbar  dem  schichtenweisen  Absätze  der  ausgeschwitzten  Cyste 
entsprechen.  Beim  Druck  auf  das  Deckglas  äussert  dieselbe  ziemlich 
starken  Widerstand,  und  berstet  bei  steigendem  Druck  an  derjenigen 
Stelle,  an  welcher  die  Kapsel  der  Oberlläche  des  Gladophora-Astes  an- 
geheftet ist  (Fig.  1  a).  Hier  ist  nämlich  die  Kapselwand  verdünnt,  indem 
ein  kleiner  kegelförmiger  Fortsatz  des  Protoplasma  eine  Strecke  weit 
durch  sie  hindurchgeht.  In  einzelnen  Fällen  (aber  nicht  immei)  reicht 
derselbe  bis  zur  Membran  der  Gonfervenzelle,  und  bezeichnet  hier  die- 
jenige Stelle,  wo  sich  der  Protoplasma -Leib  der  Amoebe  während  der 
Cysten -Secretion  angeheftet  erhielt.  In  chemischer  Beziehung  zeichnet 
sich  die  Kapsel,  wie  andere  ähnliche  Zellhäute,  durch  bedeutende 
Widerstandskraft  gegen  starke  Lösungsmittel,  (sowohl  Säuren  als  Alka- 
lien) aus.  Durch  .Tod  wird  sie  schwach  gelb ,  durch  Carmin  nicht  ge- 
färbt. Jod  und  Schwefelsäure  bewirkt  keine  blaue  Färbung.  Verdünnte 
Säuren  zeigen  keine  Einwirkung. 

Das  Protoplasma  (Fig.  \  p)  der  eingekapselten  Magosphaera- 
Zelle,  oder  der  Eidotter,  wenn  man  es  so  nennen  will,  ist  schwach  gelb- 
lich gefärbt,  übrigens  ganz  klar  und  durchsichtig,  so  dass  der  in  seinem 
Centrum  befindliche  Zellenkern  (n)  immer  ganz  deutlich  durchscheint. 
Nur  rings  um  diesen  letzteren  sind  dunkle  stark  lichtbrechende  Körner 
in  verschiedener  Menge  und  Anordnung  angehäuft.  In  einigen  Fällen  war 
ihre  Quantität  so  beträchtlich ,  dass  sie  eine  dicke  dunkle  Körnerzone 
um  den  Kern  bildeten ,  welche  den  letzteren  fast  verhüllte  und  unge- 
fähr die  innere  Hälfte  der  Proloplasmakugel  einnahm.  In  anderen  Fällen 
dagegen  bildeten  sie  nur  eine  sehr  dünne  centrale  Schicht,  welche  die 
Oberfläche  des  Zellenkerns  kaum  im  Zusammenhang  bedeckte.  Ge- 
wöhnlich, aber  nicht  immer,  strahlten  von  dieser  Körnerschicht  eine 
Anzahl  von  körnigen  Streifen  in  radialer  Richtung  durch  die  Protoplasma- 
kugel hindurch,  ohne  jedoch  deren  Oberfläche  zu  erreichen  [g).  Die 
Zahl  dieser  granulösen  Radien  betrug  vielleicht  zwischen  20  und  50. 
Bewegungen  der  Körnchen  habe  ich  in  denselben  nicht  wahrnehmen 
können.  Die  Granula  selbst  sind  sehr  klein,  von  0,002  bis  weit  unter 
0,001  Mm.  hinab.  Ihrer  starken  Lichtbrechung  nach  scheinen  sie  Fett- 
körnchen zu  sein ;  doch  habe  ich  eine  genauere  chemische  Untersuchung 
versäumt.  Wenn  man  die  Kapseln  durch  Druck  sprengt,  quillt  das 
Protoplasma  mit  lappigen  Contouren  aus  der  Rissöffnung  der  Kaj)sel 
hervor  und  lässt  dabei  eine  ziemlich  bedeutende  Gonsistenz  gewahren. 
Verfolgt  man  dann  anhaltend  die  Form  der  hervorgequollenen  Masse,  so 
geUngt  es,    in  einigen  Fällen,    langsame  Veränderungen  der  lappigen 


Die  riitiilliictcii.  5 

Contoiii'ou  walii'zuneluiKMi ,  welche  vvolil  iiuT  iniiuchuidc  (^ontnictioiicn 
des  Protoplasma  zurückzuführen  sind.  Wenn  man  hei  st^hr  sUirkcr 
Vergrösseruni;  (700  — 1000)  das  Protoplasma  scliarl' ins  Auü;e  fasst,  so 
ylaul)t  man  eine  fein  i^ranuiöseBcschalVenlKMt  desselben  wahrzuneiimen. 
Es  sieht  aus,  als  oh  das  scheinbar  ganz  structurlosc  Protoplasma  aus 
äusserst  feinen,  blassen  kugeligen  Körnern  von  nahezu  gleicher  Grösse 
(unter  0,0005  Mm.)  zusanunongesetzl  sei,  iirul  als  ob  diese  kleinen 
Kügelchen  durch  eine  minimale  Quantität  c^iner  diderenlen  Zwischen- 
substanz n)il  einandiM'  verklebt  S(Men.  Ind(vss(>n  lassen  die  chemischen 
Reactionen,  welche  die  gewöhnlichen  Eigenschaften  des  Protoplasma  an 
der  ganzen  kugeligen  Masse  ollenbaren,  jene  gianulösc  Beschallenheit 
nicht  schärfer  hervortreten.  Durch (^armin  wird  die  ganze  Pi'otoplasma- 
kugcl  gleichmässig  roth  gefärbt  (heller  als  der  Kern)  ;  durch  Jod  wird 
sie  braungelb,  durch  Salpetersäure  gelb.  In  verdünnter  Essigsäure 
quillt  sie  stark  auf,  ohne  sich  zu  lösen.  Concentrirte  Mineialsäuren  be- 
wirken eine  starke  körnige  Trübung.  Concentrirte  Alkalien  lösen  sie 
vollständig  auf. 

DerNucleus  der  cncystirten  Magosphaera  (Fig.  In)  gleicht  ganz 
dem  gewöhnlichen  Keimbläschen  des  Thier-  Eies.  Er  stellt  eine  klai'e, 
structurlosc,  helle  Kugel  von  0,02  Mm.  Durchmesser  dar.  Derselbe 
liegt  meistens  ganz  in  der  Mitte  der  kugeligen  Zelle,  bisweilen  jedoch 
auch  excentrisch,  und  dann  gewöhnlich  der,  der  Anheftungsstelle  ent- 
gegengesetzten Peripherie  der  Zelle  genähert.  Gegen  Druck  zeigt  er 
eine  bedeutende  Resistenz  und  lässt  die  scheinbare  Bläschen -Natur 
nicht  überzeugend  wahrnehmen.  Es  gelingt  nicht,  eine  besondere 
Membran  an  dem  Nucleus  zu  unterscheiden.  Durch  verdünnte  Essig- 
säure und  ebenso  durch  verdünnte  Mineralsäuren  wird  ein  granulöser 
Niederschlag  in  demselben  bew irkt  und  sein  Lichtbrechungs-Veiniögen 
vcM'stärkt.  In  conccntrirten  Alkalien  löst  er  sich  rasch  auf.  Carmin  färbt 
den  Kern  dunkelroth,  Jod  braun,  Salpetersäure  gelb. 

In  der  Mitte  des  Nucleus  liegt  der  ebenfalls  kugelige  Nucleolus 
(l'ig.  I  c)  von  0,003  Mm.  Durchmesser.  Er  ist  stark  lichtbrechend  und 
umschliesst  ein  noch  kleineres,  dunkles  centrales  Kügelchen.  Der 
Durchmesser  dieses  Nucleolinus  oder  Kernpunktes  beträgt  etwa  ein 
Drittel  von  demjenigen  des  Nucleolus,  also  ungefähr  0,001  Mm.  In 
chemischer  Beziehung  scheinen  sich  Nucleolus  und  Nucleolinus  wenig 
verschieden  von  dem  Nucleus  zu  verhalten. 

Indem  ich  den  einzelligen  Ruhezustand  der  Magosphaera  als  Ei 
und  seine  nachfolgende  Entwickehuig  als  Furchung  bezeichne,  will 
ich  damit  nur  die  völlige  morphologische  Uebereinstimniung  be- 
zeichnen ,  welche  zwischen  demselben  und  einem  gewöhnlichen ,  der 


6  Ernst  Haeckel, 

»Furchung«  unterliegenden  thierischen  Ei  besteht.  In  der  That  wird 
Jedermann  beim  Anblick  der  in  Fig.  1 — 6  dargestellten  Formen  glauben, 
dass  hier  eine  gewöhnliche  Eifurchung  vorliege.  Es  muss  aber  aus- 
drücklich hervorgehoben  werden,  dass  diese  Aehnlichkeit  nur  schein- 
bar ist.  Denn  es  fehlt  der  encyslirlen  Magosphaera-Zelle  der  eigent- 
liche Charakter  des  Eies,  welcher  in  dem  physiologischen  Kriterium 
der  BefruchtungsbedUrftigkeit  besteht  (Gen.  Morphol.  Vol.  II, 
p.  36).  Richtiger  würde  daher  die  encystirtc  Zelle  der  Magosphaera  als 
Spore  zu  bezeichnen  sein. 

3.  Magosphaera  in  der  Fortpflanzung. 

(  F  LI  r  c  li  u  n  i;  s  -  S  t  a  d  i  u  m  ) .    Fig.  2—6. 

Die  Ontogenie  der  encystirten  einzelligen  Magosphaera  liess  sich  an 
den  zahlreichen ,  auf  Cladophora  aufsitzenden  Individuen  sehr  leicht 
verfolgen,  da  dieselben  verschiedene  Stufen  der  individuellen  Entwicke- 
lung  neben  einander  zeigten  (Fig.  2  —  6) .  Der  Entwickelungsgang  ist 
ganz  derselbe,  wie  bei  der  gewöhnlichen  totalen  Eifurchung.  Zunächst 
zerfällt  der  Kern  der  encystirten  Zelle  (Fig.  1  n)  ,  durch  Selbsttheilung 
in  zwei  Kerne,  wahischcinlich  erst  nachdem  bereits  die  ilalbirung  des 
Nucleolus  und  des  Nucleolinus  vorausgegangen  ist.  Doch  liess  sich 
dies  nicht  dircct  beobachten.  Eben  so  wenig  liess  sich  als  Vorspiel  der 
beginnenden  Entwickelung  ein  Verschwinden  des  ursprünglichen 
Zellenkerns  und  die  Neubildung  des  sich  theilenden  Kernes  wahr- 
nehmen. Ich  habe  schon  bei  einer  anderen  Gelegenheit  bemerkt,  dass 
dieses  angebliche  »Verschwinden  des  Keimbläschens  und  sein  Ersatz 
durch  einen  neugebildelen  Eikern«,  wie  es  immer  noch  von  vielen  Be- 
obachtern der  thierischen  Ontogenie  angenommen  wird ,  jedenfalls  ge- 
nauerer Bestätigung  bedürftig  ist.  In  vielen  Fällen  findet  dasselbe  ent- 
schieden nicht  statt,  und  die  Kerne  der  »Furchungskugeln«  sind  directe 
Abkömmlinge  des  primitiven  Kerns  der  Eizelle.  Wenn  jener  Vorgang 
aber  wirkhch  in  anderen  Fällen  stattfinden  sollte  (wie  es  in  der  That 
wahrscheinlich  ist)  ,  so  würde  derselbe  von  grösster  phylogenetischer 
Bedeutung  sein,  insofern  er  als  »Rückschlag  der  kernhaltigen  Eizelle  in 
das  kernlose  Cylodon-Stadium  eines  einfachen  Moneres«  zu  deuten  sein 
dürfte.  Der  Beginn  der  Ontogenie  würde  dann  die  primitive  Phylogenie 
genau  recapituliren ,  indem  das  sich  entwickelnde  Ei  zunächst  durch 
den  Verlust  seines  Kernes  auf  die  Urform  des  autogonen  Moneres,  auf 
den  Anfang  der  organischen  »Schöpfung«  zurückginge. 

Die  Dotterhaut  oder  Zellenmembran ,  von  welcher  die  encystirtc 
Magosphaera-Zelle  umschlossen  ist,  bleibt  sowohl  von  der  ersten  Hai- 


Die  ratiiHactPii.  7 

birung  derselben,  als  von  allen  i()li;t'n(l('n  l'lieilunys- Processen  i-anz 
unberührt.  Wiihi'end  der  b«>i;inn(>nden  eisten  TheihinL:;  der  r)otlerkui;el 
nuiss  mit  der  (^onlraelion  zui^leieh  eine  Verdielituni;  der  IMoloplasnia^ 
Substanz  einhergchon ,  in  Folge  deren  klare  wässerige  Flüssigkeit  aus 
ihr  ausgepresst  svird  und  sieh  in  dcMnjenigen  Theile  der  Cysten -Hohle 
ansammelt,  welcher  nicht  von  den  beiden  ersten  »Furchungskugeln « 
eingenommen  wird.  Diese  beiden  letzteren  (Fig.  2)  haben  einen  Duich- 
messer  von  ungefähr  0,0'/  Mm.  Ihr  Protoplasma  ist  eben  so  klar  und 
diuehsichlig,  wie  das  der  j)rinutiven  Eizelle.  J)ie  dunkeln  Körnehen, 
welche  den  Kern  der  letzteren  in  einer  Schicht  umhüllten ,  haben  sich 
bei  dessen  Theilung  ebenfalls  in  zwei  Gruppen  getrennt,  und  um- 
schliessen  nun  wiederum  in  einer  dünnen  Schicht  die  Kerne  der  beiden 
ersten  Furehungszellen,  in  ratlialen  lleihen  von  der  Oberfläche  der 
Kerne  in  das  Protoplasma  hinein  ausstrahlend.  Die  excenlrischen  Kerne 
der  beiden  Zellen,  welche  0,01  ;j  Mm.  Durchmesser  besitzen,  entfernen 
sich  nach  deren  erfolgter  Ti'cnnung,  gleichsam  als  ol)  sie  sich  abstiessen, 
weil  von  einander,  so  dass  sie  an  entgegengesetzte  Seilen  der  Zellen- 
peripherie zu  liegen  kommen. 

Die  eben  geschilderten  Verhältnisse,  welche  bei  dem  Zerfall  der 
primitiven  Magosphaera- Zelle  in  die  beiden  ersten  Tochlerzellen  oder 
Furchungskugeln  zu  l)e()bachlen  sind,  wiederholen  sich  nun  bei  Jeder 
folgenden  Theilung  dieser  letzteren.  Immer  gehl,  wie  gewöhnlich,  die 
Theilung  des  Kerns  der  Theilung  der  Zelle  vorher,  und  ebenso  geht 
wahrscheinlich  stets  derH;ill)iiung  desNucleus  diejenige  des  Nucleolus, 
und  dieser  letzteren  wiederum  die  Theilung  des  Nucleolinus  voraus. 
So  zerfällt  nun,  ganz  wie  bei  der  gewöhnlichen  regulären  und  totalen 
Furchung,  jede  der  beiden  ersten  Furchungskugeln  (Fig.  2)  wiederum 
in  zwei  Tochterzellen  (Fig.  3).  Diese  vier  Kugeln  haben  einen  Durch- 
messer von  ungefähr  0,034  Mm. ,  ihre  Kerne  von  0,01  Mm.  Aus  den 
vier  Furchungskugeln  werden  acht  (Fig.  4).  In  der  Lagerung  lassen  diese 
letzleren  keine  bestimmte  Regelmässigkeil  erkennen.  Der  Durchmesser 
jeder  der  achlZellen  beträgt  0,025  Mm.,  derjenige  ihrer  Kerne  0,008  Mm. 
Aus  den  acht  Zellen  werden  weiterhin  sechzehn  (Fig.  5).  Jetzt  beträgt 
der  Durchmesser  jeder  Furchungskugel  0.022  Mm.,  derjenige  ihres  Kerns 
0,007  Mm.  Auch  diese  Zellen  haben  noch  ganz  die  primitive  Kugel- 
form beibehalten  und  die  dunkeln  Körnchen  strahlen  noch  von  der  den 
Nucleus  umgebenden  Schicht  in  das  klare  Protoplasma  hinein.  Erst 
bei  der  nun  folgenden  fünften  Furchung,  durch  welche  die  sechzehn 
Furchungskugeln  in  zweiunddreissig  zerfallen,  geht  die  bisher  erhaltene 
Kugelfoiin  derselben  verloren,  indem  ihr  Volum  sich  nicht  in  dem  bis- 
her eingehaltenen  Maasse  vermindert.    Vielmehr  beginnen  die  kugeligen 


8  Ernst  Hiieckel, 

Zellen  nun,  sich  durch  gegenseitigen  Druck  polygonal  abzuplatten 
(Fig.  6).  Ihr  Durchmesser  beträgt  im  Mittel  ungefähr  0,02  Mm.  und 
sinkt  nicht  unter  0,018  Mm.  hinab.  Der  Durchmesser  der  Kerne  ver- 
ringert sich  nur  sehr  wenig,  und  geht  nicht  unter  0,006  Mm.  hinunter. 
Hieraus  geht  hervor,  dass  in  diesem  Stadium  die  dichter  sich  zusammen- 
drängenden und  verhältnissmässig  grösseren  Zellen  wiederum  eine  ge- 
wisse Quantität  von  der  vorher  ausgepressten  intercellularen  Flüssig- 
keit in  ihren  Protoplasma-Leib  aufsaugen  müssen. 

Mit  dem  fünften  Furchungssladium,  durch  welches  die  Magosphaera 
in  32  Tochterzellen  zerfällt,  ist  der  Theilungsprocess  derselben  voll- 
endet. Bei  der  grossen  Rcgelmässigkeit,  mit  welcher  derselbe  erfolgt 
und  l)ei  der  Klarheil,  mit  welcher  er  sich  übersehen  lässt,  ist  es  viel- 
leicht nicht  ohne  Interesse,  die  Progression,  in  welcher  mit  fortschreiten- 
der Theilung  die  Grösse  der  Zellen  und  ihrer  Kerne  abnimmt,  durch 
die  nachstehende  Tabelle  zu  veranschaulichen  . 


Stadium  der 

Zahl  der 

Durchmesser 

Durchmesser 

Furchung. 

Furchungszelleu. 

der  Zellen. 

der  Kerne. 

Ungetheül 

Einfache  Zelle 

0,060 

0,020 

I.  Furchung 

Zwei  Zellen 

0,040 

0,013 

II.  Furchung 

Vier  Zellen 

0,034 

0,010 

III.  Fuichung 

Acht  Zellen 

0,025 

0,008 

IV.  Furchung 

16  Zellen 

0,022 

0,007 

V.  Furchung 

32  Zellen 

0,020 

0,006 

Nach  vollendeter  Furchung  verlieren  die  32  Zellen ,  wie  schon  be- 
merkt, ihre  reguläre  Kugelgestalt.  Sie  quellen  etwas  auf,  platten  sich 
durch  gegenseitigen  Druck  unregclmässig  polyedrisch  ab,  und  beginnen 
zugleich,  noch  innerhalb  derCystenhülle,  amoeboide  Bewegungen 
auszuführen.  Die  bisher  glatte  Oberfläche  der  Furchungskugeln  wird 
uneben  und  höckerig.  An  einzelnen  Stellen  treten  Gruppen  von  kleinen, 
stumpfen,  unregelmässigen  Höckern  auf,  ähnhch  den  Pseudopodien, 
welche  sich  bei  Amoeben  zu  bilden  beginnen.  (Fig.  6.)  Oft  entstehen 
kleine  grubenartige  Vertiefungen,  welche  rings  von  einem  Kranze  solcher 
Höckerchen  umgeben  sind.  Langsam  verändern  dieselben  ihie  Form 
und  Grösse,  werden  nach  einiger  Zeit  wieder  eingezogen,  und  in  ihrer 
Nachbarschaft,  oder  an  einer  anderen  Stelle  der  Oberfläche  treten  neue 
Pseudopodien  auL  Der  kugelige  Haufen  von  dicht  zusanm)engedrängten 
amoeboiden  Zellen  sieht  jetzt  sehr  ähnlich  dem  gefurchten  Ei  einer 
Siphonophore.  In  der  Thal  zeigen  die  Furchungskugeln  dieser  Hydro- 
medusen,  wie  ich  bei  Physophora,  Crystallodes  und  Athorybia 
nachgewiesen  habe,  amoebenartige  Bewegungen  und  Formveränderun- 


Die  ralalliictfii.  9 

gen,  welche  denen  unserer  Ma£^osphaoi;i  sehr  iilinlich  sind  ').  Nur  sind 
die  vvechsehiden,  lini;erf(ii'nii!j;en  lM)rls;itZ('  der  Zellenoljerdiiche,  welche 
man  wie  bei  tlen  Anioel)en  wii  kiicli  als  Pseudopodien  bezeichnen  kann, 
bei  Magosphaeia  zahlreicher  und  liinger.  Auch  sind  die  Bewegungen 
hier  schneller  und  auffallender,  als  ich  sie  —  soweit  ich  niich  dessen 
erinnern  kann  —  bei  den  Siphonophoren  gesehen  habe. 

Nachdem  das  wechselnde  Spiel  der  Pseudopodien  einige  Zeit  ge- 
dauert hat  (womit  auch  Ortsveränderungen  der  Zellen  innerhalb  der 
Cyste  verbunden  sind)  werden  die  stumpfen,  kurzen  und  dicken  Fort- 
sätze allmählich  spitzer,  länger  und  dünner.  Ihre  Bewegungen  werden 
lebhafter.  Einzelne,  fast  fadenförmig  gewordene  Pseudopodien  be- 
ginnen sich  schlängelnd  zu  krümmen  und  hin  und  her  zu  schwingen. 
Die  am  ocboidcn  Pseudopodien  gehen  in  flimmernde  C  i  licn 
über.  Aus  der  amoebenartigen  Zelle  wird  eine  echte  Winiperzelle. 
Ich  habe  schon  in  den  »Beiträgen  zur  Plastidenthcorie«  diesen  öcbcr- 
gang  von  Pseudopodien  in  Cilien  und  die  daraus  sich  ergebende  Iden- 
tität der  amocboiden  Protoplasma- Bewegung  und  der 
Flimmerbewegung  hinreichend  erörtert.  Die  Cilien  der  Wimper- 
zellen (das  Epithelium  ciliatum)  und  ebenso  die  einzelnen  Geisseifäden 
derFlagellaten  (und  des  Epithelium  flagellatum)  sind  nichts  Anderes,  als 
amo(>boide  Pseudopodien ,  die  sich  von  der  gewöhnlichen  Form  dieser 
letzteren  durch  längere  und  dünnere  Gestalt,  sowie  durch  grössere 
Schnelligkeit  und  Regelmässigkeit  der  Bewegung  auszeichnen.  Bei  den 
Kalkschwän)men  habe  ich,  wie  dort  bemerkt  (bei  Leucosole nia  und 
Olynthus)  sogar  an  den  noch  zusammenhängenden  Flimmerepithelicn 
die  Flimmerbewegung  w  iedcr  in  amoeboide  Bewegung  sich  zurück  ver- 
wandeln gesehen.  Der  regelmässige  und  schnelle  Rhythmus,  den  wir 
an  den)  Flimmercpithel  der  Wirbelthierc  und  überhaupt  der  höheren 
Thiere  gewohnt  sind,  verliert  sich  allmählich  bei  niederen  Organismen, 
und  lässt  hier  oft  alle  Uebergänge  zu  der  gewöhnlich  viel  trägeren  und 
unrcgelmässigercn  Bewegung  der  Pseudopodien  amoeboider  Zellen 
wahrnehmen.  Die  Flinuncrbewegung  (sowohl  die  Gcissclbcwegung  der 
flagellaten  Piastiden,  als  die  Wimperbewegung  der  ciliaten  Piastiden) 
ist  denmach  nur  als  eine  niodideirte  und  höher  difleienzirte  amoeboide 
Protoplasma- Bewegung  anzusehen.  Bei  den  Wimperz(^llen  der  Mago- 
sphaera  lässl  sich  dies  eben  so  deutlich  nachweisen,  wie  bei  den 
Geisseizellen  der  Kalkschwämme. 

Der  kugelige  Zellenhaufen  der  Magosphaera,  dessen  Oberfläche  sich 


1)    ll.XECKEL ,    Entwickclungsgoschiclite    der    Siphonophoren.     Utrecht    ISfiO. 
Taf.  VI,  Fig.  36.    Tiif.  XIV,  Vic.  93. 


10  Ernst  Haeckel, 

auf  diese  Weise  mitCilien  bedeckt  hat,  beginnt  mittelst  derselben  schon 
innerhalb  seiner  Cyste  oder  Eihülle  langsam  zu  rotiren.  Dann  wird 
diese  letztere  durchbrochen,  vielleicht  in  Folge  dieser  Bewegung  selbst, 
und  die  bewimperte  Kugel  schwimmt  nun  mittelst  ihres  Cilien-Kleides 
langsam  im  Wasser  umher.  Der  Durchbruch  der  Cyste  wurde  nicht 
direct  beobachtet.  Vielmehr  fand  ich  einzelne  frei  umher  schwimmende, 
mit  Cilien  bedeckte  Kugeln  nach  einigen  Stunden  in  dem  Glasschälchen 
mit  Seewasser,  in  welches  ich  Cladophora -  Aeste  mit  ansitzenden  ge- 
furchten Magosphaera -Eiern  hinein  gelegt  hatte.  Aber  schon  vorher 
halle  ich  dieselben  bewimperten  Zellenkugeln  einzeln  in  dem  pelagischen 
Mulder  gefunden,  den  ich  mit  dem  feinen  Netze  von  der  glatten  Meeres- 
oberflache bei  Gisoc  (in  dem  Canal  zwischen  dieser  und  der  östlich 
gegenüberliegenden  Insel)  geschöpft  halte.  Sie  wälzten  sich  hier  lang- 
sam zwischen  den  zahllosen  Peridinien  und  Diatomeen  umher,  welche 
neben  vielen  Nauplius-  und  Zoea- Krebsen  die  Ilaupimasse  des  pe- 
lagischen Mulders  bildeten. 

4.  Magosphaera  als  vielzellige  Wimperkugel. 

( V  o  I  V  o  c  i  n  e  n  -  S  t  <i  d  i  11  m ) .    Fig.  7,  8. 

Die  bewimperten  vielzelligen  Kugeln ,  welche  ich  zuerst  im  pe- 
lagischen Mulder  auffand,  ohne  von  ihrem  Zusammenhang  mit  den  eben 
beschriebenen  encystirten  Formen  zu  wissen ,  hielt  ich  anfänglich  für 
coloniebildende  Flagellaten  aus  der  Volvocinen- Gruppe.  In  der  That 
steht  die  von  Ehrenberg  als  Synura  beschriebene  Volvocine  der 
Magosphaera  in  diesem  Zustande  so  nahe,  dass  man  beide  Genera 
ohne  Weiteres  vereinigen  könnte,  wenn  ihre  Entwickclung  überein- 
stimmte. Ehrenberg  giebt  von  Synura  in  dem  grossen  Infusorien- 
Werke  folgende  Charakteristik:  »Animal  e  familia  Volvocinoruni ,  ocello 
deslitutum ,  cauda  filiformi,  loricae  fundo  seu  in  polypariis  centro 
affixum«  (1.  c.  p.  460).  Von  der  einzigen  beobachteten  Art  (Synura 
uvella)  giebt  er  folgende  Diagnose  :  »S.  corpusculis  oblongis  flavican- 
tibus,  e  lorica  exserendis,  cauda  exlensa  corpore  triplo  longiore;  poly- 
pariis moriformibus «  Dann  wird  noch  hinzugefügt:  »Der  gemeinsame 
Panzer  der  Gesellschaftsform  bildet  eine  Gallertkugel ,  welche  so  viel 
offene  Zellen  hat,  als  Einzelthiere  da  sind.  Aus  diesen  Zellen  können 
die  Thierchen  sich  lang  hervorstrecken,  indem  sie  mit  einem  sehr  feinen, 
schwanzarligen,  dehnbaren  Anhange  im  Centrum  der  Kugel,  oder  dem 
Grunde  ihrer  Zelle  angeheftet  bleiben ,  geradeso  wie  Floscularia  oder 
Conochilus  u.  s.  w,  derRäderlhiere.  Als  Bewegungsorgan  glaubte 
ich    mehrere   Wimpern    am    Munde   der   Einzelth  ierchen 


Die  Catallacleii.  1 1 

d  i  r  e  c  t  z  u  e  r  k  e  n  II «'  n  ;  doch  verniiithete  ich  diese  Wirkung  von  einem 
einfnchcnHüssol.  Von  Krn;iliriiii!j;sor!4iin(Mi  wurde  nichts  unlcrschicdcn. 
Die  gell)licho  Farbe  habe  ich  dem  Kierslock  (Nucleus  ?)  zui^eschrieben, 
welcher  zuwcIUmi,  wie  bei  Syncrypla,  zweilhcilig  erschien.  Andere 
Organe  wurden  nichlklar,  weil  die  Thierchen  sehr  durchsichlij;  waren  ') .« 

hn  Ganzen  passl  diese  Beschreibung  (abgesehen  von  der  uniich- 
ligen  Deutung  der  Theih^)  ganz  gut  auf  unsere  Magosphaeia.  Auch  die 
(irösse  der  Flinunerkugehi ,  welche  KiinimBKRG  auf  '/24  —  Vn;"'  Um'i'h- 
messer  angiebt,  slinunt  ziemlich.  Der  Durchmesser  der  freischwinunen- 
dcn  Magosphärakugeln  l)(>lrägl  im  Mittel  0,07  Mn).  (ungefähr  =  '/üo'")- 
Dagegen  sind  die  einzelnen  Zellen  der  letzteren  beinahe  doppelt  so  gross. 
Die  ganze  Länge  der  Zellen  von  Magosphaera,  wie  sie  in  der  Kugel  ver- 
einigtsind, beträgt  0,0:i;)Mm.,  wovon  nur  0,005  Mm.  auf  den  «Schwanz«, 
0  03  Mm.  auf  den  eigentlichen  »Leib«  kommen.  Bei  Ehrenberg's  S  y  n  ura 
uvella  dagegen  ist  der  Leib  nur  halb  so  lang  ('Vy'"  ungefähr  = 
0,015  Mm.)  ;  der  Schwanz  aber  ist  drei  Mal  so  lang  als  der  Leib.  Auch 
ist  die  Zahl  der  zu  einer  Kugel  vereinigten  Zellen  viel  grösser,  und 
Ehrenberg  sagt  ausdrücklich  :  »Es  gab  kleinere  und  grössere,  aus  vielen 
Individuen  bestehende  Kugeln,  und  letztere  waren  offenbar  aus  ersteren 
so  entsUmden,  dass  die  kleinen  Einzelthiere  sich  durch  Längstheilung 
vermehrt  hatten ,  ohne  den  äusseren  Mantel  mitzutheilen ,  was  dem 
Charakter  der  Volvocinen  gemäss  ist.«  Von  einer  solchen  Thcilung 
konnte  ich  bei  Magosphaera  Nichts  wahrnehmen.  Indessen  mag  es  wohl 
sein,  dass  sie  auch  bei  dieser  letzteren  vorkommt.  Uebrigens  wird  man 
über  die  gencrische  Identität  von  Synura  und  Magosphaera  so  lange 
nichts  Sicheres  aussagen  können,  als  nicht  die  ersterc  genauer  unter- 
sucht und  namentlich  ihre  Ontogenic  bekannt  ist.  Uebrigens  scheint 
die  im  Süsswasser  lebende  Synura  uvella  (bisher  der  einzige  Re- 
präsentant der  Gattung)  selten  zu  sein.  Ehrenberg  hat  sie  nur  zwei- 
mal (im  October  1831  und  im  Mai  1832)  beobachtet  »in  vielen  Exem- 
plaren in  einem  Graben  des  Thiergartens  bei  Berlin«.  Ich  habe  selbst 
ein  einziges  Mal  früher  (1858)  dieselbe  oder  eine  ähnliche  Volvocine  bei 
Berlin  gefunden,  ohne  sie  jedoch  genauer  zu  untersuchen. 

Die  wenigen  Exemplare  von  frei  schwimmenden  Wimpcrkugeln, 
welche  ich  bei  Bergen  pclagisch  fischte,  schienen  alle  aus  32  Zellen  zu- 
sammengesetzt zu  sein ,  ebenso  die  später  beobachteten ,  welche  sich 
aus  der  cncyslirten  Form  entwickelt  hatten.  Jedoch  will  ich  nicht  be- 
stimmt behaupten,   dass  diese  Zahl  ganz  constant  ist.    Einige  kUuncre 


I)  Ehrenberg,   Die  Infiisionsthicrclien   oIs  vollkommene   Organismen.     1838. 
p.  60.  Tüf.  III,  I'ii;.  IX. 


12  Ernst  Haeckel, 

Kugeln  schienen  kaum  30,  einige  grössere  vielleicht  gegen  40  oder  noch 
mehr  Zellen  zu  enthalten.  Man  würde  dann  ,  um  diese  Anomalie  zu 
erklaren,  Unregelmässigkeiten  im  Furchungsprocess  annehmen  müssen, 
wie  sie  allerdings  auch  sonst  vorkommen.  Indessen  ist  es  auch  mög- 
lich ,  dass  die  individuellen  Grössen -Differenzen  der  Flimmerkugeln 
durch  Verschiedenheiten  nicht  in  der  Zahl,  sondern  in  der  Grösse  der 
sie  zusammensetzenden  ZelUm  bedingt  sind.  Der  Durchmesser  der 
Flimmerkugeln  wechselte  zwischen  0,06  und  0,09  Mm.  Die  meisten 
halten  0,07  Mm.  Durchmesser,  eben  so  viel,  wie  das  un gefurchte  Ei 
sanunt  Hülle,  oder  etwas  mehr.  Dies  erklärt  sich  daraus,  dass  die 
Zellen ,  unmittelbar  nachdem  sie  die  Cystenhülle  gesprengt  hatten ,  sich 
in  der  Weise  dehnten  und  radial  gegen  das  gemeinsame  Centrum  stellten, 
dass  die  in  Fig.  7  und  8  dargestellte  bleibende  Anordnung  derselben  die 
Folge  war. 

Wenn  man  den  Focus  des  Mikroskops  auf  das  Centrum  der  freien 
Wimperkugcin  einstellt,  so  gewinnt  man  bei  starker  Vergrösserung 
(700)  das  in  Fig.  8  dargestellte  Bild  des  scheinbaren  Querschnitts  durch 
eine  Meridian-Ebene  derKugel.  Die  Einstellung  des  Focus  auf  dieOber- 
fläche  der  Kugel  dagegen  liefert  das  in  Fig.  7  wiedergegebene  Bild. 
Hieraus  ergiebl  sich,  dass  sich  die  32  Zellen  nach  vollendeter  Furchung 
in  der  Weise  verändert  und  radial  angeordnet  haben,  dass  sie  alle  im 
Centrum  der  Kugel  mit  einer  verlängerten  Spitze  zusammenstossen. 
Die  rundlich  pol  yedrische  Gestalt  der  Zellen  hat  sich  in  eine  regelmässige 
Birnform  umgewandelt.  Gegen  das  Cenlrum  verdünnt  sich  jede  Zelle 
in  einen  sehr  feinen  Stiel  (»Schwanz«  von  Eiirenbekg)  ,  durch  welchen 
sie  mit  den  übrigen  Zellen  im  Mittelpunkt  der  Kugel  zusammenstösst. 
Das  entgegengesetzte  peripherische  Ende  der  Birne  ist  abgerundet,  und 
auf  der  abgestutzten  Endfläche,  welche  der  Peripherie  der  Kugel  ent- 
spricht, mit  Cilien  besetzt  ((/).  Die  Zahl  dieser  Wimpern  {w)  scheint 
an  jeder  Zelle  durchschnittlich  zwischen  zehn  und  zwanzig  zu  betragen. 
Doch  ist  es  schwer  ihre  Anzahl  genau  zu  bestimmen ,  ebenso  wie  ihre 
Anordnung.  Sie  scheinen  auf  dem  Rande  der  abgestutzten  Zellenüäche, 
welche  wir  als  Wi  m  per  Scheibe  [d]  bezeichnen  wollen,  im  Kreise 
zu  sitzen;  doch  schien  es  bisweilen,  als  ob  der  Kreis  nicht  geschlossen 
sei ,  sondern  an  einer  Stelle  in  der  Weise  unterbrochen ,  dass  das  eine 
Ende  des  Wimperkreises  spiralig  über  das  andere  übergreift  (ähnlich 
wie  an  dem  Peristom  der  Vorticellinen  und  Stentorinen).  Die  Cilien  [tv] 
sind  ungefähr  0,01 — 0,02  Mm.  im  Mittel  lang,  an  der  Basis  merklich  dicker, 
als  an  der  sehr  feinen  Spitze,  und  schwingen  in  der  Weise,  dass  die 
schwimmende  Wimperkugel  sich  im  Wasser  rotirend  ohne  bestimmte 
Richtung  fortwälzt.     Die  Wimpern  scheinen  nicht  unmittelbare  Fort- 


Die  Catallacteii.  13 

Sätze  der  hyalinen  Wimper -Scheil»'  zu  sein,  sondern  diese  durch- 
bohrend sich  in  d.'is  innere  Prolopl.isnia  dei' Zelle  lorlzuselzen.  Wenig- 
stens isl,  wenn  man  bei  sehr  starker  Veri^rösserung  eine  Zelle  im  Profil 
belrachlel,  unterhalb  jeder  Cilie  in  dem  hyalinen  Endsaum  (im  Profil 
der  Wimperseheibe)  ein  feiner  Strich  sichtbar,  welcher  die  unmittelbare 
Fortsetzung  der  Wimperbasis  nach  innen  zu  sein  scheint  (Fig.  8  — 10). 

Die  Zellen  der  Wimperkugeln  hängen  übrigens  nicht  bloss  in  dem 
Centrum  durch  ihren  Stiel  oder  »Schwanz«  (s)  zusammen,  sondern  be- 
rühren sich  auch  ausserdenj  mit  dem  dicksten  Theile  ihres  Leibes  und 
platten  sich  daselbst  durch  gegenseitigen  Druck  etwas  polyedrisch  ab 
(Fig.  8).  Die  übrigen  Zwischenräume  zwischen  den  Zellen,  und  zwar 
sowohl  zwischen  den  inneren  zugespitzten  Enden ,  als  auch  zwischen 
ihren  divergirenden  peripherischen  Endstücken  sind  mit  sehr  wasser- 
reicher Sil  ucturloser  Gallertmasse  (einem  Secret  der  Zellen)  ausge- 
füllt, ähnlich  wie  bei  den  Volvocinen.  Die  Zellen  sind  also  eigentlich 
in  diese  Gallerte  (den  »Panzer«  von  Eiirenberg)  ganz  eingebettet,  mit 
Ausnahme  der  wimpernden  Scheibenfläche.  Eine  Membran  besitzen 
die  Zellen  dagegen  nicht. 

Der  nackte,  structuilose  Protoplasmaleib  der  Zellen,  welcher  so  in 
der  Gallerthülle  verborgen  ist,  zeigt  constant  drei  verschiedene  Inhalts- 
theile,  nämlich  einen  Zellenkern,  eine  Vacuole  und  eine  Anzahl  von 
Körnchen,  welche  den  Kern  umgeben.  Der  Kern  der  Zelle  (Fig.  8?/) 
verhält  sich  noch  ganz  ebenso,  wie  bei  den  jüngsten  Furchungskugeln. 
Er  erscheint  als  eine  helle  structurlos(>  Kugel  von  0,006 —  0,007  Mm. 
Durehmesser.  Central  oder  excentrisch  isl  darin  ein  stark  lichtbrechen- 
der Nucleolus  von  ungefähr  0,0015  Mm.  sichtbar.  Der  Kern  liegt  im- 
mer entweder  in  der  Mitte  der  birnförmigen  Zelle,  oder  mehr  der 
Wimperscheibe  genähert.  Er  ist  umgeben  von  einem  Haufen  dunkler 
Körnchen  [g) ,  welche  sich  nach  der  hyalinen  Peripherie  des  Proto- 
plasma hin  verlieren.  Diese  Granula,  welche  zum  Theil  wenigstens 
Fett  zu  sein  scheinen,  sind  Theile  der  Körnerstrahlen,  welche  wir  an- 
fänglich an  der  encystirten  Zelle  beschrieben  haben  (Fig.  1  g).  Eine 
radiale  Anordnung  ist  aber  jetzt  an  den  birnförmigen  Zellen  nicht  mehr 
sichtbar.  Eingedrungene  fremde  Körperchen  habe  ich  an  den  Zellen 
derWiujperkugeln  nicht  wahrnehmen  können,  und  ebenso  wurden  von 
denselben  auch  bei  Versuchen  mitCarmin-  oder  Indigo-Fütterung  keine 
FarbstofTkörnchen  aufgenommen. 

Unterhalb  des  Zellenkerns,  gegen  den  zugespitzten  Stiel  der  Zelle 
hin,  liegt  die  Vacuole  [v).  Wir  könnten  sie  eben  so  gut  als  con- 
tra etile  Blase  bezeichnen.  Denn  man  vermag,  ^^enn  man  alle  ver- 
schiedenen Verhältnisse  dieser  Organe  bei  den  verschiedenen  Protisten 


1 4  Ernst  Haeckel, 

überl)lickt,  zwischen  beiden  keine  scharfe  Grenze  zu  ziehen.  Nach 
meiner  Ansicht  sind  die  contraclilen  Blasen  der  Infusorien, 
Amoeben  und  anderer  Protisten  weiter  Nichts  als  diflerenzirte  oder 
constant  gewordene  Vacuolen.  Denn  eine  selbstständige  con- 
tractile  Wand,  eine  eigentliche  Membran  der  Blase,  fehlt  den  ersteren 
ebensowohl  wie  den  letzteren.  DieContractionen  erfolgen  einfach  durch 
Zusammenziehung  des  contractilen  Protoplasma,  in  dessen  Hohlräumen 
sich  Flüssigkeit  angesammelt  hat  und  von  Zeit  zu  Zeit  wieder  ausge- 
presst  wird.  Der  Unterschied  zwischen  den  »wandungslosen  Vacuolen« 
und  den  »contractilen  Blasen«  liegt  also  eigentlich  nur  darin,  dass  die 
letzteren  constanter  sind  und  sich  regelmässiger  zusammenziehen ,  als 
die  ersteren.  Demnach  wäre  die  Vacuole ,  welche  man  in  jeder  Zelle 
unserer  Wimperkugol  wahrnimmt,  eigentlich  als  contractile  Blase  aufzu- 
fassen. Denn  sie  ist  ganz  constant  und  pulsirt  ziemlich  regelmässig, 
wenn  auch  nur  sehr  langsam.  Im  Zustande  der  Systole  erscheint  sie 
verschwunden ,  in  der  höchsten  Diastole  dagegen  bildet  sie  eine  helle, 
blasse  Kugel  mit  scharfem  Gontour,  welche  um  %  grösser  als  der  Kern 
werden  kann.  Niemals  sah  ich  in  jeder  Zelle  mehr  als  eine  contractile 
Blase.  Dieselbe  bildet  sich  erst,  nachdem  die  Flinmierkugel  die  Gyste 
gesprengt  und  verlassen  hat. 

5.  Magosphaera  als  einfache  Wimperzelle. 

(  F  e  r  i  t  r  i  c  h  e  n  -  S  t  a  d  i  u  m  ) .     ¥'\g.  9  — 13. 

Nachdem  die  Magosphaera  einige  Zeit  als  einzellige  Flimmerkugel 
frei  im  Meere  umhergeschwärmt  ist,  beginnt  sie  sich  in  ihre  constituiren- 
den  Elemente  aufzulösen.  Die  einzelnen  Wimperzellen  trennen  sich 
aus  ihrem  centralen  Zusammenhang  und  verlassen  die  Gallertmasse, 
durch  welche  sie  zusammengehalten  wurden.  Sie  schwimmen  jetzt 
selbstständig  in  Form  isolirter  Wimperzellen  umher,  welche  man  ohne 
Weiteres  sowohl  mit  gewissen  Formen  von  peritrichen  ciliateninfusorien, 
als  mit  isolirten  Wimper -Epithelialzellen  höherer  Thiere  verwechseln 
könnte  (Fig.  9— 13). 

Wie  lange  Zeit  die  aus  der  Gyste  geschlüpfte  Wimperkugel  umher- 
schwimmt, ehe  sich  ihre  Zellen  trennen,  habe  ich  nicht  ermitteln 
können.  Denn  alle  Wimperkugeln,  welche  aus  den  Cysten  selbst  inner- 
halb der  kleinen  Aquarien  ausgetreten  waren ,  starben  entweder  schon 
nach  einigen  Stunden  ab,  oder  sie  verloren  sich,  ohne  dass  ich  sie 
wiederfinden  konnte.  Nur  an  zwei  Flimmerkugeln  habe  ich  die  Auf- 
lösung in  die  einzelnen  Zellen  wahrgenommen.  Diese  beiden  Exemplare 
gehörten  zu  denjenigen ,    welche  ich  mit  dem   feinen  Netze   pelagisch 


Die  Calallaclen.  15 

gpfischt,  alsbald  nach  dem  Fans;  aus  <loin  polaa;ischen  Mulder  isolirl 
und  in  ein  Glasschiilehen  mit  SeewasscM-  ij;el)r;u'hl  halle.  Dies  geschah 
um  S  l'hr  Morj^ens.  Schon  inuerhall)  einer  halben  Stunde  nach  {ge- 
schehener Isolation  hatten  sich  beide  Kugeln  in  die  einzelnen  Zellen 
aufgelöst.  Als  ich  die  feuchte  Kanuiier  um  S'  .^  Uhr  wieder  unter  das 
Mikroskop  brachte,  fand  ich  statt  der  IMinunerkui'eln  ihre  einzelnen  ge- 
trennton Zellen  vor.  Dieselben  schwammen  mittelst  ihrer  Wimpern 
mehrere  Stunden  lebhaft  im  Wasser  umher.  Um  11  Uhr  beobachtete 
ich  sie  zum  letzten  Mal.  Als  ich  Nachmittags  um  3  Uhr  wieder  nach- 
sah, waren  die  Wimperzellen  verschwunden  und  an  ihrer  Stelle  krochen 
auf  dem  Hoden  der  feuchten  Kammer  amoeboide  Zellen  umher 
(Fig.  14  —  16). 

So  lange  die  Wimperzellen  noch  mit  einander  zu  der  Flinnnerkugel 
vereinigt  waren ,  konnte  ich  keine  Formverändorungen  an  denselben 
wahrnehmen.  Diese  traten  aber  sehr  deutlich  an  den  isolirten  Zellen 
auf  (Fig.  9 — 13).  Es  zeigte  sich,  dass  die  Zellen  in  hohem  Maasse  con- 
tractil  waren ,  und  ihre  Gesannntform  durch  Dehnung  und  Krümmung, 
Streckung  und  Zusammenziehung  vielfach  verändern  konnten ,  gleich 
einem  »metabolischen«  Infusorium.  Am  wenigsten  veränderlich  zeigte 
sich  die  Wimperscheibe  [d] ,  am  meisten  das  entgegengesetzte  zuge- 
spitzte Ende  oder  der  »Schwanz«  {s).  Dieser  wurde  bald  mehrmals 
langsam  gekrümmt  oder  geschlängelt  (Fig.  9  —  11),  und  verlängerte  sich 
dabei  so,  dass  er  den  übrigen  Körper  an  Länge  übertraf;  bald  ver- 
kürzte er  sich  wieder  stark  (Fig.  12)  oder  wurde  ganz  eingezogen 
(Fig.  13).  Im  letzteren  Falle  rundete  sich  die  Zelle  fast  kugelig  ab, 
Anderemale  dagegen  wurde  sie  sehr  schlank,  fast  spindelförmig  (Fig.  10). 
Dabei  veränderte  sich  auch  die  Dicke  der  Wimperscheibe  sehr  auffallend. 
Die  Schwimmbewegung  der  Zelle  schien  ohne  Mitwirkung  des  geissel- 
artigen  Schwanzes  bloss  durch  die  Cilien  [w)  vermittelt  zu  werden. 
Die  Wimperscheibe  ging  dabei  voran  und  der  Schwanz  wurde  nachge- 
schleppt. 

Im  Uebrigen  zeigten  sich  die  isolirten  Wimperzellen  nicht  wesent- 
lich verändert.  Wie  bei  den  noch  in  Zusammenhang  stehenden  Zellen 
der  Kugel,  lag  der  Kern  (??)  näher  der  Wimperscheibe,  die  contractile 
Blase  dagegen  [v]  näher  dem  Schw^^nze.  Die  Pulsationen  der  letzteren 
schienen  an  den  isolirten  Zellen  schneller  und  regelmässiger  zu  erfolgen, 
als  an  den  noch  zusammenhängenden  Zellen.  Der  einzige  wesentliche 
Unterschied,  den  ich  auffinden  konnte,  bestand  darin,  dass  die  isolirten 
Zellen  Carmin- Körnchen  aufnahmen,  was  die  zusammenhängenden 
nicht  gethan  hatten.  Die  Aufnahme  der  Farbestoffkörner  erfolgte  mittelst 
der  Wimperscheibe.    Einzelne  kleine  Körnchen,  welche  in  den  Strudel 


1 6  Ernst  Haeckel, 

des  Wimperkranzes  hinein  gezogen  wurden ,  glitten  an  den  Wimpern 
hinab  bis  zu  deren  Basis  und  drangen  hier  durch  die  hyahne  Scheibe 
hindurch  in  das  Protoplasma  hinein ,  ohne  dass  die  Art  und  Weise  der 
Aufnahme  klar  ersichtlich  wurde.  Im  Innern  der  Zelle  sammelten  sich 
die  Farbsloirkörnchen  rings  um  den  Nucleus  an.  Eine  constante,  einem 
Munde  vergleichbare  Oeffnung  war  an  der  Wimperscheibe  nicht  wahr- 
zunehmen. Durch  andere  Stellen  der  Körperoberfläche  schienen  keine 
festen  Körperchen  aufgenommen  zu  werden. 

6.   Magosphaera  als  amoeboide  Zelle. 

(Amoebcn-Stadium  .    Fig.  U— 20. 

Wie  schon  vorher  bemerkt  wurde ,  gingen  die  isolirlen  Wimper- 
zellen bereits  nach  kurzer  Zeil  (nach  höchstens  vier  Stunden)  in  die 
Form  von  amoeboiden  Zellen  über,  die  an  sich  von  echten  Amoeben 
nicht  zu  unterscheiden  waren  (Fig.  14  —  16).  Den  Uebergang  selbst 
konnte  ich  aber  nicht  unmittelbar  beobachten.  In  der  kleinen  feuchten 
Kammer,  in  welcher  erst  bloss  die  isolirten  Wimperzellen  sich  umher- 
tummelten, fand  ich  nachher  nur  die  kriechenden  Amoeben. 

Diese  Amoeben  erschienen,  gleich  allen  anderen  echten  Amoeben, 
als  einfache,  nackte,  kernhaltige  Zellen.  Ihr  Durchmesser  betrug 
0,03  —  0,05  Mm.  Unter  den  bekannten  Amoebenformen  zeigten  sie  die 
meiste  Aehnlichkeit  mit  Auerbach's  A.  actinophora  und  A.  bilim- 
bosai).  Insbesondere  glichen  sie  diesen  durch  die  auflallend  spitzen 
und  dünnen,  konischen  Pseudopodien,  welche  bald  einzeln,  bald 
büschelweise  vereinigt  aus  dem  nackten  Zellenkörper  hervorquoUen. 
Dabei  zeigten  sie  aber  die  Eigenthümlichkeit,  dass  sich  einzelne  Pseudo- 
podien bisweilen  in  einen  langen ,  sehr  dünnen  fadenförmigen  Fortsatz 
auszogen ,  der  sich  nach  Art  einer  Flagellaten-Geissel ,  jedoch  nur  sehr 
langsam ,  schlängelte ,  oder  schwingend  hin  und  her  bewegte.  Dieser 
geisselaitige  Faden  glich  sehr  dem  »Schwanz«  der  freien  Wimperzellen, 
war  aber  oftenbar  nicht  dessen  Rest,  da  er  an  verschiedenen  Stellen  der 
Oberfläche  hervortrat  und  wieder  verschwand.  Aehnliche  geisselartige 
Pseudopodien  haben  CLAPAKfeDE  und  Lachmann  an  der,  von  ihnen 
Podostoma  fi  I  igeru  m  genannten  Amoebenform  beschrieben^). 

Der  kugelige  helle  Kern  (??)  und  die  contractile  Blase  (y)  zeigen  bei 


1)  L.  Atierbach,  Ueber  dicEinzelligkeit  der  Amoeben.  Zeitschr.  für  wi.ss.  Zool. 
1856.  VII.  Vol.    A.  actinophora,  p.  392,  Taf.  XX.    A.  bilimbosa,  p.  374,  Taf.  XIX. 

2)  Claparede  et  Lachmann,  Etudes  sur  Ie.s  Infusoires  et  les  Rhizopodes.  G6neve 
1858.  p.  441  ;   PI.  XXI,  Fig.  4  —  6. 


Die  Ciilallacleii.  1 7 

unsoreiAinoobe  noch  giinz  (licscUx'BescIjnlTriiluMl,  wio  hei  der  isolirlcii 
Winiporzolle.  Nur  sind  die  Pulsalioncn  der  Vacuolo  wieder  unregel- 
iniissiger  und  Ijini^sarner.  Audi  wechselt  sowohl  der  Kern  als  die  con- 
Iraclile  Blase  jetzt  öfter  ihre  Lage,  indem  sie  bei  den  wechselnden 
l'onnen  des  Sarcode-Köipers  und  der  aus  seiner  Oberfläche  austi-eUm- 
iU'u  l\seudo|M)dien  vielfach  hin  und  her  geschoixin  werden.  Wie  bei  den 
isolirten  Wimperzellen  (und  wie  auch  bei  den  meisten  der  gewöhnlichen 
Anioeben)  kann  man  an  dein  Proloplasn.a  nnserei-  Amoeben  deutlich 
die  innere  weichere  Ivürpcrmassc;  unterscheich'ii,  wislche  allein  Körnchen 
enthält,  und  die  hyaline  äussere  Schicht,  in  welche  gewöhnlich  keine 
Körner  eintreten.  Doch  sind,  wii;  bei  jenen,  so  auch  hier  beide  Schich- 
ten keineswegs  scharf  getrennt.  Vielmehr  geht  die  innere,  weichei'e, 
granulöse  Markmasse  ohne  scharfe  Grenze  und  ganz  allmählich  in  die 
äussere,  festere,  hyaline  Rindenschicht  über.  Auch  wechselt  die  Grenz- 
linie beider  Schichten  vielfach. 

Die  Fütterung  der  Amoeben  mit  Farbstoffkörnern  gelang  ebenso 
wie  bei  den  isolirten  Wimperzellen.  Die  Aufnahme  erfolgl(;  aber  an  den 
verschiedensten  Stellen  der  Kör])erol)ernäche ,  ohne  Unterschied.  Wo 
ein  Carmin-Korn  an  der  klebrigen  Oberfläche  des  Körpers  haften  blieb, 
verdünnte  sich  alsbald  die  hyaline  Rindenschicht  oder  das  Ectosark. 
Die  körnige  Markschicht  oder  dasEndosaik  trat  an  die  Oberfläche  heran, 
uiul  mit  einem  Ruck  wurde  das  Körnchen  in  diese  hineingezogen.  Da- 
bei wurde  die  Rindenschicht,  scheinbar,  für  einen  Moment  durch- 
brochen. Rs  geht  aber  auch  hieraus  wieder  hervor,  dass  diese  letzlere 
eben  nicht  als  eine  distincle  Mend)i"an  aufzufassen  ist,  sondern  con- 
linuirlich  in  die  Markschicht  übergeht. 

Die  weitere  Entwickelung  der  Magosphaera-Amoeben  zu  verfolgen, 
gelang  mir  nicht.  Nach  einigen  Tagen  starben  dieselben  in  der  feuchten 
Kammer  ab,  trotzdem  ich  ihnen  als  Nahrung  einen  Wassertropfen  mit 
kleinen  Diatomeen  hinein  gelhan  und  sie  auch  einzelne  von  den  letzteren 
gefressen  hatten.  Ich  kann  aber,  wie  ich  schon  anfänglich  l)emerkle, 
nicht  daran  zweifeln,  dass  mit  dem  Amoeben-Stadium  der  Ehtwicke- 
lungscyclus  unserer  Magosphaera  abgeschlossen  ist.  Die  Amoeben  wer- 
(hm  durch  Nahrungsaufnahme  wachsen  ,  sich  nach  einiger  Zeit  ein- 
kapseln, und  so  wieder  in  das  Ei-Stadium  zurückkehren,  von  welchem 
wir  vorher  ausgegangen  waren  (Fig.  1). 

Grössere  Amoeben,  welche  den  aus  den  Winipcrzcllen  entstandenen 
ganz  ähnlich  waren,  und  namentlich  auch  die  gleiche  charakteristische 
Form  der  Pseudopodien-Bildung  zeigten,  fand  ich  frei  umherkriechend 
zwischen  denselben  Cladophora-BUschen ,  auf  deren  Aesten  <lie  einge- 
kapselten Zellen  (Eier)  und  deren  Entwickelungssladien  (Furchungs- 
Bd.  VI.  4.  2 


1 8  Ernst  Haeckel, 

Zellen)   zu  finden  waren.    Vier  von  diesen  auf  Cladophora  gefundenen 
Amoeben  in  verschiedenen  Contractions-ZusUinden  sind  in  Fig.  17 — 20 
abgebildet.    Die  Formen  der  dünnen  und  spitzen ,   konischen  Pseudo- 
podien, welche  in  Büscheln  vereinigt  aus  der  Oberfläche  des  Amoeben- 
Körpers  austreten,  sind  ganz  dieselben,  wie  bei  den  aus  den  Wimper- 
zellen   entstandenen  Amoeben   (Fig.  14  —  16).     Doch  scheint  mit  dem 
Wachsthum  der  Amoeben  eine  Vergrösserung  des  Kerns  und  eine  Ver- 
mehrung   der  Vacuolen    einzutreten.     Während    in    Fig.   17    nur   eine 
Vacuole  sichtbar  ist,  zeigt  Fig.  18  deren  zwei,  Fig.  19  dagegen  drei,  und 
Fig.  20,   die  grösste  unter  allen  auf  Cladophora  beobachteten  Amoeben, 
sogar  fünf  Vacuolen  (r).    Der  Kern  dieser  letzteren  ist  sehr  gross,   und 
beinahe  schon  eben  so  umfangreich  ,  als  derjenige  der  encystirten  Zelle 
(Vergl.  Fig.  1  und  Fig  20).    Ob  solche  grosse  Amoeben  auch  durch  Zu- 
sammenfliessen  mehrerer  kleinerer  entstehen  können  (wie  es  nach  Ana- 
logie  ähnlicher  Fälle   leicht  denkbar  wäre) ,    habe  ich  nicht  ermitteln 
können.    Da  der  Kern  stets  einfach  ist,   müssten  die  Kerne  der  ver- 
schmolzenen Zellen  dann  theilweise  sich  auflösen  (oder  selbst  mit  ein- 
ander verschmelzen?).    Die  Bewegungen  der  grossen  Amoeben  waren 
übrigens  träger  als  die  der  kleineren,   woran  vielleicht  auch  die  reich- 
lichere Nahrungs-Aufnahme  Schuld  sein  mag.  In  den  grösseren  Amoeben 
fanden  sich  kleine  Diatomeen,  Chlorophyll -Körner  und  andere,  von 
aussen  aufgenommene  Körperchen  vor.  Einige  von  den  grössten  Amoeben, 
die  auf  den  Cladophoren  umherkrochen ,  waren  ganz  grün  gefärbt  in 
Folge  der  grossen  Mengen  von  Chlorophyll -Körnern,  welche  sie  aufge- 
nommen hatten.   Wahrscheinlich  bohren  diese  Amoeben  mit  ihren  spitzen 
Pseudopodien  die  Algen -Zellen  der  Cladophora  an,   auf  welcher  sie 
leben,  und  ziehen  dann  einen  Theil  von  deren  Protoplasma  und  Chloro- 
phyll in  sich  hinein,  ähnlich,  wie  nach  Cienkowski's  schöner  Entdeckung 
die  Vampyrellen  die  Algenzellen  plündern.  Doch  habe  ich  diesen  merk- 
würdigen Vorgang    bei   der  Magosphaera -Amoebe  nicht  direcl  beob- 
achtet, sondern  erschliesse  ihn  nur  aus  dem  Umstände,  dass  die  Chloro- 
phyll-Körner der  Cladophora  an  Grösse  und  Beschaffenheit  ganz  gleich 
denjenigen   waren,    welche   den  Leib    der  auf  ihr  umherkriechenden 
grossen  Amoeben  erfüllten  '). 

7.  Die  systematische  Stellung  der  Magosphaera. 

Die  systematische  Stellung  der  Magosphaera,  deren  Entwickelungs- 
kreis  somit  geschlossen  vorliegt,  giebtViel  zu  denken.    Die  unläugbaren 


1)  Vergl.  CiENKowsKi ,  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Monaden.     Arch.  für  mikr. 
Anat.  1865.   Vol.  I.  p.  211.  Taf.  XII,  Fig.  44. 


Die  Ciitnilacten.  19 

und  sehr  nahen  Verwandtschnfls- Beziehungen  zu  sehr  verschiedenen 
Protisten -Gruppen  mnelien  die  Frage  nach  ilirer  Kinreihung  in  eine 
der  bekannten  (Jruppen  sehr  schwierig,  und  vorläufig  unlösbar.  Als 
fünf  wesenUich  verschiedene  Formzuslände  können  die  eben  beschrie- 
benen F^nlwickelungs- Stadien  ohne  Zweifel  ganz  natürlich  gelrennt 
wenhMi.  bi  physiologischer  Beziehung  Hessen  sich  dieselben  in  folgende 
zwei  Gruppen  bringen: 

I.   Ruhezu stand   (Vegetative  Periode). 

1.  Einzelliger  Ruhezustand  (Ei -Stadium). 

2.  Vielzelliger  Ruhezusland  (Furchungs- Stadium). 

II.  Schwärmzustand   (Änimale  Periode). 

3.  Vielzelliger  Schwärmzustand  (Volvocinen- Stadium). 

4.  Einzelliger  bewimperter  Zustand  (Peritrichen- Stadium), 

5.  Einzelliger  amoeboider  Zustand  (Amoeben- Stadium). 

In  morphologischer  Beziehung  dagegen  würde  man  richtiger  das 
Hauptgewicht  auf  den  histologischen  Formwerth  des  Körpers  legen,  und 
demnach  die  fünf  Entwickelungsstadien  in  folgende  beide  Gruppen 
verlheilen : 

I.   Einzelliger  Zustand  (Individuum  I.  Ordnung). 

1.  Einzelliger  bewimperter  Zustand  (Peritrichen -Stadium). 

2.  Einzelliger  amoeboider  Zustand  (Amoeben -Stadium). 

3.  Einzelliger  Ruhe- Zustand  (Ei -Stadium). 

11.   Vielzelliger  Zustand   (Individuum  II.  Ordnung). 

4.  Vielzelliger  Ruhezustand  (Furchungs -Stadium). 

5.  Vielzelliger  Schwärmzustand  (Volvocinen -Stadium). 

Nach  den  Principien,  welche  gewöhnlich  in  der  Systematik  befolgt 
werden,  würde  man  den  »vollkommensten«  Zustand,  in  welchem  der 
Organismus  am  meisten  ditferenzirt  ist,  als  denjenigen  ansehen,  welcher 
für  seine  systematische  Stellung  den  Ausschlag  giebt.  In  unserem  Falle 
ist  ohne  Zweifel ,  und  zwar  sowohl  in  physiologischer  als  in  morpho- 
logischer Beziehung ,  der  vielzellige  Schwärmzusland  oder  das  Volvo- 
cinen-Sladium  als  der  vollkommenste  anzusehen,  und  man  würde  dem 
entsprechend  unsere  Magosphaera  in  die  C lasse  der  F I  a  g  e  1 1  a  t  e  n ,  und 
zwar  zu  der  Gruppe  der  Vol  vocinen  ,  zu  stellen  haben.  Anderseils 
aber  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  derEnlwickelungsgang  unserer  Mago- 
sphaera von  demjenigen  der  anderen  Flagellalen  sehr  alnveichl.  Aller- 
dings ist  auch  bei  einzelnen  Flagellalen  ein  Uebergang  in  ein  amoeboides 

2* 


20  Krnst  Haeckel, 

Stadium  beobachtet  worden  (so  z.  B.  von  Clark).  Allein  in  anderen 
Fällen  fehlt  dieses  ganz  sicher. 

Das  A  ra  0  e  b  e  n  -  Stadium  der  Magosphaera  beweist  wiederum  aufs 
Neue ,  welche  Vorsicht  bei  der  Beurlheilung  jeder  »Amoebe«  anzuwen- 
den ist.  Die  Beschreibungen  zahlreicher  verschiedener  Amoeben- 
Formen ,  mit  denen  neuere  Mikroskopiker  den  Ballast  der  Wissenschaft 
vermehrt  haben,  nützen  gar  Nichts,  wenn  keine  Entwickelungsgeschichle 
dabei  ist.  Amoeben,  odei'  amoeboide  Zellen,  giebt  es  überall :  im  Ent- 
wickelungskreise  von  Thieren ,  von  Protisten  und  von  Pflanzen.  Die 
Furchungskugeln  ,  die  Embryonal  -  Zellen  ,  die  Blutzellen  vieler  Thiere 
sind  von  selbstständigen  Amoeben  oft  gar  nicht  zu  unterscheiden.  Den- 
noch giebt  es  selbstständige  Amoeben ,  die  sich  als  solche  viele  Gene- 
rationen hindurch  unverändert  fortpflanzen  und  ihre  »gute  Species«  rein 
erhalten.  Wenn  man  die  eigenlhümliche  grosse  Amoel)en-Form  der 
Magosphaera  mit  ihren  büschelweis  vereinigten  spitzen  Forlsätzen  für 
sich  allein  gefunden  und  untersucht  hätte,  ohne  Kenntniss  ihrer  Her- 
kunft und  ihrer  Schicksale,  würde  man  sie  als  eine  gute  onova  species« 
von  Amoeba  beschrieben  haben.  Aber  selbst  nachdem  wir  die  ganze 
Entwickelungsgeschichte  der  Magosphaera  kennen,  würde  man  dieselbe 
doch  als  eine  »eigentliche  Amoebe«  auffassen  und  zu  der  Gruppe  der 
Protoplasten  (Amoeboiden  oder  Lobosen)  stellen  können.  Denn  die 
giossen  Amoeben  (Fig.  1 9)  sind  das  letzte  frei  bewegliche  Entwicke- 
lungsstadium  der  Magosphaera ,  welches  dem  Ruhezustande,  dem  Ei- 
Stadium  vorher  geht,  und  mit  welchem  also  gewissermaassen  der  in- 
dividuelle Entwickelungs-Cyclus  abschliesst.  Es  liesse  sich  daher 
wohl  der  Satz  vertheidigen ,  dass  die  Amoebe  das  eigentliche  »Ziel«  der 
Magosphaera- Entwickeiung  sei,  zumal  sie  als  Zelle  (an  und  für  sich 
betrachtet)  durch  ihre  Grösse,  vielfache  Beweglichkeil  und  reiche  Ent- 
wickeiung von  Fortsätzen ,  sowie  durch  die  Mehrzahl  der  Vacuolen,  die 
übrigen  Zellen  des  Entwickelungskreises  an  »Vollkonunenheit«  übertrifft. 

Wenn  man  den  einzelligen  bewimperten  Zustand  der  Magosphaera, 
oder  das  Perilrichen- Stadium,  für  sich  allein,  ohne  Kenntniss  seiner 
Herkunft,  im  Wasser  frei  schwimmend  finden  und  untersuchen  würde, 
so  würde  man  mit  einem  gewissen  Rechte  dasselbe  als  ein  echtes  be- 
wimpertes Infusorium,  und  zwar  als  ein  Ciliat  aus  der  Ordnung  der 
Peritrichen,  ansprechen  dürfen.  Allerdings  fehlt  unseren  Wimper- 
zellen, wie  es  scheint,  eine  distincte  bleibende  Mundöffnung ;  es  fehlt 
eine  differenzirte  Hautschicht;  auch  ist  der  »Nucleus«  nicht  zu  einer 
»Zwitterdrüse«  differenzirt.  Allein  man  darf  nicht  vergessen ,  dass  alle 
diese  differenzirten  Theile  nur  bei  höheren  Ciliaten  deutlich  entwickelt 
sind,  und  dass  sie  vielen  niederen  Infusorien  fehlen,   die  man  trotzdem 


Die  Ciilalliifteii.  21 

als  echle  »Cilialen«  ansieht.  Auch  darf  man  nicht  enti^egnon,  dass  ilicse 
letzteren  nicht  einfache  Zellen  seien.  Denn  die  Fiage  von  der  »Kin- 
zelligkeil  der  Infusoiien^  ist  noch  keineswegs  negativ  entschie- 
den. Vielniehr  neigt  si(!h  jetzt  w  ieiler  einmal  das  Zünglein  der  Wage 
zu  Gunsten  derselbc^i ,  und  namentlich  viele  von  den  neuesten  Beob- 
achtungen über  die  Fortpflanzung  und  lintwickelung  der  Ciliaten  lassen 
sich  kaum  anders  deuten,  als  dass  viele  echte  Infusorien  wirklich  ein- 
fache Zellen  sind.  Die  Complicalion  ihrer  Organisation  steht  damit  nicht 
in  Widerspruch  ;  denn  es  gicbt  einfache  Pllanzcnzellcn,  welche  in  die- 
ser Beziehung,  hinsichtlich  der  Diflen-nzirung  der  Organe,  die  Cilialen 
noch  überlrelfen. 

Wenn  man  also  aus  triftigen  Gründen  das  einzellige  amoeboide 
Stadium  der  Magosphaera  als  eincAmoebe,  das  einzellige  bewimperte 
Stadium  als  ein  peritrich(!S  Ciliat,  das  vielzellige  bewimperte  Stadium 
als  ein  volvocines  Flagellat  ansehen  kann,  und  wenn  anderseits  keines 
dieser  drei  Stadien  mit  Sicherheil  als  die  »vollkonnnenste  Form«,  als  das 
eigentliche  »Ziel  des  Entwickelungskivises«  gelten  kann  ,  so  wird  die 
Frage  von  der  systematischen  Stellung  der  Magosphaera  in  der  vorsich- 
tigsten und  am  meisten  kritischen  Weise  dadurch  geschlichtet,  dass 
man  sie  —  wenigstens  vorläufig  —  als  Repräsentanten  einer  selbst- 
ständigen Protisten -Gruppe  ansieht.  Da  diese  indillerente  Gruppe 
zwischen  verschiedenen  anderen  Gruppen  des  Prolistenreiches  in  der 
angegebenen  Weise  zu  vermitteln  scheint,  so  dürfte  sie  vielleicht  passend 
den  Namen  der  »Vermiltlei«,  C a  ta 1 1  a  c l a  führen  i) . 


Erklärung  der  Tafel  I. 

Magosphaera  p  I  a  n  u  I  a. 

Alle  fijunren  sind  hei  einer  Vergrössernns  von  700  gezeichnet.  Die  Biuhshiheii 
hiihen  in  allen  Figuren  dieselhe  Bedeutung :  jJ  Protoplasma  der  Zelle.  (/ KörncluMr 
im  Protoplasma,  n  Zellenkern  oder  Nucleus.  c  Kernkörpeiclien  oder  Nucleolus. 
wZellenmembian  oderCysleiduillc.  aFortsatz  desProloplasma,  welcher  die  Cysten- 
wand  an  deren  Anheflungsstelle  (an  der  Algenzelle)  durch.setzt.  n  Gallertmasse 
zwischen  den  Zellen  der  Flimmerkugel.  ?' Vacuole  oder  contracüle  Blase,  ä  Wimper- 
seheihe  (Verdickte  hyaline  Endilä(;he  der  Wimperzellen  ,  auf  welcher  die  Wimpern 
autsitzen),  w  Wimpern,  s  Schwanz  oder  verdünnter  Stiel  am  entgegengesetzten 
Ende  der  Wimperzellcn. 

1)  xaTa>.Xa7.TTj;  der  Vermittler  ;  |i.a-(ö;  Zauberer  ;  acpatpi  Kugel, 


22  Ernst  Haeckol,  Die  ratallacteii. 

Fig.      4.     Einzelliger  encyslirter  Ruhezustand  (Ei -Stadium). 

Fig.     2.     Cyste  mit  zwei  Zellen  (Erstes  Furchungs-Stadium).    Die  Eizelle  ist  durch 

beginnende  Furchung  in  zwei  Zellen  zerfallen. 
Fig.     3.     Cyste  mit  vier  Zellen. 
Fig.     4.     Cyste  mit  acht  Zellen. 
Fig.     5.     Cyste  mit  sechzehn  Zellen. 
Fig.     6.     Cyste  mit  zwei  und  dreissig  Zellen.    Dieselben  führen  innerhalb  der  Cyste 

amoeboide  Bewegungen  aus. 
Fig.     7.     Vielzelliger  Schwärmzustand  (Volvocinen-Stadium).   Die  aus  der  Furchung 

entstandene  vielzellige  Kugel  hat  die  Cyslenhülle  gesprengt  und  verlassen. 

Die  Pseudopodien  der  32  amoeboiden  Zellen  haben  sich  in  schwingende 

Cilien  verwandelt,  mittelst  deren  die  Flimmerkugel  umherschwärmt.  Die 

Flimmerkugel  ist  von  der  Oberfläche  gesehen. 
Fig.     8.     Dieselbe  Flimmerkugel,  wie  Fig.  7.    Der  Focus  ist  auf  das  Cenlnim  der 

Kugel  eingestellt,  so  dass  man  zehn  von  den  32  Zellen  in  einer  meridianen 

Durchschnittsebene    sieht.     Die   birnförmigen  Zellen    berühren   sich  im 

Centrum  der  Kugel  mit  ihren  schwanzähnlichen  Spitzen.    Die  Zwischen- 
räume zwischen  den  Zellen  sind  durch  Gallertmasse  ausgefüllt. 

Eine  isolirte  Wimperzelle  (Peritrichen-Stadium)  mit  langem  Schwanz. 

Eine  isolirte  Wimperzelle  mit  verdickter  Wimperscheibe. 

Eine  isolirt«  Wimperzelle  mit  verdünnter  Wimperscheibe. 

Eine  isolirte  Wimperzelle  mit  sehr  verkürztem  Schwanz  und  ganz  con- 

trahirter  Vacuole. 

Eine  isolirte  Wimperzelle  mit  ganz  eingezogenem  Schwanz  und  sehr  aus- 
gedehnter Vacuole. 

Eine    amoeboide   Zelle    (Amocben  -  Stadium) ,    aus    einer   Wimperzelle 

entstanden. 

Eine  amoeboide  Zelle  mit  ganz  zusammengezogener  Vacuole. 

Eine  amoeboide  Zelle  mit  sehr  ausgedehnter  Vacuole. 

Eine  Amoebe  mit  einer  Vacuole  und  einem  Pseudopodien-Büschel. 

Eine  Amoebe  mit  zwei  Vacuolen. 

Eine  Amoebe  mit  drei  Vacuolen. 

Eine  sehr  grosse  Amoebe  mit  fünf  Vacuolen  und  vielen  Pseudopodien- 

Büscheln. 


Fig. 

9 

Fig. 

10 

Fig. 

11 

Fig. 

12 

Fig. 

13 

Fig. 

14 

Fig. 

15 

Fig. 

16 

Fig. 

17 

Fig. 

18 

Fig. 

19 

Fig. 

20 

]\acliträ^'c  zur  ^loiio^rapliic  der  loiiereu. 

Von 

Ernst  Haeckel. 

Hierzu  Taf.  11. 


1.  Vampyrella  Gomphonematis. 

(Hierzu  Tai.  II,  Fig.  1  ^  4).- 

Die  neue  Moneren  -  Form ,  die  ich  hier  ;ils  Vam  pyrella  Gom- 
]>honenialis  beschreibe,  habe  ich  im  September  1809  wahrend  meines 
Aufenthaltes  au  der  norwegischen  Küste  beobachtet.  Sie  schliesst  sich 
sehr  nahe  an  die  von  Cienkowski  beschriebeneVampyrella  vorax  an, 
unterscheidet  sich  jedoch  von  ihr  durch  gewisse  Eigenthümlichkeiten, 
welche  ihre  Aufstellung  als  besondere  Species  genügend  rechtfertigen. 

Die  Gattung  Vampyrella  ist  vielleicht  unter  allen  Moneren  die 
am  längsten  bekannte  Form ,  insofern  in  ihren  Enlwickelungskreis  die 
»ziegelrothen  Blasen«  gehören ,  welche  die  Botaniker  schon  vor  langer 
Zeit  an  Spirogyren  und  anderen  Algen  aufgefunden  haben,  .ledoch 
galten  dieselben  theils  für  Entwickclungszuslände  dieser  Algen,  theils 
für  »Diatomeen -Cysten«,  und  erst  die  vortrefflichen  und  erschöpfen- 
den Untersuchungen  von  Cieivkowski  stellten  1865  ihre  Natur  in  das 
rechte  Licht  (1.  c.  p.  218 — 225).  In  vollkommen  ausgebildetem  und 
frei  beweglichem  Zustande  tragen  alle  Vampyrellen  durchaus  den 
(Iharaktei-  echter  Moneien,  indem  ihr  ganzer  Körper  einen  gänzlich 
striiclurlosen  Protoplasma -Klumpen  darstellt.  Diese  nackte  Cylode 
nimmt  mittelst  vorgestreckter  Pseudopodien  Nahrung  auf,  gleich  den 
Amoeben  und  Rhizopoden,  und  geht  dann  in  einen  Ruhezustand  über. 
Sie  scheidet  eine  Kapselhülle  aus  und  zerfällt  innerhalb  dieser  Cyste 
durch  Viertheilung  in  vier  nackte  Sporen  (Tetraplasten).  Jede  Spore 
gleicht  nach  dem  Austritt  aus  der  Cyste  einer  kleinen  Actinophrys  (sol) 
und  kriecht  wie  eine  kleine  Amoebe  mit  spitzen  Fortsätzen  langsam 
umher.    Von  den   drei  Vampyrella  -  Arten  Cienkowski's    nähren   sich 


24  '^'»st  Hiieckcl, 

zwei  (V.  Spiiogy  rae  und  \^  pendula)  von  Algen,  deren  Zellen  sie 
anbohren  und  das  Protoplasma  aussaugen.  Die  drille  Arl  dagegen 
(V.  vorax)  frisst  durch  Umhüllung  fremder  Körper,  wie  eine 
Amoebe  (Archiv  für  mikr.  Anal.   18(15.  Vol.  I.  p.  218—225). 

Die  norwegische  V a  ni  p  y  r  e  1 1  a  ,  welche  ich  in  Bergen  beobachtete, 
scheint  ausschliesslich  auf  den  Stöckchen  einer  Dialoniec  zu  leben, 
deren  Zellen  sie  umhüllt  und  aussaugt.  Ihre  specifische  Eigenlhümlich- 
lichkeit  scheint  aber  darin  zu  bestehen,  dass  sie  sich  auf  den  Dia- 
tomeen-Stöckchen selbst  einkapselt  und  an  der  Sielleder  gefressenen 
Diatomeen  befestigt ,  deren  entleerte  Kieselschalen  sie  ablöst  und  aus- 
wirft. Die  Diatomee,  auf  der  ich  die  Vampyrelle  ausschliesslich  ge- 
funden habe,  und  die  in  Fig.  1  abgebildet  ist,  gehört  der  Galtung 
Gomphonema  an,  scheint  jedoch  mit  keiner  der  beschriebenen  Arten 
genau  übereinzustimmen.  Ich  will  daher  diese  neueSpecies,  um  an 
ihre  Ausplünderung  durch  dieVampyrella  zu  erinnern,  Gomphonema 
d  e  V  a  s  ta  l  u  m  nennen. 

Das  Gomphonema  devaslalum  (Fig.  I,  2)  bildet  sehr  zier- 
liche baumförmig  verastelle  Zellen -Gemeinden,  welche  massenhaft  die 
Slöckchcn  der  Campanularien  überziehen,  die  an  der  Küste  von  Bergen 
leben.  Manche  Campanularienstöcke  sehen  mit  blossem  Auge  betrachtet 
so  aus,  als  ob  sie  dicht  mit  einer  gelblichen  Schleimhülle  überzogen 
wären.  Diese  Hülle  besteht  bloss  aus  Tausenden  von  (Jon)phonema- 
ßaumchen ,  die  dichtgedrängt  senkrecht  auf  den  Röhren  der  Campa- 
nularien sitzen.  Einzelne  von  diesen  Biiumchen  lieherbergen  unsere 
Vampyrella  in  grossei"  Anzahl,  während  viele  ganz  frei  davon  sind. 
Die  Slöckchcn  des  Gon)phonema  sind  durchschnittlich  0,5  Mm.  hoch 
und  0,3  Mm.  dick.  Die  Stiele  der  Zellen  sind  schlank,  regelmässig 
dichotomisch  verzweigt,  zierlich  S  förmig  gebogen,  und  0,003  Mm.  dick. 
Die  Kieselzellen  sind  fächerförmige,  glcichschenkelig-dreieckige,  ziem- 
lich dünne  Scheiben.  Ihre  Länge  beträgt  0,05,  ihre  Breite  0,03 ,  ihre 
Dicke  0,01  Mm.  Von  der  breiten  Seite  gesehen,  erscheint  der  Kiesei- 
panzer  der  Zelle  durch  zwei,  von  der  Basis  nach  dem  freien  Rande 
divergirende  Furchen  in  drei  schmale  Felder  zerlegt.  Den  beiden  Furchen 
entsprechen  am  freien  Rande  zwei  Hache  Einkerbungen.^  Die  diei  Felder 
sind  im  äusseren  Theile  von  gleicher  Breite.  In  der  Mitte  jedoch ,  wo 
dvv  Zellenkern  liegt,  ist  das  Mittelfeld  etwas  jjreiter  aufgetrieben.  Auch 
an  der  Basis  ist  dasselbe  breiter  als  die  l)eiden  Seilenfeldci'  (Fig.  1  h.) 
Von  der  schmalen  Seite  gesehen  (Fig.  1  /)  erscheint  jede  Kieselzelle 
schmal  keilförmig,  von  der  Basis  gegen  das  abgerundete  freie  Ende  hin 
allmählich  verdickt.  Im  lnn(>rn  der  Kieselzelle  bilden  die  feinen  ver- 
ästelten und  anastomosirenden  Protoplasma- Ströme,    in  welche  viele 


Niifliträn«'  /.iir  Moiiniir.ipliic  der  Moneren.  25 

gelbe  Kölner  eini;el)eliel  sind,  ein  iiiiiegelniiissii;cs  und  veränderliches 
Netzwerk. 

Auf  den  Aeslen  dieser  zierliehen  Goinphoneniii- Biiuniejien  findet 
iimii  nun  hin  und  wieder  in  {grosser  Menj^e  sUilt  der  zui:,(>höni^en  Kiesel- 
zelleii  liellrülhe  kugelige  Hlasen  (Fig.  I«.)  Dies  sind  die  Cysten  unserer 
Vcunpyrclla.  Sie  sind  nieht  iiinnei-  von  gleicher  Grösse,  die  meisten  von 
O^OG — 0,07  Mm.  Durchmesser.  Die  Cyslenwand  (c)  oder  die  IIUlIc  der 
kugeligen  Blasen  ist  glashell  und  structurlos,  scharf  dopjX'lt  enntourirt. 
Ihre  Dicke  ist  verschieden,  meistens  gleich  ein  Zehntel  des  Kapseldureh- 
messers,  also  0,00()— 0,OOS  Mm.  Die  dicksten  Blasenhilllen  erreichten 
0,01  Mm.  Dicke.  Die  slruclurlose  Substanz  der  C^stenwand  ist  sehr  fest 
und  elastisch,  in  verdünnten  Säuren  und  Alkalien  unlöslich.  In  con- 
ecntrirlen  Alkalien  quillt  si(^  rasch  bedeutend  auf  und  löst  sich  nachher 
ganz  darin  auf.  Concentrirtc  Mineralsäuren  zerstören  sie  erst  nach 
längerer  Einwirkung.  Durch  Carmin  und  durch  Jod  wird  dieselbe 
nicht  gefärbt,  ebenso  nicht  durch  .lod  und  Schwefelsäure. 

Den  Inhalt  der  Cysten  findet  man  oft  auf  einem  und  demselben 
Gomphonema- Bäumchen  in  verschiedenen  Entwickelungs- Zuständen, 
wie  es  in  Fig.  I  daigestellt  ist.  Bei  den  jüngeren  Cysten  (a)  ist  der 
ganze  Hohlraum  mit  einem  homogenen,  hellrothcn,  halbdurchsichtigen, 
I'roto|)lasma  ausgefüllt,  welches  bei  Anwendung  sehr  starker  Vergrösse- 
rungen  äusserst  fein  granulirt  erscheint,  und  bisweilen  auch  noch  eine 
geringe  Anzahl  von  etwas  grösseren  Körnchen  enthält,  die  nach  ihrem 
dunkeln  (ilanzc  Fettkörnchen  zu  sein  scheinen.  Die  Farbe  ist  hell 
ziegelroth ,  bisweilen  fast  mehr  orangcroth.  Neben  diesen  ganz  mit 
Protoplasma  erfüllten  Blasen  finden  sich  andere,  bei  denen  die  ganze 
Protoplasma- Füllung  in  vier  gleiche  Theile  zerfallen  ist.  Dies  sind  die 
Telrasporen  ,  welche  Cienkowski  auch  bei  seinen  drei  Vampyreila-Arten 
beobachtet  hat.  Sie  scheinen  alle  vier  gleichzeitig  zu  entstehen  ,  indem 
\ier  gleichweit  von  einander  und  vom  Centrum  der  Kugel  entfernte 
Protoplasmapunktc  als  Anziehungsmittelpunkte  auf  die  umgebende  Sub- 
stanz \^irken.  Diese  verdichtet  sieh  dabei  und  presst  eine  geringe 
Quantität  einer  hellen  Flüssigkeit  aus,  die  nunmehr  die  vier  Plasma- 
Sporen  von  einander  trennt.  Wenigstens  habe  ich  bei  derVa n)p  j  re  i  I a 
Gom[)honema  tis  niemals  gesehen,  dass  die  Plasma-Kugel  erst  bloss 
in  zwei  Stücke  zerfiele,  die  sich  dann  nochmals  halbiren.  Die  vier 
Sporen  sind  eben  so  durchaus  homogene  und  nackte  Plasma  -  Stücke, 
wie  die  Kugel,  aus  deren  Viertheilung  sie  hervorgegangen  sind.  Weder 
an  dieser,  noch  an  jener  ist  irgend  eine  Spur  von  einem  Zellcnkern 
oder  von  einer  conlraelilen  Blase  zu  l)emerken.  Die  Tetrasporen  haben 
eine  sphaeroidali> ,   stark  abgeplattete  ,   fast  linsenförnu'ge  Gestall ,    und 


26  Ernst  Haeokel, 

sind  dergestalt  gegen  einander  gelagert,  dass  zwischen  ihnen,  im  Cen- 
trum der  Cyste,  ein  leerer  Hohlraum  bleibt  von  regulär  telraedrischer 
Grundform. 

Während  man  auf  einigen  Gomphonema  -  Stöckchen  bloss  ge- 
schlossene Cysten  findet,  theils  mit  ungelheiltem  Protoplasma -Inhalt, 
theils  mit  vier  sphäroidalen  Sporen ,  so  kann  man  dagegen  an  anderen 
Stöckchen  das  Auskriechen  der  letzteren  aus  der  Kapsel  und  ihre  Um- 
bildung zu  frei  umherkriechenden  actinophrysähnlichen  Körpern  sehr 
hübsch  verfolgen  (Fig.  1  e.)  An  einer  Stelle  der  Cystenwand  (meist 
entgegengesetzt  dem  Anheftungspunkte  der  Kapsel)  entsteht,  vermuth- 
lich  durch  die  anliegende  Telraspore  veranlasst ,  eine  sehr  kleine  Oeff- 
nung  und  nun  zwängt  sich  die  letztere  durch  dieses  enge  Loch  langsam 
hindurch.  Dabei  ninmit  ihr  rundlicher  Protoplasma  -  Leib  eine  sehr 
schlanke  Form  an  (Fig.  1  e.)  Noch  ehe  der  ganze  Sporenkörper  den 
Hohlraum  der  Cyste  verlassen  hat,  beginnt  er  bereits  an  dem  ausserhalb 
befindlichen  Theile  sehr  feine  und  zarte  Pseudopodien  auszustrecken. 
Wo  er  mit  einem  Aestchen  des  Gomphonema  -  Stockes  zufällig  in  Be- 
rührung kommt,  schmiegt  er  sich  mit  seiner  klebrigen  Oberfläche  an 
dasselbe  an ,  breitet  sich  aus ,  und  kriecht  nun  langsam  an  dem  Stöck- 
chen empor.  Eine  von  den  vier  Sporen  nach  der  anderen  verlässt  die 
Cyste.  Wie  es  scheint,  kriecht  jede  durch  das  Loch  aus,  das  von  der 
ersten  gebohrt  worden  ist.  Man  kann  so  Kapseln  finden,  in  denen  nur 
noch  ein  oder  zwei  Sporen  liegen,  nachdem  die  anderen  bereits  ausge- 
ki'ochen  sind  (Fig.  I  d.)  Auch  leere  CystenhüUen  findet  man  auf  den 
Enden  der  Aestchen  bisweilen ,  jedoch  selten.  In  der  Regel  scheinen 
sie  bald  abzufallen,  nachdem  ihre  Bewohner  sie  verlassen  haben. 

Die  Spore,  welche  durch  Viertheilung  der  encystirten  Vampyrella 
entstanden  ist,  und  welche  nunmehr  ihre  Kapsel  verlassen  hat,  ist  be- 
reits der  ganze  Organismus.  Denn  die  Function  der  Ernährung,  der  sie 
sich  nunmehr  in  frei  beweglichem  Zustande  widmet,  hat  kein  anderes 
Resultat,  als  Vergrösserung  des  homogenen  Plasmastückes  durch  ein- 
faches Wachsthum.  Nachdem  die  frei  umherkriechende ,  actinophrys- 
ähnliche  Vampyrella  durch  Plünderung  mehrerer  Gomphonema -Zellen 
eine  gewisse  Grösse  erreicht  hat,  zieht  sie  sich  kugelig  zusammen, 
schwitzt  eine  Kapselhülle  aus,  und  geht  so  für  einige  Zeit  in  den  Ruhe- 
zustand über,  mit  dessen  Beschreibung  wir  begannen.  Späterhin  zer- 
fällt diese  encystirte  Plasma-Kugel  wiederum  in  vier  Tetrasporen ,  und 
so  beginnt  der  höchst  einfache  Kreislauf  ihres  Lebens  von  Neuem. 

Die  Ernährungsw  eise  der  frei  umherkriechenden  Vampyrella  Gom- 
phonematis  ist  sehr  interessant,  obwohl  im  Wesentlichen  mit  derjenigen 
der  übrigen  Species  der  Gattung  übereinstimmend.  Nachdem  die  Tetra- 


Nachhiiß;)'  zur  Monographie  der  Moneren.  27 

spore  ihre  Kapsel  vollständig  vcihisson  ,  hreilet  sie  sich,  wie  schon  be- 
merkt, actinophrysiihnlich  aus  und  kriecht  an  dem  Gomphonema- 
Bäumchen  umher,  ohne  dasselbe  jemals  zu  verlassen.  Zeitlebens  bleibt 
sie  mit  ihm  in  Berührung  oder  geht  höchstens  einmal  auf  ein  benach- 
bartes Gomphonema- Slöckchen  über,  mit  dem  ihr  eigenes  zufällig  in 
Berührung  kam.  Schwimmen  kann  das  kleine  Moner,  wie  es  seheint, 
nicht,  und  hütet  sich  wohl,  die  sichere  Unterlage,  deren  Contact  es  von 
Geburt  an  gewöhnt  ist,  zu  verlassen.  Niemals  habe  ich  daher  auch 
unsere  Vampyrella  in  frei  beweglichem  Zustande  Kugelform  annehmen 
sehen,  \\'\c  sie  bei  frei  im  Wasser  schwebenden  Rhizopoden  mit  allseilig 
ausstrahlenden  Pseudopodien  so  hiüifig  vorkonmit.  Vielmehr  erscheint 
die  frei  umherkriechende  Vampyrella  innncr  als  formloses  oder  ganz 
umvgelmiissig  geformtes  Klümpchen,  welches  sich  bei  seinen  Bewegun- 
gen Nollkonunen  der  festen  Unterlage  anpasst.  Beständig  aber  strahlen 
von  seiner  äusseren  Oberfläche  eine  grosse  Menge  von  äusserst  feinen 
Pseudopodien  aus. 

Die  Pseudopodien  sind  bei  der  Vampyrella  Gomphonematis  in 
viel  grösserer  Zahl  vorstreckbar,  als  bei  den  von  Cienkowski  beobach- 
teten drei  Arten.  Wie  bei  diesen  ,  ist  deutlich  Körnchenbewegung  an 
ihnen  zu  beobachten,  niemals  dagegen  ein  Verschmelzen  verschiedener 
Sarcode- Fäden  bei  zufälliger  Berührung.  Auch  Verästelung  lässt  sich 
nicht  mit  Sicherheit  wahrnehmen.  Fast  immer  erscheinen  die  Pseudo- 
podien als  einfache,  unverästelte,  gerade  ausgestreckte  Fäden ,  deren 
Länge  meistens  kaum  dem  Durchmesser  des  mittleren  Körpertheils 
gleichkommt,  selten  ihn  bedeutend  übertriff"t.  Da  das  Ausstrecken  und 
Einziehen  der  Pseudopodien  und  die  Körnchenströmung  auf  denselben 
bei  den  Vampyrellen  Nichts  mit  der  Nahrungs- Aufnahme  zu  thun  hat, 
so  wird  diese  Bewegung  wahrscheinlich  vorzugsweise  die  Function  der 
Respiration  vermitteln. 

Die  Ernährung  unserer  Vampyrella  ,  die  an  dem  Gomphonema- 
Stöckchen  herumkriecht,  geschieht  nun  in  folgender  Weise:  Sobald  sie, 
an  den  Zweigen  des  Bäumchens  emporkriechend,  eine  Kieselzelle  er- 
reicht hat,  breitet  sie  sich  flach  rings  um  deren  Basis  aus.  Das  Proto- 
plasma der  Vampyrella  zerfliesst  zu  einer  dünnen  Schleimschicht,  welche 
blaltartig  auf  beiden  Flächen  der  dreieckigen  Kieselzelle  sich  ausbreitet. 
Da  die  beiden  Blätter  desselben  aber  zugleich  an  den  schmalen  Rändern 
der  Zelle  in  Zusammenhang  bleiben,  wird  die  ganze  Kieselzelle  von  der 
schmalen  Basis  bis  zu  ihrem  breiten  freien  Rande ,  von  einer  zusam- 
menhängenden dünnen  Protoplasma -Lamelle  überzogen  und  zuletzt 
gänzlich  eingehüllt.  Nun  beginnt  die  eigentliche  Plünderung.  Während 
eine  Anzahl  feiner  Pseudopodien  von  dem  Plasma -Uebcrzugc  in  das 


28  Ernst  Haeckel, 

Wasser  hineinslrahlen,  dringt  ein  anderer  Theil  des  Protoplasma -Kör- 
pers durch  die  Schalen-Spalten  der  Kieselzelle  in  deren  Inneres  hinein 
und  annectirt  sich  das  hier  verborgene  Protoplasma.  Man  kann  sehen, 
wie  die  hellrothe  Sarcode  der  Vanipyrclla  in  Form  unregelmässiger 
Forlsätze  im  Innern  der  Kiesclzolle  sich  ausbreitet  und  das  gelbe  Proto- 
plasma des  Gomphonema  in  sich  hineinzieht.  Die  Körnchenbewegung 
in  dem  letzteren  erlischt  und  der  ganze  Inhalt  wird  langsam  durch  die 
Spalten  der  Kieselschale  herausgezogen.  Anfangs  kann  man  die  gelben 
Diatomeen -Körner  in  dem  rothen  Vampyrellen- Leibe  noch  wahr- 
nehmen. Bald  aber  verschwinden  sie  in  dem  feinkörnigen  gelbrothen 
Protoplasma  der  letzteren  und  werden  ganz  von  diesem  assimilirt. 

Die  entleerte  Kieselschale  (Fig.  I  g)  der  Gomphonema-Zelle,  deren 
Zusammenhang,  mit  ihrem  Stiele  bereits  während  des  Plünderungs- 
Processes  sich  zu  lockern  scheint,  wird  nun  von  der  gesättigten  Vam- 
pyrella  gänzlich  abgebrochen  und  wie  ein  unverdaulicher  fremder  Kör- 
per ausgestossen  (Fig.  1/'.)  Der  freche  Räuber  aber  bleibt  an  ihrer 
Stelle  sitzen ,  um  ruhig  zu  verdauen.  F^r  umfasst  das  freie  Ende  des 
Zellenslieles  in  Form  eines  rundlichen  Protoplasma -Klümpchens,  das 
nach  allen  Seiten  feine  Fäden  ausstrahlt.  Hat  die  Vampyrella  nun  schon 
mehrere  Zellen  in  dieser  Weise  geplündert  und  dadurch  eine  gewisse 
Grösse  erreicht,  so  beginnt  sie  allmählich  ihre  Fäden  einzuziehen,  sich 
zu  einer  glatten  Plasmakugel  abzurunden ,  und  durch  Ausschwitzung 
einer  Hülle  einzukapseln.  Wenn  sie  aber  hierzu  noch  zu  klein  ist,  so 
kriecht  sie  erst  von  ihrem  Stiele  wieder  herab  und  auf  einen  anderen 
Zweig  hinüber,  um  auch  dessen  Zelle  sich  einzuverleiben.  In  der  Regel 
scheint  jede  Vampyrellc  eine  grössere  Anzahl  von  Kieselzellen  fressen 
zu  müssen,  ehe  sie  sich  encystiren  kann. 

Bei  den  von  Cienkowski  beschriebenen  Vampyrella  Spiro- 
gyrae  und  V.  pendula  kommt  ein  vorübergehender  Ruhezusland  mit 
Encystirung  vor ,  welcher  bloss  dem  Verdauungsgeschäft  gewidmet  ist. 
Nach  aufgenommener  Nahrung  bilden  sich  diese  Vampyrellen  eine  vor- 
übergehende Cyste  (»Zelle«  von  Cienkowski),  welche  sie  nach  vollendeter 
Verdauung  wieder  durchbrechen  und  verlassen,  um  aufs  Neue  umher- 
zukriechen.  Erst  später  erfolgt  die  definitive  I^inkapselung,  während 
welcher  die  Fortpflanzung  durch  Viertheilung  geschieht.  Bei  unserer 
Vampyrella  Gomphonc  matis  scheinen  jene  provisorischen  Cyslen- 
bildungen  nicht  vorzukonunen.  .ledes  Individuum  kapselt  sich  nur  ein- 
mal während  seines  Lebens  ein ,  und  zwar  dann  ,  wenn  es  sich  zur 
Fortpflanzung  anschickt. 

Die  Encystirung  unserer  Vampyreile  erfolgt  in  der  einfachsten 
Weise.    Nachdem  durch  Aufnahme  einer  gewissen  Anzahl  von  Kiesel- 


Nachtrilge  zur  Monographie  der  Moneren.  29 

Zellen  das  durchsclinillliclie  specifischeGrössenmaass  des  rothenPlasnia- 
slöckc-hons  enviclil  ist,  wci-den  die  ausi^eslivcklcu  Pseudopodien  eiii- 
gezoi^en  und  die  goi^liillele  üheilliiche  des  Klumpens  rundet  sich  kugelig 
ab.  Sodann  beginnt  die  Ausschwilzung  einer  hyalinen ,  slrucluiiosen 
llUll(>,  welche  allniiihlich  erhärtet,  und  deien  Dicke  bis  zu  ein  Siebentel 
des  Kugeldurchmessors  erreichen  kann.  Zu  bemerken  ist,  dass  der 
Stiel  der  zuletzt  gefressenen  Kieselzelle,  auf  der  die  Vampyrella  sitzen 
bleibt,  unmittelbar  mit  dem  Protoi)lasmakörper  derselben  in  N'erbindung 
bleibt,  so  dass  an  dieser  Stelle  die  Cystenhülle  von  dem  Stielende  durch- 
bohrt ist  (Fig.  1,  o.  /'.) 

Somit  sind  wir  denn  wieder  am  Ausgangspunkte  der  Lt^bensge- 
schichte  unseres Moneres  angelangt.  Wie  lange  die  encystirle  Vampyrelle 
im  Ruhezustände  verharrt,  ehe  sie  durch  Telraplasten-Bildung  in  vier 
neue  hidividuen  zerfällt,  habe  ich  nicht  ermitteln  können.  Die  vor- 
stehend mitgetheilte  Entwickelungsgeschichte  ist  aus  Zusammenstellung 
der  verschiedenen  ontogenetischen  Stadien  erschlossen ,  die  man  bis- 
weilen auf  einem  und  demselben  Gomphonema-Bäumchen  neben  ein- 
ander antrifl't. 

ü.  Protomonas  Huxleyi. 

(Tat.  II,  Fig.  5—8). 

In  dem  pelagischen  Mulder,  welchen  ich  im  August  des  letzten 
Jahres  mit  dem  feinen  Netze  von  der  Oberfläche  der  Nordsee  in  der 
Nähe  von  Bergen  fischte,  befanden  sich  eine  grosse  Menge  von  Dia- 
tomeen aus  der  Gattung  Rhizosolenia.  An  einer  von  diesen  Rhizoso- 
ienien  bemerkte  ich  ganz  zufällig  vier  kleine  kugelige  Bläschen  ansitzen 
von  ungefähr  0,03  Mm.  Durchmesser  (Fig.  'i.)  Bei  starker  Vergrösse- 
rung  zeigte  sich,  dass  eine  von  diesen  kugeligen  Cysten  mit  structur- 
losetii,  feinkörnigen,  farblosen  Protoplasma  ganz  angefüllt  war  (Fig.  ^A.) 
Die  drei  anderen  Blasen  enthielten  statt  dessen  eine  grosse  Anzahl  von 
kleinen  Protoplasma-Kugeln  [b]  von  derselben  Beschaffenheit,  wie  das 
Piotoplasma  der  grossen  Kugel.  Weder  in  dieser  letzteren  noch  in  den 
kleinen  Protoplasma -Kügelchen  war  eine  Spur  von  Kernen  wahrzu- 
nehmen; auch  andere  geformte  Inhaltsbeslandtheile  fehlten  gänzlich. 
Die  kleinen  Kügelchen  hatten  ungefähr  0,008  Mm.  Durchmesser.  Die 
Cystenhülle  erschien  in  allen  vier  Kugeln  ziemlich  derb,  doppelt  con- 
tourirt,  struclurlos,  etwa  0,0015  Mm.  dick. 

Da  ich  weder  an  der  grossen  Protoplasma  -  Kugel ,  noch  an  den 
kleinen  Kügelchen  in  den  drei  anderen  Cysten  irgend  eine  Slructur 
wahrnehmen  konnte,  schloss  ich  daraus,  dass  hier  die  Forlpflanzungs- 


30  Ernst  Haeckel, 

kapseln  irgend  einer  Moneren -Form  vorlägen.  Diese  Vermuthung  be- 
stätigte sich  in  der  That.  Um  möglicher  Weise  eine  weitere  Entwicke- 
lung  der  Kapseln  wahrzunehmen,  isolirte  ich  die  Rhizosolenia  in  einer 
kleinen  feuchten  Kammer.  Schon  am  folgenden  Tage  halte  ich  das  Ver- 
gnügen, in  zwei  von  den  drei  Kapseln,  welche  init  kleinen  Kügelchen 
gefüllt  waren,  eine  langsanie  rotirende  Bewegung  wahrzunehmen.  Als 
ich  nun  die  Kapseln  durch  leichten  Druck  auf  das  Deckglas  sprengte, 
traten  birnförmige  Cytoden  heraus,  welche  an  einem  Ende  abgerundet, 
am  anderen  Ende  in  eine  lange  und  sehr  feine  fadenförmige  Geissei 
ausgezogen  waren  (Fig.  5rf).  Ihre  Länge  betrug  gegen  0,04  Mm.  Diese 
Schwärmsporen  bewegten  sich  langsam  in  dem  Wasserlropfen  umher 
und  zerstreuten  sich  dann  Ich  stellte  nun  den  Objectträgei-  wieder  in 
eine  feuchte  Kannner.  Schon  nach  wenigen  Stunden  hatte  die  Geissei- 
bewegung der  Schwärmer  aufgehört  und  an  ihrer  Stelle  fand  ich  in  dem 
Wassertropfen  kleine  amoebenartige  Körperchen,  von  0,01 — 0,01 2  Mm. 
Durchmesser  (Fig.  0.)  Sie  krochen  langsam  auf  der  Glasplatte  umher, 
indem  sie  eine  geringe  Zahl  von  sehr  feinen ,  fadenförmigen  Fortsätzen 
ausstreckten  und  wieder  einzogen.  Auch  an  diesen  amoeboiden  Kör- 
perchen war  keine  Spur  von  einem  Zellenkern,  und  eben  so  wenig  von 
einer  Vacuole  oder  von  einer  umhüllenden  Membran  wahrzunehmen. 
Einige  von  diesen  Cytoden  konnte  ich  nachher  noch  einige  Zeit  ver- 
folgen, und  sah,  dass  sie  allmählich  begannen,  eine  grössere  Anzahl  von 
haarfeinen  Fortsätzen  auszustrecken.  Sie  nahmen  fast  die  Gestalt  sehr 
kleiner  Actinophrys  an  (Fig.  8.)  Einmal  traf  ich  auch  zwei  amoeboide 
Cytoden,  welche  mittelst  eines  feinen  Pseudopodiums  zusannnenhingen 
(Fig.  7.)  Ob  diese  Verbindung  nur  zufällig  war,  oder  ob  sie  als  Vor- 
bereitung zur  Theilung  (oder  vielleicht  auch  umgekehrt  zur  vollstän- 
digen Verschmelzung)  anzusehen  war,  vermochte  ich  nicht  zu  unter- 
scheiden. Nahrungsaufnahme  habe  ich  nicht  beobachtet.  Auch  Körnchen 
fehlten  in  den  kleinen  Protoplasma  -  Klümpchen ,  und  somit  natürlich 
auch  die  Körnchenbewegung  an  den  Pseudopodien. 

Das  Protoplasma  der  grossen  Kugel  {A) ,  deren  Cyste  bei  dem 
Sprengversuch  auch  geborsten  war,  zeigte  nach  dem  Austreten  keiner- 
lei Bewegung,  ebenso  auch  nicht  die  Kügelchen  der  dritten  Cyste. 

Soweit  sich  aus  diesen  unvollständigen  Beobachtungen  schliessen 
iässt,  liegt  hier  eine  Moneren-Form  vor,  welche  sich  unter  den  bekannten 
Moneren  am  nächsten  an  die  von  Cienkowski  vortrefflich  beschriebene 
Protomonas  amyli  anschliesst *).    Den  Gattungscharakter  von  Pro- 


i)  Cienkowski,  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Monadon.    Arcli.  für  mikr.  Anat. 
1865.  Vol.  I.   p.  213.  Taf.  XII,  Fig.  1—5.    Vergl.  ferner  Bulletin  phys.  matli.  Acad. 


Nachträge  zur  Monograpliic  der  Moneren.  31 

tomonns  hübe  ich  in  mointM"  Monographie  der  Moneren  folgender- 
innnsscn  hcstiinnit:  »Ein  einfaclistci-  formloser  I*rotopIas?na- Körper, 
ohne  Vaeuolenl>ii(hini;,  Nvelelier  einfaclie  otler  vei'äslelle  Pseudopodien 
treibt.  Foitpllanzung  (hn'ch  Schwärinsporen,  welche  in  l'lasniodien 
zusaniMienfliessen.  Der  frei  bewegliche  Zustand  des  Monei'es  wird  von 
einem  lUiliezuslande  mit  IlUllenbildung  unteibrociu'n.u  Die  von  Cien- 
KowsKi  entdeckte  Species,  bisher  die  einzige  der  Gattung,  ist  folgendei- 
maassen  charakterisirt :  «Protoplasmaköi'per  ein  Plasmodium,  welches 
durch  Verschmelzen  mehrerer  Schw;irnisj)oren  entsteht,  von  ungefähi" 
0,02  —  0,0f)  Mm.  Durchmesser,  mit  wenigen,  verästelten,  sehr  feinen 
Pseudopodien.  Ruhezustand  eine  rundliche  Lepocytode,  deren  Membran 
keilförmige,  nach  innen  vorragende  Warzen  treibt.  Schwärmsporen 
spindelförmig,  sehr  contractu,  mit  mehreren,  (zwei?)  Geissein  versehen, 
sich  nach  Art  einer  Anguillula  bewegend. a  Die  Prolomonas  Amyli  lebt 
in  faulenden  Nitellen  des  süssen  Wassers. 

Wie  man  sieht,  sind  die  Unterschiede  der  Pro tom  onas  amyli 
von  der  vorliegenden  P.  Iluxleyi  jedenfalls  hinreichend  gross,  um  die 
letztere  als  eine  besondere  »gute  Species«  zu  betrachten.  Bei  P.  amy  li 
sind  die  Schwärmsporen  spindelförmig,  mit  mehreren  Geissein;  bei 
P.  II  u  X I e y  i  dagegen  birnförmig,  mit  einer  Geissei.  Die  Cystenwand 
der  ersteren  ist  an  der  inneren  Seite  mit  keilförmigen  vorragenden 
Warzen  versehen,  welche  der  letzteren  fehlen.  Auch  habe  ich  bei 
P.  Iluxleyi  nicht  mit  Sicherheit  die  Verästelung  der  Pseudopodien 
gesehen,  welche  bei  P.  amyli  voikomml.  Dass  die  Schwärmsporen 
bei  der  ersteren  ebenso  wie  bei  der  letzteren  zu  Plasmodien  zusanunen- 
lliessen,  bezweifle  ich  nicht,  obwohl  ich  es  nicht  direct  beobachtet  habe ; 
die  in  Fig.  7,  dargestellten  zwei  Cytoden  ,  welche  durch  einen  Faden 
zusammenhängen,  sind  vielleicht  in  Verschmelzung,  vielleicht  aber 
auch  in  Theilung  begriffen.  Bei  beiden  Arten  von  Protomonas  fehlt 
zugleich  die  Vacuolenbildung  im  Protoplasma,  und  dadurch  unterschei- 
den sie  sich  wesentlich  von  der  sonst  nächstvervvandten  Prolomyxa, 
die  sich  auch  ausserdem  durch  ihre  üppigen  Protoplasma -Netze  aus- 
zeichnet. 

Der  Lebenslauf  der  Protomonas  Iluxleyi ,  wie  er  sich  aus  den  vor- 
liegenden unvollständigen  Beobachtungen  und  aus  der  Analogie  der 
P.  amyli  ziemlich  sicher  errathen  lässt,  wird  folgender  sein.  Die 
(Jeisselcyloden  oder  Schwärmsporen,  welche  aus  der  geborstenen  Cyste 
austreten  (Fig.  oD)  schwärmen  im  Wasser  mittelst  ihrer  Geissei  undier. 


St.  Pelersb.  T.  XIV,  XVII.     Pring.sheims  Jalirbiiclier  I,   371.    Vergl.  ferner  meine 
Mouogr.  der  Mouercu  :  VI.  System  der  Moneren,  üeaus  IV. 


32  Ernst  Haeekel, 

sinken  dann  zu  Boden  und  gehen  in  den  anioeboiden  Zustand  über 
(Fig.  6)  ,  aus  welchem  sich  weiterhin  vielleicht  ein  actinophrysnrtiger 
Zustand  entwickelt  (Fig.  8.)  Durch  weiteres  Wachsthuni  (vielleicht 
auch  durch  Verschmelzung  mehrerer  Cytoden  zu  einem  Plasmodium 
(Fig.  7)  entstehen  grössere  Protoplasmastücke  (nackte  Cytoden),  welche 
nach  Erlangung  einer  gewissen  Glosse  in  den  Ruhezustand  üliergehen 
und  sich  einkapseln.  Der  Protoplasma-Körper  setzt  sich  fest,  zieht  sich 
zusammen  und  schwitzt  eine  Hülle  aus  (Lepocytode,  Fig.  5.4).  Inner- 
halb dieserCyste  zerfällt  derselbe  in  zahlreiclie  kleine  Kugeln  (Fig.  'iß,  C.) 
Diese  verwandeln  sich  wiederum  in  die  birnförmigen  Schwärmsporen, 
von  welchen  wir  ausgingen.  Ich  benenne  diese  neue  Moneren -Art  zu 
Ehren  des  berühmten  Entdeckers  des  Balhybius. 

3.  Neue  Arten  von  Protamoeba 

(Taf.  II,  Fig.  9—12). 

Die  Moneren ,  welche  meine  Gattung  Protamoeba  bilden ,  unter- 
scheiden sich  von  den  übrigen  Formen  dieser  Classe  einerseits  durch 
die  einfachen  Pseudopodien ,  welche  nicht  mit  einander  anaslomosiren 
und  keine  Netze  bilden ;  anderseits  dadurch ,  dass  sie  sich  in  der 
einfachsten  Weise  durch  Theilung  fortpflanzen,  ohne  in  einen  Ruhezu- 
sland überzugehen.  Die  andere  Moneren-Galtung,  welche  sich  ebenso 
fortpflanzt.  Pro  logen  es,  treibt  lange  und  dünne,  vielfach  veriislelle 
Pseudopodien,  welche  confluiren  und  Protoplasma-Netze  bilden. 

Moneren,  welche  demnach  zu  der  Gattung  Protamoeba  gehören, 
scheinen  sowohl  im  süssen  als  im  salzigen  Wasser  sehr  weit  verbreitet 
zu  sein.  Schon  jetzt  bin  ich  im  Stande,  der  zuerst  von  mir  1860  in  der 
generellen  Morjjhologie  (Vol.  I,  p.  i3."^)  beschriebenen  Protamoeba 
primitiv a  nicht  weniger  als  vier  andere  Formen  anzureihen,  welche 
man  als  »gute  Species«  dieses  Genus  betrachten  kann,  wenn  man  bei 
diesen  niedersten  Organismen  überhaupt  noch  von  Genus  und  Species 
sprechen  darf. 

I,   Protamoeba  simplex. 
Taf.  II,  Fig.  12. 

Am  nächsten  der  Protamoeba  primitiva,  welche  ich  in  der 
Monographie  der  Moneren  (Taf.  II,  Fig.  2')— 30)  abgebildet  habe ,  steht 
ein  ansehnlich  grosses  Moner,  welches  ich  Protamoeba  simplex 
nennen  will  /Fig.  12.)  Dasselbe  bildet  unregelmässig  rundliche  Proto- 
plasma-Klumpen,   welche    sich    bald    mehr   der  Kugelgestalt  nähern 


Nachträge  zur  Monographie  der  Moneren.  33 

(Fig.  \2A),  bald  flacher  sich  ausbreiten,  und  dabei  an  verschiedenen 
Stellen  unregelmiissig  rundliche  lappige  Auflreibungen  bilden,  die  man 
aber  kaum  als  Pseudopodien  bezeichnen  kann.  Das  Protoplasma  dieser 
Klumpen  erscheint  eigenthümlich  wachsarlig,  stark  lichtbrechend, 
glänzend,  gänzlich  structurlos.  Die  Oberfläche  ist  eigenlhtimlich  gerunzelt 
oder  in  bogenförmige  Fallen  gelegt.  Kleine  Körnchen  scheinen  an 
der  Oberfläche  kleben  zu  bleiben,  aber  nur  selten  in  das  Innere  zu 
dringen.  Die  Aufnahme  fremder  Körper  wurde  niemals  beobachtet. 
Das  Verhalten  gegen  Reagentien  ist  das  gcNNöhnliche  des  Protoplasma. 
Durch  Carmin  werden  die  Klun)pen  durch  und  durch  roth  gefärbt.  Die 
Grösse  ist  sehr  beträchtlich.  Neben  kleineren  Individuen  von  0,05— 
0,1  Mm.  Durchmesser  giebt  es  auch  solche,  deren  Durchmesser  0,2  — 
0,3  Mm.  erreicht,  und  die  man  daher  unter  günstigen  Umständen  mit 
blossem  Auge  erkennen  kann. 

Protamoeba  simplex  scheint  nicht  selten  zu  sein.  Ich  habe 
sie  in  Süsswasser-Infusionen  schon  in  früheren  Jahren  gelegentlich  be- 
obachtet, jedoch'immer  nur  in  solchen  Infusionen,  welche  humusreiche 
Walderde  enthielten.  Ich  konnte  früher  aber  Nichts  mit  diesen  sonder- 
baren Klumpen  anfangen ,  da  ich  daran  keine  Bewegung  wahrnahm. 
Erst  als  ich  im  letzten  Jahre  dieselben  wiederfand,  fiel  es  mir  ein,  dass 
dieselben  wohl  eine  Moneren-Form  darstellen  könnten.  In  der  That  ergab 
sich  bei  chemischer  Prüfung  sofort  die  Protoplasma-Natur  der  Klumpen, 
und  sehr  genaue  und  anhaltende  Beobachtung  lehrte  auch  schwache 
Form  Veränderungen  wahrnehmen.  Jedoch  geschehen  dieselben  nur  sehr 
langsam,  und  da  auch  weder  Nahrungsaufnahme  noch  Fortpflanzung  an 
diesen  Protoplasma -Klumpen  beobachtet  wurde,  so  bleibt  ihre  Prota- 
moeben-Natur  einstweilen  noch  zweifelhaft. 

II.  Protamoeba  agilis. 
(Taf.  II,  Fig.  9.) 

Diese  kleine  Protamoeba  habe  ich  im  Juni  des  letzten  Jahres  in  sehr 
grosser  Menge  beobachtet.  Sie  fand  sich  in  einem  Behälter  mit  Wasser, 
welches  ich  aus  den  Teichen  des  Rodathales  (einige  Meilen  südöstlich 
von  Jena)  geholt  hatte.  Das  Wasser  enthielt  Spirogyren  und  einige  an- 
dere Algen,  sowie  eine  geringe  Menge  von  Infusorien,  Räderthieren  etc. 
Nachdem  das  Glas  mit  Wasser  einige  Wochen  am  Lichte  gestanden  halte, 
stiess  ich  zuerst  in  dem  feinen  Mulder  oder  Schlamm,  der  sich  auf  dem 
Boden  abgesetzt  hatte,  auf  einzelne  Prolamoeben.  Dieselben  vermehrten 
sich  so  rapide,  dass  ich  einige  Tage  später  fast  in  jedem  Wassertropfen, 
den  ich  mit  der  Pipette  vom  Grunde  des  Gefässes  heraufholte,  ein  oder 
Bd.  VI.  <.  3 


34  Ernst  Haeckel, 

einige  Protamoeben  vorfand.  Gewiss  waren  in  dem  Glase  viele  Tausende 
vorhanden.  Eine  Woche  später  war  Alles  verschwunden.  Vielleicht 
war  ein  kleiner  Wurm  (Chaelogaster)  daran  Schuld,  der  sich  inzwischen 
entwickelt  und  die  Bedingungen  des  Kampfes  ums  Dasein  in  dem  kleinen 
Aquarium  gänzlich  verändert  halte. 

Der  Durchmesser  der  Protamoeba  agilis  beträgt  0,04  — 0,06  Mm. 
Ihre  Form  ist  unregelmässig  rundlich  lappig  (Fig.  9] .  Die  Pseudopodien 
sind  wenige  und  kurze,  breite,  stumpfe  Forlsätze.  Aber  ihre  Bewegun- 
gen sind  sehr  rasch  und  lebhaft.  Das  Protoplasma  des  Körpers  scheidet 
sich  sehr  deutlich  in  zwei  verschiedene  Schichten ,  eine  hyaline ,  körn- 
chenfreie,  festere  Rindenschicht  (Ectosark)  ,  und  eine  trübe ,  körner- 
reiche, weichere  Markschicht  (Endosark).  Beide  Schichten  sind  aber 
keineswegs  scharf  getrennt,  sondern  gehen  ganz  allmählich  in  einander 
über,  wie  bei  vielen  echten  Amoeben.  Wie  bei  diesen  erfolgt  auch  die 
Nahrungsaufnahme.  Wo  ein  fremdes  Körperchen  die  Oberfläche  be- 
rührt, verdünnt  sich  das  hyaline  Ectosark  und  das  Körperchen  wird  in 
das  körnige  Endosark  plötzlich  hineingezogen.  Das  Endosark  ist  sehr 
weich,  so  dass  sich  bei  jeder  Bewegung  die  darin  enthaltenen  Körnchen 
vielfach  verschieben.  Von  Nucleus  und  contractiler  Blase  ist  keine  Spur 
vorhanden. 

Die  Fortpflanzung  durch  Theilung  Hess  sich  mit  Leichtigkeit  an 
sehr  zahlreichen  Individuen  beobachten.  Die  Protamoeba  schnürte  sich 
dann  in  der  Mitte  ein  (G,  //).  Das  körnige  Endosark  strömte  in  die 
beiden  entgegengesetzten  Hälften  hinein ,  und  die  hyaline  Bi'ücke  des 
Ectosark ,  welche  diese  noch  kurze  Zeit  zusammenhielt ,  zerriss.  Die 
beiden  Theilproducte  fuhren  sogleich  fort,  sich  ebenso  wie  die  unge- 
theilte  Protamoebe  zu  bewegen. 

III.   Protamoeba  Schultzeana. 
(Taf.  II,  Fig.  10.) 

In  norwegischem  Meeressand,  den  ich  in  der  Nähe  von  Bergen, 
nahe  dem  Strande ,  aus  geringer  Tiefe  mit  dem  Schleppnetz  heraufge- 
holt hatte,  und  der  sehr  reich  an  lebenden  Polythalamien  war,  beob- 
achtete ich  im  August  vorigen  Jahres  in  mehrei^en  Exemplaren  eine  sehr 
ausgezeichnete  neue  Protamoeben-Form  (Fig.  1 0  A — D) .  Dieselbe  bildete 
gewöhnlich  unregelmässig  höckerige,  kugelige  Klumpen,  von  durch- 
schnittlich 0,1  Mm.  Durchmesser.  Das  Protoplasma  war  deutlich  in 
eine  körnchenfreie,  festere,  hyaline  Rindenschicht  (Ectosark)  und  eine 
fcörnerreiche ,  weichere,  trübe  Markmasse  (Endosark)  differenzirt,  ähn- 
lich wie  bei  P.  polypodia  und  P.  agilis.  Doch  waren  die  beiden 
Schichten   noch   weniger  scharf  getrennt  wie  bei  der  letzteren.    Der 


Nachträge  zur  Monographie  der  Moneren,  35 

centrale  Sarcodekörper,  welcher  meistens  der  Kugelgestalt  mehr  oder 
weniger  genähert  blieb,  und  daher  bei  seinen  unregelmässigen  Bewe- 
gungen auf  der  ebenen  Unterlage  dos  Objecltrügers  förmlich  langsam 
fortrollte,  bildete  in  sehr  charakteristischei- Weise  an  vielen  Stellen  seiner 
Oberiläche  gleichzeitig  eine  grössere  Anzahl  (20 — 30)  dicke,  höckerige, 
rundliche  Forts;itz(>.  Bald  waren  diese  Fortsätze  nichr  cylindi'isch,  bald 
mehr  kegelförmig,  bald  mehr  llächenartig  ausgebreitet.  Ihre  Länge  kam 
dem  Durchmesser  der  centralen  Körpermasse  gleich,  der  sie  aufsassen, 
oder  übertraf  selbst  diesen  letzteren.  Die  Fortsätze  wurden  von  beiden 
Körperschichten  gebildet.  Sie  waren  einem  lebhaften  Wechsel  unter- 
worfen. Wenn  sich  ein  neuer  Fortsatz  bildete,  strömte  plötzlich  die 
innere,  dunkle,  körnige  Masse  des  Endosark  mit  giosser  Energie  in  das 
sich  ausstülpende  hyaline  lüctosark,  wie  in  einen  Bruchsack  hinein. 
Das  am  meisten  Charakteristische  aber  \\ai-  die  Beschaffenheit  des  letz- 
teren. Die  ganze  Oberfläche  des  hyalinen  Ectosark  nämlich  erschien 
beständig  mit  einer  grossen  Masse  von  kleinen ,  stumpfen  Wärzchen 
besetzt.  Diese  kleinen  hyalinen  Wärzchen  oder  Höckerchen  halten 
meistens  Kegel-  oder  llalbkugelform.  Sie  entstanden  und  vergingen  in 
raschem  W^echsel,  so  dass  man  sie  wohl  als  »Neb  enpseudopodi  en« 
bezeichnen  kann,  im  Gegensatz  zu  den  grossen  und  starken  »Ilaupt- 
jiseudopodien«,  deren  Oberfläche  sie  bedeckten.  Die  Bewegungen 
dieser  merkwürdigen  Prolamoeba  waren  sehr  lebhaft,  und  geschahen 
eigenthümlich  ruckweise ,  indem  das  sphäroidale  Protist  sich  auf  den 
vorstehenden  Höckern  rollend  fortwälzte,  fast  wie  ein  Seeigel  auf  seinen 
Stacheln. 

Von  einem  Kern  oder  einer  contractilen  Blase  war  auch  bei  dieser 
Protamoeba  keine  Spur  vorhanden.  Nahrungsaufnahme  habe  ich  nicht 
beobachtet,  wohl  aber  zweimal  Fortpflanzung.durch  Theilung  (Fig.  1  OB,  C) . 
Die  sich  theilenden  Individuen  bildeten  in  der  Mitte  eine  ringförmige 
Einschnürung.  Das  körnige  dunkle  Endosark  strömte  in  entgegengesetz- 
ter Richtung  ziemlich  heftig  in  die  beiden  aus  einander  tretenden  Hälften 
hinein  [\0B)  und  die  hyaline  Brücke  von  Ectosark,  welche  beide  Stücke 
noch  kurze  Zeit  zusammenhielt,  zerriss.  Die  beiden  Kinder  begannen 
sofort  in  derselben  sonderbaren  Weise  fortzurollen ,  wie  ihr  elterlicher 
Organisnms.  Ich  benenne  diese  neue  Protamoeben-Foru)  zu  Ehren 
meines  Freundes  Ma.\  Schultze. 

IV.  Protamoeba  polypodia. 
(Taf.  II,  Fig.  11.) 

In  dem  schmutzigen  und  stinkenden  Wasser,  welches  die  tief  ein- 
geschnittenen kleinen  Buchten  des  Hafens  von  Bergen ,   zwischen  den 


36  Ernst  Haeckel, 

Häuserreihen  ,  erfüllt ,  beobachtete  ich  einige  Male  die  in  Fig.  1 1  abge- 
bildete Moneren-Form.  Dieselbe  hat  so  aufFallendeAehnUchkeit  mit  dem 
von  Max  ScHiiLTZK  alsAmoeba  polypodia^)  beschriebenen  Organis- 
mus ,  dass  man  an  der  Identität  beider  Formen  wohl  kaum  zweifeln 
kann.  Max  Schultze  fand  dieselbe  im  Lagunenwasser  von  Venedig, 
und  bemerkt  dazu:  »Durch  die  zahlreichen  langen,  schmalen,  abge- 
stumpften, hyalinen  Fortsätze  ausgezeichnet,  welche  sich  ziemlich  leb- 
haft bewegen.«  Auch  an  den  von  mir  in  Bergen  beobachteten  Formen 
war  die  Bewegung  der  Pseudopodien  ziemlich  lebhaft.  Sie  krümmten 
und  streckten,  verlängerten  und  verkürzten  sich,  während  die  Prota- 
moeba  auf  dem  Objectträger  fortkroch. 

Der  Durchmesser  des  Körpers  mit  ausgestreckten  Pseudopodien 
betrug  ungefähr  0,1  Mm.  ,  wovon  etwa  der  dritte  Theil  auf  die  unge- 
theilte  mittlere  Körpermasse  und  eben  so  viel  auf  die  grösseren  Pseudo- 
podien kam.  Die  Zahl  der  letzteren  betrug  gewöhnlich  zwischen  15 
und  30.  Die  Pseudopodien  waren  dünn  cylindrisch ,  bei  der  ansehn- 
lichen Länge  von  0,02 — 0,OiMm.  nur  0,002 Mm.  dick,  am  Ende  stumpf 
abgerundet.  Gewöhnlich  waren  sie  unverästelt,  seltener  an  der  Basis 
gabellheilig,  sehr  selten  mehrfach  getheilt.  Sie  bestanden  immer  bloss 
aus  dem  hyalinen  körnchenlosen  Ectosark,  welches  ohne  scharfe  Grenze 
in  das  körnige,  weiche  Endosark  der  centralen  Leibesmasse  überging. 

Da  jede  Spur  von  Kern  in  dem  Körper  dieser  Cytoden  fehlt,  kann 
man  sie  nicht  als  echte  Amoeben  betrachten.  Diese  sind  immer  kern- 
haltig, also  echte  Zellen.  Um  jedoch  die  A.  polypodia  mit  voller 
Sicherheit  als  eine  echte  Protamoeba  anzusehen,  würde  man  aller- 
dings erst  die  Forlpflanzung  durch  Theilung  kennen  müssen,  die  bisher 
nicht  beobachtet  wurde.  Auch  Nahrungsaufnahme  habe  ich  nicht  be- 
obachtet. Doch  bildet  Max  Schultze  im  Innern  der  venetianischen  Form 
eine  Bacillarie  ab. 

Ausser  der  A.  polypodia  sind  vielleicht  auch  noch  zwei  andere, 
von  Max  Schultze  entdeckte  und  als  Amoeben  beschriebene  Protisten 
in  die  Gattung  Protamoeba  zu  versetzen,  nämlich  die  A,  globularis 
(1.  c.  TaL  VII,  Fig.  20)  und  die  ebendaselbst  in  Fig.  19  abgebildete 
Amoebe,  welche  man  als  P.  limbosa  bezeichnen  könnte.  Weder  Kern 
noch  contractile  Blase  ist  in  der  Abbildung  wahrzunehmen.  Da  jedoch 
die  Fortpflanzung  dieser  beiden  Formen  nicht  beobachtet  wurde,  bleibt 
ihre  systematische  Stellung  einstweilen  noch  zweifelhaft. 


1)  Max  Schultze,    Ueber  den  Organismus  der  Polylhalamien,     Leipzig  1854, 
Tat.  VII,  Fig.  21. 


Nachlriige  zur  Moiiojirrtphic  der  Moneren.  37 

4.  Die  Moneren  und  die  Urzeugung. 

Uiilor  den  vielen  Frai^on  von  Jillgenieineror  Bcdculuni;  und  grösserer 
Tragweite,  welehe  Darwin's  Rel'oiin  der  Descendenzlheoiie  neu  angelegt 
oder  ihrer  Entscheidung  genähert  hat,  ist  eine  der  wiehtigslen  und  zu- 
gleieh  schwierigsten  die  Frage  von  der  Urzeugung.  Zwar  hat  Darwin 
dieselbe  in  seinem  Werke  gar  nicht  berührt,  viehiichr  ausdrückheh  er- 
klärt, dass  er  »Nichts  mit  dem  Ursprung  des  Lebens  zu  schaflen  habe«. 
Indessen  muss  natürlich  jeder  denkende  Leser  seines  Buches  die  Frage 
aufwerfen,  woher  denn  die  »erste  einfachste  Urform«  komme ,  aus  der 
alle  übrigen  organischen  Formen  nach  Darwln's  Selectionslheorie  abge- 
leitet werden  können.  Auch  beweist  die  lebhafte  und  allgemeine  Theil- 
iiahme,  welche  seitdem  wieder  für  die  Urzeugungshypothese  allerseits 
sich  geltend  macht,  zur  Genüge,  in  welchem  innigen  Zusammenhange 
dieselbe  mit  der  Descendenztheorie  steht. 

In  der  That  ist  die  Theorie  der  Urzeugung  ein  noth wen- 
diger und  integrirender  Bestandtheii  der  universalen 
Entwickclungstheo  rie.  Sie  ist  die  natürliche  Brücke,  welche  die 
KANT-LAPLACE'sche  Theorie  von  der  mechanischen  Entstehung  des  Welt- 
gebäudes und  der  Erde  continuirlich  verbindet  mit  derLAMARCK-ÜARWiN- 
schen  Theorie  von  der  mechanischen  Entstehung  der  Thier-  und  Pflan- 
zen-Arten. Wenn  wir  einerseits  in  dem  gesammten  Entwickelungsgang 
der  anorganischen  Natur,  in  der  Entstehung  der  Sonnensysteme  mit  ihren 
verwickelten  Planetenbahnen,  der  Erdrinde  mit  ihren  Meeren,  Gebir- 
gen u.  s.  w. ,  andererseits  aber  in  dem  gesammten  Entwickelungsgang 
der  organischen  Natur,  in  der  Entstehung  aller  der  mannichfaltigen 
Organismen  aus  einer  einfachsten  Stammform,  überall  ein  und  dasselbe 
grosse  Gesetz  continuirlicher  Entw  ickelung ,  überall  ein  und  dasselbe 
allmächtige  Causalgesetz ,  das  natürliche  Gesetz  des  nothw  endigen  Zu- 
sammenhanges von  Ursache  und  Wirkung  walten  sehen ,  so  sind  wir 
durch  die  logischen  Gesetze  unseres  Denkens  gezwungen,  auch  für  den 
einzigen  dunkeln  Punkt  in  diesem  ganzen  Entwickelungsgang ,  für  die 
Entstehung  jener  einfachsten  organischen  Stammform  einen  natür- 
lichen Vorgang,  kein  unnatürliches  Wunder,  keinen  übernatürlichen 
Schöpfungsact  anzunehmen.  Dieser  natürliche  Vorgang,  mag  man  den- 
selben sich  im  Einzelnen  noch  so  verschieden  vorstellen,  ist  nichts  An- 
deres als  die  Urzeugung,  d.h.  die  Entstehung  einfachster  Organismen 
aus  sogenannter  lebloser  anorganischer  Materie. 

Bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  ist  die  Lehre  von  der  Urzeugung  von 
der  grossen  Mehrzahl  der  Naturforscher ,  die  sich  damit  beschäftigten, 
ungemein  unverständig  und  roh  behandelt  w  orden.    Statt  sich  zunächst 


38  Ernst  Haeckel, 

die  Bedeutung  der  Frage  nach  allen  Richtungen  hin  theoretisch  klar  zu 
machen,  und  die  sehr  verwickelte  Natur  derselben  gehörig  zu  erörtern, 
hat  man  sich  sofort  auf  das  Experimentiren  gestürzt,  und  von  diesem 
Antworten  verlangt,  noch  ehe  man  gehörig  Fragen  gestellt  hatte.  Die 
Art  und  Weise,  wie  dies  geschah,  ist  allbekannt.  Nachdem  man  in 
höchst  künstlich  dargestellten  Apparaten,  nach  Anwendung  alier  mög- 
lichen künstlichen  Maassregeln  ,  keine  Organismen  in  der  Versuchs- 
flüssigkeit hatte  entstehen  sehen ,  glaubte  man  ohne  Weiteres  die  ganze 
Lehre  widerlegt  zu  haben  und  kam  zu  dem  höchst  unüberlegten 
Schlüsse:  »Es  giebt  keine  Urzeugung.«  Und  doch  konnten  alle  jene 
berühmten  Experimente  von  Pasteur  u.  s.  w.  weiter  gar  Nichts  be- 
weisen ,  als  dass  in  jenem  speciellen  Falle ,  unter  jenen  höchst  künst- 
lichen und  verwickelten  Bedingungen,  keine  Organismen  durch  Urzeu- 
gung entstanden  seien. 

In  der  ausführlichen  Kritik  der  Urzeugung,  die  ich  im  sechsten 
Capitel  der  generellen  Morphologie  gegeben  habe,  glaube  ich  zur  Ge- 
nüge das  völlig  Wcrthlose  aller  jener  vielbewunderten  Experimente 
nachgewiesen,  und  gezeigt  zu  haben,  dass  man  diese  Frage  ganz  anders 
behandeln  müsse.  Positiv  widerlegen  lässt  sich  die  Hypothese  der  Ur- 
zeugung überhaupt  niemals.  Positiv  bewiesen  ist  dieselbe  insofern 
bisher  auch  nicht,  als  man  noch  niemals  Organismen  ohne  elterliche 
Zeugung  wirklich  hat  entstehen  sehen.  Aber  durch  meine  angeführte 
Erörterung  glaube  ich  allerdings  gezeigt  zu  haben ,  dass  gegenwärtig 
(Dank  unseren  biologischen  Fortschritten  in  dem  letzten  Decennium!) 
die  Urzeugung  als  Hypothese  nicht  mehr  die  theoretischen  Schwierig- 
keiten besitzt,  welche  sie  uns  früher  entgegenstellte. 

Nichts  ist  in  dieser  Beziehung  wichtiger  als  die  Entdeckung  der 
Moneren.  Bevor  wir  diese  einfachsten  —  nicht  nur  wirklich  ein- 
fachsten ,  sondern  auch  denkbar  einfachsten !  —  Organismen  kannten, 
musste  immer  die  Vorstellung  der  Urzeugung  schon  daran  scheitern, 
dass  wir  uns  den  Organismus,  auch  den  einfachsten,  nur  denken  konn- 
ten als  ein  ausdifferentenFormbestandlheilen  zusammengesetztes  Ganze. 
Selbst  die  einfachste  »Urzellc«,  die  man  gewöhnlich  als  die  erste  Stufe 
in  der  langen  Stufenleiter  der  organischen  Wesen  betrachtete,  war 
doch  schon  ein  »  Elementar- Organisnuis« ,  zusammengesetzt  aus  zwei, 
chemisch,  physikalisch  und  morphologisch  differenten  Bcstandlheilen, 
aus  dem  inneren  Nucleus  und  dem  äusseren  Protoplasma.  Die  Entstehung 
einer  solchen  kernhaltigen  Plastide  unmittelbar  durch  Urzeugung  ist 
schwer  denkbar. 

Ganz  anders  liegt  die  Sache  jetzt,  wo  wir  in  den  Moneren  Organis- 
men kennen  gelernt  haben,  deren  ganzer  Körper  einer  nackten  kern- 


NiichUäge  zur  Moiio^^iapliie  der  Moneren.  39 

losen  Phistitlc,  ;ilso  einer  einfachsten  Cytode  oder  Cellinc  cnl- 
spriclil.  Der  gjmzeKöi-per,  S()\\eil  er  dei' Erforschung  mit  unsern  f(Mnslen 
optischen  und  chemischen  Untersuchungsmittcin  zugänglich  ist,  besteht 
bei  diesen  Moneren  ;uis  einer  durchaus  homogenen  Substanz ,  einer 
slructurloscn  Eiweissverbindung,  und  dieser  denkbar  einfachste  Pro- 
toplasma-Körper ist  noch  da  zu  an  sich  ganz  formlos.  Die  Form, 
welche  er  in  jedem  Augenblick  zeigt,  ist  erst  Product  der  Aussen  weit, 
ist  erst  durch  Anpassung  an  die  Existenzbedingungen  der  Aussen- 
welt  entstanden  !  Bei  den  einfachsten  Moneren ,  bei  den  Prolamoeben 
und  Protogenes,  gicbl  es  eigentlich  auch  noch  gar  keine  individuelle 
Entwickelungsgeschichte ,  keine  wahre  Ontogenic  der  Form.  Die  ganze 
Enlwickelung  derselben  ist  einfachstes  Wachsthum,  wie  bei  den 
anorganischen  Krystallen,  und  wenn  dieses  Wachsthum  durch  Er- 
nährung einen  gewissen  Grad  erreicht  hat,  zerfällt  der  Körper,  dessen 
Molekeln  nicht  Cohäsionskrafl  genug  mehr  besitzen,  um  die  ganze  Masse 
zusammenzuhalten,  in  zwei  Stücke.  Aus  einem  bidividuum  sind  durch 
Selbsttheilung  zwei  neue  geworden. 

Man  kann  sich  in  der  That  diesen  einfachsten  Forlpflanzungsprocess 
der  Protamoebon  und  Protogenes  ganz  mechanisch  vorstellen  und  auf 
die  Co häsions- Verhältnisse  der  Protoplasma- Molekeln 
physikalisch  zurückführen.  Das  Wachsthum  des  einfachen  Plasma- 
Stückchens  ist  ein  rein  physikalischer  Process ,  so  gut  w  ie  das  Wachs- 
thum jedes  Krystalles.  Der  wichtigste  Unterschied  zw  ischen  beiden,  dass 
das  Wachsthum  des  anorganischen  Krystalles  durch  Apposition  von 
aussen,  das  Wachsthum  des  organischen  Moneres  durch  bitussusception 
nach  innen  geschieht,  ist  einfach  durch  den  festen  Aggregatzustand  des 
ersteren,  durch  den  festflüssigen  Zustand  des  letzteren  bedingt,  hi 
Folge  dessen  kann  auch,  aus  den  einfachsten  mechanischen  Gründen, 
beim  Krystalle  keine  Forlpflanzung  stattfinden.  Beim  Moner  dagegen 
muss  dieselbe  eintreten,  sobald  die  begrenzte  Cohäsionskraft  der  im 
Imbibitionszustande  befindlichen  Plasma-Molekeln  nicht  mehr  ausreicht, 
die  ganze  Masse  des  Körpers  zusammen  zu  halten.  Die  wichtigsten 
Lebenserscheinungen  der  Moneren  Hessen  sich  so  auf  die  einfachste 
Weise  mechanisch  erklären,  d.  h.  auf  physikalisch-chemische  Ursachen 
zurückführen.  Alle  übrigen  Erscheinungen  würden  erst  durch  spätere 
Anpassung  sich  erklären  lassen. 

Wenn  wir  nun  für  diese  Moneren  eine  ursprüngliche  phyletische 
Entstehung  durch  Urzeugung  annehmen ,  so  handelt  es  sich  bloss  noch 
um  die  Frage:  Wie  entsteht  das  chemische  Substrat  ihres  Körpers,  die 
homogene  Protoplasma-Substanz  ,  welche  allein  denselben  zusammen- 
setzt ?   Durch  die  neueren  Fortschritte  der  synthetischen  Chemie  haben 


-10  Ernst  Haeckel, 

wir  schon  so  viele  und  verwickelte  Kohlenstoff- Verbindungen  in  unseren 
Laboratorien  künstlich  zusammensetzen  gelernt,  dass  die  Annahme  durch- 
aus gerechtfertigt  erscheint,  ähnliche  Verbindungen  und  zwar  eiweiss- 
artige  Verbindungen  können  sich  auch  frei  in  der  Natur  bilden.  Gewiss 
mit  Recht  dürfen  wir  in  dieser  Beziehung  dem  grossen  chemischen  Labo- 
ratorium der  Natur  noch  Etwas  mehr  zutrauen,  als  unsern  künstlichen 
Laboratorien,  in  denen  wir  im  Grunde  doch  immer  nur  mit  höchst 
beschränkten  Mitteln  arbeiten.  Wenn  man  uns  entgegenhält,  dass  wir 
wirklich  noch  keine  echten  Eiweiss-Verbindungen,  und  namentlich  kein 
lebensfähiges  Protoplasma  künstlich  haben  darstellen  können,  so  beweist 
dies  gar  Nichts  gegen  unsere  Ansichten.  Denn  eben  so  wenig  sind  wir 
bisher  im  Stande  gewesen,  eine  Menge  von  verschiedenen  Mineralien 
künstlich  herzustellen,  wie  z.  B.  Feldspath,  Flussspath  ,  Schwerspath, 
Augitu.  s.  w.  Auch  diese  anorganischen  Krystalle  können  wir  der  Natur 
nicht  »nachmachen«.  Wenn  man  daher  in  jenem  Umstände  irgend  einen 
Anhaltpunkt  finden  will  für  die  unwissenschaftliche  dualistische  An- 
nahme ,  dass  die  ersten  Organismen  durch  »Schöpfung«  auf  übernatür- 
lichem Wege  entstanden  seien,  so  muss  man  eine  eben  solche  »Schöpfung« 
für  alle  die  genannten  und  viele  andere  Mineralien  annehmen,  die  wir  in 
unseren  Laboratorien  nicht  künstlich  darstellen  können.  Die  ganze  Welt 
zerfällt  nach  dieser  weit  verbreiteten  Logik  in  zwei  Abtheilungen: 

I.  Natürliche  Welt:  Die  einfacheren  Verbindungen  der  Ele- 
mente (Metalle  und  Metalloide),  z.  B.  Wassei-,  Oxyde,  Säuren,  die 
Mehrzahl  der  Salze  und  überhaupt  alle  künstlich  darstellbaren  »an- 
organischen Verbindungen«,  aber  auch  die  Kohlensäure,  Kohlenvsasser- 
stoffe  und  andere  einfachere  Kohlenstofl- Verbindungen  ,  z.  B.  Alkohol, 
Essigsäure  etc.,  welche  wir  alle  künstlich  aus  den  Elementen  darstellen 
können.  Alle  diese  Körper  sind  durch  »Urzeugung«,  d.  h.  auf  natür- 
lichem mechanischen  W^ege,  lediglich  durch  Zusammenwirken  der  den 
Stoffen  innewohnenden  physikalischen  und  chemischen  Kräfte  ent- 
standen. 

IL  Ueberna  tür  liehe  Welt:  Feldspath,  Flussspath,  Schwer- 
spath, Augit  und  alle  anderen  Mineralien  ,  welche  wir  nicht  künstlich 
durch  Synthese  der  Elemente  darstellen  können ,  ferner  alle  die  ver- 
wickeiteren (organogenen)  Kohlenstoff- Verbindungen  (Eiweisskörper, 
Kohlenhydrate,  Chitin,  etc.)  bei  denen  eine  solche  »künstliche«  Dar- 
stellung aus  den  Elementen  ebenfalls  bis  jetzt  nicht  gelungen  ist.  Alle 
diese  Körper  sind  durch  «Schöpfung«,  d.  h.  auf  übernatürlichem  Wege, 
durch  ausserhalb  der  Körper  befindliche,  mystische  Schöpferkräfte 
entstanden. 

Für  den  wahrhaft  philosophisch  gebildeten  Naturforscher  bedarf  es 


Nachträge  zur  Moiioj^rapliie  der  Moiieri'ii.  4 1 

keines  Hinweises  darauf,  dass  diese  Anschauungen  eben  so  unhaltbar 
sind,  wie  jede  Annahme  einer  )iSchöpfung«  überhaupt.  Dagegen  ist  die 
Annahn\e  einer  Urzeugung  für  die  ersten  lebenden  Wesen  ,  aus  denen 
sich  alle  übrigen  entwickelt  haben,  ein  logisches  l'oslulat  der  mensch- 
lichen Vernunft. 

Dass  wir  die  Urzeugung  von  Moneren  bisher  noch  nicht  wirklieb 
])eol)achtct  hal>en,  ist  eigentlich  nicht  im  Geringsten  zu  verwundern. 
Denn  wie  ich  wiederholt  hervorgehoben  habe,  würde  dieser  Process, 
selbst  wenn  er  allliiglich  und  allstündlich  stattfände,  äusserst  schwierig 
zu  beobachten  sein.  Sehr  kleine  formlose  Protoplasma-Klümpchen  findet 
man  massenhaft  sowohl  im  Meere  als  in  den  süssen  Gewässern  vor,  so- 
bald man  nur  aufmerksam  danach  sucht.  Der  Mikroskopiker,  welcher 
dieselben  zufällig  findet,  beachtet  sie  nicht  oder  hält  sie  für  zerstörte 
Fragmente  von  Organismen  ,  die  in  der  Auflösung  begrilTen  sind.  Wo 
ist  aber  der  Beweis  für  diese  Ansicht?  Und  wer  wird  den  klaren  Be- 
weis zu  führen  sich  getrauen ,  dass  diese  überall  zu  findenden  kleinen 
Partikelchen  von  Protoplasma  nicht  durch  Urzeugung  entstanden  sind? 
Nehmen  wir  an  ,  dass  wirklich  die  Urzeugung  derselben  noch  heutzu- 
tage fortdauere,  nehmen  wir  an,  dass  sie  weder  selten  noch  in  be- 
schränktem Maassstabe  stattfindet,  so  w  ird  sie  dennoch  äusserst  schwierig 
direct  zu  beobachten  und  zu  verfolgen  sein.  Die  erste  Entstehung  eines 
Protoplasma-Ivörnchcns  in  einer  Flüssigkeit,  welche  die  zur  Urzeugung 
erforderlichen  Bedingungen  enthält,  wird  eben  so  momentan  erfolgen 
und  eben  so  schwer  durch  direete  Beobachtung  zu  verfolgen  sein ,  wie 
die  erste  Entstehung  eines  Krystalles  in  seiner  Älutterlauge.  Und  nicht 
minder  schwierig  wird  nachher  die  Beobachtung  der  langsamen  Wachs- 
Ihumsvorgänge  sein,  durch  welche  sich  die  äusserst  kleinen,  kaum  wahr- 
nehmbaren Plasma-Partikelchen  zu  den  grösseren  Plasma-Körpern  der 
Prolamoeben  etc.  gestalten ! 

Unter  allen  bis  jetzt  bekannten  Moneren  ist  vielleicht  Balhvbius 
für  die  Hypothese  der  Urzeugung  von  der  grössten  Bedeutung.  Die 
ungeheueren  Massen  von  nacktem  lebenden  Protoplasma ,  welche  nach 
Hl xLEv's  denkwürdiger  Entdeckung  die  tiefsten  Abgründe  des  Meeres 
bedecken ,  und  die  ich  in  den  »Beiträgen  zur  Piastidentheorie«  näher 
beschrieben  habe,  machen  die  Annahme  ,  dass  die  Urzeugung  auch  jetzt 
noch  beständig  fortdauert,  wahrscheinlicher,  als  irgend  eine  andere 
bis  jetzt  bekannt  gewordene  Thatsache.  Denn  wovon  sollen  wir  sonst 
diese  Protoplasma -Decken  des  tiefsten  Meeresgrundes  ableiten?  Wel- 
chen anderen  Ursprungs-Quell  sollen  wir  für  sie  aufsuchen  ? 

Vergessen  wir  nicht,  dass  wir  uns  angesichts  der  heule  noch  leben- 
den Moneren  ,   und  namentlich  angesichts  des  Bathybius,  in  folgende 


42  Ernst  Haeckel, 

Alternative  versetzt  finden  :  Entweder  sind  Moneren  nur  einmal,  im 
Beginn  des  organischen  Lebens  auf  der  Erde,  durch  Urzeugung  ent- 
standen ,  —  und  dann  müsslen  sich  dieselben  in  gerader  Linie  seit 
vielen  Millionen  Jahren  unverändert  bis  auf  den  heutigen  Tag  fortge- 
pflanzt haben.  Oder  es  sind  Moneren  mehrmals  im  Verlaufe  der  orga- 
nischen Erdgeschichte,  durch  wiederholte  Urzeugungs-Acte  entstanden 
—  und  dann  ist  nicht  abzusehen,  warum  dieser  Process  nicht  auch  heute 
noch  fortdauern  soll.  Bei  unbefangener  und  vorurtheilsloser  Erwägung 
aller  der  verwickelten  Verhältnisse,  die  hierbei  in  Frage  kommen,  wird 
man  finden,  dass  die  letztere  Annahme  weniger  theoretische  Schwierig- 
keiten hat,  als  die  ersterc.  Auf  jeden  Fall  aber  bahnen  uns  die  heute 
noch  lebenden  Moneren  den  Weg  für  ein  richtiges  Verständniss  von  dem 
Ursprung  des  Lebens,  und  räumen  die  wichtigsten  Schwierigkeiten  aus 
dem  Wege,  die  bisher  für  die  Hypothese  der  Urzeugung  noch  bestanden. 

5.   Systematisches  Verzeichniss  aller  bisher  beobachteten  Moneren. 

Erste  Gruppe:  «ymnoinoncra. 

Moneren  ohne  Ruhezustand  und  Hülle  nbildu  ng. 

Genus:  Species: 

I.  Protamoeba:       1.  P.  primitiva      1866.  Süsswasser  bei  Jena  H. 

2.  P.  Simplex        1869.  Süsswasser  bei  Jena  H. 

3.  P.  agilis  1869.  Süsswasser  bei  Jena  H. 

4.  P.  Schultzeanal869.  Nordsee  bei  Bergen  H. 

5.  P.  polypodia     1869.  Nordsee  bei  Bergen  H. 

(und  Lagunen  von  Venedig?  Schultze). 
IL  Protogenes:       6.  P.  primordialis  1864.    Mittelmeer  bei  Nizza  H. 

III.  Bathybius:        7.  B.  Ilaeckelii     1868.    Atlantischer  Ocean  in  grossen 

Tiefen  und  weiter  Verbreitung  (Huxlev)  . 

IV.  Myxodictyum  :  8.  M.  sociale         1867.    Meerenge  von  Gibraltar  H. 

Zweite  Gruppe:  Lcpoinonera. 

Moneren  mit  Ruhezustand  und  Hüllenbildung. 

V.  Protomonas :       9.  P.  amyli  1865.    Süsswasser    in  Deutschland 

(ClENKOWSKl). 

10.  P.  Iluxleyi       1869.    Nordsee  bei  Bergen  H. 

VI.  Protomyxa :    11.  P.  aurantiaea    1 867.    Canarisches  Meer   bei  Lan- 

zerote H. 

VII.  Vampyrella  ;  12.  V.  Spirogyrae  1865.    Süsswasser  in  Deutschland 

(ClENKOWSlLl) , 


Nachlräge  zur  Moiiograpliic  der  Moneren.  43 

Genus:  S  p  e  c  i  e  s : 

VII.  Va?npyrcll.i    1 3.  V.  iHMulula  iSG5.    Süssvvasser  in  Deutsch- 

land   (ClKNKOWSKi). 

li.  V.  vorax  1865.    Süsswasscr  in  Dinilsch- 

land  (CiENKOWSKi). 
15.  V.  CJoniphoncnialis  1869.    Nordsee  bei  Bergen  II. 

VIII.  Myxaslrum  16.  M.  radians  1867.   Canarisches  Meer  bei 

Lanzerole  ii. 

S  c  h  I  u  s  s  b  e  m  e  r  k  u  n  g. 

Die  Classc  der  Moneren,  welche  ich  1866  in  der  generellen  Mor- 
phologie zuerst  als  eine  besondere,  und  zwar  als  die  denkbar  niederste 
Classe  von  Organismen ,  unterschieden  habe,  enthält  demnach  schon 
jetzt  (bis  zum  Anfang  des  Jahres  1870)  acht  verschiedene  Gattungen 
mit  sechzehn  Arten.  Von  diesen  Specics  leben  sieben  im  süssen 
Wasser  (:}  Arten  Protamoeba,  1  Art  Protomonas,  3  Arten  Vam- 
pwella).  Die  neun  anderen  Arten  leben  im  Meere ,  und  zwar  zwei 
Arien  im  Miltelmeere  il  Protogenes,  1  Myxodicty  um),  zwei  Arten 
im  canarischen  Meei'e  (1  Protomyxa,  1  Myxastrum),  eine  Art  weit 
verbreitet  in  den  grossen  Tiefen  des  atlantischen  Oceans  (und  wahr- 
scheinlich über  die  ganze  Erde),  Bathybius,  und  endlich  vier  Arten 
in  der  Nordsee  (2  Species  Prola  moeba,  1  Protomonas,  1  Vam- 
p  y  rella).  Von  diesen  sechzehn  Moneren-Arten  sind  elf  von  mir  selbst 
beobachtet  worden  ,  vier  von  Cienkowski,  eine  von  Huxley.  Dazu  sind 
mit  Wahrscheinlichkeit  (aber  nicht  mit  voller  Sicherheit)  noch  zwei 
Protamoeben-Arten  zu  rechnen,  welche  Max  Scblltze  früher  im  adria- 
lischen  Meere  beobachtet  und  als  Amoeben  beschrieben  hat  (A.  g lobu- 
lar is  und  A.  limbosa).  Höchst  wahrscheinlich  ist  auch  die  von  ihm 
bei  Venedig  beobachtete  A.  polypodia  mit  der  von  mir  bei  Bergen 
beobachteten  Protamoeba  identisch.  Wahrscheinlich  leben  noch  viel 
zahlreichere  Moneren-Arten  weit  verbreitet  in  allen  Gewässern, 


Erklärung  der  Tafel  II. 

Fig.  1  —  4.  Vampy  rella  Gomphonematis. 
Fi?.  1  Ein  .Slöckchen  von  Co  mp  hon  enia,  welches  auf  einem  Canipanu- 
laria -Stocke  aufsass.  Das  Gomphonenia-Stöokchen  \sirrl  von  zahl- 
reichen Individuen  der  Va  in  p  y  reil  a  geplündert,  a.  Die  encystirte  Vam- 
pyrclla.  b.  Dieselbe  in  vier  .Sporen  (Tetrasporen)  zerfallen,  c.  IiineC\>te, 
aus  weicher  eben  eine  Vanjpyrella  ausschlüpft  und  auf  einem  Gouipho- 


44  Ernst  Haeckel,  Niiclitriige  zur  Monographie  der  Moneren. 

nema-Asl  weiter  kriecht;  zwei  andere  Sporen  sind  schon  ausgeiirochen ; 
die  vierte  liegt  noch  bewegunpisios  in  der  Cyste,  d.  Tetrasporen,  e.  Aus- 
kriechende Vampyrelia.  f.  Eine  Vampyrelia,  welche  eine  Kieselzelle  {g) 
frisst.  h.  Die  entleerte  Kieselzelle  wird  ausgestossen.  i.  Eine  Kieselzelle 
von  der  schmalen  Seile.    Vergr.  350. 

Flg.  2.  Zwei  Kieselzelien  von  Gomphonema,  überzogen  von  einer  Vam- 
pyrelia, die  in  ihr  Inneres  einzudringen  beginnt.    Vergr.  700. 

Fig.  3.  Eine  isolirte  Va  m  py  re  1  la,  frei  beweglich  mit  ausgestreckten  Pseudo- 
podien.   Vergr.   700. 

Fig.  4.  Eine  encystirte  Va  mpy  rell  a  ,  welche  in  vier  Tetrasporen  zerfallen  ist. 
Vergr.  700. 

Fig.  5  —  8.    P  r  0  t  o  m  o  II  a  s  H  u  x  1  e  y  i. 

Fig.  5.  Eine  cylindrische  Diatomee,  Rhizosolenia,  welche  vier  Cysten  (c) 
von  Protomonas  trägt.  Eine  Cyste  (a)  enthalt  eine  ungetheilte  Proto- 
plasma-Kugel. Die  drei  anderen  Cysten  enthalten  kugelige  nackte  Cytoden 
(Sporen,  6).  Die  eine  Cyste  ist  durch  Druck  gesprengt,  und  es  treten  die 
Schwärmsporen  aus,  welche  mit  einer  sehr  langen  und  zarten  Geissei 
versehen  sind.    Vergr.  700. 

Fig.  6  A—D.  Vier  Schwärmsporen,  welche  in  amoeboide  Cytoden  übergegangen 
sind  und  feine  spitze  Pseudopodien  vorstrecken.    Verg.  700. 

Fig.  7.  Zwei  amoeboide  Cytoden  ,  welche  durch  ein  feines  Pseudopodium  zu- 
sammenhängen.   Vergr.  700. 

Fig.  8.  Eine  amoeboide  Cytode,  welche  zahlreiche  feine  Fortsätze  getrieben  und 
sich  fast  actinophrysartig  ausgebreitet  hat.    Vergr.  700. 

Fig.  9.    Pro  ta  moeba  agilis. 
A  —  F.  Verschiedene  Contractionszustände.     G,  H.  Zwei  Individuen    in 
Theilung  begriffen.    Vergr.  420. 

Fig.  10.    Protamoeba  Schultzeana. 

A.  Ein  sehr  grosses  Individuum. 

B.  Dasselbe  in  Quertheilung  begriffen. 

C  und  D.  Die  beiden ,  aus  der  Theilung  hervorgegangenen  jungen  In- 
dividuen.   Vergr.  420. 

Fig.  H.    Protamoeba  polypodia. 
(Amoeba  polypodia,  Max  Schultze).    Vergr.  700. 

Fig.  12.    Protamoeba  simple x. 

A.  Ein  fast  kugeliges  Individuum. 

B.  Ein  lappig  ausgebreitetes  Individuum.   Vergr.  250. 


Teber  die  flüchtigen  Säiireu  des  Crotoiiöls. 

Von 

A.  Geuther  und  O.  Froelich. 


Um  die  aus  A  e t h  y  1  d  i  a c  e  l s  ä  u  r  e  künstlich  darstellbaren  Säuren 
von  der  Zusammensetzung  CH^O^,  insbesondere  die  Quarte nyl- 
säure,  mit  der  nach  Schlippe  i)  imCrotonöl  natürlich  vorkommen- 
den und  von  ihm  unter  dem  Namen  Crotonsäure  beschriebenen 
Verbindung  einer  genauen  Vergleichung  zu  unterwerfen ,  wurde  die 
letztere  in  grösserer  Menge  darzustellen  versucht. 

Vier  Pfund  bestes  Crotonöl  2)  wurden  zu  diesem  Zwecke  mit 
starker  Natronlauge  verseift  und  nach  Entfernung  der  braunen  Seife  die 
schwarze  Unterlauge,  mit  Schwefelsäure  übersättigt,  in  einer  kupfernen 
Blase  der  Destillation  unterworfen.  Das  wässerige  Destillat,  in  welchem 
Oeltheilchen  schwammen,  wurde  mit  Soda  neutralisirt,  bis  auf  ein  ge- 
ringes Volumen  eingedampft  und  dann  mit  Schwefelsäure  übersättigt. 
Die  sich  dabei  ausscheidenden  öligen  Säuren  wurden  von  der  Flüssig- 
keit getrennt  und  letztere  noch  durch  mehrmaliges  Schütteln  mit  alkohol- 
freiem Aether  ausgezogen.  Der  Aether  wurde  zu  der  ölig  abgeschiedenen 
Säure-Menge  gefügt,  die  ätherische  Lösung  mit  Chlorcalcium  entwässert 
und  dann  im  Wasserbade  vom  Aether  befreit.  Es  blieben  44  Grm. 
eines  braun  gefärbten  Oels  zurück ,  welches  zur  vorläufigen  Reinigung 
einmal  destillirt  wurde.  Das  Thermometer  stieg  dabei  rasch  auf  115" 
und  von  da  allmählich  höher  bis  auf  270*^,  während  in  der  Retorte  nur 
noch  wenig  einer  schwarzen  schmierigen  Masse  zurückblieb. 

Die  ganz  allmählich  und  ziemlich  gleichmässig  steigende  Siede- 
temperatur deutete  auf  ein  Gemisch  von  mehreren  Säuren.    Nach  häufig 


<)  Ann.  der  Chem.  u.  Pharm.  CV.  19. 

2)  Von  Hrn.  H.  Trommsdorff  in  Erfurt  bezogen. 


46  A.  Geiither  iiiid  0.  Froelich, 

wiederholter  fractionirter  Destillation  wurde  die  Flüssigkeit  in  folgende 
vier  Portionen  getheilt : 

I.  II.  111.  IV. 

Siedep.  115—1600;  160  —  190»;  190—2050;  205—2700. 
Wir  glaubten,  auf  Schlippe's  Untersuchungen  hin,  in  der  zweiten 
Portion  noch  nicht  vollständig  reine  Crotonsäure  und  in  der  dritten, 
welche  beim  Erkalten  krystallinisch  erstarrte,  Angelicasäure  vor  uns  zu 
haben.  Dem  war  indess  nicht  so,  wie  die  weitere  Untersuchung  zeigte. 
Um  zunächst  die  Crotonsäure  nach  Schlippe  zu  erhalten,  wurde  die 
zweite  Portion  wiederholt  fraclionirt  und  der  zwischen  164  und  170» 
übergehende  Theil  derselben,  in  der  Erwartung,  dass  er  Quarten ylsäure, 
deren  corr.  Siedepunkt  bei  1710^9  liegt,  enthalten  könnte,  zunächst  ein- 
mal analysirt,  obwohl  er  noch  sichtlich  sich  in  ein  nieder-  und  in  ein 
höhersiedendes  Product  zerlegen  liess. 

0,1734  Grm.  dieser  Fraction  gaben  0,3664  Grm.  Kohlensäure, 
entspr.  0,099927  Grm.  =  57,6  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1503  Grm. 
Wasser,  entspr.  0,016700  Grm.  =  9,7  Proc.  Wasserstoff. 

Diese  Zahlen ,  welche  nahezu  mit  der  Zusammensetzung  der 
Baldriansäure  übereinstimmen,  resp.  einer  durch  Buttersäure  ver- 
unreinigten Säure,  beweisen  auf  das  Entschiedenste,  dass  eine  Säure 
der  Oelsäure-Reihe  hier  nicht  vorliegt,  wie  die  folgende  Zu- 
sammenstellung zeigt : 

her.  g  e  f.  b  e  r. 

e   =58,8         57,6         55,8  =  C* 
H*»=    9,8  9,7  7,0  =  H'' 

0^   =31,4  —  37,2  =  02 

100,0  100,0. 

Nach  fortgesetzter  Rectification  der  zweiten  Portion  wurde  die 
Fraction  von  172 — 175»,  bei  welcher  Temperatur  der  Haupttheil  destil- 
lirte,  besonders  gesammelt  und  analysirt. 

0,1299  Grm.  gaben  0,2796  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,076254 
Grm.  =  58,7  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1173  Grm.  Wasser,  entspr. 
0,013033  Grm.  =  10,0  Proc.  Wasserstoff. 

ber.  gef. 

C^  z=  58,8  58,7 
H»"=  9,8  10,0 
0^   =  31,4  — 

100,0. 
Nach  diesen  Zahlen  war  das  analysirte  Product  also  fast  ganz  reine 
Baldriansäure,  mit  welcher  es  auch  in  seinen  übrigen  Eigenschaften 
übereinstimmte. 


Ueber  die  fliiclitii);eii  Säiirpii  des  Crotoiiöls.  47 

Es  lag  !mn  nahe  zu  vermullion ,  dass  in  der  ersten  Portion 
(llo — IGO")  noch  niedere  Glieder  der  Fettsäure -Reihe ,  nanientlicli 
Buttersiiure,  enthalten  sein  möchten.  Die  folij;ende  Untersuciiuni;  ergab 
dies  in  der  That,  ausser  Buttersäure  konnte  nocli  Essigsäure, 
nicht  aber  Pi'opionsäure  nachgewiesen  Nverden. 

Da  durch  fraclionirle  Destillation  eine  Reindarslellung  dei-  Essig- 
säure und  liuttersäure  bei  der  verhältnissmässig  geringen  Menge  von 
Material  nicht  ernioglicht  werden  konnte ,  so  wurde  zu  ihrer  Trennung 
die  Liebig'scIic  Methode  der  theihveisen  Neutralisation  t)  angewendet. 
Zu  dem  Ende  wurde  ein  Drittel  des  wohl  gemischten  Destillats  von 
I1Ö  — 130"  genau  mit  Natriumcarbonat  neulralisirt,  die  übrigen  zwei 
Drittel  dazu  gefügt,  die  Lösung  wiederholt  durchgeschüttelt  und  mög- 
lichst weilabdestillirt.  Der  Rückstand  wurde  dann  mit  Natriumcarbonat 
genau  neutralisirt,  zur  Trockne  gebracht  und  mit  absol.  Alkohol  in  der 
Kälte  ausgezogen.  Da  die  so  erhaltene  Salzmenge  nach  der  damit  aus- 
geführten Natriumbestinmmng  (I)  offenbar  noch  butlersaures  Natrium 
enthielt ,  wurde  dieselbe  mit  wenig  absol.  Alkohol  übergössen  und  der 
sich  nicht  lösende  Theil  nochmals  analysirt  (II). 

I.  0,1607  Grm.  des  bei  135"  getrockneten  Salzes  gaben  0,0965 
Grm,  Natriumcarbonat,  entspr.  0,041877  Grm.  ^  26,1  Proc,  Natrium. 

II.  0,1202  Grm.  getrocknetes  und  vorsichtig  geschmolzenes  Salz  — 
durch  das  Schmelzen  hatte  nur  0,0007  Grm.  Verlust  Statt  —  gaben 
0,0753  Grm.  Natriumcarbonat,  entspr.  0,032678  Grm.  =  27,2  Proc. 
Natrium. 

b  e  r.  g  e  f. 


G2H3O2  =  72,0  —  — 

Na  =  28,0        26,1         27,2 
100,0. 
Man  sielit  aus  diesen  Zahlen,  dass  das  analysirte  Salz  II.  auch  noch 
nicht  ganz  reines  Acetat  war,  sondern  noch  eine  Kleinigkeit  eines  Salzes 
mit  geringerem  Natriumgehalt,  nämlich  buttersaures  Salz,  beigemengt 
enthielt. 

Zu  einer  weiteren  Reinigung  fehlte  es  indessen  an  Material.  Mit 
dem  Reste  desselben  wurde  die  Ferrisalzreaction  sowohl  als  die  Reaction 
mit  Alkohol  und  Schwefelsäure  vorgenommen. 

Die  Menge  der  im  Oel  ursprünglich  enthaltenen  Essigsäure  mag  im 
Verhältniss  zu  den  anderen  Säuren  keine  kleine  gewesen  sein.  Ein 
Theil  derselben  war  aber  nach  dem  Uebersättigen  der  zuerst  gewonnenen 


1)  Ann.  der  Chi'in.  u.  Pharm.  LXXI.  356. 


48  A.  Genther  und  0.  Froelich, 

Natriumsalzlösung  mit  Schwefelsäure  und  Ausziehen  mit  Aether  offen- 
bar in  der  wässerigen  Lösung  geblieben  und  diese  war  zu  einer  Zeit, 
da  uns  die  Unrichtigkeit  der  ScHLipPE'schen  Angaben  noch  nicht  bekannt 
war,  als  für  die  Darstellung  der  Grotonsäure  nicht  weiter  brauchbar 
weggegossen  worden. 

Die  Gegenwart  von  Buttersäure  wurde  zunächst  durch  die  beiden 
Elementaranalysen  wahrscheinlich  gemacht : 

I.  0,1985  Grm.  der  zwischen  162  und  IGS"^*  siedenden  Fraction 
des  Säure-Gemisches  gaben  0,4 107  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,112009 
Grm.  =:  56,4  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1738  Grm.  Wasser,  entspr. 
0,019311  Grm.  =  9,7  Proc.  Wasserstoff. 

II.  0,1957  Grm.  des  zwischen  156  und  160°  destillirenden  Theils 
gaben  0,3996  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,108982  Grm.  =  55,7  Proc. 
Kohlenstoff  und  0,1 686  Grm.  Wasser,  entspr.  0,018733  Grm.  =9, 6  Proc. 

Wasserstoff. 

ber.  gef.  ber. 

IL  L 

C*  =  54,5         55,7         56,4         58,8  =  G^ 

H8=    9,1  9,6  9,7  9,8  =  H*'* 

0^  =  36,4  —  —  31,4  =  0^ 

100,0  100,0. 

Diese  Zahlen  zeigen ,  dass  das  niedriger  siedende  Product  haupt- 
sächlich aus  Buttersäure  und  nur  wenig  Valeriansäure  bestand,  das 
höher  siedende  dagegen  nahezu  gleichviel  Buttersäure  und  Valerian- 
säure enthielt.  Durch  fractionirte  Destillation  wie  auch  nach  der  von 
Liebig  angegebenen  Methode  i)  konnte  valeriansäurefreie  Buttersäure 
nicht  erhalten  werden.  Die  Trennung  gelang  dagegen  durch  die  Aetheri- 
fication  der  von  150—170"  siedenden  Säure.  Der  nach  wiederholter 
Destillation  constant  bei  119 — 121*^  siedende  Theil  des  mit  Hülfe  von 
Chlorwasserstoff  und  Alkohol  dargestellten  Aethergemisches  erwies  sich 
bei  der  Analyse  als  fast  ganz  reiner  Buttersäure-Aether,  wie  die  folgen- 
den Zahlen  zeigen : 

0,1888  Grm.  gaben  0,4313  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,117627 
Grm,  =  62,3  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1805  Grm.  Wasser,  entspr. 
0,020056  Grm.  =  10,6  Proc.  Wasserstoff. 

ber.  gef. 

C«   =  62,1  62,3 

H'2=10,3         10,6 
02  =  27,6  — 

100,0. 


1)  Ann.  der  Chem.  u.  Pharm.  LXXT.  355. 


Ueber  die  flüchtigen  Sniirei)  des  Crofoiiöls.  49 

Die  in  der  dritten  Portion  (190 — 205^')  enthaltene  krystallisirte 
Säure,  welche  nahezu  die  ganze  Menge  derselben  ausmacht,  besitzt 
allerdings  die  Zusammensetzung  der  Angelicasäurc,  wie  Sculippe  aus 
einer  Silberbestimmung  des  Silbersalzes  ableitete,  ist  aber  nicht  mit 
derselben  identisch.  Durch  mehrmaliges  Umkrystallisiren  aus  Wassci' 
wird  sie  von  anhängender  ölförmiger  Säure  befreit.  Sie  bildet  wasser- 
helle rhombische  Tafeln  und  Säulen,  welche  bei  61"  anfangen  an  den 
Kanten  durchsichtig  und  flüssig  zu  werden,  vollständig  jedoch  erst  bei 
64"  zu  einem  klaren  Oel  schmelzen,  das  allmählich  zwischen  60  und  08" 
wieder  erstarrt.  Sie  siedet  bei  201",'!  [corr.]  und  destillirt  ohne  Zer- 
setzung. Der  Geruch  der  reinen  Säure  ist  angenehm  gewürzhaft,  ihr 
Geschmack  sehr  sauer. 

Die  gewonnene  Menge  reiner  Säure  betrug  12  Grm. 

0,2177  Grm.  der  im  Platinschiffchen  geschmolzenen  und  über 
Schwefelsäure  getrockneten  Säure  gaben  0,4794  Grm.  Kohlensäure, 
entspr.  0,130746  Grm.  =  60,1  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1613  Grm. 
Wasser,  entspr.  0,017922  Grm.  =  8,2  Proc.  Wasserstoff. 

b  e  r.  g  e  f. 

C5  =  60,0  60,1 

H«=    8,0  8,2 

0^  =  32,0  — 

100,0. 

Dieser  Säure  kommt  also  die  Formel  der  Angelicasäure  zu,  von  der 
sie  sich  durch  einen  höheren  Schmelz-  und  Siedepunkt  —  die  Angelica- 
säure schmilzt  bei  450  und  siedet  bei  190"  —  unterscheidet.  Wir  be- 
zeichnen dieselbe  vorläufig  mit  dem  Namen  Tiglinsäure.  Es  ist 
möglich,  dass  sie  mit  der  von  Frankland  und  Duppa  dargestellten  sogen. 
»Methylcrotonsäure«  *)  identisch  ist.  Diese  letztere  schmilzt  bei  62"  (ihr 
Siedepunkt  ist  nicht  bekannt) ,  ihr  Aether  hat  den  gleichen  Siedepunkt 
und  ihr  Silbersalz  dieselben  Eigenschaften, 

Der  Tiglinsäure-Aethyläther,  G^H^O'^.C^H^  besitzt  den 
corr.  Siedepunkt  156°,  denselben,  welchen  Frankland  und  Duppa  vom 
Methylcrotonsäure -Aether  angeben,  und  bei  21"  das  spec.  Gewicht 
0,926.  Er  ist  wie  dieser  eine  farblose,  durchsichtige,  im  Wasserunlös- 
liche Flüssigkeit.  Sein  Geruch  ist  eigenthümlich  aromatisch,  aber  durch- 
aus nicht  unangenehm,  wie  Fr.  und  D.  vom  sogen.  Methylcrotonsäure- 
Aether  angeben ,  welcher  »einen  unerträglichen  und  sehr  hartnäckigen 
Geruch  nach  abgewelkten  Pilzen«  besitzen  soll, 

0,1885  Grm.  des  bei  153 — 155"  [uncorr.]  siedenden  Haupttheils 


1)  Ann.  der  Chem.  u.  Pharm.  CXXXVI.  10. 
Bd.  VI.  1. 


50  A.  Geutlier  und  0.  Froelicli^ 

gaben  0,4510  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,123000  Grm.  =  65,3  Proc. 
Kohlenstoff  und  0,1  626  Grm.  Wasser,  entspr.  0,018067  Grm.  =9,6  Proc. 
Wasserstoff. 

b  e  r.  g  e  f. 

C^   =  65,6         65,3 
H»2=    9,4  9,6 

02  =  25,0  — 

100,0. 

Tiglinsaures  Baryum,  C^H'O^.  Ba  +  5011^.  Scheidet  sich  aus 
der  wässerigen  Lösung,  die  durch  Neutralisiren  der  Säure  mit  Baryum- 
carbonat  erhalten  wurde,  beim  Verdunsten  über  Schwefelsäure  in  einer 
aus  kleinen  Nadeln  bestehenden  dichten  Krystallmasse  allmählich  aus. 
Es  ist  sehr  leicht  in  Wasser  löslich ,  aber  durchaus  nicht  schwierig 
krystallisirbar,  wie  Fr.  und  D.  von  dem  Baryumsalz  der  Methylcroton- 
säure  angeben.  Ueber  Schwefelsäure  verlieren  dieKrystalle  ihrKrystall- 
wasser  vollständig.  Ob  und  wieviel  das  methylcrotonsaure  Baryum 
Krystallwasser  enthält,  ist  nicht  bekannt:  das  von  Fr.  und  D.  im  leeren 
Räume  getrocknete  Salz  war  wasserfrei. 

0,2427  Grm.  lufttrocknes  Salz  verloren  über  Schwefelsäure  und 
schliesslich  beim  Erwärmen  im  Luftbad  auf  100'^  0,0856  Grm.  =  35,3 
Proc.  Wasser. 

0, 1 81  4  Grm.  bei  1  00'»  getrocknetes  Salz  gaben  0, 1 060  Grm.  Baryum- 
sulfat,  entspr.  0,073716  Grm.  =  40,7  Proc.  Baryum.  Auf  das  wasser- 
haltige Salz  bezogen ,  berechnet  sich  der  gefundene  Baryumgehalt  zu 
26,5  Proc. 

b  e  r.  g  e  f. 

CH'O^  =  38,4  — 

Ba  =  26,6         26,5 
5OH2==35,0         35,3 
100,0. 

Tiglinsaures  Silber,  (C^  H^  O^j ^  Ag.  Scheidet  sich  beim  Ver- 
mischen einer  Lösung  des  Baryumsalzes  mit  Silbernitrat  als  ein  weisses 
krystallinisches  Pulver  aus ,  welches  durch  das  Sonnenlicht  nur  wenig 
verändert  wird  und  in  Wasser  fast  unlöslich  ist. 

Die  vi  erte  Portion  (205 — 270^')  endlich  des  ursprünglichen  Säure- 
gemisches war  sehr  gering  und  konnte  eben  deswegen  nicht  genau 
untersucht  werden  :  nach  den  beiden  folgenden  Analysen  ist  es  wahr- 
scheinlich, dass  sie  Capron-  oder  Oenanthylsäure  oder  Pyroterebinsäure 
und  ausserdem  höhere  Glieder  der  Oelsäure -Reihe  oder  der  nächst 
niederen  isologen  Reihe  enthalten  hat. 


Ueber  die  llilchtige«  Süureii  des  Crotonöls.  51 

I.  0,221 3  Grm.  des  zwischen  208  und  2180  siedenden  Theils  gaben 
0,5070Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0, 138273  Gnn.  =  62,5 Proc.  Kohlen- 
stoff und  0,l8;)8Gnn.  Wasser,  entspr.  0,020644  Grm.  =9,3  Proc. 
Wasserstoff. 

II.  0,1938  Grm.  des  zwischen  245  und  255*^  siedenden  Theils 
gaben  0,4838  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,131945  Grm.  =68,1  Proc. 
Kohlenstoff  und  0. 1 664  Grm.  Wasser,  entspr.  0,01  8i89  Grm.  =9,5  Proc. 
Wasserstoff. 

I. 

ber.  ber.  ber.  eef. 

C«   =62,1         C'    =64,6         C«   =63,2         62,5 

H'-=10,3         H'^=10,8         H'«=    8,8  9,3 

0^=27,6         02=24,6         O''^=28,0  — 


100,0 

100,0 
IL 

100,0. 

be  r. 
C»   =67,6 

C'' 

ber. 
=  69.2 

C« 

ber. 
=  68,6 

gef. 
68.1 

H'*=    9,9 

H16 

=  10,3 

J112 

=    8,6 

9,5 

O'*  =  22,5 

02 

=  20,5 

02 

=  22,8 

— 

100,0  100,0  100,0. 

Wie  aus  dem  Mitgetheilten  also  hervorgeht,  enthalten  die  flüchtigen 
Säuren  des  Crotonöls  weder  eine  Säure  von  der  Formel  C^H^O^,  noch 
ist  die  feste  krystallisirte  Säure  Angelicasäure.  Die  Angaben  von 
Schlippe  über  diese  flüchtigen  Säuren  sind  also  völlig  irrige.  Schlippe 
gründete  seine  Annahme  einer  Säure  von  der  Zusammensetzung  C*H®02, 
der  »Crotonsäure«,  auf  die  Analyse  eines  Silbersalzes,  in  welchem  er  im 
Mittel  24,5  Proc.  Kohlenstoff,  2,7  Proc.  Wasserstoff  und  56,0  Proc. 
Silber  fand ,  und  auf  die  Zersetzung  eines  amorphen  Barytsalzes  durch 
schmelzendes  Kalihydrat,  wobei  Essigsäure  erhalten  wurde ;  eine  Haupt- 
stütze für  die  Richtigkeit  der  angegebenen  Formel  seiner  Crotonsäure 
fand  er  ferner  darin,  »dass  neben  ihr  noch  Angelicasäure  gefunden  wurde«. 

Was  zunächst  das  analysirte  Silbersalz  anbelangt,  so  ist  dasselbe 
nichts  als  ein  Gemisch  von  essigsaurem ,  buttersaurem  und  valerian- 
saurem  Silber  gew  esen ,  wie  aus  dem  Vorhermitgetheilten  und  aus  der 
Vergleichung  der  durch  die  Analyse  gefundenen  Zahlen  mit  denen  her- 
vorgeht, welche  für  jene  Salze  gefordert  werden.    Es  verlangen  nämlich 


Kohlenstoff: 

essigsaures 

Silber : 

14.4 

buttersaures 
Silber: 
24,6 

va 

eriansaures 
Silber: 
28,7 

Schlippe  fand 

(im  Mittel) 
24,5 

Wasserstoff: 

1,8 

3,6 

4,3 

2,T 

Silber : 

64,7 

55,4 

51,7 

56,0 

52  A.  Geuther  und  0.  Froelieh,  üeber  die  flüchtigen  Säuren  des  Crotonöls. 

Was  ferner  die  Thatsache  anlangt ,  dass  nach  dem  Schmelzen  des 
betr.  Barytsalzes  mit  Kalihydrat  Essigsäure  gefunden  wurde,  so  erklärt 
sich  dieselbe  leicht  daraus,  dass  in  dem  angewandten  amorphen  Baryt- 
salz 1)  schon  Essigsäure  enthalten  war,  und  was  schliesshch  die  Haupt- 
stütze für  die  Existenz  der  »Grotonsäure«  betrifft ,  als  welche  die  An- 
wesenheit der  Angelicasäure  dienen  soll ,  so  ist  dieselbe  durch  unseren 
Nachweis ,  dass  die  Tiglinsäure  mit  der  Angelicasäure  nur  metamer, 
nicht  identisch  ist,  gleichfalls  hinfällig  geworden. 

Der  Irrthum  Schlippe's  erklärt  sich  zum  Theil  wohl  aus  der  geringen 
Menge  Material,  mit  dem  er  seine  Versuche  ausgeführt  hat ;  unerklärlich 
bleibt  indessen  immer,  wie  er  die  Existenz  der  «Grotonsäure«  behaupten 
konnte,  nachdem  er  mit  der  nämlichen  sauren  Lösung  Salze  erhalten 
hatte,  welche  auf  1  Mgt.  Metall  ein  Mal  5,7  Mgte.  Kohlenstoff 2) ,  ein 
anderes  Mal  10,7  Mgte.  und  ein  drittes  Mal  9,6  Mgte.  desselben  ergaben. 

Nach  dieser  Erkenntniss  ist  es  selbstverständlich ,  dass  der  Name 
«Grotonsäure«  für  eine  Säure  von  der  Zusammensetzung  G*H^O'^  als 
unpassend  aufgegeben  werden  muss ,  wie  der  Eine  von  uns  bereits  an 
einem  andern  Orte  3)  ausgeführt  hat. 

Jena,  Anfang  März  1870. 


1)  Ein  Gemisch  von  Essigsäure,  Buttersäure  und  Baldriansäure,  mit  Baryum- 
carbonat  neutralisirt,  kann,  wie  wir  uns  überzeugt  haben,  über  Schwefelsäure  zu 
einer  ganz  amorphen  Masse  eintrocknen. 

2)  C  =  8. 

3)  Zeitschrift  für  Chemie.   N.  F.  Bd.  VI.  p.  28. 


Bruchstücke  zur  Naturgeschichte  der  Bopyrideu. 

Von 

Fritz  Müller. 


Mit  Tafel  III  u.  IV 


Die  im  Nachsiehenden  mitgetheilten  Beobachtungen  über  Bopyriden 
wurden  meist  in  den  Jahren  1861  und  1862  am  Strande  von  Desterro 
gesammelt.  Sie  sind  so  überaus  lückenhaft,  dass  ich  lange  Bedenken 
getragen  habe,  sie  zu  veröffentlichen.  Ich  thue  es  jetzt,  wo  ich  selbst 
keine  Aussicht  mehr  habe,  sie  zu  vervollständigen,  in  der  Hoffnung,  dass 
dadurch  Besucher  der  Seeküste  zu  eingehender  Beschäftigung  mit  diesen 
merkwürdigen  Schmarotzerasseln  veranlasst  werden  mögen,  deren  Bau, 
Entwickelung  und  Lebensweise  noch  eine  reiche  Ernte  überraschender 
Thatsachen  zu  liefern  verspricht. 

1>  Binnenasseln.     (Entoniscus.) 

Binnenasseln  wurden  bis  jetzt  in  folgenden  Decapoden  gefunden ; 

1)  in  einer  bei  Desterro  unter  Steinen  ungemein  häufigen  schwärz- 
lich grünen  Porcellana,  von  welcher  etwa  5%  damit  behaftet  sind  i); 

2)  in  einer  ebenda  an  Felswänden  zwischen  Sertularien  und  Moos- 
thieren  selten  vorkommenden  kleineren  Porcellana  2).  Es  wurde  ein 
einziges  Mal  ein  Weibchen  von  Entoniscus  getroffen ,  das  beim  Heraus- 
nehmen zerriss  und  von  dem  ich  nicht  sagen  kann,  ob  es  derselben  Art 
angehört,  wie  die  Binnenassel  der  eemeinen  Porcellana: 


1)  s.  Archiv  für  Naturgesch.  1862.  I.  S.  10.  Taf.  II. 

2)  Alph.   Milne  Edwards  konnte  mir  weder  diese,    noch  die  erstere  Art  be- 
stimmen. 


54  Fritz  Müller, 

3)  in  Porcellana  (Polyonyx)  Creplinii  F.  M.  i)  Fast  in 
jeder  Röhre  von  Chätoplerus  findet  man  bei  Desterro,  wo  der  genannte 
Wurm  übrigens  ziemlich  selten  ist ,  diese  Porcellana  und  zwar  in  der 
Regel  ein  Pärchen  2)  ;  nur  dreimal  traf  ich  einzelne  Thiere,  einmal  ein 
Weibchen ,  zweimal  ein  Männchen.  Jedes  dieser  drei  einzeln  vorkom- 
menden Thiere  beherbergte  einen  Entoniscus ,  während  in  keinem  der 
paarweise  lebenden  ein  solcher  Schmarotzer  gefunden  wurde.  Man  darf 
also  wohl  annehmen,  dass  eben  w  egen  des  Entoniscus ,  der  wie  die 
Rhizocephalen  stets  Unfruchtbarkeit  seines  Wirthes  zur  Folge  hat,  jene 
drei  Thiere  keinen  Genossen  gefunden  hatten  oder  von  demselben  ver- 
lassen worden  waren  3). 

Die  Entoniscusweihchen ,  die  in  Porcellana  Creplinii  gefunden 
wurden,  hatten  nicht  wie  die  der  gemeinen  Porcellana  röthlich-violette, 
sondern  blass  dottergelbe  Eierstöcke ;  ihre  Brutblätter  erschienen  mir 
weniger  stark  zerschlitzt  und  gekräuselt.  Männchen  und  Junge  glichen 
den  in  der  gemeinen  Porcellana  vorkommenden. 

4)  in  einem  Achaeus,  der  an  Felsen  zwischen  Moosthieren, 
Ascidien  u.  s.  w.  lebt.  Der  Entoniscus  wurde  nur  einmal  gefunden. 
Ich  habe  mir  von  ihm  nur  angemerkt,  dass  das  Männchen  sechs  wohl- 
gebildete Fusspaare  und  ein  zweispitziges  Schwanzende  hat;  durch 
beides  unterscheidet  es  sich  von  dem  des  Entoniscus  Porcellanae, 
durch  die  Form  des  Schwanzendes  auch  von  dem  des  Entoniscus 
Cancrorum^); 

5)  in  mehreren  Xantho- Arten  der  Küste  von  Desterro.  Die  Bin- 
nenassel dieser  Krabben,  Entoniscus  Ca n er orum  5),  ist  in  beiden 
Geschlechtern  und  nicht  minder  in  ihrer  frühesten  Jugendform  erheblich 
verschieden  von  Entoniscus  Porcellana.  Während  bei  dem  Weib- 
chen des  letzteren  die  ganze  Länge  des  Mittelleibes  mit  gewaltigen,  zer- 
schlitzten, vielgefaltelen  Brulblättern  besetzt  ist,  zwischen  deren  Falten 


1 )  Nach  brieflicher  Mittheilung  von  Alph.  Milne  Edwabds  ist  diese  Art  der 
Porcellana  biunguiculata  Dana  (Polyonyx  Stimps.)  nahe  verwandt. 
Meine  Porceliina  stellicola  (Arch.  für  Naturg.  1862.  Tat".  VII,  Fig.  1)  scheint 
nach  demselben  die  Porcellana  angusta  Dana  (Min  yocerus  Stimps.)  zusein. 

2)  Einmal  traf  ich  statt  der  Porcellana  Creplinii  ein  Pärchen  der  P  i  n  - 
nixa  chaetopterana  Stimps.  — 

3)  Die  wenig  über  federkieldicken  Ausgänge  der  Chätopterus-Röhre,  die  einige 
Zoll  hoch  senkrecht  aus  dem  Schlamme  emporstehen,  in  welchem  die  Röhre  wage- 
recht eingebettet  liegt,  sind  viel  zu  eng,  um  die  Porcellana  durchzulassen;  doch 
kann  diese,  wie  ich  gesehen,  die  Röhre  verlassen,  indem  sie  sie  der  Länge  nach 
aufschlitzt. 

4)  s.  F.  MuELLER,  Für  Darwin,  Fig.  -16.     ' 

5)  s.  Taf.  III,  Fig.  1—3  und  Für  Darwin,  Fig.  41. 


Bruclistricke  zur  Naturgeschichte  der  Bopyriden.  55 

die  Eier  sich  anhäufen,  ist  bei  Enlon  iscus  Cancrorum  eine  ge- 
schlossene Bruthöhle  vorhanden,  gebildet  von  einem  einzigen  Paare 
von  Brutbliittern,  das  dicht  liinter  dem  Kopfe  entspringt.  Die  Bruthöhle 
stellt  einen  Sack  von  sehr  wechselnder  Gestalt  und  Grösse  dar,  der 
schief  nach  vorn  gerichtet  ist  und  mit  seiner  oberen  Fläche  sich  der 
Unterseite  des  Kopfes  anlegt,  welchen  er  mehr  oder  weniger  weit  über- 
ragt. Füsse  fehlen  vollständig,  man  müsste  denn  seitliche  Wülste,  die 
mehr  oder  minder  deutlich  in  der  Nähe  des  Hinterleibsendes  vorzu- 
springen pflegen,  als  Fussstummel  ansprechen  wollen.    Der  bei  Enlo- 

,  niscusPorcellanaeso  ungemein  lange,  mit  langen  Säbelbeinen  aus- 
gerüstete Hinterleib  ist  beiEnt.  Cancrorum  so  plump  und  fast  so 
regungslos,  wie  der  Mitlelleib.  Seilen  sind  die  Weibchen  ziemlich  ge- 
rade ausgestreckt;  meist  findet  man  den  Hinterleib  in  rechtem'),  oder 
spitzem  2)  Winkel  aufwärts  gebogen.  Das  Herz  liegt  oft,  wie  bei  Ent. 
Porcellanae,  in  einerbruchsackähnlichen  Ausstülpung  des  Hinterleibes, 
während  in  anderen  Fällen  dessen  Haut  glatt  darüber  hinweggeht.  Die 
Hautfalten  mit  wellig  gebogenem  Rande,  die  bei  Ent.  Porcellanae 
sich  an  der  Bauchfläche  der  ersten  Hinterleibsringe  hinziehen ,  sind  bei 
Ent.  Cancrorum  ebenfalls  vorhanden  und  sogar  in  der  Regel  weit 
stärker  entwickelt. 

Das  Männchen  von  Ent.  Cancrorum  hat  weder  die  Klump- 
füsse,  noch  die  eigenthümliche  Fühlerbildung  des  Männchens  von  Ent. 
Porcellanae,  schliesst  sich  vielmehr  in  beiden  Beziehungen  an  die 
Männchen  von  Bopyrus  an  3) . 

Die  Jungen  von  Ent.  Cancrorum  (Taf.  III,  Fig.  2  u.  3)  stimmen 
überein  mit  denen  von  Ent.  Porcellanae  und  unterscheiden  sich,  wie 
diese ,  von  denen  der  Bopyrusarten  dadurch ,  dass  das  letzte  Beinpaar 
des  Mittelleibes  abweichend  von  den  vorangehenden  gebildet  ist.  Die 
Unterschiede  der  Jungen  der  beiden  Entoniscus-Arten  bestehen  haupt- 

'  sächlich  in  Folgendem  : 

Entonisc US  Porcellanae      |       Entoniscus  Cancrorum 
Länge  (am  ersten  Tage)  •    0,2  Mm.     Länge   i^am  ersten  Tage)  :   0,3  Mm. 


Stirnrand  fast  gerade. 

Heller    unpaarer   Fleck   dicht    am 

Stirn  rande. 
Greifrand  an  der  Hand  der  ö  ersten 

Beinpaare  glatt. 


Stirnrand  gewölbt. 

Dieser  Fleck  wurde  vermisst. 

Dieser  Greifrand  mit  wenigen  klei- 
nen Zähnchen  bewehrt. 


1)  s.  Für  Darwin,  Fig.  41. 

2)  s.  Taf.  III,  Fig.  1. 

3)  Der  Hinterleib  des  Männchens  ist  abgebildet  in  »Für  Darwin»  Fig.  16. 


56 


Fritz  Müller, 


Entoniscus  Porcellanae 
Sechstes  Beinpaar  kurz  ,   3  gliedrig 

mit     elliptischem     klauenlosen 

Endgliede. 
Der    letzte   Ring   des   Mittelleibes 

fehlt  (?) 
Das   fünfte   Fusspaar  des  Hinter- 
leibes  noch   wenig   entwickelt, 

borstenlos. 
Grundglied    der    Hinterleibsfüsse 

mit  einer  Borste. 
Endglied  der  Hinterleibsfüsse  schief 

abgeschnitten,  lanzettförmig. 


Entoniscus  Cancrorum 
Sechstes  Beinpaar  lang ,  5  gliedrig, 
mit  klauentragender  Hand. 

Der  letzte  Ring  des  Mittelleibes  vor- 
handen. 

Das  fünfte  Fusspaar  des  Hinter- 
leibes den  vorangehenden  gleich 
gebildet. 

Dasselbe  Grundglied  mit  2  Borsten. 

Das  borstentragende  Ende  des  End- 
gliedes der  Hinterleibsfüsse  ge- 
rade abgeschnitten. 


Der  Hauptunterschied  der  beiderlei  Larven  Hegt  in  der  Bildung  des 
letzten  Beinpaares,  welches  bei  Ent.  Porcellanae  in  anscheinend  ver- 
kümmertem, bei  Ent.  Cancrorum  in  besonders  entwickeltem  Zu- 
stande auftritt.  Es  hat  bei  letzterer  Art  zunächst  drei  lange  schlanke 
cylindrische  Glieder,  von  denen  jedes  der  beiden  ersten  etwa  der  halben 
Breite  des  Leibes  an  Länge  gleichkommt,  das  dritte  unbedeutend  kürzer 
ist.  Dann  folgt  ein  ansehnliches  Handglied,  welches  schief  abgeschnitten 
ist,  so  dass  der  obere  Rand  fast  doppelt  so  lang  ist,  als  der  untere ;  der 
untere  Rand  läuft  in  einen  kürzern  Zahn  aus,  gegen  welchen  eine  etwa 
in  der  Mitte  des  schiefen  Endrandes  eingelenkte  gekrümmte  Klaue  ein- 
schlägt. Auch  der  obere  Rand  läuft  in  eine  scharfe  Spitze  aus,  an 
welcher  eine  im  Innern  des  Handgliedes  gelegene  Drüse  zu  münden 
scheint.  In  der  Ruhe  liegt  dies  Beinpaar  dem  Leibe  dicht  an  und  zwar 
ist  dabei  das  erste  Glied  nach  innen ,  das  zweite  nach  vorn ,  das  dritte 
nach  hinten  gerichtet.  —  Die  Larven  des  Entoniscus  Cancrorum 
lieben ,  sich  im  Wasser  umhertreiben  zu  lassen ,  in  welchem  sie  dabei 
in  ganz  eigenthümlicher  Stellung  schweben  (Taf.  III,  Fig.  2).  Der  Hin- 
terleib wird  gegen  die  Brust  geschlagen;  der  Rücken  ist  nach  oben, 
Kopf  und  Schwanzende  sind  nach  unten  gerichtet;  die  Beine  des  sechsten. 
Paares  werden  lang  nach  aussen  vorgestreckt  und  etwas  nach  oben 
gebogen,  so  dass  beide  zusammen  einen  flachen  Bogen  darstellen,  von 
dessen  Mitte  der  Körper  niederhängt.  — 

Beim  Eindringen  in  den  Leib  der  Krabben  wird  wahrscheinlich 
dies  eigenthümlich  entwickelte  sechste  Beinpaar  der  Larve  von  beson-' 
derer  Wichtigkeit  sein.  — 

Das  Vorkommen  von  Binnenasseln  in  so  weit  verschiedenen  Thieren, 


Brticlistficke  zur  Natiirgeschiclite  der  Bopyrideii.  57 

wie  Porcellana,  Achaeus  und  Xantho  sind,  berechtigt  zu  der  Erwartung, 
dass  sie  auch  geographisch  eine  weitere  Verbreitung  haben  und  ebenso 
wie  die  Bopyrusarten  in  allen  Meeren  sich  finden  werden.  Wer  Lust 
liat,  sie  aufzusuchen ,  möge  seine  Aufmerksamkeit  besonders  auf  solche 
Krabben  Weibchen  richten  ,  die  leer  herumlaufen  zur  Zeit,  wo  ihre  Ge- 
nossinnen mit  Eiern  beladen  sind.  — 


2.  Bopyrus  resupinatus. 

[Taf.  III,   Fig.  4—9.) 

Wenige  Thiere  dürften  mehr  von  Schmarotzern  geplagt  werden, 
als  ein  bei  Desterro  unendlich  häufiger  kleiner  Einsiedlerkrebs,  der  seine 
Wohnung  meist  in  der  Schale  eines  Cerithiumi)  einnimmt.  Weit 
über  die  Hälfte  dieser  Einsiedlerkrebse  sind  bewohnt  von  einem  im 
Verhältniss  zu  seinem  Wirthe  riesigen  Fadenwurm,  dessen  Windungen 
durch  die  Wand  des  von  ihm  ausgedehnten  Hinterleibes  des  Krebses 
hindurchschimmern.  Ausserdem  leben  an  dem  Hinterleibe  desselben 
zwei  verschiedene  Arten  von  Wurzelkrebsen,  Sacculina  purpurea^], 
und  Peltogaster  socialis^),  und  zwei  Asseln,  Bopyrus  resu- 
pinatus und  Cryptoniscus  planarioides,  und  zwar  ebenfalls 
so  häufig,  dass  etwa  jeder  fünfte  Pagurus  einen  dieser  Schmarotzer 
trägt.  Unter  300  Paguren,  die  ich  vom  15.  November  1861  bis  13.  April 
1862  untersuchte,  fand  ich  nämlich  281  mit  Sacculina  pui-purea,  227 


i)  Dieses  Cerith i um ,  vielleicht  die  häufigste  aller  bei  Desterro  lebenden 
Schneeken ,  bildet  die  Hauptnahrung  zweier  anderen  ebenfalls  dort  häufigen 
Schnecken  ,  des  Murex  senegalensis  Lam.  und  der  mit  Turbinella  angulifera  nahe 
verwandten  Turbinella  Mülleri  Dkr.  {n.  s.)  —  Der  Murex  bohrt  ein  rundes  Loch 
durch  das  Gehäuse  des  Cerithium  ;  wenn  dieses  dann  sterbend  seinen  Deckel  öffnet, 
so  kommt  von  vorn  die  Turbinella ,  um  sich  am  Schmause  zu  betheiligen.  An 
einigen  Stellen  des  Strandes  kann  man  zur  Ebbezeit  dutzendweise  solche  Cerithien 
sammeln,  an  denen  gleichzeitig  hinten  ein  Murex  und  vorn  eine  Turbinella  sitzen. 

Nach  dem  Tode  der  Schnecke  dient  das  Gehäuse  des  Cerithium  nicht  nur  dem 
Pagurus  mit  seinen  mannichfachen  Schmarotzern  zum  Aufenthalt,  sondern  am  Ein- 
gange der  von  Pagurus  bewohnten  Gehäuse  siedelt  sich  nicht  selten  eine  kleine  weisse 
Crepidula  an,  unter  welcher  dann  wieder  bisweilen  ein  Pinnotheres  Schutz  sucht.  — 

2)  s.  Archiv  für  Naturgesch,  1862.  I,  Taf.  I,  Fig.  5 — 9.  —  Ich  lasse  einstweilen, 
bis  eine  wissenschaftliche,  d.  h,  genealogische  Anordnung  der  Rhizoccphalen  mög- 
lich sein  wird,  den  Namen  dieser  Art  ungeändert.  Als  ich  den  Namen  gab,  wusste 
ich  nicht,  dass  Thompson  schon  einen  anderen  Wurzelkrebs  Sacculina  getauft  hatte. 
Meine  Sacculina  purpurea  gehört  nicht  zur  Gattung  Sacculina  Thomps. ,  sondern 
eher  zu  Peltogaster  Rthke. 

3)  F.  MiELLER,  Für  Darwin,  Fig.  59.  — 


58  Fritz  Müller, 

mit  Peltogasler  socialis  ,  40  mit  Bopyrus  resupinatus  und  46  mit  Crypto- 
niscus  planarioides  behaftet.  —  Im  Gegensatz  zu  diesem  vielgeplagten 
kleinen  Pagurus  waren  weit  über  hundert  Paguren  von  einer  grösseren 
und  weit  selteneren  Art  sämmtlich  frei  von  Schmarotzern  ;  ein  hübscher 
Beleg  dafür ,  dass  im  Allgemeinen ,  —  aus  naheliegenden  Gründen ,  — 
mit  der  Häufigkeit  einer  Art  die  Zahl  und  Mannichfaltigkeit  ihrer 
Schmarotzer  zunimmt. 

Die  beiden  eben  erwähnten  Asseln ,  Bopyrus  resupinatus  und 
Cryptoniscus  planarioides  ,  sind  vor  Allem  merkwürdig  dadurch  ,  dass 
sie  nicht  unmittelbar  aus  dem  Pagurus ,  sondern  aus  den  Wurzeln  der 
Sacculina  purpurea  ihre  Nahrung  ziehen. 

Bopyrus  resupinatus  setzt  sich  unter  Sacculina  purpurea  fest 
und  zwar  dieser  seine  Bauchseite,  dem  Pagurus  seinen  Bücken  zuwen- 
dend. Ich  habe  wiederholt  solche  junge  Bopyrus ,  die  sich  zum  Theil 
noch  wenig  von  ihrer  jüngsten  Larvenform  entfernten,  an  dieser  Stelle 
angetroffen.  Indem  nun  der  Bopyrus  die  aus  dem  Leibe  des  Pagurus 
durch  die  darin  verzweigten  Wurzeln  der  Sacculina  zuströmende  Nah- 
rung sich  aneignet,  stirbt  die  Sacculina  ab.  So  hatte  ich  am  22.  Septbr. 
1861  einen  mit  Sacculina  behafteten  Pagurus  in  ein  Glas  mit  Seewasser 
gesetzt;  Tags  darauf  schwärmte  junge  Sacculina-Brut  aus ;  als  ich  aber 
am  26.  Septbr.  den  Pagurus  wieder  aus  seinem  Schneckenhause  nahm, 
war  die  Sacculina  verschwunden  und  an  ihrer  Stelle  sass  ein  junger 
Bopyrus,  ein  jungfräuliches ,  unbemanntes  Weibchen  ohne  Brutblätter. 
Mit  dem  Abfallen  der  Sacculina  sterben  indess  ihre  Wurzeln  nicht  ab, 
sondern  pflegen  im  Gegentheil  nur  um  so  kräftiger  weiter  zu  wuchern, 
so  dass  durch  sie  oft  ein  ansehnlicher  Theil  des  Hinterleibes  gefüllt  wird 
und  schon  von  aussen  dunkelgrün  erscheint.  Nie  habe  ich  die  Zu- 
sammenziehungen der  Sacculinawurzeln  so  kräftig  und  regelmässig  er- 
folgen sehen,  als  in  einem  Pagurus,  an  welchem  ein  grosser  Bopyrus 
sass ,  der  gewiss  schon  seit  geraumer  Zeit  die  Sacculina  verdrängt 
hatte.  —  In  einigen  wenigen  leider  nicht  näher  untersuchten  Fällen 
vermisste  ich  den  grünen  Fleck  an  der  Anheftungsstelle  des  Bopyrus ; 
wahrscheinlich  hatte  sich  derselbe  in  diesen  Fällen,  statt  unter  Sacculina 
purpurea,  unter  Peltogaster  socialis  angesiedelt,  dessen  glatte  Wurzeln 
nicht  zu  sehen  sind  ;  denn  auch  unter  letzterem  Wurzelkrebse  habe  ich 
Bopyruslarven  getroffen. 

Daraus  dass  der  Bopyrus  beim  Festsetzen  sich  der  Sacculina  und 
nicht  dem  Pagurus  zuwendet ,  erklärt  sich  eine  Eigenthümlichkeit ,  die 
bei  einer  nahestehenden  und  voraussichtlich  auch  in  ihrer  Lebensweise 
ähnlichen  Art  zu  einer  wunderlichen  Verwechslung  Anlass  gegeben  hat. 
Hesse  hat  unter  dem  Namen  Athelgue  einen  Bopyrus  beschrieben, 


Brudistficke  zur  Naturgeschichte  der  Bopyriden.  59 

hei  dessen  Weibchen  angeblich  »die  convexe  Rücken  seile  desCephalo- 
ihorax  von  6 — 7  Paaren  seitlicher  durchscheinender  Platten  bedeckt  ist, 
unter  welchen  sich  die  Bruthöhle  für  die  Eier  befindet').  —  Also  eine 
Assel  mit  rückenständiger  Bruthöhle !  Gewiss  ein  nicht  minder  wunder- 
bares Thier,  als  etwa  ein  Kiinguru  mit  rückenständigem  Beutel,  oder 
ein  Käfer  mit  Flügeln  am  Bauche.  Otlenbar  hat  Hesse  Bauchseite  und 
Rückenseite  verwechselt,  weil  sein  Athelgue  dem  Pagurus  nicht  die 
Bauchseite,  sondern  wieBopyrus  resupinalus  die  Rückenseite  zuwendet. 

Bopyrus  resupinatus  verlässt  das  Ei  als  etwa  0,2  Mm.  lange, 
0.12  Mm.  breite,  flache  asseiförmige  I.arve  (Taf.  III,  Fig.  i),  ganz  ähn- 
lich denen  anderer  Bopyrusarten.  Die  sechs  Beinpaare  der  Brust  sind 
gleichgebildet;  das  7.  fehlt,  wie  wahrscheinlich  bei  allen  jungen  Iso- 
poden.  Die  5  Hinterleibsfüsse  haben,  wie  bei  Entoniscus  und  fast  allen 
von  mir  gesehenen  Bopyridenlarven,  ein  einziges  Endblatt,  dieSchwanz- 
füsse  haben  zwei  gritl'elförmige  Aeste  und  in  der  Mitte  seines  Hinter- 
randes trägt  der  letzte  Leibesring  einen  kurzen  kegelförmigen  Fortsatz. 
Bei  den  Entoniscus -Larven  fehlt  ein  solcher  Fortsatz,  dagegen  scheint 
er  den  Larven  der  echten  Bopyriden  allgemein  zuzukommen  und  meist 
stärker  als  bei  Bopyrus  resupinatus  entwickelt  zu  sein.  Von  auffallen- 
der Länge  sah  ich  denselben  bei  einer  (im  März  1862)  im  Meere  auf- 
gefischten Larve  (Taf.  III,  Fig.  10),  die  ohne  Frage  von  einem  Bopyriden 
abstanmit ,  obwohl  sie  durch  2  ästige  Hinterleibsfüsse  von  den  übrigen 
mir  bekannt  gewordenen  Bopyruslarven  abweicht.  Ueber  die  morpho- 
logische Bedeutung  dieses  Fortsatzes,  der  bei  der  zuletzt  erwähnten 
Larve  fast  an  den  Schwanzstachel  der  Xiphosuren  erinnert,  bin  ich 
ausser  Stande,  eine  Vermuthung  auszusprechen. 

Die  jüngsten  Larven,  die  unter  Sacculina  purpurea  gefunden  wur- 
den ,  hatten  bereits  eine  Länge  von  0,6  Mm.  erreicht  (TaL  IH,  Fig.  5). 
Ihre  Gestalt  ist  gestreckter  geworden,  indem  die  grösste  Breite  kaum 
der  halben  Länge  des  Leibes  gleichkommt;  an  den  vorderen  Fühlern 
hat  sich  ein  Büschel  von  etwa  1 0  ansehnlichen  Riechfäden  entwickelt, 
die  der  Larve  wahrscheinlich  beim  Aufsuchen  ihres  Wohnthieres  von 
Nutzen  sind.  Die  Brust  trägt  jetzt  sieben  gleichgebildete  Beinpaare. 
Die  Schwimmfüsse  des  Hinlerleibes  sind  noch  unverkümmert,  ihrEnd- 
blall  mit  5 — 6  langen  Borsten  versehen.  Die  Grundglieder  der  Schwanz- 
füsse ,  bei  den  jüngsten  Larven  durch  einen  breiten  Zwischenraum  ge- 
lrennt ,  nehmen  jetzt  fast  die  ganze  Breite  des  letzten  Leibesringes  ein. 
Von  den  anfangs  etwa  gleichlangen  Aeslen  der  Schwanzfüsse  ist  jetzt 
der  äussere  etwa  doppelt  so  lang  als  der  innere. 

1j  Gerst.\ecker  ,   Jahresbericht  für  1861   im  Archiv  für  Natur^esch.  XXVIII, 
Bd.  2.  S.  558. 


60  Fritz  Müller, 

Nach  dem  Festsetzen  der  Larve  verkümmern  die  Riechfäden,  die 
den  erwachsenen  Thieren  vollständig  fehlen,  und  die  Schv^immfüsse 
des  Hinterleibes  verwandeln  sich  in  Kiemen.  Bei  dem  obenerwähnten 
jungen  Weibchen,  das  nach  dem  Abfallen  der  von  ihm  verdrängten 
Sacculina  zum  Vorschein  kam ,  bestanden  die  Kiemen  aus  einfachen 
zungenförmigen  Anhängen ;  an  einigen  derselben  begann  indess  schon 
ein  kurzer  zweiter  Ast  hervorzusprossen ;  zu  diesem  zweiten  kommt 
später  noch  ein  dritter  Ast.  Von  den  Schwanzfüssen  bleiben  nur  kurze 
abgerundete  Stummel  übrig,  an  deren  Rande  ein  breiter  Blutstrom  hin- 
fliesst,  und  die  also  ebenfalls  der  Athmung  dienen.  —  In  diesen  Schwanz- 
anhängen fliesst  das  Blut  am  Innenrande  nach  hinten,  am  Aussenrande 
nach  vorn :  in  den  dreitheiligen  Kiemen  am  Hinterrande  der  Aeste  nach 
aussen,  am  Vorderrande  wieder  nach  innen.  — Die  kurzen  plumpen 
Beine  krümmen  sich  allmählich  um  den  Seitenrand  des  Leibes  nach 
oben ,  so  dass  nur  der  Bopyrus  sich  mit  denselben  an  dem  Pagurus, 
dem  er  wie  gesagt  seine  Rückenfläche  zuwendet,  festhalten  kann 
(Taf.  HI,  Fig.  6). 

Beim  Herannahen  der  Geschlechtsreife  entwickeln  sich  an  der 
Bauchseite  grosse  Brutblätter,  die  eine  sehr  ansehnliche  Bruthöhle  um- 
schliessen.  Dieselbe  überragt  seitlich  die  Ränder  des  Leibes,  nach  vom 
den  Kopf  und  ein  kurzer  abgerundeter  Zipfel  springt  jederseits  neben 
dem  Hinterleibe  nach  hinten  vor  (Taf.  III ,  Fig.  7,8).  Die  vordersten 
dieser  blattförmigen  Anhänge,  die  rinnenförmig  zusammengebogen  den 
Kopf  überragen,  mögen  dazu  dienen,  die  aus  den  Sacculina- Wurzeln 
zuströmende  Nahrung  dem  Munde  des  Bopyrus  zuzuleiten.  — 

Nach  der  Bildung  der  Kiemen  des  Weibchens  würde  Bopyrus 
resupinatus  eher  zur  Gattung  Jone  als  zu  Bopyrus  zu  stellen  sein ;  doch 
finden  sich  zwischen  der  Kiemenform  der  Jone  thoracica  und  des 
Bopyrus  squillarum  so  mannichfache  Uebergangsformen,  dass  die  erstere 
Gattung  sich  nicht  von  letzterer  trennen  lässt,  obwohl  Milne  Edwards 
auf  dieselben  sogar  zwei  verschiedene  Familien  begründete. 

Das  etwa  2  Mm.  lange  Männchen  des  Bopyrus  resupinatus  (Taf.  III, 
Fig.  9)  hat  die  gewöhnliche  Gestalt  der  Bopyrusmännchen ;  sein  Hin- 
terleib zeigt  nur  sehr  undeutliche  oder  gar  keine  Spur  von  Gliederung 
und  ist  ganz  ohne  alle  Anhänge;  ein  breiter  Blutstrom  zieht  an  seinem 
Rande  hin. 


Bruchstücke  zur  Naturgeschichte  der  Bopyriden.  61 

3.  Cryptoniscus  planarioides  ^) . 

(Taf.  IV,  Fig.  12—19.) 

Am  8.  August  1861  hatte  ich  eine  Anzahl  Pagurus  aus  ihren  Cori- 
thiumgehäusen  herausgeklopft,  um  an  ihnen  nach  Succulina  und  Bopy- 
rus  resupinatus  zu  suchen:  ausser  diesen  beiden  traf  ich  noch  einen 
dritten  Schmarotzer  in  Form  einer  flachen  milchwcissen  Scheibe  von 
5 —  6  Mm.  Länge  und  2,5  Mm.  Breite,  die  etwa  in  der  Mitte  der  dem 
Pagurus  zugewandten  Fläche  festsass  und  in  der  Nähe  der  Anheftungs- 
stcUe  eine  Oeffnung  zeigte,  von  der  aus  sie  ganz  wie  ein  Lernaeodiscus 
oder  eine  Sacculina  sich  aufblasen  liess.  Ich  glaubte  in  diesem  Schma- 
rotzer einen  neuen  Wurzelkrebs  vor  mir  zu  haben  und  wurde  in  dieser 
Meinung  bestärkt ,  als  ich  später  (im  October)  fand ,  dass  an  der  An- 
heftungsstelle  ein  wie  bei  Sacculina  purpurea  gebildeter  Chitinkranz 
liegt,  von  dem  aus  giilne  Wurzeln  sich  ins  Innere  des  Pagurus  senken. 
Chitinkranz  und  Wurzeln  Hessen  sich  im  Zusammenhang  mit  dem 
Schmarotzer  aus  dem  Pagurus  herauslösen.  Nach  einer  blutrothen 
Zeichnung  auf  der  Unterseite  der  milchwcissen  Scheibe,  die  an  den 
Darm  eines  dendrocölen  Plattwurms  erinnerte,  nannte  ich  das  Thier 
Peltogaster  planarioides. 

Kurz  darauf  traf  ich  an  demselben  Pagurus  ganz  ähnliche,  nur 
grössere  (9 — 10  Mm.  lange)  und  anders  gefärbte,  bald  gelbe,  baldbraun- 
punctirte  Schmarotzer;  erstere  enthielten  Eier  mit  noch  wenig  ent- 
wickelten, letztere  solche  mit  fast  reifen  Embryonen.  Schon  die  gelben 
Eier  waren  sofort  an  der  Krümmung  des  Embryo  nach  oben  als  Assel- 
eier zu  erkennen  und  in  den  Eiern  der  braunpunctirten  Thiere  fanden 
sich  Larven ,  die  mit  denen  von  Bopyrus  und  Entoniscus  die  grösste 
Aehnlichkeit  hatten.  Dass  ich  also  in  diesen  Schmarotzern  einen  noch 
mehr  als  selbst  Entoniscus  von  der  Asselform  sich  entfernenden  Bopy- 
riden  vor  mir  hatte,  unterlag  keinem  Zweifel. 

Wochenlang  liefen  nun  in  meinem  Tagebuche  bei  Aufzählung  der 
an  Pagurus  erbeuteten  Schmarotzer  dieser  »Bopyrus  agnostus«  und 
«Peltogaster  planarioides«  neben  einander  her,  ohne  dass  ich 
nur  an  die  Möglichkeit  dachte,  dass  letzterer  eine  jüngere  Form  des 
ersleren  sein  könnte.  Und  neben  diesen  beiden  wurden  noch  jüngere, 
etwa  2  Mm.  lange,  schmutzig  röthlichbraune  Thiere  derselben  Art  als 
junge  Sacculina  purpurea  aufgeführt,  da  sie  die  gleichen  Wurzeln, 
den  gleichen  Chitinkranz  besassen  und  in  Gestalt  und  Farbe  weil  mehr 


1)  Veigl.  F.  MüELLER,  Für  Darwin,  Fig.  39  und  42. 


62  Fritz  Müller, 

dieser  Sacculina  als  dem  milchweissen  »Peltogaster  plana rioides« 
ähnlich  waren. 

Erst  am  28.  November,  als  ich  gleichzeitig,  als  Ausbeute  von  270 
Paguren,  SCryptoniscus  in  den  verschiedensten  Altei'sstufen  vor 
mir  halte,  2  junge  röthlichbraune,  3  milchweisse  planarienähnliche 
(«Peltogaster  planarioides«) ,  einen  gelben  mit  unreifen ,  einen  braun- 
punctirten  mit  fast  reifen  Embryonen  (»Bopyrus  agnostus«)  und  endlich 
einen,  der  schon  seine  Brut  entleert  hatte  und  nun  einen  schlaffen 
häutigen  farblosen  Sack  bildete,  —  überzeugte  ich  mich  von  der  Zusam- 
mengehörigkeit dieser  verschiedenen  Formen. 

Leider  kann  ich  über  den  Bau  und  die  Entwickelung  dieser  in  so 
mannichfachen  und  völlig  unkenntlichen  Vermummungen  auftretenden 
Asselart  nur  äusserst  dürftige  Mittheilungen  machen. 

Die  beim  Ausschlüpfen  etwa  0,2  Mm.  langen  Jungen  ^)  sind  augen- 
los ;  der  Vorderrand  des  Kopfes  (Taf.  IV,  Fig.  \  2  o)  ist  halbkreisförmig ; 
an  seinen  hinteren  Ecken  stehen  die  kräftigen  sechsgliedrigen,  äusseren, 
dicht  neben  ihnen  nach  innen  die  äusserst  winzigen  (dreigliedrigen '?] 
inneren  Fühler.  —  Die  Brust  trägt  sechs  Beinpaare,  von  denen  das 
letzte  abweichend  von  den  vorangehenden  und  von  denen  anderer 
junger  Bopyriden  gebaut  ist.  Das  vorletzte  Glied,  das  bei  den  fünf 
ersten  Beinpaaren  eine  kurze  eiförmige  Hand  bildet,  ist  beim  sechsten 
Paare  (Taf.  IV,  Fig.  \'ib]  allerdings  auch  dicker  als  die  anderen  Glieder, 
aber  lang  und  walzenförmig  und  trägt  nicht  ein  kurzes  einschlagbares, 
sondern  ein  wenig  oder  gar  nicht  bewegliches ,  sehr  langes  borsten- 
förmiges  Endglied.  —  Die  Schwimmfüsse  des  Hinterleibes  (Taf.  IV, 
Fig.  '12  c)  haben  zwei  in  verschiedener  Höhe  eingelenkte  Aeste.  —  Im 
Anfang  des  Hinterleibes  liegt  (im  Darme?)  eine  rundliche  Anhäufung 
eines  dunkel  braunroth  gefärbten  Stoffes. 

In  welcher  Weise  die  jungen  Cryptoniscus  sich  an  Sacculina 
purpurea  festsetzen,  wurde  nicht  beobachtet.  Die  jüngsten  fest- 
sitzenden Thiere,  die  gefunden  wurden  iTaf.  IV,  Fig.  13)  ,  hatten  be- 
reits die  Sacculina  verdrängt  und  vollständig  alleGliedmaassen  verloren. 
Sie  erschienen  als  schmutzig  röthlich  braune,  eiförmige  Körper  von  etwa 
2  Mm.  Länge,  die  in  der  Nähe  des  stumpferen  Endes  festgeheftet  waren. 
Von  inneren  Theilen  wurde  ein  vom  Anheftungspunkte  ausgehender 
weiter  blinder  Schlauch  gesehen ,  der  jederseits  mehr  oder  weniger  tief 
gelappt  oder  in  5  bis  6  kurze  Fortsätze  ausgezogen  war,  wahrscheinlich 
die  Leber,  —  und  ausserdem  am  freien  spitzeren  Ende  des  Leibes  ein 
kräftis;   sich    zusammenziehendes    Herz.  —  Wurden   die    Thiere    vom 


1)  F.  MuELLER,  Für  Darwin,  Fig.  39. 


Bruchstüoke  zur  Xiiturgescliichte  der  ßopyriden.  G3 

Fagurus  losgerissen,  so  pUegte  der  Chilinkranz  der  Sacculina,  die  sie 
verdrängt  und  aus  deren  Wurzeln  sie  nun  ihre  Nahrung  zogen  ,  mit 
ihnen  in  Verbindung  zu  bleiben. 

Beim  weiteren  Wachsthum  verwandelt  sich  der  eiförmige  Körper, 
in  die  Breite  und  Länge  wachsend,  in  eine  immer  flachere  Scheibe, 
während  gleichzeitig  der  Anheftungspunkt  nach  der  einen  Fläche  dieser 
Scheibe  hinrUckt.  Die  Farbe  wird  heller  und  geht  in  ein  reines  Milch- 
weiss  über,  aufweichen!  der  jetzt  blulroth  gefärbte  gelappte  Schlauch 
(die  Leber  ?)  scharf  sich  abzeichnet.  Diese  Färbung  zeigen  Thiere  von 
4  bis  7  Mm.  Länge  und  2,6  bis  4  Mm.  Breite.  Die  Leber  (?)  liegt  auf 
der  dem  Pagurus  zugewandten  Seite  der  Scheibe  und  gleicht  jetzt  ganz 
dem  Darmrohr  einer  Clepsine ;  von  dem  Anheftungspunkte  aus  geht 
nach  dem  einen  stumpferen  Ende  der  Scheibe  ein  weites  unpaares 
Rohr,  welches  jederseits  etwa  5  Fortsätze  bis  in  die  Nähe  des  Scheiben- 
randes sendet,  —  nach  dem  anderen  spitzeren  Ende  jederseits  ein  engeres 
Rohr,  das  nach  aussen  -2  bis  3  ähnliche  Fortsätze  trägt.  Zwischen  der 
Leber  (?:  und  der  vom  Pagurus  abgewandten  Fläche  der  Scheibe  liegt 
der,  wie  es  scheint,  unpaare  Eierstock,  der  milchweiss  gefärbt  ist  und 
fast  die  ganze  Länge  und  Breite  der  Scheibe  einnimmt  (Taf.  IV, 
Fig.  14).  —  Das  Herz  habe  ich  bei  Thieren  in  diesem  Alter  nicht  mehr 
gesehen;   es  mag  vom  Eierstock  verdeckt  oder  auch  verkümmert  sein. 

Wie  gesagt  pflegt  man  mit  dem  Cryptoniscus  zugleich  den  Chitin- 
kranz der  von  ihm  verdrängten  Sacculina  und  bisweilen  selbst  einen 
Theil  ihrer  Wurzeln  herauszureissen.  Diese  feste  Verbindung,  die  mich 
verleitet  hatte,  den  Cryptoniscus  selbst  für  einen  Rhizocephalen  anzu- 
sehen, wird  dadurch  bewirkt,  dass  das  Mundende  der  planarienähn- 
lichen  Assel  durch  den  Chitinkranz  hindurch  in  die  Wurzeln  der 
Sacculina  eindringt  und  hier  zu  einem  unregelmässig  gelappten  Knopf 
anschwillt  (Taf.  IV,  Fig.  14  c.  Fig.  15).  Spuren  von  Fühlern  oder 
Mundtheilen  habe  ich  an  diesem  Knopfe  nicht  gefunden.  Die  Mund- 
ötfnung  dürfte  am  Ende  eines  rüssel förmigen  Fortsatzes  zu  suchen  sein, 
den  ich  einmal  von  diesem  Knopfe  ausgehen  sah  Taf.  IV,  Fig.  15)  ; 
gesehen  habe  ich  sie  nicht. 

Die  ganze  Scheibe  bildet  einen  weiten,  jetzt  noch  leeren  Sack,  die 
Bruthöhle ,  die  von  einer  in  der  Nähe  des  Anheftungspunktes  liegenden 
Oeffnung  aus  sich  aufblasen  lässt.  Wann  und  auf  welchem  Wege  die 
Eier  aus  dem  Eierstock  in  die  Brulhöhle  gelangen,  kann  ich  nicht  sagen. 

Bei  völlig  ausgewachsenen,  9  bis  10  Mm.  langen  Thieren  findet 
man  die  Eier  in  der  Bruthöhle  und  in  denselben  den  Embryo  meist 
schon  mehr  oder  weniger  entwickelt.  Ihre  Farbe  hat  sich  in  Gelb  ver- 
wandelt und  da  sie  die  ganze  Scheibe  füllen,  zeigt  das  ganze  Thier  die- 


64  Fritz  Müller, 

selbe  Farbe  (Taf.  IV ,  Fig.  1 6) .  Wenn  die  Jungen  dem  Ausschlüpfen 
nahe  sind,  erscheint  das  Thier  mit  rothbraunen  Punkten  besäet  (Taf.  IV, 
Fig.  17).  Aehnliche  dunkle  Punkte  sieht  man  um  diese  Zeit  bekannt- 
lich an  den  Eiern  der  meisten  Kruster ;  aber  bei  Cryptoniscus  sind  es 
nicht,  wie  sonst,  die  Augen,  deren  dunkle  Färbung  die  nahende  Reife 
verkündet ;  Augen  sind  überhaupt  nicht  vorhanden ;  es  findet  sich  viel- 
mehr, wie  bereits  erwähnt,  im  Anfang  des  Hinterleibes  (vielleicht  im 
Darme),  eine  rundliche,  bald  regelmässige,  scharf  umschriebene,  bald 
unregelmässig  ausgebreitete  Anhäufung  eines  dunkel  gefärbten  Stoffes.  — 
Während  die  Eier  in  der  Bruthöhle  sich  entwickeln,  schwindet  allmäh- 
lich immer  mehr  der  blutrothe  Inhalt  der  Leber  (?)  ,  so  dass  zur  Zeit, 
wo  die  Jungen  ausschwärmen ,  bisweilen  kaum  noch  Spuren  davon  zu 
erkennen  sind. 

Sind  die  Jungen  ausgeschwärmt,  so  zeigt  die  Mutter  noch  einmal 
ein  völlig  verändertes  Aussehen ;  es  ist  von  ihr  nichts  übrig  geblieben, 
als  eine  leere  farblose  Haut.  In  der  Oeffnung  der  Bruthöhle  sieht  man 
jetzt  mehrere  Paare  fingerförmiger  Anhänge  sich  lebhaft  bewegen,  deren 
Zahl  und  Gestalt  nicht  bei  allen  Thieren  dieselbe  zu  sein  scheint.  Sie 
haben  wahrscheinlich  dazu  gedient,  in  der  Bruthöhle  denfürdieAthmung 
der  Eier  nöthigen  Wasserwechsel  zu  unterhalten  und  sind  vielleicht  als 
umgewandelte  Hinterleibsfüsse  (»fausses  pattes  abdominales«)  zu  be- 
trachten. (Man  kann  dieselben  natürhch  auch  vor  dem  Ausschwärmen 
der  Jungen  zu  sehen  bekommen ,  wenn  man  die  Eier  durch  einen  Ein- 
schnitt entleert.)  —  Ebenso  tritt  jetzt  in  der  ziemlich  durchsichtigen 
Haut  deutlich  ein  Gerüst  von  Chitinleisten  hervor,  dessen  Anordnung 
auf  der  dem  Pagurus  zugewandten  Fläche  aus  Taf.  IV,  Fig.  1 8  ersicht- 
lich ist.  In  diesen  Ghitinleisten  scheint  noch  ein  Rest  der  früheren 
Gliederung  des  Cryptoniscus  erhalten  zu  sein. 

Wahrscheinlich  wird  die  Mutter  bald  nach  dem  Ausschwärmen  der 
Brut  absterben  und  abfallen ,  und  keinenfalls  noch  einmal  in  sich  Eier 
und  Junge  erzeugen.  Dafür  spricht  ihr  ganzes  Aussehen  und  nament- 
lich der  gänzliche  Schwund  von  Leber  und  Eierstock.  Auch  hierin,  dass 
mit  einer  einmaligen  Eiererzeugung  sein  Lebenslauf  abgeschlossen  ist, 
steht  Cryptoniscus  einzig  da  unter  seinen  Verwandten. 

Mit  diesem  Verhalten  dürfte  die  Seltenheit  der  Männchen  im  Zu- 
sammenhang stehen.  Von  Bopyrus  oder  Entoniscus  trifft  man  selten  ein 
Weibchen,  dem  nicht  ein  Männchen  sich  zugesellt  hätte.  An  weit  über 
50  Cryptoniscus  habe  ich  dagegen  ein  einziges  Mal  eine  kleine  0,9  Mm. 
lange  Assel  gefunden,  die  ich  als  dessen  Männchen  betrachten  zu  dürfen 
glaube  (Taf.  IV ,  Fig.  19).  In  der  Bildung  der  Fühler ,  der  Gliederung 
der  Brust,  die  7  Paar  gleichgebildeter  Beine  trägt,  und  in  dem  anhang- 


Bruchstücke  im  Naturgeschichte  der  Bopyrideii.  65 

losen  Hinterleibe  stimmt  es  mit  der  Mehrzahl  der  Bopyridenmännchen 
überein;  eigenlhünilich  sind  ihm  die  stark  vorspringenden  und  mit 
kurzen  Dörnchen  bewehrten  Seitenecken  der  Leibesringe  und  der  in 
zwei  spitze  Zipfel  gespaltene  und  an  diesen  Spitzen  dicht  mit  kurzen 
Dörnchen  besetzte  Schwanz. 


4)  Microniscus  fuscus. 

(Tat.  IV,  Fig.  20.) 

Das  Vorkommen  der  Bopyriden  scheint  nicht  auf  Decapoden,  Ranken- 
liisser  und  Wurzelkrebse  beschränkt  zu  sein ,  an  denen  sie  allein  bis 
jetzt  beobachtet  wurden  ;  denn  kaum  einer  anderen  Familie  dürfte  eine 
Schmarotzerassel  zuzurechnen  sein,  die  ich  einmal  (im November  1 864) 
dem  Rücken  eines  Copepoden  aufsitzend  fand. 

Das  Thierchen  hatte  eine  Länge  von  nur  0,2  Mm. ,  wovon  Y4  auf 
den  Kopf  und  ebensoviel  auf  den  Hinterleib  kam  ;  es  hatte  die  Gestalt 
eines  ziemlich  stark  gewölbten  Schildes.  Die  Leibesringe  waren  voll- 
zählig und  deutlich  geschieden.  Der  Kopf,  von  einem  breiten  häutigen 
Saume  eingefasst,  trug  jederseits  nahe  seiner  hinteren  Ecke  ein  Auge 
und  einen  plumpen  (ungegliederten  ?)  Fühler.  Vordere  Fühler  wurden 
nicht  gesehen.  Die  Beine  der  Brust  waren  mit  Ausnahme  des  dritten 
Paares  kurze  plumpe  Klammerfüsse  mit  dickem  kugeligen  Handglied 
und  kurzer  stumpfer  Klaue.  Die  Beine  des  dritten  Paares,  weit  länger 
als  die  übrigen ,  ragten  weit  über  die  Seiten  der  Brust  vor ;  ihr  letztes 
Glied  bildete  ein  klauenloses  eiförmiges  Blatt,  das  dem  Leibe  des  Wirthes 
fest  anlag.  Hinterleibsfüsse  und  Schwanzanhänge  waren  borstenlos,  — 
ein  Beweis,  dass  das  Thierchen  nicht  etwa  eine  noch  frei  schwimmende 
Assellarve  war,  die  sich  nur  vorübergehend  an  den  Copepoden  ange- 
setzt hatte.  Wahrscheinlich  war  es  noch  ein  jüngeres  Thier,  dem  mög- 
licherweise noch  tiefgreifende  Umwandlungen  bevorstanden  ;  denn  Eier 
wurden  bei  demselben  noch  nicht  gefunden.  —  Seine  Farbe  war  dunkel- 
braun, die  Beine  und  der  häutige  Saum  des  Kopfes  farblos. 

5)  Zur  Systematik  der  Bopyriden. 

Ueber  die  systematische  Stellung  der  Bopyriden  herrscht  unter  den 
Zoologen  eine  seltene  Einstimmigkeit.  Man  stellt  sie  allgemein  ans  Ende 
der  Isopoden ,  neben  die  Cymothoiden.  Gerstaecker  reiht  die  Bopyriden 
geradezu  der  Abtheilung  der  schwimmenden  Asseln  ein,  während  Milne 

Bd.  VI.  1.  R 


66  Fritz  Müller. 

Edwards  die  Abtheilung  der  schwimmenden  Asseln  mit  den  Cymothoiden 
schliesst  und  diesen  als  besondere  Abtheilung  die  festsitzenden  Asseln 
(Jone,  Bopyrus)  folgen  lässt,  und  wieder  Andere  (z.  B.  Claus)  die 
Familien  der  Asseln ,  ohne  sie  in  grössere  Abtheilungen  zu  vereinigen, 
in  einfacher  Reihe  neben  einander  stellen,  an  deren  Ende  dann,  neben 
die  Cymothoiden,  die  Bopyriden  zu  stehen  kommen.  Allgemein  scheint 
man  also  die  Cymothoiden  als  nächste  Verwandte  der  Bopyriden  anzu- 
sehen. Dieser  Ansicht  kann  ich  mich  nicht  anschliessen  ;  denn  ausser 
dem ,  was  allen  Asseln  zukommt ,  haben  diese  beiden  Familien  nichts 
gemein ,  als  die  schmarotzende  Lebensweise  und  mit  gleichem  Rechte 
würde  man  z.  B.  unter  den  Insecten  Läuse  und  Flöhe  neben  einander 
stellen. 

Wie  bei  allen  durch's  Schmarotzerleben  stark  veränderten  Thieren 
(Lernäen,  Pentastomen  u.  s.  w.)  hat  man  natürlich  auch  bei  diesen 
schmarotzenden  Asseln  hauptsächlich  die  Jugendformen  ins  Auge  zu 
fassen,  um  ihre  verwandtschaftlichen  Beziehungen  zu  erkennen.  Schon 
der  erste  flüchtige  Blick  aber  auf  die  Taf.  III,  Fig.  3,  4  und  1  0  gezeich- 
neten jungen  Bopyriden  und  die  zur  Vergleichung  daneben  gestellte 
junge  Cymothoe  (Fig.  H.)  wird  Jedem  den  Eindruck  machen  müssen, 
dass  die  beiden  Familien  eher  an  die  entgegengesetzten  Enden  ihrer 
Ordnung,  als  neben  einander  gehören.  Eine  nähere  Vergleichung  be- 
stätigt dies. 

Bei  den  Jungen  von  Cymothoe  sieht  man  wie  bei  allen  schwim- 
menden Asseln  (Sphaeromiden ,  Cymothoiden)  beide  Fühlerpaare  von 
nahezu  gleicher  Länge  und  Gestalt;  bei  den  jungen  Bopyriden,  wie  bei 
den  gehenden  Asseln  (Idotheiden,  AseFliden ,  von  denen  jedoch  die 
Tanaiden  auszuscheiden  sind,  und  Onisciden)  die  vorderen  Fühler  sehr 
kurz,  selbst  wenn  sie  mit  reichlichen  Riechfäden  ausgerüstet  sind  (Taf.  III, 
Fig.  5.)  ;  die  hinteren  Fühler  dagegen ,  namentlich  bei  den  jüngsten 
Larven,  stets  von  sehr  ansehnlicher  Länge. 

Bei  Cymothoe  und  überhaupt  bei  den  schwimmenden  Asseln  finden 
sich  tastertragende ,  bei  den  Bopyriden  wie  bei  den  gehenden  Asseln 
tasterlose  Kinnbacken  (Mandibeln) .  Bei  Cymothoe  und  allen  schwimmen- 
den Asseln  ist  der  letzte  (der  Schwanzring)  der  grösste,  bei  den  jungen 
Bopyriden  wie  oft  bei  den  Onisciden  der  kleinste  der  Hinterleibsringe.  — 
Bei  Cymothoe  und  den  meisten  schwimmenden  Asseln  tragen  die 
Schwanzfüsse  zwei  grosse  blattförmige  langbewimperte  Endäste;  bei 
den  jungen  Bopyriden  sind  diese  Endäste  griffeiförmig ,  wie  bei  den 
Aselliden  und  Onisciden.  —  Alle  für  die  schwimmenden  Asseln  be- 
zeichnenden Merkmale  fehlen  also  den  Bopyriden ,  während  sie  in  der 
Bildung  der  Fühler,   der  Kinnbacken,  des  Hinterleibes,  der  Schwanz- 


Bruclistiieke  zur  Natiirüescirtclitc  der  Ropuidoii.  07 

füsse  an  tiie  gehenden  Asseln  und  zwar  zumeist  an  die  Onisciden,  und 
unter  diesen  wieder  zunächst  an  die  Gattung  Ligia  sich  anschliesson. 
Gar  manche  junge  ßopyridenform  könnte  vom  Rücken  betrachtet  für 
eine  mikroskopische  Ligia  gelten.  Abweichend  ist,  von  den  verkümmer- 
ten Mundtlieilen  abgesehen,  hauptsächlich  die  Bildung  der  Hinterleibs- 
füsse,  die  bei  Ligia  der  Athmung,  bei  den  jungen  Bopyriden  der  Orts- 
bewegung dienen  und  die  Leber,  die  bei  Ligia  aus  drei  Paar,  bei  den 
Bopyriden  aus  einem  einzigen  Paare  langer  Blindschläuche  besteht.  In 
beiden  Beziehungen  nähern  sich  die  jungen  Bopyriden  aber  nicht  etwa 
den  Cymothoiden ,  sondern  vielmehr  den  Scheerenasseln  (Tanais).  — 
Auch  die  ungegliederten  aber  mit  Endl)orsten  versehenen  Aeste  der 
Schwanzfüsse  stehen  in  der  Mitte  zwischen  den  meist  gegliederten 
borslentragenden  Aesten  der  Scheerenasseln  (Tanais)  und  den  unge- 
gliederten borstenlosen  Endgriffeln  der  Felsenasseln  (Ligia).  — 

Von  den  verkümmerten  Mundtlieilen  abgesehen,  dürften  die  jungen 
Bopyriden  der  Urform  der  Asseln  näher  stehen,  als  irgend  andere 
lebende  Asseln ,  die  Scheerenasseln  natürlich  ausgenommen,  die  sich 
indess  soweit  von  allen  übrigen  Asseln  entfernen,  dass  man  sie  wohl 
besser  als  eigene  Unterordnung  den  eigentlichen  Asseln  gegenüberstellt. 
Das  Schmarotzerleben ,  dem  die  Bopyriden  schon  seit  uralter  Zeit  sich 
hingaben  und  durch  welches  viele  Arten  im  erwachsenen  Zustande  bis 
zur  Unkenntlichkeit  umgewandelt  w  urden ,  dürfte  gerade  dazu  beige- 
tragen haben ,  dass  die  Form  der  freischwimmenden  Jungen  sich  nur 
wenig  veränderte.  Den  freilebenden  Asseln  war  es  vortheilhaft,  die 
Eigenschaften ,  durch  die  sie  im  Kampfe  ums  Dasein  sich  behaupteten, 
möglichst  früh  zu  besitzen ;  die  Jungen  nahmen  daher  allmählich  fast 
vollständig  die  Gestalt  der  Eltern  an.  Anders  bei  den  festsitzenden 
Bopyriden :  die  ihnen  unentbehrlichen  frei  beweglichen  Jungen  wur- 
den nur  wenig  beeinflusst  von  den  Veränderungen,  denen  im  Laufe  der 
Zeiten  die  festsitzenden  Alten  unterlagen ,  und  gleichzeitig  wirkte  der 
Kampf  ums  Dasein  während  der  Zeit  des  freien  Umherschwärmens  um 
so  weniger  verändernd  auf  diese  jugendlichen  Bopyriden  ein,  einen  je 
kürzeren  Abschnitt  ihres  Lebens  diese  Jugendzeit  umfasste  i) . 


1)  Ich  vermuthe  nach  einigen  raehier  Zeichnungen,  dass  bei  manchen  jungen 
Bopyriden  noch  eine  Spur  des  zweiten  Astes  der  äusseren  Fühler  vorkommt.  Dies 
würde  der  oben  ausgesprochenen  Ansicht  eine  wesentliche  Stütze  verleihen  und 
ich  will  deshalb  nicht  versäumen ,  die  Aufmerksamkeit  späterer  Beobachter  darauf 
hinzulenken.  —  Bis  jetzt  kennt  man  im  Bereich  der  Edriophthalmen  diesen  zweiten 
Ast  der  äusseren  Fühler  die  sogenannte  Schuppe  des  Podophthalmenfühlers)  nur 
bei  der  Tanaidengattung  Apseudes  mach  brieflicher  Mittheiiung  von  Spence 
Bäte).  — 

5* 


68  Fritz  Müller, 

Statt  der  herkömmlichen  Anordnung  der  Asseln  möchte  ich  folgende, 
wahrscheinlich  ihrer  wirklichen  Verwandtschaft  besser  entsprechende 
in  Vorschlag  bringen  : 

I.  Unterordnimg.  Scheerenasseln. 

1 .  Familie  :   Tanaiden 

(Asellotes  heleropodes  M.  Edw.) 
II.  Unterordnung.  Eigentliche  Asseln. 

A.  Gehende  Asseln.    (Isopodes  marcheurs  M.  Edw.) 
a.  Ligioiden. 

2.  Familie :   Bopyriden. 
(Joniens  u.  Bopyriens  M.  Edw.) 

S.Familie:   Onisciden. 
^.  Aselloiden. 

4.  Familie  :   Aselliden. 
(Asellotes  homopodes  M.  Edw.) 

5.  Familie  :   Idotheiden. 

B.  Seh  wi  mmen de  Assel  n.     (Isopodes  nageurs  M.  Edw.) 

(6.  Familie:   Cymothoiden. 
7.  Famihe:   Sphaeromiden. 
(?)  8.  Familie :   Praniziden. 


Die  Bopyriden  zerfallen  in  drei  (oder  vier?)  sowohl  durch  Bau 
als  durch  Aufenthaltsort  verschiedene  Gruppen. 

Die  erste  Gruppe  bilden  die  äusserlich,  am  Hinterleibe  oder  in  der 
Kiemenhöhle  von  Decapoden  festsitzenden  Arten ,  für  die  man  bereits 
eine  ganze  Zahl  von  Gattungen  aufgestellt  hat  (Bopyrus,  Jone,  Phryxus, 
Gyge,  Athelgue  u.  s.  w.),  die  man  aber  besser  fürs  Erste  in  der  einen 
Gattung  Bopyrus  vereinigt  liesse.  Ich  habe  aus  dieser  Gruppe  5  Arten 
beobachtet ,  den  oben  besprochenen  Bopyrus  resupinatus  und  vier  an- 
dere, die  in  der  Kiemenhöhle  eines  Grapsus  (Leptograpsus  rugulosus?), 
einer  Porcellana,  eines  Alpheus  und  einer  Hippolyte  leben.  Ihre  Jungen 
sind,  soweit  ich  sie  kenne,  dadurch  ausgezeichnet,  dass  die  sämmt- 
lichen  Beinpaare  der  Brust  gleich  gebildet  sind  und  dass  sie  am  Schwanz- 
ende einen  unpaaren  griffeiförmigen  Fortsatz  besitzen.  —  Nach  beiden 
Merkmalen  dürfte  die  auf  Taf.  III.  Fig.  1 0  gezeichnete  Larve  von  einem 
Thiere  dieser  Gruppe  abstammen. 

Die  zweite  Gruppe  umfasst  die  in  der  Leibeshöhle  von  Krabben  und 
Porcellanen    lebenden   Arten,    die  Gattung  Entoniscus.    Das   letzte 


Bruchstücke  zur  Nattirgescliichte  der  Bopyriden.  69 

Beinpaar  der  Brust  ist  bei  den  Larven  abweichend  gebildet;  die  Hinter- 
leibsfUsse  der  Larve  haben  einen  einzigen  blattförmigen  Endast. 

Die  dritte  Gruppe,  die  Gattung  Cryptoniscus,  lebt  an  Ranken- 
füssern  und  Wurzolkrebsen.  Hierher  gehört  ausser  Cryptoniscus  plana- 
rioides  der  in  Baianus  balanoides  lebende  Schmarotzer,  welchen  Goodsir 
als  Männchen  dieses  Baianus  beschrieb ,  Darwin  aber  als  weibliche 
Schmarotzerassel  erkannte  ^] ,  sowie  Rathke's  an  Peltogaster  paguri 
lebende  Liriope  pygmaea.  Nach  der  mir  brieflich  mitgetheilten  Ansicht 
eines  der  gründlichsten  Kenner  der  Edriophthalmen,  Spence  Bate's,  ge- 
hören diese  drei  Arten  in  eine  einzige  Gattung,  für  die  ich  den  Namen 
Cryptoniscus  beibehalten  zu  dürfen  glaube,  da  der  Name  Liriope  schon 
vor  Rathke  durch  Lesson  an  eine  Qualle  vergeben  wurde  2).  —  Ein 
eigenes  Urtheil  über  diese  Ansicht  Spence  Bate's  habe  ich  nicht,  da  mir 
die  Beschreibung  des  Baianusschmarotzers  von  Goonsni  und  die  Arbeit 
von  LiLLiEBORG  übcr  Liriope  nicht  zugänglich  sind.  —  Bei  den  Jungen 
von  Cryptoniscus  planarioides  ist,  wie  bei  denen  von  Entoniscus,  das 
letzte  Beinpaar  der  Brust  abweichend  gebildet:  die  Schwimmfüsse  des 
Hinterleibes  aber  tragen  zwei  griffeiförmige  Aeste. 

Einer  vierten  Gruppe  endlich  scheint  der  an  Copepoden  schma- 
rotzende Microniscus  zugetheilt  werden  zu  müssen.  Bei  keinem  an- 
deren bekannten  Bopyriden  ist  zu  irgend  einer  Lebenszeit  das  dritte 
Beinpaar  der  Brust  abweichend  von  den  übrigen  gebaut. 

Wie  in  vielen  anderen  Fällen  finden  wir  also  auch  bei  den  Bopy- 
riden, dass  bestimmte  Gruppen  verwandter  Schmarotzer  auf  bestimmte 
Gruppen  verwandter  Wohnthiere  beschränkt  sind.  Dieses  Vorkommen 
verwandter  Schmarotzer  an  verwandten  Wohnthieren ,  wobei  nicht 
selten  dem  Verwandtschaftsgrade  der  Wirthe  der  Verwandtschaftsgrad 
der  Gäste  entspricht,  lässt  sich  auf  verschiedene  Weise  entstanden 
denken.  Entweder  war  1.  schon  die  Stammform  der  Wirthe  von  der 
Stammform  der  Gäste  bewohnt  und  während  erstere  sich  umwandelnd 
in  verschiedene  Arten ,  Gattungen ,  Familien  aus  einander  ging ,  thaten 
ein  Gleiches,  den  Veränderungen  der  Wohnthiere  sich  anpassend,  auch 
die  Schmarotzer.  Oder  2.  die  gemeinsame  Stammform  der  Schmarotzer, 
die  ursprünglich  nur  an  einer  bestimmten  Art  von  Wohnthieren  lebte 
und  von  dieser  sich  später  auf  andere  verwandte  Arten  verbreitete,  oder 
auch  sleichzeitis  auf  mehreren  verwandten  Arten  als  Schmarotzer  sich 


1)  Darwin,  Munograph  ot  the  Cirripedia.    Lepadidae.   S.  55.    Anm. 

2)  Ueber  die  Priorität  der  Lesson' sehen  Namengebung  s.  Max  Schultze,  Archiv 
für  Nalurgesch.  1859.  I.  S.  310,  Anm.  — 


70  Fritz  Müller, 

niederliess ,  nahm  den  Eigenlhümlichkeiten  der  verschiedenen  Wohn- 
thiere  entsprechende  neue  Formen  an  und  zerfiel  so  in  eine  Gruppe 
verwandter  Arten  oder  selbst  Galtungen.  Oder  es  konnten  endlich  3. 
schon  ursprünglich  verschiedene  verwandte  Arten  an  anderen  ebenfalls 
unter  sich  verwandten  Arten  zu  schmarotzen  beginnen.  Bald  mag  vor- 
wiegend die  eine,  bald  die  andere  Weise,  selten  wohl  ausschliesslich 
eine  derselben  die  jetzt  bestehende  Vertheilung  der  Schmarotzer  herbei- 
geführt haben.  Mit  Sicherheit  den  Antheil  der  einen  und  der  anderen 
festzustellen,  wird  vielleicht  in  keinem  Falle  möglich  sein. 

Was  die  gesammte  Familie  derBopyriden  betrifft,  so  ist  der  erste  der 
eben  aufgezählten  Fälle  natürlich  sofort  auszuschliessen  ;  denn  zur  Zeit, 
als  die  gemeinsame  Stammform  der  Decapoden  ,  Copepoden  ,  Ranken- 
füsser  und  Wurzelkrebse  lebte ,  an  denen  jetzt  diese  Schmarotzer  vor- 
kommen,  gab  es  überhaupt  noch  keine  Asseln.  Die  grösste  Wahr- 
scheinlichkeit hat  hier  der  dritte  Fall  für  sich.  Es  dürfte  einst  zwischen 
den  Bopyriden  und  den  übrigen  Krustern  ein  ähnliches  Verhältniss  be- 
standen haben,  wie  gegenwärtig  zwischen  den  Cymothoiden  und  den 
Fischen.  Alle  Cymothoiden  scheinen  an  Fischen  ihre  Nahrung  zu  suchen ; 
einige  fallen  schaarenweise  über  todte  oder  auch  kranke  Fische  her ;  — 
andere,  treffliche  Schwimmer,  heften  sich  nur  zeitweise  schleimfressend 
oder  blutsaugend  an  lebende  Fische,  gelegentlich  auch,  wie  ich  selbst 
erfahren,  an  badende  Menschen;  —  andere  endlich,  die  Minderzahl, 
sind  im  Alter  festsitzende  Schmarotzer  mit  ziemlich  verkrüppelten  Be- 
wegungswerkzeugen. Auch  deren  Vorfahren  waren  einst  ohne  Zweifel 
nur  gelegentliche  Besucher  ihrer  Wohnthiere  und  es  ist  nicht  unwahr- 
scheinlich, dass  die  Nachkommen  mancher  Arten ,  die  jetzt  noch  frei 
leben,  einst  zu  bleibenden  Gästen  der  von  ihnen  besuchten  Fische 
werden.  Ebenso  mögen  einst  die  frei  lebenden  Vorfahren  der  Bopyriden 
an  anderen  Krustern  ihre  Nahrung  gesucht  und  von  diesen  mögen  ver- 
schiedene Arten  nach  und  nach  aus  zeitweiligen  Besuchern  zu  fest- 
sitzenden Schmarotzern  geworden  sein. 

Anders  stellt  sich  die  Sache  für  die  einzelnen  Gruppen  der  Bopy- 
riden. Es  ist  nicht  unwahrscheinlich ,  dass  der  gemeinsame  Stamm- 
vater der  Bopyrusarten ,  es  ist  so  gut  wie  gewiss,  dass  derjenige  der 
Entoniscus  und  ebenso  derjenige  der  Cryptoniscusarten  selbst  schon 
ein  Schmarotzer  war  und  dass  die  Mehrzahl  der  heute  mit  solchen 
Schmarotzern  behafteten  Arten  dieselben  von  ihren  Vorfahren  ererbt 
haben. 

Besonders  merkwürdig  ist  in  dieser  Beziehung  die  Cryptoniscus- 
gruppe  durch  ihr  gleichzeitiges  Vorkommen  an  Rankenfüssern  und 
Wurzelkrebsen.    Wenn  Schmarotzer,  die  auf  eine  bestimmte  einzelne 


Bruchstücke  zur  Naturgeschichte  der  Bopyriden.  71 

Art  von  Wohnlhicrcn  beschränkt  und  von  dieser  so  völlig  abhängig 
sind,  wie  es  mit  Cryptoniscus  der  Fall  ist,  durch  gelegentliches  Ver- 
irren der  Jungen  sich  auf  andere  Arten  verbreiten ,  so  wird  dies  sicher 
nur  auf  nahe  verwandte  Arten ,  nicht  aber  auf  so  weit  verschiedene 
Thiere  geschehen,  wie  jetzt  Balanen  und  Wurzelkrebse  sind.  Sollte 
auch  z.  B.  gelegentlich  die  Larve  des  GooDsm'schen  Cryptoniscus,  statt 
den  an  Felsen  haftenden  Baianus  aufzusuchen,  sich  in  ein  Schnecken- 
haus verirren,  in  welchem  ein  mit  Peltogaster  behafteter  Pagurus 
wohnte,  so  ist  es  doch  kaum  denkbar,  dass  dieser  Pcltogaster  trotz  seiner 
völlig  umgewandelten  Form  und  trotz  seiner  völlig  verschiedenen  Nah- 
rung in  Geruch  und  Geschmack  und  überhaupt  in  der  chemischen  Be- 
schaffenheit seiner  Säfte  dem  Baianus  so  ähnlich  geblieben  sei,  dass  die 
Larve  an  ihm  sich  festsetzen  und  einen  passenden  Boden  fiii'  ihre  Ent- 
wickelung  finden  sollte.  Dies  ist  um  so  weniger  glaublich,  als  der 
GooDsiR'sche  Schmarotzer  nicht  einmal  die  anderen  Balaniden,  die  an 
gleicher  Stelle  und  untermischt  mit  Baianus  balanoides  leben  (Baianus 
perforatus  und  Chthamalus  stellatus  i) ,  heimzusuchen  scheint.  Ein  Ueber- 
siedeln  der  Cryptoniscusarlen  von  Rankenfüssern  auf  Wurzelkrebse 
oder  umgekehrt  ist  mithin  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich ;  ich 
bin  vielmehr  der  Meinung,  dass  die  mit  Cryptoniscus  behafteten  Wurzel- 
krebse dieselben  von  der  Zeit  her  ererbt  haben,  wo  ihre  Vorfahren  selbst 
noch  Rankenfüsser  waren.  Dass  von  dem  gemeinsamen  Stammvater 
der  Wurzelkrebse  diese  Schmarotzer,  wie  es  scheint,  nur  auf  wenige 
seiner  Nachkommen  übergegangen  sind,  ist  dabei  so  wenig  befremdlich, 
als  dass  oft  nur  sehr  vereinzelte  Thiere  die  ihrer  Art  eigenthümlichen 
Schmarotzer  beherbergen.  —  Es  würde  demnach  die  Entstehung  der 
Wurzelkrebse  in  eine  verhältnissmässig  neue  Zeit  fallen ,  in  der  schon 
die  Familie  der  Bopyriden  in  die  jetzt  bestehenden  Hauptgruppen  sich 
aufgelöst  hatte ,  oder  mit  anderen  Worten  die  Gattung  Cryptoniscus 
würde  älter  sein,  als  die  ganze  Gruppe  der  Rhizocephalen.  Wie  in  die- 
sem, mögen  in  manchen  anderen  Fällen  die  Schmarotzer  zur  Bestimmung 
des  beziehungsweisen  Alters  verschiedener  Thiergruppen  sich  benutzen 
lassen. 

Ich  habe  im  Vorstehenden  den  Cryptoniscus  planarioides  als 
Schmarotzer  von  Sacculina  purpurea ,  der  Bopyrus  resupinatus  als 
Schmarotzer  von  Pagurus  bezeichnet,  obwohl  beide  sich  jetzt  in  voll- 
kommen gleicher  Weise  zu  Sacculina  und  Bopyrus  verhalten,  nämlich 
die  Sacculina  verdrängen ,  um  aus  deren  im  Pagurus  fortwuchernden 
Wurzeln  ihre  Nahrung  zu  ziehen.     Es  wird  dies  keiner  weitläufigen 


1)  Darwin,  Balanidae.  S.  272. 


72  Fritz  Müller, 

Rechtfertigung  bedürfen ;  denn  offenbar  ist  Cryptoniscus  von  der  Sac- 
culina  aus,  Bopyrus  vom  Pagurus  aus  an  den  jetzt  beiden  gemeinsamen 
Wohnsitz,  den  Anheftungspunkt  der  Sacculina  an  den  Pagurus  gelangt. 
Cryptoniscus  (Liriope)  pygmaeus  ist  noch  einfacher  Schmarotzer  von 
Peltogaster  paguri,  den  er  nicht  verdrängt,  und  entsinne  ich  mich  recht, 
so  hat  man  im  Vaterlande  dieser  Thiere  auch  einen  Bopyrus  gefunden, 
der  als  einfacher  Schmarotzer  am  Hinterleibe  von  Pagurus  lebt.  Mög- 
lich ,  dass  diese  norwegischen  Arten  einst  auch  noch  die  bequeme  und 
ausgiebige  Nahrungsquelle  entdecken,  an  der  ihre  brasilianischen  Ver- 
wandten sich  bereits  niedergelassen  haben. 


Erklärung  der  Abbildungen. 

Taf.  111.  Fig.  1 — 3.     Entoniscus  Cancrorum. 

Fig.  1 .     Erwachsenes  Weibchen. 

Fig.  2.     Jüngste  Larve,  in  ihrer  Lieblingsstellung. 

Fig.  3.     Dieselbe  von  der  Bauchseite,  mit  ausgebreiteten  Gliedmaassen. 

Fig.  4— 9.     Bop  y  rus  resupinatus. 

Fig.  4.     Jüngste  Larve,  vom  Rücken.    /.  Leber. 

Fig.  5.  Aeltere  Larve,  an  einem  mit  Sacculina  behafteten  Pagurus  gefun- 
den ;  (die  drei  letzten  Beinpaare  der  Brust  und  die  Schwimmfüsse 
des  Hinterleibes  sind  weggelassen) . 

Fig.  6.     Junges  Weibchen,  vom  Rücken,  l.  Leber,    h.  Herz 

Fig.  7.     Erwachsenes  Weibchen,  vom  Rücken. 

Fig.  8.     Ein  solches  von  der  Bauchseite. 

Fig.  9.     Männchen,    l.  Leber,    h.  Herz.    t.  Hoden. 

Fig.  10.  Bopyridenlarve  von  unbekannter  Abkunft,    d.  Darm.    l.  Leber. 

Fig.  1 1 .  Junge  Cymothoe,  der  Bruthöhle  der  Mutter  entnommen. 
Taf.  IV.  Fig.  12—19.     Cryptoniscus  plan  arioides. 

Fig.  12.  Theile  der  jüngsten  Larve:  a.  Kopf.  6.  ein  Bein  des  5.  Paares  dei' 
Brust    c.  ein  Schwimmfuss  vom  letzten  (5.)  Paare  des  Hinterleibes. 

Flg.  13.  Junges  festsitzendes  Weibchen,  h.  Herz.  l.  Leber  (?).  eh.  Chitin- 
kranz der  Sacculina. 

Fig.  14.  Halbwüchsiges  Weibchen,  c.  Mundende  desselben.  L.  Leibes- 
wand des  Cryptoniscus.  m.  das  in  die  Wurzeln  der  Sacculina 
eingesenkte  Mundende ;  zwischen  beiden  der  Chitinring  der  Sac- 
culina, an  dem  man  den  im  Innern  des  Pagurus  sich  ausbreitenden 
Kranz  k.  und  die  ausserhalb  desselben  liegende  Platte  p.  unter- 
scheidet. 

Fig.  15.  Mundende  eines  anderen  Weibchens.  L.  und  m.  wie  in  Fig.  14. 
B.  Eingang  zur  Bruthöhje  des  Cryptoniscus.  eh.  Chitinring  der 
Sacculina. 


Bruchstückp  zur  Naturgeschichte  der  Bopyriden.    Erkirininn  der  Abbildungen.       73 

Taf.  IV.  Fig.  16.  Aelleres  Weibchen. 

Fig.  17.  Weibchen  mit  fast  reifer  Brut.  Am  Anhcftungspunkte  grüne 
Sacculinawurzoln. 

Fig.  18.  Chitingerüst  in  der  Leibeswaiui  eines  alten  Weibchens.  B.  Ein- 
gang zur  Bruthöhle ,  in  weichem  man  4  fingerförmige  Anhänge 
sieht.    Ch.  Chitinplalte  der  Sacculina. 

Fig.  19.  Männchen,    h.  Herz.    l.  Leber. 

Fig.  20.  Microniscus  fuscus. 

Itajahy,  S''   Catharina,   Brazil, 
im  December  1869. 


lieber  deu  Trimorpliismiis  der  Poutederieii. 

Von 

Fritz  Müller. 


Vor  mehreren  Jahren  wurde  hier  als  Zierpflanze  eine  Ponlederia 
(wahrscheinlich  Ponlederia  crassipes)  eingeführt,  die  sich  seitdem 
auf  ungeschlechtlichem  Wege  mit  unglaublicher  Schnelligkeit  vermehrt 
hat.  In  einem  Graben,  in  welchen  ich  vor  noch  nicht  zwei  Jahren  eine 
kleine  Pflanze  dieser  Pontederia  warf ,  hat  dieselbe  auf  weite  Strecken 
ihre  einheimische  Verwandte,  die  Heteranthera  reniformis 
R.  &  P.,  verdrängt,  und  entfaltet  jetzt  täglich  Hunderte  von  Blüthen- 
ähren. 

Nach  Endlicher  (Gen.  plant.  No.  1088,  b,  a.)  sollen  bei  den  eigent- 
lichen Pontederien  die  Staubfäden  ziemlich  gleich  lang  sein.  Unsere 
Pflanze  dagegen  (Fig.  4.)  hat  drei  kurze  und  drei  sehr  lange  Staubfäden ; 
die  Staubbeutel  der  ersteren  liegen  am  Eingange  der  Blumenröhre,  die 
der  letzteren  stehen  etwa  2  Cm.  darüber.  Die  Narbe  steht  zwischen 
diesen  beiden  Gruppen  von  Staubbeuteln,  ganz  wie  bei  der  mittelgriff- 
ligen  Form  von  LythrumSalicaria.  Es  war  mir  kaum  zweifelhaft, 
dass  auch  diese  Pontederia  trimorph  sei  und  dass  die,  welche  ihr 
Stamina  subaequalia  zuschrieben  ,  lang-  oder  kurzgritf  lige  Pflanzen  vor 
sich  hatten ,  während  die  hier  eingeführte  Pflanze  der  mittelgriffligen 
Form  angehörte.  Ich  war  daher  sehr  gespannt,  die  Blumen  einer  zwei- 
ten Art  zu  untersuchen,  die  im  unteren  Laufe  des  Itajahy-mirim  in 
grosser  Menge  an  den  Ufern  hin  wächst. 

Bei  einem  Ausfluge,  den  ich  deshalb  im  Oclober  1868  nach  dem 
»kleinen  Flusse«  machte,  (wie  von  den  Anwohnern  des  Itajahy  der 
Itajahy-mirim  gewöhnlich  genannt  wird),  fand  ich  die  Pontederia  leider 
noch  nicht  in  Blüthe.  Dagegen  leuchteten  mir  in  voller  Pracht  ihre 
spannenlangen  dunkelblauen  Blüthenähren  entgegen,  als  ich  vor  wenigen 
Tagen  an  der  Mündung  des  kleinen  Flusses  vorüberfuhr.  Nach  dem 
Landen  gelang  es  mir,   vom  Ufer  aus  einige  Blüthen  zu  erreichen  und 


üeber  den  Trimorphisimis  der  Pontederieii.  75 

diese  waren  —  zu  meiner  nicht  geringen  Freucio  —  theils  lang-,  Iheils 
kurzgrifflig ! 

Um  auch  der  mittelgriffligen  Form  habhaft  zu  werden,  Hess  ich 
mich  im  Canoe  den  kleinen  Fluss  hinauffahren.  Von  jeder  Pflanze,  an 
der  wir  vorüberkanien,  —  (eine  einzige  Pflanze  bedeckt  oft  eine  Fläche 
von  mehreren  Quadratruthen)  —  wurde  eine  Aehre  gepflückt  und 
untersucht;  aber  umsonst!  —  Langgriff^lig ,  kurzgrifflig,  —  kurz- 
grifflig, langgriff'lig  ging  es  fort  und  fort,  bis  ich  nach  stundenlangem 
vergeblichen  Suchen  umkehrte,  ohne  eine  einzige  mittelgrifflige  Pflanze 
gefunden  zu  haben.  — 

Schon  beim  Beginn  der  Fahrt  fiel  es  mir  auf,  dass  die  Blumen 
verschiedener  Pflanzen  sich  sehr  merklich  in  ihrer  Farbe  unterschie- 
den; das  Blau  der  einen  war  dunkler  und  rein,  das  der  anderen  blasser 
und  ins  Violette  ziehend.  Bald  bemerkte  ich,  dass  alle  dunklen  Blumen 
kurzgrifflig ,  die  blasseren  langgrifTlig  waren ,  so  dass  ich  nun  schon 
aus  der  Ferne  die  beiden  Formen  unterscheiden  konnte.  Unter  Hunder- 
ten von  Pflanzen  kam  keine  Ausnahme  vor. 

Diese  verschiedene  Farbe  der  lang-  und  der  kurzgriffligen  Blumen 
ist  eben  so  auffallend,  als  das  Fehlen  der  mittelgriffligen  Form.  Hat 
die  Pflanze ,  wie  es  bei  manchen  auf  ungeschlechtlichem  Wege  rasch 
sich  vermehrenden  Arten  der  Fall  zu  sein  scheint,  das  Vermögen  ver- 
loren, keimfähige  Samen  zu  erzeugen  und  sind  alle  Pflanzen  des  Itajahy- 
mirim  nur  Theile  je  eines  lang-  und  eines  kurzgriffligen  Stockes?  — 
Oder  entstehen  aus  den  durch  Kreuzung  je  zw-eier  Formen  erzeugten 
Samen  bei  Pontederia  nur  immer  wieder  diese  beiden  Formen ,  aber 
nicht  die  dritte,  und  erben  dann  mit  der  Form  der  Staubgefässe  und 
Griffel  die  Sämlinge  auch  die  eigenthümliche  Farbe  des  Vaters  oder  der 
Mutter'?  —  Ich  kann  für  jetzt  keine  Antwort  geben,  sondern  nur  für  die 
Möglichkeit  der  einen  wie  der  anderen  Annahme  auf  ein  ähnliches  Ver- 
halten trimorpher  Oxalis- Arten  hinweisen.  Von  einer  auf  der  Insel 
Santa  Catharina  ungemein  häufigen  Art  finden  sich  dort  nur  zwei 
Formen ,  die  völlig  unfruchtbar  sind  und  sogar  in  der  Regel  nur  ganz 
taube  (»contabescirte«  Gaertner)  Staubbeutel  hervorbringen.  Aus  Samen 
der  langgriff ligen  Form  einer  weissen  trimorphen  Oxalis,  die  mit 
Blüthenstaub  der  längeren  Staubgefässe  der  mittelgriffligen  Form  be- 
stäubt w  orden  w^ar ,  erhielt  ich  nur  lang-  und  mittelgrifflige ,  aber  keine 
kuizgriff ligen  Sämlinge.  Bemerken  will  ich  noch,  dass  junge  an- 
scheinend gesunde  Früchte  sowohl  an  lang-  als  an  kurzgriffligen 
Pflanzen  von  Pontederia  in  Menge  vorhanden  waren.  — 

Die   trimorphen  Pontederien   sind   in    mehrfacher  Beziehung   der 
Beachtung  werth.    Zunächst  schon  als  Zuwachs  zu  der  noch  so  geringen 


76  Fritz  Müller, 

Zahl  der  bisher  als  trimorph  erkannten  Pflanzen ,  die  alle  der  Gattung 
Lythrum  und  ihren  nächsten  Verwandten ,  sowie  der  Gattung  Oxalis 
angehören.  Dann  als  trimorphe  Monocotyledonen ;  denn  alle  bisher 
bekannt  gewordenen  dimorphen  und  trimorphen  Arten  sind  Dicotyle- 
donen.  Ferner  als  weiteres  Beispiel  für  die  Richtigkeit  einer  Vermuthung, 
die  Darwin  verjähren  mir  brieflich  aussprach,  dass  nämlich  Wasser-  und 
Marschpflanzen  besonders  zum  Dimorphismus  geneigt  seien.  Vor  allem 
aber  wegen  ihrer  unregelmässigen  Blüthen  ^j  und  der  eigenthümlichen, 
von  Lythrum  und  Oxalis  völlig  abweichenden  Weise ,  in  welcher  bei 
ihnen  der  Trimorphismus  zu  Stande  kommt.  Bei  Lythrum  und  Oxalis 
wechseln  bekanntlich  die  längeren  und  kürzeren  Staubfäden  mit  ein- 
ander ab;  jene  stehen  den  Kelch-,  diese  den  Blumenblättern  gegen- 
über; die  Staubbeutel  desselben  Staubblattkreises  stehen  in  gleicher 
oder  nahezu  gleicher  Höhe.  Bei  Pontederia  dagegen  gehört  von  den 
längeren  Staubgefässen  eines  (Fig.  2,  3,  4,  A)  dem  äusseren,  zwei 
(Fig.  2,  3,  4,  B)  dem  inneren  Kreise  an,  von  den  kürzeren  zwei 
(Fig.  2,  3,  4,  a)  dem  äusseren,  eines  (Fig.  2,  3,  4,  6)  dem  inneren 
Kreise ;  sowohl  die  drei  längeren ,  als  die  drei  kürzeren  Staubgefässe 
entspringen  neben  einander.  Sowohl  in  der  Gruppe  der  längeren  als  in 
der  der  kürzeren  Staubgefässe  entspringen  die  den  Kelchblättern  gegen- 
überstehenden [A,  a)  etwas  höher,  als  die  den  Blumenblättern  gegen- 
überstehenden (ß,  6),  so  dass  also  von  den  längeren  Staubgefässen  das 
mittlere  [A) ,  welches  von  dem  unpaaren  (vorderen)  Kelchblatte  ent- 
springt, höher  steht,  als  die  seitlichen  (ß) ,  während  umgekehrt  von  den 
kürzeren  Staubgefässen  das  mittlere  (6) ,  welches  von  dem  unpaaren  in 
beiden  Arten  mit  einem  dottergelben  Fleck  gezeichneten  Blumenblatte 
entspringt,  tiefer  steht,  als  seine  Nachbarn  (a) .  Bei  der  mittelgriff"ligen 
und  langgriffligen  Form  stehen  auch  die  Staubbeutel  der  beiden  seit- 
lichen kürzeren  Staubgefässe  in  nicht  ganz  gleicher  Höhe. 

Die  Blüthenstaubkörner  sind  bei  der  mittelgriffligen  Form  der 
Pontederia  crassipes  (?)  ein  wenig  grösser  in  den  langen ,  als  in  den 
kurzen  Staubgefässen.  Den  Blüthenstaub  der  Pontederia  des  Itajahy- 
mirim  habe  ich  nicht  mikroskopisch  untersucht.  —  Die  aufwärts  ge- 
bogene Narbe  der  langgriffligen  Blumen  der  letzteren  Art  ist  bedeutend 
grösser  als  die  der  kurzgriff  ligen  ,  wie  es  bei  vielen  anderen  dimorphen 
Pflanzen  der  Fall  ist. 

Noch  einer  Eigenthümlichkeit  der  Pontederia  des  Itajahy-mirim 


1)  »As  yet  I  know  of  no  case  of  dimorphism  in  flowers  which  are  very 
irregulär :  such  flowers  being  apparently  always  sufficiently  visited  and  crossed  by 
insects.«   Darwin,  brieflich,  1867. 


Ueber  den  Trimorphismiis  der  Pontederien. 


77 


mag  hier  beiläufig  erwähnt  sein.    Die  Kelch-  und  Blumenblätter  sind 
nur  am  Schlünde  der  Blumenröhre  mit  einander  verwachsen,  im  unteren 


Fig.  i.  Blume  der  Pontederia  aus  dem  I  tajahy  -  mi  rim,  von  der  Seite, 
nat.  Gr.  —  s  Spalt  zwischen  den  seitlichen  Kelch-  und  seitlichen  Blumen- 
blättern. 

2.  Griffel  und  Staubgefässe  der  kurzgriflligen  Form  dieser  Art. 

3.  Dieselben  von  der  langgriffligen  Form  derselben  Art. 

4.  Dieselben   von  der  mittelgrifiligen   Form    einer    anderen   Pontederia 
(crassipes?).  — 

In  Fig.  2 ,  3  und  4  bedeuten :  N.  Narbe.  A.  unpaares,  a  paariges  Staubgefäss 
äusseren  Kreises.  B.  paariges  ,  h.  unpaares  Staubgefäss  des  inneren  Kreises. 
Staubgefäss  a,  sowie  ein  Staubgetäss  B  ist  weggelassen.  — 


Fig. 
Fig. 
Fig. 


des 
Ein 


Theile  der  Bohre  dagegen  frei ;  namentlich  bleiben  zwischen  den  seit- 
lichen Kelch-  und  den  seitlichen  Blumenblättern  deutlich  klaffende 
Spalten  (Fig.  1,  s) ,  durch  die  man  den  Griffel  von  aussen  sehen  kann. 
Das  unpaare  Blumenblatt  war  bei  einigen  kurzgriffligen  Blumen  auch 
in  seinem  unteren  Theile  mit  den  seitlichen  Kelchblättern  verwachsen.  — 
Bei  Pontederia  crassipes  (?)  und  Heteranthera  reniformis  sind  Kelch- 
und  Blumenblätter  zu  einer  rings  geschlossenen  Röhre  verwachsen.  — 
Die  den  Pontederien  nahe  verwandte  Heteranthera  reni- 
formis ist  nicht  trimorph;  die  drei  kürzeren  Staubgefässe  der  trimor- 
phen  Pontederien,  die  von  den  seitlichen  Kelchblättern  und  dem  un- 
paaren  Blumenblatt  entspringen,    fehlen   hier;    das  übrig  bleibende 


78  Fritz  Muller,  üeber  den  Trimorphisraus  der  Pontederien. 

Staubgefäss  des  äusseren  Kreises  ragt  weit  über  die  Blumenröhre  vor 
und  trägt  einen  bläulichen  Staublieutel ,  während  die  beiden  Staubge- 
fässe  des  inneren  Kreises  weit  kürzer  sind  und  gelbe  Staubbeutel 
tragen.  Der  Griffel  hat  bei  allen  Pflanzen  nahezu  gleiche  Länge  und  die 
Narbe  steht  in  gleicher  Höhe  mit  dem  blauen  Staubbeutel  ^) . 


4j  Endlicher's  Angabe  (gen.  plant.  No.  1087),  dass  Heteranthera 
»stamina  3,  limbi  lobis  interioribus  opposita«  besitzt,  ist  wenigstens  für  H.  reni- 
formis  falsch. 

Itajahy,  S^   Gatharina,  Brazil, 
im  December  1  869. 


lieber  die  ßiiiwirkuiig  vou  Ainiuoiiiak  auf  Thioiiylchlorür  und 

Seleuylchlorür. 


Von 

Dr.  A.  Michaelis. 


I. 

Trockenes  Ammoniak  wirkt  nach  Schiff  ^)  so  heftig  auf  Thionyl- 
chlorür  ein,  dass  sich  das  Ganze  unter  Abscheidung  von  Schwefel  roth- 
braun färbt.  Durch  starkes  Abkühlen  des  Thionylchlorürs  soll  sich  jedoch 
ein  fast  weisser  unkrystallinischer  Köq-)er  bilden ,  welcher  an  Wasser 
Salmiak  abgiebt  und  sich  sehr  leicht  dadurch  unter  Bildung  von  schweflig- 
saurem Ammoniak  zersetzt. 

Schiff  nimmt ,  auf  die  Analogie  der  Zersetzung  organischer  Aci- 
chloride  durch  Ammoniak  sich  stützend,  in  diesem  Körper  Thionyldiamid 
SONgH^  an.  Da  Schiff  denselben  jedoch  nicht  isolirte  und  auch  in  der 
wässrigen  Lösung  gewiss  noch  andere  Dinge  als  schwefligsaures  Am- 
moniak enthalten  sein  mussten ,  so  schien  es  mir  nicht  uninteressant 
diese  Zersetzung  genauer  zu  studiren. 

Das  angewandte  Thionylchlorür  wurde  nach  der  von  Schiff  und 
Carils^)  angegebenen  Methode  dargestellt.  Dann  ist  dasselbe  aber 
immer  noch  gelblich  gefärbt.  Um  das  Thionylchlorür  farblos  zu  erhalten, 
muss  es  einige  Zeit  mit  in  die  Höhe  gerichtetem  Kühler  erhitzt  und  bei 
nachheriger  Destillation  das  zuerst  übergehende  für  sich  aufgefangen 
werden. 

Ich  will  hier  noch  bemerken ,  dass  das  Thionylchlorür  ebenso  wie 
schweflige  Säure,  auch  Chlor  sehr  leicht  absorbirt,  indem  es  dabei  die 
Farbe  dieses  Gases  annimmt.  Eine  Einwirkung  findet  jedoch  nicht  statt, 
selbst  nicht  im  directen  Sonnenlicht. 


^)  Ann.  d.  Chem.  u.  Pharm.  CII,  p.  113. 
2)  Ann.  d.  Chem.  u.  Pharm.  CXI,  p.  93. 


80  Dr.  Ä.  Michaelis, 

Zur  Einwirkung  von  Ammoniak  brachte  ich  das  Thionylchlorür  in 
einen  kleinen  weithalsigen  Kolben ,  durch  dessen  Kork  zwei  Röhren 
gingen,  eine  längere,  welche  beliebig  tief  in  den  Kolben  geschoben 
werden  konnte,  und  eine  kurze,  welche  als  Ableitungsrohr  diente. 

Sobald  durch  erstere  das  durch  Kali  und  Chlorcalcium  getrocknete 
Ammoniak  geleitet  wurde,  entstanden  unter  starker  Erwärmung  der 
Flüssigkeit  weisse  Nebel  von  Salmiak.  Um  die  Reaction  zu  massigen, 
wurde  der  Kolben  fortwährend  mit  kaltem  Wasser  abgekühlt.  Sobald 
das  Ammoniak  weniger  mit  Luft  gemischt  kam,  legten  sich  gelbe 
Krystalle  an  die  Wände  des  Kolbens;  darauf  bildete  sich  in  den  oberen 
Theilen  ein  rother  Reschlag,  während  die  unteren  sich  grünlich  färbten. 

Die  Stärke  der  Einwirkung  wurde  durch  das  Verschieben  des  Zu- 
leitungsrohres  geregelt;  zuletzt  musste  die  gebildete  feste  Masse  einige- 
mal mit  einem  Glasstab  zerdrückt  werden,  um  eingeschlossenes  Chlor- 
thionyl  mit  dem  Ammoniak  in  Berührung  zu  bringen. 

I .  Aus  der  schliesslich  erhaltenen  gelbweissen  Masse  liess  sich  durch 
Aether  ein  krystallisirender  Körper  ausziehen ,  der  beim  Erhitzen  im 
trockenen  Röhrchen  mit  Feuererscheinung  verpuffte.  In  Aether  löste 
sich  jedoch  nur  wenig  desselben,  viel  besser  war  er  in  Schwefelkohlen- 
stoff löslich.  Es  wurde  deshalb  die  ganze  Masse  fein  gepulvert  mit  dem 
gleichen  Volum  Schwefelkohlenstoff  übergössen,  im  Wasserbad  mit  um- 
gekehrtem Kühler  erhitzt ,  die  erhaltene  rothe  Lösung  klar  abgegossen, 
abdestillirt,  das  ungelöst  Gebliebene  von  Neuem  mit  dem  abdestillirten 
Schwefelkohlenstoff  wie  oben  behandelt  und  dies  so  lange  wiederholt 
als  sich  der  Schwefelkohlenstoff  noch  färbte. 

Aus  den  erhaltenen  concentrirten  Lösungen ,  die  eine  tief  dunkel- 
rothe  Farbe  hatten ,  wurde  dieser  Körper  in  gelbrothen  Krystallen  des 
rhombischen  Systems  erhalten. 

Durch  Wasser  wurde  derselbe  nicht  verändert,  in  Alkalien  löste  er 
sich  unter  Entwickelung  von  Ammoniak  mit  gelber  Farbe  auf.  Aus 
dieser  Lösung  schied  sich  durch  Säurezusatz  Schwefel  ab  unter  Bildung 
von  schwefliger  Säure  und  Schwefelsäure.' 

Nach  allen  diesen  Reactionen  war  es  wahrscheinlich ,  dass  dieser 
Körper  aus  Schwefelstickstoff  bestand. 

Zur  Analyse  wurde  das  Verhalten  gegen  Alkalien  benutzt.  Der 
Stickstoff  wurde  dabei  aus  dem  entwickelten  Ammoniak ,  der  Schwefel 
als  Schwefelsäure ,  in  welche  das  in  der  alkalischen  Lösung  enthaltene 
polythionsaure  Salz  durch  Einleiten  von  Chlor  übergeführt  wurde, 
bestimmt. 

0,2468  Grm.  Subst.  lieferten  0,5280  Platin  entspr.  30,30  Proc. 
Stickstoff  und  1,2458  Baryumsulfat  entspr.  69,32  Proc.  Schwefel. 


üeber  die  Kinwirkung  von  Ammoniak  auf  Thioiiylchloriir  und  Seleiiylchlorfir.        81 

Diese  Zahlen  entsprechen  der  Formel  NS  des  Schwefelstickstoffs 

S  =  69,56         69,32 

N  =  30,44         30,30 

100,00         99,62. 

Es  war  also  hier  aus  dem  Chlorid  der  schwefligen  Säure  ein  Körper 
entstanden,  der  sonst  nui  durch  Einwirkung  von  Ammoniak  auf  ein 
Chlorid  des  Schwefels  erhalten  wird.  So  erhielt  SorBEiRAN  ')  zuerst 
eine  Verbindunii  von  Schwefel  und  Stickstofl'.  Er  beschreibt  diese  als 
grünes  beim  Erhitzen  izolh  werdendes  Pulver  und  giebt  ihr  die  Zu- 
sammensetzung NSj. 

Bald  darauf  behauptete  Laurent  ^i ,  dieser  Körper  sei  ein  Gemenge 
eines  sauerstoffhaltigen  und  eines  wasserstoffhaltigen  Körpers ,  welch 
letzterer  die  Formel  S^NH  besässe.  Da  diese  Ansicht  Laurent's  jedoch 
nicht  hinreichend  durch  Versuche  bestätigt  war  .  so  nahmen  Fordos  und 
Gelis  *)  die  Untersuchung  wieder  auf  und  zeigten,  dass  der  durch  Ein- 
wirkung von  Ammoniak  auf  Chlorschwefel  erhaltene  Körper  ein  Ge- 
menge von  fünf  verschiedenen  Substanzen  sei.  Kalter  Schwefelkohlen- 
stoff entzog  diesen  Schwefel,  siedender  Schwefelstickstoff.  Durch 
mehrere  genaue  Analysen  stellten  sie  für  diesen  Körper  die  Formel  NS^, 
oder  nach  unseren  jetzigen  Atomgewichten  NS,  fest.  Sie  beschreiben 
den  Schwefelsticksloft'  als  orangegelbe  rhombische  Krystalle,  die  beim 
Zerreiben  ein  goldgelbes  Pulver  geben ,  durch  Erhitzen  mit  Feuerer- 
scheinung verpuffen  und  durch  starkes  Keiben  unter  heftigem  Knall  »ind 
Zertrümmern  des  Gefässes  explodiren. 

Zuletzt  ist  der  Schwefelslickstoff  von  Nikl^s*)  untersucht;  nach 
diesen  bildet  derselbe  gerade  rhombische  Prismen  von  89''10',  die  durch 
Flächen  zugespitzt  sind,  welche  auf  den  Prismenflächen  unter  139"  auf- 
gesetzt sind. 

Durch  die  Einwirkung  von  Anmioniak  auf  Thionylchlorür  wird  der 
Schwefelstickstoff  ganz  rein ,  ohne  jede  Beimengung  von  Schwefel  er- 
halten. Die  Ausbeute  beträgt  lOProc.  vom  angewandten  Thionylchlorür-. 
Zu  den  schon  von  Fordos  und  Gelis  über  den  Schwefelstickstoff  Be- 
kannten kann  ich  noch  Folgendes  hinzufügen. 

Beim  langsamen  Erhitzen  im  Paraffinbad  bis  auf  120"  fäibt  sich 
der  Schwefelstickstoff  dunkelrolh  ;  dann  tritt  der  eigenthümlich  reizende 
Geruch  dieses  in  der  Kälte  geruchlosen  Körpers  deutlich  hervor.    Bei 


1)  Ann.  (\.  Chem.  u.  Pharm.  XXVIII,  59 
i)  Compl.  lend.  XXIX,  557. 

3)  Ann.  (l.  Chcni.  u.  Pharm.  LXXVIII,  71. 

4)  Ann.  do  chim.  et  de  phys.    3.;  T.  XXXII,  p.  420. 
Bd.  VI.  1. 


82  Dr.  A.  Michaelis, 

weiterem  Erhitzen  bis  1  35"  subliniirt  der  Schwefelstickstoff  in  kleinen 
gelbrothen  Krystallen;  bei  158"  schmilzt  er  unter  langsamer  Gasent- 
wickelung und  bei  160"  zersetzt  er  sich  unter  Verpuffen  und  schwacher 
Feuerscheinung.  Das  spec.  Gewicht  des  Schwefelstickstoffs  ist  bei 
15"  =  2,'H66. 

Trockenes  Ammoniak  wirkt  nicht  merklich  auf  Schwefelstickslofl 
ein.  Als  ich  denselben  mit  einer  ätherischen  Lösung  von  Ammoniak 
in  eine  Glasröhre  einschloss  und  im  Wasserbad  erhitzte,  erhielt  ich 
ausser  unveränderten  Schwefelsticksloff  nur  sehr  wenig  einer  weissen 
Substanz,  die  in  Wasser  unlöslich  war  und  in  der  Hitze  unverändert 
sublimirte. 

Trockene  Salzsäure  wirkt  auf  erwärmten  Schwefelstickstoff  heftig 
ein;  es  bildet  sich  ein  rother  Körper,  der  sich  sublimirt,  während  Sal- 
miak zurückbleibt  und  zugleich  der  Geruch  nach  Chlorschweffel  deut- 
lich zu  bemerken  ist.  In  heissem  Aether  löste  sich  der  so  entstandene 
rolhc  Körper  mit  gelber  Farbe  auf,  allein  nicht  unverändert,  denn  es 
schieden  sich  aus  dieser  Lösung  beim  Verdampfen  weisse  Krystalle  aus, 
welche,  da  sie  einen  kohligen  Rückstand  hinterliessen,  durch  Einwir- 
kung auf  den  Aether  entstanden  sein  mussten.  Die  rothe  Verbindung 
war  vielleicht  der  von  Fordos  und  Gei.is  1i  beschriebene  Körper  SCIgiNS 
und  gemäss  der  Gleichung 

15NS  ■+■  SHCI  =  ^(NHjCl]  +  ^(SCIalNS;  +  N 
entstanden. 

Fordos  und  Gkms  beschreiben  ihn  als  cochenillerothe  Substanz,  die 
sie  zugleich  mit  zwei  anderen  Körpern ,  von  der  Zusammensetzung 
SCIoSiNS  und  SCI.^biSS  durch  Einwirkung  von  Schwefelbichlorid  auf  eine 
Lösung  von  Schwefelsticksloff  in  Schwefelkohlenstoff  erhielten. 

Die  eingangs  mitgetheilte  Angabe  von  Schiff  ,  dass  sich  bei  der 
Einwirkung  von  Ammoniak  auf  Thionylchlorür  Schwefel  abscheide,  ist 
also  nicht  richtig.  Die  rothbraune  Färbung  der  Masse  rührt  von  Schwefel- 
stickstoff her. 

2.  Die  mit  Schwefelkohlenstoff  erschöpfte  ursprüngliche  Substanz, 
hatte  noch  eine  gelbe  Farbe. ^  iMit  Wasser  behandelt  schied  sich  aus  ihr 
ein  gelbes  Pulver  ab,  welches  trocken  erhitzt,  etwas  schwächer  wie 
Seh wefelstickstofF  verpuffte.  Dieses  Pulver  ist  wahrscheinlich  von  Schiff 
für  Schwefel  gehalten  worden. 

Eine  Analyse  dieses  Pulvers  zeigte,  dass  dasselbe  ein  Gemenge  von 
zwei  Theilen  Schwefelstickstofl'  und  einem  Theil  Schwefel  war.  Durch 
Behandeln   mit   kaltem  Schwefelkohlenstoff  konnte  dieser  ausgezogen 

1)  Ann.  rl.  r.hem.  vi.  Pliarin    L.X.W,  p.  ■262. 


rchcr  die  l'/uiwirkiiiiii  von  Ammoniak  auf  Tliioiiylclilorfir  und  Selenylchlorür.        83 

werden ;    der   UUcksland    lieferte    ilann    durch   Umkrystallisiren    aus 
heisseiu  SchwefelkohlenstolV  reinen  Schwef(>lslickstotV. 

Da  SchwefelkohlenslolV  \orlier  nichts  mehr  ausgezogen  halle,  wo- 
von ich  mich  durch  wiederholles  Behandeln  mit  denselben  überzeugte, 
so  mussle  in  der  Masse  eine  Substanz  enthalten  sein  ,  die  sich  durch 
Wasser  in  Schwefel  und  Schwefelstickstoll'  zersetzte.  Vorzüglich  viel 
des  gelben  Pulvers  lieferten  die  farbigen  Beschläge,  die  durch  Schwefel- 
kohlenstoir  fast  nicht  veriindert  wurden.  Diese  bestanden  wahrschein- 
lich aus  den  oben  angegebenen  Verbindungen  des  Schwefelstickstolls 
mit  Schwefelchlorid  und  wurden  durch  Wasser  beispielsweise  nach  der 
Gleichung 

2(SCl2,  2NS)  -+-  2H2O  =  S  +  INS  -+-  SO.,  +  IHCI 
/ersetzt. 

Das  Filtrat  von  dem  gelben  Pulver  zeigte  folgendes  Verhalten. 

Mit  verdünnten  Säuren  erhitzt,  schied  sich  Schwefel  ab  und  es 
bildete  sich  schweflige  und  Schwefelsiuare.  Beim  Zusatz  der  Säure 
u.\hm  die  Flüssigkeil  vorübergehend  eine  rothe  Farbe  an.  Wurde  vor- 
her Aether  zugesetzt  und  geschüttelt,  so  ging  auf  diesen  die  rothe  Farbe 
über,  allein  sie  war  auch  dann  nicht  beständig. 

Durch  Silberlösung  trat  eine  weisse  Fällung  ein,  die  sieh  allmählich 
grau  färbte.    Durch  Erwärmen  mit  Alkalien  entvN'ickelle  sich  Ammoniak. 

Zu  einer  näheren  Untersuchung  war  es  zuerst  nothwendig  den 
Salmiak  zu  entfernen.  Um  so  wenig  wie  möglich  von  diesem  in  Lösung 
zu  erhalten,  zersetzte  ich  mit  zu  völliger  Lösung  unzureichender  Menge 
Wasser,  filtrirte  die  gelbe  sauer  reagirende  Flüssigkeit  ab  und  versetzte 
mit  einer  concenlrirten  alkoholischen  Lösung  von  Bleiacetat  in  gerin- 
gen Ueberschuss.  Das  Filtrat  vom  ausgeschiedenen  Chlorblei  wurde 
sodann  mit  ungefähr  einem  gleichen  Volum  absoluten  Alkohol  vermischt, 
um  noch  gelöstes  Chiorblei  zu  entfernen  ,  einige  Stunden  stehen  ge- 
lassen, wiederum  filtrirtund  sodann  noch  das  vier  bis  sechsfache  Volum 
absoluten  Alkohols  zugegeben.  Der  entstandene  voluminöse  Nieder- 
schlag wurde  abliltrirt  und  das  sauer  reagirende  Filtrat  mit  Ammoniak 
neutralisirt,  wodurch  wiederum  ein  gerade  so  aussehender  Niederschlag 
erhalten  wurde. 

Beide  Niederschläge  waren  in  W'asser  fast  unlöslich,  völlig  unlöslich 
in  Alkohol,  sehr  leicht  löslich  in  Salpetersäure,  theilweise  in  Essigsäure. 
Aus  diesen  Lösungen  wurden  sie  durch  Neutralisiren  mit  Ammoniak 
wiederum  abgeschieden. 

Der  in  Essigsäure  unlösliche  Theil  des  Niederschlages  gab ,  in 
Salpetersäure  gelöst,  mit  Silbernitrat  eine  gelbe  bald  schwarz  werdende 
Fällung,   der  in  Essigsäure  lösliche  Theil  dagegen  gab  mit  Silberlösung 

6* 


84  Dr.  A.  Michaelis, 

einen  weissen  Niederschlag,  der  sich  beim  Stehen  wenig  veränderte. 
Dieser  Theil  war  wahrscheinlich  durch  Einwirkung  von  dem  zugefügten 
Ammoniak  auf  Chiorblei  entstanden. 

Der  ganze  Niederschlag  wurde  daher  mit  verdünnter  Essigsäure 
behandelt,  der  Rückstand  noch  mit  dieser  ausgewaschen  und  dann  in 
verdünnter  Salpetersäure  gelöst,  wobei  noch  etwas  hartnäckig  anhaf- 
tendes Chlorblei  zurückblicb.  Die  I.ösung  wurde  dann  mit  Ammoniak 
neutralisirt  und  durch  Zusatz  von  Alkohol  vollständig  gefällt.  Da  das 
Chiorblei  ebenfalls  in  Salpcrsäurc  el\\as  löslich  ist,  so  gelingt  es  nicht, 
selbst  bei  nichrfachem  Lösen  und  Fällen  den  Niederschlag  frei  von  Chlor 
zu  erhalten.  Derselbe  gab  jetzt  mit  Silberlösung  eine  gelbe  Fällung, 
die  sich  bald  schwärzte,  mit  salpetersaurem  Quecksilberoxydul  sofort 
eine  schwarze  Fällung.  Durch  Erhitzen  mit  Salpetersäure  entwickelteia 
sich  unter  Aufbrausen  und  Abs.cheidung  von  Schwefel  rolhe  Dämpfe. 

Alle  diese  Reactionen  wi(>sen  darauf  hin  ,  dass  ich  hier  ein  Ge- 
menge von  tetrathionsaurem  und  Irilhionsaurcm  Salz  hatte.  Um  darüber 
Gewissheit  zu  erhalten,  blich  nichts  weil(M-  übrig  als  tunc  Hestinnnung 
aller  darin  enlhalten(Mi  h^lcmcnle,  so  \\eit  dies  möglich,  auszuführen. 

Zur  Bestinunung  \on  Hlei  und  SchxNcfel  wurde  ein  Theil  der  Sub- 
stanz durch  Erhitzen  mit  \erdünnter  Salpelersäuie  zersetzt,  diese  im 
Wasserbade  Concentrin  und  dann  eine  Zeitlang  mit  etwas  rauchender 
Salpetersäure  behandelt,  um  ausgeschiedenen  Schwefel  zu  lösen.  Nach- 
dem schliesslich  die  Salpetersäure  im  Wasserbade  vcrjagl,  blieb  schwefel- 
saures Blei  und  Schwefelsäure  zurück;  ersteres  winde  als  solches  be- 
stimmt, letztere  als  Baryumsulfat  gefällt. 

Die  Resultate  der  Analyse  waren  folgende: 
0,'2048  Grm.  Subst.  gaben  0,0/if>7  Grm.  Chlorsilber  =  ö,bt)Proc.  Chlor 
0,2108  Grm.  Subst.  gaben  0,1701  Grm.  SO^Pb  =  n\,6:]  Froc. 
Blei  und  O.OJIIjGrm.  Schw(!fel ,   ferner  0,2l;i2  (irm.   schwefelsauren 
Baryt  =  0,0334  Grm.   Schwefel.     Der   gesanimte  Schwefelgehalt    war 
also  0,0447  Grm.  =  24,20  Proc. 

Berechnet  man  das  gefundene  Chlor  auf  Chlorblei,  so  war  die  Zu- 
sammensetzung in  1 00  Theilen  folgende  ; 

S  =  21,20     oder  nach  Abzug  vom  Chlorblei 
PbO  =  42,03  S  =  27,23 

iPb  =   l6,o1|  PbO  =  53,87  * 

Cl  =     5,661  0  =  18,90 

0  =  14,60  100,00; 

Diese  Zahlen  stimmen  ziemlich  nahe  mit  der  Formel  S^O'"Plrü"' 
d.  h.  SM/'PbO  -H  S^O'M'bO  überein.  welche  verlangt: 


\k\m  i\w  Kiii\virkiin(i  von  Aiiiiiioiiiiik  iiiil  'i'liiniivlcliloiiii  und  St'|t'ii\lt'lilnriir.         85 

S  =  '20,  yi) 
Pl)0  =  i)3,7(i 
0  =  19,25 
100,00. 
Dio  Verbindung  bestand  also,  mit  den  Reac-lionen  in  Uebereinstini- 
Miung,  aus  tclrathion-  und  trithionsaurein  Salz. 

Als  von  der  Flüssigkeil,  aus  der  diese  Salze  gelallt  \\aren,  der 
Alkohol  im  Wasserbade  abdestillirt  wurde,  zeigte  der  Rückstand  sehr 
deutlich  die  vorübergehende  rothe  Fiirbung  auf  Saurezusatz.  Da  die 
darin  enthaltene  Verbindung  sieh  beim  weiteren  Eindampfen  unter  Ab- 
scheidung von  Seliwefel  zersetzte,  so  schüttelte  ich  mit  Aether  und  Hess 
diesen  bei  sehi-  gelinder  Wärme  verdampfen.  Ks  krystallisirten  dann 
dünne  atlasglänzende  Kr\ stalle  aus,  die  sich  aber  aus  Schwefel  be- 
stehend erwiesen.  Die  Verbindung  war  also  auch  jetzt  wieder  zer- 
setzt und  ich  musste  darauf  verzichten  sie  zu  isoliren. 

Das  durch  die  Einwirkung  von  Anmioniak  auf  Chlorthionyl  neben 
Schwefelstickstott'erhaltene  Producl  zerliel  also  durch  Wasser  in  Schwefel, 
Schwefel  stick  stell"  und  tetrathion-  und  trithionsaures  Ammoniak  und  eine 
unbekannte  sehr  leicht  zersetzbare  Substanz. 


Durch  Einwirkung  von  Anunoniak  auf  staik  abgekühltes  Thionyl- 
chlorür  gelang  es  mir  nicht,  den  von  Schiff  angegebenen  weissen  Kör- 
per zu  erhalten ;  die  Zersetzung  verlief  vielmehr  gerade  so ,  wie  frühei 
angegeben ,  nur  dass  die  lothe  Farbe  bei  den  farbigen  Beschlägen  last 
ganz  zurücktiat.  Gegen  Schwelelkohlenstotf  so  wie  gegen  Wasser  zeigte 
die  erhaltene  Masse  dasselbe  Verhalten  wie  bei  den  früheren  Versuchen. 
Ich  führte  schliesslich  noch  eine  Gemenge -Analyse  der  durch 
Schwelelkohlensloll' vom  Schwefelslickstott'  völlig  befreiten  Masse  aus. 

Die  Analyse  lieferte  folgende  Zahlen; 
0,2ä46  Grra.  Subst.  gab  0,396(5  Grm.  Chlorsilber  =  43,67  Proc.  Chlor. 
0,'2o03     ,,  ,,        ,,     0,?210    Grm.     Baryumsulfat    =   12,10  Proc. 

Schwefel. 
0,26i>8     .,  .,        .,     0,3897  Grm.  Platin  =  21,00  Proc.   Stickstofl. 

0,1206     ,,         ,,        ,.     lieferte  beim  Verbrennen  mit  chromsaurem  Blei 
0,0769  Grm.  Wasser  =  7,08  Proc.  Wasserstoff. 
Die  Substanz  bestand  also  in  100  Theilen. 
S  =  12,10 
N  =  21,00 
Gl  =  43,67 
H  =    7,08 
0  =  16,15 


86  Hr.  A.  Michaelis, 

Berechnet  man  nun  das  Chlor  auf  Sahniak  ,  so  bleibt  für  die  ge- 
bildete Substanz  0  =  16,15 

S  =  12,10 
N  =  8,78 
H  =     1,88 

Auf  diese  Zahlen  lässl  sich  nur  annähernd  eine  Formel  berechnen. 
Am  i^enaueslen  stimmt  die  Formol  S^NgHjoO,,,  damit  überein 

b  e  r.  g  e  f. 

S  =  36,6  35,7 

N  =  12,0  11,1 

H  =     5,7  5,6 

0  =  45,7  47,6 
100,00  100,00. 
Nach  allem  diesem  scheint  es  mir  wahrscheinlich,  dass  dasThionyl- 
chlorür  nicht  den  organischen  Acichloriden  analog  zersetzt  wird.  Das 
Chlor  ist  in  ersterem  viel  stärker  an  den  Schwefel  gebunden,  wie  dort 
an  das  Radical  und  demzufolge  wirkt  das  Ammoniak  nicht  auf  das 
Chlor  allein,  sondern  auf  SCU  und  bewirkt  auf  diese  Weise  die  Bildung 
von  Schwefelst! ckstoff.  Der  gleichzeitig  bei  dieser  Reaction  gebildete 
Schwefel  wird  dann  unter  Bildung  von  schwefliger  Säure  durch  den 
freigewordenen  Sauerstoff  oxydirt  und  es  entsteht  durch  Einwirkung 
derselben  auf  Ammoniak  das  sogenannte  trockene  zweifach  schweflig- 
saure Ammoniak.  Dies  giebt  bei  der  Zersetzung  durch  Wasser  zu  der 
Entstehung  der  Polythionsäuren  und  der  sich  durch  Säuren  röthenden 
Substanz  Veranlassung ,  denn  auch  durch  directe  Zersetzung  dieses 
Körpers  erhält  man  ähnliche  Producte*). 

Diese  Beziehungen  durch  eine  Zersetzungsgleichung  des  Thionyl- 
chlorürs  auszudrücken,  ist  mir  nicht  gelungen,  da  der  Process  dabei,  in 
Folge  secundärer  Zersetzungen  zu  verwickelt  ist.  Jedenfalls  scheint  mir 
aber  die  Annahme  einer  Bildung  von  Thionylamid  unstatthaft  zu  sein. 


II. 

Es  schien  mir  nicht  uninteressant,  auch  die  Einwiikung  von  Am- 
moniak auf  die  dem  ThionylchlorUr  entsprechende  Selenverbindung, 
das  Selenylchlorür,  zu  untersuchen,  da  vielleicht  auf  diese  Weise  Selen- 
stickstoff erhalten  werden  konnte. 

Zunächst  musste  ich  das  Selenylchlorür  darstellen.    Dieses  ist  zu- 


1)  Gmelin,  Handb.  der  anort;.  Clieni.  1,  880. 


Ichcr  die  Kiiiwiikiiiiii,  miii  AiiiiiKniiiik  .ml  'riiioiiNlcliliniir  und  S('lPii\lflilorfir.         h~ 

orsl  von  Webkr 'j  duicli  Im'iiw  irkimii  von  selenigcr  Säure  auf  Sclen- 
leliachlorid  cM-hallen.  Ehe  ich  diesen  Weg  einsclduij;,  versuchle  ich  zu- 
erst diesen  Körper  analog  dem  Thionylchioriii'  durch  Einwirkunc;  von 
Phosphorsui)erciih)nd  auf  selenige  Säure  zu  erhallen. 

(ileiche  Aequivalente  beider  Substanzen  wurden  in  einer  in  die 
Höhe  üeriehteten  und  mit  einem  Chlorcaleiunn'ohr  verbundenen  Retorte 
zusan)meniiebiacht.  Ks  trat  sogleich  starke  lüwärmung  ein  und  die 
Masse  verflüssigte  sich  allmählich.  Als  ich  dii'se  Flüssigkeit  aber  zu 
destilliren  versuchte.  Nvurde  sie  auf  einmal  wieder  fest. 

Bei  slärkeiem  llrhitzen  deslillirte  nun  IMiosphorüX),chiorid  ül)er 
und  es  sublimirte  ein  fester  gelblich  aussehendei'  Körper  in  den  Hals 
der  Retorte.  Ich  leitete  nun  durch  den  Tubulus  einen  Strom  trockenes 
Kohlensäuregas  ein,  wodurch  es  gelang  alles  flüchtige  in  den  Hals  der 
Retorte  zu  sublimiren.  Am  Roden  denselben  blieb  ein  klarer  ge- 
schmolzener Rückstand. 

I.  Her  flüchtige  Körper  sul)limirte  in  der  Ibtze ,  ohne  zu 
schmelzen,  sein  Dampf  hatte  eine  grüngelbe  Farbe.  Durch  Wasser 
wurde  er  sofort  zersetzt,  die  erhaltene  Lösung  gab  mit  Silberiösung 
einen  weissen  Niederschlag,  der  in  Salpet(>rsäure  unlöslich  war;  durch 
schweflige  Säure  wurde  daraus  alles  Selen  gefällt. 

Nach  allem  diesem  schien  es  mir  wahrscheinlich,  dass  derselbe  aus 
Selentetrachlorid  bestand.  Zur  Analyse  wurde  die  noch  einmal  im 
Kohlensäureslrom  sublimirte  Substanz  durch  annnoniakhaltiges  Wasser 
zersetzt  und  das  Chlor  als  Chlorsilber,  das  Selen  als  solches  bestimmt. 
Das  gefällte  Chlorsilber  muss  anhaltend  mit  verdünnter  Salpetersäure 
ausgewaschen  werden,  da  das  selenigsaure  Silbei-  schwer  löslich  ist. 

0,5002  Grm.  Subst.  gaben  1,4237  Grm.  Chlorsilber  =  64,01  Proc. 
Chlor  und  0,1921  Selen  =  :\i,\)'2  Proc.  Diese  Zahlen  entsprechen  der 
Formel  SeCl^  des  Selenteti'achlorids. 

b  e  r.  ^  c  t . 

Se  s=  30,8«  .31, U2 

Cl  =  64,14  <54,0I 

100,00  98,93. 

Zersetzt  man  Selentetrachlorid  mit  ganz  wenig  Wasser  und  lässt  die 
erhaltene  Flüssigkeit  unter  einer  Glasglocke  über  Kalk  und  Schwelel- 
säure verdunsten,  so  erhält  man  das  Hydrat  der  selenigen  Säure  ni 
hexagonalen  Säulen,  die  bei  längerem  Stehen  unter  der  Glocke  ver- 
wittern.   Dieses  Hydrat  wurde  schon  von  Bkrzelils'^J   erhalten  und  in 


1,  Püüü.,  .\nii.  der  Hhys.  u.  Cliein.  CVIII,  61.5. 
2:  r.MELiN,  Miuidlj.  der  Clicm.  1,  G8ü. 


88  Dr.  A.  Micliaelis, 

der   neuesten   Zeit  .von    Weber  i)    analysirl.     Nach   diesen   hat  es   die 
Formel:   SeO^H^. 

Hier  will  ich  noch  einige  Beobachtungen,  die  ich  bei  Gelegenheit 
dieser  Analyse  machte ,  in  Bezug  auf  das  Verhalten  der  selenigen  Säure 
und  ihrer  Salze  gegen  schw^eflige  Säure  anführen. 

Alle  neutralen  Salze  der  selenigen  Säure  werden  durch  schweflige 
Säure  nicht  gefällt,  auch  beim  Kochen  und  längeren  Stehen  nicht. 

Die  zweifach  und  vierfach  sauren  Salze  werden  in  verdünnter 
Lösung  ebenfalls  nicht  gefällt;  concenirirte  Lösungen  nehmen  zuerst 
eine  gelbe,  dann  eine  rothe  Farl)e  an,  ohne  sich  zu  trüben.  Beim  Kochen 
werden  diese  Lösungen  unter  Abscheidung  von  nur  wenig  Selen  farb- 
los und  scheiden  dann  kein  Selen  mehr  aus. 

Alle  Salze  werden  aber  durch  Zusatz  von  Salzsäure  (beim  Erhitzen 
sofort)  vollständig  gefällt.  Wendel  man  statt  der  Salzsäure  Schwefel- 
säure an,  so  tritt  nur  sehr  geringe  Fällung  ein.  Eine  Lösung  von  freier 
seleniger  Säure  in  verdünnter  Schwefelsäure  wird  aber  dui'ch  schwef- 
lige Säure  sogleich  gefällt,  ebenso  tritt  sofort  Fällung  ein,  wenn  man 
Schwefelsäure  mit  einem  Alkali  sättigt,  darauf  selenige  Säure  hinzufügt 
und  dann  mit  schwefligei-  Säure  vermischt. 

Die  Schwefelsäure  scheidet  also  aus  selenigsauren  Salzen  keine 
freie  selenige  Säure  aus,  sondern  bildet  höchstens  vierfach  saures  Salz. 

Allgemein  folgt  also ,  dass  selenigsaure  Salze  nur  bei  GcgenwaH 
von  freier  Salzsäure  vollständig  gefällt  werden.  Will  man  dieser  keine 
kalalytische  Kraft  zuschreiben ,  so  muss  man  annehmen ,  dass  durch 
dieselbe  eine  iheilweise  Zersetzung  eintritt.  Vielleicht  gehl  diese  nach 
der  Gleichung 


s'e^H 
^^OH 

■+■  'i 

HCl 

IV 

=  Se 

OH 

ci  -»-  2H2O 

OH 

Gl 

OH 

OH 

vor  sich. 

Durch  Zusatz 

von 

schwefliger  Säure 

könnte 

dann 

folgende 

Zersetzung  eintreten : 

i^  OH 

2S0o  = 

2SO3 

-1-  2HC1 

•+■  Se 

Gl 
OH 

Sowie  diese  Substanz  zersetzt,  bildete  sich  dann  aus  der  selenigen 
Säui'e  und  Salzsäure  dieser  Körper  von  neuem ,  um  gleichfalls  Zer- 
setzung zu  erleiden,  und  so  fort. 


1)  Chem.  CeiitialblaU  t.  1863.  p.  575. 


lieber  die  Kiiiwirkiiii>i  vuii  AiiiuKMiiiik  aiil  Tliioiiylrliloiiir  und  Seleiivlcliloriii.        ^\) 

Kine  solche  Einwirkunj^  erhall  einiyeWahrschoiniichk(!il  dureh  die 
Angabe  Rathke's  ') ,  dass  eine  Lösung  von  seleniger  Säure  in  Salzsäure 
heim  Abdampfen  Chlorselen  liefert 2). 

'2.  Der  in  der  Retorle  zurückgebliebene  glasige  Rückstand 
erwies  sich  als  IMiosphorsäureanhydrid. 

Der  Process  der  Bildung  des  Tetrachlorids  verläuft  demna(^h  in 
zwei  Phasen.  Zuerst  enlslehl.  analog  der  Wirkung  von  Phosphorsuper- 
chlorid auf  schwellige  Säure,  Selenylchlorür  und  Phosphoroxychlorid. 
Dabei  w  ird  die  Masse  flüssig. 

kSeOg  -*-  3PCL,  =  3SeüCl2  +  JPOCIg. 

Durch  Einw  irkung  von  Phosphoroxychlorid  auf  das  Selenylchlorür 
bildet  sich  dann  Selenlelrachlorid  und  Phosphorsäureanhydrid.  Dabei 
wird  die  Masse  wieder  fesL 

aSeOCI.  -H  :iPÜCl3  =  -^i^eCI^  -i-  P.p,. 

Um  mich  von  der  Richtigkeit  dieser  Ansicht  zu  überzeugen  ,  er- 
liitzle  ich  Phosphoroxychlorid  und  Selenylchlorür  zusammen  ;  es  bildete 
sich  dann  ebenso  Selenlelrachlorid  und  Phosphorsäureanhydrid. 

Diese  Reaction  lässl  sich  zu  einer  leichten  und  schnellen  Dar- 
slellungsweise  des  Tetrachlorids  auf  die  Weise  benutzen,  dass  man,  am 
besten  in  einer  langhalsigen  kleinen  Kochtlasche ,  die  mit  dem  umge- 
kehrten LiEBiGschen  Kühler  verbunden  ist,  Phosphorsuperchlorid  und 
Selenigsäuieanhydrid  auf  einander  wirken  lässt.  Zuerst  bringt  man  das 
Phosphorsuperchlorid  'V-'>  Th.  PCI^  auf  7  Th.  SeOg)  in  dieselbe  und  fügt 
dann  die  selenige  Säure  porlionenweise  hinzu,  indem  man  jedesmal  die 
geendigung  der  eintretenden  Reaction  abwartet.  Dann  wird  die  zuletzt 
flüssig  gewordene  Masse  so  lange  bei  gelindem  Feuer  erhitzt,  bis  sie 
wieder  völlig  fest  geworden  ist.  Darauf  leitet  man  einen  raschen  Strom 
Kohlensäure  ein  und  destillirt  in  diesen  das  Phosphoroxychlorid  über. 
Zuletzt  erwärmt  man  mit  einer  zweiten  Lampe  die  Wände  der  Koch- 
tlasche, um  Phosphoroxychlorid,  das  sich  hier  verdichtet  hat,  zu  ent- 
fernen. L'm  das  Tetrachlorid  rein  zu  erhalten ,  ist  es  nöthig  dies  Ein- 
leiten und  Erwärmen  eine  Zeitlang  fortzusetzen.  Schliesslich  setzt  man 
durch  einen  Kork  eine  weitere  Glasröhre  auf  die  Kochflasche  und  sub- 
limirt  in  einem  vorher  s^eheizlen  Sandbade,   so  dass  keine  Abkühlunc 


1,  .\iiii.  der  Clieiu.  u.  Fiiaiin.  CLll,  p.   194. 

2)  Bei  dieser  Untersuchung  machte  ich  nocli  (uigende  Beobachluny. 

Versetzt  man  eine  verdünnte  Lösung  von  sclcniger  Säure  mit  etwas  phos- 
phoriger  Saure  und  tiigl  dann  einen  Ueberschuss  von  .schwefliger  Säure  hinzu,  so 
entsteht  beim  Erwärmen  Schwelelseien ,  indem  durch  die  phosphorige  Säure  auch 
die  schweflige  Säure  beim  Erhitzen  reducirt  wird 


90  Dr.  A.  Michaelis, 

d(M-  Kochflasche  eintriU,  wobei  sie  zerspringen  würde,  das  SelenleUa- 
chlorid  in  den  Hals  derselben.  Die  Phosphorsäure  setzt  sich  fest  auf 
den  Boden  und  lässt  sich  durch  Absprengen  desselben  entfernen. 

In  dem  überdestillirten  Phosphoroxychlorid  ist  immer  noch  etwas 
Selentetrachlorid  gelöst  enthalten.  Lässt  man  diese  Lösung  einige  Zeit 
stehen,  so  krystallisirt  dasselbe  in  glänzenden  Würfeln  aus.  Auch  durch 
directes  Lösen  dieses  Körpers  in  heisseni  Oxychloiid  erhält  man  beim 
Erkalten  diese  Kryslalle. 

Ein  zweiter  Versuch  zur  Darstellung  von  Selenylchlorür,  durch 
Einwirkung  von  Phosphoroxychlorid  auf  selenige  Säure,  welche  Körper 
nach  der  Gleichung : 

SSeOg  +  2POCI3  =  liSeOCla  +  PgOg 
auf  einander  wirken  konnten,   schlug  deshalb  fehl ,   weil  sich  die  ge- 
bildete Phosphorsäure  so  fest  um  die  selenige  Säure  legt,  dass  diese  da- 
durch einer  weitern  Einwirkung  entzogen  wird. 

Ein  dritter  Versuch ,  der  auf  ganz  unerwartete  Resultate  führte, 
wird  später  für  sich  beschrieben  werden. 

Nach  diesen  Erfahrungen  sah  ich  mich  genöthigt  zur  Darstellungs- 
weise desSelenylchlorürs  das  Verfahren  Weber's  anzuwenden.  Zu  dem 
Zweck  erhitzte  ich  Selentetrachlorid  mit  seleniger  Säure  im  Ueber- 
schuss,  der  nach  Weber  nöthig  ist,  im  zugeschmolzenen  Glasrohr  im 
Oelbad  auf  150<>,  bei  welcher  Temperatur  die  Masse  flüssig  wurde.  Bei 
der  Destillation  dieser  Flüssigkeit  fand  ich,  dass  dieselbe  schon  bei  1 75" 
überging,  während  das  Selenylchlorür  nach  Weber  erst  bei  220"  siedet. 
Das  zuerst  übergehende  war  röthlich  gefärbt,  dann  aber  ging  die 
Flüssigkeit  heller  übei"  und  bei  mehrfacher  Destillation  war  sie  nur 
noch  schwach  gelblich  gefärbt.  Man  darf  bei  diesen  Destillationen  Je- 
doch keinen  Kork,  der  stark  von  den  Dämpfen  des  Selenylchlorürs  an- 
gegriffen wird  und  dasselbe  verunreinigt,  anwenden,  sondern  einen 
mit  Kautschuk  umgebenen  Glasstab. 

In  deniDestillationsgefäss  blieb  bei  den  ersten  Destillationen  immer 
ein  fester  weisser  Körper  zurück ,  der  sich  als  selenige  Säure  erwies. 
Beim  Erhitzen  löste  sich  diese  im  Acichlorid  wieder  auf,  so  dass  letzteres 
sich  gegen  selenige  Säure  gerade  so  verhält,  wie  das  Thionylchlorür 
gegen  die  schweflige  Säure.  Aus  dieser  Lösung  krystallisirt  die  selenige 
Säure  nicht  in  Nadeln,  sondern  in  würfelähnlichen  Krystallen. 
Beim  Destilliren  geht  sie  stets  theilw  eise  mit  über ,  so  dass  es  zweck- 
mässig ist,  einen  Ueberschuss  von  ihr  bei  der  Darstellung  des  Selenyl- 
chlorürs zu  vermeiden.  Am  besten  bringt  man  die  beiden  Körper  im 
Aequivalentverhältniss  zusammen,  wobei  sie  gerade  auf  Selenylchlorür 
bilden. 


('('bei'  die  IHiiwiikiinu  von  \ Kiiii.ik  .iiil  Tliiniiyk'litoriir  und  Sclciijlrliloiiii.         IM 

Das  so  erhallcnc  Product  bildol  eine  schwach  t^clblicl»  i^cfarl>le 
Flüssigkeit,  die  bei  17905,  C.  corrg.  siedet.  Unter  0  "  erstarrt  sie  zu 
einer  krystallinischen ,  larblosen  Masse,  die  bei  10"  erst  wieder  zu 
schmelzen  beginnt. 

Das  spec.  Gewicht  fand  ich  bei  13"  =  2, 443.    Weber  giebl  2, 44  an. 

Die  Analyse  wurde  so  ausgeführt,  dass  die  im  Röhrch(Mi  gewogene 
Substanz  durch  anmioniakhalliges  Wasser  zersetzt  und  das  (Ihloi-  als 
Chlorsilber  gefallt  wurde.  Aus  dem  Fillral  wurde  die  Salpetersäure 
durch  Eindampfen  im  Wasserbade  verjagt,  der  Rückstand  im  Wasser 
gelöst,  das  überschüssige  Silber  durch  Salzsäure  gefällt  und  dann  das 
Selen  im  Filtrat  durch  anhaltendes  Einleiten  von  schwefliger  Säure 
niedergeschlagen. 

0,4041  r.rm.  Subst.  lieferten  0,69?8  Grm.  Chlorsilber  =:  42,4.') 
Proc.  Chlor  und  0,1938  Selen  =  47,95  Proc. 

Die  Formel  SeOClg  verlangt : 

her.  gef. 

Se  =  47,73  47, 9-5 

Cl    =  42,60  42,4fj 

0    =     9,01  — 

100,00. 

Daraus  folgt,  dass  das  von  mir  erhaltene  Product  reines  Seienyl- 
chlorür  wai'  und  dass  dei'  Siedepunkt  desselben  also  bei  179",5  corrg. 
liegt  und  nicht  bei  220",  wie  Weber  angiebt. 

Zur  Einwirkung  von  Ammoniak  auf  das  Selen ylchlorür ,  verfuhr 
ich  wie  bei  der  Einwirkung  auf  Thionylchlorür.  Als  ich  zuerst  so  stark 
abkühlte,  dass  das  Selenylchlorür  erstarrte,  zeigte  sich  nur  oberflächliche 
Einwirkung,  sowie  dasselbe  aber  flüssig  wurde,  färbte  es  sich  roth  und 
es  bildeten  sich  unter  starker  Wärmeentwickelung  Nebel  von  Salmiak. 
Zuletzt  nmssle  die  sciJiwarzroth  aussehende  Masse  mit  einem  Glasstab 
öfter  zerdrückt  werden  ,  um  das  Chlorür  mit  dem  Ammoniak  völlig  in 
Berührung  zu  bringen. 

Aus  der  erhaltenen  Masse  schied  sich  durch  W^asser  ein  schwarz- 
rolhes  Pulver  ab,  welches  sich  durch  sein  Verhalten  in  der  Hitze  sowie 
zu  Cyankaliumlösung  als  Selen  auswies.  Die  Flüssigkeit  enthielt  Salmiak 
und  selenige  Säure. 

Man  kann  diese  Zersetzung  durch  die  Gleichung  ausdrücken: 
ßSeOCl,  +  IONH3  =  3(Se02)  +  3  Se  +  4  N  -*-  laNH^Cl. 

Da  sich  freie  selenige  Säure  gebildet  hatte,  so  schien  diese  nicht 
wie  die  schweflige  Säure  mit  Ammoniak  eine  Verbindung  einzugehen. 
Ein  direcler  Versuch  bestätigte  dies  auch.  Beim  Erhitzen  mit  Ammoniak 
wird  Selenigsäureanhydrid  zersetzt  nämlich  nach  der  Gleichung : 


92  t*i'.  A.  Micliaelis,  Uebei  d,  Kiiiwirk.  von  Aininoiiiiik  auf  Thioiiylchlorür  ii.  Seleiiylcliloiüi. 

3Se02  ■+■  4NH3  =  6  (HgO)  +  3Se  +  iN. 

Das  Selen  zeigt  also  gegen  Stickstofl'  weit  schwächere  Verwandt- 
schaft als  Schwefel  und  hat  auch  weniger  Neigung  complicirtere  Ver- 
bindungen zu  bilden. 

Das  Resultat  dieser  Versuche  glaube  ich  daher,  wie  folgt,  ausdrücken 
zu  können. 

1.  Die  Affinität  des  Selens  zu  Chlor  ist  bei  weitem  grösser  als  dir 
zu  Sauerstoff. 

2.  Die  Affinitäten  des  Stickstoffs  und  Sauerstoffs  zu  Selen  sind 
kleiner,  die  des  Chlors  dagegen  grösser,  als  die  Affinitäten  dieser  Körper 
zu  Schwefel 

Jena,   Univ.  Laboratorium, 
den  14.  Februar  1870. 


\Wher  di«'  Miiinirkiiiig  von  Phospliorcliloriir  auf  SeliMiigsäiirc- 
auhydrid  iiimI  Si'kiiylflilonir. 


Von 

Dr.  A.  Michaelis. 


Da  sich  das  durch  die  Einwirkung  von  Phosphorsuperchlorid  auf 
Selenigsiiureanhydrid  zuerst  gebildete  Selenylchlorür  durch  das  Phos- 
phoroxychlorid  sofort  wieder  zersetzte  i'siehe  die  vorige  Abhandlung), 
so  versuchlo  ich  das  Selenylchlorür  durch  Einwirkung  von  Phosphor- 
chlorür  auf  Selenigsäureanhydrid  darzustellen. 

Als  ich  diese  Substanzen  zusaninienhrachle,  färbten  sich  beide  so- 
gleich unter  Wärmeentwickelung  roth  ,  veränderten  sich  in  der  Kälte 
aber  nicht  weiter.  Ich  schloss  daher  beide  Substanzen  in  ein  Glas- 
lohr  ein  und  erhitzte  zuerst  bis  100^  später  bis  110".  Schon  bei  100" 
färbte  sich  das  Selenigsäureanhydrid  schwarz,  so  dass  es  schien  als  ob 
Selen  reducirt  wäre. 

Bei  der  Destillation  der  roth  aussehenden  Flüssigkeit  zeigte  sieh, 
dass  dieselbe  über  !00"  siedete  und  die  letzten  Theile  nahe  an  110" 
übergingen.  Mit  Wasser  zersetzt,  bildete  sich  aus  dieser  Flüssigkeil 
Phosphorsäure.  Der  Rückstand  in  dei  Möhre  bestand  aus  Selen  und 
unveränderter  seleniger  Säure. 

Statt  also  Selenylchlorür  zu  bilden,  war  die  selenige  Säure  unler 
Uildung  von  Phosphoroxychlorid  reducirt. 

Um  diese  merkwürdige  Ueaction  genau  festzustellen ,  brachte  ich 
beide  Substanzen  in  völliger  Heinheit  in  dem  nach  der  (ileichung; 

SeOo  ■+■  2PGI3  =  Se  -I-  2PCI3O 
berechneten  Verhältniss  zusammen. 

Als  ich  zu  ö,0Grm.  völlig  trockenem ,  in  einer  Glasröhre  befind- 
lichen Selenigsäureanhydrid  13,0  Grm.  ganz  reines  Phosphorchlorür 
hinzu  destillirte,  zeigte  sich  dieselbe  Erscheinung,  die  ich  schon  vorher 
ht'obachtel :  Erwärmung  und  Röthung  beider  Substanzen.   DieGIasröhre 


94  Dr.  A.  Michaelis, 

wurde  zugeschmolzen  und  zuerst  auf  lOü",  dann  allmählich  bis  130" 
erhitzt.  Es  bildete  sich  ausser  Selen  noch  eine  weisse  Substanz.  Um 
diese  zu  untersuchen,  wurde  die  Flüssigkeit  abgegossen  und  die  letzten 
Reste  derselben  durch  Erhitzen  im  Kohlensäurestrom  verjagt. 

Als  dann  Wasser  in  die  Röhre  gebracht  wurde ,  löste  sich  die 
weisse  Substanz  unter  Erwärmung  und  Zischen  auf  und  in  der  vom 
Selen  abfiltrirten  Flüssigkeit  war  ausser  seleniger  Säure  noch  Phosphor- 
säure enthalten.  Die  weisse  Substanz  war  demnach  Phosphorsäurean- 
hydrid. Eine  Bestimmung  derselben  als  Magnesiumpyrophosphat  ergab 
0,4751  Grni.  Phosphorsäureanhydrid.  Ausserdem  wurden  0,5  Grm. 
Selen  daraus  durch  schweflige  Säure  gefällt. 

Das  Phospliorsäureanhydrid  hat  sich  durch  Einwirkung  von  Phos- 
phoroxychlorid  auf  die  noch  nicht  völlig  reducirte  selenige  Säure  ge- 
bildet. Das  gleichzeitig  entstandene  Sclentetrachlorid  war  dann  durch 
das  freie  Selen  zvi  Selenchlorür  SeCl  reducirt  worden;  dieses  färbte  die 
Flüssigkeit  roth. 

Die  von  dem  Selen  abgegossene  Flüssigkeit  lieferte  durch  fractio- 
nirte  Destillation  7,i  Grm.  bei  106"  und  6,2  Grm.  niedriger  siedendes 
Producl.  Ersteres  musste  fast  nur  aus  Phosphoroxychlorid  bestehen, 
da  1 10"  der  corrg.  Siedepunkt  dieser  Flüssigkeit  ist.  Ausserdem  ging 
über  I  10»  eine  sehr  dunkele  Flüssigkeit  über,  während  sich  im  Halse 
des  Gefässes  ein  festes  Sublimat,  das  sich  als  Selentetrachlorid  erwies, 
bildete  ,  und  Selen  zurückblieb.  Diese  dunkele  Flüssigkeit  war  Selen- 
chlorür (SeCl),  welches  sich  in  der  Hitze  theilweise  in  Selentetrachlorid 
und  Selen  zersetzt.  Da  das  Selen  aber  sowohl  in  Chlorselen  als  auch 
in  Phosphoroxychlorid  löslich  ist,  so  rührte  die  in  dem  Deslillations- 
gefäss  zurückgebliebene  Menge  desselben  nicht  blos  von  der  Zersetzung 
des  Selenchlorürs  her. 

Die  Analyse  der  bei  106*>  siedenden  Flüssigkeit  gab  folgende  Re- 
sultate : 

0,4647  Grm.  Subst.  gaben  0,31  \  1  Grm.  Chlorsilber  =  69,78  Proc.  Chlor 
und  0,3474  Grm.  Magnesiumpyrophosphat  entsprechend  20,78  Proc. 
Phosphor. 

Die  Formel  POCl^  verlangt: 

her.  gef. 

Cl     69,38  69,78 

P       20,19  20,78 

Den  gebildeten  0,47  Grm.  Phosphorsäureanhydrid  entsprechen  0,27 

Selen  und  1 ,02  Phosphoroxychlorid.  In  der  Röhre  waren  1 ,9  Grm.  Selen, 

also  im  Ganzen  2,1 7  Grm.  Selen  gefunden.  In  den  angewandten  ö,0  Grm. 

Seleniasäureanhydrid  sind  3,3  Grm.  Selen  enthalten  und  da  0,5  nicht 


IVbcr  die  Kiiiwirkuiiy:  von  IMinspliorclilonir  aiil  SelPiii|a;srinreaiiliy(lri(l  iiiid  Sclciiylelilnrür.   95 

loduciil  wiiren,  so  inussten  2,S  reducirl  sein.  Die  Dillcivnz /wischen 
den  gefundenen  2,17  (irni.  erkliirl  sich  aus  der  angegehenen  Löslich- 
keit in  der  FUlssigkeit. 

Diesen  2,S  Grin.  Selen  entsprechen  10,9  Grni.  Phospiioroxychlorid. 
Gefunden  wurden  8,22 Grni.,  allein  die  unter  lOG^  siedenden  6,02 Grni. 
bestanden  gewiss  zu  ', ^  aus  Piiosphoroxychloiid,  so  dass  auch  diese 
Zahlen,  die  natürlich  nur  ungefähi-  zulrell'en  können,  mit  den  berech- 
neten genügend  übereinstimmen. 

Man  sieht  also  aus  diesem  Vei'such,  dass  das  Phosphorchlorür  eine 
grosse  Neigung  hat  Sauerstofl'  aufzunehmen.  Eine  direcle  Sauerstolf- 
aufnahme  ist  bereits  von  Brodik  ')  beim  Einleiten  von  Sauerstoff  in 
siedend(>s  Phosphorchlorür  beobachtet.  Allein  diese  Aufnahme  geht 
nach  Versuchen,  die  ich  darüber  anstellte,  nur  sehr  langsam  vor  sich. 
Durch  dreitägiges  Einleiten  \on  Sauerstoff  erhielt  ich  aus  40,0  Grm. 
Pliosi)horchlorür  3,7  Grm.  Phosphoroxychlorid.  Bei  der  Einwirkung 
von  Phosphorchlorür  auf  Selenigsäureanhydrid  nimmt  aber  Phosphor- 
chlorür gebundenen  Sauerstoff  weg ,  zeigt  sich  also  wie  die  schweflige 
Säure  als  reducirendes  Miltel,  und  dieses  Verhalten  ist  meines  Wissens 
bis  jetzt  noch  nicht  beobachtet. 

Noch  entschiedener  tritt  diese  Neigung  des  dreiwerthigen  Phos- 
phors in  fünfwerthigen  überzugehen  bei  der  Einwirkung  von  Phosphor- 
chlorür auf  Selen ylchlorür  hervor. 

Beide  Körper  dürfen  der  starken  Wärmeentwickelung  vs'egen  nur 
tropfenweis  unter  Abkühlung  zusammengebracht  werden.  Die  Ein- 
wirkung beendet  sich  schon  in  der  Kälte;  es  scheidet  sich  viel  Selen- 
letrachlorid  krystailisirt  aus  und  die  Flüssigkeit  färbt  sich  unter  gleich- 
zeitiger Bildung  von  Selenchlorür  (SeCl)  roth.  Die  Zersetzung  geht  hier 
nach  folgender  Gleichung  vor  sich  : 

3SeOCl2  +  3PCI3  =  SeCl,,  +  2SeCl  +  SPClgO. 

Zugleich  dürfte  diese  Reaction  ein  Beweis  für  die  Nichtexistenz  von 
SeClg  sein. 

Ich  bin  damit  beschäftigt  das  Verhalten  des  Phosphorchlorürs  zu 
einigen  anderen  Anhydriden  und  Acichloriden  zu  untersuchen.  Wahr- 
scheinlich wirkt  das  Phosphorchlorür  auf  eine  ganze  Reihe  von  Sub- 
stanzen reducirend,  indem  es  unter  Sauerstoffaufnahme  in  Phosphoi'- 
oxychlorid  übergeht. 


<)  William  Odlin(;  ,   Beschi-.  u.   thcorcl.  Handbuch  der  Cliem.     Deutsch  von 
Oppenheim.   I.  p.  397. 

.1  e  n  a  ,   Univ.  Laboratorium, 
den  li.  Februar  1870. 


Geschichte  des  Krebsstaniines, 

nach  embryoloijisclien,  anatomischen  und  palaponloloe;is('hen  Ouellen. 


Ein  Versuch 
von 

Dr.  Ant.  Dohrn. 


Hotto:  Wir  nehmen  die  Benennungen:  Naturbe- 
schreibung und  Naturgeschichte  gemeinig- 
lich in  einerlei  Sinn.  Allein  es  ist  klar,  dass 
die  Kenntniss  der  Naturdinge  wie  sie  je  t  zt  sind, 
immer  noch  die  Kenntniss  von  demjenigen  wünschen 
lasse,  was  sie  ehedem  gewesen  sind,  und  durch 
welche  Reihe  von  Veränderungen  sie  durchgegangen, 
um  an  jedem  Orte  in  ihren  gegenwärtigen  Zustand 
zu  gelangen.  Die  Naturgeschichte,  woran  es 
uns  heute  noch  gänzlich  fehlt ,  würde  uns  die  Ver- 
änderung der  Erdgestalt,  ingleichen  die  der  Erdge- 
schöpfe (Pflanzen  und  Thiere),  die  sie  durch  natür- 
liche Wanderungen  erlitten  haben  ,  und  ihre  daraus 
entsprungenen  Abartungen  von  dem  Urbilde  der 
Stamm-Gattung  lehren.  Sie  würde  vermuthlich  eine 
grosse  Menge  scheinbar  verschiedener  Arten  zu 
Rassen  eben  derselben  Gattung  zurüctführen,  und 
das  jetzt  so  weitläufige  Schulsystem  der  Naturbe- 
schreibung in  ein  physisches  System  für  den  Ver- 
stand verwandeln. 

Kant,  Von  den  verschiedenen  Raren  der  Menschen. 
Anmerk.  177.5. 

Soweit  man  in  der  genealogischen  Forschung  von  Thatsachen  reden 
kann,  ist  es  Thatsache,  dass  sämmtliche  Crustaceen  vom  Nauplius 
al)stammen.  Einem  Experiment  ist  die  Beweisführung  für  diesen  Satz 
zwar  nicht  an/Aiverlrauen,  —  aus  nahe  liegenden  Gründen.  Aber  soweit 
Analogieschlüsse  und  auf  ein  letztes ,  allerdings  dogmatisches  Princip 
gegründete  Schlussreihen  reichen,  soweit  lässt  sich  in  der  That  feststel- 
len, dass  einstmalen  auf  der  Erde  der  Nauplius  der  höchstentwickelte 
Vertreter  desjenigen  Organismenkreises  war,  den  wir  heute  als  den  der 
Crustaceen  kennen  und  beschreiben.  Das  grosse  Verdienst,  dies  Factum 
ermittelt  zu  haben,  gebührt  Fritz  Müller,  der  in  seiner  Schrift  »Für 
Darwin«  ausser  vielem  anderen  fruchtbaren  Wirken,  auch  dies  bedeut- 
same Resultat  gefördert  hat. 


1)  Die  zu  dieser  Arbeit  gehörenden  Talein  können  erst  mit  der  Fortsetzung  der- 
sclitpii  in  dem  nächsten  Holle  doi'  Zfillschiift  aus.gegeben  werden. 


fi'eschiclilt'  des  k'rehsstainun'S.  97 

Mil  (li(>s(M'  Feststell uni;  liiil  dio  Crustiicccnkundc  (miic  neue  Hicli- 
tung  einschlagen  mtlsson.  Es  lag  ihi'  lernerhin  nielit  mehr  ob,  die 
Scheidung  der  einzelnen  Ordnungen  niöglielist  scharl"  vorzunehmen, 
sondern  im  Gegentheil  danach  ziLsnchen  ,  die  veibindenden  Kiemente 
namhalt  zu  machen  und  duicli  kritische  Benutzung  der  Palaeontologie, 
dei'  v(M"glcichenden  Analomic,  hauptsächlich  aber  der  vcrgleicIuMulen 
End»ryologie  dahin  zu  (rächten,  die  (Irustaceen  als  in  ununterbrochener 
Heilie  aus  einandcM  lierNorgegangene  Formen  nachzuweisen,  deren  vei- 
meinlliche  grosse  \'ei\scliiedenheiten  entweder  zu  widerlegen  oder,  wenn 
sie  sich  nicht  wegslreiten  Messen,  zu  eikliiren  und  einen  Stamnd)aum 
an  die  Stelle  d(M-  Linear-  oder  Kreis  -  Systematik  zu  selzen.  Was  ich 
von  diesen  Aulgaben  zu  lösen  versucht  habe,  mögen  die  nachfolgenden 
Blatter  erkennen  lassen. 

1.  Der  Nauplius. 

[Fig.  1 — 6., 

Zum  Ausgangspunkt  war  der  Natürlichen  Züchtung  eine  Anzahl 
von  kleinen  (iesc^höpfen  gegeben,  die  wir  heute  Na  u  pliu.s  nennen. 
Dieselben  waren  sämmtliel» ,  wenn  wir  nach  den  uns  heute  als  Larven 
der  verschiedenen  CruslacecMi  aufbewahrten  Gestalten  uitheilen  dürfen, 
nicht  viel  länger  als  breit.  \\"iv  besitzen  heute  noch  Formen,  die  sogar 
breiter  als  lang  sind,  wir  kennen  fast  kreisrunde,  kugelige,  wir  haben 
ovale,  ja  wir  haben  auch  lanzettliche.  Aber  selbst  bei  diesen  übertrift't 
die  Länge  die  Breite  höchstens  um  das  Doppelte  oder  Dreifache.  Dei- 
Körper  sänuntlicher  N  a  u  p  I  i  u  s  war  äusserlich  nicht  gegliedert,  nicht  in 
sich  beweglich,  da  ihn  eine  verhältnissmässig  harte  und  spröde  Körpei-- 
bedeckung  umgab.  Zwei  bis  drei  gespaltene  Extremitätenpaare  sorgten 
zu  gleicher  Zeit  für  seine  Fortbewegung  und  seine  Ernährung.  Das 
Medium  ,  in  dem  die  Na  up  I  i  us  lebten  ,  war  das  Wasser,  ihre  Forlbe- 
wegung somit  Schwinnnen  und  Kriechen.  —  letzteres  an  Pflanzen. 
Steinen  oder  auf  dem  Meeresgründe. 

Die  Gestalt  desNaupIiu  s  ist  natürlich  ebensowenig  eine  ursprüng- 
liche, d.h.  eine  ohne  vorhergegangene  phyletische  Entwickelung  zu  be- 
trachtende, wie  etwa  die  des  P  a  I  i  n  u  r  u  s  oder  d<^s  I^  i  m  u  I  us.  Es  w  ird 
aber  schwierig  sein,  auf  seine  Vorfahren  einen  Schluss  zu  machen.  »Bei 
dem  äussersten,  am  weitesten  in  die  nebelgraue  Urzeit  zurückweichen- 
den Vorposten  der  Classe,  dem  Nauplius,  angelangt,  blickt  man  sich 
natürlich  um,  ob  von  da  aus  nicht  Wege  zu  erspähen  sind  nach  anderen 
naheliegenden  (iebielcn.  Man  könnte  mit  Oscar  Schmidt  bei  der  Hinler- 
ledtsbildnng  {\r\-  \  a  u  j)  li  u  s  an  die  bewegliche  Schwanzgabel  der 
Bd.  VI.    1.  7 


98  Hl.  '\iit.  Dohni. 

Rädert  biere  erinneiii ,  in  denen  ja  Manche  überhaupt  nahe  Ver- 
wandte der  Kruster,  oder  doch  der  Arthiopoden  erkennen  wollen ;  man 
könnte  bei  den  sechs  den  Mund  umstehenden  Füssen  an  einen  urspiüng- 
lici»  strahligen  Bau  denken,  u.  s.  w.  Sicheres  vermag  ich  nicht  zu 
sehen. y  So  weit  FRrrz  Müllkr,  am  Schlüsse  seiner  vorher  citirten  Schritt. 
Wir  sind  heute  noch  nicht  weiter  gekommen.  An  die  Schwanzgabel  der 
Rotatorien  njag  man  schon  denken,  abei"  es  wird  gewiss  Niemand 
den  Nauplius  von  einem  Räderthierchen  ableiten  wollen,  eher  Hesse 
sich  für  beide  ein  gemeinschaftlicher  Ihsprung  vermitteln.  Der  strahlige 
Bau  will  mir  auch  nicht  recht  in  dei\  Sinn  ;  eher  würde  ich  die  An- 
nahme gelten  lassen,  welche  den  Naupl  i  us  mit  weit  zurückliegenden 
Wurmformen  in  Zusammenhang  bringt.  Man  könnte  unter  den  Larven 
der  Anneliden  einige  linden,  deren  entsprechend  erhärtete  Körper- 
wand allenfalls  das  Aussehen  eines  Nauplius  gewinnen  könnte,  und 
wir  haben  Anlass  an  die  Würmer  zu  denken ,  wenn  wir  die  Natur  der 
grünen  Drüse  und  der  Schalendrüse  in  Rechnung  ziehen.  Nach  den 
übereinstimmenden  Ansichten  von  Lkydig ')  ,  G.  0.  Sars'-)  und  Gegen- 
BADR^)  wären  diese  Drüsen  alsHomologa  der  Schleifencanäle  der  Würmer 
aufzufassen  ,  und  ziehe  ich  in  Betra(Oit ,  was  ich  selbst  über  die  Natur 
und  Bildung  der  Schalendiüse  der  Daphnien^)  herausgebracht  habe, 
.so  wird  es  allerdings  inuner  wahrscheinlicher,  dass  wii-  in  diesen  Ge- 
bilden einen  deutlichen  Hinweis  auf  die  WUrrn<»r  zu  erkennen  haben. 
Nur  freilich  bin  ich  noch  nicht  geneigt  grüne  Drüse  und  Schalendrüse 
ohne  Weiteres  als  Homologe  anzusehen.  Die  eine  mündet  nach  meinen 
Untersuchungen  in  die  Leibeshöhle,  die  andere  nach  unzv\eifelhaften, 
häufig  bestätigten  Miltheihmgen  vieler  Forscher  auf  einem  Antennen-^ 
fortsatz  nach  draussen.  Ks  wäre  indess  möglich,  dass  im  Laufe  der 
Zeit  die  Wnlegung  der  Drüse  stattgefunden,  und  die  Mümlung  ebenfalls 
geändert  wäre.  Belrelfs  der  von  Fritz  Mülikr  'i  für  die  Schalendrüse  in 
.\nspruch  genonuneiuni  Drüsen  in  den  Stirnhörnern  des  Ci  rripi  d  en - 
Nauplius  (Archizoea)  verw^eise  ich  auf  die  ausführlichere  F>örle- 
rung,  die  ich  an  anderer  Stelle  gegeben  habe""  . 

Wenn  sonach  wenigstens  ein  ihatsächlicher  Anhalt  gegeben  ist, 
der  uns  eine  Verbindung  des  Nauplius  mit  Würmern  wahrscheiidich 
macht,  so  ist  auf  der  andern  Seite  nichts  zu  sehen,  was  dieser  Verbin- 


I;  Naturgeschichte  der  üaphniden.  pag.  28. 

ij  Noiges  Ferskvands-Krebsdyr.    Cladocera  Ctenopoda.  pag.  VI.  il. 

3)  Grundzüge  der  vergl-  Anatomip.    Zweite  Aufla£;e.  pag.  444. 

4)  Für  Darwin,  p.  61. 

5j  Eine  neue  Nauplius -Form   (Archizoea    .üigas;   Zeilsclir.    für   Wissenschaft!. 
Zoologie  XX,  pag.  597  fl. 


liescliichte  des  Krehsstainiiies.  \)^ 

(liMii^  etwa  unüherwiniilicli  sicli  enlgepcnstcllle ,  vvciiii ,  was  uns  (li<' 
Hypothese  jedenfalls  erlaubt,  auf  eine  entspicclKMid  niedrig  organisirte 
Wniniforni  zurilckeeij;aniien  wird.  Wie  dein  altci-  auch  sei,  und  \Nohin 
der  Nauplius  nach  rlickwiirts  weisen  mag,  —  das  h^inc  sichl  fesi ,  dass 
er  nach  vorwärts  auf  die  ganze  (Ilasse  der  Krebse,  als  auf  seine  Nai^h- 
kiiiuuieu,  einen  Anspruch  ei'hehen  darf. 

Denken  wir  uns  luiu  also  ein  Meer  dei*  Vor/eit  bevölkert  neben 
anileren  Organismen  von  einer  zahlreichen  Menge  verschiedener  Nau- 
pliusfornien.  Sie  werden  unter  einander  in  starkem  Wettbewerb  um 
Xahrung  inid  Foitpllanzung  stehen,  somit  also  auch  allerhand  Variationen 
der  Gestalt  und  Organisation  erleiden,  die  der  Kampf  um  das  Dasein 
und  die  Natürliche  Züchtung  hervorrufen.  Da  sie  aber  kleine  und  der 
AngriIVswallen  entbehrende  (Geschöpfe  sind,  so  wird  es  für  sie  am  nütz- 
lichsten sein,  die  Vertheidung  wirksam  zu  machen,  und  das  kann  ihnen 
am  besten  gelingen  durch  Vergrösserung  ihrer  Schwimird"ähigk<'il.  S(t 
entstanden  also  wahrscheinlich  gleichzeitig,  auf  dasselbe  Ziel  geri(;htet, 
die  Ausstattung  der  Extremitäten  mit  Schwimndioi'Steu  und  die  Ver- 
längerung und  VerschmiUerung  des  Körpers.  Wer  mit  einem  ßool  oder 
einem  Schiff  umzugehen  versteht,  weiss  wie  wesentlich  füi'  die  ge- 
schickte Fortbewegung  der  langgesli'eckte,  schmale  Bau  eines  solchen 
Fahrzeugs  ist,  —  physikalische  Gesetze  geben  den  Grund  ja  sehr  leichl 
an.  So  gehl  es  aber  auch  den  Organismen  ;  jeder  Fisch  zeigt  uns  das, 
wenn  ei-  pfeilschnell  durch  das  W^asser  schiesst,  das  ihm  mit  seinem 
spitzen  Kopfe  unil  schmalen  Bau  nur  geringen  Widerstand  entgegen- 
setzt. So  war  auch  dem  Nauplius  eine  Streckung  seines  Körpers 
neben  der  Verstärkung  der  Schwimmgliedmaassen  die  wichtigste  Er- 
höhung und  Verbesserung  seiner  Organisation  im  Wettbewerb  um  die 
Hlxistenz.  In  der  That  finden  wir  bei  der  überwiegenden  Zahl  dei'  uns 
heute  noch  erhaltenen  Naup  I  i  us  formen,  dass  der  Leib  nach  hinten  in 
die  Länge  gewachsen,  ja  bei  vielen,  —  sämmtliche  Cirripeden- 
Nauplius  z.  B.  —  in  mehr  oder  weniger  lange  Stachel  ausgezogen 
ist.  Diese  Verlängerung  mussle  wesentliche  Dienste  zugleich  für  die 
Steuerung  des  Thierchens  leisten  ,  und  der  Fortbewegung  in  gerader 
Linie  sowie  in  sicheren  Wendungen  gleich  nützlich  sein.  Abei'  noch  ein 
anderer  Vortheil  lag  darin,  dessen  Bedeutung  so  gross  ist,  dass  wii- 
noch  andre  Bildungen  daraus  erklären  können.  Der  Stachel  diente  zu- 
gleich zum  Schutz  gegen  den  directen  AngriÖ"  andrer  Thier«'.  Die 
Nahrung  der  Nauplius  scheint  sowohl  vegetabilisch  als  animahsch  zu 
sein.  Beides  zugleich  bot  ihnen  der  Aufenthalt  auf  dem  Meeresgrund, 
in  Kli[)pen  und  felsigen  Ufern,  wo  sich  nur  Algen  und  Meerespflanzen 
/eigleii.    Wer  am  Meere  arbeitet  und  Nauplius  in  Menge  zui-  üntei- 


100  .  Dr.  \iit.  Dohni. 

suchunt;  haben  will,  kann  nichts  Besseres  thun,  als  ein  paarilände  voll 
Algen  und  Hydroidpolypen  mit  nach  Hause  zu  nehmen;  er  wird  darin 
bei  n)ikroskopischer  Durchnuis(eruni4  eine  grosse  Zahl  der  lebhaften 
kleinen  (ieschöpfe  finden.  In  den  Mytlroidpoljpen  sind  aber  wahr- 
scheinlich auch  sehr  gefährliche  Feinde  der  Na  up  Mus  zu  erkennen: 
mit  ihren  langen  Tentakeln  können  sie  leicht  solch  kleines  Geschöpf 
packen  und  in  die  verdauende  (Utvilät  zerren,  so  dass  es  um  sein  Leben 
geschehen  ist.  Das  wird  aber  sicherlich  sehr  erschwert,  wenn  nicht 
völlig  unmöglich  gemacht,  durch  eine  reichliche  und  spitze  Stachelbe- 
watfnung,  welche  das  zarte  Gewebe  der  Polypen  hei  der  leisesten  Be- 
rührung verletzt  und  sie  zur  Freigebung  ihfer  Beute  zwingt.  So  er- 
klaren sich  mir  die  zahlreichen  Zacken  und  Stacheln,  welche  wir  be- 
sonders an  den  N  a  up  I  i  u  s  formen  der  C  i  r  r  i  p  e  tl e  n  sehen,  die  auf  der 
anderen  Seite  der  Schwimmbewegung  zum  Theil  wieder  kleinere  Hin- 
dernisse bereiten  können.     (Fig.  7.) 

Wenn  auf  der  einen  Seite  aber  für  diejenigen  Nauplius,  welche 
iiauptsächlich  schwiinmend  sich  l'orll>ew'egten,  Verlängerung  des  Körpers 
und  Ausstattung  der  F^xtremitäten  mit  Schwimmhaaren  von  besonderem 
Vorlheil  war,  so  konnte^  <l()ch  auch  eine  Fortbildung  nach  einei'  anderen 
Richtung  und  für  eine  andei'e  Fel)ensweise  sich  ermöglichen.  Es 
konnten  durch  Erhärtung  der  körperwand,  durch  starke  Klauen-  und 
Zangenbildung  an  den  Evtremitälen,  durch  Zuspitzung  des  die  Mund- 
öffnung tragenden  Abschnittes  Veränd<Mungtii  luM-beigeführt  werden, 
welche  den  Nauplius  mehi-  befähigten,  sich  an  Pflanzen  und  Polypen 
fest  zu  setzen  und  als  kletlerthiere  ihre  Nahrung  zu  suchen.  Offenbar 
hat  eine  solche  Lebensweise  die  Veräiulerungen  herbeigeführt,  welche 
die  Naupli  usformen  der  Pycnogoniden  (Fig.  8),  uns  heut  noch 
erkennen  lassen,  die  vielleicht  schon  frühzeitig  und  st^lbstständig  sich 
von  dem  Naup  li  usstamme  ,  welcher  sich  in  die  grosse  Abtheilung  der 
Krebse  fortsetzte,  abti'cnnte  und  einen  kleinen  Nebenstanuu  schuf, 
der  dann  die  Enlwickelungsrichtung  einschlug,  über  welche  ich  bereits 
berichtet  habe '). 

Es  ist  auisserdem  wohl  möglich,  dass  Versuche  stattgefunden  haben, 
Nauplius  zu  Landbewohnern  zu  machen,  —  aber  wenn  wir  nicht  in 
den  Tardigraden  vielleicht  eine  letzte  Spur  einer  solchen  L'eber- 
wanderung  zu  erkennen  haben,  was  mir  indess  nicht  wahrscheinlich 
vorkommt,  so  .scheint  kein  Versuch  der  Art  erfolgreich  ausgefallen 
zu  sein. 


1)  .lenai.sche  Zeitschrift  f.  Med.  u.  Naturw.  V.  p.  i'iü. 


fipscliiclde  des  KrebsstHinnies.  | ()\ 

2.  Die  Archizoea. 

(Fig.  9.) 

Mit  (lirscni  Namen  miiclilc  icli  eine  Zwischenstufe  /wischen  tleni 
N,Mi  plins  und  dvv  Zoea  heneinien.  Das  (lliaraklenslisehe  diesef 
Slnte  snehe  ieli  in  <lei' Anlai^e  eines  hinleren  Korperabsehtn'tles ,  eines 
\irlnellen  Abdomens,  odov  um  die  moi|)holoiiisehe  Redeulunij;  des  zwei- 
len  Ahsehnilt(>s  üleieli  in  (his  l.iehl  zu  setzen,  eim>s  virtuellen  Pos ta  1>- 
domens  oder  IMeon.  Die  Verbindung  dieser  (iestall  mit  dem  Nan- 
piius  ist  unsehwci-  nachzuweisen.  Wir  sjijieii  in  dem  letzteren  zur 
Veropösserung  seiner  Schwinnnl"ähii:kcil  eine  Verlängerung  des  hinleren 
lvöi-pei'al»schnittes  si("li  bilden.  Ks  blieb  aber  nicht  bei  dieser*  Vei'län- 
licrung  allein,  sondern  es  lialen  an  dem  hintei-en  Köi-perende  noch 
zwei  Borsten  oder  Anhänge  aul,  die  odenbar  dieselbe  Function  erfüllten. 
So  wuide  dann  auch  bald  von  der  Natürlichen  Züchtung  diese  neue 
Verändeiung  ergriffen  und  fortentwickelt.  Wii-  sehen  diesen  Vorgang 
leproducirl  in  (fer  embryonalen  ujid  nachembryonalen  Knlvvickelung 
mancher  Rankenfüsser-Nauplius.  Vergleicht  man  z.  B.  die  Bildung, 
welche  Ci.ai'arI^dk',  von  den  Nau|)lins  der  Kepas  anatifera  be- 
schr(M'bl.  so  wird  ersichtlich,  wie  die  Verlängerung  der  ursprünglich 
einfachen  drei  Spitzen,  deren  zwei  unten,  eine  oben  am  hinteren  Kör- 
perende lag,  ein  recht  ausführlicher  Hergang  in  der  individuellen  Ewi- 
wickelung  dieser  Thiei-chen  isl.  Es  heisst  dort  :  » —  Im  folgenden 
Stadium  (Fig.  :^l  sind  die  bar\en  bereits  viel  grösser  geworden.  Ihre 
(lestalt  erscheint  hauptsächlich  desshalb  sehr  veräiulert.  weil  dei"  Vor- 
(lerlheil   verhällnissmässig  viel   bn-iter  geviorden   ist.    Die  beibesspitze 

eischeint  noch  deutlicher  dreispitzig  als  vorhin Nun  tritt  die 

Häutung  ein,  die  Larve  verlä.sst  die  Eierf)latlen  und  schwimmt  in  ver- 
ändeiter  Gestalt  vergl.  Fig.  ii.  daher.  Die  drei  erwähnten  kleinen 
Leibesspitzen  haben  sich  ganz  gewaltig  ausgebildet.  Zwei  derselben 
sitzen  noch  auf  gen)einschaftlicher  Basis,  die  sich  aber  ungemein  aus- 
gezogen hat  und  sich  denuiach  als  ein  dünner,  an  der  Spitze  gabelartig 
gespalt(!nei"  Forl.satz  ausnimn)l.  Ivs  ist  dies  Krohv's  »schwanzförmiger 
Anhang«,  Spknce  Bate's  »abdominal  appendage«.  Die  dritte  Spitze  ist 
gleichfalls  in  die  Länge  g<!wachsen  und  stellt  Krohn's  »Stachelfortsatz« 
SpENcE  Bate's  «caudal  leiininalion«  vor.«  Von  wesentlicher  Bedeutung, 
wie  sich  später  noch  ergeben  w  ird ,  ist  ferner  die  Bildung  einer  Menge 
\on  Zacken    und  Dornen    an    den   beiden  Fortsätzen  auf  ihrer  eanzen 


I     BeoljacliUiiijieii    über   .\naloii)ie    und    üntwickcluiigsgeschiclile    wirbelloser 
TliiiMc  an  (icr  Küste  lier  NoimaiKlie  angestellt,  pai;.  itS.  Tab.  XVII.  Flu.  15  —  26. 


102  i'r.  Aul.  Dolirii. 

Läiii^c.  Wir  Hilden  solcherlei  Bildungen  vielfach  bei  den  Nauplius- 
forinen  der  (lirripedien ,  wie  besonders  ein  Aufsatz  von  Spknck  BatkJj, 
und  der  Aufsatz  vonKRonN"^)  uns  lehren.  In  letzterem  linden  vNir  aber 
noch  eine  Mittheilung ,  die  unser  Interesse  ganz  besonders  in  Anspruch 
nininil. 

KiuuiN  sagt  von  den  beiden  Fortsätzen  (1.  c.  pag.  'i)  ;  "Der  oIkmc 
Koi'tsalz  hat  die  Form  eines  gerade  gestreckten,  oft  sehr  langen  Stachels, 
der  unlere  stärkere  läuft  allmählich  verjüngt  in  ein  gabelförmig  ge- 
theilles  Finde  aus,  und  ist,  namentlich  in  späteren  Stadien,  einer 
Beugung  und  Streckung  fähig.«  Mit  dieser  letzten  Aeusserung 
gewinnt  der  Schwanzanhang  einen  ganz  neuen  Charakter.  Fügen  wir 
gleich  eine  zweite,  sehr  wichtige  Eigenthümlichkeit  desselben  hinzu. 
Darwiis  ')  theilt  uns  von  der  Naupliusform  des  ScalpeU  um  vulgare 
Folgendes  mit:  «Behind  the  natatory  legs  on  the  ventral  surface  th<! 
bodjf  is  nmch  produced  and  terminates  in  a  horny  fork,  which  afdr  Ihe 
lirst  moult  becomes  much  elongated.  Anteriorly  to  this  fork,  on  the 
ventral  surface,  there  is  another  fork,  and  again  above  this  l  could 
distitiguish,  in(]  h  ihamal  us  stellatus,  after  the  firsl  moult,  another 
fork,  or  al  least  a  pair  of  shorl  thick  spines.  From  ihe  slructure  of  the 
forked  abdomen  in  the  known  Larvae  of  the  Podophthalmia  1  presume 
that  this  portion  of  the  body  is  the  abdomen  of  the  young  Cirripede,  but 
it  is  not  al  all  plainK  arliculated.  After  Ihe  Hrst  moult,  the  posterior 
end  of  Ihe  Curapace,  which  is  al\\ays  pointed,  becomes  much  elongated 
and  serrated  on  both  sides;  reniinding  one  of  the  slructure  of  Ihe  Cara- 
pace  of  the  so-called  Zoea ,  or  larva  of  certain  Podophthalmia."  Darwin 
berührt  mit  diesen  Worten  die  Bedeutung,  die  meiner  Meinung  nach 
dieser  untere  gegabeile  Forlsatz  des  Cirripeden-Nauplius  besitzt.  Ich 
halte  ihn  für  die  erste  Andeutung  des  späteren  Pleon  der  gesammten 
höher  entwickelten  Krebse. 

lüs  isl  völlig  im  Einklang  mit  den  oben  entwickelten  Principien, 
nach  weichen  die  Forlbildung  des  Nauplius  wesentlich  auf  die  grössere 
Schwimmfähigkeit  gerichtet  gewesen  ist,  wenn  wir  sehen,  dass  dei- 
lange  Forlsalz  allmählich  beweglich  zu  werden  anfängt.  Sowohl  zur 
Steuerung  als  zur  Rückwärtsbewegung  des  Körpers  muss  er  so  haben 
beilragen  können  ;  es  war  also  ein  entschiedener  Vorlheil  im  Kampf  um 
die  Existenz  für  seine  Inhaber  gegeben.    Seine  Bewaffnung  mit  Stacheln 


i)  On  the  developmenl  uf  tiie  Ciriipedia  ,   in  Annais  of  Natural  Hislory  Vlll. 
Socond  Series  1851.  p.  324. 

2)  Beobachtungen  über  die  Entwickeluiii:  der  Ciiripeden.     Archiv  f.   Nalnri;. 
1840.  pag.  1. 

3)  .\  Mnn(»;:i;i|>li  on  die  SuJj-CUi.ss  Ciiripedia.    The  Balanidae.    pag.  108. 


Gescilicilt«  dos  Krebsslainines.  |  (>;> 

erklarl  sich  i^leifhlalls  aus  dem  oIxmi  erörlerlen  (ii'unde  ,  einen  Schul/ 
geilen  die  Angriffe  von  Goelenteralen  oder  anderer  weichgewebiger  An- 
greifer zu  bilden.  Darwin  betont  ausdriütklieh .  dass  keinerlei  Gelenk 
wahrzunehmen  war»' ;  das  ist  auch  ganz  natürlich  ,  denn  ein  (ielenk 
konnte  erst  die  Folge  einer  häufig  geselu'henen  Beugung  sein.  Man 
könnte  an  dieser  Stelle  in  gewisser  Weise  ein  zweites  Motiv  des 
Segmenibaues  der  (]rustaceen  sehen:  um  so  bedeutsamer  wäre  dann 
diese  Stufe  dei'  Fintwickelung,  die  ich  daiiim  auch  mit  einem  eignen 
Namen,  Ai'chizoea,  bezeichnet  habe. 

Wie  das  (ielenk  si(;h  bildete,  lässt  sich  lolgendeiinaassen  begreifen. 
Die  Beugung  des  Fortsatzes  gegen  die  l  nierseite  (ies  Körpers  und  seine 
darauffolgende  erneute  Slreckuiiii  konnte  nur  durch  Muskelarbeit  zu 
Stande  gebracht  werden.  Die  Muskeln  tmissten  zu  dem  Behul'e  von 
Kücken-  und  Bauchfläche  des  Körpers  entspiingen  und  in  dem  Hohl- 
raum des  Fortsatzes  sich  gleichfalls  an  die  Wandungen  inseriren.  Zogen 
sie  sich  zusannnen,  so  rnusste  allmählich  in  der  Mitte  zwischen  den  bei- 
den Insertionspunkten  bei  sonst  gleicher  Consistenz  der  Wandungen 
der  am  häuligsten  und  stärksten  gebeugte  J'heil  entstehen ,  und  es 
musste  vornehmlich  an  dieser  Stelle  allmählich  zu  einer  weicheren  und 
nachgiebigeren  llautbildung  konmien.  Im  Gegensatz  dazu  mussten  die 
Insertionspunkte  der  Muskeln  sich  immer- mehr  erhärten,  um  einen  hin- 
reich(M"iden  Stützpunkt  für  die  Gontr'action  zu  bieten,  so  dass  die  gleich- 
zeitige Wirkung  der  Gontraction  eine  DifVerenzirung  des  Hautpanzer-s 
war  und  dadurch  ein  er-ster  Segmentabschnitt  an  dem  Kör'per  de»- 
A  r  c  hi  z  oea  her-gestellt  wui'de. 

Wir-  sehen  in  dei-  weiteien  Kntw  i(-kelung  der-  Aichizoea,  die 
\\ii-  dann  nicht  mehr  bei  den  Gi  iiipeden,  sondern  im  Malacostra- 
ken  stamme  bei  l'eneus  vei-folgen  können,  dass  aus  der  (iabel  ym 
Fnde  des  Abdominalfortsatzes  zwei  bi'eitei-e  Platten  geworden  sind,  die 
ihi'c  Bedeutung  als  Slcueiiuder  und  ScliNNimmplalten  noch  besonders 
dadurch  hervorheben,  dass  sie  mit  Schw imnd:>orsten  am  Rande  ausge- 
slattel  sind.    (Fig.   10.) 

Ks  tritt  nun  ein  neues  Momcnl  in  dem  Fortschiitt  der  Organisation 
ein.  Bisher  haben  wir-  nur-  drei  (dicdmaassen-Paare  gehabt,  der'cn  voi- 
dei'eseinäslig,  die  beiden  hinteren  zweiästig  sind.  Wirhaben  nichtdanach 
gefragt,  woher  sie  gekommen,  weil  uns  das  Fragen  nicht  viel  helfen  würde : 
wir  wissen  nicht  woher  N  a  u p  1  i  u s  kommt,  also  sind  die  Vermuthungen 
\iber  die  Entslehungsart  der  FXti"emitäten  nur  sehr  vage.  Etwas  An- 
deres ist  es  mit  den  nun  entstehenden  neuen  Exlr'emitälen.  Wir  kennen 
das  Thier  an  dem  sie  entstanden  sind ,  kennen  auch  Mancherlei  von 
seiner  Lebensweise,  und  müssen  daraus  die  Fiaue  beanlwoii(>n  können. 


J04  Dr.  Ant.  Dohrii, 

Die  Schvv ierigkoil  liegt  meines  Krtichlens  weniger  darin ,  dass 
überhaupt  neue  Gliedmaassen  sich  bildeten ,  sondern  dass  sie  sich  zu 
einer  Gestalt  herausbildeten,  die  völlig  in  üebei-einstininuuig  mit  den 
bereits  vorhandenen  Gliedniaassen  stand.  Man  kann  sich  ja  sehi-  leicht 
vorstellen,  dass  eben  so,  wie  sicTi  der  Abdominalfortsatz  des  Nauplius 
zu  einem  duich  Gelenk  verbundenen  und  von  eignen  Muskeln  bewegten 
Körperabschnitt  bildete,  ebenso  auch  andere  Stacheln  und  Ausstülpun- 
gen oder  Verlängerungen  der  Körperwandungen  zu  Gliedmaassen  wur- 
den, d.  h.  zu  Fortsätzen  des  Körpers,  welche  durch  Gelenke  vei'bunden 
waren  und  von  Muskeln  jjewegl  wuiden.  Aber  warum  wuiden  denn 
diese  Gliedmaassen  wiederum  zweiästige  Schwimm lilsse  /  Denn  dass  in 
dei'That  die  nachfolgenden  Gliedmaassen  als  solche  zweiästige  Schwimm- 
füsse  l)estanden  haben  ,  und  nicht  gleich  als  Kiefei'  mit  ihren  charakte- 
ristischen Umbildungen  aufgetreten  sind,  das  eigiebt  ihre  embr\onale 
Bildung  bei  so  njanchen  Embryonen ,  und  ihre  Gestalt,  die  sich  noch 
sehr  gut  auf  die  ursprüngliche  Schwimmbeingestalt  rückführen  lässl. 
Ich  will  diese  Frage  hier  zu  beantwoi'ten  nicht  versuchen.  Sie  führl 
in  die  tiefsten  Speculalionen  über  morphologische  Verhältnisse,  die 
bessei'  im  Glossen  angefasst  werden ,  als  an  einzelnen  Punkten.  Auf 
ihre  F^rörterung  denke  ich  bei  einer  anderen  Veranlassung  einzugehen. 

Schliesslich  ist  noch  eine  Erhöhung  der  Organisation  bereits  im 
Archi  z  oea- Stadium  in  der  Anlage  zu  finden,  —  nämlich  die  An- 
fänge der  zusammengesetzten  Augen.  Es  ist  von  vornherein  anzuneh- 
men, dass  dieselbe  auch  als  einfache  Pigmenttlecken  auftreten  ,  für  die 
nach  und  nach  iichtbrechende  und  percipirende  Apparate  sich  bilden. 
Die  Häufung  derselben  bedingt  dann  den  eigentlichen  Charakter  der 
»zusammengesetzten^  Augen ,  welche  dann  allmählich  in  ihrer  feineren 
Structur  ausseiordentliche  Fortschritte  machen  musslen,  wie  wir  das 
ja  bei  den  höheren  Krebsen  deutlich  sehen.  Wir  finden  über  das  früh- 
zeitige Auftreten  dieser  Organe  zwei  Nachrichten,  die  eine  aus  derEnt- 
wickelungsgeschichte  der  Lepas  analifera,  die  andere  aus  der  Enl- 
wickelung  des  Peneus,  —  also  auf  das  Deutlichsle  bezeichnend,  dj^ss 
die  Anlage  in  der  Thal  schon  in  so  früher  Zeit  stattgefunden  hat. 

Claf'aredk  berichtet  (1.  c.  pag.  100)  :  »Das  unpaare  rothe  Auge 
ist  mit  einer  kugeligen  Linse  vei'sehen.  Es  sitzt  dasselbe  zwischen  zwei 
runden  körnchenhaltigen  Kapseln,  die  ich  am  liebsten  für  (iehörbläschen 
halten  möchte,  eine  Ansicht,  welche  um  so  günstiger  aufgenommen 
werden   dürfte,    als  Gehör'organe    bei  andern  Species  schon  mehrfach 

angeführt  wurden Die  Deutung  erwähnter  Kapseln  als  Otolith- 

blasen  ist  mir  indessen,  —  um  so  mehr  als  ich  Flimmerbewegung  darin 
nie  wahrnahm  —  ein  wenig  zweifelhaft  geworden,  namentlich  seitdem 


fi«si"liicli(p  des  Krebsstainmcs.  1 05 

ich  flic  (iriiiidc  pclcscn  liahc.  womit  Sn.Nci;  Hau:  Tii().>irs().\'s  Darstollunt; 
(Irr  Augfiicntstohiinc  bei  den  (-irripeclionpiippcn  bekämpft.  Lptzton» 
hrsi(z(Mi  bekaimllirh  zwei  Auuen  ,  die  nnch  Thompsons  Angabe  aus 
der  Spjdluiii;  (\cs  niipaairn  Larvcnaiiees  hervort^c^luMi  sollen.  Nun  ab«^- 
hcsh-cilcl  Si'KNci:  Bati:  die  Hiclitigkeil  diesci- Ansichl  ,  weil  cv  bei  i;o- 
wisson  iMiloinosliaca  /,.  H.  (lliiroccplialiis  diaphaiius)  die  in  der  Bildnnu 
bcgi'ilVencn  paarigen  Aujicn  neIxMi  dem  piovisoiiselien  iinpaaren  l.arNcn- 
aiisie  gesehen  habe,  eine  WahrnehnninLi,  die  b''kannllieh  von  mclireien 
andei-n  Forschern  beslälis;!  wurde.  Ks  isl  denmach  nicht  unmöalieh, 
(bss  die  IVaclichen  Kapseln  keine  Otolithbiasen ,  sondern  die  in  der 
Knlstehimg  begiiftenen  Puppenaiigen  seien.«  Noch  ausführlicher  be- 
spricht Fkitz  Miiirit  die  HildiMii;  dieser  Organi' 'i .  Ich  fnhie  roluende 
Stelle  an  :  »Von  den  neu  auftretenden  Theilen  sind  der  Zeitfolge  nach 
zuerst  die  paarigen  Augen  zu  betrachten;  denn  schon  bei  den  ältesten 
Naiiplius  war  ihre  erste  Spur  zu  erkennen.  Sie  bilden  bald  eine  an- 
sehnliche, über  dem  vonieren  Theile  des  l\ückeiischildes  li(!gende,  den 
Slirnrand  überragende,  \orn  ausgerandete  Masse.  Nahe  ihrer  äusseren, 
hinteren  Kcke  tritt  ein  schwarzer  Farbfleck  auf,  von  dem  a\is  sich  bald 
sirahlige  Linien  zur  Oberfläche  des  späteren  eigentlichen  Auges  ver- 
folgen lassen  ;  nach  vorn  und  innen  davon  unterscheidet  man  den  ver- 
dickten Sehnerven,  hinter  dem  ein  freier,  später  von  einem  Muskel 
durchsetzter  Raum  bleibt.  Die  anfangs  dicht  zusaminenslossenden 
Augen  rücken  nun  rasch  aus  einander,  so  dass  das  unpaare  Auge  und  in 
ganzer  Breite  die  Ganglien  .  zwischen  denen  es  liegt ,  wieder  von  oben 
sichtbar  werden.»  pRrrz  Mi  i.i,i;r  setzt  dann  noch  hinzu:  'Kigenthüm- 
liehe  (iebilde.  die  ii;h  nicht  zu  deuten  weiss  und  die  den  anderen  be- 
obachteten Arten  zu  fehlen  scheinen,  sind  die  beiden  halbkuglig«;n 
duirhsichtigen  Knöpfchen,  die  schon  bei  den  ältesten  Nauplius  am 
Stirnrande  vorspi-ingen.  Sie  verhalten  sich  anfangs  als  zarte,  fast  kug- 
iige  wasserhelle  Bläschen  ,  später  als  winzige  mehr  dei'bhäutige  und 
imdurchsichtige  s[)itzenförmige  Anhänge  am  Vorderrande  der  Augen- 
stiele während  des  ganzen  Larvenlebens. ^i  Ich  kenne  diese  hitzter- 
wähnten  Bildungen  nicht;  es  wäre  möglich,  dass  in  ihnen  noch  ein 
rudin)entäres  Auge  zu  erkennen  wäre,  das  noch  vor  den  Stielaugen 
bestanden,  dann  aber  allmählich  zu  (irunde  gegangen  wäre.  Könnt«- 
aber  auch  ein  Gehörorgan  gewesen  sein.  Vielleicht  klären  spätere  Un- 
tersuchungen das  auf. 

•ledenfalls  bedaif  es  keines  besonderen  Hinweises  auf  die  .Nützlich- 
keit der  vermehrten  .'^ehorgane  für  das  Leben  der  A  r'chizoea.    Sinnes- 

1,  Die  V(M-\\a  11(1  killt;  iIit  (ianieeloii.    .\rclii\  1.  Naturjii'scliichte  1868.  pai;.  ^'A. 


106  Dr.  Ant.  Dohrn, 

Organe  sind  unter  allen  L'insländeii  imtl  für  nlle  Zwecke  von  grosser 
Bedeutung;  nui"  über  die  weitere  Fortbildung  derselben  habe  ich  noch 
weitere  Auseinandersetzungen  zu  machen. 


3.  Die  Zoea. 

(Fig.  11 — U.) 

Gegenüber  dem  Naupiius  und  derArchizoea  ist  dieZoöa, 
wie  ich  sie  hier  wenigstens  auffasse,  ein  bereits  weit  entwickeltes  Ge- 
schöpf. Ihie  wesentlichen  Attribute  sind:  deutliche  Segmentbildung 
am  Vorderkörper  und  am  Abdominalfortsalz;  vermehrte  ExtremitSten- 
bildung  bis  zur  Zahl  von  sieben  Paaren,  wobei  die  Naupliusgliedmaassen 
eingerechnet  sind;  Arbeitstheilung  innerhalb  dieser  sieben  Extrenii- 
läteupaare;  deutlich  gestielte  zusammengesetzte  Augen ,  und  ein  den 
vorderen  Körpertheil  bedeckender  Panzer. 

Versuchen  wir  nun,  uns  die  Vortheile  klar  zu  machen,  welche  die 
Zoea  über  die  ArchizcOa  gewonnen  hatte  und  wie  sie  aus  dieser  hat 
entstehen  können. 

Es  leuchtet  ein ,  dass  die  Segmentbildung  für  die  geschicktere 
Fortbewegung  und  die  Gelenkigkeit  des  Körpers  von  grosser  Bedeutung 
ist.  Ohne  hier  auf  l^^rörterung  der  Frage,  ob  alle  sogenannten  Mctameren 
oder  Segmente  durch  Sprossung  entstanden  seien,  einzugehen,  lässtsich 
doch  soviel  jedenfalls  behaupten,  dass  Segmentation  auch  durch  Bewe- 
gungen hervorgerufen  werden  kann.  Ich  habe  das  bereits  oben  erwähnt, 
als  ich  über  die  Entstehung  des  ersten  Gelenkes  im  Naupliuskörpei-  sprach. 
Durch  die  Vermehrung  der  Extremitäten  wurden  natürlich  auch  die 
Bewegungen  mit  vermehrt  und  so  hing  von  ihnen  wieder  die  Segment- 
bildung des  Köi-pers  ab.  Um  diese  also  ihrem  vollen  Werlhe  nach  zu 
würdigen,  müssen  wir  erst  auf  die  Vermehrung  und  die  Arbeitstheilung 
der  Extremitäten  eingehen. 

Wir  gehen  dabei  von  der  Annahme  aus,  die  sich  auf  den  embr^o- 
logischen  Befund  stützt,  dass  alle  auf  die  drei  typischen  Naupliusglied- 
maassen folgenden  einstmals  und  ehe  sie  zu  andern  Diensten  verwendet 
\\  urden,  Schwimmbeine  waren  und  somit  auch  die  Gestalt  der  Nauplius- 
schwimmbeine  besassen. 

Die  Arbeitstheilung  innerhalb  der  so  allmählich  auf  die  Zahl  von 
sieben  Paaren  gesteigerten  Extremitäten  bestand  darin ,  die  der  Per- 
ception  dienenden  Organe  auf  bestimmte  Extremitäten  zu  isoliren,  aus 
andern  reine  Press  Werkzeuge  zti  bilden  und  die  übrig  bleibenden  nach 
wie  vor  zu  dem  Geschäft  der  Loconiotion,  also  zum  Schwimmen  zu  vei- 


liescliiclite  des  KrebssCaminps.  1 07 

wnndeti.  Die  Vorllieilc  einer  solchen  Arbeitstlieilung  nochmals  ausein- 
itndersclzen ,  hiesse  Eulen  nach  Alben  Irasen.  Wir  halten  nur /u  er- 
wtii^en,  welche  Veränderungen  in  der  Geslall  der  Gliedniaassen  <lurch 
solche  Verlheilung  der  Function  hervorgerufen  wurden. 

Schon  imNauplius  sehen  wir  das  vordere  Extremilätenpaar  in 
seiner  (leslall  von  den  beiden  lolgeiulen  unterschieden.  Es  isl  nichl 
/weiäslig  und  entbehrt  auch  eines  basalen  Stachels  oder  Anhangs ,  den 
die  beiden  folgenden  besitzen.  Seine  Lage  an  der  Spitze  des  Körpers 
belahigl  es  ausserdem  besonders  zum  Tragen  von  Sinnesorganen,  macht 
es  aber  unfähig,  dem  rückwiirts  gelegenen  Munde  zu  dienen.  Das 
zweite  und  dritte  Paar  der  lAlicmitäten  besitzt  dagegen  an  der  Innen- 
seite der  Basis  einen  Fortsatz,  mit  entweder  einem  oder  zwei  Haken  oder 
Borsten.  Bei  der  Schv^  immbevvegung  werden  nun  diese  Boi'sten  unter 
die  Mundkappe  geschlagen  ,  scliieben  also  Alles  ,  was  in  ihren  Bereich 
kommt  und  entsprechend  klein  isl,  in  die  Nähe  der  Mundöftninig*).  Ks 
ist  sicher,  dass  diese  Bildung  auch  noch  lange  Zeil  bestanden  hat,  als 
s<;hon  hinter  den  beiden  Exlremilälenpaaren  lunie  Extremitäten  sich 
bildeten,  allmählich  aber  verlor  das  zweite  Extremitäten  paar  den  Kau- 
Anhang,  gewann  aber  stall  dessen  nervöse  Apparate,  welche  den  Wahr- 
iiehmungskreis  des  Thierchens  wissentlich  zu  erhöhen  geeignet  waren. 
Was  aus  dem  Fortsatz  geworden  ist.  dei'  lange  Zeit  die  Kauborsten  ge- 
tragen hat,  wissen  wir  nichl:  man  könnte  vermuthen,  dass  er  derselb«' 
ist,  auf  dem  jetzt  bei  Malacostraken  die  gi-üne  Drüse  und  ihre  Homologa 
ausmünden,  doch  würde  sich  das  schwerlich  beweisen  lassen.  Das 
dritte  Naupliusevlremitätenpaar  dagegen  behielt  seine  Function  als 
Schwinun-  und  Kaugliedmaa.sse  noch  lange  und  gab  nicht  die  zweite 
für  die  erstere  auf,  sondern  umgedreht:  es  wurde  das  hauptsächlich 
wirksamste  Kauwerkzeug,  die  spätere  Mandibel.  Die  Geschichte  dieser 
(■nnvandlung  isl  noch  deutlich  erhalten  in  der  Embryologie.  Wie  ich 
\on  Asellus2  und  von  Guma  ')  schilderte,  wächst  zuerst  die  Anlage 
(l<i  Mandibel  nach  oben  hinauf,  in  gleicher  Richtung  milden  Antennen, 
erst  später  bilden  sich  an  dei-  Innenseite  am  Grunde  zwei  Vorsprünge 
aus,  die  nachher  zur  eigentlichen  Maiidibel  werden,  während  die  erste 
aufwärtswachsende  Walze  der  Taster  wird.  Der  Taster  war  mithin 
früher  da,   als  die  Kautheile.  er  war  das  Schwinunbein ,  während  erst 


1)  Vergl.  Claus,  Zur  Anulotiiie  und  Knlwickelungsgeschichtc  der  Copepoden. 
\i(li.  für  Naturg.  185s.  pat:.  47. 

i)  Die  embryonale  Kutwic  keluiit;  des  .Vscilus  aciuatitus.  Zeilsdir.  für  wi.s>. 
Zoolog.  XVII.  pag.  229. 

3)  Bau  und  EufwickeluMt;  iler  Cnuiaceen.  .leiiaisciie  Zeitsclirilt  für  .Med.  und 
Natni'w.  V.  pa;^.  58. 


108  Dr.  Aiit.  Dohni, 

spätor  die  Kaufunclion  seiner  Basaltheile  so  luächtii;  wurde,  dass  seine 
Bedeutung  als  Schwimniorgan  dadurch  in  Schatten  gestellt  ward.  Je 
weilei-  und  ausschliesslicher  aber  eine  Extremität  IVIundtheil  wird,  um 
so  grösser  und  umfassender  werden  auch  ihre  Gestaltsveränderungen 
sein.  Zum  Schwinunen  sind  lange  schlanke  mit  zarten  Borsten  und 
Haaren  ausgerüstete  Gliedmaassen  ganz  vortrefFlieh,  —  aber  zum  Kauen 
laugen  sie  ganz  und  gai'  nichts.  Dazu  bedarf  es  vor  Allem  breiter 
Flächen,  um  die  Nahrung  zwischen  ihnen  Iheils  zu  zerschneiden,  th^ils 
zu  zerreiben.  1^'erner  müssen  diese  Flachen  einander  zugekehrt  an 
(iliedmaassen  befindlich  sein,  welche  n)it  mächtiger  Musculatur  ausge- 
rüstet sind,  um  die  entsprechende  Kraft  für  ihi-  Geschäft  entwickeln  zu 
können.  Ein  Muskel  wirkt  aber  nicht  stärker,  wenn  er  verlängert  wird, 
sondern  im  Gegentheil ,  wenn  sein  Querschnitt  sich  vergrössert.  Um 
eine  solche  Vergrösseiung  des  Querschnittes  zu  ermöglichen,  mussten  die 
Kaugliedmaassen  geräumig  im  Innern  sein,  durften  also  nicht  mehr  oder 
minder  plattgedrückt  sein ,  wie  es  gerade  vortheilhaft  für  Schwinun- 
organe  war.  All  diese  Gesichtspunkte  mussten  beiiicksichtigt  werden, 
bei  dei"  Umschaflüng  der  Mandibeln  aus  Schwimm-  in  Kauorgane. 

Wer  die  Mandibeln  dei'  Decji  pod  (>  ii ,  etwa  eines  Homarus  odei' 
Palin  ur US  betrachtet.  <ler  wird  nicht  leugnen,  dass  die  Umwandlung 
eines  Schwimmorganes  (Fig.  1.5)  in  ein  Kauorgan  (Fig.  16)  auf  das  Voll- 
endetste vor  sich  gegangen  ist ,  dass  dieselben  Tendenzen ,  die  anfäng- 
lich beimNauplius  und  der  Zoea  wirksam  wurden,  bis  heute  un- 
unterbrochen angedauert  haben  und  mit  ganzem  Erfolge  gekrönt  sind. 
Der  Beginn  dieses  Umwandlungsprocesses  war  offenbar  der,  dass  der 
Basaltheil  der  ganzen  Extremität  in  seinem  Wachsthum  von  der  Natür- 
lichen Züchtung  sehr  begünstigt  wurde,  dass  aus  einem  geringen  An- 
hang an  der  Basis  der  Innenseile  aihnählich  ein  breiter  Abschnitt  wurde, 
sich  durch  seine  eigne  Musculatur  zu  bewegen  begann  und  unabhängig 
von  der  Musculatur  der  Schwinunäste,  die  nach  wie  vor  ihr  Schwimm- 
geschäft betrieben,  nur  den  Kaubewegungen  diente. 

In  ähnlicher  Weise  veränderten  sich  auch  die  folgenden  Extremi- 
täten ,  nui'  ist  es  bei  ihnen  niemals  zu  einei-  solchen  Vollendung  ge- 
konunen,  wie  bei  den  Mandibeln.  Es  lag  das  auch  wesentlich  mit  an 
einer  erneuten  Anwendung  des  Princips  der  Arbeitstheilung.  Die 
Mandibeln  wurden  durch  ihie  bedeutende  Härte,  welche  ihr  Zer- 
malmungsgeschäft  erforderte,  gar  bald  gezwungen,  mit  mächtiger  In- 
sertion sich  dem  Kopfe  anzuschmiegen  ;  die  stärksten  Muskeln  beweg- 
ten sie ,  —  aber  diese  Muskeln  waren  nicht  sehr  fein  gegliedert  und  in 
keinerlei  Bündel  zu  separater  Action  getheilt.  Es  kam  eben  darauf  an, 
an    einer  Stelle    mit  Aufgabe    aller  feineren  Beweglichkeil   nur  grosse 


Geschichte  des  KrebsstHinmes.  1 09 

llehclkiiiri  zu  prüducirt'ii.  Daiiiil  war  aber  nur  die  <üiit'  Seile  eines 
vollkornincMcii  Kauap[)arales  iieliefert.  Die  andere,  VNelehe  itii  Fesl- 
halt«'n  und  ij;eseliicklen  Ergreifen  der  Nahrunu,  hestehl,  wai"  hei  der 
Ausbildunii  der  Mandibeln  übergangen.  Zwar  werden  wir  in  rnanclien 
l-.illen  S[)älerhin  sehen,  dass  niil  einem  solchen  (ieschäfle  die  Schw  inini- 
,isle  desMandibelpaares  beauflragl  wurden,  dass  sich  also  die  Sehwinini- 
oigane  an  d(M-  Basis  zu  Kau-  und  an  den  Aeslen  zu  Tast-  und  Greif- 
werkzeuiien  undiildeten,  doch  aber- aenügle  diese  Aushilfe  nicht,  und 
der  w  ichligen  Fivssfuncfion  ward  nach  und  nach  ein  l*aar  derSchvvinun- 
w crkzeuge  nach  dem  andern  zum  Opler  gebracht .  Freilich  uiuss  man  wohl 
hinzusetzen,  dass  dadurch  die  SchvNinunfähigkeit  der  Thiere  keine  Kin- 
tuisseerlitt,  denn  was  vorn  von  Schw  inunoi'ganen  in  den  Dienstdes  Mun- 
des gezogen  wurde,  ward  hinten  sofort  neu  ersetzt,  luid  es  ist  wohl  mehr 
als  wahrscheinlich,  dassruu',  wenn  deiarl  ausreichend  die  Locomotion 
versoi'gt  war.  die  völlige  TrennungderKaufunctionen  von  den  Schwimm- 
ihäligkeiten  weitere»  Fortschritte  machte.  Aber  in  dei'  Thal  sehen  wii*, 
dass  auch  w  iederum  bei  den  allmählich  sich  zu  den  Maxillen  ausbilden- 
den Schwimmorganen  das  Längenwachsthum  und  die  Walzengestall 
einem  Wachsthum  in  iWo  Breite  nachgab  und  dass  statt  der  langen 
Schwimmhaare  kürzere»  aber  stärkere  Borsten  und  Zähne  sich  auf  dem 
Innenrande  ausbildeten,  die  allmählich  sich  ganz  nach  Innen  wandten 
und  mit  denen  der  anderen  Seite  einen  festen  Verschluss  der  Mund- 
öflnung  nach  hinten  ausmachten  (Fig.  17).  Da  sie  sich  aber  leicht  und 
gelenkig  bevAcgen  konnten ,  so  war  es  mit  ihnen  weniger  auf  das  Zer- 
malmen abgesehen,  als  vielnu»hr  auf  das  Packen  und  Festhalten  der 
Nahrungsstorte,  besonders  also  der  zur  Nahrung  dienenden  lebendigen 
rhiere ,  die  durch  irgend  welchen  Zufall  in  die  Nähe  der  Mund-Greif- 
organe kamen.  Die  Verkürzung  der  einzelnen  (ilieder  des  früheren 
Schwin)morganes  ging  denn  auch  allmählich  so  w<ut,  dass  sie  wie 
Lappen  an  einem  gemeinsamen  Stamme  sassen  ,  dass  ihre  Gliederung 
völlig  vei'schwand  und  nur  noch  an  der  Zahl  der  übereinander  liegen- 
den Lap{)en  ,  die  alh»  nnt  Doinen  besetzt  w  lu'den  imd  nach  der  Innen- 
seile vorragten,  erkannt  werden  konnten.  Auch  dieser  phyletische 
rmwandIvings])rocess  ist  urkundlich  in  der  Ontogenese  so  manches 
ki-ebses  hinüMlassen ,  inid  wurde  von  mir  besonders  deutlich  an  Ido- 
thea- Embryonen  beobachlel,  deren  dritles  Maxillenpaar  (=  erstes, — 
hier  einziges  Maxillenfusspaar — ;  während  der  Embryonal-F^ntwickelung 
ganz  deutlich  aus  einer  beinförmigen  deslalt  in  die  lappenförmige  des 
Mundwerkzeuges  übergeführt  wird.  So  wurde  wiederum  aus  dem  in- 
neren Aste,  wie  auch  bei  dov  Mandibel  der  Kautheil,  aus  dem  äusseren 
der  Taslerlheil. 


110  Dr.  An».  Dolirii. 

In  Folge  dieser  veränderten  Functionen  ward  auch  noch  eine  an- 
dere Ungleichheit  nolhwendig  für  die  bisher  gleichartigen  Schwinun- 
organe.  So  lange  sie  Locomotionsorgane  blieben,  war  es  zweckdien licli, 
wenn  sie  in  gleichniässigeni  Abslande  von  einander  am  Leibe  einge- 
lenkt waren  ;  sie  hatten  alle  gleiche  Arbeit  zu  verrichten,  ihre  Musculatur 
brauchte  dieselben  Räumlichkeiten  und  Insertionsstätten ,  das  »Homo- 
nome«  in  der  Anlage  konnte  mehr  gewahrt  werden.  Dieselben  Glied- 
maassen  als  Kauwerkzeuge  mussten  aber  nicht  niu-  ihre  äussere  GestaK 
verändern ,  sondern  sie  nuissten  auch  ihre  relative  Lage  zum  Körper, 
resp.  den  Körper  selber  verändern.  Sollten  sie  in  den  Dienst  des 
Mundes  treten,  so  konnte  sich  der  Mund  nicht  soweit  vergrössern,  dass 
sie  noch  an  derselben  Stelle  mit  ihrer  Insertion  liatten  bleiben  können, 
wo  sie  als  Schwimmbeine  waren;  vielmehr  mussten  sie  den  Mund  zu 
erreichen  suchen.  Da  sie  ab(M'  als  Mundtheile  ihre  Längsaxe  verkürzen 
mussten,  um  wirksam  zu  sein,  durften  sie  eben  auch  nicht  in  der  alten 
Länge  verharren  ,  —  so  blieb  also  nui'  die  eine  Auskunft  übrig :  der 
Zwischenraum  zwischen  dem  Mund  und  ihren  Insertionsstellen  mussle 
vei'kürzt  werden.  In  der  That  sehen  wii-  auch  fast  überall  in  der  onto- 
genetischen  Entwickelung  diesen  langsamen,  phyietischen  Annäherungs- 
process  zwischen  Mund  und  Mundtheilen  re[>roducirt  in  den  Zusammen- 
ziehungen der  Keimwülste  'i  ,  in  der  V(!rschiebung  der  Mundöffnung 
nach  rückwärts,  so  dass  sie,  anfänglich  zwischen  den  zweiten  Antennen 
gelegen  ,  später  zwischen,  ja  selbst  hinter  den  Mandibeln  liegt "^l ,  und 
in  dem  Vor-  und  Zusanunenrücken  dei-  Insertionspunkte  der  einzelnen 
Mundtheile  ')  ,  die  sich  natürlich  allmählich  üliereinander  schoben,  um 
alle  die  Mundöffnung  erreichen  zu  können. 

In  den  Zeiträumen  also,  die  zv^'ischen  Archizoea  und  Zoea 
lagen ,  schufen  sich  vor  Allem  die  Mandibeln ,  und  ein  Maxillenpaar  so 
um.  Es  wäre  zweifelhaft,  ob  wii-  das  zweite  Maxillenpaar  auch  schon 
in  diesen  Zeiträumen  uns  entstanden  zu  denken  haben ,  wenn  die  Be- 
obachtung Fritz  Müller's  richtig  wäre,  dei'  zufolge  die  zweite  Maxille 
der  jungen  Stomatop'oden  sich  als  zweiästiges  Schwinunbein  anlegt'). 
Nach  meinen  Untersuchungen  hat  Fritz  Müller  sich  aber  geirrt  und  den 
ersten  Maxillarfuss  für  die  zweite  Maxille  genommen;  letztere  bildel 
sich  als  einfache  ungespaltene  Extremität.  Wir  finden  aber  bei  Cope- 
poden    noch  bedeutende  Ueberbleibsel  der  Schwimmorganisalion  an 

1)  Vergl.  DoHRN,  embryon.  Entw.  d.  Asellus  1.  c.  pat;.  2.^6. 

2)  Veigl.  Bau  und  Entwickelung  der  Cumaceen. 

3)  Vergl.  besonders  die  Verhältnisse  bei  Tanais. 

4)  Vergl.  Fritz  Müller,  Bruchstück  aus  der  Eniwickelungsgescliichic  der- Maul- 
füsser.    Arch.  f.  Naturu.  1863. 


tifschicill«'  dos  KrobsstiiiiiniPS.  111 

den  Muiulllioiloii ,  sojiar  lünen  deullicIuMi  zwiMiislii^cn  ,  iils  Scliwiinni- 
organ  lungirenden  Taster  an  den  Mandiholii.  Ks  tra^l  si(tli  aber,  oh 
Iclztrrcs  nicht  eine  wiederhergestellte  Bildung  ist,  die  ursprünglicli 
zwar  im  Nauplius-  und  Archizoea- Stadium  l)eslanden  hat,  spiitei-  /u 
(irunde  ging,  alxM'  wieder  von  Neuem  durch  besondere  Verhältnisse 
liervorgerufen  worden  ist.  Wir  werden  darüber  noch  vAeiter  zu 
sprechen  haben. 

Die  Gestalt  der  Schwimmbeine  hatte  natürlich  keine  wesentliche 
rnd»ildung  zu  erfahren,  da  die  Thätigkeil  dieselbt^  blieb.  Sie  mussten 
natürlich  um  so  stärker  werden  ,  je  schwerer  die  Körperlast  war ,  die 
sie  l'orlzubewegen  hatten  ,  und  da  durch  das  allgemeine  Wachslhum 
;iller  Theile  diese  Last  sich  vermehrte,  so  nuissten  auch  sie  stärker 
werden.  Die  grösseren  und  stärkeren  (iliedmaassen  verlangten  dann 
wieder  eine  grössere  und  stärkere  Musculalur,  letztere  härtere  und 
lireitere  Insertionsflächen  ,  —  so  war  also  ein  fortdauerndes  Verändern 
sämnitiicher  Organe  und  Organsysteme  das  Normale. 

Dass  a})er  bei  der  gesteigerten  Schwinunthätigkeit  auch  die  Steuer- 
l'ähigkeit  der  Archizoea  zunehmen  mussle,  ist  natürlich.  So  sehen  wii- 
auch  allmählich  an  Stelle  des  einfachen  gnbligen  Endes  des  Abdominal- 
l'ortsatzes  die  beiden  Zacken  sich  in  eine  Platte  verwandeln,  die  durch 
ihre  Ausdehnung  wesentlich  zur  (ieschicklichkeit  des  Schwimmens  bei- 
tragen musste.  Gleich  im  Anfange  dieser  Darstellung  sahen  wir  aber, 
dass  ein  Längenwachsthum  dem  ganzen  Körper  zu  Gute  kommen 
uuisste,  und  dass  die  Kntwickelung  des  Abdominalfortsatzes  wesentlicli 
durch  diesen  Grund  h(Mvorgerufen  und  begünstigt  war.  Ks  kann  uns 
daher  nicht  erstaunen ,  dass  auch  in  dieser  Richtung  die  Zoea  einen 
\\(!sentlich('n  Forlschritt  gegen  die  Archizoea  aufweist.  Derselbe 
wird  abei-  noch  hedeulend  erhöhl  dui'ch  die  leichtere  Beweglichkeit  des 
ganzen  Fortsatzes,  welchen  eine  complicirtere  und  mehrfach  gegliederte 
Musculatiur  hervorgebracht  lial.  Da  die  Feinheit  und  Mannichfaltigkeit 
der  Bewegungen  von  der  isolirbaren  Thätigkeit  der  einzelnen  Muskel- 
bündel abhängt,  so  w.w  der  Natürlichtm  Züchtung  die  Aufgabe  gestellt, 
;uis  den  ursprünglichen  einfachen  Muskelsträngeii  durch  Scheidung  und 
Spaltung  allmählich  \iele  kleinere  GrupjXMi  zu  schallen.  Indem  an- 
fänglich Verstärkungsbündel  auftreten  mochten,  die  nach  und  nach  iui- 
inei-  vollständiger  wurden,  und  schliesslich  ihre  eigne  Innervation  halten 
und  damit  autonom  wurden  .  gelang  es  auch,  eine  solche  complicirteje 
Musculatur  zu  schaden ;  die  Musculatur  im  Innenraum  fand  aber  ihren 
Ausdruck  an  der  äusseren  Körperwandung  duich  ihre  Insertionsstellen. 
Diese  mussten  allmählich  erhärten,  und  <la .  wenn  irgendwo,  in  dei- 
Musculalur  S\mmelrie  und  Gleichgewicht  hei'rschen  muss,   so  kam  es 


112  .         I'i".  Aiit.  Dohrii, 

bald  /u  ganz  s^leichniässig  abwechselnden  Verdickungen  und  Verdünnun- 
gen der  Wandung  des  Abdominaifortsatzes  und  damit  zu  neuen  Segnienl- 
bildungen.  Mit  d  lesen  Seg  nie  n  ibil  düngen  des  Abd  oni  ina  I- 
r  0  r  t  s  a  l  z  e  s  war  e  i  n  e  i*  der  typischen  T  h  e  i  1  e  des  C  r  u  s  la  c  e  e  n  - 
leibes  geschaffen  oder  entwickelt:  das  Postabdonien 
oder  Pleon. 

Wie  an  diesem  hinteren  Theile  des  Zoeakörpers  finden  wir  aber 
hucIj  an  dem  vorderen  Segmentbildung.  Dort  müssen  w  ir  es  aber  nicht 
allein  der  auch  allmählich  feiner  und  diflerenzirter  ausgebildeten  Rumpf- 
musculalur  zuschreiben  ,  sondern  wesentlich  der  Musculatur  der  Extre- 
mitäten, welche,  wie  schon  vorher  bemerkt,  in  ziemlich  gleichmässigen 
Intervallen  an  dem  Körper,  eingelenkt  sich  fanden.  Auch  zwischen  den 
Insertionsflächen  ihrer  Musculatur  blieben  dünnere  Bezirke  in  der  Kör- 
perwand bestehen,  —  sie  wurden  die  Gelenkhaut  der  Segmente. 

Wenn  wir  dennoch  eine  Ungleichartigkeit  in  der  Segmentbildung 
des  Zoeakörpers  gewahren ,  wenn  wir  die  Segmente  des  Vorderkörpers 
kürzer  und  von  geringerer  Beweglichkeit  finden  als  die  des  Pleon,  wenn 
wir  sogar  auf  einen  völligen  Mangel  directer,  frei  an  einander  beweg- 
licher Segmente  am  Kopftheil  der  Zoea  stossen ,  so  müssen  wir  diesen 
unterschied  einmal  auf  die  Sleuerfunction  des  Pleon  schieben,  das  in 
Folge  davon  beweglicher  sein  nmsste,  dann  aber  haben  wir  vor  Allem 
eine  Bildung  dafür  verantwortlich  zu  machen  ,  welche  uns  ein  grosses 
Interesse  einzuflössen  geeignet  ist:  die  Bildung  des  Zoeaschildes 
oderZoeapanzers. 

Um  dieses  Organ  recht  zu  verstehen  ,  müssen  wir  auf  die  innere 
Organisation  der  Zoöa  und  zurückgreifend  auch  auf  die  des  Nauplius 
eingehen. 

Ausser  einer  Musculatur,  einem  Darm,  und  den  ersten  Spuren 
eines  oberen  Schlundganglions  treffen  wir  im  Nauplius  auf  keinerlei 
geformte  Organsysteme.  Weder  besteht  eine  Vorrichtung  für  die  Re- 
spiration noch  für  die  Circulation.  Die  Körperwandung  des  kleinen  Ge- 
schöpfes setzt  aber  dem  Verkehr  der  Leibesflüssigkeit  und  des  aussen 
imigebenden  Wassers  kein  Hinderniss  behufs  Austauschen  von  Gasen 
entgegen,  —  so  lange  die  Wandung  ein  gewisses  Maass  von  Dicke  und 
Ablagerung  krystallisirter  Substanzen  nicht  überschritt.  Eignen  Ge- 
fässen  und  contraclilen  Platten  zur  Bewegung  cler  I.eibesflüssigkeit 
konnte  aber  so  lange  entsagt  worden ,  als  die  Bewegungen  des  Darm- 
i-anals  ausreichend  waren  diese  Flüssigkeit  hin  und  her  zu  schieben. 

Das  mussle  sich  aber  in  demselben  Augenblicke  ändern ,  in  dem 
härtere  Wandungen  auftraten.  Wir  haben  nun  gesehen,  dass  die  Vei- 
mehrung  der  (^dieduiaassen  eine  Vergrösserung  der  Musculatur,    diese 


ficsdiichle  des  KrcbsstiiinniPS.  113 

cino  pnrlielle  Erliiirluns;  <I(m-  Wjinduni:  zur  Folge  halle;  so  war  d;« mit 
also  auch  das  Signal  zur  Bildung  localisirlerer  Athniung  gegeben  ,  die 
an  den  erhärteten  Stellen  nicht  mehr  stattfinden  konnte;  und  um  das 
Blut  in  Beriihi'ung  mit  diesen  localisirten  Alhmungsnächen  zu  bringen, 
mussle  ein  blutbewegender  Apparat  geschatten  werden ,  musste  ein 
Merz  entwickelt  werden. 

Wann  in  der  Entwickelungsreihe  dc^r  Crustaceen  dieses  Organ  zu- 
erst aufgetreten  ist,  wird  sich  schwerlich  mehr  feststellen* lassen  ;  es 
scheint  aber  nicht  unwahrscheinlich,  dass  es  dem  N au plius  gefehlt 
habe,  nicht  bereits  seinen  eignen  Vorfahren  zugekommen  sei ;  dagegen 
sprechen  unter  Anderm  auch  vornehmlich  die  Pycnogoniden.  Die 
Gründe ,  welche  bei  so  kleinen  Geschöpfen  ein  Herz  entbehrlich  er- 
scheinen lassen  sind  vortrefflich  auseinandergesetzt  von  Lkuckart  *) ; 
die  Scheidung  zwischen  Blutflüssigkeit  und  Parenchymflüssigkeit  ist 
eben  noch  so  gering,  dass  man  überhaupt  zweifeln  kann,  ob  es  im 
Nauplius  schon  zu  einer  solchen  gekommen  sei,  um  so  mehr,  als  er, 
wie  auch  jetzt  noch  als  Larvenform  der  Copepoden  ,  wohl  der  Blut- 
körperchen entbehrt  hat.  Der  endosmotische  Verkehr  der  Flüssigkeiten 
in  der  Leibeshöhle  ersetzt  noch  vollständig  eine  weitere  und  spätere 
Differenzirung  in  Blut,  Chylus,  Lymphe  etc.,  und  die  lebhaften  Muskel- 
bewegungen der  Schwimmgliedmaassen  sorgten  für  die  Ortsbewegung 
der  Flüssigkeit  behufs  ihrer  Respiration  durch  die  Körperwandung. 

Erst  mit  der  Vergrösserung  und  wesentlich  mit  der  Verlängerung 
des  Körpers  traten  andere  Bedingungen  ein.  Indem  die  Ungleichheit 
der  einzelnen  Körperabschnitte  zunahm,  musste  auch  eine  Ungleichheit 
in  der  Bewegung  der  Körperflüssigkeit  stattfinden.  Es  war  grössere 
Gefahr  vorhanden,  dass  einige  entlegenere  Abschnitte  nicht  hinreichend 
ernährt  wurden.  Da  wurden  nun  wohl  zuerst  schw ingende  Membranen 
geschaffen,  welche  aus  eignem  Vermögen ,  unabhängig  von  den  Con- 
Iractionen  der  Darm  Wandungen,  eine  Bewegung  der  ernährenden  Flüssig- 
keit herstellten.  Wir  haben  leider  keinen  Anhalt  mehr,  —  wenigstens 
ist  er  bis  jetzt  nicht  gefunden,  oder  nicht  verstanden  w  orden  —  zu  ver- 
mulhen,  woher  diese  Membranen  stammten,  — vielleicht  waren  es  an- 
fänglich nur  discrele  Stücke  eines  Muskels ,  die  einen  bestimmten 
Rhythmus  der  Contraction  annahmen ;  es  wird  das  schwer  festzustellen 
sein.  War  aber  einmal  ein  Centralorgan  für  die  Bewegung  der  Er- 
nährungsflüssigkeit geschaffen,  so  war  damit  auch  die  Möglichkeit  ge- 
geben ,  grössere  Partien  der  Leibeswand  für  die  Insertion  der  Muskeln 

11  Anatomisch -physiologische  Uebersicht  des  Thierreiches  von  Bergmann  und 
Leuckart.  pag.  168. 

Bd.  VI.  1.  8 


114  Dr.  Aiit.  Doliin, 

» 
erhärten  zu  lassen  und  die  Respiration  auf  besonders  dünnhäutige  Ab- 
schnitte zu  localisiren.  Wir  erkennen  dabei ,  wie  abhängig  der  Fort- 
schritt eines  Organsystems  immer  von  dem  andern  ist,  und  finden 
Darwin's  Maxime  von  den  Wechselbeziehungen  des  Wachsthums  im 
grössten  Maassstabe  überall  wieder. 

Lassen  wir  nun  also  das  Herz  als  einen  einfachen  musculösen  Sack 
entstanden  sein,  so  wird  er  durch  seine  Pump-Actionen  im  Stande  sein 
das  Blut  weiter ,  rascher  und  wirksamer  durch  den  Körper  zu  treiben, 
als  die  Darmbewegungen  oder  die  zufälligen ,  wenigstens  unregel- 
mässigen Contractionen  der  Extremitäten  -  Muskeln.  Seine-Lage  wird 
am  zweckmässigsten  da  sein,  wo  es  mit  gleicher  Kraft  nach  allen  Seiten 
wirken  kann.  Wir  werden  aber  gleich  sehen,  welche  speciellen  Rück- 
sichten auch  noch  bei  der  Bestimmung  der  Lage  obwalten. 

Ich  komme  nun  zur  Frage  nach  den  ersten  Anfängen  der  Panzer- 
bildung. Dieselben  fallen  zusammen  mit  der  Entstehung  der  Ar chi- 
zoöa.  Als  der  am  Ende  des  Naupliusleibes  entstandene  Ab- 
dominalfortsatz sich  mit  einem  Gelenk  selbstständig  gegen  den  Leib 
bew  egen  konnte ,  war  auch  der  Anfang  zum  Panzer  gegeben.  Es  ist 
uns  dieser  Process  gleichfalls  noch  in  der  Ontogenese  erhalten  und  zwar 
in  der  Entwickelung  des  Peneus.  Fritz  Mijller  i)  sagt :  »Als  erste  An- 
deutung des  Rückenschildes  zieht  sich  ziemlich  in  der  Mitte  des  Körpers 
( —  scilicet  des  Nauplius)  eine  Hautfalte  quer  über  den  Rücken.« 
Einer  solchen  Faltenbildung  dankt  auch  phyletisch  betrachtet  der 
Krebsstamm  jenes  charakteristische  Schild.  Diese  Falte  bildete  sich 
allmählich  so  weit  aus,  dass  sie,  —  anfänglich  eine  quere  Verbreiterung  des 
Vorderleibes,  —  allmählich  sich  an  den  Seiten  herabbog  und  die  eigent- 
liche Seitenwand  des  Körpers  noch  einmal  von  aussen  überdeckte.  Am 
Hinterrande  ging  diese  Falte  dann  bis  an  den  oberen  Fortsatz  des 
Archizoea- Leibes,  und  so  wurde  aus  diesem  der  Rückenstachel 
der  Zoöa. 

Dass  aber  diese  Panzerbildung  so  werthvoU ,  ja  fast  unentbehrlich 
für  die  Organisation  der  Nauplius-Nachkommen  geworden  ist,  das 
hat  seinen  Grund  in  der  hier  zuerst  auftretenden  Localisirung  der  Ath- 
mung.  Indem  die  Falten  von  keinerlei  Muskelbildung  in  Anspruch  ge- 
nommen wurden,  konnten  sie  eine  grosse  Zartheit  der  Wandungen  be- 
wahren und  sich  dadurch  ganz  besonders  für  die  Athmungsfunction 
werthvoll  erweisen.  W^ar  aber  einmal  eine  solche  Localisation  dieser 
hervorragend  wichtigen  Function  gewonnen ,  so  konnte  der  Körper  eine 
ganz  andere  und  mannichfaltigere  Leistungsfähigkeit  gewinnen,  die  be- 


-1)  Die  Verwandlung  der  Garneelen.    Arch.  f.  Naturg.  -1863.  pag.  -10. 


Geschichte  des  Krobsstainmes.  1 1 5 

sonders  (üne  Rückkehr  zu  den  allen  Athmungsverhältnissen  sehr  er- 
schwerte. AMe  die  niannichfalligen  Geslailungen,  die  dei- Cruslaceen- 
staiinn  in  der  heuliij;en  Welt  aufweist,  sind  im  engern  Sinne  erst  er- 
möglicht worden  durch  die  Localisirung  der  Respiration,  im  weitern 
Sinne  natürlich  durch  die  Gesammtheit  der  ihnen  voraufgehenden 
Zustände. 

Es  kam  aber  noch  als  Unterstützung  für  die  Beibehaltung  des 
Panzerschildes  der  Grund  hinzu ,  dass  seine  Anwesenheil  zugleich  ein 
Schulz  für  die  anderen  Körperlheile  war.  Indem  er  die  Basis  dei-  Beine 
und  d'w  Mundlheile  von  der  Seile  her  umschloss ,  ward  es  ül)ernüssig 
für  diese  Theile,  sich  selbst  durch  allerhand  Zacken  und  Dornen  zu 
schützen:  das  ward  für  jedes  Einzelne  im  Ganzen  von  dem  Schilde 
geleistet,  der  sich  demgemäss  in  allerhand  Zacken-,  Stachel-  und  Zahn- 
bildung einliess.  So  entwickelten  sich  besonders  der  bereits  erwähnte 
Rückenstachel ,  ein  gleichfalls  sehr  langer  Stirnstachel  und  zwei  seil- 
liche Stacheln ,  die  für  die  Zoea  ,  sozusagen,  typisch  wurden.  Man 
könnte  Letzteres  mit  dem  Hinweis  auf  so  und  so  viele  Zoea  formen, 
welche  uns  in  der  ontogenetischen  Entwickelung  der  Mala  cos  tra  ken 
aufbewahrt  sind,  und  keinen  Stachel  tragen,  bezweifeln,  und  besonders 
den  Rückenstachel  nicht  als  ein  altes  Ueberbleibsel  so  uralter  Zustände, 
wie  die  Archizoea  sie  repräsentirt,  gellen  lassen;  allein  ich  habe 
durch  speciell  auf  diesen  Punkt  gerichtete  Untersuchungen  die  Ueber- 
zeugung  gewonnen ,  dass  diese  Stachel  in  der  Thal  ursprünglich  allen 
Zoea  formen  zukamen,  und  nur  allmählich  in  den  verschiedenen  onto- 
genetischen Entwickelungsreihen  unterdrückt  W'Orden  sind  ^). 

So  war  also  durch  den  Panzer  eine  doppelle  und  äusserst  wichtige 
Erhöhung  der  Organisation  geliefert.  Es  ist  begreiflich  und  aus  den 
Principien  der  Natürlichen  Züchtung  von  vorn  herein  verständlich,  dass 
nach  beiden  Seilen  hin  der  Panzer  eine  Fortenw  ickelung  erfuhr.  Fassen 
wir  zuerst  seine  Bedeutung  als  Schutzapparal  ins  Auge. 

Je  mehr  Körperlheile  der  Panzer  umhüllte ,  um  so  besser  schützte 
er  das  Thier.  So  konnte  er  sich  also  nach  allen  Seiten  ausbreiten  und 
um  den  Körper  herumwachsen.  Damit  wäre  nun  freilich  eine  andere 
nolhwendige  Function  stark  beeinträchtigt  worden  :  dieSchwimmlhätig- 
keil.  Es  ergab  sich  also  bei  dem  Compromiss  beider  Bestrebungen  eine 
Bildung  des  Panzers ,  welche  wir  noch  heute  an  der  eigentlichen  Zoöa 
am  besten  verwirklicht  sehen.    Das  Ueberhängen  des  Schildes  an  den 


i)  Vergl.  meinen  Aufsatz:  Die  Ueberreste  des  Zocastadiums  in  der  ontogene- 
tischen Entwickelung  verschiedener  Crustaceen- Familien.  Jenaische  Zeitschr.  f. 
Med.  u.  Naturw.  V.  pag.  47<. 

8* 


116  Dr.  Aiit.  Dohni, 

Seiten  des  Körpers  und  nach  hinten  über  die  Einlenkung  des  Pleon. 
Ein  solches  Ueberhängen  vertrug  sich  vollständig  mit  einer  raschen 
Ortsbewegung :  es  liess  den  Schwiinmbeinen  des  Pleon  vollkommene 
Freiheit  und  auch  die  Extremitäten  des  Vorderleibes  waren  ungehindert 
in  ihren  verschiedenen  Thätigkeiten.  In  der  Ruhe  ward  ausserdem  das 
Pleon  unter  den  Vorderleib  geschlagen  und  genoss  so  gleichfalls  den 
Schutz  des  überhängenden  Panzers. 

War  aber  einmal  ein  starker  Wettbewerb  innerhalb  der  schwim- 
menden Naupliogenen  vorhanden,  so  musste  nothwendig  ein  Theil  der- 
selben in  Gefahr  kommen  zu  Grunde  zu  gehen.  Das  wird  auch  höchst 
wahrscheinlich  in  reichem  Maasse  vorgekommen  sein.  Aber  von  dieser 
zum  Untergang  bestimmten  Zahl  der  schlechten  Schwimmer  konnte 
doch  noch  mit  Erfolg  eine  andere  Laufbahn  und  infolge  davon  eine  an- 
dere Ausbildung  ihres  Körpers  eingeschlagen  werden.  Es  konnte,  weil 
doch  im  Schwinmien  kein  Erfolg  zu  erringen  war,  mit  der  Abnahme 
der  Schwimmfähigkeit  die  Grösse  des  schützenden  Panzers  zunehmen  : 
und,  statt  ihren  Feinden  durch  ihre  Geschwindigkeit  zu  entgehen, 
konnten  diese  Krebschen  die  Panzerhälflcn  zu  vollkommen  fest  schliessen- 
den  Schalen  ausbilden  und  sich  darin  vor  Nachstellung  und  Verfolgung 
sichern.  Gaben  sie  aber  so  das  Schwimmen  auf,  so  zogen  sie  sich  auch 
von  der  Oberfläche  des  Wassers  und  aus  dem  freien  Meere  zurück  und 
suchten  den  Grund  des  Meeres  auf,  um  dort  ihre  Nahrung  zu  finden. 
Dort  glichen  sie  nun  in  ihren  geschlossenen  Schalen  eher  kleinen  Stein- 
chen als  lebendigen  Gescliöpfen  und  konnten  so  ihren  Feinden  entgehen. 
War  aber  einmal  dem  grossen  Schilde  ein  wesentlicher  Nutzen  abge- 
wonnen ,  so  halte  auch  die  Natürliche  Züchtung  ein  neues  Thema  zu 
variiren.  Zuerst  musste  dem  Schilde  eine  grössere  Beweglichkeit  ver- 
liehen werden:  statt  es  in  einem  zusammenhängenden  Stück  zu  lassen, 
trachtete  sie  danach,  es  in  zwei  zu  Lheilen,  und  diese  Stücke  gegen  ein- 
ander beweglich  zu  machen.  Dass  dies  positiv  geschehen  ist,  lehrt  uns 
unter  Anderem  die  Embryologie  und  Metamorphose  vonLimnetis, 
lehrt  uns  die  Metamorphose  der  Cirripedien,  bei  denen  auf  das 
Naupliusstadium  ein  Stadium  folgt,  in  dem  der  Körper  des  Thieres  von 
zwei  Schalenhälflen  eingeschlossen  ist.  Der  Vortheil  der  beweglichen 
Schale  liegt  auf  der  Hand.  Die  Ortsbevvegung  konnte  natürlich  nicht 
gänzlich  ein  Ende  nehmen;  die  Thiere  mussten  nach  wie  vor  schwim- 
men und  kriechen :  indem  sie  also  ihre  Schalen  aufsperrten ,  konnten 
sie  kriechen  und  schwinunen.  Da  ferner  das  Schwimmen  und  die 
Schwimmfähigkeit  nicht  mehr  die  Hauptobacht  für  das  Wirken  der 
Natürlichen  Züchtung  war,  sondern  ein  vollständiger  Schutz  durch  die 
Schale,  so  konnte  auch  eine  wesentliche  Veränderung  des  allgemeinen 


ncscliiflito  dps  Krobsstiiinmrs.  117 

Bhucs  oinlrolcn  ,  iii(l<Mii  sich  dci- Köi'ptM-  viMküiztc.  Das  l'oslabdoiiicii 
odor  Plcon  verlor  ja  seine  vvesenllichsle  Function,  war  also  bei  Weitem 
nicht  mehr  so  wichtig;  was  ihm  übrig  blieb  an  Leistungen,  vertrug 
sich  iccht  gul  mit  einer  verktlrzten  und  gekrümmten  Gestalt,  die  dann 
ohne  Weiteres  mit  in  die  verhülh^nde  Schale  eingeschlossen  wurde. 
Kbenso  mussten  {iich  auch  die  Beine  und  die  anderen  Extremitäten 
verkürzen  ,  ja  selbst  die  Zahl  der  Körpersegmente  musste  abnehmen, 
um  (Muen  möglichst  zusammengedrängten  Körper  herzustellen ,  der  von 
der  Schale  umhüllt  ward.  So  erklärt  sich  die  verhällnissmässig  sehr 
kurze  und  sehr  flache  Gestalt  der  Beine  aller  Phyl  lopoden;  durch 
die  Kürze  machten  sie  es  möglich,  dass  die  Schale  sie  ganz  umhüllte, 
(lurch  die  Flachheit,  dass  trotz  des  gedrungeneren  Segmentbaues  doch 
eine  grosse  Zahl  von  Anhängen  sich  entwickeln  konnte.  Die  Glado- 
ceren  und  Ostracoden  erreichten  wirksamen  Schutz  ihres  Körpers, 
indem  sie  Segmente  und  Anhänge  verloren ,  die  Gliederung  des  Pleon 
fast  vollständig  einbüssten  und  die  vorderen  Extremitäten  wieder  zum 
Schwimmen  mit  benutzton ,  nachdem  sie  bei  Zoea  schon  zum  Tragen 
von  last-  und  Sinneswerkzeugen  benutzt  waren. 

Die  zweite  noch  wichtigere  Function  des  Panzers  betrifft  seine  Be- 
ziehungen zui'  Hespiration.  Im  Nauplius  respirirt  wahrscheinlich  die 
ganze  Körperoberfläche.  Mit  Sicheiheit  können  wir  das  freilich  nicht 
behaupten,  aber  wahrscheinlich  ist  es,  weil  wir  keinen  speciellen  Sitz 
der  Athmung  entdecken  können.  Die  Duplicatur  der  Körperwand, 
w^elche  durch  die  Bildung  des  Panzerschildes  hergestellt  wird,  giebt 
nun  die  vortrefl"lichste  Gelegenheit  zur  Localisation  der  Athmung.  Die 
nach  beiden  Seiten  überragenden,  vom  Wasser  umspülten  freien  Seiten- 
Iheile  des  Schildes  waren  die  geeignetsten  Stellen ,  um  den  Gasaus- 
lausch  der  Blutkörperchen  zu  vermitteln.  Es  könnte  freilich  scheinen, 
als  wenn  es  für  die  Thierchen  hätte  vortheilhafter  sein  müssen,  mittelst 
der  ganzen  Körperoberfläche  zu  respiriren,  als  dafür  einen  eignen  Organ- 
apparat zu  construiren.  Allein  wenn  die  ganze  llautoberfläche  zur  Be- 
spiralion  hätte  dienen  müssen,  so  wäre  es  nöthig  gewesen,  dass  sie  auch 
in  entsprechender  Dünne  und  Zartheit  forlbestanden  hätte.  Das  wäre 
aber  keinenfalls  besser  gewesen,  —  der  Erfolg  lehrt,  dass  fast  alle 
Crustaceen  localisirte  Athmungsorgane  besitzen ,  dass  also  die  Ueber- 
legenheil  auf  Seilen  dieser  Organisation  gelegen  haben  nuiss.  Es  ist 
klar,  dass,  sobald  eine  Localisation  der  Athnmng  hergestellt  war,  die 
Körperwandung  an  allen  Stellen,  ausgenommen  diese  eine,  so  hart 
werden  konnte,  als  möglich,  — die  Bespiration  ging  ruhig  fort.  Das 
war  ein  grosser  Fortschritt.  Dass  aber  diese  Localisation  im  Panzer- 
schilde stattfand,  —  (Ins  erklärt  sich  wohl  genügend  aus  der  Nachbar- 


118  Dr.  Ant.  Dohrn, 

Schaft  dos  Herzens ,  in  welches  das  nun  mit  Sauerstoff  vorsorgte  Blut 
sofort  wieder  eintrat  und  von  Neuem  in  die  verschiedenen  Körpertheile 
hineingepumpt  wurde.  Wir  sehen,  dass  später  bei  den  Macruren 
und  Brachyuren  die  Nachbarschaft  des  Herzens  bei  der  Verlegung 
der  Respiration  in  eigene  Kiemenanhange  der  Beine  festgehalten  wird 
und  dass  selbst  da,  wo  scheinbar  eine  völlige  Aenderung  eintritt,  bei 
den  Isopoden,  deren  Athmungsorgane  am  Pleon  sitzen,  doch  dies 
Princip  bewahrt  wird,  denn  das  Herz  verlängert  sich  zu  einem  Schlauche, 
dessen  hinteres  Ende  bis  in  das  Pleon  hineinreicht.  Diese  Thatsachen 
berühre  ich  hier  nur  kurz,  um  das  Princip  zu  bewahrheiten;  ich  werde 
später  ausführlich  darauf  zurückkommen.  Ein  zweiter  Grund,  das 
Panzerschild  zur  Athmung  zu  wählen  ist  ferner  der,  dass  in  ihm  durch 
die  Faltenbildung  eine  hinreichend  grosse  Fläche  geboten  war,  an  der 
der  Gasaustausch  stattfinden  konnte.  Denken  wir,  dass  irgend  eine  an- 
dere Körperstelle  dazu  gewählt  worden  wäre,  so  müssten  wir  doch 
einen  viel  grösseren  Bezirk  der  Oberfläche  nehmen ,  um  die  Fläche  zu 
gewinnen ,  welche  hier  durch  die  Faltenbildung  geboten  ist ;  denn  so- 
wohl die  innere  Wand  des  überhängenden  Panzers,  als  die  äussere  von 
ihm  bedeckte  Körperwand  sind  zu  respiratorischen  Flächen  entwickelt. 
Und  jede  andere ,  nicht  bedeckte  Fläche  würde  den  gefährlichsten  Be- 
rührungen ausgesetzt  sein. 

So  sehen  wir  also  eine  der  typisch  wichtigsten  Bildungen  des 
Krusterstammes  frühzeitig  auftreten  und  werden  sie  von  da  an ,  mit 
ganz  geringen  Ausnahmen ,  durch  alle  kommenden  Generationen  hin- 
durch in  inmier  grösserer,  Vollkommenheit  verfolgen  können. 

Neben  der  noch  sehr  einfachen  Circulation  und  Respiration  dürfen 
wir  nicht  erwarten,  eine  complicirto  Anordnung  der  Verdauungsorgane 
zu  finden.  Wir  wissen  zwar  durchaus  nicht  genau,  wie  diese  beschatfen 
gewesen  sein  mögen,  als  Zo^a  der  höchst  entwickelte  Repräsentant  der 
Crustaceon  war,  aber  dass  sie  aus  wesentlich  mehr  bestanden  hätten, 
als  aus  einem  Canale  mit  zwei  seitlichen  sackförmigen  Ausstülpungen, 
den  sog.  Lebern,  ist  nicht  anzunehmen. 

Schwieriger  ist  es,  sich  eine  Vorstellung  von  den  Generations- 
organen der  Zoea  zu  machen.  Am  wahrscheinlichsten  bleibt  es  aber 
wohl,  anzunehmen,  dass  Zoea,  wie  die  Cop  ep  öden ,  die  Eiersäcke 
herumgetragen  habe  und  durch  Spermatophoren  befruchtet  worden  sei. 
Diese  Organisation  der  Geschlechtsorgane  finden  wir  wenigstens  bei 
mehreren  morphologisch  weit  von  einander  getrennten  Krebsfamilien 
noch  heule  bestehen  und  dürfen  annehmen ,  dass  sie  hier  durch  Ver- 
erbung existiren. 


Geschicilte  des  Krebsstammes.  119 

4.  Die  Lücke  zwischen  Zoea  und  den  Phyllopoden. 

Diese  Lücke  ist  leider  sehr  bedeutend  und  die  Embryologie  lässt 
uns  im  Stich  bei  der  Ausfüllung  derselben.  Wir  haben  nur  durch  die 
Decapoden  überhaupt  Kenntniss  von  der  Zoea,  — aber  der  Weg, 
den  die  Zoea  in  der  Weiter -Entwickelung  zu  Krabbon  und  Maciuren 
nimmt,  durch  die  verschiedenen  Megalops,  Phyllosoma,  Aliraa- 
Gestaiton  ist  sicher  wesentlich  von  dem  verschieden ,  welchen  sie  zu 
den  Phyllopoden  genommen  hat.  Und  doch  scheint  es  mir  keinen 
Augenblick  zweifelhaft,  dass  sich  die  Decapoden  ,  Stomatopoden, 
Ed  i"i ophtha  Imen  ebenso  gut  wie  die  Gladoceren,  Ostracoden, 
Copepoden  und  Cirripeden  aus  Phyllopoden  hervorgebildet 
haben.    Die  Gründe  für  diese  Annahme  sind  die  folgenden. 

1 )  Die  Palaeontologie  zeigt  uns  ein  starkes  Ueberwiegen  der  Phyllo- 
poden in  den  palaeozoischen  Formationen.  In  den  ältesten,  versteine- 
rungführenden Schichten  sind  überhaupt  keine  anderen  Crustaceen  ge- 
funden worden. 

2)  Die  Phyllopoden  existiren  nur  noch  als  weit  von  einander  ge- 
trennte, an  Gattungen  und  Arten  arme  Familien,  die  darauf  hindeuten, 
dass  ehemals  die  Klüfte  zwischen  ihnen  ausgefüllt  waren,  dass  aber  die 
Zwischenglieder  zu  Grunde  gegangen  sind.  Nebalia,  Apus,  Lim- 
nadia,  Branchipus  etc.  sind  unter  einander  noch  verschiedener, 
als  Homarus,  Platycarcinus  und  Cuma,  —  wären  aber  diese 
allein  übrig  geblieben  von  allen  Podophthalmen,  so  würden  wir 
auf  die  ganze  Masse  von  Brach yuren,  Macruren,  Anomuren, 
Stomatopoden  etc.  Schlüsse  ziehen  müssen.  Und  man  kann  nicht 
bezweifeln,  dass  heutzutage  im  Meere  die  Podophthalmen  herr- 
schen, — ebenso  wird  es  also  gewesen  sein,  als  noch  alle  die  Mittelglieder 
lebten,  welche  jene  einzelnen  Phyllopoden-Abtheilungen  zu  einem 
Ganzen  verbanden.  Als  aber  die  Phyllopoden  herrschten,  konnten 
keine  Podophthalmen  herrschen,  —  diese  kamen  also  erst  nachher 
und  verdrängten  jene  aus  ihren  Stellungen  im  Naturhaushalt. 

■i]  In  der  ganzen  Organisation  verrathen  die  Phyllopoden  eine 
grössere  Ursprünglichkeit  im  Vergleich  zu  den  übrigen  Cruslaceen- 
Ablheilungen.  Man  kann  sich  leicht  vorstellen,  wie  aus  den  Phyllo- 
poden die  übrigen  Krebse,  aberschwer,  wie  etwa  aus  Podoph- 
thalmen, oder  Cirripeden  sich  Phyllopoden  sollten  ent- 
wickelt haben. 

4)  Die  Lebensweise  der  Phyllopoden  deutet  gleichfalls  darauf 
hin,  dass  sie  auf  dem  Rückzuge  sind.  Ihr  sporadisches  Vorkommen 
und  ihre  Zurückgezogenheit  in  kleineren  Salzwässern  beweisen,  dass 


1 20  Dr.  Ant.  Dohrn, 

sie  den  activen  Wettbewerb  mit  ihren  Concurrenten  nicht  ni(>hr  aus- 
halten können,  und  im  Aussterben  begriffen  sind. 

Man  könnte  gegen  diese  Schlüsse  einwenden :  wii-  haben  doch  in 
den  Copepoden  z.  B.  Krebse,  welche  ihre  Abkunft  vom  Nauplius 
uns  noch  ganz  unverfälscht  darlegen ;  die  Metamorphosen  sind  ohne 
Sprung,  vom  Nauplius  geht  es  ganz  allmählich  über  zumCyclops,  — 
wozu  annehmen ,  dass  in  der  phyletischen  Entwickelung  Stadien  ge- 
wesen, die  bis  auf  die  letzte  Spur  vertilgt  sind,  die  ganz  andere  Organi- 
sationen boten,  als  heut  in  ihren  Nachkommen  zu  finden  sind,  wenn 
wir  uns  nur  eine  strahlige  Entwickelung  des  Nauplius  vorzustellen 
haben,  um  die  heutigen  Krebsabtheilungen  zu  verstehen? 

Dagegen  wäre  zu  sagen ,  dass  wir  die  heutigen  Krebsabthoilungen 
bisher  vielleicht  nicht  recht  verstanden  haben,  dass  wir  sie  aber,  wie  ich 
zu  zeigen  hoff"e ,  besser  verstehen  werden ,  wenn  wir  sie  alle  ohne  Aus- 
nahme aus  Phyllopoden  hervorgehen  lassen.  Ferner  beweist  diecon- 
tinuirliche  Umwandlung  des  Nauplius  in  den  Cyclops  nichts  gegen 
dies  vorausgesetzte  Verschwinden  des  Phyllopoden-Stadiums  in  der 
ontogenetischen  Entwickelung;  —  continuirlich  ist  jede  Entwickelung 
eines  Individuums.  Auch  ist  keine  Spur  eines  Zoea- Stadiums  in  der 
Copepoden  -Familie  mehr  erhalten,  —  dennoch  scheinen  mir  die 
parasitischen  Formen  zu  beweisen,  dass  es  nichts  destoweniger  vorhan- 
den war  1).  Ebenso  würden  wir  vom  Nauplius  der  Malacostraken 
nichts  wissen,  wenn  nicht  Peneus  ihn  noch  entwickelte.  Die  weiteren 
Gründe  wird  die  spätere  Darstellung  zur  Genüge  beibringen. 

Der  Fortschritt  von  der  Zoea  zu  den  Phyllopoden  besteht  auf 
der  einen  Seite  wesentlich  in  der  Vergrösserung  des  Körperbaues. 
Diese  Vergrösserung  hätte  nun  auf  zweierlei  Weise  geschehen  können. 
Wenn  die  Zoea  alle  ihre  einzelnen  Theile  stark  hätte  zunehmen  lassen, 
wenn  also  sowohl  die  einzelnen  Segmente,  als  die  Extremitäten  ebenso 
wie  der  Panzer  sich  nach  allen  Richtungen  ausgedehnt  hätten,  so  würden 
auch  Geschöpfe  entstanden  sein,  welche  als  Individuen  den  kleineren 
Zoeas  zweifellos  überlegen  gewesen  wären  und  sie  im  Einzelkampfe 
zerstört  hätten.  Und  wie  die  heutigen  Zoeagestalten  in  der  Grösse  von 
1—15  Millimeter  noch  auftreten,  so  mögen  noch  beträchtlichere  Unter- 
schiede zu  ihrer  Blüthezeit  vor  langen  längst  verschwundenen  geo- 
logischen Perioden  gehabt  haben ,  aus  denen  uns  keine  Spuren  mehr 
aufbewahrt  sind.    Lebt  doch   heute   neben   den  kleinen  Carcinus, 


1)  Vergl.    den   oben   citirten  Aiifsatz   über  die    Reste   des   Zoeastadiums  etc. 
pag.  483. 


Geschichte  des  Krebsslammes.  1  '2 1 

Pni'tinuis  (»Ic.  (lor  riesige  Inachus  Kaenipferi,  und  dvr  Oovon 
hrwnhrt  uns  die  Reste  von  7  Fuss  langen  Plcrygolus  auC.  So  niöij;(Mi 
also  auch  recht  grosse  Zoea  exislirl  haben. 

Ihnen  ahef  war  der  Sieg  und  die  schliessliche  Fortenlvvickc^lung 
des  Ktebsslanimes  nicht  vorbehalten,  ebenso  wenig  wie  den  l'tery- 
goten  oder  wie  heutzutage  dem  Inachus  Kaempleri.  Die  Ver- 
änderungen ini  Bau  des  Körpers  zusammen  mit  einer  daraus  resultiren- 
den  Grössenzunahnie  bewirkten,  was  diese  letztere  allein  nicht  leisten 
konnte.  In  diesen  Veränderungen  nahm  offenbar  den  ersten  Platz  ein  : 
die  allmähliche  Zunahme  der  Segmente  oder  Metameren.  Wie  sie  zu 
Stande  gekommen,  das  kann  man  nicht  erkennen,  —  ob  sie  duich 
innere  Sprossungen  oder  wiederum  nui' durch  Muskelactionen  zu  Stande 
gekommen,  das  ist  zweifelhaft.  Jedenfalls  aber  nahm  die  Zahl  der  ge- 
sondert beweglichen  Körperabschnitte  beträchtlich  zu. 

Mit  der  Zunahme  der  Segmente  und  Vergrösserung  des  Körpers 
im  Allgemeinen  musste  aber  nothwendig  auch  die  Zahl  der  Extremitäten 
wachsen.  Vor  allen  Dingen  reichten  die  Schwimmbeine  des  Mitteileibes 
nicht  mehr  aus,  das  wesentlich  verlängerte  Pleon  mit  zu  bewegen.  Je 
schwerer  dasselbe  wurde  und  je  weiter  es  sich  mit  einem  Endpunkte 
von  den  bewegenden  Theilen  entfernte,  um  so  schwerfälliger  und  unge- 
schickter mussten  die  Bewegungen  werden.  Das  wäre  natürlich  nicht 
tuu"  kein  Fortschritt,  sondern  ein  Rückschritt  gewesen.  Wo  also  Zoeen 
auftraten  mit  mehr  als  den  übHchen  Extremitäten,  da  waren  sie  sicher 
imVortheil,  sie  vermochten  rascher  zu  schwimmen  und  waren  kräftiger 
als  ihre  Genossen.  So  wuchsen  also  die  Segmentzahl  und  die  Extre- 
mitätenzahl zusammen. 

Uns  ist  dieser  Vorgang  vielleicht  aufbewahrt  worden  in  der  onto- 
genetischen  Entwickelung  vieler  Krebse,  bei  denen  zuerst  die  Na u- 
plius-Gliedmaassen  hervorsprossen,  dann  die  Zoea- Extremitäten, 
und  erst  viel  später  die  Gliedmaassen  des  Pleon,  ungefähr  zu  gleicher 
Zeit  mit  denen  des  Pereion,  obwohl  dies  bei  den  verschiedenen  Galtun- 
gen und  Arten  schwankt. 

Es  ist  wiederum  nicht  festzustellen  ,  ob  diese  Extremitäten  gleich 
als  solche  nach  irgend  welchen  uns  noch  verborgenen  Verei'bungsge- 
setzen  angelegt  werden  konnten,  oder  ob  jede  einzelne  sich  langsam 
aus  einem  Höcker,  einem  Schwimmhaar  oder  irgend  welcher  zufälligen 
Ausstülpung  entwickelte.  Dass  sie  aber  gleichfalls  wie  die  früheren 
an  der  Bauchseite,  nicht  etwa  am  Rücken  entwickelt  wurden,  das  be- 
greift sich,  wenn  man  die  mechanischen  Bedingungen  erwägt,  untei' 
denen  die  Bewegung  eines  cylinderartigen  Körpers  mit  möglichst  ge- 


122  Dr.  Ant.  Dohni, 

ringor Muskelkraft  zu  Stande  kommt ^).  Zugleich  mit  ihrer  Zunahme  an 
Zahl  konnten  sie  aber  auch  ihre  Gestalt  noch  wesentlich  verändern, 
indem  sie  die  Walzengestalt  aufgaben  und  sich  abplatteten.  Die  Gründe, 
welche  hierzu  führten,  wird  der  nächste  Abschnitt  entwickeln. 

5.  Die  Phyllopoden. 

(Fig.  18—20.) 

Obwohl  ich  nur  Weniges  über  die  Lücke  bemerkt  habe ,  die  zwi- 
schen Zoea  und  den  Phyllopoden  zu  denken  ist,  muss  man  sie 
doch  für  sehr  beträchtlich  halten.  Die  palaeontologischen  Untersuchun- 
gen erlauben  uns  aber  nicht,  sie  zu  ergänzen,  —  und  leider  ist  die 
Embryologie  noch  nicht  im  Stande  gewesen ,  etwas  Wesentliches  zur 
Aushilfe  beizubringen.  Sicherlich  werden  wir  über  diese  Lücke  noch 
Nachrichten  erhalten  :  es  lebt  noch  ein  Krebs,  dessen  Entwickelungsge- 
schichte  gerade  für  die  Kenntniss  dieser  Zeit  von  grösster  Bedeutung  sein 
wird  :   der  L  i  m  u  1  u  s.    Aber  noch  besitzen  wir  seine  Embryologie  nicht. 

Nehmen  wir  aber  als  Zielpunkt  der  Entwickelung  des  Crustaceen- 
Stammes  für  die  Zeit  vor  dem  Silur  die  Phyllopoden -Gestalt,  so 
werden  wir  dadurch,  dass  wir  diese  Gestalt  in  ihren  verschiedenen  Ver- 
änderungen, Rück-  und  Fortbildungen  an  den  heut  lebenden  Phyllo- 
poden untersuchen,  einen,  wenn  auch  sehr  unvollständigen,  Begriff 
von  der  morphologischen  Bewegung  der  vorhergehenden  Generationen 
gewinnen  können. 

Bei  den  Phyllopoden  finden  wir  vor  allen  Dingen  die  eine  her- 
vorragend wichtige  Function  bereits  dahin  entwickelt,  dass  wir  den 
Forlschritt,  den  die  weitere  Entwickelung  aus  ihnen  heraus  nehmen 
musste  ,  vorher  berechnen  könnten ,  läge  sie  auch  nicht  vor.  Es  ist  die 
Respirationsweise. 

Wir  sahen  schon,  dass  die  Faltenbildung  beim  Nauplius  be- 
sonders darum  conservirt  und  vervollkommnet  ward,  weil  die  Athmung 
sich  sehr  bald  hier  hin  wandte ,  in  dem  Panzer  eine  Localisation  ge- 
wann. Dies  ist  nun  im  höchsten  Maasse  der  Fall  bei  den  Phyllo- 
poden. 

Blicken  wir  auf  die  Athmungsorgane  desApus.  Das  mächtigste 
und  wichtigste  derselben  ist  der  Panzer,  —  so  wichtig  zwar,  dass  der 
sorgfältigste  Monograph  des  Thieres,  Zaddach,  denselben  überhaupt  nur 
als  Kieme  betrachtet'-^) .  Aber  wir  haben  hier  sofort  eine  in  der  Zwischen- 

1)  Vergl.  Bergmann  u.  Leuckart,  Anat.  physiol.  Uebers.  d.  Thierreichs.  pag.  396. 

2)  Zaddach,  De  Apodis  cancriformis  anatome  et  historia  övolutionis.  pag.  1 1 . 


fiescliiclite  des  Krebsstamines.  1 23 

znit  zwischen  Zoga  und  den  Phyllopoden  erworbene  Ausbilduni:  zu 
bemerken.  Je  umschriebener  der  Ort  für  den  Gasaustauseh  des  lUules 
wird,  d.  h.  je  weniger  derselbe  an  allen  Stellen  dei-  Körp('rol)cr(läche 
stattfinden  kann  ,  um  so  nolhwendiger  wird  es,  dafür  zu  sorgen  ,  tiass 
die  Blutkörperchen  an  der  einen  Stelle,  an  der  nun  dieser  Austausch 
wirklich  vor  sich  geht,  hinreichend  lange  sich  verweilen.  So  sind  also 
alle  diejenigen  Formen  in)  Vortheil  gewesen,  welche  eine  Einrichtung 
besasson,  die  den  Blutkörperchen  diese  Verlangsamung  ihrer  Bewegung 
in  der  Kieme  ermöglichte.  Wir  werden  diese  Einrichtung  im  weiteren 
Verlaufe  bei  allen  Cruslaceen  wieder  finden ,  freilich  in  verschiedener 
Durchführung.  Das  Wesen  derselben  besteht  in  der  H<Mslellung  eines 
Gillerwerks  zwischen  den  beiden  respirirenden  Flächen  des  Fanzcrs,  — 
oder  der  anderen  Kiemen-Organe,  wo  solche  vorhanden.  Dadurch  wird 
der  rasche  Lauf  der  Blutmasse  aufgehalten ,  die  Blutkörperchen  stossen 
sich  hier  und  da  an  den  Gitterstiiben .  ihre  Bewegung  vermindert  sich, 
die  Kohlensäure  tauscht  den  Platz  mit  dem  Sauerstoff  und  am  Ende  der 
Reise  durch  das  Gitter,  geht  die  ganze  Blutmasse  wieder  in  starker 
Strönmng ,  durch  die  Diastole  des  Herzens  herbeigezogen ,  in  das  Herz 
zurück. 

Das  System  der  Panzer-  Athmung  sollte  aber  noch  eine  andere 
Vervollkommnung  gewinnen.  So  lange  die  Phyllopoden  damaliger 
Zeit  hervorragende  Schwimmer  blieben ,  befanden  sie  sich  durch  ihre 
Bewegungen  immer  in  einem  durchaus  frischen ,  respirablen  Medium. 
Ihr  Gasaustausch  ging  immer  gut  und  ungehindert  von  Statten  ,  denn 
ein  fortdauernder  Strom  lief  die  Seiten  des  Panzers  entlang.  Als  sie 
aber  anfingen,  ihre  Existenz  zu  verändern,  als  so  und  so  viele  auf  dem 
Meeresgrunde  und  an  den  Küsten  zu  leben  unternahmen,  tauschten  sie 
das  Kriechen  und  Gehen  für  das  Schwimmen  ein.  Nun  fehlte  der  rasche 
Strom  an  den  Panzerwänden.  Er  nmsste  aber  noth wendig  ersetzt 
werden.  Dazu  war  leicht  Rath  geschafft.  Die  Bewegung  der  Schwimm- 
füsse  selbst  reichte  vollständig  aus,  eine  stetige  Erneuerung  des  Wassers 
unterhalb  des  Körpers  zu  bewirken  ,  und  da  das  Panzerschild  ja  dies(; 
Extremitäten  selbst  zum  Theil  einschloss,  so  ward  durch  ihre  Bewegung 
das  Wasser  sogar  zwischen  Schild  und  Körper  erneut. 

Der  letztere  Umstand  war  von  besonderer  Wichtigkeit;  von  ihm 
aus  datirt  eine  neue,  bedeutende  Steigerung  der  Organisationsmannich- 
faltigkeit  im  Crustaceenstamme.  War  dafür  gesorgt,  dass  zwischen 
Körper  und  Schale  resp.  Panzer  fortdauernd  ein  respirables  Medium 
sich  befand,  d.  h.  ward  dort  stets  das  Wasser  erneut,  sobald  es  seinen 
Gehalt  an  Sauerstoff  eingebüsst  hatte ,  so  konnte  die  Localisation  der 
Athmung  weitere  Forlschritte  machen,  und  ein  weiterer  Theil  der  Kör- 


124  nr.  Ant.  Dnliin, 

peroberfliiche  ward  für  andere  Leislungen  frei.  Dieser  Theil  war  dir 
äussere  Oberfläche  des  Panzers.  So  lange  er  noch,  wenn  auch  in  be- 
schränkter Weise,  als  Athmungsorgan  zu  fungiren  hatte,  durfte  eine 
gewisse  Dicke  und  Consistenz  seiner  Wandungen  nicht  überschritten 
werden :  war  er  aber  von  diesem  Zwange  gänzHch  befreit ,  so  konnte 
die  Aussenwand  so  dick  und  fest  werden,  wie  sie  immer  wollte,  —  die 
Respiration  war  ungehindert,  das  Leben  des  Thieres  gesichert,  und  die 
Festigkeit  und  Härte  des  Panzers  machte  es  fähig ,  ganz  neue  Existenz- 
bedingungen aufzusuchen. 

So  spalten  sich  hier  die  P  h  y  1 1  o  p  o  d  e  n  in  zwei  grosse  Zweige  : 
der  eine  bleibt  schwimmend  Beherrscher  des  freien  Meeres,  der  andere 
sucht  das  Ufer  auf  und  den  Meeresgrund.  Beide  Zweige  waren  be- 
stimmt uns  eine  reiche  und  sehr  veränderte  Nachkomriienschaft  zu  ent- 
wickeln ,  die  freilich  ihren  Vorfahren  selbst  und  den  ihnen  gleich  ge- 
bliebenen Nachkommen  verderblich  werden  sollte. 

Durch  die  neue  Function  der  Extremitäten  ward  ihre  blattförmige 
Gestalt  von  besonderer  Wichtigkeit.  Nicht  nur  die  Raschheit  der 
Schwimmbewegungen,  auch  die  Ausgiebigkeit  der  Respiration  be- 
günstigten sie.  Nun  hätte  zwar  die  erstere  Function  auch  fortdauernd 
mittelst  der  walzenförmigen  Nauplius- Extremitäten  und  ihren  langen 
Schwimmhaaren  versehen  werden  können ,  aber  da  durch  das  Ueber- 
wachsen  des  Schildes  der  Innenraum  zwischen  Schild  und  Körper,  in 
dem  die  Extremitäten  behufs  der  Wassererneuerung  bewegt  werden 
sollten,  nur  begrenzten  Spielraum  gewährte,  so  mussten  die  langen 
Schwimmhaare  schwinden,  und  nun  die  Walzenform  sich  abplatten  und 
in  die  Blattform  übergehen.  Lag  also  auf  ihnen  eine  grosse  Verantwort- 
lichkeit, so  mussten  sie  sich  auch  wesenthch  vervollkommnen,  und 
durch  ihre  Verbesserung  die  ganze  Organisation  steigern. 

Das  Mittel  dazu  lag  wieder  sehr  nahe.  Wenn  sie  schon  einmal  ihre 
Extremitäten  zur  Beförderung  der  Athmung  in  Bewegung  setzten ,  so 
konnten  diese  zu  gleicher  Zeit  als  Athmungsorgane  direct  mitwirken. 
Das  Blut,  das  in  ihnen  zu  ihrer  Ernährung  cursirte,  konnte  innerhalb 
ihrer  Wände  sich  so  lange  aufhalten,  dass  ein  Gasaustausch  bewirkt 
wurde,  und  die  Wände  konnten  so  zart  gemacht  werden,  dass  sie  höchst 
effective  Respirationsorgane  wurden.  Die  Zartheit  war  um  so  eher  her- 
zustellen ,  als  sie  ja  so  wie  so  durch  den  überhängenden  Panzer  ge- 
schützt waren. 

So  wurde  der  erste  Schritt  gethan  auf  dem  Wege,  die  Athmung 
völlig  aus  dem  Panzer ,  resp.  der  Schale  zu  entfernen ,  —  ein  Schritt 
der  wiederum  von  durchgreifendstem  Einfluss  auf  die  Organisation  und 
die  äussere  Gestaltung  der  Krebse  werden  musste.    Dadurch  nahm  vor 


Gcsiliiditp  (los  Krebsstammes.  1 25 

Allem  die  Wichtigkeit  der  KMremitiilen  sehr  bedeutend  zu.  AnfüMg- 
hch  waren  sie  nur  Schwininiorgane.  Dann  wurden  sie  Hilfsorgane  für 
die  Alhinung,  da  sie  das  Wasser  erneuerten,  .letzt  werden  sie  sehen 
Athnmngsorgane  neben  dein  respiriienden  Panzer. 

Für  ihre  äussere  Gestallung  war  dies  sehr  folgenreich,  denn  die 
anfangliche  Yergrösserung  und  Abgellachlheit  nahm  inmier  niehi-  zu  ; 
die  Platten  -  und  Lappenbildung  ward  sehr  complicirt.  Uer  Gewinn 
würde  aber  wieder  nur  halb  gewesen  sein .  wenn  die  Extremitäten 
nicht  befähigt  worden  wären,  das  Princip  der  Arbeitstheilung  auch  mit 
dieser  letzten  Function  durchzuführen.  Wären  sie  alle  Athinungsorgane 
geworden ,  —  W'omit  hätten  denn  die  Phyllopoden  kriechen  oder  gehen 
sollen?  Also  war  es  wieder  am  zweckmässigsten ,  wenn  ein  Theil  dei" 
Extremitäten,  oder  auch  ein  Theil  jeder  einzelnen  Extremität  zur  Orts- 
bewegung verwendbar  bliel),  —  und  so  kam  schliesslich  die  höchst 
complicirte  Gestalt  der  Extremitäten  heraus,  die  wir  an  unseren  heutigen 
IMiyllopoden  beobachten,  die  aber  gewiss  schon  sehr  viel  älter  ist, 
und  wohl  mit  Recht  jenen  weit  entlegenen  Vorfahren  zugeschrieben 
werden  kann,  deren  letzte,  ihnen  ähnliche  Nachkommen  noch  auf  uns 
gekommen  sind. 

Das  wichtigste  Merkmal  dieser  Extremitätenbildung  ist  die  Theilung 
in  drei  functionell  mehr  oder  weniger  scharf  geschiedene  Abschnitte. 
Der  Ilaupttheil  des  Beines  bleibt  Locon)otionsorgan.  Es  ist  der  innere 
Ast,  dessen  nach  innen  gekehrter  Rand  mannichfaltig  ausgezackt  wird, 
mit  Haaren  und  Dornen  besetzt,  und  an  seiner  Spitze  zum  Gehen  ein- 
gerichtet ist.  Auch  zum  Packen  von  Nahrung  scheint  er  befähigt.  Der 
zweite  Theil  ist  diebreite,  schwingende  Platte,  welche  hauptsächlich 
als  Wasser- erneuernder  Theil  anzusehen  ist.  Aus  ihr  musste  sich  die 
Hilfskieme  beistellen  lassen.  Der  dritte  Theil  schliesslich,  an  derobern 
Seite  des  Beines  befindlich ,  hatte  die  Gestalt  eines  einfachen  Sackes, 
abgeplattet  von  vorn  nach  hinten,  und  er  ward  auch  Kieme,  da  er  ganz 
besonders  zarte  Wandungen  conservirte,  während  die  äussere  Hilfs- 
kieme etwas  harter  blieb ,  um  besser  zur  Wasserbew  egung  befähigt  zu 
sein.    (Fig.  23  —  26.) 

So  war  uns  die  Gestaltung  der  Extremitäten  gegeben,  aus  der  sich 
alle  heute  vorkommenden  mit  Leichtigkeit  ableiten,  auf  die  sie  mit 
völliger  Sicherheil  zurückgeführt  werden  können. 

Verfolgen  wir  nun  das  Schicksal  des  Panzers  und  seiner  mit  der 
Ausbildung  der  Extremitäten  Hand  in  Hand  gehenden  Veränderungen. 

Bei  denjenigen  Phyllopoden,  welche  auf  das  Schwimmen  ange- 
wiesen blieben,  konnte  er  sich  nicht  zur  zweiklappigen  Schale  ent- 
wickeln;  er  blieb  was  er  war:  eine  die  körperseilen  überdeckende, 


126  Dr-  All*.  Dolini, 

erhärtete  Duplicatur  der  Wandungen.  Nur  seine  äussere  Gestaltung  und 
seine  den  Körper  nach  vorn  und  nach  hinten  bedeckende  Länge  konnte 
als  wandelbar  angesehen  werden.  Uns  sind  keine  Spuren  aufbewahrt, 
aus  denen  wir  auf  absonderliche  Zustände  des  Panzers  zu  schliessen 
hätten.  Wahrscheinlich  werden  die  aus  der  Zoea  überkommenen 
Stacheln  zu  allerhand  sonderbaren  Bildungen  Veranlassung  gegeben 
haben;  vielleicht  aber  sind  sie  mit  zunehmender  Grösse  der  Thiere, 
oder  aus  Gründen,  die  wir  heut  noch  nicht  einsehen,  allmählich  ge- 
schwunden ;  denn  wie  ich  annehme,  waren  sie  ursprünglich  vorhanden, 
sind  aber  heut  nur  noch  als  Rudimente  in  der  embryonalen  Entwicke- 
lung  zu  erkennen. 

Die  Nachkommenschaft  dieser  panzer-beschildeten,  schwimmenden 
Phyllopoden  ist  ausserordentlich  zahlreich  geworden.  Die  ganzen, 
mächtigen  Familien  der  Podophthalmen  und  Edriophthalmen 
haben  wir  dazu  zu  rechnen.  Ihre  Herleitung  aus  den  Phyllopoden 
werden  wir  nachher  vornehmen.  Nur  ein  Meeres-Phyllopode 
ist  aus  diesem  ganzen  Heere  übrig  geblieben ,  der  noch  Zeugniss  ablegt 
von  der  Richtigkeit  dieser  Herleitung  der  Malacostraka  aus  den 
Phyllopoden:  es  ist  Nebalia,  die  ebenfalls  nachher  zur  Be- 
sprechung kommen  wird.    Wenden  wir  uns  jetzt  zu  den  Schalträgern. 

Sie  waren  ehemals  sehr  zahlreich  im  Meere,  wie  uns  die  palaeonto- 
logischen  Funde  lehren  ,  —  heut  sind  sie  es  nicht  mehr.  Die  eigent- 
lichen,  schaltragenden  Phyllopoden  kommen  gar  nicht  mehr  im 
Meere  vor,  —  sie  sind  ganz  daraus  verdrängt  und  leben  theils  in  Land- 
seen ,  theils  in  Regenpfützen ,  Sümpfen  etc.  Von  ihren  veränderten 
Nachkommen  haben  wir  aber  noch  im  Meere  drei  grosse  Glassen  zu 
nennen:  Ostracoden,  C  irripeden  und  Copepoden.  Sie  halten 
den  schwimmenden  Malacostraken  reichlich  die  Wage,  und  über- 
blickt man  eine  Felsenreihe  am  Meere  bei  der  Ebbe ,  so  geben  die  un- 
zählbaren Massen  der  Balaniden  hinreichende  Sicherheit,  dass  auch 
die  Schalträger  im  Meere  beharren  werden. 

Die  Schale  war  ein  Schutzapparat.  Als  solcher  überwog  sie  den 
einfachen  Panzer ;  aber  sie  beeinträchtigte  die  Schnelligkeit  der 
Schwinmibewegungen  ,  darum  werden  wir  erwarten  dürfen ,  dass  aus 
den  Schalträgern  viel  langsame  theils  kriechende,  theils  in  kleinen  Ge- 
wässern herumschwimmende  Krebse  entstehen.  Wo  die  Mitbewerbung 
rascher  Schwimmer  von  vornherein  ausgeschlossen  war ,  da  hatten  die 
Schal  träger  natürlich  die  beste  Gelegenheit,  sich  auszubreiten. 

Wir  haben  schon  oben  gesehen,  dass  die  Ausbildung  der  den  Kör- 
per einschliessenden  Schale  auch  auf  die  Gestaltung  des  Köi-pers  selbst 
von  Einfluss  sein  musste.     Sechszig  Segmente,    und  sechszig  Extre- 


Geschichte  des  Krebsstamnies.  1 27 

niitäten-Pacnre,  wie  wir  sie  bei  Apus  finden,  durften  natürlich  nicht 
mehr  vorkommen  ,  —  die  Vortheiie  der  Schalbiiduni^  wären  sonst  illu- 
sorisch geworden.  Der  Bau  des  Körpers  ward  vielmehr  in  Folge  des 
geringen  Schwimmens  immer  kugeliger,  während  er  bei  den  Schwim- 
mern cylindrisch  blieb.  Für  ein  unruhiges  Hin-  und  Her-Schwimmen, 
das  mehr  ein  Suspendirtsein ,  als  eine  anhaltende  Vorwärtsbewegung 
bezweckte,  war  ein  mehr  ovaler,  selbst  kugliger  Bau  durchaus  nicht 
nachtheilig,  für  das  Kriechen  war  die  Veikürzung  des  Körpers  sogar 
unzweifelhaft  vortheilhafter,  —  so  finden  wir  also  auch  bei  vielen  Schal- 
trägern die  deutlichen  Spuren  einer  stattgehabten  Verkürzung,  —  mit- 
hin die  Anzeichen ,  dass  sie  von  Vorfahren  abstammen ,  deren  Körper 
länger  gewesen  ist,  —  was  wiederum  darauf  deutet,  dass  diese  eine 
andere  Lebensweise  führten  etc.  etc. 

Unter  den  heute  lebenden  Phyllopoden  sind  als  Schalträger  zu 
nennen:  Limnadia,  Esther  ia,  Limnetis  und  Limna  del  la.  An 
ihnen  sehen  wir,  dass  ein  Bemühen  stattgefunden  hat,  die  Zahl  der 
Segmente  zu  beschränken ,  denn  über  einige  Zwanzig  bringt  es  keine 
derselben.  Sehr  charakteristisch  ist  ausserdem,  dass  derjenige  Abschnitt 
des  Körpers,  welcher  den  Schwimmern  in  mancherlei  Betrachte  sehr 
nützlich  sein  musste,  das  Pleon  oder  Postabdomen,  bei  diesen  Schal- 
trägern fast  gänzlich  geschwunden  ist,  und  dass  die  Tendenz  sich 
geltend  macht,  ihn  immer  mehr  einzuschränken. 

Bei  all  den  Bestrebungen,  das  Schwimmvermögen  der  Beine  zu 
Gunsten  einer  den  langen  Körper  umschliessenden  Schale  einzuschrän- 
ken, musste  es  aber  doch  vortheilhaft  bleiben,  wenn  sich  eine  Einrich- 
tung herstellen  Hess,  die  vollkommen  schliessende  Schale  zu  vereinigen 
mit  irgend  einem  wirksamen  Schwimmorgane.  Von  Anbeginn  der 
Nauplius-Zeit  her  waren  die  beiden  vordersten,  speciell  das  zweite  Ex- 
tremitäten-Paar mit  der  Schwimmfunction  betraut,  sie  blieben  auch 
weiterhin  hilfreiche  Schwimm  Werkzeuge ,  wennschon  in  der  Zoea  sich 
noch  w  ichtigere  entwickeln.  Dadurch  aber,  dass  diese  neuen  Schwimm- 
organe der  Zoöa  bei  den  Phyllopoden  als  Athmungsorgane  von 
Wichtigkeit  werden  und  die  Schwimmfunction  wieder  einigermaassen 
zurücktritt,  gew  innen  auch  wieder  die  ursprünglichen  ersten  Schwinmi- 
organe,  namentlich  das  zweite  Extremitätenpaar,  grössere  Wichtigkeit, 
und  wir  dürfen  uns  nicht  erstaunen,  dasselbe  allmählich  wieder  ganz 
und  gar,  und  noch  um  vieles  intensiver  in  die  alte  Beschäftigung  wieder 
zurückkehren  zu  sehen,  von  der  es  ursprünglich  ausgegangen  war.  Die 
Grösse  dieses  Antennenpaares  war  nur  beschränkt  durch  die  Grösse  der 
Schale ,  in  welche  es  aufgenommen  werden  musste ,  sobald  das  Thier 
nicht  schwimmen,  sondern  zu  Boden  sinken  wollte.    Wir  werden  sehen, 


1 28  Dr-  Ant.  üohrn, 

dass  dieser  Organisation  zwei  artenreiche  Krebsfamilien  ihre  Existenz 
im  Wesentlichen  verdanken. 

Die  einfache  Schalenbildung  war  aber  keinesfalls  das  letzte  Ende 
aller  Schutz  -  und  Sicherheitsmaassregeln  der  damit  ausgerüsteten 
Krebschen  :   wichtig  war  ferner  die  besondere  Zurichtung  derselben. 

Wir  werden  hier  zum  ersten  Male  auf  Vorgänge  aufmerksam ,  die 
sich  bisher  in  der  Krebsentwickelung  nicht  gezeigt,  die  wir  vielleicht 
nur  übersehen  haben.  Mit  den  Phyllopoden  zu  gleicher  Zeit  lebten 
allerhand  M-oUusken  und  besonders  auch  Bivalven.  Diese  waren 
den  Phyllopoden  betreffs  der  schützenden  Schale  darin  weit  über- 
legen, dass  ihre  Schale  hart  und  stark  war,  und  wohl  den  directen  An- 
griff irgend  eines  grösseren  Thieres  vertragen  konnte.  Weiss  doch  Jeder, 
der  eine  Zeit  am  Meere  zugebracht  hat,  dass  die  Muscheln  bei  der  ge- 
ringsten Berührung  die  Schalen  zuklappen,  —  im  Vertrauen,  nun  völlig 
geschützt  zu  sein.  Griff  aber  irgend  ein  grösserer  Meeresbewohner  die 
Phyllopoden,  selbst  bei  zugeklappter  Schale  an ,  so  waren  sie  ver- 
loren :  ihre  Schale  war  zu  weich  und  zu  dünn.  Dickere,  kalkige  Schalen 
durften  sie  aber  nicht  tragen,  wollten  sie  des  Schwimmens  nicht  vollstän- 
dig verlustig  gehen ,  —  so  bheb  aber  doch  ein  Ausweg  übrig,  den  ge- 
fährlichen Griffen  der  Feinde  zu  entgehen  :  das  Aussehen  der  Muschel- 
schalen nachzuahmen  und  durch  dasselbe  die  nachstellenden  Feinde  zu 
täuschen.  Dieser  Weg  war  entschieden  vorlheilhaft  und  zwar  in  dem 
Maasse ,  dass  er  noch  heutzutage  die  Zoologen  iire  führt ,  die  von  den 
meisten,  versteinert  gefundenen  Phyllopoden -Schalen  geglaubt  haben, 
sie  hätten  es  mit  Muschelschalen  zu  thun.    (Fig.  34.) 

Kommt  nun  noch  dazu,  dass  die  Schalen,  meist  eine  bräunlich- 
grüne Färbung  annahmen,  wodurch  sie  sich  fast  ununterscheidbar  vom 
Meeresgrunde,  oder  wo  innner  sie  sich  aufhalten  mochten,  wurden,  so 
begreift  man,  dass  sie  eine  lange  Zeit  die  Herrschaft  auf  dem  Meeres- 
grunde und  an  den  Ufern  zu  führen  im  Stande  sein  raussten,  und  die 
grosse  Masse  versteinerter  Phy  llopodenschalen  wird  erklärlich. 
Dass  sie  schliesslich  dennoch  aus  dem  Meere  verdrängt  wurden,  —  bis 
auf  die  Ostra Coden  ,  die  wir  gleich  besprechen  werden  —  so  kommt 
es  daher,  dass  sich  aus  der  Nachkommenschaft  der  schwimmenden 
Phyllopoden  allmählich  Formen  entwickeln,  die  ihrerseits  wieder 
das  Schwimmen  aufgaben  und  den  Aufenthalt  am  Ufer  und  auf  dem 
Grunde  des  Meeres  vorzogen.  Diese  waren  oder  wurden  kräftiger  als 
die  Schalträger  —  der  Kampf  begann  und  endigte  mit  einer  Niederlage 
der  Phyllopoden,  die  aus  dem  Meere  schieden  und  sich  in  Salzge- 
wässer des  Binnenlandes  und  in  das  süsse  Wasser  zurückzogen.    Die 


Geschichte  des  Krebsstammes.  1  29 

Feinde,  deniMi  die  Pl)\  llopoden  so  unterlagen,  sind  wohl  hauptsäch- 
lich die  Aniphipoden  und  Isopoden.    Von  ihnen  später. 

Hoben  wir  bisher  nur  di(>jenigen  Vh)  1 1  o  p  o  d  e  n  ins  Auge  gefasst, 
welclie  entweder  aus  ihrem  Panzerschilde  ein  wichtiges  Athmungs- 
organ  oder  (>inen  unentbehrlichen  Scluilzapparat  gebildet  hatten  ,  so 
kommt  es  uns  jetzt  zu,  diejenigen  Formen  zu  erwähnen  und  zu  be- 
sprechen, V.  eiche  weder  das  Eine  noch  das  Andere  besitzen,  die  über- 
haupt gar  kein  Schild  haben.  Von  heute  lebenden  Formen  gehören  zu 
ihnen  B  r  a  n  c  h  i  p  u  s ,  Arte  m  i a  und  E  u  i  i  m  e  n  e.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  dass  die  Athmung  bei  diesen  Formen  in  anderen  Organen  voi- 
genommen  winl;  da  sind  es  vorzüglich  die  Beine,  welche  als  alleinige 
Respirationsorgane  fungiren.  Bei  denselben  Thieren  findet  man  aber 
noch  eine  andeie  bedeutende  Abweichung  von  dem  bisher  geschilder- 
ten Bau  der  Ph  yll  opoden.  Die  zweiten  Antennen  sind  nämlich  hier 
zu  einer  ganz  neuen  Function  ausgebildet:  zu  einem  Greiforgan  nämlich. 
Dadurch  gehen  sie  natürlich  als  locomotorisches  Organ  dem  Haushalt 
des  Thieres  verloren,  und  es  bleiben  nur  die  Extremitäten  des  Mittel- 
leibes übrig.  Diese  waren  aber  bei  keiner  P h  yll opo de  bisher  aus- 
reichend erfunden,  —  es  war  überall  noch  ein  besonderes  Schwimm- 
organ daneben,  —  beim  Apus  das  rankenförmige  erste  Fusspaai" 
(Fig.  27),  bei  den  Schalträgern  die  zweiten  Antennen.  Hätte  nun  B rau- 
ch ipus  und  seinesgleichen  ohne  diese  speciellen  Schwimmorgane  den- 
noch seine  Existenz  bei  ganz  ähnlicher  Lebensweise  wie  Apus  sichern 
können,  so  würde  man  vergeblich  einen  zureichenden  Grund  für  die 
l'mbildung  des  ersten  Fusspaares  bei  dem  letzteren  in  eine  ranken- 
iragende  Extremität  suchen.  Allein  Branchipus  war  ebenfalls  ge- 
zwungen ein  besonderes  Schwimmorgan  zu  entwickeln ,  —  und  als 
solches  ward  das  Pleon  und  die  am  letzten  Segment  befindlichen  An- 
hänge in  Anspruch  genonwnen.  Dies  Pleon  hat  sicherlich  bei  allen  bis- 
her geschilderten  Krebsformen,  —  am  wenigsten  freilich  bei  den  Schal- 
irägern  —  einen  wesentlichen  Theil  des  Schwimmapparates  mit  aus- 
gemacht ,  aber  es  ist  doch  bisher  noch  nicht  als  hauptsächlichstes  Be- 
wegungsorgan  aufgetreten.  Das  ist  es  aber  bei  Branchipus  und 
seinen  Verwandten.  Durch  dieschlangenförmigen,  seitlichen  Bewegungen 
desselben,  ferner  durch  die  stark  vergrösserlen  Anhänge  und  ihre  Wirk- 
samkeit wird  das  Thier  wie  ein  Fisch  vorwärts  bewegt,  und  der  vom 
würdigen  Jacob  Christian  Sch.vffer  gegebene  Name  »fischförmigeKiefen- 
liiss^i  passt  vortrefflich  schon  wegen  der  den  Fischen  analogen  Loco- 
inotionsweise  des  Thieres.  Bei  den  Schalträgern  sahen  wir  die  Bedeu- 
tung des  Pleon  auf  ein  sehr  geringes  Maass,herabsinken  und  daher  seine 
Grösse  auch  zusehend  sich  verringern,  bis  beinahe  auf  ein  völliges 
Bd.  VI.  1.  9 


130  Pr.  Aiit.  üohrn, 

Verschwinden.  Bei  Branchipus  dagegen ,  wo  es  Haupt- Schwimm- 
organ wird,  nimmt  es  in  demselben  Grade  wieder  an  Länge  und  Be- 
deutung zu,  so  dass  es  eben  so  lang  wird,  wie  der  ganze  übrige  Körper. 

Werfen  wir  einen  Blick  über  die  bisher  erwähnten  Formen  der 
Phyllopoden,  so  kann  es  uns  nicht  entgehen ,  dass  sie  nur  als  letzte 
Ausläufer  einer  ehedem  mächtigen  und  formreichen  Krebs -Ordnung 
anzusehen  sind.  Es  fehlen  uns  vollständig  die  Mittelgheder  zwischen 
den  Schalträgern  und  dem  Branchipus,  zwischen  Apus  und 
Nebalia.  Jede  einzelne  Gattung,  oder  wenigstens  jede  dieser  vier 
Familien  —  deren  eine  ja  nur  in  einer  einzigen  Gattung  und  Art  be- 
steht —  ist  von  der  anderen  sicherlich  ebenso  verschieden,  wie  die 
Ost ra Coden  von  den  Daphnien,  die  Cumaceen  von  den  Iso- 
poden  und  diese  wiederum  von  den  Amphipoden.  Und  doch  v\ eiche 
Massen  von  Formen  besitzen  diese  letztgenannten  Abtheilungen ,  und 
wie  viele  sind  unter  ihnen,  welche  Verbindungen  herstellen  und  zeigen, 
wie  aus  der  einen  Abtheilung  allmählich  die  andere  sich  ableiten  lässt. 
Nichts  derart  existirt  mehr  bei  den  Phyllopoden,  sie  stehen  unver- 
mittelt neben  einander.  Die  Bindeglieder,  welche  uns  zeigen  könnten, 
wie  aus  den  Schwimm -Antennen  der  einen  die  Greifzangen  der  ande- 
ren wurden,  \^ie  das  Panzerschild  zur  Schale  ward,  wie  die  Segmente 
des  Pleon  allmählich  bei  den  Schalträgern  verloren  gingen  —  sie  liegen 
im  Schichtengebäude  der  Erde  begraben  —  vielleicht  sind  schon  viele, 
vielleicht  die  Mehrzahl  von  ihnen  durch  die  Metamorphose  der  Gesteine 
unserer  Kenntniss  für  immer  entzogen.  Von  welcher  ausserordentlichen 
Bedeutung  die  Phyllopoden  aber  für  das  Meeresleben  der  Urzeiten 
gewesen,  das  lehren  uns  die  versteinerten  Reste  der  Primärforn)ationen, 
lehrt  uns  dasCambi-ische,  das  Silurische  und  das  Devonische  Schichten- 
gebäude. Dort  nämlich  Irelfen  wir  auf  die  heut  vollständig  erloschene,  an 
Zahl  und  Formen  gleich  hervorragende  Ordnung  der  Trilobiten, 
die  man  nur  mit  den  Ph  \  II  opoden  und  aus  den  Phyllopoden  ver- 
stehen zu  können  meint,  von  denen  uns  keinerlei  Embryogenie  mehr 
anzeigt,  wie  und  wo  w  ii-  ihi-e  Vorfahren  zu  suchen  und  ihren  Stamm- 
baum festzustellen  haben. 

Es  begreift  sich  leicht,  dass  wir  über  die  Organisation  der  Trilo- 
biten nur  Vernmthungen  äussern  dürfen,  — etwa  so,  wie  wir  uns 
fehlende  Mittelglieder  zw  ischen  vorhandenen  Endpunkten  einer  Ent- 
wickelungsreihe  aus  den  Indicalionen  dieser  beiden  Endpunkte  und 
den  theoretischen  Postulaten  mit  Beihilfe  der  Phantasie  zu  ergänzen 
haben.  Dabei  begünstigt  uns  aber  noch  wesentlich  der  Anblick  der 
äusseren  Körpergestalt  im  Grossen  und  Ganzen.  Von  den  inneren  Organen 
dagegen ,  von  den  Extremitäten  sogar  und  von  der  Beschaffenheit  der 


fipscilichte  des  Krebsslamines.  131 

KörperwaiK^ungen  haben  \\\r  gar  koinc  Konntniss,  —  hier  bleibt  Alles 
zu  ergänzen.  Dies  ist  schon  niein-faeh  versucht  vvor-den ,  —  über  den 
Krfoig  liisst  sich  eb(^n  kein  Ihllieil  abgeben,  weil  bishei-  kein  Tri  lob  it 
entdeckt  ist,  aus  dem  tnehi-  zu  lernen  würe,  wie  aus  den  früher  be- 
kannten. Versuchen  wir  unsererseits  gleichfalls  eine  Ergänzung. 
^Fig.  iS— 31.) 

Der  äussere  Körperbau  lehrt  uns  vor  Allen),  dass  wir  keine  Schwim- 
mer in  den  Trilobiten  zu  suchen  haben.    Ihre  Körperform  ist  breit  und 
platt,    sehr  häufig  sind  sie  vorn  am  Kopf  am  breitesten,  also  gewiss 
unlauglich  zu  einer  raschen  Foilbewegung.    Wir  haben  bisher  gesehen, 
dass    mit  Einschränkung   der  Schwimmfähigkeit  auch    das    Pleon    an 
Längenausdehnung  abnahm,  —  bei  den  Trilobiten  gewahren  wir  das 
Pleon  entweder  als  ein  mächtiges,  schweres  Analschild,  sog.  Pygidium, 
das  aus  zahlreichen ,   mit  einander  verschmolzenen  Segmenten  besteht, 
oder  w'ir  finden  eine  Reihe  ganz  schmaler,    allmählich  immer  kleiner 
werdender  Ringe  die  es  bilden ,   welche  aber  nicht  im  Geringsten  von 
den  vorhergehenden  Segmenten  des  Mittelkörpers  abweichen.     So  ist 
also  anzunehmen,  dass  die  Trilobiten  hauptsächlich  auf  dem  Grunde 
des  Meeres    lebten.     Dazu    bedurften  sie  aber  Extremitäten,    mittelst 
deren  sie  kriechen  konnten.    Diese  Extremitäten  durften  aber  nicht  zu 
weich   und  nachgiebig  sein,    denn  sicherlich  waren  die  Trilobiten 
ziemlich  schwere  Organismen.    Nach  meiner  Meinung  müssen  wir  uns 
die  Extremitäten  etwa  so  vorstellen,  wie  die  desLimulus,  aber  nicht 
länger,  als  das  halbe  Kopfschild,   denn  sonst  würden  wir  von  ihnen 
Spuren  behalten  haben.     Diese  Extremitäten  haben  als  Locomotions- 
organe  wohl  nur  am  Kopfschild  gesessen,  — die  Ringe  des  Leibes  tragen 
dagegen  höchst  wahrscheinlich  platte,  blattförmige  Anhänge,   an  deren 
Innenseite  wiederum  wie  am  Limulus,   zahlreiche  dünne  Rlätler  die 
Kiemen  bildeten.    Ich  kann  mir  nicht  recht  vorstellen,  dass  die  Trilo- 
biten Extremitäten  besessen  hätten  wie  die  heute  lebenden  Phyllo- 
poden  —  mit  der  Fähigkeit,   die  sie  besassen ,   ihren  Körper  aufzu- 
rollen, verträgt  sich  ungleich  besser  die  Meinung,  die  Kiemen  und  die  sie 
tragenden  Extremitäten  hätten  den  heutigen  Limulus-Kiemen  geglichen. 
Freilich  ist  es  überhaupt  nicht  leicht,  sich  die  Organisation  als  vom 
Nauplius  abstammend  erklären  zu  wollen.    Wie  bekannt,   hat  Bar- 
rande die  Entwickelungsgeschichte  einiger  Trilobiten  mitgetheilt,  so 
besonders  von  San  h  i  rs  Uta.   Diese  Darstellungen  scheinen  zu  beweisen, 
dass  die  Trilobiten  bereits  die  Larvenstadien  Nauplius,   Zoea  völlig 
unterdrückt  haben ,  und  in  der  definitiven  Gestaltung  das  Ei  verlassen 
haben,  so  dass  nur  noch  die  Zunahme  an  Segmenten  der  weiteren  Ent- 
wickelung  überlassen  ward. 

9* 


132  Dr.  Auf.  Dohrii, 

Die  Frage  wäre  freilich  der  Lösung  näher  zu  bringen ,  wenn  w  ir 
bereits  die  Embryologie  des  Li  malus  besässen ,  denn  es  ist  aus  der 
von  MiLNK  Edwards  bekannt  gemachten  Larvenforni  desselben  zu 
schliessen,  dass  eine  innige  Verwandtschaft  zwischen  Poecilopoden 
und  Trilob  iten  besteht.  Gestalten  wie  Agnostus  lassen  sich  nur 
durch  Annahme  einer  vollständigen  Verkürzung  der  Entwickelung  aus 
dem  Nauplius  herleiten,  und  die  Gestalt  des  Kopfschildes  derTrilo- 
biten,  ebenso  wie  die  bei  ihnen  und  bei  Limulus  in  dem  Kopfschild 
festsitzenden  Augen  bereiten  der  vergleichenden  Morphologie  auch  nicht 
geringe  Schwierigkeiten. 

Es  kann  darum  an  dieser  Stelle  auch  nicht  unternomoien  werden, 
weitere  Vermuthungen  über  die  Organisation,  Lebensweise  und  Abstam- 
mung der  T  r i  1 0 b i t e n  sowohl  wie  der  Gigantostraken  (Limulus, 
Pterygotus,  Bellinurus  zu  äussern.  Ich  hoffe,  dass  es  mir  ge- 
lingen wird,  die  Embryologie  des  Limulus  in  nicht  gar  zu  langer  Zeit 
festzustellen,  —  dann  würden  die  hier  berührten  Zweifel  wohl  in  man- 
chen Punkten  ihre  Erledigung  finden.    (Fig.  32  u.  33.) 

Wie  es  nun  auch  mit  Gigantostraken  und  Tri  lobilen  stehen 
mag,  jedenfalls  bleibt  doch  die  Ordnung  der  Phyllopoden  der 
Mutterschooss  aller  übrigen  heute  lebenden  Krebsgestalten.  Freilich 
führt  uns  kein  Weg  in  eine  der  übrigen  Ordnungen  durch  A  p  us ,  keiner 
durch  Branchipus,  aber  sowohl  von  Nebalia  als  von  den  Sclial- 
trägern  aus  haben  wir  mächtige  Formenreihen  in  ihrem  Entwickelungs- 
gange  zu  verfolgen. 

Die  nun  zunächst  von  den  Phyllopoden  abzuleitenden  Formen  hatten 
einen  wesentlichen  Charakter  unter  sich  gemein,  der  sie  von  diesen 
schied:  sie  waren  sehr  klein.  Ihre  Kleinheit  ward  erreicht,  indem  sie 
die  von  den  Ph  y  llopoden  erworbenen  zahlreichen  Seginente ,  und 
mit  den  Segmenten  auch  die  zahlreichen,  demselben  Zwecke  dienenden 
Extremitäten  verloren.  Die  Gründe  für  diese  Umwandlungen  können 
wir  keinenfalls  in  physikalischen  Beziehungen  der  Thiere  zu  ihrer 
elementaren  Umgebung  suchen ,  sondern  wir  müssen  Veränderungen 
der  gleichzeitig  mit  ihnen  auf  demselben  Boden  lebenden  Fauna  an- 
nehmen. Waren  einmal  schalentragende  Phyllopoden  zweckmässig 
eingerichtet  für  seichtes  Wasser  und  für  den  Meeresgrund,  so  waren  sie 
es  immer;  nur  wenn  Veränderungen  in  der  sie  umgebenden  Lebe- 
welt eintraten,  konnte  die  Organisation  in  ihrer  Zweckmässigkeit  von 
iSeuem  in  Frage  gestellt  werden.  Es  konnten  für  dieselben  Lebensbe- 
dingungen sich  Formen  entwickeln,  die  noch  passender  waren,  und  der 
Kampf  ums  Dasein  zwischen  beiden  Rivalen  mussle  dann  zu  Ungunsten 
der  Ersteren  ausfallen.    Während  dieses  Kampfes  fanden  aber  Colonieen 


Geschichte  des  Krebssfainines.  133 

der  Unterliegenden  \Meder  eine  neue  Lebenssphäre ,  die  freilich  in 
ihrer  Organisation  Veränderungen  hervoirief,  ihnen  aber  doch  die 
Weiter -Existenz  ermöglichte.  Die  Veränderungen  konnten  geradezu 
in  einer  Rückbildung  auf  einfachere  Verhältnisse  bestehen,  die  in  ge- 
wisser Weise  denen  glichen,  von  welchen  die  Thiere  ursprünglich  aus- 
gegangen waren.  So  gingen  also  die  complicirteren  Vorfahren  zu 
Grunde,  und  die  einfacheren  Nachkonmien  überdauerten  sie  —  an- 
gepassl  an  neue  und  doch  alte  Verhältnisse.     Es  sind  : 

6.   Die  Ostracoden. 

(Fig.  35  —  37.) 

Diese  kleineu  Geschöpfe  haben  den  Systeniatikern  voi'  und  nach 
Darwin  mancherlei  Schwierigkeiten  bereitet;  und  ich  uiüsste  die  Un- 
wahrheil sagen  ,  wollte  ich  behaupten  ,  mir  sei  es  besser  gegangen  ,  als 
meinen  CoUegen  und  Vorgängern.  Was  ich  freilich  in  dem  letzten  Ab- 
satz über  die  Phyllopoden  sage,  lässt  erkennen,  dass  ich  den  An- 
sichten der  Mehrzahl  der  Forscher  entgegen  bin,  welche  die  Ostra- 
coden als  eine  in  gerader  Linie  erfolgte,  ohne  wesentliche  und  aus  der 
onlogenelischen  Entwickelung  verwischte  phyletische  Durchgangsstufen 
zustande  gekommene  Fortbildung  des  Nauplius  ansehen.  Ich  bin 
der  Meinung,  dass  die  Ostracoden  Abkömmlinge  der  schaltragenden 
Phyllopoden  sind,  die  in  dem  Bestreben ,  immer  kleinere  Dimen- 
sionen anzunehmen,  die  complicirtere  Metamerenbildung  der  Phyllo- 
poden aufgeben  mussten ,  aber  die  Schalenbildung  beibehielten; 
schliesslich  gelangten  sie  denn  zu  Dimensionen ,  welche  viel  geringer 
sind,  als  die  so  mancher  Xaup  li  u  sformen  selbst;  ja,  sie  brachten 
es  durch  Abkürzung  der  Entwickelung  sogar  dahin  ,  dass  sie  in  der 
Naupl  iu  s- Anlage  das  Ei  verliessen  ,  aber  doch  schon  die  Schale 
trugen,  welche  ihr  wichtigstes  Erbtheil  aus  der  Phy  llopoden -Zeit 
geblieben  war. 

Nun  liegt  mir  freilich  ob,  meine  Meinung  mit  Gründen  zu  belegen. 
Ich  nehme  dieselben  aus  der  Organisation  der  Cypridinen,  wie  sie 
durch  Gri  BE  '  ,  Claus  2)  und  Fritz  Müller  =')  uns  dargestellt  ist. 


i)  Bemerkungen  über  Cypridina  und  eine  neue  Art  dieser  Gattung.  Arch.  fiir 
Naturgesch.  XXV.  pag.  322  fl". 

2)  Uetier  die  Organisation  lier  Cypridinen.  Zoilschrifl  für  wissenscli.  Zoologie 
XV.  pag.  143  ff. 

3;  Beraerlcungen  über  Cypridina.  Jenaische  Zeitschr.  f.  Med.  u.  Naturwissen- 
schaft. V.  pag.  255  IT. 


134  Dr.  Ant.  Dohrn, 

Eines  der  Haupt- Argumente  giebt  mir  das  Bestehen  dov  paarigen, 
zusammengesetzten  und  beweglichen  Augen.  Wir  wissen ,  dass  die 
ersten  Anlagen  zu  solchen  zusammengesetzten  Augen  sich  schon  bei  der 
Archizoea  gezeigt  haben,  dass  späterhin  bei  Zoea  diese  Organe  eine 
höhere  Ausbildung  erfuhren,  und  dass  sie  innerhalb  der  Phyllo- 
p öden -Ordnung  durchweg  beibehalten  wurden.  Wir  wissen  ferner 
aus  der  Embryologie  der  Daphnien  i),  dass  in  dieser  Familie  das  zu- 
sammengesetzte, bewegliche  Auge  getrennt  und  paarig  angelegt  wird, 
dass  es  aus  denselben  Theilen  besteht,  die  wir  späterhin  bei  den  Deca  - 
poden  wieder  finden,  dass  mithin  eine  gemeinsame  Ausgangsquelle  für 
beide  Bildungen  angenommen  werden  kann  —  und  diese  suche  ich  in 
dem  Auge  der  Zoea,  dessen  Ausgestaltung  bei  den  Phyllopoden 
die  entschiedenste  Aehnlichkeit  mit  dem  Auge  der  Daphnien  und  der 
Cypridinen  hat.  Müssten  wir  aber  annehmen,  dass  Gypridina 
auf  eigne  Hand  sich  aus  dem  Nauplius  entwickelt  habe,  ohne  Da- 
zwischenkunft  der  genannten  Stufen,  so  wären  auch  die  Augen  als  auf 
eigne  Hand  entstanden  anzusehen,  und  es  bliebe  immerhin  schwieriger 
dann  die  grosse  Uebereinstimmung  der  Structur  mit  den  Daphnien 
und  mit  den  Phyllopoden  und  Deca  poden  zu  erklären. 

Den  zweiten  Grund  suche  ich  in  dem  Bestehen  der  Schale.  Man 
erinnert  sich,  dass  diese  Schale  .erst  entstehen  konnte,  nachdem  eine 
Falte  aus  der  Rückenwand  des  Nauplius  eineDuplicatur  gebildet  hatte, 
welche  über  die  Seiten  herabhing  und  die  Wurzeln  der  Extremitäten 
von  aussen  bedeckte.  Diese  Duplicatur  setzte  aber  eine  Trennung  des 
Körpers  in  einen  vorderen  und  einen  hinteren  Abschnitt  voraus  —  und 
der  hintere  Abschnitt  war,  wie  ich  unter  dem  Gapitel  Archizoßa 
auseinandersetzte,  der  erste  Beginn  des  Pleon.  Aus  diesem  Schild  der 
Archizoea  und  Zoea  ward  dann  im  Verlauf  mannichfacher  Umbil- 
dungen die  z  weiklappige  Schale,  die  wir  bei  den  Phyllopoden  kennen 
lernten.  Wäre  nun  die  Gypridina  kein  Abkömmling  der  schaltragen- 
den Phyllopoden,  so  müsste  der  ganze  Entwickelungsgang  in  der 
supponirten  directen  Zwischenreihe  zwischen  Nauplius  und  Gypri- 
dina zum  zweiten  Male  durchgemacht  sein,  —  denn  dass  plötzlich  aus 
dem  Nauplius  ein  schaltragender  Krebs  wird,  das  wird  Niemand  für 
möglich  halten. 

Den  dritten  Grund  entnehme  ich  aus  dem  Bestehen  eines  verkürz- 
ten Pleon  s.  Der  Nauplius  besitzt  kein  Pleon,  die  Anlage  dazu  er- 
wirbt er  erst  als  Archizoea  und  bildet  es  zu  einem  selbstständigen 


1)  Dohrn,  Unters.  überBau  undEntwickelung  deiArthrop.  3.  Die  Schalendrüse 
u.  d.  embryon.  Entw.  der  Daphnien.   .lenaische  Zeitschr.  V.  pag.  287. 


Gescilicild-  des  kiehsslaiuiiies.  135 

Koi|)fral)scJiiiitl  aus  als  Zol>a.  Von  da  aus  tichou  rnaniiichfaltiiit'  Vor- 
liiösseruni^en  und  Verkürzungen  dieses  Köiperlheils  durch  die  Reihe 
der  Ph  y  I  lopodenformen  hindurch,  —  und  wir  sahen  die  Verkürzung 
liesondeis  tliätiu  bei  den  Schalträiiern ,  die  Verlängeruns;  bei  Formen, 
die  weder  Schale  noch  übei'haupl  einen  Panzer  besassen.  Als  dann  die 
Schwinimfunction  hauptsächlich  an  die  vordersten  Extrenoitäten  zurück- 
ging, also  besonders  an  das  zweite  Antennenpaar,  musste  die  Verkür- 
zung des  Pleon  noch  weitere  Fortschiitte  machen  ,  der  Schwerpunkt 
des  Körpers  musste  imnler  weiter  nach  vorn  gelegt  werden,  alle  hinteren 
Theile  so  sehr  als  möglich  in  ihrer  Ausdehnung  beschränkt  werden, 
um  der  mühsamen  Arbeit  der  Antennen  nicht  noch  hinderlicher  zu  sein. 
Es  blieb  also  vom  Pleon  nichts  übrig ,  als  was  am  unentbehrlichsten 
war —  und  das  sind  die  beiden  Anhänge  am  Ende,  mittelst  welcher 
das  Thierchen  steuern  kann.  Zugleich  ward  die  Haltung  des  Pleon  so 
regulirl,  dass  es  ganz  und  gar  unter  den  Vorderleib  gekrümmt  und  von 
der  Schale  vollständig  eingeschlossen  werden  konnte. 

In  di(>sen  Angaben  und  ihrer  Deutung  treffe  ich  zusammen  mit  den 
Anschauungen,  welche  Clais  a.  a.  0.  voiträgt;  dieser  Forscher  be- 
müht sich  auch,  die  Organisation  vonCypridina  auf  phyllopoden- 
artige  Bildungen  zurückzuführen ,  und  seine  Einsicht  in  diesen  Fragen 
ist  bekannt  genug.  Freilich  steht  ein  ebenso  anerkannter  Forscher  auf 
gegnerischer  Seite  :  Fritz  Müller,  welcher  kürzlich  in  dem  oben  citirten 
Aufsatze  eine  andere  Ueberzeugung  ausgesprochen  hat.  Indem  er  sich 
gegen  Gerstacker's  Unterordnung  der  Ostracoden  unter  die  Bran- 
c h  i  op  od  e n  w endet,  diesen  kleinen  Geschöpfen  vielmehr  den  Anspruch 
auf  die  Bildung  einer  eignen  Ordnung  zuerkennen  will ,  definirt  er 
seinen  Begrifl"  der  »Ordnung«  dahin,  dass  er  annimmt,  eine  Ordnung 
bilden  diejenigen  Krebse ,  die  sich  selbstständig  vom  Urstamm  der 
Classe,  und  öicht  von  einem  der  anderen  Hauptäste  desselben  abge- 
zweigt haben.  Einen  so  selbstständigen  Ursprung  vindicirl  er  nun  den 
Ostracoden,  —  damit  steht  er  also  meinen  Anschauungen  diametral 
gegenüber.  Weilerhin  citirt  aber  Fr.  Müller  sowohl  Clais  wie  Haeckel 
als  Gewährmänner  für  die  Erhebung  der  0  str  acoden  zu  einer  eignen 
Ordnung  —  ja  ich  selbst  bin  durchaus  geneigt  als  Dritter  oder  Vierter 
im  Bunde  zu  figuriren  —  aber  ich  glaube  nicht ,  dass  diese  beiden 
Forscher  geneigt  sein  werden  ,  für  ihren  Begriff  der  »Ordnung«  Fritz 
Müller's  Definition  anzunehmen.  Was  mich  betrifft,  so  erkläre  ich  mich 
entschieden  dagegen.  Die  ganze  Darstellung  der  Geschichte  des  Krebs- 
stammes, die  ich  bishergegeben,  beweist,  dass  nach  meiner  Ueber- 
zeugung die  Spaltung  in  die  heute  angenommenen  Ordnungen  eine  sehr 
allmähliche  gewesen   ist,   dass  Ordnung  sich  aus  Ordnung  entwickelt 


136  Dr.  Ant.  Dohni, 

hat,  und  dass  wir  darum  entweder  nur  von  einer  Krebsordnung 
sprechen  dürfen,  oder  von  so  vielen,  als  uns  passend  und  zweckmässig 
erscheint,  d.  h.  dass  wir  den  Ordnungsbegriff  nur  als  einen  relativ 
festen  ansehen  und  ihn  hauptsächlich  da  anwenden,  wo  wir  grosse 
Gruppen  von  Organismen  sehen,  die  durch  keine  lebenden  Mittel- 
glieder mehr  deutlich  verbunden  werden.  Man  könnte  ebenso  gut  für 
Apus  und  Lepidurus  ,  fürArtemia  und  B  ranchipus  ,  für  Ne- 
balia,  für  Limnadia  und  Estheria  eigne  Ordnungsnamen  auf- 
stellen, wie  für  die  Macruren,  die  Brachy  u  ren  ,  die  Stomato- 
poden  etc.,  —  und  in  der  That  finden  wir  auch  in  neueren  Systemen 
diese  Ansicht  durchgeführt i),  die  mir  vollkommen  berechtigt  erscheint. 
Darum,  und  weil  die  Uebergänge,  die  von  den  schaltragenden  Phyllo- 
poden  zu  den  Ostracoden  führen  zu  Grunde  gegangen  sind  —  dar- 
um bin  ich  ebenfalls  geneigt,  die  Ostracoden  als  eigne  Ordnung 
bestehen  zu  lassen  —  aber  dass  sie  sich  direct  und  unvermittelt  aus 
Naupl  iusformen  gebildet  hätten,  bezweifle  ich  sehr. 

Denn  was  nun  die  fernere  Organisation  von  C  ypridina  anlangt, 
so  haben  wir  auch  in  der  Gestaltung  der  Gliedmaassen  nach  meiner 
Meinung  deutliche  Anzeichen  von  ihrer  Phy  11  op öden- Abstammung. 
Die  auf  die  Mandibeln  folgenden  Extremitäten -Paare  haben  noch  alle 
Spuren  der  früheren  Lappen-  und  Blaltbildung,  wie  wir  sie  besonders 
von  den  Schalträgern  unter  den  Ph  y  Hop  öden  kennen.  Man  nehme 
L.  B.  die  erste  Maxille  der  C  ypridina  globosa  ,  wie  wir  sie  durch 
LiLLJEBORG^j  (Fig.  38)  kennen.  Sie  besteht  aus  einem  Stamm ,  dessen 
Innenfläche  in  drei  Lappen  ausgezogen  ist,  der  sich  dann  in  einen  zwei- 
gliederigen Ast  fortsetzt.  Dieser  Lappen  ist  das  Characteristicum  der 
Phyllop  öden -Gliedmaassen,  und  wir  finden  sie  wieder  durch  die 
ganze  Reihe  der  späteren  Krebsformen  hindurch.  Freilich  würde  man 
aus  ihr  allein  noch  nicht  darauf  scliliessen  können,  dass  sie  auf  Phy  1 - 
lopo  den -Vorfahren  führt.  Es  wäre  durchaus  denkbar,  dass  die  Ex- 
tremitäten, welche  zur  Nahrungsaufnahme  in  Verwendung  gebracht 
werden,  allmählich  durch  diese  Thätigkeit  allein  ,  zu  solcher  lappigen 
Gestalt  geführt  würden.  Indem  nämlich  die  Hauptthätigkeit  derselben 
von  aussen  nach  innen  gerichtet  ist,  müssen  sie  auch  so  zu  sagen  ihre 
Front  nach  innen,  dem  Munde  zu  kehren.  Ursprünglich  waren  sie  aber 
walzenförmige ,  mehrgiiedrige  Schwimmbeine ,   die  gerade  im  Gegen- 


1)  Vergl.  G.  0.  Sars,  Histoire  naturelle  des  Crustaces  d'eau  doiice  de  Norvfege. 
ime  Livr.  Ctiristiania  1867.  pag.  5. 

2)  De  Crustaceis   ex  ordinibus  tiibus.    Cladocera  ,   Ostracoda  et  Copepoda  in 
Scania  occurrentibus.    Lund  1853.  pag.  171.  Tab.  XVII. 


fieschichte  des  Krcbsstiimiiips.  I  37 

theil  ihre  HauptenlAvickcluns^  nach  aussen ,  möglichst  weit  vom  Munde« 
weg  nahmen.  Die  Functionsveränderung  mussle  daher  diejeMiigcn 
Formen  bevorzugen ,  wt^lche  alhnahiich  sich  verktlrzten  und  statt  der 
Walzenform  der  Glieder,  eine  plattere,  lappenförmige  annahmen,  \vol)ei 
natürlich  die  Lappen  nach  innen  sich  ausdehnten  und  an  ihrem  Rande 
mit  Zähnen  und  Ilaaren  beselzl  waren.  So  konnte  durch  fortschreitende 
Verkürzung  schliesslich  eine  Form  entstehen,  welche  der  Phyllo- 
poden -Gestalt  gleich  war.  Etwas  der  Art  werden  wir  in  der  That 
wirksam  sehen,  wenn  wir  später  über  die  Malacostraca  zu 
handeln  haben. 

Es  liegt  aber  nahe ,  zu  bemerken  ,  dass  diese  Umwandlung  noch 
um  Vieles  leichler  und  rascher  gehen  musste,  wenn  schon  von  vorn- 
herein die  Gestalt  der  Extremitäten  phyllopodenartig  d.  h.  breit,  plalt 
und  gelappt  wai-.  Da  wir  nun  aus  andern  Giünden  vermuthen  dürfen, 
dass  die  Vorfahren  Cypridina's  Phyilopoden  waren,  so  können  wir 
wohl  glauben,  dass  auch  die  Lappenbildung  derMaxillen  von  den  Phyilo- 
poden herstammt.  Dazu  berechtigt  uns  aber  noch  um  Vieles  mehr  der  Bau 
der  beiden  folgenden  Maxillenpaare,  —  oder  —  unbestimmter  ausge- 
drückt, der  beiden  folgenden  Extremitätenpaare  (Fig.  39  u.  iOj.  Wenn 
wir  uns  erinnern,  dass  an  dem  Phyllopodenfuss  als  hauptsächlichstes 
(Iharacleiisticum  aussen  eine  ziemlich  ausgedehnte  Platte  sass,  welche 
anfänglich  bestimmt  war,  die  Locomotion  zu  unterstützen ,  dann,  das 
Wasser  unter  der  Schale  behufs  der  Respiration  zu  erneuen,  die  schliess- 
lich aber  selbst  zur  Kieme  ward,  und  die  Athmung  allein  besorgte,  so 
werden  wir  unschwer  aus  dem  Bestehen  einer  ähnlichen  Platte  an  den 
in  Rede  stehenden  beiden  Extremitäten-Paaren  schliessen  können,  dass 
hier  wiederum  ein  deutliches  und  unzweifelhaftes  Zeugniss  für  die 
Phyllopoden-Abstanimung  der  Cypridina  vorliegt.  pRrrz  Müllkr  da- 
gegen sagt:  «Gegen  den  Vergleich  der  Kiefer  der  Muschelkrebse  mit  den 
Beinen  der  Cladoceren  und  Phyilopoden  ist  sicher  nichts  einzuwenden  : 
nur  passl  derselbe  ebenso  gut  auf  die  Kiefer  der  Copcpoden  und  der 
höheren  Krusler  (Malacostraca)  ;  namentlich  bei  den  Jugendzuständen 
der  letzteren  ist  die  Aehnlichkeit  bisweilen  eine  überraschende,  so  dass 
auch  Claus  den  Kiefer  der  Krebslarven  »eine  Art  Phyllopodenfuss« 
genannt  hat.  Diese  Uebereinstimmung  beweist  also  nichts  für  ein(> 
nähere  Verwandtschaft  der  Muschelkrebse  und  Branchiopoden;  was  sie 
beweist,  ist,  dass  die  Branchiopoden ,  Copepoden ,  Ostracoden  und 
Malacostraca  erst  lange  nach  der  Naupliuszeit ,  dass  sie  erst  dann  von 
dem  gemeinsamen  Stamme  sich  trtmnten ,  als  auch  diese  den  Kinn- 
backenfüssen  zunächstfolgenden,  bei  allen  diesen  Ordnungen  in  ähn- 
licher Weise    gebildeten  Gliedmaassen  bereits  entwickelt  waren.     Die 


138  Dl'  ^nt.  Dohrii, 

Staminellcrn  mögen  zu  dieser  Zeil  dieselbe  Gliedniaassenzahl  [)esessen 
liaben ,  wie  jetzt  Gypris  undCythere;  wie  bei  diesen  hinter  den 
Kinnbacken  noch  vier  Gliedmaassenpaare  sich  finden,  so  sprosst  auch 
bei  dem  Nauplius  von  Peneus  die  gleiche  Zahl  von  Fussstummeln  hinter 
den  Kinnbackenfiissen  gleichzeitig  hervor.  Die  einzige  Ordnung,  deren 
Kiefer  in  ganz  abweichender  Weise  gebildet  sind,  bei  der  überhaupt 
ähnliche  Gliedmaassen  fehlen,  sind  die  Pectostraca  Haeckel's  ,  die 
Rankenfüsser  und  Wurzelkrebse ;  diese  mögen  schon  früher  von  dem 
ürslamme  der  Classe  sich  getrennt  haben;  in  diesem  Falle  wäre  die 
Auffassung  von  Alph.  Milne  Edwards  die  richtige,  der  sie  als  Basinotes 
allen  übrigen  Krustern  (Eleutheronoles)  gegenüberstellt.«  Der 
Gegensatz  ,  in  den  sich  meine  Auffassung  gegen  die  eben  dargelegte 
stellt,  besteht  wesentlich  darin,  dass  ich  in  den  Ostracoden  eine 
Rückentwickelung  sehe,  d.  h.  ein  Zurückgreifen  aus  bereits  compHcir- 
terer  Organisation  in  eine  weniger  compliciite,  die  immerhin  aber  im 
Stamme  noch  nicht  dagewesen  war,  also  in  sofern  auch  als  Weiter- 
Entwickelung  zu  betrachten  wäre.  Fritz  Müller  nun  scheint  zu  glauben, 
dass  die  Ostracoden  im  Allgemeinen  dem  Knotenpunkt  der  Organisation 
noch  am  nächsten  stehen,  von  dem  aus  die  Diff"erenzirungen  der  andern 
Ordnungen  strahlenförmig  sich  abgezweigt  haben,  dass  sie  also  ein 
Stehenbleiben,  keine  Rückentwickelung,  beziehungsweise  Weiter-Ent- 
wickelung  darstellten.  Das  Argument,  dieMaxille  der  Mala  cos  traken - 
Larven  gleiche  einem  Phyllopodenfuss  hat  aber  in  meinen  Augen 
eine  andere  Beweiskraft,  als  in  denen  Fritz  Müller's  :  ich  schliesse  dar- 
aus ,  —  freilich  noch  aus  vielen  andern  nachher  zu  erörternden  Punk- 
ten, —  dass  in  der  That,  wie  die  Ostracoden  so  auch  sämmtliche  Mala- 
costraken  aus  dem  Phyllopodenstamme  herzuleiten  seien.  Was  dann 
schliesslich  die  Auff'assung  der  genalogisch-systematischen  Stellung  der 
Cirripeden  anlangt,  so  weiche  ich  auch  darin  von  Fritz  Müller's, 
Haeckel's  und  Milne-Edward's  Ansichten  ab  und  betrachte  diese  Ord- 
nung als  sehr  viel  näher  dem  allgemeinen  Crustaceenstamme  angehörig 
als  diese  Forscher  es  thun.  Doch  über  all  dieses  werde  ich  im  weiteren 
Verlaufe  meiner  Darstellung  noch  ausführlich  zu  sprechen  haben. 

Wenn  ich  somit  im  Recht  zu  sein  glaube,  die  Cypridinen  als 
Abkömmlinge  der  Phyllopoden  in  Anspruch  zu  nehmen ,  so  muss  ich 
lum  auch  versuchen,  ihre  übrigen  Eigenthümlichkeiten  aus  diesen  her- 
zuleiten, oder  nachzuweisen,  warum  sie  sich  etwa  neu  und  selbst- 
ständig gebildet  haben. 

Unter  diesen  Eigenthümlichkeiten  steht  oben  an  die  Bildung  der 
Kiemen  und  der  Putzfüsse,  über  welche  uns  kürzlich  durch  den  bereits 
citirten  Aufsatz  Fritz  Müller's  wichtige  Mittheilungen  geworden  sind. 


Geschichte  des  Krebsstiiuinit'S.  1  Ii9 

Die  KicMiicii.  dir  nicht  allen  Cypridineii  /u/.ukonin»on  scheinen,  sind 
Gebilde,  welche  als  einfache  blaltförmiiie  Anhäntie  in  verschiedener 
Anzahl  »dicht  neben  der  Mittellinie  des  Uück(!nsw  I'r.  Mi  i.i.kk  I.  c. 
pag.  ?(>8)  entspringen.  »Sie  sind  etwas  schief  eingefüut,  so  dass  der 
Ilinlen-and  jedes  Blattes  den  Yordei  rand  des  folgenden  von  jinsscn  deckt. 
Nach  den)  oberen  Ende  trägt  Jedes  Blatt  einen  kleinen,  waiv.enförniigen 
Vorsprung,  durch  den  wohl  eine  zu  enge  Berührung  derselben  ver- 
hütet wird.  Den  Band  des  Blattes  entlang  läuft  ein  einfacher,  zieiiilicli 
weiter  Hohlraum.  Bei  C.  nilidnla  sind,  wenn  ich  mich  recht  ent- 
sinne, die  Kiemen  zahlreicher.  Dagegen  ist  ihre  Zahl  geringer  bei  ganz 
jungen  Thieren.  .lunge  von  C.  Agassizii,  die  die  Schale  der  Muttei- 
noch  nicht  verlassen  hatten,  besassen  nur  drei  Kiemenpaare,  die  von 
vorn  nach  hinten  an  Grösse  zunahmen.  Die  hintersten  Kiemen  sind 
also  wahrscheinlich  die  ältesten.«    (Fig.  41,  iSi. 

Ich  will  zuerst  versuchen,  das  Bestehen  dieser  Kiemen  aus  der 
Auffassung  heraus  zu  begreifen,  die  Fritz  Müller  über  die  Abstamn)utig 
Cypridina's  hegt.  Derselbe  sagt  1.  c.  pag,  27  ;j  in  einer  allgemeineren 
Erörterung  über  Schöpfung  und  Umwandlung  :  » —  Umgekehrt  w  ird  es 
die  Anhänger  der  alten  Schöpfungshypothese,  wie  sie  Weismaxn  nennt, 
befremden  müssen,  dass  die  Kiemen  der  Cypridinen  am  Rücken  stehen, 
der  bei  keinem  andern  Kruster  Kiemen  trägt.  Wir  dagegen  hätten  als 
wahrscheinlich  voraussagen  können,  dass  wenn  bei  Muschelkrebsen 
Kiemen  vorkämen ,  sie  dann  in  ihrer  Lage  nicht  mit  denen  anderer 
Kruster  übereinstimmen  würden.  Denn  Kiemen  haben  sich  bei  den 
Krustern  überhaupt  erst  spät  entwickelt;  selbst  unter  den  l'odo- 
p h  t  h  a  I  m  e  n  und  E  d  r  i  o  p  h  t  h  a  1  m  e  n  sind  bis  heute  die  der  Urform 
zunächst  stehenden  Gattungen  (Mysis,  Tanaisl  kiemenlos  geblieben. 
Die  Stammeltern  der  Muschelkrebse  besassen  sicherlich  keine  Kiemen. 
Die  Kiemen  von  C  y  p  ri  d  i  n  a  also  und  die  irgend  eines  andern  kiemen- 
tragenden Krusters  sind  keinenfalls  das  Erbtheil  eines  gemeinsamen 
Ahnen,  vielmehr  haben  sich  die  der  ersteren  unabhängig  entwickelt 
und  es  dürfte  deshalb  eine  abweichende  Lage  derselben  mit  grösserer 
Wahrscheinlichkeit  erwartet  werden,  als  eine  übereinstimmende.« 

Dieser  Anschauung  bin  ich  nun  freilich  ganz  und  gar  entgegen. 
Wie  sollten  wir  uns  wohl  davon  Rechenschaft  geben ,  durch  welche 
Processe  es  überhaupt  zur  Kiemenbildung  gekommen?  Vergleichen  wir 
einmal  die  Kiemen  der  Krebse  mit  der  Lunge  der  Wirbelthiere.  Letztere 
ist  anerkannterinaassen  aus  der  Schwinunblase  der  Fische  hei'vorge- 
gangen,  d.  h.  die  viel  wichtigere  Function  hat  sich  an  das  Oigan  heran 
entwickelt  aus  einer  niedrigeren ,  die  allmählich  durch  veränderte 
Existenzbedingungen  weniger  wichtig   wurde.     Wie  sollten  wir  uns 


140  Dr.  Ant.  Dohrn, 

vorslellen.  dass  eine  Ausstülpung  des  Darmcannis  so  ohne  Weiteres  zur 
Lunge,  zu  einem  der  vital -noth wendigsten  Organe  des  ganzen  Ge- 
schöpfes wird,  wenn  nicht  diese  Ausstülpung  ganz  allmählich  an  der 
Hand  unwesentlicherer  Functionen  zu  einem  umfangreichen  und 
charakteristischen  Gebilde  sich  entwickelt  hätte,  das  ohne  grossen 
Sprung  nun  zu  einem  ganz  ausserordentlich  wichtigen  Organ  werden 
könnte?  Ebenso  sehe  ich  die  Kiemen  der  Krebse  an.  Die  Respiration 
ging  —  darin  stimme  ich  ja  vollständig  mit  Fritz  Müller  überein  — 
anfänglich  gewiss  nicht  in  Kiemen  vor  sich ,  —  localisirte  Athmungs- 
Organe,  und  das  sind  für  Wasserbewohner  eben  Kiemen,  konnten  sich 
nothwendiger  Weise  erst  durch  eine  vorschreitende  Arbeitstheilung 
entwickeln.  Aber  die  Organe,  welche  für  diese  Function  in  Beschlag 
genommen  wurden,  konnten  nicht  durch  die  Function  selber  ins  Leben 
gerufen  sein,  sondern  mussten  durch  weniger  fundamentale  Thätig- 
keiten  so  weit  herangebildet  werden,  dass  die  Athmungsfunction  all- 
mählich in  ihnen  sich  localisiren  konnte,  wonach  sie  dann  freilich  durch 
fortdauernden  Gebrauch  in  ihrer  Organisation  soweit  gesteigert  und 
vervollkommnet  wurden ,  dass  man  sofort  aus  ihrer  Structur  erkennen 
kann,  welcher  Funktion  sie  dienen.  Ich  kann  mir  schwer  vorstellen, 
dass  am  Körper  der  Krebse  irgendwo  Ausstülpungen  entständen ,  die 
sofort  für  die  Athmungsorgane  beibehalten  würden.  Sie  würden  wieder 
zu  Grunde  gehen ,  und  dann  wäre  das  Thier  ohne  Athmungsorgane. 
Und  besonders  schwierig  würde  es ,  wenn  wir  bedenken,  dass  de  Be- 
wegung des  Wassers  an  diesen  Ausstülpungen  nothwendig  ist,  dass  also 
die  Ausstülpungen  nur  dann  erfolgreich  wirken  könnten,  wenn  vorher 
schon  Organisationen  bestehen,  \a eiche  diese  Bewegung  des  Wassers 
vornehmen.  Woher  aber  dann  diese  Organisationen  ?  Es  wird  ja  ein 
Ciikelschluss.  Sehen  wir  statt  dessen  den  ganzen  Entwickelungspro- 
cess  als  einen  Wechsel  der  Functionen  und  eine  Theilung  der  Arbeit  an, 
so  wird  es  spielend  leicht ,  wie  ich  schon  oben  zeigte ,  die  Kiemen  der 
höchst  organisirten  Krebse  aus  Bildungen  abzuleiten,  die  in  dem  Zeit- 
raum zuerst  auftraten,  welche  zwischen  Zoea  und  den  Phyllopoden 
mitten  inne  liegt,  uns  aber  in  besondern  Formen  nicht  mehr  erhal- 
ten sind. 

Aber  —  wirft  mir  mein  Gegner  ein  -  die  Kiemenanhänge  der 
C^pridina  haben  doch  augenscheinlich  nichts  mit  Schwimmbeinen  zu 
Ihun,  sie  sind  und  bleiben  sackförmige  Ausstülpungen  der  Körperwand, 
und  ihre  hohe  Lage  neben  der  Mittellinie  des  Rückens  beweist  uner- 
bittlich gegen  die  versuchte  Ableitung  aus  Organen ,  die  bereits  vorher 
bestanden  hätten. 

Das  scheint  freilich  so,  wenn  man  die  Meinung  Fritz  Müller's  theill, 


(ißsdiichte  des  Krebsstamnies.  1 4  | 

(iass  die  Cypridinen  unabhänc;ii;  von  früheren,  höher  dineren/irten 
Formen  aus  demNauplius  liervoi'geü;ani;en  seien.  Dann  sind  die  p[iemen- 
säcke  sicherlich  nicht  andeis  aulzufassen  und  zu  (Mklären.  Aber  die 
Sachlage  ändert  sich  mit  einem  Schlage ,  wenn  ich  Recht  habe ,  und 
Cypridina  nur  ein  Abkömmling  der  schallragenden  Phyllopode  n 
ist.  Denn  li  a  n  n  \v  e  r  d  e  n  die  K  i  e  in  c  n  s  ii  e  k  e  die  1  e  l  z  t  e  n  Leber- 
I  feste  der  h  i  im-  früher  vorhanden  gewesenen  Extre- 
mitäten I 

Auch  für  diesen  Satz  brauche  ich  nicht  bei  der  blossen  Behaui)hini: 
stehen  zubleiben.  Fritz  Müller  selbst  liefert  Beweise.  Von  C.  niti- 
dula  sagt  er,  wie  schon  citirt,  die  Zahl  der  Kiemen  sei  geringer  bei 
jungen  Thieren,  und  von  den  Jungen  derC.  Agassizii,  die  die  Schale 
der  Mutter  noch  nicht  verlassen  hatten,  giebt  er  selbst  mit  Bestimmtheil 
an,  sie  hätten  nur  drei  Kiemenpaare  besessen,  die  von  vorn  nach  hin- 
ten an  Grösse  zunahmen.  Die  hintersten  Kiemen  seien  also  wahrschein- 
lich die  ältesten. 

Diese  allmähliche  Vermehrung  der  Kiemen  ist  ein  Fingerzeig,  wie 
er  nicht  besser  verlangt  werden  kann,  zu  Gunsten  meiner  Inter- 
pretation. Denken  wir  uns,  die  jetzigen  Kiemen  der  Cypridina  seien 
noch  vollständige  Extremitäten ,  so  würden  wir  nicht  im  Geringsten 
erstaunt  sein,  zu  finden,  dass  mit  zunehmendem  Wachsthum  die  Zahl 
der  FAtreinitälen  zunähme.  Wir  würden  an  den  Extremitäten  zu  fin- 
den erwailen,  was  wir  bei  den  Phyllopoden  kennen  gelernt  haben,  also 
ausser  einem  gelappten  Innentheile  auch  einen  platten  Kiemenanhang 
an  der  Aussenseite  zunächst  der  hisertion.  Mit  den  Extremitäten  zu- 
sanmien  würden  wir  aber  ebenso  viele  Segmente  des  Körpers  erhalten, — 
mithin  einen  viel  gestreckteren  und  ausgedehnteren  Körperumfang. 
Wir  sahen  aber,  dass  bei  den  schaltragenden  Phyllopoden  die  Tendenz 
bestand,  die  Metamerenbildung  nach  Möglichkeit  einzuschränken,  und 
die  früher  bestandene  grosse  Zahl  aufzugeben  und  stetig  zu  verringern. 
So  verschwanden  also  bei  dem  Uebergange  aus  den  Phyllopoden  zu 
Cypridina  allmählich  die  Metameren  und  mit  den  Metameren  die  Extre- 
mitäten. Dies  Verschwinden  brauchen  wir  aber  nicht  in  allen  Fällen 
als  ein  einfaches  Ausbleiben  ihrer  Bildung  zu  verstehen,  sondern  wir 
können  ebensowohl  annehmen,  dass  eine  Reihe  von  Metameren  ver- 
wuchsen, dass  der  so  verwachsene  Theil  sich  allmählich  in  toto  ver- 
kürzte, dass  aber  von  den  Extremitäten  die  Basalabschnilti-  noch  längere 
Zeit  fortbestanden  und  dass,  da  ihre  Kiemenabschnitte  sehr  nützlich  für 
das  Thiei'  sein  konnten ,  diese  schliesslich  allein  von  der  ganzen  er- 
loschenen Melamerenreihe  übrig  blieben  und  sich  nun  wegen  des  be- 
schränkten Raumes  über  einandei'  schoben.    Was  ferner  das  Argument 


142  Dr.  Ant.  Dohrn, 

betrifft,  die  hintere  Kieme  bei  der  jungen  C.  Agassizii  sei  die  grösste 
gewesen ,  mithin  wahrscheinlich  das  Wachsthum  der  Kiemensäcke  von 
hinten  nach  vorn  vorschreitend,  so  ist  dagegen  die  Abbildung  der  Kiemen 
des  erwachsenen  Männchens  zu  citiren ,  die  Fr.  Müller  aul'  Tafel  VIII. 
Fig.  %C)  br.  giebt,  welche  beweist,  dass  die  Kiemen  von  der  Mitte  nach 
beiden  Seiten  an  Länge  abnehmen,  mithin  ein  Wachsthum  nach  hin- 
ten jedenfalls  stattfindet. 

Und  nun  zu  den  Putzfüssen  !  Dass  in  der  Thal  diese  Putzfüsse  von 
grosser  Wichtigkeit  sind ,  beweisen  die  zahlreichen  Apparate ,  welche 
bei  andern  Crustaceen  für  dieselbe  Function  eingerichtet  sind.  Fritz 
Müller  selbst  macht  darauf  aufmerksam,  dass  die  Füsse  des  letzten 
Brustringes  bei  Porcellana,  Hippa  und  Pagurus  als  Putzfüsse 
verwendet  werden  und  für  solche  Function  vortrefflich  eingerichtet  sind. 
Ferner  erwähnter,  dass  schon  Zenker  ^)  das  zweite  Fusspaar  der  Cypri- 
den  als  ein  solches  Paar  Putzfüsse  ansieht.  Auch  von  den  Krabben 
erwähnt  derselbe  geistreiche  Forscher  einen  derartigen  Apparat  zum 
Reinigen  der  Kiemen;  als  solcher  dienen  die  Geissei -Anhänge  der 
Kieferfüsse,  die  in  der  Kiemenhöhle  sich  hin  und  her  bewegen.  Ich 
selbst  habe  bei  den  Cumaceen  eine  ähnliche  Vorrichtung  beschrieben: 
dort  wird  ein  Ast  des  zweiten  Maxillenpaares  zum  Putzen  verwandt ^j ; 
bei  Tanais  hingegen  ist  ein  Ast  des  ersten  Maxillenpaares  behufs 
Reinigung  der  Kieme  nach  hinten  gewandt'*). 

Man  sieht,  diese  Function,  die  in  directer  Abhängigkeit  von  der 
Art  und  Gestallung  und  vor  allen  von  der  Lage  der  Kiemen  stand,  konnte 
nicht  constanl  an  ein  und  dasselbe  Organ  gebunden  sein,  —  von  ihr  ist 
eher  vorauszusetzen,  dass  sie  sich  bei  den  verschiedenen  Krebsordnun- 
gen immer  neu  gebildet  hat  und  wohl  erst  in  späterer  Zeil  allgemein 
geworden  ist.  Ob  hier  Fr.  Müller  nun  im  Rechte  ist,  wenn  er  meint, 
die  Putzfüsse  Cypridina's  seien  dem  letzten  Fusspaar  der  C  ypri den 
homolog,  das  lasse  ich  dahingestellt,  —  aber  es  ist  nichts  dagegen  ein- 
zuwenden. Nur  das  Studium  der  Entwickelungsgeschichte  kann  uns 
darüber  endgültigen  Aufschluss  geben ,  welcher  Extremität  dieser  son- 
derbare Apparat  entspricht.  Es  bleibt  indess  in)merhin  möglich ,  dass 
die  früheren  Forscher  nicht  ganz  im  Unrecht  sind,  wenn  sie  in  diesen 
sonderbaren ,  geringelten  Anhängen  Aehnliches  erblicken  wollten ,  wie 
die  Eiertragenden  Röhren  bei  Limnetis  etc.,  denn  ist  einmal  die  Ab- 
stammung von  den  Phyllopoden  für  Cypridina  zugegeben,  so  ist  es 


1j  Anatom. -systematische  Studien  über  Krebsthiere.  Berlin  1854.  pag.  17. 

2)  Bau  und  Entwicl^elung  der  Cumaceen.    Jenaische  Zeitschr.  V.  pag.  72. 

3)  Bau  und  Entwickeiung  von  Tanais.   Jenaische  Zeitschr.  V.  pag.  301. 


fieschirlitp  des  Kicbsslanimes.  1 4'.^ 

ftuch  nicht  mehr  unwahrschtnnlich,  dass  ein  sonderbar  ü;eslalleler  An- 
lianii,  welcher  bei  den  einen  zum  Trafen  der  Kier  dienl,  bei  der  andern 
/um  Heinhalten  der  Kiemen  verwendet  wird.  Doch  —  wie  gesagt  — 
das  ist  nur  durch  directe  Beobachlune;  der  Entwickelung  zu  entschei- 
den, —  und  darin  hat  Fr.  Milikh  unbezweifell  Recht,  w(Min  ei-  dagc^gen 
piotestirl,  dass  die  Function  iiizend  eines  sonderbaren  Anhangs  ohne 
Weiteres  als  den  Generationsbeziehungen  angehörig  aufgefassl  wird. 

Eine  Schwierigkeit  ist  aber  immer  noch  aus  dem  Wege  zu  lüuinen. 
Nach  Fk.  Müller's  Angaben  entbehrt  C.  Grubii  der  Kiemen;  auch  ist 
zu  vermuthen ,  dass  dieselben  der  C.  ob  longa  ebenfalls  fehlen,  da 
Grube  nichts  von  ihrem  Bestehen  anführt;  ebensowenig  giebt  Lii.lje- 
BORG  eine  Andeutung  von  ihrem  Bestehen  bei  C.  globosa.  Sollte  nun 
hier  wiederum  etwa  ein  Beweis  gefunden  werden  können ,  dass  die 
Kiemen  der  andern  Cypridinen  Neubildungen ,  nicht  letzte  Ueberreste 
von  Extremitäten  seien?  Ich  denke  nein.  An  und  für  sich  wäre  es 
höchst  unwahrscheinlich ,  dass  solche  Neubildungen  nur  bei  einem 
Theile  so  nah  verwandter  Thiere  aufgetreten  wären ,  während  bei  den 
übrigen  gar  keine  Spur  davon  zu  entdecken  ist.  Man  meint  zwar,  dass 
bei  Mysideen  ähnliche  Verhältnisse  vorlägen,  allein  durch  G.  0.  Sars' 
Untersuchungen  ist  die  behauptete  Kiemenlosigkeit  von  Mysis  als  ein 
Irrlhum  nachgewiesen  werden.  Aber  trotz  des  Mangels  der  Kiemen  bei 
den  drei  obgenannten  Arten  finden  wir  doch  die  Putzfüsse  wohl  ent- 
wickelt. Es  wäre  somit  nur  anzunehmen ,  entweder:  die  Function  der 
letzteren  ist  nicht  nur  die  Reinigung  der  Kiemen ,  sondern  auch  andrer 
Theile,  oder:  die  Kiemensäcke  der  drei  Arten  sind  zu  Grunde  gegangen, 
werden  vielleicht  noch  bei  den  Jungen  zum  Vorschein  kommen,  gelangen 
aber  nicht  mehr  zu  vollständiger  Entwickelung.  \n  beiden  Alternativen 
steckt  viel  Wahrscheinliches,  so  dass  wir  uns  wohl  dahin  einigen  können, 
beide  als  wahr  anzunehmen  und  ihrem  Zusammenwirken  das  uns  jetzt 
vorliegende  Resultat  zuzuschieben.  Die  Putzfüsse  werden  sicherlich 
auch  die  schwingenden  Platten  in  ihre  Obhut  nehmen ,  vielleicht  über- 
haupt den  ganzen  Rinnenraum  der  Schalen  in  Ordnung  halten.  Und 
dass  die  Kiemen  allmählich  zu  Grunde  gingen,  das  kann  uns  um  so 
weniger  erstaunen ,  als  sie  überhaupt  nur  —  wenigstens  nach  meiner 
Deutung,  — als  rudimentäre  Bildungen  aufzufassen  sind,  und  in  der 
Weiter- Entwickelung  der  Ostracoden-Ordnung  in  der  That  völlig  ver- 
schw^unden  sind,  denn  dieCypriden  und  C y  theri  den  entbehren 
ihrer  völlig. 

Ich  gehe  zu  einem  andern  Organe  über,  dessen  Bestehen  bei 
Cypridina  Fr.  Müller  gleichfalls  zu  eingehenden  Erwägungen  ver- 
anlasst hat:    das  Herz.    Dasselbe  lie^t  als  ein  einfacher  Sack  an  der 


144  Dr.  Ant.  Dohrn, 

Stelle,  wo  die  Schale  mit  dem  Körper  in  Verbindung  tritt,  —  wo  wir 
es  auch  bei  der  Zoöa  fanden.  »Es  nimmt  das  Blut  von  hinten  und 
unten  auf  und  sendet  es  nach  vorn  und  oben.»  So  berichtet  Fr.  Müller. 
Hören  wir  weiterhin  desselben  Forschers  Betrachlungen  über  dies 
Organ  '] . 

»Calanidenund  Pon  teil  i den  einerseits,  Cypridinen  andrer- 
seits, stimmen  auch  darin  überein,  dass  sie  die  einzigen  Familien  ihrer 
Ordnung  sind,  die  ein  Herz  besitzen,  und  dies  Herz  hat  bei  beiden  etwa 
dieselbe  Lage;  ob  genau  dieselbe,  ist  wegen  der  bei  Cypridina 
mangelnden  Gliederung  des  Leibes  nicht  zu  sagen.  Dabei  drängt  sich 
denn  natürlich  die  Frage  auf,  wie  diese  übereinstimmende  Lage  des 
Herzens  zu  erklären  sei.«  —  --Sie  würde  sich  am  einfachsten  erklären 
lassen ,  wenn  wir  annehmen  dürften ,  dass  schon  die  gemeinsamen 
Stammeltern  der  Copepoden  und  Muschelkrebse  ein  Herz  an 
gleicher  Stelle  besassen  und  auf  die  genannten  Familien  vererbten, 
während  dasselbe  bei  der  Mehrzahl  der  Copepoden  sowie  bei  C  y p r i s 
und  Cythere  im  Laufe  der  Zeiten  verloren  ging.« 

«Zu  Gunsten  der  Annahme,  dass  schon  die  gemeinsamen  Stamm- 
ellern  von  Copepoden  und  Muschelkrebsen  ein  Herz  besassen,  lässt 
sich  gellend  machen,  dass  schon  die  Nauplius  von  Peneus  ein  Herz 
haben ,  wodurch  das  sehr  frühe  Auftreten  desselben  bei  den  Knistern 
wahrscheinlich  wird;  ferner,  dass,  wie  erwähnt,  gerade  die  mit  einem 
Herzen  versehenen  und  auch  sonst  höher  stehenden  Familien  beider 
Ordnungen  der  Urform  unverkennbar  ähnlicher  sind,  als  die  übrigen 
niedriger  stehenden,  des  Herzens  entbehrenden  Familien,  dass  keinen- 
falls  erstere  aus  letzteren,  dass  weit  eher  letztere  aus  ersteren  hervorge- 
gangen sein  können.  Dafür,  dass  das  Herz  verloren  gehen  könne,  liefern 
unter  den  Gliederlhieren  die  Milben  den  Beweis.  Der  Mangel  des 
Herzens  scheint  bei  diesen  in  ursächlichem  Zusammenhange  zu  stehen 
mit  der  gelingen  Grösse ;  natürlich  ist  das  Herz  um  so  entbehrlicher, 
zu  je  winzigerem  Umfange  der  Körper  herabsinkt.  Von  den  Muschel- 
krebsen wissen  wir  nun,  dass  sie  früher  eine  weit  ansehnlichere  Grösse 
erreichten ;  auch  ohne  die  handgreiflichen  Beweise ,  die  uns  ihre  ver- 
steinerten Schalen  liefern ,   würde  die  geringe  Zahl  der  an  Gattungen 


1)  Ich  brauche  gewiss  nicht  hinzuzusetzen,  dass  meine  Polemik  gegen  Fritz 
Müller's  Meinungen  aus  dem  reinsten  Sach- Interesse  stammt.  Gerade  diesem 
Forscher  schulde  ich  persönlich  sehr  viel ,  denn  seine  Schrift  »Für  Darwin«  ist  der 
Ausgangspunkt  meiner  Studien  gewesen.  Wenn  ich  jetzt  mehrfach  in  Widerspruch 
mit  Müllers  Meinungen  stehe,  so  beweist  das  nur,  dass  es  sich  um  schwierige  und 
vielfacher  Interpretation  zugängliche  Verhältnisse  handelt,  über  welche  man  bei 
gründlichster  Kenntniss  doch  sehr  wohl  verschiedener  Meinung  sein  kann. 


Geschichte  des  Krebsstamraes.  145 

armer,  scharf  ijoschiedener  Familien  schliessen  lassen,  dass  wir  in  den 
heutigen  Muschelkrobsen  nur  kümmerliche  Reste  eines  früher  weit 
reicher  entfalteten  Formenkreises  vor  uns  haben.  Möt^lich,  dass  in 
inleicher  Weise,  wie  bei  den  Milben  .  auch  b(M  ihnen  das  Herz  mit  Ab- 
nahme der  Grösse  gesch\\unden  ist.«  —  «Immerhin,  wenn  auch  wahr- 
scheinlich, kann  die  Annahme  eines  Herzens  für  die  gemeinsamen 
Stammeltern  von  Copepoden  und  Muschelkrebsen  nicht  als  erwiesen 
gelten. 

»Die  zahlreichen  ('opepoden  ohne  Herz  (Cyclopiden,  Harpac- 
tiden,  Peltidien  und  Corycaeiden)  und  auch  Gypris  und 
C  y  the  r  e  haben  im  Uebrigen  nicht  das  Aussehen  verkümmerter  Thiere. 
Und  auch  ohne  jene  Annahme  lässl  sich  die  gleiche  Lage  des  Herzens 
bei  Galan  i den  und  Gypridi  nen  erklaren,  wenn  man  die  Weise  ins 
Auge  fasst,  in  der  bei  den  Arten  ohne  Herz  das  Blut  bewegt  wird. 
»Bei  den  G  yclopiden.  Ha  rpactiden  und  Peltidi  en  übernehmen 
die  fast  rhythmischen  Bewegungen  des  Magens,  in  welchen  derselbe 
zum  Theil  durch  äussere  Muskelzüge  aufwärts  gezogen  und  dann  wie- 
der in  entgegengesetzter  Richtung  herabgedrängt  wird ,  die  Function 
des  fehlenden  Girculationsorgans  und  bringen  die  im  Leibesraum  be- 
fmdliche  Blutmenge  in  eine  gewisse  Strömung i).«  —  Ganz  dasselbe 
sah  ich  bei  einer  grossen,  ziemlich  durchsichtigen  Gypris,  bei  welcher 
gleichzeitig  auch  die  Leberschläuche  sich  regelmässig  zusammenzogen. 
Die  Bewegungen  der  obern  Magenwand ,  sowie  der  von  ihi'  nach  oben 
gehenden  Muskeln  geben  ein  so  täuschendes  Bild  eines  über  dem  Magen 
liegenden  Herzens,  dass  ich  immer  wieder  ein  Herz  zu  sehen  glaubte, 
nachdem  ich  mich  längst  auf  das  Bestimmteste  von  dessen  Abwesenheit 
überzeugt  hatte. 

»Das  Blut  wird  also  von  derselben  Stelle  aus  in  Bewegung  gesetzt 
bei  den  Arten  mit  und  bei  denen  ohne  Herz,  und  an  dieser  Stelle  würde 
bei  letzteren  am  leichtesten  ein  Herz  sich  bilden  können ,  etwa  indem 
die  schmalen  Muskelzüge,  die  jetzt  hier  sich  linden,  breiter  würden,  zu 
einem  Schlauche  zusanmienträten  und  selbstständig  sich  zusammen- 
zögen. Die  gleiche  Lage  des  Herzens  bei  Gypridinen  und  Galaniden 
würde  sich  also  daraus  erklären,  dass  schon  in  frühester  Zeit ,  schon 
bei  deren  gemeinsamen  Stammeltern,  wenn  denselben  auch  ein  Herz 
fehlte,  doch  schon  von  derselben  Stelle  aus,  wo  bei  ihren  Nachkommen 
das  Herz  liegt,  die  Bewegung  des  Blutes  ausging.«  —  »Unter  den  bis 
jetzt  bekannt  gewordenen  Copepoden  ohne  Herz  stehen  einige  'z.  B. 
Oithona     den  Galaniden  so  nahe,    dass  möglicher  Weise  sich  noch 


1i  Claus,  Die  frei  lebenden  Copepoden.  paii   61. 
Bd.  VI.  1.  10 


1 46  f^r.  ^nt.  Dohrn, 

Uebergangsformen  finden  werden ,  die  auch  in  Bezug  auf  das  Herz  die 
Mitte  halten  zwischen  Calaniden  und  Cyclopiden  oder  Cory- 
caeiden,  Arten,  die  ein  im  Vergleich  mit  dem  der  Calaniden  unvoll- 
kommenes Herz  besitzen ,  und  solche  Arten  dürften  dann  vielleicht, 
namentlich  durch  ihre  Entwickelungsgeschichte,*  Aufschluss  darüber 
geben  ,  ob  ihr  Herz  als  ein  werdendes  oder  ein  verkümmerndes  zu  be- 
trachten sei,  und  damit  die  Frage  entscheiden ,  ob  die  Stammeltern  der 
Copepoden  und  Muschelkrebse  des  Herzens  entbehrten  oder  mit  einem 
solchen  versehen  waren.« 

Wie  man  sieht,  ruht  auch  auf  dieser  Frage,  einer  wahren  Herzens- 
Frage,  eine  bedeutende  Verantwortlichkeit  für  die  Entscheidung  der 
genealogischen  Streitfrage.  Mit  der  directen  Ableitung  der  Cypridinen 
vom  Nauplius  konnte  Fr.  Müller  freilich  nicht  aus  diesem  Zweifel  her- 
aus. Uns  geht  es  besser.  Wir  nehmen  aus  all  den  bisher  angeführten 
Gründen  an,  die  Phyllopoden  seien  die  Vorfahren  Gypridina's  ge- 
wesen, und  daraus  folgt  dann  von  selber,  dass  ihr  Herz  nur  ein  auf 
sehr  bescheidene  Dimensionen  reducirles  Phyllopoden -Herz  ist.  Dass 
es  an  derselben  Stelle  hegt,  wie  beiZoea,  beweist  erstens,  dass  wir  im 
Rechte  sind,  Zoea  für  den  allgemeinen  Durchgangspunkt  aller  lebenden 
Krebse  zu  erklären ,  zweitens,  dass  bei  Beschränkungen  eines  anfäng- 
lich höheren  Entwickelungszustandes  zurückgegriffen  wird  auf  frühere 
Organisationsstufen.  Zugleich  können  wir  daraus  lernen,  wie  vorsich- 
tig man  mit  der  genealogischen  Werthschätzung  eines  einzelnen  Organs 
sein  muss.  Dem  Herzen  zufolge  könnte  in  der  That  Cypridina  ein 
directer  Abkömmling  der  Nauplius  sein  — auch  die  Gestaltung  der 
drei  ersten  Gliedmaassenpaare  wird  von  Fr.  Müller  in  demselben  Sinne 
gedeutet  —  aber  die  Kiemen ,  die  Putzfüsse  und  die  schwingenden 
Platten  der  übrigen  Extremitäten,  sowie  die  Beschaffenheit  der  Schale 
und  des  Pleon  legen  dagegen  Widerspruch  ein  —  und ,  w  ie  ich  hoffe 
gezeigt  zu  haben  —  erfolgreichen  Widerspruch. 

W'ir  sind  aber  mitCypridina  noch  nicht  fertig :  es  bleibt  noch 
die  oben  erwähnte  Gestaltung  der  vorderen  drei  Extremitäten-Paare  zu 
erörtern  und  auch  ihr  Gewicht  gegen  die  Annahme  meiner  genealogischen 
Ableitung  zu  verringern. 

Zunächst  möchte  ich  mich  principiell  mit  Fritz  Müller's  Vorschlag 
einverstanden  erklären,  das  zweite  Extremitätenpaar  der  Ostracoden 
nicht  Antennen,  sondern  entweder  Schwimm-Antennen  —  was  ja  wohl 
mit  dem  ursprünglichsten  Sinne  des  Wortes  »Antennen«  eher  zusammen- 
trifft, als  der  Ausdruck  »Fühlhörner«  oder  »Fühler«,  oder  geradezu 
Schwimmbeine  zu  nennen.  Es  scheint  mir  logischer  zu  sein ,  wenn 
wir  lieber  die  Fühler  »Fühlbeine«  oder  »Tastbeine«  nennen,  als  wenn 


(•eschichte  des  Kiebsstaiiiiiies.  147 

wir  die  zum  Scbwiinnu'n  benutzten  vordersten  Extremitäten  als 
Schwimm  fühl  er  aufführen.  Dennoch  aber  liisst  sich  auch  ein 
wohl  zu  beachtender  Standpunkt  denken,  von  dem  aus  der  Aus- 
druck »Schwimmfühh^i«  seine  besondere  Berechtigung  gewinnt. 
Wenn  wir  nämlich  annehmen  dürfen,  dass  die  als  Schwimm-Extremi- 
täten  benutzten  Gliedinaassen  früher  in  der  That  als  last -Organe,  als 
Fühler,  gebraucht  win'den,  so  läge  schon  in  dem  Namen  »Schwimm- 
fühler« der  Ausdi'uck  diesei'  Krkennlniss.  Indess  —  die  Terminologie 
innei'halb  iler  Arthropoden  ist  (MIi  Gebiet,  dessen  Darstellung  ohne 
Weiteres  in  die  Hexenküche  verw  lesen  werden  muss,  —  und  erst  nach 
Reinigung  der  Morphologie  wird  man  auch  an  eine  vernünftige  Fest- 
stellung der  Tei-minologie  denken  können. 

Fritz  Müller  geht  gleichfalls  scharf  ins  Gericht  mit  dem  Ausdruck 
Gribe's  »Mandibelpaipenw.  Kr  wünscht  den  Namen  »Kinnbackenfüsse«, 
und  aus  denselben  Gründen,  die  ich  oben  angeführt  habe,  kann  ich 
auch  dazu  meine  Zustimmung  geben.  Freilich  aber  nicht  zu  der  daran 
geknüpften  Auseinandersetzung ,  soweit  sie  die  Mandibeln  der  Malaco- 
slraken  betriHt.  Es  ist  zwar  richtig,  dass  die  Mehrzahl  der  Zoea  ohne 
Mandibidartasler  lebt,  aber  eben  nur  die  Mehrzahl  und  nicht  wie  Fritz 
Mlller  meint:  alle  Zoea.  Keinen  Augenblick  zweifle  ich  aber  daran, 
dass  der  bei  den  Decapoden  später  auftretende  Taster  homolog  ist  dem 
ursprünglich  hier  vorhanden  gewesenen  Schwimmbein  des  Nauplius. 
Das  beweist  unter  anderm  schlagend  die  Entwickelung  der  Mandibel 
bei  AseUus  und  bei  Guma;  bei  beiden  legt  sich  zuerst  der  Taster 
an ,  und  erst  später  keimt  daran  der  Kautheil ,  der  dann  freilich  bei 
Cuma  allein  übrig  bleibt.  Diese  Taslerlosigkeit  der  Zoea -Mandibel 
hat  zum  grossen  Theil  mit  dazu  beigetragen  von  der  Zoea  die  Insecten 
herzuleiten  —  ein  Unternehmen,  das  in  meinen  Augen  als  gescheitert 
anzusehen  ist,  aus  andern  Gründen ,  doch  aber  auch  schon  wegen  die- 
ses Umstandes,  dass  der  Tastet'  der  Zoea  nui*  zeitweilig  verschwunden  ist. 

Aus  der  Thatsache  aber,  dass  bei  Cypridina  sowohl  das  zweite 
wie  das  dritte  Gliedmaassenpaar  an  der  Locomotion  sich  wesentlich 
betheiligen,  das  eine  beim  Schwimmen,  das  andere  beim  Kriechen, 
folgt  noch  nicht,  dass  dies  direct  vom  Nauplius  herstammende  Organi- 
sation sei ,  sondern  zufolge  all  den  übrigen  Nachweisen  haben  wir  es 
hier  nur  mit  einer  Art  von  Rückbildung  zu  Ihun.  Indess  sahen  wir 
schon  diese  Rückbildung  innerhalb  der  schaltragenden  Phyllopoden 
wirksam,  denn  schon  hier  sind  die  untern  Antennen  w  ieder  als  Schwimm- 
Exlremitälen  in  Amt  und  Würden.  Den  KinnbacRentaster,  oder  genea- 
logisch richtiger  ausgedrückt,  die  dritte  Nauplius-Extremität  war  aber 
noch  nicht  zum  Kriechfuss  umgewandelt. 

10* 


148  Dr.  Ant.  Dohrii. 

Fritz  Muller  erwähnt  ferner  noch,  dass  ein  männliches  Copu- 
lationsorgan  bestände,  zusammengesetzt  aus  einem  Stamm  und  zweien 
Aesten,  deren  jeder  in  zwei  Säckchen  gespalten  sei.  Er  äussert  zugleich 
die  Vermuthung ,  man  könne  dasselbe  für  ein  umgewandeltes,  zwei- 
ästiges Fusspaar  halten  —  eine  Meinung,  die  auch  Claiis  zu  theilen 
scheint,  wenn  er  zwei  cylindrische  Zapfen,  die  sich  vor  dem  Schwanz- 
ende ßnden,  als  Generationsorgane  anspricht  —  freilich  bei  Weibchen. 
Es  ist  wohl  sehr  möglich,  dass  diese  Deutung  zu  Recht  besteht,  unddass 
wir  es  hier  denn  mit  noch  einem  rudimentären  Fusspaar  zuthun  halten. 

Dabei  ist  gleich  darauf  hinzuweisen,  wie  die  Lage  der  Eier  bei 
Cypridina  für  die  nahe  Verwandtschaft  mit  den  Cladoceren  spricht. 
Wir  wissen,  dass  beiPhyllopoden  die  Eier  auf  mannichfaltige  Weise  ge- 
tragen werden,  ja  dass  viele  derselben  sie  einfach  ins  Wasser  faüen 
lassen  und  dem  Zufall  und  dem  Regenwetter  die  Ausbrütung  über- 
lassen. Wir  wissen  aber  auch,  dass  unter  den  Schalträgern  n)ehrere 
die  Eier  an  besonderen  Theilen  gewisser  Extremitäten  tragen ;  —  bei 
der  Verkürzung  des  Leibes  aber,  und  der  damit  nothwendig  erfolgen- 
den Reduction  der  Extremitäten-Paare  fielen  offenbar  auch  diese  Eier- 
träger aus  —  falls  wir  nicht  in  den  Putzfüssen  einen  solchen  zu  neuer 
Function  und  darum  zu  neuer  Gestaltung  ausgebildeten  Anhang  zu 
erkennen  haben  —  und  die  Eier  ujusslen  anders  untergebracht  werden. 
So  geriethen  sie  in  den  Hohlraum  zwischen  Schale  und  Rücken  und 
wurden  dort  durch  einen  Auswuchs  festgehalten.  Versuchen  wir  uns 
diese  Verlegung  der  Eier  zu  erklären,  so  leuchtet  ein,  dass  bei  dem 
allmählichen  Verkürzungsprocess  des  Körpers  sicherlich  kein  Raum 
übrig  blieb  für  die  zeitweilige  Unterbringung  der  Eier  ausser  an  einer 
Stelle,  welche  dem  leitenden  Princip  bei  der  Schalenbildung  nicht  ent^ 
gegen  war.  Dies  Princip  war  aber  möglichst  rasche  und  vollständige 
Verschliessung  des  ganzen  Körpers  —  so  wurden  die  Eier  schliesslich 
da  angebracht,  wo  sie  am  wenigsten  gegen  dies  Princip  verstiessen  — 
am  Rücken  unter  der  Schale,  wo  sie  zugleich  am  sichersten  waren.  Die 
llnterbi-ingung  der  Eier  war  natürlich  eine  der  wichtigsten  Angelegen- 
heiten —  da  sie  aber  für  den  morphologischen  Umwandlungsprocess 
nicht  von  so  entscheidender  Bedeutung  ist,  wie  viele  andere  Functionen, 
so  werde  ich  sie  am  Schlüsse  oder  in  einer  andern  Arbeit  im  Zusammen- 
hange darstellen ,  und  dann  auch  nochmal  auf  die  Lage  derselben  bei 
Cypridina  zurückkommen. 

Von  Interesse  ist  schliesslich  noch  das  Paar  der  zusammengesetzten 
Augen.  Wir  sehen  es  deutlich  gestielt  bei  Zoöa,  in  der  Anlage  sogar 
schon  bei  Archizoea.  Die  Phyllopoden  Hessen  gleichfalls  noch  deut- 
liche Augenstiele   erkennen,    und  so  lange  das  freie, Schwimmen  das 


Geschichte  des  Krebsstaminps.  1 49 

Uauptaugenniciik  dor  iNalürlichen  Züchtung  w.w,  so  hinge  iiui.sslcn  iiiich 
frei  bewegliclu» ,  lange  Augeiislicle  förderlich  sein.  Sobald  aber  die 
Schalenbildung  auftrat,  das  Schwimmen  aufgegeben  wurde  und  statt 
^  dessen  das  Leben  am  Meeresboden  und  am  Ufer  begann,  war  auch  dei" 
Vortheil  der  gestielten  Augen  vorbei.  Vor  allen  Dingen  landen  sie  keinen 
Platz  in  der  Schale.  Es  musste  also  das  Bestreben  nach  Verkürzung, 
wie  an  dem  ganzen  Körper,  so  auch  hier  sich  bewahrheiten  .  und  so 
sehen  wir  denn  schon  bei  den  Schalträgern  unter  den  Phyllopoden,  wie 
die  Stiele  völlig  schwinden,  die  Augen  immer  näher  an  einanderücken, 
so  dass  z.  B.  bei  Limnadia  die  Hornhäute  derselben  sich  auf  der 
Innenseite  an  einander  abplatten.  Freilich  wäre  bei  solcher  Lage  die 
Inbeweglichkeil  des  Auges  ein  grosser  Nachtheil,  —  so  sehen  wir  nun 
auch  die  Musculatur  der  Augensliele  sich  direcl  an  die  Hornhaut  be- 
geben und  das  Auge  in  seiner  Kapsel  zitternd  hin  und  her  bewegen. 
Die  näheren  physiologischen  Umstände  des  Sehactes  bei  den  Augen 
dieser  Art  sind  uns  freilich  noch  unbekannt. 

Bei  Cypridina  ist  der  Verkürzungsprocess  nun  noch  nicht  so 
weit  gegangen,  wie  bei  den  heuligen  schaltragenden  Phyllopoden.  Wir 
finden  die  zusammengesetzten 'Augen  noch  auf  kleinen  Stielen  sitzen, 
aber  unbeweglich  und  im  Innern  der  Schale,  so  dass  sie  weder  in  Ge- 
fahr sind,  noch  Gefahr  für  das  Thier  verursachen,  indem  sie  etwa  den 
vollständigen  Verschluss  verhinderten.  Dies  Factum  scheint  zu  be- 
weisen, dass  Cypridina  sich  von  Phyllopoden  abzweigte,  deren 
Augen  ebenfalls  noch  unverschmolzen  waren.  Andererseits  haben  die 
Cladoceren  völlig  verschmolzene  Augen,  —  noch  in  höherem  Grade 
als  Limnadia,  ^  theilen  indessen  mit  Cypridina  die  Art  der  Ei- 
Lagerung  zwischen  Rücken  und  Schale,  und  die  Bildung  dorsaler  An- 
hänge in  der  Mittellinie  um  die  Eier  vor  dem  Hinausfallen  zu  bewahren. 
Wir  können  daraus  schliessen ,  dass  die  Phyllopoden-Familie,  die  nach 
den  drei  Richtungen  sich  weiter  entwickelte  —  Limnadia,  Daphnia, 
(]ypr,idina  —  noch  nicht  im  Besitz  der  beiden  Eigenlhümlichkeiten 
war,  da  sie  sich  sonst  bei  allen  drei  Abtheilungen  gemeinsam  zeigen 
miisslen. 

Gehen  wir  nun  über  zu  den  beiden  anderen  Ostracoden-Familien, 
zu  den  Cypriden  und  Cytheriden.  Hier  liegen  die  Verhältnisse 
nun  keineswegs  so  einfach,  wie  man  wohl  glauben  könnte,  wenn  beide 
Familien  zusamn)en  mit  Cypridina  als  eine  Ordnung  betrachtet  wer- 
den, und  man  nur  darüber  unschlüssig  ist,  ob  Cypridina  odcM- 
Cypris  ursprünglicher  sei.  Trotz  scheinbarer  Aehnlichkeit  ist  die 
Organisation  der  beiden  F'amilien  doch  so  abweichend  von  der  Cypri- 
dina's,  dass  ich  —  legte  ich  überhaupt  Gewicht  auf  die  Abtrennung 


150  .  Dr.  Aiit.  Dohrii, 

von  Ordnungen  und  Einführung  besonderer  Namen,  —  sicherlich  für 
Cypridina  einen  anderen  Ordnungsnamen  vorschlagen  würde,  als 
für  Cypris  und  Cythere. 

Claus  hat  ungefähr  eine  ähnliche  Meinung,  denn  er  sagt ') :  »Wenn 
man  die  Ostracoden  in  die  drei  Familien  der  Cypriden,  Cythe- 
riden  und  Gypridinen  unterscheidet,  so  hat  man  vor  Allem  nicht 
aus  dem  Auge  zu  verlieren,  dass  die  Gypridinen  von  beiden  ersteren 
Gruppen  weit  mehr  als  diese  unter  einander  abweichen.«  Er  giebt 
dann  die  Gründe  an ,  die  ihn  zu  dieser  Meinung  bewegen,  —  Gründe, 
denen  ich  unbedingt  beipflichte. 

Da  ist  vor  Allem  Gewicht  auf  die  Schalenmusculatur  zu  legen. 
Während  nämlich  die  Schalenmuskel  Cypridina 's  zwei  sich  kreuzende 
Bündel  oben  an  der  Schale  bilden,  zwischen  denen  das  Herz  sich  findet, 
die  also  über  dem  Darmcanal  liegen,  sind  die  Schliessmuskeln  bei 
Cypris  und  Cythere  Gebilde,  die  unter  dem  Darmcanal  sich  vor- 
finden und  den  Innenraum  des  Körpers  zwischen  Darmcanal  und  Ner- 
vensystem quer  durchsetzend ,  sich  an  die  äussere  Schalenlamelle  an- 
setzen. Dieser  Unterschied  gilt  mir  für  sehr  bedeutend,  und  für  um  so 
wichtiger,  als  wir  die  Bildung  der  Musculatur  von  Cypri  s  und  C  y  ihere 
wiederfinden  innerhalb  der  schaltragenden  Phyllopoden ,  wie  z.  B.  bei 
Limnadia,  während  die  Befestigung  der  Gypridinen -Schale  ein 
Analogen  bei  Apus  finden,  dessen  Schild  in  ähnlicher  Weise  mit  dem 
Körper  verbunden  ist.  Mit  diesem  Vergleich  soll  keineswegs  angedeutet 
werden,  dass  etwa  Cypridina  zu  Apus  in  näheren  Beziehungen 
stände,  aber  es  kann  daraus  geschlossen  werden,  dass  vielleicht  Cypri- 
dina und  Cypris  resp.  Cythere  nicht  von  denselben  Phyllopoden 
abstammen.  Doch  verfolgen  wir  erst  die  Organisation  der  beiden  letz- 
teren näher. 

Claus  sagt :  »Abgesehen  von  der  Eigenthümlichkeit  in  der  Anord- 
nung der  SchUessmuskeln  unterscheiden  sich  die  Gypridinen  von 
den  anderen  Os  tracodenfamilien  durch  den  Besitz  eines  Herzens, 
ferner  eines  paarigen ,  zusammengesetzten  Auges  und  endlich  durch 
den  gesammten  Körperbau  und  die  Bildung  der  Gliedmaassen.« 

Da  bleibt  freilich  des  Uebereinstimmenden  Wenig  übrig. 

Auf  den  Mangel  des  Herzens  will  ich  den  geringsten  Werth  legen, 
weil  bei  so  kleinen  Geschöpfen  dies  Organ  leicht  entbehrlich  wird,  — 
wie  schon  oben  das  Cilat  aus  pRrrz  Müller's  Aufsatz  näher  ausfuhrt  und 
ich  bei  der  Besprechung  der  Nauplius- Organisation  hervorhob.  Schon 
wichtiger  ist  der  Mangel  der  zusammengesetzten  Augen.    Allein  auch 

<)  1.  c.  pag.  U4. 


Geschichte  des  Krebsstamraes.  1  51 

dieser  beweist  iiiclils  l'iir  oder  gegen  den  direeten  genea logischen  Zu- 
sammenhang dei-  beiden  Os  t  la  coden  -  Abllieihingen. 

In  derGestaltung  derGliedmaassen  dagegen  liegen  schon  wichtigere 
Anzeichen  vor,  dass  C  ypridina  wohl  weiter  von  den  anderen  Ostra- 
coden  zu  trennen  ist,  als  man  gewöhnlich  annimmt.  Erstlich  finde! 
man  an  dem  zweiten  Paare  keinen  Nebenast  mehr,  — der  könnte  indess 
gleichfalls  in  dem  allgemeinen  Gange  der  Riickentwickelung  dieser 
ganzen  Familie  zu  Grunde  gegangen  sein.  Aber  die  Gestaltung  des 
dritten  Paares,  der  Mandibeln  und  ihrer  Anhänge,  scheint  definitiv 
gegen  den  direeten  Zusammenhang  zu  sprechen.  Dasselbe  ist  nämlich 
noch  mit  einem  deutlichen  Schwimmbein  versehen ,  dessen  einer  Ast 
(Mne  mit  Borsten  versehene  mehrgliederige  Walze  darstellt,  während 
der  andere  als  Platte  einigermaassen  den  schwingenden  Platten  der 
Phyllopoden-Extremitäten  gleicht,  aber  keinenfalls  mit  ihnen  für  homolog 
zu  erachten  ist.  Er  erinnert  vielmehr  an  die  Gestalt  der  Cope  poden- 
Mandibeln.  Dann  weicht  auch  die  Gestalt  der  ersten  Maxille  beträcht- 
lich al),  an  der  man  eine  grosse  schwingende  Platte  findet.  Die  drei 
folgenden  Gliedmaassen  sind  ganz  verschieden  von  Cypridina's 
Organisation.  Erstlich  besitzt  dieselbe  nur  ebenso  viel ,  wenn  wir  die 
Putzfusse  hinzurechnen,  zweitens  sind  sie  phyllopodenartig  d.  h.  blatt- 
förmig und  mit  schwingender  Platte  versehen  ,  während  C  ypri  s  und 
Cythere  erstere  zwei,  letztere  drei  walzenförmige  Kriechbeine 
besitzen. 

Dann  fehlen  beiden  Cypris  und  Cythere  jede  Spur  von  Kiemen,  — 
als  Putzfuss  kann  dagegen  der  letzte  Kriechfuss  gelten,  des.sen  letztes 
Glied  innen  gekämmt  und  mit  Härchen  versehen  ist. 

Wesentlich  vertchieden  ist  ferner  die  Gestall  der  Pleon-Anhänge, 
die  bei  Cypris  völlig  einem  Schreit- Beinpaar  gleichen,  während  sie 
bei  C  yp  r  i  d  i  n  a  noch  entschieden  als  Steuerruder  verwerthet  und  dem- 
gemäss  auch  gestaltet  sind. 

Grundverschieden  ist  nun  aber  die  innere  Organisation.  Sie  wirft 
ein  grelles  Licht  auf  die  Art  und  Weise ,  wie  wir  gewöhnlich  hohe  und 
niedere  Organisation  beurtheilen.  Während  nämlich  nicht  zu  leugnen 
ist,  dass  die  äussere  Gestaltung  der  Cypriden  eine  niedere  ist,  —  wenn 
ich  mich  des  Wortes  im  gang  und  gäben  Sprachgebrauch  bediene,  — 
so  ist  die  innere  Organisation  äusserst  niannichfaltig  und  complicirt,  also 
von  hoher  Entw  ickelungsstufe.  Man  erkennt  klar,  wie  wenig  gründlich 
das  gewöhnliche  Urtheilen  über  hohe  und  niedrige  Organisation  ist, 
wenn  es  darauf  zielt,  etwas  Festes  und  Absolutes  damit  auszudrücken. 
Es  wäre  gänzlich  überflüssig,  überhaupt  diese  Grad -Unterschiede  und 
Werthbeziehunaen    der  verschiedenen   Organisationen    untei-  einander 


152  Dr.  Aiit.  Dohrn. 

vorzunehmen ,  wenn  man  sich  nicht  über  ein  Grundprincip  einigen 
kann ,  nach  dem  die  Werthe  bemessen  werden.  Ein  philosophisch  zu 
begründendes  und  halbwegs  festes  wäre  das,  welches  ich  an  einer 
andern  Stelle  schon  anführte^  ,  dessen  Kriterien  aus  der  geringeren 
oder  ausgedehnteren  Perception  der  Aussenwelt  hergenommen  wurde, 
welche  dem  Organismus  durch  seine  Sinnesorgane  zuganglich  würde. 
Dies  Kriterium  mag  man  benutzen,  wenn  es  sich  um  Untersuchungen 
handelt,  bei  denen  noch  etwas  Anderes  gesucht  wird  als  die  reine,  von 
allen  Nebenbeziehungen  abgelöste  Morphologie.  Diese  aber  sollte  sich 
des  Comparirens  füglich  enthalten. 

Cypris  undC  ythere  lassen  uns  ein  sehr  complicirtes  Verdauungs- 
rohr erkennen.  Es  sind  in  demselben  eine  Reihe  der  mannichfaltigsten 
Apparate  zu  mechanischer  Zerkleinerung  der  Nahrung  vorhanden,  ebenso 
auch  vielfache  Abstufungen  der  zu  chemischen  Einwirkungen  tauglichen 
Organe;  ganz  besonders  abweichend  von  der  Organisation  Cypri- 
dina's  sind  die  grossen  Lebenschläuche,  die  bei  Cypris  in  den 
Schalenhälften  liegen,  ebenso  die  rechenartigen  Kauapparate  und  Leisten- 
bildungen des  Magens. 

Was  dann  ferner  die  Organisation  des  Geschlechtsapparates  an- 
langt, so  brauche  ich  nur  auf  Zenker's-}  vortreffliche  Darstellung  zu 
verweisen,  die  Derselbe  mit  den  Worten  einleitet:  «Wohl  bei  wenig 
anderen  Thieren  ist  der  Genitalapparat  in  gleicher  Kraft  ausgebildet, 
wie  bei  den  Ostracoden.  Er  füllt  bei  den  Cypriden  etwa  die  Hälfte  des 
ganzen  Leibes  aus  und  erstreckt  sich  in  alle  Theile  desselben.  Fast  das 
ganze  Abdomen  ist  zu  geschlechtlichen  Functionen  ausgebildet.  Auch 
die  Schönheit  und  bedeutende  Grösse  der  Zoospermien  ist  ein  Zeichen 
dafür.  Bei  den  Cytheren  finden  diese  Verhältnisse  zwar  nicht  in  dem- 
selben Grade  statt,  sind  aber  doch  besonders  im  weiblichen  Geschlechte 
sehr  hervortretend.«  Das  sieht  auch  nicht  nach  niederer  Organisation 
aus.  Ob  freilich  alle  Deutungen  Zenker's  ganz  richtig  sind,  das  steht 
dahin ;  keinenfalls  aber  wird  dadurch ,  dass  er  sich  etwa  über  die  Be- 
deutung dieses  oder  jenes  Apparates  täuscht,  der  Apparat  einfacjier. 

Versuchen  wir  nun,  ob  wir  die  Gestaltung  und  Bauart  der  C  ypri- 
den  und  Cylheriden  aus  demselben  Principe  entwickeln  können, 
das  uns  bei  der  Ableitung  des  Baues  der  Cypridina  aus  den  schal- 
tragenden Phyllopoden  leitete  :  aus  dem  Princip  der  Verkürzung  des 
Körpers  zum  Behufe  sicherer  Umschliessung  durch  die  beiden  Schalen. 


1)  Zur  Kenntniss  der  Insecten  in  den  Primärformationen.    Palaeontographica 
XVI,  pag.  133. 

ä)  1.  c.  pag.  42. 


fiescliichte  des  Krebsstammes.  1 53 

Vor  allen  Dingen  haben  wir  es  wieder  mit  Organismen  zu  thun, 
die  nicht  auf  Schwimmen  angelegt  sind,  bei  denen  diese  Ortsbewegung 
nur  als  secundares  Interesse  für  das  Wirken  der  Natürlichen  Züchtung 
angesehen  werden  kann.  Bei  den  Cytheriden  begegnen  wir  in  der 
Thal  einem  fast  völligen  Schwinden  des  freien  Schwimmens,  —  sie' 
sitzen  meist  an  Tangen  und  Algen  oder  im  Grunde  des  Meeres.  Bei  den 
C  ypriden  dagegen  begegnen  wir  noch  einigen  Arten,  die  sich  munter 
im  Wasser  uu)her  tummeln,  —  aber  ihr  Schwimmen  unterscheidet  sich 
wesentlich  von  der  gleichmässigen ,  pfeilschnellen  und  geraden  Fortbe- 
wegung z,  B.  der  Copepoden  ,  oder  der  Mysideen.  Darauf  ist  ihr 
Köi"perbau  gar  nicht  eingerichtet,  er  ist  ja  fast  kuglig,  und  die 
Schwinmigliedmaassen  sitzen  zu  weit  vorn  ,  als  dass  ein  anderes,  als 
ein  umher  tummelndes  Fortbewegen  stall  haben  könnte.  Es  würde  ja 
gewiss  recht  wünschenvswerth  gewesen  sein,  wenn  die  Gypriden  und 
Cytheriden  auch  flinke  Schwimmer  geworden  wären  und  demge- 
mäss  recht  tüchtige  Schwimmorgane  entwickelt  hätten,  —  allein  dann 
hallen  sie  auch  einen  geslrecklen,  cylindrischen  Körper  bekommen, 
hätten  die  Schale  aufgeben  ,  —  kurz  hallen  eben  aufhören  müssen, 
Oslracoden  zu  sein,  um  etwa  Copepoden  zu  werden.  So  mussten 
sie ,  um  des  Besitzes  ihrer  Lebensprovinz  ja  recht  sicher  und  immer 
sicherer  zu  werden,  ihres  Gleichen  vor  allen  Dingen  in  ihren  specilischen 
Charakteren  übertretfen ;  es  mussten  also  die  vermittelnden  Formen 
allmählich  unterliegen  und  die  immer  einseitiger  entwickelten  übrig 
bleiben,  —  so  musste  die  Kluft  zwischen  den  Stammvätern,  den  schal- 
tragenden Phyllopoden  und  den  Oslracoden  schliesslich  so  gross  w-er- 
den,  dass  der  Monograph  der  letzteren,  Zknkkr  ,  gar  nichts  von  einer 
Verwandtschaft  beider  Ordnungen  hören  \^ill'.  Mit  dem  Verlust  der 
Schwinmifähigkeit  ging  nun  die  Zunahme  des  Kriechens  als  ortsbe- 
wegender Function  Hand  in  Hand.  Hierdurch  erklären  sich  die  Ver- 
schiedenheiten in  der  Bildung  der  Gliedmaassen  zwischen  Cypridina 
und  den  beiden  anderen  Ordnungen ,  vor  Allem  aber  die  Verschieden- 
heit der  Bildung  des  Pleon,  das  bei  den  letzleren  kaum  noch  als  Steuer 
fungiren  könnte,  dagegen  sehr  gut  als  Klammer-  und  Kriechfuss  zu 
verwerlhen  ist.  Damit  hängt  ferner  die  Färbung  der  Schalen  zusammen, 
denn  während  es  für  die  schwimmenden  Formen  wichtig  ist,  ihrem 
Körper  möglichste  Farblosigkeit  und  Durchsichtigkeit  zu  bewahren ,  ist 
es  umgekehrt  für  die  kriechenden  von  Vorlheil,  wenn  sie  dem  Grunde 
oder  den  Pflanzen ,  auf  denen  sie  leben ,  möglichst  ähnlich  werden, 
damit  sie  von  ihren  Feinden  ebenso  wenis .   wie  von   ihrei-  Beute  be- 


ll 1.  c.  pag.  lU. 
Bd.  vi.  1.  11 


154  Dr.  Ant.  Dolirii, 

merkt  werden.  Auch  ist  vielleicht  daher  der  Verlust  der  zusammen- 
gesetzten Augen  abzuleiten,  welche  bei  undurchsichtiger  Schale  werth- 
los  wurden.  Schliesslich  ist  auch  auf  Rechnung  dieser  Bestrebungen 
die  geringe  Grösse  sämmtlicher  Ostracoden  zu  bringen,  —  denn  ebenso 
wie  die  Franzosen  im  Kriege  ihre  grossen  Gestalten  eingebüsst  haben, 
sind  auch  die  grossen  Ostracoden  ihren  Feinden  eher  zum  Opfer  ge- 
fallen als  die  kleinen,  die  schliesslich  allein  zur  Nachkommenschaft  ge- 
langten, und  die  Kleinheit  in  ihren  Kindern  und  Kindeskindern  dauernd 
machten. 

Welche  Folgerungen  ergeben  sich  nun  hieraus  für  die  Frage  nach 
den  genealogischen  Beziehungen  der  drei  Familien  unter  sich,  und  ihren 
Beziehungen  zu  den  Phyllopoden? 

Ich  denke,  die  folgenden.  Vor  allen  Dingen  (weise  ich  nochmals 
die  Meinung  zurück,  als  könnten  sich  die  Ostracoden  selbstständig, 
ohne  Vermittelung  der  Zoea  und  der  PhyUopoden  aus  dem  Nau- 
plius  entwickelt  haben.  Ich  weiss  wohl,  dass  die  Untersuchungen 
Claus'  über  die  Entwickelung  der  Cyprideni)  allerhand  Resultate 
gefördert  haben ,  welche  dieser  Meinung  Vorschub  leisten  könnten,  — 
allein  das  ist  nur  Schein,  wie  ich  gleich  erweisen  will. 

Die  dritte  These  am  Schluss  des  eben  citirten  Aufsatzes  lautet: 
»Die  jüngste  Larvenform  ist  eine  schalentragende  Naupliuslarve  mit  den 
drei  vorderen  Gliedmaassenpaaren ,  von  denen  das  dritte  noch  nicht 
Mandibel,  sondern  Bein  ist.«  Hieraus  könnte  geschlossen  werden,  dass 
der  Nauplius  selbstständig  zur  Schalenbildung  geschritten  sei.  Ich  er- 
laube mir  nur  das  einzige  Wörtchen:  Wie?  als  Entgegnung.  Durch 
welche  Einwirkungen  soll  aus  der  blasenförmigen  Haut  des  Nauplius 
eine  schalenarlige  Duplicatur  hergerichtet  werden  ,  die  nicht  blos  etwa 
nach  den  Seiten  überhängt,  sondern  durch  einen  besonderen  Muskel- 
apparat, noch  dazu  unter  dem  Darm,  verbunden  und  dadurch  beweg- 
lich wird?  Denn,  dass  man  einsieht,  diese  Schale  sei  ein  Schutzapparat 
auch  für  den  Nauplius,  das  überhebt  noch  lange  nicht  der  Mühe,  nun 
auch  nachzuweisen,  wie  es  habe  zu  einer  solchen  Bildung  kommen 
können.  Nehmen  wir  an,  wir  hätten  einen  gewöhnlichen  Nauplius 
ohne  alle  Stachelbildung  vor  uns.  Wir  lassen  seine  Körperwand  nach 
den  Seiten  sich  ausbreiten,  —  vielleicht  hilft  ihm  das  beim  Schwimmen. 
Diese  Ausbreitungen  biegen  sich  allmählich  nach  unten,  und  umschliessen 
vorn  wie  hinten  den  eigentlichen  Körper.  Nun  haben  wir  die  Schale. 
Die  muss  aber  nothwendig  den  Nauplius  beim  Schwimmen  hindern. 


1)  Beiträge   zur  Kenntniss   der  Ostracoden.     I.  Entwickelungsgeschichte   von 
Cypris.    Würzburger  naturwissenschaftliche  Zeitschrift.   t867.  pag.  ISIfl". 


Geschichte  des  Krebsstamroes.  1 55 

So  kann  sie  also  nicht  bestehen  bleiben,  wenn  sich  nicht  die  Schwimm- 
beine ändern.  Die  ändern  sich  indessen  und  werden  einästitj;,  ja  sie 
eeben  zum  Theil  ganz  die  Schwimmfunction  auf.  Aber  woher  der 
Schliessmuskel?  Die  Beweglichkeit  der  Schale  war  nützlich,  folglich 
mussle  ein  Apparat  sich  leicht  ausbilden  können,  der  sie  bewegte. 
Woher  aber  dann  die  grosse  Mandibel  statt  des  einfachen  Zahnfortsatzes 
der  dritten  Nauplius- Extremität?  Das  war  wieder  nützlich.  Und  so 
waren  auch  die  schwingenden  Platten  nützlich  und  alles  nützlich,  weil 
es  eben  da  war,  und  es  war  da ,  weil  es  nützlich  war.  So  können  wir 
freilich  schliesslich  Alles  erweisen,  und  brauchen  uns  nicht  einmal  son- 
derlich dabei  den  Kopf  zu  zerbrechen. 

Nein ,  die  Naupliusgestalt  mit  zweiklappiger  Schale  ist  ein  hervor- 
ragender Fall  von  unmittelbarer  Zusammenziehung  zweier  weit  von 
einander  entlegener  phyletischer  Entwickelungsslufen  in  eine  onto- 
genetische ,  und  das  rasche  Auftreten  der  weiteren  fertigen  und  dabei 
doch  mehr  oder  weniger  rudimentären  Gebilde ,  wie  die  schwingenden 
Platten  ,  das  Pleon  etc.  sind  weitere  Beweise  dieser  Verkürzung.  Auf- 
fallend ist,  dass  bei  diesen  Formen  keine  Spur  von  der  Zoea  mehr  ge- 
funden wird.  Ich  habe  mit  der  grössten  Sorgfalt  an  Ostracoden- 
Nauplius,  —  wenn  anders  wir  überhaupt  bei  diesem  stark  veränderten 
Geschöpf  von  Nauplius.  reden  dürfen  —  nach  einem  Stachelrudiment 
gesucht,  aber  vergebens.  Es  ist  eben  Alles  unterdrückt,  Archizoöa, 
Zoea  die  Metamerenbildung  der  Phyllopoden,  —  und  nur  die 
Schale  und  die  schwingende  Platte  redet  noch  deutliches  Zeugniss 
von  der  ursprünglichen  Herkunft  dieser  kleinsten  Crustaceen. 

Wenn  übrigens  im  Gegensatz  zu  Cypridina  auf  die  ungleich 
intimere  Verwandtschaft  der  Cypriden  und  Cylheriden  hinge- 
wiesen wird ,  so  ist  dagegen  zu  bemerken ,  dass  die  letztere  durchaus 
nicht  so  intim  ist ,  als  sie  scheint.  Nicht  nur  finden  sich  beträchtliche 
Unterschiede  in  der  äusseren  Körpergestaltung,  wie  z.  B.  in  der  Form 
der  vierten  Extremität,  sondern  auch  in  der  inneren  Organisation 
machen  sich  wesentliche  Abweichungen  bemerklich.  So  besonders  bei 
den  Geschlechtsorganen.  Auch  ist  bekannt,  dass  die  Cypriden  das 
süsse  Wasser  bewohnen,  die  C  y  th  e  r  i  de  n  dagegen  das  Meer  —  woraus 
allein  schon  eine  wichtige  Verschiedenheit  ihrer  Organisation  zu  er- 
schliessen  ist. 

Andererseits  ist  freilich  nöthig,  darauf  hinzuweisen,  dass  unser 
Wissen  von  den  Ostracoden  noch  überaus  dürftig  ist,  dass  wirkeine 
Abtheilung  der  Krebse  schlechter  kennen  als  sie,  dass  also  zu  erwarten 
steht,  wir  werden  noch  mannichfaltige  Aufschlüsse  über  die  genea- 
losischen  Fragen  erhallen,  die  sich  heute  noch  nicht  geben .  auch  nicht 


1 56  Dl"'  Ant.  Dolirn,  Geschichte  des  Krebsstammes. 

einmal  mit  einiger  Sicherheit  vermuthen  lassen,  Dass  die  Ostracoden 
mit  zu  den  ältesten  Familien  der  Krebse  gehören ,  lehrt  unter  anderem 
auch  die  Palaeontologie ,  in  deren  Katalogen  die  Ostracoden -Schalen 
eine  wichtige  Rolle  spielen.  Trotz  ihres  Alters  aber  sind  sie  noch  heute 
ein  ausserordentlich  lebenskräftiger  Stamm  und  besonders  regt  sich 
innerhalb  der  Cypriden  und  Cytheriden  ein  reiches  Leben,  —  was  sich 
auch  in  der  raschen  Zunahme  unserer  Artenkenntniss  dieser  Abtheilun- 
gen bethätigt,  während  im  Gegensatz  dazu  die  Phyllopoden  das  Bild 
eines  zu  Grunde  gehenden  Astes  des  gemeinsamen  Naupliusstammes 
darstellen ,  was  einmal  durch  die  unvermittelt  neben  einander  exi- 
stirenden,  von  einander  stark  abweichenden  Formen  bewiesen  wird, 
das  andere  Mal  durch  die  vielen  Anomalieen  der  Lebensweise,  und 
des  Aufenthaltsortes. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Beiträge  zur  Keiiiitiiiss  des  Keckeiis  der  Vötj^el. 

Eini'  vorgleichend  nnaloniische  Untersuchung. 
Von 

Carl  Gegenbaur. 


Hierzu  Tafel  V,  VI  und  Vil  und  5  HolzschniUc. 

Unter  den  Eigenthünilichkeilen  des  Skeletes  der  Vögel  nimmt  das 
Becken  eine  hervorragende  Stelle  ein  ,  indem  es  durch  die  Anzahl, 
Ausdehnung  und  Gestalt  der  in  ihm  verbundenen  Skelettheile  ebenso- 
sehr von  dem  gleichnamigen  Abschnitte  der  lebenden  Reptilien  wie  von 
jenem  der  Säugethiere  unterschieden  ist.  Die  für  die  Vögel  typisclien 
Eigenschaften  des  Beckens  drücken  sich  ebenso  in  dem  sogenannten 
Sacralabschnilt  der  Wirbelsäule  wie  an  den  diesem  angefügten  Hufl- 
beinstücken  aus. 

Wenn  nun  auch  die  vergleichende  Anatomie  bezüglich  der  Be- 
urtheilung  dieser  Bildungen  schon  manche  Aufgabe  glücklich  gelöst  hat, 
wie  denn  die  Beziehungen  zum  Becken  der  Ueptilien  in  neuerer  Zeit 
von  England  aus  hervorgehoben  wurden,  so  dürfte  doch  noch  eine 
ganze  Reihe  von  Fragen  unbeantwortet  sein.  Von  diesen  scheint  mir  die 
Erklärung  der  einzelnen  Theile  des  sacralen  Abschnittes  die  wichtigste, 
nicht  blos  weil  sich  daraus  die  Beziehungen  zu  den  Beckenbildungen 
der  unteren  Classen  ergeben  müssen ,  sondern  weil  damit  auch  das 
Verhältniss  zu  den  eigentlichen  Beckenknochen ,  den  Hüftbeinen ,  sich 
am  sichersten  herausstellen  kann.  Insofern  die  Vergleichung  den 
Nachweis  der  phylogenetischen  Beziehungen  zum  Endergebnisse  hat, 
wird  das  Letztere  in  dem  gegebenen  Falle  um  so  wichtiger  sein ,  je 
grösser  der  Abstand  ist,  der  das  Becken  der  Vögel  von  jenem  anderer 
Wirbelthiere  trennt. 

Was  nun  das  sogenannte  Os  Sacrum ,  diesen  Complev  einer 
grösseren  Anzahl  von  \Viil>elu,  betrüTt,  so  ist  schon  vor  langer  Zeit  ein 
ß<i.  VI   -i.  lä 


1 58  Carl  Gegenbanr, 

verschiedener  Werth  der  einzelnen  Abschnitte  behauptet  worden. 
VoLCHER  CoiTER  ^)  und  Vicyd'Azyr^)  unterschieden  einen  vorderen  Ab- 
schnitt des  mit  den  Hüftbeinen  sich  verbindenden  Wirbelcomplexes 
als  Lumbartheil ,  von  einem  hinteren  eigentlichen  Sacraltheile.  Auch 
Tiedemann3)  lässt  die  Lendenv^irbel  »mit  dem  Kreuzbein  zusammen- 
getreten und  verwachsen«  sein.  Ebenso  hat  Guvier^),  der  anfänglich 
mehr  das  Fehlen  eigentlicher  Lendenwinkel  betonte,  später  die  Verbin- 
dung dieser  mit  dem  Sacrum  vollständig  anerkannt.  Dies  ist  in  der 
Bemerkung:  »Wirklich  verwachsen  die  letzten  Rückenwirbel,  die- 
jenigen, welche  Lendenwirbel  gewesen  wären ,  und  die,  welche  man 
eigentlich  Kreuzwirbel  hätte  nennen  können ,  alle  unter  einander  und 
mit  den  Darmbeinen«,  klar  ersichtlich.  Diese  vorher  schon  von  Meckel  ^) 
ausgesprochene  und  näher  begründete  Auffassung  des  Sacrum  der 
Vögel  unterscheidet  also  einen  eigentlichen  Sacraltheil  von  einem  un- 
eigentlichen, nämlich  dem  Lenden-  und  dem  Brusttheile,  und  zwar  letz- 
leren insofern  Rippen  an  einem  Theile  der  mit  dem  Sacrum  verbundenen 
Wirbel  befestigt  sind.  Damit  wurde  also  dem  Sacrum  der  Vögel  eine 
gegen  jenes  der  lebenden  Reptilien  sowohl  als  der  Säugethiere  be- 
stehende Verschiedenheit  zugesprochen,  denn  weder  in  das  eine  noch 
in  das  andere  gehen  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  Wirbel  ein .  die 
dem  lumbaren  Abschnitte  der  Wirbelsäule  angehören.  Nach  Meckel 
hat  sich  BarkowC)  nicht  blos  für  das  Bestehen  eines  Lumbarwirbel- 
abschnittes  im  Sacrum  der  Vögel,  sondern  auch  mit  Hinweisung  auf 
die  Beziehungen  zu  dem  Geflecht  der  Lumbar-  und  Sacralnerven  für 
eine  schärfere  Sonderung  der  einzelnen  Sacralabschnitte  ausgesprochen. 
Ausser  den  durch  das  Tragen  von  Rippen  charakterisirten,  ins  Sacrum 
mit  eingegangenen  Brustwirbeln,  unterscheidet  Barkow  einen  vorderen 
Abschnitt  als  Lumbartheil  und  einen  hinteren  als  Sacraltheil,  diesen 
wieder  in  zwei  Stücke,  den  vorderen  Sacraltheil  und  den  hinleren 
Sacraltheil  sondernd.  Von  diesen  ist  der  erste  durch  Fehlen  der  Pro- 
cessus Iransversi  abdominales  ausgezeichnet,  die  vom  zweiten  oder 
hinteren  Sacraltheil  als  meist  sehr  mächtig  entwickelt  hervorgehoben 
werden.  Barkow  deutet  damit  einen  Abschnitt  als  noch  zum  Sacral- 
theil gehörig ,  der  von  Meckel  als  hinterer  Abschnitt  des  Lendentheils 
angegeben  worden  war. 


1 )  De  Avium  sceletis.  Cap.  X. 

2)  Oeuvres  T.  V.  S.  270. 

3)  Zoologie.  Bd.  II.  S.  208. 

4)  Le^ons.  T.  I. 

5)  System  d.  vergl.  Anat.  Bd.  II.  Th.  2.  S.  3  u.  6. 

6)  Syndesmologie  der  Vögel.  Breslau  1856. 


Beiträge  zur  Kenntniss  des  Beckens  der  Vögel.  1 59 

In  diesen  Versuchen  im  Sacrum  durch  Aussonderung  ursprünglich 
dem  Bet  ken  IVemdei-  AhselmiUe  der  \Virl)elsaule  das  «eigenllichtw  dem 
der  anderen  Wirbelthiere  entsprechende  Sacrum  aufzufinden,  drückt 
sich  ein  richtiges  Verständniss  für  (Jie  bedeutendste  Eigenthümlichkeit 
des  Vogelbeckens  aus. 

Durch  Owen  ist  die  tiefe  Bedeutung  dieser  Verschiedenheit  wieder 
zurückgedrängt  worden.  In  dem  umfangreichen  Werke  über  Verglei- 
chende Anatomie  der  Wirbelthiere ')  finden  wir  als  Eigenthümlichkeit 
aller  warmblütigen  Wirbelthiere  die  Zusammensetzung  des  Sacrun)S 
aus  einer  grösseren  Anzahl  von  \Virl)eln  angeführt.  Der  Begriff  des 
Sacrums  w  ird  dabei  auf  einen  einzigen  Wirbel  beschränkt,  jenen,  des- 
sen unterer  Bogen  vollständig  bleibt  und  das  Becken  vorstellt.  Dies 
ist  der  typische  Sacralwirbel ,  während  die  übrigen  mit  ihm  sich  ver- 
bindenden nur  unvollständige  Anhänge  (Pleura pophysen)  tragen.  Indem 
bei  den  Vögeln  ein  grosser  Theil  der  Wirbelsäule  zum  Sacrum  umge- 
wandelt wird,  steigt  nach  Owen  das  bei  den  Säugethieren  bestehende 
Verhältniss  bei  den  Vögeln  zu  seinem  Extrem.  Durch  die  Zusammen- 
stellung des  Vogelbeckens  mit  jenem  der  Säugethiere  giebt  Owen  die 
Verknüpfung  mit  niederen  Zuständen  auf,  und  wenn  auch  Ein  Sacral- 
wirbel als  typischer  Wirbel  aufgestellt  wird,  so  ist  doch  nirgends  in 
der  specielleren  Ausführung  der  Versuch  gemacht,  denselben  in  diesem 
»complicirtesten  aller  zusammengesetzten  Knochen«  aufzufinden. 

Für  eine  streng  methodische  Vergleichung  des  Vogelbeckens  mit 
jenem  anderer  Wirbelthiere  ist  der  Nachweis  der  ursprünglichen,  durch 
Vererbung  von  niederen  Abtheilungen  erhaltenen  Sacralwirbel,  und  die 
Scheidung  dieser  Theile  von  den  durch  Umwandlungen,  vorzüglich 
durch  Längswachsthum  der  Hüftknochen  in  den  Bereich  des  Beckens 
gezogenen  Abschnitte  der  Wirbelsäule,  erstes  Postulat.  Zu  dieser  Ver- 
gleichung des  Sacrums  der  Vögel  mit  jenem  der  Reptilien  hat  Huxley  2) 
Schritte  gethan,  wobei  er  vorzüglich  durch  das  Verhalten  der  Nerven- 
wurzeln sich  leiten  Hess.  Er  sagt  hierüber  Folgendes :  »Obgleich  alle 
Vögel  ein  ausnehmend  ausgedehntes  Sacrum  besitzen,  so  sind  doch  die 
Wirbel,  durch  deren  Intervertebrallöcher  die  Wurzeln  des  Sacralgeflech- 
tes  (und  folglich  auch  des  N.  ischiadicus)  treten,  nicht  mit  ausgedehnten 
Rippen  versehen,  welche  sich  mit  ihren  äusseren  Enden  gegen  das  llium 
und  mit  ihren  inneren  Enden  gegen  die  Körper  dieser  Wirbel  stützen.« 
»  Bei  den  lebenden  Reptilien,  welche  wohl  entwickelte  Hinlergliedmaassen 
besitzen,  sind  die  Zwischenwirbellöcher,   durch  welche  die  Wurzeln 


1)  On  the  anatomy  of  Vertebrates.  vol.  II.  S.  29. 

2)  Pioccediiigs  of  the  zoology  Soc.   London  1867.  S.  416. 


160  Carl  Gegeiibaur, 

des  Ischiadicus  treten ,  ganz  oder  theiiweise  von  Wirbeln  begrenzt, 
welche  starke  und  ausgedehnte  Rippen  tragen,  und  diese  Rippen  sind 
in  grösserer  oder  geringerer  Ausdehnung  einerseits  mit  den  Wirbel- 
körpern, andrerseits  mit  den  Darmbeinen  in  Verbindung.  Die  in  Rede 
stehenden  Wirbel  bilden,  gewöhnlich  zu  zweien,  das  Sacrum.  Bei  den 
Vögeln  senden  die  Bogen  der  Wirbel ,  welche  jenen  durch  ihre  Be- 
ziehung zu  Nerven  entsprechen  (und  deshalb  auch  als  »Sacralwirbel« 
zu  bestimmen  sind),  verhältnissmässig  schwache  Querfortsätze  ab,  die 
jenen  zu  entsprechen  scheinen,  welche  in  der  Dorsalregion  sich  mit  den 
Rippenhöckern  verbinden.  Diuch  diese  Querfortsätze  allein  sind  sie  mit 
den  Darmbeinen  in  Verbindung.« 

HuxLEY  deutet  also  den  der  vorderen  Querfortsatzschenkel  ent- 
behrenden Sacralabschnitt  als  Sacrun),  statuirt  also,  da  dieser  Abschnitt 
mehr  als  zwei  Wirbel  begreift ,  eine  Verschiedenheit  gegen  das  Sacrum 
der  lebenden  Reptilien.  Die  Voraussetzung  eines  phylogenetischen  Zu- 
sammenhangs zwingt  aber  wenigstens  zum  Versuche,  die  in  den  unte- 
ren Abtheilungen  bestehenden  und  dort  verbreiteten  Sacralwirbel  auf- 
zudecken und  dann  nachzuweisen,  w  eiche  Wirbel  zu  diesen  hinzutretend 
die  Zahl  der  Sacralwirbel  erhöhen. 

Die  Anzahl  dieser  zu  suchenden  Wirbel  wird  eine  geringe  sein,  iii 
Anbetracht  der  zwei  Sacralwirbel,  welche  im  Becken  der  lebenden 
Reptilien  bestehen  und  sich  zumeist  bei  den  Säugethieren  vorfinden, 
wenn  auch  bei  diesen  noch  eine  Anzahl  Caudalwirbel  mit  den  vorer- 
wähnten zu  einem  complicirten  Skeletsliicke,  das  den  Namen  Os  Sacrum 
trägt,  sich  verbindet.  Von  diesen  zwei  ächten  Sacralwirbeln  ist  nieist 
einer,  und  zwar  in  der  Regel  der  vorderste,  bedeutender  entwickelt, 
und  bei  Säugethieren  ist  nicht  selten  der  zweite  nur  theiiweise  an 
der  Darmbeinverbindung  betheiligt,  so  dass  daraus  auf  ein  weiter  zu- 
rückliegendes Bestehen  nur  Eines  Sacralwirbels,  wie  ihn  die 
Amphibien  besitzen ,  geschlossen  werden  darf.  Ohne  dieses  Verhalten 
ganz  bei  Seile  zu  setzen,  soll  doch  das  bei  Reptilien  bestehende,  wenn  es 
auch  relativ  nur  in  secundärer  Art,  weil  durch  Beitritt  eines  ursprüng- 
lich dem  Becken  nicht  zugehörigen  Wirbels  entstanden  sein  wird,  hier 
vorzüglich  berücksichtigt  werden.  Die  Voraussetzung  dieser  Zahl  für 
das  Sacrum  der  Vögel  wird  durch  die  Thatsache  des  Bestehens  eines 
Wirbel  reicheren  Sacrums  bei  einer  Abtheilung  fossiler  Reptilien  nicht 
zurückweisbar,  denn  jener  Abtheilung,  wie  Huxley  sie  als  Vorläufer 
des  Vogeltypus  umschliessend  begrenzte,  kommen  auch  in  anderen  Be- 
ziehungen Skeleteinrichtungen  zu,  welche  auf  die  Vögel  verweisen, 
und  damit  tieten  diese  Formen  um  ebensoviel  aus  dem  indifferenteren 
Zustande  heraus.     Was  das  Becken  betrifft,  so  dürfte  für  manche  von 


Hcilränc  zur  kciiiitiiiss  (Ics  Bi'i'kcns  dt'r  Viiücl.  1  (i  1 

ihnen  diissc^llx'  I'osIuIjiI  jjk^IUmi  ,  wciclu's  vorhin  füi"  (li<'  Vöi^cl  iinfgcslclll 
ward 

Für  den  Nachweis  der  prol)loniatisrh(;n  jirimilivcMi  Sacralwirbel  kön- 
nen mehrfache  Wege  eingeschlagen  werden.  Zunächst  kann  ans  einer  ge- 
nauen Prüfung  des  Sacrallheils  im  Zusammenhalte  mit  den  Darmbeinen 
eine  Reihe  von  Anhahepunkten  für  die  vcM-gh'icliende  BeurthcMhing  ge- 
wonnen werden.  Diese  werden  eine  wichtige  Slül/e  finden  in  den 
Beziehungen  zu  den  bezüglichen  Nerven,  und  endlich  wird  auch  die 
Entwickelungsgeschichte  nicht  unl)erücksichtigl  bleiben  dürfen,  insofern 
frühere  Stadien  die  Anschlüsse  an  die  Zustande  nit  derer  Abth(Mlungen 
leichtcE  erkennen  lassen. 

Demzufolge  theile  ich  diese  Arbeit  in  die  das  Material  prüfende 
Untersuchung  und  in  die  darauf  sich  stützende  Vergleichung,  welche 
durch  embryologische  Nachweise  verstärkt  werden  soll. 

I.  Untersuchung. 

Obgleich  die  beiden  seillichen  Knochen  des  Beckens  bei  ciiie'r  Pi-'d- 
fung  des  Sacraltheiles  der  Wirbelsäule  nicht  ausser  Acht  bleiben  Woh- 
nen, so  ist  mein  Augenmerk  doch  vorzüglich  auf  das  Sacrum  gerichtet, 
da  die  Lösung  der  gestellten  Frage  nur  in  diesen]  Theile  gesucht  werden 
kann.  Von  den  Seitentheilen,  besonders  den  Darnd)einstücken,  werden 
daher  nur  einige  Verhältnisse  berücksichtigt,  und  zwar  solche,  die  bei 
den  meisten  der  bisherigen  Ausführungen  weniger  in  Betracht  kamen. 
Der  Ausdehnung  dev  Untersuchung  setzte  das  disponible  Material  in 
manchen  Abtheilungen  eine  etwas  enge  Schranke. 

Untersuchen  wir  den  Sacrallheil  eines  Vogelbeckens ,  so  ergeben 
sich  mindestens  drei  Abschnitte,  die  nicht  selten  sogar  in  sechs  sich 
zerlegen  lassen,  jeder  wieder  aus  mehreren  einzelnen  Wirbeln  zusam- 
mengesetzt. Meckel  und  Barkow  haben  die  drei  Theile  bereits  hin- 
reichend genau  charakterisirt,  wenn  sie  auch  den  mittlei-en  Abschnitt 
sehr  verschieden  beurtheillcn.  Der  vorderste  Abschnitt  besteht  aus 
Wirbeln,  welche  durch  die  bedeutende  Entwickelung  von  Querfortsälzen 
ausgezeichnet  sind ;  die  ersten  dieser  Wirbel  tragen  Rippen,  die  ent- 
weder nur  mit  Capitulum  und  Tuberculum  oder  nur  mit  dem  letzleren 
articuliren.  im  letzleren  Falle  fehlt  der  Rippenhals.  Die  Zahl  dieser  Wir- 
bel erscheint  am  höchsten  bei  den  Struthionen;  bei  Dron)aeus  zählte 
ich  acht;  bei  einem  F^xemplar  von  Struthio  ebensoviel,  bei  einem  ande- 
ren dagegen  neun.  Dabei  ist  ein  Brustwirlx^l  nicht  mitgerechnet,  der 
bei  Dromaeus  zum  Theil,  bei  Struthio  ganz  von  den  Darmbeinen  über- 
ragt wird,   ohne  jedoch  mit  ihnen  zu  verwachsen.     Der  erste   dieser 


162  Carl  Gegetibaur, 

Wirbel  trägt  bei  Dromaeus  eine  bewegliche,  Capitiilum  und  Tubercu- 
luni  bietende  (Fig.  1,  10)  Rippe;  der  folgende  zeigt  an  seinem  Quer- 
fortsatz eine  Gelenkfacelte  für  Rippentuberculum.  Der  breite,  vom 
Körper,  nicht,  wie  der  vorhergehende,  vom  Bogen  des  Wirbels,  entsprin- 
gende Querfortsatz  bietet  gleiche  Lagerung  mit  dem  Halse  der  vorgehen- 
den Rippe,  und  so  verhallen  sich  auch  die  an  Umfang  allmählich  ab- 
nehmenden Querfortsätze  der  tlbrigen  Wirbel  dieses  Abschnittes.  Nur 
die  beiden  letzten  bei  Dromaeus,  welche  wie  die  drei  letzten  bei  Struthio 
unmittelbar  an  den  Pfannentheil  des  Beckens  stossen,  sind  wieder  durch 
grössere  Stärke  ausgezeichnet.  Sie  sind  bei  Struthio  von  beträchtlicher 
Kürze,  so  dass  dieser  Theil  des  Sacrums  der  schmälste  ist.  Dass  diese 
von  vorne  leicht  unterscheidbaren  Fortsätze  keine  ächten  Querforlsätze 
sind ,  homodynam  mit  jenen ,  die  an  den  ersten  Wirbeln  dieses  Ab- 
schnittes ansehnliche  Rippen  tragen,  möchte  man  bei  Struthio  an- 
nehmen. Die  betreffenden  Wirbel  bieten  ausser  jenen  fraglichen  Forl- 
sätzen noch  andere ,  die  schlank  gestaltet  und  schräg  aufwärts  gegen 
die  Darmbeine  gerichtet  sind ,  die  sie  jedoch  nur  theilweise  erreichen. 
Ein  Blick  durch  das  grosse,  membranös  geschlossene  Loch  im  Pfannen- 
grund zeigt  diese  Fortsätze,  und  lässt  an  ihnen  sowohl  gleichen  Ur- 
sprung, als  auch  gleiche  Lagerung  mit  jenen  erkennen,  die  weiter  oben 
Rippen  tragen.  Jene  letzten  Wirbel  des  behandelten  Abschnittes  tragen 
also  zweierlei  laterale  Fortsätze  (Querfortsätze  der  Autoren,  Diapo- 
physen  die  oberen,  Pleurapophysen  die  unteren  nach  Owen),  von  denen 
aber  nur  die  oberen  dorsalen  (Processus  transversi  superiores)  mit  den 
Querfortsätzen  der  vorderen  rippenlragenden  Wirbel  homodynam  sind, 
indess  die  unteren  ventralen  bei  der  vorderen  Beckenansicht  sich  so- 
gleich darstellenden  Fortsätze  (Processus  transversi  inferiores)  durch  die 
Vergleichung  sich  Rippentheilen  ähnlich  verhalten.  Sie  verlieren  diesen 
Charakter  umsomehr,  je  weiter  sie  nach  hinten  stehen. 

Der  folgende  Abschnitt  besteht  bei  Struthio  aus  einem  oder  zwei, 
bei  Dromaeus  aus  drei,  durch  sehr  niedrige  Körperstücke  ausgezeichnete 
Wirbel  (Fig.  I,  1 ,  2,  3) .  Sie  besitzen  nur  die  dorsalen  Schenkel  der 
Querfortsätze.  Der  erste  Wirbel  ist  bei  einem  Exemplar  von  Struthio 
noch  mit  einer  ansehnlichen  Spur  eines  ventralen  Schenkels  versehen, 
der  gegen  den  Pfannentheil  des  Sitzbeins  gerichtet  und  durch  ein  Liga- 
ment demselben  verbunden  ist,  bei  einem  anderen  Exemplar  finde  ich 
ihn  in  einem  den  Wir])eln  der  vorhergehenden  Gruppe  gleichen  Ver- 
halten. Die  dorsalen  Querfortsatzschenkel  sind  mit  jenen  der  nächst 
vorhergehenden  Wirbel  völlig  gleich,  und  ebenso  verhalten  sich  die  Dorn- 
fortsätze ,  welche  entsprechend  schmaler  und  mit  den  vorhergehenden 
zu  einer  dünnen  Leiste  verwachsen  sind.     Während  die  Verwachsung 


ßoiträge  zur  Keiiiitiiiss  düs  ßcckciis  der  Vögel.  163 

der  Dornfortsät/c  niil  <len  Darmboincn  bei  Slruthio  an  den  Kndcn  der 
(Mslcrcn  sliiUfindcl ,  ist  bei  Drotnacus  durch  die  Verwnclisiing  der  Sei- 
lenränder der  Dornforlsälze  mit  den  Darmbeinen  eine  bedeutende  Mo- 
dification  eingetreten ,  welche  die  Dornfortsätze  in  querstchende,  spon- 
giös  gebaute  Lamellen  umwandelt. 

Als  einen  ferneren  Abschnitt  unterscheide  ich  am  Becken  der 
Struthionen  mehrere  von  vorne  nach  hinten  an  Umfang  des  Körpers 
wie  an  Ausdehnung  der  Fortsätze  zunehmende  Wirbel ,  welche  bei 
Struthio  dadurch  sicli  auszeichnen,  dass  sie  die  ventralen  Schenkel 
ihrer  Querfortsätze  unter  einander  zu  einer  mächtigen,  den  hinteren 
Abschnitt  des  Acetabulums  stützenden  Knochenmasse  verschmolzen 
zeigen.  Der  letzte  dieser  vier  Wirbel  vermittelt  den  Uebergang  zu  den 
nachfolgenden,  der  letzten  Abtheilung,  der  er  bei  dem  einen  Exemplar 
oflenbar  angehört,  so  dass  wohl  nur  drei  Wirbel  hier  in  Betracht  kom- 
men. Am  ersten  und  zweiten  dieser  Wirbel  sind  die  unteren  Schenkel 
schlank,  das  von  ihnen  umschlossene  foramen  intertransversarium  ist 
schmal.  Ebenso  verhalten  sich  diese  beiden  ersten  Wirbel  bei  Dromaeus 
(Fig.  I,  rt,  6),  doch  scheint  es,  als  ob  hier  der  letzte  Wirbel  des  vor- 
hergehenden Abschnittes  noch  hieher  bezogen  werden  könne,  da  er, 
wenigstens  an  dem  mir  vorliegenden  Exemplare,  einen  dünnen,  wenn 
auch  die  Pfanne  nicht  erreichenden  Querfortsatz  entsendet,  gegen  wel- 
chen von  der  Pfanne  her  ein  Knochenzäckchen  gerichtet  ist.  Ueber  den 
Werth  dieses  Verhaltens  kann  erst  durch  Vergleichung  einer  grösseren 
Anzahl  von  Exemplaren  entschieden  werden.  Ich  will  diese  Wirbel 
daher  vorläufig  als  acetabulare  Wirbel  bezeichnen.  Am  Ausge- 
prägtesten erscheint  das  Verhalten  der  Acetabularwirbel  bei  jungen 
Thieren,  wie  aus  der  von  HuxleyI)  gegebenen  Darstellung  des  Sacrums 
eines  jungen  Strausses  erhellt.  Von  drei  Acetabularwirbeln  sind  die  ter- 
minalen Enden  der  ventralen  Querfortsalzschenkel  zweier  untereinander 
verschmolzen,  während  der  des  dritten,  obschon  sehr  ansehnlich,  sich 
dem  verschmolzenen  Theile  nur  anzulagern  scheint.  Ich  sehe  darin  eine 
Bestätigung  der  Auffassung ,  die  an  dem  Becken  erwachsener  Thiere 
gewonnen  wird. 

Die  folgenden  Wirbel  sind,  wie  schon  bemerkt,  durch  keine  scharfe 
Grenze  von  den  acetabularen  geschieden.  Es  sind  bei  dem  einen  Exem- 
plare sieben,  bei  dem  andern  acht  Wirbel,  je  nachdem  die  Acetabular- 
gruppe  aus  vieren  oder  nur  aus  dreien  besteht.  Neun  zähle  ich  bei 
Dromaeus.    Die  Wirbel  dieser  letzten  Gruppe  zeigen  die  Querfortsätze 


1)  HuxLEY  and  Hawkins,  An  Elementary  Atlas  ofCoinparative  Ostcology.  Lon- 
don 1864.  PI.  VI.  Fig.  Via. 


164  Carl  Gegeiibaur, 

nur  durch  einfficlie  Schenkel  vertreten,  welche  bei  Struthio  nach  hinten 
zu  sich  allmählich  verkürzen,  bei  Dromaeus  schon  vorne  sehr  kurz  sind 
aber  sich  ansehnlich  verbreitern.     Der  Uebergang  dieses  letzten  Ab- 
schnittes des  Sacrums  in  den  freien  Caudalabschnitt  der  Wirbelsäule 
ist  leicht  zu  verstehen. 

Sowohl  durch  die  Kürze  der  Querfortsätze  sämmtlicher  Sacral- 
wirbel,  als  auch  durch  die  fast  senkrechte  Stellung  der  Darmbeine 
kommt  es  bei  den  Struthionen  an  der  Bauchfläche  des  Beckens  zu  keiner 
Grubenbildung.  Diese  ist  dagegen  bei  Apteryx  schon  vorhanden ,  da 
hier  die  Querfortsätze  besonders  in  der  acetabularen  Region  mehr  ent- 
wickelt sind.  Da  aber  bei  Apteryx  die  Darmbeine  in  ihrer  äusseren 
Gestaltung  noch  ganz  mit  jenen  der  Struthionen  übereinstimmen,  darf 
im  Becken  von  Apteryx  ein  vermittelndes  Glied  von  den  Ratiten  zu  den 
Carinaten  erkannt  werden. 

Mit  der  geringen  Breite  der  Beckenhöhle  steht  in  Zusammenhang 
das  Verhalten  der  dorsalen  Beckenoberfläche.    Der  präacetabulare  Theil 
der   Darmbeine    schliesst    über    den    Dornfortsätzen    der    bezüelichen 
Beckenwirbel  zu  einer  starken  medianen  Crista  zusammen.     Etwas  vor 
dem  Acetabulum  lassen  die  Darmbeine  bei  Rhea  eine  Anzahl  von  Dorn- 
fortsatzenden in  Gestalt  einer  lanzettförmig  gestalteten  Fläche  zwischen 
sich  zur  Oberfläche  treten,  um  dahinter  sich  wieder  gegen  eine  schmale 
mediane  Rinne  zu  vereinigen.     Bei  Struthio  erstreckt  sich  der  zwischen 
den  Darmbeinen  zum  Vorschein  kommende  Theil  des  Sacrums  in  ziem- 
lich gleicher  Breite  längs  des  ganzen  postacetabularen  Darmbeinstückes 
ebenso  bei  Dromaeus,  wo  er  durch  ansehnliche  Breite  ausgezeichnet  ist. 
Am  hintern  Ende  besitzt  das  Darmbein  einen  ventral  und  lateral  ge- 
krümmten Fortsatz,   der  gegen  das  Sitzbein  gerichtet  ist.     Wo,   wie  bei 
Struthio,    keine  Verwachsung  mit  dem    Sitzbeine   besteht,    ist  dieser 
Fortsatz  besonders  deutlich.     Ich  will  ihn  als  Spina  ilio-caudalis  be- 
zeichnen und   den   zwischen   den   beiden   gelegenen,   die  Caudalwir- 
belsäule  austreten  lassenden  Ausschnitt  als  Incisura  ilio-caudalis.    Je 
nach  der  Anzahl  der  im  Sacrum  übergegangenen  Caudalwirbel  ist  die 
Incisur  tiefer  oder  flacher.     Von  der  Spina  aus  verfolgt  man  gegen  den 
dorsalen  Theil  eine  rauhe  Linie.     Sie  ist  bei  Dromaeus  gleich  am  An- 
fange,  etwa  in  der  Höhe  des  vorletzten  Beckenwirbels,   durch  einen 
stumpfen,  nicht  sehr  starken  Höcker   (Piocessus  ilio-lateralis)   unter- 
brochen.    Die  Linie  (Linea  ilio-lateralis)  bezeichnet  von  da  an  fast  den 
dorsalen  Rand  des  postacetabularen  Darmbeinstückes ,  biegt  aber  noch 
hinter  der  Pfanne  seitwärts  und  verläuft  auf  die  Fläche  des  Darmbeins, 
wo  sie  auf  einen  starken ,   etwas  hinter  und  über  der  Pfanne  gelegenen 
Vorsprung  (Processus  acelabularis)    tritt  und   von  dessen  Spitze  aus 


Ik'iirriiic  zur  Kciiiiliiiss  des  RccKciis  der  Vöjiel.  1  («5 

witMlor  median  verlaufend  als  linca  ilio-dorsalis  zum  dorsahMi  ll.nulc 
des  präacelahularen  Üai-mbcinslückcs  sich  loilscMzt.  Diese  IJnie  uK^nzt 
am  Piocessus  acetabularis  einen  kleinen  Theil  der  Darmbeinfläche  dor- 
sal ab,  und  wenn  wir  damit  Struthio  veri:;leichen,  finden  wir  die  Linie 
noch  weiter  lateral  gertlckt,  so  dass  vom  ganzen  poslacctabularen  Thcile 
des  Darmbeins  ein  im  Vorgleiche  mit  Dromaeus  breites  Stück  der  dor- 
salen Beckenoberniiehe  umgrenzt  wird.  Diese  Linie»  scheidet  also  den 
postacetabularen  Theil  des  Darmbeins  in  einen  dorsalen  und  lalei-alen 
Abschnitt,  und  indem  sie  bei  Dromaeus  mit  dem  grössten  Tlieile  des 
medialen  Darmbeinrandes  zusammenfallt,  fehlt  die  Ai'ca  dorsalis  des 
postacetabularen  lliums  fast  in  der  ganzen  Länge.  Sie  besteht  eigent- 
lich nur  über  dem  erwähnten  Acetabularfortsatz. 

Vom  Becken  der  Struthionen  ist  jenes  von  Apteryx  ^j  in  mehrfachen 
Punkten  abweichend,  von  denen  ich  nur  die  für  die  Zwecke  dieser  Ab- 
handlung wichtigen  hervorheben  will.  In  dieser  Hinsicht  möchte  ich 
betonen ,  dass  die  Sonderung  der  einzelnen  Abschnitte  des  Sacrums 
schärfer  und  damit  vollständiger  ist  als  bei  andern  Ratiten,  und  dass 
vor  Allem  zwei  durch  starke  und  ventrale  Qucrforlsätze  ausgezeichn(>te 
Wirbel  bemerkbar  sind  (vergl.  Owen  1.  c.  PI.  55.  Fig.  1) ,  welche  in  ähn- 
licher Weise  wie  bei  den  meisten  Garinaten  sich  verhalten.  Sie  nehmen 
eine  postacetabularo  Stellung  ein.  Auch  der  zunächst  vor  ihnen  liegende, 
nach  Owen  aus  vier  Wirbeln  bestehende  Abschnitt  ist  ansehnlicher 
und  stimmt  darin  vielmehr  mit  dem  gleichen  Theile  der  Garinaten  als 
mit  jenem  der  Struthionen  überein.  Endlich  kann  die  hinter  den  beiden 
»Äcetabularwirbeln«  folgende,  im  Vergleiche  mit  den  Struthionen  viel 
geringere  Wirbelzahl  in  gleicher  Weise  gedeutet  werden.  Die  Wichtig- 
keit des  Verhaltens  der  beiden  Acetabularwirbel  erscheint  mir  de.^lialb 
bedeutend,  weil  dadurch  unter  den  Ratiten  ein  Verhältniss  repräsentirt 
wird,  das  bei  den  übrigen  nicht  so  leicht  erkennbar  ist.  Da  die  Quer- 
fortsätze dieser  beiden  Wirbel  »immediatly  behind  the  acetabulum«  an 
die  Hüftbeine  treten,  scheint  kein  Bedenken  zu  bestehen,  diese  Wii  bei 
denjenigen  der  Garinaten  für  homolog  zu  erachten,  welche  ich  im  wei- 
teren Verlaufe  dieser  Untersuchung  in  gleichem  Verhalten  nachzuweisen 
im  Stande  bin. 

Mit  dem  Verhalten  des  Beckens  stimmen  im  Wescntlichst(>n  auch 
die  Garinaten  überein.  Vier  oder  fünf  Wirbel  bilden  den  ersten  Ab- 
schnitt des  Sacraltheils  bei  den  hühnerartigen  Vögeln  (Alecloro- 
morphae,  Hixiev),  der  Körper  des  ersten  der  fünf  Wirbel  erhält  sich 
beim  Haushuhn  (Fig.  II,  \)]  längere  Zeil  unverschmolzen.    An  ihm  arti- 


1)   Owen,  Tiansact.  nf  Zoolog.  Soc.   London,  Vol.  II.   Part  W. 


1 66  Carl  Gegenbaur, 

cuiirt  eine  Rippe,  die  mit  dem  Tuberculum  dem  Querfortsatz  einsitzt. 
Der  folgende  Wirbel  zeigt  bald  einseitig,  bald  beiderseitig  die  doppelte 
Rippenverbindung.  Zuweilen  finde  ich  den  Hals  der  Rippe  rudimentär, 
so  dass  die  Rippe  erst  vom  Tuberculum  an  massiver  ist,  zuweilen  fehlt 
der  Hals  gänzlich  und  die  Rippe  beginnt  erst  am  Querfortsatz  des  Wir- 
bels. Die  nächsten  drei  Wirbel  fand  ich  niemals  freie  Rippen  tragend, 
dagegen  ist  der  Querforlsatz  des  dritten  mehr,  der  des  vierten  senkrecht 
verbreitert  und  der  des  fünften  wieder  durch  zwei  Fortsätze  repräsen- 
tirt,  von  denen  der  ventrale  der  massivste  ist.  Phasianus  colchicus  und 
Perdrix  cinerea  schliessen  sich  hierin  an.  Bei  Meleagris  (M.  gallopavo) 
besteht  der  fragliche  Abschnitt  nur  aus  vier  Wirbeln ,  von  denen  der 
erste  eine  vollständige  Rippe  trägt.  Ebenso  finde  ich  es  bei  Tetrao 
urogallus  und  tetrix. 

Die  folgenden  Querfortsätze  sind  sehr  hoch  und  bieten  bei  Tetr. 
tetrix  Durchbohrungen  dar,  an  deren  Stelle  bei  T.  urogallus  tiefe,  von 
oben,  resp.  von  vorne  her  eingesenkte  Gruben  sich  finden.  Am  vierten 
Wirbel  ist  der  Querfortsatz  bei  Tetrao  urogallus  (Fig.  HI,  6)  bedeutend 
verbreitert  und  der  dorsale  schwächere  Theil  ist  mit  dem  stärkeren  ven- 
tralen nur  durch  eine  dünnere  Knochenplatte  verbunden,  die  mehrfach 
durchlöchert  ist.  Bei  T.  tetrix  ist  die  Durchbohrung  an  allen  drei  Wir- 
beln (Fig.  IV,  7,  8,  9)  und  am  letzten,  dem  vierten  (6),  erscheint  die 
Sonderung  des  Querfortsatzes  als  eine  vollständige.  Bemerkenswerth 
ist  noch ,  dass  auch  der  erste ,  rippentragende  Wirbel  jederseits  ein 
foramen  transvcrsarium  besitzt,  so  dass  man  die  an  den  Querfortsätzen 
der  folgenden  Wirbel  erscheinende  Sonderung  in  zwei  Schenkel  als 
eine  Weiterbildung  dieses  Verhaltens  deuten  könnte.  Bei  Pavo  crista- 
tus  finde  ich  nur  unbedeutende  Abweichungen  von  dem,  was  für  Tetrao 
und  Meleagris  angeführt  ward. 

An  die  letzteren  reiht  sich  Crax  (C.  alector)  an.  Der  erste  der  vier 
Wirbel  trägt  am  Querfortsatz  eine  Rippe ,  der  Querfortsatz  des  dritten 
ist  beträchtlich  hoch  und  trägt  Spuren  einer  Theilung  in  zwei  Schenkel, 
welche  am  vierten  völlig  gesondert  sind. 

In  der  Richtung  der  Querfortsätze  resp.  deren  vorderer  Schenkel 
crgiebt  sich  für  die  erwähnten  Gattungen  das  Eigenthümliche,  dass  bei 
jenen,  die  im  berührten  Abschnitte  des  Sacrums  5  Wirbel  besitzen 
(Gallus,  Phasianus,  Perdrix),  der  Querfortsatz  des  dritten  Wirbels  (7) 
stark  vorwärts  geneigt  ist,  und  der  des  vierten  (6)  und  fünften  (5)  wag- 
recht steht,  indess  bei  den  mit  nur  vier  jener  Wirbel  versehenen  Gat- 
tungen (Tetrao,  Meleagris,  Pavo,  Crax)  nur  der  vierte  Wirbel  wagrechte 
Querfortsätze  besitzt,  und  die  schräge  Richtung  den  Querfortsätzen  des 


Beitrage  zur  Keniiliiiss  des  Beckens  der  Vönel.  1 G7 

drillen  (iun  doullichstcn  bei  Telrao)  iheiivveiso  auch  jenen  des  zweiten 
Wirbels  zukonunl. 

bn  zweiten  Sacralabschnitte,  in  weichem  ailt^entein  nur  Wirbel  mit 
einfachem  dorsalem,  aufwärts  gerichtetem  Querfortsatze  vorkommen, 
finden  sich  bei  Tetrao  (Fig.  III  u.  IV,  5,  i,  3,  2,  I),  Melcagris  und  Pavo 
fünf,  bei  C.allus  (Fig.  II,  4,  :3,  2,  1),  Perdrix  und  Crax  (Fig.  V,  1,3,2,  I) 
vier,  bei  Phasianus  scheinen  deren  sechs  zu  bestehen ,  doch  wird  der 
letzte  oder  die  beiden  letzten  zur  nächsten  Gruppe  bezogen  wenh^i 
dürfen,  wie  nachher  dargelegt  werden  soll.  An  diesem  Abschnitte  sind 
die  Wirbelkörpcr  am  breitesten,  aber  auch  am  dünnsten,  so  dass  der 
Rückgratcanal  hier  die  ansehnlichste  Ausdehnung  besitzt  (vergl.  Fig.  Vi). 
Die  Querfortsätze  dieser  Wirbel  verschmelzen  vor  ihren  zu  den  Darm- 
beinen tretenden  Enden  unter  einander  zu  einer  dünnen  Knochenplatte, 
nur  nahe  an  ihren  Wurzeln  eine  Oeffnung  lassend.  An  den  breiten 
Becken  derTetraonen  ist  das  am  meisten  ausgeprägt.  Durch  das  Fehlen 
der  vorderen  Querforlsatzschenkel  wird  der  zwischen  Wirbelkörpern 
und  dem  präacetabularen  Darmbeintheile  befindliche  Raum  in  eine  liefe 
Grube  verwandelt  (fovea  iliaca  anterior,  von  Barkow  als  fovea  secunda 
oder  f.  ischiadica  unterschieden),  der  Querforlsatz  des  ersten  Acetabu- 
larwirbels  grenzt  sie  von  der  fovea  iliaca  post.  ab^).  Der  übrige  Ab- 
schnitt des  Sacrums  kann  wieder  in  mehrere  Gruppen  von  Wirbeln 
zerlegt  werden,  wenn  diese  auch  nicht  in  allen  Fällen  gleich  deutlich 
sind.  Er  besteht  bei  Gallus  aus  acht,  bei  Tetrao  und  Crax  aus  sieben, 
bei  Mcleagris  und  Perdrix  aus  sechs  Wirbeln. 

Die  erste  Gruppe  bilden  zwei  Wirbel,  welche  an  ihren  Quer- 
fortsätzen doppelte  Schenkel  besitzen.  Die  sehr  verbreiterten 
Enden  dieser  Fortsätze  verschmelzen  unter  einander.  Wenn  ähn- 
liches auch  an  den  folgenden  Wirbeln  für  die  daselbst  einfachen  Quer- 
fortsätze vorkommt,  so  ist  es  doch  bei  ersteren  Wirbeln  viel  auffälliger, 
z.  B.  bei  Crax  (Fig.  V  a,  6),  Tetrao  urogallus  (Fig.  III  a,  b).  Diese  bei- 
den Wirbel  stützen  den  acetabularen  Theil  des  Beckens  (resp.  Darm- 
beins), sie  erscheinen  homolog  den  vorhin  bei  den  Strulhionen  unler- 
schiedenen  Acetabularwirbeln.  Bei  Crax  liegt  das  Ende  der  bezüglichen 
Fortsätze  dicht  hinter  dem  Acetabulum ,  ebenso  bei  Tetrao  urogallus. 
Bei  T.  lelrix,  Perdrix  und  Meleagris  findet  es  sich  mit  dem  Acetabulum 


1)  Ich  liabc  von  der  durch  die  Priorität  berechtigten  BARKowsciien  Bezeich- 
nung deshall)  abschen  miissen,  weil  jene  Bezeichnung,  die  niciil  nach  dem  Os 
iscliii,  sondern  nach  dem  Plexus  iscliiadicus,  der  in  diesem  Abschnitte  lagert,  ge- 
wählt ist,  nicht  für  alle  I-'älle  passt.  .\uch  die  Bezeichnung  »Fovea  renalis«  mussle 
vermieden  werden. 


^  ^^  Carl  fipseiibaiir, 

in  der  Höhe  einer  und  derselben  Querlinie.     Der  diesen  Querforlsälzen 
sich  verbindende  Darrabeintheil  ist  massiver,  als  benachbarte  Stellen 
dieses  Knochens.    Die  hinter  diesen  Wirbeln  die  ventrale  Fläche  des 
Iliums  einnehmende  Grube  (Fossa  iliaca  posterior,  Fig.  /,  p)  zieht  sich 
unter  die  Querfortsatzanfügung  in  eine  kleine  Höhle'' (Recessus  iliacus 
anterior)  nach  vorn  aus   (Fig.  V,  ra).     Der  Intertransversah'aum  dieser 
beiden  acetabularen  Wirbel  ist  bei  Tetrao  urogallus  auffallend  schmaler 
als  jener  der  folgenden  ,  bei  Grax  ist  er  kürzer.    Weniger  deutlich  sind 
beiderlei  Verhältnisse  bei  T.  tetrix  (Fig.  IV)  bemerkbar,  wo  die  Aceta- 
bularvvirbel  nur  durch  die  bedeutendere  Verschmelzung  ihrer  Querfort- 
satzenden sich  auszeichnen.     Die  Assimilirung  mit  den  folgenden  ist 
auch  durch  die  Verschmelzung  des  ventralen  Schenkels  mit  dem  dor- 
salen am  zweiten  Wirbel  ausgeprägt.    Einen  Schritt  hiezu  bemerkt  man 
schon  bei    T.   urogallus,    bei    dem   das   Foramen    transversarium    des 
zweiten  Acetabularwirbels  viel  weniger  beträchtlich  als  am  ersten  ist. 
Aehnlich  verhält  es  sich  bei  Grax.     Es  drückt  sich  also  hier  eine  Ver- 
wischung der  Eigenthümlichkeiten  aus,  die  wir  oben  als  charakteristisch 
aufführten,     hi  andrer  Weise  zeigt  sich  das  beim  Huhn.     An   einem 
Becken  finde  ich  die  Acetabularwirbel  sehr  deutlich   unterscheidbar. 
Die  gleichlangen  Querfortsätze  beider  Wirbel  überragen  um  merkliches 
die  Querfortsätze  der  folgenden  Wirbel,   aber  jene  des  ersten  Acetabu- 
larwirbels sind  bedeutend  schlanker  als  die  mächtigen  Fortsätze  des 
zweiten.     Bei  einem  anderen  Becken  fehlen  sie,   d.   h.  die  ventralen 
Schenkel,  um  die  es  sich  hier  allein  handelt,  gänzlich,  und  die  hinteren 
Schenkel  verhalten  sich  jenen  des  vorhergehenden  Wirbels  so  ähnlich, 
dass  man  dem  bezüglichen  präacetabularen  Abschnitte  fünf  Wirbel  zu- 
sprechen kann.     Da  sonst  nur  vier  sich  finden  ,   hat  sich  jener  präace- 
tabulare  Abschnitt  auf  Kosten  des  acetabularen  um  einen  Wirbel  ver- 
grössert.      Dieses   Verhältniss  wird   durch   den   Befund    eines    dritten 
Beckens  bestätigt,   wo  das  Verhalten  der  Querfortsätze  der  Wirbel  auf 
der  einen  Seite  vier,  auf  der  andern  Seite  fünf  Präacetabularwirbel 
unterscheiden  lässt.    Linkerseits  ist  nämlich  der  erste  und  zweite  Ace- 
tabularwirbel deutlich  am  Verhalten  der  Querfortsätze  erkennbar.    Der 
des  ersten  ist  sogar  im  Gegensatze  zum  zuerst  beschriebenen  Becken 
stärker  als  jener  des  zweiten,  aber  auf  der  rechten  Seite  ist  er  rudi- 
mentär,  indem  er  nur  durch  ein  dünnes,   kurzes,   vom  Wirbelkörper 
ausgehendes  Knochenstückchen  repräsentirt  wird,   dem  ein  ähnliches 
vom  Endc'  des  dorsalen  Querfortsatzes  ausgehendes  entgegengerichtet 
ist.     Auf  derselben  Seite  ist  dafür  der  Querforlsatz  des  zweiten  Aceta- 
bularwirbels  mächtiger   als    der    anderseitige,    der    mehr  jenem    der 
folgenden    Wirbel   entspricht.     Die   Gründe,    weshalb    ich    bei   Gallus 


Beiträiie  im  Kciiiitiiiss  dos  Reckens  der  Viiafl.  169 

Wirbel  nis  acolal>ul;irc  deule,  welche  die  iicloitlerlcn  Charaktere  i:ar 
nicht  oder  unvollstiindiii  besitzen,  erheilen  aus  der  Vei't;leichuii|;  mit 
dein  Sncruni  der  anderen  hUhnerartigen  Vötjel  ziir  (Jenüge.  Fernere 
Belege  werden  im  zwi'ilen  Theile  dieser  Abhandlung  i)eigebraehl  wer- 
den. Die  Acetabularwirbel  gehen  also  ll\eils  in  die  präacelabnlaren 
Ubei',  iheils  in  die  postacetabulai'en  ,  dies  geseluelil  durch  das  Auf- 
geben mancher  Hesonderhc^ilen  und  durch  die  Annahme  von  Kieen- 
Ihümliciikeiten  anderer  Wirbelgruppen.  Kbenso  nelunen  aller  auch 
einzelne  Wirlx'l  der  letzleren  die  Eigenlhümlichkeiten  der  Acetabular- 
wirbel an,  w  ie  sich  zunächst  in  der  an  manchen  Bi'cken  staltfindenden 
Durchbohrung  poslacetabularer  Querrorlsatzschenkei  ausspricht. 

Diese  an  mehreren  Becken  gezeigte  Verändeilichkeit  im  Verhalten 
einzelner  Wirlxil  erschwei't  die  Feststellung  ilei' Ilomologieen,  so  dass 
aus  dem  Befunde  der  Wirbel  niclit  stets  ein  sicherer  Schluss  auf  deren 
morphologisciien  Werlh  gezogen  werden  kann ,  dies  gilt  von  hühner- 
artigen Vögeln  für  Pavo  und  Meleagris,  welche  beide  zwar  zwei  sehr 
ansehnliche  Acetabularwirbel  zu  besitzen  scheinen ,  aber  nicht  mit  der 
oben  postulirten  Eigenthümlichkeit  der  Verwachsung  ihrer  Querfort- 
sätze.  Nach  dem  Befunde  am  Becken  von  Gallus  bleibt  die  Möglichkeit 
oflen,  dass  dei-  letzte  der  voi'hergehenden  Wirbel  aus  einem  rückgebil- 
deten Acetabularwirbel  hervorging. 

Der  poslacetabulare  Abschnitt  des  Sacrums  w  ird  im  Allgemeinen 
aus  weniger  scharf  von  einander  differenzirten  Wirbeln  zusaminenge- 
setzt,  als  die  vorhergehenden.  Die  Querforlsütze  sind  entweder  allge- 
mein, oder  doch  am  hinteren  Ahschnilt  einfach,  der  ganze  Charakter 
der  Wirbel  nähert  sich  mehr  jenem  der  Caudalwirbei ,  zu  welchen  ein 
allmählicher  Uebergang  slattüiulet.  Die  breit  geendigten,  mit  dem  hin- 
tern Abschnitte  des  Daiiiibeins  sich  verbindenden  Querfortsälz(?  dieser 
Wirbel  verschmelzen  entweder  mit  den  Dornfortsätzen  in  eine  dorsale 
Platte,  oder  sie  bilden  nur  laterale  Knochenplalten,  welche  einen  die 
verschmolzenen  kurzen  Dornfortsätze  und  foramina  intertransversaria 
sichtbar  lassenden  Raum  zwischen  sich  fassen.  Letzleres  ist  iler  Fall 
bei  Meleagris  und  Pavo.  Ersteres  treffe  ich  bei  Gallus,  Phasianus,  Te- 
Irao  und  Perdrix.     Daran  reiht  sich  auch  Crax. 

Die  Gleichartigkeit  der  Postacelabularwirbel  ist  jedoch  nicht  so  be- 
deutend ,  dass  aucli  hier  nicht  wieder  mclirere  Gruppen  unterschieden 
werden  könnten.  Die  den  Acetabularwirbeln  zunächst  folgenden  tiagen 
mehr  den  Charakter  der  letzteren,  die  letzten  ins  Sacrum  eingegangenen 
Wirbel  erscheinen  dagegen  mehr  den  wahren  Caudalwirbeln  gleich. 
Sie  sind  aus;j:ez(M(]uiet  durch  sehr  starke  Querforlsätze,  mit  denen  sie 
gegen    den    liinlersleii   Absclinilt   des   Dariidx'ins   stehen.      Die    inneie 


170  Carl  Gegenbaur, 

oder  ventrale  Fläche  dieses  Abschnittes  ist  durch  eine  stark  vorragende 
Querleiste  ausgezeichnet,  welche  lateral  bis  zum  Ischium  sich  erstreckt, 
bis  zur  Umgrenzung  des  Foranien  ischiadicum.  Sie  soll  nach  ihren 
beiden  Endestellen  als  Ischiosacralleiste  des  Uiums  unterschieden  wer- 
den. Durch  diesen  Vorsprung  wird  eine  auf  der  Ventralfläche  des 
Iliunis  befindliche  Grube  abgegrenzt,  in  welche  der  hintere  Nieren- 
lappen sich  einbettet.  Diese  Fossa  iliaca  posterior  (Fovea  tertia  nach 
Barkow)  erstreckt  sich  bei  allen  von  mir  untersuchten  hühnerarligen 
Vögeln  (auch  bei  Crax)  über  die  vorerwähnte  Querleiste  hinweg  in  eine 
blindgeendele  Höhlung  (Recessus  iliacus  posterior  Fig.  I,  II,  IV,  V  rp). 
Am  wenigsten  tief,  dagegen  am  breitesten  ist  sie  bei  Tetrao,  wo  hinter 
der  Querleiste  noch  eine  flache,  gleichfalls  vom  Darmbein  gebildete 
Vertiefung  (Fig.  IV  m)  liegt.  Einige  Ganäle  bilden  eine  Communication 
zwischen  dieser  flachen  Grube  und  der  Fossa  iliaca  posterior,  lassen 
dadurch  die  Ischiosacralleiste  als  einen  brückenartigen  Vorsprung  er- 
scheinen. Das  sacrale  Ende  dieser  Leiste  nimmt  bei  Gallus  2 — 3  Wir- 
bel (Fig.  II,  4',  5')  auf.  In  beiden  Fällen  bestehen  vor  diesen  noch  drei 
postacetabulare  Wirbel.  Fünf  postacetabulare  Wirbel,  davon  zwei  der 
Fossa  iliaca  posterior,  drei  der  Ischiosacralleiste  entsprechen,  finde  ich 
bei  Tetrao  (Fig.  IV).  Bei  einem  zv^eilen  Skelete  von  T.  urogallus  scheint 
ein  im  Körper  noch  unverschmolzener  sechsler  Wirbel  durch  Verwach- 
sung seiner  Querfortsätze  aus  dem  caudalen  Abschnitte  in  den  post- 
acelabularen  Sacraltheil  einzugehen.  Bei  Pavo  und  Meleagris  sind  je 
zwei  Wirbel  mit  der  Ischiosacralleiste  und  der  Fossa  iliaca  verbunden. 
Zwei  gegen  die  Grube  und  drei  gegen  die  Ischiosacralleiste  gerichtete 
Wirbel  besitzt  der  postacetabulare  Abschnitt  bei  Perdrix.  Crax  schliesst 
sich  in  diesem  Verhalten  an  Gallus  an. 

Die  Richtigkeit  der  Vergleichung  der  einzelnen  Abschnitte  des 
Beckens  bei  den  vorgeführten  Gattungen  bestätigt  sich  aus  der  überein- 
stimmenden Gesammtzahl  sämmtlicher  vor  dem  acetabularen  Abschnitte 
des  Sacrums  liegenden  Wirbel.  Sie  beträgt  2i)  bei  Gallus  und  Meleagris 
wie  bei  Tetrao  und  Pavo.  Wenn  sie  bei  Phasianus  um  einen  höher 
steigt,  so  kann  der  Grund  hiefür  in  der  wenig  sicheren  Bestimmbarkeit 
des  kritischen  Abschnittes  des  Sacrums  liegen,  deren  bereits  oben  ge- 
dacht ward. 

Bei  den  Tauben  treten  im  Becken  sehr  nahe  Anschlüsse  an  die 
hühnerartigen  Vögel  auf,  dabei  fehlen  aber  auch  solche  an  andere  Ab- 
theilungen nicht.  Bezüglich  der  ersteren  erinnert  die  tiefe ,  wohl  ge- 
wölbte Form  des  hinteren  Abschnittes  bei  dem  flach  ausgebreiteten 
präacetabularen  Darmbeintheile  an  die  Becken  der  Tetraoniden. 

Das  Sacrum  bilden  im  vordersten  Abschnitte  drei  bis  vier  Wirbel. 


Rpilräftfi  zur  Kcmituiss  des  Beckoiis  der  Vrigel.  17  l 

Drei  finde  ich  l)ei  der  Mauslauhe,  liüuiiger  vier  Ihm  Columha  paliiinhiis. 
Gewölinlich  tragt  der  erste  Wirbel  eine  Uip[)e.  Bei  vier  Wirbeln  kom- 
men auch  dem  zweiten  Wirbel  Rippen  zu.  Die  Verbindung  bietet  die 
bereits  bei  den  Hühnern  angegebene  Variabilität  dar. 

Der  zweite  Abschnitt  besitzt  drei  Wirbel,  davon  der  erste  zuweilen 
Andeutungen  vorderer  Querfortsatzschenkel  besitzt  und  damit  eine 
Tendenz  zeigt,  zur  ersten  Gruppe  überzugehen.  Die  Acetabularwiibel 
sind  unterscheidbar,  bieten  aber  wieder  die  bei  den  Hühnern  vorhan- 
denen mannichfaltigen  Verhältnisse,  indem  der  vordere  bald  ein- 
seitig, bald  beiderseitig  des  charakteristischen  Querfortsatzschenkels 
entbehrt.  Als  bemerkenswerlhe  Verschiedenheit  von  den  Hühnein 
kommt  noch  dem  zweiten  Acelabularwirbel  zuweilen  ein  Defecl  der 
vorderen  Querforlsatzschenkel  zu ,  wie  wir  es  auch  bei  andertn 
Abtheilungen  antreffen.  Wo  beide  Fortsätze  bestehen,  convergiren 
sie  zum  Acetabulum ,  welches  mit  jenen  Wirbelkörpern  in  gleicher 
Höhe  liegt.  Aus  dieser  grossen  Variabilität  ist  zu  ermessen ,  dass  die 
Bestimmung  der  beiden  Wirbel  keineswegs  leicht  ist.  Sie  kann  am 
sichersten  aus  der  Vergleichung  der  übrigen  Wirbelgruppen  festgestellt 
werden.  Was  die  Verschiedenartigkeit  selbst  betrifft,  so  mag  sie  theil- 
weise  aus  den  in  grösserer  Anzahl  untersuchten  Exemplaren  resulliren, 
somit  eine  relative  sein,  die  auch  sonst  überall  sich  findet.  Theilweise 
mag  sie  aber  wohl  auch  auf  Rechnung  der  Divergenz  des  Charakters 
dieser  Familie  kommen,  die  vorzüglich  in  der  künstlichen  Rassenerzeu- 
gung sich  ausspricht. 

Die  beiden  Acelabularwirbel  sind  auch  bei  der  Kronentaube  (Goura 
coronata)  deutlich  wahrnehmbar,  wie  aus  einer  von  Owen  gegebenen 
Abbildung^)  ersichtlich  ist.  In  der  einseitigen  rudimentären  Bildung 
eines  vorderen  Querfortsatzes  findet  sich  eine  üebereinstimniung  mit 
dem  eben  erwähnten  nicht  seltenen  Verhalten  von  Columba. 

Bei  Columba  palumbus,  wo  ich  nur  Einen  Acotabularvvirbel  sehe, 
verläuft  vom  Ende  dessen  Querfortsatzes  eine  scharfe  Kante  zum  hin- 
tern Rande  des  Acetabulums  und  theilt  die  hier  sehr  breite  Fossa  iliaca. 
In  geringer  Ausprägung  ist  diese  Leiste  auch  bei  der  Hauslaube  anzu- 
treffen. 

Der  folgende  Sacralabschnitl  besteht  aus  ö — 6  Wirbeln,  drei  davon 
sind  gegen  die  Fossa  iliaca  posterior,  die  zwei  oder  drei  letzten  gegen 
eine  Crista  ischiosacralis  gerichtet,  gegen  welche  ihre  Querforlsätze 
convergiren.  Die  Ischiosacralleisle  beginnt  medial  als  eine  ganz  geringe 
aber  breite  Erhebung ,  um  in  ihrem  lateralen  Verlaufe  stärker  zu  pru- 

4)  Memoirof  Ihe  Dodo  (Didus  Ineptus  L.).  t.ondon  1866.   PI.  XU.  Fig.  .*>. 


172  Carl  Gegenbaur, 

miniren ,  da  hinter  ihr  oine  tiefe,  zum  Theil  unter  sie  sich  fortsetzende 
Grube  erscheint.  Diese  lauft  gegen  die  wenig  vorragende  Spina  ilio- 
caudalis  aus  und  erinnert  an  das  Verhalten  von  Tetrao. 

Nahen  Anschluss  an  das  Becken  der  Tauben  bietet  jenes  von  Didus 
dar,  wie  aus  den  sorgfältigen  Darstellungen  in  Owen's  Monographie  ^) 
zu  ersehen  ist.  Vier  Wirbel  setzen  den  ersten  Abschnitt  des  Sacrums 
zusaiiunen,  der  erste  mit  einer  Rippe' versehen..  Darauf  folgen  drei, 
nur  querlamellenartig  verdünnte,  hintere  Querfortsatzschenkel  (Diapo- 
physen)  besitzende  Wirbel.  Diesen  reiht  sich  ein  Acetabularwirbel  an, 
welcher  dui'ch  den  Besitz  sehr  mächtiger,  besonders  terminal  verdickter 
vorderer  Querfortsatzschenkel  (Pleurapophysen)  sich  auszeichnet.  Die 
letzten  acht  Wirl)el  sind  wieder  nur  mit  hinteren  Querfortsatzschenkeln 
versehen,  die  in  ziemlich  gleicher  Richtung  sich  verhalten,  aber  nach 
hinten  zu  sich  etwas  verkürzen  und  verdicken.  Der  des  zweiten  Wir- 
bels dieser  Gruppe  ist  der  längste.  Es  fragt  sich  nun ,  ob  der  ange- 
führte Acetabularwirbel  der  einzige  ist,  oder  ob  auch  hier  die  Rückbil- 
dung eines  ursprünglich  vorhandenen  andern  angenommen  werden 
dürfe.  Die  grosse  Verbreitung,  in  der  das  Vorkommen  zweier  Aceta- 
bularwirbel tlif'ils  schon  gezeigt  wurde,  theils  noch  vorgeführt  werden 
wird,  giebt  der  vorläufigen  Annahme  jener  zwei  Wirbel  für  Didus  gewiss 
einige  Biu'echtigung.  Diese  würde  steigen,  wenn  jener  fragliche  zweite 
Wiibel  wenn  auch  nur  aus  Spuren  erkannt  werden  könnte.  Solche 
sind  mir  aber  nicht  sicher  genug  erkennbai",  denn  die  grössern  längern 
hintern  Querfortsatzschenkel  des  ersten  PostacetabularwirbeIs,*im  Ver- 
gleiche mit  dem  folgenden ,  erscheint  mir  kein  ausreichender  Grund, 
diesen  Wirbel  als  einen  rückgebildeten  zweiten  Acetabularwirbel  deu- 
ten zu  dürfen.  Ebensowenig  kann  der  letzte  Fräacetabularwirbel  als 
erster  Acetabularwirbel  angesehen  werden.  Somit  dürfte  diese  Frage 
vorläufig  unerledigt  bleiben. 

Bezüglich  der  Vergleichung  der  Beckentheile  von  Didus  ist  von 
Owen  Didunculus,  Goura  und  Columba  herbeigezogen  worden,  auch 
Vultur,  der  jenen  Ergebnissen  entsprechend  ganz  ausser  Betracht 
bleiben  kann.  Indem  ich  die  von  0\vi->f  auseinander  gesetzten  Ueber- 
einstiminungen  und  Verschiedenheiten  übergehe ,  will  ich  nur  auf  ein 
von  OwKX  nicht  angemerktes  Verhällniss  aufmerksam  machen,  welches 
das  Becken  von  Didus  mit  jenem  von  Columba  gemeinsam  hat.  Es  ist 
die  oben  schon  von  mir  berührte  Crista  ichiosacralis,  welche  vom  Ende 
des  Sacrums  flach  beginnend  gegen  das  Os  ischii  quer  hinzieht.  Diese 
fehlt  bei  Goura  und  ist  auch  bei  Didus  schwächer  als  bei  Columba.   Bei 


c*'     i)  Meinoir  of  tlie  Dodo  (Didii^  incplus  L.).    Lüiidon  1866.  S    -27  u.  /.8.   PI.  VII. 


ßeitrrige  zur  Keniitniss  des  Beckens  der  Vögel.  173 

Diclus  liegt  vor  der  Leiste  ein  seichter  Reccssus  iliacus  posterior  mit 
mehreren  ivleincn  in  den  Knochen  eindringenden  Löchern,  die  auch  sonst 
mit  dem  Vorkommen  des  Recessus  bestehen.  Dieser  Recessus  ist  bei 
Columba  nur  angedeutet  und  läuft  mit  glatter  Oberfläche  gegen  die 
Leiste  aus.  Die  bei  Columba  hinter  der  Leiste  befindliche  und  auch 
unter  der  Leiste  sich  nach  vorn  erstreckende  Grube  ist  dagegen  bei 
Didus  weniger  als  bei  Columba  ausgeprägt.  Da  diese  Bildung  nur  in 
wenigen  Abtheilungen,  aber  selbstverständlich  im  Zusammenhange  mit 
dem  Bestehen  der  Leiste,  vorkommt,  bei  manchen  hühnerarligen  Vögeln, 
dann  bei  Otis  u.  a.,  also  solchen,  in  denen  der  Vogeltypus  minder 
hoch  differenzirt  hat,  wird  jener  Befund  um  so  mehr  Beachtung  ver- 
dienen. 

In  derjenigen  Abtheilung  der  Schwimmvögel ,  welche  als  Cheno- 
morphae  von  Huxley  aufgestellt  ward ,  treten  uns  Einrichtungen  ent- 
gegen,  die  wir  an  jene  der  hühnerarligen  Vögel  anknüpfen  können. 
Im  Becken  der  Gans  (Fig.  VIII]  wird  der  vordere  Iliacaltheil  des  Sacrums 
durch  sechs  Wirbel  repräsentirt,  die  zwei  ersten  davon  (zuweilen  auch 
drei)  tragen  Rippen,  die  am  ersten  Wirbel  an  Körper  und  Querfortsalz, 
am  zweiten  nur  dem  Querforlsatz  ansitzen.  Bei  der  Ente  wird  dieser 
vorderste  Sacraltheil  durch  fünf  Wirbel  vorgestellt,  davon  drei  Rippen 
tragen,  die  beiden  letzten  sind  nur  am  Querfortsatz  befestigt.  Die  Quer- 
fortsätze der  übrigen  Wirbel  sind  stärker  als  die  der  vorhergehenden. 
Sieben  Wirbel  treffen  sich  beim  Schwan,  davon  vier  Rippen  tragen. 
Mergus  (Fig.  X)  stimmt  mit  der  Gans  überein.  Auch  bei  Phoenicoplerus 
(Ph.  roseus),  den  ich  hier  aufführe,  obgleich  Huxley  ihn  mit  Recht  zum 
Repräsentanten  einer  besonderen  Gruppe ,  der  Ampbimorphae,  macht, 
finde  ich  sechs  solcher  Wirbel;  davon  trägt  nur  der  erste  eine  Rippe,  und 
der  letzte  besitzt  sehr  schwache  Querfortsätze,  die  nicht  ganz  das  Ilium 
erreichen.  Der  zweite  oben  charakterisirle  Abschnitt  ist  bei  den  ge- 
nannten Schwimmvögeln,  mit  Ausnahme  von  Phoenicoplerus,  in  seiner 
Lage  zum  Acetabulum  verändert,  er  liegt  nicht  vor  dem  Acetabulum, 
wie  bei  den  Hühnern,  sondern  entspricht  entweder  dem  Acetabulum, 
oder  erstreckt  sich  caudalwärts  hinter  dasselbe.  Bei  Phoenicoplerus  ist 
dieser  Abschnitt  aus  zwei  Wirbeln  ,  bei  der  Gans ,  der  Hausente  und 
dem  Schwan  aus  drei,  bei  einer  andern  Species  von  Anas  und  dem 
Sägetaucher  (Fig.  X  a,  1 ,  2,  3)  aus  vier  Wirbeln  zusammengesetzt,  wenn 
man  die  hintere  Grenze  durch  den  ersten  der  vorhin  bei  den  Hühnern 
als  Acelabularwirbel  bezeichneten,  mit  doppelschenkeligem  Querfortsatz 
versehenen  Wirbel  bestimmt  sein  lässt.  Jene  Verschiedenheit  in  der 
Zahl  löst  sich  nach  Vergleichung  der  Acelabularwirbel.  Diese  sind 
beim  Schwan,  beim  Flamingo  (Fig.  XI  n,  b)  wie  bei  der  Gans  (Fig.  VIII 

Bd.  VI.  2.  13 


174  Carl  Gegenbaur, 

rt,  6)  ausserordentlich  deutlich  und  von  den  benachbarten  Wirbeln 
sofort  unterscheidbar.  Auch  bei  Anas  boschas  domestica  sind  diese 
beiden  Wirbel  vorragend  entwickelt.  Sie  stützen  mit  ihren  verschmol- 
zenen Querfortsatzenden  den  massivsten  Theil  des  Iliums  hinter  und 
über  dem  Acetabulum.  Auch  manche  andere  Eigenthümlichkeiten  stim- 
men mit  jenen  der  Hühner  überein. 

Bei  Mergus  und  Anas  (spec.  ?)  finde  ich  nur  einen  als  Acetabular- 
wirbel  zu  deutenden  Wirbel,  der  bei  Mergus  durch  die  mehr  transver- 
sale Richtung  seiner  doppelschenkeligen  Querfortsätze  von  den  folgen- 
den Wirbeln  sich  unterscheidet,  denn  die  Querfortsätze  der  letzteren 
sind  mehr  schräg  nach  hinten  gerichtet. 

Setzen  wir,  durch  den  Befund  bei  den  andern  verwandten  Vögeln 
inducirt,  auch  hier  zwei  Acetabularwirbel  voraus,  so  werden  wir  den 
fehlenden  entweder  im  vorausgehenden  oder  im  nachfolgenden  Abschnitt 
suchen  müssen.  Die  Vermehrung  des  vorausgehenden  Abschnittes  um 
einen  Wirbel  —  da  hier  vier,  bei  den  andern  Gattungen  dagegen  nur  drei 
bestehen  —  wird  uns  leiten ,  den  hier  überzähligen  Wirbel  aus  einem 
umgebildeten  Acetabularwirbel  entstanden  anzusehen ;  wir  betrachten 
also  den  einzigen  mit  zweischenkeligem  Querfortsatz  versehenen  Wirbel 
bei  Mergus  (Fig.  X  b)  als  den  zweiten  typischen  Acetabularwirbel.  Da 
aber  bei  Phoenicopterus  die  beiden  Acetabularwirbel  unterscheidbar 
sind,  wird  die  Verminderung  der  präacetabularen  Gruppe  um  einen 
Wirbel  durch  den  Uebergang  des  ersten  dieser  Gruppe  in  die  nächst- 
vorhergehende Abtheilung  erklärt  werden  dürfen.  Die  Wirbelzahl  der 
vorderen  Sacralabtheilungen  ist  daher  bei  Phoenicopterus  5,  3,  2. 

Die  Sondening  der  ferner  zwischen  den  Darmbeinen  liegenden 
Wirbel  in  untergeordnete  Gruppen  ist  bei  den  vorgeführten  Gattungen 
wenig  ausgeprägt  und  damit  erscheint  der  Uebergang  der  postacetabu- 
laren  Wirbel  in  die  Gaudahvirbel  ganz  allmählich.  Diess  hängt  zusammen 
mit  der  geringen  Entwickelung  einer  Ischiosacralleiste ,  wodurch  zu- 
gleich der  postacetabulare  Theil  des  Darmbeins  flacher  erscheint.  An 
einer  Andeutung  der  Ischiosacralleiste  fehlt  es  jedoch  nicht  gänzHch 
Sie  ist  sehr  schwach  bei  Cygnus  olor,  wo  ihr  von  den  neun  postaceta- 
bularen  Sacralwirbeln  zwei  corrospondiren ,  diesen  folgen  noch  acht 
freie  Caudalwirbel,  das  Pflugscharbein  nicht  gerechnet.  Auch  bei  Phoeni- 
copterus ist  sie  angedeutet.  Bei  Anas  anser  sind  sechs  postacetabulare 
Sacralwirbel  von  gleichartigem  Verhalten ,  und  zwei  bald  freie ,  bald 
zum  Sacrum  gezogene  Caudalwirbel  folgen,  an  das  mediale  Ende 
der  Ischiosacralleiste  gelehnt.  Mergus  besitzt  sechs  gleichartige  post- 
acetabulare Wirbel  und  einen  bis  zwei  Caudalwirbel  mit  der  Leiste  ver- 
bunden.    Bei  einem  anderen   Exemplare  ist  einer  der  letzteren  noch 


BeitrAiee  zur  Keniitniss  dos  Beckens  der  Vögel.  175 

Sacra Iwirhcl.  Bei  Phoenicoplorus  ist  der  Uobcrgang  der  Poslacelahu- 
larwirbel  in  den  Cauilaltheil  der  Wirbelsäule  noch  weniger  durch  Be- 
sonderheiten einzelner  Wirbel  abgegrenzt ,  und  es  bleibt  nur  die  Ver- 
schmelzung mit  dem  Sacrum  als  Kriterium  Übrig.  Ich  zähle  solcher 
Wirbel  fünf. 

Dem  Becken  der  gänseartigen  Vögel  kommt  also  im  Vergleiche  mit 
den  hühnerartigen,  wie  auch  mit  den  Tauben  ein  einfacherer  Bau  zu, 
der  in  der  mangelnden  Grubenbildung  auf  dorn  hinteren  Darmbeinab- 
schnitte, dem  damit  verbundenen  Fehlen  einer  Ischiosacralleiste  und 
endlich  einer  wiederum  hiervon  ableitbaren  grösseren  Gleichartigkeit 
der  postacetabularen  Wirbel  sich  ausspricht. 

Die  Uebereinstimmungen ,  welche  Phönicopterus  im  Verhalten  des 
Sacraltheils  der  Wirbelsäule  mit  dem  der  von  Huxley  als  Chenomorphae 
unterschiedenen  Schwimmvögel  zeigt,  werden  aufgewogen  durch  Ver- 
schiedenheiten im  Verhalten  der  lateralen  Beckenstücke.  Auf  diese 
werden  wir  um  so  grösseres  Gewicht  legen  müssen ,  als  jene  gemein- 
samen Eigenthümlichkeilen  keineswegs  diesen  Vögeln  ausschliesslich 
zukommen,  vielmehr  ebenso  in  anderen  ganz  verschiedenen  Abtheilun- 
gen sich  wiederfinden. 

Jene  den  Hüftbeintheil  des  Beckens  betreffenden  Eigenthümlich- 
keilen von  Phönicopterus  im  Gegensatz  zu  den  Chenomorphen  finde  ich 
erstlich  im  Bestehen  einer  scharf  ausgeprägten  Linea  ileolaleralis, 
welche  zu  einem  deutlichen  Acetabularfortsatz  führt,  den  dorsalen  und 
lateralen  Darmbeintheil  abgrenzend.  Diese  Linie  fehlt  bei  den  Gänsen. 
Zweitens  divergiren  die  Schambeine  mit  dem  vordem  Sitzbeinrand, 
und  dem  Sitzbein  fehlt  die  zum  Schambein  tretende  Platte,  welche  bei 
den  Gänsen  ein  Foramen  obturatum  von  hinten  her  abgrenzt  und 
besonders  bei  Mergus  deutlich  aus  dem  ventralwärts  gekrümmten 
Ende  des  Sitzbeinkörpers  gebildet  wird.  In  diesem  Offensein  des 
Foramen  obturatum  scheint  sich  nicht  blos  die  Trennung  von  den  Che- 
nomorphen, sondern  auch  die  selbstständige  Stellung  zu  rechtfertigen, 
welche  von  Huxley  dieser  Gattung  angewiesen  ward.  Ausser  bei 
einigen  Ratiten  besteht  bei  nur  wenigen  Vögeln ,  z.  B.  bei  Tinamus, 
das  gleiche  Verhalten  in  ähnlicher  Form. 

Ich  schliesse  hieran  die  Reiher  (Pelargomorphae ,  Huxley),  von 
denen  ich  Ardea  cinerea,  n.  stellaris,  sowie  Ciconia  alba  untersucht 
habe.  Die  Wirbelzahl  des  ersten  Abschnittes  des  Sacrums  stellt  sich 
auf  fünf,  davon  einer  eine  Rippe  trägt,  die  sich  durch  Capitulum  und 
Tuberculum  befestigt.  Dieser  Abschnitt  ist  schlanker  als  bei  den 
hühner-  und  gänseartigen  Vögeln,  und  namentlich  bei  Ardea  (A.  stel- 
laris)   sind   die    Darnjbeine  dieses  Abschnittes   zierlich   gestaltet.     Die 

13* 


176  Carl  Gegerrbrtrtr, 

Querfortsätie  erscheinen  bei  Ciconia  einfach  bis  auf  den  letzten ,  der 
doppelte  Schenkel  besitzt.  Die  folgende  Wirbelgruppe  finde  ich  aus 
drei  Wirbeln  zusammengesetzt,  die  sich  mit  Beziehung  zum  Acetabulum 
jenen  der  Anserihen  gleich  verhalten.  Die  darauf  folgenden  Acetabu- 
larwirbel  sind  deutlich,  besonders  bei  Ciconia  (Fig.  XIV,  a,  b)  ;  das  von 
ihren  Querfortsätzen  umschlossene  Foramen  intertransversarium  ist 
schmäler,  aber  länger  als  die  der  folgenden  Wirbel.  Von  diesen  ge- 
hören zum  Sacrum  noch  vier,  die  bei  Ciconia  mit  den  acetabularen 
doppelte  Querfortsatzschenkel  gemein  haben.  Auch  der  erste  Caudal- 
wirbel  bietet  beim  Storch  diesen  Bau,  so  dass  eine  Sonderung  von  den 
acetabularen  schwer  wäre,  wenn  diese  nicht  durch  Volum  und  Stellung 
der  Querfortsätze  sich  leicht  bemerkbar  machten.  Bei  Ardea  ist  die 
Querfortsatztheilung  nur  durch  ein  Höherwerden  der  Querfortsätze  an- 
gedeutet, wobei  die  Löcher  durch  blind  geschlossene  Gruben  repräsen- 
lirt  sind.  Die  vier  postacetabularen  Wirbel  sondern  sich  im  Zusammen- 
hange mit  dem  Bestehen  einer  Ischiosacralleiste  in  verschiedener  Weise 
von  einander.  Bei  Ardea  stellaris  (Fig.  Xlll)  sind  die  drei  letzten 
Sacralwirbel  mit  jenem  Vorsprung  verbunden ,  dessen  concave  Kante 
am  Querfortsatz  des  zweiten  Postacelabularwirbels  beginnt.  Bei  Ci- 
conia ist  dieser  zweite  Wirbel  (2')  dem  vorhergehenden  gleich,  sein 
Querfortsatz  richtet  sich  aber  gegen  den  wenig  starken  sacralen  Anfang 
jener  Kante,  und  bei  Ardea  cinerea  ist  derselbe  zweite  Wirbel  kaum 
noch  in  Beziehung  zu  jener  Kante,  die  erst  am  dritten  postacetabularen 
Wirbel  (3')  anhebt.  Denmach  sind  bei  Ardea  cinerea  zwei  der  vier 
Wirbel  gegen  die  Fossa  iliaca  posterior  gerichtet.  Bei  Ardea  stellaris 
ist  es  ttur  einer.  Damit  steht  eine  Verschiedenheit  der  Ausbildung  der 
Ischiosacralleiste  in  Zusammenhang  und  diese  bedingt  wieder  eine  Ver- 
schiedenheit in  der  Tiefe  der  Fossa  iliaca  posterior.  Diese  ist  wenig 
beträchtlich  bei  Ardea  cinerea  (mehr  allerdings  als  bei  den  Gänsen), 
tiefer  ist  sie  bei  Ciconia ,  wo  bereits  eine  Einsenkung  über  die  Leiste 
hinaus  nach  hinten  beginnt.  Am  tiefsten  ist  die  Grube  bei  Ardea  stel- 
laris, wo  sie  sich  weit  über  die  Leiste  hinaus  ins  llium  erstreckt.  Dieses 
mit  dem  Becken  der  hühnerartigen  Vögel  gemeinsame  Verhalten  (vergl. 
damit  die  Figg.  11,  111,  IV)  wird  durch  die  Beziehung  zum  Foramen 
ischiadicum  modificirt.  Während  dieses  bei  den  Hühnervögeln  mit  seiner 
hinteren  Umrandung  vor  dem  Rande  der  Crista  ischiosacralis  liegt, 
zieht  sich  der  Hinterrand  des  Hüftloches  bei  Ciconia  bis  fast  zur  Höhe 
der  Crista  ischiosacralis  hinab,  und  reicht  bei  Ardea  stellaris  sogar 
über  jene  Leiste  hinaus,  welche  daher  von  aussen  her  durch  das 
Hüftloch  sichtbar  wird. 

Schwieriger  wird  die  Erklärung  des  Sacrums   bei    den   Möven, 


Rcilräjfe  zur  Kftniiliiiss  des  Hcckciis  der  Vö(jel.  177 

die  ich  inil  don  Coiyinbidon  ;uis  dor  Ih  xi.EY'schcn  Ablbciluni;  der  Ccco- 
iiiorphae  allein  untorsuchl  habe.  Fünf  Wirbel  bilden  liei  Larus  (L,  ri- 
dibiindus  und  argentatus)  (Fig.  XV)  den  ersten  Abschnitt.  Der  erste 
ti'iigt  eine  vollständige  Rippe,  der  zweite  nur  eine  Rippe,  die  blos  am 
Ende  des  Querforlsatzes  befestigt  ist ,  wenn  wir  von  dem  für  unsere 
Zwecke  untergeordneten  Umstände  absehen,  dass  diese  Rippe  auch  mit 
dem  llium  verwachsen  kann.  So  finde  ich  es  an  einem  Specimon  von  Larus 
lidibundus.  Jener  rippentragende  Querfortsatz  ist,  wie  die  folgenden, 
hoch  aber  dünn ;  der  des  dritten  Wirbels  ist  unansehnlich.  F^twas 
stärker  und  in  transversaler  Richtung  einander  parallel  sind  die  Quer- 
fortsätze der  beiden  letzten  Wirbel  dieses  Abschnittes.  Der  nächste 
setzt  sich  aus  vier  Wirbeln  zusanmien ,  die  wie  sonst  beschaffen  sind. 
Darauf  folgt  ein  mit  mächtigem  doppelschenkeligem  Querfortsatz  aus- 
gedehnter Acotabularwirbel.  Das  massive  Ende  dieses  Fortsatzes  stösst 
an  den  hinteren  Theil  des  Acetabulums,  die  vorerwähnte  Wirbelgruppe 
ist  daher  präacelabular.  Von  den  folgenden  postacetabularen  Wirbeln 
sind  bei  L.  ridibundus  die  Querfortsätze  zweier  der  Fossa  iliaca  poste- 
rior, die  zwei  letzten  der  langen  aber  schmalen  Ischiosacralleislc  zuge- 
wendet, die  sie  mit  bedeutender  Convergenz  ihrer  Enden  erreichen.  Bei 
Larus  argentatus  entspricht  nur  der  letzte  Sacralwirbel  jener  Leiste, 
drei  sind  mit  den  Querfortsätzen  gegen  die  Fossa  iliaca  posterior  ge- 
richtet. Somit  besteht  ein  ähnliches  Verhältniss  wie  bei  den  Reihern. 
Auch  das  Foramen  ischiadicum  bietet  ähnliche  Beziehungen,  indem  sein 
hinterer  Rand  nur  wenig  vor  der  Ischiosacralleiste  liegt. 

Aufzuhellen  bleibt  das  Verhalten  der  Acetabularwirbel,  deren  wir 
sonst  zwei,  bei  Larus  dagegen  nur  Einen  antreffen.  Durch  die  Beziehung 
dieses  einen  zum  Acetabulum  möchte  man  versucht  sein,  die  fehlenden 
unter  den  postacetabularen  zu  suchen ;  bei  L.  ridibundus  geht  zudem 
vom  verdickten  Querfortsatzende  des  einzigen  Acetabularwirbels  ein 
Vorsprung  schräg  nach  hinten  und  medianwärts  (vgl.  Fig.  XV),  so  dass 
man  auf  eine  einmal  vorhanden  gewesene  Verbindung  mit  dem  ersten 
Acetabularwirbel  sobliessen  könnte.  L.  argentatus  bietet  dagegen  nichts 
Derartiges  dar.  Es  ist  daher  gerechtfertigt,  auch  unter  den  präaceta- 
bularen  Wirbeln  zu  prüfen.  Geleitet  werden  wir  hiezu  durch  die  Vier- 
zahl dieser  Wirbel  und  die  Erwägung ,  dass  dieselbe  Gruppe  bei  Ver- 
Nvandlen,  den  Reihern,  den  Gänsen  etc.  nur  aus  drei  Wirbeln  sich  zu- 
sammensetzt. Beachten  wir  die  Richtung  der  hier  allein  bestehenden 
dorsalen  Querfortsätze  dieser  vier  Präacetabularwirbel ,  so  finden  wir 
die  der  ersten  drei  ziemlich  parallel  und  etwas  schräg  nach  hinten  ge- 
richtet. Der  Querfortsatz  des  vierton,  letzten  Wirbels  dieser  Gruppe 
verläuft  dagegen  viel  steiler  nach  hinten ,  ist  stärker  gegen  den  Quer- 


178  Carl  Gegeiibaur, 

fortsalz  des  acetabularen  Wirbels  geneigt  und  zwar  in  beiden  Arten 
von  Larus.  Wenn  diesem  Querfortsatze  auch  ein  ventraler  Schenkel 
zukäme,  so  müsste  er  mit  dem  Ende  des  acetabularen  Querfortsatzes 
nothwendig  zusammentreffen.  Es  wird  also  mit  aller  Wahrscheinlich- 
keit der  ursprüngliche  erste  Acetabularwirbel  durch  Verlust  seines 
ventralen  Querfortsatzes  in  die  präacetabulare  Wirbelgruppe  überge- 
gangen sein. 

Von  dem  Becken  der  Möven  ist  das  der  Golymbiden  ganz  aus- 
serordentlich verschieden,  wie  an  den  hierauf  untersuchten  Gattungen 
Podiceps  (P.  minor)  und  Colymbus  (C.  septentrionalis)  deutlich  wird. 
Zuerst  ist  es  die  bedeutend  langgestreckte  und  schmale  Form ,  welche 
die  Becken  dieser  Vögel  auszeichnet,  und  sie  bei  der  minimalen  Breite 
der  Interacetabularregion  und  des  ganzen  postacetabularen  Abschnittes 
fast  den  Becken  der  Strausse  ähnlicher  erscheinen  lässt.  Das  Ischium 
und  der  lange  postabulare  Theil  des  lliums  verwachsen  zu  einer  brei- 
ten, aber  fast  senkrecht  stehenden,  einem  längeren  Abschnitte  der 
Wirbelsäule  sich  anschmiegenden  Knochenlamelle.  Bei  Colymbus ,  wo 
ich  für  diesen  Abschnitt  acht  Wirbel  zähle,  lässt  der  dorsale  Darmbein- 
rand in  seiner  ganzen  Länge  eine  von  vorne  etwas  breitere,  vom  Ace- 
tabulum  an  sehr  schmal  werdende  und  bis  zum  Ende  ziemlich  gleich 
bleibende  Spalte  frei ,  aus  der  die  Dornfortsätze  der  Sacralwirbel  her- 
vortreten, bis  über  die  Acetabularregion  hinab  in  eine  Knochenleiste 
verschmolzen.  Bei  Podiceps  tritt  in  der  Acetabularregion  ein  breiterer, 
rautenförmig  gestalteter  Abschnitt  des  Sacrums  dorsal  zu  Tage ,  wäh- 
rend der  hinter  dem  Foramen  ischiadicum  gelegene  Theil  beider  Uia 
über  dem  Sacrum  zu  einer  fast  senkrechten  Kante  zusammen  tritt.  Den 
flachen  Darmbeinen  fehlt  jede  Andeutung  einer  Fossa  iliaca  und  damit 
auch  die  Ischiosacralleiste ;  damit  steht  das  gleichartige  Verhalten  der 
•postacetabularen  Wirbel  in  Zusammenhang.  Bei  der  Enge  der  Pfannen- 
gegend sind  auch  keine  acetabularen  Wirbel  unterscheidbar.  Im 
Ganzen  wird  man  dieser  Beckenform  im  Verhältniss  zu  den  Lariden 
eine  niedere  Stellung  einräumen  müssen,  da  sowohl  am  Sacrum,  als  an 
den  Hüftbeinen  viel  geringere  Differenzirungen  als  bei  jenen  vorhanden 
sind.  Inwiefern  diese  Verschiedenheit  durch  die  bei  den  Aleiden  und 
Procellariden  vorhandenen  Beckenformen  mit  jener  der  Lariden  ver- 
mittelt wird,  inwiefern  also  die  von  Hüxley  i)  aus  diesen  Familien  ge- 
gründete Abthoilung  der  Cecomorphae  auf  den  Bau  des  Beckens 
sich  stützen  kann,  muss  ich  unentschieden  lassen. 

Nach  der  Untersuchung  von  Garbo  finde  ich   das  Becken   der 


1)  Procced.  of  the  Zoological  Society.  London  1867.  S.  457. 


Hcitiiinc  zur  K(Miiiliiiss  des  BtH-kniis  der  Vöucl.  179 

Pelecaiiidcn  jonern  dor  Anatidon  am  niichsUMi  stehend.  Was  vor  allem 
das  Sacrum  hetrinX,  so  bilden  sechs  Wirbel  den  vordersten  Absciinitt 
(Fig.  XXIII).  Zwei  davon  tragen  Rippen.  Die  ersten  drei  Wirbel  sind 
wie  die  sätnmtlichen  vor  ihnen  befindlichen  Brustvvirbcl  durch  ventrale 
Fortsätze  (llypapophyscn)  ausgezeichnet,  wovon  auch  der  vierte  Wirbel 
noch  eine  Spur  zeigt.  Darauf  folgen  am  zweiten  Abschnitte  zwei  Wir- 
bel, worauf  ein  mit  ansehnlichem  vorderen  Querfortsatzschenkel  ver- 
sehener Acetabularwirbel  kommt.  Er  lehnt  sich  an  den  hinteren  Rand 
der  Pfanne.  Von  den  acht  Postacetabularwirbeln ,  die  nur  durch  all- 
mähliche Verbreiterung  ihres  kurzen  Ouorfortsatzes  sich  unterscheiden, 
correspondirt  der  vorletzte  einer  Ischiosacralleiste ,  die  schwach,  aber 
immerhin  deutlich  entwickelt  ist.  Es  besteht  demgemäss  eine  flache 
Fossa  iliaca  posterior.  Eigenthümlich  sind  zwei  von  der  Ischiosacral- 
leiste ausgehende,  die  Querforlsätze  des  ersten  und  auch  theilweise 
noch  des  zweiten  Caudalwirbels  zwischen  sich  fassende  Fortsätze, 
welche  eine  hintere  Incisura  ischio-iliaca  begrenzen  helfen.  Die  Inci- 
sur  besteht  wenn  auch  viel  schmaler  am  Becken  der  Gans,  weniger  bei 
Anas  boschas  und  Cygnus;  bei  Morgus  als  eine  schwache  Buchlung.  Die 
Fortsätze,  die  von  mir  als  Spinae  ilio-  caudales  bezeichnet  werden,  sind 
bei  Anas  anser  bedeutender  von  der  Wirbelsäule  entfernt  (vergl. 
Fig.  XIII).  Von  ihrem  medialen  Rande  her  zieht  eine  Membran  zu  den 
caudalen  Querfortsätzen.  Am  meisten  finde  ich  sie  sonst  noch  bei  Gallus 
entwickelt  (Fig.  II),  als  stumpfe,  aber  starke  Höcker,  welche  über  die 
Höhe  zweier  Caudalwirbel  hinausragen.  Bei  der  Vergleichung  des 
Beckens  von  Garbo  mit  jenem  der  Gans  fällt  noch  eine  an  der  Innen- 
fläche vom  Ausschnitt  des  Canalis  obturatoiius  beginnende  Furche  auf, 
die  lateral  von  der  zugeschärften,  gegen  das  ansehnliche  Foramen  ob- 
turatum  gerichteten  Kante  des  Ischium,  medial  dagegen  von  einer  dicht 
unter  dem  Acetabulum  entspringenden ,  dem  Körper  des  Ischium  fol- 
genden Kante  begrenzt  wird.  Die  mediale  Kante  fehlt  bei  Anas  anser, 
da  die  innere  resp.  vordere  Sitzbeinfläche  abgerundet  ist,  sie  ist  aber 
angedeutet  bei  Anas  boschas,  und  noch  bedeutender  bei  Mergus  ent- 
wickelt. 

Das  Bocken  des  gemeinen  Kranich  (Grus  cinereus)  bietet  im 
ersten  Abschnitte  des  Sacrums  sechs  Wirbel.  Die  beiden  ersten  tragen 
Rippen,  davon  das  vorderste  Paar  mit  Capitulum  und  Tuberculum  arti- 
culirt.  Das  zweite  Paar  articulirt  auf  der  ersten  halben  Länge  des  be- 
züglichen Querfortsatzes  (Fig.  XIV)  mit  dem  Capitulum  und  dann  noch- 
mals am  Endo  dos  Querfortsatzes  mittels  eines  verbreiterten  Tubercu- 
lums.  Die  Quorfortsälze  sind  bis  zum  letzten  Wirbel  herab  durch 
bedeutende,    vom  ersten  an   zunehmende  Höhe  ausgezeichnet.     Am 


180  Carl  Gegenbaur, 

fünften  und  sechsten  sind  sie  gespalten ,  wobei  der  dorsale  Schenkel 
sich  dem  Dornfortsatze  anlagert,  oder  vielmehr  einer  durch  die  Ver- 
wachsung der  Dornfortsätze  gebildeten  Crista.  Die  unteren  Theile 
nehmen  unter  Verbreiterung  der  Wirbelkörper  nach  hinten  an  Länge 
ab.  Auch  die  Foramina  intertransversaria  anteriora  wurden  kleiner. 
Am  zweiten  Abschnitt  sind  drei  Wirbel  vorhanden  (Fig.  XVI,  1,  2,  3). 
Der  dritte  Abschnitt  wird  wieder  aus  drei,  doppelte  Querfortsatzschen- 
kel besitzenden  Wirbeln  vorgestellt  (a,  6,  i').  Die  ansehnlichen  ven- 
tralen Schenkel,  besonders  der  beiden  ersten,  verlaufen  unter  Gonver- 
genz  schräg  nach  hinten  und  lateral  zum  hinteren  oberen  Pfanncntheile, 
wo  sie  mit  ihren  verbreiterten  Enden  in  eine  mächtige  Knochenmasse 
verschmelzen,  in  deren  hinteren  Theil  auch  noch  der  ventrale  Schenkel 
des  folgenden  Wirbels  eingeht.  Unter  diese  Knochenmasse  setzt  sich 
der  Recessus  anterior  der  Fossa  iliaca  posterior  fort.  Da  sonst,  z.  B. 
bei  Crax  alector,  die  Wand  dieses  Recessus  nur  vom  llium  gebildet 
wird,  ist  es  wahrscheinlich,  dass  auch  hier  Aehnliches  stattfindet,  und 
dass  der  genannte  Knochenpfeiler  nicht  ausschliesslich  von  den  gegen 
ihn  tretenden  Querfortsätzen  sich  zusammensetzt.  Die  dorsalen  Schen- 
kel dieser  Querfortsätze  sind  sämmtlich  schwach,  die  des  ersten  Aceta- 
bularwirbels  entbehren  der  terminalen  Verbindung  mit  den  ventralen 
Schenkeln.  Ob  daraus  geschlossen  werden  darf,  dass  nur  die  folgen- 
den beiden  Wirbel  acetabulare  sind,  ist  noch  nicht  sicher,  denn  wir 
haben  bereits  mehrfach  gerade  am  ersten  Acetabularwirbel  Uebergänge 
in  dem  vorhergehenden  Abschnitte  nachgewiesen ,  wobei  ich  an  die 
Hühner  erinnern  will.  Will  man  aber  nicht  eine  Variabilität  in  der 
Zahl  der  Acetabularwirbel  als  typische  Bildung  annehmen,  so  wird 
man  bei  dem  vorläufigen  Festhalten  an  der  Bedeutung  des  ersten  der 
vorhin  dieser  Gruppe  zugetheilten  Wirbel  nothwendiger  Weise  den 
dritten  (Fig.  XVI,  1')  aufgeben  müssen.  Dass  er  der  postacetabularen 
Wirbelgruppe  des  Sacrums  angehören  kann,  zeigt  auch  das  Verhalten 
des  folgenden  Wirbels,  der  sich  in  manchen  Stücken  dem  vorhergehen- 
den ähnlich  verhält.  Nur  die  Richtung  seines  Querfortsatzes  ist  minder 
zur  Acetabularstütze  convergirend.  Er  ist  zugleich  mehr  gegen  die 
Fossa  iliaca  posterior  gerichtet,  und  kommt  darin  mit  dem  nächsten 
Wirbel  (2')  überein,  der  ebenso  noch  einen  doppelschenkeligen  Quer- 
fortsatz aufweist.  Ein  ähnliches  Verhalten  zeigte  sich  auch  bei  Phoe- 
nicopterus  (Fig.  XI) ,  insofern  der  erste  Postacetabularwirbel  einen 
mit  dem  Vorhergehenden  convergirenden  Querfortsatz  darbot.  Wir 
unterscheiden  somit  nach  den  zwei  acetabularen  Wirbeln  (a,  b]  drei 
postacetabulare,  von  denen  einer  den  acetabularen  assimilirt  ist  und 
der  zweite  eine  Uebergangsform  zum  dritten  abgiebt.    Auf  diesen  folgen 


Beilräge  zur  Keniilniss  des  Beckens  der  Vögel.  1 8 1 

endlich  noch  drei  sacrale  Wirbel,  von  welchen  der  erste  (4')  mit  seinem 
Quorfortsatz  auf  die  Crisla  ischiosacralis  stösst  (c.  is.).  Diese  umzieht 
hier  einen  ansehnlichen  Recessus  iliacus  posterior.  Der  letzte  (6')  der 
poslacetabularen  Sacralvvirbel  ist  nicht  mit  dem  lateralen  Theile  seiner 
Querfortsätze,  sondern  mit  dem  Vorderrande  derselben  dem  Ilium  ver- 
bunden, und  zeigt  sich  dadurch  mehr  dem  caudalen  Abschnitte  der 
Wirbelsäule  angehörip.  Berücksichtigen  wir  diesen  Umstand,  so  slimnit 
die  Zahl  der  postacelal)uIaren  Wirbel,  fünf,  mit  der  von  Grax  aleclor 
Uboroin,  ebenso  auch  die  Zahl  der  Caudalwirbel,  sieben,  das  letzte  aus 
mchreien  Wirbeln  verschmolzene  Stück  für  einen  gerechnet.  In  der 
Zahl  der  präacetabularen  rippenlosen  Wirbel,  sieben,  ist  gleichfalls  eine 
Uebcreinslimmung.  Die  Verschiedenheit  des  Sacrums  beruht  in  beiden 
Vögeln  somit  wesentlich  darauf,  dass  bei  Grus  ein  rippentragender 
Wirbel  mehr  dem  Sacrum  zugetheilt  ist ,  und  dass  in  den  beiden  prä- 
acetabularen Abschnitten  des  Sacrums  eine  andere  Gruppirung  waltet, 
indem  die  erste  Gruppe  bei  Crax  vier,  bei  Grus  sechs,  die  zweite  bei 
Crax  vier,  bei  Grus  drei  Wirbel  umfasst.  Die  Vermehrung  des  prä- 
acetabularen Sacraltheiles  um  einen  Wirbel  bei  Grus  wird  aus  der  grös- 
seren Längsausdehnung  des  betreffenden  Darmbeinslückes  hinreichend 
verständlich.  Aehnliche  Beziehungen  ergeben  sich  auch  bei  einer  Ver- 
gleichung  mit  Phoenicoplerus. 

Mit  Beziehung  auf  die  am  Becken  des  Kranichs  nachgewiesenen 
verwandtschaftlichen  Verhältnisse  mit  dem  Becken  von  Crax  und  da- 
durch auch  mit  jenem  hühnerartiger  Vögel  muss  die  Untersuchung  des 
Beckens  von  Otis  (0.  tarda)  sich  hier  anschliessen.  Das  Skelet  eines 
noch  nicht  völlig  ausgewachsenen  Exemplares  zeigte  für  die  genauere 
Kenntniss  des  Vogelbeckens  ausser  den  dieser  Abhandlung  speciell  zur 
Aufgabe  gesetzten  Verhältnissen  noch  manchen  anderen  wichtigen  Be- 
fund. Was  das  Sacrum  betrifft,  so  sind,  wie  aus  dem  Vorbemerkten 
zu  erwarten  ist,  noch  nicht  alle  in  es  eingehende  Wirbel  verschmolzen. 
Der  erste  Abschnitt,  dem  der  Ausdehnung  der  Darmbeine  gemäss  fünf 
Wirbel  zukommen,  weist  zwei  un verschmolzene  Wirbel  (Fig.  XVIl,  S,  9) 
auf.  Beide  tragen  Rippen ,  die  mit  Capitulum  und  Tubcrculum  arti- 
culiren  ;  die  folgenden  drei  Wirbel  sind  unter  sich  sowohl,  wie  mit  dem 
nächsten  Abschnitte  verschmolzen.  Der  Quorfortsatz  des  ersten  dieser 
Wirbel  ist  wieder  durch  Höhe  ausgezeichnet,  die  der  beiden  letzten  (0,  5) 
sind  getheilt.  Der  ventrale  Schenkel  des  dritten  (5)  ist  unansehnlich, 
auf  der  einen  Seite  sogar  verkümmert  und  durch  Bandmasse  ergänzt. 
Im  zweiten  Abschnitte  sind  vier  Wirbel  (i — 1)  verschmolzen,  davon 
wieder  die  Querfortsätze  wie  sonst  nur  in  dorsalen  Schenkeln  bestehen, 
die  hier  ziemlich  kurz  sind.   Der  acclabulare  Theil  weist  zwei  unter  sich 


182  Carl  Gegenbaiir, 

und  mit  dem  vorhergehenden  vctschmolzene ,  von  dem  nachfolgenden 
getrennte  Wirbel  (Fig.  XVII,  a,  b)  auf.  Die  verbreiterten  Enden  ihrer 
ansehnlichen  doppeltschenkeligen  Querfortsätze  sind  unter  sich  ver- 
einigt und  stossen  an  den  die  Pfanne  tragenden  Darmbeintheil.  Im  Ver- 
gleiche mit  Crax,  wo  die  homologen  Wirbel  ganz  ähnlich  gestaltet  sind, 
liegen  sie  etwas  weiter  nach  vorne  zu.  Die  nächsten  drei  Wirbel  (1 ' — 3') 
besitzen  kürzere  einfache  Querfortsätze;  den  des  ersten  finde  ich  einer- 
seits dicht  an  der  Wurzel  durchbohrt.  Sie  lehnen  an  den  medialen 
Darmbeinrand.  Der  folgende,  vierte ,  postacelabulare  Wirbel  trifft  mit 
seinem  Querfortsatz  auf  eine  starke  Ischiosacralleiste  (c.  is.),  deren  hin- 
terem Rande  das  ansehnliche  knorpelige  Querfortsatzende  des  nächsten 
Wirbels  sich  anschmiegt,  sowie  diesem  w^ieder  jenes  des  folgenden 
mit  einer  Knorpelplatte  verwachsen  ist.  Nach  diesen  finde  ich  sechs 
discrete  Gaudalwirbel.  Das  darauf  folgende  wenig  mächtige  Pflugschar- 
bdin  bietet  noch  Spuren  mehrfacher  Wirbel  dar.  An  jedem  der  Gau- 
dalwirbel trägt  der  Querforlsatz  einen  ansehnlichen  Knorpel  (c//),  die- 
sem entspricht  an  den  vorhergehenden  Wirbeln  eine  Verdickung  der 
Knorpelplatte ,  welche  die  Querfortsätze  mit  der  Ischiosacralleiste  ver- 
bindet. Am  ausgewachsenen  Thiere  nehmen  die  Querfortsätze  der 
Gaudalwirbel  eine  ansehnliche  Ausdehnung  ein.  Der  Querfortsatz  läuft 
in  ein  nach  vorn  convexes  Knochenstück  aus,  welches  von  ersterem  an 
der  Basis  abgesetzt  ist  und  dadurch  seine  Entstehung  aus  dem  vorhin 
erwähnten  Apophysenknoipel  kundgiebt.  Dabei  hat  es  den  Anschein, 
als  ob  diese  Knorpel  s'elbstständig  ossificirten. 

Bevor  ich  auf  die  Vergleichung  des  Sacrums  eingehe ,  müssen 
einige  das  Ilium  betrefTende  Bemerkungen  vorgetragen  werden.  Das- 
selbe zeigt  eine  bedeutende  Grube,  die  vorwärts  einen  unter  die  Quer- 
fortsätze der  Acetabularwirbel  tretenden  Recessus  bildet,  der  etwas 
weniger  als  bei  Grax  entwickelt  ist.  Nach  hinten  vertieft  sich  die  Fossa 
iliaca  posterior  wieder  in  einen  Recessus,  welcher  die  Ischiosacralleiste 
wie  bei  Grax,  Gallus  und  Grus  abgrenzt.  Dieser  Recessus  posterior  ist 
aber  nicht  wie  bei  den  bisher  vorgeführten  Becken  blind  geendigt,  son- 
dern bildet  vielmehr  einen  von  der  Leiste  überbrückten  Ganal,  der 
hinten  ausmündet.  Es  liegt  hier  ein  Verhällniss  vor ,  welches  bei  Te- 
trao  Anschlüsse  findet.  Dort  trifft  sich  (bei  T.  urogallus  und  tetrix)  auf 
dem  hinter  der  Ischiosacralleiste  des  Darmbeins  liegenden  noch  ansehn- 
lichen Stücke  dieses  Knochens  eine  scharfumrandete  Grube  (vergl. 
Fig.  III),  welche  mehrere  gegen  den  Recessus  posterior  gerichtete  Löcher 
besitzt.  Denkt  man  sich  diese  Löcher  zusammengeflossen  zu  einem  in 
den  Recessus  einmündenden  Ganal  erweitert,  so  tritt  uns  das  Verhalten 


BtMtrrnte  zur  Kennt iiiss  des  Beckens  der  Vögel.  183 

von  Otis  im  Wesentlichen  entgegen,  und  dadurch  mögen  wieder  ver- 
wandtschoftliche  Beziehungen  gegeben  sein. 

Eine  zweite,  das  Iliurn  betreflende,  wie  ich  glaube  wichtige  Thal- 
sache ist  die  seil)stständige  Ossification  der  Ischiosacralleisle.  Sie  bil- 
det ein  besonderes  Knochenstück  (o,  15).  Wir  können  an 
diesem  Os  ischiosacrale  ein  schmaleres  Mittelstück  und  zwei  ver- 
breitesle  Enden  unterscheiden.  Ersteres  Stück  bildet  eine  quere 
Brücke  über  den  zu  einem  Canal  umgewandelten  Reccssus  iliaciis 
posterior,  das  mediale  Ende  stösst  an  den  Querfortsatz  des  vierten  posl- 
acetal)ularen  Wirbels,  verbreitet  sich  dorsalwärls,  so  dass  es  den  Canal 
von  oben  und  seitlich  umranden  hilft,  und  erstreckt  sich  auch  medial 
abgedacht  nach  vorn,  wodurch  es  auch  an  die  Querfortsälze  des  dritten 
und  des  zweiten  poslacetabularen  Wirbels  stösst.  Das  laterale  Ende 
tritt  direct  und  sehr  verbreitert  zu  dem  betreffenden  Os  ischii.  Es  be- 
sitzt gleichfalls  eine  dorsale  Ausdehnung  und  stösst  mit  dem  medialen 
Ende  über  dem  Canal  in  einer  noch  knorpeligen  Naht  zusammen.  Der 
vordere  Theil  des  lateralen  Endstückes  begrenzt  zugleich  das  Foramen 
ischiadicum  von  hinten  her.  hidem  beide  Endstücke  zur  Umschlicssung 
des  Canals  dorsal  gegen  einander  treten ,  kommen  sie  auf  der  oberen 
Fläche  des  Beckens  als  zwei  ansehnliche  Knochenplatten  zum  Vorschein. 
Die  laterale  Platte  steht  fast  senkrecht  zur  medialen.  Die  letztere 
grenzt  mit  breitem  Vorderrande  an  den  medialen  Theil  des  Hinterrandes 
vom  Ilium,  die  laterale  Platte  stösst  an  den  lateralen  Theil  jenes  Randes 
nur  mit  einer  schmalen  Stel'e.  Die  mediale  Platte  ist  ungleichmässig 
ossificirt,  sowohl  innen  als  aussen  scheinen  einzelne  Stücke  wie  ab- 
gelöst, auch  bietet  sie  besonders  innen  mehrfache  Vertiefungen  und 
andere  Unebenheiten,  was  alles  an  dem  lateralen  Endstücke  nicht  vor- 
kommt. Die  äussere  Oberfläche  desselben  ist  besonders  glatt  und  mit 
bestimmten  Contouren  umrandet.  Das  zwischen  diesen  Theilen  und  den 
benachbarten  Knochen  befindliche  Gewebe  scheint  Knoipel  zu  sein,  und 
ebenso  setzt  sich  ein  knorpeliger  Saum  noch  nach  hinten  fort,  vom  Cau- 
dallheil  bis  zum  Sitzbein  herüberziehend. 

Beim  erwachsenen  Trappen  ist  der  Ischiosacralknochen  vorn  mit 
dem  Ilium,  lateral  mit  dem  schmalen  Ischium  verschmolzen.  Die  Com- 
munication  unter  der  Ischiosacralleisle  besteht  dagegen  fort. 

In  Betreff  der  Vergleichung  des  Sacrums  ist  die  Deutlichkeit  der 
acelabularen  Wirbel  von  Wichtigkeil,  weil  daraus  die  Homologieen  der 
übrigen  Wirbel  leichter  festzustellen  sind.  Die  beiden  präacetabularen 
Wirbelgruppen  umschliessen  neun  Wirbel  wie  bei  Grus  cinerea,  einen 
mehr  als  bei  Crax,  wo  dagegen  nur  Ein  rippentragender  Wirbel  vor- 
kommt.    Die  Zahl  sämmtlicher  poslacetabularer  Wirl)el  ohne  das  Pflug- 


184  Carl  Gegeiibaur, 

scharbein  beträgt  bei  Otis  1  i,  bei  Grus  und  Giax  I  I .  Daran  sehiiesscn 
sich  auch  Gallus  und  Tetrao,  doch  geht  bei  dem  letzteren  der  elfte  Wir- 
bel zuweilen  ins  Pflugscharbein  ein.  In  allen  drei  Gattungen  sind  wie 
bei  Gallus  die  drei  ersten  der  postacetabularen  Wirbel  mit  ihren  Quer- 
fortsätzen der  tiefen  Fossa  iliaca  zugewendet,  und  der  vierte  postacela- 
bulare  Wirbel  sendet  seinen  Querfortsatz  der  Grisla  ischiosacralis  ent- 
gegen. Von  den  folgenden  Wirbeln  treten  noch  zwei  zum  Sacrum  bei 
Grus,  einer  bei  Crax,  und  bei  Otis  sind,  wie  an  den  mir  vorliegenden 
Skeleten  eines  noch  nicht  angewachsenen  und  eines  alten  Exemplars  er- 
kenntlich, noch  drei  Wirbel  dem  Sacrum  zugetheilt  (Fig.  XVII,  4',  5',  6'), 
wenn  auch  anfänglich  mit  dem  knöchernen  Ischiosacrale  nur  ein  Wirbel, 
eben  der  vierte  postacetabulare,  correspondirt.  Dieser  letzte  Sacral- 
abschnitt  vermehrt  also  von  Crax  durch  Grus  zu  Otis  die  Zahl  seiner 
Wirbel  =  2,  3,  1,  und  in  demselben  Maasse  wird  der  Caudalthcil  be- 
einträchtigt. Anders  verhält  es  sich  bei  Tetrao,  wo  gleichfalls  drei 
Wirbel  den  letzten  Abschnitt  des  Sacrums  bilden.  Hier  geschieht  die 
Vermehrung  durch  den  letzten  Wirbel  der  vorhergehenden  Gruppe, 
und  der  erste  auf  der  Ischiosacralleiste  stehende  Wirbel  ist  der  dritte 
Postacetabularwirbel. 

In  der  Familie  der  Charadriadae,  welche  Huxley  mit  den  Sco- 
lopacinen  in  die  Abtheilung  der  Charadriomorphae  zusammen- 
fasste,  findet  die  Sonderung  der  wichtigsten  Sacralabschnitte  allgemein 
deutlich  und  scharf  statt,  indem  die  beiden  Acetabularwirbel  sehr 
mächtig  entwickelt  sind.  Sie  sind  durch  lange  Querfortsätze  ausge- 
zeichnet, welche  meist  convergiren  und  gegen  den  dorsal  von  der  Pfanne 
befindlichen  Abschnitt  des  Iliums  gerichtet  sind.  Dieser  Theil  des 
Iliums  ist  wieder  sehr  massiv.  Bei  Haematopus  zieht  sich  sogar  ein 
leistenförmiger  Vorsprung  von  der  Verbindung  der  Querfortsätze  mit 
dem  Darmbein  bis  zum  hinteren  Pfannenrande.  Bei  Oedicnemus  ist 
dieser  Vorsprung,  der  die  Fossa  iliaca  anterior  von  der  posterior  schei- 
det, minder  stark.  Bei  Recurvirostra  fehlt  er.  Die  Querfortsatzenden 
sind  hier  der  Pfanne  bedeutender  genähert.  Dass  die  Beziehungen 
dieser  Wirbel  den  hinteren  Theil  des  Pfannenrandes  oder  vielmehr  den 
postacetabularen  Abschnitt  des  Iliums  betreffen,  geht  aus  der  Richtung 
der  beiden  Querfortsätze  hervor.  Sie  verlaufen  mehr  transversal,  wo 
die  Pfanne  vor  dem  Körpertheile  der  Wirbel  sich  findet,  z.  B.  bei  Re- 
curvirostra. Wo  sie  dagegen  mit  den  bezüglichen  Wirbelkörpoin  in 
gleicher  Höhe  sich  findet,  nehmen  die  Querfortsätze  einen  etwas  schräg 
nach  hinten  gerichteten  Verlauf.  Dies  gilt  besonders  für  den  ersten, 
minder  für  den  zweiten  Wirbel.  Bei  einem  Exemplare  von  Recurvi- 
rostra fehlt  dem  eisten  Acetabularwirbel  der  Querfortsatz,   resp.  der 


Beitrüge  zur  Keiiiitniss  des  Bcekcns  der  Vögel.  185 

vordere  Schenkel  desselben ,  und  bei  einem  Exemplare  von  Haemn- 
lopus  ostralegus  finde  ich  nur  Einen  Acelalnilarwirbel ;  wie  die  Ver- 
gleichuni;;  mit  dem  andern  Exemplare  ergiebl,  ist  es  wieder  der  erste 
Wirbel,  der  die  Abweichung  durch  Verlust  der  beitlerseitigen  Quei- 
forlsälze  hervorrief.  Bei  Numenius  finde  ich  nur  Einen  Acelabulai  wirbel 
mit  sehr  starkem  0«t'i'fo''lsalz.  Obgleich  d(M-  vorhergehenden  Gruppe 
vier  Wirbel  angehören,  muss  ich  den  fraglichen  Wirbel  für  den  ersten 
Acetabularwirbel  halten. 

Die  beiden  präacetabularen  Wirbelgruppen  setzen  sich  in  allen  drei 
zuerst  genannten  Gattungen  aus  acht  Wirbeln  zusammen,  die  beiden 
vordersten  tragen  Rippen.  Fünf  Wirbel  bilden  den  ersten  Abschnitt 
bei  Recurviroslra  und  Haematopus,  wo  der  zweite  Abschnitt  aus  drei 
Wirbeln  gebildet  wird.  Sechs  Wirbel  finde  ich  im  ersten  Abschnitte 
von  Oedicnemus,  dessen  zweiter  Sacralabschnitt  nur  zwei  W'irbel  be- 
sitzt. Dass  hier  ein  der  .'atzten  Gruppe  angehüriger  Wirbel  in  die  erste 
Gruppe  eingetreten  ist,  wird  auch  durch  die  sehr  kleinen  Querfortsätze 
des  sechsten  Wirbels  dargethan. 

Postacetabulare  Sacralwirbel  unterscheide  ich  bei  Recurviroslra 
vier,  bei  Haematopus  und  Oedicnemus  fünf.  Bei  Recurviroslra  ist  der 
vierte,  bei  Oedicnemus  der  vierte  und  der  fünfte  mit  der  Ischiosacral- 
leisle  in  Verbindung.  Diese  Leiste  bildet  hier  einen  sehr  schwachen 
abgerundeten  Vorsprung,  der  die  ziemlich  ansehnliche,  besonders  sehr 
breite  Fossa  iliaca  posterior  von  hinten  her  umzieht.  Bei  Haematopus 
ist  die  Leiste  durch  eine  ganz  kurze,  vom  Sitzbein  ausgehende  Er- 
habenheit vertreten,  die  Fossa  iliaca  posterior  ist  flacher  und  läuft  gegen 
den  hintersten  Theil  des  Iliums  seitlich  vom  Sacrum  ohne  Grenze  aus. 
Der  Ausdehnung  der  Fossa  iliaca  entspricht  die  Länge  des  Foramen 
ischiadicum  bei  Recurvirostra ,  während  letzteres  bei  Haematopus  viel 
weniger  lang  gezogen  ist,  und  noch  kürzer  (im  Verhältniss  zur  Fossa 
iliaca)  ist  es  bei  Oedicnemus.  In  demselben  Maasse  wird  der  hintere 
laterale  Abschnitt  der  Fossa  iliaca  von  einer  vom  Darm-  und  Sitzbein 
gebildeten  Knochenlamelle  umrandet,  deren  vorderer  Rand  die  hintere 
Begrenzung  des  ischiadischen  Loches  vorstellt.  Nach  hinten  läuft  das 
Ilium  in  eine  sehr  stark  lateral  gelegene  Spina  ilio-caudalis  aus,  von 
der  aus  ein  Vorsprung  zur  dorsalen  Umrandung  des  Foramen  ischiadi- 
cum zieht. 

Das  dorsale  Sacralfeld  ist  rhomboidal  gestallet,  die  beiden  seit- 
lichen Winkel  entsprechen  den  Enden  der  Querfortsätze  der  Acetabu- 
larwirbel. Der  vordere  Wirbel  läuft  spitz  auf  die  zwischen  den  vor- 
deren Darmbeinstücken  liegende  Dornfortsatzkanle  aus.     Nach  hinten 


186  Carl  Gegenbanr, 

ist  das  Sacralfeld  offen  und  setzt  sich  auf  den  Caudaltheil  der  Wirbel- 
säule in  dessen  Breite  fort. 

Vom  Becken  der  Reiher  unterscheidet  sich  das  Becken  des  Chara- 
driomorphen  vor  allem  durch  die  bedeutende  Breite  des  Interacetibu- 
larraumes,  sowie  durch  die  geringe  Ausbildung  der  Ischiosacralleiste, 
welche  dort  sogar  einen  Recessus  fossae  iliacae  umgiebt.  Man  kann  in 
diesen  Verhältnissen  einen  minder  differenzirten  Zustand  erkennen, 
der  dem  bei  den  Anserinen  angeführten  nur  parallel  liegt,  ohne  dorthin 
Verknüpfungen  erkennen  zu  lassen.  Letzteres  erhält  aus  den  Zahlen- 
verhältnissen, besonders  des  postacetabularen  Sacraltheiles,  eine  Unter- 
stützung. 

Das  Becken  der  Ralliden  ist  sowohl  in  seiner  allgemeinen  Ge- 
stalt, wie  in  dem  Verhalten  seiner  einzelnen  Theile  von  dem  der  vorhin 
aufgeführten  Gruppe  verschieden.  Es  ist  langgestreckt  und  dabei 
schmal,  besonders  am  präacetabularen  Theile.  Die  hinteren  Darmbein- 
stücke convergiren  gegen  einander  und  die  Sitzbeine  verlaufen  fast 
ganz  parallel.  So  wenigstens  bei  Fulica  atra,  Gallinula  chloropus  und 
Grex  pratensis.  Die  erste  Gruppe  des  präacetabularen  Abschnittes 
des  Sacrums  besteht  aus  fünf  Wirbeln ,  deren  erster  eine  Rippe  trägt. 
Gapitulum  und  Tuberculum  dieser  Rippe  sind  so  dicht  aneinander  ge- 
rückt, dass  sie  keine  Oeffnung  umfassen.  Von  da  ab  wachsen  die 
Wirbelkörper  an  Breite  und  nehmen  an  Höhe  ab ,  wie  auch  ihre  Quer- 
fortsätze an  Länge.  Den  zweiten  Abschnitt  bilden  in  beiden  Gattungen 
vier  Wirbel.  Darauf  folgt  bei  Crex  (Fig.  XXI)  und  Fulica  (Fig.  XIX) 
Ein  Acetabularwirbel ;  zwei  finden  sich  bei  Gallinula  (Fig.  XX) .  Die 
Verbindung  der  Querfortsätze  dieses  Abschnittes  mit  dem  hinteren 
oberen  Theile  der  Pfanne  bietet  nichts  von  anderen  Abweichendes. 
Dass  der  einzige  Acetabularwirbel  bei  Fulica  und  Crex  der  erste  ist, 
geht  aus  der  Vergleichung  mit  Gallinula  hervor,  da  hier  der  nächste 
Abschnitt  durch  einen  einzigen  Wirbel  repräsentirt  wird,  während  bei 
Fulica  und  Crex  deren  zwei  folgen.  Bei  einem  Specimen  von  Fulica 
finde  ich  einen  Querfortsatz  des  ersten  dieser  Wirbel  bedeutend  ent- 
wickelt, zwar  nicht  zweischenkelig,  wie  den  des  Acetabularwirbels,  aber 
doch  hoch  und  lang  und  terminal  deutlich  zum  Acetabulum  verfolgbar. 
Dieser  Wirbel  ist  somit  offenbar  dem  zweiten  Acetabularwirbel  von 
Gallinula  homolog.  Auch  bei  Grex  ist  die  Frage  nach  dem  zweiten 
Acetabularwirbel  aus  dem  Verhalten  des  auf  den  scheinbar  einzigen 
Acetabularwirbel  folgenden  Wirbels  zu  beantworten.  Sein  (dorsaler) 
Querfortsalz  trifft  terminal  mit  dem  des  Acetabularwirbels  zusammen. 

Den  folgenden  Abschnitt  bilden  vier  Wirbel  bei  Fulica,  drei  bei 
Gallinula,   zwei  bei  Grex.     Die  grössere  Länge   des   postacetabularen 


Beitrage  zur  Keniitiiiss  des  Beckens  der  Vögel.  1 87 

Beckenabschniltcs  slohl  damit  in  ZusaiiiiiHnliani^.  Die  Oucrfortsätzn 
dieser  Wirbel  sind  heträclillich  breit  und  zweischenkelig.  Die  hinleren 
Schenkel  vei'halten  sich  wie  am  vorhergehenden  Abschnitte,  die  vor- 
deren dagegen  treten  mit  einer  sehr  breiten  Ischiosacralleiste  zusam- 
men ,  welche  die  ventrale  Wand  eines  weiten  Recessus  iliacus  bildet, 
der  aus  der  Fossa  iliaca  posterior  sich  nach  hinten  erstreckt.  Bei  Fulica 
ist  dieser  Recessus  tiefer  als  bei  Gallinula  und  Crex.  Die  erste  Betrach- 
tung der  Ischiosacrallamelle  giebt  den  Anschein,  als  ob  durch  sie  die 
fraglichen  Querfortsätze  direct  mit  dem  Sitzbein  vereinigt  wären,  als 
ob  jdie  Lamelle  vom  Sitzbein  ausginge.  Genauere  Prüfung  weist  in 
diesem  Punkte  dasselbe  Verhalten  nach  wie  bei  anderen  mit  einem 
Recessus  posterior  versehenen  Becken,  z.  B.  jenem  der  Reiher,  nament- 
lich Ardea  stellaris.  Der  Binnenraum  des  Recessus  erscheint  als  drei- 
kantige Pyramide,  deren  Basis  gegen  die  tiefe  Fossa  iliaca,  deren  Spitze 
caudalwärts  gerichtet  ist.  Die  Wände  sind  eine  ventrale,  eben  von  der 
Ischiosacrallamelle  gebildet,  eine  dorsale ,  von  den  verbreiterten  dor- 
salen Querforlsätzen  dieses  Sacraltheiles ,  sowie  vom  hinteren  Planum 
dorsale  des  Darmbeins,  und  endlich  eine  laterale,  gleichfalls  vom  Darm- 
bein gebildet.  Vor  der  lateralen  Wand  liegt  das  Foramen  ischiadicum, 
dessen  hinterer  Rand  von  dem  zum  Ischium  ziehenden  Ausschnitte  jener 
Wand  dargestellt  wird.  Zwei  vordere  Sacrallöcher  (Foramina  inter- 
transversaria)  führen  jcderseits  bei  Fulica  wie  bei  Gallinula  in  den  Re- 
cessus. Ein  drittes  hat  bei  Fulica  diese  Beziehung  verloren.  An  der 
Umschliessung  des  Recessus  betheiligen  sich  also  noch  die  Querfort- 
sätze der  bezüglichen  Sacralwirbel ,  der  Recessus  wird  medial  noch 
von  einem  Theile  des  Sacrums  begrenzt,  während  er  bei  Ardea  aus- 
schliesslich im  Darmbein  liegt.  Hinter  dem  Recessus  zieht  sich  das 
llium  eine  Strecke  weit  noch  in  Verbindung  mit  dem  Ischium  in 
eine  fast  senkrechte  Lamelle  aus,  welche  mit  einem  bei  Gallinula  senk- 
recht abgestutzten ,  bei  FuHca  stumpfen  Fortsatz  ausläuft.  Diese  bei- 
derseitigen Fortsätze  begrenzen  zusammen  einen  hinteren  Ausschnitt 
des  Beckens,  von  welchem  Ausschnitte  die  Caudalwirbelsäule  hervor- 
geht. Diese  Fortsätze  entsprechen  den  Spinae  ilio-caudales.  Dorsal  er- 
hebt sich  voll  jedem  eine  laterale  Leiste,  welche  äusserlich  im  posl- 
acetabularen  Abschnitte  des  lliums  ein  dorsales  und  laterales  Feld 
scheidet.  Die  Leiste  biegt  hinter  und  über  dem  Foramen  ischiadicum 
in  einen,  besonders  bei  Gallinula  sehr  mächtigen,  lateralen  Fortsatz 
aus,  den  ich  als  Processus  ilio-lateralis  bezeichnen  will.  Von  da  aus 
erstreckt  sich  eine  besonders  bei  Fuhca  deutliche  Kante  zu  einem  über 
und  hinter  dem  Acelabulum  liegenden  Höcker,  Processus  acetabu- 
laris,   von  dem  aus  eine  median  und  nach  vorn  gerichtete  Linie  auf  die 


188  Carl  Gegenbaur, 

mediale  Kante  des  präacetabularen  Darmbeinabschnittes  verläuft.  Diese, 
zwei  bedeutende  Theile  der  äusseren  Oberfläche  scheidende  Linie,  die 
wegen  ihres  fast  allgemeinen  Vorkommens  am  Vogelbecken  besondere 
Wichtigkeit  hat,  ist  wieder  die  Linea  ilio-dorsalis.  Die  bei  den  genann- 
ten Ralliden  von  dem  Processus  ilio-lateralis  zum  Processus  acetabularis 
hin  ziehende  Linie  ist  die  Linea  ilio-lateralis.  Man  kann  sich  die  letz- 
tere auch  auf  die  Spina  ilio-caudalis  fortgesetzt  denken. 

Mit  der  Gonfiguration  dieser  Linien  und  Fortsätze  bei  den  Ralliden 
stimmt  das  Becken  der  Ardeiden  am  meisten  überein.  Ardea  stellaris 
finde  ich  in  dieser  Hinsicht  nicht  bedeutender  von  Fulica  atra  ver- 
schieden, als  diese  von  Gallinula  chloropus.  Die  Spina  ilio-caudalis  ist 
bei  der  Rohrdommel  zwar  sehr  wenig  selbstständig ,  aber  der  hintere 
Abschnitt  der  Linea  ilio-lateralis  ist  sehr  markirt  und  zieht  auf  einen 
wie  bei  Gallinula  stark  entwickelten  lliolateralfortsatz.  Dieser  liegt 
jedoch  der  Iliocaudalspina  relativ  viel  näher  als  bei  den  Ralliden.  Noch 
näher  liegt  er  beim  Kranich  ,  wo  zugleich  der  Ausschnitt  zwischen  den 
beiderseitigen  Iliocaudalfortsätzen  (Incisura  ilio-caudalis)  einen  weiten 
Bogen  bildet.  Eine  fast  quere  Richtung  erhält  die  hintere  Linea  ilio- 
lateralis  bei  Crax  aleclor  wie  auch  bei  Tetrao,  deren  Processus  ilio- 
lateralis  nur  wenig  vor  der  Iliocaudalspina  liegt.  Bei  Gallus  dagegen 
ist  der  stumpfe  lliolateralfortsatz  weit  nach  vorn  gerückt,  und  die  Ilio- 
laterallinie  läuft  von  da  an  zweigetheilt  zum  Acetabularfortsatz.  Dieser 
ist  bei  Crax  und  Tetrao  sehr  wenig,  bedeutend  dagegen  bei  Meleagris 
entwickelt,  wo  er  eine  breite  und  lange  Proluberanz  vorstellt.  Bei 
Ardea  erhebt  er  sich  als  eine  Leiste  ähnlich  wie  bei  Gallinula,  und  am 
ansehnlichsten  erscheint  er  bei  Grus,  wo  er,  aus  der  Iliolateralleisle 
hervortretend,  dornartig  übei'  das  Foramen  ischia/iicum  vorspringt.  Am 
wenigsten  finde  ich  diese  Sculpturen  bei  den  Anserinen  ausgeprägt,  wo 
nur  der  Acetabularfortsatz  des  Iliums  deutlich  unterscheidbar  besteht. 
Dieser  erscheint  denn  auch  als  der  wichtigste  Theil,  denn  er  entspricht 
überall  genau  der  Anfügesteile  der  dorsalen  Schenkel  der  acelabularen 
Querfortsätze  aus  llium. 

Wenn  in  den  bisher  abgehandelten  Abtheilungen  der  Vögel  man- 
nichfache  Beziehungen  der  einzelnen  Beckenformen  zu  einande  rbeslan- 
den,  die  auf  nähere  verwandtschaftliche  Verhältnisse  einen  Schluss  er- 
lauben, so  ist  dies  bei  den  noch  übrigen  Abtheilungen  minder  der  Fall. 

Das  Becken  der  Raubvögel  entfernt  sich  in  vielen  Punkten  von 
jenem  aller  bisher  vorgeführten,  und  schon  am  Sacralthoile  ergeben  sich 
wichtige  Eigenthümlichkeiten ,  wenn  auch  ganz  dieselben  Abschnitte 
wie  bei  den  meisten  übrigen  Vögeln  unterscheidbar  sind.  Den  vorderen 
Abschnitt  finde  ich  meist  aus  fünf  oder  mehr  als  fünf  Wirbeln  zusam- 


Boiträgc  zur  Keiintuiss  des  Beckens  der  Vögel.  189 

inengesetzt.     Nur  vier  nehme  ich  beim  Milan  wahr.    Fünf  zähle  ich 
beim  Bussard  und  Sperber,  dann  bei  Slrigiden  (Str.  olus,  flammea, 
aluco),  während  andere  Slrigiden  (Str.  l)ubo  und  passerina)  deren  sechs 
besitzen.     Bei  Str.  passerina  finde  ich  den  ersten  dieser  Wirbel  noch 
unverschmolzen,  obgleich  er  vom  Uium  weit  überragt  wird.    Bei  Aslur 
palumbarius,   Haliaetus  albicilla,  wie  bei  Sarcorhamphus  gehen  sechs 
Wirbel  in  jenen  Abschnitt  ein.    Die  ersten  Wirbel  desselben  tragen  drei 
Rippenpaare  bei  Sarcorhamphus ,  nur  zwei  bei  den  übrigen  mit  Aus- 
nahme von  Strix  otus ,  wo  ich  an  einem  Skelete  nur  Ein  Paar  Rippen 
vorfinde.    Bemerkenswerth  ist,  dass  bei  einer  Mehrzahl  von  Rippen  die 
hinteren  nur  an  den  Querfortsätzen  sich  befestigen.  Bei  Sarcorhamphus 
articulirt  die  vorletzte  einerseits  noch  mit  Capitulum  und  Tuberculum, 
andrerseits  sitzt  sie  nur  am  Querfortsatz,  und  das  dritte  Paar  ist  nur  in 
der  letzten  Weise  befestigt  (vergl.  Fig.  XXVI).    Bei  Haliaetus  ist  deut- 
lich zu  sehen,  wie  die  beiden  ersten  Wirbel  mit  Capitulum  und  Tuber- 
culum versehene  Rippen  tragen  und  dabei  mit  einfachen  Querfortsätzen 
ausgestattet  sind ,  indess  an  den  folgenden  Wirbeln  doppelte  Querfort- 
sätze, obere  und  untere,  vorkommen.    Die  unteren  oder  ventralen  ent- 
sprechen dabei  genau  den  Hälsen  der  den  ersten  Wirbeln  angefügten 
Rippen,     hn  folgenden  Abschnitte  zähle  ich  fünf  Wirbel  beim  Sperber, 
vier  Wirbel  bei  Aquila  leucocephala,  Haliaetus  albicilla,  bei  Sarcorham- 
phus und  bei  Buteo,  drei  bei  den  meisten  Eulen,  awei  bei  Strix  bubo 
und  passerina.     Wenn  man  bezüglich  der  beiden  letzteren  beachtet, 
dass  sie  im  ersten  Abschnitte  einen  Wirbel  mehr  als  andere  Eulen  be- 
sitzen ,  so  ist  die  Annahme  gerechtfertigt ,  dass  diese  Vermehrung  des 
ersten  auf  Kosten  des  zweiten  Abschnittes  entsprang.     Dies  wird  be- 
stätigt durch  die  bedeutende  Schwäche  der  Querfortsätze  des  letzten 
Wirbels  des  ersten  Abschnittes.     Die  Summe   beider  Wirbelgruppen 
beträgt  also  acht  bei  Strix,  neun  bei  Buteo,  zehn  bei  Haliaetus,  Aquila 
und  bei  Sarcoramphns. 

Der  letzte  Abschnitt  der  sacralen  Wirbelsäule  ist  auch  bei  den  Raub- 
vögeln in  zwei  Wirbelgruppen  zu  sondern ,  die  durch  das  Verhalten, 
namentlich  durch  die  Verbindungen  der  Querfortsätze  auseinander  gehal- 
len werden  können.  Die  vorderste  Gruppe  bilden  wieder  zwei  Wirbel, 
von  denen  besonders  der  Querfortsatz  des  ersten  bei  den  Tagraubvögeln 
sehr  mächtig  entwickelt  ist.  Er  tritt  wie  ein  starker  Pfeiler,  mit  dem  Quer- 
fortsalz des  folgenden  Wirbels  sich  terminal  zu  einer  stark  verbreiterten 
Leiste  verbindend,  zum  postacelabularen  Abschnitte  des  lliums  (vergl. 
Fig.  XXVI  u.  XXVIII,  o,  b) .  Beide  Wirbel  entsprechen  den  Acetabularwir- 
beln  der  übrigen  Vögel,  da  sie  an  derselben  Stelle  zum  Ilium  treten.  Der 
Querforlsalz  des  ersten   dieser  Wirbel  ist  ausser  bedeutenderer  Stärke 

Bd.  VI.    2.  <4 


190  Carl  Gegenbaur, 

auch  durch  seine  Länge  von  dem  folgenden  unterschieden.  Er  ist  unter 
allen  Becken  wirbeln  der  Haupttriiger  des  Uiums,  nur  in  einzelnen  Fällen 
scheint  auch  der  zweite,  jedoch  bei  stets  grösserer  Kürze  des  Querfort- 
satzes, mit  ihm  in  jenem  Verhalten  zu  wetteifern,  so  z.  B.  bei  Astur 
palumbarius ,  von  dem  ich  an  einem  Exemplar  sogar  sehr  schwache 
Querfortsätze  des  ersten  Acetabularwirbels  vorfinde.  Die  Querfortsätze 
convergiren  meist,  sehr  bedeutend  z.  B.  bei  Buteo. 

Bei  den  Eulen  ist  die  Stärke  der  Querfortsätze  der  Acetabular- 
wirbel  minder  bedeutend.  Am  meisten  noch  bei  Bubo.  Sehr  schwach 
ist  der  des  zweiten  bei  Str.  aluco  (Fig.  XXVII),  bei  Str.  passerina  finde 
ich  an  einem  Exemplare  einseitigen  Mangel  des  Querfortsatzes  am  ersten. 
In  der  Regel  bildet  der  zweite  Acetabularwirbel  bei  den  Eulen  ein 
Uebergangsglied  zu  den  postacetabularen  Wirbeln,  wodurch  die  Aceta- 
bularwirbel minder  scharf  als  bei  den  Tagraubvögeln  sich  vom  ge- 
sammten  Sacralcomplexe  abheben.  Unter  den  Tagraubvögeln  wird 
durch  Milvus  eine  Vermitlelung  zu  diesem  Verhalten  gebildet,  und  durch 
das  Vorkommen  vorderer,  wenn  auch  sehr  schlanker  Querfortsätze  an 
dem  ersten  und  letzten  Wirbel  der  vor  den  Acetabularwirbeln  liegen- 
den Wirbelgruppe  ist  die  sichere  Bestimmung  der  beiden  Acetabular- 
wirbel am  Beckenskelete  vollkommen  unmöglich.  Es  besteht  hier  das 
geringste  Maass  der  Diflerenzirung  unter  allen  vorgeführten  Vogelgat- 
tungen. 

Die  postacetabularen  Wirbel  finde  ich  bei  den  Raubvögeln  zwischen 
zwei  bis  vier  schwankend.  Vier  besitzt  Strix  flammea,  drei  die  übrigen 
untersuchten  Eulen,  dann  Buteo,  Falco  nisus  und  Sarcorhamphus,  zwei, 
Astur,  Aquila  und  Haliaetus.  Wo  nur  zwei  solcher  Wirbel  vorkom- 
men, sind  ihre  stets  starken,  quer  nach  aussen  und  meist  auch  etwas 
abwärts  gerichteten  Querfortsätze  mit  einer  mächtigen  Crista  ischio- 
sacralis  in  Verbindung,  wodurch  eine  tiefe  Fossa  iliaca  posterior  abge- 
grenzt wird.  Dem  den  Boden  dieser  Grube  bildenden  Darmbeinab- 
schnitt entspricht  demzufolge  bei  den  Eulen  nur  Ein  postacetabularer 
Wirbel,  mit  Ausnahme  von  Strix  flammea,  bei  welcher  die  Querfortsätze 
zweier  Wirbel  gegen  jene  Grube  gerichtet  sind.  Der  Mehrzahl  der  Eulen 
reihen  sich  Falco  nisus,  Buteo  und  Sarcorhamphus  an,  während  bei 
Astur,  Aquila  und  Haliaetus  keiner  der  beiden  postacetabularen  Wirbel 
mit  seinem  Querfortsatz  gegen  jene  Grube  stösst.  Sie  wird  daher  me- 
dian nur  von  den  hier  bedeutend  verbreiterten  Querfortsatzenden  der 
beiden  Acetabularwirbel  abgegrenzt.  Von  einem  Recessus  iliacus  sind 
hin  und  wieder  leichte  Spuren  vorhanden,  der  hinlere  ist  am  beträcht- 
lichsten bei  Bubo,  auch  bei  anderen  Eulen  noch  deutlich.  Er  fehlt  auch 
den  Tagraubvögeln  nicht  allgemein.    Bei  allen  untersuchten  Raubvögeln 


Beiträge  zur  Keiiiitniss  des  Beckens  der  Vögel.  191 

wild  die  Stelle  der  lateralen  Wand  der  Fossa  iliaca  posterior  durch  das 
ansehnliche,  runde  oder  schräg  ovale  Foramen  ischiadicum  gebildet, 
gegen  welches  sie  fast  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  offen  ist.  Aussen 
läuft  über  dem  Foramen  ischiadicum  ein  die  Linea  ilio-laleralis  tragen- 
der VorsjMung,  der  an  seinem  hinteren  Umfange  ein  Dach  über  das 
Foramen  ischiadicum  bildet,  und  zugleich  eine  bedeutende,  auf  der 
Aussenlläche  des  Sitz-  und  des  Darmbeines  gelegene  Vertiefung  von 
hinten  und  oben  abschliessen  hilft.  Diese  Grube  zieht  vom  Foramen 
ischiadicum  aus  grösstentheils  auf  dem  Sitzbein  hin  und  soll  als 
Fossa  ischiadica  unterschieden  werden.  Bei  den  anderen  bisher  be- 
trachteten Vögeln  finde  ich  für  diese  Bildung  nur  Andeutungen,  die 
gegen  die  bedeutende  Entfaltung  der  Grube  besonders  bei  den  Tag- 
raubvögeln kaum  in  Betracht  kommen. 

Eine  Spina  iliocaudalis  fehlt  den  meisten  Tagraubvögeln,  indem 
die  Linea  ilio-lateralis  in  sanfter  Biegung  bis  ans  Ende  des  Sitzbeines 
verfolgt  werden  kann.  Dadurch  empfängt  der  postacetabulare  Theil  des 
Beckens  den  Anschein  einer  charakteristischen  Neigung  nach  vorn  und 
abwärts.  In  der  Wirklichkeit  ist  dies  Verhalten  bezüglich  der  Neigung 
des  Darmbeins  wenig  oder  gar  nicht  von  dem  anderer  Vögel,  z.  B.  der 
Hühner,  verschieden.  Als  ein  stumpfer  Höcker  ist  die  Spina  bei  den 
Eulen  angedeutet ;  der  am  hinteren  Bande  der  Beckenbegrenzung  ge- 
legene Höcker  unterbricht  deutlich  die  Fortsetzung  der  Iliolaterallinie 
zum  Sitzbein ,  oder  lässt  vielmehr  jene  Linie  erst  von  da  an  beginnen. 
Bei  Milvus  ist  der  Höcker  zu  einer  stark  vorstehenden  Spina  geworden 
und  bei  Sarcorhamphus  ist  sie  dicht  hinter  dem  Sitzbein  bemerkbar, 
das  hinterste  Ende  des  Iliums  bildend. 

Eine  grössere  Einförmigkeit  bezüglich  des  Sacraltheils  des  Beckens 
bieten  die  bisher  meist  in  die  Ordnungen  der  Scansores  und  Passeres 
(Oscines  und  Glamatores]  gebrachten  Familien  dar. 

Die  durch  Huxley  vollzogene  Auflösung  des  Scansores  rechtfertigt 
sich  bezüglich  der  Papageien  (Psittacomorphae  IIx.)  auch  am  Becken,  ■ 
an  dem  den  anderen  Abtheilungen  der  früheren  Scansorengruppe  gegen- 
über noch  die  meisten  der  bisher  unterschiedenen  Wirbelcoujplexe 
wahrnehndjar  sind.  Bei  einigen  Species  von  Macrurus,  dann  bei  Psit- 
tacus  erythacus  und  Cacalua  sulphurea  finde  ich  den  ersten  Abschnitt 
aus  vier  oder  fünf  Wirbeln  bestehend,  davon  zwei  Rippen  tragen;  der 
vierte  ist  in  der  Regel  durch  bedeutende  Stärke  seines  kurzen  Quer- 
fortsatzes  ausgezeichnet.  Dieser  Fortsatz  ist  am  fünften  bei  Cacalua 
sehr  schwach.  Darauf  folgt  ein  Wirbel  ohne  vorderen  Querfortsatz- 
schenkel und  diesem  anscheinend  die  beiden  Acetabularwirbel,  welche 
zwar  lauge,   aber  ausnehmend  schwache  Queiforlsätze  besitzen.     Di^* 

44* 


192  Carl  Gegenbaiir, 

des  zweiten  sind  stärker  als  die  des  ersten.  Ihre  terminale  Verbreite- 
rung liegt  in  gleicher  Höhe  mit  dem  Acetabulum.  Man  kann  daraus 
Bedenken  schöpfen,  ob  der  erste  durch  schwache  Querfortsätze  ausge- 
zeichnete wirklich  ein  Acetabularwirbel  ist. 

Von  den  folgenden  fünf  Sacralwirbeln  sind  die  beiden  ersten  bei 
Cacatua  sulphurea  mit  schwachen  Querfortsätzen  versehen.  Sie  richten 
sich  mit  jenen  des  dritten  gegen  den  eine  Fossa  iliaca  posterior  bilden- 
denden Theil  des  Iliums,  während  der  vierte  und  fünfte  mit  einer 
Ichiosacralleiste  correspondirt.  Bei  einem  Macrurus  sind  ausser  den 
Wirbeln  der  ersten  Gruppe  nur  die  an  die  Ischiosacralleiste  stossenden 
unterscheidbar,  während  alle  dazwischen  liegenden  ganz  allmählich  in 
einander  übergehen. 

Noch  mehr  ist  die  Verwischung  der  Unterschiede  der  einzelnen 
Sacralwirbelgruppen  bei  den  kukukartigen  Vögeln  (Goccygomor- 
phae  Hx.),  von  denen  ich  eine  Species  von  Buceros,  dann  den  Wiede- 
hopf und  gemeinen  Kukuk  untersucht  habe.  Im  Sacraltheile  des  Beckens 
besitzen  sie  das  Gemeinsame,  dass  der  erste  Abschnitt  nur  von  drei 
Wirbeln  gebildet  wird,  davon  nur  einer  eine  Rippe  trägt,  diese  finde 
ich  nur  mit  dem  Ende  des  bezüglichen  Querfortsatzes  in  Verbindung. 

Die  folgenden  Wirbel  gehen  allmählich  in  einander  über.  Der  erste 
davon  besitzt  bei  Buceros  (Fig.  XXIX)  eine  Andeutung  des  Anschlusses 
an  die  vorhergehende  Gruppe,  indem  er  Rudimente  vorderer  Querfort- 
satzschenkel besitzt,  die  aber  nicht  zum  Darmbein  gelangen. 

Auch  bei  einem  Exemplare  von  Guculus  canorus  finde  ich  etwas 
Aehnliches,  die  Querfortsätze  bilden  ganz  feine  Knochenstäbchen.  Die 
Gesammtzahl  dieser  Wirbel  ist  zwar  für  die  drei  Gattungen  verschieden, 
allein  es  ist  doch  möglich ,  etwas  Gemeinsames  aufzufinden ,  indem 
die  Zahl  der  der  Fossa  iliaca  entsprechenden  Wirbel  sechs  beträgt. 
Der  sechste  besitzt  schräg  nach  hinten  gerichtete  Querfortsätze  und 
richtet  sich  damit  gegen  den  Anfang  einer  Crista  ischiosacralis ,  welche 
bei  Buceros  nur  sehr  schwach ,  bedeutender  bei  Upupa ,  am  meisten 
bei  Guculus  vorspringt.  Der  folgende  Wirbel  ist  durch  seine  rein  trans- 
versal verlaufenden  Querfortsätze  ausgezeichnet.  Sie  setzen  sich  un- 
mittelbar in  die  Grista  ischiosacralis  fort.  Bei  Guculus  und  Upupa  bildet 
dieser  Wirbel  den  Abschluss  des  Sacrums ,  bei  Buceros  folgt  ihm  noch 
einer,  der  jedoch,  den  ersten  Gaudalwirbeln  ähnlich,  wieder  schräg 
gerichtete  Querfortsätze  besitzt. 

In  den  wesentlichsten  Punkten  mit  den  Goccygomorphen  in  Ueber- 
einstimmung  finde  ich  das  Sacrum  der  Spechte.  Da  ich  nur  Picus, 
und  zwar  nur  P.  canus  und  P.  viridis,  untersuchen  konnte,  muss  mein 
Urtheil  bezüglich  der  von  Huxley  aufgestellten  Abtheilung  der  Geleo- 


Beiträge  zur  Kennliiiss  des  Beckens  der  VökcI.  193 

niorphac  ein  zurUckhallcndos  sein.  Im  ersten  Abschnitte  des  Sacrums 
zähle  ich  wieder  drei  Wirbel,  davon  der  erste  eine  Rippe  besitzt.  Dann 
folgen  sechs  der  Fossa  iliaca  corrcspondirende  Wirbel,  davon  der  letzte 
wieder  seinen  Querforlsatz  schräg  abwärts  gegen  den  Anfang  der  Crista 
ischiosacralis  gerichtet  hat.  Genauer  entspricht  erst  der  nächste  Sacral- 
wirbel  der  genannten  Crista ,  welcher  mit  noch  einem  den  letzten 
Abschnitt  des  Sacrums  bildet.  Der  letzte  Wirbel  scheint  länger  unver- 
schmolzen  zu  bleiben ,  wenigstens  finde  ich  es  so  an  einem  Skelete, 
das  einem  völlig  ausgewachsenen  Thiere  angehört. 

Bei  Gypselus  (G.  apus)  lässt  der  Sacraltheil  des  Beckens  wieder 
den  ersten  Abschnitt  mit  drei  Wirbeln  unterscheiden,  den  ersten  davon 
mit  einer  Rippe.  Darauf  kommen  sechs  ziemlich  gleichartige  Wirbel, 
die  gegen  die  flache,  aber  ausnehmend  breite  Fossa  iliaca  gerichtet  sind. 
Die  Querfortsätze  der  beiden  ersten  sind  kurz ,  vom  dritten  an  werden 
sie  länger,  der  des  fünften  und  sechsten  besitzt  eine  schräge  Richtung. 
Der  Querfortsatz  des  sechsten  Wirbels  dieser  Gruppe  vereinigt  sich  ter- 
minal mit  dem  letzten  SacraKvirbel  am  Anfange  einer  schmalen  und 
zarten  Ischiosacralleiste.  Bemerkenswerth  ist  noch,  dass  vom  Acota- 
buluni  her  eine  Verdickung  des  sonst  pelluciden  Iliums  gegen  den 
dritten  und  vierten  Wirbel  der  vorhin  erwähnten  Gruppe  zieht. 

Sehr  nahe  verwandtschaftliche  Beziehungen  zu  den  vorerwähnten 
bietet  der  Sacraltheil  des  Beckens  der  krähenartigen  Vögel  (Cora- 
comorphae  nach  Huxley)  dar.  Bei  den  untersuchten  Gattungen  dieser 
ausgedehnten  Abtheilung  finde  ich  als  allgemeinen  Charakter  des 
Beckens  die  ansehnliche  Weite  des  hinteren  Abschnittes.  Der  Sacral- 
theil kommt  dorsal  in  seiner  ganzen  Länge  zwischen  den  Ilia  zum  Vor- 
schein. Die  Spina  iliocaudalis  ist  deutlich  und  bezeichnet  den  Anfang 
der  Linea  iliolaleralis  wie  bei  Gypselus.  Auch  ein  Processus  iliolatera- 
lis  ist  vorhanden ,  der  bei  Gypselus  fehlt.  Die  Incisura  iliocaudalis  ist 
der  bedeutenden  hinteren  Beckenbreite  gemäss  von  grosser  Weite,  bald 
tief,  bald  seichter. 

Im  ersten  Sacralabschnitte  trifft  man  meist  eine  geringere  Wirbel- 
zahl als  in  anderen  Abtheilungen.  Vier  Wirbel  bei  Gorvus  (G.  corone, 
monedula,  pica,  glandarius)  und  Lanius,  drei  bei  Turdus ,  Fringilla, 
Coccothraustes,  Bombjcilla,  Alauda.  Der  nächste  Abschnitt  bietet  sechs 
Wirbel  dar  bei  Gorvus,  Lanius ,  Fringilla  ,  Alauda  ,  sieben  bei  Turdus 
und  Bombycilla ;  die  zwei  ersten  dieser  Wirbel  entbehren  in  der  Regel 
des  ventralen  Schenkels  dos  Querfortsatzes ,  doch  finde  ich  bei  einigen 
Exemplaren  von  G.  corone  auch  bei  einem  Gorvus  monedula  Andeu- 
tungen solcher  vorderer  Schenkel.  Bei  einem  Exemplare  von  C.  pica 
ist  nur  ein  Wirbel  in  diesem  Befunde.    Bei  Turdus  sind  die  drei  ersten 


194  Carl  Gegenbaur, 

Wirbel  dieser  Gruppe  ohne  jene  Fortsätze.  Diese  Wirbel  sind  wie  bei 
Fringilla  und  den  Sylvien  am  Körpertheile  durch  paarige  Impressionen 
ausgezeichnet,  die  nach  unten  hin  an  Deutlichkeit  abnehmen.  Spuren 
davon  finden  sich  auch  bei  Bombycilla.  Am  dritten,  bei  Turdus  und 
Bombycilla  erst  am  vierten  Wirbel  dieser  Gruppe,  beginnen  wieder 
vordere  Schenkel  der  Querfortsätze  aufzutreten ,  bald  an  einem ,  bald 
an  zwei  oder  sogar  an  drei  Wirbeln.  An  den  hinteren  Wirbeln  sind 
diese  mit  den  hinteren  (dorsalen)  Schenkeln  verschmolzen,  d.  h.  die 
Querfortsätze  sind  hier  einfach.  Im  Ganzen  waltet  hinsichtlich  dieses 
Verhaltens  eine  grosse  Mannichfaltigkeit ,  wobei  es  unthunlich  ist,  die 
beiden  Acetabularwirbel  sicher  nachzuweisen.  Wollte  man  den  dritten 
und  vierten  Wirbel  dieser  Gruppe  hieher  rechnen ,  so  wird  man  durch 
die  grosse  Unbeständigkeit  des  Verhaltens  der  Querfortsätze  an  diesem 
ganzen  Abschnitte  davon  abgemahnt,  und  man  wird  den  Versuch  auf- 
geben müssen,  wenn  nicht  neue  Thatsachen  zur  Begründung  jener 
Auffassung  aufzudecken  sind.  Bevor  wir  zu  jenen  Thatsachen  über- 
gehen, wird  es  also  nothwendig  sein,  von  Vergleichungen  der  einzelnen 
Wirbel  des  fraglichen  Sacralabschnittes  Umgang  zu  nehmen. 

II.  Ver gleichung. 

Bei  der  Vorführung  des  anatomischen  Materials  ist  zwar  die  Ver- 
gleichung  der  einzelnen  Beckenformen  unter  einander,  besonders  be- 
züglich dos  Sacrums,  mehrfach  berücksichtigt  worden,  allein  es  bleibt 
noch  das  Wichtigste  übrig  und  dies  liegt  in  dem  Aufsuchen  des  Zusam- 
menhanges jener  Beckenformen  der  Vögel  mit  denen  anderer  Wirbel- 
thiere.  Die  hiezu  aufzubietende  Vergleichung  wird  nicht  dabei  stehen 
bleiben  dürfen,  in  der  grossen  vertebralen  Ausdehnung  der  Darmbeine 
und  anderen  Besonderheiten  die  Eigenthümlichkeit  des  Vogelbeckcns 
aufzustellen ,  sondern  wird  nach  den  speciellen  Homologien  zu  suchen 
haben,  welche  für  die  lateralen  Beckentheile  wenig  schwierig  und  in 
den  Hauptstücken  längst  bekannt,  für  die  medianen  dagegen  erst  noch 
festzustellen  sein  dürften.  Dass  ein  Theil  des  thoracalen  Abschnittes 
der  Wirbelsäule,  sowie  der  Lumbaltheil  desselben  zum  Sacrum  getreten 
ist,  ist  wohl  nicht  bestritten.  Unsere  Aufgabe  ist  daher  auf  das  noch 
in  Frage  Befindliche  gerichtet,  welches  denn  die  Wirbel  seien ,  die,  als 
ursprüngliche  Beckenwirbel,  jenen  niederer  Wirbelthiere  (der  Amphi- 
bien und  der  lebenden  Beptilien)  homolog  zu  deuten  wären. 

Durch  die  Untersuchung  einer  grösseren  Anzahl  von  Vogelbecken 
wurde  nachgewiesen,  dass  in  fast  allen  Abtheilungen  zwei  Wirbel  be- 
stehen ,  welche  durch  manche  Eigenthümlichkeiten  sich  auszeichneten. 


Beitrage  zur  Kenntniss  des  Bfickens  der  Vögel.  195 

vor  Allem  ober  ini  Vorhalten  ihrer  doppellen  Querforlsätzc  zum  nceta- 
bul.'iron  Thcile  des  Iliums  als  conslante  Gebilde  erscheinen.  Durch  die 
Vert^leichung  bei  den  einzelnen  Abtheilungen  konnten  sie  als  homologe 
Theiie  nachgewiesen  werden.  Sie  wurden  vorläufig  als  Acetabular- 
wirbel  bezeichnet,  da  sie  stets  in  der  Nähe  des  Acetabulums,  wenn 
auch  nut  ihrem  Körper  bald  vor,  bald  hinter  demselben  gelegen  waren. 
Die  grosse  Verbreitung  dieser  Wirbel  in  den  einzelnen ,  oft  sich  sonst 
entfernter  stehenden  Abtheilungen  der  Vögel  >)  lässt  an  ihnen  zunächst 
einen  bedeutungsvollen  Theil  des  Sacrums  erkennen.  Man  kann  diese 
Bedeutung  in  der  ansehnlichen  Stütze  finden ,  welche  die  mächtigen 
Querfortsätze  dem  Pfannen  theiie  des  Beckens  darbieten.  Da  aber  dieses 
Verhalten  nicht  immer  besteht  und  die  Ausbildung  der  beiden  Wirbel 
in  sonst  nahe  verwandten  Abtheilungen ,  bis  in  die  Gattungen  herab, 
eine  ungleiche  ist,  wird  von  diesem  auf  Anpassung  abzielenden  Ver- 
hältniss  abzusehen  sein.  Dabei  möge  man  beachten,  was  oben  über 
diese  beiden  Wirbel  bei  Tetrao  urogallus  und  T.  tetrix  bemerkt  wurde. 
Auch  das  ist  von  besonderer  Wichtigkeit,  dass  sie  individuelle  Verschie- 
denheiten zeigen,  wie  für  die  in  grösserer  Anzahl  untersuchten  Becken 
der  Tauben  und  Hühner  nachgewiesen  ward.  Die  vorderen  Schenkel 
der  Querfortsätze  können  an  einem  der  beiden  Wirbel  rückgebildet  er- 
scheinen, oder  auch  zugleich  fehlen,  und  damit  hört  die  Auszeichnung, 
aber  auch  die  functionelle  Bedeutung  auf,  die  man  ihnen  bei  der  Prüfung 
eines  anderen  Sacrums  derselben  Species  zuschreiben  möchte. 

Mehr  noch  als  durch  diese  Variabilität  wird  jene  rein  physiologische 
Auffassung  in  der  Berechtigung  zu  dieser  Deutung  in  Frage  gestellt, 
durch  embryologische  Nachweise.  Aus  Untersuchungen  am  Hühnchen 
ergiebt  sich ,  dass  dieselben  beiden  Wirbel,  von  denen  der  vordere  bei 
erwachsenen  Thieren  sehr  häufig  die  vorderen  Schenkel  seiner  Quer- 
fortsätze verliert,  sehr  ausgebildete  Querfortsätzc  besitzen,  die  im  Ver- 
gleiche zu  denen  der  folgenden  Wirbel  auch  beträchtlich  länger  sind 
(s.  Fig.  V).  Jene  beiden  Wirbel  tragen  in  früheren  Zuständen  sogar 
die  mächtigsten  Querfortsätze  von  allen  Sacralwirbeln ,  und  diese  dop- 
peltschenkeligen  Fortsätze  sind  jederseits  viel  früher  in  terminaler  Ver- 
bindung, als  diess  bei  den  folgenden  der  Fall  ist,  die  erst  in  den  ersten 
Lebensmonalen  ein  ähnliches  Verhalten  eingehen. 

Diese  überwiegende  Ausbildung  der  Querfortsätze  der  genannten 


1)  Sowohl  bei  Ratitcn  als  Carinatcn  ergaben  sie  sich  verbreitet  und  bei  den 
letzten  war  das  ursprüngliche  Verhallen  nur  bei  den  Acgi  thognathae  (Huxlet) 
allgemein  aufgelöst.  Ihnen  schliessen  sich  die  Psittacomorphac  und  Coccygomor- 
pliac  von  der  HuxLEt'schen  Ablhciiung  der  Des  mo  gna  t  hae  eng  an. 


196  Carl  Gegenbaur, 

Wirbel  fand  ich  auch  bei  anderen  Vögeln  während  des  Embryonallebens 
oder  auch  in  den  ersten  Jugendmonaten,  so  z.  B.  bei  der  Gans,  dann 
bei  Otis  tarda ,  von  welch'  letzlerer  ich  in  Fig.  XVIII  das  Becken  eines 
ganz  jungen  Thieres  zur  Vergleichung  mit  Fig.  XVII  abbilde. 

Aus  der  Thatsache  einer  bedeutenderen  Ausbildung  der  zwei  Ace- 
tabularwirbel  während  des  Embryonallebens  und  eines  allmählichen 
Stehenbleibens  dieser  Ausbildung  ,  wodurch  eine  relative  Rückbildung 
eingeleitet  wird ,  glaube  ich  diesen  Wirbeln  eine  phylogenetische  Be- 
deutung zuschreiben  zu  dürfen.  Sie  erscheinen  als  Ilomologa 
von  zwei  Wirbeln,  welche  in  der  nächst  unteren  Ab- 
theilung.die  einzigen  Sacralwirbel  sind.  Diese  Bedeutung 
sprechen  sie  ausser  durch  ihre  fast  allgemeine  Verbreitung  und  ihr 
embryonales  Uebergewicht  auch  durch  die  Stelle  des  Uiums  aus ,  mit 
der  sie  sich  verbinden. 

Wenn  nun  diese  beiden  Wirbel  ererbte  typische  Sacralwirbel  sind, 
zu  denen  die  vor  und  hinter  ihnen  liegenden  sich  als  accessorische  Sa- 
cralwirbel verhalten ,  so  muss  auch  in  dem  Verhalten  der  bezüglichen 
Spinalnerven  eine  übereinstimmende  Einrichtung  zu  finden  seih.  Meckel 
hat  bereits  den  Eintritt  des  lumbaren  Abschnittes  der  Wirbelsäule  in 
die  Zusammensetzung  des  Sacrums  der  Vögel  aus  dem  Verhalten  der 
Nerven  erschlossen  und  Barkow  *)  ist  ihm  im  Wesentlichen  gefolgt, 
allein  beide  nehmen  ausschliesslich  ihre  Beziehungen  von  den  Säuge- 
Ihieren,  speciell  von  dem  Menschen  her.  Zur  Unterscheidung  eines  für 
die  Beurtheilung  der  übrigen  Abschnitte  des  Sacrums  nöthigen  Aus- 
gangspunktes ist  daher  aus  jenen  Angaben  kein  Anlass  zu  finden.  Dazu 
wird  vor  Allem  eine  Untersuchung  des  Verhaltens  der  Sacral- 
nerven  zu  den  einzelnen  Abschnitten  des  Sacrums  nöthig  sein. 

Mit  Beziehung  auf  die  Sacralnerven  habe  ich  bei  einer  Anzahl  von 
Vögeln  Untersuchungen  angestellt  und  dabei  Folgendes  gefunden.  Die 
zwei  für  die  vorliegende  Frage  in  Betracht  kommenden  Plexusse  sind 
der  Plexus  cruralis  und  der  Plexus  ischiadicus.  Der  erstere  setzt  sich 
meist  aus  drei  Nerven  zusammen,  die  unter  sich  Ansäe  bilden.  Der 
schliesslich  gebildete  Hauptstamm  ist  der  N.  cruralis.  Aus  der  ersten 
Ansa  geht  dann  noch  ein  nach  dem  Typus  der  Intercostalnerven  sich 
verhaltender  Nerv  hervor  und  endlich  entsendet  dieses  Geflechte  noch 
den  N.  obturatorius,  der  übrigens  auf  verschiedene  Art  sich  zusammen- 
setzt.   Am  häufigsten  finde  ich  ihn  aus  der  zweiten  Ansa  hervorgehen. 

Der  dritte  am  Plexus  cruralis  betheiligte  Nerv  sendet  gleich  nach 
seinem  Austritte  aus  dem  Rückgratcanal  einen  Verbindungszweig  zum 

1)  Op.  cit.   p.  8. 


Beitrüge  zur  Keniilniss  des  Beckens  der  Vögel.  1 97 

nächstfolgenden  in  den  Plexus  ischiadicus  eingehenden  Nerven  und 
setzt  damit  die  Schlingenbildung  fort.  Da  dieser  Theil  des  Nerven  mit 
dem  in  den  Plexus  cruraiis  geilenden  fast  immer  gleich  stark  ist,  kann 
man  den  fraglichen  Nervenstamm  ebensogut  dem  Plexus  ischiadicus 
zurechnen.  Die  beiden  duich  sofortige  Theilung  des  Stanmies  ent- 
stehenden Zweige  kann  man  so  als  cruralen  und  ischiadischen  unter- 
scheiden. Der  ischiadische  Zweig  ist  mit  dem  cruralen  Zweig  von 
gleicher  oder  doch  ziemlich  gleicher  Stärke  beim  Huhn,  bei  der  Gans, 
der  Trappe,  der  Taube,  dann  bei  Caprimulgus  europaeus,  Psitlacus  erv- 
thacus,  dann  bei  der  Elster  und  dem  Nussheher.  Der  ischiadische 
Zweig  ist  schwächer  bei  Numenius  phaeopus,  Buteo  vulgaris,  Corvus 
corone,  Ciculus  aquaticus,  Sturnus  vulgaris,  Picus  virides  und  Guculus 
conorus. 

Der  Haupttheil  des  Plexus  ischiadicus  wird  aus  den  folgenden  fünf 
Nervenstämmen  gebildet,  die  an  Stärke  meist  vom  dritten  bis  zum  letz- 
ten abnehmen.  Beim  Huhn  und  der  Gans  erscheint  der  erste  etwas 
schwächer  als  der  zweite.  Bei  der  Trappe  ist  der  dritte  der  stärkste. 
Stets  ist  der  letzte  der  schwächste.  Dieser  giebt  zugleich 
nur  einen  Theil,  oft  nicht  einmal  die  Hälfte  seiner  Fasern  zum  Plexus 
ischiadicus ,  den  anderen  Theil  abwärts  zum  Plexus  pudendalis  sen- 
dend. Der  Ischiadicus  empfängt  also  aus  sechs  Spinalnerven  Elemente, 
vier  führen  sie  ihm  ausschliesslich  zu,  zwei  nur  theilweise,  da  der  erste 
einen  Zweig  zum  PI.  cruraiis  sendet,  der  letzte,  wie  vorhin  gesagt,  zum 
PI.  pudendalis.  Von  den  vorhin  aufgeführten  Vögeln  Hessen  einige  eine 
Minderzahl  von  Nerven  im  Plexus  ischiadicus  wahrnehmen.  Nur  fünf 
Spinalnerven  sind  betheiligt  bei  Columba ,  wie  auch  bei  Caprimulgus. 
Sieben  Nerven  finde  ich  dagegen  beim  Kranich.  Ob  dieses  individuelle 
Verschiedenheiten  sind  oder  nicht,  muss  ich  dahin  gestellt  sein  lassen, 
zumal  es  für  unsere  Aufgabe  nicht  ins  Gewicht  fälUt. 

Das  Verhalten  des  ersten  in  den  Plexus  ischiadicus  eintretenden 
Nerven ,  d.  h.  jenes  aus  dem  letzten  Nerven  des  Cruralgeflechtes  kom- 
menden Ramus  communicaus  zum  Becken  ist  verschieden,  bei  den 
meisten  untersuchten  Vögeln  läuft  dieser  Ramus  communicans  über  den 
meist  starken  Querfortsatz  des  letzten  Wirbels  der  ersten  Sacralwirbel- 
gruppe  abwärts,  um  die  aus  den  Intervertebralöffnungen  an  der  Seite  der 
zweiten  Wirbelgruppe  hervortretenden  Hauptstämme  zu  erreichen,  an 
deren  ersten  er  sich  anlagert.  Man  sehe  das  auf  S.  201  im  Holzschnitte 
Fig.  1  dargestellte  Schema.  Bei  der  Taube,  beim  Huhn,  bei  der  Trappe 
und  bei  Numenius  kouunt  jener  erste  Nerv  aus  dem  ersten  Intervcrte- 
bralloche  der  zweiten  Sacralwirbelgruppe.  Sein  Ramus  communicans 
ischiadicus  hat  also  keine  Beziehungen  zum  erwähnten  Querfortsatze, 


198  Carl  Gegenbatir, 

dagegen  läuft  der  R.  comm.  cruralis  zu  jenem  Querfortsatz  schräg  empor. 
Daraus  kann  geschlossen  werden ,  dass  entweder  der  Nerv  oder  der 
Querfortsatz  in  einem  inconstanten  Verhalten  sich  findet.  Da  wir  aber 
oben  an  vielen  Beispielen  gesehen  haben ,  dass  der  fragliche  Wirbel  in 
Beziehung  auf  den  Querfortsatz  variabel  ist,  indem  er  bei  Mangel  von 
Querfortsätzen  (resp.  vorderer  Schenkel)  auch  der  zweiten  Sacralwir- 
belgruppe  angehören  kann,  so  ergiebt  sich  das  Verhalten  des  Nerven 
bezüglich  des  Verlaufs  seiner  beiden  Aeste  als  ein  secundäres,  und  wir 
werden  für  alle  Fälle  die  Homologie  dieses  Nerven  anerkennen  dürfen. 

Der  letzte  an  dem  Plexus  ischiadicus  betheiligte  Nerv ,  derselbe, 
der  auch  einen  Ramus  communicans  pudendalis  entsendet,  ist  für  uns 
der  wichtigste,  indem  er  stets  zwischen  jenen  beiden  Wirbeln  austritt, 
die,  anfänglich  als  Acetabularwirbcl  bezeichnet,  alsdann  als  primitive 
Sacralwirbel  gedeutet  worden  sind.  Ich  habe  das  beim  Huhn,  bei  der 
Gans,  der  Trappe,  der  Taube  und  beim  Bussard  gefunden,  also  bei 
Repräsentanten  sich  sehr  entfernt  stehender  Abtheilungen,  woraus  die 
Allgemeinheit  des  Verhaltens  wohl  ohne  Gefahr  gefolgert  werden  kann. 
Demnach  ist  der  letzte  zum  Plexus  ischiadicus  gelan- 
gende Nerv  der  eigentliche  Sacralnerv.  Nach  Feststellung 
dieses  Verhaltens  schliessen  wir  weiter  auf  diejenigen  Vögel,  deren 
Sacrum  die  beiden  typischen  Sacralwirbel  nicht  mehr  deutlich  zeigt, 
wie  dies  bei  den  Coracomorphae  der  Fall  ist.  Nehmen  wir  ein  Beispiel 
am  Becken  der  Elster,  das  oben  (S.  193)  beschrieben  wurde  (vgl.  auch 
Fig.  XXX) .  Hier  verlässt  der  kritische  Nerv  den  Rückgratcanal  zwischen 
den  in  der  Abbildung  mit  a  und  b  bezeichneten  Wirbeln ,  wir  deuten 
daher  diese  beiden  Wirbel  als  Homologa  jener  Wirbel,  die  bei  anderen 
denselben  Nerv  durchlassen ,  der  typischen  Sacralwirbel ,  und  haben 
damit  einen  festen  Anhaltepunkt  zur  Beurtheilung  der  übrigen  Wirbel 
erhalten ,  der  uns  sonst  bei  der  ziemlichen  Gleichartigkeit  der  nächst 
vorhergehenden,  sowie  der  nachfolgenden  Wirbel  fehlen  würde.  Bei 
Anwendung  des  so  zu  Stande  gekommenen  Nachweises  der  primären 
Sacralwirbel  ergiebt  die  Vergleichung  mit  dem  Sacrum  anderer  Vögel, 
dass  die  zweite  aus  scheinbar  ungleichartigen  Wirbeln  zusammenge- 
setzte Gruppe  des  Sacrums  der  Elster  sich  in  drei  Wirbel  auflöst,  die 
vor  den  primären  Sacralvvirbeln  liegen  :  in  die  zwei  primären  Sacral- 
wirbel, und  in  zwei  Wirbel,  die  hinter  diesen  liegen  (Fig.  XXX,  1',  2'). 
Somit  entstehen  hier  drei  ünterabtheilungen ,  die  denen  anderer  Vögel 
vollkommen  entsprechen,  ihre  .einzelnen  Wirbel  jedoch  mehr  gleichartig 
gestaltet  erscheinen  lassen  und  dadurch  ein  indifferentes  Verhalten 
bieten. 

Ich  erkenne ,  dass  es  beim  ersten  Anblick  etwas  Widerstrebendes 


Beiträge  mr  Keniitiiiss  des  Beckens  der  Vögel.  1 00 

haben  mag,  für  die  Auffassung  der  mehrerwähnten  zwei  Wirbel  als 
priniiire  Sacralwirbel  in  der  zwischen  ihnen  austretenden  unanselm- 
lichsten  Wurzel  des  Isehiadicus  einen  neuen  Releg  zu  sehen.  Man 
könnte  vielmehr  versucht  sein,  ungeachtet  dieses  Nervenverhaltens  und 
in  Bcrilcksichligung  der  übrigen  vorerwähnten  Thalsachen  jene;  Deutung 
festzuhalten  und  den  Beziehungen  zu  den  Ncrvenwurzeln  einen  nur 
untergeordneten  Werth  beilegen ,  wenn  man  nicht  gar  einen  Einwand 
gegen  die  gegebene  Deutung  schaffen  will. 

Dennoch  muss  ich  erklären,  dass  aus  dem  Unistande,  dass  bei  di-n 
Vögeln  der  bei  weitem  grösste  Theil  der  den  Isehiadicus  zusammen- 
setzenden Nervenwurzeln  vor  dem  primären  Sacrum  den  Wirbelranal 
verlässt,  keineswegs  ein  Einwand,  vielmehr  sogar  eine  Stütze  für  frag- 
liche Deutung  erwächst.  Diesen  Satz  begründe  ich  auf  die  Vergleichung 
mit  dem  bezüglichen  Nervenverhältniss  bei  den  Reptilien. 

Bei  den  Crocodilen  setzt  sich  der  Ichiadicus  aus  drei  Ncrvenwur- 
zeln zusammen.  Die  bei  weitem  stärkste  tritt  zwischen  den  beiden 
Sacralwirbeln  hervor ,  mit  ihr  verbindet  sich  noch  ein  schwacher  Ast 
vom  vorhergehenden')  und  ein  gleicher  vom  nachfolgenden  Nerven. 
Bei  den  Schildkröten  bilden  nach  Bojanus  vier  Nerven  wurzeln  den 
Plexus  isehiadicus,  zwei  praesacrale,  eine  sacrale  und  eine  postsacrale. 
Die  erste  piaesacrale  ist  nur  ein  schwacher  Zweig  eines  mit  seinem 
grüsslen  Theile  zum  Cruralgeflechte  tretenden  Nerven,  die  zweite  ist 
die  stärkste ,  w  orauf  der  etwas  schwächere  Sacralnerv  und  endlich  die 
fast  gleich  starke  postsacrale  Nervenwurzel  folgt. 

Bezüglich  der  Zahl  der  Nervenwurzeln  des  Isehiadicus  schliessen 
sich  die  Eidechsen  enger  an  Crocodilus  an.  Ich  finde  bei  vier  in  dieser 
Hinsicht  untersuchten  Repräsentanten  stets  drei  Wurzeln,  eine  sacrale 
und  zwei  praesacrale.  Im  Holzschnitt  Fig.  2  ist  dies  Verhältniss  sche- 
matisch dargestellt.  Die  unmittelbar  vor  dem  ersten  Sacralwirbel  aus- 
tretende ist  die  stärkste.  Bei  Chamaeleo  vulgaris  ist  auch  die  sacrale 
Wurzel  noch  mächtig,  wenn  auch  schwächer  als  die  vorhergehende. 
Bei  Lacerta  viridis,    Uromaslix  spinipes  und  Grammatophora  barbata 


1)  Jener  erste  Praesacralnerv  spaltet  sich  gleich  nach  seinem  Austritte  in  zwei 
fast  gleiche  Aeste,  der  eine  davon  ist  der  in  den  Isehiadicus  gelangende,  der  andere 
vereinigt  sich  mit  einem  Zweige  des  vorhorgchondcn  zu  einem  zwischen  den  bei- 
den ventralen  Beckenknochen  durchtretenden,  zum  Thoil  an  Muskeln  an  der  Innen- 
fläche des  Ohorschc[ikcls  endenden  Nerven,  der  einem  N.  ohturatotius  zu  ent- 
sprechen scheint.  Daraus  möchte  ich  schliessen,  dass  die  vorderen  jener  Becken- 
knochen, die  von  manchen  Autoren  als  Schambeine  bezeichnet  werden,  in  der  That 
solche  sind,  ungeachtet  des  ganz  abweichenden  Verhallens  zur  Pfanne  des  Hüft- 
gelenkes. 


200  Carl  Gegeiibaur, 

finde  ich  den  Sacralnerven  bedeutend  schwach  und  nur  zum  kleinsten 
Theile,  mit  einem  ganz  feinen  Fädchen  nämlich,  zum  Plexus  ischiadicus 
gelangend.  Bei  Lacerta  agilis  ist  ausserdem  die  bedeutende  Mächtigkeit 
der  beiden  Praesacralnerven  bemerkenswerth ,  von  denen  der  erste, 
vorderste,  stets  einen  Ast  zum  Cruralgeflechte  abgiebt.  Dieser  Ast  ist 
in  demselben  Maasse  schwach,  als  der  andere  zum  Ischiadicus  tretende 
stark  ist.  Ziemlich  gleich  stark  sind  beide  Aeste  bei  Grammatophora 
und  Ghamaeleo. 

Bei  Ordnung  dieser  Thatsachen  ergiebt  sich  für  Crocodilus  ein  Vor- 
wiegen des  eigentlichen  Sacralnerven ,  und  damit  ein  Verhalten ,  wel- 
ches insofern  als  niederes  bezeichnet  werden  kann,  als  sich  das  gleiche 
bei  Amphibien  wiederfindet.  Ich  treffe  beim  gefleckten  Salamander 
den  Plexus  ischiadicus  aus  drei  Wurzeln  gebildet.  Die  vorderste  ist 
schwach  und  entsteht  aus  der  Theilung  des  vor  dem  einzigen  Sacral- 
wirbel  austretendem  Nerven,  die  zweite  Wurzel  bildet  den  Hauptstamm 
und  tritt  zwischen  dem  Sacralwirbel  und  dem  nächstfolgenden  Wirbel 
aus,  die  dritte  Wurzel  endlich  ist  nur  ein  dünnes,  vom  nächstfolgenden 
Nerven  kommendes  Fädchen.  Wenn  wir  den  einzigen  Sacralwirbel  der 
Amphibien  dem  ersten  Wirbel  des  zweiwirbeligen  Sacrums  der  Bep- 
tilien  für  homolog  halten,  wie  kaum  anzuzweifeln  sein  dürfte,  so  ist 
auch  jene  stärkste  Ischiadicuswurzel  von  Salamandra  der  vom  Crocodile 
homolog. 

Eine  Ausdehnung  seiner  Wurzelreihe  bietet  der  Plexus  ischiadicus 
der  Schildkröte.  Die  sacrale  Wurzel  herrscht  nicht  vor,  wenn  sie  auch 
zugleich  mit  einer  postsacralen  stark  ist.  Zwei  praesacrale  Wurzeln 
sind  zugetreten,  davon  eine  die  mächtigste  aller  ist. 

Das  Verhalten  bei  den  Eidechsen  lässt  sich  an  jenes  der  beiden 
anderen  Abtheilungen  anknüpfen.  Vor  Allem  ist  die  Betheiligung  post- 
sacraler  Nerven  am  Plexus  ischiadicus  gänzlich  aufgehoben.  Ein  bei 
den  Schildkröten  starker,  beim  Crocodil  schwacher  Stamm  sendet  bei 
den  Eidechsen  gar  keine  Fäden  zum  Ischiadicus.  Der  Sacralnerv,  sehr 
stark  beim  Crocodil  und  der  Schildkröte,  ist  bei  Eidechsen  meist  ein 
schwaches  Stämmchen  i),  welches  am  Plexus  ischiadicus  sich  nur  mit 
einem  feinen  Zweige  betheiligl  (Grammatophora,  Uromastix,  Lacerta). 
Da  nicht  nachzuweisen  ist,  ob  jener  Zweig  im  Ischiadicus  bleibt  oder, 
was  eben  so  mögUch,  die  Bahn  des  Geflechtes  sofort  wieder  verlässt,  so 


1)  Zu  den  oben  von  mir  aufgeführten  Gattungen  kann  bezüglich  des  Verhaltens 
des  Plexus  ischiadicus  auch  Gecko  treten,  von  dem  (G.  verus)  von  Huxley  die 
schwächere  Beschalfenheit  des  zwischen  den  beiden  Sacralwirbeln  austretenden 
Nerven  erwähnt  wird.    Proc.  zoolog,  Soc.  London  1869.  S.  417,  Anmerkung. 


Beitrüge  zur  Kenntiiiss  des  Reckens  der  Vögel 


201 


ist  die  Beziehung  des  Sacralnerven  zum  Ischiadieus  überhaupt  fraglich. 
Wenn  sie  in  der  That  besieht,  so  ist  sie  a])er  beslinimt  unbedeutend, 
und  das  Ueberwiegen  der  praosacralen  Nervenvvurzeln  im  Icluadicus 
ist  jedenfalls  ausser  allem  Zweifel. 

In  diesem  Ueberwiegen  praesacraler  Nerven  bei  der  Zusammensetzung 
des  Ischiadieus  der  Eidechsen  haben  wir  einen  festen  Anknüpfungs- 
punkt mit  dem  Verhalten  bei  den  Vögeln  gefunden.  Vergleichen  wir 
das  Verhalten  des  letzten  am  Ischiadieus  betheiligten  Nerven,  so  finden 
wir,  wie  der  bei  Eidechsen  unzweifelhafte  Sacralnerv  bei  den  Vögeln 
zwischen  zwei  Wirbeln  austritt,  die  durch  das  Verhalten  ihrer  Quer- 
fortsütze  Iheils  in  Jugendzuständen,  theils  auch  später,  als  Homologa  der 
beiden  Sacralwirbel  der  Reptilien  sich  deuten  Hessen.  Ist  durch  die 
Homologie  des  Nervenverhaltens  jene  der  Wirbel  an  einem  Abschnitte 
bestärkt ,  so  ergiebt 
sich  die  Vergleichung 
der  übrigen  Theile 
ohne  grössere  Schwie- 
rigkeit. Eidechsen 
wie  Vögel  stim- 
men darin  über- 
ein, dass  der 
schwache  Sacral- 
nerv meist  nur 
einen  unbedeu- 
tenden Zweig  zum 
Ischiadieus  sen- 
det, der  keine 
postsacrale  Ner- 
venwurzeln em- 
pfängt. Derlschia- 
dicus  setzt  sich 
bei   beiden    vor- 


Fis.  2. 


■^   r 

Fig.  1. 

wiegend  aus  praesacralen  Wurzeln  zusammen.  Diese 
sind  geringer  an  Zahl  bei  den  Eidechsen ,  grösser  bei  Vögeln  (vergl. 
vorstehenden  Holzschnitt) .  Bei  Eidechsen  geht  ein  ganzer  Praesacral- 
nerv  und  ein  Theil  eines  anderen  Praesacralnerven  in  den  Ischiadieus 
über,  bei  den  Vögeln  stellen  fast  allgemein  vier  ganze  Praesacral- 
nerven und  ein  Verbindungszweig  eines  anderen  die  Wurzeln  des 
Ischiadieus  dar.  Die  Zahl  der  praesacralen  Ischiadicus- 
wurzeln  ist  also  bei  den  Vögeln  im  Vergleiche  mit  den 
Reptilien  vermehrt.    Darin  liegt  die  wesentlichste  Verschiedenheit 


202  Carl  Gegenbaur, 

der  bezüglichen  Nervengeflechle  beider  Abtheilungen ,  eine  Verschie- 
denheit, die  übrigens  nicht  so  gross  ist,  als  die  innerhalb  der  Glasse 
der  Säugethiere  bestehende  *) . 

Mit  der  Feststellung  des  primären  Sacrums  sind  die  vor  und  hinter 
ihnen  liegenden  Abschnitte  bestimmbar  geworden.  Was  zunächst  den 
postsacralen  Theil  des  als  Sacrum  aufgefassten  Wirbelcomplexes 
der  Vögel  betrifft,  so  wird  er  dem  vorderen  caudalen  Abschnitte  der 
Wirbelsäule  der  Reptilien  entsprechen  müssen.  Seine  Wirbel  sind 
ursprüngliche  Gaudalwirbel,  wie  sie  denn  auch  in  solche  allmählich 
übergehen.  Die  Querforlsatze  sind  einfach,  durch  ihre  Beziehungen 
zum  llium  terminal  verbreitert.  Selten  ist  auch  der  Querfortsatz  des 
vordersten  Wirbels  durchbohrt  und  ist  damit  den  primären  Sacralwir- 
beln  wenigstens  ähnlich  geworden  (z,  B.  beim  Kranich),  Diese  Er- 
scheinung der  gestalllichen  Assimilirung  von  Skelettheilen  mit  benach- 
barten, ursprünglich  verschiedenen,  ist  eine  sehr  verbreitete,  bis  jetzt 
noch  wenig  beachtete.  Sie  ist  um  so  wichtiger,  als  durch  sie  die  mor- 
phologische Bedeutung  der  Theile  oft  in  tiefes  Dunkel  gehüllt  wird.  Am 
Becken  der  Vögel  trifft  sie  ebenso  die  Sacra  Iwirbel,  die  sie  den  Caudal- 
wirbeln  ähnlich  formt.  Wenn  die  postsacralen  Beckenwirbel  ursprüng- 
lich Caudalwirbel  sind,  so  erleiden  sie  ausser  der  Verschmelzung  auch 
noch  Differenzirungen.  Sie  sondern  sich  nämlich  in  zwei,  je  aus  meist 
niehreren  Wirbeln  bestehende  Gruppen,  eine  vordere  mit  schwachen 
und  eine  hintere  mit  stärkeren  Querfortsätzen  versehene,  in  Anpassung 
an  das  anstossende  llium ,  dessen  bei  den  meisten  Vögeln  als  Ischio- 
sacralleiste  bestehender  Vorsprung  von  jenen  Querfortsätzen  mediale 
Stützen  empfängt. 

Was  den  praesacralen  Gomplex  der  Beckenwirbel  betrifft,  so  wird 
dieser  zunächst  der  Lumbarregion,  und,  soweit  er  ansehnliche  Rippen 
trägt,  der  Thoracalregion  der  Wirbelsäule  zuzutheilen  sein,  wie  er  denn 
auch  so  von  den  meisten  Autoren,  freilich  mit  unsicherer  hinterer  Ab- 
grenzung, aufgefasst  wurde. 

Die  beiden  an  dem  praesacralen  Theile  der  Beckenwirbelsäule  be- 
stehenden Hauptabschnitte  unterscheiden  sich  vorzüglich  nach  dem 
Verhalten  der  Querforlsätze.  Am  unmittelbar  praesacralen  Abschnitte, 
jenem,  welcher  die  Mehrzahl  der  ischiadischen  Wurzeln  austreten  lässt, 


1)  Während  beim  Menschen  fünf  Nerven  den  PI.  ischiadicus  bilden  helfen:  ein 
Theil  des  vorletzten,  der  ganze  letzte  Lumbainerv,  zwei  ganze  Sacralnerven  und 
ein  Theil  vom  driften  Sacralnerv.,  sind  z.  B.  bei  der  Katze  nur  drei  Nerven  in  Ver- 
wendung. Ein  Theil  des  vorletzten  der  letzte  Lumbainerv  und  ein  Theil  des  ersten 
Sacralnerven.  Hier  herrschen  also  praesacrale  Nerven  vor,  beim  Menschen  dagegen 
sacrale. 


ßeilräge  zur  Kemitiiiss  des  Beckens  der  Vögel.  203 

sind  nur  obere  von  den  Wirbelbogen  ausgehende  QuerforlsiUze  vor- 
handen,  es  ist  das  derselbe  Abschnitt,  der  nach  Uuxlky  als  »sacral« 
bezeichnet  werden  niüssle ,  den  ich  aber  den  oben  gegebenen  Erörte- 
rungen gemiiss  als  1  um  baren  deute.  Der  vor  ihm  liegende  vorderste 
Beckenvvirbcicomplex  steht  mit  ihm  in  enger  Wechselbeziehung.  Es 
ist  oben  mehrfach  darauf  hingewiesen  worden ,  dass  innerhalb  nahe 
verwandter  Gruppen  (Gattungen  und  Arten)  die  Wirbelzahl  für  beide 
praesacrale  Wirbelcomplexe  meist  gleich  ist,  dass  aber  beide  Complexe 
in  der  Wirbolzahl  insoweit  variiren ,  dass  die  Zahl  in  dem  einen  Com- 
plexe um  ebensoviel  abnimmt,  als  sie  in  dem  anderen  gewachsen  ist. 
Das  bezeugt,  dass  die  Scheidung  beider  Complexe  keine  sehr  tiefe  ist, 
jedenfalls  mindei'  tief,  als  es  sich  dem  Auge  durch  die  bedeutende  Enl- 
wickelung  vorderer  Querfortsatzschenkel  am  eisten  Complexe  auf- 
drängen mag.  In  dem  nächsten  praesacralen  Complexe  der  Wirbelsäule 
ergiebt  sich  durch  die  Beziehung  zur  Lendenanschwellung  des  Rücken- 
markes eine  bedeutende  Erweiterung  des  bezüglichen  Theiles  des 
Rückgratcanals  (s.  Fig.  VI),  die  auch  äusserlich  durch  grössere  Breite 
der  Wirbel  sich  bemerkbar  macht.  Bei  jungen  Vögeln  ist  das  Volum 
dieses  Abschnittes  bedeutender  als  bei  erwachsenen,  wie  aus  Ver- 
gleichung  einiger  Messungen,  die  ich  zu  diesem  Zwecke  angestellt  habe, 
liervorgeht.  Die  Länge  des  genannten  praesacralen  Abschnittes  der 
Becken  Wirbelsäule  verhält  sich  beim  nahebei  reifen  Hühnchenembryo 
zur  Länge  der  gesammten  Beckenwirbelsäule  wie  6:25,  beim  er- 
wachsenen dagegen  wie  6  :  ;^9.  Bei  der  Gans  finde  ich  Längenverhält- 
nisse jener  Theile  kurz  nach  dem  Auskriechen  aus  dem  Ei  wie  2  :  1 5, 
beim  erwachsenen  Vogel  2:22.  Es  findet  also  diesen  Zahlen  gemäss 
ein  verschieden  starkes  Wachsthum  der  einzelnen  Abschnitte  der 
Beckenwirbelsäule  statt,  und  für  jenen  praesacralen  Abschnitt,  der  die 
Wurzeln  des  Ischiadicus  entsendet,  ist  es  geringer  als  an  den  Übrigen. 
Man  wird  das  als  eine  Zusammen  zi  ehung  des  Lumbart  Heiles 
bezeichnen  dürfen.  Auch  die  relative  Breite  dieser  Wirbel  vermindert 
sich.  Beim  oben  erwähnten  Hühnchen  verhielt  sie  sich  im  Verhältniss 
zur  Länge  der  gesammten  Beckenwirbelsäule  wie  2:10,  beim  Erwach- 
senen 2  :  i7.  Beim  Gänschen  verhielten  sich  diese  Maasse  wie  2:12; 
beim  erwachsenen  Vogel  1:12. 

Zu  den  Eigenthümlichkeiten  des  praesacralen  Abschnittes  ist  noch 
die  Veränderung  der  Foramina  intervertebralia  zu  zählen.  Diese  sind 
anfänglich  längs  der  Beckenwirbelsäule  einfache  ovale  Löcher,  die  all- 
mählich zu  Oucrspalten  sich  umgestalten.  Sie  bleiben  in  diesem  Zu- 
stande an  dem  die  Ischiadiciiswurzeln  durchlassenden  A])schnitte 
kürzere  Zeil  als  an  den  übrigen  'l'lieilen ,    indem  die  Spalte  sich  in  der 


204  Carl  Gegenbaur, 

Mitte  verengert  und  schliesslich  in  zwei  durch  eine  Knochenbrücke  ge- 
trennte Oeffnungen  getheilt  wird.  Allmählich  erstreckt  sich  dieser 
Vorgang  über  die  gesammte  Beckenwirbelsäule,  und  nur  einige  der 
Foramina  intervertebralia  an  den  beiden  Enden  des  Gesammtsacrums 
bleiben  einfach  fortbestehen.  Da  dieser  Theilungsvorgang  erst  mit  dem 
Verwachsen  der  Wirbel  auftritt,  dürfte  er  als  ein  sehr  spät,  wohl  erst 
innerhalb  der  Classe  erworbener  anzusehen  sein.  Das  gilt  auch  vom 
Verwachsender  Wirbel,  wobei  der  Umstand,  dass  die  Verschmel- 
zung an  den  praesacralen  Wirbeln  beginnt  und  von  da  nach  vorn  wie 
nach  hinten  fortschreitet,  seine  für  die  ursprüngliche  Sacralnatur  dieser 
Wirbel  etwa  zu  verwerthende  Bedeutung  völlig  einbüsst. 

Hinsichtlich  der  doppelten  Querfortsatzschenkel  des  vordersten 
praesacralen  Beckenwirbelcomplexes  ist  zu  bemerken ,  dass  das  Ver- 
hältniss  zu  Bippenrudimenten  keineswegs  so  einfach  ist,  wie  es  aus  der 
Thatsache  hervorgehen  möchte,  dass  die  vordersten  dieser  Wirbel, 
welche  Bippen  tragen,  einfache  Querfortsätze,  die  hinteren  rippenlosen 
dagegen  deren  doppelle  besitzen.  Im  beschreibenden  Theile  ist  mehr- 
fach erwähnt  worden,  dass  die  der  Beckenwirbelsäule  angefügten  Bip- 
pen meist  auf  verschiedene  Weise  sich  verbinden.  Die  erste  meist 
mittels  Capitulum  am  Körper  des  Wirbels  und  mit  Tuberculum  ans  Ende 
des  Querfortsatzes.  So  können  auch  mehrere  Bippenpaare  befestigt 
sein.  Sehr  häufig  verliert  das  letzte  Bippenpaar  die  Körperverbindung 
und  damit  den  Hals,  so  dass  es  nur  mittels  Tuberculum  dem  Querfort- 
satz angefügt  ist  (vergl.  bei  Sarcorhamphus  Fig.  XXVI).  Dieser  Quer- 
fortsatz ist  demnach  einschenkelig.  Man  könnte  dieses  Verhältniss  dahin 
erklären,  dass  die  Einfachheit  des  Querfortsatzes  aus  dem  verloren  ge- 
gangenen Bippenhalse  resultirt.  Dem  steht  aber  entgegen ,  dass  der 
vordere  Schenkel  des  nächstfolgenden,  etwa  getheilten  Querfortsatzes 
sich  an  seinem  vorderen  Abschnitte  genau  so  verhält ,  wie  der  vorher- 
gehende noch  ungetheilte ,  der  keine  Andeutung  zeigt ,  dass  ihm  etwas 
abhanden  gekommen  sei.  Daraus  mögen  sich  zunächst  Zweifel  erheben 
an  der  Bippennatur  der  vorderen  Schenkel  der  doppelten  Querfortsätze. 
Diese  Zweifel  werden  bestärkt  durch  die  Thatsache,  dass  auch  an  rip- 
pentragenden Wirbeln  der  Querfortsatz  durchbrochen  sein  kann  und 
wenigstens  an  seiner  Wurzel  einen  vorderen  und  einen  hinteren  Schen- 
kel unterscheiden  lässt.  Ich  finde  das  am  ersten  Becken wirbel  von 
Tetrao  tetrix.  Auch  in  mannichfachen ,  meist  unregelmässigen  Durch- 
brechungen der  Querfortsätze  rippontragendor  Beckenwirbel  von  Baub- 
vögeln  ist  Gleiches  zu  finden.  Mehr  lehrt  die  Vergleichung  des  Verhal- 
tens der  fraglichen  Querfortsätze  untereinander.  Beim  Huhn  (Fig.  XXX) 
articuliren  Bippen  mit  den  beiden  ersten  Beckenwirbeln ,  deren  Quer- 


Beitrage  zur  Kenntiiiss  des  Beckens  der  Vögel.  205 

foilsiitze  einfach  sind  (8,  •)).  Das  terminale  Querfortsalzende  des  ersten 
(9)  trägt  die  Gelenkfläche  {g')  für  das  Rippenhückerchen  und  ausserdem 
eine  breitere  Fläclie  '/ur  Verbindung  mit  dem  llium.  Am  folgenden 
Wirbel  (8)  ist  das  (Juerfoi'tsalzonde  senkrecht  verbreitert,  und  nur  ein 
Theil  {g')  ist  zur  Uippenarticulation  verwendet.  Der  dritte  Wirbel  zeigt 
seinen  Oucrfoitsatz  dem  vorheigehenden  ähnlich  ,  nur  noch  mehr  dor- 
salwärls  verbreitert ,  und  am  nächsten  ((i)  ist  die  Verbreiterung  auch 
ventraivvärts  ausgedehnt.  Dabei  ist  der  Querfortsatz  an  seiner  Wurzel 
in  der  Mitte  derait  vcrdtlnnt,  dass  ein  Zei'fallen  in  einen  dorsalen  und 
ventralen  Schenkel  sich  andeutet.  Solches  ist  am  letzten  Wirbel  (ö) 
dieses  Gomplexes  vollzogen,  der  Querfortsatz  besitzt  die  beiden  Schen- 
kel, deren  Zusammengehörigkeit  duich  eine  zwischen  ihnen  verlaufende 
Crista  ausgedrückt  wird.  Der  dorsale  Schenkel  (d)  ist  mit  den  Quer- 
fortsätzen des  folgenden  Wirbelcomplexes  in  Einer  Reihe  gelagert,  der 
ventrale  (f),  wie  vom  Wirbelkörper  entspringend,  scheint  den  ventralen 
Schenkeln  der  beiden  Sacralwirbel  («,  b)  homolog  zu  sein.  Dass  dieser 
ventrale  Schenkel  (r)  kein  Rippenrudiment  repräsentirt,  wird  ausser 
der  Vergleichung  mit  den  Querfortsälzen  der  vorhergehenden  Wirbel 
noch  durch  den  Ossificationsprozess  erwiesen.  Sämmtliche  Querfort- 
sätze des  präsacralcn  W'irbelcomplexes  ossificiren  wie  auch  jene  des 
postsacralen  (oder  caudalen)  von  den  Wirbelbogen  aus,  und  davon 
macht  der  fragliche  Wirbel  (5)  keine  Ausnahme.  Die  Verknöcherung 
schreitet  vom  Bogen  aus  gleichraässig  auf  die  beiden  Schenkel ,  sowie 
auf  die  beide  verbindende  Crista  fort.  Die  letztere  ist  bei  jungen  (zwei 
bis  drei  Monate  allen)  Tbieren  viel  stärker  als  später,  und  zeigt  damit 
auf  eine  ursprünglich  innigere  Verbindung  beider  Schenkel  hin.  Ihr 
freier  Rand  läuft  dann  knorpelig  in  die  knorpeligen  Enden  der  beiden 
Schenkel  über,  so  dass  also  Alles  die  Verdoppelung  des  Querforlsatzes 
als  eine  allmähliche,  durch  Verbreiterung  eingeleitete  Spaltung  eines 
ursprünglich  einfachen  Querfortsatzes  erscheinen  lässt.  Ausser  beim 
Huhn  habe  ich  auch  bei  der  Gans,  sowie  beim  Bussard  jenes  Verhält- 
niss  gefunden,  wobei  besonders  beim  Bussard  die  Ossification  als  aus- 
schlaggebend erachtet  werden  muss ,  da  hier  wie  bei  den  meisten 
Raubvögeln  die  vorderen  Querforlsatzschenkel  praesacraler  Becken- 
wirbel grosse  Aehnlichkeil  mit  Rippenrudimenten  sich  angeeignet  haben. 
Zugleich  kann  hier  der  Nachweis  einer  Theilung  durch  Vergleichung  in 
der  Reihe  nicht  geliefert  werden,  da  an  allen  betreftenden  Wirbeln  bei- 
derlei Querfortsätze  von  einander  getrennt  entstehen.  Dagegen  ist  bei 
der  Gans  eine  ähnliche  Reihe  von  Uebergangsformen  wie  beim  Huhn 
bemerkbar.     Bei  anderen  Gattungen  ,  z.  B.  Tetrao,  kommt  es  bei  der 

Bd.  VI.    2.  15 


206  Carl  Gegenbaur, 

einen  Art  gar  nicht  zu  einer  solchen  Sonderung,   indess  sie  bei  der  an- 
deren sich  vollzieht  (vergl.  hiemit  oben  S.  Ififi). 

Diese  Verhältnisse  zusammenfassend  finden  wir  ;ilso  im  ersten 
praesacralen  Abschnitte  hinter  den  vordersten  rippentragenden  Wirbeln 

1)  solche,  deren  Querfortsätze  sämmtlich  einfach  bleiben,  unter 
Verdickung  oder  Verbreiterung,  z.  B.  Tetrao  urogallus; 

2)  solche,  die  verbreiterte  Querfortsätze  besitzen,  bis  dann  die 
letzten  oder  der  letzte  den  Querfortsatz  völlig  getheilt  hat,  z.  B.  beim 
Huhn ; 

:})  finden  sich  Wirbel ,  die  sämmtlich  getheilte  Querfortsätze  be- 
sitzen, z.  B.  bei  Tagraubvögeln. 

Während  im  ersten  Falle  der  als  ursprünglich  anzunehmende  Zu- 
stand sich  forterhält,  bietet  sich  im  zweiten  eine  Umbildung  dar,  die 
theils  aus  der  Vergleichung  der  Wirbelreihe,  theils  auch  aus  den  Ent- 
wickelungsvorgängen  am  Individuum  wahrnehmbar  ist.  Diese  zur 
Theilung  eines  Querfortsatzes  in  einen  vorderen  und  hinteren  Schenkel 
führende  Veränderung  hat  sich  in  der  dritten  Reihe  an  allen  betreffen- 
den Wirbeln  vollzogen.  Da  hier  die  üebergangsformen  fehlen,  hat  sich 
der  Zustand  am  weitesten  vom  ursprünglichen  Verhallen  entfernt,  und 
nur  der  an  den  vorderen  Schenkeln  mit  den  hinteren  gleiche  Ver- 
knöcherungsmodus  wahrt  ersteren  den  Charakter  als  Querfortsätze, 
und  verhütet  ihre  Verwechselung  mit  Rippenrudimenlen,  denen  sie 
durch  eine  Rij>penhülsen  ähnliche  Lagerung  verglichen  werden  möchten. 

Die  ventralen  Querfortsatzschenkel  der  praesacra- 
len Beckenwirbel  sind  demnach  wie  die  dorsalen  nur 
Differenzirungsproducte  der  ursprünglich  einfachen 
Querfortsätze. 

Das  diese  Sonderungsvorgänge  Bedingende  wird  in  Anpassungen 
zu  suchen  sein.  Mit  der  mächtigen  Ausbildung  des  vorderen  Darm- 
beintheiles  findet  dieser  an  jenen  Querfortsätzen  eine  feste  Stütze ,  die 
zugleich  die  schwache  Verbindung  mit  dem  zweiten  Praesacralcom- 
plexe  aufwiegt.  Die  geringe  Entwickelung  der  einfachen ,  nur  dorsal 
entspringenden  Querfortsätze  dieses  Abschnittes  mag  wohl  mit  den  hier 
austretenden  starken  Nervenstämmen ,  für  deren  Geflechte  jene  Quer- 
fortsätze ein  Dach  bilden,  in  Zusammenhang  stehen. 

Anders  als  am  praesacralen  Abschnitte  verhalten  sich  die  doppelten 
Querfortsatzschenkel  am  ursprünglichen  sacralen  Abschnitte  derBecken- 
wifbelsäule.  Noch  nicht  vollständig  ossificirte  Becken  lassen  erkennen, 
dass  die  Verknöcherung  für  beiderlei  Schenkel  eine  verschiedene  ist. 
Während  die  dorsalen  wieder  vom  Wirbelbogen  ossificiren,  ist  die  Ver- 
knöcheruns;  für  die  vorderen  eine  selbstständige,  nahe  an  der  Mitte  des 


Beitnigc  zur  Kemitniss  des  Beckens  der  Vögel.  207 

spangenartigen  Knorpelsttickes  beginnend.  Am  zweiten  Wirbel  geht 
die  Verschmelzung  mit  dom  Körper  früher  vor  sich  als  am  ersten.  Die 
selbslständige  Ossificalion  dieser  venIrahMi  Oueiforlsiitze  liisst  sie  von 
ähnlichen  Verdoppelungen  der  (,)iiorfortsätze  unterscheiden,  die  zuwei- 
len am  ersten  Postsacralwirbel  vorkommen,  denn  hier  werden  beiderlei 
Schenkel  vom  Wirbelbogen  aus  ossificirt.  Nur  selten  habe  ich  an  dem 
ersten  postsacralen  Wiibel  eine  selbstständige  Ossilication  des  ventraleii 
Schenkels  beobachtet  (z.  B.  bei  der  Gans). 

Auf  der  Thatsache  der  selbstständigen  Ossilication  der  ventralen 
Querfortsatzschenkel  an  den  beiden  primären  Sacralwirbeln  fusst  zu- 
nächst die  Nothwendigkeit,  sie  anders  zu  deuten,  als  ähnliche  Hildungen 
an  anderen  Wiibeln.  Diese  andere  Deutung  kann  aber  wohl  nur  darin 
gefunden  vserden,  dass  man  sie  als  Rip])enrudimen  te  au- 
ssieht. Demnach  sind  an  der  Becken  Wirbelsäule  der  Vögel  nur  an  den 
beiden  primären  Sacralwirbeln  Rippeiu'udimente  erhalten,  die  auch  bei 
einzelnen  kleineren  Gruppen  Rückbildungen  unterliegen. 

Dass  sich  am  primären  Sacrum  drr  Vögel  ausser  den  Querforlsätzen 
und  theilweise  davon  getrennt  noch  Rippenrudimente  erhalten  haben,  in- 
iless  bei  den  lebenden  Reptilien  scheinbar  einfache  F'ortsätze  vorkonunen, 
bildet  eine  Eigenliniiulichkeit,  welche  erst  bei  tieferem  Eindringen  in 
die  Phylogenese  klar  werden  wird.  Durch  die  Vergleichung  der  quer- 
fortsatzartigen  Bildungen  am  Sacrum  anderer  Wirbelthiere  ist  jedoch 
schon  jetzt  einiges  Verständniss  zu  gewinnen. 

Bei  den  Eidechsen  erscheinen  die  lateralen  Fortsätze  der  beiden 
Sacralwirbel  am  schwersten  zu  verstehen ,  da  sie  bei  der  Vergleichung 
mit  dem  praesacralen  Wirbelsäulenabschnitle  den  dort  iiefindlichen 
Rippen,  bei  der  Vergleichung  mit  der  postsacralen  Wirbelsäule  den  hier 
sehr  mächtigen  Querfortsätzen  homolog  gelten  können.  Man  würde 
also  hier  zu  dem  Ergebnisse  der  Homologie  von  Rippen  und  Querfort- 
sätzen kommen,  und  es  würden  die  bezüglichen  Fortsätze  der  Sacral- 
wirbel beliebig  aufzufassen  sein.  Es  ist  klar,  dass  dies  keine  Lösung 
der  Frage  wäre.  Dass  die  Querfortsätze  an  der  Caudalwirbelsäule,  we- 
nigstens soweit  an  letzterer  die  sogenannten  unteren  Bogen  vorkommen, 
nicht  als  Rippen  angesehen- werden  können,  ist  sicher,  sobald  jene 
unteren  Bogen  die  Bedeutung  von  Rippen  haben.  Die  Rippennalur  der 
unteren  Bogen  glaube  ich  bereits  früher';  nachgewiesen  zu  haben. 
Demnach  müssen  diese  Zustände  bei  den  Eidechsen  vorläufig  ausser 
Frage  bleiben,  bis  die  Entwickelungsweise  der  bezüglichen  Theile  An- 
knüpfungspunkte aufdeckt. 


i)   Jenaische  Zeilsclirift.  Rnnd  III.   S.  406. 

15^ 


208  Carl  Gegenbaiir, 

Günstiger  verhalten  sich  die  Grocodile,  bei  denen  der  Ossifica- 
tionsgang  auch  später  noch  erkennbar  ist.  Beim  Alligator  bestehen  noch 
vierLumbalwirbel,  an  denen  die  Querforlsätze  keine  Rippen  tragen.  Ein 
Rippenrudinient  trägt  schon  das  Ende  des  Querforlsatzes  des  nächst  vor- 
hergehenden Wirbels.  Die  Querlortsätze  nehmen  dabei  von  vorn  nach 
hinten  an  Länge  wie  an  Stärke  ab.  Auffallend  klein  ist  der  letzte.  Diese 
Querfortsätze  verknöchern  sämmtlich  von  den  Bogen  aus,  wie  ich  mich  an 
ganz  jungen  Thieren  überzeugen  konnte.  Die  Bogen  bleiben  vom  Wir- 
belkörper lange  Zeit,  wie  es  scheint  bis  ins  hohe  Alter,  durch  eine  Naht 
abgegrenzt.  Anders  verhalten  sich  die  querfortsatzartigen  Gebilde  der 
beiden  Sacralwirbel.  Diese  sind  nicht  in  continuirlicher  Knochenver- 
bindung mit  dem  Wirbel,  sondern  fügen  sich  der  Seite  des  Wirbelkör- 
pers und  auch  der  Wurzel  der  Bogen  gleichfalls  durch  eine  Naht  an. 
Die  Verbindungsstelle  mit  der  Bogenwurzel  entspricht  genau  der  Stelle, 
an  der  die  lumbaren  Querfortsätze  entspringen.  An  den  beiden  ersten 
Caudalwirbeln  sind  wieder  die  Querfortsätze  nur  in  Nahtverbindung 
mit  den  Wirbeln,  während  sie  bei  den  übrigen  Caudalwirbeln  der  Naht 
entbehren,  also  direct  vom  Wirbel  entspringen.  Beachtenswerth  ist 
besonders,  dass  die  Nahtverbindung  der  Querfortsätze  da  aufhört,  wo 
die  unteren  Bogen  beginnen;  dies  ist  einfach  so  zu  erklären,  dass  da, 
wo  freie  Rippen  (untere  Bogen)  auftreten ,  keine  verschmolzenen  mehr 
vorkommen  können. 

Durch  die  Verkümmerung  des  letzten  lumbalen  Querfortsatzes, 
sowie  durch  die  selbstständige ,  nicht  von  den  Bogen  wie  sonst  erfol- 
gende Ossification  der  Querfortsätze  der  Sacralwirbel  wie  der  folgenden 
zwei  Wirbel  geht  hervor,  dass  die  ganze  Kategorie  von  querfortsatz- 
artigen Bildungen  nicht  jener  der  ächten  Querfortsätze  angehört.  Be- 
achten wir  ferner,  dass  der  Lateralfortsatz  des  ersten  Sacralwirbels 
sich  an  einer  dem  Querfortsatze  des  letzten  Lumbaiwirbels  entsprechen- 
den Stelle  befestigt ,  dass  dieser  Wirbel  somit  noch  einen, 
wenn  auch  sehr  kurzen  Querfortsatz  besitzt,  so  wird  die 
Folgerung  nothwendig,  dass  die  fraglichen  vier  Querfortsatzpaare  keine 
wahren  Querfortsälze  sein  können,  dass  sie  vielmehr  Rippen 
vorstellen.  Dass  die  darauf  folgenden  Querfortsätze  sich  den  quer- 
fortsatzartigen Rippen  ähnlich  verhalten,  ist  wiederum  eine  Anpassung. 
Diese  Verbindung  von  Rippenpaaren  mit  der  Wirbelsäule  ist  übrigens 
keine  gleichartige,  denn  an  der  ersten  sacralen  Rippe  sind  noch  zwei 
Abschnitte  der  Verbindungsstelle  unterscheidbar,  einer,  der  den  Wir- 
belkörper betrifft  und  sich  zwischen  den  ersten  Praesacralwirbel  und 
den  ersten  Sacralwirbel  bettet,  und  ein  anderer,  der  den  Anfang  des 
Bogens  mit  dessen  Querfortsatzrudiment  betrifft.    Zwischen  beiden  Ver- 


Beiträge  zur  Keiiiidiiss  des  Beckens  der  Vöuel.  209 

bindungsslellen  zioht  sich  vorn  auf  die  Rippe  eine  liefe  (irube  hin.  hi 
i\\y  diesem  sehe  ich  die  doppelte  Verhindunü;  «>iner  Rippe  n)itlels 
r.apituluni  am  Wirbclkörper,  und  zwar,  wie  aucl»  sonst  in  der  Regel, 
interverlebral ,  und  mittels  Tuberculum  an  einem  Querfortsatz.  Die 
Verkümmerung  des  letzleren  hat  beide  Verbindungsstellen  zusammen- 
geschoben, so  dass  ein  Rippenhals  hier  nicht  existirt,  aber  die  Deut- 
lichkeit des  ursprünglichen  Verhaltens  ist  damit  nicht  beeinträchtigt. 
Mehr  modificirt  ist  es  dagegen  an  der  Sacralrippe.  Der  Ilalsabschnitt 
ist  mehr  zusammengezogen,  sowie  auch  das  Querfortsatzrudimenl  des 
\Virbelboger)s  weniger  deutlich  ist.  Der  dem  Capitulum  entsprechende 
Theil  hält  sich  mehr  lateral  am  V^irbelkörper  und  hat  die  interverlebra- 
len  Reziehungen  ganz  aufgegeben.  Die  Vorbindung  ist  sogar  bis  dicht 
an  den  ersten  roslsacralwirbel  gerückt,  während  sie  vom  ersten  Sa- 
eralwirbelkörper  viel  weiter  entfernt  liegt.  Dies  steht  wohl  mit  der 
terminalen,  das  llium  tragenden  Verbreiterung  dieser  Rippen  in 
causalem  Zusammenhang.  An  den  folgenden  beiden  Rippen  ist  die 
Eigenthümlichkeit  der  Verbindungsvveise  noch  mehr  verwisohl,  und 
es  ist  überhaupt  nur  die  blosse  Nahlverbindung  zwischen  Wirbel- 
körper und  Bogen,  welche  diese  Theile  ausser  der  successiven  Ver- 
gleichung  mit  den  beiden  Sacralwirbeln  als  von  den  Querfortsatz- 
bildungen der  übrigen  Caudalwirbelsäule  verschiedene  Bildungen  be- 
urtheilen  lässt. 

Für  unseie  Z\\ccke  haben  wir  denuiach  die  Tbatsache  so  viel  als 
möglich  festzustellen  vermocht,  dass  bei  Crocodilen  das  llium  aus- 
schliesslich mittels  zweier  Rippenrudimente  an  die  beiden  Sacralwirbel 
befestigt  wird.  Inwiefern  bei  den  Eidechsen  die  sacralen  Querforlsätze 
eine  gleiche  Deutung  zulassen,  wage  ich  keineswegs  festzustellen,  halte 
aber  für  wahrscheinlich,  dass  man  es  hier  ebenfalls  mit  Rippen  zu 
thun  hat. 

Während  also  bei  Reptilien  (Crocodilen)  die  queren  Ansätze  der 
Sacralwirbel  nur  durch  Rippen  vorgestellt  sind,  treten  bei  den  Säuge- 
Ihieren  noch  ausgebildete  Querfortsälze  in  Mitbetheiligung.  Als  Rippen- 
rudimenle  müssen  nämlich  jene  Ossificationen  gedeutet  werden,  welche 
im  Knorpel  der  seitlichen  Massen  der  Sacralwirbel  auftreten  und  vor 
dem  von  den  Bogen  aus  ossificirenden  Theile  lagern  ,  der  unzeifclhaft 
den  Querfortsatz  vorstellt,  bi  einzelnen  Ordnungen  ergiebl  sich  eine 
beträchlliche  Verschiedenheit,  auf  die  hier  nicht  eingegangen  werden 
soll.  Beim  Menschen  ,  wo  jene  Ossificationen  am  Genauesten  bekannt 
sind,  kommen  sie  an  den  drei  ersten  Sacralwirbeln  vor,  zuweilen,   wie 


210  Carl  Gegenbaiir, 


ich  finde,  auch  am  vierten  ^j.  Am  ersten  Sacrahvirbel  bleibt  jenes 
Rippenstück  am  längsten  vom  Wirbel  getrennt,  früher  verschmilzt  es 
am  zweiten  Sacrahvirbel  und  noch  früher  je  am  dritten  und   vierten  2). 


1)  In  Quain's  Elements  of  Anatomy,  7*^  odition,  Vol.  I,  S,  19,  wird  des  Vor- 
kommens eines  besonderen  Knochenkerncs  am  vierten  Sacralwirbelquerfortsatzo 
gleichfalls  Erwähnung  gothan. 

Die  Deutung  dieser  den  Qucrforlsätzen  und  Wirhclkörpern  unmitlelbar  ange- 
fügten, selbstständig  ossificirten  Elemente  als  Rippen  hat  bei  E.  Hasse  und  W. 
SciiWARCK  Widerspruch  gefunden.  (Studien  zur  vergleichenden  Anatomie  der  Wir- 
belsäule ,  insbesondere  des  Menschen  und  der  Säugethiere  in  den  von  C.  Hasse 
herausgegebenen  anatomischen  Studien  S.  70.)  Als  Gründe  werden  aufgeführt: 
»Einmal  finden  wir  in  der  gesammten  Wirbelthierreihe  niemals  eine  Unterbrechung 
in  der  Aufeinanderfolge  der  Rippen.  Diese  treten  nicht  plötzlich  an  einer  Stelle 
auf,  um  dann  zu  verschwinden  und  an  einer  anderen  Stelle  wieder  aufzutauchen, 
und  diess  müsste  hier  der  Fall  sein ,  denn  an  den  Lendenwirbeln  lassen  sich  keine 
Rippen  oder  Rippenrudimente  nachweisen,  höchstens  unter  abnormen  Verhält- 
nissen am  ersten.  Dann  lässt  sich  noch  als  Grund  gegen  die  Annahme  von  Rippen 
am  Kreuzbein  der  Umstand  anführen,  dass  bei  den  meisten  Wirbelthieren  der 
Beckengürtel  niemals  durch  Rippen  oder  Rippenrudimente  getragen  wird.« 

Gegen  diese  Art  der  Begründung  lässt  sich  manches  Bedenken  erheben,  Dass 
bei  anderen  Wirbelthieren  eine  Unterbrechung  in  der  Folge  der  Rippen  nicht  be- 
steht, beweist  keineswegs,  dass  sie  bei  Säugethieren  nicht  vorkomme,  und  wenn 
»bei  den  meisten  Wirbelthieren  der  Beckengürtel  niemals  durch  Rippen  oder  Rip- 
penrudimenle  getragen«  werden  soll,  so  ist  gerade  das  Gegentheil  erweisbar  ge- 
wesen. 

Das  zur  Bestimmung  der  fraglichen  Gebilde  führende  Verfahren  wird  also  ein 
anderes  sein  müssen.  Vor  Allem  wird  es  sich  um  das  Verhältniss  jener  Theile  selbst 
handeln  müssen.  Wir  treffen  nun  in  ihnen  knorpelige  Gebilde,  die  nicht  Querfort- 
sätze vorstellen  können ,  da  sie  nicht  vom  Wirbelbogen  aus  verknöchern  und  da 
auch  schon  Querfortsätze  deutlich  genug  vorhanden  sind.  Wollen  wir  sagen ,  es 
seien  »untere  Querfortsätze«,  so  ist  damit  für  die  Vergleichung  nichts  gewonnen,  und 
überdies  ist  die  Bezeichnung  unzulässig,  da  sie  dem  Begriff  des  Querfortsatzes  als 
eines  vom  Wirbel  aus  ossificirenden  Skelettheiles  widerstreitet.  Wir  haben  also 
weiter  zu  fragen  :  welche  Skelettheile  kommen  in  Verbindung  mit  Wirbelkörper  und 
Querfortsatz  vor.  Die  Antwort  wird  einfach  auf  Rippen  lauten,  denn  kein  anderer 
Skelettheil  zeigt  jene  Beziehungen.  Wir  werden  also  jene  Elemente  als  Rippen 
zu  deuten  haben,  und  zwar  als  Ri  ppenr  u  d  imente,  da  sie  nicht  mehr  vollstän- 
dige Spangen  sind  und  zugleich  ihre  knorpelige  Anlage  mit  Wirbeln  verschmolzen 
haben.  Wie  nun  der  Umstand  zu  beurtheilen  sei,  dass  in  der  Lumbairegion  der 
Säugethiere  keine  Rippen  mehr  deutlich  sind,  während  sie  noch  am  Sacrum  be- 
stehen, gehört  nicht  unmittelbar  hiehcr. 

2)  Diesem  Verschmelzungsgang  des  ossificirten  Ripi)enrudimentes  entgegenge- 
setzt verhielt  sich  das  Auftreten  der  Knochenkerne.  Am  ersten  Rippenrudiment  ist 
der  Knochenkern  viel  früher  da,  als  an  den  folgenden.  Am  spätesten  tritt  er  am 
vierten  Wirbel  auf. 


Beiträge  zur  Keimtiiiss  des  Beckens  der  Vöuel.  21 1 

Die  Verbindung  des  fraglichen  Stückes  iiiil  dem  Wirltel  lindel  sowohl 
am  Köiper,  als  auch  am  Qucrforlsalz  und  dvv  da/.w  Ischen  liegenden 
Strecke  statt.  Sie  nuiss  also  der  Verbindung  des  Capilulum,  des  Hip- 
penhalses  und  des  Tuberculum  costae  entsprechen,  oder,  mit  andern 
Worten,  es  ist  der  Anfangstheil  einer  Hii)pe  vom  ('apilulum  bis  zum 
Tul)erculum  inclusive  mit  einem  Wirbel  in  Verbindung  getreten.  In 
der  selbslständigen  Ossification  erhält  sich  noch  eine  Andeutung  der 
ursprünglichen  Selbstständigkeit,  die  durch  die  Verschmel/ung  der 
knoi-pelig(>n  Anlage  n)it  dem  Wirbel  aufgelöst  ward.  Da  die  Facies 
auricularis  des  Sacrums  des  Menschen  von  den  Endflächen  nur  dieser 
Rippenrudimentc  der  beiden  ersten  Sacralwirbel  gebildet  wird,  ist  die 
Verbindung  mit  ileni  lliuin  nur  durch  Rippen  vermittelt,  und  die  Quer- 
fortsätze sind  hiebe! ,  trotz  ihres  Bestehens ,  ausser  aller  directen  Be- 
iheiligung. 

Hinsichtlich  des  Verhaltens  der  Sacra  Irippen  (wie  wir  füglich 
jene,  einigen  Sacrahvirbeln  angefügten  Rippenrudimenle  bezeichnen 
können)  ergeben  sich  also  für  Reptilien,  Vögel  und  Säugethiere  folgende 
Eigenthündichkeiten. 

1)  Bei  Reptilien  (Crocodil)  sind  die  Sacralrippen  mit  dem 
pioxiuialen  Ende  an  Wirbelkörper  und  Bogen  (resp.  Querfortsalz)  be- 
festigt.    Das  distale  Ende  trägt  das  Darndiein. 

2)  Bei  den  Vögeln  ist  die  Sacralrippe  mit  dem  proximalen  Ende 
an  den  Wirbelkörper  befestigt,  distal  verbindet  sie  sich  mit  dem  Ende 
des  bezüglichen  Querfortsalzes  ,  mit  dem  sie  gemeinsam  das  Darmbein 
stützt.  Zwischen  Querfortsatz  und  Rippe  besteht  ein  Foramen  trans- 
versa rium. 

;i)  Bei  Säugethieren  (Mensch)  endlieh  ist  das  proximale  Ende 
der  Sacralrippe  an  Wirbelkörper  und  Bogen  befestigt.  Das  Ripj)enende 
geht  allein  zum  llium. 

Gegen  Reptilien  und  Säugethiere  zeichnet  sich  also  das  primäre 
Sacrum  der  Vögel  dadurch  aus,  dass  an  ihm  auch  Querforlsätzc  zum 
llium  gelangen,  sowie  dass  die  Rippenrudimenle  diesen  Querfortsätzen 
nur  terminal  verl>unden  sind.  Die  beim  Crocodil  wie  beim  Menschen 
dem  W'irbelkörper  wie  dessen  Bogen  sannnt  Querfortsatz  unmittelbar 
angeschlossene  Sacralrippe  ist  bei  den  Vögeln  freier,  da  vom  Wirbel- 
körper an  eine  Lücke  sie  vom  Querfortsatz  trennt.  Während  endlich 
bei  Vögeln  die  beiden  Sacralrippen  die  einzigen  «lieser  Gegend  sind,  da 
der  praesacrale  Abschiiill  der  Beckenwirbelsäule,  sowie  auch  der  post- 
sacrale  den  oben  vorgeführten  Darlegungen  gemäss  der  Rippen  ent- 
behrt, so  sind  bei  Reptilien  und  Säugethieren  unmittelbar  vor  wie  hin- 


212  Carl  Gegenbaur, 

ter  dem  primären  Sacrum  Rippen  oder  Rippenrudimente  nachweisbar. 
Rei  Reptilien  fehlen  unmittelbar  praesaciale  Rippen  dem  Crocodil,  be- 
stehen aber  bei  den  meisten  Eidechsen ,  und  postsacralc  sind  wenig- 
stens beim  Crocodil  noch  zwei  Paare  unter  der  Gestalt  durch  Naht  den 
Wirbeln  verbundener  Querfortsätze  erkennbar.  Rei  Säugethieren  end- 
lich werden  Rippenrudimente  sowohl  prae-  als  postsacral  gefunden. 
Die  ersteren  mit  den  Lumbaiwirbeln  verschmolzen,  deren  Querfortsätze 
sie  wenigstens  theilweise  bilden ,  die  postsacralen  dagegen  in :  Ver- 
schmelzung mit  Körper  und  Rogen  des  ersten  und  häufig  auch  des 
zweiten  Postsacralwirbels  des  Menschen. 

Diese  Verhältnisse  des  Sacrums  ergeben  für  das  Vogelbecken  eine 
ziemlich  ebenso  weite  Entfernung  vom  Recken  der  lebenden  Reptilien, 
wie  von  jenem  der  Säugethiero.  Für  beide  ergiebt  nur  der  niederste, 
für  das  Recken  vorauszusetzende  Zustand  Anknüpfungspunkte ,  j(uu'r 
nämlich,  wo  Ein  Sacralwirbe!  mittels  eines  ihm  verbundenen  Rippen- 
rudimentes das  primitive  Hüftbein  trägt.  Da  letzteres  durch  seine  Re- 
ziehungen  zur  Musculatur  vornehmlich  der  Hintergliedmaasse,  den  Ver- 
änderungen hervorrufenden  äusseren  Einflüssen  mehr  als  die  sacrale 
Wirbelsäule  für  sich  zugängig  ist,  werden  wir  in  den  Veränderungen 
des  Hüftbeins  die  secundär  auch  den  bezüglichen  Abschnitt  der  Wir- 
belsäule umgestaltenden  Factoren  suchen  dürfen. 

Vom  Hüftbein  kommt  wieder  der  dorsale,  als  llium  unterschiedene 
Abschnitt  am  meisten  in  Retracht.  Rei  den  Reptilien  ist  die  Ausdehnung 
des  Iliums  nur  caudalwärts  vorhanden,  vor  Allem  wenn  wir  den  ersten 
Sacralwirbel  als  einen  solchen  betrachten,  an  dem  die  von  niederen 
Zuständen  ererbte  ursprüngliche  Verbindung  stattfand,  und  dabei  be- 
achten ,  dass  auch  über  den  zweiten  hinaus  nicht  selten  eine  Ausdeh- 
nung des  Iliums  stattfindet.  Rei  den  Säugethieren  bleibt  es  bei  der 
Verbindung  des  Iliums  mit  einem  oder  zwei  Wirbeln ,  selten  tritt  noch 
ein  dritter  oder  vierter  hinzu.  Dagegen  findet  ein  Wachsthum  nach 
vorn  zu  statt,  welches  bei  seiner  lateralen  Richtung  dem  Sacrum  keine 
neuen  Wirbel  zufügt. 

Ganz  anders  verhält  sich  das  llium  der  Vögel.  Durch  die  beträcht- 
Hche  Ausdehnung  nach  hinten  wird  eine  Anzahl  ursprünglicher  Caudal- 
wirbel  dem  primären  Sacrum  einverleibt,  und  ebenso  tritt  eine  nicht 
geringe  Zahl  von  Wirbeln  aus  dem  Vordisrtheile  der  Wirbelsäule  zum 
Sacrum,  indem  die  Ilia  nach  vorn  zu  längs  der  Wirbelsäule  auswachsen. 
Ein  rippen loser,  als  Lendentheil  zu  bezeichnender  Abschnitt  wird  zu- 
gefügt und  auch  noch  einige  Wirbel,  die  durch  Verhalten  ihrer  Rippen 
als  Rrustwirbel  sich  darstellen.     Man  könnte  nun  sagen,  dass  in  dieser 


Beiträge  zur  Keiiiitniss  des  Reckeiis  der  Vögel.  213  ^ 

Ausdehnung  nach  vorn  eine  SiiugelhicMühnlirhkcit  sich  wiederhole, 
sowie  in  der  Ausdehnung  nnch  liinUMi  ein  RepLiliencharakter  des  liiunis 
gegeben  sei.  Ich  würde  das  nicht  fUr  richtig  hallen  können,  denn  das 
Auswachsen  des  Iliunis  nach  vorn  erfasst  bei  Säugethieren  keine  neue 
Wirbelgruppe  und  kommt  bei  den  Vögeln  auch  sonst  auf  eine  sc^hr 
eigenthüniliche  Art  zu  Stande. 

Während  nänilicii  die  caudale  Ausdehnung  des  Uiunis  durch  Knor- 
pelwachsthum  stattfindet,  ist  an  der  lun)balen  die  Knorpelanlagc  des 
lliums  nur  in  sehr  l'rühei'  Zeit  betheiligt,  und  bei  weitem  der 
grösste  Theil  des  Wachsthums  nach  vorne  geschieht 
durch  Wachst!»  um  des  Knochen  be  legs,  welchen  das 
knorpelige  llium  ei  hielt.  Dem  vorderen  Uande  des  Iliunis  der 
Vögel  fehlt  der  Knorpelsaum,  der  das  wachsende  Iliimi  der  Säugethierc 
auszeichnet,  schon  zu  sehr  fiiiher  Zeit,  während  der  hintere  Rand  ihn 
bis  zum  völligen  Auswachsen  des  Vogels  in  ähnlicher  Weise  wie  Sitz- 
und  Schambein  aufweist.  Lange  vor  dem  Auskriechen  aus  dem  Ei  ist 
beim  Hühnchen  dieser  AN'achsthumprozess  aufgetreten,  und  auf  Längs- 
durchschnitten bemerkt  man  vom  Vorderrande  her  nur  Knochengewebe, 
bis  man  gegen  die  Mitte  der  Länge  des  vorderen  Abschnittes  des  lliums 
auf  eine  dünne,  gegen  die  Pfanne  zu  stärker  werdende  Knorpellage 
slösst,  welche  von  der  terminal  einfachen  Knochenlage  auf  der  äusseren 
wie  auf  der  inneren  Seite  un>fasst  wird  ').  Der  Uebergang  des  Knorpels 
in  Knochengewebe  findet  ohne  scharfe  Abgrenzung  statt.  Beim  Bussard 
habe  ich  an  Embryonen  verschiedenen  Alters  das  Gleiche  beobachtet, 
ebenso  bei  verschiedenen  Singvögeln.  Dagegen  macht  Olis  eine  Aus- 
nahme, indem  hier  noch  beim  neugebornen  Thiere  der  primäre  Knorpel 
bis  zum  freien  Vorderrande  reicht  und  die  ihm  aufgelagerten  Knochen- 
lamellen überragt.  Dieses  Verhalten  wird  bei  der  Gans  mit  dem  vor- 
her erwähnten  vermittelt.  Beim  neugebornen  Thiere  ist  am  vorderen 
Uiumrand  nur  noch  eine  Strecke  mit  Knorpel  bemerkbar,  der  in  seiner 
Ausdehnung  gegen  jene  bei  Ulis  zurücksteht.  Das  Längewachsthum 
geht  also  hier  wenigstens  noch  eine  längere  Zeit  als  beim  Huhn  und 
beim  Bussard  vom  Knorpel  aus.  W^ie  aber  schon  bei  dem  Bestehen 
dieses  vorderen  Knorpels  der  hintere  ihn  an  Mächtigkeit  bedeutend 
überwog,  so  schw  indet  die  Bedeutung  des  vorderen  für  das  Wachsthum 
des  lliums  inmier  mehr,  und  wir  dürfen  auch  diesen  anfänglich  wie 
Ausnahmen  sich   verhaltenden   Fällen   den  grössten  Theil   des   prae- 


1)  Kurz  vor  doin  Auflreten  der  ersten  Ossification  ist  die  Knorpclaiilat^e  des 
lliurqs  heim  Hülinciien  nach  vorn  wie  nach  liinU-ii  von  ziemlich  gleicher  Länge, 
nur  hildet  der  vordere  Theil  eine  dünnere  Platte  als  der  hinlere. 


214  Carl  Gegeiibaiir, 

acetabularen    Iliums    durch    direcle    Knochenbildung    entstanden    zu- 
schreiben. 

Diese  Thatsache,  dass  das  Längewachslhun»  eines  Knochens  nach 
der  einen  Seite  durch  ansehnlictie  Knorpehnassen ,  nach  der  andern 
Seite  dagegen  nur  durch  Knochengewebe  erfolgt,  ist  so  auffallend,  dass 
es  sich  verlohnen  wird,  die  Spuren,  die  sie  uns  für  die  Auffassung  des 
ganzen  Skelettheiles  zeigt,  weiter  zu  verfolgen. 

Legen  wir  Gewicht  darauf,  dass  das  Hüftbein  ursprünglich  ein 
einziger  Skeletthcil  ist ,  an  dem  die  drei  Abschnitte  vorzüglich  durch 
die  Verknöcherung  sich  dilferenziren ,  beachten  wir  ferner,  dass  das 
Längewachsthum  dieses  Knochens  einmal  vom  oberen  Rande  des  dor- 
salen Stückes  (des  Iliums),  dann  am  unteren  Rande  der  beiden  ven- 
tralen Stücke  (der  Scham-  und  Sitzbeine)  vor  sich  geht  (abgesehen  von 
dem  Antheilc,  welchen  die  acetabularen  Knorpelrcsle  haben),  so  werden 
wir  die  Beurtheilung  des  Längewachsthums  des  Iliums  nicht  nach  der 
etwaigen  Ausdehnung  des  Knochens  längs  der  Wirbelsäule,  sondern 
nach  der  Ausdehnung  von  der  terminalen  Knorpelepiphyse  bis  zum 
Acetabulum  zu  bemessen  haben.  Wir  werden  aber  auch  erwägen,  dass 
das  dorsale  Ende  des  Iliums  nicht  der  Sacralverbindung  entspricht, 
dass  dieselbe  vielmehr  nach  innen  davon  an  der  n)edialen  Darmbein- 
fläche stattfindet.  Die  Anwendung  dieser  Gesichtspunkte  auf  das  Iliuni 
der  Vögel  zeigt  nun ,  dass  das  obere  Ende  dieses  Skelettheiles  n  a  c  h 
hinten  gerichtet  ist,  denn  hier  finden  wir  von  der  Knorpelanlage  des 
Knochens  noch  längere  Zeit  hindurch  einen  Theil  fortbestehen  und  das 
Längewachsthum  des  Knochens  besorgen,  indess  am  praeacetabularen 
Theile  der  Knorpelanlage  sehr  früh  ihr  Wachsthum  sistirt  und  die  fer- 
neren Vergrössei'ungen  durch  Knochenlamellen  zu  Stande  kommen 
lässt,  welche  nach  Ueberlagerung  der  Knorpelanlage  weit  über  dieselbe 
hinaus  sich  ausdehnen.  Wir  erhalten  dadurch  den  ursprünglichen  Zu- 
stand des  Iliums  der  Vögel  vorwiegend  durch  den  postacetabula- 
ren  Theil  repräsentirt,  der  nur  einen  praeacetabularen  Fortsatz  ent- 
sendet. 

Die  Vergleichung  mit  dem  Becken  von  Reptilien  lässt  auch  hier 
wieder  die  nächsten  Beziehungen  erkennen.  Das  Ilium  iheilt  die  fast 
horizontale,  d.  h.  mit  der  Wirbelsäule  parallele,  am  Acetabularwirbel 
abwärts  geneigte  Lagerung.  Für  manche  Verhältnisse  finden  sich 
bei  Eidechsen ,  für  manche  bei  den  Crocodilen  Verbindungen  gegeben. 
Bei  den  Eidechsen  ist  es  das  nach  hinten  gerichtete  Ende  (Holzschnitt 
Fig.  3  a,  Becken  von  Monitor,  linke  Seite),  an  welchem  die  Volumen- 
vergrösserung  durch  Knorpel  stattfindet.  Bei  Chamäleo  wird  dieses 
Ende    des    einer    Scapula    überaus   ähnlichen    Iliums   von   einer  vcr- 


Bciträuc  zur  Kciiiiliiiss  ilt's  Beckens  iler  Vö^iel 


215 


kiilkliMi  Knorpriplalle  j^obiliU-l,  (miicim  Supriiscapuliirc  hoiiioloj;.  Das 
lliuin  der  Crocodile  hesilzl  c'\wn  ;uilg(>richU'lcn  Kamm,  der  sich  gegen 
das  liinlere  verjüngte  Ende 
des  Knochens  lorlsetzl.  Die- 
ser Kannn  ist  der  schwäche- 
ren Erhebung  homoh)g,  die 
sich  an  der  Doi'salllächc  des 
Uiums  vieler  Eideclisen  fin- 
det. Die  Volumenzunahme 
des  Uiums  in  der  Richtung 
dieses  Kammes  findet  aber 
bei  den  Crocodilen  gleich- 
falls nur  durch  periostale 
Ossilication  statt,  und  wie- 
derum nur  an  dem  hinterem  Ende  vergrössert  es  sich  durch  Knorpel- 
verknöcherung.  Den  Reptilien  wäre  also  Lagerung  sowie  Vergrösse- 
rung  des  Darmbeines  nach  hinten  zu  durch  Knorpelwachslhum  mit 
den  Vögeln  gemeinsam.  Am  Acetabulartheile  des  Uiums  ergeben  sich 
Verschiedenheiten.  Bei  den  Eidechsen  (Fig.  3)  tritt  das  Uium  n)it  dem 
Schani-  und  Sitzbein  in  der  Planne  zusammen.  Das  Ilium  der  Crocodile 
(vgl.  Fig.  i,  Becken  vom  Alli- 
gator, linke  Seile)  sendet  an 
der  Pfanne  zwei  Fortsätze  aus, 
beide  durch  eine  Incisur  ge- 
schieden. Der  hintere  Fortsatz 
{s)  vereinigt  sich  mit  einem 
ähnlichen  Fortsatz  (?/)  des  Ischi- 
ums,  das  dem  vorderen  Fort- 
salz des  Uiums  (r)  einen  gleichen 
{x)  entgegenschickt,  ohne  den- 
selben zu  erreichen.  Zwischen 
den  beiderseitigen  Fortsätzen 
liegt  eine  nur  membranös  ge- 
schlossene OeCfnung  (oj.  Mit  dem  Gegeneinanderwachsen  der  vorderen 
Acelabularfortsälze  des  Uiums  und  Ischiums  wird  das  Os  Pubis  (P)  von 
der  Betheiligung  an  der  Pfannenbildung  ausgeschlossen,  es  sitzt  be- 
weglich auf  dem  vorderen  Acelabularfortsälze  des  Uiums. 

In  der  Pfannenbildung  stimmen  die  Vögel  am  meisten  mit  den 
Crocodilen  Uberein.  Das  Uium  bildet  wieder  zwei  Acetabularfortsätze 
(Holzschnitt  Fig.  ö  r,  s,  Becken  eines  jungen  Vogels ,  wobei  die  knor- 
peligen Theile  punktirt  dargestellt  sindy,  und  ebensolche  entsendet  der 


216 


Carl  Gegenbaur, 


Pfannentheil  das  Ischium ,   die  zusammen  eine  weite  membranös  ge- 
schlossene Lücke   (o)   umgrenzen»).     Auch  bei  den  Vögehi  verbinden 

sich  nur  die  beiden  hin- 
leren    Acetabularfortsätze 
direct  unter  einander,  und 
die    vorderen    (r,  «j    sind 
wieder  durch   eine  Lücke 
von  einander  getrennt,   in 
welche     sich     aber     hier 
das     gleichfalls     an      der 
Pfannenbildung  betheiligte 
Schambein  [P]  einschiebt. 
Weitere  Uebereinstinnnungen  oder  doch  verwandtschaftliche  Be- 
ziehungen zwischen  Reptilien-  und  Vogelbecken  ergeben  sich  aus  dem 
distalen  Verhalten  der  beiden  ventralen  Theile  des  Os  innominatum. 
Bei  den  Reptilien  sind  die  Enden  des  Os  pubis  und  des  Os  ischii  zwar 
durch  je  eine  Schambeinfuge  und  eine  Sitzbeinfuge  unter  sich  in  Ver- 
bindung,   allein  es  fehlt  die  Vereinigung   von  Scham-   und   Sitzbein 
jederseits,  oder  wird  nur  durch  einen  knorpeligbleibenden,  wenn  auch 
verkalkenden  oder   ligan)entösen  Strang   repräsentirt.      Dabei   fliessen 
entweder  die  beiderseitigen  Foramina  obturatoria  zusammen,  oder  werden 
nur  durch  jene  Gewebe,   nicht  aber  durch  Knochentheile  geschieden 
Das  terminale  Ende  des  Os  innominatum  wird  dadurch  in  seiner  Mitte 
durchbrochen.     Damit  ist  der  erste  Schritt  zur  freien  Endigung    von 
Schani-  und  Sitzbein  und  zur   vollständigen  Oeffnung   des   Foramen 
obturatorium  geschehen.     Diese  Oeffnung,   eine  ursprüngliche  Durch- 
brechung des  soliden  ventralen  Schenkels  des  Beckengürtels,  wird  dann 
zu  einer  blossen  mehr  oder  minder  tiefen  Incisur  umgestaltet  (vgl.  Fig.  5). 
Dieser  Zustand  hat  für  das  Vogelbecken  als  der  ursprüngliche,  ererbte 
zu  gelten,  denn  er  erscheint  so  in  der  Anlage  des  Beckens  und  erhält 
sich  z.  B.  unter  den  Ratiten  bei  Dromaeus,   wie  bei  vielen  Carinaten, 
indess  bei  anderen  eine  distale  Schamsitzbeinverbindung  und  damit 
eine  knöcherne  Umschliessung  des  Foramen  obturatum  eintritt.     Diese 
ist  als  ein  secundärer  Zustand  anzusehen,  der  meist  durch  einen   vom 
knorpeligen  Sitzbeinende  zum  Schambein  tretenden  Fortsatz  angebahnt 
wird  und  erst  ontogenetisch  sich  zu  vollziehen  scheint.     Deshalb  ist 
diese  Schamsitzbein  Verbindung  keineswegs  homolog  jener,  die,  schon 

1)  Diese  Lücke  ist  vor  Beginn  der  Ossification  der  Theile  des  Os  innomina- 
tum knorpelig  geschlossen,  d.  h.  der  Pfannengrund  wird  vom  Knorpel  der  An- 
lage des  Os  innominatum  gebildet.  Allmählich  tritt  in  der  Mitte  des  Knorpels  eine 
verdünnte  Stelle  auf,  und  von  da  an  beginnt  die  Umwandlung  in  Bindegewebe. 


Beiträge  zur  Keiintniss  des  Beckens  der  Vögel.  217 

hei  Reptilien  in  der  Rückbildung  begriOen ,  nui-  hei  Säugelhieren  sich 
forterlialten  hat,  sie  ist  viehnehr  eine  neue,  eine  vorausgegangene  ter- 
minale Trennung  von  Sciiani-  und  Sitzbein  voraussetzende  Anpassung. 

Der  Ausfall  eines  Stückes  vom  Rahn)en  des  Foramen  obturatum 
erscheint  in  Zusammenhang  mit  der  Neigung  von  Scham-  und  Sitzbein. 
Bei  den  lebenden  Reptilien  sind  die  Sitzbeine  nur  wenig  caudalwärts 
gerichtet  (vrgl  Holzschnitt  Figg.  3,  4,  Js)  und  an  den  Schambeinen  (P) 
ist  die  Vorwartsrichtung  sogar  charakteristisch.  Beide  Knochen  diver- 
giren  mit  ihren  Längsaxen,  und  damit  umspannen  sie  das  meist  weite 
Foramen  obturatum.  Bei  den  Vögeln  ist  eine  mehr  oder  minder  pa- 
rallele Richtung  mit  dem  Darmbein  (dem  postacetabularen  Hauptstücke) 
eingetreten  und  zugleich  die  Symphyse  der  gleichnamigen  Knochen  gelöst. 
Da  die  medianen  Verbindungstheile  bei  den  Reptilien  meist  nicht  mehr 
den  jederseitigen  Hälften  angehören ,  sondern  als  unpaare  Gebilde  er- 
scheinen ,  so  wird  die  Aenderung  der  Richtung  der  beiden  Knochen, 
der  üebergang  aus  der  convergirenden  in  die  mehr  parallele  Stellung 
mit  dem  Auseinanderweichen  der  Enden  die  Rückbildung  jener  ver- 
bindenden Theile  herbeiführen. 

Wo  wir  dennoch  eine  S\mphysenbildung  sehen,  wie  jene  der 
Schambeine  beim  afrikanischen  Strausse,  dürfte  sie  mehr  als  eine 
secundäre  Einrichtung  zu  beurtheilen  sein ,  zu  der  es  erst  durch  die 
ausserordentliche  Verlängerung  der  Schambeine  kommen  konnte. 

Sehen  wir  so  wie  die  Configuration  des  Beckens  der  Vögel  auf  jene 
des  Beckens  lebender  Reptilien  bezogen  v. erden  kann,  so  finden  sich 
durch  den  Mangel  eines  praeacetabularen  Abschnittes  des  lliums  bei  den 
Reptilien  bedeutendere  Eigenthümlichkeiten  ausgeprägt,  Andeutungen 
eines  solchen  vorderen  Abschnittes  fehlen  jedoch  nicht  ganz,  indem 
sowohl  bei  Crocodilen  als  Eidechsen  am  Hium  ein  nach  vorn  gerichteter 
Fortsatz  besteht  (vergl.  Figg.  3  u.  4  b),  dessen  Weiterentwickelung  zu 
jenem  vorderen  Theile  des  lliums  führen  kann.  In  dieser  Beziehung 
bleibt  aber  noch  ziemliche  üngewissheit,  da  der  vordere  Acetabular- 
schenkel  (Fig.  ö  ?•)  des  lliums  der  Vögel  sowohl  bei  Ratiten  ,  als  bei 
vielen  Garinaten  einen  nach  vorn  gerichteten  Höcker  besitzt,  der  leicht 
jenem  Höcker  der  Eidechsen  homolog  sein  könnte,  dann  wäre  der 
vordere  Theil  des  lliums  ein  gänzlich  neugebildeter  Abschnitt. 

Die  mangelnde  Verbindung,  welche  bezüglich  des  lliums  zwischen 
dem  Recken  der  Vögel  und  der  lebenden  Reptilien  besteht,  ist  nun 
durch  deutlich  sprechende  Thatsachen  ausgefüllt,  welche  untergegangene 
Reptilienformen  in  ihren  Resten  darbieten.    Huxley^,  gebührt  das  Ver- 

1)  Quarlerly  Journal  of  the  Geological  Society,  London  <  869,  On  Hypsylophodon 
Foxii  und:  On  the  Classification  of  Dinosaiuia. 


218  Carl  Gegenbanr, 

dienst  in  der  grossen  Abtheilung  der  Dinosauria  unter  anderen  auf 
das  Skelet  der  Vögel  beziehbaren  Einrichtungen  auch  das  Verhal- 
ten des  Beckens  durch  die  Vergleichung  erschlossen  zu  haben.  Die 
Ausdehnung  des  Iliums  nach  vorn  zu  ist  schon  bei  den  Iguanodonlen 
und  Scelidosauriern  beträchtlicher,  als  bei  den  lebenden  Reptilien,  aber 
das  ursprüngliche  postacelabulare  Stück  praedominirt ,  und  bei  den 
Megalosauriern  ist  jenes  vordere  Stück  noch  bedeutender  geworden  und 
kann  sogar  das  hintere  übertreffen.  Der  zur  Bildung  des  Iliums  der 
Vögel  führende  Weg  reprasentirt  damit  seine  verschiedenen  Stadien, 
und  die  allmähliche  Entstehung  des  praeacetabularen  Abschnittes  des 
Iliums  aus  dem  postacetabularen  Hauptstücke  macht  die  oben  aufge- 
führte Verschiedenheit  verständlich,  welche  beide  Theile  in  histiolo- 
gischer  Beziehung  während  ihres  Wachsthums  bei  den  Vögeln  wahr- 
nehmen lassen. 

Dass  der  praeacetabulare  Abschnitt  des  Iliums  der  Vögel  dem 
ähnlich  gestalteten  llium  der  Säugelhiere  nicht  homolog  ist,  bedarf 
nach  dem  oben  Geschilderten  keiner  näheren  Auseinandersetzung. 

Das  llium  der  Säugelhiere  muss  nach  Allem  dem  postacetabu- 
laren Theile  des  Iliums  der  Vögel  verglichen  werden.  Die  Crista  ossis 
i  l  e  i  d  e  r  S  ä  u  g  e  l  h  i  e  r  e  entspricht  dem  hinteren  U  a  n  d  e  d  e  s 
postacetabularen  T heiles  des  Iliums  der  Vogel.  Zwischen 
beiden  Theilen  besteht  somit  die  Differenz  einer  Drehung  um  einen 
Winkel  von  beinahe  180".  Der  beide  Zustände  vermittelnde,  also  in- 
differente Zustand  des  Iliums  wird  in  einer  senkrechten  Stellung  des 
Iliums  gesucht  werden  müssen ,  ähnlich  wie  wir  es  bei  den  Amphibien 
finden,  wo  es  zugleich  mit  Einem  einzigen  Wirbel  verbunden  ist.  Bei 
den  Reptilien  nimmt  es  eine  schräge  Stellung  ein,  von  hinten  und  oben, 
nach  vorn  und  abwärts  gerichtet.  Dabei  kommt  nothwendig  eine  grös- 
sere Strecke  seiner  medialen  Fläche  mit  der  Wirbeisäule  in  Contact. 
Der  hinterste  Abschnitt  des  Iliums  fügt  sich  noch  einem  zweiten  Wirbel 
an.  Das  Sacrum  besteht  somit  aus  zwei  Wirbeln.  Dieser  Zustand 
scheint  eine  reiche  Verbreitung  besessen  zu  haben,  wie  aus  seiner  Fort- 
setzung in  die  sonst  sehr  differenten  Ordnungen  der  lebenden  Reptilien 
erhellt.  Eine  fernere  Ausdehnung  des  Iliums  nach  hinten  und  das  Aus- 
wachsen eines  vorderen  Fortsatzes,  der  bei  der  vorhergehenden  Form 
nur  angedeutet  war,  führt  diesen  Beckentheil  bei  den  Dinosauriern  an 
eine  grössere  Anzahl  von  Wirbeln,  und  diese  Zahl  steigt  bei  den  Vögeln 
mit  Ausdehnung  des  Iliums  längs  der  Wirbelsäule,  wobei  seine  Lagerung 
der  Wirbelsäule  parallel  gerichtet  wird.  Unterscheidbar  bleiben  aber 
wenigstens  bei  den  Vögeln  zwei  Wirbel  als  primäre  Sacralwirbel. 

Von  der  bei  den  Amphibien  bestehenden  Lagerung  des  Iliums  zur 


Beiträge  zur  Keimtiiiss  des  Beckens  der  Vöiiel.  219 

Wirbelsäule  führt  cIxmiso  ein  Wog  zu  den  Säugclhiorrii,  wenn  wir  nur 
die  Winkelslelluns:^  des  liiiiins  zur  Wirbelsiiule  in  entgegengesetzter 
Uiehlung  wie  bei  den  Reptilien  denken.  Die  I.iingsaxe  des  Uiunis  nimmt 
allmiihlieli  eine  schrHge  Stellung  ein,  von  vorn  und  oben  naeh  hinten 
und  unten.  Der  oben  die  Crista  ilei  repräsentirende  Abschnitt  wird 
dabei  vorwärts,  bei  lateraler  bläehenausdehnung  mehr  odei-  minder 
nach  aussen  gerichtet,  der  Acetabulartlieil  nach  hinten  und  abwärts, 
daher  behält  das  Os  ischii  seine  in  der  forlgesetzten  Längsaxe  des  Iliums 
befindliche  ursprüngliche  Lagerung  zum  Ilium  und  nimmt  zugleich  eine 
dem  Isehium  der  Vögel  ähnliche  Stellung  zur  Wirbelsäule  ein.  Die  Be- 
dingungen für  diese  Stellung  sind  aber  bei  den  Säugethieren  in  ganz 
anderen  Factoren  zu  suchen,  als  bei  den  Vögeln,  denn  bei  den  ersteren 
eujpfängt  das  Os  ischii  durch  die  am  Ilium  erfolgte  Lageverändeiung 
seine  Direction ,  während  bei  den  Vögeln  das  Ilium  hiebei  ausser  Be- 
tracht konunt,  und  die  ventralen  Beckentheile  anscheinend  unabhängig 
vom  lliinn  ihre  Lagerung  caudalwärts  genommen  haben. 

Wir  constaliren  daher  auch  für  das  Becken  der  Vögel  die  bedeu- 
tende Kluft,  die  es  von  Jenen  der  Säugethiere  scheidet,  indem  wir  bei 
ersteren  Einrichtungen  sehen,  die,  von  den  bei  Amphibien  bestehenden 
einfacheren  Zuständen  aus  beginnend,  bei» Reptilien  einen  (^inseitigen 
Entw  ickelungsgang  einzuschlagen ,  der  in  bei-eils  untergegangenen 
Formen  zu  jener  Beckenform  das  Vorbild  liefert,  welches  auf  die  Vögel 
sich  vererbt  hat  und  in  weiterer  Ausbildung  die  Complicationen  des 
Vogelbeckens  bedingt. 


Erklärung  der  Tafeln. 

Tafel  V. 

l'ig.  1.   Vontorc  AnsiciU  dos  I3eckoiis  von  iJroniaeus  Novae  h  ol  laiul  i  ac.  '/s^''"- 

»        »  »  »    (lall  US  dorne  st icus.  %  Gr. 

»    ■    »  »  »    Tetrao  urogallus.    2/3  q,-.      ^Die  seit- 

lictien  Tlieile  sind  weggelassen.) 

.1        »  »         »    Craxalector.  -/s  Gr. 

»        »  »  »    G  a  llu  s  domesticus.    Embryo.    Vi  ^''• 

l'ig.  VI.  Mcdiaiio  Ansicht  des  Beckens  von  Gallus  domesticus. 
I'ig.  Vit'.   Vordere  Ansicht  des  Beckens  von  Co  1  um ba    iivia    dornest.     (Die  Sei- 

tentheile  sind  weggelassen.) 
Fig.  VIII  »  »        »  »         »    Anas  anser  dorn,  -^/a  Gr. 

\'\ii,  IX.  »  »         I.  »  »     Anas  spec.  2/3  Gr. 

Fig.  X.  »  »         »  X  »    Mergus  serrator.   '/i  Gr. 


Fig. 

II. 

Fig. 

III, 

Kig. 

IV, 

l-ig. 

V. 

220  Carl  Geg^nbanr,  Beiträge  zur  Keiiiitiiiss  des  Beckens  der  Vöia,el. 


Tafel  VI. 

Fig.  XI.     Vordere  Ansicht  des  Beckens  von  Phoenicopterus  roseus,    ^/^  Gr. 

Fig.  XII.  »  »  »  »  »     Ar dea  cinerea.  %  Gr. 

Fig.  XIII.  »  M  »  »  »     Ardea  Stella  ris.  2/3  Gr. 

Fig.  XIV.  »  »  »  »  »     C  icon  ia  alba,  -/s  Gr. 

Fig.  XV.  »  »  o  »  »     Larus  ridibundus.  1/1  Gr. 

Fig.  XVI.  »  «  »  »  »     Grus  cinerea.  %  Gr. 

Fig.  XVII.  .)  »  »  »  »     Otis  tarda  j  UV.   %  Gr. 

Fig.  XVIII.  »  »  »  »  »Otis  tarda  pullus.  i/j  Gr. 

Fig.  XIX.  »  ..  »  »  »     Fulica  atra.  2/3  Gr. 

Fig.  XX.  »  »  »  »  »     Gallinula  chloropus. 

Fig.  XXI.  »  »  »  »  »     Crex  pratensis,   '/i  G'"- 

Tafel  Vn. 

Fig.  XXll.  Vordere  Ansicht  des  Beckens  von  Colymbus  septentrionalis.  V-'^r. 

Fig.  XXIll.      "  "  "  »  »Garbo  cormoranus.  %  Gr. 

Fig.  XXiV.      »  »  »  »  »     Oedicnenius  cre  pi  tans.  '^/iGr. 

Fig.  XXV.       »  »         M  »         »     Himantopus. 

Fig.  XXVI.     »  »  »  »  »     Sarcorhamph  US.  %  Gr. 

Fig.  XXVII.     »  »  »  »  »     Buteo  vulga  ris.   1/1  Gr. 

Fig.  XXVIIl.  »  »  ..  .)  »    Strix  aluco. 

Fig.  XXIX.     »  »  »  »  u     Buceros  spec.  '^/s  Gr. 

Fig.  XXX.      »  »  »  »  »     Pica  me  la  no  1  euea.   ^/i  Gv. 

Fig.  XXXI.   Seitliche  Ansicht  dei' Sacralwirbelsäule  von  Ga  1!  US  doniesticus. 

g  Gelenkfacette  für  ein  Capitulum  costae. 

g^  Gelenkfacette  für  ein  Tuberculum  costae. 

>  Querfortsatzschenkel, 
('  ventrale) 

Kür  die  Figg.  aller  drei  Tafeln  gleichbedeutend  sind  die  Bezeichnungen: 

a  erster 


,  primitiver  Sacralwirbel. 
b  zweiter) 

<,  2,  3,  4, Praesacrale  Wirbel. 

^',  r,  3',  4',  .  .  .  .  Postsacrale  Wirbel. 

fia  Fossa  iliaca  anterior. 

/ip  Fossa  iliaca  posterior. 

ra  Recessus  iliacus  anterior. 

rp  Recessus  iliacus  posterior. 

eis  Crista  ischiosacralis. 

spi  Spina  iliocaudalis. 

ßs  Foramen  ischiadicum. 

ip  Spina  iliaca. 


Heber  den  dreibasisclieii  Kssigsäiire-Aetlier. 


Von 

A.  Geuther. 


Der  Valenzlehre  nach  niuss  es  2  Essigsäuren  geben,  eine  ein- 
basische oder  Monhydroxy-Kssigsüuse  und  eine  dreibosische  oder 
Perhydroxy-Essigsäure : 

H3  H3  CH«  CII3 

C2  0    und   C^  OH     oder  CO        und  C  OH 
OH  OH  OH  OH 

OH  OH 

Die  Erstere  ist  die  gewöhnliche  Essigsäure  (Eisessig),  während  die 
Letztere  offenbar  durch  die  Säure  dargestellt  wird,  welche  entsteht, 
wenn  man  I  Mgt.  gewöhnlicher  Essigsäure  mit  I  Mgt.  Wasser  nnscht, 
wobei  das  Maximum  der  Volumcontraclion  eintritt.  Da  die  letztere 
Säure  aber  keinen  constanten  Siedepunkt  besitzt,  sondern  durch  die 
Wärme  in  Wasser  und  Monhydroxy-Säure  zerfällt,  so  hat  man  ihre 
Existenz  bis  jetzt  nicht  behauptet  und  einige  Salze,  welche  als  Ab- 
kümmlinge  derselben  aufgefasst  werden  können  i),  als  basische  Salze 
der  gewöhnlichen  Essigsäure  angesehen. 

Da  Essigsäure  und  Ameisensäure  die  zwei  aufeinander  folgenden 
Glieder  einer  homologen  Reihe  sind  und  für  die  Ameisensäure  ausser 
dem  Aether  der  einbasischen  Säure  auch  der  Aether  der  dreibasischen 
Säure  bekannt  ist,  so  Hess  sich  wohl  die  Möglichkeit  der  Darstellung 
des  dreibasischen  Essigsäureäthers  annehmen,  wenngleich  manch- 
mal das  niedrigste  Glied  einer  homologen  Reihe  ein  von  den  übrigen 
mehr  abweichendes  Verhallen  zeigt,  als  es  diese  Letzteren  unterein- 
ander ihun. 


4)  Sielie  mein  »Leli  iL  uch  d.  Chemie,  gegründet  auf  die  Werlliigkeil  der 
Elemente«.  Jena,  Doebereiner  1870.  p.  481,  482,  499,  500. 

Bd.  VI.  2.  16 


222  A.  Geuther, 

Für  diejenige  Chlorverbindung ,  welche  bei  der  Einwirkung  von 
Natriumalkoholat  den  dreibasischen  Essigsäure-Aether  liefern  würde, 
analog  wie  das  Chloroform  den  dreibasischen  Ameisensäure -Aether 
liefert,  sah  ich  das  zweifach  gechlorte  Chlorüthyl  an  und  ich  habe  mit 
diesem  die  Umsetzung  ausgeführt,  obgleich  Bassett^)  sagt,  dass  die 
chlorhaltigen  Derivate  des  Chloräthyls  und  die  verschiedenen  Chlor- 
kohlenstoffe  durch  Natriumalkoholat  entweder  überhaupt  nicht,  oder 
nur  sehr  schwach  angegriffen  werden,  mindestens  unterhalb  der  Tem- 
peratur, bei  welcher  das  Natriumalkoholat  für  sich  Zersetzung  erleidet. 

Alkoholfreies  Natriumalkoholat  wird  in  dem  Rohr ,  in  welchem  es 
dargestellt  worden  ist  2) ,  mit  der  berechneten  Menge  von  zweifach- 
gechlortem Chloräthyl  (Siedepunkt  72 — 75<*)  und  einer  dem  Volum  des 
Natriumalkoholats  mindestens  gleichen  Volummenge  wasserfreien 
Aethers  zusammengebracht,  das  Rohr  zugeschmolzen  und  während 
etwa  12  Stunden  auf  100  bis  120"^  erhitzt  d.  h.  so  lange  bis  das  feste 
Natriumalkoholat  in  pulvriges  Chlornatrium  verwandelt  ist.  Nach  dem 
Oeffnen  des  Rohrs  in  der  Flamme,  wobei  ein  mit  grünem  Saum  bren- 
nendes Gas  entweicht,  wird  Wasser  zugefügt  und  die  ätherische  und 
wüssrige  Schicht  gelrennt.  Die  erstere  wird  noch  einmal  mit  dem  dop- 
pelten Volum  reinen  Wassers  geschüttelt,  darauf  mit  Chlorcalcium  ent- 
wässert und  der  Aether,  sammt  etwa  noch  unzersetzt  gebliebenem 
zweifach  gechlorten  Chloräthyl  und  mit  gebildetem  gewöhnlichen  Essig- 
äther im  Wasserbade  abdestillirt.  Der  nun  verbleibende  flüssige  Rück- 
stand besteht  hauptsächlich  aus  2  Producten :  einem  bei  etwa  1 22^ 
siedenden  chlorhaltigem  und  einem  bei  etwa  142**  siedenden  chlor- 
freiem Product. 


1.  Product:  Monochlor-äthoxyl-Aethylen. 

Das  bei  122<^  Siedende  wurde,  ehe  es  durch  wiederholte  Destilla- 
tionen gereinigt  worden  war,  einer  Analyse  unterworfen. 

0,2a45  Grm.  lieferten  0,1510  Grm.  Wasser  und  0,3675  Grm.  Koh- 
lensäure, was  0,016778  Grm.  =7,1  Proc.  Wasserstoff  und  0,10023 
Grm.  =  42,8  Proc.  Kohlenstoff  entspricht. 

0,3235  Grm.  gaben  0,3728  Grm.  Chlorsilber,  entsprechend 
0,092226  Grm  =  28,5  Proc.  Chlor. 

Die  durch  wiederholte  Destillationen  von  noch  beigemengt  gewe- 


i)  Annal.  d.  Chera.  u.  Pharm.  Bd.  132.   p.  56. 
2)  Vergl.  diese  Zeitschrift  Bd.  IV.  p.  241  u.  247. 


üeber  den  dreibasischen  Essigsäiire-Aether.  223 

seneni  höher  Siedenden  gereinigle,  zwischen  122  und  123^  deslillirU« 
Substanz  gjil)  fnlpondc  annlylischo  Rosullale : 

0,210  Gnu.  galu'u  0,:{;)()S  Grui.  KoliltMisiiuro  und  0,'l;{'71>  Grui. 
Wasser,  entsprechend  0,097309  Grm.  --  40, :^  Proc.  Kohlonslofl"  und 
0,0ir):{22  Gru).  =  7,3  Proc.  Wa.sserslofT". 

0,2254  Grui.  iiofiMten  0,2K(i4  Grui.  Ghlorsilber,  entsprechend 
0,070852  Grm.  =  ;i1,4  Proc.  Chlor. 

Daraus  loitel  sich  für  sie  die  Formel  ;  C"^ir2CI(0G^II')  ab,  wie  die 
folgende  Zusanimeiislellung  Z(Mgt : 


ber. 

gef. 

C*  =  45,1 

46,3 

IV  =6,6 

7,3 

Gl  =  33,3 

31,4 

0   =  15,0 

— 

100,0 

Die  Substanz  war,  wie  man  sieht,  noch  nicht  ganz  rein,  es  war 
ihr  noch  ein  wenig  der  höher  siedenden  Verbindung,  welche  chlorfrei 
und  kohlonstolf-  und  wasserstoir-roicher  ist,  beigemengt.  Es  geht  dies 
aus  den  Resultaten  hervor,  welche  die  noch  niehr  mit  den  höher  und 
niedriger  siedenden  Producten  verunreinigte  unrectificirte  Substanz  bei 
der  Analyse  gab:  'i2,8  Proc.  Kohlenstofl',  7,1  Proc.  Wasserslotl"  und 
28,5  Proc.  Chlor,  und  daiaus,  dass  bei  der  llectificalion  dieser  Letz- 
teren eben  solche  entfernt  wurden.  Für  ein  Gemenge  von  9'i,;{  Proc. 
der  reinen  Verbindung  und  5,7  Proc.  der  höher  siedenden  Verbin- 
dung berechnen  sich:  46,1  Proc.  Kohlenstofl",  6,9  Proc.  Wasserstofl" 
und  31,4  Proc.  Chloi-. 

Diese  Verbindung,  von  der  Reinheit,  wie  sie  analysirt  worden 
war  (eine  weitere  Reinigung  konnte  des  geringen  noch  voihandenen 
Materials  halber  nicht  wohl  ausgeführt  werden)  ,  stellt  eine  farblose,  in 
Wasser  unlösliche,  brennbare  Flüssigkeit  dar  von  eigenthümlichem 
angenehmem  Geruch,  deren  spezifisches  Gewicht  bei  22"  zu  1,02  gefun- 
den wurde.  Sie  ist  aufzufassen  als  M  onochlor-äthoxyl-Aethy- 
len,  d.  h.  als  Aethylen,  worin  1  Mgt.  Wasserstoff"  durch  Chlor  und 
1  Mgt  Wasserstoff"  durch  Aethoxyl  (=0C-H5)  ersetzt  ist,  und  zwar  so, 
dass  die  beiden  substituirten  Wasserstoffe  zu  dem  nämlichen  Kohlen- 

CH"^ 
Stoff  gehören  :   ^1  -^.,„p.^„    .     Aus  dem  zweifach  gechlorten  Chloräthyl 

entsteht  sie  nach  folgender  Gleichung: 
CII'*  fp  CH2 

^  CF  +  -^'  ONa  =  C  CKOCMl-,  +  ^^^  ''^  +  ^'«'O' 


46* 


224  A.  Geuther, 


2.  Product :  Dreibasischer  Essigsäure-Aether. 

Eine  vorläufige  Analyse  des  zwischen  i  350  und  1 50"  Destillirenden 
gab  folgende  Resultate : 

0,1929  Grm.  lieferten  0,3988  Grm.  Kohlensäure  und  0,1865  Grm. 
Wasser,  was  0,10876  Grm.  =56,4  Proc.  Kohlenstoff  und  0,02072 
Grm.  =  10,7  Proc.  Wasserstoff  entspricht. 

Die  Substanz  erwies  sich  noch  chlorhaltig,  denn  beim  Brennen 
derselben  zeigte  die  Flamme  einen  ganz  schwach  grünen  Saum.  Der 
Chlorgehalt  wurde  nicht  bestimmt,  sondern  zur  weiteren  Reinigung 
durch  wiederholte  fractionirte  Destillationen  geschritten.  Dabei  konnte 
noch  eine  kleinere  Menge  früher  Siedendes,  welches  stärker  chlorhaltig 
sich  erwies,  entfernt  und  so  eine  zwischen  141<^  und  143*^  destillirende 
Flüssigkeit  erhalten  werden,  welche  mit  blauer,  wenig  leuchtender 
Flamme  brannte ,  ohne  eine  Spur  grünen  Randsaum  dabei  zu  zeigen. 
Die  Resultate,  welche  diese  Substanz  bei  der  Analyse  ergab,  sind  die 
folgenden : 

0,3014  Grm.  lieferten  0,637  Grm.  Kohlensäure  und  0,2938  Grm. 
Wasser,  entsprechend  0,173727  Grm.  =57,6  Proc.  Kohlenstoff  und 
0,033144  Grm.  =  11,0  Proc.  Wasserstoff. 

Diese  Resultate  kommen  der  Formel  des  dreibasiscben  Essigsäure- 
Aethers  C^H*^0>^  ziemlich  nahe,  wie  die  folgende  Zusammenstellung 
zeigt : 

b  e  r.  g  e  f. 

G8   =  59,3  57,6 

H's=11,1  11,0 

03  =29,6  — 

Die  Abweichung  im  Kohlenstoff  konnte  nur  von  der  Beimengung 
wahrscheinlich  des  1.  Productes  herrühren,  welches  in  dem  zuerst 
analysirten,  zwischen  135  und  150"  Destillirenden,  in  noch  grösserer 
Menge  vorhanden  war  und  den  Kohlenstoff  und  Wasserstoff  dort  noch 
niedriger  (56,4  Proc.  und  10,7  Proc.)  finden  liess.  Es  wurde  deshalb, 
da  des  geringen  vorhandenen  Materials  halber,  von  einer  weiteren 
Reinigung  durch  fractionirte  Destillation  Abstand  genommen  werden 
musste,  zu  einer  Chlorbestimmung  geschritten,  um  aus  ihr  die  Menge 
des  noch  beigemengten  Monochlor-äthoxyl-Aethylens  zu  erfahren. 
Dieselbe  gab  folgendes  Resultat: 

0,2195  Grm.  lieferten  0,0303 Grm.  Chlorsilber,  was  0,007496 Grm. 
=  3,4  Proc.  Chlor  entspricht. 


üeber  den  dreihasisclien  Essigsänre-Acther.  225 

Daraus  berechnen  sich  10,2  Proc.  beigemengten  Monochlor- 
äthovyl-Aothylcn.      Für  ein    Gonionge   von    S!t,S  Proc.   C^H'^^O-^  und 

10.2  Proc.  CUl'CIO  berechnen  sich: 

57,8  Proc.  C;    10,7  Proc.  H  und  .3,4  Proc.  Cl. ; 
während  gefunden  wurden : 

57,6  Proc.  C;    1 1,0  Proc.  H  und  3,4  Proc.  Cl. 

Dass  die  analysirte  Substanz  wirklich  ein  so  zusammengesetztes 
Gemenge  war  ist  dadurch  ausser  Zweifel  gesetzt  und  die  Existenz 
des  dreibasischen  Essi  gsaure-Aethe  rs  somit  erwiesen. 

Das  analysirte,  also  aus  nicht  ganz  reinem  dreibasischen  Essig- 
säure-Aether  bestehende  Producl  ist  eine  farblose ,  brennbare,  eigen- 
thUmlich  und  angenehm  iitheiisch,  aber  nicht  wie  gewöhnlicher  Essig- 
ather  riechende  Flüssigkeit  vom  spez.  Gew.  0,91  bei  22",  welche  sich 
aus  dem  zweifach  gechlortem  Chloräthyl  durch  Natriumalkoholat  nach 
der  folgenden  Gleichung  bildet: 

ril*  H^  CH-' 

Als  dieselbe  mit  einer  grösseren  Menge  Wasser  in  ein  Rohr  ein- 
geschlossen und  einen  Tag  auf  120 — 130"  erhitzt  worden  war,  war 
sie  verschwunden.  Die  wässrige  Lösung  reagirte  stark  sauer,  und 
liess  nach  dem  Sättigen  mit  Natriumcarbonat  beim  Destilliren  Alkohol 
übergehen  ,  welcher,  über  Kalk  rectificirt.  an  seinem  Geruch ,  seinem 
brennenden  Geschmack  ,  seiner  Brennbarkeit  und  seinem  Siedepunkt 
erkannt  werden  konnte.  Die  zurückgebliebene  Salzlösung  wuide  nach 
dem  Eindampfen  zur  Trockne  mit  absol.  Alkohol  ausgezogen  und  del 
nach  dem  Abdeslilliren  des  Letzteren  verbleibende  Rückstand  vorsich- 
tig zu  schmelzen  versuc'^''-  ^^  dabei  Schwärzung  eintrat  (wahrschein- 
lich bedingt  durch  das  dem  angewandten  Maleiial  beigemengte  chlor- 
haltige I.  Producl)  ,  so  wurde  die  Schmelze  nochmals  mit  abs.  Alkohor 
ausgezogen,  und  von  der  filtrirten  Lösung  der  Alkohol  abermals  abde- 
stillirt.  Der  nun  verbleibende  weisse  Rückstand,  dem  noch  eine  kleine 
Menge  mit  in  Lösung  gegangenes  Natriumchlorid  beigemengt  war, 
wurde  zum  grössten  Theil  bei  170"  getrocknet,  darauf  vorsichtig  ge- 
schmolzen und  dann  geglüht. 

0,0572  Grm.  wurden  beim  Schmelzen  zu  0.05702  Grm.  und  diese 
hinterliessen  nach  dem  Glühen  0,0379  Grm.  Natriumcarbonat,  entspr. 
0.016447  Grm.  =  28, S  Proc.  Natrium. 

Darnach  war  dieses  Salz  also  fast  reines  Natriuniacetat ,  welches 

28.03  Proc.  Natrium  enthält.  Mit  dieser  Thalsache  stimmten  auch  die 
übrigen  Reactionen  ,  welche  das  Salz  zeigte,  als  es  mit  Alkohol  und 
Schwefelsäure  sowie  mil  Eisenchlorid  zusammen  kam. 


226  A.  Geuther, 

Sonach  zersetzt  sich  also  der  dreibasische  Essiysäureiither  beim 
Erhitzen  mit  Wasser  auf  130"  in  Alkohol  und  Essigsäure  nach 
der  Gleichung  : 

CH3  ™' 

Der  dreibasische  Essigsäureillher  ist  metamer  mit  dem  Diälhoxyl- 
Aether  G^II^*>0'',  welchen  Lieben')  durch  Behandeln  des  Dichloräthers 
mit  überschüssigem  Natriun)alkoholat  erhalten  hat.  Letzlerer,  welcher 
eine  farblose,  bei  168"  siedende  Flüssigkeit  vom  spez.  Gew.  0,8924  bei 
21"  darstellt,  ist  anders  conslituirt,  als  der  dreibasische  Essigsäure- 
Aelher,  es  ist  nämlich ; 

dreib.  Essigsäure-Aether.  Diäthoxyl-Aether. 

GH3  CH3 

(ocnpj3  G  H2 

^  [^  (OC2H5)2j 

Ausser  den  beiden  im  Vorhergehenden  beschriebenen  Producten 
treten  bei  der  Einwirkung  von  Natriumalkoholat  auf  zweifach  gechlor- 
tes Ghloräthyl  noch  auf  Essigälher  und  Natriumacetat.  Der  Essigäther 
findet  sich  in  dem  von  den  beiden  schwerer  Üüchtigen  Producten  im 
Wasserf)ad  abdestillirten  Aether  und  kann  durch  Rectification  dessel- 
ben, gemischt  mit  unzersetzl  gebliebenem  zweifach  gechlortem  Ghlor- 
äthyl, welches  fast  den  gleichen  Siedepunkt  besitzt,  erhalten  werden. 
Sein  Geruch  und  Siedepunkt  sowohl,  als  seine  Zersetzbarkeit  durch 
wässrige  Natriumhydroxydlösung  lassen  ihn  leicht  erkennen  und  von 
dem  beigemengten  zweifach  gechlortem  Ghloräthyl  entfernen.  Das 
Natriumacetat  findet  sich  in  der  wässrigen  Lösung,  welche  von  der 
ätherischen  Schicht  getrennt  worden  ist,  es  kann  nach  dem  Einleiten 
von  überschüssiger  Kohlensäure ,  Eindampfen  zur  Trockne  und  Aus- 
ziehen mit  warmem  absol.  Alkohol  von  beigemengtem  Ghlornatrium 
getrennt  werden. 

Diese  beiden  Producte  sind  entweder  Umsetzungsproducte  des 
dreibasischen  Essigsäureäthers  für  sich  oder  mit  Natriumalkoholat,  in- 
dem sich  zugleich  gewöhnlicher  Aether  bildet : 

H3 
H3  H5 

n2  P2  D  -1—  P2 

(OG2H^)3-^   OG2H5  (^^'^'^ 

H3 

H3  RS  RS 

(OG2H5)3"^'^    ONa~       ":,,   "^         (OC2H5) 
^  '  ONa  ^  ' 


1)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  146.  p.  196. 


üeber  den  dreibasischen  Essio;sruire-Aether.  227 

oder  aber  sie  bilden  sich  sofort  an  Stelle  des  dreibasischen  Essigsäure- 
iilhcrs.  In  beiden  Fällen  ninss  die  Auvsbeute  an  dieser  letzleren  Verbin- 
dung dadurch  hetleutend  vermindert  werden  ,  was  denn  in  der  That 
eintritt,  denn  man  erhält  verhältnissniässig  nur  wenig  derselben. 

Das  eingangs  erwähnte  beim  Oellnen  der  Röhren  in  der  Flamme 
ausströmende,  mit  grüngesäumter  Flamme  brennende«  Gas  vo^rdankt 
seine  Entstehung  wahrscheinlich  einfach  gechlortem  Chlorälhyl,  wovon 
dem  angewandten  Product  noch  etwas  beigemengt  war  und  das  mit 
Natriumalkoliolal  das  Gas  C'-li'GI  neben  Clilornatiium  und  Alkohol 
bildet. 

Jena,   Univ. -Laboratorium.   Mai  1870. 


Heber  die  Clilorsiihstitiitiousprodiicte  des  €liIorät%ls. 

Von 

A.  Geuther. 


Nach  Regnault  sind  die  Produele ,  welche  durch  Einwirkung  von 
Chlor  ;iüf  Chloiülhyl  entstehen,  gänzlich  verschieden  von  dem  Aethy- 
lenchlorid  und  den  aus  diesem  durch  die  Einwirkung  von  Chlor  her- 
vorgehenden l'roducten,  bis  auf  das  letzte  SuÖstitutionsproduct,  das 
Bikohlenstoff-Hexachlorid  oder  Perchloräthan ,  welches  das  nämliche 
ist.  Bis  heutigen  Tags  ')  hat  n)an  an  der  Richtigkeit  dieser  Angaben  in 
ihrem  vollen  Umfange,  an  der  thatsachlichen  Metamerie  aller  Glieder 
beider  Reihen,  mit  alleiniger  Ausnahme  des  Letzten,  nicht  gezweifelt 
und  die  eine  Ueilie  der  Produele  als  die  Chlorsubstitulionsproducte  des 
Chloriithyls  von  der  andern  Reihe  als  den  Chlorsubstitutionsproducten 
des  Aethylenchlorids  unterschieden : 

Sdp. 
Chlorälhyl:    C^Hä.Cl        +     12«;     Aethylen-  Sdp. 

Einf.     gechl.  CmJCI,Cl    -{-    64°;       chlorid:        C^H^CP      +    820,5 
Zweif.  gechl.  CMl'Cl^,  Cl  +    75";  Einf.     gechl.  C2H<C1,  CP  -j-ilöo 
Dreif.   gechl.  C2H-iCI',  Gl  +  102»;   Zweif.  gechl.  C2H2C12,  CP  +  ISÖ» 
Vierf.    gechl.  C2HC1S  Gl    +  I460;   Dreif.    gechl.  C2HG12,  GP   +153o,5 

Perchloräthan  :  C2 Cl\  Gl  =  G2 GH,  GP. 
Bei  Gelegenheit  der  wiederholten  Darstellung  einer  grösseren 
Menge  des  zweifach  gechlorten  Chloräthyls  aus  Chloräthyl  und  Chlor 
und  nachheriger  Rectification  der  Productc  habe  ich  wohl  die  bei  58 — 
64*^  und  die  bei  75*^  siedenden  Substitutionsproducte ,  niemals  aber  ein 
solches  vom  Siedepunkt  102"  beobachten  können.     Da  zu  der  jedes- 


1)    Vergl.  Stadel  ,  lieber  die  Substilutionspioducte  der  Haloidäther  des  Aethyls 
etc.  Tübingen  1869. 


üeber  die  Chlorsubstitutionsproducte  des  fhlorSthyls.  229 

maligen  Reclificalion  mehr  als  ein  Pfund  Flüssigkeit  verwandt  worden 
war,  so  habe  ich  mir  das  Fehlen  dieses  Productes,  zumal  genügend  viel 
noch  höher  siedender  Productc  entstanden  waren,  nicht  anders  erklä- 
renkönnen, als  dass  es  überhaupt  nicht  existire  untl  deswegen  Hrn. 
Dr.  Stapff  veranlasst  die  Sache  näher  zu  untersuchen.  Die  Resultate 
dieser  Untersuchung  sind  im  F'olgenden  mit  enthalten. 

Bei  wieilerholter  Darstellung  grösserer  Mengen  der  Chlorsubstitu- 
tionsproducte des  Chlorälhyls ')  konnte  auch  Dr.  Stapff  niemals  ein 
Producl  erhalten,  welches  einen  l)ei  102"  oder  in  der  Nähe  gelegenen 
Siedepunkt  gezeigt  luitle,  und  auch  ebensowenig  ein  Product  vom 
Siedepunkt  146".  Dafür  waren  aber  immer  Producle  vom  Siedepunkt 
115",  vom  Siedepunkt  1'5.')"  und  vom  Siedepunkt  15:}"  neben  Perchlor- 
äthan  vorhanden  und  in  diese  Producte  Hessen  sich  durch  wiederholte 
Rectificalion  auch  die  anfänglich  zwischen  100  und  110"  und  zwischen 
140  und  150"  überdestillirlen  Mengen  völlig  zerlegen.  Daraus  folgt, 
dass  bei  der  Einwirkung  von  Chlor  auf  Chloräthyl  Sul>slitutionspro- 
ducte  von  der  Zusammensetzung  C^H^CH  und  C'^HCI^  welchen  der 
Siedepunkt  102"  und  146"  zukommt  nicht  gebildet  werden,  dass  an 
deren  Stelle  vielmehr  die  gleich  zusammengesetzten  Substitutionspro- 
ducte  des  Aethylenchorids  vom  Siedepunkt  135"  und  153",5  auftreten. 
Dass  auch  ein  bei  115"  siedendes  und  mit  dem  einfach  gechlorten 
Aethylenchlorid  identisches  Product  zugleich  mit  entstand,  ist  beson- 
ders merkwürdig  und  wird  von  seiner  Entstehung  später  noch  wie- 
der die  Rede  sein,  vorläufig  mag  die  Mittheilung  der  analytischen 
Resultate,  welche  seine  Zusammensetzung  zeigen,  genügen. 

0,4075  Grm.  des  bei  115",6  corr.  siedenden  Productes  gaben 
0,2650  Grm.  Kohlensäure  und  0,0900  Grm.  Wasser,  entspr.  0,07227 
Grm.  =  17,7  Proc.  Kohlenstoff  und  0,0100  Grm.  =  2,5  Grm.  Was- 
serstoff. 

0,8485  Grm.  derselben  Substanz  lieferten  1,1297  Grm,  Chlorsilber 
entspr.  0,27944  Grm.  =  80,2  Proc.  Chlor. 


ber. 

gef. 

C2    =  18,0 

17,7 

H«  =    2,2 

2,5 

Cia  =  79,8 

80,2 

100,0 


1)  Das  Chlorällnl  wurde  erhalten  durch  langsames  Erhitzen  im  Was.sfi  bade 
von  Alkohol,  in  welchen  vorher  Salzsäuregas  geleitet  worden  war,  Waschen  des 
Gases  durch  viel  Wasser  von  etwa  200  und  Trocknen  desselben  durch  Chlorcaicium. 
Die  meiste  Ausbeule  giebt  ein  mit  2  Th.  Wasser  verdünnter  und  mit  Salzsäuregas 
nahezu  gesättigter  gewöhnlicher  Alkohol. 


230  A.  Genther, 

Es  war  nun  zu  untersuchen,  ob  die  fnii^lichen  Producle ,  da  sie 
bei  der  Einwirkung  von  Chlor  auf  Chloräthyl  nicht  entstanden  waren, 
vielleicht  bei  der  Einwirkung  von  Chlor  auf  einfach-  oder  zweifach 
gechlortes  Chloräthyl  entstehen  würden.  Zu  dem  Zweck  wurde  das  von 
62^  bis  72*'  Destillirende,  also  ein  Gemisch  von  einfach-  und  zweifach 
gechlortem  Chloräthyl ,  der  Einwirkung  von  Chlor  ausgesetzt  in  der 
Art,  dass  zu  der  in  einem  Kölbchen  befindlichen  Substanz  welches  mit 
einem  umgekehrten  Kühler  verbunden  war,  nicht  überschüssiges  trock- 
nes  Chlor  geleitet  wurde,  während  das  Kölbchen  entweder  im  Sonnen- 
schein stand,  oder  sich  im  Schatten  befand  und  dann  bis  zum  gelinden 
Sieden  des  Inhalts  erwärmt  wurdet).  Nach  vollendeter  Einwirkung 
und  schliesslichem  Erhitzen  der  Flüssigkeit  bis  alles  Salzsäuregas  aus- 
getrieben war,  wurde  das  Pi'oduct  der  fractionirten  Destillation  unter- 
worfen. Das  im  Sonnenschein  behandelte  unterschied  sich  von  dem  im 
Schatten  und  der  Wärme  behandelten  nur  durch  einen  grösseren  Ge- 
halt an  über  I37<*  Siedendem  und  an  Chlorkohlenstofl",  im  Uebrigen 
war  das  Resultat  dasselbe:  Unter  72**  destillirte  nichts  mehr,  darauf 
eine  kleine  Menge  von  72 — 75'^,  also  zweifach  gechlortes  Chloräthyl, 
darnach  ebenfalls  eine  kleine  Menge  bei  115**,  also  einfach  gechlortes 
Äethylenchlorid  und  eine  grössere  Menge  von  133 — 136",  also  zweifach 
gechlortes  Äethylenchlorid.  Das  höher  Siedende  wurde  seiner  geringen 
Menge  halber  nicht  weiter  rectificirt.  Ein  Product,  welches  bei  102" 
constanl  gesiedet  hätte,  war  also  auf  diese  Weise  auch  nicht  zu  erhal- 
ten gewesen. 

Es  blieb  nun  noch  die  Möglichkeit,  dass  ein  solches  Product  viel- 
leicht bei  der  Einwirkung  von  Chlor  auf  zweifach  gechlortes  Chloräthyl 
allein,  dessen  nächstes  Substitutionsproduct  es  ja  sein  sollte,  entstehen 
würde.  Es  wurde  deshalb  in  gleicher  Weise,  wie  vorhin  erwähnt, 
Chlor  auf  zweifach  gechlortes  Chloräthyl ,  welches  zwischen  72"  und 
76"  überdestillirte,  wirken  gelassen  und  das  von  Chlorwasserstoff  be- 
freite Product  fractionirt.  Das  Resultat  war,  dass,  ausser  einer  geringen 
Menge  von  bei  1 1 5"  siedender  Flüssigkeit  fast  nur  eine  solche  erhalten 
wurde,  welche  zwischen  133"  und  135"  überging,  und  ausserdem  etwas 
Perchloräthan,  dass  aber  ein  Product  vom  Siedepunkt  102"  nicht  be- 
obachtet werden  konnte. 

Aus  diesen  Versuchen  folgt  also  mit  Sicherheit ,  dass  bei  der  Ein- 


1)  Zur  Erzeugung  der  nächsten  Substitutionsproducte  ist  Schatten  und 
Erwärmung  der  Einwirkung  des  directen  Sonnenlichtes  in  der  Kälte  vorzuziehen, 
da  bei  Anwendung  des  Letzteren  ein  grosser  Tlieil  in  die  letzten  Substitutionspro- 
ducte sogleich  verwandelt  wird. 


üeber  die  ClilorsubsHdiJioiisprodiicte  des  riiloriitliyls.  231 

Wirkung  von  Chlor  ;mf  (^liloriilhyl ,  aiil  oinfoch  gechlortos  Chloräthyl 
und  auf  zweifach  gechlortes  Chloriithyl  ein  mildern  zweifach  gechlorten 
Aclhylenchlorid  nietanieror  Körper  nicht  entsteht,  sondern  dass 
das  dabei  gebildete  Substitulionsproduct  von  der  Zusainniensetzung 
C-ll'^Cl'  mit  dem  zweifach  gechlorten  Ac th  y lench  lor itl 
identisch  ist.  Es  bedarf  darnach  keiner  weiteren  Auseinander- 
setzung, dass  ein  mit  dem  dreifach  gechlorten  Aethylenchlorid  meta- 
nieres  vierfach  gechlortes  Aethylchlorid  ebensowenig  exislirt,  als  es 
sich  unter  den  Substilutionspmducten  des  Chlorälhyls  hat  auflinden 
lassen,  sondern,  dass  es  itlen  tisch  ist  mit  dem  ilarin  entliallenen 
dreifach  gechlorten  Aethylenchlorid. 

Was  nun  zunächst  die  Knlstehnng  dos  in  allen  vorerwähnten  Pro- 
ducten,  wenn  auch  nur  in  geringer  Menge,  enthalliMien  einfach  gechlorten 
Aelhylenchlorids  C"^H'*C1^  vom  Siedepunkt  I  lo^  anlangt,  so  ist  dieselbe 
längere  Zeit  nicht  aufzuklären  gewesen  und  PIr.  Stapfk  nahm  an,  da  er 
unter  den  Substitutionsproducten  des  Chloräthyls  kein  Aethylenchlorid 
zu  finden  vermochte,  dass  sich  durch  Einwirkung  von  Chlor  auf  einfach 
gechlortes  Chlorälhyl  stets  die  2  mctameren  Producte.  das  zweifach 
gechlorte  Chloräthyl  und  das  einfach  gechlorte  Acthylenchloi'id  neben- 
einander bilden  möchten ,  das  erstere  aber  stets  in  bei  weitem  über- 
wiegender Menge.  Zur  Begründung  oder  Widerlegung  dieser  Ansicht 
habe  ich  nochmals  die  zwischen  75^  und  100"  dcslillirten  Producte, 
welche  etwa  vorhandenes  Aethylenchlorid  enthalten  musslen  einer 
sorgfältigen  und  oft  wiederholten  fractionirten  Destillation  unterworfen 
und  dabei  allerdings  ein  langsameres  Steigen  des  Thermometers  zwi- 
schen 80*^  und  85"  wahrgenommen,  als  es  sonst  der  Fall  gewesen  sein 
würde.  Nach  vielen  Destillationen  gelang  es  auch  schliesslich  eine 
kleine  Menge  Flüssigkeit,  welche  innerhalb  81"  und  84"  überging  zu 
isolircn.  Nach  der  von  Hrn.  Matthky  damit  ausgeführten  Analyse  weist 
sich  dasselbe  zweifellos  als  ein  mit  noch  etwas  zweifach  gechlortem 
Aethylchlorid  gemischtes  Aethylenchlorid  aus. 

0,3262  Grm.  gaben  0,28Ül  Grm.  Kohlen.säure  und  0,0992  Grra. 
Wasser,  was  0,07803  Grm.  =  23,9  Proc.  Kohlcnstofl"  und  0,01102 
Grm.  =  3,4  Proc.  WasserslofT  entspricht. 

0,2746  Grm.  lieferten  0,8119  Grm.  Chlorsilbcr,  entsprechend 
0,2009  Grm.  =  73,2  Proc.  Chlor. 


ber. 

gef. 

ber. 

C2   =  24,2 

23,9 

18,0  =  C2 

H*  =    4,1 

3,4 

2,2  =  ir« 

C12  =  7I,7 

73,2 

79,8  =  CP 

100,0 

100,0 

232  A.  Geuther, 

Wenn  somit  also  nach  der  oben  angegebenen  Bereitungsweise 
des  Chloräthyls  und  seiner  Substitutionsproducte  neben  diesen  auch 
Aethylenchlorid  gebildet  wird,  so  lässt  sich  das  Vorhandensein  des  ein- 
fach gechlorten  Aethylenchlorids  in  dem  ursprünglichen  Substitutions- 
product  leicht  einsehen;  dass  auch  in  der  zwischen  62—72"  und  noch 
mehr  in  der  zwischen  72 — 75**  destillirten  Portion  kleine  Mengen  von 
Aethylenchlorid,  dessen  Siedepunkt  (82», 5)  ja  diesen  Temperaturen 
naheliegt,  enthalten  sein  können,  ist  ebenso  begreiflich  und  somit  das 
Auftreten  der  kleinen  Menge  einfach  gechlorten  Aethylenchlorids  ver- 
ständlich ,  welche  sich  unter  den  Ghlorsubstitutionsproducten  dieser 
beiden  Producte  mit  eingefunden  hat.  Eine  andere  Frage  ist,  woher 
denn  das  Aethylenchlorid  überhaupt  stammt.  Dass  es  bei  der  Einvsir- 
kung  von  Chlor  auf  Chloräthyl  im  Sonnenlicht  neben  einfach  gechlortem 
Chloräthyl  milgebildet  werde,  scheint  mir  nicht  wahrscheinlich,  wahr- 
scheinlich dagegen  ist,  dass  es  seine  Entstehung  Alkoholdampf  ver- 
dankt, welcher  dem  Chloräthylgas  beigemengt  war.  Es  finden  bei  der 
Einwirkung  von  Chlor  auf  Alkohol  wahrscheinlich  folgende  3  Arten  der 
Einwirkung  statt: 

i )   Die  Entstehung  von  Aldehyd  unter  Bildung  von  Salzsäure : 
CH«  CH3 

C    H2-f-       =C0      H-2C1H 
OH      ^'  H 

2)  Die  Entstehung  von  Chloräthyl  durch  Einwirkung  dieser  Salz- 
säure unter  Bildung  von  Wasser: 

CH3  CH:^ 

C    H2  4-       =  C    H2  +  0H2 
OH  Cl 

3)  Die  Entstehung  von  Aethylenchlorid  unter  Bildung  von  Wasser: 

CH'  CH2C1 

C    H2  4-^^=C    H2      -f-0H2. 
OH      ^^  Cl 


Die  im  Vorhergehenden  mitgetheilten  Thatsachen  lassen  sich  zu 
einem  Schluss  auf  die  Constitution  des  Aethylens  benutzen.  Dem 
Aethylen  kann  man  bekanntlich  folgende  Formeln  beilegen : 

-CH2  -CH  "CH3 

C  2  ^^^  ^      IJ3  *^"ß''  C 


Ueber  die  Chlorsubstitutionsproducte  des  Chlorüthyls.  233 

wahrend  die  Constitution  des  Aethans   (Aethylwasserstoff)  nur  durch 

IV   Q\\\ 

eine  Formel,   nämlich  C        ^  ausgedrückt  werden  kann.     Seine  Chlor- 
substitutionsproducte haben  die  Formeln : 

<.  i.  3.  4.  5.  6. 

cir'         ciF'  Gir'        cir^ci        ciici2       ccp 

^  ir^cr    ^  HCl''      ci'  '       ci-»     '      cp     '      er«  ' 

IV 

IV  Qll'l 

Konnnt  nun  dem  Aetiiylen  die  Formel:    G     ..,.  zu,  so  sind  die  For- 

mein  des  Aethyienchlorids  und  seiner  Substitutionsproducte   die  Fol- 
genden : 

i.  3.  4.  5.  6. 

CH2C1  GH2G1  GH2G1  GHCP  CCP 

H2C1'  HC12  '        Cl^       '        Cl^      '        CP  • 

Wie  man  sieht,  hört  also  hier  mit  dem  3.  Gliede  die  Metamerie 
derselben  mit  den  Substitutionsproducten  des  Aethans  auf  und  mit 
dem  4.  Gliede  beginnt  die  Identität,  was  mit  den  Thatsachen  über- 
einstimmt. 

II  IV 

IV  Q^  II    (^Y\:i 

Kommt   dem  Aelhylen  aber   die  Formel :    G    ,^„   oder  G    ,,      zu, 

so  sind  die  Formeln  seiner  Substitutionsproducte  die  folgenden : 


oder 


d.  h.  entweder  beginnt  hier  die  Identität  der  Producte  erst  mit  dem 
.•■).  Gliede  oder  schon  iiiil  dem  i.  Gliede,  was  beides  mit  den  Thatsachen 
nicht  übereinstimmt. 

IV 

IV   Q]]2 

Also  ist  die  Formel  des  Leuchtgases  oder  Aethylens  :   G         . 


2. 

3. 

4. 

5. 

6, 

iV 

'^  GHG12 
^     H3      ' 

GHG12 
^H2CI    ' 

„  GHG12 
^    HG12' 

GHG|2 

^C13          ' 

r  CC13 
^GP 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

IV 

-  GH'   . 
HG|2  ' 

pCH3 

^  Gl^   ' 

GH2G1 

GHG12  . 

^  Gl '       ' 

^G13    ' 

Zum  Schlüsse  mögen  hier  noch  einige  auf  die  Identität  des  einfach 
gechlorten  Chlorälhyrs  und  des  Aldehydclilorids  bezügliche  Versuche, 
welche  Hr.  Stapff  angestellt  hat,  Platz  Hnden. 


234  A.  Geutber,  üeber  die  Chlorsubstitutionsproducte  des  Chlorathyls. 

Regnault  giebt  den  Siedepunkt  des  einfach  gechlorten  Ghloräthyls 
zu  04**  nn,  während  der  des  Aldehydchlorids  bei  öS",?  liegt  i).  Beil- 
stein'^)  hat  zuerst  die  Identität  beider  Verbindungen  ,  gestützt  auf  die 
Analyse  eines  zwischen  50"  und  60**  destillirlen  einfach  gechlorten 
Chloräthyls,  wobei  er  23,9  Proc.  statt  '24,2  Proc.  Kohlenstod'  und  4,4 
Proc.  statt  4,0  Proc.  Wasserstoff  fand,  und  gestützt  auf  eine  Anzahl 
gleicher  Reactionen  wahrscheinlich  gemacht.  Später  hat  Tollens  3]  den 
Chlorgehalt  eines  bei  58 — 60"  siedenden  einfach  gechlorten  Chloräthyls 
bestimmt  und  72  Proc.  statt  71,7  Proc.  gefunden.  Noch  später  hat 
wieder  Stadel  ^j  den  Siedepunkt  des  einfach  gechlorten  Chloräthyls  zu 
62^  angegeben  und  ebenfalls  71,7  Proc.  Chlor  darin  gefunden. 

Die  analytischen  Resultate,  welche  Hr.  Stapff  mit  einem  zwischer^ 
57"  und  59"  destilhrtem  einfach  gechlorten  Chloräthyl,  von  etwa  bei- 
gemengtem Chloräthyl  durch  längeres  Kochen  unter  Anwendung  eines 
umgekehrten  Kühlers,  erhalten  hat,  sind  die  folgenden,  welche  bewei- 
sen ,  dass  einfach  gechlortes  Chloräthyl  und  Aldehydchlorid  auch  den 
nämlichen  Siedepunkt  besitzen. 

0,3188  Grm.  gaben  0,2785  Grm.  Kohlensäure  und  0,1195  Grm. 
Wasser,  entspr.  0,075955  Grm.  =  23,8  Proc.  Kohlenstoff  und  0,01328 
Grm.  =4,2  Proc.  Wasserstoff. 

0,2740  Grm.  lieferten  0,7955  Grm.  Ghlorsilber,  entspr.  0,1908 
Grm.  =71,8  Proc.  Chlor. 

her.  g  e  f. 

C'2  =  24,24  23,8 

H4  =    4,04  4,2 

Cl'^=  71,72  71,8 

100,00 
Man  kann  darnach  nun  wohl  mit  Recht  auch  die  Identität  beidfer 
Verbindungen  für  erwiesen  erachten. 


-1)  Diese  Zeitschrift  Bd.  I.  p.  277. 

2)  Annal.  d.  Cham.  u.  Piiarm.   Bd.  1-13.   p.  ilO. 

3)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  137.  p.  312. 

4)  In  d.  oben  angef.  Schrift,  p.  11. 

Jena,   Univ. -Laboratorium.   Mai  1870. 


lieber  Scinvefelsäiirecliloridc. 

Von 

Dr.  A.  Michaelis. 


1.   Pyroschwefelsäurechlorid. 

Setzt  man  ein  Gemenge  gleicher  Volumina  Ghlorgas  und  schwef- 
liger Siiure  dem  Sonnenlicht  des  Juni  aus,  so  erhält  man  nach  Rec.nault  i) 
eine  fai'blose  bei  77"  siedende  Flüssigkeit,  die  die  Formel  SOjCl^  hat, 
also  als  das  Sulphurylchorid  zu  betrachten  ist.  Ein  Körper  von  gleicher 
Zusammensetzung  soll  nach  Williamson  ^)  durch  Einwirkung  von  Phos- 
phorsuperchlorid auf  Schwefelsiiureanhydrid  oder  auf  Sulphurylhy- 
droxylchlorid  (S02(0I1)C1)  erhalten  werden;  nach  Odi.in« '^j  soll  sich 
derselbe  auch  durch  Einwirkung  von  Phosphoroxychlorid  auf  Bleisulfat 
bilden.  Ich  werde  nun  im  Folgenden  zeigen,  dass  diese  drei  letzten 
Angaben  vollkommen  falsch  sind. 

Phosphorsuperchlorid  wirkt  auf  reinen,  durch  nochmalige  Destilla- 
tion völlig  von  Hydrat  befreiten  Schwefelsäureanhydrid,  bei  gewöhn- 
licher Temperatur  nur  langsam  ein,  so  dass  man  etwas  im  Wasserbade 
erwärmen  muss.   Sobald  man  die  Hälfte  der  nach  der  Gleichung 

S0:5  H-  PClj  =  SO2CI2  +  PCI,  0 
berechneten  IVhMige  Phosphorsuperchlorid  zugesetzt  hat,  ist  der  Schwe- 
felsäureanhydrid völlig  verschwunden  und  bei  weiterem  Zusatz  ent- 
wickelt sich  Chlor  und  schweflige  Säure.  Durch  fractionirte  Destillation 
erhielt  ich  aus  der  entstandenen  Flüssigkeit  neben  Phosphoroxychlorid 
einen  bei  1  43"C  siedenden  Körper,  der  also  nicht  Sulphur^  Ichlorid,  sen- 


il Gmelin,  Handbuch  der  Chem.  I.  p.  777. 

2)  Ann.  der  Chem.  u.  Pharm.  XCII.  p.  243.  Diese  Angabe  ist  von  Schiff,  Ann. 
der  Chem.  u.  Pharm.  ClI.  p.  1U  bestätigt. 

3)  OnLiNG,   ilandb.  der  Chem.,  deutsch  von  Oppenheim  I.  p.  169.    Hieraus  auch 
in  mehrere  neuere  Lehrbücher  übergegangen. 


236  Dr.  A.  Michaelis, 

dern  Pyrosulphurylchlorid  S2O5CI2  ist.    Die  Einwirkung  verläuft  dem- 
nach nach  der  Gleichung 

S.A   +  PCl5   =  S.,05Cl2   +  PCl3  0. 

Dies  Pyroschwefelsäurechlorid,  dem  als  solchen  die  Formel 

GI2 

zukömmt,  ist  schon  früher  von  Rose  i)  durch  Einwirkung  von  Schwe- 
felsäureanhydrid auf  Chlorschwefel,  und  von  Rosenstiehl  2)  durch  Ein- 
wirkung desselben  Körpers  auf  Chlornatrium  dargestellt  worden.  Der 
letztere  Chemiker  hielt  die  Verbindung  für  einfach  gechlorte  wasserfreie 
Schwefelsäure  S2O5CI,  was  damals  bei  den  alten  Atomgewichten  mög- 
lich war.  Lieben  verdoppelte  die  Formel,  indem  er  die  Verbindung  als 
II 

(SO^) 
Disulphurylchlorid       „      v  0  auffasste.    In  der  letzten  Zeit  ist  das  Py- 

(SO^j 
CI2 
roschwefelsäurechlorid  neben  Phosgengas   von  Schützenberger^)  durch 
Einwirkung  von  Schwefelsäureanhydrid  auf  den  Chlorkohlenstoff  CCI4 
erhalten  worden,  gemäss  der  Gleichung 

S2  Oo  H-  CCI4  =  S2  O5  CI2  +  CCI2  0. 
Dasselbe  bildet  eine  farblose  ölige  Flüssigkeit,  die  bei  \i6^C 
(corrg)  siedet  und  deren  spec.  Gew.  bei  18öC  =  1,819  ist^).  Mit 
Wasser  zersetzt  es  sich  langsam  und  ohne  Geräusch  zu  Schwefel- 
säure und  Salzsäure,  durch  welches  Verhalten  es  sich  leicht,  wie  wir 
weiter  unten  sehen  werden,  von  dem  Sulphurylhydroxylchlorid  unter- 
scheiden lässt.  Mit  Phosphorsuperchlorid  zusammengebracht  könnte 
unter  Bildung  von  Phosphoroxychlorid  das  Sulphurylchlorid  SO2CI2 
entstehen,   denn  es  ist : 

S2O5CI2  +  PCI5  =  2SO2CI2  -h  PCI3O. 
Dies  ist  jedoch  nicht    der  Fall ,    sondern   es   treten   nur  die  Zer- 
setzungsproducle  von  SO2CI2  nämlich  Chlor  und  schweflige  Säure 


i)  Gmelin,  Handb.  d.  Chem.  I.  p.  778.  2)  Jahiesber.  14.  p.  120. 

3)  Rep.  chim.  pure  IV.  90.  4)   Zeitschrift  f.  Chem.  1869.  p.  631. 

5)  Diese  Zahlen  stimmen  mit  den  von  H.  Rose  angegebenen  nahe  überein. 
Dieser  fand  spec.  Gew.  =  1,818,  Siedep.  1450,  während  Rosenstiehl  spec.  Gew. 
=  1,762  Siedep.  zwischen  145  und  150"^  angiebt.  Letzterer  giebt  auch  an,  seine 
Verbindung  habe  sich  mit  Wasser  heftig  zersetz!  ;  wahrscheinlich  war  sie  deshalb 
ein  Gemenge  von  Pyroschwefelsäurechlorid  und  Sulphurylhydroxylchlorid. 


lieber  Schwefelsäurechlorid.  237 

auf,  welche  sich  leichl  durch  Geruch  und  Farbe  nachweisen  lassen. 
Der  wirkliche  Verlauf  der  Reaclion  wird  also  durch  die  Gleichung 

S-2  0,Cl2  +  PCij  =  280-2  +  CU  -f-  FGI,0 
ausgedrückt.     Wendet  man  bei   der  Einwirkung  von  Phosphorsuper- 
chlorid auf  Schwefelsiuneanhydrid  soviel  des  ersteren  Körpers  an,    wie 
WiLLiAMSON  angiebt,  so  erhält  man   nur  Phosphoroxychlorid,  Chlor  und 
schweflige  Säure. 

Ebenso  wenig  lässl  sich  das  Sulphurylchloiid  durch  Flin\\irkung 
von  Phospliorsuperchlorid  auf  Sulphurylhydroxylchlorid  darstellen. 
Dieses  verhält  sieh  viehnehr  genau  so  wie  8-2  0,;  +  H2CI2  und  giebt 
demnach  bei  Anwendung  der  von  Williamson  angegebenen  Menge 
Phosphorsuperchlorid  nur  Chlor,  schweflige  Säure,  Salzsäure  und 
Phosphorox>(clilorid;  ninunt  man  jedoch  nur  die  Hälfte  Superchlorid, 
so  bildet  sich  Pyroschwefelsäurechlorid  nach  der  Gleichung: 
SoO.H.Cl.  +  PCI5  =  82O5CI2  +  H2CI2  +  PCI3O. 
Demnach  sind  beide  Angaben  Williamson's  über  die  Bildung  von 
Sulphurylchlorid ,  sammt  der  Bestätigung  der  einen  durch  Schiff, 
unrichtig. 

Schliesslich  gebe  ich  noch  eine  dritte  Bildungsweise  des  Pyro- 
schwefelsäurechlorids  an.  Erhitzt  man  nämlich  3  Aeq.  Schwefelsäure- 
anhydrid mit  2  Aeq  Phosphoroxychlorid  im  zugeschmolzenen  Rohr 
längere  Zeit  auf  160*^,  so  entsteht  Pyrosäureschwefelchlorid  und  Phos- 
phorsäureanhydrid nach  der  Gleichung : 

■  382  0«  H-  2PCI,0  =  3S2O5GI2  4-  P2O5. 
Die  Angabe  Odlings  ,  dass  bei  der  Einwirkung  von  Phosphoroxy- 
chlorid auf  Bleisulfat  Sulphurylchlorid  entstehen  sollj  ist  mir  unbe- 
greiflich, da  auch,  wenn  beide  Substanzen  in  einer  Retorte  anhaltend 
zusammen  erhitzt  werden,  keine  Spur  von  Einwirkung  zu  bemerken  ist. 
Das  Sulphurylchlorid  SO2CI2  ist  also  aus  dem  Schwefel- 
säureanhydrid auf  keine  Weise  zu  erhalten,  letzterer  ver- 
hält sich  vielmehr  wie  82  Oß. 

2.  Sulphurylhydroxylchlorid. 

Lässl  man  Phosphorsuperchlorid  auf  Schwefelsäurehydrat  einwir- 
ken ,  in  dem  Verhältniss  wie  sich  dies  aus  der  von  Williamson  ^)  auf- 
gestellten Gleichung 

SU4  H2  +  PCI5  =  SO;,  HCl  -f-  HCl  -h  PCI3O 
berechne! ,   und  unterwirft  den  höher  siedenden  Theil  der  erhaltenen 


1)  Ann.  d.  Chcm.  u.  Pharm.  XCII.  p.  242. 

Bd.  VL  2.  47 


238  Dr.  A.  Michaelis,  Ueber  Schwefelsäurechlorid. 

Flüssigkeit  der  fractionirten  Destillation ,  so  erhält  man  zwei  Producte, 
von  denen  das  eine  bei  148^,  das  andere  bei  1550  siedet.  Nur  dies 
letztere  ist  reines  Sulphurylhydroxylchlorid ,  während  das  erstere  aus 
Pyroschwefelsäurechlorid  besteht,  welches  sich  durch  Einwirkung  von 
dein  Phosphorsuperchlorid  auf  das  Hydroxylchlorid  gebildet  hat.  Beide 
Körper  lassen  sich  sehr  leicht  durch  ihre  Reaction  gegen  Wasser  von 
einander  unterscheiden.  Während  nämlich,  wie  schon  oben  angegeben, 
das  Pyroschwefelsäurechlorid  sich  ohne  Geräusch  mit  Wasser  zersetzt, 
verursacht  jeder  Tropfen  des  Hydroxylchlorids ,  welcher  in  kaltes 
Wasser  fällt,  ein  explosionsartiges  Geräusch,  dem  vergleichbar, 
welches  Schwefelsäureanhydrid  erzeugt,  indem  es  sich  dabei  sofort 
als  Salzsäure  und  Schwefelsäure  auflöst.  Ein  Gemisch  beider  Chloride 
zeigt  immer  noch  starkes  Zischen,  wenngleich  nicht  so  heftiges  wie  die 
reine  Verbindung. 

Reines  Sulphurylhydroxylchlorid  erhält  man  nur  bei  Anwendung 
von  8  Aeq.  Schwefelsäure  auf  I  Aeq.  Phosphorsuperchlorid,  wobei  letz- 
teres in  Melaphosphorsäure  übergeht. 

3SO4  H2  +  PCI5  =  2HCI  4-  PO3H  +  3SO3HCI, 
wie  schon   von  Williams  i)    angegeben  ist,    oder   durch  Erhitzen   von 
Phosphoroxychlorid  und  Schwefelsäure,  wobei  ebenfalls  Metaphosphor- 
säure  entsteht,  nach  der  Gleichung: 

S04n2  +  2P0C1:,  =  SO3HCI  -h  2PO3II  -h  HCl. 
Lelzeres  ist  eine  sehr  bequeme  Darslellungsmelhode  dieses  Chlorids. 

Das  Sulphurylhydroxylchlorid  ist  eine  farblose  Flüssigkeit,  die  bei 
15804  C  (corrg)  siedet;  ihr  spec.  Gew.  ist  bei  180C  =  1,776.  Gegen 
Wasser  zeigt  sie  das  oben  angegebene  charakteristische  Verhalten. 

Eine  weitere  bequeme  Darstellungsweise  des  Sulphurylhydroxyj- 
chlorids  ist  die  durch  Einwirkung  von  Phosphorchlorür  auf  Schwefel- 
säure. Diese  beiden  Körper  wirken  bei  gewöhnlicher  Temperatur  erst 
bei  längerm  Stehen  auf  einander,  sehr  lebhaft  dagegen  beim  Erwärmen. 
Unter  Entweichen  von  Strömen  schwefliger  Säure  und  Salzsäure  bildet 
sich  Phosphorsäureanhydrid  und  die  Verbindung  nach  der  Gleichung 
3SO4  H2  +  2PCI3  =  2SO2  +  SO:i  HCl  +  5HC1  H-  P2  O5. 

Diese  Reaction  ist  dadurch  merkwürdig,  dass  der  im  Phosphor- 
chlorür dreiwerthig  erscheinende  Phosphor  hier  in  fünfwerthigen 
übergeht. 


1)  Zeitschr.  f.  Chem.  u.  Pharm.  1869.  p.  665. 


HelM^r  die  lüiinirkiiii«;  von  Phosphorchlorür  auf  Anhydride 

und  Chloride. 

Von 

Dr.  A.  Michaelis. 

Erste  Mittheilung. 

In  einer  frülieren  Arbeit ')  hnbe  ich  nachgewiesen,  dass  das  Phos- 
phorchlorür  geliundenen  Sauerstoff  unter  Bildung  von  Phosphoroxy- 
chiorid  wegzunehmen  vermag,  dass  dasselbe  also  zu  den  reducirenden 
Mitteln  gehört.  Es  war  nun  interessant  zu  untersuchen,  wie  weit  diese 
reducirende  Eigenschaft  geht,  ob  das  PhosphorchlorUr  auch  im  Stande 
ist  verhaltnissmässig  fest  gebundenen  Sauerstoff  seinen  Verbindungen 
zu  entreissen.  Im  Allgemeinen  habe  ich  gefunden,  dass  das  Phosphor- 
chlorUr bei  gewölndicher  Ten)peratur  keine  sehr  starke  Affinitiit  zum 
Sauerstoff  zeigt,  dass  aber  die  Affinität  mit  wachsender  Temperatur 
sehr  rasch  zunimmt  und  es  dann  im  Stande  ist  sehr  feste  Verbindungen 
zu  zerstören.   Die  von  mir  bis  jetzt  angestellten  Versuche  sind  folgende: 

1.  Phosphorehlorür  und  Thionylchlorür. 

1  Aeq.  Thionylchorür  SOCI.2  wurde  mit  3  Aeq.  Phosphorehlo- 
rür im  Oelbad  im  zugeschmolzenen  Rohr  24  Stunden  lang  auf  160" 
erhitzt.  Beim  Erkalten  schied  sich  ein  fester  weisser  Körper  aus,  der 
sich  durch  sein  Verhalten  beim  Erhitzen  und  gegen  Oxalsäure  als  Phos- 
phorsuperchloiid  erwies.  Die  von  ihm  abgegossene  Flüssigkeit  konnte 
durch  fractionirte  Destillation  in  Phosphoroxychlorid  und  Phosphorsul- 
phochlorid  zerlegt  werden.  Letzteres  wurde  ausser  durch  seinen  Siede- 
punkt (124")  auch  durch  Zersetzen  eines  Theils  der  Flüssigkeit  durch 

« 
4)  Diese  Zeitschrift  Bd.  VI.  p.  93. 

17* 


240  ^^'  A«  Michaelis, 

Natronlauge   und   Hinzufügen  von  Bleiacetat  durch   das   entstehende 
Schwefelblei  nachgewiesen  i). 

Die  Zersetzung  war  also  nach  der  Gleichung 

3PCI3  +  SOCI2  =  PCI5  4-  POCI3  -f-  PSCI3 
verlaufen.   Sie  geht  der  grossen  Beständigkeit  des  Thionylchlorür  wegen 
nur  langsam  vor  sich  ,   ist  aber  vollständig.     Nimmt  man  einen  Ueber- 
schuss  von  Thionylchlorür,  so  erhält  man  das  Phosphorsuperchlorid  in 
sehr  schönen  völlig  durchsichtigen  Krystallen. 

Die  Resultate  dieses  Versuchs  veranlassten  mich  auch  d  i  e  E  i  n  - 
Wirkung  jvon  Phosphorchlorür  auf  Chlorschwefel  (SCI) 
zu  untersuchen.  Der  Letztere  wird  durch  das  Phosphorchlorür  viel 
schneller  zersetzt  als  Thionylchlorür.  Schon  nach  sechsstündigem  Er- 
hitzen auf  1600  ist  die  Reaction  betMidet;  unter  Entfärbung  der  Flüs- 
sigkeit scheidet  sich  Phosphorsuperchlorid  aus,  indem  sich  gleichzeitig 
Phosphorsulphochlorid  bildet 

3PCI3  -h  2SC1  =  2PCI3S  +  PCI5. 

Da  sich  diese  beiden  Körper  durch  Destillation  leicht  reinigen  las- 
sen, so  kann  man  auf  diese  Weise  bequem  reines  Phosphorsulphochlorid 
darstellen. 

2.  Phosphorchlorür  und  Sehwefligsäureanhydrid. 

Beide  Körper  vermischen  sich  bei  gewöhnlicher  Temperatur  ohne 
Wärmeentwicklung,  auch  als  dieselben  im  verschlossenen  Rohr  bis  auf 
140^  erhitzt  wurden,  fand  keine  nennenswerthe  Einwirkung  statt. 

3.  Phosphorchlorür  und  Schwefelsäureanhydrid. 

Jeder  Tropfen  Phosphorchlorür  bewirkt,  wenn  er  zu  Schwefel- 
säureanhydrid kommt,  lebhaftes  Zischen  und  starke  Wärmeentwick- 
lung, indem  sich  schweflige  Säure  entv\ickelt.  Es  wurde  deshalb  1  Mgt. 
Phosphorchlorür  tropfenweise  zu  1  Mgl.  stark  abgekühltem  Schwefel- 
säureanhydrid fliessen  gelassen.  Unter  Entwicklung  von  viel  schwefliger 
Säure  verflüssigte  sich  der  Anhydrid  vollständig  und  die  erhaltene  Flüs- 
sigkeit erwies  sich  als  fast  reines  Phosphoroxychlorid.   Der  Hergang  ist: 


1^  Bei  dieser  Gelegenheit  will  ifli  noch  einen  früher  angestellten  Versuch  an- 
geben. Giessl  man  zu  Selenylchlorür  Tliionylchloriir,  so  entstellt  unter  Entwick- 
lung von  schwefliger  Säure  Selentetrachlorid 

Se  OCii  +  SOCI2  =  SO.)  +  SeCl«. 
So  erklärt  sich  die  Angabe  Rose's,  dass  Selentetraclilorid  sich  unverändert  in  sdhwef- 
iger  Säure  sublimiren  lässt. 


üc^cr  die  Eiiiwirkiini;  von  Pliosiilinrrliinnir  rtiif  Anliydride  und  fhlorido.         21 1 

SO,  4-  I'Cl;,  =  SO2  4-  PCI3O. 
Diese  ReJictioii  liisst  sich  am   leichlesUui  zur  diieclen  Unjwandlung 
des  Phosphorchloi  ilrs  in  Phosphoroxychlorid  honutzcn ;  sie  verUiufl  fast 
ganz  glatt,  denn  iO  Grni.  ChlorUr  lieferten  43  Grm.  Oxychlorid. 

4.  Phosphorchlorür  und  Arsenigsäureanhydrid. 

Arsenigsäuroanliydrid  wird  schon  Itei  110"  vom  Phosphnrchlortlr 
angegriffen,  wobei  er  sich  durch  ausgeschiedenes  Arsen  braun  färbt. 
Zuletzt  wurde  bis  130"  erhitzt,  um  sicher  zu  sein,  dass  die  Reaction 
beendet  sei.  Die  Flüssigkeit  hatte  sich  sehr  vermindert  und  erwies  sich 
als  bei  132"  siedendes  Arsenchlorür.  Die  ausgeschiedenen  festen  Körper 
waren  Arsen  und  Phosphorsäureanhydrid.  Die  Einwirkung  war  also 
hier  nach  der  Gleichung 

öAs^O;,  4-  6PCI3  =  4As  -I-  3P2O5  4-  6ASCI3 
vor  sich  gegangen. 

Es  hätte  sich  zuerst  Phosphoroxychlorid  bilden  und  dieses  sich 
dann  mit  dem  Arsenigsäureanhydrid  im  Arsenchlorür  und  Phosphor- 
säureanhydrid umsetzen  können 

As2  O3  -{-  3PCI3  =  2As  4-  8PGI3  0 
AS2O3  +  2PCI3O  =  2AsCI;,  -f  P2O5, 
allein  dies  scheint  doch  nicht  der  Fall  zu  sein,  sondern  der  Phosphor- 
säureanhydrid sich  unmittelbar  zu  bilden ,  da  PhosphoroxNchlorid  und 
Arsenigsäureanhydrid  selbst   bis   160"  erhitzt,    keine  Einwirkung   auf 
einander  zeigten. 

Auf  Arsensäureanhydrid  wirkt  das  Phosphorchlorür  selbst  beim 
Erhitzen  damit  bis  auf  200"  merkwürdiger  Weise  gar  nicht  ein. 


lieber  die  Qiiaiitivaleiiz  des  Phosphors  und  über  die  Eiiiwirkiing 
von  Phosphorchlorür  und  Brom  auf  Beuzo«Stänre. 

Von 

A.  Geuther  und  A.  Michaelis. 


Die  im  Vorhergehenden  mitgethcilten  Thatsachen  über  die  Leich- 
tigkeit, mit  welcher  das  Phosphortrichlorid  Sauerstoff  von  Verbindungen 
wegnimmt  und  sich  dadurch  in  Phosphoroxychlorid  verwandelt,  schien 
uns  für  die  Frage  nach  der  Werthigkeit  des  Phosphors  von  Wichtigkeit, 
werden  zu  können.  Bekanntlich  ist  man  verschiedener  Meinung  über 
die  Valenz.  Entweder  kann  man  sie  nämlich  als  absolutes  Verbindungs- 
vermögen eines  Elementes  auffassen ,  oder  sie  als  den  Substitutions- 
werth  oder  die  Aequivalentigkeit  desselben  in  seinen  verschiedenen 
Verbindungen,  definiren.  Während  die  Werthigkeit,  der  letzteren  An- 
sicht zufolge,  welche  von  den  einen  von  uns  ^)  in  der  neuesten  Zeit  für 
alle  Verbindungen  durchgeführt  ist,  eine  wechselnde  Grösse  für  ein 
und  dasselbe  Element  sein  kann ,  muss  sie  nach  der  ersten  Ansicht 
nothvvendig  eine  constante  Grösse  sein ,  über  deren  wirklichen  Werth 
aber  in  Beziehung  auf  viele  Elemente  verschiedene  Meinungen  herr- 
schen. So  halten  die  Einen  den  Phosphor  für  trivalent,  die  Anderen  ihn 
dagegen  für  [)entavalent.  Zu  den  Vertretern  der  erstcrcn  Ansicht  gehört 
Wichelhaus  ,  welcher  in  seiner  Abhandlung  » lieber  die  Verbindungen 
des  Phosphors « 2]  behauptet,  die  Frage  nach  der  Werthigkeit  dieses 
Elements  experimentell  entschieden  zu  haben  und  zwar  zu  Gunsten 
der  Trivalenz  desselben,  indem  er  die  Frage  nach  der  Valenz  des  Phos- 
phors für  eine  Frage  nach  der  Constitution  des  Phosphoroxychlorids, 
Triäthylphosphinoxyds,  so  wie  deren  Analoge  erklärt  hat. 


1)  Geuther,  Lehrbuch  der  Chemie,  gegr.  auf  die  Werthigkeit  der  Elemente. 

2)  Ann.  d.  Chera.  u.  Pharm.  Supplem.  Bd.  6.   p.  257. 


lieber  die  (liiaiitivjvleiiz  des  Phosphors  cic.  2  43 

Diese  Bohniiptung  stützt  sich  hauptsächlich  auf  folgende  zwei.  Ver- 
suche. Der  erste  besteht  in  der  Thatsachc,  dass  durch  Einwirkung  von 
Chlor  auf  Aethylphosphorigsäurechlorür  Phosphoroxychiorid  und  Chior- 
äthyl  gebildet  werden.  Diesen  Process  fasst  Wichelh.us  auf  als  nach 
der  Gleichung : 

p  (r.ni=o)       (,,  _  p  (CIO)       ,„.j,| 

verlaufend.  Danach  würde  also  im  Aethoxyl  das  Aelhyl  dircct  durch 
Chlor  substituirt  werden.  Dies  ist  indessen  sehr  unwahrscheinlich  und 
zwar  deshalb,  da  in  allen  Fällen,  wo  Chlor  auf  Ihdroxyl  wirkt,  es  das- 
selbe als  Ganzes  und  nicht  den  Wasserstofl'  desselben  allein  substituirt. 
Viel  wahrscheinlicher  ist  es  daher,  dass  dem  analog  zunächst  die  ganze 
Gruppe  Aethoxyl  durch  ein  Chlor  ersetzt  wird,  so  dass  Phosphorchlorür 
und  Unlerchlorigsäureäther  entstehen,  dass  Ersteres  aber  sofort,  seiner 
Neigung  sich  zu  oxydiren  folgend,  den  gebildeten  Aether  zu  Cbloräthyl 
reducirt.  Danach  würde  der  Process  als  nach  folgenden  zwei  Phasen 
verlaufend  zu  denken  sein  : 

C12  ^ 

PC13  4-  (CMl^OjCl  =  POCP  -f  cnpci 
Demgemäss  folgt  also  aus  dieser  Einwirkung  durchaus   nicht  die 
Formel  PC|2(0CI)  für  das  Phosphoroxychlorid. 

Der  zweite  Versuch  besieht  in  dem  Folgenden,  das  wir  wöi-liich  inil- 
theilen.  »Lässt  man  Brom  zu  einem  Gemenge  von  je  1  Mol.  C'H«02  und 
PCP  tropfenweis  zufliessen,  so  beginnt  gleich  eine  heftige  Reaction :  es  ent- 
weichen rauchende  Dämpfe,  die  Chlorwasser  braun  färben,  also  Brom- 
wasserstoff sind,  und  es  tritt  allmählich  Verflüssigung  ein.  Die  nach  dem 
Zusatz  von  1  iMol.  Brom  schwach  gefärbte  Masse  lässt  sich  ohne  Rück- 
stand destilliren,  enthält  also  nicht  etwa  Brombenzoesäure.  Man  erhält 
neben  Benzoyl Chlorid  einen  höher  als  Phosphoroxychlorid  siedenden 
Körper,  der  bei  der  Rectification  den  von  MENSCHUTKl^  für  Phosphor- 
oxychlorbromür  angegebenen  Siedepunkt  (135-137'')  zeigt  und  die 
entsprechende  Zusammensetzung  hat,  wie  aus  der  folgenden  Analyse 
hervorgeht  >).«  Die  Analyse  ergab  40,54  pC.  Er.  und  3(j,66  pC.  Gl.  Die 
Formel  POCPBr  verlangt  40,4  pC.  Br  und  35,8:)  pC.  Cl.  Der  Phosphor 
wurde  ni  cht  beslinmit,  desgleichen  findet  sich  keine  Angabe  darüber, 
dass  das  erhaltene  Benzo\lchlorid  auf  seine  Reinheit  geprüft  worden  ist. 
WiCHELHAis  denkt  sich  nun,  unter  derAnnahme,  dass  das  von  ihm 
analysirte,    zwischen   135  und  137"  destillirle  Producl  wirklich  Phos- 

1)  a.  a.  0.  p.  277. 


244  A.  Geuther  und  Ä.  Michaelis, 

phoroxychlorbromid  sei,    die  Reaclion   nach  den    beiden  Gleichungen 
verlaufend 

PC13ßr2  -I-  C^H^O.OH  =  PCI'  +  C^H'-O.OBr  +  Brll 
PC13  +  G7H50.0Br  =  PC12(0Br)  -}-  G'H^O.Cl 

Sonach  ist  die  Conslilulion  des  Phosphoroxychloibromids  durch 
die  Formel  PCI2  (OBr) ,  die  des  Phosphoroxyehlorids  durch  die  Formel 
PCi2(0CI]  ausgedrückt.  Erstere  Verbindung  enthält  also  Bromoxyl  (OBr) , 
letztere  Chloroxyl  (OCl). 

Wäre  die  Constitution  des  Phosphoroxyehlorids  wirklich  die  vor- 
erwähnte, so  würde  es,  wie  auch  Wichelhads  schon  bemerkt,  mit  dem 
essigsauren  Chlor  von  Sciiütze^berger  zu  vergleichen  sein,  in  welchem 
das  Chloroxyl  an  Stelle  von  Hydroxyl  wirklich  enthalten  ist.  Ein  Blick 
auf  die  Eigenschaften  beider  Verbindungen  zeigt  indess  schon,  dass  sie 
durchaus  nicht  zu  vergleichen  sind:  das  essigsaure  Chlor  zersetzt  sich 
schon  allmählich  bei  gewöhnlicher  Temperatur  und  beim  Erhitzen  auf 
100"  unter  Explosion,  das  Phosphoroxychlorid  ist  dagegen  eine  sehr 
beständige  Verbindung,  welche  sich  auch  in  höheren  Temperaturen  aus 
Phosphorchlorür  und  Sauerstoff  bildet.  Während  ersteres  die  Unbe- 
ständigkeit der  verschiedenen  Chlorsäuren  besitzt,  d.  h.  sehr  lose  ge- 
bundenen Sauerstoff  enthält,  hat  Letzteres  eine  diesen  entgegensetzte 
Beständigkeit  und  enthält  den  Sauerstoff  sehr  fest  gebunden ,  so  dass 
es  unter  Reduction  anderer  Sauerstoffverbindungen  entsteht  und  wohl 
sein  Chlor,  nicht  aber  seinen  Sauerstoff  abgiebt. 

Diese  Ueberlegungen  waren  es,  welche  uns  zur  Anstellung  der  im 
Folgenden  mitgetheilten  Versuche  veranlassten.  Wir  sind  im  Laufe  der 
Untersuchung  auch  dazu  geführt  worden,  den  oben  angeführten  Versuch 
zu  wiederholen  und  sind  dabei,  das  sei  hier  sogleich  bemerkt,  zu  ganz 
anderen  Resultaten  als  Wichelhaus  gelangt.  Wir  haben  nämlich  keine 
Spur  von  Phosphoroxychlorbromid  beobachten  können ,  sondern  neben 
Benzoylchlorid  nur  Phosphoroxychlorid  und  Phosphoroxybro- 
mid  erhalten. 

An  Stelle  der  Benzoesäure  im  obigen  Versuch  haben  wir  zunächst 
die  äquivalente  Menge  Wasser  auf  PCl^  und  Br2  einwirken  lassen. 
Würde  die  Reaction  verlaufen  wie  Wichelhaus  annimmt,  so  müssten 
wir  erhallen  Bromwassersloff ,  Chlorwasserstoff  und  Phosphoroxychlor- 
bromid : 

PC13Br2  4-  H.OH  =  PC|3  +  H.OBr  -f  BrH 
PCP  -f  H.OBr  =  PC12(0Br)  -j-  CIH. 

Lässt  man  zu  der  kalt  gewordenen  Mischung  von  1  Mgt.  Phos- 
phorchlorür und  I  Mgt.  Wasser  allmählich  2  Mgte.  Brom  fliessen .  so 
verschwindet  die  Farbe  des  Broms  sofort  unter  Entwicklung  von  Brom- 


IVbpr  dip  QiianfivalPiiz  dos  Pliospliors  de  245 

Wasserstoff  und  Chlorwasserstoff.  Der  Rückstand  liefert  naeh  fractio- 
nirter  Destillation  unter  Hinterlassung  von  etwas  Phosphorsäure  bei 
HO"  siedendes  Phosphorovychlorid,  und  einen  krystallinisch  erstarren- 
den Körper,  dessen  Siedepunkt  (105*')  und  Schmelzpunkt  (46")  mit  dem 
des  Phosphorox  ybromids  übereinstinmit  und  der  in  der  That 
nichts  anderes  als  diese  Verbindung  ist.  Die  Einwirkung  verläuft  also 
nicht  nach  obigen  Gleichungen,  sondern  geht  in  folgender  Weise 
vor  sich  : 

^PCI'Br-i  _j_  :iOH2  =  2?0CA^  +  POBp'  +  3C1H  +  ^^Brll. 
Es  ist  dies  oHenbnr  durch  die  grosse  Verwandtschaft  des  Chlors 
7Aim  Wasserstoff  und  die  tles  Phosphors  zum  Sauerstoff  bedingt. 

Die  Leichtigkeit,  mit  der  die  Bildung  von  Phosphoroxybromid  auf 
diese  Weise  vorsieh  gehl,  ist  besonders  bemerkenswerth,  denn  man 
braucht  nur  ein  Gemenge  von  PCI '  und  Br  in  einen  feuchten  Cylinder 
7Ai  giessen  ,  um  sofort  die  Wände  desselben  sich  mit  Krystallen  von 
Phosphoroxybromid  überziehen  zu  sehen.  Dieselben  sind  dann  aber 
nicht  farblos,  sondern  durch  das  überschüssige  Brom  rolh  gefärbt. 

Auf  diese  Weise  lässt  sich  leicht  und  schnell  Phosphoroxybromid 
in  grösseren  Mengen  darstellen.  Das  gleichzeitig  gebildete  Phosphor- 
oxychlorid  kann  man  bequem  durch  Destillation  entfernen,  so  dass  man 
nahezu  die  berechnete  Menge  Phosphoroxybromid  erhält.  Man  kann 
auch  an  Stelle  der  ;i  Mgl.  Wasser  1  Mgt.  Perhydroxyloxalsäure  [C2(0H)''] 
anwenden  ,  zur  Darstellung  grösserer  Mengen  des  Phosphoroxibromids 
mdess  haben  wir  die  Anwendung  von  Wasser  zweckmässiger  gefunden. 
Nach  diesen  Versuchen  schien  es  uns  sehr  wahrscheinlich  ,  dass 
auch  die  Einwirkung  von  Brom  und  Phosphorchlorür  auf  Benzoesäure 
nach  der  Gleichung 

3PCI'Br2  -f-  ;?(C^H'' 0.011)  =  2P0C1*  +  POBr^  +  3Cni-^0Cl  -f-  3BrH 
vor  sich  gehen,  dass  aber  das  Phosphoroxybromid  von  dem  Benzoyl- 
chlorid  ihrer  nahezu  gleichen  Siedepunkte  halber  (195**  und  196")  nur 
schwer  zu  trennen  sein  würde.  Wir  haben  den  Versuch  mit  40  Grm. 
Benzoesäure,  45,2  Grm.  Phosphorchlorür  und  52,4  Grm.  Brom  ganz  in 
derselben  Weise  ausgeführt,  wie  es  Wichelhaus  angiebt.  Die  unter 
Erwärmung  und  Entwicklung  von  Bromwasserstoff  flüssig  gewordene 
Masse  wurde  alsdann  der  fractionirlen  Destillation  unterworfen  und  es 
gelang  bald  den  bis  1 90"  siedenden  Antheil  in  zw  ei  Producte  von  1 1 0 
— 115"  und  von  150  — 180"  Sdp.  zu  zerlegen.  Alles  dawischen  Sie- 
dende verschwand  bei  wiederholter  Destillation  vollständig,  so  dass  ein 
Producl,  welches  zwischen  1  35  und  137"  constanl  gesiedet  hätte,  nicht 
zu  erhallen  war  Das  zwischen  150  und  I  90"  Siedende,  welches  vor- 
handenes Phosphoroxybromid  enthalten  nmsste,    ^vurde  in   Eiswasser 


246  A.  Geuther  und  A.  Michaelis, 

gesetzt,  ohne  dass  selbst  nach  längerer  Zeit  eine  Krystallisation  zu  be- 
merken war ;  als  aber  in  die  so  abgekühlte  Flüssigkeit  ein  kleines  Kry- 
ställchen  von  Phosphoroxybromid  gebracht  wurde ,  erstarrte  sie  sofort 
zum  grössten  Theil.  Die  davon  abgegossene  Flüssigkeit  wurde  von 
Neuem  rectificirt;  sie  Hess  sich  zerlegen  in  Phosphoroxychlorid  in  über 
190*^  Siedendes  und  in  ein  Zwischenproduct,  welches  na9h  dem  Ab- 
kühlen und  Zufügen  eines  der  vorher  erhaltenen  Krystalle  wieder  zum 
theilweisen  Krystallisiren  gebracht  werden  konnte.  Durch  forlgesetzte 
gleiche  Behandlung  und  durch  erneuertes  Rectificiren  des  krystallisirten 
Theils  liess  sich  eine  Partie  des  Letzteren  fast  rein  erhallen.  Neben- 
hergehende Schmelzpunktbestimmungen  dienten  zur  Controle.  Der 
Schmelzpunkt  erhöhte  sich  bei  fortgesetzter  Reinigung  stelig ;  da  das 
Phosphoroxybromid  aber  in  Phosphoroxychlorid  sowohl  als  in  Benzoyl- 
chlorid  sehr  leicht  löslich  ist,  so  erniedrigen  nur  sehr  geringe  Mengen 
von  diesen  Flüssigkeiten ,  wenn  sie  den  Phosphoxybromid  anhängen, 
seinen  Schmelzpunkt  schon  beträchlhch.  Es  zeigt  das  die  krystallisirle 
Substanz ,  welche  zur  Analyse  verwandt  wurde ,  und  die  schon  bei 
400,6  C.  schmolz. 

1)  0,4898  Grm.  derselben  gaben  0,9751  Grm.  Ghlorsilber-j- Brom- 
silber. 

2)  0,5997  Grm.  dieses  Gemenges  verloren  beim  Glühen  im  Chlor- 
gas 0,1586  Grm.  an  Gewicht. 

Daraus  berechnen  sich  82,63  pG.  Brom  und  1,18  pG.  Chlor. 

Ferner  gaben 

0,4761  Grm.  Subsl.  0,1817  P^O^Mg^  entspr.  10,81  pC.  Phosphor. 

Die  analysirten  Krystalle  waren  also  fast  reines  POBr^ 
b  e  r.  g  e  f. 

P    =  10,80  10,81 

Br=  83,62  82,63. 

Die  gefundene  Menge  Chlor  1,18  pC.  rührte  wohl  von  anhängen- 
dem Benzoylchlorid  her,  welches  auch  den  Schmelzpunkt  erniedrigte. 

Der  grösste  Theil  von  gebildetem  Phosphoroxybromid  ist  vom  Ben- 
zoylchlorid auf  oben  angegebene  Weise  indess  nicht  zu  trenneri.  Von 
seiner  Anwesenheil  in  dem  höchst  siedenden  (196^),  wiederholt  rectifi- 
cirten  Thcile  kann  man  sich  aber  leicht  überzeugen,  wenn  man  den- 
selben mit  Wasser  zersetzt.  In  der  Lösung  lässl  sich  dann  eine  ziemlich 
beträchtliche  Menge  von  Brom  und  Phosphorsäure  nachweisen. 

Die  Analyse  des  von  1 1 0 — 1 1 5"  siedenden  Antheils  führte  zu  fol- 
genden Resultaten : 

1)  0,4581  Grm.  Subsl.  gaben  1,2608  Grm.  AgCl.  entspr.  68,08pC. 
Chlor. 


Uebcrdie  (liianlivalenz  des  Phosphors  etc.  247 

2)  0,5814  Grm.  Subsl.  gaben  0,4000  Grm.  P^O^Mg^  entspr. 
19,21  pC.  Phosphor. 

Mit  der  Formel  des  Phosphoroxychlorids  verglichen 
her.  gei. 

Gl  =  69,5  68,08 

P  =20,1  19,21 

zeigt  sich  allerdings  keine  ganz  genaue  Uebereinstimmung,  indess 
machen  diese  Rcsullale  verglichen  mit  dem  Siedepunkte  und  den 
sonstigen  Eigenschaflen  der  Substanz  es  zAveifellos ,  dass  dieselbe  aus 
fast  reinem  Phosphoroxychlorid  bestand. 

Danach  ist  also  die  von  Wichelhaus  angegebene  Art  der  Einwir- 
kung von  PCI'Br'^  auf  Benzoesäure  nicht  richtig  und  das  von  ihm  für 
PC12(0Br)  gehaltene  bei  135 — 137"  Destillirende  ein  Gemenge  gewesen, 
wohl  hauptsächlich  aus  Phosphoroxychlorid  und  Phosphoroxybromid 
bestehend. 

Gang  analog  wie  auf  Benzoesäure  wirkt  PGl^Br^  auch  auf  Essig- 
säure ein 
3PG13Br2  -f  3C2n30.  (OH)  =  C2H30.C1  +  PBr^O  -f-  2PC1=»0  +  3BrH. 

Durch  eine  Nebenwirkung  entsteht  aber  zugleich  ein  höher  sie- 
dender Körper ,  der  das  Chlorid  einer  gebromten  Essigsäure  zu  sein 
scheint.  Dieser  verhindert  das  Erstarren  des  Phosphoroxybromids 
ebenfalls,  so  dass  man  auch,  um  es  krystallisirt  zu  erhalten ,  genöthigt 
ist,  das  höchst  Siedende  abzukühlen. 

Hier. sei  noch  eines  Versuches  Erwähnung  gethan,  den  wir  ausge- 
führt haben ,  um  die  Veränderung  zu  erfahren ,  welche  das  Benzoyl- 
bromid  durch  Phosphoroxychlorid  erleidet.  Durch  Einwirkung  von 
Brom  auf  Bitterinandelöl  nach  Wöhler  dargestelltes  Brombenzoyl  löst 
sich  beim  gelinden  Erhitzen  vollständig  in  Phosphoroxychlorid  auf. 
Beim  stärkeren  Erhitzen  bräunt  sich  die  Lösung  und  es  destillirt  bei 
196 — 200"  eine  die  Augen  heftig  reizende  Flüssigkeil  über,  während 
ziemlich  viel  Kohle  im  Deslillalionsgefäss  zurückbleibt.  Das  Destillat 
besteht  grösslentheils  aus  Chlorbeiizoyl  und  Phosphoroxybromid,  welch 
letzteres  sich  auf  die  oben  angegebene  Weise  theilweise  isoliren  liess. 
Sieht  man  von  dei'  tiefer  gehenden  Zersetzung,  welche  die  Ausschei- 
dung der  Kohle  veranlasste,  ab,  so  lässt  sich  die  Einwirkung  durch  die 
Gleichung  ausdrücken 

3C"H^0.Br  -I-  PCI'O  =  3C"II^0.CI  -f-  PBr'O. 

Da  demnach  Phosphoroxychlorid  und  BenzoylbromUr  gar  nicht 
neben  einander  bestehen  können,  so  muss,  auch  wenn  man  die  Ein- 
wirkung von  PCI'Br2  auf  Benzoesäure  als  eine  Wirkung  von  Phos[)hor- 
superchlorid  und  Phosphorsuperbromid  auf  dieselbe  betrachten  wollte, 


248          A.  Geiither  und  A.  Michaelis,  Ueber  die  Quantivalenz  des  Phosphors  etc. 

was  man  ganz  gul  kann  (denn  oPCl'Br'^  =  3PCI^  +  2PBr-^)  ,  doch  im 
Endproducl  das  Brom  nicht  als  Benzoylbromid,  sondern  als  Phosphor- 
oxybromid  enthalten  sein. 

Diese  Versuche ,  durch  welche  die  auf  eine  falsche  Voraussetzung 
basirten  Schlüsse  von  Wichelhals  ihre  Beweiskraft  verlieren,  sind  eben 
des  ganz  andern  Resultates  halber,  zu  welchem  sie  geführt  haben,  im 
Verein  mit  der  Entstehung  des  Phosphoroxychlorids  aus  Phosphorchlorür 
und  gebundenem  Sauerstoff  wohl  als  directe  Beweise  für  die  Penta- 
valenz  des  Phosphors  d.  h.  dafür  anzusehen,  dass  die  Maxivalenz 
dieses  Elementes  gleich  V  ist. 

Jena,   Univ. -Laboratorium ,  Mai  1870. 


Die  Bestäubung  der  lilyuiuospermen. 

Von 

Dr.  Eduard  Strasburger. 


Mit  Tafel  VIII. 


Schon  im  Laufe  des  vorigen  Jahres,  als  ich  die  Vorgänge  der 
Befruchtung  bei  den  Coniferen  untersuchte,  mussle  ich  mir  oft  die 
Frage  aufwerfen,  wie  denn  die  Bestäubung  dieser  Pflanzen  erfolge?  — 
In  der  Literatur  war  über  diesen  GegenstaRd  kaum  etwas  mehr  zu  fin- 
den, als  dass  der  Wind  es  sei,  der  diese  Bestäubung  vermittele.  Mir 
schien  die  Sache  nicht  so  einfach  sich  zu  erledigen,  denn  wenn  der 
Blüthenstaub ,  durch  den  Wind  gelragen,  auch  an  die  Samenknospen 
gelangen  kann,  so  bleibt  es  doch  immer  fraglich,  wie  er,  selbst  in 
bedeutender  Menge  vorhanden,  in  die  oft  so  enge  Oeffnung  der  Samen- 
knospe gerathen  soll. 

Bei  Pinus  war  dies  noch  leichter  a  priori  vorzustellen :  hier  dürften 
die  Schuppen  den  Pollen  auffangen  und  ihn  der  Micropyle  zuleiten;  wie 
aber  sollte  die  Bestäubung  erfolgen  bei  Taxus  oder  Salisburia  mit  ein- 
zeln stehenden,  geneigten  Samenknospen  und  so  enger  Micropyle?  Die 
Vernmlhung,  dass  eine  mechanische  Einrichtung  hier  die  Bestäubung 
erleichtere ,  wurde  so  äusserst  nahe  gelegt  und  auch  noch  durch  den 
Umstand  verstärkt,  dass  die  Pollenkörner  nicht  etwa  an  den  äusseren 
Theilen  der  Micropyle  hängen  bleiben,  um  dort  ihre  Schläuche  zu  trei- 
ben ,  sondern  stets  in  das  Innere  der  Samenknospe,  bis  auf  den  Knos- 
penkern derselben  gelangen.  Andrerseits  sind  in  allen  analogen  Fällen, 
wo  man,  auf  die  grosse  Menge  der  männlichen  Rlemente  sich  stützend, 
bisher  den  Zufall  allein  als  ausreichend  erachtete,  um  die  Befruchtur;^ 
zu  sichern,  bestimmte  Einrichtungen  entdeckt  worden,  \\ eiche  das  Zu- 
sammentreflen  der  njännlichen  und  der  weiblichen  Geschlechtsproducte 


250  Dr.  Ednard  Strasburger, 

erleichtern  ^) :  —  so  dürften  solche  auch  bei  Coniferen  zu  finden 
sein  und  ich  beschloss  nach  denselben  im  Laufe  dieses  Frühjahres  zu 
suchen. 

Die  erste  Pflanze,  welche  ich  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte,  war 
Taxus  baccata^),  Fig.  I  u.  2,  und  diese  war  sofort  auch  geeignet  mich 
über  den  fraglichen  Vorgang  aufzuklären.  An  einem  schönen,  sonnigen 
Tage,  wo  die  männlichen  Blüthen  in  voller  Reife,  bei  der  leisesten  Be- 
wegung mächtig  stäubten,  sah  ich  fast  an  jeder  Samenknospe  des  unter- 
suchten Baumes  einen  kleinen  Flüssigkeitstropfen  an  der  Micropyle 
glänzen.  Die  Rolle  dieser  Tropfen  war  nicht  schwer  zu  erralhen  :  die 
vorbeifliegenden  Pollenkörner  konnten  in  dieselben  mit  grösster  Leich- 
tigkeit gerathen,  und  bei  näherer  Untersuchung  zeigte  sich  auch  jeder 
Tropfen  dicht  mit  Pollenkörnern  erfüllt.  Allmählich  verdunsteten  die 
Tropfen ;  sie  zogen  sich  in  die  Mycropyle  wieder  langsam  zui*ück.  Gegen 
Abend  war  von  den  Tropfen  meist  nichts  mehr  zu  erblicken.  Die 
Pollenkörner  dagegen  konnte  man  nun  im  Inneren  der  Samenknospe 
wiederfinden ;  sie  waren  bis  auf  den  Nucleus  gelangt,  an  dessen  Spitze 
das  Gewebe  sich  zu  der  gleichen  Zeit  aufgelockert ,  ja  zum  Theil  des- 
organisirt  hatte ,  so  dass  die  Pollenkörner  leicht  ihre  Schläuche  in  das- 
selbe treiben  konnten.  Diese  Beobachtungen  an  Taxus  baccata  konnte 
ich  mehrere  Tage  lang  wiederholen  und  war  es  mir  nicht  mehr  befrem- 
dend ,  als  ich  dieselben  Erscheinungen  etwa  einen  Monat  später  mit 
allen  ihren  Eigenlhümlichkeiten  bei  Salisburia  adiantifolia  ^) ,  Fig.  5, 
6,  7,  auftreten  sah.  Auch  bei  Salisburia  wird  zur  Zeit  der  Bestäubung 
an  dem  zierlich  ausgebreiteten  Micropyl- Rande  der  verschiedentlich 
orientirten  Samenknospen  ein  klarer  Flüssigkeitstropfen  ausgeschieden 
(Fig.  6),  in  welchem  ebenfalls  die  Pollenkürner  aufgefangen  und  durch 
dessen  nachträgliche  Verdunstung  sie  ins  Innere  der  Samenknospe 
eingeführt  werden  (Fig.  7).  Das  Gewebe  an  der  Spitze  des  Knospen- 
kernes  hat  sich  zur  Zeit  der  Bestäubung  aufgelockert,  ja  theilweise  auf- 
gelöst, so  dass  ein  tiefer  Kanal  entsteht,  der  fast  bis  in  die  Mitte  des 
Knospenkernes  führt  (Fig.  7).     Tief  in  diese  Höhlung  gerathen  nun  die 


1)  Selbst  bei  höheren  Cryptogamen.  (Vergleiche  meine  Untersuchung  über  die 
Befruchtung  bei  den  Farrnkräulern :  Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Botanik. 
Bd.  VII,  p.  390.  —  Die  Geschlechtsorgane  und  die  Befruchtung  bei  Marchantia  po- 
lymorpha.  Ebendaselbst  p.  409.) 

2)  Vergl.  Richard  und  Achille  RicHARD  filius,  Commentatio  bot.de  Conifereis  et 
Cycadeis  1826.  Taf.  2  und  auch  Sachs,  Lehrbuch  der  Botanik.  2.  Auflage,  p.  421. 
Fig.  318. 

3)  Vergl.  die  Abbildung  bei  Züccarini,  Zur  Morphologie  der  Coniferen,  Taf.  III, 
Fig.  1.  —  Auch  Sachs,  Lehrbuch  der  Botanik.  2.  Aufloge,  p.  420.  Fig.  317. 


Die  Bestäubung  der  Gyranosperraen.  25t 

PoUenkÖrner  und  können  ihre  Schläuche  leicht  zwischen  die  aus  dem 
Vorbande  getretenen  Zellen  treiben.  Auch  bei  Salisburia  währte  der 
Vori^nng  mehrere  Tage,  und  da  das  Welter  in  diesem  Jahre  gerade  gün- 
stig blieb,  so  konnte  ich  ungestört  die  Bildung  der  glänzenden,  kleinen 
Tropfen  an  den  einzelnen  Samenknospen  verfolgen.  Die  Salisburia 
wurde  in  diesem  Jahre  reichlich  bestäubt  und  auch  jetzt  noch  (10.  Juli) 
lässt  sich  fast  in  jeder  Samenknospe  die  Anwesenheit  der  Pollenkörner 
nachweisen.  —  Sobald  tlic  Bestäubung  vorüber  ist,  verdicken  sich  die 
Ränder  des  Integumentes  um  die  Micropyle  bedeutend ,  die  Micropyle 
wird  auf  diese  Weise  geschlossen  und  die  beiden  lippenarlig  ausge- 
breiteten Ränder  derselben  verdorren  oder  neigen  nach  innen  zusam- 
men. Auch  die  Spitze  des  Nucleus  vertrocknet,  schliesst  über  der 
entstandenen  Höhlung  zusammen  und  bildet  bei  alteren  Samenknospen 
den  gebräunten,  schnabelförmigen  Fortsatz,  den  man  oben  am  Knos- 
penkerne stets  bemerken  kann. 

Die  Resultate ,  die  ich  bei  Taxineen  erhalten  hatte ,  bestimmten 
mich  meine  Untersuchungen  auch  auf  andere  Gruppen  der  Coniferen 
auszudehnen  und  auch  dort  Hessen  sich  bald  eigenthümliche  Einrich- 
tungen finden ,  welche  die  Bestäubung  erleichtern.  Leider  war  dieses 
Jahr  für  Coniferen  äusserst  ungünstig,  und  es  gelang  mir  nur  von  eini- 
gen Arten  auch  oft  nur  wenige  Blüthen  zu  eriangen.  Immerhin  waren 
diese  und  die  vorhandenen  fremden  Zeichnungen  schon  ausreichend, 
um  einen  Ueberblick  über  den  Vorgang  zu  gestatten ,  wie  ich  ihn  im 
Folgenden  zu  schildern  versuchen  will. 

Ich  beginne  mit  Pinus  Pumilio  (Fig.  8,  9  und  10)  und  Pinus  syl- 
vestris'). Beide  verhalten  sich  in  jeder  Beziehung  gleich;  die  Zapfen 
stehen  (licht  an  der  Spitze  der  jüngsten  Triebe  noch  vor  der  Ent- 
faltung dei"  Doppeluadeln  und  sind  in  Folge  dessen  von  allen  Seiten 
zugänglich  (Fig.  9] .  Sie  stehen  einzeln  oder  zu  mehreren  aufrecht 
beisammen,  sind  von  sehr  geringer  Grös.se,  doch  bei  ihrer  freien 
Lage  leicht  zu  erblicken  ,  zur  Blüthezeit  schön  bräunlich  roth  gefärbt, 
an  der  Basis  von  lancettföi'migen  Bracteen  umgeben ;  die  Deckblätter 
sind  klein,  die  Fruchtblätter  fleischig,  breit,  abgerundet  (Fig.  8),  in  der 
Mitte  mit  einem  stark  vorspringenden  und  verlängerten  Kiel  versehen, 
an  der  Basis  mit  dem  Deckblatte  in  einen  kurzen  Stiel  vereinigt;  Deck- 
blätter und  Schuppen  schliessen  im  jungen  Zapfen  dicht  an  einander. 
Im  Augenblick  wo  die  Antheren  zu  stäuben  beginnen  ,   sehen  wir  die 


<)  L.  C.  Richard  und  Achille  Richard  filius,  Commentatio  botanica  de  Coni- 
fereis  et  Cycadeis,  MDCCCXXVI,  Taf.  14.  -  Auch  Berü  und  Schmidt,  Besciiieibuiiü 
officiueller  Gewächse.  Taf.  28, 


252  Dr«  Eduard  Strasburger, 

Axe  des  jungen  Zapfens  sich  auf  ein  Mal  bedeutend  strecken  und  in 
Folge  dieser  Streckung  rücken  die  einzelnen  Schuppen  sichtbar  aus- 
einander (Fig.  1 0) .    Untersuchen  wir  um  diese  Zeit  die  Samenknospen, 
welche,   eine  rechts  und  eine  links,  an  der  Basis  jeder  Schuppe  sich 
befinden  (Fig.  8) ,  so  sehen  wir,  dass  der,  der  Axe  zugekehrte  Micropyl- 
Rand  einer  jeden,  in  der  Ebene  der  Schuppe  zu  zwei  langen,  dünnen, 
seitlichen  Fortsätzen  ausgewachsen  ist.   Diese  dünnen  Fortsätze  werden 
aus  farblosen,  glashellen  Zellen  gebildet,  die  mit  Flüssigkeit  prall  an- 
gefüllt erscheinen  und  dieselbe  zur  Zeit  der  Bestäubung  in  grosser  Masse 
secerniren.  Wenn  nun  Pollenkörner,  welche  der  leiseste  Luftzug  in  gros- 
sen Staubwolken  bewegt,  auf  den  jungen  Zapfen  gerathen ,   so  gleiten 
sie  an  den  aufgerichteten  Schuppen  zu  beiden  Seiten  des  Kieles  hin- 
unter und  gelangen  unmittelbar,  i'echts  oder  links,  zwischen  die  seitlieh 
orientirten  beiden  Fortsätze  der  Samenknospe:    hier  bleiben  sie  in  der 
secernirten  Feuchtigkeit   zwischen  denselben  haften  und  werden  all- 
mählich  in   das  Innere    der  Samenknospe  eingesogen.     Der   Kiel   der 
Schuppe  ist  besonders  geeignet  durch  seine  Stellung  den  richtigen  Weg 
den  Pollenkörnern  zu  induciren  ,   so  gelangen  dieselben  ,   an  der  trock- 
nen und  glatten  Oberfläche  gleitend,  leicht  zu  den  Samenknospen.    Die 
wenigen ,   welche  das  Ziel  verfehlt  haben  sollten ,  fallen  in  die  Gänge, 
welche  rechts  und  links  um  die  Axe,  in  Folge  der  schmalen  Insertion 
der  Schuppen    verlaufen    und  kommen   dann    leicht    tiefer   liegenden 
Samenknospen  zu  Gute.      Die  directe  Leitung  der  Schuppen  ist  aber 
jedenfalls  so  vollkommen ,   dass  dieser  Fall  nur  selten  eintreten  mag, 
und  die  Canäle  auch  zu  wenig  ausgebildet,   um  eine  leichte  Bewegung 
der  Pollenkörner  in  ihrem  Inneren  zu  gestatten.     Die  Deckblätter  sind 
kleiner  als  die  Schuppen  und  liegen  der  Unterseite  derselben  dicht  an, 
so  dass  sie  weder  störend  noch  fördernd  auf  die  Bestäubung  wirken 
können.     Der  Nucleus  ist  bei   den  genannten  Pinus-Arten   an   seiner 
Spitze  zur  Aufnahme  der  Pollenkörner  wie  bei  Taxineen  vorbereitet. 
Die  Zellen  sind  aufgelockert,   werden  theilweise  aufgelöst,   treten  aus 
dem  Verbände,   so  dass  eine  bedeutende  Einsenkung  an  der  Spitze  des 
Knospenkernes  entsteht,  in  der  die  Pollenkörner  bald  zu  liegen  kommen 
und  ihre  Schläuche  treiben.  Kaum  ist  die  Bestäubung  vorüber,  so  neh- 
men die  Schuppen  bedeutend  an  Dicke  zu.     Die  Axe  streckt  sich  nicht 
in  demselben  Maasse  und  die  Schuppen   sehliessen   bald   aneinander. 
Eine  gleichzeitige  Absonderung  von  Harz  an  den  Rändern  hilft  zu  ihrer 
Verklebung.     Die  Bracteen  bleiben  stationär  und   auch  der  Kiel  ent- 
wickelt sich  nicht  weiter;    er  hat  seine  Aufgabe  erfüllt  und  verdorrt 
nun  allmählig.     Die   rothe  Farbe  des   jungen  Zapfens  geht  in  Braun, 
endlich  in  Grün  über ,  derselbe  senkt  sich  langsam  und  nimmt  zuletzt 


Die  Bestaiibiuig  der  Gymnospermen.  253 

eine  hiingende  Lage  an.  —  Eine  Woche  nach  der  Bestäubung  fand 
icli  auch  schon  die  beiden  (Hinnen  Fortsiitze  am  Inlegunienl  gebriiunl 
und  theilweise  verschrnnipfl.  Die  Pollenköiner,  welche  an  denselben 
hängen  geblieben  waren  ,  ohne  in  das  Innere  dei'  Samenknospe  zu  ge- 
langen ,  hatten  keine  Pollenschläuche  geliiel)en  und  waren  el)enfalls 
abgestorben.  Die  Micropjle  blieb  noch  lange  Zeit  ollen  und  wurde 
erst  viel  später  durch  starke  Verdickung  des  Inlegumentrandes  ge- 
schlossen '  . 

Bei  Picea  vulgaris-)  (Fig.  1!  u.  -12)  sind  die  Verhältnisse  wesenl- 
lich  dieselben.  Die  jungen  Zapfen  werden  hier  aus  den  Endknospen 
des  jährigen  Zweiges  einzeln  entwickelt;  sie  sind  bedeutend  grösser 
als  bei  Pinus  und  ragen  deshalb  auch  zwischen  den  entwickelten  Na- 
deln des  Zweiges  hervor,  sie  befinden  sich  zur  Blüthezeit  in  fast  auf- 
rechter Stellung,  die  aber  bald  in  eine  geneigte  übergeht.  Die  verkehrt 
eiförujigen  Schuppen  sind  nicht  ganz  aufgerichtet  wie  bei  Pinus,  son- 
dern nur  in  ihrei'  inneren  Hälfte  aufgerichtet,  in  ihrer  äusseren  Hälfte 
dagegen  fast  horizontal  abstehend.  Ja  in  manchen  Fällen  etwas  aus- 
wärts umgebogen.  Den  Schuppen  ;Fig.  11)  mangelt  der  Kiel ,  doch 
werden  die  Pollenkörner,  wenn  sie  zwischen  die  senkrecht  abstehen- 
den ,  äusseren  Theile  der  Schuppen  gerathen  sind ,  gut  zw  ischen  der 
vorspringenden  Mitte  und  den  beiden  etwas  einwärts  gebogenen  Rän- 
dern der  inneren  empoi'gerichteten  Hälfte  derselben  geleitet.  Das 
längliche,  gewimperte  Deckblatt  ist  bei  der  Fichte  verhältnissmässig 
noch  kleiner  als  bei  der  Kiefer,  eiförmig,  länglich,  der  unteren  Fläche 
der  Schuppe  fest  angedrückt  und  selbstverständlich  ohne  jede  Rolle  bei 
der  Bestäubung.  Die  Samenknospen  verhalten  sich  wie  bei  der  Kiefer; 
sie  sind  ebenso  gebaut  und  mit  2  langen,  dünnen  Fortsätzen  (Fig.  1.1) 
versehen.  Die  Pollenkörner  gelangen  zwischen  dieselben  und  bald 
auch  in  die  tiefe  Einsenkung  am  Scheitel  des  Knospenkernes  (Fig  12). 
Die  ganzen  Zäpfchen  haben  zur  Blüthezeit  eine  schöne,  rothe  Farbe, 
die  bald  in  Braun  und  Grün  übergeht.  Die  Bracteen  verändern  sich 
nicht  nach  der  Bestäubung,  die  Schuppen  richten  sich  dagegen  allmäh- 
lich auf  und  legen  sich  fest  aneinander,  während  der  Zapfen  gleichzeitig 
in  eine  hängende  Lage  übergeht  3).     Anders   noch  gestalten  sich   die 


1 )  An  Pinus  pumilio  und  sylvestris  schliessen  sich  auch  Pinus  pinaster,  rigida  etc. 
an.  (Vergl.  Lambert,  A  description  of  Genus  Pinus,  London  4803.  Taf.  4  u.  'IS). 
Aehnlich  in  Allem,  doch  mit  einwärts  gericiitetem  Kiel:  Pinus  resinosa.  (Vergl. 
Baillon,  Ann.  d.  sc.  nat.  4.  Ser.  Tom.  14,  PI.  12,  f.  23. 

2)  Richard  1.  c.  Taf.  15,  sehr  gute  Bilder.  Audi  Bekc  und  Schmidt  I.  c.  Taf.  31. 

3)  An  Picea  vulgaris  schliessl  sich  auch,  nach  den  Ahl)ildungeii  von  Parlatore, 
Studii  organogiafiei  sui  fiori  e  sui  frutti  delle  Conifere,  l'iienze  18C4,  Taf.  II,  Fig.  14. 

Bd.  VI.  2.  18 


254  Dr.  Eduard  Strasbnrger, 

Verhältnisse  bei  der  Lärche*)  (Fig.  16  u.  17)  und  bei  der  Edeltanne  2) 
(Fig.  13.  14.  15).   Hier  sehen  wir  das  Verhältniss  zwischen  dem  Deck- 
blatt und  der  Schuppe  sich  umkehren.    Das  Deckblatt  wird  stark  ent- 
wickelt und  bildet  zur  Blüthezeit  die  Hauptmasse  des  Zapfens  (Fig.  1  6)  : 
ihm  kommt  nun  auch  die  Leitung  des  Pollens  zu,  während  die  Schuppe 
klein  und  unansehnlich ,  sich  in  dessen  Axel  birgt  und  auf  die  beiden 
Samenknospen  fast  reducirt  erscheint  (Fig.  17).     Die  Deckblätter  der 
Lärche  sind  violett  oder  purpurroth  gefärbt,  eiförmig,   oben  ausgerun- 
det, aufgerichtet  und  etwas  nach  Aussen  umgebogen;  in  der  Mittellinie 
zeigt  jedes  die  Andeutung  eines  Kieles,  der  sich  eine  Strecke  weit  frei 
ausserhalb  des  Deckblattes  fortsetzt.    Die  Seitenränder  des  Deckblattes 
sind  etwas  einwärts  gebogen ,   so  dass  zu  beiden  Seiten  des  Kieles  je 
eine  Rinne  entstehen  muss ,   welche  die  Pollenkörner  der  Schuppe  zu- 
leitet. Die  Kielspur  erweitert  sich  an  ihrer  Basis  und  so  gehen  auch  die 
Wege  der  Pollenkörner  hier  nach  rechts  und  links  auseinander;  sie  wer- 
den an  die  betreffenden  Seitenränder  der  kleinen,  fleischigen  Schuppe 
geführt  und  gleiten   an    den  abgerundeten  Rändern  derselben  weiter 
hinunter  (Fig.  1 7) .    Dieser  Einrichtung  gemäss  werden  die  Ränder  des 
Integumentes  an  der  Samenknospe  auch  eigenthümlich  entwickelt;,  sie 
wachsen  nicht  zu  je  zwei  langen,  rechts  und  links  gestellten  Fortsätzen 
aus,  wie  sie  uns  bei  Pinus-Arten ,  wo  die  Zuleitung  der  Pollenkörner 
von  oben  erfolgt,   so  vortheilhaft  erschienen,   sondern  zu  einem  einsei- 
tigen ,   nach  oben  und  nach  innen  orientirten,   helmartig  umgebogenen, 
breiten  Lappen  (Fig.  17),   in  den  die,  an  der  Seite  der  Schuppe  her- 
abgleilenden  Pollenkörner,  mit  zwingender  Nothwendigkeit  hineinfallen 
müssen.  Die  Pollenkörner  werden  in  das  Innere  der  Samenknospe  auf- 
genommen.    Der  einseitige  Fortsatz  verdorrt  sehr  bald,  rollt  sich  nach 
innen  zusammen  und  hilft  so  mit  die  Micropyle  zu  schliessen.     Dies 
Alles  erfolgt  hier,    wo  ja  die  Zapfen  noch  in  demselben  Jahre  reifen, 
äusserst  rasch,  und  mag  veranlasst  haben,  dass  die  Samenknospen  der 
Lärche  fast  stets  mit  stumpfer  Spitze,  ohne  den  erwähnten  Integument- 
Lappen  abgebildet  worden  sind-^).   Auch  treten  die  Haare,  welche  man 


< 5.  16.  17.  18.  19  zu  urthfilen,  Cedrus  Libani  an;  auch  Pinus  strobus,  alba,  nigra 
nach  den  Bildern  von  Lambert  i.  c.  Taf.  22.  26.  27;  auch  Pinus  canadonsis  nacli 
eigenen  Zeichnungen  und  Lambert  Taf.  32  u.  Richard  Taf.  17. 

1)  Richard  1.  c.  Taf.  13;  Schacht,  der  Baum.  Taf.  IF,  Fig.  23  u.  24.  —  Berg 
und  Schmidt  Taf.  29.  —  Parlatore  Taf.  II,  Fig.  20. 

2)  Schacht,  der  Baum  Taf.  I,  Fig.  1.  —  Auch  bei  Sperk,  Gymnospermie,  M6m. 
de  I'Acad.  Imp.  d.  sc.  St.  Petersb.  VII.  Serie,  XIII.  Bd.  Taf.  III,  Fig.  67.  —  Auch 
bei  Berg  und  Schmidt  Taf.  30. 

3)  So  z.  B.  hei  Parlatore  1.  c.  Taf.  II,  Fig.  22. 


Die  Bestünbiinq;  der  Gymnospermen.  255 

gewöhnlich  um  die  unleren  Schuppen-Ränder  zu  zeichnen  pflegl,  (usl 
nachlriiph'ch  auf  und  spieU^n  deshall)  (hirchaus  keine  Uolle  Ihm  (Ut  Be- 
stäubung. 

An  Larix  schliesst  sich  sehr  nahe  die  Edeltanne  (Fig.  Ii;})  an'). 
Die  Bracleen  (Fig.  14)  sind  elicnso  stark  wie  l)(>i  Larix  entwickelt  und 
mit  (Mueni  langen  Kiel  versehen,  während  die  Schuppe  klein  und  llei- 
schig  in  der  Axel  des  Deckblattes  verborgen  bleibt.  Der  Inlegumenl- 
rand  hat  auch  einen  starkeinseitigen,  helinartigen  Lappen  aufzuweisen, 
der  von  dem  bei  Larix  sich  zunächst  nur  duich  einen ,  oft  schwachen, 
mittleren  Einschnitt  unterscheidet.  Die  Pollenkürner  gleiten,  durch  das 
Deckblatt  geleitet,  längs  der  Ränder  der  Schuppen  hinab  und  faihm  auf 
den  breiten  Lappen ;  sie  werden  in  das  Innere  eingesogen  und  kommen 
in  die  Vertiefung  am  Scheitel  des  Knosj)enkernes  zu  liegen.  Die  lnt(f- 
gumenlränder  verdorren  zunächst  nicht  nach  der  Bestäubung,  rollen 
sich  auch  nichr  nach  innen  zusammen,  sie  verharren  vielmehr  lange 
Zeit  in  unveränd(uter  Gestalt  und  Lage;  die  Micropyle  bleibt  gcMjlFnet 
(Fig.  15). 

Sowohl  die  Tanne  als  auch  die  fJirche  haben  aufrechte  Zapfen  zur 
BlUthezeit  (Fig.  I  3  u.  16).  Bei  der  Lärche  stehen  sie  auf  seit(Misländi- 
gen  ,  kurzen  ,  dicken  Aestchen  ,  bei  der  Edeltanne  entspringen  sie  der 
Oberfläche,  dicht  hinter  der  Spitze  der  Zweige ;  bei  beid(m  bleil)en  sie 
aufrecht  während  ihrer  ganzen  Entwickelung ;  die  Schupi^en  nehmen 
nach  der  Bestäubung  bedeutend  an  Grösse  zu  und  Hlberholen  l)ald  die 
stationär  bleibenden  Deckblätter,  diese  schauen  später  nur  wenig  zwi- 
schen den  Schuppen  hervor,  während  die  Letzteren  sich  fest  aneinan- 
der gelegt  haben  um  den  reifenden  Samenknospen  Schutz  zu  gewäh- 
ren. —  Diese  wenigen  Beispiele  genügen,  um  uns  ein  Bild  von  der  Art 
und  Weise  zu  entwerfen ,  wie  die  Bestäubung  bei  den  Abielineen 
erfolgt.  Doch  auch  bei  den  Cupressineen  lassen  sich  ähnliche  Einrich- 
tungen finden.  Bekanntlich  sind  die  Samenknospen  in  der  Jugend  stets 
frei  und  werden  erst  nachträglich  durch  die  anwachsenden  Frucht- 
blätter eingeschlossen.  Bei  .luniperus  communis^)  (auch  rigida  Fig.  19) 
schauen  zur  Zeit  der  Bestäubung  die  3  Samenknospen  mit  verlängertem 
Halse  zwischen  den  drei  an  der  Basis  verbundenen  Fruchtblättern  her- 
vor und  secerniren  eine  wässerige  Flüssigkeit;  ihre  Micro})) Iränder 
sind  etwas  ausgebreitet,  zierlich  eingeschnitten,  weit  geöffnet,  so  dass 


1)  Auch  Pinus  balsanica  (Vcrgl.  Richard  I.  c.  Taf.  i6  und  LAMnERT  I.  c   Taf.  31). 

2)  Richard  1.  c.  Taf.  .5.   —  Ebenso  Junipeius  rigida.    (Vorgi.  SiKiini.D  und  Zuc- 
f      CARiM,  Flora  Japonica,  Taf.  la.")).  Juniperu.s  communis  bei  Sachs,  I.ehrbucli,  2.  Auf- 
lage,   p.  421,  Fig.  349.  —  Auch  bei  Bekc  und  Schmidt  I.  c.   Taf.  36. 

18» 


256  Dr.  Eduard  Strasburger, 

die  Pollenkörner  in  dieselben  leicht  geralhen  können ;  die  Ausscheidung 
der  Flüssigkeit  dagegen  verhältnissmässig  geringer  als  bei  Taxineen; 
die  Spitze  des  Knospenkernes  ist  ähnlich  wie  bei  Abietineen  und  Taxi- 
neen ausgehöhlt  und  zur  Aufnahme  der  Pollenkörner  bereit.  Nach  der 
Bestäubung  verdorren  sowohl  Micropylrand  wie  Nucleusspitze ;  der 
Micropylrand  schrumpft  zusammen  und  hilft  mit  die  Micropjle  zu 
schliessen.  Bei  Thuya  orientalis  (Fig.  '20.  21.  22)  und  occidentalis ') , 
Juniperus  sabina'^)  (Fig.  23),  Oxycedrus  ^') ,  Widd rington ia  ^j  und  an- 
dern sind  die  Verhältnisse  wesentlich  dieselben.  Die  jungen  Blüthen 
sind  aufrecht  oder  emporgerichtet,  die  Samenknospen  ziemlich  lief 
zwischen  den  Fruchtblättern  eingesenkt,  doch  stets  mit  ihrer  Micropyle 
zur  Blüthezeit  nach  aussen  schauend,  so  dass  die  Pollenkörner ,  welche 
direct  auf  die  Micropyle  fallen  oder  derselben  durch  die  Fruchtblätter 
zugeführt  werden  (Fig.  20)  ,  leicht  in  das  Innere  der  Samenknospe  ge- 
rathen  können  (Fig.  22). 

Ganz  wie  Thuya  verhält  sich  Callitris  quadrivalvis  ^) ,  sehr  ähnlich 
auch  Cupressus ,  während  andererseits  Dacridium ") ,  Phyllocladus ") 
(Fig.  4),  Torrea,  Gephalotaxus  ^)  (Fig.  3],  Saxo-Gothea  und  Podocar- 
pus'-*j  sich  am  nächsten  an  Taxus  und  Salisburia  anschliessen. 

Bei  Cupressus  sempervirens  i")  (Fig.  24  u.  23)  wird  der  Zapfen  von 
einer  grösseren  Anzahl  decussirter  Fruchtblätter  gebildet;  an  der  Basis 
eines  jeden  Fruchtblattes  stehen  die  aufrechten  Samenknospen  zahlreich 
neben  einander  (Fig.  25) .  Die  Fruchtschuppen  sind  emporgerichtet  und 
helfen  nicht. wenig  den  Pollen  zu  leiten.  Freilich  ist  hier  keine  Vorrich- 
tung getroffen,  welche  den  Pollen  einer  jeden  Samenknospe  speciell 
zuleiten  könnte,  wohl  kommt  es  hier  aber  auch  nuraid'  eine  Massenwir- 
kung an  und  diese  wird  dur(-h  die  Stellung  der  Schuppen  schon  völlig 
erreicht  (Fig.  24) .   Die  Pollenkörner  gleiten  auf  der  Innenfläche  derselben 


4)  Richard  1.  c.  Taf.  7. 

2)  Berg  und  Schmidt  1.  c.  Taf.  27. 

3)  Parlatore  1.  c.  Taf.  I,  Fig.  1. 

4)  Sperk  1.  c.  Taf.  V,  Fig.  132. 

n)  Parlatore  1.  c.  Taf.  I,  Fig.  7  u.  8. 

6)  Dacridium  cupressinum  Richard  i.  c.  Taf.  2.  —  Dacridium  Araucaroides 
und  taxoides  bei  Brogniard  und  Arthur  Gris.  (Vergl.  Flore  de  la  nouvelle  Caledonie, 
nouv.  Archiv,  du  Museum,  Tom.  IV,  Tai'.  2  u.  3.  Auch  Dacridium  Franciinii  bei 
Parlatore  Taf.  II,  Fig.  10. 

7)  Phyllocladus  rhomboidalis  Richard  1.  c.  Taf.  3  und  Phyllocladus  trirhoma- 
noides  Parlatore  Taf.  II;  Fig.  28. 

8)  Cephatolaxus  P'ortunei  Hook.  Parlatore  Taf.  II,  Fig.  33. 

9)  Richard  1.  c.  Taf.  I.  —  Podocarpus  Sellowii.   Flora  Brasil.   Taf.  114. 
10)   Richard  I.  c.  Taf.  9.  —  Parlatore  1.  c.   Taf.  I,  Fig.  3.  4.  5.  6. 


Die  Besfiiubiinj!;  der  Gymiiosperineii.  257 

und  fallen  auf  die  Samenknospen. —  So  IkiIIcii  (iitiCuprossineen  izlcichsain 
(ii(^  Mitte  zwischen  den  Abietincen  ,  wo  der  Pollen  einer  jeden  Samen- 
knospe im  Besonderen  zugeführt  wird  und  den  Taxineen  ,  wo  er  ohne 
alle  Zuleitung,  unmittelbar  auf  die  Mierop\le  gelangt.  Auch  alle  ande- 
ren Formen  Messen  sich  mehr  oder  weniger  diesen  beiden  extremen 
Gruppen  am'eihen.  So  schliessen  sieh  Cryptonieria  Japoniea  'i  (Fig.  2(i 
u.  27i  mit  3  an  der  Basis  der  Schupj)e  befestigten,  aufrechten  Samen- 
knospen den  Abietineen  an  ;  die  Pollenkörner  werden  durch  die  Gestalt 
der  Schuppen  geleilet,  direct  den  Samenknospen  zugeführt  (Fig.  27), 
welche  der  Innenlläche  der  Schuppe  dicht  angedrückt,  dieselben  in 
ihre  Micropyle  aufnehmen. 

Wie  Cryplomeria  verhält  sich  auch  Ghplostrobus  helerophyllus"^) 
und  die  Taxodineen  überhaupt,  während  Juniperus  comnuinis  und 
selbst  die  Thuya-Arten,  wo  die  Zuleitung  der  Fruchtblätter  jedenfalls 
eine  viel  unvollkonunenere  ist,  sich  mehr  den  Taxineen  mit  ganz  feh- 
lender Leitung  nähern. 

Die  Ausscheidung  der  Tropfen  an  der  Spitze  dei-  Samenknospe 
scheint  übrigens  nicht  allein  den  Coniferen  eigen  zu  sein,  sondern  sich 
überhaupt  auf  alle  Gymnospermen  zu  erstrecken  ■*) . 

Als  ich  vor  wenigen  Wochen  nieine  Beobachtungen  an  Taxus  und 
Salisburia  dem  Herrn  Professor  Schenk  in  Leipzig  mitth'eilte,  erinnerte 
sich  derselbe,  im  vorigen  Jahre  an  einem  blüh<Miden  Exemplare  der  Cycas 
revolula  im  Leipziger  botanischen  Garten,  um  eine  gewisse  Zeit,  ähn- 
liche Tropfen-Ausscheidung  an  sämmtlichen  Samenknospen  beobachtet 
zu  haben.  Diese  Beobachtung  findet  in  den  vorhergehenden  Unter- 
suchungen ihre  völlige  Erklärung,  und  dürfte  nicht  unbeachtet  bleiben 
bei  künftigen  künstlichen  Bestäubungs versuchen,  die  man  an  den  Cyca- 
deen  unserer  Treibhäuser  vornehmen  sollte.  Freilich  müsste  die  Be- 
stäubung hier  stets  unmittelbar  zu  der  Zeit  des  ersten  Auftretens  der 
Tropfen  vorgenommen  werden  ,  da  bei  ausgebliebener  Bestäubung  die 
Ausscheidung  leicht  einen  krankhaften  Charakter  anzunehmen  scheint 
imd  dann  jede  weitere  Bestäubung  vereiteln  dürfte.  —  Das  möchte  ich 
wenigstens  aus  einigen  Beobachtungen  schliessen,  die  ich  an  Salisburia 
anstellen  konnte;  —  an  einigen  Samenknospen  sah  ich  hin  und  wieder 
zu  Ende  der  Blüthezeit  einen  grossen,  glänzenden  Tropfen  hängen,  der 


1)  Parlatore  Taf.  1,    \"\^.  33  u.  38. 

2)  Parlatork  Taf.  I,    \\a.  26—32. 

3  Seitdem  auch  an  K[)liedra  beobachtet ,  wo  auch  die  charakteristische 
Caiialbildung  am  Scheitel  dc^  KiiMspenkernes  sich  zur  Beslaubungszeit  verfol- 
gen lässl. 


258  Dr.  Eduard  Strasbiirger, 

viel  klebriger  als  die  gewöhnlich  ausgeschiedenen  Tropfen  war  und 
nicht  mehr  eingesogen  wurde.  Er  erhärtete  an  der  Micropyle  und  be- 
zeichnete so  auch  später  die  Samenknospe ,  in  der  ich  in  diesem  Falle 
nie  Pollenkörncr  auffinden  konnte.  Mit  dieser  Erscheinung  hängt  auch 
vielleicht  eine  Angabc  zusammen ,  die  ich  bei  Schacht  im  II.  Bande 
seiner  Anal,  und  Phys.  p.  307  bei  Besprechung  der  Honigbehälter, 
Honigdrüsen  etc.  fand,  und  wo  es  unter  Anderem  heisst:  »Bei  Fur- 
croya  gigantea ,  deren  Blüthen,  wie  es  scheint,  niemals  ansetzen,  tritt 
ein  grosser,  klarer  Tropfen  einer  zuckerhaltigen  Flüssigkeit  aus  dem 
Staubweg  hervor.  Dieselbe  Erscheinung  wiederholt  sich  oftmals  bei 
Formium  tenax ,  zumal  wenn  die  Bestäubung  nicht  rechtzeitig  erfolgte. 
Bei  Taxus  hängt  zur  Zeit  der  Bestäubung  ein  ähnlicher  Tropfen  am 
Knospenmunde  der  nackten  Samenknospe.«  Die  Beobachtung  an  Taxus 
bezieht  sich,  wie  wir  sehen,  hier  auf  den  normalen  Fall,  der  aber  seine 
richtige  Deutung  nicht  gefunden ;  wie  weit  die  anderen  auch  mit  nor- 
malen Erscheinungen  zusammenhängen,  bleibt  zu  untersuchen. 

Fassen  wir  nun  das  Gesagte  noch  ein  Mal  zusammen ,  so  finden 
wir,  dass  die  Bestäubung  bei  den  Gymnospermen  und  zwar  vor  Allem 
bei  freistehenden  Samenknospen,  durch  eine  Ausscheidung  von  Tropfen 
an  der  Micropyle  erleichtert  wird,  dass  die  Pollcnkörner  in  diese  Tro- 
pfen gerathen  und  bei  Verdunstung  desselben  in  das  Innere  der  Samen- 
knospe hineingerathen.  Auch  haben  wir  es  als  eine  allgemeine  Erschei- 
nung kennen  gelernt,  dass  zur  Zeit  der  Bestäubung  die  Spitze  des 
Nucleus  aufgelockert,  meist  tief  ausgerandet  und  so  vorbereitet  wird, 
um  die  Pollenkörncr  zu  empfangen  und  den  Pollenschläuchen  das 
Eindringen  in  das  Gewebe  des  Knospenkernes  zu  erleichtern.  Die  Pol- 
lenkörner gelangen,  durch  den  Wind  getrieben,  bei  den  Taxineen  un- 
mittelbar auf  die  Samenknospe  ;  bei  den  Cupressineen  werden  sie  den 
aufzecht  stehenden  Samenknospen  theilweise  schon  durch  die  Schuppen 
zugeleitet.  Bei  den  Abietineen  endlich  finden  wir  sehr  eigenthümliche 
Einrichtungen ,  eine  höchst  vollkommene  Gestaltung  der  zuleitenden 
Organe,  welche  den  Pollen  auf  vorgezeichnetem  Wege  den  Samen- 
knospen zuführen.  Diese  Bolle  fällt  bei  Pinus  sylvestris,  Pumilio,  Picea 
den  Schuppen  zu:  bei  Larix  und  Abies  den  Deckblättern.  Ein  Kiel 
dient  zur  Orientalion  der  Pollenkörner,  um  den  richtigen  Weg  densel- 
ben vorzuzeichnen  und  eine  eigenthümliche  Anpassungserscheinung 
ist  es  gewiss,  dass  derselbe  sich  bei  Pinus  sylvestris,  Pumilio  und  an- 
deren verwandten  Formen  auf  der  Schuppe,  bei  Larix  und  Abies  auf 
dem  Dockblatle  entwickelt.  Bei  Picea  ist  kein  Kiel  vorhanden,  doch  die 
Gestallung  der  Schuppen  eine  derartige ,  dass  auch  ohne  dessen  Hülfe 
die  Bestäubung  leicht  erfolgen  kann. 


Die  Bcsirmbiiiig  der  Gymnospermen.  250 

Die  Samenknospen  der  Abielineen  zeigen  eine  eigcnthUnjüche  Ent- 
wicklung, der  Art  und  Weise  angepassl,  wie  die  Zuicituni;  d(\s  l'olk-ns 
erfolgt.  Bei  Pinus  sylvestris  etc. ,  wo  die  Schuppe  selbst  mit  ihrer 
Oberfläche  leitet  und  die  Pollenkörner  von  oben  den  Samenknospen 
zuführt,  zeigen  dieselben  zwei  lange,  rechts  und  links  oricntirte  Fort- 
sätze, zwischen  welche  die  Pollenkörner  iiineinfallen.  Bei  Abies  und 
Larix,  wo  die  Pollenkörner  längs  der  Ränder  der  Schuppe  gleiten,  sind 
die  Fortsätze  dos  Micropylrandes  einseitig  nach  dem  Rande  der  Schuppe 
zu  entw  ickelt,  sehr  breit  und  geeignet  die  hier  hinuntcrgleitenden  Pol- 
lenkörner a^^fzufang('n. 

Als  eine  eigenthümliche  Anpassung  der  Pollenkörner  der  Pinus- 
Arten  wären  endlich  noch  die  beiden  Luftsäcke  hervorzuheben,  welche 
den  Pollenkörnern  dieser  Arten  eine  besondere,  leichte  Beweglichkeil 
verschaflen.  Eigenthümlich  ist  es,  dass  dieselben  gerade  bei  monöci- 
schcn  Pinus-Arten  auftreten,  während  sie  den  diöcischen  Juniperinecn 
und  Taxineen  fehlen.  Möglich,  dass  gerade  durch  diese  ausserordent- 
liche Beweglichkeit  und  Fähigkeit  sich  beim  leisesten  Luftzuge  zu  erhe- 
ben", eine  Selbstbefruchtung  bei  monöcischen  Arten  vermieden  wird, 
wenn  auch  nicht  zu  vergessen  ist,  dass  anderen  monöcischen  Pinus- 
Arten:  Larix,  Pinus  canadensis  diese  Einrichtung  fehlt,  sich  dagegen 
bei  den  diöcischen  Podocarpus-Arten  wiederfindet.  Jedenfalls  dürfte 
die  leichte  Beweglichkeit ,  welche  die  Luftsäcke  den  Pollenkörnern  der 
Pinus-Arten  verleihen,  bei  anderen  Pflanzen  dieser  Gruppe  auf  ande- 
rem Wege  erreicht  worden  sein :  so  etwa  durch  die  grosse  Trocken- 
heit der  Pollenkörner  zur  Zeit  des  Stäubens,  ihre  bedeutende  Klein- 
heit u.  d.  m.  1). 

Ich  erwähnte  in  der  Einleitung,  dass  über  die  Bestäubung  der 
Coniferen  in  der  Literatur  zunächst  kaum  Etwas  zu  finden  war.  Diese 
Angabc  ist  insofern  nicht  mehr  ganz  richtig,  als  vor  Kurzem  eine  Unter- 


V,  Vcrgl.  auch  eine  Aunahine  von  HaktIg  :  Bot.  Zeit.  1867.  Nr.  49,  wonach  die 
Luftsäcke  deshalb  bei  Fichten  ,  Tannen  und  Kiefern  auftreten,  weil  die  weibliclien 
Blüthcn  bei  beiden  ersten  sehr  ausgeprägt,  bei  letzteren  vorwiegend  im  Gipfel  der 
Bäume  sich  entwickeln.  Die  Luflsäcke  sollen  nun  den  Pollenkörnern  zu  einer  auf- 
steigenden Bewegung  verhelfen  und  sie  auf  diese  Weise  zu  den  weiblichen  Blüthen 
führen.  —  Weiler  hebt  Hartig  hervor,  dass  die  nahe  verwandte  Lärche  mit  ihren 
auf  demselben  Zweige  vereinigten  männlichen  und  weiblichen  Blüthcn  keine  Luft- 
säcke bildet  und  sieht  das  als  eine  weitere  Bestätigung  seiner  Annahme  an.  Nun 
werden  aber  durch  die  HARTic'sche  Auseinandersetzung  die  Luftsäcke  der  Podocar- 
pus-Arten durchaus  nicht  erklärt  Weiter  Hesse  sich  dagegen  anführen,  dass  bei 
Pinis  canadensis  mit  ähnlicher  Verlhcilung  der  Blüthcn ,  wie  die  Fichten  ,  Tannen 
und  Kiefern  die  Luftsäcke  fohlten;  endlich  spricht  auch  die  Art  und  Weise,  wie  der 


260  Dr.  Eduard  Slrasburger, 

suchung  von  Delpino  ^)  erschienen  ist,  welche  diesen  Gegensland  be- 
handelt. Delpino  beobachtete  die  Befruchtungsvorgänge  bei  Pinus 
pinasler  und  Piiuis  halepensis.  Auf  die  Art,  wie  die  Sclni{)pen  den 
Pollen  leiten ,  geht  er  nicht  weiter  ein ;  das  Hauptgewicht  legt  er  da- 
gegen auf  die  rechts  und  links  um  die  Axe  des  jungen  Zapfen  schrau- 
l)enförn)ig  laufenden  Gänge,  welche,  wie  schon  erwähnt,  durch  die 
schuiaL'  Insertion  der  Schuppe  an  der  Axe  entstehen.  Diesen  Gängen 
allein  sollen  die  Schuppen  den  Pollen  zuleiten  und  in  diesen  Gängen 
soll  er  sich  bewegen  bis  er  an  den  einen  oder  den  anderen  in  den  Gang 
hineinragenden  Fortsätzen  der  Samenknospen  hängen  bleibt.  —  Diese 
Angaben  Delpino's  bedürfen  jedenfalls  noch  einer  Ergänzung  und  diese 
glaube  ich  im  Vorliegenden  gegeben  zu  haben.  —  Die  Zuleitung  des  Pol- 
len ist  meist  viel  directer  als  es  Delpino  angenommen,  und  wenn  ich 
die  Bedeutung  der  Ganäle  auch  nicht  unterschätzen  will,  so  sind  sie 
doch  andererseits  kaum  so  ausgebildet,  als  dass,  wie  Delpino  auf  p.  7 
sich  ausdrückt,  die  Pollenkörnei"  im  Inneren  derselben  in  wirbelnde 
Bewegung  gerathen  und  den  Pollenkörnern  der  Pinus-Arten  sogar  ihre 
Luftsäcke  dabei  zu  Nutze  kommen  sollten  2] . 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  einer  Eigenthümlichkeil  erwähnen, 
welche  mir  bei  Betrachtung  der  Abietineen-Blüthen  vielfach  aufgefallen 
ist:  Die  zunächst  unscheinbaren,  kleinen  Zapfen  nehmen  meist  all- 
mählich eine  schöne  hochrothe  Färbung  an;  diese  Färbung  erreicht 
ihren  Culminationspunkt  zur  Zeit  der  Bestäubung,  dann  nimmt  sie 
wieder  ab,  um  durch  Bothbraun  und  Grünlich-Braun  nach  und  nach 
ins  Grün  überzugehen.  Wir  wissen  welche  Bedeutung  bei  angiosper- 
men  Pflanzen  die  Färbung  der  BlUlhenhüllen  zur  Zeil  der  Betäubung 
hat.  Gefärbte  Blüthen  fallen  den  Insekten  besonders  leicht  in  die  Augen 
und  werden  durch  deren  Vermittelung  besonders  leicht  bestäubt.  Die 
Färbung  der  Zapfen  der  Coniferen  kann  aber  unmöglich  in  dieser  Rich- 


Conifereii-Pollen  vom  Winde  bewegt  wird,  iiaum  für  diese  Annahme.     iVergl.  liier- 
iiber  auch  Delpino,  Ulteriori  o.sservazioni  p.  6). 

1)  Ulteriori  Osservazicuc  sulia  Dicoganiia  nel  regno  vegetale  per  Federico 
Delpino,  Miiano  1868 — 69.  (AUi  dclia  societä  italiana  di  scienze  naturaii.  Vol.  XI  e 
XII.)  (Seitdem  auch  in  der  botanischen  Zeitung  vom  16.  September  1870  ab- 
gedruckt). 

2)  Delpino  1.  c.  p.  7  :  »Ma  sc  inutile  si  addirao  strano  gU  avverteli  palloncini  pel 
viaggio  aereo  che  deve  compiere  il  polliiie  dei  pini ,  possono  in  vece  tornargU  uti- 
lissimi ,  una  voita  chesia  introdotto  nelio  inlerno  delie  lubulalure  deiconi,  per  im- 
primergii,  sotlo  l'azione  d'un  vento  forte,  quel  moto  verticoso,  che  una  vetta  e 
sagace  intuizione  nella  struttura  de!!'  apparecchio  prevede  efficacissimo,  perche 
equa  viesca  la  disiribuzione  del  polMne  a  lulti  gli  stimmi.« 


Die  Bestäiibniig  der  Gymnospermen.  261 

tung  gedeutet  werden.  Die  INtlUMiköiiHM-  werden  stets  nur  «liiicli  den 
Wind  übertragen,  und  es  ist  auch  kein  einziger  Fall  bekannt,  wo  die 
L'ebertragung  durch  Insekten  vern)iltelt  werden  sollte.  —  Hei  angio- 
spcMMien  Bilanzen  ist  die  Färbung  der  IMiitlienhüllen  eine  gezüchtete 
Eigenthüinlichkeit,  welche  der  Bestäubung  zu  Nutzen  kouinit:  wie 
abei'  bei  den  Coniferen  ?  Als  eine  ereil)te  Eigenschaft,  die  früher  von 
Nutzen,  nun  weiter  gleichgültig  vererbt  wird,  lässt  sie  si(;h  kaum  deu- 
ten, denn  die  Coniferen  stammen  unmöglich  von  solchen  Vorfahren  ab, 
die  dei"  Insekten-Hülfe  zur  Bestäubung  bedurften.  Bei  den  höheren 
(Irjptügamen ,  ihren  nächsten  Voi'gängern,  ist  ja  eine  solche  Hidfe  von 
vorne  herein  ausgeschlossen  und  die  Haupt-Entwickelungs-Zeil  der 
(/onifeien-Gruppe  in  dei'  Vorzeit  fällt  ausserdem  in  eine  Erd-P(>riode, 
in  der  die  Insekten  erst  äusserst  spärlich  vertreten  waren.  Es  bleibt 
also  nichts  übrig,  als  die  roth(>  Färbung  der  Zapfen  zur  Blüthezeit  als 
eine  Correlativ -Erscheinung  aufzufassen,  welche  durch  die  erhöhten 
Lebens-Processe  zur  Blüthezeit  secundär  hervorgerufen  in  dem  Maassc 
wieder  schwindet,  als  die  Insensität  der  Enlwickelung  am  Zapfen 
abnimmt  2). 

So  gicbt  uns  die  rothe  Färbung  der  Zapfen  zur  Blüthezeit  ein 
schönes  Beispiel  für  die  Art  und  Weise,  wie  eine  so  prägnante  Eigen- 
Ihümlichkeit  zunächst  als  riMiie  Correlativ-Erscheinung  auftreten  kann, 
und  wir  könnten  uns  denken  ,  dass  auch  die  analoge  F'ärbung  der  Blü- 
th(Mihüll(Mi  bei  angiospermeii  Pflanzen  einer  ähnlich(Mi  Ursache  ihre 
Entstehung  verdankt  und  erst  später  bei  der  Bestäubung  vcrwcrlhel, 
und  weiter  gezüchtet  wurde. 


Erklärung  der  Tafel. 

Fig.  1  u.  2.    Taxus  baccala.     1.   Weihlicher  Zweig  zui  Blüthezeit.     2.  Eine  längs- 

diiichschniUene  Samenknospe. 
Mg.     3.       Cepalotaxu.s  loilunei  zur  Blüthezeit   (nach  Parlatore,  Stuiiii  organogra- 

hci.   Tal'.  II,    Kig.  33). 
lig.     4.      Phyllocladus  tiichomanoides  zur  Blüthezeit    ,  ebenlalis  nach  Parlatoke 

1.  c.  Tal.  II,   Fig.  28). 


1)  Aul'  diese  Weise  lasst  sich  auch  nur  das  .Vultretcn  der  rothen  Farbe  in  den- 
jenigen Blättern  erklären,  welche  z.  B.  bei  Polytrichuni  commune  die  .\nlheridien 
umgeben,  die  sogenannte  männliche  Bliithe  der  Moose  bildend. 

2)  Bei  der  Keimung  vieler  Samen  treten  ebenlalis  in  bestimmten  Zellen  dersel- 
ben, rolhe  Faibslolle  als  Nebenproducte  des  SlofTwechsels  auf. 


262  Ur.  Eduard  Sfrasburgor,  Die  BesläubuHg  der  Gymnospermen. 

Fig.  5,  6  u.  7.  Salisburia  adiantifolia.  5.  Ein  ganzer  Zweig  zur  Blüthezeit.  6.  Etwas 
vergrösserte  Samenknospe  mit  ausgeschiedenen  Tropfen.  7.  Längsschnitt 
durch  die  Samenknospe,  16  Mal  vergrössert. 

Fig.  8,  9  u.  10.  Pinus  pumilio.  8.  Eine  einzelne  Schuppe,  vergrössert.  9.  Ein  Zweig 
mit  Blüthen  und  einjährigem  Zapfen.  10.  Ein  junger  Zapfen  zur  Blüthe- 
zeit, vergrössert.  * 

Fig.  11  u.  12.  Picea  vulgaris.  11.  Eine  Schuppe  zur  Blüthezeit.  12.  Der  isolirte 
Nucleus  mit  Pollenkörnern,  welche  Schläuche  getrieben  haben,  24  Mal 
vergrössert. 

Fig.  13.  14  u.  15.  Abies  pectinata.  13.  Ein  junger  Zapfen  zur  Blüthezeit.  (Nach 
Schacht,  der  Baum.  Taf.  I,  Fig.  1).  14.  Eine  Schuppe  zur  Blüthezeit, 
vergr.  15.  Aeltere  Samenknospe  (10.  Juli)  von  oben  gesehen,  vergrössert. 

Fig.  16  u.  17.  Larix  europea.  16.  Ein  junger  Zapfen  zur  Blüthezeit.  17.  Eine  ein- 
zelne Schuppe  aus  diesem  Stadium. 

Fig.  18.      Abies  canadensis  zur  Blüthezeit. 

Fig.  19.  Juniperus  rigida  zur  Blüthezeit.  (Nach  Siebold  und  Zuccarini,  Flora 
Japonica.  Taf.  125;. 

Fig.  20,  21  u.  22.  Thuya  (Biota)  orientalis.  20.  Zur  Blüthezeit,  von  oben,  21.  im 
Längsschnitt.    22.  Samenknospe  im  Längsschnitt,  24  Mal  vergrössert. 

Fig.  23.      Juniperus  sabina  zur  Blüthezeit,  von  oben,  4  Mal  vergrössert. 

Fig.  24  u.  25.  Cupressus  sempervireus  zur  Blüthezeit.  24.  Der  junge  Zapfen. 
25.  Eine  einzelne  Schuppe.   (Nach  Parlatore  I.  c.  Taf.  I.  Fig.  3  u.  5.) 

Fig.  26  u.  27.  Cryptomeria  japonica  zur  Blüthezeit.  26.  Der  junge  Zapfen.  27.  Ein- 
zelne Schuppe.   (Parlatore  I.  c.  Taf.  I,  Fig.  33  u.  38.) 


lieber  die  Bestiuiuiuii«;  der  liiclitstärke  optischer  Iiistriinieiite. 

Mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Mikroskops  und  der  Apparate 
zur  Lichlconcentration. 


Von 

E.  Abbe. 


Mit  6  Figuren  in  Holzschnitt. 


Die  wichtigsten  Wirkungen  optischer  Apparate  gründen  sich  be- 
kanntlich auf  deren  Fähigkeit,  von  lichtstrahlenden  Objecten  sogenannte 
optische  Bilder  zu  erzeugen.  Hierdurch  ist  die  den  verschiedenartigen 
optischen  Combinationen  gemeinsame  Eigenschaft  bezeichnet ,  auf  den 
Gang  der  Lichtstrahlen  durch  Brechung  oder  durch  Spiegelung  so  ein- 
zuwirken, dass  alle  homocentrischen  Strahlenbündel,  welche  von  den 
einzelnen  Punkten  eines  leuchtenden  Objects  ausgehen,  nach  ihrem 
Durchtritt  durch  den  optischen  Apparat  wiederum  als  honiocenlrische 
Strahlenbüiidel  sich  darstellen  und  so  verlaufen,  wie  wenn  sie  von 
correspendirenden  Punkten  eines  im  Allgemeinen  anders  gelegenen  und 
anders  gestalteten  Objects  in  directer  Verbreitung  ausgegangen  wären. 

Die  Anforderungen,  welche  an  solche  optische  Bilder,  je  nach  den 
Zwecken  ,  denen  sie  dienen  sollen  ,  gestellt  werden  ,  sind  im  Wesent- 
lichen von  zweierlei  Art.  Ein  Theil  derselben  bezieht  sich  auf  rein 
geometrische  Eigenschaften  des  Strahlenlaufs ;  hierher  gehört  Alles, 
was  die  Lage,  die  Dimensionen  und  die  geometrische  Vollkommenheit 
des  Bildes,  d.  h.  die  Schärfe  der  Abbildung  und  ihre  Aehnlichkeit  mit 
dem  Gegenstande  betrifft.  Ein  anderer  Thcil  dagegen  zielt  a]>aufdie 
Inlensitätsverhältnisse  der  Wirkungen  ,  welche  optische  Apparate  ver- 
nntteln;  das  sind  die  Anforderungen,  welche  an  die  Lichtstärke  oder 
die  Helligkeit  der  Bilder  gestellt  werden. 


264  E.  Abbe, 

Von  den  beiden  Aufgaben,  auf  welche  sich  demzufolge  die  Theorie 
der  optischen  Inslruniente  zu  richten  hat.  ist  die  ersterc  schon  seit 
langer  Zeil  das  Ziel  zahlreicher  Untersuchungen  gewesen.  Die  sogen, 
geometrische  Optik  hat  zu  ihrem  hauptsächlichen  Inhalt  die  Lehren, 
welche  die  Erzeugung  optischer  Bilder  durch  spiegelnde  und  brechende 
Medien  und  die  geometrisch  definirbaren  Eigenschaften  derselben  be- 
treffen ,  und  sie  giebt  über  alle  Fragen  in  dieser  Richtung  mehr  oder 
minder  vollständige  Rechenschaft.  Alle  Aufgaben  namentlich,  welche 
auf  die  Bestinmiung  der  Lagen-  und  Grössenverhältnisse  der  optischen 
Bilder  gehen ,  haben  durch  die  von  Gauss  in  den  bekannten  »Dioptri- 
schen  Untersuchungen«  aufgestellte  Theorie  und  die  hierauf  fussenden 
weiteren  Arbeiten  von  Listing,  IIelmholtz  u.  A.  einen  in  den  wesent- 
lichen Stücken  vollendeten  Abschluss  erhalten.  Die  anderweitigen 
Fragen,  zu  welchen  die  Anforderungen  an  die  Vollkommenheil  der 
Bilder  Anlass  geben  und  welche  unter  dem  Titel  der  sphärischen  Aber- 
ration und  der  Farbenzerstreuung  erörtert  zu  werden  pflegen ,  sind 
zwar  keineswegs  in  gleich  befriedigender  Weise  zur  Erledigung  ge- 
bracht; jedoch  stehen  auch  hier  die  Grundsätze  für  die  Behandlung 
der  einzelnen  Aufgaben  unzweideutig  fest  und  die  Mängel  der  Theorie 
beruhen  nur  in  der  Schwierigkeit,  welche  die  Aufstellung  allgemein- 
gilliger  und  in  der  Praxis  leicht  zu  benutzender  Regeln  findet. 

Dem  gegenüber  ist  der  in  das  Gebiet  der  Photometrie  eingj'cifende 
Theil  der  Theorie  optischer  Instrumente,  die  Lehre  von  den  Intensi- 
tätsverhällnissen  ihrer  Wirkungen  —  so  weit  dem  V'erfasser  bekannt  — 
bis  jetzt  nirgends  einer  einigermaassen  erschöpfenden  Behandlung  un- 
terzogen worden.  Was  in  dieser  Richtung  gelehrt  wird,  beschränkt 
sich  ausschliesslich  auf  die  einfachsten  vorkommenden  Verhältnisse, 
wie  sie  z.  B.  das  astronomische  Fernrohr  darbietet,  und  auf  gelegentliche 
Erörterung  einzelner  praktisch  wichtigen  Fälle  von  ganz  beschränkten 
Voraussetzungen  aus;  für  die  Behandlung  der  complicirteren  Aufgaben, 
zu  welchen  manche  optische  Combinationen  Anlass  geben  ,  fehlt  es  den 
gewöhnlich  angenommenen  theoretischen  Grundsätzen  durchaus  an  der 
erforderlichen  Strenge  und  Allgemeinheil.  Daher  herrscht  denn  vielfach 
grosse  Unsicherheit  über  die  Bedingungen,  welche  für  die  Wirksamkeit 
optischer  Instrumente  nach  dieser  Seite  hin  maassgebend  sind  und 
mancherlei  irrthümliche  Ansichten ,  durch  voreilige  Verallgemeinerung 
an  sich  richtiger  Sätze  herbeigeführt,  verhindern  das  rechte  Verständ- 
niss  zahlreicher  —  auch  für  den  praktischen  Gebraucii  wichtiger  — 
Vorkommnisse. 

Um  die  Theorie  der  optischen  Instrumente  nach  dieser  Seite  hin 
zu  ergänzen  ,    soll  im  Folgenden  eine  Reihe  von  theoretischen  Sätzen 


üeber  die  Bfistiinmiing  der  Lichtstärke  niitisclicr  liistnimeiite.  265 

aufgestellt  werden,  nach  welchen  die  Leistungen  jonor  in  Hinsicht  auf 
die  Intensität  der  Wirkungen  (Lichtstärke,  Heiligkeit  etc.)  unter  den 
verschiedenartigsten  Umständen  beurlheilt  werden  können.  Zu  diesem 
Zweck  sollen  zunächst  die  wichtigsten  Grundsätze  der  Photometrie  in 
möglichst  elementarer  Einkleidung  rt^producirl  werden.  Sodann  soll 
gezeigt  werden,  wie  sich  aus  ihnen  Tlieoremc  ableiten  lassen,  mit  deren 
Hilfe  die  Intensität  der  Lichtstrahlung  optischer  Bilder,  wie  sie  beliebige 
Systeme  von  brechenden  und  spiegelnden  Flächen  erzeugen,  allgemein- 
giltig  zu  bestinnnen  ist.  Aus  ihnen  sollen  weiter  feste  Hegeln  abgeleitet 
werden  für  die  Benitheilung  der  namhaftesten  speciellen  Formen  opti- 
scher Combinalionen,  als  da  sind:  Camera  (Auge),  Fernrohr,  Mikroskop 
and  Apparate  zur  Lichtconcentration ;  und  zum  Scliluss  soll  noch  —  als 
ein  Beispiel  der  Anw  endung  der  zu  entwickelnden  Theorie  auf  die  com- 
plicirteren  Vorkommnisse  der  Praxis  —  eine  speciellere  Erörterung  der 
mannigfachen  Wiikungsaiten  folgen ,  wie  solche  bei  der  Verbindung 
lies  Mikroskops  mit  verschiedenen  Beleuchtungsvorrichlungen  zur  Gel- 
tung kommen. 

Entsprechend  der  hierdurch  schon  bezeichneten  praktischen  Tendenz 
dieses  Aufsatzes  ist  es  hier  weder  auf  eine  ganz  vollständige  und  Schritt 
für  Schritt  durchgeführte  Begründung  der  aufzustellenden  Theoreme 
noch  auf  eine  erschöpfende  Enlwickelung  aller  Folgerungen  abgesehen. 
In  Bezug  auf  beides  —  da  es  unter  allen  Umständen  eingehendere  ma- 
thematische Deductionen  nöthig  macht,  als  für  jenen  Zweck  wünschens- 
werth  sind  —  verweist  der  Verfasser  auf  eine  demnächst  bei  Quandt 
und  Händel  in  Leipzig  erscheinende  besondere  Schrift  über  die  Theorie 
der  optischen  Instrumente.  Hier  soll  es  sich  vorzugsweise  darum  han- 
deln, die  in  Rede  stehenden  Lehren  soweit  nach  ihrem  Zusammenhang 
darzulegen  und  zu  erläutern,  als  erforderlich  ist,  um  den  Bei-eich  ihrer 
Anwendung  und  die  Bedingungen  für  ihre  richtige  Anwendung  auf  die 
einzelnen  Fälle  der  Praxis  unzweideutig  erkennen  zu  lassen  und  Die- 
jenigen über  ihren  Gebrauch  zu  orientiren,  welche  an  den  Theoiien  der 
Optik  grade  wegen  ihrer  Anwendungen  ein  Interesse  nehmen. 


I.  Photometrische  Grundbegriffe.  Beleuchtungsstärke  und  Helligkeit; 

Leuchtkraft. 

Die  PliNsik  iK'fasst  in  ihren  Erklärungen  die  verschiedenartigsten 
Erscheinungen  des  Lichts  unter  der  bekannten  Vorstellung  übei-  den 
Prozess  des  Leuchlens,  die  <lurch  die  Worte:  Lichtstiahlung,  strahlen-^ 
förmige  Ausbreitung  hinreichend  charakterisirt  ist.     Obwohl  Ursprung- 


266  E.  Abbe, 

lieh  in  enger  Verbindung  mit  den  speciellen  Hypothesen  der  Emis- 
sionslehre ausgebildet,  hat  diese  Vorstellung  einer  gradlinigen  strah- 
lenförmigen Ausbreitung  dennoch  auch  neben  den^  ganz  veränderten 
Ansichten  über  das  Wesen  des  Lichts ,  welche  die  Undulationstheorie 
aufstellt,  volle  Geltung  behalten.  Denn  alle  auf  Grund  derselben  gebil- 
deten Begriffe,  wie  der  des  Lichtstrahls  selbst,  die  ihm  beigelegten 
Attribute  der  Brechbarkeit  und  Reflectirbarkeit,  ferner  die  Begriffe  von 
Strahlenmenge,  Lichtmenge  u.  A.  erweisen  sich  als  durchgängig  con- 
gruent  mit  entspreclunden  Bestimmungen  an  einer  Wellenbewegung, 
als  deren  kurze  und  anschauliche  Repräsentanten  sie  nach  wie  vor  nicht 
nur  brauchbar  sondern  sogar  unentbehrlich  bleiben.  —  Alle  Erklärun- 
gen der  Optik  bewegen  sich  daher  auf  dem  Boden  dieser  Vorstellung 
einer  Lichtstrahlung ,  auch  bei  denjenigen  Problemen ,  für  welche  die 
Begriffe  der  geometrischen  Optik  für  sich  nicht  ausreichen,  vielmehr  ein 
Zurückgreifen  auf  die  zu  Grunde  liegenden  mechanischen  Prozesse  an 
der  Hand  der  Undulationstheorie  unerlässlich  ist;  indem  in  solchen 
Fällen,  um  denVortheil  der  weniger  abslracten,  anschaulicheren  Einklei- 
dung zu  wahren ,  die  Resultate  der  mechanischen  Deduction  nachträg- 
lich wieder  als  Eigenschaften  der  Lichtstrahlen  ausgesprochen  werden. 

In  diesem  Sinne  sind  auch  die  grundlegenden  Sätze  der  Photo- 
metrie auf  die  Strahlungshypothese  gebaut.  —  Wenn  ein  leuchtender 
Kör'])er  andere ,  für  sich  nichtleuchtende  Objecte  in  seiner  Umgebung 
erhellt,  d.  h.  ihnen  die  Fähigkeit  ertheilt,  ihrerseits  eine  gl(;icharlige 
nur  dem  Grade  n^ch  verschiedene  Wirkung  wie  jener  auf  das  Sehorgan 
—  und  auch  auf  dritte  Körper  —  auszuüben,  so  denkt  man  sich  dies 
dadurch  vermittelt,  dass  die  sonst  dunkle  Oberfläche  in  ihren  einzelnen 
Theilen  durch  eine  gewisse  Menge  von  den  Oberflächenpunklen  der 
Lichtquelle  ausgehender  Strahlen  getroffen  wird  und  denkt  den  Grad 
der  bewirkten  Erhellung  —  die  Stärke  der  Beleuchtung  —  als  bedingt 
durch  die  Menge  von  Strahlen,  welche  auf  einem  bestimmten  Theil  der 
erhellten  Fläche  —  etwa  auf  dem  Räume  der  Flächeneinheit  —  zusam- 
mentreffen. Man  betrachtet  ferner  die  im  einzelnen  Falle  beobachtete 
Erhellung  an  irgend  einer  Stelle  als  Resultat  der  Summirung  der  Be- 
leuchtungswirkungen ,  welche  die  sämmtlichen  Flächenelemente  der 
Lichtquelle  einzeln  daselbst  hervorbringen  würden  und  reducirt  auf 
diese  Art  das  quantitativ  zu  bestimmende  Grundphänomen  auf  den 
einfacheren  Fall  der  Lichtstrahlung  eines  leuchtenden  Flächen e le- 
rnen ts  gegen  ein  anderes  in  beliebiger  Entfernung  und  Lage.  Nahe 
liegende  Erfahrungen  weisen  endlich  darauf  hin ,  unter  den  Bedingun- 
gen für  die  Wirkung  in  diesem  Falle  erstens  solche  zu  unterscheiden, 
welche  ausschliesslich  durch  die  Verhältnisse  der  Lage  des  beleuchteten 


üeber  die  Bestimmnno;  der  Lichtstärke  optisfher  Instrumente. 


267 


Fliichenelements  gegen  (Ins  leuchten(U'  bostimml  sind  und  zweitens 
solche,  welche  in  der  specifischen  Nnlur  der  Lichlcpielle  ihren  Grund 
haben.  Beiden  trägt  man  Rechnung,  indem  man  die  Menge  der  Strah- 
len, welche  auf  das  zweite  Element  treffen ,  so  bemisst,  dass  sie  nur 
vom  Abstände  und  den  Richtungen  beider  abhängt,  daneben  aber  den 
einzelnen  Strahl  als  Träger  einer  mit  der  Natur  der  Liclil(|uelle  ver- 
änderlichen ,  von  den  räumlichen  Verhältnissen  aber  unabhängigen 
Lichtmenge  ansieht,  deren  jeweilige  (irösse  zugleicl»  iler  Ausdruck  der 
specifischen  Intensität  oder  Leuchtkraft  der  Lichtquelle  ist. 

Auf  diesem  Wege  gelangt  man  nun  durch  einfache  Schlüsse  zu  einer 
quantitativen  Regel,  welche  die  Abhängigkeit  der  Lichlwirkung  von  den 
verschiedenen  maassgebenden  Ursachen  für  jenen  eint'nchslen  Fall  dar- 
stellt und  welche  —  als  photo- 
metrisches Grundgesetz  —  in 
folgender  Form  am  Kürzesten 
ausgesprochen  werden  kann :  Be- 
zeichnet /  die  Leuchtkraft  der 
Lichtquelle  oder  die  Intensität 
des  einzelnem  von  ihr  ausgehen- 
Strahls,  und  ü)  den  körper- 
lichen Winkelraum  ,  unter  wel- 
chem   ein    leuchtendes   Flächen- 

element  A  von  dem  OrU^  des  beleuchteten  Flächenelemenls  B  aus 
erscheint  (oder  welchen  die  von  hier  aus  nach  dem  Umfange  der  Fläche 
A  gezogenen  Linien  einschliessen) ,  ferner  f  die  Grösse  der  Fläche  ß  und 
a  den  Winkel  zwischen  ihrer  Normalen  und  der  Verbindungslinie  mit 
A,  so  ist  die  der  Fläche  B  zugeslrahlte  Lichtmenge 

=  /  .  w  .  sin  a.  f. 
und  diejenige  Lichtmenge,  welche  die  Flächen  einheit  der  beleuchte- 
ten Fläche  empfängt,  oder  die  auf  ihr  bewirkte  Beleuchtungsstärke 

s  =  t  .  (o  .  sin  a  (1) 

diese  Beleuchtungsstärke  mithin  einerseits  proportional  der  Leuclitkrafl 
der  betreffenden  Lichtquelle,  andrerseits  proportional  dem  körperlichen 
Winkel  w  und  dem  Sinus  des  Einfallswinkels  der  Lichtstrahlen  — 
wobei  durch  die  Art,  wie  to  sich  bestimmt,  zugleich  d<'r  Entfernung, 
Grösse  und  Lage  des  betrachteten  leuchtenden  Flächentheils  Rechnung 
getragen  wird. 

Für  die  Beurtheilung  der  Gesammtwirkung  einer  beliebig  ausge- 
dehnten Lichtquelle  —  deren  einzelne  Theile  im  allgemeinsten  Falle 
auch  ungleiche  Leuchtkraft  besitzen  können  —  ergiebt  sich  aus  obigem 
(irundgeselz  ,    dass  die  Beleuchtungsstärke ,  welche  an  verschiedenen 


268  E.  Abbe, 

Stellen  in  dem  umgebenden  Raum  hervorgebracht  wird,  sich  modifici- 
ren  kann  nach  Maassgabe  des  grösseren  oder  kleineren  Winkelrauines, 
unter  welchem  die  einzelnen  leuchtenden  Theile  sich  jeweilig  darstellen, 
sowie  auch  nach  Maassgabe  der  grösseren  oder  geringeren  Neigung ,  in 
der  die  Strahlen  von  diesen  aus  die  beleuchtete  Fläche  treffen,  dass 
aber  andere  Umstände  ausser  den  genannten  keinen  Einfluss  auf  sie 
üben.  Namentlich  müssen  also  zwei  verschiedene  Lichtquellen  von  un- 
gleicher Grösse ,  Gestalt  und  Lage  genau  dieselbe  Wirkung  an  einem 
Orte  hervorbringen ,  von  dem  aus  gesehen  sie  sich  so  aufeinander  pro- 
jiciren,  dass  jede  vom  Orte  der  Wirkung  nach  ihnen  hin  gezogene  Ricli- 
tungslinie  beide  in  Punkten  gleicher  Leuchtkraft  trifft. 

Hieraus  endlich  kann  der  weitere  Schluss  gezogen  werden, :  dass 
jede  irgendwo  gelegene  und  irgendwie  gestaltete  leuchtende  Fläche 
hinsichtlich  ihrer  Wirkung  an  je  einer  bestimmten  Stelle  im  Räume 
durchaus  ersetzt  werden  kann  durch  ihre  von  hier  aus  construirte  (cen- 
trale) Projeclion  auf  eine  willkürlich  angenommene,  beliebig  gestaltete 
andere  Fläche  im  nämlichen  Medium,  wenn  man  die  Leuchtkraft  jener 
Punkt  für  Punkt  auf  die  in  der  Projection  correspondirenden  Punkte 
der  letztern  übertragen  denkt.  Man  erhält  alsdann  eine  der  ursprüng- 
lich gegebenen  völlig  äquivalente  Lichtquelle  oder  vielmehr  eine 
der  wirklich  bestehenden  äquivalente  ideale  Vertheilung  von  Leucht- 
kraft, die  indess  nur  für  den  einen  Ort,  für  weichen  sie  bestimnU 
wurde,  Geltung  hat,  für  andere  Punkte  im  Raum  sich  aber  anders 
gestaltet. 

In  Anschluss  an  die  Definition  der  Beleuchtungsstärke ,  wie  sie 
dem  Obigen  zu  Grunde  liegt,  gewinnt  auch  der  Begriff  der  Heiligkeil 
einen  bestimmten  Inhalt.  Ausgehend  von  der  allgemein  angenommenen 
Ansicht  über  das  Zustandekommen  der  Lichtwahrnehmungen ,  sonach 
diese  durch  getrennte  und  einzeln  zu  erregende  Elemente  des  Seh- 
nervs vermittelt  werden,  erscheint  es  als  eine  so  gut  wie  selbstver- 
ständliche Annahme  —  die  übrigens  mehrfacher  ControUe  in  der  Erfah- 
rung zugänglich  ist  —  dass  man  die  Helligkeit  eines  Lichteindrucks 
entsprechend  denkt  dem  Grade  der  Erregung  der  mitwirkenden  per- 
cipirenden  Elemente  und  diesen  proportional  setzt  der  Lichtmenge, 
welche  je  einem  derselben  durch  den  optischen  Apparat  im  Auge 
zugeführt  wird  —  dabei  natürlich  die  Möglichkeit  ungleicher  Empfind- 
lichkeit der  Netzhaut  an  verschiedenen  Stellen  und  in  verschiedenen 
Zuständen  offen  gelassen.  Sofern  nun  angenommen  wird,  dass  die 
Erregung  gleichzeitig  eine  grosse  Zahl  percipirender  Elemente  neben- 
einander, also  eine  gewisse  Fläche  der  Netzhaut  treffe,  im  Bewusstsein 
mithin  den  Eindruck   eines   auseedehnten  Lichteindrucks  hervorrufe. 


üeber  die  Beslimmnng  der  Lichtgtärke  optischer  Instrumente.  269 

darf  oÖenbar  die  Lichtmenge,  die  dem  einzelnen  Element  dabei  zu 
Theil  wird,  derjenigen  proportional  gesetzt  werden,  welche  an  dieser 
Stelle  nach  Verhältniss  der  FUichoneinheit  der  Heiina  zukommen  würde, 
d.  h.  es  darf  die  an  irgend  einer  Stelle  auf  der  Netzhaut  bewirkte 
Beleuchtungsstärke  als  Maass  der  Helligkeit  des  daselbst  vermittelten 
Lichteindrucks  angenonmien  werden.  Beide  Bestimmungen,  Helligkeit 
und  Stärke  der  Beleuchtung  auf  der  Netzhaut ,  fallen  jedoch  wieder 
auseinander,  wenn  es  sich  um  Lichtreize  handelt,  die  nicht  tlber  ein 
einzelnes  percipirendes  Element  hinausreichen ,  w  ie  von  solchen  vor- 
ausgesetzt werden  muss,  welche  punktförmig  erscheinende  Objecte  zur 
Wahrnehmung  bringen.  Denn  es  kann  alsdann  recht  wohl  die  diesem 
einen  Elemente  wirklieh  zugefuhrte  Lichtmenge  dieselbe  bleiben  und 
dennoch  diejenige  sich  ändern ,  die  nach  Verhältniss  der  Ausbreitung 
jener  der  Flächeneinheit  zukommen  würde  -  wie  auch  umgekehrt.  In 
solchen  Fällen  darf  daher  die  Helligkeit  nicht  durch  die  Beleuchtungs- 
stärke auf  dem  betreffenden  Netzhauteleinent,  sondern  —  der  ursprüng- 
lichen Definition  entsprechend  —  muv  durch  die  absolute  Lichtmenge, 
die  dieses  erhält,  gemessen  werden. 

Im  Vorstehenden  sind  die  Grundsätze  enthalten,  aufweiche  sowohl 
die  Photometrie  im  engern  Sinne  —  die  Methoden  zur  Vergleichung  der 
Wirkungen  verschiedener  Lichtquellen  und  zur  Bestimmung  ihrer  spe- 
cifischen  Intensität  —  wie  auch  die  Erörterung  derjenigen  photometri- 
schen Fragen,  aufweiche  die  Erscheinungen  bei  optischen  Instrumenten 
führen,  sich  stützen  müssen.  Für  ihre  Feststellung  und  ihren  weiteren 
Gebrauch  ist  vor  Allem  charakteristisch  die  Scheidung  unter  den  geo- 
metrischen und  den  physischen  Bedingungen  der  Lichtwirkung,  welche 
in  der  Gegenüberstellung  von  Strahlenmenge  und  Intensität  der  Strah- 
len oder  Leuchtkraft  sich  ausspricht.  Während  durch  das  erstere  die- 
jenigen Bedingungen  zum  Ausdruck  gebracht  sind ,  welche  in  den 
veränderlichen  räumlichen  Beziehungen  zwischen  den  betreffenden 
Körpern  aufgehen ,  fassl  der  Begriff  der  Leuchtkraft  alle  die  Elemente 
der  Erscheinung  in  Eines  zusammen,  die,  unabhängig  von  den  wech- 
selnden äussern  Umständen ,  in  der  specifischen  Beschaffenheit  der 
wirksamen  Prozesse  selbst  begründet  sind.  Dieses  Eine  mag  zwar  der 
weiter  fortgeführten  Anahse  selbst  wieder  als  aus  mehrerlei  Factoren 
zusammengesetzt  ei'scheinen  —  wie  tlenn  in  der  That  die  Ph\sik  die 
Leuchtkraft  einer  Lichtquelle  auf  das  Ausstrahlungsvermögen  ihrer 
Oberfläche  und  auf  ihre  Temperatur  zurückführt  —  jedenfalls  aber  tritt 
es  in  alle  Wirkungen  als  Ganzes  ein  und  kann  rückwärts  aus  diesen 
quantitativ  bestimmt  werden.  Die  Gleichung  (1)  definirt  in  dieser  Art 
die  Leuchtkraft  durch  die  hervorgebrachten  Wirkungen :   denn  da  vei- 

Bd.  VI.    ■>  11» 


270  E.  Abbe. 

möge  derselben  s  und  i  identisch  werden ,  wenn  im  einzelnen  Falle 
w  =  1  und  zugleich  sin  a  =  1  ist,  so  wird  die  Leuchtkraft  i  einer 
Lichtquelle  ausgedrückt  durch  diejenige  Beleuchtungsstärke ,  welche 
eines  ihrer  Flächenelemente  auf  einer  senkrecht  bestrahlten  Fläche 
in  solcher  Entfernung  hervorbringt,  in  welcher  dasselbe  unter  einem 
körperlichen  Winkel  von  der  Grösse  der  Einheit  erscheint. 

Was  soeben  als  der  Grundzug  in  den  Vorstellungen  der  Photo- 
metrie hervorgehoben  wurde,  giebt  zugleich  die  Richtschnur  ab  für  die 
theoretische  Betrachtung  aller  Vorgänge,  bei  welchen  es  sich  um  pho- 
tometrische Bestimmungen  handelt,  im  besondei'n  auch  für  die  Erörte- 
rung derjenigen  Erscheinungen,  welche  irgend  welche  optische  Instru- 
mente darbieten.  Denn  auch  iu  allen  diesen  Fällen  ist  der  Gegenstand 
der  Untersuchung  nichts  Anderes  als  die  Strahlungswirkung  einer 
Lichtquelle ,  nur  dass  dieselbe  in  einem  von  ihr  getrennten  Räume  zur 
Geltung  kommt  und  durch  spiegelnde  oder  brechende  Flächen  vermit- 
telt wird.  W^ie  sich  diese  Wirkung  auch  äussern  mag,  ob  in  der  Erre- 
gung eines  Sehorgans  oder  in  der  Beleuchtung  anderer  Objecle,  jeden- 
falls muss  sie  nach  denselben  allgemeinen  Normen  wie  die  directe 
Wirkung  dei*  Lichtquelle  beurtheilt  werden  können,  namentlich  also 
müssen  in  ihr  solche  Elemente  nachweisbar  sein ,  die  von  blossen 
Raumbeslimmungen  abhängen  und  wiederum  solche,  welche  durch  die 
physische  Beschaffenheit  der  betreffenden  Körper  bedingt  sind.  Die 
Theorie  wird  daher  naturgemäss  die  Aufgabe  haben ,  einerseits  die 
Modificationcn  der  Leuchtkraft  in  der  durch  Spiegel-  oder  Linsencom- 
binationen  hindurch  erfolgenden  Lichtstrahlung  festzustellen,  andrer- 
seits Rechenschaft  zu  geben  von  den  geometrischen  Bedingungen,  an 
welche  die  schliessliche  Wirkung  geknüpft  ist.  Wonach  sodann  Das- 
jenige, was  man  die  Lichtstärke  eines  optischen  Apparates  nennt,  zu 
bemessen  sei ,  muss  sich  ergeben ,  wenn  man  die  Bestimmungsstücke 
beiderlei  Art,  wie  sie  sich  im  einzelnen  Falle  für  den  optischen  Apparat 
ergeben ,  mit  den  entsprechenden  Bestimmungsstücken  für  die  directe 
Lichtstrahlung  des  betreffenden  Körpers  vergleicht. 


II.  Die  mittelbare  Lichtstrahlung  diffus  reflectirender,  spiegelnder 
und  brechender  Flächen. 

Die  Thatsache ,  dass  die  in  der  Nähe  eines  leuchtenden  Körpers 
befindlichen  Objecte  nicht  nur  dem  Sehorgan  wahrnehmbar  werden, 
sondern  auch  dritte  Körper  ihrerseits  zu  erhellen  vermögen ,  führt  auf 
den  Begriff  einer  mittelbaren  Lichtstrahlung  und  einer  in  dieser  sich 


lieber  die  Bestimiiniiiy;  der  Lichtstärke  optischer  liistnimeiite.  271 

bekundenden  abgeleiteten  (erborgten)  Leuchlki-aft.  Für  die  Feststellung 
der  hierdurch  bezeichneten  Erscheinung  sind  zwei  extreme  Formen 
zu  unterscheiden  ,  welche  gesondert  auftreten ,  je  nachdem  man  die 
beobachtete  Oberfläche  entweder  als  difVus  reflectirend  oder  als  regel- 
mässig spiegelnd  und  brechend  voraussetzt. 

bn  ersten  Falle,  den  Körper  mit  vollkonmien  rauher  Oberfläche 
darbieten,  wird  alles  einfallende  Licht,  abgesehen  von  der  etwa  statt- 
findenden Absorption,  zerstreut  d.  h.  gleichmässig  nach  allen  Richtun- 
gen in  den  umgebenden  Raum  zurückgesandt.  Die  Obernäclienthcile 
eines  solchen  Körpers  verhalten  sich  daher  in  allen  Stücken  wie  die 
Elemente  einer  selbstleuchtenden  Fläche.  Auf  die  von  ihr  ausgehende 
Lichtstrahlung  können  die  unter  (l)  aufgestellten  Sätze  ohne  Weiteres 
angewandt  werden,  wofern  eine  Regel  gegeben  wird,  nach  welcher  die 
ihr  beizulegende  Leuchtkraft  bestiiiunbar  ist.  Dies  kann  leicht  gesche- 
hen,  wenn  man  das  Veihällniss  kennt,  in  welchem  die  von  je  einem 
Flächenelemente  zurückgestrahlte  Lichtmenge  zu  der  gesammten  auf 
ihm  einfallenden  steht.  Die  Zahl,  welche  dieses  Verhältniss  misst,  muss 
ofl'enbar  iunner  ein  ächter  Bruch  sein ,  dessen  Werth  für  die  verschie- 
denen Stoffe  zwischen  den  Grenzen  Null  und  Eins  variiren ,  übrigens 
auch  für  die  verschiedenen  Farben  ungleich  sein  kann.  Ist  sie  in  einem 
Falle  Null,  so  wird  man  den  betreffenden  Körper  absolut  schwarz,  ist 
sie  Eins,  so  wird  man  ihn  absolut  weiss  nennen  ;  daher  denn  der  jedes- 
malige Werth  das  Maass  für  den  Grad  der  Weisse  abgeben  kann.  Dieses 
Verhältniss  —  im  Folgenden  durch  e  bezeichnet  —  als  gegeben  vor- 
ausgesetzt, führt  eine  kurze  Schlussreihe  zu  dem  Resultat,  dass  ein 
Element  der  diffus  leuchtenden  Fläche,  w^^nn  es  selbst  mit  der  Beleuch- 
tungsstärke s  von  der  ursprünglichen  Lichtquelle  erhellt  wird ,  seiner- 
seits an  einem  diitlen  Körper  eine  Beleuchtungsstärke  bewirkt,  deren 
W^erth  durch  die  Gleichung 

B  ^=  f       e  .  Sj  .  tu  .  sin  a  (2) 

zu  bestimmen  ist,  wobei  w  und  a  in  Bezug  auf  das  diffus  strahlende 
Element  dieselbe  Bedeutung  haben,  wie  in  Gleichung  (I)  dieselben 
Zeichen  für  das  dort  als  selbslleuchtend  vorausgesetzte.  Mithin  ist  die 
betrachtete  Strahlungswirkung,  wie  die  Vergleichung  von  (2)  mit  (1) 
zeigt,  im  ganzen  Baume  die  nämliche  wie  die  eines  selbstleuchtenden 
Flächenelements,  für  welches 

l  =  —   .  €  .  S 
in 

angenommen  wird;  und  dieser  Ausdruck  ergiebt  demnach  die  er- 
borgte Leuchtkraft,    mit  wcIcIkm-  die  diffus   reflectirende  Oberfläche 

49» 


272 


ll.  Abbe, 


von  jeder  Stelle  aus  wirkt ,  als  proportional  dem  Grad  der  Weisse  £, 
den  sie  daselbst  besitzt  und  der  Beleuchtungsstärke  s,  die  ihr  daselbst 
mitgetheilt  wird. 

Der  ZAveite  der  oben  unterschiedenen  Fälle  betrifft  diejenigen  Kör- 
per, welche  eine  regelmässige  Reflexion  und  Brechung  der  auf  ihre 
Oberfläche  einfallenden  Strahlen  bewirken.  Jeder  einzelne  Strahl  spaltet 
sich  alsdann  —  von  doppelter  Strahlenbrechung  hier  abgesehen  —  im 
Allgemeinen  in  zwei  Strahlen,  von  denen  jeder  in  einer  ganz  bestimm- 
ten Richtung  fortgeht,  der  eine  —  reflectirte  —  in  das  umgebende 
Medium  zurück,  der  andere  —  gebrochene  —  in  das  Innere  des  Kör- 
pers. Setzt  man  eine  flächenartig  ausgedehnte  jedoch  begrenzte  Licht- 
quelle voraus  (.4),  von  deren  sämmtlichen  Punkten  Strahlen  in  je  einem 
Punkte  der  spiegelnden  und  brechenden  Fläche  zusammentreffen,  so 
werden  von  dieser  Punkt  für  Punkt  zwei  Strahlen büschel  ausgehen, 

das  eine  nach  dem  äussern 
'^-  Raum ,  das  andere  in  das 

Innere  dei-  brechenden 
Substanz,  beide  innerhalb 
je  eines  kegelförmigen 
Winkelraums  verlaufend, 
dessen  Lage  und  Begren- 
zung von  der  Grösse,  Ent- 
fernung und  Gestalt  der 
Lichtquelle  und  der  Rich- 
tung der  Tangentialebene 
an  der  betreffenden  Stelle 
der  Fläche  abhängt.  Da 
solches  für  alle  Punkte  der 
letztern  gilt,  nur  dass  die 
Lage  und  Begrenzung  jener  Strahlenbüschel  von  Punkt  zu  Punkt  nach 
Maassgabe  der  Krümmung  variirt,  so  verhält  sich  jedes  Element  (ß)  der 
Fläche  wie  das  einer  selbstleuchtenden  Lichtquelle  und  zwar  —  Spie- 
gelung und  Brechung  als  gleichzeitig  bestehend  vorausgesetzt  —  nach 
der  äussern  und  nach  der  Innern  Seite  hin;  mit  dem  unterschiede 
jedoch,  dass  es  solche  Wirkung  nicht  in  allen  Richtungen  ausübt,  wie 
ein  wirklich  selbstleuchtender  Körper,  sondern  nur  innerhalb  der  kegel- 
förmigen Winkeh'äume,  in  welchen  die  reflectirten  und  die  gebrochenen 
Strahlen  verlaufen.  Innerhalb  jedes  dieser  Räume  aber,  z.  B.  für  eine 
im  Punkte  C  des  reflectirten  Strahlenkegels  angenommene  lichtauffan- 
gende Fläche,  unterscheiden  sich  die  geometrischen  Bedingungen  der 
hier  stattfindenden  Strahlung,   wie  sich  in  aller  Strenge  ei-weisen  lässt, 


Fia.  2. 


liphpr  die  Bcstiiiimuntr  der  Lichlslarke  optisetu'r  liistnimciitc.  27;> 

in  gar  Nichts  von  denen  einer*  solchen,  die  das  Fliichencleinenl  li  yiis- 
idien  würde,  wenn  es  selbslleuchlend  wäre. 

Für  alle  Theile  des  äussern  und  des  innern  Uauuics.  iniierliall)  der 
htMUcrkten  Grenzen,  nuiss  sicli  daher  die  durch  Reflexion  odei-  Brechung 

y  verniitlelte  Wirkung  der  Lichtquelle  nach  den  unter  (I  namhaft  ge- 
machten (i(>set'/en  als  eine  von  der  redectirenden  Fläche  ausgehende 
Strahlung  l)eslin)nien  lassen  und  es  wird  hierzu  nur  niilhig  sein ,  dir 
l.euchtkrail  i  /u  erniilteln,  welche  ihr  jedesmal  Punkt  für  l'inikl  bei- 
zulegen ist.  Diese  lelztei'c  Aufgabe  kann  darauf  zurtlckgel'ührl  werden, 
die  Intensitäten  /,  und  /2  der  beiden  Strahlen  p  und  r/  zu  be.slinuneii, 
in  welche  ein  einfallender  Strahl  von  gegebener  Inlensitül  /  (näm- 
lich  der  Leuchtkraft  (hv  l,i(hl(|uelle  in  seinem  yVusgangspunktej  sich 
spaltet. 

Die  Undulationstheorie  des  Lichts  bietet  die  ausreichenden  Grund- 
lagen für  die  Erledigung  dieser  Frage.  Indem  man  zurückgeht  auf  die 
mechanischen  Begriffe ,  welche  die  Namen  Lichtstrahl  und  Intensität 
einer  solchen  in  der  Wellenlehre  ausdrücken  und  den  Vorgang  der 
Reflexion  und  Brechung  auf  Grund  derselben  zergliedei't,  gewinnt  man 
Bestimmungen  ,  die  sich  nachträglich  wieder  in  die  Sprache  der  Strah- 
lungshypothese umsetzen  und  als  die  gesuchten  Eigenschaften  der 
beiden  entstehenden  Theilslrahlen  darstellen  lassen.  Das  Resultat,  zu 
welchem  man  auf  diesem  Wege  geführt  wird,  besagt  Folgendes : 

I)  Die  Intensität  /|  des  refleclirten  Strahls  ist  ein  vom  Einfallswin- 
kel und  den  Brechungsexponenten  der  redectirenden  Substanz  und  des 
umgebenden  Mediums  sowie  von  den  Polarisationsverhältnissen  des 
einfallenden  Strahls  abhängiger  Bruchlheil  von  der  Intensität  des  letz- 
teren :   so  dass 

/j  =  A  .  /.  (3'| 

zu  setzen  ist,   wenn  A  diesen  Bruchlheil  bezeichnet,   dessen  Werth  aus 
den  angeführten   Stücken  nach  bekannten  Formeln  berechnet  werden 

;    kann;   was  hier  nicht  weiter  verfolgt  zu  werden  braucht. 

^  2)   Bezeichnet  n.,  den  absoluten  Brechungsexponenten  des  Körj)ers, 

«1  den  des  umgebenden  Mediums,   in  welchem  die  Licht(iuelle  sich  be- 
findet,  so  ist 

71.2- i  ^=  "2"'l   +  "i"'-2 
also  die  Iiilensiläl  des  gebrochenen  Strahls 

'^=0'' ('-'•'■'  (*' 

Diese  Ausdrücke  geben  nun  zugleich  die  Leuchlkran  an.  welche 
der  \orher  betrachteten  Fläche  in  einem  Punkte  B  nach  der  äussern 
und   nach  der  innern  Seite  hin  beigelegt  werden  muss,   um  die  durch 


274  E.  Abbe, 

Reflexion  und  durch  Brechung  vermittelte  Strahlungswirkung  an  den 
Steilen  C  und  D  als  von  ihr  selbst  ausgehend  betrachten  zu  können, 
dabei  vorausgesetzt,  dass  i  die  Leuchtkraft  der  ursprünglichen  Licht- 
quelle in  demjenigen  Punkte  ist,  von  welchem  die  Strahlen  q  und  r 
ausgegangen  sind.  —  Hierin  ist  ausgesprochen  erstens:  dass  jedes 
Element  der  spiegelnden  und  brechenden  Fläche  für  alle  Punkte  einer 
und  der  nämlichen  von  ihm  ausgehenden  Geraden  {q  oder  r)  mit  je 
gleicher  Leuchtkraft  wirkt  und  die  Grösse  dieser  ausser  von  den 
Werthen  des  «2  >  "1  und  X  nur  noch  abhängt  von  der  Intensität  der 
Lichtquelle  an  derjenigen  Stelle,  aufweiche  man  geführt  wird,  wenn 
jene  Gerade  vom  Flächenelement  aus  nach  den  Regeln  der  Reflexion 
oder  der  Brechung  rückwärts  verfolgt  wird ;  zweitens :  dass  für 
Punkte,  die  auf  verschiedenen  Geraden  d.  h.  von  dem  betrachteten 
Flächentheil  aus  nach  verschiedenen  Richtungen  liegen ,  diesem  im 
Allgemeinen  eine  andere  Leuchtkraft  zukommen  wird,  weil  andere 
Stellen  der  Lichtquelle  dabei  maassgebend  werden. 

Denkt  man  die  vorstehenden  Beslinunungen  auf  alle  Theile  der 
Fläche  in  Anwendung  gebracht,  dabei  alle  auf  den  nämlichen  Ort 
bezogen ,  sei  es  im  äussern  Baume ,  sei  es  im  Innern  des  von  jener 
begrenzten  Mediums,  so  erhält  man  offenbar  eine  ganz  bestimmte  Ver- 
theilung  von  Leuchtkraft  in  ihr,  vermöge  welcher  sie  nun  selbst- 
leuchtend an  jenem  Orte  dieselbe  Lichtwirkung  (Beleuchtungsstärke) 
hervorbringen  würde ,  die  sie  thatsächlich  durch  Vermittelung  der  ur- 
sprünglichen Lichtquelle  leistet.  Die  so  festgestellte  Leuchtkraft-Ver- 
theilung  ist  daher  der  gegebenen  Lichtquelle  äquivalent  in  Hinsicht 
auf  den  einen  Punkt,  von  dem  aus  sie  bestimmt  wurde;  für  jeden 
anderen  Punkt  aber  verliert  sie  ihre  Geltung  —  im  Allgemeinen  —  und 
es  tritt  eine  andere  an  ihre  Stelle,  da  sowohl  die  den  einzelnen  Flächen- 
elementen correspondirenden  Punkte  der  Lichtquelle  wechseln  wie 
auch  der  Werlh ,  der  dem  Factor  X  beizulegen  ist ,  jedesmal  ein  ande- 
rer wird. 

Macht  man  die  besondere  Annahme,  dass  entweder  nur  Spiegelung 
oder  nur  Brechiing  stattfinde,  die  in  jedem  Falle  bestehende  Nebenwir- 
kung der  andern  Art  also  zu  vernachlässigen  sei ,  und  setzt  demnach 
den  Factor  l  abwechselnd  =  1  oder  =  0,  so  vereinfacht  sich  die  Begel 
für  die  Ableilunii  der  äquivalenten  Leuchtkraft.  —  Bei  der  Spiegelung 
ist  alsdann  für  jedes  Flächenelement  i\  =  /,  d.  h.  es  wird  auf  dasselbe 
diejenige  Leuchtkraft  unge ändert  übertragen,  welche  die  Lichtquelle 
in  dem  correspondirenden  Punkte  besitzt.  Da  aber,  dem  Vorstehenden 
zufolge,  dieser  correspondirende  Punkt  zu  irgend  einem  Flächenelement 
/>'  derjenige    (B')   ist,   den  die  Verbindungslinie   C/y,    vom  Orte  C  der 


lieher  die  Besliiiiiimng  (Icr  l.irhlsliiilc  (i|iii,srlii'i  liisliiiini'nU'.  "275 

Wirkung  aus  gezogen  und  nach  dem  Redcxionsgeselz  rückwärts  verfolgt, 
tiitVl,  so  crsclioiiU  die  für  den  Punkt  C  sich  ergebende  Verthcilung  der 
J.euclitkraft  in  der  Fläche  als  eine 
ceiUrale  Projeclion  der  Licht(|uellc  A 
auf  sie,  welche  vom  Punkte  C  aus 
gemäss  der  Rodexionsregel  zu  bilden 
ist.  —  Im  F'alle  reiner  Brechung, 
ohne  gleichzeitige  Spiegelung,  erhält 
jedes  Flächeneiemenl  für  seine  Strah- 
lung nach  dem  Innern  des  brechen- 
den Mediums  die  Leuchtkraft 

daher  wird  die  Leuchtkraft  der  Lichtquelle  Punkt  für  Punkt  auf  die 
entsprechenden  Punkte  der  brechenden  Fläche,  im  Verhältniss  des 
Quadrates  des  relativen  Brechungsexponenten  des  Me- 
diums vergrösser t,  übertragen;  die  Regel  der  Uebertrngung  kann 
auch  hier  wieder  kurz  bezeichnet  werden  als  eine  vom  Orte  der  Wir- 
kung aus  gebildete  centrale  Projection  der  Lichtquelle  .1  auf  die  bre- 
chende Fläche ,  nur  dass  dabei  die  einzelnen  Richtungslinien  nach  dem 
Brechungsgeselz  für  Lichtstrahlen  Ins  zu  A  hin  fortzusetzen  sind. 

Die  hier  gegebene  Zurücki'ührung  der  durch  Reflexion  oder  Bre- 
chung vermittelten  Strahlungswirkung  einer  Lichtquelle  auf  die  directe 
Strahlung  einer  äcpiivalenten  Lichtverlheilung  lässt  sich  leicht  so  weit 
verallgemeinern,  dass  sie  auf  den  schliesslichen  Etlecl  einer  beliebigen 
Anzahl  spiegelnder  und  brechender  Flächen  Anwendung  finden  kann. 
Man  gelangt  alsdann  zu  einem  dem  früheren  analogen  Theorem,  welches 
indess  hier,  um  die  Betrachtung  nicht  abstracter  zu  halten  als  für  die 
späteren  Untersuchungen  nöthig  ist,  nur  in  der  einfacheren  Form  dar- 
gelegt werden  soll,  die  es  annimmt  unter  der  Voraussetzung,  dass  die 
einzelnen  Flächen  theiis  als  nur  spiegelnd  ,  theils  als  nur  brechend  in 
Betracht  gezogen,  die  gleichzeitigen  Wirkungen  der  andern  Art  also 
vernachlässigt  werden.  Es  lautet  in  dieser  Einschränkung: 

Wirkt  eine  beliebig  gegebene  Lichtquelle  durch  eine  Reihe  voll- 
konnncn  spiegelnder  oder  vollkommen  brechender  Flächen  von  irgend 
welcher  Gestalt  und  Lage,  so  lässt  sich  ihre  Wirkung  an  je  einem  be- 
stinuuten  Orte  des  letzten  Mediums,  in  welchem  die  Strahlen  schliesslich 
verlaufen,  stets  ersetzen  durch  die  directe  Strahlung  einer  in  diesem 
letzten  Medium  willkürlich  angenommenen,  beliebig  gestalteten  Fläche, 
indem  man  dieser  Punkt  für  Punkt  eine  Leuchtkraft  lieilegt,  welche  sich 
aus  der  Leuchtkraft  in  je  einem  cori'espondirenilen  Punkt  der  Lichtquelle 


276  E.  Abbe, 

ableitet  und  zwar  durch  unmittelbare  Gleichsetzung ,  falls  das  letzte 
Medium  mit  dem  ersten  gleichartig  ist,  im  andern  Falle  dagegen  durch 
Multiplication  mit  dem  Quadrate  des  relativen  Brechungsexponenten 
vom  ersten  zum  letzten  Medium,  Der  correspondirende  Punkt  der 
Lichtquelle  zu  irgend  einem  Punkte  der  angenommenen  Fläche  ist  hier- 
bei immer  derjenige,  auf  welchen  man  geführt  wird,  wenn  man  die 
Verbindungslinie  zwischen  dem  Orte  der  Wirkung  und  dem  fraglichen 
Flächenpunkte  nach  den  Gesetzen  der  Spiegelung  und  Brechung  eines 
Lichtstrahls  bis  zur  Lichtquelle  hin  fortsetzt;  führt  diese  Forlsetzung, 
statt  auf  die  Lichtquelle,  in  die  nichtleuchtende  Umgebung,  so  ist  für 
die  betreffende  Stelle  der  Fläche  die  Leuchtkraft  Null  zu  setzen. 

Es  ist  nach  dem  Gesagten  selbstverständlich ,  dass  auch  in  diesem 
Falle  die  zu  bestimmende  Vertheilung  der  Leuchtkraft  im  Allgemeinen 
nur  für  den  einen  bestimmten  Ort  Geltung  hat ,  von  welchem  die  Gon- 
struction  jedesmal  ausgeht,  und  dass  sie  daher  für  andere  Stellen  im 
Räume  andere  Gestalt  annehmen  wird.  Hiegegen  machen  die  vorste- 
henden Betrachtungen  von  keiner  Voraussetzung  Gebrauch ,  die  nicht 
auch  erfüllt  wäre  in  dem  besondern  Fall  eines  solchen  Systems  von 
brechenden  und  spiegelnden  Flächen ,  durch  das  ein  regelrechtes  opti- 
sches Bild  der  Lichtquelle  entsteht,  für  dessen  Ort  selbst  die  Lichtwir- 
kung zu  bestimmen  verlangt  würde. 

Es  mag  gleich  hier  auf  einige  Folgerungen  von  praktischem  In- 
teresse hingewiesen  w-erden ,  die  aus  den  eben  dargelegten  Sätzen 
fliessen.  —  Als  Erstes  und  Allgemeinstes  lassen  sie  erkennen:  dass 
keine  noch  so  kunstreich  erdachte  Combination  optischer  Apparate  in 
Hinsicht  auf  die  Stärke  des  durch  eine  Lichtquelle  in  ihrem  eigenen 
Medium  zu  erzielenden  Beleuchtung  jemals  mehr  leisten  kann,  als  auch 
ohne  alle  Zwischenmitlel  erreichbar  ist,  wenn  man  entweder  der  Licht- 
quelle von  gegebener  Beschaffenheit  (d.  h.  gegebener  Leuchtkraft)  eine 
beliebig  grosse  Flächenausdehnung  zu  geben  vermag  oder  aber  die  zur 
Verfügung  stehende  Lichtquelle  dem  Orte  der  Wirkung  beliebig  zu 
nähern  im  Stande  ist.  Denn  die  schliessliche  Wirkung  aller  denkbaren 
Hilfsapparale  reducirt  sich  immer  auf  die  directe  Strahlung  einer  Fläche, 
welche  zwar  vom  Orte  der  Wirkung  aus  unter  Umständen  einen  sehr 
viel  grösseren  Winkelraum  als  die  Lichtquelle  selbst  erfüllen  kann,  die 
jedoch  an  keiner  Stelle  eine  höhere  Leuchtkraft  entwickelt  als  die  Licht- 
quelle selbst  mindestens  in  einem  ihrer  Theile  factisch  besitzt  —  sofern 
nämhch  die  Wirkung  in  demselben  Medium  erfolgen  soll.  Ist  es  daher 
möglich,  die  Lichtquelle  dem  Punkte  der  Wirkung  so  weit  zu  nähern, 
dass  ihr  am  intensivsten  leuchtender  Theil  unter  einem  eben  so  grossen 
Winkeiraum  erscheint,  so  muss  auch  ihre  Lichtwirkung  ohne  alle  Hilfs- 


lieber  die  Bestimmung  der  Lichtstärke  optischer  Instrumente.  277 

apparate  die  gleiche  werden ;  in  Wahrheit  wird  letztere  sogar  über- 
wiegen um  den  Betrag  der  unvermeidlichen  Lichtverluste,  die  wieder- 
holte Spiegelungen  und  Brechungen  nach  sich  ziehen.  Alle  Vorrichtungen 
zurVerstärkung  einer  Beleuchtung,  zur  sogenannten  I.ichtconccnlration, 
können  daher  in'(MnaIs  einen  andern  Zweck  haben  —  wenigstens  nie- 
mals einen  andern  wirklich  erfüllen  —  als  den:  mit  Hülfe  einer  gege- 
benen Lichtquelle  von  beschränkten  Dimensionen  oder  an  einem  ent- 
fernten Orte  dennoch  eine  solche  Wirkung  zu  erzielen,  wie  sie  direct 
nur  durch  eine  sonst  gleichartige,  aber  von  anderer  Ausdehnung  oder 
in  anderer  Lage  erreichbar  wäie. 

Durch  welche  Einrichtungen  für  bestimmte  Verbältnisse  dieser 
Zweck  erreicht  werden  kann  und  wie  es  namentlich  möglich  ist,  unter 
Anwendung  solcher  Combinationen  von  spiegelnden  und  brechenden 
Medien,  welche  optische  Bilder  erzeugen,  mit  einer  wenig  ausgedehnten 
oder  sehr  entfernten  Lichtquelle  den  Etfect  einer  beliebig  grossen  und 
zwar  gleichmässig  in  allen  Theilen  eines  gewissen  Raumes  zu  erzielen. 
Dieses  Alles  wird  in  den  folgenden  Abschnitten  seine  nähere  Erörte- 
rung finden.  Ohne  weitere  Vorbereitungen  lassen  sich  indess  schon 
hier  mancherlei  kleine  Nutzanwendungen  des  Gesagten  übersehen. 

Fasst  man  z.  B.  die  Umstände  ins  Auge,  welche  beim  Gebi'auch 
des  Mikroskops  für  die  Beleuchtung  dei'  zu  beobachteten  Objecte  be- 
stehen ,  so  lassen  sich  die  gewöhnlich  vorkommenden  Fälle  sehr  leicht 
nach  den  aufgestellten  Normen  vollständig  beurtheilen.  —  Ist  die  zur 
Verfügung  stehende  Lichtquelle  sehr  ausgedehnt,  etwa  eine  giosse 
Fläche  oder  ein  namhafter  Theil  des  Wolkenhimmels ,  gleichmässig 
erhellt,  so  müssen  alle  Vorrichtungen  gleich  gut  wiiken,  welche  seitlich 
einfallende  Lichtstrahlen  beiläufig  in  der  Richtung  der  Mikroskopaxe 
zum  Objecte  führen.  Wäre  es  selbst  ein  Gonvexspiegel,  immer  würde 
er,  wofern  nur  die  Lichtquelle  gross  genug,  in  eine  solche  Lage  zu 
bringen  sein,  dass  alle  Richtungslinien,  welche  vom  Object  nach  den 
verschiedenen  Punkten  seiner  Fläche  gezogen  und  nach  der  Reflexions- 
regel weiter  forlgesetzt  gedacht  werden,  schliesslich  auf  die  Lichtquelle 
treffen ;  und  dann  wird  der  Erfolg  so  sein ,  als  ob  die  ganze  Spiegel- 
fläche mit  der  Leuchtkraft  der  letzteren  selbstleuchtend  wäre  und  das 
Object  besti'ahlte.  In  diesem  Falle  also  ist  die  Gestalt  des  Beleuchtungs- 
spiegels vollkommen  gleichgiltig;  die  Wirkung  ist  allein  bedingt  durch 
seine  Grösse  und  seinen  Abstand  vom  beleuchteten  Object,  insoweit 
beide  auf  den  Winkel  Einüuss  haben ,  unter  welchem  er  von  hier  aus 
erscheint;  je  grösser  der  letztere,  desto  stärker  unter  sonst  gleichen 
Umständen  die  bewirkte  Beleuchtung. 

Da  indess  die  hier  gemachte  Annahme  selten  vollständig  zutrill't. 


278  E.  Abb.!, 

so  wild  freilich  in  den  meisten  Fällen  das  Resultat  sich  anders  stellen. 
Ist  die  Lichtquelle  von  geringerer  Ausdehnung  —  etwa  eine  einzelne 
helle  Stelle  am  Wolkenhimmel,  oder  gar  eine  Lichtflamme  oder  dergl.  — 
so  könnte  bei  Anwendung  eines  convexen  und  selbst  noch  eines  ebenen 
Spiegels  nur  für  einen  kleinen  Theil  seiner  Fläche  die  oben  bezeichnete 
geometrische  Bedingung  erfüllt  sein,  von  der  es  abhängt,  ob  er  für  das 
Object  die  Eigenschaften  einer  Lichtquelle  gewinne,  beim  grössern 
Theile  seiner  Oberfläche  werden  die  Richtungslinien  vom  Object  aus, 
nach  der  Reflexionsregel  fortgesetzt,  auf  die  nicht-  oder  nur  schwach- 
leuchtende  Umgebung  treflen.  Man  erkennt  aber  sogleich,  wie  dem 
abzuhelfen  ist,  indem  man  dem  Spiegel  eine  concave  Krümmung 
von  solchem  Grade  crlheilt,  dass  jene  Richtungslinien  als  ein  nahezu 
parallel(>s  Bündel  ihn  verlassen  —  was  darauf  hinausläuft,  das  01)- 
jeet  beiläufig  in  den  Brennpunkt  der  concaven  Fläche  zu  bringen. 
Statt  dessen  kann  natürlich  auch  mit  ganz  entsprechenden  Anforde- 
rungen eine  Sammellinse  diesen  Zweck  erfüllen,  sowohl  für  sich  allein 
als  auch  in  Verbindung  mit  einem  Planspiegel  (in  Form  eines  Conden- 
sors)  verwandt;  immer  wird,  wenn  einmal  die  genannte  Bedingung 
über  den  Verlauf  der  Richtungslinicn  erfüllt  ist,  der  Erfolg  nur  von  der 
Grösse  des  Winkelraumes  abhängen  ,  den  der  lichtgebende  Theil  des 
Apparates  vom  Objecte  aus  gesehen,  einnimmt  —  natürlich  abgesehen 
von  dem  Einfluss ,  den  die  Einfallsrichtung  der  das  Object  treff'enden 
Sirahlenkegel  gegen  die  Mikroskopaxe  auf  die  Art  der  Beleuchtung 
(gerade  und  schiefe  Beleuchtung)  übt.  V^eder  kann  es  hierbei  darauf 
ankommen,  dass  das  Object  genau  im  Brennpunkte,  oder  etwas  dar- 
unter ,  oder  darüber  sich  befinde,  noch  viel  weniger  darauf,  dass  der 
Beleuchtungsapparat  frei  von  chromatischer  und  sphärischer  Aberration 
sei.  Denn  wenn  die  \n irkliche  Lichtquelle  vom  Instrument  aus  auch  nur 
unter  einem  kleinen  Gesichtswinkel  erscheint,  immerhin  wird  ihre 
Flächenausdehnung  genügen  ,  alle  vom  Object  aus  rückwärts  construir- 
len  Richtungslinien  auch  dann  noch  in  sich  aufzunehmen ,  wenn  deren 
Verlauf  in  Folge  der  genannten  Abweichungen,  sei  es  füi'  alle  Farben, 
sei  es  für  einige,  vom  Parallelismus  um  ein  Weniges  entfernt  ist^). 


■1)  Das  hier  über  diese  praktischen  Fragen  Gesagte  stimmt  in  allen  Stiicken 
überein  mit  der  eben  so  klaren  als  bündigen  Auseinandersetzung  in  dem  bekannten 
Buche  von  Nageli  und  Scuwendknek  »das  Mikroskop"  (Erster  Abschn.  Cap.  X).  Da 
jedoch  in  allen  übrigen  dem  Verf.  bekannten  Handbüchern  ähnlicher  Tendenz  — 
auch  in  den  nach  jenem  erschienenen  —  über  dieses  Thema  die  unklarsten,  zum 
Theil  irrigsten  Vorstellungen  zu  Tage  treten  und  dabei  nach  wie  vor  sonderbare 
Difteleien  über  allerhand  unmögliche  Dinge  vorgebracht  werden  —  so  kann  es  ge- 
wiss nicht  schaden,  wenn  man  obige  Sätze  recht  oft  wiederholt;  da  sie  doch  eine 


Heber  die  Besliiimiiiiig  der  l,icli(sliiike  optiscimr  liLsliuineiil«.  279 

III.  Die  Lichtwirkung  durch  Systeme  centrirter  Kugelflächen. 

Die  im  vorigen  Abschnitl  aulgeslüllleü  jiHgemoinen  (lesclzc  über 
die  mittelbare  Wirkung  einer  [jchlquelle  lassen  sich  auf  sehr  viel 
schärfer  begrenzte  und  deshalb  einfachere  zurückführen ,  w  enn  man 
über  die  Lage  und  Gestalt  dei"  ])rechendcn  oder  spiegehideii  Flächen 
eine  solche  Voraussetzung  macht,  durch  welche  das  Zustandekommen 
optischer  Bilder  ausgesi)rochen  wird.  Diese  Voraussetzung  soll  hier 
—  um  die  Darstellung  nicht  unnöthiger  Weise  abslract  und  weitläufig 
zu  machen  —  nicht  in  der  allgemeinsten  Gestalt,  die  sie  annehmen 
kann,  in  Betracht  gezogen  werden ,  sondern  gleich  in  derjenigen  enge- 
ren Formulirung,  in  welcher  allein  sie  zu  praktischer  Anwendung  ge- 
langt. Ks  soll  also  angenommen  werden,  dass  alle  brechenden  oder 
spiegelnden  Flächen  kugelförmige  seien ,  deren  Mittelpunkte  zugleich 
auf  einer  einzigen  Geraden  (Axe)  liegen;  und  zur  Vereinfachung  der 
Ausdrucksweise  soll  überdies  in  der  ganzen  Auseinandersetzung  von 
der  Mitwirkung  reUectirender  Flächen  abgesehen,  mithin  allein  der  Fall 
rein  dioplrischer  Systeme  ausdrücklich  besprochen  werden ,  wiewohl 
der  Sache  nach  nicht  nur  die  schliesslichen  Ergebnisse,  sondern  alle 
einzelnen  Schlüsse  unter  Einschaltung  der  geeigneten  W'orte  auch  auf 
die  andern  Arten,  katoptrische  und  kata-dioptrische  Combinationen, 
Anwendung  finden. 

Es  werde  also  als  gegeben  angenommen  ein  Object  mit  selbst- 
leuchtender oder  diflus  strahlender  Oberfläche,  von  bestimmter  Lage 
und  Begrenzung,  und  von  ihm  aus  eine  beliebige  Folge  durchsichtiger 
Medien,  getrennt  durch  cenlrirte  Kugelflächen,  welche  vermittelst  suc- 
cessiver  Brechungen  im  letzten  Medium  ein  optisches  Bild  der  Licht- 
quelle von  bestimmter  Lage  und  Gestalt  erzeugen  mögen.  Diese  Vor- 
aussetzung über  das  Zustandekommen  eines  (aberrationsfreien)  Bildes 
besagt  aber  nichts  Anderes,  als  dass  die  sämmtlichen  Strahlen,  die  von 
den  einzelnen  Objectpunkten  als  homocentrische  Büschel  ausgehen, 
soweit  sie  überhaupt  durch  das  Linsensystem  hindurch  treten  können, 
im  letzten  Medium  wiederum  als  homocentrische  Strahlenbüschel  ver- 
laufen, d.  h.  so,  als  ob  sie  von  entsprechenden  Punkten  innerhalb  des 
letzten  Mediums  in  directer  Verbreitung  ausgingen ;  wobei  es  gleich- 
giltig,  ob  diese  —  die  Bildpunkte  —  durch  das  factische  Zusammen- 
treften  der  einzelnen  Strahlen  als  reelle ,  oder  durch  das  Zusammen- 
treffen in  ihrer  blos  gedachten  Forlsetzung  als  virtuelle  sich  darstellen. 


sefir  wesenllicfie  Grundlage  für  diis  Vcrsländniss  der  Wirkungsweise  aller  mikrosk( 
piscfien  Appai'ate  ausmachen. 


280  E.  Abbe. 

Mag  der  eine  oder  der  andere  Fall  vorliegen ,  also  ein  reelles  oder 
ein  virtuelles  Bild  der  Lichtquelle  entstehen,  jedenfalls  kann  dieses,  da 
alle  Strahlen,  die  überhaupt  im  letzten  Medium  verlaufen,  von  seinen 
einzelnen  Punkten  geradlinig  ausgehen,  als  die  Ouelle  aller  Lichtwir- 
kungen im  letzten  Medium  aufgefasst  werden ,  sowohl  derjenigen, 
welche  sich  objectiv,  als  Beleuchtung  an  andern,  sonst  dunkeln  Gegen- 
ständen äussert,  wie  auch  derjenigen,  durch  welche  das  Bild  selbs 
von  einem  Sehorgan  im  nämlichen  Raum  wahrgenommen  wird.  Denn 
es  veihält  sich  durchaus  wie  eine  lichtstrahlende  Fläche  und  unter- 
scheidet sich  von  der  ihtn  congruent  angenommenen  Oberfläche  eines 
selbstleuchtenden  Körpers  an  s  iner  Stelle  nur  in  dem  einen  Umstand: 
dass  nämlich  seine  Punkte  (oder  Flächenclementc)  nicht  allseitig  strah- 
len, sordcrn  je  innerhalb  gewisser  Winkeliäume  nach  Maassgabe 
dgr  Begrenzung,  in  welcher  das  optische  System  die  Strahlenbüschel 
von  den  Punkten  der  Lichtquelle  in  sich  aufnimmt.  Die  Strahlungs- 
wirkung im  ganzen  Raum  des  letzten  Mediums  vollständig  bestimmen, 
muss  daiier  jedenfalls  auf  die  Aufgabe  zurückgeführt  werden  können: 
sowohl  die  den  einzelnen  Theilen  jenes  Bildes  beizulegende  Leuchtkraft 
als  auch  die  Bedingungen  für  die  räumliche  Begrenzung  des  von  ihm 
ausgehenden  Strahlenlaufs  abzuleiten  aus  den  entsprechenden  Beslim- 
mungsstücken,  w  eiche  für  die  Strahlungswirkung  des  Objects  im  ersten 
Medium  mit  seiner  Beschafl'cnhcit  und  mit  der  Einrichtung  des  Linsen- 
systems  gegeben  sind. 

Als  maassgebende  Eigenschaften  des  Objects  (der  Lichtquelle)  für 
die  in  Rede  stehenden  Erscheinungen  kommt,  ausser  der  Lage  und 
Gestalt,  natürlich  nur  die  in  seinen  Oberflächentheilen  wirksame 
Leuchtkraft  in  Frage.  Die  Einrichtung  des  optischen  Apparates,  so  weit 
sie  zunächst  für  die  Lage  und  Grösse  des  Bildes  bestimmend  ist,  wird, 
den  Lehren  der  Dioptrik  zufolge ,  vollständig  definirt  durch  die  soge- 
nannten Cardinalpunkte,  wie  dieselben  durch  die  Theorie  von  G.vuss 
nachgewiesen  sind,  und  die  Ae(juivalentbrennweite  des  Systems;  durch 
welche  Daten  die  Wirkungsweise  des  Linsensystems,  wie  es  auch  sonst 
gestaltet  sein  mag,  auf  die  einer  einzigen  Linse,  resp.  einer  einzigen 
Kugelfläche  reducirt  werden  kann.  Was  aber  die  Begrenzung  anlangt, 
in  welcher  die  Strahlenbüschel  von  den  Punkten  der  Lichtquelle  mit- 
telst des  optischen  Apparates  zur  Wirkung  gelangen ,  so  ist  diese  bei 
aUseitig  strahlenden  (diftüs-  oder  selbstleuchtenden)  Objecten  stets  rein 
mechanisch  gegeben :  durch  die  undurchsichtigen  Ränder  der  Linsen 
oder  durch  irgendwo  angebrachte  und  .  irgendwie  gestaltete  Dia- 
phragmen, welche  nur  den  Strahlen  innerhalb  eines  gewissen  Winkel- 
raumes (gewöhnlich  in  der  Nähe  der  optischen  Axe    den  freien  Durch- 


lieber  die  Bcstiminnnii  der  Liflitstürkf  ((|itiscliei'  liisliiimeiilc, 


281 


gang  geslallen.  Bei  Objeeten  dagcgcMi ,  uciclu'  l\<Mn('  selbständige 
Strahlung  üben  ,  sondern  oi)lisch  wirksam  werden  durch  die  Strahlen 
einer  hinler  ihnen  befindlichen  I.icht(|uelle  —  wie  es  z.  B.  bei  dei' 
Verwendung  des  Mikroskops  mit  durchlallendeni  Licht  der  Fall  ist  — 
kann  die  Begrenzung  der  einfallenden  Strahlen  auch  durch  die  Conlour 
jener  Lichtquelle  bewirkt  werden,  wofern  nicht  eine  Blendung  vor  oder 
hinter  dem  Objecte  die  von  seinen  Punkten  ausgehenden  Stiahlen- 
kegel  auf  (>inen  geringeren  Oetl'nungswinkel  reducirt,  als  nach  der 
Ausdehnung  der  Lichtquelle  ihn(Mi  znkonnnt.  Wie  n)an  sich  alter  auch 
das,  was  man  die  freie  Oelfnung  des  optischen  Apparates  nennt,  im 
einzelnen  Falle  bestimmt  denken  will ,  immer  wird  man  sie  reduciren 
können  auf  eine  innerhalb  des  eisten  Mediums  gegebene 
durchsichtige  l*M;iche  in  einer  den  Sirahlenlauf  der  Lichtquelle 
beschränkenden  undurchsichtigen  Wand,  nach  An  eines  wirklichen 
Diaphragmas  wirkend ;  und  es  w  erden  sich  die  verschiedenen  Fälle 
nur  durch  die  Grösse  und  Gestalt  sowie  durch  den  Oi"t,  an  welchem 
sich  dieses  wirkliche  oder  fingirte  Dia]ihiagma  befindet,  von  einander 
unterscheiden . 

Dies  vorausgeschickt  hat  es  keinerlei  Schw  ierigkeil ,  Rechenschaft 
zu  geben  von  den  geometrischen  Bedingungen,  durch  v\ eiche  die  Aus- 
breitung der  Strahlen  im  letzten  Medium ,  nach  dem  Durchgang  durch 
das  optische  System  und  nach  Formirung  des  Bildes  der  Lichtquelle, 
begrenzt  ist.    Repräsentire  in  Fig.  i.   [i  eine  beliebige  Linsencombina- 


Fig.  4. 

lion ,  (I  das  leuchtende  Object,  h  das  von  ihm  entworfene  z.  B.  reelle 
Bild  im  letzten  Medium  und  a  die  Oetlnung  einer  den  Strahlengang  vor 
dem  System  begrenzenden  Blendung,  diese  im  Beispiel  als  zwischen 
Object  und  Linse  liegend  angenommen.  Dann  ist  einleuchtend,  dass 
der  optische  Apparat  auch  von  dem  Dia()hragma  grade  wie  \on  irgend 
einem  andern  vor  ihm  befindlichen  Gegenstand  ein  reelles  oder  vir- 
tuelles Bild  inj  letzten  Medium  entwirft      Denn  die  Gesammtheit  der 


282  E.  Abbe, 

Strahlen,  welche  von  den  sämmtlichen  Punkten  der  Lichtquelle  a  durch 
die  sämmtlichen  Punkte  der  freien  Oeffnung  a  hindurchtreten,  lassen 
sich  nicht  nur  zusammenfassen  zu  Strahlenbüscheln,  die  von  den 
Punkten  von  a  —  z.  B.  dem  Punkte  m  —  homocentrisch  ausgehen, 
sondern  ebensowohl  auch  zu  solchen ,  die  homocentrisch  von  den  ein- 
zelnen Punkten  der  freien  Oeffnung  aus  verlaufen ;  da  ja  in  allen 
Stellen  einer  innerhalb  der  Contouren  von  a  beliebig  angenommen  ge- 
dachten Fläche  —  z.  B.  im  Randpunkte  f.i  —  eine  Anzahl  von  Strahlen 
sich  wirklich  kreuzen  —  je  einer  von  jedem  Punkte  der  Lichtquelle. 
Nach  dem  Begriffe  eines  bilderzeugenden  optischen  Systems  muss  aber 
jeder  homocentrische  Strahlenbüschel ,  von  wo  er  auch  im  ersten  Me- 
dium ausgehen  mag  (natürlich  innerhalb  der  Schianken,  welche  durch 
das  Auftreten  der  sphärischen  Aberration  gesteckt  sind )  nach  dem 
Durchgange  wieder  als  homocentrisch  verlaufen,  d.  h,  im  letzten  Me- 
dium einen  Bildpunkt  von  seiner  Ausgangsstelle  erzeugen  ;  die  ganze 
in  a  angenommene  Fläche  nmss  sich  mithin  Punkt  für  Punkt,  nach 
Maassgabe  ihrer  Lage  gegen  die  Cardinalpunkte  des  Systems  und  seiner 
Brennweile,  im  nämlichen  Baume  mit  dem  Bilde  des  Objeöts  a  voll- 
ständig abbilden  —  sei  es  reell  oder  sei  es  virtuell,  jedenfalls  so,  dass 
die  Begrenzung  (der  Rand)  dieses  Bildes  das  Bild  von  dem  Rande  des 
Diaphragmas  a  ist. 

Bezeichne  ß  dieses  (in  der  Figur  als  gleichfalls  reell  angenommene) 
Bild  von  a,  welches  man  kurz  das  Bild  der  Oeffnung  nennen  kann. 
Man  erkennt  nun  sogleich,  dass  irgend  ein  Stralil,  der  vor  dem  Ein- 
tritt in  das  System  von  einem  bestimmten  Punkte  des  Objects  a  aus  und 
durch  eine  bestimmte  Stelle  der  Oeffnung  a  hindurch  gegangen  ist,  im 
letzten  Medium  in  der  Verbindungslinie  der  correspondirenden  Punkte 
des  Objectbildes  a  und  des  Oeffnungsbildes  ß  verlaufen  muss; 
und  dass  umgekehrt  auch  jede  Verbindungslinie  von  irgend  zwei 
Punkten  dieser  Bilder  den  Weg  eines  in  das  System  eingetretenen 
Strahls  darstellt.  Damit  aber  ist  ausgedrückt,  dass  im  letzten  Medium 
alle  überhaupt  vorhandenen  Strahlen  von  den  Punkten  des  Objectbildes 
aus  und  durch  die  Punkte  des  Oeffnungsbildes  hindurch  verlaufen ;  oder 
in  andern  Worten:  dass  die  gesammte  Strahlung,  die  im  letzten  Me- 
dium als  vom  Bilde  a  der  Lichtquelle  ausgehend  gedacht  wird,  durch 
das  im  nämlichen  Baume  auftretende  Oeffnungsbild  ß  des  Systems  in 
allen  Stücken  ebenso  begrenzt  ist,  wie  die  Strahlung  eines  an  Stelle 
von  a  gesetzten  selbstleuchtenden  Objects  durch  eine  mit  diesem  Oeft- 
nungsbilde  gleich  gestaltete  und  gleich  gelegene  Diaphragmenöffnung. 

Vorstehende  Schlüsse  finden  unmittelbar  auch  auf  den  oben 
erwähnten  Fall,  der  bei  Beleuchtung  eines  Objectes  mil  durchfallendem 


lieber  die  ßestimmniig  der  Lichtstärke  optischer  Instrumente.  283 

Licht  eintreten  k;inn ,  Anwendung.  Auch  wenn  die  Begrenzung  der 
Strahlenkegel ,  die  der  optische  Apparat  von  den  Objectpunkten  auf- 
nimmt, hinler  (lern  Objeol  iiiif  der  vom  System  alip;ewandlen  Seite 
erfolgt,  etwa  durch  die  Conlouren  der  Lichl(|uelle  sell)st,  oder  durch 
don  Rand  einer  BlendungsölVnung  zwischen  ihr  und  dem  Object,  ist 
stets  eine  Flüche  im  vordei-en  Medium  gegeben  ,  weh-.hc  die  Itolh;  des 
vorhin  betrachteten  Diaphragmas  a  in  allen  Stücken  übernimmt;  ihre 
veränderte  Lage  gegen  Object  und  Linsensystem  hat  ausschliesslich  eine 
andere  Stellung  des  nunmehrigen  Oettnungsbildes  gegen  das  Bild  des 
übjecls  im  hinlern  Medium  zur  Folge. 

Es  kann  jedoch  auch  der  Fall  vorkommen  ,  dass  die  Begrenzung 
der  durch  den  Apparat  hindurch  tretenden  Strahlen  überhaupt  nicht 
im  vordem  Baume,  sondern  entweder  durch  ein  Diaphragma  hinler 
dem  System  oder  durch  ein  solches  zwischen  den  Linsen  erfolgt.  Liegt 
ersteres  vor,  so  übernimmt  offenbar  dieses  Diaphragma  für  das  letzte 
Medium  die  Rolle,  die  vorher  dem  Oeffnungsbilde  zukam;  in  Betreif 
des  Sirahlengangs  vor  dem  System  aber  lässl  sich  duich  eine  nahe  lie- 
gende Betrachtung  erweisen,  dass  das  Bild,  welches  die  brechenden 
Flächen  von  der  hinter  ihnen  befindlichen  Blendung  nach  vorn  entwer- 
fen, mag  es  reell  oder  virtuell  werden,  die  eintretenden  Strahlenbündel 
ebenso  wie  eine  im  vordem  Medium  an  seiner  Stelle  angebrachte  wirk- 
liche Blendung  begrenzt.  —  Befindet  sich  endlich  das  wirksame  Dia- 
phragma zwischen  den  brechenden  Flächen  ,  so  beweist  man  auf 
gleichem  Wege,  dass  für  den  Sirahlengang  im  ersten  Medium  das  reelle 
oder  virtuelle  Bild  maassgebend  ist,  welches  die  vor  der  Blendung 
stehenden  Linsen  nach  dem  vordem  Raum  hin  entwerfen,  und  für  den 
Sirahlenverlauf  im  letzten  Medium  das  von  den  hinler  ihr  stehenden 
nach  hinten  erzeugte  Bild :  auf  diese  beiden  Oeflnungsbilder  —  die 
nach  bekannten  Sätzen  der  Dioptrik  auch  stets  Bilder  von  einander 
sind  —  finden  die  früheren  Schlüsse  ungeänderl  Anwendung. 

So  sind  z.  B  beim  Auge  die  eintretenden  Sirahlenbündel  begrenzt 
nicht  durch  die  wirkliche  Pupillenöfinung  im  Innern,  sondern  vielmehr 
durch  das  von  der  Hornhaut  nach  vorn  entworfene  virtuelle  Bild  der- 
selben, gestallet  und  gelegen  genau  so,  wie  die  Pupille  von  aussen 
gesehen  erscheint.  Dieses  liegt  zwar  gleichfalls  innerhalb  der  Augen- 
medien; für  die  Verwendung  aber,  die  es  finden  soll,  ist  es  in  der 
virtuellen  Fortsetzung  des  äussern  Luftraumes  zu  denken,  so  dass  die 
Strahlen  eines  vor  dem  Auge  siehenden  Objects  gradlinig  bis  zu  ihm 
hin  verlaufen.  —  Andrerseils  finden  die  Strahlenkegel,  welche  die 
Netzhaut  treffen,  ihre  Begrenzung  vermöge  des  —  gleichfalls  virtuellen 
—  Bildes  der  Pupille,   das  von  der  Linse  nach  hinten  entworfen  wird 


284  E.  Abbe, 

und  in  der  virtuellen  Fortsetzung  des  Glaskörpers  enthalten  gedacht 
werden  muss.  <  *■ 

Nachdem  auf  diese  Art  Rechenschaft  gegeben  ist  von  den  geome- 
trischen Bedingungen ,  an  welche  die  Lichtstrahlung  in  dem  Räume 
hinter  dem  optischen  System  geknüpft  ist,  insofern  man  sie  daselbst 
von  den  Fanklon  des  Bildes  der  Lichtquelle  ausgehend  denkt,  bleibt 
zur  allseitigen  Bestimmung  der  fraglichen  Wirkung  nur  noch  die  Leucht- 
kraft festzustellen,  die  diesem  Bilde  in  seinen  verschiedenen  Theilen 
beizulegen  ist.  Solches  kann  leicht  gescholien,  indem  man  das  im  vori- 
gen Abschnitt  aufgestellte  a  llgem  e  i  ne  Theorem  über  die  mittelbare 
Lichtstrahlung  (nner  Lichtquelle  durch  spiegelnde  oder  brechende  Flä- 
chen auf  den  vorliegenden  Fall  anwendet  —  was  ohuf  Weiteres  zulässig 
erscheint,  da  alle  für  ihn  zu  machenden  Voraussetzungen  als  mögliche 
specielle  Fälle  in  denjenigen  Voraussetzungen  enthalten  sind,  aufweiche 
jener-  Satz  sich  gründet.  Dieser  fordert  nun  im  Aligemeinen  die  Ein- 
führung einer  beliebig  gelegenen  und  beliebig  gestalteten  Fläche  im 
Bereich  des  letzten  Mediums ;  er  fordert  sodann  ,  zur  Bestimmung  der 
Wirkung  an  je  eine  m  Orte  im  hintern  Räume ,  dieser  Fläche  eine 
Leuchtkraft  beizulegen,  die  Funkt  für  Funkt  der  an  einer  correspondi- 
i'enden  Stelle  der  Lichtquelle  auftretenden  gleich,  bezüglich  proportional 
ist;  und  er  giebt  für  die  Ermittelung  dieser  correspondirenden  Stellen 
eine  Regel,  die  für  jeden  einzelnen  Ort  ein  eindeutiges,  im  Allgemeinen 
aber  für  jeden  andern  ein  anderes  Resultat  liefern  muss.  Da  nun  für 
die  Wahl  jener  Hülfsfläche,  in  der  die  äquivalente  Vertheilung  dei- 
Leuchtkraft  aufzunehmen  ist,  vollkommen  freie  Hand  bleibt,  so  darf 
man  sie  im  einzelnen  Falle  den  ]>esondein  Umständen  so  anpassen, 
dass  dabei  das  Endergebniss  eine  möglichst  übersichtliche  und  einfache 
Gestalt  gewinnt.  Nachdem  nun  schon,  in  Rücksicht  auf  die  geometri- 
schen Eigenschaften  des  Strahlenlaufs,  das  Bild  der  Lichtquelle  selbst 
zum  Träger  der  Lichtwirkung  im  letzten  Medium  gemacht  worden .  ist 
ihm  selbstverständlich  auch  die  Rolle  jener  Hülfsfläche  für  die  weitere 
Betrachtung  zuertheilt.  In  der  That  wird  aber  auch  durch  diese  Dispo- 
sition für  die  beabsichtigten  photometrischen  Bestimmungen  die  denk- 
bar einfachste  Form  gewonnen. 

Denkt  man  nämlich  —  um  die  in  Abschnitt  II  gegebene  Con- 
struction  jetzt  anzuwenden  -  von  irgend  einer  Stelle  des  letzten 
,  Mediums  Richtungslinien  nach  den  verschiedenen  Punkten  des  Bildes 
der  Lichtquelle  gezogen  und  nach  den  Gesetzen  für  die  Brechung  eines 
Lichtstrahls  durch  das  ganze  System  hindurch  bis  zu  dieser  hin  fort- 
gesetzt, so  muss  jetzt  jede  solche  Richtungslinie,  von  wo  aus  sie 
auch  gezogen  sei,    wofern  sie  überhaupt  zur  Lichtquelle  gelangt, 


lieber  die  Besliminiiiig'  der  Lichtstarke  optisclier  Instrumente.  285 

sie  nothwendig  in  demjenigen  Punkt  erreichen ,  durch  dessen  Bild  im 
letzten  Medium  sie  hindurch  geht  —  wie  aus  dem  Begriffe  des  optischen 
Bildes  ohne  Weiteres  einleuchti^l.  Im  Hinblick  auf  die  allgemeinen  Be- 
stimmungen des  vorigen  Abschnittes  folgt  hiet  aus  aber,  dass  jede  Stelle 
der  Rildfliiche,  von  welcher  überhaupt  Strahlen  nach  irgend  einem  Orte 
des  letzten  Mediums  gelangen,  für  diesen  Ort  eine  Leuchtkraft  gewin- 
nen muss,  die  derjenigen  im  correspondirenden  Objectpunkt  nach 
Maassgabe  des  Quadrats  des  relativen  Brechungsexponenten  propor- 
tional ist;  oder  in  andern  Worten:  die  Lichtquelle  überträgt  die  Leucht- 
kraft ihrer  einzelnen  Theile  auf  die  entsprechenden  Theile  des  von  ihr 
entworfenen  Bildes ,  Punkt  für  Punkt  modificirt  nach  Verhältniss  des 
relativen  Brechungsexponenten  vom  ersten  zum  letzten  Medium. 

Bei  dieser  Form  der  Bestimmung  konnnl  nun  kein  Element  mehr 
in  Betracht,  welches  auf  den  Ort  Bezug  nähme,  für  welchen  die  Wir- 
kung gesucht  wird,  ausser  für  die  Entscheidung  der  Alternative,  ob 
überhaupt  die  durch  einen  Bildj)unkt  gezogene  Richtungslinie  zur  Licht- 
quelle gelangt  oder ,  vermöge  der  Begrenzung  des  Strahlengangs ,  am 
Durchtritt  durch  den  optischen  Apparat  verhindert  wird ,  d.  h.  ob  für 
den  angenommenen  Ort  eine  Stelle  des  Bildes  überhaupt  zur  Mitwir- 
kung gelangt  oder  als  ganz  unwirksam  erscheint.  Demnach  ergiebt 
sich  für  das  Bild  der  Lichtquelle  eine  Vertheilung  der  Leuchtkraft,  die 
für  den  ganzen  Bereich  des  letzten  Mediums  allgemeingiltig  ist;  mit  der 
Einschränkung  jedoch,  dass  für  jeden  andern  Ort  darin  im  Allgemeinen 
ein  anderer  Theil  der  Bildüäche  wirksam  wird,  ein  anderer  unwirk- 
sam bleibt. 

Wie  sich  für  die  einzelnen  Orte  im  hinteren  Räume  die  Scheidung 
des  Bildes  in  einen  wirksamen  und  einen  unwirksamen  Theil  gestalte, 
kann  endlich  ebenfalls  leicht  bestimmt  werden  ,  indem  man  auf  die 
Bedeutung  des  Oeffnungsbildes,  wie  sie  vorher  dargelegt  ist,  zurück- 
geht. Das  dort  Gesagte,  zusammengehalten  mit  dem  zuletzt  aufgestell- 
ten Salz,  liefert  das  kurze  und  übersichtliche  Endergebniss : 

Die  g  e  s  a  m  m  t  e  S  t  r  ji  h  1  e  n  w  i  r  k  u  n  g ,  welche  e  i  n  b  e  1  i  e  b  i- 
g e I'  optischer  Apparat  im  Bereich  des  letzten  Mediums 
vermittelt,  ist  nach  allen  Beziehungen  vollständig  be- 
stimmt, indem  man  dem  Bilde  des  Objects  oder  der 
Lichtquelle  Punkt  für  Punkt  die  Leuchtkraft  der  corre- 
spondirenden Stellen  des  Olijects  selbst  (oder  eine  ihr 
p r «1  p o r t i o n a I e ]  beilegt,  und  die  von»  Bilde  a u s g e h e n tJ e 
Slra  hien Verbreitung  durch  das  Bild  der  Oeffnung  so  be- 
grenzt denkt,  wie  die  Strahlung  einer  s  e  I  b  s  1 1  e  u  e  h  l  e  n  d  e  n 
Fläche  durch  ein  entsprechendes  Diaphragma. 

Bd.  VI.    2.  äü 


286 


E.  Abbe, 


Darauf  hin  ist  unmittelbar  zu  entscheiden,  welcher  Abschnitt  des 
Bildes  für  irgend  einen  gegebenen  Ort  wirksam  wird,  indem  man  den 
Theil  desselben  abgrenzt,  von  welchem  aus  die  Richtungslinien  (Strah- 
len) nach  dem  fraglichen  Orte  in  geradliniger  Fortsetzung  irgend  einmal 
durch  das  Bild  der  freien  Oeffnung  hindurch  treten.  Dies  ist,  wie  leicht 
einzusehen,  immer  derjenige  und  nur  derjenige  Theil  des  Objectbildes, 
welcher  sich  von  jenem  Orte  aus  auf  das  Oeflnungsbild  projicirt,  oder 
auf  welchen  sich  das  Oeflnungsbild  projicirt.  —  Stellt  z.  B.  in  Fig.  5 
hc  das  Bild  der  Lichtquelle  und  ßy  das  im  nämlichen  Medium  entwor- 


Flg.  5. 

fene  Bild  der  Oeflfnung  dar,  so  giebt  für  den  Ort  0  der  Strahl  Oßr  die 
Grenze  des  wirksamen  Theils;  der  Abschnitt  er  sendet  von  allen  seinen 
Punkten  Strahleti  nach  0,  der  Abschnitt  rh  von  Jceinem  seiner  Punkte; 
er  ist  daher  für  die  in  0  erfolgende  Beleuchtungswirkung  nicht  vor- 
handen, oder  es  ist  ihm  eine  Leuchtkraft  =  Null  zuzuschreiben.  Ebenso 
findet  sich  der  wirksame  Theil  des  Bildes  für  die  Stelle  0'  zwischen  den 
Punkten  s  und  t,  für  die  Stelle  0"  zwischen  u  und  v  u.  s.  w. 

Hinsichtlich  der  Lage  beider  Bilder  gegeneinander  und  gegen  den 
Ort  der  Wirkung  können  vielfache  Modificalionen  eintreten.  Für  den 
Theil  des  letzten  Mediums,  von  welchem  aus  das  Bild  der  Oeffnung  vor 
dem  Objectbild  steht,  wie  in  Fig.  5  für  den  Abschnitt  auf  der  Seite 
des  Punktes  0 ,  wirkt  jener  in  allen  Stücken  wie  ein  durchsichtiges 
Fenster  in  einer  uödurchsichtigen  Wand  gegenüber  einer  hinter  dieser 
befindlichen  Lichtquelle.  Aber  auch  wenn  die  Lagenverhältnisse  andere 
sind  und  dieser  Vergleich  keine  wörtliche  Anwendung  findet,  die  Rich- 
tungslinien vielmehr  die  Oeffnung  erst  treffen,  indem  man  sie  rück- 
wärts über  das  Bild  hinaus  oder  vorwärts  über  den  Ort  der  Wirkung 


Ueber  die  Bestiramiiim  ilor  Ijclitstäike  o|ilisc1i('r  Inslrumontc  287 

hinaus  verliiiii^orl,  immer  bleibt  der  Zusammenhang  der  Sache  nach 
derselbe.  In  allen  Fällen  kann  —  wie  in  der  Fissur  durch  die  ungleiche 
ScIiralTnung  angedeutet  ist  —  der  ganze  Ilaum  im  Bereiche  des  letzten 
Mediums  in  drei  von  einander  getrennte  Abschnitte  zerfällt  werden, 
vermöge  einer  Construclion  ganz  gleichartig  derjenigen ,  durch  welche 
man  Kernschatten,  Halbschatten  und  Lichlraum  eines  leuchtenden  Kör- 
pers lindet :  erstens  in  einen  solchen ,  in  welchem  alle  Punkte  des 
Objectbildes  strahlend  wirken,  —  wozu  auf  alle  Fälle  die  Fläche  des 
üelVnungsbildes  selbst  gehört ;  zweitens  in  einen  solchen ,  für  welchen 
ein  Theil  leuchtet,  ein  anderer  unwirksam  ist;  endlich  in  einen  dritten, 
für  welchen  alle  Wirkung  ausgeschlossen,  d.  h.  das  ganze  Bild  der 
Lichtquelle  durch  die  undurchsichtige  Wand  des  Diaphragmas  ßy  ver- 
deckt ist. 

Durch  die  im  Vorstehenden  entwickelten  Sätze  ist  die  photorae- 
trische  Wirkung  einer  beliebigen  optischen  Combination  allgemeingiltig 
zurückgeführt  auf  die  directe  Strahlung  einer  innerhalb  des  letzten 
Mediums  auftretenden  —  secundären  —  Lichtquelle,  deren  Leuchtkraft 
in  allen  Theilen  vollkommen  bestimmt  wird  allein  durch  die  Leucht- 
kraft der  primären  Lichtquelle  und  den  relativen  Brechungsexponenten 
zwischen  dem  ersten  und  dem  letzten  Medium.  Wie  sich  daher  jene 
Wirkung  auch  äussern  mag,  unter  allen  Umständen  kann  sie  beurtheilt 
werden  nach  den  bekannten  und  unter  Abschnitt  I  zusammengestellten 
Gesetzen  für  die  directe  Strahlung  eines  selbstleuchtenden  Körpers. 
Nach  diesen  lässt  sich  —  unter  Zuhilfenahme  der  gleichfalls  gegebenen 
Regeln  für  die  geometrische  Begrenzung  —  die  Beleuchtungsstärke  be- 
stimmen ,  welche  das  optische  Bild  an  irgend  einer  Stelle  des  Raumes 
hervorbringt ,  ohne  dass  es  nölhig  wäre ,  irgend  ein  neues  Gesetz  für 
diesen  Fall  aufzustellen.  Namentlich  reicht  diese  Zurückführung  auch 
aus,  um  diejenigen  Effecte  vollständig  zu  beherrschen,  die  ein  optischer 
Apparat  darbietet,  insofern  er  als  Hilfsmittel  für  das  künstliche  Sehen 
Verwendung  findet,  da  sie  auf  Grund  derselben  ohne  Weiteres  mit  der 
entsprechenden  Wirkung  eines  leuchtenden  Gegenstandes  beim  natür- 
lichen Sehen  verglichen  werden  können  —  wie  im  Folgenden  noch 
näher  erörtert  wird. 

Nur  für  einen  singulären  Fall  bedarf  die  gegebene  Entwickelung 
noch  einer  Ergänzung.  Wenn  nämlich  die  Lichtwirkung  gesucht  wird 
für  einen  Punkt,  der  in  das  Bild  der  Lichl(juelle  selbst  fällt,  —  wobei 
natürlich,  sofern  physisch  realisirbare  Verhällnisse  ins  Auge  gefasst  wer- 
den, dieses  Bild  ein  reelles  sein  muss.  Für  diesen  Fall  —  der  bei  jeder 
Sanunellinse  für  den  Ort  ihies  Focus ,  beim  Auge,  Bildmikroskop  etc. 
eintritt,  und  in  Bezug  auf  diese  Apparate  vorzugsweise  Interesse 
"  20* 


'288 


E.  Abbe, 


gewinnt  —  versagt  die  aufgestellte  Regel  zur  Bestimmung  des  wirk- 
samen Theils  des  Bildes  ihren  Dienst:  lässt  man  den  Ort  der  Wirkung 
(etwa  den  Punkt  0  in  Fig.  5)  mit  irgend  einer  Stelle  des  Objectbildes 
selbst  zusammenfallen,  so  wird  der  Theil  des  letztern,  den  die  Pro- 
jection  des  Oeffnungsbildes  deckt  oder  dessen  Projection  seinerseits  das 
Oeffnungsbild  bedeckt,  absolut  Null,  während  gleichzeitig  der  Abstand 
der  als  Lichtquelle  geltenden  Fläche  vom  Orte  der  Wirkung  und  damit 
überhaupt  die  Möglichkeit  einer  von  ihr  ausgehenden  Beleuchtung  auf- 
gehoben ist.  Die  Unbesliuimtheit  des  Resultats,  die  in  diesem  Falle 
scheinbar  vorliegt,  hebt  sich  indess  sogleich,  wenn  man  denselben  als 
Grenzfall  einer  immer  weiter  fortgesetzten  Annäherung  an  die  Bild- 
lläche  auffasst  und  demgemäss  die  Wirkung  beurtheilt. 

Stelle  bc  (Fig.  6)  wiederum  das  Bild  der  Lichtquelle  und  ßy  das 
der  Oeft'nung  vor.  Betrachtet  man  zunächst  einen  Punkt  0  in  beliebiger 

Entfernung  von  6c,  für 
welchen ,  nach  der  oben 
gegebenen  Regel  bestimmt, 
der  wirksame  Theil  der 
Bildfläche  der  Raum  su 
sein  mag,  so  kann  die  von 
ihm  in  0  ausgeübte  Licht- 
wirkung ganz  allgemein 
auch  auf  eine  Vertheilung 
von  Leuchtkraft  in  der 
Fläche  des  Oeffnungsbil- 
des zurückgeführt  werden. 
Denn  nach  einem  in  Abschnitt  I  namhaft  gemachten  Satz  sind  die  Be- 
leuchtungseffecte  zweier  leuchtenden  Flächen  an  einem  bestimmten 
Punkt  äquivalent,  wenn  von  hier  aus  die  eine  sich  so  auf  die  an- 
dere projicirt,  dass  Theil  für  Theil  Stellen  gleicher  Leuchtkraft  zu- 
sammenfallen. Daher  braucht  man  nur  die  Leuchtkraft  des  Bildes  bc 
in  irgend  einem  Punkte  des  Stückes  su  auf  den  entsprechenden  Punkt 
rdes  Oeffnungsbildes  übertragen  zu  denken,  um  von  diesem  aus  in  0 
die  nämliche  Wirkung  zu  erhalten.  Dies  gilt  allgemein ,  welches  auch 
die  Lage  der  beiden  Bilder  gegen  einander  und  gegen  den  Ort  der  be- 
trachteten Wirkung  sein  mag.  Wenn  man  hiermit  zusammenhält  die 
Bestimmung,  nach  welcher  die  Leuchtkraft  des  Bildes  aus  der  der  Licht- 
quelle selbst  abgeleitet  wird,  so  rechtfertigt  sich  leicht  der  folgende 
Ausdruck  für  das  Gesetz  der  Lichtwirkung ,  durch  einen  beliebigen 
optischen  Apparat :  es  ist  die  gesammte  Strahlung  an  irgend 
einem  Orte  des  letzten  Mediums    in  allen  Stücken    iden- 


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Fis.  6. 


Heber  die  Besliinmuiig  der  I.iclilsliirkc  oittisrlicr  Insliiiint'iilt'.  289 

lisih  mit  ci  ner  Strahlung  aus  der  Fläche  des  Oeffnung|s- 
hildos,  wofern  man  dieser  jedesmal  Punkt  für  Punkt 
eine  Leuchtkraft  beilegt,  gleich  oder  proportional  der- 
I  jenigen  der  ursprünglichen  Lichtquelle  in  dem  Tlieilc, 
dessen  Bild  sich  von  jenem  Orte  aus  auf  das  Hihi  dcv 
0  e  f  f  n  u  n  g  p  r  o  j  i  c  i  r  l. 

Diese  Form  des  Gesetzes  ist  /A\ar  im  Allgemeinen  ,  gegenüber  der 
i  zuerst  entwickelten,  für  die  llebei-siclU  dei-  givsammten  W'irkinigen  \\v- 
f  niger  IxMjuem;  dagegen  ist  sie  die  all(>in  anwendbare  und  zii^lc^ielt 
auch  die  einfachste ,  wenn  es  sich  um  den  vorhin  namhaft  gcinaclilen 
besondern  Fall  handeil.  Denn  in  dem  eben  aufgeslelllcn  Tli('or<Hn  hin- 
dert Nichts,  den  Ort  der  zu  b(>slimmenden  Wirkung  beliebig  nahe  an 
das  Objectbild  heranrücken  und  ihn  zuletzt  in  dieses  selbst  fallen  zu 
lassen.  Je  näher  —  s.  Fig.  6  —  der  Punkt  0'  an  bc  liegt,  deslo  kleiner 
wird  der  Theil  v  w ,  desto  kleiner  also  auch  der  correspondirende  Theil 
der  Lichtquelle  selbst,  von  welchem  die  Fläche  ßy  ihie  Leuchtkraft  ent- 
lehnt, deslo  tnehr  nähert  sich  den)nach  die  Leuchtkraft  in  ihren  ver- 
schiedenen TheihMi  demselben  Werth;  rückt  0'  schliesslich  ganz  in  das 
Bild  6c,  so  rcducirl  sich  der  Raum  vw  auf  einen  einzigen  Punkt,  des- 
sen Lcuchlkraft  folglich  für  alle  Theile  von  ßy  zugleich  maassgebend 
wird.  Man  erhall  daher  für  den  ins  Auge  gefasslen  Fall  folgenden  ein- 
fachen Satz: 

Die  Lichtwirkung,  welche  irgend  ein  optischer  Appa- 
rat in  einem  beliebigen  P  unkte  des  Bildes  einer  gegebe- 
ne n  Lichtquelle  vermittelt,  ist  stets  äquivalent  einer 
Lichtsti'ahlung  aus  der  Fläche  des  Oeffnungsb  il  des,  wenn 
dieser  in  a 1 1  c n  T h e i I e n  d  i e  L e u c h l k r a f t  d e s  z  u g e h ö i- i  g e n 
0 b  j  e c tp  u  n k  l e s  beigelegt  w  i  i' d  —  oder  eine  d  i  (> s e  r  im  V e r- 
hältniss  des  Quadrats  des  Brechungsexponenlen  pio- 
porlionale,  fa  I  Is  das  letz  le  Medi  um  vom  ersten  verschie- 
den ist. 

Mit  diesei"  Ergänzung  vermag  die  aufgestellte  Theorie  über  alle 
Fragen  Recheiisehaft  zu  geben ,  die  auf  dem  Boden  der  ihr  zu  Grunde 
liegenden  Voraussetzungen  sich  darbieten  können.  Uebrigens  erkennt 
man ,  dass  alle  wesentlichen  Beslandlheile  der  Darstellung  in  diesem 
Abschnilte,  wenigstens  als  mehr  oder  minder  zulrelfende  Näherungen, 
oder  mit  leicht  zu  überschauenden  Coricclionen  in  Geltung  bleiben  auch 
dann  noch,  wenn  die  eine  oder  die  andere  jener  Voraussetzungen  im 
einzelnen  Falle  nicht  vollständig  erfüllt  ist. 

So  wird  namentlich  die  von  Anfang  an  feslgehallene  Annahme  rein 
spiegelnder  oder  rein  brechender  Flächen  ,    die  natürlich  niemals  der 


290  E.  Abbe, 

Wirklichkeit  genau  entsprechen  kann ,  nur  solche  Modificationen  in  den 
schHesslichen  Ergebnissen  herbeiführen,  die  den  allgemeinen  Zusam- 
menhang der  einzelnen  Bestimmungen  gar  nicht  mehr  berühren  und 
auch  in  ihrem  Einfluss  auf  das  Quantitative  der  Wirkung  im  concreten 
Fall  meistens  leicht  abzuschätzen  sind.  Bei  denjenigen  Formen  opti- 
scher Apparate  wenigstens,  an  welche  sich  das  Interesse  dieser  Unter- 
suchung vorzugsweise  knüpft,  sind  die  vernachlässigten  Nebenwir- 
kungen, die  Beflexionen  an  den  brechenden,  die  Absorption  an  den 
spiegelnden  Flächen  und  im  Innern  der  durchsichtigen  Medien,  —  we- 
nige exceptionelle  Fälle  abgerechnet  —  erstens  sehr  gering  und  zwei- 
tens für  die  ganze  Ausdehnung  je  einer  Fläche  als  nahezu  constajit 
anzusehen.  Ihr  Einfluss  auf  das  Endergcbniss  reducirt  sich  daher  auf 
eine  an  allen  Stelleu  nahezu  gleichförmige  Verminderung  der  Leucht- 
kraft der  im  letzten  Baume  wirksamen  Lichtquelle;  man  trägt  ihr 
bequem  durch  Einführung  eines  Verlustfactors  Bechnung,  den  man 
in  jedem  concreten  Fall  aus  der  Zahl  und  Beschaffenheit  der  betref- 
fenden Theile  nach  bekannten  Verfahrungsweisen  numerisch  bestim- 
men kann. 

Was  ferner  die  sogenannte  chromatische  und  sphärische  Ab- 
weichung anlangt,  so  stellt  crstere  zunächst  kein  Hinderniss  für  die 
Anwendung  der  entwickelten  Sätze  dar;  denn  diese  kann  auf  die 
verschiedenen  farbigen  Bestandtheilc  des  Lichts  einzeln  erfolgen  und 
liefert  alsdann  für  jeden  ein  Resultat  der  gleichen  Art,  nur  dass  die 
geometrischen  Bestimraungsstücke  darin ,  Grösse  und  Lage  der  maass- 
gebenden  Bilder,  von  einer  Farbe  zur  andern  um  ein  weniges  variiren. 
Die  Gesammtwirkung  lässt  sich  daher  bestimmen  durch  Summation 
der  Strahleneffecte ,  welche  von  den  verschiedenen  farbigen  Bildern, 
jedes  für  sich  genommen,  ausgehen.  Das  Auftreten  sphärischer  Aber- 
rationen, und  zwar  solcher,  welche  den  homocentrischen  Verlauf  der 
Strahlen  beeinträchtigen ,  hebt  allerdings  den  Begriff  des  optischen 
Bildes  und  damit  auch  die  darauf  gegründeten  Schlüsse  streng  genom- 
men auf.  Daher  erlauben  die  Ergebnisse  der  vorstehenden  Unter- 
suchung ohne  weiteres  die  Anwendung  nur  in  dem  Falle,  dass  die 
Oeffnungswinkel  der  wirkenden  Strahlenkegel  verschwindend  klein 
bleiben ,  oder  es  muss ,  wenn  sie  eine  endliche  Grösse  besitzen ,  aus- 
drücklich die  Annahme  gemacht  werden,  dass  das  optische  System 
wenigstens  für  die  Punkte  der  beiden  maassgebenden  Bilder  vollkom- 
men aberrationsfrei  sei.  Wie  man  indess,  auch  wenn  diese  Voraus- 
setzung nicht  erfüllt  ist,  bei  der  Betrachtung  der  rein  geometrischen 
Beziehungen  den  einfachen  Begriff  des  optischen  Bildes  dennoch  fest- 
hält, indem  man  die  Abweichungen  vom  Sirahlengang  durch  Einfüh- 


ücber  die  Besliiniiniiiji  der  Liclilsirirkr  optischer  iiistriiiiieiiti'.  2^1 

rung  kleiner  Zerstreuungskreise  für  die  Bildpunkle  in  Anschlag  bringt, 
so  Inssen  sich  in  diesem  Falle  auch  die  pholonietrischen  Gesetze  in 
der  entwickelten  einfachen  Form  aufrecht  erhalten,  wofern  iiei  ihrer 
Anwendung  im  Einzelnen  auf  diese  Zerstreuungskreis<^  in  leicht 
ersichtlicher  Art  Bedacht  genommen  wird.  —  Aberrationen  (Midlich, 
welche  sich  in  anderer  Art  äussern,  etwa  in  einer  Krümmung  der 
Bilder  oder  in  ungleichförmiger  Vergrösserung ,  sind  für  die  in  Rede 
stehenden  Fragen  völlig  gleichgiltig,  da  über  die  Gestalt  des  Bildes 
keinerlei  Voraussetzung  gemacht  worden  ist. 

(Schluss  folgt.) 


lieber  Schwefelsäurechloride. 

Von 

Dr.  A.  Michaelis. 


In  einer  früheren  Abhandlung  habe  ich  gezeigt,  dass  sich  das 
Chlorid  SO2CI2  auf  keine  Weise  aus  einer  Schwefelsäureverbindung 
darstellen  lässt.  Beim  Vergleichen  der  Literatur  fand  ich  nun  in  einer 
Abhandlung  von  Carils  •),  »Ueber  die  Chloride  des  Schwefels«,  in  einer 
Anmerkung  die  Angabe,  dass  sich  diese  Verbindung  durch  Einwirkung 
von  Phosphorsuperchlorid  auf  Bleisulfat  bilden  solle.  Da  diese  Einwir- 
kung, wenn  sie  wirklich  so  glatt  von  statten  ginge  wie  dies  Carius 
angiebt,  eine  sehr  bequeme  Darstellungsmethode  des  Sulfurylchlorids 
sein  würde,  so  säumte  ich  nicht  sie  zu  prüfen. 

Caruis  giebt  nicht  an  in  welchem  Verhältniss  er  Phosphorsuper- 
cblorid  und  Blcisulfat  anwandte.  Indem  ich  voraussetzte,  dass  die 
Einwirkung  nach  der  Gleichung 

SOjPb  +  2PCI5  =  SO2CI2  4-2POCI3  -4-  PbCla 
vor  sich  ginge,  brachte  ich  ein  inniges  Gemenge  von  70  Grm.  PCI5  und 
58  Grm.  S04Pb  (also  ein  Ueberschuss  von  5  Grm.  dieses  letzleren  Kör- 
pers) in  einen  Kolben,  der  mit  einem  umgekehrten  LFEBia'schen  Kühler 
verbunden  war  und  erhitzte  im  Wasserbade.  Da  sich  nach  kurzer 
Zeit  am  oberen  Ende  des  Kühlers  ein  starker  Geruch  nach  Chlor  und 
schwefliger  Säure  bemerkbar  machte,  so  verband  ich  denselben  mit 
einem  Glasrohr  und  leitete  die  sich  entwicklenden  Gase  in  ein  etwas 
W^asser  enthaltendes  Gefäss.  Hier  konnte  die  schweflige  Säure,  zu 
Schwefelsäuse  oxydirt,  nachgewiesen  werden  und  das  Chlor  gab  sich 
durch  Geruch  und  Farbe  zu  erkennen.  Nach  fünfstündigem  Erhitzen 
hatte  die  Gasentwicklung  aufgehört  und  die  vorher  trockne  Masse  war 
grösstentheils   flüssig   geworden.     Diese  Flüssigkeit   Hess   sich   durch 


1)  Ann.  d.  Chem.  u.  Pharm.  CVl.  p.  307. 


lieber  SchwelelsiiHrecliloride.  1293 

wiederholte  Destillation  in  drei  Theile  zerlegen.  Der  erste,  welcher  nur 
eine  sehr  geringe  Menge  darstellte,  siedelte  von  SO — 95".  Mit  Wasser 
zersetzt  entwickelte  derselbe  eine  grosse  Menge  schweflige  Säure,  wah- 
rend die  Lösung  nur  eine  geringe  Reaction  auf  Schwefelsäure  zeigte. 
Dieser  Theil  bestand  also  hauptsächlich  aus  Thionylchlorür,  welches 
höchstens  Spuren  von  Sulphur^lchlorid  enthielt. 

Der  zweite  Theil,  dessen  Siedepunkt  bei  I  \  0"  lag  und  fast  die  ganze 
Menge  der  Flüssigkeit  ausmachte,  bestand  aus  Phosphoroxychlorid. 

Der  dritte  Theil  endlich ,  welcher  noch  weniger  wie  der  niedrigst 
siedende  betrug  und  von  145" — 150^  siedele,  bildete  an  der  Luft  weisse 
Nebel  und  zersetzte  sich  mit  Wasser  ganz  ruhig.  Die  Flüssigkeit  ent- 
hielt dann  viel  Schwefelsäure.  Dies  war  also  jedenfalls  Pyrosulfuryl- 
chlorid  ') . 

Hieraus  folgt  zunächst,  dass  die  Angabe  von  Carius,  die  Einwir- 
kung von  Phosphorsuperchlorid  auf  Bleisulfat  sei  eine  bequeme  Dar- 
stellungswoise  des  Sulphurchlorids,  ganz  falsch  ist;  was  derselbe  für 
Sulphurylchlorid  gehalten  hat,  war  nur  Thionvlchlorür  mit  höchstens 
Spuren  von  Sulphurylchlorid  vermischt.  Die  wi?kliche  Einv^irkung 
verläuft  im  Ganzen  vielmehr  so,  dass  statt  des  Sulphurylchlorids  dessen 
Zersetzungsproducte  Chlor  und  schweflige  Säure  auftreten : 

SO,Pb  -f  ilPCI,  =  SO.,  -f  Cl,  -h  2P0CI:.  +  PbCl,. 

Die  Bildung  des  Pyrosulfurylchlorids  macht  es  wahrscheinlich,  dass 
diese  Zersetzung  in  zwei  Phasen  verläuft,  indem  sich  zuerst  Pyrosul- 
phurylchlorid  nach  der  Gleichung : 

2S04Pb  -f-  3PCI5  =  S2O5CI2  -f-  3P0CI;,  -\-  iPbCl.^ 
bildet,  dies  wird  aber,  wie  ich  früher  gezeigt  habe'-),  durch  Phosphor- 
superchlorid in  Chlor  und  schweflige  Säure  zersetzt  nach  der  Gleichung: 
SiO.^CI-i  -f-  PCI,-,  =  'ISO-i  4-  ^'Cl  -h  PCljO. 

Das  Thionylchlorür  ist  offenbar  ein  secundäres  Product,  entstanden 
durch  die  Einwirkung  der  sich  entwickelnden  schwefligen  Säure  auf 
Phosphorsuperchlorid. 

Da  es  mir  so  auf  keine  Weise  gelang  das  Sulphurylchlorid  darzu- 
stellen ,  so  war  ich  daran  die  Existenz  dieses  Körpers  überhaupt  zu 
bezweifeln.  Als  einzig  mögliche  Art  seiner  Darstellung  blieb  noch  die 
von  Regnault^)  übrig,  nämlich  schweflige  Säure  und  Chlor  im  Sonnen- 
licht auf  einander  einwirken  zu  lassen.  Regnault  giebt  als  Siedepunkt 
des  von  ihm  erhaltenen  Körpers  77"  an;   da  nun  der  Siedepunkt  des 

<)  Vergl.  d.  Zeitschr.  Bd.  VI.  p.  236. 

2)  Ebend. 

3)  Ann.  de  chim.  et  de  pliys.  (3)  T.  LXXI.  p.  445., 


^^4  Dr.  A.  Michaelis, 

damals  noch  unJiekannlen  Thionylchlorürs  78o  ist,  so  konnte  vielleicht 
eine  Verwechselung  dieser  beiden  Körper  stattgefunden  haben,  mit  wel- 
cher Voraussetzung  freilich  nicht  die  analytischen  Resultate  Regnaült's 
und  das  von  ihm  angegebene  Verhalten  dieses  Körpers  übereinstimmen 
Thionylchlorür  hätte  sich  unter  Freiwerden  von  Sauerstoff  aus  schwef- 
liger Säure  und  Chlor  bilden  können; 

SO2  -f  CI.2  =  SOCI2  -h  0. 
Um  hierüber  völlige  Sicherheit  zu  erhalten ,    wiederholte  ich  die 
Versuche  von  Regnault,  und  zwar  im  Monat  Juli,  da  die  Sonne  nach 
Rkgnault  um  diese  Zeit  am  wirksamsten  sein  soll. 

Ein  erster  Versuch  das  Sulphurylchlorid  ähnlich  dem  Carbonyl- 
chlorid  durch  Hindurchleiten  von  schwefliger  Säure  und  Chlor  durch 
mehrere  dreihalsige  Flaschen  im  directen  Sonnenlicht  darzustellen, 
schlug  vollständig  fehl;  es  bildeten  sich  allerdings  nach  6stündigem 
Hindurchleiten  der  Gase  einige  Tropfen  Flüssigkeit,  allein  viel  zu  wenig 
um  sie  sammlen  zu  können. 

Ich  füllte  deshalb  5  grosse  Kolben  mit  den  nach  ungefähr  gleichem 
Volum  gemischten  Gasen.  Diese  Kolben  waren  mit  zwei  Glasröhren, 
eine  tief  in  den  Kolben  hinabgehende,  welche  zum  Einleiten  des  Gases 
diente,  und  eine  kurze,  welche  mit  der  längeren  Röhre  des  zweiten 
Kolben  verbunden  war,  versehen.  Der  Kork,  durch  welchen  diese 
Röhren  hindurchgingen,  war  mit  Siegellack  luftdicht  überzogen.  Nach- 
dem durch  mehrstündiges  Einleiten  des  sorgfältig  getrockneten  Gas- 
gemisches alle  Kolben  eine  grüne  Farbe  angenommen  hatten ,  wurden 
dieselben  mit  Kautschukröhren ,  welche  mit  einem  Stück  Glasstab  an 
einem  Ende  verstopft  waren,  geschlossen. 

Dem  directen  Sonnenlicht  ausgesetzt,  zeigten  sich  schon  nach  we- 
nigen Stunden  kleine  Tropfen,  welche  die  Wände  der  Kolben  bedeckten 
und  nach  einigen  Tagen  sich  am  Boden  zu  einer  leicht  beweglichen 
Flüssigkeit  sammelten.  Nach  4  Tagen  war  die  grüne  Farbe  der  Kolben 
verschwunden ,  worauf  dieselben  zum  zweiten  Mal  mit  den  Gasen  ge- 
füllt wurden.  Dabei  muss  man  jedoch  die  letzten  Kolben  kühlen ,  da 
sonst  von  dem  Gasstrom  ein  Theil  des  leicht  flüchtigen  Productes'mit 
fortgerissen  werden  kann. 

Die  schliesslich  erhaltene  Flüssigkeit,  welche,  nachdem  sie  durch 
mehrfache  Destillation  von  den  absorbirlen  Gasen  befreit,  völlig  farblos 
war,  zersetzt  sich  mit  Wasser  in  Schwefelsäure  und  Salzsäure,  ohne 
Entwickelung  von  schwefliger  Säure.  Ich  hatte  jetzt  wirklich  die  Ver- 
bindung SO2CI2,  das  Sulphurylchlorid,  in  Händen.  Dieselbe  zeigte  alle 
von  Reü\ault  angegebenen  Eigenschaften,  zu  welchen  ich  noch  folgende 
hinzufügen  kann. 


lieber  Sdiwerelsüurecliloride.  295 

Mit  woni:^  Wasser  bildet  das  Sulphurylchlorid  Siilphurylhydroxyl- 
chlorid  unl(>r  I'.ntwickeluiig  von  Sal/säurc 

SO.^CI.2  +  II.2O  =  SO.2  (Oll)  Gl  -f  HCl. 

Dicsell)o  Verbindung  bildet  sich  durch  Krliilzen  von  Dihydroxyl- 
Schwefelsäure  mit  Sulphurylchlorid 

SOt  II2  +  SO2  CI.2  ==  280.  (011)  Cl. 

Diese  beiden  Reactionen  dürften  ein  genügender  Beweis  dafür 
sein,  dass  die  V(>rl)indung  SO;)  HCl  wirklich  als  Sulphuryl  hydrox  yl- 
chlorid  aufzufassen  ist.  Da  bei  der  Darstellung  des  Sulphurylchlorids 
etwas  Feuchtigkeit  nicht  zu  vermeiden  ist,  so  beobachtet  man  bei  der 
Darstellung  des  Sulphurylchlorids  auch  immer  die  Bildung  von  einer 
geringen  Menge  Sulphurylhydroxylchlorid. 

Phosphorsuperchlorid  wirkt  schon  bei  gewöhnlicher  Temperatur 
allmählich  auf  Sulphurylchlorid  ein,  unter  Entwickelung  von  Chlor  und 
Bildung  von  Thionylchlorür  neben  Phosphoroxychlorid. 

SO.2CI.2  +  PCI5  =  S0C12  +  PCI3O  +  2G1. 

Hierbei  bildet  sich  wohl  zunächst  SOCl, ,  welche  Verbindung 
dann  aber  sogleich  in  Chlor  und  Thionylchlorür  zerfällt. 

Jena,   Univ. -Laboratorium,  August  1S70. 


lieber  die  Eiuwirkiiu^  von  Phospliorbroniclilorid  auf 
8cImefli|a;säiire-Aiiliydrid. 


•Von 

Dr.  A.  Michaelis. 


Nachdem  Gelther  und  ich  in  einer  früheren  Abhandlung  die  Ein- 
wirkung von  PCIjBri  auf  Wasser  und  Säurehydrale  untersucht  hatten, 
schien  es  mir  nicht  uninteressant  zu  sein,  auch  die  Wirkungsweise  dieses 
Körpers  auf  Säureanhydridc  /u  studiren.  Ich  wählte  hierzu  das  Schwe- 
felsäurennhydrid ,  da  weder  Phosphorchloriir  noch  Brom  als  solche  auf 
dieses  einwirken.  Es  musste  sich  hierbei  zeigen,  ob  das  Gemisch  von 
PCI3  und  Br2  als  PCI^Br^  oder  vielleicht  als  Gemenge  von  Phosphor- 
superchlorid und  Phosphorsuperbromid  wirkte,  da 
ÖPClgBr.  =  3PCI5  -I-  SPBr^ 
ist.  Es  musste  je  nachdem  also  entweder  Thionylbromür  und  Phos- 
phoroxychlorid  oder  Thionylbromür,  Thionylchlorür,  Phosphoroxychlorid 
und  Phosphoroxybromid  entstehen. 

Da  Phosphorchlorür  und  Brom  sich  nicht  mischen,  so  wurde  Schwef- 
ligsäure-Gas so  eingeleitet,  dass  dasselbe  die  untere  Bromschicht  pas- 
sirte.  Unter  starkem  Erwärmen  der  Flüssigkeit  wurde  dieselbe  allmäh- 
lich gleichförmig  und  nahm  durchgehends  eine  braunrothe  Farbe  an. 
40  Grm.  Br.  und  3i,  i  Grm.  PCI3  nahmen  dabei  1  ,^  Grm.  SO2  auf,  d.  h. 
ungefähr  die  Hälfte  der  Menge,  welche  hätte  aufgenommen  werden 
müssen,  wäre  die  Einwirkung  nach  der  Gleichung 

PCI^Br.^  4-  SO2  =  PCI3O  +  S0Br2 
vor  sich  gegangen  ;  diese  Gleichung  verlangt  nämlich  1 6  Grm. 

Beim  Destilliren  der  erhaltenen  Flüssigkeit  gingen  die  ersten  An- 
theile,  die  sehr  dunkel  gefärbt  waren ,  bei  100"  über,  dann  stieg  der 


öcber  die  Kiiiwirkimn  von  Phospliorbromdilorid  «ul'  Schwefligsäure-Aiiliydiid.      297 

Siedepunkt  bis  115"  und  blieb  hier  eine  Weile  consUint.  Schliesslich 
stieg  derselbe  sehr  hoch  (bis  iOO")  und  es  blieb  in  der  Relorle  eine 
schwarze  schweio  Flüssigkeit,  die  beim  weiteren  Erhitzen  sich  stark 
aufblähte. 

Die  von  100 — H5"  übergegangene  Flüssigkeit  zerfiel  beim  wieder- 
holten Destilliren  in  freies  ßi'om  und  noch  nicht  ganz  farbloses,  bei 
107 — I  10"  siedinides  Phosphoroxychlorid.  Der  bei  I  l.'j"  übergegangene 
Theil  zerfiel  in  freies  Brom,  Phosphoroxychlorid  imd  in  den  schwarzen 
be4m  Destilliren  zurückbleibenden  Körper. 

Das  Phosphoroxychlorid  konnte  durch  Destillation  üb(!r  etwas  Zink 
völlig  farblos  erhalten  werden ,  und  wurde  dann  durch  bekannte  Re- 
actionen  als  solches  nachgewiesen. 

Die  beim  Deslilliren  zurückgebliebene  schwarze,  schwere  Flüssig- 
keit hatte  ganz  den  Geiuch  des  Ghlorschwefels  und  wie  dieser  die 
Eigenschaft  nicht  am  Glase  zu  adhiiriren.  Dies  machte  es  wahrschein- 
lich ,  dass  diese  Flüssigkeit  Bromschwefel  und  zwar  BrS  war,  der  sich 
durch  Zersetzung  von  SBr4  unter  Freiwerden  des  Broms  gebildet  haben 
konnte.  Da  jedoch  der  betreffende  Körper  noch  unrein  war,  so  musste 
er  zu  destilliren  versucht  werden. 

Nach  Rose')  soll  sich  der  Bromschwefel  aber  dabei  zersetzen, 
weshalb  ich  diese  Operation  im  raschen  Kohlensäurestrom  ausführte. 
Bei  210"— 220"  ging  der  Körper  über  und  bildete  nun  eine  klare  roth- 
braune Flüssigkeit,  deren  Geruch  der  des  Chlorschwefels  war  und 
welche  am  Glase  fast  ebenso  wenig  wie  Quecksilber  adhärirte.  Eine 
Schwefelbeslimmung,  die  so  ausgeführt  wurde,  dass  eine  gewogene 
Menge  durch  Kalilauge  zersetzt,  der  ausgeschiedene  Schwefel  als  sol- 
cher und,  nachdem  die  Flüssigkeit  mit  Chlor  gesättigt,  die  darin  ent- 
haltene Schwefelsäure  als  Baryumsulfat  bestimmt  wurde,  ergab  folgende 
Resultate. : 

0,8703  Grm.  Subst.  gaben  0,1107  Grm.  Schwefel  und  0,7578 
Grm.  Baryumsulfat  entspr.  0,1040  Grm.  Schwefel,  also  zusammen 
=  0,2447  Grm.  =  28,1  Proc.  Schwefel.  Die  Formel  RrS  ver- 
langt 28,57  Proc. 

Darnach  ist  der  Körper  also  wirklich  dieses  Schwefelbromür  und 
die  Einwirkung  von  PCfj  und  Br^  auf  SO-,  in  Uebereinstimmung  mit 
der  absorbirlen  Menge  Schwefligsäure-Anhydrids  nach  der  (Jleiehung 

2 PCI;,  Br.  +  S0.2  =  2PCI:,  0  +  SBr^ 
verlaufen.   Daraus  folgt  also,  dass  das  Gemisch  von  PClj  und  Br^  wirk- 
lich als  PClj  Br,  wirkt  und  nicht  als  Gemenge  von  PCK,  und  PBr-,.     Die 

i     Ann.  li.  Cheiu.  u.  Pharm.   Vlll.   |).  U9. 


298  Dr.  A.  Michaelis,  Ueber  die  Einwirkung  von  Phosphorbromchlorid  etc. 

Wirkung  erfolgt  wahrscheinlich  in  drei  Phasen,  indem  zuerst  Thionyl- 
bromiir  gebildet  wird ,  welches  sodann  gleich  in  Schwefligsäure  und 
Vierfach-Bromschwefel ,  und  letzterer  seinerseits  wieder  in  Schwefel- 
bromür  und  Brom  zerfällt: 

PCI3  Br2  -+-  SO.2  =  PC1,5  0  +  S0Br2 

2SOBr2  =  SO2  +  SBr4 

SBr4  =  SBr  -f-  3Br. 

Jena,   Univ. -Laboratorium  ,  August  1870.  , 


lieber  die  rerituietalle. 

Von 

Dr.  Carl  Erk. 


I.  lieber  die  Trennung  des  Cer's  vom  Lanthan  und  Didym. 

Die  Cerilmetalle  sind  seit  langer  Zeit  schon  Gegenstand  vielfältiger 
Untersuchungen  gewesen  und  besitzen  bereits  eine  reichhaltige  Lite- 
ratur'). Vorzugsweise  ist  die  Trennung  des  Cer's  vom  Lanthan  und 
Didym  eine  vielerörterte  Frage  gewesen.  Durch  Benutzung  der  Bunsen'- 
schen,  von  Jegel  modificirten  Methode-),  bei  welcher  das  Cer  als  basi- 
sches Cero-Cerisulfat  abgeschieden  wird,  ist  es  leicht,  vollkommen 
reines  Cer  zu  erhalten.  Schwieriger  dagegen  ist  völlige  Trennung  des 
Lanthan's  und  Didym's  vom  Cer.  Man  suchte  bisher  die  letzten  Spuren 
vom  Cer  dadurch  zu  entfernen ,  dass  man  die  geglühten ,  noch  cerhal- 
ligen  Oxyde  mit  sehr  verdünnter  Salpetersäure  digerirte,  wobei  sich 
Lanthan-  und  Didymoxyd  lösen,  Cero-Cerioxyd  dagegen  ungelöst 
bleibt. 

Aber  nur  bei  wiederholter  Behandlung  der  Oxyde  mit  sehr  ver- 
dünnter Salpetersäuse  wird  alles  Cer  auf  diese  Weise  entfernt. 

Popp  '^)  giebt  an ,  dass  man  durch  Behandeln  einer  cerhaltigen 
Didym-  und  Lanthanchlorürlösung  mit  Chlor ,  Versetzen  mit  Natriura- 


1)  MosANDER,  Pogg.  Ann.  46,  648.  47,  207.  56,  504.  Bunsen  ,  Ann.  d.  Ch.  u. 
I*li.  105,  40.  Jegel  und  Vogler,  Journ.  f.  pr.  Chemie  73,  200.  Hermann,  Ebend. 
82,  385.  92,  M3.  Lange,  Ebend.  82,  129.  Czudnowicz,  Ebend.  80,  16;  82,  277. 
Holzmann,  Ebond.  75,  321  ;  84,  76.  Rammelsberg,  Ebend.  77,  67;  Pogg.  Ann.  108, 
40  u.  435.  Marignac,  Ann.  d.  Ch.  u.  Ph.  8,  265;  27,  209.  Beringer,  Ann.  d.  Ch.  u. 
Ph.  68,  212.  Popp,  Ebend.  131.  Zschiesche,  Journ.  f.  pr.  Ch.  104,  174;  107,2. 
u.  Andere. 

2)  Jegel,  Journ.  f.  pr.  Ch.  73,  200. 
3;  Ann.  d.  Ch.  u.  Ph.  131,  359. 


300  Dr.  Carl  Erk, 

acetat  und  Kochen  alles  Cer  als  Cero-Cerihydroxyd  oder,  wie  Popp  an- 
nimmt, als  Cersuperoxyd  abscheiden  kann.  Ich  versuchte  nach  dieser 
Methode  reine  Lanthan  -  und  Didympräparate  darzustellen.  In  eine 
verdünnte  cerhaltige  Didym-  und  Lanthanchlorürlösung  wurde  Chlor 
im  Ueherschuss  eingeleitet,  so  dass  bestimmt  alles  Ceroxydul  zu  Cero- 
Gerioxyd  oxydirt  sein  niusste ,  die  Lösung  nun  mit  einem  Ueberschuss 
von  Natriumacetat  versetzt  und  gekocht.  Schon  bei  einer  weil  unter  der 
Siedehitze  liegenden  Temperatur  trübte  sich  die  Lösung  durch  einen 
weissgelben,  flockigen  Niederschlag,  welcher  mit  steigender  Temperatur 
verhältnissmüssig  zunahm.  Nachdem  die  Lösung  einige  Minuten  gekocht 
hatte,  wurde  der  Niederschlag  auf  einem  Wasserbadtrichter  abfiltrirt 
und  mit  siedendem  Wasser  ausgewaschen.  Das  Filtrat  war  anfangs 
farblos ,  beim  Ausw  aschen  mit  heissem  Wasser  wurde  es  gelb  gefärbt. 
Das  Wasch  Wasser  wurde  für  sich  gesammelt,  und  der  Niederschlag  so 
lange  ausi^ewaschen,  bis  das  Filtrat  mit  Oxalsäure  keine  Trübung  zeigte. 
Der  Niederschlag  hatte  hierbei  merklich  abgenommen ,  war  also  in  Lö- 
sung gegangen,  und  deshalb  war  das  Wasch wasser  gelb  gefärbt.  Schon 
hieraus  folgte,  dass  der  Niederschlag  nicht  aus  reinem  Cero-Ceri- 
hydroxyd oder  Cersuperoxyd,  sondern  aus  einem  basischen  Acetat  be- 
stehen konnte,  was  fernere  Versuche  bestätigt  haben. 

Auf  Zusatz  von  Natriumacetat  wurde  der  Niederschlag  aus  dem 
Waschwasser  wieder  ausgefällt  und  zwar  vollständig  in  der  Siedehitze, 
er  war  also  in  emer  Natriumacelatlösung  unlöslich.  Die  ganze  Operation 
wurde  wiederholt,  nur  mit  der  Abänderung,  dass  mit  einer  verdünnten 
Natriumacigtatlösung  ausgewaschen  wurde.  Das  Volumen  des  Nieder- 
schlags nahm  hierbei  gar  nicht  ab,  das  Filtrat  war  farblos  und  gab 
nochmals  mit  Chlor  behandelt  und  gekocht  nur  noch  einen  sehr  gerin- 
gen Niederschlag.  Zum  dritten  Male  mit  Chlor  behandelt  und  gekocht, 
zeigte  die  Lösung  gar  keine  Trübung  mehr.  Um  nun  die  auf  diese 
Weise  erhaltenen  getrennten  Producte  auf  ihre  Reinheit  zu  prüfen, 
wurde  folgendermaassen  verfahren.  F^ine  Probe  des  Cerniederschlags 
wurde  in  Säure  gelöst,  durch  Oxalsäure  als  Oxalat  gefällt,  dieses  noch 
nass  mit  gleicher  Menge  Magnesia  alba  zusammen  gerieben  ^j ,  getrock- 
net, geglüht  und  mit  sehr  verdünnter  Salpetersäure  eine  Zeit  lang 
digerirt  und  abfiltrirt.  Im  Filtrat,  welches,  wenn  der  Niederschlag 
nicht  lanthan-  und  didymfrei  war,  davon  neben  Magnesia  enthalten 
musste,  Hess  sich  weder  durch  Oxalsäure  und  Ammoniak  ,  noch  durch 
eine  heiss  concentrirle  Lösung  von  Natriumsulfat  (mit  letzterem  bilden 
Lanthan  und  Didym  gleich  dem  Cer  sehr  schwerlösliche  Doppelsulfate) 


i)  BuNSEN,  Ann.  d   Chemie  u.  Ph.  105,  40. 


lieber  die  Ceritmetallo.  301 

uiiu'  Spur  von  diesen  beiden  Melallen  nachweisen.  Das  Oxalat,  welches 
aus  der  Lösung  des  Niederschlags  durch  Fällen  mit  Oxalsäure  gewon- 
nen wurde,  gab  geglüht  ein  hell  lachsfarbnes  Oxyd,  ganz  von  dem 
Aussehen  des  Cero-Cerioxyds  und  war  wie  dieses  nur  in  concentrirter 
Schwefelsäure  löslich.  Der  Cerniederschlag  konnte  demnach  für  lan- 
than-  und  didymfrei  gelten. 

Anders  verhielt  es  sich  mit  der  Reinheit  der  erhaltenen  Lanthan- 
und  Didjmlösung.  Als  ich  zur  Trennung  des  Lanthans  vom  Didym 
überging,  fand  sich,  dass  sich  die  geglühten  Oxyde  mit  gelber  Farbe  in 
Salpetersäure  und  Schwefelsäure  lösten.  Diese  Farbe  ist  weder  den 
Lanthan-,  noch  Didymlösungen  eigen  und  konnte  also  nur  von  einem 
Cergehalt  herrühren.  Vollkommen  bewiesen  wurde  dieses  durch  Ein- 
giessen  einer  solchen  concentrirten  Sulfallösung  in  viel  heisses  Wasser, 
wobei  sich  basischtis  Gero-Cerisulfat  abschied,  welches  letztere  in  Oxalat 
verwandelt,  die  dem  Ceroxalat  beim  Glühen  eigne  Zersetzungsweise 
und  Farbe  zeigte.  Ceroxalat  unterscheidet  sich  nämlich  dadurch  auch 
vom  Lanthan-  und  Didymoxalat,  dass  es  schon  bei  geringer  Glüh- 
hitze unter  raschem  Verglimmen  zu  Cero-Cerioxyd  wird,  während 
Lanthan-  und  Didymoxalat  hierbei  erst  in  Garbonat  und  dann  erst  bei 
stärkerer  Glühhitze  in  Oxyd  übergehen.  Der  Grund,  weshalb  die  be- 
sprochene Trennungsmethode  nicht  zu  reinen  Lanthan-  und  Didym- 
präparaten  führen  kann,  liegt  in  der  leichten  Reducirbarkeit  des  Cero- 
Gerihydroxyds  durch  die  freiwerdende  Essigsäure.  Versetzt  man  z.  B. 
eine  Lösung  von  Gero-Cerisulfat  mit  Natriumacetat.  so  wird  die  gelbe 
Farbe  sofort  durch  eintretende  Reduction  des  Cero-Cerioxydes  zu  Cero- 
oxyd  verschwinden  oder  doch  heller  werden. 

Aus  dem  Gegebenen  folgt,  dass  die  Popp'sche  Methode  durchaus 
nicht  reine  Lanthan-  und  Didympräparale,  wohl  aber  reines  Ger  liefern 
kann.  Da  jedoch  die  ältere  Trennungsweise  durch  Ausfällung  des  Cers 
als  basisches  Gero-Cerisulfat  denselben  Erfolg  hat  und  überdies  man- 
cherlei Unbequemlichkeiten,  wie  Filtriren  durch  den  Wasserbadtrichter, 
Auswaschen  mit  verdünntem  Natriumacetat  ersparen  lässl,  so  wird  man 
letzterer  immer  den  Vorzug  geben.  Ich  bemerke  hier  nur  noch  zur 
Berichtigung  der  Popp'schen  Angaben ,  dass  der  bei  der  Trennung 
erhallne  Niederschlag  nicht  aus  Gersuperoxyd,  sondern  aus  einem 
basischen  Acetal  besteht,  dessen  Eigenschaften  und  Zusammensetzung 
ich  unter  der  Rubrik  »Basische  Salze  des  Cers«  beschreiben 
werde. 

Ich  kehrte  nach  diesen  Versuchen  zu  der  altern  Trennungsmethode 
zurück  und  habe  bei  Darstellung  reiner  Cerpräparate,  wie  folgt,  ver- 
fahren.    Der  feingeriebene  Cerit  wurde  mit  concentrirter  Schwefelsäure 

Bd.  VI.  2.  ii 


302  Dr.  C;iil  Krk, 

zu  einem  dünnen  Brei  eingerührt  an  einen  warmen  Ort  gestellt.  Nach 
wenigen  Stunden  war  die  Masse  zu  einem  weissen  Pulver  geworden, 
welches  gelinde  geglüht  und  mit  viel  salpetersäurehaltigem  Wasser  so 
lange  ausgekocht  wurde,  bis  eine  Probe  des  Rückstandes  mit  verdünnter 
Salpetersäure  gekocht,  keine  Fällung  mit  Oxalsäure  gab.  Die  so  erhaltene, 
abfiltrirte  Lösung  wurde  mit  Schwefelwasserstoff"  behandelt,  wieder  von 
den  gefällten  Schwefelmetallen  abfillrirt,  mit  noch  etwas  Salzsäure  ver- 
setzt und  durch  Oxalsäure  ausgefällt.  Bunsen  und  Jegel  i)  fügen  zu  den 
so  gewonnenen  Oxalaten  eine  gleiche  Menge  Magnesia  alba,  mit  welcher 
innig  gemischt  die  Oxalate  unter  Luftzutritt  stark  geglüht  werden. 
Bunsen  führt  als  Grund  der  Anwendung  der  Magnesia  die  Thatsache 
an,  dass  Manganoxydul  mit  Magnesia  oder  Zinkoxyd  geglüht  in  Oxyd 
übergeht,  und  aus  der  grossen  Aehnlichkeit  der  Ceroxydalionsstufen 
mit  denen  des  Mangans  schloss  er  auf  ein  ähnliches  Verhalten  des  Cers. 
Als  ich  mir  zum  ersten  Male  Material  schaff'te,  behielt  ich  die  An- 
wendung der  Magnesia  alba  bei ,  fand  aber ,  dass  die  Magnesia  sich 
später  sehr  schwer  und  nur  durch  wiederholtes  Ausfällen  der  Lösungen 
unter  gehörigem  Salmiakzusatze  entfernen  lasse.  Dieses,  sowie  die 
Thatsache,  dass  die  Oxydation  des  Gers  bei  gehörigem  Glühen  auch 
ohne  Anwendung  der  Magnesia  alba  leicht  erreicht  wird ,  Hess  mich 
ganz  von  Anwendung  der  Magnesia  absehen.  Die  Oxalate  wurden  für 
sich  in  einer  flachen  Platinschale  unter  fleissigem  Umrühren ,  sodass 
jedes  Theilclien  mit  dem  Sauerstoff"  der  Luft  in  Berührung  kommen 
konnte,  portionenweise  geglüht,  in  massig  concenti'irter  Salpetersäure 
gelöst,  die  überschüssige  Säure  durch  Eindampfen  bis  zur  Syrupdicke 
abgeraucht  und  nun  in  viel  kochendes  mit  Schwefelsäure  versetztes 
Wasser  gegossen,  wodurch  sich  der  grösste  Theil  des  Cers  als  basisches 
Cero-Cerisulfat  abscheidet.  Auf  30  Gramm  geglühte  Oxyde  wandte  ich 
6  Kilogramm  mit  24  Gramm  Schwefelsäure  versetztes  Wasser  an.  Die 
von  mir  aus  dem  Cerit  erhaltenen  gemischten  Oxyde  enthielten  nämlich 
nach  einer  ungefähren  quantitativen  Bestimmung  zur  Hälfte  Cero-Ceri- 
oxyd,  hiernach  berechnete  ich  die  nöthige  Schwefelsäuremenge.  Das 
erhaltne  basische  Cero-Cerisulfat  wurde  so  lange  mit  heissem  Wasser 
ausgewaschen,  bis  das  Waschwasser  mit  Oxalsäure  keine  Trübung  mehr 
gab.  Das  Filtrat,  welches  jetzt  nur  wenig  Cer  mehr  enthielt,  wurde  wie- 
der mit  Oxalsäure  ausgefällt,  die  Oxalate  geglüht,  mit  sehr  verdünnter 
Salpetersäure  (1  Th.  Salpetersäure:  lOOTh.  Wasser)  digerirt,  das  zurück- 
bleibende Cero-Gerioxyd  abfiltrirt,  die  Lösung  wieder  in  Oxyde  über- 
geführt,  mit  verdünnter  Salpetersäure  behandelt  und  dieses  Verfahren 


4)  Bunsen,  Ann.  4  05,  40     Jegel.  Journ.  f.  pract.  Chemie  73,  200. 


üt'licr  die  r(>ritiii('tiill('.  303 

so  lansjjo  wiederlioll,   bis  die  0\\(\v  kciiu;  Spur  eines  RUckstnndes  heim 
Lösen  in  sehr  verdünnter  Salpetersäui-e  hinlerliessen. 


n.    Ueber  die  Trennung  des  Lanthans  vom  Didym. 

Die  Trennuni:;  dieser  beiden  Metalle  ist  schon  seit  lani^er  Zeit  von 
verschiedenen  Forschern  bearbeitet ,  und  verschiedene  Methoden  sind 
dafür  in  Vorschlag  und  Anwendung  gebracht  worden.  Ich  erwähne 
hier  nur  in  der  Kürze  einiger  Trennungs weisen.  Mosander  ')  benutzte 
zuerst  die  verschiedne  Löslichkeit  der  Sulfate  zur  Trennung  durch 
wiederholte  partielle  Krystallisation.  Hermann^)  ergänzte  diese  Me- 
thode auf  folgende  Weise.  Er  fällte  eine  noch  nicht  vollkommen  reine 
Lanthan-  resp.  Didymlösung  theilweise  durch  Ammoniak  aus  und  Hess 
den  Niederschlag  einige  Zeit  unter  öfterm  Umrühren  bei  gelinder  Wärme 
mit  der  übrigen  Lösung  zusammen.  War  hierbei  eine  noch  didymhal- 
tige  Lanthanlösung  in  Anwendung  gekommen ,  so  fällte  das  im  Nieder- 
schlag befindliche  Lanthan  als  stärkere  Basis  das  noch  in  Lösung  be- 
findliche Didym  aus.  Im  andern  Falle,  bei  noch  lanthanhaltigen  Didym- 
lösungen  wurde  der  grösste  Theil  der  Lösung  ausgefällt  und  durch 
Zusammenstehen  das  noch  im  Niederschlage  befindhche  Lanthan  in 
Lösung  gebracht  und  so  der  Niederschlag  lanthanfrei  erhalten. 

Auch  Marignac^*)  hat  zum  Zwecke  einer  bessern  Trennungsmethode 
vielfache  Versuche  angestellt,  ohne  zu  einem  gewünschten  Resultat  zu 
gelangen.     Nur  folgende  2  Thatsachen  erwähnt  er: 

1)  Bei  Behandlung  der  gemischten  geglühten  Oxyde  mit  einer  un- 
zureichenden Menge  sehr  verdünnter  Salpetersäure  geht  Lanthanoxyd 
als  stärkere  Basis  zuerst  in  Lösung. 

2)  Ferner  scheidet  sich  beim  Erkalten  einer  heiss  bereiteten  Lösung 
von  Didym-  und  Lanthanoxalat  in  massig  concentrirter  Salpetersäure 
Didymoxalat  als  schwerlöslicher  zuerst  aus.  Dieser  verschiedene  Löslich- 
keitsgrad  der  Oxalate  in  Säuren  ist  nun  neuerdings  von  Zschiesche^) 
zur  Trennung  benutzt  worden. 

Ich  habe  sowohl  die  MosANDEu'sche  Krystallisationsmethode,  als 
auch  das  von  Zsceiiesche  gegebene  Verfahren  versucht ,  fand  aber  beide 
ziemlich  zeitraubend  und  umständlich.  Ich  theile  folgende  Versuche 
mit,  die  ich  behufs  der  Trennung  anstellte,  und  die  mich  schliesslich 
zu  der  von  mir  benutzten  Trennungs  weise  führten. 

■I)   Pogg.  Ann.  47,  207   u.  56,  504. 
•i;  Journ.  f.  pr.  Cheuiie  82,  385. 
3)'  Ann,  d.  Cli.  u.  Ph.  71,  306. 
4)  Journal  1.  pr.  Ch.  107,  3. 


^Q^  Dr.  Carl  Erk, 

1)  Das  Lanthanoxyd  zieht  bekanntlich  an  der  Luft  leicht  Kohlen- 
säure an,  letzlere  Eigenschaft,  sowie  die  relativ  grössere  Schwerlös- 
lichkeit des  Sulfates,  ferner  die  stärkere  Affinität  giebt  dem  Lanthan 
einige  Aehnlichkeit  mit  Kalk.  Vielleicht  konnte  dasselbe  wie  der  Kalk 
ein  "lösliches  saures  Carbonat  bilden.  Beim  Glühen  der  gemischten 
Oxalate  über  einer  gewöhnlichen  BuNSENschsn  Gasflamme  bildet  sich 
nun  einerseits  das  braune  Didymoxyd,  andererseits  Lanthancarbonat, 
erst  bei  stärkerer  Gebläsehitze  gehen  beide  in  Oxyd  über.  Ein  solches 
über  einer  gewöhnlichen  Gasflamme  geglühtes  Gemenge  wurde  mit  viel 
Wasser  Übergossen ,  und  in  dieses  unter  öfterm  Umrühren  der  Oxyde 
einige  Stunden  lang  Kohlensäure  eingeleitet.  Ich  hofl-te,  dass  sich  hier- 
bei ''saures  lösliches  Lanthancarbonat  bilden  und  das  Didymoxyd  zu- 
rückbleiben würde. 

Als  das  Filtrat  behufs  Zersetzung  des  möglicherweise  gebildeten 
sauren  Lanthancarbonats  gekocht  wurde,  entstand  zwar  eine  Trübung, 
doch  zu  unbedeutend ,  um  der  angewandten  Oxydmenge  entsprechen 
zu  können.    Auch  auf  Zusatz  von  Ammoniumoxalat  blieb  es  Ijei  einer 

geringen  Trübung. 

2)  Die  beiden  folgenden  Versuche  basiren  auf  der  relativ  stärkern 
Affinität  des  Lanthans.  Schon  Marignac  »)  hatte  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  beim  Lösen  der  gemischten  Oxyde  in  sehr  verdünnter 
Salpetersäure  zuerst  Lanthan  in  Lösung  geht. 

Vielleicht  konnte  bei  Anwendung  einer  noch  schwächern  Säure 
auf  diese  Weise  ein  günstiges  Resultat  erzielt  werden.  Ich  versuchte  es 
mit  verdünnter  schwefliger  Säure.  Kleine  Portionen  über  einer  Bunsen'- 
schen  Gaslampe  gleichmässig  geglühter  und  feinzertheilter  Oxyde  wur- 
den in  der  Kälte  (in  einem  Gefässe  mit  Wasser  von  QO)  unter  fortwäh- 
rendem Umschütteln  mit  zur  vollkommenen  Lösung  unzureichender 
Menge  sehr  verdünnter  schwefliger  Säure  behandelt.  Das  in  Lösung 
gefangne  Oxyd  wurde  durch  Oxalsäure  ausgefällt,  geglüht  und  gab  ein 
entschieden  heUeres  Oxyd.  Ich  erwähne  hier  nochmals,  dass  Lan- 
thanoxalat  über  einer  gewöhnlichen  Gasflamme  geglüht,  weisses 
Carbonat,  Didymoxalat  dagegen  braunes  Didymoxyd  giebt.  Diese 
Farbenunterschiede  wurden  als  vorläufiges  Griterium  für  die  relative 
Zusammensetzung  der  erhaltnen  Oxydproben  benutzt.  Durch  partielle 
wiederholte  Behandlung  der  Oxyde  mit  verdünnter  schwefliger  Saure 
können  also  wohl  reine  Präparate  erhalten  werden.  Diese  Trennungs- 
weise wurde  nicht  weiter  ausgeführt,  weil  ich  durch  folgende  Versuche 
auf  noch  günstigere  Resultate  geführt  wurde. 


i)  Annalen  d.  Chem.  u.  Ph.  71,  306. 


üeber  die  Ceritinetalle.  305 

Hermann')  fällte,  vvio  bcroils  oben  crwühnl,  die  noch  nicht  voll- 
kommen reinen  Lösunt^cn  theiivveise  durch  Ammoniak  aus  und  erhielt 
auf  diese  Weise  reine  Präparate.  Von  dies(M-  Thatsaehe  ausgehend, 
wurde  eine  Lösunt;  der  gemischten  Oxyde  durch  Ammoniak  zur  Hälfte 
ausgefällt,  der  Niederschlag  abfillrirt,  ausgewaschen  und  mit  der  noch 
übrigen  Lösung  einen  Tag  lang  unter  öflerm  Un)riihren  bei  Zimmer- 
temperatur zusammenstehen  gelassen.  Aus  dem  Filtrat  wurde  ein  be- 
deutend helleres  Oxyd  erhalten,  Lanthan  war  also  als  stärkere  Basis 
vorwiegend  in  Lösung  gegangen.  Das  Filtrat  wurde  nochmals  zur 
Hälfte  ausgefällt  und  wie  oben  behandelt.  Schon  nach  dieser  zwei- 
maligen Behandlung  wurde  eine  Lanthanlösung  erhalten ,  an  der  man 
mit  blossem  Auge  keinen  röthlichen  Ton  mehr  erkennen  konnte,  und 
die  selbst  vor  dem  Spectroskop  die  für  Didymlösungen  so  äusserst 
charakteristischen  Absorptionsstreifen  nur  sehr  schwach  zeigte.  Diese 
letztem  Spectrallinicn  sind  ein  äusserst  feines  Erkennungszeichen  für 
Didyni.  ZscniEsciiE^)  erwähnt,  dass  eine  Lanlhanlösung,  welche  Y2sooo 
Didymoxyd  enthält,  noch  einen  Absorptionsstreifen  zeigt.  Zur  Prüfung 
der  erhaltenen  Lanthanlösungen  wurden  diese  in  einer  30  Gentin)eter 
langen  Schicht  vor  dem  Spectroskop  beobachtet  und  erst  dann,  wenn 
keine  Linie  mehr  zu  erkennen  war,  als  didymfrei  betrachtet.  Die 
erhaltenen  Lanthanlösungen  wurden  immer  wieder  zur  Hälfte  ausgefällt 
und  wie  oben  behandelt.  Nach  einer  solchen  viermaligen  Behandlung 
gab  eine  30  Cenlimeter  lange  Schicht  von  Lanthanlösung  keine  Ab- 
sorptionsstreifen mehr.  In  gleicher  Weise  wurden  die  erhaltnen  didym- 
reichen  Lösungen  behandelt,  die  Mittelglieder  wurden  immer  wieder 
zusammen  gegeben  und  für  sich  getrennt.  Zur  Veranschaulichung  des 
Verfahrens  kann  folgendes  Schema  dienen ,  und  zwar  bezeichnen  die 
steigenden  Zahlenvverthe  die  grössere  Reinheit  der  betreffenden  Ge- 
mische, die  nicht  mit  Zahlen  bezeichneten  Mitglieder  wurden  vereinigt 
für  sich  getrennt. 

La  Di 


2La  Di  La  Di-' 


♦La  Di  La  Di     La  Di  La  Di ' 

«La  Di     La  Di  etc.  La  Di     La  Di* 

Nach  der  Farbe  der  erhaltenen  Glieder  und  mit  Hülfe  des  Spectro- 
skops  wird  jeder,  der  diese  Trennungsvvcise  benutzen  will,  den  vor- 


1)  Journal  f.  pr.  Chemie  82,  385. 

2)  Journal  f.  pr.  Cliotnie  <04,  17*. 


306  Dr.  Carl  Erk. 

herrschenden  Didyni  -  resp.  Lanlhangehall  ermessen  und  demgcmäss 
zweckmässig  bei  Zusammenstellung  der  einzelnen  Glieder  verfahren 
können. 

Für  Reinheit  der  Lanthanlösungen  besitzen  wir  ein  äusserst 
scharfes  Criterium  in  den  erwähnten  Absorptionsstreifen .  schwieriger 
verhält  es  sich  mit  Didymlösungen ,  hier  mangelt  uns  noch  eine  be- 
stimmte Reaction  auf  Lanthangehalt.  Für  lanthanfrei  habe  ich  eine 
Didymlösung  betrachtet,  welche  zum  grössten  Theil  durch  Ammoniak 
ausgefällt  und  wie  ol>en  behandelt,  keine  Verschiedenheit  der  Farbe 
und  des  Mischungsgewichts  der  aus  dem  Niederschlage  und  aus  dem 
Filtrat  erhaltnen  Oxyde  ergab.  Obgleich  die  Differenz  der  Mischungs- 
gewichte von  Lanthan  uud  Didym  (90  u.  95)  nur  gering  ist,  so  ist  im- 
merhin die  Mischungsgew  ichtsbestimmung,  in  Ermanglung  einer  sichern 
Reaction  auf  Lanthan ,  wichtig  zur  Reinheitsbestimmung  des  Didyms, 
sofern  sie  nur  mit  gehöriger  Sorgfalt  ausgeführt  wird. 

Von  dem  erhaltnen  Didym-  und  Lanlhanoxyd,  welches  -auf  unten 
beschriebene  Weise  auch  von  Yttererde  gereinigt  war,  wurden  vom 
Sulfat  ausgehend  einige  Mischungsgewichtsbestimmungen  auf  folgende 
Weise  ausgeführt.  Das  Sulfat  der  beiden  Oxyde  wurde  im  Wasserbade 
auskryslallisiren  gelassen,  die  wasserhaltigen  Krystalle  über  einer  klei- 
nen Flamme  entwässert,  als  wasserfreies  Sulfat  gewogen,  in  Wasser 
gelöst,  durch  Ammoniumoxaiat  gefällt,  das  Oxalat  getrocknet,  zuerst 
über  einer  gewöhnlichen  Gasflamme  und  dann  über  der  Gebiäseflamme 
heftig  bis  zum  constanten  Gewicht  geglüht  und  als  Oxyd  gewogen- 
Ich  bemerke  hier ,  dass  der  Platintiegel  nach  dem  Glühen  nochmals 
gewogen  wurde,  um  etwaige  Glühverlustc  in  Rechnung  zu  bringen. 
Im  Filtrat  wurde  auf  gewöhnliche  Weise  die  Schwefelsäure  bestimmt. 
Das  hierbei  erhaltene  Baryumsulfat  wurde  stark  geglüht,  mit  Salzsäure 
behandelt,  um  das  etwa  mitgefallene  Baryumoxalat  zu  entfernen,  abfil- 
trirt,  getuocknet  und  nun  erst  gewogen.  Im  andern  Falle  bestimmte 
ich  die  Schwefelsäure ,  indem  ich  die  stark  angesäuerte  Lösung  des 
Sulfats  durch  Chlorbaryum  fällte.  Aus  der  entweder  direct  gefundenen 
oder  aus  dem  Verlust  berechneten  Schwefelsäuremenge  ergab  sich  nach 
ihrem  liekannten  Mischungsgewicht  das  des  Lanthans  resp.  Didyms. 

I )  Lanthan-  Mischungsgewichlsbestimmung . 

a)  0,474  gr.  SO'La  gaben  0,2705  gr.  LaO,  die  Schwefelsäure  aus 
dem  Verlust  berechnet  =  0,2035  gr.  SO^'. 

b)  0,7045  gr.  SO»f.a  gaben  0,8815  gr.  SO^  Ba^  =  0,;^t)27  gr.  SO^ 
und  0, 'lOIS  er.  LaO, 


Ut'ber  die  rerilimMallP.  307 

Mischunt^sij;c\vicliLsiclalion(Mi . 
Ada)   0,i035  gr.  SO'  :    0,2705  gr.  LaO   —   NO   :     IO(i,:r.,    dcmn;ioli 

La  =  90,34. 
Adb)   0,3027  gr.  SO-'  :    0,401 8  gr.  LaO   :==   SO    :    lOr.,!«,   demnarh 
La  =  90,  IS. 
2)  D  idym-Mischungsgewichlsbeslinimungen. 

a)  0,556    gr.  SO 'Di  gaben  0,323    gr.  DiO,  demnach  0,233    gr.  SO^'. 

b)  0,674    -    SO 'Di     -       0,3915  -  DiO,       -         0,2S25  -  SO^'. 

c)  0,7065  -   SO'Di     -      0,859     -SO'Ba-!     =     0,2949  -  SO'' 

und  0,4116  gr.  DiO. 
Mischungsgcwichlsrolalionen : 
Ada)  0,233    gr.   SO'  :    0,323    gr.   DiO  =  SO   ;    110,9;    Di  =  94,9. 

b)  0,2825  -     SO'  :  0,3915-     DiO  =  SO      1 10,86;  Di  =  94,86. 

c)  0,2949  -     SO^  ;   0,4116-     DiO  =  80  :    1 1 1 ,64;  Di  =  95,64. 
Diese    Mischungsgewichlsbestimniungen    kommen    mit    den    von 

ZscHiESciiE ')  ausgeführten  iiberein,  welcher  für  Lanthan  aus  6  Ana- 
lysen das  Mischungsgewicht  90,18,,  für  Didym  aus  5  Analysen  die 
Werthe  93  —  96,16  berechnet.  Bei  Didym  erwähnt  aber  Zsciukschk 
ausdrücklich,  dass  das  wahre  Mischungsgewicht  den  höchsten  der  ge- 
fundnen  Zahlen  am  nächsten  liege.  Die  Eigenschaften  d(>r  Oxyde  sind 
schon  von  Zschieschk  erörtert  worden,  ich  begnüge  mich  daher  zu 
erwähnen,  dass  ich  dessen  Angaben  bestätigen  kann. 


III.   Heber  das  Absorptionsspectrum  der  Didymlösungen. 

Auf  umstehender  Taf(;l  habe  ich  das  Absorptionspectrum  einer 
circa  4  Cenlimeler  langen  Schicht  von  concentrirter  reiner  Didynuiilrat- 
lösung  gezeichnet.  Die  über  der  Scala  befindlichen  grossen  Buchslaben 
bezeichnen  die  entsprechenden  FnAiiENHuFER'schen  Linien.  Darnach 
fällt  42  der  Scala  mit  der  Linie  D  zusammen,  .le  geringer  der  Didym- 
gehall  der  speclralanalylisch  beobachteten  Lösung,  desto  weniger 
dunkl(>  Linien  sind  zu  bemerken.  Bei  sehr  verdünnten  Lösungen  ist 
nur  der  Streifen  auf  45  im  Gelb  und  der  auf  64  im  Grün  zu  sehen, 
von  diesen  beiden  ist  ersterer  aber  wieder  der  stärkste.  Die  beiden 
letzterwähnten  Absorptionsstreifen  kommen  vorzugsweise  bei  der  Tren- 
nung des  Lanthans  und  Didyms  in  Betracht. 

BuNSEN  und  Bahr  '-}  haben  schon  früher  das  Speclrum  gezeich- 
net und  auf  die  Scide  bezogen,   welche  den  in  Poggendokff's  Annalen 

1)  Journal  f.  pr.  Chemie  104,  174  n    107.  2 

2)  Ann.  d.  Ch.  u.  Pli.  137. 


308 


Dr.  Carl  Erk, 


Band  119  enthaltnen  Spectrentafeln  und  den  grossen  farbigen  Tafeln 
von  Lenoire  zu  Grunde  liegt.  Bei  dieser  Scala  coindicirt  die  Linie  D 
des  Sonnenspectrums  mit  50  der  Scala.  Redu- 
cireh  wir  das  BuNSEN'sche  Spectrum  auf  die  von 
mir  benutzte  Scale ,  so  fallen  beide  Spectren 
im  wesentlichen  zusammen ,  nur  hat  Bunsen  im 
Roth  zwischen  Linie  23  und  45  noch  einige 
schwächere  Linien  gezeichnet,  welche  ich  jeden- 
falls der  geringeren  Schärfe  des  von  mir  benutz- 
ten Apparates  halber  nicht  bemerken  konnte. 


/> 


bs 


7t 


IV.   Ueber  die  Trennung  der  Yttererde  von 
Lanthan-  und  Didymoxyd. 

Die  bei  obiger  Trennungsweise  erhaltenen 
äussersten  Didymglieder  zeigten  als  Oxyd 
eine  wieder  etwas  hellere,  mehr  rostgelbe 
Farbe,  gaben  ferner  auch  ein  niedrigeres  Mi- 
schungsgewicht. Vielleicht  war  Yttererde  bei- 
gemischt, welche  von  mehreren  Forschern  im 
Cerit  gefunden  worden  ist,  eine  helle  Farbe  und 
ein  niedrigeres  Mischungsgewicht  besitzt.  Ich 
hatte  nämlich  auf  Yttererde  deshalb  keine  Rück- 
sicht genommen ,  weil  ich  bei  der  ersten  Dar- 
stellung der  Ceriloxyde  trotz  der  Trennung  mit 
Natriumsulfat '),  wie  solche  bei  Gegenwart  von 
Yttererde  vorgeschrieben  ist,  keine  Yttererde 
gefunden  hatte.  Auch  Zschiesche  scheint  auf 
Yttererde  keine  Rücksicht  genommen  zu  haben. 
Nach  den  oben  erwähnten  Resultaten  wurden 
die  äussersten  Didymglieder  in  Salpetersäure 
gelöst,  das  Didymoxyd  durch  Natriumsulfat  als 
Doppelsulfat  gefällt  und  auf  diese  Weise  ein 
bedeutend  helleres  rostgelbes  Oxyd  aus  dem 
Filtral  erhalten.  Die  aus  verschiedenen  Didym- 
oxydmengen  durch  Wiederholung  der  Ausfäl- 
lung mit  Natriumsulfat  erhaltenen  Oxydmengen 
wurden  gleichfalls  zur  möglichsten  Entfernung 
des  Didymoxydes  wiederholt  mit  Natriunisulfat 


1)  Berzelius,  Trennung  der  Yttererde  von  den  Ceritoxyden,  [>ehrbuch  B.  II. 


üeber  die  Ceritmetalle.  309 

behandelt  und  gaben  schliesslich  ein  hellgelbes Ox\d,  ungefähr  von  der 
l'jubo  des  Cero-Cerioxyds.  Das  so  gereinigle  Oxyd  \\ urde  zum  Zwecke 
der  Mischungsgevvichtsbestinunung  in  Sulfat  verwandelt,  dieses  im 
Wasserbade  auskryslallisiren  gelassen,  über  einer  kleinen  Flamme  ent- 
wässert und  wie  oben  bei  Lanthan-  und  Didymsulfat  angegeben  ana- 
lysirt. 

0,5265  gr.  wasserfreies  Sulfat  gaben  0,2875  gr.  Oxyd,  demnach 
0,239  gr.  SO». 

Mischungsgewichtsrelalion  :  0,239  gr.  SO'':  0,2875  gr.  Oxyd  = 
80  :  96,22. 

Die  zu  dieser  analysirten  Probe  gehörige  Oxydmenge  wurde  noch- 
mals wie  oben  mit  Natriumsulfat  behandelt,  das  so  gereinigte  Oxyd  in 
Salzsäure  gelöst,  durch  Oxalsäure  gefällt,  das  Oxalat  gut  ausgewaschen 
und  als  lufttrocknes  Oxalat  zu  einer  Mischungsgewichtsbestimmung  auf 
folgende  Weise  analysirt.  Das  bis  zum  constanten  Gewicht  lufttrockene 
Oxalat  wurde  bis  zum  constanten  Gewicht  bei  100^  getrocknet.  Das  so 
getrocknete  Oxalat  wurde  nun  in  einem  Verbrennungsrohr  im  Sauer- 
slonstrom  mit  vorgelegtem  Kupferoxyd  verbrannt  und  die  Verbren- 
nungsproducle  im  Chlorcalciumrohr  und  Kaliapparat  aufgefangen.  Der 
im  Platinschiffchen  verbleibende,  aus  Oxyd  bestehende  Rückstand 
wurde  nochmals  vor  dem  Gebläse  stark  geglüht  und  gewogen. 

0,7255  gr.  lufttrocknes  Oxalat  gaben  bei  100"  0,1085  gr.  Was- 
ser. 0,617  gr.  bei  lOO'^  getrocknetes  Oxalat  gaben  beim  Verbrennen 
0,095  gr.  Wasser,  ferner  0,2965  gr.  Kohlensäure  und  0,298  gr.  Oxyd. 

2  Mischungsgewichte  Kohlensäure  entsprechen  1  Mischungsgewicht 
wasserfreigedachter  Oxalsäure  (C^O»)  d.i.  88:72  =  0,2965  gr.  Koh- 
lensäure: 0,2426  gr.  020^'. 

Aus  dem   bekannten  Mischungsgewicht  der  Oxalsäure   berechnet 
sich  das  Mischungsgewicht  des  Oxydes  auf  folgende  Weise: 
0,2426  gr.  C^O*:  0,298  gr.  Oxyd  =  72  :  88,44. 

Nehmen  wir  für  Yttererde  die  Formel  Y^O  an,  so  ergiebt  sich  hier- 
aus für  Yttrium  das  Mischungsgewioht  36,44,  für  das  weniger  reine, 
oben  analysirte  das  Mischungsgewicht  40,11.  Das  Mischungsgewicht 
des  Yttriums  wurde  von  Bahr  und  Blnsen  •)  zu  30,85,  von  Delafon- 
taine2)  zu  32,  von  Popp»)  zu  34  bestimmt. 

Die  von  mir  erhaltene  Yttererde  war  aber  noch  didymhaltig,  da 
ihre  Lösungen  vor  dem  Speclroskop  die  beiden ,  den  Didymlösungen 
eignen  Absorptionslinien  auf  45  im  Gell)  und  auf  61  im  Grün  zeigten 
(siehe  oben  Didyruspoctrum).    Von  diesem  Didymcehalt  rührt  odenbar 


I)  .\nn.  d.  eil.  u    l'h.  137.  i]   Ebcnd.  i;U.  3)  Ebcnd.  131 


310  Dr.  Carl  Erk, 

das  höhere  Mischungsgewicht  her,  welches  sich  aus  meinen  Resultaten 
berechnet.  Die  erhaltene  Yltererde  war  ein  zartes ,  hellgelbes  Pulver. 
Ihr  Oxalat  verglimmte  beim  Glühen  rasch  und  ähnlich  wie  das  Ceroxa- 
lat  zu  Oxyd. 

Zur  Trennung  der  Ceritoxyde  von  Yttorerde  schlage  ich  folgenden 
Weg  vor.  Nachdem  alles  Cor,  sowie  der  grösste  Theil  des  Lanthan 
nach  obiger  Trennungsmethode  entfernt  worden  ist,  werden  die  Didym- 
oxyde  in  Salpetersäure  gelöst  und  mit  nicht  zu  concentrirter  Natrium- 
sulfatlösung gekocht.  Alle  Ceritoxyde  bilden  nämlich  mit  Natriumsulfat 
sehr  schwerlösliche  Doppelsulfate,  während  das  Doppelsalz  mit  Ytter- 
erde  viel  leichter  löslich  ist.  Sowohl  die  in  Lösung  gebliebenen  Oxyde, 
als  auch  das  als  Doppelsulfat  ausgefällte  Didymoxyd  werden  wiederholt 
mit  Natriumsulfat  behandelt  und  auf  diese  Weise  wird  einesthcils  Di- 
dymoxyd, anderntheils  Yltererde  erhalten. 

Die  Yttererde  findet  sich,  nachdem  Lanthan  und  Didym  getrennt 
sind,  nur  bei  den  Didymgliedern  und  zwar  in  relativ  grösserer  Menge 
bei  den  äussersten  Didymgliedern  vor,  was  ihre  geringere  Affinität 
beweist.  Dieses  widerspricht  ganz  und  gar  den  Popp'schen  i)  Angaben 
über  eine  Trennungsmethode,  welche  derselbe  mit  Baryumcarbonat 
ausgeführt  haben  will ,  indem  er  eine  gemischte  Lösung  von  Yttererde 
und  Ceriloxyden  mit  Baryumcarbonat  zusammenstellt.  Hierbei  soll 
Yttererde  in  Lösung  bleiben,  Didymoxyd  und  Ceroxyd  gefällt  werden. 
Ich  habe  diese  Trennung  mit  Baryumcarbonat  versucht,  fand  aber,  dass 
die  im  Filtrat  gebliebenen  Oxyde  keine  andere  Zusammensetzung  zeig- 
ten, als  die  im  Niederschlage  befindlichen. 

Ferner  vindicirt  Popp  den  Yttererdelösungen  ein  eigenthündiches 
Absorptionsspectrum.  Bunsen  und  Bahr  2)  dagegen  haben  bei  Yttererde- 
lösungen kein  Spectrum  bemerkt.  Auch  meine  Yttererdelösung  zeigte, 
da  sie  noch  didymhaltig  war,  nur  zwei  den  Didymiösungcn  eigene  Ab- 
sorptionsstreifen im  Gelb  und  Grün.  Die  Angaben  von  Popp  sind  dar- 
nach also  gewiss  unrichtig. 


V.   Ueber  die  Zusammensetzung  des  Ceroxyds. 

I.   G  ero-Gerioxyd. 

Ueber  die  Zusammensetzung  des  Ceroxyds  bestehen  sehr  wider- 
sprechende Angaben.      Rammelsberg  ^),    BuNSEN^),    MARUiNAc^)   nchmcn 

1)  Annal.  d.  Cli.  u.  Ph    1.^1.  2)  Ehcnd.  137.  3)   PoftG,  Ann    ins. 

AI  Ann.  d.  Ch.  u.  Ph.   105.         5    Journal  f.  pr.  Chennio  48, 


lieber  die  rcritnietiille.  311 

auf  Grund  ihrer  Untcrsucliungon  au,  dass  das  durch  Glühen  von  Cero- 
xalal,  Cernilrat,  Ccro-Cerihydroxyd  erhaltene  Oxyd  der  Formel  Ce''0^ 
entspreche,  IIkrmann  ')  dagegen  nimmt  für  das  geglühte  Ceroxalat  und 
Cero-Cerihydroxyd  die  Zusammensetzung  Ce^O'^  für  das  geglühte  Cer- 
nilrat und  das  im  Sauerstoir  geglühte  Oxalat  dagegen  die  Zusammen- 
set7Amg  Ce-'O^  an.  Die  "Methode  der  Sauerstoflbestimmung  ist  verschie- 
den bei  den  genannten  Forschern.  Rammelsberg  verbrannte  in  acht 
Versuchen  Ceroxalat  im  Sauerstoffstrome  und  bestimmte  hierbei  aus 
der  gefundenen  Kohlensloflmenge  die  im  Oxalat  enthaltene  Cermenge. 
Aus  dieser  berechneten  Cernienge  und  der  erhaltenen  Ceroxydmenge 
ergiebt  sich  aus  der  Differenz  der  Sauerstolfgehalt  des  Oxydes.  Diese 
acht  Versuche  ergaben  für  letzteres  18,2— 20, i  Proc.  Sauerstoff,  v\äh- 
rend  die  Formel  Ce^O^  18,8  Proc,  Ce^O»  dagegen  23,02  Proc.  Sauer- 
stofT  verlangt.  Bunsen  bestimmte  den  SaucrstofTgehalt  jodometrisch. 
Die  Zusammensetzung  des  geglühten  Oxalates  berechnete  sich  nach  sei- 
nen Bestimmungen  in  drei  Versuchen  wie  folgt: 

Gefunden  :  Berechnet  Ce^O^ : 

Ce  =  80,99       80,99       80,83  Proc.  81,21  Proc. 

0  =  19,01       19,01       19,17    -  18,79    - 

Hermann  bestimmte  den  Cergehalt  des  Oxydes,  indem  er  dasselbe 
in  Cerosulfat  überführte,  als  solches  wog  und  aus  der  l>ekannlen  Zu- 
sammensetzung des  Cerosulfats  den  Cergehalt  berechnete.  Aus  der 
Gewichtsdifferenz  der  angewandten  Oxydmenge  und  der  berechneten 
Cermenge  ergab  sich  der  Sauerstoffgehalt  des  Oxyds.  1  00  Theile  SO^Ce 
entsprechen  nach  seinen  Versuchen  61,128  —  61,6i'8  Theilen  Oxyd. 

Das  geglühte  Nitrat  verliert  nach  Hermann  beim  Lösen  in  concen- 
trirter  Schwefelsäure  8,28  Proc.  Sauerstoff,  ebenso  das  im  Sauerstoff 
geglühte  Oxyd ,  beide  erhallen  daher .  wie  oben  bemerkt,  die  Formel 
CeK)\ 

Ich  habe  eine  Reihe  von  Versuchen  über  die  Zusamniensetzung 
der  auf  verschiedene  Weise  erhaltenen  Oxyde  gemacht  und  theile  fol- 
gende Resultate  nüt. 

Ich  bestimmte,  wie  Hermann,  den  Cergehalt.  Die  gewogenen 
0\\de  wurden  in  einem  schiefgelegten,  in  einem  kleinen  Sandbade 
befindlichen  Porzellan-  oder  Platintiegel  mit  concentrirler  reiner  Schwe- 
felsäure zersetzt.  Nachdem  die  überschüssige  Säure  vorsichtig  ab- 
geraucht und  das  gebildete  Cero-Cerisulfat  trocken  geworden  war, 
wurde  letzteres  über  einer  kleinen  Flamme  bis  zum  schwachen  (ilühen 
des  Tiegelbodens  erhitzt.     !Ii(M-durch  geht  das  Cero-Cerisulfat  unter 

t)  .tourn.  t.  pr   Chemie  ^i,  I  LS 


312  Dr.  Carl  Erk, 

Schwefelsäure-  und  Sauerstoffverlust  in  Cerosulfat  (SO*Ce)  über.  Dieses 
wurde  wiederholt  erhitzt  bis  zum  constanten  Gewicht  und  aus  letzle- 
rem der  Cergehalt  berechnet.  Das  Cerosulfat  wurde  in  Wasser  gelöst, 
um  sicher  zu  sein ,  dass  alles  Oxyd  zersetzt  war.  In  einigen  Fällen 
blieb  ein  geringer  Rückstand  von  noch  unzersetztem  Ceroxyd,  welcher 
abfiltrirt,  gewogen  und  bei  der  Berechnung  in  Abzug  gebracht  wurde. 

1.  Ceroxyd,  durch  Glühen  des  Cero-Cerihydroxyds  erhalten  : 

a)  0,3 1 4  gr.  Oxyd  gaben  0,51 8  gr.  S04Ce=  0,2535  gr.  =  80,73  %  Ce 

b)  0,380  -     -  -      0,629-       -      =0,3078  -  =81,00   -- 
0)0,475-     -  -      0,793-       -      =0,388    -=81,68   -- 

2.  Ceroxyd,  durch  Glühen  des  Cernitrats  erhalten: 

a)  0,379gr.Oxyd  gaben  0,629  gr.SO^Ce  =  0,3078 gr.=  81, 21  %Ce 

b)  0,712-       -         -      1,177-       -      =0,576    -  =80,9    -   - 

3.  Ceroxyd,  durch  Glühen  des  Ceroxalats  erhalten : 

a)  0,204  gr.  Oxyd  gaben  0,336  gr.  S04Ce  =  0,1 644  gr.  =  80,58  %Ce 

b)  0,313  -       -        _      0,517  -        -      =0,253     -   =80,83  -  - 

Die  Formel  Ce^O^  verlangt  81,18  7o  Ce 
_      Ce203        -        79,31   -  -  . 

Diese  Resultate  stimmen  mit  den  von  Bunsen,  Marignac  und  Ram- 
MELSBERG  erhaltenen  überein.  Sic  beweisen  auf's  neue,  dass  es  ein 
Ce^O^  nicht  giebt  und  noch  weniger  ein  Ce^'O^,  als  welches  Hebmann 
das  nach  dem  Glühen  des  Nitrats  erhaltene  Oxyd  bestimmt  hat. 

Es  bleibt  mir  nun  noch  übrig,  das  Verhalten  und  die  Zusammen- 
setzung des  im  Sauerstoff  geglühten  Ceroxydes  zu  beschreiben. 

a)  Geglühtes  Ceroxalat  wurde  eine  Stunde  lang  in  einem  schwer 
schmelzbaren  Glasrohre  im  Sauerstoffstrome  der  heftigsten  Hellrolh- 
gluth  ausgesetzt  und  die  Sauerstoffbestimmung  wie  oben  ausgeführt. 

0,481  gr.  im  Sauerstoff  geglühtes  Oxyd  gaben  0,7945  gr.  SO^Ce 
entspr.  0,3888  gr.  =  80,83  %  Ce. 

b)  Eine  andere  Oxydmenge  wurde  eine  Stunde  lang  im  Sauerstoff- 
strome schwach  geglüht. 

0,605  gr.  Oxyd  gaben  0,998  gr.  SO^Ce  entspr.  0,4884  gr.  =  80,79 
Proc.  Ce. 

Auch  Rammelsberg  hat  das  Oxyd  im  Sauerstoff  geglüht  und  stellt 
dafür  die  Formel  Ce^'^O'^  auf,  sagt  aber  selbst,  dass  es  wohl  keine  be- 
stimmte Verbindung  sei.  Ein  Cersuperoxydul,  Ce^O^,  wird  also  weder 
aus  dem  Nitrat ,  noch  durch  Glühen  des  Oxyds  im  Sauerstoff  erhalten. 
Auf  die  Eigenschaften  des  Ceroxyds  weiter  einzugehen  ist  wohl  hier 
überflüssig,  da  sie  vielfach  von  andern  schon  erörtert  sind. 


Geber  die  Ceritmetalle.  313 

Rammelsbkrg  hnt  ferner  versucht ,  durch  Schmelzen  von  Ce '0'  mit 
Kaliumhydroxyd  und  Kaliumchlorat  eine  höhere  Oxydalionsstufe  dar- 
zustellen, ohne  zu  dem  s^ewUnschten  Resultat  zu  kommen.  Auch  ich 
erzielte  bei  Wiederholung  dieses  Versuchs  kein  anderes  Resultat.  Ich 
hoflfle  ferner  bei  der  Elektrolyse  von  Cerlösungen  eine  höhere  Oxyda- 
lionsstufe  zu  erhalten  und  habe  deshalb  eine  Reihe  von  elektrolylischen 
Versuchen  angestellt.  Aber  auch  hier  mangelte  der  gewünschte  Erfolg, 
wie  ich  vseiter  unten  zeigen  werde. 

2.  Gero-Gerihydroxyd. 

Rammelsberg ')  bestimmte  den  Wassergehall  des  Gero-Cerihydro- 
xyds,  weiches  er  durch  Zersetzung  des  basischen  Cero-Cerisulfats  mit 
Kaliumhydroxyd  und  Behandeln  mit  Chlor  erhalten  hatte.  Er  stellte 
dafür  die  Formel  Ce^'O^,  SH'^O  auf.  Ich  habe  den  Wassergehalt  des 
Hydroxyds  auch  bestimmt  und  gleiche  Zusammensetzung  gefunden. 
Reines  basisches  Cero-Cerisulfat  wurde  durch  Kochen  mit  Aelzammo- 
niak  in  Gero-Gerihydroxyd  übergeführt,  dieses  abfiltrirt,  mit  heissem, 
ammoniakalischem  Wasser  ausgewaschen  und  noch  nass  unter  eine  gut 
schliessende  Glocke  mit  Schwefelsäure  und  Aetzkalk  zusammengestellt 
und  getrocknet.  iJas  Gero-Gerihydroxyd  nimmt  bekanntlich  an  der 
Luft  leicht  Kohlensäure  auf,  deshalb  obige  Vorsichtsmassregeln.  Von 
dem  so  erhaltenen  Ilydroxyd,  welches  getrocknet  gelblich-weisse  Stücke 
bildete,  wurden  folgende  Wasserbestimmungen  gemacht,  einmal  direct 
durch  Glühen,  dann  indirect  durch  Ueberführen  in  SO^Ge. 
1 .  Durch  Glühen  : 
0,9765  gr.  Gero  Gerihydroxyd  gaben  0,1 385  gr.  =  1  4, 1 3  «/^  H20 
0,676     -       -  -  -       0,093     -  =13,9     -    - 

0,690     -       -  -  -       0,0965  ~  =13,98  -    - 

2.  0,444  gr.  Gero-Gerihydroxyd  gaben  0,624  gr.  SO^Ge,  welche 
entsprechen  0,377  gr.  Ge^O^.  Die  Differenz  zwischen  letzterem  und 
der  angewandten  Substanz  giebt  den  Wassergehalt  =  0,067  gr. 
=  15,'!  Vo  H20. 

Diese  Resultate  entsprechen  der  von  Rammelsberg  gefundenen  For- 
mel Ge30*,  31120,  welche  13,7%  H^O  verlangt.  Die  Constitution  des 
Gero-Gerihydroxyds  ist  vielleicht  Ge'0''H^  -f-  H'^O 


..,|o[ce(OH)J 

=  ^^|0[Ce(OH)]     -I- H20. 
[OH 


i)  Poggendorff's  Ann.  108. 


314  Dr.  Carl  Krk, 

VI.  Ueber  den  Wassergehalt  des  Ceroxalats. 

Das  Geroxalat  ist  insofern  von  grosser  Wichtigkeit,  als  seine 
Schwerlöslichkeit  bei  der  Darstellung  von  Gerpräparaten  aus  Gerit  be- 
nutzt wird.  Ferner  dient  es  zur  Darstellung  des  Oxyds  und  wird  bei 
quantitativen  Ger- Bestimmungen  dargestellt.  Auch  hat  man  es  vor 
nicht  langer  Zeit  als  Arzneimittel  vorgeschlagen  i) .  Die  Eigenschaften 
desselben  sind  hinlänglich  sclion  bekannt.  Ich  beschränke  mich  hier 
auf  Feststellung  des  Wassergehaltes.  Letzterer  ist  von  verschiedenen 
Forschern  verschieden  bestimmt  worden.  Rammelsberg-)  hat  das  «sorg- 
fältig getrocknete«  Geroxalat  als  G'^O^Ge -f- 3H-0  bestinnnt,  Kjerulf-^) 
stellt  dafür  die  Formel  G^O^Ge-f-H^O  auf,  doch  haben  beide  Forscher 
nicht  erwähnt,  bei  welchen  Temperaturen  sie  das  Oxalat  getrocknet 
haben.  Gibbs^)  hält  die  bei  lOO*^  getrockneten  gemischten  Oxalate  von 
Ger,  Lanthan  undDidym  nach  der  Formel  G^O^Ge-f  3H'-0  zusammen- 
gesetzt und  benutzt  diese  Formel  bei  quantitativen  Gerbestimmungen. 

Durch  die  nachfolgenden  Untersuchungen  habe  ich  gefunden,  dass 
das  lufltrockne  Geroxalat  4H'-0  enthält,  bei  100*^  aber  drei  Mischungs- 
gewichte Wasser  verliert,  während  das  letzte  Mischungsgewicht  Wasser 
erst  bei  höherer  Temperatur  weggeht.  Ueber  Schwefelsäure  verliert 
das  lufttrockne  Oxalat  bis  zu  3  Proc.  Wasser. 

Das  zu  folgenden  Versuchen  angewandte  Geroxalat  stellte  ich  durch 
Fällen  einer  Aeutralen  Gerosulfatlösung  durch  Oxalsäure  dar.  Das  ge- 
fällte Oxalat  wurde  mit  kaltem  Wasser  ausgewaschen  und  bei  Zimmer- 
temperatur bis  zum  Constanten  Gewicht  getrocknet. 

1 .  '1 ,261  gr.  lufttrocknes  Oxalat  gaben  bei  1 00**  0,265  gr.  =  21,01 
Proc.  H'^O,  was  drei  Mischungsgewichten  =  21,4  Proc.  Wasser  ent- 
spricht. 

2.  1,498  gr.  verloren  bei  100"  0,315  gr.  =  2i,03  Proc.  H2Ü. 

Von  dem  bei  100^  bis  zum  constanten  Gewicht  getrockneten  Oxa- 
lat wurden  zwei  Bestimmungen  in  der  Weise  ausgeführt,  dass  dasselbe 
in  einem  sorgfältig  getrockneten  Verbrennungsrohr  im  Sauerstoff  ver- 
brannt und  das  Wasser  in  einem  Ghlorcalciumrohre  aufgefangen  wurde. 

1.  1,032  gr.  desselben  gaben  0,096  gr.  =  9,3  Proc.  H20. 

2.  0,849    -  -  -      0,082    -    =9,66   - 

Nach  der  Formel  G-O^Ge -f- H^O  berechnen  sich  9,1  Proc.  H20. 
In  zwei  andern  Versuchen  wurde  das  bei  100*^  getrocknete  Oxalat 

1)  Meyer,  Vierteljahrschrift  t.  Pharm.  IX,  401 
•äj   PoGG.  Ann.  108,  44. 

3)  Ann.  d.  Ch.  u.  Ph.  87,  42. 

4)  Zeitschrift  f.  Chemie  1865,  -15. 


Uchcr  die  Oritiiiftallc.  315 

{^cglillil,  (liis  i'rliiilU'iic  0\ici  in  Sü'Cc  vciNNJindcll,  ;ius  Ictzlciviii  der 
Cergohalt.  i\us  diesem  das  entsprechende  wasserfreie  Geroxaliil  und  aus 
der  Diilt'tenz  zwiselien  letzterem  und  der  angewandten  Geroxalatinenge 
der  Wassert^ehalt  durch  Bereclinung  yel'unden. 

\.  0,350  gr.  bei  100"  bis  zum  conslanten  Gewicht  getrocknetes 
Oxalat  gaben  0,336  gr.  SO^Ce  entspr.  0,164  gr.  Ce ,  welche  verlangen 
0,321  gr.  C'^O^Ce ;  die  Diflerenz  zwischen  letzteretn  und  tlem  ange- 
wandten Oxalat  giebt  den  Wassergehalt  =  0,029  gr.  =  S,3  Proc.  H'^0. 

2.  0,5365  gr.  gaben  nach  obiger  Beslimnmngsweise  0,51  i  gr. 
SO^Ce  entspr.  0,252  gr.Ge  =  0,493  gr.  G'^O'Ce  =  0,0435  gr.  =8,1  Froc. 

ir-so. 

Bei  einem  Versuche ,  das  Wasser  aus  dem  Verlust  beim  Trocknen 
im  Luftbade  zu  bestimmen,  fand  sich,  dass  das  letzte  Wasser  nicht 
ohne  Zersetzung  des  Salzes  weggeht,  indem  bei  einer  Temperatur  von 
180"  das  Oxalat  eine  dunklere  Fiiibung  annimmt.  Aus  diesen  Ver- 
suchen folgt,  dass  das  lufltrockne  Oxalat  4H'-0,  das  bei  100**  getrock- 
nete Oxalat  dagegen  nur  lH-0  enthält.  Es  entspricht  also  ganz  dem 
Didymoxalat,  welches  auch  lufttrocken  411-0,  bei  1 00"  getrocknet  1  M^O 
enthält. 

VII.    Ueber  die  Zusammensetzung  des  Cero-Cerisulfats. 

Dieses  Salz  ist  Gegenstand  vielfältiger  Untersuchungen  gewesen, 
und  so  viele  Forscher  sich  damit  beschäftigt  haben ,  so  viele  verschie- 
dene Resultate  und  Formeln  sind  dafür  aufgestellt  w'orden.  Zschiksche 
hat  neuerdings  schon  ganz  richtig  nachgewiesen,  dass  die  Verschieden- 
heit der  aufgestellten  Formeln  ihre  Begründung  findet  in  einer  wech- 
selnden Zusammensetzung  des  Salzes.  Man  stellt  gewöhnlich  das  Salz 
durch  Lösen  des  Oxydes  in  concentrirter  Schwefelsäure  dar.  Hierbei 
wird,  je  nach  der  Temperatur,  ferner  nach  dem  Verhältniss  der  an- 
gewandten Oxyd-  und  Schwefelsäuremenge  ein  bald  mehr  oder  weniger 
grosser  Theil  des  trivalenten  Geis  unter  Sauerstoffverlust  zu  bivalen- 
tem Ger  i'educirt.  Und  hierin  findet  sich  die  Eiklärung  dafür,  weshalb 
bei  den  meisten  vorliegiuulen  Formeln  das  Verhältniss  zwischen  bi- 
uiui  trivalentem  Ger  nicht  dem  angewandten  Gero- Gerioxyd  =  Ge^O^ 
entspricht.    In  diesem  letzteren  konunt  ein  bivalentes  Ger  auf  zwei  tri- 

valenteGer=  CeiOjJ;;^ 

lo(CeO). 
Nur  Rammelsberü  fand  dieses  Verhältniss  in  dem  aus  einer  Gero- 
Gerisulfatlösung  zuletzt  auskrystallisirenden  gelben  Salz.    Man  hat  bis- 
her innner  unterschieden  zwischen  einem  rothen  zuerst  auskrvstalU- 


316  Dr-  Carl  Erk, 

j,iren(len  und  einem  gelben  zuletzt  auskrystallisirenden  Salz.  Ueber 
die  Einzelheiten ,  Unterschiede  und  Darstellungsweisen  verweise  ich 
auf  RammelsbergI),  Hermann  2)  und  ZschiescheS).  Was  ferner  noch  zur 
Erklärung  der  variablen  Zusammensetzung  beiträgt,  ist  die  äusserst 
leichte  Reducirbarkeit  des  Salzes  durch  Staub,  Papier  etc.  Nachstehend 
habe  ich  die  verschiedenen  Formeln  zusammengestellt  und  vorzüglich 
das  Verhältniss  zwischen  bi-  und  trivalentem  Ger  berücksichtigt. 

biv. :  triv.Cer 
RAMMELSBERGfandfürdasrotheSalz.3((:eS)  +  €eS3-fl8H20  3:2- 
Hermann  _     _     -       _         _  2(CeS:5)-h€e§34-27H20     2:1- 

Rammelsberg    -     -     -    gelbe  -  CeS  +  €e  §  +  8H20      1:2- 
Hermann  _     _     -        -       -  2(Ce2S3)-f-3(€eS)-f42H202  :  3     - 

ZscHiESCHE       -     -     -    rothe-  Ce5S6-f€eS3-|-27H20     5:2- 

Rammelsberg  allein  hat  also  in  dem  einen  Fall  dasselbe  Verhältniss 
zwischen  divalentem  und  trivalentem  Ger  gefunden ,  wie  es  im  Ce-'O^ 
existirt,  doch  macht  ihm  schon  Zschiesche  den  Vorwurf,  dass  seine  ein- 
zelnen Analysen  sehr  differiren ,  und  dass  er  bei  seinen  Berechnungen 
die  grössten  gefundenen  Werthe  für  den  Sauerstoff  und  die  Basis,  und 
die  kleinsten  für  die  Säure  zu  Grunde  gelegt  hat.  Dadurch  dürfte  die 
Existenz  dieses  Verhältnisses  auch  im  gelben  Salze  bezweifelt  werden. 
Jedenfalls  beweist  die  schon  erwähnte  Thatsache,  dass  beim  Lösen  des 
Oxyds  in  concentrirter  Schwefelsäure  ein  Theil  des  trivalenten  Gers 
reducirt  wird,  dass  die  Basis  des  auf  diese  W^eise  gebildeten  Gero- 
Gerisulfats  nicht  Ge^O^,  sondern  eine  bald  mehr  oder  weniger  oxydul- 
reichere Verbindung  ist.  Sehr  wahrscheinlich  war,  dass  man  durch 
Lösen  des  mit  Ghlor  behandelten  Gero-Gerihydroxyds  in  verdünnter 
Schwefelsäure  ein  Gero-Gerisulfat  erhalten  konnte,  welches  oxydreicher 
war.  Gero-Gerihydroxyd  löst  sich  schon  bei  massiger  Wärme  in  ver- 
dünnter Schwefelsäure ,  es  fallen  also  hier  die  Bedingungen  weg ,  wie 
höhere  Temperatur,  concenlrirte  Säure,  welche  beim  Lösen  des  Oxydes 
in  concentrirter  Schwefelsäure  Reduction  veranlassen.  Von  diesen  Ge- 
sichtspunkten ausgehend  habe  ich  Gero-Gerisulfat  durch  Lösen  von  mit 
Ghlor  behandeltem ,  gut  ausgewaschenem  Gero-Gerihydroxyd  in  ver- 
dünnter Schwefelsäure  unter  möglichster  Abhaltung  von  Staub  und 
andern  reducirenden  Einflüssen  dargestellt. 

Die  Lösung  wurde  über  Schwefelsäure  zur  Krystallisation  gebracht. 
Die  Krystalle  hatten  sich  in  traubigen ,  aus  concentrisch  krystallisirten 


4)  PoGG.  Ann.  108. 

2)  Journ.  f.  pr.  Chemie  92. 

3)  ebend.  107,  2. 


üeber  die  Ceritmetallp.  31 7 

Kugeln  besiehenden  Massen  abgeschieden  iiiul  wurden  auf  einem 
porösen  Stein  von  der  anhiingenilen  Mullerlauiie  l)efreil  und  iielrock- 
net.  Sie  waren  anfangs  braun,  beim  Trocknen  an  der  Luft  wurden 
sie  gelb.  Das  bis  zum  conslanten  Gewicht  an  der  Luft  getrocknete 
Salz  wurde  auf  folgende  Weise  analysirt.  Bei  einer  Partie  wurde 
das  bei  100"  weggehenile  Wasser  durch  Trocknen  im  Luftbade  be- 
stimmt, das  so  getrocknete  Salz  gelöst,  das  Cer  als  Ceroxalat  ausgefallt 
und  dieses  in  Ge  *0^  durch  Glühen  übergeführt.  Im  Filtrat  wurde  durch 
Chlorbaryum  die  Schwefelsäure  besticnmt,  und  zwar  wurde  das  erhal- 
tene Baryumsulfat  stark  geglüht  mit  Salzsaure  i)ehandelt,  um  das  etwa 
mitgefallene  Baryumoxalat  zu  entfernen  und  hierauf  erst  gewogen. 

0,0795  gr.  lufttrocknes  Cero-Cerisulfat  gaben  bei  lOOo  0,1  ö2o  gr. 
=  22,44  Proc.  IPO,  ferner  0,2517  gr.Ce'O»  entspr.  0,2043  gr.  =30,07 
Proc.  Ca  und  0,726  gr.  SO^Ba"^  entspr.  0,249  gr.  =  36,64  Proc.  SO^  = 
14,65  Proc.  S. 

In  einem  andern  Versuche  wurde  das  ganze  Wasser  durch  Erhitzen 
des  Salzes  in  einem  Verbrennungsrohre  mit  vorgelegtem  Bleichromat 
durch  Auffangen  in  einem  Chlorcaiciumrohr  bestimmt.  Das  in  einem 
PlalinschilTchen  befindliche  Cero-Cerisulfat  ging  hierbei  unter  Sauer- 
stolV-  und  Schwefelsäureverlust  in  weisses  Cerosulfat  über  und  konnte, 
da  durchaus  nichts  verloren  worden  war,  als  solches  gewogen  und 
daraus  der  Cergehalt  berechnet  werden. 

0,5185  gr.  lufttrocknes  Salz  gaben  hierbei  0,1485  gr.  =  28,64 
Proc.  H-0,  ferner  0,323 -gr.  SO^Ce  entspr.  0,158  gr.  =  30,47  Proc.  Ce. 

Aus  diesen  durch  die  Analyse  gefundenen  Resultaten  berechnet 
sich  das  Salz  einer  Di -Schwefelsäure,  in  welchem  die  Basis  Ce'O^  ist, 
nämlich,   wie  folgende  Zusammenstellung  zeigt,  die  Formel:   S^O'*>Ce^ 

+  1 4  H2Ü  =  (SO^)  Ce2Ge  -f-  1 4  H^O. 

Gefunden:  Berechnet: 

Ce     =30,47  Proc.  30,26  Proc. 

S      =14,65     -  14,03     - 

H-!0  =  28,64     ^  27,63     - 

Ü      =      -  28,07     - 


VIII.   lieber  die  basischen  Salze  des  Cers. 

I .    Basisches  Cero-Cerisulfat. 

Basisches  Cero-Cerisulfat  wird  bekanntlich  durch  Zersetzung  des 
Cero-Cerisulfats  mit  viel  Wasser  erhalten.    Aus  der  oben  angeführten 

Bd.  VI.  2.  ii 


318  Dr.  CarlErk, 

wechselnden  Constitution  des  letztern  erklärt  sich  leicht,  warum  auch 
diesem  basischen  Salz  von  verschiedenen  Forschern  verschiedene  For- 
meln beigelegt  worden  sind.  Ich  verweise  hier  auf  die  betretfenden 
Abhandlungen  von  Rammelsberg '),  Marignac^)  und  Hermann'^)  und  be- 
rücksichtige nur  das  Verhältniss  des  bivalenten  zum  trivalenten  Cer 
bei  den  von  genannten  Forschern  gefundenen  Formeln. 


biv.    : 

:   tiiv.  Cer 

Rammelsberg: 

1 

:     2 

Marignac  : 

3 

:     4 

Hermann:  | 

2 
1 

:     3 
:     2 

Ich  habe  ebenfalls  dieses  basische  Salz  auf  folgende  Weise  dar- 
gestellt und  analysirt.  Eine  concentrirte  neutrale  Cero-Cerisulfatlösung 
(durch  Lösen  des  Oxyds  in  concentrirter  Schwefelsäure  erhalten)  wurde 
mit  viel  heissem  Wasser  zersetzt,  das  entstandene  flockige  basische 
Salz  absitzen  gelassen,  die  darüber  stehende  Flüssigkeil  decantirt,  das 
Salz  auf  ein  Filter  gebracht  und  mit  kaltem  Wasser  ausgewaschen.  Mit 
heissem  Wasser  zersetzt  sich  nämlich  das  basische  Cero-Cerisulfat, 
wie  ich  weiter  unten  zeigen  werde.  Es  wurde  zwischen  Fliesspapier 
abgepresst  und  trocknete  über  Schwefelsäure  zu  rothgelben,  bern-stein- 
ähnlichen ,  durchscheinenden  Stücken  ein ,  die  sehr  spröde  waren  und 
auf  dem  Bruche  starken  Wachsglanz  zeigten.  Das  über  Schw^efelsäure 
bis  zum  constanlen  Gewicht  getrocknete  und  feingeriebene  Salz  wurde 
durch  Kochen  mit  Aetzammoniak  in  Cero-Gerihydroxyd  verwandelt, 
letzteres  geglüht,  als  Ge'O^  gewogen  und  hieraus  der  Gergehalt  berech- 
net. Im  Filtrat  wurde  die  Schwefelsäure  auf  gewöhnliche  Weise  be- 
stimmt, der  Wassergehalt  wurde  entweder  durch  Erhitzen  des  Salzes 
oder  durch  den  Verlust  gefunden. 

\.  1,443  gr.  Substanz  gaben  0,930  gr.  Ce^^O^  entspr.  0,755  gr.  = 
52,35  Proc.  Ge,  ferner  0,925  gr.  S04Ba2  entspr.  0,127  gr.  =  8,8 
Proc.  S. 

2.  0,6195  gr.  Substanz  gaben  bei  290»  getrocknet  0,080  gr.  = 
12,9  Proc.  H20,  ferner  0,3^4  gr.  Ge^O*  entspr.  0,320  gr.  =  51,65  Proc. 
Ce,   ferner  0,408  gr.  S0^Ba2  entspr.  0,050  gr.  =  9,03  Proc.  S. 

3.  0,862  gr.  Substanz  gaben  bei  100*^  getrocknet  0,067  gr.  = 
7,8  Proc.  H20,  beim  Erhitzen  bis  auf  270»  noch  0,033  gr.  H^O,  Ge- 
sammtwassergehalt  also  0,110  gr.  =12,7  Proc.  H^O. 


1)  PoGG.  Ann.  -108.  2    Journ.  f.  pr.  Chemie  48.         3)  ebend.  92,  113. 


üeber  die  Ceritinetalle. 


310 


Aus  diesen  Resuilalen  berechnet  sich  die  Furmel  S0**HCe2  -f-  "iH^O, 

O 

OH 

das  Salz  einer  TetrahNdroxy-Schwefelsäure:   SsO)".  ^,.,^ 

^         ^  |q  Ce  +  ill'^O. 

•       O(CeO) 
Oll 
OH 
011 


Ol  " 


berechnet : 
S      =9,2  Proc. 
Ce     =  52,7     - 
«20=12,9     - 
O      =  20,2     - 


8,8  Proc. 
52, 35    - 
12,7      - 


oder  einer  Perhjdro\y-Sch\vefeisaure:   S 

OJ' 

0[Ce(0H)2] 
Das  Verhältniss  zwischen  divalenleni  mul  Irivalenleni  Cer  ist  also  1 
Nach  obiger  Formel 

gefunden : 
S      =    9,03 
Ce    =51,65 
H20=  12,9 

0  -  —        - 

Beim  Auswaschen  des  basischen  Ccro-Cerisulfats  mit  heissem 
Wasser  bemerkte  ich,  dass  lange  nachdem  das  Waschwasser  keine 
Reactionen  mehr  auf  Zusatz  von  Oxalsäure  oder  Ammoniak  gab,  auf 
Zusatz  von  Chlorbaryum  Bar\unisulfat  gefallt  wurde.  Ich  schloss  dar- 
aus, dass  sich  das  Salz  bein)  Auswaschen  mit  heissem  Wasser  zersetzt, 
indem  es  seine  Schwefelsäure  verliert.  Eine  vierzehn  Tage  lang  mit 
heissem  Wasser  ausgewaschene  Partie  gab  immer  noch  im  Waschwas- 
ser Schwefelsäurereactionen. 

Eine  hiervon  getrocknete  Probe  wurde  analysirt  und  gab  noch 
7,3  Proc.  Schwefel,  hatte  also  durch  Auswaschen  circa  1,5 — 1,7  Proc. 
Schwefel  verloren.  Vollkommner  und  schneller  gelang  die  Zersetzung 
des  basischen  Sulfats  durch  wiederholtes  Auskochen  mit  immer  neuen 
Mengen  Wassers.  Eine  Partie  wurde  auf  diese  Weise  so  lange  behan- 
delt, bis  das  Waschvvasser  keine  Schwefelsäurereactionen  mehr  gab. 
Der  Niederschlag  war  jetzt  ganz  hell  geworden  und  trocknete  zu 
schmutzig- weissen  Stücken  ein  von  der  Farbe  und  dem  Aussehen  des 
Cero-Cerihydroxyds.  Eine  Probe  wurde  analysirt  und  enthielt  nun  nur 
noch  1,5  Proc.  Schwefel,  es  halte  also  beim  Auskochen  fast  alle  Schwe- 
felsäure verloren.  Durch  diese  Zersetzung  erklären  sich  zum  Tbeil  auch 
die  verschiedenen  Resultate  der  vorhandenen  Analysen,  die  für  das 
Salz  aufgestellt  sind  ;  denn  je  nachdem  das  zu  analysiiende  Salz  mehr 
oder  weniger  lang  ausgewaschen  w urde ,  dt  sto  veischiedener  musste 
die  Schwefelsäurebestimmung  ausfallen. 


320  Dr.  Carl  Erk, 

3.    Basisches  Cero-Cer initrat. 

Giesst  man  eine  concenlrirle  Lösung  von  Cero-Cerinitrat  in  viel 
heissos,  salpeteisäurehalliges  Wasser  aus,  so  scheidet  sich  bekanntlich 
ein  w eissgelbes,  flockiges*  basisches  Nilrat  ab.  Dieses  Verhalten  des 
Cero-Ccrinitrats  ist  schon  zur  Darstellung  reiner  Cerverbindungcn  be- 
nutzt worden.  Da  die  Zusammensetzung  dieses  basischen  Salzes  noch 
unbekannt  ist,  so  habe  ich  sie  in  nachfolgenden  Bestimmungen  fest- 
zustellen gesucht.  Das  basische  Nitiat  ist  in  reinem  Wasser  leicht  lös- 
lich, dagegen  unlöslich  in  salpetersäurehaltigem  Wasser.  Estrocknet 
über  Schwefelsäure  zu  amorphen,  undurchsichtigen,  hellgelben  Stticken 
ein.  Die  Analysen  wurden  auf  folgende  Weise  ausgeführt.  Um  das 
Salz  von  der  etwa  anhängenden,  vom  Auswaschen  mit  salpctersäure- 
haltigeni  Wasser  herrührenden  Salpetersäure  zu  befreien ,  wurde  es 
bei  1  1 0"  getrocknet.  Zur  Bestinmmng  der  Salpetersäure  wurde  es 
durch  Kochen  mit  einer  Lösung  von  Baryumhydroxyd  zersetzt,  im  Fil- 
trat,  welches  durch  Einleiten  von  Kohlensäure  vom  überschüssigen 
Baryt  befreit  war,  das  gebildete  Baryumnitrat  durch  Schwefelsäure  als 
Baryumsulfat  bestimmt.  Um  zu  vermeiden ,  dass  durch  übergerissene 
Salzsäure  die  Salpelersäurebestinnnung  zu  hoch  ausfiele,  schaltete  ich 
nach  dem  gewöhnlichen  Kohlensäurewaschapparat  noch  einen  mit  dop- 
peltkohlensaurem Natron  gefüllten  Cylinder  ein. 

1,5025  gr.  bei  110"  bis  zum  conslanlen  Gewicht  getrocknetes 
Nitrat  gaben  0,3io5  gr.  SO^Ba^.  Ein  Mischungsgewicht  SO'Ba-  ent- 
spricht zwei  Mischungsgevvichlen  Stickstoff.  0,3455  gr.  SO^Ba^  ent- 
sprechen also  0,0415  gr.  =  2,96  Proc.  N. 

Behufs  der  Cerbeslinimung  wurde  das  Salz  einfach  geglüht,  da- 
duich  in  Ce^'O*  übergeführt,  als  solches  gewogen  und  daraus  das  Cer 
berechnet.  0,6595  gr.  gaben  0,579  gr.  Ge^O^  entspr.  0,4  70  gr.  =  71,26 
Proc.  Ge. 

Zur  Wasserbeslininmng  wurde  das  bei  110"  getrocknete  Salz  in 
einem  Verbrenniingsrohi-  mit  vorgelegter  stark  erhitzter  Kupferspirale 
geglüht  und  das  freiwerdende  Wasser  in  einem  Ghlorcalciumrohr  auf- 
gefangen. 0,940  gr.  gaben  hierbei  0,044  gr.  IL^O  entspr.  0,0049  gr.  = 
0,52=  Proc.  IL 

Aus  diesen  drei  Beslimmungen  berechnet  sich  ein  Salz  der  Per- 
hydroxy- Salpetersäure  von  der  Zusammensetzung: 


üeber  die  Ceritraelalle. 


321 


NO^HCe^  =  N{ 


OJCC 

0H,„ 
OCeO 


oder  N  , 


0 


H 


Cc 


Co 


rill   Ol'" 
o[Co^3}Co(OH) 


Das  Veihällniss  zwischen  clivalentcni  und  Irivalenteni  Cer  ist  also 
gleich  dem  beim  basischen  Cero  Cerisuifat,  1  div,  Cer:  1  Iriv.  Cer. 
Nach  obiger  Formel 

bcroclincl:  i;cfundeii : 

N   =    2,74  Proc.  2/J(3  Proc. 

00  =  7?,  Ol      -  •71/26     - 

11    =0,2       -  0,52     - 

0   =  25,'2(i     -  — 


3.    Basisches  Cero-Ceriacetat. 

Der  bei  der  zuerst  l)eschriebencn  Popr'schen  Trennungsmethode 
(vergl.  oben  S.  2i)9)  erhaltene  cerhaltige,  nass  hellgelbe  Niederschlag 
ist  im  Wasser  leicht  löslich,  unlöslich  dagegen  in  einer  verdünnten 
Natriumacetatlösung  und  trocknet  über  Schwefelsäure  zu  lothbrauncn, 
durchscheinenden ,  auf  dem  Bruche  starken  Wachsglanz  zeigenden 
Stückenein,  die  ein  schwefelgelbes  Pulver  geben.  Getrocknet  ist  er 
weniger  leicht  in  Wasser  löslich  und  kann  dann  leicht  von  dem  vom 
Auswaschen  anhängenden  Natriumacctat  befreit  werden.  Eine  auf 
solche  Weise  gereinigte  Probe  gab  mit  Schwefelsäure  allein  schon,  so- 
wie auch  auf  Zusatz  von  Alkohol  die  gewöhnlichen  Essigsäui'ereactionen, 
woraus  hervorgeht,  dass  er  nicht  aus  Cersuperoxydhydrat,  wie  Popp  an- 
giebt,  noch  aus  Cero-Cerihydrox\d  besteht,  sondern  vielmehr  aus 
einem  basischen  Acelat.  Um  die  quantitative  Zusammensetzung  dieses 
basischen  Salzes  zu  bestimmen,  wurde  aus  einer  reinen  Cero-Cerinilral- 
lösung  durch  Kochen  mit  Natriumacctat ,  Abfiltriren  auf  dem  Wasser- 
badtrichter, Auswaschen  mit  heisser  verdünnter  Natriumacetatlösung 
eine  Partie  desselben  dargestellt.  Nachdem  das  Salz  über  Schwefel- 
säuie  getrocknet  worden  war,  wurde  das  Pulver  mit  wenig  Wasser 
behandelt  und  das  anhängende  Natriumacctat  auf  diese  Weise  entfernt. 
Das  so  gereinigte  Salz  wurde  wieder  über  Schwefelsäure  bis  zum  con- 
stanten  Gewicht  getrocknet  und,  wie  folgt,  analysirt.  Es  wurde  im 
Platinschiflchen  in  einem  sorgfältig  ausgetrockneten  Verbrennungsrohr 
im  Sauerstofl'strom  v(>ibrannt  und  die  Verbrcnnungspro<lu(te  in  den 
bei  organischen  l^iemenlaraiiaiyscn  gelträuchliclicn  Apparaten  auf- 
gefangen.   Um  sicher  zu  sein,  dass  alle  |-lssigsäure  zu  Koiilensäuie  ver- 


322  Dr.  Carl  Erk, 

branni  wurde ,  wurde  überdies  noch  eine  mehrere  Zoll  lange  Schiebt 
Kupferoxyd  vorgelegt  und  während  der  Verbrennung  stark  geglüht. 
Der  im  Platinschiffchen  bleibende  Rückstand  wurde  als  Ce^^O^  gewogen 
und  daraus  der  Cergohalt  berechnet.  Da  das  Salz  beim  Verbrennen 
sich  weder  aufblähte,  noch  veispritzte,  das  Ein-  und  Ausnehmen  des 
Platinschiffchens  mit  Sorgfalt  geschah,  so  war  auch  die  Cerbestimmung 
durchaus  correcl..  Es  wurden  zwei  Bestimmungen  gemacht.  In  dem 
einen  Fall  gaben  0,834  gr.  über  Schwefelsäure  getrocknetes  Salz 
0,101.')  gr.  II20  =  0,011-28  gr.  =  1,35  Proc.  H,  ferner  0,226  gr.  CO^ 
=  0,06164  gr.  =  7,39  Proc.  C,  ferner  0,6885  gr.  Ce^O^  =  0,559  gr. 
=  67,03  Proc.  Ce.  bi  dem  andern  Fall  wurden  erhalten  aus  0,545  gr. 
Substanz  0,071  gr.  H'^O  =  0,0079  gr.  =  1,45  Proc.  H,  ferner  0,1 /i85 
gr.  G02  =  0,0405  gr.  =  7,43  Pr'oc.  C,  ferner  0,452  gr.  Ce^O^  = 
0,367  gr.  =  67,34  Proc.  Ge. 

Aus  diesen  Bestimmungen  folgt  die  Zusammensetzung : 

Demnach  ist  es  also  das  Salz  einer  Di-Essigsäure  (siehe  Gehther,  Lehr- 
buch d.  Ghemie) : 

Nach  obiger  Formel 

berechnet:  gefunden: 

G     =    7,11  Proc.  7,39—   7,43  Proc. 

11    =    1,04     -  1,35—   1,45     - 

Ge  =  68,14     -  67,03  —  67,34     - 

0  .=  23,7       _  —           _ 


IX.   Elektrolytische  Versuche. 

Diese  Versuche  wurden  anfänglich  in  der  Absicht  angestellt,  eine 
höhere  Oxydationsslufe  des  Gers  darzustellen.  Es  ist  dieses  nicht  ge- 
lungen ,  doch  ist  die  Zersetzungsweise  der  der  Elektrolyse  unterwor- 
fenen Lösungen  immerhin  interessant  genug ,  um  hier  Erwähnung  zu 
finden.  Bei  allen  diesen  Versuchen  wurde  eine  Batterie  von  drei  Bln- 
sEN'schen  Zink-Kohlen-Elementen  angewandt. 

1.  Elektrolyse  einer  concentri  rten  Gerchlortirlösung. 

Am  -j- Pol  wurde  Ghlor  frei,  am  —Pol  setzte  sich  Gero-Cerihy- 
droxvd  ab. 


Heber  die  CeritinefMle.  323 

2.    Elektrolyse  von  inesehinolz  enem  Ccrocli  lorid. 

Die  "D.arslellune;  des  CerchlorUrs  ist  annlog  der  des  Chlormagne- 
siums. Das  in  einem  kleinen  Porzellantiegel  über  dem  Gebläse  schmel- 
zende CercJilorür  wurde  auf  folgende  Weise  zersetzt.  Am  — Pol  schied 
sich  eine  kleine  Menge  metallisches  Cer  als  schwarzgraues  Pulver  ab. 
Ausserdem  bildeten  sich  vom  letzlern  Pol  ab  rölhlich-silberweisse 
Blätlchen,  welche  mit  Schwefelsäure  übergössen  ChlorwasserstolV  ent- 
wickelten und  beim  Glühen  reines  Ge^O^  gaben.  Jedenfalls  sind  diese 
Blältchen  identisch  mit  dem  von  Wühler  bei  Darstellung  von  Cerium 
erhaltenen  Ceroxychlorür.  Auch  hinterliessen  sie  beim  Lösen  in  Säure 
eine  kleine  Menge  Kieselsäure,  welche  wohl  aus  dem  Platintiegel 
stammte,  da  er  an  der  Stelle,  wo  die  Platinelektrode  aufsass ,  merk- 
lich angegriffen  war.  Bei  der  Behandlung  der  ganzen  nach  der  Elektro- 
lyse erhaltenen  Masse  mit  Wasser  entwickelte  sich  ein  sehr  übelriechen- 
des Gas.  Am  -f-Pol,  welcher  aus  einem  Stückchen  Gaskohle  bestand, 
entwickelte  sich  Chlorwasserstoff,  durch  den  charakteristischen  stechen- 
den Geruch  erkennbar.  Die  Bildung  von  Salzsäure  erklärt  sich  aus 
der  Einwirkung  der  Feuchtigkeit  der  umgebenden  Atmosphäre,  welche 
letzlere  hier  reich  an  Wasser  durch  die  reichliche  Gasverbrennung 
wird.  Ausser  den  schon  erwähnten  Zersetzungsproducten  wurde  eine 
grosse  Menge  Ce'^O^  erhalten,  welche  Thatsache  für  die  leichte  Zer- 
setzbarkeit  des  Cerchlorürs  beim  Schmelzen  an  der  Luft  durch  »iie 
Feuchtigkeit  derselben  spricht. 

3.    Elektrolyse  von  concen  tri  rter  Cerosulfatlösung. 

Beim  Durchgang  des  Stromes  durch  eine  saure  Lösung  färbte 
sich  momentan  die  Lösung  vom  -f-Pol  aus  gelb,  indem  sich  durch 
Oxydation  Cero-Cerisulfat  bildete.  Am  — Pol  schied  sich  ausser  einer 
kleinen  Menge  metallischen  Cers,  das  als  ein  schwarzer  Anflug  am  Pla- 
tindraht erschien ,  eine  flockige  Masse  ab ,  w eiche  zuerst  wachsartig- 
plaslisch  und  bei  längerem  Zusammenstehen  mit  der  Flüssigkeit  kry- 
stallinisch  wurde.    Dieses  war  ein  basisches  Sulfat. 

Derselbe  Vorgang  fand  bei  Anwendung  einer  neutralen  Lösung 
statt,  nur  dass  hier  die  Oxydation  und  Abscheidung  des  basischen  Sul- 
fates durch  die  geringere  Leitungsfähigkeit  der  neutralen  Lösung  an- 
fangs langsamer  erfolgte.  Erst,  nachdem  Säure  frei  geworden,  wurde 
der  Zersetzungsprozess  beschleunigt. 

Das  flockig  ausgeschiedene  basische  Salz  geht  bald  zu  einer  wachs- 
arligen ,  plastischen  Masse  zusammen ,  welche  beim  Zusammenstehen 
mit  der  Mutterlauge  zu  einem  gelben ,   krystallinischen  Pulver  zerfällt. 


324  Dr.  Carl  Erk,  üeber  die  Ceritmetalle. 

Letzteres  trocknet  aber  wieder  gleich  dem  durch  Zersetzung  des  Gero- 
Gerisulfats  mit  Wasser  erhaltenen  basischen  Sulfat  zu  dunkelgelben, 
amorphen,  glänzenden  Stücken  ein  ,  welche,  mit  Wasser  zusammen- 
gebracht, wieder,  jedenfalls  unter  Wasseraufnahme,  zu  einem  krystal- 
linischen  Pulver  werden.  Die  Analyse  dieses  über  Schwefelsäure  ge- 
trockneten Salzes  wurde  in  der  bekannten  Weise  ausgeführt  und  ergab 
die  schon  bekannte  Zusammensetzung:  SO*^HCe'-  -f-  211-0  des  auf 
andere  Weise  erhaltenen  (vergleiche  oben  S.  319). 

1,7135  gr.  gaben  0,212  gr.  =  12,37  Proc.  H^O,  ferner  1,272  gr. 
S0^Ba2  entspr.  0,1747  gr.  =  10,19  Proc.  S,  ferner  1,06S  gr.  Ce'^O^ 
entspr.  0,867  gr.  =  50,6  Proc.  Ce. 

Berechnet:  Gefunden: 

Ce     =  52,7  Proc.        50,6  Proc. 

S      =    9,2     -  10,2      - 

H20  =  12,9     -  12,37   - 

0      =  25,2     -  — 

4.    Elektrolyse  von  neutraler  Geronilratlösung. 

Die  Lösung  blieb  farblos,  am  — Pol  schied  sich  eine  bräunlich- 
gelbe, missfarbige  Masse  ab.  Zugleich  entwickelte  sich  Ammoniak, 
so  dass  die  Lösung  nach  Beendigung  der  Operation  stark  ammoniaka- 
lisch  reagirte.  Die  Mutterlauge  enthielt  keine  Spur  von  Ger  mehr, 
dieses  war  vollständig  durch  das  entstandene  Ammoniak  ausgeschie- 
den. Das  Filtrat  wurde  zur  Trockne  vei'dampft  und  hinterliess  eine 
entsprechend ;  Menge  Ammoniumsalz. 

Dieselben  Reactionen  treten  bei  einer  sauren  Nitratlösung  ein. 

5.    Elektrolyse  einer  basischen  G  e  r  o  -  C  e  r  i  a  c  e  t  a  1 1  ö  s  u  n  g. 
Eine   wässrige  Lösung  von  dem  oben   beschriebenen  basischen 
Gero-Geriacetat  gab  bei  der  Elektrolyse  ebenfalls  ein  basisches  Acetat, 
welches  zu  braunrothen,   amorphen  Stücken  eintrocknete  und  die  ge- 
wöhnlichen Essigsäurereaclionen  gab. 


Den  in  dieser  Abhandlung  ausgeführten  Berechnungen  liegen  die 
in  Geuther's  Lehrbuch  der  Ghemie  gegebenen  Mischungsgewichle  zu 
Grunde. 

Schliesslich  kann  ich  nicht  unterlassen,  meinem  veiehrten  Lehrer, 
Herrn  Prof.  Geuther,  in  dessen  Laboratorium  ich  vorliegende  Unter- 
suchungen ausgeführt  habe,  für  seinen  vielfach  gegebenen  gütigen  Rath 
zu  danken. 

Jena,   im  August  1870, 


Kleine  Mittheilung. 


Eiuc  gute  ^lethode  zur  Darstellung  des  dreibasisclien 
Ameisensäureüthers. 

Von 

Dr.  E.  Stapff. 


Bassett')  giebt  an,  auf  die  Weise,  dass  er  zu  einem  Gemiscl»  von  2  Th.  Chloro- 
form und  12  Th.  Aii<ohol,  weiches  sich  in  einem  mit  aufsteigendem  Kühlrohr  ver- 
sehenen Kolben  befand,  nach  und  nach  in  kleinen  Portionen  1  Th.  Natrium  fügte, 
von  dem  dreibasischen  Ameisensäureäther  eine  »der  Menge  des  angewendeten 
Chloroforms  fast  gleichkommende  Ausbeute«  erhalten  zu  haben,  während  die  Ent- 
decker dieses  Aethers,  Kay  und  Williamson2),  nach  den  von  ihnen  befolgten  Me- 
thoden, d.h.  langsames  Vermischen  von  Chloroform  und  Natriumalkoholat ,  oder 
langsames  Zufügen  von  ersterem  zu  einem  Gemisch  von  Kalihydrat,  Aetzkalk  und 
Alkohol,  nur  verhältnissmässig  wenig  der  Verbindung  erhielten.  Ich  habe  die  Ver- 
suche Bassett's  öfters  wiederholt,  genau  nach  seiner  Vorschrift  gearbeitet  und  bei 
Anwendung  auch  von  erst  über  Natrium  rectificirtem  Alkohol  nie  mehr  als  höch- 
stens 10  Proc.  von  der  Menge  des  angewandten  Chloroforms  dreibasischea  Ameisen- 
säureäther erhalten,  eine  Ausbeute,  welche  die  Angaben  Bassett's  darüber  durch- 
aus nicht  bestätigt.  In  der  neuesten  Zeit  haben  Ladenburg  und  Wichelhaus^J  die- 
sen Aether  so  bereitet,  dass  sie  das  Gemenge  von  Chloroform  und  Alkohol  zu 
Natrium,  das  sich  unter  einer  Aetherschicht  befand,  tropfen  Hessen.  Sie  erhielten 
etwa  13  Proc.  der  angewandten  Chloroformmenge  von  dieser  Verbindung. 

Auf  Veranlassung  des  Herrn  Prof.  Geuiher  habe  ich  zur  Darstellung  dieses 
Aethers  nicht  alkoholhaltiges  Natriumalkoholat  (C^H^NaO,  2C2H60),  wie  es  bei  der 
Wechselwirkung  von  Natrium  und  Alkohol  zunächst  entsteht,  angewandt,  sondern 
alkoholfreies  Natriumalkoholat  (C2H"'NaO)  und  so  eine  Ausbeute  von  zwischen  1460 
und  1480  siedendem  Product  erhalten,  dessen  Menge  43  Proc.  der  angewandten 
Chloroformraenge  betrug. 


1)  Zeitschrift  f.  Chemie  1863.  S.  238. 

2)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  92  S.  346. 

3    Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  152  S.  164. 


326    Dr-  E'  Stapft',  Eine  gute  Methode  zur  Darstellung  des  dreibas.  Amelsensäurerithers. 

Das  in  einer  tubulirten  Retorte  im  Wasserstoffgasstrom  dargestellte  und  durch 
Erhitzen  im  Oelbad  bis  iSOO  von  Alkohol  befreite,  ganz  weisse  Natriumalkoholat 
wurde,  nachdem  die  Retorte  mit  einem  umgekehrten  Kühler  verbunden  war,  mit 
wasserfreiem  Aether  übergössen,  so  dass  die  Masse  damit  einige  Linien  hoch  über- 
deckt war  und  darauf  durch  einen  in  den  Tubulus  gesetzten  Scheidetrichter  das 
Chloroform  langsam  zufliessen  gelassen.  Nachdem  dies  geschehen,  wurde  die 
Retorte  im  Wasserbade  gelinde  erwärmt  und  in  kurzen  Pausen  geschüttelt,  bis  all- 
mählich das  feste  Natriumalkoholat  zergangen  und  an  seiner  Stelle  nur  fein  ver- 
theiltes  Kochsalz  zu  bemerken  war.  Es  wurde  noch  eine  Weile  der  Aether  im 
Wasserbade  im  Sieden  erhalten,  nach  dem  völligen  Erkalten  kaltes  Wasser  zu- 
gefügt, die  ätherische  Schicht  von  der  wässrigen  getrennt,  mit  Chlorcalcium  ent- 
wässert und  rectificirt. 

Der  Grund,  weshalb  die  Ausbeute  auf  diese  Weise  eine  bedeutend  grössere 
war,  als  sonst,  liegt  offenbar  in  der  Ausschliessung  allen  Alkohols,  welcher  auf  das 
Natriumalkoholat  lösend  wirkt.  Da  eine  solche  Lösung  sich  mit  dem  dreibasischen 
Ameisensäureäther,  wie  BassettI)  gezeigt  hat,  in  Kohlenoxyd,  Natriumformiat, 
Alkohol  und  Aether  umsetzt,  so  muss  natürlich  bei  Vorhandensein  von  um  so  mehr 
Alkohol  die  Ausbeute  an  dreibasischem  Ameisensäureäther  um  so  mehr  verringert 
werden. 

Jena,  Univ. -Laboratorium,  Mai  1870. 


1)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd  132  S.  55. 


BEOBACHTUNGEN 


DES 


PATHOLOGISCHEN  INSTITUTS 

zu  JENA. 


VON 


WILHELM  MULLER. 


Specieller  Theil. 

Erste  Beihe. 
Mit  Tafel  IX.  X.  XI.  XII. 


Inhalt. 


Seite 

1.  Heber  den  Bau  der  Chorda  dorsalis 327 

2.  Ueber  Entwicklung  und  Bau  der  Hypophysis  und  des  Processus  infundi- 
buli  cerebri 354 

3.  Ein  Fall  von  kystomatösem  Adenom  der  Hypophysis 425 

4.  Ueber  die  Entwicklung  der  Schilddrüse 428 

5.  Zwei  Fälle  von  angeborenem  Adenom  der  Schilddrüse 454 

6.  Zwei  Fälle  von  Cylinder- Epitheliom  (Epithelioma  cylindrocellulare)  der 
Schilddrüse  nebst  Bemerkungen  zur  Theorie  der  Epitheliombildung  .    .    .  456 

7.  Ein  Fall  von  Spindelzellensarcom  (Sarcoma  fusocellulare)  der  Schilddrüse 
neben  altem  Kropf  mit  Metastasen  auf  Lymphdrüsen  und  Lungen    ....  476 

8.  Ueber  myxomatöses  Adenora  der  Schilddrüse  und  dessen  Beziehungen 
zum  sog.  Gallertkrebs 481 


I.   lieber  den  Bau  der  Chorda  dorsalis. 


Die  erste  klare  Beschreibmis^  der  Foiiiieleinenle  der  Chorda  bei  den 
Craniolen  hat  Jon.  v.  Müller')  geliefert,  l^r  unterscheidet  den  Gallert- 
kcirper,  einen  weissen  bei  einigen  Thieren  in  dessen  Centrum  vorhan- 
denen Faden  und  eine  weisse  peripherische  Schicht.  Der  Gallerlkörper 
besteht  nach  ihm  aus  einer  durciisichligen,  in  dicht  aneinanderstossenden 
Zellen,  welche  den  Pflanzenzellen  analog  sind,  enthaltenen  Gallerte  und 
gehört  niilhin  unter  das  in  der  Thierwelt  spai'sam  vorhandene  Zell- 
gewebe mit  geschlossenen  Zellen.  Der  im  Centrum  der  Chorda  doisalis 
verlaufende  weisse  Streif  gehört  nach  Müllkk  einem  anderen  Gewebe, 
wahrscheinlich  dem  Sehnengewebe  an;  er  besteht  aus  parallelen  Fa- 
sern. Die  peripherische  Schicht  endlich,  welche  noch  innerhalb  der 
Scheide  eine  ganz  dünne  weisse  Lage  bildet,  die  sich  nicht  als  Haut 
von  der  Gallerte  abziehen  lässt,  besteht  nach  den  Beobachtungen  Mül- 
ler's  aus  kleinen  mikroskopischen  Körnchen. 

Th.  Schwann  2)  hat  die  Angaben  Müller's  durch  den  Nachweis  er- 
weitert, dass  die  Zellen  der  Chorda  von  verschiedener  Grösse,  im  All- 
gemeinen in  der  Mitte  am  grössten  sind,  während  sie  nach  aussen 
kleiner  werden.  Sie  enthalten  Kerne,  welche  dicht  an  der  inneren 
Wandfläche  der  Zellen  oder  in  der  Wand  selbst  eingebettet  liegen.  Die 
Körner  der  Rindenschicht  gleichen  nach  ihm  durchaus  Zellenkernen ; 
sie  sind  oval  und  mit  Kernkörperchen  versehen,  nur  etwa  um  die  Hidfte 
kleiner.  Da  diese  Rindenschicht  sich  nicht  scharf  vom  eigentlichen  Ge- 
webe der  Chorda  abgrenzt  und  die  Zellen  der  letzteren  gegen  die  Rinde 
sich  schnell  verkleinern,  so  hält  Schwann  die  Kölner  der  Rinde  für  die 
Cytoblasten  abgeplatteter  Zellen  ,  welche  die  Rinde  bilden.  Er  fügt 
hinzu,    dass  man  bei   günstiger  Beleuchtung  in   den   Zwischenriiumen 


Ij   Vergleidieiide  Anatomie  der  Myxiiioidcii.   Ik-rliii  1S35.   p.  74. 

Vergleichende  Neurolosjie  der  Myxinoiden.  ib.  1840.  p.  64. 
ij   Mikroskopische  ücilei suchungen.   Berlin  1838.  p.  11. 
Bd.  VI.  3.  «3 


328  Wilhelm  Müller, 

zwischen  diesen  Körnern  sehr  feine  Linien  wahrnehme,  \^o  die  Zellen 
aneinanderstossen,  wie  bei  dem  gewöhnlichen  pflasterförmigen  Epithel. 

Die  Darslellung,  welclie  Müller  und  Schwann  zunächst  auf  Grund 
der  Untersuchung  von  Cyklostomen,  Fischen  und  Amphibien  gegeben 
hatten,  ist  später  besonders  durch  die  embryologischen  Arbeiten  Ri;- 
mak's  ')  und  die  vergleichend-anatomischen  Leydig's-)  und  Gegenbaur's-') 
auch  für  die  höheren  Wirbellhicre  als  im  Wesentlichen  richtig  erwiesen 
worden,  so  dass  die  Annahme  allgemeine  Geltung  gefunden  hat,  dass 
die  Chorda  dorsalis  sämmllicher  Granioten  aus  geschlossenen  Zellen 
l)esteiie ,  welche  in  der  Peripherie  klein  und  protoplasmareich  (Epithel- 
schicht Gegenbauu's),  in  der  Mitte  gross  und  mit  hyalinem  Inhalt  ver- 
sehen sind,  ferner  bei  Cyklostomen  und  Fischen  im  Inneren  Iheilweise 
ZQ  schmalen  bandartigen  Formen  sich  umwandeln. 

Nun  sind  in  lelzteier  Zeit  von  zwei  Seiten  her  Angaben  veröffent- 
licht worden ,  welche  mit  der  herrschenden  Ansicht  sich  nicht  verein- 
baren lassen. 

Emil  Dunsv^)  lässt  die  Chorda  bei  Vögeln  und  Säugethieren  nur 
im  Beginn  ihrer  Entwicklung  aus  dichtgedrängten  Zellen  bestehen ,  im 
weiteren  Verlauf  trete  eine  helle  wässerige  bitercellularsubslanz  auf, 
welche  die  Zellen  auseinanderdrängt,  ohne  sie  vollständig  zu  isoüren; 
dadurch  werde  ein  Netz  von  Zellen  hergestellt,  welches  von  rundlichen 
und  ovalen  Lücken  durchsetzt  sei.  An  feinen  Durchschnitten  hat  Ddrsy 
sich  überzeugt,  dass  letztere  keine  Chordazellen  sind,  sondern  Flüssig- 
keitsräume, die  von  den  das  ganze  fötale  Leben  hindurch  sich  gleich- 
bleibenden zarten  Chordazellen  eine  scharfe  Begrenzung  eihalten.  Bei 
Untersuchung  von  Flächenansichten  oder  gröberen  Durchschnitten 
werde  man  getäuscht,  weil  die  die  Flüssigkeitsräume  trennenden  Chorda- 
elemente  als  eine  feinkörnige  Blasen  enthaltende  Grundsubstanz  er- 
schienen, oder  sie  wurden  auch  wohl  zuiWand  der  scheinbaren  Blasen 
geschlagen  und  so  kam  man  zur  Aufstellung  von  dickwandigen  knor- 
pelzellenähnlichen,  mit  heller  Flüssigkeil  ganz  oder  theilweise  sich  fül- 
lenden Choidazellen.  Niemals  bemerkte  Dursy,  wie  von  Einigen  gelehrt 
wird,    eine  Grössenzunahme    der  Cbordazellen   oder  eine  Aufhellung 


1)  Untersucliungen  über  die  Entwicklung  der  Wirbeltliiere.   Berlin  1855. 

2)  Anatomisch  -  histologische  Untersiiciiungen  übei  Fische  und  Reptilien. 
Berlin  1853;  ferner  Beiträge  zur  mikroskopischen  Anatomie  und  Entwicklungs- 
geschichte der  Rochen  und  Haie.   Leipzig  1852. 

3)  Diese  Zeitschrift  III.  Bd.  p.  374.  V.  Bd.  p.  47.  Grundzüge  der  vergleichen- 
den Anatomie.   Leipzig  1870.   p.  595. 

4)  Zur  Entwicklungsgeschichte  des  Kopfes  der  Menschen  und  der  höheren 
Wirbelthiere.  Tübingen  1869.   p.  19. 


1.  Ve\m  (Im  Riiii  dor  Clioida  dorsiilis.  329 

ilil(ts  Inlinlls  o(I(M'  don  VitIusI  iliici-  Kerne  oder  eine  oiuloiieiic  Zcllvci- 
nielirung  oder  oinc  Umwandlung  in  grössere,  von  Tochlcr/cllcii  ('ilillltt' 
Mullerzcllen. 

Nach  W.  Ilis ')  beginnt  die  Chorda,  dem  Medullaiiohr-  wiiliiend 
(h>r  gesannnton  fi.  und  7.  Periode  (Ende  dos  zweiten  und  (hitler  Be- 
l)riUungstag  des  Ililiinehens)  noch  dicht  anMegend  ,  gleichwolil  scharf 
sicli  ahzugren/en.  Sie  stellt  dann  einen  drehiunden  Sliang  von  H.'i  — 
'(0  fi.  I)urciini(!sser  dar,  der  rings  herum  von  einer  dünnen  anschei- 
nend slructurlosen  Scheide  umgehen  isl.  Die  Zellen  sind  nach  Art 
eines  Drilsengangs  strahlig  geoi'dnet  und  lassen  ein  mittleres  lAunen 
IVei  von  <S— lü  ^i. 

Der  Choi'da  des  Amphioxus  wird  ein  wesentlich  anderei-  Bau  zu- 
geschriel)en  als  jener  dei-  Cranioten.  Alle  Beobachter  lassen  si(^  aus 
einer  bindegewebigen  Scheide  und  (jueren,  in  dieser  enthaltenen  Schei- 
ben oder  Platten  bestehen.  Goonsiii^)  hat  diese  Scheiben  zuerst  be- 
schiieben,  ohne  id)ei-  ihre  Nalur  sich  zu  äussern,  v.  Quatkkfages'')  citirt 
fälschlich  (;o(»i>su{ ,  als  habe  letzterer  die  Scheiben  für  Zellen  erklärt, 
wovon  in  dei- Ahhandlung  von  GoonsiK  nichts  zu  finden  ist,  und  eiklärt 
sie  für  abgeplattete  Zellen.  Diese  Zc^llen  seien  kürzer  als  der  Quer- 
durchmesser der  Chorda  und  bildeten  uuregelmässig  sechsseitige  Plat- 
ten von  0,1  — 0,15  Länge  bei  0,02-  0,0?ö  Dicke.  Die  Wände  seien 
sein-  dick  und  einander  sehr  genähert,  so  dass  der  Zellenraum  nur  0,01 
—  0,015  betrage,  jedoch  nirgends  mit  einander  verschmolzen ,  durch 
einen  ganz  leichten  Zug  könne  man  die  Grenzlinien  fast  immer  deutlich 
her\ortreten  lassen. 

Gegen  die  Zellennatur  dieserScheiben  sprechen  sich  Max  Schultze^) 
und  KowALEVSKi'*)  aus.  Nach  detn  ersteren  Beobachter  isl  von  einer 
Zusammensetzung  derQuerstieifen  der  Chorda  bei  Amphioxus  aus  ein- 
zelnen Zellen  keine  Spur  vorhanden.  Wo  durch  ungeschicktes  Mani- 
puliren  eine  Biegung  oder  gar  Zerreissung  der  Chorda  eingetreten  sei, 
sehe  man  sehr  deutlich  eine  Neigung  zum  Zerfallen  des  Inhalts  in 
quere  Scheiben.  Diese  hält  Max  Schiltze  nebst  einer  weichen  Binde- 
subslanz ,  durch  welche  sie  aneinander  gehalten  werden,  für  die  ein- 
zigen Elementarlheile  der  Chorda. 

1)  Untersuchungen  über  die  erste  Anlage  des  Wiibelthierleibs.  Leipzis^.  1868. 
p.  HS. 

3)  Transmiions  ot  llie  Royal  Scn'iety  of  Kdiiibiirt-'h.  W.  p.  2.')2. 

3)  Sur  lAniplnuxus.   Aniiales  des  Sciences  naturelles.  Seiie3.  Tome  IV.  p. 235. 

4)  Zeilsclirilt  für  wissenscliaftliche  Zoologie  ill.  1852.  p.  417. 

5)  Entwicklungsgescliiclite  des  Amphioxus  laiiceolatus.  ,\I6moires  de  l'Aca- 
demie  de  St.  Petersbourg.  Tome  XI.  1867.  p.  8.  —  Entwicklungsgeschichte  der 
einfachen  Ascidien.  ibid.  Tome  X.  N.  15.  p.  13. 

23» 


330  Wilhelm  Müller, 

Nach  KowALEVSKi  besteht  die  Chorda  des  Aniphioxus  aus  einer 
deutlichen  Chordascheide  und  einer  centralen  Partie,  aus  homogener 
Substanz  und  in  derselben  sich  bildenden  stark  lichtbrechenden  un- 
regelmässigen Körpern.  Diese  Körper  bestanden  anfangs  aus  sehr  klei- 
nen stark  lichtbrechenden  Körnchen,  welche,  allmälig  auswachsend, 
längliche  Form  annehmen.  Aber  zu  gleicher  Zeit  erscheinen  in  der 
homogenen  Substanz  neue  ähnliche  Körper,  welche  anfangs  sich  ganz 
in  der  Nähe  der  Scheide  bilden  und  dann  allmälig  auswachsen  und  sich 
zwischen  die  existirenden  einschieben.  Auf  der  entgegengesetzten  Seite 
der  Chorda  dorsalis  geht  deiselbe  Process  vor  sich  und  die  entgegen- 
wacbsenden  Substanzen  verschmelzen.  Auf  solche  Weise  entsteht 
endlich  eine  Reihe  von  Plättchen,  welche  die  Chorda  zusammensetzen. 
Dass  diese  Plättchen  keine  Zellen  sind,  brauche  nach  dem  Gesagten 
kaum  erwähnt  zu  werden ,  somit  bestehe  die  Chorda  aus  einer  Scheide 
und  aus  der  letzteren  ausgeschiedenen  Substanz. 

Ich  habe  zur  Prüfung  der  vorstehenden  Angaben  zunächst  die 
Chorda  dorsalis  der  Cranioten  einer  erneuten  Untersuchung  unterwor- 
fen. Zum  Ausgangspunkt  diente  die  bleibende  Chorda  der  Cyklostomen. 
Es  standen  mir  aus  dieser  Classe  zwei  erwachsene  und  ein  junges, 
16  Centimeler  langes  Exemplar  von  Myxine  glutinosa,  ferner  eine  An- 
zahl junger  und  erwachsener  Exemplare  von  Petromyzon  fluviatilis  zur 
Disposition.  Ich  verdankte  diese  Thiere  der  Liberalität  der  Herren 
Gegenbaur  und  Hackel  und  G.  W.  Focke  in  Bremen. 

Die  Chorda  besass  bei  allen  diesen  Thieren  während  ihres  Verlaufs 
duich  die  Schädelbasis  einen  runden  Querschnitt,  im  Verlauf  durch 
die  Wirbelsäule  zeigte  die  dorsale  Fläche  eine  Depression.  Das  Chorda- 
band lag  excentrisch  gegen  die  Rückenfläche  zu  und  stellte  einen 
schmalen,  quer  verlaufenden  weissen  Streif  vor,  welcher  bei  den  jungen 
Exemplaren  nur  angedeutet  war. 

Die  Elemente,  welche  die  Chorda  zusammensetzten,  waren  an 
deren  äusserster  Peripherie  und  im  Bereich  des  Chordabandes  anders 
beschaften  als  im  eigentlichen  Gallertkörper.  Die  Peripherie  wurde  bei 
allen  Thieren  eingenommen  von  einer  dünnen  Schicht  sehr  kleiner  Zel- 
len. Diese  waren  bei  den  erwachsenen  Thieren  flach,  mit  Kern  und 
deutlicher  dünner  Membran  versehen.  Bei  den  jugendlichen  Exempla- 
ren von  Petromyzon  waren  sie  im  Bereich  der  dorsalen  Depression 
gleichfalls  flach  und  protoplasmaarm ,  während  sie  an  den  Seiten  und 
namentlich  längs  der  Bauchfläche  quadratische  protoplasmareiche  Cylin- 
der  von  0,0045  —  0,006i)  Seitenfläche  mit  rundem  Kern,  ohne  deut- 


4)  Sämmtliche  Zahlen  beziehen  sich,  wo  nichts  Anderes  angegeben  ist,  auf  Mm. 


1.  Ueber  den  Bau  der  riinrda  doisaüs.  331 

licho  peripherische  Hülle  bihielen.  Dieses  verschiedene  VerhjiUeii  lUsst 
sich  durch  die  Aniinhiue  erkläi'cn,  dass  dicAnbiidung  neuer  Zellen  im 
ventralen  Abschnitt  der  Chorda  energischer  vor  sich  geht  als  im  dor- 
salen. 

Die  kleinen  Zellen  der  Peripherie  gingen  bei  allen  Thieren  rasch 
in  die  vei'hältnissmässig  se\\v  grossen  des  eigentlichen  Gallertkörpers 
über.  Letztere  waren  in  der  Mitte  mehr  kugelig,  gegenseitig  poljgonal 
sich  abplattend,  zugleich  von  beträchtlicher  Grösse,  bei  Myxinc  0,15, 
bei  Petromyzon  0,()G  im  Durchmesser  erreichend;  im  Verlauf  gegen 
die  Peripherie  v^'urden  sie  schmäler  und  zugleich  in  der  Richtung  der 
Hadien  des  Querschnitts  verlängert,  bei  Myxinc  0,05  breit,  0,1  lang, 
bei  Pelromyzon  0,02  breit,  0,0G  lang.  Nahe  der  peripherischen  klein- 
zelligen Schicht  nahmen  sie  sehr  rasch  in  allen  Dimensionen  ab.  Si(! 
besassen  eine  sehr  dünne  farblose,  nur  an  einem  Theil  der  grösseren 
Zellen  dickere  und  leicht  gelblich  gefäi'bte  Membran.  Dies«;  Membran 
lässt  sich  durch  Garminisirung,  noch  besser  durch  die  Färbung  mit 
alkoholischer  Silberlösung  auch  au  Balsampräparalen  sichtbar  darstel- 
len. Noch  einfacher  lässt  sich  ihre  Existenz  durch  Einlegen  eines 
Ghordaschnitts  in  irgend  eine  verdünnte  vvässrige  Säurelösung,  am 
besten  etwas  Jod  enthaltende  Jodwasserstoflflösung  und  nachheriges 
Untersuchen  in  dieser  Flüssigkeit  oder  in  Wasser  nachweisen.  Man 
beobachtet  bei  dieser  Untersuchungsmethode  an  der  Oberfläche  der 
einzelnen  Zellen  eine  grosse  Zahl  sehr  dicht  stehender  glänzender 
Pünktchen,  welche  zum  Theil  in  regelmässigen  Linien  angeordnet  sind. 
Auf  der  Kanlenansicht  entsprechen  diesen  Pünktchen  dicht  neben  ein- 
ander stehende  Linien,  von  welchen  die  Wandung  der  Zellen  senkrecht 
durchsetzt  wird.  Die  Punktirung  und  Streifung  ist  deutlicher  bei 
Myxinc  als  bei  Petronuzon.  Ich  halte  sie  für  den  optischen  Ausdruck 
von  Porencanälen ,  welche  die  Zellenwand  in  senkrechter  Richtung 
durchsetzen.  Die  Wandung  der  Chordazellen  lässt  sich  durch  verdünnte 
wässrige  Säure-  und  Alkalilösungen  etwas  zum  Aufquellen  bringen. 
Die  Zellen  sind  sehr  innig  an  einander  befestigt,  so  dass  es  selbst  ])ei 
längerer  Einwirkung  concentrirter  Alkalilösungcn  nicht  geling!,  einzelne 
Zellen  in  grösseier  Zahl  zu  isoliren.  Der  Innenüäche  der  Zellcnmem- 
bran  liegt  eine  unmessbar  feine,  in  Carmin  rosenroth  sich  indjibirende 
Protoplasmaschichl  an,  sie  enthält  den  stets  wandsländigen  elliptischen 
Kern.  Diese  Protoplasmazone  umgiebt  die  vollkonnnen  durchsichtige 
structurlose  Gallerte,  welche  das  Innere  der  Z<;llen  erfüllt. 

Das  Chordaband  verhielt  sich  bei  den  erwachsenen  Thieren  anders 
als  bei  den  jüngeren.  Es  bestand  bei  ersteren  aus  glänzenden,  paral- 
lel verlaufenden .  hie  und  da  wellig  gebogenen  Fasern  und  Plättchen, 


332  Wilhelm  Müller, 

welche,  aliniälig  mii  Zahl  abnehmend,  zwischen  den  anliegenden  Chorda- 
zellen sich  verloren.  Zwischen  diesen  Fasern  fanden  sich  hie  und  da 
sehr  enge  in  die  Länge  gezogene  Spalten ,  welche  von  durchsichtiger 
Substanz  erfüllt  waren.  Die  Fasern  erwiesen  sich  bei  der  Untersuchung 
im  polarisirten  Licht  als  doppeltbrechend ,  durch  die  Einwirkung  ver- 
dünnter wässriger  Säure-  oder  Aikalilösungen  lassen  sie  sich  in  äh»i- 
licher  Weise  zum  Aufquellen  bringen  wie  die  Membranen  der  Chorda- 
zellen. Bei  den  jüngeren  Thieren  lagen  an  der  Stelle  des  zukünftigen 
Chordabandes  zwischen  den  gewöhnlichen  Chordaelementen  Gruppen 
von  Zellen,  welche  in  der  Richtung  von  der  Rücken-  gegen  die  Bauch- 
fläche eine  beträchtliche  Abflachung  erfahren  hatten,  Sie  unterschieden 
sich  von  der  Umgebung  durch  die  beträchtliche  Dicke  ihrer  Wand, 
welche  an  einzelnen  bis  zu  0,003  im  Durchmesser  erreichte  und  An- 
deutung einer  Schichtung  zeigte.  Ein  Theil  dieser  Zellen  war  bis  zum 
Verschwinden  des  Lumen  abgeflacht,  in  andern  war  der  gallertige 
Inhalt  noch  nachweisbar,  aber  in  einzelne  Klümpchen  gesondert.  Die 
Grösse  der  Mehrzahl  war  gering ,  die  Wandung  von  einzelnen  gefaltet. 
Die  verdickten  Zellenv-aiide  zeigten  im  polarisirten  Licht  Doppel- 
brechung, gegen  verdünnte  wässrige  Säure-  oder  Alkalilösungen  ver- 
hielten sie  sich  wie  das  ausgebildete  Chordaband  der  erwachsenen 
Thiere.  Ich  schliesse  aus  diesem  Befund,  dass  bei  den  jüngeren  Thie- 
ren ein  frühes  Enlwicklungsstadium  des  Chordabandes  vorlag  und  dass 
letzteres  hervorgeht  aus  einer  Verdickung  der  Wandschichten  der  ur- 
sprünglichen Chordazellen  auf  Kosten  ihres  Protoplasmakörpers  und 
Gallertinhalts  mit  Volumverkleinerung  bis  zum  vollständigen  Schwund 
der  Zellenhöhle  und  dichter  Aneinanderlagerung  der  abgeflachten  Zel- 
lenwände. Ich  veimuthe,  dass  es  die  ältesten  Zellen  der  Chorda  sind, 
welche  jeweilig  die  Umwandlung  in  das  Chordaband  erfahren,  und  halte 
die  excentrische  Lagerung  des  letzteren  für  die  nothwendige  Folge 
einer  ventralwärts  energischer  vor  sich  gehenden  Anbildung  neuer 
Zellen,  wie  sie  aus  dem  früher  bereits  angeführten  Grunde  sich  ergiebt. 
Aus  der  Classe  der  Fische  untersuchte  ich  die  Embryonen  meh- 
rerer Haie,  und  zwar  standen  mir  i  und  20  Centimeter  lange  Embryo- 
nen von  Acanthias  vulgaris  und  1 1  Centimeter  lange  Embryonen  von 
Mustelus  vulgaris  zur  Disposition.  Das  Alter  der  Embryonen  erwies 
sich  auch  bei  diesen  Thieren  von  Einfluss  auf  die  Beschaffenheit  der 
Chorda.  Bei  den  jüngeren  Embryonen  von  Acanthias  bestand  letztere 
aus   zwei   Schichten:    einer  protoplasmareichen    Rindenschicht')    und 


1)    Ich  vermeide  die  Bezeichnung  Epithelschicht,    weil  sie  meiner  Ansicht 
nach  den  Nachweis  zur  Voraussetzung  hat,  dass  die  Chorda  aus  dem  oberen  oder 


1.  netter  den  Mau  der  riiorda  dorsalis.  333 

(Iciii  Giillerlkörper.  Ersloro  wjir  0,01  ;^  dick  uiul  I)c.sI;iimI  .ms  einer 
nielirfjielien  Lage  kleiner  Zellen  mit  rundiiehen  Kernen  von  0,()0i  und 
(■id)isclieni  oder  polygonalen» ,  diesen  undiüllenden  Pi'oloj)lasn)akörpor. 
J)er  Gallertkörper  bestand  aus  Zellen,  welelie  in  der  Peripherie  sehr 
klein  waren,  um,  rasch  an  Grösse  zunehmend,  gegen  die  Mitte  hin 
einen  Durchmesser  von  0,0.")  —  0,()H  /u  erreichen.  Sie  hesassen  (^ne 
sehr  dünne  durchsichtige  Membran,  welche  eine  ungemein  feine 
TUplelung  zeigte,  eim;  ungemeine  dünne,  ihr  anliegende,  dtiu  Kern 
enlhallende  Proloplasmazone  und  im  hineren  die  farblose  duichsichtige 
Gallertsubstanz. 

Die  Chorda  der  I  1  Centinieter  langen  Knd)ryonen  von  Muslelus 
zeigte  llindenschicht  und  Gallertkörper  wenig  unterschieden.  Der  letz- 
tere enthielt  in  der  Mitte  das  Cbordaband.  Die  Rindenschicht  bestand 
aus  ziemlich  grossen  dickwandigen  Zellen  und  war  nach  aussen  durch 
einen  sehr  schmalen,  glänzenden,  deutlich  radiär  gestreiften  Saum  von 
der  anliegenden  Guticularschicht  abgegrenzt.  Der  Glaskörper  bestand 
wie  früher  aus  polygonalen  Zellen  von  durchschnittlich  ü,Oö  Durch- 
messer. Sie  besassen  eine  ziemlich  dicke  durchsichtige  Membran, 
welche  bei  der  Untersuchung  in  verdünntem ,  etwas  Jod  enthaltendem 
Jodwasserstoft'  starke  Punktirung  und  auf  den  Kanten  senkrechte  Strei- 
fung zeigte,  eine  ungemein  zarte,  der  Membran  anliegende,  den 
Kern  enthaltende  Protoplasnjazone  und  durchsichtigen ,  gallertigen 
Inhalt.  Das  Chordaband  bestand  aus  sehr  schmalen,  in  seitlicher  Rich- 
tung abgeflachten  dickwandigen  Zellen,  welche  nahe  dem  oberen  und 
unteren  Ende  des  Gallerlkorpers  durch  Zwischenstufen  an  die  gewöhn- 
lichen Chordazellen  sich  anschlössen.  Ihre  Wandungen  waren  zum 
Theil  bis  zur  gegenseitigen  Rerührung  genähert  unter  Schwund  des 
ursprünglichen  Zelleninhalts  und  leicht  gelblich  gefärbt,  so  dass  der 
Anschein  ziemlich  dicker,  parallel  verlaufender  Fasern  entstand.  Die 
Substanz  des  Chordabandes  erwies  sich  bei  der  Untersuchung  im  pola- 
risirten  Licht  als  doppellbrechend ,  durch  verdünnte  wässrige  Säure- 
oder Alkalilösungen  wurde  sie  zum  Aufquellen  gebracht. 

Bei  den  20  Centinieter  langen  Embryonen  von  Acanthias  zeigte 
die  Chorjla  bereits  beträchtliche  Einschnürungen.  Sie  Hess  nur  zwei 
Besifindtheile  erkennen  ;  den  Gallerlkörper  und  das  Chordaband.  Die 
Elemente  des  lelzteien  veihielten  sich  wie  jene  von  Muslelus,  jene  des 
Gallerlkorpers  waien  merklich  kleiner  giworden  ,  ihre  Wandung  war 
verdickt,  leicht  gelblich,  der  Kapsel  von  Knorpelzellen  ähnlich. 


niiterpii  KeiinblaU  nb>tninnnt,  wplcher  bis  jelzl  iiicbl  celieferl  ist.    Die  Unfersohei- 
durig  einer  Rindenscbicbl  und  eines  Gallerlkorpers  ist  unverlanglich. 


334  Wilhelm  Müller, 

Aus  der  Classe  der  Amphibien  untersuchte  ich  Rana  temporaria. 
Das  früheste  Stadium  boten  Embryonen,  deren  Medullarwülste  noch 
nicht  vereinigt  waren.  Die  Chorda  stellte  hier  einen  drehrunden  Strang 
von  0,08  Durchmesser  dar.  Sie  bestand  aus  cubischen  und  polygona- 
len Zellen  von  durchschnittlich  0,02  Durchmesser,  sämmtlich  reich  an 
schwarzem  Pigment  und  kernhaltig,  die  in  der  Mitte  liegenden  enthiel- 
ten zum  Theil  helle  durchsichtige  Räume  in  ihrem  Protoplasma. 

Bei  Embryonen ,  deren  Urnierengänge  sichtbar  waren ,  zeigte  die 
Chorda  einen  Durchmesser  von  0,1.  Die  central  liegenden  Zellen  be- 
gannen jetzt  von  der  Rindenschicht  deutlicher  sich  zu  unterscheiden, 
indem  die  Bildung  heller  Räume  auf  Kosten  des  Protoplasma  erheblich 
fortgeschritten  war. 

Bei  Embryonen  von  5  Mm.  Länge,  welche  eben  im  Ausschlüpfen 
begriffen  waren,  hatte  die  Chorda  einen  Durchmesser  von  0,16, 
Sie  lag  der  Basis  des  Medullarrohrs  dicht  an  ,  seitlich  war  sie  durch 
spindelförmige  Zellen  von  dem  unteren  Ende  der  Urwirbel  geschie- 
den. Sie  Hess  eine  protoplasmareiche  Rindenschicht  und  den  Gal- 
lertkörper bereits  unterscheiden.  Erstere  bestand  aus  theils  cubischen, 
theils  in  die  Länge  gezogenen  abgeflachten  Zellen  mit  rundlichen  und 
elliptischen  Kernen  von  0,01  und  diese  umhüllendem,  sehr  pigment- 
reichem Protoplasmakörper.  Die  Gallertsubstanz  war  zusammengesetzt 
aus  Zellen ,  welche  gegen  die  Mitte  rasch  an  Grösse  zunahmen  und 
einen  Durchmesser  von  0,02 — 0,03  zeigten.  Diese  Zellen  enthielten  im 
Innern  helle  durchsichtige  Gallerte,  sie  war  umgeben  von  einer  ziem- 
lich dicken  Protoplasmazone ,  welche  den  elliptischen  Kern  und  zahl- 
reiche, sehr  feine  dunkelbraune  Pigmentkörner  enthielt.  An  der  Ober- 
fläche des  Protoplasmas  begann  die  Zellmembran  sich  abzuscheiden, 
sie  war,  von  der  Fläche  gesehen,  von  einer  grossen  Anzahl  theils  brau- 
ner, theils  farbloser,  inCarmin  roth  sich  imbibirender  Pünktchen  unter- 
brochen. 

Bei  Larven  von  8  Mni.  maass  die  Chorda  0,22.  Sie  liess  auch  jetzt 
eine  protoplasmareiche  Rindenschicht  und  den  Gallertkörper  unterschei- 
den. Erstere  hatte  ihre  Beschafl'enheil  nicht  geändert,  tlie  Zellen  des 
Gallerlkörpers  maassen  in  der  Mitte  durchschnittlich  0,05,  ihr  Proto- 
plasma war  viel  dünner  als  früher,  die  Zellmembran  deutlicher,  aber 
immer  noch  von  feinen,  mit  Carmin  roth  sich  imbibirenden  Pünktchen 
durchsetzt. 

Bei  Larven  von  iO  Mm.  hatte  die  Chorda  einen  Durchmesser  von 
0,.';.').  Ihr»  Rindenschicht  war  pigmentärnier  als  früher,  bestand  aber 
noch  aus  einer  einfachen  Lage  protoplasmareichcr  Zeihen.  'Der  Gallert- 
körper bestand  aus  Zellen  von  0,07 — 0,1,  welche  in  der  Nähe  der  Rin- 


1.  Upbor  den  Ran  disr  fliordii  dorsalis.  '335 

denschicht  lascli  ;ui  Volum  nbnahincn.  Sic  wai'on  gegenseitig  polygona 
ahgoplallol  und  Ix'standen  aus  einer  sehr  diinnon  durehsielitigen  Moni- 
l)ran,  weiche  i)ei  der  Untersuchung  in  Wasser  oder  sein"  verdünnter 
Jodwasserslofisäuie  eine  feine  Tüpfelung  und  auf  den  Kanton  eine  ent- 
sprechende feine  radiäre  Sti'eifung  erkennen  liess,  einer  uninesshar 
feinen,  in  Carniin  leicht  rosenroth  sieii  iinhibirenden,  der  Z(>liniend)ran 
dicht  anliegenden  Proloplasniazone,  welche  pignientfrei  war  und  den 
flachen  elliptischen  Kern  enthielt,  und  der  durchsichtigen  farblosen  Gal- 
lerlsubstanz. 

Ich  habe  ferner  I.arven  von  .'55  Mm.  untersucht,  welche  den 
Sch\\an/  noch  besassen,  aber  die  vier  Extremitäten  bereits  entwickelt 
hatten.  Der  Einschniirungsprocess  der  Chorda  hatte  bereils  begonnen, 
ihi-  Durchmesser  wechselte«  dem  entsprcichend  zwischen  0,'i2  und  0,!i. 
Die  Rindenschichl  war  viel  weniger  vom  GaHertkörper  unterschieden 
als  früher,  ihre  Zellen  wai-en  klein,  sehr  flach,  sie  bi'sassen  jetzt  eine 
durchsichtigem  Membran,  welcher  der  elliptische  schmale  Kern  anlag 
und  eine  geringe  Menge  eines  hellen  durchsichtigen  Inhalts.  Dei'  L'eber- 
gang  der  Riiidenschicht  zu  den  grossen  Zellen  des  Gallertköipers 
erfolgte  fast  plötzlich.  Letztere  maassen  durchschnittlieh  0,1  im  Durch- 
messer, ihre  Mend^ran  war  theilweise  verdickt,  wie  früher  fein  getüpfelt 
und  an  der  Kantenansicht  gestreift,  die  ihr  anliegenden  Kerne  waren 
sehr  blass,  0,ü0'2  — 0,004  dick,  0,01—0,015  lang,  0,006—0,01  breit, 
der  Inhalt  wie  früher  farblos  und  vollkommen  durchsichtig. 

Die  Chorda  des  erwachsenen  Frosches  besass  innerhalb  der  Wirbel- 
körper i'unden  Querschnitt  und  t^inen  Durchmesser  von  0,ö5.  Das  Organ 
war  demnach  seit  Entwicklung  der  Extren)itäten  kaum  merklieli  in  die 
Dicke  gewachsen.  Sie  zeigte  einen  sehr  ungleichförmigen  Bau,  indem  po- 
lygonale glashelle  Zellen  neben  comprimirten  unregelmässig  gefalteten 
sich  fanden.  Daneben  lagen  Gruppen  von  Zellen  mit  stark  verdickter 
homogener  Intercellularsubstanz ,  Knorpelzellen  durchaus  gleichend. 
Der  Querdurchmesser  des  Organes  nahn)  gegen  die  Wirbelenden  hin 
ab,  so  dass  in  den  Intervertebralscheiben  nur  ein  0,5  langer,  0,01 
dicker,  in  der  Mediaidinie  verlaufender  Strang  übrig  blieb,  welchei' 
parallel  verlaufende,  glänzende,  etwas  gewundene  Linien  zeigte,  ent- 
sprechend den  Contouren  von  dicht  aneinanderliegenden  und  bis  zum 
Verschwinden  des  Lumen  abgeplatteten  Chordazellen. 

Aus  deiClasse  der  Vögel  untersuchte  ich  die  Embryonen  des  Huhns 
und  der-  (ians.  Bei  dem  Huhn  vom  Ende  des  zweiten  Bebrütungslags 
stellic  die  Chorda  eim'u  cylindrischen  Strang  von  0,0.'V  Durchmesser 
dar.  Sie  \\i\r ,  wie  sieh  aus  einem  Vergleich  von  Längs-  und  Quer- 
schnitten  ei  gab  ,   (luiehaus  solid  und  bestand  aus  proloplasmareichen, 


336  Williclm  Müller, 

cubisclien,  in  der  Längsrichlung  des  Organs  theil weise  etwas  abgeplat- 
teten Zeilen  mit  rundenti  Kern  von  0,006  und  durchschnittlich  0,008 
Fläcliendurchniesser.  An  der  Peripherie  erschien  das  Piotoplasnia  die- 
ser Zellen  leicht  verdichtet,  wodurch  das  Organ  scharf  von  der  Um- 
gebung sich  absetzte,  die  im  Centrum  liegenden  Zellen  waren  unbe- 
deutend grösser  als  die  peripherischen  und  stellenweise  etwas  blasser. 
Die  Chorda  der  Gans  von  der  Mitte  des  dritten  Bebrtltungstags  stimmte 
in  jeder  Beziehung  mit  diesem  Stadium  des  Huhns  iiberein,  das  Organ 
war  ein  cylindrischer  Strang  von  0,0'5-3  Durchmesser,  durchaus  soüd, 
die  Zellen  sämmtlich  pi'oloplasmareich. 

Bei  dem  Huhn  vom  dritten  BebrUtungstag  bestimmte  ich  den  Durch- 
messer der  Chorda  innerhalb  der  Wirbelsäule  zu  0,09;  sie  zeigte  eine 
leichte  Abflachung  im  medianen  Durchmesser  und  erwies  sich  auch  jetzt 
in  ganzer  Ausdehnung  solid;  die  Zellen,  welche  sie  zusanuuensetzten, 
Hessen  bereits  eine  Sonderung  in  eine  protoplasmaarme  centrale  Gallert- 
schicht und  eine  peripherische  protoplasiuareiche  Rindenschicht  wahr- 
nehmen. Die  Zellen  der  ersteren  waren  polygonal,  in  der  Richtung  des 
Längsdurchnjessers  der  Chorda  leicht  abgeplattet,  0,012  —  0,018  im 
Durchmesser  und  bestanden  aus  einer  dünnen,  aus  feinen  Körnchen  be- 
stehenden Protoplasmazone  und  in  dieser  enthaltenem  Kern  und  einem 
centralen  farblosen  durchsichtigen  Inhalt.  Die  Peripherie  der  Chorda 
wurde  gebildet  von  einer  0,012  dicken  Schicht  protoplasmareicher  Zellen 
mit  rundhchem  Kern  von  0,004  — 0,006  und  meist  quadratischem,  in  der 
Längsrichtung  der  Chorda  leicht  abgeflachtem  Protoplasmakörper.  Em- 
bryonen der  Gans  aus  der  ersten  Hälfte  des  fünften  Bebrütungstags  boten 
das  gleiche  Entwicklungsstadium  ;  der  Durchmesser  der  Chorda  betrug 
0,09,  die  protoplasmareiche  Rindenschicht  0,013,  die  centralen  auf- 
gehellten Zellen  waren  polygonal,  0,01  —  0,016  im  Durchmesser  mit 
rundlichem  Kern.  Das  Aussehen  der  Querschnitte  der  Chorda  erinnerte 
in  Folge  der  Aufhellung  der  central  liegenden  Zellen  an  jenes  eines 
Drüsenausführungsganges,  von  dem  Vorhandensein  eine^s  wirklichen 
Lumen,  wie  His  es  beobachtet  zu  haben  angiebt,  habe  ich  weder  in 
diesem  noch  in  dem  vorhergehenden  Stadium  mich  überzeugen  können, 
obwohl  ich  eine  ganze  Reihe  von  Hühner-  und  Gänseembryonen  auf 
diesen  Punkt  geprüft  habe. 

Bei  dem  Hühnchen  vom  vierten  Bebrütungstag  bestimmte  ich  den 
Durchmesser  der  Chorda  zu  0,16.  Sie  setzte  sich  wie  in  dem  vorher- 
gehenden Entwicklungsstadium  aus  einer  centralen  Gallertschicht  und 
einer  protoplasmareichen  Rindenschicht  zusammen ;  letztere  war  aber 
viel  dünner  als  früher  und  auf  eine  einlache  Lage  protoplasmareicher 
in  der  Längsrichtung  der  Chorda  etwas  abgeplatteter  Zellen  reducirt 


1.  üeber  dt'ii  üaii  der  riiordii  dorsnlis.  337 

Dio  Zellen  des  GiiileilkiMpocs  luilinicti  soii  di-r  Peiiphorie  tj;eyen  die  Mille 
rasch  an  Grösse  zu  und  niaassen  in  IcUlerei"  durclischnilllieli  '1,01  (i. 
Sie  waren  polyt^onal  und  heslanden  aus  einer  durehsieliligen  Membran, 
einer  sehr  dünnen,  dieser  anliegenden  Proloplasniaseliichl,  welche  den 
Kern  enthielt  und  itn  Innern  aus  farbloser  durchsiehligei-  (iallerle. 

Am  sechsten  BebrilUingstag  bestimmte  ich  den  Durchmesser  der 
r4horda  zu  0,':\  Die  prolopliisiiiareichc  Kindenschiclil  halle  sich  gegen 
das  \orig(!  Sladium  nicht  veiiindert.  Die  ccnlralen  Zellen  niaassen 
durchschnilllich  0,02,  beslandcu  aus  Membran  ,  Prolnplasiiia7.on(>  und 
galliMligcm  lidiall  und  (Milhicllcii  i'undliche  oder  elliptische  KcriU!  mit 
grossen,  stark  glänzenden  Kernköiperchen.  Die  Zellmend)ran  liess  sich 
wie  bei  den  nicdeien  \Virb<'Ithieren  durch  Carmin  blassioseniolh,  duich 
Silbersalpeter  bräunlichg(MI)  l'aiben,  mit  veidüniiten  wässrigen  Alkalien 
behandelt  quoll  sie  höchst  unbedeuleml.  Hei  Untersuchung  in  vei- 
dünnler,  etwas  Jod  enlliailender  JodwasseisloHsäure  liess  sie  eine  sehr 
feine  IHinktirung  der  Obcitläche  und  eine  feine  radiäre  Streifung  der 
Kanten  erkennen. 

Bei  dem  Huhn  vom  zehnten  Bebrütungstag  schwankte  der  Durch- 
messer der  Chorda  zwischen  0,^  und  O,^^.  Der  Bau  des  Organs 
zeigte  nur  insofern  Aon  jenem  der  letzten  Stadien  sich  s'erschieden, 
als  auch  die  proloplasmareiche  Rindenschichl  weniger  lebhaft  mit 
Carmin  sich  imbibirte  als  früher,  was  auf  eine  allmalige  Differenziiung 
auch  dieser  Zellen  in  den  übiigen  Chordaelementen  gleichwerlhige 
Gebilde  schliessen  lässt. 

Aus  der  Classe  der  Säugelhiere  habe  ich  18 — 2'(  Mm.  lange  Em- 
bryonen vom  Schwein .  Schaf,  Kaninchen  und  Menschen  untersucht. 
Der  Bau  der  Chorda  stimmte  bei  allen  überein.  Bei  dem  Schweins- 
embryo von  18  Mm.  bestimmte  ich  die  Dicke  der  Chorda  beim  Eintritt 
in  den  Schädel  zu  0,034  fexclusive  Cuticula  .  Sie  bestand  aus  zwei 
deutlich  unterscheidbaren  Lagen ;  einer  peripherischen,  0,009  dicken 
Lage  thcils  polygonaler/  thcils  quadratischer,  in  der  Längsrichtung  ab- 
gellachter  Zellen  mit  rundem  Kern  und  diesen  umschliessendem  Proto- 
plasmakörper und  einer  centralen,  0,016  dicken  Lage  polygonaler  Zel- 
len, bestehend  aus  einer  sehr  dünnen  durchsichtigen  Membran,  einem 
sehr  feinen  ,  den  Kern  einschliessenden  Protoplasmahi)f  und  hyalinem 
Inhalt.  Auf  Querschnitten  bedingten  diese  centralen  aufgehellten  Zilien 
den  Anschein  eines  Lumen  von  O.OII  bis  0,01  (>  Durchmesser;  durch 
Aenderung  der  Einstellung,  Untersuchung  mit  Silbersalpeler  gefärbter 
Piviparate  und  Vergleichung  von  Längsschnitten  liess  sich  der  solide 
Bau  ohne  Schwierigkeil  nachweisen. 

Bei   dem  Scli.dlolus  von    4   Cciilin)eter   zeicle   die  Chorda    in  der 


338  Wilhelm  Mfiller, 

Schädelbasis  welligen  Verlauf;  ihr  Durchmessel'  betrug  0,036  exclusive 
Cuticularschicht.  Sie  bestand  aus  einer  dünnen  protoplasmareichen 
Rindenschicht  und  dem  Gallertkörper.  Erstere  hatte  sich  gegen  früher 
nur  in  der  Dicke  verändert;  der  Gallertkörper  bestand  aus  polygonalen 
Zellen  mit  durchsichtiger  Wand,  äusserst  dünner,  dieser  anliegender 
Protoplasmazone  mit  rundem  oder  elliptischem  Kern  und  farblosem, 
durchsichtigem  Inhalt.  Die  Zellwand  Hess  auch  hier  mit  Carmin  blass- 
roth,  mit  Silbersalpeter  bräunlichgclb  sich  färben;  in  Jodwasserstoff 
untersucht  zeigte  sie  feine  Tüpfelung  und  auf  den  Kanten  eine  äusserst 
feine  radiäre  Streifung. 

Bei  dem  Schaffötus  von  7  Centimeter  endete  die  Chorda  mit  abge- 
rundeter Spitze  0.01  G  dick  in  den  untersten  Lagen  des  aus  spindel- 
förmigen Zellen  bestehenden  Perichondrium  des  Glivus.  Der  Unterschied 
zwischen  Gallerlkörper  und  protoplasmareicher  Rindenschicht  war  in 
dem  ganzen  Verlauf  durch  die  Schädelbasis  kaum  angedeutet.  Die  Zel- 
len waren  sehr  blass,  ihre  Wandungen  dicker  als  früher,  leicht  gelblich 
gefärbt  und  wie  früher  äusserst  fein  getüpfelt. 

Es  folgt  aus  den  mitgetheilten  Beobachtungen,  dass  sowohl  die 
Angaben,  welche  His  über  das  Vorhandensein  eines  centralen  Lumen 
in  einem  frühen  Entwicklungssladiun»  der  Chorda ,  als  auch  die  An- 
gaben, welche  Dirsy  über  den  Bau  dieses  Organs  in  späteien  Entwick- 
lungsstadiei)  gemacht  hat,  der  Begründung  entbehren.  Die  Chorda  aller 
Cranioten  crschemt  nach  demselben  Plan  gebaut.  In  den  frühesten 
Entwicklungsstadien  aus  einer  Anhäufung  indifferenter  protoplasma- 
reicher Zellen  bestehend,  scheidet  sie  sich  unter  Vermehrung  dieser 
Zellen  in  einen  centralen  Theil,  in  welchem  eine  Differenzirung  des 
Zellprotoplasma  durch  Abscheidung  einer  durchsichtigen  Gallerte  nach 
innen  und  einer  festen  Membran  nach  aussen  staltfindet,  und  in  eine 
Rindenschicht,  welche  aus  indifferenten  Abkömmlingen  der  ursprüng- 
lichen Zellen  der  Chordaanlage  besteht.  Diese  Rindenschicht  wird  im 
Lauf  der  Entwicklung  allmälig  zur  Herstellung  differenzirter  Elemente 
verbraucht;  das  Aufgehen  in  letzlere  bedeutet  die  Sislirung  des  fer- 
neren W^achsthums  des  Organs.  Bei  allen  Cranioten  sind  die  Gallerl- 
zellen  der  Chorda  mit  einer  deutlichen  Membran  versehen  ;  diese  Mem- 
bran besitzt  eine  besondere  Zeichnung,  welche  wahrscheinlich  als  der 
Ausdruck  von  Porencanälen  betrachtet  werden  muss,  welche  die  Wan- 
dung in  senkrechter  Richtung  durchsetzen.  Das  sog.  Chordaband  zeigt 
eine  für  die  einzelnen  Classen  oder  Familien  typische  Anordnung;  bei 
den  Cyklostomen  in  querer  Richtung  der  Chorda  eingelagert,  halbirt  es 
bei  den  Haien  das  Organ  in  senkrechter  Richtung.  Es  besteht  überein- 
stimmend bei  allen  aus  verdickten  und  bis  zum  Verschwinden  der  Zell- 


1.  Uebpf  (Ich  |{;iii  dor  riinida  dorsalis.  339 

liölilc  ;iI)ii('lI;iclil(Mi  Zellen,  (liireli  deicii  {jiciile  Aiieiiiiindeiliij^ciillit:; 
iiiiinenliicli  lu'i  den  Cykloslonien  Befunde  bedingt  werden,  welche  an 
die  Befunde  dieiil  /usnnunengepi-essler  Epilhelien  eiinnern,  wi(^  man 
sie  in  Neubildungen,  nanienllieh  Kystomen,  nicht  sehen  zu  sehen  Gele- 
genheit hat. 

Die  Uebereinslimmung  im  Bau  der  Chorda  bei  sämmtliehen  Clas- 
sen  iler  Craniolen  liess  nur  eine  neue  Untersuchung  der  Chorda  des 
Amphioxus  wünschenswerth  erscheinen.  Mein  College  Anton  Doiirn 
(Ibersandle  mir  zu  diesem  Zweck  mit  dankenswerlher  Liberalität  30 
Kxemplare  dieses  Thieres,  welche  er  Anfangs  Mai  dieses  Jahres  in 
Neapel  gesammelt  und  sofort  in  absoluten  Alkohol  gelegt  hatte.  Die 
Länge  der  einzelnen  Exemplare  schwankte  zwischen  14  und  40  Mm. 
Da  dieChoi'da  des  Amphioxus  sowohl  bei  jungen  als  erwachsenen  Thie- 
ren  bis  an  die  beiden  Enden  des  Körpers  sich  erstreckt,  so  ist  mit 
diesen  Maassen  zugleich  die  Längenausdehnung  des  Organs  gegeben. 
Im  Querschnitt  stellte  die  Chorda  eine  Ellipse  dar,  deren  grosse  Achse 
in  der  Medianlinie  des  Körpeis  lag.  Das  Verhältniss  der  grossen  zur 
kleinen  Achse  fand  ich  durchschnittlich  wie  13:8,  die  absolute  Länge 
(ier  grossen  Achse  schwankte  zwischen  0,20  und  0,5,  jene  der  kleinen 
zwischen  0,  l(i  und  O^^O.  Ks  wuchst  demnach  die  Choida  dieses  Tliie- 
res,  so  lange  letzteres  wächst,  nicht  nur  in  die  Länge,  sondern  auch  in 
der  Richtung  der  Breite  und  Höhe,  in  letzterer  etwas  weniger  als  in 
den  beiden  andern.  An  der  dorsalen  und  ventralen  Fläche  zeigte  das 
Organ  einen  abgerundeten,  über  die  ganze  Länge  sich  erstreckenden 
Vorsprung,  welcher  dorsalwärls  deutlicher  sich  markirte  und  bei  einer 
Basis  von  0,1  eine  Höhe  von  0,().'{  erreichte'). 

Ich  prüfte  zunächst  das  Veihalten  der  Chorda  in  der  Seitenansicht 
des  unverletzten  Thieres.  Zu  diesem  Zweck  färbte  ich  einige  zwischen 
I  4  und  20  Mm.  messende  Exemplare  mit  Carmin  und  machte  sie  hifM- 
auf  mit  Alkohol  und  Canadabalsam  tluichsichtig.  Die  Chorda  zeigte 
nach  dieser  Methode  untersucht  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  die  be- 
kannten Querbänder,  am  vorderen  und  hinleren  Ende  in  Form  schma- 
lei-,  stark  liclul>rechender  Streifen,  welche  zum  grösseren  Theil  durch 
die  ganze  Höhe  des  Organs,  zum  kleinere^  nur  auf  eine  grössere  oder 
kleinere  Entfernung  von  der  oberen  oder  unteren  Kante  sich  erstieck- 
len.  In.  übrigen  Verlauf  wichen  die  parallelen  Querbänder  hie  und  da 
zu  schmalen  spindelförmigen  Räumen  auseinander,  ktlrzere  und  blas- 
sere Formen  zwischen  sich  fassend,   welche  in  verschiedenen  Entfer- 


1)    Die  ünhaltbarkeit  der  Angaben  LErKARx's   und  Pagenstecher's  (Müller's 
.\rchiv  1858)  ergiebl  sich  aus  dieser  Beschreibung  von  selbst. 


340  Wilhelm  Müller, 

nungen  von  der  oberen  oder  unteren  Kante  sich  erstreckten.  Durch 
diese  an  drei  Thieren  ül^ereinstininiend  gemachten  Beobachtungen  wird 
die  Angabe  Max  Schultze's,  nach  welcher  die  Querbiinder  allenthalben 
durch  die  ganze  Dicke  des  Organs  sich  erstrecken  sollen,  für  ältere 
Thiere  widerlegt,  nachdem  sie  durch  Kowalevski  für  die  früheren  Ent- 
wicklungsstadien bereits  als  nicht  zutrelfend  erkannt  ist.  Die  Betrach- 
tung der  Chorda  von  der  Seile  her  im  unverletzten  Thier  berechtigt 
aber  überhaupt  zu  keinem  Ausspruch  über  den  Bau  des  Organs,  weil 
bei  derselben  gerade  der  wichtigste  Abschnitt  durch  das  centrale  Ner- 
vensystem verdeckt  bleibt. 

Zerlegt  man  ein  Stück  eines  Amphioxus  durch  successive  in  sagit- 
taler  Richtung  geführte  I^ängssehnilte  und  betrachtet  man  auf  solchen 
die  Chorda,  so  erscheint  ihr  Bau  am  dorsalen  Ende  anders  beschaffen 
als  in  ihrer  übrigen  Ausdehnung.  In  einer  Höhe  von  durchschnittlich 
0,0;}  liegen  der  Cuticularschicht  längs  des  dorsalen  Endes  verzweigte 
Zellen  an,  deren  Ausläufe  hie  und  da  unter  einander  anastomosiren 
und  helle  Räume  zwischen  sich  lassen.  Darauf  folgen  erst  die  mit  Car- 
min  lebhaft  roth  sich  imbibirenden  glänzenden  Querbänder,  deren 
Dicke  0,00  lö  —  0,00:^  beträgt  und  welche  bei  jüngeren  Thieren  in  Ab- 
ständen von  0,003  bisweilen  leichte  Einkerbungen  zeigen.  Sie  ver- 
laufen parallel  durch  das  Organ;  wo  sie  sich  umlegen,  erscheinen  sie 
als  flache,  ziemlich  blasse  Plältchen.  Am  ventralen  l^'nde  solcher 
Schnitte  zeigen  sich  nahe  der  Cuticulai'schicht  statt  der  glänzenden 
Bänder  abermals  verästelte  Zellen,  stets  sehr  blass  und  in  geringerer 
Zahl  als  am  dorsalen  Ende. 

Auf  successiven  Längsschnitten,  welclie  man  in  liorizontaler  Rich- 
tung durch  ein  Stück  eines  Amphioxus  legt,  vom  Rücken  gegen  die 
Bauchseite  fortschreitend  ,  erkennt  man  an  der  unteren  Fläche  der-  Cu- 
ticular.schicht,  soweit  sie  vom  Gentralnervensystem  bedeckt  wird,  eine 
grosse  Zahl  verästelter  Zellen,  deren  Ausläufer  hie  und  da  anastomo- 
siren und  helle  Räume  zwischen  sich  lassen.  Auf  sie  folgen  wieder  die 
glänzenden ,  mit  starkem  Contour  versehenen  ,  das  Organ  der  Quere 
nach  durchsetzenden  Bänder.  Sie  setzen  sich  mit  conischen,  0,003  — 
0,004  dicken,  0,01  hohen,  lebhaft  roth  sich  imbibirenden  Enden  an  die 
Cuticularschicht  an  und  erstrecken  sich  in  gleichförmiger,  0,001 5 — 0,003 
betragender  Dicke  parallel  durch  das  Organ. 

Wesentlich  anders  ist  die  Beschaffenheit  des  Bildes ,  welches  die 
Chorda  des  Amphioxus  auf  Querschnitten  darbietet.  Schon  früher  ist 
angegeben  worden,  dass  an  den  beiden  Polen  der  Ellipse,  welche  der 
Querschnitt  bildet,  Vorsprünge  sich  finden,  von  welchen  der  ventrale 
wenig  markirt,  der  dorsale  deutlich  entwickelt  ist.    Im  Bereich  dieser 


I.   Uchcr  den  Biiii  der  ('linrdiMloisiilis.  341 

Voi-.spriini;o  ist   (Wo   rJcscIinlVcnlicit   <li's   ()r^;ms  andcis  ;ils   in   di'iii  (l;i- 
zvvischen   lioi^cmlcn  Abschnid ,   dein  Miltelsliickc.    Der  (luliciilnr-.scliichl 
dos  doi'SJilcn  Vorsprunt^s  liei^l  eine  Uoihc  \om  Zi'llcn  an.    Sic  sind  tlicils 
llacli,  ihoils  pioniiniron  sie  als  durchschnilllicli  0,01  hohe,  ü,Oo;{  l)reil(' 
Cylindor  c;egen  das  Innere.   Die  Mehrzahl  dieser  Zellen  verlängert  sich  in 
[•"orlsälze,   welche  thcils  zur  gegcnilbcrlicgenden  Wand  sich  crsliecken, 
iheils  mit  jenen  andrer  Zellen  anastoniosircm.    Dadurch  wird  ein  locke- 
les  Netzwerk  hergestellt,   dessen  Inlerstitien  leer,   d.  h.  im  naliUlichen 
Zustand  mit  Flüssigkeit  erfüllt  sind.    Wo  der  dorsale  Vorsprung  an  das 
Rlittelstück  der  Chorda  sich  ansetzt,   verlaufen  die  Fortsätze  dieser  Zel- 
len mehr  gestreckt  von  der  einen  Seilenwand  zur  andern,  dabei  mehr- 
fach sich  durchkreuzend,  woduich  der  Anblick  eines  sehr  dichten,  aus 
blassen,   durchschnittlich  0,002  breiten  Fasern  gebildeten  Flechtwerks 
entsteht.    Alsbald  al>er  wird  die  lieschatTenheit  des  Mittelstücks  mehi' 
homogen  und  bleibt  so  bis  nahe  an  den  ventralen  Vorsprung.    Mit  Gar- 
min  färbt  sich  dieser  ganze  Abschnitt  sehr  wenig,   mit  einem  Stich  ins 
Gelbliche;    die  Grenzen  der  einzelnen  Zellen,    welche  an  der  lleb(;r- 
gangsstelle  noch  deutlich  längs  der  Cuticularschichl  zu  unterscheiden 
waren,  werden  undeutlich.    Von  di^r  einen  Seilenwand  zur  and(M-n  er- 
strecken sich  in  ziemlich  regelmässigen  Abständen  von  durchschnilllich 
0,003  blasse  Linien,  die  schmalen  F'urchen  gleichen.    Diese  Linien  sind 
schon  von  .loii.  v.  MüLirii  gesehen  und  abgebildet  i)  worden;   sie  sind 
selbst  an  Balsampräparaten  jederzeit  nachweisbar.     Ihnen  entsprechen 
die  seichten  Kinkerbungen,    welche  man  an  den  Querscheiben  jüngerer 
Tliiere  auf  sagittalen  Längsschnitten  bisweilen  antrillt.    Es  ist  mir  nicht 
gelungen ,    im   Inneren   dieser  J>lassen  Streifen  Kerne  oder  Kernrudi- 
mente  aufzufinden.    Bei  der  Untersuchung  in  verdünntem  Jodwasser- 
stoff zeigte  die  Fläche  des  Mittelslücks  eine  äusserst  feine  Punktirung; 
ihr  entsprach  eine  gleich  feine  senkrechte  Streifung  der  Q)uerscheiben 
bei   Betiachlung  von  Längsschnitten.     Ich  halle  diese  Zeichnung  auch 
hier  für  den  Ausdruck  von  I'orencanälen ,   welche  die  Wände  der  ein- 
zelnen Querscheiben  in  .senkrechter  Richtung   duichselzen.     Mit   ver- 
dünnten wässrigen  Säui'en  oder  Alkalien  behandelt  zeigt  die  Substanz 
des  Mittelstücks  deutliches  Quellungsvermögen,  sie  quillt  ferner  beträcht- 
lich bei  kürzerem  Kochen  und  bei    der  Behandlung  mit  concenlrirter 
Chlorcaiciumlösung.    Im  polarisirlen  Licht  erwies  sie  sich  stark  doppel- 
brechend.    Die  einzelnen  Scheiben  scheinen  durch  eine  schwer  lösliche 
Kittsubstanz  verbunden  zu  sein ;   ich  schliesse  dies  aus  der  Schwierig- 


1)    Ueber  den  Bau  iiikI  die  Lebenserscheinuncen  des  Ainphioxus.    .Abhand- 
lungen der  k.  Acadeniic  der  Wiss.  zu  Berlin  aus  dem  .lalire  184:2.  p.  79.  Tab.V.  Fig. 3. 


342  Wilhelm  Müller, 

keit,  mit  welcher  die  Lösung  einzelner  Scheiben  aus  der  Gonlinuität 
der  Chorda  auch  bei  Anwendung  starker  Alkalilösungen  verbunden  ist. 
In  der  Nähe  des  ventralen  Vorsprungs  nimmt  das  Bild  des  Mittelstücks 
denselben  Charakter  e'ines  dichten  Fieehtwerks  an ,  wie  in  der  Nähe 
des  dorsalen.  Der  wenig  ausgeprägte  ventrale  Vorsprung  selbst  zeigt 
ein  ganz  ähnliches  lockeres  Netzwerk  wie  lezterer,  jedoch  ist  die  längs 
der  Cuticula  liegende  Zellenschicht  viel  weniger  entwickelt,  die  Mehr- 
zahl der  Zellen  in  Fortsätze  ausgezogen ,  sehr  blass  und  mit  kleinen 
elliptischen,  mit  Carmin  roth  sich  imbibirenden  Kernen  versehen. 

Aus  diesen  Befunden  ergiebt  sich  zunächst,  dass  die  queren  Schei- 
ben, aus  welchen  das  Mitlelstück  der  Chorda  des  Amphioxus  sich 
zusammensetzt,  nicht  als  einfache  Zellen  betrachtet  werden  können, 
wie  QuATREFAGES  wollto ,  dcuu  mit  dieser  Auffassung  lässt  sich  der 
Befund  nicht  vereinbaren ,  welchen  diese  Scheiben  auf  Querschnitten 
in  der  Nähe  des  dorsalen  und  ventralen  Vorsprungs  darbieten.  Eben- 
sowenig ist  die  Ansicht  von  Max  Schultze  und  Kowalevski  hallbar, 
nach  welcher  die  Chorda  des  Amphioxus  blos  aus  Intercellularsub- 
stanz  bestehen  soll ,  welche  der  letztere  Beobachter  von  dei-  Scheide 
abgesondert  werden  lässt.  Die  im  Bereich  des  dorsalen  und  ven- 
tralen Vorsprungs  vorhandene  Zellenschicht  haben  beide  Beobach- 
ter übersehen.  Die  Kerne,  welche  Kowalevski  in  der  Choidascheide 
beschieibl  und  abbildet,  sind  ganz  sicher  zu  keiner  Zeit  vorhanden, 
denn  die  Cuticula  der  Chorda  des  Amphioxus  vei'hält  sich  in  allen  we- 
sentlichen Punkten  übereinstimmend  mit  jener  der  Cranioten. 

Versucht  man,  auf  Grund  des  thatsächlichen  Befundes  eine  Theorie 
des  Baues  der  Chorda  bei  Amphioxus  zu  gewinnen  ,  so  muss  diese 
Theorie  1)  die  Verschiedenheit  des  Bildes  der  Chorda  auf  Quer-  und 
Längsschnitten,  2/  die  Zunahme  des  Organs  nach  den  drei  Dimen- 
sionen des  Baumes  während  seines  Wachslhums  zu  erklären  vermögen. 
Dieser  Forderung  genügt  die  Vorstellung,  dass  die  C^horda  des  Am- 
phioxus ursprünglich  aus  Zellen  besteht,  deren  Abkömmlinge  längs  der 
dorsalen  und  ventralen  Fläche  des  Organs,  besonders  reichlich  aus 
später  zu  erörternden  Gründen  längs  ersterer,  das  ganze  Leben  hin- 
durch in  deutlicher  Sonderung  sich  erhalten.  Diese  Zellen  sind  sehr 
blass,  sie  besitzen  Fortsätze,  welche  theils  an  analoge  Fortsätze  anderer 
Zellen,  theils  an  die  gegenüberliegende  Wand  der  Chorda  sich  ansetzen, 
und  scheiden  eine  flüssige  Intercellularsubstanz  aus.  Im  Bereich  des 
doi'salen  und  ventralen  Vorsprungs  stehen  diese  Zellen  mit  ihren  Fort- 
sätzen locker,  gegen  das  Mittelstück  zu  drängen  sie  sich  dichter  anein- 
ander und  zeigen  zugleich  die  Neigung,  in  derQuerriehtung  des  Organs 
untereinander  zu  verschmelzen ,   während  in  der  zur  Längsachse  des 


1.  Vo\m  (Ipii  Ran  der  Chorda  dnrsalis.  343 

Körpers  senkrechten  Richtuns;  eine  Ahseheiduni^  fester  Inlercellul.ii-- 
si.I)stnnz  auf  Kosten  dos  Proloplnsni;.  erfolgt.  Aus  dieser  Vorstellung 
orkliirt  sich:  I)  die  Scheihenhildung  im  Miltelslüek  des  Ortrans.  Die 
glänzenden  Körperchon,  vvelehe  als  erste  Andeutung  der  zukünftigen 
Scheiben  hei  dem  Knd)ryo  des  Arupl.ioxus  auftreten,  <'nlsprechen  ver- 
schmolzenen Zellen,  welehe  bereits  eine  feste,  stark  lichtbrechende 
Intercellularsubstanz  abgeschieden  haben;  2)  das  blasse  Au.s.sehen  der 
Scheiben  im  Querschnitt  im  bnbibitionsprä|)aral .  da  auf  «liesem  nur 
dünne  Schichten  imbibionsfiihigen  Protoplasmas  zur  Wirkung  kommen 
können;  .{]  deren  viel  stärkere  Imbibition  auf  dem  Längsschnitt,  da 
hier  der  zNxischen  den  vordickten  Wänden  der  Scheiben  noch  vorhan- 
•  lone  Protoplasmaresl  auf  beträchtlichere  Tiefe  zur  Wirkung  gelangt; 
i)  die  zarte  Sireifung,  \Nelche  nian  auf  Querschnitten  des  Mittelstücks 
wahrnimmt.  Die  einzelnen  Linien  zeigen  dio  Grenzen  der  ursprünglidi 
isoiirten  Z.>llen  an,  durch  deren  Verschmelzung  die  Scheibenbildung 
zu  Stande  gekommen  ist,  wonn't  der  gegenseitige,  durchschnittlich 
0,002  —  0,003  betragende  Abstand  dieser  Linien  gut  in  Uebereinstim- 
nuing  ist;  5)  die  allmälig  deutlicher  werdende  Sonderung  der  einzel- 
nen Bestandtheile  der  Scheiben  an  den  Uebergangsstellen  in  die  Zellen- 
l.igor  des  dorsalen  und  ventralen  Vorsprungs;  6)  die  conische  Gestalt 
d<M-  Enden  ,  mit  welchen  auf  horizontalen  Längsschnitten  die  Scheiben 
;m  die  Cuticula  sich  ansetzen.  Sie  stellen  die  protoplasmareicheren 
Roste  der  verschmolzenen  Zellen  dar  und  zeigen  aus  diesem  Grunde 
lebhafteres  bnbibitions vermögen. 

Auch  das  Wachsthum  der  Chonla  des  Amphioxus  lässt  sich  unter 
Zugrundelegung  dieser  Th,>orie  mit  <lem  thatsächlichen  Befund  in  den 
nothwendigen  Einklang  bringen.  Das  Wachsthum  in  die  Breite  erklärt 
sich  aus  einer  Anbildung  neuer  Substanz  durch  Vermittlung  des  Proto- 
plasman^stes,  welcher  am  Hand  der  Scheiben  sich  erhält;  das  Wachs- 
thum in  die  Höhe  aus  einer  Anlagerung  neuer  Zellen  an  die  bereits  ver- 
schn.oizenen  und  in  dieser  Beziehung  erhält  der  allmälige  Ueberaang 
der  Scheiben  in  das  Netz  isolirler  Zellen  am  dorsalen  und  ventnilen 
iMule  des  Organs  eine-  besondere  Bedeutung.  Das  Wachsthum  in  die 
Länge  endlich  lässt  sich  nur  erklären  durch  die  Annahme  einer  Ein- 
schiebung  neuer  Zellenreihen  zwischen  die  zu  Scheiben  bereits  ver- 
schmolzenen ,  denn  der  Durchmesser  der  Scheiben  weicht  bei  älteren 
Thieren  von  jenem  jüngerer  nicht  erheblich  ab.  Mit  dieser  Annahme 
stehen  nicht  nur  die  Beobachtungen  Kgwai.kvski's  im  Einklang,  nach 
welchen  in  frühen  Entwicklungsstadien  neue  glänzende  Körper  zwi- 
schen die  bereits  vorhandenen  sich  einschieben,  sondern  es  erklärt 
dieselbe  auch   das  Auftreten    spindelförmiger  Räume   im  Verlauf   der 


Bd.  VI.  3. 


24 


344  .  Wilhelm  Müller, 

Chorda,  da  das  Eindringen  neuer  Zellenreihen  zwischen  die  aneinander- 
liegenden Scheiben  an  der  Stelle,  wo  letztere  auseinandergedrängl  wer- 
den, den  Anschein  eines  spindelförmigen,  von  glänzenden  Contoui'en 
eingefassten  Raumes  erzeugen  nmss. 

Vergleicht  man  die  Chorda  des  Amphioxus  ^;  mit  jener  der  Cianio- 
ten ,  so  ergiebt  sich,  dass  das  Organ  im  Verlauf  der  Transmutationen, 
welche  zur  Entstehung  der  höheren  Wirbelthiere  geführt  haben  ,  be- 
tiächtliche  Veränderungen  erfahren  hat.  V^ererbt  hat  sich  auf  sämmt- 
liche  Cranioten  die  Neigung  der  peripherischen  Zellenschichl  zur  Cuti- 
cularbildung,  vererbt  hat  sich  ferner  auf  Fische  und  Cjkloslomen  die 
Neigung  der  älteren  Zellen  zur  Abscheidung  fester  Intercellularsub- 
slanz,  da  die  Uebereinstimmung  in  den  Eigenschaften  das  Chordaband 
dieser  Thiere  als  das  Aequivalent  der  Scheibenbildung  im  Mittelstück 
der  Chorda  des  Amphioxus  betrachten  lässt.  Verloren  gegangen  ist  die 
Neigung  der  älteren  Zellen  zur  Verschmelzung,  verloren  gegangen  ist 
ferner  die  Fähigkeit  zur  Ausscheidung  einer  flüssigen  Intercellularsub- 
stanz,  während  die  Abscheidung  einer  gallertigen  Flüssigkeit  im  Innern 
der  Zellen  eine  zugleich  mit  deren  grösserer  Selbständigkeit  neu  erwor- 
bene Eigenthümlichkeit  darstellt. 

Ueber  das  Vorhandensein  und  die  Beschaffenheit  einer  Chorda- 
scbeide  und  deren  Beziehung  zur  Wirbelbildung  bestehen  ungleich 
grössere  Differenzen  zwischen  den  Angaben  der  einzelnen  Beobachter 
als  über  die  Chorda  selbst. 

V,  Bar  2)  hat  zuerst  von  einer  Chordascheide  gesprochen  und  damit 
den  hellen,  glasartig  durchsichtigen  Raum  bezeichnet,  welcher  in  den 
ersten  Bebrütungstagen  die  Chorda  des  Hühnchens  rings  umgiebt.  Er 
lindet  die  Frostigkeit  auffallend,  welche  diese  glashelle  Masse  hat,  und 
giebt  an,  dass  am  3.  Tag  die  Rückensaile  mit  einiger  Vorsicht  aus  dei- 
Schtnde  sich  ziehen  lasse,  wähi'end  vom  i .  Tag  an  der  Versuch  ziem- 
lich leicht  gelinge. 

JoH.  V.  Müller ')  hat  die  Bezeichnung  B.vu's  auf  die  Hülle  über- 
tragen, welche  die  Chorda  der  Cjklostomen  und  Frische  umgiebt  und 
zugleich  an  dieser  Hülle  zwei  Schichten  unterschieden :  eine  innere 
fibröse,  der  Chorda  eigenthümliche,   und  eine  äussere  häutige,  welche 

•1J  Den  nahe  iiegemlen  Vergleich  mit  dem  Chordarudiinent  der  Ascidien  un- 
terlasse ich,  da  die  zur  Zeit  über  letzteres  vorliegenden  Angaben  weder  unter  sich, 
nocli  mit  dem  übereinstimmen,  was  ich  selbst  an  Amaurucium  proliferum  beob- 
achtet habe. 

2)  Ueber  Entwicklungsgeschichte  der  Thiere.   Königsberg  1828.  I.  p.  16. 

3)  Vergleichende  Anatomie  der  Myxinoiden  p.  74.  Vergleichende  Neurologie 
der  Myxinoiden  p.  64. 


I.  üclicr  (li'ii  Ran  der  fliordii  dorsalis.  345 

»Mstoro  iiiiii;i('hl  iiiid,  Ix'i  den  (In klostoiiioii  luicli  oIxmi  sich  lorlsctzend, 
nllcin  (las  Hiickcnmiiiksiolu-  ImMcI.  \'W  hcscliicihl  die  crstcrc  Scheide 
als  ein  tihiosos,  aus  Uiiii;l'ascni  iicbildetcs  Hoiir  und  t^ichl  an,  dass  sie 
so  wcniii  als  das  (icwehc  dci'  Choida  st-lhsl  lici  iiizcnd  cincui  Thicr 
veiknüchcic.  Die  äussere  Scheide  isl  nach  .Ion.  v.  Mi  i  i.kk  bei  den  (])- 
kloslonicn  hindoiicwchiii,  hei  den  (Ihiniärcn  und  Haien  isl  sie  der  Sil/, 
von  Üssilicalionen,  welche  inil  den  paarii^en  WiihelslUcken  in  s^ar  kei- 
nem Zusammenhang  stehen. 

Lkydiü  'j  hat  die  Beschreihuui^  Mijlkkr's  duich  den  Nachweis  eiw ei- 
tert, dass  bei  deui  Slür  die  innere  Sciieide  aus  zwei  bagen  sich  zusam- 
mensetzt, einerinneren,  welche  bei  der  Behandlung  mit  verdünnten 
Säuren  oder  Alkalien  wie  Bindegewebe  aufquillt,  und  einer  äusseren, 
welche  die  Eigenschaften  einer  elastischen  Membran  besitzt. 

Mit  diesen  Angaben  Lkydu/s  lassen  sich  die  Beobachtungen  Köi.u- 
ker's-^)  nicht  vereinbaren.  In  seiner  ersten  Mittheilung  über  die  Wirbel- 
bildung der  Selachier  lässt  Köllikek  die  Chorda  von  einer  inneren 
elastischen  Haut,  Elastica  interna,  umgeben  sein,  welche  sich  bei 
Ganoiden  und  Elasmobrachiern  in  weiter  Verbreitung  findet.  Sie  soll 
aus  einem  dichten  Netzwerk  von  Fasern  bestehen,  welche  chemisch 
und  zum  Theil  auch  mikroskopisch  mit  elastischen  Fasern  ganz  über- 
einstimmen ,  und  in  ihren  ausgeprägtesten  Formen  von  den  schönsten 
elastischen  Netzhäuten  des  Menschen  in  nichts  verschieden  sind. 
KöLLiKER  unterscheidet  von  ihr  die  bindegewebige  Scheide,  Tunica 
fibrosa,  als  eigentliche  Scheide  der  Chorda,  welche  allein  an  der  Wir- 
belhildung  sich  betheiligt.  Sie  grenzt  sich  durch  eine  Elastica  externa 
von  der  anliegenden  skelelbildenden  Schicht  ab.  In  seiner  zweiten 
Millheilung  bezeichnet  Kölliker  dii'  Elastica  interna  als  die  eigentliche 
oder  innere  Chordascheide  und  unterscheidet  die  Tunica  fibrosa  als 
äussere,  wendet  mithin  in  zwei  kurz  auf  einander  folgenden  Abhand- 
lungen dieselbe  Bezeichnung  auf  zwei  verschiedene  Schichten  an.  Die 
Tunica  fibrosa  besteht  im  jugendlichen  Zustand  stets  aus  einer  Binde- 
subslanz  mit  spindelförmigen  Zellen.  Die  Chordascheide  der  Cyklosto- 
men ,  Ganoiden  und  Teleostier  besteht  nach  Kölliker  aus  denselben 
drei  Lagen  wie  jene  der  Selachier,  sie  unterscheidet  sich  aber  von  die- 
ser sehr  wesentlich  dadurch ,  dass  die  Faserschicht  nie  Zellen  enthält. 
Nur  Lepidosteus  soll  hievon  eine  Ausnahme  machen  ,   Kölliker  verniu- 


i)  Anatomisch  -  histologische  Untersuchungen  über  Fische  und  Reptilien. 
Berlin  ^853.  p.  3. 

2)  Verhandlungen  der  physikalisch -medizinischen  Gesellschaft  zu  Würzburg 
X.  1860.  p.193.  —  Weitere  Beobachtungen  über  die  Wirbel  der  Selachier.  Frank- 
furt a/M.  ISfU.  p.iS  (1. 

24* 


346  Wilhelm  Müller, 

thet  aber,  dass  bei  diesem  Thier  die  Zellen  erst  secundär  durch  die  | 

Spalten  dei-  Elastica  interna  in  die  Chordascheide  eingewandert  seien. 
KöLLiKER  betrachtet  alle  zellen losen  Ghordascheiden  als  Ausscheidungen 
der  Chordagallerte,  weil  I)  ein  alhnäliger  Uebergang  von  den  einfach- 
sten Chordascheiden  der  Vö£;el  und  Säuo;ethiere  zu  den  ausüebildetsten 
Formen  der  Cykloslomen  und  Ganoidei  chondrostei  stattfindet;  2)  weil 
bei  den  Teleostiern  die  Chordascheide  anfangs  ein  dünnes  Häutchen 
sei,  das  durch  Ablagerung  von  innen  sich  verdickt.  Nach  seiner  Auf- 
fassung stellen  die  Chordascheiden  der  Säuger,  Vögel,  beschuppten 
Amphibien  und  auch  die  der  Selachier  den  primären  Zustand  dieses 
Organs  dar,  die  Chordascheiden  der  nackten  Amphibien,  die  auch  eine 
Elastica  externa  haben ,  ein  mittleres  Stadium  und  die  der  Teleostier, 
Ganoiden  und  Cyklostomen  mit  ihren  drei  Lagen  die  ganz  ausgebildete 
Form. 

Gleich  .loH.  v.  Müllek  lässl  Kölliker  die  Chordascheide  an  der  Wir- 
belbildung sich  betheiligen.  Er  unterscheidet  bei  den  Plagioslomen  die 
Fälle,  in  welchen  der  Wirbelkörper  einzig  und  allein  aus  der  Scheiile 
der  Chorda  hervorgeht,  jene,  in  welchen  der  Wii'belkörper  sich  zum 
Theil  aus  der  Scheide  der  Chorda,  zum  Theil  aus  den  verschmolzenen 
knorpligen  Bogen  bildet  und  drittens  die  Fälle,  in  welchen  der  Wlibel- 
körper  aus  der  Scheide  der  Clioi'da ,  einem  Antheil  der  Bogen  und  aus 
Periostablagerungi>n  sich  bildet.  Bei  den  Teleostiern  unterscheidet 
Kölliker  dieselben  Fälle  und  giebl  ausserdem  an ,  dass  die  erste  Ossi- 
fication  der  Wirbel  in  der  mittleien  Lage  der  Chordascheide  geschehe 
und  inuner  aus  einfacher  osteoider  zellenloser  Substanz  bestehe. 

Gegenbaur  ')  hat  in  seiner  ersten  Miltheilung  den  Angaben  Leydig's 
hinzugefügt,  dass  auch  bei  den  Amphibien  eine  Sonderung  der  inneren 
Chordascheide  Müller's  in  zwei  Lamellen  in  grosser  Verbreitung  vor- 
komme, während  bei  einem  Theil  d(M\selben  ähnlich  wie  bei  den  höhe- 
ren Wirbelthieren  nur  eine  Lamelle  zur  Entwicklung  gelangt.  Bezüg- 
lich der  Betheiligung  der  Chordascheide  an  der  W'irbel])ildung  bemerkt 
Gegenbaur.  dass  zur  Annahme  einer  Ossification  der  Chordascheide  eine 
Nöthigung  nicht  vorliege,  da  die  sogenannte  mittlere  Schicht  der 
Chordascheide,  in  der  bei  Seiachiern  und  Chimären  Ossificationen 
(Knorpelknochen)  auftreten,  als  ein  sehr  frühzeitig  von  der  übrigen 
skeletbildenden  Schicht  sich  ablösender  Theil  aufgefasst  werden  kann, 
welcher  dann  durch  eine  dünne  äussere  Lamelle  von  der  übrigen  ske- 
letbildenden Schicht  geschieden  wird. 


1)  Untersuchungen  zur  vergleiclienden  Anatonaie  der  Wirbelsäule.    Leipzig 
1862.  p.  58.  —  Jenaische  Zeitschrift  III.  1867.  p.  359  und  V.  1869.  p.  43. 


I.  lieber  (1(mi  Hau  der  flioidii  dorsalis.  347 

In  seiner  spiileion  Mitlhcilung  weist  Gegenbaur  die  Unhaltbarkeil 
diT  Angaben  Köllikek's  über  Lepidosleus  nach,  inodificirt  aber  zugleich 
seine  IVühoi'c  Verniuthiuiij;  ilbei"  die  Bedouliing  der  sogenannten  mitt- 
leren (lliordascheide,  indem  er  versucht,  die  zwischen  der  Khistica  in- 
terna und  externa  Köli.ikku's  liegende  Schicht  zellenhalliger  Bindesub- 
stnnz  oder  Knorpels  von  der  Rindenschicht  der  Choida  abzuleiten. 
Indem  die  Zellen  der  letzteren  nicht  blos  einseitig,  nur  auf  der  äusseren 
Oberlläche,  sondern  in  ihrem  ganzen  Umfang  Intercellularsubstanz  ab- 
scheiden, werden  die  anfanglich  wie  die  Foi'inelemente  der  Matri\  dichl 
bei  einander  liegenden  Zellen  durch  die  von  ihnen  gebildete  hilercellu- 
larsubstanz  getrennt  und  es  entsteht  ein  Gewebe,  welches  je  nach  der 
BeschalVenheit  seiner  Formelemenle  und  der  diese  umschlicssenden  !n- 
lercellulaisubstanz  Bindegewebe  oder  Knorpel  sein  wird.  Er  bezeich- 
net als  (lliordascheide  die  UndiUllungen  der  Chorda,  welche  derselben 
ausschliesslich  angehörend  sich  in  ihrer  ganzen  Länge  erstrecken,  ohne 
in  die  Bogenbildungen  der  Wirbel  überzugehen.  Es  gehören  dazu  we- 
sentlich Theile,  welche  den  Wirbelkörpern  zu  Grunde  liegen.  Er 
findet  bei  den  Ganoiden ,  Teleostiern  und  Cyklostomen  die  zwei  von 
Leyiug  beschriebenen  Lamellen,  in  unnntlelbarer  Umgebung  der  Choida 
eine  helle,  weichere,  und  weiter  aussen  eine  elastische  und  betrachtet 
ersiere  als  eine  Cuticularmend^ran,  deren  Matrix  die  Rindenschicht  der 
Chorda  bildet.  Er  beschreibt  die  concentrische  Schichtung  und  radiäre 
Slriehelung  dieser  Cuticularmembran  und  deutet  letztere  als  den  Aus- 
druck von  Porencanälen,  welche  gleichmässig  die  Schichte  durchziehen. 

Für  die  Chorda  des  Hühnchens  gaben  Remak,  Kölliker,  Robi^i  und 
Uis  übereinstimmend  an,  dass  sie  von  einer  slructurlosen  Scheide  um- 
geben sei ,  welche  in  gleicher  Weise  den  Säugethieren  zukommt  und 
nach  Remar  beim  Hühnchen  vom  5.,  nach  Ibs  vom  ^.  Tag  an  auftritt. 

ÜURSY  widerspricht  diesen  Angaben.  Nach  ihm  existirl  weder  bei 
dem  Menschen  noch  bei  den  Säugethieren  zu  irgend  einer  Zeit  des  fö- 
talen Lebens  weder  eine  eigentliche  giashelle,  noch  eine  körnige,  noch 
eine  fasrige  Scheide.  Auch  beim  Hühnchen  giebt  es  keine  Chorda- 
scheide und  der  dafür  gehaltene  Canal  lässt  sich  leicht  vom  ersten  An- 
fang seiner  Bildung  verfolgen.  Als  Grund  für  diese  Behauptung  führt 
Dlirsy  an,  dass,  wenn  die  Chorda  einmal  aus  ihrer  Umgebung  heraus- 
fällt oder  herausgedrückt  wird ,  dann  der  ganze  zurückbleibende 
Chordacanal  lediglich  nur  als  eine  unmittelbar  von  Knorpelgewebe  um- 
gebene wasserhelle  Lücke  erscheint,  ohne  alle  Structur,  an  welcher 
sich  auch  am  gehärteten  und  selbst  an  noch  so  intensiv  gefärbten  Durch- 
schnitten weder  ein  innerer,  noch  ein  äussererContour  nachweisen  lässt. 

Ich  habe  zur  Prüfung  dieser  Ang;iben  dieselben  Thiere  benützt, 


348  Wilhelm  Müller, 

welche  7ai\'  Untersuchung  der  Cliorda  seihst  gedient  halten.  Zunächst 
habe  icli  die  Beschaffenheit  der  Gewebsschicht,  welclie  der  Chorda  un- 
niitlelbar  anliegt,  bei  den  verschiedenen  Wirbell hierclassen  festzustel- 
len gesucht. 

Bei  Amphioxus  wird  die  Chorda  rings  von  einer  mattglänzenden 
hellen  Hülle  un)geben.  Ihre  Dicke  bestimmte  ich  bei  Exemplaren  von 
18  Mm.  Länge  zu  0,00t),  bei  solchen  von  40  Mm.  zu  0,01.  Bei  stärke- 
rer Vergrösserung  erschien  diese  Hülle  sehr  fein  parallel  gefasert,  aus- 
serdem war  sie  von  dichtstehenden  hellen  Streifen  und  in  grösseren 
Absländen  von  feinen  Fasern  in  radiärer  Richtung  durchsetzt.  Mit 
Carmin  färbte  sich  die  Hülle  ungemein  blass,  zellige  Elemente  Hessen 
sich  in  ihr  weder  bei  jüngeren  noch  bei  älteren  Thieren  nachweisen. 
Mit  verdünnten  wässrigen  Säuren  oder  Alkalien  behandelt  quoll  das 
Gewebe  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Substanz  der  Querscheiben;  im 
polarisirten  Licht  untersucht  zeigte  es  dieselbe  Doppelbrechung  wie 
letztere.  An  den  Stellen,  an  welchen  der  dorsale  Vorsprung  an  das 
Miltelstück  der  Chorda  sich  ansetzt,  zeigte  diese  Hülle  ein  sehr  merk- 
würdiges Verhallen,  indem  sie  von  0,006  weiten  Oeffnungen  senkrecht 
durchsetzt  wurde.  Diese  Oeffnungen  sind  auf  Querschnitten  der  Chorda 
schwer  wahrzunehmen ,  leichter  auf  senkrechten  oder  horizontalen 
Längsschnitten;  auf  letzteren  sieht  man  sie  zu  beiden  Seiten  der  Mit- 
tellinie in  einem  Querabstand  von  0,11  und  in  einem  Längenabstand 
von  je  0,D  die  Culicularschicht  der  Chorda  senkrecht  durchsetzen.  Ich 
halle  diese  Oeffnungen  für  Vorrichtungen,  durch  welche  der  Zutritt  von 
Ernährungsüüssigkeit  zu  dem  das  Wachsthum  der  Chorda  in  späterer 
Zeit  hauptsächlich  vermittelnden  Abschnitt  erleichtert  wird. 

Bei  den  Cyklostomen  lag  der  Rindenschicht  der  Chorda  eine 
schwach  lichtbrecliende  Hülle  unmittelbar  an.  Sie  war  constant  längs 
der  Bauchtläche  der  Chorda  dicker  als  längs  der  Dorsalfläche ;  ihr 
Durchmesser  schwankte  dem  entsprechend  bei  jungen  7  Cenlimeter 
langen  Flussbricken  zwischen  0,02  und  0,00,  bei  erwachsenen  Fluss- 
bricken  zwischen  0,08  und  0,14,  bei  Myxine  zwischen  0,06  und  0,1. 
Die  Hülle  zeigte  die  von  Geüenbaur  beschriebene  parallele  Streifung  und 
senkrechte  Strichelung,  letztere  an  der  dorsalen  Fläche  constant  viel 
deutlicher  als  an  der  ventralen.  Die  einzelnen  Striche  standen  in  Ab- 
ständen von  0,001 — 0,003  und  waren  durch  dunklere  Zwischenräume 
getrennt,  am  Kopfende  der  Chorda  von  Myxine  standen  sie  so  dicht 
und  waren  so  ausgesprochen,  dass  sie  an  den  Anblick  von  Zahnröhr- 
chen  erinnerten.  Ausserdem  wurde  auch  bei  diesem  Thier  die  Hülle 
von  radiär  verlaufenden  ,  an  der  Peripherie  sich  verbreiternden  feinen 
Fibrillen  durchsetzt.     Mit  Carmin  färbte  sie  sich  in  ganzer  Ausdehnung 


1.  Ueber  de»  Bau  der  Chorda  dorsalis.  349 

bljiss  und  Hess  auch  nach  Anwendung  von  Eisessig  nirgends  zellige 
EleMjenlf  erkennen.  Mit  verdünnten  wüssrigen  Säuren  oder  Alkalien 
hehandcll  quoll  sie  belrächliieh,  im  polarisirlen  l.icht  zeigte  sie  starke 
Doppelbrechung. 

Von  Haien  unteisuelUe  ich  ausser  den  schon  erwähnten  Thieren 
noch  17  Centiineter  lange  Knibryonen  von  Sc>ninus  lichia,  welche  noch 
äussere  Kiemen  besassen. 

Bei  den  •?  Ccntiinelei'  langen  Embryonen  von  Acanthias  vulgaris 
war  die  Rindenschicht  der  Chorda  rings  von  einer  niattglänzenden  hel- 
len Mülle  umgeben.  Sie  war  an  der  Dorsalfläche  0,0Ü4,  an  der  Bauch- 
fläche 0,()0()  dick  und  zeigte  bei  starker  Vergrösserung  eine  sehr  feine 
parallele  Streifung  und  an  der  Dorsalseite  Andeutung  einer  radiären 
Strichelung.  Mit  Carmin  färbte  sie  sich  sehr  blass  und  Hess  nirgends 
zellige  Elemente  erkennen.  Im  polarisirten  Licht  erwies  sie  sich  dop- 
pelbrechend, mit  verdünnten  Säuren  und  Alkalien  Hess  sie  sich  etwas 
zum  Aufquellen  bringen. 

Bei  den  älteren  Embryonen  von  Acanthias  setzten  die  Zellen  der 
Rindenschicht  der  Chorda  mit  einem  glänzenden  stark  radiär  gestreif- 
ten Saum  gegen  die  Hülle  sich  ab.  Letztere  war  0,02  im  Mittel  dick) 
wie  früher  leicht  parallel  gestreift  und  in  radiärer  Richtung  gestrichelt, 
doppelbi(>chend  und  ohne  Zellelemente.  Mit  verdünnten  Säuren  oder 
Alkalien  konnte  sie  auch  jetzt  zum  Auf(iuellen  gebracht  werden. 

Bei  den  Embryonen  von  Scynmus  lichia  betrug  die  Dicke  der  Hülle 
0,02();  ihre  Eigens(;haften  stimmten  mit  jenen  bei  Acanthias  überein. 
Bei  Muslelus  betrug  die  Dicke  0,01;  die  Hülle  wiir  an  den  eingeschnüi- 
ten  Stellen  wellig  gebogen,  sonst  mit  dem  entsprechenden  Organ  von 
AcHuthias  und  Scymnus  übereinstimmend. 

Von  Teleostiern  untersuchte  ich  3  Centimeter  lange  Embrxonen 
vom  Lachs.  Die  Chorda  zeigte  bei  allen  Exemplaren  eine  flache  Ein- 
buchtung übci"  der  Aorta,  längs  welcher  die  flachen  Zellen  der  Rinden- 
schicht protoplasmareicher  waren  als  im  übrigen  Umfang.  Die  Rinden- 
schicht war  umgeben  von  einer  mallglänzenden  Hülle,  deren  Dicke 
dorsahvärts  0,000,  ventralwärts  0,008  betrug.  Sie  zeigte  Andeutung 
einer  concentrischen  und  radiären  Streifung,  im  polarisirten  Licht  er- 
wies sie  sich  als  doppelbrechend,  beim  Behandeln  mit  verdünnten 
Säuren  und  Alkalien  Hess  sie  sich  zu  leichtem  Aufquellen  bringen. 
Zellige  Elemente  enthielt  sie  nirgends. 

Von  Amphibien  untersuchte  ich  den  Frosch  und  Salan)ander.  Bei 
Rana  Icmporaria  erschien  die  Chorda  erst  bei  Laiven  von  0  Mm.  Länge, 
welche  das  Ei  schon  einige  Zeit  vei'lassen  halten,  von  einer  mattglän- 
zenden homogenen  Hülle  von  0,000ö  umgeben.    Diese  Hülle  nahm  sehr 


350  Wilhelm  Müller, 

langsam  während  der  weiteren  Entwicklung  an  Dicke  zu ,  so  dass  sie 
bei  Larven  von  35  Mm.  Länge,  welche  ihre  vier  Extremitäten  bereits 
entwickelt  hatten,  nur  0,004  maass.  Ihre  Beschaffenheit  stimmte  mit 
jener  der  F'ische  überein ;  sie  erwies  sich  doppel brechend ,  liess  sich 
durch  wässrige  Sauren  und  Alkalien  zum  Aufquellen  bringen,  färbte 
sich  mit  Carmin  sehr  blass  und  enthielt  nirgends  zellige  Elemente. 

Bei  Salamandra  maculata  war  die  Hülle  an  Embryonen  von  1  Cen- 
timeter  vollkonnnen  deutlich,  0,005  dick,  während  sie  bei  Embryonen 
von  3  Centimeter  bis  0,01  zugenommen  hatte.  Sie  besass  bei  letzteren 
welligen  Verlauf;  ihre  Beschaffenheit  stimmte'  mit  jener  beim  Frosch 
überein. 

Bei  dem  Hühnchen  beobachtete  ich  das  Auftreten  eines  homogenen 
feinen  Saums  um  die  Chorda  zuerst  im  Verlauf  des  vierten  Bebrütungs- 
tags.  Er  war  0,001  dick.  Seine  Dicke  nahm  bis  zum  10.  BebrUtungs- 
tag  allmälig  bis  0,005  zu.  Er  setzte  sich  gegen  die  umgebenden  Wir- 
bolanlagen  mit  einem  blassen  aber  deutlichen  Contour  ab,  mit  der 
Rindenschicht  der  Chorda  hing  er  fest  zusammen.  Er  liess  sich  durch 
Silbersalpeter  bräunlich,  durch  Carmin  sehr  blass  rosenroth  fäiben  und 
entbehrte  zelliger  Elemente,  mit  wässrigen  Säuren  oder  Alkalien  quoll 
die  Substanz  wenig,  mit  Hülfe  von  Glimmer  liess  sich  an  ihr  schwache 
Doppelbrechung  nachweisen. 

Bii  den  untersuchten  Säugethiercn  fand  sich  eine  Hülle  von  glei- 
cher Beschaffenheit  wie  bei  dem  Huhn  um  die  Chorda ,  nur  war  sie 
mächtiger  entwickelt.  Ihre  Dicke  betrug  bei  dem  vSchweinsfötus  von 
18  Mu).  0,016,  bei  dem  Schaf  von  i  und  7  Centimeter  0,012;  sie 
hatte  demnach  bei  den  jüngsten  Embryonen ,  welche  mir  zu  Gebole 
standen,  das  Maximum  ihrer  Entwicklung  schon  erreicht. 

Aus  diesen  Beobachtungen  geht  hervor,  dass  bei  allen  Wirbel- 
ihieren  die  Chorda  von  einer  Hülle  umgeben  wird,  welche  keine  zelli- 
gen Elemente  eingelagert  enthält.  Diese  Hülle  ist  von  fester  Beschaffen- 
heit, denn  die  Eigenschaften  der  Quellung  und  der  Doppelbrechung 
lassen  sich  nur  mit  der  Annahme  einer  festen  Beschaffenheit  verein- 
baren. Damit  fallen  die  Einwendungen,  welche  Di rsy  gegen  das  Vor- 
handensein einer  solchen  Hülle  erhoben  hat,  als  unljegründet  zu  Boden. 
Die  Eigenschaften,  welche  diese  Hülle  daibietet,  sind  bei  allen  Wlrbel- 
thieren  im  Wesentlichen  übereinstimmend  und  von  jenen  dos  elastischen 
Gewebes  verschieden.  Daraus  ergiebt  sich  die  Unhaltbarkeit  der  Anga- 
ben Kölliker's,  welcher  seine  Elastica  interna  dei'  Chorda  unmittelbar 
aufsitzen  lässt.  Die  der  Chorda  eigenlhümliche  Hülle  hat  Kölliker  bei 
den  Haien  übersehen;  ihre  Aussentläche  erst  wird  von  dem  inneren 
elastischen  Saum  LEVDnrs  überzogen.    Was  Köllikeh  bei  den  C\klosto- 


t.  Ueber  den  Bau  der  Chorda  dorsnlis.  351 

inoii  und  Teleoslicrn  überhaupt  beobarhlrl  hat,  liissl  sich  aus  der  con- 
fuscn  Beschreibung  gar  nicht  entnehmen.  Damit  ist  zugleicli  die  Un- 
nuiiiltciikeit  erwiesen,  die  ChordahiiHe  der  höheren  Wirl)ellhiere  mit 
der  Klasliea  inlerna  der  Haie  zu  identihciren  oder  die  Zellen  der  Tunica 
librosa  von  den  Zellen  der  Rindenschicht  der  Chorda  abzuleiten,  wie 
Geüknbaür  versucht  hat,  uni  die  falschen  Angaben  Köi.mkkr's  zu  erklären. 

Diese  Hülle  zeigt  bei  den  (]^klüSlomen  und  Iheilwcise  bei  den 
Fischen  eine  sofort  in  die  Augen  fallende  Abhängigkeit  von  der  Hinden- 
schieht  der  Chorda,  indem  ihr  Wachsthum  längs  der  Abschnitte  be- 
trächtlicher ist,  in  welchen  der  Piotoplasmaieichthum  dov  Chordazellen 
längere  Zeit  sich  erhält.  Diese  Thatsachc  führt  im  Zusammenhalt  mit 
dem  Umstand,  ilass  die  Hülle  eigener  Zellelemente  enll)ehrt  und  bei 
den  niederen  Thieren  nach  aussen  an  eine  elastische  Membran  grenzt, 
zu  der  Annahme,  dass  die  der  Chorda  eigenthümlich  angehörende  Hülle 
eine  Cuticularbildung  darstellt,  deren  Matrix,  wie  Gkge>'baur  zuerst 
richtig  hervorgehoben  hat,  in  der  proloplasmareichen  Rindenschicht, 
nicht  aber,  wie  Kölliker  will,  in  der  Gallerte  der  Chorda  gesucht  wer- 
den muss.  Es  wild  sich  dem  entsprechend  empfehlen,  zur  Vermeidung 
dei'  Missverständnisse,  zu  welchen  der  Gebrauch  der  Bezeichnung 
Chordascheide  in  einem  engei'en  und  weiteren  Sinne  geführt  hat,  diese 
Hülle  künftig  als  Culicularschicht  der  Chorda,  Cuticula  chordae,  zu  be- 
zeichnen. Mit  Gkgenbaur  halte  ich  die  radiäre  Strichelung ,  welche  die 
Culicularschicht  bei  den  niederen  Wiibellhieren  sehr  \erbreilet  zeigt, 
für  den  Ausdruck  senkrecht  sie  durchsetzender  Porencanäle  und  die 
parallele  Faserung  für  den  Ausdi'uck  eines  mit  Unterbrechung  vor  sich 
gehenden  Wachslhums. 

Bei  den  Cyklostomen ,  Fischen  und  wenigstens  einem  Theil  der 
Amphibien  wird  die  Cuticularschicht  der  Chorda  von  einei'  elastischen 
Hülle  umgeben.  Sie  stellt  einen  bei  den  Cyklostomen  0,(102,  bei  den 
Fischen  und  Amphibien  0,001  dicken,  stark  glänzenden  Saum  dar, 
welcher  gegen  Reagenlien  ,  namenllich  gegen  verdünnte  Säuren  und 
Alkalien  inditlei'enl  sich  verhält.  Bei  Myxine  und  Pelromyzon  wird 
diese  elastische  Membran  von  zahlreichen  queren  Spalten  durchbrochen, 
welche  in  Absländen  von  durchschnitllich  0,01 :?  auf  einander  folgen. 
Die  Spalten  sind  bis  0,06  lang  bei  einer  Breite  von  0.002.  Bei  den 
Haien  sind  die  Spalten  geräumiger  und  werden  es  noch  mehr  im  Ver- 
lauf der  Entwicklung.  Diese  elastische  Hülle  ist  identisch  mit  der  elasti- 
schen Schicht  der  Chordascheide  Lkydiü's  und  mit  der  Elaslica  inlerna 
Kölliker's,  denn  auf  sie  folgen  bei  den  Haien  die  ringförmigen  Lagen 
verkalkenden  Faserknorpels.  Sie  ist  ganz  allgemein  in  genetische  Be- 
zi(>luing  zur  Chorda  gebracht  worden,   ohne  dass  irgend  ein  Beobachter 


352  Wilhelm  Müller, 

auch  nur  versucht  hätte,  diese  Auffassung  zu  begründen.  Sie  zeigt  nun 
bei  Cyklostouien  und  Haien  am  Kopfende  der  Chorda  ein  Verhalten, 
welches  mit  dieser  Annahme  sich  nicht  vereinbaren  liisst.  Bei  Myxine 
wird  das  Kopfende  der  Chorda  beiderseits  von  hyalinem  Knoipel  mit 
grün  gefärbter  Intercellularsubslanz  eingefasst,  während  dorsal-  und 
ventralwärts  wie  im  übrigen  Verlauf  der  Wirbelsäule  straffes  Binde- 
gewebe sich  findet.  Soweit  letzteres  reicht,  zeigt  der  elastische  Ueber- 
zug  der  Cuticularschicht  das  gewöhnliche  Verhalten.  Dagegen  ändert 
er  seine  Beschaffenheit  an  den  Stellen,  an  welchen  die  Cuticularschicht 
an  den  Knorpel  anstösst,  indem  er  in  ein  lockeres  Netz  feiner  elastischer 
Fasern  sich  auflöst,  welche  stellenweise  sich  verbreitern  und  in  den 
Verbreiterungen  schmale  Kerne  führen. 

Eine  weitere  Beobachtung  hatte  ich  Gelegenheit  an  sagittalen 
Längsschnitten  durch  die  Schädelbasis  von  Muslelus  zu  machen.  Die 
Chorda  verläuft  bei  diesem  Thier  durch  den  Basilarknoipel,  um  an  der 
hinteren  Fläche  der  Sattellehne  sich  zu  erheben  und  aus  dem  Knorpel 
in  die  untersten  Lagen  des  Perichondrium  überzutreten,  in  \Aelchen  sie 
mit  hakenförmiger  Krümmung  um  die  Spitze  des  Clivus  verläuft  (vergl. 
Taf.  IX,  Fig.  6j.  Soweit  das  Organ  im  hineren  des  Hyalinknorpels  der 
Schädelbasis  verläuft,  grenzt  die  Cuticularschicht  an  den  Knorpel,  ohne 
dass  eine  elastische  Membran  oder  ein  Netz  elastischer  Fasern  entwickelt 
wäre.  Sobald  die  Chorda  im  Perichondrium  der  Sattellehne  zu  liegen 
kommt,  zeigt  sich  sofort  die  Cuticularschicht  von  einem  dichten  Netz 
glänzender  elastischer  Fasern  umsponnen.  Diese  Beobachtungen  lassen 
auf  einen  Einfluss  des  umgebenden  Gewebes  auf  die  Entwicklung  der 
inneren  elastischen  Hülle  schliessen  und  erklären  sich  einfach  aus  der 
Annahme,  dass  die  Neigung  zur  Bildung  elastischer  Grenzsäume  in 
Bindegewebe  und  Faserknorpel  grösser  ist  als  im  Hyalinknorpel.  Damit 
lässt  sich  die  Thatsache  wohl  vereinbaren,  dass  die  Bildung  elastischer 
Grenzsäume  aufhört,  wenn  statt  des  Faserknorpels  Hyalinknorpel  zur 
Bildung  der  innersten  Partien  der  Wirbelanlagen  verwendet  wird,  wie 
dies  bei  den  höheren  Wirbelthieren  der  Fall  ist. 

Mit  dieser  Auffassung  stehen  die  Beobachtungen  im  Einklang, 
welche  ich  über  die  Entwicklung  der  Wirbel  beim  Frosch  gewonnen 
habe.  Bei  diesem  Thier  sondert  sich ,  noch  ehe  die  Embryonen  das  Ei 
verlassen ,  die  Chorda  von  den  Urw  irbeln ,  die  Folge  dieser  Sonderung 
ist  das  Auftreten  eines  glashellen  leeren  Baums  um  die  Chorda.  Er 
entspricht  dem  glashellen  Baum,  welchen  v.  Bär  beim  Hühnchen  beob- 
achtet hat  und  welcher  im  Laufe  des  zweiten  Bebrütungstags  bei  die- 
sem Thier  leicht  zu  constatiren  ist.  Dieser  Baum  wird  aber  nicht  von 
einer  festen  glashellen  Substanz  eingenommen,   wie  v.  Bär  irrthümlich 


1.  Uebcr  den  Bau  tli-r  Chorda  dorsalis.  353 

meiiilo,  sondern  or  ist  mit  kliiivi-  Lymphe  gefüllt.  In  diesen  Rnuni 
wachsen  von  den  Advenlilien  der  beiden  priiniliven  Aorlen  aus  spindel- 
förmige Zellen,  welche  durch  ihren  geringen  Pigmenlgehall  von  den 
Zellen  der  Urwirbel  sofort  sich  unterscheiden.  Sie  umwachsen  die 
Chorda  zunächst  seillich  und  liefern  die  Anlagen  der  Wiihelhogen,  erst 
spater  umwächst  di''  inneiste  Schichte  die  Chorda  auch  oben  und  unten 
unter  Bildung  einei'  concentrischen  aus  spindelförmigen  Zellen  beste- 
henden Umhüllung.  Diese  Umhüllung  ist  es.  welche  durch  ein  mem- 
branartiges Netz  feiner  elastischer  Fasein  von  der  Cuticularschicht  der 
Chorda  nach  Innen  und  durch  ein  viel  lockereres  von  den  Wiibclbogm 
nach  Aussen  sich  abgrenzt,  um  später  in  ganz  analoger  Weise  wie  bei 
den  Haien  mit  Kalksalzen  sich  zu  imprägniren.  Diese  Faserknorpellage 
entspricht  der  Tunica  fibrosa  Köli.ikkr's  ,  sie  hat  genetisch  mit  der 
Chorda  nicht  das  Geringste  zu  tl)un.  sondern  entspricht  einem  Abschnitt 
de;?  skeletbildenden  Gewebes,  welcher  gegenüber  den  Bogen  bis  zu 
einem  gewissen  Grad  selbständig  sich  entwickelt. 

Bei  der  Uebereinslimmung ,  welche  in  dem  Bau  der  embryonalen 
Wirbel  zwischen  dem  Frosch  und  den  Haien  besteht,  zweifle  ich  nicht, 
dass  die  methodische  Untersuchung  früher  Entwicklungssladien  auch 
für  letztere  den  Beweis  liefern  wird,  dass  die  bisher  sogenannte  äussere 
Chordascheide  von  den  bindegewebigen  Advcntitien  der  Aorlen  ab- 
stammt, zur  Chorda  und  den  Urwirbeln  dagegen  in  keiner  genetischen 
Beziehung  steht.  Sie  wird  dem  entsprechend  zweckmässig  als  centra- 
ler oder  perichordaler  Abschnitt  der  Wirbelanlagen  den  peripherischen 
Abschnitten  gegenüber  gestellt  werden.  Es  bedarf  kaum  des  ausdrück- 
lichen Hinweises  auf  die  Uebereinstinmmng,  welche  zwischen  den  Re- 
sultaten der  Beobachtung  am  Frosch  und  den  Resultaten  besteht,  welche 
Hjs  am  Hühnchen  gewonnen  hat,  welcher  das  Verdienst  hat,  die  gene- 
tischen Beziehungen  des  die  Chorda  umwachsenden  Gewebes  (der 
Wirbelanlagen)  für  dieses  Thier  richtig  erkaiuU  zu  haben. 


354  Willielm  Müller, 

3.  Heber  Eiit^vickluug  iiud  Bau  der  Hypophyisis  iiud  des  Processus 
iufuudibuli  cerebri. 

I .    Geschichtlicher  U  e  b  e  r  1)  1  i  c  k . 

Die  Angaben,  welche  über  die  der  Entwicklung  der  Hypophysis 
zu  Grunde  liegende  Formfolge  vorhanden  sind,  lassen  sich  in  vier 
Gruppen  bringen. 

Die  erste  Gruppe  begreift  jene  Beobachter,  welche  die  Hvpophysis 
als  einen  niodificirten  Hirntheil  betrachten  und  aus  dem  hinleren  Ende 
des  Zwischenhirns,  dem  Trichter,  hervorgehen  lassen.  In  der  verglei- 
chenden Anatomie  ist  diese  Ansicht  für  die  Fische ,  Amphibien  und 
Reptilien  noch  in  den  Arbeilen  von  Jon.  v.  Müller  und  Stannius  fest- 
gehalten. In  der  Flntwicklungsgeschichle  ist  es  zunächst  HuschkeI), 
welcher  die  H\poph\sis  aus  einer  Anschwellung  des  Endes  vom  Trich- 
lei',  in  welchem  er  das  eigentliche  Ende  des  Uückenmarks  sah,  hervor- 
gehen Hess.  Diese  Anschwellung  solle  sich  in  einen  vorderen  und  hin-- 
tei'en  Abschnitt,  ganz  entsprechend  dem  Rückenmark,  Iheilen  und 
dadurch  die  beiden  aneinanderliegenden  Lappen  der  Hypophysis  bilden. 

V.  Bär  2)  giebt  an,  dass  man  beim  Hühnchen  am  siebenten  Tag  der 
Bcbiütung  an  der  Spitze  des  Trichters  ein  kleines  Knöpfchen  beobachte, 
den  Hirnanhang,  welcher  noch  wenig  vom  Trichter  getrennt  sei  und 
vielleicht  einer  Verwachsung  der  Spitze  des  Trichters  seine  Entstehung 
verdanke.  Bei  der  Schilderung  der  Befunde,  welche  das  Hühnchen  am 
IL  bis  13.  Bebrütungslag  darbietet,  erklärt  v.  Bär  den  Hirnanhang 
ausdrücklich  für  die  abgestorbene  Spitze  des  Trichters  oder  das  ur- 
sprüngliche Ende  der  dritten  Hirnhöhle.  Bei  der  Besprechung  der  Ent- 
wicklungsvorgänge im  Batrachierei  erwähnt  er  ferner  als  einer  selbst- 
verständlichen Beobachtung,  dass  es  das  Zwischenhirn  sei,  dessen 
Höhle  nach  unten  in  den  Hirnanhang  sich  verlängere. 

Nach  F.  Schmidt  aus  Kopenhagen  •'•;  sitzt  die  Hjpophysis  am 
Schlüsse  des  diillen  Monats  noch  dicht  am  Rande  der  kleinen  kreis- 
runden Oeffnung  am  Boden  der  Zwischenhirnblase,  der  Höhle  des 
Trichters,  an.  Der  Trichter  beginne  aber  nun  sich  zu  verlangtem  und 
zuzuspitzen;  es  sei  richtig,  dass  seine  Höhle  anfangs  mit  der  ebenfalls 
hohlen  Hypophysis  communicire,  am  Schlüsse  des  vierten  Monats  sei 
sie  jedoch  verschlossen. 


1)  Schädel,  HiiTi  und  Seele.  Jena  1854. 

2)  Heber  Entwicklungsgeschichte  derThiere.  I.  p.  104  u   130.    II.  p.  993    1828 
und  1837. 

3;.  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie.  ISG2.  13d.  XI.  p.  43. 


2.  Uoher  r-iit\vifklmi2:  iind  Raii  der  Hvpophysis  iiiid  des  Pincossiis  iiiriiiidihnli  ccrolni.  3f)f) 

Dio  zwoilo  Gnippo  uinfasst  jono  Hoohjicliti'r,  wcklic  die  Hypophy- 
sis  aus  einer  Ausslülpunii;  des  SchlunddiilsenhlaHs  liervoiiiehen  lassen. 
Diese  Ansicht  ist  zuerst  von  IIkinkich  UAiiiKE^]  im  Jahre  18.38  ausge- 
sprochen worden.  Nach  Ratiikk  findet  man  in  einer  sehr  frühen  Zeit 
des  Fruchtlebens  g;anz  hinten  in  der  Mundhöhle  unterhalb  der  Grund- 
fläche des  Schädels  eine  kleine  unreiielinässiü;  rundliche  Vei-lic^fung,  die 
der  Schleimhaut  des  Mundes  auiiehörl  und  ollenbar  i-ine  blinde  Aus- 
stülpunc;  derselben  bildet.  Diese  Vertiefung  bezeichnet  (Umi  ersten 
Schritt  zur  Bildung  des  llirnanhangs.  Sie  bildet  sich  unter  dem  hin- 
tersten Theil  des  Ilirnlrichters ,  dringt  darauf ,  indem  sie  an  Tief(^  zu- 
nimmt, durch  das  BikluTigsgewebe,  welches  zwischen  d^n  beiden  paa- 
rigen Fortsätzen  der  Chorda  in  einer  massig  dicken  Schicht  abgelagert 
ist,  schräg  nach  oben  und  etwas  nach  hinten  hiiKJiircii  und  stellt  zu 
einer  gewissen  Z<mI,  namentlich  ])ei  der  Natter,  der  Eidechse  und  dem 
Hiilmchen,  eine  kurze  blinde  Röhre  mit  einem  recht  weiten  Eingang 
dar.  Mit  ihrer  oberen  Hälfte  liegt  dieselbe  der  vorderen  Seite  (l(>s  un- 
paaren  Foilsatzes  der  Chorda  an  ,  erscheint  mit  ihm  auch  verwachsen, 
ist  mit  ihrem  blinden  Ende  ein  wenig  nach  \oine  umgei>ogen  und  be- 
rührt nnt  diesem  Ende  das  stumpfe  Ende  des  Trichteis.  Etwas  später 
entsteht  an  dem  Eingang  in  das  Röhrchen  vor  demscllx-n  eine  halb- 
fnondförmige  Falt(>  der  Mundhaut,  die  sich,  an  Breite  zunehmend,  über 
ihn  als  eine  Klappe  immer  wcMter  nach  hinten  herül)erzicht  und  ihn 
«iadurch  inuner  mehr  verdeckt.  Ist  dies  geschehen,  so  schnürt  sich  das 
Röhrchen  von  der  Mundhaul  ab;  es  verschliesst  sich  die  Lücke  in  der 
Grundfläche  d(>s  Schädels  und  es  verzieht  sich  die  ei'wiihnte  Falle  bis 
zum  Verschwinden.  Hei  den  Säugethieren  ist  der  Bildungsvorgang  des 
Hirnanhangs  im  Ganzen  genommen  derselbe  wie  ho'\  den  Reptilien  und 
Vögeln.  Auch  beiden  Fischeji  und  Amphibien  vermulliet  Rathke  die- 
selbe Entwickhingsweise  wie  b<>i  den  über  ihnen  stehenden  'fhiei'en, 
ohne  jedoch  dies  endgültig  feststellen  zu  können. 

Luschka  -I,  welcher  sieh  für  die  Richtigkeit  der  Angaben  Ratiikk's 
ausspricht,  führt  zu  deren  weiterer  Begründung  an,  dass  er  bei  mensch- 
lichen I<]nd)ryonen  von  8  bis  1 2  Wochen  in  Ausnahmefällen  inmitten 
des  Schlnndkopfgewölbes  ein  kleines  Grübchen  gefunden  habe,  welches 
in  ein  kurzes  blind  geendigles  Canälchen  führte,  dessen  Einmündung 
in  der  Richtung  von  vorne  nach  hinten  von  einem  zarten  halbmond- 
lürmigen  Schlcimhautkäppchen  zum  Theil  überlagert  wurde.  Die  dem 
Körper  des  Keilbeins  entsprechende  Knorpelmasse  zeigte  auf  sagittalen 


i;  Arcliiv  für  Anatomie  und  Physiologie.  i838.  Bd.  V.  p.  482. 
2)   Der  Hiiiuinlian!^  und  die  Steissdrüsc.  Tüljingen  1858. 


356  WiUielm  Miillw, 

Durchschnillen  keine  Reste  einer  Ausstülpung  der  Schlundwand  gec;en 
den  Schädel.  Luschka  führt  zweitens  eine  menschliche  Missgeburt  mit 
Spina  bifida  und  Ilernia  diaphragmatica  an,  bei  welcher  die  Glandula 
])iluitaria  eine  zapfenarlige,  in  den  Keilbeinkörper  sich  erstreckende 
Verlängerung  zeigte,  während  die  Schleimhaut  des  Schlundkopfs  in  der 
Mittellinie  eine  '^j^  Mm.  breite  rundliche  Oefl'nung  besass,  mit  einem 
verdünnten,  fast  klappenartigen  Rand  am  vorderen  Umfang,  durch 
welche  eine  feine  geknöpfte  Sonde  in  der  Richtung  nach  vorwärts  — 
aufwärts  2  Mm.  tief  eingeführt  werden  konnte.  Die  Continuität  dieses 
Canals  mit  dem  zapfenartigen  Fortsatz  der  Glandula  pituitaria  konnte 
Luschka  nicht  erweisen,  um  das  Präparat  nicht  zu  verderben.  Es  liegt 
auf  der  Hand ,  dass  bei  dieser  Sachlage  weder  der  einen  noch  der  an- 
dern Beobachtung  Luschka's  irgend  ein  Werth  für  die  Erledigung  der 
vorliegenden  Frage  beigemessen  werden  kann. 

Nach  DuRSY  ')  tragen  das  Kopfende  der  Chorda  und  die  allgemein 
bekannte  Schlundausstülpung  beide  zur  Bildung  der  Hypophyse  bei. 
Es  ist  der  Ghordaknopf,  welcher  die  Bildung  der  Hypophyse  veranlasst, 
indem  er  von  den  Urwirbelplatten  nur  seillich  umfasst  wird,  nicht  aber 
dorsal-  und  bauchwärts.  Die  Schädelbasis  besitzt  somit  hier  eine  durch 
den  Ghordaknopf  ausgefüllte  Lücke ,  und  durch  diese  erhält  sich  der 
schon  von  Anfang  an  bestehende  innige  Zusammenhang  der  Ghorda  mit 
dem  Medullarrohr  und  dem  Darmdrüsenblatl.  Dabei  wird  schon  sehr 
frühe  in  Folge  der  hier  stattfindenden,  anfangs  spilzwinkligen  Krüm- 
mung der  Schädelbasis  die  betreffende  Gegend  der  Schlundhöhle  ein- 
geklemmt und  gewinnt  im  Medianschnitt  das  Ansehen  einer  spitzwink- 
lig ausgezogenen  Ausbuchtung  des  Drüsenblatls.  Schliesslich  vereini- 
gen sich  die  Urwirbelplatten  unter  der  Schlundfläche  des  Ghordaknopfs 
zur  Herstellung  des  die  Sattelgrube  tragenden  Keilbeinslücks,  sind  aber 
nicht  im  Stande,  die  Anheftung  der  Schlundtasche  an  den  Ghordaknopf 
zu  lösen,  schliessen  vielmehr  dieselbe  in  Gestalt  eines  sagittal  compri- 
mirlen  Säckchens  ein.  Dabei  erhält  sich  sein  Zusammenhang  mit  der 
übrigen  zelligen  Schlundauskleidung  noch  längere  Zeit  in  Gestalt  eines 
Strangs.  Das  endlich  völlig  abgeschnürte  Säckchen  verdickt  sich  hier- 
auf sehr  bedeutend,  nimmt  auch  an  Umfang  zu,  wobei  die  sehr  mäch- 
tig gewordene,  aus  Zellen  bestehende  Wand  sich  vielfach  faltet.  Seine 
Höhle  zeigt  dann  an  Sagittaldurchschnitten  das  Ansehen  einer  halb- 
mondförmig gekrümmten  Hauptspalle  mit  zahlreichen  Ausläufern ,  die 
an   Zahl   fortwährend  zunehmen ,    sich  verästeln  und  schliesslich  das 


^]  Zur  Entwicklungsgeschiclite  des  Kopfs.  Tübingen  18fi9  und  Mediz.  Central- 
liUitt  4  868.    No.  8. 


2,  üebcr  Kiitwicklniiu  und  R.ui  der  llypnplixsis  und  des  Piorpsstis  iniiiiidiliiili  cprebri.  357 

Bild  von  ScIiliiucluMi  und  1{|.is<mi  (l;ii-bi(>l(Mi.  l'iilcrdtsscii  iiiiiiiiit  auch 
die  Masse  des  Cliordakriopls  /u  ,  umlaj^eil  das  i;eiianiile  Säekchen  und 
verwandeil  sich  in  dessen  hlulreiehes  Stionia,  sj>iell  also  die  Uolle  des 
DarrnfaserblaUs.  Dorsnlwäils  izelingl  es  den  Urw  ii  helplallen  nicht,  den 
Chordaknopf  volisländii;  zu  umwachsen.  Sie  nölhii;eii  jedoch  den  d(  in 
Kno|)f  anh.ini:enden  Boden  der  vorderen  Ilirnblase  zur  Bildunj;  einer 
Aussackung,  welche  allniiilii;  durch  die  in  das  Diaphragma  sellae  tur- 
cicae  sich  uinwandehuie  Partie  der  ürwirhelplalten  eingeklemmt,  somit 
in  den  Trichter  und  den  anfangs  ebenfalls  hohlen  hinteren  ll\pophysen- 
lappen  abgelhcill  wiid. 

Auch  beim  Hühnchen  verhält  sich  nach  Dirsy  der  Vorgang  der 
Hypoph\senbildung  ganz  analog.  Beim  Menschen  konnte  Dursy  nach 
vollzogener  Abschnürung  des  Schlundsiickchens  niemals  eine  Spur 
eines  Restes  desselben  in  Form  einer  in  die  Schlundhühle  sich  öffnen- 
den Grube  oder  Tasche  wahrnehmen. 

Auf  (jirund  vergleichend -anatomischer  Beobachtungen  an  Haien 
spricht  sich  v.  Micllcho-Maclay  für  die  Richtigkeit  der  Angaben  Rath- 
ke's  aus.  Nach  Maclav ')  bietet  das  Verhallen  der  Hjpophysis  bei  Sela- 
chiern  das  Interessante,  dass  bei  vielen  Haien  (Scymnus,  Acanthias, 
Nolidanus  und  Anderen)  der  Zusammenhang  der  Glandula  pituitaria 
mit  der  Mundhöhle  deutlich  persistirt.  Es  findet  sich  nämlich  in  der 
Schädelbasis  dicht  vor  dem  Sattel  eine  bei  Embryonen  einfache  Oeff- 
nung  vor.  durch  welche  ausser  den  Blutgefässen  (Carotis  interna)  noch 
ein  bindegewebiger  Strang  hindurchtritt,  der,  von  der  Hypophysis  ab- 
gehend, einen  Nachweis  des  früheren  Zusanunenhangs  darbietet.  Die 
(ilandula  pituitaria  ist  auch  hier,  wie  Bathkk  für  die  frühesten  Stadien 
iler  höheren  Wirbelthiere  beschreibt,  ein  abgeschlossenes  sackförmiges 
Gebilde. 

Als  ein  analoges  Residuum  der  RAiiiKE'schen  Schlundausslülpung 
beim  Menschen  fasst  Landzkrt"^)  einen  bei  Neugebornen  in  einer  Ver- 
längennig  der  Hypophysengrube  des  Keilbeins  liegenden  Fortsatz  der 
Dura  mater  auf,  welcher  sich  bisweilen  bis  zur  unteren  Fläche  des 
Knochens  erstreckt,  gewöhnlich  hohl  ist,  unten  aber  blind  endigt. 

Die  dritte  (Jruppe  enthält  die  Beobachter,  welche  di(^  Hypophysis 
aus  dem  vorderen  Ende  der  Chorda  dorsalis  hervorgehen  lassen. 

Reichert ')  hat  den  Angaben  Rathke's  schon  im  Jahre  1840  wider- 
sprochen.   Es  gelang  ihm  nicht,   beim  Hühnchen  die  Ausstülpung  der 


i)  Jenaische  Zeitscluift  lürMedicin  und  NatuiNvissenschaften  1868.  IV.  p.  553. 
2)  Petersburger  mediz.  Zeitschrift  1868.  Bd.  XIV.  Heft  111.     Henle's  Jahres- 
l)erioht  für  1868.  p.  86. 

3    Das  RnlNvifiihin.i:slobtMi  im  Wirtxlthioi  ificli    Heriiii  1S4ü.   p.  179. 


358  Wilhelm  Müller, 

Schleimhaut  der  Mundhöhle  in  den  Schädel  zu  beobachten ,  wodurch 
nach  Rathke  die  Glandula  pituitaria  entstehen  soll.  Die  Existenz  einer 
rundlichen  Grube  an  der  unteren  Fläche  der  Schädelbasis  bein^  Hühn- 
chen wie  bei  den  Schlan£;en  giebt  Reichert  zu,  er  fand  jedoch  hier 
keine  Oeffnung,  welche  etwa  eine  Coniniunication  der  Mund-  und 
Schädelhöhle  bilden  würde,  sondern  konnte  stets  eine  deutliche,  wenn 
auch  zarte  Trennungswand  freilegen,  die  mit  den  dickeren  Seitenlhei- 
len  des  Schädels  zusammenhing.  Auch  bemerkt  Reichert,  dass  die 
Glandula  pituitaria  bereits  vorhanden  sei,  wenn  die  bezeichnete,  von 
der  Mundhaul  ausgekleidete  Grube  erst  in  der  Rildung  begriffen.  Nach 
seinen  Beobachtungen  veikümmert  die  Chorda  dorsal is  zwischen  den 
Urplatten  des  ersten  Schädelwirbels  sehr  früh  und  das  Residuum  des 
vordersten  Endes  erhält  sich  als  Glandula  pituitaria,  bis  zu  welcher  noch 
einige  Zeit  der  Strang  der  Wirbelsaite  deutlich   verfolgt  werden  kann, 

Hisi),  weicher  über  die  Bildung  der  Hypophyse  keine  speciellen 
Untersuchungen  besitzt,  schliesst  sich  aus  aprioristischen  Gründen  die- 
sen Angaben  Reichert's  an.  Nach  der  Analogie  mit  dov  Lösung  der 
sonstigen  Verbindungen  zwischen  Darm  und  Medullarrohr  zweifelt  er 
nicht,  dass  auch  das  vorderste  röhrenförmig  ausgezog(Mie  Ende  des 
Darms  schliesslich  vom  Gehirn  sich  trennt  und  von  diesem  sich  zurück- 
zieht. Die  Hypophysis  scheint  auch  His  aus  der  Verbindungsmasse  ab- 
geleitet werden  zu  müssen,  welche  beide  Theile  ursprünglich  zusam- 
menhielt, d.  h.  aus  dem  vordersten  Ende  des  Achsenstrangs,  dem 
Endknopf. 

In  der  vierten  Gruppe  bringe  ich  die  Modificationen  unter,  zu  wel- 
chen Rathke  und  Reichert  an  ihren  ursprünglichen  Angaben  sich  ver- 
anlasst gesehen  haben.  Rathke'-)  giebt  auf  (irund  von  späteren  Unter- 
suchungen am  Hühnchen  an .  dass  nicht  der  ausgestülpte  Theil  der 
Mundschleimhaut  seihst  zum  Hirnanhang  werde,  sondern  es  entwickle 
sich  dieser  an  jenem  Theil  dicht  vor  dem  unpaaren  Schädelbalken, 
worauf  dann  die  Ausstülpung  einschwinde  und  vergehe. 

Auch  Reichert  •'•)  erklärt  in  der  zweiten  Abtheilung  seines  Werkes 
über  den  Gehirnbau  seine  frühere  Auffassung  der  Hypophysis  als  eines 
Productes  der  Chorda  dorsalis  füi-  ungewiss ,  behauptet  wiederholt  auf 
Grund  von  Untersuchungen  von  A.  Bidder.  dass  ein  Hindurchtreten  der 
Schleimhaut  der  Mundhöhle  durch  die  Schädelbasis  im  Sinne  Rathke's 
nicht  stattfinde  und  spricht  endlich  die  Vermuthung  aus,  dass  die  Glan- 


-t)  Untersuchungen  über  die  erste  Anlage  des  Wirbeilliierleibs.    Leipzig  1868. 
p.  134. 

2)  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbelthiere.  Leipzig  1 861. 

3)  Der  Bau  des  menschlichen  Gehirns.   Leipzig  1861.   H.  Theil.  p.  18. 


2.  Ueher  Entwickln iit!  und  fian  dt'r  H\|iii|ili\,sis  und  des  Prorcssns  inrnndilnili  (•crclni    ;}5*J 

(liihi   pinralis  und   viclleichl  ;iuc-li    die  (il.indiilii  piUiiliiri-i   ;ds   WucIk!- 
runt;('n  dci-  Pia  tuator  anzusehiMi  soion. 

Die  Ani^ahon,  wclclie  über  die  lin(\Nicklun^  drr  Z\\iseh('nhirid)asis 
überhaupt  und  dos  Trichters  inslK'sondoro  voriiciion,  lassen  s'ivh  eben- 
sowenii;  in  l'linklani;  brin!j;en  als  die  Ternnnologie ,  welche  für  diesen 
Gehirnabsehnill  bei  den  vecschiedenen  Wirbelthierelasson  im  Gebrauch 
ist.  Die  älteren  Anatomen  von  Rifls  bis  auf  \\CQ  n'AzY«  haben  an  der 
Zwischenhiinbasis  ausser  dem  Chiasma  nur  das  Infundibulum  [rrveXig 
lUiFus)  unterschieden  und  darunter  die  ganze  Strecke  verslanden  zwi- 
schen Chiasma  und  Corpora  candicantia.  Süsimerixg  hat  an  dieser 
Strecke  einen  vorderen  Abschnitt,  das  eigentliche  Infundibulum ,  und 
einen  hinteien,  Tuber  cinereum,  unteischioden,  und  diese  Unterschei- 
dung ist  seitdem  in  der  menschlichen  Ciehirnlehie  beibehalten  worden. 
Der  vor  dem  Infundibulum  liegende  Abschnitt  der  Zwischenhirnbasis 
wird  bei  dem  Menschen  vom  Chiasma  l)edeckt  und  ist  wohl  aus  diesem 
Grunde  ohne  Namen  geblieben,  nur  seine  vordere  Wand  hat  die  Be- 
zeichnung als  Lamina  terminalis  des  dritten  Ventiikels  erhallen.  Bei 
den  Fischen  liegt  das  Chiasma  dem  vorderen  Ende  dieses  Theils  an, 
der  grössle  Theil  desselben  liegt  zwischen  Chiasma  und  Infundibulum 
frei  zu  Tage  und  wird  entweder  als  Tuber  cinereum  (Cuvier,  Klaatscü) 
oder  als  Trigonum  fissum  s.  Vulva  (Gottsciie  ,  Stannius)  bezeichnet. 
Bei  ilen  Amphibien  liegt  das  Chiasma  am  hinteren  Ende  dieses  Ab- 
schnitts; der  grössle  Theil  desselben  liegt  vor  dem  Chiasma  frei  zu 
Tage  und  wird  allgemein  als  Tuber  cinereum  bezeichnet.  Man  hat 
demnach  nicht  nur  verschiedene  Bc^zeichnungen  für  denselben  Hirn- 
abschnitt,  je  nachdem  er  einem  Fisch  oder  einem  Amphibium  angehört, 
sondern  auch  noch  dieselbe  Bezeichnung  für  verschiedene  Abschnitte 
des  Gehirns  der  Amphibien  und  des  Menschen.  Ein  solches  Verfahren 
ist  unzulässig,  wenn  die  vergleichende  Anatomie  und  Entwicklungs- 
geschichte des  Gehirns  etwas  Anderes  als  eine  Sammlung  willkürlicher 
Bezeichnungen  liefern  soll.  Ich  habe  zurVermeidung  der  Missverständ- 
nisse,  welche  die  übliche  Terminologie  mit  sich  bringt,  der  Schilderung 
der  Zwischenhirnbasis  bei  den  verschiedenen  Wirbellhierclassen  eine 
einheitliche  Terminologie  zu  Grunde  gelegt.  Man  kann  von  der  frühe- 
sten Entwicklung  an  zwei  Abschnitte  an  der  Zwischenhii-nbasis  unter- 
scheiden :  einen  voideren ,  welcher  constante  Lagebeziehungen  zum 
Chiasma  nervorum  opticorum  zeigt;  ich  werde  ihn  im  Folgenden  als 
Trignnum  cinereum  bezeichnen,  und  einen  hinteien,  für  welcluMi  ich 
die  alle  Bezeichnung  des  Infundibulum  beibehalte.  Dieser  hinlere  Ab- 
schnitt entwickelt  sich  bei  Fischen  und  Amj^hibien  zu  einem  umfang- 
reichen Gebilde,   welches  bei  ersteren  in  Form  paariger,   bei  letzleren 

Bd.  VI.    3.  25 


360  Wilhelm  Müller, 

in  Form  eines  impaaren  Fortsatzes  constant  seine  Lagerung  in  dem 
Raum  zwischen  Keilbein  und  Ende  der  Arteria  basilaris  und  ihrer 
Scheide  (dem  früheren  mittleren  Schädelbalken)  hat.  Dieses  Gebilde, 
gewöhnlich  als  Lobus  inferior  benannt,  werde  ich  als  Lobus  infundibuli 
bezeichnen.  Ausserdem  verlängert  sich  das  Ependyni  des  dritten  Ven- 
trikels bei  den  Cyklostomen  und  Fischen  zu  einem  dünnwandigen  Di- 
vertikel, welches  constant  zur  Oberfläche  der  Hypophysis  in  Lagerungs- 
beziebung  tritt  und  wegen  seines  Gefässreichthums  von  Clvier  als 
Appendix,  von  Gottsciie  als  Saccus  vasculosus  bezeichnet  worden  ist. 
Ich  werde  die  letztere  Bezeichnung  beibehalten.  Bei  Reptilien,  Vögeln 
und  Säugethieren  verlängert  sich  das  Infundibulum  zu  einem  verhält- 
nissmässig  unbedeutenden  Fortsatz,  welcher  bei  letzteren  noch  wäh- 
rend der  Fötalzeit  eine  Involution  erfährt;  ich  werde  diesen  Theil, 
welcher  dem  Lol)us  infundibuli  der  Fische  und  Amphibien  entspricht,  als 
Processus  infundibuli  bezeichnen.  Die  dünne  Lamelle  zwischen  Infundi- 
bulum und  Corpora  candicantia,  welche  das  Tuber  cinereum  Sömmering's 
bildet  und  in  früher  Jugend  viel  stärker  vorgewölbt  ist  als  beim  Erwach- 
senen, wird  zweckmässig  als  Lamina  posterior  infundibuli  bezeichnet. 

lieber  die  Entwicklung  des  Trichters  liegen  dreierlei  Angaben  vor, 
welche  sämmtlich  auf  Vögel  und  Säugethiere  sich  beziehen.  Nach  der 
älteren  Ansicht,  welche  namentlich  in  Bär  und  Bischoff  ihre  Vertreter 
gefunden  hat,  entspräche  der  Trichter  dem  ursprünglichen  vorderen 
Ende  des  Medullarrohrs  und  würde  dadurch  zu  einem  Fortsatz  verlän- 
gert, dass  bei  dem  stärkeren  Wachsthum  der  oberen  und  vorderen 
Wand  des  ungebogenen  Medullarrohrs  der  Boden  des  Zwischenhirns 
stark  nach  unten  gedrängt  würde. 

Nach  den  Angaben  von  His  und  Dursy  ist  es  der  feste  Zusammen- 
hang zwischen  Chordaende  und  Basis  des  Zwischenhirns,  welcher  zur 
Entwicklung  des  Infundibulum  führt.  Während  aber  Hts  in  Folge  des 
ungleichen  Wachsthums  der  einzelnen  Ilirnabschnitte  die  Zwischen- 
hirnbasis  zur  Basilarleiste  sich  erheben  und  deren  axialen  Theil  zum 
Trichter  werden  lässt,  wird  nach  Dursy  das  Zwischenhirn  in  der  Gegend 
lies  zukünftigen  Infundibulum  bei  stärkerer  Entwicklung  der  Urwirbel- 
platten  des  Schädels  umwachsen  und  in  seinem  peripherischen  Ab- 
schnitt zu  einem  Strang  umgewandelt. 

Reichert  bestreitet,  dass  das  Infundibulum  als  das  ursprüngliche 
Vorderende  der  Gehirnröhre  betraclitet  werden  könne,  dieses  sei  viel- 
mehr genetisch  in  der  späteren  Lamina  terminalis  der  dritten  Hirnkam- 
mer zu  suchen.  Er  lässt  den  Trichter,  mit  welchem  die  Hypophysis  in 
Verbindung  steht  und  welcher  sich  mit  seiner  Spitze  fest  an  die  Schä- 
delbasis anlegt,    durch   einen   selbständigen   Wachsthumsprocess    des 


2.  üeber  Entwicklung  und  Bau  der  Hypophysis  und  des  Processus  infundilnili  cerebri.  361 

ersten  Gehirnbliischens  nnch  der  Basis  des  Schädels  liin  und  zugleich 
etwas  nach  hinton  /u  Stande  kommen. 


2.    Em  bryoIo|zischer  Thci  1. 

Ans  der  Ciasso  der  Fische  liatio  icli  die  Eird>ryonen  von  Ilaion  auf 
verschiedenen  Entwicklungsstufen  zu  unlcMsuchen  Gelegenhoil.  Die 
jüngsten  Embryonen  gehörten  Acanthias  vulgaris  an  und  maassen 
■21) — ;iO  Mm.  Vergl.  Taf.  IX,  Fig.  5.  Die  Chorda  war  bei  ihrem  Eintritt 
in  die  Schädelbasis  0,;{  dick;  sie  verlief  durch  letztere  gerade  mit  we- 
nig sich  verjüngendem  Durehmesser  bis  zur  Basis  des  mittleren  Schä- 
dolbalkon.  Sie  erhob  sich  in  letzlerer  auf  eine  kurze  Strecke  und 
machte  hierauf  unter  beträchtlicher  Verschmälerung  eine  scharfe  Bie- 
gung nach  abwärts,  so  dass  ihr  0,25  langes  Ende  an  der  Schlundlläche 
des  eigentlichen  Stranges  zu  liegen  kam^).  Der  ganze  umgebogene 
Abschnitt  bestand  aus  kleinen  protoplasmareichen  Zellen,  sein  abge- 
stumpftes Endo  hatte  0,05  im  Durchmesser,  von  demselben  erstreckte 
sich  ein  schmaler,  0,2  langer  Zellenstrang  gegen  das  obere  Ende  der 
Hypophysenanlagc ;  er  verlor  sich  allmälig  blasser  werdend  0,1  ober- 
halb derselben  in  dem  Bildungsgevvebe  der  Sattellehne.  Von  dem  vor- 
liegenden Zwischonhirn  war  die  Chorda  längs  des  ganzen  vorderen 
Endes  durch  eine  0,02  dicke  Lage  spindelförmiger,  kernhaltiger  Zellen 
geschieden.  Die  Anlage  des  Sphenoccipitalknorpels  umgab  die  Chorda 
allseitig ;  ihre  Dicke  bestimmte  ich  an  der  Schlundfläche  der  Chorda  zu 
0,14,  an  der  Rückonfläche  zu  0,0i,  die  Dicke  der  ganzen  Schädelbasis 
in  ihrem  hinteren  Abschnitt  zu  0,48.  Sie  bestand  aus  dicht  aneinander- 
liegenden elliptischen  Zellen  mit  zartem  Protoplasma  und  durchschnitt- 
lich 0,004  dickem,  0,01  langem  Kein,  die  Richtung  der  Zellen  wai- 
parallel  der  Längsachse  der  Schädelbasis.  Der  mittlere  Schädelbalken 
hatte  von  der  Umbiegungsstelle  der  Chorda  bis  zu  seiner  Spitze  eine 
Länge  von  0,9:  er  bestand  aus  einem  unteren  dünneren  Theil ,  wel- 
chem das  hintere  Ende  dos  Zwischenhirns  dicht  anlag,  und  einem  obe- 
ren, 0,ö  dicken,  dessen  vorderster  Abschnitt  das  Ende  des  Zwischen- 
hirns in  Form  eines  dachartigen  Vorsprungs  überdeckte.  Sein  Gewebe 
bestand  aus  spindelförmigen  und  sternförmig  verzweigten  Zellen,  die 
beträchtlich  lockerer  gefügt  waren  als  jene  der  Schädelbasis.  Längs 
seiner  liinteren  Fläche  verlief,  vom  anliegenden  Xachhirn  durch  eine 
lockere  Schichte  theils  spindelförmiger,   theils  netzförmiger  Zellen  ge- 


1)  KöLLiKF.R  lässf  da«  Ctiordaende  der  Haionil)!  yonen  (n.  .i.  0.  p.223)  nacli  olien 
umgebocen  sei».     Dieso  Anealio  lu^rutit  auf  eini'in  iU'nlia(liliiiii.'sft'liliT. 


362  Wilhelm  Müller, 

schieden,  die  0,05  weite  Arteria  basilaris,  um  an  seiner  Spitze  nach 
vorne  sich  zu  wenden  und  an  der  Umbeugungsstelle  des  Mittelhirns  in 
das  Zwischenhirn  ihre  Endaste  abzugeben.  Die  Anlage  der  vorderen 
Partie  der  Schädelbasis  setzte  sich  unter  stumpfem  Winkel  an  jene  des 
Sphenoccipitalknorpels  an ,  die  Schädelbeuge  war  mithin  noch  in  der 
Ausgleichung  begriffen.  Die  Dicke  dieses  Abschnitts  der  Schädel])asis 
war  scheinl)ar  viel  geringer  als  jene  des  chordahaltigen  Theils,  sie  be- 
tiug  im  Mittel  0,15.  Da  die  Dicke  der  Chorda  im  letzteren  0,3  betrug, 
so  eigiebt  sich  nach  deren  Abzug  eine  nahezu  gleiche  Stäike  für  beide 
Abschnitte.  Kurz  vor  der  Ansalzstelle  enthielt  die  Anlage  des  hinleren 
Keilbeinknorpels  die  etwas  schief  von  unten  und  rückwärts  nach  oben 
und  vorne  verlaufende  innere  Carotis,  deren  Durchmesser  0,06  betrug. 
Die  unlere  Fläche  der  Schädelbasis  war  vom  Schlundepilhel  überzogen, 
welches  aus  flachen  quadratischen  Zellen  in  0,9  dicker  Schichte  bestand. 
Die  Anlage  der  Hypophysis  bildete  auf  Längsschnitten  ein  in  sagitlaler 
Richtung  comprimirtes  Säckchen  von  I  Mm.  Länge  bei  0,1  Mm.  Dicke, 
welches  an  der  oberen  Fläche  der  Schädelbasis  einen  Viertelkreisbogen 
beschrieb  (Taf.  IX ,  Fig.  5.^).  Das  vordere  Ende  lag  0,2  von  dem 
Chiasma  entfernt,  das  hintere  lag  an  der  vorderen  Wand  des  mittleren 
Schädelbalken  etwas  über  dessen  Abgangsslelle.  Auf  Querschnitten 
erwies  sich  die  Anlage,  welche  durch  leicht  gelbliche  Färbung  von  dem 
vorliegenden  Zwischenhirn  sich  unterschied,  als  bestehend  aus  einem 
oberen  ,  mit  zwei  kurzen  seitlichen  Ausläufern  versehenen  Stück  und 
einem  unleren  schmäleren  zungenarlig  verlängerten.  Sie  besass  ein 
scharfbegrenztes  centrales  Lumen  und  eine  Wand  von  0,04  Dicke. 
Letztere  bestand  aus  radiär  gestellten  cylindrischen  Epithelien  von 
0,003  Dicke  bei  0,0 1  Länge.  In  der  Mitte  seiner  unleren  Fläche  stand 
dieses  Säckchen  durch  einen  0,03  dicken,  von  flachem  Cylinderepilhel 
ausgekleideten  ,  oben  und  unten  leicht  Irichlerförmig  ei  wt'iterten  Gang 
mit  der  Höhle  des  Schlundes  in  Connnunication.  Der  Gang  lag  0,2  vor 
der  Carotis,  er  durchsetzte  die  Schädelbasis  in  senkrechter  Richtung, 
seine  Epitlielien  führten  reichlich  Pigmenlkörner  von  gelblicher  Farbe 
(Taf.  I,  Fig.  5.  h).  Die  obere  Fläche  der  Hypophysenanlage  wurde  vom 
Boden  des  Zwischenhirns  üherdeckl  und  war  durch  eine  äusserst  dünne 
Lage  zarter  spindelförmiger  Zellen  von  ihm  geschieden.  Das  ganze 
Zw  ischenhirn  war  hohl ;  sein  Boden  zerfiel  in  einen  vor  dem  Chiasma 
liegenden  Abschnitt,  das  Trigonum  cinereum,  und  einem  hinter  dem 
Chiasma  liegenden  und  mit  einer  Verlängerung  nach  rückwärts  verse- 
henen, dem  Infundibulum.  Letzterer  liess  bereits  die  Zusammensetzung 
aus  einer  vorderen  niedrigeren  und  einer  hinteren  1,2  Mm.  hohen  in 
einer  Verliefung    des    mittleren    Schädelbalken    liegenden    Abtheilung 


2.  Ohcr  l'.iilwirkliiiiji  und  K.hi  dfi'  ll\|iii|ili\sis  iind  des  rroccssiis  iiirniidilMili  ccirlui,    ',\^',\ 

iMkennon.  Die  Wiindiini;  dos  Zwisclicnliirnbodi'iis  war  duichscliiiilllich 
0.:]  Min.  dick  und  l)(>sliind  aus  geschichlclen  cyliiidrischcn  Epilliolien, 
;un  Ho(l«Mi  dos  Itdiindibulurii  scidoss  sicli  an  iliit*  Pcn'pliorio  eine  dünni' 
nach  rückwärts  allniälii;  sich  auskcilcndo  Schichic  zarter,  senkrecht 
iicslelllor  Proloplasniaforlsätzc  an.  Der  hinterste  Abschnitt  der  Wan- 
dung dcvs  Zwischenhirns  war  l)elrächtlicii  dünner  als  die  stMtliehe  Wand 
und  der  Boden  ;  das  Chiasnia  erwies  sich  solid,  während  die;  beiden 
Sehnerven  noch  hohl  und  von  cylindrischeni  flachem  Epithel  ausgeklei- 
det waren. 

Ks  standen  mir  ferner  I  ;>  und  2,0  Centimcter  lange  Embryonen 
von  Acanlliias  vulgaris,  10  Centimeler  lange  Endjryoncn  von  Mustelus 
vulgaris,  sowie  1*7  Cenlinieler  lange;  von  Scymnus  lichia  und  Galcus 
canis  zur  Disposition.  Die  Resultate  variirlen  bei  den  einzelnen  Spccie.s 
in  so  unwesenllichon  Dingen,  dass  ich  mich  mit  der  Schikhuning  des 
Befundes  von  Muslclus  begnüge.  (Vergl.  Taf.  IX,  Fig.  6.)  Die  Schädel- 
krünunuiig  war  l)ei  den  Embryonen  dieses  Thiers  bereits  ausgeglichen, 
der  Verlauf  der  Schädelbasis  daher  nahezu  gerade.  Ihre  Dicke  betrug 
im  hinteren  Abschnitt  durchschnilllich  0,'^,  im  vorderen  0,5  Mm.  Sie 
war  allenlhalben  von  hyalinem  Knorpel  gebildet,  der  Knorpel  der  Sat- 
tellehne mit  jenem  der  Schädelbasis  in  continuirlicluMu  Zusammenhang, 
0,7  hoch,  an  seiner  Basis  0,5  dick,  gleich  den  übrigen  Knorpeln  von 
einer  dicken  aus  spindelföi  inigen  Zellen  bestehenden  Perichondriuml.ige 
überzogen.  Die  Chorda  trat  in  den  Schädel  als  runder  Strang  von  0,iS 
Dicke.  Sic  besass  an  der  Peripherie  eine  homogene  Cuticularschichle 
von  0,012  Dicke,  gegen  welche  der  anliegende  Schädelknorpel  mit 
(Miiem  blassen  Saum  ohne  Andeutung  elastischer  Netze  sich  abgrenzte. 
Im  Verlauf  durch  die  Schädelbasis  verdünnte  sich  die  Cuticularschicht 
gleich  der  ganzen  Chorda.  Die  Zellen  der  letzteren  wai-en  klein,  dvu'ch- 
sclinittlich  0,02  im  Durchmesser,  dickwandig  und  Knürpelzellen  sehr 
ähnlich.  An  der  Basis  dos  Clivus  verliess  die  Chorda  mit  einer  leichten 
Biegung  nach  oben  den  Schädelknorpcl  und  kam  allmälig  ganz  inner- 
halb der  tiefsten  Schichten  des  Pcrichondrium  zu  liegen,  welches  den 
Clivus  überzog,  eine  leichte  Hervorragung  desselben  bedingend.  Ihre 
Dicke  bestimmte  ich  an  der  Austi"ittsstelle  zu  0,16.  Sie  besass  hier  eine 
Culicula  von  0,08  Dicke,  gegen  welche  sich  das  anliegende  Pcrichon- 
drium mit  einem  glänzenden  elastischen  Saum  abgrenzte.  Sie  verlief 
unter  allmäligcr  Verschmälerung  um  die  Spitze  des  Clivus  herum,  um 
an  der  vorderen  P'läche  der  Sattellehne  mit  kurzer,  nach  abwärts  ge- 
bogener, 0,06  dicker  Spitze  zu  endigen.  Die  0,15  weile  Basilararterie 
verlief  längs  der  Oberiläche  des  Clivus  und  erhob  sich  über  der  Spitze 
der  Saltellchne  2,  i  Mm.  hoch  in  flachem,   nach  vorwärts  gerichletein 


364  Wilhelm  Müller, 

Bogen,  um  an  der  Urnbeugungsslelle  des  Miltelhirns  in  das  Zwischen- 
hirn ihre  Endäsle  abzugeben.  Der  frühere  mittlere  Schädelbalken  war 
auf  eine  unbedeutende  bindegewebige  Adventitia  der  Basilararterie 
reducirt.  Von  der  Spitze  der  Saltellehne  spannte  sich  eine  straffe,  0,03 
dicke  Bindegcwebslamelle  über  die  Saltelgrube  hinweg ,  in  das  Peri- 
chondrium  des  vorderen  Keilbeinknorpels  übergehend.  Die  Saltelgrube 
selbst  enlhioll,  in  Bindegewebe  eingebettet,  die  0,'2  weiten  carotischen 
Canäle  und  einen  Theil  der  ursprünglichen  Hypophysenanlage  in  Form 
eines  länglichen,  etwas  gewundenen  Hohlraums  von  0,2  Durchmesser, 
welcher  ein  scharf  begrenztes  centrales  Lumen  und  eine  aus  geschich- 
tetem Cylinderepithel  bestehende  Wandung  von  0,04  Dicke  besass 
(Taf.  I,  Fig.  6.  e) .  Die  eigentliche  Hypophysis  lag  als  ein  3  Mm.  langer, 
0,4  Mm.  dicker  Körper  oberhalb  des  vorderen  Keill)einknorpels  und 
des  bindegewebigen  Operculum  der  Sattelgrube  (Taf.  IX,  Fig.  6. /). 
Sie  war  von  einer  dünnen,  vorwiegend  aus  spindelförmigen  Zellen  be- 
stehenden Bindegewebshülle  umgeben ,  von  welcher  aus  Fortsätze  in 
das  Innere  sich  erstreckten ,  durch  welche  die  Drüsensubslanz  in  eine 
Anzahl  rundlicher  und  schlauchförmiger  Hohlräume  von  0,06  bis  0,12 
Durchmesser  zerlegt  wurde.  Letztere  zeigten  gewundenen  Verlauf  und 
hie  und  da  leichte  Ausbuchtungen.  Sie  waren  umgeben  von  einer  dün- 
nen Membrana  propria  und  ausgekleidet  von  einer  mehrschichtigen 
Zellenlage.  Die  Zellen  waren  gegen  das  durchschnittlich  0,01  mes- 
sende, zwischen  0,005  und  0,05  schwankende  Lumen  der  Schläuche 
zu  deutliche  Cylinderepithelien  von  0,016  Länge  bei  0,005  Dicke; 
gegen  die  Peripherie  zu  erwiesen  sie  sich  mehr  spindelförmig  und 
rundlich  mit  fein  granulirtem,  zartem  Protoplasmakörper,  welcher  blasse 
Fortsätze  gegen  die  Membrana  propria  hin  entsandte.  Nach  vorne  ging 
die  Hypophysis  in  einen  schmalen  zungenförmigen  Fortsalz  über,  wel- 
cher bis  nahe  an  das  Chiasma  heranreichte.  Derselbe  lag  in  einer 
flachen  Ausbuchtung  der  Zwischenhirnbasis  und  war  allseitig  von  einer 
Fortsetzung  der  Pia  mater  umgeben.  Seine  Höhe  betrug  0,4,  seine 
Breite  0,6  —  0,8  Mm.;  das  Innere  war  hohl,  die  obere  Wand  flach  ge- 
wölbt, 0,05  dick,  die  untere  0,03  dick  und  in  zahlreiche  Längsfalten 
gelegt;  sie  bestand  aus  einer  dünnen  Membrana  propria  und  geschich- 
tetem Cylinderepithel,  welches  peripherisch  kurze  Proloplasmafortsätze 
entsandte.  Der  Verbindungsgang  zwischen  H^^pophysis  und  Rachen- 
epilhel  war  vollständig  geschwunden ;  dagegen  der  von  Bindegew  ebe 
ausgekleidete ,  schief  von  hinten  und  unten  nach  oben  und  vorn  ver- 
laufende Gang,  welcher  die  Carotiden  enthielt,  viel  weiter  als  früher. 
Dieser  Gang  ist  es,  welchen  v.  Miclucho-Maclay  irrlhümlicherweise  für 
einen  Rest  des  ursprünglichen  Hypophysengangs  gehalten  hat. 


2.  l'pbprF.iitwirkliiiiti  iiinl  H.in  di'i  ll\|inpliysis  iiiiil  des  l'rdct'.ssiis  iiiiiiii(lilnili  ctMcbii.    365 

Das  Zwischenhirn  wiir  aw  soIikm'  ohoivii  Fliicho  diircli  (;iiic  (iiu-re 
Furche,  an  der  unleren  duicli  den  das  i'">nde  der  Artei'ia  ])asilaris  be- 
herbergenden F^inschnill  von  den»  Mitlelhirn  geschieden.  Seine  Basis 
bestand  aus  einem  vorderen  und  einem  hinteren  Abschnitt.  Der  vor- 
dere, Trigonum  cinereuni ,  besass  eine  mediane,  keilförmig  nach  al)- 
wärts  sich  verschmälernde,  mit  dem  dritten  Ventrikel  communicirende 
Höhle,  welche  über  dem  vorderen  Ende  des  Chiasma  eine  kurze  zwei- 
lappige Ausstülpung  zeigte.  Das  Chiasma  war  in  die  vordere  Partie 
dieses  Abschnitts  eingezwängt  und  verdrängte  den  Boden  0,9  Mm.  hoch 
nach  aufwärts;  sein  oberes  Ende  war  etwas  nach  vorwärts  un)gebogen. 
Eine  kurze  Strecke  hinter  dem  Chiasma  ging  das  Trigonum  cinereum 
in  den  hinteren  Abschnitt  der  Zwischenhirnbasis,  das  Infundibuhun, 
über.  Dieser  bestand  aus  drei  schon  äusserlich  erkennliaren  Abihei- 
lungen. Die  erste  ging  nach  vorne  in  das  Trigonum  cinereum ,  nach 
oben  in  die  Substanz  des  Zwischenhirns  continuirlich  über;  ihr  hin- 
teres Ende  war  durch  den  die  Basilararterie  enthaltenden  Einschnitt 
vom  überliegenden  Mittelhirn  geschieden  und  ragte  gleich  dem  folgen- 
den Abschnitt  als  ein  walzenförmiger  Fortsalz  der  Zwischenhirnbasis 
in  den  vor  der  Sallellehne  belindlichen  Raun).  Die  miUlcre  Abiheilung 
war  charakterisirt  durch  eine  leichte  Emporwölbung  ihrer  Decke,  beide 
besassen  einen  gemeinsamen  seitlichen  Fortsatz ;  die  hinterste  endlich 
stellte  einen  sehr  dünnen  durchsichtigen,  fast  zweila})pigen  Sack  vor, 
dessen  Miltelstück  mit  der  oberen  Fläche  der  Hypophyse  fest  verwach- 
sen war. 

Die  vorderste  Abtheilung  enthielt  einen  Hohlraum  von  ihombi- 
schem  Querschnitt ,  welcher  in  die  spaltartige  Höhle  des  Trigonum  ci- 
nereum nach  vorne  überging.  Dieser  Hohlraum  hatte  I  Mm.  Höhe  und 
ebensoviel  Breite;  er  stand  in  seiner  vorderen  Partie  durch  einen  0,;{ 
weiten  Gang  mit  dem  überliegenden  dritten  Ventrikel  inCommunicalion, 
wurde  aber  alsbald  durch  das  Auftreten  einer  r)uercommissur  und  wei- 
terhin durch  die  Entwicklung  einer  0,6  mächtigen  Decke  von  ihm  ge- 
schieden. Nach  abwärts  verlängerte  er  sich  in  einen  schmalen,  nur 
0,02  messenden  Spalt,  welcher  bis  nahe  an  die  Pia  herabreichte  und 
mit  seinem  flach  eingebuchteten  Boden  auf  der  zungenförmigen  Ver- 
längerung der  Hypoph^sis  ruhte.  Nach  rückwärts  ging  derselbe  in  die 
Höhle  der  zweiten  Abtheilung  ohne  Unterbrechung  über.  Seitlich  stand 
er  durch  0,2  weile  Ausläufer  mit  den  beiden  halbmondförmig  gestal- 
teten ,  1  Mm.  hohen ,  in  eine  kurze  obere  und  eine  lange  untere  Spitze 
ausgezogenen  Ventrikeln  derEminentiae  laterales  inCommunicalion.  Sie 
bildeten  flach  gewölbte  Uervorragungen  zu  beiden  Seiten  des  Lobus  in- 
fundibuli,   welche  in  ihrem  vorderen  Abschnilt  von  dem  überliegenden 


366  Wilhelm  Müller, 

Zwischenliirn  und  dein  Boden  des  Infundibuluni  durch  flache  Liings- 
furchen  oberflächlich  geschieden  waren.  Sie  umfasslen  mit  kurzen, 
nach  vorne  gerichteten  Verlängei'ungen  das  Ende  des  Trigonum  cine- 
reum  zu  beiden  Seiten,  nach  rückwärts  erstreckten  sie  sich  bis  nahe 
an  das  hintere  Ende  der  zweiten  Abtheilung,  sie  verflachten  sich  dabei 
ganz  allmälig  und  gingen  schliesslich  in  den  Boden  und  die  Decke  der- 
selben ohne  scharfe  Grenze  über.  In  dieser  ganzen  Ausdehnung  erhielt 
sich  die  Gommunication  ihrer  Ventrikel  mit  der  Höhle  des  Infundibu- 
lurn ;  die  vorspringenden  Leisten,  welche  die  Communicationsstellc 
verengten ,  wurden  gleichzeitig  mit  der  zunehmenden  Verflachung  der 
Seitenwande  im  Veilauf  nach  rückwärts  immer  niedriger  und  schwan- 
den schliesslich  vollständig ,  so  dass  die  anfangs  getrennten  Höhlen  zu 
einer  gemeinsamen  verschmolzen.  Die  zweite  Abtheilung  war  ausser 
dem  durch  eine  nach  oben  gerichtete  Ausstülpung  ihrer  Höhle  charak- 
lerisirt.  Sie  war  2,6  Mm.  breit,  0,4  bis  0,63  hoch  und  stand  durch 
eine  0,3  weite  OefTnung  mit  letzterer  in  Gommunication.  Ihre  Decke 
besass  eine  Mächtigkeit  von  0,i  und  war  in  eine  Anzahl  zierlicher,  0,25 
hoher,  an  der  Basis  0,35  breiter  Längsfallen  gelegt.  Sie  verflachten 
sich  im  Verlauf  nach  rückwärts  und  verschwanden  beinj  üebergang 
der  Decke  in  die  hintere  Wand  vollständig.  Letzlere  verdünnte  sich  im 
Verlauf  nach  abwärts  beträchtlich  und  ging  schliesslich,  nach  rück- 
wärts sich  wend  nd,  in  die  obere  Wand  der  dritten  Abtheilung  über. 
Die  dünne,  den  Boden  bildende  Ependyndamelle  zeigte  nahe  dem  hin- 
teren Ende  diesei"  Abtheilung  eine  zweilappige  ä  cheval  der  zungen- 
föiinigen  Verlängerung  der  Hypophysis  liegende  Ausstülpung;  sie  ver- 
längerte sich  gleichfalls  nach  rückwärts  und  bildete  die  untere  Wand 
der  dritten  Abiheilung.  Letztere,  der  Saccus  vasculosus,  bestand  aus 
zwei  rundlichen,  flachen,  durch  ein  schmales  Mittelslück  verbundenen 
Säckchen,  welche  beim  üebergang  in  den  Boden  und  die  hintere  Wand 
des  Infundibuluni  halsartig  sich  verschmälerten.  Sie  lagen  dem  hinte- 
ren Ende  des  Infundibuluni  und  der  oberen  Fläche  des  vorderen  Endes 
des  eigentlichen  Ilypophysenkörpers  dicht  an  und  waren  mit  ihr  fest 
verwachsen.    Ihre  Höhle  communicirte  mit  jener  des  Infundibuluni. 

Hinsichtlich  des  feineren  Baues  unterschied  sich  an  den  beiden 
vorderen  Abtheilungen  des  Infundibulum  der  Boden  und  die  von  den 
Eminentiae  laterales  gebildete  seitliche  Wand  wesentlich  von  der  Decke. 
Erstere  wurden  an  der  dem  Ventrikel  zugekehrten  Fläche  von  geschieh  - 
teteni  Cylinderepithel  umsäumt;  auf  dieses  folgte,  durch  eine  schmale, 
feinkörnige,  radiär  gestreifte  Schichte  geschieden,  eine  durchschnittlich 
0,08  —  0,1  dicke  Lage  von  Zollen  mit  rundem  oder  elliptischem  Kern 
von  0,006  —  0,012  und  äusserst  zartem,   hie  und  da  nachweisbar  in 


1.  Ueber  tiitwicklmifi  iiml  l^aii  der  üypophysis  und  des  Processus  iiil'uudibuli  ccrebri.   367 

eiiuMi  spilzon  Foilsalz  nach  der  PtMiphciic  zu  ausj^ezogenein  Prolo- 
pliisma.  Diese  Zcllcnlage  wurde  |)eripherisch  umgeben  von  einer  0,25 
inäcliligen,  I)is  zur  Pia  sich  erstreckenden  Schichte  einei-  leinkörnigen, 
in  radiäiei' Richtung  sehr  fein  gestreiften,  einzelne  runde  Kerne  füh- 
renden Substanz.  Sic  erhielt  gleich  der  Zcllenschicht  ihre  Gefüsse  aus 
der  überziehenden  Pia. 

Die  llach  gewölbte  Decke,  weldie  in  ihrer  vorderen  Hälfte  mit  dem 
überliegendcn  Zwischenhirn  znsanunenhing,  zeigte  bis  zu  tier  nach 
oben  gerichteten  Ausstülpung  der  Höhle«  des  Infundibulum  in  dessen 
zweitcM-  Abiheilung  den  gleichen  Hau.  Sie  wai"  geg(>n  die  Höhle  des 
Infundibulum  von  geschichtetem  (.ylinderepithel  liekleidet,  daran  schloss 
sich,  durch  eine  dünne  Lage  feinkörniger  Substanz  getrennt,  ein(^ 
schmale  Lage  kegelförnn'ger ,  in  zwei  bis  drei  horizontale  Reihen  an- 
geordneter, nach  oben  feine  Protoplasmafortsatze  entsendender  Ganglien  - 
Zellen  an.  Die  ganze  übrige  Decke  bestand  aus  einer  feinkörnigen 
Grundsubstanz,  in  welcher  massig  dichtslehende  rundliehe  Kerne  und 
dreieckige,  in  zarte  Fortsätze  ausgezogene  Ganglienzellen  eingebettet 
waren.  An  der  Seiten  wand  und  Decke  der  nach  oben  gerichteten  Aus- 
stülpung des  Lobus  infundibuli  modificirte  sich  dieser  Bau;  an  das  den 
Hohlraum  auskleidende  Epithel  schloss  sich  hier  eine  ähnliche  Schicht 
runder,  dichtgedrängter  Kerne  mit  zartem,  nach  oben  in  dünne  Fortsätze 
ausgezogenen  Protoplasmakörper  an,  wie  sie  am  Boden  und  der  seitlichen 
Wand  vorhanden  war;  diese  Zellenschicht  wurde  von  einer  peripheri- 
schen, feinkörnigen,  in  radiärer  Richtung  feingestreiften  Substanz  um- 
geben. Am  hinteren  Ende  keilte  sich  diese  feinkörnige,  peripherische 
Schicht  allmälig  aus;  der  Saccus  vasculosus  bestand  in  Folge  davon  nur 
noch  aus  geschichtetem  Gylinderepithel,  welches  einer  dünnen,  von  der 
Pia  mater  gelieferten  Bindegewcbslamelle  aufsass.  Diese  Bindesubstanz- 
lamelle enthielt  ein  regelmässiges  Netz  0.03  —  0,06  weiter  (iefässc  mit 
quadratischen  Zwischemäumen,  welche  in  einem  sehr  lockeren  Fibril- 
lennetz  zahlreiche  runde  Lymphkörpern  ähnliehe  Zellen  zeigten. 

Aus  der  Classe  der  Amphibien  standen  mir  die  Embryonen  von 
Rana  temporaria  und  Salamandra  maculata  zur  Disposition.  Ich  unter- 
suchte an  ersleren  die  Hypophjsis  und  den  Processus  infundibuli  voTi 
der  ersten  Anlage  bis  zur  Gewinnung  seiner  bleibenden  Gestalt.  Die 
frühesten  Stadien  stammten  \on  luubryonen  der  Rana  temporaria, 
\\elche  eben  im  Ausschlüpfen  begiillen  waren.  Ihre  Länge  betrug  vom 
Kopf  bis  zum  Schwanzende  5  Mm.  Die  Chorda  bildete  einen  cylindri- 
sehen  Strang,  welcher,  beim  Eintritt  in  den  Schädel  0,  IS  dick,  im 
Verlauf  durch  denselben  bis  auf  0,1    sich  verschmälerte;    ihre  Spitze 


368  Wilhelm  Möller, 

verdünnte  sich  sehr  rasch  und  war  hakenförmig  gegen  die  Schlund- 
flache umgebogen.  Die  central  liegenden  Zellen  waren  bereits  aufge- 
hellt, polygonal,  und  besassen  nur  in  der  Peripherie  noch  eine  dünne 
Lage  bräunlichen ,  in  deutliche  Körner  gesonderten  Protoplasmas,  ihr 
Durchmesser  betrug  durchschnittlich  0,03.  Die  Peripherie  der  Chorda 
war  eingenommen  von  einer  Lage  protoplasniareicher,  vorwiegend  quer 
gestelller  Zellen,  an  welche  sich  ein  ungemein  dünner,  heller  Sauui, 
die  erste  Andeutung  der  Cuticularschicht,  anschloss.  Dieser  Saum 
wurde  umfasst  von  einer  an  der  unteren  Fläche  der  Chorda  einfachen, 
an  der  oberen  etwas  dickeren  Lage  spindelförmiger  und  netzförmiger 
pignienthalliger  Zellen.  Das  vordere  Ende  des  Centralnervensystems 
Hess  drei  Abtheilungen  unterscheiden,  welche  durch  seichte  Querfurchen 
an  der  oberen  Fläche  geschieden  waren:  das  Nachhirn,  weiches  im 
Verlauf  nach  vorne  beträchtlich  sich  verdickte,  das  Mittelhirn,  welches 
einen  flachen,  den  Gipfel  ^er  Schädelanlage  einnehmenden  Vorsprung 
bildete ,  und  das  Vorderhirn ,  welches  noch  nicht  deutlich  in  Vorder- 
und  Zwischenhirn  gesondert  war.  Alle  diese  Gehirnabschnitte  waren 
hohl;  die  Vorderhirnblase  erstreckte  sich  unmittelbar  vor  dem  Chorda- 
ende 0,35  Mm.  weit  nach  abwärts,  unt(M-  nahezu  rechtem  Winkel  in 
das  Mittelhiin  an  dessen  unterer  Fläche  übergehend;  ihre  hintere  Wand 
war  sehr  dünn,  nur  0,015  messend  und  bestand  aus  quadratischen, 
stark  pigmenlirten  Zellen ,  die  untere  Wand  verdickte  sich  im  Verlauf 
nach  vorwärts.  Zwischen  ihr  und  dem  anliegenden  Rachenepithel  er- 
streckte sich  eine  einfache ,  von  der  Umhüllung  des  Chordaendes  aus- 
gehende Lage  spindelförmiger  Zellen.  Das  Rachenepithel  lag  der  unle- 
ren Fläche  der  die  Chorda  umgebenden  Zellen  dicht  an,  es  war  0,02 
dick  und  bestand  iheils  aus  cylindrischen ,  theils  aus  (juadratischen 
stark  pigmenlirten  Zellen.  Sein  Verlauf  war  gerade  bis  zur  umgeboge- 
nen Chordaspitze,  welcher  es  unmittelbar  aufsass;  von  der  Chorda- 
spitze verlief  es  unter  nahezu  rechtem  Winkel  längs  der  hinteren  Wand 
der  Vorderhirnblase  nach  abwärts  in  das  Epithel  der  Mundhöhle  sich 
fortsetzend.  Es  besassen  mithin  die  Embryonen  aus  diesem  Stadium 
gleich  den  jüngeren  Haiembryonen  eine  sehr  ausgesprochene  Schädel- 
krümmung (vergl.  Taf.  XII,  Fig.  Ii. 

Bei  Larven  von  8  Mm.  verdünnte  sich  die  Chorda  nahe  der  vsie 
früher  gegen  die  Schlundfläche  hakenförmig  umgebogenen  Spitze  rasch 
in  beträchtlichem  Grade ;  ihre  Beschaffenheit  war  wie  im  vorigen  Sta- 
dium, die  Zellen  des  verjüngten  vordersten  Abschnitts  aber  proto- 
plasma-  und  pigmentreicher  als  im  übrigen  Verlauf  des  Organs.  Die 
dünne  Lage  die  Chorda  und  ihre  Cuticularschicht  umgebender  Zellen 
war  längs  der  oberen  Flache  etwas  mächtiger-  geworden  und  enthielt 


2.  UeberEutwickliiiiff  und  Bau  derHypophysis  und  dfs  Piorpssiis  infiiiidibiili  cerebri.  369 

hier  die  0,02  weite  Anlage  der  Basil;ir;iilcric.  Am  (A-iiliiilncivensysleni 
liatle  sich  das  Vorderliirn  vom  Zwisclicnhii-n  doiillicher  geschieden  ; 
das  xNachhirn  zeigte  an  seiner  Basis  einen  schmalen  pigmenllVeien, 
durch  feine  Pioloplasniafortsälze  seiner  Zellen  hervorgebrachten  und  in 
Folge  davon  senkrecht  gestreiften  Saum.  Die  Umheugungsstellc  der 
unteren  Wand  des  Mittelhirns  in  das  Zwischenhirn  war  etwas  nach 
voi'ne  gerückt,  indem  die  Anlage  der  Basilararterie  eine  kurze  Strecke 
weit  über  das  vordere  Chordaende  hinausgewachsen  war.  Das  Zwi- 
schenhirn  erstreckte  sich  wie  früher  vor  letzterem  nach  abwäi'ts:  seine 
Basis  liess  jetzt  die  bleibenden  drei  Abtheilungen  deutlich  unterschei- 
den :  das  Trigonum  cinereum,  dessen  Höhle  vor  dem  Chiasma  bis  nahe 
zur  Schädelbasis  herabreichte,  das  in  dessen  unlere  Wand  einge- 
zwängte, 0,0ö  hohe,  0,03  dicke  Chiasma,  endlich  das  dickwandige 
infundibulum  mit  dem  nach  rückwärts  gerichteten  Lobus  infundi- 
buli.  Die  hintere  Wand  des  letzteren  war  wie  früher  sehr  düim  ,  die 
pigmenlreichen  Zellen,  welche  sie  bildeten,  noch  niedriger  gewoiden. 
Die  untere  Wand  verdickte  sich  rasch  im  Verlauf  nach  vorwärts.  Das 
Sclilundepithel  war  wie  früher  stark  pigmentirt,  die  Zellen  abei-  etwas 
llachei".  Es  haftete  der  Anlage  der  Schädelbasis  in  deren  hinterstem 
Abschnitt  innig  an  ,  dicht  hinter  der  Stelle  jedoch  ,  wo  es  mit  der  um- 
gebogenen Chordaspitze  zusanimenhine,  war  es  zu  einein  flachen,  0,06 
hohen  Vorsprung  erhoben.  Dieser  Vorsprung  war  dadurch  bedingt, 
dass  an  der  unteren  Fläche  der  Chorda  entsprechend  der  Stelle,  wo  sie 
nahe  dem  vorderen  Ende  ihr  Caliber  rasch  verschmälerte,  sternförmig 
verästelte  Zellen  mit  zarten  Protoplasmafortsätzen  in  grösserer  Menge 
sich  entwickelt  hatten.  Zugleich  wai-  nahe  der  Schlunddäche  der  Chorda 
ein  0,02  Mm.  weites  Gefäss  sichtbar,  die  Anlage  der  inneren  Carotis. 
Da  auch  die  früher  einfache  Lage  spindelförmiger  Zellen  zwischen  hin- 
terer und  unterer  Wand  des  Zvsischenhirns  und  Schlundepilhel  bis  zu 
0,016  sich  verdickt  hatte,  wurde  an  derL'mbeugungsstelle  desSchlund- 
epilhels  ein  trichterförmiger  Hohlraum  geschaffen  von  0,06  Höhe,  des- 
sen Spitze  genau  dem  umgebogenen  Chordaende  entsprach ,  während 
er  an  der  Basis  mit  0,1  weiter  Oeffnung  mit  der  Schlundhöhle  com- 
municirte. 

Bei  9  Mm.  langen  Embryonen  war  die  Verschmälerung  der  Chorda 
in  der  Nähe  ihres  vorderen  Endes  noch  auffallender  als  im  vorhergehen- 
den Stadium;  die  Spitze  war  wie  früher  hakenförmig  gegen  die 
Schlundfläche  umgebogen,  der  umgebogene  Theil  aber  nur  mehr  0,016 
dick,  sehr  blass  und  pigmentarm.  Die  Verbindung  der  Spitze  mit  dem 
Schlundepilhel  war  gelöst,  indem  von  der  hinter  ihr  liegenden  Anhäu- 
fung   spindelförmiger    und    netzförmiger    Zellen    aus    einzelne    Zellen 


370  Wilhelm  Müller, 

zwischen  beide  sich  eingeschoben  hüllen.  Diese  Anhäufung  erslreckle 
sich  mit  einer  mittleren  Mächtigkeit  von  0,03  längs  der  unleren  Fläche 
des  verdünnten  Choidaendes ;  sie  bedingte  dicht  hinter  der  Chorda- 
spitze einen  0,1  hohen,  0,03  dicken  fallcnarligen  Vorsprung  des 
Schlundepithcls,  welcher  niit  seiner  Spitze  etwas  nach  vorne  gerichtet 
war.  Auch  die  zwischen  der  hinlern  und  untern  Wand  des  Zwischen- 
hirns und  dem  Schlundepithel  befindliche  Zellenlagc,  welche  die  Forl- 
setzung der  inneren  Carotiden  beherbergte,  erwies  sich  verdickt.  Der 
F^ingang  zu  dem  im  vorigen  Stadium  weit  offenen  trichterförmigen 
Hohlraum  unterhall)  der  Chordaspilze  war  hiedurch  beträchtlich  ver- 
engt; er  stellte  jetzt  eine  0,13  hohe,  mit  dem  oberen  Ende  nach  rück- 
wärts umgebogene  Tasche  voi',  welche  von  einer  Fortsetzung  des 
Schlundepitlicls  ausgekleitlet  wurde.  Ihre  Höhle  erweiterte  sich  im 
Verlauf  nach  abwärts  und  besass  an  derCommunicationsslelle  mit  jener 
des  Schlundes  einen  Durchmesser  von  0,07  Mm.  Durch  den  vorsprin- 
genden, die  Hypophysenanlage  beherbergenden  Zcllenwulst  war  die 
Schädelkrümmung  belrächllich  abgellacht. 

Bei  10  Mm.  langen  Larven  vei'dünnte  sich  die  Chorda  nahe  dem 
vorderen  Ende  mit  raschem  Abfall  auf  0,09;  das  verschmälerte  Ende 
verlief  gerade  nach  vorne,  um  an  der  Mitte  der  hinleren  Wand  des 
Lobus  infundibuli  mit  abgerundeter,  0,05  dicker  Spitze  zu  endigen. 
Der  umgebogene  Theil  war  bis  auf  einen  geringen  Rest  von  Pigment- 
körnchen geschwunden.  Die  Zellenanhäufung  an  der  unteren  Fläche 
des  verdünnten  Chordaendes  zeigte  eine  Mächtigkeit  von  0,01.  Die 
Anlage  der  Hypophysis  halle  gegen  früher  an  Höhe  gewonnen,  an  Dicke 
verloren;  sie  stellte  eine  0,16  hohe,  0,040  dicke,  in  sagiltaler  Richtung 
comprin)irlc  Tasche  vor,  deren  un lerer  Abschnitt  nahezu  senkrecht, 
deren  oberer  schief  von  unten  und  vorn  nach  oben  und  rückwärts  ge- 
richtet war.  Die  Wandung  war  von  cubischen  pigmenlreichen  Zellen 
mit  rundem,  0,01  messendem  Kern  ausgekleidet,  welche  am  unleren 
Ende  in  die  Zellen  des  Schlundepithels  continuirlich  übergingen  ,  die 
vordere  und  hinlere  Wand  waren  einander  sehr  genähert  und  Hessen 
nur  ein  ganz  schmales,  spallförmiges  Lumen  frei.  Die  ganze  Anlage 
erschien  etwas  nach  vorne  gerückt  durch  stärkere  Entwicklung  der  die 
hintere  Wand  umgebenden  Zellenlage,  so  dass  ihre  Spitze  nahe  unter 
dem  vorderen  Ende  der  Chorda  zu  liegen  kam.  Auch  längs  der  oberen 
Fläche  des  verdünnten  Chordaendes  hatten  sich  spindelförmige  und 
sternförmige  Zellen  in  grösserer  Menge  angehäuft  (vergl.  Taf.  XII,  Fig.  i). 

Bei  den  Larven  von  1 2  Mm.  Länge  war  die  Schädelkrümmung 
vollständig  ausgeglichen.  Die  Chorda  war  beim  Eintritt  in  den  Schädel 
0,2  dick,   sie  verschmälerte  sich  allmälig  inj  Verlauf  nach  vorne  bis  auf 


2.  Ut'bei  r.iihvickliiiiir  rmd  [{an  der  Hy|M)|ili\sis  iiiiil  des  l'rdccssiis  iiiCiiiiililMili  ccrcltri.   371 

0,12.  In  einer  Knlferniinc;  von  0,1.')  von  ihrem  vonleren  Ende  vei- 
jilnij;le  sie  sieh  luil  iilölzlieheni  Ahfiill  l»is  iuil"  O,!).'},')  und  vtM'li<'f  von  da 
als  eN  hnihiselier,  aus  kh-inen,  zieinlieh  pi^nienlreicheii  Zeih'n  Itesle- 
heiider  Sliant;  !j;i'i"ade  nach  vorne,  wo  sie  inil  sUinipfeni  Miuh»  aufhörle. 
Die  ZeiU'nschichte,  wch-Iie  das  vei-dUnnle  Slüek  unii^eben  halle,  war 
noeh  etwas  niäelili£;or  geworden  und  in  (h>ui  i]o\-  Chorda  /uniichsl  lie- 
genden Theil  in  der  Umwandlung  in  Iljalinknorpel  hegiillen  als  Anlage 
der  zukünftigen  Siitlelleline.  Der  peripherische  Theil  dieser  Sehiehle 
bestand  aus  zieinlieh  dicht  gedi'iingten  spindelförmigen  Zellen;  sie  ver- 
liingerte  sieh  von  der  Basis  der  Sattellehne  aus  nach  vorne  und  er- 
streckte sich  conlinuirlich  zur  Basis  des  Zwischenhirns.  Durch  diese 
Zellenlage  war  der  unterste,  die  Verbindung  mit  der  Schlundhiihle  ver- 
mittelnde Theil  der  Ilypophysenanlage  zum  Schwund  gebracht  und 
letztere  von  der  Rachcmhöhie  gänzlich  abgeschnürt.  Der  ol)ere  Theil 
war  erheblich  nach  Höhe  und  Dicke  vergrösserl;  erslere  betrug  0,?, 
letztere  0,07.  Er  stellte  ein  stumpfwinkliges  Dreieck  vor,  dessen 
grösserer  unlerer  Schenkel  schief  von  unten  und  vorne  nach  oben  und 
rückwärts,  d(>ssen  viel  kleinerer  oberer  Sehenkel  nahezu  senkrecht 
nach  oben  in  der  Sattelgrube  vt>rlief.  Das  obere  Ende  lag  jetzt  dicht 
unter  dem  abgerundeten  Ende  der  Chorda,  das  untere  hinter  der  Ueber- 
gangsstelle  der  hinteren  in  die  untere  Wand  des  Lobus  infundibuli. 
Ein  c-enlrales  Lumen  war  nicht  mehr  nachweisbar,  da  das  Innere  von 
pigmentreichen  polygonalen  und  cylindrischen  Zellen  dicht  erfüllt  war. 
Die  vordere  und  hinlere  Fläche  wurden  durch  schmale  Züge  spindel- 
förmiger Zellen  von  den  Umgebungen  getrennt.  Das  Mitlelhirn  war  an 
seiner  unteren  Fläche  durch  den  jetzt  deutlich  sichtbaren  ,  das  Ende 
der  Arteria  basilaris  beherbergenden,  0,lö  langen  Einschnitt  vom  Zwi- 
schenhirn geticnnt.  Die  Basis  des  letzteren  Hess  ihre  beiden  Haupt- 
abschnitte sofort  erkennen  :  vorne  das  hohle  Trigonum  cinereum  und 
in  seine  untere  Wand  eingezwängt  das  jetzt  0,1  hohe,  0,08  dicke,  mit 
dem  oberen  Ende  etwas  nach  rückwärts  umgebogene  Chiasma  ,  hinten 
das  Infundibulum  mit  seinem  Fortsatz.  Das  Infundibulum  zeigte  bereits 
eine  Scheidung  von  Decke  und  Boden,  letzterer  ging,  nach  rückwärts 
sich  verflachend,  in  den  zweilappig  gestalteten  Boden  des  Lobus  infun- 
dibuli über,  an  der  unleren  Fläche  desselben  l)egann  elien  eine  pigment- 
freie, aus  feinen  Protoplasnraforlsätzen  der  Zellen  bestehende  Schicht 
sich  zu  markiren.  Die  ursprünglich  hintere  Wand  des  hohlen  Lobus 
infundibuli  war  durch  das  stärkere  Hervorwachsen  der  Basilararlerie 
und  ihrer  Scheide  über  das  vordere  Chordaende  hinaus  in  ihrem  obe- 
len  Theil  zum  Verlauf  nach  vorne  und  oben  genöthigt  als  Anlage  der 
zukünftigen  Decke  dieses  Lappens;   sie  war  wie  früher  ungemein  dünn 


372  Wilhßlra  Müller, 

und  lediglich  durch  quadratische,  im  Verlauf  nach  oben  stark  sich  ver- 
flachende Epithelien  repräsentirt. 

Die  I  Centimeter  langen  Embryonen  von  Salamandra  maculala 
waren  in  demselben  Enlwicklungsstadium  wie  die  zuletzt  beschrie- 
benen Froschembryonen,  die  Verbindung  der  Hypophysis  mit  dem 
Rachen  war  vollständig  gelöst,  die  Basis  des  Zwischenhirns  mit  jener 
des  Frosches  in  allen  wesentlichen  Verhältnissen  vollständig  überein- 
stimmend (vergl.  Taf.  X,  Fig.  1). 

Bei  20  Mm.  langen  Froschlarven  wurde  die  Chorda  bereits  ring- 
förmig von  einer  Hyalinknoipelschichte  umfasst.  Vor  ihrem  stumpfen 
vorderen  Ende  lag  die  0,15  lange,  0,2  hohe  knorplige  Anlage  der  Sat- 
tellehne, in  welcher  das  ursprüngliche  Chordaende  bis  auf  den  letzten 
Rest  geschwunden  war.  lieber  der  oberen  Fläche  des  Schädelknorpels 
verlief  die  Arteria  basilaris,  deren  Ende  0,25  über  das  vordere  Ende 
der  Sattellehne  nach  vorne  sich  erstreckte,  von  einer  dünnen  Lage  spin- 
delförmiger Zellen  als  Andeutung  eines  mittleren  Schädelbalken  um- 
geben. Die  Basis  des  Mittelhirns  ging  an  ihrem  Ende  unter  spitzem, 
nach  rückwärts  offenem  Winkel  in  die  Decke  des  Infundibulum  über, 
welches  sich  nach  rückwärts  in  den  hohlen ,  mit  rudimentärer  oberer 
und  hinterer  Wand  versehenen  Lobus  infundibuli  verlängerte.  Vor  dem 
Infundibulum  lag  das  Trigonum  cinereum,  das  Chiasma  war  0,18  hoch, 
0,1  dick.  Zwischen  der  Sattellehne  und  der  hinteren  Wand  des  Lobus 
infundibuli,  von  beiden  durch  eine  dünne  Lage  spindelförmiger  Zellen 
getrennt,  lag  die  Hypophysis.  Sie  war  jetzt  0,25  lang,  0,08  dick.  Ihre 
gerade  nach  oben  gerichtete  Spitze  begann  als  ein  conischer,  0,07 
hoher,  0,05  dicker  Körper  von  dem  übrigen  Organ  durch  eine  schmale 
Furche  sich  abzugrenzen ;  beide  bestanden  aus  dicht  gehäuften ,  theils 
quadratischen,  theils  cylindrischen,  kernhaltigen  Zellen  und  einer  dün- 
nen, sie  umschliessenden  Bindesubstanzhülle. 

Bei  Froschlarven  von  25  Mm.  Länge  war  die  Chorda  wie  im  letz- 
ten Stadium  ringförmig  von  Hyalinknorpel  umfasst,  ihr  vorderes  Ende 
lag  0,2  hinter  der  vorderen  Fläche  der  Satlellehne.  Der  hintere  Ab- 
schnitt der  Schädelbasis  hatte  eine  durchschnittliche  Dicke  von  0,18, 
der  vordere  von  0,08.  Der  mittlere  Schädelbalken  hatte  eine  Länge 
von  0,4  bei  einer  Dicke  von  0,035,  er  bestand  aus  spindelförmigen 
und  verästelten  Zellen,  welche  die  Basilararterie  in  Form  einer  Scheide 
umgaben.  Die  Hypophysis  lag  im  Türkensattel  als  ein  winklig  geboge- 
ner Körper  von  0,3  Länge  bei  0,1  Dicke.  Ihr  grössserer  unterer  Ab- 
schnitt hatte  die  Richtung  von  unten  und  vorne  nach  oben  und  rück- 
wärts, der  obere  viel  kleinere  jene  von  unten  und  hinten  nach  oben 
und  vorne.     Sie  bestand  aus  einer  deutlichen  bindegewebigen  Kapsel, 


2.  Heber  Entwicklung  nndBan  der  Hypophysis  und  des  Processus  inliindibnli  ocroliri.  373 

von  welcher  aus  dünne  Zü£»e  spindelförmiger  Zellen  in  das  Innere  ge- 
wachsen waren,  welche  die  daselbst  befindlichen  Epithcizellen  in  eine 
Anzahl  kugeligei-  und  c\  iindriscber  Häufchen  schieden.  Von  dein  an- 
liegenden Zsvischenhirn  winde  sie  dui'ch  eine  aus  spindelförmigen 
Zellen  bestehende  Membran  geschieden ,  welche  sich  am  oberen  l^ide 
der  Drilse  an  den  minieren  Schädelbalken  anlegte.  Die  llebergangs- 
slelle  des  Miltelhirns  in  das  Zw  isclienhirn  zeigte  sich  noch  stark  pigmen- 
tirt.  Der  Lobus  infundibuli  war  an  seiner  Abgangsstelle  vom  Infundi- 
bulum  0,-)  hoch  und  ebenso  lang;  er  besass  eine  0,28  lange,  OjKhohe 
schief  längs  der  unteren  Fläche  des  mittleren  Schädelbalken  vi-rlaulcnde 
Höhle.  Die  untere  Wand  ging  vorne  in  den  Boden  des  Infundibulum 
über,  nach  rückwärts  vei-jüngte  sie  sich  allmiUig  und  keilte  sich  schliess- 
lich bis  auf  eine  einfache  E})ithellage  aus;  sie  war  durch  einen  media- 
nen, sagittal  verlaufenden  Einschnitt  in  zwei  symmetrische  Hälften 
getheilt.  Sie  bestand  gegen  die  Höhle  zu  aus  einer  cylindrischen  Epi- 
thellage, an  diese  schloss  sich  eine  mehrschichtige  Lage  pigmenlreicher, 
theils  rundlicher,  theils  spindelförmiger  Zellen  an,  sie  entsandtei\  nach 
abwärts  schmale  blasse  Protoplasmafortsätze,  welche  ander  unteren 
Fläche  des  Bodens  das  Auftreten  einer  pigmentfreien,  radiär  gestieiflen, 
im  Verlauf  von  vorne  nach  rückwärts  an  Höhe  abnehmenden  Schicht 
bedingU^n.  Die  hintere,  der  Trennungsmembran  zwischen  Hypophysis 
und  Zwischenhiin  anliegende  Wand  war  durch  eine  einfache  Lage 
quadratischer  E[)ithelien  von  0,006  Seitenlänge  lepräsentirt,  wiihrcnd 
die  obere  mit  der  unteren  Fläche  des  mittleren  Schädelbalken  verwach- 
sene Wand  durch  ein  einschichtiges  ganz  flaches  Epithel  von  0,!!03 
Höhe  bei  0,01  Fläche  hergestellt  wurde.  Dieses  F>pithel  setzte  sich, 
höher  werdend ,  auf  die  Decke  des  Infundibulum  fort,  welche  durch 
Apposition  runder  und  spindelförmiger  Zellen  rasch  bis  auf  0,1  sich 
verdickte. 

Bei  Larven  der  Rana  temporaria  von  3;i  Mm.  Länge  war  in  Folge 
einer  Reihe  wichtiger  Veränderungen  die  definitive  Gestaltung  der 
Hypophysis  und  der  ihr  anliegenden  Theile  bereits  wahrnehmbar.  Der 
Schädelknorpel  besass  unmittelbar  hinter  cier  Hypophysis  0,2,  unter 
ihr  0.04,  vor  ihr  0,06  bis  0,08  Dicke.  Der  mittlere  Schädelbalken  war 
0,8  lang,  OjOi.'i  dick,  stark  pigmentirt,  die  Basilararterie  0,04  weit. 
Die  Hypophysis  lag  viel  flacher  als  früher  in  der  Satlelgrube,  ihr 
unterer  Abschnitt  war  0,5  lang,  0,18  dick.  Sie  war  allseilig  um- 
geben von  einer  dünnen  Kapsel ,  welche  durch  Fortsätze  den  Drü- 
senkörper in  ein<>  Anzahl  0,02  —  (J,04  dicker  gewundener  Schläuche 
zerlegte.  Der  obere,  früher  winklig  nach  vorne  zu  abgebogene  Theil 
der  H\pophysis  war  gänzlich  von  ihr  gelrennt  und  lag  als  ein  ellipsoi- 


374  Wilhelm  Müller, 

discber  O,"?  langer,  0,1  hoher  Körper  in  einer  llach<'n  Ausbuchtung 
der  hinteren  Hälfte  ihrer  oberen  Fläche.  Er  bestand  aus  dicht  gedräng- 
ten, polygonalen,  kernhaltigen  Zellen  von  0,007  Durchmesser.  Die 
dünne  aus  spindelförmigen  Zellen  bestehende  Membran,  welche  früher 
diesen  Theil  der  Hypophysis  vom  Zwischenhirn  schied,  in  den  mitt- 
leren Sch;idel])a1ken  übergehend ,  hatte  sich  in  eine  dichte  Lage  fdiril- 
lären  Bindegewebes  umgewandelt,  welche  in  Form  eines  gleichseitigen 
Dreiecks  von  0,012  Seitenlänge  mit  der  vorderen  Fläche  dieses  Körpers 
und  jener  der  anstossenden  Partie  des  mittleren  Schädelbalken  zusam- 
menhing. Das  Infundibulum  entsandte  wie  früher  den  keilförmigen 
Lobus  infundibuli  nach  rückwärts.  Er  war  am  Ursprung  O.G  hoch, 
seine  Basis  0,7  lang.  Sein  Boden  war  wie  fi'üher  von  vorne  nach  rück- 
wärts keilförmig  zugespitzt,  auf  dem  Queischnitt  zweilappig,  die 
Structur  gegen  früher  nur  insofern  verändert,  als  die  früher  unter- 
scheidbaren Protoplasmafortsätze  der  Zellen  an  der  unleren  Fläche  jetzt 
eine  homogene,  feinkörnige,  einzelne  Kerne  einschliessende  Schicht 
bildeten.  Die  hintere  Wand  wurde  auch  jetzt  durch  eine  einfache  Lage 
quadratischer,  die  obere  durch  eine  einfache  Lage  ganz  flacher  Epithe- 
lien  gebildet,  welche  in  das  cylindrische  Epithel  des  Bodens  und  der 
Decke  des  eigentlichen  bifundibulum  sich  fortsetzten  (vergl.  Taf.  X, 
Fig.  2). 

Aus  der  Classe  der  Vögel  untersuchte  ich  die  Embryonen  der  Gans 
und  des  llidnis,  von  ersterem  Thier  die  früheren,  von  letzterem  die 
späteren  Stadien.  Die  jüngsten  Embryonen  der  Gans,  welche  mir  zur 
Disposition  standen  ,  stammten  vom  dritten  Bel^rütungstag.  Das  Herz 
lag  bereits  vor  dem  Schlund,  Schlundspalten  waren  noch  keine  vor- 
handen. Die  Chorda  verlief  als  rundei-  Strang  von  0,04  durch  die  An- 
lage der  Schädelbasis,  sie  verschmälerte  sich  gegen  ihr  Ende  allmälig 
auf  0.03;  letzteres  war  sanft  abwärts  gebogen  und  hörte  mit  conisch 
sich  verjüngender,  abgerundeter  Spitze  auf.  Die  Anlage  der  Schädel- 
basis bestand  aus  einer  dünnen  Schichte  theils  spindelförmiger,  theils 
sternförmiger,  sehr  locker  um  die  Chorda  herumliegender  Zellen  ,  ihre 
ganze  Mächligkeit  betrug  im  Mittel  0,05.  Das  Schlundepithel  bestand 
aus  einer  mehrfachen  Lage  kurzer  Cylinderepithelien  ;  es  erstreckte 
sich  längs  der  unteren  Fläche  der  Schädelbasis  bis  zum  Choi'daende, 
welchem  es  unmittelbar  ansass,  und  reichte  dicht  unterhalb  des  letz- 
teren bis  an  einen  glänzenden,  das  Vorderhirn  umgebenden  Saum.  An 
der  hinteren  Wand  des  Vorderhirns  stiess  es  an  das  die  unlere  Fläche 
des  letzleren  überziehende  Hornblatt.  Das  Gehirn  halle  die  Gestalt 
einer  Retorte,  deren  Hals  im  Nachhirn  lag.  Seine  sämmtlichen  Abschnitte 
waren  hohl,   ihre  Wandung  leicht  gefallet,   durchschnittlich  0,02  dick. 


2.  UehiM' Kiilwii'kliiMti  uml  H.iii  der  II\im)|iIi\sis   iiikI  flcs  l'iocussiis  iiiriiii(liliiili  n-rchii.  375 

von  kurzen,  Iheils  cylindrischtMi,  llioils  spindelförmigen  Zellen  gebildet. 
Sowohl  gegen  das  überziehende  Ilornblatl  als  gegen  die  Chorda  grenzte 
sich  die  Peripherie  des  Cenlralnervensysttans  durch  einen  sehr  feinen, 
glänzenden  Saum  ab.  Die  Basis  des  Millelliirns  ging  unmillelbar 
über  dem  Chordaende  unter  stumpfem  Winkel  in  die  hintere  Fläche 
des  Yorderhirns  ü])er,  letzl(M-es  erstreckte  sich  vor  dem  Chordaende 
0,1  Mm.  weit  nach  abwärts.  Das  ganze  Vorderhirn  war  an  seiner 
Peripherie  mit  Ausnahme  des  obersten  Theils  der  hinteren  Fläche  vom 
Hornblatt  umgeben,  letzteres  bestand  aus  einer  grösstentheils  (mu- 
fachen  Lage  kurzer  Cylinderepithelien  von  0,006  Breite  bei  0,008 
Höhe.  Er  erstreckte  sich  längs  der  hinteren  Fläche  des  Vorderhirns 
nach  oben,  bis  es  auf  die  Epithelauskleidung  des  Schlundes  traf, 
worauf  es  längs  dessen  unlerer  Fläche  in  der  Richtung  zum  Herz 
verlief. 

Embryonen ,  welche  im  Lauf  des  vierten  Brütungstags  den  Eiern 
entnounnen  wurden,  zeigten  die  beiden  ersten  Schlundspalten  bereits 
entwickelt.  Die  Chorda  war  beim  Eintritt  in  die  Anlage  der  Schädel- 
basis 0,45  dick,  sie  verlief  wie  früher  unter  allmäliger  Verschmälerung 
nach  vorne  und  wandte  sich  nahe  ihrem  Ende  in  einem  Viertelkreis- 
bogen nach  abwärts  gegen  die  Schlundlläche,  wo  sie  mit  abgerundeter, 
leicht  hakenförmig  gekrümmter,  0,01  dicker  Spitze  endigte.  Die  Anlage 
der  Schädelbasis  war  0,1  dick;  sie  bestand  wie  früher  aus  locker  ge- 
fugten spindel-  und  sternförmigen  Zellen ;  letztere  erstreckten  sich  in 
gerader  Richtung  über  das  abwärts  gebogene  Chordaende  hinaus ,  zu- 
gleich an  Mächtigkeit  etwas  zunehmend  und  stellten  die  Anlage  des 
mittleren  Schädelbalken  dar  in  Form  eines  auf  dem  Sagiltalschnilt  0,12 
langen,  0,2  dicken  Fortsatzes.  Das  Schlundepithel  verlief  wie  früher 
längs  der  unteren  Fläche  der  Schädelbasis  bis  zum  Chordaende ,  wel- 
chem es  unmittelbar  ansass.  Es  bog  dicht  unterhalb  des  letzteren  nach 
rückwärts  um  und  berührte  hier  mit  seiner  verdünnten  unteren  Wand 
das  gleichfalls  dünne,  die  Mundbucht  auskleidende  Hornblatt,  mit  ihm 
zusammen  die  RKMAK'sche  Rachenhaut  bildend.  Das  Gehirn  krüimnte 
sich  hufeisenförmig  um  den  mittleren  Schädelbalken;  die  Wandung 
sämmtlicher-  Abschnitte  war  ungemein  stark  gefallet,  durchschnittlich 
0,0;i  dick,  wie  früher  durchaus  zellig.  Die  Basis  des  Mittelhirns  ging 
am  vorderen  Ende  des  mittleren  Schädelbalken  unter  nahezu  rechtem 
Winkel  in  jene  des  Zwischenhirns  über.  Letztere  zeigte  dicht  unter  der 
Uebergangsstelle  einen  kurzen  hohlen  Vorsprung  von  0,02  Höhe  bei 
0,04  Basis,  welcher  in  einer  seichten  Bucht  der  unteren  Wand  des 
mittleren  Schädelbalkens  lag  und  bis  dicht  an  das  Chordaende  und  das 
letzlerem   aufsitzende  SchlunddrUs(  nl>latl   herani'eichte.     Die  P('rij)hc- 

Bd.  VI.  3.  26 


376  Wilhelm  Müller, 

rie  des  Vorder-  und  Zwischonhirns  war  wie  früher  von  dem  Ilorn- 
hlntl  in  einer  Dicke  von  0,01  üherkleidel.  die  Zellen  des  letzteren  waren 
zum  Theil  in  Abflaclmnt;  bei^rifTen.  Der  glänzende  Saum,  weleliei'  im 
vorigen  Stadium  das  Gehirn  vom  Hornblatt  schied,  hatte  ein(M"  dünnen 
Lage  spindelförmiger  und  netzförmig  verzweigter,  zum  Theil  in  zarte 
Fibrillen  sich  verlängernder  Zellen  Platz  gemacht. 

Das  nächste  Stadium  beobachtete  ich  an  Kmbryonen  dei-  Gans, 
welche  sämmlliche  vier  Schlundspallen  offen  zeigten.  Die  Chorda  be- 
sass  eine  Dicke  von  0,06:  sie  verlief  längs  der  Anlage  des  Nachhirns 
in  wenig  nach  abwärts  convexem  Bogen ;  ihr  Ende  l)og  sich  wie  fiiiher 
in  einem  Viertelkreisbogen  nach  abwärts  und  lief  in  eine  conisch  sich 
verjüngende,  stumpfe,  blasse,  augenscheinlich  in  Atrophie  begriffene 
Spitze  aus.  Ihre  Zellen  waren  aufgehellt,  nur  die  meist  quer  veilaufen- 
den  peripherischen  proloplasmareich.  Die  Anlage  der  Schädelbasis 
hatte  eine  Dicke  von  0,2  im  Mittel ;  sie  bestand  aus  spindelförmigen 
und  sternförmigen  Zellen ,  welche  um  die  Chorda  dichter  gefügt  waren 
als  früher.  Der  mittlere  Schädelbalken  erstreckte  sich  in  einer  Länge 
von  0,28  bei  einer  Dicke  von  0,32  über  das  Chordaende  hinaus  als 
geradlinige  Verlängerung  der  Schädelbasis.  Längs  seiner  hinteren 
Fläche  verlief  die  Basilararlerie,  deren  Weite  0,02G  betrug;  sie  er- 
streckte sich  l)is  an  das  obere  Ende,  wo  sie  bogenförmig  nach  vorne 
sich  krümmte  und  an  derUebergangsstelh^  des  Mittel-  in  das  Zwischen- 
hirn in  ihre  Endäste  zerfiel.  Das  Schluiidepithel  haftete  wie  früher  in 
mehrfacher  Schicht  der  unteren  Fläche  der  Schädelbasis  an;  hinter  dem 
Chordaende  war  dasselbe  zu  einem  flachen  Vorsprung  erhoben,  indem 
zwischen  ihm  und  der  Schädelanlage  die  Carotis  als  ein  0,035  weiter 
blutführender  Canal  sich  eingedrängt  hatte.  Da  das  Schlundepilhel 
dem  Chordaende  noch  anhaftete,  so  wurde  durch  diesen  Vorsprung  an 
der  Uebergangsstelle  auf  die  hintere  Fläche  des  Zwischenhirns  das  Auf- 
treten einer  taschenartigen  Verliefung  bedingt.  Diese  Tasche,  die  An- 
lage der  zukünftigen  Hypophysis,  hatte  eine  Höhe  von  0,35;  ihr  oberes 
spitzes  Ende  lag  unter  der  Spitze  der  Chorda  ;  unten  stand  sie  mit  0,1 
weiter  Oeffnung  mit  der  Schlundhöhle  in  Communication.  Ihre  vordere 
Wand  ging  in  das  die  hintere  Fläche  des  Zwischenhirns  bekleidende 
Epithel  continuirlich  über,  letzteres  war  von  der  Substanz  des  Zwi- 
schenhirns durch  eine  0,01  dicke  Lage  spindelförmiger  Zellen  geschie- 
den. Die  REMAK'sche  Rachenmembran  war  geschwunden;  der  Ueber- 
gang  des  Schlunddrüsenblalts  in  das  Hornblatt  innerhalb  der  Mund- 
höhle ein  continuirlicher.  Das  Gehirn  war  weniger  gekrümmt  als  im 
vorigen  Stadium,  da  durch  die  Vergrösserung  des  Herzens  das  Vorder- 
hirn   etwas  empoigedrängt  war.     Die  Wandung   sämmtlicher  Gehirn- 


2.  l't'bcr  Kiitwickliiiig  und  Ran  der  llypopliysis  und  des  Processus  int'iindibiili  ccrchri.  '^^^ 

nh.sclinillc  war  holiiichllicli  ilickci"  als  IrüliiT,  die  Fallung  etwas  gerin- 
iiov.  Das  MiUolhiin  giiiij;  am  voideion  Ende  des  mittleren  Schädel- 
lialken  iinler  si^itzem  Winkel  in  die  Hasis  iles  Zwisclienhirns  über. 
An  let/teier  waien  die  beiden  llanplal)selmille  bereits  erkennbar:  vorne 
lins  Triironum  (•inereiim,  an  dessen  unlerei'  Fläche  nahe  dem  vorderen 
Fjide  das  (Ihiasma  sichtbar  wai' ,  hinten  das  geräumii^e  Inliindibidum. 
Lt>lzteres  lag  mit  seiner  Uilckenlliiche  dem  mittleren  Sehiulelbalken  an; 
der  Hache  Vorsprung,  weichen  es  im  vorigen  Stadium  dicht  unterhalb 
der  rebergangsstelle  in  das  Miltelhirn  zeigte,  hatte  sich  zu  einem  cy- 
lindrischen,  0,10  langen,  an  der  Basis  0,1  dicken  Fortsalz  gestaltet, 
welcher  in  einer  Vertiefung  des  mittleren  Schädeibalkens  lag.  Das 
\'Au\e  dieses  Fortsatzes  stand  mit  der  Umgebung  nirgends  im  Zusam- 
menhang ;  es  wurde  von  dem  Chordaende  durch  eine  0,12,  von  der 
vorderen  Wand  der  Hypophysenlasche  durch  eine  0,6  messende  Schicht 
spindelfürmiger  Zellen  geschieden,  welche  von  den)  mittleren  Schädel- 
balken aus  zu  der  noch  dünnen  Aidage  des  zukünftigen  l'räsphenoid- 
knorpels  sich  erstreckten. 

Ich  untersuchte  endlich  einen  Embryo  der  Gans  vom  6.  Bebrü- 
tungstage.  Die  ('liorda  war  0, 1  I  dick,  sie  verlief  wie  früher  in  sanftem 
bogen  durch  die  Anlage  des  Sphenooccipitalknorpels  und  wandle  sich 
am  vorderen  F^nde  im  Bogen  nach  abwärts,  lun  mit  abgerundeter,  auf- 
fallend blasser  Spitze  zu  endigen.  An  der  Schädelbasis  hatte  sich  die 
Anlage  des  Sphenooccipitalknorpels  von  dem  Gewebe  der  Arterien- 
scheiden deutlicher  gesondert,  ihre  Dicke  betrug  durchschnittlich  0,3: 
sie  bestand  aus  kurzen  spindelförmigen,  ziemlich  dicht  gefügten  Zellen, 
l'eber  das  vordere  F]nde  erstreckte  sich  der  mittlere  Schädeibalken  in 
einer  Ilühe  von  0,8  bei  0,65  Dicke  hinaus,  seine  Zellen  waren  viel 
lockerer  gefügt  als  jene  des  zukünftigen  Knorpels.  Längs  der  dorsalen 
Mäche  des  Sphenooccipitalknorpels  verlief  die  0,06  weile  Basilararterie 
in  eine  0, 12  dicke,  aus  locker  angeordneten  spindel-  und  netzförmigen 
Zellen  bestehende  Scheide  eingebettet;  diese  Scheide  verschmolz  mit 
dem  mittleren  Schädelbalken.  Das  Schlundepithei  war  an  der  unteren 
Fläche  des  hinteren  Iveilbeinknorpels  durch  die  jetzt  0,07  weite  Carotis 
und  ihre  Scheide  von  der  Schädelbasis  abgedrängt,  der  früher  flache 
Wulst  halte  entsprechend  an  Höhe  zugenommen.  Die  An  läge  der  Hypo- 
physis  war  höher  und  weiter  als  im  vorigen  Stadium  und  stellte  auf 
dem  Sagittalschnitl  ein  spitzwinkliges  Dreieck  dar  von  0,65  Höhe,  wel- 
ches stall  der  Basis  eine  0,15  weile  Oeühung  besass,  n)iltelst  welcher 
es  mit  der  Höhle  des  Schlunds  «omumnicirte.  Das  Chordaende  lag  von 
dem  oberen  Ende  der  Ilypophysenanlage  0,08  entfernt,  indem,  wie  ich 
vernuithe  in  Folge  eines  Schwundes  der  Cliordaspilze,   spindelförmige 


378  Wilhelm  Müller, 

Zellen  vom  anliegenden  mittleren  Schädelbalken  aus  zwischen  beicie 
sich  eingedrängt  hatten.  Zwischen  vorderer  Wand  der  Hypophysen- 
anlage und  dem  Zwischenhirn  lag  eine  0,02  dicke  Schicht  spindelför- 
miger Zellen,  welche  abwärts  in  die  zwischen  0,15  und  0,3  dicke  An- 
lage des  Präsphenoidknorpels  sich  fortsetzten.  Die  Höhlung  der  Hypo- 
physenanlage war  in  ganzer  Ausdehnung  von  dem  Schlundepithel  aus- 
gekleidet. Die  Gehirnkrümmung  war  gegen  früher  wieder  etwas  flacher 
geworden.  Die  Basis  des  Zwischenhirns  zeigte  nahe  dem  vorderen  Ende 
des  Trigonum  cinereum  die  0,2  hohe,  0,1  dicke  Anlage  des  Chiasma; 
das  Infundibuium  war  hohl,  seine  Wandung  0,05  dick,  durchaus  zellig, 
der  Processus  infundibuli  0,2  lang,  0,15  an  der  Abgangsstelle  dick, 
von  dem  Ghordaende  und  der  Hypophysenanlage  durch  zwischenlie- 
gende Partien  des  mittleren  Schädelbalkens  getrennt. 

Auf  nahezu  gleicher  Entwicklungsstufe  befanden  sich  Hühner- 
embryonen vom  vierten  Brütungstag.  Die  Chorda  war  von  der  Anlage 
des  Sphenooccipitalknorpels  umgeben,  ihr  vorderes  Ende  krümmte  sich 
bogenförmig  nach  abwärts,  war  sehr  blass  und  endete  eine  kurze 
Strecke  von  der  Ilypophysenanlage  entfernt.  Die  Basilararterie  war 
0,025  dick,  während  die  Mächtigkeit  der  Carotiden  0,028  betrug.  Die 
untere  Fläche  der  Schädelbasis  war  von  dem  Schlundepithel  in  0,024 
mächtiger  Schicht  bekleidet,  letzteres  war  hinter  dem  Chordaende 
durch  die  Carotis  und  ihre  Scheide  zu  einem  flachen  Wulst  erhoben, 
welcher  die  hintere  Wand  der  Hypophysenanlage  bildete.  Letzteie 
stellte  einen  dreieckigen  Hohlraum  von  0,25  Höhe  dar,  welcher  oben 
spitz  zulief,  unten  mit  0, 1  weiter  Oeffnung  mit  der  Höhle  des  Schlun- 
des communicirte  und  von  einer  Fortsetzung  des  Schlundepithels  aus- 
gekleidet war.  Die  Zwischenhirnbasis  war  von  der  vorderen  Wand  der 
Hypophysenanlage  und  dem  Chordaende  durch  spindelförmige,  vom 
mittleren  Schädelbalken  abstanunende  Zellen  getrennt,  die  erste  Anlage 
des  Processus  infundibuli  als  flacher  Vorsprung  eben  kenntlich  (vergl. 
Taf.  IX,  Fig.  1). 

Bei  dem  Hühnchen  vom  fünften  Bebrütungstag  war  das  bogen- 
förmig gegen  die  Schlundfläche  zu  gekrümmte  Chordaende  in  grösserer 
Ausdehnung  atrophisch  geworden.  Anlage  des  Sphenooccipitalknorpels 
und  Scheide  der  Basilararterie  waren  deutlich  gesondert,  der  mittlere 
Schädelbalken  erstreckte  sich  0,6  Mm.  weit  bei  einer  Dicke  von  0,4 
über  das  Chordaende  hinaus.  Die  Basilararterie  war  0,05,  die  innere 
Carotis  0,08  weit,  beide  besassen  eine  aus  locker  gefügten  spindel- 
und  netzförmigen  Zellen  bestehende  Scheide.  Das  Schlundepithel  war 
an  der  unteren  Fläche  des  hinteren  Keilbeinknorpels  in  Folge  der  Vo- 


2.  \kWt  Kiitwickliiiiji  iiiiil  liiiii  di'i'  lly|Hi|ili\sis  und  des  l'roccssiis  iiiriiiidilnili  ci'ivlni.  ;<79 

lumzuiuiliMio  dcrCnrolis  sliirker  voi'gowolbl,  tut' AiiIat;;o  tlor  ll\[)o|)liysis 
sUillle  eine  in  s;)gitl;iler  Richtung  coinprimirlo  Tasche  von  0,ö  Länge 
bei  0, 1  Weile  tlar.  Sit;  coinniunicirle  mit  tler  Hohle  tles  Schhuules  tlurch 
eine  trichterförmige.  0,1")  weile  Oetlnung  und  war  von  einer  Fort- 
setzung des  Schhinilepithels  ausgekleidet.  Das  Epithel  erwies  sich  gc- 
schiehlel,  die  innerste  Zellcnlage  cylindrisch  n)il  gliinzendeni  Saum, 
die  peripherischen  spintlelförmig  und  rundlich,  alle  mit  zartem  Proto- 
plasma und  rundlichem  Kern  von  0.0035.  Die  hintere  Wand  der  Tasche 
zeigte  einige  leichte  Faltungen.  Das  Zwischenhirn  war  von  der  vertie- 
ren Wand  der  Hypophysenanlage  und  dem  Chordaendt;  durch  eine 
stärkere  Zellenlagc  als  früher  getrennt,  der  Processus  infundibuli  hatte 
an  Länge  wenig  gewonnen  (vergl.  Taf.  IX,  Fig.  2). 

Bei  dem  7  Tage  allen  Hühnchen  besass  die  Chorda  eine  Dicke  von 
0, 1  i.  Sie  verlief  mit  sanftem  Bogen  dui"ch  tlen  Sphenooccipitaiknorpel 
und  endete  mit  leicht  nach  der  Schlundfläche  gekrümmter  abgerundeter 
Spitze  0,'2  von  Iclzleror  entfernt.  Der  milllere  Schädelbalken  erstreckte 
sich  0,9  über  tlas  Chortlaende  hinaus  bei  0,45  Dicke,  er  bestand  vor- 
wiegend aus  locker  angeordneten  netzförmigen  Zellen.  Längs  seiner 
hinteren  Fläche  vei-lief  djp  Basilararlerie,  um  an  seinem  verdickten 
Entle  bogenförmig  nach  \orne  sich  zu  wenden  und  an  der  Uebergangs- 
stelle  des  Millelhirns  in  das  Zwischenhirn  ihre  Endäsle  abzugeben. 
An  der  Basis  des  liiiUercn  Kcilbeinknorpels  lag,  von  der  hinleivn  Fläche 
der  Hjpophysenanlage  nur  durch  eine  0,02  dicke,  aus  spintlelförmigcn 
Zellen  bestehende  Lamelle  getrennt,  die  0,'2  weile  innere  Carotis.  Da 
sie  regelmässig  im  Querschnitt  erschien,  vernmlhe  ich.  dass  in  dieser 
frühen  Zeit  eine  Anastomose  zwischen  den  beiden  Caroliden  an  der 
Basis  des  hinleren  Keilbeins  vorhanden  ist.  Die  Anlagen  des  Spheno- 
occipilal-  und  des  Präsphenoitlknorpels  hallen  an  Dicke  gewonnen.  In 
Folge  tiavon  war  der  unlere  Abschnitt  der  Hypophysenanlage  in  einen 
schmalen,  von  Epithel  ausgekleideten  Giuig  umgewandelt,  der  in  einer 
Länge  von  0,3  bei  einer  Dicke  von  0,07  die  Schädelbasis  in  ziemlich 
senkreclitei'  Hichlung  durchsetzte.  Das  Lumen  dieses  Ganges  beslinnnte 
ich  zu  0,01,  die  Dicke  tler  Epithelschichl  zu  0,03.  An  der  Ausmün- 
dungsslelle ging  tias  Epithel  conlinuirlich  in  das  Schlundcpithel  über. 
Der  obere  Thei!  tler  Hypophysenanlage  war  nach  rückwärts  umgebogen  ; 
er  zeiglt>  bei  einer  Länge  von  0,0  eine  keilförmige  Gestalt,  mit  0,3  brei- 
ler, abwäils  liegender  Basis  und  0,005  dicker  Spitze.  Durch  die  ganze 
Länge  tlieses  Theils  erstreckte  sich  ein  centrales  Lumen  mit  einem 
Durchmesser  von  0,02.  Die  Wantlung  selbst  war  gegen  fi'üher  insofern 
verändert,  als  die  Epithelschicht  eine  Anzahl  zapfenförmig  in  die  iim- 
gebentle  Bindesubslanz  vortlringender  Verdickungen  zeigte,  deren  Länge 


380  Wilhelm  Müller, 

zwischen  0,05  und  0,1,  deren  Dicke  zwischen  0,01  und  0,05  schwankte. 
Das  Epithel  zeigte  wie  früher  den  Charakter  geschichteten  Cylinder- 
cpithels.  Der  hinleren  Fläche  des  Drüsenkörpers  lag  der  hinlere  Keil- 
beinknorpel an;  nach  vorne  woirde  derselbe  durch  eine  0,02  breite, 
aus  spindelförmigen  Zellen  bestehende  Leiste  vom  anstossenden  Zwi- 
schenhirn geschieden.  Die  Wandung  des  letzteren  war  dicker  als  fiü- 
hei",  durchaus  zellig;  der  Processus  infundibuli  0,1  lang,  ebenso  bi'eit, 
hohl ;  sein  Ende  lag  dicht  über  der  Spitze  der  Hypophysenanlage,  ohne 
mit  demselben  in  festerem  Zusammenhang  zustehen,  seiner  hinteren 
Flache  entsprach  eine  flache  Ausbuchtung  des  mittleren  Schädelbalken 
(vergl.  Taf.  IX,  Fig.  3) . 

Bei  dem  1 0  Tage  allen  Hühnchen  war  die  Chorda  am  hinteren 
Ende  der  Schädelbasis  0,17  dick,  sie  verschmälerte  sich  im  Verlauf 
durch  dieselbe  allmälig  und  endete  nahe  der  hinteren  Fläche  des  Post- 
sphenoidknorpels  mit  0,06  dicker  abgerundeter  Spitze.  Die  Anlage  des 
Sphenooccipitalknorpels  war  nicht  nur  dicker  geworden,  sondern  es 
waren  auch  ihre  Zellen  kürzer  und  von  einer  merklichen  Menge  hya- 
liner Intercellularsubstanz  umgeben.  Der  mittlere  Schädelbalken  besass, 
vom  Chordaende  aus  gemessen,  eine  Höhe  von  1,4  bei  einer  Dicke  von 
0,4.  Seine  Zellen  waren  noch  lockerer  angeordnet  als  früher,  wodurch 
sein  Gewebe  von  dem  an  seiner  Basis  befindlichen  Knorpel  auf  den 
ersten  Blick  sich  unterschied.  Die  Arteria  basilaris  verlief  dicht  hinter 
seiner  Mitte ,  ihr  Durchmesser  betrug  0,15;  sie  zeigte  in  ihrer  Wand 
bereits  quergestellte  spindelförmige  Zellen.  In  Folge  des  Beginns  der 
Verknorpelung  war  sowohl  der  Contour  der  zukünftigen  Satlellehne, 
welche  sich  0,15  über  das  Choi'daende  erhob,  als  jener  des  vorderen 
und  hinteren  Keilbeins  deutlich  erkennbar.  Der  Zwischenraum  beider 
Knorpel  war  ausgefüllt  von  dichtgedrängten  spindelförmigen  Zellen; 
ausser  diesen  Zellen  fand  sich  hier  ein  0,04  dicker  Gang,  welcher  sich 
vom  Rachcnepithel  aus  continuirlich  mit  einer  leichten  Biegung  nach 
vorwärts  bis  zur  Höhle  der  Hypophysis  verfolgen  liess.  Dieser  Gang 
besass  ein  schmales  Lumen  von  0,008,  er  war  ausgekleidet  von  einem 
niedrigen  Cylinderepitheiium.  Die  ursprüngliche  Höhle  der  Hypophy- 
senanlage war  auf  einen  longitudinalen,  0,25  langen,  0,05  breiten  Spalt 
reducirt.  welcher  von  Gylinderepithel  ausgekleidet  %var.  Die  Hypophy- 
sis selbst  stellte  einen  nahezu  cubischen,  0,6  dicken  und  ebenso  hohen 
Körper  dar,  welcher  aus  einer  grösseren  Zahl  leicht  gewundener,  hie 
und  da  anastomosirendcr  Schläuche  von  0,02  bis  0,04  Mm.  Durchmes- 
ser sich  zusammensetzte.  Diese  Schläuche  besassen  eine  sehr  zarte 
Membrana  propria  und  waren  erfüllt  von  kernhaltigen  Epithelien, 
welche   in  der  Peripherie   mehr  cylindrisch  bei    senkrechter  Stellung 


2.  roher  Kiitwickliiiiü  iiiiil  K;iii  der  II\po|tli\,si,s  und  di\s  l'niccssus  mriiiidihiili  i'crcliri.  ;iS  1 

i:('i;t'n  die  \\  aiuliiiiij: ,  im  liiiinii  iiiclii-  |)ülyü;on;il  uikI  ruiidliili  ucsl.illcl 
\^;l|•cIl.  Nur  in  (Nii/.c^Iiumi  Scliliiiuhcn  liossoii  dicsL«  Zrlion  ein  schinalfs 
l.unicn  frei.  Die  liilorslilion  ticr  Sclilauclic  uaicn  duiclisclzl  von  zarlen 
HiiidosubsUinzzügen  iiiil  du'ils  .s[)iiuU'll"öiinigoii ,  tlicil.s  nclzföniiii^  vcr- 
zwt'iiJtkMi  Zollen.  Da  slcllonwoise  IMulköipcM-  in  dieser  15iiidesid)slan/ 
erkennbar  warcMi ,  seldiesse  ieli,  da.ss  das  inlerstilii'lie  (;e\\ol)e  in  die- 
sem Knl\vicklunij;sstadinm  bereits  ndlGclassanlaf^en  versehen  i.sl  (vergl. 
Tal".  IX,  Kig.  5). 

An  der  unteren  l'laehe  der  Ihpoplixsis  dielil  liinler  (Um*  Al)gangs- 
slelle  ihres  Rachengangs  lag  die  0,i  Mm.  im  Durchmesser  hallende  Ana- 
stomose zwischen  den  inneren  Carotiden;  nach  vorne  grenzte  sie  an  das 
Chiasma.  durch  eine  0, 15  dicke,  aus  spindelförmigen  Zellen  bcslehende 
senkrechte  Leiste  von  ilun  geschieden.  Eine  ähnliche,  in  der  Richtung 
von  vorne  nach  rückwärts  sich  verjüngende  Leiste  trennte  die  obere 
Fläche  der  Hypophysis  von  dem  anliegenden  Zwischenhirn.  Letzteres 
Hess  Trigonuni  cinereum  und  Infundibulum  lioch  deutlicher  als  fiüher 
unterscheiden;  an  der  unteren  Fläche  des  ersteren  lag  das  Chiasma, 
welches  seine  langgestreckten  Spalten  bereits  erkennen  iiess.  Das  In- 
fundibulum entsandte  dicht  über  dem  hintersten  Theil  der  oberen  Fläche 
der  Hypophysis  den  conisch  gestalteten,  0,25  langen,  0, 1  i  Mm.  dicken 
Processus  infundibuli,  welcher  aus  einer  centralen,  0,02  im  Durchmes- 
ser haltenden  Höhle  und  einer  aus  geschichteten  cylindrischen  Zellen 
besiehenden  Wandung  von  0,06  Dicke  sich  zusanmienselzte.  Der  Fort- 
satz hatte  sieh  zwischen  die  hintere  Fläche  der  obersten  Partie  der  Il\(io- 
physis  und  des  Perichondrium  der  vorderen  Fläche  der  Sattellehne  ein- 
gedrängt und  war  von  beiden  durch  eine  eben  wahrnehmbare  Lage 
spindelförmiger  Zellen  geschieden. 

Bei  dem  zwölf  Tage  allen  Hühnchen  hatte  die  Beschallen  heil  der 
Chorda  nicht  wesentlich  sich  verändert.  Die  Schädelbasis  war  noch 
deutlicher  knorplig  geworden,  der  mittlere  Schädelbalken  ersti-cckte 
sich  1,7  Mm.  weil  über  das  Chordaende  hinaus  bei  einer  Dicke  von 
0,3  bis  0,5.  Er  war  in  voller  Unnvandlung  zur  Scheide  der  Arteria 
basilaris  begritVen,  welche  mit  einem  Durchmesser  von  0,22  durch  seine 
Mille  verlief,  sein  Gewel)e  war  wie  früher  locker,  vorwiegend  aus  Zel- 
len mit  netzförmig  verzweigtem  Protoplasma  gebildet,  dazwischen  fan- 
den sich  bereits  deutliche  Fibrillenzüge.  Vorderer  und  hinlerer  Keil- 
beinknorpel waren  noch  durch  eine  dünne  Perichondriumlage  geschie- 
den ;  durch  diese  eisli'eckle  sich  vom  vorderen  L'mfang  dei'  Hypophysis 
aus  ein  schmaler,  nur  0,0  5  im  Durchmessei-  haltender  Gang  nach  rück- 
wärts und  abwärts  zum  Rachenepithel.  Dersell)e  war  solid  und  mit 
nahezu  quadratischen,   stark  körnigen  Zellen  dicht  erfüllt.     Die  Gestall 


382  Wilhelm  Müller, 

der  Hypophysis  war  auch  jetzt  nahezu  cu])isch ,  ihre  Höhe  und  Dicke 
ergab  sich  gleichmässig  zu  0,75.  Sie  bestand  wie  früher  aus  cylindri- 
schen .  etwas  gewundenen ,  hie  und  da  mit  einander  anastomosirenden 
Schläuchen,  deren  Durchmesser  im  Mittel  0,03  betrug,  von  0,015  bis 
0,045  schwankend.  Sie  hatten  nur  Iheil weise  ein  schmales  centrales 
Lumen  und  waren  wie  früher  erfüllt  von  Epithelien ,  welche  an  der 
Peripherie  cylindrisch  und  spindelförmig ,  gegen  die  Mitte  zu  mehr  po- 
lygonal und  rundlich  waren.  Die  interstitielle  Bindesubstanz  zeigte 
deutliche  Gefässanlagen.  Die  ganze  Drüse  war  von  einer  dünnen,  aus 
spindelförmigen  Zellen  bestehenden  Kapsel  umgeben.  An  die  untere 
Fläche  der  Hypophysis  grenzte  die  auf  0,12  reducirte  Anastomose  zwi- 
schen beiden  inneren  Carotiden ,  letztere  besassen  einen  Durchmesser 
von  0,24.  Nach  vorne  grenzte  sie  an  dasChiasma;  die  zwischen  beiden 
liegende  senkrechte  Leiste  erwies  sich  nur  mehr  0,1  dick,  viel  lockerer 
als  früher  und  vorwiegend  aus  netzförmigen  Zellen  bestehend.  Zwischen 
der  oberen  Fläche  der  Drüse  und  der  Zwischenhirnbasis  erstreckte  sich 
die  Anlage  der  Dura  mater  in  Form  einer  nach  rückwärts  sich  ver- 
schmälernden ,  aus  dicht  gedrängten  spindelförmigen  Zellen  bestehen- 
den Lamelle.  Von  der  überliegenden  Pia  malcr  aus  erstreckten  sich 
mehrere  feine  Gcfässe  durch  ejne  Lücke  der  Dura  hindurch  zur  oberen 
Fläche  der  Hypophysis;  letztere  hatte  eine  Anzahl  schmaler,  parallel 
verlaufender  Drüsenschläuche  längs  der  Gefässe  in  die  Höhe  entsendet, 
wodurch  ein  0/2  langer,  0,12  dicker,  aus  Gefässen  und  Drüsensubstanz 
bestehender  Strang  gebildet  wurde.  Die  Dimensionen  sämmllicher  Ab- 
schnitte der  Zwischenhirnbasis  hatten  entsprechend  zugenonunen.  Der 
Processus  infundibuli  erstreckte  sich  wie  früher  in  den  Raum  zwischen 
oberer  und  hinterer  Fläche  der  Hypophysis  und  vorderer  Fläche  der 
Sattellehne,  seine  Länge  betrug  jetzt  0,35  bei  0,12  Dicke.  Das  mit  der 
Höhle  des  Zwischenhirns  communicirende  Lumen  v^ar  0,02  weit,  die 
Wandung  0,05  dick.  Sie  bestand  aus  einer  inneren  Lage  cylindrischen 
Epithels  und  einer  darauf  folgenden  Lage  dicht  gedrängter  rundlicher 
und  spindelförmiger,  radiär  gestellter  Zellen,  während  an  der  sonst 
gleichgebauten  Zwischenhirnbasis  eine  fein  radiär  gestreifte,  homogene 
Grenzschicht  sich  erkennen  Hess ,  welche  nahe  der  Abgangsstelle  des 
Processus  infundibuli  sich  auskeilte. 

In  einem  noch  etwas  späteren  Entwicklungsstadium  befanden  sich 
die  Hypophysis  und  der  Trichterfortsatz  eines  24  Mm.  langen  Staar- 
embryos.  Die  beiden  Keilbeinknorpel  waren  bei  diesem  Embryo  von 
continuirlichem  Zusammenhang,  der  mittlere  Schädelbalken  1,4  lang, 
0,25  bis  0,3  dick,  eine  lockere  Scheide  der  Basilararterie  bildend.  Ein 
Verbindungsgang  zwischen  Rachenepithel   und  Hypophysis  war  nicht 


2.  lieber  Miilwickliiim  imd  li.ni  der  Hypopliysis  und  des  Processus  iiidiiidibiili  cerelMi.  383 

mehr  vorliandtMi.  Lotzlotc  \v;ir  ;iuch  liier  ;uil'dem  Sngillalschnilt  nahezu 
(luadratisrh,  (),(>  hoch,  0,5  dick.  Sie  bestand  aus  denselben  schlauch- 
föiinii;en  üiiisenanlajjjen  wie  bei  den  /Adelzt  i^eschilderlen  IlUhner- 
end)ryonen  ;  nahe  ihiei'  vorderen  Fläehe  besass  sie  eine  drei(>ckiij;c, 
von  Cylindcrepilhel  ausgekleidete  Höhle  von  0,08  Seitenlange  als  Rest 
dei-  ursprilni;liehen  Anlage.  Sie  besass  eine  dünne,  aus  spindelför- 
migen Zellen  besiehende  Kapsel,  von  welcher  gefassfiihrende  Ausläufer 
zwischen  die  Schläuche  sieh  erstreckten.  An  der  unteren  Fläche  des 
Organs  im  Hoden  der  Salt(>lgrube  lag,  in  dichtes  Bindegewebe  einge- 
bettet, ein  Plexus  dünnwandiger,  ziemlich  geräumiger  Venen.  Eine 
Anastomose  zwischen  d(>n  Cai-oliden  war  niciit  nachweisbar.  Nach 
vorne  grenzte  die  Drüse  an  das  Chiasma,  durch  eine  lockere  Zellen- 
schicht von  ihm  getrennt;  eine  aus  dichtgedrängten  spindelförmigen 
Zellen  bestehende  Membran  erstreckte  sich  zwischen  ihrer  oberen  Fläche 
und  den  weichen  Hirnhäuten  an  der  Basis  des  Zwischenhirns;  von 
letzteren  aus  verlief  eine  Gruppe  kleiner  Arterien  senkrecht  zur  Hypo- 
physis ,  in  die  Grenze  zwischen  mittlerem  und  hinterem  Drittheil  von 
deren  oberei*  Fläche  eintretend;  die  DrUsenschläuche  traten  längs  der- 
selben als  schmale,  parallel  verlaufende  Stränge  eine  Strecke  weit  über 
das  Niveau  der  0])crfläche  hervor.  Der  Processus  infuudibuli  hatte  die- 
selbe Lagerung  wie  bei  dem  lluhu,  er  maass  0,15  in  der  Länge,  0,  H 
in  der  Dicke,  seine  mit  dem  Infundibulum  communicii-ende  Höhle  war 
0,o;5:{  weit;  sie  war  ausgekleidet  von  cWindiischem  Epithel,  auf  dieses 
folgte  eine  Schicht  dichtgedrängter  runder  und  spindelförmiger  Zellen, 
mit  dem  Epithel  von  0,0:{3  Mächtigkeit  und  auf  diese  eine  schmale  pe- 
ripherische Lage  homogener,  feingranulirler  Sul)slanz  mit  spärlichen 
runden  Kernen  in  einer  Dicke  von  0,000,  gegen  die  Spitze  des  Forl- 
satzes zu  sich  verdünnend. 

Aus  der  Classe  der  Säugethiere  hatte  ich  Gelegenheit  Embryonen 
des  Schweins,  Schafs  und  Kaninchens  ')  in  einem  Stadium  zu  unter- 
suchen, in  welchem  die  Verbindung  zwischen  Hypophysis  und  Schlund 
noch  erhalten  war.  Die  belrcHenden  Embryonen  hallen  übereinstim- 
mend eine  zwischen  16  und  18  Mm.  betragende  Länge.  Bei  allen  war 
die  Schädelbasis  stark  gekrümmt,  so  dass  sie  vom  ersten  Halswirl)el 
bis  zur  Stirne  einen  Halbkreis  beschrieb,  dessen  höchster  Punkt  an  der 
Ausmündung  des  Hypophysengangs  lag.  Die  Anlage  des  Sphenooccipi- 
lalknorpels  hatte  eine  Dicke  von  0,  'i ,  jene  des  vorderen  Keilbeinknor- 


1)  Einen  i:;rossen  Tlicil  des  Materials  an  Säugethierembryonen  verdani<e  ich 
dorn  Vorslaiid  der  hiesigen  liiierärztlichen  Kliniiv,  Medicinalassessor  Dr.  Zürn  und 
dorn  stadtischen  Tlilerarzte  zu  Nürnberg:,  Herrn  K.  Schwarz. 


384  Willidin  Mfillpr. 

prls  eine  solche  von  O,:;  Mm.  Die  ganze  Schädelbasis  bestand  aus 
kurzen  S|)inde]zellen,  welche  nur  hie  und  da  etwas  faiblose  Inleivellu- 
laisubstanz  zwischen  sich  hatten.  Die  Chorda  verlief  mit  mehreren 
Biegungen  durch  den  hinteren  Abschnitt  der  Schädelbasis,  nahe  ihrem 
vorderen  Ende  verlor  sie  ihre  honiogene  Cuticula;  sie  krümmte  sich, 
nur  aus  proloplasmahaltigen  blassen  Zellen  bestehend,  nach  abwärts, 
um  sodann,  horizontal  nach  vorne  verlaufend,  0,06  hinler  der  Hypo- 
physenanlage mit  einer  leichten  knopfförmigen  Verdickung  von  0,036 
zu  enden.  Die  unlere  Fläche  der  Schädelbasis  war  von  dem  cylindri- 
schen  Schlundepithel  bekleidet,  die  obere  Fläche  hatte  über  sich  eine 
0,2  dicke,  lockere,  aus  spindelförmigen  und  netzförmigen  Zellen  be- 
stehende Bindesubstanzschichl.  in  w-elcher  die  0,05  weite  Basilararterie 
verlief,  an  das  Nachhirn  einzelne  Zweige  abgebend.  Der  mittlere  Schä- 
delbalken erhob  sich  2,4  Mm.  hoch,  0,45  Mm.  dick  senkrecht  gegen  die 
Schädeü'.öhle;  er  bestand  aus  locker  angeordneten  spindelförmigen  und 
sternförmigen  Zellen  und  enthielt  die  nahe  seiner  hinteren  Fläche  ver- 
laufende Basilararterie,  welche  sich  in  seinem  verdickten  Ende  nach 
vorwärts  krümmte,  um  an  der  Uel^ergangsslelle  des  Mittelhirns  in  das 
Zwischenhirn  ihre  Endäste  abzugeben.  Die  Anlage  der  Hypophysis 
stellte  auf  Sagittalschnitten  ein  elliptisches  Säckchen  dar  von  0,6  Höhe 
bei  0,08  Dicke.  Sie  lag  mit  ihrer  grossen  Achse  senkrecht  zur  Längs- 
achse der  Schädelbasis,  besass  eine  centrale,  0,01  w-eite,  längsverlau- 
fende Höhle  und  eine  aus  geschichtetem  Cylinderepithei  bestehende 
Wandung,  welche  sich  gegen  das  Lumen  scharf  abgrenzte.  Vom  unte- 
ren Ende  dieses  Säckchens ,  welches  im  vorderen  Theil  der  Basis  des 
mittleren  Schädelbalkens  lag,  erstreckte  sich  ein  0,016  dicker,  von 
kurzem  Cylinderepithei  ausgekleideter,  an  der  Ein-  und  Ausmündungs- 
stelle leicht  conisch  erweiterter  Gang  senkrecht  d\irch  die  Anlage  der 
Schädelbasis  bis  zur  Bachenhöhle.  Die  inneren  Carotiden  verliefen 
hinter  diesem  Gang,  sie  waren  0,06  weit,  bogen  sich  unterhalb  des 
Chordaendes  nach  vorne  und  traten  hierauf  zur  Seite  der  Hypophysen- 
anlage senkrecht  in  die  Schädelhöhle  ein.  Das  Zwischenhirn  war  von 
der  vorderen  Fläche  des  Hypophysensäckchens  durch  eine  schmale 
Schicht  spindelförmiger  Zellen  geschieden,  es  hatte  mit  dei-  oberen 
Fläche  des  Schädels  nirgends  einen  festereu  Zusanmienhang.  Seine 
Basis  Hess  eine  untere,  zwei  seitliche  und  eine  hintere  Fläche  unter- 
scheiden; letztere  erstreckte  sich  bis  zum  Endo  der  Basilararterie,  wo 
sie  unter  scharfer  Biegung  in  die  Basis  des  Miru^ihirns  überging.  Die 
unlere  Fläche  bestand  aus  einer  weniger  geräumigen  vorderen  Abthei- 
lung, Trigonum  cinereum,  welcher  der  Anlage  des  Chiasma  anlag,  und 
einer  geräumigeren  hinteren  ,   dem  Infundibulüm.     Letzteres  entsandte 


2.  TcbiT  Kiitwirklmii!  nml  Imii  der  ll\|i(i|ili>sis  iiimI  tli'S  l'ruci'ssiis  iiiriiiiililinli  ii'iplni.  385 

iliclil  üIkt  (lein  oIkmcii  l-liulc  dos  ll\  |)u|)livs(M).s;ickclu'iKs  iiiis  si'iiicr  hin- 
Icicii  Wand  (l(>n  0,  i  laiimMi,  0,12  dicken  Processus  inliindil)uli,  wciclier 
in  der  Hiclilimi;  nach  rückwärts  und  abwiirls  zwischen  hinterer  Wand 
<\cv  ll\[)oplnscnanlat;e  und  niilllerein  Schiidclbalken  sich  eindriingle. 
\\y  halle  ein  centrales,  durch  seine  uanze  Liiniie  sicli  erstreckendes  Lu- 
inen  von  O,0i,  welches  mit  (h-r  llöhU'  des  Zw  isciienhirns  in  Verl)indung 
stand;  seine  O.Oö  dicke  Wand  war  gleich  jener  des  letzleren  nach 
Innen  von  cylindrischem  Epithel,  nach  Aussen  von  einei-  niehrschit-h- 
liizen  Lage  spindelförmiger  und  elliptischer  Zellen  gebildet,  welche  in 
radiärer  Richtung  um  die  Höhle  angeordnet  waren.  Der  obere  Theil 
dci-  hinleren  Wand  des  Zwischenhirns,  die  zukünftige  Lamina  posterior 
infundibuli,  liess  noch  keine  Anlage  der  Corpora  candicantia  erkennen 
^vergl.  Taf.  X,  Fig.  6). 

Das  nächste  Stadium  untersuchte  ich  an  ä'i  Mu).  langen  End->ryonen 
des  Schweins  und  Mensehen.  Die  Verhältnisse  waren  bei  beiden  in 
allen  wesentlichen  Punkten  übereinstinmiend.  Die  Schädelbasis  erwies 
sich  flacher  gekrümmt  als  früher,  ihre  Dicke  am  Sphenooccipitalknorpel 
betrug  0,5,  am  vorderen  Keilbeinknorpel  0,5.  Sie  war  wie  früher  von 
spindelförmigen  Zellen  gebildet.  Diese  waren  in  den  centralen  Ab- 
schnitten dicker  und  kürzer  geworden  und  hatten  geringe  Mengen  einer 
homogenen  Intercellularsubstanz  abgeschieden.  Die  Chorda  bog  sich 
in  ilin-m  Verlauf  durch  den  Sphenooccipitalknorpel  erst  stark  nach  ab- 
wärts, dann  mit  ihrem  vorderen  Theil  aufwärts,  ihr  Ende  lag  0,']  hinler 
der  Anlage  der  Hypophysis,  0.1  unterhalb  der  Oberfläche  d(  s  vom 
Knorpel  noch  nicht  deutlich  gesonderten  Perichondiiums  des  hinleren 
Keilbeiris.  Ihr  vorderstes  Ende  musste  einem  vollkommenen  Schwimd 
anheimgefallen  sein,  da  von  demselben  keine  Spur  mehr  aufzufinden 
war.  Längs  dei-  oberen  Fläche  des  Sphenobasilarknorpels  verlief,  in 
eine  0,14  dicke  lockere  Bindegew ebsschicht  eingebettet,  die  0,07  weite 
Basilararlerie.  Der  mittlere  Schädelbalken  war  3  Mm.  lang.  0,1  dick; 
er  bestand  wie  früher  aus  locker  angeordneten,  vorwiegend  sternför- 
migen Zellen  und  enthielt,  0,1  von  seiner  hinleren  Fläche  entfernt,  die 
nach  oben  verlaufende  Arieria  basilaris.  Die  Carotis  interna  verlief  wie 
früher,  ihr  Durchmesser  halle  bis  0.08  zugenommen.  Die  Anlage  der 
Hypophysis  war  0,7  hoch,  0,3  an  den  Seilen,  0,?  in  der  Mitte  dick. 
Ihre  Epithellage  war  durch  das  Hereinwachsen  zarter,  aus  spindelför- 
migen Zellen  bestehender  Bindesubstanzzüge  gefaltet  und  das  früher 
(Mnfache  Säckchen  in  eine  Anzahl  schmaler,  noch  untereinander  com- 
nmnicirender  Hohlräume  zerlegt,  deren  Durchmesser  0,08  betrug.  Sie 
besassen  eine  aus  geschichtetem  Cylinderepilhel  besiehende  Wand. 
Ein   Verbindungsgang    zwischen    Hypophyse    und    Hachenepilhel    war 


386  Wilhelm  Müller, 

nicht  mehr  vorhanden.  Vom  vorliegenden  Zwischenhirn  wurde  die 
Drüse  durch  eine  0,02  dicke  Lage  spindelförmiger  Zellen  geschieden. 
Der  wie  früher  längs  ihrer  hinleren  iVand  sich  erstreckende  l^rocessus 
infundibuli  war  0,55  lang,  0,15  dick,  seine  Beschaffenheit  hatte  sich 
nicht  geändert. 

Bei  dem  Fötus  des  Schafs  von  31  Mm.  Länge  war  die  Hypophysis 
0,85  hoch,  1,25  breit,  0,2  bis  0,35  dick.  Die  Drüsensubstanz  bestand 
aus  einer  Anzahl  hohler  Schläuche,  welche  zahlreicher  waren  als  im 
vorigen  Stadium  und  durch  stärkere  Entwicklung  der  interstitiellen 
Bindesubstanz  ausser  Conliuuilät  gesetzt  wurden. 

Bei  dem  Schaffötus  von  4  Gcntimeter  war  die  Krümmung  der  Schä- 
delbasis sehr  gering,  der  Sphenobasilarknorpel  0,8,  der  Knorpel  des  vor- 
deren Keilbeins  1,2  dick.  Alle  diese  Knorpel  hingen  continuirlich  zusam- 
men, nur  jener  der  Sattellchne  war  durch  einen  0,03  breiten  Perichon- 
driumstreif  von  jenem  des  hinteren  Keilbeins  abgetrennt.  Die  Chorda 
durchsetzte  mit  welligen  Biegungen  den  Basilarknorpel,  um  im  hinteren 
Keilbeinknorpel  sich  zu  erheben  und  0,8Mni.  hinter  der  Spitze  der  Sattel- 
lehne in  den  unteren  Schichten  des  Perichondrium  mit  abgerundeter,  0,03 
dicker  Spitze  zu  endigen.  An  der  obei'en  Fläche  des  Sphcnobasilarknor- 
pels  verlief  die  0,15  weite  Arteria  basilaris  in  eine  düiuie  Bindegewebs- 
hunelle  eingebettet;  der  mittlere  Schädelbalken,  in  dessen  Mitte  sie  zur 
Umbeugungsstell(!  des  Mittelhirns  in  das  Zwischenliirn  sich  begab,  war 
3,2  Mm.  hoch  bei  0,25  Mm.  Dicke,  er  war  auf  eine  dünne,  aus  Fibrillen  mit 
zwischen  liegenden  spindelförmigen  Zellen  bestehende  Scheide  tiei-  Ba- 
silararterie  reducirt.  Die  Carotis  verlief  0,18  dick  durch  die  Schädel- 
basis, uui  seitlich  von  der  Hypophysis  in  die  Schädelhöhle  einzutreten. 
Die  Hypophysis  lag  in  der  jetzt  deutlich  ausgebildeten  Keilbeingrube, 
schief  von  unten  und  rückwärts  nach  oben  und  vorne  sich  erstreckend, 
ihre  Länge  betrug  1  Mm.,  ihre  Dicke  am  Isthmus  0,35,  seitlich  0,45. 
Sie  bestand  aus  gewundenen,  hie  und  da  anastomosirenden  Schläuchen, 
deren  Durchmesser  zwischen  0,01  und  0,05  schwankte.  Die  Mehrzahl 
dieser  Schläuche  war  solid,  nur  am  hinteren  Umfang  der  Drüse  hatte 
sich  ein  0,4  langer,  0,08  breiter  Hohlraum  erhalten  als  Best  der  ui- 
sprünglichen  Hypophysenhöhle;  er  war  von  geschichtetem  Cylinder- 
epithel  ausgekleidet,  welches  mit  scharfem  Saum  das  Lumen  begrenzte. 
Die  schlauchförmigen  Drüsenanlagen  zeigten  eine  dünne  Membi-ana 
propria,  ihr  Inneres  war  ganz  erfüllt  von  Zellen,  deren  Gestalt  alle 
möglichen  Zwischenstufen  zwischen  ausgeprägten  Cylinderepithelien 
und  kugeligen  Formen  darbot.  Umgeben  war  die  Hypophysis  allseitig 
von  einer  an  spindelförmigen  Zellen  reichen  bindegewebigen  Kapsel, 
welche  schmale  gefässhallige  Fortsätze  in  die  Inlerslitien  zwischen  den 


2.  l'cltci'  Kiitwickliiim  und  lifiii  iltT  lly|io|tliysi.s  iiml  dt-s  l'inrcssiis  iiiriiii(liliiili  rcicliri.  387 

finzclncii  Schläuchen  sandle.  Geiicn  das  Chiasina  liin  erslirckle  sich 
von  dor  llypophysis  ein  schmaler  /.uni;enröiiiiiL;ei'  Forlsatz,  aus  einer 
Anzahl  kleiner  Arlerienz\veig(!  und  sclmialer  paiallel  verlaufender  Drii- 
sengänge  sich  zusanimenselzend.  Die  Bcschaüenheil  der  Zwischenhirn- 
basis  halle  sich  geilen  das  frühei'e  Stadium  nicht  unerheblich  verändert, 
lieber  und  vor  dem  Chiasina  lag  ein  hohlei'  Abschnitt,  welcher  nach 
Analogie  mit  dem  entsprechenden  Abschnitt  der  Fische  und  Amphibien 
als  Trigonum  cinereum  bezeichnet  werden  kann.  Er  erstreckte  sich  1,4 
weit  über  das  Chiasma  nach  vorne  und  ging  hier  in  die  zukünftige  La— 
mina  terminalis  über.  Das  Chiasma  lag  der  unteren  Wand  des  Trigo- 
num cinereum  an  und  wölbte  letztere  aufwärts,  es  war  I  Mm.  lang, 
0,ö  hoch,  seine  Basis  beschrieb  einen  flachen,  von  einem  gefässführen- 
den  Bindegewebsnetz  ausgefüllten  Bogen.  Das  Infundibulum  stellte 
eine  unbedeutende  Erweiterung  der  Höhle  des  Tuber  cinereum  anterius 
dar,  seine  Wandung  war  durchschnittlich  0,15  dick.  Sie  wurde  nach 
Innen  gebildet  von  llimmerndem  Epithel,  darauf  von  einer  0,07  dicken 
Lage  runder  und  spindelförmiger,  dicht  gedrängter  Zellen  und  schliess- 
lich von  einer  0,008  dicken  Schicht  homogener,  sehr  feinkörniger  Sub- 
stanz. Der  Processus  infundibuli,  welcher  im  früheren  Stadium  von 
der  hinteren  Wand  des  Infundibulum  in  einer  Höhe  von  0,ö  über  der 
Basis  entsprungen  war,  ging  jetzt  0,6  Mm.  hinler  dem  Chiasma  vom 
Ende  der  Basis  des  Infundibulum  ab.  Es  musste  demnach  das  Infun- 
dibulum gegenüber  den  umgebenden  Theilen  in  seinem  Wachsthum 
zurückgeblieben  sein.  Die  Abgangsslelle  lag  etwas  vor  dem  hinteren 
Ende  der  Hypophysis,  der  Fortsatz  erstreckte  sich  vor  der  Sallellehne 
in  einer  Länge  von  I  Mm.  bis  nahe  dem  Boden  der  Sattelgrube.  Seine 
(ieslalt  war  cylindrisch,  seine  Dicke,  welche  an  der  Abgangsslelle  0,17 
betrug,  verminderte  sich  allmälig  gegen  die  Spitze ;  dem  entsprechend 
verengte  sich  seine  Höhle ,  welche  vom  Zwischenhirn  aus  durch  seine 
ganze  Länge  sich  erstreckte,  von  0,0:i  allmälig  auf  0,01.  Die  Wandung 
bestand  aus  einer  cylindrischen ,  das  Lumen  begrenzenden  Epilhel- 
schicht,  einer  mehrfachen  Schicht  runder  und  elliptischer,  kernhaltiger 
Zellen  und  einer  peripherischen,  gegen  das  Ende  des  Fortsalzes  zu  sich 
verjüngenden  Lage  feinköi'niger,  einzelne  Kerne  enthallender  Substanz, 
welche  an  der  Abgangsslelle  in  die  enlsprecliende  Lage  des  Zwischen- 
hirns continuirlich  sich  fortsetzte  (vergl.  Taf.  X,  Fig.  7).  Dagegen  halte 
die  hinlere  Wand  der  Zwischenhirnbasis  gegen  früher  an  Ausdehnung 
gewonnen.  Schon  bei  den  lunbrjonen  von  18  Mm.  liess  sich  an  dem 
der  Vorderfläche  des  mittleren  Schädelbalken  oberhalb  der  Abgangs- 
slelle  des  Processus  infundibuli  anliegend(>n  Gehirnabschnill  eine  unlere 
ilünnere  Partie  unterscheiden,  welche  I  Mm.  oberhalb  des  Tiichlerfort- 


388  Wilhelm  Müller, 

Satzes  in  eine  senkrechte  Falte  erhoben  war.  lieber  der  Falte  folgte  eine 
dickere  Partie,  welche  in  die  Basis  des  Millelliirns  ohne  scharfe  Grenze 
sich  fortsetzte  und  gleich  dieser  die  parallelen  Fasern  der  Hirnschenkel 
zur  peiipherischen  Begrenzung  hatte.  Beide  Abschnitte  Hessen  sich 
auch  jct/.t  unteischeiden.  Der  untere  dünnwandige,  die  zukünftige  La- 
niina  |)oslerior  infundibuli .  war  1,4  Mm.  hoch;  die  senkrechte  Falte 
an  seinem  oberen  Euch'  war  nahezu  ausgeglichen;  daraufnahm  wie 
fi'üher  die  Dicke  der  \\  and  rasch  zu  und  es  erfolgte  <ler  Uebergang  in 
das  Mittelhirn. 

Bei  dem  Schaffölus  von  7  Centimeler  Fänge  war  der  Knorpel  der 
Sattellehne  mit  jenem  des  hinteren  Keil])eins  continuirlich  verbunden. 
Die  Knor|)eI  des  Basilarbeins  und  des  vorderen  Keill>eins  waren  bereits 
in  Verkalkung  begrill'en  ;  die  Chortla  war  schmäler  als  früher,  sie  ver- 
lief gebogen  durch  die  Schädelbasis,  erhob  sich  im  hinteren  Keilbein 
und  endigle  mit  stumpfer,  0,02  dicker  Spitze  in  den  unleren  Periehon- 
driundagen  2  Mm.  hinter  der  Spitze  der  Satlellehnei).  Der  mittlere 
Schädelbalken  war  3,5  hoch,  0,18  dick,  er  enthielt  die  0,15  im  Durch- 
messer hallende  Basilararterie.  deren  fibröse  Scheide  darstellend.  Die 
llypophysis  lag  wie  früher  schief  von  unten  und  rückwärts  nach  ol)en 
und  vorne  gerichtet  in  der  Saltelgrube.  Sie  war  1,2  Mm.  lang,  0,0 
dick ;  von  ihrem  vorderen  Ende  erstreckten  sich  schmale  Ausläufer  der 
Drüsensubslanz  bis  nahe  zum  Chiasma  nervi  optici,  von  einer  Gruppe 
dünner,  parallel  \eilaufender  Arlerienzweige  umgeben.  Der  Bau  der 
Hypophysis  sowie  jener  des  interstitiellen  Gewebes  erwies  sich  gegen 
das  vorige  Stadium  nicht  wesentlich  verändert.  Das  Chiasma  war  1.5 
lang,  1  Mm.  hoch;  die  dünne  Partie  der  hinteren  Wand  der  Zwischen- 
hirnbasis  erstreckte  sich  vom  Trichlerfortsatz  aus  1,8  Mm.  voi-  dem 
mittleren  Schädelbalken  in  die  Höhe.  Der  Trichlerfortsatz  ging  1,2  Mm. 
hinler  dem  Chiasma  ühev  <ler  Grenze  des  mittleren  und  hinteren  Drit- 
theils der  ol)eren  Fläche  der  Hypophy.sis  von  der  Basis  des  hifundibu- 
lum  ab,  er  war  1,.")  Mm.  lang,  0,8  dick.  Seine  Höhle  stand  wie  fridier 
mit  jener  des  Infundibulum  im  Zusammenhang  und  erstreckte  sich 
durch  seine  ganze  Länge;  ihr  Durchmesser  betrug  nahe  dem  Ursprung 
0,03,  nahe  der  Spitze  0,01 .  Seine  Epilhelbekleidung  und  die  dieser 
anliegende  Zellenschicht  verh.ielten  sich  wie  früher,  die  peripherische, 
homogene  Schicht  dagegen  war  mächtiger  geworden  ;  sie  enthielt  eine 
Anzahl  von  Capillarschlingen ,    welche  von  der  Umgebung  aus  in  sie 


1)  ViRCHow  liat  beliauptet  (Entw.  des  Scliädolgruniles  p.  H),  tiass  die  Clionlii 
im  zweiten  Monat  beim  Mensclien  sclion  atioplii^t  und  niclit  nieiir  auffindl)ar  sei. 
Diese  Beliauptung  ist  weder  für  den  Mensclien  noeli  für  das  Schaf,  Sciiwein  oder 
den  ilund  riolUig,   wie  sction  (Iegenbai'r  und  Dursy  iiezeigf  haben. 


2.  I'chor  Kiitwifkliinii-  iiihI  Biiii  (Inr  ll\|i()|ili\sis  iiiiil  des  l'ioccssiis  iiiCiiiiililiiili  rcicliii.  389 

eindiMUi^cn.  Zu  Itcidcii  Seilen  der  lly|)()pliysis  NcilieIVMi  die  0,2  weilen 
innoron  (Jiiioliden ,  dci-  liodeii  der  Siillelgnihe  \\;ir  eini^ononinien  von 
einem  (),(>  iMin.  ni;i('lilii;eii,  in  slialVes  |{ind(>L:e\\  ehe  einizehellelen  Neneii- 
[)le\us. 

Z\\o\  Siliiifl'iilns  von  12  (lenlinieler  l-;iiu;e  erliiell  ieli  IVisch  i:ennii, 
iini  sie  inii  l'jioli;  zu  injicireii.  An  dei' Scliiidellmsis  wav  die  Verk.ilkijnti 
erhoblic'h  roilij;esclirillen.  Die  Ily})o|)liysis  halle  in  ihrer  Mille  eine  Möhe 
von  :i  Mm.  lu'i  0,<)  Dicke,  ;in  den  Seilen,  welche  (len  Processus  inl'un- 
(hltidi  umfasslen,  eine  Höhe  von  2  Mm.  bei  1,2  Mm.  Dicke.  Si(>  enl- 
s;indle  eine  Gruppe  schmaler  DrUsengiinge  längs  einer  Anzahl  schmaler 
Arlerien  l)is  dichl  an  die  hinlere  Fläche  des  Chiasma.  Ihre  Driisensub- 
slanz  besland  aus  cylindrischen  Schläuchen,  sie  waren  zum  Theil  viel 
kiirzei'  als  früher,  in  die  Länge  gezogenen  Follikeln  ähnlich.  Mit  Aus- 
nahme einer  beschränklen  Anzahl  am  hinlern  Umfang  tler  Drüs(^  lie- 
gender Schläuche  waien  alle  solid.  Ihr  Durchmesser  schwankle  zwi- 
schen 0,01  und  0,0().  Sic  waren  umhüllt  von  einer  zarlen  Membi-ana 
|)ropria ,  welcher  bei  den  hohlen  Schläuchen  geschichletes  (]\,Iinder- 
t^pilhel  aufsass.  Die  soliden  Schläuche  waren  erfüllt  von  Zellen,  \\(>lclie 
zum  Theil  gewöhnlichen  Cylinderepilhelien  glichen  und  senkrecht  zur 
Mülle  geslelil  waren,  zum  grösseren  'i'heil  spindelförmige  odcM"  polygo- 
nale oder  ganz  unregelmässige  Gestalt  zeigten.  Sie  besassen  alle  einen 
zailen  Proloplasmakör[>er  ohn(>  ])eripherische  Verdiclitung  und  giosse 
rundliche,  zwischen  0,00 'i  und  0,Ü0()  messende  Kerne.  Sic  wurden 
umgeben  von  dünnen  Zügen  theils  fibrillärer,  iheils  aus  spindellörmigen 
Zellen  bestehender  Bindesuhstanz.  In  dieser  verliefen  Capillaren  von 
durchschnittlich  0,01,  zwischen  0,00.}  und  0,0JG  schwankendem 
F>urchinesscr,  rhombisclK;  Maschen  von  0,04  Weile  im  Mitlei  bildend. 
Der  Boden  der  Sattelgrube  \\ar  wie  in  dem  vorigen  Entwicklungssla- 
dium  von  einem  mächtigen,  in  einer  Verliefung  des  Knorpels  liegenden 
Venenplexus  erfüllt. 

Die  Verhältnisse  dei"  Zwischenhirnbasis  waren  im  Wesenilichen 
dieselben  wie  in  dem  vorigen  Stadium,  jedoch  trat  der  mittlere  Schä- 
delbalken viel  weniger  über  die  Satlellehne  vor  als  früher  und  in  Folge 
davon  ging  das  Millelhirn  in  flacherem  Bogen  in  das  Zwischenhirn  über. 
Der  Processus  infundibuli  ging  I  Mm.  hinler  dem  Chiasma  vom  Infun- 
dibidum  ab,  er  war  .\,'.)  Mm.  lang,  an  der  Abgangsslelle  0,1  dick,  seine 
Dicke  nahm  in  der  Peripherie  zu,  so  dass  sie  an  der  Spitze  0,S  belrug; 
«M-  zeigte  in  Folge  dason  bereits  die  künftige  Keulenform.  Seine  Höhle 
ersireckle  sich  von  jener  des  Zw  ischeidiirns  aus  c-onliiuiirlich  mit  einem 
Durchmess(M-  \ on  (l,ii:!  bis  0,01  durch  seine  ganze  Fänge.  Dasc^lin- 
drische  l^fiilhel .    welches  das  Lumen    begrenzle.    war  etwas   llacher  als 


390  VVillielni  Müller, 

früher,  die  dem  Epithel  folgende  Lage  rundlicher  Zellen  war  gegen  frü- 
her verdünnt.  Auch  die  peripherische  ,  homogene  Schicht  hatte  gegen 
früher  ihre  Beschaffenheit  merklich  verändert.  Die  feinkörnige  Sub- 
stanz war  durchsetzt  von  ganzen  Zügen  dicht  gedrängter  runder  und 
spindelförmiger  Zellen ,  ähnlich  jenen  embryonalen  Bindegewebes, 
welche  an  die  von  der  Umgebung  in  den  Zwischenhirnfortsatz  eintre- 
tenden Capillaren  sich  anschlössen. 

Ich  habe  endlich  eine  Anzahl  von  Embryonen  des  Menschen,  Schafs 
und  Schweins  von  Ifi  bis  18  Centimeter  Länge  untersucht,  jene  des 
Schweins  nach  vorgängiger  Injection.  Die  Ilypophysis  umgab  bei  allen 
hufeisenförmig  das  Ende  des  Processus  infundibuU.  Von  ihrem  vorde- 
ren Ende  erstreckte  sich  ein  schmaler,  conisch  sich  verjüngender  Fort- 
satz längs  der  vorderen  Fläche  des  Processus  infundibuli  nach  oben 
und  vorne  gegen  das  Chiasma  hin,  es  drangen  ferner  einzelne  Ausläu- 
fer der  Drüsensubstanz  von  der  hinteren  und  den  seitlichen  Flächen 
aus  in  die  oberflächlichen  Schichten  des  anliegenden  Processus  infun- 
dibuli ein.  Sie  war  rings  umgeben  von  einer  dünnen  bindegewebigen 
Kapsel,  welche  mit  den  Gefässen  zarte  Fortsätze  in  das  Innere  entsandte. 
Das  Drüsenparenchym  wurde  durch  letztere  in  eine  grosse  Zahl 
schlauchförmiger  Gebilde  zerlegt.  Der  Durchmesser  dieser  Schläuche 
schwankte  zwischen  0,016  und  0,05,  ihre  Länge  zeigte  noch  beträcht- 
licheie  Verschiedenheiten  ,  so  dass  kürzere ,  der  Kugelform  sich  annä- 
hernde und  längere  gewundene  Formen  neben  einander  vorkamen. 
Letztere  bildeten  bei  allen  Embryonen  die  Mehrzahl.  Der  grösste  Theil 
war  solid,  einzelne  besassen  ein  ganz  schmales,  spaltförmiges  Lumen; 
nur  am  hinteren  Umfang  der  Drüse  fanden  sich  sowohl  beim  Menschen 
als  beim  Schaf  hohle ,  mit  geräumigerem ,  scharf  begrenztem  Lumen 
versehene  Schläuche  in  geringer  Zahl.  Die  Drüsengebilde  waren  um- 
geben von  einer  zarten  Membrana  propria,  dieser  sass  an  den  hohlen 
geschichtetes  Gylinderepilhel  auf.  Die  soliden  Schläuche  uaren  erfüllt 
von  Zellen,  welche  theilweise  in  der  Peripherie  Cylinderepithelien  von 
0,015  Länge  bei  0,004  Dicke  darstellten  mit  senkrechter  Lagerung 
gegen  die  Fläche  der  Membrana  propria ;  zum  grösseren  Theil  zeigten 
die  Zellen,  welche  im  Inneren  lagen,  quadratische  oder  polygonale  oder 
ganz  unregelmässige  Formen  ;  alle  besassen  einen ,  selten  zwei  rund- 
liche Kerne  von  0,0035  —  0,007  Durchmesser  und  einen  sehr  feinkör- 
nigen ,  bisweilen  in  S})itze  Fortsätze  ausgezogenen  Protoplasmakörper. 
Die  Interstitien  der  Drüsensubstanz  wurden  eingenommen  von  zarler, 
netzförmig  angeordneter  Bindesubstanz  und  0,006  —  0,016  weiten  Ca- 
pillaren, welche  mit  rhombischen,  0,03  —  0,05  weilen  Maschen  die 
Drüsenschläuche  umsp.innen.     Die  Arterien ,   von  welchen   sie  gespeist 


2.  UebtT  Entwicklung  und  liaii  (Iit  Hypopliysis  und  des  Processus  inl'nudibnli  rorebii.  391 

wurden,  slainmtcii  Ihoils  aus  kleinen,  vom  Boden  der  Satlelgrube  aus 
in  die  Drüse  eindringenden  Zweigen,  theils  aus  einer  Gruppe  parallel 
Ncriaufender  Arterien,  welche  sich  von  der  Pia  mater  aus  längs  des  co- 
niscluMi  Forlsalzes,  welchen  die  Drüse  gegen  dasGhiasnia  hin  enlsandle, 
in  deren  Subslanx  einsenkten.  Die  Venen,  in  welche  sie  übergingen, 
niUndfU-n  in  einen  dichten  an  den  Seiten  und  am  Boden  der  Satlelgrube 
liegenden  Plexus. 

Die  Zwischenhirnbasis  war  bei  allen  Embryonen  verhältnissmässig 
kurz,  die  Knickung  an  der  Uebergangsstelle  in  das  Miltelhirn  un])edeu- 
lend.  DasTrigonum  cinereum  lag  über  dem  Chiasma,  die  Lamina  poste- 
rior infundibuli  zwischen  Trichterfortsatz  und  den  Ursprüngen  der 
Nervi  oculomotorii ;  die  Corpora  candicanlia  markirten  sich  äusserlich 
noch  nicht  deutlich.  Der  Processus  infundibuli  zeigte  beim  Schwein 
eine  Länge  von  2,5,  beim  Schaf  und  Menschen  eine  solche  von  4  Mm., 
seine  IMcke  betrug  nahe  dem  Abgang  0,5  bis  0,8,  sein  Ende  war  knopf- 
förmig  bis  zur  Dicke  von  1,1  angeschwollen.  An  seiner  Abgangsstelle 
vom  Infundibulum  setzte  sich  die  H()hle  des  letzteren  0,5  weit  in  seiner 
Mille  fort,  conisch  sich  verengernd  und  schliesslich  spitz  endigend. 
Die  Wandung  iler  Höhle  war  von  Gylinderepilhel  bekleidet.  In  dem 
minieren  Theil  des  Trichterfortsatzes  war  die  Höhle  bereits  geschwun- 
den, dagegen  fanden  sich  einzelne  Reste  derselben  im  knopfförmig  ver- 
dickten Ende  in  Form  spaltförmiger  unregelmässig  gebogener  Hohl- 
räume, deren  Wandung  von  cylindrischem  Epithel  ausgekleidet  war- 
Das  Gewebe  des  Processus  infundibuli  wurde  gebildet  von  runden  und 
spindelförmigen  kernhaltigen  Zellen,  welche  jenen  älterer  Granulationen 
duichaus  ähnlich  waren ;  sie  v\aren  zum  Theil  in  förmlichen  Bündeln 
angeordnel ,  welche  sich  ähnlich  wie  in  Sarkomen  in  verschiedenen 
Richtungen  durchkreuzten.  Zwischen  den  Bindegewebselemenlen  ver- 
zweigte sich  ein  regelmässige  langgestreckte  Maschen  von  0,1  Länge 
bei  0,04  Weite  bildendes  Capillarnelz,  welches  bereits  alle  Eigenschaf- 
ten des  bleibenden  Capillargefässsyslems  dieses  Theils  dai'bot  (vergl. 
Taf.  X,  Fig.  8j. 

3)    Vergleichend-anatomischer  Theil. 

Aus  der  Classe  der  Acrania  untersuchte  ich  Amphioxus  lanceola- 
lus.  Dieses  Thier  besitzt  weder  eine  Hypophysis  noch  einen  Processus 
infundibuli,  weil  in  Folge  der  Verlängerung  der  Chorda  über  das  Ende 
des  centralen  Nervensystems  hinaus  die  Bedingungen  zur  Entwicklung 
beider  Organe  fehlen. 

Aus  der  Classe  der  Monorrhina   habe   ich   Myxine  glutinosa   und 

Bd.  VI.  3.  37 


392  Wilhelm  Möller, 

Petromyzon  fluviatilis  untersucht.  Die  Untersuchung  hat  ergeben,  dass 
die  Angaben ,  weJche  Joh.  v.  Müller  über  die  Hypophysis  und  das  In- 
fundibuluni  dieser  Thiere  gemacht  hat,  einer  erheblichen  Berichtigung 
bedürfen. 

Nach  Joh.  v.  Müller  i)  zeigt  die  dritte  Abtheilung  des  Gehirns  von 
Myxine  ihre  Lappen  an  der  un leren  Fläche  wenig  isolirt,  indem  vorne 
zwischen  ihnen  eine  rundliche,  breite  Erhabenheit  hervortritt,  welche 
nur  durch  sehr  seichte  Vertiefungen  von  ihm  getrennt  ist.  Diese  un- 
paare  mittlere  Erhabenheit  giebt  hinter  dem  Ursprung  des  Sehnerven 
den  Stiel  der  Hypophysis  ab.  Sie  ist  wie  das  ganze  Gehirn  solid  und 
liegt  in  einer  Vertiefung  des  fibrösen  Theils  der  Basis  cranii. 

Ich  habe  zur  Prüfung  dieser  Angaben  dieselben  drei  Exemplare 
von  Myxine  glutinosa  verwandt,  welche  zur  Untersuchung  der  Chorda 
gedient  hatten.  Die  Methode,  welche  ich  benutzte,  war  jene  der  succes- 
siven  Schnitte ,  und  zwar  zerlegte  ich  zwei  der  disponibeln  Myxinen- 
köpfe  in  Längs-,  einen  in  Querschnitte.  Das  Zwischenhirn  zeigte  an 
seiner  oberen  Fläche  eine  seichte  Längsrinne,  an  seiner  unteren  hinter 
der  Abgangsstelle  der  dünnen  Sehnerven  eine  flache  Hervorragung, 
von  welcher  ein  niedriger ,  aber  breiter  Fortsatz  in  der  Richtung  nach 
rückwärts  abging.  Hinter  dieser  Vorragung  war  das  Zwischenhirn  von 
dem  Mittelhirn  durch  eine  0,4  hohe,  0,35  lange  Querfurche  geschieden; 
in  dieser  auf  dem  Längsschnitt  dreieckigen  Furche  erhob  sich  von  der 
Schädelbasis  aus  die  Arteria  basilaris ,  von  fetthaltigem  Bindegewebe 
umhüllt,  um  an  der  Uebergangsstelle  des  Mittel-  in  das  Zwischenhirn 
ihre  Endäste  abzugeben.  Letzteres  zeigte  0,5  Mm.  unterhalb  seiner 
oberen  Fläche  eine  0,03  weite,  nach  rückwärts  mit  dem  Sinus  rhom- 
boideus  communicirende  Höhle,  welche  nach  vorne  in  der  Mitte  des 
Zwischenhirns  blind  endigte  und  von  einer  einfachen  Cylinderepithel- 
lage  ausgekleidet  war.  Von  dieser  Höhle  aus  Hess  sich  in  der  Richtung 
nach  abwärts  eine  feine  Linie  verfolgen,  längs  welcher  beiderseits  kern- 
haltige runde  Zellen  dicht  gedrängt  lagen.  Ich  vermuthe,  dass  sie  die 
Richtung  anzeigte,  in  welcher  der  obliterirte  Theil  der  Zwischenhirn- 
höiile  früher  verlaufen  war.  1  Mm.  unterhalb  der  Höhle  wich  diese 
Linie  auf  Querschnitten  zu  einem  feinen  Spalt  auseinander,  welcher 
nahe  der  unteren  Fläche  des  Zwischenhirns  rasch  sich  erweiterte.  Auf 
Längsschnitten  zeigte  sich,  dass  das  untere  Drittheil  der  ursprünglichen 
Zwischenhirnhöhle  eine  in  flachem ,  nach  rückwärts  convexem  Bogen 
nach  abwärts  sich  erstreckende  Spalte  darstellte ,   welche  von  kurzem 


1)  Vergleichende  Neurologie  der  Myxinoiden  p.  9. 


2.  Ueber  Entwicklung  und  Bau  der  Hypophysis  und  des  Processus  infundibuli  ceiebri.  393 

Cylinderepithel  begrenzt  war.  Diese  SpalU'  war  selir  eng,  so  dass  di(^ 
gegenüberliegenden  Wandungen  nur  0,003  bis  0,008  Mm.  von  ein- 
ander entfernt  waren.  Nahe  der  unleren  Fläche  des  Zwischenhirns 
wichen  die  Ränder  der  Spalte  aus  einandei-,  um  die  llühle  des  Infun- 
dibulum  zwischen  sich  zu  fassen.  Sie  war  ringsum  von  Cylinderepithel 
ausgekleidet,  ihre  Höhe  bestimmte  ich  zu  0,14,  ihre  Hreile  zu  0,24, 
ihre  Länge  zu  0,25.  Auf  Längsschnitten  hatte  sie  die  Gestalt  eines  Drei- 
ecks mit  nach  rückwärts  liegender  Spitze,  auf  Querschnitten  hatte  sie 
in  ihrer  vorderen  Hälfte  die  Gestalt  eines  spitzwinkligen  Dreiecks,  in 
ihrer  hinteren  jene  einer  (lachen  Ellipse.  Erstere  entsandte  an  ihrer 
unteren  Fläche  einen  nach  rückwärts  gerichteten  Fortsatz,  den  Proces- 
sus infundibuli.  Er  lag  in  einer  Vertiefung  der  fibrösen  Schädelbasis, 
welche,  durchschnittlich  0,06  dick,  längs  seines  Verlaufs  auf  0,02  re- 
ducirtwar,  und  erstreckte  sich  von  der  Abgangsstelle  der  Sehnerven 
nach  rückwärts  bis  nahe  zu  dem  Punkt,  an  welchem  die  Basilararterie 
von  der  Schädelbasis  sich  erhob,  um  in  die  Umbeugungsstelle  des  Mit- 
lei -  in  das  Zwischenhirn  einzutreten,  d.  h.  bis  zur  Abgangsstelle  des 
IVüheren  mittleren  Schädelbalkeu  (vergl.  Taf.  IX,  Fig.  8).  Seine  Länge 
betrug  1,"?,  seine  Breite  0,7,  seine  Höhe  0,1  Mm.  Er  war  in  ganzer 
Ausdehnung  hohl,  die  Höhle  stellte  einen  an  der  Abgangsstelle  0,015 
hohen,  gegen  die  Peripherie  sich  verflachenden  Spalt  vor,  sie  stand 
durch  eine  0,06  weite  trichterförmige  Oeffnung  mit  der  Höhle  des  In- 
fundibulum  in  Verbindung.  Die  Wandung  des  Processus  infundibuli 
war  gebildet  von  einer  einfachen  Lage  cylindrischen  Epithels ,  welches 
0,014  hoch,  0,005  bis  0,008  breit,  mit  glänzendem,  hie  und  da  Resle 
von  Cilien  zeigenden  Saum  gegen  das  Lumen  sich  absetzte.  Die  Epi- 
thelzellen entsandten  nach  der  Peripherie  fadenförmige  Fortsätze,  welche 
die  umgebende  homogene  Schicht  senkrecht  durchsetzten.  Letztere 
war  am  Ursprung  des  Processus  infundibuli  0,036  dick,  um  sich  rasch 
bis  auf  0,012  zu  verschmälern.  Sie  war  äusserst  feinkörnig,  schwach 
IJchtbrechend  und  nur  an  den  dickeren  Stellen  mit  einzelnen  runden 
Kernen  versehen.  Sie  setzte  sich  in  die  homogene  Bandschichte  derZwi- 
schenhirnbasis  continuirlich  fort.  Letzlere  bestand  in  der  Umgebung  des 
Infundibulum  aus  dicht  siehenden  runden  Kernen  von  0,008,  sämmtlich 
mit  Proloplasmahöfen  versehen,  welche  an  den  untersuchten  Weingeisl- 
präparaten  eine  gegenseitige  Sonderung  nicht  erkennen  Hessen ;  dazwi- 
schen lagen  spärliche  Ganglienzellen  mit  spitzen  Proloplasmaforlsätzen. 
Die  Chorda  endete  unterhalb  des  Mittclhirns  mit  stumpfer  Spitze, 
ihr  Ende  war  von  einem  lebhaft  grünen  Hyalinknorpel  umfasst;  an 
diesen  sehloss  sich  dichtes  fibröses  Bindegewebe  an  ,  welches  die  vor- 
dere Partie  der  Schädelbasis  bildete.     Länüs  der   unleren   Fläche  der 


394  Wilhelm  Müller, 

letzteren  verlief  der  Nasenraehengang ;  die  hohen  Leisten ,  welche  die 
Schleimhaut  seiner  Decke  im  vorderen  Abschnitt  bildete,  flachten  sich 
unter  dem  vorderen  Gehirnende  rasch  ab,  um  alsbald  vollständig  zu 
verschwinden.  Die  obere  Wand  des  hinteren  Abschnitts  war  in  Folge 
davon  flach.  0,03  dick,  sie  bestand  aus  einer  dünnen  Lage  fibrösen 
Bindegewebes  und  war  von  geschichtetem  Pflasterepithel  überzogen. 
Unterhalb  der  verdünnten  Stelle  der  Sciuidelbasis,  \^elcher  der  Proces- 
sus infundibuli  auflag,  lag  zwischen  Schädelwand  und  Wand  des  Nasen- 
rachengangs  die  Hypophysis  in  Form  eines  flachen  drüsigen  Gebildes 
(vergl.  Taf.  IX,  Fig.  8.  /) .  Ihr  Verlauf  war  jenem  des  Processus  infun- 
dibuli parallel ,  demgemäss  lag  ihr  hinteres  Ende  nahe  unter  der  Ab- 
gangsstelle der  Basilararterie  (des  mittleren  Schädelbalken),  ihr  vorde- 
res dicht  hinler  der  Abgangsstelle  der  Sehnerven,  ihre  Länge  bestimmte 
ich  zu  1,2,  ihre  Breite  zu  1,  ihre  Dicke  zu  0,1  Mm.  Sie  bestand  aus 
rundlichen  und  in  die  Länge  gezogenen  Hohlräumen  von  0,02  bis  0,04 
Durchmesser ,  welche  aus  einer  dünnen  homogenen  Membrana  propria 
und  die  Höhlung  erfüllenden  quadratischen  oder  polygonalen  kernhal- 
tigen Zellen  von  0,007  —  0,0i  Durchmesser  bestanden.  Die  Mehrzahl 
der  Räume  war  solid,  einzelne  zeigten  ein  schmales  centrales  Lumen. 
Die  Interstitien  des  Drüsengewebes  waren  erfüllt  von  strafTen ,  massig 
dicken  Bindegewebszügen  mit  Gefässen  (Taf.  IX,  Fig.  7).  Die  Drüse 
besass  keinerlei  Verbindung  mit  dem  unterliegenden  Rachenepithel. 
Myxine  glutinosa  ist  das  einzige  Thier  von  allen  untersuchten,  welches 
die  ursprüngliche  Lagerung  der  Hypophysis  über  der  oberen  Rachen- 
wand dauernd  beibehält. 

Bei  Petromyzon  liegt  nach  Jon.  v.  Müller  ')  dicht  hinter  dem  Ur- 
sprung des  Sehnerven  an  der  Basis  ventriculi  tertii  eine  blasige,  runz- 
lige, längliche  Hervorragung  an.  Es  ist  die  hohle  Hypophysis.  Sie  ist 
sehr  gross,  leicht  zerstörbar  und  leicht  hat  es  den  Anschein,  als  ob  sich 
an  ihrer  unteren  Fläche  eine  Spalte  befinde,  welche  aber  Jon.  v.MfiLLER 
für  nicht  natürlich  hält.  Die  Höhle  der  Hypophysis  steht  durch  eine 
Verengerung  mit  der  Höhle  des  dritten  Ventrikels  in  Verbindung,  sie 
liegt  in  der  zusammengezogenen  Stelle,  welche  die  Hypophysis  mit  der 
Basis  des  dritten  Ventrikels  in  Verbindung  setzt. 

Es  lässt  sich  ohne  Schwierigkeit  zeigen,  dass  auch  für  dieses  Thier 
die  Angaben  Joh.  v.  Müller's  irrthümlich  sind.  Bei  der  gewöhnlichen 
Lamprete  fand  ich  das  Vorderhirn  in  zwei  seitliche  Hälften  getrennt, 
beide  mit  horizontal  liegendem  Ventrikel  von  0,15  Höhe  bei  0,35  Breite 
versehen.     Sie  standen  durch  einen  unpaaren  mittleren  Hohlraum  mit 


1)   Vergleichende  Neurologie  der  Myxinoiden  p.  32  und  37. 


2.  Ucber  Eiitwickliiiig  und  Hau  der  Hypopliysis  und  des  Pioccssii,^  iulundilinll  ctTfltri.  395 

der  schmalen ,  aber  nach  oben  und  unten  stark  verlängerten  Höhle  des 
Zwischenhirns  im  Zusammenhang.  Letztere  zeigte  nach  oben  eine  dünn- 
wandige, nach  vorne  gerichtete  Verlängerung,  deren  ObeidäclK^  herz- 
förmig ausge])uchtet  war,  in  der  Ausbuchtung  lag  die  dunkel  pigmen- 
liite  Epiphysis.  Die  Basis  des  Zwischenhirns  liess  zwei  Al)theilungen 
untersclieiden,  eine  vordere,  das  Trigonum  cinereum,  und  eine  hintere, 
das  Infundibulum.  Der  Mitte  der  unteren  Wand  des  Trigonum  cine- 
reum war  das  Chiasma  angefügt  in  Form  eines  0,35  hohen,  0,1  dicken, 
mit  seiner  oberen  Hälfte  fast  rechtwinklig  nach  rückwärts  umgeliogenen 
Körpers.  Das  Tiigonum  cinereum  entsandte  vor  dem  Chiasma  eine 
zweilappige,  hohle,  dünnwandige  Ausstülpung  nach  abwärts ,  welche 
über  den  an  der  Vorderhirnbasis  verlaufenden  Carotiden  lag ;  durch 
das  Chiasma  wurde  sein  Boden  aufwärts  gedrängt,  um  alsl)ald  hinter 
demselben  wieder  herabzusteigen.  Das  Herabsteigen  erfolgte  wegen 
der  Krümmung  des  Chiasma  schic.'f  nach  unten  und  vorne,  so  dass  die 
Höhle  hier  einen  kurzen  Recessus  bildete.  Sie  stand  allenthalben  mit 
dem  dritten  Ventrikel  in  freier  Communication,  der  dünne  Boden  ihres 
hinteren  Abschnitts  lag  der  vorderen  Hälfte  der  Hypophysis  an.  Rück- 
wjirts  ging  das  Tuber  cinereum  untei" Verdickung  der  Seitenwände  und 
Erweiterung  der  Höhle  in  das  Infundibulum  über.  Dieses  stellte  eine 
nach  unten  und  rückwärts  gerichtete  Verlängerung  des  Zwischcnhirn- 
bodens  dar.  Es  zeigte  dicke  Wandungen;  sein  Boden  entsandte  in  sei- 
nem vorderen  Abschnitt  nach  abwärts  einen  dünnwandigen ,  flachen, 
hohlen  Fortsalz,  den  Processus  infundibuli,  welcher  der  oberen  Fläche 
der  hinteren  Hälfte  der  Hypophysis  fest  ansass.  Die  Höhle  des  Infun- 
dilndum  zeigte  in  ihrem  ganzen  Verlauf  nach  rückwärts  dreieckigen 
Querschnitt  mit  oben  liegender  Spitze,  sie  war  0,16  breit,  0,1  hoch, 
0,.')  lang.  Sie  stand  an  ihrem  Beginn  mit  jener  des  überlicgenden  drit- 
ten Ventrikels  im  Zusanunenhang,  wurde  aber  alsbald  durch  das  Auf- 
treten einer  mächtigen  Decke  von  ihr  gelrennt.  Am  Boden  stand  sie 
durch  einen  schmalen  Spalt  mit  der  0,33  breiten  und  ebenso  langen, 
abei-  nur  0,0S  hohen  Höhle  des  Processus  infundibuli  in  Communication. 
Die  Wandung  dos  Infundibulum  wurde  gebildet  nach  Innen  von  cylin- 
drischem  Epithel,  tiarauf  von  einer  mehrfachen  Lage  kernhaltiger  run- 
der Zellen,  deren  Protoplasma  zum  Theil  sehr  feine  Fortsätze  entsandte, 
und  endlich  von  einer  äusserst  feinkörnigen  Andeutung  radiärer  Strei- 
fung zeigenden  Rindenschicht.  Die  Dicke  der  Epithelschicht  betrug 
0,01,  jene  der  l)eiden  äusseren  Schichten  je  0,08.  Am  Uebergang  auf 
den  Processus  infundibuli  verdünnten  sich  letztere  rasch,  die  Zellen- 
schicht keilte  sich  vollständig  aus,  so  dass  die  unlere  der  Hyi)ophysis 
aufsitzende  Wand   dieses   Fortsatzes   nur   0,012    bis   0,02  Wanddicke 


396  Wilhelm  Müller, 

zeigte.  Er  bestand  aus  dem  seine  Höhle  continuirlich  auskleidenden 
Epithel  und  einer  dünnen  feinkörnigen  Rindenschicht,  welche  von 
fadenförmigen  Fortsätzen  der  Epithelien  senkrecht  durchsetzt  war. 
Hinter  dem  Infundibulum  zeigte  die  Gehirnbasis  eine  quere,  0,5  lange, 
0,3  hohe  Furche,  über  welcher  Mittel-  und  Zwischenhirn  im  Bogen  in 
einander  übergingen.  In  diese  Furche  erstreckte  sich  ein  an  raniificir- 
len  Pigmentzellen  reicher  Fortsatz  der  Hirnhäute. 

Die  Chorda  endete  wie  bei  Myxme  conisch  sich  verjüngend  unter- 
halb des  Mittelhirns.  Ihr  Ende  war  von  einem  lebhaft  grünen,  theil- 
weise  verkalkten  Ilyalinknorpcl  umfasst.  an  welchen  der  vordere  fibröse 
Theil  der  Schädelbasis  sich  anschloss.  Letzterer  war  0,4  dick  und 
zeigte  hinter  den  Sehnervenursprüngen  eine  Vertiefung  seiner  Ober- 
fläche, so  dass  die  Dicke  auf  0,2  reducirt  war.  In  dieser  Vertiefung  lag 
die  Hypophysis.  Ihr  vorderes  stumpfes  Ende  erstreckte  sich  bis  dicht 
an  die  Eintrittsstelle  der  Carotiden  in  den  Binnenraum  des  Schädels, 
das  hintere  reichte,  sich  verjüngend,  bis  0,5  Mm.  vor  das  Ghordaende. 
Ihre  obere  Fläche  war  von  dem  überliegenden  Zwischenhirnboden  durch 
eine  straffe,  0,016  mächtige  Bindegewebslamelle  getrennt.  Ihre  Länge 
betrug  0,5,  ihre  Breite  0,7,  ihre  Höhe  0,12  (vergl.  TaL  IX,  Fig.  9).  Sie 
war  umgeben  von  einer  dünnen  Bindegewebskapsel ,  welche  gefäss- 
führende  Forlsätze  in  das  Innere  entsandte.  Durch  diese  wurde  das 
Drüsenparenchym  in  eine  Anzahl  kugeliger  und  in  die  Länge  gezogener 
Räume  von  0,02  —  0,04  Dicke  zerlegt.  Sie  besassen  eine  dünne  Mem- 
brana propria  und  waren  im  Innern  erfüllt  von  quadratischen  und  po- 
lygonalen kernhaltigen  Zellen. 

Aus  der  Glaste  der  Fische  untersuchte  ich  an  erwachsenen  Thieren 
von  Plagiostomen  Scymnus  lichia  und  Raja  clavata ,  von  Teleostiern 
Cyprinus  carpio.  Die  Hypophysis  lag  bei  ersterem  Thier  mit  ihrer  Haupt- 
masse über  dem  bindegewebigen  Operculum  der  Sattelgrube ,  sie  ent- 
sandte nach  vorne  einen  zungenförmigen  ,  dem  Boden  des  Infundibu- 
lum anliegenden  Fortsatz.  Das  Organ  besass  eine  dünne  bindegewebige 
Kapsel,  welche  zarte  gefässführende  Ausläufer  an  das  Innere  abgab. 
Sie  zerlegten  das  Drüsenparenchym  in  verschieden  lange,  etwas  gewun- 
dene cylindrische  Massen  von  0,12  bis  0,2  Durchmesser.  Sie  besassen 
eine  dünne  Membrana  propria  und  waren  entweder  gänzlich  oder  unter 
Freilassung  eines  spaltartigen  centralen  Hohlraums  erfüllt  von  cylindri- 
schen  Epithelien.  Letztere  waren  geschichtet,  alle  sehr  lang,  von  0,016 
bis  0,08  messend  bei  0,003  bis  0,007  Dicke.  Sie  bestanden  aus  einem 
cylindrischen ,  den  Kern  einschliessenden ,  mit  Garmin  deutlich  roth 
sich  imbibirenden  Protoplasmakörper  und  entsandten  gegen  die  Peri- 
pherie der  Schläuche  ungemein  blasse,  mit  Garmin  nur  wenig  sich  fär- 


2.  Ueber  Entwicklung  und  Bau  der  Hypopliysis  und  des  Processus  inrundibuli  ccrfliri.  ;i97 

bende  Fortsätze,  welche  in  senkrechter  Richtung  dicht  iiiioinrindcrlic- 
j4ond  bis  zur  Mcnibranii  propria  sich  erstreckten.  Sie  l>edingten  das 
Auftreten  einei-  ;uif  den  ersten  Blick  homogen  erschein(>iuh'n  Hinden- 
schicht  an  den  Sc^hlauchen,  welche  kt-rnlos  war,  bei  stärkeren  Vergrös- 
serungcn  und  Isolationsversuchcn  aber  die  Zusanimenselzung  aus  den 
ein/ehicn  den  kernhaltigen  Kpitlielien  angehörenden  Protophisniafort- 
sätzen  ohne  Schwieligkeit  erkennen  iiess  (vergl.  Taf.  IX,  Fig.  10). 
Das  Zwischenhirn  Iiess  auch  hiei-  an  seiner  Basis  einen  vorderen  Ab- 
schnitt, Trigonuin  cinereuin,  und  einen  geräumigeren  hinteren,  das 
Infundibulum,  unlerscheidcMi.  Letzleres  zeigte  ähnliche  Verhältnisse 
w  ie  die  älteren  Embryonen  von  Acanthias ;  es  entsandte  von  seiner 
hinteren  und  unteren  Fläche  einen  dünnen  /,w(Mlap])igen  ,  der  oberen 
Fläche  der  Hypopliysis  anliegenden  Fortsatz,  dessen  Wandung  sehr  ge- 
fässreich  war,  den  Saccus  vasculosus. 

Bei  Haja  cla\ala  ')  lag  die  llypophysis  als  ein  gelblicher  Körper  in 
einer  llachcn  Vertiefung  des  Kcilbcinknorpels.  Vor  ihr  traten  die  bei- 
den Carotiden  in  den  Schädel  ein ,  über  ihren  seitlichen  Flächen  ver- 
liefen die  beiden  Basilararterien ,  deren  strahlig  divergirende  Kndäste 
die  BückenOäche  des  Voi'derhirns  versorgten.  Sie  bestand  aus  einem 
breiten  ilachen  Hauplkörper  von  rundlich  dreieckiger  Gestalt  und  einem 
von  diesem  aus  nach  vorne  sich  erstreckenden  zungenförmigen  Fort- 
satz, welcher  dicht  hinter  dem  Chiasnia  mit  kolbig  verdickter  Spitze 
endigte.  Der  Bau  beider  Abschnitte  war  übereinstimmend.  Die  Drüse 
wurde  umgeben  von  einer  dünnen  bindegewebigen  Kapsel,  von  wei- 
cher aus  zarte  Forlsätze  in  das  Innere  sich  erstreckten.  Sie  führten 
Arterien,  welche  in  den  Interslilien  der  Drüsensubstanz  zu  einem  Netz 
unverhältnissmässig  weiter,  im  Mittel  O.Oo  messender  Capillaren  sich 
auflösten,  um  schliesslich  in  gleichfalls  sehr  geräumige  Venen  über- 
zugehen. Die  Drüsensubstanz  bestand  aus  stark  gewundenen,  vielfach 
anastomosirenden  Schläuchen  von  0,07  bis  0,0 lo  Durchmesser'^).  Sie 
waren  umgeben  von  einer  zarten  Membrana  propria  und  im  Innern  bis 
auf  ein  schmales  Lumen  erfüllt  von  iheils  cylindrischen,  theils  spindel- 
förmigen und  rundlichen  Epithelien. 

Nachhirn  und  Mittclhirn  dieses  Thieres  waren  enorm  entwickelt. 
Ersleres  zeigte  an  seiner  oberen  Fläche  die  beiden  neben  der  Mittellinie 
verlaufenden  keulenförmig  gestalteten  Lobi  nervi  trigemini,  seitlich  die 
in  Windungen  gelegten  Lobi  nervi  vagi.     Das  Älittelhirn  war  an  seiner 


1)  Icti  verdankte  Herrn  Di'.  G.  W.  Focke  in  Bremen  die  Möglichkeit,  zwei  er- 
wachsene Exemplare  von  Raja  clavata  frisch  zu  untersuciien. 

2,   Diese  Schiaiiclie  iial  zuerst  Alexander  Ekler  beim  Lachs  gesellen, 


398  Wilhelm  Müller, 

oberen  Fläche  durch  eine  quere  Furche ,  in  welcher  die  beiden  Nervi 
trochleares  entsprangen ,  vom  Nachhirn  getrennt ,  am  vorderen  Ende 
grenzten  seine  beiden  Halbkugeln  mit  steilem  Abfall  an  die  rudimen- 
täre Decke  des  Zwischenhirns ;  an  seiner  Basis  setzte  es  sich  mit  einer 
seichten,  durch  den  Abgang  der  Lobi  infundibuli  bedingten  Furche 
vom  Zwischenhirn  ab.  Die  Basis  des  letzteren  Hess  auch  hier  einen 
vorderen  Abschnitt ,  Trigonum  cinereum ,  dessen  Basis  vom  Ghiasma 
nervorum  opticorum  fast  vollständig  bedeckt  war,  und  einen  hinteren, 
das  Infundibulura ,  unterscheiden.  Letzteres  besass  eine  rhombische, 
unverhältnissmässig  enge,  schief  von  oben  und  vorne  nach  unten  und 
rückwärts  sich  erstreckende  Höhle,  seine  Wand  war  ungemein  dick 
und  bildete  zu  beiden  Seiten  der  Mittellinie  ein  Paar  halbkugelige  solide 
Hervorragungen,  welche  der  Lage  nach  den  Lobi  infundibuli  s.  inferio- 
res der  Haie  entsprachen.  Von  der  Mitte  der  hinteren  Fläche  des  Infun- 
dibulum  ging  nahe  der  Basis  ein  umfangreicher  zweilappiger  Fortsatz 
ab,  der  Saccus  vasculosus.  Dieser  Fortsatz  lag  in  Form  eines  Zwerch- 
sacks  quer  über  der  oberen  Fläche  der  Hypophysis  da ,  wo  der  Körper 
der  letzteren  in  die  zungenförmige  Verlängerung  überging,  er  zeigte  an 
seiner  oberen  Fläche  zwei  schmale ,  durch  den  Verlauf  der  Nervi  ocu- 
lomotorii  bedingte  Furchen,  seine  Wandung  war  sehr  dünn,  fein  höcke- 
rig und  im  frischen  Zustand  intensiv  braunroth ;  sein  Inneres  war  hohl, 
die  Höhle  stand  mit  jener  des  Infundibulum  in  ununterbrochenem  Zu- 
sammenhang. Am  gehärteten  Präparate  zeigte  der  Saccus  vasculosus 
eine  Wanddicke  von  0,3  —  0,4.  Die  Wandung  wurde  nach  Innen  gebil- 
det von  einer  0,08  dicken  mehrfachen  Lage  von  Cylinderepithel ,  wel- 
ches in  jenes  der  Höhle  des  Infundibulum  sich  fortsetzte,  daran  schloss 
sich  eine  dünne  Lage  fibrillären  Bindegewebes.  Dieses  Bindegewebe 
enthielt  einen  Plexus  sehr  dünnwandiger,  durchschnittlich  0,2  weiter 
Gefässe  von  solcher  Mächtigkeit,  dass  zwischen  den  einzelnen  Gefässen 
nur  dünne  Züge  an  braunen  Pigmentkörnchen  reicher  Bindesubstanz 
nachweisbar  waren. 

Bei  dem.  Karpfen  lag  die  Hypophysis  als  gelblicher  ellipsoidischer 
Körper  in  der  zwischen  Alisphenoid  und  Orbitosphenoid  (Huxley)  be- 
findlichen Grube.  Ihre  obere  Fläche  zeigte  eine  quere  Furche.  Der  vor 
dieser  liegende  Abschnitt  lag  unterhalb  des  Tuber  cinereum,  der  hinter 
ihr  liegende  lag  dem  gefässreichen  Boden  des  Infundibulum  an.  Sie 
besass  eine  dünne  bindegewebige  Kapsel,  welche  zarte,  die  Gefässe 
begleitende  Fortsätze  an  das  Innere  abgab.  Das  Parenchym  bestand 
theils  aus  kurzen  ,  der  Kugelform  sich  annähernden ,  vorwiegend  aber 
aus  langgezogenen,  etwas  gewundenen  Schläuchen  von  0,02  —  0,05 
Dicke.     Sie  bestanden  aus  einer  dünnen  Membrana  propria  und  waren 


2.  lieber  Eiilwicklimn  und  Ran  der  Hypopliysis  und  des  Processus  iufuudibuli  cerebri.  399 

im  Inneren  erfülll  von  Iheils  cylindrischen ,  Iheils  polygonalen,  llieils 
ganz  uniegelmässig  gestalteten  Zellen.  Das  Volum  des  Nachhirns  war 
jiiR'h  bei  diesem  Thier  Ix'triiehllich,  es  zeigte  in  der  Mittellinie  den  un- 
paaion  Lohns  nervi  trigomini  (Lohns  impar)  ,  seitlieh  die  paarigen 
(lachen  Anschwellungen  der  Lohi  nervi  vagi.  Das  Miltelhirn  war  un- 
verhältnissmässig  gross  und  bestand  aus  einem  hinteren,  id>er  den 
Lohns  nervi  trigemini  nach  rückwärts,  und  einem  vorderen,  über  das 
Zwischenhirn  nach  vorne  sich  wölbenden  Lappen.  Die  Decke  des  Zwi- 
schenhirns war  auch  hier  rudimentär,  desto  entw  ickelter  war  die  Basis. 
Letztere  Hess  ihre  beiden  Abschnitte,  das  vorne  liegende  Trigonum  ci- 
nereum  und  das  hinten  liegende  Infundibulum  mit  den  paarigen  Lobi 
infundibuii  s.  inferiores  schon  äusserlich  unterscheiden.  Dem  vorderen 
Ende  des  Trigonum  cinercum  lag  das  Chiasnia  nervorum  opticorum  an, 
der  der  Lamina  terminahs  entsprechende  Abschnitt  war  ausgezeichnet 
durch  eine  Lage  grosser  multipolarer,  pigmentreicher  Ganglienzellen, 
bis  zu  deren  Nähe  ein  Theil  der  Olfactoriusfasern  sich  verfolgen  liess. 
Das  Trigonum  cinereum  selbst  hatte  prismatische  Gestalt,  seine  Höhle 
communicirte  vorne  mit  jener  des  dritten  Ventrikels,  sie  war  keilförmig 
gestaltet,  ziemlich  enge  und  am  Boden  nur  durch  eine  dünne  Ependym- 
lamelle  von  der  Pia  mater  getrennt.  Sie  erweiterte  sich  am  hinteren 
E.nde  rasch  zu  der  auf  dem  Querschnitt  rhombisch  gestalteten,  l,:i  Mm. 
breiten,  I  hohen,  1,5  langen  Höhle  des  Infundibulum.  Diese  endete 
nach  rückw  ärts  blind ,  nach  oben  war  sie  durch  eine  mächtige  Decke 
vom  dritten  Ventrikel  geschieden,  nach  unten  setzte  sie  sich  durch  einen 
schmalen  Spalt  im  Boden  des  bifundibulum  in  die  Höhle  des  kurzen, 
über  die  Gehirnbasis  nicht  vorspringenden  ^j  Saccus  vasculosus  fort. 
Dieser  war  0,35  weit,  dünnwandig,  eine  Höhle  hatte  zwei  halbmond- 
förmige, seilliche  Ausläufer,  welche  sofort  an  die  zweilappige  Gestalt 
des  viel  mächtiger  entwickelten  Saccus  vasculosus  der  Haie  und  Rochen 
erinnerte.  Der  Boden  des  Processus  infundibuii  war  dünn,  nur  aus 
cylindrischcm  Epithel  und  einer  feingranulirten,  senkrecht  gestreiften 
Schicht  bestehend,  die  seitlichen  Wände  nahmen  nach  oben  etwas  an 
Dicke  zu,  indem  eine  Lage  runder  Zellen  zwischen  diese  beiden  Lamel- 
len sich  einschob.   Die  Pia,  welche  den  Saccus  vasculosus  überzog,  war 


1)  .\us  diesem  Umstände  erklärt  es  sich,  dass  Gotische,  Klaatsch  und  Stan- 
Mis  den  Saccus  vasculosus  bei  einer  Anzaiil  von  Teleostiern,  z.  B.  Esox,  niclit 
haben  finden  können.  Er  ist  woiil  bei  allen  vorlianden,  aber  nicht  so  voluminös 
svic  bei  Haien  und  Rochen,  oder  so  lange,  wie  er  nach  den  Beschreibungen  und 
Abbildungen  von  Camper  und  Kühl  bei  Lophius  ist.  Bei  den  Cyprinoidcn  vermag 
nur  die  mikroskopische  Untersuchung  gehärteter  Präparate  über  seine  Anwesenheit 
Aufschluss  zu  geben. 


400  Wilhelm  Müller, 

gefässreicher  als  in  der  Umgebung.  Den  Seitenflächen  des  Infundibulum 
sassen  die  paarigen  Lobi  infundibuli  s.  inferiores  (tubercula  reniformia 
V.  Haller)  auf.  Sie  hatten  bohnenförniige  Gestalt,  ihre  hinteren  Enden 
besassen  an  ihrer  medianen  Fläche  walzenförmige  Vorsprünge,  mittelst 
welcher  sie  sich  in  der  Mittellinie  berührten,  die  vorderen  Enden  wichen 
auseinander,  um  das  Trigonum  cinereum  zwischen  sich  zu  fassen.  Die 
beiden  Enden  der  Lobi  infundibuli  waren  frei ;  im  weiteren  Verlauf 
ging  die  Innenfläche  jedes  Lappens  eine  Verwachsung  mit  der  lateralen 
Fläche  des  Trigonum  cinereum  ein,  um  alsbald  weiter  rückwärts  das- 
selbe zu  überwölben  und  mit  dem  oberen  Abschnitt  des  Zwischenhirns 
sich  zu  verbinden,  welche  Verbindung  bis  zur  Abgangsstelle  der  Lobi 
infundibuli  vom  Zwischenhirn  sich  erhielt.  Beide  waren  hohl ;  ihre 
Höhlen  waren  halbmondförmig  gestaltet  und  lagen  der  medianen  Fläche 
näher  als  der  lateralen;  sie  communicirten  durch  0,2  Mm.  weite  Gänge 
mit  der  Höhle  des  Infmulibulum  und  erstreckten  sich  von  der  Comnm- 
nicationsstelle  aus  in  Form  kurzer  Vorderhörner  nach  vorvvärts,  sowie 
in  Form  beträchtlich  längerer  Hinterhörner  nach  rückwärts  bis  nahe  an 
das  Ende  der  Trichterlappen.  Sowohl  die  Höhle  des  Infundibulum  als 
jene  der  Lobi  infundibuli  waren  von  mehrschichtigem  Cylinderepithcl 
ausgekleidet,  das  E[)ithcl  war  rings  umgeben  von  einer  im  Mitlei  Ü,Oi 
dicken  Schicht  von  Zellen ,  welche  theils  rund ,  klein  ,  aus  Kernen  von 
0,004  —  0,006  und  sehr  dünnem  Protoplasmahof  bestehend,  theils 
grösser  und  mit  spitzen  gegen  die  Peripherie  gerichteten  Forlsätzen 
versehen  waren.  Der  übrige  Bau  der  Lobi  infundibuli  war  einfacher 
an  ihrer  Basis  und  der  unleren  Partie  ihrer  medialen  Fläche  als  an  der 
lateralen  Fläche  und  der  Decke.  Erstere  zeigte  eine  mächtige  periphe- 
rische Schicht  feinkörniger,  einzelne  runde  Kerne  führender  Andeutung 
einer  radiären  Streifung  darbietender  Substanz.  In  den  lateralen  Par- 
tien und  der  Decke  fand  sich  gleichfalls  eine  mächtige  Schicht  feinkör- 
niger Substanz ,  sie  war  aber  viel  reicher  an  Zellen  und  namentlich  an 
Nervenfasern ,  welche  in  starken  Bündeln  von  den  Hirnschenkeln  aus 
fächerförmig  sowohl  nach  den  Seiten  als  in  der  Richtung  nach  voi'ne 
und  rückwärts  ausstrahlten.  An  sie  schloss  sich  eine  mehrfache  Schicht 
kleiner  kegelförmiger  Ganglienzellen  an,  welche  dicht  gedrängt  bis  an 
die  Peripherie  heranreichten  und  feine  Fortsätze  gegen  das  Innere  ent- 
sandten, durch  welche  diese  ganze  Schicht  ein  radiär  gestreiftes  Anse- 
hen erhielt  1). 


1)  Durch  die  hierund  in  dem  embryologischen  Theil  gegebenen  Beschrei- 
bungen berichtigen  sich  einige  Irrthümer,  in  welche  v.  Miclucho-Maclav  verfallen 
ist,  dessen  Arbeit  (Beiträge  zur  vergleichenden  Neurologie  der  Wirbelthiere,   Leip- 


2.  lieber  Eutwickluiig  und  Bau  der  Hypophysis  und  des  Processus  iiitundibuli  cerebri.    401 

Aus  der  Ciasso  der  Amjihibien  uiUcisuchle  ich  den  Landsalatiian- 
(i(M-  lind  den  Frosch.  Abgesehen  von  der  beträchtlicheren  Grösse  der 
Zeilelerncnte  beim  Salamander  war  der  Befund  bei  beiden  Thieren  so 
nahe  übereinstimmend,  dass  ich  micii  auf  die  Schildciuni;  des  Verhal- 
tens der  Hypophysis  und  des  Infundibuluni  beiu)  Frosch  beschränke, 
v^chon  IIaivnover ')  und  Rktssner'-]  haben  bei  diesem  Thier  einen  klei- 
neren oberen,  zugleich  vorne  liegenden,  und  einen  grösseren  unleren 
Lappen  an  der  Hypophysis  unterschieden  und  Reissner  hat  die  weitere 
Angabe  hinzugefügt,  dass  über  dem  oberen  Lappen  gefasshalliges 
Bindegewebe  liege.  Die  Beobachtungen,  welche  ich  an  frischen  und 
gehärteten  Injectionspräparaten  gewonnen  habe,  stimmen  mit  den  An- 
gaben dieser  beiden  Anatomen  überein  und  gestatten ,  sie  in  einigen 
Punkten  zu  erweitern. 

Der  Hauptkörper  der  Hypophysis  lag  horizontal  in  der  Sattelgrube, 
voine  begrenzt  vom  Ende  des  rudimentären  Lobus  infundibuli ,  rück- 
wärts von  der  Abgangsstelle  der  Arlcria  basilaris  von  der  Schädelbasis. 
Sie  hatte  die  Gestalt  eines  flachen  EUipsoids  und  war  umgeben  von 
einei"  dünnen  bindegewebigen  Kapsel.  Letztere  gab  zarte,  die  Gelasse 
in  Form  einer  lockeren  Adventilia  umhüllende  Fibrillenzüge  an  das 
liniere  ab.  Die  Arterien  traten  am  oberen  Uinfang  etwas  vor  der  Mitte 
in  eine  leichte  Vertiefung  der  Oberfläche  ein.  Sie  lösten  sich  rasch  in 
Capillaren  auf,  welche,  0,006 — 0,018  messend,  ein  rhombisches  Ma- 
schennetz um  die  einzelnen  DrUsenabtheilungen  bildeten.  Letztere 
waren  iheils  der  Kugelform  sich  annähernde,  zum  überwiegenden  Theil 
langgezogene,  etwas  gewundene  Schläuche  von  0,025  —  0,05,  beim 
Salamander  von  0,03  —  0,07  Durchmesser.  Sie  besassen  eine  zarte 
Membrana  propria  und  waren  im  Inneren  erfüllt  von  theils  senkrecht 
zur  Hülle  gestellten ,  cylindrischen  Epithelien  gleichenden,   theils  von 


zig  1870)  mir  erst  nach  Abschiuss  dieser  Abhandlung  zukam.  Dass  die  Basis  des 
Zwischenhirns  aus  zwei  histologisch  ganz  verschiedenen  Abschnitten  besieht,  einem 
vorderen,  dem  Trigonum  cinereum ,  und  einem  hinteren,  dem  Infundibulum  mit 
den  Lohi  infundüjuli  und  dem  Saccus  vasculosus,  was  von  Haller  bis  aufSiANNius 
keinem  Beobachter  entgangen  ist,  iiat  v.  Miclucho  übersehen.  Die  Hypophysis  der 
erwachsenen  Plagiostomen  habe  ich  entgegen  v.  Miclucho  stets  solid  gefunden. 
Den  zungenförmigen  Fortsatz,  zu  welchem  die  Hypophysis  dieser  Thiere  gegen  das 
Chiasma  hin  sich  verlängert,  erklärt  v.  Miclucho  für  einen  Theil  des  Infundibulum. 
Die  Enlw  icklungsgeschichie  und  die  mikroskopische  Untersuchung  lassen  über  des- 
sen Natur  keinen  Zweifel. 

1)  Adolphe  Hannover,  Recherches  microscopiques  sur  le  Systeme  nervcux. 
p.  20. 

2)  E.  Reissner,  Bau  des  centralen  Nervensystems  der  ungeschwänzten  Batra- 
chicr.  Dorpal  1864.  p.  43  und  94. 


402  Willielin  Müller, 

spindelförmigen  und  polygonalen  Zellen  niil  zartem  Proloplasmakörper 
und  einem,  seiton  zwei  grossen  runden  Kernen  (vergl.  Taf.  X,  Fig.  3). 

Ueber  der  Eintrittsstelle  der  Arterien  lag  der  beträchtlich  kleinere 
Oberlappen.  Er  war  blasser  als  der  untere  und  bestand  aus  einem 
schmalen  Mittelstück  und  keulenförmig  angeschwollenen  seitlichen 
Enden.  Er  war  gleichfalls  von  einer  dünnen  Kapsel  umgeben,  welche 
durch  dünne  Fortsätze  die  Drüsensubstanz  in  durchschnittlich  0,05 
dicke,  meist  senkrecht  stehende  Gruppen  sonderte,  bestehend  aus  einer 
Membrana  propria  und  dicht  gehäuften,  vorwiegend  polygonalen  Epi- 
Ihelien.  Ueber  diesem  Lappen  lag  ein  dichter  Arterienplexus,  welcher 
von  anastomosirenden  Zweigen  der  Basilaris  und  Carotis  gebildet 
wurde,  er  gab  die  Arterienzweige  für  beide  Lappen  der  Hypophysis 
ab ;  seine  Interstitien  wurden  von  tibrillärem  Bindegewebe  ausgefüllt. 
Ein  zweiter  kleinerer  Gefässplexus  fand  sich  zwischen  Ende  des  Lobus 
infundibuli  und  vorderem  Rand  des  Unterlappens  der  Hy{)ophysis  (vergl. 
Taf.  X,  Fig.  3). 

Mittel-  und  Nachhirn  zeigten  bei  beiden  Thieren  im  Verhältniss  zu 
den  Fischen  eine  erhebliche  Reduction,  dafür  hatte  das  Cerebellum  an 
Masse  gewonnen.  Das  Zwischenhirn  war  von  dem  Miltelhirn  an  seiner 
oberen  Fläche  durch  eine  quere  Furche,  an  der  unteren  durch  den  das 
Ende  der  Arteria  basilaris  beherbergenden  Einschnitt  geschieden.  Die 
Basis  des  Zwischenhirns  Hess  die  beiden  Abschnitte,  das  vorne  liegende 
Trigonum  cinereum  und  das  hinten  liegende  Infundibulum  unterschei- 
den. In  die  untere  Wand  des  Trigonum  cinereum  war  ganz  ähnlich 
wie  bei  Petromyzon  das  0,7  hohe,  mit  seiner  oberen  Partie  nach  rück- 
wärts un)gebogene  Chiasma  eingekeilt.  Die  Wandung  des  Trigonum 
cinereum  wurde  dadurch  emporgedrängt  und  seine  Höhle  in  einen  vor- 
deren und  einen  hinteren  Abschnitt  zerlegt.  Der  vordere  zeigte  am 
Boden  unmittelbar  vor  dem  Chiasma  eine  zweilappige  Ausbuchtung 
von  0,3  Länge  bei  0,2  Breite  mit  keilförmig  gestaltetem  Mittelstück  und 
dünner  Wand ,  ganz  ähnlich  der  Ausbuchtung ,  welche  das  Trigonum 
cinereum  vom  Petromyzon  an  der  gleichen  Stelle  zeigt.  Der  hintere 
Abschnitt  der  Höhle  des  Trigonum  cinereum  bildete  in  Folge  der  Krüm- 
mung des  Chiasma  einen  nach  vorne  gerichteten  Recessus  und  stand 
oben  mit  dem  dritten  Ventrikel  in  Conununication.  Die  Communica- 
tionsstelle  war  ein  kurzer  Spalt,  da  das  alsbald  sich  anschliessende  In- 
fundibulum durch  das  Auftreten  einer  Commissur  zwischen  den  vor- 
dersten Abschnitten  des  Mittelhirns  von»  dritten  Ventrikel  getrennt 
wurde.  Der  Uebergang  der  Wandung  des  Trigonum  cinereum  in  jene  des 
Infundibulum  war  ein  continuirlicher ,  die  Höhle  des  ersteren  erfuhr 
jedoch  an  der  Uebergangsstellc  eine  Erweiterung,   durch  welche  das 


2.  l'oIxT  l'.iitwickliiim  iiimI  B.hi  der  ll\pii|ili\sis  und  des  l'iorcssiis  iiiriiiidilMili  ccrchii.    403 

ursprünclich  spaltfönnii^e  Lumen  zu  cintMii  Sinus  von  rhoinbischcin 
Querschnitt  sich  orweitertc.  Das  Infundihuluni  war  1,6  Mm.  breit, 
0,8')  hocli ;  vom  überweisenden  Zwischenliirn  setzte  es  sich  durch  eine 
llacii(>  Furclie  ab,  in  welcher  ein  Arterienzweii^  verhef.  Seine  Wanduns; 
wurde  gebildet  von  einem  unleren  voluminöseren  Abschnitt,  dem  Boden, 
und  einem  oberen,  «lUnneren,  der  Decke.  Ersterer  war  durch  einen 
medianen  bis  nahe  an  (li(^  Pia  herabreichenden  Einschnitt  in  zw(>i  sym- 
metrische lliilften  abgetheilt;  beide  Hälften  stiegen  längs  der  Mittellinie 
steil  empor,  um  hierauf  mit  gegen  die  Höhle  convexem  Boden  lateral- 
wiirls  sich  zu  wenden.  \Vh)v  trafiMi  sie  nn't  den  seitlichen  Partien  der 
Decke  zusammen,  welche  gleichfalls  durch  einen  kurzen  medianen  Ein- 
schnitt in  zwei  symmetrische  Hälften  getheilt  war,  welche  in  gegen  die 
Höhle  convexem  Bogen  lateralwäits  sich  wandten.  Die  Vereinigung  er- 
folgle  unter  spitzem  Winkel,  bn  Verlauf  nach  rückwärts  erweiterte  sich 
die  Höhle  des  bifundibulum  ,  indem  die  Substanzschicht,  welche  die 
lateralwiiits  ausspringenden  Winkel  der  Höhle  von  der  Pia  Schied, 
rasch  sich  verdünnte  und  schliesslich  bis  auf  die  Epithelschicht  aus- 
keille,  während  zugleich  die  Höhe  des  Bodens  stetig  abnahm.  Dadurch 
wurde  der  Zusammenhang  zwischen  Decke  und  Boden  lateralwärts 
unterbrochen.  Die  Decke  selbst  erstreckte  sich  nur  wenig  nach  rück- 
wiirts  von  der  Stelle,  an  welcher  si(!  den  unmittelbaren  Zusanunenhang 
mit  dem  Boden  aufgegeben  hatte  und  hörte  hierauf  mit  steilem  Abfall 
gegen  die  überliegende,  das  Ende  der  Basilararterie  beherbergende  Pia 
auf.  In  Folge  davon  zeigte  der  von  dem  bifundibulum  nach  lückwärts 
sich  erstreckende  Lobus  infundibuli  s.  inferior  eine  rudimentäre  Be- 
schafTenheit.  Seine  Gestalt  war  keilförmig,  seine  Liinge  betrug  1,4, 
seine  Breite  an  der  Abgangsstelle  1,S,  am  Ende  1.  seine  Höhe  1  bezie- 
hungsweise 0,2  Mm.  Er  war  in  ganzer  Ausdehnung  hohl;  seine  Höhle 
besass  eine  ziemlich  gleichbleibende  Höhe  von  0,2  Mm.  Seine  untere 
Wand  bildete  eine  Verlängerung  des  Bodens  des  Infundibulum ;  sie 
nahm  von  vorne  nach  rückwärts  an  Höhe  ab  und  war  in  ganzer  Länge 
durch  einen  medianen  Einschnitt  in  zwei  symmetrische  Hälften  getheilt. 
Sie  erstreckte  sich  bis  zum  vorderen  Rand  der  Hypophysis,  wo  sie  bis 
auf  die  Epithelschicht  sich  auskeilte  und  mit  einem  queren,  die  Gestalt 
eines  dreikantigen  Prisma  von  0,2  Seitenlänge  zeigenden,  mehrere  Ge- 
fässanastomosen  beherbergenden  Bindegewebswulst  zusammenhing. 
Der  niedrigen  hinteren  Wand  lag  der  über  dem  01)erlappen  der  Hypo- 
physis belindiichc  Arlerienplexus  an,  sie  wurde  gleich  der  Decke,  an 
welche  die  untere  Wand  lateralwärts  anstiess,  durch  eine  einfache,  der 
Pia  matiM'  aufsitzende  Epilhcllage  repräsentirt. 

Hinsichtlich  des  Baus  unterschied  sich  der  Boden  des  Infundibulum 


404  Wilhelm  Miiller, 

einigermassen  von  der  Decke,  die  Höhle  wurde  an  beiden  von  cylindri- 
scheni,  mit  Cilien  besetzten  Epithel  ausgekleidet;  an  dieses  sehloss  sich 
am  Boden  eine  Schicht  von  Zellen  an ,  bestehend  aus  runden  Kernen 
von  0,004  mit  sehr  zarten  an  einzelnen  Zellen  nachweisbar  in  einen 
spitzen  Fortsatz  sich  ausziehenden  Protoplasmahöfen.  Zwischen  diesen 
Zellen  verliefen  ohne  regelmässige  Anordnung  äusserst  feine  blasse 
Fibrillen.  Gegen  die  Fia  zu  war  diese  Zellenschicht  umgeben  von  einer 
0,05  dicken  äusserst  feinkörnigen,  einzelne  Kerne  enthaltenden  Ge- 
vvebslage,  welche  eine  feine  radiäre  Streifung  erkennen  Hess.  Beide 
Schichten  erstreckten  sich,  allmälig  bis  zum  vollständigen  Schwund  an 
Höhe  abnehmend,  durch  die  ganze  Länge  des  Infundibulum  und  des 
Lobus  infundibuli.  Die  Decke  des  Infundibulum,  deren  medianer  Ein- 
schnitt im  Verlauf  nach  rückwärts  rasch  sich  verflachte,  bestand  wie 
die  Basis  aus  Zellen  mit  runden,  im  Mittel  0,004  grossen  Kernen  und 
zarten ,  hie  und  da  nachweisbar  in  spitze  Fortsätze  sich  ausziehenden 
Protoplasmahöfen,  diese  Zellen  wurden  aber  durch  dünne  Bündel  fein- 
ster Nervenfasern  in  horizontale  Reihen  angeordnet.  Die  hintere  Wand 
des  Lobus  infundibuli  bestand  lediglich  aus  der  gefässführenden  dün- 
nen Pia  und  dieser  aufsitzendem  Epithel,  welches  im  Verlauf  nach  oben 
von  der  cylindrischen  in  die  quadratische  und  weiterhin  rasch  in  die 
ganz  flache  Form  überging.  Ebenso  wurde  die  ganze  Decke  des  Lobus 
infundibuli  lediglich  von  der  Pia  und  einer  einschichtigen,  dieser  auf- 
sitzenden Lage  ganz  flacher  kernhaltiger  Epithelien  repräsentirt. 

Vergleicht  man  die  Befunde  der  Embryonen  des  Salamanders  und 
Frosches  mit  jenen  der  ausgebildeten  Thiere,  so  ergiebt  sich,  dass 
Hypophysis  und  Lobus  infundibuli  im  Laufe  der  Entwicklung  beträcht- 
liche Modificationen  ihrer  Gestalt  erfahren.  Der  ursprünglich  schief  von 
unten  und  vorne  nach  oben  und  rückwärts  gerichtete  untere  Lappen 
der  Hypophysis  liegt  später  horizontal  in  der  Sattelgrube.  Seine  ur- 
sprünglich nach  oben  und  vorne  umgebogene  Spitze  löst  sich  vollstän- 
dig ab  und  wird  zum  kleineren  Oberlappen  des  Organs;  als  solcher 
liegt  sie  anfänglich  am  hinteren ,  später  am  vorderen  Ende  der  oberen 
Fläche  des  Hauptlappens.  Der  dreikantige  prisniatische  Bindegewebs- 
wulst,  in  welchen  die  Basis  des  Lobus  infundibuli  ausläuft,  liegt  an- 
fänglich über,  später  unmittelbar  vor  dem  Hauptlappen  der  Hypophysis. 
Der  Lobus  infundibuli  steigt  in  früher  Zeit  fast  senkrecht  vor  dem 
Chordaende  herab,  welchem  seine  hintere  Wand  dicht  anliegt.  Sie  ist 
noch  zur  Zeit  des  Ausschlüpfens  aus  dem  Ei  ziemlich  gleich  dick  wie 
der  Boden  upd  von  stark  pigmenthaltigen ,  deutlich  cylindrischen  Epi- 
thelien gebildet.  Ist  das  Ghordaende  atrophirt  und  verlängert  sich  das 
Ende  der  Basilararterie  über  die  Sattellehne  hinaus  nach  vorne,  so  wird 


2.  lieber  Entwicklung  und  Bau  der  Hypophysis  und  des  Processus  inlnndibuli  cerchri.  405 

die  hinlere  Wand  allmälip;  nach  vorne  umgelegt  und  zur  Decke  des 
Lobus  infundihuli.  Ihre  Anhige  erfährt  keine  weitere  Diflei-cnzirung, 
viehuehr  üacht  sich  das  Kpilhel  aUniiilig  vollständig  ab,  wiihivnd  die 
Anlage  der  Basis  unter  Voluinzunahnie  ihre  drei  Gewebsschichlen 
ausbildet. 

Versucht  man,  den  Lobus  infundibuli  s.  inferior  der  Amphibien 
auf  das  entsprechende  Organ  der  Fische  zu  rcduciren ,  so  empfiehlt  es 
sich  zunächst,  die  der  Ily])ophysis  anliegende  ober-  und  unterhalb 
der  Contactstelle  von  einem  Gefässplexus  umgebene  hinteic  Wand 
von  der  übrigen  Substanz  des  Trichterlappens  zu  unterscheidi'n.  loh 
kann  in  ersterer  nach  Lage  und  Beschafienheit  nichts-  Anderes  sehen 
als  das  Analogen  des  Saccus  vasculosus  der  Fische,  welcher  be- 
reits in  dieser  Classe  eine  grosse  Ungleichföi'migkeit  der  Ausbildung 
zeigt.  Vergleicht  man  den  übrigen  Lobus  infundibuli  des  Frosches  mit 
jenem  der  Haie  und  Teleostier,  so  ergiebt  sich  eine  beträchtliche  Rück- 
bildung. Sie  betrifft  den  Theil  des  Lappens,  welcher  mit  der  Decke 
des  Infundibulum  und  den  überliegenden  Hirnstielen  im  Zusanunen- 
hang  steht,  während  der  mit  dem  Tuber  cinereum  zusammenhängende 
Boden  sich  erhält.  In  dieser  Beziehung  erhält  das  Auftreten  der  Aus- 
buchtung, welche  die  Decke  des  Lobus  infundibuli  der  Haie  in  ihrem 
hinteren  Abschnitt  zeigt,  ein  erhöhtes  biteresse,  indem  sie  als  eine  An- 
bahnung der  weiteren  Rückbildung  sich  auffassen  lässl,  welche  l)ci 
den  Amphibien  Platz  gegriffen  hat. 

Aus  der  Classe  der  Reptilien  untersuchte  ich  zw-ei  Chelonier, 
Testudo  graeca  und  Emys  picta.  Die  Hypophysis  lag  bei  beiden  Thieren 
in  der  Sattelgrube  und  war  durch  einen  dünnen  von  der  Sattellehne 
zum  vorderen  Keilbein  sich  erstreckenden  Fortsatz  der  Dura  mater  von 
dem  überliegenden  Zwischenhirn  geschieden.  Ueber  der  hinteren 
Hälfte  der  Drüse  war  dieser  Fortsatz  der  Dura  durchbrochen  ;  es  er- 
streckten sich  hier  Ausläufer  der  Drüsensubstanz  gegen  den  Boden  des 
bifundibulum,  einen  gegen  die  Umgebung  nicht  scharf  sich  abgrenzen- 
ilen  oberen  Lappen  darstellend.  Das  vordere  Ende  der  Drüse  reichte 
bis  nahe  an  das  Chiasma,  das  hintere  lag  unter  dem  Ende  des  Proces- 
sus infundibuli.  Der  obere  Lappen  des  Organs  war  flach,  von  geringer 
Dicke  und  Länge;  er  bestand  aus  spärlichen  schlauchförmigen,  vor- 
wiegend von  polygonalen  Epithelien  erfüllten  Drüsengängen  mit  reich- 
licher interstitieller  Bindesubstanz.  Letztere  war  Trägerin  eines  mäch- 
tigen Plexus  dünner  Arterienzweige ,  an  welchem  sich  sow  ohi  Aeste 
der  Carotiden  als  der  Basilararterie  betheiligten.  Von  diesem  Plexus 
aus  traten  Zweige  in  grüsseier  Zahl  mit  zum  Theil  parallelem  Verlauf 
in  eine  hilusartige  Verliefung  der  obereu  Fläche  des  Hauptlappens  (vgl. 


406  Wilhelm  Müller, 

Taf.  X,  Fig.  4).  Dieser  besass  eine  bindegewebige  0,02  dicke  Kapsel; 
sie  stand  durch  zahlreiche  feine  Forlsätze  mit  den  die  Gefässe  umspin- 
nenden Bindesubstanzlagen  im  Inneren  des  Organs  in  Verbindung, 
Das  eigentliche  Drüsenparenchym  bestand  aus  cylindrischen,  etwas  ge-t 
wundenen  Schläuchen  von  0,03  bis  0,07  Dicke.  Sie  waren  umgeben 
von  einer  zarten  Membrana  propria  und  im  Inneren  erfüllt  mit  theils 
cylindrischen  zur  Hülle  senkrecht  gestellten  ,  theils  spindelförmig  oder 
ganz  unregelmässig  gestalteten  Epithelien.  In  der  Mitte  des  Organs 
fand  sich  eine  0.2  hohe,  0,5  lange,  mit  einer  dünnen  durchsichtigen 
Gallerte __erfüllte  Höhle,  welche  von  einer  mehrfachen  Lage  sechsseitiger 
am  freien  Rand  mit  langem  hyalinen  Saum  versehener  Cylinderepilhe- 
lien  ausgekleidet  war.  Die  Inlerstitien  des  Drüsengewebes  waren  erfüllt 
von  ungleich  weiten  zwischen  0,006  und  0,02  im  Durchmesser  schwan- 
kenden Capillaren,  welche  Maschen  von  0,03  bis  0,7  Weite  bildeten. 
Ihr  Blut  sammelte  sich  in  einer  Anzahl  kleiner  in  der  Kapsel  verlaufen- 
der Venenstämme ,  welche  schliesslich  zu  einem  grossen  am  hinteren 
Rand  des  Organs  liegenden  Venenslamm  sich  vereinigten. 

Das  Zwischenhirn  bestand  an  seiner  Basis  aus  einem  vorderen 
Abschnitt,  Trigonum  cinereum,  und  einem  hinteren,  dem  Infundibulum 
mit  dem  rudimentären  Lobus  infundibuli.  Das  Chiasma  lag  am  vorde- 
ren Ende  des  Trigonum  cinereum  und  ragte  über  letzteres  vor;  das- 
selbe war  keilförmig  gestaltet,  seine  Höhle  spallförmig;  sie  stand  oben 
mit  dem  dritten  Ventrikel  in  Verbindung,  unten  zeigte  sie  am  vorderen 
Ende  eine  zweilappige  der  Mitte  des  Chiasma  aufsitzende  Ausstülpung 
von  0,5  Länge  bei  0,08  Weite.  Das  Infundibulum  stellte  eine  Verbrei- 
terung des  Trigonum  cinereum  dar,  welche  von  dem  überliegenden 
Zwischenhirn  durch  eine  seichte  Furche,  in  welcher  jederseits  ein  Zweig 
der  Arieria  basilaris  verlief,  sich  abgrenzte.  Die  spaltarlige  Höhle  des 
Trigonum  cinereum  erweiterte  sich  beim  Uebergang  in  das  Infundibu- 
lum zu  einem  Ventrikel  von  0,8  Höhe  und  ebensoviel  Breite.  Dieser 
stand  vorne  durch  einen  0,1  weiten  Gang  mit  dem  dritten  Ventrikel  in 
Communication,  wurde  aber  alsbald  durch  eine  0,5  mächtige  Decke 
von  ihm  geschieden.  Nach  rückwärts  verlängerte  er  sich  in  die  Höhle 
des  Processus  infundibuli.  Die  Wandung  des  Infundibulum  bestand 
aus  der  Decke,  den  Seilenwänden  und  dem  Boden.  Die  Decke  wurde 
gebildet  vom  Epithel  und  einer  mehrfachen  Lage  dicht  stehender  Zellen 
mit  runden  Kernen  und  zarten  in  einen  spitzen  Forlsalz  sich  verlän- 
gernden Protoplasmahöfen,  darüber  lag  eine  0,16  dicke  Schichte  feiner 
quer  verlaufender  Nervenprimitivfasern.  Die  seillichen  Wände  ver- 
schmälerten sich  im  Verlauf  nach  abwärts,  sie  waren  gebildet  von  dem 
Epithel,   einer  an  dieses  sich  anschliessenden  Zellenschichl  und  einer 


2.  Ueber  Kiitwickliing  imd  \h\\  dei'  Hypopliysis  und  des  I'rooossiis  iiiCniidihiili  cerohri.   407 

miichliesen  periphorischen  Lage  feinkörniger,  durch  fadenförmige  Aus- 
liiufer  der  Zellenschiclit  in  radiärer  Hichlung  fein  gestreifter  Substanz. 
Der  Boden  des  Infundibiilum  war  gegen  die  Höhle  emi)orge\vöIbt  und 
hihh^te  einen  nach  den  Seiten  steil,  nacli  vorne  und  rückwärts  sanfter 
abfallenden  Vorsprung.  Er  war  durch  einen  medianen  massig  tiefen 
Einschnitt  in  zwei  symmetrische  Hälften  getheilt.  Die  Epithelschicht 
setzte  sich  über  seine  ganze  oliere  Fläche  fort;  sie  war  sehr  entwickelt, 
die  (Muzelnen  Zellen  cylindrisch ,  bis  0,05  lang,  mit  0,01  langen  Cilien 
versehen;  die  Zellenschicht  der  seitlichen  Wände  griff  nur  von  den 
Seiten  her  mit  dünnen  Ausläufern  auf  den  Hoden  über.  Die  Hauptmasse 
des  letzteren  wurde  gebildet  von  der  Pia  mater,  in  welcher  ein  mäch- 
tiger, aus  kleinen  Arterien  und  Capillaren  bestehender  Gefässplexus 
sich  entwickelt  hatte,  von  welchem  aus  an  den  unten  anliegenden  obe- 
ren und  weiterhin  an  den  Hauptlappen  der  Hypophysis  zahlreiche  Aesle 
mit  zum  Th(Ml  parallelem  Verlauf  abgingen.  Nach  rückwärts  verlängerte 
sich  das  Infundibulum  in  den  einen  kurzen  1  Mm.  hohen,  1,'i-  Mm. 
breiten  Fortsatz  darstellenden  Processus  infundibuli,  welcher  dicht 
unter  dem  Ende  der  Basilararterie  die  Zwischenhirnbasis  verliess.  Er 
lag  der  hinteren  Hälfte  der  oberen  Fläche  des  Ilauptlappens  der  Hypo- 
physis dicht  an  und  war  durch  das  Operculüm  der  Sattelgrube  in  seiner 
Lage  bef(\stigt.  Seine  Wand  bestand  aus  drei  Schichten  :  einer  cylin- 
drischen  Epithellage,  einer  mehifachen  Lage  von  Zellen  mit  rundem 
Kern  und  zartem  Protoplasmakörper  und  einer  peripherischen  Lage 
einer  feinkörnigen  in  radiärer  Richtung  fein  gestreiften  Substanz. 

Der  wenig  voluminöse  Oberlappen  der  Hypophysis  der  Reptilien 
stimmt  in  seiner  Beziehung  zu  dem  Hauptlappen,  namentlich  aber  in 
seiner  Beziehung  zu  dem  überliegenden  Arterienplexus  mit  dem  über- 
lappen der  Hypophysis  der  Amphibien,  weiterhin  aber  mit  der  zungen- 
förmigen  Verlängerung  überein,  welche  die  Hypophysis  der  Haie  und 
Rochen  zur  Zwischenhirnbasis  entsendet.  Das  Infundibulum  und  seine 
Verlängerung  zum  Processus  infundibuli  zeigen,  verglichen  mit  den 
Befunden  der  Amphibien  und  Fische,  eine  erhebliche  Reduction.  Diese 
betrifft  den  Processus  infundibuli  in  ungleich  höherem  Grade  als  das 
Infundibulum.  In  der  verdünnten  Stelle  am  Boden  des  letzteren,  welche 
dem  mächtig  entwickelten  Gefässplexus  der  Pia  mater  anliegt,  sehe  ich 
das  Analogen  des  Saccus  vasculosus  der  Fische,  welcher  in  modificirter 
Form  ,  aber  mit  seinen  wesentlichen  Attributen  sich  vererbt  hat.  Der 
Processus  infundibuli  der  Reptilien  lässt  sich  betrachten  als  hervor- 
gegangen aus  einer  weiter  als  bei  den  Amphibien  vorgeschrittenen 
Reduction.  durch  welch(>  Boden  und  Decke  dieses  bei  den  Fisclien  hoch 
entANickeilcn  Hirntheils  gleichmäs»ig  betroffen  worden  sind. 

Bd.  VI.    3,  28 


408  Wilhelm  Müller, 

Aus  der  Classe  der  Vögel  urilersuchle  ich  Columba  livia.  Die 
Hypophysis  lag  bei  diesem  Thier  in  der  Sattelgrube  und  wurde  von 
dem  überliegenden  Zwischenhirn  durch  das  dünne  knöcherne  Oper- 
culurn  der  Sattelgrube  geschieden.  Dieses  war  gleich  dem  Operculum 
der  Schildkröten  durchbrochen ;  durch  die  Lücke  erstreckte  sich  der 
Processus  infundibuli  zum  hinteren  Ende  der  Hypophysis  und  von  der 
oberen  Fläche  der  letzteren  der  rudimentäre  Oberlappen  zum  Boden 
des  Infiindibulum.  Der  letztere  hing  mit  einer  Anzahl  parallel  verlau- 
fender, durchschnittlich  0,2  weiter  Arterienzvveige,  welche  vom  Boden 
des  Inl'undibulum  aus  senkrecht  zum  Hauptkörper  der  Hypophysis  ver- 
liefen, innig  zusanunen  und  wurde  gebildet  von  einer  Anzahl  cylindri- 
scher,  den  Arterien  parallel  verlaufender  Drüsenschläuche  von  0,0^  — 
0,05  Dicke.  Sie  bestanden  aus  einer  zarten  Membrana  propria  und 
waren  erfüllt  von  theiis  quadratischen,  theils  polygonalen,  hie  und  da 
deutlich  cylindrischen  Zellen,  welche  mit  den  Epithelien  im  unteren 
Lappen  übereinstimmten  (vergl.  Taf.  X,  Fig.  5.  c). 

Die  Hypophysis  selbst  war  umgeben  von  einer  dünnen  binde- 
gewebigen Kapsel  und  zeigte  an  ihrer  oberen  Fläche  eine  seichte  hilus- 
artige  Einbuchtung.  Das  Parenchym  wurde  gebildet  von  zum  kleinen 
Theil  annähernd  kugeligen ,  zum  grösseren  Theil  in  die  Länge  gezoge- 
nen ,  etwas  gewundenen,  mehrfach  anastomosirenden  Schläuchen  von 
0,Oli  —  0,04  Durclimesser.  Sie  bestanden  aus  einer  zarlen  Membrana 
propria  und  wuiden  erfüllt  von  meist  quadratischen  und  polygonalen, 
an  den  dickeren  Schläuchen  cylindrischen,  senkrecht  zur  Hülle  gestell- 
ten Epilhelien  mit  grossem  runden  Kern  und  zarlem  Protoj^lasmakörper. 
Einzelne  der  Drüsenschläuche  zeigten  im  Inneren  ein  schmales  rund- 
liches Lumen,  welches  regelmässig  einen  gelblichen,  mattglänzenden 
Gallertkörper  enthielt.  Die  Inlerstitien  der  Drüsensubstanz  wui'den 
ausgefüllt  von  netzförmiger  Bindesubstanz  und  Gefässen.  Letztere  tra- 
ten mit  zahlreichen  parallel  veilaufenden  Arlericnzweigen  ,  welche  von 
einem  am  Boden  des  Infundibulum  liegenden  Plexus  stanunten,  iti  der 
oberen  Fläche  des  Organs  ein  und  verbreiteten  sich  divergirend  in  letz- 
terem; sie  lösten  sich  in  ein  Capillarnetz  auf,  w'elches  mit  rliombischen 
Maschen  von  0.02  bis  0,0}  Weite  die  Drüsenschläuche  umspann.  Sie 
sammelten  sich  in  Venen,  Vselche  in  einen  lockeren  am  Boden  der  Sat- 
telgrube und  zu  deren  Seilen  befindlichen  Plexus  sich  ergossen. 

Die  Basis  des  Zwischenhirns  schloss  sich  an  die  am  Boden  des 
Mittelhirns  befindlichen  llirnschenkel  unter  nahezu  rechtem  Winkel  an. 
Sie  zerfiel  wie  bei  den  Reptilien  in  einen  vorderen  Abschnitt,  Trigonum 
cinereum,  und  einen  hinleren,  das  hifundilnilum.  Das  Trigonum  cine- 
reum  lag  über  und  vor  dem  Chiasma ,  seine  Höhle  war  spallföiniig  und 


2.  lieber  Eiihvieklmiti  und  Bau  der  Hypopliysis  iiiul  des  Processus  iuriiiidibiili  ceicliri.  409 

zoiiitt'  nin  Hodoii  eine  z\\('il;ippigo  AiisIuicIiIiiiil;  mit  kciiroiiiiii^eiii  Mit- 
lolstück.  Der  Grenze  zwischen  Trigonuni  cinercuni  und  Infundibiiluni 
lii|2;  das  niächlic;e  Chiasma  an;  es  waren  jedoch  beide  Abschnitle  hier 
viel  weniger  geschieden  als  l^ei  irgend  einer  der  bisher  gesciiilderlen 
Wirbelthierclassen.  Das  Infundibuluni  Hess  eine  Decke,  einen  Boden, 
zwei  scMtliche  und  eine  hinlere  Wand  unterscheiden.  Die  Decke  hing 
niil  dem  übrigen  Zwischenhirn  conlinuirlicli  zusainnien  und  wai"  (hnxli 
("ine  spailartige  Verlängerung  der  Höhle  des  Infundibuluin  <Mne  Strecke 
weil  in  zwei  synunelrische  Hälften  zerlegt.  Der  Boden  war  dünn,  0,1 
bis  0,2  in)  Durchmesser.  Die;  ihm  anliegende  Pia  beherbergte  einen 
von  ZwiMgen  der  Carotiden  und  der  Basilararterie  gebildeten  Arlerien- 
jtiexus,  gegen  weichen  sich  der  rudimentäre  01)eilap])(>n  d<M-  II>)j)oph)- 
sis  erstreckte.  Die  Adventilia  der  Arterien  war  reich  an  Lynphkürpern. 
Die  seitlichen  Wände  verjüngten  sich  im  Verlauf  nach  abwärts,  sie 
gingen  vorne  ohne  schaife  Grenze  in  die  seitlichen  Wände  des  Trigo- 
num  cinereum,  rückwärts  in  die  hintere  Wand  des  Infundibuluni  übei". 
An  ihrer  Aussenfläche  verliefen  die  mächtigen  Tractus  nervi  optici.  Die 
hintere  Wand  war  gleich  dem  Boden  dünn  und  erstreckte  sich  schief 
von  unten  und  vorne  nach  oben  und  rückwärts,  um  dicht  vor  der  Ab- 
gangsstelle der  beiden  Nervi  oculomotorii  unter  nahezu  rechtem  Winkel 
an  die  Hirnstiele  sich  anzuschliessen.  Das  Infundibuluni  besass  eine 
mediane  Höhle.  Sie  begann  in  dessen  Decke  als  ein  medianer  Spalt 
und  erweiterte  sich  im  Verlauf  nach  abwärts  zu  einem  Hohlraum  von 
(),S  Länge  bei  0,-3  Breite  bei  elliptischem  Querschnitt.  Sie  hatte  unten 
einen  kurzen  von  dem  Boden  und  den  untersten  Abschnitten  der  seit- 
lichen Wände  begrenzten  Anhang  von  vorne  rhombischem,  im  Verlauf 
nach  rückwärts  sich  abrundendem  Querschnitt,  mit  welchem  sie  durch 
einen  schmalen  Spalt  coinmunicirte.  Sie  stand  nach  vorne  mit  der 
Höhle  des  Trigonum  cinereum,  nach  rückwiirls  mit  jener  des  Processus 
infundibuli  in  ununterbrochener  Verbindung.  Letzterer  entsprang  an 
dei'  Grenze  zwischen  Boden  und  hinterer  Wand  als  ein  walzenföiniiger 
Anhang  von  1,2  Mm.  Länge  bei  0,7  Dicke  und  erstreckU!  sieh  nach 
rück-  und  abwärts  zur  oberen  Fläche  der  Hypophysis.  Kr  war  in  gan- 
zer Ausdehnung  hohl,  die  Höhle  war  auf  dem  Querschnitt  birnförmig, 
0,:}.'j  hoch,  oben  0,0o,  unten  0,2  weit,  durch  eine  eben  wahrnehmbare 
Vorwölbung  der  Basis  leicht  zweilappig. 

Der  feinere  Bau  des  Bodens  und  der  unteren  Partieen  der  seillichen 
Wände  des  Infundibuluni,  sowie  jener  des  Processus  infundibuli  waren 
von  dem  bei  den  Cheloniern  beobachteten  wenig  verschieden.  An  das 
cylindrisclie  Kpithel,  welches  die  Höhlen  auskleidete,  schloss  sich  eine 
an  den  Seilenwänden  des  Infundibuluni   und   im  Verlauf  des  Processus 


410  Wilhelm  Müller, 

infundibuli  mehrfache,  am  Boden  des  Infundibulum  gegen  die  Mitte  zu 
sich  verdünnende  Lage  von  Zellen  an.  Sie  waren  zum  Theil  durch 
Gruppen  feinster  Nervenfasern  in  parallele  Reihen  zerlegt  und  l>estan- 
den  aus  runden  Kernen  mit  sehr  zarten  Protoplasmahöfen ,  welche  an 
einem  Theil  der  Zellen  nachweisbar  in  schmale  Fortsätze  gegen  die  Pe- 
ripherie zu  ausgezogen  waren.  Daran  schioss  sich  eine  ziemlich  mäch- 
tige feingranulirte,  durch  Ausläufer  der  Zellen  in  radiärer  Richtung 
deutlich  gestreifte  Rindenschicht.  Am  Processus  infundibuli  enthielt 
letztere  Schicht  eine  ungewöhnliche  Menge  Iheiis  rundci-,  theils  ellipti- 
scher Kerne. 

Aus  der  Classe  der  Säugethiere  habe  ich  den  Menschen  auf  ver- 
schiedenen Altersstufen  untersucht. 

Bei  dem  Neugeborenen  verlängert  sich  die  vordere  Partie  der  Hy- 
pophysis  zu  einem  dünnen  cylindrischen  Fortsatz  von  0,4  Mm.  Durch- 
messer, welcher  längs  der  vorderen  Fläche  des  Processus  infundibuli 
gegen  das  hintere  Ende  des  Chiasma  sich  erstreckt.  Dieser  Fortsatz 
enthält  eine  Anzahl  parallel  verlaufender  0,01)  —  0,1  dicker  Arterien, 
zwischen  deren  bindegewebigen  Adventitien  schmale  gestieckt  ver- 
laufende, cylindrische  Drüsenschläuche  von  0,012  —  0,02  eingesprengt 
sind.  Diese  Schläuche  bestehen  aus  einer  dünnen  Menibrana  propria 
und  sind  im  Inneren  erfüllt  von  meist  quadratischen  Epithelien  von 
durchschnittlich  0,000  Seitenlange.  Sie  gehen  am  unleren  Ende  über 
in  die  theils  kurzen,  der  Kugelform  sich  annähernden,  zum  grössten 
Theil  in  die  Länge  gezogenen  Schläuche,  welche  das  Drüsenparenchym 
conslituiren.  Ihre  Dicke  betrügt  0,016  —  0,04,  sie  bestehen  gleichfalls 
aus  Membrana  propria  und  Epithel.  Die  Mehrzahl  der  Schläuche  ist 
solid,  einzelne  besitzen  ein  schmales  centrales  Lumen.  Am  hinteren 
Umfang  der  Drüse  nahe  ihrer  Berührungsfläche  mit  dem  Trichteifortsatz 
finden  sich  einzelne  bis  0,li  lange  und  0,1  breite  Hohlräume,  welche 
von  kurzem  Cylinderepithel  von  0,000  Länge  bei  0,001  Dicke  ausge- 
kleidet und  mit  durchsichtiger  Flüssigkeit  gefüllt  sind.  Ich  zweifle 
nicht,  dass  dieselben  in  ähnlicher  Weise,  wie  dies  beini  Schaf  sich  ver- 
folgen lässl ,  aus  Resten  der  ursprünglichen  Ilypophysenanlage  hervor- 
gehen. Die  Interstitien  der  Drüsensubstanz  werden  eifüllt  von  Gefässen 
mit  einer  lockeren  bindegewebigen  Adventitia.  Die  vorwiegend  am 
oberen  Umfang  der  Drüse  eintretenden  Arterien  lösen  sich  in  ein  Capil- 
larnetz  auf,  welches  mit  rhombischen  Maschen  die  Drüsenschläuche 
umspinnt.  Die  Gapillaren  sammeln  sich  zu  Venen,  welche  vorwiegend 
am  unteren  Umfang  der  Drüse  austreten ;  sie  ergiessen  sich  zum 
grössten  Theil  in  einen  am  Boden  der  Satlelgrube  befindlichen  Venen- 
plexus,    welcher  durch  seitliche  Ausläufer  mit  dem  Sinus  cavernosus  in 


2.  Ueber  Entwicklung  und  Bau  der  Hypopliysis  und  des  Processus  iiifundibuli  cerebri.  411 

Vcrl)indung  sieht.  Dieser  Vcncnplexus  ist  bisweilen  in  ziemlicher  Mäch- 
ligkeit  enl^^ iekell  und  in  einer  Grube  des  Keilbeins  gelagert;  in  dieser 
Torrn  ist  er  von  Landzert  beschrieben  und  irrthünilichervveise  mit  ei- 
nem Rest  des  ursprünglichen  Hypophysengangs  in  Zusammenhang  ge- 
bracht worden. 

Der  der  hinteren  Fläche  der  Hypophysis  anliegende  Processus  in- 
fundibuli  zeigte  eine  Länge  von  6 — 8  Mm.;  seine  Dicke  betrug  im  obe- 
ren Theil  seines  Verlaufs  0,8,  sein  Ende  war  kolbig  verdickt  bis  zu 
einem  Durchmesser  von  2  Mm.  Der  ganze  peripherische  Abschnitt  er- 
wies sich  solid ,  nur  an  der  Abgangsslelle  erstreckte  sich  ein  kurzer 
blind  endigender  Ausläufer  derTrichlerhöhle  in  den  Fortsatz.  Er  erwies 
sich  allenthalben  gebildet  von  zum  kleineren  Theil  rundlichen ,  zum 
grösseren  spindelförmigen  Zellen  mit  elliptischen  Kernen  von  0,005 
Dicke  bei  0,01  T)  Länge  und  tlieils  feinkörnigem,  theils  längsstreifigem 
umhüllenden  Protoplasmakörper.  Diese  Zellen  waren  zu  förmlichen 
Bündeln  vereinigt,  welche  ähnlich  jenen  eines  Spindelz(>llensarkoms 
vielfach  sich  durchkreuzten.  Von  der  umgebenden  Pia  aus  erstreckten 
sich  Gefässe  durch  die  ganze  Dicke  des  Trichterfortsatzes  unter  Bildung 
eines  lockeren,  vorwiegend  in  rhombischen  Maschen  angeordneten  Ca- 
pillarnetzes. 

Bei  dem  vierjährigen  Menschen  fand  ich  die  Verhältnisse  wonig 
verändert;  der  schmale  Fortsatz,  welchen  die  Drüse  von  ihrem  oberen 
Umfang  aus  gegen  das  Chiasma  hin  entsandte,  war  auch  jetzt  in  einer 
Di(;ke  von  0,4  längs  der  vorderen  Fläche  des  Trichterforlsatzes  nach- 
weisbar. Die  Drüse  bestand  wie  früher  aus  theils  kürzeren,  theils  län- 
geren epithelführenden  Schläuchen  von  0,01 — 0,04.  Der  Processus  in- 
fundibuli  maass  10  Mm.  in  der  Länge,  seine  Dicke  betrug  am  Anfang  1, 
am  Ende  2,5  Mm.  Die  Menge  fibrillären  Bindegewebes  in  seiner  Sub- 
stanz war  beträchtlicher  als  früher. 

Auch  bei  dem  Erwachsenen  findet  sich  constant  ein  schmaler  Aus- 
läufer der  Drüse ,  welcher  sich  längs  der  vorderen  Fläche  des  Trichter- 
fortsatzes bis  nahe  an  das  Chiasma  erstreckt.  Er  führt  zahlreiche 
schmale  Arlerienzweige  mit  bindegewebiger  Advenlitia  und  zwischen 
diesen  eine  Anzahl  gestreckt  verlaufender  0,015  —  0,03  dicker,  von 
quadratischen  Epithelien  erfüllter  Schläuche.  Sie  setzen  sich  fort  in  die 
Schläuche,  welche  das  Parenchym  der  eigentlichen  Drüse  bilden.  Letz- 
tere sind  theils  kurz,  der  kugeligen  Form  sich  annähernd,  zum  grösse- 
ren Theil  sind  sie  stets  in  die  Länge  gezogen  ,  etwas  gew  unden  und 
hie  und  da  untereinander  in  Verbindung.  Ihr  Durchmesser  wechselt 
zwischen  0,016  und  0,06.  Sie  werden  umhüllt  von  einer  zarten  Mem- 
brana pröpiia  und  enthalten  im  Inneren  Epithelien.  Diese  sind  stets  an 


412  WillieliB  Müller, 

Grösse  und  Forpi  sehr  verschieden.    Ein  Theil  der  peripherisch  liegen- 
den  gleicht  kurzen  Cylinderepithelien  ,    sie    sind  0,00i 0,006  dick, 

0,008 — 0,01  4  lang,  ein  anderer  Theil  ist  mehr  conisch  oder  quadratisch, 
die  mehr  central  liegenden  sind  theils  polygonal,  theils  ganz  unregel- 
mässig gestaltet;  ihr  Durchmesser  schwankt  zwischen  0,006  und  0,01  4, 
sie  besitzen  einen,  selten  zwei  rundliche  Kerne  von  0,004 — 0,008  und 
einen  zarten  Protoplasmakörper  ohne  deutliche  peripherische  Verdich- 
tung. Diese  Zellen  erfüllen  die  Schläuche  theils  vollständig,  theils  las- 
sen sie  ein  schmales  centrales  Lumen  von  0,01 — 0,015  frei,  in  welchem 
in  der  Regel  gelbliche  CoUoidmassen  enthalten  sind.  Da  die  Zellen  in 
der  Umgebung  dieser  CoUoidmassen  von  jenen  der  übrigen  Hypophysis 
nicht  verschieden  sind ,  halte  ich  das  Colloid  für  das  Resultat  einer 
Eindickung  des  gewöhnlichen  Secrets  der  Epithelien.  Nahe  der  hin- 
teren Fläche  der  Drüse  finden  sich  constant  grössere  makroskopisch 
wahrnehmbare  Hohlräume,  welche  im  Innern  theils  Flüssigkeit,  theils 
CoUoidmassen  führen.  Sie  sind  von  kurzem  Cylinderepithel  ausgeklei- 
det, welches  in  einzelnen  Fällen  Cilien  führt.  Die  Interstitieu  des  Drü- 
sengewebes werden  von  den  Gefässen  erfüllt  mit  der  sie  einscheiden- 
den lockeren  Adventitia.  Die  Arterien  treten  mit  zahlreichen  Zweigen 
am  oberen  Ende  des  Organs  ein  ;  sie  stammen  aus  einem  ziemlich  rei- 
chen, am  Boden  des  Infundibulum  liegenden  Plexus  zwischen  Zweigen 
der  Carotiden  und  der  ßasilararterie.  Daneben  erhält  die  Hypophysis 
mindestens  sehr  häufig  einen  kleinen  Arterienzweig,  welcher  von  unten 
her  das  Keilbein  durchsetzt ;  ich  vermuthe,  dass  es  ein  Ast  der  Arteria 
pharyngea  ascendens  ist.  Die  Arterienzweige  gehen  im  hineren  der 
Drüse  in  ein  Netz  0,01  —  0,02  weiter  Capillaren  über,  welche  mit  Ma- 
schen von  durchschnittlich  0,03  —  0,04  Weite  die  Drüsensubstanz  um- 
spinnen. Die  Venen  ergiessen  sich  in  einen  lockeren  die  Hypophysis  um- 
gebenden Plexus,  welcher  sich  schliesslich  in  die  Sinus  cavernosi  ergiesst. 
Die  Basis  des  Zwischenhirns  schliesst  sich  bei  dem  Menschen 
unter  rechtem  Winkel  an  die  unter  dem  Mittelhirn  liegenden  Hirnstiele 
an.  Der  Anschluss  wird  bewirkt  durch  zwei  neben  der  Mittellinie  lie- 
gende halbkugelige  Vorragungen,  die  Corpora  candicantia,  welche  hier 
nicht  weiter  in  Betracht  kommen  werden.  Die  vor  den  Corpora  candi- 
cantia liegende  Zwischenhirnbasis  lässt  bei  den)  Menschen  und  den 
übrigen  Säugethieren  dieselben  zwei  Abschnitte  wie  bei  den  übrigen 
Cranioten  unterscheiden:  einen  vorderen,  Trigonum  cinereum,  und 
einen  hinteren,  Infundibulum.  Das  Trigonum  cinereum  liegt  gerade 
oberhalb  des  Chiasma  nervorum  opticorum,  sein  Boden  ist  dünn,  0,2 
im  Durchn)esser,  und  mit  der  oberen  Fläche  des  Chiasma  fest  verwach- 
sen,  an  Imbibitionspräparaten  njit  scharfer  Grenze  von  ihr  sich  son- 


2.  lieber  Kiilwirkliiim:  und  Hini  der  Hypophysis  und  des  Prnccssus  infiindibuli  cerebri.  413 

(l(  iikI.  I)i<'  vordero  Wand  steigt  von  dor  vorderen  Fläche  der  weissen 
Commissur  1,5  Mm.  dick  senkrecht  nach  abwärts,  um  in  einer  Entfer- 
nung von  :\  Mm.  olierhalb  des  Chiasmn  angelangt  zu  einem  dünnwan- 
digen,  dreikantigen,  dem  Sporn  eines  Widderschiirs  älinlich  geformten 
Vorsprung  sich  zu  verlängern,  welcher,  allniälig  sich  /Aischärfend,  am 
vorderen  Ende  des  Chiasma  spitz  endigt.  Die  seitlichen  Wände  sind 
verhäUnissmässig  dünn  und  verjüngen  sich  etwas  im  Verlauf  nach  ab- 
wärts. Am  hinteren  Ende  des  Chiasma  geht  das  Trigonum  cinereum  in 
das  Infundibulum  über.  Der  Boden  des  erstoren  biegt  dabei  unter 
rechtem  Winkel  in  die  vordere  Wand  des  Infundibulum  um.  Diese 
verläuft  in  der  Dicke  von  1,8  Mm.  erst  senkrecht  längs  der  hinteren 
Fläche  des  Chiasma  nach  abwärts,  um  an  dessen  unterer  Fläche  schief 
nach  unten  und  vorne  sich  zu  wenden  unter  gleichzeitiger  Verdünnung. 
Die  seitlichen  Wände  des  hifundibulum  werden  von  den  Tractus  nervi 
optici  umfasst,  sie  verdünnen  sich  im  Verlauf  nach  abwärts  und  streben 
von  beiden  Seiten  der  Mittellinie  zu.  Die  hintere  Wand  vereinigt  sich 
3  Mm.  unterhalb  des  Chiasma  unter  spitzem  Winkel  mit  der  vorderen, 
sie  ist  in  ihrem  ganzen  Verlauf  höchstens  halb  so  dick  als  letztere ;  sie 
verläuft  schief  von  unten  und  vorne  nach  oben  und  rückwärts  zunächst 
bis  zum  Niveau  der  unteren  Fläche  des  Chiasma ,  um  sich  von  da  an, 
llacher  ansteigend ,  als  die  dünne  Lamina  posterior  infundibuli  an  die 
Corpora  candicantia  anzuschliessen.  Diese  Lamina  posterior  ist  in  der 
.lugend  stärker  vorgewölbt  als  bei  dem  Erwachsenen.  Sowohl  das  Tri- 
gonum cinereum  als  das  Infundibulum  sind  hohl ,  die  Höhle  beider 
steht  mit  jener  des  dritten  Ventrikels  im  Zusammenhang.  An  der  Ver- 
einigungsstelle der  vorderen  Wand  des  Infundibulum  mit  den  seitlichen 
und  der  hinteren  endet  die  Höhle  spitz ;  die  Wandungen  verlängern 
sich  von  dieser  Stelle  aus  zu  einem  nach  abwärts  und  etwas  nach  vorne 
gerichteten,  an  seinem  Ende  keulenförmig  verdickten  Fortsatz,  dem 
Processus  infundibuli.  Dieser  liegt  der  hinteren  Fläche  der  Hypophysis 
an  und  wird  von  beim  Menschen  verhältnissmässig  kurzen ,  bei  dem 
Hund  langen  seitlichen  Fortsätzen  der  Drüse  hufeisenförmig  umgeben. 
Er  ist  bei  sämmtlichen  Säugethieren  zur  Zeit  der  Geburt  solid ,  aus- 
nahmsweise erhält  sich  zwischen  vorderer  und  hinterer  Wand  ein  schon 
mit  freiem  Auge  sichtbarer  feiner  Spalt  in  verschiedener  Ausdehnung. 
Dieser  Fortsatz  besitzt  eine  graugelbliche  Farbe;  er  geht  in  die  vordere 
Wand  des  Infundibulum  ohne  scharfe  Grenze  über,  in  die  hintere  Wand 
setzt  er  eine  kurze  Strecke  sich  fort,  allmälig  von  oben  nach  unten  sich 
auskeilend;  die  Stelle,  wo  Nervensubstanz  die  hintere  Wand  aus- 
schliesslich bildet,  giebt  sich  für  das  freie  Auge  durch  eine  seichte 
Querfurche  und  eine  Aendcrung  in  der  Farbe  zu  erkennen.     Längs  der 


414  -  Wilhelm  Müller, 

hinteren  Wand  des  Processus  infundibuli  verlaufen  zahlreiche  feine 
gestreckte  Gefässe ,  welche  demselben  gleichfalls  ein  von  der  übrigen 
Wandung  des  Infundibulum  verschiedenes  Ansehen  verleihen.  Von 
diesem  Befund,  welcher  die  Regel  bildet,  weicht  das  Infundibulum  in 
einzelnen  Fällen  insofern  ab,  als  dieObliteralion  der  ursprünglich  durch 
den  ganzen  Processus  infundibuli  sich  erstreckenden  Höhle  auf  einen 
Theil  des  Infundibulum  selbst  übergreifen  kann,  so  dass  dessen  Höhle 
schon  im  Niveau  des  Chiasma  blind  endigt. 

Der  Boden  des  Trigonum  cinereum  und  die  vordere  Wand  des  In- 
fundibulum zeigen  übereinstimmenden  Bau.  Beide  werden  gegen  die 
Höhle  zu  bekleidet  von  kurzem,  mit  Flimmern  versehenem  Cylinder- 
epithel,  darauf  folgt  eine  dünne  Lage  feingranulirter  Substanz  mit  spär- 
lichen runden  und  elliptischen,  zum  Theil  mit  netzförmigen  Proto- 
plasmahöfen versehenen  Kernen;  sie  wird  ])eripherisch  umfasst  von 
einer  mächtigen  Lage  eines  aus  feinen  vielfach  anastomosirenden  Proto- 
plasmafäden gebildeten  Gewebes,  welches  iheils  runde,  theils  elliptische 
Kerne  von  0,004 — 0,006  führt.  An  den  seitlichen  Wandungen  des 
Infundibulum  lassen  sich  die  beiden  inneren  Schichten  gleichfalls  nach- 
weisen; die  äussere  Schicht,  welche  auch  hier  das  beträchtlichste  Volum 
besitzt,  enthält  in  einer  theils  feingranulirten ,  theils  aus  feinen  netz- 
förmig verzweigten  Fibrillen  gebildeten  Kerne  führenden  Grundsub- 
stanz Ganglienzellen  von  mittlerer  Grösse,  meist  in  drei  Fortsätze  aus- 
gezogen und  ist  ausserdem  von  radiär  verlaufenden  feinen  Protoplasma- 
ausläufern der  Epithelien  fein  gestreift.  Die  hintere  zugleich  den  Boden 
bildende  Wand  des  Infundibulum  verhält  sich  insofern  eigenthümlich, 
als  erst  in  einiger  Entfernung  von  dem  spitzen  Ende  der  Höhle  die 
Ganglienzellenschicht  von  den  seitlichen  Wänden  aus  auf  den  Boden 
sich  fortsetzt,  und  zwar  in  einer  von  vorne  und  oben  nach  rückwärts 
und  unten  sanft  absteigenden  Linie.  Dies  wird  durch  den  Umstand 
bedingt,  dass 'der  Boden  des  Infundibulum  eine  Strecke  weit  von  der 
Ansatzstelle  des  Processus  infundibuli  aus  eine  mit  letzterem  gleiche 
Slructur  hat  und  dieser  modificirte  Bau  je  weiter  nach  rückwärts  um 
so  mehr  auf  die  untersten  Schichten  der  hinteren  Wand  sich  beschränkt. 
Der  Bau  dieser  Partie  ist  gleich  jenem  des  Processus  von  eigenthüm- 
licher  Beschaffenheit.  Die  Hauptmasse  bildet  sowohl  beim  Menschen  als 
beim  Schwein  und  Hund  fibrilläres  Bindegewebe,  welches  reich  ist  an 
zwischengestreuten  runden  und  spindelförmigen ,  zum  Theil  selbst 
verästelten  Zellen.  Dieses  ist  in  Bündeln  vereinigt,  welche  ähnlich 
denen  eines  Spindelzellensarkoms  in  verschiedenen  Richtungen  sich 
durchkreuzen.  Dazu  kommen  beim  Menschen  zahlreiche  ziemlich  grosse 
runde  oder  spindelförmige,   zum  Theil  auch  birnförmige  Zellen,  welche 


2.  lieber  Entwicklung  und  Bau  der  llypo|iliysis  und  des  Pioicssiis  inliiiidihiili  ceri'bri.  415 

in  ihrem  Protopiasniii  gelbe  Pigiiienlkörnor  in  grosserer  oder  gciingerer 
Zahl  führen.  Sie  gleichen  den  Zellen ,  welche  in  dci' (llidiioidefi  und 
der  das  verliingcile  Mark  umgebenden  Pia  die  hräunliclie  Färbung  des 
Gewebes  bedingen.  In  dem  sellenen  Falle .  dass  Uesle  der  uisprilng- 
lichen  Höhle  des  Processus  infnndibuli  sich  erhallen,  findet  man  diese 
ausgekleidet  von  kurzem  flimmerndem  Cylin<lerei)ithel.  So  erklären 
sich  die  Beobachtungen  LrsciiKA's,  ^^elcher  Flimmerzellen  als  einen  Be- 
standlheil  des  Processus  infundibuli  angegeben  hat.  Felzlerer  erhält 
von  der  überziehenden  Pia  mater  aus  Gel'iisse ,  welche  in  seiner  Sub- 
stanz ein  sehr  lockeres  Netz  von  unregelmässig  rhombischen  Maschen 
bilden. 

Vergleicht  man  den  Befund,  welchen  die  Hypophysis  (l(>s  Menschen 
bietet,  mit  jenem  der  übrigen  Wirbellhierclassen,  so  ergiel)t  sich,  dass 
das  Organ  mit  all'  seinen  wesentlichen  Attributen  durch  die  ganze 
Ahnenreihe  sich  vererbt  hat.  Es  existirl  kein  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  der  Gestaltung  des  Organs  bei  Myxine  und  jener  J)ei  dem 
Menschen.  Die  vorliegenden  Beobachtungen  gestatten  aber,  dem  Aus- 
läufer, welchen  die  Hypophysis  des  Menschen  gegen  das  Ghiasma  hin 
entsendet,  eine  bestimmte  Bedeutung  zuzusprechen  :  Ich  sehe  in  ihm 
den  Rest  der  zungenförmigen  Verlängerung,  welche  bei  den  Haien  und 
Rochen  an  der  Basis  des  Infundibulum  gegen  das  Chiasma  hin  sich  er- 
streckt und  bei  den  Amphil)ien,  Reptilien  und  Vögeln  zu  einem  bei 
ersteren  scharf,  bei  letzteren  weniger  schaif  von  der  Hauptmasse  des 
Organs  getrennten  Oberlappen  geführt  hat.  Diese  Deutung  stützt  sich 
nicht  nur  auf  die  Gleichartigkeil  der  Lagerung  und  des  Drüsenbaues, 
sondern  namentlich  auch  auf  die  constanten  Beziehungen ,  welche  die- 
ser Ausläufer  durch  die  ganze  Wirbelthierreihe  hindurch  zu  einem  an 
der  Basis  des  Infundibulum  liegenden  Plexus  zwischen  Aeslen  der  Ca- 
rotis und  Basilaris  beibehalten  hat.  Durch  diese  Beziehung  tritt  die 
Hypophysis  in  ein  analoges  Verhällniss  zu  dem  System  der  Carotideu 
und  Schlüsselbeinarterien ,  wie  es  für  die  Schilddrüse  der  höheren 
Wirbellhiere  Platz  gegriffen  hat. 

Vergleicht  nian  den  Processus  infundibuli  des  Menschen  mit  jenen 
der  Reptilien  und  Vögel,  so  ergiebl  sich  eine  vollkommene  Reduction. 
Diese  Reduction  ist  keine  ursprünglich  vorhandene,  die  Ursachen, 
welche  zu  derselben  hinführen ,  werden  vielmehr  erst  gegen  das  Ende 
der  ersten  Hälfte  der  Fölalzeit  wirksam.  Bis  dahin  stellt  der  Processus 
infundibuli  des  Menschen  und  der  Säugethiere  einen  unzweifelhaften 
Hirntheil  dar,  welcher  in  seinem  Bau  mit  jenem  übereiiistinuni,  wie  er 
bei  den  Cyklostomen  und  Reptilien  das  ganze  Leben  hindurch  sich 
erhält.     Die  Rückbildung   erfolgt  in  ähnlicher  Weise ,    wie  ein   durch 


416  Wilhelm  Müller, 

Mangel  der  Erregungsquellen  ausser  Function  gesetzter  Nerve  der  In- 
volution verfällt.  Es  ist  das  die  Gefässe  umgebende,  in  letzter  Instanz 
aus  der  Pia  stammende  Bindegewebe,  welches  mit  dem  Schwund  der 
specifischen  Substanz  in  einen  Zustand  übermässiger  Entwicklung 
geräth  und  letztere  substituirt.  Es  ergiebt  sich  von  selbst,  dass  bei 
dieser  Sachlage  der  von  Virchow  angestellte  Vergleich  des  Processus 
infundibuli  mit  dem  Filum  terminale  des  Rückenmarks  weder  von  Seile 
der  vorgleichenden  Anatomie  noch  der  Entwicklungsgeschichte  eine 
Begründung  findet. 

4.    Seh  luss  folge  run  gen. 

Aus  den  voranstehenden  Beobachtungen  geht  hervor,  dass  die 
Formfolge,  nach  welcher  die  Hypophysis  sich  entwickelt,  bei  allen  Cra- 
nioten  dieselbe  ist.  Von  Einlluss  auf  diese  Formfolge  sind :  das  Zwi- 
schenhirn ,  das  ursprüngliche  vordere  Ende  der  Chorda  ,  die  Basilar- 
arterie  und  die  Carotis  mit  ihren  bindegewebigen  Scheiden ,  endlich 
das  Schlundepithel. 

Das  vordere  Ende  der  Chorda  fällt  ursprünglich  bei  allen  Cränioten 
gleichwie  bei  Amphioxus  mit  dem  vorderen  Ende  des  Leibes  zusammen. 
Oberes  Keimblatt  einerseits,  unteres  andrerseits  hängen  mit  demselben 
ziemlich  fest  zusammen.  Indem  das  vordere  Ende  des  zum  Medullar- 
rohr  theilw^eise  sich  umwandelnden  oberen  Keimblatts  bei  den  Cränio- 
ten das  vordere  Ende  der  Chorda  im  Wachsthum  überflügelt,  wölbt  es 
sich  vor  letzterem  nach  abwärts,  um  die  zukünftige  Zwischenhirnbasis 
zu  bilden.  Dabei  wird  das  vordere  Ende  der  Chorda  leicht  abwärts 
gebogen.  Wächst  es  zu  dieser  Zeit  noch  verhältnissmässig  rasch,  so 
erfährt  es  eine  hakenförmige  Krümmung,  wobei  das  leicht  verdickl<' 
Chordaende  seinen  Platz  zwischen  den  ursprünglichen  Stellen  des  Me- 
duUarrohrs  und  Schlunddrüsenblatts  constant  beibehält.  Die  gegen  die 
Schlundfläche  gerichtete  Krümmung,  welche  bei  den  Haien  die  Gestalt 
eines  scharf  umgebogenen  Hakens  hat,  koumit  bereits  bei  den  Amphi- 
bien in  viel  geringerem  Maasse  zur  Entwicklung  und  wird  bei  den 
Vögeln  und  Säugethieren  auf  einen  flachen  Bogen  reducirt.  Die  Ele- 
mente, welche  das  vordere  Ende  der  Chorda  zusammensetzen,  bleiben 
wenigstens  bei  den  höheren  Cränioten  eine  Strecke  weil  ohne  Diffe- 
renzirung.  Dieser  Abschnitt  verfällt,  sobald  der  Zusaiiuuenliang  zwi- 
schen Chordaende,  Medullarrohr  und  Schlundepithel  gelöst  ist,  einer 
vollständigen  Rückbildung.  Die  Trennung  zwischen  ursprünglichem 
vorderen  Ende  der  Chorda,  Medullarrohr  und  Schlundepitliol  wird 
durch  das  Zwischenwachsen  embryonaler  Bindesubstanz  bedingt,     in 


2.  Ueber  Entwicklung  und  I^aii  der  llypopliysis  und  des  Processus  intdiidibiili  cerebri.  417 

Folge  derselben  liegt  (ins  Chordaende  üllenM"  Embryonen  eine  Strecke 
weit  von  der  Ilyiiophysis  entfernt.  Di<^  l^lnlfernung  ist  zu  einer  Zeit 
eine  beträcluliche,  in  welcher  das  die  Ilypophysenanlage  um!]5ebende 
gefasshaltige  Bindegewebe  erst  sich  anschickt,  die  ursprünglich  einfache 
Anlage  zu  einem  Complex  diüsiger  Gebilde  umzuwandeln.  Ks  kann 
unter  diesen  Umstünden  weder  von  einer  Umwandlung  des  Chorda- 
endes in  die  Substanz  der  Hypophysis  im  Sinne  von  Hkiciikkt  und  IJis 
noch  von  einer  Umwandlung  in  deren  iulcrslitielle  Bindesubstanz  im 
Sinne  von  Dursy  die  Rede  sein. 

Dem  vorderen  Ende  der  Chorda  liegt  in  früher  Zeit  das  Medullar- 
rohr  oberhalb,  das  Schlundepithel  unterhalb  an.  Sobald  das  Herz  und 
mit  ihm  die  ersten  Gefiissanlagen  sich  entwickeln  ,  drängt  sich  sowohl 
beim  Frosch  als  beim  Hühnchen  mit  der  Anlage  der  Verlebrales  und 
ihrer  Verlängerung  als  Basilaris,  welche  den  inneren  Carotiden  um 
etwas  vorauseilen,  eine  Anfangs  sehr  dünne  Schicht  embryonalen  Binde- 
gewebes zwischen  Chorda  und  Medullarrohr  einerseits ,  Chorda  und 
Schlundepithel  andrerseits  ein.  Dadurch  wird  der  Zusammenhang 
zwischen  diesen  Theilen  gelöst  mit  Ausnahme  der  leicht  verdickten 
Chordaspitze,  welcher  beide  Theile  zunächst  noch  anhaften.  Von  dem 
das  Chordaende  seitlich  umgebenden  Bindegewebe  drängt  sich  eine 
dünne  Lamelle  zwischen  die  vordere  Gehirnblase  und  die  kurze  ihr 
anliegende  Strecke  des  Schlundepithels,  sowie  weiterhin  zwischen  vor- 
dere Gehirnblase  und  Hornblatt  ein.  Diese  Bindesubstanz,  welche  ur- 
sprünglich von  den  Arterienadvenlitien  ausgeht,  ist  die  gemeinsame 
Anlage  von  Schädel  und  Hirnhäuten.  Sie  sondert  sich  frühzeitig  in 
einen  Theil ,  welcher  mit  dem  Gefässapparat  des  Centralnervensystems 
in  Verbindung  bleibt  und  die  Anlage  der  weichen  Hirnhäute  bildet, 
und  in  einen  anderen,  welcher  die  Chorda  und  nach  aussen  von  erste- 
rem  das  Gehirn  umwächst,  er  wird  zur  Anlage  der  Dura  und  des  Schä- 
dels. Es  verhält  sich  in  dieser  Hinsicht  die  erste  Anlage  des  Schädels 
mit  der  ersten  Anlage  der  Wirbel  analog,  denn,  wie  His  für  das  Hühn- 
chen mit  Recht  angegeben  hat  und  durch  eine  methodische  Unter- 
suchung von  Froschlarven  aus  frühen  Stadien  sich  bestätigen  lässt, 
stammen  die  ersten  Anlagen  der  Wirbel  nicht  aus  den  Urwirbeln ,  wie 
Rkmak  fälschlich  glaubte,  sondern  aus  den  bindegewebigen  Adventitien 
der  primitiven  Aorten  '). 


1)  Die  Entwicklung  des  Gefässsystems  beim  Krosch  ist  sowolil  boi  Rusconi 
als  bei  Remak  unriclilig  dargoslelll.  Auch  bei  dem  l-rosch  sind  zwei  primitive  Aor- 
ten vorhanden,  weiche  nach  Innen  von  den  Urnierengans^en  nntci  den  Mnskelplat- 
ten  (sog.  Urwirbeln)  liegen  und  erst  secundär  gegen  die  .Mittellinie  rücken  und  dort 
verschmelzen. 


418  Wilhelm  Müller, 

Indem  die  Basilarartorie  in  dei'  Entwicklung  fortschreitet,  wächst 
sie  über  das  Chordaende  hinaus  und  wird  an  ihrer  unteren  Fläche  von 
einer  Lage  embryonaler  Bindesubstanz  in  Form  einer  Scheide  gestützt. 
Letztere  stellt  den  mittleren  Schädclbalken  Hkinrich  Rathke's  dar,  des- 
sen wahre  Bedeutung  zuerst  Emil  Dursy  in  das  richtige  Licht  gestellt 
hat.  Schon  vor  dem  ersten  Auftreten  des  mittleren  Schädelbalken  war 
das  Zwischenhirn  an  der  Stelle,  wo  es  dem  Chordaende  anlag,  in  eine 
flache  Falte  erhoben  worden,  indem  hier  keine  Bindesubslanz  zwischen 
Chorda  und  Medullarrohr  sich  eingedrängt  hatte.  Sobald  der  mittlere 
Schädelbalken  deutlicher  sich  markirt,  drängt  sich  embryonale  Binde- 
substanz auch  hier  ein  und  löst  den  Zusammenhang ;  die  Falte,  welche 
von  dem  Chordaende  und  dem  diesem  noch  anhaftenden  Schlundepithel 
durch  eine  Lage  embryonaler  Bindesubstanz  geschieden  wird ,  ist  die 
Anlage  des  Trichters,  welcher  nun  durch  selbständiges  Wachslhum  bei 
den  verschiedenen  Classen  der  Craniotcn  in  verschiedener  Weise  sich 
weiter  entwickelt. 

Fast  unmittelbar,  nachdem  die  Lösung  der  Verbindung  zwischen 
Medullarrohr  und  Chordaende  erfolgt  ist,  verdickt  sich  die  embryonale 
Bindesubstanz,  welche  zwischen  Chorda  und  Schlundepithel  liegt  und 
seitlich  die  beiden  Anlagen  der  inneren  Caroliden  beherbergt,  dicht 
hinler  dem  Chordaende  zu  einem  flachen  Yorsprung,  welcher  das 
Schlundepithel  vorwölbt.  Dadurch  wird  ein  auf  dem  Sagittalschnill 
dreieckiger  Anhang  der  Schlundhöhle  zu  Stande  gebracht.  Die  vordere 
Begrenzung  dieses  Anhangs  wird  durch  die  dünne  vom  Schlundepithel 
überzogene  Bindegewebslamelle,  welche  sich  längs  des  Zwischenhirns 
heraberslreckt ,  die  hintere  durch  den  gleichfalls  vom  Schlundepithel 
überzogenen  Wulst,  die  seitliche  durch  das  die  Caroliden  umgebende 
Bindegewebe  (die  seilliche  Schlundwand)  bewirkt;  die  Spitze  des  drei- 
eckigen Raums  entspricht  dem  Chordaende,  die  untere  Fläche  wird 
durch  die  Oeftnung  repräsentirt,  durch  welche  der  Anhang  mit  dem 
Schlund  communicirt.  Die  Bindesubstanz ,  welche  das  Schlundepilhel 
dicht  hinler  dem  Chordaende  vorwölbt,  zeigt  die  Beschalfenheit  von 
Schleimgewebe ,  sie  nimmt  rasch  an  Masse  zu  und  drängt  sich  einer- 
seits zwischen  Chordaende  und  Schlundepilhel  ein,  den  Zusammenhang 
zwischen  beiden  lösend ,  andrerseits  wächst  sie  rasch  in  der  Richtung 
nach  unten  und  vorne.  Das  Wachslhum  erfolgt  rascher  an  den  Seilen, 
wo  die  beiden  Caroliden  verlaufen,  als  in  der  Mille,  -was  Rathke  zur 
Aufstellung  seiner  paarigen  oder  seitlichen  Schädelbalken  veranlasst 
hat.  Da  zu  gleicher  Zeil  die  Bindcgewebslamelle,  welche  die  Zwischen- 
hirnbasis  umgiebl,  an  der  Uebergangsslolle  der  hinteren  in  die  untere 
Fläche  des  Zwischenhirns  sich  verdickt,  wird  der  Einc;aniz  zu  dem  unter 


2.  Heber  ßiitwickliiiiß:  und  Ban  der  Hy|iopliysis  und  des  Processus  inriiiidibiili  eerebri.  419 

tlciii  (Mioidiioiidc  lieiicndcn  Aiiliiiiijj;  dor  Schlundhöhlo  von  allen  S<'i(en 
verengt.  Man  erhält  in  Folge  davon  einen  vom  Sclilund(>j)itliel  ans- 
gekleidelen  flachen  Hohlraum,  welcher  din-ch  einen  (Miiz(>n  (lanal  senk- 
leclil  oder  schief  nach  rückwärts  mit  dei-  Schlundliölile  connnunicirl. 
Das  obere  Ende  dieses  Holdraums  liegt  stets  im  vorderen  Umfang  der 
Basis  (\ov  bindegewebigen  Scheide  der  Basilararlerie  (des  mililei-en 
Schüdelbalkens  von  Rathke),  seine;  Gestalt  richtet  sich  nach  der  Beschaf- 
fenheit der  anliegenden  Theile.  Als  allgemeines  Gesetz  lässt  sich  aus- 
sprechen,  dass  seine  Längsachse  um  so  mehr  der  Schädelbasis  |)ni'allel 
veiläuft,  je  weniger  das  Zwischeidiirn  über  das  vordere  CliordacMide 
nach  abwiirts  sich  gewölbt  hat,  je  geringer  mit  andern  Worten  die 
Schädelkrümmung  des  betrettenden  Thieres  ist.  Es  zeigen  sich  dem 
entsprechend  alle  Zwischenstufen  zwischen  der  nahezu  horizontalen 
Lagerung,  welche  dieser  Hohlraum  bei  den  Haien  und  jedenfalls  in  noch 
höherem  Grade  bei  den  Cykloslomen  und  der  nahezu  senkri'chten, 
welche  er  bei  Vögeln  und  Säugelhieien  darbietet.  Dieser  Hohlraum  ist 
die  Anlage  der  Hypophysis,  die  Bindegewebslamelle,  welche  an  dei- 
Uebergangsstelle  der  hintei'en  in  die  untere  Wand  des  Zwischenhirns 
sich  verdickt,  stellt  die  Anlage  des  vorderen,  jene,  welche  dicht  hinler 
dem  Ghoidaende  sich  entwickelt,  jene  des  hinteren  Keilbeins  der  höhe- 
ren Craniolen  dar. 

Sobald  der  Zusanmienhang  zwischen  Chordaspitze  und  Schlund- 
cpithel  gelöst  ist ,  atrophirt  wenigstens  bei  den  höheren  Cranioten  das 
Chordaende  soweit,  als  seine  Zellen  ohne  Diiferenzirung  geblieben 
waren.  Der  Ausführungsgang,  durch  welchen  die  Ilypophysenanlage 
mit  der  Schlundhöhle  in  Verbindung  stand,  wird  durch  stärkere  Ent- 
wicklung der  beiden  dem  vorderen  und  hinteren  Keilbein  der  höheren 
Wirbellhiere  tMilsprechenden  Bindegew ebsmassen  immer  mehr  verengt 
und  schliesslich  zum  Verschwinden  gebracht. 

Noch  während  die  Abschnürung  im  Gange  ist,  nimmt  die  Anlage 
der  Hypophysis  an  Umfang  zu.  Zu  gleicher  Zeit  ist  der  über  ihr  liegende 
Abschnitt  des  Zwischenhirns  in  scuner  Entwicklung  zum  Infundibulum 
begritten.  Beide  werden  durch  die  Bindegewebslamelle  getrennt, 
welche  schon  in  früher  Zeit  von  der  Umgebung  des  Chordaendes  aus 
das  Zwischenhirn  umwachsen  hatte.  Diese  Lamelle  verhält  sich  widi- 
rend  der  Volumzunahme  der  beiden  Organe  bei  den  Cykloslomen  anders 
als  bei  den  übrigen  Cranioten. 

Bei  den  Myvinoiden  ist  die  Entwicklung  des  Zwischenhirns  und 
dem  entsprechend  auch  die  Schädelkrümmung  sehr  gering,  das  Infun- 
(libuhun  entwickelt  sich  zu  einem  dünnwandigen  ttachen  Fortsatz,  die 
vom  ChonhuMide  aus   längs  des  Zwischeidiirns   herabwachsende  Binde- 


420  Wilhelm  Müller, 

gewebslamolle  erhält  sich  und  wird  an  der  Berührungsslelle  mit  dem 
Processus  infundibuli  nur  leicht  vertieft,  sie  entwickelt  sich  zur  Haupt- 
masse des  an  dieser  Stelle  bindegewebig  bleibenden  Schädels.  Der 
dem  Keilbein  der  höheren  Cranioten  entsprechende  hinler  dem  Chorda- 
ende und  an  der  Uebergangsstelle  der  hinleren  in  die  untere  Wand  des 
Zwischenhirns  sich  ausbildende  Bindegewebewulst  bleibt  dünn  und 
stellt  die  verhältnissmässig  unbeträchtliche  Decke  desNasenrachengangs 
dar.  Die  Hypophysis  liegt  horizontal  zwischen  beiden  Lamellen  und 
behält  während  des  ganzen  Lebens  die  Lage  zwischen  unterer  Schädel- 
fläche und  Decke  des  Nasenrachengangs  bei. 

Bei  den  Petromyzonten  ist  insofern  eine  Wanderung  der  Hypophy- 
senanlage gegen  den  Binnenraum  des  Schädels  zu  constatiren,  als  der 
den  beiden  Keilbeinen  der  höheren  Cranioten  entsprechende  auch  hier 
bindegewebig  bleibende  Abschnitt  der  Schädelbasis  eine  beträchtlichere 
Dicke  gewinnt ,  während  der  zwischen  Hypophysis  und  der  Zwischen- 
hirnbasis,  welche  hier  zu  einem  \oluminöseren  Infundibulum  sich  ent- 
wickelt, liegende  Abschnitt  sich  verdünnt.  Die  Hypophysis  liegt  auch 
hier  horizontal  zwischen  den  beiden  Lamellen  des  Schädels,  aber  des- 
sen Binnenraum  näher  als  dessen  unlerer  Fläche. 

Bei  allen  übrigen  Cranioten  entwickelt  sich  der  unlere  die  Ab- 
schnürung der  Hypophysenanlage  bewirkende  Abschnitt  der  an  der 
Zwischenhirnbasis  liegenden  Bindegewebslamellen  zu  mächtigen  Di- 
mensionen ,  der  obere  wird  in  Folge  der  stärkeren  Entwicklung  des 
Infundibulum  und  das  gleichzeitige  Wachsthum  der  Hypophysis  auf 
unbedeutende  Dimensionen  reducirl.  Die  Hypophysenanlage  kommt  in 
Folge  davon  frühzeitig  in  dem  Binnenraum  des  Schädels  zu  liegen  und 
tritt  mit  dem  Infundibulum  oder  einem  Theil  des  letzleren  in  unmittel- 
baren Contact. 

Es  folgt  hieraus,  dass  von  den  Angaben,  welche  Heinrich  Rathkb 
über  die  Entwicklung  der  Hypophysis  gemacht  hat,  soviel  richtig  ist, 
dass  die  Drüsenepithelien  dieses  Organs  Abkömmlinge  des  Schlund- 
epithels sind,  dass  aber  von  einem  Hindurchwachsen  einer  Ausstülpung 
der  Schlundhöhle  durch  die  Schädelbasis  im  Sinne  dieses  Beobachters 
aus  dem  Grunde  keine  Rede  sein  kann,  weil  di«  Anlage  der  Hypophy- 
sis von  vornherein  über  der  Anlage  der  beiden  Keilbeine  oder  ihren 
Aequivalenten  zu  liegen  kommt. 

Wenn  die  Anlage  der  Hypophysis  einen  gewissen  Umfang  erreicht 
hat,  beginnt  die  Umwandlung  des  ursprünglich  einfachen  von  Epithel 
ausgekleideten  Hohlraums  zu  einem  Complex  drüsiger  Gebilde.  Diese 
Umwandlung  erfolgt  unter  gleichzeitiger  Betheiligung  des  Epithelial- 
rohrs  und  des  Gefässsyslems ,   und  zwar  sind  es  Zweige  der  Carotiden 


2.  Heber  Kiitwickliiiiü  und  Bau  dor  Hy|io|tli\sis  niid  des  Pinccssiis  infiiiidibiili  fprobri.  421 

mit  iliioii  hindf'tjPwobiiKMi  Advcnlilicn  ,  \\('lclu'  liici'  in  Hclijiclit  knni- 
mon.  Sio  bedingen  in  der  Wandung  des  Iloliliiunns  eine  An/;ilil  kurzci- 
papillcnförmificr  Vormgiingi'n ,  in  deren  ZwiscIicniiiiiiiK'n  veitlirkt  sich 
das  Kpilhci  und  hildel  zaj)fenföi-niiü;e  Verlängeiungen.  Sie  ^ve^den 
dincli  Verbreiterung  der  gefässfilhrenden  bindegewebigen  Exkrescen- 
zen  alsl)ald  imiwaeliscn  ,  wiiluend  zu  gleicher  Zeil  durch  sliirkere  Er- 
liel)ung  der  lelzleren  der  ursprüngliche  llohhauni  sich  verengt.  Sobald 
diese  Zapfen  eine  gewisse  Lange  erreicht  haben,  werden  sie  durch  seit- 
liche Sprossen  der  unigel)enden  gefiisslührenden  Bindesubstanz  aus  der 
(Kontinuität  des  gemeinsamen  Epithelialrohrs  gesondeil.  Die  schlauch- 
förnu'gen  (Jebilile,  welche  auf  diese  Art  zu  Stande  kommen,  wieder- 
holen ihrerseits  den  Process,  welcher  zu  ihrer  Isolirung  gefidirt  hatte, 
indem  sie  sich  verlängern  und  seitliche  Sprossen  treiben,  welche  von 
der  gefassfährenden  Bindesu])stanz  umwachsen  und  später  abgeschnürt 
werden.  Dadurch  wird  eine  grössere  Anzahl  theils  kürzerer  der  kuge- 
ligen Form  sich  annähernder,  theils  in  die  Länge  gezogencM'  cylindri- 
scher  Schläuche  luM-vorgebiacht,  welche  je  nach  der  nctheiligung  der 
auskleidenden  Epithelschicht  ein  centi'ales  Lumen  besitzen  oder  von 
Epilhelien  gänzlich  erfüllt  wertlen.  Der  die  ursprüngliche  Anlage  dar- 
stellende Hohlraum  wird  frühzeitig  in  Folge  der  Entwicklung  der  blei- 
benden Drüsenelemente  verengt;  er  wird  im  weiteren  Verlauf  entwe- 
der durch  stärkere  Erhebung  der  die  Epithelzapfen  umgebenden  gefäss- 
rüiir<'nden  Bindegewebsleisten  und  l'ntgegenwachsen  bis  zur  Berührung 
zum  Aufbau  der  Drüse  mit  verwendet  und  dadurch  zum  Verschwinden 
gebracht,  dies  ist  der  Fall  bei  Cyklostomen ,  Fischen  und  Ami)hibien, 
oder  es  erhalten  sich  Reste  desselben,  welche  tlann  in  der  Regel  eine 
constante  Lagerung  in  der  ausgebildeten  Drüse  einnehmen;  dies  ist 
dei'  Fall  l)ei  Reptilien,  Vögeln  und  Säugethieren.  Die  ausgebildete  Hy- 
pophysis  zeigt  im  Wesentlichen  denselben  Bau  bei  sämmtlichen  Cra- 
nioten.  Ich  schiiesse  aus  diesem  Umstände,  dass  die  Drüse  ganz  be- 
stimmte Functionen  zu  erfüllen  hat,  welche  mit  der  successiven  Ver- 
\ollkon)mnung  dei-  Organisn)en  nicht  entbehrlich  geworden  sind,  deim 
nur  unter  dieser  Voraussetzung  wird  die  Vererbung  des  Organs  durch 
die  ganze  Ahnenreihe  mit  Beibehaltung  seiner  wesentlichen  Attribute 
\erständlich. 

Der  gleichförmigen  Entwicklung,  welche  die  Hypophysis  sämml- 
licher  Cranioten  zeigt,  steht  eine  sehr  ungleichförmige  Enl^^  icklung  des 
lidundibulum  gegenüber.  Nach  erfolgter  Lösung  des  Zusairunenhaugs 
zwischen  Chordaende  und  Zwischenhirn  beginnt  der  vor  dem  F^nde 
dei-  Basilararlerie  und  ihrer  Scheide  liegende  Abschnitt  der  Zv^  ischen- 
hirnbasis  seine  WanduuL:    zu   \erdicken    und   tzeiien  den    dreieckisen, 


242  Wilhelm  Müller, 

zwischen  Scheide  der  Basilarartei;;ie  (sog.  milUerem  Schädelbalken)  und 
Schiidelbasis  liegenden  Raum  sich  zu  verlängern.  An  beiden  Processen 
nimmt  das  Zwischenhirn  bei  den  einzelnen  Glassen  der  Craniolen  in 
verschiedener  Ausdehnung  und  in  verschiedener  Weise  Antheil.  Bei 
den  Cykloslomen  und  Fischen  beiheiligt  sich  die  ganze  vor  dem  mitt- 
leren Schädelbalken  liegende  Wand  des  Zwischenhirns  an  der  Ent- 
wicklung des  hifundibulum.  Während  aber  bei  ersteren  das  Infundi- 
bulum  entsprechend  der  geringen  Entwicklung  des  ganzen  Gehirns  zu 
einem  Fortsatz  von  verhältnissmässig  einfachem  Bau  sich  verlängert, 
entwickelt  es  sich  bei  den  Fischen  zu  einem  voluminösen  Hirntheil  von 
complicirter  Structur  und  nur  ein  meist  unbedeutender  Abschnitt,  wel- 
cher als  Saccus  vasculosus  constant  zur  Hypophysis  in  Lagebeziehung 
tritt,  bleibt  auf  einer  frühen  Entwicklungsstufe  stehen.  Bei  den  Am- 
phibien tritt  eine  erhebliche  Reduction  ein,  indem  ein  grosser  Theil  der 
ursprünglichen  hinteren  Wand  der  Zwischenhirnbasis  gar  nicht  sich 
verdickt,  sondern  zur  rudimentären  Decke  des  Lobus  infundibuli  wird. 
Bei  den  Reptilien ,  Vögeln  und  Säugethieren  findet  diese  Reduction  in 
fortschreitendem  Maasse  statt,  indem  ein  immer  grösserer  Abschnitt  der 
hinteren  Wand  des  Zwischenhirns  nur  wenig  sich  verdickt  und  nur  die 
Uebergangsstelle  der  hinteren  in  die  untere  Wand  zu  einem  relativ 
immer  unbedeutender  werdenden  Fortsatz,  dem  Processus  infundibuli, 
auswächst.  Das  Wachsthum  des  letzteren  erfolgt  ziemlich  langsam  und 
schreitet  zu  einer  Zeit  noch  fort,  in  welcher  das  ursprüngliche  vordere 
Chordaende  der  Atro])hie  schon  anheimgefallen  ist.  Während  dieser 
Fortsatz  bei  den  Reptilien  und  Vögeln  als  ein  unzweifelhafter  Hirntheil 
das  ganze  Leben  hindurch  persistirt,  erfährt  er  bei  den  Säugethieren 
eine  weitere  Reduction,  indem  sein  specifisches  Gewebe  im  Verlauf  der 
zwiMlen  Hälfte  des  Fötallebens  schwindet  und  durch  Bindesubstanz 
subslituirt  wird. 

Bei  dieser  Sachlage  ist  es  selbstverständlich,  dass  nicht  einmal  für 
die  Säugethiero  und  Vögel  davon  die  Rede  sein  kann,  die  Entwicklung 
des  Processus  infundibuli  aus  mechanischen  Einwirkungen  der  um- 
gebenden Theile,  namentlich  des  Ghordaendes,  abzuleiten,  wie  His 
und  DiiRSY  versucht  haben ,  ganz  abgesehen  davon  ,  dass  eine  solche 
Ableitung  keine  Rechenschaft  für  die  auffallende  Reduction  zu  geben 
vermöchte,  welche  die  Zwischenhirnbasis  im  Verlauf  der  Vervollkomm- 
nung der  Wiibelthiere  erfahren  hat.  Ueber  die  Ursachen  der  Verschie- 
denheit, welche  die  Entwicklung  der  ursprünglich  gleichartigen  Anlage 
der  Zwischenhirnbasis  bei  den  einzelnen  Glassen  der  Granioten  zeigt, 
lassen  sich  zur  Zeit  höchstens  Vermuthungen  aufstellen.  Ich  halte  es 
für  wahrscheinlich,    dass    in   Folge    der    erheblichen   Veränderungen, 


2.  lieber  Hiitwiekliiiiti,  und  liaii  der  ll\,[)iii)liysis  und  des  l'iocessiis  iiifiiiulibuli  cerebii.  423 

Nvolchc  an  den  Einbryonalanlagen  der  höheren  Wirbellhierclassen  ge- 
genüber jenen  der  Gyklostonien  und  Fischen  IVühzeilig  zu  conslaliren 
sind,  Leilungsbahnen  alhnälig  in  Wegfall  gekommen  sind,  deren  Exi- 
stenz das  bedingende  Element  für  die  verhidlnissniässig  hohe  Entwick- 
lung der  Zwisehenhirnbasis  bei  Cykloslonien  und  namentlich  Fischen 
gebildet  hat,  und  dass  diesem  physiologischen  Moment  die  aullal- 
lende  Reduction  zugeschrieben  werden  muss,  welche  di(vser  llirnlheil 
bei  der  sonstigen  Vervollkonminung  dei"  Wirbelthiere  erfahren  hat. 


Erklärung  der  Abbildungen. 

Tafel  IX. 

Fig.  1.  Sagiüaler  LUngssciiriitt  durch  die  Mitte  der  Schädelbasis  eines  Hühnchen- 
embryo vom  dritten  Bebrütungstag.  a  Nachliirn.  b  Zwisciienhirn.  c  Hel- 
ler Saum  an  dessen  Basis,  d  Schlundepilhcl.  e  Arteria  basilaris.  /"Chorda, 
von  der  Anlage  des  Sphenooccipitalknorpels  umgeben,  g  Umgebogenes 
Chordaende ,  mit  seiner  stumpfen  Spitze  gerade  über  dem  dreieckigen 
vom  Schlundcpithel  ausgekleideten  Raum  liegend,  welcher  sich  zur  Ilypo- 
physis  umwandelt.    Ii  Oberkieferfortsatz. 

lig.  2.  Derselbe  Schnitt  von  einem  5  Tage  alten  Hühnerembryo,  a  Zwischenhirn 
und  Nachliirn.  b  Chorda,  c  Atroithirendes  Chordaende,  d  Anlage  des 
Sphenooccipitalknorpels.  e  Arteria  basilaris.  /"  Arteria  carotis,  g  Ober- 
kieferanlage, h  Anlage  des  Präsphcnoidknorpels.  i  Anlage  der  Hypo- 
physis. 

Fig.  3.  Derselbe  Schnitt  von  einem  7  Tage  alten  Hühnerembryo,  a  Arteria  basi- 
laris. b  Anlage  des  Knorpels  der  Sattellehne,  c  Chorda,  d  Zwischenhirn 
mit  dem  sich  verlängernden  Processus  infundibnii.  e  Arteria  carotis. 
/'Anlage  des  Präsphenoidknorpels.  g  Oberkiefer,  h  Bindegewebe  zwischen 
Schlundcpithel  und  Carotis.  /  Ausführungsgang  der  Itypophysis.  /r  Anlage 
der  Hypopbysis. 

Fig.  4.  Derselbe  Schnitt  von  einem  10  Tage  alten  Hühnchenembryo,  a  .\rteria 
basilaris  mit  ihrer  Scheide  (dem  sog.  mittleren  Schädelbalken),  b  Knorpel 
der  Sallellehne.  c  Chorda,  d  Chiasma  norvorum  opticoium.  e  Processus 
infundibuli.  f  Arteria  carotis,  g  Präsphenoidknorpel.  h  Schlumiliöliie. 
i  Ausführungsgang  tier  Hypopbysis.    A;  Hypopbysis. 

Fig.  5.  Derselbe  Schnitt  von  einem  30  .Mm.  langen  Embryo  von  Acanthias  vulga- 
ris, a  Mittlerer  Schädelbalken,  b  Basilararlcrie.  c  Poslsphenoidknorpel. 
d  Chorda,  e  Carotis.  /'Anlage  des  Infundibulum.  gr  Anlage  der  Hypophy- 
sis.    h  Ausführungsgang  der  Hypopbysis  zum  Schlund. 

Fig.  6.  Derselbe  Schnitt  von  einem  12  Cenlimetcr  langen  Embryo  von  Mustclus 
vulgaris,  o  Arieria  basilaris  mit  ihrer  Scheide,  b  Poslspbcnoidalknurpel. 
c  Chorda,  d  Arteria  carotis,  e  Unterer  Theil  der  ilypophysis.  /  Hypopby- 
sis.   g  Infundibulum  mit  der  .Vnlage  des  Saccus  vasculosus. 

Fig.  7.      Feiner  Schnitt  durch  die  Hypopbysis  von  My.vine  glulinosa.    «  Drüsensub- 
stanz.    b  Interstitielles  Bindegewebe  mit  den  Gelassen. 
Bd.  VI.  3.  29 


424  Willielra  Müller, 

Fig.  8.  Querschnitt  des  Schädels  von  Myxine  glutinosa  im  Niveau  der  Hypophysis. 
ä  Schädelwand,  b  Dritter  Ventrikel,  c  Ganglion  nervi  trigemini.  d  Infun- 
dibulum  mit  dem  Processus  infundibuli.  e  Nasenrachengang ,  über  dem- 
selben bei  f  die  Hypophysis. 

Fig.  9.  Längsschnitt  durch  Schädel  und  Gehirn  eines  jungen  Petromyzon  Pla- 
nerii).  a  Schädel.  6  Fortsätze  der  Pia  mater.  c  Ausstülpung  der  Decke  des 
Zwischenhirns  mit  der  darüber  liegenden  Epiphysis.  d  Foramen  Monroi. 
e  Trigonum  cinereum.    f  Inl'undibulum.    ^Hypophysis. 

Fig.  10.  Feiner  Schnitt  durch  die  Hypophysis  von  Scymnus  lichia.  a  Drüscnlumen. 
b  Epithelschicht,     c  Protoplasmafortsätze  der  Epilhelien. 

Tafel  X. 

Fig.  1.     Sagittaler  Längsschnitt  durch  Gehirn  und  Schädelbasis  eines  i  0  Mm.  lan- 
gen Embryo   von  Salamandra  maculata.      a  Unterkiefer  mit  der  Zunge. 
b  Chorda,    c  Anlage  der  Schädelbasis,    d  Hypophysis.    e  Chiasma  nervo- 
rum  opticorum.  /"Lobus  infundibuli.  g  Dessen  rudimentär  bleibende  Decke. 
Fig.  2.     Sagittaler  Längsschnitt  durch  Gehirn,  Hypophysis  und  angrenzenden  Theil 
der  Schädelbasis  einer  35  Mm.  langen  Larve  von  Rana  temporaria.  a  Schä- 
delbasis.     6  Hypophysis.      c  Oberlappen   der   Hypophysis.      d  Chiasma. 
e  Infundibulum.    /■Rudimentäre  Decke  des  Lobus  infundibuli. 
Fig.  3.     Sagittaler  Schnitt  durch  die  Hypophysis  und  den  Lobus  infundibuli  einer 
erwachsenen  Rana  temporaria.    a  Hypophysis.    b  Oberlappen  der  Hypo- 
physis.   c  Chiasma.    d  Lobus  infundibuli.    e  Dessen  rudimentäre  Decke. 
/■Arteria  basilaris.    g  Zweig  der  Art.  carotis.    Beide  bilden  über  dem  Ober- 
lappen der  Hypophysis  einen  Plexus. 
Fig.  4.     Sagittaler  Schnitt  durch  Hypophysis  und  Processus  infundibuli  von  Emys 
picta.    a  Processus  infundibuli.    b  Oberlappen  der  Hypophysis.    c  Hypo- 
physis. 
Fig.  5.     Sagittaler  Schnitt  durch   Hypophysis  und  Processus    infundibuli  von  Co- 
lumba  livia.    o  Processus  infundibuli.    b  Chiasma.    c  Pia  mater  zwischen 
Hypophysis  und  Processus   infundibuli   mit   einem   lockeren  Plexus   von 
Zweigen  der  Art.  basilaris  und  Art.  carotis,    d  Oberlappen  der  Hypophy- 
sis.   e  Hypophysis. 
Fig.  6.     Sagittaler  Schnitt  durch  Schädelbasis,  Hypophysis  und  Processus  infun- 
dibuli eines  Schweinsembryo  von  i 8  Mm.    a  Chorda,  gebogen  durch  die 
Anlage  des  Sphenooccipitalknorpels  verlaufend,      b  Deren   atrophirendes 
Vorderende,    c  Anlage  des  Knorpels  der  Schädelbasis,    d  Arteria  basilaris. 
e  Processus  infundibuli.    /Anlage  der  Hypophysis  mit  Ausführungsgang. 
Fig.  7.     Sagittaler  Schnitt  durch  Schädelbasis,   Hypophysis  und  Processus  infundi- 
buli eines  Schafembryo  von  7  Centimeter  Länge,     a  Chordaende,    b  Knor- 
pelige Schädelbasis,    c  Satteliehne  ,  von  der  knorpeligen  Anlage  der  Schä- 
delbasis durch  einen  Perichondriumstreif  noch  getrennt,    d  Hypophysis. 
e  Processus  infundibuli. 


1)  Bei  dem  erwachsenen  Petromyzon  fluviatilis  liegt  der  unteren  Fläche  der 
Schädelbasis  an  der  Stelle,  wo  sie  die  Hypophysis  beherbergt,  der  Nasenrachengang 
an,  welcher  bei  jungen  Thieren  noch  nicht  entwickelt  ist.  Der  zwischen  hifundi- 
bulum  und  Hypophysis  befindliche  Schädelabschnitt  ist  zugleich  von  beträchtliche- 
rer Dicke. 


3.  r.iii  Fall  von  k^stüuiiitüscui  Adenom  der  llypopliysis.  425 

Fig.  8.  Sagitlalcr  Scluiitt  durch  die  oberste  Partie  der  Hypopliysis  und  des  Pro- 
cessus infuiidibuli  eines  Scliwcinscnibryo  von  18  Ccntimcler  Länge. 
a  Ende  der  Holde  dos  Infundibuiuni.  b  Processus  iiifundibuli,  dessen 
Holde  obliterirt  und  dessen  Wandung  von  Bündeln  vorwiegend  spindel- 
förmiger Zollen  gebildet  wird,  c  Hypopliysis.  d  Deren  Verlängerung  gegen 
das  Chiasma. 

Tafel  XII. 

Fig.  1.  Sagittaler  Schnitt  durch  Schädel  und  Gehirn  einer  eben  aus  dem  Ei  ge- 
schlüpften Froschlarve  von  5  Mm.  Liingc.  a  Unterkiefer,  ü  Herz, 
c  Schlundepithel,  rf  Chorda,  e  Anlage  der  Schädelbasis.  /"Gehirn.  9  An- 
lage des  Lobus  infundibuli. 

Fig.  2.  Schnitt  durch  Schädel  und  Gehirn  einer  Larve  von  Rana  temporaiia  von 
10  Mm.  Länge,  a  Unterkiefer,  b  Schkindepithel.  c  Chorda,  d  Anlage 
der  Schädelbasis,  e  Gehirn.  /'  Lobus  infundibuli.  g  Anlage  der  Hypo- 
pliysis. 


3.  Ein  Fall  von  kystouiatösem  Adeiioui  der  Hypopliysis. 

K.,  81  Jahre  alt,  Beamter,  wurde  im  Lauf  des  Jahres  1866  in  die 
Klinik  des  Herrn  Geh.  Ilofrath  Gerhaudt  aufgenommen.  Ueber  Erschei- 
nungen und  Verlauf  der  Krankheit  verdanke  ich  Herrn  Privaldocenten 
Dr.  Seidel,  damals  Assistenzärzte  der  Klinik,  folgende  kurze  Notiz. 
Patient  hatte  seit  6  —  8  Jahren  wiederholte  apoplektiforme  Anfälle,  in 
deren  Verlauf  er  allmälig  geistesschwach  wurde.  Etwa  zwei  Wochen 
vor  der  Aufnahme  in  die  Klinik  bemerkten  die  Angehörigen  eine  un- 
vollkommene Lähmung  des  rechten  Arms.  Patient  selbst  ist  völlig 
ausser  Stande,  Angaben  über  seinen  Zustand  zu  machen,  seine  Sprache 
ist  unverständlich  ,  monoton,  unsicher,  erbringt  als  Antwort  auf  die 
ihm  gestellten  Fragen  gewöhnlich  nur  die  letzten  Worte  der  Frage 
mühsam  heraus  und  behält  solche  dann  als  stehende.  Antwort  oft 
Wochen  lang  bei.  An  seiner  Umgebung  nimmt  er  keinen  Theil,  ist  bald 
heftig  ,  bald  heiler  gestimmt  ohne  entsprechende  Veranlassung,  lieber 
die  Sensibilität  ist  nichts  Sicheres  zu  ermitteln.  Der  rechte  Arm  ist  in 
einem  Zustande  von  Halblähmung,  die  feineren  Bewegungen  der  Hand 
sind  ganz  unmöglich ,  Patient  kann  nicht  einmal  selbst  essen.  Heben 
und  Beugen  des  Arms  sind  nur  in  beschränktem  Umfang  möglich.  Er 
kann  nur  geführt  gehen,  auch  da  mühsam;  das  rechte  Bein  scheint 
schwächer.  Will  er  selbst  aufstehen  oder  gehen,  so  fällt  er  in  der  Regel 
schwer.  Stuhl  und  Urin  wird  in  das  Bett  gelassen.  Von  Ende  Juli  an 
starkes  Jucken  am  ganzen  Körper,  so  dass  er  sich  überall,  besonders 
im  Gesicht  zerki-atzt.     Strabisnuis  convergens  schon  länger  bestehend. 

29* 


426  Wilhelm  Müller, 

Leichte  linksseitige  Facialisliihmung.  Pupillen  gleich  ,  das  rechte  Auge 
meist  geschlossen.  Vegetirt  so  fort  ohne  besondere  Aenderung.  Ende 
September  Husten ,  öfteres  Frieren ,  Abnahme  des  Appetits ,  der  nie 
sehr  stark  war.  Anfangs  October  Zunahme  des  Hustens.  Tod  den 
10.  October  früh  8  Uhr  ohne  besondere  Erscheinungen. 

Section  denselben  Tag  Abends  4  Uhr.  Nur  die  Eröffnung  des 
Kopfes  gestattet.  Dickwandiges  Schädeldach ,  an  der  Innenseite  des 
linken  Stirnbeins  eine  erbsengrosse  höckerige  Exostose.  Dura  verdickt, 
mit  der  Glastafel  fest  verwachsen ,  ihre  Innenfläche  über  beiden  Hemi- 
sphären von  einer  zarten  mit  feinen  Gefässen  versehenen  graugelb- 
lichen Membran  überzogen  ,  in  welcher  einzelne  frische  Hämorrhagien. 
Diffuse  Trübung  der  Arachnoides,  in  ihren  Räumen  eine  die  Norm  weit 
überschreitende  Menge  klarer  Flüssigkeit.  Die  Gefässe  der  Pia  blutarm. 
Das  Gehirn  atrophisch ,  die  Hirnwindungen,  namentlich  beider  Stirn- 
lappen verschmälert  und  weit  aiiseinanderstehend.  Umschriebene  leichte 
Abplattung  der  beiderseitigen  Frontoperietalwindungen  unmittelbar 
neben  der  Mittellinie,  Marklager  und  Rinde  schmal,  die  Gonsistenz 
zähe.  Seitenventrikel  erweitert,  klare  Flüssigkeit  führend,  Ependym 
leicht  granulirt.  Beide  Sehhügel  atrophisch  bei  normaler  Gonsistenz 
und  Farbe,  leichte  Alropliie  von  Pens  und  verlängertem  Mark.  Die 
Arterienzvveige  an  der  Gehirnbasis  erweitert  und  verkalkt.  Der  linke 
Nervus  olfaclorius  nahe  seinem  Ursprung  unbedeutend  abgeplattet. 
Beide  Nervi  optici  gleich  dem  Chiasma  und  den  Tractus  verschmälert. 
Dura  mater  über  der  Sattelgrube  in  flachem  Bogen  vorgewölbt  durch 
eine  mit  ihr  verwachsene  weiche  die  Sattelgrube  erfüllende  und  über 
letztei'e  vorr.igende  Geschwulst  vom  Umfang  einer  grünen  Wallnuss. 
Processus  infundibuli  mit  dem  hinteren  Umfang  der  Geschwulst  ver- 
wachsen, gleich  dem  Infundibulum  ohne  erhebliche  Veränderung.  Sat- 
telgrube erweitert,  Sattellehne  etwas  nach  rückwärts  gebogen. 

Die  genauere  Untersuchung  ergab,  dass  an  der  Geschwulstbildung 
nur  die  llypophysis  betheiligt  war.  Der  Processus  infundibuli  lag  mit 
verdicktem  Ende  der  hinteren  Fläche  der  Geschwulst  an  und  liess  sich 
stellenweise  ohne  Schwierigkeit  von  letzterer  trennen.  Die  Geschwulst 
selbst  war  von  kugeliger  Form ,  die  Oberfläche  glatt,  auf  dem  Durch- 
schnitt zeigte  sie  drüsig -körnigen  Bau,  röthlichgelbe  Farbe,  weiche 
Gonsistenz  und  gallertiges  Aussehen.  Nahe  der  hinteren  Fläche  enthielt 
sie  eine  runde,  erbsengrosse,  mit  glatter,  glänzender  Wand  versehene, 
mit  gelblicher,  klarer  Flüssigkeit  erfüllte  Höhle.  Sie  war  allseitig  von 
einer  massig  dicken  bindegewebigen  Kapsel  umgeben,  welche  mit  den 
Gefässen  feine  Fortsätze  in  das  Innere  entsandte.  Den  Hauptbestand- 
theil  der  Geschwulst  bildeten  drüsige  Schläuche.   Sie  waren  theils  kurz, 


3.  I'",iii  Fiill  von  kystoiiiiitösiMii  \(l('iiniii  der  II\|io|ili\'si.s.  427 

(k'r  Kiigelfonn  sich  annähornd,  llicils  in  tlio  Länge  gezogen  und  etwas 
gewunden,  ihr  Durchniessci"  schwankte  zwischen  0,0."^  und  0,-1.  Sie 
waren  gebiUlel  von  einer  zarten  Membrana  propria,  welche  namentlich 
an  den  dickeren  Schläuchen  ungemein  dünn  war.  Erfüllt  wurden  sie 
im  Innern  von  Epithelien.  Diese  stellten  an  den  kleineren  Schläuchen 
Cylinder  dar  von  0,005  Breite  bei  0,015  Länge  nn't  rundem  Kern,  an 
den  grösseren  Schläuchen  lagen  die  deutlichen  Cjlinderepilhelien  vor- 
wiegcMul  j)eripher  und  waren  zum  Theil  stark  verkürzt,  nach  Innen  zu 
schlössen  sich  daran  theils  (juadratische,  theils  polygonale,  theils  rund- 
liche Zollen  von  0,008 — 0,015  Durchmesser  mit  einem,  seltener  zwei 
bis  drei  Kernen  und  feinkörnigem,  hie  und  da  kleine  Vakuolen  zeigen- 
dem Protoplasmakörper  ohne  peripherische  Verdichtung.  Diese  Zellen 
erfülllen  die  Schläuche  theils  vollständig,  theils  Hessen  sie  ein  centrales 
Lumen  von  0,02  —  0,OG  frei.  Dieses  Lumen  erwies  sich  am  gehärteten 
Präparat  theils  leei',  enthielt  also  im  frischen  Zustand  wohl  Flüssigkeit, 
theils  ausgefüllt  von  gelblichen,  mattglänzenden  Colloidklumpen,  welche 
ähnlich  jenen  der  Schilddrüse  in  Wasser  quollen  und  in  verdünnten 
Alkalien  sich  lösten.  Die  Wandung  der  kleinen  Cyste,  welche  nahe  der 
hinteren  Fläche  der  Geschwulst  ihren  Sitz  halte ,  bestand  aus  einer 
deutlichen  Membrana  piopria  und  dieser  aufsitzendem  mehrfachen 
kurzen  (]ylinderepithel.  Die  Interstitien  der  Drüsensubstanz  wurden 
erfüllt  von  Gefässen  mit  netzföirniger  sie  umhüllender  Bindesubstanz. 
Die  Arterien  und  Venen  waren  in  massiger  Zahl  vorhanden,  die  Capil- 
laren  sehr  weit,  zwischen  O.Ol  und  0,03  messend,  sehr  dünnwandig. 

Der  Befund  der  Geschwulst  weicht  in  keinem  wesentlichen  Punkte 
von  dem  Befunde  ab ,  welchen  die  normale  Hypophysis  darbietet.  Die 
Vergrösserung  der  einzelnen  Drüsenschläuche,  welche  sich  constatiren 
Hess  ,  reichte  nicht  hin  ,  um  die  beträchtliche  Volumvergrösserung  des 
ganzen  Organs  zu  erklären  ;  es  musste  demnach  neben  der  Vergrösse- 
rung eine  Neubildung  von  Drüsenschläuchen  erfolgt  sein.  Die  Cyste, 
welche  am  hinteren  Umfang  der  Geschw  ulst  vorhanden  war,  enlsprach 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  einem  der  in  der  normalen  Schleimdrüse 
an  dieser  Stelle  gewöhnlich  vorhandenen  mikroskopischen  Hohlräume. 
Die  Eigenschaften  der  vorliegenden  Geschwulst  berechtigen,  sie  den 
Adenomen  zuzuzählen ;  vermöge  der  Gallerlabscheidung  in  der  Höhle 
der  Drüsenräurae  nähert  sie  sich  den  gelatinösen,  vermöge  der  Cysten- 
bildung  den  kystomalösen  Formen  des  Adenom.  Ihre  Entwicklung 
halte  den  Erscheinungen  während  des  Lebens  nach  zu  schliessen  etwa 
acht  Jahre  beansprucht;  diese  Langsamkeit  der  Entwicklung  in  Ver- 
bindung mit  dem  vorgeschrittenen  Hirnschwund,  der  immerhin  theil- 
woise   der  Altersmetamorphose  wird  zugeschrieben    werden   nn'isscn, 


428  Wilhelm  Müller, 

erklärt  es ,  dass  trotz  des  beträchtlichen  Volums  verhältnissmässig  ge- 
ringfügige anatomische  Veränderungen  des  überliegenden  Gehirns  zu 
Stande  gekommen  sind. 

Vv^enn  es  nach  Vmciiowi)  bis  jetzt  nicht  ausgemacht  ist,  ob  der 
»vordere  Lappen  a  der  Hypophysis  sich  zu  einer  Struma  gelatinosa  ent- 
wickeln kann,  so  gestattet  die  vorliegende  Beobachtung,  diese  Frage  in 
positiver  Weise  zu  bejahen.  Wenn  derselbe  Beobachter  ferner  behaup- 
tet, dass  die  einfache  Vcrgrösserung  der  Hypophysis  kein  bedeutendes 
Maass  erreiche  und  grössere  Geschwülste,  welche  unter  dem  Namen 
der  Hypertrophie  beschrieben  worden  sind,  ohne  Weiteres  als  Krebs 
angesehen  werden  können ,  so  zeigt  der  gegenwärtige  Fall ,  dass  diese 
Behauptung  Virchow's  der  Begründung  entbehrt.  Es  wird  sich  im 
Gegentheil  empfehlen ,  die  in  den  Sammlungen  vorhandenen  Präparate 
von  umfänglicheren  Neubildungen  in  der  Sattelgrube  einer  erneuten 
mikroskopischen  Untersuchung  zu  unterwerfen ,  da  ich  nicht  zweifle, 
dass  eine  solche  die  Zahl  der  einfachen  und  gallertigen  Adenome  der 
Hypophysis  mehren  wird. 


4.  lieber  die  Eut^Yickliiug  der  Schilddrüse. 

Die  Angaben ,  welche  über  die  erste  Anlage  der  Schilddrüse  vor- 
liegen, sind  zu  widersprechend,  als  dass  sie  den  Schluss  auf  einen  für 
sämmtliche  Wirbelthierclassen  gemeinsamen  Entwicklungsplan  gestat- 
ten würden. 

Nach  den  Angaben  Huschke's^)  geht  die  Schilddrüse  hervor  aus 
einer  Umwandlung  der  äusseren  Partien  der  Kiemenbogen ,  welche  im 
Anschluss  an  deren  Involution  stattfindet.  Zur  Begründung  dieser  An- 
gabe führt  HuscHKE  an  :  I)  das  Fehlen  der  Glandula  thyreoidea  in  der 
Classe  der  Fische,  2)  die  Lagerung  an  der  äusseren  Seite  des  hinleren 
Zungenbeinhorns  beim  Frosch,  3)  ihr  paariges  Auftreten  beim  Hühn- 
chen am  7.  Bebrütungstag ,  nachdem  die  Kiemenbogen  verschwunden 
sind,  4)  das  Getrenntsein  ihrer  beiden  Hälften  in  frühen  Entwicklungs- 
sladien  von  Vögeln  und  Säugethieren  durch  einen  weiten  Zwischen- 
raum,  welcher  bei  den  höheren  Säugethieren  sich  verkleinert  und  erst 


1)  Die  krankhaften  Geschwülste.  III.   p.  86  und  88. 

2)  Isis  1826.  p.  621.    1827.  p.  403. 


4.  Uebcr  die  Knlwickliinu  der  Scliilddrüsc.  429 

im  Affen  und  Menschen  unter  Verschmelzung  der  Drüse  zu  einem  ge- 
meinsamen Körper  schwindet. 

N;ioh  Rkmak  '),  dessen  Angaben  sich  auf  die  Vögel  und  speciell  das 
Hühnchen  beziehen ,  geht  die  Schilddrüse  hervor  aus  einer  unpaarcn 
Ausstülpung  der  vordei-cn  Schlundwand.  Nach  diesem  Beobachter  zeigt 
sich,  wenn  das  Aortenende  des  Herzens  den  zweiten  Schlundbogen 
verlassen  hat,  was  ungefähr  um  die  70.  Bebrütungsstunde  zu  gesche- 
hen pflegt,  an  der  Vereinigungshaut  der  Schlundbogen  dicht  über  dem 
Aortenende  des  Herzens  ein  runder  undurchsichtiger  Fleck  von  etwa 
Vis"'  Durchmesser.  Bei  mikroskopischer  Untersuchung  überzeugt  man 
sich  leicht,  dass  dieser  Fleck  von  einer  Verdickung  des  Drüsenblatts 
lierrührt,  in  dessen  Zellen  an  dieser  Stelle  die  Fetttröpfchen  grösser 
und  zahlreicher  sind.  Dieses  runde  Stück  des  Drüsenblatts  bildet  als- 
bald eine  sackförmige  Ausstülpung,  welche  sich  milsanunt  einem  zarten 
von  der  Vereinigungshaut  herrührenden  Ueberzug  von  der  Schlund- 
höhle abschnürt,  so  dass  es  an  der  Bauchfläche  derselben  genau  in  der 
Mittellinie  des  Körpers  dicht  über  dem  Aortenende  des  Herzens  zu  lie- 
gen kommt.  Sobald  das  Aortenende  des  Herzens  mit  den  drei  Aorten- 
bögen sich  von  den  Schlundwänden  ablöst,  folgt  ihm  das  blasige  Drü- 
senblattstück  und  liegt  alsdann  in  dem  spitzen  Winkel,  welchen  die 
Aorlenwurzeln  der  rechten  und  linken  Seite  mit  einander  bilden. 
Dieses  Drüsenblaltstück  theilt  sich  durch  Abschnürung  alsbald  in  zwei 
Blasen,  welche  zu  beiden  Seilen  der  Luftröhre  neben  der  aus  dem  in- 
nersten Aortenbogen  hervortretenden  Carotis  ihre  Lage  einnehmen. 

His2]^  welcher  gleich  Remak  seine  Beobachtungen  am  Hühnchen 
angestellt  hat,  hält  es  für  wahrscheinlich,  dass  die  Schilddrüse  aus 
paarigen  Verlängerungen  der  seitlichen  Partieen  der  Schlundwand  her- 
vorgehe, und  giebt  eine  hierauf  bezügliche  Abbildung. 

Ueber  die  erste  Anlage  der  Schilddrüse  bei  Säugethieren  liegen 
übereinstimmende  Angaben  von  Arnold  '^'j  und  Ratuke  ^)  vor.  Nach 
diesen  Beobachtern  entwickelt  sich  das  Organ  aus  der  Luftröhre,  nach 
ersterem  an  der  Stelle,  wo  der  Kehlkopf  sich  bildet,  beim  Menschen  in 
der  7.  bis  8.  Woche,  nach  letzterem  dicht  hinter  dem  Kehlkopf  zu  der 
Zeit,  wenn  in  der  Luftröhre  die  einzelnen  Ringe  sich  zu  ])iiden  begin- 
nen. Nach  den  Beobachtungen  Arnold's  ist  die  Vermulhung  Meckel's, 
dass  die  Anlage  Anfangs  durch  einen  Ausführungsgang  mit  der  Luft- 
röhre communicire,  welcher  später  sich  schliesst,  sehr  begründet. 


1)  Untersuchungen  über  die  Entwicklung  der  Wi[i)clthierc  p.  39. 

2)  Untersuchungen  über  die  erste  Anlage  desWirbelthierleibes.  Leipzig  1868. 

3)  Erhardt's  mcdizinisch-ciiirurgischc  Zeitung.    1831.   IV.   p.  301. 

4)  Nova  acta  Acad.  Leopold.  Carol.  XIV.  p.208. 


430  Wilhelm  Müller, 

lieber  die  Entwicklung  der  bleibenden  Drüsenelcmenle  aus  der 
ursprünglichen  Anlage  liegen  Angaben  von  Remak,  Billuoth  und  Köl- 
LiKER  vor.     Sie  beziehen  sich  sämmtlich  auf  Vögel  und  Säugethiere. 

Nach  den  Beobachtungen  Remak's  i)  erhalten  die  beiden  Epithelial- 
blasen  ,  in  welche  die  unpaare  Anlage  der  Schilddrüse  des  Hühnchens 
sich  theilt,  alsbald  an  ihrer  Oberfläche  mehrere  neue  Einschnürungen, 
was  ihnen  ein  gelapptes  Ansehen  giebt.  In  der  Thai  sind  diese  Um- 
wandlungen auch  die  erste  Andeutung  der  Lappön,  welche  man  an  der 
erwachsenen  SchiUldrüse  unterscheidet.  Doch  erfolgt  die  vollständige 
Abschnürung  dieser  Abtheilrfngen  von  einander  erst  gegen  das  Ende 
.des  Eilebens.  Bevor  sie  eintritt,  entstehen  in  der  verdickten  Wand  der 
Epithelialblase,  ganz  unabhängig  von  der  gemeinsamen  Höhle,  die  An- 
lagen neuer  Epithelialblasen.  Mit  der  Verdickung  der  "Wand  ist  nämlich 
eine  Zunahme  der  Zellen  verbunden,  so  dass  auf  die  Dicke  der  Wand 
mehrere  Zellen  kommen.  Jene  W^andzellen  gruppiren  sich  nun  der- 
gestalt, dass  in  der  Wand  lange  radial  gestellte  Reihen  von  Zellenhäuf- 
chen zu  Stande  kommen,  von  denen  ein  jedes  die  Anlage  einer  blei- 
benden Epithelialblase  enthält.  Unterstützt  wird  diese  Sonderung  da- 
durch, dass  von  der  bindegewebigen  Umhüllung  her  dünne  Fortsätze 
zwischen  die  Reihen  der  Zellhäufchen  eindringen,  dazu  bestimmt,  für 
jedes  Häufchen  eine  bindegewebige  Hülle  zu  liefern.  Jedes  Zellenhäuf- 
chen bildet  demnach  einen  runden  oder  ovalen,  soliden,  aus  Zellen  be- 
stehenden Körper,  welcher,  wie  es  scheint,  durch  fortschreitende  Thei- 
lung  aus  einer  einfachen  Zelle  hervorgegangen  ist.  Erst  gegen  das  Ende 
des  Eilebens  rücken  die  kleinen  Zellen  jener  Anlagen  so  auseinander, 
dass  sie  als  ein  einschichtiges  Epithel  eine  Höhle  umschliessen ,  die 
demnach  nicht  eine  unmittelbare  Fortsetzung  der  primitiver;i  Höhle  der 
Drüsenanlage  bildet.  Mit  anderen  Worten,  die  Epithelbläschen,  welche 
im  erwachsenen  Zustande  die  Alveolen  der  Schilddrüse  auskleiden, 
entstehen  aus  der  Wand  der  primitiven  Schilddrüsenblase.  Was  aus 
der  Höhle  der  letzteren  wird,  konnte  Remak  nicht  hinlänglich  eruiren. 
Sicher  sei  nur,  dass  sie  in  dem  Maasse  sich  verengt  und  unkenntlich 
wird,  in  welchem  ihre  Wand  sich  verdickt.  Es  sei  daher  möglich,  dass 
sie  nicht  ganz  schwindet,  sondern  die  sie  zunächst  begrenzende  Zellen- 
schicht der  Wand  nicht  zur  Bildung  von  secundären  Epithelblasen  ver- 
wendet wird  und  eine  centrale  Epithelblase  bildet,  welche  durch  fer- 
nere Einschnürung  in  kleinere  Blasen  zerfällt. 

Remak  stützt  diese  Deutung  durch  das  Verhalten  der  Schilddrüse 
bei  Säugelhierembryonen.     Bei  Schweinsembryonen  von   4  Zoll  Länge 

1)  a.  a.  0.  p.  122. 


4.  Ueber  die  Entwicklung  der  Schilddrüse.  4^1 

und  darüber  findet  iiiiiii  in  der  l'ciiplKMic»  dcv  Scliilddrilsc  sehr  kleine, 
rundliche,  peschlossonc  I'4)ithell)l;Kson.  iinCenlruni  diiiirpen  sehr  grosse 
und  zum  Theil  schlauchförmige,  welche  in  der  Abschnürung  begrilFen, 
angetiolTen  werden.  Auch  hier  bemerkt  man  Erscheinungen,  welche 
daraufhindeuten,  dass  nicht  sämrntlichc  Blasen  durch  fortschreitende 
Abschnürung  sich  bilden ,  sondern  auch  aus  verdickten  Stellen  der 
Blasenwand  hervorgehen,  in  denen  unabhängig  von  der  Höhle  der  Mut- 
lerblase eine  Höhle  Sich  bildet,  ähnlich  wie  es  bei  der  Anlage  der  ersten 
secundären  Blasen  in  der  Wand  der  primitiven  Schilddrüsenblase  des 
Hühnchens  beobachtet  wird.  Man  beobachtet  nämlich  Epilhclblasen, 
welche  zwar  eine  zirkelrunde  Höhle  darbieten,  deren  Wand  aber  zipfel- 
förmige  solide  Vorsprünge  bildet.  Diese  enthalten  offenbar  die  Anlagen 
neuer  Blasen ,  denn  man  sieht  zuweilen  grössere  Blasen ,  deren  Vor- 
sprünge schon  kleine  runde  Höhlen  enthalten,  ohne  dass  ein  Zusammen- 
hang der  letzteren  mit  der  Höhle  der  grösseren  Blasen  bemerkbar  wäre 
Aus  diesen  Beobachtungen  geht  hervor,  dass  die  Epithelblasen,  welche 
iUi  erwachsenen  Zustand  der  Wirbelthiere  die  eigenthümlichen  Be- 
standlheile  der  Schilddrüse  bilden,  Abkömmlinge  des  das  Nahrungsrohr 
auskleidenden  Drüsenblatts  sind. 

BiLLBOTH  ')  erklärt,  dass  er  die  Angaben  Bemak's,  welche  er  repro- 
ducirt.  bei  Hühner-  und  Natlerembryonen,  sowie  bei  frischen  mensch- 
lichen Fötus  verschiedenen  Alters  vollständig  bestätigt  gefunden  habe, 
um  wenige  Zeilen  später  zu  erklären ,  dass  er  den  Entwicklungsgang 
beim  Hühnchen  nicht  so  klar  wie  Bemak  gefunden  habe.  Weder  für  die 
eine  noch  für  die  andere  Angabe  bringt  Billroth  irgend  eine  Be- 
gründung. 

Kölliker2]  erklärt  es  für  sicher,  dass  die  Schilddrüse  bei  den 
Säugethieren  sehr  früh  auftritt  und  längere  Zeit  aus  zwei  getrennten 
Hälften  besteht.  Er  giebt  an,  sie  beim  Rindsfötus  von  7 — 8'"  wahr- 
genommen zu  haben ,  wo  sie  schon  gar>z  und  gar  aus  kleinen  Drüsen- 
körnern bestanden  habe,  welche  er  zu  0,01  —  0,02'"  bestimmte.  Bei 
dem  Menschen  sei  sie  in  der  7.  —  8.  Woche  doppelt  vorhanden  und 
besiehe  ebenfalls  aus  kleinen  Follikeln.  Er  lässt  die  Follikel  beim  Men- 
schen durch  Treiben  rundlicher  Sprossen  und  Abschnürung  derselben 
sich  vervielfältigen  und  muss  die  Angaben  Remaks,  welcher  eine  Ver- 
mehrung der  Blasen  durch  Bildung  solider  Epithelknospen  wahrgenom- 
men zu  haben  glaubt.  voUkonunen  bestätigen.  Bei  Kalbsembryonen 
von  3"  Länge,  bei  welchen  die  zwei  Schilddrüsenanlagen  schon  durch 


\)  Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie.   1856.  p.  144. 
2)  Entwicklungsgeschichte  p.  390. 


432  Wilhelm  Müller, 

einen  Isthmus  verbunden  waren,  fand  er  nur  im  Innern  hohle  Follikel, 
während  die  oberflächlichen  Lagen  ganz  und  gar  aus  eigenthümlichen 
soliden  Zellenhaufen  von  den  verschiedensten  Formen  bestanden.  Durch 
Präparalion  gelang  es  ihm,  ziemlich  lange,  gewundene,  leicht  ästige 
Stränge  von  0,008  —  0,015'"  Breite  zu  isoliren,  welche  theils  seitlich, 
theils  endständig  mit  cylindrischen  oder  leicht  angeschwollenen  Spros- 
sen l)esetzt  waren,  doch  glückte  es  ihm  nicht,  diese  Gebilde  vollständig 
darzustellen  und  ihre  Form  genau  zu  bestimmen. 

Was  den  Bau  der  ausgebildeten  Schilddrüse  betritTt,  so  lauten, 
seit  John  Simon  in  der  Cyclopaedy  die  ganz  isolirt  dastehenden  Angaben 
Cruveilher's  widerlegt  hat,  die  übereinstimmenden  Angaben  aller 
Beobachter  dahin,  dass  die  normale  Schilddrüse  aus  mit  Flüssigkeit  ge- 
füllten, geschlossenen,  innen  von  einer  Epithelschicht  ausgekleideten 
Follikeln  und  interstitieller  Blut-  und  Lymphgefässe  führender  Binde- 
substanz bestehe. 

Dem  gegenüber  behauptet  Virchow^),  dass  die  scheinbaren  Blasen 
oder  Follikel,  welche  die  Schilddrüse  zusammensetzen,  vielfach  unter- 
einander zusammenhängen  und  verästelte  blasige  Auswüchse  oder 
Fortsätze  besitzen,  welche  jedoch  selten  in  einer  Ebene  liegen  und  da- 
her je  nach  der  Richtung  des  Schnitts  bald  als  isolirte,  bald  als  verbun- 
dene, runde,  ovale  oder  längliche  Gebilde  von  sehr  verschiedener 
Grösse  erscheinen.  Die  einzelnen  Körner  oder  Läppchen  sind  daher 
mehr  als  Systeme  verästelter  und  blasig  ausgestülpter  Follikel,  nicht 
als  blosse  Aggregate  getrennter  Blasen  anzusehen.  Jeder  Follikel  besitzt 
eine  structurlose  Membran ,  ausserhalb  welcher  die  eigentliche  binde- 
gewebige Masse  und  die  Gefässe  liegen ,  und  in  deren  Innern  eine  ge- 
wisse grössere  oder  kteinere  Zahl  von  kernhaltigen  Rundzellen  enthal- 
ten ist.  Häufig  sehe  man  auch  freie  Kerne,  indess  seien  diese  wohl  aus 
zelligen  Elementen  frei  geworden.  Früher  habe  man  geglaubt,  diese 
Zellen  bildeten  ein  Epithel  der  Follikel ;  allein  wenn  man  normale  Fol- 
likel nimmt,  so  sieht  man  sie  ganz  und  gar  mit  Zellen  gefüllt;  es  ist 
keine  epitheliale  Bekleidung,  sondern  eine  Ausfüllungsmasse;  die  Zellen 
liegen  durch  die  ganze  Dicke  des  Follikels  hindurch  und  stimmen  in 
Bau  und  Grösse  am  meisten  mit  den  Zellen  der  Lymphdrüsen  überein. 

Ich  habe  zur  Prüfung  der  voranstehenden  Angaben  Repräsentanten 
sämmtlicher  Wirbelthierclassen  untersucht.  Bei  Amphioxus  habe  ich 
jede  Spur  der  Schilddrüse  vermisst.  Sie  müsste  hier  als  ein  rundliches 
Säckchen  an  der  Ventralseite  des  Schlundes  gerade  zwischen  den  bei- 


1)   Dio  krankhaften  Geschwülste.   III.  Band.  p.  7. 


4.  lieber  die  Entwicklung  der  Schilddrüse.  433 

den   dircclen  Aortenbot;cn    liegen.     An   dieser  Stelle  fehlt  ein  solches 
Gebilde. 

Dagegen  ist  mir  der  Nachweis  des  Organs  in  der  Classe  der  Cyklo- 
stomcn  bei  Myxine  gluliuosa  gelungen  ,  welcher  die  Schilddrüse  l)isher 
allgemein  abgesprochen  worden  ist.  Sie  liegt  hier  in  der  fettreichen 
Bindegewebslanielle,  welche  sich  von  der  VenlralflUche  des  Oesophagus 
zur  oberen  Fläche  des  Kiemenartericnslanimes  in  dessen  ganzer  Aus- 
dehnung erstreckt  und  besteht  aus  einer  ziemlich  beträchtlichen  Zahl 
theils  zerstreut  liegender  isolirter,  theils  zu  kleinen  Gruppen  von  2  —  5 
vereinigter  rings  geschlossener  Follikel.  Letztere  sind  theils  von  kuge- 
liger, theils  von  ellipsoidischer  Gestalt,  der  Durchmesser  der  ersteren 
schwankt  zwischen  0,1  und  0,25,  der  Längendurchmesser  der  letzte- 
ren erhebt  sich  bis  zu  0,4.  Sie  bestehen  aus  einer  dünnen  Mendirana 
propria  und  dieser  aufsitzendem  einschichtigem  Epithel.  Die  Zellen  des 
letzteren  sind  theils  cubisch,  0,008  im  Durchmesser,  theils  cylindrisch, 
0,012  hoch.  0,008  breit,  sämmtlich  mit  Kernen  von  durchschnittlich 
0,006  und  1  —  2  Kernkörperchen  und  sehr  zartem,  feinkörnigem  Proto- 
plasmakörper versehen.  Das  Epithel  umschliesst  eine  scharf  begrenzte 
mit  klarer,  farbloser  Flüssigkeit  gefüllte  Höhle. 

Bei  Petromyzon  fluviatilis  halte  ich  für  das  Aequivalent  der  Schild- 
drüse den  paarigen  birnförmigen  Sack,  welcher  beiderseits  vom  Zun- 
genbeinknorpel, zwischen  Muskeln  versteckt,  bis  zum  Beginn  des 
Bronchus  sich  erstreckt.  Er  besitzt  eine  Membrana  propria,  welche 
stellenweise  kurze  faltenartige  Vorsprünge  gegen  das  Innere  bildet, 
einen  Ueberzug  von  geschichtetem  Cylinderepithel  und  eine  scharf  be- 
grenzte geräumige  Höhle.  Einen  Ausführungsgang  habe  ich  so  wenig 
als  Ratuke  auffinden  können. 

Aus  der  Classe  der  Fische  habe  ich  30  Mm.  und  20  Centimeter 
lange  Embryonen  von  Acanthias  vulgaris  sow  ie  erwachsene  Exemplare 
von  Raja  clavata  untersucht,  die  ersteren  nach  der  Methode  der  succes- 
siven  Querschnitte. 

Bei  den  30  Mm.  langen  Embryonen  von  Acanthias  vulgaris  war 
die  Anlage  der  Schilddrüse  von  der  Schlundhöhle  bereits  gesondert. 
Sie  lag  in  der  Mittellinie  der  vorderen  Schlundwand  und  stellte  ein 
ellipsoidisches  in  der  Richtung  vom  Rücken  zum  Bauch  abgeflachtes 
Säckchen  dar.  Die  Breite  dieses  Säckchens  betrug  0,4,  seine  Länge  0,5, 
seine  Dicke  in  der  Mitte  0,07,  an  den  beiden  verschmälerten  Seiten 
0,03.  Vor  demselben  waren  die  Anlagen  des  Unterkiefers  und  Zungen- 
beins sichtbar,  dem  hinteren  Ende  lag  die  Theilung  des  0,08  weiten 
Kiemenarterienstamms  in  seine  beiden  vordersten  Aeste  dicht  an.  Die 
untere  Fläche  war  bedeckt  von  dem  deutlich  paarigen  Musculus  slerno- 


434  Wilhelm  Müller, 

hyoideus.  die  obere  durch  eine  massig  dicke,  zellcnrciche  Bindcsub- 
stanzlage  mit  einzelnen  Muskeln  vom  Schlundepilbel  geschieden.  Die 
Anlage  bestand  aus  einer  dünnen  Schicht  von  spindelförmigen  Zellen 
gebildeter  Bindesubstanz,  vs'elcher  nach  Innen  mehrschichtiges,  cylin- 
drisches,  an  grösseren  und  kleineren  gelben  Pigmenlkörnern  reiches 
Epithel  aufsass.  Dieses  berührte  sich  an  den  verschmälerten  seitlichen 
Enden  des  Säckchens,  während  in  der  Mitte  zwischen  der  unteren  und 
oberen  Fläche  ein  scharf  begrenztes  Lumen  von  0,0i  frei  blieb. 

Bei  den  älteren  Embryonen  von  Acanthias  bildete  die  Schilddrüse 
einen  flachen  ellipsoidischen  Körper  von  1,3  Mm.  Durchmesser  bei  0,4 
Dicke.  Sie  lag  der  Mitte  der  vorderen  Fläche  des  Schlundes  an  ,  zwi- 
schen Zungenbein  und  Theilung  des  Kiemenarterienstammes,  ventral- 
wärts  bedeckt  vom  Muse,  sternohyoideus.  Sie  besass  eine  dünne  aus 
spindelförmigen  Zellen  bestehende  bindegewebige  Kapsel,  von  welcher 
aus  zarte  Fortsätze  in  das  Innere  eindrangen.  Mit  den  von  beiden  Sei- 
ten her  in  die  Drüse  eintretenden  Arterien  begaben  sich  stärkere  an 
Lymphkörpern  reiche  Scheiden  in  das  Innere  der  Drüse,  deren  Mitte 
von  einem  lockeren  Gefässplexus  eingenommen  wurde.  Die  Drüsen- 
subslanz  wurde  dargestellt  zum  grössten  Theil  von  etwas  gewundenen 
0,08 — 0,1?  im  Durchmesser  haltenden  Schläuchen,  zum  kleineren  von 
isolirlen  kugeligen,  0, 1  5  im  Durchmesser  haltenden  Follikeln.  Schläuche 
und  Follikel  bestanden  aus  einer  dünnen  Membrana  propria  und  dieser 
aufsitzendem  cylindrischen  Epithel,  welches  in  den  Follikeln  ein  deut- 
liches, in  den  Schläuchen  ein  schmales  spaltartiges  Lumen  frei  liess. 

Bei  zwei  sehr  grossen  Exemplaren  von  Baja  clavata  stellte  die 
Schilddrüse  einen  braunrothen.  flachen,  vor  der  Theilung  des  Kiemen- 
arterienstammes in  seine  beiden  vordersten  Aesle  liegenden  Körper 
dar.  Sie  bestand  aus  einer  bindegewebigen  Kapsel ,  von  welcher  aus 
gefässführende  Septa  in  das  Innere  eindrangen,  das  Organ  in  eine 
spärliche  Anzahl  von  Läppchen  zerlegend.  Diese  setzten  sich  zusam- 
men aus  umschriebenen  Follikeln  und  gefässführender  interstitieller 
Bindesubstanz.  Die  Follikel  waren  zum  grössten  Theil  kugelig,  zum 
kleineren  Theil  etwas  verzogen  und  länglich,  ihr  Durchmesser  schwankte 
zwischen  0,15  und  0,4.  Sie  besassen  eine  dünne  Membrana  propria 
und  eine  Auskleidung  von  cylindrischem  Epithel.  Letzteres  er\vi(^s  sich 
an  der  Mehrzahl  der  Follikel  einschichtig,  in  lange  gegen  die  Höhle  ge- 
richtete Forlsätze  ausgezogen,  die  einzelnen  Zellen  mit  feinen  gelb- 
lichen Pigmenlkörnern  versehen  und  am  freien  Bande  einen  feinen 
glänzenden  Saum  zeigend.  In  einem  Theil  der  Follikel  war  mehrschich- 
tiges Epithel  vorhanden ,  welches  hie  und  da  kurze  papillenartige  Vor- 
sprünge  gegen  das  Innere  bildolo.     Die  Höhle  der  Follikel  war  an  den 


4.  lieber  die  Eiilwicklmiü  der  Scliilddriise.  435 

inillleroii  uml  kleineren  ci lullt  von  durchsichtiger  Flüssigkoil,  ;m  den 
giösseren  enthielt  sie  iheils  homogene,  gelbliche  Giillertinjissen ,  llieils 
Anhäufungen  rundlicher  jm  gelbem  Pigment  reicher  Kornchenzellen. 
Diis  inlerslitielle  Gewebe  beslnnd  aus  librilUirer  Bindesul)slanz,  welche 
die  verhiiltnissmüssig  weiten  Gefässe  mit  lockeren  Netzen  umsparni. 

Aus  der  Classe  dei'  Amphibien  untersuchte  ich  \on  der  Oidiiung 
der  Urodela  Salamandia  maculala  in  erwachsenen  Exemplaren  l)i(^ 
Schilddrüse  ist  bei  diesem  Thiei'c  paarig  und  liegt  als  ein  länglicher, 
braunrother  Körper  an  der  inneren  Fläche  der  hinteren  Zungenbein- 
hörner  nahe  deren  Ende  und  wird  nach  Aufhebung  des  sie  deckenden 
Muse,  omohyoideus  sichtbar.  Sie  besitzt  eine  dünne  bindegewebige 
Kapsel  und  besteht  dui'chweg  aus  geschlossenen  kugeligen  Follikeln 
von  0,  |;)  —  0,3.  Die  Follikel  l)estehen  aus  einer  homogenen  Meml)rana 
propria,  einem  einschichtigen,  dieser  aufsitzenden  Epithel  mit  cul>i- 
schen  Zellen  von  0,016  Seitenlänge  und  rundlichen  Kernen  von  0,01 
und  einer  centralen  scharf  begrenzten  Höhle,  welche  entweder  farblose 
Flüssigkeit  oder  eine  blassgelbliche  Gallerte  enthält.  Die  Follikel  sind 
umgeben  von  dem  spärlichen  interstitiellen  Gewebe,  welches,  aus  einem 
Netz  fibrillärer  Bindesubslanz  bestehend,  die  Gefässe  umgiebt.  Lelzteie 
sind  verhältnissmässig  weit,  die  Arterienzweige  lösen  sich  in  ein  Ca])!!- 
larnetz  auf,  welches  auf  der  Membrana  propria  der  Follikel  quadratische 
Maschen  von  durchschnittlich  0,05  Weite  bildet. 

Aus  der  Ordnung  der  Batrachia  untersuchte  ich  die  Schilddrüse 
des  braunen  Frosches  (Hana  lemporaria  L.  und  EcKnu,  Rana  platyrhi- 
nus  Stkk.nstrup)  von  ihrer  ersten  Anlage  bis  zur  definitiven  Gestaltung. 
Die  frühesten  Stadien  sind  bei  diesem  Thier  schwer  zu  verfolgen,  da 
der  Reichthum  an  schwarzem  Pigment  die  Anwendung  der  Methode 
der  successiven  Schnitte  erforderlich  macht  und  methodisch  angefertig- 
ten Querschnitten  entsprechende  Längsschnitte  zur  Seite  gehen  müssen, 
die  Schnitte  aber  bei  der  grossen  Brüchigkeit  der  Gewebe  junger  Lar- 
ven leicht  missglücken.  Zur  Untersuchung  benutzte  ich  durchweg 
Larven,  welche  5  Tage  in  chromsaurem  Kali ,  hierauf  in  verdünntem 
und  schliesslich  in  absolutem  Alkohol  längere  Zeit  gelegen  halten. 

Das  früheste  Stadium  in  der  Entwicklung  der  Schilddrüse  boten 
Larven,  welche  seit  kurzem  das  Ei  verlassen  hatten.  Das  Verbindungs- 
stück der  beiden  vorderen  Schlundbogen  war  leicht  verdickt  und  be- 
stand aus  massig  pigmentreichen,  spindelförmigen  und  rundlichen  Zel- 
len ,  in  Folge  des  geringeren  Pigmenlreichthums  unterschied  sich  seine 
Substanz  scharf  von  den  intensiv  pigmentirten  überziehenden  Epithel- 
säumen. An  seiner  unteren  Fläche  bildete  die  Haut  einen  paarigen,  mit 
ji>  einer  seichten  Einkerbung  versehenen  Fortsatz,  welcher  sich  bis  zur 


436  '  Wilhelm  Müller, 

Herzgegend  erstreckte.  Das  Herz  lag  unmittelbar  hinter  dem  Verbin- 
dungsstück der  beiden  vorderen  Schlundbogen  in  der  vorderen  Schlund- 
wand, von  der  Anlage  der  Rachenschleimhaut  und  der  äusseren  Haut 
durch  einen  schmalen  Flüssigkeit  führenden  Hohlraum  geschieden. 
Der  .Conus  arteriosus  verlängerte  sich  zu  dem  kurzen  Kiemenarterien- 
slamm,  welcher  an  der  Theilungsstelle  in  seine  Aeste  dem  Schlund- 
epithel dicht  anlag.  Letzteres  zeigte  unmittelbar  vor  der  Theilungsstelle 
eine  runde  mediane  Ausstülpung  von  0,05  Länge,  welche  unt«r  leich- 
ter Verengerung  mit  der  Schlundhöhle  communicirte  (vergl.  TaL  XH, 
Fig.  3  und  4). 

Bei  Larven  von  6  Mm.  Länge  hatte  das  Verbindungsstück  der  vor- 
dersten Schlundbogen  stärker  sich  verdickt.  Die  rundliche  unmittelbar 
vor  der  Theilungsstelle  des  Kiemenai'terienstammes  gelegene  mediane 
Ausstülpung  des  Schlundepithels  war  durch  Vermehrung  der  ausklei- 
denden Zellen  solid  und  stellte  in  Folge  ihres  Pigmentreichthums  einen 
kugeligen  schwarzen  Körper  dar,  welcher  durch  eine  doppelte  Reihe 
dicht  aneinander  liegender  cubischer,  sehr  pigmentreicher  Zellen  mit 
dem  analog  beschaffenen  Schlundepithel  zusammenhing.  Unmittelbar 
hinter  der  Anlage  der  Schilddrüse  lag  die  Bifurcalion  des  Kiemenarte- 
rienstnmmes,  dessen  Endzweige  mit  einem  Durchmesser  von  0,046  zu 
beiden  Seiten  derselben  sichtbar  waren  (vergl.  Fig.  5  auf  Taf.  XH). 

Bei  Larven  von  7  Mm.  war  die  Anlage  der  Schilddrüse  durch  Zu- 
nahme der  spindelförmigen  und  runden  Zellen,  welche  das  Verbin- 
dungsstück der  vorderen  Schlundbögen  herstellten,  vom  Schlundepithel 
abgeschnürt  und  der  schmale  Verbindungsstreif  zum  letzleren  zum 
Schwund  gebracht.  Sie  stellte  einen  kugeligen  Körper  von  0,07  Durch- 
messer dar,  welcher  dicht  vor  dem  Ende  des  Kiemenarlerienstammes 
lag  und  durchweg  aus  cubischen,  sehr  pigmentreichen  Zellen  bestand, 
welche  durch  ihren  Pigmentgehalt  von  den  lichtbraunen  Zellen  der 
Schlundwand  sofort  sich  unterschieden  (vergl.  Taf.  XH,  Fig.  6). 

Bei  Larven  von  1 1  Mm.  Länge  hatte  das  Ansehen  der  vorderen 
Schlundwand  erheblich  sich  verändert.  Der  paarige  Fortsatz,  welchen 
die  Haut  an  der  unteren  Fläche  der  vordersten  Schlundwand  entsandt 
hatte,  war  im  Verschwinden.  Unter  der  Haut  war  die  Anlage  eines 
dünnen  quer  verlaufenden  Muskels  (Muse,  submaxillaris  Eckek)  sicht- 
bar. Vor  diesem  Muskel  lag  auf  Längsschnitten  der  eben  in  der  Diffe- 
renzirung  begriffene  Knorpel  des  Mittelstücks  vom  Unterkiefer,  über 
ihm  der  ebenfalls  in  der  Differenzirung  begriffene  Knorpel  der  Copula 
des  Zungenbeins,  welcher  an  seinem  hinteren  Ende  einen  dreieckigen 
Vorsprung  nach  abwärts  entsandte.  Auf  Querschnitten  erschien  dieser 
Fortsatz  gleichfalls  dreieckig  mit  nach  vorne  gerichteter  stumpfer  Spitze 


4.  lieber  die  Entwicklung  der  Schilddrüse.  437 

und  0,13  Seitenlange  und  hing  seillich  mit  je  einer  dünnen  Knoipel- 
spange  zusammen.  Die  Schilddrüse  lag  diesem  Forlsatz  der  Copula  des 
Zungenbeins  dicht  an  ;  sie  hatte  in  Folge  der  Entwicklung  des  letz- 
teren die  Gestalt  eines  Zwerchsacks  angenommen  von  0,17  Länge  und 
bestand  aus  einem  dünnen  Mittelstück  und  dickeren  seitlichen  llüHlen. 
Das  Mittelstück  umgab  die  vordere  Kante  des  Knoipelfortsalzes  an  der 
Copula  des  Zungenbeins  als  ein  dünner,  nur  0,01  S  messender  Körper, 
die  beiden  seitlichen  Hälften  lagen  von  innen  und  unten  nach  aussen 
und  oben  gerichtet  deren  beiden  Seitenflächen  an ,  ihre  Dicke  betrug 
0,05.  Sowohl  letztere  als  das  Mittelstück  bestanden  wie  früher  aus 
cubischen,  sehr  pigmentreichen  Zellen  und  stellten  einen  schwarzen, 
bei  dem  geringen  Pigmentgehalt  der  Umgebungen  leicht  sichtbaren 
Halbring  dar,  welcher  dem  Ende  des  Kiemenarterienstammes  unniillel- 
bar  vorlag  (vergl.  Fig.  7  und  8  auf  Taf.  XII). 

Bei  Larven  von  1 5  Mm.  war  die  Trennung  der  bisher  unpaarcn 
Schilddrüsenanlage  in  zwei  symmetrische  Hälften  vollendet.  Sie  stell- 
ten von  innen  und  unten  nach  oben  und  aussen  verlaufende,  in  der 
Richtung  von  oben  nach  unten  sich  verschmälernde  Körper  von  0,12 
Länge  bei  0,06  Dicke  dar  und  wurden  wie  früher  gebildet  von  cubi- 
schen, kernhaltigen  Zellen,  welche  etwas  pigmentärmer  waren  als  frü- 
her und  zugleich  lockerer  aneinandergereiht  erschienen.  Beide  Drüsen- 
hälften lagen  dicht  vor  dem  Anfangsstück  der  beiden  Aeste.  in  welche 
das  Ende  des  0,13  weiten  Kiemenarterienstammes  sich  theille,  am  hin- 
teren Ende  der  Seilenflächen  des  dreieckigen  Fortsatzes  der  Copula  des 
Zungenbeins,  nach  unten  begrenzt  vom  Musculus  submaxillaris,  seitlich 
vom  Muse,  sternohyoideus. 

Bei  Larven  von  20  Mm.  halte  die  Lagerung  der  Drüse  sich  nicht 
wesentlich  verändert,  jedoch  lag  sie  von  der  Bifurcation  des  Kiemen- 
arterienstammes etwas  entfernter.  Ihr  Umfang  hatte  zugenommen  ,  so 
dass  sie  bei  einer  Länge  von  0,16  eine  Dicke  von  0,07  zeigte.  Sie  be- 
stand aus  einem  lockeren  Netz  solider,  cylindrischer,  etwas  gewunde- 
ner Schläuche  von  0,013  —  0,016  Durchmesser,  welche  aus  cubischen, 
kernhaltigen,  in  ihrem  Protoplasma  massige  Mengen  schwarzen  Pigments 
führenden  Zellen  bestanden.  Diese  Schläuche  waren  umgeben  von 
lockeren  Zügen  einer  an  spindelförmigen  und  netzförmigen  Zellen  rei- 
chen Bindesubstanz,  welche  von  den  Umgebungen  aus  in  die  ursprüng- 
lich solide  Anlage  eingedrungen  war  (vergl.  TaL  XII,  Fig.  9). 

Bei  Larven  von  25  Mn).  bildeten  neben  soliden  von  Epilhelien  er- 
füllten Schläuchen  eine  Anzahl  gesonderter  und  in  Sonderung  begrilfe- 
ner  Follikel  das  Parenchym.  Letztere  zeigten  kugelige  Gestalt  und  einen 
Durchmesser  von  0,013  —  0.026.     Sie  bestanden  aus  einer  eben  N\ahr- 


438  Willieliii  Müller, 

nehnibaren  Membrana  propria ,  dieser  aufsitzendem  einschichligen, 
cubischcn  Epithel ,  dessen  Protoplasma  noch  schwach  pigmenthaltig 
war  und  enthielten  im  Innern  eine  scharf  begrenzte,  mit  Flüssigkeit 
gefüllte  Höhle  von  0,01—0,016.  Zum  Theil  hingen  diese  Follikel  mit 
schlauchförmigen  Drüsenanlagen  noch  durch  einen  Isthmus  zusammen. 
Entsprechend  dem  Abschnürungsprocess  war  die  interstitielle  Binde- 
substanz stärker  entwickelt;  sie  führte  0,01  weile  Capillaren,  welche 
von  einer  aus  spindelförmigen  Zellen  gebildeten  Adventitia  umgeben 
waren ,  deren  Zellen  stellenweise  dichter  gehäuft  lagen  (vergl.  Fig.  I  0 
auf  Taf.  XII). 

Bei  Larven  von  35  Mm.  mit  Schwanz  und  vier  Extremitäten  besass 
jede  Schilddrüsenhälfte  eine  Länge  von  0,3  bei  0,24  Dicke;  die  um- 
gebende Bindesubstauz  bildete  eine  dünne  Kapsel  und  entsandte  mit 
den  Gefässen  Fortsätze  in  das  Innere.  Die  Drlisensubstanz  bestand  der 
Hauptsache  nach  aus  discreten  Follikeln,  deren  Durchmesser  jetzt  zwi- 
schen 0,02  und  0,06  Mm.  schwankte.  Sie  waren  theils  kugelig,  theils 
verzogen,  die  kleineren  hie  und  da  in  kurze  Schläuche  sich  fortsetzend 
und  anscheinend  in  der  Abschnürung  noch  begriffen.  Sie  bestanden 
aus  einer  sehr  dünnen  Membrana  propria,  cubischem,  in  einfacher  Lage 
dieser  aufsitzendem  Epithel  von  0,007  Seilenlänge,  dessen  Protoplasma 
pigmentfrei  war  und  einer  centralen,  scharf  begrenzten,  Flüssigkeit 
führenden  Höhle.  Das  interstitielle  Gewebe  bestand  aus  geräumigen 
Capillaren,  welche  von  theils  fibrillärer,  theils  aus  spindelförmigen 
Zellen  bestehender  Bindesubstanz  locker  umscheidet  wurden. 

Bei  jungen  Fröschen ,  welche  vor  wenigen  Tagen  den  Schwanz 
verloren  hatten ,  war  die  Schilddrüse  etwas  nach  hinten  gerückt  und 
lag  zu  beiden  Seiten  des  Zungenbeinkörpers  dicht  vor  der  Ansatzstelle 
der  Gornua  thyreoidea.  Sie  war  allseitig  von  Muskeln  umgeben  und 
besass  eine  dünne  bindegewebige  Kapsel,  von  welcher  aus  die  Gefässe 
mit  ihren  bindegewebigen  Adventitien  in  das  Innere  eindrangen.  Die 
Drusensubstanz  bestand  durchweg  aus  rings  geschlossenen,  theils  ku- 
geligen, zum  kleineren  Theil  ellipsoidischen  oder  unregelmässig  gestal- 
teten Follikeln  von  0,05  —  0,15  Diam.  Sie  bestanden  wie  früher  aus 
einer  zarten  Membrana  propria,  einem  einschichtigen,  aus  cubischen 
Zellen  von  0,015  Breite,  0,016  Höhe  ohne  Pigment  bestehenden  Epithel 
und  einer  scharf  begrenzten  centralen  Höhle,  welche  durchsichtige, 
farblose  Flüssigkeit  ohne  Formgebilde  enthielt.  Es  hatten  sich  die  Fol- 
likel demnach  vergrössert;  diese  Vergrösserung  war  erfolgt  unter  Ver- 
vielfältigung der  auskleidenden  Epithelien  und  Zunahme  der  Secretion. 
Die  interstitielle  Bindesubstanz  mit  den  Gefässen  zeigte  keine  Abwei- 
chung von  dem  Befund  des  letzten  Stadiums  (vergl.  Fig.  M  auf  Taf.  XII). 


4.  lieber  die  Kiitwickluiig  der  Schilddrüse.  439 

Aus  der  Clnssc  der  Reptilien  unU'rsuchlc  ich  von  der  Ordnunti;  der 
Ophidier  Tropidonoliis  nnlriv  in  ei\v;iclisenen  l'lvcrnplnicn.  Die  Scliild- 
diüse  liegt  bei  diesem  Tliier  als  unpaarer,  llael»  rundlicher  Körper 
unterhalb  der  Trachea,  eine  kurze  Strecke  vor  dem  Aortenbogen,  und 
wird  zu  beiden  Seiten  von  der  paai'igen  ,  bei  erwachsenen  Thieren  in 
einen  langgestreckten  Fettküi-j)er  verwantlellen  Thymus  umgeben  und 
theilweise  bedeckt.  Sie  besitzt  eine  dünne,  bindegewebige  Kapsel, 
welche  mit  den  Gefiissen  zarte  b'orlsiitze  in  ilas  Innere  entsendet.  Das 
Parenchym  besteht  aus  kugeligen  Follikeln  von  0,15  —  0,4  Diam.  Sie 
liegen  dicht  gedrängt  und  zeigen  eine  dünne  Membrana  propria,  ein 
dieser  aufsitzendes  cul>isches  Epithel  von  0,006  Seitenlänge  und  im 
Innern  eine  scharf  begrenzte  Flüssigkeit  oder  gelbliche  Gallertmassen 
enthaltende  Höhle.  Das  interstitielle  Gewebe  besteht  aus  einer  gering- 
fügigen lockeren  Bindegewebshülle  der  Gefässe;  letztere  bilden  in 
ihi-em  capillaren  Abschnitt  auf  der  Membrana  propria  der  Follikel  ein 
ziemlich  regelmässiges  Netz  von  0,1  Maschenvveite. 

Aus  der  Ordnung  der  Saurier  untersuchte  ich  Lacerla  ocellata  in 
zwei  grossen  vollkommen  ausgewachsenen  Exemplaren.  Die  Schild- 
drüse liegt  bei  diesem  Thier  in  Form  eines  schmalen,  aus  einem  me- 
dianen Isthmus  und  zwei  seitlichen  Hälften  bestehenden  Halbrings  vor 
der  Trachea,  kurz  über  deren  Bifurcation  unterhalb  des  oberen  Endes 
des  Sternum,  weit  hinter  dem  Zungenbein.  Das  eigentliche  Parenchym 
wird  gebildet  von  geschlossenen  Follikeln  von  kugeliger  Form  und 
0,1  0,2  Diam.  Sie  liegen  in  unregelmässigen  Gruppen  durch  das 
interstitielle  Gewebe  zerstreut  und  bestehen  aus  einer  dünnen  Mem- 
brana })iopria,  einem  einschichtigen,  dieser  aufsitzenden  Epithel,  wel- 
ches lange  Cylinder  von  durchschnittlich  0,01  4  Länge  bei  0,00^ — 0,000 
Dicke  bildet  und  einer  scharf  begrenzten  centralen  Höhle,  welche  farb- 
lose Flüssigkeit  oder  gelbliche  Gallertmassen  führt.  Das  interstitielle 
Gewebe,  welches  durch  die  dünnen  Bindegewebsscheiden  der  Blut- 
gefässe mit  der  bindegewebigen  Kapsel  zusammenhängt,  ist  ungemein 
reich  an  Fettzellen  von  durchschnittlich  0,06  und  drängt  durch  diesen 
Fettreichthum  das  eigentliche  Drüsenparenchym  zu  unregelmässigen 
Gruppen  auseinander,  welche  zum  Theil  ausser  aller  Verbindung  stehen. 
Die  Blutgefässe  bilden  auf  der  Membrana  propria  der  Follikel  ein  sehr 
zierliches  Capillarnetz  von  durchschnittlich  0,0ö  Maschen  weite. 

Der  Befund,  welchen  die  Schilddrüse  dieser  Thiere  darbietet,  ist 
von  besonderem  Interesse  wegen  der  nahen  Beziehungen ,  welche  er 
zu  der  Schilddrüse  der  Fische  bietet.  Das  hohe  Cylinderepithel,  welches 
die  Schilddrüsen -Follikel  der  Saurier  auskleidet,  erinnert  an  das 
gleichfalls  sehr  langgestreckte  Epithel  in  der  Schilddrüse  der  Rochen, 

Bd.  VI.  3.  30 


440  Wilhelm  Müller, 

während  das  zerstreute  Auftreten  der  Follikel  in  dem  fettreichen  inter- 
stitiellen Gewebe  an  die  Schilddrüse  der  Myxinoiden  und  vieler  Tele- 
ostier  erinnert,  bei  welchen  die  Zerlegung  des  Organs  in  Gruppen 
selbständiger  Läppchen  Platz  gegriffen  hat. 

Von  der  Ordnung  der  Chelonier  untersuchte  ich  Emys  picta  und 
Cistudo  Carolina.  Die  Schilddrüse  liegt  bei  beiden  als  flach  rundlicher, 
unpaarer  Körper  dicht  vor  den  Aortenbogen  unterhalb  der  Trachea. 
Sie  besitzt  eine  dünne  bindegewebige  Kapsel,  das  Parenchym  besteht 
aus  kugeligen  Follikeln  von  0,2  —  0,8  Diam.,  welche  aus  einer  Mem- 
brana propria,  einem  einschichtigen,  ziemlich  flachen,  polygonalen 
Epithel  von  0,006  —  0,01  Fläche  bei  0,003  Höhe  und  centraler,  meist 
mit  homogener  Gallerte  erfüllter  Höhle  bestehen.  Die  Follikel  stehen 
sehr  dicht  und  lassen  für  die  Gefässe  und  deren  Bindegewebescheiden 
nur  unbedeutende  Zwischenräume  frei.  Die  Blutgefässe  bilden  in  ihrem 
capillaren  Abschnitt  auf  der  Membrana  propria  der  Follikel  Maschen 
von  durchschnittlich  0,15  Weite. 

Aus  der  Classe  der  Vögel  untersuchte  ich  die  Schilddrüse  des 
Huhns  von  der  ersten  Anlage  bis  zur  Gewinnung  der  bleibenden  Form. 

Bei  Hühnchen  vom  Ende  des  zweiten  Bebrütungstags ,  welche  die 
beiden  oberen  Schlundspalten  und  die  drei  vordersten  Kiemenarterien 
entwickelt  zeigten,  fand  ich  noch  keine  Spur  der  Schilddrüsenanlage. 

Das  früheste  Stadium  boten  Hühnchen  von  der  Mitte  des  dritten 
Tags.  Sie  besassen  drei  Schlundspalten ,  der  vorderste  Kiemenbogen 
war  verdickt,  die  erste  Kiemenarlerie  obliterirt,  die  Verbindung  zwi- 
sche-n  Kiemenarterienstamm  und  erstem  Kiemenbogen  gelöst.  Die 
zweite,  dritte  und  vierte  Kiemenarterie  waren  vorhanden  und  verliefen 
mit  einem  Durchmesser  von  0,03  in  den  entsprechenden  Kiemenbogen. 
An  der  Stelle,  wo  die  beiden  vordersten  Kiemenarterien  aus  dem  Stamm 
entsprangen,  um  in  die  Schlundwand  einzutreten,  fand  sich  eine  birn- 
förmige .  gegen  die  Arterienbifurcalion  gerichtete  Ausbuchtung  des 
Schlundepithels  in  der  Mitte  der  vorderen  Schlundwand.  Sie  war 
0,15  lang,  0,1  hoch,  inwendig  hohl  und  stand  durch  eine  verengerte 
OefFnung  mit  der  Höhle  des  Schlundes  in  Communication.  Von  der 
Adventilia  der  vordersten  Kiemenarterien  erhielt  sie  einen  sehr  dün- 
nen, aus  spindelförmigen  Zellen  bestehenden  Ueberzug  (vergl.  Taf.  XI, 
Fig.  1). 

Bei  Embryonen  vom  Anfang  des  vierten  Bebrütungstags  waren 
vier  Kiemenspalten  entwickelt,  die  vordere  Schlundwand  hatte  eine 
Dicke  von  0,14.  Auch  die  zweite  Kiemenarlerie  war  obliterirt,  dagegen 
die  fünfte  entwickelt,  der  Durchmesser  der  Kiemenarterien  betrug  0,04. 
Dicht  über  der  Ursprungsstelle  der  vordersten  Kiemenarterien  fand  sich 


4.  Hoher  die  Knlwickliing  der  Scliilddrüse.  441 

in  der  Milto  der  vorderen  Schlundwand  die  Anliig(!  der  Schilddrüse  nls 
ein  rundlicher  Körper  von  0,12  Durchmesser.  Sie  besass  eine  dicke 
aus  geschichleteni  Cjlinderepith(>I  gehiUlele  Wand  und  in  der  Mille 
eine  [löhlung  von  0,003.  Ihre  Einlhelauskleidung  stand  durch  einen 
kurzen  von  Cylinderepilhel  ausgekleideten  Gang  mit  el)en  wahrnehm- 
barem Lumen  mit  dem  Schlundepithel  in  Zusanuiienhang. 

beim  Hühnchen  vom  Ende  des  vierten  Bebrülungslags  war  die 
vordere  Schlundvvand  0,i  dick,  die  diei  Kiemenarlerien  0,07  im  Durch- 
messer. Die  Schilddrüse  lag  wie  im  vorigen  Stadium  in  der  Mitte  der 
vorderen  Schlundwand  dicht  über  der  Theilung  des  Kiemenarlerien- 
stannnes  in  seine  vordersten  Aesle,  sie  war  rund,  0,17  im  Durchmesser 
und  bestand  in  der  Peripherie  aus  radiär  gestellten,  cylindrischen,  im 
Innern  aus  cubischen  Epilhelien,  welche  dicht  gedrängt  lagen  und  das 
Innere  vollständig  erfüllten.  An  seiner  hinteren  Fläche  stand  dieser 
Körper  durch  einen  dünnen,  0,15  langen,  0,016  dicken,  von  0,00S 
hohem  Cylinderepithel  ausgekleideten  Gang  ohne  nachweisbares  Lumen 
mit  dem  Schlundepithel  noch  in  Zusammenhang;  an  der  ganzen  übri- 
gen Oberfläche  setzte  er  sich  von  der  umgebenden  Schlundwand  dureh 
einen  feinen,  von  zarten  spindelförmigen  Zellen  umgebenen  Spalt  ab 
(vergl.  TaL  XI,  Fig.  2). 

Bei  dem  Hühnchen  vom  Ende  des  fünften  Bebrütungstags  be- 
stimmte ich  die  Dicke  der  vorderen  Schlundwand  zu  0,7.  Der  Verbin- 
dungsgang zwischen  Schilddrüsenanlage  und  Schlundepithel  war  durch 
die  stärkere  Entwicklung  der  umgebenden  Schlundwand  zum  Ver- 
schwinden gebracht.  Die  Anlage  der  Schilddrüse  lag  wie  früher  dicht 
über  der  Theilung  des  Kiemenarterienslammes ;  sie  war  aber  mit  letz- 
terer erheblich  nach  abwärts  gerückt  und  lag  dicht  über  und  vor  der 
Communication  der  Larynxanlage  mit  der  Schlundhöhle.  Die  Wandung 
des  Schlundes  bildete  einen  nach  vorne  gerichteten  Vorsprung ;  tlie 
Anlage  der  Schilddrüse  war  dem  entsprechend  in  der  Mitte  verengt  und 
stellte  einen  zwerchsackähnlichen  Körper  dar  mit  medianem  Isthmus 
von  0,08  und  verdickten  Seitenhälften  von  0,15  Durchmesser,  welche 
die  Anlage  des  Larynx  beiderseits  umgaben.  Die  ganze  Länge  der  An- 
lage bestimmte  ich  zu  0,o.  Sie  war  solid  und  bestand  in  der  Perij)herie 
aus  radiär  gestellten  cylindrischen,  im  Innern  aus  cubischen  Epilhelien. 
Sie  hob  sich  auch  jetzt  von  der  umgebenden  Schlundwand  scharf  ab. 
Zu  beitlen  Seiten  der  Anlage  waren  die  0,M  im  Durchmesser  haltenden 
vordersten  Kiemenarlerien  sichtbar,  welche  unter  ihr  aus  dem  Stamm 
entsprangen;  an  der  lateralen  Wand  derselben  lag  das  Ganglion  nervi 
Vagi  als  elliptischer,   an  Ganglienzellen  reicher  Körper  von   0,12  Breite 

30* 


442  Wilhelm  Müller, 

bei  0,25  Länge,   vor  diesen  ein  kleineres,  wohl  dem  Sympathicus  me- 
dius  angehöriges  Ganglion  i)   (vergl.  Taf.  XI,  Fig.  3). 

Bei  dem  Hühnchen  vom  Anfang  des  siebenten  Bebrütungstags  war 
die  Anlage  der  Schilddrüse  abermals  nach  abwärts  gerückt,  denn  die 
Comnmnication  dos  Kehlkopfs  mit  dem  Schlund  lag  eine  Strecke  über 
ihr.  Der  schmale  Isthmus,  welcher  im  vorigen  Stadium  die  beiden  Sei- 
tenhälften verbunden  hatte ,  war  geschwunden ;  sie  stellte  in  Folge 
davon  einen  paarigen ,  zu  beiden  Seiten  der  Trachea  liegenden  Körper 
von  O/i  Länge  bei  0,25  Dicke  dar.  Ihr  Bau  unterschied  sich  in  Nichts 
von  jenem  des  vorigen  Stadiums;  die  cylindrischen  Zellen  ihrer  Peri- 
pherie heben  sich  auch  jetzt  von  der  anliegenden  Schlundwand  scharf 
ab.  In  letzterer  waren  feine  Gefässe  sichtbar,  welche  bis  dicht  an  die 
Schilddrüsenanlage  sich  verfolgen  Hessen ,  ohne  in  dieselbe  einzudrin- 
gen. Hinter  der  Schilddrüse  lag  jederseits  die  Carotis,  weiter  nach 
aussen  die  Jugularvene,  zwischen  beiden  das  Ganglion  nervi  vagi  und 
das  schon  erwähnte  kleinere  Ganglion  vom  Sympathicus  medius  (vergl.  ^ 
Taf.  XI,  Fig.  4). 

Bei  dem  Hühnchen  vom  neunten  Bebrütungstag  war  die  Schild- 
drüse etwas  nach  rückwärts  gerückt  und  lag  als  paariger  Körper  von 
0,5  Länge  bei  0,3  Dicke  an  der  Seiten  wand  des  Oesophagus,  dicht  vor 
der  Carotis  und  dem  Ganglion  nervi  vagi.  Das  umgebende  Bindegewebe 
hatte  sich  zu  einer  aus  spindelförmigen  Zellen  bestehenden  Kapsel  ver- 
dichtet, von  ihr  aus  traten  gefässführende  Fortsätze  in  das  Innere. 
Durch  diese  Fortsätze  war  die  im  vorigen  Stadium  gleichförmige  Epithel- 
masse zu  einem  Netz  solider  cylindrischer  Schläuche  von  0,015 — 0,025 
Dicke  umgewandelt.  Sie  bestanden  aus  einer  sehr  dünnen  Binde- 
gewebshülle und  waren  im  Innern  erfüllt  von  kurzen  ,  cylindrischen, 
radiär  zur  Hülle  gestellten  Epithelien.  Die  Zwischenräume  dieser 
Schläuche  waren  ausgefüllt  von  dünnen  Zügen  spindelförmiger  Zollen, 
welche  zum  Theil  nachweisbar  dünne  Gefässe  von  durchschnittlich  0,01 
Durchmesser  umgaben. 

Bei  dem  Hühnchen  vom  zwölften  Bebrütungstag  lag  die  Schild- 
drüse etwas  nach  aussen  von  der  Carotis,  unmittelbar  vor  dem  Gan- 
glion vagi  und  der  Jugularvene.  Sie  zeigte  elliptischen  Querschnitt,  die 
beiden  Achsen  der  Ellipse  maassen  0,7  und  0,35.  Sie  besass  eine  aus 
spindelföi'migen  Zellen  bestehende  Kapsel  von  0,02  Dicke,  welche  eine 
grössere  Anzahl  gefässführender  Forlsätze  an  das  Innere  abgab.    Durch 


1)  Dieses  Ganglion,  das  bisweilen  in  zwei  zerfallt,  muss  ich  mit  den  Neben- 
schikkliüsen  Remak's  für  identisch  halten,  von  welchen  ich  sonst  keine  Spur  habe 
auffinden  können. 


4.  ücber  die  Entwicklung  der  Scliildilrüse.  413 

letztere  war  die  Drüsensubstanz  in  ein  Netz  cylindrischer  Schläuche 
zerlegt,  welche,  im  Wesentlichen  wie  im  vorigen  Stadium  beschallen, 
nur  zahlreicher  waren  und  im  Innern  ein  spaltartiges  Lumen  von  0,002 
erkennen  Hessen.  Stellenweise  zeigten  diese  Schläuche  an  den  Enden 
leichte  Erweiterungen  mit  davor  liegenden  Einschnürungen ,  daneben 
fand  sich  eine  geringe  Zahl  isolirler  kugeliger  Follikel,  bestehend  aus 
dünner  Membrana  propria,  auskleidendem  cylindrischcn  Epithel  und 
centraler  Höhle  von  0,003,  deren  Durchmesser  zwischen  0,012  und 
0,02  betrug.  Das  interstitielle  Gewebe  war  reich  an  Blutgefässen;  den 
verengten  Stellen  der  Schläuche  entsprach  eine  dichtere  Anhäufung 
seiner  theils  runden,  theils  spindelförmigen  Zellen. 

Damit  stimmte  der  Befund  vollkommen  überein ,  welchen  die 
Schilddrüse  eines  30  Mm.  langen  Slaarembryo  darbot,  an  welchem 
eben  die  Federn  im  Ilervorsprossen  begritlen  waren.  Die  Hauptmasse 
des  Organs  bestand  aus  einem  Netz  cylindrischer  Schläuche  von  0,014 
— 0,026  Durchmesser,  welche  an  einzelnen  Stellen  in  der  Abschnürung 
zu  isolirten  Follikeln  namentlich  an  den  freien  Enden  begriflen  waren. 
Auch  hier  war  das  interstitielle  Gewebe  an  den  verengten  Stellen  der 
Schläuche  reicher  an  Zellen  als  im  weiteren  Verlauf  derselben  (vergl. 
Taf.  XI,  Fig.  6). 

Bei  dem  Hühnchen  vom  16.  Bebrütungstag  lag  die  Schilddrüse  als 
paariger  ellipsoidischer  Körper  an  der  lateralen  Wand  der  Carotis,  dicht 
unterhalb  und  vor  dem  Ganglion  nervi  vagi.  Ihre  Kapsel  war  0,03 
dick  und  hing  durch  zarte  Fortsätze  mit  dem  interstitiellen  Gewebe  zu- 
sammen. Das  Drüsengewebe  bestand  überwiegend  aus  rings  geschlos- 
senen kugeligen  Follikeln  mit  dünner  Membrana  propria ,  dieser  auf- 
sitzendem einschichtigen,  kurzen  Cylinderepithel  von  0,006  —  0,008 
Höhe  und  einer  scharf  begrenzten  centralen  Höhle  von  0,002  —  0,006. 
Ihr  Durchmesser  schwankte  zwischen  0,016  und  0,03.  Neben  ihnen 
fanden  sich  cylindrische,  zum  Theil  in  Abschnürung  begriffene  Epithel- 
schläuche von  0,016  Durchmesser  in  spärlicher  Zahl  durch  die  Drüse 
zerstreut.  Das  interstitielle  Gewebe  war  reich  an  Capillaren,  an  welche 
sich  eine  dünne,  an  Lymphkörpern  und  spindelförmigen  Zellen  ziem- 
lich reiche  Bindesubstanzhüllc  anschloss. 

Bei  dem  erwachsenen  Huhn  ist  der  Bau  der  Schilddrüse  nur  in 
Hinsicht  der  Dimensionen  der  Bestandtheile  von  jenem  des  zuletzt  ge- 
schilderten Entwicklungsstadiums  verschieden.  Die  Drüse  wird  um- 
geben von  einer  bindegewebigen  Kapsel.  Das  eigentliche  Parenchym 
bilden  kugelige,  rings  geschlossene  Follikel  von  0,04 — 0,1.  Sie  beste- 
hen aus  einer  dünnen  Membrana  propria,  cubischem ,  in  einfacher 
Schicht  dieser  aufsitzendem  Epithel  von  0,001  Seitenlänge  und  centra- 


444  Wilhelm  Müller, 

1er  Höhle  ,  welche  verhältnissmässig  seilen  Gallerlmassen  enthält.  Das 
interstitielle  Gewebe  tritt  gegen  die  Masse  des  Drüsenparenchyms  sehr 
zurück.  Es  besieht  aus  lockeren  Zügen  fibrillären  Bindegewebes,  wel- 
ches die  Blutgefässe  umscheidel.  Letzlere  bilden  in  ihrem  capillaren 
Abschnitt  auf  der  Membrana  propria  der  Follikel  ein  ziemlich  regel- 
mässiges Netz  von  0,05  Maschenweite. 

Aus  derClasse  der  Säugelhiere  untersuchte  ich  die  Schilddrüse  des 
Schweins,  Schafs,  Hundes  und  des  Menschen. 

Das  früheste  Enlwicklungsstadium  beobachtete  ich  bei  Schweins- 
embryonen von  18Mm.  Länge.  Die  Schilddrüse  stellte  einen  0,4  breiten, 
in  der  Mille  0,07  dicken,  gegen  die  Seilenränder  etwas  sich  ver- 
dünnenden unpaaren  Körper  dar ,  welcher  in  Form  eines  wenig  gebo- 
genen Kreisabschnitts  an  der  vorderen  Fläche  der  Trachea  dicht  ober- 
halb des  Aortenbogens  lag.  Sie  bestand  aus  einer  Anhäufung  kern- 
haltiger Zellen ,  welche  in  der  Peripherie  die  Gestalt  kurzer  Cylinder- 
epilhelien  von  0,006  Länge  bei  0,004  Breite,  im  Innern  cubische  Form 
zeigten.  Diese  Zellen  waren  zu  cylindrischen  Schläuchen  von  sehr  un- 
gleicher Länge  und  zwischen  0,01  und  0,03  wechselnder  Dicke  grup- 
pirl.  Zwischen  denselben  war  in  der  Mille  der  Drüse  eine  Gefässaniage 
von  0,01  Durchmesser,  ausserdem  ein  lockeres  Netz  spindelförmiger 
und  netzförmig  verzweigter  Zellen  wahrzunehmen.  Bei  keinem  der 
drei  Embryonen,  welche  ich  der  Untersuchung  opferte,  war  eine  Tren- 
nung der  Drüse  in  zwei  Lappen  zu  constatiren. 

Bei  Schweinsembryonen  von  24  Mm.  Länge  zeigte  die  Schilddrüse 
auf  Querschnitten  eine  Breite  von  1  Mm.  bei  0,15  Mn).  Dicke.  Letztere 
war  auch  jetzt  in  der  Mitte  am  beträchtlichsten  und  nahm  nach  beiden 
Seiten  hin  ab.  Die  Drüse  lag  der  Vorderfläche  der  Trachea  in  deren 
Mitte  dicht  an  und  bestand  aus  einem  lockeren  Netz  cylindrischer 
Schläuche,  welche  hinsichtlich  ihrer  Dimensionen  grössere  Regelmässig- 
keit als  im  vorigen  Stadium  zeigten.  Ihr  Durchmesser  betrug  im  Mittel 
0,016,  sie  bestanden  aus  radiär  goslelllen  Cylinderepilhelien  von  0,006 
—  0,008  Länge  bei  0,004  —  0,005  Dicke.  Die  Mehrzahl  entbehrte  im 
Innern  eines  deutlichen  Lumen ;  die  EpithelscJiicht  wurde  von  einer 
dünnen  Bindesubstanzhülle  umgeben.  Die  Interstilien  der  Schläuche 
waren  erfüllt  von  Gefässen,  vorwiegend  Capillaren  von  durchschnittlich 
0,01  Durchmesser;  sie  besassen  eine  dünne  Advenlitia  spindelförmiger 
und  netzförmiger  Zellen. 

Bei  Schweinsembryonen  von  9  Centimeter  Länge  war  die  Schild- 
drüse als  braunrolher  ellipsoidischer  Körper  vor  der  Mitte  der  Trachea 
gelagert.  Sie  besass  eine  aus  spindelförmigen  Zellen  bestehende  Kapsel, 
von  welcher  aus  gefässhaltige  Fortsätze  in  das  Innere  sich  erstreckten, 


4.  lieber  die  EnfwickliiiiR  der  Schilddrüse.  445 

das  Parenchym  in  eino  Anzahl  von  Läppchen  von  durchschnitllich  ().') 
tlu'ilond.  Die  Läppchen  bestanden  aus  einem  lockeren  Netz  cylindri- 
schor,  an  den  lünden  hie  und  da  mit  Anschwellungen  versehener 
Schläuche  von  0,01 — 0,02  Durchmesser  mit  dünner  Meml)rana  propria, 
dieser  aufsitzendem  Epithel  und  eben  wahrnehmbarem  centralen  Lu- 
men. Dazwischen  fanden  sich  in  spärlicher  Zahl  aus  der  Continuilät 
der  Schläuche  ringsum  abgesonderte  Follikel  von  0,016 — 0,0'2()  Durch- 
messer ,  bestehend  aus  Membrana  propria ,  einschichtigem  Cylindcr- 
epiilu'l  und  centraler  Hohle.  Das  interstitielle  Gewebe  bestand  aus  un- 
gleich weiten,  im  Galiber  zwischen  0,0035  und  0,016  schwankenden 
Gapillaren ,  welche  von  einem  lockeren  Netz  vorwiegend  aus  spindel- 
förmigi'n  Zellen  bestehender  Bindesubstanz  locker  umscheidet  wurden. 

Bei  Schweinsembryonen  von  12  Centimeler  Länge  l)estand  die 
Hauptmasse  der  DrUscnsubstanz  aus  isolirten  Follikeln.  Ihre  Gestalt 
war  überwiegend  kugelig,  seltener  ellipsoidisch  oder  unregelmässig 
verzogen,  ihr  Durchmesser  schwankte  zwischen  0,012  und  0,03.  Sie 
bestanden  aus  dünner  Membrana  propria,  einschichtigem  flachen  Gylin- 
derepilhel  von  0,006  Höhe  mit  rundem  Kern  von  0,0045  und  scharf 
begrenzter  centraler  Höhle.  Neben  diesen  Follikeln  und  zuniTheil  noch 
mit  ihnen  zusammenhängend  fanden  sich  cylindrische  Schläuche  von 
0,01  —  0,02  Durchmesser.  Sie  unterschieden  sich  in  nichts  von  den 
früher  vorhandenen ,  standen  jedoch  an  Zahl  gegen  jene  der  abge- 
schnürten Follikel  erheblich  zurück.  Die  Zwischenräume  der  Drüsen- 
substanz wurden  von  Gefässen  mit  lockerer  ßindesubstai^zhülle  aus- 
gefüllt, sie  traten  gegen  das  Volum  derselben  bereits  zurück. 

Bei  Schweinsembryonen  von  18  Centimcter  Länge,  von  welchen 
ich  eine  grössere  Zahl  im  injicirten  Zustande  untersuchte,  bestanden 
die  Läppchen  der  Schilddrüse  fast  ausschliesslich  aus  gesonderten  ku- 
geligen Follikeln.  Ihr  Durchmesser  schwankte  zwischen  0,016  und 
0,06.  Sie  bestanden  aus  dünner  Membrana  propria,  einer  einfachen 
Lage  cylindrischen  Epithels  und  scharf  begrenzter  centraler  Höhle. 
Neben  den  Follikeln  fanden  sich ,  etwas  häufiger  in  der  Peripherie  als 
im  Centrum  der  einzelnen  Läppchen,  cylindrische  mit  demselben  Epi- 
thel wie  die  Follikel  ausgekleidete  Schläuche  von  durchschnittlich  0,016 
Dicke  mit  fast  verschwindendem  Lumen.  Sie  waren  zum  Thcil  in  der 
Abschnürung  zu  Follikeln  noch  begriflen ,  wie  sich  aus  localen  Erwei- 
terungen und  diesen  entsprechenden  Verengerungen  schlicssen  liess. 
Die  Bindesubstanz  in  den  Interstiticn  der  Follikel  erwies  sich  gebildet 
von  sehr  zarten  Fibrillen,  welche  in  lockeren  Netzen  die  Blutgefässe 
umspannen;  daneben  fanden  sich  zahlreiche  spindelförmige  Zellen  und 
namentlich  in  der  Advenlitia  der  Arterien  Lyinphkörper.     Das  Gefäss- 


446  Wilhelm  Müller, 

System  bestand  in  seinem  capiilaren  Abschnitt  aus  ungleich  weiten, 
zwischen  0,003  und  0,015  schwankenden  Röhren  mit  thcils  homoge- 
ner, blasser,  theils  sehr  fein  granulirter  und  in  Carmin  noch  sich  im- 
bibirender  Wandung.  Sie  besassen  in  derselben  elliptische,  mit  Carmin 
lebhaft  roth  sich  imbibirende  Kerne  und  in  spärlicherer  Zahl  ungemein 
blasse,  verästelte  Zellen,  deren  Fortsätze  auf  der  Capillarwand  ein  fei- 
nes, lockeres  Netz  bildeten.  Stellenweise  fanden  sich  die  Kerne  in  den- 
Capillarwänden  an  Stellen,  wo  sehr  dünne  Zweige  abgingen,  etwas 
dichter  gestellt  als  im  übrigen  Verlauf,  namentlich  in  der  Umgebung 
der  kleinsten  Follikel;  ich  schliesse  daraus,  dass  die  Absonderung  der 
Follikel  aus  den  schlauchförmigen  Anlagen  durch  eine  Sprossenbildung 
der  Gefässe  und  ihrer  bindegewebigen  Adventitien  vermittelt  wird 
(vergl.  Taf.  X,  Fig.  9). 

Vom  Schaf  untersuchte  ich  zwei  Embryonen  von  20  Mm.  Länge. 
Bei  beiden  l)ildele  die  Schilddrüse  einen  dicht  unterhalb  der  Anlage 
des  Larynx  liegenden  Halbring,  welcher  die  vordere  und  die  beiden 
Seitenflächen  der  Trachea  umgab.  Sie  bestand  aus  einem  dünnen  Isth- 
mus und  dicken  seitlichen  Hälften.  Die  Drüsonsubstanz  wurde  durch- 
weg gebildet  von  einem  lockeren  Netz  im  Mittel  0,016  dicker,  cylindri- 
scher  Schläuche  mit  dünner  Bindesubstanzhülle ,  kurzem  Gylinder- 
epithel  und  kaum  wahrnehmbarem  Lumen. 

Bei  Schafembryonen  von  6  und  12  Centimeter  Länge  bestand  die 
Drüse,  deren  Isthmus  dicht  unterhalb  des  Kehlkopfs  lag,  während  die 
Hörner  längs  der  Seitenflächen  des  letzteren  nach  aussen  und  oben  sich 
erstreckten,  wie  früher  aus  einem  Netz  cylindrischer,  mit  Epithel  aus- 
gekleideter Schläuche ,  deren  Durchmesser  zwischen  0,017  und  0,024 
schwankte.  Sie  waren  namentlich  an  den  Enden  mit  Auftreibungen 
und  vor  denselben  mit  leichten  Verengerungen  versehen.  Das  inter- 
stitiefle  Gewebe  führte  verhältnissmässig  weile  Capiilaren,  deren  Durch- 
messer zwischen  0,006  und  0,02  schwankte  (vergl.  Taf.  XI,  Fig.  7). 

Bei  Schafembryonen  von  16  Centimeter  Länge  bildeten  lockere 
Netze  cylindrischer,  epithelführender  Schläuche  wie  früher  den  Haupt- 
bestandtheil  der  Drüse ;  neben  ihnen  fanden  sich  massig  zahlreiche 
isolirte  Follikel  mit  unbedeutendem  centralen  Lumen.  Letztere  bildeten 
erst  bei  Embryonen  von  24  Centimeter  Länge  den  vorwiegenden  Be- 
standtheil;  ihre  Dimensionen  waren  noch  gering,  zwischen  0,016  und 
0,03  Mm.  sich  haltend;  sie  standen  zum  Theil  mit  schlauchförmigen 
Anlagen  noch  im  Zusammenhang. 

Bei  dem  Embryo  des  Hundes  von  15  Mm.  Länge  (seit  der  letzten 
Begattung  30  Tage  alt)  bildete  die  Anlage  der  Schilddrüse  gleichfalls 
einen  die  Trachea  vorne  und  an  den  Seiten  umgebenden  Halbring  mit 


4.  üeber  die  Entwicklung  der  Sclülddrüsc.       '  447 

medianem  Isthmus  von  0,0S  und  soitliclion  Hälflon  von  0/2  Dicke.  Sie 
bestand  aus  eincMu  Netz  an  Dicke  und  Länge  sehr  ungleich  beschalTi^- 
ner  Ejiilhelanhiiufungen ,  welche  in  der  Peripherie  von  kurzen  radiär 
geslelllen  Cylindcrepithelien,  im  Centrum  von  cubischen  Zellen  gebildet 
wurden.  In  den  Zwischenräumen  fanden  sich  einzelne  Gefässanlagen 
von  0.008  Durchmesser  und  um  letzlere  dünne  Lagen  spindelförmiger 
Zellen  (vergl.  TaL  XI,  Fig.  5). 

Von  menschlichen  Embryonen  hatte  ich  Gelegenheit  Zwillinge  von 
2i  Mm.  Länge  zu  untersuchen,  deren  Muller  dem  Phosphorismus  erlegen 
war.  Die  Schilddrüse  umgab  bei  beiden  als  ein  Ilalbring  dicht  unter- 
halb des  Larynx  die  vordere  und  die  beiden  Seitenflächen  der  Anlage 
iler Trachea,  in  welcher  noch  kein  Knorpel  differenzirt  war;  sie  bestand 
aus  einem  schmalen  Isthmus  und  dickeren,  mit  diesem  zusammen- 
hängenden seitlichen  Lappen.  Das  Drüsengewebe  wurde  gebildet  von 
einem  lockeren  Netz  durchschnittlich  0,014  dicker,  cylindrischer 
Schläuche,  bestehend  aus  einer  zarten  BindesubstanzliUllc  und  dieser 
aufsitzendem  flach  cylindrischen  Epithel  von  0,006  Höhe  bei  0,0045 
Dicke.  In  den  Inlerstitien  der  Schläuche  fanden  sich  zarte  Gefäss- 
anlagen mit  einer  dünnen,  vorwiegend  aus  spindelförmigen  Zellen  be- 
siehenden Adventitia.  Die  Befunde  beider  Embryonen  stimmten  sowohl 
unter  sich  als  mit  jenen  der  gleichaltrigen  Embryonen  des  Schafs  und 
Schweins  vollständig  überein.  Daraus  folgt,  dass  die  Angaben,  welche 
Arnold  und  Rathke  über  das  erste  Auftreten  der  Schilddrüse  bei  Säuge- 
ihieren  gemacht  haben,  nicht  haltbar  sind,  denn  die  Schilddrüse  findet 
sich  bei  diesen  schon  in  einem  vorgeschrittenen  Entwicklungssladium, 
wenn  die  Knorpelringe  in  der  Trachea  noch  zu  din"erenziren  sind. 
Die  Angabe  Kölliker's,  dass  die  Schilddrüse  beim  Menschen  in  der 
7.  —  8.  Woche  doppelt  vorhanden  sei  und  aus  kleinen  Follikeln  bestehe, 
stehe  ich  nicht  an,  für  eine  Erfindung  zu  erklären. 

Bei  dem  menschlichen  Embryo  vom  5.  Monat  fand  ich  die  Drüse 
bereits  in  Läppchen  von  0,1  Dicke  abgelheill.  Das  Drüsengewebe  be- 
stand aus  einem  lockeren  Netz  drüsiger  Schläuche  von  0,01  i — 0,024 
Durchmesser,  deren  Bau  von  jenem  des  früheren  Enlwicklungssladiums 
in  Nichts  abwich.  Neben  diesen  Schläuchen  fanden  sich  abgesonderte 
Follikel.  Ihre  Gestalt  wechselte  von  der  kugeligen  zur  ellipsoidischen 
und  unregelmässig  verzogenen,  der  Durchmesser  schwankte  zwischen 
0,014  und  0,04.  Sie  bestanden  alle  aus  einer  dünnen  Membrana 
propria ,  einschichtigem,  dieser  aufsitzenden  Cylinderepilhel  von 
0,006  :  0,0045  mit  rundem  Kern  und  scharf  begrenzter  centraler  Höhle. 
Das  interstitielle  Gewebe  bestand  aus  Blutgefässen,  welche  von  fibril- 
lärer  Bindesubstanz  in  lockeren  Zügen  umscheidel  wurden. 


448  Wilhelm  Müller, 

Bei  dem  Neugeborenen  fand  ich  die  Läppchen  der  Drüse  durch- 
schnittlich 0,5  dick.  Die  Drüsensubstanz  setzte  sich  zusammen  aus  cy- 
lindrischcn  Schläuchen  von  derselben  Beschaffenheit  wie  früher  und 
aus  abgesonderten  Follikeln.  Ihr  Durchmesser  schwankte  zwischen 
0,015  und  0,15,  ihre  Gestalt  war  ebenso  wechselnd  wie  früher,  der 
Bau  derselbe.  Das  interstitielle  Gewebe  bestand,  von  den  Arterien  und 
Venen  abgesehen ,  aus  Capillaren  von  durchschnittlich  0,01  Weite  mit 
dünner  bindegewebiger  Adventilia  ;  sie  bildeten  auf  der  Wandung  der 
grösseren  Follikel  bereits  ein  rhombisches  Maschennetz. 

Bei  dem  dreijährigen  Menschen  fand  ich  die  Follikel  grösser  und 
zahlreicher,  die  Menge  der  schlauchförmigen  Drüsenanlagen  geringer; 
die  Follikel  auch  jetzt  an  Grösse  und  Gestalt  höchst  ungleich.  Ich 
schliesse  daraus ,  dass  auch  an  ausgebildeten  Follikeln  durch  Herein- 
wachsen von  Sprossen  des  Gefässblatts  in  dieser  Zeit  Abschnürungen 
zu  Stande  kommen. 

Die  Veränderungen,  welche  vom  dritten  Lebensjahr  l>is  zur  Puber- 
tät an  der  Schilddrüse  vor  sich  gehen ,  lassen  sich  dahin  zusammen- 
fassen, dass  die  Zahl  der  embryonalen  Drüsenanlagen  immer  geringer 
wird  und  die  Follikel  durch  die  Anhäufung  von  Secret,  welches  grosse 
Neigung  zur  Eindickung  zeigt ,  an  Umfang  zunehmen  und  der  Kugel- 
form zustreben.  Der  Bau  der  letzteren  verändert  sich  dabei  nicht  we- 
sentlich, sie  bestehen  aus  einer  dünnen  Membrana  propria  mit  auf- 
liegendem Capillarnetz  ,  einschichtigem  ,  ihrer  Innenfläche  anliegenden 
Cylinderepilhel  von  0,006  Höhe  bei  0,005  Dicke  und  scharf  begrenzter 
centraler  Höhle.  Die  Angaben  Vircogw's,  welcher  das  Epithel  in  den 
Follikeln  der  Schilddrüse  läugnet  und  letztere  aus  soliden  Anhäufungen, 
den  Lymphkörpern  ähnlicher  Zellen  bestehen  lässt,  zeugen  von  so  ge- 
ringer Sorgfalt,  dass  ich  auf  eine  Widerlegung  derselben  verzichte. 

Ich  ziehe  aus  den  voranstehenden  Beobachtungen  folgende  Schlüsse. 
Die  Schilddrüse  entwickelt  sich  bei  allen  Wirbelthieren  nach  demselben 
Plan  in  drei  wohl  charakterisirten  Stadien :  einem  Stadium  der  Ab- 
schnürung der  stets  unpaaren  Anlage  vom  Schlundepithel,  einem  Sta- 
dium der  Bildung  netzförmiger  Drüsenschläuche  durch  Betheiligung  des 
Gefässblatts  und  einem  Stadium  der  Follikelbildung. 

Den  Ausgangspunkt  der  Entwicklung  suche  ich  in  einem  ähnlichen 
mechanischen  Momente,  wie  es  für  die  erste  Anlage  der  Hypophysis 
maassgebend  ist,  und  zwar  in  einer  festeren  Adhärenz  des  Schlund- 
opithels  an  der  TheilungsstcUe  des  primitiven  Kiemenarterienstamms. 
Indem  letzterer  mit  dem  Herz  in  sehr  früher  Zeit  durch  die  stärkere 
Entwicklung  der  umgebenden  Theile  nach  rückwärts  gedrängt  wird, 
zieht  er  das  anhaftende  Stück  des  Schlundepithels  zu  einem  rundlichen 


4.  Ueber  die  Entwicklung  der  Scliilddriisi'.  449 

Fortsalz  aus,  welcher  etwas  nach  al)wiirls  ^crichlel  ist  und  mit  der 
Schlundhöhle  in  der  Medianlinie  durch  eine  Anfaniis  geräumige  Oell'nung 
comnmnicirt.  Dieser  Fortsatz  wird  von  den  Ursprüngen  der  Kiemen- 
arlerien  in  der  Art  eingefasst,  dass  das  vorderste  Paar  vor  ihm,  das 
mittlere  zu  seinen  beiden  Seiten  und  das  dritte  an  seiner  hinteren 
Fläche  verläuft,  und  erhält  frühzeitig  von  deren  Advenlitien  einen 
dünnen ,  aus  spindelförmigen  Zellen  bestehenden  Ueberzug.  In  Folge 
der  frühzeitigen  Involution  der  beiden  vordersten  Kiemenarlerien  konmit 
dieser  Fortsatz  des  Schlundepilhels  dicht  vor  der  Abgangsstelle  der 
vordersten  bleibenden  Kiemenarterien  zu  liegen ,  mit  welcher  er  durch 
seinen  dünnen  bindegewebigen  Ueberzug  zusammenhängt.  Der  Invo- 
lution der  beiden  vordersten  Kiemenarterien  geht  eine  Verdickung  der 
beiden  vordersten  Kiemenbogen  parallel.  Indem  sie  auf  die  Copula 
übergreift,  wird  die  Oeffnung,  durch  welche  der  die  Schilddrüsenanlagc 
darstellende  Epithelfortsatz  mit  der  Schlundhöhle  comumnicirte ,  zu 
einem  Gang  verengt,  welcher  rasch  sich  verschmälert  und  dem  völligen 
Schwund  anheimfällt. 

Noch  während  die  Abschnürung  im  Gange  ist,  verdickt  sich  die 
Epithelauskleidung  der  Schilddrüsenanlage  durch  .  Vermehrung  ihrer 
Zellen ,  dadurch  wird  das  Lumen  verengt  und  wenigstens  bei  den  hö- 
heren Wirbelthierclassen  vollständig  ausgefüllt.  Sie  stellt  in  Folge  des- 
sen zur  Zeit  der  vollendeten  Abschnürung  einen  bei  letzteren  soliden, 
bei  den  Fischen  (Selachiern)  mit  schmalem  centralen  Lumen  und  dicker 
Epithehvand  versehenen  unpaaren  Körper  dar,  welcher  in  der  Mittel- 
linie der  vorderen  Schlundwand  zwischen  Copula  des  zweiten  Schlund- 
bogen (dem  zukünftigen  Körper  des  Zungenbeins)  und  Ende  des  Kie- 
menarterienstamms  seine  Lagerung  hat. 

Die  nächsten  Schicksale  dieses  Körpers  sind  bei  den  einzelnen 
Wirbelthierclassen  verschieden. 

Bei  den  Cyklostomen  und  Fischen  behält  derselbe,  entsprechend 
der  Permanenz  der  Kiemenarterien ,  seine  ursprüngliche  Lagerung  de- 
finitiv bei,  kann  aber  weiterhin  in  Folge  einer  unverhältnissmässigen 
Entwicklung  des  interstitiellen  Gewebes  in  eine  Anzahl  isoHrter  Grup- 
pen aufgelöst  werden,  welche  constante  Lagerungsbeziehungen  zum 
Kiemenarterienstamm  zeigen. 

Unter  den  Amphibien  wird  bei  den  Batrachiern  die  unpaare,  aus 
einer  soliden  Anhäufung  stark  pigmentirter  Epithelien  bestehende  An- 
lage der  Schilddrüse  durch  die  Entwicklung  eines  dreikantigen  Fort- 
satzes am  hinteren  Ende  der  knorpeligen  Anlage  des  Zungenbeins, 
welcher  später  schwindet  und  an  den  Zungenbeinkiel  der  Urodelen 
erinnert,   in  der  Mittellinie  verschmälert  und  alsbald  in  zwei  symme- 


450  Wilhelm  Möller, 

Irische,  zu  beiden  Seiten  dieses  Fortsatzes  liegende  Hälften  getheilt. 
Nach  erfolgter  Theilung  werden  beide  Hälften  von  Gefässsprossen  mit 
ihren  bindegewebigen  Adventitien  erreicht  und  durchwachsen  ;  gleich- 
zeitig erfolgt  die  Lösung  der  Adhärenz  zwischen  Drüsenanlage  und  vor- 
derstem Kiemenarterienpaar.  Diesem  Umstände  schreibe  ich  es  7a\,  dass 
späterhin  die  Drüse  dem  Rückzug  der  grossen  Gefässstämme  gegen  den 
Thoraxraum  nicht  folgt,  sondern  als  paariges  Organ  an  der  medialen 
Fläche  der  Cornua  thyreoidea  des  Zungenbeins  nahe  dem  Kehlkopf 
liegen  bleibt.  Die  analoge  Lagerung  der  Drüse  bei  den  Urodelen,  wie 
sie  für  Perennibranchiaten  und  Derotremen  durch  die  Untersuchungen 
von  J.  G.  Fischer  ^)  -nachgewiesen  ,  bei  den  Salamandrinen  durch  Prä- 
paration leicht  zu  constatiren  ist,  lässt  schliessen,  dass  bei  sämmtlichen 
Amphibien  die  Trennung  der  ursprünglich  unpaaren  Schilddrüse  in 
zwei  symmetrische  Hälften  aus  derselben  Ursache  sich  ableitet. 

Bei  allen  höheren  Wirbelthieren  folgt  die  Anlage  der  Schilddrüse  dem 
Ursprung  des  vordersten  bleibenden  Kiemenarterienpaars  auf  seinem 
Rückzug  in  den  Thorax  eine  verschieden  weite  Strecke  und  entfernt  sich 
dadurch  von  ihrer  ursprünglichen  Lagerung  an  der  hinteren  Fläche  des 
Zungenbeins,  Ich  vermag  den  Grund  nicht  anzugeben ,  auf  welchem 
die  Verschiedenheit  der  Strecke  beruht,  welche  die  Schilddriisenanlage 
zurücklegt,  vermuthe  aber,  dass  sie  bei  den  Reptilien  und  Säugethieren 
früher  von  Gefässsprossen  erreicht  und  die  Adhärenz  an  den  vordersten 
Kiemenarterien  gelöst  wird  als  bei  den  Vögeln.  Bei  den  Reptilien  bleibt 
die  Anlage  der  Drüse  während  der  Wanderung  unpaar,  nur  bei  den 
Sauriern  erhält  sie  zweilappige  Gestalt  durch  Verschmälerung  des  Mit- 
telstücks. Bei  den  Vögeln  wird  sie,  während  sie  über  der  Anlage  des 
Larynx  nach  abwärts  rückt,  erst  in  der  Mitte  verschmälert  und  alsbald 
in  Folge  der  raschen  Vergrösserung  des  letzteren  in  zwei  Theile  ge- 
trennt; sie  folgen  dem  Rückzug  der  grossen  Gefässe  und  behalten  ihre 
Lagerung  nahe  der  Ursprungstelle  der  beiden  Carotiden  definitiv  bei. 
Bei  den  Säugethieren  folgt  die  Anlage  der  Schilddrüse  den  Gefässen 
nur  bis  unterhalb  der  Anlage  des  Kehlkopfs;  sie  bleibt  bei  einer  grossen 
Zahl  unpaar,  erfährt  aber  bei  vielen  durch  die  Vergrösserung  der 
Trachea  eine  mediane  Verschmälerung,  welche  bis  zur  vollständigen 
Trennung  in  zwei  seilliche  Hälften  fortschreiten  kann. 

Während  dieser  Ortsveränderungen  behält  die  Anlage  der  Schild- 
drüse ihre  ursprüngliche  Beschaffenheit  bei  und  besteht  demnach  aus 
einem   dünnen   Ueberzug   spindelförmiger  Zellen  und   einer  centralen 


1)  Anatomische  Abhandlungen  über  die  Perennibranchiaten  und  Derotrennen. 
Hamburg  1864. 


4.  üeber  die  Entwicklung  der  Scliilddriise.  451 

Epithelmasse,  deren  peripherische  Zellen  senkrecht  zur  Flüche  tlcs 
Ueherziiij;s  stehen.  Erst  nachdem  sie  in  der  Nähe  ihrer  delinitiven  Sliitle 
jingelangl  ist,  tritt  das  zweite  Entwicklungssladiuin  ein.  Dieses  wird 
charakterisirt  durch  das  Vordringen  von  Gefiisssprossen  mit  den  zu- 
gehörigen Bindegewebsadventitien  von  der  Kapsel  gegen  das  Innere 
der  Anlage,  wodurch  die  in  letzterer  befindlichen  E{)ilheln.assen  in  ein 
Anfangs  unregehnässiges ,  bald  regelmässigere  Foiinen  annehmendes 
Netz  cylindrischer  Schläuche  gesondert  werden,  welche  aus  einer  dün- 
nen Bindesubstanzhülle  und  einschichtigem,  dieser  aufsitzenden  Epithel 
bestehen.  Stets  verlängern  sich  dabei  die  Epithelien  da,  wo  sie  mit 
den  Abkömmlingen  des  Gefässblatls  in  Berührung  kommen,  und  stellen 
sich  mit  ihrer  Längsachse  senkrecht  zur  Fläche  der  umgebenden  Hülle. 
Bei  det)i  Frosch  behalten  die  Epithelien  zunächst  ihre  Pigmentirung  bei 
und  unterscheiden  sich  dadurch  auf  den  ersten  Blick  von  den  pigmenl- 
armen  Gewebszügen,  welche  dem  Gefässblatt  angehören.  In  ähnlicher 
Weise  lassen  sich  bei  den  übrigen  Wirbelthieren  die  protoplasmareichen 
Zellen  des  Epithels  durch  die  Imbibitionsmethode  von  den  viel  proto- 
plasmaärmeren des  interstitiellen  Gewebes  sondern.  Es  gehl  daraus 
hervor,  dass  bei  diesen  abgeschnürten  Drüsen  von  einer  Entwicklung 
von  Epithelien  aus  Elementen  des  Gefässblatts  resp.  der  Bindesubstanz 
ebensowenig  die  Rede  sein  kann  wie  bei  der  Entwicklung  der  aus  dem 
Hornblatt  resp.  Darmdrüsenblalt  diiect  hervorgehenden. 

Die  Schilddrüse  bleibt  auf  dem  zweiten  Entwicklungsstadium  so 
lange  stehen,  bis  die  Schläuche  durch  Verlängerung  und  Sprossen- 
bildung bis  zu  einem  gewissen  Grade  sich  vermehrt  haben,  was  bei 
verschiedenen  Thieren  ungleiche  Zeiträume  beansprucht.  Erst  wenn 
das  Lumen  im  Innern  der  Schläuche  deutlicher  sich  ausprägt,  beginnt 
die  Sonderung  einzelner  Abschnitte  durch  zwischen  wachsende  Fort- 
sätze des  Gefässblatls  und  damit  das  dritte  Stadium,  jenes  der  Follikel- 
bildung.  Es  durchläuft  demnach  die  Schilddrüse  analoge  Metamorpho- 
sen ihres  specifischen  Parenchyms,  wie  sie  durch  die  sorgfältigen  Unter- 
suchungen Pflüger's  ')  und  VValdever  s  2)  für  die  specifischen  Elemente 
des  Ovarium  feststehen.  Während  aber  im  letzteren  Fall  die  Ursache 
für  die  Entwicklung  der  einzelnen  Follikel  klar  zu  Tage  liegt,  indem 
eine  zur  Eizelle  sich  differenzirende  Epithelzelle  den  Ausgangspunkt 
für  die  Sonderung  der  einzelnen  Abschnitte  bildet,  ist  die  Ursache  dqi' 
analogen  Metamorphose  der  netzförmigen  Schläuche  der  Schilddrüse 
zur  Zeit  rälhselhaft.    Es  lässt  sich  bei  der  Gleichartigkeit  des  Epithels 


•1)  Ueber  die  Eierstocke  der  Säugethicre  und  des  Mensclicn.  Leipzig  18G2. 
2]   Eierstock  und  Ei.  Leipzig  1869. 


452  Wilhelm  Müller, 

nur  vermuthen ,  dass  bestimmte  in  dem  Secret  auftretende  Stoffe  es 
sind,  welche  zur  Ursache  werden,  dass  das  anliegende  Gefassblatt  mit 
der  zugehörigen  Bindesubstanz  die  zusammenhängenden  Schläuche  in 
einzelne  Räume  sondert,  welche  eine  möglichst  grosse  Oberfläche  für 
den  Diffusionsstrom  zwischen  Inhalt  und  umspinnenden  Blut-  und 
Lymi)hbahnen  darbieten.  Wir  wissen  über  diese  Stoffe  sowie  über  die 
Function  der  Schilddrüse  bis  jetzt  so  gut  wie  nichts ;  ich  komme  aber 
im  Gegensatz  zu  His  zu  der  Ueberzeugung ,  dass  ein  Organ ,  welches 
durch  die  sämmtlichen  Wirbelthierclassen  unverändert  sich  vererbt  hat 
und  wenigstens  bei  den  Säugethieren  von  verschiedenen  Seiten  her  in 
so  ausgiebiger  Weise  mit  strömendem  Blute  versorgt  wird,  im  Laufe 
der  successiven  Vervollkommnung  der  Organismen  nicht  entbehrlich 
geworden  sein  kann.  Es  wird  Aufgabe  der  Physiologie  sein,  durch 
eine  Vergleichung  der  aus  der  Schilddrüse  abfliessenden  Lymphe  mit 
der  Lymphe  anderer  Organe  und  mit  dem  dieOefässe  durchströmenden 
Blut  namentlich  in  Bezug  auf  die  in  beiden  enthaltenen  Eiweissmodi- 
ficalionen  und  sogenannten  Extractivstoffe  den  ganz  willkürlichen  Spe- 
culationen  über  die  Function  der  Schilddrüse  ein  Ende  zu  machen, 
welche ,  wie  der  von  Liebermeister  veröffentlichte  Versuch ,  als  völlig 
aus  der  Luft  gegriffen  bezeichnet  werden  müssen. 


Erklärung  der  Abbildungen. 

Tafel  X. 

Fig.  9.  Schnitt  durch  die  Schilddrüse  eines  Schweinsembryo  von  IS  Centimeter. 
a  Follikel,    b  Schlauchförmige  Drüsenanlage,    c  Interstitielles  Gewebe. 

Tafel  XI. 

Fig.  4.  Sagittaler  Schnitt  durch  Kopf  und  Hais  eines  Hühnchenembryo  vom  drit- 
ten Bebrütungstag.  o  Gehörbläschen,  b  Erster  Kiemenbogen.  c  Schild- 
drüsenanlage,   d  Kiemenarterienstamm. 

Fig.  2.  Derselbe  Schnitt  von  einem  4  Tage  alten  Hühnchenembryo,  a  Erster  Kie- 
menbogen. 6  Kiemenarterienstamm.  c  Anlage  der  Schilddrüse  mit  ihrem 
in  Atrophie  begriffenen  Ausführungsgang. 

Fig.  3.  Querschnitt  des  Halses  eines  Hühnchenembryo  vom  fünften  Bebrütungstag. 
a  Pharynx.  6  Aditus  laryngis,  c  Vorderste  Kiemenarterie  (Carotis),  d  Gan- 
glion nervi  vagi.  e  Ein  zweites,  vor  diesem  liegendes  Ganglion,  wohl  dem 
Sympathicus  mcdius  angehörend.    /"Anlage  der  Schilddrüse. 

Fig.  4.  Querschnitt  des  Halses  eines  Hühnchenembryo  vom  Anfang  des  siebenten 
Bebrütungstags.    a  Oesophagus,    b  Trachea,    c  Carotis,    d  Ganglion  vagi. 


4.  Uebcr  die  Entwicklung  der  Schilddrüse.  453 

e  Von.T  jugularis.     /  fiaiii^lion  syinpalliici.     g  l'iiari^c!  Aiilaüo  der  Scliild- 

driisc. 
Fip;.  5.     Quersclinitt  der  vorderen  Hälfte  des  Halses  eines  Hundeemhryo  von  15  Mm. 

Lange  (seil  der  lelzlen  IJegattiini^  30  Tai^e  alt),     a  Oesophagus,    b  Trachea, 

c  Carotis,    d  Nervus  vagus.    c  Vena  jugularis.    /Anlage  des  Musculus  stcr- 

nothyreoideus.    g  Anlage  der  Schilddrüse. 
Fig.  6.     Schnitt    durch    die    Schilddrüse    eines     30    .Mm.     langen     Staarenihryo. 

a  Schlauchförmige  Drüsenanlagen,    b  Follikel,     c  Interstitielles  Gewebe. 
Fig.  7.     Schnitt    durch    die   Schilddrüse    eines   Schafembryo    von    6   Centimclcr. 

a  Schlauchförmige  Drüsenanlagen.      6. In  der  Bildung  begriffene  Follikel. 

c  Interstitielles  Gewebe  mit  den  Hlutgefässen. 

Tafel  XII. 

Fig.  3.  (Querschnitt  einer  Froschlarve  von  5  Mm.  im  Niveau  der  Schilddrüscn- 
anlage.  a  Gehirn  mit  der  Anlage  des  inneren  Ohrs.  6  Chorda,  c  Schlund- 
hohle,  d  Anlage  der  Schilddrüse,  e  Fortsalz  der  Haut  am  Buden  der 
Mundhöhl«. 

Fig.  4.  Sagittaler  Schnitt  durch  eine  Larve  von  gleicher  Länge,  o  Chorda. 
b  Schlundepithel,  c  Anlage  der  Schilddrüse,  d  Herz,  e  Kiemcnarlerien- 
stamm. 

Fig.  5.  Querschnitt  einer  Larve  von  Rana  temporaria  von  6  Mm.  Länge,  a  Gehirn. 
b  Chorda,  c  Schlundhohlc.  d  Aidage  der  Schilddrüse,  durch  einen  dün- 
nen Ausführungsgang  mit  dem  Schlundepithel  noch  zusammenhängend. 

Fig.  6.  Querschnitt  einer  Froschlarve  von  8  Mm.  o  Gehirn  mit  der  Anlage  des  in- 
neren Ohrs,  b  Chorda,  c  Schlundhohlc.  d  Die  vom  Schlund  vollkommen 
abgeschnürte  Anlage  der  Schilddrüse. 

Fig.  7.  Querschnitt  einer  Larve  von  11  Mm.  a  Geliirn.  b  Chorda,  c  Schlund- 
höhle, d  Dreieckiger  Fortsatz  des  Zungenbeinkorpers.  e  Anlage  der 
Schilddrüse,  einen  zwerchsackähnlichen ,  stark  pigmcntirten  Körper  bil- 
dend. 

Fig.  8.  Längsschnitt  einer  Larve  von  11  Mm.  a  Unterkiefer,  b  Zungenbein,  bei 
c  dessen  dreikantiger  Fortsatz,  d  Anlage  der  Schilddrüse,  e  Kiemen- 
arterienslamm.  /"Herz.  ^  Darmschlingen.  /i  Adilus  laryngis,  links  davon 
der  Durchschnitt  des  rechten  Bronchus. 

Fig.  9.  Querschnitt  des  Zungenbeins  und  der  Schilddrüsenanlage  einer  Larve  von 
Rana  temporaria  von  20  Mm.  Länge,  a  Knorpeliger  Fortsatz  des  Zungen- 
beins. 6  Schilddrüse  im  Stadium  der  schlauchförmigen  Drüsenanlagen, 
c  Muskeln. 

Fig.  10.  Derselbe  Schnitt  von  einer  Larve  von  25  Mm.  o  Fortsatz  des  Zungenbein- 
körpers,    b  Schilddrüse  im  Stadium  der  Follikelbildung.    c  Muskeln. 

Fig.  11.  Querschnitt  der  Schilddrüse  und  ihrer  Umgebungen  von  einem  jungen 
Exemplar  der  Rana  temporaria ,  welches  vor  kurzem  den  Schwanz  ver- 
loren hat.  o  Processus  thyreoideus  des  Zungenbeins,  b  Schikhlrüsc. 
c  Muskeln,    d  Aeussere  Haut. 


454  Wilhelm  Müller, 


5.   Zn'ei  Fälle  von  aiigeboreiieiu  Adenom  der  Schilddrüse. 

Die  beiden  nachstehenden  Fälle  von  angeborenem  Adenom  der 
Schilddrüse  verdanke  ich  der  Liberalität  meines  Collegen  Professor 
Frankenhäuser,  in  dessen  Praxis  sie  zur  Beobachtung  gekommen  sind. 

1)  S.,  während  der  Geburt  verstorbenes  Mädchen.  Section  134 
vom  28.  December  1806.  Kräftig  entwickeltes  Kind  mit  starker  Yor- 
kopfgeschwulst  an  der  linken  Seite  des  Hinterhaupts.  Cyanose  der 
Lippen.  Starke  Füllung  der  Jugularvenen.  Beide  Lungen  luftleer, 
blauroth,  der  Wirbelsäule  platt  anliegend,  nur  die  rechte  an  einzelnen 
inselförmigen  Stellen  lufthaltig.  Im  Rachen  und  der  Trachea  grünlich- 
gelbe meconiumhaltige  Flüssigkeit ;  letztere  in  der  Mitte  von  beiden 
Seiten  her  verengt.  Beide  Schilddrüsenhörner  vom  Umfang  je  eines 
massigen  Hühnereis,  fester  Consistenz,  biaunrother  Farbe,  körniger 
BeschafTenhoit  der  Schnittfläche.  In  allen  übrigen  Körperorganen  ausser 
den  Folgen  der  Venenstauung  keine  bemerkenswerthen  Veränderungen. 

2)  P.,  während  der  Geburt  verstorbener  Knabe.  Section  92  vom 
2.Ö.  Mai  1870.  Ausgetragenes  Kind.  Gesicht  cyanolisch.  Hals  beider- 
seits durch  eine  unter  der  Haut  liegende  Geschwulst  vorgebuchtet.  An 
Thorax  und  Abdomen  äusserlich  nichts  Bemerkenswerlhes.  Enorme 
Füllung  der  Venen  der  Pia  mater  von  dunklem  Blut;  ebenso  der  Jugu- 
larvenen in  der  oberen  Hälfte  des  Halses.  Umfangreiche  doppelseilige 
Geschwulst  der  Schilddrüse  von  dunkel  braunrolher  F'arbe,  fester  Con- 
sistenz und  drüsig -körnigem  Bau.  Lungen  nur  unvollkommen  luft- 
haltig. Beide  Herzventrikel  leicht  vergrössert,  Klappen  intact.  Die 
übrigen  Organe  ausser  den  Erscheinungen  venöser  Hyperämie  nichts 
Abnormes  bietend. 

Die  Dimensionen  der  seitlichen  Lappen  der  Schilddrüse  waren  im 
ersteren  Fall :  Höhe  3,5,  Breite  3,  Dicke  2,5  Gen timeter;  im  letzteren 
ergeben  die  entsprechenden  Maasse :  4  resp.  3,5  und  2,5  Cent.  Form 
und  Lage  des  Organs  entsprachen  in  beiden  Fällen  dem  normalen  Ver- 
halten. Der  Bau  stimmte  mit  jenem  überein,  welchen  die  Schilddrüse 
des  Neugeborenen  gewöhnlich  darbietet.  Von  der  bindegewebigen 
Kapsel  aus  erstreckten  sich  gefässhaltige  Forlsätze  in  das  Innere,  durch 
welche  das  Parenchym  in  eine  grosse  Zahl  von  rhomboidischen  Läpp- 
chen abgetheill  wurde.  Diese  Läppchen  setzten  sich  zu  ziemlich  glei- 
chen Theilen  zusammen  aus  Drüsensubstanz  und  interstitiellem  Gewebe. 
Erstere  bestand  zum  grösseren  Theil  aus  einem  lockeren  Netz  cylin- 
drischer,  an  den  Enden  hie  und  da  mit  leichten  Auftreibungen  ver- 
sehener Schläuche  von  0,01  4  —  0,03  Durchmesser.     Sie  bestanden  aus 


5.  Zwei  Fälle  von  aiißphnrfiioiii  Adenom  der  Schilddrüse.  455 

einer  zarten  Bindesubstanzhülle  und  dieser  aufsitzendem  kurzen  Cylin- 
derepithel  von  0,007  Länge  hei  0,(iOö  Dicke  mit  rundem  Kern  von 
0,0030  —  0,0045.  Die  Epilhelien  Hessen  an  der  Mehrzahl  der  Schläuche 
in  der  Mitte  ein  schmales,  scharf  begrenztes  Lumen  frei.  Zum  kleine- 
ren Theil  bestand  die  Drüsensubstanz  aus  abgesonderten  Follikeln. 
Ihre  Gestalt  war  sehr  ungleich,  von  der  kugeligen  und  ellipsoi- 
dischen  bis  zur  unregelmässig  verzogenen  wechselnd;  ihr  Durchmesser 
schwankte  zwischen  0,016  und  0,04.  Sie  bestanden  wie  die  schlauch- 
förmigen Anlagen  aus  einer  dünnen  Membrana  propria,  flachem  cylin- 
drischen,  in  einfacher  Schicht  dieser  aufsitzendem  Epithel  und  scharf 
begrenzter  centraler  Höhle.  Das  interstitielle  Gewebe  setzte  sich  zu- 
sammen aus  den  Gefässen  und  der  die  letzteren  umscheidenden  Binde- 
substanz. Die  Gefässe  waren  in  ihrem  capillaren  Abschnitt  erheblich 
erweitert,  im  Mittel  0,016  im  Durchmesser,  von  0,01  bis  0,024  schwan- 
kend. Ihr  Bau  Hess  ausser  stellenweise  vorhandenen  Schwankungen 
im  Caliber  und  dadurch  bedingtem  varikösen  Aussehen  keine  Abwei- 
chung vom  gewöhnlichen  Verhallen  wahrnehmen.  Die  umscheidende 
Bindesubstanz  bestand  aus  einem  lockeren  Netz  dünner  Fibrillen  mit 
zwischenliegenden  spindelförmigen  Zellen  und  spärlichen  Lymphkör- 
pern:  sie  lag  den  Capillaren  dicht  an  und  erfüllte  die  schmalen  Zwi- 
schenräume derselben. 

Da  weder  die  interstitielle  Bindesubstanz  noch  die  Binnenräume 
des  Drüsengewebes  Abweichungen  von  dem  in  der  normalen  Schild- 
drüse des  Neugeborenen  gewöhnlichen  Befund  darboten ,  so  ist  die 
Annahme  einer  auf  acutem  Oedem  der  Bindesubstanz  oder  stärkerer 
Füllung  der  Drüsenräume  bedingten  Schwellung  der  Drüse  im  Sinne 
Bednar's  für  beide  vorliegende  Fälle  unstatthaft.  Der  Befund  nöthigt 
vielmehr  zu  der  Annahme,  dass  eine  das  normale  Maass  weit  über- 
schreitende Vermehrung  der  Drüsenanlagen  und  eine  entsprechende 
vermehrte  Sprossenbildung  des  Gefässblattes  zu  der  beträchtlichen 
Vergrösserung  des  Organs  den  Anlass  gegeben  hat.  Letztere  beruhte 
mithin  in  beiden  Fällen  auf  ächter  Adenombildung  i).  In  Bezug  auf  die 
Aetiologie  des  ersteren  Falls  wurde  eine  Recherche  durch  die  kurz  nach 
der  Entbindung  erfolgte  Abreise  der  Mutter  verhindert.  In  dem  zwei- 
ten Fall  ergab  sich,  dass  nicht  nur  die  Eltern  der  Mutter  mit  Kropf  be- 
haftet sind,  sondern  dass  auch  die  in  den  zwanziger  Jahren  stehende, 
erst  vor  Kurzem  aus  der  Umgegend  von  Tübingen  in  das  Saalthal  ein- 


1)  Ich  vermeide  die  Bezeichnunsi  Struma,  in  welcher  ich  nichts  als  einen  für 
die  Praxis  vorläufig  noch  nützlichen  CoUectivnamon  tüiAnschwellunizen  der  Schild- 
drüse sehe,  welche  ihrem  Wesen  nach  ganz  diflferenten  Geschwulstformen  ange- 
hören können. 

Bd.  vi.    3.  31 


456  Wilhelm  Müller, 

gewanderte  Mutter  einen  nicht  unbedeutenden  Kropf  besitzt.  Dies  liisst 
auf  die  Wahrscheinlichkeit  schliessen,  dass  die  Ursache  der  Kropf- 
bilduns  von  der  Mutter  auf  das  Kind  übertragen  worden  ist. 


6.  Zwei  Fälle  von  Epithelioma  cyliiidrocellulare  der  Schilddrüse 
nebst  ßeinerkungeu  zur  Theorie  der  Epitheliombilduug. 

Die  Herkunft  der  specitischen  Elemente  in  den  Epitheliomen  ist 
zur  Zeit  Gegenstand  einer  Controverse. 

Nach  der  einen  Ansicht  erfolgt  die  Epitheliombildung  stets  im  An- 
schluss  an  priiexistirende  Epithelien.  Die  Vertreter  dieser  Ansicht  füh- 
ren zu  deren  Begründung  an:  i)  dass  die  Entwicklung  der  neugebil- 
deten Epithelien  kein  Gegensiand  der  unmittelbaren  Beobachtung  sei, 
dass  man  daher  nur  unter  Zuhülfenahme  von  Analogien  Schlüsse  über 
die  Art  ihrer  Entwicklung  aus  dem  mikroskopischen  Befund  ziehen 
könne  (C.  Thiersch^))  ;  2)  dass  man  bei  der  Untersuchung  von  Epithe- 
liomen an  den  Stellen,  an  welchen  der  Process  in  frischer  Entwicklung 
begriffen  sei,  den  Zusammenhang  der  neugebildeten  Epithelien  mit  den 
ursprünglich  vorhandenen  constatiren  könne  (Hannover^),  Remak^I^ 
TiiiERSCH,  Waldeyer^))  ;  3)  dass  man  bei  Anwendung  geeignetei-  Unter- 
suchungsmethoden die  epithelialen  Elemente  in  den  Epitheliomen  eben 
so  scharf  von  den  Elementen  der  gefässführenden  Bindesubstanz  tren- 
nen könne  wie  bei  der  embryonalen  Entwicklung  der  aus  dem  oberen 
oder  unteren  Keimblatt  sich  hervorbildenden  Drüsen,  ohne  dass  dabei 
ein  Uebergang  von  Bindegewebszellen  in  Epithelien  und  umgekehrt 
sich  erweisen  lasse;  4)  dass  die  Epitheliombildung  als  primäre  Erkran- 
kung wohl  den  Haut-  und  Schleimhauttexturen,  nicht  aber  den  serö- 
sen Häuten  zukomme,  deren  Epithelien  gleich  jenen  des  Urogenital- 
systems einen  andern  Stammbaum  hätten  als  die  Haut-  und  Schleim- 
hauteiiithelien  (C.  Thiersch)  ;  5)  dass  das  Auftreten  von  Epitheliomen 
und  verwandten  Geschwülsten  an  Stellen,  welche  unter  normalen  Ver- 
hältnissen kein  Epithel  führen,   sich  ableiten  lasse  von  Epithelialgebil- 


1)  Der  Epithelkrebs,  namentlich  der  Haut.   Leipzig  1865. 

2)  Das  Epithelioma.  Leipzig  1852. 

3)  Deutsche  Klinik  1854.  p.  170. 

4)  Archiv  für  pathologische  Analomie  1869.   Bd.  41. 


6.  Zwei  Fälle  von  K[»illielioiUii  cytiiidrorftlliilarfi  der  Scliilddrüse.  457 

den,  welche  abnormen  Wachslhumsvorgängen  während  der  Embryonal- 
zeit ihre  Lagerung  verdanken  (Remak). 

Von  diesen  Gründon  sind  die  drei  ersten  weitaus  die  wichtigsten. 
Der  vierte  winde  nur  in  d(Mii  Fall  für  die  Kpilhelioinbildung  volle  Ver- 
werthung  finden  können,  wenn  für  das  Epithel  aller  Organe,  in  wel- 
chen Epitheliombildung  bis  jetzt  beobachtet  ist,  die  Abstamnuing  aus 
dem  oberen  oder  unteren  K.eind)latt  nachgewiesen  wäre.  Dieser  Nach- 
weis ist  für  die  epithelialen  Elemente  des  Urogenilalsyslems  bis  jetzt 
nicht  gefuhrt,  dieses  System  liefert  aber  Epitheliome  von  demselben 
Bau,  wie  sie  auf  der  äusseren  Haut  oder  der  Digestionsschleimhaut  ge- 
funden werden.  Der  fünfte  Grund  ist  überhaupt  schwer  zur  Evidenz 
zu  bringen,  obwohl  seine  Berücksichtigung  in  geeigneten  Fällen  un- 
erlästilich  ist. 

C.  Thiersch,  welcher  als  der  Hauptvertreter  dieser  Ansicht  betrach- 
tet werden  kann,  geht  noch  einen  Schritt  weiter,  indem  er  eine  Theorie 
der  Epitheliombildung  zu  geben  versucht.  Nach  ihm  ist  der  Ausgangs- 
punkt der  Epilheliombildung  zunächst  in  dem  Epithel,  aber  nicht  in 
diesem  allein,  eine  vermehrte  Production  von  Epithel  könne  an  und  für 
sich  niemals  Epilhelkrebs  erzeugen.  Eine  Veränderung  des  Stroma 
müsse  dieser  Production  von  Epithel  den  Weg  bahnen,  der  Widerstand, 
welchen  das  Stroma  dem  Andringen  des  Epithels  leiste,  müsse  vermin- 
dert sein,  sonst  lasse  sich  das  rasche  Eindringen  nicht  erklären. 
Thiersch  glaubt,  dass  in  einer  vorgerückten  Altersperiode  die  Wachs- 
thumsvorgänge  der  epithelialen  Ueberzüge  niancher  Orte  energischer 
von  statten  gehen  als  diejenigen  des  Stroma  und  sucht  in  dieser  Stö- 
rung des  Gleichgewichts  zwischen  gefässlialtigem  Stroma  und  Epithel 
die  senile  Disposition  für  den  Epithelkrebs. 

Die  zweite  Ansicht  hat  ihren  Hauptvertreler  in  Virchow').  Nach 
ihm  lassen  sich  die  epidermoidalen  Gebilde  bezüglich  ihrer  Herkunft  in 
drei  Gruppen  scheiden:  1)  die  gewöhnliche  Epidermis  mit  ihren  Fort- 
sätzen in  die  Haarbälge  und  Hautdrüsen ,  sowie  die  epidermoidalen 
Ueberzüge  gewisser  Canäle  und  Schleimhäute  (des  Mundes,  des  äusse- 
ren Ohrs)  ;  2)  durch  Umbildung  aus  Drüsenzellen  entstandene  epider- 
moidale  Zellen  :  Thymus,  Milchdrüse,  Ilode ;  3)  aus  Bindegewebe  her- 
vorgegangene epidermoidale  Zellen  :  Cankroid,  Cholesteatom.  Zur  Be- 
gründung der  letzteren  Angabe  führt  Virchow  eine  Beobachtung  von 
Cholesteatom  in  der  Pia  maier  an,  welche  sich  bei  einem  34jährigen 
Tuberculosen  am  Pens  fand.  Ueber  den  Umfang  der  Geschwulst  findet 
sich  so  wenig  eine  Angabe  als  eine  Erörterung  der  Gründe,   aus  wel- 


1     Archiv  für  patiiniojjisciiP  Anatniiiit».  Vdf.    p.  4U. 

31 


458  Wilhelm  Müller, 

eben  ViRCHOw  ein  Wachsthum  derselben  noch  in  der  letzten  Lebenszeit 
des  Kranken  annimmt;  es  wird  nur  angeführt,  dass  derselbe  zu  keiner 
Zeit  des  Lebens  Erscheinungen  von  Seile  des  Nervensystems  dargeboten 
habe. 

In  der  Geschwulst  fanden  sich  ausser  grösseren  auch  kleinere 
Perlknoten  und  drüsige,  den  Windungen  von  Schweissdrüsen  ähnliche 
Schläuche.  Für  die  ersleren  gelang  es  Virchow,  eine  continuirliche 
Reihe  von  Entwicklungsstadien  bis  zu  einfachen  ,  rundlichen ,  leicht 
granulirten  Zellen  mit  Kern  und  Kernkörperchen  herzustellen,  indem 
er  auf  Grund  von  Essigsäurepräparaten  Zellengruppen  von  verschie- 
denen Dimensionen  zu  einer  Entwicklungsreihe  verwerthet.  Ebenso 
werden  die  Drüsenschläuche  für  ausgewachsene  Zeilen  erkläit  und  da- 
für in  Fig.  II  eine  naturgetreue  Abbildung  geliefert,  in  welcher  die 
rechts  unten  befindlichen  Gebilde  für  proliferirende  Bindegew ebskörper 
erklärt  werden ,  welche  in  der  Umwandlung  zu  den  Epithelien  des 
Cholesteatom  begriffen  seien. 

Man  sollte  erwarten,  dass  zur  Begründung  einer  so  weittragenden 
Angabe  das  Gefässsystem  durch  Injection  sichtbar  gemacht,  dass  ferner 
durch  die  Methode  der  successiven  Schnitte  oder  durch  Hebung  und 
Senkung  des  Tubus  der  Beweis  wenigstens  versuch!  worden  wäre, 
dass  die  in  Fig.  II  abgebildeten  Zellengruppen  nicht  Querschnitten  von 
drüsigen  Schläuchen  entsprachen.  Von  alle  dem  findet  sich  Nichts.  Bei 
dieser  Sachlage  kann  ich  der  Beweisführung  Virchow's  ebensowenig 
Gewicht  beilegen,  als  den  auf  gleich  unvollkommene  Untersuchungs- 
methoden sich  gründenden  Angaben  Förster's  '],  welcher  gleich  Virchow 
die  eigenthümlichen  Zellen  des  Epithelioms  aus  den  zelligen  Elementen 
der  Bindesubstanz  hervorgehen  lässt. 

Durch  den  Nachweis  von  Epitheliombildung  in  einem  Organ,  wel- 
ches normal  keine  aus  dem  oberen  oder  unteren  Keimblatt  ableitbaren 
Epithelien  führt,  haben  Ebertb^)  und  Arndt ^]  die  Angaben  Virchow's 
zu  stützen  versucht. 

Eberth  beschreibt  ziemlich  verbreitete  flache  Verdickungen  der 
weichen  Gehirnhäute  und  derGefässscheiden  im  Gehirn  einer  47jährigen 
Frau,  welche  etwa  1 '/2  J^^re  die  Erscheinungen  des  Blödsinns  dar- 
geboten hatte.  Er  bezeichnet  die  Veränderung  in  der  Ueberschrift  als 
Epitheliom  (Cholesteatom),  um  in  der  Abhandlung  selbst  zu  erklären, 
dass  an  den  verdickten  Stellen  weder  geschichtete  Epithelien  noch 
Cholestearinablagerungen  sich  vorfanden.    Es  lässt  sich  nicht  einsehen, 

1)  Die  genaueren  Literaturangaben  sietie  bei  Thiersch,  Epitlielkrebs. 

2)  Arcliiv  für  pathologische  Anatomie  Bd.  49  p.  51. 

3)  Ebendaselbst  Bd.  51.  p.  495. 


6.  Zwei  Fülle  von  Kiiitliclioina  cyliiidrocelliiliire  der  Scliilddrüse.  150 

warum  dann  die  Neubildung  als  Cholesteatom  bezeichnet  v\ir(l.  Sieht 
man  sich  über(ii(  s  die  Beschreibung  und  die  Abbildungen  näher  an, 
so  ergiebt  sich,  dass  hier  ein  bei  der  fibrösen  I.eplninenincilis  der  b'ren 
nichts  weniger  als  seltener  Befund  vorgelegen  hat,  weicher  mit  Kpilhe- 
liombildung  nicht  das  Geringste  zu  thun  hat  und  Jedem  bekannt  ist, 
der  sich  einigerinaassi  n  mit  den  Veränderungen  der  Hirnhäute  und 
Hirngefässe  von  b'ren  beschäftigt  hat.  Ich  besitze  eine  g;inze  Reihe  von 
Präparaten,  welche  theils  mit  Hulfe  der  Goldchlorid-  oder  Silberim- 
prägnation,  theils  mit  Hülfe  der  Carminfärbung  aus  den  Gehirnen  ver- 
schiedener Individuen  dargestellt  sind,  welche  in  der  hiesigen  Irren- 
anstalt an  jfibröser  Leptomeningitis  mit  granulirtem  Ependym  und 
Hydrocephalus  gestorben  sind.  Sie  geben  nicht  nur  in  der  Arachnoidea 
und  Pia,  sondern  auch  in  den  Scheiden  der  Hirngefässe  die,  wie  ich 
anerkenne,  völlig  wahrheitsgetreuen  Bilder  selbst  bis  auf  Einzelheiten 
genau  wieder,  welche  Eberth  seiner  Abhandlung  beigegeben  hat.  Die 
Veränderung  geht  in  allen  diesen  Fällen  von  der  Adventitia  derGefässe 
aus,  welche  mit  Zellen  sich  infdtrirt,  welche  theils  mit  Lymphkörpern 
übereinslinunen,  theils  grösser,  proloplasmareich  und  mehrkernig  sind. 
In  der  Peripherie  zeigen  diese  Zellen  eine  grosse  Neigung,  nach  Art 
embryonaler  Endothelien  zu  cubischen  oder  regelmässig  polygonalen 
Gebilden  sich  zu  gestalten  und  diese  Neigung  trifft  zusammen  mit  einer 
in  der  Pia  stärker,  im  Innern  des  Gehirns  weniger  ausgeprägten  Pro- 
duclion  zollenarliger  Sprossen  von  Seite  der  verdickten  Gefässadven- 
titien.  Zwischen  den  Zellenanhäufungen  finden  sich  nicht  selten  kleine 
Hämatoidinkrystalle  und  theils  runde,  theils  etwas  in  die  Länge  gezo- 
gene, bisweilen  etwas  gewundene  Gehirnamyloide.  Mit  Epitheliom- 
bildung  hat  der  Process  nicht  den  geringsten  Zusammenhang ,  dagegen 
hat  er  sein  Analogen  in  den  Zoltenbildungen.  welche  an  der  Oberfläche 
der  Leber  oder  der  iMilz  im  Verlauf  chronischer  Hyperämien  dieser 
Organe  zur  Entwicklung  kommen. 

Mit  dem  Nachweis,  dass  die  Angaben  Eberth's  auf  einem  Irrthum 
beruhen,  verliert  die  Beobachtung  Arndt's,  der  sich  auf  Eberth  beruft, 
ihre  Bedeutung  für  die  Lehre  von  der  Epitheliombildung.  Es  handelt 
sich  in  diesem  Fall  um  eine  wallnussgrosse  Geschwulst  der  Pia  mater 
von  papillärer  Beschaffenheit,  welche  in  den)  Raum  zwischen  den  Hirn- 
stielen, der  Brücke  und  dem  hinteren  Abschnitt  des  Infundibulum  eines 
26jährigen  Dienstmädchens  sich  fand.  Ueber  die  Erscheinungen  wäh- 
rend des  Lebens  wird  nichts  mitgetheilt,  ebensowenig  über  die  Beschaf- 
fenheil des  Gehirnabschnitts,  welcher  über  der  Geschwulst  lag.  Letztere 
muss  ihren  Sitz  gerade  unterhalb  der  Corpora  candicanlia  am  Ende  der 
Basilararterie  schabt  haben.     Die  Geschwulst  bestand  im  Wesentlichen 


460  Wilhelm  Müller, 

aus  gefässführenden  und  gefässlosen  Papillen ,  welche  von  Epithel 
überzogen  waren.  Ob  dies  Epilhelien  oder  Endolhelien  waren  ,  lässt 
sich  mit  Sicherheit  aus  der  Beschreibung  und  Abbildung  nicht  entneh- 
men ,  die  Figuren  g  und  k  entsprechen  nicht  den  Riffzellen ,  wie  die 
Epidermis  sie  führt.  Die  Behauptung  Arndt's  ,  dass  diese  Zellen  aus 
freien  Kernen  der  Gefässwand  sich  entwickelt  haben ,  spricht  für  ihre 
endotheliale  Natur.  Drei  Möglichkeiten  liegen  für  die  Entwicklung  der 
Geschwulst  vor.  I)  Die  Pia  führt  zwischen  dem  Ende  der  Basilararterie 
und  dem  Processus  infundibuli  einen  Plexus  kleiner  Arterien ,  das 
Ependym  am  Boden  des  hinteren  Abschnittes  des  Infundibulum  ist  na- 
mentlich zwischen  beiden  Corp.  candic.  äusserst  dünn,  so  dass  das 
Ventrikelepithel,  ein  unzweifelhafter  Abkömmling  des  oberen  Keim- 
blatts, der  Pia  fast  unmittelbar  aufsitzt.  Hat  man  Veranlassung,  eine 
grössere  Anzahl  von  Gehirnen  auf  die  Beschaffenheit  der  Zwischenhirn- 
basis  zu  untersuchen,  wozu  mich  die  Untersuchung  über  die  Entwick- 
lung des  Infundibulum  nöthigte.  so  findet  man  in  einzelnen  Fällen  ähn- 
liche Abschnürungen  des  an  der  Hirnbasis  zwischen  den  Corp.  candic. 
liegenden  Ventrikelabschnitts,  wie  sie  am  Hinterhorn  häufig  sind.  Wird 
die  abgeschnürte  Stelle  Sitz  pathologischer  Plexusbildung ,  so  können 
die  Zotten  nach  Durchbrechung  der  dünnen  Wand  in  den  Subarach- 
noideairaum  gelangen.  2)  Die  Stelle  der  Pia,  von  welcher  nach  der 
Angabe  Arndt's  die  Geschwulst  ausgegangen  ist,  entspricht  dem  Ende 
des  ursprünglichen  mittleren  Schädelbalken.  Bildet  sich  frühzeitig  eine 
Adhäsion  zwischen  ihm  und  der  anliegenden  Pia,  so  kann  ein  umschrie- 
benes Stück  der  letzteren  zugleich  mit  dem  überliegenden  Ependym 
während  der  Umwandlung  des  mittleren  Schädelbalken  in  die  Scheide 
der  Basilararterie  ausgezogen  und  abgeschnürt  werden.  Wird  dieses 
Stück  später  Sitz  von  Papillenbildung,  so  kann  eine, Geschwulst  von 
der  Beschaffenheit  der  beschriebenen  zur  Entwicklung  gelangen. 
3)  Von  den  Gefässadventilien  der  Pia  aus  kann  die  Bildung  zolten- 
arliger  Sprossen  in  Geschwulstform  erfolgen,  die  Endothelien,  welche 
die  Zotten  umgeben,  köimen  in  den  Vertiefungen  in  ähnlicher  Weise 
zu  concentrischen  Lagen  sich  gruppiren  wie  die  Epithelien  eines  Epi- 
thelioms. Die  Erörterung  dieser  Möglichkeiten  konnte  Arndt  nicht 
umgehen,  wenn  ihm  die  einfachsten  Thatsachen  aus  der  Entwicklungs- 
geschichte der  Zwischenhirnbasis  und  die  Arbeiten  von  Remak  und 
Thiersch  bekannt  waren.  Angesichts  der  geringen  Vorsicht  des  Ver- 
fassers, von  welcher  die  Unterlassung  dieser  Erörterung  nicht  das  ein- 
zige Beispiel  ist^),    kann    ich  ihm  nicht  beistimmen,    wenn    derselbe 

i)  Auf  S.  500  werden  freie  Kerne  in  dem  subadventitialen  Lympliraum  für 
Lymphliörperchen,  resp.  weisse  Blutkörperchen  erklärt! 


6.  Zwei  Fälle  vnii  Kpilliclioiiift  cylindroccllulnre  der  Scliilddriisc  4G1 

seine  Angaben  für  geeignet  hält,  um  die  Entwicklung  von  Epithelien 
aus  Elementen  des  Gefässhiatls  zu  erweisen. 

Es  ist  endlieh  einer  dritten  Ansicht  zu  erwähnen,  nach  welcher 
die  specifischen  Elemente  hei  dem  Hautkrebs  von  den  Endolhelien  der 
Lymphgefässe  abstammen  sollen  '].  Diese  Ansicht  wird  hier  nicht  wei- 
ter erörtert  werden ;  in  einer  besonderen  Abhandlung  werde  ich  den 
directen  Beweis  liefern,  dass  die  Gründe,  welche  für  dieselbe  vor- 
gebracht werden,  für  das  Epitheliom  nicht  verwerthbar  sind. 

Ich  komme  auf  Giund  dei"  voranstellenden  Prüfung  tler  verschie- 
denen Ansichten  zu  dem  Schluss,  dass  bis  jetzt  die  Vertreter  der 
Ansicht,  nach  welcher  Epitheliombildung  stets  im  Anschluss  an  prä- 
existirende  Epithelien  erfolgt  und  das  gefässhaltige  Bindegewebe  an 
der  Production  dieser  Neubildung  nur  in  der  Weise  sich  beiheiligt  wie 
bei  der  Entwicklung  der  aus  dem  oberen  oder  unterea  Keimblatt  ab- 
stammenden Drüsen ,  die  besseren  Gründe  vorzubringen  im  Stande 
sind.  Komme  ich  in  dieser  Hinsicht  zu  demselben  Schluss  wie  Han- 
nover, Remak  und  Thiersch,  so  halte  ich  es  andrerseits  für  eine 
Uebertreibung ,  wenn  Waldeyer"^)  den  Ausgangspunkt  auch  für  die 
Carcinome  in  den  Epilhelialgebilden  des  Körpers  sucht.  Die  methodi- 
sche Untersuchung  der  Neubildungen ,  welche  seit  Errichtung  des  hie- 
sigen pathologischen  Instituts  zur  Beobachtung  gekommen  sind ,  hat 
mich  zu  der  Ueberzeugung  geführt,  dass  Carcinome  und  Epitheliome 
zwei  grundverschiedene  Neubildungen  sind,  in  deren  Aulfassung  aber 
sehr  wohl  ein  Schritt  nach  vorwärts  versucht  werden  kann.  Meiner  An- 
sicht nach  sind  beide  Processe  Infectionskrankheiten,  bedingt  durch  die 
Einwiikung  eines  Virus  ,  welches  mit  einer  geeigneten  Körperslelle  in 
Contact  kommen  muss.  Ueber  die  Natur  dieses  Virus  weiss  ich  nichts, 
nur  so  viel  schliesse  ich  aus  dem  Umstand,  dass  es  in  wirksamer  Weise 
zu  tief  liegenden,  nur  dem  Blutstrom  zugänglichen  Organen  zu  gelangen 
vermag,  dass  es,  wenn  eine  feste  Substanz,  in  äusserst  feiner  Verthei- 
lung  sich  befinden  muss.  Das  Virus  zeigt  in  beiden  Fällen  eine  analoge 
Beziehung  zu  den  zelligen  Elementen  des  betrollenen  Organs  wie  die 
Spermatozoiden  zu  den  entsprechenden  Eiern,  indem  es  dieselben  zu 
einer  der  embryonalen  entsprechenden  Vermehrung  veranlasst.  Das 
Virus,  welches  dem  Carcinom  zu  Grunde  liegt,  ist  abei'  dadurch  von 
dem  die  Epitheliombildung  hervorrufenden  wesentlich  verschieden, 
dass  es  gleich  dem  Virus  der  Syphilis  durch  eine  specifische  Beziehung 


1)  Karl  Kister,   die  Entwicklung  der  Carcinome  und  .Sarcome.    Würzburg 
1869. 

2)  Archiv  für  palliologisclie  Anatomie.  i869.  1kl.  44. 


462  Wilhelm  Müller, 

zu  den  zelligen  Elementen  der  Bindesubstanz  des  Körpers  ausgezeichnet 
ist,  während  das  Virus,  dessen  Einwirkung  Epitheliombildung  im  Ge- 
folge hat,  eine  specifische  Beziehung  zu  den  Epithelialgebilden  des 
Körpers  besitzt.  Von  der  letzteren  Neubildung  hat  man  nach  dem  ana- 
tomischen Befund  zwei  Formen  unterschieden,  die  eine  charakterisirt 
durch  die  vorwiegende  oder  ausschliessliche  Production  von  pflaster- 
förmigen,  die  andre  durch  eine  solche  von  cylindrischen  Epilhelien, 
welche  man  als  Epithelioma  pavimcntocellulare  und  cylindrocellulare  be- 
zeichnen kann.  Ich  halte  es  nicht  für  nothwendig,  dass  jeder  eine  be- 
sondere Alodification  des  eigenlhümlichen  Virus  zu  Gi'unde  liegt.  Die 
Entwicklung  jedes  Epithelioms  ist  meiner  Ueberzeugung  nach  das  Pro- 
duct  aus  der  Einwirkung  des  Virus  und  aus  den  besonderen  Eigen- 
schaften der  Epitholicn  der  betroffenen  Körperstelle.  Die  cylindrischen 
Epithelien  der  Darmschleimhaut  und  des  Uterus,  sowie  der  Mehrzahl 
der  aus  dem  unteren  Keimblatt  sich  hervorbildenden  Drüsen  liefern  in 
Folge  der  Infcction  Neubildungen  mit  cylindrischen»  Epithel,  welche 
wie  in  den  beiden  sogleich  zu  beschreibenden  Fällen  durch  besondere 
Anordnung  ihre  Abstammung  aus  einem  ganz  bestimmten  Organ  verra- 
then  können.  Die  Abkömmlinge  des  Hornblatts  und  die  Epithelial- 
gebilde  des  Larynx,  Oesophagus  und  der  Vagina  liefern  Neubildungen, 
deren  specifische  ^]  Zellen  durch  Neigung  zur  Abplattung  und  Verhor- 
nung mit  jenen  des  Mutterbodens  übereinstimmen.  Mit  Max  Schultze 
stimme  ich  darin  überein,  dass  die  Fähigkeit  der  Zellen,  sich  zu  ver- 
mehren, durch  deren  Proloplasmareichthum  wesentlich  bestimmt  wird. 
Dem  entsprechend  suche  ich  den  Angriffspunkt  des  Virus  bei  den  mit 
geschichtetem  Pflasterepilhel  überzogenen  Körpertheilen  in  dessen  un- 
terster, aus  cylindrischen  Zellen  bestehender  Schicht  und  deren  Ver- 
längerungen zu  drüsigen  Gebilden,  während  an  den  mit  cylindrischem 
Epithel  überzogenen  Organen  eine  zur  Einwirkung  des  Virus  geeignete 
Zellenschicht  frei  zu  Tage  liegt.  In  dem  einen  wie  in  dem  andern  Fall 
halte  ich  es  für  wahrscheinlich ,  dass  grösserer  ProtopIasn)areichthum 
der  Epithelien  in  Folge  vorangegangener  Hjperämien  die  Wirksamkeit 
des  übertragenen  Virus  wenn  nicht  bedingt,  so  doch  begünstigt.  Durch 
diese  Annahme  erkläre  ich  mir  die  Häufigkeil,  mit  welcher  das  Epithe- 
liom der  äusseren  Decken  an  Stellen  auftritt,  welche  bereits  patholo- 
gische Veränderungen  erfahren  haben,  durch  diese  Annahme  erkläre 
ich  mir  aber  ferner  im  Gegensatz  zu  Thiersch  die  mit  den  Jahren  zu- 


1)  Der  Ausdrucli  specifisch  wird  hier  nicht  im  morphologischen,  sondern  im 
physiüloüischen  Sinn  gebraucht.  Die  Zeilen  eines  Epithelioms  sind  nur  specifisch, 
insofern  sie  Trager  des  Virus  sind,  welches  der  Epitheliombildung  zu  Grunde  liegt. 


6.  Zwei  Fällo  von  r.pitlielioma  cylindrocplliilare  dor  Schilddrüse.  463 

nehmende  Häufigkeit  des  Epithelioms,  denn  Veränderungen  der  äusse- 
ren Decken,  sowie  chronische  Katarrhe  innerer  Organe,  namentheh  des 
Oesophagus,  Magens,  ülerus  und  mithin  die  die  Infeclion  begünstigen- 
den Momente  werden  mit  zunehmendem  Aller  erfahrungsgemäss  häu- 
figer. Die  Entwicklung  der  Epitheliome  nach  erfolgter  Infection  ge- 
schieht meinen  Beobachtungen  nach  im  Wesentlichen  übereinstimmend 
mit  der  Entwicklung  der  Drüsen  aus  den»  Hornblatt  und  Darmdiüscn- 
blatt,  indem  der  Vermehrung  der  Epithelien  eine  Sprossenbildung  der 
anliegenden  Gefässe  und  ein  grösserer  Zellenreichthum  ihrer  binde- 
gewebigen Adventitien  folgt.  Durch  den  letzteren  Process  und  nicht 
wie  Thiersch  annimmt  durch  eine  senile  Involution  erfolgt  meiner  An- 
sicht nach  die  zum  Eindringen  der  Neubildung  in  unterliegende  Theile 
erforderliche  Lockerung  der  Consistenz.  Es  findet  demnach  bei  der 
Entwicklung  der  Epitheliome  das  Umgekehrte  statt  von  dem,  was  bei 
der  Entwicklung  der  syphilitischen  Condylome  und  der  zottenförmigen 
Exkrescenzen  über  einem  Carcinom  sich  ereignet.  In  jenem  Falle  ist 
der  Ausgangspunkt  der  Neubildung  das  Epithel,  das  Gefässblatt  bethei- 
ligt sich  secundär,  was  nicht  hindert,  dass  die  Betheiligung  wie  bei 
den  papillären  und  zottigen  Formen  des  Epitheliom  eine  luxuriirende 
werden  kann.  In  den  letzteren  beiden  Fällen  ist  der  Ausgangspunkt 
der  Neubildung  das  Bindegewebe,  die  anliegenden  Epithelien  bethei- 
ligen sich  secundär,  was  wieder  namentlich  bei  den  Condylomen  eine 
sehr  ausgesprochene  Betheiligung  nicht  ausschliesst. 

Das  Wachsthum  der  Epitheliome  erfolgt  meinen  Beobachtungen 
nach  ausser  durch  Vergrösserung  der  ursprünglichen  Infeclionsstelle 
durch  fortschreitende  Infeclion  der  Nachbarschaft,  ihre  Vervielfältigung 
hauptsächlich,  wenn  nicht  ausschliesslich  durch  Transplantation  enl- 
wicklungsfähiger  Keime  (Küss,  Thiersch).  Ausser  den  beiden  nach- 
stehenden Fällen  ,  deren  Eigenthümlichkeiten  nur  durch  die  Annahme 
ungezwungen  sich  erklären  lassen,  dass  entwicklungsfähige  Keime  von 
dem  ursprünglichen  Neubildungsheerde  aus  verschleppt  worden  sind, 
werden  in  dem  nächsten  Heft  dieser  Beoliachtungen  Fälle  veröffentlicht 
werden,  welche  gar  keine  andere  Erklärung  der  Vervielfältigung  zu- 
lassen und  in  welchen  die  Verschleppung  zum  Theil  direct  sich  hat 
nachweisen  lassen.  Die  Transplantation  kann  erfolgen  sowold  durch 
den  Lymph-  als  durch  den  Blulstrom.  Ein  von  dem  Mutterboden  los- 
gerissenes und  unter  den  äusserst  günstigen  Bedingungen,  v\  eiche  diese 
Flüssigkeiten  gewähren,  transplantirles  Geschwulsllheilchen  verhält 
sich  meiner  Ueberzeugung  nach,  wenn  es  an  seiner  definitiven  Lage- 
rungsslälle  in  einer  Lymphdrüse  oder  einem  entfernten  Bezirk  des 
Lymph-  oder  ßlutgefasssyslems  angelangt  ist,    ganz  ähnlich  wie  die 


464  Wilhelm  Müller, 

Anlage  der  Hypophysis  oder  Schilddrüse ,  so  lange  das  Gefässblalt  an 
der  Entwicklung  dieser  Organe  sich  nicht  betheiligt  hat,  oder  wie  ein 
durch  Contagion  mit  den  entsprechenden  Spermatozoiden  befruchtetes 
Ei,  weiches  an  einer  Stelle  der  Oberfläche  des  Peritonäum  zur  Ent- 
wicklung gelangt.  In  allen  diesen  Fällen  liegt  eine  in  der  Vermehrung 
begriffene  Gruppe  von  Epithelzellcn  vor,  welche  das  Gefässblatt  an  der 
Stelle,  mit  welcher  sie  in  Berührung  kommt,  zur  Sprossenbildung  ver- 
anlasst und  in  den  ersleren  beiden  Fällen  von  diesen  Sprossen  durch- 
wachsen wird.  Mit  dieser  Annahme  steht  in  Einklang,  dass  man  bei 
der  Injection  von  Lebern,  welche  von  Epiiheliomknolen  in  grösserer 
Zahl  durchsetzt  sind,  die  kleinsten  mikroskopischen*Knoten  bei  voll- 
kommen gelungener  Injection  der  Umgebung  zum  Theil  in  gefässlosem 
Zustande  antrifi't. 

Die  folgenden  beiden  Fälle  sind ,  so  viel  ich  aus  der  mir  zugäng- 
lichen Literatur  1)  entnehmen  kann,  die  ersten  Beobachtungen  über  das 
Vorkommen  von  Epithelioma  cylindrocellulare  in  der  Schilddrüse  neben 
altem  Kropf;  sie  bieten  sowohl  hinsichtlich  des  Baues  der  Neubildung 
als  hinsichtlich  ihrer  Verbreitung  im  Körper  Eigenthümlichkeiten, 
welche  für  die  Theorie  der  Epitheliombildung  von  hohem  Interesse  sind. 

I)  K.,  Therese,  42  Jahr,  Schmiedsfrau  ausGeroda,  wurde  den  2.  März 
1S68  Wegen  umfangreicher  Geschwülste  verschiedener  Knochen  in  die 
Klinik  des  Herrn  Geh.  Hofrath  Ried  aufgenommen.  Die  Anamnese  er- 
giebt,  dass  Patientin  von  gesunden  Ellern  abstammt  und  früher  nie 
krank  gewesen  ist.  Vor  sechs  Jahren  bekam  sie  Schmerzen  im  rechten 
Schullerblatt,  namentlich  bei  Bewegung  mit  leichterer  Ermüdung.  Seit 
drei  Jahren  hat  sich  eine  Geschwulst  auf  der  Höhe  des  Scheitels  ent- 
wickelt, welche,  stets  rundliche  Form  zeigend,  im  Laufe  des  nächsten 
Jahres  zur  Grösse  einer  Wallnuss,  im  Laufe  des  Jahres  1867  zu  Apfel- 
grösse  heranwuchs,  seitdem  rascher  sich  vergrössert  hat.  Vor  einem 
Jahre  bemerkte  die  Kranke,  dass  die  rechte  Schullergegend  angeschwol- 
len sei,  wodurch  die  Abduction  des  Oberarms  etwas  erschwert  wurde. 
Seit  V.,  Jahr  am  Jochfortsatz  des  linken  Schläfenbeins  eine  allmälig  sich 
vergrössernde  Geschwulst,  die  bis  zu  Hühnereigrösse  herangewachsen 
ist.  Seit  einem  halben  Jahr  schon  nach  leichter  Arbeit  Mattigkeit  in 
den  Beinen,  hie  und  da  Taubheit  und  Ameisenkriechen,  verminderte 
tactile  Sensibilität.     Seit  sechs  Wochen  Lähmung  der  unteren  Extre- 


1)  Der  .von  Gabrilow  (Förster)  in  den  Würzburger  Verhandlungen  beschrie- 
bene  Kall  von  Kpitlielionia  pavimentocellulare  der  Scliiiddtüse  ist  sicher  vom  Oeso- 
phagus ausgegangen,  ein  Beweis  für  die  primäre  Entwicklung  in  der  Schilddrüse 
von  Gabrilow  nicht  einmal  versucht. 


6.  Zwei  Fiillp  von  Kpitlielioina  cylindrocelliilait'  der  Scliilddrüsi'.  465 

niitäten,  rasche  Abnahme  der  Sensibilität,  Inoonlinon/,  des  Urins,  Re- 
lardalion  des  Stuhls.  Die  Sensibilitfilsslörungen  betretl'en  die  unleren 
Kxlreniitäton  und  den  Rumpf  bis  zur  Höhe  der  zweiten  Rippe  p;leich- 
n)ässig  auf  beiden  S(Mlen,  zugleich  auf  beide  Arme,  in  welchen  die 
Kranke  das  Gefühl  von  SchwiJche  wahrnahm ,  so  dass  sie  die  einzelnen 
Gegenstände  nicht  mehr  sicher  und  fest  zu  halten  vermochte  und  die 
lactile  Sensibilität  sich  verminderte,  zugleich  Abmagerung  der  Vorder- 
arme und  Hände,  rechts  mehr  als  links.  In  letzterer  Zeit  starke 
reissende  Schmerzen  in  den  unteren  Extremitäten  mit  unwillkürlichen 
spastischen  Contractionen  verschiedener  Muskelgruppen.  Appetit  all- 
mälig  vermindert. 

Status  praesens:  ergiebt  ausser  den  angeführten  Geschwülsten 
doppelseitigen  Kropf.  Reide  untere  Extremitäten  willkürlich  nicht  be- 
weglich, dagegen  fortwährend  in  unwillkürlichen  Contractionen,  beson- 
ders auf  Einwirkung  äusserer  Reize.  Elektrische  Sensibilität  an  den 
oberen  Extremitäten  nur  wenig,  an  den  unteren  sehr  abgeschwächt; 
in  gleicher  Weise  verhält  es  sich  mit  der  elektrischen  Motilität. 

7.  März  Respirationsnoth.  Rlutige  Sputa.  Abends  10  Uhr  Tod. 
Section  2:5  vom  8.  März  l8(iS.  Mittelgrosse  Leiche,  kräftiger  Rau,  mas- 
sige Abmagerung.  Auf  der  Mitte  des  Scheitels  eine  rundliche  Geschwulst 
unter  der  unversehrten,  stellenweise  mit  ihr  verwachsenen  Haut.  Nach 
Abpräpariren  der  letzteren  kommt  eine  Geschwulst  von  9  Ccntimcter 
Durchmesser  bei  7  Cenlimeter  Höhe  zum  Vorschein ,  welche  beide 
Scheitelbeine  in  der  Mittellinie  durchsetzt.  Hire  Farbe  ist  allenthalben 
grauröthlich,  die  Consistenz  theils  n)ässig  fest,  theils  fast  zerflicssend 
weich,  die  Schnittiläche  feinköinig  und  maltglänzend.  Eine  zweite 
hühnereigrosse  Geschwulst  unter  der  Haut  der  linken  Schläfe  dicht  vor 
dein  Ohr,  welche  nach  Abziehen  der  Haut  als  dem  Jochfortsatz  des 
Sfhläfenbeins  entsprungen  sich  erweist.  Dura  mater  mit  dem  Schädel 
fest  verwachsen ;  ihre  Innenfläche  glatt  und  glänzend.  Flache  Vor- 
wölbung derselben  in  der  Mitte  der  Sagittalnaht  im  Umfang  eines  Zwei- 
thalerstücks; die  prominirende  Stelle  von  zahlreichen  erweiterten 
Gefässen  durchzogen.  Die  Vorwölbung  wird  bedingt  durch  den  die 
beiden  Parietalbeine  durchsetzenden  Tumor,  mit  welchem  die  Dura 
locker  verwachsen  ist.  Nach  Abziehen  der  Dura  von  der  Innenfläche 
des  Schädeldachs  kommen  zwei  weitere  flache,  die  Glastafel  wenigstens 
stellenweise  durchbohrende ,  in  der  Diploe  des  inneren  und  äusseren 
hinteren  Winkels  des  linken  Seitenwandbeins  sitzende  Tumoren  von  1, 
resp.  3  Centimeter  Durchmesser  und  grauröthlicher  Farbe  zum  Vor- 
schein. Flache  Vorwölbung  der  Dura  mater  im  vorderen  äusseren  Um- 
fang der  linken  minieren  Schädelgrube;  nach  Abziehen  derselben  zeigt 


466  Wilhelra  Müller, 

sich  ein  flacher,  die  Glastafel  durchbohrender  grauröthlicher,  weicher 
Tumor  von  4  Cenlimeter  Flächendurchmesser,  'welcher  in  der  vorderen 
Partie  des  Schläfenbeins  seinen  Sitz  hat  und  in  den  Jochbogen  sich 
erstreckt,  von  der  Wurzel  des  letzteren  aus  gegen  die  äussere  Haut 
vorragend.  Arachnoidealräume  des  Gehirns  fast  leer  von  Flüssigkeit. 
Beträchtliche  Füllung  der  Venen  der  Pia  mater.  Hirnwindungen  be- 
sonders in  den  Occipitallappen  abgeflacht;  die  linksseitigen  Parietal- 
windungen  neben  der  Mittellinie  im  Umfang  eines  Thalers  flach  unter 
das  Niveau  der  Umgebung  vertieft,  ihre  Structur  anscheinend  unver- 
ändert. Gehirn  anämisch ,  Seilenventrikel  eng,  klare  Flüssigkeit  ent- 
haltend. Der  linke  Sphenoidallappen  nahe  der  Spitze  eine  leichte  De- 
pression in  seiner  unteren  Fläche  zeigend.  Nach  Eröffnung  des  Rück- 
grathcanals  zeigt  sich  die  Dura  spinalis  im  Bereich  des  ersten  Brust- 
wirbels verbreitert  und  abgeflacht :  nach  Herausnahme  derselben  kommt 
ein  gegen  ihre  vordere  Fläche  andrängender,  den  Körper  des  ersten 
Brustwirbels  subslituirender ,  grauröthlicher,  flach  höckeriger  Tumor 
zum  Vorschein,  welcher  die  Rindensubstanz  an  dei-  vorderen  und  hin- 
teren Fläche  durchbrochen  hat,  das  Periost  vor  sich  her  schiebend. 
Innenfläche  der  Dura  spinalis  allenthalben  glatt,  Arachnoides  und  Pia 
ohne  bemerkenswerlhe  Veränderung.  Im  Bereich  des  ersten  Dorsal- 
nervenursprungs  ist  das  Rückenmark  plattgedrückt  und  in  der  Aus- 
dehnung von  I  Centimeler,  breiig  weich,  grauröthlich ,  fleckig,  graue 
und  weisse  Substanz  nicht  unterscheidbar.  Dorsaltheil  des  Rücken- 
marks dünn,  Lendenanschwellung  deutlich.  Das  Lendenmark  fest,  die 
graue  Substanz  bleich,  die  weisse  etwas  fleckig  und  je  höher  nach  oben 
um  so  deutlicher  über  die  Schnittfläche  der  Pia  überwallend.  An  dem 
Ueberwallen  betheiligen  sich  am  stärksten  die  Seitenstränge,  wenig  die 
vorderen,  gar  nicht  die  hinteren. 

Umfangreiche  Vorwölbung  der  Haut  über  dem  rechten  Schulter- 
blatt. Nach  Abziehen  derselben  zeigt  sich  die  rechte  Scapula  in  eine 
über  mannskopfgrosse,  rundliche,  weiche  Geschwulst  verwandelt  von 
grauröthlicher  Farbe  und  körniger  Schnittfläche.  Deltamuskel  mit  Aus- 
nahme leichter  Verfärbung  unverändert,  Trapezius  an  seinem  Ansatz 
mit  der  Geschwulst  verwachsen  und  enorm  verdünnt.  Supra-  und 
Infraspinatus  nur  \n  einzelnen  Rudimenten  angedeutet.  Von  der  Sca- 
pula selbst  ist  nur  eine  kleine  Strecke  der  Spitze,  ausserdem  die  Crista 
mildem  Acromion  und  der  Processus  caracoideus  erhallen.  Die  Gelenk- 
fläche für  den  Humerus  bis  auf  einige  dünne  Knochenplällchen  ge- 
schwunden. Die  erste  Rippe  von  ihrem  Ursprung  an ,  die  zweite  und 
dritte  in  der  Nähe  des  Winkels  rechlerseits  medianwärts  eingebogen, 
die  oberste  Partie  der  rechten  Pleurahöhle   dadurch   massig  verengt. 


6.  Zwei  Fälle  von  Kpitliclioiiia  oylindroopUiilan'  dei-  Scliilddn'lse.  467 

Die  Lymphdrüsen  in  der  Umgebung  des  Tumor,  sowie  jene  der  rechten 
Achselhöhle  massig  geschwollen,  von  hlnurolher  Farbe,  homogener 
Beschnffenheil. 

Schilddrüse  allgemein  vergrössert;  Isthmus  und  linker  Lappen  im 
Zustand  gewöhnlichen  Gallerlkropfs,  der  letztere  von  vereinzelten  gelb- 
weissen  fibroiden  Bindegewebsmassen  durchset/l.  Der  rechte  Lappen 
über  gänsoeigross,  ilach  höckerig,  weich,  auf  dem  Duichschnitt  grau- 
rölhlich ,  feinkörnig,  von  analoger  Färbung  und  Beschaffenheit  wie  die 
Neubildungen  in  den  verschiedenen  Knochen,  ohne  Gallerleinlagerung. 
Im  Centrum  dieses  Lappens  ein  verästelter,  fibroider,  theilweise  ver- 
knöcherter Bindegewebsstrang. 

Allseitige  Synechie  der  beiderseitigen  Pleuren.  Hypostatische 
Pneumonie  des  linken  Unterlappens.  Strahlige,  sämmtliche  Häute  durch- 
setzende Narbe  in  der  Mitte  der  kleinen  Curvatur  des  Magens.  Geringer 
Katarrh  der  Nierenbecken.    Retroflexion  des  Uterus. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  des  linken  Schilddrüsenlappens 
ergab  eine  ziemlich  allgemeine  Vergrösserung  der  Follikel.  Ihr  Durch- 
messer schwankte  zwischen  0,03  und  0,5,  im  Mittel  0,1  betragend, 
ihre  Gestalt  war  überwiegend  kugelig.  Sie  waren  ausgekleidet  von  ein- 
schichtigem, flachen  Cylinderepithel  von  0,006  Seitenfläche  und  ent- 
hielten fast  ohne  Ausnahme  im  Innern  gelblich  gefärbte  Gallertmassen 
theils  in  Form  homogener  Klumpen,  theils  in  Form  zahlloser,  0,008 
—  0,02  grosser  Kugeln,  welche  durch  eine  zähe,  formlose  Kiltsubstanz 
zusammengehalten  wurden.  In  der  Gallerte  fanden  sich  vielfach  kleine 
Krystalle  von  oxalsaurem  Kalk,  nur  sehr  vereinzelt  von  einem  Feltkörn- 
chenhof  umgebene  Zellenreste.  Die  interstitielle  Bindesubstanz  zeigte 
den  gewöhnlichen  fibrillären  Bau,  das  Gefässsystem  keine  Abweichung 
vom  normalen  Verhalten. 

Der  in  eine  grauröthliche,  markige  Geschwulst  verwandelte  rechte 
Lappen  war  von  einer  0,4  dicken  bindegewebigen  Kapsel  umgeben. 
Sie  entsandte  die  grösseren  Gefässe  begleitende  Fortsätze  in  das  Innere, 
welche  hier  zu  einem  Netzwerk  sich  auflösten,  durch  welches  das 
Parenchym  in  sehr  ungleiche  rhombische  Felder  zerlegt  wurde.  Die 
Bindesubslanz,  welche  diese  Felder  begrenzte,  war  gleich  jener  der 
Kapsel  fibrillär  und  arm  an  zelligen  Elementen  ;  gegen  die  Mitte  zu 
enthielt  sie  in  reichlicher  Menge  runde  und  eckige,  glänzende  Körnchen 
eingelagert,  welche  in  Aether  unlöslich,  in  Säuren  unter  Aufbrausen 
löslich  waren  (Kalksalze) ;  in  der  Mitte  selbst  war  die  Bindesubstanz 
diffus  verkalkt. 

Die  von  den  Fortsetzungen  der  Kapsel  umgebenen  Läppchen  be- 
standen aus  zwei  verschiedfuien  Elementen:    Epithelialen  Gebilden  und 


468  Wilhelm  Müller, 

interstitiellem  Gewebe.  Die  epithelialen  Gebilde  waren  von  zweierlei 
Art:  Zum  überwiegenden  Theil  bildeten  sie  geschlossene  Follikel.  Ihre 
Gestalt  war  sehr  ungleich,  von  der  vorwiegenden  kugeligen  bis  zur 
langgezogenen  wechselnd,  ebenso  verschieden  war  ihre  Grösse,  indem 
der  Durchmesser  von  0,012 — 0,5  schwankte.  Sie  waren  umgeben  von 
einer  homogenen,  dünnen  Bindesubstanzhülle,  welcher  cylindrisches 
Epithel  aufsass.  Die  Epithelien  waren  0,01  —0,01  4  hoch,  0,004—0,006 
dick ,  mit  der  Basis  näher  liegendem  runden  oder  ellipsoidischen  Kern 
versehen,  sehr  protoplasmareich  und  daher  an  Imbibitionspräparaten 
lebhaft  roth  gefiirbt,  wodurch  sie  sich  von  den  blassen,  niedrigen  Epi- 
thelien der  Follikel  des  linken  Schilddrüsenlappens  auf  den  ersten  Blick 
unterschieden.  An  der  iMehrzahl  der  Follikel  bildete  das  Epithel  eine 
einfache  Schicht,  welche  eine  centrale,  mit  farbloser  Flüssigkeit,  an 
einzelnen  Follikeln  mit  feinkörnigem  Detritus  und  Hämatoidinkrystallen 
erfüllte  Höhle  umschloss.  Nirgends  war  in  diesem  Lappen  Gallerte  im 
Innern  der  Follikel  nachweisbar.  Ein  kleinerer  Theil  der  Follikel  besass 
geschichtetes  Cylinderepilhel,  welches  in  dichter  Lagerung  das  Innere 
vollständig  erfüllte;  diese  Follikel  waren  von  massiger  Grösse  und  über 
Gruppen  von  Läppchen  gleichmässig  verbreitet,  in  welchen  die  Epithel- 
neubildung anscheinend  energischer  als  in  den  übrigen  von  statten 
ging.  An  beiden  Arten  von  Follikeln  Hess  sich  durch  Heben  und  Sen- 
ken des  Tubus  die  Abgeschlossenheit  constatiren  (vergl.  Fig.  8  auf 
Taf.  XI). 

Die  zweite  Art  epithelialer  Gebilde  bestand  aus  epithelführenden 
Schläuchen.  Sie  waren  unregelmässig  gewunden  und  hie  und  da  ver- 
ästelt; an  den  Enden  zeigten  sie  theilweise  kugelige  Auftreibungen. 
Ihr  Durchmesser  schwankte  zwischen  0,01  und  0,07.  Sie  setzten  sich 
gleich  den  Follikeln  zusanmien  aus  einer  dünnen  Bindesubstanzhülle 
und  dieser  aufsitzendem  cylindrischen  Epithel,  dessen  Zellen  lang- 
gestreckt und  proloplasraareich  waren  ;  nur  in  der  Peripherie  der  Ge- 
schwulst fanden  sich  Schläuche  mit  niedrigerem  cubischen  Epithel  von 
0,006  Seitenlänge  zwischen  den  innersten  Bindesubstanzlagen  der 
Kapsel,  auch  ihre  Zellen  waren  reich  an  Protoplasma.  Das  Epithel  war 
an  der  Mehrzahl  der  Schläuche  einschichtig  und  Hess  an  den  dickeren 
ein  scharf  begrenztes  centrales  Lumen  frei,  welches  farblose  Flüssigkeit 
führte ;  in  den  Läppchengruppen  mit  soliden  Follikeln  erwies  sich  auch 
ein  Theil  der  Schläuche  solid  und  von  geschichteten,  schmalen,  cylin- 
drischen Epithelien  ausgefüllt. 

Das  interstitielle  Gewebe  der  Läppchen  bestand  überwiegend  aus 
sehr  weiten  Capillaren  von  0,01  —  0,02  Durchmesser.  Sie  waren  um- 
geben von  netzförmiger  Bindesubstanz ,   bestehend  Iheils  aus  Fibrillen 


6.  Zwei  Kiillo  VOM  Kpithclioniii  cylindrocclliiliirc  der  Scliilddiüsc.  469 

mit  spärlich  zwischenliegendcn  Koiiicn  ,  iheils  aus  Anhäufungen  von 
Lymphkörpern  und  spindeltörniigen  Zellen.  Stellenweise  zeigte  die 
interstitielle  Bindesubstanz  grossen  Reichtlnini  an  Iläninloidin.  Die 
Neubildungen  in  dei-  Scapula,  dem  ersten  Biustwiibel  und  den  Schä- 
delknochen stimmten  in  ihrem  Bau  sowohl  unter  sich  als  mit  jenen  des 
rechten  Schilddrüsenlappens  überein.  Sämmtliche  Geschwülste  be- 
sassen  eine  bindegewebige  Hülle,  von  welcher  aus  gefässführende  Fort- 
sätze in  das  Innere  drangen,  letzleres  in  unregelmässige  Läppehen  zer- 
legend:  nur  an  der  Peripherie  der  im  Knochen  enthaltenen  Abschniile 
der  Neubildungen  fehlte  ein  deutlicher  Ueberzug  und  eine  Lüppchen- 
sonderung.  Die  Geschwülste  bestanden  wie  der  rechte  Schilddrüsen- 
lappen aus  epithelialen  Gebilden  und  interstitiellem  Gewebe.  Erstere 
waren  auch  hier  von  zweierlei  Art:  1)  Geschlossene  Follikel  von  über- 
wiegend kugeliger  Form,  0,02 — 0,1  im  Durchmesser,  aus  dünner  ßinde- 
substanzhülle  und  dieser  aufsitzendem  cylindrischen  Flpithel  bestehend. 
Die  Zellen  des  Epithels  0,004  —  0,006  dick,  0,01  —  0,014  hoch,  prolo- 
plasmareich,  in  einem  Theil  der  Follikel  in  einfacher  Lage,  ein  centra- 
les, farblose  Flüssigkeit  enthallendes  Lumen  frei  lassend,  in  einem  an- 
dern Theil  geschichtet  und  das  Innere  vollständig  erfüllend.  2)  Epithel- 
führende  Schläuche  von  0,02 — 0,06  Durchmesser,  cylindrischer  Form, 
unregelmässig  gewunden,  zum  Theil  mit  seitlichen  Sprossen  und  end- 
ständigen Auftreibungen  versehen.  Sie  bestanden  gleich  den  Follikeln 
aus  einer  dünnen  Bindesubstanzhülle  und  die.^er  aufsitzendem  cylin- 
drischen, protoplasmareichen  Epithel.  Diese  epilhelführenden  Schläu- 
che erwiesen  sich  in  sämmtlichen  Knochengeschwülslen  als  der  vor- 
wiegende Bestandlheil ,  waren  jedoch  allenthalben  mit  abgeschnürten, 
rings  geschlossenen  Follikeln  unternsischt.  Das  interstitielle  Gewebe 
bestand  auch  hier  aus  Blutgefässen  und  umscheidender  Bindesubslanz. 
Die  Capillaren  waren  unverhältnissmässig  weit,  im  Mittel  0,02,  die 
umgebende  Bindesubstanz  fast  durchweg  reich  an  Lymphkörpern  und 
spindelförmigen  Zellen  (vei-gl.  Fig.  9  auf  Taf.  XI). 

In  der  Mitte  der  grossen  Geschwulst  der  Scheitelbeine  und  an  den 
weicheren  Stellen  der  Schultergesch  wulst  befand  sich  »der  Inhalt  der 
grossen  rhombischen  Läppchen  in  vorgeschrittenem  feinkörnigen  Zerfall. 

Es  schien  von  besonderem  Interesse,  an  der  Peripherie  der  Kno- 
chengeschwülste die  Art  des  Eindringens  in  die  Knochensubslanz  za 
untersuchen.  Zu  diesem  Zweck  zog  ich  an  den  nach  vorheriger  An- 
wendung von  I  Yo  chromsaurem  Kali  in  Alkohol  gehärteten  Knochen 
durch  verdünnte  Salzsäure  die  Erdsalze  aus,  unterwarf  die  angefertig- 
ten Schnitte  der  Imbibitionsmethode  und  entzog  der  Inlercellularsub- 
stapz  des  Knochens  duich  die  F>inwirkung  von  Eisessig  den  Farbsloif. 


470  Wilhelm  Möller, 

Es  zeigte  sich,  dass  das  Eindringen  vorwiegend  längs  derGefässe  statt- 
fand unter  Erweiterung  der  HAVERs'schen  Canälchen  in  der  compacten 
Substanz.  An  den  Stellen,  wo  diese  Erweiterung  stattgefunden  hatte, 
zeigte  die  Oberfläche  der  Knochensubstanz  kleine  Ausbuchtungen, 
welche  anliegenden  Epithelien  der  Neubildung  oder  Zellen  des  inter- 
stitiellen Gewebes  entsprachen  ;  längs  der  Contactslelle  erstreckte  sich 
eine  roth  inibibirte  Zone  feinkörniger  Grundsubslanz  im  Knochen,  wel- 
cher der  Eisessig  den  Farbstoff  nicht  zu  entziehen  vermochte;  sie  hob 
sich  scharf  von  der  gelblichen  Intercollularsubstanz  des  tibrigen  Kno- 
chens ab,  welcher  der  Farbstoff  entzogen  war.  Die  Knochenkörperchen 
Hessen  ihre  elliptischen  ^)  Kerne  in  Folge  der  Imbibition  leicht  erkennen, 
sie  zeigten  sich  nirgends  vermehrt  oder  verändert,  auch  an  den  Stellen 
nicht,  an  welchen  sie  in  unmittelbarer  Nähe  von  Usurlücken  innerhalb 
der  roth  imbibirten  Zone  der  InterceUularsubstanz  lagen. 

Ich  kann  aus  diesem  Befund  nur  schliessen,  dass  der  Knochen  der 
andringenden  Neubildung  gegenüber  durchaus  passiv  und  ganz  analog 
sich  verhielt  wie  nach  Gegenbaur's  Beobachtungen  der  Knorpelknochen 
sich  verhält  gegenüber  den  andringenden  Osteoblasten  bei  dem  Eintritt 
der  definitiven  Knochenbildung.  Es  ergiebt  sich  daraus  der  Schluss, 
dass  protoplasmareiche,  in  der  Vermehrung  begriffene  Zellen  verschie- 
dener Abkunft  im  Stande  sind,  die  InterceUularsubstanz  des  Knochens 
zu  zerstören. 

Die  geschwollenen  blaurothen  Lymphdrüsen  der  rechten  Achsel- 
höhle zeigten  Kapsel  und  muskelhaltige  Trabekeln  unverändert.  Das 
Gewebe  der  Blutgefässscheiden  und  jenes  der  Lymphbahn  war  deutlich 
zu  unterscheiden,  die  follikelarligen  Auftreibungen  des  ersteren  halten 
0,3  —  0,5  im  Durchmesser.  Die  Lymphbahnen  um  die  Follikel  waren 
etwas  erweitert,  letztere  selbst  im  Centrum  lockerer  gefügt  als  in  der 
Peripherie.  Sowohl  in  den  Blutgefässscheiden  als  in  den  Lymphbahnen 
fanden  sich  Lymphkörper  vom  gewöhnlichen  Aussehen.  Die  Capillaren 
und  Venen  der  Blutgefässscheiden  zeigten  sich  beträchtlich  erweitert, 
erstere  0,016  im  Mittel  messend;  stellenweise  standen  die  Capillaren 
so  dicht,  dass  der  Bau  an  jenen  capillärer  Angiome  erinnerte.  In  keiner 
der  untersuchten  Lymphdrüsen  konnten  Geschwulsttheilchen  aufgefun- 
den werden. 


<)  Nach  Klebs  (Mediz.  Centralblatl  -1868.  No.  6)  sollen  die  Knochenkörperchen 
hohl  und  beim  erwachsenen  Menschen  ohne  Kern  sein.  Schon  Karl  Rüge  hat  mit 
Recht  dieser  Behauptung  widersprochen  (Archiv  für  pathol.  Anatomie  Bd.  49.  p.  237). 
Durch  die  hier  benutzte  Methode  ist  es  so  leicht,  von  der  Anwesenheit  von  Kernen 
im  Innern  der  Knochenköiper  sich  zu  überzeugen,  dass  ich  die  Behauptungen 
Klebs'  auf  sich  beruhen  lasse. 


6.  Zwei  Fülle  von  Epitheliom»  cvliiidrorelluliire  der  Schilddrüse.  471 

2)  G.  Robert,  46  Jahr.  Arbeilshäusler  aus  Jena,  wurde  nach  kur- 
zer poliklinischer  Behandlung  den  II.  November  1H(i8  in  die  Klinik 
des  Herrn  Geh.  Hofrath  Gerhardt  aufgenommen.  Die  Anamnese  ergiebt. 
dass  der  Kranke  vor  etwa  fünf  Wochen  beim  Tragen  einer  schweren 
I.asl  ein»'n  Fall  gelhan  hat,  wodurch  er  sich  eine  Dislorsion  des  linken 
Hüftgelenks  und  einen  Bluterguss  in  der  linken  Leistengegend  zuge- 
zogen hat.  Kr  giel)t  an,  seit  ungefähr  diesem  Zeitraum  an  verminder- 
tem Appetit,  Kopfschmerzen,  Schlaflosigkeit,  Schwäche  in  den  Beinen, 
Schmerzen  in  der  hinteren  Partie  der  beiden  Oberschenkel  zu  leiden. 
Er  klagt  ferner  über  Sclmierzen  beim  Athmen,  welche  nahe  der  Mitte 
des  Halses  gegen  das  Jugulum  hin  ausstrahlen.  Der  Status  praesens 
ergiebt  eine  umfangreiche  Struma  an  der  linken  Seite  des  Halses, 
welche  sich  vom  Zungenbein  bis  zur  linken  Supraclaviculargrube 
erstreckt,  die  Trachea  etwas  nach  rechts  drängend.  In  der  Leisten- 
gegend findet  sich  unterhalb  des  PouPART'schen  Bandes  der  linken  Seile 
eine  flache  un verschiebbare  Geschwulst,  welche  sich  längs  der  latera- 
len Wand  des  kleinen  Beckens  in  die  Tiefe  erstreckt.  Die  Geschwulst 
ist  bei  der  liilei suchung  per  rectum,  dessen  linke  Wand  etwas  ein- 
wärts gebuchtet  ist,  an  der  Seitenwand  des  kleinen  Beckens  gleichfalls 
fühlbar. 

Der  Kranke,  welcher  nach  einiger  Zeit  wieder  entlassen  wurde, 
klagte  während  des  Jahres  1869  über  Schmerzen  im  linken  Oberschen- 
kel und  zunehmende  Gebrauchsunfähigkeit  der  linken  unteren  Extre- 
mität. Die  Geschwulst  in  der  linken  Leistengeg(^nd  nahm  dabei  allmälig 
an  Umfang  zu.  Im  Anfang  des  Jahres  1870  gesellten  sich  dazu  die  Er- 
scheinungen einer  linksseitigen  Pleuritis,  welchen  der  Kranke  den 
22.  März  erlag. 

Section  33  vom  23.  März  1870.  Kräftiger  Körperbau.  Massige  Ab- 
magerung. In  der  Mitte  und  an  der  linken  Seite  des  Halses  eine  vom 
oberen  Rand  des  Schildknorpels  bis  zum  Jugulum  reichende  verschieb- 
bare Geschwulst.  Thorav  links  etwas  erweitert.  Abdonien  flach.  In 
der  linken  Weiche  eine  flache  unbewegliche  Geschwulst  vom  Umfang 
einer  Kinderfaust,  die  Haut  darüber  verschiebbar.  Linke  untere  Extre- 
mität leicht  ödematös  angeschwollen.  In  Schädel  und  Gehirn  nichts 
Abnormes.  Glandulae  mediastinae  anteriores  und  cervicales  inferiores 
der  linken  Seite  angeschwollen,  die  Schnittfläche  einzelner  grauröth- 
lich,  blutreich,  feinkörnig,  weich.  Herz  etwas  nach  rechts  gedrängt. 
In  der  linken  Pleurahöhle  4  bis  5  Liter  bräunlichgelber,  opalisirender 
Flüssigkeit.  Beide  Pleuraflächen  der  linken  Seite  netzförmige  Fibrin- 
beschläge zeigend,  welche  an  der  Lungenpleura  auf  einer  geschichteten, 
iui  Zusammenhange  von  der  Lungenoberfläche  ablösbaren,  ziemlich  ge- 

Bd.  VI.  3.  32 


472  Wilhelm  Müller, 

fässreichen  Pseudomembran  aufsitzen.  Die  Lungenpleura  nach  Abzug 
der  Pseudomembran  zahlreiche  umschriebene  grauweisse  Verdichtun- 
gen zeigend.  Linke  Lunge  vollkommen  frei,  ihre  hinteren  Abschnitte 
gegen  die  Wirbelsäule  angedrückt,  comprimirt  luftleer,  die  vorderen 
lufthaltig,  blutarm.  In  der  rechten  Pleurahöhle  etwa  500  CG.  rothgelber 
Flüssigkeit.  Die  rechte  Lunge  frei,  durchaus  lufthaltig,  ihre  hinteren 
Abschnitte  in  massigem  Grade  ödematös.  Oesophagus  an  der  Grenze 
des  oberen  und  mittleren  Drillheils  abgeflacht.  Die  linke  Wand  der 
Trachea  gegen  das  Lumen  umschrieben  vorgebuchtet.  Isthmus  und 
rechter  Lappen  der  Schilddrüse  atrophisch,  ersterer  2  Cent,  hoch,  0,5 
Cent,  dick,  letzterer  5  Gent,  hoch,  2  breit,  0,75  dick,  das  Gewebe  bei- 
der braunroth,  derb,  die  Läppchen  ungewöhnlich  stark  gesondert.  Der 
linke  Lappen  der  Schilddrüse  9  Gontimeter  hoch,  7  breit,  3,5  dick,  aus 
einer  voluminöseren  oberen  und  einer  kleineren  unteren  Geschwulst 
bestehend.  Die  obere  Geschwulst  flach  höckerig,  ziemlich  weich,  blut- 
reich,  ihre  Schnittfläche  grauröthlich,  feinkörnig,  stellenweise  der 
Schnittfläche  eines  Hoden  ähnlich.  Die  untere  Geschwulst  von  der  obe- 
ren durch  eine  derbe  fibroide  Kapsel  getrennt,  mehr  gegen  die  Mittel- 
linie zu  gelagert,  einen  kugeligen  Kropfknoten  von  4  Centimeter  Durch- 
messer darstellend,  welcher  aus  gallertigem  Drüsengewebe  mit  dicken 
fibroiden  Bindegewebszügen  und  verästelten  Knocheneinlagerungen 
besteht.  Herz  in  seinem  rechten  Abschnitt  leicht  erweitert,  die  Mus- 
culatur  etwas  verdickt,  sämmlliche  Klappen,  sowie  die  Intima  der 
Aorta  unverändert.  Eine  Anzahl  kleiner  polypöser  Lipome  längs  der 
Insertion  des  Mesenterium  am  Dünndarm. 

In  Milz,  Leber  und  Darm  nichts  Bemerkenswerthes.  Leistendrüsen 
linkerseits  vergrösserl,  die  Schnittfläche  blutreich,  grauröthlich,  weich, 
feinkörnig.  Pectineus  und  Adductor  brevis  vorgewölbt  und  verdünnt, 
ebenso  der  Iliacus  internus  und  Obturatorius  internus,  ihre  Fasern 
theils  fibroid,  theils  fettig  entartet.  Vom  linken  Sitz  und  Schambein 
aus  erstreckt  sich  ein  fast  mannskopfgrosser  Tumor  mit  flach  höckeriger 
Oberfläche  sowohl  nach  vorne  unter  die  Adductoren  des  Oberschenkels, 
als  nach  hinten  und  Innen  unter  den  Iliacus  internus  und  Obturatorius 
internus,  die  Höhle  des  kleinen  Beckens  von  der  linken  Seite  her  erheb- 
lich verengend.  Dieser  Tumor  substituirt  das  linke  Schambein  mit 
Ausnahme  einer  dünnen  Knochenlamelle  an  der  Symphysis  ossium  pubis 
und  das  linke  Sitzbein  mit  Ausnahme  der  Pfannengegend  und  des  Tuber 
ossis  ischii  nahezu  vollständig  und  greift  auf  das  linke  Darmbein  längs 
des  Beckeneingangs  über,  seine  innere  Lamelle  eine  Strecke  weil  vor- 
wölbend und  hie  und  da  durchbrechend.  Der  Tumor  zeigt  weiche 
Consistenz,   beträchtlichen  Blutreichthum,   auf  dem  Durchschnitt  grau- 


6.  Zwei  Falle  von  lipitlielioiiiii  cyliiKlrocelliiiarc  der  Scliilddiüso.  473 

röthliche  Farbe  und  feinkörniges  GefUge  gleich  dem  Tumor  im  linken 
SchilddrUsenlappen. 

Der  mikroskopischen  Untersuchung  wiu'den  unlerworfen  die  Schild- 
drüse, die  Glandulae  cervical(\s  und  inguinales,  und  die  Geschwulst 
der  Beckenknochen.  Die  Untersuchung  erfolgte  nach  vorheriger  HJirtung 
der  Präpaiale  in  1  "/„  chromsaurem  Kali  und  Alkohol  unter  Anwendung 
der  Imbibitionsmethode. 

Der  rechte  Lappen  und  der  Isthmus  der  Schilddrüse  zeichneten 
sich  durch  die  ungewöhnliche  Breite  der  die  einzelnen  Läppchen  son- 
dernden BindegewebszUge  aus.  deren  Durchmesser  im  Mittel  0,;} — 0,5 
betrug.  Die  Läppchen  selbst  bestanden  aus  Follikeln  und  ungewöhn- 
lich reichlichem  interstitiellen  Gewebe.  Die  Follikel  waren  durchweg 
kugelig,  0,02  —  0,15  im  Durchmesser,  die  Mehrzahl  klein,  zwischen 
0,02  und  O.Oi  sich  haltend,  alle  mit  dünner  Membrana  propria  und 
einschichtigem,  dieser  aufsitzenden  Epithel  versehen.  Das  Epithel  der 
kleineren  war  cubisch,  von  0,005  Seitenfläche,  protoplasmaarm,  an  den 
grösseren  war  es  sehr  abgeflacht,  0,005  breit  bei  0,0015 — 0,003  Höhe. 
Die  kleineren  Follikel  enthielten  zum  Theil  farblose  Flüssigkeit,  die 
übrigen  und  sämmtliche  grössere  homogene,  gelbliche  Gallertmassen. 
Das  interstitielle  Gew^ebe  bestand  aus  Gefässen  und  diese  umhüllender 
Bindesubstanz.  F>stere  waren  in  ihrem  capillaren  Abschnitt  massig 
weit  und  spärlich,  durchschnittlich  0,01  im  Durchmesser ;  die  inter- 
stitielle Bindesubstanz  dagegen  war  ungemein  reichlich  entwickelt, 
theils  fibrillär,  theils  aus  dicht  gehäuften  Lymphkörpern  und  zwischen- 
liegenden spindelförmigen  Zellen  bestehend.  Der  Befund  dieses  ganzen 
Lappens  erinnerte  an  jenen  einer  vorgeschrittenen  Lebercirrhose  und 
lässt  sich  als  das  Resultat  einer  Thyreoideilis  interslitialis  chronica 
bezeichnen. 

Der  abgekapselte  Kropfknoten  im  unteren  Abschnitt  des  linken 
Lappens  bot  den  Befund  gewöhnlichen  gelatinösen  Adenoms.  Sämmt- 
liche Follikel  waren  vergrössert,  0.1  —  0,5  messend,  aus  Membrana 
propria  und  cubischem  Epithel  von  0,006  Seitenfläche  bestehend,  im 
Innern  allenthalben  homogene,  gelbe  Gallerlmassen.  Das  interstitielle 
Gewebe  stellenweise  verdickt  und  mit  Kalkkörnchen  infiltrirt.  In  der 
Mitte  des  Knotens  ächter  Bindegew  ebsknochen. 

Der  graurölhliche  markige  Abschnitt  des  linken  Lappens  besass 
einen  0,5  —  1  Mn>.  dicken  bindegewebigen  Ueberzug,  welcher  Fortsätze 
an  das  Innere  abgab,  letzteres  in  unregeln)ässige  rhombische  Läppchen 
von  0,4 — 1,2  Mm.  Durchmesser  abtheilen(L  Diese  Läppchen  bestanden 
aus  FlpitheHalgebilden  und  interstitiellem  Gewebe.  Erslere  bildeten 
theils  schlauchförmige,   theils  zu  kugeligen  Massen  gruj)^)irte  I^pithel- 

32* 


474  Wilhelm  Müller, 

anhäufungen  in  ziemlich  gleicher  Anzahl.  Die  ersteren  waren  cylin- 
drisch,  0,02 — 0,05  dick,  gewunden,  hie  und  da  mit  seillichen  Sprossen 
und  Auftreibungen  versehen.  Sie  besassen  eine  dünne  Bindegewebs- 
hülle und  Epithelauskleidung.  Sie  waren  in  den  peripherischen  Schich- 
ten der  Geschwulst  von  geringer  Dicke,  das  Epithel  einschichtig,  cu- 
bisch,  protoplasmareich,  in  der  Mitte  ein  schmales  Lumen  frei  lassend. 
Weiter  nach  Innen  wurden  sie  dicker,  das  Epithel  höher,  0,004  — 
0,006  :  0,012  —  0,026,  in  der  Mehrzahl  geschichtet  und  das  Lumen 
vollständig  erfüllend.  Die  kugeligen  Massen  hatten  einen  Durchmesser 
von  0,03 — 0,15.  Sie  erwiesen  sich  bei  Hebung  und  Senkung  des  Tubus 
als  rings  geschlossen  und  bestanden  aus  einer  dünnen,  homogenen 
Bindesubstanzhülle  und  dieser  aufsitzendem  cylindrischen  Epithel. 
Letzteres  war  in  den  peripherischen  Schichten  in  einfacher  Lage  vor- 
handen, die  Follikel  im  Innern  hohl,  farblose  FlüssigktMt  führend.  In 
der  Mehrzahl  der  weiter  im  Innern  liegenden  Follikel  war  das  Epithel 
geschichtet,  sehr  langgestreckt  und  erfüllte  das  Lumen  vollständig.  Das 
interstitielle  Gewebe  bestand  aus  ziemlich  we.iten  Gefässen ,  welche  in 
ihrem  capillaren  Abschnitt  0,01  —  0,024  maassen,  und  diese  umgeben- 
der Bindesubstanz.  Letztere  war  zum  Theil  fibrillär,  zum  Theil  reich 
an  Lymphkörpern  und  spindelförmigen  Zellen. 

Die  Lymphdrüsen  des  Halses  und  der  linken  Leistengegend  waren 
theils  vollständig,  theils  an  umschriebenen  Stellen  von  Epitheliom  sub- 
slituirt.  Die  Neubildung  bestand  aus  sehr  unregelmässigen  Läppchen, 
welche  sich  aus  epithelialen  Gebilden  und  interstitiellem  Gewebe  zu- 
sammensetzten. Erstere  waren  theils  cylindrische  Schläuche  von  0,02 
—  0,05  Durchmesser,  unregelmässig  gewunden,  theils  umschriebene 
kugelige  Massen  von  0,02 — 0,08.  Sie  bestanden  alle  aus  dünner  Binde- 
substanzhülle und  aufsitzendem  Epithel ;  letzteres  war  theils  einschich- 
tig und  Hess  in  diesem  Fall  eine  centrale,  farblose  Flüssigkeit  führende 
Höhle  frei ,  theils  geschichtet  und  das  Innere  in  dichter  Aneinander- 
lagerung  erfüllend.  In  einzelnen  der  weniger  vergrösserten  Lymph- 
drüsen war  der  Neubildungsprocess  auf  die  Lymphbahnen  in  der  Um- 
gebung der  peripherischen  Follikel  beschränkt,  von  letzteren  aus  auf 
verschieden  grosse  Strecken  der  Lymphfollikel  selbst  übergreifend. 
Diese  Beobachtung  lässt  sich  durch  die  Annahme  erklären ,  dass  hier 
Stellen  vorlagen,  in  welchen  in  verhältnissmässig  jüngerer  Zeit  eine 
Zufuhr  entwicklungsfähiger  Theilchen  durch  den  Lymphstrom  statt- 
gefunden hatte. 

Die  Neubildung  im  Sitz-  und  Schambein  war  an  ihrer  Peripherie 
von  einer  zum  Theil  ziemlich  dicken  bindegewebigen  Hülle  umgeben. 
Sie  war  durch  Ausläufer  der  letzteren  in  unregelmässig  rhomboidische 


6.  Zwei  Fälle  von  Epithelioma  cylindrocellnlare  der  Scliilddri'ise.  475 

Läppchen  von  0,5 — 0,lo  gcthoill.  Diese  setzten  sich  zusaninicn  aus 
epithelialen  Gebilden  und  interstitiellem  Gewebe.  Erstere  bestanden 
aus  cylindrischen,  gewundenen  Schläuchen  von  0,02  —  0,06  Durch- 
messer und  aus  ringsgeschlossenen  kugeligen  Follikeln  von  0,03 — 0,15. 
Sie  stimmten  in  jeder  Beziehung  mit  den  analogen  Gebilden  des  linken 
Schilddrüsenlappens  und  der  Leistendrüsen  überein.  Das  interslilielle 
Gewebe  führte  weite  Capillaren  von  im  Mittel  0,016  Durchmesser;  sie 
waren  von  Ihcils  fibrillärer,  iheils  zellenreicher  Bindesubstanz  um- 
scheidel. 

Beide  Fälle  stimmen  darin  überein  ,  dass  der  Ausgangspunkt  des 
Processes  bei  Lebzeiten  des  Kranken  nicht  erkannt  worden  ist.  Dies 
hat  für  den  nichts  Ueberraschendes,  welcher  weiss,  dass  Kropf  jeder 
Art  und  Grösse  im  Saallhale  endemisch  ist.  Beide  Fälle  stimmen 
feiner  überein  in  den  Eigenthümlichkeiten ,  welche  die  Geschwülste 
bezüglich  ihres  Baues  und  ihrer  Verbreitung  darbieten.  Sowohl  in  dem 
ursprünglich  betroffenen  Organ,  der  Schilddrüse,  als  in  den  metasta- 
tisch inficirten  Organen  zeigen  die  specifischen  Elemente  der  Neubil- 
dung eine  Tendenz  zur  Abschnürung  kugeliger  follikelähnlicher  Massen 
aus  cylindrischen,  schlauchförmigen  Anlagen,  wie  sie  bei  den  Epithe- 
liomen anderer  Organe,  z.  B.  des  Magens  und  Uterus,  in  solchein  Um- 
fang mindestens  ungewöhnlich  ist.  Ich  sehe  in  dieser  Eigenthümlich- 
keit  eine  Wiederholung  des  Processes,  welcher  bei  der  normalen  Ent- 
wicklung der  Schilddrüse  zur  Abschnürung  der  Follikel  aus  ihren 
schlauchförmigen  Anlagen  führt,  und  erkläre  sie  mir  aus  einer  Vererbung 
der  besonderen  Eigenschaften ,  welche  den  Epilhelien  der  Schilddrüse 
zukonunen  ,  auf  ihre  Abkömmlinge,  welche  in  Folge  der  Einwirkung 
der  Ursache,  welche  der  Epitheliombildung  zu  Grunde  liegt,  sich  ent- 
wickelt haben.  Bezüglich  der  Verbreitung  zeigen  beide  Fälle  die  Eigen- 
thümlichkeit  einer  metastatischen  Infection  des  Knochensyslems,  das 
einemal  ohne,  das  andremal  mit  gleichzeitiger  Infection  der  Lymphdrü- 
sen. Ich  kann  mir  die  Uebereinstimmung  in  dem  Bau  der  metasia- 
tischen Geschwülste  mit  jenem  der  ursprünglichen  Geschwulst  nur 
durch  die  Annahme  einer  Verschleppung  entwicklungsfähiger  Theilchen 
der  letzleren  erklären  und  halte  die  vorwiegende  Betheiligung  des 
Knochensystems  durch  den  Umstand  für  begründet,  dass  das  gefäss- 
reiche  Gewebe  des  Knochenmarks  eine  besonders  günstige  Stätte  für 
die  weitere  Entwicklung  der  transplantirten  Theilchen  abgegeben  hat. 


476  Wilhelm  Müller, 

Erklärung  der  ibbildangen. 

Tafel  XT. 

Fig.  8.  Schnitt  durch  ein  Epithelioma  cylindrocellulare  des  rechten  Schilddrüsen- 
lappens, o  Foliikelähnliche  Gebilde,  b  Schlauchförmige  Drüsenanlagen. 
c  Interstitielles  Gewebe. 

Fig.  9.  Schnitt  durch  ein  Epithelioma  cylindrocellulare  des  linken  Schläfenbeins, 
metastatisch  nach  Epitheliom  der  Schilddrüse  entstanden,  a  Foliikelähn- 
liche Gebilde.  6  Schlauchförmige  Drüsenanlagen,  c  Interstitielles  Gewebe 
mit  den  Gefässen.  d  Knochen  mit  den  Kernen  der  Knochenkörperchen. 
e  Stärker  imbibirte  Zone  der  Intercellularsubstanz  des  Knochens  im  Bereich 
der  Usur. 


7.  Ein  Fall  vou  SpiiKlelzellensarcoui  (Sarconia  fusocellulare) 

der  Schilddrüse  neben  altem  Kropf  mit  Metastasen  auf 

Lymphdrüsen  und  Lungen. 

Ich  verdanke  den  nachstehenden  Fall  der  Liberalität  des  Herrn 
Geh.  Hofrath  Gerhardt,  in  dessen  Privalpraxis  derselbe  zur  Beobachtung 
gekommen  ist. 

K.,  66  Jahre  aU,  Gonditor  aus  Jena,  wie  ein  grosser  Theil  der  Ein- 
wohner Jena's  seit  längerer  Zeit  mit  Kropf  behaftet,  bemerkte  seit  eini- 
ger Zeit  ein  rascheres  Wachsthum  desselben.  Dazu  gesellten  sich  in 
der  letzten  Lebenszeit  ein  äusserlich  fühlbarer  Knoten  unter  der  Haut 
der  rechten  Thoraxhälfte,  Abnahme  der  Kräfte  und  die  Erscheinungen 
von  Lungeninsufficienz ,  was  auf  eine  Neubildung  in  Schilddrüse  und 
Lunge  gedeutet  wurde.  Tod  unter  den  Erscheinungen  des  Lungen- 
ödems den  8.  Mai  1867. 

Section  49  vom  9.  Mai  1867.  Grosse  Leiche  von  kräftigem  Körper- 
bau. Haut  bleich.  Unterhaulbindegewebe  fettreich,  Muskeln  braunroth, 
massig  dick.  In  der  Mittellinie  und  zu  beiden  Seiten  des  Halses  eine 
umfangreiche,  flach  höckerige,  etwas  bewegliche  Geschwulst,  die  Haut 
darüber  verschiebbar.  Thorax  gut  gewölbt,  symmetrisch,  über  dem 
Knorpelansatz  der  zehnten  rechten  Rippe  ein  kirschengrosser,  abge- 
flachter, röthlichweisser  Tumor.  Abdomen  flach.  Massige  Schwellung 
einzelner  Zungonfolükel.  Anfang  des  Oesophagus  seitlich  comprimirt, 
seine  Schleimhaut  unverändert.     Trachea  3  Centimeler  unterhalb  des 


7.  Kill  Fall  von  Spiiidclzellensarcom  (Saicoma  fiisocelliilaiT)  der  Scliilddiiisi'.      m 

Ringknorpels  linkerseits  im  Unifanü;  eines  GroschenslUcks  von  einer 
flfu;h  höckerigen ,  gelblichweissen  Neubildung  durchbrochen ,  weiche 
niil  uiceröser  Oberfläche  in  das  Lumen  hineinragt  und  mit  einer  Neu- 
bildung des  linken  Schilddrilsenlappens  zusammenhängt. 

Schilddrüse  in  eine  umfangreiche  höckerige  Geschwulst  verwan- 
delt. Der  rechte  Lappen  <S  Centimeter  hoch,  4  breit,  '.i,'ö  dick,  vom 
rechten  Zungenbeinhorn  bis  /-ur  Clavicula  reichend,  das  Gewebe  blass- 
braun, gelb,  körnig,  die  Körner  mit  gelber  Gallerte  erfüllt,  in  der  Mitte 
des  Lappens  ein  kugeliger  Knoten  von  3  Cent.  Durchmesser  von  röth- 
lichweisser  Farbe ,  deutlich  faserigem  Bau ,  elastischer  Consistenz  mit 
einer  buchtigen,  käsigen  hihalt  führenden  Höhle.  Isthmus  der  Schild- 
drüse 6,5  Cent,  hoch,  5  breit,  0  dick,  vom  unteren  Rand  des  Schild- 
knorpels bis  zum  .lugulum  reichend  und  eine  kurze  Strecke  unter  das 
Manubrium  Storni  herabgreifend,  durchaus  in  eine  gelblichweisse, 
deutlich  faserige,  massig  feste  Geschwulst  verwandelt.  Der  linke  Lap- 
pen 9,5  Cent,  hoch,  0  breit,  5  dick,  vom  Kieferwinkel  bis  zur  linken 
Clavicula  reichend.  Der  obere  und  unlere  Umfang  dieses  Lappens  zeigt 
auf  eine  kurze  Strecke  den  gewöhnlichen  Läppchenbau  der  Schilddrüse, 
die  Läppchen  sind  körnig,  reich  an  Gallerte,  die  Hauptmasse  ist  in  eine 
flach  höckerige  Geschwulst  verwandelt,  von  gelblichweisser,  an  ein- 
zelnen Stellen  mehr  braunrother  Farbe,  massig  fesler  Consistenz,  fase- 
rigem ,  an  den  braunrothen  Stellen  schwammigem  Bau.  Linke  Vena 
jugularis  interna  und  anonyma  gleich  der  linken  Vena  thyreoidea  infe- 
rior thrombosirt,  der  Thrombus  erstreckt  sich  bis  zur  Einmündungs- 
stelle  in  die  Cava ,  in  welche  er  mit  zerrissenem  Ende  hineinragt. 
Glandulae  cervicales  inferiores  linkerseits  zum  Theil  in  kirschgrosse, 
röthlich weisse,  massig  feste  Tumoren  verwandelt. 

Zwerchfell  nach  Eröffnung  des  Thorax  am  6.  Rippenknorpelansatz. 
Herz  normal  gelagert.  Linke  Lunge  durch  einzelne  umschriebene  Binde- 
gewebsstränge  derCostalpleura  adhärend.  Pleura  mit  einzelnen  flachen, 
röthlich -weissen,  zum  Theil  im  Centrum  flach  vertieften  Geschwülsten 
besetzt.  Lunge  durchaus  lufthaltig,  die  vorderen  Partien  blutarm, 
trocken,  die  hinteren  blutreich,  die  ganze  Lunge  von  zahlreichen  kuge- 
ligen, erbsen-  bis  apfelgrossen  ,  röthlich- weissen  ,  im  Centrum  zum 
Theil  verkästen  Geschwülsten  durchsetzt.  In  dem  zum  hinteren  Ab- 
schnitt des  Oberlappens  führenden  Pulmonalarterienzweig  ein  der 
Gefässwand  adhärirender  grauröthlicher  Embolus.  Rechte  Lunge  um- 
schrieben verwachsen  ,  vorne  trocken,  blutarm,  hinten  blutreich  und 
beträchtlich  ödematös.  In  Ober-  und  Miltellappen  zahlreiche,  im  Unler- 
lappen  spärliche  erbsen-  bis  wallnussgrosse,  kugelige,  scharf  umschrie- 
bene ,   zum  Theil  leicht  ausschälbare  Knoten.     Im  Stamm  der  rechten 


478  Wilhelm  Müller, 

Pulmonalarterie  ein  dünner,  wandslandiger,  auf  die  Aeste  eine  kurze 
Strecke  weit  übergreifender  Embolus.  Herzbeutel  gleich  dem  Herz  sehr 
fettreich,  letzteres  schlaff,  Musculatur  brüchig,  die  Klappen  intact. 
Leichtes  Atherom  des  Anfangsstücks  der  Aorta ,  beträchtliches  des 
Bogens  unter  Erweiterung.  Die  Organe  des  Unterleibs  ohne  bemerkens- 
werthe  Veränderung. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  gallertigen  Abschnitte  des 
rechten  und  linken  Lappens  der  Schilddrüse  ergab  den  gewohnlichen 
Befund  des  Gallertkropfs  (Adenoma  gelatinosum )  :  die  Follikel  fast 
durchweg  von  Kugelform ,  sehr  ungleich  vergrössert  und  dem  ent- 
sprechend zwischen  0,03  und  1,8  im  Durchmesser  schwankend,  im 
Innern  erfüllt  von  homogener,  gelblicher  Gallerte.  Sie  bestanden  wie 
im  normalen  Zustande  aus  einer  dünnen  Membrana  propria  und  dieser 
aufsitzendem  einschichtigen  Epithel.  Letzteres  war  von  ungleicher 
Beschaffenheil,  in  einem  Theil  der  Follikel  deutlich  cylindrisch ,  0,008 
—  0,01  hoch,  0,00.5  breit,  in  der  Mehrzahl  cubisch  von  0,006  Seiten- 
fläche, in  einzelnen  stark  abgeflacht.  Die  das  Innere  erfüllende  Gallerte 
enthielt  ausser  Krystallen  von  oxalsaurem  Kalk  in  einer  grossen  Zahl 
von  Follikeln  scharf  begrenzte,  vollkommen  wasserhelle  Vacuolen  von 
0,02  —  0.1  Durchmesser.  Das  interstitielle  Gewebe  bestand  aus  Blut- 
gefässen und  adventitiellem  Bindegewebe ;  erstere  bildeten  in  ihrem 
capillaren  Abschnitt  auf  der  Membrana  propria  der  erweiterten  Follikel 
Netze  von  der  gewöhnlichen  Form ,  das  letztere  war  vorwiegend  von 
Fibrillen  gebildet  und  arm  an  zelligen  Elementen. 

An  den  Stellen  des  linken  Lappens,  an  welchen  die  Neubildung 
auf  das  Drüsengewebe  übergriff,  zeigte  sich  das  interstitielle  Gewebe 
verdickt,  indem  die  Gefässe  von  breiten  Zügen  dicht  aneinanderliegen- 
der theils  rundlicher,  zum  grösseren  Theil  spindelförmiger  Zellen  um- 
geben waren.  Letztere  Zellen  halten  eine  sehr  ungleiche,  zwischen 
0,012  und  0,03  wechselnde  Länge  bei  0,002 — 0,006  Breite,  sie  bestan- 
den aus  einem  zarten ,  hie  und  da  in  netzförmige  Ausläufer  sich  ver- 
zweigenden Protoplasmakörper  und  einem ,  seltener  zwei  elliptischen 
Kernen  mit  1  —  2  glänzenden  Kernkörperchen.  Die  Follikel  der  Schild- 
drüse waren  der  Zunahme  des  interstitiellen  Gewebes  entsprechend 
gegen  die  Neubildung  zu  durch  immer  grössere  Zwischenräume  ge- 
trennt, ihr  Durchmesser  nahm  dabei  rasch  ab  und  bewegte  sich  zwi- 
schen 0,015  und  0,05  Mm.,  die  Form  war  bei  einem  Theil  langgestreckt 
und  wie  abgeflacht.  Sie  bestanden  aus  einer  Membrana  propria,  die 
jedoch  an  einzelnen  kernreich  und  wie  aus  einzelnen  Zellen  zusanimen- 
eesetzt  war,  und  einschichtigem  ihr  aufsitzendem  Epithel ,  welches 
stellenweise  reichlich  mit  glänzenden  Körnchen  infiltrirt  war;  im  Innern 


7.  Ein  Fall  von  SpindplzpllPiisarcom  (Sarcoma  fusorelliilare)  der  Schilddruse.      479 

enthielt  die  Mehrzahl  auch  der  kleineren  homogene  Gallerte.  Das  die 
Membrana  propria  dtr  Follikel  umgebende  Gefiissnelz  erschien,  so  weit 
die  natürlitht*  FUllnng  der  Bahnen  am  gehärteten  Priiparat  dies  beur- 
iheilen  licss,  an  den  weiter  im  Bereich  der  Ncul)ildiing  liegenden  Fol- 
likeln zurückgebildet.  In  der  Hauptmasse  der  im  linken  Lappen  der 
Schilddrüse  liegenden  Geschwulst,  sowie  im  ganzen  Isthmus  fehlten 
die  specifischen  Elemente  der  Schilddrüse  vollständig.  Das  Gewebe 
der  Neubildung  bestand  hier  aus  ziemlich  slrallen,  zu  dünnen  Bündeln 
vereinigten  Fibrillen  vom  Aussehen  gewöhnlicher  Bindegewebsfibrillen 
und  aus  dicht  aneinanderliegenden  rundlichen,  vorwiegend  aber  spin- 
delförmigen Zellen,  mit  jenen  in  den  Auslaufern  der  Geschwulst  gegen 
die  adenomatösen  Stellen  hin  übereinstimmend.  Zellen  und  Binde- 
gewebsfibrillen waren  zu  Bündeln  vereinigt,  welche  in  den  verschie- 
densten Richtungen  sich  durchkreuzten.  Ein  Unterschied  von  einem 
Stroma  und  einer  davon  ditlerenlen  Einlagerung  wai'  nicht  zu  consta- 
tiren.  Die  Bündel  von  Zellen  und  Bindegewebsfibrillen  führten  Gefasse; 
sie  waren ,  soweit  sich  dies  an  natürlich  injicirten  Partieen  feststellen 
liess,  ziemlich  spiü-lich  und  dünnwandig,  zum  grösslen  Theil  aus  ge- 
streckten Capillaren  bestehend,  der  Anordnung  nach  an  die  spärlichen 
Gefässnetze  erinnernd  ,  wie  sie  der  Processus  infundibuli  erwachsener 
Säugethiere  besitzt.  An  einzelnen  Stellen  im  unteren  Abschnitt  des 
linken  Schilddrüsenlappens  erwiesen  sich  die  kleineren  Venen  stark 
erweitert,  einen  Plexus  0,1  —  0, 1  5  weiter  Hohlräume  bildend,  zwischen 
welchen  das  eigentliche  Gewebe  der  Geschwulst  erheblich  reducirt  und 
theilweise  mit  körnigem  Haemaloidin  infiltrirt  war.  Die  erweiterten  Ve- 
nenräume enthielten  theils  farbige  Blulzellen  in  dichter  Aneiuander- 
häufung,  Iheils  dichte  Fibringerinnsel,  welche  an  einzelnen  Stellen  von 
Zellenmassen  durchwachsen  waren,  welche  von  den  Bestandlheilen  der 
umgebenden  Neubildung  sich  nicht  unterscheiden  Hessen. 

Die  Untersuchung  der  Knoten  in  den  Glandulae  cervicales  und  den 
Lungen  ergab  denselben  Befund  wie  die  Geschwulst  im  linken  Lappen 
und  dem  Isthmus  der  Schilddrüse,  Epitheliale  F)lemente  fehlten  voll- 
ständig, die  Knoten  bestanden  aus  vielfach  sich  durchkreuzenden  Bün- 
deln fheils  fibrillärer  Bindesubstanz,  theils  runder  und  spindelförmiger, 
kernhaltiger  Zellen  mit  spärlichen  und  dünnwandigen  Gefässen. 

Der  Befund,  welchen  die  mikroskopische  Untersuchung  der  ver- 
schiedenen Geschwülste  ergeben  hat,  stimmt  mit  dem  gewöhnlichen 
Befund  des  Spindelzellensarcom  (Sarcoma  fusocellulare)  überein.  Den 
Ausgangspunkt  der  Neubildung  suche  ich  in  dem  die  Gefässe  der 
Schilddrüse  umscheidenden  Bindegewebe.  Dies  ist  ursprünglich  ein 
Bestamllheil  desGefässblatts,  welcher  frühzeitig  den  eigentlichen  Gefäss- 


480  Wilhelm  Müller, 

bahnen  gegenüber  eine  gewisse  Selbständigkeit  seiner  Entwicklung 
zeigt.  Er  versieht  bereits  die  in  der  Abschnürung  begriftene  Anlage 
der  Schilddrüse  mit  einer  aus  spindelförmigen  Zellen  bestehenden  Hülle 
und  betheiligt  sich  später  im  Anschluss  an  das  Eindringen  der  Gefässe 
in  noch  höherem  Grade  an  deren  Entwicklung,  indem  er  die  epithe- 
lialen Gebilde  umwächst,  die  Lücken  zwischen  den  Blulgefässnetzen 
ausfüllt  und  durch  selbständiges  Wachsthum  die  Septa  liefert,  durch 
welche  die  einzelnen  Läppchen  des  Organs  gesondert  werden.  Während 
der  embryonalen  Entwicklung  besteht  dieser  Theil  des  Gefässblatts  aus 
runden,  den  Lymphkörpern  gleichenden,  vorwiegend  aber  aus  spindel- 
förmiget»  Zellen.  Dieselben  Zellenformen  sind  es,  welche  durch  die 
Einwirkung  der  den  Sarcombildungen  zu  Grunde  liegenden  Ursache 
im  vorliegenden  Falle  in  Geschwulstform  zur  Entwicklung  gekommen 
sind.  Ihre  einseitige  Vermehrung  hat  zum  Schwund  der  Epithelial- 
gebilde  der  Drüse  und  des  functionellen  Gefässsystems  geführt;  diesem 
Schwund  steht  eine  Neubildung  von  Gefässen  gegenüber,  denn  die 
Anordnung  der  Gefässnetze  in  der  Geschwulst  hatte  einen  Charakter, 
wie  er  in  der  normalen  Schilddrüse  sich  nicht  findet.  Ich  betrachte 
diese  Gefässbildung  als  eine  secundäre,  durch  die  Vermehrung  der 
adventitiellen  Bindesubstanz  hervorgerufene;  sie  hat  in  dem  vorliegen- 
den Falle  das  Maass  nicht  überschritten  ,  welches  bei  der  Entwicklung 
der  Spindelzellensarcome  innegehalten  zu  werden  pflegt.  Der  Umstand, 
dass  im  Innern  eines  Theils  der  kleinsten  Venen  der  Geschwulst  Ge- 
websmassen  vom  Bau  der  umgebenden  Neubildung  sich  vorgefunden 
haben,  macht  es  wahrscheinlich,  dass  wenigstens  ein  Theil  der  in  den 
Lungen  entwickelten  Knochen  einer  directen  embolischen  Verschlep- 
pung kleinster  Theilchen  der  ursprünglichen  Neubildung  in  Lungen- 
arterienzweige  seine  Entstehung  verdankt. 


8.  Ufbcr  myxnmalöses  Adt^nom  d.  Scliilddnisr  ii.  di'ssni  Bc/.icliiinuni  iiim  GiiUeilkrcbs.   181 

8.   Heber  iiivvoniatöses  Adeiioiii  der  Scliihldrüse  und  dessen 
Bezieliiiii<:;eii  zum  so*jf.  (liillertkrehs. 

Im  Saallhalo,  aus  welchem  das  pathologische  Inslitiil  /ii  Jena  zum 
überwiegenden  Theil  sein  MaUMial  bezieht,  (indet  sich  Kropf  in  ende- 
mischer Verl)reilung.  Den  Ausgangspunkt  dei-  Schwellung  der  Schild- 
drüse bildet  in  der  Regel  eine  Vergrösserung  ihrer  Follikel,  bedingt 
durch  eine  Vermehrung  der  auskleidenden  Epilhelien,  es  beruht  dem- 
nach der  Process  auf  ächter  Adenomhildung.  Das  Gefiissblatt  mit  dem 
interstitiellen  Bindegewebe  betheiligt  sich  häufig  secundär;  die  ge- 
wöhnliche Form  der  Betheiligung  des  ersteren  besteht  in  einer  der 
Vergrösserung  der  Follikeloberlläche  entsprechenden  Vermehrung  der 
Capillarcn,  von  Seite  des  letzteren  findet  die  Betheiligung  mit  Vorliebe 
statt  in  Form  von  Bildung  (ibromatöser  Knoten  oder  in  Form  von  Kno- 
chenbildung. Die  eigentliche  Drüseiisubstanz  erscheint  bei  diesen  ge- 
wöhnlichen Formen  des  Gallerlkropfs  (Adenoma  gelatinosum)  auf  der 
Schnittfläche  körnig  und  bald  mehr,  bald  weniger  reich  an  blassgelber 
in  den  Körnern  enthaltener  Gallerte. 

Seltener  bietet  sich  namentlich  in  umfänglicheren  Schilddrüsen- 
geschwülsten ein  Befund ,  welcher  von  dem  angegebenen  darin  ab- 
weicht, dass  die  Schnittfläche  des  körnigen  Gefüges  entbehrt  und  eine 
gleichförmige  lockere,  gelbliche  Gallertmasse  darstellt,  in  welcher  man 
bei  genauerer  Betrachtung  ein  lockeres  Netz  weisser  Faserzüge  wahr- 
ninmit.  Es  bildet  diese  Form  des  Kropfes  entweder  scharf  umschrie- 
bene, von  einer  Kapsel  umgebene  Einlagerungen  oder  gleichloimige 
Infiltrationen,  welche  ohne  scharfe  Grenze  in  das  körnige  Prüsengewebe 
übergehen.  Untersucht  man  einen  solchen  Kropfknoten  frisch  oder 
nach  vorheriger  Härtung,  so  ergiebt  sich,  dass  sowohl  die  Bindegewebs- 
züge,  welche  die  einzelnen  Läppchen  der  Schilddrüse  sondern^  als 
auch  jene,  Vielehe  im  Innern  der  Läppchen  die  den  einzelnen  Follikeln 
zukommenden  Gefässe  umgeben,  in  ein  lockeres  Netz  verwandelt  sind, 
dessen  Inlerstitien  von  einer  homogenen,  gelblichen,  in  Carmin  blass 
rosenrolh  sich  imbibirenden  Gallerle  erfüllt  sind.  Das  Netz  wird  gebil- 
det von  feinen  ,  meist  gestreckt  verlaufenden  Fibrillen ,  welche  unter 
spitzen  Winkeln  mit  einander  anastomosiren  und  hie  und  da  zu  dün- 
nen Bündeln  sich  vereinigen;  sie  stehen  mit  den  dünnen,  die  kleinsten 
Arterien  und  Capillaren  un)scheidenden  Fibrillenzügen  in  vielfacher 
Verbindung.  In  den  Knotenpunkten  des  Netzwerks  finden  sich  ellipti- 
sche Kerne,  umgeben  von  einem  dünnen,  bisweilen  eine  Anzahl  glän- 
zender Körnchen  enthaltenden  Trotoplasmahof ,  eben  solche  finden  sich 


482  Wilhelm  Müller, 

im  Verlauf  der  dünnen  durch  die  Vereinigung  von  Fibrillen  entstande- 
nen Bündel.  Die  Gefässe  durchsetzen  in  spärlicher  Zahl  die  Gallert- 
uiasse.  Die  Follikel  der  Schilddrüse  sind  entsprechend  der  Gallert- 
infiltration der  interstitiellen  Bindesubstanz  durch  grössere  Zwischen- 
räume als  normal  getrennt.  Sie  sind  an  den  Stellen,  an  welchen  die 
Gallertinfiltration  weil  vorgeschritten  ist,  stets  klein,  ihr  Epithel  meist 
in  fettiger  Umwandlung,  bisweilen  stark  abgeflacht;  im  Innern  ent- 
halten sie  entweder  homogene,  gelbliche  Gallerte  oder  abgestossenes  in 
Verfettung  begriffenes  Epithel. 

Es  ist  mir  im  Laufe  dieses  Frühjahrs  gelungen  ,  /um  Zweck  der 
Feststellung  der  Betheiligung  des  Gefässsysteras  eine  mit  dieser  Kropf- 
form behaftete  Schilddrüse  wenige  Stunden  nach  dem  Tod  mit  blauer 
Leimmasse  zu  injiciren.  Es  handelte  sich  um  die  infiltrirte  Form,  und 
zwar  zeigte  der  betreffende  Schilddrüsenlappen  eine  körnige  Periphe- 
rie, welche  ohne  scharfe  Grenze  in  die  homogene,  das  Innere  erfül- 
lende Gallertmasse  überging. 

Die  Untersuchung  des  peripherischen  Abschnitts  ergab  den  ge- 
wöhnlichen Befund  des  gallertigen  Adenoms:  Die  Läppchen  der  Schild- 
drüse durch  gefässführende  Bindegewebssepta  geschieden,  aus  Folli- 
keln und  interstitiellem  Gewebe  bestehend.  Erstere  waren  von  mitt- 
lerer zwischen  0,0  2  und  0,1  wechselnder  Grösse,  theils  rund,  theils  in 
die  Länge  gezogen,  sie  bestanden  aus  Membrana  propria,  einschichtigem, 
dieser  aufsitzenden  Flpithel  von  cubischer  Gestalt  und  0,007  Seiten- 
fläche und  homogener,  gelblicher  Gallerte  im  Innern.  Das  interstitieller 
Gewebe  erfüllte  die  sehr  geringen,  durchschnittlich  nicht  über  0,02 
messenden  Zwischenräume  zwischen  den  einzelnen  Follikeln ;  es  be- 
stand aus  Gefässen  ,  welche  in  ihrem  capillaren  Abschnitt  mit  Maschen 
von  durchschnittlich  0,05  Weite  die  Membrana  propria  der  Follikel 
umspannen  und  einem  lockeren  diese  umgebenden  Netz  von  Binde- 
gewebsfibrillen  mit  spärlichen  Zellelementen.  An  der  Grenze  des  drü- 
sigen gegen  den  homogenen ,  gallertigen  Theil  des  Lappens  wurden  in 
einzelnen  Läppchen  die  Interstitien  zwischen  den  Follikeln  geräumiger, 
indem  zwischen  den  aufgefaserten  und  theilweise  zellenreicheren  Zügen 
der  Bindesubstanz  schmale  Gallertmassen  sich  abgelagert  halten.  Die 
Follikel  zeigten  dieselbe  Beschaffenheit  wie  in  dem  körnigen  Abschnitt 
des  Lappens,  jedoch  war  ihr  Gefässapparat  spärlicher  und  die  Gefässe 
zum  Theil  auffallend  verschmälert.  Weiter  gegen  das  Innere  verw  ischten 
sich  die  Grenzen  zwischen  den  einzelnen  Läppchen,  indem  sowohl  die 
Sepia  zwischen  denselben  als  die  intersliliellen  Bindesubslanzzüge  im 
Innern  diffus  aufgefasert  und  von  homogener  Gallerte  in  den  Maschen- 
räumen infillrirl  waren   (vergl.  Taf.  XI,   Fig.  10).     Die  Follikel  waren 


8.  lieber  myxomittöses  Adenora  d.  Schilddrüse  u.  dessen  Beziebiinuen  lum  Gallerlkrebs.   483 

dem  entsprechend  durch  weite  bis  0,?  betragende  Zwischenräume  ge- 
lrennt, kleiner  als  in  dem  körnigen  Abschnitt  der  Drüse,  0,01  —  0,05 
messend,  in  der  Mehrzahl  0.03  nicht  (iberschreitend ;  ihr  Kpithel  viel- 
fach in  Verfettung  und  abgeplattet,  im  Innern  theils  homogener  Gallerte, 
theils  Häufchen  verfetteten  Epithels'  Das  auf  der  Membrana  propria 
der  Follikel  normal  sich  ausbreitende  Capillargefiisssystem  war  nur  an 
ein/einen  Follikeln  in  Hudinienten  noch  nachweisbar,  die  Mehi/.ahl 
derselben  besass  keine  eigenthümlichen  Gefässe ;  dem  entsprechend 
fanden  sich  grössere  bis  0,1  dicke,  n)it  glänzenden  Körnchen  dicht 
inhltrirte,  nach  Art  von  Gelassen  vei-äslelte  Stränge  in  der  (Jallerte, 
welche  zum  Theil  an  durchgängige  Gefässe  sich  ansetzten,  aber  keine 
Injectionsmasse  aufgcnomnien  hatten.  Das  eigentliche  Capillargefäss- 
system  in  den  gallertigen  Partien  wuide  gebildet  von  langgestreckten, 
im  Mittel  0,01  weiten  Capillaren  ,  welche  ein  nicht  ganz  regelmässiges 
unter  spitzen  Winkeln  anastomosii-endes,  spärliches  Netz  bildeten. 
Sowohl  ihre  Wand  als  jene  der  kleineren  Arterien  und  Venen  wurde 
von  lockeren  Bindegewebsscheiden  umgeben ,  mit  welchen  das  die 
Gallertc  durchsetzende  Netzwerk  in  vielfacher  Verbindung  stand. 
Innerhalb  der  dickeren  Arterienscheiden  fand  sich  stellenweise  Gallerte 
in  solcher  Anordnung,  dass  sie  an  eine  Füllung  von  Lymphgefässen  mit 
Gallertmasse  erinnerte. 

Die  Beschaffenheit,  welche  die  interstitielle  Bindesubstanz  in  dem 
letzteren  und  in  allen  analogen  Fällen  dargeboten  hat,  welche  ich  zu 
untersuchen  Gelegenheit  hatte,  stimmt  mit  den  Eigenschaften  iiberein, 
welche  das  fötale  Gallert-  oder  Schleimgewebe  darzubieten  pflegt.  Der 
Befund  im  Ganzen  lässt  sich  auffassen  als  eine  diffuse  Myxombildung 
im  interstitiellen  Gewebe,  welche  im  Anschluss  an  einfache  Adenom- 
bildung Platz  greift  und  bei  den  höheren  Graden  zu  Atrophie  der  Epi- 
thelialgebilde  und  des  letzteren  eigenthümlichen  Gefässsystems  führt. 
Es  muss  meiner  Ansicht  nach  diese  Form  von  Gallertumwandlung  der 
Schilddrüse  als  Adenoma  myxomalosum  dem  gewöhnlichen  Gallert- 
kropf, dem  Adenoma  gelatinosum  gegenübergestellt  werden.  Die  letz- 
tere Form  beruht  auf  einer  Vermehrung  der  Epithelien  der  Sehilddrü- 
senfollikel  unter  Vergrösserung  oder  Neubildung  von  letzteren,  und 
einer  entsprechenden  Vermehrung  des  gallertigen  Inhalts  bei  noinialer 
Beschaffenheit  des  interstitiellen  Bindegewebes ,  die  erstere  dagegen 
beruht  auf  einer  Umwandlung  der  interstitiellen  Bindesubstanz  in  achtes 
Gallert-  oder  Schleimgewebe,  wobei  die  Schilddrüsenfollikcl  normal 
sich  verhalten  oder  bei  höheren  Graden  mit  ihrem  functionellen  Gefäss- 
netz  der  Rückbildung  anheimfallen  können. 

Diese  Form  des  myxomatöscn  Adenoms  der  Schilddrüse  bietet  aus 


484  Wilhelm  Müller, 

dem  Grunde  ein  ganz  besonderes  Interesse,  weil  sie,  wie  ich  aus  einen» 
im  Jahre  1 868  beobachteten  Fall  und  zwei  weiteren ,  in  der  Sammlung 
des  pathologischen  Instituts  seit  längerer  Zeit  befindlichen  Präparaten 
schliessen  muss ,  den  Schlüssel  zu  einer  sehr  einfachen  Deutung  des 
Neubiidungsprocesses  liefert,  welcher  der  Mehrzahl  der  Fälle,  wenn 
nicht  allen  Fällen  von  sog.  Gallertkrebs  zu  Grunde  liegt.  Die  Beobach- 
tungen, auf  welche  diese  Ansicht  sich  stutzt,  sind  folgende. 

O.  Friedrich,  71  .lahre  alt,  Beamter,  seit  längerer  Zeit  in  der  Pri- 
vatpiaxis  des  Herrn  Geh.  Hofralh  Gerhardt  wegen  Harnbeschwerden 
mit  gelegentlicher  Hämaturie  behandelt,  daneben  in  letzterer  Zeit  Stuhl- 
verstopfung mit  Diarrhöen  abwechselnd  ,  eine  fühlbare  Geschwulst  im 
Abdomen,  Verfall  der  Kräfte.     Tod  den  10.  Oclober  1868  Abends. 

Section  lil  vom  12.  Oclober  1868.  Aeltere  und  frische  Tuber- 
culose  des  Oberlappens  der  rechten  Lunge,  hypostatische  Pneumonie 
in  den  Unterlappen  beider  Lungen.  Umfangreicher  Gallertkropf  mit 
Knochenbildung  und  leichter  Compression  der  Trachea.  Wallnuss- 
grosses  Adenom  der  Prostata  mit  massiger  Verengerung  der  Urethra. 
Drei  bohnengrosse  Phosphatsteine  in  der  Blase  neben  eitrigem  Katarrh 
in  Harnblase  und  rechtem  Nierenbecken.  Varixbildung  in  den  hämor- 
rhoidalen  und  urethralen  Venen.  Das  Netz  nach  links  gezogen  und  mit 
den  unterliegenden  Darmschlingen  verwachsen.  Colon  transversum 
winklig  geknickt,  seine  Mitte  nahe  der  Symphyse  liegend.  Die  obere 
Partie  des  Dickdarms  ausgedehnt  und  milKoth  gefüllt.  Flexura  sigmoi- 
dea  neben  dem  Promontorium  einen  mehr  als  faustgrossen  Tumor  bil- 
dend, welcher  mit  den  anliegenden  Dünndarmschlingen,  der  geknick- 
ten Stelle  des  Colon  transversum ,  dem  Netz  und  dem  Parietalperito- 
näum  über  dem  unteren  Ende  der  linken  Niere  theils  lose,  theils  fest 
verwachsen  ist.  Bei  dem  Versuche ,  die  Adhäsionen  zu  lösen ,  kommt 
unter  dem  Netz  bräunliche  abgesackte  Flüssigkeit  und  nach  deren  Ent- 
fernung eine  umschriebene  Perforation  der  Flexura  sigmoidea  zum 
Vorschein.  Lumen  der  letzteren  durch  eine  handtellergrosse,  den  gan- 
zen Ringunifang  einnehmende  Neubildung  verengt.  Ihre  Oberfläche 
zeigt  an  zwei  Stellen  ziemlich  tiefe  Einschnitte,  wodurch  sie  in  drei, 
dem  Ringumfang  des  Darms  parallel  verlaufende  Abtheilungen  zerlegt 
wird.  Sie  erhebt  sich  mit  umgeworfenen  Rändern  1  —  2  Gentimeter 
über  das  Niveau  der  umgebenden  Schleimhaut  und  zeigt  eine  unebene, 
mit  zahlreichen  zottigen  und  keulenförmigen  Excrescenzen  bedeckte 
Oberfläche.  Zwischen  den  Excrescenzen  finden  sich  ausgedehnte  bucb- 
lige  Verschwärungen ,  deren  eine  trichterförmig  die  ganze  Darmwand 
durchsetzt  und  zur  Dui'clil)ohrung  der  letzteren  geführt  hat.  Die  Con- 
sislonz  der  Neubildung  ist  allenthalben  weich,  an  den  ulcerösen  Stellen 


8.  lieber  inyxoinatöses  Adenom  d.  Schilddrüse  ii.  dessen  Beziehungen  zum  Gallertkrcbs.   485 

zeigt  sie  sich  gebildet  von  einem  alveolären  Bindegewebsnetz ,  dessen 
Maschen  von  einer  gelblichen ,  zitternden  Gallerte  erfüllt  sind.  Auf 
einem  der  Länge  nach  geführten  Durchschnitt  zeigt  sich  die  Geschwulst 
an  ihrer  Peripherie  von  kolossal  vergrösserten  Darmfalten  gebildet, 
indem  das  subnuiköse  Bindegewebe  in  Form  von  I  —  2  Mm.  breiter, 
gegen  das  Darmlun)en  vorspringender  Leisten  sich  erhebt,  welche  unter 
Abgabe  seitlicher  Sprossen  sich  verschmälern  und  /-ugespit/t  endigen. 
Sie  werden  von  einem  grauweissen,  feinkörnigen  Gewebe  überzogen, 
welches  an  der  Oberfläche  zu  einer  Anzahl  zottenförmiger  und  papil- 
lärer Exkrescenzen  sich  erhelU.  Die  Muskelwand  und  Serosa  des  Darms 
sind  an  den  peripherischen  Stellen  einfach  verdickt,  weiter  nach  Innen 
von  grauweissen  und  gallertigen  Einlagerungen  durchsetzt,  die  Ober- 
fläche des  Darms  höckerig  uneben.  Das  grauweisse,  die  Peripherie  der 
Geschwulst  bildende  Gewebe  macht  weiter  gegen  das  Innere  ohne 
scharfe  Grenze  einer  gelblichen  Gallertsubslanz  Platz ,  welche,  in  ein 
weissliches,  areoläres  Maschennelz  eingeschlossen,  die  ganze  Dicke  der 
Neubildung  von  der  zottigen  Oberfläche  bis  zur  vorgewölbten  Serosa 
durchsetzt.  In  der  Umgebung  der  Geschwulst  zeigen  sich ,  durch 
schmale,  gesunde  Schleimhautpartien  getrennt,  inselförmige,  breite 
Excrescenzen  der  Schleimhaut  mit  zottiger  Oberfläche  und  grauweissem 
feinkörnigen  Durchschnitt  mit  Verdickung  der  unterliegenden  Darm- 
schichten. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Neubildung  wurde  nach 
vorheriger  Härtung  in  1  %  chromsaurem  Kali  und  Alkohol  vorgenom- 
men; zur  Markirung  vorhandener  Epithelialgebilde  wurde,  da  wässrige 
Carminlösungen  wegen  der  starken  Quellungsfähigkeit  des  Gallert- 
gewebes als  unbrauchbar  sich  erwiesen  ,  alkoholische  Anilinblaulösung 
benutzt. 

Die  Schleimhaut  in  der  Umgebung  der  Neubildungen  zeigte  die 
normale  Beschaft'enheit.  Ihre  schlauchförmigen  Drüsen  standen  palli- 
sadenförmig  nebeneinander,  ihre  Weile  betrug  durchschnittlich  0,00 
Mm. ,  sie  waren  mit  einschic^hligem  Cylinderepithel  versehen.  Die 
Bindesubstanz  erwies  sich  namentlich  an  der  Basis  der  Drüsen  reich  an 
Lym|)hkörpern ,  die  Muscularis  mucosae  war  0,05  dick  und  entsandte 
schmale  Bündel  senkrecht  nach  oben  in  die  Interslitien  der  Drüsen. 

Die  Leisten ,  zu  welchen  sich  das  submuköse  Bindegewebe  in  der 
Peripherie  der  Neubildung  erhob,  bestanden  aus  fihrillärem  Binde- 
gewebe mit  massigem  Gehalt  an  zelligen  Elementen.  Das  sie  über- 
ziehende Gewebe  setzte  sich  zusammen  aus  zweierlei  Bestandtheilen : 
Epilhelialgebilden  und  interstitiellem  Gewebe.  Erstere  bildeten  an  der 
Oberfläche  senkrecht  stehende,  cylindrische  Schläuche,  in  den  tieferen 


486  Wilhelm  Müller, 

Schichten  nahmen  sie  unregelmässig  gewundene  Formen  an  und  zeig- 
ten seitliche  Sprossen ,  welche  zum  Theil  netzförmig  unter  einander  in 
Verbindung  standen ;  ihr  Durchmesser  war  ziemlich  ungleich,  zwischen 
0,06  und  0,3  schwankend. 

Der  Bau  dieser  Epilhelialgebildo  war  allenthalben  derselbe:  sie  be- 
standen aus  einer  dünnen  Bindesubstanzhiille  und  dieser  aufsitzendem 
cylindrischen  Epithel.  Letzteres  war  einschichtig ,  seine  Zellen  proto- 
plasmareich, 0,004—0.006  dick,  0,02 — 0,0:^  lang,  mit  der  Basis  näher 
liegendem  Kern.  An  der  Basis  der  Neubildung,  da  wo  sie  an  die  nor- 
male Schleimhaut  angrenzte,  erstreckten  sich  Ausläufer  dieser  Epithe- 
lialgebilde,  zum  Theil  mit  normalen  Drüsenenden  in  Zusammenhang 
stehend,  durch  Lücken  in  der  Muscularis  mucosae  in  das  submuköse 
Bindegewebe  und  bildete  dort  langgezogene ,  vorwiegend  dem  Verlauf 
der  Fibrillen  parallele  Einlagerungen.  Diese  Epithelialgebilde  waren 
umgeben  von  dünnen  Lagen  einer  an  Lymphkörpern  und  spindelför- 
migen Zellen  reichen  Bindesubslanz,  welche  ausserdem  Gefässe  führte, 
deren  capillarer  Abschnitt  die  Epithelialgebilde  mit  lockeren  Netzen 
umspann.  An  der  Oberfläche  der  Geschwulst  bildete  diese  zellenreiche 
Bindesubstanz  verschieden  gestaltete  papilläre  Excrescenzen,  in  welche 
Gefässschlingen  sich  fortsetzten  und  welche  an  ihrer  Oberfläche  von 
einschichtigem  cylindrischen  Epithel  überzogen  waren.  Die  isolirten, 
in  der  Nähe  der  Geschwulst  vorhandenen  Neubildungen  in  der  Schleim- 
haut stimmten  in  ihrem  Bau  mit  der  Peripherie  der  Hauptgeschwulsl 
überein. 

In  einiger  Entfernung  von  der  Peripherie  änderte  sich  dieser  Bau 
insofern ,  als  an  Stelle  der  fibrillären  oder  zellenreichen  interstitiellen 
Bindesubstanz  Schleimgewebe  auftrat.  Diese  Umwandlung  der  Binde- 
substanz erfolgte  zunächst  an  umschriebenen  Stellen,  indem  die  Adven- 
litia  der  kleineren  Arterien  sich  auflockerte  und  in  den  Interstitien  eine 
homogene  Gallertmasse  sichtbar  wurde.  Weiter  gegen  das  Innere  ver- 
breitete sich  die  Auffaserung  und  gallertige  Infiltration  über  die  ganze 
interstitielle  Bindesubstanz,  so  dass  die  festeren  Bindegewebszüge  auf 
spärliche  schmale  Bündel  reducirt  wurden ,  durch  welche  das  Gallert- 
gewebe in  rundliche  und  längliche,  0,1  —  0,8  messende  Aveolen  zerlegt 
wurde.  Die  homogene,  blassgelbe,  in  Wasser  stark  quellentie,  in  ver- 
dünnten Alkalien  leicht  lösliche  Gallerte  wurde  wie  an  den  isolirten 
Stellen  der  Arterienscheiden  von  einem  Netzwerk  feiner,  hie  und  da 
zu  kleinen  Bündeln  vereinigter  Fibrillen  durchsetzt.  In  den  Knoten- 
punkten des  Netzwerks  fanden  sich  elliptische  und  eckige  Kerne, 
ausserdem  fanden  sich  grössere,  durch  Blässe  ihres  feinkörnigen  Proto- 
plasma ausgezeichnete  runde  und  elliptische  Zellen  von  0,016 — 0,2  Dicke 


8.  Ucber  myxomatoscs  Adenom  d.  Sfliilddri'ise  ii.  di'SSPii  Hczicliiiiiui'ii  zum  (iiilleilkrcbs.  487 

bei  0,021  —  0,03  Länge,  mit  I  bis  %  rundlicluMi,  0,004  l)is  0,007  mes- 
senden Kernen  und  versehieden  gi'ossen  ,  his  0,01  i  messenden,  voll- 
kommen wnsserhellen ,  runden  Vacuolen ,  die  runden  scheinbar  frei  in 
der  Gallerte  liegend,  die  elliptischen  tirösslentheils  durch  sehr  zarte 
Protoplasmafortsälze  mit  dem  Fibr'illennelz  in  Verbindung.  Die  Gallerle 
enthielt  ausserdem  gestreckt  verlaufende  Capillaren  von  0,00(5  -0,016; 
ihre  Wand  war  umgeben  theils  von  einer  dünnen  librilliiren  Adven- 
litia,  von  welcher  aus  Fibrillen  an  das  die  Gallerle  durchsetzende  Netz- 
werk sich  abzweigten,  theils  von  aneinandergereihten,  elliptischen, 
aulfallend  blassen  Zellen  mit  grossen ,  gleichfalls  bhissen  Kernen  und 
hie  und  da  beginnender  Vacuolenbildung. 

Die  Epitlielialgebilde,  welche  in  der  Peripherie  der  Geschwulst 
das  vorwiegende  Element  bildeten,  fehlten  auch  in  dem  gallertigen 
Theil  nicht.  Ihr  Veihalten  zur  Gallerlumwandlung  der  umliegenden 
Bindesubslanz  liesS  sich  an  den  Stellen  verfolgen,  an  welchen  letzlere 
noch  auf  isolirte  Strecken  der  Adventitia  der  kleineren  Arterienzweige 
sich  beschränkte.  Die  hie  und  da  mit  Erweiterungen  versehenen,  mit 
cylindrischem  Epilliei  ausgekleideten  Schläuche  wurden  entweder  auf 
eine  grössere  Strecke  ihres  Verlaufs  von  der  galleitigen  Bindesubslanz 
einfach  umwachsen  oder  letztere  drängle  sich  an  einzelnen  Stellen 
gegen  die  epilhelfiihrende  Wand  wie  eine  mit  breiler  Basis  aufsitzende 
Papille  vor,  die  Epilhelialbekleidung  vor  sich  herschiebend  (vergl. 
Taf.  XI,  Fig.  M).  An  den  weiter  im  Innern  liegenden  Partien  der  Ge- 
schwulst mit  diffuser,  von  der  zottigen Obeifläche  bis  zu  den  die  Serosa 
infiltrirenden  Theilen  sich  verbreitender  Gallertmetamorphose  der  in- 
terstitiellen Bindesubslanz  zeigten  die  Epilhelialgebilde  ein  verschiede- 
nes Verhalten,  An  den  theil  weise  in  Schleimgewebe  verwandelten 
zolligen  F^xkrescenzen  der  Oberfläche  zeigte  sich  der  einschichtige 
Cylinderepithelüberzug  unversehrt;  in  den  lieferen  Schichten  waren 
die  Epilhelialgebilde  in  Rückbildung  begriffen.  Am  häufigsten  erschie- 
nen sie  von  dem  Galleitgewebe  rings  umwachsen ,  schmäler  als  in  der 
Peripherie  der  Geschwulst,  hie  und  da  noch  mit  seitlichen  Sprossen 
versehen ;  das  auskleidende  F^pithel  entweder  noch  deutlich  cylindrisch 
oder  häufiger  in  deutlicher  Verfettung,  unregelmässig  gestaltet,  das 
Protoplasma  reich  an  glänzenden  Körnchen.  Es  fanden  sich  ferner 
rundliche  Massen  von  Gallerlgewebe,  welche  entweder  ringsum  oder 
in  einer  Strecke  ihrer  Peripherie  eine  Bekleidung  von  einschichtigem 
Cylinderepilhel  zeigten  ,  welche  bisweilen  auf  die  gegenüberliegende 
Fläche  der  Gallertmasse  sich  fortsetzte.  Ich  erkläre  sie  mir  als  Quer- 
oder  Längsschnitte  von  Stellen,  an  welchen  frühzeitig  ein  Hineinwach- 
sen   des    umgebenden  Schleimgewebes  in  erweiterte   Abschnitte    der 

BH.  VI    .1.  33 


488  Wilhelm  Müller, 

Epilhelialgebilde  in  Papillenform  stattgefunden  hat.  Im  Innern  enthiel- 
ten die  epithelführenden  Schläuche  dieses  Abschnitts  der  Geschwulst 
entweder  farblose  Flüssigkeit,  mit  einzelnen  körnigen  Epithelzellen, 
so  lange  unverändertes  Epithel  sie  bekleidete,  oder  feinkörnigen  Detri- 
tus, wenn  die  Fettdegeneration  des  Epithels  weiter  fortgeschritten  war 
(vergl.  Taf.  XI,  Fig.  12).  Von  dem  die  Epithelialgebilde  in  der  Peri- 
pherie der  Geschwulst  umspinnenden  Capillarnelz  Hessen  sich  in  den 
centralen  Partien  kaum  Spuren  constatiren  ,  das  Capillarsystem  redu- 
cirte  sich  auf  die  spärlichen  gestreckten  Zweige,  welche  im  Innern  der 
Gallertsubstanz  sich  verbreiteten. 

Es  ergiebt  sich  als  Resultat  der  Untersuchung,  dass  die  vorlie- 
gende Geschwulst  aus  zwei  Bestandtheilen  sich  zusammensetzt,  welche 
in  den  peripherischen  und  centralen  Partien  verschiedene  Modificatio- 
nen  und  eine  verschiedene  Wachsthumsenergie  darbieten.  Der  eine 
Bestandtheil  ist  hervorgegangen  aus  einer  Sprossenbildung  der  Darm- 
drüsen ,  bedingt  durch  eine  Vermehrung  der  cylindrischen  Epithelien 
des  Darmdrüsenblatts.  Der  andere  Bestandtheil  ist  hervorgegangen  aus 
einer  Vermehrung  der  Zellen  der  inlerstitiiUen  Bindesubstanz.  Diese 
Vermehrung  hat  in  der  Peripherie  der  Geschwulst  und  in  den  umge- 
benden kleineren  Geschwülsten  stattgefunden  in  analoger  Weise  wie 
bei  der  embryonalen  Entwicklung  der  Darmdrüsen,  indem  sie  sich  auf 
die  Production  zellenreicher  Umhüllungen  der  Epithelialgebilde  be- 
schränkt hat.  Diese  Abschnitte  der  Geschwulst  stimmen  mit  dem  Befund 
eines  gewöhnlichen  Epithelioma  cylindrocellulare  überein.  In  den  von 
der  Peripherie  entfernteren  Partien  der  Geschwulst  ist  das  interstitielle 
Bindegewebe  Sitz  eines  weiteren  Entwicklungsprocesses  geworden, 
welcher  zu  einer  Umwandlung  desselben  in  achtes  Gallert-  oder  Schleim- 
gewebe geführt  hat.  Diese  Umwandlung  ist  wenigstens  stellenweise 
erfolgt  zum  Nachtheil  der  epithelialen  Gebilde  und  der  sie  umgebenden 
Gefässe,  welche  der  Rückbildung  anheimgefallen  sind.  Dieser  Theil  der 
Geschwulst  entspricht  seinem  Bau  nach  einem  diffusen  Myxom ;  ich 
halte  seine  Entwicklung  für  einen  secundären  Vorgang,  da  die  Stellen, 
in  welchen  der  Neubildungsprocess  allem  Anscheine  nach  im  Fort- 
schreiten oder  in  frischer  Entwicklung  begriffen  ist,  der  Gallertmassen 
entbehren.  Es  muss  eine  besondere  Ursache  im  Verlauf  der  Epithe- 
liombildung  zur  Einwirkung  gekommen  sein,  welche  zur  diffusen 
Myxombildung  Seitens  der  interstitiellen  Bindesubstanz  geführt  hat. 
Für  die  ganze  Neubildung  empfiehlt  sich  in  Berücksichtigung  ihres  ge- 
mischten Charakters  die  Bezeichnung  des  Epithelioma  myxomatosum. 

Ich  habe  zur  Prüfung  dieser  Auffassung  zwei  weitere  Präparate 
von    sog.  Gallertkrebs   untersucht,    welche   seit   längerer   Zeit  in    der 


8.  üeber  myxomatöses  Adenom  d.  Schilddrüse  u.  dessen  Beziehungen  zum  flallertkrebs.   489 

Sammlung  des  hiesigen  pathologischen  Instituts  sich  befinden,  das  eine 
dem  Dickdaim,  das  andere  der  Brustdrüse  enlstanmiend. 

In  dem  cisteren  Präparat  ist  ein  Theil  des  Dickdarms,  wahrschein- 
lich die  Flexur,  in  einen  den  ganzen  Ringumfang  des  Darms  einneh- 
menden fast  kopfgrossen  Tumor  verwandelt,  w^elcher  mit  dem  Seheitel 
der  Harnblase  und  einer  Anzahl  von  Dünndarmschlingen  fest  verwach- 
sen ist.  Die  Geschwulst  beschränkt  sich  in  ihrer  Peripherie  auf  die 
Schleimhaut,  welche  zu  einer  flachen,  mit  umjicworfenem  Rande,  an 
der  Oberfläche  mit  feinen  zottigen  Exkrescenzen  versehenen  Neubil- 
dung von  weicher  Consistenz,  gleichförmig  grauweisser  Farbe  und  fein- 
körniger Schnittfläche  veidickt  ist.  Die  Muskelwand  und  Serosa  des 
Darms  sind  unter  dem  peripherischen  Abschnitt  der  Geschwulst  ein- 
fach verdickt,  weiter  nach  Innen  wird  erstere  an  n)ehreren  Stellen  von 
der  Geschwulst  durchsetzt,  welche  sich  in  der  Serosa  in  grosser  Aus- 
dehnung verbreitet.  Eine  Strecke  von  der  Peripherie  entfernt  verän- 
dern sich  die  Eigenschaften  der  Geschwulst,  indem  sie  an  Dicke  erheb- 
lich zunimmt,  eine  stark  zerklüftete,  mit  zottigen  und  papillären  Ex- 
krescenzen bedeckte  Oberfläche  und  dazwischen  buchtige,  tief  greifende 
UIcerationen  zeigt.  In  diesem  ganzen  Abschnitt  ist  die  Consistenz  der 
Geschwulst  zugleich  erheblich  weicher  als  in  der  Peripherie,  das  kör- 
nige Gefüge  geschwunden,  stall  dessen  findet  sich  eine  gelbliche,  zit- 
lernde  Gallerle  allenthalben  in  ihre  Substanz  infillfirt,  welche  von- einem 
weisslichen  Fasernetz  durchsetzt  wird.  An  zwei  Stellen  haben  die 
UIcerationen  an  der  Basis  der  Geschwulst  zu  Durchbohrungen  der  Darm- 
wand und  ihr  anliegender  Organe  geführt;  nach  oben  communicirt  die 
Höhle  des  Dickdarms  mit  einer  Dünndarmschlinge ,  deren  Wandung  in 
der  Umgebung  der  groschengrossen  Perforation  von  einer  weichen, 
grauweissen ,  feinkörnigen  Neubildung  substiluirt  wird,  welche  keine 
Gallerteinlagerung  zeigt.  Eine  zweite  Perforation  findet  sich  zwischen 
Dickdarm  und  Scheilel  der  Blase,  deren  Wand  in  der  Umgebung  der 
Perforationsstelle  gleichfalls  in  eine  kugelig  vorgewölbte,  an  der  Ober- 
fläche feinzottige,  der  Gallerteinlagerungen  entbehrende  Neubildung 
verwandelt  ist. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  ergiebt  in  den  peripherischen 
Partien  und  in  den  Geschwülsten  der  Dünndarm-  und  Harnblasenwand 
den  Befund  des  Epithelioma  cylindrocellulare.  Die  Entwicklung  von 
Gallertgewebe  zeigt  sich  auch  hier  zunächst  an  inselförmigen  Stellen 
der  Adventilia  kleinerer  Arterien,  und  erst  weiter  im  Innern  diffus 
über  die  interstitielle  Bindesubstanz  verbreitet  mit  Atrophie  der  hier 
befindlichen  Epithelialgebilde  unter  Verfettung  ihres  Epithels  und  Ver- 
schmälerung  ihres  Durchmessers  bis  fast  zur  Unkenntlichkeit. 

33* 


490  Wilhelm  Müller, 

Das  zweite  Präparat  stellt  eine  ellipsoidische  Geschwulst  der  Brust- 
drüse dar  von  6  Centimeler  Höhe,  9  Centimeter  Länge,  8  Centimeter 
Breite.  Die  Brustwarze  nebst  der  umliegenden  Haut  ist  an  die  Ge- 
schwulst fixirt,  die  Haut  in  grosser  Ausdehnung  verdünnt,  so  dass  an 
einzelnen  Stellen  unterliegende  gelbliche  Gallerlkörner  durchschim- 
mern. In  einiger  Entfernung  von  der  Brustwarze  ist  sie  im  Umfang 
eines  Thalers  von  der  Neubildung  durchbrochen.  Die  Durchbruchs- 
stelle ist  flach  vorgewölbt  und  l)esteht  aus  dünnen,  mit  verdickter  Epi- 
derniis  überzogenen  Hautreslen  und  dazwischen  befindlichen  runden 
ülcerationen.  Die  an  letzleren  blossliegende  Neubildung  zeigt  ein 
areoläres  Maschennelz  und  in  dieses  eingebettet  eine  gelbliche,  durch- 
scheinende Gallerle.  Auf  dem  Durclischnilt  zeigt  die  Geschwulst  eine 
Zusammensetzung  aus  einer  Anzahl  kirschen-  bis  hühnereigrosser, 
durch  Bindegewebssepla  unvollkommen  geschiedener  Lappen.  Diese 
sind  in  den  lieferen  Schichten  der  Brustdrüse  von  grauweisser  Farbe, 
massig  fesler  Consislenz,  körnigem,  diüsenähnlichen  Bau,  in  den  obe- 
ren Schichten  blassgelb,  von  weicher  Consislenz  und  immer  mehr  gal- 
lertiger Beschafl"enheit,  von  einem  weissen,  gegen  die  Oberfläche  zu 
immer  lockerer  und  spärlicher  werdenden  Fasernetz  durchsetzt. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  ergielit  schon  bei  schwachen 
Vergrösserungen  ,  dass  in  der  Geschwulst  zweierlei  Beslandlheile  sich 
unterscheiden  lassen  :  Drüsengewebe  und  inlerslilielle  Bindesubslanz 
mit  Gefässen.  Das  Drüsengewebe  besieht  aus  0,1  —  0,3  Mm.  im  Durch- 
messer haltenden  cylindrischen  Gängen,  welche  baumförmig  sich  ver- 
zweigen und  in  kurze,  an  ihren  Enden  mit  einer  oder  mehreren  flachen 
Auftreibungen  versehene  Ausläufer  übergehen.  Die  zu  einem  Drüsen- 
gang gehörenden  Ausläufer  mit  ihren  rudimentären  Endbläschen  wer- 
den durch  stärkere  Bindegewebszüge  von  den  benachbarten  geschieden, 
dadurch  wird  die  Bildung  einer  Anzahl  secundärer  Läppchen  bedingt, 
welche  der  Schnittfläche  der  tieferen  Schichten  ihr  feinkörniges  An- 
sehen verleihen.  Die  Drüsengänge  bestehen  aus  einer  dünnen  Mem- 
brana propria  und  auskleidendem  Epithel.  Letzteres  ist  in  den  grösse- 
ren Gängen  cylindrisch  und  besieht  aus  kernhaltigen  Zellen  von  0,005 
Dicke  bei  0,008  Höhe;  in  den  Ausläufern  und  deren  Endauftreil)ungen 
ist  es  viel  flacher,  Iheils  cubisch,  theils  abgeflacht,  polygonale  Plällchen 
von  0,006  —  0,01  Durchmesser  darstellend.  Das  Lumen  der  drüsigen 
Gänge  ist  theils  scharf  begrenzt,  Iheils  in  den  Ausläufern  und  Endbläs- 
chen erfüllt  mit  Epithelien  von  der  Beschaff'enheil  der  die  Wandung 
bekleidenden.  Diese  Drüsengänge  und  Endbläschen,  welche  von  jenen 
einer  jungfräulichen  Manmia  nur  durch  grösseren  Epithelreichthum 
und  geringere  Regelmässigkeit  der  Form  sich  unterscheiden,  werden 


8.  Ucltpr  myxomalöses  Adcnnin  d.  Scliilddrfise  n.  dessen  RezieliiinKeii  /.iim  (Tallerfkrelts.   491 

uintiohcn  von  Bind€'sul)staiiz  uiui  (I(>f;iss(<n.  Die  l<in(l('sii|)s(;m/,  z(ml;1  an 
ciiiom  Thcil  der  frstoirn,  dciillicli  körniiicii  Stellen  der  (lesehw  iilsl  (<inc 
Zusainnionsetzunij;  aus  Fibrillen  mit  elli|)tisclien  Kernen  und  zwisc^hen- 
liogenden  runden  und  spindolfönnit^cn  Zellen.  Diese  Stellen  entsi)iechen 
dem  Befund,  wie  er  bei  einfachen  Adenomen  der  lirusldiilse  häufiij;  ist. 
Um  die  Mehrzahl  dei-  Drüsengänj^e  und  ihrer  Kntlen  isl  die  Bindosub- 
slanz  auch  In  den  lieferen  Sehiehten  der  Geschwulst  locker,  wie  auf- 
gefasert, 0,016  —  0,08  breite,  scheidenarligc  Umhüllungen  bildend 
(vergl.  Taf.  IX,  Fig.  II). 

Diese  Umhüllungen  werden  piripherisch  begrenzt  von  slratten 
Bindegew ebsbündeln  ,  an  welche  sich  zartere  Fibrillenzügo  in  conccn- 
trischer  Anoi'dnung  anreihen.  Gegen  die  Mitte  wird  die  Anordnung  der 
letzteren  stellenweise  mehr  netzförniig,  mit  runden  und  eckigen  Kernen 
in  den  Knotenpunkten,  hi  den  Zwischenräumen  dieser  Fibrillen  findet 
sieh  eine  homogene,  dnrchsic  htige  Gallertmasse,  hie  und  da  runde  oder 
elliptische,  blasse,  mit  rundem  Kern  und  hyalinen  Vaeuoleg  versehene 
Zellen  enthallend.  Die  in  der  Bindesiibslanz  verlaufenden  kleinen 
Aiteiien  und  Capillaren  zeigen  sehi-  entwickelte  bindegewebige  Sehei- 
den ,  von  welchen  aus  zahlrcMche  Fasern  an  das  die  Gallerte  durch- 
setzende Netzwerk  sich  abzweigen. 

In  den  weiter  gegen  die  Oberfläche  zu  liegenden  Abschnitten  der 
Geschwulst  tritt  das  Drüsengewebe  gegen  die  Gallei  tsubstanz  erheblich 
zurück.  Das  Zurücktreten  findet  allmällg  statt,  sodass,  während  in 
den  tieferen  Partien  das  Drüsengewebe  innerhalb  der  Gallertsubslanz 
noch  leicht  nachweisbar  ist,  in  den  obeitliichlichen  nur  Rudimente  des- 
selben angetroffen  werden.  Die  Bindesubstanz  dieser  Partien  bildet 
stärkere  Züge,  welche,  zahlreiche  Anastomosen  bildend,  das  Gewebe  in 
rundliche  und  polygonale  Felder  von  0,ü5 — 0,2  Durchmesser  zerlegen. 
Von  diesen  Rindegewebszügen  sondern  sich  schmale  Bündel  ab,  welche 
unter  rascher  Auffaserung  In  das  Innere  der  Felder  eintreten,  in  letz- 
leren ein  zum  Theil  sehr  zai'tes  Netzwerk  bildend.  Die  Bindesubstanz 
dieses  Netzes  besieht  theils  aus  Fibrillen  vom  gewöhnlichen  Aussehen 
mit  runtfen  und  eckigen  Kernen  in  den  Knotenpunkten  ,  theils  isl  ihre 
Substanz  zarter,  sehr  feinkörnig,  noch  nicht  umgewandeltem  l'roto- 
plasma  iihnlich.  Lelzlei'e  enthalten  i'eichlichere  zellige  F^lemente,  theils 
in  Form  elliptischer,  mit  stark  körnigem  Piotoplasma  umgebener  Kerne, 
(^heils  in  Form  grösserer,  0,01 'i  breiter,  O,0ii  —0,03  langer  Zellen  mit 
I  —  i  Kernen,  sehr  blassem  fcMnköi'nigen  Protoplasma,  an  welches  sich 
an  beiden  Enden  sehr  zaite  Ausläufer  anschliessen,  und  wass(Mhellen, 
runden,  l)is  0,01  messenden  Vacuolen  im  Protoplasma.  Die  Zwischen- 
räume des  Netzes  sind  ausgefüllt  mil  homogener  Gallerle,    welche  ein- 


492  Wilhelm  Müller, 

zelne  runde  Zellen  frei  im  Innern  beherbergt.  Die  drüsigen  Gebilde, 
welche  im  Innern  der  Gallerte  enthalten  sind ,  zeigen  sich ,  je  weiter 
man  mit  der  Untersuchung  gegen  die  stark  gallertigen  Partien  der  Ober- 
fläche fortschreitet,  durch  um  so  grössere  Zwischenräume  getrennt;  ihr 
Durchmesser  zum  Theil  erheblich  verschmälert,  das  Innere  nur  an  ein- 
zelnen Stellen  noch  mit  erkennbaren  Epilhelien,  zum  grössten  Theil 
mit  körnigem,  rundliche  Kerne  einschliessenden  Detritus  gefüllt. 

Diese  Gallertgeschwulst  der  Brustdrüse  stimmt  in  den  wesent- 
lichen Eigenschaften  mit  der  von  Franz  Eilhardt  Schulze  ^)  beschrie- 
benen überein.  Den  Ausgangspunkt  der  Geschwulslhildung  suche  ich 
in  einer  Sprossung  der  Drüsengänge  der  Mamma,  mithin  in  einer  Ade- 
nombildung, wodurch  sich  die  Uebeieinstimmung  des  drüsigen  Theils 
der  Neubildung  mit  dem  Bau  der  jungfräulichen  Brustdrüse  ungezwun- 
gen erklärt.  Als  ein  secundäres  Ereigniss,  welches  immerhin  sehr  früh- 
zeilig  Platz  gegriffen  haben  kann ,  betrachte  ich  die  diffuse  Umwand- 
lung der  interstitiellen  Bindesubstanz  in  Schleimgewebe.  Sie  beruht 
auf  ächter  Myxombildung.  Die  Verschiedenheit  der  Bilder,  welche 
Schnitte  aus  verschiedenen  Niveaus  der  Geschwulst  darbieten,  leite  ich 
ab  von  einer  Verschiedenheit  in  der  Energie  des  Wachsthums  der  Ab- 
kömmlinge der  beiden  an  der  embryonalen  Entwicklung  der  Brustdrüse 
betheiligten  Blätter,  des  vom  Hornblatt  abslanmienden  Drüsenepithels 
und  des  aus  dem  Gefässblatl  stammenden  interstitiellen  Bindegewebes, 
und  schreibe  die  Reduclion,  welche  die  Drüsensubstanz  stellenweise 
im  Verlauf  der  Geschwulstbildung  erfahren  hat,  dem  energischeren 
Wachsthum  der  interstitiellen  Bindesubstanz  zu,  welche  durch  die  Ein- 
wirkung einer  besonderen  Ursache  zur  Entwicklung  von  Schleim- 
gewebe veranlasst  worden  ist. 

Ich  komme  auf  Grund  dieser  übereinstimmenden  an  verschiedenen 
Organen  gewonnenen  Resultate  zu  wesentlich  anderen  Schlüssen  über 
die  Natur  des  sog.  Gallertkrebses  als  die  Beobachter,  welche  sich  in 
letzterer  Zeit  mit  dessen  Untersuchung  beschäftigt  haben.  Ernst 
Wagner 2)  hat  das  Verdienst,  auf  die  Häufigkeit  der  Gallertmetamor- 
phose in  Krebsen  mit  regelmässig  gelagerten  cylindrischen  Zellen  zuerst 
aufmerksam  gemacht  zu  haben.  Er  läugnet  die  Specificität  des  Gallert- 
krebses und  leitet  dessen  Eigenthümlichkeit  ab  von  einer  Schleim- 
metamorphose der  Krebszellen.  In  letzteren  treten  seinen  Beobachtun- 
gen nach  helle  Flecke  auf,   welche  sich  vergrössern  und  die  Wandung 


1)  Arctiiv  für  mikroskopische  Anatomie  I.  Bund,  ^.  Heft. 

2)  Archiv  für  physiologische  Heilkunde   I856-.     Archiv  der  Heilkunde   1860. 
1862. 


8.  Ueber  myxoraAtOses  Adenom  d.  Schilddrüse  n,  dessen  Beziehungen  zum  Gnllertkrebs,   493 

der  Zellen  zum  Schwund  bringen.  Dadurch  komme  der  Inhalt  dieser 
hellen  Flecke  zum  Austreten  und  bleibe  isolirl  oder  fliesse  mit  der  glei- 
chen Substanz  anderer  Zellen  zusammen.  Die  ex(|uisil  alveolare  Structur 
des  sog.  Gallerlkrebses  leitet  Ernst  Wagner  ab  von  einer  Vergrüsse- 
rung  zahlreicher  Krebsalveolen  durch  die  mit  der  Schleimmelamorphose 
einhergehende  Volumzunahme  ihrer  Zellen  und  aus  demselben  Grunde 
die  eigenthümliche  Beschaflenheil  des  Stroma. 

Ich  muss  dem  gegenüber  hervorheben ,  dass  sowohl  in  einfachen 
Adenomen  als  einfachen  Epitheliomen  des  Darms  und  Uterus  Becher- 
zellen ,  wie  sie  Franz  Eu.iiaru  Schulze']  beschrieben  und  abgebildet 
hat,  nicht  selten  in  ungeheurer  Menge  sich  finden,  ohne  dass  diese 
Neubildungen  ausser  grösserem  Saftreichlhum  eine  Abweichung  vom 
gewöhnliehen  Verhalten  darböten.  Auch  in  dem  epithelialen  Theil  so- 
genannter Gallertkrebse  kann  eine  solche  Becherzellenbildung  Platz 
greifen,  sie  bedingt  aber  nicht  die  charakteristische  BeschafTenheit  der 
Neubildung.  Bei  Anwendung  der  Färbemethode  ist  es  nicht  schwierig, 
sich  zu  überzeugen,  dass  die  Gallertentwicklung  von  den  epithelialen 
Elementen  unabhängig  und  dem  interstitiellen  Gewebe  eigenthUmlich 
ist.  Der  alveolare  Bau  eines  Theils  der  Gallertkrebse  erklärt  sich  sehr 
einfach  aus  dem  Umstand,  dass  nur  die  lockereren  die  kleineren  Gefässe 
umscheidenden  Bindesubstanzzüge  Sitz  der  Ent\v  icklung  von  Schleim- 
gewebe sind  ,  während  die  stärkeren  Bündel  der  Bindesubstanz  und 
die  Scheiden  der  stärkeren  Gefässe  ihren  ursprünglichen  Bau  im 
Wesentlichen  beibehalten.  Durch  letztere  wird  die  Neubildung  in  die 
schon  mit  freiem  Auge  wahrnehmbaren  Felder  getheilt,  welche  die  Gal- 
lertsubstanz im  Innern  beherbergen. 

Die  in  dem  RuDNEw'schen  Institut  gewonnenen  Resultate  Stra- 
domsky's^)  bezeichnen  einen  weiteren  Fortschritt  in  der  Erkenntniss 
dieser  Neubildungsform  ,  insofern  derselbe  die  epithelialeri  Elemente, 
welche  ei"  als  Bestandtheile  der  untersuchten  Geschwülste  aufgefunden 
hat,  als  Abkömmlinge  der  normalen  Epithelien  des  Darmdrüsen blatts 
erkannt  hat.  Wenn  derselbe  aber  die  neugebildeten  Drüsenschläuche 
sich  erweitern  und  zuletzt  durch  stete  Zunahme  der  Erweiterung  ber- 
sten,  das  in  ihnen  enthaltene  Epithel  in  das  umgebende  Bindegewebe 
hineintreten  und  auf  diese  Weise  die  Alveolen  entstehen  lässt,  deren 
zelliger  Inhalt  nach   und  nach  eine  colloide  Metamorphose  erleide,   so 


1)  .\rchiv  für  miliroskopisclje  Anatomie  111.  Bd    p.  145. 

2;  Zur  Lelire  über  die  Entwicklung  des  Coiloidkrebses  im  Magen  und  Netz. 
Petersburg  1868.  Es  muss  hier  bemerkt  werden  ,  dass  schon  früher  Robin  zu  ähn- 
lichen Resultaten  gekommen  ist  wie  Stradomsky. 


494  Wilhelm  Müller, 

muss  ich  seine  Angaben  aus  denselben  Gründen  wie  jene  Ernst 
Wagner's  für  irrthümlich  erklären. 

Auf  Grund  von  Silberpräparaten  hat  KösterI)  es  wahrscheinlich 
zu  machen  gesucht,  dass  sowohl  im  Ilautkrebs  als  im  Gallertkrebs  die 
epithelialen  Elemente  aus  den  Epilhelien  der  capillaren  Lymphbahnen 
sich  entwickelten.  Versucht  man  diese  Annahme,  für  welche  die  nor- 
male Entwicklung  nicht  den  geringsten  Anhalt  bietet,  auf  die  im  Vor- 
stehenden geschilderten  Beobachtungen  zu  übertragen ,  so  würden  die 
Lymphgefässepithelien  in  der  Schilddrüse  Epithelialgebilde  in  Form  ge- 
schlossener Follikel,  in  der  Brustdrüse  solche  von  der  Anordnung  einer 
traubenförmigen  Drüse  und  im  Darm  solche  von  Schlauchform  produ- 
cirt  haben.  Ich  glaube,  dass  diese  Thatsachen  einfacher  aus  einer  con- 
linuirlichen  Entwicklung  der  aus  dem  Drüsenblalt  stammenden  Gebilde 
sich  ableiten  lassen,  ganz  abgesehen  davon,  dass,  so  lange  eine  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Gewebselemente ,  welche  in  den  capillaren 
Lymphbahnen  die  Silberzeichnung  geben,  nicht  vorliegt,  eine  Verwer- 
thung  dieser  Bilder  für  pathologische  Neubildungsprocesse  auf  völlig 
unsicherem  Boden  steht. 

Meinen  Beobachtungen  zufolge  müssen  die  Fälle,  in  welchen  die 
an  der  Zusammensetzung  von  Adenomen  und  Epitheliomen  betheilig- 
ten Epithelialgebilde  Ursache  einer  stärkeren  Schleim-  oder  Gallert- 
anhäufung sind,  von  jenen  unterschieden  werden,  in  welchen  die  inter- 
stitielle Bindesubstanz  Sitz  von  Schleimgewebentwicklung  wird. 

Im  ersteren  Fall  kann  Gallerte  im  Innern  von  drüsigen  Hohlräumen 
in  grösserer  Menge  sich  anhäufen;  dies  findet  namentlich  statt  bei  den 
folliculären  und"  kystomatösen  Adenomen  der  Schilddrüse,  Nieren, 
Ovarien,  des  Uterus  u.  s.  w.,  während  mir  bisher  ein  Fall  von  Anhäu- 
fung feslerer  Gallertmassen  im  Innern  der  drüsigen  Bäume  eines  Epi- 
thelioms nicht  zur  Beobachtung  gekommen  ist.  In  diesen  Fällen  stellt 
die  Gallerte  ein  Sekret  der  Epilhelien  dar,  das  interstitielle  Gewebe 
zeigt  die  normale  Beschaffenheit,  Für  sie  empfiehlt  sich  die  Bezeichnung 
des  Adenoma,  resp.  Kystoma  gelatinosnm. 

Es  können  ferner  die  Epilhelien  eines  Adenoms  oder  Epithelioms 
in  grosser  Zahl  in  Becherzellen  verwandelt  werden;  auch  in  diesem 
Fall  kann  das  interstitielle  Gewebe  normal  sich  verhallen,  die  Ge- 
schwülste unterscheiden  sich  von  den  gewöhnlichen  Adenomen  und 
Epitheliomen  nur  durch  etwas  giössere  Weichheit  und  grösseren  Saft- 
reichthum.  Für  diese  Form  empfiehlt  sich  die  Bezeichnung  des  Ade- 
noma, resp.  E|)ithelioma  mucocellulare. 

1)  Die  Entwicklung  der  Carcinome  und  Sarconie.   Wiiizhuig  1869. 


8.  Üeber  myxomatöses  Adenom  d.  Scliilddriise  ii.  dessen  Hezieliiiiigen  ziiiii  (jiiller(krel)S.   495 

Diesen  Fällen  müssen  jene  gegenübergestellt  werden  ,  in  welchen 
die  interstitielle  Bindesubstanz  Sitz  von  Gallcrtablagerung  wird,  indem 
sie  sich  zu  achtem  Schleinitiewobe  umwandelt.  Für  sie  empfiehlt  sich 
die  Bezeichnung  des  F^pitlieiioiiia  ,  rcsp.  Adenoiiia  myxomatosum.  In 
diese  Kategorie  gehört  die  überwiegende  Zahl  der  Fälle  von  sog.  Gal- 
lertkrebs. 


Erklärung  der  Abbildungen. 

Tafel  IX. 

Fig.  H.  Feiner  Schnitt  durcli  ein  Adonoma  myxomatosum  mammae.  a  Driisen- 
subslanz.  b  Inlerstiliolles  Gewebe ,  in  der  Nähe  der  Drüsensubstaiiz  auf- 
gelockert und  in  den  Inlerslitien  Gallerte  enthallend. 

Tafel  XI. 

Fig.  10.  Schnill  durch  ein  Adenoma  myxomatosum  glanilulae  thyreoideae.  a  Folli- 
kel, bei  a'  in  Atrophie  begriffen,  b  Capillargefäss.  c  Schleimgewebe,  die 
Interstitien  mit  Gallerte  erfüllt. 

Fig.  11.    Schnitt  durch  ein  Epithelioma  myxomatosum  coli,  o  Epitheliale  Schlauche. 
b  Schleimgewebe,     von    der   Adventitia    kleinerer   Arterien    ausgehend 
c  Stelle,  an  welcher  das  Schleimgewebe  die  Wand  eines  epithelführenden 
Hohlraums  eingebuchtet  hat.     Man  sieht  bei  c  das  niedrige  Epithel  der 
jenseiligen  Wand  noch  eine  Strecke  weit  verlaufen. 

Fig.  12.  Schnitt  durch  eine  weiter  gegen  die  Mitte  zu  liegende  Stelle  derselben  Ge- 
schwulst, a  Epithelialer  Schlaucli,  das  Innere  erfüllt  von  stark  körnigen 
Zellen,    b  Schleimgewebe,  den  epithelialen  Schlauch  rings  umgebend. 


lieher  die  Kopfiierveii  von  Hexanchus  und  ihr  Verhältniss 
zur  „Wirheitheorie"  des  Schädels. 


Von 

Carl  Gegenbaur. 

Mit  Tafel  XIII. 


1.   Vorbemerkungen. 

Die  vergleichende  Anatomie  des  peripherischen  Nervensystems 
der  Wirbelthiere  kann  nach  zwei  verschiedenen  Richtungen  behandelt 
vi^erden.  Einmal  kann,  von  einer  niederstehenden  Einrichtung  aus, 
die  Reihe  von  Veränderungen  verfolgt  v^^erden,  welche  sich  in  den 
höheren  Zuständen  darbietet.  Es  kann  nachgewiesen  werden,  wie 
durch  Umwandelung  anderer,  sei  es  den  Nervenbahnen  benach- 
barter Körpertheile,  sei  es  die  Endigungen  der  Nerven  empfangender, 
somit  den  Verbreitungsbezirk  derselben  darstellender  Organe  ein  modi- 
ficirender  Einfluss  auf  das  Nervensystem  selbst  ausgeübt  wird,  der  sich 
sowohl  an  den  Volums-  wie  an  den  Verlaufsverhältnissen  der  Nerven 
äussert.  Indem  man  versucht  diesen  Veränderungen  in  continuirlicher 
Reihe  nachzugehen,  werden  Einrichtungen  klar,  die,  an  ihrem  End- 
punkte betrachtet,  unverständlich  erscheinen,  in  demselben  Maasse  als 
sie  eigenthümlich  und  auffallend  sind.  Im  Gebiete  der  Kopfnerven, 
wie  sie  die  Anatomie  des  Menschen  zuerst  und  am  genauesten  kennen 
lehrte,  finden  sich  zahlreiche  Beispiele  hiefür.  Indem  die  Vergleichung 
jene  Eigenthümlichkeiten  und  Complicationen  als  Umwandlungen  ein- 
facher Zustände  nachweist,  und  die  dem  höheren  Organismus  zukom- 
mende Einrichtung  aus  dem  niederen  erklärt,  ist  sie  von  der  Anatomie 
als  Wissenschaft  untrennbar.  Die  Kenntniss  des  peripherischen  Ner- 
vensystems niederer  Wirbelthiere  ist  aber  auch  aus  einem  anderen 
Grunde  als  unentbehrlich  anzusehen.  Während  nämlich  für  viele  Or- 
gansysteme die  einfacheren  Zustände  aus  der  Ontogenie  erschlossen 
werden,  wo  wir  sie  in  den  frühesten  Stadien  vorübergehend  repräsen- 
tirt  finden,  so  dass  von  hier  aus  eine  reiche  Quelle  für  das  Verständniss 


Bd.  VI.    4. 


34 


498  Carl  Gegenbaur, 

complicirter  Einrichtungen  fliesst,  verhält  es  sich  anders  mit  dem  peri- 
pherischen Nervensystem.  Die  Entwickelungsgeschichte  des  Darmrohrs 
und  seiner  Drüsenorgane,  der  Organe  des  Kreislaufs,  sowie  jener  des 
Urogenitalsystems  u.  a.  m.,  lässt  eine  Fülle  von  Licht  auf  das  compli- 
cirtere  Verhallen  des  ausgebildeten  Organismus  ausstrahlen,  und  erläu- 
tert Einrichtungen  ,  die  ohne  jene  Kennlniss  zusammenhangslos  blei- 
ben. Die  Beispiele  hiefür  sind  so  zahlreich  und  dabei  so  nahe  liegend, 
dass  wohl  keines  angezogen  zu  werden  braucht.  Wenn  nun  jene 
ontogenetischen  Befunde  zwar  wieder  nur  durch  die  Vergleichung  auf- 
geklärt werden,  insofern  sie  dabei  als  ererbte  Zustände  sich  erweisen, 
so  sind  sie  doch  schon  an  sich  wichtige  Mittel  für  die  wissenschaftliche 
Begründung  der  Anatomie.  Für's  peripherische  Nervensystem  dagegen 
ist  uns  die  ontogenetische  Grundlage  einer  Erklärung  des  complicir- 
teren  Verhaltens  im  ausgebildeten  Organismus  entzogen,  wir  kennen 
(abgesehen  von  dem  Verhalten  einiger  Norvenstämme  zu  den  Visceral- 
bogen)  von  jenem  Systeme  keine  emhryologische  Thatsache,  die  in 
jener  Richtung  verwerthbar  wäre,  denn  es  ist  noch  völlig  ungewiss, 
ob  die  spätere  Gestaltung  den  niederen  Zuständen  entsprechende  Vor- 
läufer besitzt,  oder  ob  die  histiologische  DifFerenzirung  der  betreffen- 
den Theile  gleich  mit  dem  definitiven  Verhalten  beginnt,  indem  die 
einfacheren  Zustände  übersprungen  werden.  Jedenfalls  bietet  die  On- 
togenie  hier  eine  bedeutende  Lücke,  welche  nur  durch  das  Zurückgehen 
auf  das  definitive  Verhalten  des  bezüglichen  Organsystems  bei  niede- 
ren Wirbellhieren  ausgefüllt  werden  kann.  Daraus  ergiebt  sich  die  hohe 
Bedeutung  dieser  Richtung  der  vergleichenden  Neurologie. 

Die  andere  Richtung  der  Behandlung  der  vergleichenden  Neuro- 
logie zielt  nach  der  Erkenntniss  des  einfachsten  Zustandes  des  Nerven- 
systems der  Wirbelthiere  und  sucht  dabei  nach  Verknüpfungen  mit 
verwandten  Wirbellosen.  Beim  Betreten  dieses  Weges  wird  von  den 
niedersten  Formen  der  Wirbelthiere  ausgegangen  werden  müssen, 
während  der  andere  ersterwähnte  seinen  Ausgangspunkt  bei  höher 
organisirten,  d.  h.  differonzirteren  Formen  nehmen  kann,  je  nach  dem 
Grade  der  Ausdehnung,  den  man  der  Untersuchung  zu  geben  beabsich- 
tigt. Es  ist  aber  begreiflich,  dass  die  Untersuchung  an  den  niedersten 
Formen  reichere  Ergebnisse  für  die  Vergleichung  liefern  wird,  um  so 
mehr  als  auch  von  da  aus  auf  die  Einrichtungen  des  Nervensystemes 
bei  der  problematischen  Stammform  der  Wirbelthiere  geschlossen  wer- 
den kann. 

Die  in  dieser  Beziehung  zunächst  in  Betracht  kommenden  Fragen 
dürften  sich  auf  die  Vergleichung  der  Kopfnerven  mit  den  Spinalnerven 
beziehen.     Das  Aufsuchen  und  der  Nachweis  von  liomodynan)ien   i.st 


Ueber  die  Koiiriierveii  von  Hexaiicliiis  ii.  iliiVciliältniss  zur  Wiibeltlieorie  d.ScIiädels.  499 

die  aus  jener  Richtung  der  vergleichenden  Neurologie  entspringende 
Aufgabe. 

Das  Problem  lautet:  Lassen  sich  die  aus  dem  Gehirne  entsprin- 
genden Nerven  nach  dem  «Typus«  der  aus  dem  Rückenmarke  entsprin- 
genden eiklären,  und  sind  erstere  demgemUss  durch  eineUmwandelung 
von  solchen  Nerven  entstanden  nachzuweisen,  welche  ursprünglich 
mit  den  letzteren  übereinstimmten? 

Diese  Fragen  sind  zugleich  Theile  eines  weil  umfänglicheren 
Problems,  jenes  der  Entstehung  des  Kopfes  der  Wirbelthiere.  Würde 
nachzuweisen  sein,  dass  zu  der  Annahme  Grund  besteht,  die  Kopfner- 
ven seien  aus  Modificationen  von  nach  dem  Typus  von  Spinalnerven 
sich  verhaltenden  Nerven  heivorgegangen,  so  würde  nicht  blos  das 
Gehirn  als  das  modificirte  Vorderende  eines  ursprünglich  mit  dem 
Rückenmarke  gleichartigen  centralen  Nervensystemes  sich  heraus- 
stellen, sondern  der  ganze  als  Kopf  erscheinende  Körperabschnitt  würde 
sich  auf  einen  einfacheren  Zustand  zurück  verfolgen  lassen,  in  dem  er 
von  dem  übrigen  Körper  nur  wenig  verschieden  sich  ergübe.  Dass  hie- 
bei  auch  das  Kopfskelel  in  Retracht  gezogen  werden  muss,  ist  selbst- 
verständlich. Somit  eröffnet  sich  hier  vom  Nervensysteme  aus  der  Weg 
zu  einer  der  wichtigsten  Fragen  vergleichend-anatomischer  Forschung. 
Auf  dem  Verfolge  dieses  Weges  w  ird  sich  ergeben,  ob  und  welche  Aus- 
sicht zur  Losung  der  Frage  besteht. 

Die  Auffassung  eines  Theiles  der  Kopfnerven  als  »nach  dem  Typus 
von  Spinalnerven«  gebauter  Nerven  ist  nicht  neu,  wenn  man  auch  noch 
nicht  versucht  hat,  daraus  zu  weitergehender  Untersuchung  die  Induc- 
tion  zu  nehmen.  Rei  jener  Auffassung  ist  jedoch  fast  nur  die  Zusam- 
mensetzung des  bezüglichen  Nervenstammes  aus  einer  sensiblen  und 
motorischen  Wurzel  maassgebend  gewesen ,  weniger  der  Verlauf  und 
die  Reziehung  der  Nerven  zu  seinem  Endgebiete.  Auch  ist  man  dabei 
meist  nur  von  den  höheren  Wirbelthieren  ausgegangen,  wo  doch  das 
primitive  Verhalten  als  durch  viele  Complicationen  am  meisten  gestört 
angenommen  werden  musste.  Endlich  ist  der  Frage  kaum  gedacht 
worden,  ob  einer  der  mit  Spinalnerven  verglichenen  Kopfnerven  einem 
einfachen  Spinalnerven  entspreche  oder  einer  Summe  von  solchen,  eine 
Frage,  deren  Rerechtigung  kaum  abgesprt»t;hen  werden  dürfte. 

Indem  wir  den  Versuch  wagen,  zur  Lösung  des  angedeuteten  ana- 
tomischen Problems  die  ersten  Schritte  zu  ihun,  ist  es  wichtig,  die  Wir- 
belthierabtheilung  zu  bestimmen,  die  als  Ausgangspunkt  zu  dienen  hat. 

Dass  es  sich  hier  vor  allem  um  die  »Fische«  handeln  dürfte,  ist 
wohl  zweifellos.  Allein  die  Abtheilung  derselben  kann  in  Frage  kom- 
men.    Da  bei  den   Leplocardiern  noch  kein  gesonderter  Kopftheil  am 

34* 


500  Carl  Gegenbaur, 

Körper  besteht,  werden  diese  ausgeschlossen  werden  müssen,  wo  es 
sich  um  Kopfnerven  handelt.  Auch  die  Cyclostomen  dürften  bei  unserer 
Frage  ausser  Betracht  bleiben,  denn  schon  die  Organisation  ihres  Kopf- 
skelets  stellt  sie  weit  entfernt  von  den  übrigen  Vertebraten,  und  bietet 
wenig  Aussicht  für  die  Auffindung  von  festeren  Verknüpfungen  des 
Nervensystems  mit  jenem  der  höheren  Wirbelthiere. 

Es  bleiben  also  nur  die  Gnathostomen  übrig,  deren  Nervensystem 
ebenso  wie  fast  alle  anderen  Einrichtungen  ihres  Organismus  nahe 
Verbindungen  aufweist.  Die  am  glänzendsten  durch  das  an  sorgfaltigen 
Beobachtungen  reiche  Werk  von  Stannius  i)  vertretenen ,  zahlreichen 
Untersuchungen  über  das  Nervensystem  der  hieher  gehörigen  Fische, 
Selachier,  Ganoiden  und  Teleostier,  haben  zwar  viele  Eigenthümlich- 
keiten  kennen  gelehrt,  aber  zu  einer  Verbindung  derselben  sowohl 
unter  sich,  als  auch  mit  dem  Verhalten  der  höheren  Wirbelthiere  war 
nur  selten  ein  Versuch  gemacht  worden.  Einen  neuen  Schritt  hiezu 
zu  thun  veranlasste  mich  zunächst  die  Untersuchung  der  Kopfnerven 
von  Hexanchus  griseus,  bei  dem  sich  manche  Verhältnisse  in  einer 
Weise  darstellten,  dass  daraus  nicht  nur  ftir  das  Verständniss  der  be- 
züglichen Organisation  bei  höheren  Formen  erfolgreiche  Vergleichungen 
zu  gewinnen  waren,  sondern  dass  bezüglich  der  Beziehungen  zu  den 
Spinalnerven  weiter  vorgedrungen  werden  konnte  2), 


1)  Das  peripherische  Nervensystem  der  Fische.  Rostock  1849,  4. 

2)  Von  der  Untersuchung  eines  Selachiers  den  Ausgangspunkt  zu  wählen,  be- 
stimmte mich  vorwiegend  die  Beziehung  dieser  Abtheiiung  zu  den  Ganoiden  und 
Teleosliern  sowohl,  als  zu  den  höheren  Wirbelthieren.  Wer  die  Organisation  der 
Selachier  mit  jener  der  anderen  gf^nannten  Abtheiiungen  der  Fische  vergleicht, 
wird  nicht  blos  erkennen,  dass  bei  ersteren  in  den  meisten  Einrichtungen  niedese 
Zustände  vorliegen,  sondern  dass  auch  jene  anderen  Abtheilungen  in  ihrer  Organi- 
sation unverständlich  sind,  wenn  wir  sie  nicht  von  dem  Verhalten  der  Selachier 
ableiten.  Nehmen  wir  das  Skelet,  so  ist  es  klar,  dass  wir  den  knorpeligen  Zustand 
als^den  Vorläufer  des  jknöchernen  setzen  müssen,  wenn  wir  wissen,  dass  Fische 
mit  knöchernem  Skelet  zuvor  ein  knorpeliges  besassen.  Die  Ganoiden  (ich  spreche 
von  den  lebenden  und  nicht  von  den  fossilen)  besitzen  ein  zum  grösseren  oder  ge- 
ringeren Theile  ossificirtes  Kopfskelet,  welches  aus  einem  rein  knorpeligen  hervor- 
ging. Wenn  wir  bei  anderen  Fischen  dasselbe  knorpelige  Kopfskelet  persistiren 
sehen,  so  ist  es  nur  logisch,  diesen  Zustand  als  den  niederen  anzusehen,  und  wenn 
wir  derartige  Verhältnisse  auf  ganze  Reihen  von  Organsyslenien  ausgedehnt  finden, 
so  ist  es  wiederum  nur  folgerichtig,  die  Träger  jener  Organsysteme  für  die  niederen 
Formen  zu  halten.  Mit  Bezug  auf  die  Descendenztheorie  ist  das  so  darzustellen, 
dass  wir  sagen  :  die  Fische  mit  knorpeligem  Skelet  etc.  werden  sich  weniger  weit 
von  dem  Zustande  entfernt  haben,  der  auch  den  anderen  mit  knöchernem  Skelet  als 
Stammform  gedient  hat.  Dass  nicht  daran  gedacht  werden  kann,  die  lebenden 
Ganoiden  etwa  von  den   lebenden  Selachiern  abstammen  zu  lassen,  ist  so 


Upljpr  dicKoprilPrvcii  von  lloxiincliiis  ii.  ilirVcrliüKniss  7iii'Wirli('lllu'nrip  d,  Srliiidols.  501 

In  mehr  als  oiin-ni  Punkte  konnle  ich  dabei  die;  duivli  viele  andere 
Forscher  aufgedecklen  Thatsachen  verwerlhen  und  freue  mich  zugleich 
zui' Ausl)ildung  der  früher  von  mir  heztlglich  der  Kopfnerven  geäusser- 
ten Auffassungsweise  (Grundzilge,  3te  Aufl.)  mnncjhen  verbessernden 
und  umgestaltenden  Nachtrag  liefern  zu  können.  Aus  jener  Auffassung 
der  Kopfnerven  entsprangen  Resultat(^  für  die  Auffassung  des  Kopf- 
skeletes  derWii-belthiere.  In  den  Schlussbetiachlungen  soll  das  Haupt- 
sächlichste mitgetheilt  werden,  indem  ich  mir  vorbehalte,  diese  für  die 
Genese  des  Kopfes  wichligim  Punkte  an  einem  andern  Orte  ausführ- 
licher vorzulegen, 


2.   Untersuchung  und  Verglei  chun  g. 

Die  beschreibende  Anatomie  pflegt  die  Kopfnerven  mit  dem  Olfac- 
lorius  und  Opticus  zu  beginnen,  über  welche  ich  keine  neuen  That- 
sachen, wohl  aber  eine  die  Stellung  zu  den  übrigen  Nerven  präcisirende 
Anschauung  vorzutragen  habe.  Sie  wird  zweckmässiger  ihre  Stelle 
weiter  unten  linden.  Auch  die  Augenmuskelnerven  n)uss  ich  bei  der 
Vorführung,  wenn  auch  aus  anderen  Gründen,  zurücksetzen,  so  dass 
ich  mich  sogleich  zum  Trigeminus  wenden  kann. 

Ich  finde  denselben  (Fig.  II.  Tr)  aus  zwei  Stämmen  zusammenge- 
setzt, einen  vorderen  und  einen  hinteren,  beide  von  annähernd  gleicher 
Stärke,  der  vordere  Stamm  (Fig.  II.  a)  verlässl  das  vordere  linde  der 
unteren  (ventralen)  Fläche  der  Medulla  oblongata,  dicht  vor  der  Aus- 
trittsstelle des  Facialis  [Fa]  in  zwei  Wurzeln  gesondert,  die  aber  so 
dicht  aneinander  liegen,  dass  ihre  Trennung  nur  schwer  zu  erkennen 
ist.  Nach  Stannius  ist  die  Scheidung  dieser  Portionen  bei  andern  Se- 
lachiern  deutlicher.  Dieser  so  gebildete  Stamm  begiebl  sich  schräg  nach 
unten  zur  Schädelwand,  auf  welchem  Wege  er  von  dem  hinteren  Stamme 
[b]  überlagert  wird.    Der  letztere  setzt  sich  aus  zwei  sehr  deutlieli  ge- 


klar, dass  es  eigentlicti  keiner  Erwähnung  bedürfte.  Doch  scheint  Professor  Rol- 
leston mir  so  etwas  zu  imputiren.  denn  nur  dann  wird  mir  verständlich,  wenn  er 
in  dem  in  »the  Academy«  No.  10  w.W.  1870  über  die  zweite  Auflage  meiner  Grund- 
züge publicirten  Syllabus  errorum  als  mit  meiner  Auffassung  der  Seiachier  unver- 
einbar erklärt,  dass  manclion  Haien  ein  Schwinimhlasenrudiment  zukomme.  Mein 
Fehler  isl  natürlich  um  so  grösser,  als  ich  dieses  Rudimentes  in  meinem  Ruche  Er- 
wähnung thue.  Warum  soll,  frage  ich,  an  den  Selachicrn,  auch  wenn  siedei-  Urfornn 
der  Fische  am  nächsten  stehen,  nicht  ein  Organ  sich  rückgehiidet  haben,  das  bei 
den  andern  sich  erhielt?  Oder  meint  der  Oxforder  Professor  vielleicht,  dass  an 
den  Ganoiden,  die  er  für  die  älteren  Formen  hält,  gar  nichts  Rückgebildetes  vor- 
komme ? 


502  Carl  Gegenbaur, 

trennten  Wurzeln  zusammen,  einer  oberen  (a)  und  einer  unteren  (ß). 
Erstere  beginnt  oben,  vorne  und  seitlich  an  der  MeduUa  oblongata  mit 
einer  in  den  vierten  Ventrikel  ragenden  mächtigen  Anschwellung,  ver- 
einigt sich  dann  im  Weiterverlaufe  mit  der  unteren  Wurzel,  nachdem 
vorher  einige  Fädchen  zum  Facialis  getreten  sind,  und  bildet  einen  brei- 
ten Nerven,  der  über  den  ersterwähnten  Stamm  zur  Schädelwand  tritt. 
In  Fig.  II  ist  recbterseits  der  hintere  Stamm  von  dem  von  ihm  an 
der  Durchtrittsstelle  durch  die  Schädelwand  überlagerten  vorderen 
Stamme  abgehoben  und  etwas  nach  rückwärts  gezogen.  Die  untere 
Wurzel  verlässt  die  MeduUa  oblongata  durch  einen  Zwischenraum  von 
der  oberen  getrennt,  dicht  über  der  Facialiswurzel  und  auch  etwas  vor 
und  über  jener  des  Acusticus.  Sie  bildet  einen  mehr  platten  Strang, 
der  sich  hinter  den  der  oberen  Wurzel  anschmiegt,  so  dass  beide 
schon  vor  der  Erreichung  der  Schädelwand  mit  einander  verbunden 
sind.  Stannius  hat  die  functionellen  Verhältnisse  dieser  Stränge  und 
ihrer  Wurzeln  bei  Selachiern  nachgewiesen. 

In  dem  nach  aussen  zu  trichterförmig  erweiterten  Austrittscanale 
sind  beide  Stränge  zwar  enge  aneinander  gelagert,  aber  doch  nicht 
ohne  dass  sie  leicht  getrennt  werden  könnten.  Ausserhalb  der  Schädel- 
höhle lagert  der  hintere  Stamm  über  dem  vorderen  und  beide  bieten 
daselbst  eine  Anschwellung  dar,  welche  das  Ganglion  Gasseri  vor- 
stellt. Darauf  scheint  zwischen  beiden  Stämmen  ein  Faseraustausch 
stattzufinden ,  da  die  fernere  Trennung  ohne  Zerreissen  von  Nerven 
nicht  gelingen  will. 

Aus  dem  gemeinsamen  Truncus  begiebt  sich  nach  vorne  zu  der 
erste  Hauptast  des  Trigeminus,  den  man  als  Ra  mus  ophthalm  i- 
cus  zu  bezeichnen  pflegt i).  Derselbe  nimmt  die  obere  Wurzel  des 
hinteren  Stammes  auf,  deren  sensible  Natur  von  Stannius  erwiesen 
wurde.  Sie  scheint  den  grössten  Theil  dieses  Ramus  vorzustellen, 
wenn  sie  nicht  denselben  ausschliesslich  bildet.  Er  wendet  sich  gegen 
die  Orbitalfläche  des  Craniums  und  verläuft  längs  derselben  in  eine 
Rinne  eingebettet,  nach  vorne  (Fig.  I.  //).  um  alsbald  in  einen  Canal 
einzutreten,  der  an  der  vordem  Hälfte  der  Orbita  beginnt.  Dieser  Canal 
tritt  schräg  nach  vorne  und  aufwärts,  durchsetzt  so  das  Cranium  und 
kommt    an    der  Oberfläche    auf  der  Ethmoidalregion   zum    Vorschein 


1)  Den  gemeinsamen  Austritt  der  Trigeminusäste  aus  dem  Cranium  besitzen 
noch  Heptanclius  die  Dornhaie,  Scymnus  und  die  Rociien.  Bei  einer  Gruppe  von 
Haien  dagegen  tritt  den  Ramus  ophthalmicus  von  dem  Hauptstamme  gesondert 
aus  dem  Cran  i  um.  Er  begiebt  sich  durch  eine  vor  und  über  dem  Trigeminus- 
loche  in  verschiedener  Entfernung  liegende  Oeffnung  an  die  Aussenfläche  der  Orbi- 
talwand bei  Carcharins,  Sphyrna,  Galous,  Mustelus  und  den  Scyllien. 


Ueber  die  Kopliierveii  von  Hexaiiclnis  ii,  ihr  V>iiiril(iiiss  zur  Wirbell  lu^orie  d.  ScIiSdeis.  503 

(Fig.  J.  /;),  wo  er  sich  als  llalhrinno  {»iiiiillcl  init  dem  OibiUtlraixIo  litlo- 
ral  nach  vorne  fortsetzt. 

Auf  seinem  Wege  giebl  der  Raums  ojilahalniicus  zahh"eiclu>  Aesle 
ab.  Zuerst  entsendet  er  einen  nicht  unbedeutenden  Ast,  der  wie  bei 
anderen  Fischen  der  Ciharnerv  (vergl.  von  Sqviatina  Fig.  III.  a)  zwi- 
schen dem  M.  rectus  superior  und  externus  verläuft  und  sich  bald  mit 
einem  vom  Oculomotorius  kommenden  Fädchen  verbindet.  Mit  diesem 
verschmelzend  verläuft  der  Nerv  alsdann  abwärts  in  das  gallertige 
Bindegewebe,  welches  das  Ende  des  Bulbusträgers  umgiebt,  und  senkt 
sich  unter  dem  verdickten  Ende  jenes  Knorpels  zum  Bulbus,  wo  er,  in 
den  Bulbus  tretend,  eine  sehr  schwache  Anschwellung  bildet.  Die 
laia*ere  repräsentirt  vielleicht  ein  Ciliarganglion,  das  von  Stannius  bei 
anderen  Selachiern  vermisst  ward. 

Das  Verhalten  dieses  Nerven  zum  Bulbus  oculi  ist  fernerhin  ein 
sehr  eigenthündiches.  Man  sieht  nämlich  nach  der  Entfernung  des 
Bulbus  aus  der  Orbita  wie  von  der  Eintrittsstelle  dieses  Nerven  an, 
über  der  Eintrittsstelle  des  Opticus  ein  weisslicher  Streif  horizontal 
nach  vorne  verläuft,  durch  den  man  wieder  zu  einem  Nervenstämm- 
chen  geleitet  wird,  das  vom  Bulbus  aus  zur  vorderen  Orbitalwand  tritt. 
Es  durchsetzt  hier  nach  Abgabe  eines  gleichfalls  zur  Orbitalwand  ver- 
laufenden feinsten  Zweiges  den  Ursprung  des  M.  obliquus  superior 
und  verläuft  im  Knorpel  aufwärts  und  vorwärts,  um  sich  schliesslich 
mit  dem  lateralen  Endzweige  des  Stammes  des  Ramus  Ophthal micus 
auf  der  Oberfläche  der  seitlichen  Ethmoidalregion  zu  vereinigen. 

Die  nähere,  durch  Oetfnung  der  knoi'peligen  Sklerotica  in  Angriff 
genonnnene  Untersuchung  zeigt  nun,  dass  der  genannte  Ast  des  Oph- 
thalmicus  die  Sklerotica  durchsetzt.  Er  durchbohrt  die  Sklerotica,  läuft 
zw  ischen  dieser  und  der  Chorioidea  in  einer  leichten  Furche  dei-  ersle- 
ren  weiter,  um  die  Sklerotica  behufs  des  Austritts  zum  zweitenmale 
zu  durchbohren.  Die  Länge  des  Verlaufs  dieses  Nerven  innerhalb 
der  Sklerotica  betrug  bei  dem  von  mir  untersuchten  Exemplar 
9  Mm.     Nach  dem  Eintritte  gehen  einige  feine  Ciliarnerven  ab. 

Dieser  Nerv  verhält  sich  somit  abweichend  von  dem  Befunde  bei 
anderen  Selachiern.  Es  ist  klar,  dass  er  dem  sogenannten  Ramus  oph- 
thalmicus  profundus  entspricht,  der  bei  Acanthias,  Carcharias,  Raja 
und  Torpedo  nach  Stannius  ^)  »unter  dem  M.  rectus  und  obliquus  su- 
perior, dicht  an  dem  Bulbus  gelegen«  nach  vorne  verläuft.  Wie  dieser 
Ciliarnerven  absendet,  so  treten  diese  auch  von  unserem  Nerven  ab, 
wenn    auch    erst    nachdem  er   die    Sklerotica   durchbohrt   hat.      Das 

4)   Op.  cit.  S.  36. 


504  Carl  Gegeiibaur, 

wesentlich  Verschiedene  läge  also  hier  in  der  Aufnahme  einer  Nerven- 
strecke in  den  Bulbus  oculi.  Auch  die  Vereinigung  mit  dem  Stamme 
des  R.  ophthalmicus  ausserhalb  der  Orbila  ist  als  Abweichung  anzufüh- 
ren, da  diese  Verbindung  bei  anderen  Selachiern  schon  innerhalb  der 
Augenhöhle  zu  Stande  kommt,  nachdem  der  R.  superior  einen  in  der 
Umgebung  der  Nasenhöhle  sich  verästelnden  Zweig  entsendet  hat.  Den 
getrennten  Austritt  aus  der  Orbita  theilt  unter  den  Ganoiden  Accipenser. 

Einen  Uebergang  von  dem  Verhalten  bei  Hexanchus  und  den  von 
Stannius  untersuchten  Selachiern  finde  ich  bei  Centrophorus.  Der  R. 
profundus  des  Ophthalmicus  verläuft  hier  am  Bulbus  vorüber,  ver- 
lässt  aber  selbständig  die  Orbitalhöhle  i). 

Während  seines  Verlaufes  an  der  Orbitalwand  giebt  der  Ramus 
ophthalmicus  noch  5 — 6  feinere  Zweige  zur  oberen  Fläche  des  Schädels 
ab,  wohin  sie  durch  feine  gerade  aufsteigende  Canälchen  gelangen. 
Die  Austrittsstelle  des  Nervenstammes  auf  der  Oberfläche  des  Craniums 
entspricht  dem  hintern  Ende  der  Nasenkapsel.  Ausgetreten  theilt  sich 
der  Nerv  in  zwei  rechtwinkelig  divergirende  Aeste  (Fig.  1.  cd).  Der 
Mediale  [d)  verläuft  oberflächlich  weiter  und  endigt  mit  Verzweigungen 
an  der  Schnauzenspitze  (Rostrum)  des  Kopfes.  Der  laterale  Ast  (c) 
nimmt  seinen  Weg  in  einer  flachen  Rinne,  und  tritt  seitlich  von  der 
Nasenkapsel  wieder  in  einen  kurzen  Canal,  in  welchem  er  zur  Unter- 
fläche des  Schädels  tritt  und  sich  bis  gegen  einen  dem  Oberkiefer  an- 
gelagerten vom  untern  seitlichen  Theile  der  Ethmoidalregion  des  Cra- 
niums ausgehenden  Knorpelfortsatz  verzweigt.  Von  da  konnten  die 
feinsten  Zweige  bis  zu  der  die  Labialknorpel  deckenden  Haut  verfolgt 
werden,  also  in  die  Umgegend  des  oberen  Mundrandes. 

Es  sei  hier  noch  hervorgehoben,  dass  die  erwähnte  Beziehung  zu 
einem  Knorpelcanal  bei  den  Haien  constant  ist.  Der  aus  den  beiden 
in  der  Orbita  getrennt  verlaufenden  Aesten  entstehende  Stamm  ver- 
zweigt sich  nach  dem  Austritte  aus  der  Orbita  in  reiche  zu  den  Ampul- 
len der  eigenthün)lichen  Sinnesorgane  verlaufende  Fäden,  sowie  auch 
vom  lateralen  Endaste  Fäden  zu  der  den  ersten  (oberen)  Labialknorpel 
bedeckenden  Haut  zu  verfolgen  sind. 

Das  äusserste  Ende  des  ganzen  Stammes  findet  sich  demgemäss 
ausserhalb  und  entfernter  vom  Cranium  voi'  den  Labialknorpeln,  oder, 
wo  diese  fehlen,  doch  an  der  entsprechenden  Stelle  des  Integumentes. 
Wo  Theile  des   Nerven   oder  sogar  der  grösste  Theil  desselben  noch 

1)  Die  Vereinigung  des  Ramus  profundus  mit  dem  R.  superficialis  scheint 
übrigens  häufiger  zu  sein.  Nach  einer  Darstellung  von  Scarpa  iiommt  sie  aucli  bei 
Raja  vor.     (De  audilu  et  olfactu.  Ticini,  1789.  Tab.  I.  Fig.  I.j 


Ueber  die  Kopfnerveii  von  llrx.iiiclnis  ii.  ilir\t'ili,illiiiss  7,iiiWirbpltliPoric  d.  Srliiidpls.  505 

ciiu'n  vvcileivn  Wog  iirliiiicn,  \\'\o  bei  Uiiigschnauzigeii  Haien  uiul 
Rochen,  wo  der  von  mir  als  Roslriun  hezeichnele  iiUernasale  Theil  des 
(Iranium  sich  weil  nach  vorne  forlsetzl,  von  starken  Zweigen  vom  Ende 
des  R.  oplUhahniciis  begieilct,  werden  wir  dies  als  ein  secundäres 
Veihailen  aufzufassen  haben,  da  eben  die  Bildung  jenes  Rostrums, 
welche  mit  dem  grössern  Verbreitungs})ezirke  des  Nerven  in  Zusam- 
menhang steht,  als  eine  sccundäre  Bildung  nachgewiesen  weiden 
kann  '). 

Bringen  wir  hiemil  in  Zusammenhang,  dass  derselbe  Ramus  oph- 
thalmicus  in  anderen  Abtheilungen  der  Fische  am  Zwischenkiefer  seine 
Endverbreilung  empfängt,  dass  er  mit  der  Ausdehnung  des  Zw  ischen- 
kiefers  sich  bedeutend  verlängert,  wie  das  z.  B.  bei  Belone  der  Fall 
ist 2),  so  wird  die  Beziehung  des  Nerven  als  eine  feste  erscheinen, 
\Nenn  man  noch  Prämaxillare  und  ersten  oberen  Labialknorpel  als  zu- 
sammengehörige, und,  wenigstens  in  ganz  allgemeiner  Beurtheilung  als 
homologe  Skeletlheile  betrachtet^).     Unter  den  Reptilien  bleiben  diese 

1)  Das  Rostrum  felilt  den  Embryonen  der  spilzsclinanzigen  Rochen  elienso 
wie  bei  den  später  mit  einem  Roslrum  versehenen  Haien.  Die  Schädelfoim  der 
Embryonen  alier  Seiachier  (soweit  sie  bis  jetzt  bekannt  sind)  stimmt  um  so  melir 
überein,  als  das  betreffende  Stadium  ein  frühes  ist.  Sie  ist  durch  die  vordere  Ab- 
rundung  ausgezciclinel.  Unter  den  Haien  erhält  sich  diese  primitive  stumpfe  Schä- 
doiform,  soweit  ich  ilie  Cranien  näher  unteisuciit  habe,  bei  Hexanchus,  Scymnus, 
Scjuatina,  Heterodontus ,  unter  den  Rnclien  bei  Trygon  und  Myliobatis.  Die 
Rostriimbiidung  beginnt  bei  Heptanchus  und  Cenirophorus,  ist  bei  Acanthias  weiter 
entwickelt,  und  führt  bei  Carcharias,  Mustelus,  Galeus  und  den  Scyliien  zu  einem 
ziemlich  übereinstimmenden  dreischenkeligen  Fortsatze.  Unter  den  Rochen  ist  sie 
bei  Torpedo  angedeutet,  mehr  bei  Raja  und  Rhinobatus,  am  meisten  beiPristis  ent- 
wickelt. Differenzen  in  dem  Baue  dieses  Rostrums  gehören  nicht  hiehcr.  —  Gehen 
wir  auf  die  Grundform  zurück,  so  werden  die  das  Rostrum  begleitenden  Nerven- 
äste, als  erst  mit  diesem  entstanden,  d.  h.  fortgesetzt,  angesehen  werden  müssen, 
und  wo  es  sich  um  die  Nachweisung  des  ursprünglichen  Nervengebietes  handelt, 
kommen  die.'ie  Nerven,  wie  mächtig  sie  auch  immer  sein  mögen,  als  blossen  An- 
passungen entsprechend,  nicht  mit  in  Betracht. 

2)  Vergl.  Stanniüs  Op.  eil.  S.  37. 

3)  Ueber  die  Beziehungen  der  !,abialknorpel  der  Se|achier  zu  den  Kiefer- 
knochen (Prämaxillare  und  Maxillarc)  siehe  meine  Grundzüge  der  vergl.  Anat. 
2te  Aufl.  S.  645.  Anmerk.  Ausführliches  darüber  soll  später  mitgetheilt  werden. 
Hier  sei  nur  so  viel  bemerkt,  dass  die  Homologie  zwischen  dem  ersten  oberen  La- 
bialknorpel und  dem  Prämaxillare  eine  bedingte  ist.  Aus  dem  Labialknorpel  gehl 
nicht  das  Prämaxillare  hervor,  etwa  durch  Ossification  des  Knorpels,  sondern  das 
Prämaxillare  entsteht  als  Beleg  auf  dem  Knorpel.  Während  der  Knochen  sich  ver- 
erbt, geht  die  knorpelige  Unterlage  verloren,  wie  bei  allen  höheren  Wirbelthieren, 
oder  besteht  nur  in  unansehnlichen  Resten  unter  dem  Knochen  fort,  bei  manchen 
Teleostiern.  .Meine  Auffassung  ist  also  dadurch  von  der  CuviF.n'schen,  die  das  Rich- 
tige schon  im  Allgemeinen  giebt,  doch  ziemlich  verschieden. 


506  Cari  Gegeiibaur, 

Verhältnisse  fortbestehen  und  bei  den  Vögeln  ist  die  Forlsetzung  des 
R.  Ophthalmicus  als  Prämaxillarnerv  sogar  überaus  deutlich,  der  be- 
treffende Nerv  häufig  von  ansehnlicher  Stärke. 

Unter  den  Säugethieren  finden  wir  den  Nerven  im  Ramus  ethmoi- 
dalis  vom  Nasociliaris  vorgestellt.  Die  Austrittsslelle  des  Ethmoidalis 
aus  der  Orbita  entspricht  der  Austrittsstelle  des  Stammes  bei  den  Se- 
lachiern.  Die  auf  der  Lamina  cribrosa  bis  zur  Crista  galli  verlaufende 
Strecke  ist  bei  den  Selachiern  durch  den  Verlauf  des  Nerven  in 
einem  Canale  desCraniums  repräsenlirt,  und  der  Eintritt  in  die  Nasen- 
höhle entspricht  dem  Verlaufe  auf  der  Oberfläche  der  Nasenkapsel  der 
Selachier.  Diese  Vergleichung  mag  wohl  recht  paradox  klingen,  und 
vor  Allem  mag  es  mehr  als  kühn  erscheinen,  eine  bei  Selachiern  ober- 
flächlich am  Cranium  verlaufende  Nervenstrecke  mit  einer  bei  Säuge- 
thieren im  Innern  der  Schädelhöhle  verlaufenden  zusammengestellt  zu 
sehen.  Aber  doch  wird  es  nicht  anders  sein,  wie  wir  erkennen,  sobald 
wir  uns  objectiv  der  Sache  nähern.  Dazu  mag  die  folgende  Betrach- 
tung führen. 

Zum  Verständniss  der  eben  aufgestellten  Homologie  haben  wir 
folgende  Punkte  uns  zu  vergegenwärtigen,  welche  die  Veränderungen 
des  Craniums  l)ctrefl'en,  die  es  von  dem  bei  den  Selachiern  gegebenen 
Zustande  bis  zu  jenem  der  Säugethiere  erleidet.  Erstlich  haben  wir  zu 
beachten,  dass  bei  den  Selachiern  ein  vollständiges  Primordialcranium 
besteht,  bei  den  Säugethieren  dagegen  ist  es  unvollständig,  das  ganze 
Schädeldach  wird  durch  neue  Gebilde  hergestellt.  Dann  haben  wir 
den  so  verschiedenen  Grad  dei'  Ausdehnung  der  Schädelhöhle  zu  be- 
rücksichtigen und  endlich  drittens  das  verschiedene  Verhallen  der  Na- 
senscheidewand. 

Nehmen  wir  an,  dass  unter  gleichzeitiger  Ausdehnung  der  Schä- 
delhöhle eine  Rückbildung  des  knorpeligen  Schädeldaches  erfolgt,  dass 
der  Schwund  des  Knorpelcraniums  bis  zum  ersten  vom  Ramus  ophthal- 
micus der  Selachier  durchsetzten  Canal  verläuft,  so  wird,  wenn  sich 
die  Schädelhöhle  nach  vorne  zu  gegen  die  Ethmoidalregion  vergrössert 
hat,  der  bei  Hexanchus  in  einem  Knorpelcanal  verlaufende  Nerv  in  die 
Schädelhöhle  zu  liegen  kommen.  Die  ihn  von  der  Schädclhöhle  trennen- 
den Knorpelpartieen  sind  geschwunden  ,  und  die  stall  des  Knorpels 
das  Dach  der  Schädelhöhle  vorstellenden  Knochen  können,  da  sie  von 
Aussen  her  hinzugetreten  sind,  keine  von  der  Schädelhöhle  trennenden 
Theile  abgeben.  Das  ursprüngliche  extracraniale  Verhalten  des  Nerven 
erhält  sich  bei  den  Säugethieren  noch  dadurch  fort,  dass  er  ausser- 
halb der  Dura  maier  seinen  Weg  nimmt. 

Eine  fernere   Modification  wird  durch  das  Septum  nasale   hervor- 


Ilclicr  die  Konriicrvcii  von  llcxiiiiclins  ii.  iluVViiiältiiiss  /.iiiWiihclIlicniic  d.Srliiidcls.  507 

gerufen.  Denken  wir  uns  den  Ijei  llexanehus  Itieileii ,  zw ischen  den 
beiden  Nasenkapseln  Ix'findlichen  Knorpel  auf  das  schmale  der  Lamina 
peij)endicularis  des  Siebl)eins  /u  Giunde  lieiicnde  Knorp(>lst(lek  redu- 
eirt,  so  werden  dadurch  die  hcidcMseitigen  Nerven  einander  in  dem- 
selben Maasse  genähert  werden.  Die  auf  der  knorpeligen  Nasenkapsel 
lateral  und  median  verlaufenden  Zweige  ergeben  sich  noch  bei  den 
Siiugelliieren  in  demselben  Verhallen,  indem  zwei  Endäste  des  N.  eth- 
moidalis  auf  der  knorpeligen  Nasenkapsel  ihre  Bahnen  finden,  so  lange 
dieser  Knorpel  fortbesteht.  Es  ist  der  Ramus  externus  naiium  und 
der  Hamus  lateralis,  während  der  Ramus  septi  narium  den  Knorpel 
durclibohrt  hat.  Der  Raums  lateralis  behält  auch  bei  den  Säugethieren 
dieselbe  Ausdehnung  bis  zum  Prämaxillare,  oder  doch  in  die  Nähe  dessel- 
ben. Das  Gebiet  des  Nerven  findet  hier  also  im  vordersten  Abschnitte 
der  dorsalen  Schädelregion,  an  die  er  bis  zum  vordersten  demVisceral- 
skelete  entstammenden  Stücke  hinab  sich  verbreitet.  Beachtcnswerth 
ist,  dass  er  diesem  Skeletstücke  niemals  mit  seinem  Stamme  aufge- 
lagert ist,  sondern  dass  die  zu  jenem  Theile  tretenden  Endzweige  von 
oben  herabkommen. 

Bei  Raja  ist  der  mediane  Endzweig  als  N.  nasalis  anterior  exter- 
nus von  BoNSüORFF  ')  richtig  gedeutet  worden.  Dagegen  wird  der  late- 
rale Endzweig  als  N.  ethmoidalis  (in  der  Tafelerklärung  wohl  durch 
einen  Druckfehler  als  N.  frontalis)  bezeichnet,  womit  wohl  kein  ver- 
gleichendes Urtheil  ausgesprochen  werden  sollte. 

Der  Hauptstamm  des  »R.  ophthalmicus«  der  Selachier  entspricht 
keineswegs  in  seinem  ganzen  Verhalten  dem  R.  ophthalmicus  der  Säu- 
golhiere  oder  speciell  des  Mensehen.  Er  ist  aber  auch  nicht  blos  Naso- 
ciliaris,  wieBoNSDORFF  angiebt.  DasVerhältniss  wird  vielmehr  so  aufge- 
fasst  werden  müssen.  Der  Stamm  des  Ophthalmicus  umschliesst  bei 
den  Selachiern  die  bei  Säugethieren  früher  als  Aeste  abgehenden  Theile 
länger.  So  lange  er  Rami  frontales  entsendet,  die  bei  den  Säugethieren 
zu  einem  Aste  vereinigt,  die  Orbitalhöhle  durchziehen,  entspricht  er 
dem  Ophthalmicus,  und  erst  bei  seinem  Verlassen  der  Orbita  tritt  er  in 
die  Bahn  des  Nasociliaris,  um  daim  das  diesem  zukommende  Verhalten 
einzugehen.  Daraus  kann  geschlossen  werden,  dass  der  Nasociliaris 
die  Fortsetzung  des  llauptstannnes  des  Ophthalmicus  ist,  dessen  beim 
Menschen  als  gleichwerthig  angegebene  Aeste  in  dieser  Beziehung  eine 
secundäre  Bedeutung  besitzen. 

Die  eigenlhümlichen  Verlaufs\ei-li;Utnisse  des  R.  ophthalmicus  füh- 
ren bei  näherer  Prüfung  zu  folgenden  Erwägungen.     Die  Richtung  des 


i)  Acta  Societatis  Fennicae.  T.  V.  S.  195. 


508  Carl  Gegeiibnur, 

Hauplstaiitmes  ist  bei  den  einzelnen  Selaciiiern  verschieden.  Bald  ver- 
läuft der  Nerv  an  der  Orbilalwand  gerade  nach  vorne,  bald  steigt  er 
auf  diesem  Wege  etwas  empor,  je  nach  der  Lage  des  Canals,  durch 
den  der  Slannn  die  Orbila  wieder  verlässl.  Daraus  erwächst  auch  für 
die  vorhin  als  Rami  frontales  bezeichneten  Zweige  einige  Verschieden- 
heit in  der  Winkelslellung  zum  Stauime.  Wenn  letzterer  steiler  auf- 
steigt, so  gehen  sie  in  spitzen  Winkeln  ab.  Ist  dabei  das  Ende  des 
Stammes  nach  Abgabe  zahlreicher  Fronlalzweige  minder  ansehnlich, 
wie  es  bei  geringerer  Ausdehnung  des  Rostiums  und  minderer  Aus- 
bildung des  sensorischen  Canalsyslems  der  Fall  ist,  so  kann  man  den 
die  Orbita  verlassenden  Stamm  einem  der  Frontalzweige  gleich  erach- 
ten. Wie  jeder  derselben  durchsetzt  er  den  knorpeligen  Orbitalrand, 
und  nimmt  ferner  im  Integument  seine  Verbreitung.  Dass  er  weiter 
vorne  austritt  als  die  Frontaläste,  bietet  jedenfalls  keine  wesentliche 
Verschiedenheit,  denn  auch  die  Frontaläste  sind  unter  sich  in  demselben 
Maasse  verschieden.  Der  Eintritt  eines  auf  der  Nasalregion  angelangten 
Zweiges  in  einen  zweiten  Knorpelcanal  ist  nicht  minder  bei  dieser  Auf- 
fassung von  untergeordneter  Bedeutung.  Durch  die  Gleichwerlhigkeil 
der  Frontal  zweige  mit  dem  aus  der  Orbita  tretenden  Stammende  wird 
der  Nerv  zu  einem  dorsal  verlaufenden  gestempelt,  und  die  mit  der 
Ausdehnung  des  Verbreitungsgebietes  nach  vorne  zu  stattfindende  Ab- 
lenkung des  Stammes  von  der  rein  dorsalen  Richtung  kann  als  eine 
Anpassung  aufgefasst  werden,  die  mit  der  allmählichen  Ausbildung 
des  vorderen  Abschnittes  jenes  Endgebieles  erfolgt. 

Damit  tritt  der  R.  ophth;dnncus  in  Ungleichwerlhigkeil  zu  den 
beiden  andern  Hauplästen  des  Trigeminus. 

Der  Ramus  maxillaris  superior  kommt  bei  Hexanchus  aus 
dem  gemeinsamen  Stamme  (Fig.  II.  Tr)  des  Trigeminus,  mit  dessen 
drittem  Aste  er  inniger  verbunden  ist,  als  mit  dem  Ramus  ophthalmicus. 
Der  Stamm  [e]  verläuft  alsbald  auf  dem  Boden  der  Augenhöhle  und 
zvvai-  dem  Oberkieferknorpel  aufgelagert  nach  vorne,  seitlich  und  ab- 
wärts, liegt  eine  Strecke  weit  in  einer  Furche,  welche  lateral  an  einem 
aufwärtssehenden  Forlsatze  des  Oberkieferknorpels  sich  darbietet,  und 
tritt  mit  seinem  grössten  Theile  (Vergl.  Fig.  I)  in  einem  Einschnitte, 
welcher  unterhalb  des  Knorpels  der  Ethmoidalregion  seitlich  längs 
eines  Knorpelfortsatzes  verläuft,  nach  aussen  zur  unleren  Fläche  der 
Schnauze. 

Die  bis  dahin  abgehenden  Aesle  sind  theils  solche,  welche  gleich 
am  Beginne  des  Nerven  abgehen,  theils  solche,  die  kurz  vor  dem  Aus- 
tritte aus  der  Orbita  entspringen.  Von  ersteren  sehe  ich  drei  (Fig.  I.  f), 
an  Stärke  vom  ersten  bis  zum  dritten  abnehmend.    Sie  theilen  sich  sehr 


Ueher  die  Kopf'nerveii  von  Hexiiiichiis  n.  ihrVerliältiiiss  ziirWirbeltlieorift  d.  Schädels.  509 

bald,  um  sicli  initcroinander  plexusarlii^  zu  vtM'l)inden.  Sic  verlaufen 
gleichfalls  ültcr  denOberkieferknorpel,  der  erste  ganz  nahe  dem  Ramus 
tertiusNervi  trigemini  angelagert,  dann  treten  sie  über  einen  schlanken 
mit  einer  platten  Endsehne  zu  dem  vorerwähnten  Forlsatze  der  Kthmoi- 
dalregion  gelangenden  Muskel  hinweg,  in  die  Haut  der  oberen  Mund- 
winkelfalle, wo  sie  sich  nach  aussen  von  den  hier  liegenden  Labial- 
knorpeln verzweigen.  , 

Diese  Nerven  entsprechen  dem  R.  buccalis  der  bei  anderen  Se- 
lachiern ,  auch  bei  Chimaera  und  vielen  Teleostiern  vorkommt.  Mit 
Beziehung  hierauf  ist  das  Verhalten  bei  Hexanchus  deshalb  von  Inter- 
esse, weil  es  statt  des  Einen  Stammes  eine  Anzahl  kleinerer  Aeste 
daibietet,  so  dass  die  Bildung  jenes  Stammes  aus  der  Vereinigung  die- 
ser einzelnen  Aeste  entstanden  angesehen  werden  kann.  Dicht  vor  dem 
Austritte  aus  der  Orbita  treten  vom  Stamme  des  Maxillaris  superinr 
wiederum  einige  Bündel  feiner  Nervenslämmchen  ab,  die  sich  eben- 
falls zur  Haut  über  dem  Mundrande  vertheilen. 

Der  aus  der  Orbita  an  die  Unterfläche  der  Elhmoidalregion  getre- 
tene Nervenslamm  wendet  sich  vorwärts  und  median  hinter  der  Nasen- 
kapsel, um  sieh  nach  beiden  Seiten  zu  den  hier  zahlreich  lagernden 
Gallerlröhren  zu  verzweigen.  Vor  diesem  Verlaufe  giebt  er  ein  laterales 
Aeslchen  ab,  welches  seitlich  von  der  Nasenkapsel  sich  verbreitet. 

Die  Vertheilung  vieler  Zweige  dieses  Nervenstammes  findet  zwar 
in  der  Nähe  der  hier  in  einer  Oberlippenfalte  eingebetteten  beiden  La- 
bialknorpel statt,  allein  der  Hauplslamm  tritt  immer  an  der  Unterflärhe 
der  Schnauze  entlang,  so  dass  dieses  Ende  als  das  bedeutendste  an- 
gesehen werden  kann.  Damit  stimmen  auch  die  von  Stannius  über 
andere  Selachier  gemachten  Abgaben.  Von  Bonsdorff  ist  dieser  Nerv 
in  seiner  Fortsetzung  längs  der  unteren  Seite  des  Rostrums  von  Raja 
als  Sphenopalatinus  aufgeführt  worden  und  der  fernere  Verlauf  als  Na- 
sopalatinus;  ich  glaube,  dass  einiger  Grund  zur  Vergleichung  mit 
den  gleichnamigen  Nerven  der  höheren  Wirbelthiere  nachgewiesen 
werden  kann. 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage,  wo  der  bei  den  höheren  Wirbel- 
ihieren  bestehende  Infraorbitalis,  der  bei  diesen  als  die  Fortsetzung 
des  Hauptstammes  erscheint,  zu  suchen  sei.  Die  Buccaläste  geben  bei 
Hexanchus  keinen  Anhaltepunkt.  Es  werden  vielmehr  Beziehungen  zu 
Skelettheilen  aufgesucht  werden  müssen,  und  da  ist  es  der  zweite 
obere  Labialknorpel,  der  in  Betracht  kommen  muss,  nachdem  sich  die- 
ser n)ir  als  der  Vorläufer  des  Oberkieferknochens  ergeben  hatte.  Da 
bei  Hexanchus  der  zweite  obere  Labialknorpel  dicht  dem  ersten  ange- 
schlossen liegt  und  beide  relativ  unansehnliche  Gebilde  sind,   wird  ein 


510  Carl  Gegenbaur, 

Hai  mit  ausgebildeterem  Labialknorpelsystenie  dem  etwaigen  Nachweis 
eines  dem  Infraorbitalis  homologen  Nerven  am  besten  dienen  können. 
Squatina  erfüllt  diese  Bedingungen.  Der  Stamm  des  Maxillaris  supe- 
rior  (Fig.  III.  Tr")  verläuft  hier  median  von  dem  gegeh  die  Schädelbasis 
gerichteten  Gelenkfortsatze  des  Oberkieferknorpels  nach  vorne  aus  der 
Orbita  und  theilt  sich  alsbald  in  drei  Aeste.  Zwei  (c)  wenden  sich  auf- 
wärts an  die  unlere  Fläche  der  Nasenkapsel  an  der  einer  mehr  median, 
der  andere  mehr  lateral  sich  vertheilt.  Der  dritte  (a)  nimmt  seinen 
Weg  in  einer  Hautfalle  zum  zweiten  oberen  Labialknorpel  {Lk'),  über 
den  er  nahe  an  dessen  Verbindungsstelle  mit  dem  Oberkieferknorpel 
hinwegläuft,  um  nunmehr  zwischen  den  beiden  oberen  Labialknorpeln 
{Lk,  Lk')  bis  zum  Mundwinkel  hin  sich  zu  vertheilen.  Von  da  geht 
noch  ein  feiner  Zweig  zur  Haut  über,  welche  den  unteren  Labialknor- 
pel überzieht.  In  diesem  zu  den  oberen  Labialknorpeln  tretenden  Ner- 
ven wird  der  Infraorbitalast  des  Raums  maxillaris  superior  erkannt 
werden  müssen,  sobald  wir  an  der  Annahme  festhalten,  dass  der  zweite 
obere  Labialknorpel  dem  Maxillare  in  analoger  Weise  entspricht,  wie 
der  erste  obere  Labialknorpel  dem  Prämaxillare.  Dass  das  Prämaxillare 
resp.  der  erste  obere  Labialknorpel  hier  zugleich  vom  Ramus  maxillaris 
superior  und  nicht  vom  R.  ophthalmicus  N.  trigemini  versorgt  wird, 
ist  nicht  nur  aus  der  Lagerung  dieses  Theils  bei  Squatina  erklärlich, 
wo  mit  der  relativ  geringen  Entwickelung  des  Cranium,  besonders  des 
Ethmoidaltheiles  desselben  der  erste  Labialknorpel  weiter  als  sonst  vom 
Cranium  entfernt  liegt,  sondern  es  wird  dieses  Verhalten  auch  dadurch 
begreiflich,  dass  der  R.  ophthalmicus  einen  dorsalen  Zweig  repräsen- 
tirt.  Die  oben  hervorgehobene  Beziehung  des  Ophthalmicus  zum  Prä- 
maxillare giebt  sich  damit  ungeachtet  ihrer  Verbreitung  in  ihrer  secun- 
dären  Bedeutung  kund.  Sie  erscheint  nur  da,  wo  das  Prämaxillare, 
oder  der  erste  obere  Labialknorpel  dem  typischen  Endgebiete  des  R. 
ophthalmicus  nahe  gelagert  ist,  und  fehlt,  wo  jene  Nachbarschaft  nicht 
besteht.  Bei  Gentrophoms,  der  ebenfalls  alle  drei  Labialknorpel  be- 
sitzt, ist  ein  ähnliches  Verhalten  zu  beobachten,  doch  ist  der  Infraorbi- 
talis ein  ganz  schwacher  Zweig  im  Verhältniss  zum  Stamme  des  Maxil- 
laris superior,  der  sich  mit  seiner  Hauptmasse  in  zwei  Aesten  zu 
den  an  der  Unterfläche  der  Ethmoidalregion  gelagerten  Sinnesorganen 
des  Integumentes  begiebt.  Wir  sehen  hier  zugleich,  wie  die  Ausbil- 
dung einzelner  Theile  die  relativen  Volumverhältnisse  der  Nerven- 
stämme beeinflusst,  so  dass  derselbe  Nerv  in  dem  einen  Falle  als  Zweig 
des  Hauptslammes  erscheint,  während  er  in  dem  anderen  den  Haupt- 
stamm selbst  vorstellt,  der  in  einem  Zweige  den  andernfalls  bestehen- 
den Hauplstamm  erkennen  lässt.     Man   wird  daran  abei-  auch  ersehen, 


üeber  die  Kopliierven  von  Hexanclms  ii.  ilirVerliältniss  zur  Wirbeltlieorie  d.  Schädels.  51 1 

wie  sehr  die  Volumsverhäilnisse  für  die  Vergleichung  in  den  Hinter- 
grund zu  treten  haben. 

Je  nachdem  wir  hier  die  zur  Unterfläche  der  Ethmoidalregion  Ire-' 
lenden  Aeste,  dort  den  zu  dem  zweiten  oberen  Labialknorpel  gelangen- 
den vorwiegen  sehen,  wird  Z\Neifel  entstellen  können,  welcher  Ast  als 
der  ursprüngliche  llauplast,  als  die  Fortsetzung  des  Slarnnies  des  Ma- 
xillaris  superior  anzusehen  sei.  Wer  auf  das  Volum  das  grossen^  Ge- 
wicht legt,  wird  also  in  dem  einen  Falle  den  einen,  ui  dem  anderen 
den  andern  Ast  als  Ilauptast  betrachten ,  und,  damit  befriedigt,  der 
weiteren  Forschung  entsagen.  Wir  werden  also  von  jener  Betrach- 
tungsweise Umgang  nehmen,  und  vielmehr  die  morphologische  Dignität 
der  Organe  prüfen,  für  welche  die  Endverbreitung  der  fraglichen  Aeste 
bestimmt  ist.  In  dieser  Beziehung  müssen  die  schon  bei  den  Selachiern 
ausseiordenllich  schwankenden  Sinnesapparate  des  Integumentes  gegen 
die  mit  Skeleltheilen  in  Beziehung  stehenden  Theile  gar  weit  zurück- 
treten, denn  die  constanteren  Verhältnisse  sind  an  den  Labialknorpeln 
gegeben,  und  sie  gehören  zu  den  ererbten  Einrichtungen,  indess  die 
Sinnesorgane  des  Integumenls,  wie  Gallertröhren  u.  s.  w.  secundäre 
durch  Anpassungen  entstandene  Gebilde  sind.  Wenn  man  Letzteres 
auch  in  Zweifel  ziehen  möchte,  so  kann  man  doch  die  Bedeutung  der 
Labialknorpel  noch  durch  das  Gewicht  vermehren,  welches  durch  die 
Beziehungen  derselben  zu  Skelettheilen  der  höheren  Wirbelthierab- 
Iheilungen  uothwendig  entsteht. 

Durch  diese  Folgerung  kommen  wir  zum  Schlüsse,  dass  der  über 
den  zweiten  oberen  Labialknorpel  tretende  Infraorbitalis  als  Fortsetzung 
des  Hauptstammes  des  Maxillaris  superior  zu  gelten  hat.  Wir  können 
ihn  so  als  Nerv  des  zweiten  oberen  Labialknorpels  ansehen,  oder  da  er 
sich  seitlich  auch  noch  auf  den  unteren  Labialknorpel  fortverfolgen 
liissl,  als  Nerv  des  durch  jene  beiden  Knorpel  gebildeten  Bogens.  Durch 
die  Fintsendung  eines  Zweiges  an  den  ersten  obern  Labialknorpel  tritt 
der  Nerv  in  eine  inlercrurale  Beziehung,  welche  in  einstimmender 
Weise  auch  an  den  übrigen,  zu  Bogen  des  Visceralskelets  verlaufenden 
Nerven  besteht.  In  demselben  Maasse,  als  wir  diese  Bedeutung  für 
den  gesammten  Maxillaris  superior  voranstellen,  werden  wir  jene  Aul- 
fassung diesem  gesammten  Nervenstamme  übertragen  können,  und  die 
übrigen  Verzweigungen  in  zweite  Reihe  ordnen. 

Der  R  a  m  u  s  maxillaris  inferior  ist  etwas  schwächer  als  der 
zweite  Ast  des  Trigeminus ;  er  setzt  sich  innerhalb  der  Orbita  aus  zwei 
Portionen  zusammen.  Die  grössere  ist  die  Fortsetzung  des  oberen,  bei 
den  Wurzeln  des  Trigeminus  als  vorderer  Stanan  bezeichneten  Ab- 
schnittes, der  aus  den  vorderen  Strängen  der  Medulla  oblongata  aus- 


512  Carl  Gegenbaur, 

tritt.  Mit  dieser  verbindet  sich  als  kleinere  Portion  ein  vom  Anfange 
des  zweiten  Trigeminusastes  kommender  Nervenzweig ,  welcher  mit 
der  grösseren  Portion  sich  innig  vereinigt.  Wahrscheinlich  werden  hie- 
durch  der  motorischen  Portion  sensible  Fasern  zugeftihrt.  Der  so  gebil- 
dete Stamm  (/?)  des  Maxillaris  inferior  verläuft,  anfänglich  eng  an  den 
ersten  Buccalast  des  Maxillaris  superior  angelagert,  quer  durch  den 
hinteren  Theil  der  Orbita  nach  aussen,  legt  sich  auf  den  oberen  Rand 
des  Oberkieferknorpels  (ä)  und  verläuft  aussen  auf  dem  Hebemuskel 
des  Unterkieferknorpels  nach  hinten  und  abwärts  zur  Gegend  hinter 
dem  Mundwinkel.  Unterwegs  hat  er  dem  Muskel  bedeutende  Aeste 
abgegeben.  Von  da  an  tritt  bald  auf  den  Unterkieferknorpel  der  vor- 
dersten Zahnreihe  genähert,  und  verzweigt  sich  hier  beiderseits  in  der 
Haut  und  der  Mundschleimhaut  bis  zur  Medianlinie  hin.  Da  dieser 
Nerv  in  überaus  deutlicher  Weise  dem  Ober-  und  Unterkieferknorpel 
folgt,  giebt  er  sich  als  der  Nerv  dieser  Theile,  die  wir  auch  als  einen 
Visceralbogen  auffassen  können,  und  damit  als  der  Nerv  des  Kiefer- 
bogens  zu  erkennen. 

Bezüglich  der  Augenmuskelnerven  habe  ich  für  die  Aus- 
trittsstellen aus  dem  Gehirne  und  für  die  Endvertheilung  den  bereits 
bekannten  Verhältnissen  gegenüber  keine  bemerkenswerth  abweichende 
Angabe  zu  machen.  Vom  Oculomotorius  (Fig.  I.  om]  kann  hervor- 
gehoben werden,  dass  er,  obwohl  vor  dem  Trigeminus  die  Schädel- 
wand durchsetzend,  ausserhalb  des  Schädels  unter  den  ersten  Trige- 
minusast  zu  liegen  kommt.  Von  demselben  Nerven  ist  bereits  oben 
der  Abgabe  eines  feinen  Zweiges  zu  einem  zur  Sklerotika  tretenden 
Aestchen  des  R.  ophthalmicus  Erwähnung  geschehen.  Nach  seinem 
Austritte  aus  der  Schädelwand  schickt  er  Zweige  zum  M.  rectus  supe- 
rior und  internus,  wendet  sich  zwischen  dem  ersteren  und  dem  R.  ex- 
ternus  in  die  Tiefe,  versorgt  den  R.  inferior  mit  einem  Zweige  und  endet 
im  Obliquus  inferior.  Einen  selbständigen  Ramus  ciliaris,  der  von 
Stannius  bei  andern  Selachiern  gesehen  wurde,  habe  ich  vermisst. 

Für  den,  wie  bekannt,  sehr  hoch  oben  die  Schädelwand  durch- 
setzenden Trochlearis  [ti-)  ist  beachtensvverth,  dass  er  nach  seinem 
Austritte  gleichfalls  unterhalb  des  R.  ophthalmicus  Hegt,  dessen  Ver- 
lauf er  kreuzt.  Eine  Verbindung  des  Trochlearis  mit  dem  Trigeminus, 
deren  Miklucho  bei  Scymnus  und  Scyllium  gedenkt'),  habe  ich  nicht 
wahrgenommen.  Der  Trochlearis  ergab  sich  mir  an  jener  Kreuzungs- 
stelle nur  durch  Bindegewebe  mit  dem  R.  ophthalmicus  in  Zusammen- 
hang. 


\\  Jenaische  Zeitschrift  Bd.  IV.  S.  556. 


lieber  die  Kopfnervcii  von  Ilexancluis  ii.  ilirVerliiiltiiiss  ziirWirbeltlu'orn'  d.Sdiädels.  5i;{ 

Eine  solche  Lagerung  zu  ;nulorn  Kopfnerven  zeigt  nuch  der  Ah- 
duceus,   der  anfangs  unter  dem  Facialis  und  Acusticus  gelegen,  und 
unter  diesen  die  Schädelhöhie  verlassend,  di(>  Schädelwand  schräg' nach 
vorne  zu  durchbohrt,  um  wieder  unterhalb  des  Trigeniinus  und  zwar 
unter  der  Austrillsslelle  desselben  zur  Orbila  zu  gelangen.    (Vergl.  von 
Squatina  Fig.  III.  ab).    So  untergeordnet  diese  Thalsachen  an  sich  schei- 
nen mögen,   so  wichtig  sind   sie  für  die  Vcrgleichung  dieser  Nerven, 
worauf  am  Schlüsse  dieser  Arbeit  eingegangen  werden  soll.     Hier  sei 
nur  noch  das  bemerkt,  dass  zur  Deutung  des  hervorgehobenen  Austrit- 
tes der  Augenmuskelnerven  in  ihrer  Lagerung  zum  Trigeminus  der  Um- 
stand nicht  hinreicht,  dass  wir  es  eben  mit  motorischen  Nerven  zu  thun 
haben,  die,  da  sie  von   vorderen  Strängen  der  Medulla  oblongata  her- 
vorgehen, also  unterhalb  des  sensiblen   Nervenursprungs,   auch  unter- 
halb solcher  Nerven  zu  liegen  kommen  müssen,   und  unterhalb  dersel- 
ben auch  ausserhalb  der  Orbita  verlaufen.     Das  mag  für  Oculomolorius 
lind  Abduceus  passen,  aber  nicht  passt  es  für  den  Trochlearis,   inso- 
fftrne  dieser,  der  eine  dicht  neben  dem  andern ,   aus  dem  Hirndache 
zwischen  Zwischenhirn   und    Mittelhirn   hervortritt  i).     (Nach  Stannius 
aus  den  crura  cerebelli  ad  corpora  quadrigemina).     Der  Nerv  besitzt 
so,  wenigstens  bei  seinem  Austritte  aus  dem  Gehirne,  eine  obere  Lage- 
rung, und  man  sieht  nicht  ein,   warum  er  nicht  ebenso  gut  über  den 
H.  ophthalmicus  hinweg  zur  Endverbreitung  im  Obliquus  superior  ge- 
langen sollte,  wenn  der  constante  Verlauf  un  terh  alb  des  R.  ophthal- 
micus nicht  eine  tiefere  Begründung  besässe. 

Die  in  den  unteren  Abtheilungen  der  Wirbelthiere  sehr  verbreitete 
Verbindung  der  Wurzeln  des  Trigeminus  mit  jener  des  Facialis  hat 
vielfach  eine  Verknüpfung  der  Beschreibung  beider  Nerven  veran- 
lasst. Bei  Hexanchus  zeigt  der  Nerv  in  Beziehung  auf  den  Trigemi- 
nus ein  gesondertes  Verhalten,  wie  bei  allen  Selachiern,  aber  aucli  das 
bekannte  Verhalten  zum  Acusticus.  Dicht  vor  diesem  gelagert  ver- 
lässt  der  Facialis  (Fig.  II.  Fa]  das  Gehirn,  überlagert  von  der  unteren 
Wurzel   des   hinteren   Stammes   des   Trigeminus,   die   hier  ein   plattes 

I)  Die  Austrittsstelle  (ich  vermeide  alisichtlich  die  übliche  aberzuviel  sagende 
Bezeichnung:  Ursprungsstelle)  des  Trochlearis  aus  dem  Gehirne  ist  für  die°Deu- 
lung  des  Gehirns  der  Fi<^che  von  Wichtigkeit  gewesen,  indem  man  daraufhin  das 
Mittellurn  der  I-ische  alsCerebellum  auffasste.  M.klucho  hat  bei  seiner  Deutung  des 
sogenannten  Cerebellums  der  Fische  als  Mittelhirn,  der  ich  vollkommen  beipflichte, 
die  durch  den  Trochlearis  sich  darbietende  Schwierigkeit  für  zu  gering  geschätzt,' 
und  auf  keinen  Fall  ist  sie  durch  die  von  ihm  aufgeführten  Gründe  (.lenaische  Zeil- 
schrift Bd.  IV.  S.  556)  hinweggeräumt.  Sie  besteht  so  lange  als  für  die  angenom- 
mene W;,nderung  des  Trochlearis  nicht  Uebergangsstufen  nachgewiesen  sind. 

Bd.  VI.  4.  „_ 

35 


514  Carl  Gegenbaur, 

Nervensträngchen  ihm  anfügt.  Wir  können  demgemäss  für  den  Facialis 
zwei  Wurzeln  annehmen,  eine  stärkere  vor  dem  Acusticus  austretende 
und  eine  schwächere  vom  Trigeminus  ihm  zugetheilte.  Beide  verbin- 
den sich  vor  einer  noch  innerhalb  der  Schädelhöhle  gelegenen  An- 
schwellung. Der  Nerv  tritt  dann  dicht  vor  den  Acusticus  in  einen  kur- 
zen die  Schädelwand  quer  durchsetzenden  Ganal,  und  wendet  sich  von 
seiner  Austrittsstelle  an  die  Schädelwand  angelagert  nach  hinten.  Dicht 
an  der  Austrittsslelle  geht  von  ihm  der  Ramus  palatinus  ab  (Fig.  1.  k) 
von  einer  zweiten  Anschwellung,  deren  auch  Stannius  gedenkt.  Ich 
lasse  ihre  Gangliennatur,  die  der  genannte  Autor  für  andere  Haie  nach- 
gewiesen hat,  für  Hexanchus  ebenso  in  Frage  wie  die  der  ersten. 

Der  Nervus  palatinus  begiebt  sich  fast  senkrecht  abwärts  zum  Gau- 
men, wo  er  sich  wie  bei  andern  Fischen  verbreitet.  Auf  dem  Wege 
zur  Gaumenschleimhaut  kreuzt  der  N.  palatinus  den  Stamm  der  schräg 
vor  ihm  zur  Basis  cranii  verlaufenden  Vena  arteriosa  (Fig.  I.  V.  a]  der 
Spritzlochkieme. 

Nach  Abgabe  des  N.  palatinus  verläuft  ein  feiner  Zweig  (Fig.  I.  a) 
auf  der  Wand  des  Spritzlochcanals  nach  aussen,  und  ist  mit  Mühe  bis 
zu  der  Stelle  verfolgbar,  wo  innerhalb  die  Kiemenblättchenreihe  ange- 
bracht ist.  Relativ  stärker  finde  ich  diesen  Zweig  bei  Haien  mit  weite- 
rem Sprilzloche  (Centrophorus ,  Scymnus).  Er  verläuft  hier  an  dei' 
Basis  der  in  Mehrzahl  vorhandenen  Spritzlochknorpcl,  welche  aus  Kie- 
menslrahlen  hervorgegangen  sind. 

Der  Stamm  des  Facialis  (Truncus  hyoideo- mandibularis  nach 
Stannius)  tritt  nun  hinter  dem  Spritzloch,  zwischen  ihm  und  dem  obe- 
ren Stücke  des  Zungenbeinbogens  (Hyomandibulare)  nach  aussen,  und 
entsendet  zwischen  Hyomandibulare  und  Oberkieferknorpel  (Palato- 
quadratum)  gelagert  den  Ramus  mandibularis  externus  (Fig.  I.  n). 
Dieser  tritt  quer  über  den  hintern  die  Articulation  mit  dem  Unterkiefei' 
bildenden  Theil  des  Oberkieferknorpels  hinweg  zur  Haut  des  Unterkie- 
fers (R.  mandibularis  externus),  wo  sich  einzelne  Fäden  mit  dem  R. 
maxillaris  inferior  trigemini  in  Vei'bindung  setzen.  Die  Fortsetzung  des 
Facialis  [tn]  verlheilt  sich  als  Ramus  hyoideus  (R.  mandibularis  internus 
s.  profundus)  in  der  Zungenbeingegend,  in  einen  Haut-  und  einen 
Muskelast  gesondert,  deren  bereits  Stannius  ')  bezüglich  ihrer  Endbe- 
zirke ausführliche  Erwähnung  that.  Da  diese  Verbreitung  für  unsere 
Zwecke  unwichtig  ist,  so  kann  ihre  Beschreibung  unterlassen  werden. 

Ich  habe  diesen  Nerven  nach  dem  Vorgange  anderer  Anatomen  von 
seinem  Beginne  an  als  Facialis  aufgofassl,   wobei  ich  mich  minder  auf 

1)   1.  c.  p.  65. 


Uebcr  dio  Kopt'iicrvoii  von  llcviiinliiis  ii.  ilii\('iiiältiiiss  /.iiiWirlx'ltlicniii!  d.  ScliHdels.  515 

seine  Verbreitung  an  respiratorische  Muskeln,  wie  solches  vorzüglich 
von  Büchner,  auch  von  Stannius  geschieht,  als  auf  die  Beziehung  zu 
den  benachbarten  Hirnnerven  und  den  Verlauf  des  Stanuncs  stützte. 
BüNSDORFK  bezeichnet  ihn  bei  Raja  als  dritten  Ast  des  Trigerninus.  Die 
Zusammenstellung  dieses  Nerven  mit  dem  gleichnamigen  der  Säuge- 
thiere.  den  man  als  rein  motorischen  anzusehen  gewöhnt  ist,  unterliegt 
bei  der  gemischten  Natur  des  Facialis  der  Selachier  einigen  Bedenken. 
Diese  werden  sich  mindern,  wenn  wir,  abgesehen  von  der  Frage  be- 
züglich des  Ganglion  geniculi,  in  Erwägung  ziehen,  dass.  ebenso  wie 
bei  der  Vergleichung  der  Verzweigung  eines  und  desselben  Nerven- 
astes bei  verschiedenen  Thieren,  Haut-  und  Muskelzweige  in  sehr  ver- 
schiedenen Stärkeverhältnissen  sich  ergeben,  in  einem  andern  Falle  die 
einen  oder  die  andern  Zweige  derart  zurückgetreten  sind,  dass  der 
sonst  gemischte  Nerv  nur  den  einen  oder  den  andern  Charakter  trägt, 
oder  endlich  sogar  ausschliesslich  als  sensibler  oder  motorischer  Nerv 
erscheint.  Wir  werden  das  dann  so  beurtheilen,  dass  wir  die  eine  oder 
die  andere  Abiheilung  des  Nerven  nach  Rückbildung  ihres  bezüglichen 
Kndgebietes  als  gleichfalls  rückgebildet  und  geschwunden  ansehen. 
Demnach  kann  es  nichts  Befremdendes  haben,  wenn  ein  in  unteren 
Abtheilungen  der  Wirbelthiere  gemischter  Nerv  in  einer  höheren  Ab- 
theilung als  rein  oder  doch  überwiegend  motorischer  Natur  erscheint. 

V^'as  den  Ramus  palatinus  betrifft,  so  wird  bei  der  Frage  nach 
dessen  Bedeutung  vor  allem  von  den  Beziehungen  dieses  Nerven  bei 
den  Teleostiern  abgesehen  werden  müssen.  Durch  die  Verbindung  des 
Facialisstammes  mit  dem  Trigeminus,  die  bei  Einigen  derselben  schon 
beim  Austritte  aus  dem  Cranium  stattfindet,  sowie  durch  den  bei  den 
meisten  Knochenfischen  gleich  nach  dem  getrennten  Austritte  beider 
Nerven  stattfindenden  Eintritt  eines  Ramus  communicans  trigemini 
zum  Facialis,  endlich  duich  das  so  sehr  verschiedene  Verhalten  des  N. 
palatinus  selbst  i)  ist  in  dieser  Abtheilung  kein  sicherer  Ausgangspunkt 
für  die  fragliche  Beurthcilung  zu  gewinnen.  Da  wir  den  genannten 
Nerv  bei  den  Selachiern  allgemein  als  einen  Ast  des  Facialis  sehen, 
wird  er  von  da  aus  nur  einem  von  demselben  Nerven  abgezweigten 
Aste  verglichen  werden  dürfen. 

Demzufolge  wird  an  den  N.  sphenopalalinus  nicht  zudenken  sein. 
Näher  stellt  sich  uns  dagegen  der  N.  petrosus  superficialis  major  der 
Säugethiere ,  an  den  Stannius  mit  Recht  erinnert,  indem  er  aber  die 
zuerst  von  BmnER  gemachte  Angabe  vom  Verlaufe  des  genannten  Ner- 
ven   zum    Maxillaris    superior,    oder   vielmehr  in    die  Bahn  desselben 


1)  Vergl.  darüber  Stahmus  op.  cit.  p.  55. 

35 


516  Carl  Gegenbaur, 

(Sphenopalatinus)  als  noch  nicht  gesichert  betrachtet,  erklärt  er  die 
Frage  für  unerledigt.  Ich  möchte  dieser  Meinung  beipflichten  und  die 
Feststellung  einer  Homologie  des  N.  palatinus  der  Selachier  (nicht  der 
Teleostier,  bei  denen  der  N.  palatinus  wenigstens  theilweise  dem  N. 
sphenopalatinus  zu  entsprechen  scheint)  mit  dem  N.  petrosus  super- 
ficialis major  erst  dann  für  reif  erklären,  wenn  die  Beziehungen  des 
letzteren  Nerven  zum  Ganglion  sphenopalatinum,  resp.  zu  den  aus 
demselben  austretenden  Gaumenmuskelnerven  festgestellt  sind*). 

Was  das  Verhalten  des  Facialis  zum  Visceralskelete  betrifft,  so  er- 
scheint (lieser  Nerv  als  vorwiegend  dem  Zungenbeinbogen  angehörig. 
Diesem  folgt  der  Hauptstamm,  während  an  den  vorhergehenden  Bogen 
(den  Kieferbogen)  nur  Zweige  treten. 

Der  G I  0  s  s  0  p  h  a  r  y  n  g  e  u  s  verlässt  bei  Hexanchus  die  Medulla  ob- 
longala  vor  dem  Vagus  und  etwas  unterhalb  desselben,  näher  der  Me- 
dianlinie fFig.  11.  Gp).  Vom  Acusticus  ist  die  Austrittsstelle  durch 
einen  ziemlichen  Zwischenraum  getrennt -).  Der  Nerv  verläuft  inner- 
halb der  Schädelhöhle  schräg  nach  aussen  und  hinten  und  tritt  in  einen 
unterhalb  des  Labyrinthes  verlaufenden  Canal ,  der  ihn  am  hintei'en 
seitlichen  Theile  des  Cinniunis  ausleitet.  Der  in  d«m  Canal  eintretende 
Nerv,  an  Stärke  bedeutend  geringer  als  der  Oculomotorius,  hat  wäh- 
rend seines  Verlaufes  durch  den  Knorpelcanal  im  Dickedurchmessei' 
auffallend  zugenommen,  was  nicht  etwa  auf  Rechnung  der  hinzugetre- 
tenen Nervenscheide  gesetzt  werden  kann.  Stannius,  der  dieses  Vei- 
halten  sowohl  bei  Selachiern  als  bei  Knochenfischen  fand,  giebt  an,  dass 
bei  einigen  Fischen  die  Quelle  dieser  Massenzunahme  »in  dem  Zuwachs 
von  Elementen  zu  suchen  ist,  die  der  Grenzstrang  des  N.  sympathicus 
dem  Glossopharyngeus  zuführt«.  Bei  Hexanchus  hat  dieses  sicher  keine 
Geltung,  vielmehr  möchte  die  Zunahme  in  den  auf  die  letzte  Hälfte  des 
Verlaufs  des  Nerven  im  Knorpelcanal  bestehende  Ganglienbildung  ihre 
Ursache  haben  .   durch   welche  die  Nervenbahn  neue  Elemente  erhält. 


1)  Die  Thalsache,  dass  bei  facialis -Lähmung  aucii  die  Gaumenmusculatur 
der  betroffenen  Seite  sich  gelähmt  zeigt,  spricht  zwar  für  jene  Beziehung  des 
vom  Facialis  kommenden  N.  petrosus  sup.  major  zu  dem  N.  palatinus,  allein  sie 
kann  deshalb  noch  nicht  für  unsere  Zwecke  verwerthet  werden,  weil  es  sich  hier 
um  motorische  Nerven  handelt,  indess  der  N.  palatinus  der  Selachier,  wie  aus  sei- 
nem Verbreilungsbezirkc  in  der  Raciienschleimhaut  hervorgeht,  ein  sensibler  Ast 
ist.  Anders  würde  sich  die  .Sachlage  gestalten,  w<'nn  in  ihm  auch  motori.sche  Ele- 
mente naoiigewiesen  werden  könnten. 

-l]  Das  Verhalten  an  der  Untertläche  der  Medulla  oblongnla  ist  bei  Miklccho- 
Macl.w  I.  c.  Tab.  II,  Fig.  9  daigestelll.  Ich  beziehe  mich  auf  dieselbe,  da  das  der 
Abhiiilung  zu  Grunde  gelegene  l'räparat  mir  vorliegt. 


Uebcr  die  Kopriicrvcii  von  ilcxaiicliiis  ii.  ilir\('rliiiltuiss  ziirWirbi-ltlicoiic  (1.  Scli;i<l('ls.  .")  I  7 

Ohtzloich  der  Sliiiuin  dos  ;ins  dcni  Scliiidol  iioli-otiuicii  Nerven  sliirker 
ist  cds  die  Wurzel,  so  ist  er  dorli  etwas  schwächer  als  die  eingeschlos- 
sene letzte  Strecke,  auf  u  eiche  also  die  Gnnglienbildung  vertheilt  sein 
wird  '). 

Auf  dem  Wege  durch  das  Cranium  und  zwar  von  dem  letzten 
Dritttheile  dieses  Abschnittes,  enl sendet  der  Nerv  einen  von  Stanmus 
hei  Acanthias  und  Carcharias  erkannten  freien  Ramus  dorsalis  ab,  der 
hinter  dem  hintern  Bogengänge  des  Labyrinthes  in  einem  besondern 
Canal  eingeschlossen  das  Cranium  durchsetzt  und  sich  in  der  Haut  nahe 
den  zum  Gehöroi'gnne  führenden  Löchern  verbreitet. 

Nach  dem  Austritte  aus  dem  Cranium  geht  der  Glossopharyngeus 
eine  Theilung  in  mehrere  Aeste  ein.  Er  schickt  einen  Zweig  abwärls 
zum  l'harvnx.  imd  sendet  ferner  einen  Ast  ;a  zum  Zungenbeinbogen 
[Z],  dersogleich dicht  andasIlyomandibularstückdiescsBogens  tritt,  um 
an  der  llinterfläche  der  am  Zungenbeinbogen  aufgereihten  Knorpelstrahlen 
zu  verlaufen.  Die  Fortsetzung  des  Nervenstammes  tritt  in  der  Richtung 
des  austretenden  Nerven  zum  ersten  Kiemenbogen  (I),  längs  dem  er 
vor  der  Knorpelstrahlenreihe'  seinen  Verlauf  und  seine  Verzweigung 
findet.  Durch  dieses  Verhalten  stellt  sich  der  Glossopharyngeus  als 
hauptsächlichster  Nerv  des  eisten  Kiemenbogens  dar. 

Während  in  dem  Verhalten  der  bisher  aufgeführten  N(Mven  bei 
Hexanchns  im  Vergleiche  mit  den  vorzüglich  von  Stanxh  s  untersuch- 
ten Selachiern  minder  bedeutende  Verschiedenheiten  hervorzuheben 
waren,  so  stellten  sich  andere  Ergebnisse  bezüglich  des  Vagu  s  dar. 
StanniuS'^)  sagt:  »Bei  allen  untersuchten  Knochenfischen  besitzt  der  N. 
vagus  mit  Einschluss  des  Seitennerven,  zwei  ganz  discrete  Wurzelpor- 
tionen von  beträchtlicher  Stärke.«  «Mit  diesem  Verhalten  stimnit  auch 
Accipenser  überein  und  die  untersuchten  Plagiostomen :  Carcharias, 
Spinax  und  Raja  bieten  keine  wesentliche  Abweichung  dar.«  »Die 
erste  der  beiden  Wurzelportionen  besteht  immer  aus  einem 
einzigen  Bündel.  Sie  entspringt  nicht  nur  weiter  vorwärts,  sondern 
beständig  auch  höher  aufwärts  als  die  zweite,  deren  Ursprung  denmach 
nicht  nui-  weiter  nach  dem  hinteren  Kopfende  zu,  sondern  auch  dei' 
Basis  der  Medulla  oblongata  nidier  liegt.     Bei  ausschliesslicher  Berück- 

l;  Aul  die  Verh;ilttiisse  der  Ganglien  der  koptnerven,  specieli  der  Selacliier 
werde  ich  bei  einer  anderen  Gelegenlieit  nälier  eingehen  können.  Da  die  wenigen 
mir  zu  Gebote  stellenden  Exemplare  von  Hexanchus  für  die  mikroskopische  Un- 
tersuchung kein  passendes  Dbject  waren,  niusste  ich  bei  dieser  Gattung  von  der 
Untersuchung  abstehen.  Für  die  in  vorliegender  .\rbeit  gesetzte  Aufgabe  dürfte 
daraus  kaum  ein  Hinderniss  entstanden  sein. 

i)   Op.  eil.  p.  80  fl'. 


518  Carl  Gegenbaur, 

sicliLiguny  dieser  Lagcnvciii.illnisse  könnte  man  versucht  werden,  die 
zweite  Wurzelportion  eine  vordere,  die  erstere,  höher  entspringende, 
dagegen  eine  hinlere  Wurzel  des  N.  vagus  zu  nennen.«  »Die  zweite 
Wurzelporlion  des  Vagus  ist  gewöhnlich  bedeutend  stärker  als  die 
erste,  sie  kommt  tiefer  abwärts,  und  weiter  hinterwärts :  d.  h.  dem 
Ende  der  Schädelhöhlo  näher  aus  der  Medulla  oblongata.  «  »In  der 
Regel  wird  diese  zweite-  Wurzelportion  aus  mehreren  kurzen  Stiängen 
zusammengesetzt,  welche  zu  einem  gemeinsamen  Wurzelstrange  sich 
vereinigen.  «  Zwei  dickere  Stränge  fand  Stannujs  bei  Zoarces,  Gadus, 
Lota,  Silurus,  zwei  ungleich  starke  Stiänge  beiEsox;  drei  bei  Cottus 
und  Scombor;  vier  bei  Cyclopterus;  fünf  bei  Belone,  Pleuronectes, 
Salmo.  Bei  (lyprinus  sind  6 — 8  kurze  Stränge  vorhanden.  Man  sieht 
ausser  den  lasern,  die  von  dem  Lobus  vagi  absteigen,  andere  die  von 
der  unterliegenden  Medulla  oblongata  konmien.  Fünf  stärkere  Stränge 
wurden  bei  Accipenser  gezählt,  zu  denen  noch  mehrere  feinere  hintere 
höher  aufwärts  entspringende  Stränge  hinzutreten.  Bei  Raja  clavata 
beläuft  sich  die  Zahl  dieser  Stränge  auf  2^ — 28,  während  bei  Spinax 
acanlhias  nur  4  beträchtlichere  Stränge  wahrgenommen  werden.« 

Was  diesem  sehr  mannichfaltigen  Verhalten  gegenüber  Hexanchus 
betrifl't,  so  ist  zunächst  zur  Unterscheidung  einer  vorderen  und  einer 
hinteren  Wurzelportion  kein  anatomischer  Anhaltepunkt  gegeben. 
Die  V  a  g  u  s  w  II  r  z  e  1  n  b  i  1  d  (» n  eine  c  o  n  t  i  n  u  i  r  I  i  c  h  e  Reihe, 
welche  dicht  hinter  der  Glosso])harjngeus-Wurzel,  aber  über  derselben 
zur  Seile  der  Medulla  oblongata  austritt,  und  hinter  dem  Calamus  scri- 
ptorius  fortgesetzt  ist.  S.  Fig.  I  u.  Fig.  II).  Die  einzelnen  Wurzeln  neh- 
men dabei  von  vorne  nach  hinten  stufenweise  ab,  so  dass  die  hintersten 
dem  unbewaffneten  Auge  kaum  sichtbar  sind.  Dabei  gewinnen  die 
Zwischenräume  an  Ausdehnung.  Sämmtliche  Wurzeln  sind  an  der 
Austiittsslelle  aus  dem  Cranium  zusannnengetreten  und  bilden  Einen 
Nervonstamn»  [Vg]. 

Die  Zahl  dieser  Wurzeln  ist  schwer  genau  fesistellbar,  da  die  stär- 
keren vorderen  auf  ihrer  Oberfläche  Trennungss})uren  in  Gestalt  von 
leichten  Furchen  aufweisen.  Streckenweise  kann  man  in  diese  Fur- 
chen leicht  eindringen  und  so  eine  Trennung  darstellen,  welche  an 
einzelnen  Stellen  ohne  die  geringste  Gewalt  ausfulirbar  ist.  Vorne  wie 
hinten  verschmolzene  Nervenstränge  sind  also  auf  einer  Strecke  hin 
discret.  Ein  anderer  Wurzelstrang  ist  aus  zvkci  getrennt  austretenden 
entstanden,  und  wieder  ein  anderer  theilt  sich  und  verbindet  eine  Por- 
tion der  vorhergehenden,  eine  andere  (h  v  nachfolgenden  Wurzel. 

Da  diese  an  zwei  Gehirnen  untersuchten  Verhältnisse  nicht  blos 
nach    den    Individuen,    soiuiorn    auch    nach   den   beiden    Seilen  des- 


[leber  die  Kopfnerveii  von  IIcmiiicIiiis  ii.ilir  Ncrliriltniss  /iiiWiilirltlicoiic  d.  Scliiidcls.  r)19 

selben  (Ichirnes  verseliiodcn  sich  li'-raiissIclMen,  so  isl  wohl  k;iiini  t'iii 
Zweifel  daran,  dass  in  dieser  slreekenweiscn  Verbindung  einzelner 
Stränge  nur  untergeoi'dncle  Verhältnisse  ausgedrückt  sind. 

Von  den  stärkeren  Strängen  kann  ich  fünf  bis  sechs  zählen,  der 
schwächeren,  inclusi\e  der  feinsten,  etwa  ebensoviel,  wobei  jedoch 
das  oben  von  der  Trennung  und  dem  Zusaninienlrelen  d(>r  Stiiinge 
Gesagte  berücksicliligt  werden  niuss. 

Die  hinleren  feinen  Stränge  setzen  sich  dicht  an  der  Auslrillsstelle 
meist  wieder  aus  noch  feineren  Fädchen  zusanmien.  Die  Ausliillsstel- 
len  dieser  Fädchen  nähern  sich  um  so  mehr  der  oberen  Metlianlinie 
der  Medulla  oblongala,  je  weiter  nach  hinten  sie  entspringen  (vergl. 
Fig.  11),  ein  Verhallen,  welches  mildem  Sinus  rhomboidalis  insofern  in 
Zusammenhang  sieht,  als  es  genau  der  allmählichen  Näherung  der  Häii- 
der  dieses  Sinus  entspricht.  Die  hinler  den  Calamus  scriptorius  ent- 
springenden Fädchen  sind  denmach  von  der  Medianlinie  des  Rücken- 
marks ebensoweit  als  die  zur  Seite  der  Raulengrulie  hervorgelienden 
von  den»  Rande  der  letzteren  entfernt.  Als  ferner  beachtenswerlh  kann 
noch  hervorgehoben  werden,  dass  jene  hinteren  Wurzelfädchen  anfäng- 
lich schräg  nach  vorne  zu  verlaufen ,  um  die  nächslvorhergehenden 
zu  gewinnen,  mit  denen  sie  zusammengeschlossen  den  Weg  nach  hin- 
ten und  aussen  zui'  gemeinsamen  Auslrillsstelle  des  Complexes  der  Va- 
guswurzeln aufsuchen. 

Mit  den  reihenweise  austretenden  Wurzeln  des  Vagus  darf  einVei- 
hallen  der  M(  dulla  oblongala  in  Zusammenhang  gebracht  werden,  näm- 
lich die  »perlschnuiförmig  aneinander  gereihten  Erhabenheiten«,  welche 
den  Haien  allgemein  zukommen,  aber  den  Rochen  fehlen.  Sie  liegen 
nicht,  wie  Stannils ')  für  andere  Selachier  angiebt,  am  Roden  der  Rau- 
lengrube, sondern  genau  an  der  Seilenwand  und  zwar  nicht  bios  bei 
Hexanchus,  sondern  auch  bei  anderen  Haien.  Diese  Erhal)cnhciten, 
deren  bei  Hexanchus  sechs  bestehen  (vergl.  Fig.  II.  g),  gehören  einem 
Limgsstrange  an,  der  vom  Calamus  scriptorius  aus  die  Rautengrube  ^i 
oben  und  hinten  begrenzt,  und  in  die  hinteren  Rückenmarkstränge 
übergeht.  Dieser  Strang  (.s)  verdoppelt  sich  nach  vorne  zu,  durch  Spal- 
tung in  einen  oberen  [s'j  und  unteren.  Der  letztere  trägt  die  Anschwel- 
lungen Uj),  von  denen  die  erste  und  die  letzte  weniger  deutlich  ent- 
v^ickelt  sind  als  die  dazwischen  befindlichen.     Die  vorderste  ist  aber 


1)  Zoofomic  dei'  Fisclio  p.  138. 

2)  Hier  sei  bemerkt,  dass  sich  aus  den)  liiiiterii  Ende  der  Rautonsirubc  der 
micli  sonst  Ijei  Fischen  sehr  weile  CentraieannI  ganz  aliniiihiich  Iditselzl.  sc  dass 
ilcssi  II  Anfang  als  ein  Innggcslrcckter  'I  richler  ersclieinl. 


520  Citri  Gegeubaur, 

bei  alledem  die  stärkste.  Aus  der  vordersten  Anschwellung  setzt  sich 
der  Strang,  viel  dicker  als  hinten,  in  parallelem  Verlaufe  mit  den  am 
Boden  der  Rauicngrube  vorspringenden  Vorderslriingen  (Fig.  II.  ]>)  des 
Rückenmarks  (vorderen  Pyramiden)  nach  vorne  zu  fort,  um  dann  etwas 
seitwärts  auszubiegen.  Er  vereinigt  sich  da  mit  dem  oberen  Strange 
in  der  als  Lobus  nervi  Irigemini  (Fig.  X.  U)  bekannten  Anschwellung 
der  Urtigrenzung  des  vordem  Abschnittes  der  Rautengrube.  Was  den 
oberen  Strang  betrifft,  so  beginnt  dieser  als  eine  schmale,  die  fraglichen 
Erhabenheiten  von  oben  und  von  der  Seite  her  elvNas  bedeckende  La- 
melle, die  nach  vorne  zu  stärker  wird.  Dabei  entfernt  sie  s-ich  etwas 
von  dem  unteren  Strange,  und  tritt  vorne,  einen  median  gerichteten 
Winkel  bildend,  in  die  genannten  Lobi  ein.  Sie  grenzt  unmittelbar  an 
das  Dach  der  Rautengrube. 

Die  vorhin  beschriebenen  reihenweise  liegenden  Anschwellungen 
entsprechen  genau  der  Austrittsstelle  der  Vagusvvurzeln,  und  zwar  der 
stärkeren  derselben.  Es  liegt  nahe,  in  jenen  Anschwellungen  die  Ur- 
sprungsganglien des  Vagus  zu  sehen,  wie  sie  dann  auch  als  Lobi  nervi 
Vagi  bezeichnet  wurden.  Betrachten  wir  das  vorläufig  als  eine  gewiss 
zu  rechtfertigende  Annahme,  so  ist  mit  dem  Auftreten  dieser  »Ganglien« 
die  Stärke  der  betreffenden  Vaguswurzeln  in  Einklang  zu  bringen,  und 
die  nach  hinten  zu  eifolgende Abnahme  harmonirt  mit  dem  Schwächer- 
werden der  bezüglichen  Ganglien,  bis  den  feineren  Wurzelft  endlich 
der  einfache,  nicht  weiter  gegliederte  Strang  entspricht.  Bei  der  Wür- 
digung dieser  Verhältnisse  wird  man  sich  auch  der  Anschwellungen  zu 
erinnern  haben,  welche  das  Rückenmark  an  den  Ursprüngen  stärkerer 
Nerven  auch  äusserlich  aufweist,  z.  B.  des  Verhaltens  bei  Trigla.  Man 
kann  hier  einwenden,  dass  im  letzleren  Falle  doch  etwas  Anderes  vor- 
liegt, da  die  Anschwellungen  zunächst  nur  als  äusserliche  bekannt  sind, 
während  sie  bei  Hexanchus  wie  überhaupt  bei  den  Haien  in  die  Höh- 
lung eines  Sinus  vorspringen.  Darauf  wäre  zu  entgegnen,  dass  die 
Anschwellung  selbst  die  Hauptsache  ist,  und  der  Ort  des  Vorragens 
die  Nebensache,  die  duich  andere  Verhältnisse  bestimmt  wird.  Wo 
ein  engerer  Axenraum  das  Vorragen  nach  innen  verbietet,  wird  eine 
Vermehrung  der  Elemcntartheile  einer  Strecke  eine  Vorragung  nach 
aussen  bedingen,  während  eine  geräumige  Höhle,  wie  die  Rautengrube 
es  ist,  eine  Vermehrung  der  Formelemente  ihrer  Wände  in  Gestalt  in- 
nerer Anschwellungen  aufzutreten  gestatten  wiid. 

Wenn  wir  so  die  mehrfachen  Vaguswurzeln  mit  diesen  in  den  Sinus 
rhomboidalis  vorragenden  Anschwellungen  eines  Stranges  der  Wand 
des  genannten  Sinu'^  in  Zusammenhang  bringen,  und  das  Verhalten 
von    Spinalnerven   zu    alleidiiiLS   nur  im   Allgemeinen  ähnlichen  An- 


lieber  die  Kopliierveii  von  Hexancluis  ii.  ilirVcrliiiltiiiss  znrWirbeltlieorie  d.  ScliSdels.  521 

.sLliv>cllunt;(  n  cK-s  Riickdiniiirks  crwüszcii,  so  ^^il•(l  urus  ilic  Kraiic  cnl- 
strlu'ii,  ol)  der  so  aus  einei'  Roür'  cin/cIner  liintei'  oiniiiulcr  lioL'ciitlcr 
Wiiizcln  entstandene  Nervenstanini  \viiklich  einem  einzigen Spinalnei- 
ven  entspricht,  oder  ol)  er  nicht  viehnehr  einer  Summe  von  solchen 
vergleichbar  sei,  folglich  aus  einer  Summe  von  einzelnen  Nerven  ent- 
standen angenommen  W(>rden  dürfe. 

iK  Zur  Prüfung  dieser  Frage  hai)en  wir  vor  Allem  noch  zwei  That- 
sachen  herbeizuziehen.  Die  erste  betrifft  eine  auch  von  Stannius  ^j 
gewürdigte  »Eigenlhümlichkeitu.  Er  sagt:  »In  die  Bahn  des  Vagus 
treten  hier  ;l)ei  Spinav  und  Carchaiias)  ein  paar  vordere  W'uiz(>ln  ein, 
welche  rücksichtlicli  ilirer  Ursprungsverhältnisse  ganz  ebenso  sich  ver- 
liallen  wie  die  vorderen  Wurzeln  der  Spinalnei'ven.  Die  vorderste  die- 
ser Wurzeln  entsteht  n)il  einem  einfachen,  die  zweite  mit  einem  dop- 
pelten Wurzelstranse.  Jede  tritt  durch  einen  eigenen  abgesonderten 
Knorpelcanal  auswärts,  um  in  die  die  Schädelhöhle  verlassende  Ner- 
venmasse des  Vagus  überzugehen.  Höchst  wahrscheinlich  sind  diese 
Wurzeln  dem  eigentlichen  Vagus  fremd,  und  ihm  nur  temporär  jux- 
taponirt.« 

Von  diesen  Nervenfädchen  bestehen  bei  Hexanchus  drei  l)is  vier 
Paaie,  die  von  vorne  nach  hinten  an  Stärke  zunehmen'^).  Das  vor- 
derste, feinste,  fand  ich  von  einei-  kleinen  Arterie  begleitet,  die  es  an 
Dicke  übertraf.  Diese  Nerven  (Fig.  II.  V(j)  treten  in  Canälc,  welche  die 
üccipilalregion  des  Craniums  durchsetzen  und  dort  in  einer  conlinuir- 
lichen  Linie  unterhalb  der  Austritlsstelle  des  Vagus  zu  finden  sind. 
Sie  liegen  mit  den  unteren  resp.  vorderen  Wuizeln  der  Spinalnerven 
in  gleicher  Reihe.  An  einem  Schädelpriiparat  von  Hexanchus  finde  ich 
die  Austrittsstelle  dieser  Nerven  durch  fünf  feine  in  einer  Reihe  lie- 
gende Oefl'nungen  dargestellt.  Ob  hier  die  Zahl  der  Nerven  eine  ent- 
sprechende war,  kann  ich  nicht  (Mitscheiden.  Dass  nicht  allgemein 
übereinstimmende  Verhältnisse  bestehen,  ergab  sich  daraus,  dass  diese 
Nerven  in  einem  Falle  zu  drei  Paaren,  in  einem  andei-en  zu  vier  Paaren 
vorkairien.  Daraus  kann  wohl  auch  dei"  Befund  am  Cranium  als  auf 
eine  fernere  Vermehrung  verweisend  gedeutet  werden.  Jedenfalls  ist 
das  bezügliche  Canälchen,  sowohl  am  Eingange  wie  am  Ausgange  mit 
den    übrigen .    bestimmte    Nervenfädchen  durchlassenden    in    gleicher 


1,   Das  peripliorisclie  Nervensyslem  der  Fisclie.    [).  83. 

i)  Eine  Abbildung  dieser  Nerven  von  der  ventralen  Seite  her  liat  MiKi.rrHo- 
Maclay  i;ei,'ehe!i.  Vergl.  dessen  Beiträge  zur  vergi.  Neurologie.  Leipzig  1870- 
Tnf.  II,  Fig.  y.  Eine  Bezeichnung  der  Nerven  fehlt,  wie  auch  eine  Erwähnung  im 
Te.tt. 


522  Carl  Gegeiibiinr, 

Lagerung,   und  n  vch  in  glcichom  Absland  von  den  niichslcn  Ciiniilchcn 
anzuliTÜen. 

Diese  sämmtlichcn  Nervenfäden  verbinden  sich  ausserhalb  des  Schä- 
dels mit  dem  Vagusslamme,  und  bilden  so  einen  Beslandlheil  desselben. 
Sie  als  »dem  eigentlichen  Vagus  fremd«  anzusehen,  liegt  kein  zwingen- 
der Grund  vor.  Zudem  würde  dann  die  nicht  leicht  zu  beanlvvortende 
Frage  entstehen,  welchem  Nerven  sie  eigentlich  angehören.  Stannius 
glaubt,  dass  diese  fraglichen  Nerven  vom  Vagus  ab  zu  Musk(  In  treten, 
welche  »über  dem  äusseren  Kiemenkorbe  gelegen«  »die  Schulter  vor- 
wärts ziehen«.  Darnach  würde  der  Vagus  sich  als  ein  gemischter  Nerv 
herausstellen,  der  seine  motorischen  Wurzeln  von  einer  Reihe  selbstän- 
dig entspringender  inul  selbständig  austretender  Nervenfädchen  em- 
pfängt. Sehen  wir  nun  jene  getrennt  den  Schädel  durchsetzenden  Fäd- 
chen  als  motorische  Wurzeln  des  Vagus  an,  so  werden  wir  diesen  Wurzeln 
nach  ihrem  ganzen  Verhalten  bezüglich  Ursprung  und  Veilauf  bei  der 
Vergleichung  mit  motorischen  Wurzeln  von  Spinalnerven  dieselbe  Be- 
deutung zuschreiben  müssen.  Wir  werden  aber  nicht  einfach  alle  zu- 
sammen, sondern  jede  von  ihnen  der  motorischen  Wurzel  eines  Spi- 
nalnerven für  homodynam  erachten,  und  gelangen  dadurch  zu  dem 
Schlüsse,  dass  bei  Hexanchus  eine  Summe  von  motorischen  Wurzeln 
zum  Vagusstamme  tritt,  dass  also  der  Vagus  bezüglich  seiner  motori- 
schen Wurzeln  einer  Summe  von  Spinalnerven  entspricht.  Zur  Ver- 
gleichung dieser  Nerven  mit  den  Wurzeln  einzelner  Spinalnerven  be- 
rechtigen uns  einmal  die  ziemlich  weit  von  einander  entfernten  Aus- 
Irittsstellen,  dann  aber  auch  der  selbständige  Durchtritt  der  einzelnen 
durch  die  Schädelwand. 

Diese  Anschauungsweise  erläutert  uns  zugleich  das  Verhalten  der 
Zusammensetzung  des  sogenannten  »eigentlichen  Vagusslammes«,  d.h. 
des  Wurzelcomplexes.  der  in  eine  Reihe  aus  den  theilweise  n)it  An- 
schwellungen versehenen  seitlichen  Strängen  der  Medulla  oblongata 
hervorgeht.  Wenn  wir  diese,  wie  nicht  anders  möglieli ,  als  hin- 
tere Wurzeln  beurtheilen ,  so  werden  wir,  nachdem  s^ir  die  vor- 
erwähnten Nerven  als  den  motorischen  Wurzeln  mehrfacher  Spi- 
nalnerven homodynam  fanden ,  auch  für  jene  hinteren  Wurzeln 
die  Homodynamie  mit  einer  Summe  von  Spinalnerven  aufstellen 
müssen.  Diesem  entspricht  auch  vollkommen  das  Verhallen  jener  Wur- 
zeln, ihr  discreter  Austritt  aus  der  Medulla,  sowie  die  Beziehungen? 
wenigstens  der  stärkeren  Wurzelstränge  zu  den  eben  beregten  Erha- 
benheiten. Wir  deuten  also  die  geschilderten  anatomischen  Tliatsachen 
bezüglich  des  Vagus  dahin,  dass  wir  denselben  als  aus  einem  Com- 
plexe  von  Nerven ,  die  nach  dem  Typus  der  Spinalnerven  sich  verhal- 


lieber  die  Kopl'iiervcii  von  llcxiiiuliiis  u.  ilirVciiiältniss  ziirWirltcItlicnrie  (l.ScIiädcIs.  52Ii 

Icn,  /,us;iiinii('ui^(VS(>tzt  IxUiiichlon.  wobei  die  hinteren  resp.  oberen 
Wurzeln  sich  schon  auf  ihrem  Verhmle  durch  das  Cranium,  das  sie 
t:;emeinsani  durchsetzen,  zu  einem  Stamme  verbinden,  indess  die  vor- 
(leieii  lesp.  unteirn  Wurzeln  nicht  blos  i;elrennl  aus  der  Meduila  ob- 
loHi^ata.  sondern  auch  getrennt  aus  dem  Schädel  treten,  und  erst  als- 
dann mit  dem  Stamme,  der  aus  den  sensil)len  Wurzeln  sich  bildete, 
sich  vei'binden.  Jene  vortlern  Wurzeln  als  einem  einzit^en  Nerven 
entsprechend  anzusehen,  liisst  viel  triftigere  Einwände  zu,  als  die  hier 
vorgeführte  entgegengesetzte  Annahme.  Zunächst  ist  die  relativ  be- 
deutende Entfernung  der  Austrittsslellen  ein  (legengrund,  dann  das 
selbständige  Verhalten  beim  Dui clilriUe,  endlich,  als  wichtigstes  Mo- 
ment ,  das  Fehlen  von  hintein  (olKMcn)  Wurzeln  ,  deien  («in  Nerv, 
w(>nn  ei-  mit  Spinalnerven  verglichen  werden  soll,  nicht  entbehren 
darf.  Will  man  aber  trotz  alledem  jene  vordem  Nerven  als  getrennte 
Theile  eines  einzigen  Nerven,  resp.  als  motorische  Wurzeln  eines  sol- 
chen betrachten  und  in  dem  übrigen  Vagusstamme  die  hiezugehörigen 
hinteren  oder  sensiblen  Wurzeln,  so  tritt,  ganz  abgesehen  von  dem 
bezüglich  des  lU  lundes  dieses  Stammes  bereits  Dargelegten,  in  der 
peripherischen  Verbreitung  ein  ganzer  Berg  von  Schwierigkeiten  empor, 
die  nicht  überwunden  werden  können 

Diese  peripherische  Verbreitung  bildet  das  zweite  für  das  Ver- 
sländniss  des  Vagus  wichtige  Moment.  Sie  muss  daher  genauer  be- 
trachtet werden,  obschon  das  meiste  davon  mit  den  bereits  bekannten 
Thatsachen  in  Uebereinstimmung  ist.  Schon  auf  dem  Verlaufe  durch 
den  Endabschnitt  d(  s  Schädelcanals  beginnt  der  durch  das  Zusammen- 
treten der  Wurzeln  der  oberen  Reihe  gebildete  Stamm  zu  einem  Gang- 
lion anzuschwellen.  Vom  Ende  dieses  Abschnittes  entspringt  ein  feiner 
in  den' Schädelknorpel  eindringender  Zweig,  der  erst  nach  aussen  sich 
wendet,  dann  am  hinteren  Bogengänge  des  Labyrinthes  vorüber,  aber 
hinter  demselben  aufwärts  iritt,  um  dann  mehr  medianwärts  zu  ver- 
laufen. Der  Nerv  gelangt  dann  auf  der  Schädeloberfläche  zun)  Austiilt. 
Es  ist  ein  Ramus  dorsal  is,  der  nach  Stannius  bei  anderen  Sela- 
chiern  fehlt  ^l . 


1)  Man  konnte  Bedenken  tragen,  diesen  durch  den  Schädclknorpel  verlaufen- 
den Nerven  mit  dem  Sctiädelhöiilenast  des  Vagus  der  Teleostler  für  homolog  zu 
halten,  eben  wegen  der  anscheinenden  Differenz  des  Verlaufs.  Diese  Verschieden- 
heit löst  sich  jedoch  auf,  wenn  man  in  Erwägung  zieht,  dass  bei  den  Teleostiern 
ein  grosser  Theil  des  I'rimordialcraniums  der  Selachier,  und  gerade  vom  Schädel- 
cavum  her  geschwunden  ist,  so  dass  dadurcii  Theile  nach  innen  zu  liegen  kommen, 
die  bei  den  Selachiern  von  der  Wand  des  Knorpelcraniums  umschlossen  sind,  wie 
das  vom  Labyrinthe  ja  allgemein  bekannt  ist. 


524  Carl  Gegenbaur, 

All  der  Anschwellung  des  Vagusstammes  seheint  der  eiste  stärkste 
Wui/el  liang  nicht  betheiligl  zu  sein.  Derselbe  liegt  im  Schädelcanal 
zwar  dicht  an  den  übrigen  Wurzeln,  und  ist  mit  diesen  auch  durch 
Faseraustausch  verbunden.  Aber  bereits  an  der  zweiten  Hälfte  des  be- 
treffenden Schädelcanals,  da  wo  die  Ganglienbildung  des  Stammes  be- 
ginnt, löst  sich  die  Fortsetzung  jenes  Wurzelstranges  vom  anliegenden 
übrigen  Vagus  ab  und  gehl  in  eine  langgestreckte  selbständige  An- 
schwellung über,  die  noch  ausserhalb  des  Canals  wahrnelimbar  ist. 
Daraus  setzt  sich  ein  Nerv  fort,  der  zwar  noch  dem  Vagus  eine  kurze 
Strecke  weit  angelagert  bleibt,  aber  alsdann  sich  seitwärts  zum  zweiten 
Kiemenbogen  wendet  (Fig.  I.  Vg').  Bevor  er  zu  diesem  tritt,  sendet  er 
einen  Ast  («)  zum  ersten  Kiemenbogen,  der  dort  n)it  dem  Stamme  des 
Glossopharyngeus  auf  dem  Knorpel  seinen  Verlauf,  und  zur  vordejn 
Kieme  der  zweiten  Tasche  seine  Verzweigung  nimmt. 

Der  folgende  Theil  des  Vagus  lagert  sich  auf  den  dorsalen  Glied- 
sti'^ken  der  Kiemenbogen  (1—6)  und  sendet  noch  vier  Aeste  zu  eben- 
soviel Kiemenbogen,  wo  sie  sich  gleich  jenem  erstbeschriebenen  vei- 
halten,  also  immer  einen  schwachen  Zw  eig  [a]  zum  nächst  vorhergehen- 
den Kiemenbogen  absenden.  Dieser  kleinere  Ast  giebt  nahe  an  seiner 
Ursprungsstelle  je  einen  Ramus  phaiyngeus  ab.  So  ist  es  ganz  genau 
genommen.  Im  Allgemeinen  kann  man  das  Verhältniss  so  auffassen, 
dass  jeder  Ramus  branchialis  sich  in  drei  Zweige  iheilt,  davon  der 
vordere  schwächere  zum  nächst  vorhergehenden,  der  hintere  stärkere 
zum  nächst  folgenden Kiemeny)ogen  gelangt,  indess  ein  zwischen  diesen 
beiden  austretender  drittel-  Zweig  sich  zum  Pharynx  begiebt.  Diese 
Rami  pharyngei  versorgen  theils  die  Musculatur  zwischen  den  dorsalen 
Endgliedern  der  Kiemenbogen,  theils  gelangen  sie  an  der  Schleimhaut 
des  Pharynx  zur  Vertheilung.  Als  besonders  beachtenswerth  hebe  ich 
heivor,  dass  in  diesen  Pharynxästen  eine  Uebereinstimmung  jedes  eir- 
zelnen  Ramus  branchialis  des  Vagus  mit  dem  Glossopharyngeus  besteht. 
Selbst  der  Facialis  kann  ohne  jede  Schwierigkeit  hieher  bezogen  wer- 
den, indem  dessen  Ramus  j^  a  1  a  t  i  n  u  s  d  e  m  R  a  m  u  s  phaiyn- 
geus des  Glossopharyngeus  oder  eines  Ramus  branchi- 
alis des  Vagus  völlig  sich  gleich  veihält.  Nehmen  wir 
hiezu  noch  das  Verhalten  des  Facialis  zur  Spritzlochkieme,  so  ist  am 
Facialis  ebensogut  wie  am  Glossopharyngeus  und  an  einem  der  Rami 
branchiales  des  Vagus  die  Theilung  in  drei  Zweige  nach\Aeisbar,  und 
der  Spritzlochast  erscheint  homolog  einem  Ramus  anterior,  wie  der  Ra- 
mus hyoideus  einen  Ramus  posterior  und  der  Ramus  palatinus  einen 
R.pharyngeus  repräsentirte.  Die  Fortsetzung  des  Stammes  bildet  der 
bekannte  Ramus  intestinalis  (/),  dessen  Verhalten  für  unsere  Zwecke 


Üeber  die  Kopfuerveii  von  Hexanchus  u.  ilirVerhältiiiss  zurWirbelfheorie  i.  Schädels.  525 

nicht  in  Belfaclil  zu  kommen  brauclit.  Dasselbe  s^ill  votnRamus  lateralis 
(Fig.  1.  L),  der  gleich  an  der  Auslrillsstelle  sicli  abgezweigt  hat.  Er 
setzt  sich  im  Schiidelcanal  aus  mehreren,  aus  dem  Anfange  des  gang- 
lionären  Theiles  des  Vagus  kommenden  Bündeln  zusammen,  und  nimmt 
schon  an  der  Auslrittsslelle   des  Vagus  eine  mediale  Lagerung  ein. 

Ausser  dem  Umstände,  dass  bei  Hexanchus  die  Zahl  der  Kiemen- 
iisle  des  Vagus  um  Einen  vermehrt  ist,  entsprechend  der  Zahl  der  Kie- 
nientaschen,  ist  die  grössere  Selbständigkeit  des  ersten  Ramus  bran- 
chialis  luM'vorzuheben.  Durch  dieses  Verhalten  wird  ein  gemeinsamer 
Truncus  branchio-intestinalis,  den  andere  Selachier  besitzen,  nicht  un- 
lerscheidbar ,  und  es  erscheint  der  bezügliche  Nerv  schon  vor  seiner 
Austrittsstelle  aus  dem  Cranium  in  demselben  Befunde  wie  die  beiden 
vorhc'igchenden  Nerven,  der  Glossopharyngeus  und  der  Facialis,  die 
nur  noch  durch  selbständige  Austriltscanäle  in  der  Schüdelwand  aus- 
gezeichnet sind.  Man  kann  das  Verhiiltniss  dieses  ersten  R.  branchia- 
lis  viigi  zum  Vagusstamme  im  Vergleiche  mit  dem  bekannten  Befunde 
bei  anderen  Fischen  als  einen  gewissen  Grad  von  Selbständigkeit  auf- 
fassen, die  besonders  durch  das  eigene  Ganglion  eine  Stütze  empfängt, 
l^in  bei  anderen  Selachiern  mit  dem  Vagus  innig  verbundenen  Nerven- 
zweig löst  sich  bei  Hexanchus  sehr  frühe  selbständig  ab. 

Die  ViMtheilungsweise  der  Kiemenäste  ist  ungeachtet  der  längst- 
bestchenden  Kenntniss  dieses  Verhaltens  besonderer  Beachtung  werth. 
Jeder  Ramus  branchialis  sendet  den  stärkeren  Zweig  zu  je  einem  hin- 
leren, den  schwächeren  zu  je  einem  vorderen  Kicmcnbogon,  woselbst 
sie  nahe  aneinander  verlaufen.  Diese  Nachbarschaft  wird  allmählich  an 
jedem  Kiemenbogen  durch  die  demselben  ansitzenden  knorpeligen  Kie- 
miMistrahlen  getiennt,  indem  von  der  Stelle  an,  wo  die  letzteren  auf- 
treten, der  eine  Zweig  vor,  der  andere  hinler  den  Kiemenstrahlen  lagert. 
Mit  Beziehung  auf  die  Kiementaschen  gehört  demnach  der  vordere  Zweig 
eines  Ramus  branchialis  der  vorderen  Wand,  der  hintere  Zweig  dage- 
gen der  hinleren  Wand  einer  Kiemenlasche  an.  Diese  Verhältnisse  sind 
nach  vorne  über  das  Gebiet  des  Vagus  hinaus  fortgesetzt.  Der  Glosso- 
pharyngeus verhält  sich  wie  ein  Kiemenasl  des  Vagus.  Der  vordere 
Zweig,  der  an  den  Zungenbeinbogen  Irill,  verläuft  hinler  die  hier 
zweifellos  als  Kiemenstrahlen  erscheinenden  knorpeligen  Radien  des 
Bogens,  und  der  hintere  Zweig  verläuft  vor  den  Kiemenstrahlen  des 
folgenden  Rogens,  welcher  der  erste  Kiemenbogen  ist.  Modihcirl  ist  das 
Verhallen  des  Facialis.  Sein  zum  Zungenbeinbogen  tretender  Haupt- 
stanun  lagert  wie  ein  hinterer  Zweig  eines  Ramus  branchialis  vor  den 
Kicmrnslrahhni  des  Zungenbeinliogcns,  und  der  vor  den  Sprilzlochsack 
Irt'tt'ndcZwciig  verläufl  hinter  dem  (bei  Hexanchus  fehleiulen)  Sprilzloch- 


52()  Carl  Gegeiibaiir, 

kuorpel.  Wenn  derletztereaus  einem  Kiemenstrahl  hervorging,  wie  ich  aus 
mehreren  Thatsachen  nachzuweisen  vermag,  so  ist  auch  der  genannte  Ast 
desFaciaHs  mit  dem  vorderen  Zweige  eines  Kiemennerven  in  völlig  glei- 
chem Verhalten,  und  der  Facialis  wird  zum  Nerven  der  in  da^ß  Spritz- 
loch übergegangenen  Kiementasche,  die  ihre  vordere  Stütze  vom  Kie- 
menbogen  empfangt.  Der  Ramus  maxillaris  inferior  des  Trigeminus  ist 
dann  der  hintere,  vor  den  auf  den  Spritzlochknorpel  reducirten  Radien 
eines  Rogens  verlaufende  Zweig.  So  lässt  sich  also  ein  am  Vagus  be- 
stehendes Verhalten  in  allmählichen  Modificationen  auf  den  Tiigeminus 
fortverfolgen,  und  es  treten  damit  scheinbar  sehr  entfernte  Zustände 
unter  einander  in  die  engste  Verbindung. 

Auch  die  Vergleichung  der  Wurzeln  des  Vagus  bei  Hexanchus  mit 
dem  Verhalten  anderer  Selachier  oder  mit  dem  der  Ganoiden  und  Kno- 
chenfische bietet  wichtige  Ergebnisse.  Während  bei  diesen  zwei  Wur- 
zelportionen unterschieden  werden,  von  denen  die  zweite  hintere  in 
der  Zahl  ihrer  einzelnen  Stränge  sehr  wechselnde  Verhältnisse  dar- 
bietet, ist  bei  Hexanchus  eine  solche  Scheidung  nicht  durchführbar. 
Eine  vordere  Portion,  als  von  einer  hinteren  gesonderte  Rildung,  existirt 
nicht.  Wenn  auch  der  vorderste  Strang  der  Wurzelreihe  (nämlich  der 
oben  als  obere  Wurzeln  unterschiedenen,  denn  die  mehrfachen  Paare 
unterer  Wurzeln  wurden  von  den  Autoren  dem  Vagus  nicht  beigezählt) 
den  nächstfolgenden  an  Stärke  übertrifft,  so  ist  doch  diese  Verschieden- 
heit kaum  bedeutender  als  die  zwischen  den  übrigen  Wurzelsträngen 
wallende,  daher  sie  kein  Motiv  für  Aufstellung  und  Scheidung  abgeben 
kann.  Auch  durch  die  Lage  der  Austrittstelle  aus  der  Medulla  wird 
das  bestätigt,  da  diese  in  gleicher  Höhe  mit  den  übrigen  Wurzelsträn- 
gen sich  vorfindet.  Es  ist  also  bei  Hexanchus  bezüglich  dieses  Verhal- 
tens ein  Zustand  der  Indifferenz  gegeben,  der  nur  einen  niede- 
ren Organisationsbefund  erkennen  lässt.  Das  bei  anderen  Selachiern, 
und  da  anschliessend  bei  Ganoiden  (Stör)  undTeleostiern,  sich  findende 
Verhaltender  Vaguswurzeln  bietet  aber  ausser  der  grösseren Differenzi- 
rung,  d.  h.  der  minderen  Gleichartigkeit  der  Wurzeln,  noch  eine  Zusam- 
menziehung dar.  Da  nicht  angenommen  werden  kann,  dass  die  grosse 
Zahl  der  Wurzelstränge  bei  Hexanchus  ausschliesslich  durch  die  Ver- 
mehrung der  Kiemen  bedingt  sei,  da  vielmehr  im  letzteren  Verhältnisse 
selbst  nur  der  theilweise  Ausdruck  eines  niederen  Zustandes  liegt,  so 
wird  die  Vermehiung  der  Wurzeln  als  dem  Fortbestehen  einer  Tren- 
nung entsprechend  zu  deuten  sein,  von  Gebilden,  die  bei  andern,  auf 
einer  höheren  Stufe  der  Forlentwickelung,  durch  engere  Verbindung 
und  endliche  Verschmelzung  unter  einander  neue  anatomische  Refunde 
hervorgehen  lassen.     Die  aus  gleichartigen,   nur  allmählich  von  vorn 


Ueber  die  Knpliiervcii  von  Hoxaiicliiis  ii.  ilirVt'iiiälliilss  ziirVVirbeltheorie  d.  Schrulels.  527 

nach  liinUMi  zu  an  Dicke  ahnohincndcn  Stränt^en  zusamrnengosetzte 
Wurzolreihe  des  Vagus  bei  Ilexanchus,  ist  also  bei  anderen  Selachiern 
in  zwei  Theile  gesondert,  die  man  als  vordere  und  hintere  Wurzel  un- 
terschieden hat.  Die  hintere,  dem  grössten  Theile  des  Wurzelcomplexes 
bei  Hexanchus  homologe,  besitzt  bei  vielen  Selachiern,  vielleicht  sogar 
bei  allen,  deutliche  Spuren  ihrer  Zusanunensetzung  aus  mehrfachen 
Strängen,  ja  in  Füllen  sogar  aus  einer  grossen  Anzahl  von  solchen. 
Diese  Mehrzahl  von  Wurzc^Isträngen  erhält  sich  discret  bei  Ganoiden 
(Accipenser)  und  vielen  Teleostiern,  wie  aus  dem  oben  S.  517)  gegebe- 
nen Cilate  aus  Stannius  zu  ersehen  ist.  Die  Reduction  führte  aber  hier 
])is  zur  Verschmelzung  zu  nur  zwei  Strängen. 

Die  Vergleichung  der  in  Rede  stehenden  Wurzelreihe  des  Vagus 
bei  Hexanchus  mit  dem  bezüglichen  Verhalten  bei  andern  Fischen  lässt 
also  neben  der  Ausbildung  eines  vordem  Stranges  (vordere  Wurzel  von 
Sta.n.mls),  eine  allmähliche  Zusammenziehung  der  hinleren  Stränge  der 
Wurzelreihe,  eine  Rückbildung  in  dei-  Anzahl  der  Stränge  erkennen, 
woraus  die  sogenannte  hintere  Wurzel  entsteht.  Wenn  hiebei  auch 
noch  offene  Frage  bleibt,  ob  die  »vordere  Wurzel«  in  allen  Fällen  nur 
.ms  dem  ersten  stärksten  Strange  bei  Hexanchus  gebildet  wird,  oder 
ob  nicht  noch  einige  der  folgenden  Stränge  in  sie  eingehen,  so  ist  doch 
im  Allgemeinen  das  Resultat  der  Vergleichung  sicher,  insofern  sie  eine 
Reduction  in  der  Anzahl,  oder  eine  Zusammcnziehung  der  Wurzeln 
nachweist.  Ich  möchte  die  letztere  Auffassung  deshalb  betonen  und 
sie  von  der  allgemeineren  in  dem  Worte :  Reduction  sich  ausdrücken- 
den trennen,  weil  dem  Regriffe  der  Reduction  auch  das  materielle 
Schwinden ,  der  Verlust  in  einem  andern  Falle  bestehender  Theile, 
innewohnt,  während  es  sich  in  unserem  Falle  nicht  um  das  Verloren- 
gehen von  Nervensträngen ,  nicht  um  deren  gänzliche  Rückbildung, 
sondern  nur  um  das  Aufhören  des  von  benachbarten  gleichartigen  Thei- 
len  getrennten  Restehens  handeln  kann. 

Eine  analoge  Erscheinung  mit  der,  die  wir  eben  aus  der  Verglei- 
chung der  oberen  Wurzelreihe  des  Vagus  nachweisen  konnten,  bieten 
jene  discret  austretenden  Fädchen  dar,  die  ich  oben  als  untere  Wurzeln 
des  Vagus  aufgefasst  hatte.  Wenn  ich  dabei  auf  den  selbständigen  Au.s- 
Irilt  aus  der  Schädelhöhle  kein  Gewicht  legte  und  mich  dadurch  nicht 
bestimmen  liess,  sie  als  Repräsentanten  eines  besonderen  Nerven  an- 
zusehen, so  geschah  das  vorzugsweise  deshalb,  weil  bekanntlich  auch 
die  oberen  und  unteren  (resp.  vorderen  und  hinteren)  Wurzeln  der 
Spinalnerven  bei  den  Haien  getrennt  die  knorpelige  Wand  des  Rück- 
;:r;Ucanals  verlassen.  F^s  ist  also  nichts  Auffälliges,  wenn  an  einem 
Hirnnerven  dasselbe  wiederkehrt,  ja  der  gegentheilige  Fall  wäre  viel- 


528  Carl  Gegenbaur, 

inehf  auffallig  zu  nennen.  Es  liegt  somit  darin,  dass  (Jiese  Nervenfäd- 
chen  nicht  mit  den  oberen  Wurzeln  zusammen  den  Schädel  durchsetzen, 
kein  Grund  sie  mit  Stannius  als  »dem  Vagus  fremd«  anzusehen.  In  wie 
ferne  aber  der  Umstand,  dass  jeder  dieser  Nerven  flir  sich  austritt, 
für  die  Vergleichung  zu  verwerthen  ist,  soll  weiter  unten  besprochen 
werden. 

Die  Vergleichung  dieser  ausserhalb  desCraniums  dem  Vagusstamme 
(d.  h.  dem  aus  der  ol)eren  Wurzelreihe  zusammengesetzten  Theile)  sich 
anschliessenden  Nerven  mit  jenen  anderer  Haie  lehrt  uns  wieder- 
um eine  Reduction  der  Zahl  kennen ,  da  bei  jenen  an  der  Stelle  der 
drei  oder  vier  Fädchen  von  Hexanchus  nur  zwei  vorhanden  sind.  Ob 
auch  hiebei  eine  Verschmelzung  vorliegt,  kann  für  jetzt  nicht  entschie- 
den werden.  Bestimmt  ist  nur,  dass  derselbe  bei  Hexanchus  aus  einer 
grössern  Zali!  bestehende  Fadchcncomplox  bei  andern  Haien,  wie  Stan- 
Nius  angiebt,  nur  durch  zwei  Fädchen  repräsentirt  wird.  Diese  wenn 
auch  bezüglich  der  Anzahl  schv^'ankende,  den  Haien  zukommende  Ein- 
richtung kehrt  mit  anderen  Modifurationen  gepaart  bei  Teleostiern  wie- 
der, wenig.' tons  glaube  ich  die  von  E.  H.  Weber  i)  beim  Karpfen  und 
Wels  zuersl  aufgefundenen  Nervenfädchen,  die  gelrennt  von  einander 
von  der  Medulla  hinter  dem  Vagus  entspringen,  hieher  rechnen  zu 
dürfen,  doch  kann  das  nicht  ohne  nähere  Prüfung  der  bezüglichen  Ver- 
hältnisse geschehen. 

Der  fragliche  Nerv  ist  von  E.  H.  Weber  zuerst  als  Uypoglossus, 
dann  als  Accessorius  Willisii  gedeutet  worden.  Erstere  Deutung  erfuhr 
er  wegen  seiner  Austrittsstelle  durch  ein  seitlich  von  Foramen  niagnum 
befindliches  Loch,  und  die  spätere  Auffassung  stützte  sich  auf  den 
Verbreitungsbezirk  des  Nerven,  der  in  der  vorderen  Musculatur  des 
Schultergürtels  sich  findet.  Endlich  ist  der  fragliche  Nerv,  zuerst  von 
Desmoulins^),  für  den  ersten  Spinalnerven  erklärt  worden,  welche  Mei- 
nung sich  bis  in  die  neuste  Zeit  erhielt,  wenn  auch  ihr  Autor  sie  bald 
mit  einer  anderen  vertauscht  hatte.  F]in  Spinalnerv,  der  von  der  Me- 
dulla oblongata  entspringt  und  durch  den  Schädel  austritt,  ist  aber  ge- 
wiss ein  höchst  bedenkliches  Ding,  ebenso  wie  ein  Accessorius  Willisii, 
der  vordere  und  hintere  Wurzeln  besitzt.  Dass  derartige  Deutungen 
nicht  durchgreifen  können,  hat  zuerst  Bischoff  ^^)  ausgesprochen.  Nach 
dessen  Meinung   entbehrt    der  WsBER'sche   Nerv   manche   der  Eigen- 


1)   De  aiire  et  auditu  hominis  et  aiiinialiuni.    Lips.   1820.     Ferner:   Arcliiv  f. 
Anatomie  und  Pliysiologie.    IS47.   p.  307.  312. 

i)   Anatomie  des  Systeme  nerveux  des  animaux  ä  vertebres.   i'aris  1825. 

3)   Nervi  accessorii  Willisii  Anatomia  et  Physiologia.  Heidelbergae  1832.  p.  51. 


Uebcr  die  Koiifncrvcn  von  Hoxandiiis  ii.ilirVoilirillniss  '/iirWirlioltlioorio  d.  Scliädcls.  529 

Schäften,  die  ihn  zum  Accossorius  stempeln  konnten.  D;is  ist  vorzüg- 
lich auf  die  Verbindung  mit  andern  Nerven,  z.  B.  mit  dem  Trigeminus 
bei  Cyprinus  carpio,  begründet,  dann  aber  auch  auf  die  Retheiligung 
einer  vom  oberen  Theile  der  Medulla  oblongata  austretenden  Wurzel. 
Letztere  Thatsache  erschwert  zugleich  die  Vergleichung  des  WEBER'schen 
Accessorius  der  Teleostier  mit  den  beregten  Nerven  der  Haie,  die  an- 
dererseits duirh  ihre  Verbindung  mit  den  Vagus  von  dem  vorgenann- 
ten Nerven  verschieden  sind.  Somit  besteht  keine  directe  Verknüpfung, 
und  man  möchte  sich  der  Meinung  hingeben,  dass  der  WKBEß'sche  Ac- 
cessorius (so  wird  der  fragliche  Nerv  zum  Untei'schiede  speciell  vom 
WiLLis'schen  aufgeführt  werden  dürfen)  der  Teleostier  ein  gänzlich 
neues  Gebilde  sei,  sowie  dass  die  vorderen  (unteren)  Vaguswurzeln  bei 
den  Teleostiern  verschwunden  seien. 

Einer  solchen  Meinung  möchte  ich  jedoch  nicht  das  Wort  reden, 
bevor  triftige  Gründe  dafür  beigebracht  sind,  die  zugleich  jede  andere 
Aufstellung  ausschliessen.  In  der  That  kann  eine  Auffassung  gefunden 
werden,  welche  die  bei  Teleostiern  und  bei  Haien  bestehenden  Ver- 
hältnisse in  Einklang  bringt,  ohne  der  misslichen  Voraussetzung  vom 
Verschwinden  und  Neubilden  zu  bedürfen.  Nehmen  wir  nämlich  den 
V^'EBEft'schen  Accessorius  der  Teleostier  als  einen  Theil  des  gesammten 
Vagus  der  Haie  an,  als  eine  aus  dem  letzteren  entstandene  Sonderung, 
welche  die  auf  einen  Faden  reduzirten  unteren  Wurzeln,  sowie  den 
gleichfalls  auf  einen  Nervenfaden  reduzirten  hinteren  Abschnitt  der 
oberen  Wurzelreihe  des  Vagus  in  sich  begreift,  so  vermag  man  der 
Lösung  jener  Frage  auf  anderem  Wege  entgegenzukommen.  Die  Factoren, 
mit  denen  dabei  gerechnet  wird,  sind  bekannte,  schrittweise  verfolg- 
bare Verhältnisse :  Erstlich  Reduclionen  in  der  Zahl  von  Nervenwur- 
zeln, und  zweitens  die  Auflösung  eines  Nervencomplexes  in  mehrere. 
Dem  Vagus  der  Teleostier  bliebe  dann  der  gesammte  vordere  Abschnitt 
der  oberen  Wurzel  reihe,  deren  hinterer  Abschnitt  vom  vorderen  ge- 
trennt, mit  einem  der  vom  unteren  Theile  der  Medulla  oblongata  kom- 
menden Fädchen  in  Verbindung  tritt.  Was  den  selbständigen  Austritt 
des  so  zu  Stande  gekommenen  Accessorius  Weberi  der  Teleostier 
angeht,  so  ist  zu  beachten,  dass  die  AustriltsöfTnungen  der  unteren 
Wurzelfäden  des  Vagus  der  Haie  zwar  etwas  unterhalb,  aber  auch 
median  zur  Auslriltsstelle  des  Hauptstammes  des  Vagus  gelagert  sind. 
Nimmt  man  an,  dass  diese  Austriltscanälchen  zu  einem  einzigen  zu- 
sammenfliessen ,  und  dass  den  durch  dieses  auspassirenden  Nerven 
auch  noch  der  hinterste,  auf  ein  Fädchen  reduzirte  Theil  der  oberen 
Wurzelreihe  sich  zugesellt,  so  erhält  man  einen  median  vom  Vagus, 
lateral  vom  Foramen  occipitale  niagnum  austretenden  Nerven.     Diese 

R.l.  VI.   i.  3G 


530  Carl  Gegeiibaur, 

Auffassung  macht  zugleich  die  von  Bischoff  nachgewiesene  Verbindung 
des  WEBER'schen  Accessorius  mit  dem  Vagus  beim  Karpfen  verständ- 
lich, und  es  wartet  nur  noch  die  Verbindung  mit  dem  Trigeminus  wei- 
terer Aufschlüsse. 

Durch  die  genannte  Verbindung  des  WEBER'schen  Accessorius  mit 
dem  Vagus  wird  keine  Instanz  zu  Gunsten  einer  Homologie  mit  dem 
Accessorius  Willisii  gewonnen.  Dieser  Nerv  der  höheren  Wirbelthiere 
ist  bei  Hexanchus  offenbar  durch  den  'hinteren  Abschnitt  der  oberen 
Wurzelreihe  des  Vagus  repräsentirt,  ist  noch  ein  Theil  des  Vagus  selbst. 
Die  Vergleichung  des  Verhaltens  bei  Hexanchus  mit  dem  von  Reptilien, 
z.  B.  der  Schildkröte  nach  den  Darstellungen  von  Bojanus,  von  anderen 
Reptilien  nach  Bischoff,  Bendz  ,  Fischer  u.  A.  lässt  wohl  kaum  einen 
Zweifel  daran.  Vagus ^und  Accessorius  Willisii  zusammen  bieten  hier 
übereinstimmende  Verhältnisse  mit  der  oberen  Wurzelreihe  des  Vagus 
von  Hexanchus.  Wenn  aber  der  den  Accessorius  Willisii  repräsenti- 
rende  Theil  des  Vagus  der  Haie,  wie  wir  oben  deduzirten,  bei  den  Te- 
leostiern  in  dem  WEBER'schen  Accessorius ,  und  zwar  nicht  für  sich, 
sondern  in  Verbindung  mit  vorderen  Vaguswurzeln  der  Selachier  zu 
suchen  ist,  so  folgt  daraus,  dass  den  Teleostiern  ein  gesonderter  Acces- 
sorius Willisii  abgeht,  dass  diese  Fische  also  auch  hierin  aus  der  auf- 
steigenden Reihe  der  Wirbelthiere  sich  entfernen. 

Der  WEBER'sche  Accessorius  der  Knochenfische  ist  somit  zwar  als 
ein  neuer  Nerv  oder  vielmehr  als  eine  neue  Gombination  eines  Nerven 
anzusehen,  aber  die  Elemente,  aus  denen  er  sich  zusammensetzt,  sind 
nicht  für  neu  zu  halten.  Der  Nerv  ist  daher  keine  vollständige  Neubil- 
dung. Seine  Wurzeln  finden  sich  im  Vagus  der  Haje  vor,  in  den  hin- 
teren Fäden  der  oberen  Wurzelreihe  und  in  den  unteren  Wurzeln. 

Für  diese  unteren  Wurzeln  des  Vagus  von  Hexanchus,  welche  bei 
den  Teleostiern  insoferne  einige  Selbständigkeit  gewonnen  haben,  als 
sie  nicht  mehr  in  der  Bahn  des  Vagus  verlaufen,  wird  bei  den  höheren 
Wirbelthieren  ein  grösseres  Maass  der  Sonderung  geboten.  Sie  stellen 
hier  den  Hypoglossus  vor,  dessen  Verbreitungsbezirk  wenigstens 
theilweise  dem  Gebiete  entspricht,  welches  vom  WEBER'schen  Accesso- 
rius versorgt  wird. 

Die  Entstellung  des  Hypoglossus  aus  dem  bei  Hexanchus  gegebe- 
nen Verhalten  setzt  zunächst  eine  Vereinigung  der  unteren  Wurzeln  des 
Vagus,  und  einen  unter  sich  gemeinsamen,  aber  im  oberen  Wurzel- 
complexe  des  Vagus  getrennten  Austritt  aus  dem  Schädel.  Wenn  die 
bei  Hexanchus  bestehenden  einzelnen  Canälchen,  welche  den  vorderen 
Vaguswurzeln  zum  Durchlass  dienen,  zu  Einem  Loche  zusammenflies- 
sen,  so  wird  derselbe  median  vor  dem  Austritte  des  Hauptstammes  des 


Ueber  die  Kopfiierveii  von  Iloxaiiclnis  ii.  ihiVcrliriltiiiss  ztirWirbeltlieorie  d.  Scliädels.  531 

Vagus  und  lalcral  und  etwas  unterhall)  des  Foramen  magnum  gelegen 
sein,  und  damit  der  Auslrittsslelle  des  Ilypoglossus  höherer  Wirbel- 
thiere  entsprechen.  Anscheinend  möchte  diese  Durchtrittsslelle  der 
Austrittsöffnung  des  WEBEu'schen  Accessorius  der  Teleoslier  homolog 
gelten.  Diese  Annahme  ist  aber  deshalb  bedenklich,  weil  hier  noch 
obere  Wurzeln  mit  vorkonunen  ,  so  dass  es  wahrscheinlicher  wird, 
dass  die  Einrichtung  bei  den  Teleostiern  auch  bezüglich  der  Austritts- 
stelle  des  Accessorius  Weberi  eine  neue  ist,  d.  h.  aus  einem  Sonde- 
rungsvorgang einer  anfanglich  alle  Wurzeln  des  Vagus  gemeinsam 
durchlassenden  Oeffnung  entstand.  Man  kann  das  in  folgender  Weise 
sich  vorstellen :  die  bei  den  Haien  bestehenden  Austrittscanälo  der  un- 
teren Vaguswurzeln  haben  sich  mit  dem  Canale  vereint,  durch  welchen 
der  durch  die  oberen  Wurzeln  gebildete  Hauptslamm  des  Vagus  aus- 
tritt, so  dass  dadurch  E  i  n  Nervenstamm  und  eine  einzige  Austrilts- 
öffnung  für  den  gesammlen  Vaguscomplex  besteht.  Allmählich  sonderte 
sich  der  Vagusslamm  in  zwei  Theile,  einen  grösseren  vorderen,  der  aus 
dem  vorderen  Abschnitt  der  oberen  Wurzelreihe  und  ihren  Modifica- 
tionen  sich  formte,  und  einen  hinleren  kleineren  Nerven,  der  die  un- 
teren Wurzeln,  und  einen  Theil,  den  hinteren,  aus  der  obern  Wur- 
zelreihe empfängt.  Indem  sich  für  jede  dieser  beiden  Portionen  eine 
besondere  Austrittsöffnung  aus  der  gemeinsamen  bildete,  verlassen  sie 
als  discrcle  Nerven  den  Schädel,  und  der  eine,  vordere,  stärkere  stellt 
den  Vagus,  der  andere,  hinlere,  schwächere,  den  WEBEa'schen  Acces- 
sorius der  Knochenfische  vor. 

Der  Vagus  von  Hexanchus  bietet  diesen  meinen  Deutungsversuchen 
gemäss  die  Elemente  für  zwei  Nerven  der  Teleostier,  für  den  Vagus 
und  den  Weber  sehen  Accessorius ,  welche  letztere  die  Elemente  des 
Hypoglossus  und  des  Accessorius  Willisii  höherer  Wirbelthiere  in  sich 
schliesst;  daher  fehlen  die  beiden  letztgenannten  Nerven  den  Teleostiern. 

Im  Vagus  von  Hexanchus  finden  sich  also  dieser  Auffassung  ge- 
mäss die  Elemente  für  drei  Nerven   der  höheren  Wirbelthiere  M.     Er 


1)  Die  Verhältnisse  dieser  Nerven  liegen  bei  Amphibien,  Reptilien,  Vögeln 
und  Säugethieren  etwas  verschieden.  Bei  den  Amphibien  fehlt  ein  Hypoglossus  als 
Hirnnerv,  es  fehlt  der  Nerv,  den  wir  sonst  als  Hypoglossus  bezeichnen,  denn  der 
erste  Spinalnerv  kann  eben  ein  für  allemal  nicht  Hypoglossus  sein,  es  müsste  denn 
das  Cranium  eine  mindere  Ausdehnung  besitzen,  wofür  kein  Grund  zur  Annahme 
besteht.  Wir  werden  also  nur  sagen  können,  dass  der  erste  Spinalnerv  in  der 
Bahn  des  Hypoglossus  sich  verbreitet.  Die  Beachtung  des  Umstandes,  dass  das 
Eingehen  der  vordersten  Spinalnerven  in  den  Hypoglossus  bei  Reptilien  verbreitet 
ist,  dass  auch  bei  Säugethieren  der  erste  Spinalnerv  mit  dem  Hypoglossus  gleich 
nach  dessen  Austritt  vor  der  Schädelliöble  Verbindungen  eingeht,  macht  verständ- 

36* 


532  Carl  Gegcnbaur, 

repräsenlirt  den  Vagus,  den  Accessorius  Willisii  und  den  Hypoglossus. 
Daher  fehlt  den  höheren  Wirbellhieren  ein  Nerv,  der  dem  WEBEn'schen 
Accessorius  der  Teleoslier  entspräche.  — 

"Während  durch  die  bisher  geführten  Vergleichungen  die  Beziehun- 
gen des  Vagus  der  Selachier  im  Allgemeinen  und  von  Hexanchus  ins- 
besondere zu  Nerven  anderer  Wirbelthiere  aufzudecken  versucht  wurde, 
erübrigt  noch  das  Verhalten  des  Vagus  zum  Visceralskelete  und  seinen 
Adnexis  zu  beurtheilen.  Die  thatsächliche  Unterlage  hiezu  ist  bereits 
oben  geliefert  worden.  Die  beiden  vor  dem  Vagus  den  Schädel  ver- 
lassenden Nervus' facialis  und  glossopharyngeus  finden  sich  für  je  einen 
Bogen  des  Visceralskelets  bestimmt,  der  Facialis  für  den  Zungenbein- 
bogen, der  Glossopharyngeus  für  den  ersten  Kiemenbogen.  Von  dem 
Vagus  finden  sich  dagegen  bei  Hexanchus  fünf,  bei  den  übrigen  Sela- 
chiern  (mit  Ausschluss  von  Heptanchus)  vier  Kiemenbogen  versorgt. 
Da  tritt  die  Frage  heran,  ob  diese  Beziehung  des  Vagus  zu  mehrfachen 
Kiemenbogen,  nicht  als  der  Ausdruck  einer  Verbindung  mehrfacher  ur- 
sprünglich discreter  Nervenstämme  zum  Einen  Vagusstamm  betrachtet 
werden  könne. 

Ausser  von  dem  peripherischen  Verhalten  des  Vagus  wird  jene 
Frage  noch  angeregt  durch  die  bei  andern  Wirbellhieren  vorkommende 
Verbindung  des  Glossopharyngeus  mit  dem  Vagus,  und  des  Facialis  mit 
demTrigeminus.  Wie  diese  bei  Selachiern  getrennt  bestehenden  Nerven 
sich  zu  einem  Stamme  verbunden  haben,  so  kann  auch  im  Vagus  der 
Selachier  ein  Complex  von  Nerven  vorliegen,  die  in  früheren  Zuständen 
sich  ebenso  discret  verhielten ,  wie  der  Glossopharyngeus  und  der 
Facialis  der  Selachier  es  noch  ist.  Daraus  mag  die  Berechtigung  jener 
Frage  sich  herleiten  lassen. 


lieh,  dass  unter  gewissen  bis  jetzt  noch  nicht  ermittelten  Voraussetzungen  der  Hy- 
poglossus durch  den  R.  anterior  eines  Spinalnerven  vertreten  sein  kann.  Bei 
den  Crocodilen  geht  von  den  zwei  Wurzeln  des  Hypoglossus  eine  in  das  Vagus- 
ganglion, eine  andere  setzt  sicli  zum  Hypoglossusstamme  fort,  nachdem  derselbe 
aus  den  erwähnten  Ganglien  einen  Verbindungszweig  erhalten.  Bei  Varanus  (V. 
bengalensis)  besteht  eine  Verschmelzung  mit  dem  Vagus  (Fischer).  Der  Hypo- 
glossus bietet  demnach  hier  noch  niedere  Verhältnisse  dar.  Die  peripherische  Ver- 
bindung mit  dem  Vagus  ist  übrigens  noch  auch  da,  wo  Austritt  und  Verlauf  des 
Nerven  discret  erscheint,  allgemein  vorhanden.  So  bei  den  Vögeln  und  auch  bei 
den  Säugethieren,  bei  welch  letzteren  der  Plexus  nodosus  des  Vagus  einige  Hypo- 
glossusfäden  zu  empfangen  pflegt.  ^„  Die  beim  Menschen  zuweilen  vorkommende 
Trennung  des  dem  Hypoglossus  zur  Austrittsöffnung  dienenden  Foramen  condyloi- 
deum  in  zwei  Löcher  erklärt  sich  aus  der  Zusammensetzung  der  Hypoglossus- 
Wurzeln  aus  vorderen  Wurzeln  mehrerer  Nerven,  die  selbst  noch  bei  Reptilien 
in  ansehnlichen  Abständen  die  Medulla  oblongata  verlassen.  Auch  bei  Vögeln  kom- 
men mehrfache  discret  austretende  Wurzeln  vor. 


Ut'bor  die  K'o|iriieivoii  von  llcxiiiirlius  ii.  ilirVcrliiillniss  ziirNViibelllicorie  d.  Scliädels.  533 

Für  die  Begründung  dor  noch  als  Frage  dargestellten  Anschauungs- 
weise dienen  folgende  Punkte : 

1)  Das  Ursprungsverhalton,  resp.  der  Austritt  des  Vagus  aus  der 
Medulla  oblongata  geschieht  in  der  oberen  Wurzcireihe,  obgleich  die 
einzelnen  Stränge,  namentlich  die  stärkeren,  dicht  aneinander  lagern, 
doch  in  von  einander  getrennten  Bündeln,  und  eine  engere  Verbindung 
derselben  untereinander  findet  erst  auf  dem  Wege  durch  das  Granium 
statt. 

2)  Der  erste  Kiemenast  des  Vagus  ist  selbständiger  als  die  übrigen  ; 
er  vermittelt  dadurch  das  Verhalten  der  letzteren  zu  einem  vollständig 
discreten  Nerven.  Das  Zusammentreten  einer  Anzahl  ursprünglich  dis- 
creter  Nerven  zu  Einem  nicht  weiter  zerlegbaren  Stamm,  erscheint 
demnach  hier  noch  mit  einem  Uebergange  zu  dem  ersten  Zustande,  der 
schon  bei  anderen  Selachiern,  wie  sonst,  einer  vollständigeren  Verbin- 
dung gewichen  ist. 

3)  Den  Austrittsstellen  der  einzelnen  Nervenstränge  entspricht 
eine  Reihe  von  Ganglien,  d'ie  in  den  Raum  der  Sinus  rhomboidalis 
einragen.  Diese  Anschwellungen  weisen  deutlich  auch  auf  getrennte 
Ursprungsställen  der  bezüglichen  Nerven  hin. 

4)  An  den  unteren  (vorderen)  getrennt  aus  dem  Granium  tretenden 
Wurzeln  des  Vagus  ist  die  Selbständigkeit  noch  vollständiger  erhalten. 
Sobald  wir  diese  Nerven  zum  Vagus  rechnen,  den  sie  ausserhalb  des 
Granium,  gleichwie  den  oberen  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven  die 
unlern  Wurzeln  derselben  ausserhalb  des  Rückgrates,  sich  zugesellen, 
bleibt  keine  andere  Auffassung  des  Vagus  möglich,  als  jene,  die  ihn 
aus  mehrfachen,  ursprünglich  getrennten  Nerven  ent- 
standen annimmt.  Die  Verschiedenheit  der  Anzahl  der  obern  und 
unlern  Wurzeln  bildet  dabei  keinen  Gegengrund,  da  ja  die  Vollständig- 
keit der  fraglichen  Wurzeln  keineswegs  behauptet  ist,  und  auch  an 
diesen  Wurzeln  selbst  innerhalb  der  Selachiergruppe  eine  Reduclion  in 
der  Zahl  erweisbar  ist.  Auch  an  Spinalnerven  ist  das  Fehlen  von  Wur- 
zeln beob  achtet.  Bei  manchen  Sauriern  fehlen  die  obern  Wurzeln  der 
ersten  Spinalnerven ,  und  zu  gänzlichem  Mangel  einer  Wurzel  füh- 
rende Reductionen  des  Volums  derselben  gehören  nicht  zu  den  seltenen 
Erscheinungen. 

Wenn  wir  mit  der  Erwägung  dieser  einzelnen,  die  bezüglichen 
Thatsachen  umfassenden  Punkte  die  peripherische  Verbreitung  des  Vagus 
an  dem  Kiemenbogengerüste  in  Zusammenhang  bringen,  wird  sich  die 
vorgetragene  Auflassung  zu  einer  wohl  begründeten  Hypothese  gestal- 
ten, die  uns  die  Beziehungen  des  Vagus  zu  andern  Hirnnerven  sowie 
zu  den  Spin;»Inerv(>n  klarer  erscheinen  liisst. 


534  Carl  Gegenbaur, 

Wir  betrachten  demnach  den  Vagus  aus  einem  Complexe  ursprüng- 
lich discreter  Nerven  entstanden,  deren  Rami  ventrales  für  die  hinte- 
ren Bogen  des  primitiven  Visceralskeletes  bestimmt  sind.  Die  Reihe 
der  oberen  Wurzeln  erhält  sich  nur  am  Ursprünge  gesondert,  und  ver- 
einigt sich  auf  dem  gemeinsamen  Durchtrilte  durch  den  Schädel  zu 
Einem  Stamme.  Die  unteren  Wurzeln  dagegen,  an  Zahl  gegen  die 
oberen  reduzirt,  behalten  ihren  discreten  Verlauf  durch  das  Cranium, 
und  wiederholen  in  diesem  Verhalten  jenes  der  unteren  Wurzeln  der 
Spinalnerven. 

Die  Zahl  der  spinalnervenartigen  Theile  des  Vagus  ist  weder  aus 
den  Wurzeln  noch  aus  dem  Verhalten  des  Stammes  zu  ersehen,  da- 
gegen ist  sie  erschliessbar  aus  der  Zahl  der  Visceralbogen,  welche  vom 
Vagus  versorgt  werden. 

Was  die  übrigen  grossen  Aeste  des  Vagus,  den  Ramus  lateralis, 
sowie  den  vom  Stamme  der  Kiemenäste  abgehenden  Ramus  intestinalis 
betrifft,  so  lasse  ich  dieselben  hier  ausser  Beurtheilung,  da  durch  eine 
solche  die  Erreichung  des  mir  gesteckten  Zieles  weder  gefördert  noch 
gehemmt  wird. 

3.    Schlussbetrachtungen  über  das  Verhältniss  der 
Hirn  nerven  zum  Kopfskelet. 

Mehrfach  ist  der  Versuch  gemacht  vvorden,  die  Kopfnerven  mit  den 
Spinalnerven  zu  vergleichen  und  dabei  an  den  ersteren  Einrichtungen 
nachzuweisen,  welche  in  letzteren  von  allgemein  durchgreifender  Gel- 
tung sind.  Man  lernte  so  llirnncrven  kennen,  welche  »nach  dem  Typus 
der  Spinalnerven«  gebaut  sind,  und  unterschied  diese  von  denjenigen 
Hirnnerven,  welche  jenen  Typus  nicht  erkennen  lassen.  Von  grösstem 
Einflüsse  auf  jene  Auffassung  der  Nerven  war  die  Vorstellung,  welche 
nmn  sich  von  der  Zusammensetzung  des  Schädels  aus  Wirbeln  machte. 
Da  die  Annahme  von  drei  oder  vier  solcher  Wirbel  die  verbreiteste, 
von  den  bedeutendsten  Anatomen  aufrecht  erhaltene  war,  musste  die 
Zahl  der  »spinalartigena  Hirnnerven  auch  eine  dem  entsprechende,  so- 
mit geringe  sein.  Drei  verlebrale  Kopfnerven  nahm  bekanntlich  Joe. 
Müller  an,  den  Trigeminus  als  ersten,  den  Vagus,  Glossopharyngeus 
und  Accessorius  Willisii  zusammen  als  zweiten ,  und  als  dritten  den 
Hypoglossus.  Dass  hiebei  die  höchsten  Wirbellhierformen  den  Aus- 
gangspunkt abgeben,  ist  deutlich  genug  erkennbar. 

Was  von  vielen  Andern  noch  über  diesen  Punkt  geäussert  ward, 
will  ich  übergehen,  und  nur  Stannius  sei  noch  erwähnt,  der  in  seiner 
mehrfach  citirten  Arbeit  für  Herstellung  eines  anderen  Ausgangspunk- 


Ucber  die  Kopfiierveii  von  Hoxnntlins  ii.  ilirVciliältniss  ziirWirbeUheorie  d.  Schädels.  535 

tcs  eine  breite  und  feste  Grundlage  geliefert  hatte.  Aber  auch  Stan- 
NiL's  kommt  nur  zu  di-oi  Nerven,  die  freilich  andere  sind  als  jene  Jon. 
Müller's.  Auf  den  llinlerhauptswirbel  kommen  nach  Stannils  drei 
Nerven,  der  erste  Spinalnerv,  der  N.  vagus  und  der  Glossopharyngeus, 
auf  den  zweiten  einer,  der  N.  facialis,  und  auf  den  vordersten  wieder 
einer,  der  N.  trigeminus.  Es  waren  hiebei  nur  die  Beziehungen  der 
Nerven  zur  Schädelkapsel,  nicht  zum  Visceralskelct  berücksichtigt.  Die 
Belrachtu/ig  des  Verhältnisses  der  ventralen  Aeste  der  spinalartigen 
llirnnerven  zu  den  Visceralbogcn  schien  auch  Stannils  fruchtbarer. 
Aber  da  der  Zusammenhang  des  Visceralskeletes  mit  dem  Cranium  nicht 
als  nothwendig  angenommen,  und  auch  nicht  aufgesucht  ward,  fand 
sich  ein  eigenthümliches  Endergebniss,  und  die  mangelnde  üeberein- 
stimmung  der  Schädelwirbel  mit  den  Bogen  des  Visceralskelets  fand  in 
den  Nerven  ihre  Bestätigung,  Es  ergiebt  sich  also  das  Bestehen  eines 
Missverhältnisses  zwischen  den  sogenannten  Schädelwirbeln  und  den 
Visceralbogcn,  oder  es  wird  angenonmien  werden  müssen,  dass  die  letz- 
teren den  Schädelwirbeln  fremde  Gebilde  sind.  Im  letztern  Falle  wird 
der  Ramus  ventralis  eines  Hirnnerven  etwas  ganz  anderes  sein  müssen, 
als  derselbe  Ast  eines  Spinalnerven,  der  letztere  geht  zu  einem  zum 
betreffenden  Wirbel  gehörigen  Abschnitte  des  Körpers,  der  erstere  da- 
gegen tritt  an  einen  Theil  der  nicht  zu  demjenigen  Wirbel  gehört,  zu 
dem  der  betreffende  Nervenstamm  Beziehungen  besitzt.  Wenn  sich 
nun  ein  Nervenast  nur  nach  dem  Theile  bestimmt,  zu  dem  er  sich  ver- 
breitet, so  liegt  die  Verschiedenheit  der  beiden  verglichenen  Rami  zu 
Tage,  Damit  wird  der  Vergleichungsversuch  hinfällig,  und  es  könnte 
sich  fragen,  ob  dann  mit  der  Kenntniss  dieser  oder  jener  Spinalnerven- 
Eigenthümlichkeit  an  diesem  oder  jenem  Cerebralnerven  viel  gewonnen 
sei.  Und  doch  ist  es  so !  Haben  sich  uns  doch  hierin,  wenn  auch  nur 
vereinzelte  Spuren  zur  Erkenntniss  des  Ganzen  erhalten,  Spuren,  die 
uns  immer  wieder  zu  neuen  führen  und  uns  vom  Groben  und  Augen- 
fälligen zum  Feinen  und  Verborgenen  leitend  uns  allmählich  den  Sinn 
schärfen  zur  Wahrnehmung  des  Bedeutungsvollen  selbst  in  unansehn- 
lichen Resten, 

Theilweise  ist  bereits  in  der  vorhergehenden  Abtheilung  dieser 
Arbeit  auf  die  Vergleichung  von  Hirnnerven  mit  Spinalnerven  hinge- 
wiesen worden,  bei  einigen  näher  und  schärfer,  bei  anderen  mehr  nur 
von  der  Ferne,  je  nach  dem  Grade,  in  dem  das  betreffende  Verhältniss 
hervortrat. 

Dagegen  will  ich  jetzt  versuchen,  jene  Vergleichung  mit  Beziehung 
auf  das  Kopfskelet  weiter  zu  führen,  und  den  Facloren ,  welche  aus 
dem  Verhalten  des  letzteren  sich  als  einflussreiche  für  die  Umgeslallung 


536  C'irl  Gegenbaur, 

der  ursprünglichen  Beziehungen  erkennen  lassen,  besondere  Rücksicht- 
nahme schenken.  Indem  ich  von  den  Selachiern,  speciell  von  He- 
xanchus,  ausgehe,  befinde  ich  mich  in  dem  günstigen  Falle,  nicht 
durch  »Schädelwirbel«  gehindert  zu  sein  in  der  Beziehung  des  Visceral 
skelets  auf  das  Cranium.  Diese  Beziehungen  bilden  den  Angelpunkt 
der  Frage.  Gehört  das  Visceralskelet  nicht  dem  Cranium  an ,  so  ist 
jeder  Vergleichungsversuch  an  den  Nerven  verlorene  Mühe,  denn 
wird  dann  unmöglich  zur  Einsicht  in  eine  Organisation  zu  kom- 
men, die  mit  dem  Verhalten  des  hinteren  Axenskeletes  Aehnlichkeit 
besitzt,  und  aus  derartigen  Bildungen,  wie  wir  sie  an  der  Wirbelsäule 
und  ihren  Anhängen  finden,  entstanden  gedacht  werden  kann.  Fragen 
wir  also  zuvörderst,  ob  und  welche  Gründe  bestehen,  die  das  Visceral- 
skelet zum  Cranium  gehörig  betrachten  lassen.  Dass  diese  zusammen- 
gehörige Theile  sind,  lehren  zunächst  die  bei  Notidaniden  conslanlen 
Verbindungen  zweier  Visceralbogcn  mit  dem  Cranium,  es  ist  der  Kie- 
fer- und  der  Zungenbeinbogen,  die  dem  Cranium  articuliren,  und  von 
dem  nur  der  letztere  dieses  Verhältniss  in  den  höheren  Abtheilungen 
noch  beibehält '). 

Dass  aber  auch  die  anderen  Visceralbogcn  dem  Cranium  zugehö- 
ren, kann  zunächst  aus  den  ihnen  zukommenden  Nerven  ersehen  wer- 
den, die  sämmllich  von  dem  im  Cranium  liegenden  Theile  des  centra- 
len Nervensystems  stammen,  und  sämmllich  die  Schädelwand  durch- 
setzen. Der  Nachweis  der  die  Ablösung  eines  Theiles  des  Visceralske- 
lets  bedingenden  Momente  wird  im  Stande  sein  können,  die  Anschau- 
ung von  der  Zusammengehörigkeit  zum  Cranium  zu  befestigen.  Ver- 
gleichen wir  den  Kieferbogen  mit  dem  Zungenbeinbogen,  oder  einem 
der  Kiemenbogen,  so  tritt  uns  zunächst  die  bedeutende  Volumenver- 
schiedenheit entgegen.  Die  beiden  mächtig  entwickelten  Gliedstücke 
diesesBogens —  Palaloquadratum  oder  Oberkieferstück,  und  das  Unter- 
kieferstück —  mit  den  ihnen  aufgelagerten  ansehnlichen  Muskeln  (vergl. 
Fig.  i)  werden  die  dahinter  gelegenen  Bogen  beeinträchtigen  und  sie 
aus  der  queren  in  eine  mehr  schräge  Richtung  versetzen.  Mehr  als 
die  Vergrösserung   des  Kieferbogens    \\ird  noch   eine  ungleichgradige 


1)  Die  Aiticulationsslelle  des  Kielerbogens  der  Notidaniden  ist  nicht  das  ge- 
wöhnliche, fast  allen  Haien  zukommende,  durch  einen  aufsteigenden  Fortsatz  des 
Palaloquadratum  gebildete  Gelenk  an  der  Schädelbasis,  oder  am  Orbitalboden,  sie 
findet  sich  vielmehr  am  oberen  postorbitalen  Schädeltheile  vor,  in  ziemlich  gleicher 
Höhe  mit  dem  Gelenke  des  Hyomandibularstückes.  Dass  auch  noch  ein  dritter 
Visceralbogen  bei  den  Notidaniden  bleibende  Schädelverbindung  besitzt,  ist  sehr 
wahrscheinlich.  Auf  diese  Verhältnisse  kann  hier  jedoch  nicht  weiter  eingegan- 
gen werden. 


lieber  die  Kü|irii('iveii  von  llcxaiicliiis  ii.  ilirVeiliillliiiss  zur  Wiihiltlieorie  d.  Stliätlels.  537 

Yoliiniszunahuie  j(>ner  hinteren  Visceralbogcn  (Kiemenbogen)  und  des 
dazu  gehörigen  Abschnittes  des  Granium  wirksam  gewesen  sein,  der- 
gestalt, dass  letzterer  mit  der  Entfernung  der  Visceralbogen  nicht  glei- 
chen Schritt  hiilt.  In  diesem  Falle  wird  eine  Ablösung  der  Bogen  vom 
Granium  erfolgt  sein  müssen.  Da  aber  der  am  Schädel  sich  stützende 
Zungenbein-  und  Kieferbogen  eine  Verschiebung  der  abgelösten  Bogen 
nach  vorne  zu  nicht  gestaltet,  so  ist  die  Richtung  nach  hinten  die  ein- 
zige ,  in  welcher  Verschiebung  Platz  greifen  konnte.  Die  vom  Gra- 
nium abgelösten  Bogen  werden  also  hinter  das  Granium  zu  liegen 
konunen,  wodurch  der  Schein  von  Beziehungen  der  Kiemenbogen  zur 
Wirbelsäule  verbreitet  wird.  Die  Entfernung  der  Kiemenbogen  vom 
Schädel  und  ihre  Lagerung  hinler  denselben  kann  nicht  ohne  Einfluss 
bleiben  auf  die  für  sie  bestimmten  Nerven.  Wenn  wir  annehmen,  dass 
der  austretende  Nerv  unmittelbar  an  seiner  Austrittsstelle  den  ihm  zu- 
kommenden Körperabschnitl  (Metamer)  findet,  wie  solches  für  die  Spi- 
nalnerven, mit  Ausnahme  der  eben  durch  die  Visceralbogen  erzeugten 
Störungen  der  Fall  ist,  so  werden  bei  bestehender  Verbindung  der  Vis- 
ceralbogen mit  dem  Granium  die  austretenden  Nerven  einzeln  die  Schä- 
delwand durchsetzen  können.  In  diesem  Falle  findet  sich  der  zum  Zun- 
genbeinbogen tretende  Facialis,  sowieauch  noch  der  zum  ersten  Kiemen- 
bogen gelangende  Glossopharyngeus.  Letzterer  ist  wohl  nur  deshalb  dis- 
crelen  Verlaufs,  da  der,  wenn  auch  abgelöste  Bogen  doch  dem  Schädel  noch 
nahe  liegt.  Je  weiter  dagegen  nach  hinten  die  Kiemenbogen  folgen, 
desto  mehr  werden  sie  sich  von  der  Austrittsstelle  der  bezüglichen  Ner- 
ven entfernen,  und  desto  mehr  werden  die  letzteren  enger  sich  anein- 
ander schliessen,  und  auf  ihrem  Wege  von  der  Medulla  oblongala  zur 
Austriltsstelle  aus  dem  Schädel  convergiren  müssen.  In  dieser  Be- 
ziehung wird  man  sich  vorstellen  können,  dass  gelrennte  Nerven  all- 
mählich ihre  Austritlslöcher  zusammenfliessen  lassen  werden,  je  weiter 
entfernt  von  der  Austrittsstelle  nach  hinten  zu  sie  ihren  Verbreitungs- 
bezirk finden.  Im  Befunde  des  Vagus  von  Hexanchus  drückt  sich  diese 
Beziehung  recht  deutlich  aus  (vergl.  Fig.  1).  Die  Vaguswurzeln  con- 
vergiren sämmllich  nach  hinten.  Denkt  man  sie  sich  einzeln  aus  dem 
Schädel  gelangend  unter  Vergrüsserung  resp.  Verlängerung  des  bezüg- 
lichen Theiles  des  Graniums,  so  wird  man  schliesslich  zu  einem  Ver- 
halten der  Kiemenbogen  zum  Granium  kommen ,  welches  wir  vorhin 
voraussetzten,  und  welches  jenem  entspricht,  das  noch  am  Zungen- 
beinbogen fortbesteht. 

Die  angenommene  Voraussetzung  findet  demgemäss  in  dem  that- 
sächlichen  Verhallen  der  Nerven  ihre  volle  Bestätigung.  Als  ein  Ein- 
wand kann  aber  noch  das  Verhalten  der  unteren  Vaguswurzeln  dienen. 


538  Carl  Gegenbaur, 

Man  könnte  in  dieser  Hinsicht  sagen :  ist  die  Verbindung  der  einzelnen 
zu  den  Kiemenbogen  tretenden  Nervenstränge,  welche  die  obere  "Wur- 
zelreihe des  Vagus  darstellen,  zu  einem  einzigen  den  Schädel  durch 
einen  einzigen  Canal  verlassenden  Nervenstamm  durch  eine  Verschie- 
bung der  Kiemenbogen  nach  hinten  erfolgt,  so  müsste  das  gleiche  Ver- 
halten auch  an  den  unleren  Wurzeln  stattgefunden  haben.  Diese  tre- 
ten jedoch  getrennt  aus  dem  Schädel.  Der  oben  angenommene  Einfluss 
der  Verschiebung  der  Kiemenbogen  hat  also  hier  keine  Aeusserung  ge- 
funden, daher  der  aufgestellte  Causalnexus  zwischen  Lagerung  der 
Kiemenbogen  und  Zusamnienfliessen  von  Nervensträngen  mindestens  in 
Zweifel  zu  ziehen  ist. 

Hiegegen  bemerkeich:  I)  dass  jene  unteren  Vaguswurzeln  deshalb 
nicht  in  völlig  gleichem  Verhalten  wie  die  oberen  sich  treffen  können, 
weil  sie  an  Zahl  viel  geringer  sind;  2)  dass  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  in  der  That  dasselbe  Verhällniss  sich  gegeben  findet,  insoferne 
die  Convergenz  der  bezüglichen  Nerven  nach  hinten  gleichfalls  besieht. 
Die  Austriltsstellen  liegen  einander  näher  als  die  Eintrittsstellen  in  die 
Schädelwand,  und  letztere  sind  wieder  näher  an  einander  als  die  Aus- 
Irittsstellen  aus  der  Mcdulla  oblongala.  Je  weiter  diese  einzelnen  Stel- 
len nach  aussen  lagern,  desto  weiter  sind  sie  nach  hinten  gerückt.  In 
Beachtung  dieses  Verhallens  erkennen  wir  also  das  Gleiche  wie  an  den 
oberen  Wurzeln,  und  wenn  der  Verlauf  durch  die  Schädelwand  doch 
ein  isolirler  bleibt,  so  ist  zur  Erklärung  dieses  Umstandes  die  geringere 
Zahl  der  schwachen  Nervenfädchen  vollkommen  genügend.  Wir  sehen 
demnach  in  dem  Befunde  der  unteren  Wurzeln  nicht  nur  keinen  Grund 
gegen  unsere  Annahme,  sondern  finden  vielmehr  in  ihm  eine  Bestäti- 
gung derselben,  da  er  damit  in  vollem  Einklänge  steht. 

Dieselbe  Uebereinslimmung  ergiebt  sich  im  Verhalten  der  vorder- 
sten Spinalnerven.  Dieselben  senden  ihre  Rami  dorsales  zum  dorsalen 
Seitenrumpfmuskel  empor,  lassen  aber  die  Rami  ventrales  nach  hinten 
treten,  und  zwar  gleichfalls  unter  bedeutender  Convergenz.  Die  End- 
verbreitung dieser  R.  ventrales  findet  erst  hinler  deren  Kiemengerüste 
statt,  und  die  von  den  einzelnen  Nerven  zurückzulegende  Wegeslrccke, 
auf  der  keine  Verzweigung  statt  hat,  ist  um  so  länger,  je  näher  dem 
Cranium  die  Nerven  aus  dem  Rückenmark  austreten.  Diese  Verlaufs- 
verhältnisse lassen  erkennen,  dass  die  Verbreitungsbezirke  der  Rami 
ventrales  der  genannten  Spinalnerven  von  der  ursprünglichen  Lagerung 
sich  entfernt  haben  müssen ,  sie  sind  nach  hinten  gerückt ,  und  ihre 
Stelle  wird  von  den  Kiemenbogen  eingenommen,  die  ihre  Nerven  von 
dem  Cranium  beziehen  und  denselben  dcmgemäss  einen  ähnlichen  nach 
hinten  gerichteten  Verlauf  zutheilen  musslen. 


lieber  die  Koplnervcn  von  Hexanclius  ii.  ilirVerliaKiiiss  zurWirbelllieorie  d.  Schridels.  539 

Aus  der  Summe  aller  dieser  Thatsachen  ergiebt  sich,  dass  im  Va- 
gus eine  Mehrzahl  ursprünglich  discrcler  Nerven  vorliegt,  die  sich  den 
Spinalnerven  homolog  verhallen,  die  aber  Iheils  durch  die  Lageverän- 
derung des  von  ihnen  versorgten  Abschnilles  des  Visceralskeleles,  theiis 
durch  Ungleichmässigkeit  der  Volumsentfaltung  des  betreffenden  Ab- 
schnittes des  Cenlralnervensyslenis  und  der  dasselbe  umschliessenden 
Skelotbiidung  im  Vergleiche  zu  dem  dazugehörigen  Theile  des  Visceral- 
skeleles, allmählich  zu  einem  einzigen  Nervenstamme  zusammengetre- 
ten sind.  Wir  sehen  also  den  Vagus  nicht  als  einem  ein- 
zigen Spinalnerven,  sondern  als  einer  Summe  von  sol- 
chen homodynam  an.  Consequent  muss  dann  auch  der  die  Va- 
guswurzeln tragende  Theil  der  Medulln  oblongata  einem,  eine  grössere 
Anzahl  von  Spinalnerven  Ursprung  gebenden  Abschnitte  des  Rücken- 
marks verglichen  werden.  Da  aber  jene  Strecke  der  Medulla  oblongata 
kürzer  ist  als  eine  selbst  nur  drei  Spinalnerven  entsendende  Strecke 
des  Rückenmarks,  so  stellt  sich  aus  dem  Vergleiche  mit  letzterem  für 
die  Medulla  oblongata  eine  Zusammenziehung  heraus,  die  uns  zugleich 
die  dichte  Folge  der  austretenden  Vaguswurzeln  verständlich  macht. 
Diese  Verkürzung  eines  Abschnittes  des  Gentralnervensystemes  verlangt 
einen  ähnlichen  Vorgang  für  den  es  umschiessenden  Abschnitt  des  Cra- 
niums,  wofür  gleichfalls  Belege  beigebracht  werden  können.  Vor  Allem 
ist  dieser  Vorgang  der  Verkürzung  an  beiden  Theilen  nachweisbar.  Er 
besteht  nämlich  in  einem  gewissen  Maasse  im  Verlaufe  der  Onlogenie, 
wie  mich  Messungen  der  bezüglichen  Theile  an  Embryonen  von  Acan- 
ihias  und  die  Vergleichung  mit  erwachsenen  Thieren  gelehrt  haben. 
Dem  Einflüsse  dieser  Verkürzung  muss  somit  für  die  Verschiebung  des 
Visceralskeletsnach  hinten  die  grösste  Bedeutung  zugeschrieben  werden. 

Wie  gross  die  Anzahl  der  zur  Bildung  des  Vagus  zusammengetre- 
tenen Nerven  ist,  wird  sich  am  sichersten  aus  der  Anzahl  der  zu  den 
bezüglichen  einzelnen  Melameren  des  Körpers  tretenden  Nervenäste 
bestimmen  lassen.  Als  solche  Melameren  erscheinen  die  Bogen  des 
Visceral skelels,  hier  die  Kiemenbogen.  Da  nun  der  Vagus  bei  Hexan- 
chus  fünf  Kiemenbogen  versorgt,  werden  wir  fünf  im  Vagus  verschmol- 
zene Nerven  annehmen  müssen.  In  Anbetracht  des  intervertebralen 
Verhaltens  der  Spinalnerven  wird  der  erste,  auch  noch  einen  Ast  zum 
Zungenbeinbogen  sendende  Ramus  ventralis  (resp.  R.  branchialis)  jenem 
der  problematischen  Nervenstämme  angehören,  der  zwischen  der  Verbin- 
dung des  Zungenbeinbogens  und  des  ersten  Kiemenbogens  seinen  Aus- 
tritt aus  dem  Cranium  hatte,  und  die  übrigen  dann  in  entsprechender 
Weise.  Dass  bei  Heptanchus,  wo  die  Zahl  der  Kiemenbogen  um  einen 
vermehrt  ist,  nicht  die  Zahl  der  den  Vagus  zusammensetzenden  Nerven 


540  Carl  Gegenbaiir, 

als  eine  entsprechend  höhere  anzusehen,  erscheint  als  wahrscheinlich. 
Ob  sie  ebenso  bei  den  übrigen,  mit  nur  fünf  Kiemenbogen  versehenen 
Selachiern  ais  eine  verminderte  zu  gelten  hat,  ist  dagegen  in  hohem  Grade 
fraglich.  Das  Vorkommen  eines  rudimentären  sechsten  Kiemenbogens 
liesse  schliessen,  dass  eine  höhere  Zahl  der  in  Rede  stehenden  Bogen 
nicht  blos  allgemeiner  verbreitet  war,  sondern  dass  vielmehr  jene  mit 
beschränkterer  Zahl  der  Bogen  von  solchen  mit  zahlreicheren  Bogen 
abstammen,  dass  die  Minderung  daher  keine  ursprüngliche,  sondern 
eine  innerhalb  des  Selachierstammes  erworbene  ist.  Jenes  von  Stannius 
angegebene  Rudiment  ist  jedoch  nicht  nachweisbar.  Wie  also  für  die 
mit  nur  fünf  Kiemenbogen  versehenen  Selachier  eine  ursprünglich  grös- 
sere Zahl  von  Kiemenbogen,  vorläufig  nur  aus  dem  Vorkommen  eines 
ausgebildeten  sechsten  (Hexanchus),  oder  sogar  eines  ausgebildeten 
siebenten  (Heptanchus),  angenommen  werden  darf,  so  ist  auch  das 
Gleiche  bezüglich  der  Nerven  vorauszusetzen.  Dass  die  Minderung  der 
Bogenzahl  keine  plötzliche  war,  etwa  gleich  bei  der  ersten  Embryonal- 
anlage dieser  oder  jener  Form  entstandene,  möchte  aus  der  Art  anderer 
Reductionen  zu  erschliessen  sein,  und  ich  darf  unterlassen,  die  hiefür 
bestehenden  sonstigen  Gründe  aufzuführen.  Gehen  wir  davon  aus, 
und  erkennen  die  Rückbildung  als  einen  von  Individuum  auf  Indivi- 
duum durch  Generationen  sich  bildenden ,  durch  bestimmte  Bedin- 
gungen erhaltenen  und  stelig  umsichgreifenden  Vorgang,  der  so- 
mit in  der  Generationsreihe  erworben  wurde,  so  ist,  da  der  gleiche 
Vorgang  auch  für  die  bezüglichen  Nerven  gellen  muss,  die  Annahme 
einer  die  Kiemenbogenzahl  übertreffenden  Anzahl  von  discrelen  Nerven 
im  Vagusslamme  für  die  eine  geminderte  Kiemenbogenzahl  besitzenden 
Selachier  nothwendig,  sie  ist  nothwendig  eben  weil  wir  jene  einen 
reicheren  Kiemenapparat  besitzenden  Formen  als  Stammform  oder  doch 
als  solche  die  jener  nahe  stehen,  betrachten  müssen.  Ob  bei  Rückbil- 
dung der  R.  branchiales  auch  bezüglich  der  als  Va'guswurzeln  erschei- 
nenden Nervenslämme  eine  Reduction  Platz  gegriffen,  ist  für  jetzt  nicht 
bestimmbar;  nothwendig  ist  ihre  Annahme  deshalb  nicht,  weil  aus 
dem  Vagus  auch  noch  andere  Organe  als  die  Kiemenbogen  versorgt 
werden. 

Es  ist  bisher  nur  von  den  ventralen  Aeslen  des  Vagus  die  Rede 
gewesen,  und  diese  waren  es,  die  grossentheils  für  die  zusammenge- 
setzte Natur  des  Vagus  Zeugniss  ablegten.  Wenn  wir  aber  die  den 
Vagus  zusammensetzenden  ursprünglich  discrelen  Nerven  als  den  Spi- 
nalnerven homodynam  annehmen,  so  muss  bei  der  Constanz  des  Vor- 
kommens von  dorsalen  Aeslen  an  letzteren  auch  am  Vagus  das  Bestehen 
dorsaler  Aeste  sich  nachweisen  lassen,    oder  es  müssen  für  die  Rück- 


lieber  die  Kopriicrvcn  von  llexaiicliiis  n.ilirVeili.iltiiiss  ziirWirbelthenrie  d.  Scliridcls.  541 

l)il(lung  oder  das  Fehlen  von  solchen  beslimmto  Ursachen  erkennbar 
sein. 

Bei  den  Selachiern  fehlen  nach  Staxmus  dorsale  Vagusfiste,, allein 
bei  Hexanchus  ist  ein  solcher  Ramus  dorsalis  vorhanden.  Es  ist  also 
unnöthig ,  andere  Zweige  als  Rami  dorsales  deuten  zu  wollen ,  wie 
den  R.  lateralis,  den  man  hin  und  wieder  wohl  für  einen  hieher  zu 
rechnenden  Nerven  ansah.  Er  kann  aber  'schon  deshalb  nicht  für 
einen  doi'salen  Ast  gelten,  weil  er  sich  gar  nicht  in  dem  Gebiete  des 
Vagus  verlheilt.  Das  fragliche  Gebiet  kann  nämlich  nicht  etwa  hin- 
ler dem  Cranium,  über  dem  Visceralskelet,  oder  gar  noch  weiter 
caudalwärts  gesucht  werden,  sondern  es  kann  nur  über  dem  Occi- 
pilal-Theile  des  Craniums  liegen.  Iliebei  kommt  wieder  die  Ver- 
schiebung in  Betracht,  welche  das  Visceralskelet  erlitten,  und  die  Ver- 
breitungsbezirke der  R.  ventrales  hinter  das  Cranium  verlegt  hat.  Da 
dieser  Vorgang  nicht  auch  an  dorsalen  Skeletlheilen  (der  Umschlies- 
sung  des  occipitalen  Abschnitts  der  Schädelhöhle)  stattfand,  können 
auch  hierauf  austretende  und  sich  verzweigende  dorsale  Aeste  von  Ner- 
ven keine  Lage  Veränderung  erfahren  haben.  Bei  diesem  verschiedenen 
Verhallen  dorsaler  und  ventraler  Parthieen  am  Kopfe  kann  aus  der 
relrocranialen  Verbreitung  der  R.  ventrales  (R.  branchiales)  des  Vagus 
kein  Schluss  auf  die  Nolhwendigkeit  der  gleichen  Verbreitung  etwaiger 
R.  dorsales  gezogen  werden,  und  es  beschränkt  sich  das  Gebiet  der 
dorsalen  Aeste  mit  Nolhwendigkeit  auf  die  erwähnte  Localiläl.  Die 
Dislocalion  des  Kiemenskelets  war,  wie  oben  schon  auseinandergesetzt, 
Iheilweise  bedingt  von  einer  ungleichgradigen  Entwickelung  dorsaler 
und  ventraler  Theile.  Während  letztere  eine  bedeutende  Volumsent- 
fallung  eingingen,  blieben  erslere  auf  niederer  Stufe  stehen,  und  erlit- 
ten, im  Gegensalz  zur  Expansion  des  bezüglichen  Visceralskelets,  eine 
bedeutende  Contraction.  Sowohl  in  der  Medulla  oblongata  als  Gonten- 
tum,  sowie  an  dem  betreffenden  Schädeltheile  als  dem  Conlinens  ist 
das  deutlich  erkennbar.  Die  so  entstandene  VolumsdilTerenz  des  ven- 
tralen und  dorsalen  Abschnittes  kann  nicht  ohne  Anlheilnahme  der  be- 
züglichen Nerven  bestehen;  dem  so  bedeutend  grösseren  ventralen 
Gebiete  werden  mächtige Nervenslämme  zukommen,  indess  wir  am  be- 
schränkten dorsalen  höchstens  unansehnliche  Zweige  erwarten  dürfen. 
Durch  diese  Piüfung  der  Verhältnisse  gelangen  w ir  zur  Erklärung  des 
Thalbestandes,  nämlich  der  Rückbildung  der  dorsalen  Aeste,  welche 
der  Rückbildung  des  dorsalen  Gebietes  vollkommen  entspricht.  Dass 
die  Rückbildung  des  dorsalen  Gebietes  des  Vagus  keineswegs  eine  all- 
gemein gleiche  ist,  sowie  dass  sie  wiederum  stufenweise  sich  ent- 
wickelte, das  zeigt  das  Verhalten  von  Hexanchus  im  Vergleiche  mit  den 


542  Carl  Gegenbaur, 

anderen  Selachiern  denen  ein  Ramus  dorsalis  des  Vagus  abgehen  soll. 
Wenn  dieser  Ramus  dorsalis  sich  bei  den  Teleostiern  zwar  nicht  allge- 
mein, aber  doch  verbreitet  findet  (als  sogenannter  Schädelhöhlenast  des 
Vagus),  so  geht  daraus  hervor,  dass  der  Befund  bei  Hexanchus  trotz 
seiner  Isolirtheit  unter  den  Selachiern  als  der  ursprünglich  allgemeinere 
zu  gelten  hat,  denn  die  den  Dorsalast  besitzenden  Teleostier  verweisen 
auf  eine  Stammform,  welche  in  jener  Hinsicht  mit  Hexanchus  überein- 
gestimmt haben  muss. 

Da  der  fraghche  Nerv  bei  den  Teleostiern  aus  den  beiden  Wurzel- 
portionen des  Vagus  sich  zusammensetzt,  besteht  Grund  zur  Annahme, 
dass  er  die  Elemente  mehrfacher  Dorsaläste  des  Vagus  in  sich  schliesst, 
und  aus  einer  ähnlichen  Verschmelzung  oder  Zusammenziehung  her- 
vorging, wie  der  sogenannte  Stamm  des  Vagus.  Für  die  Begründung 
dieser  Ansicht  verweise  ich  auf  das,  was  oben  (S.  518  u.  527)  bezüglich 
der  beiden  Wurzelportionen  des  Vagus  der  Teleostier  in  Beziehung  auf 
das  Verhalten  bei  Selachiern,  speciell  bei  Hexanchus,  bemerkt  wurde. 

Die  für  den  Vagus  bei  der  Mannichfaltigkeit  der  umgestaltenden 
Beziehungen  nur  auf  w^eiten  Umwegen  erreichte  Erkenntniss  seines 
Verhaltens  zu  Spinalnerven,  ist  leichter  zugänglich  beim  nächst  vor- 
hergehenden Glossopharyngeus.  Da  dieser  Nerv  nur  an  zwei  Vis- 
ceralbogen  sich  vertheilt,  davon  er  dem  einen  als  Hauptslamm  ange- 
hört, ist  seine  Bedeutung  von  der  Peripherie  her  klar,  zumal  auch 
ein  Ramus  dorsalis  die  Uebereinstimmung  mit  Spinalnerven  bestätigt. 

Bedeutend  complicirter  sind  die  Verhältnisse  des  Facialis.  Wenn 
auch  die  extracranialen  Beziehungen  dieses  Nerven  ihn  unbedenklich 
anderen  mit  Spinalnerven  homodynamen  Nerven,  wie  dem  nächstfol- 
genden Glossopharyngeus,  gleich  beurtheilen  lassen,  so  ergiebt  sich 
doch  aus  der  Verbindung  mit  dem  Acusticus  ein  bedeutendes  Hinder- 
niss,  dessen  Beseitigung  versucht  werden  soll.  Da  der  Facialis  mit  sei- 
nem Hauptaste  zum  Zungenbeinbogen  mit  einem  schwächeren  Zweige 
zum  oberen  Theile  (Palato-Quadratum)  des  Kieferbogens  tritt,  der  von 
seiner  ursprünglichen  Bedeutung  als  Kiemenbogen  nur  den  unansehn- 
lichen, anatomisch  und  functionell  modificirten  Rest  einer  Kieme  in  der 
Spritzlochkieme  behalten  hat,  so  kann  man  in  ihm  nur  einen  einzigen 
Nerven  erblicken,  und  nicht  einen  Gomplex  wie  beim  Vagus.  Ob  er 
aber  vollständig  einem  einfachen  Nerven  verglichen  werden  kann, 
das  wird  von  den  Beziehungen  zum  Acusticus  abhängig  sein. 

Man  hat  den  Facialis  als  der  motorischen  Portion  eines  Nerven 
entsprechend  angesehen,  wobei  der  Acusticus  die  sensible  Wurzel 
repräsentiren  solle,  indem  man  von  den  Säugethieren ,  speciell  vom 
Menschen  ausging,   dessen  Facialis  ein  Bewegungsnerv  ist.    Diese  Be- 


üebpi'  die  Kopfnerven  von  Hcxatichus  ii.  ihrVerhällniss  zur  Wirbeltliporic  d.  ScIiRdels.  543 

liachlungsweise  kann  für  uns  deshalb  keine  Geltung  haben,  da  bei  den 
Solachiern  der  Facialis  keineswegs  jene  exclusivc  functionelle  Bedeu- 
tung besitzt.  Es  fragt  sich  also  nicht,  ob  der  Acusticus  die  sensible 
Wurzel  des  Facialis  vorstelle,  sondern  vielmehr  ob  er  entweder  einen 
Theil  derselben  rcpräsentire,  oder  ob  er  gar  keine  ursprüngliche  Be- 
ziehung zum  Facialis  besitze.  Im  letzlei'cn  Falle  könnte  er  als  selbstän- 
diger Sinnesnerv  gelten,  etwa  ebenso  wie  der  Opticus.  Die  Verbin- 
dung mit  dem  Facialis,  welcher  vollkommen  einem  Spinalnerven  ent- 
spräche, wäre  dann  eine  sccundäre.  Ein  für  diese  Auffassung  sprechen- 
des nennenswerthes  Argument  könnte  etwa  in  der  ersten  Anlage  des 
Acusticus  gefunden  werden,  wenn  derselbe  als  ein  blasenförmiges  Ge- 
bilde erschiene.  Da  der  Acusticus  selbst  in  seiner  ersten  Gestalt  schon 
den  Anschluss  an  den  Facialis  darbietet,  kann  aus  jenem  Verhalten 
nicht  auf  eine  ursprüngliche  Trennung  vom  Facialis  geschlossen  wer- 
den. Die  Frage  nach  dem  Verhältniss  zum  Facialis  wird  aber  durch 
die  ersten  Zustände  im  Verlaufe  der  embryonalen  Entwickelung  nicht 
in  jener  anderen  Weise  beantwortet,  und  damit  fällt  der  von  da  etwa 
ableitbare  Einwand  Wir  können  also  die  Verbindung  beider  Nerven 
am  Austritte  aus  der  Medulla,  ihren  Verlauf  und  dann  ihren  gemein- 
samen Eintritt  in  die  Schädelwand  für  die  Auffassung  der  Zusammen- 
gehörigkeit in  Anschlag  bringen,  und  die  Homodynamie  beider  zusam- 
men mit  einem  Spinalnerven  aufrecht  erhalten.  Der  Facialis  kann  dann 
als  der  Haupttheil  des  Nerven  gelten,  von  dessen  sensibler  Wurzel  ein 
Theil  zum  Acusticus  ward.  Wenn  man  den  niedersten  Zustand  des 
Gehörorganes  der  Wirbelthiere  als  eine  an  der  Körperoberüäche  gela- 
gerte Grube  betrachtet,  zu  deren  Epithel  die  Endigungen  der  Hör- 
nerven treten,  so  ist  zur  Versorgung  eines  derartigen  einfachen  Organs 
eine  um  vieles  geringere  Quantität  von  Nervenfasern  nöthig,  als  für 
den  spätem  Zustand ,  der  aus  dem  durch  Umbildung  der  Grube  ent- 
standenen Labyrinthbläschen  sich  differenzirt.  Daher  kann  ein  als 
primitiver  Acusticus  fungirender  Zweig  des  Facialis  zur  Versorgung  jenes 
Organs  ausgereicht  haben.  Da  ein  Sinnesorgan  in  seiner  specifischen 
Leistung  gleichfalls  nur  allmählich  entstanden  und  nicht  durch  einen 
plötzlichen  Act,  sei  es  einer  ausserhalb,  sei  es  einer  innerhalb  des  Orga- 
nismus wirksame  »Kraft«  hervorgerufen ,  vernünftigerweise  gedacht 
werden  kann,  so  ist  es  nothwendig,  der  Existenz  des  specifischen  Or- 
ganes  einen  indifferenteren  EmpfindungSfipparat  vorausgehend  zu 
setzen.  Das  Organ  würde  demgemäss  aus  einem  Theile  der  allgemein 
von  sensiblen  Nerven  versorgten  Körperoberfläche  durch  allmähliche 
Differenzirung  entstanden  sein.  Ein  sensibler  Nervenzweig  geht  mit 
jenem  Prozesse  in  einen  sensorischen  über,  und  ander  von  ihm  versorg- 


544  f"i>i'l  nejjoiibiiiir, 

ten  Hautstelle  sondert  sich  das  specifische  Organ.  Wer  mit  dem  Be- 
funde der  Sinnesorgane  niederer  Thiere  bekannt  ist,  wird  an  dieser 
Vorstellung  keinen  Anstoss  nehmen.  Durch  diese  Betrachtungsweise 
erklärt  sich  der  bestehende  Zusammenhang  eines  höheren  Sinnesner- 
ven mit  einem  andern  Nerven,  der  in  seinem  Verhalten  von  den  vom 
Rückenmark  abgehenden  nichts  wesentlich  Abweichendes  darbietet. 
Dabei  darf  aber  Ein  Umstand  nicht  übersehen  werden,  jener  nämlich, 
dass  der  zum  Acusticus  werdende  Zweig  schon  von  der  sensiblen 
Wurzel  abgeht,  oder  einen  Theil  dieser  Wurzel  vorstellt.  Keine  sensible 
Spinalwurzel  tritt  direct  zu  ihrer  Endverzweigung,  ohne  zuvor  in  ein 
Ganglion  einzugehen.  Ebenso  gilt  die  Durchflechtung  der  aus  dem 
Ganglion  getretenen  Fasern  mit  denen  der  vorderen  Wurzel  für  charak- 
teristisch. Deshalb  kann  der  Acusticus  nicht  als  ein  blosser  Zweig 
eines  einem  Spinalnerven  sich  homodynam  verhaltenden  Nerven  ange- 
sehen werden,  und  es  muss  bei  Aufrechlhaltung  der  Zusammengehörig- 
keit mit  dem  Facialis,  für  jenes  Verhalten  eine  erklärende  Deutung  ge- 
sucht werden. 

Dieser  Versucli  kann  angetreten  werden  durch  die  Erwägung,  dass 
die  Erscheinung  der  Spinalganglien  nicht  absolut  primärer  Natur  ist. 
Bei  den  Cyclostomen  hat  sie  J.  Müller  nicht  deutlich  wahrgenomnien, 
und  bei  den  Teleostiern  hat  man  sie  lange  Zeit  vermisst.  Das  letztere 
rührte  von  dem  Verhalten  der  Ganglien  her,  die  sich  oft  auf  eine  län- 
gere Strecke  der  Nerven  ausdehnen  und  dann  keine  deutliche  Anschwel- 
lung bilden,  so  dass  erst  durch  das  Mikroskop  der  Nachweis  eines  Gang- 
lion geliefert  wird.  Wenn  wir  diesen  Zustand  als  eine  Vertheilung  von 
Ganglienzellen  im  Verlaufe  von  sensiblen  Nervenfasermassen  ansehen, 
und  finden  ,  dass  die  Zusannnenziehung  der  Ganglienzellen  auf  eine 
beschränkte  Stelle,  und  damit  die  sogenannte  Ganglienbildung  im  grob 
anatomischen  Sinne  keineswegs  eine  allgemeine  Bedeutung  besitzt, 
wenn  wir  ferner  hiezu  noch  erwägen,  dass  auch  dem  Acusticus  minde- 
stens in  seinen  terminalen  Parthieen  ein  ganglionärer  Abschnitt  zu- 
kommt, so  steht  uns  noch  die  mangelnde  Durchflechtung  des  Acusticus 
mit  motorischen  Elementen  des  Facialis  im  Wege. 

In  den  Spinalnerven  hat  die  Durchflechtung  der  sensiblen  und  der 
motorischen  Elemente  die  Bedeutung  jedem  der  beiden  aus  dem  Ner- 
venstamme entstehenden  Hauptäste  (R.  dorsalis  et  venlralis)  ^)  beiderlei 


i)  Dass  die  Sonderung  der  peripherischen  Spinalnerven  in  einen  Ramus  dor- 
salis und  ventralis  gleichfalls  erst  ein  allmählich  gebildeter  Zustand  ist,  lehren  die 
Cyclostomen,  bei  denen  nur  ein  einziger  sich  dorsal  und  ventral  in  Zweige  auflö- 
sender Stamm  für  jeden  Spinalnerven  vorkommt. 


Heber  die  k'opfnervtMi  von  Hcvanrliiis  ii.  ihiVpiliältniss  zur  Wiihcltliooric  (I.ScliiidcIs.  545 

Elomcnle  ziizutheilen.  Sie  wird  überall  da  stattfinden,  wo  beide  Aeste 
Empfindungs-  und  Bewegungsnerven  entsenden.  Sie  ist  also  ein  An- 
passungsverhiiltniss  an  das  Endgebiet.  Nehmen  wir  an,  dass  einer  der 
Aeste  nur  Eine  Art  Nerven  abzugeben  hat,  so  wird  dieser  Ast  direet  aus 
der  betreffenden  Wurzel  sich  fortsetzen  können.  Solches  ei;ßcheint  nun 
für  den  als  Acusticus  bezeichneten  Nerven  gegeben. 

Es  wird  bei  dieser  Auffassungsweise  verständlich  sein,  dass  solch' 
eine  Wurzelportion  des  Acustico-Facialis  nicht  erst  eine  geineinsanie 
r.anglienbildung  eingeht,  und  sich  mit  einer  andern  Portion  durchHicht, 
sondern  direet  zu  ihrem  peripherischen  Endayparate  tritt.  Die  nahe 
Lagerung  des  Letzteren  an  der  Austritlsstelle  der  fraglichen  Wurzelpor- 
tion aus  der  Schädelhöhle  mag  für  die  Herstellung  des  besprochenen 
Verhaltens  gleichfalls  von  Einfluss  sein. 

Im  Verfolge  dieses  Ideenganges  scheint  es  nicht  unwichtig,  den  Acu- 
sticus und  Facialis  zusammen  als  einen  einzigen  Nerv  zu  betrachten 
\on  dem  Ein  Theil  gleich  von  der  Wurzel  aus  sich  zu  seinem  nahelie- 
genden Endorgane,  dem  Labyrinth,  begiebt,  und  dadurch  vom  übrigen 
sich  sondert.  Ob  der  erstere,  der  den  Acusticus  vorstellt,  dabei  zu- 
gleich einen  sonst  fehlenden  Ramus  dorsalis  vertritt,  bleibt  noch  eine 
Frage,  die  zur  Besprechung  mir  noch  nicht  reif  erscheint. 

Für  den  Trigeminus  konmit  wieder  eine  Reihe  von  Fragen  in 
Betracht.  Den  drillen  und  den  vierten  Ast  dieses  Nerven  haben  wir 
als  Nerven  zweier  Bogen  des  Visceralskelels,  des  Kieferbogens  und  des 
Lippenknorpelbogens,  kennen  gelernt.  Sie  entsprechen  damit  ven- 
tralen Aeslen.  Nach  dem  oben  (S.  Ö3G)  aufgestellten  und  ausgeführten 
Satze,  dass  die  Visceralbogen  dem  Cranium  zugehörende  Bildungen 
sind,  und  dass  jeder  derselben  einem  mit  einem  Wirbel  homodynamen 
Abschnitte  des  Graniums  entspricht,  müssen  im  Trigeminus  zwei  mit 
einander  verbundene  Nerven  gesehen  werden. 

Es  liegt  nahe,  diese  Auffassung  auszudehnen  und  auch  den  ersten 
Ast  (R.  oplulialmicus)  als  einen  ursprünglich  discreten  Nerven  zu  be- 
urtheilen.  Ich  hatte  mich  dazu  verleiten  lassen  durch  die  Beziehun- 
gen, welche  ein  Endzweig  dieses  Astes  zu  dem  auf  dem  ersten  oberen 
Labialknorpel  entstehenden  Prämaxillare  der  Teleostier  sowohl  wie  der 
Amphibien  und  auch  der  höheren  Wirbelthiere  besitzt.  Dennoch  kann 
ich  diesen  Ast  nicht  mit  den  beiden  andern  für  homodynam  halten, 
und  damit  nicht  als  einen  Ramus  ventralis  ansehen.  Erstlich  tritt  er  zum 
oberen  Lippenknorpel,  nachdem  er  zuvor  über  die  Dorsalfläche  des  Cra-  ' 
niums  verlief;  zweitens  durchsetzt  er  auf  diesem  Wege,  meist  schräg 
aufwärtssteigend  das  Cranium,  und  drittens  nimmt  er  seinen  Verlauf 
über  den   Opticus.     Der  erste  und  zweite  Funkt  spricht  für  einen  R. 


Bd.  VI. 


37 


546  C'"^'''  Gegenbanr, 

dorsalis.    Der  dritte  Punkt  bedar»  der  Erläuterung.    Berücksichtigt  man, 
dass  der  Opticus  vor  dem  Trigeminus  seineu  Ursprung  hat,  so  wird  bei 
Ausdehnung  des  ventralen  Trigeminusgebietes  nach  vorne  zu,  vor  dem 
Opticus,  jeder  ventrale  Ast  des  Trigeminus  nur  hinter  oder  unter  dem 
Opticus  liegen  können.     Da  nun  der  R.  ophthalmicus  über  dem  Opti- 
cus lagert,  so  kann  er  keinen  R.  ventralis  vorstellen.     Sieht  man  ihn 
als  einen  R.  dorsalis  an,  wie  das  zuerst  von  Stannuis,  wenn  auch  in 
anderer  Auffassung  des  gesammten  Trigeminus  geschah,   so  entspricht 
dem  der  ganze  Verlauf,  sowie  die  Verbreitung  des  Nerven  i).    Die  Ab- 
lenkung der  geraden  Richtung  in  die  schräg  vorwärts  und   aufwärts 
gerichtete  wird  genügend  erklärt  durch  Ausdehnung  des  Schädels  nach 
vorne  zu,  die  sich  auch  durch  das  Verhalten  des  zweiten  Trigeminus- 
astes  erkennen  lässt.    Für  diesen,  der  Erscheinung  am  hinteren  Schä- 
delabschnilte  gerade  entgegengesetzten  Zustand,  sind  folgende  Verhält- 
nisse in  Betracht  zu  ziehen,  welche,  theilweise  bestimmt,  als  wichtige 
umgestaltende  Factoren  gelten  dürfen. 

Als  bedeutendsten  Factor  betrachte  ich  die  Differenzirung  der  ein- 
zelnen Bogen  des  Visceralskelets,  und  zwar  das  Heraustreten  des  Kie- 
ferbogens  aus  einem  indifferenten,  etwa  mit  den  Kiemenbogen  ähn- 
lichen Zustande.  Die  voluminöse  Gestaltung  der  beiden,  jede  Bogen- 
hälfte  zusammensetzenden  Stücke,   dann  die  Bildung  des  Oberkiefer- 


1)  Als  ein  möglicher  Einwand  gegen  die  Deutung  des  Ramus  ophthalmicus  als 
Ramus  dorsalis  kann  die  Verbindung  eines  Zweiges  desselben  mit  dem  Ganglion 
ciliare  gelten.     Dadurch  stellt  sich  der  Ramus  ophthalmicus  mit  dem  zweiten  und 
dritten  Aste  auf  gleiche  Stufe,  aber  nicht  blos  das,  er  tritt  auch  in  dasselbe  Verhal- 
ten zum  Sympathicus  wie  die  Rami  ventrales  der  Spinalnerven.    Kein  Ramus  dor- 
salis ist  mit  einem  sympathischen  Ganglion  versehen,  also  wird  der  R.  ophthalmi- 
cus   der  ein  solches  besitzt,  keinen  Ramus  dorsalis  vorstellen.    So  mag  die  Folge- 
rung lauten,  die  man  aus  jener  Thatsache  ziehen  kann.    Ob  die  Folgerung  richtig 
ist,  ist  eine  andere  Frage.    Ich  beanstande  die  Richtigkeit,  denn  die  Verbindung  mit 
einem  sympathischen  Ganglion  ist  etwas  ganz  secundäres.    Der  Mangel  der  Verbin- 
dung mit  dem  Sympathicus  liegt  weniger  im  Wesen  der  Rami  dorsales  an  sich,  als 
er  vielmehr  aus  dem  Gebiete  der  letzteren  resultirt.    Sie  versorgen  keine  Körper- 
theile,  in  denen  der  Sympathicus  eine  reiche  Verbreitung  besitzt.    Wir  können  aber 
die  Möglichkeit  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  auch  einem  Ramus  dorsalis,  wenn  er 
zu  Organen  tritt,  die  vom  Gebiete  des  Sympathicus  versorgt  werden,  ein  Ganglion 
dieses  Systems  sich  anfügt,  dass  da  ein  Ganglion  sich  ausbildet  und  mit  der  Entfal- 
tung eines  besümmlen,  anfänglich  vielleicht  nur  von  einigen  Fasern  versorgten  Or- 
ganes  eine  reichere  Zahl  sympathischer  Nerven  entsteht.     Die  Beziehung  des  R. 
ophthalmicus  zum  Ganglion  ciliare  ist  damit  als  eine  Anpassung  aufzufassen,  und 
aus  diesem  Verhalten  entsteht  um  so  weniger  ein  Grund  gegen  obige  Deutung  des 
R.  opthalmicus,  als  das  Ganglion  wie  der  ganze  Kopftheil  des  Grenzstranges  gerade 
den  Selachiern  fehlt. 


lieber  die  Kopf'iierveii  von  Hexaiicliiis  ii.ilirVerliältniss  /iii-Wiilielllieorie  d.  Sehiidels.  517 

Ibrlsalzes,  der  beide  Dorsalslücke  (Palalo(iuadratuin)  des  Bogens  me- 
dian einander  näher  bringt,  wird  nicht  ohne  Einlluss  auf  die  Ausdeh- 
nung des  Craniums  nach  vorne  zu  sein,  wenn,  wie  das  bei  Selachiern 
der  Fall  ist,  der  Oberkieferfortsatz  der  Schädelbasis  eine  besondere 
Stütze  hat.  Die  Entfaltung  des  Kieferbogens  hat  zugleich  die  in  die 
Labialknorpel  sich  umbildenden  Visceralbogen  nach  vorne  gedrängt, 
dem  entspricht  die  Richtung  des  Verlaufes  der  beiden  ventralen  Trigc- 
minusäste.  Die  Anpassung  des  Nervenverlaufs  an  die  durch  die  mas- 
siven Kiefertheile  und  ihre  Muskulatur  bedingte  Aenderung  "der  Ver- 
hältnisse ist  auf  der  beigegebenen  Fig.  1  augenfällig. 

Als  zweites  wichtiges  Moment  für  die  Umgestaltung  des  vordem 
Schädelabschnittes  ist  die  Enlwickelung  der  Nasenkapseln  sowie  der 
Augäpfel  anzuführen.  Durch  erstere  empfängt  der  vorderste  Schädei- 
theil  eine  beträchtliche  Breite,  und  durch  Entwickelung  des  Bulbus 
uculi  dehnt  sich  ein  Abschnitt  des  Craniums  zum  Orbitaltheil  aus,  in 
dessen  Buchtung  der  Bulbus  sich  einbettet.  Die  mediane  Wand  der 
Orbita  liegt  vor  der  Austrittsstelle  des  Trigeminus,  welche  so  ziemlich 
dem  hintersten  Winkel  der  Orbita  entspricht.  Die  mit  dieser  Wand  in 
Beziehung  tretenden  Nerven  (mit  einziger  Ausnahme  des  Opticus  )  ver- 
laufen parallel  zu  ihr  (Olfactorius  innen,  Bamus  ophthalmicus  aussen), 
oder  wenn  ein  Nerv  die  Wand  durchsetzt  (wie  der,  Trochlearis),  so 
ist  doch  eine  Strecke  des  Verlaufs  in  spitzem  Winkel  zur  Orbitalwand 
gerichtet  und  die  Durchtrillsstelle  durch  die  Schädelwand  liegt  weit 
vor  der  Austrittsstelle  aus  dem  Gehirn.  Wenn  dieses  incongruente  Ver- 
halten wie  billig  als  ein  erworbenes  angesehen  werden  muss,  so  findet 
sich  seine  Ursache  entw'eder  in  einem  Zurückweichen  des  Gehirns,  oder 
in  einem  Vorwärtstreten  der  seitlichen  Schädeltheile  sammt  Bulbus. 
Ersteres  mag  in  kleinem  Maassstabe  stattgefunden  haben,  wie  aus  der 
Thatsache  erschliessbar  ist,  dass  das  embryonale  Gehirn  der  Selachier 
stets  die  Schädelhöhle  ausfüllt,  während  es  später  bei  den  meisten 
einen  geringen  Raum  einnimmt.  Vollkommen  ausreichend  ist  jedoch 
die  Annahme  eines  Zurückweichens  des  Gehirns  deshalb  nicht ,  weil 
der  Trochlearis,  nur  wenig  vor  dem  Facialis  das  Gehirn  verlässt,  wel- 
cher in  Aus-  und  Durchlrittsstelle  gleiche  Querrichtung  darbietet,  somit 
das  für  diese  Stelle  sich  treffende  Fortbestehen  des  ursprünglichen  Ver- 
haltens bezeugt.  Er  stellt  in  dieser  Beziehung  gewissermaassen  einen 
inditferenzpunkt  vor;  die  hinter  dem  Facialis  liegenden  Nerven  sind 
schräg  nach  hinten,  die  vor  ihm  liegenden  schräg  nach  vorne  gerichtet. 
Da  nun  die  zwischen  Aus-  und  Durchtrittsstelle  des  Trochlearis  ent- 
standene Difterenz  nicht  aus  einer  veränderten  Lagerung  des  Gehirnes 
ausreichend  erklärt  werden  kann,  so  wird  nöthig,  die  Veränderung  am 

37* 


548  Carl  Gegeiibaur, 

Schädel  selbst  anzunehmen,  sie  in  einer  Ausdehnung  zu  suchen,  die 
etwa  von  der  Austrittsslelle  des  Facialis  an,  nach  vorne  zu  staltfand. 
Einen  Rest  dieses  Vorgangs  vermag  die  Ontogenie  noch  nachzuweisen. 

Was  die  ursächlichen  Momente  angeht,  welche  die  Vereinigung 
zweier  Nerven  zur  Bildung  des  Trigeminus  hervorriefen,  so  sind  dar- 
über minder  bestimmte  Angaben  möglich,  als  es  für  den  Vagus  der 
Fall  war.  DieThatsache  zweier,  zu  ebensovielenVisceralbogen  gehenden 
Rami  ventrales  muss  daher  einstweilen  genügen.  Vielleicht  ist  auch  die 
Ungleicharligkeil  der  Diflerenzirung  der  ersten  drei  ursprünglichen  Vis- 
ceralbogen  (Labialknorpel  und  Kieferbogen),  so  wie  die  Ablösung  des 
Labialknorpelbogens  vom  Granium  als  daran  betheihgl  zu  erachten, 
letzteres  insofern  als  dabei  das  Intervertebralspatium  zwischen  dem 
zweiten  und  dritten  Trigeminusast  reduzirt,  und  damit  für  ein  Zusam- 
mentreten gelrennt  den  Schädel  verlassender  Nerven  ein  Anlass  gebo- 
ten ward. 

Endlich  ist  für  die  Auffassung  des  Trigeminus  als  eines  Gomplexes 
zweier  Nerven,  der  als  Ramus  dorsalis  erscheinende  Schädelhöhlenast 
von  Bedeutung,  der  bei  vielen  Fischen  nachgewiesen  ist.  Es  bestehen 
demnach  zwei  Rami  dorsales,  da  wir  den  Ramus  ophlhalmicus  gleich- 
falls als  solchen  gedeutet  haben. 

Das  functionelle  Verhällniss  der  aus  dem  Trigeminusslamme  tre- 
tenden Aeste  fordert  zu  ferneren  Erwägungen  auf.  Da  der  erste  Ramus 
dorsalis  (R.  ophlhalmicus)  sowie  der  erste  Ramus  venlralis  (R.  secun- 
dus,  s.  R.  maxillaris  superior)  rein  sensibler  Natur  ist,  während  der 
zweite  Ventralasl  (R.  terlius,  s.  R.  maxillaris  inferior)  einen  gemisch- 
ten Nerven  vorstellt,  so  ergiebt  sich,  dass  der  ganze  erste  den  Trigemi- 
nus bilden  helfende  Nerv  motorischer  Theile  entbehrt.  Man  könnte 
annehmen,  dpss  dieselben  unter  Rückbildung  der  peripherischen  End- 
organe schwanden,  wenn  man  nicht  auf  besondere  rein  motorische  Ner- 
ven verwiesen  würde,  die  im  Trigeminusgebiete  sich  verzweigen. 

Ob  die  drei  Augennmskelnerven  sämmtlich  hieher  bezogen  werden 
können,  erscheint  mir  zwar  keineswegs  über  jedem  Zweifel,  doch  glaube 
ich,  dass  für  den  Abduceus  und  Oculomotorius  mindere  Bedenken  be- 
stehen. 

Die  Zugehörigkeit  zum  Trigeminus  sehe  ich  in  folgenden  That- 
sachen  ausgedrückt: 

1)  in  dem  gleichen  Verzweigungsgebiete,  in  Muskeln  derselben  Re- 
gion, deren  Haultheile  vom  Trigeminus  versorgt  werden. 

2)  hl  der  bei  manchen  Fischen  und  Amphibien  vorkommenden 
Verbindung  mit  dem  Trigeminus.  Diese  ist  entweder  derart,  dass  dis- 
crele  Nerven  wurzeln  in  den  Trigeminus  eingehen,  oder  dass  ohne  das 


I'clicr  die  KoiitiHMvcii  von  lloxniicliiis  u.ilirVciiiiilliiiss  zur  Wirln-Iilironc  «I.Sdiiidols.  549 

BosU'hcn  solch'  discrotor  Wurzeln  dcv  Trigcminus  die  l»ezilylirli(>n  Mus- 
keln versorgt'). 

Der  selbständige  Austritt  dieser  Nerven  aus  der  Scliädelhöhle  fallt 
als  Gegengrund  ^^cg,  sobald  wir  das  Verhalten  der  Spinalnerven  be- 
achten/deren motorische  Wurzeln  gleichfalls  getrennt  von  den  sensi- 
blen, die  Wandung  des  Rückgratcanals  durchsetzen,  wie  schon  oben  bei 
den  untern  (vordem),  ähnliche  Verhältnisse  darbietenden  VagusNvurzeln 
hervorgehoben  ward.  Es  ist  also  nur  der  Umstand,  dass  die  Augen- 
muskelnerven nicht  zusammen  durch  eine  gemeinsame  SchädelöfTnung 
austreten,  und  dass  sie  ausserhalb  des  Craniums  keine  Verbindung  n)it 
dem  zweiten  Trigeminusastc  eingehen,  auffallend  und  unerklärt.  Bei- 
des wird  verständlicher  durch  die  Beachtung  der  getrennt  liegenden 
Endgebiete  und  der  sofort  nach  dem  Austritte  aus  der  Schädelwand 
sich  ergebenden  Endverbreitung.  Auch  dadurch  können  wir  begrei- 
fen ,  dass  die  Orbitalwand  erst  mit  der  Entstehung  des  Auges  eine 
bedeutende  Ausdehnung  gewann,  so  dass  anfänglich  nahe  beisammen 
liegende  Thcile  auseinanderrückten.  Als  eine  bis  jetzt  unlösbare 
Frage  bleibt  noch  die  Entfernung  der  ürsprungsställen  dieser  Nerven, 
namentlich  das  Verhältniss  des  Trochlearis  [zum  Oculomotorius  und 
Abducens  bestehen.  Selbst  nur  zur  Besprechung  dieser  Frage  bedürfte 
es  einer  tieferen  Erkenntniss  des  Gehirnes,  namentlich  seines  vorderen 
Abschnittes.  Ich  halte  daher  die  von  mir  aufgestellten  Beziehungen 
der  genannten  Nerven  zu  einander  einer  ferneren  Begründung  bedürf- 
tig, und  kann  für  meine  Ansicht  vorerst  nur  einen  gewissen  Grad  von 
Wahrscheinlichkeit  beanspruchen.  Die  für  die  hintere  Abtheilung  der 
llirnnerven  aus  der  Vergleichung  hervorgegangenen  Auffassungen  ge- 
stalten sich  demnach  viel  weniger  bestimmt  für  die  vorderen,  das  dort 


r  Ein  Ueberblick  über  diese  Verhältnisse' zeigt  folgendes;  Wenn  wir  von 
den  Myxinoiden  wegen  der  bestehenden  Rückbildung  ihrer  Sehorgane  absehen,  so 
ergeben  die  Petromyzonten  unter  den  Cycloslomen  nur  einen  gesonderten  Troch- 
learis, während  der  Abducens  ein  Zweig  des  Trigeminus  ist,  der  aucti  den  Rectus 
inferior  versorgt.  Der  Oculomotorius  ist  daher  in  seiner  Verbreitung  beschränkt,  da 
nur  Rectus  superior  internus  und  Ohliquus  inferior  von  ihm  versorgt  wird.  Bei  Lc- 
pidosircn  werden  alle  drei  Augenmuskelnerven  nach  Hvrtl  »durch  Zweige  desQuin- 
tus  vertreten«.  Bei  den  Amphibien  bieten  die  Urodelen  bezüglich  des  Trochlearis 
Schwierigkeiten,  discret  ist  er  nur  bei  Siredon  beobachtet,  bei  Menobranchus,  Sa- 
lamandra  und  Triton  ist  er,  wie  es  scheint,  durch  einen  Trigeminuszweig  ersetzt 
(Fischer).  Die  Anurcn  besitzen  sehr  verbreitet  die  Abducenswurzel  in  die  Bahn 
des  Trigeminus  übergegangen  (Fischer,  Wyman).  Selbständigen  Verlaufs  ist  der 
Abducens  bei  Bufo  palmaruni,  wo  er  ausser  im  Rectus  cxternus  auch  noch  im  Sus- 
pcnsorius  bulbi  sich  verzweigt  (Fischer). 


550  Carl  Gegenbaur, 

verhältnissmässig  Klare  und  Einfache  wird  hier  dunkel  und  complicirt, 
und  es  bleibt  auch  bei  der  genauesten  Prüfung  manches  problematisch. 

Auch  dieser  Umstand  fügt  sich  uns  in  den  Zusammenhang.  Indem 
wir  die  hintere  Nervengruppe  (den  Glossopharyngeus  und  den  Vagus 
mit  seinen  Differenzirungen)  mit  den  darauf  folgenden  Spinalnerven 
verglichen,  ergeben  sich  für  erstere  bedeutungsvolle  Umwandlungen, 
die  bei  der  Vergleichung  der  hintern  Hirnnervengruppe  mit  der  vorde- 
ren (Facialis,  Trigeminus,  Augenmuskelnerven]  bei  dieser  noch  in  höhe- 
rem Maasse  sich  steigerten.  Es  besteht  somit  in  der  Reihe  von  hinten 
nach  vorne  zu  eine  Zunahme  der  Veränderung.  Der  an  den  Spinal- 
nerven ausgesprochene  »Typusa  verliert  sich  an  Hirnnerven  in  dem 
Maasse  als  letztere  vom  Rückenmarke  entfernt  entspringen.  Dem  er- 
weist sich  das  Verhalten  des  Gehirnes  parallel,  das  an  dem  hinteren 
Abschnitte,  der  Medulla  oblongata,  mit  dem  allmählich  aus  ihm  sich  fort- 
setzenden Rückenmarke  viel  grössere  Uebereinstimmungen  bietet  als 
am  vorderen.  Es  kann  also  am  gesamniten  Nervensystem  eine  den 
Kopftheil  desselben  betrelTende  Differenzirung  erkannt  werden ,  die 
vom  Rückenmarke  aus  nach  vorne  zu  stetig  zunimmt,  centrale  und 
peripherische  Theile  gleichmässig  ergreifend. 

Den  Hirnnerven  werden  noch  zwei  Nerven  zugezählt,  die  ich  bis- 
her ausser  Retracht  gelassen  haben,  der  Olfactorius  und  der  Opticus, 
beide  stellen  sich  ausserhalb  der  Reihe,  in  welche  die  übrigen  sich  ein- 
fügen. 

Der  Olfactorius  kann,  soweit  er  in  der  Schädelhöhle  liegt,  nicht 
als  peripherischer  Nerv  betrachtet  werden.  Er  ist  vielmehr  ein  vom 
Vorderhirn  differenzirter  Abschnitt,  der  seine  Natur  als  Centralorgan 
(Lobus  olfactorius)  unter  keinen  Umständen  aufgiebt.  Von  dem  vor- 
dersten Ende  dieses  Gentralorgans  entspringen  stets  zahlreiche  Nerven, 
welche  die  eigentlich cn  peripherischen  Theile  sind  und  sich  sofort  zum 
Riechorgan  begeben.  Je  nach  der  grösseren  oder  geringeren  Entfer- 
nung der  Riechgrube  vom  Vorderhirn,  gestaltet  sich  das  Centralorgan 
der  Riechnerven  länger  oder  kürzer.  Rei  grösserer  Entfernung  sondert 
es  sich  in  zwei  Abschnitte,  einen  vorderen  bei  allen  Selachiern  stets 
dem  von  den  Riechnerven  durchbrochenen  Gründe  der  Riechgrube  an- 
gelagert bleibend,  und  eine  gangliöse  Reschaffenheit  behaltend  (Rulbus 
olfactorius),  und  einen  hinteren,  der  die  Verbindung  mit  dem  Vorder- 
hirne vermittelt  (Tractus  olfactorius) .  Der  Refund  des  Tractus  kann  bei 
Hintansetzung  der  Erwägung  seines  constanlen  Verlaufes  innerhalb 
der  Schädelhöhle  am  meisten  zu  der  Auffassung  verleiten,  der  ich  oben 
entgegengetreten  bin.  Die  Onlogenie  führt  zu  den  gleichen  Resultaten, 
indem  sie  die  Entstehung  des  Lobus  olfactorius   aus  dem  Vorderhirn 


üeber  die  Kopfnerven  von  Ilexanclms  u.ihrVeiiiriltiiiss  zurWirbeltheoric  d.  Scliädels.  551 

kennen  lehrt,  und  die  Bildung  des  Tractus  als  einen  secundären  Vor- 
gang nachweist. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Opticus  bozUghch  seiner  Ent- 
stehung durch  Differenzirung  aus  dem  Centralorgane  des  Nervensy- 
stems. Wenn  dieser  Nerv  auch  die  Schiidelhöhle  verliisst,  so  verweist 
doch  seine  und  Iheilweiso  seines  Endapparates  Entstehung  auf  engere 
Beziehungen  zum  Centralorgane.  Diese  bestimmter  zu  präcisiren  ist 
gegenwärtig  unmöglich,  einestheils  weil  das  Wirbelthierauge  uns  bis 
jetzt  nur  in  einem  relativ  hohen  Entwickelungszustande  bekannt  ist, 
anderntheils  weil  die  embryologischen  Thatsachen  bezüglich  des  Seh- 
organes  nicht  derart  gestaltet  sind,  dass  daraus  mit  einiger  Sicherheit 
auf  jenen  postulirten  niederen  Zustand  geschlossen  werden  könnte.  In 
der  Ontogenie  des  Auges  scheinen  zahlreiche  Stadien  zusammengezogen 
zu  sein,  die  palaeontologisch  weit  auseinander  liegen.  Damit  harmonirt 
sowohl  das  frühe  Auftreten  der  ersten  Anlage  in  der  sogenannten  pri- 
mären Augenblase,  als  auch  die  Betheiligung  so  mannichfaltiger  Prozesse 
an  der  Bildung  des  Bulbus  oculi.  Obgleich  die  erste  Anlage  noch  weit 
davon  entfernt  ist,  ein  Sehorgan  vorzustellen,  so  kann  doch  aus  ihrem 
Bestehen  auf  eine  palaeontologisch  sehr  weit  zurückliegende  Entstehung 
dieses  Organes  geschlossen  werden.  Danach  dürfte  auch  der  Opticus 
zu  beurtheilen  sein. 

Für  das  Geruchsorgan  deuten  zwar  weniger  die  seine  Anlage  be- 
gleitenden, an  sich  ziemlich  einfachen  Vorgänge,  als  vielmehr  wiederum 
die  frühzeitige  Entstehung  auf  dasselbe  Verhältniss  hin,  dessen  vorhin 
beim  Auge  gedacht  wurde.  Für  beide  Organe  ergiebt  sich  damit  ein 
Grund,  sie  für  solche  Einrichtungen  zu  halten,  welche  aus  einem  nie- 
deren Zustande  in  den  Wirbelthiertypus  übergingen. 

Wer  nicht  für  besser  hält,  den  niedersten  Wirbelthierzustand  spon- 
tan entstanden  sich  vorzustellen,  der  wird  die  Voraussetzung  eines  un- 
gegliederten, d.h.  der  Theilung  des  Körpers  in  den  Wirbeln  ent- 
sprechende Segmente  (Metamcren) ,  entbehrenden  Zustandes  für  noth- 
w endig  halten,  aus  welchem  der  Organismus  durch  die  Metamerenbil- 
dung  in  die  Wirbelthierform  überging. 

Einem  solchen  ungegliederten  Organismus  scheinen  die  beiden 
Sinnesorgane  angehört  zu  haben.  Sie  haben  ihren  Platz  am  vorder- 
sten Körpertheile,  der  der  Metamerenbildung  nicht  unterworfen  ward, 
wie  aus  der  Thatsache  hervorgeht,  dass  die  vordersten  Bogen  des  Vis- 
ceralskelctes.,  den  ihnen  zugctheilten  Nerven  zufolge,  einem  hinter 
jenen  Sinnesorganen  liegenden  Abschnitte  des  Craniums  angehören. 
Demzufolge  wird  begreiflich,  dass  Olfnctorius  (rcsp.  dessen  Endäste) 
wie  Opticus,  der  mit  der  Metamerenbildung  erworbenen  Einrichtung 


552  Ciiil  Gegeiibaur, 

des  übrigen  peripherischen  Nervensystems  nicht  folgen,  sondern  diesem 
gegenüber  ein  selbständiges  Verhalten  darbieten,  welches  zugleich  für 
jeden  dieser  einem  specifischen  Sinnesorgane  angehörigen  Nerven  ein 
besonderes  ist. 

Nach  diesem  morphologischen  Gesichtspunkte  sondere  ich  die  Kopf- 
nerven in  zwei  grosse  Abtheilungen,  deren  eine  die  Nerven  der  nicht 
auf  Metameren  vertheilten  Organe  des  Geruch-  und  des  Gesichtsinncs 
begreift,  indess  die  andere  Abtheilung  alle  übrigen  umfasst. 

Das  Verhalten  der  auf  Metameren  sich  vertheilenden  Nerven  ist  am 
Kopfe  ^durch  die  hier  mehr  oder  minder  deutHch  erhaltcne^i  ventralen 
Rami  erkennbar,  welche  das  Visceralskelet,  niimlich  die  ventralen  Bo- 
genstücke  des  Kopfskelets,  versorgen.  Es  ist  in  folgender  Uebersicht 
darstellbar,  wobei  dem  durch  die  Verzweigung  eines  Astes  an  zwei 
benachbarte  Metameren  ausgesprochenen  intervertebralen  (intermcta- 
meren)  Verhalten  i)  Rechnung  getragen  ist. 

Primäres  Umgewandeltes  »^      vn 

Visceralskelet:  Visceralskelet:  iNeiven: 

Her  Bogen         Erster  oberer  Labialknorpel  1 

^  '^       [       Ramus 

2lter  Bogen         Labialknorpelbogen  i  secundus 

(zweiter  oberer  und  un-  i       „  )Trigemini 

.  T    u-  1    1'  i\  I       Ramus     ( 

tcrcr  Labial-Knorpel)    .      \      tertius 

3ter  Bogen         Kieferbogen  .... 
4ter  Bogen         Zungenbeinbogen   . 

öter  Bogen         Erster  Kiemenbogen    .     .      i      o   op  aiyngeis. 

(  Ramus  branchialis  ^ 
6ter  Bogen         Zweiter  Kiemenbogen  .      .      j  primus 

I   Ramus  branchialis 
7ter  Bogen         Dritter  Kiemenbogen   .      .      (  secundus 

/  Ramus  branchialis 
Hier  Bogen         Vierter  Kiemenbogen  .      .      (  tertius 

,,.       ,,  ,...    r.       1--  I  (  Ramus  branchialis 

üter  Bogen         t-ünlter  Kiemenbogen  .      .      (  quartus 

Bezüglich  der  Zahl  der  Kiemenbogen  ist  in  dieser  Uebersicht  der 
bei  Hexanchus  sich  treffende  Befund  zu  Grunde  gelegt.    Für  Heptanchus 


1 


Facialis. 


Vagi. 


1)  Diese  Vertheilung  eines  Ramus  ventralis  in  zwei,  je  zwei  benachbarte  Vis- 
«eralbogen  versorgende  Zweige  ist  zunächst  als  eine  Anpassung  an  die  durch  die  Kie- 
menspalte gebildete  intercrurale  Durchbrechung  anzusehen.  Sie  l'ehll  daher  an  den- 
jenigen Nerven,  welche  Visceralbogen  versorgen,  zwischen  denen  keine  Kiemenspal- 
ten vorkommen.  So  z.  B.  an  dem  zwischen  den  Labialknorpeln  verzweigten 
Endaste  des  Ramus  maxillaris  superior  des  Trigeminus,  ebenso  am  Ramus  maxilla- 
ris  inferior  der  zwischen  Kieferbogen  und  Labialknorpelbogen  sich  vertheilt.  Da- 
gegen besteht  die  Theilung  auch  zwischen  jenen  Bogen,  die  eine  rückgebildete 
Kiemenspalte  begrenzen,  wie  am  Kiefer-  und  Zungenbeinbogen,  zwischen  denen 
das  Spritzloch  liegt. 


Icljcr  dii'  Ko|ilii('i\('ii  vdii  IIc\.iik'Iiiis  n.  ihr  Nciiiiilliiiss  /.iirW  iiliclllirdric  d.  Srliiidcls.  553 

ist  an  der  Vermehrung  der  Bogen  auch  der  Vagus  um  einen  Kiemenast 
vermehrt,  und  bei  den  übrigen  Selachicrn  besieht  in  demselben  Maassc 
gegen  llexanchus  eine  Verminderung.  Dasselbe  gilt  in  cntsjirechender 
Weise  von  den  Ganoiden  und  Telcostiern.  Dass  sich  hienach  auch  die 
Verhältnisse  bei  den  höheren  Wirbelthieren  beurtheilen  lassen,  bedarf 
wohl  keiner  besonderen  Ausführung. 

Mit  Beziehung  auf  Spinalnerven  bieten  die  Kopfnerven  der  Sela- 
chier,  am  meisten  die  Notidaniden,  wie  llexanchus  lehrte,  die  am  we- 
nigsten bedeutenden  Veränderungen  dar,  die  oben  bereits  dargelegt 
worden.  Bei  den  Ganoiden  und  Teleosticrn  sowohl,  als  auch  bei  den 
höheren  Wirbelthieren  ist  jenes  Verhältniss  noch  undeutlicher  gewor- 
den. Durch  neue  Combinationen  sind  neue  Nerven  entstanden  und 
l)ei  den  Sclachiern  noch  discrete  Nerven  haben  sich  mit  anderen  ver- 
bunden. • 

Aus  dem  Gesammtbildc  dieser  Erscheinungen  heben  sich  7Avei 
Gruppen  von  Nerven  hervor,  die  ich  bereits  früher  (Grundzüge  2.  Aufl. 
S.T'iÜ)  als  Trigem  inus-  und  Vagusgruppc  unterschied. 

Das  Ilauptgebiet  der  ersten  bildet  der  Trigeminus  mit  den  Augen- 
muskelncrven.  Dazu  kommt  noch  der  Facialis  (mit  Acusticus),  da  dieser 
Nerv,  sowohl  bei  n)anchen  Fischen  (einige  Teleostier  und  Lepidosircn) 
als  bei  ungeschwänzten  Amphibien  mit  dem  Trigeminus  sich  verbun- 
den hat,  d,  h.,  wie  man  sich  ausdrückte,  in  der  Bahn  des  Trigeminus, 
verläuft.  Dass  die  Sonderung  vom  Trigeminus,  dem  ursprünglichen 
Zustande  entspricht,  lehrt  die  Untersuchung  von  Larven  der  Anuren. 
bei  deren  jene  Trennung  vorübergehend  sich  vorfindet.  Mit  Beziehung 
auf  Spinalnerven  sind  nach  dem  früher  Dargelegten  drei  Nerven  in  der 
Trigeminusgruppe  vereinigt. 

Eine  grössere  Anzahl  repräsentirt  die  Gruppe  des  Vagus.  Die  Zahl 
bestimmt  sich  nach  der  Zahl  der  ursprünglich  vorhandenen  Kiemen- 
bogen.  Der  vorderste  dieser  Nerven  verhält  sich  als  Glossopharyngeus 
fast  regelmässig  in  Selbständigkeit.  Doch  ist  er  sowohl  bei  Cyclostomen 
als  bei  Lepidosircn  und  den  Am[)hibien  mit  dem  Vagus  verschmolzen. 
Im  Vagus  treten  stets  die  übrigen  dieser  Gruppe  angehörigen  Nerven- 
wurzeln zusanunen  (Selachicr).  Daraus  lösen  sich  in  verschiedener 
Weise  einzelne  Portionen  ab  und  bilden  neue  Nerven.  Als  solche 
haben  wir  oben  den  Acccssorius  Weberi  der  Teleostier,  sowie  den  Ac- 
cessorius  Willisii  und  den  Hypoglossus  der  höheren  Wirbelthicrc  ken- 
nen gelernt.  — 

Indem  die  Nerven  der  Trigeminus-  wie  der  Vagusgruppc  in  ihrem 
Verhalten  die  Eigenschaften  von  Spinalnerven  erkennen  Hessen,  wobei 
die  Abweichungen  von  letzteren  zum  grossen  Theile  als  Modificalionen 


554  Carl  Gegenbanr, 

nachweisbar  waren,  so  ergiebt  sich  als  naturgemässeste  Erklärung  jener 
Uebereinstimmung  die  Annahme  einer  Vererbung  von  einem  entfernter 
liegenden  Zustande,  in  welchem  die  fraglichen  Hirnnerven  nicht  sowohl 
den  Spinalnerven  ähnlich,  sondern  vielmehr  von  ihnen  nicht  unterschie- 
den waren.  Wir  werden  somit  zur  Voraussetzung  eines  Zustandes  der 
Indifferenz  geführt,  aus  dem  allmählich  mit  der  Bildung  des  Kopfes  ein 
Theil  der  peripherischen  Nerven  aus  der  Gleichartigkeit  mit  den  übri- 
gen Nerven  hervortrat.  Damit  sonderten  sich  die  Spinalnerven,  die  in 
ihrem  früheren  Zustande  fortbestanden,  von  den  Hirnnerven  die  ihn 
aufgaben ,  und  unter  sich  wiederum  mannichfaltige  Verschiedenheiten 
erlangten  ,  durch  Anpassung  an  die  Differenzirung  des  Kopfskeletes. 
Nur  unter  dieser  Voraussetzung  empfängt  der  Bau  der  Hirnnerven  »nach 
dem  Typus  der  Spinalnerven«  Bedeutung,  und  wird  verständlich,  weil 
sich  jener  )>T;,pus«  als  etwas  Ererbtes  erklären  lässt. 

Wenn  wir  aber  annehmen,  dass  die  fraglichen  Hirnnerven,  die 
noch  theilwoise  an  ihnen  bestehende  Aehnlichkeit  mit  Spinalnerven 
aus  einer  ursprünglichen  Gleichartigkeit  mit  letzteren  erhielten,  so  folgt 
daraus  nicht  blos  dasselbe  für  die  Hirntheile,  welche  jenen  Nerven  den 
Ursprung  geben,  sondern  auch  für  das  das  Gehirn  umschliessende  Ske- 
letgebilde,  das  Cranium.  Das  letztere  muss,  jenen  Voraussetzungen 
zufolge,  sich  als  eine  Differenzirung  des  vordersten  Abschnittes  einer 
primitiven  Wirbelsäule  herausstellen.  Es  wird  aus  einzelnen  Abschnit- 
ten entstanden  sein  müssen,  die  jenen  an  der  Wirbelsäule  gleichartig 
waren,  und  die  sich  zu  einem  Continuum  allmählich  verbanden.  Dies 
führt  uns  auf  die  Wirbellheorie  des  Schädels. 

Da  das  Object,  von  dem  ausgehend  ich  zu  den  vorstehenden  Re- 
flexionen gelangte,  keine  Spur  von  Ossificationen  am  Cranium  zeigt, 
besteht  kein  äusserer  Grund  auf  die  aus  dem  knöchernen  Cranium  ab- 
geleitete für  ihre  Zeit  höchst  wichtige,  für  alle  Zeit  bahnbrechende 
Wirbeltheorie  einzugehen.  Es  kann  vielmehr  sogleich  versucht  wer- 
den, von  dem  durch  die  vergleichende  Untersuchung  der  Nerven  und 
Beachtung  des  Visceralskeletes  erlangten  Standpunkte  aus  jene  Frage 
näher  zu  betrachten. 

Durch  die  Bogen  des  Visceralskelets  werden  wir  auf  die  Zahl  der 
in  das  Cranium  eingegangenen  Wirbel  verwiesen ,  ebenso  durch  die 
Zahl  der  zu  jenen  Bogen  verlaufenden  Nerven,  durch  welche  das  Vis- 
ceralskelet  dem  Cranium  untrennbar  zugetheilt  erscheint.  Die  Zahl 
der  zum  Cranium  verschmolzenen  Wirbel  wird  zwar  keine  geringere 
sein  dürfen  als  die  Zahl  der  Visceralbogen  ;  sie  wird  aber  eine  höhere 
sein  können,  da  ungewiss  ist,  wie  hoch  das  Maximum  der  Bogenzahl 
sich  ursprünglich  stellte.     Ich  meine  dies  in  dem  Sinne,  dass  die  Mög- 


Ueber  die  Kopfnerven  von  Hexanchns  u.  ihrViThSllniss  zur  Wiibelllieorie  d.  Scliädcls.  555 

lichkeit  der  Abslammung  von  einer  eine  grössere  Bogenzahl  besitzenden 
Urform  besteht,  zu  der  sich  die  Notidaniden  etwa  wie  die  übrigen  Se- 
lachier  zu  diesen  verhalten.  Da  mit  den  Yisceiaibogen  auch  die  Nerven 
schwinden,  wird  es  sich  bezüglich  der  zu  bestimmenden  Wirbelzahl 
im  Cranium  nur  um  eine  Minimalzahl  handeln.  Dieselbe  wird  auf 
Grundlage  des  bezüglichen  Befundes  bei  den  Notidaniden  auf  1 0  zu 
bestimmen  sein.  Bei  Amphioxus  findet  sich  der  in  den  Kopf  der  Cra- 
niota  eingegangene  Abschnitt  in  dem  ganzen  die  Kiemen  tragenden 
Körpertheile  gegeben  und  nicht  etwa  in  dessen  vorderstem  Abschnitte 
derselben. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  sich  diese  ins  Cranium  eingegangenen  Wir- 
bel in  ihm  vcrtheilen.  Hiebei  können  wieder  nur  die  Austrittsstellen 
der  Nerven  massgebend  sein.  Da  wir  aber  an  den  Nerven  mannich- 
fachcs  Zusammentreten  einzelner  zu  grössern  Complexen  erkannt  haben, 
so  ist  dies  mit  in  Rechnung  zu  bringen,  und  daraus  geht  hervor,  dass 
für  nicht  wenige  Segmente  auch  keine  Andeutung  mehr  erhalten  sein 
kann.  Wir  erschliessen  sie  also  aus  der  Zahl  der  Nervensliimme,  die, 
wenn  auch  mehrfach  verschmolzen,  aus  ihren  Endästen  am  Visceral- 
skelet  erkennbar  sind. 

Aus  der  Vertheilung  der  Austrittsstellen  der  Nerven  am  Cranium 
ergiebt  sich  eine  höchst  werthvoUe  Thatsache.  Man  findet  nämlich  jene 
Austrittsstellen  bei  der  Betrachtung  des  Craniums  auf  dem  Median- 
schnitte sämmtlich  im  hin teren  Abschnitte.  Sie  liegen  hinter 
einer  Linie,  welche  man  von  der  Hypophysisgrube  aus  aufwärts  zieht. 
Nur  der  Trochlearis  macht  davon  eine  Ausnahme,  die  durch  das  oben 
über  diesen  Nerven  bemerkte  von  ihrem  Gewichte  verliert. 

Aus  dieser  Beschränkung  der  Austrittsslellen  auf  den  hinteren  von 
der  Medulla  oblongata  eingenommenen  Schädelraum  ist  zu  schliessen, 
dass  nur  der  diesen  enthaltende  Abschnitt  des  Craniums  aus  Wirbeln 
entstand.  Dem  entspricht  die  Ausdehnung  der  Chorda  dorsalis  in  dem 
Basilartheil  des  Craniums.  Die  Bedeutung,  welche  die  Chorda  dorsalis 
für  die  primitive  Wirbelbildung  besitzt,  hat  von  jeher  die  Annahme  von 
Wirbeln  vor  dem  vordem  Chordaende  bedenklich  erscheinen  lassen. 
Das  Zusammenfassen  der  Thatsachen  :  dass  die  Chorda  sich  nur  eine 
bestimmte  Strecke  weit  in  die  Schädelbasis  erstreckt,  und  dass  nur 
auf  dieser  Strecke  »nach  dem  Spinalnerventypus  gebaute«  Nerven  die 
Schädelhöhle  verlassen,  lässt  nur  den  genannten  hinteren  Schädelab- 
schnitt als  einen  aus  Wirbeln  entstandenen  ansehen.  Damit  entsteht  ein 
Gegensatz  zu  dem  vorderen  Abschnitte,  der  als  ein  erst  secundär  aus 
dem  bereits  durch  dieWirbelconcrescenz  gebildeten  Cranium  entstandener 
Theil  erscheint.     Er  erscheint  als  eine   Anpassung  an  zwei  Sinnes- 


556  Carl  Ge^enbatir, 

organe:  die  Nasengrube  und  den  Bulbus  oouli,  welche  ihm  Iheils  ein-, 
Ihcils  angelagert  sind.  Auch  die  Bildung  der  vorderen  Gehirnthcile 
mag  damit  in  Zusammenhang  stehen. 

Das  G  ra  nium  scheidet  sich  also  in  zwei  Abschnitte, 
den  hinteren,  vertebralen  oder  cerebralen,  und  den  vorderen 
evertebralen  oder  facialen  Theil.  Wieder  letztere  vornehmlich 
durch  Beziehungen  zu  Sinnesorganen  eine  bestimmte  Gestalt  empfängt, 
so  ist  auch  am  ersteren  die  Aufnahme  eines  Sinnesorganes  (des  Gehör- 
organs) in  die  Wandung  von  umgestaltendem  Einflüsse,  der  sich  zu- 
nächst durch  die  bedeutende  Ausdehnung  der  Labyrinthregion  kund 
giebt.  In  diesem  Umstände  findet  die  formale  Abweichung  des  hinteren 
Schädclabschnittes  vom  darauffolgenden  Bückgrate  ihre  Erklärung'). 
Miczu  muss  noch  die  Erwägung  treten,  dass  ausser  der  Concrescenz 
der  im  vertebralen  Theile  des  Craniums  verbundenen  Wirbel  die  aus 
der  Vorgleichung  der  Nerven  mit  den  Spinalnerven  sich  ergebende  Ver- 
kürzung dieses  Stückes  eine  Bolle  spielt.  Denkt  man  sich  die  Bedin- 
gungen weg,  deren  Einfluss  die  Eigen thümlichkeiten  hervorrief,  so  ist 
CS  möglich,  das  Cranium  wieder  in  eine  Anzahl  von  Wirbeln  aufgelöst 
sich  vorzustellen,  welche  von  denen  des  folgenden  Abschnittes  des 
Axenskeletes  nicht  verschieden  sind. 

Auf  diese  Weise  lässt  sich  bei  den  Selachiern  unter  Berücksichti- 
gung der  Nerven  wie  des  Visceralskeletes  eine  Grundlage  für  eine  neue 
Auffassung  des  Schädels  gewinnen,  welche  sich  an  die  früheren  an- 
schliesst,  insofcrne  auch  nach  ihr  der  Schädel  ein  dem  Axenskelet  ver- 
wandtes Gebilde  ist.  Aber  sie  entfernt  sich  von  der  bisher  gültigen,  da 
sie  dem  Schädel  eine  viel  grössere  Wirbelzahl  zutheilt,  und  diese  zudem 
nur  an  einem  bestimmten  Abschnitte  des  Craniums  erkennt. 

Es  bedarf  wohl  keiner  besonderen  Erörterung,  dass  diese  Auffas- 
sung sich  nicht  auf  die  Selachier  zu  beschränken  hat.  Da  der  Schädel 
aller  Wirbelthiere  eine,  gleich  dem  Schädel  der  Selachier,  knorpelige 
Anlage  —  das  Primordialcranium  —  besitzt,    so  lässt   er   darin    ein 


1)  Die  Sonderung  des  Craniums  von  der  Wirbelsäule  ist  keine  in  allen  Fällen 
scharfe.  Bei  den  Notidaniden  ist  die  Grenzbeslimraung  sehr  schwer,  da  der  Occipi- 
laltheil  des  Schädels  eine  mit  den  folgenden  Wirbeln  ganz  gleiche  Beschaffenheit 
besitzt.  Auch  der  Befund  bei  den  Stören,  wo  eine  beträchtliche  Strecke  der  Wir- 
belsäule mit  dem  Cranium  verschmolzen  ist,  erscheint  mit  Beziehung  auf  die  Schä- 
delgenese von  hoher  Wichtigkeit.  Der  das  Cranium  bildende  Prozess  hat  hier 
weiter  als  sonst  zurückgegriffen.  Dass  aber  mit  der  Concrescenz  nicht  auch  die 
andern  am  Cranium  bestehenden  Modificationen  auftreten,  lässt  sich  verstehen,  so- 
bald wir  die  Factoren  ins  Auge  fassen,  welche  am  Cranium  umgestaltend  walteten. 
Sie  fehlen  für  den  vom  Rückgrate  eingenommenen  Körpertheil. 


Ueber  die  Kopliierveii  von  Hexiincliiis  ii.ilirVoiliäUuiss  ziirWirboltlioorio  d.  Sclirulcls,  557 

Erbstück  erkennen,  welches  sicli,  bald  mehr  bald  minder  vollkommen 
cnUvickeit,  von  solchen  Zuständen  her  forteihalten  hat,  bei  denen  es, 
wie  noch  bei  den  gegenwärtig  existirenden  Selachiern  die  einzige  Ske- 
letbildung  des  Craniums  vorstellte.  Wenn  wir  für's  Primordialcra- 
niuin  diese  Beziehung  als  festgestellt  betrachten,  so  kann  ftlr  die  an 
ihm  auftretenden  Ossificationen  keine  Vergleichung  mit  Stücken  knö- 
cherner Wirbel  ferner  in  Frage  kommen,  zumal  kein  einziger  der  soge- 
nannten Schädehvirbel  einem  der  Abschnitte  entspricht,  die  am  Knor- 
pelcranium  aus  ursprünglich  discreten  knorpeligen  Wirbeln  hervorge- 
gangen aufgefasst  werden  müssen. 

Jena,  im  December  1870. 


I 


Erklärung  der  Abbildungen. 

Tafel  Xni. 

Fig.  i.  Kopf  von  Hexanchus  griseus  in '-/a  natüii.  Gr.  Die  Schädclhöhle  ist 
geofliief,  nach  rechts  der  Knorpel  der  Nasah-egion  bis  auf  den  Bulbus 
olfactorius  abgetragen.  Auf  derselben  Seite  ist  der  Augapfel  sammt 
Muskeln,  Opticus  und  dem  Stützknorpel  des  Bulbus  entfernt;  der  Knor- 
pel der  Labyrinthregion  undOccipitalregion  bis  zu  den  Durchtritlsstellen 
der  llirnnerven  abgetragen.  Das  Niveau  dieser  Stelle  ist  ein  nach  den 
Nerven  verschiedenes.  Man  sieht  den  durchschnittenen  hinleren  Bogen- 
gang mit  seiner  Ampulle. 

Linkerseits  ist  am  Schädel  die  Orbita  mit  ihren  Contentis  oflcngelegt. 

Der  Rückgratcanal  ist  geöffnet  und  die  Wände  desselben  sind  bis 
fast  zu  den  Durchtritlsstellen  der  oberen  Wurzeln  der  Spinalnerven  abge- 
tragen.   Man  sieht  die  durchschniltenen  Bogen-  und  Iiilercruralknorpel. 

Auf  der  ganzen  rechten  Hälfte  ist  die  Muskulatur  bis  zum  Visccral- 
skelet  entfernt. 

Die  Theile  desGehirns  sind  nicht  näher  bezeichnet,  da  sie  aus  Fig.  IF 
leicht  zu  verstehen  sind. 

A.  Lücke  des  Craniums,  mit  Gallertgewebe  erfüllt. 

N.  Obere  Wand  der  Nascnkapsel. 

bo  Bulbus  olfaclorius. 

tr.  0  Tractus  olfactorius. 

0.  Opticus. 

OS  M.  obliquus  supcrior. 

oi  M.  obliquus  inferior. 

ri   M.  rectus  internus. 

rs  M.  rectus  superior, 

re  M.  rectus  t-xternus. 


558  Erklärung  der  Abbildungen. 

iS     Spritzloch. 

Va  "Vena  arteriosa  der  Spritzlochkieme. 

ßr',  ßr»,  ßr»',  Brlü,  Br" ,  Br"^   Kiementaschen. 

K  Oberes  Stück  des  Kieferbogens  (Palatoquadratum). 

Z    Oberes  Stück  des  Zungenbeinbogens  (Hyomandibulare) 

1,  2,  3,  4,  5,  6   Kiemenbogen. 

M  Rückenmark. 

rd   Obere  Wurzeln  der  Spinalnerven. 

P     Spinalnerven. 

Tr  Nervus  trochlearis. 

Oin  Oculomotorius. 

Tr  Stamm  des  T  r  i  g  e  m  i  n  u s. 

a    Ramus  ophthalmicus. 

h     R.  ethmoidalis. 

c    lateraler  Ast  desselben. 

d    medialer  Ast. 

e     Ramus  maxillaris  inferior. 

f     Rami  buccales. 

(j     Vorderer  Theil  des  Ranuis  maxillaris  superior. 

h     Ramus  maxillaris  inferior. 

t     Rami  buccales. 

Fa.    Nervus  facialis. 

fc     Ramus  palatinus. 

/     Spritzlochast. 

m   Ramus  hyoideus. 

n     Ramus  mandibularis  exlernus. 

Gp.    Glossopharyngeus. 

a    Ramus  anterior. 

ß     Ramus  posterior. 

Vg.   Vagus. 

Vg'   Erster  Ramus  branchialis  des  Vagus. 

Vg"  Ramus  branchio-intestinalis. 

/    Ramus  intestinalis. 

L   Ramus  lateralis  N.  vagi. 

('.     Ramus  anterior        1 

ß    Ramus  posterior       }  eines  R.  branchialis.    N.  Vagi. 


Y 


Ramus  pharyngeus  J 


Fig.  2.  Gehirn  von  Hexanchus  griseus  von  der  Dorsalscite  in  natürlicher 
Grösse.  (Nach  einem  von  H.  Miklucuo-Maclay  der  hiesigen  anatom. 
Sammlung  übergebenen  Präparate).  Das  Vorderhirn  [Vh]  ist  nicht  voll- 
ständig dargestellt.  Zwischenhirn  (Z/t)  und  Mittelhirn  [Mh)  nur  in  Um- 
rissen. —  Von  der  Medulla  oblongata  ist  die  rechte  Hälfte  des  Daches 
des  Ventriculus  quartus  weggenommen.  Die  linke  Hälfte  befindet  sich 
noch  in  situ.  —  Die  Bezeichnung  der  Nervenstämme  ist  mit  der  für 
Fig.  \  gegebenen  übereinstimmend. 

Lt  Lobus  nervi  trigemini. 

a    vorderer  j  ^^^^^^  der  Trigeminuswurzel. 
h     hmtcrer    |  ° 


f 


Rrklfirung  dor  Abbildiiiißen.  550 

«  obere    I  pq^^jq^  (jgg  hinteren  Wurzclstammcs. 
ß  untere  ) 

g     Lobi  nervi  vagi. 

s    Ungetlieilter  Abschnitt  des  Seitenstranges  der  Medulla  oblongata. 

s'   Obere  Lamelle  derselben,  die  Lobi  nervi  vagi  tlicilwcise  deckend. 

p    Vordere  Pyramidenstränge  der  Medulla  oblongata. 

vg  Vordere  Vaguswurzeln. 

Fig.  3.     Orbitalnerven  von  Squatina  vulgaris. 

Natürliche  Grösse.    Die  rechte  Orbitalhöhle  ist  von  oben  biosgelegt. 

Lk    Vorderer/    ,  ,.         ,  „, 

Lk'    hinterer  |  ""^^'^^  L.ppenknorpel. 

rs,  ri,  re,  os,  oi  Augenmuskeln  wie  in  Fig.  1 . 

V     Durchschnittsstelle  des  hinleren  Orbitalfortsatzes  des  Craniums. 

S      Rechles  Spritzloch. 

0      Opticus. 

Tr    Trochlearis. 

om    Oculomotorius. 

ab     Abducens. 

Tr'  Ramus  ophthalmicus  N.  Irigemini,  bei  op  abgeschnitten. 

ci     Ciliarnerv  desselben. 

Tr"  Ramus  maxillaris  superior. 

a     Infraorbitalis. 

b    Endverzweigung  desselben  zwischen  den  Lippenknorpeln. 

c     Durclischniltene  Zweige. 


lieber  die  Aethyhliacetsäiire  und  eiiiise  Abköuiuiliii<i'e  derselben. 


Von 


A.  Geuther. 


I.  Ueber  die  beste  D.arstellungsweise  der  Aetliyldiaeetsäure. 

Wenn  man  Natrium  auf  Essigsäureälher  einwirken  lässt,  so  hängt 
es  von  der  relativen  Menge  beider  ab,  ob  man  viel  vom  Nalriumsalz 
der  Säure  oder  weniger  und  dann  mehr  von  den  Producten  erhält, 
welche  dieses  Salz  bei  der  Einwirkung  von  Wärme  liefert.  Wendet 
man,  so  wie  ich  früher  angab,  auf  100  Th.  Essigälher  12  Th.  Natrium 
an  '),  so  wird  in  Folge  der  anhaltenden  Erwärmung,  welche  nöthig  ist, 
die  letzten  Mengen  von  Natrium  in  Lösung  zu  bringen,  ein  Theil  des 
gebildeten  Natriumsalzes  schon  unter  Bildung  harzartiger  Producte, 
Dehydracetsäure  u.  a.  verändert'^).  Es  ist  deshalb  für  die  Darstellung 
von  Aethyldiacetsäure  vortheilhaft,  einen  grossen  Ueberschuss  von  Es- 
sigälher anzuwenden,  damit  die  Lösung  des  Natriums  vollständig  schon 
bei  niederer  Temperatur  sich  vollendet,  wie  dies  bei  einem  früher  von 
mir  zu  anderem  Zwecke  aufgestellten  Versuche  geschehen  war,  wobei 
unter  Anwendung  von  4  Pfund  Essigäther  und  60  Grm.  Natrium 
165  Grm.  Säure  erhalten  wurden'').  Diese  Menge  entspricht  einer 
Menge  Natriumsalz,  in  welcher  fast  genau  die  Menge  des  angewandten 
Metalls  enthalten  war  und  welche  überhaupt  die  grösste  ist,  welche 
unter  diesen  Umständen  gebildet  werden  wird. 


4)  Diese  Zeilschrift  Bd.  II.  p.  390. 

2)   Ebend.  p.  397. 

3]   Zeit.'icilrifl  f.  Chemie.  N.  F.   Bd.  4.   p.  tiO. 


Ucbi'i'  die  AeMiyhliiioelsünrc  und  einige  Abköimiilingc  deiselk'ii.  HG  I 

II.  lieber  die  Einwirkung  von  Pliospliorpenlaclilorid  auf 
Aethyldiacetsiiure. 

Phosphorpentachlorid  wirktauf  Aelhyldiacelsäure  leicht,  al)cr  ohne 
starke  Erwärmung  und  unter  Entwickluni^  gasförmiger  Producle  ein. 
Um  die  Einwirkung  zu  vollenden,  sind  2  Mgte.  des  ersteren,  auf  I  Mgt. 
des  letzteren,  oder  330  Grm.  auf  100  Grm.  nöthig.  Schliesslich  voll- 
endet man  die  Reaclion  durch  gelindes  Erwärmen.  Man  wendet  am 
besten  eine  geräumige  Kochflasche  an,  in  welche  man  die  Aelhyldiacet- 
säure  bringt,  schtlttet  aus  einer  anderen  ebensolchen  das  Phosphorpen- 
tachlorid in  kleinen  Mengen  zu  und  verschliesst  die  crstere  Kochflasche 
beständig  zur  Abhaltung  von  Feuchtigkeit  durch  einen  mit  einem  olTe- 
nen  Chlorcalciumrohr  versehenen  Kork.  In  dem  Maasse,  wie  die  Ein- 
wirkung unter  Verschwinden  des  PhosphorpentachloridS  und  unter 
Entwicklung  von  Gasen  fortschreitet,  bräunt  sich  die  Flüssigkeil,  bis 
sie  schliesslich  eine  dunkelrolh  braune  Farbe  angenommen  hat. 

Die  bei  der  Einwirkung  reichlich  sich  entwickelnden  Ga'se  bestehen 
aus  Salzsäure  hauptsächlich  und  Ghloräthyl.  Ghloracetyl  bildet  sich 
nicht,  denn  weder  konnte  im  vorgeschlagenen  Wasser,  noch  bei  der 
Zersetzung  des  niedrigst  siedenden  Destillationsproductes  mit  Wasser 
Essigsäure  gefunden  werden. 

Die  gebildete  Flüssigkeit  besteht  aus  Phosphoroxychlorid  und  den 
Ghlorüren  mehrerer  Säuren ;  sie  destillirt  unter  Zurücklassung  eines 
kohligen  Rückstandes  bis  zu  160°  über.  Das  bei  120*^  DeslilHrende 
besteht  hauptsächlich  aus  Phosphoroxychlorid,  es  zcrtelzt  sich  unter 
starker  Erhitzung  mit  Wasser  und  abs.  Alkohol,  das  zwischen  120^  und 
1  40*^  Uebergegangene  enthält  weniger  Phosphoroxychlorid,  es  zersetzt 
sich  mit  Wasser  und  abs.  Alkohol  weniger  heftig,  während  das  zwischen 
140"  und  1G0"  Destillirle  eine  noch  geringere  Erwärmung  bei  seiner 
Zersetzung  mit  Wasser  und  abs.  Alkohol  verursacht.  Da  bei  wieder- 
holter Destillation  des  Productcs  immer  etwas  kohliger  Rückstand  bleibt, 
also  dabei  eine  theilweise  Zersetzung  stattfindet,  und  da  ferner  die  Zer- 
setzungsproducte  mit  abs.  Alkohol  auch  nicht  durch  Destillation  in  rei- 
nem Zustande  zu  erhalten  waren,  so  wurde  die  Zersetzung  mit  Wasser 
zur  Trennung  der  gebildeten  Producte  resp.  deren  Zersetzungsproducte 
angewandt. 

Das  durch  die  Einwirkung  des  Phosphorpentachlorids  auf  die 
Aethyldiacetsäure  erhaltene  unmittelbare  Product  wird  nach  dem  Er- 
kalten zu  kaltem  Wasser,  welches  sich  in  einem  von  aussen  gut  abge- 
kühlten Kolben  befindet,  allmählich  gegossen.  Nach  jedesmaligem  Um- 
schülteln  löst  es  sich  leicht  auf.  Der  Kolben  wird  darauf  mit  einem 
Bd.  VI.    4.  38 


562  A.  Geuther, 

Kühler  verbunden  und  erhitzt.  Zuerst  destillirt  neben  Wasser  resp. 
Salzsäure  ein  klares,  auch  bei  starker  Abkühlung  nicht  erstarrendes 
Oel  reichlich  über,  allmählich  vermindert  sich  die  Menge  desselben  und 
die  mitdestillirende  wässrige  Flüssigkeit  wird  milchig.  Da  nun  bei  guter 
Kühlung  das  noch  mitdestillirende  Oel  krystallinisch  erstarrt  und  die 
milchige  Flüssigkeit  gleichfalls  Krystalle  liefert,  so  ist  es  gut  anfangs 
stark  zu  kühlen,  wenn  aber  dieser  Zeitpunkt  eingetreten  ist,  die  Vor- 
lage zu  wechseln  und  gar  nicht  mehr  zu  kühlen,  damit  das  Wasser  im 
Kühler  warm  werde  oder  das  kalte  Wasser  in  Letzterem  durch  warmes 
zu  ersetzen,  um  ein  leicht  eintretendes  Zukrystallisiren  des  Kühlrohrs 
zu  verhindern.  Bei  fortgesetzter  Destillation  nimmt  die  milchige  Be- 
schaifenheit  des  Destillats  wieder  ab;  ist  das  Letztere  längere  Zeit  völ- 
lig klar  übergegangen,  so  unterbricht  man  die  Destillation. 

Die  auf  diese  Weise  gewonnenen  zwei  Destillate  und  der  Rück- 
stand enthalten  jedes  der  Hauptsache  nach  ein  bestimmtes,  aber  mit 
dem  andern  noch  gemengtes  Product,  nämlich  das  erste  Destillat  ein 
mit  den  Wasserdämpfen  sehr  leicht  übergehendes,  nicht  erstarren- 
des neutrales  Oel,  das  zweite  Destillat  eine  mit  den  Wasserdämpfen 
sich  leicht  verflüchtigende  Säure  und  der  Rückstand  eine  mit  den 
Wasserdämpfen  sich  nur  s e h r  schwer  verflüchtigende  Säure.  Durch 
wiederholte  gleiche  Destillationen  mit  Wasser  erreicht  man  eine  weitere 
Trennung  der  in  den  beiden  ursprünglichen  Destillaten  enthaltenen 
Substanzen,  während  eine  Anzahl  von  wässrigen  Rückständen  bleibt, 
welche  noch  schwer  flüchtige  Säure  enthalten.  Vollständig  rein  wird 
schliesslich  das  neutrale  Oel,  welches  immer  noch  viel  der  leicht  flüch- 
tigen Säure  gelöst  enthält,  gewonnen,  wenn  man  dasselbe  wiederholt 
mit  einer  conc.  überschüssigen  Lösung  von  Natriumcarbonat  schüttelt, 
bis  alle  Säure  gebunden  ist  und  keine  Kohlensäure  mehr  entweicht, 
und  es  dann  abdestillirt.  Das  rückständig  bleibende  Natriumsalz  mit 
Schwefelsäure  übersättigt,  liefert  die  gelöst  gewesene  Säure,  welche 
gleichfalls  mit  den  W^asserdämpfen  überdestillirt  wird.  Dieselbe  wird 
abfiltrirt,  mit  den  bei  den  früheren  Destillationen  krystallisirt  abge- 
schiedenen reinen  Portionen  vereinigt  und  unter  wenig  Wasser  zusam- 
mengeschmolzen. Aus  den  dabei  erhaltenen  Filtraten  kann  die  gelöste 
Säure  durch  wiederholte  kurze  Destillationen  gewonnen  werden.  Zur 
Reindarstellung  der  schwerflüchtigen  Säure  wird  der  ursprüngliche 
Destillationsrückstand  sammt  den  späteren  ebensolchen  mit  Natrium- 
carbonat neutralisirt,  von  einer  grösseren  Menge  eines  ausgeschiedenen 
dunklen  Harzes  durch  Filtriren  getrennt,  eingedampft,  ein  Theil  des 
Natriumphosphats  auskrystallisiren  gelassen  und  die  noch  braune  Mut- 
terlauge schliesslich  zur  Trockne  eingedampft.     Der  Rückstand  wird 


Uehor  Aw  AotliyldiivcelsSiirf  und  einige  Aliköiiiinliiiifc  (Icrsolhcii.  5(33 

mit  Alkohol  völlig;  ausgezogen,  welcher  das  Salz  der  Säure  auflöst, 
wühlend  Nalriuniphosphat  und  Kochsalz  völlig  ungelöst  bleiben.  Nach 
dem  Abdestilliren  des  Alkohols  wird  die  conc.  wässrige  Lösung  der 
vollständigen  Entfernung  allen  Alkohols  halber  noch  einige  Zeit  erhitzt, 
darauf  mit  überschüssiger  Schwefelsäure  versetzt  und  zur  Entfernung 
von  noch  etwa  vorhandener  leichlflüchtigen  Säure  mit  dem  Kühler  ver- 
bunden gekocht.  Sobald  das  Uebergchende  ganz  wasserhell  erscheint 
und  keine  Spur  von  Oel  mehr  enthält,  wird  erkalten  gelassen  und  der 
Kolbenrückstand  mit  alkoholfreiem  Aelher  wiederholt  ausgezogen.  Nach 
dem  Entwässern  der  ätherischen  Lösung  mittelst  Chlorcalcium  und 
Abdestilliren  des  Aethers  bleibt  ein  braunes  Oel  zurück,  das  beim 
Stehen  über  Schwefelsäure  fast  vollständig  krystallinisch  erstarrt.  Zur 
Reinigung  wird  die  wässrige  Lösung  der  Krystalle  mit  Thierkohle  ent- 
färbt und  durch  langsames  Eindunsten  zur  Kryslallisation  gebracht. 
Die  nicht  weiter  Krystalle  liefernde  Mutterlauge  besteht  aus  der  wäss- 
rigen  Lösung  einer  ölföimigen  Säure,  welche,  obwohl  nur  in  geringer 
Monge  vorhanden,  doch  die  Ursache  ist,  dass  eine  grössere  Menge  der 
kryslallisirenden  Säure  gleichzeitig  in  Lösung  erhalten  wird. 

Die  auf  diese  Weise  erhaltene,  mit  den  Wasserdämpfen  sich  sehr 
schwer  verflüchtigende  Säure  ist  im  Folgenden  mit  dem  Namen  Mo- 
nochlortetracr  y  Is  äure  bezeichnet.  Sie  hat  die  nämliche  Zu- 
sammensetzung, wie  die  sich  milden  Wasserdämpfen  leicht  verflüch- 
tigende Säuie,  welche  den  Namen  Monochlor  qua  rtenylsäurc 
erhallen  hat. 

1.  Monochlorquarten  y  Isäure. 

Es  ist  dies  dieselbe  Säure,  deren  Eigenschaften  und  Salze  von 
0.  Frülicu  unter  dem  Namen  »Monochlorcrotonsäure  und  ihre  Salze« 
früher  beschrieben  worden  sind ') .  Dies  geschah  zu  einer  Zeit,  da  die 
Angaben  Schlippe's  über  die  flüchtigen  Säuren  des  Crotonöls  noch  nicht 
als  falsch  erkannt  waren  und  speziell  die  Nichtexistenz  einer  Säure  von 
der  Formel  G'H''0'^  unter  ihnen  noch  nicht  erwiesen  war.  Seitdem  ist 
das  geschehen  2)  und  in  Folge  dieser  Erkenntniss  der  Name  »Croton- 
säure«  für  eine  Säure  C^H^O^,  welche  zum  Crotonöl  in  gar  keiner  Be- 
ziehung steht,  als  unpassend  aufzugeben.  Der  Name  »Quartenylsäure« 
ist  nach  der  von  A.  W,  IIofmann  vorgeschlagenen  Nomenclatur  der  Koh- 
lenwasserstofleä)  gebildet:  zu  dem  Quartenyl  (G^Il^)  steht  die  Quarte- 

1)  Diese  Zeitschrift  I3d.  V.  p.  Si. 

2)  Ebend.  Bd.  VI.  p.  45. 

3)  Jahresbericht  f.  1865.  p.  413. 

38* 


564  A.  Geiilher, 

nylsäure  (von  welcher  unsere  Saure  ein  Chlorsubslilutionsproduct  ist) 
in  derselben  Beziehung,  wie  die  Essigsäure  zum  Aethyl, 

Den  am  angeführten  Orte  mitgetheilten  Eigenschaften  der  Saure 
und  ihrer  Verbindungen  ist  hier  nichts  weiter  hinzuzufügen,  als  etwa, 
dass  die  Säure  mit  überschüssiger  Kalilauge  ohne  Zersetzung  gekocht 
werden  kann. 

2.  Monochlortetracrylsäure. 

Diese  Säure  bildet  farblose,  lange,  stark  lichtbrechende,  nadel- 
oder  säulenförmige  monokline  Kryslalle,  welche  bei  94^  unverändert 
schmelzen  und  zwischen  206"  und  211*^  deslilliren.  Dabei  findet  theil- 
weise  Zersetzung  statt,  indem  unter  bemerkbarem  Salzsäureauslritt  eine 
niedriger  schmelzende  oder  flüssige  Substanz  gebildet  wird.  Das  etwas 
schmierig  erscheinende  Destillat  schmilzt  bei  89^.  Die  Monochlortetra- 
crylsäure ist  in  Wasser  leichter  löslich  als  die  mit  ihr  metamere  Mono- 
chlorquartcnylsäure:  35,2  Th.  Wasser  von  19°  lösen  1  Th.  der  Säure. 
Beim  Sieden  ihrer  Lösung  verflüchtigt  sie  sich  mit  den  Wasserdämpfen 
nur  langsam,  aber  unverändert. 

0,2129  Grm.  der  über  Schwefelsäure  getrockneten  und  darauf  vor- 
sichtig geschmolzenen  Säure  gaben  0,0853  Grm.  Wasser  und  0,3053  Grm. 
Kohlensäure,  was  0,009478Grm.  =  4,4Proc.  Wasserslofl" und  0,083264 
Grm.  =39,1  Proc.  Kohlenstolf  entspricht. 

0,2058  Grm.  lieferten  0,2455  Grm.  Ghlorsilber,  entsprechend 
0,060733  Grm.  =  29,5  Proc.  Chlor. 


ber. 

gef. 

C^  =    39,8 

39,1 

H^  =      4,1 

4,4 

Gl   =    29,5 

29,5 

02  =    26,6 

— 

100,0 

Die  Monochlortetracrylsäure  ist  eine  ziemlich  starke  Säure,  welche 
leicht  die  kohlensauren  Salze  zersetzt.  Mit  überschüssiger  Kalilauge 
kann  sie  nicht  ohne  Zersetzung  gekocht  werden  (siehe  unten :  Tetrol- 
säure).  Von  ihr  sind  bis  jetzt  die  folgenden  Salze,  welche  z.  Th.  in 
Wasser  sehr  leicht  löslich  sind,  dargestellt  worden. 

Natriumsalz.  Glänzende,  dünne,  blättrige,  luftbeständige  Kry- 
slalle, welche  in  Wasser  ungemein  leicht  löslich  sind,  noch  leichter  als 
<las  Natriumsalz  der  Monochlorquartenylsäure  und  sich  gleichfalls  in 
Alkohol  leichter  als  das  letztere  Salz  lösen. 

0,0883  Grm.   luftlrocknes  Salz  verloren  über  Schwefelsäure  und 


lieber  die  Aeüiyldiacclsiiiiro  und  cmgc  Abköininliiigc  derselben.  565 

im  Luftbcid  bei  100— 105'»  0,0058  Grni.  =  0,0  Froc.  Wasser  und  lie- 
ferten 0,0414  Grm.  Nalriumsulfat,  entspr.  0,01341  Grm.  =  15,2  Proc. 
Natrium. 

Für  die  Formel:  ^[G'II'CIO^Naj -f  OII'^  berechnen  sich  G,0  Proc. 
Wasser  und  15,2  Proc.  Natrium. 

Baryumsalz.  Dicke  farblose  riiombisrhc  Octaeder,  welche"  in 
Wasser  leicht  löslich  sind,  indem  1  Th.  derselben  zurLösungnur2,2Th. 
Wasser  von  1 8"  bedürfen. 

0,4166  Grm.  der  lufltrocknen  Krystalle  verloren  weder  Über 
Schwefelsäure,  noch  beim  Erhitzen  auf  110"  an  Gewicht  und  liefer- 
ten 0,2557  Grm.  S0'Ba2,  entsprechend  0,150347  Grm.  =  36,1  Proc. 
Baryum. 

Die  Formel:  C^H^ClO^Ba  verlangt  36,4  Proc.  Baryum. 

Die  wässrige  Lösung  der  Krystalle  fallt  Silbernitratlösung  weiss, 
fein  krystallinisch,  dagegen  nicht  die  Lösungen  von  Blei-  und  Kupfcr- 
Acetat. 

Kupfersalz.  Kleine  dicke  blaue  Krystalle,  welche  sich  beim 
Eindunsten  der  blauen  Lösung  von  Kupfercarbonat  in  der  Säure  über 
Schwefelsäure  ausscheiden. 

0,1392  Grm.  lufltrockner  Krystalle  verloren  bei  100 — 102",  indem 
sie  grün  wurden,  0,0043  Grm.  =  4,0  Proc.  Wasser  und  hinterliessen 
beim  Glühen  an  der  Luft  0,0328  Grm.  Kupferoxyd,  entspr.  0,02619 
Grm.  =  18,8  Proc.  Kupfer. 

Die  Formel :  [6^11^0102] 2Cu  +  OH2  verlangt  5,6  Proc.  Wasser  und 
19,8  Proc.  Kupfer. 

Silber  salz.  Fein  krystallinischcr  Niederschlag,  welcher  beim 
Vermischen  der  Lösungen  von  Argentinilrat  und  dem  Baryumsalz  der 
Säure  entsteht. 

Monochlorlelracrylsäure-Aethyläther.  Wird  durch 
mchrlägigt^sDigeriren  der  Säure  mit  durch  Salzsäuregas  gesättigtem  Al- 
kohol, Ausscheiden  mit  Wasser  und  Rectificiren  erhalten.  Er  ist  eine 
farblose,  stark  lichtbrechende  Flüssigkeit  von  einem  angenehmen  aro- 
malischen, den  des  Monochlorquartenylsäure-Aethers  sehr  ähnlichen 
Geruch.  Erdestillirt  bei  184"  corr.  unverändert  und  besitzt  das  spez. 
Gewicht  1,U  I  bei  16",  5.    Seine  Zusammensetzung  ist:  C4H4C102.  C2H\ 

0,2590  Grm.  des  bei  180—181  (uncorr.)  siedenden  Haupttheils 
gaben  0,4633  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,126356  Grm.  =  48,8 Proc. 
Kohlenstoff  und  0,1461  Grm.  Wasser,  entspr.  0,016233  Grm.  =6,3 
Proc.  Wasserstoff. 


56G  A.  Geuther, 


be  r. 

gef. 

C6=     48,5 

48,8 

H9=      6,1 

6,3 

Cl=    23,9 

— 

02=    21,5 

— 

100,0 


3.  Das  ölförmige  Product. 

Dasselbe  stellt  eine  farblose,  und  wenn  es  zur  Entfernung  etwa 
darin  gelöster  Monochlorquartenylsäure  mit  überschüssiger  Natrium- 
carbonatlösung  genügend  gewaschen  worden  ist,  auch  eine  neutral  rea- 
girendo  Flüssigkeit  dar,  welche  schwerer  als  Wasser  ist.  Nach  dem 
Entwässern  mittelst  Calciumchlorids  destillirt  geht  sie  von  155 — SOO** 
über,  zuletzt  unter  theilweiser  Zersetzung.  Da  innerhalb  dieser  Gren- 
zen die  Siedepunkte  des  Aethyläther  von  der  Monochlorquartenylsäure 
(161^,4)  und  von  der  Monochlortetracrylsäure  (184o)  liegen,  so  war  es 
wahrscheinlich,  dass  das  ölförmige  Product  der  Hauptsache  nach  ein 
Gemenge  dieser  beiden  Aethylverbindungen  sei,  womit  auch  der  Ge- 
ruch desselben  in  üebereinstimmung  war.  Um  dies  zu  beweisen,  wur- 
den verschieden  siedende  Theile  der  Analyse  unterworfen. 

0,2107  Grm.  einer  zwischen  158  und  löQ*^  destillirten  Portion  lie- 
ferten 0,2084  Grm.  Argentichlorid,  was  0,051556  Grm.  =  24,4  Proc. 
Chlor  entspricht. 

0,2458  Grm.  einer  zwischen  161  und  163^  destillirten  Portion 
gaben'  0,4323  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  .0,1179  Grm.  =  48,0  Proc. 
Kohlenstoff  und  0, 1  429  Grm.  Wasser,  entspr.  0,01 5878  Grm.  =6,5  Proc. 
Wasserstoff. 

0,1966  Grm.  des  zwischen  175 — 180^  unter  geringer  Zersetzung 
siedenden  Theils  gaben  0,31 95  Grm.  Kohlensäure  entspr.  0,0871 36  Grm. 
=  44,3  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1069  Grm.  Wasser,  entspr.  0,011878 
Grm.  =  6,0  Proc.  Wasserstoff. 


ber. 

gef. 

C6=    48,5 

— 

48,0 

44,3 

m=    6,1 

— 

6,5 

6,0 

Gl  =    23,9 

24,4 

— 

— 

02=    21,5 

— 

— 

— 

100,0 

Diese  Resultate  zeigen  in  der  That,  dass  der  Haupltheil  des  öligen 
Products  aus   Monochlorquartenylsäureäther    und    Monochlortetracryl- 


Ueber  die  AetliyWiiicelsiimc  und  einige  Abkömiiiliiijre  derselben.  567 

säureälhci*  besieht,  dass  dem  letzteren  aber  noch  ein  nicht  unverändert 
dcslillirbares  Prodiict  beigemengt  ist. 

Zur  weiteren  Bestätigung  dieses  Nachweises  und  um  zugleich  die 
helrelTenden  Säuren  zu  gewinnen,  wurden  die  das  ölförmige  Product 
ausmachenden  Aether  wieder  gleichförmig  gemischt  und  mit  Hülfe  von 
conc.  wässriger  Salzsäure  zersetzt.  Sie  wurden  dazu  mit  dem  3fachen 
Volum  der  Säure  in  Ilühren  eingeschlossen  und  während  mehrerer  Tage 
im  Oelbad  bis  auf  1 25*^  erhitzt.  Von  Zeit  zu  Zeit  wurden  die  Röhren 
erkalten  gelassen  und  nach  dem  Oeffnen  in  der  Flamme  durch  Stellen 
in  warmes  Wasser  von  dem  gebildeten  Aethylchlorid  befreit,  von  Neuem 
zugeschmolzen  und  so  fort  verfahren,  l)is  eine  Bildung  von  Chloräthyl 
nicht  mehr  zu  bemerken  war.  Es  w ar  nun  nur  noch  eine  geringe  Menge 
Oel  übrig  geblieben,  welches  von  Neuem  mit  conc,  Salzsäure  einge- 
schlossen und  erhitzt  nicht  weiter  verändert  wurde.  Dasselbe  besitzt 
einen  eigenthümlich  scharfen  Geruch  und  destillirt  zwischen  165  und 
195*^  Ül)er.  Da  dasselbe  hiernach  offenbar  ein  Gemenge  darstellte  und 
seine  Zersetzung  der  geringen  Mengesubstanz  halber  nicht  ausführbar 
war,  so  w urde  es  nicht  weiter  untersucht.  Wird  der  gesammte  wäss- 
rige  Röhreninhalt,  welcher  eine  braune  Farbe  angenommen  hat,  in  einen 
Kolben  gebracht  und  gekocht,  so  destillirt  zuerst  noch  eine  Kleinigkeit 
des  el)enerwähnten  Oels,  darauf  aber  Monochlorquartenylsäure,  wäh- 
rend, wenn  diese  nicht  mehr  übergeht,  im  Kolbenrückstand  viel  Mono- 
chlortetracrylsäure  enthalten  ist,  welche  durch  alkoholfreien  Aether 
leicht  ausgezogen  werden  kann.  Nach  dem  Verdunsten  des  Aethers 
bleibt  sie,  von  nur  ganz  wenig  einer  nicht  weiter  untersuchten  öligen 
Säure  durchtränkt,  krystallinisch  zurück,  Sie  wird  aus  Wasser  um- 
krystallisirt  und  dabei  mit  Thierkohle  entfärbt.  Die  Ölige  Säure  findet 
sich  als  sehr  leicht  löslich  in  der  letzten  Mutterlauge.  Sie  sowohl  als 
das  durch  Salzsäure  nicht  weiter  angreifbare  Oel  sind  offenbar  die  Zer- 
setzungsproducte  jener  im  ursprünglichen  Oel  enthaltenen  Substanz, 
welche  die  bei  der  Destillation  der  höher  siedenden  Thcile  beobachtete 
geringe  Zersetzung  verursacht. 

Eine  Zersetzung  des  Aethergemisches  mit  Hülfe  von  überschüssi- 
ger Kalilauge  an  Stelle  von  Salzsäure  gelingt  vorzüglich  bei  Zusatz  von 
etwas  Alkohol  und  Erhitzen  im  Wasserbade  leicht,  dabei  bleibt  aber 
nur  die  Monochlorquartenylsäure  unverändert,  während  die  Monochlor- 
tetracrylsäure  unter  Austritt  von  Chlor  und  Wasserstoff  in  eine  Säure 
von  der  Zusammensetzung  C^Il^O^  (siehe  »Tetrolsäure«)  verwandelt 
wird. 


568  A.  Geutber, 

Die  wesentlichen  Producle  der  Einwirkung  von  Pliosphorpenla- 
chlorid  auf  Aethyldiacctsäureäther  sind  also  die  Chloride  der  Monochlor- 
quartenylsäureundder  Monochlortelracrylsäurc,  die  Aelher  dieser  beiden 
Säuren,  Aethylchlorid,  Salzsäure,  Phosphoroxychlorid  und  ein  die 
braune  Färbung  bewirkender  beim  Destilliren  der  mit  Wasser  zersetz- 
ten Producte  als  braunes  Harz  zum  Vorschein  kommender  I^örper.  Ab- 
gesehen von  diesem  letzteren  lässt  sich  die  Bildung  der  ersteren  aus 
der  Aethyldiacetsäure  durch  folgende  einfache  Gleichungen  ausdrücken  : 

C6H10O3  -f-  2  PC15  =  C^H^GIO,  Gl  +  G2H5G1  +  HGl  +  2  POGl^. 

C6H10O3  4-  PG15=  G^H4C102,  G2H5  +  HCl  +  POGP. 
Dass  der  erwähnte  harzartige  Körper  ein  wesentliches  Zerselzungspro- 
duct  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  die  Mengen  von  Ghlorquartenylsäure, 
Chorletracrylsäure  und  den  Aethern  beider,  welche  erhalten  werden, 
verhältnissmässig  kleiner  sind.  Aus  600  Grm.  Aethyldiacetsäure  wur- 
den erhalten:  105  Grm.  reine  Monochlorquartenylsäure,  36  Grm.  reine 
Monochlortetracrylsäure,  76  Grm.  des  neutralen  Aethergemisches  beider 
Säuren  und  36  Grm.  der  über  Schwefelsäure  nicht  weiter  eindunsten- 
den und  Krystalle  abscheidenden  Mutterlauge  der  Chlortetracrylsäure, 
welche  aus  dieser  Säure  zu  2/.,  noch  bestehen  mochte.  Die  Mengen  der 
beiden  metameren  Säuren  sind  also,  wie  man  sieht,  nicht  gleich  gross, 
es  wird  mehr  Monochlorquartenylsäure  als  Monochlortetracrylsäure  er- 
halten, was  gewiss  in  der  leichteren  Veränderlichkeit  der  letzteren 
Säure  mit  begründet  ist. 


4.  Quartenyl säure. 

Eine  gesättigte  Lösung  des  Natriumsalzes  der  Monochlorquartenyl- 
säure wird  mit  Nalriumamalgam  bei  gewöhnlicher  Temperatur  zusam- 
mengebracht und  häufig  umgeschüttelt.  Dabei  findet  unter  geringer 
Erwärmung  der  Flüssigkeit  anfangs  nur  spärliche  Wasserstoffentwick- 
lung, die  erst  gegen  das  Ende  der  Reaction  etwas  reichlicher  wird, 
statt.  Sobald  diese  letztere  gleichförmig  weiter  geht,  kann  die  Reaction 
als  beendigt  angesehen  w  erden.  Die  alkalische  Lösung  wird  vom  Queck- 
silber abgegossen,  filtrirt,  mit  Schwefelsäure  übersättigt  und  mit  alko- 
holfreiem Aether  wiederholt  durchgeschüttelt.  Nach  dem  Entwässern 
der  ätherischen  Auszüge  mittelst  Chlorcalcium  wird  der  Aether  aus  dem 
Wasserbade  abdestillirt  und  die  zurückbleibende  ölförmige  Säure^recti- 
ficirt,  Sie  geht  fast  ganz  zwischen  168^  und  ITo^  über  und  nur  wenn 
die  angewandte  Ghlorquartenylsäure]  etvsas  Chlortetracrylsäure  enthält, 
destillirt  ein  dem  entsprechender  Theil  etwas  höher.     Die  auf  diese 


Ucber  die  Aclliyliliacelsiiiire  und  ciiii^ic  AliköininliiiKf  dcrscllii'ii.  569 

Weise  enlstehendc  Säure  ist  ehiorfrei  und  hat,  wie  die  folgende  Analyse 
zeigt,  die  Zusnmnicnsetzung  :   C'IF'O^. 

0,2500  Gni).  des  zwischen  168  und  IG'J"  destillirten  Thcils  gaben 
0,5105  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,139227  Grni.  =  55,6  Proc.  Koh- 
lensloflund  0,1677  Grni.  Wasser,  enlspr,  0,018633  Grni.  =  7,4  Proc. 
Wasserstoff. 


bc  r. 

gcf. 

C^=    55,8 

55,6 

11«=      7,0 

7,i 

02=    37,2 

— 

100,0 

Die  Quar tenylsäurc  ist  eine  farblose  ölige  Flüssigkeit  von 
stechendem,  an  Buttersäure  erinnernden  Geruch ,  welche  selbst  bei 
—  1 5"  nicht  fest  wird  und  sich  mit  Wasser  in  allen  Verhältnissen  mi- 
schen lässt.  Ihr  Siedepunkt  liegt  bei  17l,90corr.,  ihr  spec.  Gewicht 
ist  1,018  bei  250. 

Sie  entsteht  aus  der  Monochlorquartenylsäure  nach  der  Gleichung : 
G4H'C102  +  2H  =  C^lF-02-|-HCl. 
Aus  12  Grm.  der  ersteren  wurden  7,5  Grm.  der  letzteren  gewonnen. 

Von  den  Salzen  der  Quartenyl säure  sind  die  folgenden  dar- 
gestellt worden : 

Natriumsalz.  Aus  der  mit  Natriumcarbonat  gesättigten  Lösung 
der  Säure  krystallisirt  es  nach  dem  Eindampfen  in  nadeiförmigen,  in 
Wasser  sehr  leicht  löslichen,  in  feuchter  Luft  zerfliesslichen  Krystallen. 

Baryumsalz.  Kleine  luflbeständige,  sehr  leicht  in  Wasser  lös- 
liche Krystalle,  welche  beim  Sättigen  der  Säurelösung  mit  Bariumcar- 
bonat  nach  dem  Eindampfen  der  filtrirten  Lösung  erhallen  werden. 
Ihre  Zusammensetzung  entspricht  der  Formel :  C^H502,  Ba  ^-  OfP. 

0,2763  Grm.  des  lufltrocknen  Salzes  verloren  über  Schwefelsäure 
und  dann  im  Luftbad  auf  105'^  erhitzt  10,6  Proc.  Wasser  und  hintcr- 
liessen  nach  dem  Glühen  0,1571  Grm.  Baryumcarbonat,  entspricht 
0,10925  Grm.  =  39,5  Proc.  Baryum. 

Die  obige  Formel  verlangt:  10,5  Proc.  Wasser  und  39,9  Proc. 
Baryum. 

Calci  um  salz.  Sehr  leicht  lösliche  concenlrisch  gruppirte,  oft 
sternförmig  an  einander  gereihte  Nadeln  oder  Blättchen  von  der  Zusam- 
mensetzung :  0^11502,  Ca  4-  0H2. 

0,3695  Grm.  lufttrocknes  Salz  verloren  über  Schwefelsäure  und 
schliesslich  im  Luftbad  bis  1 02"  erhitzt  0,0504  Grm.  =  1 3,7  Proc.  Was- 
ser und  hinterlicssen  nach  dem  Glühen  0,0861  Grm.  Calciumoxyd,  ent- 


570  A.  Geuther, 

spricht  0,615  Grui.   =   16,6  Proc.   Calcium.      Die  Formel  verlangt: 
14,6  Proc.  Wasser  und  16,3  Proc.  Calcium. 

Bleisalz.  Feine  verfilzte  in  der  Flüssigkeit  hell  und  durchsich- 
tig, nach  dem  Trocknen  weiss  und  atlasglänzend  erscheinende  Nadeln, 
welche  bei  68^  zu  einer  halbdurchsichtigcn  Masse  schmelzen,  die  auch 
nach  dem  Erkalten  amorph  bleibt.     Sie  haben  die  Zusammensetzung : 

(G^H502)2Pb  +  OH2.  Entstehen  durch  Auflösen  von  Bleicarbonat 
in  wässriger,  warmer  Quarlenylsäurelösung. 

0,3016  Grm.  lufttrocknes  Salz  verloren  bei  100«  0,0108  Grm. 
=  3,6  Proc.  Wasser  und  lieferten  0,2284  Grm.  Bleisulfat,  entspricht 
0,15604  Grm.  =51,7  Proc.  Blei. 

Die  Formel  verlangt:   4,6  Proc.  Wasser  und  52,4  Proc.  Blei. 

Sil  bersalz.  Die  Lösung  des  Natriumsalzes  giebt  mit  Argentini- 
trat  einen  weissen  käsigen,  in  Wasser  fast  unlöslichen,  am  Lichtesich 
nur  langsam  schwärzenden  Niederschlag  von  der  Zusammensetzung : 
(C*H''02)2Ag. 

0,2645  Grm.  von  einer  ersten,  durch  zur  vollständigen  Umsetzung 
ungenügenden  Silbernitratmenge  bewirkten  Fällung  verloren  lufttrocken 
angewandt  beim  Erhitzen  auf  95**  (bei  höherer  Temperatur  tritt  Bräu- 
nung ein)  nichts  am  Gewicht  und  lieferten  0,1937  Grm.  Chlorsilber, 
entspr.  0,14578  Grm.  =  55,1  Proc.  Silber. 

0,2051  Grm.  derselben  Fällung  über  Schwefelsäure  getrocknet 
gaben  0,1838  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,050127  Grm.  =  24,4  Proc. 
Kohlenstoff  und  0,0544  Grm.  Wasser,  entspr.  0,006044  Grm.  =  2,9 
Proc.  Wasserstoff. 

0,2726  Grm.  durch  völlige  Ausfällung  des  Filtrats  der  ersten  Fäl- 
lung durch  Silbernitrat  erhalten  und  bei  95"  getrocknet,  lieferten 
0,1996  Grm.  Chlorsilber,  entspr.  0,150222  Grm.  =  55,1  Proc.  Silber. 


ber. 

gef. 

CS  =    24,9 

24,4        — 

Hio=      2,6 

2,9       — 

Ag  =    55,9 

55,1      55,1 

04=    16,6 

—        — 

100,0 

Die  Lösung  der  quartenylsauren  Salze  giebt  mit  Ferrichlorid 
eine  braungelbe,  flockige,  mit  Cupriacctat  eine  hellblaue,  in  kleinen 
Mengen  fast  weiss  erscheinende  Fällung. 

Quartenylsäure  -  Aethyläther.  Farblose,  eigenthümlich 
nicht  unangenehm  riechende  bei  136**  corr.  siedende  Flüssigkeit,  deren 
spez.  Gew.  0,927  bei  19<*  ist. 


lieber  die  Ai'tliyldiaci'lsiiiirc  und  einige  Abköiüinlinge  derselben.  571 

0,1884  Gi-ni.  des  bei  134—1350  destillirtcn  Theils  gaben  0,4381 
Grill.  Kohlensäure,  entspr.  0,11948  Grm.  =  03,5  Proc.  Kohlcnsloir 
und  0,1 539  Gnu.  Wasser,  enlspr.  0,0171  Grm.  =  9,1  Proc.  Wassersloü". 

b  e  r.  g  0  f. 

'  C6    =  63,1  63,4 

W  111"=    8,8  9,1 

02   =  28,1  — 

400,0 


Die  Zersctzuag,  welche  die  Qua  rlenyl säure  beim  Schmel- 
zen m  il  Ka  1  i  h  yd  ra  t  erleidet,  wurde  auf  folt^ende  Weise  untersucht. 
Die  mit  Kalilauge  neulralisirte  Lösung  der  Säure  wurde  zur  Trockne 
eingedampft  und  mit  der  dreifachen  Menge  gepulverten  Kalihydrats  ge- 
mischt im  Silbertiegel  so  lange  vorsichtig  geschmolzen,  bis  die  anfangs 
auftretende  starke  WasscrstofTgascntwicklung  nachliess.  Die  Schmelze 
wurde  nach  dem  Erkalten  gelöst,  mit  Schwefelsäure  übersättigt  und 
destillirt.  Es  wurden  2  saure  Destillate  erhalten,  das  zuerst  überge- 
gangene Destillat  A.  und  das  zuletzt  üi)ergegangcne  Destillat  B.  Das 
erste  Destillat  A.  wurde  nahezu  zur  Hälfte  wieder  mit  Natriumcarbonat 
ncutralisirt  und  abermals  destillirt.  Das  erhaltene  saure  Destillat  wurde 
mit  Natriumcarbonat  schwach  übersättigt,  zur  Trockne  eingedampft 
und  mit  abs.  Alkohol  ausgezogen.  Der  nach  dem  Abdestilliren  des  Al- 
kohols verbleibende  Rückstand  (I.)  betrug  nur  wenig  und  wurde  ganz 
zu  einer  Natriumbestimmung  verwandt. 

I.  Die  0,091 3  Grm.  desselben  wurden  nach  dem  Trocknen  bei  120" 
erst  vorsichtig  geschmolzen,  w'as  ohne  Verlust  geschah,  und  darauf  ver- 
brannt. Es  hinterblieben  0,Oö15Grm.  weisses  geschmolzenes  Natrium- 
carbonat, entspr.  0,02235  Grm.  =24,5  Proc.  Natrium. 

Der  verbliebene  Destillationsrückstand  wurde  nun  mit  Natrium- 
carbonat genau  neulralisirt,  im  Wasserbade  zur  Trockne  gebraciit  und 
mit  einer  zu  seiner  Lösung  unzureichenden  Menge  abs.  Alkohols  dige- 
rirt.  Das  Gelöste  (IL)  sowohl,  als  das  Ungelöste  (IIL)  wurde  jedes  für 
sich  ganz  zur  Analyse  verwandt. 

IL  0,1396  Grm.  getrocknetes  und  ohne  Verlust  schmelzbares  Salz 
hinterliessen  nach  dem  Verbrennen  0,0879  Grm.  Natriumcarbonat,  ent- 
spricht 0,038145  Grm.  =  27,3  Proc.  Natrium. 

IIL  0,1114  Grm.  ebenso  geschmolzenes  Salz  gaben  0,0706  Grm. 
Natriumcarbonat,  enlspr.  0,030638  Grm.  =  27,5  Proc.  Natrium. 

Das  letzte  Destillat  B.  wurde  ebenfalls  mit  Natriumcarbonat  schwach 
übersättigt,  zur  Trockne  gebracht  und  mit  abs.  Alkohol  behandelt.    Das 


572  A.  Gi'uther, 

darin  Lösliche  (IV.)    wurde   nach   dem   Abdestilliren   des  Alkohols  zur 
Analyse  verwandt. 

IV.  Die  0,1970  Grni.  konnten  nach  dem  Trocknen  ohne  Verlust 
geschmolzen  werden.  Sie  hinterliessen  nach  dem  Glühen  0,1277  Grm. 
Natriumcarbonat,  entspr.  0,055417  Grm.  =  28,1  Proc.  Natrium. 

Aus  diesen  Resultaten  folgt,  dass  die  Hauptmenge  der  Salze  (II., 
III.  und  IV.),  also  etwa  Y5  vom  Ganzen,  fast  reines  Natrium- Ac etat 
war,  welches  28,0  Proc.  Natrium  enthält,  und  dass  der  kleine  Theil  (I.), 
also  etwa  1/5  vom  Ganzen,  aus  einem  Gemisch  der  Natriumsalze  von 
Essigsäure  und  noch  unveränderter  Quartenylsäure  (welches  21,3  Proc. 
Natrium  verlangt)  bestanden  hat.  Darnach  kann  es  aber  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass  als  Zersetzungsproduct  der  Quartenylsäure  beim 
Schmelzen  mit  Kalihydrat  nur  Essigsäure  gebildet  wird,  nach  der 
Gleichung : 

C^H502,  K  +  KOH -f  0H2  =  2  (C2H302,  K)  4- 2H. 

Die  Quartenylsäure  stimmt  darin  also  vollständig  überein  mit  der 
einen  von  den  beiden  bekannten  metameren  Säuren,  nämlich  der  Te- 
tracrylsäure  (»feste  Crotonsäure«) ,  unterscheidet  sich  darin  aber  von 
der  andern,  der  Methacrylsäure,  welche  mit  Kalihydrat  geschmolzen 
Ameisensäure  und  Propionsäure  liefert. 

5.  Tetra'crylsäure. 

•  (»Feste  Crotonsäure«.) 

Dieselbe  entsteht  aus  der  Monochlorletracrylsäui'c  auf  ganz  analoge 
Weise  und  unter  analogen  Umständen,  wie  die  Quartenylsäure  aus  der 
Monochlorquarlenylsäure.  Die  mit  Natriumamalgam  behandelte  wäss- 
rige  Lösung  des  Natriumsalzes,  bis  eine  gleichmässigc  Wasserstoffent- 
wicklung eintritt,  wurde  vom  Quecksilber  abgegossen,  mit  Schwefel- 
säure übersättigt  und  mit  Aether  exlrahirt.  Nach  dem  Deslillircn  des 
Aethcrs  im  Wasserbade  bleibt  die  Säure  geschmolzen  zurück.  Sie  er- 
starrte sehr  rasch  beim  Erkalten  zu  farblosen  Nadeln.  Eine  damit  vor- 
genommene Schmelzpunktsbestimmung  ergab  denselben  zu  79, ö^  und 
den  Erstarrungspunkt  zu  78^.  Die  Krystalle  erwiesen  sich  ausserdem ' 
als  frei  von  Chlor.  Da  der  Schmelzpunkt  der  sogen,  »festen  Croton- 
säure« aber  bei  72^  und  ihr  Erstarrungspunkt  bei  70, 5"  liegt,  so  konnte 
die  beobachtete  Abweichung  wohl  in  der  Beimengung  einer  höher 
schmelzenden  Substanz  begründet  sein.  Die  Krystallmasse  wurde  des- 
halb zur  Reinigung  aus  Wasser  umkryslallisirt.  Die  den  grösseren 
Theil  ausmachenden,  zuerst  ausgeschiedenen  Krystalle,  welche  dicke 
farblose  Tafeln  des  monoklinen  Systems  darstellten,   besassen  nun  in 


Uebfir  (lio  Aclliyldiaootsrnirc  und  eiiiiKc  Al)küiniiiliiiy,c  (ler.sollioii.  57^ 

der  Tliat  den  Schmelzpunkt  7I",I),  den  Erslanungspunkl  70"  und  aus- 
serdem den  corr.  Siedepunkt  187^,4,  wie  iiin  die  Säure  aus  Cyanallyl 
zeigt.  Dass  sie  auch  dieselbe  Zusammensetzung  wie  die  letztere  he- 
siissen,  zeigt  die  folgende  Analyse. 

0,2890  Grm.  der  über  Schwefelsäure  getrockneten  Kryslallc  gaben 
0,5912  Grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,161236  Grm.  =  5f),7  Proc.  Koh- 
lenstofl'und  0,1830  Grm.  Wasser,  entspr.  0,020333  Grm.  =  7,0  Proc. 
Wasseivstod'. 


ber. 

gef. 

C*  =    55,8 

55,7 

H«  =      7,0 

7,0 

ü-^=    37,2 

— 

100,0 

Mit  den  späteren  Krystallisationen  stieg  der  Schmelzpunkt  und 
betrug  bei  der  letzten  81 — 81,5",  ohne  dass  äusserlich  eine  Verände- 
rung  an  denselben  wahrzunehmen  gewesen  wäre.  Die  Analyse  dieser 
Partie  ergab  folgende  Zahlen:  0,1995  Grm.  der  geschmolzenen  und 
über  Schwefelsäure  getrockneten  Krystalle  gaben  0,4092  Grm.  Kohlen- 
säure, entspr.  0,1116  Grm.  =  55,9  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1 148  Grm. 
Wasser,  entspr.  0,012756  Grm.  =6,4  Proc.  Wasserstoff;  also  im 
Kohlenstofl'  eine  Abweichung  von  nur  0,1  Proc,  im  Wasserstoff"  von 
0,0  Proc.  von  der  Zusammensetzung  der  Tetracrylsäure.  Darausgeht 
schon  zur  Gnüge  hervor,  dass  die  höher  schmelzenden  Kryslalle  zum 
grössten  Theil  noch  aus  Tetracrylsäure  bestanden,  und  dass  die  Ursache 
des  erhöhten  Schmelzpunktes  der  Beimengung  einer  Säure  zuzuschrei- 
ben ist,  deren  KohlenstofTgehalt  etwas  grösser,  deren  WasserstofTgehalt 
aber  geringer  und  deren  Schmelzpunkt  beträchtlich  höher  sein  muss, 
als  der  der  Tetracrylsäure. 

Es  wurden  nun  sämmtliche  Krystallisationen  vom  Schmelzpunkt 
über  72'*  und  bis  81"  vereinigt  und  destillirt.  Sie  gingen  zwischen 
170"  und  184"  über.  Die  von  170 — 1 75"  destillirte  Portion  besass  einen 
Schmelzpunkt  von  72 — 75"  und  ergab  bei  der  Analyse  56,5  Proc.  Koh- 
lenstoIT  und  6,8  Proc.  Wasserstoff,  während  die  von  175 — 184"  destil- 
lirte Portion  einen  Schmelzpunkt  von  77 — 80"  besass  und  bei  der  Ana- 
lyse 50,3  Proc.  Kohlenstoff  und  6,5  Proc.  Wasserstoff  besass.  Diese 
Resultate  bestätigen  die  oben  ausgesprochene  Vermuthung  im  Betreff 
der  Zusammensetzung  der  Verunreinigung  und  zeigen,  dass  der  Siede- 
punkt derselben  jedenfalls  niedriger,  als  der  der  Tetracrylsäure  sein 
wird. 


574  ^'  Genllier, 

6.   Tetrolsäure. 

Diese  Säure  entsteht  aus  der  Monochlortelracrylsäure,  wenn  deren 
Aetlier  durch  überschüssige  Kalilauge  zersetzt  wird.  Dabei  geht  die 
Monochlorlelracrylsäure  unter  Austritt  von  Chlorwasserstoff  in  Tetrol- 
säure über.  Zu  ihrer  Darstellung  kann  man  bequem  das  ölförmige  Pro- 
duct  der  Einwirkung  von  Phosphorpentachlorid  auf  Aethyldiacetsäure, 
also  das  Gemenge  von  Monochlorquartenylsäure-  und  Monochlortetra- 
crylsäure-Aether  verwenden  (siehe  oben  S.  066).  Man  versetzt  das- 
selbe mit  einer  etwas  grösseren  Menge  Kalilauge,  als  zur  völligen 
Zersetzung  der  Aether  nöthig  ist,  fügt  noch  etwas  Alkohol  hinzu  und 
erwärmt  den  an  einem  umgekehrten  Kühler  befestigten  Kolben  so 
lange  im  Wasserbade,  bis  das  ölförmige  Product  verschwunden  ist. 
Sollte  die  Flüssigkeit,  ehe  dies  geschieht,  neutral  geworden  sein,  so 
fügt  man  noch  etw^as  Kalihydrat  hinzu,  vermeidet  aber  einen  zu 
grossen  Ueberschuss,  da  durch  einen  solchen  die  Tetrolsäure  selbst 
wieder  verändert  wird.  Der  Inhalt  des  Kolbens  wird  nun  destillirt  bis. 
kein  Alkohol ')  mehr  übergeht,  dann  mit  Schwefelsäure  übersättigt  und 
abermals  destillirt  bis  die  als  Aether  vorhanden  gewesene  und  durch 
diese  Operationen  nicht  veränderte  Monochlorquartenylsäure  völlig 
Übergegangen  ist.  Der  saure  Rückstand  wird  mit  alkoholfreiem  Aether 
ausgezogen,  die  ätherische  Lösung  mit  Chlorcalcium  entwässert  und 
im  Wasserbade  vom  Aether  befreit.  Der  beim  Erkalten  krystallinisch 
erstarrende  bräunlich  gefärbte  chlorfreie  Rückstand  kann  durch  mehr- 
maliges Umkrystallisiren  aus  Wasser  farblos  erhalten  werden  und  stellt 
nun  die  reine  Säure  dar.  Dieselbe  besitzt,  wie  die  folgende  Analyse 
zeigt,  die  Zusammensetzung :  C'^H^O'^. 

0,24.^6  Grm.  der  über  Schwefelsäure  völlig  getrockneten  Säure 

aaben  0,51 ':J6  Grm.  Kohlensäure,  entsprechend  0,1398  Grm.  =  57,0 

Proc.  Kohlenstoff  und  0,111  Grm.  Wasser  entspr.   0,012333  Grm.  = 

5,0  Proc.  Wasserstoff. 

ber.  gef. 

C-»  =    57,1  57,0 

H4  =       4,8  5,0 

Q2=    38,1  — 

100,0 

Die  Tetrolsäure  krystallisirt  aus  der  wässrigen  Lösung  in  farblosen, 

durchsichtigen,  rhombischen  Tafeln,  welche  in  Wasser  sehr  leicht  lös- 


1)  Mit  diesem  destillirt  eine  kleine  Menge  eines  durch  Vermischen  mit  Wasser 
und  naclihcriges  Schütteln  mit  Aether  zu  erhaltenden,  lauchartig  riechenden  chlor- 
haltigen Oels,  wahrscheinlich  identisch  mit  dem,  welches  beim  Behandeln  der  Aether 
mit  Salzsaure  übrig  bleibt. 


üeber  die  Aetliyldiacolsanrft  und  einige  Abkömmlinge  derselben.  575 

lieh  und  in  feuchter  Luft  zerfliesslich  sind.  In  Alkohol  uiul  A(;ther  ist 
sie  gleichfalls  leicht  löslich.  Sie  schmilzt,  wenn  über  Schwefelsäure 
völlig  getrocknet,  bei  76**,5  und  erstarrt  vollständig  wieder  bei  70",5. 
Sie  siedet  bei  203"  corr.  und  dcstillirt  unverändert  über,  beim  Erkalten 
sofort  wieder  zu  einer  krystallinischen  Masse  erstarrend.  Sie  geht  aus 
der  Monochlorletracrylsäure  hervor  nach  der  Gleichung : 
C4H5G102  —  HCl  =  C^H402. 

Um  dieser  Gleichung  gemäss  die  Tetrolsäure  direct  aus  der  Mono- 
chlortetracrylsäure  zu  erzeugen,  wurden  2  Grm.  der  Letzteren  mit  drei- 
mal so  viel  Kalihydrat,  als  zur  Neutralisation  hingereicht  hätte,  in  wäss- 
riger  Losung  12  Stunden  im  Wasserbade  unter  Ersetzung  des  verdam- 
pfenden Wassers  behandelt.  Darauf  wurde  die  Flüssigkeit  mit  Schwe- 
felsäure übersättigt  und  mit  reinem  Aether  ausgezogen.  Nach  dem  Ver- 
dunsten desselben  hinterblieb  nur  sehr  wenig  krystallisirte  Säure, 
welche  sich  als  völlig  chlorfrei  erwies  (alle  Monochlortetracrylsäure  war 
also  unter  Bildung  von  Kaliumchlorid  zersetzt  worden),  und  nachdem 
sie  auf  Fliesspapier  über  Schwefelsäure  völlig  getrocknet  worden  war, 
den  Schmelzpunkt  76"  zeigte.  Da  sie  auch  ausserdem  zerfliesslich  wie 
die  Tetrolsäure  war,  so  ist  es  offenbar,  dass  sie  aus  derselben  bestand. 

Der  Grund,  weshalb  trotz  der  völligen  Zersetzung  der  Monochlor- 
tetracrylsäure durch  die  Kalilauge  doch  nur  so  sehr  wenig  Tetrolsäure 
•  erhalten  wurde,  kann  nur  in  einer  weiteren  Zersetzbarkeit  auch  dieser 
Säure  durch  überschüssige  Kalilauge  begründet  sein.  Da  aber  andere 
fixe  Zersetzungsproducte  nicht  aufgefunden  werden  konnten,  so  können 
es  nur  flüchtige  sein,  welche  dabei  entstehen,  vermuthlieh  Kohlen- 
säure und  Aceton,  welche  nach  der  Gleichung  : 

C4H402-f-OH2  =  CO'  +  Cm'0 
aus  ihr  hervorgehen. 


III.  lieber  das  Diäthyldiacetsäure  -  Amid  und  die  Eiiiwirkimg 
von  Ammoniak  auf  Aethyldiacetsäure  •  Aether  in  der  Hitze. 

Die  Einwirkung  des  conc.  Ammoniaks  auf  Aethyldiacetsäure-Aelher 
bei  gewöhnlicher  Temperatur  verläuft  bekanntlich  so,  dass  2  Producte 
etwa  zu  gleichen  Mengen  entstehen:  ein  in  Wasser  lösliche  s!  Amid 
(C''H"N02),  welches  unter  Zutritt  von  1  Mgt.  Ammoniak  und  Austritt 
von  I  Mgt.  Alkohol  entsteht  und  ein  in  Wasser  unlösliches  Amid 
(C''Ii'''NO-],  welches  unter  Zutritt  von  1  Mgt.  Ammoniak  und  Austritt  von 
1  Mgt.  Wasser  gebildet  wird.     Das  Erstere  kann  also  als  das  Amid  der 


576  A.  Geudier, 

Aelhyldiacetsäure,  das  Letztere  als  das  Amid  der  Diaethyldiacelsäure 
oder  aber  als  das  Aelhylaniidder  Aetbyldiacetsäure  angesehen  werden  i). 
Zur  Entscheidung  der  Frage,  ob  die  eine  oder  die  andere  Auffassung 
für  das  unlösliche  Amid  die  richtigere  sei,  wurden  folgende  Versuche 
unternommen. 

1.  Wird  das  unlösliche  Amid  in  schlecht  verschlossenen  Gefasscn 
aufbewahrt,  oder  werden  die  Gefässe  öfters  geöffnet,  so  bemerkt  man 
zugleich  mit  dem  allmählichen  Flüssigwerden  kleiner  Mengen  der  Kry- 
stalle  das  Auftreten  von  Ammoniak.  Es  lag  der  Gedanke  nahe,  dass 
diese  Veränderung  des  Amids  durch  die  Feuchtigkeit  bewirkt  werde 
und  dasselbe  schon  durch  Wasser,  rascher  wahrscheinlich  wässrige 
Sauren  unter  Bildung  von  Ammoniak  wieder  in  Aethyldiacetsäureäther 
übergehe,  aus  welchem  es  durch  Ammoniak  unter  Austritt  von  Wasser 
gebildet  wurde.  Der  Versuch  hat,  was  die  Wirkung  der  verdünnten 
Säuren  anlangt,  diese  Vermulhung  bestätigt.  2  Grm.  des  unlöslichen 
Amids  wurden  mit  verdünnter  Salzsäure  in  einen  verschliessbaren  Cy- 
linder  einen  Tag  lang  öfters  durchgeschüttelt.  Bald  nach  dem  Zusam- 
mensein schon  begann  die  Verflüssigung  der  Krystalle,  allmählich  ver- 
schwand der  eigenthümliche  Geruch  des  Amids  und  dafür  trat  derjenige 
des  Aethyldiacetsäureäthers  auf.  Das  schliesslich  übriggebliebene  Oel 
wurde  von  der  wässrigen  Flüssigkeit  abdestillirt  und  entwässert.  Es 
l)etrug  1,5  Grm.  und  ging  beim  Rectificiren  zwischen  175^  und  196'^ 
über.  Seine  Analyse  ergab,  dass  es  fast  reiner  Aethyldiacetsäureäther 
war.  Der  wässrige  salzsaure  Rückstand  hinterliess  nach  dem  Eindam- 
pfen zur  Trockne  0,75  Grm.  in  absoluten  Aether  unlöslichen,  reinen 
Salmiak.     Wenn  die  Zersetzung  nach  der  Gleichung: 

CbHi5N02  +  OH2  +  llCl  =  C^H'^0'-f-NH4Cl 
verlaufen  wäre,  so  hätten  %  Grm.  Aethyldiacetsäureäther  und  0,7  Grm. 
Salmiak  erhalten  werden  müssen. 

Aus  diesen  Thatsachen  gehr  hervor,  dass  das  unlösliche  Amid  nicht 
als  das  Aethylamid  der  Aelhyldiacetsäure,  sondern  als  das  Amid  der 
Diäthyldiacelsäure  aufzufassen  ist. 

2.  Es  wurden  6  Grm.  des  unlöslichen  Amids  mit  27  Grm.  Wasser 
in  ein  Rohr  eingeschlossen  und  zunächst  im  Wasserbade  erhitzt.  Nach 
kurzei"  Zeit  wurde  das  Rohr  wieder  erkalten  gelassen,  wobei  die  zu 
einem  Oel  geschmolzenen  Krystalle,  vornehmlich  beim  Schütteln,  wie- 
der erstarrten ;  aber  schon  nach  4stündigem  Erhitzen  fand  dies  nicht 
mehr  statt,  zugleich  hatte  das  Oel  an  Volumen  abgenommen.  Es  wurde 
die  Erhitzung  während  mehrerer  Tage  fortgesetzt  und  allmählich  im 


\)  Vergl.  d.  Zeilschrift  Bd.  II.  p.  404. 


Uebei'  die  Aetlivliliacetsäiiifi  iiiid  i'iiiiuc  Abköinmliiiop  dcrsflbcu. 


Ö77 


Luftbad  die  TcinporaUir  bis  1:30"  ij;oslcigerl,  so  lange  nändich,  als  noch 
eine  Vülumabnahnie  des  Oels  zu  bemerken  war.  Das  Volumen  der  nun 
verbleibenden  öligen  Flüssigkeit  betrug  ein  Dritllheil  vom  Volumen  der 
angewandten  geschmolzenen  Krystalle.  Beim  Ocirnen  des  Ilohrs  in  der 
Flamme  war  kaum  ein  Druck  wahrnehmbar,  der  Inhalt  roch  stark  am- 
moniakalisch.  Derselbe  wurde  in  ein  Kölbclien  gespült  und  das  Oel 
mit  dem  Kühler  überdestillirl.  Da  der  wässrige  Tlieil  des  Destillats 
viel  Anunoniumcarbonat  enthielt,  so  wurde  das  gesammte  Destillat  mit 
verdünnter  Schwefelsäure  schwach  sauer  gemacht,  was  unter  starkem 
Aufbrausen  von  Kohlensäure  stattfand,  und  abermals  destillirt.  Die 
Menge  des  über  Chlorcalcium  entwässerten  Oels  betrug  3  Grm.  und 
destillirte  von  78 — '208<'  über.  Es  enthielt  ausser  einer  kleinen  Menge 
Alkohol  hauptsächlich  Aethylaeeton  und  wenig  höher  siedendes  Product, 
Der  erste  wässrige  Destillationsrückstand  wurde  auf  dem  Wasserbado 
langsam  zur  Trockne  gebracht  und  ergab  1  Grm.  des  löslichen  fein 
krystallinischen  Amids  der  Aethyldiacetsäure  mit  all  seinen  charakte- 
ristischen Eigenschaften. 

Der  Verlauf  der  Einwirkung  war  also  der  Hauptsache  nach  so, 
dass  ein  Theil  des  unlöslichen  Amids  unter  Wasseraufnahme  und  Alko- 
holbildung in  das  lösliche  Amid  überging  nach  der  Gleichung: 

C41i^N0-:+  OH2  =  G"HiiN02  +C2HiiO 
und  ein  Thoil    von   diesem   durch    weitere  Aufnahme  von  Wasser  in 
Aethylaeeton,  I<Lohlensäure  und  Ammoniak  verwandelt  wurde  nach  der 
Gleichung : 

C6HiiN02  +  OH2=C^Hioo  +  C02  +  NH^ 

Dass  diese  Zersetzung  des  löslichen  Amids  in  der  That  statthat, 
diess  sowohl  als  das,  warum  es  dieselbe  nur  theilweisc  erleidet,  haben 
zwei  vergleichende  Versuche  gelehrt.  In  dem  einen  wurde  lösliches 
Amid  mit  der  1  üfachen  Menge  reinen  Wassers  in  ein  Rohr  eingeschlossen 
und  während  9  Stunden  auf  1 35*^  erhitzt.  Das  Resultat  war  eine  theil- 
weisc Zersetzung  desselben  nach  obiger  Gleichung  in  Aethylaeeton  und 
Anmioniumcarbonat.  Der  Grund,  warum  eine  vollständige  Zersetzung 
bei  dieser  Temperatur  nicht  statthatte ,  konnte  in  der  Bildung  des  Am- 
moniumcarbonats  begründet  sein,  und  in  der  Thal  blieb  lösliches  Amid 
mit  einer  wässrigen  massig  conc.  Lösung  von  Ammoniumcarbonat  in 
gleicher  Weise  behandelt,  fast  vollständig  unverändert. 

Was  die  geringe  Menge  höher  siedendes  Product  war,  welches  bei 
der.  Zersetzung  des  unlöslichen  Amids  im  oben  angeführten  Versuche 
mit  erhalten  wurde,  konnte  seiner  geringen  Menge  halber  hier  nicht 
entschieden  werden.  Um  dasselbe  in  grösserer  Menge  zu  erhalten, 
wurde  nicht  erst  das  unlösliche  Amid  dargestellt,  sondern  sogleich  die 

Bd.  VI.  4.  39 


578  A.  Gciitlior, 

Materialien  dazu,  Ammoniak  und  Aethyldiacetsäureälher  auf  einander 
wirken  gelassen. 

3.  Aelhyldiacetsäure-Aether  wurde  mit  dem  4 — öfachen  Volum 
conc.  wässrigen  Ammoniaks  in  Röhren  eingeschlossen  und  im  Oelbad 
während  mehrerer  Tage  von  100^  auf  ISO^  erhitzt,  nämlich  so  lange, 
bis  die  Volummenge  des  Aethefs  sich  nicht  mehr  verminderte.  Es  war 
diess  der  Fall,  wenn  die  gute  Hälfte  seines  ursprünglichen  Volumens 
verschwunden  war.  Nach  dem  Erkalten  wurde  die  wässrige  Flüssig- 
keit so  vollständig  als  möglich  vom  aufschwimmenden  Oel  getrennt, 
dieses  zunächst  einmal  mit  reinem  Wasser,  ein  zweitesmal  mit  schwe- 
felsäurehaltigem destillirt  und  dann  entwässert.  65  Grm.  angewandter 
Aether  gaben  so  20  Grm.  ölförmiges  Product. 

Als  die  wässrige  Lösung  destillirt  wurde,  ging  sehr  viel  Alkohol 
mit  nur  wenig  Oel  in  Lösung  über,  ausserdem  war  an  das  mit  destil- 
lirendem  'Ammoniak  eine  beträchtliche  Menge  Kohlensäure  gebunden. 

Das  ölförmige  Product  zeigte  sich  bei  der  Rectification  aus  3  Par- 
tieen  bestehend,  aus  einer  etwas  über  1  00^  siedenden,  aus  einer  zwi- 
schen 190  und  2000  destillirenden  und  aus  einer  von  200 — 21 5^  über- 
gehenden. Die  mittlere  bestand  aus  noch  unzersetzt  gebliebenem  Aethyl- 
diacetsäureälher, sie  wurde  abermals  mit  conc.  Ammoniak  eingeschlos- 
sen und  weiter  zersetzt.  Die  niedrigst  siedende  Portion  war  wahr- 
scheinlich Aethylaceton  ,  sie  wurde  durch  Schütteln  mit  saurem  Na- 
triumsulfit in  eine  krystallinische  Verbindung  übergeführt,  welche  nach 
dem  Abfiltriren  und  Abpressen  durch  Kochen  mit  Natriumcarbonat 
wieder  zersetzt  wurde.  Das  übergehende  Oel,  welches  leichter  als 
Wasser  war,  wurde  mit  Chlorcalciumlösung  geschüttelt,  entwässert  und 
rectificirt.    Es  ging  zwischen  100  und  102o  über. 

0,1678  Gim.  desselben  gaben  0,4273  Grm.  Kohlensäure,  entspr. 
0,11654  Grm.  =  69,5  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1842  Grm.  Wasser, 
entspr.  0,020467  Grm.  =  12,2  Proc.  Wasserstoff. 

Darnach  war  es  also  in  der  That  Aethylaceton ,  welches  vcr- 
laugt:    69,7  Proc.  Kohlenstoff  und  11^7  Proc.  Wasserstoff. 

Die  etwa  8  Grm.  betragende  Menge  höchst  siedendes  Product  wurde 
wiederholt  destillirt,  und  schliesslich,  da  vermuthet  wurde,  dass  es 
der  von  Frankland  und  Duppa  beobachtete  Diäthyl-diacetsäureäther 
(C10H1SO3J  1)  vorzüglich  sein  möchte,  welcher  zwischen  210  und  21 2^ 
destillirt,  das  zwischen  diesen  Temperaluren  übergehende  analysirt. 
Es  wurden  erhalten  63,9  Proc.  Kohlenstoff  und  9,9  Proc.  Wasserstoff, 
während   der  Diälhyldiacetsäureäther   64,5  Proc.  Kohlenstoff  und   9,7 


i)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  138.  p.  208. 


Deber  die  Authylcliiicclsiiiirc  imd  ciiiijio  Ahkömmlinjic  (icrsflljon.  579 

Proc.  Wasscrslofl"  vcrinugl.    Es  unlorlioiil  (hir-nach  keinem  Zweifel,  dass 
in  der  Thal  diess  Produet  Diu  thy  1-di  acelsü  ureii  t  her  ist. 

Aus  diesen  Resultaten  ergiebt  sich,  dass  bei  der  Zersetzung  des 
ActhyldiacetsäuroiUhers  durch  Aiiuuonink  in  höherer  Temperatur  oder 
auch  bei  der  Zersetzung  des  unlöslichen  Amids  (Diüthyl-diacetsäure- 
Amid)  durch  Wasser  in  der  Wärme  neben  löslichem  Amid  (Aetbyldiacet- 
Amid)  eine  geringe  Menge  von  Diäthyl-diacetsäureäther  entsteht  nach 
den  Gleichungen  : 

2CsiIi4O3  +  NU3  =  Ci0Hi8O3  +  C«HiiNO2-|-Ori2 
2C8Hi5N02  +  OH2  =  Ci"His03  +  C6HiiN02  +  NH3. 


Ich  kann  diese  Mittheilungen  nicht  schliessen,  ohne  der  wesent- 
lichen Hülfe  dankend  zu  gedenken,  welche  mir  mein  früherer  Assistent 
Herr  Dr,  0.  Frölich  bei  den  zeitraubenden  und  zum  Theil  schwierigen 
Untersuchungen  in  ausgezeichneter  Weise  geleistet  hat. 

Jena,  Anfang  Februar  1 871 . 


39* 


llntersuchiingcii  über  B<iii  und  Eiitivickeluug  der  Arthropoden^] 

Von 

Dr.  Anton  Dohrn. 


Mit  Tafel  XIV.  u.  XV. 


12.  Zur  Embryologie  und  Morphologie  des  Limulus  Polyphemus. 

Einleitung. 

Unter  allen  heute  lebenden  Grustaceen  lässt  sich  kaum  eine  zweite 
Form  finden ,  die  unter  so  mannigfachen  Gesichtspunkten  ein  gleich 
hohes  Interesse  einflösst,  wie  die  verschiedenen  Arten  der  Gattung  Li- 
mulus. Den  Systematikern  hat  sie  seit  lange  Schwierigkeiten  ver- 
ursacht, da  sie  allem  Anschein  nach  ohne  nähere  Verwandte  besteht 
und  nur  in  oberflächlichen  Berührungen  mit  Formen  wie  Apus  zu 
denken  ist.  Ihnen  und  den  Paläontologen  ward  sie  aber  gleich  wichtig, 
seites  sich  herausstellte,  dass  Petrefacten  wie  B  e  1 1  i  n  u  r  u  s  ein  Mittelglied 
zwischen  Limulus  und  den  Trilobiten  darstellten.  Die  Trilobi- 
ten  aber  reihen  sich  in  vieler  Beziehung  unter  die  interessantesten 
Fossilien,  welche  die  Primärformationen  enthalten.  Sie  zeigen  uns 
eine  Formenwelt,  deren  überaus  reiche  Entfaltung  zu  jenen  sog.  Urzei- 
ten der  Erde  den  schlagendsten  Beweis  liefert,  wie  weit  entfernt  von 
der  Wahrheit  der  Ausdruck  »Urzeit«  für  die  Periode  ist,  in  welcher  die 
Trilobiten  lebten,  da  diese  zu  der  phyletischen  Entwicklung  ihrer  For- 
men, mit  denen  sie  schon  in  den  Cambrischen  Schichten  auftreten,  doch 


1)  Die  zur  Reihenfolge  dieser  Untersuchungen  gehörenden  Aufsätze:  9.  Eine 
neue  Naupliusform  (Archizoea  gigas)  ;  10.  Beiträge  zur  Kennlniss  der  Malacostra- 
ken  und  ihrer  Larven ;  ll.  Zweiter  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Malacoslraken  und 
ihrer  Larven,  befinden  sich  im  XX.  und  XXL  Bande  der  Zeitschrift  für  wissensch. 
Zoologie. 


Uiitcrsuchungeii  über  naii  und  r.nlwickliiiiff  (k'r  Arlliro[io(leii.  5S1 

einen  ganz  gewaltigen  Zeitraum  beanspruchen  müssen.  Den  Moi- 
phologen  fesselt  Limulus  besonders  duich  die  bisher  erfolglos  geblie- 
benen Bemühungen,  die  Conformation  seines  Körpers  in  vergleichender 
Betrachtung  auf  die  andrer  Krebse  zurückzuführen,  —  eine  Lücke, 
welche  der  Embryolog  auszufüllen  hoffen  durfte;  der  Genealog  endlich 
erwartete  nicht  mit  Unrecht,  aus  dem  Studium  der  ontogenelischen 
Entwicklung  des  Limulus  Licht  zu  gewinnen  nicht  nur  über  dieses 
letzteren  eigne  Urgeschichte,  sondern  auch  zugleich  über  die  der  Tri- 
lobi  ten  und  der  gewaltigen  Pterygotus  und  Eurypterus,  deren 
Ueberreste  uns  der  Devon  hinterlassen  hat. 

So  trafen  in  dem  einen  Brennpunkte  Strahlen  aus  den  verschieden- 
sten Disciplinen  der  Zoologie  zusammen  und  machten  das  Studium  der 
Entwicklungsgeschichte  des  Limulus  zu  einem  der  wichtigsten  und 
interessantesten  auf  dem  ganzen  Gebiet  der  vergleichenden  Krebs-Em- 
bryologie. 

Es  waren  solche  Erwägungen,  die  mich  schon  vor  Jahren  bei  dem 
Beginn  meiner  genealogischen  Studien  veranlassten,  diese  Aufgabe  nah 
in's  Auge  zu  fassen.  Ich  versuchte  mir  vor  allen  Dingen  durch  Corre- 
spondenz  Nachrichten  über  Erscheinen,  Lebensweise,  Trächtigkeit  und 
Ei-Ablage  des  Limulus  Polyphemus,  dessen  häufiges  Vorkommen 
an  der  Ostküste  Nordamerikas  ja  hinlänglich  constatirl  ist,  zu  verschaf- 
fen, in  der  Absicht,  wenn  ich  darüber  hinlängliche  Sicherheit  gewon- 
nen haben  würde,  selbst  nach  New-York  oder  Boston  zu  reisen,  und 
an  Ort  und  Stelle  mit  lebendem  Materiale  die  Untersuchung  anzustel- 
len. Nach  vielen  vergeblichen  Versuchen  gelang  es  mir  endlich  durch 
die  freundhchen  Bemühungen  des  Dr.  A.  S.  Packard  jun.  in  Salem 
(Massachusetts]  Auskunft  zu  erhalten,  ja  Dr.  Packard  versprach  sogar 
mir  eine  Zusendung  von  Eiern  und  Embryonen  in  Alkohol  zu  machen, 
da  er  selber  an  lebenden  Stücken  zu  beobachten  gedächte.  Bald  dar- 
auf erschien  in  dem  »American  Naturalist  Vol.  IV.  — Juli,  1870  —  No,  5« 
ein  Aufsatz  »The  horse  Foot  Grab  by  Rev.  S.  Lockwood,  Ph.  D.«  und 
dann  in  derselben  Zeitschrift  No.  8  eine  Mittheilung  Packard's  «On  the 
Embryology  of  Limulus  Polyphemus«,  auf  die  ich  noch  weiter  unten 
zurückkommen  werde.  Im  November  I  870  erhielt  ich  dann  zwei  kleine 
Fläschchen  mit  einigen  Hundert  Eiern  und  Embryonen,  und  lasse  nun 
folgen,  was  mir  deren  Untersuchung  ergab. 

Untersuchung  der  Embryonen  und  Larven  des  Limulus. 

Uel)er  die  ersten  Stadien  bin  ich  leider  nicht  im  Stande ,  etwas  zu 
berichten,  sie  sind  weder  direct  noch  durch  Behandlung  mit  Reagentien 


582  Anton  Dohrn, 

zu  irgend  einer l^enntlichkeit  zu  bringen^).  Was  von  den  oben  genann- 
ten Beobachtern  darüber  mitgetheilt  wird,  werde  ich  weiter  unten  an- 
führen. Nur  die  Grösse  der  Eier  mag  hier  verzeichnet  werden,  Sie 
beträgt  im  Längsdurchmesser  2  Millimeter,  im  Querdurchmesser  1 1/2  Mil- 
limeter, die  Eier  gehören  mit  zu  den  grössten  bekannten  Krebs-Eiern. 
Ihre  Hüllen  sind  sehr  eigenthümlicher  Art.  Die  äussere  ist  ein  dickes, 
lederartiges,  aus,  wie  es  scheint,  6 — 9  einzelnen  Schichten  bestehendes 
Exochorion,  dessen  Bildung  vielleicht  nicht  imOvarium  selbst,  sondern 
in  einem  besondern  dafür  bestimmten  Abschnitt  der  Ausführungsgänge 
bewirkt  wird.  Bei  Schnitten  durch  das  ganze  Ei  sieht  man  die  Schich- 
ten dieses  Exochorion  in  ziemlicher  Deutlichkeit,  und  beim  Zerschneiden 
derselben  in  kleinere  Stücke  kommt  es  oft  vor,  dass  an  den  Ecken  ein 
Aufblättern  derselben  erfolgt. 

Dicht  unter  diesem  lederarligen  Exochorion ,  dessen  Farbe  ein 
schmutziges  Grün  ist,  befindet  sich  das  eigentliche  Chorion,  welches 
durchsichtig  ist,  aber  jene  auffallende,  zellenartige  Structur  besitzt,  die 
wir  schon  mehrfach  an  Chorien  zu  erkennen  Gelegenheit  hatten.  Man 
nimmt  an,  dass  es  von  den  das  Ei  umgebenden  Epitelzellen  des  Eier- 
stocks in  der  Weise  ausgeschieden  würde,  dass  die  Begrenzung  jeder 
einzelnen  Zelle  auch  wieder  an  dem  Ausscheidungsproduct  erkennbar 
würde.  Mag  dem  so  sein  oder  nicht,  bei  dem  Ei  von  Limulus  finden 
wir  wiederum  die  zellenartige  Structur  des  Chorion,  und  zwar  mit  der 
Besonderheit,  dass  es  von  nicht  geringer  Dicke  ist,  diese  Dicke  ermög- 
licht auch  die  später  stattfindende,  ausserordentliche  Dehnung,  die  es 
erleidet,  wobei  die  zellenartige  Structur  den  Anschein  von  dachziegel- 
artig über  einander  liegenden  Schuppen  gewinnt.  Wodurch  es  ge- 
schieht, dass  dies  Chorion,  statt  zu  platzen,  sich  allmählich  immer  mehr 
ausdehnt  und  schliesslich  einen  Durchmesser  von  mehr  als  4  Millimeter 
erreicht,  veimag  ich  an  den  Spiritus-Exemplaren,  die  allein  mir  vor- 
liegen, nicht  zu  ergründen. 

lieber  Dotterfurchung  und  erste  Anlage  des  Embryo  ist  also  von 
mir  nichts  beobachtet.  Das  frühste  Stadium,  das  ich  zur  Untersuchung 
bringen  konnte,  zeigt  bereits  die  Anlage  ven  5  Extremitäten-Paaren, 
die  in  zwei  Reihen  als  kleine  Knöpfchen  an  der  Peripherie  des  Dotters 
dicht  unter  dem  Chorion  zu  erkennen  waren.  Das  fünfte  war  zugleich 
das  grösste,  das  erste  das  kleinste;  dennoch  und  besonders  nach  dem 
Vergleich  mit  spätem  Stadien,  vermuthe  ich,  dass  die  sechste  Extre- 
mität nicht  hinter  jener  fünften,   grössten,   zu  suchen  ist,  sondern  vor 

1)  Leiderwaren  die  Embryonen  nicht  in  absolutem  Aicoliol,  sondern  nur  in 
»starkem  Whislcey« ;  daraus  ergaben  sich  viel  Schwierigkeiten  für  die  Untersuchung 
der  nicht  hinreichend  erhärteten  Cbjecte. 


Untersuchtingeu  über  liaii  und  liiitwicklniig  der  Ardiropoden.  583 

der  ersten,  kleinsten,  und  glaube,  dass  sie  auch  schon  in  jenem  friihslen 
von  mir  beobachteten  Stadium  bestanden  haben  mag,  aber  wohl  nicht 
zu  erkennen  gewesen  ist,  wegen  ihrer  ganz  geringen  Grösse.  Mit  die- 
sen Extremitäten  zusammen  geht  eine  Gürlclbildung  über  die  ganze 
Peripherie  der  Kugel,  die  in  eben  so  viele  Zonen  getheilt  erscheint,  als 
Extremitäten-Paare  zu  sehen  sind,  und  ausserdem  an  den  beiden  Polen 
je  eine  Kappe  besitzt.  Diese  Zonen  deuten  oflenbar  auf  die  ursprüng- 
liche Segmentbildung,  —  wir  könnten  sie,  wenn  etwas  daran  läge, 
»Ursegmenle«  laufen. 

In  diesem  Stadium  erscheint  das  Ei  noch  wenig  über  die  anfäng- 
lichen Dimensionen  hinausgewachsen,  Chorion  und  Exochorron  schlies- 
sen  dicht  an,  —  die  Untersuchung  gelang  mir  nur  durch  einen  Schnitt 
durch  die  Aequatorial-Ebene  des  Eies,  wodurch  es  möglich  ward,  das 
ziemlich  zähe  und  unnachgiebige  Exochorion  zusammt  dem,  ihm  jetzt 
noch  dicht  anliegenden  Chorion  als  eine  halbe  Ilohlkugcl  abzunehmen 
und  den  Keiniabschnitl  direct  unter  das  Mikroskop  zu  bringen. 

Ein  nächstes  Stadium  lässt  bereits  einen  wesentlichen  Forlschritt 
erkennen.  Erstlich  haben  die  Extremilälen  die  Knopfform  aufgegeben 
und  sind  mit  breiterer,  etwas  schräg  und  in  die  Quere  gestellter  Basis 
sowie  mit  nach  innen  mittelst  einer  Beugung  gerichteten  Endabschnit- 
ten versehen.  Dann  aber  macht  sich  eine  weitere  Bildung  hinler  dem 
sechsten  Paare  sehr  deutlich  bemerklich.  Aus  dem  hinlern  Eipole, 
oder  vielmehr  aus  der  Keimhaulskappe ,  welche  ihm  aufsitzt,  bildet 
sich  jetzt  der  ganze  hintere  Leibesabschnilt  des  Limulus.  Der  hinler 
dem  letzten  Exlremilälen-Paare  gelegene  Rand  der  Kappe  verdickt  sich 
etwas;  zu  gleicher  Zeit  entfernt  er  sich  durch  stärkeres  Wachslhum 
der  ganzen  Kappe,  —  wenn  man  sie  so  nennen  will,  der  Schwanz- 
kappe —  von  diesem  Exlremitälenpaare,  und  zwischen  sie  schiebt  sich 
die,  w ie  es  scheint,  gleichzeitig  erfolgende  Anlage  von  zwei  neuen,  und 
dem  Schwanzlheil  angehörenden  Extremitäten  -  Paaren.  Dieselben 
ahmen  aber  durchaus  nicht  die  Form  der  bereits  vorhandenen  nach, 
sondern  entstehen  als  keilförmige  Verdickungen ,  deren  Spitze  nach 
aussen  gelegen  ist,  während  ihr  dickerer  Grundtheil  nach  innen  liegt. 
Ausserdem  ist  ihre  Insertion  noch  um  Vieles  breiter,  als  die  der  älteren 
Extremitäten  und  nach  innen  zu  slosscn  sie  fast  zusammen.  Sie  liegen 
ausserdem  schräg  gegen  die  Mittellinie  des  Keimstreifs. 

Auch  an  dem  vorderen  Hauptabschnitt  des  Eies  machen  sich  Ver- 
änderungen bemerklich.  Die  ganze,  die  Extremitäten  tragende  Seite 
wird  nämlich  von  einer  verdickten  Zone  umgeben,  welche  von  der  wul- 
sligcren  Begienzung  der  Schwiinzkappe  ausgeht  und  etwas  unterhalb 
der  Aequatorialebene ,  also  näher  den  Extremitäten,  und  um  den  vor- 


584  "  Anton  Dohrn, 

deren  Abschnitt  des  Eies  herumgeht.  Diese  Verdickung  stellt  die  erste 
Anlage  des  Kopfschildes  dar,  und  bildet  später  seinen,  mit  mancherlei 
noch  zu  besprechenden  Bildungen  versehenen  Rand. 

So  haben  wir  also  jetzt  zwei  der  typischen  Abschnitte  des  späteren 
L  im  ul  US -Leibes  in  der  Anlage  gegeben.  Es  fehlt  uns  noch  der  dritte, 
der  grosse  Schwanzstachel.  Die  vorhandenen  beiden  sind  aber  noch 
dadurch  wesentlich  von  ihren  späteren  Zuständen  unterschieden ,  dass 
beide  noch  deutlich  eine  Zusammensetzung  aus  Segmenten  erkennen 
lassen. 

An  dem  nächsten  Stadium  haben  wir  zunächst  eine  bedeutende 
Vergrösserung  des  Chorion-Durchmessers  und  eine  zu  glei- 
cher Zeit  erfolgte  Spaltung  de  s  Exochorion  zu  erkennen.  Diese 
Spaltung  erfolgt  durch  mehr  als  %  ^^s  Umfanges  ;  die  beiden  so  ent- 
standenen Halbkugeln  des  Exochorion  umfassen  trotzdem  noch  einen 
Abschnitt  des  Chorions,  welcher  sich  aber  allmählich  immer  mehr  aus- 
dehnend, später  völlig  von  jenen  Halbkugeln  befreit  (Taf.  XIV.  Fig.  1). 
Hier  ist  es  auch  an  der  Stelle,  einer  Bildung  zu  gedenken,  welche  schon 
in  früheren  Stadien  aufgetreten  ist,  aber  schwer  erkennbar  bleibt: 
nämlich  einer  feinen  Membran,  welche  den  ganzen  Embryo  inner- 
halb des  Chorion  umgiebt,  die  entweder  als  Blastodermhaut  aufzufassen 
ist,  oder  als  erstes  Häutungsproduct  des  Embryo.  In  dem  hier  zu  be- 
schreibenden Stadium  findet  sich  diese  Haut  bereits  zerrissen  und  als 
ein  kleiner,  etwas  ins  Gelbliche  spielender  Knäuel  frei  beweghch  zwi- 
schen Embryo  und  Chorion. 

Der  Embryo  bietet  in  diesem  Stadium  (Taf.  XIV.  Fig.  2)  folgende 
Eigenthümlichkeiten  dar.  Die  6  Extremitäten  des  Kopflheiles  sind  in 
die  relativen  Grössen- Verhältnisse  eingetreten,  welche  sie  später  inne- 
halten sollen,  aber  es  ist  noch  keine  Spur  von  Scheerenbildung  an  ihnen 
zu  erkennen.  Das  erste  Paar  liegt  mit  seiner  Insertion,  entsprechend 
seiner  Lagerung  an  dem  fertigen  Thiere,  viel  näher  der  Mittellinie,  als 
das  zweite,  ja  man  könnte  beinah  sagen,  es  läge  zwischen  den  Inser- 
tionspunkten  dieses  zweiten  Paares.  Das  dritte  Paar  wiederum  liegt 
etwas  ausserhalb  des  zweiten  mit  seiner  Insertion.  Das  vierte  und 
fünfte  sind  dem  dritten  ziemlich  gleich,  ihre  Endstücke  sind  alle  noch 
gleichermaassen  nach  innen  gerichtet  und  zugespitzt.  Das  sechste  Paar 
aber  weicht  nicht  unansehnlich  von  dieser  Gestaltung  ab.  Erstlich 
ist  seine  Spitze  anfänglich  zwar  auch  nach  innen  gerichtet,  aber  schliess- 
lich wendet  sie  sich  nach  hinten.  Die  Basis  aber  ist  sehr  viel  ausge- 
dehnter, als  bei  den  vorangehenden  Extremitäten,  da  sie  besonders 
nach  hinten  zu  die  eigentliche  Breite  der  Beinanlage  weit  tafelförmig 
überragt  und  noch  dazu  an  ihrem  äusseren  Stück  einen  kurzen  knöpf- 


Uiitersncliiiiigcn  öbei  Rau  iiiiii  llnlwickliinii  der  ArtliKiiiodcii.  585 

förmigen  Aufsatz  trügt,  aus  welchem  späterhin  der  sonderbare  Anhang 
werden  soll,  welcher  den  Ilüflthcil  des  sechsten  Extremitäten-Paares 
charakterisirt. 

Hinter  diesem  sechsten  Beinpaare  hat  sich  nun  eine  wesentliche 
Neubildung  zugetragen.  Es  haben  sich  nämlich  nach  innen,  mehr  nach 
der  Mittellinie  des  ganzen  Embryo  zu,  zwei  kleine  keilförmige,  nach 
aussen  spitze,  nach  innen  stunipfere  Wülste  gebildet,  welche  in  gewis- 
ser Weise  der  Anlage  nach  den  nachfolgenden  Platten -Extremitäten 
des  Schwanztheils  gleichen ,  doch  aber  wohl  keinerlei  Anspruch  auf 
Gleichselzung  mit  diesen  erheben  können.  Diese  beiden  Wülste  bilden 
in  ihrer  späteren  Ausgestaltung  die  Unterlippe,  welche  von  hinten  her  den 
Raum  der  Kauwerkzeuge  abschliesst  und  vervollständigt.  W^ir  werden 
noch  weiterhin  umständlich  von   diesen  Theilen    zu  sprechen  haben. 

Die  beiden  Extremitäten-Paare  des  Schwanztheils  zeigen  ebenfalls 
eine  Fortbildung.  Sie  haben  sich  mehr  der  Plattengestalt  genähert  und 
ihr  freier  Rarid  ist  mehrfach  eingebuchtet,  gleichsam  als  stellten  diese 
Einbuchtungen  den  letzten  Rest  einer  ursprünglichen  Gliederung  dar. 
Sie  liegen  noch  schräger,  als  in  dem  früheren  Stadium,  was  aber  wohl 
mit  der  Gesammtlagerung  des  Schwanztheils  in  Zusammenhang  zu 
bringen  ist.  Derselbe  zeigt  nämlich  jetzt  auf  das  Allerdeutlichste  die 
Zahl  von  7  Segmenten,  aus  denen  er  zusammengesetzt  ist;  da  er  aber 
gerundet  ist,  und  nach  innen  herumgebogen,  so  bilden  diese  Segmente 
keine  gleichmässigen  Zonen,  sondern  allmählich  sich  verkleinernde  Dot- 
terwülste, die  von  gemeinsamen  Wandungen  eingeschlossen  werden. 

Ausser  den  bisher  erwähnten  Eigenthümlichkeiten  dieses  Stadiums 
ist  denn  nun  auch  Einiges  mitzutheilen  über  die  Anlage  des  Nerven- 
systems, so  weit  die  unvollkommenen  Untersuchungen  an  Spiritus- 
Exemplaren  derlei  Mittheilungen  möglich  erscheinen  lassen.  Wie  zu 
erwarten  stand,  legen  sich  Ganglien  jederseits  von  der  Mittellinie  zwi- 
schen dieser  und  den  Insertionen  der  Extremitäten  an,  —  der  im  er- 
wachsenen Thier  vorhandene  Schlundring,  aus  dem  die  Nerven  für  die 
ü  Paar  Kopf- Extremitäten  hervorgehen,  entsteht  also  in  normalerweise 
als  gewöhnliche  Bauch-Ganglienkette.  Aber  durch  die  Lage  der  Mund- 
öflnung,  welche  aufzufinden  ziemlich  schwierig  war,  wird  eine  grosse 
Anomalie  gegenüber  den  übrigen  Crustaceen  hergestellt.  Bei  allen 
Kruslern  empfangen  nämlich  die  beiden  vorderen  Extremitäten-Paare 
ihre  Nerven  aus  dem  oberen  Schlundganglion,  erst  die  Mandibeln,  als 
drittes  Paar,  werden  von  dem  unteren  Schlundganglion  versorgt.  Bei 
Limulus  aber  wird  nur  das  vorderste  Paar  derGliedmaassen  von  dem 
oberen  Schlundganglion  versorgt,  die  übrigen  empfangen  ihre  Nerven 
aus  der  Bauchganglicnkette.    Dies  Verhällniss,  welches  das  Verstand- 


586  Anton  Dohrn, 

niss  der  Homologieen  ausserordentlich  erschwert,  —  ja  in  gewisser 
Weise  vorläufig  noch  illusorisch  macht,  —  wäre  nur  durch  die  genauste 
Beobachtung  am  Embryo  zu  constatiren,  —  allein  eben  da  wird  es, 
wenigstens  bei  meinen  Untersuchungsobjecten,  sehr  schwierig.  Nun 
findet  sich  zwar  oberhalb  des  ersten  Gliedmaassen-Paares  noch  eine 
nicht  unbeträchtliche  Verlängerung  der  Ganglienkette,  —  wenigstens 
lässt  der  äussere  Anschein  bei  der  Beobachtung  keinen  Unterschied 
zwischen  beiden  Abschnitten  erkennen,  —  und  sogar  eine  Verbreite- 
rung, wie  man  sie  nach  allen  Analogieen  von  dem  oberen  Schlundgang- 
lion  erwarten  konnte,  allein  wie  von  da  und  von  den  übrigen  Ganglien 
die  Nerven  abgehen,  das  zu  beobachten  ist  an  den  Spiritus-Präparaten 
leider  unmöglich.  Die  Mundöffnung  glaube  ich  an  einem  Embryo  genau 
zwischen  der  Insertion  des  zweiten  Extremitäten-Paares  wahrgenom- 
men zu  haben,  die  Abbildung  (Taf.  XIV.  Fig.  2  m)  deutetdies  Verhältniss 
in  sehr  bestimmter  "Wiedergabe  an.  Was  dann  die  Ausdehnung  der 
Ganglienkette  nach  hinten  zu  angeht,  so  erlauben  die  Präparate  auch 
da  keine  klare  Beobachtung ;  es  scheint  allerdings,  dass,  wie  es  von 
vornherein  zu  vermuthen  steht,  zwischen  den  beiden  Platten-Extremitä- 
ten eine  weitere  Ganglienbildung  statthat,  —  aber  da  es  nicht  deutlich 
zu  machen  ist,   so  müssen  wir  es  vorläufig  auf  sich  beruhen  lassen. 

Indem  wir  nun  zu  einem  nächsten  Stadium  übergehen,  erkennen 
wir  sofort  einen  bedeutenden  Schritt  weiter  zur  Realisation  der  eigent- 
lichen Li mulus- Gestalt.  Der  Embryo  ist  nun  ganz  frei  innerhalb 
des  ausserordentlich  ausgedehnten  Chorionsundflotlirtdarin,  wenn  man 
die  Kugel  umrollt.  Die  beiden  Hauptabschnitte  des  Körpers,  Kopf-  und 
Schwanztheil,  sind  deutlich  von  einander  geschieden,  der  letztere  hat  sich 
etwas  nach  oben  geklappt,  so  dass  man  seine  Unterseite  erkennen  kann. 
Von  dem   Schwanzstachel  ist  noch  keine  Spur  wahrzunehmen. 

Der  Kopftheil,  —  um  von  diesem  zuerst  zu  sprechen,  —  hat  sich 
zu  einem,  von  unten  gesehen,  breiten  Schilde  ausgebildet.  Seine  Rän- 
der sind  stark  gerundet,  sein  Hinterrand  ist  ziemlich  gerade  abgestutzt. 
Die  Oberseile  —  der  Rücken  —  ist  vollkommen  halbkuglig  gewölbt. 
Sein  Innenraum  ist  völlig  mit  Dottermasse  erfüllt.  Dieser  Dotter  lässt 
nachfolgende  Vertheilung  erkennen  :  Von  oben,  d.h.  vom  Rücken  ge- 
sehen, nimmt  man  vor  Allem  eine  bilaterale  Symmetrie  wahr.  Sie  ist 
besonders  deutlich  am  Vorderrande,  wo  die  ganze  Dottermasse  durch 
eine  halbkreisrunde  Einbuchtung  des  Kopfschildes  getheilt  ist.  Diese 
Theilung  setzt  sich  an  der  Oberfläche  des  Dotters  bis  an  den  hinteren 
Rand  des  Kopfschildes  fort,  —  es  bildet  sich  hier  später  das  lange 
Rückengefäss  aus.  Zu  beiden  Seiten  dieser  Furche  erkennt  man  6  quere, 
lappenartige  Theilungen  der  Dottermasse,  —  die  letzten  Andeutungen 


üiitcrsiiclimigcii  filjcr  Bau  iiiiil  lüitwickliiiiK  der  Ailhiopodeii.  587 

der  ursprünglichen  Zonenbildung.  Jetzt  liegen  sie  aber  nicht  mehr 
parallel,  sondern  die  drei  vorderen  sind  radienarlig  von  der  Mitte  des 
Kopfschildes  nach  vorn  gerichtet.  Auch  sind  diese  vorderen  Dolter- 
lappen  an  ihren  blinden  Enden  wieder  in  mehrere  secundiire  Lappen 
gespalten,  —  sie  bereiten  sich  vor,  aus  sich  die  Verästlungen  der  zahl- 
reichen, den  Innenraum  des  Kopfschildes  durchziehenden  Leberschliiuche 
zu  bilden.  Auf  der  Unterseite  erkennt  man  die  Theilung  der  Dotter- 
lappen noch  leichter,  sie  ist  hier  noch  mannichfaltiger. 

Sehr  wichtig  ist  eine  Neubildung,  die  man  nach  dem  Rücken  des 
Kopftheiles  wahrnehmen  kann.  Es  findet  sich  nämlich  dicht  unter  der 
Wandung  über  den  Spitzen  der  drittletzten  Dotterlappen  jedcrseits  ein 
schwarzer  Pigmentfleck,  von  länglicher  Form,  etwa  dreimal  so  lang  als 
breit.  Ebenso  ist  in  der  Mittellinie,  dicht  hinter  der  halbkreisrunden 
Einbuchtung  zwischen  den  dort  befindlichen  Doiterlappen  ein  dritter 
schwarzer  Pigmentfleck  zu  erkennen.  Wir  haben  es  hier  natürlich  mit 
der  Anlage  der  seitlichen  grösseren  und  der  beiden  centralen  kleineren 
Augen  zu  thun. 

Auch  in  dem  Schwanzlheil  zeigt  sich  die  Dottermasse  in  7  aufein- 
ander folgende,  in  der  Mitte  durch  eine  auf  der  Rückenseite  verlaufende 
Furche  geschiedene  Wülste  gelheilt,  damit  gleichfalls  die  ursprüngliche 
Segmentzahl  andeutend. 

Was  dann  die  Extremitäten  anlangt,  so  ist  jetzt  schon  die  Gliede- 
rung und  Scheerenbildung  vollkommen  deutlich  erkennbar,  wenn  auch 
nicht  bis  zur  völligen  Ausbildung  gelangt;  die  Beine  sind  auseinander- 
gefaltet und  ragen  fast  überall  über  den  Rand  des  Kopflheils  hinweg. 
Wie  es  zu  erwarten  stand,  sind  auch  jetzt  die  Grössenverhältnisse  ins 
Definitive  übergetreten.  Das  erste  Paar  ist  wesentlich  kleiner,  als  die 
übrigen  und  ist  mit  seiner  Insertion  fast  ganz  in  die  Mitte  gerückt. 
Ihm  gegenüber,  am  hinteren  Ende  des  Kopftheils,  sieht  man  die  beiden 
kleinen  Platten,  welche  die  Unterlippe  darstellen,  jetzt  noch  mit  ihren 
Spitzen  nach  hinten  und  aussen  gerichtet,  aber  doch  auch  schon  mehr 
in  der  Form,  welche  sie  später  definitiv  einnehmen  sollen. 

Wenn  somit  die  beiden  Bildungen,  weiche  vorn  und  hinten  den 
Kauraum  einschliessen,  noch  nicht  zur  völligen  Reife  gediehen  sind,  so 
fehlen  auch  an  den  Hüfttheilen  der  dazwischen  liegenden  Extremitäten 
noch  die  Zähne  und  Zacken,  welche  bei  dem  in  der  Gestalt  ausgebilde- 
ten Thiere  die  wesentlichsten  Kauorgane  herstellen.  Von  der  Mund- 
öffnung ist  jetzt  gar  nichts  mehr  zu  sehen,  offenbar  weil  die  Oberlippe^ 
deren  gesonderte  Wahrnehmung  freilich  in  diesem  wie  in  den  vorher- 
gehenden Stadien  nicht  möglich  war,  sich  darüber  ausdehnt,  und  unter 
sich  den  Eingang  in  den  Vorderdarm  verdeckt. 


588  Anton  Dohrn, 

Von  den  Ganglien  ist  an  Embryonen  dieses  Stadium  nichts  mehr 
von  der  Fläche  her  wahrzunehmen,  und  alle  Schnitte,  die  ich  machte, 
um  aufs  Klare  zu  kommen,  misslangen  wegen  zu  geringer  Consistenz 
der  embryonalen  Gewebe. 

Sehr  bedeutende  Fortschritte  haben  auch  die  beiden  bis  jetzt  allein 
vorhandenen  Plattenpaare  des  Schwanztheiles  gemacht.  Beide  sind  in 
ihrer  Gestalt  als  Platten  vollkommen  ausgebildet,  auch  ist  an  ihrer 
Innern  Seite  der  kleine,  meist  als  innerer  Ast  betrachtete  Anhang  deut- 
lich zu  erkennen.    (Taf.  XIV.  Fig.  3.] 

Wenn  wir  nun  wieder  einen  Schritt  weiter  thun,  so  kommen  wir 
an  ein  Stadium,  welches  sich  bereits  von  der  Umhüllung  der  Ghorion 
befreit  hat.  Auch  ist  eine  Cuticula,  welche  auf  der  vorigen  Stufe  den 
ganzen  Embryo,  sowie  auch  die  einzelnen  Extremitäten  umhüllte,  be- 
reits entfernt,  und  wir  erkennen  wieder  einen  wesentlichen  Schritt 
weiter  zur  Erlangung  der  endgültigen  Gestalt.  Das  Stadium,  welches 
wir  jetzt  betrachten  wollen,  können  wir  am  besten  und  bezeichnend- 
sten das  Trilobiten-Stadium  benennen,  wodurch  zu  gleicher  Zeit  aus- 
gedrückt ist,  ein  wie  hohes  Interesse  wir  daran  zu  nehmen  haben. 
Die  Dimensionen  der  Larve,  —  denn  so  müssen  wir  das  Thier  nach 
dem  Verlassen  des  Chorion  folgerichtigerweise  nennen,  —  sind  :  in  der 
Länge  3  Millim.,  von  denen  der  Kopftheil  die  grössere  Hälfte  einnimmt, 
grösste  Breite  des  Kopfschildes  am  Hinterrande  2,8  Millim.,  Breite  des 
Schwanztheils  2,2  Mm.    (Taf.  XIV.  Fig.  4.) 

Als  wesentlichste  Neuerung  tritt  uns  die  Gestaltung  des  Kopfschil- 
des entgegen.  Hier  ist  keine  Spur  mehr  von  der  ursprünglichen  Coni- 
position  aus  6  Zonen  oder  Ringen ,  sondern  ein  gemeinsames  Ganze, 
dessen  Conformation  am  besten  auf  dem  Querschnitte  zu  studiren  ist. 
Da  kann  man  nämlich  mit  Leichtigkeit  einen  centralen  und  zwei  seit- 
liche Abschnitte  unterscheiden.  Der  centrale  erhebt  sich  leistenförmig 
in  der  Mittellinie  und  fällt  nach  beiden  Seiten  in  ziemlich  starker  Sen- 
kung ab;  die  seitlichen  Theile  setzen  sich  daran,  anfänglich  ziemlich 
horizontal,  dann  bilden  auch  sie  eine  Leiste  und  fallen  jenseits  derselben 
ziemlich  schräg  gegen  den  Aussenrand  zu  ab  (Taf.  XV.  Fig.  1 2) .  Der  Kiel 
des  centralen  Theils  beugt  sich  in  ziemlich  starker  Krümmung  gegen  den 
Vorderrand  zu;  die  Leiste  der  beiden  seitlichen  Stücke  geht  mit  stärkerer 
Krümmung  als  der  Aussenrand  des  ganzen  Kopfschildes  um  den  Cen- 
traltheil  herum ;  wo  sie  mit  dem  Centralkiel  nah  am  Vorderrande  zu- 
sammentrifft, liegt  der  centrale  Pigmenlfleck  mit  den  beiden  noch  weiter 
zu  besprechenden  centralen  Augen.  Auf  halbem  Laufe  dagegen  tragen 
diese  seitlichen  Leisten  eine  kleine  Wölbung,   in  welcher  die  Pigment- 


Uiiteisiicliiiugeii  über  Biiii  iiiiil  Kiilwickliiiin  tl"''  Arlhropodcii.  580 

Masse  und  die  lichtbrechenden  Theile  der  grösseren  seillichen  Augen 
belegen  sind. 

Das  Kopfschild  ragt  seitlich  und  vorn  ziemlich  weit  nach  unten 
vor,  so  dass  es  die  sämmtlichen  Extremitäten,  welche  gewöhnlich  zu- 
sammengebogen sind,  von  oben  her  wie  von  den  Seiten  völlig  bedeckt. 
Der  Aussenrand  ist  mit  mehrfachen  Cuticular- Anhängen  versehen, 
über  die  aber  erst  bei  der  Besprechung  des  nächsten,  des  eigentlichen 
L  imulus- Stadiums  nähere  Angaben  gebracht  werden  sollen. 

Der  Schwanztheil  hat  fast  noch  beträchtlichere  Veränderungen  auf- 
zuweisen. Deutlich  erkennt  man  jetzt,  dass  er  aus  8  Segmenten  be- 
steht, deren  jedes  wiederum  in  einen  Centraltheil  und  zwei  Leisten- 
theilen  sich  ändert,  Sämmtliche  Centraltheile  bilden  zusammen  ein 
Gegenstück  zu  dem  Centraltheil  des  Kopfschildes:  mit  breiter  Basis 
beginnend  ,  verengern  sie  sich  bis  zu  der  Spitze  des  Schwanztheils, 
welche  in  einer  Verlängerung  des  centralen  Kiels  besteht,  der  über  alle 
Segmente  sich  hinzieht.  Während  aber  am  Kopfschild  keinerlei  Seg- 
mente mehr  erkennbar  sind,  sieht  man  am  Schwanztheil  die  Segment- 
grenzen als  zarte  Linien  über  den  Kiel  herüberziehen,  ja  an  den  letzten 
beiden  Segmenten  bildet  der  Kiel  kleine  Vorsprünge,  die  ein  wenig 
über  die  Basis  der  folgenden  Segmente  wegragen.  Der  Centraltheil  ist 
gleichfalls  über  die  Seilenlheile  erhoben.  Diese  letzteren  sind  nach 
unten  und  hinten  gebogen,  und  zwar  ist  jedes  folgende  Segment  stär- 
ker nach  hinten  gerichtet,  als  das  vorhergehende,  so  dass  das  letzte 
fast  die  ganze  jetzt  bereits  bestehende  Anlage  des  Schwanzstachels  ein- 
schliesst.  Die  einzelnen  Segmente  verbreitern  sich  gegen  den  Aussen- 
rand hin,  der  Aussenrand  selbst  ist  gezähnt,  dicht  hinter  einer  äusser- 
sten  Kante,  die  wie  ein  scharfer  Zahn  vorspringt,  befindet  sich  jeder- 
seits  ein  beweglicher  Dorn.  Nur  am  ersten  und  am  achten  Segment 
fehlen  diese  Dornen.  Das  erste  Segment  hat  weiterhin  die  Eigenthüm- 
lichkcit,  dass  sein  Centraltheil  nicht  mehr  deutlich  erkennbar  ist,  da 
derselbe  in  die  Einsenkung  trifft,  welche  zwischen  Kopfschild  und 
Schwanztheil  besteht.  —  eine  Einsenkung,  welche  durch  die  später  zu 
berührenden  Ortsbewegungen  des  L imulus  bedingt  wird.  Ebenso 
ist  auch  die  Grösse  der  Seilenlheile  dieses  Segments  geringer,  —  wie 
es  auch  später  gegenüber  den  andern  Segmenten  eine  grössere  Selbstän- 
digkeit beobachtet. 

Zwischen  den  Seilentheilen  des  achten  Segments  endlich  findet 
sich  die  erste  bestimmte  Anlage  des  Schwanzstachels.  Wahrscheinlich 
haben  wir  in  ihm  ein  neuntes,  wenn  nicht  noch  mehr  Segmente,  zu 
oiblicken.     Der  Kiel  der  Centraltheile  aller  übrigen  Segmente  setzt  sich 


590  Antou  üohrn, 

auch  auf  ihn  fort,  aber  er  ragt  noch  nicht  so  bedeutend  vor  den  übrigen 
Segmenten  nach  hinten  zu  vor. 

Die  Unterseite  des  ganzen  Schwanztheils  ist  ebenso  gewölbt,  wie 
die  des  Kopfschildes,  so  dass  die  an  ihm  befindlichen  Extremitäten 
gleichfalls  vollkommen  bedeckt  und  geschützt  sind. 

Was  nun  die  sämmtlichen  Extremitäten  selbst  anlangt,  so  haben 
wir  es  jetzt,  —  abgesehen  von  der  Zahl,  —  im  Wesentlichen  bereits 
mit  der  Gestaltung  zu  thun,  wie  wir  sie  bei  dem  ausgewachsenen  Li- 
mulus  antreffen.  So  sind  besonders  die  des  Kopftheils  so  gut  wie  gar 
nicht  davon  unterschieden,  abgesehen  davon,  dass  sie  noch  vollständig 
durchsichtig  sind,  und  dass  die  Zähne  und  Stacheln  an  den  Hüftstücken 
weniger  zahlreich  sind.  Auch  ist  der  sexuelle  Unterschie(^,  der  sich  an 
der  zweiten  Extremität  daran  bemerklich  macht,  dass  dieselbe  beim 
Männchen  keine  Scheere  trägt,  jetzt  noch  keineswegs  erkennbar,  denn 
bei  allen  Embryonen  und  Larven,  unter  denen  sicher  ein  gut  Theil 
Männchen  sind,  trägt  das  zweite  Extremitäten-Paar  seine  Scheere  so 
gut  wie  alle  übrigen.  Nur  an  dem  sechsten  Paare  gewahrt  man  ge- 
ringfügige Verschiedenheiten,  insofern  die  Scheere,  welche  auch  hier 
besteht,  im  Verhältniss  zu  den  später  sie  umgebenden  Stacheln,  noch 
ziemlich  gross  ist. 

Abweichender  gestalten  sich  in  Etwas  die  Extremitäten  des  Schwanz- 
theils. Ursprünglich  offenbar  nach  einem  Typus  gebaut  und  zu  den- 
selben Functionen  verwandt,  haben  sie  ihre  Gestalt  etwas  differenzirt, 
als  die  Functionen  sich  schieden.  Das  erste  Paar  trägt  bekanntlich  bei 
dem  erwachsenen  Limulus  keine  Branchialplatten,  sondern  dient  ein- 
mal als  Deckplatte  für  die  übrigen  5  Paare,'  dann  aber  trägt  er  auf 
seiner  nach  innen  gekehrten  Fläche  die  Mündung  der  Geschlechtsorgane. 
Durch  beide  Thätigkeiten  hat  es  sich  einigermaassen  geändert  in  seiner 
Gestalt.  Beim  ausgewachsenen  Thiere  sind  die  beiden  Extremitäten  in 
der  Mitte  zu  einem  Stücke  verschmolzen,  so  dass  sie  aufhören,  geson- 
dert bewegt  zu  werden.  Im  Embryo  sind  sie  anfänglich  natürlich  voll- 
ständig getrennt,  und  noch  in  der  Larve,  ja  sogar  noch  wenn  die  end- 
gültige Limulus-Gestalt  schon  angenommen  ist,  erkennt  man  in  der 
Mittellinie  sehr  deutlich  die  ursprüngliche  Trennungslinie.  Die  Grund- 
form nun,  aus  der  bei  dem  Embryo  sowohl  dies  erste,  als  die  darauf 
folgenden  Plattenpaare  sich  aufbauen,  ist  eine  nach  hinten  und  aussen 
abgerundete  Platte ,  die  mit  breiter  Basis  der  Unterseite  des  Schwanz- 
theHs  eingefügt  ist,  und  an  der  inneren  Kante  einen  kleinen,  platten, 
schmalen  und  nach  aussen  gekrümmten  Fortsatz  trägt.  Aus  diesen 
beiden  Elementen  entstehen  durch  Gliederung  resp.  Verwachsung  die 
Deckelplatten  und   die  kiemeniragenden  Platten.     Die  äussere  grosse 


lIiilcisiRliiiiiiicii  Über  Bau  und  Kiihvickluiifi  der  Ardiropodcii.  591 

Scliciho  zerfällt  in  I  Abschnitte,  die  sich  durch  ebensoviele  grade  quer- 
ilberhiurcnde  Beuguugslinien  von  einander  sondern  lassen.  Die  Grös- 
senverhiiltnisse  dieser  AbscJinilte  sind  ursprünglich  die  folgenden  :  der 
Basaliibschnitt  ist  der  kleinste,  der  auf  ihn  folgende  ist  kaum  grösser, 
—  beide  zusammen  sind  die  Träger  der  anfänglich  nur  aus  5  Blättern 
bestehenden  eigentlichen  Kiemen.  Der  dritte  Abschnitt  ist  der  grösste, 
der  viei'le  etwas  kleiner,  so  gross  wie  der  erste  und  zweite  zusammen- 
genommen. Bei  dem  ersten  l'lattenpaare  überwiegt  dieser  letzte  Ab- 
schnitt indess  bedeutend  an  Grösse  alle  übrigen;  und  der  Randab- 
schnitt verändert  sich  bei  den  Kiementrägern  weiterhin  wesentlich,  je 
mehr  Kiemenblätter  von  ihm  aus  sich  bei  den  späteren  Häutungen  er- 
zeugen. 

Worin  übrigens  am  meisten  die  Larven  von  den  fertigen  Thieren 
abweichen,  ist  nicht  sowohl  die  Gestalt  als  vielmehr  die  Zahl  der  Plat- 
ten. Ausser  den  Deckelplatten  besitzt  der  Limulus  noch  fünf  kie- 
menlragende  Platten.  Bei  der  Larve,  welche  das  Trilobiten-Stadium 
repräsentirl,  linden  sich  aber  nur  zwei  vorgeschrittenere  und  ein  drittes 
eben  angelegtes  Plattenpaar;  bei  dem  jüngsten  Limulus- Stadium 
ist  dies  dritte  Paar  auch  schon  weiter  entwickelt  und  ein  viertes  ange- 
legt. Die  weitere  Entwicklung  der  vorgeschrittenen  Form  macht  sich 
am  wesentlichsten  kenntlich  durch  Erzeugung  und  Vermehrung  der 
eigenllicheu,  an  der  Rückseite  der  Basalabschnitte  auftretenden  Kie- 
menblätter. 

Der  kleine  innere  Anhang  der  Platten  wird  an  dem  Deckelplatten- 
paar spitzig  und  fast  rudimentär.  Bei  den  nachfolgenden  gliedert  er 
sich  in  drei  Abschnitte,  deren  erster  sich  an  den  dritten  Abschnitt  der 
grossen  Scheibe  anfügt.  Zwischen  ihnen  erscheint  bei  allen  Piatten- 
panren  ein  medianer,  spitzer,  zipfelartiger  Fortsatz  des  verwachsenen 
Theils  der  Platten.  Nur  bei  dem  Deckelplaltenpaare  fehlt  dieser  Zipfel, 
weil  da  die  Verwachsung  sich  sogar  auf  die  inneren  Anhänge  selbst 
erstreckt. 

Betrachten  w  ir  nun  die  Veränderungen,  welche  mit  der  äusseren 
Gestalt  unserer  Larven  vor  sich  gehen,  wenn  sie  nun  schliesslich  in  die 
definitive  Limulus-Form  übergehen.  Ich  halte  mich  dabei  an  ein 
Exemplar,  welches  einschliesslich  des  Schwanzstachels  6  Millim.  in  der 
Länge,  i,.T  Millim.  in  der  grössten  Breite  des  Kopfschildes  misst. 

Am  Kopfschilde  selbst  haben  wir  als  wichtigste  Veränderung  der 
ganzen  Form  die  Bildung  eines  breiteren,  abgeplatteten  Vorderrandes 
zu  erkennen,  dessen  äussere  Kante  leicht  nach  oben  aufgebogen  ist  und 
jedenfalls  dem  Thiere  seine  eigenthümliche,  schaufelnde  Bewegung  we- 
sentlich erleichtert.    Ausserdem  tritt  der  Centralkiel  und  die  seitlichen 


592  Atitou  Dolirii,  • 

Leisten  sehr  viel  schärfer  hervor,  und  an  der  Stelle,  wo  die  mittleren 
Augen  sich  befinden,  erhebt  sich  ein  kleiner  Höcker. 

Viel  bedeutender  sind  die  Umwandlungen  des  Schwanztheiles, 
den  wir  jetzt  ebensogut  das  Schwanzschild  nennen  können.  Die  noch 
in  dem  vorigen  Stadium  sehr  deutliche  Segmentirung  ist  fast  vollstän- 
dig geschwunden,  —  nur  das  erste  Segment  lässt  noch  eine  gewisse 
Selbständigkeit  erkennen.  Die  übrigen  sind  zu  einem  gemeinsamen, 
in  sich  nicht  weiter  beweglichen  Schilde  vers  hmolzen,  welches  ähn- 
lich wie  das  Kopfschild  am  Vorderrande  so  am  Hinter-  und  besonders 
an  den  Seitenrändern  abgeplattet  ist.  Diese  eigenthümliche  Abplat- 
tung werden  wir  als  aus  der  Lebensweise  der  Thiere  hervorgegangen, 
nachher  leicht  einsehen  lassen.  Das  Schwanzschild  ist  nicht  mehr  so 
gerundet,  wie  es  im  vorigen  Stadium  war,  vielmehr  ist  der  mittlere 
Kiel  stärker  hervorragend,  und  an  den  Seiten  ist  die  bereits  erwähnte 
Abplattung  auch  auf  der  Oberseite  spürbar.  Die  Seitenränder  sind 
auch  weniger  gerundet,  im  Ganzen  weniger  schräge  geworden.  Die 
beweglichen  Dornen,  welche  an  den  Hinterwinkeln  der  einzelnen  Seg- 
mente Sassen,  befinden  sich  auch  noch  an  derselben  Stelle,  nur  in  so 
weit  verschieden,  als  der  Rand  jetzt  wie  ein  Ganzes  erscheint,  das 
sägeförmig  ausgezackt  ist ;  in  dem  Boden  der  Zacken  stehen  jetzt  die 
Dornen. 

Von  dem  centralen  Kiele  fallen  die  Seitentheile,  wie  gesagt,  schräg 
nach  unten  ab,  —  mit  Ausnahme  des  ersten,  mehr  selbständigen  Seg- 
ments. Dieses  erhebt  sich  nämlich  an  den  Seiten  flügelartig,  sein  Aus- 
senrand  biegt  sich  sogar  höher  hinauf  als  der  Centraltheil ,  und  mit 
einer  geschwungenen  Linie  bildet  er  eine  Fortsetzung  der  stark  erha- 
benen Leiste  des  Seitentheils  des  Kopfschildes.  Auch  diese  auffallende 
Bildung  dürfte  durch  Betrachtung  der  Lebensweise  des  Limulu^  ver- 
ständlich werden. 

In  dem  hinteren  Ausschnitt  des  Schwanzschildes  lenkt  sich  nun 
der  endlich  frei  und  vollständig  gewordene  Schwanzstachel  ein.  Er 
ist  jetzt  noch  nicht  so  lang  wie  die  Längsaxe  des  Centraltheils  des 
Schwanzschildes. 

So  weit  lässt  sich  an  dem  mir  vorliegenden  Materiale  die  Entwick- 
lung der  äusseren  Gestaltung  des  Limulus  verfolgen.  Um  zu  einigen 
Einblicken  in  die  Bildung  der  inneren  Organe  und  der  feineren  histo- 
logischen Differenzirung  zu  gelangen,  griff"  ich  zu  dem  Mittel,  Längs- 
und Querschnitte  anzufertigen.  Dieselben  gelangen  einigermaassen  nur 
bei  den  beiden  letzten  Stadien,  dem  Trilobiten-  und  dem  eigentlichen 
Limulus-Stadium.     In  denselben  beobachtete  ich  Nachfolgendes. 

Der  Darm  setzt  sich  wie  gewöhnlich  aus  Vorder-,   Mittel-  und 


Untersiichiingoii  über  Biin  und  I'ntwicklmig  der  Arlliropoden.  593 

Ilinterdarm  zusammen  (Taf.  XV.  Fig.  10).  Die  Mundöffnung  erkennt  man 
an  den  Liingsschnilton  unlcrhalb  des  zweiten  Exlremitälonpaares ;  man 
begreift  dann  auch,  dass  sie  von  der  Bauclilläclie  aus  nicht  sichtbar  zu 
machen  ist,  weil  die  Oberlippe  sie  gänzlich  verdeckt.  Der  Oesophagus 
steigt  nur  ganz  gering  an,  begiebt  sich  nach  vorn  und  bildet  dort  eine 
grössere  Höhlung,  welche  ober  von  den  Wandungen  aus  wiederum  durch 
Vorsprünge  in  kleinere  Abtheilungen  getheilt  wird  und  so  den  compli- 
cirten  Magen  bildet,  welchen  wir  am  ausgebildeten  Thiere  kennen. 
Auf  dem  Querschnitt  sind  diese  VorsprUnge  am  besten  zu  erkennen, 
denn  durch  sie  wird  das  Lumen  vollkommen  sternförmig.  Die  Verbin- 
dung des  Mitteldarms  mit  dem  Vorderdarm  geht  mit  einer  Intussus- 
ceptio  des  letzleren  in  den  ersteren  von  Statten,  —  die  histologische 
Vorbindung  ist  nicht  näher  erkennbar.  Der  Mitleldarm  ist  am  breite- 
sten an  der  Aufnahmestelle  des  Vorderdarms,  er  geht  fast  cylindrisch 
bis  über  die  halbe  Länge  des  Schwanzschildes  und  verbindet  sich  dort 
in  gleichfalls  nicht  weiter  erkennbarer  Weise  mit  dem  Hinterdarm,  der 
an  der  W^urzel  des  Schwanzstachels  eine  fast  kreisrunde,  deutlich  er- 
kennbare Afteröffnung  zeigt.  Nicht  uninteressant  war  es  mir,  in  dem 
Mitteldarme  noch  die  deutlich  erkennbaren  Reste  eines  Copepoden  zu 
finden,  der,  wie  es  scheint,  zur  Familie  der  Corycäiden  gehört  hat,  — 
es  beweist  dieser  Fund,  dass  Limulus  seine  Nahrung  nicht  so  voll- 
ständig zur  Unkenntlichkeit  zermalmt,  wie  es  von  anderer  Seite  be- 
hauptet wird. 

An  dem  Längsschnitt  kann  man  nun  auch  sehen,  wie  die  ur- 
sprüngliche Anlage  der  Ganglien  allmählich  zu  der  ringförmigen  Ge- 
stalt sich  zusammendrängt,  mit  der  sie  am  erwachsenen  Thiere  auftritt. 
Freilich  ist  es  nicht  möglich,  diesen  Vorgang  genau  zu  verfolgen,  — 
aber  man  erkennt  doch  den  alhnählichen  Process  des  Zusammendrän- 
gens. In  dem  letzten  Stadium,  das  hier  besprochen  werden  kann,  ragt 
die  Oberlippe  und  mit  ihr  die  Mundöffnung  schon  bis  an  das  dritte 
Bauchganglion,  —  die  vorhergehenden  zwei  sind  also  schon  zu  Seiten- 
theilen  des  später  sich  bildenden  Ringes  geworden.  Das  obere,  oder 
hier  richtiger  das  vordere  Schlundganglion  ist  bei  weitem  das  grösste; 
seine  histologische  Composilion  wie  auchdieder  übrigen  Ganglien  scheint 
aus  zwei  verschiedenartigen  Theilen  zu  bestehen,  die  wir  hier  freilich  nur 
als  helle  und  dunklere  Masse  unterscheiden  können.  Erstere  wird  von 
letzterer  umgeben.  An  den  eigentlichen  Bauchganglien  bemerkt  man 
gleichfalls  diese  beiden  Substanzen ;  die  hellere  bildet  auf  der  Ober- 
seite eine  dünne  zusammenhängende  Schicht,  die  dunklere  auf  der  Un- 
terseite :  beide  greifen  mit  abgerundeten  längeren  Fortsätzen  in  einan- 
der w4e  Zahn  und  Trieb,  —  wobei  noch  zu  bemerken,   dass  nach  vorn 

r.j.  VI.  '..  /,u 


594  Anton  Dohrn, 

zu  eine  wesentliche  Verkleinerung  statt  hat,  so  dass  das  erste  Bauch- 
ganglion fast  ganz  verschwindet.  Wie  sich  hinter  dem  sechsten  Bauch- 
ganglion die  weitere  Beschaffenheit  des  Nervensystems  darstellt,  ist 
wiederum  nicht  ergründlich. 

Zwischen  Mitteldarm  und  Nervensystem  findet  sich  aber  noch  ein 
Raum ,  der  von  einem  eigenthümlichen  Gebilde  eingenommen  wird. 
Es  ist  eine  Sehnenscheibe,  —  (»lame  aponeurotique«  Van  der  Hoeven's) 
—  welche  den  meisten  Muskeln  sowohl  des  Kopf-  als  auch  des  Schwanz- 
schildes zum  Ansatzpunkt  dient  (Taf.  XV.  Fig.  12  pl).  Welcher  Art  ihre 
histologische  Composition  ist,  giebt  uns  weder  Van  der  Hoeven  noch  der 
die  Histologie  ausführlicher  behandelnde  Aufsatz  Gegenbaur's  an,  (»Anato- 
mische Untersuchung  eines  Limulus  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Gewebe  1 858«).  —  Dass  sie  nicht  von  derselben  knorpelartigen  Beschaf- 
fenheit ist,  wie  die  nachher  zu  erwähnenden  Kiemenstützen,  scheint 
aus  der  sehr  deutlich  erkennbaren  Structur  dieser  letzteren  hervorzu- 
gehen. 

Ueber  dem  Mitteldarm  findet  sich  das  sehr  umfangreiche  Rücken- 
gefäss,  das  vorn  über  dem  Magen  sich  theilt,  nach  hinten  zu  aber  bis 
an  das  Ende  des  Mitteldarms  verläuft.  Von  den  andern  Gefässen  ist 
mit  Deutlichkeit  nichts  wahrzunehmen.  Nur  Eins  kann  ich  der  ziem- 
lich ausführlichen  Beschreibung  Gegenbaur's  noch  hinzusetzen :  die  Exi- 
stenz eines  grossen  Randgefasses  im  Kopfschilde.  Am  lebenden  Thiere, 
würde  man  der  Durchsichtigkeit  halber  bestimmen  können,  ob  dies 
Gefäss  ein  Sammelplatz  venösen  oder  ein  Vertheilungsbezirk  für  arte- 
rielles Blut  ist,  —  nach  Analogie  mit  andern  Krustern  möchte  man  ge- 
neigt sein,  es  lieber  für  einen  Sammelplatz  verbrauchten  arteriellen 
Blutes  zu  halten,  welches  von  allen  Seiten  her  aus  dem  grossen  Kopf- 
schilde in  dies  Randgefäss  zusammenliefe.  Ueber  Vorhandensein  von 
discreten  Wandungen  kann  ich  nichts  ermitteln. 

Interessanter  als  diese  spärlichen  Angaben  sind  die  Notizen,  welche 
in  Bezug  auf  die  Muskulatur  und  ihre  Insertion  zu  geben  sind.  Von 
hier  aus  werden  wir  nämlich  am  besten  im  Stande  sein,  die  Geschichte 
der  Umwandlung  der  Trilobiten- Vorfahren  in  den  heutigen  Limu- 
lus zu  verstehen.  Van  der  Hoeven  hat  zwar  im  Wesentlichen  das  ganze 
Muskelsystem  beschrieben,  allein  über  die  allmähliche  Ausbildung 
findet  sich  nichts  bei  ihm.  Bekannt  ist,  dass  sich  im  Schwanzschilde 
je  0  Apophysen  des  Rückenpanzers  nach  innen  begeben ,  und  dass 
diese  der  Muskulatur  zum  Ansatz  dienen.  Im  jugendUchen,  besonders 
im  Trilobilen-Stadium  erkennt  man  nun  deutlich,  welcher  muskulösen 
Einwirkung  diese  6  oder  vielmehr  7,  —  denn  man  muss  die  an  der 
Grenze  zwischen  Kopf-  und  Schwanzschild  den  letzteren  auch  noch 


Uiilcrsucliiiiigpii  filxT  Ball  1111(1  Kiitwickliiiiii  der  Artlirn|(0(l('ii.  595 

zurechnen  —  Apopliysen  ihre  Enlslcliunij;  veidonken.  (lowohnlich  hiilL 
man  dafür,  dass  sie  den  Kienienniuskeln  luuiplsächlicli  zum  Ansatz 
dienen,  —  das  ist  aber  nicht  richtig.  In  der  Hauptsache  ist  es,  wie 
Vax  dkr  Hokven  auch  angiebt,  die  Muskulatur,  welche  von  der  im  Kopf- 
schilde über  dem  Nervensysteme  gelegenen  Sehnenscheibe  abgeht,  und 
die  sich  im  Schwanzschilde  in  eben  so  viele  Bündel  spaltet  als  Apophy- 
sen,  d.  h.  mit  andern  Worten,  als  Segmente  ursprtinglich  in  die  Bil- 
dung des  Schwanzgebildes  eingegangen  sind.  Durch  diese  Muskulatur 
und  ihre  Richtung  ist  auch  die  Richtung  der  Apophysen  bedingt,  die, 
wie  die  Abbildung  lehrt,  je  weiter  nach  hinten  entspringend,  desto 
entschiedener  nach  vorn  gekrümmt  sind,  so  dass  die  gesammte  Con- 
traction  des  grossen  Muskels  an  jeder  einzelnen  Apophyse  einen  mäch- 
tigen Zug  ausüben  und  das  ganze  Schwanzschild  gegen  das  Kopfschild 
stark  beugen  wird.  Wir  werden  nachher  bei  der  Schilderung  der 
Lebensweise  des  Limulus  erkennen,  von  welcher  Bedeutung  diese 
Muskelaction  für  die  Thiere  ist. 

Es  steht  nicht  anders  zu  erwarten,  als  dass  dieser  kräftigen  Mus- 
kelgruppe ein  ebenso  kräftiger  Antagonist  Widerpart  halten  wird.  Und 
so  sehen  wir  auch  in  der  That  von  dem  Centraltheil  des  Kopfschildes 
und  besonders  von  den  auch  hier  nach  innen  entwickelten,  aber  als 
zusammenhängende  Leisten  erscheinenden  Apophysen  an  der  Verbin- 
dungsstelle des  Cenlraltheiles  mit  den  Seitentheilen  des  Kopfschildes 
eine  grosse  Zahl  von  Muskelbündeln  entspringen,  die  sich  alle  conver- 
girend  an  eine  starke  von  dem  Vorderrande  des  Schwanzschildes  unter 
den  Hinterrand  des  Kopfschildes  vorragende  Leiste  ansetzen  und  durch 
ihre  Contraction  die  Beugung  des  Schwanzschildes  aufheben  und  in 
eine  Streckung  verwandeln  werden. 

Neben  diesen  beiden  hauptsächlichsten  Muskelbezirken  haben  wir 
dann  die  der  Extremitäten  zu  betrachten,  wobei  uns  wesentlich  nur 
die  der  Huftslücke,  als  in  directem  Zusammenhang  mit  der  Ausbildung 
der  äusseren  Körpergestalt  stehend  interessiren.  Hier  haben  wir  sowohl 
Muskeln,  die  sich  an  die  Sehnenscheibe,  wie  solche,  die  sich  an  die 
Apophysen  des  Kopfschildes  ansetzen.  Sie  sind  Beuger  und  Strecker 
und  bewogen  das  llüftstück  sowohl  um  seine  Quer-  als  um  seine  Längs- 
axe.  Für  die  Plattenpaare  des  Schwanzschildes  ist  als  allgemeineres 
Resultat  von  Interesse ,  dass  die  Apophysen  der  Rückenseite  nur  in 
sehr  secundärer  Weise  zu  Stützpunkten  ihrer  Muskeln  werden,  wäh- 
rend neben  ihnen  die  Ilauptmuskeln  sich  direct  an  die  Rückenseite  an- 
setzen. 

Von  anderweitigem  Interesse  ist  die  Bildung  jener  knorpelartigen 
Stränge,  welche  zuerst  und  ziemlich  ausführlich  von  Gegenbaur  (a.  a.  0. 

40* 


596  Anton  Dolirn,  .. 

p.  15  ff.)  beschrieben  werden.  Sie  entstehen  als  eine  auf  dem  Längs- 
schnitt doppelte  Zellschicht  im  Innern  der  Plattenpaare.  Eine  solche 
Platte  legt  sich  aber  aus  5 — 7  solcher  Zellschichten  an ;  die  äusserste 
wird  zur  eigentlichen  Wandung,  welche  die  Cuticula  ausscheidet,  die 
übrigen  wachsen  mannichfaltig  aus  in  die  verbindenden  Balkchen,  jene 
typischen  Bildungen  aller  Grustnceen-Kiemen,  oder  schieben  sich  bei 
weiterer  Entwicklung  in  die  Reihe  der  äusseren  Schichten  ein,  nur  die 
beiden  mittleren  Schichten  bleiben  an  einander  vorläufig  unverändert 
liegen,  niiht>rn  sich  zwar  der  vorderen  Wandung  der  Platte,  scheinen 
aber  doch  nur  an  der  Spitze  in  bestimmtere,  gewebliche  Verbindung 
mit  demselben  zu  treten,  ragen  aber  weit  hinein  in  die  Höhlung  des 
Schwanzschildes,  wo  sie  aussen  von  den  bereits  mehrfach  besprochenen 
Apophysen  der  Rückenfläche  ein  Ende  nahmen.  Auf  den  Querschnit- 
ten, die  durch  das  Schwanzschild  geführt  werden,  erkennt  man  dann, 
dass  von  oben  nach  unten  diese  knorpelartigen  Stränge  sich  verbrei- 
tern, dass  aber,  während  sie  oben  vielleicht  nur  die  Breite  von  2—^3 
Zellen  haben,  sie  unten  7— 10  besitzen  (Taf  XV.  Fig.  6,7f/;  10,13/1;; 
14).  Kehren  wir  aber  wieder  zu  dem  Längsschnitt  zurück,  so  sehen 
wir,  wie  bei  weiter  vorgeschrittenen  Plattenpaaren  zwischen  Knorpel- 
strang und  die  Wandungen  der  dazu  gehörigen  Platte  starke  Muskel- 
bündel sich  gedrängt  haben,  welche  sich  an  sie  von  beiden  Seiten  an- 
setzen und  antagonistisch  abduciren  und  adduciren.  In  jeder  der  Zellen 
erkennt  man  einen  Kern;  die  Zellen  sind  aber  sehr  ungleich  in  Grösse 
und  Gestalt,  auf  den  Schnitten  in  Canadabalsam  und  Glycerin  erschei- 
nen sie  etwas  bläulich.  Aus  dieser  Darstellung  geht  hervor,  dass  jede 
der  Knorpelkapseln  ,  die  noch  so  viele  Tochterzellen  enthalten  mag, 
einer  dieser  ursprünglichen  Zellen  entsprochen  haben  muss. 

Bei  der  Bildung  der  Kiemenblätter  macht  sich  innerhalb  der  In- 
nenwand der  betreffenden  Platte  eine  Wucherung  und  Faltenbildung 
der  Matrix  geltend,  so  dass  die  sämmtlichen  bei  der  nächsten  Häutung 
entstehenden  Kiemenblälter  hier  als  ebensoviele  Falten  der  Plattenwan- 
dung vorgebildet  sind.  Die  einander  gegenüberliegenden  Wandungen 
der  einzelnen  Blätter  senden  dann  Fortsätze  aus,  und  so  entsteht  das 
bekannte  Kiemen- Gitlerwerk. 

Eine  auffallende  Bildung  ist  fernerhin  an  den  Plattenpaaren  zu 
registriren.  Wie  die  Abbildungen  (Taf.  XV.  Fig.  5 — 8)  erläutern,  bestehen 
sie  ursprünglich  aus  einer  einfachen  Blase,  welche  an  dem  untern,  Innern 
Winkel  einen  kleinen  Anhang  haben.  Allmählich  macht  sich  eine  Gliede- 
rung und  eine  basale  Verwachsung  bemerkbar.  Der  grössere,  blasenför- 
mige  Abschnitt  erhält  vier  Einbuchtungen,  welche  ebenso  vielen  Quer- 
linien entsprechen,  die  mehr  oder  weniger  vollständig  die  ganze  Breite  des 


üntersucliuiigcii  über  Biui  und  Kiitwickliing  der  Arthioiiüden.  597 

Anhanges  durchziehen,  und  so  eine  Art  von  Gliederung  herstellen.  An 
der  Innenseile  des  so  entstandenen  dritten  Gliedes  lenkt  sieh  dann  der 
ursprüngliche  Anhang  ein,  der  nun  auch  seinerseits  in  drei  Glieder 
gelheilt  erscheint.  Zwischen  den  beiden  Anhiingen  beider  Plalten 
macht  sich  dann  ein  allmählich  innner  weiter  sich  ausdehnender,  durch 
Verwachsung  der  basalen  Theile  der  Innenränder  entstandener  spitzer 
Forlsalz  geltend.  Die  Ränder  der  so  entwickelten  Platten  sind  mit 
Ilaaren  dicht  besetzt,  ja  auch  auf  der  Wandung  finden  sich  dünner 
stehende.  Nun  zeigt  sich  aber  eine  sonderbare  Bildung  auf  dem  drit- 
ten Gliede  des  äusseren,  grösseren  Abschnittes  der  Platte,  —  nämlich 
ein  Oval,  das  von  einer  scharfen  doppelten  Conlur  umgeben,  dunkler 
gefärbt  als  der  übrige  Theil  der  Platte,  aber  ebenfalls  mit  ausgewachse- 
nen Querbälkchen  versehen  ist  (Fig.  6  u.  T  a) .  Mir  ist  bis  jetzt  unerfindlich, 
wozu  dies  Gebilde  dient.  Dass  es  aber  von  Bedeutung  sein  muss,  erkennt 
man  aus  dem  weiter  entwickelten  zweiten  Plaltenpaare,  wo  ein  ähn- 
liches Oval  in  dem  letzten  Gliede  des  grösseren  Abschnittes  auftritt,  mit 
dem  Unterschiede  jedoch,  dass  während  das  Eine  in  der  äusseren  Wan- 
dung der  Platten  liegt,  das  Andere  sich  in  der  inneren  vorfindet.  Die 
Kiemenplalten  befinden  sich  an  dem  ersten  und  zweiten  Gliede  der 
Platte  inserirt,  so  zwar,»dass  die  Zunahme  immer  an  dem  ersten  Gliede 
erfolgt,  das  sich  dann  auch  weiterhin  in  immer  mehr  gliederartige 
Abschnitte  zu  Iheilen  genöthigt  ist. 

Die  Muskulatur  zur  Bewegung  der  Plattenpaare  senkt  sich  bis  in 
das  Basalglied  des  inneren  dreigliedrigen  Anhangs;  dagegen  erkennt 
man  den  knorpelartigen  Strang  nur  bis  zur  Grenzlinie  des  zweiten  und 
dritten  Gliedes  des  grösseren  äusseren  Abschnittes,  woselbst  er  von 
den  Muskeln  umgeben  wird ,  sich  aber  mit  der  Aussenwandung  der 
Platten  in  näherer  Weise  zu  vcibinden  scheint. 

Abweichend  in  Function  und  Struclur  ist,  wie  schon  erwähnt  und 
auch  ohne  das  längst  bekannt,  das  erste  Plattenpaar  (Fig.  5).  Es  ist  das 
grösste  und  bedeckt  die  übrigen  von  unten  her.  In  dem  jungen  Li- 
mulus  ist  es  eben  so  durchsichtig  wie  die  anderen  Plaltenpaare  auch, 
irägl  aber  eine  stärkere  Behaarung  auf  der  Aussenseile  der  Wandungen. 

Der  Anhang  stellt  hier  nicht  mehr  einen  so  bedeutend  entwickelten 
Theil  dar,  ist  nicht  mehr  dreigliedrig,  vielmehr  sind  die  sonst  vorhan- 
denen beiden  Endglieder  hier  in  eine  kleine,  geringfügige  Spitze  ver- 
wandelt, an  der  man  die  rudimentäre  Natur  des  Gebildes  besonders 
wahrnehmen  kann.  Die  Platten  sind  bereits  mit  einander  am  Innen- 
rande eng  verbunden,  doch  ist  noch  ein  ziemlich  langer  Spalt  vorhan- 
den, der  erst  später  verschwinden  mag.  Das  Grössenverhällniss  der 
einzelnen  Glieder  des  hier  fast  ausschliesslich  bestehenden,  äusseren 


598  Anton  Üolirn, 

Theils  ist  auch  von  dem  der  übrigen  Plattenpaare  untersctiieden,  denn 
das  letzte  Glied  ist  fast  ebenso  gross  wie  die  übrigen  zusammenge- 
nommen. 

Da  die  Extremitäten  des  Kopftheils  fast  gar  nicht  von  denen  des 
erwachsenen  Thieres  unterschieden  sind,  uns  also  wesentlich  nur  in 
morphologischer  Hinsicht  bezüglich  der  Homologie -Bestimmung  von 
Interesse  sind,  so  übergehen  wir  hier  ihre  nähere  Betrachtung  und 
enden  die  Darstellung  unserer  nur  fragmentarischen  Untersuchung  mit 
dem  Hinweis  auf  einige  Cuticularbildungen  des  Kopfschildes. 

Fassen  wir  den  Rand  dieses  Körpertheiles  näher  ins  Auge,  so  zeigen 
sich  mancherlei  Caticular-Anhängean  demselben  (Taf.  XV.  Fig.  1  (5).  Die 
gewöhnlichsten  sind  natürlich  Haare.  Deren  finden  wir  zwei  Arten,  die 
sich  eigentlich  nur  der  Grösse  nach  unterscheiden.  Nicht  ohne  Bedeutung 
ist  die  Richtung  derselben  ;  man  sieht  sie  nämlich  sich  von  beiden  Seiten 
der  Mittellinie  nach  hinten  und  aussen  lagern,  sie  stehen  nicht  nach  vorn 
vor  oder  aufrecht.  Interessanter  aber  als  diese  Gebilde  sind  andere. 
Der  Vorderrand  des  Kopfschildes  erscheint  mit  sonderbaren  napfartigen 
Gruben  ausgerüstet,  die  durch  einen  langen  Canal  in  directe  Verbin- 
dung mit  dem  Innenraum  des  Schildes  zu  treten  scheinen.  Der  Canal 
ist  doppelt  contourirt  und  scheint  in  seinem  Innern  einen  Faden  zu  be- 
herbergen. Es  ist  mir  nicht  gelungen,  diesen  Faden  überall  deutlich 
zur  Anschauung  zu  bringen,  seine  Existenz  ward  mir  aber  in  einigen 
dieser  Canäle  unzweifelhaft.  Nach  innen  zu  wusste  ich  ihn  in  keine 
Verbindung  mit  andern  Bildungen  zu  bringen,  —  was  wohl  eine  Schuld 
des  mannichfaeh  veränderten,  ins  Undeutliche  gebrachten  Gewebes  ist. 
Nach  aussen  aber  scheint  er  sich  an  eine  sonderbare  Art  Stachel  fort- 
zusetzen, welche  auf  dem  Grunde  der  erwähnten  Gruben  mit  kegelför- 
miger Basis  sich  ansetzt  und  in  eine  scharfe  feine  Spitze  ausläuft,  die 
noch  ein  kleines  Stück  über  den  Rand  der  Grube  hervorsieht.  Ich 
glaube  nicht  im  Unrecht  zu  sein,  wenn  ich  diesen  Apparat  für  ein  Sin- 
nesorgan halte,  der  an  dieser  Stelle  dem  Thiere  um  so  werthvoller  sein 
muss,  als  der  Mangel  von  eigentlichen  Antennen  es  gegen  vielfache 
Einflüsse  schutzlos  gelassen  hat.  Doch  hierüber  werden  wir  weiter 
unten  noch  weiter  zu  sprechen  haben. 

Die  Behaarung  des  grössten  Theiles  des  Kopfschildes,  die  zackige 
Natur  des  Seiten-  und  eines  Theils  des  Hinterrandes  sind  Erscheinun- 
gen, welche  weiter  nichts  Merkwürdiges  bieten.  Das  Innere  des  Kopf- 
schildes zeigt  noch  die  bei  Krebsen  so  häufige  und  besonders  bei  den 
Larven  der  Panzerkrebse,  den  Phyllosomen,  genauer  bekannte  Bildung 
von  Querbälkchen  zwischen  oberer  und  unterer  Wandung,  zwischen 
denen   beim  jungen  Thiere  die   vielfältig  verzweigten  Leberschläuche 


Uiilerstichmigeii  liln-r  Hau  und  Kiilwickliinu;  ili'r  Aiiliroiiodcii.  599 

sich  ausdehnen,  bei  dem  alten  noch  die  ausserordentlich  umfangreichen 
Geschlechtsorgane  sich  finden. 

Und  so  haben  wir  denn  zuletzt  nur  noch  zu  sagen,  dass  die  Sli'uc- 
tur  der  seitlichen  Augen  uns  verborgen  geblieben  ist,  die  der  einfache- 
ren, vorderen  aber  in  zwei  linsenförmigen  Verdickungen  der  Culicula 
besieht,  welche  nach  innen  in  je  einen  kleinen  Hohlraum  vorragen, 
der  von  der  gemeinsamen  Pigmentmasse  begrenzt  w  ird  ;  diese  Pigment- 
masse  steht  durch  einen  dünnen  Streifen  schwarzen  Pigments  mit  einer 
andern  noch  grösseren,  aber  ganz  unregelmässig  gestalteten  Pigment- 
masse in  Verbindung,  die  sich  auf  der  Unterseite  des  Kopfschildes  dicht 
vor  dem  oberen  Schlundganglion  ausbreitet  (Taf.  XV.  Fig.  15). 

Soweit  erlaubte  das  etwas  mangelhafte  Material,  das  mir  vorlag,  in 
die  Entwicklungszustände  des  Limulus  einzudringen,  —  ich  werde 
nun  versuchen,  aus  den  bereits  angeführten  Aufsätzen  der  beiden  ame- 
rikanischen Naturforscher  einige  ergänzende  Angaben  zusammenzustel- 
len, zugleich  auch  auf  einige  Widersprüche,  die  zwischen  ihnen  und 
meiner  Untersuchung  bestehen,  hinzuweisen.  Da  aber  besonders  der 
Aufsatz  des  Rev.  S.  Lockwood  eine  ziemlich  ausführliche  Darstellung 
der  Lebensweise  des  Limulus  enthält,  auch  über  die  Zeit  und  andere 
äussere  Umstände  der  Entwicklung  sehr  werthvolle  Angaben  enthält,  so 
glaube  ich  am  besten  zu  thun,  wenn  ich  seinen  Aufsatz  auszUglich,  aber 
ohne  etwas  Wichtigeres  zu  übergehen,  hier  reproducire. 


Dr.   S.  Lockwood  und  Dr.  A.  S.  Packard  über  Lebens- 
weise und  Entwicklung  des  Limulus. 

(American  Naturalist  IV.  No.  5  &  8.  1870.) 

»Die  nachfolgende  Darstellung  der  Lebensweise  des  Limulus  ist 
das  Resultat  von  Beobachtungen,  die  sich  über  mehrere  Jahre  erstreckten. 

»Der  Limulus  lebt  in  massig  tiefem  Wasser,  —  etwa  von  2  bis 
G  Faden  (12 — 36  Fuss).  Mit  Ausnahme  ganz  junger  Exemplare,  die 
wahrscheinlich  von  der  Fluth  dahin  gebracht  werden,  sieht  man  nie- 
mals den  Limulus  in  seichtem  Wasser,  —  es  sei  denn  zur  Zeit  der 
Fortpflanzung.  Er  ist  recht  eigentlich  ein  wülilendes  Thier  und  lebt 
buchstäblich  im  Schhunm,  worin  er  sich  seinen  Weg  mit  grosser  Leich- 
tigkeit bahnt.  Beim  Wühlen  wird  die  vordere  Kante  des  Kopfschildes 
nach  unten  gedrückt  und  schaufelt  nach  vorwärts,  während  das  Schwanz- 
schild winklig  dagegen  gebeugt  ist  und  die  scharfe  Spitze  des  Schwanz- 
stachels als  Fulcrum  dient,  indem  es  den  Schlamm  durchdringt.  Au 
der  Unterseite  sind  die  Füssc  ununterbrochen  ihätig,  die  Eide  aufzu- 


600  Allton  Dohni, 

kratzen  und  nach  beiden  Seiten  hervorzustossen.  Auf  diese  Weise 
bildet  sich  eine  auffallende  Kraftersparniss  in  der  Wtihlarbeit  des  Li- 
mulus,  denn  das  abwechselnde  Beugen  und  Strecken  des  Kopf-  und 
Schwanzschildes,  verbunden  mit  der  drängenden  oder  schiebenden 
Thätigkeit  des  Schwanzslachels  bewerkstelligen  zu  gleicher  Zeit  das 
Graben  und  das  Fortschreiten  unter  dem  Schlamme.  Dieserhalb  könnte 
man  den  Li  mulus  den  Seemaulwurf  nennen. 

»Limulus  ist  ein  Fleischfresser,  seine  Nahrung  bilden  die  wei- 
chen Nereisarlen  und  andere  Würmer.  Mitunter  findet  man  Exemplare, 
deren  eine  Extremität  zwischen  die  Schalen  einer  Venus  mercena- 
ria  eingeklemmt  ist.  Das  kommt  daher,  weil  auch  Venus  merce- 
naria  ein  Wühler  ist;  der  Limulus  packt  dabei  gelegentlich  ihren 
Sipho,  den  das  Mollusk  aber  rasch  einzieht,  wol)ei  dann  die  Limulus- 
Klaue  mit  zwischen  die  Schalen  geräth  und  dort  festgehalten  wird.  In 
dem  Wunsch  genau  zu  ermitteln,  welche  Nahrung  und  wie  die  Thiere 
sie  verzehren,  setzte  ich  ein  Exemplar,  das  den  Sommer  vorher  ausge- 
krochen war,  in  ein  kleines  Aquarium  und  gab  ihm  eine  reichliche 
Masse  von  frischer  und  zartei"  Ul  va  latissima.  Aber  dieser  Meeres- 
Salat  blieb  gänzlich  unberührt,  obwohl  der  junge  Limulus  seit  drei 
Wochen  nichts  anderes  zu  essen  bekommen  hatte.  In  der  That  hatte 
ihn  der  Hunger  auch  buchstäblich  durchsichtig  gemacht.  Darauf  ver- 
suchte ich  es  mit  animalischer  Kost.  Ich  öffnete  eine  lebendige  Venus 
mercenaria,  störte  den  kleinen  Burschen  aus  seinem  Schlupfwinkel 
im  Sande  auf  und  gab  ihm  ein  Stück  von  der  Muschel,  Sofort  machte 
er  sich  darüber  her  und  vertilgte  es  mit  wahrem  Heisshunger.  Ausser 
dieser  hauptsächlichen  Speise  gab  ich  ihm  zu  verschiedenen  Zeiten  noch 
andere  Nahrung.  Jedes  Mollusk,  das  hinreichend  zart  war,  behagte 
ihm.  Er  ass  sogar  Rindfleisch,  aber  nicht  mit  der  Vorliebe  wie  Mollus- 
ken. Das  aber  konnte  ich  constatiren,  dass  er,  wohlgenährt  wie  er 
war,  niemals  todte  Thiere  angriff;  ich  kann  aber  nichts  darüber  aus- 
sagen, ob  das  auch  unterblieben  wäre,  wenn  er  hungrig  gewesen  wäre. 

»Bis  jetzt  halte  ich  aber  den  Process  des  Essens  selbst  nicht  gesehen. 
Dies  Alles  war  verborgen  durch  das  grosse  Kopfschild.  Aber  ich  wollte 
es  durchaus  direct  beobachten.  So  Hess  ich  also  zu  allererst  das  Thier 
so  lange  hungern,  dass  mit  Sicherheit  ein  guter  Appetit  zu  erwarten 
war  Hierauf  legte  ich  ein  Slück  eines  Mollusk's  vor  den  hungrigen 
Krebs,  welches  augenblicklich  mit  den  Klauen  nach  unten  gezogen 
wurde.  In  demselben  Moment  drehte  ich  das  Thier  um,  so  dass  es 
seine  Unterseite  gegen  die  Glasscheibe  des  Aquariums  kehrte,  und  in 
dieser  Stellung  wohl  5  Minuten  lang  beharrle.  Dabei  Hess  sich  denn 
der  Process  des  Fressens  hinreichend  beobachten ,    und  in  der  That 


Untersiicliuiigcn  über  Bau  iiml  Eiitwickliiiig  dur  Ai-tliio|iodcn.  GOl 

erscheint  derselbe  merkwürdig  genug.  Wenn  das  Thitr  in  seiner  na- 
lürlichen  Lage  sicii  befindet,  so  wiid  die  Nahrung  von  den  Klauen  oder 
Scheeren  des  letzten  kieferloscn  Extroniitiilenpaares  unniillelbar  unter 
den  Mund  geschoben,  und  in  dieser  Lage,  wenn  nöthig,  auch  von  den 
übrigen  Extienntälcn  gehalten  ,  indem  sie  die  Nahrung  erst  mit  den 
Stacheln  und  Zähnen  der  einen,  dann  mit  denen  der  andern  bearbeiten. 
Die  kleinen,  losgelösten  Stückchen  gehen  dann  in  den  Mund.  Hier- 
aus lässt  sich  leicht  abnehmen,  wie  schwer  es  ist,  von  dieser  klein  ge- 
riebenen Nahrung  innerhalb  der  Gedärme  noch  eine  deutliche  Spur  von 
dem  ursprünglich  verzehrten  Gegenstände  zu  finden  und  denselben  dar- 
aus zu  erkennen.  Von  der  grossen  Zahl  der  Individuen,  die  ich  öffnete, 
verrieth  mir  kein  einziges,  wovon  sie  sich  nährten,  und  erst  aus  dem 
obigen  Experiment  Hess  sich  erkennen,  ob  Limulus  von  Pflanzen- 
oder von  Thierstoffen  lebe. 

»Die  Häutungen  des  Limulus  erfolgen  mehrmals  während  des  ersten 
Lebensjahres  und  in  kurzen  Zwischenräumen.  Wie  viele  es  sind,  kann 
ich  nicht  angeben,  da  es  je  nach  dem  Zeitpunkt  des  Auskriechens  aus 
dem  Eie  verschieden  sein  muss.  Doch  aber  glaube  ich,  dass  die  Jun- 
gen, welche  im  letzten  Theile  des  Juni  hervorgebracht  werden,  noch 
5 — 6  Häutungen  durchmachen,  ehe  das  kalte  Welter  eintritt.  Ja,  was 
bei  Krebsen  entschieden  für  eine  Ausnahme  zu  gelten  hat,  selbst  die 
ausgewachsenen  Thiere  scheinen  ihre  Haut  mehr  als  einmal  im  Jahre 
abzuwerfen.  Beim  Austernfischen  wird  sogar  während  des  Winters 
gelegentlich  mit  der  schweren  Eisendragge  ein  Limulus  gefangen ;  un- 
ter diesen  befand  sich,  —  es  war  im  Februar  bei  ungewöhnlich  schö- 
nem Wetter  in  Bariton  Bay  —  ein  erwachsenes  Weibchen,  welches  erst 
kürzlich  sich  gehäutet  haben  musste,  da  die  Körperwandung  noch  ganz 
weich  war. 

»Mitunter  kann  man  das  Abstreifen  der  Haut  unter  sehr  ungewöhn- 
lichen Umständen  direct  beobachten.  Ein  grosses,  im  August  gefange- 
nes Weibchen,  häutete  sich  in  der  Gefangenschaft,  trotzdem  es  mehrere 
Tage  lang  in  freier  Luft  gelegen  hatte.  Die  Operation  war  sehr  müh- 
selig und  dauerte  drei  bis  vier  Tage  ,  wobei  das  Thier  ganz  trocken 
ward.  Hin  und  wieder  ward  aus  Mitleid  etwas  Wasser  über  das  Thier 
gegossen ;  dies  war  aber  nicht  einmal  Meereswasser,  sondern  süsses. 
Jedenfalls  muss  das  Abstreifen  der  Haut  unter  so  aussergewöhnlichen 
Umständen  eine  sehr  schwierige  und  wahrscheinlich  recht  schmerzhafte 
Operation  sein,  —  ja  es  ist  zu  verwundern,  dass  es  überhaupt  geschah, 
Unter  natürlichen  Verhältnissen  werden  dafür  nur  wenige  Minuten  in 
Anspruch  genommen.  Eine  dünne,  schmale  Kante  läuft  rund  um  die 
Unterseile  des  vorderen  Theils  des  Kopfschildes,  des  bekanntlich  wei- 


602  Antoii  Dohrn, 

testen  Theiles  des  Thieres.  Dicht  vor  der  Zeit  der  Häutung  entsteht 
eine  Trennung  zwischen  dieser  Kante  und  dem  Perimeter  des  Schil- 
des. Dem  unbewaffneten  Auge  bleibt  dieser  Riss  fast  unsichtbar, 
nur  durch  die  Anstrengungen  des  Thieres  öffnet  er  sich,  und  durch 
diese  Oeffnung  verlässt  dasselbe  die  alte  Schale.  Durch  diese  Oeffnung 
vorn  am  Kopfe  und  an  der  Stelle  der  grössten  Weite,  besonders  aber 
noch,  da  die  Schale  halb  lederartig  ist,  etwas  nachgiebt  und  grade  an 
diesem  Platze  sehr  dünn  ist,  hatLimulus  einen  offenbaren  Vortheil 
Verden  höheren  Krustern  voraus,  deren  Häutung  nolhwendigerweise 
von  hinten  aus  sich  vollzieht,  und  deren  Haut  ausserdem  aus  unnach- 
giebigerem Stoffe  besteht.  Den  Limulus  so  gleichsam  aus  sich  selbst 
herauskommen  zu  sehen,  ist  ein  so  komischer  Anblick,  dass  man  un- 
willkürlich zu  der  Vorstellung  kommt,  er  speie  sich  selbst  aus  seinem 
eigenen  Munde  aus. 

»Als  das  Exemplar,  das  wir  hier  besonders  im  Auge  haben,  aus 
seiner  alten  Haut  herauskam,  maass  es  91/2  Zoll  im  kürzeren  Durch- 
messer des  Kopfschildes,  während  die  leere  Schale  an  derselben  Stelle 
nur  8  Zoll  hielt.  Wenn  sie  also  mehr  als  einmal  im  Jahre  sich  häuten, 
so  müssen  sie  ein  rapides  Wachsthum  besitzen ;  wenn  nicht,  so  scheint 
mir,  dass  sie  mindestens  ein  Alter  von  8  Jahren  und  drüber  erreichen, 
ehe  sie  geschlechtsreif  werden.  Doch  darüber  werden  wir  nachher  noch 
mehr  zu  sprechen  haben.  Ich  habe  ferner  beobachtet,  dass  in  jedem 
Frühjahr,  d.  h.  sobald  als  das  Wasser  seine  Wintertemperatur  verloren 
hat,  eine  grosse  Zahl  von  Jungen,  die  vom  vergangenen  Sommer  dati- 
ren,  an  den  seichten  Stellen  sich  finden.  Diese  messen  zwischen  1  bis 
21/2  Zoll  in  dem  kürzeren  Durchmesser.  Da  nun  das  Thier,  wenn  es 
auf  eigne  Hand  zu  leben  anfängt,  nur  einen  Viertelzoll,  und  das  kaum, 
im  Durchmesser  besitzt,  so  würde  das  ein  ausserordentlich  rasches 
Wachsen  beweisen,  —  so  glaube  ich  aber  auch,  dass  die  grösseren 
unter  jener  Zahl  schon  zwei  Winter  durchlebt  haben. 

»Es  ist  Grund  dazu  vorhanden,  anzunehmen,  dass  Eier  von  dem- 
selben Individuum  in  derselben  Saison  mehr  als  einmal  abgelegt  wer- 
den. Ich  hörte  Fischer  dies  mit  vollkommner  Sicherheit  behaupten. 
Da  sie  es  aber  nicht  beweisen  konnten,  so  ward  ihre  Behauptung  weiter 
nicht  beachtet,  bis  das  folgende  Factum  sich  zutrug.  Ueberall  da,  wo 
Limulus  sehr  gemein  ist,  hat  man  die  Gewohnheit,  ihn  zu  fangen  und 
Geflügel  damit  zu  füttern,  in  dem  Glauben,  das  mache  dasselbe  mürbe, 
wie  es  jedenfalls  sie  und  die  Schweine  fett  macht,  aber  zu  gleicher  Zeit 
dem  Fleische  beider  einen  höchst  unangenehmen  Beigeschmack  verleiht. 
Die  W^eibchen  werden  dabei  ihrer  Eier  halber  vorgezogen ,  deren  es 
meist  nicht  weniger  als  eine  halbe  Pint  hat.  die  dicht  aneinander  im 


Uiitcrsucliuiigeii  über  Hau  iiiid  lüitwickliiiiii;  der  Arlliroiiodi'ii.  603 

Kopfschild  liegen.  Man  erhält  dieselben,  indem  man  die  Spitze  eines 
Messers  unter  die  vordere,  untere  Ecke  des  Schildes  einsetzt  und  damit 
rund  um  die  dünne  Kante,  die  bereits  erwähnt  ward,  herunjfährt, 
so  dass  die  Eier,  die  wie  Senfsaamen,  aber  von  aschgraugrüner  Farbe, 
aussehen,  ganz  frei  gelegt  werden.  Nun  fand  es  sich,  dass  ein  Weib- 
chen, von  dem  ich  genau  wussle,  es  habe  im  Mai  bereits  Eier  abgelegt, 
im  Juli  geöfl'nel  ward  und  zu  meinem  nicht  geringen  Erstaunen  ganz 
voll  von  wohlgeformten  und  anscheinend  reifen  Eiern  war. 

»Limulus  legt  seine  Eier  um  Neu-  und  Vollmond  in  den  Mona- 
ten Mai,  Juni  und  Juli.  Damit  ist  gesagt,  dass  es  während  der  Zeit  der 
ganz  besonders  starken  Ebbe  und  Fluth,  ( —  Springfluth  und  Spring- 
ebbe — )  geschieht,  worauf  ja  der  Mond  einen  so  bedeutenden  Einfluss 
ausübt.  Sie  kommen  dann  bei  einer  besonders  hohen  Fluth  herauf, 
auf  dem  Meeresboden  vorschreitend,  bis  sie  einen  passenden  Fleck 
nahe  an  der  äussersten  Linie  der  Fluth,  aber  immer  innerhalb  dersel- 
ben, erreichen,  iliedurch  werden  drei  Vortheile  gewonnen.  Erstlich: 
die  Eiablage  geschieht  unter  Wasser;  zweitens  :  die  Linie  der  gewöhn- 
lichen Fluth  ist  so  ausgewählt;  drittens:  die  Eier  sind  einer  kurzen 
Ebbe  ausgesetzt,  wobei  durch  die  Sonnenhitze  die  Beschleunigung  der 
Entwicklung  erreicht  werden  kann. 

»Dass  ein  erwachsener  Limulus  zu  anderer  als  zur  Begattungs- 
zeit den  Strand  besucht,  ist  sehr  selten.  Zu  dieser  Zeit  aber  kommen 
sie  paarweise  in  grossen  Haufen,  —  und,  wörtlich  gesprochen,  —  in 
ehelichen  Banden,  denn  das  Männchen  sitzt  auf  dem  Schilde  des  Weib- 
chens;  es  hält  sich  in  dieser  Stellung  fest,  indem  es  die  Seiten  des 
Schwanzschildes  umfasst  mit  den  beiden  starken  und  kurzen  Klauen, 
die  nur  den  Männchen  eigen  sind,  durch  die,  —  gleichzeitig  mit  der 
geringeren  Grösse  der  Männchen,  —  das  Geschlecht  sofort  erkannt  wer- 
den kann.  Das  Weibchen  gräbt  dann  eine  kleine  Vertiefung  in  dem 
Sande  und  lässt  die  Eier  hineinfallen ;  hierauf  entlässt  das  Männchen 
die  befruchtende  Flüssigkeit  über  die  Eier,  —  und  sofort  w  ird  das  Nest 
verlassen,  die  Eltern  ziehen  sich  zusammen  mit  dem  sich  zurückzie- 
henden Meere  wieder  in  ihr  Element  zurück,  —  nur  mitunter  bleibt 
ein  Pärchen,  das  vielleicht  weniger  munter  ist,  als  die  andern,  zurück, 
wird  aber  doch  noch,  wenn  ungestört,  die  See  wieder  erreichen.  Durch 
die  Thätigkeil  des  Wassers  werden  die  Eier  nun  sofort  mit  Sand  be- 
deckt; wobei  es  denn  freilich  oft  geschieht,  dass  ungünstiger  Wind  eine 
Menge  Eier  hinwegwaschen  lässt  und  in  allen  Bichtungen  auf  den  Strand 
wirft,  wo  sie  dann  vielen  hungrigen  Vögeln,  oder  im  W^asser  von  Fischen 
und  Mollusken  gefressen  werden. 

»Limulus  lebt  in  Monogamie,  —  aber  es  ist  nicht  unwahrschein- 


604  Anton  Dolirn, 

lieh,  dass  zu  jeder  Geschlechlsperiode  ein  anderes  Männchen  angenom- 
men wird.  Hin  und  wieder  geschieht  es  aber  auch,  dass  ein  Weibchen 
auf  den  Strand  kommt,  mit  drei  Verehrern  zu  gleicher  Zeit,  deren  zwei 
vergeblich  versuchen,  den  glücklichen  Besitzer  wegzujagen.  Diese  Er- 
scheinung hat  die  Fischer  zu  der  Annahme  verleidet,  die  Zahl  der 
Männchen  überwöge  die  der  Weibchen ;  —  mir  scheint  aber ,  dieser 
Punkt  könne  nicht  in  solcher  Weise  erklärt  werden. 

»Früher  waren  die  Limulus  in  Bariton-Bay  sehr  häufig,  —  ge- 
genwärtig sind  sie  seltner.  Demgemäss  muss  man  ihnen  jetzt  beson- 
ders aufpassen.  Im  Mai  1 869,  selbst  durch  Zeitmangel  verhindert,  be- 
auftragte ich  einen  Fischer,  aufzupassen,  bis  ein  Pärchen  heraufkäme 
und  es  dann  zu  fangen,  sobald  es  Anstalt  mache,  wieder  in  die  See 
zurückzukehren ;  auch  war  er  instruirt,  mit  einem  zinnernen  Gefäss 
die  ganze  Eiermasse  mit  Sand  und  Allem  aufzuschöpfen,  die  Eier  aber 
nicht  mit  den  Händen  zu  berühren.  Ich  glaube,  dass  der  Mann  diesen 
Auftrag  pünktlich  ausgeführt  hat.  So  gelangten  also  die  Eier  und  die 
Eltern  unverletzt  in  meinen  Besitz.  Meine  Vorbereitungen  waren  be- 
reits mit  aller  Umsicht  getroffen.  Gefässe,  in  denen  die  Eier  auskriechen 
sollten,  waren  schon  seit  einigen  Tagen  zurecht  gemacht  und  das  Was- 
ser darin  befand  sich  in  sauerstoffreichem  Zustande.  Nur  eine,  zu- 
gleich sehr  ernste  Schwierigkeit  bestand  noch.  Ich  konnte  das  Wasser 
nur  der  reflectirten  Sonnenwärme  exponiren,  Directes  Sonnenlicht  wäre 
in  den  Sommermonaten  zu  warm  gewesen  und  hätte  das  Wasser 
verdorben.  Das  Resultat  war,  dass  die  Entwicklung  der  Eier  sehr 
langsam  vor  sich  ging,  —  was  man  nicht  vergessen  möge,  zugleich  mit 
der  Thalsache,  dass  der  Mangel  von  Bewegung  und  Veränderung  des 
Wassers  und  seiner  Tiefe  und  besonders  der  Mangel  von  directer  Ein- 
wirkung von  Luft  und  Sonne,  die  bei  der  Ebbe  sonst  für  die  Eier  statt 
hat,  diese  Verzögerung  wohl  hervorgebracht  hat.« 

Im  Folgenden  gebe  ich  nun  noch  einige  der  Notizen,  die  Dr.  Lock- 
wood über  die  Entwicklung  der  Eier  selbst  in  seinem  Aufsatze  mittheilt. 
»Mai  26.  1869.  —  Die  Eier  wurden  heut  ausgelegt.  Sie  waren 
grünlich  weiss,  trübe,  fast  schmutzig  aussehend.  Im  Fortgange  der 
Entwicklung  ward  die  äussere  Schale  Zusehens  dunkler  und  noch  leder- 
artiger. Ich  glaubte  dieses  letzteren  Umstandes  wegen,  sie  seien  be- 
reits im  Zerfall,  —  aber  sie  besitzen  eine  ausserordentliche  Lebens- 
zähigkeit. Selbst  bei  einer  bedeutenden  Verzögerung  werden  sie 
schliesslich  doch  zum  Auskriechen  kommen.  Die  der  Oberfläche  zu- 
nächst liegenden  Eier  entwickelten  sich  am  raschesten.« 

»Juli  18.   —  34  Tage  nach  Ablage  der  Eier.     Der  dunkle  Chorion 
ist  geplatzt  und  die  innere  durchsichtige  Hülle  wird  frei.     Im  Innern 


UiitcrsiicIiiiMoon  üitor  Riiii  und  riihviokliinir  der  Arlliropodoti.  fi05 

findet  sich  ein  trilobitenartiger  Embryo.  Auffallend  ist  die  verlängerte 
Gestalt  des  Abdomen  neben  der  sehr  breiten  Form  des  Kopfschildes. 
Die  Beine  sind  weit  vorgeschritten  in  der  Entwicklung  und  die  beiden 
seitlichen  Augen  sind  deutlich  erkennbar.  Nach  2 — 3  Tagen  war  der 
Embryo  beträchtlich  verändert.  Im  Verhältniss  zu  dem  Schwanztheil 
war  der  Kopfschild  nicht  mehr  so  breit.  Die  Beine  reichten  über  den 
Rand  des  letzteren  hinaus.  Die  seillichen  Augen  ragten  schon  etwas 
vor,  aber  die  centralen  Ocellen  fehlten  noch,  (?)  denn  an  deren  Stelle 
N\ar  eine  Einbuchtung  in  dem  Vorderi'ande  des  Schildes.  Die  beiden 
Theile  des  Embiyo  sind  noch  gegen  einander  gebeugt.  Der  Embryo 
rollt  sich  fast  unaufhörlich  in  der  durchsichtigen  Hülle  herum,  mitunter 
ruht  er  einige  Minuten,  und  liegt  gewöhnlich  auf  dem  Rücken.  Dies 
Umrollen  hat  wohl  die  Wirkung,  dass  die  durchsichtige  Hülle  durch  die 
Reibung  allmählich  gesprengt  wird. 

»August  3.  —  70  Tage  nach  der  Eiablage.  Ein.  Embryo  hat  heute 
die  Hülle  verlassen.  Er  misst  21/2'"  in  der  Länge  und  2'"  in  der  Breite.« 
(Dies  Stadium  entspricht  dem  oben  beschriebenen  Trilobiten-Stadi.um. 
Ich  enthalte  mich  also  der  Wiedergabe  von  Mr.  Lockwood's  Angaben 
darüber.) 

»Das  Thierchen  fing  sofort  an  für  sich  selbst  zu  arbeiten,  indem  es 
hartnäckige  Anstrengungen  machte,  wie  seine  Eltern  zu  graben.  Der 
Mangel  des  beweglichen  Schwanzstachels  ward  aber  sofort  fühlbar, 
denn  bei  dem  geringsten  Hinderniss  fiel  es  auf  den  Rücken,  konnte  sich 
durch  den  Stachel  nicht  wieder  aufrichten,  wie  es  die  Alten  thun,  und 
begann  nun  eine  kräftige  Bewegung  mit  den  Branchial-Plattenpaaren. 
Hiedurch  wird  es  in  dem  Wasser  nach  aufwärts  bewegt;  dann  lässt  es 
sich  wieder  sinken,  um  vielleicht  wieder  auf  die  Bauchseite  zu  fallen. 
Sollte  das  nicht  gelingen,  so  wird  das  Aufsteigen  wiederholt  bis  schliess- 
lich der  Zweck  erreicht  wird. 

»August  l.j.  —  82  Tage  nach  der  Eiablage.  Sehr  viele  Individuen 
sind  ausgekrochen,  viele  aus  Mangel  an  hinreichend  sorgfältiger  Be- 
handlung zu  Grunde  gegangen.  Ich  beobachtete  fast  ausschliesslich 
das  bereits  erwidmte  Exemplar.  Es  häutete  sich  heute  zum  zweiten 
Male.  Wenige  Minuten  reichten  hin,  um  es  von  seinem  Kinderkleide 
zu  befreien.  Ich  bemerkte,  dass  es  sich  eine  Zeitlang  ausruhte,  wäh- 
rend der  Schwanzstachel  noch  halb  in  der  abgestreiften  Hülle  stecken 
blieb.  Als  es  endlich  ganz  herauskam,  war  die  Li  m  ul  u  s -Gestalt 
vollkommen  ausgebildet.  Es  misst  1/4"  Breite  und  der  Schwanzslachel 
'  j,)"  Länge.  Die  Borsten  am  Schwanzschilde  und  die  Haare  und  Sla- 
eiieln  am  Kopfschilde  sind  jetzt  fast  ganz  geschwunden.  Als  das  Thier- 
chen vor  dieser  letzten  Häutung  über  den  Schlamm  einherzog,  machte 


606  Anton  Dolirn, 

es  ganz  kleine  Furchen  mit  den  seitlichen  Dornen  des  Schwanzschildes, 
wobei  ein  freier  Platz  zwischen  diesen  Reihen  blieb,  der  jetzt  von  einer 
mittleren  Linie,  hervorgebracht  durch  den  eingedrückten  Schwanz- 
stachel, gleichfalls  gefurcht  wird. « 

Hier  enden  die  Beobachtungen  des  Dr.  Lockwood,  da  eine  Krank- 
heit ihm  den  Gebrauch  der  Augen  für  längere  Zeit  raubte.  Aber  noch 
einige  andere,  nicht  weniger  interessante  und  für  die  Gesammtgeschichte 
des  Limulus  wichtige  Mittheilungen  verdanken  wir  dem  geschickten 
Beobachter  und  geistvollen  Darsteller,  —  und  ich  trage  kein  Bedenken, 
auch  sie  hier  folgen  zu  lassen. 

Derselbe  bemerkt  über  die  Bedeutung  des  Schwanzstachels  für  die 
Lebensweise  des  Limulus:  »Dem  Limulus  ist  der  Besitz  des 
Schwanzstachels  so  nöthig,  wie  dem  Bergsteiger  der  Alpenstock.  Er 
ist  jeden  Augenblick  in  Gefahr,  bfei  der  geringsten  Erschütterung  oder 
irgend  einem  Hinderniss,  auf  den  Rücken  geworfen  zu  werden,  und 
ohne  seinen  Schwanzstachel  würde  er  so  hilflos  sein,  wie  eine  Schild- 
kröte in  derselben  Lage.  Aber  dann  beugt  er  den  Stachel,  steckt  die 
Spitze  in  den  Schlamm  oder  Sand,  und  nach  einigen  kräftigen  Anstren- 
gungen gelingt  es  ihm,  sich  wieder  umzudrehen.  Seine  Beine  dagegen 
sind  so  schwach,  dass,  wenn  man  seine  Unterseile  den  Angriffen  von 
Fischen  aussetzt,  diese  bald  seinen  Lebenslauf  zu  Ende  bringen  wür- 
den. Darum  muss  er  immer  den  Rücken  oben  behalten,  will  er  nicht 
sein  Leben  verlieren. «  Hiebei  wird,  meinen  eignen  Beobachtungen  in 
Aquarien  zufolge,  noch  durch  lebhaftes  Auf-  und  Abklappen  der  Kie- 
menplatten nachgeholfen. 

»Ich  will  nun  noch  eine  andere  wichtige  functioiielle  Metamor- 
phose erwähnen,  die  mir  höchst  bemerkenswerth  erscheint.  Der  Un- 
terschied in  der  Gestalt  zwischen  dem  zweiten  Extremitätenpaar  des 
Männchens  und  Weibchens  ist  so  bedeutend,  dass  sogar  Kinder  sofort 
am  Strande  hiedurch  den  Unterschied  der  beiden  Geschlechter  erken- 
nen. Beim  Weibchen  ist  diese  Extremität  lang,  schlank  und  schwach; 
heim  Männchen  kurz,  stark  und  geschwellt.  Ihre  Klaue,  zum  Festhal- 
ten bestimmt,  gleicht  einem  Schraubstocke.  Ihr  Gebrauch  besteht  darin, 
das  Schild  des  Weibchens  festzuhalten,  so  dass  das  Männchen  seine 
Stellung  inne  halten  kann,  während  das  Paar  an  den  Strand  zieht  in 
der  Paarungszeit.  Und  dieses  Festhalten  ist  so  sicher,  dass  keine  Hef- 
tigkeit des  Sturms,  kein  Angriff  eifersüchtiger  Nebenbuhler  ihn  von 
seinem  Platze  verdrängen  kann.  Das  wissen  auch  die  Fischer  sehr  gut, 
die  im  Wasser  stehen,  um  das  Weibchen  aufzuspiessen,  wenn  es  ange- 
zogen kommt  in  ehelicher  Umarmung.  Sie  trachten  nur  danach,  das 
Weibchen  zu  fangen,  denn  es  würde  einer  Kraftanstrengung  bedürfen. 


Uiilcrsiichmigeii  über  Bau  und  Kntwickliiiin  der  Arthropoden.  ()()7 

um  das  Männchen  von  ihm  zu  trennen.  Diese  starke  Klaue,  oder  wie 
die  Fischer  es  nennen,  Hand,  hat  im  frühen  Leben  keine  Verwendung. 
Limulus  hat  seine  Pubertätsperiode,  — erst  dann  ist  er  erwachsen. 
Aber  nach  der  Grösse  zu  urtheilen,  welche  die  sich  begattenden  Männ- 
chen haben,  die  ziemlich  gleich  ist,  und  ihrem  wirklichen  Wachsthum 
nach,  möchte  ich  glauben,  dass  die  Pubertät  des  Krebses  nicht  vor  dem 
dritten  oder  vierten  Lebensjahre  eintritt.  Und  erstaunen  würde  es 
mich  nicht,  wenn  diese  Zahl  sogar  das  Minimum  darstellte.  Aber  das 
Wesontlicliste  ist,  —  erst  zu  der  Pubertätszeit  erleidet  das  Männchen 
die  letzte  Verwandlung.  Dabei  erhält  es  erst  die  grossen  Klauen,  oder 
wörtlich  verstanden,  —  die  Hochzeitshand. 

»Diese  Facta  sind  zwar  nur  negativer  Natur,  aber  darum  nicht 
weniger  beweisend.  Erstlich  war  der  Verdacht  gegeben,  dass  es  sich 
so  verhalten  möchte,  dann  ward  danach  gesucht,  ob  ein  junges  Männ- 
chen die  Geschlechlsklauen  bereits  ausgebildet  besässe.  Aber  trotz  der 
numerischen  Gleichheit  von  Männchen  und  Weibchen  ward  dieses  nicht 
gefunden,  obwohl  grosse  Mengen  junger  Exemplare  untersucht  wurden. 
Ueberdios  habe  ich  auch  keinen  Fischer  gesprochen,  der  dies  je  gesehen 
hätte.  «  — 

»Gegen  Ende  der  warmen  Jahreszeit  des  letzten  Jahres  (1869) 
mussten  die  Gefässe  ungefähr  200  junge  Limulus  enthalten  haben. 
Ich  habe  nun  bereits  mitgetheilt,  dass  die  Jungen  sofort  nach  ihrem 
Auskriechen  aus  dem  Eie,  anfangen,  sich  einzugraben  wie  die  Alten ; 
daher  ist  es  selten,  dass  man  das  Abwerfen  der  Haut  zur  Beobachtung 
bringen  kann.  In  der  Hoffnung,  meine  Beobachtungen  über  das  Wachs- 
thum meiner  interessanten  Familie  im  folgenden  Jahre  fortsetzen  zu 
können,  wurden  die  Gelasse  sorgfältig  bei  Seite  gestellt.  Geringe  Auf- 
merksamkeil indessen  ward  der  Temperatur  geschenkt,  die  bei  ver- 
schiedenen Gelegenheiten  auf  den  Gefrierpunkt  niedersank.  Am  3.  Mai 
1870  leere  ich  nun  die  Gefässe,  um  zu  sehen,  wie  meine  Pfleglinge  vor- 
wärts kämen,  —  und  musste  mich  überzeugen,  dass  nicht  Einer  von 
ihnen  mehr  am  Leben  war,  —  aber  wunderbarer  Weise  an  ihrer  Stelle 
ein  Dutzend  kleiner  Burschen,  alle  erst  in  diesem  Frühjahr  ausgekro- 
chen, an  ihre  Stelle  getreten  waren.  Mit  diesen  fanden  sich  dann  auch 
noch  wenigstens  30  Eier  in  verschiedenen  Entwicklungsstadien  völHg 
am  Leben!  In  einigen  derselben  konnte  man  den  Embryo  sich  umrol-^ 
len  sehen.  Die  Erklärung  dieser  Erscheinung  ist,  dass  in  der  That 
einige  der  im  vorigen  Jahre  eingelegten  Eier  nah  dem  Grunde  der  Ge^ 
fasse  gelegen  hatten  und  dadurch  jeder  Berührung  mit  der  Sonnen^ 
wärme  entzogen  worden  waren.  Sofort,  —  freilich  nicht  ohne  alle  Be- 
fürchtung hinsichtlich   des  Erfolges,  —   sorgte  ich  für  die  geeigneten 


608  Anton  Dohrn, 

Massregeln  ,  um  die  weitere  Entwicklung  zu  begiinsligen ,  indem  ich 
frisches  Seewasser  kommen  liess,  Sand  hineinwarf,  die  Eier  darauf 
legte  und  das  Ganze  dann  an  einen  günstig  gelegenen  Platz  stellte. 
Gegen  Y2  4  Uhr  Nachmittags  am  1 1 .  Mai  kroch  vor  meinen  Augen  der 
erste  Limulus  aus!  Die  Eier  waren  fast  ein  ganzes  Jahr  alt,  —  es 
fehlten  nur  noch  zwei  Wochen!  Und  noch  mehr:  die  Eier  waren  be- 
reits im  vorigen  Jahre  bis  zu  einem  gewissen  Stadium  entwickelt!  So 
ist  also  nicht  blos  eine  ausserordentlich  beträchtliche  Zögerung  in  der 
Entwicklung,  sondern  vielmehr  ein  vollkommener  Stillstand  eingetreten 
gewesen,  der  7 — 8  Monate  gedauert  und  doch  das  Leben  nicht  aufge- 
hoben hat !  « 

Soweit  die  sehr  werthvollen  Mittheilungen  des  Dr.  Lockwood. 
Einige  morphologische  Betrachtungen,  die  derselbe  Forscher  seinem 
Aufsatze  noch  beigefügt  hat,  wollen  wir  weiter  unten  im  Zusammen- 
hange mit  meinen  eignen  Anschauungen  noch  näher  kennen  lernen. 

Ich  wende  mich  nun  zu  dem  Aufsatze  des  Dr.  A.  S.  Packard  jr. 
Die  Untersuchungen  dieses  Forschers  sind  an  Materialien  angestellt, 
welche  ihm  von  Dr.  Lockwood  mitgetheilt  wurden,  so  dass,  da  auch  die 
von  mir  benutzten  Eier  und  Embryonen  derselben  Quelle  entstammen, 
hiedurch  eine  Einheit  hervorgebracht  wird,  welche  die  drei  Arbeiten 
zu  gegenseitiger  Ergänzung  verbunden  erscheinen  lässt.  Ich  setze 
demgemäss  nur  so  viel  aus  Dr.  Packard's  Aufsatz  hierher,  als  nöthig 
wird,  um  ein  möglichst  vollständiges  Bild  der  Entwicklung  zu  liefern ; 
die  daran  gefügten  morphologischen  Betrachtungen  übergehe  ich  auch 
hier  wieder,  um  sie  nachher  in  den  Zusammenhang  eintreten  zu  lassen. 

»Nicht  nur  in  den  Eiern,  die  bereits  abgelegt  sind,  sondern  auch 
in  den  unbefruchteten,  die  dem  Eierstocke  entnommen  wurden,  war 
der  Dotter  leicht  zusammengezogen  und  liess  einen  hellen  Baum  zwi- 
schen sich  und  der  Schale.  Nur  ein  oder  zwei  Eier  wurden  im  Fur- 
chungsprocess  begriffen  gesehen.  In  einem  derselben  war  der  Dotter 
in  drei  ungleich  grosse  Stücke  zerfallen.  In  dem  andern  war  die  Fur- 
chung fast  vollendet. 

»In  dem  nächsten  Stadium  fanden  sich  die  ersten  Anzeichen  des 
Embryo,  bestehend  in  drei  kleinen,  flachen,  runden  (?)  Vorragungen, 
deren  beide  vorderen  Seite  an  Seite  sich  befanden,  während  der  dritte 
unmittelbar  dahinter  sich  befand.  Das  Paar  der  Vorragungen  stellt 
wahrscheinlich  das  erste  Gliedmaassenpaar  dar,  das  dritte  einzelne  da- 
gegen das  Abdomen  (?).  In  weiter  vorgeschrittenen  Eiern  konnte  man 
drei  Paar  beginnender  Extremitäten  beobachten,  deren  vorderstes,  das 
erste  Extremitätenpaar,  sehr  viel  kleiner  war  als  die  andern.  Die 
Mundöffnung  befindet  sich  dicht  dahinter.     In  einem  späteren  Stadium 


UntcrsnolimiffPii  iikr  Üini  und  l'.nlwirkliiim-  der  Artliropodeii.  609 

bildet  der  Embryo  ein  ovales  Feld,  umgeben  von  einem  noch  blasseren 
Ringe,  der  wie  eine  Leiste  erhaben  ist,  und  dazu  bestimmt  ist,  die  Kante 
des  Körpers  oder  die  Trennungslinie  zwischen  Bau(;h-  und  Uiicken- 
lliiche  zu  bilden.«  Dieses  Stadium  kommt  völlig  überein  mit  dem  ersten 
von  mir  in  dem  vorhergehenden  Abschnitt  beschriebenen;  ich  ver- 
meide darum,  das  hier  zu  wiederholen,  was  dort  schon  gesagt  ist.  Nur 
einen  Irrthum,  der  möglicherweise  störend  wirken  könnte,  muss  ich 
hier  berichtigen.  Dr.  Packard  hält  nämlich  das,  was  ich  oben  als  Exo- 
chorion  beschrieben  habe,  für  das  eigentliche  Chorion,  was  ich  dagegen 
als  Chorion  betrachte,  das  sieht  er  einmal  als  »inner  egg-membranc«, 
dann  als  »amnion«  und  schliesslich  als  homolog  der  »larval  skin  of  Ger- 
man  embryologists«  an,  womit  offenbar  Fritz  Mlller's  und  meine  eig- 
nen Darstellungen  gemeint  sind.  Dass  nun  diese  Vermischung  von  sehr 
verschiedenartigen  Gebilden  hier  eingetreten  ist,  liegt  wohl  an  der  gros- 
sen Schwierigkeit,  durch  die  sich  oft  widersprechenden  und  schwan- 
kenden Darstellungen  der  Entwicklungszustände  der  Arthropoden  ohne 
genaues  Nacharbeiten  seinen  Weg  zu  finden ;  wie  dem  aber  auch  sei, 
jedenfalls  steht  die  EihüUe  des  Limulus,  von  der  hier  die  Rede  ist, 
sicherlich  nicht  in  Beziehung  morphologisch-homologer  Art  zu  einem 
der  drei  erwähnten  membranösen  Gebilde.  Wir  haben  es  gewiss  nur 
mit  einem  Chorion  des  Limuluseies  zu  thun. 

Die  weitere  Daivstellung  der  Entwicklung  ist  nicht  wesentlich  ab- 
weichend von  derjenigen,  die  ich  selbst  gegeben,  wenn  schon  weniger 
ausführlich,  da  Dr.  Packard  das  Veröffentlichte  nur  als  eine  auszügliche 
Mitlheilung  ansieht,  auf  die  er  vielleicht  noch  weitere,  an  lebendem 
Materiale  gewonnenen  Darstellungen  folgen  lässt. 

Geographische    Verbreitung    der   lebenden   und   fossilen 

Limulus- Arten. 

Vax  der  Hoeven  unterscheidet  in  seinen  »Recherches  sur  l'histoire 
naturelle  et  l'anatomie  des  Limules«  4  lebende  Arten  der  Gattung  Li- 
mulus: L.  mol  uccanus  Latreille,  L.  longispina  Hoeveiv,  L.  ro- 
tundicauda  Latreille  und  L.  Polyphemus  Latreille.  Diese  Ar- 
ten leben  sowohl  auf  der  östlichen,  wie  auf  der  westlichen  Hemisphäre, 
denn  L.  Polyphemus  ist  sehr  häufig  an  der  Ostküste  von  Nord-Ame- 
rika, L.  moluccanus  in  Ost-Indien  und  auf  den  Molukken,  L.  ro- 
tundicauda  ebenfalls,  L.  longispina  endlich  findet  sich  an  der 
Küste  Chinas  und  Japans. 

Zu  dieser  weiten  geographischen  Verbreitung  kommen  nun  noch  die 
bis  jetzt  conslatirten  Fälle  von  palaeontologischem  Vorkommen.     Die 

I5d.  VI.  4.  4< 


610  Allton  Dolirn, 

ersten  Ueberreste  eines  versteinerten  Liraulus  fanden  sich  in  Solen- 
liofen  und  wurden  von  Walch  &  Knorr  in  den  »Monuments  du  Belüge« 
abgebildet.  Diese  Abbildung  copirten  Desmarest  &  Buogniart.  Etwas 
später  fanden  sich  auch  Spuren  von  Limulus  im  Muschelkalk  in  der 
Nähe  von  Bayreuth.  Derselbe  ward  L.  priscus  genannt.  Herrmann 
V.  Meyer  beschrieb  eine  zweite  Art  derselben  Localität  als  L.  agnotus. 
Der  Graf  Münster  entdeckte  dann  im  Jurakalk  noch  eine  Art,  und  be- 
schrieb die  nachfolgenden:  L.  Walchii,  L.  ornatus,  L.  inter- 
medius,  L.  brevispina,  L.  brevicauda,  L.  sulcatus  und 
L.  giganteus.  ' 

Ob  nun  diese  Namen  wirklich  verschiedene  Arten  bezeichnen,  das 
lassen  wir  dahingestellt,  können  die  Entscheidung  darüber  vorläufig 
auch  nur  für  irrelevant  halten.  Bewiesen  wird  dadurch  aber,  dass 
Limulus  als  Gattung  schon  in  den  Secundärschichten  vorkam,  und 
zwar  an  einer  Localität,  die  nach  heutiger  Erdoberflä.chen-Beschaflen- 
heit  grade  in  der  Mitte  zwischen  den  Punkten  ihres  jetzigen  Vorkom- 
mens gelegen  ist.  Sonach  müssen  wir  für  Limulus  ein  hohes  Alter 
in  Anspruch  nehmen  und  unsere  Aufgabe,  seine  heutige  Gestalt  auf  vor- 
hergehende zurückzuführen,  verlegt  sich  weit  in  die  Vorzeit  hinein,  da 
wir  dieselbe  Aufgabe  schon  lösen  müssen  für  die  Limulus  der  Trias. 


Limulus  und  die  Gigantostr  ak  en. 
(Merostomata  Dana  &  Woodward.) 

Die  Untersuchung,  die  uns  jetzt  beschäftigen  wird,  behandelt  das 
Problem  von  der  Verwandtschaft  der  Limulus  aus  den  Secundär- 
schichten. Zunächst  werden  wir  uns  also  ein  Bild  der  Entwicklung 
des  Krusterstammes  jener  Zeit  zu  entwerfen  haben,  —  eine  Aufgabe, 
Welche  durch  die  vortreffliche  »Chart  of  Fossil  Crustacea  by  J.  W.  Sal- 
ter &  H.  WooDWARD ,  London  1 865«  wesentlich  gefördert  ist,  uns  also 
fast  nur  eine  Wiederholung  der  dort  gewonnenen  Resultate  aufnölhigt. 

Im  Lias  haben  wir  bereits  deutliche  Spuren  der^  Decapoden  zu  be- 
merken. Die  Gattungen  Er yon,  Aeger  und  Scapheus  sind  zum 
Theil  sehr  wohl  erhaltene  Repräsentanten  dieser  gegenwärtig  in  ihrer 
Blüthezeit  stehenden  Ordnung. 

Pemphix  in  der  Trias  und  Palaeocarabus  in  der  Kohlenfor- 
mation zeigen  sogar  noch  tiefere  Verbreitung  derselben.  Daneben  wer- 
den auch  einige  Edriopthalmen  abgebildet,  die  bereits  zu  so  später  Zeit 
existirt  haben  sollen.  Da  ist  freilich  zu  sagen,  dass  diese  Deutung  von 
Formen  wie  Gampsonyx,  noch  mehr  aber  von  Prosoponiscus 
und  Pygocephalus,  doch  sehr  problematisch  erscheint  und  keinen- 


lIiit(Msudiniiü(>ii  üIk'I'  liiiii  iiikI  lliilwickliiiiif  der  Aitliropodcii.  61 1 

falls  als  Grundlage  zu  iigond  wolclicn  bündigen  Schlüssen  benutzt 
werden  kann. 

Wir  haben  dann  in  der  Trias  einen  Apus,  im  Lias  Spuren  von 
Cirripeden,  eine  nicht  unbedeutende  Zahl  von  Oslracoden  und  einen 
Li niulus- artigen  Krebs. 

Gehen  wir  aber  weiter  hinab  in  den  geologischen  Schichten,  so 
treten  in  mächtigster  Entfaltung  sowohl  die  Phyllopoden  —  wenig- 
stens rechnet  man  Formen  wie  Ui  thy  roca  ris,  Dictyocaris  und 
Geratiocari's  zu  denselben  — ,  die  Oslracoden,  und  vor  Allem 
die  E  u  r  y  p  t e r  i  d  e  n  und  die  T  r  i  1  o  b  i  t  e  n  auf.  Hier  also,  wenn  irgend 
wo,  haben  wir  die  Ausgangspunkte  des  Limulus  zu  erwarten.  Und 
gleich  in  der  äusseren  Form  überraschend  ähnlich  erscheinen  die  Gat- 
tungen Bei  i  nur  US  und  Prestwichia,  die  erstere  mit  den  Arten 
B.  Beginae  (Taf,  XIV.  Fig.  19)  und  arcuatus,  die  letztere  mit 
P.  anthrax  und  rotundata  (Taf.  XIV,  Fig.  17).  Da  haben  wir 
nur  einen  Schritt  in  der  morphologischen  Entwicklung  des  Limulus 
zurückzuthun,  um  in  diese  beiden  Gattungen  zu  gerathen  :  wir  haben 
nur  die  feste,  schildförmige  Verwachsung  der  auf  das  Kopfschild  fol- 
genden Segmente  wieder  aufzulösen,  —  und  Belinurus  ist  fertig. 
Lassen  wir  im  Gegentheil  die  am  Bande  schon,  wie  es  scheint,  einge- 
tretene engere  Verbindung  jener  Segmente  völlig  vor  sich  gehen,  so 
verwandeln  sich  die  Prestwichia  in  Limulus. 

So  haben  wir  also  einen  bedeutenden  Schritt  rückwärts  gewonnen. 
Die  paläontologische  Parallele  zu  dem  embryologischen  Befunde  ist  zum 
Theil  bereits  aufgedeckt,  —  der  weitere  Schritt  wird  auch  nicht  fehlen. 
Was  die  beiden  Gattungen,  die  eben  besprochen  wurden,  noch  beson- 
ders nahe  an  Limulus  hält,  ist  die  Zahl  der  Segmente,  welche  zwi- 
schen dem  Kopfschilde  und  dem  Schwanzstachel  sich  vorfinden,  die 
l)ei  allen  dreien  identisch  zu  sein  scheint.  Diese  wird  aber  überschrit- 
ten bei  einer  Form,  die  aus  dem  oberen  Silur  bekannt  geworden  ist, 
Hemiaspis  limuloides  Woodward  (Taf.  XIV.  Fig.  1 8) .  Hier  finden 
wir  noch  das  Kopfschild,  —  wenn  auch  schon  mit  mancherlei  Verände- 
rungen, —  wir  finden  den  Schwanzstachel,  aber  dazwischen  9  deut- 
liche Segmente ,  die  sich  auch  nicht  halbkreisförmig  nach  hinten  zu 
verengern ,  sondern  kegelförmig  und  ohne  auffallend  abzusetzen  in  die 
Basis  des  Schwanzstachels  übergehen. 

Diese  Form  bahnt  uns  den  weiteren  Weg  nach  zwei  Seiten :  zu 
den  Eurypteriden  und  zu  den  Trilobiten. 

Die  Eurypteriden  oder,  wie  der  neueste  Monograph  derselben, 
Mr.  H.  Woodward,  sie  mit  Dana  nennt,  die  Merostomata  unterschei- 
den sich  von  Limulus  vor  Allem  durch  die  Zahl  ihrer  Segmente  und, 

41  * 


k 


612  Anton  Dolirn, 

—  wenigstens  nach  der  Meinung  einiger  der  bisherigen  Bearbeiter,  die 
noch  keine  thatsächliche  Widerlegung  gefunden  hat,  —  auch  durch  die 
Zahl  der  Extremitätenpaare.    Erstere  ist  bedeutender  als  bei  Limu- 
lus ,  denn  sie  beträgt  inclusive  Schwanzstachel  oder  Telson  nach  Wood- 
ward 20,  letztere  ist  geringer,  denn  mit  Einschluss  der  entdeckten  Platten 
sind  es  doch  nur  6  Paar.    Hier  also  ist  die  morphologische  Entwicklung 
nicht  so  leicht  hergestellt,  und  daher  auch  von  erfahrenen  Zoologen  ab- 
gelehnt worden  ^).     Dennoch  aber  führen  uns  eine  Reihe  von  Charak- 
teren, die  beiden  Familien  gemeinsam  sind,  dazu,  diese  Ableitung  vorzu- 
nehmen, —  sollten  wir  auchdabeiauf  dieAuskunft  kommen,  dass  beide 
gemeinsame  Vorfahren  gehabt  und  zwei  verschiedenartige',   immerhin 
aber  nah  genug  gebliebene  Entwicklungsrichtungen  eingeschlagen  haben. 
Das  Kriterium  zur  Unterscheidung  von  Familien,   welches  herge- 
nommen wird  aus  der  Zahl  der  Segmente,  hat  nur  dann  einen  wesent- 
lichen Werth,   wenn  vorgängig  festgestellt  wurde,  dass  eine  bestimmte 
Segmentenzahl  durch  eine  grosse  Reihe  von  Formen  und  einen  bedeu- 
tenden Zeitraum  hindurch  unabänderlich  festgehalten  wurde.     Es  ist 
dann  durch  diese  Thatsache  selbst  der  Beweis  geliefert,  dass  in  der 
weiteren ,   morphologischen  Ausbildung  wesentlich  nur  die  Natur  und 
Beschaffenheit  der  ein  für  alle  Mal  gegebenen  Segmente  unter  einander 
sich  verändern  kann,   dass  Verwachsungen,  Verlängerungen,  Verkür- 
zungen etc.  innerhalb  dieser  festen  Zahl  vorkommen  mögen,  —  die  Zahl 
selbst  aber  nicht  verändert  wird.     Diesen  Stand  der  Dinge  offenbaren 
uns  z.  B.  die  Malacostraken.     Welche  Verschiedenheit  der  äusse- 
ren Gestalt,   der  Gruppenbildung  zwischen  den  einzelnen  Segmenten, 
der  Verwachsung  und  Verkürzung  auch  auftreten  mögen,  —  und  man 
braucht  nur  P  a  g  u  r  u  s  ,  P  a  I  a  e  m  o  n  ,  C  a  p  r  e  1 1  a  und  I  d  o  t  h  e  a  anzu- 
sehen, —   inuuer  bleibt   die   Zahl   der  Segmente  constant,   höchstens 
verringert  sie  sich  durch  den  Ausfall  des  Poslabdomens.    Hier  also,  bei 
so  ausserordentlicher  Beständigkeit  kann  die  Segmentenzahl  ein  wich- 
tiges, vielleicht  das  wichtigste  Mei'kmal  sein.   Aber  wie  die  19  Segmente 
der  Malacostraken  doch  sicherlich  nicht  von  Anbeginn  bestanden  haben, 
sondern  zu  dieser  Gonstanz  entweder  durch  Verringerung  einer  früher 
bedeutenderen  Zahl,   oder  durch  Vermehrung  einer  geringeren  gekom- 
men sind,  so  muss  auch  eine  Nebenlinie  von  Crustaceen  bestehen   oder 
bestanden  haben,  welche  eine  dieser  Alternativen  verwirklicht,  und  mit 
den  Malacostraken   denselben  Ursprung  hat.     Diese  Nebenlinie  sind, 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  die  P  h  y  1 1  o  p  o  d  e  n  ,  die  durch  N  o  b  a  1  i  a 
noch  auf  das  Intimste  mit  den  Schizopoden  zusammenhängen.    Ne- 


1)  So  besonders  von  Huxley  in  seiner  Arbeit :  »On  the  Anatomy  and  Affinities 
of  the  genus  Pterygotus«.  Pag.  34. 


Uiitersiicliiiiigeii  ültoi'  Ran  und  Knlwickliinu  r/er  Arthropoden.  6I3 

b  a  1  i  a  zeii^t  aber  20  Sognienlc ;  die  übrigen  IMiyllopoden  noch  mehr, 
ja  bis  GO  bei  Apus.  Wir  haben  aber  doch  kein  Bedenken,  Nebalia  , 
Apus,  Branchipus  etc.  in  eine  Ordnung  einzuschliesscn,  —  wenn- 
schon hier  noch  einige  Bedenken  anderer  Art  enlgegcnslehen,  —  wess- 
halb  sollen  wir  nicht  die  15  Segmente  zählenden  Limulus  und  Bel- 
linurus,  die  wahrscheinlich  16  besitzenden  Heniiaspis,  mit  den 
20  zeigenden  Pterygotus  in  eine  Ordnung  einschliessen?  Ordnung 
bedeutet  für  den  genealogischen  Systemaliker  ohnehin  nichts  Anderes 
als  eine  mehr  oder  weniger  grosse,  nachweisbare  oder  vermuthete,  ge- 
nealogische Einheit.  Sind  wir  im  Stande  an  den  in  Frage  stehenden 
Thiercn  gew  isse  gemeinsame  Eigenthümlichkeiten  zu  erkennen,  können 
wir  andererseits  ihre  übrigen  Eigenschaften  ohne  viel  Mühe  aus  einan- 
der oder  von  einem  gemeinsamen ,  nicht  gar  zu  entfernten  Ursprung 
herleiten,  so  hindert  uns  nichts,  sie  als  einer  Ordnung  angehörig  zu 
betrachten.  Freilich  müssen  wir  den  Standpunkt  als  gänzlich  unhalt- 
bar aufgeben,  der  in  der  Composition  der  gegenwärtig  vielleicht  zahl- 
reichsten Ordnung  den  eigentlichen  Typus  der  ganzen  Glasse  erkennen 
will,  und  etwa  die  Formation  der  Decapoden  als  die  eigentlich  allen 
üebrigen  zu  Grunde  liegende  ansehen  will,  —  mit  diesem  Standpunkt 
müssen  wir  platterdings  brechen.  Was  da  von  Kopf,  Thorax,  Abdo- 
men und  Postabdomen  als  nothwendigen  Abschnitten  des  Cruslacecn- 
körpers  gelten  soll,  das  hat  keinenfalls  für  unsern  Standpunkt  die  ge- 
ringste bindende  Kraft. 

Die  geringere  Zahl  der  Gliedmaassenpaare  bei  Pterygotus  kann 
ebensowenig  ein  ausschlaggebendes  Kriterium  gegen  seine  Vereinigung 
mit  den  Poecilopoden  sein.  Erstlich  ist  meiner  Meinung  nach  die 
Beschaflenheit  der  fossilen  Ueberreste  dieser  riesigen  Krebse  nicht  so 
vollkommen,  dass  man  mit  grosser  Sicherheit  behaupten  könnte,  soviel 
und  nicht  mehr  Extremitäten  hatte  Pterygotus.  Man  weiss,  welche 
ungeheuren  Massen  von  Trilobiten  in  den  Sammlungen  der  Paläon- 
tologen seil  mehr  als  100  Jahren  sich  befinden  und  dass  trotzdem  erst 
im  Jahre  1870  die  Extremitäten  eines  derselben  entdeckt  wurden.  War 
doch  sogar  schon  die  Meinung  ziemlich  verbreitet,  die  Trilobiten 
hätten  überhaupt  keine  Extremitäten  gehabt,  —  was  gradezu  als  eine 
morphologische  Unmöglichkeit  gelten  musste ,  —  sonach  wird  man  es 
also  auch  nicht  für  allzu  skeptisch  aufnehmen,  wenn  von  Seiten  der 
Morphologen  die  bisherigen  Angaben  der  Paläontologen  über  die  Zahl 
und  Bedeutung  der  Pterygotus- Gliedniaassen  nicht  als  definitive 
und  unw  idersprechliche  angesehen  werden  —  um  so  weniger  als  die 
Lückenhaftigkeit  des  zur  Untersuchung  gelangenden  Materiales  von  Jahr 
zu  Jahr  verringert  wird. 


614  Anton  Polini, 

Was  aber  eine  so  nahe  Zusammengehörigkeit  der  Eurypteriden 
und  des  Limulus  in  morphologischer  Beziehung  ausser  Frage  stellt, 
das  ist,  —  wenn  wir  von  der  Zahl  vorläufig  einmal  absehen,  — ;  die 
Structur  der  Gliedmaassen.  Ihre  auffallendste Eigenlhümlichkeit,  mit 
der  sie  zugleich  so  gut  wie  ganz  ausserhalb  der  übrigen  Kruster  stehen, 
ist  die  Beschaffenheit  des  Hüftstiickes  und  dessen  Function.  Wie  die 
Beobachtungen  des  Dr.  Lockwoop  erwiesen  haben,  wird  beim  Limu- 
lus der  ganze  Kauvorgang  durch  das  gegeneinander  Reiben  dieser  Stücke 
vollführt,  und  demgemäss  sind  sie  bekanntlich  mit  zahlreichen  beweg- 
lichen Zahnen  versehen.  Eine  fast  noch  ausgeprägtere  Structur  in  der- 
selben Richtung  zeigen  die  GHedmaassen  der  Pterygotus.  Die  Hüft- 
stücke erscheinen  noch  um  Wesentliches  selbstständiger  und  gegen  die 
eigentlichen  Gliedmaassen  vorwiegend,  — ja  die  des  letzten  Paares  der 
Kopfschild- Extremitäten  sind  von  so  ausserordentlicher  Grösse,  dass 
sie  gewiss  eine  sehr  bedeutende  Wirksamkeit,  zugleich  aber  auch  die 
entsprechende  Muskulatur  und  Sehnenbeschaffenheit  voraussetzten. 

Fast  noch  mehr  als  beim  Limulus  scheinen  bei  Pterygotus 
diese  Kautheile  sich  um  den  Mund  concentrirt  und  zusammengeschoben 
zu  haben,  —  was  eben  hauptsächlich  aus  der  Grösse  des  letzten  Hüft- 
slückes  und  der  an  seine  innere  obere  Kante  gerückten  Zahnreihe  her- 
vorgeht. Zugleich  damit  mussten  sich  aber  auch  die  übrigen  Theile 
der  Extremitäten,  die  als  Palpen  etc.  beschrieben  wurden,  mit  Aus- 
nahme des  letzten,  grossen  Ruderbeines  mehr  zusammenschieben;  da- 
her ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  bei  den  fossilen  Stücken  durch  die 
Compression  der  übereinanderliegenden  Theile  eine  wesentliche  Un- 
klarheit Platz  gegriffen  hat  und  statt  4  Paaren  zwischen  den  vordersten 
und  dem  letzten  Extremitätenpaare  nur  3  Paare  erkennbar  werden. 
Grade  wie  bei  Limulus  scheint  auch  bei  Pterygotus  eine  Arbeits- 
theilung  innerhalb  der  Extremitäten  Platz  gegriffen  zu  haben :  die  ersto 
und  letzte  Extremität  haben  sich  jede  zu  einer  speciellen  Function  um- 
gebildet. Dass  die  letzte  bei  Pterygotus  eine  Art  Ruder  vorstellt, 
kann  ihrer  Structur  nach  füglich  nicht  bezweifelt  werden,  und,  wenn 
anders  die  paläontologischen  Befunde  nicht  trügen,  so  ist  die  erste  Ex- 
tremität ein  entschiedenes  und  sehr  geschicktes  Greiforgan,  Die  zwi- 
schen diesen  beiden  liegenden  Paare  aber  scheinen  wesentlich  nur  zum 
Graben  und  Wühlen  geschickt  gewesen  zu  sein,  —  darauf  deuten  die 
Stacheln  und  Dornen,  die  zum  Theil  in  bedeutender  Grösse  —  cf.  Pte- 
rygotus punctatus  —  vorhanden  gewesen  sind.  Erscheint  es  nun 
nach  morphologischen  Maximen  glaubhaft,  dass  von  den  4  Extremitäten, 
die  bei  dem  Limulus  zwischen  dem  ersten  und  letzten  Paare  sich  be- 
finden, und  also  sicherlich  auch  bei  den  Vorfahren  des  Limulus  im 


Uiilcrsiic'liiiimPii  iilicr  liiiii  niid  Kiihvickliiiiy,  der  Arlliinpndcii.  615 

Silur  vorhanden  gewesen  sind,  —  dass  von  diesen  e  ine  ausgefallen 
sei?  Besonders  da  Pterygotus  in  der  Grösse  noch  so  weit  über  Li- 
niiilus  das  Uebergewichl  gchal)t  habe?  Ich  nuiss  bekennen,  dass  es 
mir  höchst  unwahrscheinlich  ist.  Man  könnte  aber  glauben,  dass  die 
grosse  Ruderoxtreniilät  des  Pterygotus  homolog  sei  der  fünften  Ex- 
tremität des  Limulus,  und  dass  die  sechste  ausgefallen  sei.  Dem 
scheint  aber  zu  widersprechen,  dass  wir  wie  beim  Limulus  so  auch 
bei  Pterygotus  gleich  auf  die  grosse  Ruderextremität  jenes  Platten- 
paar folgen  sehen,  das  wie  ein  Deckel  sich  über  die  folgenden,  kiemen- 
Iragenden  Platten  hinüberlegt.  Danach  kann  nicht  bezweifelt  werden, 
dass  die  beiden  Plattenpaare  und  das  sie  tragende  Segment  bei  beiden 
l'ormen  homolog  sind,  —  mithin  bliebe  dann  nur  noch  die  Möglichkeit, 
dass  das  erste,  sdieerenförmige  Extremitätenpaar  des  Pier y  gotus, 
z.B.  bei  Pt.  bilobus,  nicht  dem  ersten  Extremitätenpaar  des  Limu- 
lus entspräche.  Aber  wie  dieses  befindet  sich  auch  jenes  in  einer  von 
den  übrigen  Extremitäten  verschiedenartigen  Insertion,  —  mehr  vor 
dem  Munde,  als  neben  demselben.  Man  würde  dann  schwer  begrei- 
fen, wie  diese  Verlegung  der  Insertion  stattgefunden  haben  sollte,  wenn 
etwa  schon  hier  ein  Extremitätenpaar,  —  das  dann  also  in  Wirklich- 
keit dem  ersten  des  Limulus  homolog  gewesen  wäre  —  bestanden 
hätte,  aber  durch  irgend  welche  äusseren  Einflüsse  zu  Grunde  gegan- 
gen wäre.  Es  muss  aber  doch  augenscheinlich  um  Vieles  leichter  sein, 
dies  erste  kleine  Paar  beim  Limulus  zu  einer  ansehnlicheren  Grösse 
zu  entwickeln,  als  es  ausfallen  zu  machen  und  das  zweite  an  seine 
Stelle  zu  rücken. 

Wie  es  also  auch  mit  dem  Ihatsächlichen  paläontologischen  Befunde 
stehen  mag,  —  das  Postulat  der  Morphologie  lautot  dahin,  bei  Ptery- 
gotus und  allen  übrigen  Eurypteriden  ebenso  viele  Exlremitälcn 
des  Kopfschildes  anzunehmen,  als  sich  gegenwärtig  beim  Limulus 
vorfinden. 

Um  dies  Postulat,  welches  sich  auf  die  Annahme  der  nahen  genea- 
logischen Verwandtschaft  der  beiden  in  Rede  stehenden  Formen  grün- 
det, noch  mehr  zu  stützen,  müssen  wir  fortfahren,  eben  diese  genealo- 
gische Verwandtschaft  aus  den  morphologischen  Befunden  weiter  abzu- 
leiten. 

Eine  der  auffallendsten  Bildungen  des  Limulus,  —  wie  wir  wei- 
terhin noch  näher  zu  begründen  haben  werden,  —  ist  die  hinter  dem 
sechsten  Extremitätenpaare  am  Grunde  des  Kopfschildes  sich  ent- 
wickelnde, gespaltene  Unterlippe,  —  wenn  wir  die  beiden  anfänglich 
alsPlallen,  später  als  bewegliche  zahntragende  und  nach  vorn  gekrümmte 
Höcker    erscheinenden   Keile  so    nennen    wollen.      Dieselben  dienen 


616  Anton  Dohrn, 

im  Wesentlichen  dazu,  die  Spalte,  welche  durch  die  6  Extremitäten- 
paare im  Umkreise  der  Mundöffnung  gebildet  wird,  nach  hinten  zu  ab- 
zuschliessen,  und  beim  Kauen  behilflich  zu  sein. 

Eine  in  der  Gestalt  zwar  ziemlich  verschiedene,  aber  der  Lage  und 
Bedeutung  nach  offenbar  identische  Bildung  erkennen  wir  nur  bei  Pte- 
rygotus  in  der  von  den  Autoren  »Hypostoma«  i)  genannten  Platte.  Da 
ihre  Insertion  hinter  dem  6ten  Extremitätenpaare  liegt,  die  Mundöffnung 
aber,  im  Gegensatz  zu  Limulus,  bei  Pterygotus  weit  nach  vorn 
gerückt  ist,  —  was  wir  schon  vorhin  aus  der  vergrösserlen  Beschaffen- 
heit der  letzten  Hüftstücke  ersahen,  —  so  ist  es  nicht  zu  verwundern, 
dass  auch  das  Ilypostoma  eine  sehr  verlängerte  Gestalt  erhalten  hat, 
um  erfolgreich  an  der  Bildung  und  Action  des  Kauapparates  theilneh- 
men  zu  können.  Seine  bilaterale  Gestalt  und  Anlage  geht  noch  deut- 
lich aus  der  Natur  des  Vorderrandes  hervor,  der  in  der  Mitte  eine  tiefe 
und  scharfe  Einbuchtung  erkennen  lässt.  Auch  zieht  sich  ein  Kiel  oder 
eine  Furche  der  Länge  nach  in  der  Mittellinie  von  dieser  Einbuchtung 
an  die  Basis  (cf.  Slimonia   [Pterygotus]  acuminata  Salter). 

Gehen  wir  nun  einen  Schritt  weiter  zurück  am  Körper  der  Pte- 
rygotus, so  begegnen  wir  der  bereits  erwähnten  Platte.  Diese  Plat- 
ten kennen  wir  in  verschiedener  Gestalt  von  Pt.  anglicus  (Taf.  XIV. 
Fig.  20),  bilobus  und  Slimonia  acuminata  (Taf.  XV.  Fig.  27). 
Bei  allen  dreien  bestehen  sie  aus  einem  Stück,  —  aber  dennoch  müs- 
sen wir  annehmen,  dass  sie  aus  zwei  ursprünglich  getrennten  Stücken 
nur  zusammengewachsen  sind.  Dies  wird  uns  sehr  anschaulich,  wenn 
wir  die  Structur  und  Bildungsweise  der  gleichnamigen  Platte  bei  Li- 
mulus in's  Auge  fassen.  Wir  sahen,  dass  dieselben  ursprünglich  aus 
einer  breiten  Platte  und  einem  daran  befindlichen  kleineren,  inneren 
Anhange  bestanden.  Später  gliedern  sich  beide,  legen  sich  mit  dem 
innern  Rande  nah  an  einander  und  verschmelzen  schliesslich,  wobei  der 
innere  Anhang  bei  Limulus  freilich  fast  verschwindet.  Liessen  wir 
ihn  aber  fortbestehen,  wie  er  es  bei  dem  zweiten  und  den  folgenden 
Plattenpaaren  thut,  so  würde  er  an  seinem  innern  Rande  mit  dem  der 
andern  Seite  verschmelzen  und  einen  mittleren,  längeren  Griffel  mit 
jederseits  einer  breiten  Platte  herstellen,  —  grade  das,  was  wir  bei 
Pterygotus  zu  erkennen  haben,  wo  auch  noch  sogar  die  Naht  in 
diesem  centralen  Griffel  stellenweise  deutlich  wird,  bei  einigen  auch  die 
Gliederung  sowohl  der  Seitentheile,  als  der  Centraltheile  noch  hervortritt. 

In  seinen  letzten  Mittheilungen  beschreibt  nun  der  Monograph  der 


1)  Uebrigens  wohl  zu  unterscheiden  von    dem  Hypostoma    der   Trilobiten, 
welches  vielmehr  der  Oberlippe  entsprichU 


Untersuchungen  über  Bau  und  Fntwicklung  der  Artlirnpndcn.  017 

Merostomata ,  Mr.  II.  Woodward  noch  Thcilc,  welche  er  für  die 
letzten  Ueberreste  der  Kieincnl)l;ilter  des  Plerygot  us  hiilt.  iJass  nach 
alledeni,  was  liier  gesagt  worden,  die  Anwesenheit  von  Kienien,  und 
zwar  blattförmigen  Kiemen,  ein  ebenso  bestimmtes  Postulat  für  die  Or- 
ganisation der  Pterygotus  bilden  niuss,  wie  die  (3  Kxtremiliiten  des 
Kopfschildes,  braucht  nicht  erst  ausgesprochen  zu  werden.  Nach  Lage 
und  Bildung  zu  schliessen,  scheint  es  auch,  dass  Woodward  wirklich 
diese  Organe  aufgefunden  hat.  Freilich  sollen  sie  von  den  Kiemenblät- 
tern des  Limulus  darin  abweichen,  dass  sie  nicht,  wie  diese,  wie  die 
Blätter  eines  Buches  über  einander,  sondern  wie  die  Zähne  einer  Harke 
neben  einander  stehen,  dass  ferner  in  ihnen  eine  deutliche  Verzwei- 
gung von  Blutgefässen  erkennbar  sein  soll.  Wir  müssen  die  Feststel- 
lung dieser  Verhältnisse  den  Paläontologen  überlassen ;  —  vom  mor- 
phologischen Standpunkte  aus  ist  vorderhand  nichts  dagegen  einzu- 
wenden, dass  es  sich  so,  wie  angegeben,  damit  auch  in  Wirklichkeit 
verhalten  haben  könne,  wennschon  jede  mögliche  Deutung  dieser  Ge- 
bilde, welche  sie  der  Limulusgestalt  näher  führen  könnte,  unzweifel- 
haft beifälliger  aufgenommen  werden  müsste. 

Aber  von  wesentlicherer  Bedeutung  ist  noch  die  Frage :  bestand 
nur  dies  eine  Plattenpaar,  oder  gab  es  noch  mehrere?  Lagen  unter 
dem  bekannten ,  bei  den  oben  genannten  Arten  aufgefundenen  noch 
andere  Plattenpaarc '?  Hierauf  erhalten  wir  vorläufig  noch  keine  be- 
stimmte Antwort,  —  und  doch  müssen  wir  um  so  mehr  auf  diesen 
Punkt  hinweisen,  als  es  sehr  bedenklich  ist,  anzunehmen,  dass  Limu- 
lus 5  kiementragende  Gliedmaassen  besessen  habe,  und  dass  an  jeder 
Extremität  100 — 150  breite  Kiemenblälter  gesessen  haben,  Pterygo- 
tus aber,  der  mehr  als  noch  einmal  so  gross  und  voluminös  war,  nur 
ein  Paar  mit  an  Zahl  und  Grösse  sehr  viel  geringeren  Kiemenblättern, 

Diese  Frage  verbindet  sich  noch  mit  einer  andern,  über  die  Gestalt 
der  auf  das  Kopfschild  folgenden  12  Segmente  und  die  Bedeutung  der 
auf  den  ersten  6  derselben  befindlichen  Eindrücke  jederseits  neben  der 
Mittellinie  des  Rückens.  Wir  wissen,  dass  auf  dem  Schwanzschilde 
des  Limulus  sich  gleichfalls  6  Paar  solcher  Eindrücke  vorfinden  und 
haben  aus  der  Anatomie  und  Entwicklung  gelernt,  dass  denselben  nach 
innen  gehende  Fortsätze  der  Rückenwandung  entsprechen.  An  diese 
Fortsätze  setzen  sich  MuskelbUndel  des  grossen  Flexor  an,  der  Kopf- 
und  Schwanzschild  gegen  einander  beugt,  ferner  auch  Bündel  der  Mus- 
kulatur, welche  zur  Bewegung  der  Plattenpaare  dient.  Einem  anderen 
Zwecke  dienen  diese  Fortsätze  nicht.  Wenn  wir  nun  bei  Pterygotus 
dieselben  Eindrücke  bemerken,  in  derselben  Lage  und  Zahl  wie  bei 
Limulus,  wenn  wir  uns   zugleich  der  ursprünglichen   Zusammen- 


618  Aiitoii  Dolii'ii, 

Setzung  des  Schwanzschildes  dieses  letzleren  aus  8  Segmenten  erinnern, 
—  so  scheint  es  als  wenn  wir  durchaus  berechtigt  wären,  von  der  Exi- 
stenz dieser  Eindrücke  auf  das  Vorhandensein  der  Fortsätze  zu  schlies- 
sen,  von  da  auf  die  Beugemuskeln  und  auf  die  Plattenmuskeln,  —  und 
damit  kämen  wir  denn  auch  auf  die  Platten  und  die  daran  befindlichen 
Kiemen  selber. 

In  einem  Aufsatze  »On  some  poinls  in  the  structure  of  the  Xipho- 
sura  having  reference  lo  their  relationship  with  the  Eurypleridae« 
(Quarterly  Journal  of  the  Geological  Society  1867.  pg.  31)  theilt  uns 
übrigens  Mr.  H.  Woodward  mit,  dass  er  das  Vorhandensein  dieser 
Branchialplatten  nicht  in  Zweifel  zöge.  »This  latter  point«,  heisst  es 
a.  a.  0.,  )^I  think,  is  established  on  the  evidence  of  specimens  both  in 
the  Museum  of  Practical  Geology  and  in  the  British  Museum,  showing 
Iwo  opercular-shaped  plates  associated  together  and  evidently  belong- 
ing  to  the  same  individual.  One  plate  also  exhibits  two  small  rounded 
prominences,  which,  there  ean  be  little  doubt,  were  ovarian  openings.« 
Ebenso  erscheint  auf  der  noch  nicht  veröffentlichten  Abbildung  eines 
Stückes  von  Slimonia  acuminata  (dessen  Mittheilung  ich  der 
Freundlichkeit  des  Verfassers,  Mr.  Woodayakd,  verdanke)  das  Vorhan- 
densein von  wenigstens  drei  Plattenpaaren  constatirt  werden  zu  kön- 
nen ;  eine  isolirte  Platte  lässt  ausserdem  die  entschiedenste  Aehnlich- 
keit  mit  denen  des  Limulus  hinsichtlich  der  Gliederung  erkennen. 
Mit  Entschiedenheit  behauptet  aber  das  Vorhandensein  von  6  Plalten- 
paaren  Dr.  Jon.  Nieszkowski  in  seiner  Schrift:  »Der  Euryplerus  remi- 
pes  aus  den  obersilurischen  Schichten  der  Insel  Ossel.«  (Archiv  für  die 
Naturkunde  Liv-,  Ehst-  und  Kurlands  erster  Serie,  Bd.  II.  1858, 
pag.  299 — 344.)  Dieser  Autor  behauptet  mit  grosser  Bestimmtheit  die 
nahe  Zusammengehörigkeit  des  Eurypterus  und  Limulus,  —  ja, 
was  sehr  wichtig  ist,  er  stimmt  gleichfalls  für  die  Annahme,  dass  Eu- 
rypterus wie  Limulus  6  Gliedmaassenpaare  am  Kopfschilde  beses- 
sen habe.  Auf  Seite  330  1.  c.  heisst  es:  «Beim  Limulus  sind  ihrer  sechs 
Paare  vorhanden,  beim  Eurypterus  habe  ich  nur  fünf  mit  Bestimmtheit 
nachweisen  können ;  doch  möchte  ich  glauben,  dass  beim  lebenden 
Thier  noch  ein  sechstes  vorderes  Paar  existirt  habe,  was  auch' un- 
ser Material  in  Rudimenten  zeigt.« 

Alle  diese  Fragen  haben  aber  noch  eine  besondere  Tragweite,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  eine  Hypothese  über  die  Lebens-  und  Fortbe- 
wegungsweise der  Eurypteriden  aufzustellen.  Es  scheint  durchaus 
unmöglich,  annehmen  zu  wollen,  die  GHedmaassen  des  Kopfschildcs, 
hätten  hingereicht,  um  diese  Thiere  auf  dem  Grunde  des  Meeres,  krie- 
chend ,  fortbewegen  zu  können.     Erstlich  sind  sie  viel  zu  klein,  um 


Uiitrrsii(iniiiiii'ii  iilicr  Bau  tiiid  riilwickliing  der  Aillirn|iiHli'ii.  619 

diese  mächtige  Last  zu  schleppen,  —  sift.hal)cn  nicht  cinnial  Hauni  ge- 
nug, um  eine  entsprechende  Muskulatur  zu  lassen.  Dann  aber  ist  ihr 
Inserlionspunkt  fast  an  der  Spitze  des  langen,  —  zwischen  1 — 5  Fuss 
messenden  —  Körpers  sicherlich  kein  Anzeichen  dafür,  dass  sie  der 
Ortsbewegung  dienten.  Zwar  ist  die  letzte  Extremität  des  Kopfschildes 
ein  eigentlicher Ruderfuss, —  und  Kurypterus  remipes  (Taf.  XIV. 
Fig.  21)  hatdieserhalb  seine  Namen  bekommen,  —  dennoch  aber  möchte 
ich  aus  nachfolgenden  Erwägungen  zu  der  Meinung  kommen,  diese  Ex- 
tremität verdiene  viel  mehr  den  Namen  »Sleuerfuss«  als  Ruderfuss.  Wenn 
es  nämlich  als  mechanisches  Gesetz  gelten  muss,  dass  die  Fortbewegung 
einer  Last  um  so  leichter  und  rascher  geht,  je  näher  dem  Schwerpunkte 
die  fortbewegenden  Kräfte  sich  finden,  so  werden  wir  darauf  zu  rechnen 
haben,  dass  die  eigentlichen  ortsbewegcnden  Kräfte  nicht  am  Kopf- 
schilde der  Euryp  teriden,  sondern  an  den  mittleren  Körpersegraen- 
ten  sitzen.  Und  da  für  ein  im  Wasser  lebendes  Thier,  —  es  mag  noch 
so  viel  auf  oder  gar  in  dem  Meeresgrunde  sich  aufhalten,  —  Schwimm- 
organe die  wesentlichsten  Fortbewegungsmitlei  sind,  so  werden  wir 
auch  in  den  Plattenpaaren  des  Mittelleibes  der  Eurypteriden  nicht 
nur  die  Träger  der  Athmungsorgane,  sondern  auch  die  Locomotions- 
Organe  zu  erblicken  haben.  Dann  erklärt  sich  auch  ohne  Zwang  das 
Verwachsen  der  Platten  eines  Paares  am  inneren  Rande,  weil  dadurch 
eine  grössere  Fläche  hergestellt  und  eine  stärkere  Wirkung  gegen  das 
Wasser  ausgeübt  werden  kann.  Auch  die  Breite  und  Stärke  der  die 
Platten  tragenden  Segmente  gewinnt  auf  diese  Weise  eine  klärende 
Begründung,  da  sie  eine  viel  bedeutendere  Muskulatur  zu  beherbergen 
halten,  als  wenn  sie  nur  Träger  von  Kiemenplatten  gewesen  wären. 
Ueberdies  zeigt  die  Structur  der  Platten  bei  Eurypterus  remipes 
dieselbe  Schuppenbildung  wie  die  übrigen  Wandungen  des  vorderen 
Körpertheils,  woraus  auf  eine  nicht  unbeträchtliche  Stärke  und  Resi- 
stenz derselben  zu  schliessen  ist,  was  unnölhig  gewesen  wäre,  hätte  es 
sich  nur  darum  gehandelt,  Kiementräger  herzustellen,  welche  durch 
Auf-  und  Niederklappen  die  zum  Gasauslausch  nöthige  Bewegung  und 
Veränderung  des  Wassers  hervorgebracht  hätten.  Waren  aber  diese 
Klappenpaare  wirklich  die  Locomotionsorgane,  so  wird  durch  ihr  Ver- 
wachsensein ein  besonderes  Steuerorgan  um  so  mehr  von  Nöthen,  und 
es  ist  wohl  nicht  ungegründet,  wenn  wir  hier  die  eigentliche  Function 
des  letzten  Extremitälenpaares  des  Kopfschildes  zu  erkennen  glauben, 
falls  die  Bewegung  des  hinteren  Körpertheils  nicht  allein  schon  hin- 
gereicht haben  sollte.  Keinenfalls  dürfen  wir  übrigens  die  Eurypte- 
riden für  gute  Schwimmer  halten  ;  wahrscheinlich  wird  ihr  Schwim- 
men verbunden  gewesen  sein  mit  einem  wühlenden  Durchsuchen  des 


620  Aiitoii  Dolirii, 

schlammigen  Meeresgrundes,  wobei  das  Kopfschiid  mit  seinen  Extre- 
mitäten das  Suchen  und  Fangen  der  im  Schlamme  steckenden  Thiere 
betrieben  haben  wird,  der  Miltelleib  aber  mit  den  Plattenpaaren  die 
langsame  Fortbewegung  bewerkstelligte  und  zugleich  für  die  hinrei- 
chende Athmung  sorgte. 

Nach  alledem  bleibt  immer  noch  ein  wesentlicher  Unterschied  zw  i- 
schen  den  Eurypteriden  und  Limulus  bestehen,  nämlich  die 
grössere  Zahl  von  Segmenten  bei  den  ersteren.  Müssen  wir  nämlich 
den  Schwanzstachel  des  letzteren  mit  dem  letzten  Segmente  oder  Telson 
der  Pterygotus  gleichsetzen,  —  und  das  scheint  das  Richtige  zu  sein, 

—  so  fehlen  dem  Limulus  noch  4  Segmente,  die  den  Eurypteri- 
den durchgehends  zuzukommen  scheinen.  Hat  Limulus  oder  seine 
direclen  Vorfahren,  Bellinurus,  Prestvvichia  und  Aehnliche  die- 
selben besessen  oder  nicht?  und  wenn  so :  wie  und  warum  hat  er  sie 
verloren? 

Dass  der  Körper  des  Limulus  Verkürzungen  erfahren  hat,  scheint 
aus  der  Natur  des  Schwanzschildes  hervorzugehen,  das  seine  ganze 
Existenz  überhaupt  nur  einem  solchen  Processe  der  Verkürzung  und 
Verwachsung  dankt.  In  Prestwichia  und  Bellinurus  sind  uns 
noch  die  Formen  aufbewahrt,  welche  die  un verwachsenen  Segmente 
zeigen,  —  und  es  scheint  als  ein  ausnahmloses  Gesetz  zu  gelten,  dass 
segmentarisch  gebildete  Körpertheile  ursprünglich  aus  identischen  Ab- 
schnitten bestanden,  ehe  sie  aus  Gründen  veränderter  Lebensweise  Ver- 
schiedenheiten in  der  Bildung  dieser  Abschnitte  aufzeigten.  Waren  also 
die  Segmente  des  jetzigen  Schwanzschildes  beim  Limulus  ursprüng- 
lich gleich,  oder  wenigstens  einander  viel  ähnlicher  in  Dimension  und 
Gestall  als  jetzt,  so  kommen  wir  von  selbst  auf  Formen,  wie  wir  sie 
bei  den  Eurypteriden  noch  heule  sehen.  Nun  findet  sich  aber  bei 
diesen  letzteren  i  Segment,  das,  ohne  Platten  zu  tragen,  —  ich  folge 
hierin  den  Angaben  Niezckowski's,  —  dennoch  die  Form  der  vorher- 
gehenden Segmente  mehr  erkennen  lässt,  als  die  dann  folgenden.  An- 
dererseits sehen  wir  auch  bei  den  Larven  des  Limulus,  dass  nicht 
alle  Segmente  des  späteren  Schwanzschildes  Extremitäten-tragende 
werden,  sondern  dass  nur  6  Plattenpaare  auf  8  ursprüngliche  Segmente 
sich  finden  —  mithin  zwischen  dem  letzten  Plattenpaare  und  dem 
Schwanzstachel  2  Segmente  noch  mitten  inne  liegen.  Diese  Segmente 
haben  offenbar  gar  keine  Bedeutung  mehr  für  den  Haushalt  des  Thieres, 

—  es  könnte  ohne  sie  vollkommen  so  gut  leben,  sie  stehen  auf  der 
Werthstufe  rudimentärer  Organe.  So  mag  es  vorher  schon  den  viel- 
leicht vorhanden  gewesenen  weiteren  4  Segmenten  gegangen  sein,  die 
wir  bei  den  Eurypteriden  finden  und  die  in  Folge  dessen  bei  Limulus 


Unfprsiirlmnnpii  iihor  Raii  und  F.iilwifkliing  dor  Artlirnpndoii.  621 

ausgefallen  sind,  —  und  wir  kamen  dann  lür  Li  ni  ul  us,  Pl.TVgo- 
lus,  Slimonia,  Eurypleius  elc.  etc.  auf  gemeinsame  Vorfahren, 
die  freilich  im  Allgemeinen  den  Eurypteriden  ähnlicher  gewesen 
wären,  als  den  Poecilopoden  von  heute  oder  aus  dem  Lias. 

Fragen  wir  aber  nach  dem  Grunde  der  vorgegangenen  Verkürzung 
in  dem  Körper  des  Limulus,  so  werden  wir  denselben  jedenfalls  nui' 
in  einer  veränderten  Lebensweise  zu  suchen  haben.  Nach  Dr.  Lock- 
wood's  Angaben  scheint  es,  als  wenn  Limulus  überhaupt  nicht  mehr 
schwämme,  sondern  nur  kriechend  und  wühlend  sich  fortbewege.  Das 
w  ürde  uns  dann  begreiflich  machen,  wie  der  Schwerpunkt  des  Körpers 
aus  dem  Mittelleibe  nach  vorn  in  das  Kopfschild  verlegt  worden  ist, 
und  eine  Verkürzung  und  Verschmälerung  der  Segmente  dieses,  jetzt 
zum  Schwanzschilde  gewordenen  Mittelleibes  eintreten  musste.  Denn 
wenn  die  Plattenpaare  nicht  mehr  für  die  Ortsbewegung,  sondern  nur 
für  die  Bewegung  der  Kiemenblälter  vorhanden  sind,  —  und  das  scheint 
wohl  der  Fall  zu  sein  —  so  brauchten  sie  nicht  so  starke  Consistenz 
ihrer  Wandungen,  nicht  so  bedeutende  Muskelmasscn  zu  ihrer  Bewe- 
gung, und  keine  so  bedeutenden  Insertionsflächon  für  diese  Muskelmas- 
sen. Auf  der  andern  Seite  musste  die  veränderte  Lebensweise  aber 
nicht  nur  negativ  verändernden  Einfluss  auf  die  Körpergestalt  ausüben, 
sie  musste  ihn  auch  in  neue  Verhältnisse  forlbildend  entwickeln.  Ward 
die  Körpermuskulatur,  die  Flexoren  und  Exlensoren  des  Kopfschildes 
und  der  verkürzten  Segmente  des  Mittelleibes,  eines  der  llauplmittel 
zur  Fortbewegung  und  zur  erfolgreichen  Nahrungsbeschaffung,  so  wird 
es  begreiflich,  dass  das  Kopfschild  selbst  stark  und  für  bedeutende 
Muskelmassen  eingerichtet  wird,  andererseits  auch,  dass  aus  den  Seg- 
menten des  Mittelleibes  eine  feste,  den  Muskeln  bedeutende  Resistenz 
entgegensetzende  Platte  oder  Schild  sich  herausbildete,  die  Segmente 
aber,  welche  hiezu  vielleicht  von  vornherein  sich  nicht  mehr  eigneten 
oder  überflüssig  w'aren,  sobald  nicht  mehr  geschwommen  wurde,  aus- 
fielen. 

Manche  Autoren  haben  die  Meinung  ausgedrückt,  in  dem  Schwanz- 
stachel eine  Verwachsung  von  Segmenten  erblicken  zu  dürfen,  —  dem 
steht  aber  das  einfache  Factum  entgegen,  dass  die  Aflerüllnung  dicht 
vor  der  Einlenkung  des  Stachels  in  dem  Schwanzschilde  gelegen  ist,  — 
mithin  der  Stachel  nur  als  Telson  in  Anspruch  genommen  werden  kann, 
wenn  man  diesen  ursprünglich  bei  den  Amphipoden  zuerst  ge- 
brauchten Ausdruck  überhaupt  zur  Bezeichnung  zulassen  will.  — 

Wenn  wir  aber  so  die  Zusammengehörigkeit  des  Limulus  mit 
den  Gigantostra  ken,  die  ja  schon  von  mehreren  Forschern  sehr 
stark  betont  wurde,  nach  morphologischen  Gesichtspunkten  zweifellos 


622    .  Anton  Dolirn, 

gemacht  zu  iiaben  glauben,  so  IVagt  es  sich:  müssen  wir  nun  hier 
stehen  bleiben  ?  Giebt  es  keinen  Schritt  weiter  zurück  in  die  Urzeit 
der  Erde,  zu  dem  uns  die  hier  behandelten  Thierformen  Führer  sein 
könnten?   Der  nächste  Abschnitt  soll  versuchen,  darauf  zu  antworten. 

Limulus  und  die  Trilobiten. 

Seit  langer  Zeit  ist  es  ein  den  Paläontologen  und  Morphologen  ge- 
meinsames Problem,  die  Organisation  und  die  systematische  Stellung 
der  Trilobiten,  dieser  ältesten  aller  Versteinerungen,  —  wenn  wir 
von  Eozoon  canadense  einmal  absehen  —  auszukundschaften. 
Eigenthümliche  Schwierigkeiten  haben  bis  auf  den  heutigen  Tag  ge- 
wirkt und  die  Lösung  dieser  Aufgabe  erschwert.  Auffallenderweise 
Hessen  nämlich  die  paläontologischen  Befunde  über  eine  der  wichtig- 
sten Thatsachen  für  die  Entscheidung  dieser  Frage  im  Dunkeln.  Trotz 
der  vielen  Tausende  von  Trilobiten,  die  von  den  cambrischen 
Schichten  an  bis  übei'  den  Devon  hinaus  gefunden  worden  sind,  besass 
man  doch  kein  einziges  Stück,  welches  eine  Spur  von  Extremitäten 
offenbart  hätte.  Man  verfiel  schon  den  abenteuerlichsten Vermuthungen 
über  die  Fortbewegungsweise  der  Trilobiten,  indem  man  annahm, 
dieselben  hätten  überhaupt  keine  Extremitäten  gehabt,  sie  hätten  sich 
mit  dem  Hypostoma,  einer  Art  Oberlippe,  auf  dem  Meeresgrunde  fort- 
geschleppt, —  weil  man  es  sich  eben  gar  nicht  vorstellen  konnte,  dass 
die  etwa  vorhanden  gewesenen  Extremitäten  bei  dem  Fossilwerden 
sollten  gänzlich  abhanden  gekommen  sein.  Dass  die  Trilobiten  auch 
aus  dem  Bereiche  der  Arthropoden  heraus  zu  den  Mollusken,  be- 
sonders in  die  Nähe  von  Chiton  gebracht  wurden,  ist  seit  Latreille 
freilich  nicht  wieder  geschehen.  —  aber  über  ihren  eigentlichen  Platz 
innerhalb  der  Gliederthiere  ist  man  noch  immer  nicht  im  Reinen,  — 
und  wir  werden  sehen,  dass  diese  Unsicherheit  in  der  Natur  der  Sache 
liegt. 

Von  allen  Bearbeitern  der  Gruppe  besass  die  ausgebreitetsten  zoo- 
logischen Kenntnisse  unstreitig  Burmeister.  So  ist  denn  auch  sein  Werk 
»Die  Organisation  der  Trilobiten  aus  ihren  lebenden  Verwandten  ent- 
wickelt«, wennschon  es  im  Jahre  1843  erschien,  noch  heute  die  eigent- 
liche Grundlage  für  alle  morphologischen  Speculationen,  deren  Gegen- 
stand die  Trilobiten  seitdem  geworden  sind.  Da  auch  die  musterhafte 
Monographie  Barrande's  in  dem  ersten  Bande  des  »Systeme  silurien  de 
la  Boheme«  in  consequenter  Selbstbeschränkung  nach  keiner  Seite  hin 
den  Boden  des  unmittelbar  Beobachteten  aufgiebt,  und  bezüglich  der 
zoologischen  Gesichtspunkte  sich  hauptsächlich  an  Burmeister  anschliesst, 


üntersiichnnKeii  fibor  Bau  niul  Riilwifkliiiiftdcr  Arlliinpodoii.  023 

da  ferner  auch  Mr.  Saltkr  in  seinem  »Monograph  of  JBrilisl)  Ti  i!ol)ileS(( 
nur  vorübergehend  das  Problem  der  systematischen  Stellung  der  von 
ihm  dargestellten  Fossilien  berührt,  —  so  haben  wir  es  hier  eigentlich 
nur  mit  den  Erörterungen  zu  ihun,  welche  Bukmeistku  in  dem  zweiten 
Capitel  seiner  angeführten  Schrift  unter  der  Ueberschrift  »Beziehung 
der  Trilobiten  zu  den  jetzt  lebenden  Gliederlhieren«  pag.  35 — GO  nie- 
dergelegt hat. 

Die  theoretische  Grundlage  des  zoologischen  Forschens  damaliger 
Zeit  war  nun  freilich  von  der  heute  im  Aufstreben  begriffenen  Uich- 
lung  weit  verschieden.  Zwar  galt  es  seit  Guvikr  für  eine  dringende^ 
Aufgabe,  die  Beziehungen  der  fossilen  Thiere  zu  den  heule  lebenden 
durch  genaue  Anatomie  der  lebenden  und  daran  geschlossene  Verglei- 
chung  der  entsprechenden  Theile  der  fossilen  festzustellen,  allein  das 
Axiom  vom  Typus  und  seiner  verschiedenartigen  Entfaltung  in  den 
verschiedenen  Schüpfungsperioden  musste  doch  nolhwendiger  Weise 
auf  die  Lösung  dieser  Aufgabe  einen  anders  bestimmenden  Einfluss 
ausüben,  als  wir  mit  zu  Grundelegung  des  theoretischen  Gedankens 
der  Abstammungslehre  zu  gewärtigen  haben.  Burmeister  wird  von  der 
Ansicht  geleitet,  »dass  die  untergegangenen  Organismen  älterer  Perio- 
den nicht  in  das  System  der  lebenden  hineinpassen,  sondern  mit  ein- 
zelnen Charakteren  mehr  oder  weniger  von  dem  Ideengange,  welcher 
der  jetzigen  Schöpfung  zum  Grunde  liegt,  abweichen.  Ferner  »dass 
die  organische  Natur  unseres  Erdkörpers  zwar  von  vornherein  nach  ein 
und  demselben  Plane  geschaffen  wurde,  dass  aber  die  Ideen  der  ver- 
schiedenen Organismen  anfänglich  keineswegs  so  klar  und  bestimmt 
gefasst  waren,  wie  sie  in  ihren  heuligen  Bepräsentanlen  uns  erscheinen, 
vielmehr  die  verschiedenen  Eigenschaften  gleichwerlhiger  Gruppen  mit 
einander  verschmolzen  auftreten  und  eine  Form  ergeben,  die  gleichsam 
im  unverarbeiteten  Zustande  die  mancherlei  Eigenschaften  vereint  be- 
sitzt, welche  heutzutage  als  sehr  wichtige  Gruppenunterschiede  stets 
nur  von  einander  gesondert  angetroffen  werden. «  Der  metaphysische 
Hintergrund  dieser  Aussprüche  verhindert,  dass  ihre  Anwendung  die 
nach  unserer  heutigen  Meinung  thatsächlich  bestanden  habenden  Ver- 
hältnisse träfe:  wir  können  schwerlich  damit  einverstanden  sein,  in 
den  Trilobiten  die  verschiedenen  Eigenschaften  der  heutigen  Crusta- 
ceen  mit  einander  verschmolzen  zuerkennen;  unsere  Anschauungsweise 
verlangt  eine  speciellere  Rückführung  der  einzelnen  Theile  auf  einander 
und  den  Nachweis,  dass  keine  Unvereinbarlichkeiten  übrig  bleiben 
dürfen,  falls  wir  die  Ableitung  der  Einen  von  den  Andern  als  geschehen 
annehmen  sollen. 

Auf  Seite  52  des  angeführten  Werkes  spricht  Burmeister  sein  Ur- 


624  Anton  Dohrn, 

theil  im  Speciellen  nun  folgendermaassen  aus:  »Die  Trilobiten  bil- 
den eine  eigenthümliclie,  den  heutigen  Phyll  opoden  am  meisten  ver- 
wandte Krebsfamiiie,  welche  sich  zunächst  an  die  Gattung  Branchi- 
pus  anschliesst  und  in  gewisser  Beziehung  die  Lücke  ausfüllen  dürfte, 
welche  in  der  heutigen  Formenreihe  der  Krebse  zwischen  den  Phyl- 
1  opoden  und  Poecil opoden  angetroffen  wird. « 

Falls  wir  uns  diesem  Unheil  anzuschliessen  hätten,  würde  uns  vor 
Allem  die  Frage  im  Wege  stehen:  lassen  sich  die  Trilobiten  vom 
Nauplius  ableiten?  Ihre  Bejahung  oder  Verneinung  wäre  ausschlag- 
gebend. Wäre  nun  noch  ein  Trilobit  lebend  übrig  geblieben,  so  könnte 
man  hoffen,  durch  das  Studium  seiner  Embryologie  sofort  in's  Klare 
gebracht  zu  werden.  Aber  auch  ohne  das  ist  man  doch  nicht  ganz  ohne 
alle  Aufschlüsse  über  die  Entwicklung  dieser  Thiere  geblieben,  da  es 
durch  die  unermüdlichen  Nachforschungen  Barrande's  geglückt  ist,  die 
Entwicklungsstadien  mehrerer  Trilobiten  bis  zu  einer  Kleinheit  von 
1  Millim.  in  ziemlich  gut  erhaltenen  Abdrücken  untersuchen  zu  können. 
So  kennen  wir  nun  die  jüngsten  Formen  von  Sao  hirsuta  ( Taf.  XV. 
Fig.^fi),  Trinucleus  ornatus  (Taf.XV.  Fig.  25),  Dalmanites 
Hausmanni,  Arethusina  Koningki,  verschiedenen  Agnostus 
und  eine  grosse  Zahl  von  Entwicklungstadien  anderer  Trilobiten,  die 
aber  offenbar  schon  weiter  von  dem  Anfangsstadium  entfernt  sind.  Lei- 
der abersind  wir  damit  nicht  viel  gefördert  worden,  denn  bereits  die  jüng- 
sten Stadien  der  Sao,  des  Trinucleus  etc.  lassen  auf  das  Deutlichste 
die  Anlage  des  Ti"ilobi  tenkörpers  erkennen,  ohne  uns  im  Geringsten 
eine  Andeutung  zu  gewähren,  welche  Bildungen  ihm  wohl  vorausgegan- 
gen seien.  Wir  sind  da  in  derselben  Lage,  als  wären  uns  von  allen 
Crustaceen  keine  andern  Formen  übriggeblieben  als  die  Amphipoden 
und  Isopoden  mit  ihrer  völlig  unterdrückten  Verwandlung,  ohne  eine 
Spur  von  Nauplius-,  Phyllopoden-  und  Schizopoden-Sta- 
dium, die  sie  doch  alle,  —  wie  ich  im  weiteren  Verlaufe  meiner  Darstel- 
lung der  Geschichte  des  Krebsstammes  darthun  werde,  — durchgemacht 
haben.  Durch  die  Amphipoden  und  Isopoden  würden  wir  niemals 
eine  Vorstellung  von  all  diesen  Larvenstadien,  die  eben  so  viel  phyle- 
lische  Entwicklungstufen  des  Krebsstammes  bedeuten,  gewonnen  haben, 
—  wir  würden  dieselben  vielleicht  als  eine  an  das  Wasserleben  ange- 
passte,  aberrirende  Form  der  Myriapoden  ansehen,  —  jedenfalls 
würden  wir  auf  keine  Weise  ihre  wirkliche  Stammesgeschichte  haben 
enträthseln  können.  So  geht  es  uns  nun  leider  auch  mit  den  Tri  lo- 
biten.  Die  kleinste  Form  der  Sao  hirsuta  oder  des  Trinucleus 
ornatus  ist  von  der  Gestalt  eines  Nauplius  ebensoweit  entfernt  wie 
ein  aus   dem   Ei   gekrochener  Asellus  oder  Gammarus;    —   und 


Untersiichnngen  fiber  Bau  und  Kiilwickliing  dor  Arthropoden.  625 

könnten  wir  nicht  durch  Reduction  des  Asellus  auf  Cuma,  von 
Cuma  auf  andere  Schizopoden  und  Decapoden  den  Nachweis 
führen,  dass  die  aus  den  Larvenstadien  dieser  letzteren  ableitbaren 
phyletischen  Entwicklungsstadien  auch  den  Amphipoden  und  Iso- 
poden  haben  zukommen  müssen,  —  wir  wären  vielleicht  für  immer 
mit  der  Ableitung  dieser  Krebse  auf  einem  unauflöslichen  Probleme 
stehen  geblieben. 

Fast  scheint  es,  als  sollte  uns  diese  Eventualität  mit  den  Tri lo- 
b  i  l  e  n  bereitet  werden. 

Da  ging  kürzlich  eine  Notiz  durch  wissenschaftliche  Journale,  dass 
endlich  ein  Trilobit  mit  noch  deutlich  erkennbaren  Resten  von  Extre- 
mitäten entdeckt  worden  sei.    Der  glückliche  Entdecker  sei  Mr.  E.  Bil- 
LiNGs  und  das  Stück,  an  dem  die  Entdeckung  gemacht,  ein  Asaphus 
platycephalus  (Taf.  XIV.  Fig.  24)  aus  dem  Trenton  Limestone  von 
Ottawa  m  Nord-America.     Durch  die  Gefälligkeit  meines  Freundes 
Mr.  H.  WooDwARi)  bin  ich  wiederum  in  den  Stand  gesetzt,  den  Aufsalz 
welchen  die  Mittheilungen  Mr.  Billings  sowie  die  Abbildung  des  Asa- 
phus platycephalus  enthält,   zu  benutzen.    Er  findet  sich  in   den 
»Proceedings  of  theGeological  Society  of  London  1870«  pag.  479—486, 
unter  dem  Titel :   «No^es  on   some  specimens  of  Lower  Silurian  Trilo- 
bites«,  und  ist  gefolgt  von  einem  anderen  Aufsatze  aus  der  Feder  Mr. 
WooDWARD's:    »Note  on  the  Palpus  and  other  Appendages  of  Asaphus 
from  the  Trenton  Limeslone  in  the  British  Museum«. 
Folgendes  hat  Mr.  Billlngs  gefunden. 

»Auf  der  Unterseite  des  Asaphus  erstreckt  sich  eine  breite,  flache 
Verliefung  von  der  Stelle  zwischen  den  beiden  Zipfeln  des  Hypostoma, 
wo  wir  die  Lage  der  Mundöffnung  vermuthen  dürfen,  nach  rückwärts 
die  Mittellinie  entlang  bis  zu  dem  Pygidium.  Dieselbe  entpricht  in  der 
Lage  dem  Slernura  der  gewöhnlichen  Krebse.  Die  Beine  sind  in  8  Paa- 
ren vorhanden,  deren  Basen  für  jedes  Paar  genau  unter  einem  der  8 
Thoraxsegmente  liegen,  zu  den  Seiten  der  sternalen  Furche. 

»Die  Beine  des  ersten  Paares  sind  besser  erhalten,  als  die  übrigen. 
Sie  krümmen  sich  nach  vorwärts  und  können  bis  zu  einem  Punkte  ver- 
folgt werden  nahe  an  der  äusseren  Kante  des  Auges,  oder  vielmehr, 
zwischen  dem  Auge  und  der  Aussenseite  des  Kopfes.  Die  andern  7 
Paare  folgen  in  durchschnittlicher  Entfernung  von  21/2  Linien  von  ein- 
ander. Die  8  Paare  nehmen  so  über  20  Linien  der  Länge  der  Unter- 
seite ein.  Grade  dies  ist  aber  die  Länge  der  Oberseile  des  Thorax,  und 
ausserdem  besitzt  dieserTrilobit  grade  8  Thoracalsegmente.  So  scheint 
also  auf  jedes  Segment  ein  Gliedmaassenpaar  zu  kommen.  Obwohl  nun 
einige  derselben  sehr  unvollständig  sind,  und  die  zurückgebliebenen 
Bd.  VI.   4.  ^5j 


626  Anton  Dolim, 

Theile  etwas  verschoben  erscheinen,  so  kann  doch  bei  genauerem  Un- 
tersuchen wahrgenommen  werden,  dass  sie  alle  nach  vorn  gekrümmt 
sind  und  darum  wohl  eher  als  Schreit-,  denn  als  Schwimmorgane  an- 
gesehen werden  müssen. 

»Es  scheint,  als  ob  jede  dieser  Extremitäten  aus  mehreren  Glie- 
dern bestanden  habe  ;  die  genaue  Zahl  derselben  kann  aber  nicht  fest- 
gestellt werden.  Die  ersten  4  Gliedmaassen  der  linken  Seite  zeigen 
jedenfalls  ganz  deutlich  wenigstens  %  Glieder,  das  Eine  ö'"  von  der 
mittleren  Vertiefung  entfernt,  das  Andere  noch  3'"  weiter.  Die  Lage 
jedes  derselben  ist  durch  eine  kleine  Vorragung  bezeichnet.  Auf  der 
rechten  Seite  sind  die  erhaltenen  Theile  der  Beine  länger  und  erweisen 
so  eine  grössere  Zahl  von  Gliedern,  obschon  man  sie  nicht  deutlich  un- 
terscheiden kann.  Ich  glaube,  jedes  Bein  bestand  aus  wenigstens  4 
oder  o  GKedern. 

»An  demPygidium  finden  sich  3  kleine  ovale  Höcker,  in  einer  Linie 
gelegen ;  sie  scheinen  organischer  Natur  zu  sein.  Wenn  das  der  Fall 
ist,  so  stellen  sie  vielleicht  Fortsätze  vor,  an  welchen  Kiemenfüsse  be- 
festigt waren. 

»Die  Länge  des  Stückes  beträgt  41/2",  die  Breite  272"-  Von  der 
Seite  gesehen  beträgt  die  Höhe  des  Kopfes  gerade  hinter  den  Augen  9'", 
gegen  die  Mitte  des  Thorax  zu  gegen  7'".  Die  Tiefe  der  inneren  Höh- 
lung des  hinteren  Kopflheiles  beträgt  7'",  und  an  dem  letzten  Thoral- 
Segment  4'".  Somit  ist  die  Ebene,  in  welcher  die  Beine  gelegen  sind 
nicht  so  niedrig  wie  die  Enden  der  Pleuren.  Die  Eingeweidehöhle  ist 
somit  über  1/3  geringer  als  die  ganze  Masse  des  Thieres.« 

Soweit  Mr.  Bilungs.  Das  Stück,  an  welchem  der  entscheidende 
Fund  gemacht  war,  ist  der  Geological  Society  von  London  vorgelegt 
worden,  und  Mr.  Woodward  hat  darüber  bemerkt  (1.  c.  p.  486)  :  »dass 
unzweifelhaft  die  Anwesenheit  von  Schreitbeinen  auf  der  Unterseite  des 
Thorax  bewiesen  wäre.  Die  Anwesenheit  solcher  Gliedmaassen  hätte 
a  priori  erschlossen  werden  können;  die  Beschaffenheit  der  Schale 
mache  es  wahrscheinlich,  dass  die  Trilobiten  schreitende,  nicht  schwim- 
mende Isopoden  seien.  Die  Kiemen  hätten  wahrscheinlich  unter  dem 
Telson  gesessen,  daher  sei  dieses  so  gross.« 

Mr.  Woodward  beschreibt  dann  einen  Abdruck  von  einem  A  s  a  - 
phus,  an  dem  er  eine  Maxille  mit  einem  Sgliedrigen  Palpus  entdeckt 
zu  haben  glaubt,  »grade  zur  Seite  des  Hypostoma,  in  einer  Stellung, 
die  sie  bei  Lebzeiten  des  Thieres  eingenommen  haben  muss,  —  wie 
bei  Apus  oder  Serolis«. 

Ein  dritter  Punkt  endlich  betrifft  die  sogenannten  »Pander'schen 
Organe«,  kleine  Höcker,   die  sich  auf  der  Unterseite  der  Seitentheile 


Untersuchungen  über  Ran  und  Rntwicklnng  der  Arthropoden.  627 

aller  Thoracalsegmenle  nahe  am  Ausscnrande  vorfinden.  Mr.  Billings 
glaubt  ebenso  wie  Dr.  Volborth  und  Dr.  EicnwALn  in  ihnen  die  Anhef- 
lungspunkle  von  Schvvimnibcinen  erkennen  zu  diii'fen.  Woodward  be- 
merkt dagegen  mit  Recht,  dass  kein  Kruster  bekannt  sei,  der  2  Paar 
l'^xtremiliiten  an  einem  Segment  trüge,  dass  mithin,  wenn  die  wahren 
(Jliedmaassen  neben  der  Mittellinie  des  Köi'pers  eingelenkt  seien,  diese 
Höcker  vielleicht  die  Fulcra  vorstellten,  an  denen  sich  die  Pleuren  be- 
wegten. 

Wie  aus  allen  diesen  Mittheilungen  hervorgeht,  haben  wir  es  also 
mit  einer  neuen  Phase  der  Trilobiten-lnterpretation  zu  thun.  Freilich 
müssen  wir  uns  gleich  von  voi'n  herein  mit  grösster  Bestimmtheit 
gegen  dieselbe  erklären.    Der  (»rund  dafür  ist  folgender. 

Schon  im  vorigen  Capitel  dieser  Arbeit  musste  darauf  hingewiesen 
werden,  dass  innerhalb  der  Malacostraken  der  alle  die  mannichfal- 
ligen  Formen  zusammenhallende,  gemeinsame  Charakter  die  Beständig- 
keit der  Segmentenzahl  sei.  Wir  zählen  im  ganzen  19  Segmente  in 
dieser  grössten  der  gegenwärtig  lobenden  Krebsabtheilungen.  Die  Ver- 
grösserung  dieser  Zahl  um  2  weitere  Segmente  erscheint  uns,  in  Ver- 
bindung mit  einigen  andern  Kennzeichen,  sogar  hinreichend,  Neba- 
lia  von  derselben  auszuschliessen ,  wennschon  ihre  Entwicklungsge- 
schichte beweist,  dass  sie  in  die  allernächste  genealogische  Berührung 
zu  Mysis  und  den  Schizopoden  treten  muss.  Die  Entwicklungs- 
geschichte liefert  aber  fernerhin  den  unzweifelhaften  Nachweis,  dass 
wir  die  Isopoden  als  die  allernächsten  Verwandten  einer  kleinen 
Decapodenfarailie  anzusehen  haben,  —  nämlich  der  Gumaceen. 
(Vergl.  meine  Darstellung  im  V.  Bande  der  Jenaischen  Zeitschrift  für 
Med.  u.  Naturw.]  Die  Decapoden  mitsammt  den  Cumaceensind 
aber  als  Nachkommen  der  Schizopoden,  diese  als  Producte  der 
Phyliopoden  anzusehen.  Sagen  wir  also,  die  Trilobiten  seien 
Isopoden,  so  heisst  das  mit  andern  Worten,  sie  seien  Nachkommen 
von  Gumaceen -artigen  Decapoden,  von  Schizopoden,  von 
Phyliopoden.  Für  Phyliopoden  erklärte  sie  nun  zwar  Burmeistek 
und  die  Meisten  seiner  Nachfolger,  —  aber  es  war  einer  der  wesent- 
lichsten Gründe  der,  dass  sie  wie  die  Phyliopoden  eine  durchaus 
veränderliche Segmentenzahl  besässen.  Sollen  sie  aber  von  den  Phyl- 
iopoden durch  die  Decapoden  hindurch  wieder  zu  einer  schwan- 
kenden Segmentenzahl  gekommen  sein,  nachdem  sie  als  Decapoden 
nur  19  besessen  hatten?  Das  erscheint  nach  morphologischen  Maximen 
wenig  glaubhaft.  Gesetzt  aber,  man  erwiderte  uns,  die  Ableitung  der 
Isopoden  von  Decapoden  sei  nicht  richtig,  wir  hätten  die  Isopo- 
den vielmehr  aus  den  Trilobiten  herzuleiten  und  anzunehmen,  dass 

42* 


628  Anton  Dolirn, 

diese  sich  zu  ihnen  verhielten,  wie  die  Phyllopoden  zu  den  Deca- 
poden,  dass  aus  einer  schwankenden  Segmentenzahl  allmählich  die 
festgeschlossene  von  19  für  die  heutigen  Isopoden  sich  herausgebil- 
det habe,  wie  die  feste  Segmentenzahl  der  Decapoden  aus  der  schwan- 
kenden der  Phyllopoden.  Darauf  wäre  einfach  mit  dem  Hinweis 
auf  die,  wie  es  scheint,  unwiderlegliche,  von  der  Entwicklungsge- 
schichte hinreichend  nachgewiesene  Verwandtschaft  der  Isopoden 
mit  den  Cumaceen  zu  antworten,  auf  die  vielen  und  schwerwiegen- 
den Uebereinstinuuungen  in  der  inneren  Organisation,  auf  die  Identität 
der  Brusttaschenbildung  von  Isopoden,  Amphipoden,  Cuma- 
ceen und  Schizopoden,  —  kurz  auf  all  das,  was  heutzutage  nach 
klarer  theoretischer  Einsicht  und  in  der  Praxis  bewährter  Methode 
zu  morphologisch -genealogischen  Resultaten  geführt  hat  und  allein 
führen  kann. 

Aber  auch  bei  rein  äusserer  Vergleichung  der  Trilobiten  mit  den 
Isopoden  ergeben  sich  so  viel  Unterschiede,  dass  es  wohl  für  im  höch- 
sten Maasse  gewagt  erklärt  werden  muss,  auf  das  einzige,  so  sehr  man- 
gelhaft erhaltene  Stück  der  Unterseite  des  Asaphus  platycepha- 
lus  ein  solches  Urtheil  über  die  systematische  Zugehörigkeit  der  Tri- 
lobiten  gründen  zu  wollen,  wie  denn  ja  auch  schon  Burmeister,  auf 
solche  rein  anatomische  Vergleiche  gestützt,  jeden  Versuch  der  Art  zu- 
rückgewiesen hat  (vergl.  pag.  38 ff.  seiner  Schrift). 

Sehen  wir  also  einmal  völlig  von  den  bisher  geäusserten  Ansich- 
ten ab  und  suchen  wir  die  Verwandten  der  Trilobiten  da,  wo  uns 
die  Maxime  von  der  Parallele  embryologischer  und  palaeontologischer 
Entwicklung  sie  zu  suchen  anweist,  so  treten  wir  unmittelbar  in  die 
Consequenzen  unserer  obigen  Untersuchung  ein  und  haben  als  den 
einzigen,  nachweisbaren  Verwandten  der  grossen  ausgestorbenen  Ord- 
nung den  Li  mulus  zu  erkennen. 

Auch  auf  diese  Verwandtschaft  ist  schon  von  früheren  Autoren 
hingewiesen  worden.  Wenn  man  aber  damit  nicht  durchzudringen 
vermocht  hat,  so  liegt  die  Schuld  wohl  wesentlich  an  der  mangelnden 
Unterstützung  der  Embryologie  des  Liniulus,  die  wir  jetzt  für  diese 
These  vollgültig  in's  Feld  führen  können.  So  haben  auch  schon  meine 
beiden  Vorgänger  in  der  Bearbeitung  dieser  Entwicklungsgeschichte, 
Dr.  Lockwood  und  Dr.  Packard,  mit  vollem  Rechte  auf  dieses  wichtigste 
Ergebniss  derselben  hingewiesen,  und  in  der  Heranziehung  der  Tri - 
nucleusgestalt  gewiss  diejenige  ausgewählt,  welche  am  unzweideu- 
tigsten für  die  Richtigkeit  dieses  Vergleiches  spricht. 

Indem  wir  dasjenige  Stadium  der  Limulus-Embryonen,  welches 
wir  oben  mit  dem  vorausgreifonden  Namen  Trilobitenstadium  belegten, 


ünfersuchuii{!;en  über  Bau  und  l'jilwickliiiiü,  der  Arttirniindcii.  029 

mit  einem  gleichfalls  nicht  voll  enlwickcllen  Trinucleus  (Taf.  XV. 
Fig.  25)  zusammenhalten,  wie  ihn  uns  etwa  die  Taf.  30.  Fig.  44  oder  50 
von  BARUANnK's  grosser  Monographie  zeigen,  wenn  wir  es  mit  Taf.  7. 
Fig.  ü  desselben  Werkes,  einer  jungen  Sao  hirsula  (Taf.  XV.  Fig.  26) 
vergleichen,  so  ist  in  der  That  kein  irgendwie  durchgreifender  Unter- 
schied zu  erkennen,  —  abgesehen  davon,  dass  dem  Trinucleus  die 
Augen  fehlen,  was  aber  bekanntlich  bei  der  grossen  Mehi-zahl  der  Tri- 
lübiten  nicht  der  Fall  ist.  Wir  sehen  bei  beiden  ein  grosses  Kopf- 
schild, welches  den  hinteren  Theil  des  Körpers  an  Breite  und  Volumen 
wesentlich  übertrifTt,  und  eben  diesen  hinteren  Theil  aus  einer  Anzahl 
von  Segmenten  bestehend,  die  nach  hinten  zu  kleiner  werden.  Wir 
sehen  fernerhin,  dass  die  Eigenschaft,  welche  den  Trilobiten  ihren 
Namen  verschafft  hat,  die  äussere  Gliederung  ihrer  Segmente  in  drei 
Theile,  genau  in  derselben  Weise  bei  den  Larven  des  Limulus  wie- 
derkehrt, wir  erkennen  in  den  grossen  seillichen  Augen  beider  iden- 
tische Theile,  —  somit  sind  also  die  eigentlichen  Grundlagen  der  Kör- 
pcrbildung  für  das  in  Rede  stehende  Larvenstadium  des  Limulus  und 
die  Trilobiten  dieselben. 

Andererseits  ist  es  durchaus  nicht  zu  verwundern,  wenn  sich  auch 
beträchtliche  Unterschiede  einstellen.  So  ist  von  jener  auffallenden  Struc- 
turderGlabella  (Taf.  XIV.  Fig.  23)  beimLimulus  an  dem  entsprechen- 
den centralen  Theil  des  Kopfschildcs  nichts  zu  sehen.  Es  kann  aber  kei- 
nem Zweifel  unterliegen,  dass  diese  beiderseitigen  Querfurchen  der  Gla- 
bella  durch  eine  innere  Cristenbildung  hervorgebracht  wird,  die  ihrerseits 
wieder  als  Inserlionspunkte  für  die  Muskulatur  der  Kopfschildglied- 
maassen  dienen  und  von  deren  Stärke  in  ihrer  Grösse  bedingt  wird. 
Dass  diese  Verhältnisse  also  wandelbar  sind,  und  keine  tiefere  Noth- 
wendigkeit  besitzen,  das  ergiebt  sich  nicht  nur  aus  dieser  Erwägung, 
sondern  auch  aus  dem  Vorhandensein  einer  Reihe  von  Trilobitenarten, 
deren  Glabella  nicht  mit  den  tiefen  Furchen  versehen  ist.  Sonach  kann 
also  auch  der  Mangel  derselben  beim  Limulus  nicht  als  etwas  funda- 
mental Trennendes  angesehen  werden. 

Wichtiger  ist  das  anscheinend  sichere  Factum,  dass  die  Trilobi- 
ten ausser  den  beiden  grossen  seitlichen  Augen  keine  Spur  von  kleinen 
centralen  Augen  besessen  haben.  Es  wäre  zwar  nicht  undenkbar,  dass 
diese  kleinen  Linsen  beim  Fossilwerden  der  Schale  unkenntlich  gewor- 
den seien,  aber  erstlich  hat  man  sie  doch  bei  den  Plery^otus  und 
Eurypterus  nachgewiesen,  wo  sie  ebenso  gut  hätten  zu  Grunde 
gehen  können,  und  zweitens  sind  Texturverschiedenhcilen  der  Trilo- 
bitenschalen  erhalten  worden,  die  noch  um  vieles  minutiöser  sind,  als 
die  beiden  Linsen  der  Centralaue;en  des  Limulus. 


630  Anton  Dohrn, 

Was  dann  die  vielbesprochenen  und  für  die  Artenunterscheidung 
der  Trilobiten  sehr  wichtigen  Suturen  des  Kopfschildes  anbelangt, 
so  darf  es  wohl  ebenfalls  nicht  erstaunen,  wenn  dieselben  beim  Limu- 
lus  nicht  in  derselben  Art  angetroffen  werden.  Wir  wissen  freilich 
nicht,  ob  die  sogenannte  »  grosse«  Sutur  (Taf.  XIV.  Fig.  23  a),  welche  von 
den  Stirnlappen  der  Glabella  herum  nach  beiden  Seiten  zu  den  Augen 
und  hinter  denselben  an  den  Aussenrand  sich  begiebt,  wirklich  eine 
Trennung  des  Kopfschildes  hervorgebracht  habe,  die  es  den  durch  sie 
geschiedenen  Theilen  ermöglicht  habe,  sich  gegen  einander,  in  wenn 
auch  noch  so  geringem  Maasse  zu  bewegen.  Aber  selbst  wenn  es  der 
Fall  wäre,  so  würde  daraus  auch  nichts  weiter  zu  folgern  sein,  als  dass 
die  Verschmelzung  der  in  das  Kopfschild  eingegangenen  Segmente  nicht 
so  durchgreifend  erfolgt  sei,  wie  später  beim  Limulus,  Es  erscheint 
mir  aber  sehr  fraglich,  ob  die  Suturen  eine  solche  Bedeutung  besitzen. 

Vergleichen  wir  ferner  die  Structur  der  einzelnen  Segmente,  die 
auf  das  Kopfschiid  folgen,  so  treffen  wir  die  Dreitheilung  genau  bei  dem 
Einen  wie  bei  dem  Andern.  Der  centrale  Abschnitt  ist  schmäler  als  die 
lateralen,  zugleich  aber  stärker  gewölbt,  wo  sich  die  seitlichen  Stücken 
an  den  centralen  anschliessen,  bildet  eine  innere  Crista  zur  Anheftung 
für  die  Beugemuskeln  und  für  die  Insertion  der  Exlremitätenmuskeln. 
Solchen  Cristen  begegnen  wir  auch,  —  wenn  auch  nicht  in  so  ausge- 
bildeter Form  —  bei  den  Trilobiten,  und  es  ist  also  sehr  wahrschein- 
lich, dass  sie  gleichfalls  einer  ähnlichen  Muskulatur  zum  Ansatzpunkt 
dienten.  Barrande  spricht  ferner  von  einer  »partie  interne  und  externe 
de  la  Plevre«,  dieselben  Theile  lassen  sich  ebenso  an  den  Segmenten 
des  Schwanzlheiles  der  Limuluslarve  unterscheiden;  der  innereist 
etwas  gewölbter  als  der  äussere,  welcher  letzterer  später  zudemLimbus 
verschmilzt,  wenn  sich  dieser  ganze  Körperabschnitt  zu  dem  Schwanz- 
schilde umwandelt. 

Ob  wir  ferner  den  Schwanzstachel  für  das  letzte  Segment  des 
Pygidiums  der  Trilobiten  halten  dürfen,  das  erscheint  um  so  weniger 
zweifelhaft,  als  wir  wohl  berechtigt  sind,  da,  wo  ein  eigentliches,  aus 
vielen  Segmenten  in  Eins  verschmolzenes  Pygidium  nicht  vorkommt, 
die  Afteröffnung  in  dem  vorletzten  Segmente  zu  vermuthen,  und  daran 
nur  noch  ein  letztes,  dem  Telson  vergleichbares,  sich  schliessen  lassen. 
Die  Entwicklungsgeschichte  des  Limulus  scheint  dies  zweifellos  zu 
machen. 

Wenn  vsir  nun  aber  so  weit  in  der  Rückführung  des  Limulus 
auf  die  Trilobiten  gegangen  sind  —  was  ergiebt  sich  daraus  für  die 
brennende  Frage  nach  der  Natur  der  Extremitäten  dieser  Letzteren  ? 

Die  Frage  wird  sich  kaum  genügend  beantworten  lassen.      Das 


lliitersiichiingen  übor  Ran  niid  Kntwickliing  der  Arthropoden.  631 

einzige  Organ,  das  uns  auf  der  Unterseile  der  Trilobiten  zugänglich 
geworden  ist,  ist  das  Uypostonia  ,  —  die  Oberlippe.  Aber  sie  ist  we- 
sentlich von  dem  Organe  verschieden,  was  wir  bei  Liraul us  gesehen 
haben.  Dort  ist  die  Oberlippe  ziemlich  klein  und  unbedeutend,  im 
Vergleich  zur  Grösse  des  Kopfschildes  fast  verschwindend.  Hier,  bei 
den  Trilobiten  im  Gegenlheil,  ist  sie  von  mächtiger  Entfaltung,  zeigt 
die  verschiedenartigsten  Gestalten  und  Sculpluren  und  bedeckt  unter 
Umständen  ein  Drittel  der  ganzen  Unterfläche  des  Kopfschildes.  Es  ist 
also  nicht  anders  möglich,  als  dass  diese  so  sehr  verschiedene  Ober- 
lippe auch  einen  wesentlichen  Einfluss  auf  die  Gestallung  der  eigent- 
lichen Mundwerkzeuge  gehabt  habe.  Setzen  wir  z.B.  voraus,  dass 
dieselbe  wie  beim  Limulus  an  ihrer  Basis  das  vorderste  Extremi- 
täten-Paar getragen  habe,  so  müssten  wir  die  übrigen  mit  ihren  ba- 
salen Kaustücken  zwischen  der  Unterseile  der  Oberlippe  und  der 
Körperwandung  vermuthen.  Darauf  hin  würde  auch  die  Cristenbil- 
dung  der  Glabella  weisen,  da  sicherlich  die  Muskeln  der  Kauwerkzeuge 
so  kurz  und  gedrungen  als  möglich  gewesen  sind.  Ob  nun  die  von 
H.  WoonwARD  beschriebene  und  als  Maxille  gedeutele  Platte  mit  dem 
8-gliedrigen  Anhange  den  letzten  Rest  dieser  Kauorgane  in  Wirklichkeit 
bildet,  muss  noch  weiteren  Bestätigungen  vorbehalten  bleiben,  —  un- 
wahrscheinlich ist  es  wohl  nicht,  wenn  man  sich  der  Plattenbildung 
erinnert,  welche  die  Kaustücke  der  Pterygotusgliedmaassen  charakterisirt. 

Ueber  die  Zahl  der  so  vorauszusetzenden  Mundorgane  sind  wir 
wiederum  rein  auf  Analogieen  angewiesen.  Wie  viel  Segmente  sind 
in  die  Bildung  des  Kopfschildes  der  Trilobiten  eingegangen?  So  viel 
Extremitäten  werden  wir  auch  wohl  vorauszusetzen  haben.  Die  Gla- 
bella scheint  auf  5  Crislenpaare  eingerichtet  zu  sein,  —  somit  hätten 
wir  also  Ansatzpunkte  für  5  Paar  von  Extremitätenmuskulalur.  Aber 
wir  vermulheten  schon  vorher,  dass  das  erste  Gliedmaassenpaar  wie 
beim  Limulus  an  der  Basis  der  Oberlippe,  —  hier  dem  Hypostoma,  — 
eingelenkt  gewesen  sei,  und  wenn  wir  einen  vergleichenden  Blick  auf 
die  Tafeln  2  A ,  2  B  und  3  des  BARRANDü'schen  Werkes  w  erfen  ,  so  be- 
merken wir  auch  an  vielen  dieser  Organe  an  der  Basis  jederzeit  eine 
Ausbuchtung  oder  Höhlung,  die  recht  gut  für  die  Einlenkung  einer 
solchen  Extremität  hätte  bestimmt  sein  können.  Das  wäre  denn  also 
die  sechste  gewesen,  und  die  Identität  mit  der  Bildungsweise  beim 
Limulus  vväre  hergestellt. 

Soweit  scheint  es  also  ohne  Schwierigkeiten  zu  gehen.  Aber  wie 
steht  es  nun  mit  der  Unterlippe  !  Gab  es  eine  oder  gab  es  keine  ?  Wir 
sahen  beim  Limulus  dies  Organ  schon  in  ziemlich  beträchtlicher 
Grösse,  bei  den  Eurypteriden  gar  in  ausserordentlicher  Entfaltung, 


^^2  Anton  Dohrn, 

-  können  wir  annehmen,  dass  die  Trilobiten  desselben  entbehrt 
haben?  Es  erscheint  nicht  glaublich ,  -  aber  dennoch  sind  wir  nicht 
im  Stande,  etwas  Bestimmtes  darüber  zu  sagen. 

Noch  schwieriger  wird  die  Frage  :  welcherlei  Gliedmaassen  tragen 
die  freien  Segmente  zwischen  Kopfschild  und  Pygidium?  Auf  die 
Unterlippe  folgt  bei  Limulus  sofort  das  grosse  Plattenpaar,  welches  die 
übrigen,  kiementragenden  bedeckt.  Fand  sich  dasselbe  bei  den  Trilo- 
biten? Dagegen  scheint  nun  der  Fund  des  Mr.  Billings  auf  das  Ent- 
schiedenste Verwahrung  einzulegen.  Seiner  Interpretation  zufolge  sollen 
hier  mehrfach  gegliederte,  cylindrische  Extremitäten  befindlich  gewesen 
zu  sein,  —  die  vielleicht  in  der  Form  sich  denen  des  Kopfschildes  mehr 
angeschlossen  haben,  ohne  die  Hüftstücke  zu  Kauorganen  werden  zu 
lassen.  Aber  Athmungsorgane  müssen  die  Trilobiten  gehabt  haben,  und 
bei  der  allgemeinen  Aehnlichkeit  mit  dem  Limulus  ist  Zehn  gegen  Eins 
zu  wetten ,  dass  sie  auch  ,  wie  bei  diesen  ,  in  Plattenpaaren  bestanden 
haben  ,  an  denen  die  Kiemenblätter  sassen.  So  bliebe  also  z.  B.  Asa- 
phus  platycephalus  nur  das  Pygidium  übrig  als  Träger  dieser 
Organe,  —  aber  keine  Spur  ist  mehr  von  demselben  erhalten.  Die 
beiden  von  Billings  beschriebenen  Höcker  auf  der  Unterseite  des  Pygi- 
diums  können  zur  Entscheidung  dieser  Frage  auch  weiter  nichts  bei- 
tragen, als  dass  sie  es  noch  wahrscheinlicher  machen,  dass  auch  das 
Pygidium  Gliedmaassen  gelragen  habe. 

Aber  aus  dieser  Unsicherheit  erwächst  noch  eine  weitere.    Welche 
Segmente  des  Trilobitenkörpers  hinler  dem  Kopfschilde  sind  überhaupt 
den  das  Schwanzschild  zusammensetzenden  Segmenten  des  Limulus 
homolog?     Wir  haben  nur  zwei  feste  Punkte  zufolge  der  bisherigen 
Erörterungen :    das  Kopfschild  und  das  letzte  Segment  des  Körpers, 
welche  dem  Kopfschilde  und  dem  Schwanzstachel  des  Limulus  ent- 
sprechen.    Wo  fallen   nun   die  Segmente  des  Trilobitenkörpers,   die 
über  die  Zahl  8  weggehen,  aus?     Hinter  dem  Kopfschild  oder  vor  dem 
Pygidium  und  dem  letzten  telsonartigen  Segmente?    Diese  Frage  com- 
plicirt  sich  zugleich  mit  der  schon  im  vorhergehenden  Abschnitt  be- 
handelten ,   nach  dem  Verblieb  der  4  Segmente ,   welche  in  dem  E  u  - 
rypteridenkörper  mehr  als  bei  Limulus  vorhanden  sind.    Nach 
unsern  dortigen  Ermittelungen  waren  dieselben  vor  dem  Telson  aus- 
gefallen, —  mithin  —  wenn  wir  die  Eurypteriden  zugleich  mit 
Limulus  auf  die  Trilobiten  zurückbeziehen  wollen,   —  werden 
wir  nicht  umhin  können,  auch  das  Ausfallen  dieser  Trilobitensegmente 
anzunehmen. 

Wir  haben  nun  bisher  die  ausgebildeten  Trilobiten  mit  der  ersten, 
aber  bereits  aus  dem  Ei  gekrochenen  Lim  ulus-Larve   verglichen.' 


Unlersiichiiiioeii  über  P;iii  und  Eiit\vickliiii(!:  der  Arllirnpnden.  03;} 

Aber  von  beiden  Objecten  sind  uns  noch  frühere  Stadien  bekannt  ge- 
worden. Barrande's  bereits  erwähnte  Entdeckungen  über  die  jüngsten 
Zustände  der  Sao  hir SU  ta  ,  des  Trinucleus  orna  tus  und  andrer 
lassen  sich  füglich  zusammenstellen  mit  den  ersten  Ei-Stadien,  die  wir 
am  Limulus  kennen  zu  lernen  hatten.  Es  erwächst  daraus  ein  Grund 
mehr  zur  morphologisch -genealogischen  Verkettung  beider  Formen, 
und  vielleicht  dürfen  wir  das  am  Limulus-Ei  und  Embryo  Gesehene, 
unmittelbar  auf  die  Trilobiten  übertragen.  Barrande  giebt  z.  B.  an, 
dass  Sao  h  irsuta  in  ihrem  jüngsten  Stadium  keine  Spur  von  Thoracal- 
Segmenten  und  Pygidium  erkennen  lasse,  und  dass  diese  erst,  langsam 
sich  vermehrend,  aufträten.  Dasselbe  haben  wir  bei  Limulus  zu 
beobachten  Gelegenheit  gehabt,  wo  auch  erst  die  Anlage  der  6  Kopf- 
schildextremitäten geschah  ,  ehe  sich  eine  deutliche  Wahrnehmung  der 
darauf  folgenden  Segmente  gewinnen  Hess ,  w  orüber  freilich  erst  die 
genauen  Mittheilungen  durch  das  Studium  am  lebenden  Embryo  ge- 
wonnen werden  können.  Bei  Trinucleus  wiederum  erscheint  das 
Pygidium  bereits  in  den  jüngsten  Studien ,  die  Thoraxsegmente  werden 
erst  allmählich  zwischengeschoben.  "Vielleicht  ist  ein  jüngeres  Stadium 
hier  noch  zu  vermuthen ,  welches  auch  des  Pygidiums  entbehrt.  Also 
auch  auf  diesem  Wege  gewinnen  wir  keine  Sicherheit  zur  Entscheidung 
dieser  Frage.  So  werden  wir  sie  also  wohl  so  lange  vertagen  müssen, 
bis  ein  neuer  Fund  über  die  Natur  der  Trilobitenextremitäten  den 
sichern  Aufschluss  bietet,  den  wir  leider  aus  Mr.  Billings  Entdeckung 
noch  nicht  entnehmen  können. 

Es  w  äre  an  dieser  Stelle  wohl  passend ,  auch  über  die  jüngsten 
Funde,  welche  die  Gattung  Cyclus  betreffen,  ein  Wort  zu  sagen,  — 
aber  es  scheint,  dass  wir  wohl,  da  einmal  die  Aufmerksamkeit  der 
Palaeontologen  auf  diese  sonderbaren  Formen  gelenkt  ist,  bald  Weiteres 
über  dieselben  zu  erfahren  haben  werden,  wodurch  die  Erörterung 
w  eniger  problen)atisch  ausfallen  dürfte ,  als  gegenw  artig.  Es  scheint 
aber  schon  jetzt  nicht  zweifelhaft  zu  sein,  dass  Cyclus  in  näheren 
Beziehungen  zu  den  hier  besprochenen  Formen  gestanden  hat,  und 
vielleicht,  —  wie  Mr.  Woodward  vermuthet,  —  als  Larvenformen  den 
P  r  e  s  t  w  i  ch  i  a  oder  B  e  1 1  i  n u  r  u  s  zugeschrieben  w erden  muss. 


Welche  Stellung  nimmt  Limulus  zu  den  Crustaeeen  ein? 

Diese  Frage  scheint  den  Systematikern  in  den  letzten  Jahren  we- 
niger Schwierigkeiten  bereitet  zu  haben,  als  es  eigentlich  hätte  ge- 
schehen sollen.    Seit  dem  Auftreten  der  Descendenztheorie  hat  dieselbe 


634  Anton  Dolirn, 

eine  neue  Bedeutung  gewonnen ,  —  und  es  mussten  neue  Mittel  zu 
ihrer  Lösung  in  Bewegung  gesetzt  werden. 

Die  Frage  ist  jetzt  identisch  mit  der  andern:  stammt  Limulus 
vom  Nauplius  ab?  Wir  haben  durch  die  bisherigen  Auseinander- 
setzungen schon  hinreichend  klar  machen  können,  dass  es  schwierig 
ist,  auf  solche  Frage  mit  Ja  oder  Nein  zu  antworten.  Die  Embryologie, 
als  einzige,  wahrhaft  entscheidende  Instanz,  giebt  uns  leider  keine  Ant- 
wort, da  die  Entwicklung  sofort  und  auf  dem  kürzesten  Wege  die 
definitive  Lim  ulus-Gestalt  vorbereitet.  Zwar  giebt  Dr.  A.  S.  Packard 
an ,  es  träte  zuerst  ein  Naupliussladium  an  dem  Embryo  auf,  aber  dies 
erscheint  doch  noch  problematisch  und  weiterer  Bestätigung  bedürftig. 

Es  sind  nämlich  zwei  Punkte  in  der  Organisation  des  Limulus, 
welche  vorläufig  unübersteigliche  Schwierigkeiten  bei  der  Rückführung 
derselben  auf  die  Crustaceen  bieten.  Der  Eine  ist  das  von  Van  der 
HoBVEN  hervorgehobene  Vorhandensein  nur  einer  Extremität,  die  vom 
oberen  Schlundganglion  aus  innervirt  wird ,  der  Andre  die  Stellung 
und  Ausbildung  der  Unterlippe. 

Wenn  wir  uns  erinnern ,  dass  bei  allen  Krebsen  zwei  Antennen- 
paare vorkommen,  die  beide  vom  oberen  Schlundganglion  mit  Nerven 
versehen  werden  und  zugleich  dessen  eingedenk  bleiben ,  wie  grade 
diese  Eigenthümlichkeit  bisher  jeden  Versuch  einer  Homologisirung 
derselben  mit  Spinnen ,  Tausendfüssen  und  Insecten  scheitern  liess,  so 
können  wir  doch  unmöglich  dies  selbige  Vorkommen  von  nur  einem 
Gliedmaassenpaar  mit  Innervation  vom  oberen  Schlundganglion  beim 
Limulus  gleichgiltig  bei  Seite  schieben.  Wir  werden  sofort  gefragt : 
welchem  der  beiden  Antennenpaare ,  —  also  welchem  der  beiden  vor- 
deren Extremitätenpaare  des  Nauplius  —  entspricht  dies  erste  Paar 
des  Limulus?  Da  wir  aber,  bis  jetzt  wenigstens,  keine  Spur  eines 
rudimentären  zweiten  Paares  vor  oder  hinter  diesem  ersten  haben  auf- 
finden können ,  so  müssen  wir  diese  Frage  vollständig  unbeantwortet 
lassen.  Aber  hiedurch  wird  uns  die  Beantwortung  aller  übrigen  auf 
die  Homologiebestimn)ung  der  Extremitäten  gerichteten  Fragen  glei- 
cherweise unmöglich,  —  und  wir  stehen  dann  mit  Limulus  nicht 
viel  anders  als  mit  den  Insecten  und  Spinnen  gegenüber  dem  Problem, 
ob  sie  vom  Nauplius  abstammen  oder  nicht. 

Dazu  kommt  noch  der  zweite  Punkt,  die  Insertion  der  Unterlippe 
betreffend.  Wie  die  Oberlippe  ist  die  Unterlippe  bei  allen  Krebsen 
eine  Faltenbildung  der  Keimhaut  gleich  hinter  der  Mundöffnung.  Sie 
bildet  sich  auf  gleicher  Höhe  mit  den  Mandibeln,  sogar  mitunter  noch 
vor  ihnen,  —  je  nach  der  Lage  der  Mundöffnung.  Beim  Limulus 
hingegen  erfolgt  die  Anlage  weit  von  dem  Munde  entfernt  hinter  dem 


üntersnchun^di  über  Piiu  und  Kiilwiokliinn  der  Arlliioiiodcn.  035 

sechsten  Glicdmaassenpaare  und  mit  zwei  deutlich  getrennten  Stücken, 
so  dass  ich  anfänglich  sehr  zu  der  Meinung  neigte,  sie  als  ein  siebentes 
Exlremitätenpaar  des  Kopfschikies  zu  betrachten.  T^cider  erlaubte  die 
Beschaflenheit  der  Embryonen  nicht  über  die  Innervation  dieser  Gebilde 
ins  Klare  zu  kommen,  besonders  darüber,  ob  diesen  Theilen  nicht  ein 
eignes  Ganglion  zukonimt,  womit  dann  wolil  ihie  eigentliche  Extremi- 
fätennatur  festgestellt  wäre. 

Diese  beiden  Eigenthümlichkeiten  machen  es,  wie  mir  scheint, 
fürs  Erste  unthunlieh,  den  Limulus  den  Crustaceen  zuzurechnen. 
Freilich  geschieht  das  heute  fast  überall.  Aber  wo  ein  Versuch  ge- 
macht wird,  ins  Einzelne  diese  Einordnung  durchzuführen,  da  ergeben 
sich  denn  auch  natürlich  die  grössten  Schwierigkeiten. 

Der  Erste,  welcher  sich  von  diesen  Schwierigkeiten  Rechenschaft 
gab ,  ist  Savigny  in  seinem  epochemachenden  Werke  » Theorie  des  or- 
ganes  de  la  bouche  des  animaux  invertöbres  el  arlicules ,  compris  par 
Linne  sous  le  nom  d'Insecles«.  Savigny  spricht  dem  l.imulus  die  An- 
tennen ab,  und  glaubt  auch  die  Mandibeln  fehlten,  nur  ihr  Palpus  sei 
vorhanden.  Wir  haben  seit  diesem  bedeutenden  Versuch,  die  Glied- 
maassentheorie  der  Arthropoden  zu  begründen,  alle  möglichen  andern 
Versuche  erlebt,  und  keiner  ist  dauernd  stehen  geblieben,  —  meiner 
Meinung  nach ,  die  ich  schon  an  einem  andern  Orte  ausgesprochen 
habe,  weil  die  Theile,  welche  homologisirt  werden  sollen,  nicht  als 
homologe  nachge\\iesen  werden  können,  ehe  nicht  ihre  gemeinsame  Ab- 
kunft von  einem  Stammvater  nachgewiesen  ist,  der  diese  Theile  bereits 
besass.  Mir  erscheint  jeder  Versuch  ,  diese  morphologische  Theorie  der 
Gliedmaassen  ohne  eine  vorgängige  Grundlegung  vergleichender  Em- 
bryologie vorzunehmen,  illusorisch;  ja,  er  ist  sogar  schädlich,  da  er 
nothwendigerweise  dogmatisch  und  irreführend  sein  muss.  Savigny 
verblendete  sich  auch  nicht  im  Geringsten  über  die  Beziehungen  des 
Limulus  zu  den  Phyllopoden,  mit  denen  derselbe  gewöhnlich 
in  nächste  Berührung  gebracht  wird.  Er  sagt:  »Fassons  ä  un  autre 
Entomostrace  qui,  par  une  negligence  assez  singuliere,  se  Irouve  au- 
jourd'hui  place  dans  la  m«^me  famille  que  l'Apus«.  Und  weiter:  »De 
TApus  au  Limule ,  la  distance  est  presque  aussi  grande,  l'opposition 
aussi  marquee,  que  du  Grabe  au  Phalangium.«  Diese  Distanz  hat  denn 
auch  Stralss-DCrckheim  im  Jahre  1829  bewogen,  den  Limulus  in 
die  nächsten  Beziehjungen  zu  den  Arachniden,  insbesondere  zu  den 
Scorpionen  zu  bringen.  Dieser  Naturforscher  stützt  sich  dabei  im 
Wesentlichen  auf  die  Zahl  der  Gliedmaassen  des  Kopfschildes ,  auf  die 
Gestalt  des  ersten  Paares  und  auf  seine  Innervation.  Ferner  vergleicht 
er  die  sehnige  Platte,  welche  sich  im  Innern  des  Kopfschildes  findet 


636  Anton  Dolini, 

mit  dem  inneren  Sternum  der  Scorpione,  und  findet  eine  allgemeine 
Analogie  der  Form  zwischen  beiden  Thieren.  Diese  Vergleiche  sind 
heutzutage  wieder  aufgenommen  worden  und  sowohl  von  H.  Woodward 
wie  von  Huxlev  einer  genealogischen  Herleitung  der  Scorpione  aus  den 
Eurypteriden  zu  Grunde  gelegt  worden.  Wir  werden  darüber  noch 
nachher  einige  Worte  zu  sagen  haben. 

Nach  Strauss-Dürckheim  spricht  Latreilie  in  seinem  Gours  d'Ento- 
mologie  pag.  442-457  noch  einmal  tiber  denLimulus.  Seine  Mei- 
nung summirt  sich  in  folgenden  Worten:  »Quoique  ces  crustaces  nous 
paraissent  d'abord  s'eloigner  du  type  normal,  nous  venons  de  voir  que 
Ton  pouvait  expliquer  facilement  ces  aberrations,  en  supposant  que  le 
post-abdomen  ou  les  derniers  anneaux  du  corps  ont  disparu  ou  ont  ete 
remplaces  par  un  stylet,  et  que  tous  les  organes  de  la  manducation  sont 
devenus,  ainsi  que  dans  les  myriapodes,  des  organes  de  locomotion,  en 
conservant  neanmoins  une  partie  de  leurs  facultes  primitives.« 

Im  Jahre  1 838  ist  es  Van  der  Hoeven  ,  der  seine  Ansichten  aus- 
einandersetzt. Er  entscheidet  sich  weder  für  die  Zutheilung  des  Li- 
m  u  1  u  s  zu  den  Krebsen  ,  noch  zu  den  Spinnen ,  weil  seiner  Meinung 
nach  die  Grenzen  dieser  beiden  Classen  nicht  hinreichend  fixirt  seien. 
»Mais  seit  qu'on  ränge  les  Limules  parmi  les  Crustaces,  soit  qu'on  les 
mette  avec  les  Arachnides ,  ils  devront  toujours  former  ä  eux  seuls  un 
ordre  distinct  qui ,  dans  l'etät  actuel  de  nos  connaissances ,  est  eloigne 
de  tous  les  autres  ordres  de  ces  deux  classes.  G'est  en  effet  bien  gra- 
tuitement  et  seulement  d'apres  une  simple  ressemblance  exlerieure, 
que  la  plupart  des  naturalistes  ont  place  le  genre  Apus  ä  cöte  des 
Limulesci. 

Milne-Edwarüs  hat  in  seiner  »Histoire  naturelle  des  Crustaces«  die 
Xiphosuren  zu  allerletzt  behandelt.  Er  meint  »qu'on  est  oblige  de  les 
isoler  autant  que  possible  et  d'en  former  une  sous-classe  particuliere 
qui  se  lie  ä  la  division  des  Branchiopodes  et  a  celle  des  Trilobites, 
mais  se  distingue  de  ces  Crustaces  et  de  tous  les  autres  animaux  de  la 
meme  classe  par  l'ensemble  de  l'organisation«. 

Von  den  neueren  Classificationen  haben  wir  zuerst  Gerstäcker  zu 
erwähnen .  der  in  dem  mit  Carls  herausgegebenen  Handbuch  der  Zoo- 
logie die  Poecilopoden  zwischen  die  Isopoden  und  Branchio- 
p  0  d  e  n  stellt.  Bezüglich  der  Auffassung  der  Körpergestalt  des  L  i  m  u  - 
lus  weicht  dieser  Autor  von  den  früheren  wesentlich  ab,  indem  er  das 
erste  Extremitätenpaar  zwar  als  Antennen ,  die  drei  nächsten  aber  als 
die  drei  Kieferpaare  angesehen  wissen  will.  Darnach  sollen  drei  Paar 
Thoraxbeine  folgen ,  denn  auch  das  erste  Plattenpaar  wird  als  Extre- 
mität des  Kopfschildes  angesehen.    Die  f-ünf  kiementragenden  Platten- 


üntorsiicliungoii  Mm  Raii  und  Rntwicklmig  der  Aidunpodoii.  637 

paare  wären  dann  gleichzusetzen  den  fünf  Beinpaaren  der  Dcciipoden, 
und  die  jederseils  am  Schwanzschilde  sicli  vorfindenden  6  beweglichen 
Dornen  dem  ersten  bis  sechsten  Pleopodenpaare  (!),  der  Schwanzstachel 
aber  dem  siebenten.  Dadurch  würde  dann,  wie  Gi;rst.u:kek  hinzusetzt, 
der  mittlere  Theil  des  Schwanzschildes  als  Abdomen  aufzufassen  sein, 
die  Seilentheile  aber  als  Postabdomen,  das  sich  gespalten  (!)  und  an  das 
Abdomen  zu  beiden  Seiten  herangeschoben  hätte.  »Noch  pausender ((, 
fährt  der  Autor  aber  fort,  »würden  sich  vielleicht  die  sechs  beweglichen 
Dornen,  jederseits,  deren  Gliedmaassennatur  nicht  zweifelhaft  (?)  sein 
kann,  als  dem  dritten  Brust-  und  den  fünf  Abdominalbeinpaaren  ent- 
sprechendauffassen lassen,  so  dass  die  sechs  lamellösen  Gliedmaassen- 
paare,  als  dem  Postabdomen  angehörig,  mit  den  entsprechenden  der 
Isopoden  zu  vergleichen  seien.« 

In  den  »Grundzügen  der  Zoologie«  von  Claus  bildet  Limulus 
gleichfalls  unter  dem  Ordnungsnamen  der  Poecilopoden  eine  be- 
sondere Ordnung  zwischen  den  Branchiopoden  und  den  Arthro- 
stra  ka.  Claus  enthält  sich  aber  jeder  Speculation  über  die  Morpholo- 
gie derselben. 

Als  besondere  Gruppe  zwischen  den  Branchiopoden  und  Co- 
pepoden  führt  G.  0.  Sars  die  Poecilopoden  in  seiner  »Histoire  des 
Crustaces  d'eau  douce  de  la  Norvege«  auf. 

Dr.  A.  S.  Packard  endlich  scheint  nicht  abgeneigt,  nähere  Beziehun- 
gen des  Limulus  und  seiner  fossilen  Verwandten  milden  Bran- 
chiopoden anzunehmen. 

Von  denjenigen  Zoologen,  die  bereits  den  Versuch  gemacht  haben, 
die  Arthropoden  in  der  Form  des  Stammbaums  zu  classificiren,  hat  sich 
der  Schöpfer  der  Crustaceen-Genealogie,  Fritz  Müller  nicht  über  den 
Limulus  und  die  Trilobiten  vernehmen  lassen,  weil  er  sie  nicht 
selbst  hat  untersuchen  können.  IIaeckel  dagegen  glaubt  die  Trilobi- 
ten als  eine  Unterabtheilung  der  Phyllopoden  ansehen  zu  dürfen, 
aus  der  sich  die  Poecilopoden  vielleicht  entwickelt  hätten;  diese 
letzten  iheilt  er  in  die  beiden  Legionen  Xiphosura  und  Giganto- 
straka;  doch  drückt  er  seine  Meinung  sehr  reservirt  aus.  Gegenbaur 
schliesst  sich  dieser  Auffassung  genau  an. 

Wesentlich  anders  fasst  Huxlky  die  genealogischen  Beziehungen. 
In  einer  Recension  von  IIaeckel's  »Natürliche  Schöpfungsgeschichte« 
sagt  er  (Academy  Nov.  13.  1869.  pag.  42)  :  » —  I  imagine  that  the  Cope- 
poda  represent  the  hypothelical  Aichaeocarida  most  closely.  Apus 
and  Sapphirina  indicate  the  relations  of  these  Archaeocarids  wilh 
the  Trilobila,  and  the  Eurypterida  connecl  the  Trilobita  and  the  Cope- 
poda  with  the  Xiphosura.     But  the  Xiphosura  have  such  closc  morpho- 


638  '   Anton  Dolini, 

logical  relations  with  the  Arachnida,  and  especially  with  the  oldest 
known  Arachnidan,  Scorpio,  that  I  cannot  doubt  the  existence  of  a  ge- 
nitic  connection  between  the  two  groups.« 

Was  bei  Savigny  andeutungsweise,  bei  Strauss-Dürckheim  mit  Ein- 
seitigkeit ausgesprochen  wurde,  das  tritt  also  jetzt  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte der  Descendenztheorie  von  Neuem  auf.  Die  Verbindung 
der  Arachniden  mit  den  Crustaceen  soll  durch  Limulusund 
die  ihm  verwandten  Eurypteriden  gegeben  sein.  Dieser  Meinung 
schliesst  sich  H.  Woodward  bedingterweise  ebenfalls  an. 

Von  vornherein  lässt  sich  Manches  dafür,  wie  dagegen  sagen.  Die 
Sechszahl  der  Kopfschildextremitäten,  die  Gestalt,  Insertion  und  Inner- 
vation des  ersten  derselben,  eine  gewisse  Uebereinstimmung  der  äus- 
seren Leibesform  zwischen  Pterygotus  und  Scorpio,  —  auch 
mancherlei  in  der  Bildung  der  inneren  Organe ;  aber  andererseits  wiegt 
die  Lage  der  Unterlippe,  die  Natur  der  Plattenpaare  mit  den  Kiemen, 
die  seitlichen  Augen  etc.  diese  scheinbare  Uebereinstimmung  wieder 
auf.  Wir  sahen  indess,  wie  schwierig  die  Beziehungen  der  Crustaceen 
zu  Limulus  ins  rechte  Licht  zu  rücken  waren,  trotzdem  wir  durch  die 
Untersuchungen  der  letzten  Jahre  über  die  Embryologie  derselben  weit 
besser  aufgeklärt  worden  sind,  als  frühere  Zeiten.  Vom  Scorpion  aber 
wissen  wir  bezüglich  seiner  Entwicklungsgeschichte  so  gut  wie  nichts, 
da  eine  Darstellung  derselben  leider  in  russischer  Sprache  erschienen 
ist,  andere  nur  vorläufige  Mittheilungen  darstellen  und  das  morpholo- 
gische Element  so  gut  wie  gar  nicht  ins  Auge  fassen.  Die  Untersuchun- 
gen GlaparKde's  über  die  Entwicklung  einiger  Spinnen  können  diese 
Lücke  nicht  ausfüllen.  Ohne  die  Hülfe  der  Embryologie  ist  aber  hier 
nichts  zu  entscheiden,  alle  Uebereinstimmungen  der  äusseren  Form 
und  der  Gliedmaassen  sind  unzureichende  Criterien.  Welche  Theile 
des  Limulus  sollen  den  Kämmen  der  Scorpione  entsprechen?  Das 
erste  Platlenpaar  oder  die  Unterlippe?  Beide  Ansichten  sind  aufgestellt 
worden.  Es  ist  ja  durchaus  wahrscheinlich,  dass  die  Abdominalseg- 
mente der  Arachniden  in  früheren,  weit  zurückgelegenen  Epochen 
gleichfalls  Extremitäten  besessen  haben,  deren  Spuren  sich  noch  an 
den  Embryonen  entdecken  lassen,  —  aber  damit  allein  ist  doch  noch 
nicht  der  genetische  Zusammenhang  mit  den  Krustern  speciell  mit  Li- 
mulus ausgesprochen.  Und  ob  es  überhaupt  möglich  sein  wird,  die 
Athmungsorgane  der  Scorpione  und  Spinnen  aus  den  Kiemenplatten 
der  Eurypteriden  herzuleiten,  das  ist  doch  überaus  fraglich,  — 
abgesehen  davon,  dass  diese  Möglichkeit  an  sich  nicht  den  geringsten 
Beweis  für  die  Wirklichkeit  abgiebt. 

Diese  Frage  kann  also  nicht  eher  zum  Auslrag  gebracht  werden, 


Untersiiclimigeii  über  Bau  und  l-'iihvißklituo'  der  Ai-lliropodoii.  630 

als  bis  wir  über  die  Embryologie  der  Spinnen  und  besonders  i]o<^  Scor- 
pions  gründlicher  aufgeklärt  sein  werden,  —  wobei  denn  auch  nicht 
vergessen  werden  soll,  dass  auch  die  Untersuchung  lebender  [>iniu- 
1  US -Embryonen  noch  ein  Desideratum  ist.  Es  ist  überflüssig,  dieser 
Entsclveidung  durch  Vcrniuthungen  vorgreifen  zu  wollen,  wennschon 
es  durchaus  nicht  überflüssig  ist,  die  Frage  danach  überhaupt  aufzu- 
werfen. Je  weiter  die  Descendenztheorie  in  die  unmittelbare  Arbeit 
der  Zoologie  eingreift,  um  so  mehr  zeigt  sie  ihren  eminent  praktischen 
Charakter,  indem  sie  nicht  nur  Probleme  auflöst,  sondern  auch  die 
richtige  Fragstellung  vorbereitet.  So  zerstört  sie  zwar  die  traditionelle 
Systematik,  aber  sie  baut  sofort  eine  neue  auf;  —  wie  wir  denn  auch, 
fragen  w  ir  nach  dem  Resultat  der  hier  in  diesem  Aufsatze  geschehenen 
Anwendung  derselben,  zu  folgendem  Schlusssatze  gelangen : 

»Limulus  ist  zunächst  verwandt  milden  Gigantostraken; 
»beide  erscheinen  verwandt  mit  den  Trilobiten  ,  obwohl  diese Ver- 
»wandtschaft  nicht  in  alle  Details  nachgewiesen  werden  kann.  Die 
«morphologisch-genealogischen  Beziehungen  dieser  drei  Familien  zu 
»den  Crustaceen  lassen  sich  vorderhand  nicht  feststellen,  bleiben 
»vielleicht  für  immer  zweifelhaft.  Ueber  die  Beziehungen  derselben 
»zu  den  Arachniden  sind  wir  vorläufig  gar  nicht  im  Stande  etwas 
»anzugeben.  Sonach  bleibt  uns  nur  übrig,  diese  drei  Familien  unter 
«einem  gemeinsamen  Namen,  wofür  ich  den  IlAECKEL'schen  Ausdruck 
»Gigan  tos  traka  möchte  in  Vorschlag  gebracht  haben,  selbständig 
«zucnnslituiren  und  im  System  neben  die  Crustaceen  zu  stellen. h 


firkläruDg  der  Abbildungen. 

(Auf  Taf.  I  befinden  sich  die  Fig.  1—4,  17—24.    Die  übrigen  auf  Tafel  II.) 

Fig.  1.  Ein  Ei,  de.ssen  Exochorion  (b)  in  zwei  Halbkugeln  das  daraus  hervorlre- 
lende  Chorion  umschliesst. 

Fig.  2.  Ein  Embryo,  umgeben  von  dem  Chorion  (c).  Die  Gliedmaassen  sind  mit 
römischen  Ziffern  I — VIII  bezeichnet.  (6)  bedeutet  die  Leiste,  welche 
den  Rund  des  späteren  Kopfschildes  bildet,  (d)  ist  die  Unterlippe,  (o)  i.st 
der  Abdominaltheil,  (?«)  die  Mundöffnung.  Zwischen  den  Beinen  und 
auch  vor  der  Mundöffnung  erkennt  man  die  Ganglienkette. 

Fig.  3.  Ein  weiter  entwickelter  Embryo.  Das  Chorion  (c)  hat  sich  sehr  stark 
ausgedehnt,  der  Embryo  ist  in  einer  Flüssigkeit  suspendirt  und  rollt 
darin  umher. 

Fig.  4.  Das  Trilobitensladium.  Chorion  sowohl  wie  Exochorion  sind  zer- 
sprengt; der  Körper  der  Larve  bestellt  aus  Kopfschild  und  Abdominal- 
theil, letzterer  lässt  auf  das  Deutlichste  die  Segmentirung  erkennen. 
(e)  die  vorderen  Augen,  (/")  die  seillichen  Augen. 

Fig.  5.  Das  erste  Plattenpaar,  welches  den  übrigen  als  äusserer  Deckel  dient. 
Von  einem  Stück,  welches  schon  die  definitive  Limulusgosfalt  angenom- 
men hat. 


640  Allton  Dohrii,  üntersnchungen  u.  s.  w. 

Fig.  6.  Das  zweite  Plattenpaar  von  demselben  Individuum,  (a)  die  ovalen  Bil- 
dungen (verg.  Seite  397),  (6)  die  Kiemeublätter,  (c)  der  mittlere  Zipfel, 
{d)  die  knorpelartigen  Kiementräger. 

Fig.    7.  Das  dritte  Plattenpaar.     Buchstabenbezeichnung  wie  bei  Fig.  6. 

Fig.    8.  Das  vierte  Plattenpaar  eben  erst  in  der  Bildung  begriffen. 

Fig.    9.  Die  feinere  Structur  des  Chorion. 

Fig.  iO.  Ein  Längsschnitt  durch  einen  bereits  mit  dem  Schwanzstachel  versehe- 
nen jungen  Limulus.  Die  römischen  Ziffern  bedeuten  wiederum  die 
entsprechenden  Gliedmaassen.  (a)  Afteröffnung,  (d)  Unterlippe,  (e)  vor- 
deres Auge,  ig)  oberes  Schlundganglion,  (g^)  die  übrigen  Ganglien, 
[h]  Rückengefäss,  (i)  die  Fortsätze  des  Abdominalschildes  mit  einigen 
Muskelbündeln  von  dem  grossen  Beugemuskel  des  Kopfschildes,  (fc)  die 
knorpelartigen  Kiementräger,  (o)  die  Mundöffnung,  {q)  der  Streckmus- 
kel des  Kopfschildes,   (v)  der  Magen,  {sehst)  der  Schwanzstachel. 

Fig.  11.  Ein  Querschnitt  durch  die  Mitte  des  Kopfschildes  eines  jungen  Limulus 
im  selben  Stadium  wie  der  vorige.  Buchstabenbezeichnung  wie  bei 
Fig.  ■lO.     [l)  Durchschnittene  Leberschläuche. 

Fig.  12.  Querschnitt  durch  den  hinteren  Theil  des  Kopfschildes  des  trilobiten- 
arligen  Larvenstadiums.  Buchstabenbezeichnung  wie  bei  Fig.  10.  {pl)  Die 
Sehnenplatte,  (dtt)  Dottermassen,  welche  noch  den  grössten  Theil  des 
Leibesraums  ausfüllen.  An  dem  Extremitätenpaare  VI  sieht  mau  bei  {x) 
den  seitlichen  Anhang.     Bei  (r)  das  Randgefäss  des  Kopfschildes. 

Fig.  13.  Ein  Querschnitt  durch  das  Abdominalschild  des  trilobitenartigen  Larven- 
stadiums.    Dieselbe  Buchstabenbezeichnung. 

Fig.  14.  Eine  etwas  vergrösserte  Darstellung  eines  knorpelartigen  Kiementrägers. 

Fig.  15.  Querschnitt  durch  den  vorderen  Theil  des  Kopfschildes  eines  jungen 
Limulus  im  Stadium  von  Fig.  10.  (e)  Die  linsenartigen  Verdickungen 
der  Wandung,  darunter  ein  bohnenförmiger  Hohlraum  und  ein  dicker 
Pigmentballen.  Das  Ganze  stellt  die  vorderen  Augen  dar.  {v)  Quer- 
schnitt durch  den  Magen.  [pg]  Pigmentmassen,  die  vor  dem  oberen 
Schlundganglion  sich  finden. 

Fig.  16.  Ein  Stück  des  Kopfschildrandes  eines  jungen  Limulus.  (a)  Cuticula, 
(6)  grössere  Haare,   (c)  feineres  Haar,  (d)  Tastorgane  (?J . 

Fig.  17.  Prestwichia  rotundata  Woodwaiu)  (Copie  nach  »Woodward,  On 
some  points  in  the  structure  of  the  Xiphosura  having  reference  to  their 
relationship  wilh  the  Eurypteridae«,  in  Quarterly  Journal  of  the  Geolo- 
gical  Society  for  February  1867.  PI.  I.  Fig.  2). 

Fig.  18.  Hemiaspis  limuloi  des  WooDWARDs  (1.  c.  pl.  1.  Fig.  3). 

Fig.  19.  Belinurus  reginae  B.mly  (nach  Woodward  1.  c.  pl.  I.  Fig.  1). 

Fig.  20.  Pterygotus  anglicus  Agassiz.  (Nach  einer  stark  verkleinerten  Re- 
stauration von  Woodward  in  »A  Monograph  of  the  British  fossil  Crustaceä 
belonging  to  the  Order  Meroslomata«  in  Transactions  of  the  Palaeonto- 
graphical  Society  1867.  Plate  VIII.) 

Fig.  21.  Eurypterus  remipes  Dekay.  (Nach  Nieszkowski  »Der  Eurypterus 
remipes  aus  d'^n  obersilurischen  Schichten  der  Insel  Oesel.  Archiv  für 
dieNaturkundeLiv-,  Ehst-  u,  Kurlands.  Erste  Serie.  Bd.  II.  Tab.  I.  Fig.  1.) 

Fig.  22.  Trinucleus  ornatus  Sternberg.  (Nach  Barrande  Systeme  silurien 
de  la  Boheme  I.  PI.  30.  Fig.  53.) 

Fig.  23.  Kopfschild  des  Cheirurus  claviger.  (a)  Grosse  Sutur,  [l]  Glabella. 
(Nach  Barrande.  1.  c.  PI.  2B.  Fig.  1.) 

Fig.  24.  Asaphus  pla tyceph a  1  us  mit  den  Ueberresten  der  Extremitäten. 
(NachBiLLiNGs  in  :  Quarterly  Journal  of  the  Geological  Society.  Vol. XXVI. 
PI.  XXXII.  Fig.  1.) 

Fig.  25.  Vier  Stadien  aus  der  Entwicklungsgeschichte  des  Trinucleus  orna- 
tus.  (Nach  Barrande  1.  c.  pl.  30.  Fig.  42,  44,  46  u.  48.) 

Fig.  26.  Sechs  Stadien  aus  der  Entwicklungsgeschichte  der  Sao  hirsuta.  (Nach 
Barrande  1.  c.  pl.7.  Fig.  1,  2,  3,  4,  6  u.  10.) 

Fig.  27.  Zwei  Plattenpaare  von  S  1  imonia  zusammen  versteinert.  (Nach Wood- 
ward in  Quarterly  Journal  of  the  Geological  Society  of  London.  Vol.  XXIII. 
PI.  II.  Fig.  11.) 


lieber  die  sexuelle  Fortpflaiiziiiii»'  und  das  natürliche  System 
der  Sclmänime. 


Von 

Ern  st    Haeck  e  1. 


Die  Untersuchungen  »über  den  Organismus  der  Schwämme  und 
ihre  Verwandtschaft  mit  den  Corallen«,  welche  vor  drei  Jahren  von  mir 
begonnen  und  deren  vorläufige  Resultate  im  Sommer  I  869  mitgelheilt 
wurden  '),  sind  seitdem  ununterbrochen  fortgesetzt  worden.  Die  Mono- 
graphie der  Kalkschwämme  oder  Grantien,  welche  sich  aus  jenen  Un- 
tersuchungen entwickelte,  ist  ihrem  Abschluss  nahe.  Das  sehr  reich- 
haltige Material,  welches  mir  auf  meine  Bitte  von  befreundeten  Collegen 
und  von  vielen  anderen  Spongienbesitzern  zugesandt  wurde,  ist  in- 
zwischen so  angewachsen,  dass  die  Zahl  der  Species  von  Calcispongien, 
welche  ich  1869  in  meinem  »Prodromus  eines  Systems  der  Kalk- 
schwämme «2)  aufführte,  um  mehr  als  das  Doppelte  gestiegen  ist.  in 
dem  bedeutenden  Umfang,  welchen  meine  Monographie  in  Folge  dessen 
erreicht  hat ,  liegt  zugleich  die  Entschuldigung  für  das  verspätete  Er- 
scheinen derselben.  Da  die  Anfertigung  der  dazu  gehörigen  zahlrei- 
chen Kupfertafeln  sich  immer  noch  bis  in  das  nächste  Jahr  hinziehen 
wird,  halte  ich  es  für  angemessen,  inzwischen  über  einige  Fortschritte 
zu  berichten,  welche  ich  in  der  Erkenntniss  jener  höchst  merkwürdigen 
Thiergruppe  gemacht  habe. 

Nachdem  die  angeführten  Untersuchungen  »über  den  Organismus 
der  Schwämme«  im  Sommer  1869  publicirt  worden  waren,  habe  ich 
noch  zwei  Reisen  an  die  Meeresküste  angetreten,  um  durch  erneute 


i)  Vergl.  diese  Zeitschrift,  Bd.  V,  p.  207. 
2)  Vergl.  diese  Zeitschrift,  Bd.  V,  p.  236. 
is.l.  VI    4.  43 


G4^  Krnst  Haeckel, 

Beobachtung  von  lebenden  Schwämmen ,  und  insbesondere  Kalk- 
schwämmen,  die  Lücken  auszufüllen,  welche  in  der  Anatomie 
der  früher  vorzugsweise  untersuchten  Weingeistpräparate  gebheben 
waren.  Zugleich  machten  genealogische  Untersuchungen  ȟber  die 
Entstehung  der  Arten « ,  welche  einen  beträchtlichen  Theil  der  Mono- 
graphie der  Kalkschwämme  bilden ,  es  nothwendig ,  möglichst  grosse 
Mengen  dieser  Thiere  an  ihrem  natürlichen  Standorte  in  Bezug  auf  ihre 
gesellschaftliche  Ansiedelung  und  ihre  topographische  Verbreitung  zu 
untersuchen,  und  Massen  von  Individuen  von  den  verschiedenen  Stand- 
orten zur  Vergleichung  zu  sammeln.  Meine  erste  Reise  (im  August 
und  September  1869)  war  nach  Norwegen  gerichtet,  wo  ich  bei 
Brandesund  auf  der  Insel  Gis-Oe  (einige  Meilen  südwestlich  von  Ber- 
gen) Kalkschwämme  aus  verschiedenen  Gattungen  in  reichlicher  Menge 
vorfand.  Die  zweite  Reise  (im  März  und  April  1871)  unternahm  ich 
nach  dem  adriatischen  Meere,  dessen  ausserordentlicher  Reichthum 
an  Schwämmen  durch  die  vieljährigen,  umfassenden  und  ergebniss- 
reichen Untersuchungen  von  Oskar  Schmidt  erschlossen  worden  ist. 
Auf  der  Insel  Lesina  an  der  Küste  des  südlichen  Dalmatiens ,  welche 
mir  Oskar  Schmidt  besonders  empfohlen  hatte  und  deren  reiche  Fauna 
vorzüglich  durch  Heller's  fleissige  faunistische  Arbeiten  bekannt  ist, 
fand  ich  die  beste  Gelegenheit,  alle  Arten  von  Kalkschwämmen ,  die 
bisher  aus  dem  adriatischen  Meere  beschrieben  wurden ,  lebend  zu 
beobachten.  Von  mehreren  der  wichtigsten  Arten  konnte  ich  daselbst 
solche  Massen  von  Individuen  sammeln  und  die  ausserordentliche  Bieg- 
samkeit ihrer  Form  so  im  Zusammenhang  verfolgen,  dass  die  »Ent- 
stehung der  Arten«  dadurch  auf  das  Klarste  beleuchtet  wurde. 
Das  Resultat  dieser  fortgesetzten  Untersuchungen  ist  eine  voll- 
ständige Bestätigung  fast  aller  derjenigen  Angaben,  welche  ich  in  mei- 
ner früheren  Mittheilung  »Ueber  den  Organismus  der  Schwämme«  ge- 
macht hatte.  Nur  in  einem  einzigen  wesentlichen  Punkte  habe  ich 
mich  zu  corrigiren,  nämlich  in  Bezug  auf  die  geschlechtliche 
Fortpflanzung  der  Schwämme.  Ich  hegte  damals  gegen  die 
sexuelle  Differenzirung  der  Spongien  erhebliche  Zweifel.  Weder  bei  den 
Kalkschwämmen,  noch  bei  den  andern  Schwämmen,  welche  ich  früher 
untersucht  halte,  war  es  mir  jemals  gelungen,  Zoospermien  aufzufin- 
den. Ebenso  hatten  andere  Naturforscher,  darunter  die  erfahrensten 
Kenner  der  Schwämme,  0.  Schmidt  und  Bowerbank,  stets  vergeblich 
nach  männlichen  Organen  gesucht.  Unter  den  positiven  Angaben, 
welche  von  anderen  Beobachtern  darüber  gemacht  waren ,  schienen 
nur  diejenigen  von  Lieberkühn  über  Spongilla  Vertrauen  zu  ver- 
dienen.   Nach  diesen  letzteren  Angaben  sollen  sich  bei  den  Süsswasser- 


lieber  die  soxiielle  Foripüanziiiiü  und  diis  iiiitiiiiiclie  Svslein  der  Scliwiiinme.      (U'> 

schwämmen  slecknadelförmigc  bewegliche  Zoospermicn  in  besonderen 
Samenkapseln  entwickeln. 

Die  Untersuchungen ,  welche  ich  bezüglich  der  sexuellen  Diflercn- 
zirung  der  Spongien  auf  meiner  norwegischen  Reise  (im  Herbst  4  869) 
anstciUe ,  hatten  el)enfalls  nur  negative  Resultate.  Trotzdem  ich  da- 
mals Kalkschwämme  der  verschiedensten  Geltungen  (Leucosolenia, 
Leuconia,  Sycon  etc.)  zu  Hunderten  genau  darauf  untersuchte, 
trotzdem  ich  bei  diesen  allenthalben  Mengen  von  Keimzellen  und  zum 
Theil  auch  Embryonen  auf  verschiedenen  Stadien  der  Entwickelung 
, intraf,  wollte  es  mir  doch  nicht  gelingen,  irgend  eine  Spur  von  be- 
fruchtenden männlichen  Elementen  zu  entdecken.  Ich  glaubte  daher, 
jene  geschlechtslosen  Keimzellen  mit  Recht  als  Sporen, 
und  nicht  als  Eier,  bezeichnet  zu  haben  (1.  c.  p.  223.). 

Andere  Resultate  erhielt  ich  auf  meiner  letzten  Reise  nach  Dal- 
nialien.  Hier  gelang  es  mir  endlich  nach  vielfachen  vergeblichen  Be- 
mühungen, Zoospermien  l)ei  Kalkschwämnien  aus  den  verschiedensten 
Gruppen  (Asconen,  Leuconen,  Syconen) ,  und  ebenso  auch  bei  einigen 
Kieselschwämmen  aufzufinden.  Allerdings  ist  deren  Nachweis  ausser- 
ordentlich schwierig  und  die  Art  ihres  Vorkommens  und  ihrer  Entwicke- 
lung erklärt  hinlänglich,  warum  fast  alle  früheren  daraufgerichteten 
Remühungen  vergeblich  waren.  Die  Zoospermien  der  Schwämme 
sind  nämlich  n  i  c  h  t  s  w  e  i  t  e  r  als  m  o  d  i  f  i  c  i  r  t  e  G  e  i  s  s  e  1  z  e  1 1  e  n 
des  Entoderms,  der  flimmernden  epithelialen  Zellenlage,  welche 
aus  dem  inneren  Keimblatt  hervorgellt.  Gleichwie  an  den  verschie- 
densten Stellen  dieses  Flimmer-Epithels  einzelne  Zellen  desselben  ihr 
langes  schwingendes  Geisselhaar  einziehen  und  sich  zu  Eiern  von  der 
Form  nackter  amoeboidcr  Zellen  umbilden,  so  verwandeln  sich  an 
anderen  Stellen  einzelne  Geisseizellen  in  Samenzellen.  Diese  Meta- 
morphose beginnt  damit,  dass  die  Flimmerzelle  ihr  Geisselhaar  einzieht 
und  durch  mehrfach  wiederholte  Theilung  in  eine  grössere  Zahl 
( —  wie  es  scheint,  wenigstens  acht)  sehr  kleine  Zellen  zerfällt.  Jedes- 
mal geht  der  Theilung  der  Zelle  diejenige  ihres  Kernes  vorher.  Die  so 
entstandenen  Tochlerzellen  sind  vielmals  kleiner  als  die  ursprünglichen 
Flimmerzellen.  Die  winzigen  Zellen  der  jüngsten  Generation  verwan- 
deln sich  direct  in  Zoospermien,  indem  die  sehr  geringe  Quantilät-von 
Protoplasma,  welche  den  rundlichen  Kern  umhüllt,  sich  an  der  frei  in 
das  Canalsystcm  hineinragenden  Seile  in  einen  sehr  langen  und  feinen 
fadenförmigen  Fortsatz  auszieht.  Dieser  Faden  ist  der  »Schwanz«,  der 
am  basalen  Theile  desselben  befindliche  Zellenkern  der  »Kopf«  des 
Zoospermiums.  Der  »Schwanz«  beginnt  sich  langsam  in  Bewegung  zu 
setzen,    indem  er  hin  und  schwer  schwingt.     Wenn   die  Bewegung 

43* 


644  Ernst  Haeckel, 

rascher  wird,  löst  sich  der  noch  festsitzende  »Kopf«  von  seiner  Unter- 
lage ab,  und  die  kleine  Geisselzclle  schwimmt  nun  als  frei  bewegliches 
Zoosperm  im  Wasser  umher. 

Bei  manchen  Kalkschwämmen  ist  auch  an  den  ursprünglichen  Geis- 
selzellen  des  Entoderms  die  Quantität  des  Protoplasma  so  gering,  dass 
dasselbe  nur  eine  sehr  dünne  Hülle  um  den  verhältnissmässig  grossen 
Kern  zu  bilden  scheint.  Nur  an  der  Stelle,  wo  der  schwingende  lange 
Geisseifaden  von  dieser  Hüllschicht  abgeht,  ist  dieselbe  etwas  dicker. 
Diese  Flimmerzellen  sind  daher  eigentlich  nur  durch  ihre  beträchtlichere 
Grösse  von  den  Zoospermien  zu  unterscheiden  und  können  sehr  leicht 
mit  ihnen  verwechselt  werden.  Die  Verwechselung  Beider  ist  um  so 
leichter,  als  die  Form  der  Bewegung  des  schwingenden  Protoplasma- 
fadens keine  wesentlichen  Unterschiede  darbietet.  Allerdings  bewegen 
sich  die  reifen  Samenzellen  im  Ganzen  lebhafter,  als  die  einzelnen  ab- 
gelösten Flimmerzellen ;  allein  unter  Umständen  schwingen  sie  auch 
langsamer  und  können  selbst  gleich  den  letzteren  sich  wieder  in  amoe- 
boide  Zellen  zurückverwandeln.  Anderseits  setzen  auch  verstüm- 
melte Flimmerzellen,  bei  denen  ein  Theil  ihres  nackten  Protoplasma- 
Körpers  abgerissen  ist,  ihre  schwingenden  Bewegungen  fort  und  können 
dann  oft  kaum  von  Zoospermien  unterschieden  werden. 

Vielleicht  würde  ich  selbst  die  Ueberzeugung ,  dass  die  fraglichen 
kleinen  Geisseizellen  wirklich  echte  Zoospermien  sind ,  nicht  gewonnen 
haben ,  wenn  es  mir  nicht  mehrere  Male  geglückt  wäre ,  den  Befruch- 
tungsakt direct  zu  beobachten.  In  Präparaten  von  frisch  zerzupften 
Schwammstücken  nämlich,  in  welchen  zahlreiche  lebhaft  schwingende 
Samenzellen  und  einzelne  gleich  Amoeben  umherkriechende  Eizellen 
sich  durch  einander  bewegten,  konnte  ich  zu  wiederholten  Malen  beob- 
achten, wie  einzelne  Samenzellen,  die  zufällig  mit  einer  Eizelle  in  Be- 
rührung gekommen  waren ,  mit  derselben  verschmolzen.  Zunächst 
schien  das  kleine  Zoosperm ,  sobald  es  mit  der  Oberfläche  der  nackten 
Eizelle  in  Berührung  gekommen  war,  an  dieser  anzukleben  und  seine 
schwingenden  Bewegungen  zu  beschleunigen.  Dann  aber  wurden  die- 
selben allmählig  langsamer  und  hörten  zuletzt  ganz  auf,  während 
gleichzeitig  das  Ei  seine  trägen  amoeboiden  Bewegungen  einstellte. 
Endlich  schien  das  Zoosperm  völlig  mit  dem  Ei  zu  verschmelzen  oder 
sich  in  der  Doltermasse  desselben  aufzulösen. 

Dass  diese  mehrmals  mit  ziemlicher  Sicherheit  wiederholte  Beob- 
achtung wirklich  den  Befruchtungsprocess  betraf,  glaube  ich  daraus 
schliessen  zu  düi'fen,  dass  in  einigen  Fällen  bald  nachher  die  Furchung 
des  befruchteten  Eies  begann.  Die  kugelig  zusammengezogene  Zelle 
zerfiel  erst  in  zwei ,  dann  in  vier  Zellen  u.  s.  f. ,   w-obei  Iheilweise  die 


(Her  die  sexuelle  Fortpflanziinc:  niid  diis  uiilürliclie  System  der  Scliwäinmc.      (>  15 

der  Theilung  des  Protoplasma  vorhergehende  Spaltung  des  Kernes  er- 
kannt Nverden  konnte.  In  Folge  dieser  Beobachlungen  nehme  ich  die 
Zweifel,  weiche  ich  früher  gegen  allere  Angaben  über  Zoospcrmien  der 
Schwämme  ausgesprochen  hatte  (1.  c.  p.  224) ,  ausdrücklich  zurück. 
Insbesondere  glaube  ich,  dass  die  von  Ln:iu;nKLiiN  bei  Spongilla  und 
die  von  Hl'xley  bei  Tethya  beschriebenen  Zoospermien  wirklich 
solche  gewesen  sind.  Uebrigens  ist  zu  bemerken ,  dass  der  Nachweis 
derselben  bei  den  meisten  Schwämmen  ausserordentlich  schwierig  und 
bei  vielen  Arten  mir  trotz  aller  Bemühungen  doch  nicht  gelungen  ist. 
Abgesehen  von  den  vorher  angeführten  Schwierigkeiten  und  nament- 
lich von  der  sehr  leicht  möglichen  Verwechselung  der  Zoospermien  mit 
verstümmelten  oder  abgelösten  Flimmerzellen,  ist  es  ( —  wenigstens 
bei  den  Kalkschwämmen  — )  niemals  möglich,  das  Sperma  in  irgend 
beträchtlicher  Menge  nachzuweisen.  Da  die  Samenzellen  gleich  den 
Eiern  überall  in  der  einfachen  epithelartigen  Zellenschicht  des  Ento- 
derms  ohne  bestimmte  Ordnung  zerstreut  liegen ,  da  mithin  ebenso 
wenig  Hoden  als  Eierstöcke  existireu ,  und  da  die  meisten  Samenzellen 
sofort  einzeln  in  das  Wasser  des  Ganalsystems  treten  und  mit  dem 
Wasserstrom  fortgeführt  werden ,  seist  selbstverständlich  nicht  daran 
zu  denken,  das  Sperma ,  wie  bei  den  anderen  Thieren ,  tropfenweis  zu 
demonstriren  oder  selbst  nur  ein  mikroskopisches  Samentröpfchen  mit 
einigen  hundert  Zoospermien  nachzuweisen ;  höchstens  findet  man 
einige  Dutzend  der  letzteren  beisammen. 

Bei  allen  Kalkschwämmen,  bei  denen  ich  Zoospermien  nachweisen 
konnte,  fand  ich  auf  einer  und  derselben  Person  zugleich  Eier  vor, 
und  zwar  lagen  die  einzelnen  grossen  amoeboiden  Eizellen  und  die 
kleinen  Samenzellen  ohne  Ordnung  im  Entoderm  zerstreut,  meistens 
durch  beträchtliche  Zwischenräume  getrennt.  Die  Personen  der  Kalk- 
schwämme sind  demnach  als  Hermaphroditen  zu  bezeichnen. 

Durch  diesen  Beweis  der  sexuellen  Differenzirung  der  Kalk- 
schwämme wird  das  letzte  und  wesentlichste  Hinderniss  aufgehoben, 
welches  man  dem  von  mir  versuchten  Nachweise  ihrer  nahen  Ver- 
wandtschaft mit  den  Hydroiden  und  Corallen  noch  hätte  entgegenstellen 
können.  Während  dadurch  einerseits  ihre  Zugehörigkeit  zum  Stamme 
der  Goelenteraten  nur  bestätigt  wird,  fällt  andererseits  einer  der 
wichtigsten  Gründe,  den  man  für  ihre  Vereinigung  mit  den  ge- 
schlechtslosen Protisten  oder  Protozoen  hätte  anführen  können.  Ueber- 
haupt  sei  hier  noch  bemerkt,  dass  meine  fortgesetzten  Untersuchungen 
die  Ansichten,  welche  ich  in  der  früheren  Mittheilung  über  die  Verwandt- 
schaft der  Schwämme  und  Gorallen  ausführte,  lediglich  bestätigt  haben. 
Ich  werde  dieselben  in  meiner  Monographie  ausführlich  besprechen. 


646  Ernsl  Hacckl, 

Von  den  übrigen  Beobachtungen ,  welche  ich  an  lebenden  Kalk- 
schwämmen in  Norwegen  und  Dalmalien  anzustellen  Gelegenheit  hatte, 
erwähne  ich  hier  nur  noch  kurz  einige  eigenlhümliche  Bewegungs- 
erscheinungen des  Protoplasma ,  und  zwar  sowohl  an  den  isolirlen 
Zellen  des  Entoderm,  als  an  den  verschmolzenen  des  Ectoderm.  Schon 
in  meinen  »Beiträgen  zur  Piastidentheorie « ')  hatte  ich  gezeigt,  dass  bei 
den  Kalkschwämmen  unter  Umständen  die  flimmernden  Geissel- 
zellen  des  Entoderm  sich  in  amoeboide  Zellen  verwan- 
deln und  hatte  diesen  Uebergang  zu  Gunsten  meiner  Ansicht  von  der 
«Identität  der  Flimmerbewegung  und  der  amoeboiden 
Protoplasmabewegung«  angeführt  (1.  c.  p.  540).  Die  erste  be- 
zügliche Beobachtung  bei  Kalkschwämmen  hatte  ich  in  Norwegen  an 
Leucosolenia  coriacea  und  L.  variabilis  gemacht.  Die  durch 
Zerzupfen  des  Schwammes  isolirten  Geisselzellen  , gingen  hier  nach 
einiger  Zeit  unmittelbar  in  amoeboide  Zellen  über;  die  lange  schwin- 
gende Geissei,  welche  jede  Flimmerzelle  des  Entoderm  trägt,  wurde 
eingezogen  und  an  ihrer  Stelle  wurde  eine  grössere  Anzahl  spitzer 
Fortsätze  hervorgestreckt.  Diese  bewegten  sich  langsam  und  wurden 
wieder  eingezogen ,  während  andere  amoeboide  Fortsätze  an  ihrer 
Stelle  hervortraten.  Die  einzelnen  isolirten  Zellen  krochen  mittelst 
dieser  wechselnden  Forlsätze  wie  Amoeben  umher.  Auf  meiner  letzten 
Reise  in  Dalmalien  habe  ich  diese  Beobachtung  fast  täglich  wiederholt, 
und  zwar  bei  Kalkschwämmen  aus  allen  Gruppen ,  bei  Asconen ,  Leu- 
conen  und  Syconen.  Einige  Male  gelang  es  mir  hier  aber  auch  zu 
sehen,  wie  sich  einzelne  amoeboide  Zellen  wieder  in  Geisselzellen  zu- 
rückverwandelten. Nimmt  man  nun  dazu  noch  die  Thatsache,  dass 
auch  die  Zoospermien  ursprünglich  Geisselzellen  sind ,  so  erscheint  es 
nicht  mehr  auffallend ,  dass  auch  die  Samenzellen  aus  amoeboiden 
Zellen  hervorgehen  und  sich  unter  Umständen  wieder  in  amoeboide 
Zellen  verwandeln  können.  Phylogenetisch  betrachtet  ist  die  amoeboide 
Bewogungsform  des  Protoplasma  die  älteste.  Aus  dieser  hat  sich  sc- 
cundär  die  Flimmerbewegung,  und  aus  dieser  wiederum  tertiär  die 
Zoospermien-Bewegung  entwickelt. 

Eine  andere  Bewegungserscheinung  des  Protoplasma  fand  ich 
gleichfalls  in  Dalmatien  Gelegenheit  zu  bestätigen.  Ich  hatte  dieselbe 
schon  in  Norwegen  beobachtet,  aber  nicht  früher  mitzutheilen  gewagt, 
weil  ich  vor  einer  Täuschung  nicht  ganz  sicher  war.  Sic  betrifft  aus- 
gezeichnete Pseudopodienbildung  am  Ectoderm  der  Kalk- 
schwämme.   Das  Ectoderm,  welches  aus  den  verschmolzenen  Zellen 


1)  Vergl.  diese  Zeitschrift,  Bd.  V,  p.  492. 


Uebor  dio  scviiolle  Kortpfliiiiziiiig  und  das  iialfirliclip  System  dor  Scliwammc       ()47 

des  äusseren  embryonalen  Keimblattes  besteht  und  ausser  den  Kernen 
jener  Zellen  auch  die  Kalknadeln  des  Skelots  uinschliesst,  bildet  unter 
[gewissen  Umständen  an  seiner  überdäciie  dichle  Massen  von  sehr 
feinen  Pseudopodien  ,  so  dass  bei  Anwendung  sehr  starker  Vergrösse- 
rungen  (mindestens  500-700)  die  glatte  Obcrdäche  des  Ecloderms  wie 
mit  einem  dichten  Flaum  von  äusserst  feinen  lläärchen  bedeckt  erscheint. 
Besondere  Neigung  zur  Hildung  eines  solchen  Protoplasmapelzes  zeigen 
die  Ectodermschciden ,  welche  die  isolirten  Spicula  umgeben.  Oft  er- 
hebt sich  senkrecht  auf  der  Oberlläche  einer  einzigen  Kalknadel  ein  Flaum 
\on  mehreren  Hundert  sehr  feinen  Pseudopodien.  Ich  werde  diese 
merkwürdige  Erscheinung,  die  ich  übrigens  nur  bei  Kalkschwämmen 
fand  und  nach  der  ich  bei  andern  Schwämmen  vergeblich  suchte,  in 
nuMuer  Monographie  ausführlich  erörtern. 

Von  den  übrigen  Resultaten  meiner  Untersuchungen,  die  ebenfalls 
in  der  Monographie  der  Kalkschwämme  eingehend  geschildert  werden 
sollen ,  will  ich  schliesslich  nur  noch  das  miltheilen ,  dass  es  mir  ge- 
lungen ist,  das  natürliche  System,  d.  h.  den  Stammbaum 
der  K  a  1  k  s  c  h  w  ä  m  m  e  und  die  Entstehung  ihrer  Arten  in  einem  Maasse 
zu  erkennen  und  sicher  zu  stellen  ,  wie  es  bei  wenigen  andern  Grup- 
pen von  Organismen  möglich  sein  dürfte.  In  der  Thal  lässt  sich  bei 
diesen  merkwürdigen  Thieren  die  Genesis  der  Species  Schritt  für 
Schritt  verfolgen ,  und  die  Species-Unterscheidung  in  dem  gewöhn- 
lichen (dogmatischen)  Sinne  hört  hier  vollständig  auf.  Ich  hatte  daher 
schon  in  meinen  früheren  Mittheilungon  den  Satz  ausgesprochen:  »Die 
gan  ze  Na  turgesch  ich  te  der  Spongien  ist  eine  zusammen- 
hängende und  schlagende  Beweisführung  für  Darwin.« 
Seitdem  hat  auch  der  um  unsere  Spongienkenntnisse  so  hochverdiente 
Gratzer  Zoolog,  mein  Freund  Oskar  Schmidt,  in  seiner  letzten,  an 
interessanten  Ergebnissen  sehr  reichen  Arbeit ')  eine  Masse  von  neuen 
Beweisen  für  jenen  Satz  geliefert,  und  auf  Grund  dieser  Beweise  den 
Anfang  zu  einem  natürlichen  System  der  vereinigten  Kiesel-  und  Ilorn- 
schwämme  gemacht.  Da  diese  letzleren  viel  formenreicher  sind,  als 
die  Kalkschwämme,  so  ist  die  Aufgabe  hier  eine  viel  schwierigere.  Bei 
der  kleinen  und  wenig  differenzirten  Gruppe  der  Kalkschwämme  lässt 
sich  aber  das  natürliche  System  desshalb  so  ausgezeichnet  erkennen, 
weil  einerseits  man  den  Antheil ,  den  die  beiden  formbildenden  Kräfte, 
Vererbung  und  Anpassung,  an  der  Production  jeder  indivi- 
duellen Form  haben,  hier  mit  seltener  Sicherheil  beslinunen  kann,  und 


i)    Oskar  Schmiüt,    GiuiKl/üge   einer  Spongieii-I'auna   des  atlantisclien  Ge- 
liit'tcs.    Leipzig  1870. 


648  lernst  Haeckel, 

weil  anderseits  alle  erwünschten  Uebergangsformen  und  verbinden- 
den Zwischenstufen  zwischen  den  verschiedensten  Arten  der  kleinen 
Gruppe  zu  Gebote  stehen.  Meine  beiden  Reisen  nach  Norwegen  und 
Dalmatien  haben  mir  hierfür  ein  ausserordentlich  reiches  und  instruc- 
tives  Material  geliefert,  in  welchem  die  höchst  variablen  Individuen  der 
einzelnen  Species  nach  Hunderten  und  theilweise  nach  Tausenden  zäh- 
len, und  bezüglich  der  Formenübergänge  und  Umwandlungen  wirklich 
das  Erstaunlichste  zeigen 

Was  nun  das  natürliche  System  der  Kalkschwämme  selbst  be- 
trifft, so  musste  dasselbe  auf  ganz  neuen  Grundlagen  aufgerichtet  wer- 
den. Alle  bisherigen  Classificationsversuche  bei  den  Kalkschwämmen, 
insbesondere  diejenigen  von  Bowerbank,  Lieberkühn,  Oscar  Schmidt, 
Gray,  waren  künstliche.  Ebenso  ist  der  »Prodromus  eines  Systems  der 
Kalkschwämme ((,  den  ich  vor  zwei  .Tahren  gegeben  habe,  ganz  künst- 
lich, wie  ich  selbst  schon  damals  andeutete.  Das  natürliche  System 
der  Kalkschwämme,  wie  es  sich  als  letztes  Gesammtresultat  aus  meinen 
dreijährigen  Untersuchungen  ergiebt,  unterscheidet  zunächst  nach  der 
Bildung  des  Canalsystems  drei  Hauptgruppen  oder  Familien,  für  welche 
ich  die  Bezeichnungen  Ascones,  Leucones  und  Sycones  beibe- 
halten habe.  Diese  drei  Gruppen  habe  ich  bereits  unterschieden  in 
der,  dem  Prodromus  etc.  angehängten  »Synoptischen  Tabelle  über  die 
Familien  der  Kalkschwämme  mit  vorwiegender  Berücksichtigung  der 
Canalisationsverhältnisse«  (1.  c.  p.  253).  Die  dort  gebrauchten  Bezeich- 
nungen Microporeuta,  Cladoporeuta,  Orthoporeuta  drücken 
allerdings  die  unterscheidenden  Charaktere  der  drei  Familien  tref- 
fend aus ,  dürften  aber  bequemer  durch  die  angeführten  kürzeren  Be- 
zeichnungen ersetzt  werden ,  die  sich  theilw  eise  an  ältere  und  bereits 
eingebürgerte  Namen  anschliessen.  ') 

Die  erste  Familie  (Ascones  s.  Microporeuta e)  umfasst  alle 
Kalkschwämme,  deren  Magenwand  ganz  einfach  von  unbeständigen 
Hautporen  (Lochcanälen)  durchsetzt  wird.  Sie  entspricht  im  Gan- 
zen den  »Grantiae«  von  Lieberkühn,  den  »Leucosoleniae«  von 
Bowerbank.  Aeltere  bekannte  Arten  sind  Gran tia  (Leucosolenia) 
botryoides  und  G.  coriacea.     Sie  stehen  nächst  den  Hydroiden, 

Die  zweite  Familie  (Leucones  oder  Cladoporeutae)  begreift 
alle  Kalkschwämme ,  deren  Magenwand  ganz  unregelmässig  von  unge- 


1)  In  der  »synoptischen  Tabelle«  etc.  habe  ich  ausser  diesen  drei  Gruppen 
noch  eine  vierte  unter  dem  Namen  Aporeuta  angeführt,  welche  nur  das  eine 
Genus  Prosycum  umfassen  sollte.  Wie  ich  mich  jetzt  in  Dalmatien  überzeugt 
habe,  ist  Prosycum  nur  ein  vorübergehender  Zustand  von  Oly  n  thus,  nämlich 
ein  Ol yn  thus  mit  geschlossenen  Poren.    Das  Nähere  darüber  in  der  Monographie. 


Ueber  die  sexuelle  Fortpflanziiii»  iiiul  diis  iiiüiirliche  System  der  ScliwäinniP.       649 

raden  und  verästelten  Gefassen  (Astcanälen)  durchzogen  wird.  Sie 
entspricht  im  (lanzen  den  )>Granliac((  von  üskah  Schmidt,  d(!n  »Leu- 
coniae«  von  Bowerbank  (mit  InbegriU"  der  Loucogypsiae).  Aeltere 
bekannte  Arten  sind  Grantia  (Leuconia)  nivea  und  G.  sei i da. 

Die  dritte  Familie  (Sycones  oder  Orlhoporeutae)  enthält  a\ie 
Kalksclnvämme ,  deren  Magen  wand  ganz  regehnässig  von  geraden  und 
unverästelten  radialen  Gefassen  (Strahlcanä  len)  durchbohrt  wird. 
Sie  entspricht  im  Ganzen  den  oGrantiae«  von  Bowerkank,  den  Sy- 
cones von  Lieberkühn.  Aeltere  bekannte  Arten  sind  Grantia  (Sycon) 
ciliataundG.  compressa.    Sie  stehen  nächst  den  Corallen. 

Das  genealogische  Verhällniss  dieser  drei  Familien  liegt  ganz  klar 
vor  Augen.  DieAsconen  oder  Microporeuten ,  durch  einfache  Haut- 
poren ausgezeichnet,  bilden  die  Stammgruppe  der  Kalkschwämme,  aus 
<ler  sich  nach  zwei  verschiedenen  Richtungen  hin  die  beiden  anderen 
Gruppen  entwickelt  haben,  einerseits  die  Leuconen  oder  Cladopo- 
reuten  mit  ihren  verästelten  Canälen,  anderseits  die  Sycon en  oder 
Orthoporeuten  mit  ihren  radialen  Tuben.  Diese  beiden  divergirenden 
Gruppen  stehen  unter  sich  in  keinem  näheren  Zusammenhang. 

Für  die  Eintheilung  der  Kalkschwämme  in  Genera  und  Species 
sind  bisher  von  den  verschiedenen  Autoren  in  erster  Linie  theils  die 
Individualitäts-Verhällnisse  (1.  c.  p.  215,  252)  theils  die  Beschaffenheit 
der  Mundöffnung,  theils  die  äussere  Körperform  benutzt  worden. 
Alle  diese  Charaktere  sind  von  untergeordneter  und  secundärer  Bedeu- 
tung ,  weil  sie  in  hohem  Maasse  der  Abänderung  durch  Anpassung 
unterworfen  sind,  und  zwar  in  so  hohem  Maasse,  dass  nicht  allein  inner- 
halb eines  Genus ,  sondern  sogar  innerhalb  einer  Species  die  verschie- 
densten Extreme  und  dazwischen  die  vermittelnden  Uebergänge  be- 
züglich jener  Charaktere  auftreten  können.  Alle  hierauf  gegründete 
Classification  ist  daher  künstlich.  Als  einzig  natürliche  Basis  der  gene- 
rischcn  und  specifischen  Unterscheidung  hat  sich  die  Beschaffenheit 
der  mikroskopischen  Skelettheile  herausgestellt.  Die  Form  und  Zusam- 
mensetzung dieser  Nadeln  oder  Spicula  vererbt  sich  innerhalb  der 
Species  so  relativ  constant,  und  bietet  zugleich  allein  so  fesle, 
mathematisch  bestimmbare  Verhältnisse  dar,  dass  sie  für  die  natürliche 
Classification  der  Genera  .und  Species  von  höchster,  ja  von  allein 
maassgebender  Bedeutung  ist.  Ganz  naturgemäss  unterscheiden 
sich  die  Genera  nach  den  Ilauptformen  der  Nadeln  und  ihrer  Combi- 
nationsweise,  während  die  Species  durch  untergeordnete  GestaltdilVe- 
renzen  der  einzelnen  Ilauptformen  bestimmt  werden. 

Es  giebt  bei  den  Kalkschwämmen  nur  drei  verschiedene  Haupt- 
formen  Non   Spicula,    nämlich    1)   einfache  Nadeln    oder  Stabnadeln; 


650  Knist  Haeckel, 

2)  dreischenkelige  Nadeln  oder  Drei  strahier ;  3)  vierschenkelige  Nadeln 
oder  Vierstrahler,  i)  Jede  dieser  drei  Grundformen  bildet  entweder  für 
sich  allein  das  Skelet  der  Gattung ,  oder  in  Combination  mit  einer  oder 
mit  beiden  anderen  Grundformen.  Demnach  sind  im  Ganzen  sieben 
v«rschiedene  Skeletformen  mathematisch  möglich ,  und  alle  sieben  sind 
zugleich  in  der  Natur  verwirklicht:  1.  Skelet  bloss  aus  Stabnadeln 
gebildet.  2.  Skelet  bloss  aus  Dreislrahlern  gebildet.  3.  Skelet  bloss 
aus  Vierstrahlern  gebildet.  4.  Skelet  aus  Stabnadeln  und  Dreistrahlern 
zusammengesetzt.  5.  Skelet  aus  Stabnadeln  und  Vierstrahlern  zusam- 
mengesetzt. 6.  Skelet  aus  Dreistrahlern  und  Vierstrahlern  zusammen- 
gesetzt. 7.  Skelet  aus  Stabnadeln ,  Dreistrahlern  und  Vierstrahlern 
zusammengesetzt. 

Da  nun  diese  sieben  möglichen  Fälle  der  Skelet-Construction  in 
jeder  der  drei  Familien  der  Kalkschwämme  wirklich  vorkommen,  so 
ergeben  sich  im  Ganzen  für  das  natürliche  System  dieser  Thiere  ein- 
undzwanzig Gattungen ,  welche  durch  die  nachstehende  Tabelle  über- 
sichtlich werden.  Diese  21  Genera  entsprechen  in  keinem  einzigen 
Falle  vollständig  den  früher  unterschiedenen  Kalkschwammgattungen, 
welche  nach  gänzlich  verschiedenen  Principien  aufgestellt  wurden. 
Da  diese  letzteren  einen  wesentlich  verschiedenen  Inhalt  und  Umfang 
bezeichnen,  so  war  es  unumgänglich  noth wendig,  für  die  neuen  Gat- 
tungsbegriffe des  natürlichen  Systems  neue  Bezeichnungen  aufzustellen. 
Ich  habe  diese  Bezeichnungen ,  indem  ich  den  drei  Namenwurzeln  der 
drei  Familien  correspondirende  Gattungsendigungen  anhängte,  so  ge- 
wählt, dass  sie  möglichst  leicht  im  Gedächtniss  zu  behalten  sind  und 
übersichtlich  die  Analogien  der  drei  Gruppen  darstellen.  Die  ausführ- 
liche Begründung  dieses  natürlichen  Systems  wird  meine  Monographie 
der  Kalkschwämme  geben. 


1)  In  dem  Aufsatz  »Ueber  den  Organismus  der  Schwämme«  etc.  habe  ich 
ausser  diesen  drei  Grundformen  noch  eine  vierte  angeführt,  nämlich  zwei- 
schenkelige  (gabelförmige  oder  hackenförmige)  Nadeln  (p.  229).  Diese  bilden 
jedoch ,  wie  ich  mich  jetzt  überzeugt  habe ,  nur  eine  untergeordnete  Modification 
der  einfachen  (cyiindrischen  oder  spindelförmigen)  Nadeln. 


Ueber  die  sfixiielle  Foilpdanziing  und  das  iiiilüiliche  System  der  Schwämme.       05 1 


Synopsis  der  Cleuera 

in  den  drei  natUiliciien  Familien  der  Kalkschwämme. 


Skelet-Structur 

Grantien  mit 
Loch-Canälen 

Ascones 

(iraiitien  mit 
Ast-Canälen 

Leucones 

GraiilioM   mit 
Strahl-Canalen 

Sycones 

Spicula  alle  einfach 

Ascyssa 

Leucyssa 

Sycyssa 

Spicula  alle  dreisfrahlig 

Ascetta 

Leucetta 

Sycetta 

Spicula  alle  vierstrahlig 

Ascilla 

Leucilla 

Sycilla 

Spicula   theils   einfach,    theils 
dreistrahlig. 

Ascortis 

Leucortis 

Sycortis 

Spicula   theils  einfach,    theils 
vierstrahlig 

Asculmis 

Leuculmis 

Syculmis 

Spicula    theils'  [  dreistrahlig, 
theils  vierstrahlig 

Ascaltis 

Leucaltis 

Sycaltis 

Spicula    theils    einfach,    theils 
dreistrahlig,'  theils  vierstrahlig. 

Ascandra 

Leucandra 

Sycandra 

Kleine  Mittheilung. 


An  die  Redaktion  der  .lenaischen  Zeitschrift  für  Medizin  und  Naturwissenschaften. 

Herr  A.  Kölliker  hat  in  einem  Brief  vom  25.  April  d.  J.,  welchen  ich  anlie- 
gend zurücksende,  Reklamation  wegen  des  Ausdrucks  Erfindung  erhoben,  welchen 
ich  gegen  ihn  gebraucht  habe. 

Ich  habe  auf  seine  Reklamation  Folgendes  zu  erwidern. 

Der  Ausdruck  Erfindung  wird  bei  amtlichen  und  halbamtlichen  Berichtigungen 
häuOg  und  zwar  dann  gebraucht,  wenn  es  sich  darum  handelt,  nicht  nur  die  that- 
sächliche  Grundlosigkeit  einer  Angabe  zu  konstatiren,  sondern  dem  Autor  zugleich 
bemerklich  zu  machen,  dass  eine  Information  über  den  wahren  Sachverhalt  für  ihn 
verhältnissmässig  leicht  gewesen  wäre. 

Wird  der  Ausdruck  für  sich,  ohne  beigesetztes  Adjektiv  wie  geflissentlich  oder 
absichtlich,  gebraucht,  so  wird  vorausgesetzt,  dass  der  betreffende  Autor  aus  Man- 
gel an  Vorsicht,  nicht  aber  aus  einer  besonderen  Absicht  die  unbegründete  Angabe 
gemacht  habe. 

In  diesem  Sinne  und  in  dieser  Voraussetzung  habe  ich  die  Angaben  des  Herrn 
Kölliker  über  das  Verhallen  der  Schilddrüse  beim  Rind  und  dem  Menschen  in 
einer  sehr  frühen  Entwicklungsperiode  als  eine  Erfindung  bezeichnet,  weil  ich  es 
für  geboten  hielt,  gegenüber  den  Herren  Arnold  und  Rathkk,  welche  mit  den  un- 
vollkommenen Hülfsmitteln  einer  früheren  Zeit  das,  was  möglich  war,  geleistet 
haben,  Herrn  Kölliker  es  zu  markiren,  dass  seine  Hülfsmittel  und  die  Fortschritte 
in  den  Methoden  ihm  die  Information  über  den  wahren  Thatbestand  verhältniss- 
mässig leicht  gemacht  hätten. 

Ich  glaube,  dass  diese  Erklärung  geeignet  ist,  die  Reklamation  des  Herrn  Köl- 
liker zu  erledigen.  Zu  einer  Zurücknahme  des  betreffenden  Satzes  sehe  ich  mich 
nicht  veranlasst. 

Ich  richte  an  die  Redaktion  der  Jenaischen  Zeitschrift  die  Bitte,  diese  Erklä- 
rung, von  welcher  ich  eine  gleichlautende  Abschrift  zu  den  Aklen  beilege,  zur 
Kenntniss  des  Herrn  A.  Kölliker  zu  bringen  und  denselben  zugleich  zu  benachrichti- 
gen, dass  ich  gegen  eine  Veröffentlichung  seines  Briefes  und  meiner  Erklärung  im 
nächsten  Heft  der  Jenaischen  Zeitschrift,  falls  er  dieselbe  verlangt,  Nichts  einzu- 
wenden habe. 

Jena,   6.  Mai  1871. 

W.  Müller. 


Druck  von  Breitkopf  und  Härte!  in  Leipzig. 


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Jen at sehe  Zeitschrift,  8d.  VI. 


Taf  III. 


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Jenaische  Zeitschrifl    Bd  VI 


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Taf.XI. 


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Jenaische  Zeitschrift  Bd  VI. 


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Jenaische  ZeitschriTt,  Bd.  l^/. 


Taf.XIII. 


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