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^ibrarn of tbc ßliiscum
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COMPARAin E ZOÖLOGY,
AT HARVARD COLLEGE, f AMBRIDf.E, HASS.
jJ^ountietJ 1)1) pvibate subscrfption. fn 1861.
>'\_'^_'W->_'-,.'V,"^^v,
Deposited by ALEX. AGASSIZ.
No. (0(0 <A^
Ci^i^-^^ UJ 4/^^.6^
Jenaische Zeitschrift
für
MEDICIN
ixnd
NATURWISSENSCHAFT
herausgegeben
von der
medicinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft
zu Jena.
Sechster Band.
JVüt fünfzehn Tafeln.
Leipzig,
Verlag von Wilhelm Engelmann.
"1871.
Inhalt.
Seite
Ha e ekel, Ernst, Die Catallacten, eine neue Protisten-Gruppe. (Mit Taf. I.) 1
Nachträge zur Monographie der Moneren. (Mit Taf. II.) 23
Geuther,A., und Free lieh, O., Ueber die flüchtigen Säuren des Crotonöls 45
Müller, Fritz, Bruchstücke zur Naturgeschichte der Bopyriden. (Mit Taf.
III und IV.) 53
Ueber den Trimorphismus der Pontederien 74
Michaelis, Dr. A., Ueber die Einwirkung von Ammoniak auf Thionylchlo-
rür und Selenylchlorür 79
Ueber die Einwirkung von Phosphorchlorür auf Selenigsäureanhydrid
und Selenylchlorür 93
Dohrn, Dr. Anton, Geschichte des Krebsstammes, nach embryologisehen,
anatomischen und palaeontologischen Quellen 96
Gegenbaur, Carl, Beiträge zur Kenntniss des Beckens der Vögel. (Mit
Taf. V. VI. Vn. und 5 Holzschnitten) 157
Geuther, A., Ueber den dreibasischen Essigsäure-Aether 221
Ueber die Chlorsubstitutionsproducte des Chloräthyls 228
Michaelis, Dr. A., Ueber Schwefelsäurechloride 235
Ueber die Einwirkung von Phosphorchlorür auf Anhydride und
Chloride 239
Geuther, A. und Michaelis, A., Ueber die Quantivalenz des Phosphors
und über die Einwirkung von Phosphorchlorür und Brom auf Benzoe-
säure 242
Strasburger, Dr. Eduard, Die Bestäubung der Gymnospermen. (Mit
Taf. VIII) 249
Abbe, E., Ueber die Bestimmung der Lichtstärke optischer Instrumente.
(Mit 6 Holzschnitten) 263
Michaelis , Dr. A., Ueber Schwefelsäurechloride 292
Ueber die Einwirkung von Phosphorbromchlorid auf Schwefligsäure-
Anhydrit 296
Erk, Dr. Carl, Ueber die Ceritmetalle 299
IV Inhalt.
Seite
Müller, Wilhelm, Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena.
Erste Reihe. (Mit Taf. IX, X, XI u. XII) 327
Gegenbaur, Carl, Ueber die Kopfnerven von Hexanchus und ihr Ver-
hältniss zur ,, Wirbeltheorie" des Schädels. (Mit Taf. XIII) 497
Geuther, A., Ueber die Aethyldiacetsäure und einige Abkömmlinge der-
selben 560
Dohrn, Dr. Anton, Untersuchungen über Bau und Entwickelung der
Arthropoden. (Mit Taf. XIV u. XV) 580
Haeckel, Ernst, Ueber die sexuelle Fortpflanzung und das natürliche System
der Schwämme 642
Kleinere Mittheilungen.
stapf, Dr. E., Eine gute Methode zur Darstellung des dreibasischen Ameisensäureäthers .32.i
Müller, W., An die Redaction der Jenaischen Zeitschrift etc 652
Die Catallaeteii,
eine neuo P ro listen -Gru|)pe ,
Ernst Haeckel.
(Hierzu Taf. I.)
1. Entwickelungszustände von Magosphaera planula.
Die Enl\vickelun£;sgeschichte , der »wahre Lichttriiger für alle Unter-
suchungen über organische Körper«, lässt uns ihren unschätzbaren
Werth nirgends lebhafter empfinden , als bei den wenig bekannten
niederslenOrganisalions-Forincui, über deren wahre Stellung im System
uns die Anatomie allein keinen Aufschluss zu geben vermag. Nirgends
so wie hier tritt uns die Wahrheit entgegen , dass alle Systematik ohne
die Leuchte der Entwickelungsgeschichle ein unsicheres Tappen im
Dunkeln ist. Nur indem wir die ganze Formenreihe überschauen,
welche der Organismus während seiner individuellen Existenz durch-
läuft, vermögen wir über seine Yerwantltschaiis-Veihältnisse und seine
»Stellung in der Natur« Klarheit und Gewissheit zu gewinnen. Einen
neuen Beleg für die Richtigkeit dieses Grundsatzes liefert der nach-
stehend beschriebene Organismus, welcher eine neue selbstständige
Gruppe in dem neutralen, zwischen Thier- und Pflanzen-Reich in der
Mitte stehenden Protistenreiche zu vertreten scheint. Isolirt für sich
betrachtet würde man die verschiedenen Formzustände desselben bald
als einzellige Alge, bald als Volvocine, bald als bewimpertes Infusorium,
bald als Amoebe angesprochen haben. Im Zusammenhange der Ent-
wickelungsgeschichte dagegen zeigen sich alle diese verschiedenen
Formen als Glieder einer Kette, welche aufs Neue den innigem und nahen
verwandlsehaftlichen Zusammenhang jener niedersten Organismen-
Gruppen bestätigt.
Bd. VI. 1. 'I
4 Ernst Haeckel,
kommen structuilos. Doch kann man bei sehr starker Vergrösserung
• (700) sehr zarte concentrische Kreislinien in Herseiben wahrnehmen,
die offenbar dem schichtenweisen Absätze der ausgeschwitzten Cyste
entsprechen. Beim Druck auf das Deckglas äussert dieselbe ziemlich
starken Widerstand, und berstet bei steigendem Druck an derjenigen
Stelle, an welcher die Kapsel der Oberlläche des Gladophora-Astes an-
geheftet ist (Fig. 1 a). Hier ist nämlich die Kapselwand verdünnt, indem
ein kleiner kegelförmiger Fortsatz des Protoplasma eine Strecke weit
durch sie hindurchgeht. In einzelnen Fällen (aber nicht immei) reicht
derselbe bis zur Membran der Gonfervenzelle, und bezeichnet hier die-
jenige Stelle, wo sich der Protoplasma -Leib der Amoebe während der
Cysten -Secretion angeheftet erhielt. In chemischer Beziehung zeichnet
sich die Kapsel, wie andere ähnliche Zellhäute, durch bedeutende
Widerstandskraft gegen starke Lösungsmittel, (sowohl Säuren als Alka-
lien) aus. Durch .Tod wird sie schwach gelb , durch Carmin nicht ge-
färbt. Jod und Schwefelsäure bewirkt keine blaue Färbung. Verdünnte
Säuren zeigen keine Einwirkung.
Das Protoplasma (Fig. \ p) der eingekapselten Magosphaera-
Zelle, oder der Eidotter, wenn man es so nennen will, ist schwach gelb-
lich gefärbt, übrigens ganz klar und durchsichtig, so dass der in seinem
Centrum befindliche Zellenkern (n) immer ganz deutlich durchscheint.
Nur rings um diesen letzteren sind dunkle stark lichtbrechende Körner
in verschiedener Menge und Anordnung angehäuft. In einigen Fällen war
ihre Quantität so beträchtlich , dass sie eine dicke dunkle Körnerzone
um den Kern bildeten , welche den letzteren fast verhüllte und unge-
fähr die innere Hälfte der Proloplasmakugel einnahm. In anderen Fällen
dagegen bildeten sie nur eine sehr dünne centrale Schicht, welche die
Oberfläche des Zellenkerns kaum im Zusammenhang bedeckte. Ge-
wöhnlich, aber nicht immer, strahlten von dieser Körnerschicht eine
Anzahl von körnigen Streifen in radialer Richtung durch die Protoplasma-
kugel hindurch, ohne jedoch deren Oberfläche zu erreichen [g). Die
Zahl dieser granulösen Radien betrug vielleicht zwischen 20 und 50.
Bewegungen der Körnchen habe ich in denselben nicht wahrnehmen
können. Die Granula selbst sind sehr klein, von 0,002 bis weit unter
0,001 Mm. hinab. Ihrer starken Lichtbrechung nach scheinen sie Fett-
körnchen zu sein ; doch habe ich eine genauere chemische Untersuchung
versäumt. Wenn man die Kapseln durch Druck sprengt, quillt das
Protoplasma mit lappigen Contouren aus der Rissöffnung der Kaj)sel
hervor und lässt dabei eine ziemlich bedeutende Gonsistenz gewahren.
Verfolgt man dann anhaltend die Form der hervorgequollenen Masse, so
geUngt es, in einigen Fällen, langsame Veränderungen der lappigen
Die riitiilliictcii. 5
Contoiii'ou walii'zuneluiKMi , welche vvolil iiuT iniiuchuidc (^ontnictioiicn
des Protoplasma zurückzuführen sind. Wenn man hei st^hr sUirkcr
Vergrösseruni; (700 — 1000) das Protoplasma scliarl' ins Auü;e fasst, so
ylaul)t man eine fein i^ranuiöseBcschalVenlKMt desselben wahrzuneiimen.
Es sieht aus, als oh das scheinbar ganz structurlosc Protoplasma aus
äusserst feinen, blassen kugeligen Körnern von nahezu gleicher Grösse
(unter 0,0005 Mm.) zusanunongesetzl sei, iirul als ob diese kleinen
Kügelchen durch eine minimale Quantität c^iner diderenlen Zwischen-
substanz n)il einandiM' verklebt S(Men. Ind(vss(>n lassen die chemischen
Reactionen, welche die gewöhnlichen Eigenschaften des Protoplasma an
der ganzen kugeligen Masse ollenbaren, jene gianulösc Beschallenheit
nicht schärfer hervortreten. Durch (^armin wird die ganze Pi'otoplasma-
kugcl gleichmässig roth gefärbt (heller als der Kern) ; durch Jod wird
sie braungelb, durch Salpetersäure gelb. In verdünnter Essigsäure
quillt sie stark auf, ohne sich zu lösen. Concentrirte Mineialsäuren be-
wirken eine starke körnige Trübung. Concentrirte Alkalien lösen sie
vollständig auf.
DerNucleus der cncystirten Magosphaera (Fig. In) gleicht ganz
dem gewöhnlichen Keimbläschen des Thier- Eies. Er stellt eine klai'e,
structurlosc, helle Kugel von 0,02 Mm. Durchmesser dar. Derselbe
liegt meistens ganz in der Mitte der kugeligen Zelle, bisweilen jedoch
auch excentrisch, und dann gewöhnlich der, der Anheftungsstelle ent-
gegengesetzten Peripherie der Zelle genähert. Gegen Druck zeigt er
eine bedeutende Resistenz und lässt die scheinbare Bläschen -Natur
nicht überzeugend wahrnehmen. Es gelingt nicht, eine besondere
Membran an dem Nucleus zu unterscheiden. Durch verdünnte Essig-
säure und ebenso durch verdünnte Mineralsäuren wird ein granulöser
Niederschlag in demselben bew irkt und sein Lichtbrechungs-Veiniögen
vcM'stärkt. In conccntrirten Alkalien löst er sich rasch auf. Carmin färbt
den Kern dunkelroth, Jod braun, Salpetersäure gelb.
In der Mitte des Nucleus liegt der ebenfalls kugelige Nucleolus
(l'ig. I c) von 0,003 Mm. Durchmesser. Er ist stark lichtbrechend und
umschliesst ein noch kleineres, dunkles centrales Kügelchen. Der
Durchmesser dieses Nucleolinus oder Kernpunktes beträgt etwa ein
Drittel von demjenigen des Nucleolus, also ungefähr 0,001 Mm. In
chemischer Beziehung scheinen sich Nucleolus und Nucleolinus wenig
verschieden von dem Nucleus zu verhalten.
Indem ich den einzelligen Ruhezustand der Magosphaera als Ei
und seine nachfolgende Entwickehuig als Furchung bezeichne, will
ich damit nur die völlige morphologische Uebereinstimniung be-
zeichnen , welche zwischen demselben und einem gewöhnlichen , der
6 Ernst Haeckel,
»Furchung« unterliegenden thierischen Ei besteht. In der That wird
Jedermann beim Anblick der in Fig. 1 — 6 dargestellten Formen glauben,
dass hier eine gewöhnliche Eifurchung vorliege. Es muss aber aus-
drücklich hervorgehoben werden, dass diese Aehnlichkeit nur schein-
bar ist. Denn es fehlt der encyslirlen Magosphaera-Zelle der eigent-
liche Charakter des Eies, welcher in dem physiologischen Kriterium
der BefruchtungsbedUrftigkeit besteht (Gen. Morphol. Vol. II,
p. 36). Richtiger würde daher die encystirtc Zelle der Magosphaera als
Spore zu bezeichnen sein.
3. Magosphaera in der Fortpflanzung.
( F LI r c li u n i; s - S t a d i u m ) . Fig. 2—6.
Die Ontogenie der encystirten einzelligen Magosphaera liess sich an
den zahlreichen , auf Cladophora aufsitzenden Individuen sehr leicht
verfolgen, da dieselben verschiedene Stufen der individuellen Entwicke-
lung neben einander zeigten (Fig. 2 — 6) . Der Entwickelungsgang ist
ganz derselbe, wie bei der gewöhnlichen totalen Eifurchung. Zunächst
zerfällt der Kern der encystirten Zelle (Fig. 1 n) , durch Selbsttheilung
in zwei Kerne, wahischcinlich erst nachdem bereits die ilalbirung des
Nucleolus und des Nucleolinus vorausgegangen ist. Doch liess sich
dies nicht dircct beobachten. Eben so wenig liess sich als Vorspiel der
beginnenden Entwickelung ein Verschwinden des ursprünglichen
Zellenkerns und die Neubildung des sich theilenden Kernes wahr-
nehmen. Ich habe schon bei einer anderen Gelegenheit bemerkt, dass
dieses angebliche »Verschwinden des Keimbläschens und sein Ersatz
durch einen neugebildelen Eikern«, wie es immer noch von vielen Be-
obachtern der thierischen Ontogenie angenommen wird , jedenfalls ge-
nauerer Bestätigung bedürftig ist. In vielen Fällen findet dasselbe ent-
schieden nicht statt, und die Kerne der »Furchungskugeln« sind directe
Abkömmlinge des primitiven Kerns der Eizelle. Wenn jener Vorgang
aber wirkhch in anderen Fällen stattfinden sollte (wie es in der That
wahrscheinlich ist) , so würde derselbe von grösster phylogenetischer
Bedeutung sein, insofern er als »Rückschlag der kernhaltigen Eizelle in
das kernlose Cylodon-Stadium eines einfachen Moneres« zu deuten sein
dürfte. Der Beginn der Ontogenie würde dann die primitive Phylogenie
genau recapituliren , indem das sich entwickelnde Ei zunächst durch
den Verlust seines Kernes auf die Urform des autogonen Moneres, auf
den Anfang der organischen »Schöpfung« zurückginge.
Die Dotterhaut oder Zellenmembran , von welcher die encystirtc
Magosphaera-Zelle umschlossen ist, bleibt sowohl von der ersten Hai-
Die ratiiHactPii. 7
birung derselben, als von allen i()li;t'n(l('n l'lieilunys- Processen i-anz
unberührt. Wiihi'end der b«>i;inn(>nden eisten TheihinL:; der r)otlerkui;el
nuiss mit der (^onlraelion zui^leieh eine Verdielituni; der IMoloplasnia^
Substanz einhergchon , in Folge deren klare wässerige Flüssigkeit aus
ihr ausgepresst svird und sieh in dcMnjenigen Theile der Cysten -Hohle
ansammelt, welcher nicht von den beiden ersten »Furchungskugeln «
eingenommen wird. Diese beiden letzteren (Fig. 2) haben einen Duich-
messer von ungefähr 0,0'/ Mm. Ihr Protoplasma ist eben so klar und
diuehsichlig, wie das der j)rinutiven Eizelle. J)ie dunkeln Körnehen,
welche den Kern der letzteren in einer Schicht umhüllten , haben sich
bei dessen Theilung ebenfalls in zwei Gruppen getrennt, und um-
schliessen nun wiederum in einer dünnen Schicht die Kerne der beiden
ersten Furehungszellen, in ratlialen lleihen von der Oberfläche der
Kerne in das Protoplasma hinein ausstrahlend. Die excenlrischen Kerne
der beiden Zellen, welche 0,01 ;j Mm. Durchmesser besitzen, entfernen
sich nach deren erfolgter Ti'cnnung, gleichsam als ol) sie sich abstiessen,
weil von einander, so dass sie an entgegengesetzte Seilen der Zellen-
peripherie zu liegen kommen.
Die eben geschilderten Verhältnisse, welche bei dem Zerfall der
primitiven Magosphaera- Zelle in die beiden ersten Tochlerzellen oder
Furchungskugeln zu l)e()bachlen sind, wiederholen sich nun bei Jeder
folgenden Theilung dieser letzteren. Immer gehl, wie gewöhnlich, die
Theilung des Kerns der Theilung der Zelle vorher, und ebenso geht
wahrscheinlich stets derH;ill)iiung desNucleus diejenige des Nucleolus,
und dieser letzteren wiederum die Theilung des Nucleolinus voraus.
So zerfällt nun, ganz wie bei der gewöhnlichen regulären und totalen
Furchung, jede der beiden ersten Furchungskugeln (Fig. 2) wiederum
in zwei Tochterzellen (Fig. 3). Diese vier Kugeln haben einen Durch-
messer von ungefähr 0,034 Mm. , ihre Kerne von 0,01 Mm. Aus den
vier Furchungskugeln werden acht (Fig. 4). In der Lagerung lassen diese
letzleren keine bestimmte Regelmässigkeil erkennen. Der Durchmesser
jeder der achlZellen beträgt 0,025 Mm., derjenige ihrer Kerne 0,008 Mm.
Aus den acht Zellen werden weiterhin sechzehn (Fig. 5). Jetzt beträgt
der Durchmesser jeder Furchungskugel 0.022 Mm., derjenige ihres Kerns
0,007 Mm. Auch diese Zellen haben noch ganz die primitive Kugel-
form beibehalten und die dunkeln Körnchen strahlen noch von der den
Nucleus umgebenden Schicht in das klare Protoplasma hinein. Erst
bei der nun folgenden fünften Furchung, durch welche die sechzehn
Furchungskugeln in zweiunddreissig zerfallen, geht die bisher erhaltene
Kugelfoiin derselben verloren, indem ihr Volum sich nicht in dem bis-
her eingehaltenen Maasse vermindert. Vielmehr beginnen die kugeligen
8 Ernst Hiieckel,
Zellen nun, sich durch gegenseitigen Druck polygonal abzuplatten
(Fig. 6). Ihr Durchmesser beträgt im Mittel ungefähr 0,02 Mm. und
sinkt nicht unter 0,018 Mm. hinab. Der Durchmesser der Kerne ver-
ringert sich nur sehr wenig, und geht nicht unter 0,006 Mm. hinunter.
Hieraus geht hervor, dass in diesem Stadium die dichter sich zusammen-
drängenden und verhältnissmässig grösseren Zellen wiederum eine ge-
wisse Quantität von der vorher ausgepressten intercellularen Flüssig-
keit in ihren Protoplasma-Leib aufsaugen müssen.
Mit dem fünften Furchungssladium, durch welches die Magosphaera
in 32 Tochterzellen zerfällt, ist der Theilungsprocess derselben voll-
endet. Bei der grossen Rcgelmässigkeit, mit welcher derselbe erfolgt
und l)ei der Klarheil, mit welcher er sich übersehen lässt, ist es viel-
leicht nicht ohne Interesse, die Progression, in welcher mit fortschreiten-
der Theilung die Grösse der Zellen und ihrer Kerne abnimmt, durch
die nachstehende Tabelle zu veranschaulichen .
Stadium der
Zahl der
Durchmesser
Durchmesser
Furchung.
Furchungszelleu.
der Zellen.
der Kerne.
Ungetheül
Einfache Zelle
0,060
0,020
I. Furchung
Zwei Zellen
0,040
0,013
II. Furchung
Vier Zellen
0,034
0,010
III. Fuichung
Acht Zellen
0,025
0,008
IV. Furchung
16 Zellen
0,022
0,007
V. Furchung
32 Zellen
0,020
0,006
Nach vollendeter Furchung verlieren die 32 Zellen , wie schon be-
merkt, ihre reguläre Kugelgestalt. Sie quellen etwas auf, platten sich
durch gegenseitigen Druck unregclmässig polyedrisch ab, und beginnen
zugleich, noch innerhalb derCystenhülle, amoeboide Bewegungen
auszuführen. Die bisher glatte Oberfläche der Furchungskugeln wird
uneben und höckerig. An einzelnen Stellen treten Gruppen von kleinen,
stumpfen, unregelmässigen Höckern auf, ähnhch den Pseudopodien,
welche sich bei Amoeben zu bilden beginnen. (Fig. 6.) Oft entstehen
kleine grubenartige Vertiefungen, welche rings von einem Kranze solcher
Höckerchen umgeben sind. Langsam verändern dieselben ihie Form
und Grösse, werden nach einiger Zeit wieder eingezogen, und in ihrer
Nachbarschaft, oder an einer anderen Stelle der Oberfläche treten neue
Pseudopodien auL Der kugelige Haufen von dicht zusanm)engedrängten
amoeboiden Zellen sieht jetzt sehr ähnlich dem gefurchten Ei einer
Siphonophore. In der Thal zeigen die Furchungskugeln dieser Hydro-
medusen, wie ich bei Physophora, Crystallodes und Athorybia
nachgewiesen habe, amoebenartige Bewegungen und Formveränderun-
Die ralalliictfii. 9
gen, welche denen unserer Ma£^osphaoi;i sehr iilinlich sind '). Nur sind
die vvechsehiden, lini;erf(ii'nii!j;en lM)rls;itZ(' der Zellenoljerdiiche, welche
man wie bei tlen Anioel)en wii kiicli als Pseudopodien bezeichnen kann,
bei Magosphaeia zahlreicher und liinger. Auch sind die Bewegungen
hier schneller und auffallender, als ich sie — soweit ich niich dessen
erinnern kann — bei den Siphonophoren gesehen habe.
Nachdem das wechselnde Spiel der Pseudopodien einige Zeit ge-
dauert hat (womit auch Ortsveränderungen der Zellen innerhalb der
Cyste verbunden sind) werden die stumpfen, kurzen und dicken Fort-
sätze allmählich spitzer, länger und dünner. Ihre Bewegungen werden
lebhafter. Einzelne, fast fadenförmig gewordene Pseudopodien be-
ginnen sich schlängelnd zu krümmen und hin und her zu schwingen.
Die am ocboidcn Pseudopodien gehen in flimmernde C i licn
über. Aus der amoebenartigen Zelle wird eine echte Winiperzelle.
Ich habe schon in den »Beiträgen zur Plastidenthcorie« diesen öcbcr-
gang von Pseudopodien in Cilien und die daraus sich ergebende Iden-
tität der amocboiden Protoplasma- Bewegung und der
Flimmerbewegung hinreichend erörtert. Die Cilien der Wimper-
zellen (das Epithelium ciliatum) und ebenso die einzelnen Geisseifäden
derFlagellaten (und des Epithelium flagellatum) sind nichts Anderes, als
amo(>boide Pseudopodien , die sich von der gewöhnlichen Form dieser
letzteren durch längere und dünnere Gestalt, sowie durch grössere
Schnelligkeit und Regelmässigkeit der Bewegung auszeichnen. Bei den
Kalkschwän)men habe ich, wie dort bemerkt (bei Leucosole nia und
Olynthus) sogar an den noch zusammenhängenden Flimmerepithelicn
die Flimmerbewegung w iedcr in amoeboide Bewegung sich zurück ver-
wandeln gesehen. Der regelmässige und schnelle Rhythmus, den wir
an den) Flimmercpithel der Wirbelthierc und überhaupt der höheren
Thiere gewohnt sind, verliert sich allmählich bei niederen Organismen,
und lässt hier oft alle Uebergänge zu der gewöhnlich viel trägeren und
unrcgelmässigercn Bewegung der Pseudopodien amoeboider Zellen
wahrnehmen. Die Flinuncrbewegung (sowohl die Gcissclbcwegung der
flagellaten Piastiden, als die Wimperbewegung der ciliaten Piastiden)
ist denmach nur als eine niodideirte und höher difleienzirte amoeboide
Protoplasma- Bewegung anzusehen. Bei den Wimperz(^llen der Mago-
sphaera lässl sich dies eben so deutlich nachweisen, wie bei den
Geisseizellen der Kalkschwämme.
Der kugelige Zellenhaufen der Magosphaera, dessen Oberfläche sich
1) ll.XECKEL , Entwickclungsgoschiclite der Siphonophoren. Utrecht ISfiO.
Taf. VI, Fig. 36. Tiif. XIV, Vic. 93.
10 Ernst Haeckel,
auf diese Weise mitCilien bedeckt hat, beginnt mittelst derselben schon
innerhalb seiner Cyste oder Eihülle langsam zu rotiren. Dann wird
diese letztere durchbrochen, vielleicht in Folge dieser Bewegung selbst,
und die bewimperte Kugel schwimmt nun mittelst ihres Cilien-Kleides
langsam im Wasser umher. Der Durchbruch der Cyste wurde nicht
direct beobachtet. Vielmehr fand ich einzelne frei umher schwimmende,
mit Cilien bedeckte Kugeln nach einigen Stunden in dem Glasschälchen
mit Seewasser, in welches ich Cladophora - Aeste mit ansitzenden ge-
furchten Magosphaera -Eiern hinein gelegt hatte. Aber schon vorher
halle ich dieselben bewimperten Zellenkugeln einzeln in dem pelagischen
Mulder gefunden, den ich mit dem feinen Netze von der glatten Meeres-
oberflache bei Gisoc (in dem Canal zwischen dieser und der östlich
gegenüberliegenden Insel) geschöpft halte. Sie wälzten sich hier lang-
sam zwischen den zahllosen Peridinien und Diatomeen umher, welche
neben vielen Nauplius- und Zoea- Krebsen die Ilaupimasse des pe-
lagischen Mulders bildeten.
4. Magosphaera als vielzellige Wimperkugel.
( V o I V o c i n e n - S t <i d i 11 m ) . Fig. 7, 8.
Die bewimperten vielzelligen Kugeln , welche ich zuerst im pe-
lagischen Mulder auffand, ohne von ihrem Zusammenhang mit den eben
beschriebenen encystirten Formen zu wissen , hielt ich anfänglich für
coloniebildende Flagellaten aus der Volvocinen- Gruppe. In der That
steht die von Ehrenberg als Synura beschriebene Volvocine der
Magosphaera in diesem Zustande so nahe, dass man beide Genera
ohne Weiteres vereinigen könnte, wenn ihre Entwickclung überein-
stimmte. Ehrenberg giebt von Synura in dem grossen Infusorien-
Werke folgende Charakteristik: »Animal e familia Volvocinoruni , ocello
deslitutum , cauda filiformi, loricae fundo seu in polypariis centro
affixum« (1. c. p. 460). Von der einzigen beobachteten Art (Synura
uvella) giebt er folgende Diagnose : »S. corpusculis oblongis flavican-
tibus, e lorica exserendis, cauda exlensa corpore triplo longiore; poly-
pariis moriformibus « Dann wird noch hinzugefügt: »Der gemeinsame
Panzer der Gesellschaftsform bildet eine Gallertkugel , welche so viel
offene Zellen hat, als Einzelthiere da sind. Aus diesen Zellen können
die Thierchen sich lang hervorstrecken, indem sie mit einem sehr feinen,
schwanzarligen, dehnbaren Anhange im Centrum der Kugel, oder dem
Grunde ihrer Zelle angeheftet bleiben , geradeso wie Floscularia oder
Conochilus u. s. w, derRäderlhiere. Als Bewegungsorgan glaubte
ich mehrere Wimpern am Munde der Einzelth ierchen
Die Catallacleii. 1 1
d i r e c t z u e r k e n II «' n ; doch verniiithete ich diese Wirkung von einem
einfnchcnHüssol. Von Krn;iliriiii!j;sor!4iin(Mi wurde nichts unlcrschicdcn.
Die gell)licho Farbe habe ich dem Kierslock (Nucleus ?) zui^eschrieben,
welcher zuwcIUmi, wie bei Syncrypla, zweilhcilig erschien. Andere
Organe wurden nichlklar, weil die Thierchen sehr durchsichlij; waren ') .«
hn Ganzen passl diese Beschreibung (abgesehen von der uniich-
ligen Deutung der Theih^) ganz gut auf unsere Magosphaeia. Auch die
(irösse der Flinunerkugehi , welche KiinimBKRG auf '/24 — Vn;"' Um'i'h-
messer angiebt, slinunt ziemlich. Der Durchmesser der freischwinunen-
dcn Magosphärakugeln l)(>lrägl im Mittel 0,07 Mn). (ungefähr = '/üo'")-
Dagegen sind die einzelnen Zellen der letzteren beinahe doppelt so gross.
Die ganze Länge der Zellen von Magosphaera, wie sie in der Kugel ver-
einigtsind, beträgt 0,0:i;)Mm., wovon nur 0,005 Mm. auf den «Schwanz«,
0 03 Mm. auf den eigentlichen »Leib« kommen. Bei Ehrenberg's S y n ura
uvella dagegen ist der Leib nur halb so lang ('Vy'" ungefähr =
0,015 Mm.) ; der Schwanz aber ist drei Mal so lang als der Leib. Auch
ist die Zahl der zu einer Kugel vereinigten Zellen viel grösser, und
Ehrenberg sagt ausdrücklich : »Es gab kleinere und grössere, aus vielen
Individuen bestehende Kugeln, und letztere waren offenbar aus ersteren
so entsUmden, dass die kleinen Einzelthiere sich durch Längstheilung
vermehrt hatten , ohne den äusseren Mantel mitzutheilen , was dem
Charakter der Volvocinen gemäss ist.« Von einer solchen Thcilung
konnte ich bei Magosphaera Nichts wahrnehmen. Indessen mag es wohl
sein, dass sie auch bei dieser letzteren vorkommt. Uebrigens wird man
über die gencrische Identität von Synura und Magosphaera so lange
nichts Sicheres aussagen können, als nicht die ersterc genauer unter-
sucht und namentlich ihre Ontogenic bekannt ist. Uebrigens scheint
die im Süsswasser lebende Synura uvella (bisher der einzige Re-
präsentant der Gattung) selten zu sein. Ehrenberg hat sie nur zwei-
mal (im October 1831 und im Mai 1832) beobachtet »in vielen Exem-
plaren in einem Graben des Thiergartens bei Berlin«. Ich habe selbst
ein einziges Mal früher (1858) dieselbe oder eine ähnliche Volvocine bei
Berlin gefunden, ohne sie jedoch genauer zu untersuchen.
Die wenigen Exemplare von frei schwimmenden Wimpcrkugeln,
welche ich bei Bergen pclagisch fischte, schienen alle aus 32 Zellen zu-
sammengesetzt zu sein , ebenso die später beobachteten , welche sich
aus der cncyslirten Form entwickelt hatten. Jedoch will ich nicht be-
stimmt behaupten, dass diese Zahl ganz constant ist. Einige kUuncre
I) Ehrenberg, Die Infiisionsthicrclien oIs vollkommene Organismen. 1838.
p. 60. Tüf. III, I'ii;. IX.
12 Ernst Haeckel,
Kugeln schienen kaum 30, einige grössere vielleicht gegen 40 oder noch
mehr Zellen zu enthalten. Man würde dann , um diese Anomalie zu
erklaren, Unregelmässigkeiten im Furchungsprocess annehmen müssen,
wie sie allerdings auch sonst vorkommen. Indessen ist es auch mög-
lich , dass die individuellen Grössen -Differenzen der Flimmerkugeln
durch Verschiedenheiten nicht in der Zahl, sondern in der Grösse der
sie zusammensetzenden ZelUm bedingt sind. Der Durchmesser der
Flimmerkugeln wechselte zwischen 0,06 und 0,09 Mm. Die meisten
halten 0,07 Mm. Durchmesser, eben so viel, wie das un gefurchte Ei
sanunt Hülle, oder etwas mehr. Dies erklärt sich daraus, dass die
Zellen , unmittelbar nachdem sie die Cystenhülle gesprengt hatten , sich
in der Weise dehnten und radial gegen das gemeinsame Centrum stellten,
dass die in Fig. 7 und 8 dargestellte bleibende Anordnung derselben die
Folge war.
Wenn man den Focus des Mikroskops auf das Centrum der freien
Wimperkugcin einstellt, so gewinnt man bei starker Vergrösserung
(700) das in Fig. 8 dargestellte Bild des scheinbaren Querschnitts durch
eine Meridian-Ebene derKugel. Die Einstellung des Focus auf dieOber-
fläche der Kugel dagegen liefert das in Fig. 7 wiedergegebene Bild.
Hieraus ergiebl sich, dass sich die 32 Zellen nach vollendeter Furchung
in der Weise verändert und radial angeordnet haben, dass sie alle im
Centrum der Kugel mit einer verlängerten Spitze zusammenstossen.
Die rundlich pol yedrische Gestalt der Zellen hat sich in eine regelmässige
Birnform umgewandelt. Gegen das Cenlrum verdünnt sich jede Zelle
in einen sehr feinen Stiel (»Schwanz« von Eiirenbekg) , durch welchen
sie mit den übrigen Zellen im Mittelpunkt der Kugel zusammenstösst.
Das entgegengesetzte peripherische Ende der Birne ist abgerundet, und
auf der abgestutzten Endfläche, welche der Peripherie der Kugel ent-
spricht, mit Cilien besetzt ((/). Die Zahl dieser Wimpern {w) scheint
an jeder Zelle durchschnittlich zwischen zehn und zwanzig zu betragen.
Doch ist es schwer ihre Anzahl genau zu bestimmen , ebenso wie ihre
Anordnung. Sie scheinen auf dem Rande der abgestutzten Zellenüäche,
welche wir als Wi m per Scheibe [d] bezeichnen wollen, im Kreise
zu sitzen; doch schien es bisweilen, als ob der Kreis nicht geschlossen
sei , sondern an einer Stelle in der Weise unterbrochen , dass das eine
Ende des Wimperkreises spiralig über das andere übergreift (ähnlich
wie an dem Peristom der Vorticellinen und Stentorinen). Die Cilien [tv]
sind ungefähr 0,01 — 0,02 Mm. im Mittel lang, an der Basis merklich dicker,
als an der sehr feinen Spitze, und schwingen in der Weise, dass die
schwimmende Wimperkugel sich im Wasser rotirend ohne bestimmte
Richtung fortwälzt. Die Wimpern scheinen nicht unmittelbare Fort-
Die Catallacteii. 13
Sätze der hyalinen Wimper -Scheil»' zu sein, sondern diese durch-
bohrend sich in d.'is innere Prolopl.isnia dei' Zelle lorlzuselzen. Wenig-
stens isl, wenn man bei sehr starker Veri^rösserung eine Zelle im Profil
belrachlel, unterhalb jeder Cilie in dem hyalinen Endsaum (im Profil
der Wimperseheibe) ein feiner Strich sichtbar, welcher die unmittelbare
Fortsetzung der Wimperbasis nach innen zu sein scheint (Fig. 8 — 10).
Die Zellen der Wimperkugeln hängen übrigens nicht bloss in dem
Centrum durch ihren Stiel oder »Schwanz« (s) zusammen, sondern be-
rühren sich auch ausserdenj mit dem dicksten Theile ihres Leibes und
platten sich daselbst durch gegenseitigen Druck etwas polyedrisch ab
(Fig. 8). Die übrigen Zwischenräume zwischen den Zellen, und zwar
sowohl zwischen den inneren zugespitzten Enden , als auch zwischen
ihren divergirenden peripherischen Endstücken sind mit sehr wasser-
reicher Sil ucturloser Gallertmasse (einem Secret der Zellen) ausge-
füllt, ähnlich wie bei den Volvocinen. Die Zellen sind also eigentlich
in diese Gallerte (den »Panzer« von Eiirenberg) ganz eingebettet, mit
Ausnahme der wimpernden Scheibenfläche. Eine Membran besitzen
die Zellen dagegen nicht.
Der nackte, structuilose Protoplasmaleib der Zellen, welcher so in
der Gallerthülle verborgen ist, zeigt constant drei verschiedene Inhalts-
theile, nämlich einen Zellenkern, eine Vacuole und eine Anzahl von
Körnchen, welche den Kern umgeben. Der Kern der Zelle (Fig. 8?/)
verhält sich noch ganz ebenso, wie bei den jüngsten Furchungskugeln.
Er erscheint als eine helle structurlos(> Kugel von 0,006 — 0,007 Mm.
Durehmesser. Central oder excentrisch isl darin ein stark lichtbrechen-
der Nucleolus von ungefähr 0,0015 Mm. sichtbar. Der Kern liegt im-
mer entweder in der Mitte der birnförmigen Zelle, oder mehr der
Wimperscheibe genähert. Er ist umgeben von einem Haufen dunkler
Körnchen [g) , welche sich nach der hyalinen Peripherie des Proto-
plasma hin verlieren. Diese Granula, welche zum Theil wenigstens
Fett zu sein scheinen, sind Theile der Körnerstrahlen, welche wir an-
fänglich an der encystirten Zelle beschrieben haben (Fig. 1 g). Eine
radiale Anordnung ist aber jetzt an den birnförmigen Zellen nicht mehr
sichtbar. Eingedrungene fremde Körperchen habe ich an den Zellen
derWiujperkugeln nicht wahrnehmen können, und ebenso wurden von
denselben auch bei Versuchen mitCarmin- oder Indigo-Fütterung keine
FarbstofTkörnchen aufgenommen.
Unterhalb des Zellenkerns, gegen den zugespitzten Stiel der Zelle
hin, liegt die Vacuole [v). Wir könnten sie eben so gut als con-
tra etile Blase bezeichnen. Denn man vermag, ^^enn man alle ver-
schiedenen Verhältnisse dieser Organe bei den verschiedenen Protisten
1 4 Ernst Haeckel,
überl)lickt, zwischen beiden keine scharfe Grenze zu ziehen. Nach
meiner Ansicht sind die contraclilen Blasen der Infusorien,
Amoeben und anderer Protisten weiter Nichts als diflerenzirte oder
constant gewordene Vacuolen. Denn eine selbstständige con-
tractile Wand, eine eigentliche Membran der Blase, fehlt den ersteren
ebensowohl wie den letzteren. DieContractionen erfolgen einfach durch
Zusammenziehung des contractilen Protoplasma, in dessen Hohlräumen
sich Flüssigkeit angesammelt hat und von Zeit zu Zeit wieder ausge-
presst wird. Der Unterschied zwischen den »wandungslosen Vacuolen«
und den »contractilen Blasen« liegt also eigentlich nur darin, dass die
letzteren constanter sind und sich regelmässiger zusammenziehen , als
die ersteren. Demnach wäre die Vacuole , welche man in jeder Zelle
unserer Wimperkugol wahrnimmt, eigentlich als contractile Blase aufzu-
fassen. Denn sie ist ganz constant und pulsirt ziemlich regelmässig,
wenn auch nur sehr langsam. Im Zustande der Systole erscheint sie
verschwunden , in der höchsten Diastole dagegen bildet sie eine helle,
blasse Kugel mit scharfem Gontour, welche um % grösser als der Kern
werden kann. Niemals sah ich in jeder Zelle mehr als eine contractile
Blase. Dieselbe bildet sich erst, nachdem die Flinmierkugel die Gyste
gesprengt und verlassen hat.
5. Magosphaera als einfache Wimperzelle.
( F e r i t r i c h e n - S t a d i u m ) . ¥'\g. 9 — 13.
Nachdem die Magosphaera einige Zeit als einzellige Flimmerkugel
frei im Meere umhergeschwärmt ist, beginnt sie sich in ihre constituiren-
den Elemente aufzulösen. Die einzelnen Wimperzellen trennen sich
aus ihrem centralen Zusammenhang und verlassen die Gallertmasse,
durch welche sie zusammengehalten wurden. Sie schwimmen jetzt
selbstständig in Form isolirter Wimperzellen umher, welche man ohne
Weiteres sowohl mit gewissen Formen von peritrichen ciliateninfusorien,
als mit isolirten Wimper -Epithelialzellen höherer Thiere verwechseln
könnte (Fig. 9— 13).
Wie lange Zeit die aus der Gyste geschlüpfte Wimperkugel umher-
schwimmt, ehe sich ihre Zellen trennen, habe ich nicht ermitteln
können. Denn alle Wimperkugeln, welche aus den Cysten selbst inner-
halb der kleinen Aquarien ausgetreten waren , starben entweder schon
nach einigen Stunden ab, oder sie verloren sich, ohne dass ich sie
wiederfinden konnte. Nur an zwei Flimmerkugeln habe ich die Auf-
lösung in die einzelnen Zellen wahrgenommen. Diese beiden Exemplare
gehörten zu denjenigen , welche ich mit dem feinen Netze pelagisch
Die Calallaclen. 15
gpfischt, alsbald nach dem Fans; aus <loin polaa;ischen Mulder isolirl
und in ein Glasschiilehen mit SeewasscM- ij;el)r;u'hl halle. Dies geschah
um S l'hr Morj^ens. Schon inuerhall) einer halben Stunde nach {ge-
schehener Isolation hatten sich beide Kugeln in die einzelnen Zellen
aufgelöst. Als ich die feuchte Kanuiier um S' .^ Uhr wieder unter das
Mikroskop brachte, fand ich statt der IMinunerkui'eln ihre einzelnen ge-
trennton Zellen vor. Dieselben schwammen mittelst ihrer Wimpern
mehrere Stunden lebhaft im Wasser umher. Um 11 Uhr beobachtete
ich sie zum letzten Mal. Als ich Nachmittags um 3 Uhr wieder nach-
sah, waren die Wimperzellen verschwunden und an ihrer Stelle krochen
auf dem Hoden der feuchten Kammer amoeboide Zellen umher
(Fig. 14 — 16).
So lange die Wimperzellen noch mit einander zu der Flinnnerkugel
vereinigt waren , konnte ich keine Formverändorungen an denselben
wahrnehmen. Diese traten aber sehr deutlich an den isolirten Zellen
auf (Fig. 9 — 13). Es zeigte sich, dass die Zellen in hohem Maasse con-
tractil waren , und ihre Gesannntform durch Dehnung und Krümmung,
Streckung und Zusammenziehung vielfach verändern konnten , gleich
einem »metabolischen« Infusorium. Am wenigsten veränderlich zeigte
sich die Wimperscheibe [d] , am meisten das entgegengesetzte zuge-
spitzte Ende oder der »Schwanz« {s). Dieser wurde bald mehrmals
langsam gekrümmt oder geschlängelt (Fig. 9 — 11), und verlängerte sich
dabei so, dass er den übrigen Körper an Länge übertraf; bald ver-
kürzte er sich wieder stark (Fig. 12) oder wurde ganz eingezogen
(Fig. 13). Im letzteren Falle rundete sich die Zelle fast kugelig ab,
Anderemale dagegen wurde sie sehr schlank, fast spindelförmig (Fig. 10).
Dabei veränderte sich auch die Dicke der Wimperscheibe sehr auffallend.
Die Schwimmbewegung der Zelle schien ohne Mitwirkung des geissel-
artigen Schwanzes bloss durch die Cilien [w) vermittelt zu werden.
Die Wimperscheibe ging dabei voran und der Schwanz wurde nachge-
schleppt.
Im Uebrigen zeigten sich die isolirten Wimperzellen nicht wesent-
lich verändert. Wie bei den noch in Zusammenhang stehenden Zellen
der Kugel, lag der Kern (??) näher der Wimperscheibe, die contractile
Blase dagegen [v] näher dem Schw^^nze. Die Pulsationen der letzteren
schienen an den isolirten Zellen schneller und regelmässiger zu erfolgen,
als an den noch zusammenhängenden Zellen. Der einzige wesentliche
Unterschied, den ich auffinden konnte, bestand darin, dass die isolirten
Zellen Carmin- Körnchen aufnahmen, was die zusammenhängenden
nicht gethan hatten. Die Aufnahme der Farbestoffkörner erfolgte mittelst
der Wimperscheibe. Einzelne kleine Körnchen, welche in den Strudel
1 6 Ernst Haeckel,
des Wimperkranzes hinein gezogen wurden , glitten an den Wimpern
hinab bis zu deren Basis und drangen hier durch die hyahne Scheibe
hindurch in das Protoplasma hinein , ohne dass die Art und Weise der
Aufnahme klar ersichtlich wurde. Im Innern der Zelle sammelten sich
die Farbsloirkörnchen rings um den Nucleus an. Eine constante, einem
Munde vergleichbare Oeffnung war an der Wimperscheibe nicht wahr-
zunehmen. Durch andere Stellen der Körperoberfläche schienen keine
festen Körperchen aufgenommen zu werden.
6. Magosphaera als amoeboide Zelle.
(Amoebcn-Stadium . Fig. U— 20.
Wie schon vorher bemerkt wurde , gingen die isolirlen Wimper-
zellen bereits nach kurzer Zeil (nach höchstens vier Stunden) in die
Form von amoeboiden Zellen über, die an sich von echten Amoeben
nicht zu unterscheiden waren (Fig. 14 — 16). Den Uebergang selbst
konnte ich aber nicht unmittelbar beobachten. In der kleinen feuchten
Kammer, in welcher erst bloss die isolirten Wimperzellen sich umher-
tummelten, fand ich nachher nur die kriechenden Amoeben.
Diese Amoeben erschienen, gleich allen anderen echten Amoeben,
als einfache, nackte, kernhaltige Zellen. Ihr Durchmesser betrug
0,03 — 0,05 Mm. Unter den bekannten Amoebenformen zeigten sie die
meiste Aehnlichkeit mit Auerbach's A. actinophora und A. bilim-
bosai). Insbesondere glichen sie diesen durch die auflallend spitzen
und dünnen, konischen Pseudopodien, welche bald einzeln, bald
büschelweise vereinigt aus dem nackten Zellenkörper hervorquoUen.
Dabei zeigten sie aber die Eigenthümlichkeit, dass sich einzelne Pseudo-
podien bisweilen in einen langen , sehr dünnen fadenförmigen Fortsatz
auszogen , der sich nach Art einer Flagellaten-Geissel , jedoch nur sehr
langsam , schlängelte , oder schwingend hin und her bewegte. Dieser
geisselaitige Faden glich sehr dem »Schwanz« der freien Wimperzellen,
war aber oftenbar nicht dessen Rest, da er an verschiedenen Stellen der
Oberfläche hervortrat und wieder verschwand. Aehnliche geisselartige
Pseudopodien haben CLAPAKfeDE und Lachmann an der, von ihnen
Podostoma fi I igeru m genannten Amoebenform beschrieben^).
Der kugelige helle Kern (??) und die contractile Blase (y) zeigen bei
1) L. Atierbach, Ueber dicEinzelligkeit der Amoeben. Zeitschr. für wi.ss. Zool.
1856. VII. Vol. A. actinophora, p. 392, Taf. XX. A. bilimbosa, p. 374, Taf. XIX.
2) Claparede et Lachmann, Etudes sur Ie.s Infusoires et les Rhizopodes. G6neve
1858. p. 441 ; PI. XXI, Fig. 4 — 6.
Die Ciilallacleii. 1 7
unsoreiAinoobe noch giinz (licscUx'BescIjnlTriiluMl, wio hei der isolirlcii
Winiporzolle. Nur sind die Pulsalioncn der Vacuolo wieder unregel-
iniissiger und Ijini^sarner. Audi wechselt sowohl der Kern als die con-
Iraclile Blase jetzt öfter ihre Lage, indem sie bei den wechselnden
l'onnen des Sarcode-Köipers und der aus seiner Oberfläche austi-eUm-
iU'u l\seudo|M)dien vielfach hin und her geschoixin werden. Wie bei den
isolirten Wimperzellen (und wie auch bei den meisten der gewöhnlichen
Anioeben) kann man an dein Proloplasn.a nnserei- Amoeben deutlich
die innere weichere Ivürpcrmassc; unterscheich'ii, wislche allein Körnchen
enthält, und die hyaline äussere Schicht, in welche gewöhnlich keine
Körner eintreten. Doch sind, wii; bei jenen, so auch hier beide Schich-
ten keineswegs scharf getrennt. Vielmehr geht die innere, weichei'e,
granulöse Markmasse ohne scharfe Grenze und ganz allmählich in die
äussere, festere, hyaline Rindenschicht über. Auch wechselt die Grenz-
linie beider Schichten vielfach.
Die Fütterung der Amoeben mit Farbstoffkörnern gelang ebenso
wie bei den isolirten Wimperzellen. Die Aufnahme erfolgl(; aber an den
verschiedensten Stellen der Kör])erol)ernäche , ohne Unterschied. Wo
ein Carmin-Korn an der klebrigen Oberfläche des Körpers haften blieb,
verdünnte sich alsbald die hyaline Rindenschicht oder das Ectosark.
Die körnige Markschicht oder dasEndosaik trat an die Oberfläche heran,
uiul mit einem Ruck wurde das Körnchen in diese hineingezogen. Da-
bei wurde die Rindenschicht, scheinbar, für einen Moment durch-
brochen. Rs geht aber auch hieraus wieder hervor, dass diese letzlere
eben nicht als eine distincle Mend)i"an aufzufassen ist, sondern con-
linuirlich in die Markschicht übergeht.
Die weitere Entwickelung der Magosphaera-Amoeben zu verfolgen,
gelang mir nicht. Nach einigen Tagen starben dieselben in der feuchten
Kammer ab, trotzdem ich ihnen als Nahrung einen Wassertropfen mit
kleinen Diatomeen hinein gelhan und sie auch einzelne von den letzteren
gefressen hatten. Ich kann aber, wie ich schon anfänglich l)emerkle,
nicht daran zweifeln, dass mit dem Amoeben-Stadium der Ehtwicke-
lungscyclus unserer Magosphaera abgeschlossen ist. Die Amoeben wer-
(hm durch Nahrungsaufnahme wachsen , sich nach einiger Zeit ein-
kapseln, und so wieder in das Ei-Stadium zurückkehren, von welchem
wir vorher ausgegangen waren (Fig. 1).
Grössere Amoeben, welche den aus den Winipcrzcllen entstandenen
ganz ähnlich waren, und namentlich auch die gleiche charakteristische
Form der Pseudopodien-Bildung zeigten, fand ich frei umherkriechend
zwischen denselben Cladophora-BUschen , auf deren Aesten <lie einge-
kapselten Zellen (Eier) und deren Entwickelungssladien (Furchungs-
Bd. VI. 4. 2
1 8 Ernst Haeckel,
Zellen) zu finden waren. Vier von diesen auf Cladophora gefundenen
Amoeben in verschiedenen Contractions-ZusUinden sind in Fig. 17 — 20
abgebildet. Die Formen der dünnen und spitzen , konischen Pseudo-
podien, welche in Büscheln vereinigt aus der Oberfläche des Amoeben-
Körpers austreten, sind ganz dieselben, wie bei den aus den Wimper-
zellen entstandenen Amoeben (Fig. 14 — 16). Doch scheint mit dem
Wachsthum der Amoeben eine Vergrösserung des Kerns und eine Ver-
mehrung der Vacuolen einzutreten. Während in Fig. 17 nur eine
Vacuole sichtbar ist, zeigt Fig. 18 deren zwei, Fig. 19 dagegen drei, und
Fig. 20, die grösste unter allen auf Cladophora beobachteten Amoeben,
sogar fünf Vacuolen (r). Der Kern dieser letzteren ist sehr gross, und
beinahe schon eben so umfangreich , als derjenige der encystirten Zelle
(Vergl. Fig. 1 und Fig 20). Ob solche grosse Amoeben auch durch Zu-
sammenfliessen mehrerer kleinerer entstehen können (wie es nach Ana-
logie ähnlicher Fälle leicht denkbar wäre) , habe ich nicht ermitteln
können. Da der Kern stets einfach ist, müssten die Kerne der ver-
schmolzenen Zellen dann theilweise sich auflösen (oder selbst mit ein-
ander verschmelzen?). Die Bewegungen der grossen Amoeben waren
übrigens träger als die der kleineren, woran vielleicht auch die reich-
lichere Nahrungs-Aufnahme Schuld sein mag. In den grösseren Amoeben
fanden sich kleine Diatomeen, Chlorophyll -Körner und andere, von
aussen aufgenommene Körperchen vor. Einige von den grössten Amoeben,
die auf den Cladophoren umherkrochen , waren ganz grün gefärbt in
Folge der grossen Mengen von Chlorophyll -Körnern, welche sie aufge-
nommen hatten. Wahrscheinlich bohren diese Amoeben mit ihren spitzen
Pseudopodien die Algen -Zellen der Cladophora an, auf welcher sie
leben, und ziehen dann einen Theil von deren Protoplasma und Chloro-
phyll in sich hinein, ähnlich, wie nach Cienkowski's schöner Entdeckung
die Vampyrellen die Algenzellen plündern. Doch habe ich diesen merk-
würdigen Vorgang bei der Magosphaera -Amoebe nicht direcl beob-
achtet, sondern erschliesse ihn nur aus dem Umstände, dass die Chloro-
phyll-Körner der Cladophora an Grösse und Beschaffenheit ganz gleich
denjenigen waren, welche den Leib der auf ihr umherkriechenden
grossen Amoeben erfüllten ').
7. Die systematische Stellung der Magosphaera.
Die systematische Stellung der Magosphaera, deren Entwickelungs-
kreis somit geschlossen vorliegt, giebtViel zu denken. Die unläugbaren
1) Vergl. CiENKowsKi , Beiträge zur Kenntniss der Monaden. Arch. für mikr.
Anat. 1865. Vol. I. p. 211. Taf. XII, Fig. 44.
Die Ciitnilacten. 19
und sehr nahen Verwandtschnfls- Beziehungen zu sehr verschiedenen
Protisten -Gruppen mnelien die Frage nach ilirer Kinreihung in eine
der bekannten (Jruppen sehr schwierig, und vorläufig unlösbar. Als
fünf wesenUich verschiedene Formzuslände können die eben beschrie-
benen F^nlwickelungs- Stadien ohne Zweifel ganz natürlich gelrennt
wenhMi. bi physiologischer Beziehung Hessen sich dieselben in folgende
zwei Gruppen bringen:
I. Ruhezu stand (Vegetative Periode).
1. Einzelliger Ruhezustand (Ei -Stadium).
2. Vielzelliger Ruhezusland (Furchungs- Stadium).
II. Schwärmzustand (Änimale Periode).
3. Vielzelliger Schwärmzustand (Volvocinen- Stadium).
4. Einzelliger bewimperter Zustand (Peritrichen- Stadium),
5. Einzelliger amoeboider Zustand (Amoeben- Stadium).
In morphologischer Beziehung dagegen würde man richtiger das
Hauptgewicht auf den histologischen Formwerth des Körpers legen, und
demnach die fünf Entwickelungsstadien in folgende beide Gruppen
verlheilen :
I. Einzelliger Zustand (Individuum I. Ordnung).
1. Einzelliger bewimperter Zustand (Peritrichen -Stadium).
2. Einzelliger amoeboider Zustand (Amoeben -Stadium).
3. Einzelliger Ruhe- Zustand (Ei -Stadium).
11. Vielzelliger Zustand (Individuum II. Ordnung).
4. Vielzelliger Ruhezustand (Furchungs -Stadium).
5. Vielzelliger Schwärmzustand (Volvocinen -Stadium).
Nach den Principien, welche gewöhnlich in der Systematik befolgt
werden, würde man den »vollkommensten« Zustand, in welchem der
Organismus am meisten ditferenzirt ist, als denjenigen ansehen, welcher
für seine systematische Stellung den Ausschlag giebt. In unserem Falle
ist ohne Zweifel , und zwar sowohl in physiologischer als in morpho-
logischer Beziehung , der vielzellige Schwärmzusland oder das Volvo-
cinen-Sladium als der vollkommenste anzusehen, und man würde dem
entsprechend unsere Magosphaera in die C lasse der F I a g e 1 1 a t e n , und
zwar zu der Gruppe der Vol vocinen , zu stellen haben. Anderseils
aber ist nicht zu vergessen, dass derEnlwickelungsgang unserer Mago-
sphaera von demjenigen der anderen Flagellalen sehr alnveichl. Aller-
dings ist auch bei einzelnen Flagellalen ein Uebergang in ein amoeboides
2*
20 Krnst Haeckel,
Stadium beobachtet worden (so z. B. von Clark). Allein in anderen
Fällen fehlt dieses ganz sicher.
Das A ra 0 e b e n - Stadium der Magosphaera beweist wiederum aufs
Neue , welche Vorsicht bei der Beurlheilung jeder »Amoebe« anzuwen-
den ist. Die Beschreibungen zahlreicher verschiedener Amoeben-
Formen , mit denen neuere Mikroskopiker den Ballast der Wissenschaft
vermehrt haben, nützen gar Nichts, wenn keine Entwickelungsgeschichle
dabei ist. Amoeben, odei' amoeboide Zellen, giebt es überall : im Ent-
wickelungskreise von Thieren , von Protisten und von Pflanzen. Die
Furchungskugeln , die Embryonal - Zellen , die Blutzellen vieler Thiere
sind von selbstständigen Amoeben oft gar nicht zu unterscheiden. Den-
noch giebt es selbstständige Amoeben , die sich als solche viele Gene-
rationen hindurch unverändert fortpflanzen und ihre »gute Species« rein
erhalten. Wenn man die eigenlhümliche grosse Amoel)en-Form der
Magosphaera mit ihren büschelweis vereinigten spitzen Forlsätzen für
sich allein gefunden und untersucht hätte, ohne Kenntniss ihrer Her-
kunft und ihrer Schicksale, würde man sie als eine gute onova species«
von Amoeba beschrieben haben. Aber selbst nachdem wir die ganze
Entwickelungsgeschichte der Magosphaera kennen, würde man dieselbe
doch als eine »eigentliche Amoebe« auffassen und zu der Gruppe der
Protoplasten (Amoeboiden oder Lobosen) stellen können. Denn die
giossen Amoeben (Fig. 1 9) sind das letzte frei bewegliche Entwicke-
lungsstadium der Magosphaera , welches dem Ruhezustande, dem Ei-
Stadium vorher geht, und mit welchem also gewissermaassen der in-
dividuelle Entwickelungs-Cyclus abschliesst. Es liesse sich daher
wohl der Satz vertheidigen , dass die Amoebe das eigentliche »Ziel« der
Magosphaera- Entwickeiung sei, zumal sie als Zelle (an und für sich
betrachtet) durch ihre Grösse, vielfache Beweglichkeil und reiche Ent-
wickeiung von Fortsätzen , sowie durch die Mehrzahl der Vacuolen, die
übrigen Zellen des Entwickelungskreises an »Vollkonunenheit« übertrifft.
Wenn man den einzelligen bewimperten Zustand der Magosphaera,
oder das Perilrichen- Stadium, für sich allein, ohne Kenntniss seiner
Herkunft, im Wasser frei schwimmend finden und untersuchen würde,
so würde man mit einem gewissen Rechte dasselbe als ein echtes be-
wimpertes Infusorium, und zwar als ein Ciliat aus der Ordnung der
Peritrichen, ansprechen dürfen. Allerdings fehlt unseren Wimper-
zellen, wie es scheint, eine distincte bleibende Mundöffnung ; es fehlt
eine differenzirte Hautschicht; auch ist der »Nucleus« nicht zu einer
»Zwitterdrüse« differenzirt. Allein man darf nicht vergessen , dass alle
diese differenzirten Theile nur bei höheren Ciliaten deutlich entwickelt
sind, und dass sie vielen niederen Infusorien fehlen, die man trotzdem
Die Ciilalliifteii. 21
als echle »Cilialen« ansieht. Auch darf man nicht enti^egnon, dass ilicse
letzteren nicht einfache Zellen seien. Denn die Fiage von der »Kin-
zelligkeil der Infusoiien^ ist noch keineswegs negativ entschie-
den. Vielniehr neigt si(!h jetzt w ieiler einmal das Zünglein der Wage
zu Gunsten derselbc^i , und namentlich viele von den neuesten Beob-
achtungen über die Fortpflanzung und lintwickelung der Ciliaten lassen
sich kaum anders deuten, als dass viele echte Infusorien wirklich ein-
fache Zellen sind. Die Complicalion ihrer Organisation steht damit nicht
in Widerspruch ; denn es gicbt einfache Pllanzcnzellcn, welche in die-
ser Beziehung, hinsichtlich der Diflen-nzirung der Organe, die Cilialen
noch überlrelfen.
Wenn man also aus triftigen Gründen das einzellige amoeboide
Stadium der Magosphaera als eincAmoebe, das einzellige bewimperte
Stadium als ein peritrich(!S Ciliat, das vielzellige bewimperte Stadium
als ein volvocines Flagellat ansehen kann, und wenn anderseits keines
dieser drei Stadien mit Sicherheil als die »vollkonnnenste Form«, als das
eigentliche »Ziel des Entwickelungskivises« gelten kann , so wird die
Frage von der systematischen Stellung der Magosphaera in der vorsich-
tigsten und am meisten kritischen Weise dadurch geschlichtet, dass
man sie — wenigstens vorläufig — als Repräsentanten einer selbst-
ständigen Protisten -Gruppe ansieht. Da diese indillerente Gruppe
zwischen verschiedenen anderen Gruppen des Prolistenreiches in der
angegebenen Weise zu vermitteln scheint, so dürfte sie vielleicht passend
den Namen der »Vermiltlei«, C a ta 1 1 a c l a führen i) .
Erklärung der Tafel I.
Magosphaera p I a n u I a.
Alle fijunren sind hei einer Vergrössernns von 700 gezeichnet. Die Biuhshiheii
hiihen in allen Figuren dieselhe Bedeutung : jJ Protoplasma der Zelle. (/ KörncluMr
im Protoplasma, n Zellenkern oder Nucleus. c Kernkörpeiclien oder Nucleolus.
wZellenmembian oderCysleiduillc. aFortsatz desProloplasma, welcher die Cysten-
wand an deren Anheflungsstelle (an der Algenzelle) durch.setzt. n Gallertmasse
zwischen den Zellen der Flimmerkugel. ?' Vacuole oder contracüle Blase, ä Wimper-
seheihe (Verdickte hyaline Endilä(;he der Wimperzellen , auf welcher die Wimpern
autsitzen), w Wimpern, s Schwanz oder verdünnter Stiel am entgegengesetzten
Ende der Wimperzellcn.
1) xaTa>.Xa7.TTj; der Vermittler ; |i.a-(ö; Zauberer ; acpatpi Kugel,
22 Ernst Haeckol, Die ratallacteii.
Fig. 4. Einzelliger encyslirter Ruhezustand (Ei -Stadium).
Fig. 2. Cyste mit zwei Zellen (Erstes Furchungs-Stadium). Die Eizelle ist durch
beginnende Furchung in zwei Zellen zerfallen.
Fig. 3. Cyste mit vier Zellen.
Fig. 4. Cyste mit acht Zellen.
Fig. 5. Cyste mit sechzehn Zellen.
Fig. 6. Cyste mit zwei und dreissig Zellen. Dieselben führen innerhalb der Cyste
amoeboide Bewegungen aus.
Fig. 7. Vielzelliger Schwärmzustand (Volvocinen-Stadium). Die aus der Furchung
entstandene vielzellige Kugel hat die Cyslenhülle gesprengt und verlassen.
Die Pseudopodien der 32 amoeboiden Zellen haben sich in schwingende
Cilien verwandelt, mittelst deren die Flimmerkugel umherschwärmt. Die
Flimmerkugel ist von der Oberfläche gesehen.
Fig. 8. Dieselbe Flimmerkugel, wie Fig. 7. Der Focus ist auf das Cenlnim der
Kugel eingestellt, so dass man zehn von den 32 Zellen in einer meridianen
Durchschnittsebene sieht. Die birnförmigen Zellen berühren sich im
Centrum der Kugel mit ihren schwanzähnlichen Spitzen. Die Zwischen-
räume zwischen den Zellen sind durch Gallertmasse ausgefüllt.
Eine isolirte Wimperzelle (Peritrichen-Stadium) mit langem Schwanz.
Eine isolirte Wimperzelle mit verdickter Wimperscheibe.
Eine isolirt« Wimperzelle mit verdünnter Wimperscheibe.
Eine isolirte Wimperzelle mit sehr verkürztem Schwanz und ganz con-
trahirter Vacuole.
Eine isolirte Wimperzelle mit ganz eingezogenem Schwanz und sehr aus-
gedehnter Vacuole.
Eine amoeboide Zelle (Amocben - Stadium) , aus einer Wimperzelle
entstanden.
Eine amoeboide Zelle mit ganz zusammengezogener Vacuole.
Eine amoeboide Zelle mit sehr ausgedehnter Vacuole.
Eine Amoebe mit einer Vacuole und einem Pseudopodien-Büschel.
Eine Amoebe mit zwei Vacuolen.
Eine Amoebe mit drei Vacuolen.
Eine sehr grosse Amoebe mit fünf Vacuolen und vielen Pseudopodien-
Büscheln.
Fig.
9
Fig.
10
Fig.
11
Fig.
12
Fig.
13
Fig.
14
Fig.
15
Fig.
16
Fig.
17
Fig.
18
Fig.
19
Fig.
20
]\acliträ^'c zur ^loiio^rapliic der loiiereu.
Von
Ernst Haeckel.
Hierzu Taf. 11.
1. Vampyrella Gomphonematis.
(Hierzu Tai. II, Fig. 1 ^ 4).-
Die neue Moneren - Form , die ich hier ;ils Vam pyrella Gom-
]>honenialis beschreibe, habe ich im September 1809 wahrend meines
Aufenthaltes au der norwegischen Küste beobachtet. Sie schliesst sich
sehr nahe an die von Cienkowski beschriebeneVampyrella vorax an,
unterscheidet sich jedoch von ihr durch gewisse Eigenthümlichkeiten,
welche ihre Aufstellung als besondere Species genügend rechtfertigen.
Die Gattung Vampyrella ist vielleicht unter allen Moneren die
am längsten bekannte Form , insofern in ihren Enlwickelungskreis die
»ziegelrothen Blasen« gehören , welche die Botaniker schon vor langer
Zeit an Spirogyren und anderen Algen aufgefunden haben, .ledoch
galten dieselben theils für Entwickclungszuslände dieser Algen, theils
für »Diatomeen -Cysten«, und erst die vortrefflichen und erschöpfen-
den Untersuchungen von Cieivkowski stellten 1865 ihre Natur in das
rechte Licht (1. c. p. 218 — 225). In vollkommen ausgebildetem und
frei beweglichem Zustande tragen alle Vampyrellen durchaus den
(Iharaktei- echter Moneien, indem ihr ganzer Körper einen gänzlich
striiclurlosen Protoplasma -Klumpen darstellt. Diese nackte Cylode
nimmt mittelst vorgestreckter Pseudopodien Nahrung auf, gleich den
Amoeben und Rhizopoden, und geht dann in einen Ruhezustand über.
Sie scheidet eine Kapselhülle aus und zerfällt innerhalb dieser Cyste
durch Viertheilung in vier nackte Sporen (Tetraplasten). Jede Spore
gleicht nach dem Austritt aus der Cyste einer kleinen Actinophrys (sol)
und kriecht wie eine kleine Amoebe mit spitzen Fortsätzen langsam
umher. Von den drei Vampyrella - Arten Cienkowski's nähren sich
24 '^'»st Hiieckcl,
zwei (V. Spiiogy rae und \^ pendula) von Algen, deren Zellen sie
anbohren und das Protoplasma aussaugen. Die drille Arl dagegen
(V. vorax) frisst durch Umhüllung fremder Körper, wie eine
Amoebe (Archiv für mikr. Anal. 18(15. Vol. I. p. 218—225).
Die norwegische V a ni p y r e 1 1 a , welche ich in Bergen beobachtete,
scheint ausschliesslich auf den Stöckchen einer Dialoniec zu leben,
deren Zellen sie umhüllt und aussaugt. Ihre specifische Eigenlhümlich-
lichkeit scheint aber darin zu bestehen, dass sie sich auf den Dia-
tomeen-Stöckchen selbst einkapselt und an der Sielleder gefressenen
Diatomeen befestigt , deren entleerte Kieselschalen sie ablöst und aus-
wirft. Die Diatomee, auf der ich die Vampyrelle ausschliesslich ge-
funden habe, und die in Fig. 1 abgebildet ist, gehört der Galtung
Gomphonema an, scheint jedoch mit keiner der beschriebenen Arten
genau übereinzustimmen. Ich will daher diese neueSpecies, um an
ihre Ausplünderung durch dieVampyrella zu erinnern, Gomphonema
d e V a s ta l u m nennen.
Das Gomphonema devaslalum (Fig. I, 2) bildet sehr zier-
liche baumförmig verastelle Zellen -Gemeinden, welche massenhaft die
Slöckchcn der Campanularien überziehen, die an der Küste von Bergen
leben. Manche Campanularienstöcke sehen mit blossem Auge betrachtet
so aus, als ob sie dicht mit einer gelblichen Schleimhülle überzogen
wären. Diese Hülle besteht bloss aus Tausenden von (Jon)phonema-
ßaumchen , die dichtgedrängt senkrecht auf den Röhren der Campa-
nularien sitzen. Einzelne von diesen Biiumchen lieherbergen unsere
Vampyrella in grossei" Anzahl, während viele ganz frei davon sind.
Die Slöckchcn des Gon)phonema sind durchschnittlich 0,5 Mm. hoch
und 0,3 Mm. dick. Die Stiele der Zellen sind schlank, regelmässig
dichotomisch verzweigt, zierlich S förmig gebogen, und 0,003 Mm. dick.
Die Kieselzellen sind fächerförmige, glcichschenkelig-dreieckige, ziem-
lich dünne Scheiben. Ihre Länge beträgt 0,05, ihre Breite 0,03 , ihre
Dicke 0,01 Mm. Von der breiten Seite gesehen, erscheint der Kiesei-
panzer der Zelle durch zwei, von der Basis nach dem freien Rande
divergirende Furchen in drei schmale Felder zerlegt. Den beiden Furchen
entsprechen am freien Rande zwei Hache Einkerbungen.^ Die diei Felder
sind im äusseren Theile von gleicher Breite. In der Mitte jedoch , wo
dvv Zellenkern liegt, ist das Mittelfeld etwas jjreiter aufgetrieben. Auch
an der Basis ist dasselbe breiter als die l)eiden Seilenfeldci' (Fig. 1 h.)
Von der schmalen Seite gesehen (Fig. 1 /) erscheint jede Kieselzelle
schmal keilförmig, von der Basis gegen das abgerundete freie Ende hin
allmählich verdickt. Im lnn(>rn der Kieselzelle bilden die feinen ver-
ästelten und anastomosirenden Protoplasma- Ströme, in welche viele
Niifliträn«' /.iir Moiiniir.ipliic der Moneren. 25
gelbe Kölner eini;el)eliel sind, ein iiiiiegelniiissii;cs und veränderliches
Netzwerk.
Auf den Aeslen dieser zierliehen Goinphoneniii- Biiuniejien findet
iimii nun hin und wieder in {grosser Menj^e sUilt der zui:,(>höni^en Kiesel-
zelleii liellrülhe kugelige Hlasen (Fig. I«.) Dies sind die Cysten unserer
Vcunpyrclla. Sie sind nieht iiinnei- von gleicher Grösse, die meisten von
O^OG — 0,07 Mm. Durchmesser. Die Cyslenwand (c) oder die IIUlIc der
kugeligen Blasen ist glashell und structurlos, scharf dopjX'lt enntourirt.
Ihre Dicke ist verschieden, meistens gleich ein Zehntel des Kapseldureh-
messers, also 0,00()— 0,OOS Mm. Die dicksten Blasenhilllen erreichten
0,01 Mm. Dicke. Die slruclurlose Substanz der C^stenwand ist sehr fest
und elastisch, in verdünnten Säuren und Alkalien unlöslich. In con-
ecntrirlen Alkalien quillt si(^ rasch bedeutend auf und löst sich nachher
ganz darin auf. Concentrirtc Mineralsäuren zerstören sie erst nach
längerer Einwirkung. Durch Carmin und durch Jod wird dieselbe
nicht gefärbt, ebenso nicht durch .lod und Schwefelsäure.
Den Inhalt der Cysten findet man oft auf einem und demselben
Gomphonema- Bäumchen in verschiedenen Entwickelungs- Zuständen,
wie es in Fig. I daigestellt ist. Bei den jüngeren Cysten (a) ist der
ganze Hohlraum mit einem homogenen, hellrothcn, halbdurchsichtigen,
I'roto|)lasma ausgefüllt, welches bei Anwendung sehr starker Vergrösse-
rungen äusserst fein granulirt erscheint, und bisweilen auch noch eine
geringe Anzahl von etwas grösseren Körnchen enthält, die nach ihrem
dunkeln (ilanzc Fettkörnchen zu sein scheinen. Die Farbe ist hell
ziegelroth , bisweilen fast mehr orangcroth. Neben diesen ganz mit
Protoplasma erfüllten Blasen finden sich andere, bei denen die ganze
Protoplasma- Füllung in vier gleiche Theile zerfallen ist. Dies sind die
Telrasporen , welche Cienkowski auch bei seinen drei Vampyreila-Arten
beobachtet hat. Sie scheinen alle vier gleichzeitig zu entstehen , indem
\ier gleichweit von einander und vom Centrum der Kugel entfernte
Protoplasmapunktc als Anziehungsmittelpunkte auf die umgebende Sub-
stanz \^irken. Diese verdichtet sieh dabei und presst eine geringe
Quantität einer hellen Flüssigkeit aus, die nunmehr die vier Plasma-
Sporen von einander trennt. Wenigstens habe ich bei derVa n)p j re i I a
Gom[)honema tis niemals gesehen, dass die Plasma-Kugel erst bloss
in zwei Stücke zerfiele, die sich dann nochmals halbiren. Die vier
Sporen sind eben so durchaus homogene und nackte Plasma - Stücke,
wie die Kugel, aus deren Viertheilung sie hervorgegangen sind. Weder
an dieser, noch an jener ist irgend eine Spur von einem Zellcnkern
oder von einer conlraelilen Blase zu l)emerken. Die Tetrasporen haben
eine sphaeroidali> , stark abgeplattete , fast linsenförnu'ge Gestall , und
26 Ernst Haeokel,
sind dergestalt gegen einander gelagert, dass zwischen ihnen, im Cen-
trum der Cyste, ein leerer Hohlraum bleibt von regulär telraedrischer
Grundform.
Während man auf einigen Gomphonema - Stöckchen bloss ge-
schlossene Cysten findet, theils mit ungelheiltem Protoplasma -Inhalt,
theils mit vier sphäroidalen Sporen , so kann man dagegen an anderen
Stöckchen das Auskriechen der letzteren aus der Kapsel und ihre Um-
bildung zu frei umherkriechenden actinophrysähnlichen Körpern sehr
hübsch verfolgen (Fig. 1 e.) An einer Stelle der Cystenwand (meist
entgegengesetzt dem Anheftungspunkte der Kapsel) entsteht, vermuth-
lich durch die anliegende Telraspore veranlasst , eine sehr kleine Oeff-
nung und nun zwängt sich die letztere durch dieses enge Loch langsam
hindurch. Dabei ninmit ihr rundlicher Protoplasma - Leib eine sehr
schlanke Form an (Fig. 1 e.) Noch ehe der ganze Sporenkörper den
Hohlraum der Cyste verlassen hat, beginnt er bereits an dem ausserhalb
befindlichen Theile sehr feine und zarte Pseudopodien auszustrecken.
Wo er mit einem Aestchen des Gomphonema - Stockes zufällig in Be-
rührung kommt, schmiegt er sich mit seiner klebrigen Oberfläche an
dasselbe an , breitet sich aus , und kriecht nun langsam an dem Stöck-
chen empor. Eine von den vier Sporen nach der anderen verlässt die
Cyste. Wie es scheint, kriecht jede durch das Loch aus, das von der
ersten gebohrt worden ist. Man kann so Kapseln finden, in denen nur
noch ein oder zwei Sporen liegen, nachdem die anderen bereits ausge-
ki'ochen sind (Fig. I d.) Auch leere CystenhüUen findet man auf den
Enden der Aestchen bisweilen , jedoch selten. In der Regel scheinen
sie bald abzufallen, nachdem ihre Bewohner sie verlassen haben.
Die Spore, welche durch Viertheilung der encystirten Vampyrella
entstanden ist, und welche nunmehr ihre Kapsel verlassen hat, ist be-
reits der ganze Organismus. Denn die Function der Ernährung, der sie
sich nunmehr in frei beweglichem Zustande widmet, hat kein anderes
Resultat, als Vergrösserung des homogenen Plasmastückes durch ein-
faches Wachsthum. Nachdem die frei umherkriechende , actinophrys-
ähnliche Vampyrella durch Plünderung mehrerer Gomphonema -Zellen
eine gewisse Grösse erreicht hat, zieht sie sich kugelig zusammen,
schwitzt eine Kapselhülle aus, und geht so für einige Zeit in den Ruhe-
zustand über, mit dessen Beschreibung wir begannen. Späterhin zer-
fällt diese encystirte Plasma-Kugel wiederum in vier Tetrasporen , und
so beginnt der höchst einfache Kreislauf ihres Lebens von Neuem.
Die Ernährungsw eise der frei umherkriechenden Vampyrella Gom-
phonematis ist sehr interessant, obwohl im Wesentlichen mit derjenigen
der übrigen Species der Gattung übereinstimmend. Nachdem die Tetra-
Nachhiiß;)' zur Monographie der Moneren. 27
spore ihre Kapsel vollständig vcihisson , hreilet sie sich, wie schon be-
merkt, actinophrysiihnlich aus und kriecht an dem Gomphonema-
Bäumchen umher, ohne dasselbe jemals zu verlassen. Zeitlebens bleibt
sie mit ihm in Berührung oder geht höchstens einmal auf ein benach-
bartes Gomphonema- Slöckchen über, mit dem ihr eigenes zufällig in
Berührung kam. Schwimmen kann das kleine Moner, wie es seheint,
nicht, und hütet sich wohl, die sichere Unterlage, deren Contact es von
Geburt an gewöhnt ist, zu verlassen. Niemals habe ich daher auch
unsere Vampyrella in frei beweglichem Zustande Kugelform annehmen
sehen, \\'\c sie bei frei im Wasser schwebenden Rhizopoden mit allseilig
ausstrahlenden Pseudopodien so hiüifig vorkonmit. Vielmehr erscheint
die frei umherkriechende Vampyrella innncr als formloses oder ganz
umvgelmiissig geformtes Klümpchen, welches sich bei seinen Bewegun-
gen Nollkonunen der festen Unterlage anpasst. Beständig aber strahlen
von seiner äusseren Oberfläche eine grosse Menge von äusserst feinen
Pseudopodien aus.
Die Pseudopodien sind bei der Vampyrella Gomphonematis in
viel grösserer Zahl vorstreckbar, als bei den von Cienkowski beobach-
teten drei Arten. Wie bei diesen , ist deutlich Körnchenbewegung an
ihnen zu beobachten, niemals dagegen ein Verschmelzen verschiedener
Sarcode- Fäden bei zufälliger Berührung. Auch Verästelung lässt sich
nicht mit Sicherheit wahrnehmen. Fast immer erscheinen die Pseudo-
podien als einfache, unverästelte, gerade ausgestreckte Fäden , deren
Länge meistens kaum dem Durchmesser des mittleren Körpertheils
gleichkommt, selten ihn bedeutend übertriff"t. Da das Ausstrecken und
Einziehen der Pseudopodien und die Körnchenströmung auf denselben
bei den Vampyrellen Nichts mit der Nahrungs- Aufnahme zu thun hat,
so wird diese Bewegung wahrscheinlich vorzugsweise die Function der
Respiration vermitteln.
Die Ernährung unserer Vampyrella , die an dem Gomphonema-
Stöckchen herumkriecht, geschieht nun in folgender Weise: Sobald sie,
an den Zweigen des Bäumchens emporkriechend, eine Kieselzelle er-
reicht hat, breitet sie sich flach rings um deren Basis aus. Das Proto-
plasma der Vampyrella zerfliesst zu einer dünnen Schleimschicht, welche
blaltartig auf beiden Flächen der dreieckigen Kieselzelle sich ausbreitet.
Da die beiden Blätter desselben aber zugleich an den schmalen Rändern
der Zelle in Zusammenhang bleiben, wird die ganze Kieselzelle von der
schmalen Basis bis zu ihrem breiten freien Rande , von einer zusam-
menhängenden dünnen Protoplasma -Lamelle überzogen und zuletzt
gänzlich eingehüllt. Nun beginnt die eigentliche Plünderung. Während
eine Anzahl feiner Pseudopodien von dem Plasma -Uebcrzugc in das
28 Ernst Haeckel,
Wasser hineinslrahlen, dringt ein anderer Theil des Protoplasma -Kör-
pers durch die Schalen-Spalten der Kieselzelle in deren Inneres hinein
und annectirt sich das hier verborgene Protoplasma. Man kann sehen,
wie die hellrothe Sarcode der Vanipyrclla in Form unregelmässiger
Forlsätze im Innern der Kiesclzolle sich ausbreitet und das gelbe Proto-
plasma des Gomphonema in sich hineinzieht. Die Körnchenbewegung
in dem letzteren erlischt und der ganze Inhalt wird langsam durch die
Spalten der Kieselschale herausgezogen. Anfangs kann man die gelben
Diatomeen -Körner in dem rothen Vampyrellen- Leibe noch wahr-
nehmen. Bald aber verschwinden sie in dem feinkörnigen gelbrothen
Protoplasma der letzteren und werden ganz von diesem assimilirt.
Die entleerte Kieselschale (Fig. I g) der Gomphonema-Zelle, deren
Zusammenhang, mit ihrem Stiele bereits während des Plünderungs-
Processes sich zu lockern scheint, wird nun von der gesättigten Vam-
pyrella gänzlich abgebrochen und wie ein unverdaulicher fremder Kör-
per ausgestossen (Fig. 1/'.) Der freche Räuber aber bleibt an ihrer
Stelle sitzen , um ruhig zu verdauen. F^r umfasst das freie Ende des
Zellenslieles in Form eines rundlichen Protoplasma -Klümpchens, das
nach allen Seiten feine Fäden ausstrahlt. Hat die Vampyrella nun schon
mehrere Zellen in dieser Weise geplündert und dadurch eine gewisse
Grösse erreicht, so beginnt sie allmählich ihre Fäden einzuziehen, sich
zu einer glatten Plasmakugel abzurunden , und durch Ausschwitzung
einer Hülle einzukapseln. Wenn sie aber hierzu noch zu klein ist, so
kriecht sie erst von ihrem Stiele wieder herab und auf einen anderen
Zweig hinüber, um auch dessen Zelle sich einzuverleiben. In der Regel
scheint jede Vampyrellc eine grössere Anzahl von Kieselzellen fressen
zu müssen, ehe sie sich encystiren kann.
Bei den von Cienkowski beschriebenen Vampyrella Spiro-
gyrae und V. pendula kommt ein vorübergehender Ruhezusland mit
Encystirung vor , welcher bloss dem Verdauungsgeschäft gewidmet ist.
Nach aufgenommener Nahrung bilden sich diese Vampyrellen eine vor-
übergehende Cyste (»Zelle« von Cienkowski), welche sie nach vollendeter
Verdauung wieder durchbrechen und verlassen, um aufs Neue umher-
zukriechen. Erst später erfolgt die definitive I^inkapselung, während
welcher die Fortpflanzung durch Viertheilung geschieht. Bei unserer
Vampyrella Gomphonc matis scheinen jene provisorischen Cyslen-
bildungen nicht vorzukonunen. .ledes Individuum kapselt sich nur ein-
mal während seines Lebens ein , und zwar dann , wenn es sich zur
Fortpflanzung anschickt.
Die Encystirung unserer Vampyreile erfolgt in der einfachsten
Weise. Nachdem durch Aufnahme einer gewissen Anzahl von Kiesel-
Nachtrilge zur Monographie der Moneren. 29
Zellen das durchsclinillliclie specifischeGrössenmaass des rothenPlasnia-
slöckc-hons enviclil ist, wci-den die ausi^eslivcklcu Pseudopodien eiii-
gezoi^en und die goi^liillele üheilliiche des Klumpens rundet sich kugelig
ab. Sodann beginnt die Ausschwilzung einer hyalinen , slrucluiiosen
llUll(>, welche allniiihlich erhärtet, und deien Dicke bis zu ein Siebentel
des Kugeldurchmessors erreichen kann. Zu bemerken ist, dass der
Stiel der zuletzt gefressenen Kieselzelle, auf der die Vampyrella sitzen
bleibt, unmittelbar mit dem Protoi)lasmakörper derselben in N'erbindung
bleibt, so dass an dieser Stelle die Cystenhülle von dem Stielende durch-
bohrt ist (Fig. 1, o. /'.)
Somit sind wir denn wieder am Ausgangspunkte der Lt^bensge-
schichte unseres Moneres angelangt. Wie lange die encystirle Vampyrelle
im Ruhezustände verharrt, ehe sie durch Telraplasten-Bildung in vier
neue hidividuen zerfällt, habe ich nicht ermitteln können. Die vor-
stehend mitgetheilte Entwickelungsgeschichte ist aus Zusammenstellung
der verschiedenen ontogenetischen Stadien erschlossen , die man bis-
weilen auf einem und demselben Gomphonema-Bäumchen neben ein-
ander antrifl't.
ü. Protomonas Huxleyi.
(Tat. II, Fig. 5—8).
In dem pelagischen Mulder, welchen ich im August des letzten
Jahres mit dem feinen Netze von der Oberfläche der Nordsee in der
Nähe von Bergen fischte, befanden sich eine grosse Menge von Dia-
tomeen aus der Gattung Rhizosolenia. An einer von diesen Rhizoso-
ienien bemerkte ich ganz zufällig vier kleine kugelige Bläschen ansitzen
von ungefähr 0,03 Mm. Durchmesser (Fig. 'i.) Bei starker Vergrösse-
rung zeigte sich, dass eine von diesen kugeligen Cysten mit structur-
losetii, feinkörnigen, farblosen Protoplasma ganz angefüllt war (Fig. ^A.)
Die drei anderen Blasen enthielten statt dessen eine grosse Anzahl von
kleinen Protoplasma-Kugeln [b] von derselben Beschaffenheit, wie das
Piotoplasma der grossen Kugel. Weder in dieser letzteren noch in den
kleinen Protoplasma -Kügelchen war eine Spur von Kernen wahrzu-
nehmen; auch andere geformte Inhaltsbeslandtheile fehlten gänzlich.
Die kleinen Kügelchen hatten ungefähr 0,008 Mm. Durchmesser. Die
Cystenhülle erschien in allen vier Kugeln ziemlich derb, doppelt con-
tourirt, struclurlos, etwa 0,0015 Mm. dick.
Da ich weder an der grossen Protoplasma - Kugel , noch an den
kleinen Kügelchen in den drei anderen Cysten irgend eine Slructur
wahrnehmen konnte, schloss ich daraus, dass hier die Forlpflanzungs-
30 Ernst Haeckel,
kapseln irgend einer Moneren -Form vorlägen. Diese Vermuthung be-
stätigte sich in der That. Um möglicher Weise eine weitere Entwicke-
lung der Kapseln wahrzunehmen, isolirte ich die Rhizosolenia in einer
kleinen feuchten Kammer. Schon am folgenden Tage halte ich das Ver-
gnügen, in zwei von den drei Kapseln, welche init kleinen Kügelchen
gefüllt waren, eine langsanie rotirende Bewegung wahrzunehmen. Als
ich nun die Kapseln durch leichten Druck auf das Deckglas sprengte,
traten birnförmige Cytoden heraus, welche an einem Ende abgerundet,
am anderen Ende in eine lange und sehr feine fadenförmige Geissei
ausgezogen waren (Fig. 5rf). Ihre Länge betrug gegen 0,04 Mm. Diese
Schwärmsporen bewegten sich langsam in dem Wasserlropfen umher
und zerstreuten sich dann Ich stellte nun den Objectträgei- wieder in
eine feuchte Kannner. Schon nach wenigen Stunden hatte die Geissei-
bewegung der Schwärmer aufgehört und an ihrer Stelle fand ich in dem
Wassertropfen kleine amoebenartige Körperchen, von 0,01 — 0,01 2 Mm.
Durchmesser (Fig. 0.) Sie krochen langsam auf der Glasplatte umher,
indem sie eine geringe Zahl von sehr feinen , fadenförmigen Fortsätzen
ausstreckten und wieder einzogen. Auch an diesen amoeboiden Kör-
perchen war keine Spur von einem Zellenkern, und eben so wenig von
einer Vacuole oder von einer umhüllenden Membran wahrzunehmen.
Einige von diesen Cytoden konnte ich nachher noch einige Zeit ver-
folgen, und sah, dass sie allmählich begannen, eine grössere Anzahl von
haarfeinen Fortsätzen auszustrecken. Sie nahmen fast die Gestalt sehr
kleiner Actinophrys an (Fig. 8.) Einmal traf ich auch zwei amoeboide
Cytoden, welche mittelst eines feinen Pseudopodiums zusannnenhingen
(Fig. 7.) Ob diese Verbindung nur zufällig war, oder ob sie als Vor-
bereitung zur Theilung (oder vielleicht auch umgekehrt zur vollstän-
digen Verschmelzung) anzusehen war, vermochte ich nicht zu unter-
scheiden. Nahrungsaufnahme habe ich nicht beobachtet. Auch Körnchen
fehlten in den kleinen Protoplasma - Klümpchen , und somit natürlich
auch die Körnchenbewegung an den Pseudopodien.
Das Protoplasma der grossen Kugel {A) , deren Cyste bei dem
Sprengversuch auch geborsten war, zeigte nach dem Austreten keiner-
lei Bewegung, ebenso auch nicht die Kügelchen der dritten Cyste.
Soweit sich aus diesen unvollständigen Beobachtungen schliessen
iässt, liegt hier eine Moneren-Form vor, welche sich unter den bekannten
Moneren am nächsten an die von Cienkowski vortrefflich beschriebene
Protomonas amyli anschliesst *). Den Gattungscharakter von Pro-
i) Cienkowski, Beiträge zur Kenntniss der Monadon. Arcli. für mikr. Anat.
1865. Vol. I. p. 213. Taf. XII, Fig. 1—5. Vergl. ferner Bulletin phys. matli. Acad.
Nachträge zur Monograpliic der Moneren. 31
tomonns hübe ich in mointM" Monographie der Moneren folgender-
innnsscn hcstiinnit: »Ein einfaclistci- formloser I*rotopIas?na- Körper,
ohne Vaeuolenl>ii(hini;, Nvelelier einfaclie otler vei'äslelle Pseudopodien
treibt. Foitpllanzung (hn'ch Schwärinsporen, welche in l'lasniodien
zusaniMienfliessen. Der frei bewegliche Zustand des Monei'es wird von
einem lUiliezuslande mit IlUllenbildung unteibrociu'n.u Die von Cien-
KowsKi entdeckte Species, bisher die einzige der Gattung, ist folgendei-
maassen charakterisirt : «Protoplasmaköi'per ein Plasmodium, welches
durch Verschmelzen mehrerer Schw;irnisj)oren entsteht, von ungefähi"
0,02 — 0,0f) Mm. Durchmesser, mit wenigen, verästelten, sehr feinen
Pseudopodien. Ruhezustand eine rundliche Lepocytode, deren Membran
keilförmige, nach innen vorragende Warzen treibt. Schwärmsporen
spindelförmig, sehr contractu, mit mehreren, (zwei?) Geissein versehen,
sich nach Art einer Anguillula bewegend. a Die Prolomonas Amyli lebt
in faulenden Nitellen des süssen Wassers.
Wie man sieht, sind die Unterschiede der Pro tom onas amyli
von der vorliegenden P. Iluxleyi jedenfalls hinreichend gross, um die
letztere als eine besondere »gute Species« zu betrachten. Bei P. amy li
sind die Schwärmsporen spindelförmig, mit mehreren Geissein; bei
P. II u X I e y i dagegen birnförmig, mit einer Geissei. Die Cystenwand
der ersteren ist an der inneren Seite mit keilförmigen vorragenden
Warzen versehen, welche der letzteren fehlen. Auch habe ich bei
P. Iluxleyi nicht mit Sicherheit die Verästelung der Pseudopodien
gesehen, welche bei P. amyli voikomml. Dass die Schwärmsporen
bei der ersteren ebenso wie bei der letzteren zu Plasmodien zusanunen-
lliessen, bezweifle ich nicht, obwohl ich es nicht direct beobachtet habe ;
die in Fig. 7, dargestellten zwei Cytoden , welche durch einen Faden
zusammenhängen, sind vielleicht in Verschmelzung, vielleicht aber
auch in Theilung begriffen. Bei beiden Arten von Protomonas fehlt
zugleich die Vacuolenbildung im Protoplasma, und dadurch unterschei-
den sie sich wesentlich von der sonst nächstvervvandten Prolomyxa,
die sich auch ausserdem durch ihre üppigen Protoplasma -Netze aus-
zeichnet.
Der Lebenslauf der Protomonas Iluxleyi , wie er sich aus den vor-
liegenden unvollständigen Beobachtungen und aus der Analogie der
P. amyli ziemlich sicher errathen lässt, wird folgender sein. Die
(Jeisselcyloden oder Schwärmsporen, welche aus der geborstenen Cyste
austreten (Fig. oD) schwärmen im Wasser mittelst ihrer Geissei undier.
St. Pelersb. T. XIV, XVII. Pring.sheims Jalirbiiclier I, 371. Vergl. ferner meine
Mouogr. der Mouercu : VI. System der Moneren, üeaus IV.
32 Ernst Haeekel,
sinken dann zu Boden und gehen in den anioeboiden Zustand über
(Fig. 6) , aus welchem sich weiterhin vielleicht ein actinophrysnrtiger
Zustand entwickelt (Fig. 8.) Durch weiteres Wachsthuni (vielleicht
auch durch Verschmelzung mehrerer Cytoden zu einem Plasmodium
(Fig. 7) entstehen grössere Protoplasmastücke (nackte Cytoden), welche
nach Erlangung einer gewissen Glosse in den Ruhezustand üliergehen
und sich einkapseln. Der Protoplasma-Körper setzt sich fest, zieht sich
zusammen und schwitzt eine Hülle aus (Lepocytode, Fig. 5.4). Inner-
halb dieserCyste zerfällt derselbe in zahlreiclie kleine Kugeln (Fig. 'iß, C.)
Diese verwandeln sich wiederum in die birnförmigen Schwärmsporen,
von welchen wir ausgingen. Ich benenne diese neue Moneren -Art zu
Ehren des berühmten Entdeckers des Balhybius.
3. Neue Arten von Protamoeba
(Taf. II, Fig. 9—12).
Die Moneren , welche meine Gattung Protamoeba bilden , unter-
scheiden sich von den übrigen Formen dieser Classe einerseits durch
die einfachen Pseudopodien , welche nicht mit einander anaslomosiren
und keine Netze bilden ; anderseits dadurch , dass sie sich in der
einfachsten Weise durch Theilung fortpflanzen, ohne in einen Ruhezu-
sland überzugehen. Die andere Moneren-Galtung, welche sich ebenso
fortpflanzt. Pro logen es, treibt lange und dünne, vielfach veriislelle
Pseudopodien, welche confluiren und Protoplasma-Netze bilden.
Moneren, welche demnach zu der Gattung Protamoeba gehören,
scheinen sowohl im süssen als im salzigen Wasser sehr weit verbreitet
zu sein. Schon jetzt bin ich im Stande, der zuerst von mir 1860 in der
generellen Morjjhologie (Vol. I, p. i3."^) beschriebenen Protamoeba
primitiv a nicht weniger als vier andere Formen anzureihen, welche
man als »gute Species« dieses Genus betrachten kann, wenn man bei
diesen niedersten Organismen überhaupt noch von Genus und Species
sprechen darf.
I, Protamoeba simplex.
Taf. II, Fig. 12.
Am nächsten der Protamoeba primitiva, welche ich in der
Monographie der Moneren (Taf. II, Fig. 2')— 30) abgebildet habe , steht
ein ansehnlich grosses Moner, welches ich Protamoeba simplex
nennen will /Fig. 12.) Dasselbe bildet unregelmässig rundliche Proto-
plasma-Klumpen, welche sich bald mehr der Kugelgestalt nähern
Nachträge zur Monographie der Moneren. 33
(Fig. \2A), bald flacher sich ausbreiten, und dabei an verschiedenen
Stellen unregelmiissig rundliche lappige Auflreibungen bilden, die man
aber kaum als Pseudopodien bezeichnen kann. Das Protoplasma dieser
Klumpen erscheint eigenthümlich wachsarlig, stark lichtbrechend,
glänzend, gänzlich structurlos. Die Oberfläche ist eigenlhtimlich gerunzelt
oder in bogenförmige Fallen gelegt. Kleine Körnchen scheinen an
der Oberfläche kleben zu bleiben, aber nur selten in das Innere zu
dringen. Die Aufnahme fremder Körper wurde niemals beobachtet.
Das Verhalten gegen Reagentien ist das gcNNöhnliche des Protoplasma.
Durch Carmin werden die Klun)pen durch und durch roth gefärbt. Die
Grösse ist sehr beträchtlich. Neben kleineren Individuen von 0,05—
0,1 Mm. Durchmesser giebt es auch solche, deren Durchmesser 0,2 —
0,3 Mm. erreicht, und die man daher unter günstigen Umständen mit
blossem Auge erkennen kann.
Protamoeba simplex scheint nicht selten zu sein. Ich habe
sie in Süsswasser-Infusionen schon in früheren Jahren gelegentlich be-
obachtet, jedoch'immer nur in solchen Infusionen, welche humusreiche
Walderde enthielten. Ich konnte früher aber Nichts mit diesen sonder-
baren Klumpen anfangen , da ich daran keine Bewegung wahrnahm.
Erst als ich im letzten Jahre dieselben wiederfand, fiel es mir ein, dass
dieselben wohl eine Moneren-Form darstellen könnten. In der That ergab
sich bei chemischer Prüfung sofort die Protoplasma-Natur der Klumpen,
und sehr genaue und anhaltende Beobachtung lehrte auch schwache
Form Veränderungen wahrnehmen. Jedoch geschehen dieselben nur sehr
langsam, und da auch weder Nahrungsaufnahme noch Fortpflanzung an
diesen Protoplasma -Klumpen beobachtet wurde, so bleibt ihre Prota-
moeben-Natur einstweilen noch zweifelhaft.
II. Protamoeba agilis.
(Taf. II, Fig. 9.)
Diese kleine Protamoeba habe ich im Juni des letzten Jahres in sehr
grosser Menge beobachtet. Sie fand sich in einem Behälter mit Wasser,
welches ich aus den Teichen des Rodathales (einige Meilen südöstlich
von Jena) geholt hatte. Das Wasser enthielt Spirogyren und einige an-
dere Algen, sowie eine geringe Menge von Infusorien, Räderthieren etc.
Nachdem das Glas mit Wasser einige Wochen am Lichte gestanden halte,
stiess ich zuerst in dem feinen Mulder oder Schlamm, der sich auf dem
Boden abgesetzt hatte, auf einzelne Prolamoeben. Dieselben vermehrten
sich so rapide, dass ich einige Tage später fast in jedem Wassertropfen,
den ich mit der Pipette vom Grunde des Gefässes heraufholte, ein oder
Bd. VI. <. 3
34 Ernst Haeckel,
einige Protamoeben vorfand. Gewiss waren in dem Glase viele Tausende
vorhanden. Eine Woche später war Alles verschwunden. Vielleicht
war ein kleiner Wurm (Chaelogaster) daran Schuld, der sich inzwischen
entwickelt und die Bedingungen des Kampfes ums Dasein in dem kleinen
Aquarium gänzlich verändert halte.
Der Durchmesser der Protamoeba agilis beträgt 0,04 — 0,06 Mm.
Ihre Form ist unregelmässig rundlich lappig (Fig. 9] . Die Pseudopodien
sind wenige und kurze, breite, stumpfe Forlsätze. Aber ihre Bewegun-
gen sind sehr rasch und lebhaft. Das Protoplasma des Körpers scheidet
sich sehr deutlich in zwei verschiedene Schichten , eine hyaline , körn-
chenfreie, festere Rindenschicht (Ectosark) , und eine trübe , körner-
reiche, weichere Markschicht (Endosark). Beide Schichten sind aber
keineswegs scharf getrennt, sondern gehen ganz allmählich in einander
über, wie bei vielen echten Amoeben. Wie bei diesen erfolgt auch die
Nahrungsaufnahme. Wo ein fremdes Körperchen die Oberfläche be-
rührt, verdünnt sich das hyaline Ectosark und das Körperchen wird in
das körnige Endosark plötzlich hineingezogen. Das Endosark ist sehr
weich, so dass sich bei jeder Bewegung die darin enthaltenen Körnchen
vielfach verschieben. Von Nucleus und contractiler Blase ist keine Spur
vorhanden.
Die Fortpflanzung durch Theilung Hess sich mit Leichtigkeit an
sehr zahlreichen Individuen beobachten. Die Protamoeba schnürte sich
dann in der Mitte ein (G, //). Das körnige Endosark strömte in die
beiden entgegengesetzten Hälften hinein , und die hyaline Bi'ücke des
Ectosark , welche diese noch kurze Zeit zusammenhielt , zerriss. Die
beiden Theilproducte fuhren sogleich fort, sich ebenso wie die unge-
theilte Protamoebe zu bewegen.
III. Protamoeba Schultzeana.
(Taf. II, Fig. 10.)
In norwegischem Meeressand, den ich in der Nähe von Bergen,
nahe dem Strande , aus geringer Tiefe mit dem Schleppnetz heraufge-
holt hatte, und der sehr reich an lebenden Polythalamien war, beob-
achtete ich im August vorigen Jahres in mehrei^en Exemplaren eine sehr
ausgezeichnete neue Protamoeben-Form (Fig. 1 0 A — D) . Dieselbe bildete
gewöhnlich unregelmässig höckerige, kugelige Klumpen, von durch-
schnittlich 0,1 Mm. Durchmesser. Das Protoplasma war deutlich in
eine körnchenfreie, festere, hyaline Rindenschicht (Ectosark) und eine
fcörnerreiche , weichere, trübe Markmasse (Endosark) differenzirt, ähn-
lich wie bei P. polypodia und P. agilis. Doch waren die beiden
Schichten noch weniger scharf getrennt wie bei der letzteren. Der
Nachträge zur Monographie der Moneren, 35
centrale Sarcodekörper, welcher meistens der Kugelgestalt mehr oder
weniger genähert blieb, und daher bei seinen unregelmässigen Bewe-
gungen auf der ebenen Unterlage dos Objecltrügers förmlich langsam
fortrollte, bildete in sehr charakteristischei- Weise an vielen Stellen seiner
Oberiläche gleichzeitig eine grössere Anzahl (20 — 30) dicke, höckerige,
rundliche Forts;itz(>. Bald waren diese Fortsätze nichr cylindi'isch, bald
mehr kegelförmig, bald mehr llächenartig ausgebreitet. Ihre Länge kam
dem Durchmesser der centralen Körpermasse gleich, der sie aufsassen,
oder übertraf selbst diesen letzteren. Die Fortsätze wurden von beiden
Körperschichten gebildet. Sie waren einem lebhaften Wechsel unter-
worfen. Wenn sich ein neuer Fortsatz bildete, strömte plötzlich die
innere, dunkle, körnige Masse des Endosark mit giosser Energie in das
sich ausstülpende hyaline lüctosark, wie in einen Bruchsack hinein.
Das am meisten Charakteristische aber \\ai- die Beschaffenheit des letz-
teren. Die ganze Oberfläche des hyalinen Ectosark nämlich erschien
beständig mit einer grossen Masse von kleinen , stumpfen Wärzchen
besetzt. Diese kleinen hyalinen Wärzchen oder Höckerchen halten
meistens Kegel- oder llalbkugelform. Sie entstanden und vergingen in
raschem W^echsel, so dass man sie wohl als »Neb enpseudopodi en«
bezeichnen kann, im Gegensatz zu den grossen und starken »Ilaupt-
jiseudopodien«, deren Oberfläche sie bedeckten. Die Bewegungen
dieser merkwürdigen Prolamoeba waren sehr lebhaft, und geschahen
eigenthümlich ruckweise , indem das sphäroidale Protist sich auf den
vorstehenden Höckern rollend fortwälzte, fast wie ein Seeigel auf seinen
Stacheln.
Von einem Kern oder einer contractilen Blase war auch bei dieser
Protamoeba keine Spur vorhanden. Nahrungsaufnahme habe ich nicht
beobachtet, wohl aber zweimal Fortpflanzung.durch Theilung (Fig. 1 OB, C) .
Die sich theilenden Individuen bildeten in der Mitte eine ringförmige
Einschnürung. Das körnige dunkle Endosark strömte in entgegengesetz-
ter Richtung ziemlich heftig in die beiden aus einander tretenden Hälften
hinein [\0B) und die hyaline Brücke von Ectosark, welche beide Stücke
noch kurze Zeit zusammenhielt, zerriss. Die beiden Kinder begannen
sofort in derselben sonderbaren Weise fortzurollen , wie ihr elterlicher
Organisnms. Ich benenne diese neue Protamoeben-Foru) zu Ehren
meines Freundes Ma.\ Schultze.
IV. Protamoeba polypodia.
(Taf. II, Fig. 11.)
In dem schmutzigen und stinkenden Wasser, welches die tief ein-
geschnittenen kleinen Buchten des Hafens von Bergen , zwischen den
36 Ernst Haeckel,
Häuserreihen , erfüllt , beobachtete ich einige Male die in Fig. 1 1 abge-
bildete Moneren-Form. Dieselbe hat so aufFallendeAehnUchkeit mit dem
von Max ScHiiLTZK alsAmoeba polypodia^) beschriebenen Organis-
mus , dass man an der Identität beider Formen wohl kaum zweifeln
kann. Max Schultze fand dieselbe im Lagunenwasser von Venedig,
und bemerkt dazu: »Durch die zahlreichen langen, schmalen, abge-
stumpften, hyalinen Fortsätze ausgezeichnet, welche sich ziemlich leb-
haft bewegen.« Auch an den von mir in Bergen beobachteten Formen
war die Bewegung der Pseudopodien ziemlich lebhaft. Sie krümmten
und streckten, verlängerten und verkürzten sich, während die Prota-
moeba auf dem Objectträger fortkroch.
Der Durchmesser des Körpers mit ausgestreckten Pseudopodien
betrug ungefähr 0,1 Mm. , wovon etwa der dritte Theil auf die unge-
theilte mittlere Körpermasse und eben so viel auf die grösseren Pseudo-
podien kam. Die Zahl der letzteren betrug gewöhnlich zwischen 15
und 30. Die Pseudopodien waren dünn cylindrisch , bei der ansehn-
lichen Länge von 0,02 — 0,OiMm. nur 0,002 Mm. dick, am Ende stumpf
abgerundet. Gewöhnlich waren sie unverästelt, seltener an der Basis
gabellheilig, sehr selten mehrfach getheilt. Sie bestanden immer bloss
aus dem hyalinen körnchenlosen Ectosark, welches ohne scharfe Grenze
in das körnige, weiche Endosark der centralen Leibesmasse überging.
Da jede Spur von Kern in dem Körper dieser Cytoden fehlt, kann
man sie nicht als echte Amoeben betrachten. Diese sind immer kern-
haltig, also echte Zellen. Um jedoch die A. polypodia mit voller
Sicherheit als eine echte Protamoeba anzusehen, würde man aller-
dings erst die Forlpflanzung durch Theilung kennen müssen, die bisher
nicht beobachtet wurde. Auch Nahrungsaufnahme habe ich nicht be-
obachtet. Doch bildet Max Schultze im Innern der venetianischen Form
eine Bacillarie ab.
Ausser der A. polypodia sind vielleicht auch noch zwei andere,
von Max Schultze entdeckte und als Amoeben beschriebene Protisten
in die Gattung Protamoeba zu versetzen, nämlich die A, globularis
(1. c. TaL VII, Fig. 20) und die ebendaselbst in Fig. 19 abgebildete
Amoebe, welche man als P. limbosa bezeichnen könnte. Weder Kern
noch contractile Blase ist in der Abbildung wahrzunehmen. Da jedoch
die Fortpflanzung dieser beiden Formen nicht beobachtet wurde, bleibt
ihre systematische Stellung einstweilen noch zweifelhaft.
1) Max Schultze, Ueber den Organismus der Polylhalamien, Leipzig 1854,
Tat. VII, Fig. 21.
Nachlriige zur Moiiojirrtphic der Moneren. 37
4. Die Moneren und die Urzeugung.
Uiilor den vielen Frai^on von Jillgenieineror Bcdculuni; und grösserer
Tragweite, welehe Darwin's Rel'oiin der Descendenzlheoiie neu angelegt
oder ihrer Entscheidung genähert hat, ist eine der wiehtigslen und zu-
gleieh schwierigsten die Frage von der Urzeugung. Zwar hat Darwin
dieselbe in seinem Werke gar nicht berührt, viehiichr ausdrückheh er-
klärt, dass er »Nichts mit dem Ursprung des Lebens zu schaflen habe«.
Indessen muss natürlich jeder denkende Leser seines Buches die Frage
aufwerfen, woher denn die »erste einfachste Urform« komme , aus der
alle übrigen organischen Formen nach Darwln's Selectionslheorie abge-
leitet werden können. Auch beweist die lebhafte und allgemeine Theil-
iiahme, welche seitdem wieder für die Urzeugungshypothese allerseits
sich geltend macht, zur Genüge, in welchem innigen Zusammenhange
dieselbe mit der Descendenztheorie steht.
In der That ist die Theorie der Urzeugung ein noth wen-
diger und integrirender Bestandtheii der universalen
Entwickclungstheo rie. Sie ist die natürliche Brücke, welche die
KANT-LAPLACE'sche Theorie von der mechanischen Entstehung des Welt-
gebäudes und der Erde continuirlich verbindet mit derLAMARCK-ÜARWiN-
schen Theorie von der mechanischen Entstehung der Thier- und Pflan-
zen-Arten. Wenn wir einerseits in dem gesammten Entwickelungsgang
der anorganischen Natur, in der Entstehung der Sonnensysteme mit ihren
verwickelten Planetenbahnen, der Erdrinde mit ihren Meeren, Gebir-
gen u. s. w. , andererseits aber in dem gesammten Entwickelungsgang
der organischen Natur, in der Entstehung aller der mannichfaltigen
Organismen aus einer einfachsten Stammform, überall ein und dasselbe
grosse Gesetz continuirlicher Entw ickelung , überall ein und dasselbe
allmächtige Causalgesetz , das natürliche Gesetz des nothw endigen Zu-
sammenhanges von Ursache und Wirkung walten sehen , so sind wir
durch die logischen Gesetze unseres Denkens gezwungen, auch für den
einzigen dunkeln Punkt in diesem ganzen Entwickelungsgang , für die
Entstehung jener einfachsten organischen Stammform einen natür-
lichen Vorgang, kein unnatürliches Wunder, keinen übernatürlichen
Schöpfungsact anzunehmen. Dieser natürliche Vorgang, mag man den-
selben sich im Einzelnen noch so verschieden vorstellen, ist nichts An-
deres als die Urzeugung, d.h. die Entstehung einfachster Organismen
aus sogenannter lebloser anorganischer Materie.
Bis in die neueste Zeit hinein ist die Lehre von der Urzeugung von
der grossen Mehrzahl der Naturforscher , die sich damit beschäftigten,
ungemein unverständig und roh behandelt w orden. Statt sich zunächst
38 Ernst Haeckel,
die Bedeutung der Frage nach allen Richtungen hin theoretisch klar zu
machen, und die sehr verwickelte Natur derselben gehörig zu erörtern,
hat man sich sofort auf das Experimentiren gestürzt, und von diesem
Antworten verlangt, noch ehe man gehörig Fragen gestellt hatte. Die
Art und Weise, wie dies geschah, ist allbekannt. Nachdem man in
höchst künstlich dargestellten Apparaten, nach Anwendung alier mög-
lichen künstlichen Maassregeln , keine Organismen in der Versuchs-
flüssigkeit hatte entstehen sehen , glaubte man ohne Weiteres die ganze
Lehre widerlegt zu haben und kam zu dem höchst unüberlegten
Schlüsse: »Es giebt keine Urzeugung.« Und doch konnten alle jene
berühmten Experimente von Pasteur u. s. w. weiter gar Nichts be-
weisen , als dass in jenem speciellen Falle , unter jenen höchst künst-
lichen und verwickelten Bedingungen, keine Organismen durch Urzeu-
gung entstanden seien.
In der ausführlichen Kritik der Urzeugung, die ich im sechsten
Capitel der generellen Morphologie gegeben habe, glaube ich zur Ge-
nüge das völlig Wcrthlose aller jener vielbewunderten Experimente
nachgewiesen, und gezeigt zu haben, dass man diese Frage ganz anders
behandeln müsse. Positiv widerlegen lässt sich die Hypothese der Ur-
zeugung überhaupt niemals. Positiv bewiesen ist dieselbe insofern
bisher auch nicht, als man noch niemals Organismen ohne elterliche
Zeugung wirklich hat entstehen sehen. Aber durch meine angeführte
Erörterung glaube ich allerdings gezeigt zu haben , dass gegenwärtig
(Dank unseren biologischen Fortschritten in dem letzten Decennium!)
die Urzeugung als Hypothese nicht mehr die theoretischen Schwierig-
keiten besitzt, welche sie uns früher entgegenstellte.
Nichts ist in dieser Beziehung wichtiger als die Entdeckung der
Moneren. Bevor wir diese einfachsten — nicht nur wirklich ein-
fachsten , sondern auch denkbar einfachsten ! — Organismen kannten,
musste immer die Vorstellung der Urzeugung schon daran scheitern,
dass wir uns den Organismus, auch den einfachsten, nur denken konn-
ten als ein ausdifferentenFormbestandlheilen zusammengesetztes Ganze.
Selbst die einfachste »Urzellc«, die man gewöhnlich als die erste Stufe
in der langen Stufenleiter der organischen Wesen betrachtete, war
doch schon ein » Elementar- Organisnuis« , zusammengesetzt aus zwei,
chemisch, physikalisch und morphologisch differenten Bcstandlheilen,
aus dem inneren Nucleus und dem äusseren Protoplasma. Die Entstehung
einer solchen kernhaltigen Plastide unmittelbar durch Urzeugung ist
schwer denkbar.
Ganz anders liegt die Sache jetzt, wo wir in den Moneren Organis-
men kennen gelernt haben, deren ganzer Körper einer nackten kern-
NiichUäge zur Moiio^^iapliie der Moneren. 39
losen Phistitlc, ;ilso einer einfachsten Cytode oder Cellinc cnl-
spriclil. Der gjmzeKöi-per, S()\\eil er dei' Erforschung mit unsern f(Mnslen
optischen und chemischen Untersuchungsmittcin zugänglich ist, besteht
bei diesen Moneren ;uis einer durchaus homogenen Substanz , einer
slructurloscn Eiweissverbindung, und dieser denkbar einfachste Pro-
toplasma-Körper ist noch da zu an sich ganz formlos. Die Form,
welche er in jedem Augenblick zeigt, ist erst Product der Aussen weit,
ist erst durch Anpassung an die Existenzbedingungen der Aussen-
welt entstanden ! Bei den einfachsten Moneren , bei den Prolamoeben
und Protogenes, gicbl es eigentlich auch noch gar keine individuelle
Entwickelungsgeschichte , keine wahre Ontogenic der Form. Die ganze
Enlwickelung derselben ist einfachstes Wachsthum, wie bei den
anorganischen Krystallen, und wenn dieses Wachsthum durch Er-
nährung einen gewissen Grad erreicht hat, zerfällt der Körper, dessen
Molekeln nicht Cohäsionskrafl genug mehr besitzen, um die ganze Masse
zusammenzuhalten, in zwei Stücke. Aus einem bidividuum sind durch
Selbsttheilung zwei neue geworden.
Man kann sich in der That diesen einfachsten Forlpflanzungsprocess
der Protamoebon und Protogenes ganz mechanisch vorstellen und auf
die Co häsions- Verhältnisse der Protoplasma- Molekeln
physikalisch zurückführen. Das Wachsthum des einfachen Plasma-
Stückchens ist ein rein physikalischer Process , so gut w ie das Wachs-
thum jedes Krystalles. Der wichtigste Unterschied zw ischen beiden, dass
das Wachsthum des anorganischen Krystalles durch Apposition von
aussen, das Wachsthum des organischen Moneres durch bitussusception
nach innen geschieht, ist einfach durch den festen Aggregatzustand des
ersteren, durch den festflüssigen Zustand des letzteren bedingt, hi
Folge dessen kann auch, aus den einfachsten mechanischen Gründen,
beim Krystalle keine Forlpflanzung stattfinden. Beim Moner dagegen
muss dieselbe eintreten, sobald die begrenzte Cohäsionskraft der im
Imbibitionszustande befindlichen Plasma-Molekeln nicht mehr ausreicht,
die ganze Masse des Körpers zusammen zu halten. Die wichtigsten
Lebenserscheinungen der Moneren Hessen sich so auf die einfachste
Weise mechanisch erklären, d. h. auf physikalisch-chemische Ursachen
zurückführen. Alle übrigen Erscheinungen würden erst durch spätere
Anpassung sich erklären lassen.
Wenn wir nun für diese Moneren eine ursprüngliche phyletische
Entstehung durch Urzeugung annehmen , so handelt es sich bloss noch
um die Frage: Wie entsteht das chemische Substrat ihres Körpers, die
homogene Protoplasma-Substanz , welche allein denselben zusammen-
setzt ? Durch die neueren Fortschritte der synthetischen Chemie haben
-10 Ernst Haeckel,
wir schon so viele und verwickelte Kohlenstoff- Verbindungen in unseren
Laboratorien künstlich zusammensetzen gelernt, dass die Annahme durch-
aus gerechtfertigt erscheint, ähnliche Verbindungen und zwar eiweiss-
artige Verbindungen können sich auch frei in der Natur bilden. Gewiss
mit Recht dürfen wir in dieser Beziehung dem grossen chemischen Labo-
ratorium der Natur noch Etwas mehr zutrauen, als unsern künstlichen
Laboratorien, in denen wir im Grunde doch immer nur mit höchst
beschränkten Mitteln arbeiten. Wenn man uns entgegenhält, dass wir
wirklich noch keine echten Eiweiss-Verbindungen, und namentlich kein
lebensfähiges Protoplasma künstlich haben darstellen können, so beweist
dies gar Nichts gegen unsere Ansichten. Denn eben so wenig sind wir
bisher im Stande gewesen, eine Menge von verschiedenen Mineralien
künstlich herzustellen, wie z. B. Feldspath, Flussspath , Schwerspath,
Augitu. s. w. Auch diese anorganischen Krystalle können wir der Natur
nicht »nachmachen«. Wenn man daher in jenem Umstände irgend einen
Anhaltpunkt finden will für die unwissenschaftliche dualistische An-
nahme , dass die ersten Organismen durch »Schöpfung« auf übernatür-
lichem Wege entstanden seien, so muss man eine eben solche »Schöpfung«
für alle die genannten und viele andere Mineralien annehmen, die wir in
unseren Laboratorien nicht künstlich darstellen können. Die ganze Welt
zerfällt nach dieser weit verbreiteten Logik in zwei Abtheilungen:
I. Natürliche Welt: Die einfacheren Verbindungen der Ele-
mente (Metalle und Metalloide), z. B. Wassei-, Oxyde, Säuren, die
Mehrzahl der Salze und überhaupt alle künstlich darstellbaren »an-
organischen Verbindungen«, aber auch die Kohlensäure, Kohlenvsasser-
stoffe und andere einfachere Kohlenstofl- Verbindungen , z. B. Alkohol,
Essigsäure etc., welche wir alle künstlich aus den Elementen darstellen
können. Alle diese Körper sind durch »Urzeugung«, d. h. auf natür-
lichem mechanischen W^ege, lediglich durch Zusammenwirken der den
Stoffen innewohnenden physikalischen und chemischen Kräfte ent-
standen.
IL Ueberna tür liehe Welt: Feldspath, Flussspath, Schwer-
spath, Augit und alle anderen Mineralien , welche wir nicht künstlich
durch Synthese der Elemente darstellen können , ferner alle die ver-
wickeiteren (organogenen) Kohlenstoff- Verbindungen (Eiweisskörper,
Kohlenhydrate, Chitin, etc.) bei denen eine solche »künstliche« Dar-
stellung aus den Elementen ebenfalls bis jetzt nicht gelungen ist. Alle
diese Körper sind durch «Schöpfung«, d. h. auf übernatürlichem Wege,
durch ausserhalb der Körper befindliche, mystische Schöpferkräfte
entstanden.
Für den wahrhaft philosophisch gebildeten Naturforscher bedarf es
Nachträge zur Moiioj^rapliie der Moiieri'ii. 4 1
keines Hinweises darauf, dass diese Anschauungen eben so unhaltbar
sind, wie jede Annahme einer )iSchöpfung« überhaupt. Dagegen ist die
Annahn\e einer Urzeugung für die ersten lebenden Wesen , aus denen
sich alle übrigen entwickelt haben, ein logisches l'oslulat der mensch-
lichen Vernunft.
Dass wir die Urzeugung von Moneren bisher noch nicht wirklieb
])eol)achtct hal>en, ist eigentlich nicht im Geringsten zu verwundern.
Denn wie ich wiederholt hervorgehoben habe, würde dieser Process,
selbst wenn er allliiglich und allstündlich stattfände, äusserst schwierig
zu beobachten sein. Sehr kleine formlose Protoplasma-Klümpchen findet
man massenhaft sowohl im Meere als in den süssen Gewässern vor, so-
bald man nur aufmerksam danach sucht. Der Mikroskopiker, welcher
dieselben zufällig findet, beachtet sie nicht oder hält sie für zerstörte
Fragmente von Organismen , die in der Auflösung begrilTen sind. Wo
ist aber der Beweis für diese Ansicht? Und wer wird den klaren Be-
weis zu führen sich getrauen , dass diese überall zu findenden kleinen
Partikelchen von Protoplasma nicht durch Urzeugung entstanden sind?
Nehmen wir an , dass wirklich die Urzeugung derselben noch heutzu-
tage fortdauere, nehmen wir an, dass sie weder selten noch in be-
schränktem Maassstabe stattfindet, so w ird sie dennoch äusserst schwierig
direct zu beobachten und zu verfolgen sein. Die erste Entstehung eines
Protoplasma-Ivörnchcns in einer Flüssigkeit, welche die zur Urzeugung
erforderlichen Bedingungen enthält, wird eben so momentan erfolgen
und eben so schwer durch direete Beobachtung zu verfolgen sein , wie
die erste Entstehung eines Krystalles in seiner Älutterlauge. Und nicht
minder schwierig wird nachher die Beobachtung der langsamen Wachs-
Ihumsvorgänge sein, durch welche sich die äusserst kleinen, kaum wahr-
nehmbaren Plasma-Partikelchen zu den grösseren Plasma-Körpern der
Prolamoeben etc. gestalten !
Unter allen bis jetzt bekannten Moneren ist vielleicht Balhvbius
für die Hypothese der Urzeugung von der grössten Bedeutung. Die
ungeheueren Massen von nacktem lebenden Protoplasma , welche nach
Hl xLEv's denkwürdiger Entdeckung die tiefsten Abgründe des Meeres
bedecken , und die ich in den »Beiträgen zur Piastidentheorie« näher
beschrieben habe, machen die Annahme , dass die Urzeugung auch jetzt
noch beständig fortdauert, wahrscheinlicher, als irgend eine andere
bis jetzt bekannt gewordene Thatsache. Denn wovon sollen wir sonst
diese Protoplasma -Decken des tiefsten Meeresgrundes ableiten? Wel-
chen anderen Ursprungs-Quell sollen wir für sie aufsuchen ?
Vergessen wir nicht, dass wir uns angesichts der heule noch leben-
den Moneren , und namentlich angesichts des Bathybius, in folgende
42 Ernst Haeckel,
Alternative versetzt finden : Entweder sind Moneren nur einmal, im
Beginn des organischen Lebens auf der Erde, durch Urzeugung ent-
standen , — und dann müsslen sich dieselben in gerader Linie seit
vielen Millionen Jahren unverändert bis auf den heutigen Tag fortge-
pflanzt haben. Oder es sind Moneren mehrmals im Verlaufe der orga-
nischen Erdgeschichte, durch wiederholte Urzeugungs-Acte entstanden
— und dann ist nicht abzusehen, warum dieser Process nicht auch heute
noch fortdauern soll. Bei unbefangener und vorurtheilsloser Erwägung
aller der verwickelten Verhältnisse, die hierbei in Frage kommen, wird
man finden, dass die letztere Annahme weniger theoretische Schwierig-
keiten hat, als die ersterc. Auf jeden Fall aber bahnen uns die heute
noch lebenden Moneren den Weg für ein richtiges Verständniss von dem
Ursprung des Lebens, und räumen die wichtigsten Schwierigkeiten aus
dem Wege, die bisher für die Hypothese der Urzeugung noch bestanden.
5. Systematisches Verzeichniss aller bisher beobachteten Moneren.
Erste Gruppe: «ymnoinoncra.
Moneren ohne Ruhezustand und Hülle nbildu ng.
Genus: Species:
I. Protamoeba: 1. P. primitiva 1866. Süsswasser bei Jena H.
2. P. Simplex 1869. Süsswasser bei Jena H.
3. P. agilis 1869. Süsswasser bei Jena H.
4. P. Schultzeanal869. Nordsee bei Bergen H.
5. P. polypodia 1869. Nordsee bei Bergen H.
(und Lagunen von Venedig? Schultze).
IL Protogenes: 6. P. primordialis 1864. Mittelmeer bei Nizza H.
III. Bathybius: 7. B. Ilaeckelii 1868. Atlantischer Ocean in grossen
Tiefen und weiter Verbreitung (Huxlev) .
IV. Myxodictyum : 8. M. sociale 1867. Meerenge von Gibraltar H.
Zweite Gruppe: Lcpoinonera.
Moneren mit Ruhezustand und Hüllenbildung.
V. Protomonas : 9. P. amyli 1865. Süsswasser in Deutschland
(ClENKOWSKl).
10. P. Iluxleyi 1869. Nordsee bei Bergen H.
VI. Protomyxa : 11. P. aurantiaea 1 867. Canarisches Meer bei Lan-
zerote H.
VII. Vampyrella ; 12. V. Spirogyrae 1865. Süsswasser in Deutschland
(ClENKOWSlLl) ,
Nachlräge zur Moiiograpliic der Moneren. 43
Genus: S p e c i e s :
VII. Va?npyrcll.i 1 3. V. iHMulula iSG5. Süssvvasser in Deutsch-
land (ClKNKOWSKi).
li. V. vorax 1865. Süsswasscr in Dinilsch-
land (CiENKOWSKi).
15. V. CJoniphoncnialis 1869. Nordsee bei Bergen II.
VIII. Myxaslrum 16. M. radians 1867. Canarisches Meer bei
Lanzerole ii.
S c h I u s s b e m e r k u n g.
Die Classc der Moneren, welche ich 1866 in der generellen Mor-
phologie zuerst als eine besondere, und zwar als die denkbar niederste
Classe von Organismen , unterschieden habe, enthält demnach schon
jetzt (bis zum Anfang des Jahres 1870) acht verschiedene Gattungen
mit sechzehn Arten. Von diesen Specics leben sieben im süssen
Wasser (:} Arten Protamoeba, 1 Art Protomonas, 3 Arten Vam-
pwella). Die neun anderen Arten leben im Meere , und zwar zwei
Arien im Miltelmeere il Protogenes, 1 Myxodicty um), zwei Arten
im canarischen Meei'e (1 Protomyxa, 1 Myxastrum), eine Art weit
verbreitet in den grossen Tiefen des atlantischen Oceans (und wahr-
scheinlich über die ganze Erde), Bathybius, und endlich vier Arten
in der Nordsee (2 Species Prola moeba, 1 Protomonas, 1 Vam-
p y rella). Von diesen sechzehn Moneren-Arten sind elf von mir selbst
beobachtet worden , vier von Cienkowski, eine von Huxley. Dazu sind
mit Wahrscheinlichkeit (aber nicht mit voller Sicherheit) noch zwei
Protamoeben-Arten zu rechnen, welche Max Scblltze früher im adria-
lischen Meere beobachtet und als Amoeben beschrieben hat (A. g lobu-
lar is und A. limbosa). Höchst wahrscheinlich ist auch die von ihm
bei Venedig beobachtete A. polypodia mit der von mir bei Bergen
beobachteten Protamoeba identisch. Wahrscheinlich leben noch viel
zahlreichere Moneren-Arten weit verbreitet in allen Gewässern,
Erklärung der Tafel II.
Fig. 1 — 4. Vampy rella Gomphonematis.
Fi?. 1 Ein .Slöckchen von Co mp hon enia, welches auf einem Canipanu-
laria -Stocke aufsass. Das Gomphonenia-Stöokchen \sirrl von zahl-
reichen Individuen der Va in p y reil a geplündert, a. Die encystirte Vam-
pyrclla. b. Dieselbe in vier .Sporen (Tetrasporen) zerfallen, c. IiineC\>te,
aus weicher eben eine Vanjpyrella ausschlüpft und auf einem Gouipho-
44 Ernst Haeckel, Niiclitriige zur Monographie der Moneren.
nema-Asl weiter kriecht; zwei andere Sporen sind schon ausgeiirochen ;
die vierte liegt noch bewegunpisios in der Cyste, d. Tetrasporen, e. Aus-
kriechende Vampyrelia. f. Eine Vampyrelia, welche eine Kieselzelle {g)
frisst. h. Die entleerte Kieselzelle wird ausgestossen. i. Eine Kieselzelle
von der schmalen Seile. Vergr. 350.
Flg. 2. Zwei Kieselzelien von Gomphonema, überzogen von einer Vam-
pyrelia, die in ihr Inneres einzudringen beginnt. Vergr. 700.
Fig. 3. Eine isolirte Va m py re 1 la, frei beweglich mit ausgestreckten Pseudo-
podien. Vergr. 700.
Fig. 4. Eine encystirte Va mpy rell a , welche in vier Tetrasporen zerfallen ist.
Vergr. 700.
Fig. 5 — 8. P r 0 t o m o II a s H u x 1 e y i.
Fig. 5. Eine cylindrische Diatomee, Rhizosolenia, welche vier Cysten (c)
von Protomonas trägt. Eine Cyste (a) enthalt eine ungetheilte Proto-
plasma-Kugel. Die drei anderen Cysten enthalten kugelige nackte Cytoden
(Sporen, 6). Die eine Cyste ist durch Druck gesprengt, und es treten die
Schwärmsporen aus, welche mit einer sehr langen und zarten Geissei
versehen sind. Vergr. 700.
Fig. 6 A—D. Vier Schwärmsporen, welche in amoeboide Cytoden übergegangen
sind und feine spitze Pseudopodien vorstrecken. Verg. 700.
Fig. 7. Zwei amoeboide Cytoden , welche durch ein feines Pseudopodium zu-
sammenhängen. Vergr. 700.
Fig. 8. Eine amoeboide Cytode, welche zahlreiche feine Fortsätze getrieben und
sich fast actinophrysartig ausgebreitet hat. Vergr. 700.
Fig. 9. Pro ta moeba agilis.
A — F. Verschiedene Contractionszustände. G, H. Zwei Individuen in
Theilung begriffen. Vergr. 420.
Fig. 10. Protamoeba Schultzeana.
A. Ein sehr grosses Individuum.
B. Dasselbe in Quertheilung begriffen.
C und D. Die beiden , aus der Theilung hervorgegangenen jungen In-
dividuen. Vergr. 420.
Fig. H. Protamoeba polypodia.
(Amoeba polypodia, Max Schultze). Vergr. 700.
Fig. 12. Protamoeba simple x.
A. Ein fast kugeliges Individuum.
B. Ein lappig ausgebreitetes Individuum. Vergr. 250.
Teber die flüchtigen Säiireu des Crotoiiöls.
Von
A. Geuther und O. Froelich.
Um die aus A e t h y 1 d i a c e l s ä u r e künstlich darstellbaren Säuren
von der Zusammensetzung CH^O^, insbesondere die Quarte nyl-
säure, mit der nach Schlippe i) imCrotonöl natürlich vorkommen-
den und von ihm unter dem Namen Crotonsäure beschriebenen
Verbindung einer genauen Vergleichung zu unterwerfen , wurde die
letztere in grösserer Menge darzustellen versucht.
Vier Pfund bestes Crotonöl 2) wurden zu diesem Zwecke mit
starker Natronlauge verseift und nach Entfernung der braunen Seife die
schwarze Unterlauge, mit Schwefelsäure übersättigt, in einer kupfernen
Blase der Destillation unterworfen. Das wässerige Destillat, in welchem
Oeltheilchen schwammen, wurde mit Soda neutralisirt, bis auf ein ge-
ringes Volumen eingedampft und dann mit Schwefelsäure übersättigt.
Die sich dabei ausscheidenden öligen Säuren wurden von der Flüssig-
keit getrennt und letztere noch durch mehrmaliges Schütteln mit alkohol-
freiem Aether ausgezogen. Der Aether wurde zu der ölig abgeschiedenen
Säure-Menge gefügt, die ätherische Lösung mit Chlorcalcium entwässert
und dann im Wasserbade vom Aether befreit. Es blieben 44 Grm.
eines braun gefärbten Oels zurück , welches zur vorläufigen Reinigung
einmal destillirt wurde. Das Thermometer stieg dabei rasch auf 115"
und von da allmählich höher bis auf 270*^, während in der Retorte nur
noch wenig einer schwarzen schmierigen Masse zurückblieb.
Die ganz allmählich und ziemlich gleichmässig steigende Siede-
temperatur deutete auf ein Gemisch von mehreren Säuren. Nach häufig
<) Ann. der Chem. u. Pharm. CV. 19.
2) Von Hrn. H. Trommsdorff in Erfurt bezogen.
46 A. Geiither iiiid 0. Froelich,
wiederholter fractionirter Destillation wurde die Flüssigkeit in folgende
vier Portionen getheilt :
I. II. 111. IV.
Siedep. 115—1600; 160 — 190»; 190—2050; 205—2700.
Wir glaubten, auf Schlippe's Untersuchungen hin, in der zweiten
Portion noch nicht vollständig reine Crotonsäure und in der dritten,
welche beim Erkalten krystallinisch erstarrte, Angelicasäure vor uns zu
haben. Dem war indess nicht so, wie die weitere Untersuchung zeigte.
Um zunächst die Crotonsäure nach Schlippe zu erhalten, wurde die
zweite Portion wiederholt fraclionirt und der zwischen 164 und 170»
übergehende Theil derselben, in der Erwartung, dass er Quarten ylsäure,
deren corr. Siedepunkt bei 1710^9 liegt, enthalten könnte, zunächst ein-
mal analysirt, obwohl er noch sichtlich sich in ein nieder- und in ein
höhersiedendes Product zerlegen liess.
0,1734 Grm. dieser Fraction gaben 0,3664 Grm. Kohlensäure,
entspr. 0,099927 Grm. = 57,6 Proc. Kohlenstoff und 0,1503 Grm.
Wasser, entspr. 0,016700 Grm. = 9,7 Proc. Wasserstoff.
Diese Zahlen , welche nahezu mit der Zusammensetzung der
Baldriansäure übereinstimmen, resp. einer durch Buttersäure ver-
unreinigten Säure, beweisen auf das Entschiedenste, dass eine Säure
der Oelsäure-Reihe hier nicht vorliegt, wie die folgende Zu-
sammenstellung zeigt :
her. g e f. b e r.
e =58,8 57,6 55,8 = C*
H*»= 9,8 9,7 7,0 = H''
0^ =31,4 — 37,2 = 02
100,0 100,0.
Nach fortgesetzter Rectification der zweiten Portion wurde die
Fraction von 172 — 175», bei welcher Temperatur der Haupttheil destil-
lirte, besonders gesammelt und analysirt.
0,1299 Grm. gaben 0,2796 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,076254
Grm. = 58,7 Proc. Kohlenstoff und 0,1173 Grm. Wasser, entspr.
0,013033 Grm. = 10,0 Proc. Wasserstoff.
ber. gef.
C^ z= 58,8 58,7
H»"= 9,8 10,0
0^ = 31,4 —
100,0.
Nach diesen Zahlen war das analysirte Product also fast ganz reine
Baldriansäure, mit welcher es auch in seinen übrigen Eigenschaften
übereinstimmte.
Ueber die fliiclitii);eii Säiirpii des Crotoiiöls. 47
Es lag !mn nahe zu vermullion , dass in der ersten Portion
(llo — IGO") noch niedere Glieder der Fettsäure -Reihe , nanientlicli
Buttersiiure, enthalten sein möchten. Die folij;ende Untersuciiuni; ergab
dies in der That, ausser Buttersäure konnte nocli Essigsäure,
nicht aber Pi'opionsäure nachgewiesen Nverden.
Da durch fraclionirle Destillation eine Reindarslellung dei- Essig-
säure und liuttersäure bei der verhältnissmässig geringen Menge von
Material nicht ernioglicht werden konnte , so wurde zu ihrer Trennung
die Liebig'scIic Methode der theihveisen Neutralisation t) angewendet.
Zu dem Ende wurde ein Drittel des wohl gemischten Destillats von
I1Ö — 130" genau mit Natriumcarbonat neulralisirt, die übrigen zwei
Drittel dazu gefügt, die Lösung wiederholt durchgeschüttelt und mög-
lichst weilabdestillirt. Der Rückstand wurde dann mit Natriumcarbonat
genau neutralisirt, zur Trockne gebracht und mit absol. Alkohol in der
Kälte ausgezogen. Da die so erhaltene Salzmenge nach der damit aus-
geführten Natriumbestinmmng (I) offenbar noch butlersaures Natrium
enthielt , wurde dieselbe mit wenig absol. Alkohol übergössen und der
sich nicht lösende Theil nochmals analysirt (II).
I. 0,1607 Grm. des bei 135" getrockneten Salzes gaben 0,0965
Grm, Natriumcarbonat, entspr. 0,041877 Grm. ^ 26,1 Proc, Natrium.
II. 0,1202 Grm. getrocknetes und vorsichtig geschmolzenes Salz —
durch das Schmelzen hatte nur 0,0007 Grm. Verlust Statt — gaben
0,0753 Grm. Natriumcarbonat, entspr. 0,032678 Grm. = 27,2 Proc.
Natrium.
b e r. g e f.
G2H3O2 = 72,0 — —
Na = 28,0 26,1 27,2
100,0.
Man sielit aus diesen Zahlen, dass das analysirte Salz II. auch noch
nicht ganz reines Acetat war, sondern noch eine Kleinigkeit eines Salzes
mit geringerem Natriumgehalt, nämlich buttersaures Salz, beigemengt
enthielt.
Zu einer weiteren Reinigung fehlte es indessen an Material. Mit
dem Reste desselben wurde die Ferrisalzreaction sowohl als die Reaction
mit Alkohol und Schwefelsäure vorgenommen.
Die Menge der im Oel ursprünglich enthaltenen Essigsäure mag im
Verhältniss zu den anderen Säuren keine kleine gewesen sein. Ein
Theil derselben war aber nach dem Uebersättigen der zuerst gewonnenen
1) Ann. der Chi'in. u. Pharm. LXXI. 356.
48 A. Genther und 0. Froelich,
Natriumsalzlösung mit Schwefelsäure und Ausziehen mit Aether offen-
bar in der wässerigen Lösung geblieben und diese war zu einer Zeit,
da uns die Unrichtigkeit der ScHLipPE'schen Angaben noch nicht bekannt
war, als für die Darstellung der Grotonsäure nicht weiter brauchbar
weggegossen worden.
Die Gegenwart von Buttersäure wurde zunächst durch die beiden
Elementaranalysen wahrscheinlich gemacht :
I. 0,1985 Grm. der zwischen 162 und IGS"^* siedenden Fraction
des Säure-Gemisches gaben 0,4 107 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,112009
Grm. =: 56,4 Proc. Kohlenstoff und 0,1738 Grm. Wasser, entspr.
0,019311 Grm. = 9,7 Proc. Wasserstoff.
II. 0,1957 Grm. des zwischen 156 und 160° destillirenden Theils
gaben 0,3996 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,108982 Grm. = 55,7 Proc.
Kohlenstoff und 0,1 686 Grm. Wasser, entspr. 0,018733 Grm. =9, 6 Proc.
Wasserstoff.
ber. gef. ber.
IL L
C* = 54,5 55,7 56,4 58,8 = G^
H8= 9,1 9,6 9,7 9,8 = H*'*
0^ = 36,4 — — 31,4 = 0^
100,0 100,0.
Diese Zahlen zeigen , dass das niedriger siedende Product haupt-
sächlich aus Buttersäure und nur wenig Valeriansäure bestand, das
höher siedende dagegen nahezu gleichviel Buttersäure und Valerian-
säure enthielt. Durch fractionirte Destillation wie auch nach der von
Liebig angegebenen Methode i) konnte valeriansäurefreie Buttersäure
nicht erhalten werden. Die Trennung gelang dagegen durch die Aetheri-
fication der von 150—170" siedenden Säure. Der nach wiederholter
Destillation constant bei 119 — 121*^ siedende Theil des mit Hülfe von
Chlorwasserstoff und Alkohol dargestellten Aethergemisches erwies sich
bei der Analyse als fast ganz reiner Buttersäure-Aether, wie die folgen-
den Zahlen zeigen :
0,1888 Grm. gaben 0,4313 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,117627
Grm, = 62,3 Proc. Kohlenstoff und 0,1805 Grm. Wasser, entspr.
0,020056 Grm. = 10,6 Proc. Wasserstoff.
ber. gef.
C« = 62,1 62,3
H'2=10,3 10,6
02 = 27,6 —
100,0.
1) Ann. der Chem. u. Pharm. LXXT. 355.
Ueber die flüchtigen Sniirei) des Crofoiiöls. 49
Die in der dritten Portion (190 — 205^') enthaltene krystallisirte
Säure, welche nahezu die ganze Menge derselben ausmacht, besitzt
allerdings die Zusammensetzung der Angelicasäurc, wie Sculippe aus
einer Silberbestimmung des Silbersalzes ableitete, ist aber nicht mit
derselben identisch. Durch mehrmaliges Umkrystallisiren aus Wassci'
wird sie von anhängender ölförmiger Säure befreit. Sie bildet wasser-
helle rhombische Tafeln und Säulen, welche bei 61" anfangen an den
Kanten durchsichtig und flüssig zu werden, vollständig jedoch erst bei
64" zu einem klaren Oel schmelzen, das allmählich zwischen 60 und 08"
wieder erstarrt. Sie siedet bei 201",'! [corr.] und destillirt ohne Zer-
setzung. Der Geruch der reinen Säure ist angenehm gewürzhaft, ihr
Geschmack sehr sauer.
Die gewonnene Menge reiner Säure betrug 12 Grm.
0,2177 Grm. der im Platinschiffchen geschmolzenen und über
Schwefelsäure getrockneten Säure gaben 0,4794 Grm. Kohlensäure,
entspr. 0,130746 Grm. = 60,1 Proc. Kohlenstoff und 0,1613 Grm.
Wasser, entspr. 0,017922 Grm. = 8,2 Proc. Wasserstoff.
b e r. g e f.
C5 = 60,0 60,1
H«= 8,0 8,2
0^ = 32,0 —
100,0.
Dieser Säure kommt also die Formel der Angelicasäure zu, von der
sie sich durch einen höheren Schmelz- und Siedepunkt — die Angelica-
säure schmilzt bei 450 und siedet bei 190" — unterscheidet. Wir be-
zeichnen dieselbe vorläufig mit dem Namen Tiglinsäure. Es ist
möglich, dass sie mit der von Frankland und Duppa dargestellten sogen.
»Methylcrotonsäure« *) identisch ist. Diese letztere schmilzt bei 62" (ihr
Siedepunkt ist nicht bekannt) , ihr Aether hat den gleichen Siedepunkt
und ihr Silbersalz dieselben Eigenschaften,
Der Tiglinsäure-Aethyläther, G^H^O'^.C^H^ besitzt den
corr. Siedepunkt 156°, denselben, welchen Frankland und Duppa vom
Methylcrotonsäure -Aether angeben, und bei 21" das spec. Gewicht
0,926. Er ist wie dieser eine farblose, durchsichtige, im Wasserunlös-
liche Flüssigkeit. Sein Geruch ist eigenthümlich aromatisch, aber durch-
aus nicht unangenehm, wie Fr. und D. vom sogen. Methylcrotonsäure-
Aether angeben , welcher »einen unerträglichen und sehr hartnäckigen
Geruch nach abgewelkten Pilzen« besitzen soll,
0,1885 Grm. des bei 153 — 155" [uncorr.] siedenden Haupttheils
1) Ann. der Chem. u. Pharm. CXXXVI. 10.
Bd. VI. 1.
50 A. Geutlier und 0. Froelicli^
gaben 0,4510 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,123000 Grm. = 65,3 Proc.
Kohlenstoff und 0,1 626 Grm. Wasser, entspr. 0,018067 Grm. =9,6 Proc.
Wasserstoff.
b e r. g e f.
C^ = 65,6 65,3
H»2= 9,4 9,6
02 = 25,0 —
100,0.
Tiglinsaures Baryum, C^H'O^. Ba + 5011^. Scheidet sich aus
der wässerigen Lösung, die durch Neutralisiren der Säure mit Baryum-
carbonat erhalten wurde, beim Verdunsten über Schwefelsäure in einer
aus kleinen Nadeln bestehenden dichten Krystallmasse allmählich aus.
Es ist sehr leicht in Wasser löslich , aber durchaus nicht schwierig
krystallisirbar, wie Fr. und D. von dem Baryumsalz der Methylcroton-
säure angeben. Ueber Schwefelsäure verlieren dieKrystalle ihrKrystall-
wasser vollständig. Ob und wieviel das methylcrotonsaure Baryum
Krystallwasser enthält, ist nicht bekannt: das von Fr. und D. im leeren
Räume getrocknete Salz war wasserfrei.
0,2427 Grm. lufttrocknes Salz verloren über Schwefelsäure und
schliesslich beim Erwärmen im Luftbad auf 100'^ 0,0856 Grm. = 35,3
Proc. Wasser.
0, 1 81 4 Grm. bei 1 00'» getrocknetes Salz gaben 0, 1 060 Grm. Baryum-
sulfat, entspr. 0,073716 Grm. = 40,7 Proc. Baryum. Auf das wasser-
haltige Salz bezogen , berechnet sich der gefundene Baryumgehalt zu
26,5 Proc.
b e r. g e f.
CH'O^ = 38,4 —
Ba = 26,6 26,5
5OH2==35,0 35,3
100,0.
Tiglinsaures Silber, (C^ H^ O^j ^ Ag. Scheidet sich beim Ver-
mischen einer Lösung des Baryumsalzes mit Silbernitrat als ein weisses
krystallinisches Pulver aus , welches durch das Sonnenlicht nur wenig
verändert wird und in Wasser fast unlöslich ist.
Die vi erte Portion (205 — 270^') endlich des ursprünglichen Säure-
gemisches war sehr gering und konnte eben deswegen nicht genau
untersucht werden : nach den beiden folgenden Analysen ist es wahr-
scheinlich, dass sie Capron- oder Oenanthylsäure oder Pyroterebinsäure
und ausserdem höhere Glieder der Oelsäure -Reihe oder der nächst
niederen isologen Reihe enthalten hat.
Ueber die llilchtige« Süureii des Crotonöls. 51
I. 0,221 3 Grm. des zwischen 208 und 2180 siedenden Theils gaben
0,5070Grm. Kohlensäure, entspr. 0, 138273 Gnn. = 62,5 Proc. Kohlen-
stoff und 0,l8;)8Gnn. Wasser, entspr. 0,020644 Grm. =9,3 Proc.
Wasserstoff.
II. 0,1938 Grm. des zwischen 245 und 255*^ siedenden Theils
gaben 0,4838 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,131945 Grm. =68,1 Proc.
Kohlenstoff und 0. 1 664 Grm. Wasser, entspr. 0,01 8i89 Grm. =9,5 Proc.
Wasserstoff.
I.
ber. ber. ber. eef.
C« =62,1 C' =64,6 C« =63,2 62,5
H'-=10,3 H'^=10,8 H'«= 8,8 9,3
0^=27,6 02=24,6 O''^=28,0 —
100,0
100,0
IL
100,0.
be r.
C» =67,6
C''
ber.
= 69.2
C«
ber.
= 68,6
gef.
68.1
H'*= 9,9
H16
= 10,3
J112
= 8,6
9,5
O'* = 22,5
02
= 20,5
02
= 22,8
—
100,0 100,0 100,0.
Wie aus dem Mitgetheilten also hervorgeht, enthalten die flüchtigen
Säuren des Crotonöls weder eine Säure von der Formel C^H^O^, noch
ist die feste krystallisirte Säure Angelicasäure. Die Angaben von
Schlippe über diese flüchtigen Säuren sind also völlig irrige. Schlippe
gründete seine Annahme einer Säure von der Zusammensetzung C*H®02,
der »Crotonsäure«, auf die Analyse eines Silbersalzes, in welchem er im
Mittel 24,5 Proc. Kohlenstoff, 2,7 Proc. Wasserstoff und 56,0 Proc.
Silber fand , und auf die Zersetzung eines amorphen Barytsalzes durch
schmelzendes Kalihydrat, wobei Essigsäure erhalten wurde ; eine Haupt-
stütze für die Richtigkeit der angegebenen Formel seiner Crotonsäure
fand er ferner darin, »dass neben ihr noch Angelicasäure gefunden wurde«.
Was zunächst das analysirte Silbersalz anbelangt, so ist dasselbe
nichts als ein Gemisch von essigsaurem , buttersaurem und valerian-
saurem Silber gew esen , wie aus dem Vorhermitgetheilten und aus der
Vergleichung der durch die Analyse gefundenen Zahlen mit denen her-
vorgeht, welche für jene Salze gefordert werden. Es verlangen nämlich
Kohlenstoff:
essigsaures
Silber :
14.4
buttersaures
Silber:
24,6
va
eriansaures
Silber:
28,7
Schlippe fand
(im Mittel)
24,5
Wasserstoff:
1,8
3,6
4,3
2,T
Silber :
64,7
55,4
51,7
56,0
52 A. Geuther und 0. Froelieh, üeber die flüchtigen Säuren des Crotonöls.
Was ferner die Thatsache anlangt , dass nach dem Schmelzen des
betr. Barytsalzes mit Kalihydrat Essigsäure gefunden wurde, so erklärt
sich dieselbe leicht daraus, dass in dem angewandten amorphen Baryt-
salz 1) schon Essigsäure enthalten war, und was schliesshch die Haupt-
stütze für die Existenz der »Grotonsäure« betrifft , als welche die An-
wesenheit der Angelicasäure dienen soll , so ist dieselbe durch unseren
Nachweis , dass die Tiglinsäure mit der Angelicasäure nur metamer,
nicht identisch ist, gleichfalls hinfällig geworden.
Der Irrthum Schlippe's erklärt sich zum Theil wohl aus der geringen
Menge Material, mit dem er seine Versuche ausgeführt hat ; unerklärlich
bleibt indessen immer, wie er die Existenz der «Grotonsäure« behaupten
konnte, nachdem er mit der nämlichen sauren Lösung Salze erhalten
hatte, welche auf 1 Mgt. Metall ein Mal 5,7 Mgte. Kohlenstoff 2) , ein
anderes Mal 10,7 Mgte. und ein drittes Mal 9,6 Mgte. desselben ergaben.
Nach dieser Erkenntniss ist es selbstverständlich , dass der Name
«Grotonsäure« für eine Säure von der Zusammensetzung G*H^O'^ als
unpassend aufgegeben werden muss , wie der Eine von uns bereits an
einem andern Orte 3) ausgeführt hat.
Jena, Anfang März 1870.
1) Ein Gemisch von Essigsäure, Buttersäure und Baldriansäure, mit Baryum-
carbonat neutralisirt, kann, wie wir uns überzeugt haben, über Schwefelsäure zu
einer ganz amorphen Masse eintrocknen.
2) C = 8.
3) Zeitschrift für Chemie. N. F. Bd. VI. p. 28.
Bruchstücke zur Naturgeschichte der Bopyrideu.
Von
Fritz Müller.
Mit Tafel III u. IV
Die im Nachsiehenden mitgetheilten Beobachtungen über Bopyriden
wurden meist in den Jahren 1861 und 1862 am Strande von Desterro
gesammelt. Sie sind so überaus lückenhaft, dass ich lange Bedenken
getragen habe, sie zu veröffentlichen. Ich thue es jetzt, wo ich selbst
keine Aussicht mehr habe, sie zu vervollständigen, in der Hoffnung, dass
dadurch Besucher der Seeküste zu eingehender Beschäftigung mit diesen
merkwürdigen Schmarotzerasseln veranlasst werden mögen, deren Bau,
Entwickelung und Lebensweise noch eine reiche Ernte überraschender
Thatsachen zu liefern verspricht.
1> Binnenasseln. (Entoniscus.)
Binnenasseln wurden bis jetzt in folgenden Decapoden gefunden ;
1) in einer bei Desterro unter Steinen ungemein häufigen schwärz-
lich grünen Porcellana, von welcher etwa 5% damit behaftet sind i);
2) in einer ebenda an Felswänden zwischen Sertularien und Moos-
thieren selten vorkommenden kleineren Porcellana 2). Es wurde ein
einziges Mal ein Weibchen von Entoniscus getroffen , das beim Heraus-
nehmen zerriss und von dem ich nicht sagen kann, ob es derselben Art
angehört, wie die Binnenassel der eemeinen Porcellana:
1) s. Archiv für Naturgesch. 1862. I. S. 10. Taf. II.
2) Alph. Milne Edwards konnte mir weder diese, noch die erstere Art be-
stimmen.
54 Fritz Müller,
3) in Porcellana (Polyonyx) Creplinii F. M. i) Fast in
jeder Röhre von Chätoplerus findet man bei Desterro, wo der genannte
Wurm übrigens ziemlich selten ist , diese Porcellana und zwar in der
Regel ein Pärchen 2) ; nur dreimal traf ich einzelne Thiere, einmal ein
Weibchen , zweimal ein Männchen. Jedes dieser drei einzeln vorkom-
menden Thiere beherbergte einen Entoniscus , während in keinem der
paarweise lebenden ein solcher Schmarotzer gefunden wurde. Man darf
also wohl annehmen, dass eben w egen des Entoniscus , der wie die
Rhizocephalen stets Unfruchtbarkeit seines Wirthes zur Folge hat, jene
drei Thiere keinen Genossen gefunden hatten oder von demselben ver-
lassen worden waren 3).
Die Entoniscusweihchen , die in Porcellana Creplinii gefunden
wurden, hatten nicht wie die der gemeinen Porcellana röthlich-violette,
sondern blass dottergelbe Eierstöcke ; ihre Brutblätter erschienen mir
weniger stark zerschlitzt und gekräuselt. Männchen und Junge glichen
den in der gemeinen Porcellana vorkommenden.
4) in einem Achaeus, der an Felsen zwischen Moosthieren,
Ascidien u. s. w. lebt. Der Entoniscus wurde nur einmal gefunden.
Ich habe mir von ihm nur angemerkt, dass das Männchen sechs wohl-
gebildete Fusspaare und ein zweispitziges Schwanzende hat; durch
beides unterscheidet es sich von dem des Entoniscus Porcellanae,
durch die Form des Schwanzendes auch von dem des Entoniscus
Cancrorum^);
5) in mehreren Xantho- Arten der Küste von Desterro. Die Bin-
nenassel dieser Krabben, Entoniscus Ca n er orum 5), ist in beiden
Geschlechtern und nicht minder in ihrer frühesten Jugendform erheblich
verschieden von Entoniscus Porcellana. Während bei dem Weib-
chen des letzteren die ganze Länge des Mittelleibes mit gewaltigen, zer-
schlitzten, vielgefaltelen Brulblättern besetzt ist, zwischen deren Falten
1 ) Nach brieflicher Mittheilung von Alph. Milne Edwabds ist diese Art der
Porcellana biunguiculata Dana (Polyonyx Stimps.) nahe verwandt.
Meine Porceliina stellicola (Arch. für Naturg. 1862. Tat". VII, Fig. 1) scheint
nach demselben die Porcellana angusta Dana (Min yocerus Stimps.) zusein.
2) Einmal traf ich statt der Porcellana Creplinii ein Pärchen der P i n -
nixa chaetopterana Stimps. —
3) Die wenig über federkieldicken Ausgänge der Chätopterus-Röhre, die einige
Zoll hoch senkrecht aus dem Schlamme emporstehen, in welchem die Röhre wage-
recht eingebettet liegt, sind viel zu eng, um die Porcellana durchzulassen; doch
kann diese, wie ich gesehen, die Röhre verlassen, indem sie sie der Länge nach
aufschlitzt.
4) s. F. MuELLER, Für Darwin, Fig. -16. '
5) s. Taf. III, Fig. 1—3 und Für Darwin, Fig. 41.
Bruclistricke zur Naturgeschichte der Bopyriden. 55
die Eier sich anhäufen, ist bei Enlon iscus Cancrorum eine ge-
schlossene Bruthöhle vorhanden, gebildet von einem einzigen Paare
von Brutbliittern, das dicht liinter dem Kopfe entspringt. Die Bruthöhle
stellt einen Sack von sehr wechselnder Gestalt und Grösse dar, der
schief nach vorn gerichtet ist und mit seiner oberen Fläche sich der
Unterseite des Kopfes anlegt, welchen er mehr oder weniger weit über-
ragt. Füsse fehlen vollständig, man müsste denn seitliche Wülste, die
mehr oder minder deutlich in der Nähe des Hinterleibsendes vorzu-
springen pflegen, als Fussstummel ansprechen wollen. Der bei Enlo-
, niscusPorcellanaeso ungemein lange, mit langen Säbelbeinen aus-
gerüstete Hinterleib ist beiEnt. Cancrorum so plump und fast so
regungslos, wie der Mitlelleib. Seilen sind die Weibchen ziemlich ge-
rade ausgestreckt; meist findet man den Hinterleib in rechtem'), oder
spitzem 2) Winkel aufwärts gebogen. Das Herz liegt oft, wie bei Ent.
Porcellanae, in einerbruchsackähnlichen Ausstülpung des Hinterleibes,
während in anderen Fällen dessen Haut glatt darüber hinweggeht. Die
Hautfalten mit wellig gebogenem Rande, die bei Ent. Porcellanae
sich an der Bauchfläche der ersten Hinterleibsringe hinziehen , sind bei
Ent. Cancrorum ebenfalls vorhanden und sogar in der Regel weit
stärker entwickelt.
Das Männchen von Ent. Cancrorum hat weder die Klump-
füsse, noch die eigenthümliche Fühlerbildung des Männchens von Ent.
Porcellanae, schliesst sich vielmehr in beiden Beziehungen an die
Männchen von Bopyrus an 3) .
Die Jungen von Ent. Cancrorum (Taf. III, Fig. 2 u. 3) stimmen
überein mit denen von Ent. Porcellanae und unterscheiden sich, wie
diese , von denen der Bopyrusarten dadurch , dass das letzte Beinpaar
des Mittelleibes abweichend von den vorangehenden gebildet ist. Die
Unterschiede der Jungen der beiden Entoniscus-Arten bestehen haupt-
' sächlich in Folgendem :
Entonisc US Porcellanae | Entoniscus Cancrorum
Länge (am ersten Tage) • 0,2 Mm. Länge i^am ersten Tage) : 0,3 Mm.
Stirnrand fast gerade.
Heller unpaarer Fleck dicht am
Stirn rande.
Greifrand an der Hand der ö ersten
Beinpaare glatt.
Stirnrand gewölbt.
Dieser Fleck wurde vermisst.
Dieser Greifrand mit wenigen klei-
nen Zähnchen bewehrt.
1) s. Für Darwin, Fig. 41.
2) s. Taf. III, Fig. 1.
3) Der Hinterleib des Männchens ist abgebildet in »Für Darwin» Fig. 16.
56
Fritz Müller,
Entoniscus Porcellanae
Sechstes Beinpaar kurz , 3 gliedrig
mit elliptischem klauenlosen
Endgliede.
Der letzte Ring des Mittelleibes
fehlt (?)
Das fünfte Fusspaar des Hinter-
leibes noch wenig entwickelt,
borstenlos.
Grundglied der Hinterleibsfüsse
mit einer Borste.
Endglied der Hinterleibsfüsse schief
abgeschnitten, lanzettförmig.
Entoniscus Cancrorum
Sechstes Beinpaar lang , 5 gliedrig,
mit klauentragender Hand.
Der letzte Ring des Mittelleibes vor-
handen.
Das fünfte Fusspaar des Hinter-
leibes den vorangehenden gleich
gebildet.
Dasselbe Grundglied mit 2 Borsten.
Das borstentragende Ende des End-
gliedes der Hinterleibsfüsse ge-
rade abgeschnitten.
Der Hauptunterschied der beiderlei Larven Hegt in der Bildung des
letzten Beinpaares, welches bei Ent. Porcellanae in anscheinend ver-
kümmertem, bei Ent. Cancrorum in besonders entwickeltem Zu-
stande auftritt. Es hat bei letzterer Art zunächst drei lange schlanke
cylindrische Glieder, von denen jedes der beiden ersten etwa der halben
Breite des Leibes an Länge gleichkommt, das dritte unbedeutend kürzer
ist. Dann folgt ein ansehnliches Handglied, welches schief abgeschnitten
ist, so dass der obere Rand fast doppelt so lang ist, als der untere ; der
untere Rand läuft in einen kürzern Zahn aus, gegen welchen eine etwa
in der Mitte des schiefen Endrandes eingelenkte gekrümmte Klaue ein-
schlägt. Auch der obere Rand läuft in eine scharfe Spitze aus, an
welcher eine im Innern des Handgliedes gelegene Drüse zu münden
scheint. In der Ruhe liegt dies Beinpaar dem Leibe dicht an und zwar
ist dabei das erste Glied nach innen , das zweite nach vorn , das dritte
nach hinten gerichtet. — Die Larven des Entoniscus Cancrorum
lieben , sich im Wasser umhertreiben zu lassen , in welchem sie dabei
in ganz eigenthümlicher Stellung schweben (Taf. III, Fig. 2). Der Hin-
terleib wird gegen die Brust geschlagen; der Rücken ist nach oben,
Kopf und Schwanzende sind nach unten gerichtet; die Beine des sechsten.
Paares werden lang nach aussen vorgestreckt und etwas nach oben
gebogen, so dass beide zusammen einen flachen Bogen darstellen, von
dessen Mitte der Körper niederhängt. —
Beim Eindringen in den Leib der Krabben wird wahrscheinlich
dies eigenthümlich entwickelte sechste Beinpaar der Larve von beson-'
derer Wichtigkeit sein. —
Das Vorkommen von Binnenasseln in so weit verschiedenen Thieren,
Brticlistficke zur Natiirgeschiclite der Bopyrideii. 57
wie Porcellana, Achaeus und Xantho sind, berechtigt zu der Erwartung,
dass sie auch geographisch eine weitere Verbreitung haben und ebenso
wie die Bopyrusarten in allen Meeren sich finden werden. Wer Lust
liat, sie aufzusuchen , möge seine Aufmerksamkeit besonders auf solche
Krabben Weibchen richten , die leer herumlaufen zur Zeit, wo ihre Ge-
nossinnen mit Eiern beladen sind. —
2. Bopyrus resupinatus.
[Taf. III, Fig. 4—9.)
Wenige Thiere dürften mehr von Schmarotzern geplagt werden,
als ein bei Desterro unendlich häufiger kleiner Einsiedlerkrebs, der seine
Wohnung meist in der Schale eines Cerithiumi) einnimmt. Weit
über die Hälfte dieser Einsiedlerkrebse sind bewohnt von einem im
Verhältniss zu seinem Wirthe riesigen Fadenwurm, dessen Windungen
durch die Wand des von ihm ausgedehnten Hinterleibes des Krebses
hindurchschimmern. Ausserdem leben an dem Hinterleibe desselben
zwei verschiedene Arten von Wurzelkrebsen, Sacculina purpurea^],
und Peltogaster socialis^), und zwei Asseln, Bopyrus resu-
pinatus und Cryptoniscus planarioides, und zwar ebenfalls
so häufig, dass etwa jeder fünfte Pagurus einen dieser Schmarotzer
trägt. Unter 300 Paguren, die ich vom 15. November 1861 bis 13. April
1862 untersuchte, fand ich nämlich 281 mit Sacculina pui-purea, 227
i) Dieses Cerith i um , vielleicht die häufigste aller bei Desterro lebenden
Schneeken , bildet die Hauptnahrung zweier anderen ebenfalls dort häufigen
Schnecken , des Murex senegalensis Lam. und der mit Turbinella angulifera nahe
verwandten Turbinella Mülleri Dkr. {n. s.) — Der Murex bohrt ein rundes Loch
durch das Gehäuse des Cerithium ; wenn dieses dann sterbend seinen Deckel öffnet,
so kommt von vorn die Turbinella , um sich am Schmause zu betheiligen. An
einigen Stellen des Strandes kann man zur Ebbezeit dutzendweise solche Cerithien
sammeln, an denen gleichzeitig hinten ein Murex und vorn eine Turbinella sitzen.
Nach dem Tode der Schnecke dient das Gehäuse des Cerithium nicht nur dem
Pagurus mit seinen mannichfachen Schmarotzern zum Aufenthalt, sondern am Ein-
gange der von Pagurus bewohnten Gehäuse siedelt sich nicht selten eine kleine weisse
Crepidula an, unter welcher dann wieder bisweilen ein Pinnotheres Schutz sucht. —
2) s. Archiv für Naturgesch, 1862. I, Taf. I, Fig. 5 — 9. — Ich lasse einstweilen,
bis eine wissenschaftliche, d. h, genealogische Anordnung der Rhizoccphalen mög-
lich sein wird, den Namen dieser Art ungeändert. Als ich den Namen gab, wusste
ich nicht, dass Thompson schon einen anderen Wurzelkrebs Sacculina getauft hatte.
Meine Sacculina purpurea gehört nicht zur Gattung Sacculina Thomps. , sondern
eher zu Peltogaster Rthke.
3) F. MiELLER, Für Darwin, Fig. 59. —
58 Fritz Müller,
mit Peltogasler socialis , 40 mit Bopyrus resupinatus und 46 mit Crypto-
niscus planarioides behaftet. — Im Gegensatz zu diesem vielgeplagten
kleinen Pagurus waren weit über hundert Paguren von einer grösseren
und weit selteneren Art sämmtlich frei von Schmarotzern ; ein hübscher
Beleg dafür , dass im Allgemeinen , — aus naheliegenden Gründen , —
mit der Häufigkeit einer Art die Zahl und Mannichfaltigkeit ihrer
Schmarotzer zunimmt.
Die beiden eben erwähnten Asseln , Bopyrus resupinatus und
Cryptoniscus planarioides , sind vor Allem merkwürdig dadurch , dass
sie nicht unmittelbar aus dem Pagurus , sondern aus den Wurzeln der
Sacculina purpurea ihre Nahrung ziehen.
Bopyrus resupinatus setzt sich unter Sacculina purpurea fest
und zwar dieser seine Bauchseite, dem Pagurus seinen Bücken zuwen-
dend. Ich habe wiederholt solche junge Bopyrus , die sich zum Theil
noch wenig von ihrer jüngsten Larvenform entfernten, an dieser Stelle
angetroffen. Indem nun der Bopyrus die aus dem Leibe des Pagurus
durch die darin verzweigten Wurzeln der Sacculina zuströmende Nah-
rung sich aneignet, stirbt die Sacculina ab. So hatte ich am 22. Septbr.
1861 einen mit Sacculina behafteten Pagurus in ein Glas mit Seewasser
gesetzt; Tags darauf schwärmte junge Sacculina-Brut aus ; als ich aber
am 26. Septbr. den Pagurus wieder aus seinem Schneckenhause nahm,
war die Sacculina verschwunden und an ihrer Stelle sass ein junger
Bopyrus, ein jungfräuliches , unbemanntes Weibchen ohne Brutblätter.
Mit dem Abfallen der Sacculina sterben indess ihre Wurzeln nicht ab,
sondern pflegen im Gegentheil nur um so kräftiger weiter zu wuchern,
so dass durch sie oft ein ansehnlicher Theil des Hinterleibes gefüllt wird
und schon von aussen dunkelgrün erscheint. Nie habe ich die Zu-
sammenziehungen der Sacculinawurzeln so kräftig und regelmässig er-
folgen sehen, als in einem Pagurus, an welchem ein grosser Bopyrus
sass , der gewiss schon seit geraumer Zeit die Sacculina verdrängt
hatte. — In einigen wenigen leider nicht näher untersuchten Fällen
vermisste ich den grünen Fleck an der Anheftungsstelle des Bopyrus ;
wahrscheinlich hatte sich derselbe in diesen Fällen, statt unter Sacculina
purpurea, unter Peltogaster socialis angesiedelt, dessen glatte Wurzeln
nicht zu sehen sind ; denn auch unter letzterem Wurzelkrebse habe ich
Bopyruslarven getroffen.
Daraus dass der Bopyrus beim Festsetzen sich der Sacculina und
nicht dem Pagurus zuwendet , erklärt sich eine Eigenthümlichkeit , die
bei einer nahestehenden und voraussichtlich auch in ihrer Lebensweise
ähnlichen Art zu einer wunderlichen Verwechslung Anlass gegeben hat.
Hesse hat unter dem Namen Athelgue einen Bopyrus beschrieben,
Brudistficke zur Naturgeschichte der Bopyriden. 59
hei dessen Weibchen angeblich »die convexe Rücken seile desCephalo-
ihorax von 6 — 7 Paaren seitlicher durchscheinender Platten bedeckt ist,
unter welchen sich die Bruthöhle für die Eier befindet'). — Also eine
Assel mit rückenständiger Bruthöhle ! Gewiss ein nicht minder wunder-
bares Thier, als etwa ein Kiinguru mit rückenständigem Beutel, oder
ein Käfer mit Flügeln am Bauche. Otlenbar hat Hesse Bauchseite und
Rückenseite verwechselt, weil sein Athelgue dem Pagurus nicht die
Bauchseite, sondern wieBopyrus resupinalus die Rückenseite zuwendet.
Bopyrus resupinatus verlässt das Ei als etwa 0,2 Mm. lange,
0.12 Mm. breite, flache asseiförmige I.arve (Taf. III, Fig. i), ganz ähn-
lich denen anderer Bopyrusarten. Die sechs Beinpaare der Brust sind
gleichgebildet; das 7. fehlt, wie wahrscheinlich bei allen jungen Iso-
poden. Die 5 Hinterleibsfüsse haben, wie bei Entoniscus und fast allen
von mir gesehenen Bopyridenlarven, ein einziges Endblatt, dieSchwanz-
füsse haben zwei gritl'elförmige Aeste und in der Mitte seines Hinter-
randes trägt der letzte Leibesring einen kurzen kegelförmigen Fortsatz.
Bei den Entoniscus -Larven fehlt ein solcher Fortsatz, dagegen scheint
er den Larven der echten Bopyriden allgemein zuzukommen und meist
stärker als bei Bopyrus resupinatus entwickelt zu sein. Von auffallen-
der Länge sah ich denselben bei einer (im März 1862) im Meere auf-
gefischten Larve (Taf. III, Fig. 10), die ohne Frage von einem Bopyriden
abstanmit , obwohl sie durch 2 ästige Hinterleibsfüsse von den übrigen
mir bekannt gewordenen Bopyruslarven abweicht. Ueber die morpho-
logische Bedeutung dieses Fortsatzes, der bei der zuletzt erwähnten
Larve fast an den Schwanzstachel der Xiphosuren erinnert, bin ich
ausser Stande, eine Vermuthung auszusprechen.
Die jüngsten Larven, die unter Sacculina purpurea gefunden wur-
den , hatten bereits eine Länge von 0,6 Mm. erreicht (TaL IH, Fig. 5).
Ihre Gestalt ist gestreckter geworden, indem die grösste Breite kaum
der halben Länge des Leibes gleichkommt; an den vorderen Fühlern
hat sich ein Büschel von etwa 1 0 ansehnlichen Riechfäden entwickelt,
die der Larve wahrscheinlich beim Aufsuchen ihres Wohnthieres von
Nutzen sind. Die Brust trägt jetzt sieben gleichgebildete Beinpaare.
Die Schwimmfüsse des Hinlerleibes sind noch unverkümmert, ihrEnd-
blall mit 5 — 6 langen Borsten versehen. Die Grundglieder der Schwanz-
füsse , bei den jüngsten Larven durch einen breiten Zwischenraum ge-
lrennt , nehmen jetzt fast die ganze Breite des letzten Leibesringes ein.
Von den anfangs etwa gleichlangen Aeslen der Schwanzfüsse ist jetzt
der äussere etwa doppelt so lang als der innere.
1j Gerst.\ecker , Jahresbericht für 1861 im Archiv für Natur^esch. XXVIII,
Bd. 2. S. 558.
60 Fritz Müller,
Nach dem Festsetzen der Larve verkümmern die Riechfäden, die
den erwachsenen Thieren vollständig fehlen, und die Schv^immfüsse
des Hinterleibes verwandeln sich in Kiemen. Bei dem obenerwähnten
jungen Weibchen, das nach dem Abfallen der von ihm verdrängten
Sacculina zum Vorschein kam , bestanden die Kiemen aus einfachen
zungenförmigen Anhängen ; an einigen derselben begann indess schon
ein kurzer zweiter Ast hervorzusprossen ; zu diesem zweiten kommt
später noch ein dritter Ast. Von den Schwanzfüssen bleiben nur kurze
abgerundete Stummel übrig, an deren Rande ein breiter Blutstrom hin-
fliesst, und die also ebenfalls der Athmung dienen. — In diesen Schwanz-
anhängen fliesst das Blut am Innenrande nach hinten, am Aussenrande
nach vorn : in den dreitheiligen Kiemen am Hinterrande der Aeste nach
aussen, am Vorderrande wieder nach innen. — Die kurzen plumpen
Beine krümmen sich allmählich um den Seitenrand des Leibes nach
oben , so dass nur der Bopyrus sich mit denselben an dem Pagurus,
dem er wie gesagt seine Rückenfläche zuwendet, festhalten kann
(Taf. HI, Fig. 6).
Beim Herannahen der Geschlechtsreife entwickeln sich an der
Bauchseite grosse Brutblätter, die eine sehr ansehnliche Bruthöhle um-
schliessen. Dieselbe überragt seitlich die Ränder des Leibes, nach vom
den Kopf und ein kurzer abgerundeter Zipfel springt jederseits neben
dem Hinterleibe nach hinten vor (Taf. III , Fig. 7,8). Die vordersten
dieser blattförmigen Anhänge, die rinnenförmig zusammengebogen den
Kopf überragen, mögen dazu dienen, die aus den Sacculina- Wurzeln
zuströmende Nahrung dem Munde des Bopyrus zuzuleiten. —
Nach der Bildung der Kiemen des Weibchens würde Bopyrus
resupinatus eher zur Gattung Jone als zu Bopyrus zu stellen sein ; doch
finden sich zwischen der Kiemenform der Jone thoracica und des
Bopyrus squillarum so mannichfache Uebergangsformen, dass die erstere
Gattung sich nicht von letzterer trennen lässt, obwohl Milne Edwards
auf dieselben sogar zwei verschiedene Familien begründete.
Das etwa 2 Mm. lange Männchen des Bopyrus resupinatus (Taf. III,
Fig. 9) hat die gewöhnliche Gestalt der Bopyrusmännchen ; sein Hin-
terleib zeigt nur sehr undeutliche oder gar keine Spur von Gliederung
und ist ganz ohne alle Anhänge; ein breiter Blutstrom zieht an seinem
Rande hin.
Bruchstücke zur Naturgeschichte der Bopyriden. 61
3. Cryptoniscus planarioides ^) .
(Taf. IV, Fig. 12—19.)
Am 8. August 1861 hatte ich eine Anzahl Pagurus aus ihren Cori-
thiumgehäusen herausgeklopft, um an ihnen nach Succulina und Bopy-
rus resupinatus zu suchen: ausser diesen beiden traf ich noch einen
dritten Schmarotzer in Form einer flachen milchwcissen Scheibe von
5 — 6 Mm. Länge und 2,5 Mm. Breite, die etwa in der Mitte der dem
Pagurus zugewandten Fläche festsass und in der Nähe der Anheftungs-
stcUe eine Oeffnung zeigte, von der aus sie ganz wie ein Lernaeodiscus
oder eine Sacculina sich aufblasen liess. Ich glaubte in diesem Schma-
rotzer einen neuen Wurzelkrebs vor mir zu haben und wurde in dieser
Meinung bestärkt , als ich später (im October) fand , dass an der An-
heftungsstelle ein wie bei Sacculina purpurea gebildeter Chitinkranz
liegt, von dem aus giilne Wurzeln sich ins Innere des Pagurus senken.
Chitinkranz und Wurzeln Hessen sich im Zusammenhang mit dem
Schmarotzer aus dem Pagurus herauslösen. Nach einer blutrothen
Zeichnung auf der Unterseite der milchwcissen Scheibe, die an den
Darm eines dendrocölen Plattwurms erinnerte, nannte ich das Thier
Peltogaster planarioides.
Kurz darauf traf ich an demselben Pagurus ganz ähnliche, nur
grössere (9 — 10 Mm. lange) und anders gefärbte, bald gelbe, baldbraun-
punctirte Schmarotzer; erstere enthielten Eier mit noch wenig ent-
wickelten, letztere solche mit fast reifen Embryonen. Schon die gelben
Eier waren sofort an der Krümmung des Embryo nach oben als Assel-
eier zu erkennen und in den Eiern der braunpunctirten Thiere fanden
sich Larven , die mit denen von Bopyrus und Entoniscus die grösste
Aehnlichkeit hatten. Dass ich also in diesen Schmarotzern einen noch
mehr als selbst Entoniscus von der Asselform sich entfernenden Bopy-
riden vor mir hatte, unterlag keinem Zweifel.
Wochenlang liefen nun in meinem Tagebuche bei Aufzählung der
an Pagurus erbeuteten Schmarotzer dieser »Bopyrus agnostus« und
«Peltogaster planarioides« neben einander her, ohne dass ich
nur an die Möglichkeit dachte, dass letzterer eine jüngere Form des
ersleren sein könnte. Und neben diesen beiden wurden noch jüngere,
etwa 2 Mm. lange, schmutzig röthlichbraune Thiere derselben Art als
junge Sacculina purpurea aufgeführt, da sie die gleichen Wurzeln,
den gleichen Chitinkranz besassen und in Gestalt und Farbe weil mehr
1) Veigl. F. MüELLER, Für Darwin, Fig. 39 und 42.
62 Fritz Müller,
dieser Sacculina als dem milchweissen »Peltogaster plana rioides«
ähnlich waren.
Erst am 28. November, als ich gleichzeitig, als Ausbeute von 270
Paguren, SCryptoniscus in den verschiedensten Altei'sstufen vor
mir halte, 2 junge röthlichbraune, 3 milchweisse planarienähnliche
(«Peltogaster planarioides«) , einen gelben mit unreifen , einen braun-
punctirten mit fast reifen Embryonen (»Bopyrus agnostus«) und endlich
einen, der schon seine Brut entleert hatte und nun einen schlaffen
häutigen farblosen Sack bildete, — überzeugte ich mich von der Zusam-
mengehörigkeit dieser verschiedenen Formen.
Leider kann ich über den Bau und die Entwickelung dieser in so
mannichfachen und völlig unkenntlichen Vermummungen auftretenden
Asselart nur äusserst dürftige Mittheilungen machen.
Die beim Ausschlüpfen etwa 0,2 Mm. langen Jungen ^) sind augen-
los ; der Vorderrand des Kopfes (Taf. IV, Fig. \ 2 o) ist halbkreisförmig ;
an seinen hinteren Ecken stehen die kräftigen sechsgliedrigen, äusseren,
dicht neben ihnen nach innen die äusserst winzigen (dreigliedrigen '?]
inneren Fühler. — Die Brust trägt sechs Beinpaare, von denen das
letzte abweichend von den vorangehenden und von denen anderer
junger Bopyriden gebaut ist. Das vorletzte Glied, das bei den fünf
ersten Beinpaaren eine kurze eiförmige Hand bildet, ist beim sechsten
Paare (Taf. IV, Fig. \'ib] allerdings auch dicker als die anderen Glieder,
aber lang und walzenförmig und trägt nicht ein kurzes einschlagbares,
sondern ein wenig oder gar nicht bewegliches , sehr langes borsten-
förmiges Endglied. — Die Schwimmfüsse des Hinterleibes (Taf. IV,
Fig. '12 c) haben zwei in verschiedener Höhe eingelenkte Aeste. — Im
Anfang des Hinterleibes liegt (im Darme?) eine rundliche Anhäufung
eines dunkel braunroth gefärbten Stoffes.
In welcher Weise die jungen Cryptoniscus sich an Sacculina
purpurea festsetzen, wurde nicht beobachtet. Die jüngsten fest-
sitzenden Thiere, die gefunden wurden iTaf. IV, Fig. 13) , hatten be-
reits die Sacculina verdrängt und vollständig alleGliedmaassen verloren.
Sie erschienen als schmutzig röthlich braune, eiförmige Körper von etwa
2 Mm. Länge, die in der Nähe des stumpferen Endes festgeheftet waren.
Von inneren Theilen wurde ein vom Anheftungspunkte ausgehender
weiter blinder Schlauch gesehen , der jederseits mehr oder weniger tief
gelappt oder in 5 bis 6 kurze Fortsätze ausgezogen war, wahrscheinlich
die Leber, — und ausserdem am freien spitzeren Ende des Leibes ein
kräftis; sich zusammenziehendes Herz. — Wurden die Thiere vom
1) F. MuELLER, Für Darwin, Fig. 39.
Bruchstüoke zur Xiiturgescliichte der ßopyriden. G3
Fagurus losgerissen, so pUegte der Chilinkranz der Sacculina, die sie
verdrängt und aus deren Wurzeln sie nun ihre Nahrung zogen , mit
ihnen in Verbindung zu bleiben.
Beim weiteren Wachsthum verwandelt sich der eiförmige Körper,
in die Breite und Länge wachsend, in eine immer flachere Scheibe,
während gleichzeitig der Anheftungspunkt nach der einen Fläche dieser
Scheibe hinrUckt. Die Farbe wird heller und geht in ein reines Milch-
weiss über, aufweichen! der jetzt blulroth gefärbte gelappte Schlauch
(die Leber ?) scharf sich abzeichnet. Diese Färbung zeigen Thiere von
4 bis 7 Mm. Länge und 2,6 bis 4 Mm. Breite. Die Leber (?) liegt auf
der dem Pagurus zugewandten Seite der Scheibe und gleicht jetzt ganz
dem Darmrohr einer Clepsine ; von dem Anheftungspunkte aus geht
nach dem einen stumpferen Ende der Scheibe ein weites unpaares
Rohr, welches jederseits etwa 5 Fortsätze bis in die Nähe des Scheiben-
randes sendet, — nach dem anderen spitzeren Ende jederseits ein engeres
Rohr, das nach aussen -2 bis 3 ähnliche Fortsätze trägt. Zwischen der
Leber (?: und der vom Pagurus abgewandten Fläche der Scheibe liegt
der, wie es scheint, unpaare Eierstock, der milchweiss gefärbt ist und
fast die ganze Länge und Breite der Scheibe einnimmt (Taf. IV,
Fig. 14). — Das Herz habe ich bei Thieren in diesem Alter nicht mehr
gesehen; es mag vom Eierstock verdeckt oder auch verkümmert sein.
Wie gesagt pflegt man mit dem Cryptoniscus zugleich den Chitin-
kranz der von ihm verdrängten Sacculina und bisweilen selbst einen
Theil ihrer Wurzeln herauszureissen. Diese feste Verbindung, die mich
verleitet hatte, den Cryptoniscus selbst für einen Rhizocephalen anzu-
sehen, wird dadurch bewirkt, dass das Mundende der planarienähn-
lichen Assel durch den Chitinkranz hindurch in die Wurzeln der
Sacculina eindringt und hier zu einem unregelmässig gelappten Knopf
anschwillt (Taf. IV, Fig. 14 c. Fig. 15). Spuren von Fühlern oder
Mundtheilen habe ich an diesem Knopfe nicht gefunden. Die Mund-
ötfnung dürfte am Ende eines rüssel förmigen Fortsatzes zu suchen sein,
den ich einmal von diesem Knopfe ausgehen sah Taf. IV, Fig. 15) ;
gesehen habe ich sie nicht.
Die ganze Scheibe bildet einen weiten, jetzt noch leeren Sack, die
Bruthöhle , die von einer in der Nähe des Anheftungspunktes liegenden
Oeffnung aus sich aufblasen lässt. Wann und auf welchem Wege die
Eier aus dem Eierstock in die Brulhöhle gelangen, kann ich nicht sagen.
Bei völlig ausgewachsenen, 9 bis 10 Mm. langen Thieren findet
man die Eier in der Bruthöhle und in denselben den Embryo meist
schon mehr oder weniger entwickelt. Ihre Farbe hat sich in Gelb ver-
wandelt und da sie die ganze Scheibe füllen, zeigt das ganze Thier die-
64 Fritz Müller,
selbe Farbe (Taf. IV , Fig. 1 6) . Wenn die Jungen dem Ausschlüpfen
nahe sind, erscheint das Thier mit rothbraunen Punkten besäet (Taf. IV,
Fig. 17). Aehnliche dunkle Punkte sieht man um diese Zeit bekannt-
lich an den Eiern der meisten Kruster ; aber bei Cryptoniscus sind es
nicht, wie sonst, die Augen, deren dunkle Färbung die nahende Reife
verkündet ; Augen sind überhaupt nicht vorhanden ; es findet sich viel-
mehr, wie bereits erwähnt, im Anfang des Hinterleibes (vielleicht im
Darme), eine rundliche, bald regelmässige, scharf umschriebene, bald
unregelmässig ausgebreitete Anhäufung eines dunkel gefärbten Stoffes. —
Während die Eier in der Bruthöhle sich entwickeln, schwindet allmäh-
lich immer mehr der blutrothe Inhalt der Leber (?) , so dass zur Zeit,
wo die Jungen ausschwärmen , bisweilen kaum noch Spuren davon zu
erkennen sind.
Sind die Jungen ausgeschwärmt, so zeigt die Mutter noch einmal
ein völlig verändertes Aussehen ; es ist von ihr nichts übrig geblieben,
als eine leere farblose Haut. In der Oeffnung der Bruthöhle sieht man
jetzt mehrere Paare fingerförmiger Anhänge sich lebhaft bewegen, deren
Zahl und Gestalt nicht bei allen Thieren dieselbe zu sein scheint. Sie
haben wahrscheinlich dazu gedient, in der Bruthöhle denfürdieAthmung
der Eier nöthigen Wasserwechsel zu unterhalten und sind vielleicht als
umgewandelte Hinterleibsfüsse (»fausses pattes abdominales«) zu be-
trachten. (Man kann dieselben natürhch auch vor dem Ausschwärmen
der Jungen zu sehen bekommen , wenn man die Eier durch einen Ein-
schnitt entleert.) — Ebenso tritt jetzt in der ziemlich durchsichtigen
Haut deutlich ein Gerüst von Chitinleisten hervor, dessen Anordnung
auf der dem Pagurus zugewandten Fläche aus Taf. IV, Fig. 1 8 ersicht-
lich ist. In diesen Ghitinleisten scheint noch ein Rest der früheren
Gliederung des Cryptoniscus erhalten zu sein.
Wahrscheinlich wird die Mutter bald nach dem Ausschwärmen der
Brut absterben und abfallen , und keinenfalls noch einmal in sich Eier
und Junge erzeugen. Dafür spricht ihr ganzes Aussehen und nament-
lich der gänzliche Schwund von Leber und Eierstock. Auch hierin, dass
mit einer einmaligen Eiererzeugung sein Lebenslauf abgeschlossen ist,
steht Cryptoniscus einzig da unter seinen Verwandten.
Mit diesem Verhalten dürfte die Seltenheit der Männchen im Zu-
sammenhang stehen. Von Bopyrus oder Entoniscus trifft man selten ein
Weibchen, dem nicht ein Männchen sich zugesellt hätte. An weit über
50 Cryptoniscus habe ich dagegen ein einziges Mal eine kleine 0,9 Mm.
lange Assel gefunden, die ich als dessen Männchen betrachten zu dürfen
glaube (Taf. IV , Fig. 19). In der Bildung der Fühler , der Gliederung
der Brust, die 7 Paar gleichgebildeter Beine trägt, und in dem anhang-
Bruchstücke im Naturgeschichte der Bopyrideii. 65
losen Hinterleibe stimmt es mit der Mehrzahl der Bopyridenmännchen
überein; eigenlhünilich sind ihm die stark vorspringenden und mit
kurzen Dörnchen bewehrten Seitenecken der Leibesringe und der in
zwei spitze Zipfel gespaltene und an diesen Spitzen dicht mit kurzen
Dörnchen besetzte Schwanz.
4) Microniscus fuscus.
(Tat. IV, Fig. 20.)
Das Vorkommen der Bopyriden scheint nicht auf Decapoden, Ranken-
liisser und Wurzelkrebse beschränkt zu sein , an denen sie allein bis
jetzt beobachtet wurden ; denn kaum einer anderen Familie dürfte eine
Schmarotzerassel zuzurechnen sein, die ich einmal (im November 1 864)
dem Rücken eines Copepoden aufsitzend fand.
Das Thierchen hatte eine Länge von nur 0,2 Mm. , wovon Y4 auf
den Kopf und ebensoviel auf den Hinterleib kam ; es hatte die Gestalt
eines ziemlich stark gewölbten Schildes. Die Leibesringe waren voll-
zählig und deutlich geschieden. Der Kopf, von einem breiten häutigen
Saume eingefasst, trug jederseits nahe seiner hinteren Ecke ein Auge
und einen plumpen (ungegliederten ?) Fühler. Vordere Fühler wurden
nicht gesehen. Die Beine der Brust waren mit Ausnahme des dritten
Paares kurze plumpe Klammerfüsse mit dickem kugeligen Handglied
und kurzer stumpfer Klaue. Die Beine des dritten Paares, weit länger
als die übrigen , ragten weit über die Seiten der Brust vor ; ihr letztes
Glied bildete ein klauenloses eiförmiges Blatt, das dem Leibe des Wirthes
fest anlag. Hinterleibsfüsse und Schwanzanhänge waren borstenlos, —
ein Beweis, dass das Thierchen nicht etwa eine noch frei schwimmende
Assellarve war, die sich nur vorübergehend an den Copepoden ange-
setzt hatte. Wahrscheinlich war es noch ein jüngeres Thier, dem mög-
licherweise noch tiefgreifende Umwandlungen bevorstanden ; denn Eier
wurden bei demselben noch nicht gefunden. — Seine Farbe war dunkel-
braun, die Beine und der häutige Saum des Kopfes farblos.
5) Zur Systematik der Bopyriden.
Ueber die systematische Stellung der Bopyriden herrscht unter den
Zoologen eine seltene Einstimmigkeit. Man stellt sie allgemein ans Ende
der Isopoden , neben die Cymothoiden. Gerstaecker reiht die Bopyriden
geradezu der Abtheilung der schwimmenden Asseln ein, während Milne
Bd. VI. 1. R
66 Fritz Müller.
Edwards die Abtheilung der schwimmenden Asseln mit den Cymothoiden
schliesst und diesen als besondere Abtheilung die festsitzenden Asseln
(Jone, Bopyrus) folgen lässt, und wieder Andere (z. B. Claus) die
Familien der Asseln , ohne sie in grössere Abtheilungen zu vereinigen,
in einfacher Reihe neben einander stellen, an deren Ende dann, neben
die Cymothoiden, die Bopyriden zu stehen kommen. Allgemein scheint
man also die Cymothoiden als nächste Verwandte der Bopyriden anzu-
sehen. Dieser Ansicht kann ich mich nicht anschliessen ; denn ausser
dem , was allen Asseln zukommt , haben diese beiden Familien nichts
gemein , als die schmarotzende Lebensweise und mit gleichem Rechte
würde man z. B. unter den Insecten Läuse und Flöhe neben einander
stellen.
Wie bei allen durch's Schmarotzerleben stark veränderten Thieren
(Lernäen, Pentastomen u. s. w.) hat man natürlich auch bei diesen
schmarotzenden Asseln hauptsächlich die Jugendformen ins Auge zu
fassen, um ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu erkennen. Schon
der erste flüchtige Blick aber auf die Taf. III, Fig. 3, 4 und 1 0 gezeich-
neten jungen Bopyriden und die zur Vergleichung daneben gestellte
junge Cymothoe (Fig. H.) wird Jedem den Eindruck machen müssen,
dass die beiden Familien eher an die entgegengesetzten Enden ihrer
Ordnung, als neben einander gehören. Eine nähere Vergleichung be-
stätigt dies.
Bei den Jungen von Cymothoe sieht man wie bei allen schwim-
menden Asseln (Sphaeromiden , Cymothoiden) beide Fühlerpaare von
nahezu gleicher Länge und Gestalt; bei den jungen Bopyriden, wie bei
den gehenden Asseln (Idotheiden, AseFliden , von denen jedoch die
Tanaiden auszuscheiden sind, und Onisciden) die vorderen Fühler sehr
kurz, selbst wenn sie mit reichlichen Riechfäden ausgerüstet sind (Taf. III,
Fig. 5.) ; die hinteren Fühler dagegen , namentlich bei den jüngsten
Larven, stets von sehr ansehnlicher Länge.
Bei Cymothoe und überhaupt bei den schwimmenden Asseln finden
sich tastertragende , bei den Bopyriden wie bei den gehenden Asseln
tasterlose Kinnbacken (Mandibeln) . Bei Cymothoe und allen schwimmen-
den Asseln ist der letzte (der Schwanzring) der grösste, bei den jungen
Bopyriden wie oft bei den Onisciden der kleinste der Hinterleibsringe. —
Bei Cymothoe und den meisten schwimmenden Asseln tragen die
Schwanzfüsse zwei grosse blattförmige langbewimperte Endäste; bei
den jungen Bopyriden sind diese Endäste griffeiförmig , wie bei den
Aselliden und Onisciden. — Alle für die schwimmenden Asseln be-
zeichnenden Merkmale fehlen also den Bopyriden , während sie in der
Bildung der Fühler, der Kinnbacken, des Hinterleibes, der Schwanz-
Bruclistiieke zur Natiirüescirtclitc der Ropuidoii. 07
füsse an tiie gehenden Asseln und zwar zumeist an die Onisciden, und
unter diesen wieder zunächst an die Gattung Ligia sich anschliesson.
Gar manche junge ßopyridenform könnte vom Rücken betrachtet für
eine mikroskopische Ligia gelten. Abweichend ist, von den verkümmer-
ten Mundtlieilen abgesehen, hauptsächlich die Bildung der Hinterleibs-
füsse, die bei Ligia der Athmung, bei den jungen Bopyriden der Orts-
bewegung dienen und die Leber, die bei Ligia aus drei Paar, bei den
Bopyriden aus einem einzigen Paare langer Blindschläuche besteht. In
beiden Beziehungen nähern sich die jungen Bopyriden aber nicht etwa
den Cymothoiden , sondern vielmehr den Scheerenasseln (Tanais). —
Auch die ungegliederten aber mit Endl)orsten versehenen Aeste der
Schwanzfüsse stehen in der Mitte zwischen den meist gegliederten
borslentragenden Aesten der Scheerenasseln (Tanais) und den unge-
gliederten borstenlosen Endgriffeln der Felsenasseln (Ligia). —
Von den verkümmerten Mundtlieilen abgesehen, dürften die jungen
Bopyriden der Urform der Asseln näher stehen, als irgend andere
lebende Asseln , die Scheerenasseln natürlich ausgenommen, die sich
indess soweit von allen übrigen Asseln entfernen, dass man sie wohl
besser als eigene Unterordnung den eigentlichen Asseln gegenüberstellt.
Das Schmarotzerleben , dem die Bopyriden schon seit uralter Zeit sich
hingaben und durch welches viele Arten im erwachsenen Zustande bis
zur Unkenntlichkeit umgewandelt w urden , dürfte gerade dazu beige-
tragen haben , dass die Form der freischwimmenden Jungen sich nur
wenig veränderte. Den freilebenden Asseln war es vortheilhaft, die
Eigenschaften , durch die sie im Kampfe ums Dasein sich behaupteten,
möglichst früh zu besitzen ; die Jungen nahmen daher allmählich fast
vollständig die Gestalt der Eltern an. Anders bei den festsitzenden
Bopyriden : die ihnen unentbehrlichen frei beweglichen Jungen wur-
den nur wenig beeinflusst von den Veränderungen, denen im Laufe der
Zeiten die festsitzenden Alten unterlagen , und gleichzeitig wirkte der
Kampf ums Dasein während der Zeit des freien Umherschwärmens um
so weniger verändernd auf diese jugendlichen Bopyriden ein, einen je
kürzeren Abschnitt ihres Lebens diese Jugendzeit umfasste i) .
1) Ich vermuthe nach einigen raehier Zeichnungen, dass bei manchen jungen
Bopyriden noch eine Spur des zweiten Astes der äusseren Fühler vorkommt. Dies
würde der oben ausgesprochenen Ansicht eine wesentliche Stütze verleihen und
ich will deshalb nicht versäumen , die Aufmerksamkeit späterer Beobachter darauf
hinzulenken. — Bis jetzt kennt man im Bereich der Edriophthalmen diesen zweiten
Ast der äusseren Fühler die sogenannte Schuppe des Podophthalmenfühlers) nur
bei der Tanaidengattung Apseudes mach brieflicher Mittheiiung von Spence
Bäte). —
5*
68 Fritz Müller,
Statt der herkömmlichen Anordnung der Asseln möchte ich folgende,
wahrscheinlich ihrer wirklichen Verwandtschaft besser entsprechende
in Vorschlag bringen :
I. Unterordnimg. Scheerenasseln.
1 . Familie : Tanaiden
(Asellotes heleropodes M. Edw.)
II. Unterordnung. Eigentliche Asseln.
A. Gehende Asseln. (Isopodes marcheurs M. Edw.)
a. Ligioiden.
2. Familie : Bopyriden.
(Joniens u. Bopyriens M. Edw.)
S.Familie: Onisciden.
^. Aselloiden.
4. Familie : Aselliden.
(Asellotes homopodes M. Edw.)
5. Familie : Idotheiden.
B. Seh wi mmen de Assel n. (Isopodes nageurs M. Edw.)
(6. Familie: Cymothoiden.
7. Famihe: Sphaeromiden.
(?) 8. Familie : Praniziden.
Die Bopyriden zerfallen in drei (oder vier?) sowohl durch Bau
als durch Aufenthaltsort verschiedene Gruppen.
Die erste Gruppe bilden die äusserlich, am Hinterleibe oder in der
Kiemenhöhle von Decapoden festsitzenden Arten , für die man bereits
eine ganze Zahl von Gattungen aufgestellt hat (Bopyrus, Jone, Phryxus,
Gyge, Athelgue u. s. w.), die man aber besser fürs Erste in der einen
Gattung Bopyrus vereinigt liesse. Ich habe aus dieser Gruppe 5 Arten
beobachtet , den oben besprochenen Bopyrus resupinatus und vier an-
dere, die in der Kiemenhöhle eines Grapsus (Leptograpsus rugulosus?),
einer Porcellana, eines Alpheus und einer Hippolyte leben. Ihre Jungen
sind, soweit ich sie kenne, dadurch ausgezeichnet, dass die sämmt-
lichen Beinpaare der Brust gleich gebildet sind und dass sie am Schwanz-
ende einen unpaaren griffeiförmigen Fortsatz besitzen. — Nach beiden
Merkmalen dürfte die auf Taf. III. Fig. 1 0 gezeichnete Larve von einem
Thiere dieser Gruppe abstammen.
Die zweite Gruppe umfasst die in der Leibeshöhle von Krabben und
Porcellanen lebenden Arten, die Gattung Entoniscus. Das letzte
Bruchstücke zur Nattirgescliichte der Bopyriden. 69
Beinpaar der Brust ist bei den Larven abweichend gebildet; die Hinter-
leibsfUsse der Larve haben einen einzigen blattförmigen Endast.
Die dritte Gruppe, die Gattung Cryptoniscus, lebt an Ranken-
füssern und Wurzolkrebsen. Hierher gehört ausser Cryptoniscus plana-
rioides der in Baianus balanoides lebende Schmarotzer, welchen Goodsir
als Männchen dieses Baianus beschrieb , Darwin aber als weibliche
Schmarotzerassel erkannte ^] , sowie Rathke's an Peltogaster paguri
lebende Liriope pygmaea. Nach der mir brieflich mitgetheilten Ansicht
eines der gründlichsten Kenner der Edriophthalmen, Spence Bate's, ge-
hören diese drei Arten in eine einzige Gattung, für die ich den Namen
Cryptoniscus beibehalten zu dürfen glaube, da der Name Liriope schon
vor Rathke durch Lesson an eine Qualle vergeben wurde 2). — Ein
eigenes Urtheil über diese Ansicht Spence Bate's habe ich nicht, da mir
die Beschreibung des Baianusschmarotzers von Goonsni und die Arbeit
von LiLLiEBORG übcr Liriope nicht zugänglich sind. — Bei den Jungen
von Cryptoniscus planarioides ist, wie bei denen von Entoniscus, das
letzte Beinpaar der Brust abweichend gebildet: die Schwimmfüsse des
Hinterleibes aber tragen zwei griffeiförmige Aeste.
Einer vierten Gruppe endlich scheint der an Copepoden schma-
rotzende Microniscus zugetheilt werden zu müssen. Bei keinem an-
deren bekannten Bopyriden ist zu irgend einer Lebenszeit das dritte
Beinpaar der Brust abweichend von den übrigen gebaut.
Wie in vielen anderen Fällen finden wir also auch bei den Bopy-
riden, dass bestimmte Gruppen verwandter Schmarotzer auf bestimmte
Gruppen verwandter Wohnthiere beschränkt sind. Dieses Vorkommen
verwandter Schmarotzer an verwandten Wohnthieren , wobei nicht
selten dem Verwandtschaftsgrade der Wirthe der Verwandtschaftsgrad
der Gäste entspricht, lässt sich auf verschiedene Weise entstanden
denken. Entweder war 1. schon die Stammform der Wirthe von der
Stammform der Gäste bewohnt und während erstere sich umwandelnd
in verschiedene Arten , Gattungen , Familien aus einander ging , thaten
ein Gleiches, den Veränderungen der Wohnthiere sich anpassend, auch
die Schmarotzer. Oder 2. die gemeinsame Stammform der Schmarotzer,
die ursprünglich nur an einer bestimmten Art von Wohnthieren lebte
und von dieser sich später auf andere verwandte Arten verbreitete, oder
auch sleichzeitis auf mehreren verwandten Arten als Schmarotzer sich
1) Darwin, Munograph ot the Cirripedia. Lepadidae. S. 55. Anm.
2) Ueber die Priorität der Lesson' sehen Namengebung s. Max Schultze, Archiv
für Nalurgesch. 1859. I. S. 310, Anm. —
70 Fritz Müller,
niederliess , nahm den Eigenlhümlichkeiten der verschiedenen Wohn-
thiere entsprechende neue Formen an und zerfiel so in eine Gruppe
verwandter Arten oder selbst Galtungen. Oder es konnten endlich 3.
schon ursprünglich verschiedene verwandte Arten an anderen ebenfalls
unter sich verwandten Arten zu schmarotzen beginnen. Bald mag vor-
wiegend die eine, bald die andere Weise, selten wohl ausschliesslich
eine derselben die jetzt bestehende Vertheilung der Schmarotzer herbei-
geführt haben. Mit Sicherheit den Antheil der einen und der anderen
festzustellen, wird vielleicht in keinem Falle möglich sein.
Was die gesammte Familie derBopyriden betrifft, so ist der erste der
eben aufgezählten Fälle natürlich sofort auszuschliessen ; denn zur Zeit,
als die gemeinsame Stammform der Decapoden , Copepoden , Ranken-
füsser und Wurzelkrebse lebte , an denen jetzt diese Schmarotzer vor-
kommen, gab es überhaupt noch keine Asseln. Die grösste Wahr-
scheinlichkeit hat hier der dritte Fall für sich. Es dürfte einst zwischen
den Bopyriden und den übrigen Krustern ein ähnliches Verhältniss be-
standen haben, wie gegenwärtig zwischen den Cymothoiden und den
Fischen. Alle Cymothoiden scheinen an Fischen ihre Nahrung zu suchen ;
einige fallen schaarenweise über todte oder auch kranke Fische her ; —
andere, treffliche Schwimmer, heften sich nur zeitweise schleimfressend
oder blutsaugend an lebende Fische, gelegentlich auch, wie ich selbst
erfahren, an badende Menschen; — andere endlich, die Minderzahl,
sind im Alter festsitzende Schmarotzer mit ziemlich verkrüppelten Be-
wegungswerkzeugen. Auch deren Vorfahren waren einst ohne Zweifel
nur gelegentliche Besucher ihrer Wohnthiere und es ist nicht unwahr-
scheinlich, dass die Nachkommen mancher Arten , die jetzt noch frei
leben, einst zu bleibenden Gästen der von ihnen besuchten Fische
werden. Ebenso mögen einst die frei lebenden Vorfahren der Bopyriden
an anderen Krustern ihre Nahrung gesucht und von diesen mögen ver-
schiedene Arten nach und nach aus zeitweiligen Besuchern zu fest-
sitzenden Schmarotzern geworden sein.
Anders stellt sich die Sache für die einzelnen Gruppen der Bopy-
riden. Es ist nicht unwahrscheinlich , dass der gemeinsame Stamm-
vater der Bopyrusarten , es ist so gut wie gewiss, dass derjenige der
Entoniscus und ebenso derjenige der Cryptoniscusarten selbst schon
ein Schmarotzer war und dass die Mehrzahl der heute mit solchen
Schmarotzern behafteten Arten dieselben von ihren Vorfahren ererbt
haben.
Besonders merkwürdig ist in dieser Beziehung die Cryptoniscus-
gruppe durch ihr gleichzeitiges Vorkommen an Rankenfüssern und
Wurzelkrebsen. Wenn Schmarotzer, die auf eine bestimmte einzelne
Bruchstücke zur Naturgeschichte der Bopyriden. 71
Art von Wohnlhicrcn beschränkt und von dieser so völlig abhängig
sind, wie es mit Cryptoniscus der Fall ist, durch gelegentliches Ver-
irren der Jungen sich auf andere Arten verbreiten , so wird dies sicher
nur auf nahe verwandte Arten , nicht aber auf so weit verschiedene
Thiere geschehen, wie jetzt Balanen und Wurzelkrebse sind. Sollte
auch z. B. gelegentlich die Larve des GooDsm'schen Cryptoniscus, statt
den an Felsen haftenden Baianus aufzusuchen, sich in ein Schnecken-
haus verirren, in welchem ein mit Peltogaster behafteter Pagurus
wohnte, so ist es doch kaum denkbar, dass dieser Pcltogaster trotz seiner
völlig umgewandelten Form und trotz seiner völlig verschiedenen Nah-
rung in Geruch und Geschmack und überhaupt in der chemischen Be-
schaffenheit seiner Säfte dem Baianus so ähnlich geblieben sei, dass die
Larve an ihm sich festsetzen und einen passenden Boden fiii' ihre Ent-
wickelung finden sollte. Dies ist um so weniger glaublich, als der
GooDsiR'sche Schmarotzer nicht einmal die anderen Balaniden, die an
gleicher Stelle und untermischt mit Baianus balanoides leben (Baianus
perforatus und Chthamalus stellatus i) , heimzusuchen scheint. Ein Ueber-
siedeln der Cryptoniscusarlen von Rankenfüssern auf Wurzelkrebse
oder umgekehrt ist mithin im höchsten Grade unwahrscheinlich ; ich
bin vielmehr der Meinung, dass die mit Cryptoniscus behafteten Wurzel-
krebse dieselben von der Zeit her ererbt haben, wo ihre Vorfahren selbst
noch Rankenfüsser waren. Dass von dem gemeinsamen Stammvater
der Wurzelkrebse diese Schmarotzer, wie es scheint, nur auf wenige
seiner Nachkommen übergegangen sind, ist dabei so wenig befremdlich,
als dass oft nur sehr vereinzelte Thiere die ihrer Art eigenthümlichen
Schmarotzer beherbergen. — Es würde demnach die Entstehung der
Wurzelkrebse in eine verhältnissmässig neue Zeit fallen , in der schon
die Familie der Bopyriden in die jetzt bestehenden Hauptgruppen sich
aufgelöst hatte , oder mit anderen Worten die Gattung Cryptoniscus
würde älter sein, als die ganze Gruppe der Rhizocephalen. Wie in die-
sem, mögen in manchen anderen Fällen die Schmarotzer zur Bestimmung
des beziehungsweisen Alters verschiedener Thiergruppen sich benutzen
lassen.
Ich habe im Vorstehenden den Cryptoniscus planarioides als
Schmarotzer von Sacculina purpurea , der Bopyrus resupinatus als
Schmarotzer von Pagurus bezeichnet, obwohl beide sich jetzt in voll-
kommen gleicher Weise zu Sacculina und Bopyrus verhalten, nämlich
die Sacculina verdrängen , um aus deren im Pagurus fortwuchernden
Wurzeln ihre Nahrung zu ziehen. Es wird dies keiner weitläufigen
1) Darwin, Balanidae. S. 272.
72 Fritz Müller,
Rechtfertigung bedürfen ; denn offenbar ist Cryptoniscus von der Sac-
culina aus, Bopyrus vom Pagurus aus an den jetzt beiden gemeinsamen
Wohnsitz, den Anheftungspunkt der Sacculina an den Pagurus gelangt.
Cryptoniscus (Liriope) pygmaeus ist noch einfacher Schmarotzer von
Peltogaster paguri, den er nicht verdrängt, und entsinne ich mich recht,
so hat man im Vaterlande dieser Thiere auch einen Bopyrus gefunden,
der als einfacher Schmarotzer am Hinterleibe von Pagurus lebt. Mög-
lich , dass diese norwegischen Arten einst auch noch die bequeme und
ausgiebige Nahrungsquelle entdecken, an der ihre brasilianischen Ver-
wandten sich bereits niedergelassen haben.
Erklärung der Abbildungen.
Taf. 111. Fig. 1 — 3. Entoniscus Cancrorum.
Fig. 1 . Erwachsenes Weibchen.
Fig. 2. Jüngste Larve, in ihrer Lieblingsstellung.
Fig. 3. Dieselbe von der Bauchseite, mit ausgebreiteten Gliedmaassen.
Fig. 4— 9. Bop y rus resupinatus.
Fig. 4. Jüngste Larve, vom Rücken. /. Leber.
Fig. 5. Aeltere Larve, an einem mit Sacculina behafteten Pagurus gefun-
den ; (die drei letzten Beinpaare der Brust und die Schwimmfüsse
des Hinterleibes sind weggelassen) .
Fig. 6. Junges Weibchen, vom Rücken, l. Leber, h. Herz
Fig. 7. Erwachsenes Weibchen, vom Rücken.
Fig. 8. Ein solches von der Bauchseite.
Fig. 9. Männchen, l. Leber, h. Herz. t. Hoden.
Fig. 10. Bopyridenlarve von unbekannter Abkunft, d. Darm. l. Leber.
Fig. 1 1 . Junge Cymothoe, der Bruthöhle der Mutter entnommen.
Taf. IV. Fig. 12—19. Cryptoniscus plan arioides.
Fig. 12. Theile der jüngsten Larve: a. Kopf. 6. ein Bein des 5. Paares dei'
Brust c. ein Schwimmfuss vom letzten (5.) Paare des Hinterleibes.
Flg. 13. Junges festsitzendes Weibchen, h. Herz. l. Leber (?). eh. Chitin-
kranz der Sacculina.
Fig. 14. Halbwüchsiges Weibchen, c. Mundende desselben. L. Leibes-
wand des Cryptoniscus. m. das in die Wurzeln der Sacculina
eingesenkte Mundende ; zwischen beiden der Chitinring der Sac-
culina, an dem man den im Innern des Pagurus sich ausbreitenden
Kranz k. und die ausserhalb desselben liegende Platte p. unter-
scheidet.
Fig. 15. Mundende eines anderen Weibchens. L. und m. wie in Fig. 14.
B. Eingang zur Bruthöhje des Cryptoniscus. eh. Chitinring der
Sacculina.
Bruchstückp zur Naturgeschichte der Bopyriden. Erkirininn der Abbildungen. 73
Taf. IV. Fig. 16. Aelleres Weibchen.
Fig. 17. Weibchen mit fast reifer Brut. Am Anhcftungspunkte grüne
Sacculinawurzoln.
Fig. 18. Chitingerüst in der Leibeswaiui eines alten Weibchens. B. Ein-
gang zur Bruthöhle , in weichem man 4 fingerförmige Anhänge
sieht. Ch. Chitinplalte der Sacculina.
Fig. 19. Männchen, h. Herz. l. Leber.
Fig. 20. Microniscus fuscus.
Itajahy, S'' Catharina, Brazil,
im December 1869.
lieber deu Trimorpliismiis der Poutederieii.
Von
Fritz Müller.
Vor mehreren Jahren wurde hier als Zierpflanze eine Ponlederia
(wahrscheinlich Ponlederia crassipes) eingeführt, die sich seitdem
auf ungeschlechtlichem Wege mit unglaublicher Schnelligkeit vermehrt
hat. In einem Graben, in welchen ich vor noch nicht zwei Jahren eine
kleine Pflanze dieser Pontederia warf , hat dieselbe auf weite Strecken
ihre einheimische Verwandte, die Heteranthera reniformis
R. & P., verdrängt, und entfaltet jetzt täglich Hunderte von Blüthen-
ähren.
Nach Endlicher (Gen. plant. No. 1088, b, a.) sollen bei den eigent-
lichen Pontederien die Staubfäden ziemlich gleich lang sein. Unsere
Pflanze dagegen (Fig. 4.) hat drei kurze und drei sehr lange Staubfäden ;
die Staubbeutel der ersteren liegen am Eingange der Blumenröhre, die
der letzteren stehen etwa 2 Cm. darüber. Die Narbe steht zwischen
diesen beiden Gruppen von Staubbeuteln, ganz wie bei der mittelgriff-
ligen Form von LythrumSalicaria. Es war mir kaum zweifelhaft,
dass auch diese Pontederia trimorph sei und dass die, welche ihr
Stamina subaequalia zuschrieben , lang- oder kurzgritf lige Pflanzen vor
sich hatten , während die hier eingeführte Pflanze der mittelgriffligen
Form angehörte. Ich war daher sehr gespannt, die Blumen einer zwei-
ten Art zu untersuchen, die im unteren Laufe des Itajahy-mirim in
grosser Menge an den Ufern hin wächst.
Bei einem Ausfluge, den ich deshalb im Oclober 1868 nach dem
»kleinen Flusse« machte, (wie von den Anwohnern des Itajahy der
Itajahy-mirim gewöhnlich genannt wird), fand ich die Pontederia leider
noch nicht in Blüthe. Dagegen leuchteten mir in voller Pracht ihre
spannenlangen dunkelblauen Blüthenähren entgegen, als ich vor wenigen
Tagen an der Mündung des kleinen Flusses vorüberfuhr. Nach dem
Landen gelang es mir, vom Ufer aus einige Blüthen zu erreichen und
üeber den Trimorphisimis der Pontederieii. 75
diese waren — zu meiner nicht geringen Freucio — theils lang-, Iheils
kurzgrifflig !
Um auch der mittelgriffligen Form habhaft zu werden, Hess ich
mich im Canoe den kleinen Fluss hinauffahren. Von jeder Pflanze, an
der wir vorüberkanien, — (eine einzige Pflanze bedeckt oft eine Fläche
von mehreren Quadratruthen) — wurde eine Aehre gepflückt und
untersucht; aber umsonst! — Langgriff^lig , kurzgrifflig, — kurz-
grifflig, langgriff'lig ging es fort und fort, bis ich nach stundenlangem
vergeblichen Suchen umkehrte, ohne eine einzige mittelgrifflige Pflanze
gefunden zu haben. —
Schon beim Beginn der Fahrt fiel es mir auf, dass die Blumen
verschiedener Pflanzen sich sehr merklich in ihrer Farbe unterschie-
den; das Blau der einen war dunkler und rein, das der anderen blasser
und ins Violette ziehend. Bald bemerkte ich, dass alle dunklen Blumen
kurzgrifflig , die blasseren langgrifTlig waren , so dass ich nun schon
aus der Ferne die beiden Formen unterscheiden konnte. Unter Hunder-
ten von Pflanzen kam keine Ausnahme vor.
Diese verschiedene Farbe der lang- und der kurzgriffligen Blumen
ist eben so auffallend, als das Fehlen der mittelgriffligen Form. Hat
die Pflanze , wie es bei manchen auf ungeschlechtlichem Wege rasch
sich vermehrenden Arten der Fall zu sein scheint, das Vermögen ver-
loren, keimfähige Samen zu erzeugen und sind alle Pflanzen des Itajahy-
mirim nur Theile je eines lang- und eines kurzgriffligen Stockes? —
Oder entstehen aus den durch Kreuzung je zw-eier Formen erzeugten
Samen bei Pontederia nur immer wieder diese beiden Formen , aber
nicht die dritte, und erben dann mit der Form der Staubgefässe und
Griffel die Sämlinge auch die eigenthümliche Farbe des Vaters oder der
Mutter'? — Ich kann für jetzt keine Antwort geben, sondern nur für die
Möglichkeit der einen wie der anderen Annahme auf ein ähnliches Ver-
halten trimorpher Oxalis- Arten hinweisen. Von einer auf der Insel
Santa Catharina ungemein häufigen Art finden sich dort nur zwei
Formen , die völlig unfruchtbar sind und sogar in der Regel nur ganz
taube (»contabescirte« Gaertner) Staubbeutel hervorbringen. Aus Samen
der langgriff ligen Form einer weissen trimorphen Oxalis, die mit
Blüthenstaub der längeren Staubgefässe der mittelgriffligen Form be-
stäubt w orden w^ar , erhielt ich nur lang- und mittelgrifflige , aber keine
kuizgriff ligen Sämlinge. Bemerken will ich noch, dass junge an-
scheinend gesunde Früchte sowohl an lang- als an kurzgriffligen
Pflanzen von Pontederia in Menge vorhanden waren. —
Die trimorphen Pontederien sind in mehrfacher Beziehung der
Beachtung werth. Zunächst schon als Zuwachs zu der noch so geringen
76 Fritz Müller,
Zahl der bisher als trimorph erkannten Pflanzen , die alle der Gattung
Lythrum und ihren nächsten Verwandten , sowie der Gattung Oxalis
angehören. Dann als trimorphe Monocotyledonen ; denn alle bisher
bekannt gewordenen dimorphen und trimorphen Arten sind Dicotyle-
donen. Ferner als weiteres Beispiel für die Richtigkeit einer Vermuthung,
die Darwin verjähren mir brieflich aussprach, dass nämlich Wasser- und
Marschpflanzen besonders zum Dimorphismus geneigt seien. Vor allem
aber wegen ihrer unregelmässigen Blüthen ^j und der eigenthümlichen,
von Lythrum und Oxalis völlig abweichenden Weise , in welcher bei
ihnen der Trimorphismus zu Stande kommt. Bei Lythrum und Oxalis
wechseln bekanntlich die längeren und kürzeren Staubfäden mit ein-
ander ab; jene stehen den Kelch-, diese den Blumenblättern gegen-
über; die Staubbeutel desselben Staubblattkreises stehen in gleicher
oder nahezu gleicher Höhe. Bei Pontederia dagegen gehört von den
längeren Staubgefässen eines (Fig. 2, 3, 4, A) dem äusseren, zwei
(Fig. 2, 3, 4, B) dem inneren Kreise an, von den kürzeren zwei
(Fig. 2, 3, 4, a) dem äusseren, eines (Fig. 2, 3, 4, 6) dem inneren
Kreise ; sowohl die drei längeren , als die drei kürzeren Staubgefässe
entspringen neben einander. Sowohl in der Gruppe der längeren als in
der der kürzeren Staubgefässe entspringen die den Kelchblättern gegen-
überstehenden [A, a) etwas höher, als die den Blumenblättern gegen-
überstehenden (ß, 6), so dass also von den längeren Staubgefässen das
mittlere [A) , welches von dem unpaaren (vorderen) Kelchblatte ent-
springt, höher steht, als die seitlichen (ß) , während umgekehrt von den
kürzeren Staubgefässen das mittlere (6) , welches von dem unpaaren in
beiden Arten mit einem dottergelben Fleck gezeichneten Blumenblatte
entspringt, tiefer steht, als seine Nachbarn (a) . Bei der mittelgriff"ligen
und langgriffligen Form stehen auch die Staubbeutel der beiden seit-
lichen kürzeren Staubgefässe in nicht ganz gleicher Höhe.
Die Blüthenstaubkörner sind bei der mittelgriffligen Form der
Pontederia crassipes (?) ein wenig grösser in den langen , als in den
kurzen Staubgefässen. Den Blüthenstaub der Pontederia des Itajahy-
mirim habe ich nicht mikroskopisch untersucht. — Die aufwärts ge-
bogene Narbe der langgriffligen Blumen der letzteren Art ist bedeutend
grösser als die der kurzgriff ligen , wie es bei vielen anderen dimorphen
Pflanzen der Fall ist.
Noch einer Eigenthümlichkeit der Pontederia des Itajahy-mirim
1) »As yet I know of no case of dimorphism in flowers which are very
irregulär : such flowers being apparently always sufficiently visited and crossed by
insects.« Darwin, brieflich, 1867.
Ueber den Trimorphismiis der Pontederien.
77
mag hier beiläufig erwähnt sein. Die Kelch- und Blumenblätter sind
nur am Schlünde der Blumenröhre mit einander verwachsen, im unteren
Fig. i. Blume der Pontederia aus dem I tajahy - mi rim, von der Seite,
nat. Gr. — s Spalt zwischen den seitlichen Kelch- und seitlichen Blumen-
blättern.
2. Griffel und Staubgefässe der kurzgriflligen Form dieser Art.
3. Dieselben von der langgriffligen Form derselben Art.
4. Dieselben von der mittelgrifiligen Form einer anderen Pontederia
(crassipes?). —
In Fig. 2 , 3 und 4 bedeuten : N. Narbe. A. unpaares, a paariges Staubgefäss
äusseren Kreises. B. paariges , h. unpaares Staubgefäss des inneren Kreises.
Staubgefäss a, sowie ein Staubgetäss B ist weggelassen. —
Fig.
Fig.
Fig.
des
Ein
Theile der Bohre dagegen frei ; namentlich bleiben zwischen den seit-
lichen Kelch- und den seitlichen Blumenblättern deutlich klaffende
Spalten (Fig. 1, s) , durch die man den Griffel von aussen sehen kann.
Das unpaare Blumenblatt war bei einigen kurzgriffligen Blumen auch
in seinem unteren Theile mit den seitlichen Kelchblättern verwachsen. —
Bei Pontederia crassipes (?) und Heteranthera reniformis sind Kelch-
und Blumenblätter zu einer rings geschlossenen Röhre verwachsen. —
Die den Pontederien nahe verwandte Heteranthera reni-
formis ist nicht trimorph; die drei kürzeren Staubgefässe der trimor-
phen Pontederien, die von den seitlichen Kelchblättern und dem un-
paaren Blumenblatt entspringen, fehlen hier; das übrig bleibende
78 Fritz Muller, üeber den Trimorphisraus der Pontederien.
Staubgefäss des äusseren Kreises ragt weit über die Blumenröhre vor
und trägt einen bläulichen Staublieutel , während die beiden Staubge-
fässe des inneren Kreises weit kürzer sind und gelbe Staubbeutel
tragen. Der Griffel hat bei allen Pflanzen nahezu gleiche Länge und die
Narbe steht in gleicher Höhe mit dem blauen Staubbeutel ^) .
4j Endlicher's Angabe (gen. plant. No. 1087), dass Heteranthera
»stamina 3, limbi lobis interioribus opposita« besitzt, ist wenigstens für H. reni-
formis falsch.
Itajahy, S^ Gatharina, Brazil,
im December 1 869.
lieber die ßiiiwirkuiig vou Ainiuoiiiak auf Thioiiylchlorür und
Seleuylchlorür.
Von
Dr. A. Michaelis.
I.
Trockenes Ammoniak wirkt nach Schiff ^) so heftig auf Thionyl-
chlorür ein, dass sich das Ganze unter Abscheidung von Schwefel roth-
braun färbt. Durch starkes Abkühlen des Thionylchlorürs soll sich jedoch
ein fast weisser unkrystallinischer Köq-)er bilden , welcher an Wasser
Salmiak abgiebt und sich sehr leicht dadurch unter Bildung von schweflig-
saurem Ammoniak zersetzt.
Schiff nimmt , auf die Analogie der Zersetzung organischer Aci-
chloride durch Ammoniak sich stützend, in diesem Körper Thionyldiamid
SONgH^ an. Da Schiff denselben jedoch nicht isolirte und auch in der
wässrigen Lösung gewiss noch andere Dinge als schwefligsaures Am-
moniak enthalten sein mussten , so schien es mir nicht uninteressant
diese Zersetzung genauer zu studiren.
Das angewandte Thionylchlorür wurde nach der von Schiff und
Carils^) angegebenen Methode dargestellt. Dann ist dasselbe aber
immer noch gelblich gefärbt. Um das Thionylchlorür farblos zu erhalten,
muss es einige Zeit mit in die Höhe gerichtetem Kühler erhitzt und bei
nachheriger Destillation das zuerst übergehende für sich aufgefangen
werden.
Ich will hier noch bemerken , dass das Thionylchlorür ebenso wie
schweflige Säure, auch Chlor sehr leicht absorbirt, indem es dabei die
Farbe dieses Gases annimmt. Eine Einwirkung findet jedoch nicht statt,
selbst nicht im directen Sonnenlicht.
^) Ann. d. Chem. u. Pharm. CII, p. 113.
2) Ann. d. Chem. u. Pharm. CXI, p. 93.
80 Dr. Ä. Michaelis,
Zur Einwirkung von Ammoniak brachte ich das Thionylchlorür in
einen kleinen weithalsigen Kolben , durch dessen Kork zwei Röhren
gingen, eine längere, welche beliebig tief in den Kolben geschoben
werden konnte, und eine kurze, welche als Ableitungsrohr diente.
Sobald durch erstere das durch Kali und Chlorcalcium getrocknete
Ammoniak geleitet wurde, entstanden unter starker Erwärmung der
Flüssigkeit weisse Nebel von Salmiak. Um die Reaction zu massigen,
wurde der Kolben fortwährend mit kaltem Wasser abgekühlt. Sobald
das Ammoniak weniger mit Luft gemischt kam, legten sich gelbe
Krystalle an die Wände des Kolbens; darauf bildete sich in den oberen
Theilen ein rother Reschlag, während die unteren sich grünlich färbten.
Die Stärke der Einwirkung wurde durch das Verschieben des Zu-
leitungsrohres geregelt; zuletzt musste die gebildete feste Masse einige-
mal mit einem Glasstab zerdrückt werden, um eingeschlossenes Chlor-
thionyl mit dem Ammoniak in Berührung zu bringen.
I . Aus der schliesslich erhaltenen gelbweissen Masse liess sich durch
Aether ein krystallisirender Körper ausziehen , der beim Erhitzen im
trockenen Röhrchen mit Feuererscheinung verpuffte. In Aether löste
sich jedoch nur wenig desselben, viel besser war er in Schwefelkohlen-
stoff löslich. Es wurde deshalb die ganze Masse fein gepulvert mit dem
gleichen Volum Schwefelkohlenstoff übergössen, im Wasserbad mit um-
gekehrtem Kühler erhitzt , die erhaltene rothe Lösung klar abgegossen,
abdestillirt, das ungelöst Gebliebene von Neuem mit dem abdestillirten
Schwefelkohlenstoff wie oben behandelt und dies so lange wiederholt
als sich der Schwefelkohlenstoff noch färbte.
Aus den erhaltenen concentrirten Lösungen , die eine tief dunkel-
rothe Farbe hatten , wurde dieser Körper in gelbrothen Krystallen des
rhombischen Systems erhalten.
Durch Wasser wurde derselbe nicht verändert, in Alkalien löste er
sich unter Entwickelung von Ammoniak mit gelber Farbe auf. Aus
dieser Lösung schied sich durch Säurezusatz Schwefel ab unter Bildung
von schwefliger Säure und Schwefelsäure.'
Nach allen diesen Reactionen war es wahrscheinlich , dass dieser
Körper aus Schwefelstickstoff bestand.
Zur Analyse wurde das Verhalten gegen Alkalien benutzt. Der
Stickstoff wurde dabei aus dem entwickelten Ammoniak , der Schwefel
als Schwefelsäure , in welche das in der alkalischen Lösung enthaltene
polythionsaure Salz durch Einleiten von Chlor übergeführt wurde,
bestimmt.
0,2468 Grm. Subst. lieferten 0,5280 Platin entspr. 30,30 Proc.
Stickstoff und 1,2458 Baryumsulfat entspr. 69,32 Proc. Schwefel.
üeber die Kinwirkung von Ammoniak auf Thioiiylchloriir und Seleiiylchlorfir. 81
Diese Zahlen entsprechen der Formel NS des Schwefelstickstoffs
S = 69,56 69,32
N = 30,44 30,30
100,00 99,62.
Es war also hier aus dem Chlorid der schwefligen Säure ein Körper
entstanden, der sonst nui durch Einwirkung von Ammoniak auf ein
Chlorid des Schwefels erhalten wird. So erhielt SorBEiRAN ') zuerst
eine Verbindunii von Schwefel und Stickstofl'. Er beschreibt diese als
grünes beim Erhitzen izolh werdendes Pulver und giebt ihr die Zu-
sammensetzung NSj.
Bald darauf behauptete Laurent ^i , dieser Körper sei ein Gemenge
eines sauerstoffhaltigen und eines wasserstoffhaltigen Körpers , welch
letzterer die Formel S^NH besässe. Da diese Ansicht Laurent's jedoch
nicht hinreichend durch Versuche bestätigt war . so nahmen Fordos und
Gelis *) die Untersuchung wieder auf und zeigten, dass der durch Ein-
wirkung von Ammoniak auf Chlorschwefel erhaltene Körper ein Ge-
menge von fünf verschiedenen Substanzen sei. Kalter Schwefelkohlen-
stoff entzog diesen Schwefel, siedender Schwefelstickstoff. Durch
mehrere genaue Analysen stellten sie für diesen Körper die Formel NS^,
oder nach unseren jetzigen Atomgewichten NS, fest. Sie beschreiben
den Schwefelsticksloft' als orangegelbe rhombische Krystalle, die beim
Zerreiben ein goldgelbes Pulver geben , durch Erhitzen mit Feuerer-
scheinung verpuffen und durch starkes Keiben unter heftigem Knall »ind
Zertrümmern des Gefässes explodiren.
Zuletzt ist der Schwefelslickstoff von Nikl^s*) untersucht; nach
diesen bildet derselbe gerade rhombische Prismen von 89''10', die durch
Flächen zugespitzt sind, welche auf den Prismenflächen unter 139" auf-
gesetzt sind.
Durch die Einwirkung von Anmioniak auf Thionylchlorür wird der
Schwefelstickstoff ganz rein , ohne jede Beimengung von Schwefel er-
halten. Die Ausbeute beträgt lOProc. vom angewandten Thionylchlorür-.
Zu den schon von Fordos und Gelis über den Schwefelstickstoff Be-
kannten kann ich noch Folgendes hinzufügen.
Beim langsamen Erhitzen im Paraffinbad bis auf 120" fäibt sich
der Schwefelstickstoff dunkelrolh ; dann tritt der eigenthümlich reizende
Geruch dieses in der Kälte geruchlosen Körpers deutlich hervor. Bei
1) Ann. (\. Chem. u. Pharm. XXVIII, 59
i) Compl. lend. XXIX, 557.
3) Ann. (l. Chcni. u. Pharm. LXXVIII, 71.
4) Ann. do chim. et de phys. 3.; T. XXXII, p. 420.
Bd. VI. 1.
82 Dr. A. Michaelis,
weiterem Erhitzen bis 1 35" subliniirt der Schwefelstickstoff in kleinen
gelbrothen Krystallen; bei 158" schmilzt er unter langsamer Gasent-
wickelung und bei 160" zersetzt er sich unter Verpuffen und schwacher
Feuerscheinung. Das spec. Gewicht des Schwefelstickstoffs ist bei
15" = 2,'H66.
Trockenes Ammoniak wirkt nicht merklich auf Schwefelstickslofl
ein. Als ich denselben mit einer ätherischen Lösung von Ammoniak
in eine Glasröhre einschloss und im Wasserbad erhitzte, erhielt ich
ausser unveränderten Schwefelsticksloff nur sehr wenig einer weissen
Substanz, die in Wasser unlöslich war und in der Hitze unverändert
sublimirte.
Trockene Salzsäure wirkt auf erwärmten Schwefelstickstoff heftig
ein; es bildet sich ein rother Körper, der sich sublimirt, während Sal-
miak zurückbleibt und zugleich der Geruch nach Chlorschweffel deut-
lich zu bemerken ist. In heissem Aether löste sich der so entstandene
rolhc Körper mit gelber Farbe auf, allein nicht unverändert, denn es
schieden sich aus dieser Lösung beim Verdampfen weisse Krystalle aus,
welche, da sie einen kohligen Rückstand hinterliessen, durch Einwir-
kung auf den Aether entstanden sein mussten. Die rothe Verbindung
war vielleicht der von Fordos und Gei.is 1i beschriebene Körper SCIgiNS
und gemäss der Gleichung
15NS ■+■ SHCI = ^(NHjCl] + ^(SCIalNS; + N
entstanden.
Fordos und Gkms beschreiben ihn als cochenillerothe Substanz, die
sie zugleich mit zwei anderen Körpern , von der Zusammensetzung
SCIoSiNS und SCI.^biSS durch Einwirkung von Schwefelbichlorid auf eine
Lösung von Schwefelsticksloff in Schwefelkohlenstoff erhielten.
Die eingangs mitgetheilte Angabe von Schiff , dass sich bei der
Einwirkung von Ammoniak auf Thionylchlorür Schwefel abscheide, ist
also nicht richtig. Die rothbraune Färbung der Masse rührt von Schwefel-
stickstoff her.
2. Die mit Schwefelkohlenstoff erschöpfte ursprüngliche Substanz,
hatte noch eine gelbe Farbe. ^ iMit Wasser behandelt schied sich aus ihr
ein gelbes Pulver ab, welches trocken erhitzt, etwas schwächer wie
Seh wefelstickstofF verpuffte. Dieses Pulver ist wahrscheinlich von Schiff
für Schwefel gehalten worden.
Eine Analyse dieses Pulvers zeigte, dass dasselbe ein Gemenge von
zwei Theilen Schwefelstickstofl' und einem Theil Schwefel war. Durch
Behandeln mit kaltem Schwefelkohlenstoff konnte dieser ausgezogen
1) Ann. rl. r.hem. vi. Pliarin L.X.W, p. ■262.
rchcr die l'/uiwirkiiiiii von Ammoniak auf Tliioiiylclilorfir und Selenylchlorür. 83
werden ; der UUcksland lieferte ilann durch Umkrystallisiren aus
heisseiu SchwefelkohlenstolV reinen Schwef(>lslickstotV.
Da SchwefelkohlenslolV \orlier nichts mehr ausgezogen halle, wo-
von ich mich durch wiederholles Behandeln mit denselben überzeugte,
so mussle in der Masse eine Substanz enthalten sein , die sich durch
Wasser in Schwefel und Schwefelstickstoll' zersetzte. Vorzüglich viel
des gelben Pulvers lieferten die farbigen Beschläge, die durch Schwefel-
kohlenstoir fast nicht veriindert wurden. Diese bestanden wahrschein-
lich aus den oben angegebenen Verbindungen des Schwefelstickstolls
mit Schwefelchlorid und wurden durch Wasser beispielsweise nach der
Gleichung
2(SCl2, 2NS) -+- 2H2O = S + INS -+- SO., + IHCI
/ersetzt.
Das Filtrat von dem gelben Pulver zeigte folgendes Verhalten.
Mit verdünnten Säuren erhitzt, schied sich Schwefel ab und es
bildete sich schweflige und Schwefelsiuare. Beim Zusatz der Säure
u.\hm die Flüssigkeil vorübergehend eine rothe Farbe an. Wurde vor-
her Aether zugesetzt und geschüttelt, so ging auf diesen die rothe Farbe
über, allein sie war auch dann nicht beständig.
Durch Silberlösung trat eine weisse Fällung ein, die sieh allmählich
grau färbte. Durch Erwärmen mit Alkalien entvN'ickelle sich Ammoniak.
Zu einer näheren Untersuchung war es zuerst nothwendig den
Salmiak zu entfernen. Um so wenig wie möglich von diesem in Lösung
zu erhalten, zersetzte ich mit zu völliger Lösung unzureichender Menge
Wasser, filtrirte die gelbe sauer reagirende Flüssigkeit ab und versetzte
mit einer concenlrirten alkoholischen Lösung von Bleiacetat in gerin-
gen Ueberschuss. Das Filtrat vom ausgeschiedenen Chlorblei wurde
sodann mit ungefähr einem gleichen Volum absoluten Alkohol vermischt,
um noch gelöstes Chiorblei zu entfernen , einige Stunden stehen ge-
lassen, wiederum filtrirtund sodann noch das vier bis sechsfache Volum
absoluten Alkohols zugegeben. Der entstandene voluminöse Nieder-
schlag wurde abliltrirt und das sauer reagirende Filtrat mit Ammoniak
neutralisirt, wodurch wiederum ein gerade so aussehender Niederschlag
erhalten wurde.
Beide Niederschläge waren in W'asser fast unlöslich, völlig unlöslich
in Alkohol, sehr leicht löslich in Salpetersäure, theilweise in Essigsäure.
Aus diesen Lösungen wurden sie durch Neutralisiren mit Ammoniak
wiederum abgeschieden.
Der in Essigsäure unlösliche Theil des Niederschlages gab , in
Salpetersäure gelöst, mit Silbernitrat eine gelbe bald schwarz werdende
Fällung, der in Essigsäure lösliche Theil dagegen gab mit Silberlösung
6*
84 Dr. A. Michaelis,
einen weissen Niederschlag, der sich beim Stehen wenig veränderte.
Dieser Theil war wahrscheinlich durch Einwirkung von dem zugefügten
Ammoniak auf Chiorblei entstanden.
Der ganze Niederschlag wurde daher mit verdünnter Essigsäure
behandelt, der Rückstand noch mit dieser ausgewaschen und dann in
verdünnter Salpetersäure gelöst, wobei noch etwas hartnäckig anhaf-
tendes Chlorblei zurückblicb. Die I.ösung wurde dann mit Ammoniak
neutralisirt und durch Zusatz von Alkohol vollständig gefällt. Da das
Chiorblei ebenfalls in Salpcrsäurc el\\as löslich ist, so gelingt es nicht,
selbst bei nichrfachem Lösen und Fällen den Niederschlag frei von Chlor
zu erhalten. Derselbe gab jetzt mit Silberlösung eine gelbe Fällung,
die sich bald schwärzte, mit salpetersaurem Quecksilberoxydul sofort
eine schwarze Fällung. Durch Erhitzen mit Salpetersäure entwickelteia
sich unter Aufbrausen und Abs.cheidung von Schwefel rolhe Dämpfe.
Alle diese Reactionen wi(>sen darauf hin , dass ich hier ein Ge-
menge von tetrathionsaurem und Irilhionsaurcm Salz hatte. Um darüber
Gewissheit zu erhalten, blich nichts weil(M- übrig als tunc Hestinnnung
aller darin enlhalten(Mi h^lcmcnle, so \\eit dies möglich, auszuführen.
Zur Bestinunung \on Hlei und SchxNcfel wurde ein Theil der Sub-
stanz durch Erhitzen mit \erdünnter Salpelersäuie zersetzt, diese im
Wasserbade Concentrin und dann eine Zeitlang mit etwas rauchender
Salpetersäure behandelt, um ausgeschiedenen Schwefel zu lösen. Nach-
dem schliesslich die Salpetersäure im Wasserbade vcrjagl, blieb schwefel-
saures Blei und Schwefelsäure zurück; ersteres winde als solches be-
stimmt, letztere als Baryumsulfat gefällt.
Die Resultate der Analyse waren folgende:
0,'2048 Grm. Subst. gaben 0,0/if>7 Grm. Chlorsilber = ö,bt)Proc. Chlor
0,2108 Grm. Subst. gaben 0,1701 Grm. SO^Pb = n\,6:] Froc.
Blei und O.OJIIjGrm. Schw(!fel , ferner 0,2l;i2 (irm. schwefelsauren
Baryt = 0,0334 Grm. Schwefel. Der gesanimte Schwefelgehalt war
also 0,0447 Grm. = 24,20 Proc.
Berechnet man das gefundene Chlor auf Chlorblei, so war die Zu-
sammensetzung in 1 00 Theilen folgende ;
S = 21,20 oder nach Abzug vom Chlorblei
PbO = 42,03 S = 27,23
iPb = l6,o1| PbO = 53,87 *
Cl = 5,661 0 = 18,90
0 = 14,60 100,00;
Diese Zahlen stimmen ziemlich nahe mit der Formel S^O'"Plrü"'
d. h. SM/'PbO -H S^O'M'bO überein. welche verlangt:
\k\m i\w Kiii\virkiin(i von Aiiiiiioiiiiik iiiil 'i'liiniivlcliloiiii und St'|t'ii\lt'lilnriir. 85
S = '20, yi)
Pl)0 = i)3,7(i
0 = 19,25
100,00.
Dio Verbindung bestand also, mit den Reac-lionen in Uebereinstini-
Miung, aus tclrathion- und trithionsaurein Salz.
Als von der Flüssigkeil, aus der diese Salze gelallt \\aren, der
Alkohol im Wasserbade abdestillirt wurde, zeigte der Rückstand sehr
deutlich die vorübergehende rothe Fiirbung auf Saurezusatz. Da die
darin enthaltene Verbindung sieh beim weiteren Eindampfen unter Ab-
scheidung von Seliwefel zersetzte, so schüttelte ich mit Aether und Hess
diesen bei sehi- gelinder Wärme verdampfen. Ks krystallisirten dann
dünne atlasglänzende Kr\ stalle aus, die sich aber aus Schwefel be-
stehend erwiesen. Die Verbindung war also auch jetzt wieder zer-
setzt und ich musste darauf verzichten sie zu isoliren.
Das durch die Einwirkung von Anmioniak auf Chlorthionyl neben
Schwefelstickstott'erhaltene Producl zerliel also durch Wasser in Schwefel,
Schwefel stick stell" und tetrathion- und trithionsaures Ammoniak und eine
unbekannte sehr leicht zersetzbare Substanz.
Durch Einwirkung von Anunoniak auf staik abgekühltes Thionyl-
chlorür gelang es mir nicht, den von Schiff angegebenen weissen Kör-
per zu erhalten ; die Zersetzung verlief vielmehr gerade so , wie frühei
angegeben , nur dass die lothe Farbe bei den farbigen Beschlägen last
ganz zurücktiat. Gegen Schwelelkohlenstotf so wie gegen Wasser zeigte
die erhaltene Masse dasselbe Verhalten wie bei den früheren Versuchen.
Ich führte schliesslich noch eine Gemenge -Analyse der durch
Schwelelkohlensloll' vom Schwefelslickstott' völlig befreiten Masse aus.
Die Analyse lieferte folgende Zahlen;
0,2ä46 Grra. Subst. gab 0,396(5 Grm. Chlorsilber = 43,67 Proc. Chlor.
0,'2o03 ,, ,, ,, 0,?210 Grm. Baryumsulfat = 12,10 Proc.
Schwefel.
0,26i>8 ., ., ., 0,3897 Grm. Platin = 21,00 Proc. Stickstofl.
0,1206 ,, ,, ,. lieferte beim Verbrennen mit chromsaurem Blei
0,0769 Grm. Wasser = 7,08 Proc. Wasserstoff.
Die Substanz bestand also in 100 Theilen.
S = 12,10
N = 21,00
Gl = 43,67
H = 7,08
0 = 16,15
86 Hr. A. Michaelis,
Berechnet man nun das Chlor auf Sahniak , so bleibt für die ge-
bildete Substanz 0 = 16,15
S = 12,10
N = 8,78
H = 1,88
Auf diese Zahlen lässl sich nur annähernd eine Formel berechnen.
Am i^enaueslen stimmt die Formol S^NgHjoO,,, damit überein
b e r. g e f.
S = 36,6 35,7
N = 12,0 11,1
H = 5,7 5,6
0 = 45,7 47,6
100,00 100,00.
Nach allem diesem scheint es mir wahrscheinlich, dass dasThionyl-
chlorür nicht den organischen Acichloriden analog zersetzt wird. Das
Chlor ist in ersterem viel stärker an den Schwefel gebunden, wie dort
an das Radical und demzufolge wirkt das Ammoniak nicht auf das
Chlor allein, sondern auf SCU und bewirkt auf diese Weise die Bildung
von Schwefelst! ckstoff. Der gleichzeitig bei dieser Reaction gebildete
Schwefel wird dann unter Bildung von schwefliger Säure durch den
freigewordenen Sauerstoff oxydirt und es entsteht durch Einwirkung
derselben auf Ammoniak das sogenannte trockene zweifach schweflig-
saure Ammoniak. Dies giebt bei der Zersetzung durch Wasser zu der
Entstehung der Polythionsäuren und der sich durch Säuren röthenden
Substanz Veranlassung , denn auch durch directe Zersetzung dieses
Körpers erhält man ähnliche Producte*).
Diese Beziehungen durch eine Zersetzungsgleichung des Thionyl-
chlorürs auszudrücken, ist mir nicht gelungen, da der Process dabei, in
Folge secundärer Zersetzungen zu verwickelt ist. Jedenfalls scheint mir
aber die Annahme einer Bildung von Thionylamid unstatthaft zu sein.
II.
Es schien mir nicht uninteressant, auch die Einwiikung von Am-
moniak auf die dem ThionylchlorUr entsprechende Selenverbindung,
das Selenylchlorür, zu untersuchen, da vielleicht auf diese Weise Selen-
stickstoff erhalten werden konnte.
Zunächst musste ich das Selenylchlorür darstellen. Dieses ist zu-
1) Gmelin, Handb. der anort;. Clieni. 1, 880.
Ichcr die Kiiiwiikiiiiii, miii AiiiiiKniiiik .ml 'riiioiiNlcliliniir und S('lPii\lflilorfir. h~
orsl von Webkr 'j duicli Im'iiw irkimii von selenigcr Säure auf Sclen-
leliachlorid cM-hallen. Ehe ich diesen Weg einsclduij;, versuchle ich zu-
erst diesen Körper analog dem Thionylchioriii' durch Einwirkunc; von
Phosphorsui)erciih)nd auf selenige Säure zu erhallen.
(ileiche Aequivalente beider Substanzen wurden in einer in die
Höhe üeriehteten und mit einem Chlorcaleiunn'ohr verbundenen Retorte
zusan)meniiebiacht. Ks trat sogleich starke lüwärmung ein und die
Masse verflüssigte sich allmählich. Als ich dii'se Flüssigkeit aber zu
destilliren versuchte. Nvurde sie auf einmal wieder fest.
Bei slärkeiem llrhitzen deslillirte nun IMiosphorüX),chiorid ül)er
und es sublimirte ein fester gelblich aussehendei' Körper in den Hals
der Retorte. Ich leitete nun durch den Tubulus einen Strom trockenes
Kohlensäuregas ein, wodurch es gelang alles flüchtige in den Hals der
Retorte zu sublimiren. Am Roden denselben blieb ein klarer ge-
schmolzener Rückstand.
I. Her flüchtige Körper sul)limirte in der Ibtze , ohne zu
schmelzen, sein Dampf hatte eine grüngelbe Farbe. Durch Wasser
wurde er sofort zersetzt, die erhaltene Lösung gab mit Silberiösung
einen weissen Niederschlag, der in Salpet(>rsäure unlöslich war; durch
schweflige Säure wurde daraus alles Selen gefällt.
Nach allem diesem schien es mir wahrscheinlich, dass derselbe aus
Selentetrachlorid bestand. Zur Analyse wurde die noch einmal im
Kohlensäureslrom sublimirte Substanz durch annnoniakhaltiges Wasser
zersetzt und das Chlor als Chlorsilber, das Selen als solches bestimmt.
Das gefällte Chlorsilber muss anhaltend mit verdünnter Salpetersäure
ausgewaschen werden, da das selenigsaure Silbei- schwer löslich ist.
0,5002 Grm. Subst. gaben 1,4237 Grm. Chlorsilber = 64,01 Proc.
Chlor und 0,1921 Selen = :\i,\)'2 Proc. Diese Zahlen entsprechen der
Formel SeCl^ des Selenteti'achlorids.
b e r. ^ c t .
Se s= 30,8« .31, U2
Cl = 64,14 <54,0I
100,00 98,93.
Zersetzt man Selentetrachlorid mit ganz wenig Wasser und lässt die
erhaltene Flüssigkeit unter einer Glasglocke über Kalk und Schwelel-
säure verdunsten, so erhält man das Hydrat der selenigen Säure ni
hexagonalen Säulen, die bei längerem Stehen unter der Glocke ver-
wittern. Dieses Hydrat wurde schon von Bkrzelils'^J erhalten und in
1, Püüü., .\nii. der Hhys. u. Cliein. CVIII, 61.5.
2: r.MELiN, Miuidlj. der Clicm. 1, G8ü.
88 Dr. A. Micliaelis,
der neuesten Zeit .von Weber i) analysirl. Nach diesen hat es die
Formel: SeO^H^.
Hier will ich noch einige Beobachtungen, die ich bei Gelegenheit
dieser Analyse machte , in Bezug auf das Verhalten der selenigen Säure
und ihrer Salze gegen schw^eflige Säure anführen.
Alle neutralen Salze der selenigen Säure werden durch schweflige
Säure nicht gefällt, auch beim Kochen und längeren Stehen nicht.
Die zweifach und vierfach sauren Salze werden in verdünnter
Lösung ebenfalls nicht gefällt; concenirirte Lösungen nehmen zuerst
eine gelbe, dann eine rothe Farl)e an, ohne sich zu trüben. Beim Kochen
werden diese Lösungen unter Abscheidung von nur wenig Selen farb-
los und scheiden dann kein Selen mehr aus.
Alle Salze werden aber durch Zusatz von Salzsäure (beim Erhitzen
sofort) vollständig gefällt. Wendel man statt der Salzsäure Schwefel-
säure an, so tritt nur sehr geringe Fällung ein. Eine Lösung von freier
seleniger Säure in verdünnter Schwefelsäure wird aber dui'ch schwef-
lige Säure sogleich gefällt, ebenso tritt sofort Fällung ein, wenn man
Schwefelsäure mit einem Alkali sättigt, darauf selenige Säure hinzufügt
und dann mit schwefligei- Säure vermischt.
Die Schwefelsäure scheidet also aus selenigsauren Salzen keine
freie selenige Säure aus, sondern bildet höchstens vierfach saures Salz.
Allgemein folgt also , dass selenigsaure Salze nur bei GcgenwaH
von freier Salzsäure vollständig gefällt werden. Will man dieser keine
kalalytische Kraft zuschreiben , so muss man annehmen , dass durch
dieselbe eine iheilweise Zersetzung eintritt. Vielleicht gehl diese nach
der Gleichung
s'e^H
^^OH
■+■ 'i
HCl
IV
= Se
OH
ci -»- 2H2O
OH
Gl
OH
OH
vor sich.
Durch Zusatz
von
schwefliger Säure
könnte
dann
folgende
Zersetzung eintreten :
i^ OH
2S0o =
2SO3
-1- 2HC1
•+■ Se
Gl
OH
Sowie diese Substanz zersetzt, bildete sich dann aus der selenigen
Säui'e und Salzsäure dieser Körper von neuem , um gleichfalls Zer-
setzung zu erleiden, und so fort.
1) Chem. CeiitialblaU t. 1863. p. 575.
lieber die Kiiiwirkiiii>i vuii AiiiuKMiiiik aiil Tliioiiylrliloiiir und Seleiivlcliloriii. ^\)
Kine solche Einwirkunj^ erhall einiyeWahrschoiniichk(!il dureh die
Angabe Rathke's ') , dass eine Lösung von seleniger Säure in Salzsäure
heim Abdampfen Chlorselen liefert 2).
'2. Der in der Retorle zurückgebliebene glasige Rückstand
erwies sich als IMiosphorsäureanhydrid.
Der Process der Bildung des Tetrachlorids verläuft demna(^h in
zwei Phasen. Zuerst enlslehl. analog der Wirkung von Phosphorsuper-
chlorid auf schwellige Säure, Selenylchlorür und Phosphoroxychlorid.
Dabei w ird die Masse flüssig.
kSeOg -*- 3PCL, = 3SeüCl2 + JPOCIg.
Durch Einw irkung von Phosphoroxychlorid auf das Selenylchlorür
bildet sich dann Selenlelrachlorid und Phosphorsäureanhydrid. Dabei
wird die Masse wieder fesL
aSeOCI. -H :iPÜCl3 = -^i^eCI^ -i- P.p,.
Um mich von der Richtigkeit dieser Ansicht zu überzeugen , er-
liitzle ich Phosphoroxychlorid und Selenylchlorür zusammen ; es bildete
sich dann ebenso Selenlelrachlorid und Phosphorsäureanhydrid.
Diese Reaction lässl sich zu einer leichten und schnellen Dar-
slellungsweise des Tetrachlorids auf die Weise benutzen, dass man, am
besten in einer langhalsigen kleinen Kochtlasche , die mit dem umge-
kehrten LiEBiGschen Kühler verbunden ist, Phosphorsuperchlorid und
Selenigsäuieanhydrid auf einander wirken lässt. Zuerst bringt man das
Phosphorsuperchlorid 'V-'> Th. PCI^ auf 7 Th. SeOg) in dieselbe und fügt
dann die selenige Säure porlionenweise hinzu, indem man jedesmal die
geendigung der eintretenden Reaction abwartet. Dann wird die zuletzt
flüssig gewordene Masse so lange bei gelindem Feuer erhitzt, bis sie
wieder völlig fest geworden ist. Darauf leitet man einen raschen Strom
Kohlensäure ein und destillirt in diesen das Phosphoroxychlorid über.
Zuletzt erwärmt man mit einer zweiten Lampe die Wände der Koch-
tlasche, um Phosphoroxychlorid, das sich hier verdichtet hat, zu ent-
fernen. L'm das Tetrachlorid rein zu erhalten , ist es nöthig dies Ein-
leiten und Erwärmen eine Zeitlang fortzusetzen. Schliesslich setzt man
durch einen Kork eine weitere Glasröhre auf die Kochflasche und sub-
limirt in einem vorher s^eheizlen Sandbade, so dass keine Abkühlunc
1, .\iiii. der Clieiu. u. Fiiaiin. CLll, p. 194.
2) Bei dieser Untersuchung machte ich nocli (uigende Beobachluny.
Versetzt man eine verdünnte Lösung von sclcniger Säure mit etwas phos-
phoriger Saure und tiigl dann einen Ueberschuss von .schwefliger Säure hinzu, so
entsteht beim Erwärmen Schwelelseien , indem durch die phosphorige Säure auch
die schweflige Säure beim Erhitzen reducirt wird
90 Dr. A. Michaelis,
d(M- Kochflasche eintriU, wobei sie zerspringen würde, das SelenleUa-
chlorid in den Hals derselben. Die Phosphorsäure setzt sich fest auf
den Boden und lässt sich durch Absprengen desselben entfernen.
In dem überdestillirten Phosphoroxychlorid ist immer noch etwas
Selentetrachlorid gelöst enthalten. Lässt man diese Lösung einige Zeit
stehen, so krystallisirt dasselbe in glänzenden Würfeln aus. Auch durch
directes Lösen dieses Körpers in heisseni Oxychloiid erhält man beim
Erkalten diese Kryslalle.
Ein zweiter Versuch zur Darstellung von Selenylchlorür, durch
Einwirkung von Phosphoroxychlorid auf selenige Säure, welche Körper
nach der Gleichung :
SSeOg + 2POCI3 = liSeOCla + PgOg
auf einander wirken konnten, schlug deshalb fehl , weil sich die ge-
bildete Phosphorsäure so fest um die selenige Säure legt, dass diese da-
durch einer weitern Einwirkung entzogen wird.
Ein dritter Versuch , der auf ganz unerwartete Resultate führte,
wird später für sich beschrieben werden.
Nach diesen Erfahrungen sah ich mich genöthigt zur Darstellungs-
weise desSelenylchlorürs das Verfahren Weber's anzuwenden. Zu dem
Zweck erhitzte ich Selentetrachlorid mit seleniger Säure im Ueber-
schuss, der nach Weber nöthig ist, im zugeschmolzenen Glasrohr im
Oelbad auf 150<>, bei welcher Temperatur die Masse flüssig wurde. Bei
der Destillation dieser Flüssigkeit fand ich, dass dieselbe schon bei 1 75"
überging, während das Selenylchlorür nach Weber erst bei 220" siedet.
Das zuerst übergehende war röthlich gefärbt, dann aber ging die
Flüssigkeit heller übei" und bei mehrfacher Destillation war sie nur
noch schwach gelblich gefärbt. Man darf bei diesen Destillationen Je-
doch keinen Kork, der stark von den Dämpfen des Selenylchlorürs an-
gegriffen wird und dasselbe verunreinigt, anwenden, sondern einen
mit Kautschuk umgebenen Glasstab.
In deniDestillationsgefäss blieb bei den ersten Destillationen immer
ein fester weisser Körper zurück , der sich als selenige Säure erwies.
Beim Erhitzen löste sich diese im Acichlorid wieder auf, so dass letzteres
sich gegen selenige Säure gerade so verhält, wie das Thionylchlorür
gegen die schweflige Säure. Aus dieser Lösung krystallisirt die selenige
Säure nicht in Nadeln, sondern in würfelähnlichen Krystallen.
Beim Destilliren geht sie stets theilw eise mit über , so dass es zweck-
mässig ist, einen Ueberschuss von ihr bei der Darstellung des Selenyl-
chlorürs zu vermeiden. Am besten bringt man die beiden Körper im
Aequivalentverhältniss zusammen, wobei sie gerade auf Selenylchlorür
bilden.
('('bei' die IHiiwiikiinu von \ Kiiii.ik .iiil Tliiniiyk'litoriir und Sclciijlrliloiiii. IM
Das so erhallcnc Product bildol eine schwach t^clblicl» i^cfarl>le
Flüssigkeit, die bei 17905, C. corrg. siedet. Unter 0 " erstarrt sie zu
einer krystallinischen , larblosen Masse, die bei 10" erst wieder zu
schmelzen beginnt.
Das spec. Gewicht fand ich bei 13" = 2, 443. Weber giebl 2, 44 an.
Die Analyse wurde so ausgeführt, dass die im Röhrch(Mi gewogene
Substanz durch anmioniakhalliges Wasser zersetzt und das (Ihloi- als
Chlorsilber gefallt wurde. Aus dem Fillral wurde die Salpetersäure
durch Eindampfen im Wasserbade verjagt, der Rückstand im Wasser
gelöst, das überschüssige Silber durch Salzsäure gefällt und dann das
Selen im Filtrat durch anhaltendes Einleiten von schwefliger Säure
niedergeschlagen.
0,4041 r.rm. Subst. lieferten 0,69?8 Grm. Chlorsilber =: 42,4.')
Proc. Chlor und 0,1938 Selen = 47,95 Proc.
Die Formel SeOClg verlangt :
her. gef.
Se = 47,73 47, 9-5
Cl = 42,60 42,4fj
0 = 9,01 —
100,00.
Daraus folgt, dass das von mir erhaltene Product reines Seienyl-
chlorür wai' und dass dei' Siedepunkt desselben also bei 179",5 corrg.
liegt und nicht bei 220", wie Weber angiebt.
Zur Einwirkung von Ammoniak auf das Selen ylchlorür , verfuhr
ich wie bei der Einwirkung auf Thionylchlorür. Als ich zuerst so stark
abkühlte, dass das Selenylchlorür erstarrte, zeigte sich nur oberflächliche
Einwirkung, sowie dasselbe aber flüssig wurde, färbte es sich roth und
es bildeten sich unter starker Wärmeentwickelung Nebel von Salmiak.
Zuletzt nmssle die sciJiwarzroth aussehende Masse mit einem Glasstab
öfter zerdrückt werden , um das Chlorür mit dem Ammoniak völlig in
Berührung zu bringen.
Aus der erhaltenen Masse schied sich durch W^asser ein schwarz-
rolhes Pulver ab, welches sich durch sein Verhalten in der Hitze sowie
zu Cyankaliumlösung als Selen auswies. Die Flüssigkeit enthielt Salmiak
und selenige Säure.
Man kann diese Zersetzung durch die Gleichung ausdrücken:
ßSeOCl, + IONH3 = 3(Se02) + 3 Se + 4 N -*- laNH^Cl.
Da sich freie selenige Säure gebildet hatte, so schien diese nicht
wie die schweflige Säure mit Ammoniak eine Verbindung einzugehen.
Ein direcler Versuch bestätigte dies auch. Beim Erhitzen mit Ammoniak
wird Selenigsäureanhydrid zersetzt nämlich nach der Gleichung :
92 t*i'. A. Micliaelis, Uebei d, Kiiiwirk. von Aininoiiiiik auf Thioiiylchlorür ii. Seleiiylcliloiüi.
3Se02 ■+■ 4NH3 = 6 (HgO) + 3Se + iN.
Das Selen zeigt also gegen Stickstofl' weit schwächere Verwandt-
schaft als Schwefel und hat auch weniger Neigung complicirtere Ver-
bindungen zu bilden.
Das Resultat dieser Versuche glaube ich daher, wie folgt, ausdrücken
zu können.
1. Die Affinität des Selens zu Chlor ist bei weitem grösser als dir
zu Sauerstoff.
2. Die Affinitäten des Stickstoffs und Sauerstoffs zu Selen sind
kleiner, die des Chlors dagegen grösser, als die Affinitäten dieser Körper
zu Schwefel
Jena, Univ. Laboratorium,
den 14. Februar 1870.
\Wher di«' Miiinirkiiiig von Phospliorcliloriir auf SeliMiigsäiirc-
auhydrid iiimI Si'kiiylflilonir.
Von
Dr. A. Michaelis.
Da sich das durch die Einwirkung von Phosphorsuperchlorid auf
Selenigsiiureanhydrid zuerst gebildete Selenylchlorür durch das Phos-
phoroxychlorid sofort wieder zersetzte i'siehe die vorige Abhandlung),
so versuchlo ich das Selenylchlorür durch Einwirkung von Phosphor-
chlorür auf Selenigsäureanhydrid darzustellen.
Als ich diese Substanzen zusaninienhrachle, färbten sich beide so-
gleich unter Wärmeentwickelung roth , veränderten sich in der Kälte
aber nicht weiter. Ich schloss daher beide Substanzen in ein Glas-
lohr ein und erhitzte zuerst bis 100^ später bis 110". Schon bei 100"
färbte sich das Selenigsäureanhydrid schwarz, so dass es schien als ob
Selen reducirt wäre.
Bei der Destillation der roth aussehenden Flüssigkeit zeigte sieh,
dass dieselbe über !00" siedete und die letzten Theile nahe an 110"
übergingen. Mit Wasser zersetzt, bildete sich aus dieser Flüssigkeil
Phosphorsäure. Der Rückstand in dei Möhre bestand aus Selen und
unveränderter seleniger Säure.
Statt also Selenylchlorür zu bilden, war die selenige Säure unler
Uildung von Phosphoroxychlorid reducirt.
Um diese merkwürdige Ueaction genau festzustellen , brachte ich
beide Substanzen in völliger Heinheit in dem nach der (ileichung;
SeOo ■+■ 2PGI3 = Se -I- 2PCI3O
berechneten Verhältniss zusammen.
Als ich zu ö,0Grm. völlig trockenem , in einer Glasröhre befind-
lichen Selenigsäureanhydrid 13,0 Grm. ganz reines Phosphorchlorür
hinzu destillirte, zeigte sich dieselbe Erscheinung, die ich schon vorher
ht'obachtel : Erwärmung und Röthung beider Substanzen. DieGIasröhre
94 Dr. A. Michaelis,
wurde zugeschmolzen und zuerst auf lOü", dann allmählich bis 130"
erhitzt. Es bildete sich ausser Selen noch eine weisse Substanz. Um
diese zu untersuchen, wurde die Flüssigkeit abgegossen und die letzten
Reste derselben durch Erhitzen im Kohlensäurestrom verjagt.
Als dann Wasser in die Röhre gebracht wurde , löste sich die
weisse Substanz unter Erwärmung und Zischen auf und in der vom
Selen abfiltrirten Flüssigkeit war ausser seleniger Säure noch Phosphor-
säure enthalten. Die weisse Substanz war demnach Phosphorsäurean-
hydrid. Eine Bestimmung derselben als Magnesiumpyrophosphat ergab
0,4751 Grni. Phosphorsäureanhydrid. Ausserdem wurden 0,5 Grm.
Selen daraus durch schweflige Säure gefällt.
Das Phospliorsäureanhydrid hat sich durch Einwirkung von Phos-
phoroxychlorid auf die noch nicht völlig reducirte selenige Säure ge-
bildet. Das gleichzeitig entstandene Sclentetrachlorid war dann durch
das freie Selen zvi Selenchlorür SeCl reducirt worden; dieses färbte die
Flüssigkeit roth.
Die von dem Selen abgegossene Flüssigkeit lieferte durch fractio-
nirte Destillation 7,i Grm. bei 106" und 6,2 Grm. niedriger siedendes
Producl. Ersteres musste fast nur aus Phosphoroxychlorid bestehen,
da 1 10" der corrg. Siedepunkt dieser Flüssigkeit ist. Ausserdem ging
über I 10» eine sehr dunkele Flüssigkeit über, während sich im Halse
des Gefässes ein festes Sublimat, das sich als Selentetrachlorid erwies,
bildete , und Selen zurückblieb. Diese dunkele Flüssigkeit war Selen-
chlorür (SeCl), welches sich in der Hitze theilweise in Selentetrachlorid
und Selen zersetzt. Da das Selen aber sowohl in Chlorselen als auch
in Phosphoroxychlorid löslich ist, so rührte die in dem Deslillations-
gefäss zurückgebliebene Menge desselben nicht blos von der Zersetzung
des Selenchlorürs her.
Die Analyse der bei 106*> siedenden Flüssigkeit gab folgende Re-
sultate :
0,4647 Grm. Subst. gaben 0,31 \ 1 Grm. Chlorsilber = 69,78 Proc. Chlor
und 0,3474 Grm. Magnesiumpyrophosphat entsprechend 20,78 Proc.
Phosphor.
Die Formel POCl^ verlangt:
her. gef.
Cl 69,38 69,78
P 20,19 20,78
Den gebildeten 0,47 Grm. Phosphorsäureanhydrid entsprechen 0,27
Selen und 1 ,02 Phosphoroxychlorid. In der Röhre waren 1 ,9 Grm. Selen,
also im Ganzen 2,1 7 Grm. Selen gefunden. In den angewandten ö,0 Grm.
Seleniasäureanhydrid sind 3,3 Grm. Selen enthalten und da 0,5 nicht
IVbcr die Kiiiwirkuiiy: von IMinspliorclilonir aiil SelPiii|a;srinreaiiliy(lri(l iiiid Sclciiylelilnrür. 95
loduciil wiiren, so inussten 2,S reducirl sein. Die Dillcivnz /wischen
den gefundenen 2,17 (irni. erkliirl sich aus der angegehenen Löslich-
keit in der FUlssigkeit.
Diesen 2,S Grin. Selen entsprechen 10,9 Grni. Phospiioroxychlorid.
Gefunden wurden 8,22 Grni., allein die unter lOG^ siedenden 6,02 Grni.
bestanden gewiss zu ', ^ aus Piiosphoroxychloiid, so dass auch diese
Zahlen, die natürlich nur ungefähi- zulrell'en können, mit den berech-
neten genügend übereinstimmen.
Man sieht also aus diesem Vei'such, dass das Phosphorchlorür eine
grosse Neigung hat Sauerstofl' aufzunehmen. Eine direcle Sauerstolf-
aufnahme ist bereits von Brodik ') beim Einleiten von Sauerstoff in
siedend(>s Phosphorchlorür beobachtet. Allein diese Aufnahme geht
nach Versuchen, die ich darüber anstellte, nur sehr langsam vor sich.
Durch dreitägiges Einleiten \on Sauerstoff erhielt ich aus 40,0 Grm.
Pliosi)horchlorür 3,7 Grm. Phosphoroxychlorid. Bei der Einwirkung
von Phosphorchlorür auf Selenigsäureanhydrid nimmt aber Phosphor-
chlorür gebundenen Sauerstoff weg , zeigt sich also wie die schweflige
Säure als reducirendes Miltel, und dieses Verhalten ist meines Wissens
bis jetzt noch nicht beobachtet.
Noch entschiedener tritt diese Neigung des dreiwerthigen Phos-
phors in fünfwerthigen überzugehen bei der Einwirkung von Phosphor-
chlorür auf Selen ylchlorür hervor.
Beide Körper dürfen der starken Wärmeentwickelung vs'egen nur
tropfenweis unter Abkühlung zusammengebracht werden. Die Ein-
wirkung beendet sich schon in der Kälte; es scheidet sich viel Selen-
letrachlorid krystailisirt aus und die Flüssigkeit färbt sich unter gleich-
zeitiger Bildung von Selenchlorür (SeCl) roth. Die Zersetzung geht hier
nach folgender Gleichung vor sich :
3SeOCl2 + 3PCI3 = SeCl,, + 2SeCl + SPClgO.
Zugleich dürfte diese Reaction ein Beweis für die Nichtexistenz von
SeClg sein.
Ich bin damit beschäftigt das Verhalten des Phosphorchlorürs zu
einigen anderen Anhydriden und Acichloriden zu untersuchen. Wahr-
scheinlich wirkt das Phosphorchlorür auf eine ganze Reihe von Sub-
stanzen reducirend, indem es unter Sauerstoffaufnahme in Phosphoi'-
oxychlorid übergeht.
<) William Odlin(; , Beschi-. u. thcorcl. Handbuch der Cliem. Deutsch von
Oppenheim. I. p. 397.
.1 e n a , Univ. Laboratorium,
den li. Februar 1870.
Geschichte des Krebsstaniines,
nach embryoloijisclien, anatomischen und palaponloloe;is('hen Ouellen.
Ein Versuch
von
Dr. Ant. Dohrn.
Hotto: Wir nehmen die Benennungen: Naturbe-
schreibung und Naturgeschichte gemeinig-
lich in einerlei Sinn. Allein es ist klar, dass
die Kenntniss der Naturdinge wie sie je t zt sind,
immer noch die Kenntniss von demjenigen wünschen
lasse, was sie ehedem gewesen sind, und durch
welche Reihe von Veränderungen sie durchgegangen,
um an jedem Orte in ihren gegenwärtigen Zustand
zu gelangen. Die Naturgeschichte, woran es
uns heute noch gänzlich fehlt , würde uns die Ver-
änderung der Erdgestalt, ingleichen die der Erdge-
schöpfe (Pflanzen und Thiere), die sie durch natür-
liche Wanderungen erlitten haben , und ihre daraus
entsprungenen Abartungen von dem Urbilde der
Stamm-Gattung lehren. Sie würde vermuthlich eine
grosse Menge scheinbar verschiedener Arten zu
Rassen eben derselben Gattung zurüctführen, und
das jetzt so weitläufige Schulsystem der Naturbe-
schreibung in ein physisches System für den Ver-
stand verwandeln.
Kant, Von den verschiedenen Raren der Menschen.
Anmerk. 177.5.
Soweit man in der genealogischen Forschung von Thatsachen reden
kann, ist es Thatsache, dass sämmtliche Crustaceen vom Nauplius
al)stammen. Einem Experiment ist die Beweisführung für diesen Satz
zwar nicht an/Aiverlrauen, — aus nahe liegenden Gründen. Aber soweit
Analogieschlüsse und auf ein letztes , allerdings dogmatisches Princip
gegründete Schlussreihen reichen, soweit lässt sich in der That feststel-
len, dass einstmalen auf der Erde der Nauplius der höchstentwickelte
Vertreter desjenigen Organismenkreises war, den wir heute als den der
Crustaceen kennen und beschreiben. Das grosse Verdienst, dies Factum
ermittelt zu haben, gebührt Fritz Müller, der in seiner Schrift »Für
Darwin« ausser vielem anderen fruchtbaren Wirken, auch dies bedeut-
same Resultat gefördert hat.
1) Die zu dieser Arbeit gehörenden Talein können erst mit der Fortsetzung der-
sclitpii in dem nächsten Holle doi' Zfillschiift aus.gegeben werden.
fi'eschiclilt' des k'rehsstainun'S. 97
Mil (li(>s(M' Feststell uni; liiil dio Crustiicccnkundc (miic neue Hicli-
tung einschlagen mtlsson. Es lag ihi' lernerhin nielit mehr ob, die
Scheidung der einzelnen Ordnungen niöglielist scharl" vorzunehmen,
sondern im Gegentheil danach ziLsnchen , die veibindenden Kiemente
namhalt zu machen und duicli kritische Benutzung der Palaeontologie,
dei' v(M"glcichenden Analomic, hauptsächlich aber der vcrgleicIuMulen
End»ryologie dahin zu (rächten, die (Irustaceen als in ununterbrochener
Heilie aus einandcM lierNorgegangene Formen nachzuweisen, deren vei-
meinlliche grosse \'ei\scliiedenheiten entweder zu widerlegen oder, wenn
sie sich nicht wegslreiten Messen, zu eikliiren und einen Stamnd)aum
an die Stelle d(M- Linear- oder Kreis - Systematik zu selzen. Was ich
von diesen Aulgaben zu lösen versucht habe, mögen die nachfolgenden
Blatter erkennen lassen.
1. Der Nauplius.
[Fig. 1 — 6.,
Zum Ausgangspunkt war der Natürlichen Züchtung eine Anzahl
von kleinen (iesc^höpfen gegeben, die wir heute Na u pliu.s nennen.
Dieselben waren sämmtliel» , wenn wir nach den uns heute als Larven
der verschiedenen CruslacecMi aufbewahrten Gestalten uitheilen dürfen,
nicht viel länger als breit. \\"iv besitzen heute noch Formen, die sogar
breiter als lang sind, wir kennen fast kreisrunde, kugelige, wir haben
ovale, ja wir haben auch lanzettliche. Aber selbst bei diesen übertrift't
die Länge die Breite höchstens um das Doppelte oder Dreifache. Dei-
Körper sänuntlicher N a u p I i u s war äusserlich nicht gegliedert, nicht in
sich beweglich, da ihn eine verhältnissmässig harte und spröde Körpei--
bedeckung umgab. Zwei bis drei gespaltene Extremitätenpaare sorgten
zu gleicher Zeit für seine Fortbewegung und seine Ernährung. Das
Medium , in dem die Na up I i us lebten , war das Wasser, ihre Forlbe-
wegung somit Schwinnnen und Kriechen. — letzteres an Pflanzen.
Steinen oder auf dem Meeresgründe.
Die Gestalt desNaupIiu s ist natürlich ebensowenig eine ursprüng-
liche, d.h. eine ohne vorhergegangene phyletische Entwickelung zu be-
trachtende, wie etwa die des P a I i n u r u s oder d<^s I^ i m u I us. Es w ird
aber schwierig sein, auf seine Vorfahren einen Schluss zu machen. »Bei
dem äussersten, am weitesten in die nebelgraue Urzeit zurückweichen-
den Vorposten der Classe, dem Nauplius, angelangt, blickt man sich
natürlich um, ob von da aus nicht Wege zu erspähen sind nach anderen
naheliegenden (iebielcn. Man könnte mit Oscar Schmidt bei der Hinler-
ledtsbildnng {\r\- \ a u j) li u s an die bewegliche Schwanzgabel der
Bd. VI. 1. 7
98 Hl. '\iit. Dohni.
Rädert biere erinneiii , in denen ja Manche überhaupt nahe Ver-
wandte der Kruster, oder doch der Arthiopoden erkennen wollen ; man
könnte bei den sechs den Mund umstehenden Füssen an einen urspiüng-
lici» strahligen Bau denken, u. s. w. Sicheres vermag ich nicht zu
sehen. y So weit FRrrz Müllkr, am Schlüsse seiner vorher citirten Schritt.
Wir sind heute noch nicht weiter gekommen. An die Schwanzgabel der
Rotatorien njag man schon denken, abei" es wird gewiss Niemand
den Nauplius von einem Räderthierchen ableiten wollen, eher Hesse
sich für beide ein gemeinschaftlicher Ihsprung vermitteln. Der strahlige
Bau will mir auch nicht recht in dei\ Sinn ; eher würde ich die An-
nahme gelten lassen, welche den Naupl i us mit weit zurückliegenden
Wurmformen in Zusammenhang bringt. Man könnte unter den Larven
der Anneliden einige linden, deren entsprechend erhärtete Körper-
wand allenfalls das Aussehen eines Nauplius gewinnen könnte, und
wir haben Anlass an die Würmer zu denken , wenn wir die Natur der
grünen Drüse und der Schalendrüse in Rechnung ziehen. Nach den
übereinstimmenden Ansichten von Lkydig ') , G. 0. Sars'-) und Gegen-
BADR^) wären diese Drüsen alsHomologa der Schleifencanäle der Würmer
aufzufassen , und ziehe ich in Betra(Oit , was ich selbst über die Natur
und Bildung der Schalendiüse der Daphnien^) herausgebracht habe,
.so wird es allerdings inuner wahrscheinlicher, dass wii- in diesen Ge-
bilden einen deutlichen Hinweis auf die WUrrn<»r zu erkennen haben.
Nur freilich bin ich noch nicht geneigt grüne Drüse und Schalendrüse
ohne Weiteres als Homologe anzusehen. Die eine mündet nach meinen
Untersuchungen in die Leibeshöhle, die andere nach unzv\eifelhaften,
häufig bestätigten Miltheihmgen vieler Forscher auf einem Antennen-^
fortsatz nach draussen. Ks wäre indess möglich, dass im Laufe der
Zeit die Wnlegung der Drüse stattgefunden, und die Mümlung ebenfalls
geändert wäre. Belrelfs der von Fritz Mülikr 'i für die Schalendrüse in
.\nspruch genonuneiuni Drüsen in den Stirnhörnern des Ci rripi d en -
Nauplius (Archizoea) verw^eise ich auf die ausführlichere F>örle-
rung, die ich an anderer Stelle gegeben habe"" .
Wenn sonach wenigstens ein ihatsächlicher Anhalt gegeben ist,
der uns eine Verbindung des Nauplius mit Würmern wahrscheiidich
macht, so ist auf der andern Seite nichts zu sehen, was dieser Verbin-
I; Naturgeschichte der üaphniden. pag. 28.
ij Noiges Ferskvands-Krebsdyr. Cladocera Ctenopoda. pag. VI. il.
3) Grundzüge der vergl- Anatomip. Zweite Aufla£;e. pag. 444.
4) Für Darwin, p. 61.
5j Eine neue Nauplius -Form (Archizoea .üigas; Zeilsclir. für Wissenschaft!.
Zoologie XX, pag. 597 fl.
liescliichte des Krehsstainiiies. \)^
(liMii^ etwa unüherwiniilicli sicli enlgepcnstcllle , vvciiii , was uns (li<'
Hypothese jedenfalls erlaubt, auf eine entspicclKMid niedrig organisirte
Wniniforni zurilckeeij;aniien wird. Wie dein altci- auch sei, und \Nohin
der Nauplius nach rlickwiirts weisen mag, — das h^inc sichl fesi , dass
er nach vorwärts auf die ganze (Ilasse der Krebse, als auf seine Nai^h-
kiiiuuieu, einen Anspruch ei'hehen darf.
Denken wir uns luiu also ein Meer dei* Vor/eit bevölkert neben
anileren Organismen von einer zahlreichen Menge verschiedener Nau-
pliusfornien. Sie werden unter einander in starkem Wettbewerb um
Xahrung inid Foitpllanzung stehen, somit also auch allerhand Variationen
der Gestalt und Organisation erleiden, die der Kampf um das Dasein
und die Natürliche Züchtung hervorrufen. Da sie aber kleine und der
AngriIVswallen entbehrende (Geschöpfe sind, so wird es für sie am nütz-
lichsten sein, die Vertheidung wirksam zu machen, und das kann ihnen
am besten gelingen durch Vergrösserung ihrer Schwimird"ähigk<'il. S(t
entstanden also wahrscheinlich gleichzeitig, auf dasselbe Ziel geri(;htet,
die Ausstattung der Extremitäten mit Schwimndioi'Steu und die Ver-
längerung und VerschmiUerung des Körpers. Wer mit einem ßool oder
einem Schiff umzugehen versteht, weiss wie wesentlich füi' die ge-
schickte Fortbewegung der langgesli'eckte, schmale Bau eines solchen
Fahrzeugs ist, — physikalische Gesetze geben den Grund ja sehr leichl
an. So gehl es aber auch den Organismen ; jeder Fisch zeigt uns das,
wenn ei- pfeilschnell durch das W^asser schiesst, das ihm mit seinem
spitzen Kopfe unil schmalen Bau nur geringen Widerstand entgegen-
setzt. So war auch dem Nauplius eine Streckung seines Körpers
neben der Verstärkung der Schwimmgliedmaassen die wichtigste Er-
höhung und Verbesserung seiner Organisation im Wettbewerb um die
Hlxistenz. In der That finden wir bei der überwiegenden Zahl dei' uns
heute noch erhaltenen Naup I i us formen, dass der Leib nach hinten in
die Länge gewachsen, ja bei vielen, — sämmtliche Cirripeden-
Nauplius z. B. — in mehr oder weniger lange Stachel ausgezogen
ist. Diese Verlängerung mussle wesentliche Dienste zugleich für die
Steuerung des Thierchens leisten , und der Fortbewegung in gerader
Linie sowie in sicheren Wendungen gleich nützlich sein. Abei' noch ein
anderer Vortheil lag darin, dessen Bedeutung so gross ist, dass wii-
noch andre Bildungen daraus erklären können. Der Stachel diente zu-
gleich zum Schutz gegen den directen AngriÖ" andrer Thier«'. Die
Nahrung der Nauplius scheint sowohl vegetabilisch als animahsch zu
sein. Beides zugleich bot ihnen der Aufenthalt auf dem Meeresgrund,
in Kli[)pen und felsigen Ufern, wo sich nur Algen und Meerespflanzen
/eigleii. Wer am Meere arbeitet und Nauplius in Menge zui- üntei-
100 . Dr. \iit. Dohni.
suchunt; haben will, kann nichts Besseres thun, als ein paarilände voll
Algen und Hydroidpolypen mit nach Hause zu nehmen; er wird darin
bei n)ikroskopischer Durchnuis(eruni4 eine grosse Zahl der lebhaften
kleinen (ieschöpfe finden. In den Mytlroidpoljpen sind aber wahr-
scheinlich auch sehr gefährliche Feinde der Na up Mus zu erkennen:
mit ihren langen Tentakeln können sie leicht solch kleines Geschöpf
packen und in die verdauende (Utvilät zerren, so dass es um sein Leben
geschehen ist. Das wird aber sicherlich sehr erschwert, wenn nicht
völlig unmöglich gemacht, durch eine reichliche und spitze Stachelbe-
watfnung, welche das zarte Gewebe der Polypen hei der leisesten Be-
rührung verletzt und sie zur Freigebung ihfer Beute zwingt. So er-
klaren sich mir die zahlreichen Zacken und Stacheln, welche wir be-
sonders an den N a up I i u s formen der C i r r i p e tl e n sehen, die auf der
anderen Seite der Schwimmbewegung zum Theil wieder kleinere Hin-
dernisse bereiten können. (Fig. 7.)
Wenn auf der einen Seite aber für diejenigen Nauplius, welche
iiauptsächlich schwiinmend sich l'orll>ew'egten, Verlängerung des Körpers
und Ausstattung der F^xtremitäten mit Schwimmhaaren von besonderem
Vorlheil war, so konnte^ <l()ch auch eine Fortbildung nach einei' anderen
Richtung und für eine andei'e Fel)ensweise sich ermöglichen. Es
konnten durch Erhärtung der körperwand, durch starke Klauen- und
Zangenbildung an den Evtremitälen, durch Zuspitzung des die Mund-
öffnung tragenden Abschnittes Veränd<Mungtii luM-beigeführt werden,
welche den Nauplius mehi- befähigten, sich an Pflanzen und Polypen
fest zu setzen und als kletlerthiere ihre Nahrung zu suchen. Offenbar
hat eine solche Lebensweise die Veräiulerungen herbeigeführt, welche
die Naupli usformen der Pycnogoniden (Fig. 8), uns heut noch
erkennen lassen, die vielleicht schon frühzeitig und st^lbstständig sich
von dem Naup li usstamme , welcher sich in die grosse Abtheilung der
Krebse fortsetzte, abti'cnnte und einen kleinen Nebenstanuu schuf,
der dann die Enlwickelungsrichtung einschlug, über welche ich bereits
berichtet habe ').
Es ist auisserdem wohl möglich, dass Versuche stattgefunden haben,
Nauplius zu Landbewohnern zu machen, — aber wenn wir nicht in
den Tardigraden vielleicht eine letzte Spur einer solchen L'eber-
wanderung zu erkennen haben, was mir indess nicht wahrscheinlich
vorkommt, so .scheint kein Versuch der Art erfolgreich ausgefallen
zu sein.
1) .lenai.sche Zeitschrift f. Med. u. Naturw. V. p. i'iü.
fipscliiclde des KrebsstHinnies. | ()\
2. Die Archizoea.
(Fig. 9.)
Mit (lirscni Namen miiclilc icli eine Zwischenstufe /wischen tleni
N,Mi plins und dvv Zoea heneinien. Das (lliaraklenslisehe diesef
Slnte snehe ieli in <lei' Anlai^e eines hinleren Korperabsehtn'tles , eines
\irlnellen Abdomens, odov um die moi|)holoiiisehe Redeulunij; des zwei-
len Ahsehnilt(>s üleieli in (his l.iehl zu setzen, eim>s virtuellen Pos ta 1>-
domens oder IMeon. Die Verbindung dieser (iestall mit dem Nan-
piius ist unsehwci- nachzuweisen. Wir sjijieii in dem letzteren zur
Veropösserung seiner Schwinnnl"ähii:kcil eine Verlängerung des hinleren
lvöi-pei'al»schnittes si("li bilden. Ks blieb aber nicht bei dieser* Vei'län-
licrung allein, sondern es lialen an dem hintei-en Köi-perende noch
zwei Borsten oder Anhänge aul, die odenbar dieselbe Function erfüllten.
So wuide dann auch bald von der Natürlichen Züchtung diese neue
Verändeiung ergriffen und fortentwickelt. Wii- sehen diesen Vorgang
leproducirl in (fer embryonalen ujid nachembryonalen Knlvvickelung
mancher Rankenfüsser-Nauplius. Vergleicht man z. B. die Bildung,
welche Ci.ai'arI^dk', von den Nau|)lins der Kepas anatifera be-
schr(M'bl. so wird ersichtlich, wie die Verlängerung der ursprünglich
einfachen drei Spitzen, deren zwei unten, eine oben am hinteren Kör-
perende lag, ein recht ausführlicher Hergang in der individuellen Ewi-
wickelung dieser Thiei-chen isl. Es heisst dort : » — Im folgenden
Stadium (Fig. :^l sind die bar\en bereits viel grösser geworden. Ihre
(lestalt erscheint hauptsächlich desshalb sehr veräiulert. weil dei" Vor-
(lerlheil verhällnissmässig viel bn-iter geviorden ist. Die beibesspitze
eischeint noch deutlicher dreispitzig als vorhin Nun tritt die
Häutung ein, die Larve verlä.sst die Eierf)latlen und schwimmt in ver-
ändeiter Gestalt vergl. Fig. ii. daher. Die drei erwähnten kleinen
Leibesspitzen haben sich ganz gewaltig ausgebildet. Zwei derselben
sitzen noch auf gen)einschaftlicher Basis, die sich aber ungemein aus-
gezogen hat und sich denuiach als ein dünner, an der Spitze gabelartig
gespalt(!nei" Forl.satz ausnimn)l. Ivs ist dies Krohv's »schwanzförmiger
Anhang«, Spknce Bate's »abdominal appendage«. Die dritte Spitze ist
gleichfalls in die Länge g<!wachsen und stellt Krohn's »Stachelfortsatz«
SpENcE Bate's «caudal leiininalion« vor.« Von wesentlicher Bedeutung,
wie sich später noch ergeben w ird , ist ferner die Bildung einer Menge
\on Zacken und Dornen an den beiden Fortsätzen auf ihrer eanzen
I BeoljacliUiiijieii über .\naloii)ie und üntwickcluiigsgeschiclile wirbelloser
TliiiMc an (icr Küste lier NoimaiKlie angestellt, pai;. itS. Tab. XVII. Flu. 15 — 26.
102 i'r. Aul. Dolirii.
Läiii^c. Wir Hilden solcherlei Bildungen vielfach bei den Nauplius-
forinen der (lirripedien , wie besonders ein Aufsatz von Spknck BatkJj,
und der Aufsatz vonKRonN"^) uns lehren. In letzterem linden vNir aber
noch eine Mittheilung , die unser Interesse ganz besonders in Anspruch
nininil.
KiuuiN sagt von den beiden Fortsätzen (1. c. pag. 'i) ; "Der oIkmc
Koi'tsalz hat die Form eines gerade gestreckten, oft sehr langen Stachels,
der unlere stärkere läuft allmählich verjüngt in ein gabelförmig ge-
theilles Finde aus, und ist, namentlich in späteren Stadien, einer
Beugung und Streckung fähig.« Mit dieser letzten Aeusserung
gewinnt der Schwanzanhang einen ganz neuen Charakter. Fügen wir
gleich eine zweite, sehr wichtige Eigenthümlichkeit desselben hinzu.
Darwiis ') theilt uns von der Naupliusform des ScalpeU um vulgare
Folgendes mit: «Behind the natatory legs on the ventral surface th<!
bodjf is nmch produced and terminates in a horny fork, which afdr Ihe
lirst moult becomes much elongated. Anteriorly to this fork, on the
ventral surface, there is another fork, and again above this l could
distitiguish, in(] h ihamal us stellatus, after the firsl moult, another
fork, or al least a pair of shorl thick spines. From ihe slructure of the
forked abdomen in the known Larvae of the Podophthalmia 1 presume
that this portion of the body is the abdomen of the young Cirripede, but
it is not al all plainK arliculated. After Ihe Hrst moult, the posterior
end of Ihe Curapace, which is al\\ays pointed, becomes much elongated
and serrated on both sides; reniinding one of the slructure of Ihe Cara-
pace of the so-called Zoea , or larva of certain Podophthalmia." Darwin
berührt mit diesen Worten die Bedeutung, die meiner Meinung nach
dieser untere gegabeile Forlsatz des Cirripeden-Nauplius besitzt. Ich
halte ihn für die erste Andeutung des späteren Pleon der gesammten
höher entwickelten Krebse.
lüs isl völlig im Einklang mit den oben entwickelten Principien,
nach weichen die Forlbildung des Nauplius wesentlich auf die grössere
Schwimmfähigkeit gerichtet gewesen ist, wenn wir sehen, dass dei-
lange Forlsalz allmählich beweglich zu werden anfängt. Sowohl zur
Steuerung als zur Rückwärtsbewegung des Körpers muss er so haben
beilragen können ; es war also ein entschiedener Vorlheil im Kampf um
die Existenz für seine Inhaber gegeben. Seine Bewaffnung mit Stacheln
i) On the developmenl uf tiie Ciriipedia , in Annais of Natural Hislory Vlll.
Socond Series 1851. p. 324.
2) Beobachtungen über die Entwickeluiii: der Ciiripeden. Archiv f. Nalnri;.
1840. pag. 1.
3) .\ Mnn(»;:i;i|>li on die SuJj-CUi.ss Ciiripedia. The Balanidae. pag. 108.
Gescilicilt« dos Krebsslainines. | (>;>
erklarl sich i^leifhlalls aus dem oIxmi erörlerlen (ii'unde , einen Schul/
geilen die Angriffe von Goelenteralen oder anderer weichgewebiger An-
greifer zu bilden. Darwin betont ausdriütklieh . dass keinerlei Gelenk
wahrzunehmen war»' ; das ist auch ganz natürlich , denn ein (ielenk
konnte erst die Folge einer häufig geselu'henen Beugung sein. Man
könnte an dieser Stelle in gewisser Weise ein zweites Motiv des
Segmenibaues der (]rustaceen sehen: um so bedeutsamer wäre dann
diese Stufe dei' Fintwickelung, die ich daiiim auch mit einem eignen
Namen, Ai'chizoea, bezeichnet habe.
Wie das (ielenk si(;h bildete, lässt sich lolgendeiinaassen begreifen.
Die Beugung des Fortsatzes gegen die l nierseite (ies Körpers und seine
darauffolgende erneute Slreckuiiii konnte nur durch Muskelarbeit zu
Stande gebracht werden. Die Muskeln tmissten zu dem Behul'e von
Kücken- und Bauchfläche des Körpers entspiingen und in dem Hohl-
raum des Fortsatzes sich gleichfalls an die Wandungen inseriren. Zogen
sie sich zusannnen, so rnusste allmählich in der Mitte zwischen den bei-
den Insertionspunkten bei sonst gleicher Consistenz der Wandungen
der am häuligsten und stärksten gebeugte J'heil entstehen , und es
musste vornehmlich an dieser Stelle allmählich zu einer weicheren und
nachgiebigeren llautbildung konmien. Im Gegensatz dazu mussten die
Insertionspunkte der Muskeln sich immer- mehr erhärten, um einen hin-
reich(M"iden Stützpunkt für die Gontr'action zu bieten, so dass die gleich-
zeitige Wirkung der Gontraction eine DifVerenzirung des Hautpanzer-s
war und dadurch ein er-ster Segmentabschnitt an dem Kör'per de»-
A r c hi z oea her-gestellt wui'de.
Wir- sehen in dei- weiteien Kntw i(-kelung der- Aichizoea, die
\\ii- dann nicht mehr bei den Gi iiipeden, sondern im Malacostra-
ken stamme bei l'eneus vei-folgen können, dass aus der (iabel ym
Fnde des Abdominalfortsatzes zwei bi'eitei-e Platten geworden sind, die
ihi'c Bedeutung als Slcueiiuder und ScliNNimmplalten noch besonders
dadurch hervorheben, dass sie mit Schw imnd:>orsten am Rande ausge-
slattel sind. (Fig. 10.)
Ks tritt nun ein neues Momcnl in dem Fortschiitt der Organisation
ein. Bisher haben wir- nur- drei (dicdmaassen-Paare gehabt, der'cn voi-
dei'eseinäslig, die beiden hinteren zweiästig sind. Wirhaben nichtdanach
gefragt, woher sie gekommen, weil uns das Fragen nicht viel helfen würde :
wir wissen nicht woher N a u p 1 i u s kommt, also sind die Vermuthungen
\iber die Entslehungsart der FXti"emitäten nur sehr vage. Etwas An-
deres ist es mit den nun entstehenden neuen Exlr'emitälen. Wir kennen
das Thier an dem sie entstanden sind , kennen auch Mancherlei von
seiner Lebensweise, und müssen daraus die Fiaue beanlwoii(>n können.
J04 Dr. Ant. Dohrii,
Die Schvv ierigkoil liegt meines Krtichlens weniger darin , dass
überhaupt neue Gliedmaassen sich bildeten , sondern dass sie sich zu
einer Gestalt herausbildeten, die völlig in üebei-einstininuuig mit den
bereits vorhandenen Gliedniaassen stand. Man kann sich ja sehi- leicht
vorstellen, dass eben so, wie sicTi der Abdominalfortsatz des Nauplius
zu einem duich Gelenk verbundenen und von eignen Muskeln bewegten
Körperabschnitt bildete, ebenso auch andere Stacheln und Ausstülpun-
gen oder Verlängerungen der Körperwandungen zu Gliedmaassen wur-
den, d. h. zu Fortsätzen des Körpers, welche durch Gelenke vei'bunden
waren und von Muskeln jjewegl wuiden. Aber warum wuiden denn
diese Gliedmaassen wiederum zweiästige Schwimm lilsse / Denn dass in
dei'That die nachfolgenden Gliedmaassen als solche zweiästige Schwimm-
füsse l)estanden haben , und nicht gleich als Kiefei' mit ihren charakte-
ristischen Umbildungen aufgetreten sind, das eigiebt ihre embr\onale
Bildung bei so njanchen Embryonen , und ihre Gestalt, die sich noch
sehr gut auf die ursprüngliche Schwimmbeingestalt rückführen lässl.
Ich will diese Frage hier zu beantwoi'ten nicht versuchen. Sie führl
in die tiefsten Speculalionen über morphologische Verhältnisse, die
bessei' im Glossen angefasst werden , als an einzelnen Punkten. Auf
ihre F^rörterung denke ich bei einer anderen Veranlassung einzugehen.
Schliesslich ist noch eine Erhöhung der Organisation bereits im
Archi z oea- Stadium in der Anlage zu finden, — nämlich die An-
fänge der zusammengesetzten Augen. Es ist von vornherein anzuneh-
men, dass dieselbe auch als einfache Pigmenttlecken auftreten , für die
nach und nach iichtbrechende und percipirende Apparate sich bilden.
Die Häufung derselben bedingt dann den eigentlichen Charakter der
»zusammengesetzten^ Augen , welche dann allmählich in ihrer feineren
Structur ausseiordentliche Fortschritte machen musslen, wie wir das
ja bei den höheren Krebsen deutlich sehen. Wir finden über das früh-
zeitige Auftreten dieser Organe zwei Nachrichten, die eine aus derEnt-
wickelungsgeschichte der Lepas analifera, die andere aus der Enl-
wickelung des Peneus, — also auf das Deutlichsle bezeichnend, dj^ss
die Anlage in der Thal schon in so früher Zeit stattgefunden hat.
Claf'aredk berichtet (1. c. pag. 100) : »Das unpaare rothe Auge
ist mit einer kugeligen Linse vei'sehen. Es sitzt dasselbe zwischen zwei
runden körnchenhaltigen Kapseln, die ich am liebsten für (iehörbläschen
halten möchte, eine Ansicht, welche um so günstiger aufgenommen
werden dürfte, als Gehör'organe bei andern Species schon mehrfach
angeführt wurden Die Deutung erwähnter Kapseln als Otolith-
blasen ist mir indessen, — um so mehr als ich Flimmerbewegung darin
nie wahrnahm — ein wenig zweifelhaft geworden, namentlich seitdem
fi«si"liicli(p des Krebsstainmcs. 1 05
ich flic (iriiiidc pclcscn liahc. womit Sn.Nci; Hau: Tii().>irs().\'s Darstollunt;
(Irr Augfiicntstohiinc bei den (-irripeclionpiippcn bekämpft. Lptzton»
hrsi(z(Mi bekaimllirh zwei Auuen , die nnch Thompsons Angabe aus
der Spjdluiii; (\cs niipaairn Larvcnaiiees hervort^c^luMi sollen. Nun ab«^-
hcsh-cilcl Si'KNci: Bati: die Hiclitigkeil diesci- Ansichl , weil cv bei i;o-
wisson iMiloinosliaca /,. H. (lliiroccplialiis diaphaiius) die in der Bildnnu
bcgi'ilVencn paarigen Aujicn neIxMi dem piovisoiiselien iinpaaren l.arNcn-
aiisie gesehen habe, eine WahrnehnninLi, die b''kannllieh von mclireien
andei-n Forschern beslälis;! wurde. Ks isl denmach nicht unmöalieh,
(bss die IVaclichen Kapseln keine Otolithbiasen , sondern die in der
Knlstehimg begiiftenen Puppenaiigen seien.« Noch ausführlicher be-
spricht Fkitz Miiirit die HildiMii; dieser Organi' 'i . Ich fnhie roluende
Stelle an : »Von den neu auftretenden Theilen sind der Zeitfolge nach
zuerst die paarigen Augen zu betrachten; denn schon bei den ältesten
Naiiplius war ihre erste Spur zu erkennen. Sie bilden bald eine an-
sehnliche, über dem vonieren Theile des l\ückeiischildes li(!gende, den
Slirnrand überragende, \orn ausgerandete Masse. Nahe ihrer äusseren,
hinteren Kcke tritt ein schwarzer Farbfleck auf, von dem a\is sich bald
sirahlige Linien zur Oberfläche des späteren eigentlichen Auges ver-
folgen lassen ; nach vorn und innen davon unterscheidet man den ver-
dickten Sehnerven, hinter dem ein freier, später von einem Muskel
durchsetzter Raum bleibt. Die anfangs dicht zusaminenslossenden
Augen rücken nun rasch aus einander, so dass das unpaare Auge und in
ganzer Breite die Ganglien . zwischen denen es liegt , wieder von oben
sichtbar werden.» pRrrz Mi i.i,i;r setzt dann noch hinzu: 'Kigenthüm-
liehe (iebilde. die ii;h nicht zu deuten weiss und die den anderen be-
obachteten Arten zu fehlen scheinen, sind die beiden halbkuglig«;n
duirhsichtigen Knöpfchen, die schon bei den ältesten Nauplius am
Stirnrande vorspi-ingen. Sie verhalten sich anfangs als zarte, fast kug-
iige wasserhelle Bläschen , später als winzige mehr dei'bhäutige und
imdurchsichtige s[)itzenförmige Anhänge am Vorderrande der Augen-
stiele während des ganzen Larvenlebens. ^i Ich kenne diese hitzter-
wähnten Bildungen nicht; es wäre möglich, dass in ihnen noch ein
rudin)entäres Auge zu erkennen wäre, das noch vor den Stielaugen
bestanden, dann aber allmählich zu (irunde gegangen wäre. Könnt«-
aber auch ein Gehörorgan gewesen sein. Vielleicht klären spätere Un-
tersuchungen das auf.
•ledenfalls bedaif es keines besonderen Hinweises auf die .Nützlich-
keit der vermehrten .'^ehorgane für das Leben der A r'chizoea. Sinnes-
1, Die V(M-\\a 11(1 killt; iIit (ianieeloii. .\rclii\ 1. Naturjii'scliichte 1868. pai;. ^'A.
106 Dr. Ant. Dohrn,
Organe sind unter allen L'insländeii imtl für nlle Zwecke von grosser
Bedeutung; nui" über die weitere Fortbildung derselben habe ich noch
weitere Auseinandersetzungen zu machen.
3. Die Zoea.
(Fig. 11 — U.)
Gegenüber dem Naupiius und derArchizoea ist dieZoöa,
wie ich sie hier wenigstens auffasse, ein bereits weit entwickeltes Ge-
schöpf. Ihie wesentlichen Attribute sind: deutliche Segmentbildung
am Vorderkörper und am Abdominalfortsalz; vermehrte ExtremitSten-
bildung bis zur Zahl von sieben Paaren, wobei die Naupliusgliedmaassen
eingerechnet sind; Arbeitstheilung innerhalb dieser sieben Extrenii-
läteupaare; deutlich gestielte zusammengesetzte Augen , und ein den
vorderen Körpertheil bedeckender Panzer.
Versuchen wir nun, uns die Vortheile klar zu machen, welche die
Zoea über die ArchizcOa gewonnen hatte und wie sie aus dieser hat
entstehen können.
Es leuchtet ein , dass die Segmentbildung für die geschicktere
Fortbewegung und die Gelenkigkeit des Körpers von grosser Bedeutung
ist. Ohne hier auf l^^rörterung der Frage, ob alle sogenannten Mctameren
oder Segmente durch Sprossung entstanden seien, einzugehen, lässtsich
doch soviel jedenfalls behaupten, dass Segmentation auch durch Bewe-
gungen hervorgerufen werden kann. Ich habe das bereits oben erwähnt,
als ich über die Entstehung des ersten Gelenkes im Naupliuskörpei- sprach.
Durch die Vermehrung der Extremitäten wurden natürlich auch die
Bewegungen mit vermehrt und so hing von ihnen wieder die Segment-
bildung des Köi-pers ab. Um diese also ihrem vollen Werlhe nach zu
würdigen, müssen wir erst auf die Vermehrung und die Arbeitstheilung
der Extremitäten eingehen.
Wir gehen dabei von der Annahme aus, die sich auf den embr^o-
logischen Befund stützt, dass alle auf die drei typischen Naupliusglied-
maassen folgenden einstmals und ehe sie zu andern Diensten verwendet
\\ urden, Schwimmbeine waren und somit auch die Gestalt der Nauplius-
schwimmbeine besassen.
Die Arbeitstheilung innerhalb der so allmählich auf die Zahl von
sieben Paaren gesteigerten Extremitäten bestand darin , die der Per-
ception dienenden Organe auf bestimmte Extremitäten zu isoliren, aus
andern reine Press Werkzeuge zti bilden und die übrig bleibenden nach
wie vor zu dem Geschäft der Loconiotion, also zum Schwimmen zu vei-
liescliiclite des KrebssCaminps. 1 07
wnndeti. Die Vorllieilc einer solchen Arbeitstlieilung nochmals ausein-
itndersclzen , hiesse Eulen nach Alben Irasen. Wir halten nur /u er-
wtii^en, welche Veränderungen in der Geslall der Gliedniaassen <lurch
solche Verlheilung der Function hervorgerufen wurden.
Schon imNauplius sehen wir das vordere Extremilätenpaar in
seiner (leslall von den beiden lolgeiulen unterschieden. Es isl nichl
/weiäslig und entbehrt auch eines basalen Stachels oder Anhangs , den
die beiden folgenden besitzen. Seine Lage an der Spitze des Körpers
belahigl es ausserdem besonders zum Tragen von Sinnesorganen, macht
es aber unfähig, dem rückwiirts gelegenen Munde zu dienen. Das
zweite und dritte Paar der lAlicmitäten besitzt dagegen an der Innen-
seite der Basis einen Fortsatz, mit entweder einem oder zwei Haken oder
Borsten. Bei der Schv^ immbevvegung werden nun diese Boi'sten unter
die Mundkappe geschlagen , scliieben also Alles , was in ihren Bereich
kommt und entsprechend klein isl, in die Nähe der Mundöftninig*). Ks
ist sicher, dass diese Bildung auch noch lange Zeil bestanden hat, als
s<;hon hinter den beiden Exlremilälenpaaren lunie Extremitäten sich
bildeten, allmählich aber verlor das zweite Extremitäten paar den Kau-
Anhang, gewann aber stall dessen nervöse Apparate, welche den Wahr-
iiehmungskreis des Thierchens wissentlich zu erhöhen geeignet waren.
Was aus dem Fortsatz geworden ist. dei' lange Zeit die Kauborsten ge-
tragen hat, wissen wir nichl: man könnte vermuthen, dass er derselb«'
ist, auf dem jetzt bei Malacostraken die gi-üne Drüse und ihre Homologa
ausmünden, doch würde sich das schwerlich beweisen lassen. Das
dritte Naupliusevlremitätenpaar dagegen behielt seine Function als
Schwinun- und Kaugliedmaa.sse noch lange und gab nicht die zweite
für die erstere auf, sondern umgedreht: es wurde das hauptsächlich
wirksamste Kauwerkzeug, die spätere Mandibel. Die Geschichte dieser
(■nnvandlung isl noch deutlich erhalten in der Embryologie. Wie ich
\on Asellus2 und von Guma ') schilderte, wächst zuerst die Anlage
(l<i Mandibel nach oben hinauf, in gleicher Richtung milden Antennen,
erst später bilden sich an dei- Innenseite am Grunde zwei Vorsprünge
aus, die nachher zur eigentlichen Maiidibel werden, während die erste
aufwärtswachsende Walze der Taster wird. Der Taster war mithin
früher da, als die Kautheile. er war das Schwinunbein , während erst
1) Vergl. Claus, Zur Anulotiiie und Knlwickelungsgeschichtc der Copepoden.
\i(li. für Naturg. 185s. pat:. 47.
i) Die embryonale Kutwic keluiit; des .Vscilus aciuatitus. Zeilsdir. für wi.s>.
Zoolog. XVII. pag. 229.
3) Bau und EufwickeluMt; iler Cnuiaceen. .leiiaisciie Zeitsclirilt für .Med. und
Natni'w. V. pa;^. 58.
108 Dr. Aiit. Dohni,
spätor die Kaufunclion seiner Basaltheile so luächtii; wurde, dass seine
Bedeutung als Schwimniorgan dadurch in Schatten gestellt ward. Je
weilei- und ausschliesslicher aber eine Extremität IVIundtheil wird, um
so grösser und umfassender werden auch ihre Gestaltsveränderungen
sein. Zum Schwinunen sind lange schlanke mit zarten Borsten und
Haaren ausgerüstete Gliedmaassen ganz vortrefFlieh, — aber zum Kauen
laugen sie ganz und gai' nichts. Dazu bedarf es vor Allem breiter
Flächen, um die Nahrung zwischen ihnen Iheils zu zerschneiden, th^ils
zu zerreiben. 1^'erner müssen diese Flachen einander zugekehrt an
(iliedmaassen befindlich sein, welche n)it mächtiger Musculatur ausge-
rüstet sind, um die entsprechende Kraft für ihi- Geschäft entwickeln zu
können. Ein Muskel wirkt aber nicht stärker, wenn er verlängert wird,
sondern im Gegentheil , wenn sein Querschnitt sich vergrössert. Um
eine solche Vergrösseiung des Querschnittes zu ermöglichen, mussten die
Kaugliedmaassen geräumig im Innern sein, durften also nicht mehr oder
minder plattgedrückt sein , wie es gerade vortheilhaft für Schwinun-
organe war. All diese Gesichtspunkte mussten beiiicksichtigt werden,
bei dei" Umschaflüng der Mandibeln aus Schwimm- in Kauorgane.
Wer die Mandibeln dei' Decji pod (> ii , etwa eines Homarus odei'
Palin ur US betrachtet. <ler wird nicht leugnen, dass die Umwandlung
eines Schwimmorganes (Fig. 1.5) in ein Kauorgan (Fig. 16) auf das Voll-
endetste vor sich gegangen ist , dass dieselben Tendenzen , die anfäng-
lich beimNauplius und der Zoea wirksam wurden, bis heute un-
unterbrochen angedauert haben und mit ganzem Erfolge gekrönt sind.
Der Beginn dieses Umwandlungsprocesses war offenbar der, dass der
Basaltheil der ganzen Extremität in seinem Wachsthum von der Natür-
lichen Züchtung sehr begünstigt wurde, dass aus einem geringen An-
hang an der Basis der Innenseile aihnählich ein breiter Abschnitt wurde,
sich durch seine eigne Musculatur zu bewegen begann und unabhängig
von der Musculatur der Schwinunäste, die nach wie vor ihr Schwimm-
geschäft betrieben, nur den Kaubewegungen diente.
In ähnlicher Weise veränderten sich auch die folgenden Extremi-
täten , nui' ist es bei ihnen niemals zu einei- solchen Vollendung ge-
konunen, wie bei den Mandibeln. Es lag das auch wesentlich mit an
einer erneuten Anwendung des Princips der Arbeitstheilung. Die
Mandibeln wurden durch ihie bedeutende Härte, welche ihr Zer-
malmungsgeschäft erforderte, gar bald gezwungen, mit mächtiger In-
sertion sich dem Kopfe anzuschmiegen ; die stärksten Muskeln beweg-
ten sie , — aber diese Muskeln waren nicht sehr fein gegliedert und in
keinerlei Bündel zu separater Action getheilt. Es kam eben darauf an,
an einer Stelle mit Aufgabe aller feineren Beweglichkeil nur grosse
Geschichte des KrebsstHinmes. 1 09
llehclkiiiri zu prüducirt'ii. Daiiiil war aber nur die <üiit' Seile eines
vollkornincMcii Kauap[)arales iieliefert. Die andere, VNelehe itii Fesl-
halt«'n und ij;eseliicklen Ergreifen der Nahrunu, hestehl, wai" hei der
Ausbildunii der Mandibeln übergangen. Zwar werden wir in rnanclien
l-.illen S[)älerhin sehen, dass niil einem solchen (ieschäfle die Schw inini-
,isle desMandibelpaares beauflragl wurden, dass sich also die Sehwinini-
oigane an d(M- Basis zu Kau- und an den Aeslen zu Tast- und Greif-
werkzeuiien undiildeten, doch aber- aenügle diese Aushilfe nicht, und
der w ichligen Fivssfuncfion ward nach und nach ein l*aar derSchvvinun-
w crkzeuge nach dem andern zum Opler gebracht . Freilich uiuss man wohl
hinzusetzen, dass dadurch die SchvNinunfähigkeit der Thiere keine Kin-
tuisseerlitt, denn was vorn von Schw inunoi'ganen in den Dienstdes Mun-
des gezogen wurde, ward hinten sofort neu ersetzt, luid es ist wohl mehr
als wahrscheinlich, dassruu', wenn deiarl ausreichend die Locomotion
versoi'gt war. die völlige TrennungderKaufunctionen von den Schwimm-
ihäligkeiten weitere» Fortschritte machte. Aber in dei' Thal sehen wii*,
dass auch w iederum bei den allmählich sich zu den Maxillen ausbilden-
den Schwimmorganen das Längenwachsthum und die Walzengestall
einem Wachsthum in iWo Breite nachgab und dass statt der langen
Schwimmhaare kürzere» aber stärkere Borsten und Zähne sich auf dem
Innenrande ausbildeten, die allmählich sich ganz nach Innen wandten
und mit denen der anderen Seite einen festen Verschluss der Mund-
öflnung nach hinten ausmachten (Fig. 17). Da sie sich aber leicht und
gelenkig bevAcgen konnten , so war es mit ihnen weniger auf das Zer-
malmen abgesehen, als vielnu»hr auf das Packen und Festhalten der
Nahrungsstorte, besonders also der zur Nahrung dienenden lebendigen
rhiere , die durch irgend welchen Zufall in die Nähe der Mund-Greif-
organe kamen. Die Verkürzung der einzelnen (ilieder des früheren
Schwin)morganes ging denn auch allmählich so w<ut, dass sie wie
Lappen an einem gemeinsamen Stamme sassen , dass ihre Gliederung
völlig vei'schwand und nur noch an der Zahl der übereinander liegen-
den Lap{)en , die alh» nnt Doinen besetzt w lu'den imd nach der Innen-
seile vorragten, erkannt werden konnten. Auch dieser phyletische
rmwandIvings])rocess ist urkundlich in der Ontogenese so manches
ki-ebses hinüMlassen , inid wurde von mir besonders deutlich an Ido-
thea- Embryonen beobachlel, deren dritles Maxillenpaar (= erstes, —
hier einziges Maxillenfusspaar — ; während der Embryonal-F^ntwickelung
ganz deutlich aus einer beinförmigen deslalt in die lappenförmige des
Mundwerkzeuges übergeführt wird. So wurde wiederum aus dem in-
neren Aste, wie auch bei dov Mandibel der Kautheil, aus dem äusseren
der Taslerlheil.
110 Dr. An». Dolirii.
In Folge dieser veränderten Functionen ward auch noch eine an-
dere Ungleichheit nolhwendig für die bisher gleichartigen Schwinun-
organe. So lange sie Locomotionsorgane blieben, war es zweckdien licli,
wenn sie in gleichniässigeni Abslande von einander am Leibe einge-
lenkt waren ; sie hatten alle gleiche Arbeit zu verrichten, ihre Musculatur
brauchte dieselben Räumlichkeiten und Insertionsstätten , das »Homo-
nome« in der Anlage konnte mehr gewahrt werden. Dieselben Glied-
maassen als Kauwerkzeuge mussten aber nicht niu- ihre äussere GestaK
verändern , sondern sie nuissten auch ihre relative Lage zum Körper,
resp. den Körper selber verändern. Sollten sie in den Dienst des
Mundes treten, so konnte sich der Mund nicht soweit vergrössern, dass
sie noch an derselben Stelle mit ihrer Insertion liatten bleiben können,
wo sie als Schwimmbeine waren; vielmehr mussten sie den Mund zu
erreichen suchen. Da sie ab(M' als Mundtheile ihre Längsaxe verkürzen
mussten, um wirksam zu sein, durften sie eben auch nicht in der alten
Länge verharren , — so blieb also nui' die eine Auskunft übrig : der
Zwischenraum zwischen dem Mund und ihren Insertionsstellen mussle
vei'kürzt werden. In der That sehen wii- auch fast überall in der onto-
genetischen Entwickelung diesen langsamen, phyietischen Annäherungs-
process zwischen Mund und Mundtheilen re[>roducirt in den Zusammen-
ziehungen der Keimwülste 'i , in der V(!rschiebung der Mundöffnung
nach rückwärts, so dass sie, anfänglich zwischen den zweiten Antennen
gelegen , später zwischen, ja selbst hinter den Mandibeln liegt "^l , und
in dem Vor- und Zusanunenrücken dei- Insertionspunkte der einzelnen
Mundtheile ') , die sich natürlich allmählich üliereinander schoben, um
alle die Mundöffnung erreichen zu können.
In den Zeiträumen also, die zv^'ischen Archizoea und Zoea
lagen , schufen sich vor Allem die Mandibeln , und ein Maxillenpaar so
um. Es wäre zweifelhaft, ob wii- das zweite Maxillenpaar auch schon
in diesen Zeiträumen uns entstanden zu denken haben , wenn die Be-
obachtung Fritz Müller's richtig wäre, dei' zufolge die zweite Maxille
der jungen Stomatop'oden sich als zweiästiges Schwinunbein anlegt').
Nach meinen Untersuchungen hat Fritz Müller sich aber geirrt und den
ersten Maxillarfuss für die zweite Maxille genommen; letztere bildel
sich als einfache ungespaltene Extremität. Wir finden aber bei Cope-
poden noch bedeutende Ueberbleibsel der Schwimmorganisalion an
1) Vergl. DoHRN, embryon. Entw. d. Asellus 1. c. pat;. 2.^6.
2) Veigl. Bau und Entwickelung der Cumaceen.
3) Vergl. besonders die Verhältnisse bei Tanais.
4) Vergl. Fritz Müller, Bruchstück aus der Eniwickelungsgescliichic der- Maul-
füsser. Arch. f. Naturu. 1863.
tifschicill«' dos KrobsstiiiiiniPS. 111
den Muiulllioiloii , sojiar lünen deullicIuMi zwiMiislii^cn , iils Scliwiinni-
organ lungirenden Taster an den Mandiholii. Ks tra^l si(tli aber, oh
Iclztrrcs nicht eine wiederhergestellte Bildung ist, die ursprünglicli
zwar im Nauplius- und Archizoea- Stadium l)eslanden hat, spiitei- /u
(irunde ging, alxM' wieder von Neuem durch besondere Verhältnisse
liervorgerufen worden ist. Wir werden darüber noch vAeiter zu
sprechen haben.
Die Gestalt der Schwimmbeine hatte natürlich keine wesentliche
rnd»ildung zu erfahren, da die Thätigkeil dieselbt^ blieb. Sie mussten
natürlich um so stärker werden , je schwerer die Körperlast war , die
sie l'orlzubewegen hatten , und da durch das allgemeine Wachslhum
;iller Theile diese Last sich vermehrte, so nuissten auch sie stärker
werden. Die grösseren und stärkeren (iliedmaassen verlangten dann
wieder eine grössere und stärkere Musculalur, letztere härtere und
lireitere Insertionsflächen , — so war also ein fortdauerndes Verändern
sämnitiicher Organe und Organsysteme das Normale.
Dass a})er bei der gesteigerten Schwinunthätigkeit auch die Steuer-
l'ähigkeit der Archizoea zunehmen mussle, ist natürlich. So sehen wii-
auch allmählich an Stelle des einfachen gnbligen Endes des Abdominal-
l'ortsatzes die beiden Zacken sich in eine Platte verwandeln, die durch
ihre Ausdehnung wesentlich zur (ieschicklichkeit des Schwimmens bei-
tragen musste. Gleich im Anfange dieser Darstellung sahen wir aber,
dass ein Längenwachsthum dem ganzen Körper zu Gute kommen
uuisste, und dass die Kntwickelung des Abdominalfortsatzes wesentlicli
durch diesen Grund h(Mvorgerufen und begünstigt war. Ks kann uns
daher nicht erstaunen , dass auch in dieser Richtung die Zoea einen
\\(!sentlich('n Forlschritt gegen die Archizoea aufweist. Derselbe
wird abei- noch hedeulend erhöhl dui'ch die leichtere Beweglichkeit des
ganzen Fortsatzes, welchen eine complicirtere und mehrfach gegliederte
Musculatiur hervorgebracht lial. Da die Feinheit und Mannichfaltigkeit
der Bewegungen von der isolirbaren Thätigkeit der einzelnen Muskel-
bündel abhängt, so w.w der Natürlichtm Züchtung die Aufgabe gestellt,
;uis den ursprünglichen einfachen Muskelsträngeii durch Scheidung und
Spaltung allmählich \iele kleinere GrupjXMi zu schallen. Indem an-
fänglich Verstärkungsbündel auftreten mochten, die nach und nach iui-
inei- vollständiger wurden, und schliesslich ihre eigne Innervation halten
und damit autonom wurden . gelang es auch, eine solche complicirteje
Musculatur zu schaden ; die Musculatur im Innenraum fand aber ihren
Ausdruck an der äusseren Körperwandung duich ihre Insertionsstellen.
Diese mussten allmählich erhärten, und <la . wenn irgendwo, in dei-
Musculalur S\mmelrie und Gleichgewicht hei'rschen muss, so kam es
112 . I'i". Aiit. Dohrii,
bald /u ganz s^leichniässig abwechselnden Verdickungen und Verdünnun-
gen der Wandung des Abdominaifortsatzes und damit zu neuen Segnienl-
bildungen. Mit d lesen Seg nie n ibil düngen des Abd oni ina I-
r 0 r t s a l z e s war e i n e i* der typischen T h e i 1 e des C r u s la c e e n -
leibes geschaffen oder entwickelt: das Postabdonien
oder Pleon.
Wie an diesem hinteren Theile des Zoeakörpers finden wir aber
hucIj an dem vorderen Segmentbildung. Dort müssen w ir es aber nicht
allein der auch allmählich feiner und diflerenzirter ausgebildeten Rumpf-
musculalur zuschreiben , sondern wesentlich der Musculatur der Extre-
mitäten, welche, wie schon vorher bemerkt, in ziemlich gleichmässigen
Intervallen an dem Körper, eingelenkt sich fanden. Auch zwischen den
Insertionsflächen ihrer Musculatur blieben dünnere Bezirke in der Kör-
perwand bestehen, — sie wurden die Gelenkhaut der Segmente.
Wenn wir dennoch eine Ungleichartigkeit in der Segmentbildung
des Zoeakörpers gewahren , wenn wir die Segmente des Vorderkörpers
kürzer und von geringerer Beweglichkeit finden als die des Pleon, wenn
wir sogar auf einen völligen Mangel directer, frei an einander beweg-
licher Segmente am Kopftheil der Zoea stossen , so müssen wir diesen
unterschied einmal auf die Sleuerfunction des Pleon schieben, das in
Folge davon beweglicher sein nmsste, dann aber haben wir vor Allem
eine Bildung dafür verantwortlich zu machen , welche uns ein grosses
Interesse einzuflössen geeignet ist: die Bildung des Zoeaschildes
oderZoeapanzers.
Um dieses Organ recht zu verstehen , müssen wir auf die innere
Organisation der Zoöa und zurückgreifend auch auf die des Nauplius
eingehen.
Ausser einer Musculatur, einem Darm, und den ersten Spuren
eines oberen Schlundganglions treffen wir im Nauplius auf keinerlei
geformte Organsysteme. Weder besteht eine Vorrichtung für die Re-
spiration noch für die Circulation. Die Körperwandung des kleinen Ge-
schöpfes setzt aber dem Verkehr der Leibesflüssigkeit und des aussen
imigebenden Wassers kein Hinderniss behufs Austauschen von Gasen
entgegen, — so lange die Wandung ein gewisses Maass von Dicke und
Ablagerung krystallisirter Substanzen nicht überschritt. Eignen Ge-
fässen und contraclilen Platten zur Bewegung cler I.eibesflüssigkeit
konnte aber so lange entsagt worden , als die Bewegungen des Darm-
i-anals ausreichend waren diese Flüssigkeit hin und her zu schieben.
Das mussle sich aber in demselben Augenblicke ändern , in dem
härtere Wandungen auftraten. Wir haben nun gesehen, dass die Vei-
mehrung der (^dieduiaassen eine Vergrösserung der Musculatur, diese
ficsdiichle des KrcbsstiiinniPS. 113
cino pnrlielle Erliiirluns; <I(m- Wjinduni: zur Folge halle; so war d;« mit
also auch das Signal zur Bildung localisirlerer Athniung gegeben , die
an den erhärteten Stellen nicht mehr stattfinden konnte; und um das
Blut in Beriihi'ung mit diesen localisirten Alhmungsnächen zu bringen,
mussle ein blutbewegender Apparat geschatten werden , musste ein
Merz entwickelt werden.
Wann in der Entwickelungsreihe dc^r Crustaceen dieses Organ zu-
erst aufgetreten ist, wird sich schwerlich mehr feststellen* lassen ; es
scheint aber nicht unwahrscheinlich, dass es dem N au plius gefehlt
habe, nicht bereits seinen eignen Vorfahren zugekommen sei ; dagegen
sprechen unter Anderm auch vornehmlich die Pycnogoniden. Die
Gründe , welche bei so kleinen Geschöpfen ein Herz entbehrlich er-
scheinen lassen sind vortrefflich auseinandergesetzt von Lkuckart *) ;
die Scheidung zwischen Blutflüssigkeit und Parenchymflüssigkeit ist
eben noch so gering, dass man überhaupt zweifeln kann, ob es im
Nauplius schon zu einer solchen gekommen sei, um so mehr, als er,
wie auch jetzt noch als Larvenform der Copepoden , wohl der Blut-
körperchen entbehrt hat. Der endosmotische Verkehr der Flüssigkeiten
in der Leibeshöhle ersetzt noch vollständig eine weitere und spätere
Differenzirung in Blut, Chylus, Lymphe etc., und die lebhaften Muskel-
bewegungen der Schwimmgliedmaassen sorgten für die Ortsbewegung
der Flüssigkeit behufs ihrer Respiration durch die Körperwandung.
Erst mit der Vergrösserung und wesentlich mit der Verlängerung
des Körpers traten andere Bedingungen ein. Indem die Ungleichheit
der einzelnen Körperabschnitte zunahm, musste auch eine Ungleichheit
in der Bewegung der Körperflüssigkeit stattfinden. Es war grössere
Gefahr vorhanden, dass einige entlegenere Abschnitte nicht hinreichend
ernährt wurden. Da wurden nun wohl zuerst schw ingende Membranen
geschaffen, welche aus eignem Vermögen , unabhängig von den Con-
Iractionen der Darm Wandungen, eine Bewegung der ernährenden Flüssig-
keit herstellten. Wir haben leider keinen Anhalt mehr, — wenigstens
ist er bis jetzt nicht gefunden, oder nicht verstanden w orden — zu ver-
mulhen, woher diese Membranen stammten, — vielleicht waren es an-
fänglich nur discrele Stücke eines Muskels , die einen bestimmten
Rhythmus der Contraction annahmen ; es wird das schwer festzustellen
sein. War aber einmal ein Centralorgan für die Bewegung der Er-
nährungsflüssigkeit geschaffen, so war damit auch die Möglichkeit ge-
geben , grössere Partien der Leibeswand für die Insertion der Muskeln
11 Anatomisch -physiologische Uebersicht des Thierreiches von Bergmann und
Leuckart. pag. 168.
Bd. VI. 1. 8
114 Dr. Aiit. Doliin,
»
erhärten zu lassen und die Respiration auf besonders dünnhäutige Ab-
schnitte zu localisiren. Wir erkennen dabei , wie abhängig der Fort-
schritt eines Organsystems immer von dem andern ist, und finden
Darwin's Maxime von den Wechselbeziehungen des Wachsthums im
grössten Maassstabe überall wieder.
Lassen wir nun also das Herz als einen einfachen musculösen Sack
entstanden sein, so wird er durch seine Pump-Actionen im Stande sein
das Blut weiter , rascher und wirksamer durch den Körper zu treiben,
als die Darmbewegungen oder die zufälligen , wenigstens unregel-
mässigen Contractionen der Extremitäten - Muskeln. Seine-Lage wird
am zweckmässigsten da sein, wo es mit gleicher Kraft nach allen Seiten
wirken kann. Wir werden aber gleich sehen, welche speciellen Rück-
sichten auch noch bei der Bestimmung der Lage obwalten.
Ich komme nun zur Frage nach den ersten Anfängen der Panzer-
bildung. Dieselben fallen zusammen mit der Entstehung der Ar chi-
zoöa. Als der am Ende des Naupliusleibes entstandene Ab-
dominalfortsatz sich mit einem Gelenk selbstständig gegen den Leib
bew egen konnte , war auch der Anfang zum Panzer gegeben. Es ist
uns dieser Process gleichfalls noch in der Ontogenese erhalten und zwar
in der Entwickelung des Peneus. Fritz Mijller i) sagt : »Als erste An-
deutung des Rückenschildes zieht sich ziemlich in der Mitte des Körpers
( — scilicet des Nauplius) eine Hautfalte quer über den Rücken.«
Einer solchen Faltenbildung dankt auch phyletisch betrachtet der
Krebsstamm jenes charakteristische Schild. Diese Falte bildete sich
allmählich so weit aus, dass sie, — anfänglich eine quere Verbreiterung des
Vorderleibes, — allmählich sich an den Seiten herabbog und die eigent-
liche Seitenwand des Körpers noch einmal von aussen überdeckte. Am
Hinterrande ging diese Falte dann bis an den oberen Fortsatz des
Archizoea- Leibes, und so wurde aus diesem der Rückenstachel
der Zoöa.
Dass aber diese Panzerbildung so werthvoU , ja fast unentbehrlich
für die Organisation der Nauplius-Nachkommen geworden ist, das
hat seinen Grund in der hier zuerst auftretenden Localisirung der Ath-
mung. Indem die Falten von keinerlei Muskelbildung in Anspruch ge-
nommen wurden, konnten sie eine grosse Zartheit der Wandungen be-
wahren und sich dadurch ganz besonders für die Athmungsfunction
werthvoll erweisen. W^ar aber einmal eine solche Localisation dieser
hervorragend wichtigen Function gewonnen , so konnte der Körper eine
ganz andere und mannichfaltigere Leistungsfähigkeit gewinnen, die be-
-1) Die Verwandlung der Garneelen. Arch. f. Naturg. -1863. pag. -10.
Geschichte des Krobsstainmes. 1 1 5
sonders (üne Rückkehr zu den allen Athmungsverhältnissen sehr er-
schwerte. AMe die niannichfalligen Geslailungen, die dei- Cruslaceen-
staiinn in der heuliij;en Welt aufweist, sind im engern Sinne erst er-
möglicht worden durch die Localisirung der Respiration, im weitern
Sinne natürlich durch die Gesammtheit der ihnen voraufgehenden
Zustände.
Es kam aber noch als Unterstützung für die Beibehaltung des
Panzerschildes der Grund hinzu , dass seine Anwesenheil zugleich ein
Schulz für die anderen Körperlheile war. Indem er die Basis dei- Beine
und d'w Mundlheile von der Seile her umschloss , ward es ül)ernüssig
für diese Theile, sich selbst durch allerhand Zacken und Dornen zu
schützen: das ward für jedes Einzelne im Ganzen von dem Schilde
geleistet, der sich demgemäss in allerhand Zacken-, Stachel- und Zahn-
bildung einliess. So entwickelten sich besonders der bereits erwähnte
Rückenstachel , ein gleichfalls sehr langer Stirnstachel und zwei seil-
liche Stacheln , die für die Zoea , sozusagen, typisch wurden. Man
könnte Letzteres mit dem Hinweis auf so und so viele Zoea formen,
welche uns in der ontogenetischen Entwickelung der Mala cos tra ken
aufbewahrt sind, und keinen Stachel tragen, bezweifeln, und besonders
den Rückenstachel nicht als ein altes Ueberbleibsel so uralter Zustände,
wie die Archizoea sie repräsentirt, gellen lassen; allein ich habe
durch speciell auf diesen Punkt gerichtete Untersuchungen die Ueber-
zeugung gewonnen , dass diese Stachel in der Thal ursprünglich allen
Zoea formen zukamen, und nur allmählich in den verschiedenen onto-
genetischen Entwickelungsreihen unterdrückt W'Orden sind ^).
So war also durch den Panzer eine doppelle und äusserst wichtige
Erhöhung der Organisation geliefert. Es ist begreiflich und aus den
Principien der Natürlichen Züchtung von vorn herein verständlich, dass
nach beiden Seilen hin der Panzer eine Fortenw ickelung erfuhr. Fassen
wir zuerst seine Bedeutung als Schutzapparal ins Auge.
Je mehr Körperlheile der Panzer umhüllte , um so besser schützte
er das Thier. So konnte er sich also nach allen Seiten ausbreiten und
um den Körper herumwachsen. Damit wäre nun freilich eine andere
nolhwendige Function stark beeinträchtigt worden : dieSchwimmlhätig-
keil. Es ergab sich also bei dem Compromiss beider Bestrebungen eine
Bildung des Panzers , welche wir noch heute an der eigentlichen Zoöa
am besten verwirklicht sehen. Das Ueberhängen des Schildes an den
i) Vergl. meinen Aufsatz: Die Ueberreste des Zocastadiums in der ontogene-
tischen Entwickelung verschiedener Crustaceen- Familien. Jenaische Zeitschr. f.
Med. u. Naturw. V. pag. 47<.
8*
116 Dr. Aiit. Dohni,
Seiten des Körpers und nach hinten über die Einlenkung des Pleon.
Ein solches Ueberhängen vertrug sich vollständig mit einer raschen
Ortsbewegung : es liess den Schwiinmbeinen des Pleon vollkommene
Freiheit und auch die Extremitäten des Vorderleibes waren ungehindert
in ihren verschiedenen Thätigkeiten. In der Ruhe ward ausserdem das
Pleon unter den Vorderleib geschlagen und genoss so gleichfalls den
Schutz des überhängenden Panzers.
War aber einmal ein starker Wettbewerb innerhalb der schwim-
menden Naupliogenen vorhanden, so musste nothwendig ein Theil der-
selben in Gefahr kommen zu Grunde zu gehen. Das wird auch höchst
wahrscheinlich in reichem Maasse vorgekommen sein. Aber von dieser
zum Untergang bestimmten Zahl der schlechten Schwimmer konnte
doch noch mit Erfolg eine andere Laufbahn und infolge davon eine an-
dere Ausbildung ihres Körpers eingeschlagen werden. Es konnte, weil
doch im Schwinmien kein Erfolg zu erringen war, mit der Abnahme
der Schwimmfähigkeit die Grösse des schützenden Panzers zunehmen :
und, statt ihren Feinden durch ihre Geschwindigkeit zu entgehen,
konnten diese Krebschen die Panzerhälflcn zu vollkommen fest schliessen-
den Schalen ausbilden und sich darin vor Nachstellung und Verfolgung
sichern. Gaben sie aber so das Schwimmen auf, so zogen sie sich auch
von der Oberfläche des Wassers und aus dem freien Meere zurück und
suchten den Grund des Meeres auf, um dort ihre Nahrung zu finden.
Dort glichen sie nun in ihren geschlossenen Schalen eher kleinen Stein-
chen als lebendigen Gescliöpfen und konnten so ihren Feinden entgehen.
War aber einmal dem grossen Schilde ein wesentlicher Nutzen abge-
wonnen , so halte auch die Natürliche Züchtung ein neues Thema zu
variiren. Zuerst musste dem Schilde eine grössere Beweglichkeit ver-
liehen werden: statt es in einem zusammenhängenden Stück zu lassen,
trachtete sie danach, es in zwei zu Lheilen, und diese Stücke gegen ein-
ander beweglich zu machen. Dass dies positiv geschehen ist, lehrt uns
unter Anderem die Embryologie und Metamorphose vonLimnetis,
lehrt uns die Metamorphose der Cirripedien, bei denen auf das
Naupliusstadium ein Stadium folgt, in dem der Körper des Thieres von
zwei Schalenhälflen eingeschlossen ist. Der Vortheil der beweglichen
Schale liegt auf der Hand. Die Ortsbevvegung konnte natürlich nicht
gänzlich ein Ende nehmen; die Thiere mussten nach wie vor schwim-
men und kriechen : indem sie also ihre Schalen aufsperrten , konnten
sie kriechen und schwinunen. Da ferner das Schwimmen und die
Schwimmfähigkeit nicht mehr die Hauptobacht für das Wirken der
Natürlichen Züchtung war, sondern ein vollständiger Schutz durch die
Schale, so konnte auch eine wesentliche Veränderung des allgemeinen
ncscliiflito dps Krobsstiiinmrs. 117
Bhucs oinlrolcn , iii(l<Mii sich dci- Köi'ptM- viMküiztc. Das l'oslabdoiiicii
odor Plcon verlor ja seine vvesenllichsle Function, war also bei Weitem
nicht mehr so wichtig; was ihm übrig blieb an Leistungen, vertrug
sich iccht gul mit einer verktlrzten und gekrümmten Gestalt, die dann
ohne Weiteres mit in die verhülh^nde Schale eingeschlossen wurde.
Kbenso mussten {iich auch die Beine und die anderen Extremitäten
verkürzen , ja selbst die Zahl der Körpersegmente musste abnehmen,
um (Muen möglichst zusammengedrängten Körper herzustellen , der von
der Schale umhüllt ward. So erklärt sich die verhällnissmässig sehr
kurze und sehr flache Gestalt der Beine aller Phyl lopoden; durch
die Kürze machten sie es möglich, dass die Schale sie ganz umhüllte,
(lurch die Flachheit, dass trotz des gedrungeneren Segmentbaues doch
eine grosse Zahl von Anhängen sich entwickeln konnte. Die Glado-
ceren und Ostracoden erreichten wirksamen Schutz ihres Körpers,
indem sie Segmente und Anhänge verloren , die Gliederung des Pleon
fast vollständig einbüssten und die vorderen Extremitäten wieder zum
Schwimmen mit benutzton , nachdem sie bei Zoea schon zum Tragen
von last- und Sinneswerkzeugen benutzt waren.
Die zweite noch wichtigere Function des Panzers betrifft seine Be-
ziehungen zui' Hespiration. Im Nauplius respirirt wahrscheinlich die
ganze Körperoberfläche. Mit Sicheiheit können wir das freilich nicht
behaupten, aber wahrscheinlich ist es, weil wir keinen speciellen Sitz
der Athmung entdecken können. Die Duplicatur der Körperwand,
w^elche durch die Bildung des Panzerschildes hergestellt wird, giebt
nun die vortrefl"lichste Gelegenheit zur Localisation der Athmung. Die
nach beiden Seiten überragenden, vom Wasser umspülten freien Seiten-
Iheile des Schildes waren die geeignetsten Stellen , um den Gasaus-
lausch der Blutkörperchen zu vermitteln. Es könnte freilich scheinen,
als wenn es für die Thierchen hätte vortheilhafter sein müssen, mittelst
der ganzen Körperoberfläche zu respiriren, als dafür einen eignen Organ-
apparat zu construiren. Allein wenn die ganze llautoberfläche zur Be-
spiralion hätte dienen müssen, so wäre es nöthig gewesen, dass sie auch
in entsprechender Dünne und Zartheit forlbestanden hätte. Das wäre
aber keinenfalls besser gewesen, — der Erfolg lehrt, dass fast alle
Crustaceen localisirte Athmungsorgane besitzen , dass also die Ueber-
legenheil auf Seilen dieser Organisation gelegen haben nuiss. Es ist
klar, dass, sobald eine Localisation der Athnmng hergestellt war, die
Körperwandung an allen Stellen, ausgenommen diese eine, so hart
werden konnte, als möglich, — die Bespiration ging ruhig fort. Das
war ein grosser Fortschritt. Dass aber diese Localisation im Panzer-
schilde stattfand, — (Ins erklärt sich wohl genügend aus der Nachbar-
118 Dr. Ant. Dohrn,
Schaft dos Herzens , in welches das nun mit Sauerstoff vorsorgte Blut
sofort wieder eintrat und von Neuem in die verschiedenen Körpertheile
hineingepumpt wurde. Wir sehen, dass später bei den Macruren
und Brachyuren die Nachbarschaft des Herzens bei der Verlegung
der Respiration in eigene Kiemenanhange der Beine festgehalten wird
und dass selbst da, wo scheinbar eine völlige Aenderung eintritt, bei
den Isopoden, deren Athmungsorgane am Pleon sitzen, doch dies
Princip bewahrt wird, denn das Herz verlängert sich zu einem Schlauche,
dessen hinteres Ende bis in das Pleon hineinreicht. Diese Thatsachen
berühre ich hier nur kurz, um das Princip zu bewahrheiten; ich werde
später ausführlich darauf zurückkommen. Ein zweiter Grund, das
Panzerschild zur Athmung zu wählen ist ferner der, dass in ihm durch
die Faltenbildung eine hinreichend grosse Fläche geboten war, an der
der Gasaustausch stattfinden konnte. Denken wir, dass irgend eine an-
dere Körperstelle dazu gewählt worden wäre, so müssten wir doch
einen viel grösseren Bezirk der Oberfläche nehmen , um die Fläche zu
gewinnen , welche hier durch die Faltenbildung geboten ist ; denn so-
wohl die innere Wand des überhängenden Panzers, als die äussere von
ihm bedeckte Körperwand sind zu respiratorischen Flächen entwickelt.
Und jede andere , nicht bedeckte Fläche würde den gefährlichsten Be-
rührungen ausgesetzt sein.
So sehen wir also eine der typisch wichtigsten Bildungen des
Krusterstammes frühzeitig auftreten und werden sie von da an , mit
ganz geringen Ausnahmen , durch alle kommenden Generationen hin-
durch in inmier grösserer, Vollkommenheit verfolgen können.
Neben der noch sehr einfachen Circulation und Respiration dürfen
wir nicht erwarten, eine complicirto Anordnung der Verdauungsorgane
zu finden. Wir wissen zwar durchaus nicht genau, wie diese beschatfen
gewesen sein mögen, als Zo^a der höchst entwickelte Repräsentant der
Crustaceon war, aber dass sie aus wesentlich mehr bestanden hätten,
als aus einem Canale mit zwei seitlichen sackförmigen Ausstülpungen,
den sog. Lebern, ist nicht anzunehmen.
Schwieriger ist es, sich eine Vorstellung von den Generations-
organen der Zoea zu machen. Am wahrscheinlichsten bleibt es aber
wohl, anzunehmen, dass Zoea, wie die Cop ep öden , die Eiersäcke
herumgetragen habe und durch Spermatophoren befruchtet worden sei.
Diese Organisation der Geschlechtsorgane finden wir wenigstens bei
mehreren morphologisch weit von einander getrennten Krebsfamilien
noch heule bestehen und dürfen annehmen , dass sie hier durch Ver-
erbung existiren.
Geschicilte des Krebsstammes. 119
4. Die Lücke zwischen Zoea und den Phyllopoden.
Diese Lücke ist leider sehr bedeutend und die Embryologie lässt
uns im Stich bei der Ausfüllung derselben. Wir haben nur durch die
Decapoden überhaupt Kenntniss von der Zoea, — aber der Weg,
den die Zoea in der Weiter -Entwickelung zu Krabbon und Maciuren
nimmt, durch die verschiedenen Megalops, Phyllosoma, Aliraa-
Gestaiton ist sicher wesentlich von dem verschieden , welchen sie zu
den Phyllopoden genommen hat. Und doch scheint es mir keinen
Augenblick zweifelhaft, dass sich die Decapoden , Stomatopoden,
Ed i"i ophtha Imen ebenso gut wie die Gladoceren, Ostracoden,
Copepoden und Cirripeden aus Phyllopoden hervorgebildet
haben. Die Gründe für diese Annahme sind die folgenden.
1 ) Die Palaeontologie zeigt uns ein starkes Ueberwiegen der Phyllo-
poden in den palaeozoischen Formationen. In den ältesten, versteine-
rungführenden Schichten sind überhaupt keine anderen Crustaceen ge-
funden worden.
2) Die Phyllopoden existiren nur noch als weit von einander ge-
trennte, an Gattungen und Arten arme Familien, die darauf hindeuten,
dass ehemals die Klüfte zwischen ihnen ausgefüllt waren, dass aber die
Zwischenglieder zu Grunde gegangen sind. Nebalia, Apus, Lim-
nadia, Branchipus etc. sind unter einander noch verschiedener,
als Homarus, Platycarcinus und Cuma, — wären aber diese
allein übrig geblieben von allen Podophthalmen, so würden wir
auf die ganze Masse von Brach yuren, Macruren, Anomuren,
Stomatopoden etc. Schlüsse ziehen müssen. Und man kann nicht
bezweifeln, dass heutzutage im Meere die Podophthalmen herr-
schen, — ebenso wird es also gewesen sein, als noch alle die Mittelglieder
lebten, welche jene einzelnen Phyllopoden-Abtheilungen zu einem
Ganzen verbanden. Als aber die Phyllopoden herrschten, konnten
keine Podophthalmen herrschen, — diese kamen also erst nachher
und verdrängten jene aus ihren Stellungen im Naturhaushalt.
■i] In der ganzen Organisation verrathen die Phyllopoden eine
grössere Ursprünglichkeit im Vergleich zu den übrigen Cruslaceen-
Ablheilungen. Man kann sich leicht vorstellen, wie aus den Phyllo-
poden die übrigen Krebse, aberschwer, wie etwa aus Podoph-
thalmen, oder Cirripeden sich Phyllopoden sollten ent-
wickelt haben.
4) Die Lebensweise der Phyllopoden deutet gleichfalls darauf
hin, dass sie auf dem Rückzuge sind. Ihr sporadisches Vorkommen
und ihre Zurückgezogenheit in kleineren Salzwässern beweisen, dass
1 20 Dr. Ant. Dohrn,
sie den activen Wettbewerb mit ihren Concurrenten nicht ni(>hr aus-
halten können, und im Aussterben begriffen sind.
Man könnte gegen diese Schlüsse einwenden : wii- haben doch in
den Copepoden z. B. Krebse, welche ihre Abkunft vom Nauplius
uns noch ganz unverfälscht darlegen ; die Metamorphosen sind ohne
Sprung, vom Nauplius geht es ganz allmählich über zumCyclops, —
wozu annehmen , dass in der phyletischen Entwickelung Stadien ge-
wesen, die bis auf die letzte Spur vertilgt sind, die ganz andere Organi-
sationen boten, als heut in ihren Nachkommen zu finden sind, wenn
wir uns nur eine strahlige Entwickelung des Nauplius vorzustellen
haben, um die heutigen Krebsabtheilungen zu verstehen?
Dagegen wäre zu sagen , dass wir die heutigen Krebsabthoilungen
bisher vielleicht nicht recht verstanden haben, dass wir sie aber, wie ich
zu zeigen hoff"e , besser verstehen werden , wenn wir sie alle ohne Aus-
nahme aus Phyllopoden hervorgehen lassen. Ferner beweist diecon-
tinuirliche Umwandlung des Nauplius in den Cyclops nichts gegen
dies vorausgesetzte Verschwinden des Phyllopoden-Stadiums in der
ontogenetischen Entwickelung; — continuirlich ist jede Entwickelung
eines Individuums. Auch ist keine Spur eines Zoea- Stadiums in der
Copepoden -Familie mehr erhalten, — dennoch scheinen mir die
parasitischen Formen zu beweisen, dass es nichts destoweniger vorhan-
den war 1). Ebenso würden wir vom Nauplius der Malacostraken
nichts wissen, wenn nicht Peneus ihn noch entwickelte. Die weiteren
Gründe wird die spätere Darstellung zur Genüge beibringen.
Der Fortschritt von der Zoea zu den Phyllopoden besteht auf
der einen Seite wesentlich in der Vergrösserung des Körperbaues.
Diese Vergrösserung hätte nun auf zweierlei Weise geschehen können.
Wenn die Zoea alle ihre einzelnen Theile stark hätte zunehmen lassen,
wenn also sowohl die einzelnen Segmente, als die Extremitäten ebenso
wie der Panzer sich nach allen Richtungen ausgedehnt hätten, so würden
auch Geschöpfe entstanden sein, welche als Individuen den kleineren
Zoeas zweifellos überlegen gewesen wären und sie im Einzelkampfe
zerstört hätten. Und wie die heutigen Zoeagestalten in der Grösse von
1—15 Millimeter noch auftreten, so mögen noch beträchtlichere Unter-
schiede zu ihrer Blüthezeit vor langen längst verschwundenen geo-
logischen Perioden gehabt haben , aus denen uns keine Spuren mehr
aufbewahrt sind. Lebt doch heute neben den kleinen Carcinus,
1) Vergl. den oben citirten Aiifsatz über die Reste des Zoeastadiums etc.
pag. 483.
Geschichte des Krebsslammes. 1 '2 1
Pni'tinuis (»Ic. (lor riesige Inachus Kaenipferi, und dvr Oovon
hrwnhrt uns die Reste von 7 Fuss langen Plcrygolus auC. So niöij;(Mi
also auch recht grosse Zoea exislirl haben.
Ihnen ahef war der Sieg und die schliessliche Fortenlvvickc^lung
des Ktebsslanimes nicht vorbehalten, ebenso wenig wie den l'tery-
goten oder wie heutzutage dem Inachus Kaempleri. Die Ver-
änderungen ini Bau des Körpers zusammen mit einer daraus resultiren-
den Grössenzunahnie bewirkten, was diese letztere allein nicht leisten
konnte. In diesen Veränderungen nahm offenbar den ersten Platz ein :
die allmähliche Zunahme der Segmente oder Metameren. Wie sie zu
Stande gekommen, das kann man nicht erkennen, — ob sie duich
innere Sprossungen oder wiederum nui' durch Muskelactionen zu Stande
gekommen, das ist zweifelhaft. Jedenfalls aber nahm die Zahl der ge-
sondert beweglichen Körperabschnitte beträchtlich zu.
Mit der Zunahme der Segmente und Vergrösserung des Körpers
im Allgemeinen musste aber nothwendig auch die Zahl der Extremitäten
wachsen. Vor allen Dingen reichten die Schwimmbeine des Mitteileibes
nicht mehr aus, das wesentlich verlängerte Pleon mit zu bewegen. Je
schwerer dasselbe wurde und je weiter es sich mit einem Endpunkte
von den bewegenden Theilen entfernte, um so schwerfälliger und unge-
schickter mussten die Bewegungen werden. Das wäre natürlich nicht
tuu" kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt gewesen. Wo also Zoeen
auftraten mit mehr als den übHchen Extremitäten, da waren sie sicher
imVortheil, sie vermochten rascher zu schwimmen und waren kräftiger
als ihre Genossen. So wuchsen also die Segmentzahl und die Extre-
mitätenzahl zusammen.
Uns ist dieser Vorgang vielleicht aufbewahrt worden in der onto-
genetischen Entwickelung vieler Krebse, bei denen zuerst die Na u-
plius-Gliedmaassen hervorsprossen, dann die Zoea- Extremitäten,
und erst viel später die Gliedmaassen des Pleon, ungefähr zu gleicher
Zeit mit denen des Pereion, obwohl dies bei den verschiedenen Galtun-
gen und Arten schwankt.
Es ist wiederum nicht festzustellen , ob diese Extremitäten gleich
als solche nach irgend welchen uns noch verborgenen Verei'bungsge-
setzen angelegt werden konnten, oder ob jede einzelne sich langsam
aus einem Höcker, einem Schwimmhaar oder irgend welcher zufälligen
Ausstülpung entwickelte. Dass sie aber gleichfalls wie die früheren
an der Bauchseite, nicht etwa am Rücken entwickelt wurden, das be-
greift sich, wenn man die mechanischen Bedingungen erwägt, untei'
denen die Bewegung eines cylinderartigen Körpers mit möglichst ge-
122 Dr. Ant. Dohni,
ringor Muskelkraft zu Stande kommt ^). Zugleich mit ihrer Zunahme an
Zahl konnten sie aber auch ihre Gestalt noch wesentlich verändern,
indem sie die Walzengestalt aufgaben und sich abplatteten. Die Gründe,
welche hierzu führten, wird der nächste Abschnitt entwickeln.
5. Die Phyllopoden.
(Fig. 18—20.)
Obwohl ich nur Weniges über die Lücke bemerkt habe , die zwi-
schen Zoea und den Phyllopoden zu denken ist, muss man sie
doch für sehr beträchtlich halten. Die palaeontologischen Untersuchun-
gen erlauben uns aber nicht, sie zu ergänzen, — und leider ist die
Embryologie noch nicht im Stande gewesen , etwas Wesentliches zur
Aushilfe beizubringen. Sicherlich werden wir über diese Lücke noch
Nachrichten erhalten : es lebt noch ein Krebs, dessen Entwickelungsge-
schichte gerade für die Kenntniss dieser Zeit von grösster Bedeutung sein
wird : der L i m u 1 u s. Aber noch besitzen wir seine Embryologie nicht.
Nehmen wir aber als Zielpunkt der Entwickelung des Crustaceen-
Stammes für die Zeit vor dem Silur die Phyllopoden -Gestalt, so
werden wir dadurch, dass wir diese Gestalt in ihren verschiedenen Ver-
änderungen, Rück- und Fortbildungen an den heut lebenden Phyllo-
poden untersuchen, einen, wenn auch sehr unvollständigen, Begriff
von der morphologischen Bewegung der vorhergehenden Generationen
gewinnen können.
Bei den Phyllopoden finden wir vor allen Dingen die eine her-
vorragend wichtige Function bereits dahin entwickelt, dass wir den
Forlschritt, den die weitere Entwickelung aus ihnen heraus nehmen
musste , vorher berechnen könnten , läge sie auch nicht vor. Es ist die
Respirationsweise.
Wir sahen schon, dass die Faltenbildung beim Nauplius be-
sonders darum conservirt und vervollkommnet ward, weil die Athmung
sich sehr bald hier hin wandte , in dem Panzer eine Localisation ge-
wann. Dies ist nun im höchsten Maasse der Fall bei den Phyllo-
poden.
Blicken wir auf die Athmungsorgane desApus. Das mächtigste
und wichtigste derselben ist der Panzer, — so wichtig zwar, dass der
sorgfältigste Monograph des Thieres, Zaddach, denselben überhaupt nur
als Kieme betrachtet'-^) . Aber wir haben hier sofort eine in der Zwischen-
1) Vergl. Bergmann u. Leuckart, Anat. physiol. Uebers. d. Thierreichs. pag. 396.
2) Zaddach, De Apodis cancriformis anatome et historia övolutionis. pag. 1 1 .
fiescliiclite des Krebsstamines. 1 23
znit zwischen Zoga und den Phyllopoden erworbene Ausbilduni: zu
bemerken. Je umschriebener der Ort für den Gasaustauseh des lUules
wird, d. h. je weniger derselbe an allen Stellen dei- Körp('rol)cr(läche
stattfinden kann , um so nolhwendiger wird es, dafür zu sorgen , tiass
die Blutkörperchen an der einen Stelle, an der nun dieser Austausch
wirklich vor sich geht, hinreichend lange sich verweilen. So sind also
alle diejenigen Formen in) Vortheil gewesen, welche eine Einrichtung
besasson, die den Blutkörperchen diese Verlangsamung ihrer Bewegung
in der Kieme ermöglichte. Wir werden diese Einrichtung im weiteren
Verlaufe bei allen Cruslaceen wieder finden , freilich in verschiedener
Durchführung. Das Wesen derselben besteht in der H<Mslellung eines
Gillerwerks zwischen den beiden respirirenden Flächen des Fanzcrs, —
oder der anderen Kiemen-Organe, wo solche vorhanden. Dadurch wird
der rasche Lauf der Blutmasse aufgehalten , die Blutkörperchen stossen
sich hier und da an den Gitterstiiben . ihre Bewegung vermindert sich,
die Kohlensäure tauscht den Platz mit dem Sauerstoff und am Ende der
Reise durch das Gitter, geht die ganze Blutmasse wieder in starker
Strönmng , durch die Diastole des Herzens herbeigezogen , in das Herz
zurück.
Das System der Panzer- Athmung sollte aber noch eine andere
Vervollkommnung gewinnen. So lange die Phyllopoden damaliger
Zeit hervorragende Schwimmer blieben , befanden sie sich durch ihre
Bewegungen immer in einem durchaus frischen , respirablen Medium.
Ihr Gasaustausch ging immer gut und ungehindert von Statten , denn
ein fortdauernder Strom lief die Seiten des Panzers entlang. Als sie
aber anfingen, ihre Existenz zu verändern, als so und so viele auf dem
Meeresgrunde und an den Küsten zu leben unternahmen, tauschten sie
das Kriechen und Gehen für das Schwimmen ein. Nun fehlte der rasche
Strom an den Panzerwänden. Er nmsste aber noth wendig ersetzt
werden. Dazu war leicht Rath geschafft. Die Bewegung der Schwimm-
füsse selbst reichte vollständig aus, eine stetige Erneuerung des Wassers
unterhalb des Körpers zu bewirken , und da das Panzerschild ja dies(;
Extremitäten selbst zum Theil einschloss, so ward durch ihre Bewegung
das Wasser sogar zwischen Schild und Körper erneut.
Der letztere Umstand war von besonderer Wichtigkeit; von ihm
aus datirt eine neue, bedeutende Steigerung der Organisationsmannich-
faltigkeit im Crustaceenstamme. War dafür gesorgt, dass zwischen
Körper und Schale resp. Panzer fortdauernd ein respirables Medium
sich befand, d. h. ward dort stets das Wasser erneut, sobald es seinen
Gehalt an Sauerstoff eingebüsst hatte , so konnte die Localisation der
Athmung weitere Forlschritte machen, und ein weiterer Theil der Kör-
124 nr. Ant. Dnliin,
peroberfliiche ward für andere Leislungen frei. Dieser Theil war dir
äussere Oberfläche des Panzers. So lange er noch, wenn auch in be-
schränkter Weise, als Athmungsorgan zu fungiren hatte, durfte eine
gewisse Dicke und Consistenz seiner Wandungen nicht überschritten
werden : war er aber von diesem Zwange gänzHch befreit , so konnte
die Aussenwand so dick und fest werden, wie sie immer wollte, — die
Respiration war ungehindert, das Leben des Thieres gesichert, und die
Festigkeit und Härte des Panzers machte es fähig , ganz neue Existenz-
bedingungen aufzusuchen.
So spalten sich hier die P h y 1 1 o p o d e n in zwei grosse Zweige :
der eine bleibt schwimmend Beherrscher des freien Meeres, der andere
sucht das Ufer auf und den Meeresgrund. Beide Zweige waren be-
stimmt uns eine reiche und sehr veränderte Nachkomriienschaft zu ent-
wickeln , die freilich ihren Vorfahren selbst und den ihnen gleich ge-
bliebenen Nachkommen verderblich werden sollte.
Durch die neue Function der Extremitäten ward ihre blattförmige
Gestalt von besonderer Wichtigkeit. Nicht nur die Raschheit der
Schwimmbewegungen, auch die Ausgiebigkeit der Respiration be-
günstigten sie. Nun hätte zwar die erstere Function auch fortdauernd
mittelst der walzenförmigen Nauplius- Extremitäten und ihren langen
Schwimmhaaren versehen werden können , aber da durch das Ueber-
wachsen des Schildes der Innenraum zwischen Schild und Körper, in
dem die Extremitäten behufs der Wassererneuerung bewegt werden
sollten, nur begrenzten Spielraum gewährte, so mussten die langen
Schwimmhaare schwinden, und nun die Walzenform sich abplatten und
in die Blattform übergehen. Lag also auf ihnen eine grosse Verantwort-
lichkeit, so mussten sie sich auch wesenthch vervollkommnen, und
durch ihre Verbesserung die ganze Organisation steigern.
Das Mittel dazu lag wieder sehr nahe. Wenn sie schon einmal ihre
Extremitäten zur Beförderung der Athmung in Bewegung setzten , so
konnten diese zu gleicher Zeit als Athmungsorgane direct mitwirken.
Das Blut, das in ihnen zu ihrer Ernährung cursirte, konnte innerhalb
ihrer Wände sich so lange aufhalten, dass ein Gasaustausch bewirkt
wurde, und die Wände konnten so zart gemacht werden, dass sie höchst
effective Respirationsorgane wurden. Die Zartheit war um so eher her-
zustellen , als sie ja so wie so durch den überhängenden Panzer ge-
schützt waren.
So wurde der erste Schritt gethan auf dem Wege, die Athmung
völlig aus dem Panzer , resp. der Schale zu entfernen , — ein Schritt
der wiederum von durchgreifendstem Einfluss auf die Organisation und
die äussere Gestaltung der Krebse werden musste. Dadurch nahm vor
Gcsiliiditp (los Krebsstammes. 1 25
Allem die Wichtigkeit der KMremitiilen sehr bedeutend zu. AnfüMg-
hch waren sie nur Schwininiorgane. Dann wurden sie Hilfsorgane für
die Alhinung, da sie das Wasser erneuerten, .letzt werden sie sehen
Athnmngsorgane neben dein respiriienden Panzer.
Für ihre äussere Gestallung war dies sehr folgenreich, denn die
anfangliche Yergrösserung und Abgellachlheit nahm inmier niehi- zu ;
die Platten - und Lappenbildung ward sehr complicirt. Uer Gewinn
würde aber wieder nur halb gewesen sein . wenn die Extremitäten
nicht befähigt worden wären, das Princip der Arbeitstheilung auch mit
dieser letzten Function durchzuführen. Wären sie alle Athinungsorgane
geworden , — W'omit hätten denn die Phyllopoden kriechen oder gehen
sollen? Also war es wieder am zweckmässigsten , wenn ein Theil dei"
Extremitäten, oder auch ein Theil jeder einzelnen Extremität zur Orts-
bewegung verwendbar bliel), — und so kam schliesslich die höchst
complicirte Gestalt der Extremitäten heraus, die wir an unseren heutigen
IMiyllopoden beobachten, die aber gewiss schon sehr viel älter ist,
und wohl mit Recht jenen weit entlegenen Vorfahren zugeschrieben
werden kann, deren letzte, ihnen ähnliche Nachkommen noch auf uns
gekommen sind.
Das wichtigste Merkmal dieser Extremitätenbildung ist die Theilung
in drei functionell mehr oder weniger scharf geschiedene Abschnitte.
Der Ilaupttheil des Beines bleibt Locon)otionsorgan. Es ist der innere
Ast, dessen nach innen gekehrter Rand mannichfaltig ausgezackt wird,
mit Haaren und Dornen besetzt, und an seiner Spitze zum Gehen ein-
gerichtet ist. Auch zum Packen von Nahrung scheint er befähigt. Der
zweite Theil ist diebreite, schwingende Platte, welche hauptsächlich
als Wasser- erneuernder Theil anzusehen ist. Aus ihr musste sich die
Hilfskieme beistellen lassen. Der dritte Theil schliesslich, an derobern
Seite des Beines befindlich , hatte die Gestalt eines einfachen Sackes,
abgeplattet von vorn nach hinten, und er ward auch Kieme, da er ganz
besonders zarte Wandungen conservirte, während die äussere Hilfs-
kieme etwas harter blieb , um besser zur Wasserbew egung befähigt zu
sein. (Fig. 23 — 26.)
So war uns die Gestaltung der Extremitäten gegeben, aus der sich
alle heute vorkommenden mit Leichtigkeit ableiten, auf die sie mit
völliger Sicherheil zurückgeführt werden können.
Verfolgen wir nun das Schicksal des Panzers und seiner mit der
Ausbildung der Extremitäten Hand in Hand gehenden Veränderungen.
Bei denjenigen Phyllopoden, welche auf das Schwimmen ange-
wiesen blieben, konnte er sich nicht zur zweiklappigen Schale ent-
wickeln; er blieb was er war: eine die körperseilen überdeckende,
126 Dr- All*. Dolini,
erhärtete Duplicatur der Wandungen. Nur seine äussere Gestaltung und
seine den Körper nach vorn und nach hinten bedeckende Länge konnte
als wandelbar angesehen werden. Uns sind keine Spuren aufbewahrt,
aus denen wir auf absonderliche Zustände des Panzers zu schliessen
hätten. Wahrscheinlich werden die aus der Zoea überkommenen
Stacheln zu allerhand sonderbaren Bildungen Veranlassung gegeben
haben; vielleicht aber sind sie mit zunehmender Grösse der Thiere,
oder aus Gründen, die wir heut noch nicht einsehen, allmählich ge-
schwunden ; denn wie ich annehme, waren sie ursprünglich vorhanden,
sind aber heut nur noch als Rudimente in der embryonalen Entwicke-
lung zu erkennen.
Die Nachkommenschaft dieser panzer-beschildeten, schwimmenden
Phyllopoden ist ausserordentlich zahlreich geworden. Die ganzen,
mächtigen Familien der Podophthalmen und Edriophthalmen
haben wir dazu zu rechnen. Ihre Herleitung aus den Phyllopoden
werden wir nachher vornehmen. Nur ein Meeres-Phyllopode
ist aus diesem ganzen Heere übrig geblieben , der noch Zeugniss ablegt
von der Richtigkeit dieser Herleitung der Malacostraka aus den
Phyllopoden: es ist Nebalia, die ebenfalls nachher zur Be-
sprechung kommen wird. Wenden wir uns jetzt zu den Schalträgern.
Sie waren ehemals sehr zahlreich im Meere, wie uns die palaeonto-
logischen Funde lehren , — heut sind sie es nicht mehr. Die eigent-
lichen, schaltragenden Phyllopoden kommen gar nicht mehr im
Meere vor, — sie sind ganz daraus verdrängt und leben theils in Land-
seen , theils in Regenpfützen , Sümpfen etc. Von ihren veränderten
Nachkommen haben wir aber noch im Meere drei grosse Glassen zu
nennen: Ostracoden, C irripeden und Copepoden. Sie halten
den schwimmenden Malacostraken reichlich die Wage, und über-
blickt man eine Felsenreihe am Meere bei der Ebbe , so geben die un-
zählbaren Massen der Balaniden hinreichende Sicherheit, dass auch
die Schalträger im Meere beharren werden.
Die Schale war ein Schutzapparat. Als solcher überwog sie den
einfachen Panzer ; aber sie beeinträchtigte die Schnelligkeit der
Schwinmibewegungen , darum werden wir erwarten dürfen , dass aus
den Schalträgern viel langsame theils kriechende, theils in kleinen Ge-
wässern herumschwimmende Krebse entstehen. Wo die Mitbewerbung
rascher Schwimmer von vornherein ausgeschlossen war , da hatten die
Schal träger natürlich die beste Gelegenheit, sich auszubreiten.
Wir haben schon oben gesehen, dass die Ausbildung der den Kör-
per einschliessenden Schale auch auf die Gestaltung des Köi-pers selbst
von Einfluss sein musste. Sechszig Segmente, und sechszig Extre-
Geschichte des Krebsstamnies. 1 27
niitäten-Pacnre, wie wir sie bei Apus finden, durften natürlich nicht
mehr vorkommen , — die Vortheiie der Schalbiiduni^ wären sonst illu-
sorisch geworden. Der Bau des Körpers ward vielmehr in Folge des
geringen Schwimmens immer kugeliger, während er bei den Schwim-
mern cylindrisch blieb. Für ein unruhiges Hin- und Her-Schwimmen,
das mehr ein Suspendirtsein , als eine anhaltende Vorwärtsbewegung
bezweckte, war ein mehr ovaler, selbst kugliger Bau durchaus nicht
nachtheilig, für das Kriechen war die Veikürzung des Körpers sogar
unzweifelhaft vortheilhafter, — so finden wir also auch bei vielen Schal-
trägern die deutlichen Spuren einer stattgehabten Verkürzung, — mit-
hin die Anzeichen , dass sie von Vorfahren abstammen , deren Körper
länger gewesen ist, — was wiederum darauf deutet, dass diese eine
andere Lebensweise führten etc. etc.
Unter den heute lebenden Phyllopoden sind als Schalträger zu
nennen: Limnadia, Esther ia, Limnetis und Limna del la. An
ihnen sehen wir, dass ein Bemühen stattgefunden hat, die Zahl der
Segmente zu beschränken , denn über einige Zwanzig bringt es keine
derselben. Sehr charakteristisch ist ausserdem, dass derjenige Abschnitt
des Körpers, welcher den Schwimmern in mancherlei Betrachte sehr
nützlich sein musste, das Pleon oder Postabdomen, bei diesen Schal-
trägern fast gänzlich geschwunden ist, und dass die Tendenz sich
geltend macht, ihn immer mehr einzuschränken.
Bei all den Bestrebungen, das Schwimmvermögen der Beine zu
Gunsten einer den langen Körper umschliessenden Schale einzuschrän-
ken, musste es aber doch vortheilhaft bleiben, wenn sich eine Einrich-
tung herstellen Hess, die vollkommen schliessende Schale zu vereinigen
mit irgend einem wirksamen Schwimmorgane. Von Anbeginn der
Nauplius-Zeit her waren die beiden vordersten, speciell das zweite Ex-
tremitäten-Paar mit der Schwimmfunction betraut, sie blieben auch
weiterhin hilfreiche Schwimm Werkzeuge , wennschon in der Zoea sich
noch w ichtigere entwickeln. Dadurch aber, dass diese neuen Schwimm-
organe der Zoöa bei den Phyllopoden als Athmungsorgane von
Wichtigkeit werden und die Schwimmfunction wieder einigermaassen
zurücktritt, gew innen auch wieder die ursprünglichen ersten Schwinmi-
organe, namentlich das zweite Extremitätenpaar, grössere Wichtigkeit,
und wir dürfen uns nicht erstaunen, dasselbe allmählich wieder ganz
und gar, und noch um vieles intensiver in die alte Beschäftigung wieder
zurückkehren zu sehen, von der es ursprünglich ausgegangen war. Die
Grösse dieses Antennenpaares war nur beschränkt durch die Grösse der
Schale , in welche es aufgenommen werden musste , sobald das Thier
nicht schwimmen, sondern zu Boden sinken wollte. Wir werden sehen,
1 28 Dr- Ant. üohrn,
dass dieser Organisation zwei artenreiche Krebsfamilien ihre Existenz
im Wesentlichen verdanken.
Die einfache Schalenbildung war aber keinesfalls das letzte Ende
aller Schutz - und Sicherheitsmaassregeln der damit ausgerüsteten
Krebschen : wichtig war ferner die besondere Zurichtung derselben.
Wir werden hier zum ersten Male auf Vorgänge aufmerksam , die
sich bisher in der Krebsentwickelung nicht gezeigt, die wir vielleicht
nur übersehen haben. Mit den Phyllopoden zu gleicher Zeit lebten
allerhand M-oUusken und besonders auch Bivalven. Diese waren
den Phyllopoden betreffs der schützenden Schale darin weit über-
legen, dass ihre Schale hart und stark war, und wohl den directen An-
griff irgend eines grösseren Thieres vertragen konnte. Weiss doch Jeder,
der eine Zeit am Meere zugebracht hat, dass die Muscheln bei der ge-
ringsten Berührung die Schalen zuklappen, — im Vertrauen, nun völlig
geschützt zu sein. Griff aber irgend ein grösserer Meeresbewohner die
Phyllopoden, selbst bei zugeklappter Schale an , so waren sie ver-
loren : ihre Schale war zu weich und zu dünn. Dickere, kalkige Schalen
durften sie aber nicht tragen, wollten sie des Schwimmens nicht vollstän-
dig verlustig gehen , — so bheb aber doch ein Ausweg übrig, den ge-
fährlichen Griffen der Feinde zu entgehen : das Aussehen der Muschel-
schalen nachzuahmen und durch dasselbe die nachstellenden Feinde zu
täuschen. Dieser Weg war entschieden vorlheilhaft und zwar in dem
Maasse , dass er noch heutzutage die Zoologen iire führt , die von den
meisten, versteinert gefundenen Phyllopoden -Schalen geglaubt haben,
sie hätten es mit Muschelschalen zu thun. (Fig. 34.)
Kommt nun noch dazu, dass die Schalen, meist eine bräunlich-
grüne Färbung annahmen, wodurch sie sich fast ununterscheidbar vom
Meeresgrunde, oder wo innner sie sich aufhalten mochten, wurden, so
begreift man, dass sie eine lange Zeit die Herrschaft auf dem Meeres-
grunde und an den Ufern zu führen im Stande sein raussten, und die
grosse Masse versteinerter Phy llopodenschalen wird erklärlich.
Dass sie schliesslich dennoch aus dem Meere verdrängt wurden, — bis
auf die Ostra Coden , die wir gleich besprechen werden — so kommt
es daher, dass sich aus der Nachkommenschaft der schwimmenden
Phyllopoden allmählich Formen entwickeln, die ihrerseits wieder
das Schwimmen aufgaben und den Aufenthalt am Ufer und auf dem
Grunde des Meeres vorzogen. Diese waren oder wurden kräftiger als
die Schalträger — der Kampf begann und endigte mit einer Niederlage
der Phyllopoden, die aus dem Meere schieden und sich in Salzge-
wässer des Binnenlandes und in das süsse Wasser zurückzogen. Die
Geschichte des Krebsstammes. 1 29
Feinde, deniMi die Pl)\ llopoden so unterlagen, sind wohl hauptsäch-
lich die Aniphipoden und Isopoden. Von ihnen später.
Hoben wir bisher nur di(>jenigen Vh) 1 1 o p o d e n ins Auge gefasst,
welclie entweder aus ihrem Panzerschilde ein wichtiges Athmungs-
organ oder (>inen unentbehrlichen Scluilzapparat gebildet hatten , so
kommt es uns jetzt zu, diejenigen Formen zu erwähnen und zu be-
sprechen, V. eiche weder das Eine noch das Andere besitzen, die über-
haupt gar kein Schild haben. Von heute lebenden Formen gehören zu
ihnen B r a n c h i p u s , Arte m i a und E u i i m e n e. Es versteht sich von
selbst, dass die Athmung bei diesen Formen in anderen Organen voi-
genommen winl; da sind es vorzüglich die Beine, welche als alleinige
Respirationsorgane fungiren. Bei denselben Thieren findet man aber
noch eine andeie bedeutende Abweichung von dem bisher geschilder-
ten Bau der Ph yll opoden. Die zweiten Antennen sind nämlich hier
zu einer ganz neuen Function ausgebildet: zu einem Greiforgan nämlich.
Dadurch gehen sie natürlich als locomotorisches Organ dem Haushalt
des Thieres verloren, und es bleiben nur die Extremitäten des Mittel-
leibes übrig. Diese waren aber bei keiner P h yll opo de bisher aus-
reichend erfunden, — es war überall noch ein besonderes Schwimm-
organ daneben, — beim Apus das rankenförmige erste Fusspaai"
(Fig. 27), bei den Schalträgern die zweiten Antennen. Hätte nun B rau-
ch ipus und seinesgleichen ohne diese speciellen Schwimmorgane den-
noch seine Existenz bei ganz ähnlicher Lebensweise wie Apus sichern
können, so würde man vergeblich einen zureichenden Grund für die
l'mbildung des ersten Fusspaares bei dem letzteren in eine ranken-
iragende Extremität suchen. Allein Branchipus war ebenfalls ge-
zwungen ein besonderes Schwimmorgan zu entwickeln , — und als
solches ward das Pleon und die am letzten Segment befindlichen An-
hänge in Anspruch genonwnen. Dies Pleon hat sicherlich bei allen bis-
her geschilderten Krebsformen, — am wenigsten freilich bei den Schal-
irägern — einen wesentlichen Theil des Schwimmapparates mit aus-
gemacht , aber es ist doch bisher noch nicht als hauptsächlichstes Be-
wegungsorgan aufgetreten. Das ist es aber bei Branchipus und
seinen Verwandten. Durch dieschlangenförmigen, seitlichen Bewegungen
desselben, ferner durch die stark vergrösserlen Anhänge und ihre Wirk-
samkeit wird das Thier wie ein Fisch vorwärts bewegt, und der vom
würdigen Jacob Christian Sch.vffer gegebene Name »fischförmigeKiefen-
liiss^i passt vortrefflich schon wegen der den Fischen analogen Loco-
inotionsweise des Thieres. Bei den Schalträgern sahen wir die Bedeu-
tung des Pleon auf ein sehr geringes Maass,herabsinken und daher seine
Grösse auch zusehend sich verringern, bis beinahe auf ein völliges
Bd. VI. 1. 9
130 Pr. Aiit. üohrn,
Verschwinden. Bei Branchipus dagegen , wo es Haupt- Schwimm-
organ wird, nimmt es in demselben Grade wieder an Länge und Be-
deutung zu, so dass es eben so lang wird, wie der ganze übrige Körper.
Werfen wir einen Blick über die bisher erwähnten Formen der
Phyllopoden, so kann es uns nicht entgehen , dass sie nur als letzte
Ausläufer einer ehedem mächtigen und formreichen Krebs -Ordnung
anzusehen sind. Es fehlen uns vollständig die Mittelgheder zwischen
den Schalträgern und dem Branchipus, zwischen Apus und
Nebalia. Jede einzelne Gattung, oder wenigstens jede dieser vier
Familien — deren eine ja nur in einer einzigen Gattung und Art be-
steht — ist von der anderen sicherlich ebenso verschieden, wie die
Ost ra Coden von den Daphnien, die Cumaceen von den Iso-
poden und diese wiederum von den Amphipoden. Und doch v\ eiche
Massen von Formen besitzen diese letztgenannten Abtheilungen , und
wie viele sind unter ihnen, welche Verbindungen herstellen und zeigen,
wie aus der einen Abtheilung allmählich die andere sich ableiten lässt.
Nichts derart existirt mehr bei den Phyllopoden, sie stehen unver-
mittelt neben einander. Die Bindeglieder, welche uns zeigen könnten,
wie aus den Schwimm -Antennen der einen die Greifzangen der ande-
ren wurden, \^ie das Panzerschild zur Schale ward, wie die Segmente
des Pleon allmählich bei den Schalträgern verloren gingen — sie liegen
im Schichtengebäude der Erde begraben — vielleicht sind schon viele,
vielleicht die Mehrzahl von ihnen durch die Metamorphose der Gesteine
unserer Kenntniss für immer entzogen. Von welcher ausserordentlichen
Bedeutung die Phyllopoden aber für das Meeresleben der Urzeiten
gewesen, das lehren uns die versteinerten Reste der Primärforn)ationen,
lehrt uns dasCambi-ische, das Silurische und das Devonische Schichten-
gebäude. Dort nämlich Irelfen wir auf die heut vollständig erloschene, an
Zahl und Formen gleich hervorragende Ordnung der Trilobiten,
die man nur mit den Ph \ II opoden und aus den Phyllopoden ver-
stehen zu können meint, von denen uns keinerlei Embryogenie mehr
anzeigt, wie und wo w ii- ihi-e Vorfahren zu suchen und ihren Stamm-
baum festzustellen haben.
Es begreift sich leicht, dass wir über die Organisation der Trilo-
biten nur Vernmthungen äussern dürfen, — etwa so, wie wir uns
fehlende Mittelglieder zw ischen vorhandenen Endpunkten einer Ent-
wickelungsreihe aus den Indicalionen dieser beiden Endpunkte und
den theoretischen Postulaten mit Beihilfe der Phantasie zu ergänzen
haben. Dabei begünstigt uns aber noch wesentlich der Anblick der
äusseren Körpergestalt im Grossen und Ganzen. Von den inneren Organen
dagegen , von den Extremitäten sogar und von der Beschaffenheit der
fipscilichte des Krebsslamines. 131
KörperwaiK^ungen haben \\\r gar koinc Konntniss, — hier bleibt Alles
zu ergänzen. Dies ist schon niein-faeh versucht vvor-den , — über den
Krfoig liisst sich eb(^n kein Ihllieil abgeben, weil bishei- kein Tri lob it
entdeckt ist, aus dem tnehi- zu lernen würe, wie aus den früher be-
kannten. Versuchen wir unsererseits gleichfalls eine Ergänzung.
^Fig. iS— 31.)
Der äussere Körperbau lehrt uns vor Allen), dass wir keine Schwim-
mer in den Trilobiten zu suchen haben. Ihre Körperform ist breit und
platt, sehr häufig sind sie vorn am Kopf am breitesten, also gewiss
unlauglich zu einer raschen Foilbewegung. Wir haben bisher gesehen,
dass mit Einschränkung der Schwimmfähigkeit auch das Pleon an
Längenausdehnung abnahm, — bei den Trilobiten gewahren wir das
Pleon entweder als ein mächtiges, schweres Analschild, sog. Pygidium,
das aus zahlreichen , mit einander verschmolzenen Segmenten besteht,
oder w'ir finden eine Reihe ganz schmaler, allmählich immer kleiner
werdender Ringe die es bilden , welche aber nicht im Geringsten von
den vorhergehenden Segmenten des Mittelkörpers abweichen. So ist
also anzunehmen, dass die Trilobiten hauptsächlich auf dem Grunde
des Meeres lebten. Dazu bedurften sie aber Extremitäten, mittelst
deren sie kriechen konnten. Diese Extremitäten durften aber nicht zu
weich und nachgiebig sein, denn sicherlich waren die Trilobiten
ziemlich schwere Organismen. Nach meiner Meinung müssen wir uns
die Extremitäten etwa so vorstellen, wie die desLimulus, aber nicht
länger, als das halbe Kopfschild, denn sonst würden wir von ihnen
Spuren behalten haben. Diese Extremitäten haben als Locomotions-
organe wohl nur am Kopfschild gesessen, — die Ringe des Leibes tragen
dagegen höchst wahrscheinlich platte, blattförmige Anhänge, an deren
Innenseite wiederum wie am Limulus, zahlreiche dünne Rlätler die
Kiemen bildeten. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass die Trilo-
biten Extremitäten besessen hätten wie die heute lebenden Phyllo-
poden — mit der Fähigkeit, die sie besassen , ihren Körper aufzu-
rollen, verträgt sich ungleich besser die Meinung, die Kiemen und die sie
tragenden Extremitäten hätten den heutigen Limulus-Kiemen geglichen.
Freilich ist es überhaupt nicht leicht, sich die Organisation als vom
Nauplius abstammend erklären zu wollen. Wie bekannt, hat Bar-
rande die Entwickelungsgeschichte einiger Trilobiten mitgetheilt, so
besonders von San h i rs Uta. Diese Darstellungen scheinen zu beweisen,
dass die Trilobiten bereits die Larvenstadien Nauplius, Zoea völlig
unterdrückt haben , und in der definitiven Gestaltung das Ei verlassen
haben, so dass nur noch die Zunahme an Segmenten der weiteren Ent-
wickelung überlassen ward.
9*
132 Dr. Auf. Dohrii,
Die Frage wäre freilich der Lösung näher zu bringen , wenn w ir
bereits die Embryologie des Li malus besässen , denn es ist aus der
von MiLNK Edwards bekannt gemachten Larvenforni desselben zu
schliessen, dass eine innige Verwandtschaft zwischen Poecilopoden
und Trilob iten besteht. Gestalten wie Agnostus lassen sich nur
durch Annahme einer vollständigen Verkürzung der Entwickelung aus
dem Nauplius herleiten, und die Gestalt des Kopfschildes derTrilo-
biten, ebenso wie die bei ihnen und bei Limulus in dem Kopfschild
festsitzenden Augen bereiten der vergleichenden Morphologie auch nicht
geringe Schwierigkeiten.
Es kann darum an dieser Stelle auch nicht unternomoien werden,
weitere Vermuthungen über die Organisation, Lebensweise und Abstam-
mung der T r i 1 0 b i t e n sowohl wie der Gigantostraken (Limulus,
Pterygotus, Bellinurus zu äussern. Ich hoffe, dass es mir ge-
lingen wird, die Embryologie des Limulus in nicht gar zu langer Zeit
festzustellen, — dann würden die hier berührten Zweifel wohl in man-
chen Punkten ihre Erledigung finden. (Fig. 32 u. 33.)
Wie es nun auch mit Gigantostraken und Tri lobilen stehen
mag, jedenfalls bleibt doch die Ordnung der Phyllopoden der
Mutterschooss aller übrigen heute lebenden Krebsgestalten. Freilich
führt uns kein Weg in eine der übrigen Ordnungen durch A p us , keiner
durch Branchipus, aber sowohl von Nebalia als von den Sclial-
trägern aus haben wir mächtige Formenreihen in ihrem Entwickelungs-
gange zu verfolgen.
Die nun zunächst von den Phyllopoden abzuleitenden Formen hatten
einen wesentlichen Charakter unter sich gemein, der sie von diesen
schied: sie waren sehr klein. Ihre Kleinheit ward erreicht, indem sie
die von den Ph y llopoden erworbenen zahlreichen Seginente , und
mit den Segmenten auch die zahlreichen, demselben Zwecke dienenden
Extremitäten verloren. Die Gründe für diese Umwandlungen können
wir keinenfalls in physikalischen Beziehungen der Thiere zu ihrer
elementaren Umgebung suchen , sondern wir müssen Veränderungen
der gleichzeitig mit ihnen auf demselben Boden lebenden Fauna an-
nehmen. Waren einmal schalentragende Phyllopoden zweckmässig
eingerichtet für seichtes Wasser und für den Meeresgrund, so waren sie
es immer; nur wenn Veränderungen in der sie umgebenden Lebe-
welt eintraten, konnte die Organisation in ihrer Zweckmässigkeit von
iSeuem in Frage gestellt werden. Es konnten für dieselben Lebensbe-
dingungen sich Formen entwickeln, die noch passender waren, und der
Kampf ums Dasein zwischen beiden Rivalen mussle dann zu Ungunsten
der Ersteren ausfallen. Während dieses Kampfes fanden aber Colonieen
Geschichte des Krebssfainines. 133
der Unterliegenden \Meder eine neue Lebenssphäre , die freilich in
ihrer Organisation Veränderungen hervoirief, ihnen aber doch die
Weiter -Existenz ermöglichte. Die Veränderungen konnten geradezu
in einer Rückbildung auf einfachere Verhältnisse bestehen, die in ge-
wisser Weise denen glichen, von welchen die Thiere ursprünglich aus-
gegangen waren. So gingen also die complicirteren Vorfahren zu
Grunde, und die einfacheren Nachkonmien überdauerten sie — an-
gepassl an neue und doch alte Verhältnisse. Es sind :
6. Die Ostracoden.
(Fig. 35 — 37.)
Diese kleineu Geschöpfe haben den Systeniatikern voi' und nach
Darwin mancherlei Schwierigkeiten bereitet; und ich uiüsste die Un-
wahrheil sagen , wollte ich behaupten , mir sei es besser gegangen , als
meinen CoUegen und Vorgängern. Was ich freilich in dem letzten Ab-
satz über die Phyllopoden sage, lässt erkennen, dass ich den An-
sichten der Mehrzahl der Forscher entgegen bin, welche die Ostra-
coden als eine in gerader Linie erfolgte, ohne wesentliche und aus der
onlogenelischen Entwickelung verwischte phyletische Durchgangsstufen
zustande gekommene Fortbildung des Nauplius ansehen. Ich bin
der Meinung, dass die Ostracoden Abkömmlinge der schaltragenden
Phyllopoden sind, die in dem Bestreben , immer kleinere Dimen-
sionen anzunehmen, die complicirtere Metamerenbildung der Phyllo-
poden aufgeben mussten , aber die Schalenbildung beibehielten;
schliesslich gelangten sie denn zu Dimensionen , welche viel geringer
sind, als die so mancher Xaup li u sformen selbst; ja, sie brachten
es durch Abkürzung der Entwickelung sogar dahin , dass sie in der
Naupl iu s- Anlage das Ei verliessen , aber doch schon die Schale
trugen, welche ihr wichtigstes Erbtheil aus der Phy llopoden -Zeit
geblieben war.
Nun liegt mir freilich ob, meine Meinung mit Gründen zu belegen.
Ich nehme dieselben aus der Organisation der Cypridinen, wie sie
durch Gri BE ' , Claus 2) und Fritz Müller =') uns dargestellt ist.
i) Bemerkungen über Cypridina und eine neue Art dieser Gattung. Arch. fiir
Naturgesch. XXV. pag. 322 fl".
2) Uetier die Organisation lier Cypridinen. Zoilschrifl für wissenscli. Zoologie
XV. pag. 143 ff.
3; Beraerlcungen über Cypridina. Jenaische Zeitschr. f. Med. u. Naturwissen-
schaft. V. pag. 255 IT.
134 Dr. Ant. Dohrn,
Eines der Haupt- Argumente giebt mir das Bestehen dov paarigen,
zusammengesetzten und beweglichen Augen. Wir wissen , dass die
ersten Anlagen zu solchen zusammengesetzten Augen sich schon bei der
Archizoea gezeigt haben, dass späterhin bei Zoea diese Organe eine
höhere Ausbildung erfuhren, und dass sie innerhalb der Phyllo-
p öden -Ordnung durchweg beibehalten wurden. Wir wissen ferner
aus der Embryologie der Daphnien i), dass in dieser Familie das zu-
sammengesetzte, bewegliche Auge getrennt und paarig angelegt wird,
dass es aus denselben Theilen besteht, die wir späterhin bei den Deca -
poden wieder finden, dass mithin eine gemeinsame Ausgangsquelle für
beide Bildungen angenommen werden kann — und diese suche ich in
dem Auge der Zoea, dessen Ausgestaltung bei den Phyllopoden
die entschiedenste Aehnlichkeit mit dem Auge der Daphnien und der
Cypridinen hat. Müssten wir aber annehmen, dass Gypridina
auf eigne Hand sich aus dem Nauplius entwickelt habe, ohne Da-
zwischenkunft der genannten Stufen, so wären auch die Augen als auf
eigne Hand entstanden anzusehen, und es bliebe immerhin schwieriger
dann die grosse Uebereinstimmung der Structur mit den Daphnien
und mit den Phyllopoden und Deca poden zu erklären.
Den zweiten Grund suche ich in dem Bestehen der Schale. Man
erinnert sich, dass diese Schale .erst entstehen konnte, nachdem eine
Falte aus der Rückenwand des Nauplius eineDuplicatur gebildet hatte,
welche über die Seiten herabhing und die Wurzeln der Extremitäten
von aussen bedeckte. Diese Duplicatur setzte aber eine Trennung des
Körpers in einen vorderen und einen hinteren Abschnitt voraus — und
der hintere Abschnitt war, wie ich unter dem Gapitel Archizoßa
auseinandersetzte, der erste Beginn des Pleon. Aus diesem Schild der
Archizoea und Zoea ward dann im Verlauf mannichfacher Umbil-
dungen die z weiklappige Schale, die wir bei den Phyllopoden kennen
lernten. Wäre nun die Gypridina kein Abkömmling der schaltragen-
den Phyllopoden, so müsste der ganze Entwickelungsgang in der
supponirten directen Zwischenreihe zwischen Nauplius und Gypri-
dina zum zweiten Male durchgemacht sein, — denn dass plötzlich aus
dem Nauplius ein schaltragender Krebs wird, das wird Niemand für
möglich halten.
Den dritten Grund entnehme ich aus dem Bestehen eines verkürz-
ten Pleon s. Der Nauplius besitzt kein Pleon, die Anlage dazu er-
wirbt er erst als Archizoea und bildet es zu einem selbstständigen
1) Dohrn, Unters. überBau undEntwickelung deiArthrop. 3. Die Schalendrüse
u. d. embryon. Entw. der Daphnien. .lenaische Zeitschr. V. pag. 287.
Gescilicild- des kiehsslaiuiiies. 135
Koi|)fral)scJiiiitl aus als Zol>a. Von da aus tichou rnaniiichfaltiiit' Vor-
liiösseruni^en und Verkürzungen dieses Köiperlheils durch die Reihe
der Ph y I lopodenformen hindurch, — und wir sahen die Verkürzung
liesondeis tliätiu bei den Schalträiiern , die Verlängeruns; bei Formen,
die weder Schale noch übei'haupl einen Panzer besassen. Als dann die
Schwinimfunction hauptsächlich an die vordersten Extrenoitäten zurück-
ging, also besonders an das zweite Antennenpaar, musste die Verkür-
zung des Pleon noch weitere Fortschiitte machen , der Schwerpunkt
des Körpers musste imnler weiter nach vorn gelegt werden, alle hinteren
Theile so sehr als möglich in ihrer Ausdehnung beschränkt werden,
um der mühsamen Arbeit der Antennen nicht noch hinderlicher zu sein.
Es blieb also vom Pleon nichts übrig , als was am unentbehrlichsten
war — und das sind die beiden Anhänge am Ende, mittelst welcher
das Thierchen steuern kann. Zugleich ward die Haltung des Pleon so
regulirl, dass es ganz und gar unter den Vorderleib gekrümmt und von
der Schale vollständig eingeschlossen werden konnte.
In di(>sen Angaben und ihrer Deutung treffe ich zusammen mit den
Anschauungen, welche Clais a. a. 0. voiträgt; dieser Forscher be-
müht sich auch, die Organisation vonCypridina auf phyllopoden-
artige Bildungen zurückzuführen , und seine Einsicht in diesen Fragen
ist bekannt genug. Freilich steht ein ebenso anerkannter Forscher auf
gegnerischer Seite : Fritz Müller, welcher kürzlich in dem oben citirten
Aufsatze eine andere Ueberzeugung ausgesprochen hat. Indem er sich
gegen Gerstacker's Unterordnung der Ostracoden unter die Bran-
c h i op od e n w endet, diesen kleinen Geschöpfen vielmehr den Anspruch
auf die Bildung einer eignen Ordnung zuerkennen will , definirt er
seinen Begrifl" der »Ordnung« dahin, dass er annimmt, eine Ordnung
bilden diejenigen Krebse , die sich selbstständig vom Urstamm der
Classe, und öicht von einem der anderen Hauptäste desselben abge-
zweigt haben. Einen so selbstständigen Ursprung vindicirl er nun den
Ostracoden, — damit steht er also meinen Anschauungen diametral
gegenüber. Weilerhin citirt aber Fr. Müller sowohl Clais wie Haeckel
als Gewährmänner für die Erhebung der 0 str acoden zu einer eignen
Ordnung — ja ich selbst bin durchaus geneigt als Dritter oder Vierter
im Bunde zu figuriren — aber ich glaube nicht , dass diese beiden
Forscher geneigt sein werden , für ihren Begriff der »Ordnung« Fritz
Müller's Definition anzunehmen. Was mich betrifft, so erkläre ich mich
entschieden dagegen. Die ganze Darstellung der Geschichte des Krebs-
stammes, die ich bishergegeben, beweist, dass nach meiner Ueber-
zeugung die Spaltung in die heute angenommenen Ordnungen eine sehr
allmähliche gewesen ist, dass Ordnung sich aus Ordnung entwickelt
136 Dr. Ant. Dohni,
hat, und dass wir darum entweder nur von einer Krebsordnung
sprechen dürfen, oder von so vielen, als uns passend und zweckmässig
erscheint, d. h. dass wir den Ordnungsbegriff nur als einen relativ
festen ansehen und ihn hauptsächlich da anwenden, wo wir grosse
Gruppen von Organismen sehen, die durch keine lebenden Mittel-
glieder mehr deutlich verbunden werden. Man könnte ebenso gut für
Apus und Lepidurus , fürArtemia und B ranchipus , für Ne-
balia, für Limnadia und Estheria eigne Ordnungsnamen auf-
stellen, wie für die Macruren, die Brachy u ren , die Stomato-
poden etc., — und in der That finden wir auch in neueren Systemen
diese Ansicht durchgeführt i), die mir vollkommen berechtigt erscheint.
Darum, und weil die Uebergänge, die von den schaltragenden Phyllo-
poden zu den Ostracoden führen zu Grunde gegangen sind — dar-
um bin ich ebenfalls geneigt, die Ostracoden als eigne Ordnung
bestehen zu lassen — aber dass sie sich direct und unvermittelt aus
Naupl iusformen gebildet hätten, bezweifle ich sehr.
Denn was nun die fernere Organisation von C ypridina anlangt,
so haben wir auch in der Gestaltung der Gliedmaassen nach meiner
Meinung deutliche Anzeichen von ihrer Phy 11 op öden- Abstammung.
Die auf die Mandibeln folgenden Extremitäten -Paare haben noch alle
Spuren der früheren Lappen- und Blaltbildung, wie wir sie besonders
von den Schalträgern unter den Ph y Hop öden kennen. Man nehme
L. B. die erste Maxille der C ypridina globosa , wie wir sie durch
LiLLJEBORG^j (Fig. 38) kennen. Sie besteht aus einem Stamm , dessen
Innenfläche in drei Lappen ausgezogen ist, der sich dann in einen zwei-
gliederigen Ast fortsetzt. Dieser Lappen ist das Characteristicum der
Phyllop öden -Gliedmaassen, und wir finden sie wieder durch die
ganze Reihe der späteren Krebsformen hindurch. Freilich würde man
aus ihr allein noch nicht darauf scliliessen können, dass sie auf Phy 1 -
lopo den -Vorfahren führt. Es wäre durchaus denkbar, dass die Ex-
tremitäten, welche zur Nahrungsaufnahme in Verwendung gebracht
werden, allmählich durch diese Thätigkeit allein , zu solcher lappigen
Gestalt geführt würden. Indem nämlich die Hauptthätigkeit derselben
von aussen nach innen gerichtet ist, müssen sie auch so zu sagen ihre
Front nach innen, dem Munde zu kehren. Ursprünglich waren sie aber
walzenförmige , mehrgiiedrige Schwimmbeine , die gerade im Gegen-
1) Vergl. G. 0. Sars, Histoire naturelle des Crustaces d'eau doiice de Norvfege.
ime Livr. Ctiristiania 1867. pag. 5.
2) De Crustaceis ex ordinibus tiibus. Cladocera , Ostracoda et Copepoda in
Scania occurrentibus. Lund 1853. pag. 171. Tab. XVII.
fieschichte des Krcbsstiimiiips. I 37
theil ihre HauptenlAvickcluns^ nach aussen , möglichst weit vom Munde«
weg nahmen. Die Functionsveränderung mussle daher diejeMiigcn
Formen bevorzugen , wt^lche alhnahiich sich verktlrzten und statt der
Walzenform der Glieder, eine plattere, lappenförmige annahmen, \vol)ei
natürlich die Lappen nach innen sich ausdehnten und an ihrem Rande
mit Zähnen und Ilaaren beselzl waren. So konnte durch fortschreitende
Verkürzung schliesslich eine Form entstehen, welche der Phyllo-
poden -Gestalt gleich war. Etwas der Art werden wir in der That
wirksam sehen, wenn wir später über die Malacostraca zu
handeln haben.
Es liegt aber nahe , zu bemerken , dass diese Umwandlung noch
um Vieles leichler und rascher gehen musste, wenn schon von vorn-
herein die Gestalt der Extremitäten phyllopodenartig d. h. breit, plalt
und gelappt wai-. Da wir nun aus andern Giünden vermuthen dürfen,
dass die Vorfahren Cypridina's Phyilopoden waren, so können wir
wohl glauben, dass auch die Lappenbildung derMaxillen von den Phyilo-
poden herstammt. Dazu berechtigt uns aber noch um Vieles mehr der Bau
der beiden folgenden Maxillenpaare, — oder — unbestimmter ausge-
drückt, der beiden folgenden Extremitätenpaare (Fig. 39 u. iOj. Wenn
wir uns erinnern, dass an dem Phyllopodenfuss als hauptsächlichstes
(Iharacleiisticum aussen eine ziemlich ausgedehnte Platte sass, welche
anfänglich bestimmt war, die Locomotion zu unterstützen , dann, das
Wasser unter der Schale behufs der Respiration zu erneuen, die schliess-
lich aber selbst zur Kieme ward, und die Athmung allein besorgte, so
werden wir unschwer aus dem Bestehen einer ähnlichen Platte an den
in Rede stehenden beiden Extremitäten-Paaren schliessen können, dass
hier wiederum ein deutliches und unzweifelhaftes Zeugniss für die
Phyllopoden-Abstanimung der Cypridina vorliegt. pRrrz Müllkr da-
gegen sagt: «Gegen den Vergleich der Kiefer der Muschelkrebse mit den
Beinen der Cladoceren und Phyilopoden ist sicher nichts einzuwenden :
nur passl derselbe ebenso gut auf die Kiefer der Copcpoden und der
höheren Krusler (Malacostraca) ; namentlich bei den Jugendzuständen
der letzteren ist die Aehnlichkeit bisweilen eine überraschende, so dass
auch Claus den Kiefer der Krebslarven »eine Art Phyllopodenfuss«
genannt hat. Diese Uebereinstimmung beweist also nichts für ein(>
nähere Verwandtschaft der Muschelkrebse und Branchiopoden; was sie
beweist, ist, dass die Branchiopoden , Copepoden , Ostracoden und
Malacostraca erst lange nach der Naupliuszeit , dass sie erst dann von
dem gemeinsamen Stamme sich trtmnten , als auch diese den Kinn-
backenfüssen zunächstfolgenden, bei allen diesen Ordnungen in ähn-
licher Weise gebildeten Gliedmaassen bereits entwickelt waren. Die
138 Dl' ^nt. Dohrii,
Staminellcrn mögen zu dieser Zeil dieselbe Gliedniaassenzahl [)esessen
liaben , wie jetzt Gypris undCythere; wie bei diesen hinter den
Kinnbacken noch vier Gliedmaassenpaare sich finden, so sprosst auch
bei dem Nauplius von Peneus die gleiche Zahl von Fussstummeln hinter
den Kinnbackenfiissen gleichzeitig hervor. Die einzige Ordnung, deren
Kiefer in ganz abweichender Weise gebildet sind, bei der überhaupt
ähnliche Gliedmaassen fehlen, sind die Pectostraca Haeckel's , die
Rankenfüsser und Wurzelkrebse ; diese mögen schon früher von dem
ürslamme der Classe sich getrennt haben; in diesem Falle wäre die
Auffassung von Alph. Milne Edwards die richtige, der sie als Basinotes
allen übrigen Krustern (Eleutheronoles) gegenüberstellt.« Der
Gegensatz , in den sich meine Auffassung gegen die eben dargelegte
stellt, besteht wesentlich darin, dass ich in den Ostracoden eine
Rückentwickelung sehe, d. h. ein Zurückgreifen aus bereits compHcir-
terer Organisation in eine weniger compliciite, die immerhin aber im
Stamme noch nicht dagewesen war, also in sofern auch als Weiter-
Entwickelung zu betrachten wäre. Fritz Müller nun scheint zu glauben,
dass die Ostracoden im Allgemeinen dem Knotenpunkt der Organisation
noch am nächsten stehen, von dem aus die Diff"erenzirungen der andern
Ordnungen strahlenförmig sich abgezweigt haben, dass sie also ein
Stehenbleiben, keine Rückentwickelung, beziehungsweise Weiter-Ent-
wickelung darstellten. Das Argument, dieMaxille der Mala cos traken -
Larven gleiche einem Phyllopodenfuss hat aber in meinen Augen
eine andere Beweiskraft, als in denen Fritz Müller's : ich schliesse dar-
aus , — freilich noch aus vielen andern nachher zu erörternden Punk-
ten, — dass in der That, wie die Ostracoden so auch sämmtliche Mala-
costraken aus dem Phyllopodenstamme herzuleiten seien. Was dann
schliesslich die Auff'assung der genalogisch-systematischen Stellung der
Cirripeden anlangt, so weiche ich auch darin von Fritz Müller's,
Haeckel's und Milne-Edward's Ansichten ab und betrachte diese Ord-
nung als sehr viel näher dem allgemeinen Crustaceenstamme angehörig
als diese Forscher es thun. Doch über all dieses werde ich im weiteren
Verlaufe meiner Darstellung noch ausführlich zu sprechen haben.
Wenn ich somit im Recht zu sein glaube, die Cypridinen als
Abkömmlinge der Phyllopoden in Anspruch zu nehmen , so muss ich
lum auch versuchen, ihre übrigen Eigenthümlichkeiten aus diesen her-
zuleiten, oder nachzuweisen, warum sie sich etwa neu und selbst-
ständig gebildet haben.
Unter diesen Eigenthümlichkeiten steht oben an die Bildung der
Kiemen und der Putzfüsse, über welche uns kürzlich durch den bereits
citirten Aufsatz Fritz Müller's wichtige Mittheilungen geworden sind.
Geschichte des Krebsstiiuinit'S. 1 Ii9
Die KicMiicii. dir nicht allen Cypridineii /u/.ukonin»on scheinen, sind
Gebilde, welche als einfache blaltförmiiie Anhäntie in verschiedener
Anzahl »dicht neben der Mittellinie des Uück(!nsw I'r. Mi i.i.kk I. c.
pag. ?(>8) entspringen. »Sie sind etwas schief eingefüut, so dass der
Ilinlen-and jedes Blattes den Yordei rand des folgenden von jinsscn deckt.
Nach den) oberen Ende trägt Jedes Blatt einen kleinen, waiv.enförniigen
Vorsprung, durch den wohl eine zu enge Berührung derselben ver-
hütet wird. Den Band des Blattes entlang läuft ein einfacher, zieiiilicli
weiter Hohlraum. Bei C. nilidnla sind, wenn ich mich recht ent-
sinne, die Kiemen zahlreicher. Dagegen ist ihre Zahl geringer bei ganz
jungen Thieren. .lunge von C. Agassizii, die die Schale der Muttei-
noch nicht verlassen hatten, besassen nur drei Kiemenpaare, die von
vorn nach hinten an Grösse zunahmen. Die hintersten Kiemen sind
also wahrscheinlich die ältesten.« (Fig. 41, iSi.
Ich will zuerst versuchen, das Bestehen dieser Kiemen aus der
Auffassung heraus zu begreifen, die Fritz Müller über die Abstamn)utig
Cypridina's hegt. Derselbe sagt 1. c. pag, 27 ;j in einer allgemeineren
Erörterung über Schöpfung und Umwandlung : » — Umgekehrt w ird es
die Anhänger der alten Schöpfungshypothese, wie sie Weismaxn nennt,
befremden müssen, dass die Kiemen der Cypridinen am Rücken stehen,
der bei keinem andern Kruster Kiemen trägt. Wir dagegen hätten als
wahrscheinlich voraussagen können, dass wenn bei Muschelkrebsen
Kiemen vorkämen , sie dann in ihrer Lage nicht mit denen anderer
Kruster übereinstimmen würden. Denn Kiemen haben sich bei den
Krustern überhaupt erst spät entwickelt; selbst unter den l'odo-
p h t h a I m e n und E d r i o p h t h a 1 m e n sind bis heute die der Urform
zunächst stehenden Gattungen (Mysis, Tanaisl kiemenlos geblieben.
Die Stammeltern der Muschelkrebse besassen sicherlich keine Kiemen.
Die Kiemen von C y p ri d i n a also und die irgend eines andern kiemen-
tragenden Krusters sind keinenfalls das Erbtheil eines gemeinsamen
Ahnen, vielmehr haben sich die der ersteren unabhängig entwickelt
und es dürfte deshalb eine abweichende Lage derselben mit grösserer
Wahrscheinlichkeit erwartet werden, als eine übereinstimmende.«
Dieser Anschauung bin ich nun freilich ganz und gar entgegen.
Wie sollten wir uns wohl davon Rechenschaft geben , durch welche
Processe es überhaupt zur Kiemenbildung gekommen? Vergleichen wir
einmal die Kiemen der Krebse mit der Lunge der Wirbelthiere. Letztere
ist anerkannterinaassen aus der Schwinunblase der Fische hei'vorge-
gangen, d. h. die viel wichtigere Function hat sich an das Oigan heran
entwickelt aus einer niedrigeren , die allmählich durch veränderte
Existenzbedingungen weniger wichtig wurde. Wie sollten wir uns
140 Dr. Ant. Dohrn,
vorslellen. dass eine Ausstülpung des Darmcannis so ohne Weiteres zur
Lunge, zu einem der vital -noth wendigsten Organe des ganzen Ge-
schöpfes wird, wenn nicht diese Ausstülpung ganz allmählich an der
Hand unwesentlicherer Functionen zu einem umfangreichen und
charakteristischen Gebilde sich entwickelt hätte, das ohne grossen
Sprung nun zu einem ganz ausserordentlich wichtigen Organ werden
könnte? Ebenso sehe ich die Kiemen der Krebse an. Die Respiration
ging — darin stimme ich ja vollständig mit Fritz Müller überein —
anfänglich gewiss nicht in Kiemen vor sich , — localisirte Athmungs-
Organe, und das sind für Wasserbewohner eben Kiemen, konnten sich
nothwendiger Weise erst durch eine vorschreitende Arbeitstheilung
entwickeln. Aber die Organe, welche für diese Function in Beschlag
genommen wurden, konnten nicht durch die Function selber ins Leben
gerufen sein, sondern mussten durch weniger fundamentale Thätig-
keiten so weit herangebildet werden, dass die Athmungsfunction all-
mählich in ihnen sich localisiren konnte, wonach sie dann freilich durch
fortdauernden Gebrauch in ihrer Organisation soweit gesteigert und
vervollkommnet wurden , dass man sofort aus ihrer Structur erkennen
kann, welcher Funktion sie dienen. Ich kann mir schwer vorstellen,
dass am Körper der Krebse irgendwo Ausstülpungen entständen , die
sofort für die Athmungsorgane beibehalten würden. Sie würden wieder
zu Grunde gehen , und dann wäre das Thier ohne Athmungsorgane.
Und besonders schwierig würde es , wenn wir bedenken, dass de Be-
wegung des Wassers an diesen Ausstülpungen nothwendig ist, dass also
die Ausstülpungen nur dann erfolgreich wirken könnten, wenn vorher
schon Organisationen bestehen, \a eiche diese Bewegung des Wassers
vornehmen. Woher aber dann diese Organisationen ? Es wird ja ein
Ciikelschluss. Sehen wir statt dessen den ganzen Entwickelungspro-
cess als einen Wechsel der Functionen und eine Theilung der Arbeit an,
so wird es spielend leicht , wie ich schon oben zeigte , die Kiemen der
höchst organisirten Krebse aus Bildungen abzuleiten, die in dem Zeit-
raum zuerst auftraten, welche zwischen Zoea und den Phyllopoden
mitten inne liegt, uns aber in besondern Formen nicht mehr erhal-
ten sind.
Aber — wirft mir mein Gegner ein - die Kiemenanhänge der
C^pridina haben doch augenscheinlich nichts mit Schwimmbeinen zu
Ihun, sie sind und bleiben sackförmige Ausstülpungen der Körperwand,
und ihre hohe Lage neben der Mittellinie des Rückens beweist uner-
bittlich gegen die versuchte Ableitung aus Organen , die bereits vorher
bestanden hätten.
Das scheint freilich so, wenn man die Meinung Fritz Müller's theill,
(ißsdiichte des Krebsstamnies. 1 4 |
(iass die Cypridinen unabhänc;ii; von früheren, höher dineren/irten
Formen aus demNauplius liervoi'geü;ani;en seien. Dann sind die p[iemen-
säcke sicherlich nicht andeis aulzufassen und zu (Mklären. Aber die
Sachlage ändert sich mit einem Schlage , wenn ich Recht habe , und
Cypridina nur ein Abkömmling der schallragenden Phyllopode n
ist. Denn li a n n \v e r d e n die K i e in c n s ii e k e die 1 e l z t e n Leber-
I feste der h i im- früher vorhanden gewesenen Extre-
mitäten I
Auch für diesen Satz brauche ich nicht bei der blossen Behaui)hini:
stehen zubleiben. Fritz Müller selbst liefert Beweise. Von C. niti-
dula sagt er, wie schon citirt, die Zahl der Kiemen sei geringer bei
jungen Thieren, und von den Jungen derC. Agassizii, die die Schale
der Mutter noch nicht verlassen hatten, giebt er selbst mit Bestimmtheil
an, sie hätten nur drei Kiemenpaare besessen, die von vorn nach hin-
ten an Grösse zunahmen. Die hintersten Kiemen seien also wahrschein-
lich die ältesten.
Diese allmähliche Vermehrung der Kiemen ist ein Fingerzeig, wie
er nicht besser verlangt werden kann, zu Gunsten meiner Inter-
pretation. Denken wir uns, die jetzigen Kiemen der Cypridina seien
noch vollständige Extremitäten , so würden wir nicht im Geringsten
erstaunt sein, zu finden, dass mit zunehmendem Wachsthum die Zahl
der FAtreinitälen zunähme. Wir würden an den Extremitäten zu fin-
den erwailen, was wir bei den Phyllopoden kennen gelernt haben, also
ausser einem gelappten Innentheile auch einen platten Kiemenanhang
an der Aussenseite zunächst der hisertion. Mit den Extremitäten zu-
sanmien würden wir aber ebenso viele Segmente des Körpers erhalten, —
mithin einen viel gestreckteren und ausgedehnteren Körperumfang.
Wir sahen aber, dass bei den schaltragenden Phyllopoden die Tendenz
bestand, die Metamerenbildung nach Möglichkeit einzuschränken, und
die früher bestandene grosse Zahl aufzugeben und stetig zu verringern.
So verschwanden also bei dem Uebergange aus den Phyllopoden zu
Cypridina allmählich die Metameren und mit den Metameren die Extre-
mitäten. Dies Verschwinden brauchen wir aber nicht in allen Fällen
als ein einfaches Ausbleiben ihrer Bildung zu verstehen, sondern wir
können ebensowohl annehmen, dass eine Reihe von Metameren ver-
wuchsen, dass der so verwachsene Theil sich allmählich in toto ver-
kürzte, dass aber von den Extremitäten die Basalabschnilti- noch längere
Zeit fortbestanden und dass, da ihre Kiemenabschnitte sehr nützlich für
das Thiei' sein konnten , diese schliesslich allein von der ganzen er-
loschenen Melamerenreihe übrig blieben und sich nun wegen des be-
schränkten Raumes über einandei' schoben. Was ferner das Argument
142 Dr. Ant. Dohrn,
betrifft, die hintere Kieme bei der jungen C. Agassizii sei die grösste
gewesen , mithin wahrscheinlich das Wachsthum der Kiemensäcke von
hinten nach vorn vorschreitend, so ist dagegen die Abbildung der Kiemen
des erwachsenen Männchens zu citiren , die Fr. Müller aul' Tafel VIII.
Fig. %C) br. giebt, welche beweist, dass die Kiemen von der Mitte nach
beiden Seiten an Länge abnehmen, mithin ein Wachsthum nach hin-
ten jedenfalls stattfindet.
Und nun zu den Putzfüssen ! Dass in der Thal diese Putzfüsse von
grosser Wichtigkeit sind , beweisen die zahlreichen Apparate , welche
bei andern Crustaceen für dieselbe Function eingerichtet sind. Fritz
Müller selbst macht darauf aufmerksam, dass die Füsse des letzten
Brustringes bei Porcellana, Hippa und Pagurus als Putzfüsse
verwendet werden und für solche Function vortrefflich eingerichtet sind.
Ferner erwähnter, dass schon Zenker ^) das zweite Fusspaar der Cypri-
den als ein solches Paar Putzfüsse ansieht. Auch von den Krabben
erwähnt derselbe geistreiche Forscher einen derartigen Apparat zum
Reinigen der Kiemen; als solcher dienen die Geissei -Anhänge der
Kieferfüsse, die in der Kiemenhöhle sich hin und her bewegen. Ich
selbst habe bei den Cumaceen eine ähnliche Vorrichtung beschrieben:
dort wird ein Ast des zweiten Maxillenpaares zum Putzen verwandt ^j ;
bei Tanais hingegen ist ein Ast des ersten Maxillenpaares behufs
Reinigung der Kieme nach hinten gewandt'*).
Man sieht, diese Function, die in directer Abhängigkeit von der
Art und Gestallung und vor allen von der Lage der Kiemen stand, konnte
nicht constanl an ein und dasselbe Organ gebunden sein, — von ihr ist
eher vorauszusetzen, dass sie sich bei den verschiedenen Krebsordnun-
gen immer neu gebildet hat und wohl erst in späterer Zeil allgemein
geworden ist. Ob hier Fr. Müller nun im Rechte ist, wenn er meint,
die Putzfüsse Cypridina's seien dem letzten Fusspaar der C ypri den
homolog, das lasse ich dahingestellt, — aber es ist nichts dagegen ein-
zuwenden. Nur das Studium der Entwickelungsgeschichte kann uns
darüber endgültigen Aufschluss geben , welcher Extremität dieser son-
derbare Apparat entspricht. Es bleibt indess in)merhin möglich , dass
die früheren Forscher nicht ganz im Unrecht sind, wenn sie in diesen
sonderbaren , geringelten Anhängen Aehnliches erblicken wollten , wie
die Eiertragenden Röhren bei Limnetis etc., denn ist einmal die Ab-
stammung von den Phyllopoden für Cypridina zugegeben, so ist es
1j Anatom. -systematische Studien über Krebsthiere. Berlin 1854. pag. 17.
2) Bau und Entwicl^elung der Cumaceen. Jenaische Zeitschr. V. pag. 72.
3) Bau und Entwickeiung von Tanais. Jenaische Zeitschr. V. pag. 301.
fieschirlitp des Kicbsslanimes. 1 4'.^
ftuch nicht mehr unwahrschtnnlich, dass ein sonderbar ü;eslalleler An-
lianii, welcher bei den einen zum Trafen der Kier dienl, bei der andern
/um Heinhalten der Kiemen verwendet wird. Doch — wie gesagt —
das ist nur durch directe Beobachlune; der Entwickelung zu entschei-
den, — und darin hat Fr. Milikh unbezweifell Recht, w(Min ei- dagc^gen
piotestirl, dass die Function iiizend eines sonderbaren Anhangs ohne
Weiteres als den Generationsbeziehungen angehörig aufgefassl wird.
Eine Schwierigkeit ist aber immer noch aus dem Wege zu lüuinen.
Nach Fk. Müller's Angaben entbehrt C. Grubii der Kiemen; auch ist
zu vermuthen , dass dieselben der C. ob longa ebenfalls fehlen, da
Grube nichts von ihrem Bestehen anführt; ebensowenig giebt Lii.lje-
BORG eine Andeutung von ihrem Bestehen bei C. globosa. Sollte nun
hier wiederum etwa ein Beweis gefunden werden können , dass die
Kiemen der andern Cypridinen Neubildungen , nicht letzte Ueberreste
von Extremitäten seien? Ich denke nein. An und für sich wäre es
höchst unwahrscheinlich , dass solche Neubildungen nur bei einem
Theile so nah verwandter Thiere aufgetreten wären , während bei den
übrigen gar keine Spur davon zu entdecken ist. Man meint zwar, dass
bei Mysideen ähnliche Verhältnisse vorlägen, allein durch G. 0. Sars'
Untersuchungen ist die behauptete Kiemenlosigkeit von Mysis als ein
Irrlhum nachgewiesen werden. Aber trotz des Mangels der Kiemen bei
den drei obgenannten Arten finden wir doch die Putzfüsse wohl ent-
wickelt. Es wäre somit nur anzunehmen , entweder: die Function der
letzteren ist nicht nur die Reinigung der Kiemen , sondern auch andrer
Theile, oder: die Kiemensäcke der drei Arten sind zu Grunde gegangen,
werden vielleicht noch bei den Jungen zum Vorschein kommen, gelangen
aber nicht mehr zu vollständiger Entwickelung. \n beiden Alternativen
steckt viel Wahrscheinliches, so dass wir uns wohl dahin einigen können,
beide als wahr anzunehmen und ihrem Zusammenwirken das uns jetzt
vorliegende Resultat zuzuschieben. Die Putzfüsse werden sicherlich
auch die schwingenden Platten in ihre Obhut nehmen , vielleicht über-
haupt den ganzen Rinnenraum der Schalen in Ordnung halten. Und
dass die Kiemen allmählich zu Grunde gingen, das kann uns um so
weniger erstaunen , als sie überhaupt nur — wenigstens nach meiner
Deutung, — als rudimentäre Bildungen aufzufassen sind, und in der
Weiter- Entwickelung der Ostracoden-Ordnung in der That völlig ver-
schw^unden sind, denn dieCypriden und C y theri den entbehren
ihrer völlig.
Ich gehe zu einem andern Organe über, dessen Bestehen bei
Cypridina Fr. Müller gleichfalls zu eingehenden Erwägungen ver-
anlasst hat: das Herz. Dasselbe lie^t als ein einfacher Sack an der
144 Dr. Ant. Dohrn,
Stelle, wo die Schale mit dem Körper in Verbindung tritt, — wo wir
es auch bei der Zoöa fanden. »Es nimmt das Blut von hinten und
unten auf und sendet es nach vorn und oben.» So berichtet Fr. Müller.
Hören wir weiterhin desselben Forschers Betrachlungen über dies
Organ '] .
»Calanidenund Pon teil i den einerseits, Cypridinen andrer-
seits, stimmen auch darin überein, dass sie die einzigen Familien ihrer
Ordnung sind, die ein Herz besitzen, und dies Herz hat bei beiden etwa
dieselbe Lage; ob genau dieselbe, ist wegen der bei Cypridina
mangelnden Gliederung des Leibes nicht zu sagen. Dabei drängt sich
denn natürlich die Frage auf, wie diese übereinstimmende Lage des
Herzens zu erklären sei.« — --Sie würde sich am einfachsten erklären
lassen , wenn wir annehmen dürften , dass schon die gemeinsamen
Stammeltern der Copepoden und Muschelkrebse ein Herz an
gleicher Stelle besassen und auf die genannten Familien vererbten,
während dasselbe bei der Mehrzahl der Copepoden sowie bei C y p r i s
und Cythere im Laufe der Zeiten verloren ging.«
«Zu Gunsten der Annahme, dass schon die gemeinsamen Stamm-
ellern von Copepoden und Muschelkrebsen ein Herz besassen, lässt
sich gellend machen, dass schon die Nauplius von Peneus ein Herz
haben , wodurch das sehr frühe Auftreten desselben bei den Knistern
wahrscheinlich wird; ferner, dass, wie erwähnt, gerade die mit einem
Herzen versehenen und auch sonst höher stehenden Familien beider
Ordnungen der Urform unverkennbar ähnlicher sind, als die übrigen
niedriger stehenden, des Herzens entbehrenden Familien, dass keinen-
falls erstere aus letzteren, dass weit eher letztere aus ersteren hervorge-
gangen sein können. Dafür, dass das Herz verloren gehen könne, liefern
unter den Gliederlhieren die Milben den Beweis. Der Mangel des
Herzens scheint bei diesen in ursächlichem Zusammenhange zu stehen
mit der gelingen Grösse ; natürlich ist das Herz um so entbehrlicher,
zu je winzigerem Umfange der Körper herabsinkt. Von den Muschel-
krebsen wissen wir nun, dass sie früher eine weit ansehnlichere Grösse
erreichten ; auch ohne die handgreiflichen Beweise , die uns ihre ver-
steinerten Schalen liefern , würde die geringe Zahl der an Gattungen
1) Ich brauche gewiss nicht hinzuzusetzen, dass meine Polemik gegen Fritz
Müller's Meinungen aus dem reinsten Sach- Interesse stammt. Gerade diesem
Forscher schulde ich persönlich sehr viel , denn seine Schrift »Für Darwin« ist der
Ausgangspunkt meiner Studien gewesen. Wenn ich jetzt mehrfach in Widerspruch
mit Müllers Meinungen stehe, so beweist das nur, dass es sich um schwierige und
vielfacher Interpretation zugängliche Verhältnisse handelt, über welche man bei
gründlichster Kenntniss doch sehr wohl verschiedener Meinung sein kann.
Geschichte des Krebsstamraes. 145
armer, scharf ijoschiedener Familien schliessen lassen, dass wir in den
heutigen Muschelkrobsen nur kümmerliche Reste eines früher weit
reicher entfalteten Formenkreises vor uns haben. Möt^lich, dass in
inleicher Weise, wie bei den Milben . auch b(M ihnen das Herz mit Ab-
nahme der Grösse gesch\\unden ist.« — «Immerhin, wenn auch wahr-
scheinlich, kann die Annahme eines Herzens für die gemeinsamen
Stammeltern von Copepoden und Muschelkrebsen nicht als erwiesen
gelten.
»Die zahlreichen ('opepoden ohne Herz (Cyclopiden, Harpac-
tiden, Peltidien und Corycaeiden) und auch Gypris und
C y the r e haben im Uebrigen nicht das Aussehen verkümmerter Thiere.
Und auch ohne jene Annahme lässl sich die gleiche Lage des Herzens
bei Galan i den und Gypridi nen erklaren, wenn man die Weise ins
Auge fasst, in der bei den Arten ohne Herz das Blut bewegt wird.
»Bei den G yclopiden. Ha rpactiden und Peltidi en übernehmen
die fast rhythmischen Bewegungen des Magens, in welchen derselbe
zum Theil durch äussere Muskelzüge aufwärts gezogen und dann wie-
der in entgegengesetzter Richtung herabgedrängt wird , die Function
des fehlenden Girculationsorgans und bringen die im Leibesraum be-
fmdliche Blutmenge in eine gewisse Strömung i).« — Ganz dasselbe
sah ich bei einer grossen, ziemlich durchsichtigen Gypris, bei welcher
gleichzeitig auch die Leberschläuche sich regelmässig zusammenzogen.
Die Bewegungen der obern Magenwand , sowie der von ihi' nach oben
gehenden Muskeln geben ein so täuschendes Bild eines über dem Magen
liegenden Herzens, dass ich immer wieder ein Herz zu sehen glaubte,
nachdem ich mich längst auf das Bestimmteste von dessen Abwesenheit
überzeugt hatte.
»Das Blut wird also von derselben Stelle aus in Bewegung gesetzt
bei den Arten mit und bei denen ohne Herz, und an dieser Stelle würde
bei letzteren am leichtesten ein Herz sich bilden können , etwa indem
die schmalen Muskelzüge, die jetzt hier sich linden, breiter würden, zu
einem Schlauche zusanmienträten und selbstständig sich zusammen-
zögen. Die gleiche Lage des Herzens bei Gypridinen und Galaniden
würde sich also daraus erklären, dass schon in frühester Zeit , schon
bei deren gemeinsamen Stammeltern, wenn denselben auch ein Herz
fehlte, doch schon von derselben Stelle aus, wo bei ihren Nachkommen
das Herz liegt, die Bewegung des Blutes ausging.« — »Unter den bis
jetzt bekannt gewordenen Copepoden ohne Herz stehen einige 'z. B.
Oithona den Galaniden so nahe, dass möglicher Weise sich noch
1i Claus, Die frei lebenden Copepoden. paii 61.
Bd. VI. 1. 10
1 46 f^r. ^nt. Dohrn,
Uebergangsformen finden werden , die auch in Bezug auf das Herz die
Mitte halten zwischen Calaniden und Cyclopiden oder Cory-
caeiden, Arten, die ein im Vergleich mit dem der Calaniden unvoll-
kommenes Herz besitzen , und solche Arten dürften dann vielleicht,
namentlich durch ihre Entwickelungsgeschichte,* Aufschluss darüber
geben , ob ihr Herz als ein werdendes oder ein verkümmerndes zu be-
trachten sei, und damit die Frage entscheiden , ob die Stammeltern der
Copepoden und Muschelkrebse des Herzens entbehrten oder mit einem
solchen versehen waren.«
Wie man sieht, ruht auch auf dieser Frage, einer wahren Herzens-
Frage, eine bedeutende Verantwortlichkeit für die Entscheidung der
genealogischen Streitfrage. Mit der directen Ableitung der Cypridinen
vom Nauplius konnte Fr. Müller freilich nicht aus diesem Zweifel her-
aus. Uns geht es besser. Wir nehmen aus all den bisher angeführten
Gründen an, die Phyllopoden seien die Vorfahren Gypridina's ge-
wesen, und daraus folgt dann von selber, dass ihr Herz nur ein auf
sehr bescheidene Dimensionen reducirles Phyllopoden -Herz ist. Dass
es an derselben Stelle hegt, wie beiZoea, beweist erstens, dass wir im
Rechte sind, Zoea für den allgemeinen Durchgangspunkt aller lebenden
Krebse zu erklären , zweitens, dass bei Beschränkungen eines anfäng-
lich höheren Entwickelungszustandes zurückgegriffen wird auf frühere
Organisationsstufen. Zugleich können wir daraus lernen, wie vorsich-
tig man mit der genealogischen Werthschätzung eines einzelnen Organs
sein muss. Dem Herzen zufolge könnte in der That Cypridina ein
directer Abkömmling der Nauplius sein — auch die Gestaltung der
drei ersten Gliedmaassenpaare wird von Fr. Müller in demselben Sinne
gedeutet — aber die Kiemen , die Putzfüsse und die schwingenden
Platten der übrigen Extremitäten, sowie die Beschaffenheit der Schale
und des Pleon legen dagegen Widerspruch ein — und , w ie ich hoffe
gezeigt zu haben — erfolgreichen Widerspruch.
W'ir sind aber mitCypridina noch nicht fertig : es bleibt noch
die oben erwähnte Gestaltung der vorderen drei Extremitäten-Paare zu
erörtern und auch ihr Gewicht gegen die Annahme meiner genealogischen
Ableitung zu verringern.
Zunächst möchte ich mich principiell mit Fritz Müller's Vorschlag
einverstanden erklären, das zweite Extremitätenpaar der Ostracoden
nicht Antennen, sondern entweder Schwimm-Antennen — was ja wohl
mit dem ursprünglichsten Sinne des Wortes »Antennen« eher zusammen-
trifft, als der Ausdruck »Fühlhörner« oder »Fühler«, oder geradezu
Schwimmbeine zu nennen. Es scheint mir logischer zu sein , wenn
wir lieber die Fühler »Fühlbeine« oder »Tastbeine« nennen, als wenn
(•eschichte des Kiebsstaiiiiiies. 147
wir die zum Scbwiinnu'n benutzten vordersten Extremitäten als
Schwimm fühl er aufführen. Dennoch aber liisst sich auch ein
wohl zu beachtender Standpunkt denken, von dem aus der Aus-
druck »Schwimmfühh^i« seine besondere Berechtigung gewinnt.
Wenn wir nämlich annehmen dürfen, dass die als Schwimm-Extremi-
täten benutzten Gliedinaassen früher in der That als last -Organe, als
Fühler, gebraucht win'den, so läge schon in dem Namen »Schwimm-
fühler« der Ausdi'uck diesei' Krkennlniss. Indess — die Terminologie
innei'halb iler Arthropoden ist (MIi Gebiet, dessen Darstellung ohne
Weiteres in die Hexenküche verw lesen werden muss, — und erst nach
Reinigung der Morphologie wird man auch an eine vernünftige Fest-
stellung der Tei-minologie denken können.
Fritz Müller geht gleichfalls scharf ins Gericht mit dem Ausdruck
Gribe's »Mandibelpaipenw. Kr wünscht den Namen »Kinnbackenfüsse«,
und aus denselben Gründen, die ich oben angeführt habe, kann ich
auch dazu meine Zustimmung geben. Freilich aber nicht zu der daran
geknüpften Auseinandersetzung , soweit sie die Mandibeln der Malaco-
slraken betriHt. Es ist zwar richtig, dass die Mehrzahl der Zoea ohne
Mandibidartasler lebt, aber eben nur die Mehrzahl und nicht wie Fritz
Mlller meint: alle Zoea. Keinen Augenblick zweifle ich aber daran,
dass der bei den Decapoden später auftretende Taster homolog ist dem
ursprünglich hier vorhanden gewesenen Schwimmbein des Nauplius.
Das beweist unter anderm schlagend die Entwickelung der Mandibel
bei AseUus und bei Guma; bei beiden legt sich zuerst der Taster
an , und erst später keimt daran der Kautheil , der dann freilich bei
Cuma allein übrig bleibt. Diese Taslerlosigkeit der Zoea -Mandibel
hat zum grossen Theil mit dazu beigetragen von der Zoea die Insecten
herzuleiten — ein Unternehmen, das in meinen Augen als gescheitert
anzusehen ist, aus andern Gründen , doch aber auch schon wegen die-
ses Umstandes, dass der Tastet' der Zoea nui* zeitweilig verschwunden ist.
Aus der Thatsache aber, dass bei Cypridina sowohl das zweite
wie das dritte Gliedmaassenpaar an der Locomotion sich wesentlich
betheiligen, das eine beim Schwimmen, das andere beim Kriechen,
folgt noch nicht, dass dies direct vom Nauplius herstammende Organi-
sation sei , sondern zufolge all den übrigen Nachweisen haben wir es
hier nur mit einer Art von Rückbildung zu Ihun. Indess sahen wir
schon diese Rückbildung innerhalb der schaltragenden Phyllopoden
wirksam, denn schon hier sind die untern Antennen w ieder als Schwimm-
Exlremitälen in Amt und Würden. Den KinnbacRentaster, oder genea-
logisch richtiger ausgedrückt, die dritte Nauplius-Extremität war aber
noch nicht zum Kriechfuss umgewandelt.
10*
148 Dr. Ant. Dohrii.
Fritz Muller erwähnt ferner noch, dass ein männliches Copu-
lationsorgan bestände, zusammengesetzt aus einem Stamm und zweien
Aesten, deren jeder in zwei Säckchen gespalten sei. Er äussert zugleich
die Vermuthung , man könne dasselbe für ein umgewandeltes, zwei-
ästiges Fusspaar halten — eine Meinung, die auch Claiis zu theilen
scheint, wenn er zwei cylindrische Zapfen, die sich vor dem Schwanz-
ende ßnden, als Generationsorgane anspricht — freilich bei Weibchen.
Es ist wohl sehr möglich, dass diese Deutung zu Recht besteht, unddass
wir es hier denn mit noch einem rudimentären Fusspaar zuthun halten.
Dabei ist gleich darauf hinzuweisen, wie die Lage der Eier bei
Cypridina für die nahe Verwandtschaft mit den Cladoceren spricht.
Wir wissen, dass beiPhyllopoden die Eier auf mannichfaltige Weise ge-
tragen werden, ja dass viele derselben sie einfach ins Wasser faüen
lassen und dem Zufall und dem Regenwetter die Ausbrütung über-
lassen. Wir wissen aber auch, dass unter den Schalträgern n)ehrere
die Eier an besonderen Theilen gewisser Extremitäten tragen ; — bei
der Verkürzung des Leibes aber, und der damit nothwendig erfolgen-
den Reduction der Extremitäten-Paare fielen offenbar auch diese Eier-
träger aus — falls wir nicht in den Putzfüssen einen solchen zu neuer
Function und darum zu neuer Gestaltung ausgebildeten Anhang zu
erkennen haben — und die Eier ujusslen anders untergebracht werden.
So geriethen sie in den Hohlraum zwischen Schale und Rücken und
wurden dort durch einen Auswuchs festgehalten. Versuchen wir uns
diese Verlegung der Eier zu erklären, so leuchtet ein, dass bei dem
allmählichen Verkürzungsprocess des Körpers sicherlich kein Raum
übrig blieb für die zeitweilige Unterbringung der Eier ausser an einer
Stelle, welche dem leitenden Princip bei der Schalenbildung nicht ent^
gegen war. Dies Princip war aber möglichst rasche und vollständige
Verschliessung des ganzen Körpers — so wurden die Eier schliesslich
da angebracht, wo sie am wenigsten gegen dies Princip verstiessen —
am Rücken unter der Schale, wo sie zugleich am sichersten waren. Die
llnterbi-ingung der Eier war natürlich eine der wichtigsten Angelegen-
heiten — da sie aber für den morphologischen Umwandlungsprocess
nicht von so entscheidender Bedeutung ist, wie viele andere Functionen,
so werde ich sie am Schlüsse oder in einer andern Arbeit im Zusammen-
hange darstellen , und dann auch nochmal auf die Lage derselben bei
Cypridina zurückkommen.
Von Interesse ist schliesslich noch das Paar der zusammengesetzten
Augen. Wir sehen es deutlich gestielt bei Zoöa, in der Anlage sogar
schon bei Archizoea. Die Phyllopoden Hessen gleichfalls noch deut-
liche Augenstiele erkennen, und so lange das freie, Schwimmen das
Geschichte des Krebsstaminps. 1 49
Uauptaugenniciik dor iNalürlichen Züchtung w.w, so hinge iiui.sslcn iiiich
frei bewegliclu» , lange Augeiislicle förderlich sein. Sobald aber die
Schalenbildung auftrat, das Schwimmen aufgegeben wurde und statt
^ dessen das Leben am Meeresboden und am Ufer begann, war auch dei"
Vortheil der gestielten Augen vorbei. Vor allen Dingen landen sie keinen
Platz in der Schale. Es musste also das Bestreben nach Verkürzung,
wie an dem ganzen Körper, so auch hier sich bewahrheiten . und so
sehen wir denn schon bei den Schalträgern unter den Phyllopoden, wie
die Stiele völlig schwinden, die Augen immer näher an einanderücken,
so dass z. B. bei Limnadia die Hornhäute derselben sich auf der
Innenseite an einander abplatten. Freilich wäre bei solcher Lage die
Inbeweglichkeil des Auges ein grosser Nachtheil, — so sehen wir nun
auch die Musculatur der Augensliele sich direcl an die Hornhaut be-
geben und das Auge in seiner Kapsel zitternd hin und her bewegen.
Die näheren physiologischen Umstände des Sehactes bei den Augen
dieser Art sind uns freilich noch unbekannt.
Bei Cypridina ist der Verkürzungsprocess nun noch nicht so
weit gegangen, wie bei den heuligen schaltragenden Phyllopoden. Wir
finden die zusammengesetzten 'Augen noch auf kleinen Stielen sitzen,
aber unbeweglich und im Innern der Schale, so dass sie weder in Ge-
fahr sind, noch Gefahr für das Thier verursachen, indem sie etwa den
vollständigen Verschluss verhinderten. Dies Factum scheint zu be-
weisen, dass Cypridina sich von Phyllopoden abzweigte, deren
Augen ebenfalls noch unverschmolzen waren. Andererseits haben die
Cladoceren völlig verschmolzene Augen, — noch in höherem Grade
als Limnadia, ^ theilen indessen mit Cypridina die Art der Ei-
Lagerung zwischen Rücken und Schale, und die Bildung dorsaler An-
hänge in der Mittellinie um die Eier vor dem Hinausfallen zu bewahren.
Wir können daraus schliessen , dass die Phyllopoden-Familie, die nach
den drei Richtungen sich weiter entwickelte — Limnadia, Daphnia,
(]ypr,idina — noch nicht im Besitz der beiden Eigenlhümlichkeiten
war, da sie sich sonst bei allen drei Abtheilungen gemeinsam zeigen
miisslen.
Gehen wir nun über zu den beiden anderen Ostracoden-Familien,
zu den Cypriden und Cytheriden. Hier liegen die Verhältnisse
nun keineswegs so einfach, wie man wohl glauben könnte, wenn beide
Familien zusamn)en mit Cypridina als eine Ordnung betrachtet wer-
den, und man nur darüber unschlüssig ist, ob Cypridina odcM-
Cypris ursprünglicher sei. Trotz scheinbarer Aehnlichkeit ist die
Organisation der beiden F'amilien doch so abweichend von der Cypri-
dina's, dass ich — legte ich überhaupt Gewicht auf die Abtrennung
150 . Dr. Aiit. Dohrii,
von Ordnungen und Einführung besonderer Namen, — sicherlich für
Cypridina einen anderen Ordnungsnamen vorschlagen würde, als
für Cypris und Cythere.
Claus hat ungefähr eine ähnliche Meinung, denn er sagt ') : »Wenn
man die Ostracoden in die drei Familien der Cypriden, Cythe-
riden und Gypridinen unterscheidet, so hat man vor Allem nicht
aus dem Auge zu verlieren, dass die Gypridinen von beiden ersteren
Gruppen weit mehr als diese unter einander abweichen.« Er giebt
dann die Gründe an , die ihn zu dieser Meinung bewegen, — Gründe,
denen ich unbedingt beipflichte.
Da ist vor Allem Gewicht auf die Schalenmusculatur zu legen.
Während nämlich die Schalenmuskel Cypridina 's zwei sich kreuzende
Bündel oben an der Schale bilden, zwischen denen das Herz sich findet,
die also über dem Darmcanal liegen, sind die Schliessmuskeln bei
Cypris und Cythere Gebilde, die unter dem Darmcanal sich vor-
finden und den Innenraum des Körpers zwischen Darmcanal und Ner-
vensystem quer durchsetzend , sich an die äussere Schalenlamelle an-
setzen. Dieser Unterschied gilt mir für sehr bedeutend, und für um so
wichtiger, als wir die Bildung der Musculatur von Cypri s und C y ihere
wiederfinden innerhalb der schaltragenden Phyllopoden , wie z. B. bei
Limnadia, während die Befestigung der Gypridinen -Schale ein
Analogen bei Apus finden, dessen Schild in ähnlicher Weise mit dem
Körper verbunden ist. Mit diesem Vergleich soll keineswegs angedeutet
werden, dass etwa Cypridina zu Apus in näheren Beziehungen
stände, aber es kann daraus geschlossen werden, dass vielleicht Cypri-
dina und Cypris resp. Cythere nicht von denselben Phyllopoden
abstammen. Doch verfolgen wir erst die Organisation der beiden letz-
teren näher.
Claus sagt : »Abgesehen von der Eigenthümlichkeit in der Anord-
nung der SchUessmuskeln unterscheiden sich die Gypridinen von
den anderen Os tracodenfamilien durch den Besitz eines Herzens,
ferner eines paarigen , zusammengesetzten Auges und endlich durch
den gesammten Körperbau und die Bildung der Gliedmaassen.«
Da bleibt freilich des Uebereinstimmenden Wenig übrig.
Auf den Mangel des Herzens will ich den geringsten Werth legen,
weil bei so kleinen Geschöpfen dies Organ leicht entbehrlich wird, —
wie schon oben das Cilat aus pRrrz Müller's Aufsatz näher ausfuhrt und
ich bei der Besprechung der Nauplius- Organisation hervorhob. Schon
wichtiger ist der Mangel der zusammengesetzten Augen. Allein auch
<) 1. c. pag. U4.
Geschichte des Krebsstamraes. 1 51
dieser beweist iiiclils l'iir oder gegen den direeten genea logischen Zu-
sammenhang dei- beiden Os t la coden - Abllieihingen.
In derGestaltung derGliedmaassen dagegen liegen schon wichtigere
Anzeichen vor, dass C ypridina wohl weiter von den anderen Ostra-
coden zu trennen ist, als man gewöhnlich annimmt. Erstlich finde!
man an dem zweiten Paare keinen Nebenast mehr, — der könnte indess
gleichfalls in dem allgemeinen Gange der Riickentwickelung dieser
ganzen Familie zu Grunde gegangen sein. Aber die Gestaltung des
dritten Paares, der Mandibeln und ihrer Anhänge, scheint definitiv
gegen den direeten Zusammenhang zu sprechen. Dasselbe ist nämlich
noch mit einem deutlichen Schwimmbein versehen , dessen einer Ast
(Mne mit Borsten versehene mehrgliederige Walze darstellt, während
der andere als Platte einigermaassen den schwingenden Platten der
Phyllopoden-Extremitäten gleicht, aber keinenfalls mit ihnen für homolog
zu erachten ist. Er erinnert vielmehr an die Gestalt der Cope poden-
Mandibeln. Dann weicht auch die Gestalt der ersten Maxille beträcht-
lich al), an der man eine grosse schwingende Platte findet. Die drei
folgenden Gliedmaassen sind ganz verschieden von Cypridina's
Organisation. Erstlich besitzt dieselbe nur ebenso viel , wenn wir die
Putzfusse hinzurechnen, zweitens sind sie phyllopodenartig d. h. blatt-
förmig und mit schwingender Platte versehen , während C ypri s und
Cythere erstere zwei, letztere drei walzenförmige Kriechbeine
besitzen.
Dann fehlen beiden Cypris und Cythere jede Spur von Kiemen, —
als Putzfuss kann dagegen der letzte Kriechfuss gelten, des.sen letztes
Glied innen gekämmt und mit Härchen versehen ist.
Wesentlich vertchieden ist ferner die Gestall der Pleon-Anhänge,
die bei Cypris völlig einem Schreit- Beinpaar gleichen, während sie
bei C yp r i d i n a noch entschieden als Steuerruder verwerthet und dem-
gemäss auch gestaltet sind.
Grundverschieden ist nun aber die innere Organisation. Sie wirft
ein grelles Licht auf die Art und Weise , wie wir gewöhnlich hohe und
niedere Organisation beurtheilen. Während nämlich nicht zu leugnen
ist, dass die äussere Gestaltung der Cypriden eine niedere ist, — wenn
ich mich des Wortes im gang und gäben Sprachgebrauch bediene, —
so ist die innere Organisation äusserst niannichfaltig und complicirt, also
von hoher Entw ickelungsstufe. Man erkennt klar, wie wenig gründlich
das gewöhnliche Urtheilen über hohe und niedrige Organisation ist,
wenn es darauf zielt, etwas Festes und Absolutes damit auszudrücken.
Es wäre gänzlich überflüssig, überhaupt diese Grad -Unterschiede und
Werthbeziehunaen der verschiedenen Organisationen untei- einander
152 Dr. Aiit. Dohrn.
vorzunehmen , wenn man sich nicht über ein Grundprincip einigen
kann , nach dem die Werthe bemessen werden. Ein philosophisch zu
begründendes und halbwegs festes wäre das, welches ich an einer
andern Stelle schon anführte^ , dessen Kriterien aus der geringeren
oder ausgedehnteren Perception der Aussenwelt hergenommen wurde,
welche dem Organismus durch seine Sinnesorgane zuganglich würde.
Dies Kriterium mag man benutzen, wenn es sich um Untersuchungen
handelt, bei denen noch etwas Anderes gesucht wird als die reine, von
allen Nebenbeziehungen abgelöste Morphologie. Diese aber sollte sich
des Comparirens füglich enthalten.
Cypris undC ythere lassen uns ein sehr complicirtes Verdauungs-
rohr erkennen. Es sind in demselben eine Reihe der mannichfaltigsten
Apparate zu mechanischer Zerkleinerung der Nahrung vorhanden, ebenso
auch vielfache Abstufungen der zu chemischen Einwirkungen tauglichen
Organe; ganz besonders abweichend von der Organisation Cypri-
dina's sind die grossen Lebenschläuche, die bei Cypris in den
Schalenhälften liegen, ebenso die rechenartigen Kauapparate und Leisten-
bildungen des Magens.
Was dann ferner die Organisation des Geschlechtsapparates an-
langt, so brauche ich nur auf Zenker's-} vortreffliche Darstellung zu
verweisen, die Derselbe mit den Worten einleitet: «Wohl bei wenig
anderen Thieren ist der Genitalapparat in gleicher Kraft ausgebildet,
wie bei den Ostracoden. Er füllt bei den Cypriden etwa die Hälfte des
ganzen Leibes aus und erstreckt sich in alle Theile desselben. Fast das
ganze Abdomen ist zu geschlechtlichen Functionen ausgebildet. Auch
die Schönheit und bedeutende Grösse der Zoospermien ist ein Zeichen
dafür. Bei den Cytheren finden diese Verhältnisse zwar nicht in dem-
selben Grade statt, sind aber doch besonders im weiblichen Geschlechte
sehr hervortretend.« Das sieht auch nicht nach niederer Organisation
aus. Ob freilich alle Deutungen Zenker's ganz richtig sind, das steht
dahin ; keinenfalls aber wird dadurch , dass er sich etwa über die Be-
deutung dieses oder jenes Apparates täuscht, der Apparat einfacjier.
Versuchen wir nun, ob wir die Gestaltung und Bauart der C ypri-
den und Cylheriden aus demselben Principe entwickeln können,
das uns bei der Ableitung des Baues der Cypridina aus den schal-
tragenden Phyllopoden leitete : aus dem Princip der Verkürzung des
Körpers zum Behufe sicherer Umschliessung durch die beiden Schalen.
1) Zur Kenntniss der Insecten in den Primärformationen. Palaeontographica
XVI, pag. 133.
ä) 1. c. pag. 42.
fiescliichte des Krebsstammes. 1 53
Vor allen Dingen haben wir es wieder mit Organismen zu thun,
die nicht auf Schwimmen angelegt sind, bei denen diese Ortsbewegung
nur als secundares Interesse für das Wirken der Natürlichen Züchtung
angesehen werden kann. Bei den Cytheriden begegnen wir in der
Thal einem fast völligen Schwinden des freien Schwimmens, — sie'
sitzen meist an Tangen und Algen oder im Grunde des Meeres. Bei den
C ypriden dagegen begegnen wir noch einigen Arten, die sich munter
im Wasser uu)her tummeln, — aber ihr Schwimmen unterscheidet sich
wesentlich von der gleichmässigen , pfeilschnellen und geraden Fortbe-
wegung z, B. der Copepoden , oder der Mysideen. Darauf ist ihr
Köi"perbau gar nicht eingerichtet, er ist ja fast kuglig, und die
Schwinmigliedmaassen sitzen zu weit vorn , als dass ein anderes, als
ein umher tummelndes Fortbewegen stall haben könnte. Es würde ja
gewiss recht wünschenvswerth gewesen sein, wenn die Gypriden und
Cytheriden auch flinke Schwimmer geworden wären und demge-
mäss recht tüchtige Schwimmorgane entwickelt hätten, — allein dann
hallen sie auch einen geslrecklen, cylindrischen Körper bekommen,
hätten die Schale aufgeben , — kurz hallen eben aufhören müssen,
Oslracoden zu sein, um etwa Copepoden zu werden. So mussten
sie , um des Besitzes ihrer Lebensprovinz ja recht sicher und immer
sicherer zu werden, ihres Gleichen vor allen Dingen in ihren specilischen
Charakteren übertretfen ; es mussten also die vermittelnden Formen
allmählich unterliegen und die immer einseitiger entwickelten übrig
bleiben, — so musste die Kluft zwischen den Stammvätern, den schal-
tragenden Phyllopoden und den Oslracoden schliesslich so gross w-er-
den, dass der Monograph der letzteren, Zknkkr , gar nichts von einer
Verwandtschaft beider Ordnungen hören \^ill'. Mit dem Verlust der
Schwinmifähigkeit ging nun die Zunahme des Kriechens als ortsbe-
wegender Function Hand in Hand. Hierdurch erklären sich die Ver-
schiedenheiten in der Bildung der Gliedmaassen zwischen Cypridina
und den beiden anderen Ordnungen , vor Allem aber die Verschieden-
heit der Bildung des Pleon, das bei den letzleren kaum noch als Steuer
fungiren könnte, dagegen sehr gut als Klammer- und Kriechfuss zu
verwerlhen ist. Damit hängt ferner die Färbung der Schalen zusammen,
denn während es für die schwimmenden Formen wichtig ist, ihrem
Körper möglichste Farblosigkeit und Durchsichtigkeit zu bewahren , ist
es umgekehrt für die kriechenden von Vorlheil, wenn sie dem Grunde
oder den Pflanzen , auf denen sie leben , möglichst ähnlich werden,
damit sie von ihren Feinden ebenso wenis . wie von ihrei- Beute be-
ll 1. c. pag. lU.
Bd. vi. 1. 11
154 Dr. Ant. Dolirii,
merkt werden. Auch ist vielleicht daher der Verlust der zusammen-
gesetzten Augen abzuleiten, welche bei undurchsichtiger Schale werth-
los wurden. Schliesslich ist auch auf Rechnung dieser Bestrebungen
die geringe Grösse sämmtlicher Ostracoden zu bringen, — denn ebenso
wie die Franzosen im Kriege ihre grossen Gestalten eingebüsst haben,
sind auch die grossen Ostracoden ihren Feinden eher zum Opfer ge-
fallen als die kleinen, die schliesslich allein zur Nachkommenschaft ge-
langten, und die Kleinheit in ihren Kindern und Kindeskindern dauernd
machten.
Welche Folgerungen ergeben sich nun hieraus für die Frage nach
den genealogischen Beziehungen der drei Familien unter sich, und ihren
Beziehungen zu den Phyllopoden?
Ich denke, die folgenden. Vor allen Dingen (weise ich nochmals
die Meinung zurück, als könnten sich die Ostracoden selbstständig,
ohne Vermittelung der Zoea und der PhyUopoden aus dem Nau-
plius entwickelt haben. Ich weiss wohl, dass die Untersuchungen
Claus' über die Entwickelung der Cyprideni) allerhand Resultate
gefördert haben , welche dieser Meinung Vorschub leisten könnten, —
allein das ist nur Schein, wie ich gleich erweisen will.
Die dritte These am Schluss des eben citirten Aufsatzes lautet:
»Die jüngste Larvenform ist eine schalentragende Naupliuslarve mit den
drei vorderen Gliedmaassenpaaren , von denen das dritte noch nicht
Mandibel, sondern Bein ist.« Hieraus könnte geschlossen werden, dass
der Nauplius selbstständig zur Schalenbildung geschritten sei. Ich er-
laube mir nur das einzige Wörtchen: Wie? als Entgegnung. Durch
welche Einwirkungen soll aus der blasenförmigen Haut des Nauplius
eine schalenarlige Duplicatur hergerichtet werden , die nicht blos etwa
nach den Seiten überhängt, sondern durch einen besonderen Muskel-
apparat, noch dazu unter dem Darm, verbunden und dadurch beweg-
lich wird? Denn, dass man einsieht, diese Schale sei ein Schutzapparat
auch für den Nauplius, das überhebt noch lange nicht der Mühe, nun
auch nachzuweisen, wie es habe zu einer solchen Bildung kommen
können. Nehmen wir an, wir hätten einen gewöhnlichen Nauplius
ohne alle Stachelbildung vor uns. Wir lassen seine Körperwand nach
den Seiten sich ausbreiten, — vielleicht hilft ihm das beim Schwimmen.
Diese Ausbreitungen biegen sich allmählich nach unten, und umschliessen
vorn wie hinten den eigentlichen Körper. Nun haben wir die Schale.
Die muss aber nothwendig den Nauplius beim Schwimmen hindern.
1) Beiträge zur Kenntniss der Ostracoden. I. Entwickelungsgeschichte von
Cypris. Würzburger naturwissenschaftliche Zeitschrift. t867. pag. ISIfl".
Geschichte des Krebsstamroes. 1 55
So kann sie also nicht bestehen bleiben, wenn sich nicht die Schwimm-
beine ändern. Die ändern sich indessen und werden einästitj;, ja sie
eeben zum Theil ganz die Schwimmfunction auf. Aber woher der
Schliessmuskel? Die Beweglichkeit der Schale war nützlich, folglich
mussle ein Apparat sich leicht ausbilden können, der sie bewegte.
Woher aber dann die grosse Mandibel statt des einfachen Zahnfortsatzes
der dritten Nauplius- Extremität? Das war wieder nützlich. Und so
waren auch die schwingenden Platten nützlich und alles nützlich, weil
es eben da war, und es war da , weil es nützlich war. So können wir
freilich schliesslich Alles erweisen, und brauchen uns nicht einmal son-
derlich dabei den Kopf zu zerbrechen.
Nein , die Naupliusgestalt mit zweiklappiger Schale ist ein hervor-
ragender Fall von unmittelbarer Zusammenziehung zweier weit von
einander entlegener phyletischer Entwickelungsslufen in eine onto-
genetische , und das rasche Auftreten der weiteren fertigen und dabei
doch mehr oder weniger rudimentären Gebilde , wie die schwingenden
Platten , das Pleon etc. sind weitere Beweise dieser Verkürzung. Auf-
fallend ist, dass bei diesen Formen keine Spur von der Zoea mehr ge-
funden wird. Ich habe mit der grössten Sorgfalt an Ostracoden-
Nauplius, — wenn anders wir überhaupt bei diesem stark veränderten
Geschöpf von Nauplius. reden dürfen — nach einem Stachelrudiment
gesucht, aber vergebens. Es ist eben Alles unterdrückt, Archizoöa,
Zoea die Metamerenbildung der Phyllopoden, — und nur die
Schale und die schwingende Platte redet noch deutliches Zeugniss
von der ursprünglichen Herkunft dieser kleinsten Crustaceen.
Wenn übrigens im Gegensatz zu Cypridina auf die ungleich
intimere Verwandtschaft der Cypriden und Cylheriden hinge-
wiesen wird , so ist dagegen zu bemerken , dass die letztere durchaus
nicht so intim ist , als sie scheint. Nicht nur finden sich beträchtliche
Unterschiede in der äusseren Körpergestaltung, wie z. B. in der Form
der vierten Extremität, sondern auch in der inneren Organisation
machen sich wesentliche Abweichungen bemerklich. So besonders bei
den Geschlechtsorganen. Auch ist bekannt, dass die Cypriden das
süsse Wasser bewohnen, die C y th e r i de n dagegen das Meer — woraus
allein schon eine wichtige Verschiedenheit ihrer Organisation zu er-
schliessen ist.
Andererseits ist freilich nöthig, darauf hinzuweisen, dass unser
Wissen von den Ostracoden noch überaus dürftig ist, dass wirkeine
Abtheilung der Krebse schlechter kennen als sie, dass also zu erwarten
steht, wir werden noch mannichfaltige Aufschlüsse über die genea-
losischen Fragen erhallen, die sich heute noch nicht geben . auch nicht
1 56 Dl"' Ant. Dolirn, Geschichte des Krebsstammes.
einmal mit einiger Sicherheit vermuthen lassen, Dass die Ostracoden
mit zu den ältesten Familien der Krebse gehören , lehrt unter anderem
auch die Palaeontologie , in deren Katalogen die Ostracoden -Schalen
eine wichtige Rolle spielen. Trotz ihres Alters aber sind sie noch heute
ein ausserordentlich lebenskräftiger Stamm und besonders regt sich
innerhalb der Cypriden und Cytheriden ein reiches Leben, — was sich
auch in der raschen Zunahme unserer Artenkenntniss dieser Abtheilun-
gen bethätigt, während im Gegensatz dazu die Phyllopoden das Bild
eines zu Grunde gehenden Astes des gemeinsamen Naupliusstammes
darstellen , was einmal durch die unvermittelt neben einander exi-
stirenden, von einander stark abweichenden Formen bewiesen wird,
das andere Mal durch die vielen Anomalieen der Lebensweise, und
des Aufenthaltsortes.
(Fortsetzung folgt.)
Beiträge zur Keiiiitiiiss des Keckeiis der Vötj^el.
Eini' vorgleichend nnaloniische Untersuchung.
Von
Carl Gegenbaur.
Hierzu Tafel V, VI und Vil und 5 HolzschniUc.
Unter den Eigenthünilichkeilen des Skeletes der Vögel nimmt das
Becken eine hervorragende Stelle ein , indem es durch die Anzahl,
Ausdehnung und Gestalt der in ihm verbundenen Skelettheile ebenso-
sehr von dem gleichnamigen Abschnitte der lebenden Reptilien wie von
jenem der Säugethiere unterschieden ist. Die für die Vögel typisclien
Eigenschaften des Beckens drücken sich ebenso in dem sogenannten
Sacralabschnilt der Wirbelsäule wie an den diesem angefügten Hufl-
beinstücken aus.
Wenn nun auch die vergleichende Anatomie bezüglich der Be-
urtheilung dieser Bildungen schon manche Aufgabe glücklich gelöst hat,
wie denn die Beziehungen zum Becken der Ueptilien in neuerer Zeit
von England aus hervorgehoben wurden, so dürfte doch noch eine
ganze Reihe von Fragen unbeantwortet sein. Von diesen scheint mir die
Erklärung der einzelnen Theile des sacralen Abschnittes die wichtigste,
nicht blos weil sich daraus die Beziehungen zu den Beckenbildungen
der unteren Classen ergeben müssen , sondern weil damit auch das
Verhältniss zu den eigentlichen Beckenknochen , den Hüftbeinen , sich
am sichersten herausstellen kann. Insofern die Vergleichung den
Nachweis der phylogenetischen Beziehungen zum Endergebnisse hat,
wird das Letztere in dem gegebenen Falle um so wichtiger sein , je
grösser der Abstand ist, der das Becken der Vögel von jenem anderer
Wirbelthiere trennt.
Was nun das sogenannte Os Sacrum , diesen Complev einer
grösseren Anzahl von \Viil>elu, betrüTt, so ist schon vor langer Zeit ein
ß<i. VI -i. lä
1 58 Carl Gegenbanr,
verschiedener Werth der einzelnen Abschnitte behauptet worden.
VoLCHER CoiTER ^) und Vicyd'Azyr^) unterschieden einen vorderen Ab-
schnitt des mit den Hüftbeinen sich verbindenden Wirbelcomplexes
als Lumbartheil , von einem hinteren eigentlichen Sacraltheile. Auch
Tiedemann3) lässt die Lendenv^irbel »mit dem Kreuzbein zusammen-
getreten und verwachsen« sein. Ebenso hat Guvier^), der anfänglich
mehr das Fehlen eigentlicher Lendenwinkel betonte, später die Verbin-
dung dieser mit dem Sacrum vollständig anerkannt. Dies ist in der
Bemerkung: »Wirklich verwachsen die letzten Rückenwirbel, die-
jenigen, welche Lendenwirbel gewesen wären , und die, welche man
eigentlich Kreuzwirbel hätte nennen können , alle unter einander und
mit den Darmbeinen«, klar ersichtlich. Diese vorher schon von Meckel ^)
ausgesprochene und näher begründete Auffassung des Sacrum der
Vögel unterscheidet also einen eigentlichen Sacraltheil von einem un-
eigentlichen, nämlich dem Lenden- und dem Brusttheile, und zwar letz-
leren insofern Rippen an einem Theile der mit dem Sacrum verbundenen
Wirbel befestigt sind. Damit wurde also dem Sacrum der Vögel eine
gegen jenes der lebenden Reptilien sowohl als der Säugethiere be-
stehende Verschiedenheit zugesprochen, denn weder in das eine noch
in das andere gehen unter gewöhnlichen Verhältnissen Wirbel ein . die
dem lumbaren Abschnitte der Wirbelsäule angehören. Nach Meckel
hat sich BarkowC) nicht blos für das Bestehen eines Lumbarwirbel-
abschnittes im Sacrum der Vögel, sondern auch mit Hinweisung auf
die Beziehungen zu dem Geflecht der Lumbar- und Sacralnerven für
eine schärfere Sonderung der einzelnen Sacralabschnitte ausgesprochen.
Ausser den durch das Tragen von Rippen charakterisirten, ins Sacrum
mit eingegangenen Brustwirbeln, unterscheidet Barkow einen vorderen
Abschnitt als Lumbartheil und einen hinteren als Sacraltheil, diesen
wieder in zwei Stücke, den vorderen Sacraltheil und den hinleren
Sacraltheil sondernd. Von diesen ist der erste durch Fehlen der Pro-
cessus Iransversi abdominales ausgezeichnet, die vom zweiten oder
hinteren Sacraltheil als meist sehr mächtig entwickelt hervorgehoben
werden. Barkow deutet damit einen Abschnitt als noch zum Sacral-
theil gehörig , der von Meckel als hinterer Abschnitt des Lendentheils
angegeben worden war.
1 ) De Avium sceletis. Cap. X.
2) Oeuvres T. V. S. 270.
3) Zoologie. Bd. II. S. 208.
4) Le^ons. T. I.
5) System d. vergl. Anat. Bd. II. Th. 2. S. 3 u. 6.
6) Syndesmologie der Vögel. Breslau 1856.
Beiträge zur Kenntniss des Beckens der Vögel. 1 59
In diesen Versuchen im Sacrum durch Aussonderung ursprünglich
dem Bet ken IVemdei- AhselmiUe der \Virl)elsaule das «eigenllichtw dem
der anderen Wirbelthiere entsprechende Sacrum aufzufinden, drückt
sich ein richtiges Verständniss für (Jie bedeutendste Eigenthümlichkeit
des Vogelbeckens aus.
Durch Owen ist die tiefe Bedeutung dieser Verschiedenheit wieder
zurückgedrängt worden. In dem umfangreichen Werke über Verglei-
chende Anatomie der Wirbelthiere ') finden wir als Eigenthümlichkeit
aller warmblütigen Wirbelthiere die Zusammensetzung des Sacrun)S
aus einer grösseren Anzahl von \Virl)eln angeführt. Der Begriff des
Sacrums w ird dabei auf einen einzigen Wirbel beschränkt, jenen, des-
sen unterer Bogen vollständig bleibt und das Becken vorstellt. Dies
ist der typische Sacralwirbel , während die übrigen mit ihm sich ver-
bindenden nur unvollständige Anhänge (Pleura pophysen) tragen. Indem
bei den Vögeln ein grosser Theil der Wirbelsäule zum Sacrum umge-
wandelt wird, steigt nach Owen das bei den Säugethieren bestehende
Verhältniss bei den Vögeln zu seinem Extrem. Durch die Zusammen-
stellung des Vogelbeckens mit jenem der Säugethiere giebt Owen die
Verknüpfung mit niederen Zuständen auf, und wenn auch Ein Sacral-
wirbel als typischer Wirbel aufgestellt wird, so ist doch nirgends in
der specielleren Ausführung der Versuch gemacht, denselben in diesem
»complicirtesten aller zusammengesetzten Knochen« aufzufinden.
Für eine streng methodische Vergleichung des Vogelbeckens mit
jenem anderer Wirbelthiere ist der Nachweis der ursprünglichen, durch
Vererbung von niederen Abtheilungen erhaltenen Sacralwirbel, und die
Scheidung dieser Theile von den durch Umwandlungen, vorzüglich
durch Längswachsthum der Hüftknochen in den Bereich des Beckens
gezogenen Abschnitte der Wirbelsäule, erstes Postulat. Zu dieser Ver-
gleichung des Sacrums der Vögel mit jenem der Reptilien hat Huxley 2)
Schritte gethan, wobei er vorzüglich durch das Verhalten der Nerven-
wurzeln sich leiten Hess. Er sagt hierüber Folgendes : »Obgleich alle
Vögel ein ausnehmend ausgedehntes Sacrum besitzen, so sind doch die
Wirbel, durch deren Intervertebrallöcher die Wurzeln des Sacralgeflech-
tes (und folglich auch des N. ischiadicus) treten, nicht mit ausgedehnten
Rippen versehen, welche sich mit ihren äusseren Enden gegen das llium
und mit ihren inneren Enden gegen die Körper dieser Wirbel stützen.«
» Bei den lebenden Reptilien, welche wohl entwickelte Hinlergliedmaassen
besitzen, sind die Zwischenwirbellöcher, durch welche die Wurzeln
1) On the anatomy of Vertebrates. vol. II. S. 29.
2) Pioccediiigs of the zoology Soc. London 1867. S. 416.
160 Carl Gegeiibaur,
des Ischiadicus treten , ganz oder theiiweise von Wirbeln begrenzt,
welche starke und ausgedehnte Rippen tragen, und diese Rippen sind
in grösserer oder geringerer Ausdehnung einerseits mit den Wirbel-
körpern, andrerseits mit den Darmbeinen in Verbindung. Die in Rede
stehenden Wirbel bilden, gewöhnlich zu zweien, das Sacrum. Bei den
Vögeln senden die Bogen der Wirbel , welche jenen durch ihre Be-
ziehung zu Nerven entsprechen (und deshalb auch als »Sacralwirbel«
zu bestimmen sind), verhältnissmässig schwache Querfortsätze ab, die
jenen zu entsprechen scheinen, welche in der Dorsalregion sich mit den
Rippenhöckern verbinden. Diuch diese Querfortsätze allein sind sie mit
den Darmbeinen in Verbindung.«
HuxLEY deutet also den der vorderen Querfortsatzschenkel ent-
behrenden Sacralabschnitt als Sacrun), statuirt also, da dieser Abschnitt
mehr als zwei Wirbel begreift , eine Verschiedenheit gegen das Sacrum
der lebenden Reptilien. Die Voraussetzung eines phylogenetischen Zu-
sammenhangs zwingt aber wenigstens zum Versuche, die in den unte-
ren Abtheilungen bestehenden und dort verbreiteten Sacralwirbel auf-
zudecken und dann nachzuweisen, w eiche Wirbel zu diesen hinzutretend
die Zahl der Sacralwirbel erhöhen.
Die Anzahl dieser zu suchenden Wirbel wird eine geringe sein, iii
Anbetracht der zwei Sacralwirbel, welche im Becken der lebenden
Reptilien bestehen und sich zumeist bei den Säugethieren vorfinden,
wenn auch bei diesen noch eine Anzahl Caudalwirbel mit den vorer-
wähnten zu einem complicirten Skeletsliicke, das den Namen Os Sacrum
trägt, sich verbindet. Von diesen zwei ächten Sacralwirbeln ist nieist
einer, und zwar in der Regel der vorderste, bedeutender entwickelt,
und bei Säugethieren ist nicht selten der zweite nur theiiweise an
der Darmbeinverbindung betheiligt, so dass daraus auf ein weiter zu-
rückliegendes Bestehen nur Eines Sacralwirbels, wie ihn die
Amphibien besitzen , geschlossen werden darf. Ohne dieses Verhalten
ganz bei Seile zu setzen, soll doch das bei Reptilien bestehende, wenn es
auch relativ nur in secundärer Art, weil durch Beitritt eines ursprüng-
lich dem Becken nicht zugehörigen Wirbels entstanden sein wird, hier
vorzüglich berücksichtigt werden. Die Voraussetzung dieser Zahl für
das Sacrum der Vögel wird durch die Thatsache des Bestehens eines
Wirbel reicheren Sacrums bei einer Abtheilung fossiler Reptilien nicht
zurückweisbar, denn jener Abtheilung, wie Huxley sie als Vorläufer
des Vogeltypus umschliessend begrenzte, kommen auch in anderen Be-
ziehungen Skeleteinrichtungen zu, welche auf die Vögel verweisen,
und damit tieten diese Formen um ebensoviel aus dem indifferenteren
Zustande heraus. Was das Becken betrifft, so dürfte für manche von
Hcilränc zur kciiiitiiiss (Ics Bi'i'kcns dt'r Viiücl. 1 (i 1
ihnen diissc^llx' I'osIuIjiI jjk^IUmi , wciclu's vorhin füi" (li<' Vöi^cl iinfgcslclll
ward
Für den Nachweis der prol)loniatisrh(;n jirimilivcMi Sacralwirbel kön-
nen mehrfache Wege eingeschlagen werden. Zunächst kann ans einer ge-
nauen Prüfung des Sacrallheils im Zusammenhalte mit den Darmbeinen
eine Reihe von Anhahepunkten für die vcM-gh'icliende BeurthcMhing ge-
wonnen werden. Diese werden eine wichtige Slül/e finden in den
Beziehungen zu den bezüglichen Nerven, und endlich wird auch die
Entwickelungsgeschichte nicht unl)erücksichtigl bleiben dürfen, insofern
frühere Stadien die Anschlüsse an die Zustande nit derer Abth(Mlungen
leichtcE erkennen lassen.
Demzufolge theile ich diese Arbeit in die das Material prüfende
Untersuchung und in die darauf sich stützende Vergleichung, welche
durch embryologische Nachweise verstärkt werden soll.
I. Untersuchung.
Obgleich die beiden seillichen Knochen des Beckens bei ciiie'r Pi-'d-
fung des Sacraltheiles der Wirbelsäule nicht ausser Acht bleiben Woh-
nen, so ist mein Augenmerk doch vorzüglich auf das Sacrum gerichtet,
da die Lösung der gestellten Frage nur in diesen] Theile gesucht werden
kann. Von den Seitentheilen, besonders den Darnd)einstücken, werden
daher nur einige Verhältnisse berücksichtigt, und zwar solche, die bei
den meisten der bisherigen Ausführungen weniger in Betracht kamen.
Der Ausdehnung dev Untersuchung setzte das disponible Material in
manchen Abtheilungen eine etwas enge Schranke.
Untersuchen wir den Sacrallheil eines Vogelbeckens , so ergeben
sich mindestens drei Abschnitte, die nicht selten sogar in sechs sich
zerlegen lassen, jeder wieder aus mehreren einzelnen Wirbeln zusam-
mengesetzt. Meckel und Barkow haben die drei Theile bereits hin-
reichend genau charakterisirt, wenn sie auch den mittlei-en Abschnitt
sehr verschieden beurtheillcn. Der vorderste Abschnitt besteht aus
Wirbeln, welche durch die bedeutende Entwickelung von Querfortsälzen
ausgezeichnet sind ; die ersten dieser Wirbel tragen Rippen, die ent-
weder nur mit Capitulum und Tuberculum oder nur mit dem letzleren
articuliren. im letzleren Falle fehlt der Rippenhals. Die Zahl dieser Wir-
bel erscheint am höchsten bei den Struthionen; bei Dron)aeus zählte
ich acht; bei einem F^xemplar von Struthio ebensoviel, bei einem ande-
ren dagegen neun. Dabei ist ein Brustwirlx^l nicht mitgerechnet, der
bei Dromaeus zum Theil, bei Struthio ganz von den Darmbeinen über-
ragt wird, ohne jedoch mit ihnen zu verwachsen. Der erste dieser
162 Carl Gegetibaur,
Wirbel trägt bei Dromaeus eine bewegliche, Capitiilum und Tubercu-
luni bietende (Fig. 1, 10) Rippe; der folgende zeigt an seinem Quer-
fortsatz eine Gelenkfacelte für Rippentuberculum. Der breite, vom
Körper, nicht, wie der vorhergehende, vom Bogen des Wirbels, entsprin-
gende Querfortsatz bietet gleiche Lagerung mit dem Halse der vorgehen-
den Rippe, und so verhallen sich auch die an Umfang allmählich ab-
nehmenden Querfortsätze der tlbrigen Wirbel dieses Abschnittes. Nur
die beiden letzten bei Dromaeus, welche wie die drei letzten bei Struthio
unmittelbar an den Pfannentheil des Beckens stossen, sind wieder durch
grössere Stärke ausgezeichnet. Sie sind bei Struthio von beträchtlicher
Kürze, so dass dieser Theil des Sacrums der schmälste ist. Dass diese
von vorne leicht unterscheidbaren Fortsätze keine ächten Querforlsätze
sind , homodynam mit jenen , die an den ersten Wirbeln dieses Ab-
schnittes ansehnliche Rippen tragen, möchte man bei Struthio an-
nehmen. Die betreffenden Wirbel bieten ausser jenen fraglichen Forl-
sätzen noch andere , die schlank gestaltet und schräg aufwärts gegen
die Darmbeine gerichtet sind , die sie jedoch nur theilweise erreichen.
Ein Blick durch das grosse, membranös geschlossene Loch im Pfannen-
grund zeigt diese Fortsätze, und lässt an ihnen sowohl gleichen Ur-
sprung, als auch gleiche Lagerung mit jenen erkennen, die weiter oben
Rippen tragen. Jene letzten Wirbel des behandelten Abschnittes tragen
also zweierlei laterale Fortsätze (Querfortsätze der Autoren, Diapo-
physen die oberen, Pleurapophysen die unteren nach Owen), von denen
aber nur die oberen dorsalen (Processus transversi superiores) mit den
Querfortsätzen der vorderen rippenlragenden Wirbel homodynam sind,
indess die unteren ventralen bei der vorderen Beckenansicht sich so-
gleich darstellenden Fortsätze (Processus transversi inferiores) durch die
Vergleichung sich Rippentheilen ähnlich verhalten. Sie verlieren diesen
Charakter umsomehr, je weiter sie nach hinten stehen.
Der folgende Abschnitt besteht bei Struthio aus einem oder zwei,
bei Dromaeus aus drei, durch sehr niedrige Körperstücke ausgezeichnete
Wirbel (Fig. I, 1 , 2, 3) . Sie besitzen nur die dorsalen Schenkel der
Querfortsätze. Der erste Wirbel ist bei einem Exemplar von Struthio
noch mit einer ansehnlichen Spur eines ventralen Schenkels versehen,
der gegen den Pfannentheil des Sitzbeins gerichtet und durch ein Liga-
ment demselben verbunden ist, bei einem anderen Exemplar finde ich
ihn in einem den Wir])eln der vorhergehenden Gruppe gleichen Ver-
halten. Die dorsalen Querfortsatzschenkel sind mit jenen der nächst
vorhergehenden Wirbel völlig gleich, und ebenso verhalten sich die Dorn-
fortsätze , welche entsprechend schmaler und mit den vorhergehenden
zu einer dünnen Leiste verwachsen sind. Während die Verwachsung
ßoiträge zur Keiiiitiiiss düs ßcckciis der Vögel. 163
der Dornfortsät/c niil <len Darmboincn bei Slruthio an den Kndcn der
(Mslcrcn sliiUfindcl , ist bei Drotnacus durch die Verwnclisiing der Sei-
lenränder der Dornforlsälze mit den Darmbeinen eine bedeutende Mo-
dification eingetreten , welche die Dornfortsätze in querstchende, spon-
giös gebaute Lamellen umwandelt.
Als einen ferneren Abschnitt unterscheide ich am Becken der
Struthionen mehrere von vorne nach hinten an Umfang des Körpers
wie an Ausdehnung der Fortsätze zunehmende Wirbel , welche bei
Struthio dadurch sicli auszeichnen, dass sie die ventralen Schenkel
ihrer Querfortsätze unter einander zu einer mächtigen, den hinteren
Abschnitt des Acetabulums stützenden Knochenmasse verschmolzen
zeigen. Der letzte dieser vier Wirbel vermittelt den Uebergang zu den
nachfolgenden, der letzten Abtheilung, der er bei dem einen Exemplar
oflenbar angehört, so dass wohl nur drei Wirbel hier in Betracht kom-
men. Am ersten und zweiten dieser Wirbel sind die unteren Schenkel
schlank, das von ihnen umschlossene foramen intertransversarium ist
schmal. Ebenso verhalten sich diese beiden ersten Wirbel bei Dromaeus
(Fig. I, rt, 6), doch scheint es, als ob hier der letzte Wirbel des vor-
hergehenden Abschnittes noch hieher bezogen werden könne, da er,
wenigstens an dem mir vorliegenden Exemplare, einen dünnen, wenn
auch die Pfanne nicht erreichenden Querfortsatz entsendet, gegen wel-
chen von der Pfanne her ein Knochenzäckchen gerichtet ist. Ueber den
Werth dieses Verhaltens kann erst durch Vergleichung einer grösseren
Anzahl von Exemplaren entschieden werden. Ich will diese Wirbel
daher vorläufig als acetabulare Wirbel bezeichnen. Am Ausge-
prägtesten erscheint das Verhalten der Acetabularwirbel bei jungen
Thieren, wie aus der von HuxleyI) gegebenen Darstellung des Sacrums
eines jungen Strausses erhellt. Von drei Acetabularwirbeln sind die ter-
minalen Enden der ventralen Querfortsalzschenkel zweier untereinander
verschmolzen, während der des dritten, obschon sehr ansehnlich, sich
dem verschmolzenen Theile nur anzulagern scheint. Ich sehe darin eine
Bestätigung der Auffassung , die an dem Becken erwachsener Thiere
gewonnen wird.
Die folgenden Wirbel sind, wie schon bemerkt, durch keine scharfe
Grenze von den acetabularen geschieden. Es sind bei dem einen Exem-
plare sieben, bei dem andern acht Wirbel, je nachdem die Acetabular-
gruppe aus vieren oder nur aus dreien besteht. Neun zähle ich bei
Dromaeus. Die Wirbel dieser letzten Gruppe zeigen die Querfortsätze
1) HuxLEY and Hawkins, An Elementary Atlas ofCoinparative Ostcology. Lon-
don 1864. PI. VI. Fig. Via.
164 Carl Gegeiibaur,
nur durch einfficlie Schenkel vertreten, welche bei Struthio nach hinten
zu sich allmählich verkürzen, bei Dromaeus schon vorne sehr kurz sind
aber sich ansehnlich verbreitern. Der Uebergang dieses letzten Ab-
schnittes des Sacrums in den freien Caudalabschnitt der Wirbelsäule
ist leicht zu verstehen.
Sowohl durch die Kürze der Querfortsätze sämmtlicher Sacral-
wirbel, als auch durch die fast senkrechte Stellung der Darmbeine
kommt es bei den Struthionen an der Bauchfläche des Beckens zu keiner
Grubenbildung. Diese ist dagegen bei Apteryx schon vorhanden , da
hier die Querfortsätze besonders in der acetabularen Region mehr ent-
wickelt sind. Da aber bei Apteryx die Darmbeine in ihrer äusseren
Gestaltung noch ganz mit jenen der Struthionen übereinstimmen, darf
im Becken von Apteryx ein vermittelndes Glied von den Ratiten zu den
Carinaten erkannt werden.
Mit der geringen Breite der Beckenhöhle steht in Zusammenhang
das Verhalten der dorsalen Beckenoberfläche. Der präacetabulare Theil
der Darmbeine schliesst über den Dornfortsätzen der bezüelichen
Beckenwirbel zu einer starken medianen Crista zusammen. Etwas vor
dem Acetabulum lassen die Darmbeine bei Rhea eine Anzahl von Dorn-
fortsatzenden in Gestalt einer lanzettförmig gestalteten Fläche zwischen
sich zur Oberfläche treten, um dahinter sich wieder gegen eine schmale
mediane Rinne zu vereinigen. Bei Struthio erstreckt sich der zwischen
den Darmbeinen zum Vorschein kommende Theil des Sacrums in ziem-
lich gleicher Breite längs des ganzen postacetabularen Darmbeinstückes
ebenso bei Dromaeus, wo er durch ansehnliche Breite ausgezeichnet ist.
Am hintern Ende besitzt das Darmbein einen ventral und lateral ge-
krümmten Fortsatz, der gegen das Sitzbein gerichtet ist. Wo, wie bei
Struthio, keine Verwachsung mit dem Sitzbeine besteht, ist dieser
Fortsatz besonders deutlich. Ich will ihn als Spina ilio-caudalis be-
zeichnen und den zwischen den beiden gelegenen, die Caudalwir-
belsäule austreten lassenden Ausschnitt als Incisura ilio-caudalis. Je
nach der Anzahl der im Sacrum übergegangenen Caudalwirbel ist die
Incisur tiefer oder flacher. Von der Spina aus verfolgt man gegen den
dorsalen Theil eine rauhe Linie. Sie ist bei Dromaeus gleich am An-
fange, etwa in der Höhe des vorletzten Beckenwirbels, durch einen
stumpfen, nicht sehr starken Höcker (Piocessus ilio-lateralis) unter-
brochen. Die Linie (Linea ilio-lateralis) bezeichnet von da an fast den
dorsalen Rand des postacetabularen Darmbeinstückes , biegt aber noch
hinter der Pfanne seitwärts und verläuft auf die Fläche des Darmbeins,
wo sie auf einen starken , etwas hinter und über der Pfanne gelegenen
Vorsprung (Processus acelabularis) tritt und von dessen Spitze aus
Ik'iirriiic zur Kciiiiliiiss des RccKciis der Vöjiel. 1 («5
witMlor median verlaufend als linca ilio-dorsalis zum dorsahMi ll.nulc
des präacelahularen Üai-mbcinslückcs sich loilscMzt. Diese IJnie uK^nzt
am Piocessus acetabularis einen kleinen Theil der Darmbeinfläche dor-
sal ab, und wenn wir damit Struthio veri:;leichen, finden wir die Linie
noch weiter lateral gertlckt, so dass vom ganzen poslacctabularen Thcile
des Darmbeins ein im Vorgleiche mit Dromaeus breites Stück der dor-
salen Beckenoberniiehe umgrenzt wird. Diese Linie» scheidet also den
postacetabularen Theil des Darmbeins in einen dorsalen und lalei-alen
Abschnitt, und indem sie bei Dromaeus mit dem grössten Tlieile des
medialen Darmbeinrandes zusammenfallt, fehlt die Ai'ca dorsalis des
postacetabularen lliums fast in der ganzen Länge. Sie besteht eigent-
lich nur über dem erwähnten Acetabularfortsatz.
Vom Becken der Struthionen ist jenes von Apteryx ^j in mehrfachen
Punkten abweichend, von denen ich nur die für die Zwecke dieser Ab-
handlung wichtigen hervorheben will. In dieser Hinsicht möchte ich
betonen , dass die Sonderung der einzelnen Abschnitte des Sacrums
schärfer und damit vollständiger ist als bei andern Ratiten, und dass
vor Allem zwei durch starke und ventrale Qucrforlsätze ausgezeichn(>te
Wirbel bemerkbar sind (vergl. Owen 1. c. PI. 55. Fig. 1) , welche in ähn-
licher Weise wie bei den meisten Garinaten sich verhalten. Sie nehmen
eine postacetabularo Stellung ein. Auch der zunächst vor ihnen liegende,
nach Owen aus vier Wirbeln bestehende Abschnitt ist ansehnlicher
und stimmt darin vielmehr mit dem gleichen Theile der Garinaten als
mit jenem der Struthionen überein. Endlich kann die hinter den beiden
»Äcetabularwirbeln« folgende, im Vergleiche mit den Struthionen viel
geringere Wirbelzahl in gleicher Weise gedeutet werden. Die Wichtig-
keit des Verhaltens der beiden Acetabularwirbel erscheint mir de.^lialb
bedeutend, weil dadurch unter den Ratiten ein Verhältniss repräsentirt
wird, das bei den übrigen nicht so leicht erkennbar ist. Da die Quer-
fortsätze dieser beiden Wirbel »immediatly behind the acetabulum« an
die Hüftbeine treten, scheint kein Bedenken zu bestehen, diese Wii bei
denjenigen der Garinaten für homolog zu erachten, welche ich im wei-
teren Verlaufe dieser Untersuchung in gleichem Verhalten nachzuweisen
im Stande bin.
Mit dem Verhalten des Beckens stimmen im Wescntlichst(>n auch
die Garinaten überein. Vier oder fünf Wirbel bilden den ersten Ab-
schnitt des Sacraltheils bei den hühnerartigen Vögeln (Alecloro-
morphae, Hixiev), der Körper des ersten der fünf Wirbel erhält sich
beim Haushuhn (Fig. II, \)] längere Zeil unverschmolzen. An ihm arti-
1) Owen, Tiansact. nf Zoolog. Soc. London, Vol. II. Part W.
1 66 Carl Gegenbaur,
cuiirt eine Rippe, die mit dem Tuberculum dem Querfortsatz einsitzt.
Der folgende Wirbel zeigt bald einseitig, bald beiderseitig die doppelte
Rippenverbindung. Zuweilen finde ich den Hals der Rippe rudimentär,
so dass die Rippe erst vom Tuberculum an massiver ist, zuweilen fehlt
der Hals gänzlich und die Rippe beginnt erst am Querfortsatz des Wir-
bels. Die nächsten drei Wirbel fand ich niemals freie Rippen tragend,
dagegen ist der Querforlsatz des dritten mehr, der des vierten senkrecht
verbreitert und der des fünften wieder durch zwei Fortsätze repräsen-
tirt, von denen der ventrale der massivste ist. Phasianus colchicus und
Perdrix cinerea schliessen sich hierin an. Bei Meleagris (M. gallopavo)
besteht der fragliche Abschnitt nur aus vier Wirbeln , von denen der
erste eine vollständige Rippe trägt. Ebenso finde ich es bei Tetrao
urogallus und tetrix.
Die folgenden Querfortsätze sind sehr hoch und bieten bei Tetr.
tetrix Durchbohrungen dar, an deren Stelle bei T. urogallus tiefe, von
oben, resp. von vorne her eingesenkte Gruben sich finden. Am vierten
Wirbel ist der Querfortsatz bei Tetrao urogallus (Fig. HI, 6) bedeutend
verbreitert und der dorsale schwächere Theil ist mit dem stärkeren ven-
tralen nur durch eine dünnere Knochenplatte verbunden, die mehrfach
durchlöchert ist. Bei T. tetrix ist die Durchbohrung an allen drei Wir-
beln (Fig. IV, 7, 8, 9) und am letzten, dem vierten (6), erscheint die
Sonderung des Querfortsatzes als eine vollständige. Bemerkenswerth
ist noch , dass auch der erste , rippentragende Wirbel jederseits ein
foramen transvcrsarium besitzt, so dass man die an den Querfortsätzen
der folgenden Wirbel erscheinende Sonderung in zwei Schenkel als
eine Weiterbildung dieses Verhaltens deuten könnte. Bei Pavo crista-
tus finde ich nur unbedeutende Abweichungen von dem, was für Tetrao
und Meleagris angeführt ward.
An die letzteren reiht sich Crax (C. alector) an. Der erste der vier
Wirbel trägt am Querfortsatz eine Rippe , der Querfortsatz des dritten
ist beträchtlich hoch und trägt Spuren einer Theilung in zwei Schenkel,
welche am vierten völlig gesondert sind.
In der Richtung der Querfortsätze resp. deren vorderer Schenkel
crgiebt sich für die erwähnten Gattungen das Eigenthümliche, dass bei
jenen, die im berührten Abschnitte des Sacrums 5 Wirbel besitzen
(Gallus, Phasianus, Perdrix), der Querfortsatz des dritten Wirbels (7)
stark vorwärts geneigt ist, und der des vierten (6) und fünften (5) wag-
recht steht, indess bei den mit nur vier jener Wirbel versehenen Gat-
tungen (Tetrao, Meleagris, Pavo, Crax) nur der vierte Wirbel wagrechte
Querfortsätze besitzt, und die schräge Richtung den Querfortsätzen des
Beitrage zur Keniiliiiss des Beckens der Vönel. 1 G7
drillen (iun doullichstcn bei Telrao) iheiivveiso auch jenen des zweiten
Wirbels zukonunl.
bn zweiten Sacralabschnitte, in weichem ailt^entein nur Wirbel mit
einfachem dorsalem, aufwärts gerichtetem Querfortsatze vorkommen,
finden sich bei Tetrao (Fig. III u. IV, 5, i, 3, 2, I), Melcagris und Pavo
fünf, bei C.allus (Fig. II, 4, :3, 2, 1), Perdrix und Crax (Fig. V, 1,3,2, I)
vier, bei Phasianus scheinen deren sechs zu bestehen , doch wird der
letzte oder die beiden letzten zur nächsten Gruppe bezogen wenh^i
dürfen, wie nachher dargelegt werden soll. An diesem Abschnitte sind
die Wirbelkörpcr am breitesten, aber auch am dünnsten, so dass der
Rückgratcanal hier die ansehnlichste Ausdehnung besitzt (vergl. Fig. Vi).
Die Querfortsätze dieser Wirbel verschmelzen vor ihren zu den Darm-
beinen tretenden Enden unter einander zu einer dünnen Knochenplatte,
nur nahe an ihren Wurzeln eine Oeffnung lassend. An den breiten
Becken derTetraonen ist das am meisten ausgeprägt. Durch das Fehlen
der vorderen Querforlsatzschenkel wird der zwischen Wirbelkörpern
und dem präacetabularen Darmbeintheile befindliche Raum in eine liefe
Grube verwandelt (fovea iliaca anterior, von Barkow als fovea secunda
oder f. ischiadica unterschieden), der Querforlsatz des ersten Acetabu-
larwirbels grenzt sie von der fovea iliaca post. ab^). Der übrige Ab-
schnitt des Sacrums kann wieder in mehrere Gruppen von Wirbeln
zerlegt werden, wenn diese auch nicht in allen Fällen gleich deutlich
sind. Er besteht bei Gallus aus acht, bei Tetrao und Crax aus sieben,
bei Mcleagris und Perdrix aus sechs Wirbeln.
Die erste Gruppe bilden zwei Wirbel, welche an ihren Quer-
fortsätzen doppelte Schenkel besitzen. Die sehr verbreiterten
Enden dieser Fortsätze verschmelzen unter einander. Wenn ähn-
liches auch an den folgenden Wirbeln für die daselbst einfachen Quer-
fortsätze vorkommt, so ist es doch bei ersteren Wirbeln viel auffälliger,
z. B. bei Crax (Fig. V a, 6), Tetrao urogallus (Fig. III a, b). Diese bei-
den Wirbel stützen den acetabularen Theil des Beckens (resp. Darm-
beins), sie erscheinen homolog den vorhin bei den Strulhionen unler-
schiedenen Acetabularwirbeln. Bei Crax liegt das Ende der bezüglichen
Fortsätze dicht hinter dem Acetabulum , ebenso bei Tetrao urogallus.
Bei T. lelrix, Perdrix und Meleagris findet es sich mit dem Acetabulum
1) Ich liabc von der durch die Priorität berechtigten BARKowsciien Bezeich-
nung deshall) abschen miissen, weil jene Bezeichnung, die niciil nach dem Os
iscliii, sondern nach dem Plexus iscliiadicus, der in diesem Abschnitte lagert, ge-
wählt ist, nicht für alle I-'älle passt. .\uch die Bezeichnung »Fovea renalis« mussle
vermieden werden.
^ ^^ Carl fipseiibaiir,
in der Höhe einer und derselben Querlinie. Der diesen Querforlsälzen
sich verbindende Darrabeintheil ist massiver, als benachbarte Stellen
dieses Knochens. Die hinter diesen Wirbeln die ventrale Fläche des
Iliums einnehmende Grube (Fossa iliaca posterior, Fig. /, p) zieht sich
unter die Querfortsatzanfügung in eine kleine Höhle'' (Recessus iliacus
anterior) nach vorn aus (Fig. V, ra). Der Intertransversah'aum dieser
beiden acetabularen Wirbel ist bei Tetrao urogallus auffallend schmaler
als jener der folgenden , bei Grax ist er kürzer. Weniger deutlich sind
beiderlei Verhältnisse bei T. tetrix (Fig. IV) bemerkbar, wo die Aceta-
bularvvirbel nur durch die bedeutendere Verschmelzung ihrer Querfort-
satzenden sich auszeichnen. Die Assimilirung mit den folgenden ist
auch durch die Verschmelzung des ventralen Schenkels mit dem dor-
salen am zweiten Wirbel ausgeprägt. Einen Schritt hiezu bemerkt man
schon bei T. urogallus, bei dem das Foramen transversarium des
zweiten Acetabularwirbels viel weniger beträchtlich als am ersten ist.
Aehnlich verhält es sich bei Grax. Es drückt sich also hier eine Ver-
wischung der Eigenthümlichkeiten aus, die wir oben als charakteristisch
aufführten, hi andrer Weise zeigt sich das beim Huhn. An einem
Becken finde ich die Acetabularwirbel sehr deutlich unterscheidbar.
Die gleichlangen Querfortsätze beider Wirbel überragen um merkliches
die Querfortsätze der folgenden Wirbel, aber jene des ersten Acetabu-
larwirbels sind bedeutend schlanker als die mächtigen Fortsätze des
zweiten. Bei einem anderen Becken fehlen sie, d. h. die ventralen
Schenkel, um die es sich hier allein handelt, gänzlich, und die hinteren
Schenkel verhalten sich jenen des vorhergehenden Wirbels so ähnlich,
dass man dem bezüglichen präacetabularen Abschnitte fünf Wirbel zu-
sprechen kann. Da sonst nur vier sich finden , hat sich jener präace-
tabulare Abschnitt auf Kosten des acetabularen um einen Wirbel ver-
grössert. Dieses Verhältniss wird durch den Befund eines dritten
Beckens bestätigt, wo das Verhalten der Querfortsätze der Wirbel auf
der einen Seite vier, auf der andern Seite fünf Präacetabularwirbel
unterscheiden lässt. Linkerseits ist nämlich der erste und zweite Ace-
tabularwirbel deutlich am Verhalten der Querfortsätze erkennbar. Der
des ersten ist sogar im Gegensatze zum zuerst beschriebenen Becken
stärker als jener des zweiten, aber auf der rechten Seite ist er rudi-
mentär, indem er nur durch ein dünnes, kurzes, vom Wirbelkörper
ausgehendes Knochenstückchen repräsentirt wird, dem ein ähnliches
vom Endc' des dorsalen Querfortsatzes ausgehendes entgegengerichtet
ist. Auf derselben Seite ist dafür der Querforlsatz des zweiten Aceta-
bularwirbels mächtiger als der anderseitige, der mehr jenem der
folgenden Wirbel entspricht. Die Gründe, weshalb ich bei Gallus
Beiträiie im Kciiiitiiiss dos Reckens der Viiafl. 169
Wirbel nis acolal>ul;irc deule, welche die iicloitlerlcn Charaktere i:ar
nicht oder unvollstiindiii besitzen, erheilen aus der Vei't;leichuii|; mit
dein Sncruni der anderen hUhnerartigen Vötjel ziir (Jenüge. Fernere
Belege werden im zwi'ilen Theile dieser Abhandlung i)eigebraehl wer-
den. Die Acetabularwirbel gehen also ll\eils in die präacelabnlaren
Ubei', iheils in die postacetabulai'en , dies geseluelil durch das Auf-
geben mancher Hesonderhc^ilen und durch die Annahme von Kieen-
Ihümliciikeiten anderer Wirbelgruppen. Kbenso nelunen aller auch
einzelne Wirlx'l der letzleren die Eigenlhümlichkeiten der Acetabular-
wirbel an, w ie sich zunächst in der an manchen Bi'cken staltfindenden
Durchbohrung poslacetabularer Querrorlsatzschenkei ausspricht.
Diese an mehreren Becken gezeigte Verändeilichkeit im Verhalten
einzelner Wirlxil erschwei't die Feststellung ilei' Ilomologieen, so dass
aus dem Befunde der Wirbel niclit stets ein sicherer Schluss auf deren
morphologisciien Werlh gezogen werden kann , dies gilt von hühner-
artigen Vögeln für Pavo und Meleagris, welche beide zwar zwei sehr
ansehnliche Acetabularwirbel zu besitzen scheinen , aber nicht mit der
oben postulirten Eigenthümlichkeit der Verwachsung ihrer Querfort-
sätze. Nach dem Befunde am Becken von Gallus bleibt die Möglichkeit
oflen, dass dei- letzte der voi'hergehenden Wirbel aus einem rückgebil-
deten Acetabularwirbel hervorging.
Der poslacetabulare Abschnitt des Sacrums w ird im Allgemeinen
aus weniger scharf von einander differenzirten Wirbeln zusaminenge-
setzt, als die vorhergehenden. Die Querforlsütze sind entweder allge-
mein, oder doch am hinteren Ahschnilt einfach, der ganze Charakter
der Wirbel nähert sich mehr jenem der Caudalwirbei , zu welchen ein
allmählicher Uebergang slattüiulet. Die breit geendigten, mit dem hin-
tern Abschnitte des Daiiiibeins sich verbindenden Querfortsälz(? dieser
Wirbel verschmelzen entweder mit den Dornfortsätzen in eine dorsale
Platte, oder sie bilden nur laterale Knochenplalten, welche einen die
verschmolzenen kurzen Dornfortsätze und foramina intertransversaria
sichtbar lassenden Raum zwischen sich fassen. Letzleres ist iler Fall
bei Meleagris und Pavo. Ersteres treffe ich bei Gallus, Phasianus, Te-
Irao und Perdrix. Daran reiht sich auch Crax.
Die Gleichartigkeit der Postacelabularwirbel ist jedoch nicht so be-
deutend , dass aucli hier nicht wieder mclirere Gruppen unterschieden
werden könnten. Die den Acetabularwirbeln zunächst folgenden tiagen
mehr den Charakter der letzteren, die letzten ins Sacrum eingegangenen
Wirbel erscheinen dagegen mehr den wahren Caudalwirbeln gleich.
Sie sind aus;j:ez(M(]uiet durch sehr starke Querforlsätze, mit denen sie
gegen den liinlersleii Absclinilt des Dariidx'ins stehen. Die inneie
170 Carl Gegenbaur,
oder ventrale Fläche dieses Abschnittes ist durch eine stark vorragende
Querleiste ausgezeichnet, welche lateral bis zum Ischium sich erstreckt,
bis zur Umgrenzung des Foranien ischiadicum. Sie soll nach ihren
beiden Endestellen als Ischiosacralleiste des Uiums unterschieden wer-
den. Durch diesen Vorsprung wird eine auf der Ventralfläche des
Iliunis befindliche Grube abgegrenzt, in welche der hintere Nieren-
lappen sich einbettet. Diese Fossa iliaca posterior (Fovea tertia nach
Barkow) erstreckt sich bei allen von mir untersuchten hühnerarligen
Vögeln (auch bei Crax) über die vorerwähnte Querleiste hinweg in eine
blindgeendele Höhlung (Recessus iliacus posterior Fig. I, II, IV, V rp).
Am wenigsten tief, dagegen am breitesten ist sie bei Tetrao, wo hinter
der Querleiste noch eine flache, gleichfalls vom Darmbein gebildete
Vertiefung (Fig. IV m) liegt. Einige Ganäle bilden eine Communication
zwischen dieser flachen Grube und der Fossa iliaca posterior, lassen
dadurch die Ischiosacralleiste als einen brückenartigen Vorsprung er-
scheinen. Das sacrale Ende dieser Leiste nimmt bei Gallus 2 — 3 Wir-
bel (Fig. II, 4', 5') auf. In beiden Fällen bestehen vor diesen noch drei
postacetabulare Wirbel. Fünf postacetabulare Wirbel, davon zwei der
Fossa iliaca posterior, drei der Ischiosacralleiste entsprechen, finde ich
bei Tetrao (Fig. IV). Bei einem zv^eilen Skelete von T. urogallus scheint
ein im Körper noch unverschmolzener sechsler Wirbel durch Verwach-
sung seiner Querfortsätze aus dem caudalen Abschnitte in den post-
acelabularen Sacraltheil einzugehen. Bei Pavo und Meleagris sind je
zwei Wirbel mit der Ischiosacralleiste und der Fossa iliaca verbunden.
Zwei gegen die Grube und drei gegen die Ischiosacralleiste gerichtete
Wirbel besitzt der postacetabulare Abschnitt bei Perdrix. Crax schliesst
sich in diesem Verhalten an Gallus an.
Die Richtigkeit der Vergleichung der einzelnen Abschnitte des
Beckens bei den vorgeführten Gattungen bestätigt sich aus der überein-
stimmenden Gesammtzahl sämmtlicher vor dem acetabularen Abschnitte
des Sacrums liegenden Wirbel. Sie beträgt 2i) bei Gallus und Meleagris
wie bei Tetrao und Pavo. Wenn sie bei Phasianus um einen höher
steigt, so kann der Grund hiefür in der wenig sicheren Bestimmbarkeit
des kritischen Abschnittes des Sacrums liegen, deren bereits oben ge-
dacht ward.
Bei den Tauben treten im Becken sehr nahe Anschlüsse an die
hühnerartigen Vögel auf, dabei fehlen aber auch solche an andere Ab-
theilungen nicht. Bezüglich der ersteren erinnert die tiefe , wohl ge-
wölbte Form des hinteren Abschnittes bei dem flach ausgebreiteten
präacetabularen Darmbeintheile an die Becken der Tetraoniden.
Das Sacrum bilden im vordersten Abschnitte drei bis vier Wirbel.
Rpilräftfi zur Kcmituiss des Beckoiis der Vrigel. 17 l
Drei finde ich l)ei der Mauslauhe, liüuiiger vier Ihm Columha paliiinhiis.
Gewölinlich tragt der erste Wirbel eine Uip[)e. Bei vier Wirbeln kom-
men auch dem zweiten Wirbel Rippen zu. Die Verbindung bietet die
bereits bei den Hühnern angegebene Variabilität dar.
Der zweite Abschnitt besitzt drei Wirbel, davon der erste zuweilen
Andeutungen vorderer Querfortsatzschenkel besitzt und damit eine
Tendenz zeigt, zur ersten Gruppe überzugehen. Die Acetabularwiibel
sind unterscheidbar, bieten aber wieder die bei den Hühnern vorhan-
denen mannichfaltigen Verhältnisse, indem der vordere bald ein-
seitig, bald beiderseitig des charakteristischen Querfortsatzschenkels
entbehrt. Als bemerkenswerlhe Verschiedenheit von den Hühnein
kommt noch dem zweiten Acelabularwirbel zuweilen ein Defecl der
vorderen Querforlsatzschenkel zu , wie wir es auch bei andertn
Abtheilungen antreffen. Wo beide Fortsätze bestehen, convergiren
sie zum Acetabulum , welches mit jenen Wirbelkörpern in gleicher
Höhe liegt. Aus dieser grossen Variabilität ist zu ermessen , dass die
Bestimmung der beiden Wirbel keineswegs leicht ist. Sie kann am
sichersten aus der Vergleichung der übrigen Wirbelgruppen festgestellt
werden. Was die Verschiedenartigkeit selbst betrifft, so mag sie theil-
weise aus den in grösserer Anzahl untersuchten Exemplaren resulliren,
somit eine relative sein, die auch sonst überall sich findet. Theilweise
mag sie aber wohl auch auf Rechnung der Divergenz des Charakters
dieser Familie kommen, die vorzüglich in der künstlichen Rassenerzeu-
gung sich ausspricht.
Die beiden Acelabularwirbel sind auch bei der Kronentaube (Goura
coronata) deutlich wahrnehmbar, wie aus einer von Owen gegebenen
Abbildung^) ersichtlich ist. In der einseitigen rudimentären Bildung
eines vorderen Querfortsatzes findet sich eine üebereinstimniung mit
dem eben erwähnten nicht seltenen Verhalten von Columba.
Bei Columba palumbus, wo ich nur Einen Acotabularvvirbel sehe,
verläuft vom Ende dessen Querfortsatzes eine scharfe Kante zum hin-
tern Rande des Acetabulums und theilt die hier sehr breite Fossa iliaca.
In geringer Ausprägung ist diese Leiste auch bei der Hauslaube anzu-
treffen.
Der folgende Sacralabschnitl besteht aus ö — 6 Wirbeln, drei davon
sind gegen die Fossa iliaca posterior, die zwei oder drei letzten gegen
eine Crista ischiosacralis gerichtet, gegen welche ihre Querforlsätze
convergiren. Die Ischiosacralleisle beginnt medial als eine ganz geringe
aber breite Erhebung , um in ihrem lateralen Verlaufe stärker zu pru-
4) Memoirof Ihe Dodo (Didus Ineptus L.). t.ondon 1866. PI. XU. Fig. .*>.
172 Carl Gegenbaur,
miniren , da hinter ihr oine tiefe, zum Theil unter sie sich fortsetzende
Grube erscheint. Diese lauft gegen die wenig vorragende Spina ilio-
caudalis aus und erinnert an das Verhalten von Tetrao.
Nahen Anschluss an das Becken der Tauben bietet jenes von Didus
dar, wie aus den sorgfältigen Darstellungen in Owen's Monographie ^)
zu ersehen ist. Vier Wirbel setzen den ersten Abschnitt des Sacrums
zusaiiunen, der erste mit einer Rippe' versehen.. Darauf folgen drei,
nur querlamellenartig verdünnte, hintere Querfortsatzschenkel (Diapo-
physen) besitzende Wirbel. Diesen reiht sich ein Acetabularwirbel an,
welcher dui'ch den Besitz sehr mächtiger, besonders terminal verdickter
vorderer Querfortsatzschenkel (Pleurapophysen) sich auszeichnet. Die
letzten acht Wirl)el sind wieder nur mit hinteren Querfortsatzschenkeln
versehen, die in ziemlich gleicher Richtung sich verhalten, aber nach
hinten zu sich etwas verkürzen und verdicken. Der des zweiten Wir-
bels dieser Gruppe ist der längste. Es fragt sich nun , ob der ange-
führte Acetabularwirbel der einzige ist, oder ob auch hier die Rückbil-
dung eines ursprünglich vorhandenen andern angenommen werden
dürfe. Die grosse Verbreitung, in der das Vorkommen zweier Aceta-
bularwirbel tlif'ils schon gezeigt wurde, theils noch vorgeführt werden
wird, giebt der vorläufigen Annahme jener zwei Wirbel für Didus gewiss
einige Biu'echtigung. Diese würde steigen, wenn jener fragliche zweite
Wiibel wenn auch nur aus Spuren erkannt werden könnte. Solche
sind mir aber nicht sicher genug erkennbai", denn die grössern längern
hintern Querfortsatzschenkel des ersten PostacetabularwirbeIs,*im Ver-
gleiche mit dem folgenden , erscheint mir kein ausreichender Grund,
diesen Wirbel als einen rückgebildeten zweiten Acetabularwirbel deu-
ten zu dürfen. Ebensowenig kann der letzte Fräacetabularwirbel als
erster Acetabularwirbel angesehen werden. Somit dürfte diese Frage
vorläufig unerledigt bleiben.
Bezüglich der Vergleichung der Beckentheile von Didus ist von
Owen Didunculus, Goura und Columba herbeigezogen worden, auch
Vultur, der jenen Ergebnissen entsprechend ganz ausser Betracht
bleiben kann. Indem ich die von 0\vi->f auseinander gesetzten Ueber-
einstiminungen und Verschiedenheiten übergehe , will ich nur auf ein
von OwKX nicht angemerktes Verhällniss aufmerksam machen, welches
das Becken von Didus mit jenem von Columba gemeinsam hat. Es ist
die oben schon von mir berührte Crista ichiosacralis, welche vom Ende
des Sacrums flach beginnend gegen das Os ischii quer hinzieht. Diese
fehlt bei Goura und ist auch bei Didus schwächer als bei Columba. Bei
c*' i) Meinoir of tlie Dodo (Didii^ incplus L.). Lüiidon 1866. S -27 u. /.8. PI. VII.
ßeitrrige zur Keniitniss des Beckens der Vögel. 173
Diclus liegt vor der Leiste ein seichter Reccssus iliacus posterior mit
mehreren ivleincn in den Knochen eindringenden Löchern, die auch sonst
mit dem Vorkommen des Recessus bestehen. Dieser Recessus ist bei
Columba nur angedeutet und läuft mit glatter Oberfläche gegen die
Leiste aus. Die bei Columba hinter der Leiste befindliche und auch
unter der Leiste sich nach vorn erstreckende Grube ist dagegen bei
Didus weniger als bei Columba ausgeprägt. Da diese Bildung nur in
wenigen Abtheilungen, aber selbstverständlich im Zusammenhange mit
dem Bestehen der Leiste, vorkommt, bei manchen hühnerarligen Vögeln,
dann bei Otis u. a., also solchen, in denen der Vogeltypus minder
hoch differenzirt hat, wird jener Befund um so mehr Beachtung ver-
dienen.
In derjenigen Abtheilung der Schwimmvögel , welche als Cheno-
morphae von Huxley aufgestellt ward , treten uns Einrichtungen ent-
gegen, die wir an jene der hühnerarligen Vögel anknüpfen können.
Im Becken der Gans (Fig. VIII] wird der vordere Iliacaltheil des Sacrums
durch sechs Wirbel repräsentirt, die zwei ersten davon (zuweilen auch
drei) tragen Rippen, die am ersten Wirbel an Körper und Querfortsalz,
am zweiten nur dem Querforlsatz ansitzen. Bei der Ente wird dieser
vorderste Sacraltheil durch fünf Wirbel vorgestellt, davon drei Rippen
tragen, die beiden letzten sind nur am Querfortsatz befestigt. Die Quer-
fortsätze der übrigen Wirbel sind stärker als die der vorhergehenden.
Sieben Wirbel treffen sich beim Schwan, davon vier Rippen tragen.
Mergus (Fig. X) stimmt mit der Gans überein. Auch bei Phoenicoplerus
(Ph. roseus), den ich hier aufführe, obgleich Huxley ihn mit Recht zum
Repräsentanten einer besonderen Gruppe , der Ampbimorphae, macht,
finde ich sechs solcher Wirbel; davon trägt nur der erste eine Rippe, und
der letzte besitzt sehr schwache Querfortsätze, die nicht ganz das Ilium
erreichen. Der zweite oben charakterisirle Abschnitt ist bei den ge-
nannten Schwimmvögeln, mit Ausnahme von Phoenicoplerus, in seiner
Lage zum Acetabulum verändert, er liegt nicht vor dem Acetabulum,
wie bei den Hühnern, sondern entspricht entweder dem Acetabulum,
oder erstreckt sich caudalwärts hinter dasselbe. Bei Phoenicoplerus ist
dieser Abschnitt aus zwei Wirbeln , bei der Gans , der Hausente und
dem Schwan aus drei, bei einer andern Species von Anas und dem
Sägetaucher (Fig. X a, 1 , 2, 3) aus vier Wirbeln zusammengesetzt, wenn
man die hintere Grenze durch den ersten der vorhin bei den Hühnern
als Acelabularwirbel bezeichneten, mit doppelschenkeligem Querfortsatz
versehenen Wirbel bestimmt sein lässt. Jene Verschiedenheit in der
Zahl löst sich nach Vergleichung der Acelabularwirbel. Diese sind
beim Schwan, beim Flamingo (Fig. XI n, b) wie bei der Gans (Fig. VIII
Bd. VI. 2. 13
174 Carl Gegenbaur,
rt, 6) ausserordentlich deutlich und von den benachbarten Wirbeln
sofort unterscheidbar. Auch bei Anas boschas domestica sind diese
beiden Wirbel vorragend entwickelt. Sie stützen mit ihren verschmol-
zenen Querfortsatzenden den massivsten Theil des Iliums hinter und
über dem Acetabulum. Auch manche andere Eigenthümlichkeiten stim-
men mit jenen der Hühner überein.
Bei Mergus und Anas (spec. ?) finde ich nur einen als Acetabular-
wirbel zu deutenden Wirbel, der bei Mergus durch die mehr transver-
sale Richtung seiner doppelschenkeligen Querfortsätze von den folgen-
den Wirbeln sich unterscheidet, denn die Querfortsätze der letzteren
sind mehr schräg nach hinten gerichtet.
Setzen wir, durch den Befund bei den andern verwandten Vögeln
inducirt, auch hier zwei Acetabularwirbel voraus, so werden wir den
fehlenden entweder im vorausgehenden oder im nachfolgenden Abschnitt
suchen müssen. Die Vermehrung des vorausgehenden Abschnittes um
einen Wirbel — da hier vier, bei den andern Gattungen dagegen nur drei
bestehen — wird uns leiten , den hier überzähligen Wirbel aus einem
umgebildeten Acetabularwirbel entstanden anzusehen ; wir betrachten
also den einzigen mit zweischenkeligem Querfortsatz versehenen Wirbel
bei Mergus (Fig. X b) als den zweiten typischen Acetabularwirbel. Da
aber bei Phoenicopterus die beiden Acetabularwirbel unterscheidbar
sind, wird die Verminderung der präacetabularen Gruppe um einen
Wirbel durch den Uebergang des ersten dieser Gruppe in die nächst-
vorhergehende Abtheilung erklärt werden dürfen. Die Wirbelzahl der
vorderen Sacralabtheilungen ist daher bei Phoenicopterus 5, 3, 2.
Die Sondening der ferner zwischen den Darmbeinen liegenden
Wirbel in untergeordnete Gruppen ist bei den vorgeführten Gattungen
wenig ausgeprägt und damit erscheint der Uebergang der postacetabu-
laren Wirbel in die Gaudahvirbel ganz allmählich. Diess hängt zusammen
mit der geringen Entwickelung einer Ischiosacralleiste , wodurch zu-
gleich der postacetabulare Theil des Darmbeins flacher erscheint. An
einer Andeutung der Ischiosacralleiste fehlt es jedoch nicht gänzHch
Sie ist sehr schwach bei Cygnus olor, wo ihr von den neun postaceta-
bularen Sacralwirbeln zwei corrospondiren , diesen folgen noch acht
freie Caudalwirbel, das Pflugscharbein nicht gerechnet. Auch bei Phoeni-
copterus ist sie angedeutet. Bei Anas anser sind sechs postacetabulare
Sacralwirbel von gleichartigem Verhalten , und zwei bald freie , bald
zum Sacrum gezogene Caudalwirbel folgen, an das mediale Ende
der Ischiosacralleiste gelehnt. Mergus besitzt sechs gleichartige post-
acetabulare Wirbel und einen bis zwei Caudalwirbel mit der Leiste ver-
bunden. Bei einem anderen Exemplare ist einer der letzteren noch
BeitrAiee zur Keniitniss dos Beckens der Vögel. 175
Sacra Iwirhcl. Bei Phoenicoplorus ist der Uobcrgang der Poslacelahu-
larwirbel in den Cauilaltheil der Wirbelsäule noch weniger durch Be-
sonderheiten einzelner Wirbel abgegrenzt , und es bleibt nur die Ver-
schmelzung mit dem Sacrum als Kriterium Übrig. Ich zähle solcher
Wirbel fünf.
Dem Becken der gänseartigen Vögel kommt also im Vergleiche mit
den hühnerartigen, wie auch mit den Tauben ein einfacherer Bau zu,
der in der mangelnden Grubenbildung auf dorn hinteren Darmbeinab-
schnitte, dem damit verbundenen Fehlen einer Ischiosacralleiste und
endlich einer wiederum hiervon ableitbaren grösseren Gleichartigkeit
der postacetabularen Wirbel sich ausspricht.
Die Uebereinstimmungen , welche Phönicopterus im Verhalten des
Sacraltheils der Wirbelsäule mit dem der von Huxley als Chenomorphae
unterschiedenen Schwimmvögel zeigt, werden aufgewogen durch Ver-
schiedenheiten im Verhalten der lateralen Beckenstücke. Auf diese
werden wir um so grösseres Gewicht legen müssen , als jene gemein-
samen Eigenthümlichkeilen keineswegs diesen Vögeln ausschliesslich
zukommen, vielmehr ebenso in anderen ganz verschiedenen Abtheilun-
gen sich wiederfinden.
Jene den Hüftbeintheil des Beckens betreffenden Eigenthümlich-
keilen von Phönicopterus im Gegensatz zu den Chenomorphen finde ich
erstlich im Bestehen einer scharf ausgeprägten Linea ileolaleralis,
welche zu einem deutlichen Acetabularfortsatz führt, den dorsalen und
lateralen Darmbeintheil abgrenzend. Diese Linie fehlt bei den Gänsen.
Zweitens divergiren die Schambeine mit dem vordem Sitzbeinrand,
und dem Sitzbein fehlt die zum Schambein tretende Platte, welche bei
den Gänsen ein Foramen obturatum von hinten her abgrenzt und
besonders bei Mergus deutlich aus dem ventralwärts gekrümmten
Ende des Sitzbeinkörpers gebildet wird. In diesem Offensein des
Foramen obturatum scheint sich nicht blos die Trennung von den Che-
nomorphen, sondern auch die selbstständige Stellung zu rechtfertigen,
welche von Huxley dieser Gattung angewiesen ward. Ausser bei
einigen Ratiten besteht bei nur wenigen Vögeln , z. B. bei Tinamus,
das gleiche Verhalten in ähnlicher Form.
Ich schliesse hieran die Reiher (Pelargomorphae , Huxley), von
denen ich Ardea cinerea, n. stellaris, sowie Ciconia alba untersucht
habe. Die Wirbelzahl des ersten Abschnittes des Sacrums stellt sich
auf fünf, davon einer eine Rippe trägt, die sich durch Capitulum und
Tuberculum befestigt. Dieser Abschnitt ist schlanker als bei den
hühner- und gänseartigen Vögeln, und namentlich bei Ardea (A. stel-
laris) sind die Darnjbeine dieses Abschnittes zierlich gestaltet. Die
13*
176 Carl Gegerrbrtrtr,
Querfortsätie erscheinen bei Ciconia einfach bis auf den letzten , der
doppelte Schenkel besitzt. Die folgende Wirbelgruppe finde ich aus
drei Wirbeln zusammengesetzt, die sich mit Beziehung zum Acetabulum
jenen der Anserihen gleich verhalten. Die darauf folgenden Acetabu-
larwirbel sind deutlich, besonders bei Ciconia (Fig. XIV, a, b) ; das von
ihren Querfortsätzen umschlossene Foramen intertransversarium ist
schmäler, aber länger als die der folgenden Wirbel. Von diesen ge-
hören zum Sacrum noch vier, die bei Ciconia mit den acetabularen
doppelte Querfortsatzschenkel gemein haben. Auch der erste Caudal-
wirbel bietet beim Storch diesen Bau, so dass eine Sonderung von den
acetabularen schwer wäre, wenn diese nicht durch Volum und Stellung
der Querfortsätze sich leicht bemerkbar machten. Bei Ardea ist die
Querfortsatztheilung nur durch ein Höherwerden der Querfortsätze an-
gedeutet, wobei die Löcher durch blind geschlossene Gruben repräsen-
lirt sind. Die vier postacetabularen Wirbel sondern sich im Zusammen-
hange mit dem Bestehen einer Ischiosacralleiste in verschiedener Weise
von einander. Bei Ardea stellaris (Fig. Xlll) sind die drei letzten
Sacralwirbel mit jenem Vorsprung verbunden , dessen concave Kante
am Querfortsatz des zweiten Postacelabularwirbels beginnt. Bei Ci-
conia ist dieser zweite Wirbel (2') dem vorhergehenden gleich, sein
Querfortsatz richtet sich aber gegen den wenig starken sacralen Anfang
jener Kante, und bei Ardea cinerea ist derselbe zweite Wirbel kaum
noch in Beziehung zu jener Kante, die erst am dritten postacetabularen
Wirbel (3') anhebt. Denmach sind bei Ardea cinerea zwei der vier
Wirbel gegen die Fossa iliaca posterior gerichtet. Bei Ardea stellaris
ist es ttur einer. Damit steht eine Verschiedenheit der Ausbildung der
Ischiosacralleiste in Zusammenhang und diese bedingt wieder eine Ver-
schiedenheit in der Tiefe der Fossa iliaca posterior. Diese ist wenig
beträchtlich bei Ardea cinerea (mehr allerdings als bei den Gänsen),
tiefer ist sie bei Ciconia , wo bereits eine Einsenkung über die Leiste
hinaus nach hinten beginnt. Am tiefsten ist die Grube bei Ardea stel-
laris, wo sie sich weit über die Leiste hinaus ins llium erstreckt. Dieses
mit dem Becken der hühnerartigen Vögel gemeinsame Verhalten (vergl.
damit die Figg. 11, 111, IV) wird durch die Beziehung zum Foramen
ischiadicum modificirt. Während dieses bei den Hühnervögeln mit seiner
hinteren Umrandung vor dem Rande der Crista ischiosacralis liegt,
zieht sich der Hinterrand des Hüftloches bei Ciconia bis fast zur Höhe
der Crista ischiosacralis hinab, und reicht bei Ardea stellaris sogar
über jene Leiste hinaus, welche daher von aussen her durch das
Hüftloch sichtbar wird.
Schwieriger wird die Erklärung des Sacrums bei den Möven,
Rcilräjfe zur Kftniiliiiss des Hcckciis der Vö(jel. 177
die ich inil don Coiyinbidon ;uis dor Ih xi.EY'schcn Ablbciluni; der Ccco-
iiiorphae allein untorsuchl habe. Fünf Wirbel bilden liei Larus (L, ri-
dibiindus und argentatus) (Fig. XV) den ersten Abschnitt. Der erste
ti'iigt eine vollständige Rippe, der zweite nur eine Rippe, die blos am
Ende des Querforlsatzes befestigt ist , wenn wir von dem für unsere
Zwecke untergeordneten Umstände absehen, dass diese Rippe auch mit
dem llium verwachsen kann. So finde ich es an einem Specimon von Larus
lidibundus. Jener rippentragende Querfortsatz ist, wie die folgenden,
hoch aber dünn ; der des dritten Wirbels ist unansehnlich. F^twas
stärker und in transversaler Richtung einander parallel sind die Quer-
fortsätze der beiden letzten Wirbel dieses Abschnittes. Der nächste
setzt sich aus vier Wirbeln zusanmien , die wie sonst beschaffen sind.
Darauf folgt ein mit mächtigem doppelschenkeligem Querfortsatz aus-
gedehnter Acotabularwirbel. Das massive Ende dieses Fortsatzes stösst
an den hinteren Theil des Acetabulums, die vorerwähnte Wirbelgruppe
ist daher präacelabular. Von den folgenden postacetabularen Wirbeln
sind bei L. ridibundus die Querfortsätze zweier der Fossa iliaca poste-
rior, die zwei letzten der langen aber schmalen Ischiosacralleislc zuge-
wendet, die sie mit bedeutender Convergenz ihrer Enden erreichen. Bei
Larus argentatus entspricht nur der letzte Sacralwirbel jener Leiste,
drei sind mit den Querfortsätzen gegen die Fossa iliaca posterior ge-
richtet. Somit besteht ein ähnliches Verhältniss wie bei den Reihern.
Auch das Foramen ischiadicum bietet ähnliche Beziehungen, indem sein
hinterer Rand nur wenig vor der Ischiosacralleiste liegt.
Aufzuhellen bleibt das Verhalten der Acetabularwirbel, deren wir
sonst zwei, bei Larus dagegen nur Einen antreffen. Durch die Beziehung
dieses einen zum Acetabulum möchte man versucht sein, die fehlenden
unter den postacetabularen zu suchen ; bei L. ridibundus geht zudem
vom verdickten Querfortsatzende des einzigen Acetabularwirbels ein
Vorsprung schräg nach hinten und medianwärts (vgl. Fig. XV), so dass
man auf eine einmal vorhanden gewesene Verbindung mit dem ersten
Acetabularwirbel sobliessen könnte. L. argentatus bietet dagegen nichts
Derartiges dar. Es ist daher gerechtfertigt, auch unter den präaceta-
bularen Wirbeln zu prüfen. Geleitet werden wir hiezu durch die Vier-
zahl dieser Wirbel und die Erwägung , dass dieselbe Gruppe bei Ver-
Nvandlen, den Reihern, den Gänsen etc. nur aus drei Wirbeln sich zu-
sammensetzt. Beachten wir die Richtung der hier allein bestehenden
dorsalen Querfortsätze dieser vier Präacetabularwirbel , so finden wir
die der ersten drei ziemlich parallel und etwas schräg nach hinten ge-
richtet. Der Querfortsatz des vierton, letzten Wirbels dieser Gruppe
verläuft dagegen viel steiler nach hinten , ist stärker gegen den Quer-
178 Carl Gegeiibaur,
fortsalz des acetabularen Wirbels geneigt und zwar in beiden Arten
von Larus. Wenn diesem Querfortsatze auch ein ventraler Schenkel
zukäme, so müsste er mit dem Ende des acetabularen Querfortsatzes
nothwendig zusammentreffen. Es wird also mit aller Wahrscheinlich-
keit der ursprüngliche erste Acetabularwirbel durch Verlust seines
ventralen Querfortsatzes in die präacetabulare Wirbelgruppe überge-
gangen sein.
Von dem Becken der Möven ist das der Golymbiden ganz aus-
serordentlich verschieden, wie an den hierauf untersuchten Gattungen
Podiceps (P. minor) und Colymbus (C. septentrionalis) deutlich wird.
Zuerst ist es die bedeutend langgestreckte und schmale Form , welche
die Becken dieser Vögel auszeichnet, und sie bei der minimalen Breite
der Interacetabularregion und des ganzen postacetabularen Abschnittes
fast den Becken der Strausse ähnlicher erscheinen lässt. Das Ischium
und der lange postabulare Theil des lliums verwachsen zu einer brei-
ten, aber fast senkrecht stehenden, einem längeren Abschnitte der
Wirbelsäule sich anschmiegenden Knochenlamelle. Bei Colymbus , wo
ich für diesen Abschnitt acht Wirbel zähle, lässt der dorsale Darmbein-
rand in seiner ganzen Länge eine von vorne etwas breitere, vom Ace-
tabulum an sehr schmal werdende und bis zum Ende ziemlich gleich
bleibende Spalte frei , aus der die Dornfortsätze der Sacralwirbel her-
vortreten, bis über die Acetabularregion hinab in eine Knochenleiste
verschmolzen. Bei Podiceps tritt in der Acetabularregion ein breiterer,
rautenförmig gestalteter Abschnitt des Sacrums dorsal zu Tage , wäh-
rend der hinter dem Foramen ischiadicum gelegene Theil beider Uia
über dem Sacrum zu einer fast senkrechten Kante zusammen tritt. Den
flachen Darmbeinen fehlt jede Andeutung einer Fossa iliaca und damit
auch die Ischiosacralleiste ; damit steht das gleichartige Verhalten der
•postacetabularen Wirbel in Zusammenhang. Bei der Enge der Pfannen-
gegend sind auch keine acetabularen Wirbel unterscheidbar. Im
Ganzen wird man dieser Beckenform im Verhältniss zu den Lariden
eine niedere Stellung einräumen müssen, da sowohl am Sacrum, als an
den Hüftbeinen viel geringere Differenzirungen als bei jenen vorhanden
sind. Inwiefern diese Verschiedenheit durch die bei den Aleiden und
Procellariden vorhandenen Beckenformen mit jener der Lariden ver-
mittelt wird, inwiefern also die von Hüxley i) aus diesen Familien ge-
gründete Abthoilung der Cecomorphae auf den Bau des Beckens
sich stützen kann, muss ich unentschieden lassen.
Nach der Untersuchung von Garbo finde ich das Becken der
1) Procced. of the Zoological Society. London 1867. S. 457.
Hcitiiinc zur K(Miiiliiiss des BtH-kniis der Vöucl. 179
Pelecaiiidcn jonern dor Anatidon am niichsUMi stehend. Was vor allem
das Sacrum hetrinX, so bilden sechs Wirbel den vordersten Absciinitt
(Fig. XXIII). Zwei davon tragen Rippen. Die ersten drei Wirbel sind
wie die sätnmtlichen vor ihnen befindlichen Brustvvirbcl durch ventrale
Fortsätze (llypapophyscn) ausgezeichnet, wovon auch der vierte Wirbel
noch eine Spur zeigt. Darauf folgen am zweiten Abschnitte zwei Wir-
bel, worauf ein mit ansehnlichem vorderen Querfortsatzschenkel ver-
sehener Acetabularwirbel kommt. Er lehnt sich an den hinteren Rand
der Pfanne. Von den acht Postacetabularwirbeln , die nur durch all-
mähliche Verbreiterung ihres kurzen Ouorfortsatzes sich unterscheiden,
correspondirt der vorletzte einer Ischiosacralleiste , die schwach, aber
immerhin deutlich entwickelt ist. Es besteht demgemäss eine flache
Fossa iliaca posterior. Eigenthümlich sind zwei von der Ischiosacral-
leiste ausgehende, die Querforlsätze des ersten und auch theilweise
noch des zweiten Caudalwirbels zwischen sich fassende Fortsätze,
welche eine hintere Incisura ischio-iliaca begrenzen helfen. Die Inci-
sur besteht wenn auch viel schmaler am Becken der Gans, weniger bei
Anas boschas und Cygnus; bei Morgus als eine schwache Buchlung. Die
Fortsätze, die von mir als Spinae ilio- caudales bezeichnet werden, sind
bei Anas anser bedeutender von der Wirbelsäule entfernt (vergl.
Fig. XIII). Von ihrem medialen Rande her zieht eine Membran zu den
caudalen Querfortsätzen. Am meisten finde ich sie sonst noch bei Gallus
entwickelt (Fig. II), als stumpfe, aber starke Höcker, welche über die
Höhe zweier Caudalwirbel hinausragen. Bei der Vergleichung des
Beckens von Garbo mit jenem der Gans fällt noch eine an der Innen-
fläche vom Ausschnitt des Canalis obturatoiius beginnende Furche auf,
die lateral von der zugeschärften, gegen das ansehnliche Foramen ob-
turatum gerichteten Kante des Ischium, medial dagegen von einer dicht
unter dem Acetabulum entspringenden , dem Körper des Ischium fol-
genden Kante begrenzt wird. Die mediale Kante fehlt bei Anas anser,
da die innere resp. vordere Sitzbeinfläche abgerundet ist, sie ist aber
angedeutet bei Anas boschas, und noch bedeutender bei Mergus ent-
wickelt.
Das Bocken des gemeinen Kranich (Grus cinereus) bietet im
ersten Abschnitte des Sacrums sechs Wirbel. Die beiden ersten tragen
Rippen, davon das vorderste Paar mit Capitulum und Tuberculum arti-
culirt. Das zweite Paar articulirt auf der ersten halben Länge des be-
züglichen Querfortsatzes (Fig. XIV) mit dem Capitulum und dann noch-
mals am Endo dos Querfortsatzes mittels eines verbreiterten Tubercu-
lums. Die Quorfortsälze sind bis zum letzten Wirbel herab durch
bedeutende, vom ersten an zunehmende Höhe ausgezeichnet. Am
180 Carl Gegenbaur,
fünften und sechsten sind sie gespalten , wobei der dorsale Schenkel
sich dem Dornfortsatze anlagert, oder vielmehr einer durch die Ver-
wachsung der Dornfortsätze gebildeten Crista. Die unteren Theile
nehmen unter Verbreiterung der Wirbelkörper nach hinten an Länge
ab. Auch die Foramina intertransversaria anteriora wurden kleiner.
Am zweiten Abschnitt sind drei Wirbel vorhanden (Fig. XVI, 1, 2, 3).
Der dritte Abschnitt wird wieder aus drei, doppelte Querfortsatzschen-
kel besitzenden Wirbeln vorgestellt (a, 6, i'). Die ansehnlichen ven-
tralen Schenkel, besonders der beiden ersten, verlaufen unter Gonver-
genz schräg nach hinten und lateral zum hinteren oberen Pfanncntheile,
wo sie mit ihren verbreiterten Enden in eine mächtige Knochenmasse
verschmelzen, in deren hinteren Theil auch noch der ventrale Schenkel
des folgenden Wirbels eingeht. Unter diese Knochenmasse setzt sich
der Recessus anterior der Fossa iliaca posterior fort. Da sonst, z. B.
bei Crax alector, die Wand dieses Recessus nur vom llium gebildet
wird, ist es wahrscheinlich, dass auch hier Aehnliches stattfindet, und
dass der genannte Knochenpfeiler nicht ausschliesslich von den gegen
ihn tretenden Querfortsätzen sich zusammensetzt. Die dorsalen Schen-
kel dieser Querfortsätze sind sämmtlich schwach, die des ersten Aceta-
bularwirbels entbehren der terminalen Verbindung mit den ventralen
Schenkeln. Ob daraus geschlossen werden darf, dass nur die folgen-
den beiden Wirbel acetabulare sind, ist noch nicht sicher, denn wir
haben bereits mehrfach gerade am ersten Acetabularwirbel Uebergänge
in dem vorhergehenden Abschnitte nachgewiesen , wobei ich an die
Hühner erinnern will. Will man aber nicht eine Variabilität in der
Zahl der Acetabularwirbel als typische Bildung annehmen, so wird
man bei dem vorläufigen Festhalten an der Bedeutung des ersten der
vorhin dieser Gruppe zugetheilten Wirbel nothwendiger Weise den
dritten (Fig. XVI, 1') aufgeben müssen. Dass er der postacetabularen
Wirbelgruppe des Sacrums angehören kann, zeigt auch das Verhalten
des folgenden Wirbels, der sich in manchen Stücken dem vorhergehen-
den ähnlich verhält. Nur die Richtung seines Querfortsatzes ist minder
zur Acetabularstütze convergirend. Er ist zugleich mehr gegen die
Fossa iliaca posterior gerichtet, und kommt darin mit dem nächsten
Wirbel (2') überein, der ebenso noch einen doppelschenkeligen Quer-
fortsatz aufweist. Ein ähnliches Verhalten zeigte sich auch bei Phoe-
nicopterus (Fig. XI) , insofern der erste Postacetabularwirbel einen
mit dem Vorhergehenden convergirenden Querfortsatz darbot. Wir
unterscheiden somit nach den zwei acetabularen Wirbeln (a, b] drei
postacetabulare, von denen einer den acetabularen assimilirt ist und
der zweite eine Uebergangsform zum dritten abgiebt. Auf diesen folgen
Beilräge zur Keniilniss des Beckens der Vögel. 1 8 1
endlich noch drei sacrale Wirbel, von welchen der erste (4') mit seinem
Quorfortsatz auf die Crisla ischiosacralis stösst (c. is.). Diese umzieht
hier einen ansehnlichen Recessus iliacus posterior. Der letzte (6') der
poslacetabularen Sacralvvirbel ist nicht mit dem lateralen Theile seiner
Querfortsätze, sondern mit dem Vorderrande derselben dem Ilium ver-
bunden, und zeigt sich dadurch mehr dem caudalen Abschnitte der
Wirbelsäule angehörip. Berücksichtigen wir diesen Umstand, so slimnit
die Zahl der postacelal)uIaren Wirbel, fünf, mit der von Grax aleclor
Uboroin, ebenso auch die Zahl der Caudalwirbel, sieben, das letzte aus
mchreien Wirbeln verschmolzene Stück für einen gerechnet. In der
Zahl der präacetabularen rippenlosen Wirbel, sieben, ist gleichfalls eine
Uebcreinslimmung. Die Verschiedenheit des Sacrums beruht in beiden
Vögeln somit wesentlich darauf, dass bei Grus ein rippentragender
Wirbel mehr dem Sacrum zugetheilt ist , und dass in den beiden prä-
acetabularen Abschnitten des Sacrums eine andere Gruppirung waltet,
indem die erste Gruppe bei Crax vier, bei Grus sechs, die zweite bei
Crax vier, bei Grus drei Wirbel umfasst. Die Vermehrung des prä-
acetabularen Sacraltheiles um einen Wirbel bei Grus wird aus der grös-
seren Längsausdehnung des betreffenden Darmbeinslückes hinreichend
verständlich. Aehnliche Beziehungen ergeben sich auch bei einer Ver-
gleichung mit Phoenicoplerus.
Mit Beziehung auf die am Becken des Kranichs nachgewiesenen
verwandtschaftlichen Verhältnisse mit dem Becken von Crax und da-
durch auch mit jenem hühnerartiger Vögel muss die Untersuchung des
Beckens von Otis (0. tarda) sich hier anschliessen. Das Skelet eines
noch nicht völlig ausgewachsenen Exemplares zeigte für die genauere
Kenntniss des Vogelbeckens ausser den dieser Abhandlung speciell zur
Aufgabe gesetzten Verhältnissen noch manchen anderen wichtigen Be-
fund. Was das Sacrum betrifft, so sind, wie aus dem Vorbemerkten
zu erwarten ist, noch nicht alle in es eingehende Wirbel verschmolzen.
Der erste Abschnitt, dem der Ausdehnung der Darmbeine gemäss fünf
Wirbel zukommen, weist zwei un verschmolzene Wirbel (Fig. XVIl, S, 9)
auf. Beide tragen Rippen , die mit Capitulum und Tubcrculum arti-
culiren ; die folgenden drei Wirbel sind unter sich sowohl, wie mit dem
nächsten Abschnitte verschmolzen. Der Quorfortsatz des ersten dieser
Wirbel ist wieder durch Höhe ausgezeichnet, die der beiden letzten (0, 5)
sind getheilt. Der ventrale Schenkel des dritten (5) ist unansehnlich,
auf der einen Seite sogar verkümmert und durch Bandmasse ergänzt.
Im zweiten Abschnitte sind vier Wirbel (i — 1) verschmolzen, davon
wieder die Querfortsätze wie sonst nur in dorsalen Schenkeln bestehen,
die hier ziemlich kurz sind. Der acclabulare Theil weist zwei unter sich
182 Carl Gegenbaiir,
und mit dem vorhergehenden vctschmolzene , von dem nachfolgenden
getrennte Wirbel (Fig. XVII, a, b) auf. Die verbreiterten Enden ihrer
ansehnlichen doppeltschenkeligen Querfortsätze sind unter sich ver-
einigt und stossen an den die Pfanne tragenden Darmbeintheil. Im Ver-
gleiche mit Crax, wo die homologen Wirbel ganz ähnlich gestaltet sind,
liegen sie etwas weiter nach vorne zu. Die nächsten drei Wirbel (1 ' — 3')
besitzen kürzere einfache Querfortsätze; den des ersten finde ich einer-
seits dicht an der Wurzel durchbohrt. Sie lehnen an den medialen
Darmbeinrand. Der folgende, vierte , postacelabulare Wirbel trifft mit
seinem Querfortsatz auf eine starke Ischiosacralleiste (c. is.), deren hin-
terem Rande das ansehnliche knorpelige Querfortsatzende des nächsten
Wirbels sich anschmiegt, sowie diesem w^ieder jenes des folgenden
mit einer Knorpelplatte verwachsen ist. Nach diesen finde ich sechs
discrete Gaudalwirbel. Das darauf folgende wenig mächtige Pflugschar-
bdin bietet noch Spuren mehrfacher Wirbel dar. An jedem der Gau-
dalwirbel trägt der Querforlsatz einen ansehnlichen Knorpel (c//), die-
sem entspricht an den vorhergehenden Wirbeln eine Verdickung der
Knorpelplatte , welche die Querfortsätze mit der Ischiosacralleiste ver-
bindet. Am ausgewachsenen Thiere nehmen die Querfortsätze der
Gaudalwirbel eine ansehnliche Ausdehnung ein. Der Querfortsatz läuft
in ein nach vorn convexes Knochenstück aus, welches von ersterem an
der Basis abgesetzt ist und dadurch seine Entstehung aus dem vorhin
erwähnten Apophysenknoipel kundgiebt. Dabei hat es den Anschein,
als ob diese Knorpel s'elbstständig ossificirten.
Bevor ich auf die Vergleichung des Sacrums eingehe , müssen
einige das Ilium betrefTende Bemerkungen vorgetragen werden. Das-
selbe zeigt eine bedeutende Grube, die vorwärts einen unter die Quer-
fortsätze der Acetabularwirbel tretenden Recessus bildet, der etwas
weniger als bei Grax entwickelt ist. Nach hinten vertieft sich die Fossa
iliaca posterior wieder in einen Recessus, welcher die Ischiosacralleiste
wie bei Grax, Gallus und Grus abgrenzt. Dieser Recessus posterior ist
aber nicht wie bei den bisher vorgeführten Becken blind geendigt, son-
dern bildet vielmehr einen von der Leiste überbrückten Ganal, der
hinten ausmündet. Es liegt hier ein Verhällniss vor , welches bei Te-
trao Anschlüsse findet. Dort trifft sich (bei T. urogallus und tetrix) auf
dem hinter der Ischiosacralleiste des Darmbeins liegenden noch ansehn-
lichen Stücke dieses Knochens eine scharfumrandete Grube (vergl.
Fig. III), welche mehrere gegen den Recessus posterior gerichtete Löcher
besitzt. Denkt man sich diese Löcher zusammengeflossen zu einem in
den Recessus einmündenden Ganal erweitert, so tritt uns das Verhalten
BtMtrrnte zur Kennt iiiss des Beckens der Vögel. 183
von Otis im Wesentlichen entgegen, und dadurch mögen wieder ver-
wandtschoftliche Beziehungen gegeben sein.
Eine zweite, das Iliurn betreflende, wie ich glaube wichtige Thal-
sache ist die seil)stständige Ossification der Ischiosacralleisle. Sie bil-
det ein besonderes Knochenstück (o, 15). Wir können an
diesem Os ischiosacrale ein schmaleres Mittelstück und zwei ver-
breitesle Enden unterscheiden. Ersteres Stück bildet eine quere
Brücke über den zu einem Canal umgewandelten Reccssus iliaciis
posterior, das mediale Ende stösst an den Querfortsatz des vierten posl-
acetal)ularen Wirbels, verbreitet sich dorsalwärls, so dass es den Canal
von oben und seitlich umranden hilft, und erstreckt sich auch medial
abgedacht nach vorn, wodurch es auch an die Querfortsälze des dritten
und des zweiten poslacetabularen Wirbels stösst. Das laterale Ende
tritt direct und sehr verbreitert zu dem betreffenden Os ischii. Es be-
sitzt gleichfalls eine dorsale Ausdehnung und stösst mit dem medialen
Ende über dem Canal in einer noch knorpeligen Naht zusammen. Der
vordere Theil des lateralen Endstückes begrenzt zugleich das Foramen
ischiadicum von hinten her. hidem beide Endstücke zur Umschlicssung
des Canals dorsal gegen einander treten , kommen sie auf der oberen
Fläche des Beckens als zwei ansehnliche Knochenplatten zum Vorschein.
Die laterale Platte steht fast senkrecht zur medialen. Die letztere
grenzt mit breitem Vorderrande an den medialen Theil des Hinterrandes
vom Ilium, die laterale Platte stösst an den lateralen Theil jenes Randes
nur mit einer schmalen Stel'e. Die mediale Platte ist ungleichmässig
ossificirt, sowohl innen als aussen scheinen einzelne Stücke wie ab-
gelöst, auch bietet sie besonders innen mehrfache Vertiefungen und
andere Unebenheiten, was alles an dem lateralen Endstücke nicht vor-
kommt. Die äussere Oberfläche desselben ist besonders glatt und mit
bestimmten Contouren umrandet. Das zwischen diesen Theilen und den
benachbarten Knochen befindliche Gewebe scheint Knoipel zu sein, und
ebenso setzt sich ein knorpeliger Saum noch nach hinten fort, vom Cau-
dallheil bis zum Sitzbein herüberziehend.
Beim erwachsenen Trappen ist der Ischiosacralknochen vorn mit
dem Ilium, lateral mit dem schmalen Ischium verschmolzen. Die Com-
munication unter der Ischiosacralleisle besteht dagegen fort.
In Betreff der Vergleichung des Sacrums ist die Deutlichkeit der
acelabularen Wirbel von Wichtigkeil, weil daraus die Homologieen der
übrigen Wirbel leichter festzustellen sind. Die beiden präacetabularen
Wirbelgruppen umschliessen neun Wirbel wie bei Grus cinerea, einen
mehr als bei Crax, wo dagegen nur Ein rippentragender Wirbel vor-
kommt. Die Zahl sämmtlicher poslacetabularer Wirl)el ohne das Pflug-
184 Carl Gegeiibaur,
scharbein beträgt bei Otis 1 i, bei Grus und Giax I I . Daran sehiiesscn
sich auch Gallus und Tetrao, doch geht bei dem letzteren der elfte Wir-
bel zuweilen ins Pflugscharbein ein. In allen drei Gattungen sind wie
bei Gallus die drei ersten der postacetabularen Wirbel mit ihren Quer-
fortsätzen der tiefen Fossa iliaca zugewendet, und der vierte postacela-
bulare Wirbel sendet seinen Querfortsatz der Grisla ischiosacralis ent-
gegen. Von den folgenden Wirbeln treten noch zwei zum Sacrum bei
Grus, einer bei Crax, und bei Otis sind, wie an den mir vorliegenden
Skeleten eines noch nicht angewachsenen und eines alten Exemplars er-
kenntlich, noch drei Wirbel dem Sacrum zugetheilt (Fig. XVII, 4', 5', 6'),
wenn auch anfänglich mit dem knöchernen Ischiosacrale nur ein Wirbel,
eben der vierte postacetabulare, correspondirt. Dieser letzte Sacral-
abschnitt vermehrt also von Crax durch Grus zu Otis die Zahl seiner
Wirbel = 2, 3, 1, und in demselben Maasse wird der Caudalthcil be-
einträchtigt. Anders verhält es sich bei Tetrao, wo gleichfalls drei
Wirbel den letzten Abschnitt des Sacrums bilden. Hier geschieht die
Vermehrung durch den letzten Wirbel der vorhergehenden Gruppe,
und der erste auf der Ischiosacralleiste stehende Wirbel ist der dritte
Postacetabularwirbel.
In der Familie der Charadriadae, welche Huxley mit den Sco-
lopacinen in die Abtheilung der Charadriomorphae zusammen-
fasste, findet die Sonderung der wichtigsten Sacralabschnitte allgemein
deutlich und scharf statt, indem die beiden Acetabularwirbel sehr
mächtig entwickelt sind. Sie sind durch lange Querfortsätze ausge-
zeichnet, welche meist convergiren und gegen den dorsal von der Pfanne
befindlichen Abschnitt des Iliums gerichtet sind. Dieser Theil des
Iliums ist wieder sehr massiv. Bei Haematopus zieht sich sogar ein
leistenförmiger Vorsprung von der Verbindung der Querfortsätze mit
dem Darmbein bis zum hinteren Pfannenrande. Bei Oedicnemus ist
dieser Vorsprung, der die Fossa iliaca anterior von der posterior schei-
det, minder stark. Bei Recurvirostra fehlt er. Die Querfortsatzenden
sind hier der Pfanne bedeutender genähert. Dass die Beziehungen
dieser Wirbel den hinteren Theil des Pfannenrandes oder vielmehr den
postacetabularen Abschnitt des Iliums betreffen, geht aus der Richtung
der beiden Querfortsätze hervor. Sie verlaufen mehr transversal, wo
die Pfanne vor dem Körpertheile der Wirbel sich findet, z. B. bei Re-
curvirostra. Wo sie dagegen mit den bezüglichen Wirbelkörpoin in
gleicher Höhe sich findet, nehmen die Querfortsätze einen etwas schräg
nach hinten gerichteten Verlauf. Dies gilt besonders für den ersten,
minder für den zweiten Wirbel. Bei einem Exemplare von Recurvi-
rostra fehlt dem eisten Acetabularwirbel der Querfortsatz, resp. der
Beitrüge zur Keiiiitniss des Bcekcns der Vögel. 185
vordere Schenkel desselben , und bei einem Exemplare von Haemn-
lopus ostralegus finde ich nur Einen Acelalnilarwirbel ; wie die Ver-
gleichuni;; mit dem andern Exemplare ergiebl, ist es wieder der erste
Wirbel, der die Abweichung durch Verlust der beitlerseitigen Quei-
forlsälze hervorrief. Bei Numenius finde ich nur Einen Acelabulai wirbel
mit sehr starkem 0«t'i'fo''lsalz. Obgleich d(M- vorhergehenden Gruppe
vier Wirbel angehören, muss ich den fraglichen Wirbel für den ersten
Acetabularwirbel halten.
Die beiden präacetabularen Wirbelgruppen setzen sich in allen drei
zuerst genannten Gattungen aus acht Wirbeln zusammen, die beiden
vordersten tragen Rippen. Fünf Wirbel bilden den ersten Abschnitt
bei Recurviroslra und Haematopus, wo der zweite Abschnitt aus drei
Wirbeln gebildet wird. Sechs Wirbel finde ich im ersten Abschnitte
von Oedicnemus, dessen zweiter Sacralabschnitt nur zwei W'irbel be-
sitzt. Dass hier ein der .'atzten Gruppe angehüriger Wirbel in die erste
Gruppe eingetreten ist, wird auch durch die sehr kleinen Querfortsätze
des sechsten Wirbels dargethan.
Postacetabulare Sacralwirbel unterscheide ich bei Recurviroslra
vier, bei Haematopus und Oedicnemus fünf. Bei Recurviroslra ist der
vierte, bei Oedicnemus der vierte und der fünfte mit der Ischiosacral-
leisle in Verbindung. Diese Leiste bildet hier einen sehr schwachen
abgerundeten Vorsprung, der die ziemlich ansehnliche, besonders sehr
breite Fossa iliaca posterior von hinten her umzieht. Bei Haematopus
ist die Leiste durch eine ganz kurze, vom Sitzbein ausgehende Er-
habenheit vertreten, die Fossa iliaca posterior ist flacher und läuft gegen
den hintersten Theil des Iliums seitlich vom Sacrum ohne Grenze aus.
Der Ausdehnung der Fossa iliaca entspricht die Länge des Foramen
ischiadicum bei Recurvirostra , während letzteres bei Haematopus viel
weniger lang gezogen ist, und noch kürzer (im Verhältniss zur Fossa
iliaca) ist es bei Oedicnemus. In demselben Maasse wird der hintere
laterale Abschnitt der Fossa iliaca von einer vom Darm- und Sitzbein
gebildeten Knochenlamelle umrandet, deren vorderer Rand die hintere
Begrenzung des ischiadischen Loches vorstellt. Nach hinten läuft das
Ilium in eine sehr stark lateral gelegene Spina ilio-caudalis aus, von
der aus ein Vorsprung zur dorsalen Umrandung des Foramen ischiadi-
cum zieht.
Das dorsale Sacralfeld ist rhomboidal gestallet, die beiden seit-
lichen Winkel entsprechen den Enden der Querfortsätze der Acetabu-
larwirbel. Der vordere Wirbel läuft spitz auf die zwischen den vor-
deren Darmbeinstücken liegende Dornfortsatzkanle aus. Nach hinten
186 Carl Gegenbanr,
ist das Sacralfeld offen und setzt sich auf den Caudaltheil der Wirbel-
säule in dessen Breite fort.
Vom Becken der Reiher unterscheidet sich das Becken des Chara-
driomorphen vor allem durch die bedeutende Breite des Interacetibu-
larraumes, sowie durch die geringe Ausbildung der Ischiosacralleiste,
welche dort sogar einen Recessus fossae iliacae umgiebt. Man kann in
diesen Verhältnissen einen minder differenzirten Zustand erkennen,
der dem bei den Anserinen angeführten nur parallel liegt, ohne dorthin
Verknüpfungen erkennen zu lassen. Letzteres erhält aus den Zahlen-
verhältnissen, besonders des postacetabularen Sacraltheiles, eine Unter-
stützung.
Das Becken der Ralliden ist sowohl in seiner allgemeinen Ge-
stalt, wie in dem Verhalten seiner einzelnen Theile von dem der vorhin
aufgeführten Gruppe verschieden. Es ist langgestreckt und dabei
schmal, besonders am präacetabularen Theile. Die hinteren Darmbein-
stücke convergiren gegen einander und die Sitzbeine verlaufen fast
ganz parallel. So wenigstens bei Fulica atra, Gallinula chloropus und
Grex pratensis. Die erste Gruppe des präacetabularen Abschnittes
des Sacrums besteht aus fünf Wirbeln , deren erster eine Rippe trägt.
Gapitulum und Tuberculum dieser Rippe sind so dicht aneinander ge-
rückt, dass sie keine Oeffnung umfassen. Von da ab wachsen die
Wirbelkörper an Breite und nehmen an Höhe ab , wie auch ihre Quer-
fortsätze an Länge. Den zweiten Abschnitt bilden in beiden Gattungen
vier Wirbel. Darauf folgt bei Crex (Fig. XXI) und Fulica (Fig. XIX)
Ein Acetabularwirbel ; zwei finden sich bei Gallinula (Fig. XX) . Die
Verbindung der Querfortsätze dieses Abschnittes mit dem hinteren
oberen Theile der Pfanne bietet nichts von anderen Abweichendes.
Dass der einzige Acetabularwirbel bei Fulica und Crex der erste ist,
geht aus der Vergleichung mit Gallinula hervor, da hier der nächste
Abschnitt durch einen einzigen Wirbel repräsentirt wird, während bei
Fulica und Crex deren zwei folgen. Bei einem Specimen von Fulica
finde ich einen Querfortsatz des ersten dieser Wirbel bedeutend ent-
wickelt, zwar nicht zweischenkelig, wie den des Acetabularwirbels, aber
doch hoch und lang und terminal deutlich zum Acetabulum verfolgbar.
Dieser Wirbel ist somit offenbar dem zweiten Acetabularwirbel von
Gallinula homolog. Auch bei Grex ist die Frage nach dem zweiten
Acetabularwirbel aus dem Verhalten des auf den scheinbar einzigen
Acetabularwirbel folgenden Wirbels zu beantworten. Sein (dorsaler)
Querfortsalz trifft terminal mit dem des Acetabularwirbels zusammen.
Den folgenden Abschnitt bilden vier Wirbel bei Fulica, drei bei
Gallinula, zwei bei Grex. Die grössere Länge des postacetabularen
Beitrage zur Keniitiiiss des Beckens der Vögel. 1 87
Beckenabschniltcs slohl damit in ZusaiiiiiHnliani^. Die Oucrfortsätzn
dieser Wirbel sind heträclillich breit und zweischenkelig. Die hinleren
Schenkel vei'halten sich wie am vorhergehenden Abschnitte, die vor-
deren dagegen treten mit einer sehr breiten Ischiosacralleiste zusam-
men , welche die ventrale Wand eines weiten Recessus iliacus bildet,
der aus der Fossa iliaca posterior sich nach hinten erstreckt. Bei Fulica
ist dieser Recessus tiefer als bei Gallinula und Crex. Die erste Betrach-
tung der Ischiosacrallamelle giebt den Anschein, als ob durch sie die
fraglichen Querfortsätze direct mit dem Sitzbein vereinigt wären, als
ob jdie Lamelle vom Sitzbein ausginge. Genauere Prüfung weist in
diesem Punkte dasselbe Verhalten nach wie bei anderen mit einem
Recessus posterior versehenen Becken, z. B. jenem der Reiher, nament-
lich Ardea stellaris. Der Binnenraum des Recessus erscheint als drei-
kantige Pyramide, deren Basis gegen die tiefe Fossa iliaca, deren Spitze
caudalwärts gerichtet ist. Die Wände sind eine ventrale, eben von der
Ischiosacrallamelle gebildet, eine dorsale , von den verbreiterten dor-
salen Querforlsätzen dieses Sacraltheiles , sowie vom hinteren Planum
dorsale des Darmbeins, und endlich eine laterale, gleichfalls vom Darm-
bein gebildet. Vor der lateralen Wand liegt das Foramen ischiadicum,
dessen hinterer Rand von dem zum Ischium ziehenden Ausschnitte jener
Wand dargestellt wird. Zwei vordere Sacrallöcher (Foramina inter-
transversaria) führen jcderseits bei Fulica wie bei Gallinula in den Re-
cessus. Ein drittes hat bei Fulica diese Beziehung verloren. An der
Umschliessung des Recessus betheiligen sich also noch die Querfort-
sätze der bezüglichen Sacralwirbel , der Recessus wird medial noch
von einem Theile des Sacrums begrenzt, während er bei Ardea aus-
schliesslich im Darmbein liegt. Hinter dem Recessus zieht sich das
llium eine Strecke weit noch in Verbindung mit dem Ischium in
eine fast senkrechte Lamelle aus, welche mit einem bei Gallinula senk-
recht abgestutzten , bei FuHca stumpfen Fortsatz ausläuft. Diese bei-
derseitigen Fortsätze begrenzen zusammen einen hinteren Ausschnitt
des Beckens, von welchem Ausschnitte die Caudalwirbelsäule hervor-
geht. Diese Fortsätze entsprechen den Spinae ilio-caudales. Dorsal er-
hebt sich voll jedem eine laterale Leiste, welche äusserlich im posl-
acetabularen Abschnitte des lliums ein dorsales und laterales Feld
scheidet. Die Leiste biegt hinter und über dem Foramen ischiadicum
in einen, besonders bei Gallinula sehr mächtigen, lateralen Fortsatz
aus, den ich als Processus ilio-lateralis bezeichnen will. Von da aus
erstreckt sich eine besonders bei Fuhca deutliche Kante zu einem über
und hinter dem Acelabulum liegenden Höcker, Processus acetabu-
laris, von dem aus eine median und nach vorn gerichtete Linie auf die
188 Carl Gegenbaur,
mediale Kante des präacetabularen Darmbeinabschnittes verläuft. Diese,
zwei bedeutende Theile der äusseren Oberfläche scheidende Linie, die
wegen ihres fast allgemeinen Vorkommens am Vogelbecken besondere
Wichtigkeit hat, ist wieder die Linea ilio-dorsalis. Die bei den genann-
ten Ralliden von dem Processus ilio-lateralis zum Processus acetabularis
hin ziehende Linie ist die Linea ilio-lateralis. Man kann sich die letz-
tere auch auf die Spina ilio-caudalis fortgesetzt denken.
Mit der Gonfiguration dieser Linien und Fortsätze bei den Ralliden
stimmt das Becken der Ardeiden am meisten überein. Ardea stellaris
finde ich in dieser Hinsicht nicht bedeutender von Fulica atra ver-
schieden, als diese von Gallinula chloropus. Die Spina ilio-caudalis ist
bei der Rohrdommel zwar sehr wenig selbstständig , aber der hintere
Abschnitt der Linea ilio-lateralis ist sehr markirt und zieht auf einen
wie bei Gallinula stark entwickelten lliolateralfortsatz. Dieser liegt
jedoch der Iliocaudalspina relativ viel näher als bei den Ralliden. Noch
näher liegt er beim Kranich , wo zugleich der Ausschnitt zwischen den
beiderseitigen Iliocaudalfortsätzen (Incisura ilio-caudalis) einen weiten
Bogen bildet. Eine fast quere Richtung erhält die hintere Linea ilio-
lateralis bei Crax aleclor wie auch bei Tetrao, deren Processus ilio-
lateralis nur wenig vor der Iliocaudalspina liegt. Bei Gallus dagegen
ist der stumpfe lliolateralfortsatz weit nach vorn gerückt, und die Ilio-
laterallinie läuft von da an zweigetheilt zum Acetabularfortsatz. Dieser
ist bei Crax und Tetrao sehr wenig, bedeutend dagegen bei Meleagris
entwickelt, wo er eine breite und lange Proluberanz vorstellt. Bei
Ardea erhebt er sich als eine Leiste ähnlich wie bei Gallinula, und am
ansehnlichsten erscheint er bei Grus, wo er, aus der Iliolateralleisle
hervortretend, dornartig übei' das Foramen ischia/iicum vorspringt. Am
wenigsten finde ich diese Sculpturen bei den Anserinen ausgeprägt, wo
nur der Acetabularfortsatz des Iliums deutlich unterscheidbar besteht.
Dieser erscheint denn auch als der wichtigste Theil, denn er entspricht
überall genau der Anfügesteile der dorsalen Schenkel der acelabularen
Querfortsätze aus llium.
Wenn in den bisher abgehandelten Abtheilungen der Vögel man-
nichfache Beziehungen der einzelnen Beckenformen zu einande rbeslan-
den, die auf nähere verwandtschaftliche Verhältnisse einen Schluss er-
lauben, so ist dies bei den noch übrigen Abtheilungen minder der Fall.
Das Becken der Raubvögel entfernt sich in vielen Punkten von
jenem aller bisher vorgeführten, und schon am Sacralthoile ergeben sich
wichtige Eigenthümlichkeiten , wenn auch ganz dieselben Abschnitte
wie bei den meisten übrigen Vögeln unterscheidbar sind. Den vorderen
Abschnitt finde ich meist aus fünf oder mehr als fünf Wirbeln zusam-
Boiträgc zur Keiintuiss des Beckens der Vögel. 189
inengesetzt. Nur vier nehme ich beim Milan wahr. Fünf zähle ich
beim Bussard und Sperber, dann bei Slrigiden (Str. olus, flammea,
aluco), während andere Slrigiden (Str. l)ubo und passerina) deren sechs
besitzen. Bei Str. passerina finde ich den ersten dieser Wirbel noch
unverschmolzen, obgleich er vom Uium weit überragt wird. Bei Aslur
palumbarius, Haliaetus albicilla, wie bei Sarcorhamphus gehen sechs
Wirbel in jenen Abschnitt ein. Die ersten Wirbel desselben tragen drei
Rippenpaare bei Sarcorhamphus , nur zwei bei den übrigen mit Aus-
nahme von Strix otus , wo ich an einem Skelete nur Ein Paar Rippen
vorfinde. Bemerkenswerth ist, dass bei einer Mehrzahl von Rippen die
hinteren nur an den Querfortsätzen sich befestigen. Bei Sarcorhamphus
articulirt die vorletzte einerseits noch mit Capitulum und Tuberculum,
andrerseits sitzt sie nur am Querfortsatz, und das dritte Paar ist nur in
der letzten Weise befestigt (vergl. Fig. XXVI). Bei Haliaetus ist deut-
lich zu sehen, wie die beiden ersten Wirbel mit Capitulum und Tuber-
culum versehene Rippen tragen und dabei mit einfachen Querfortsätzen
ausgestattet sind , indess an den folgenden Wirbeln doppelte Querfort-
sätze, obere und untere, vorkommen. Die unteren oder ventralen ent-
sprechen dabei genau den Hälsen der den ersten Wirbeln angefügten
Rippen, hn folgenden Abschnitte zähle ich fünf Wirbel beim Sperber,
vier Wirbel bei Aquila leucocephala, Haliaetus albicilla, bei Sarcorham-
phus und bei Buteo, drei bei den meisten Eulen, awei bei Strix bubo
und passerina. Wenn man bezüglich der beiden letzteren beachtet,
dass sie im ersten Abschnitte einen Wirbel mehr als andere Eulen be-
sitzen , so ist die Annahme gerechtfertigt , dass diese Vermehrung des
ersten auf Kosten des zweiten Abschnittes entsprang. Dies wird be-
stätigt durch die bedeutende Schwäche der Querfortsätze des letzten
Wirbels des ersten Abschnittes. Die Summe beider Wirbelgruppen
beträgt also acht bei Strix, neun bei Buteo, zehn bei Haliaetus, Aquila
und bei Sarcoramphns.
Der letzte Abschnitt der sacralen Wirbelsäule ist auch bei den Raub-
vögeln in zwei Wirbelgruppen zu sondern , die durch das Verhalten,
namentlich durch die Verbindungen der Querfortsätze auseinander gehal-
len werden können. Die vorderste Gruppe bilden wieder zwei Wirbel,
von denen besonders der Querfortsatz des ersten bei den Tagraubvögeln
sehr mächtig entwickelt ist. Er tritt wie ein starker Pfeiler, mit dem Quer-
fortsalz des folgenden Wirbels sich terminal zu einer stark verbreiterten
Leiste verbindend, zum postacelabularen Abschnitte des lliums (vergl.
Fig. XXVI u. XXVIII, o, b) . Beide Wirbel entsprechen den Acetabularwir-
beln der übrigen Vögel, da sie an derselben Stelle zum Ilium treten. Der
Querforlsalz des ersten dieser Wirbel ist ausser bedeutenderer Stärke
Bd. VI. 2. <4
190 Carl Gegenbaur,
auch durch seine Länge von dem folgenden unterschieden. Er ist unter
allen Becken wirbeln der Haupttriiger des Uiums, nur in einzelnen Fällen
scheint auch der zweite, jedoch bei stets grösserer Kürze des Querfort-
satzes, mit ihm in jenem Verhalten zu wetteifern, so z. B. bei Astur
palumbarius , von dem ich an einem Exemplar sogar sehr schwache
Querfortsätze des ersten Acetabularwirbels vorfinde. Die Querfortsätze
convergiren meist, sehr bedeutend z. B. bei Buteo.
Bei den Eulen ist die Stärke der Querfortsätze der Acetabular-
wirbel minder bedeutend. Am meisten noch bei Bubo. Sehr schwach
ist der des zweiten bei Str. aluco (Fig. XXVII), bei Str. passerina finde
ich an einem Exemplare einseitigen Mangel des Querfortsatzes am ersten.
In der Regel bildet der zweite Acetabularwirbel bei den Eulen ein
Uebergangsglied zu den postacetabularen Wirbeln, wodurch die Aceta-
bularwirbel minder scharf als bei den Tagraubvögeln sich vom ge-
sammten Sacralcomplexe abheben. Unter den Tagraubvögeln wird
durch Milvus eine Vermitlelung zu diesem Verhalten gebildet, und durch
das Vorkommen vorderer, wenn auch sehr schlanker Querfortsätze an
dem ersten und letzten Wirbel der vor den Acetabularwirbeln liegen-
den Wirbelgruppe ist die sichere Bestimmung der beiden Acetabular-
wirbel am Beckenskelete vollkommen unmöglich. Es besteht hier das
geringste Maass der Diflerenzirung unter allen vorgeführten Vogelgat-
tungen.
Die postacetabularen Wirbel finde ich bei den Raubvögeln zwischen
zwei bis vier schwankend. Vier besitzt Strix flammea, drei die übrigen
untersuchten Eulen, dann Buteo, Falco nisus und Sarcorhamphus, zwei,
Astur, Aquila und Haliaetus. Wo nur zwei solcher Wirbel vorkom-
men, sind ihre stets starken, quer nach aussen und meist auch etwas
abwärts gerichteten Querfortsätze mit einer mächtigen Crista ischio-
sacralis in Verbindung, wodurch eine tiefe Fossa iliaca posterior abge-
grenzt wird. Dem den Boden dieser Grube bildenden Darmbeinab-
schnitt entspricht demzufolge bei den Eulen nur Ein postacetabularer
Wirbel, mit Ausnahme von Strix flammea, bei welcher die Querfortsätze
zweier Wirbel gegen jene Grube gerichtet sind. Der Mehrzahl der Eulen
reihen sich Falco nisus, Buteo und Sarcorhamphus an, während bei
Astur, Aquila und Haliaetus keiner der beiden postacetabularen Wirbel
mit seinem Querfortsatz gegen jene Grube stösst. Sie wird daher me-
dian nur von den hier bedeutend verbreiterten Querfortsatzenden der
beiden Acetabularwirbel abgegrenzt. Von einem Recessus iliacus sind
hin und wieder leichte Spuren vorhanden, der hinlere ist am beträcht-
lichsten bei Bubo, auch bei anderen Eulen noch deutlich. Er fehlt auch
den Tagraubvögeln nicht allgemein. Bei allen untersuchten Raubvögeln
Beiträge zur Keiiiitniss des Beckens der Vögel. 191
wild die Stelle der lateralen Wand der Fossa iliaca posterior durch das
ansehnliche, runde oder schräg ovale Foramen ischiadicum gebildet,
gegen welches sie fast in ihrer ganzen Ausdehnung offen ist. Aussen
läuft über dem Foramen ischiadicum ein die Linea ilio-laleralis tragen-
der VorsjMung, der an seinem hinteren Umfange ein Dach über das
Foramen ischiadicum bildet, und zugleich eine bedeutende, auf der
Aussenlläche des Sitz- und des Darmbeines gelegene Vertiefung von
hinten und oben abschliessen hilft. Diese Grube zieht vom Foramen
ischiadicum aus grösstentheils auf dem Sitzbein hin und soll als
Fossa ischiadica unterschieden werden. Bei den anderen bisher be-
trachteten Vögeln finde ich für diese Bildung nur Andeutungen, die
gegen die bedeutende Entfaltung der Grube besonders bei den Tag-
raubvögeln kaum in Betracht kommen.
Eine Spina iliocaudalis fehlt den meisten Tagraubvögeln, indem
die Linea ilio-lateralis in sanfter Biegung bis ans Ende des Sitzbeines
verfolgt werden kann. Dadurch empfängt der postacetabulare Theil des
Beckens den Anschein einer charakteristischen Neigung nach vorn und
abwärts. In der Wirklichkeit ist dies Verhalten bezüglich der Neigung
des Darmbeins wenig oder gar nicht von dem anderer Vögel, z. B. der
Hühner, verschieden. Als ein stumpfer Höcker ist die Spina bei den
Eulen angedeutet ; der am hinteren Bande der Beckenbegrenzung ge-
legene Höcker unterbricht deutlich die Fortsetzung der Iliolaterallinie
zum Sitzbein , oder lässt vielmehr jene Linie erst von da an beginnen.
Bei Milvus ist der Höcker zu einer stark vorstehenden Spina geworden
und bei Sarcorhamphus ist sie dicht hinter dem Sitzbein bemerkbar,
das hinterste Ende des Iliums bildend.
Eine grössere Einförmigkeit bezüglich des Sacraltheils des Beckens
bieten die bisher meist in die Ordnungen der Scansores und Passeres
(Oscines und Glamatores] gebrachten Familien dar.
Die durch Huxley vollzogene Auflösung des Scansores rechtfertigt
sich bezüglich der Papageien (Psittacomorphae IIx.) auch am Becken, ■
an dem den anderen Abtheilungen der früheren Scansorengruppe gegen-
über noch die meisten der bisher unterschiedenen Wirbelcoujplexe
wahrnehndjar sind. Bei einigen Species von Macrurus, dann bei Psit-
tacus erythacus und Cacalua sulphurea finde ich den ersten Abschnitt
aus vier oder fünf Wirbeln bestehend, davon zwei Rippen tragen; der
vierte ist in der Regel durch bedeutende Stärke seines kurzen Quer-
fortsatzes ausgezeichnet. Dieser Fortsatz ist am fünften bei Cacalua
sehr schwach. Darauf folgt ein Wirbel ohne vorderen Querfortsatz-
schenkel und diesem anscheinend die beiden Acetabularwirbel, welche
zwar lauge, aber ausnehmend schwache Queiforlsätze besitzen. Di^*
44*
192 Carl Gegenbaiir,
des zweiten sind stärker als die des ersten. Ihre terminale Verbreite-
rung liegt in gleicher Höhe mit dem Acetabulum. Man kann daraus
Bedenken schöpfen, ob der erste durch schwache Querfortsätze ausge-
zeichnete wirklich ein Acetabularwirbel ist.
Von den folgenden fünf Sacralwirbeln sind die beiden ersten bei
Cacatua sulphurea mit schwachen Querfortsätzen versehen. Sie richten
sich mit jenen des dritten gegen den eine Fossa iliaca posterior bilden-
denden Theil des Iliums, während der vierte und fünfte mit einer
Ichiosacralleiste correspondirt. Bei einem Macrurus sind ausser den
Wirbeln der ersten Gruppe nur die an die Ischiosacralleiste stossenden
unterscheidbar, während alle dazwischen liegenden ganz allmählich in
einander übergehen.
Noch mehr ist die Verwischung der Unterschiede der einzelnen
Sacralwirbelgruppen bei den kukukartigen Vögeln (Goccygomor-
phae Hx.), von denen ich eine Species von Buceros, dann den Wiede-
hopf und gemeinen Kukuk untersucht habe. Im Sacraltheile des Beckens
besitzen sie das Gemeinsame, dass der erste Abschnitt nur von drei
Wirbeln gebildet wird, davon nur einer eine Rippe trägt, diese finde
ich nur mit dem Ende des bezüglichen Querfortsatzes in Verbindung.
Die folgenden Wirbel gehen allmählich in einander über. Der erste
davon besitzt bei Buceros (Fig. XXIX) eine Andeutung des Anschlusses
an die vorhergehende Gruppe, indem er Rudimente vorderer Querfort-
satzschenkel besitzt, die aber nicht zum Darmbein gelangen.
Auch bei einem Exemplare von Guculus canorus finde ich etwas
Aehnliches, die Querfortsätze bilden ganz feine Knochenstäbchen. Die
Gesammtzahl dieser Wirbel ist zwar für die drei Gattungen verschieden,
allein es ist doch möglich , etwas Gemeinsames aufzufinden , indem
die Zahl der der Fossa iliaca entsprechenden Wirbel sechs beträgt.
Der sechste besitzt schräg nach hinten gerichtete Querfortsätze und
richtet sich damit gegen den Anfang einer Crista ischiosacralis , welche
bei Buceros nur sehr schwach , bedeutender bei Upupa , am meisten
bei Guculus vorspringt. Der folgende Wirbel ist durch seine rein trans-
versal verlaufenden Querfortsätze ausgezeichnet. Sie setzen sich un-
mittelbar in die Grista ischiosacralis fort. Bei Guculus und Upupa bildet
dieser Wirbel den Abschluss des Sacrums , bei Buceros folgt ihm noch
einer, der jedoch, den ersten Gaudalwirbeln ähnlich, wieder schräg
gerichtete Querfortsätze besitzt.
In den wesentlichsten Punkten mit den Goccygomorphen in Ueber-
einstimmung finde ich das Sacrum der Spechte. Da ich nur Picus,
und zwar nur P. canus und P. viridis, untersuchen konnte, muss mein
Urtheil bezüglich der von Huxley aufgestellten Abtheilung der Geleo-
Beiträge zur Kennliiiss des Beckens der VökcI. 193
niorphac ein zurUckhallcndos sein. Im ersten Abschnitte des Sacrums
zähle ich wieder drei Wirbel, davon der erste eine Rippe besitzt. Dann
folgen sechs der Fossa iliaca corrcspondirende Wirbel, davon der letzte
wieder seinen Querforlsatz schräg abwärts gegen den Anfang der Crista
ischiosacralis gerichtet hat. Genauer entspricht erst der nächste Sacral-
wirbel der genannten Crista , welcher mit noch einem den letzten
Abschnitt des Sacrums bildet. Der letzte Wirbel scheint länger unver-
schmolzen zu bleiben , wenigstens finde ich es so an einem Skelete,
das einem völlig ausgewachsenen Thiere angehört.
Bei Gypselus (G. apus) lässt der Sacraltheil des Beckens wieder
den ersten Abschnitt mit drei Wirbeln unterscheiden, den ersten davon
mit einer Rippe. Darauf kommen sechs ziemlich gleichartige Wirbel,
die gegen die flache, aber ausnehmend breite Fossa iliaca gerichtet sind.
Die Querfortsätze der beiden ersten sind kurz , vom dritten an werden
sie länger, der des fünften und sechsten besitzt eine schräge Richtung.
Der Querfortsatz des sechsten Wirbels dieser Gruppe vereinigt sich ter-
minal mit dem letzten SacraKvirbel am Anfange einer schmalen und
zarten Ischiosacralleiste. Bemerkenswerth ist noch, dass vom Acota-
buluni her eine Verdickung des sonst pelluciden Iliums gegen den
dritten und vierten Wirbel der vorhin erwähnten Gruppe zieht.
Sehr nahe verwandtschaftliche Beziehungen zu den vorerwähnten
bietet der Sacraltheil des Beckens der krähenartigen Vögel (Cora-
comorphae nach Huxley) dar. Bei den untersuchten Gattungen dieser
ausgedehnten Abtheilung finde ich als allgemeinen Charakter des
Beckens die ansehnliche Weite des hinteren Abschnittes. Der Sacral-
theil kommt dorsal in seiner ganzen Länge zwischen den Ilia zum Vor-
schein. Die Spina iliocaudalis ist deutlich und bezeichnet den Anfang
der Linea iliolaleralis wie bei Gypselus. Auch ein Processus iliolatera-
lis ist vorhanden , der bei Gypselus fehlt. Die Incisura iliocaudalis ist
der bedeutenden hinteren Beckenbreite gemäss von grosser Weite, bald
tief, bald seichter.
Im ersten Sacralabschnitte trifft man meist eine geringere Wirbel-
zahl als in anderen Abtheilungen. Vier Wirbel bei Gorvus (G. corone,
monedula, pica, glandarius) und Lanius, drei bei Turdus , Fringilla,
Coccothraustes, Bombjcilla, Alauda. Der nächste Abschnitt bietet sechs
Wirbel dar bei Gorvus, Lanius , Fringilla , Alauda , sieben bei Turdus
und Bombycilla ; die zwei ersten dieser Wirbel entbehren in der Regel
des ventralen Schenkels dos Querfortsatzes , doch finde ich bei einigen
Exemplaren von G. corone auch bei einem Gorvus monedula Andeu-
tungen solcher vorderer Schenkel. Bei einem Exemplare von C. pica
ist nur ein Wirbel in diesem Befunde. Bei Turdus sind die drei ersten
194 Carl Gegenbaur,
Wirbel dieser Gruppe ohne jene Fortsätze. Diese Wirbel sind wie bei
Fringilla und den Sylvien am Körpertheile durch paarige Impressionen
ausgezeichnet, die nach unten hin an Deutlichkeit abnehmen. Spuren
davon finden sich auch bei Bombycilla. Am dritten, bei Turdus und
Bombycilla erst am vierten Wirbel dieser Gruppe, beginnen wieder
vordere Schenkel der Querfortsätze aufzutreten , bald an einem , bald
an zwei oder sogar an drei Wirbeln. An den hinteren Wirbeln sind
diese mit den hinteren (dorsalen) Schenkeln verschmolzen, d. h. die
Querfortsätze sind hier einfach. Im Ganzen waltet hinsichtlich dieses
Verhaltens eine grosse Mannichfaltigkeit , wobei es unthunlich ist, die
beiden Acetabularwirbel sicher nachzuweisen. Wollte man den dritten
und vierten Wirbel dieser Gruppe hieher rechnen , so wird man durch
die grosse Unbeständigkeit des Verhaltens der Querfortsätze an diesem
ganzen Abschnitte davon abgemahnt, und man wird den Versuch auf-
geben müssen, wenn nicht neue Thatsachen zur Begründung jener
Auffassung aufzudecken sind. Bevor wir zu jenen Thatsachen über-
gehen, wird es also nothwendig sein, von Vergleichungen der einzelnen
Wirbel des fraglichen Sacralabschnittes Umgang zu nehmen.
II. Ver gleichung.
Bei der Vorführung des anatomischen Materials ist zwar die Ver-
gleichung der einzelnen Beckenformen unter einander, besonders be-
züglich dos Sacrums, mehrfach berücksichtigt worden, allein es bleibt
noch das Wichtigste übrig und dies liegt in dem Aufsuchen des Zusam-
menhanges jener Beckenformen der Vögel mit denen anderer Wirbel-
thiere. Die hiezu aufzubietende Vergleichung wird nicht dabei stehen
bleiben dürfen, in der grossen vertebralen Ausdehnung der Darmbeine
und anderen Besonderheiten die Eigenthümlichkeit des Vogelbeckcns
aufzustellen , sondern wird nach den speciellen Homologien zu suchen
haben, welche für die lateralen Beckentheile wenig schwierig und in
den Hauptstücken längst bekannt, für die medianen dagegen erst noch
festzustellen sein dürften. Dass ein Theil des thoracalen Abschnittes
der Wirbelsäule, sowie der Lumbaltheil desselben zum Sacrum getreten
ist, ist wohl nicht bestritten. Unsere Aufgabe ist daher auf das noch
in Frage Befindliche gerichtet, welches denn die Wirbel seien , die, als
ursprüngliche Beckenwirbel, jenen niederer Wirbelthiere (der Amphi-
bien und der lebenden Beptilien) homolog zu deuten wären.
Durch die Untersuchung einer grösseren Anzahl von Vogelbecken
wurde nachgewiesen, dass in fast allen Abtheilungen zwei Wirbel be-
stehen , welche durch manche Eigenthümlichkeiten sich auszeichneten.
Beitrage zur Kenntniss des Bfickens der Vögel. 195
vor Allem ober ini Vorhalten ihrer doppellen Querforlsätzc zum nceta-
bul.'iron Thcile des Iliums als conslante Gebilde erscheinen. Durch die
Vert^leichung bei den einzelnen Abtheilungen konnten sie als homologe
Theiie nachgewiesen werden. Sie wurden vorläufig als Acetabular-
wirbel bezeichnet, da sie stets in der Nähe des Acetabulums, wenn
auch nut ihrem Körper bald vor, bald hinter demselben gelegen waren.
Die grosse Verbreitung dieser Wirbel in den einzelnen , oft sich sonst
entfernter stehenden Abtheilungen der Vögel >) lässt an ihnen zunächst
einen bedeutungsvollen Theil des Sacrums erkennen. Man kann diese
Bedeutung in der ansehnlichen Stütze finden , welche die mächtigen
Querfortsätze dem Pfannen theiie des Beckens darbieten. Da aber dieses
Verhalten nicht immer besteht und die Ausbildung der beiden Wirbel
in sonst nahe verwandten Abtheilungen , bis in die Gattungen herab,
eine ungleiche ist, wird von diesem auf Anpassung abzielenden Ver-
hältniss abzusehen sein. Dabei möge man beachten, was oben über
diese beiden Wirbel bei Tetrao urogallus und T. tetrix bemerkt wurde.
Auch das ist von besonderer Wichtigkeit, dass sie individuelle Verschie-
denheiten zeigen, wie für die in grösserer Anzahl untersuchten Becken
der Tauben und Hühner nachgewiesen ward. Die vorderen Schenkel
der Querfortsätze können an einem der beiden Wirbel rückgebildet er-
scheinen, oder auch zugleich fehlen, und damit hört die Auszeichnung,
aber auch die functionelle Bedeutung auf, die man ihnen bei der Prüfung
eines anderen Sacrums derselben Species zuschreiben möchte.
Mehr noch als durch diese Variabilität wird jene rein physiologische
Auffassung in der Berechtigung zu dieser Deutung in Frage gestellt,
durch embryologische Nachweise. Aus Untersuchungen am Hühnchen
ergiebt sich , dass dieselben beiden Wirbel, von denen der vordere bei
erwachsenen Thieren sehr häufig die vorderen Schenkel seiner Quer-
fortsätze verliert, sehr ausgebildete Querfortsätzc besitzen, die im Ver-
gleiche zu denen der folgenden Wirbel auch beträchtlich länger sind
(s. Fig. V). Jene beiden Wirbel tragen in früheren Zuständen sogar
die mächtigsten Querfortsätze von allen Sacralwirbeln , und diese dop-
peltschenkeligen Fortsätze sind jederseits viel früher in terminaler Ver-
bindung, als diess bei den folgenden der Fall ist, die erst in den ersten
Lebensmonalen ein ähnliches Verhalten eingehen.
Diese überwiegende Ausbildung der Querfortsätze der genannten
1) Sowohl bei Ratitcn als Carinatcn ergaben sie sich verbreitet und bei den
letzten war das ursprüngliche Verhallen nur bei den Acgi thognathae (Huxlet)
allgemein aufgelöst. Ihnen schliessen sich die Psittacomorphac und Coccygomor-
pliac von der HuxLEt'schen Ablhciiung der Des mo gna t hae eng an.
196 Carl Gegenbaur,
Wirbel fand ich auch bei anderen Vögeln während des Embryonallebens
oder auch in den ersten Jugendmonaten, so z. B. bei der Gans, dann
bei Otis tarda , von welch' letzlerer ich in Fig. XVIII das Becken eines
ganz jungen Thieres zur Vergleichung mit Fig. XVII abbilde.
Aus der Thatsache einer bedeutenderen Ausbildung der zwei Ace-
tabularwirbel während des Embryonallebens und eines allmählichen
Stehenbleibens dieser Ausbildung , wodurch eine relative Rückbildung
eingeleitet wird , glaube ich diesen Wirbeln eine phylogenetische Be-
deutung zuschreiben zu dürfen. Sie erscheinen als Ilomologa
von zwei Wirbeln, welche in der nächst unteren Ab-
theilung.die einzigen Sacralwirbel sind. Diese Bedeutung
sprechen sie ausser durch ihre fast allgemeine Verbreitung und ihr
embryonales Uebergewicht auch durch die Stelle des Uiums aus , mit
der sie sich verbinden.
Wenn nun diese beiden Wirbel ererbte typische Sacralwirbel sind,
zu denen die vor und hinter ihnen liegenden sich als accessorische Sa-
cralwirbel verhalten , so muss auch in dem Verhalten der bezüglichen
Spinalnerven eine übereinstimmende Einrichtung zu finden seih. Meckel
hat bereits den Eintritt des lumbaren Abschnittes der Wirbelsäule in
die Zusammensetzung des Sacrums der Vögel aus dem Verhalten der
Nerven erschlossen und Barkow *) ist ihm im Wesentlichen gefolgt,
allein beide nehmen ausschliesslich ihre Beziehungen von den Säuge-
Ihieren, speciell von dem Menschen her. Zur Unterscheidung eines für
die Beurtheilung der übrigen Abschnitte des Sacrums nöthigen Aus-
gangspunktes ist daher aus jenen Angaben kein Anlass zu finden. Dazu
wird vor Allem eine Untersuchung des Verhaltens der Sacral-
nerven zu den einzelnen Abschnitten des Sacrums nöthig sein.
Mit Beziehung auf die Sacralnerven habe ich bei einer Anzahl von
Vögeln Untersuchungen angestellt und dabei Folgendes gefunden. Die
zwei für die vorliegende Frage in Betracht kommenden Plexusse sind
der Plexus cruralis und der Plexus ischiadicus. Der erstere setzt sich
meist aus drei Nerven zusammen, die unter sich Ansäe bilden. Der
schliesslich gebildete Hauptstamm ist der N. cruralis. Aus der ersten
Ansa geht dann noch ein nach dem Typus der Intercostalnerven sich
verhaltender Nerv hervor und endlich entsendet dieses Geflechte noch
den N. obturatorius, der übrigens auf verschiedene Art sich zusammen-
setzt. Am häufigsten finde ich ihn aus der zweiten Ansa hervorgehen.
Der dritte am Plexus cruralis betheiligte Nerv sendet gleich nach
seinem Austritte aus dem Rückgratcanal einen Verbindungszweig zum
1) Op. cit. p. 8.
Beitrüge zur Keniilniss des Beckens der Vögel. 1 97
nächstfolgenden in den Plexus ischiadicus eingehenden Nerven und
setzt damit die Schlingenbildung fort. Da dieser Theil des Nerven mit
dem in den Plexus cruraiis geilenden fast immer gleich stark ist, kann
man den fraglichen Nervenstamm ebensogut dem Plexus ischiadicus
zurechnen. Die beiden duich sofortige Theilung des Stanmies ent-
stehenden Zweige kann man so als cruralen und ischiadischen unter-
scheiden. Der ischiadische Zweig ist mit dem cruralen Zweig von
gleicher oder doch ziemlich gleicher Stärke beim Huhn, bei der Gans,
der Trappe, der Taube, dann bei Caprimulgus europaeus, Psitlacus erv-
thacus, dann bei der Elster und dem Nussheher. Der ischiadische
Zweig ist schwächer bei Numenius phaeopus, Buteo vulgaris, Corvus
corone, Ciculus aquaticus, Sturnus vulgaris, Picus virides und Guculus
conorus.
Der Haupttheil des Plexus ischiadicus wird aus den folgenden fünf
Nervenstämmen gebildet, die an Stärke meist vom dritten bis zum letz-
ten abnehmen. Beim Huhn und der Gans erscheint der erste etwas
schwächer als der zweite. Bei der Trappe ist der dritte der stärkste.
Stets ist der letzte der schwächste. Dieser giebt zugleich
nur einen Theil, oft nicht einmal die Hälfte seiner Fasern zum Plexus
ischiadicus , den anderen Theil abwärts zum Plexus pudendalis sen-
dend. Der Ischiadicus empfängt also aus sechs Spinalnerven Elemente,
vier führen sie ihm ausschliesslich zu, zwei nur theilweise, da der erste
einen Zweig zum PI. cruraiis sendet, der letzte, wie vorhin gesagt, zum
PI. pudendalis. Von den vorhin aufgeführten Vögeln Hessen einige eine
Minderzahl von Nerven im Plexus ischiadicus wahrnehmen. Nur fünf
Spinalnerven sind betheiligt bei Columba , wie auch bei Caprimulgus.
Sieben Nerven finde ich dagegen beim Kranich. Ob dieses individuelle
Verschiedenheiten sind oder nicht, muss ich dahin gestellt sein lassen,
zumal es für unsere Aufgabe nicht ins Gewicht fälUt.
Das Verhalten des ersten in den Plexus ischiadicus eintretenden
Nerven , d. h. jenes aus dem letzten Nerven des Cruralgeflechtes kom-
menden Ramus communicaus zum Becken ist verschieden, bei den
meisten untersuchten Vögeln läuft dieser Ramus communicans über den
meist starken Querfortsatz des letzten Wirbels der ersten Sacralwirbel-
gruppe abwärts, um die aus den Intervertebralöffnungen an der Seite der
zweiten Wirbelgruppe hervortretenden Hauptstämme zu erreichen, an
deren ersten er sich anlagert. Man sehe das auf S. 201 im Holzschnitte
Fig. 1 dargestellte Schema. Bei der Taube, beim Huhn, bei der Trappe
und bei Numenius kouunt jener erste Nerv aus dem ersten Intervcrte-
bralloche der zweiten Sacralwirbelgruppe. Sein Ramus communicans
ischiadicus hat also keine Beziehungen zum erwähnten Querfortsatze,
198 Carl Gegenbatir,
dagegen läuft der R. comm. cruralis zu jenem Querfortsatz schräg empor.
Daraus kann geschlossen werden , dass entweder der Nerv oder der
Querfortsatz in einem inconstanten Verhalten sich findet. Da wir aber
oben an vielen Beispielen gesehen haben , dass der fragliche Wirbel in
Beziehung auf den Querfortsatz variabel ist, indem er bei Mangel von
Querfortsätzen (resp. vorderer Schenkel) auch der zweiten Sacralwir-
belgruppe angehören kann, so ergiebt sich das Verhalten des Nerven
bezüglich des Verlaufs seiner beiden Aeste als ein secundäres, und wir
werden für alle Fälle die Homologie dieses Nerven anerkennen dürfen.
Der letzte an dem Plexus ischiadicus betheiligte Nerv , derselbe,
der auch einen Ramus communicans pudendalis entsendet, ist für uns
der wichtigste, indem er stets zwischen jenen beiden Wirbeln austritt,
die, anfänglich als Acetabularwirbcl bezeichnet, alsdann als primitive
Sacralwirbel gedeutet worden sind. Ich habe das beim Huhn, bei der
Gans, der Trappe, der Taube und beim Bussard gefunden, also bei
Repräsentanten sich sehr entfernt stehender Abtheilungen, woraus die
Allgemeinheit des Verhaltens wohl ohne Gefahr gefolgert werden kann.
Demnach ist der letzte zum Plexus ischiadicus gelan-
gende Nerv der eigentliche Sacralnerv. Nach Feststellung
dieses Verhaltens schliessen wir weiter auf diejenigen Vögel, deren
Sacrum die beiden typischen Sacralwirbel nicht mehr deutlich zeigt,
wie dies bei den Coracomorphae der Fall ist. Nehmen wir ein Beispiel
am Becken der Elster, das oben (S. 193) beschrieben wurde (vgl. auch
Fig. XXX) . Hier verlässt der kritische Nerv den Rückgratcanal zwischen
den in der Abbildung mit a und b bezeichneten Wirbeln , wir deuten
daher diese beiden Wirbel als Homologa jener Wirbel, die bei anderen
denselben Nerv durchlassen , der typischen Sacralwirbel , und haben
damit einen festen Anhaltepunkt zur Beurtheilung der übrigen Wirbel
erhalten , der uns sonst bei der ziemlichen Gleichartigkeit der nächst
vorhergehenden, sowie der nachfolgenden Wirbel fehlen würde. Bei
Anwendung des so zu Stande gekommenen Nachweises der primären
Sacralwirbel ergiebt die Vergleichung mit dem Sacrum anderer Vögel,
dass die zweite aus scheinbar ungleichartigen Wirbeln zusammenge-
setzte Gruppe des Sacrums der Elster sich in drei Wirbel auflöst, die
vor den primären Sacralvvirbeln liegen : in die zwei primären Sacral-
wirbel, und in zwei Wirbel, die hinter diesen liegen (Fig. XXX, 1', 2').
Somit entstehen hier drei ünterabtheilungen , die denen anderer Vögel
vollkommen entsprechen, ihre .einzelnen Wirbel jedoch mehr gleichartig
gestaltet erscheinen lassen und dadurch ein indifferentes Verhalten
bieten.
Ich erkenne , dass es beim ersten Anblick etwas Widerstrebendes
Beiträge mr Keniitiiiss des Beckens der Vögel. 1 00
haben mag, für die Auffassung der mehrerwähnten zwei Wirbel als
priniiire Sacralwirbel in der zwischen ihnen austretenden unanselm-
lichsten Wurzel des Isehiadicus einen neuen Releg zu sehen. Man
könnte vielmehr versucht sein, ungeachtet dieses Nervenverhaltens und
in Bcrilcksichligung der übrigen vorerwähnten Thalsachen jene; Deutung
festzuhalten und den Beziehungen zu den Ncrvenwurzeln einen nur
untergeordneten Werth beilegen , wenn man nicht gar einen Einwand
gegen die gegebene Deutung schaffen will.
Dennoch muss ich erklären, dass aus dem Unistande, dass bei di-n
Vögeln der bei weitem grösste Theil der den Isehiadicus zusammen-
setzenden Nervenwurzeln vor dem primären Sacrum den Wirbelranal
verlässt, keineswegs ein Einwand, vielmehr sogar eine Stütze für frag-
liche Deutung erwächst. Diesen Satz begründe ich auf die Vergleichung
mit dem bezüglichen Nervenverhältniss bei den Reptilien.
Bei den Crocodilen setzt sich der Ichiadicus aus drei Ncrvenwur-
zeln zusammen. Die bei weitem stärkste tritt zwischen den beiden
Sacralwirbeln hervor , mit ihr verbindet sich noch ein schwacher Ast
vom vorhergehenden') und ein gleicher vom nachfolgenden Nerven.
Bei den Schildkröten bilden nach Bojanus vier Nerven wurzeln den
Plexus isehiadicus, zwei praesacrale, eine sacrale und eine postsacrale.
Die erste piaesacrale ist nur ein schwacher Zweig eines mit seinem
grüsslen Theile zum Cruralgeflechte tretenden Nerven, die zweite ist
die stärkste , w orauf der etwas schwächere Sacralnerv und endlich die
fast gleich starke postsacrale Nervenwurzel folgt.
Bezüglich der Zahl der Nervenwurzeln des Isehiadicus schliessen
sich die Eidechsen enger an Crocodilus an. Ich finde bei vier in dieser
Hinsicht untersuchten Repräsentanten stets drei Wurzeln, eine sacrale
und zwei praesacrale. Im Holzschnitt Fig. 2 ist dies Verhältniss sche-
matisch dargestellt. Die unmittelbar vor dem ersten Sacralwirbel aus-
tretende ist die stärkste. Bei Chamaeleo vulgaris ist auch die sacrale
Wurzel noch mächtig, wenn auch schwächer als die vorhergehende.
Bei Lacerta viridis, Uromaslix spinipes und Grammatophora barbata
1) Jener erste Praesacralnerv spaltet sich gleich nach seinem Austritte in zwei
fast gleiche Aeste, der eine davon ist der in den Isehiadicus gelangende, der andere
vereinigt sich mit einem Zweige des vorhorgchondcn zu einem zwischen den bei-
den ventralen Beckenknochen durchtretenden, zum Thoil an Muskeln an der Innen-
fläche des Ohorschc[ikcls endenden Nerven, der einem N. ohturatotius zu ent-
sprechen scheint. Daraus möchte ich schliessen, dass die vorderen jener Becken-
knochen, die von manchen Autoren als Schambeine bezeichnet werden, in der That
solche sind, ungeachtet des ganz abweichenden Verhallens zur Pfanne des Hüft-
gelenkes.
200 Carl Gegeiibaur,
finde ich den Sacralnerven bedeutend schwach und nur zum kleinsten
Theile, mit einem ganz feinen Fädchen nämlich, zum Plexus ischiadicus
gelangend. Bei Lacerta agilis ist ausserdem die bedeutende Mächtigkeit
der beiden Praesacralnerven bemerkenswerth , von denen der erste,
vorderste, stets einen Ast zum Cruralgeflechte abgiebt. Dieser Ast ist
in demselben Maasse schwach, als der andere zum Ischiadicus tretende
stark ist. Ziemlich gleich stark sind beide Aeste bei Grammatophora
und Ghamaeleo.
Bei Ordnung dieser Thatsachen ergiebt sich für Crocodilus ein Vor-
wiegen des eigentlichen Sacralnerven , und damit ein Verhalten , wel-
ches insofern als niederes bezeichnet werden kann, als sich das gleiche
bei Amphibien wiederfindet. Ich treffe beim gefleckten Salamander
den Plexus ischiadicus aus drei Wurzeln gebildet. Die vorderste ist
schwach und entsteht aus der Theilung des vor dem einzigen Sacral-
wirbel austretendem Nerven, die zweite Wurzel bildet den Hauptstamm
und tritt zwischen dem Sacralwirbel und dem nächstfolgenden Wirbel
aus, die dritte Wurzel endlich ist nur ein dünnes, vom nächstfolgenden
Nerven kommendes Fädchen. Wenn wir den einzigen Sacralwirbel der
Amphibien dem ersten Wirbel des zweiwirbeligen Sacrums der Bep-
tilien für homolog halten, wie kaum anzuzweifeln sein dürfte, so ist
auch jene stärkste Ischiadicuswurzel von Salamandra der vom Crocodile
homolog.
Eine Ausdehnung seiner Wurzelreihe bietet der Plexus ischiadicus
der Schildkröte. Die sacrale Wurzel herrscht nicht vor, wenn sie auch
zugleich mit einer postsacralen stark ist. Zwei praesacrale Wurzeln
sind zugetreten, davon eine die mächtigste aller ist.
Das Verhalten bei den Eidechsen lässt sich an jenes der beiden
anderen Abtheilungen anknüpfen. Vor Allem ist die Betheiligung post-
sacraler Nerven am Plexus ischiadicus gänzlich aufgehoben. Ein bei
den Schildkröten starker, beim Crocodil schwacher Stamm sendet bei
den Eidechsen gar keine Fäden zum Ischiadicus. Der Sacralnerv, sehr
stark beim Crocodil und der Schildkröte, ist bei Eidechsen meist ein
schwaches Stämmchen i), welches am Plexus ischiadicus sich nur mit
einem feinen Zweige betheiligl (Grammatophora, Uromastix, Lacerta).
Da nicht nachzuweisen ist, ob jener Zweig im Ischiadicus bleibt oder,
was eben so mögUch, die Bahn des Geflechtes sofort wieder verlässt, so
1) Zu den oben von mir aufgeführten Gattungen kann bezüglich des Verhaltens
des Plexus ischiadicus auch Gecko treten, von dem (G. verus) von Huxley die
schwächere Beschalfenheit des zwischen den beiden Sacralwirbeln austretenden
Nerven erwähnt wird. Proc. zoolog, Soc. London 1869. S. 417, Anmerkung.
Beitrüge zur Kenntiiiss des Reckens der Vögel
201
ist die Beziehung des Sacralnerven zum Ischiadieus überhaupt fraglich.
Wenn sie in der That besieht, so ist sie a])er beslinimt unbedeutend,
und das Ueberwiegen der praosacralen Nervenvvurzeln im Icluadicus
ist jedenfalls ausser allem Zweifel.
In diesem Ueberwiegen praesacraler Nerven bei der Zusammensetzung
des Ischiadieus der Eidechsen haben wir einen festen Anknüpfungs-
punkt mit dem Verhalten bei den Vögeln gefunden. Vergleichen wir
das Verhalten des letzten am Ischiadieus betheiligten Nerven, so finden
wir, wie der bei Eidechsen unzweifelhafte Sacralnerv bei den Vögeln
zwischen zwei Wirbeln austritt, die durch das Verhalten ihrer Quer-
fortsütze Iheils in Jugendzuständen, theils auch später, als Homologa der
beiden Sacralwirbel der Reptilien sich deuten Hessen. Ist durch die
Homologie des Nervenverhaltens jene der Wirbel an einem Abschnitte
bestärkt , so ergiebt
sich die Vergleichung
der übrigen Theile
ohne grössere Schwie-
rigkeit. Eidechsen
wie Vögel stim-
men darin über-
ein, dass der
schwache Sacral-
nerv meist nur
einen unbedeu-
tenden Zweig zum
Ischiadieus sen-
det, der keine
postsacrale Ner-
venwurzeln em-
pfängt. Derlschia-
dicus setzt sich
bei beiden vor-
Fis. 2.
■^ r
Fig. 1.
wiegend aus praesacralen Wurzeln zusammen. Diese
sind geringer an Zahl bei den Eidechsen , grösser bei Vögeln (vergl.
vorstehenden Holzschnitt) . Bei Eidechsen geht ein ganzer Praesacral-
nerv und ein Theil eines anderen Praesacralnerven in den Ischiadieus
über, bei den Vögeln stellen fast allgemein vier ganze Praesacral-
nerven und ein Verbindungszweig eines anderen die Wurzeln des
Ischiadieus dar. Die Zahl der praesacralen Ischiadicus-
wurzeln ist also bei den Vögeln im Vergleiche mit den
Reptilien vermehrt. Darin liegt die wesentlichste Verschiedenheit
202 Carl Gegenbaur,
der bezüglichen Nervengeflechle beider Abtheilungen , eine Verschie-
denheit, die übrigens nicht so gross ist, als die innerhalb der Glasse
der Säugethiere bestehende *) .
Mit der Feststellung des primären Sacrums sind die vor und hinter
ihnen liegenden Abschnitte bestimmbar geworden. Was zunächst den
postsacralen Theil des als Sacrum aufgefassten Wirbelcomplexes
der Vögel betrifft, so wird er dem vorderen caudalen Abschnitte der
Wirbelsäule der Reptilien entsprechen müssen. Seine Wirbel sind
ursprüngliche Gaudalwirbel, wie sie denn auch in solche allmählich
übergehen. Die Querforlsatze sind einfach, durch ihre Beziehungen
zum llium terminal verbreitert. Selten ist auch der Querfortsatz des
vordersten Wirbels durchbohrt und ist damit den primären Sacralwir-
beln wenigstens ähnlich geworden (z, B. beim Kranich), Diese Er-
scheinung der gestalllichen Assimilirung von Skelettheilen mit benach-
barten, ursprünglich verschiedenen, ist eine sehr verbreitete, bis jetzt
noch wenig beachtete. Sie ist um so wichtiger, als durch sie die mor-
phologische Bedeutung der Theile oft in tiefes Dunkel gehüllt wird. Am
Becken der Vögel trifft sie ebenso die Sacra Iwirbel, die sie den Caudal-
wirbeln ähnlich formt. Wenn die postsacralen Beckenwirbel ursprüng-
lich Caudalwirbel sind, so erleiden sie ausser der Verschmelzung auch
noch Differenzirungen. Sie sondern sich nämlich in zwei, je aus meist
niehreren Wirbeln bestehende Gruppen, eine vordere mit schwachen
und eine hintere mit stärkeren Querfortsätzen versehene, in Anpassung
an das anstossende llium , dessen bei den meisten Vögeln als Ischio-
sacralleiste bestehender Vorsprung von jenen Querfortsätzen mediale
Stützen empfängt.
Was den praesacralen Gomplex der Beckenwirbel betrifft, so wird
dieser zunächst der Lumbarregion, und, soweit er ansehnliche Rippen
trägt, der Thoracalregion der Wirbelsäule zuzutheilen sein, wie er denn
auch so von den meisten Autoren, freilich mit unsicherer hinterer Ab-
grenzung, aufgefasst wurde.
Die beiden an dem praesacralen Theile der Beckenwirbelsäule be-
stehenden Hauptabschnitte unterscheiden sich vorzüglich nach dem
Verhalten der Querforlsätze. Am unmittelbar praesacralen Abschnitte,
jenem, welcher die Mehrzahl der ischiadischen Wurzeln austreten lässt,
1) Während beim Menschen fünf Nerven den PI. ischiadicus bilden helfen: ein
Theil des vorletzten, der ganze letzte Lumbainerv, zwei ganze Sacralnerven und
ein Theil vom driften Sacralnerv., sind z. B. bei der Katze nur drei Nerven in Ver-
wendung. Ein Theil des vorletzten der letzte Lumbainerv und ein Theil des ersten
Sacralnerven. Hier herrschen also praesacrale Nerven vor, beim Menschen dagegen
sacrale.
ßeilräge zur Kemitiiiss des Beckens der Vögel. 203
sind nur obere von den Wirbelbogen ausgehende QuerforlsiUze vor-
handen, es ist das derselbe Abschnitt, der nach Uuxlky als »sacral«
bezeichnet werden niüssle , den ich aber den oben gegebenen Erörte-
rungen gemiiss als 1 um baren deute. Der vor ihm liegende vorderste
Beckenvvirbcicomplex steht mit ihm in enger Wechselbeziehung. Es
ist oben mehrfach darauf hingewiesen worden , dass innerhalb nahe
verwandter Gruppen (Gattungen und Arten) die Wirbelzahl für beide
praesacrale Wirbelcomplexe meist gleich ist, dass aber beide Complexe
in der Wirbolzahl insoweit variiren , dass die Zahl in dem einen Com-
plexe um ebensoviel abnimmt, als sie in dem anderen gewachsen ist.
Das bezeugt, dass die Scheidung beider Complexe keine sehr tiefe ist,
jedenfalls mindei' tief, als es sich dem Auge durch die bedeutende Enl-
wickelung vorderer Querfortsatzschenkel am eisten Complexe auf-
drängen mag. In dem nächsten praesacralen Complexe der Wirbelsäule
ergiebt sich durch die Beziehung zur Lendenanschwellung des Rücken-
markes eine bedeutende Erweiterung des bezüglichen Theiles des
Rückgratcanals (s. Fig. VI), die auch äusserlich durch grössere Breite
der Wirbel sich bemerkbar macht. Bei jungen Vögeln ist das Volum
dieses Abschnittes bedeutender als bei erwachsenen, wie aus Ver-
gleichung einiger Messungen, die ich zu diesem Zwecke angestellt habe,
liervorgeht. Die Länge des genannten praesacralen Abschnittes der
Becken Wirbelsäule verhält sich beim nahebei reifen Hühnchenembryo
zur Länge der gesammten Beckenwirbelsäule wie 6:25, beim er-
wachsenen dagegen wie 6 : ;^9. Bei der Gans finde ich Längenverhält-
nisse jener Theile kurz nach dem Auskriechen aus dem Ei wie 2 : 1 5,
beim erwachsenen Vogel 2:22. Es findet also diesen Zahlen gemäss
ein verschieden starkes Wachsthum der einzelnen Abschnitte der
Beckenwirbelsäule statt, und für jenen praesacralen Abschnitt, der die
Wurzeln des Ischiadicus entsendet, ist es geringer als an den Übrigen.
Man wird das als eine Zusammen zi ehung des Lumbart Heiles
bezeichnen dürfen. Auch die relative Breite dieser Wirbel vermindert
sich. Beim oben erwähnten Hühnchen verhielt sie sich im Verhältniss
zur Länge der gesammten Beckenwirbelsäule wie 2:10, beim Erwach-
senen 2 : i7. Beim Gänschen verhielten sich diese Maasse wie 2:12;
beim erwachsenen Vogel 1:12.
Zu den Eigenthümlichkeiten des praesacralen Abschnittes ist noch
die Veränderung der Foramina intervertebralia zu zählen. Diese sind
anfänglich längs der Beckenwirbelsäule einfache ovale Löcher, die all-
mählich zu Oucrspalten sich umgestalten. Sie bleiben in diesem Zu-
stande an dem die Ischiadiciiswurzeln durchlassenden A])schnitte
kürzere Zeil als an den übrigen 'l'lieilen , indem die Spalte sich in der
204 Carl Gegenbaur,
Mitte verengert und schliesslich in zwei durch eine Knochenbrücke ge-
trennte Oeffnungen getheilt wird. Allmählich erstreckt sich dieser
Vorgang über die gesammte Beckenwirbelsäule, und nur einige der
Foramina intervertebralia an den beiden Enden des Gesammtsacrums
bleiben einfach fortbestehen. Da dieser Theilungsvorgang erst mit dem
Verwachsen der Wirbel auftritt, dürfte er als ein sehr spät, wohl erst
innerhalb der Classe erworbener anzusehen sein. Das gilt auch vom
Verwachsender Wirbel, wobei der Umstand, dass die Verschmel-
zung an den praesacralen Wirbeln beginnt und von da nach vorn wie
nach hinten fortschreitet, seine für die ursprüngliche Sacralnatur dieser
Wirbel etwa zu verwerthende Bedeutung völlig einbüsst.
Hinsichtlich der doppelten Querfortsatzschenkel des vordersten
praesacralen Beckenwirbelcomplexes ist zu bemerken , dass das Ver-
hältniss zu Bippenrudimenten keineswegs so einfach ist, wie es aus der
Thatsache hervorgehen möchte, dass die vordersten dieser Wirbel,
welche Bippen tragen, einfache Querfortsätze, die hinteren rippenlosen
dagegen deren doppelle besitzen. Im beschreibenden Theile ist mehr-
fach erwähnt worden, dass die der Beckenwirbelsäule angefügten Bip-
pen meist auf verschiedene Weise sich verbinden. Die erste meist
mittels Capitulum am Körper des Wirbels und mit Tuberculum ans Ende
des Querfortsatzes. So können auch mehrere Bippenpaare befestigt
sein. Sehr häufig verliert das letzte Bippenpaar die Körperverbindung
und damit den Hals, so dass es nur mittels Tuberculum dem Querfort-
satz angefügt ist (vergl. bei Sarcorhamphus Fig. XXVI). Dieser Quer-
fortsatz ist demnach einschenkelig. Man könnte dieses Verhältniss dahin
erklären, dass die Einfachheit des Querfortsatzes aus dem verloren ge-
gangenen Bippenhalse resultirt. Dem steht aber entgegen , dass der
vordere Schenkel des nächstfolgenden, etwa getheilten Querfortsatzes
sich an seinem vorderen Abschnitte genau so verhält , wie der vorher-
gehende noch ungetheilte , der keine Andeutung zeigt , dass ihm etwas
abhanden gekommen sei. Daraus mögen sich zunächst Zweifel erheben
an der Bippennatur der vorderen Schenkel der doppelten Querfortsätze.
Diese Zweifel werden bestärkt durch die Thatsache, dass auch an rip-
pentragenden Wirbeln der Querfortsatz durchbrochen sein kann und
wenigstens an seiner Wurzel einen vorderen und einen hinteren Schen-
kel unterscheiden lässt. Ich finde das am ersten Becken wirbel von
Tetrao tetrix. Auch in mannichfachen , meist unregelmässigen Durch-
brechungen der Querfortsätze rippontragendor Beckenwirbel von Baub-
vögeln ist Gleiches zu finden. Mehr lehrt die Vergleichung des Verhal-
tens der fraglichen Querfortsätze untereinander. Beim Huhn (Fig. XXX)
articuliren Bippen mit den beiden ersten Beckenwirbeln , deren Quer-
Beitrage zur Kenntiiiss des Beckens der Vögel. 205
foilsiitze einfach sind (8, •)). Das terminale Querfortsalzende des ersten
(9) trägt die Gelenkfläche {g') für das Rippenhückerchen und ausserdem
eine breitere Fläclie '/ur Verbindung mit dem llium. Am folgenden
Wirbel (8) ist das (Juerfoi'tsalzonde senkrecht verbreitert, und nur ein
Theil {g') ist zur Uippenarticulation verwendet. Der dritte Wirbel zeigt
seinen Oucrfoitsatz dem vorheigehenden ähnlich , nur noch mehr dor-
salwärls verbreitert , und am nächsten ((i) ist die Verbreiterung auch
ventraivvärts ausgedehnt. Dabei ist der Querfortsatz an seiner Wurzel
in der Mitte derait vcrdtlnnt, dass ein Zei'fallen in einen dorsalen und
ventralen Schenkel sich andeutet. Solches ist am letzten Wirbel (ö)
dieses Gomplexes vollzogen, der Querfortsatz besitzt die beiden Schen-
kel, deren Zusammengehörigkeit duich eine zwischen ihnen verlaufende
Crista ausgedrückt wird. Der dorsale Schenkel (d) ist mit den Quer-
fortsätzen des folgenden Wirbelcomplexes in Einer Reihe gelagert, der
ventrale (f), wie vom Wirbelkörper entspringend, scheint den ventralen
Schenkeln der beiden Sacralwirbel («, b) homolog zu sein. Dass dieser
ventrale Schenkel (r) kein Rippenrudiment repräsentirt, wird ausser
der Vergleichung mit den Querfortsälzen der vorhergehenden Wirbel
noch durch den Ossificationsprozess erwiesen. Sämmtliche Querfort-
sätze des präsacralcn W'irbelcomplexes ossificiren wie auch jene des
postsacralen (oder caudalen) von den Wirbelbogen aus, und davon
macht der fragliche Wirbel (5) keine Ausnahme. Die Verknöcherung
schreitet vom Bogen aus gleichraässig auf die beiden Schenkel , sowie
auf die beide verbindende Crista fort. Die letztere ist bei jungen (zwei
bis drei Monate allen) Tbieren viel stärker als später, und zeigt damit
auf eine ursprünglich innigere Verbindung beider Schenkel hin. Ihr
freier Rand läuft dann knorpelig in die knorpeligen Enden der beiden
Schenkel über, so dass also Alles die Verdoppelung des Querforlsatzes
als eine allmähliche, durch Verbreiterung eingeleitete Spaltung eines
ursprünglich einfachen Querfortsatzes erscheinen lässt. Ausser beim
Huhn habe ich auch bei der Gans, sowie beim Bussard jenes Verhält-
niss gefunden, wobei besonders beim Bussard die Ossification als aus-
schlaggebend erachtet werden muss , da hier wie bei den meisten
Raubvögeln die vorderen Querforlsatzschenkel praesacraler Becken-
wirbel grosse Aehnlichkeil mit Rippenrudimenten sich angeeignet haben.
Zugleich kann hier der Nachweis einer Theilung durch Vergleichung in
der Reihe nicht geliefert werden, da an allen betreftenden Wirbeln bei-
derlei Querfortsätze von einander getrennt entstehen. Dagegen ist bei
der Gans eine ähnliche Reihe von Uebergangsformen wie beim Huhn
bemerkbar. Bei anderen Gattungen , z. B. Tetrao, kommt es bei der
Bd. VI. 2. 15
206 Carl Gegenbaur,
einen Art gar nicht zu einer solchen Sonderung, indess sie bei der an-
deren sich vollzieht (vergl. hiemit oben S. Ififi).
Diese Verhältnisse zusammenfassend finden wir ;ilso im ersten
praesacralen Abschnitte hinter den vordersten rippentragenden Wirbeln
1) solche, deren Querfortsätze sämmtlich einfach bleiben, unter
Verdickung oder Verbreiterung, z. B. Tetrao urogallus;
2) solche, die verbreiterte Querfortsätze besitzen, bis dann die
letzten oder der letzte den Querfortsatz völlig getheilt hat, z. B. beim
Huhn ;
:}) finden sich Wirbel , die sämmtlich getheilte Querfortsätze be-
sitzen, z. B. bei Tagraubvögeln.
Während im ersten Falle der als ursprünglich anzunehmende Zu-
stand sich forterhält, bietet sich im zweiten eine Umbildung dar, die
theils aus der Vergleichung der Wirbelreihe, theils auch aus den Ent-
wickelungsvorgängen am Individuum wahrnehmbar ist. Diese zur
Theilung eines Querfortsatzes in einen vorderen und hinteren Schenkel
führende Veränderung hat sich in der dritten Reihe an allen betreffen-
den Wirbeln vollzogen. Da hier die üebergangsformen fehlen, hat sich
der Zustand am weitesten vom ursprünglichen Verhallen entfernt, und
nur der an den vorderen Schenkeln mit den hinteren gleiche Ver-
knöcherungsmodus wahrt ersteren den Charakter als Querfortsätze,
und verhütet ihre Verwechselung mit Rippenrudimenlen, denen sie
durch eine Rij>penhülsen ähnliche Lagerung verglichen werden möchten.
Die ventralen Querfortsatzschenkel der praesacra-
len Beckenwirbel sind demnach wie die dorsalen nur
Differenzirungsproducte der ursprünglich einfachen
Querfortsätze.
Das diese Sonderungsvorgänge Bedingende wird in Anpassungen
zu suchen sein. Mit der mächtigen Ausbildung des vorderen Darm-
beintheiles findet dieser an jenen Querfortsätzen eine feste Stütze , die
zugleich die schwache Verbindung mit dem zweiten Praesacralcom-
plexe aufwiegt. Die geringe Entwickelung der einfachen , nur dorsal
entspringenden Querfortsätze dieses Abschnittes mag wohl mit den hier
austretenden starken Nervenstämmen , für deren Geflechte jene Quer-
fortsätze ein Dach bilden, in Zusammenhang stehen.
Anders als am praesacralen Abschnitte verhalten sich die doppelten
Querfortsatzschenkel am ursprünglichen sacralen Abschnitte derBecken-
wifbelsäule. Noch nicht vollständig ossificirte Becken lassen erkennen,
dass die Verknöcherung für beiderlei Schenkel eine verschiedene ist.
Während die dorsalen wieder vom Wirbelbogen ossificiren, ist die Ver-
knöcheruns; für die vorderen eine selbstständige, nahe an der Mitte des
Beitnigc zur Kemitniss des Beckens der Vögel. 207
spangenartigen Knorpelsttickes beginnend. Am zweiten Wirbel geht
die Verschmelzung mit dom Körper früher vor sich als am ersten. Die
selbslständige Ossificalion dieser venIrahMi Oueiforlsiitze liisst sie von
ähnlichen Verdoppelungen der (,)iiorfortsätze unterscheiden, die zuwei-
len am ersten Postsacralwirbel vorkommen, denn hier werden beiderlei
Schenkel vom Wirbelbogen aus ossificirt. Nur selten habe ich an dem
ersten postsacralen Wiibel eine selbstständige Ossilication des ventraleii
Schenkels beobachtet (z. B. bei der Gans).
Auf der Thatsache der selbstständigen Ossilication der ventralen
Querfortsatzschenkel an den beiden primären Sacralwirbeln fusst zu-
nächst die Nothwendigkeit, sie anders zu deuten, als ähnliche Hildungen
an anderen Wiibeln. Diese andere Deutung kann aber wohl nur darin
gefunden vserden, dass man sie als Rip])enrudimen te au-
ssieht. Demnach sind an der Becken Wirbelsäule der Vögel nur an den
beiden primären Sacralwirbeln Rippeiu'udimente erhalten, die auch bei
einzelnen kleineren Gruppen Rückbildungen unterliegen.
Dass sich am primären Sacrum drr Vögel ausser den Querforlsätzen
und theilweise davon getrennt noch Rippenrudimente erhalten haben, in-
iless bei den lebenden Reptilien scheinbar einfache F'ortsätze vorkonunen,
bildet eine Eigenliniiulichkeit, welche erst bei tieferem Eindringen in
die Phylogenese klar werden wird. Durch die Vergleichung der quer-
fortsatzartigen Bildungen am Sacrum anderer Wirbelthiere ist jedoch
schon jetzt einiges Verständniss zu gewinnen.
Bei den Eidechsen erscheinen die lateralen Fortsätze der beiden
Sacralwirbel am schwersten zu verstehen , da sie bei der Vergleichung
mit dem praesacralen Wirbelsäulenabschnitle den dort iiefindlichen
Rippen, bei der Vergleichung mit der postsacralen Wirbelsäule den hier
sehr mächtigen Querfortsätzen homolog gelten können. Man würde
also hier zu dem Ergebnisse der Homologie von Rippen und Querfort-
sätzen kommen, und es würden die bezüglichen Fortsätze der Sacral-
wirbel beliebig aufzufassen sein. Es ist klar, dass dies keine Lösung
der Frage wäre. Dass die Querfortsätze an der Caudalwirbelsäule, we-
nigstens soweit an letzterer die sogenannten unteren Bogen vorkommen,
nicht als Rippen angesehen- werden können, ist sicher, sobald jene
unteren Bogen die Bedeutung von Rippen haben. Die Rippennalur der
unteren Bogen glaube ich bereits früher'; nachgewiesen zu haben.
Demnach müssen diese Zustände bei den Eidechsen vorläufig ausser
Frage bleiben, bis die Entwickelungsweise der bezüglichen Theile An-
knüpfungspunkte aufdeckt.
i) Jenaische Zeilsclirift. Rnnd III. S. 406.
15^
208 Carl Gegenbaiir,
Günstiger verhalten sich die Grocodile, bei denen der Ossifica-
tionsgang auch später noch erkennbar ist. Beim Alligator bestehen noch
vierLumbalwirbel, an denen die Querforlsätze keine Rippen tragen. Ein
Rippenrudinient trägt schon das Ende des Querforlsatzes des nächst vor-
hergehenden Wirbels. Die Querlortsätze nehmen dabei von vorn nach
hinten an Länge wie an Stärke ab. Auffallend klein ist der letzte. Diese
Querfortsätze verknöchern sämmtlich von den Bogen aus, wie ich mich an
ganz jungen Thieren überzeugen konnte. Die Bogen bleiben vom Wir-
belkörper lange Zeit, wie es scheint bis ins hohe Alter, durch eine Naht
abgegrenzt. Anders verhalten sich die querfortsatzartigen Gebilde der
beiden Sacralwirbel. Diese sind nicht in continuirlicher Knochenver-
bindung mit dem Wirbel, sondern fügen sich der Seite des Wirbelkör-
pers und auch der Wurzel der Bogen gleichfalls durch eine Naht an.
Die Verbindungsstelle mit der Bogenwurzel entspricht genau der Stelle,
an der die lumbaren Querfortsätze entspringen. An den beiden ersten
Caudalwirbeln sind wieder die Querfortsätze nur in Nahtverbindung
mit den Wirbeln, während sie bei den übrigen Caudalwirbeln der Naht
entbehren, also direct vom Wirbel entspringen. Beachtenswerth ist
besonders, dass die Nahtverbindung der Querfortsätze da aufhört, wo
die unteren Bogen beginnen; dies ist einfach so zu erklären, dass da,
wo freie Rippen (untere Bogen) auftreten , keine verschmolzenen mehr
vorkommen können.
Durch die Verkümmerung des letzten lumbalen Querfortsatzes,
sowie durch die selbstständige , nicht von den Bogen wie sonst erfol-
gende Ossification der Querfortsätze der Sacralwirbel wie der folgenden
zwei Wirbel geht hervor, dass die ganze Kategorie von querfortsatz-
artigen Bildungen nicht jener der ächten Querfortsätze angehört. Be-
achten wir ferner, dass der Lateralfortsatz des ersten Sacralwirbels
sich an einer dem Querfortsatze des letzten Lumbaiwirbels entsprechen-
den Stelle befestigt , dass dieser Wirbel somit noch einen,
wenn auch sehr kurzen Querfortsatz besitzt, so wird die
Folgerung nothwendig, dass die fraglichen vier Querfortsatzpaare keine
wahren Querfortsälze sein können, dass sie vielmehr Rippen
vorstellen. Dass die darauf folgenden Querfortsätze sich den quer-
fortsatzartigen Rippen ähnlich verhalten, ist wiederum eine Anpassung.
Diese Verbindung von Rippenpaaren mit der Wirbelsäule ist übrigens
keine gleichartige, denn an der ersten sacralen Rippe sind noch zwei
Abschnitte der Verbindungsstelle unterscheidbar, einer, der den Wir-
belkörper betrifft und sich zwischen den ersten Praesacralwirbel und
den ersten Sacralwirbel bettet, und ein anderer, der den Anfang des
Bogens mit dessen Querfortsatzrudiment betrifft. Zwischen beiden Ver-
Beiträge zur Keiiiidiiss des Beckens der Vöuel. 209
bindungsslellen zioht sich vorn auf die Rippe eine liefe (irube hin. hi
i\\y diesem sehe ich die doppelte Verhindunü; «>iner Rippe n)itlels
r.apituluni am Wirbclkörper, und zwar, wie aucl» sonst in der Regel,
interverlebral , und mittels Tuberculum an einem Querfortsatz. Die
Verkümmerung des letzleren hat beide Verbindungsstellen zusammen-
geschoben, so dass ein Rippenhals hier nicht existirt, aber die Deut-
lichkeit des ursprünglichen Verhaltens ist damit nicht beeinträchtigt.
Mehr modificirt ist es dagegen an der Sacralrippe. Der Ilalsabschnitt
ist mehr zusammengezogen, sowie auch das Querfortsatzrudimenl des
\Virbelboger)s weniger deutlich ist. Der dem Capitulum entsprechende
Theil hält sich mehr lateral am V^irbelkörper und hat die interverlebra-
len Reziehungen ganz aufgegeben. Die Vorbindung ist sogar bis dicht
an den ersten roslsacralwirbel gerückt, während sie vom ersten Sa-
eralwirbelkörper viel weiter entfernt liegt. Dies steht wohl mit der
terminalen, das llium tragenden Verbreiterung dieser Rippen in
causalem Zusammenhang. An den folgenden beiden Rippen ist die
Eigenthümlichkeit der Verbindungsvveise noch mehr verwisohl, und
es ist überhaupt nur die blosse Nahlverbindung zwischen Wirbel-
körper und Bogen, welche diese Theile ausser der successiven Ver-
gleichung mit den beiden Sacralwirbeln als von den Querfortsatz-
bildungen der übrigen Caudalwirbelsäule verschiedene Bildungen be-
urtheilen lässt.
Für unseie Z\\ccke haben wir denuiach die Tbatsache so viel als
möglich festzustellen vermocht, dass bei Crocodilen das llium aus-
schliesslich mittels zweier Rippenrudimente an die beiden Sacralwirbel
befestigt wird. Inwiefern bei den Eidechsen die sacralen Querforlsätze
eine gleiche Deutung zulassen, wage ich keineswegs festzustellen, halte
aber für wahrscheinlich, dass man es hier ebenfalls mit Rippen zu
thun hat.
Während also bei Reptilien (Crocodilen) die queren Ansätze der
Sacralwirbel nur durch Rippen vorgestellt sind, treten bei den Säuge-
Ihieren noch ausgebildete Querfortsälze in Mitbetheiligung. Als Rippen-
rudimenle müssen nämlich jene Ossificationen gedeutet werden, welche
im Knorpel der seitlichen Massen der Sacralwirbel auftreten und vor
dem von den Bogen aus ossificirenden Theile lagern , der unzeifclhaft
den Querfortsatz vorstellt, bi einzelnen Ordnungen ergiebl sich eine
beträchlliche Verschiedenheit, auf die hier nicht eingegangen werden
soll. Beim Menschen , wo jene Ossificationen am Genauesten bekannt
sind, kommen sie an den drei ersten Sacralwirbeln vor, zuweilen, wie
210 Carl Gegenbaiir,
ich finde, auch am vierten ^j. Am ersten Sacrahvirbel bleibt jenes
Rippenstück am längsten vom Wirbel getrennt, früher verschmilzt es
am zweiten Sacrahvirbel und noch früher je am dritten und vierten 2).
1) In Quain's Elements of Anatomy, 7*^ odition, Vol. I, S, 19, wird des Vor-
kommens eines besonderen Knochenkerncs am vierten Sacralwirbelquerfortsatzo
gleichfalls Erwähnung gothan.
Die Deutung dieser den Qucrforlsätzen und Wirhclkörpern unmitlelbar ange-
fügten, selbstständig ossificirten Elemente als Rippen hat bei E. Hasse und W.
SciiWARCK Widerspruch gefunden. (Studien zur vergleichenden Anatomie der Wir-
belsäule , insbesondere des Menschen und der Säugethiere in den von C. Hasse
herausgegebenen anatomischen Studien S. 70.) Als Gründe werden aufgeführt:
»Einmal finden wir in der gesammten Wirbelthierreihe niemals eine Unterbrechung
in der Aufeinanderfolge der Rippen. Diese treten nicht plötzlich an einer Stelle
auf, um dann zu verschwinden und an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen,
und diess müsste hier der Fall sein , denn an den Lendenwirbeln lassen sich keine
Rippen oder Rippenrudimente nachweisen, höchstens unter abnormen Verhält-
nissen am ersten. Dann lässt sich noch als Grund gegen die Annahme von Rippen
am Kreuzbein der Umstand anführen, dass bei den meisten Wirbelthieren der
Beckengürtel niemals durch Rippen oder Rippenrudimente getragen wird.«
Gegen diese Art der Begründung lässt sich manches Bedenken erheben, Dass
bei anderen Wirbelthieren eine Unterbrechung in der Folge der Rippen nicht be-
steht, beweist keineswegs, dass sie bei Säugethieren nicht vorkomme, und wenn
»bei den meisten Wirbelthieren der Beckengürtel niemals durch Rippen oder Rip-
penrudimenle getragen« werden soll, so ist gerade das Gegentheil erweisbar ge-
wesen.
Das zur Bestimmung der fraglichen Gebilde führende Verfahren wird also ein
anderes sein müssen. Vor Allem wird es sich um das Verhältniss jener Theile selbst
handeln müssen. Wir treffen nun in ihnen knorpelige Gebilde, die nicht Querfort-
sätze vorstellen können , da sie nicht vom Wirbelbogen aus verknöchern und da
auch schon Querfortsätze deutlich genug vorhanden sind. Wollen wir sagen , es
seien »untere Querfortsätze«, so ist damit für die Vergleichung nichts gewonnen, und
überdies ist die Bezeichnung unzulässig, da sie dem Begriff des Querfortsatzes als
eines vom Wirbel aus ossificirenden Skelettheiles widerstreitet. Wir haben also
weiter zu fragen : welche Skelettheile kommen in Verbindung mit Wirbelkörper und
Querfortsatz vor. Die Antwort wird einfach auf Rippen lauten, denn kein anderer
Skelettheil zeigt jene Beziehungen. Wir werden also jene Elemente als Rippen
zu deuten haben, und zwar als Ri ppenr u d imente, da sie nicht mehr vollstän-
dige Spangen sind und zugleich ihre knorpelige Anlage mit Wirbeln verschmolzen
haben. Wie nun der Umstand zu beurtheilen sei, dass in der Lumbairegion der
Säugethiere keine Rippen mehr deutlich sind, während sie noch am Sacrum be-
stehen, gehört nicht unmittelbar hiehcr.
2) Diesem Verschmelzungsgang des ossificirten Ripi)enrudimentes entgegenge-
setzt verhielt sich das Auftreten der Knochenkerne. Am ersten Rippenrudiment ist
der Knochenkern viel früher da, als an den folgenden. Am spätesten tritt er am
vierten Wirbel auf.
Beiträge zur Keimtiiiss des Beckens der Vöuel. 21 1
Die Verbindung des fraglichen Stückes iiiil dem Wirltel lindel sowohl
am Köiper, als auch am Qucrforlsalz und dvv da/.w Ischen liegenden
Strecke statt. Sie nuiss also der Verbindung des Capilulum, des Hip-
penhalses und des Tuberculum costae entsprechen, oder, mit andern
Worten, es ist der Anfangstheil einer Hii)pe vom ('apilulum bis zum
Tul)erculum inclusive mit einem Wirbel in Verbindung getreten. In
der selbslständigen Ossification erhält sich noch eine Andeutung der
ursprünglichen Selbstständigkeit, die durch die Verschmel/ung der
knoi-pelig(>n Anlage n)it dem Wirbel aufgelöst ward. Da die Facies
auricularis des Sacrums des Menschen von den Endflächen nur dieser
Rippenrudimentc der beiden ersten Sacralwirbel gebildet wird, ist die
Verbindung mit ileni lliuin nur durch Rippen vermittelt, und die Quer-
fortsätze sind hiebe! , trotz ihres Bestehens , ausser aller directen Be-
iheiligung.
Hinsichtlich des Verhaltens der Sacra Irippen (wie wir füglich
jene, einigen Sacrahvirbeln angefügten Rippenrudimenle bezeichnen
können) ergeben sich also für Reptilien, Vögel und Säugethiere folgende
Eigenthündichkeiten.
1) Bei Reptilien (Crocodil) sind die Sacralrippen mit dem
pioxiuialen Ende an Wirbelkörper und Bogen (resp. Querfortsalz) be-
festigt. Das distale Ende trägt das Darndiein.
2) Bei den Vögeln ist die Sacralrippe mit dem proximalen Ende
an den Wirbelkörper befestigt, distal verbindet sie sich mit dem Ende
des bezüglichen Querfortsalzes , mit dem sie gemeinsam das Darmbein
stützt. Zwischen Querfortsatz und Rippe besteht ein Foramen trans-
versa rium.
;i) Bei Säugethieren (Mensch) endlieh ist das proximale Ende
der Sacralrippe an Wirbelkörper und Bogen befestigt. Das Ripj)enende
geht allein zum llium.
Gegen Reptilien und Säugethiere zeichnet sich also das primäre
Sacrum der Vögel dadurch aus, dass an ihm auch Querforlsätzc zum
llium gelangen, sowie dass die Rippenrudimenle diesen Querfortsätzen
nur terminal verl>unden sind. Die beim Crocodil wie beim Menschen
dem W'irbelkörper wie dessen Bogen sannnt Querfortsatz unmittelbar
angeschlossene Sacralrippe ist bei den Vögeln freier, da vom Wirbel-
körper an eine Lücke sie vom Querfortsatz trennt. Während endlich
bei Vögeln die beiden Sacralrippen die einzigen «lieser Gegend sind, da
der praesacrale Abschiiill der Beckenwirbelsäule, sowie auch der post-
sacrale den oben vorgeführten Darlegungen gemäss der Rippen ent-
behrt, so sind bei Reptilien und Säugethieren unmittelbar vor wie hin-
212 Carl Gegenbaur,
ter dem primären Sacrum Rippen oder Rippenrudimente nachweisbar.
Rei Reptilien fehlen unmittelbar praesaciale Rippen dem Crocodil, be-
stehen aber bei den meisten Eidechsen , und postsacralc sind wenig-
stens beim Crocodil noch zwei Paare unter der Gestalt durch Naht den
Wirbeln verbundener Querfortsätze erkennbar. Rei Säugethieren end-
lich werden Rippenrudimente sowohl prae- als postsacral gefunden.
Die ersteren mit den Lumbaiwirbeln verschmolzen, deren Querfortsätze
sie wenigstens theilweise bilden , die postsacralen dagegen in : Ver-
schmelzung mit Körper und Rogen des ersten und häufig auch des
zweiten Postsacralwirbels des Menschen.
Diese Verhältnisse des Sacrums ergeben für das Vogelbecken eine
ziemlich ebenso weite Entfernung vom Recken der lebenden Reptilien,
wie von jenem der Säugethiero. Für beide ergiebt nur der niederste,
für das Recken vorauszusetzende Zustand Anknüpfungspunkte , j(uu'r
nämlich, wo Ein Sacralwirbe! mittels eines ihm verbundenen Rippen-
rudimentes das primitive Hüftbein trägt. Da letzteres durch seine Re-
ziehungen zur Musculatur vornehmlich der Hintergliedmaasse, den Ver-
änderungen hervorrufenden äusseren Einflüssen mehr als die sacrale
Wirbelsäule für sich zugängig ist, werden wir in den Veränderungen
des Hüftbeins die secundär auch den bezüglichen Abschnitt der Wir-
belsäule umgestaltenden Factoren suchen dürfen.
Vom Hüftbein kommt wieder der dorsale, als llium unterschiedene
Abschnitt am meisten in Retracht. Rei den Reptilien ist die Ausdehnung
des Iliums nur caudalwärts vorhanden, vor Allem wenn wir den ersten
Sacralwirbel als einen solchen betrachten, an dem die von niederen
Zuständen ererbte ursprüngliche Verbindung stattfand, und dabei be-
achten , dass auch über den zweiten hinaus nicht selten eine Ausdeh-
nung des Iliums stattfindet. Rei den Säugethieren bleibt es bei der
Verbindung des Iliums mit einem oder zwei Wirbeln , selten tritt noch
ein dritter oder vierter hinzu. Dagegen findet ein Wachsthum nach
vorn zu statt, welches bei seiner lateralen Richtung dem Sacrum keine
neuen Wirbel zufügt.
Ganz anders verhält sich das llium der Vögel. Durch die beträcht-
Hche Ausdehnung nach hinten wird eine Anzahl ursprünglicher Caudal-
wirbel dem primären Sacrum einverleibt, und ebenso tritt eine nicht
geringe Zahl von Wirbeln aus dem Vordisrtheile der Wirbelsäule zum
Sacrum, indem die Ilia nach vorn zu längs der Wirbelsäule auswachsen.
Ein rippen loser, als Lendentheil zu bezeichnender Abschnitt wird zu-
gefügt und auch noch einige Wirbel, die durch Verhalten ihrer Rippen
als Rrustwirbel sich darstellen. Man könnte nun sagen, dass in dieser
Beiträge zur Keiiiitniss des Reckeiis der Vögel. 213 ^
Ausdehnung nach vorn eine SiiugelhicMühnlirhkcit sich wiederhole,
sowie in der Ausdehnung nnch liinUMi ein RepLiliencharakter des liiunis
gegeben sei. Ich würde das nicht fUr richtig hallen können, denn das
Auswachsen des Iliunis nach vorn erfasst bei Säugethieren keine neue
Wirbelgruppe und kommt bei den Vögeln auch sonst auf eine sc^hr
eigenthüniliche Art zu Stande.
Während nänilicii die caudale Ausdehnung des Uiunis durch Knor-
pelwachsthum stattfindet, ist an der lun)balen die Knorpelanlagc des
lliums nur in sehr l'rühei' Zeit betheiligt, und bei weitem der
grösste Theil des Wachsthums nach vorne geschieht
durch Wachst!» um des Knochen be legs, welchen das
knorpelige llium ei hielt. Dem vorderen Uande des Iliunis der
Vögel fehlt der Knorpelsaum, der das wachsende Iliimi der Säugethierc
auszeichnet, schon zu sehr fiiiher Zeit, während der hintere Rand ihn
bis zum völligen Auswachsen des Vogels in ähnlicher Weise wie Sitz-
und Schambein aufweist. Lange vor dem Auskriechen aus dem Ei ist
beim Hühnchen dieser AN'achsthumprozess aufgetreten, und auf Längs-
durchschnitten bemerkt man vom Vorderrande her nur Knochengewebe,
bis man gegen die Mitte der Länge des vorderen Abschnittes des lliums
auf eine dünne, gegen die Pfanne zu stärker werdende Knorpellage
slösst, welche von der terminal einfachen Knochenlage auf der äusseren
wie auf der inneren Seite un>fasst wird '). Der Uebergang des Knorpels
in Knochengewebe findet ohne scharfe Abgrenzung statt. Beim Bussard
habe ich an Embryonen verschiedenen Alters das Gleiche beobachtet,
ebenso bei verschiedenen Singvögeln. Dagegen macht Olis eine Aus-
nahme, indem hier noch beim neugebornen Thiere der primäre Knorpel
bis zum freien Vorderrande reicht und die ihm aufgelagerten Knochen-
lamellen überragt. Dieses Verhalten wird bei der Gans mit dem vor-
her erwähnten vermittelt. Beim neugebornen Thiere ist am vorderen
Uiumrand nur noch eine Strecke mit Knorpel bemerkbar, der in seiner
Ausdehnung gegen jene bei Ulis zurücksteht. Das Längewachsthum
geht also hier wenigstens noch eine längere Zeit als beim Huhn und
beim Bussard vom Knorpel aus. W^ie aber schon bei dem Bestehen
dieses vorderen Knorpels der hintere ihn an Mächtigkeit bedeutend
überwog, so schw indet die Bedeutung des vorderen für das Wachsthum
des lliums inmier mehr, und wir dürfen auch diesen anfänglich wie
Ausnahmen sich verhaltenden Fällen den grössten Theil des prae-
1) Kurz vor doin Auflreten der ersten Ossification ist die Knorpclaiilat^e des
lliurqs heim Hülinciien nach vorn wie nach liinU-ii von ziemlich gleicher Länge,
nur hildet der vordere Theil eine dünnere Platte als der hinlere.
214 Carl Gegeiibaiir,
acetabularen Iliums durch direcle Knochenbildung entstanden zu-
schreiben.
Diese Thatsache, dass das Längewachslhun» eines Knochens nach
der einen Seite durch ansehnlictie Knorpehnassen , nach der andern
Seite dagegen nur durch Knochengewebe erfolgt, ist so auffallend, dass
es sich verlohnen wird, die Spuren, die sie uns für die Auffassung des
ganzen Skelettheiles zeigt, weiter zu verfolgen.
Legen wir Gewicht darauf, dass das Hüftbein ursprünglich ein
einziger Skeletthcil ist , an dem die drei Abschnitte vorzüglich durch
die Verknöcherung sich dilferenziren , beachten wir ferner, dass das
Längewachsthum dieses Knochens einmal vom oberen Rande des dor-
salen Stückes (des Iliums), dann am unteren Rande der beiden ven-
tralen Stücke (der Scham- und Sitzbeine) vor sich geht (abgesehen von
dem Antheilc, welchen die acetabularen Knorpelrcsle haben), so werden
wir die Beurtheilung des Längewachsthums des Iliums nicht nach der
etwaigen Ausdehnung des Knochens längs der Wirbelsäule, sondern
nach der Ausdehnung von der terminalen Knorpelepiphyse bis zum
Acetabulum zu bemessen haben. Wir werden aber auch erwägen, dass
das dorsale Ende des Iliums nicht der Sacralverbindung entspricht,
dass dieselbe vielmehr nach innen davon an der n)edialen Darmbein-
fläche stattfindet. Die Anwendung dieser Gesichtspunkte auf das Iliuni
der Vögel zeigt nun , dass das obere Ende dieses Skelettheiles n a c h
hinten gerichtet ist, denn hier finden wir von der Knorpelanlage des
Knochens noch längere Zeit hindurch einen Theil fortbestehen und das
Längewachsthum des Knochens besorgen, indess am praeacetabularen
Theile der Knorpelanlage sehr früh ihr Wachsthum sistirt und die fer-
neren Vergrössei'ungen durch Knochenlamellen zu Stande kommen
lässt, welche nach Ueberlagerung der Knorpelanlage weit über dieselbe
hinaus sich ausdehnen. Wir erhalten dadurch den ursprünglichen Zu-
stand des Iliums der Vögel vorwiegend durch den postacetabula-
ren Theil repräsentirt, der nur einen praeacetabularen Fortsatz ent-
sendet.
Die Vergleichung mit dem Becken von Reptilien lässt auch hier
wieder die nächsten Beziehungen erkennen. Das Ilium iheilt die fast
horizontale, d. h. mit der Wirbelsäule parallele, am Acetabularwirbel
abwärts geneigte Lagerung. Für manche Verhältnisse finden sich
bei Eidechsen , für manche bei den Crocodilen Verbindungen gegeben.
Bei den Eidechsen ist es das nach hinten gerichtete Ende (Holzschnitt
Fig. 3 a, Becken von Monitor, linke Seite), an welchem die Volumen-
vergrösserung durch Knorpel stattfindet. Bei Chamäleo wird dieses
Ende des einer Scapula überaus ähnlichen Iliums von einer vcr-
Bciträuc zur Kciiiiliiiss ilt's Beckens iler Vö^iel
215
kiilkliMi Knorpriplalle j^obiliU-l, (miicim Supriiscapuliirc hoiiioloj;. Das
lliuin der Crocodile hesilzl c'\wn ;uilg(>richU'lcn Kamm, der sich gegen
das liinlere verjüngte Ende
des Knochens lorlsetzl. Die-
ser Kannn ist der schwäche-
ren Erhebung homoh)g, die
sich an der Doi'salllächc des
Uiums vieler Eideclisen fin-
det. Die Volumenzunahme
des Uiums in der Richtung
dieses Kammes findet aber
bei den Crocodilen gleich-
falls nur durch periostale
Ossilication statt, und wie-
derum nur an dem hinterem Ende vergrössert es sich durch Knorpel-
verknöcherung. Den Reptilien wäre also Lagerung sowie Vergrösse-
rung des Darmbeines nach hinten zu durch Knorpelwachslhum mit
den Vögeln gemeinsam. Am Acetabulartheile des Uiums ergeben sich
Verschiedenheiten. Bei den Eidechsen (Fig. 3) tritt das Uium n)it dem
Schani- und Sitzbein in der Planne zusammen. Das Ilium der Crocodile
(vgl. Fig. i, Becken vom Alli-
gator, linke Seile) sendet an
der Pfanne zwei Fortsätze aus,
beide durch eine Incisur ge-
schieden. Der hintere Fortsatz
{s) vereinigt sich mit einem
ähnlichen Fortsatz (?/) des Ischi-
ums, das dem vorderen Fort-
salz des Uiums (r) einen gleichen
{x) entgegenschickt, ohne den-
selben zu erreichen. Zwischen
den beiderseitigen Fortsätzen
liegt eine nur membranös ge-
schlossene OeCfnung (oj. Mit dem Gegeneinanderwachsen der vorderen
Acelabularfortsälze des Uiums und Ischiums wird das Os Pubis (P) von
der Betheiligung an der Pfannenbildung ausgeschlossen, es sitzt be-
weglich auf dem vorderen Acelabularfortsälze des Uiums.
In der Pfannenbildung stimmen die Vögel am meisten mit den
Crocodilen Uberein. Das Uium bildet wieder zwei Acetabularfortsätze
(Holzschnitt Fig. ö r, s, Becken eines jungen Vogels , wobei die knor-
peligen Theile punktirt dargestellt sindy, und ebensolche entsendet der
216
Carl Gegenbaur,
Pfannentheil das Ischium , die zusammen eine weite membranös ge-
schlossene Lücke (o) umgrenzen»). Auch bei den Vögehi verbinden
sich nur die beiden hin-
leren Acetabularfortsätze
direct unter einander, und
die vorderen (r, «j sind
wieder durch eine Lücke
von einander getrennt, in
welche sich aber hier
das gleichfalls an der
Pfannenbildung betheiligte
Schambein [P] einschiebt.
Weitere Uebereinstinnnungen oder doch verwandtschaftliche Be-
ziehungen zwischen Reptilien- und Vogelbecken ergeben sich aus dem
distalen Verhalten der beiden ventralen Theile des Os innominatum.
Bei den Reptilien sind die Enden des Os pubis und des Os ischii zwar
durch je eine Schambeinfuge und eine Sitzbeinfuge unter sich in Ver-
bindung, allein es fehlt die Vereinigung von Scham- und Sitzbein
jederseits, oder wird nur durch einen knorpeligbleibenden, wenn auch
verkalkenden oder ligan)entösen Strang repräsentirt. Dabei fliessen
entweder die beiderseitigen Foramina obturatoria zusammen, oder werden
nur durch jene Gewebe, nicht aber durch Knochentheile geschieden
Das terminale Ende des Os innominatum wird dadurch in seiner Mitte
durchbrochen. Damit ist der erste Schritt zur freien Endigung von
Schani- und Sitzbein und zur vollständigen Oeffnung des Foramen
obturatorium geschehen. Diese Oeffnung, eine ursprüngliche Durch-
brechung des soliden ventralen Schenkels des Beckengürtels, wird dann
zu einer blossen mehr oder minder tiefen Incisur umgestaltet (vgl. Fig. 5).
Dieser Zustand hat für das Vogelbecken als der ursprüngliche, ererbte
zu gelten, denn er erscheint so in der Anlage des Beckens und erhält
sich z. B. unter den Ratiten bei Dromaeus, wie bei vielen Carinaten,
indess bei anderen eine distale Schamsitzbeinverbindung und damit
eine knöcherne Umschliessung des Foramen obturatum eintritt. Diese
ist als ein secundärer Zustand anzusehen, der meist durch einen vom
knorpeligen Sitzbeinende zum Schambein tretenden Fortsatz angebahnt
wird und erst ontogenetisch sich zu vollziehen scheint. Deshalb ist
diese Schamsitzbein Verbindung keineswegs homolog jener, die, schon
1) Diese Lücke ist vor Beginn der Ossification der Theile des Os innomina-
tum knorpelig geschlossen, d. h. der Pfannengrund wird vom Knorpel der An-
lage des Os innominatum gebildet. Allmählich tritt in der Mitte des Knorpels eine
verdünnte Stelle auf, und von da an beginnt die Umwandlung in Bindegewebe.
Beiträge zur Keiintniss des Beckens der Vögel. 217
hei Reptilien in der Rückbildung begriOen , nui- hei Säugelhieren sich
forterlialten hat, sie ist viehnehr eine neue, eine vorausgegangene ter-
minale Trennung von Sciiani- und Sitzbein voraussetzende Anpassung.
Der Ausfall eines Stückes vom Rahn)en des Foramen obturatum
erscheint in Zusammenhang mit der Neigung von Scham- und Sitzbein.
Bei den lebenden Reptilien sind die Sitzbeine nur wenig caudalwärts
gerichtet (vrgl Holzschnitt Figg. 3, 4, Js) und an den Schambeinen (P)
ist die Vorwartsrichtung sogar charakteristisch. Beide Knochen diver-
giren mit ihren Längsaxen, und damit umspannen sie das meist weite
Foramen obturatum. Bei den Vögeln ist eine mehr oder minder pa-
rallele Richtung mit dem Darmbein (dem postacetabularen Hauptstücke)
eingetreten und zugleich die Symphyse der gleichnamigen Knochen gelöst.
Da die medianen Verbindungstheile bei den Reptilien meist nicht mehr
den jederseitigen Hälften angehören , sondern als unpaare Gebilde er-
scheinen , so wird die Aenderung der Richtung der beiden Knochen,
der üebergang aus der convergirenden in die mehr parallele Stellung
mit dem Auseinanderweichen der Enden die Rückbildung jener ver-
bindenden Theile herbeiführen.
Wo wir dennoch eine S\mphysenbildung sehen, wie jene der
Schambeine beim afrikanischen Strausse, dürfte sie mehr als eine
secundäre Einrichtung zu beurtheilen sein , zu der es erst durch die
ausserordentliche Verlängerung der Schambeine kommen konnte.
Sehen wir so wie die Configuration des Beckens der Vögel auf jene
des Beckens lebender Reptilien bezogen v. erden kann, so finden sich
durch den Mangel eines praeacetabularen Abschnittes des lliums bei den
Reptilien bedeutendere Eigenthümlichkeiten ausgeprägt, Andeutungen
eines solchen vorderen Abschnittes fehlen jedoch nicht ganz, indem
sowohl bei Crocodilen als Eidechsen am Hium ein nach vorn gerichteter
Fortsatz besteht (vergl. Figg. 3 u. 4 b), dessen Weiterentwickelung zu
jenem vorderen Theile des lliums führen kann. In dieser Beziehung
bleibt aber noch ziemliche üngewissheit, da der vordere Acetabular-
schenkel (Fig. ö ?•) des lliums der Vögel sowohl bei Ratiten , als bei
vielen Garinaten einen nach vorn gerichteten Höcker besitzt, der leicht
jenem Höcker der Eidechsen homolog sein könnte, dann wäre der
vordere Theil des lliums ein gänzlich neugebildeter Abschnitt.
Die mangelnde Verbindung, welche bezüglich des lliums zwischen
dem Recken der Vögel und der lebenden Reptilien besteht, ist nun
durch deutlich sprechende Thatsachen ausgefüllt, welche untergegangene
Reptilienformen in ihren Resten darbieten. Huxley^, gebührt das Ver-
1) Quarlerly Journal of the Geological Society, London < 869, On Hypsylophodon
Foxii und: On the Classification of Dinosaiuia.
218 Carl Gegenbanr,
dienst in der grossen Abtheilung der Dinosauria unter anderen auf
das Skelet der Vögel beziehbaren Einrichtungen auch das Verhal-
ten des Beckens durch die Vergleichung erschlossen zu haben. Die
Ausdehnung des Iliums nach vorn zu ist schon bei den Iguanodonlen
und Scelidosauriern beträchtlicher, als bei den lebenden Reptilien, aber
das ursprüngliche postacelabulare Stück praedominirt , und bei den
Megalosauriern ist jenes vordere Stück noch bedeutender geworden und
kann sogar das hintere übertreffen. Der zur Bildung des Iliums der
Vögel führende Weg reprasentirt damit seine verschiedenen Stadien,
und die allmähliche Entstehung des praeacetabularen Abschnittes des
Iliums aus dem postacetabularen Hauptstücke macht die oben aufge-
führte Verschiedenheit verständlich, welche beide Theile in histiolo-
gischer Beziehung während ihres Wachsthums bei den Vögeln wahr-
nehmen lassen.
Dass der praeacetabulare Abschnitt des Iliums der Vögel dem
ähnlich gestalteten llium der Säugelhiere nicht homolog ist, bedarf
nach dem oben Geschilderten keiner näheren Auseinandersetzung.
Das llium der Säugelhiere muss nach Allem dem postacetabu-
laren Theile des Iliums der Vögel verglichen werden. Die Crista ossis
i l e i d e r S ä u g e l h i e r e entspricht dem hinteren U a n d e d e s
postacetabularen T heiles des Iliums der Vogel. Zwischen
beiden Theilen besteht somit die Differenz einer Drehung um einen
Winkel von beinahe 180". Der beide Zustände vermittelnde, also in-
differente Zustand des Iliums wird in einer senkrechten Stellung des
Iliums gesucht werden müssen , ähnlich wie wir es bei den Amphibien
finden, wo es zugleich mit Einem einzigen Wirbel verbunden ist. Bei
den Reptilien nimmt es eine schräge Stellung ein, von hinten und oben,
nach vorn und abwärts gerichtet. Dabei kommt nothwendig eine grös-
sere Strecke seiner medialen Fläche mit der Wirbeisäule in Contact.
Der hinterste Abschnitt des Iliums fügt sich noch einem zweiten Wirbel
an. Das Sacrum besteht somit aus zwei Wirbeln. Dieser Zustand
scheint eine reiche Verbreitung besessen zu haben, wie aus seiner Fort-
setzung in die sonst sehr differenten Ordnungen der lebenden Reptilien
erhellt. Eine fernere Ausdehnung des Iliums nach hinten und das Aus-
wachsen eines vorderen Fortsatzes, der bei der vorhergehenden Form
nur angedeutet war, führt diesen Beckentheil bei den Dinosauriern an
eine grössere Anzahl von Wirbeln, und diese Zahl steigt bei den Vögeln
mit Ausdehnung des Iliums längs der Wirbelsäule, wobei seine Lagerung
der Wirbelsäule parallel gerichtet wird. Unterscheidbar bleiben aber
wenigstens bei den Vögeln zwei Wirbel als primäre Sacralwirbel.
Von der bei den Amphibien bestehenden Lagerung des Iliums zur
Beiträge zur Keimtiiiss des Beckens der Vöiiel. 219
Wirbelsäule führt cIxmiso ein Wog zu den Säugclhiorrii, wenn wir nur
die Winkelslelluns:^ des liiiiins zur Wirbelsiiule in entgegengesetzter
Uiehlung wie bei den Reptilien denken. Die I.iingsaxe des Uiunis nimmt
allmiihlieli eine schrHge Stellung ein, von vorn und oben naeh hinten
und unten. Der oben die Crista ilei repräsentirende Abschnitt wird
dabei vorwärts, bei lateraler bläehenausdehnung mehr odei- minder
nach aussen gerichtet, der Acetabulartlieil nach hinten und abwärts,
daher behält das Os ischii seine in der forlgesetzten Längsaxe des Iliums
befindliche ursprüngliche Lagerung zum Ilium und nimmt zugleich eine
dem Isehium der Vögel ähnliche Stellung zur Wirbelsäule ein. Die Be-
dingungen für diese Stellung sind aber bei den Säugethieren in ganz
anderen Factoren zu suchen, als bei den Vögeln, denn bei den ersteren
eujpfängt das Os ischii durch die am Ilium erfolgte Lageverändeiung
seine Direction , während bei den Vögeln das Ilium hiebei ausser Be-
tracht konunt, und die ventralen Beckentheile anscheinend unabhängig
vom lliinn ihre Lagerung caudalwärts genommen haben.
Wir constaliren daher auch für das Becken der Vögel die bedeu-
tende Kluft, die es von Jenen der Säugethiere scheidet, indem wir bei
ersteren Einrichtungen sehen, die, von den bei Amphibien bestehenden
einfacheren Zuständen aus beginnend, bei» Reptilien einen (^inseitigen
Entw ickelungsgang einzuschlagen , der in bei-eils untergegangenen
Formen zu jener Beckenform das Vorbild liefert, welches auf die Vögel
sich vererbt hat und in weiterer Ausbildung die Complicationen des
Vogelbeckens bedingt.
Erklärung der Tafeln.
Tafel V.
l'ig. 1. Vontorc AnsiciU dos I3eckoiis von iJroniaeus Novae h ol laiul i ac. '/s^''"-
» » » » (lall US dorne st icus. % Gr.
» ■ » » » Tetrao urogallus. 2/3 q,-. ^Die seit-
lictien Tlieile sind weggelassen.)
.1 » » » Craxalector. -/s Gr.
» » » » G a llu s domesticus. Embryo. Vi ^''•
l'ig. VI. Mcdiaiio Ansicht des Beckens von Gallus domesticus.
I'ig. Vit'. Vordere Ansicht des Beckens von Co 1 um ba iivia dornest. (Die Sei-
tentheile sind weggelassen.)
Fig. VIII » » » » » Anas anser dorn, -^/a Gr.
\'\ii, IX. » » I. » » Anas spec. 2/3 Gr.
Fig. X. » » » X » Mergus serrator. '/i Gr.
Fig.
II.
Fig.
III,
Kig.
IV,
l-ig.
V.
220 Carl Geg^nbanr, Beiträge zur Keiiiitiiiss des Beckens der Vöia,el.
Tafel VI.
Fig. XI. Vordere Ansicht des Beckens von Phoenicopterus roseus, ^/^ Gr.
Fig. XII. » » » » » Ar dea cinerea. % Gr.
Fig. XIII. » M » » » Ardea Stella ris. 2/3 Gr.
Fig. XIV. » » » » » C icon ia alba, -/s Gr.
Fig. XV. » » o » » Larus ridibundus. 1/1 Gr.
Fig. XVI. » « » » » Grus cinerea. % Gr.
Fig. XVII. .) » » » » Otis tarda j UV. % Gr.
Fig. XVIII. » » » » »Otis tarda pullus. i/j Gr.
Fig. XIX. » .. » » » Fulica atra. 2/3 Gr.
Fig. XX. » » » » » Gallinula chloropus.
Fig. XXI. » » » » » Crex pratensis, '/i G'"-
Tafel Vn.
Fig. XXll. Vordere Ansicht des Beckens von Colymbus septentrionalis. V-'^r.
Fig. XXIll. " " " » »Garbo cormoranus. % Gr.
Fig. XXiV. » » » » » Oedicnenius cre pi tans. '^/iGr.
Fig. XXV. » » M » » Himantopus.
Fig. XXVI. » » » » » Sarcorhamph US. % Gr.
Fig. XXVII. » » » » » Buteo vulga ris. 1/1 Gr.
Fig. XXVIIl. » » .. .) » Strix aluco.
Fig. XXIX. » » » » u Buceros spec. '^/s Gr.
Fig. XXX. » » » » » Pica me la no 1 euea. ^/i Gv.
Fig. XXXI. Seitliche Ansicht dei' Sacralwirbelsäule von Ga 1! US doniesticus.
g Gelenkfacette für ein Capitulum costae.
g^ Gelenkfacette für ein Tuberculum costae.
> Querfortsatzschenkel,
(' ventrale)
Kür die Figg. aller drei Tafeln gleichbedeutend sind die Bezeichnungen:
a erster
, primitiver Sacralwirbel.
b zweiter)
<, 2, 3, 4, Praesacrale Wirbel.
^', r, 3', 4', . . . . Postsacrale Wirbel.
fia Fossa iliaca anterior.
/ip Fossa iliaca posterior.
ra Recessus iliacus anterior.
rp Recessus iliacus posterior.
eis Crista ischiosacralis.
spi Spina iliocaudalis.
ßs Foramen ischiadicum.
ip Spina iliaca.
Heber den dreibasisclieii Kssigsäiire-Aetlier.
Von
A. Geuther.
Der Valenzlehre nach niuss es 2 Essigsäuren geben, eine ein-
basische oder Monhydroxy-Kssigsüuse und eine dreibosische oder
Perhydroxy-Essigsäure :
H3 H3 CH« CII3
C2 0 und C^ OH oder CO und C OH
OH OH OH OH
OH OH
Die Erstere ist die gewöhnliche Essigsäure (Eisessig), während die
Letztere offenbar durch die Säure dargestellt wird, welche entsteht,
wenn man I Mgt. gewöhnlicher Essigsäure mit I Mgt. Wasser nnscht,
wobei das Maximum der Volumcontraclion eintritt. Da die letztere
Säure aber keinen constanten Siedepunkt besitzt, sondern durch die
Wärme in Wasser und Monhydroxy-Säure zerfällt, so hat man ihre
Existenz bis jetzt nicht behauptet und einige Salze, welche als Ab-
kümmlinge derselben aufgefasst werden können i), als basische Salze
der gewöhnlichen Essigsäure angesehen.
Da Essigsäure und Ameisensäure die zwei aufeinander folgenden
Glieder einer homologen Reihe sind und für die Ameisensäure ausser
dem Aether der einbasischen Säure auch der Aether der dreibasischen
Säure bekannt ist, so Hess sich wohl die Möglichkeit der Darstellung
des dreibasischen Essigsäureäthers annehmen, wenngleich manch-
mal das niedrigste Glied einer homologen Reihe ein von den übrigen
mehr abweichendes Verhallen zeigt, als es diese Letzteren unterein-
ander ihun.
4) Sielie mein »Leli iL uch d. Chemie, gegründet auf die Werlliigkeil der
Elemente«. Jena, Doebereiner 1870. p. 481, 482, 499, 500.
Bd. VI. 2. 16
222 A. Geuther,
Für diejenige Chlorverbindung , welche bei der Einwirkung von
Natriumalkoholat den dreibasischen Essigsäure-Aether liefern würde,
analog wie das Chloroform den dreibasischen Ameisensäure -Aether
liefert, sah ich das zweifach gechlorte Chlorüthyl an und ich habe mit
diesem die Umsetzung ausgeführt, obgleich Bassett^) sagt, dass die
chlorhaltigen Derivate des Chloräthyls und die verschiedenen Chlor-
kohlenstoffe durch Natriumalkoholat entweder überhaupt nicht, oder
nur sehr schwach angegriffen werden, mindestens unterhalb der Tem-
peratur, bei welcher das Natriumalkoholat für sich Zersetzung erleidet.
Alkoholfreies Natriumalkoholat wird in dem Rohr , in welchem es
dargestellt worden ist 2) , mit der berechneten Menge von zweifach-
gechlortem Chloräthyl (Siedepunkt 72 — 75<*) und einer dem Volum des
Natriumalkoholats mindestens gleichen Volummenge wasserfreien
Aethers zusammengebracht, das Rohr zugeschmolzen und während
etwa 12 Stunden auf 100 bis 120"^ erhitzt d. h. so lange bis das feste
Natriumalkoholat in pulvriges Chlornatrium verwandelt ist. Nach dem
Oeffnen des Rohrs in der Flamme, wobei ein mit grünem Saum bren-
nendes Gas entweicht, wird Wasser zugefügt und die ätherische und
wüssrige Schicht gelrennt. Die erstere wird noch einmal mit dem dop-
pelten Volum reinen Wassers geschüttelt, darauf mit Chlorcalcium ent-
wässert und der Aether, sammt etwa noch unzersetzt gebliebenem
zweifach gechlorten Chloräthyl und mit gebildetem gewöhnlichen Essig-
äther im Wasserbade abdestillirt. Der nun verbleibende flüssige Rück-
stand besteht hauptsächlich aus 2 Producten : einem bei etwa 1 22^
siedenden chlorhaltigem und einem bei etwa 142** siedenden chlor-
freiem Product.
1. Product: Monochlor-äthoxyl-Aethylen.
Das bei 122<^ Siedende wurde, ehe es durch wiederholte Destilla-
tionen gereinigt worden war, einer Analyse unterworfen.
0,2a45 Grm. lieferten 0,1510 Grm. Wasser und 0,3675 Grm. Koh-
lensäure, was 0,016778 Grm. =7,1 Proc. Wasserstoff und 0,10023
Grm. = 42,8 Proc. Kohlenstoff entspricht.
0,3235 Grm. gaben 0,3728 Grm. Chlorsilber, entsprechend
0,092226 Grm = 28,5 Proc. Chlor.
Die durch wiederholte Destillationen von noch beigemengt gewe-
i) Annal. d. Chera. u. Pharm. Bd. 132. p. 56.
2) Vergl. diese Zeitschrift Bd. IV. p. 241 u. 247.
üeber den dreibasischen Essigsäiire-Aether. 223
seneni höher Siedenden gereinigle, zwischen 122 und 123^ deslillirU«
Substanz gjil) fnlpondc annlylischo Rosullale :
0,210 Gnu. galu'u 0,:{;)()S Grui. KoliltMisiiuro und 0,'l;{'71> Grui.
Wasser, entsprechend 0,097309 Grm. -- 40, :^ Proc. Kohlonslofl" und
0,0ir):{22 Gru). = 7,3 Proc. Wa.sserslofT".
0,2254 Grui. iiofiMten 0,2K(i4 Grui. Ghlorsilber, entsprechend
0,070852 Grm. = ;i1,4 Proc. Chlor.
Daraus loitel sich für sie die Formel ; C"^ir2CI(0G^II') ab, wie die
folgende Zusanimeiislellung Z(Mgt :
ber.
gef.
C* = 45,1
46,3
IV =6,6
7,3
Gl = 33,3
31,4
0 = 15,0
—
100,0
Die Substanz war, wie man sieht, noch nicht ganz rein, es war
ihr noch ein wenig der höher siedenden Verbindung, welche chlorfrei
und kohlonstolf- und wasserstoir-roicher ist, beigemengt. Es geht dies
aus den Resultaten hervor, welche die noch niehr mit den höher und
niedriger siedenden Producten verunreinigte unrectificirte Substanz bei
der Analyse gab: 'i2,8 Proc. Kohlenstofl', 7,1 Proc. Wasserslotl" und
28,5 Proc. Chlor, und daiaus, dass bei der llectificalion dieser Letz-
teren eben solche entfernt wurden. Für ein Gemenge von 9'i,;{ Proc.
der reinen Verbindung und 5,7 Proc. der höher siedenden Verbin-
dung berechnen sich: 46,1 Proc. Kohlenstofl", 6,9 Proc. Wasserstofl"
und 31,4 Proc. Chloi-.
Diese Verbindung, von der Reinheit, wie sie analysirt worden
war (eine weitere Reinigung konnte des geringen noch voihandenen
Materials halber nicht wohl ausgeführt werden) , stellt eine farblose, in
Wasser unlösliche, brennbare Flüssigkeit dar von eigenthümlichem
angenehmem Geruch, deren spezifisches Gewicht bei 22" zu 1,02 gefun-
den wurde. Sie ist aufzufassen als M onochlor-äthoxyl-Aethy-
len, d. h. als Aethylen, worin 1 Mgt. Wasserstoff" durch Chlor und
1 Mgt Wasserstoff" durch Aethoxyl (=0C-H5) ersetzt ist, und zwar so,
dass die beiden substituirten Wasserstoffe zu dem nämlichen Kohlen-
CH"^
Stoff gehören : ^1 -^.,„p.^„ . Aus dem zweifach gechlorten Chloräthyl
entsteht sie nach folgender Gleichung:
CII'* fp CH2
^ CF + -^' ONa = C CKOCMl-, + ^^^ ''^ + ^'«'O'
46*
224 A. Geuther,
2. Product : Dreibasischer Essigsäure-Aether.
Eine vorläufige Analyse des zwischen i 350 und 1 50" Destillirenden
gab folgende Resultate :
0,1929 Grm. lieferten 0,3988 Grm. Kohlensäure und 0,1865 Grm.
Wasser, was 0,10876 Grm. =56,4 Proc. Kohlenstoff und 0,02072
Grm. = 10,7 Proc. Wasserstoff entspricht.
Die Substanz erwies sich noch chlorhaltig, denn beim Brennen
derselben zeigte die Flamme einen ganz schwach grünen Saum. Der
Chlorgehalt wurde nicht bestimmt, sondern zur weiteren Reinigung
durch wiederholte fractionirte Destillationen geschritten. Dabei konnte
noch eine kleinere Menge früher Siedendes, welches stärker chlorhaltig
sich erwies, entfernt und so eine zwischen 141<^ und 143*^ destillirende
Flüssigkeit erhalten werden, welche mit blauer, wenig leuchtender
Flamme brannte , ohne eine Spur grünen Randsaum dabei zu zeigen.
Die Resultate, welche diese Substanz bei der Analyse ergab, sind die
folgenden :
0,3014 Grm. lieferten 0,637 Grm. Kohlensäure und 0,2938 Grm.
Wasser, entsprechend 0,173727 Grm. =57,6 Proc. Kohlenstoff und
0,033144 Grm. = 11,0 Proc. Wasserstoff.
Diese Resultate kommen der Formel des dreibasiscben Essigsäure-
Aethers C^H*^0>^ ziemlich nahe, wie die folgende Zusammenstellung
zeigt :
b e r. g e f.
G8 = 59,3 57,6
H's=11,1 11,0
03 =29,6 —
Die Abweichung im Kohlenstoff konnte nur von der Beimengung
wahrscheinlich des 1. Productes herrühren, welches in dem zuerst
analysirten, zwischen 135 und 150" Destillirenden, in noch grösserer
Menge vorhanden war und den Kohlenstoff und Wasserstoff dort noch
niedriger (56,4 Proc. und 10,7 Proc.) finden liess. Es wurde deshalb,
da des geringen vorhandenen Materials halber, von einer weiteren
Reinigung durch fractionirte Destillation Abstand genommen werden
musste, zu einer Chlorbestimmung geschritten, um aus ihr die Menge
des noch beigemengten Monochlor-äthoxyl-Aethylens zu erfahren.
Dieselbe gab folgendes Resultat:
0,2195 Grm. lieferten 0,0303 Grm. Chlorsilber, was 0,007496 Grm.
= 3,4 Proc. Chlor entspricht.
üeber den dreihasisclien Essigsänre-Acther. 225
Daraus berechnen sich 10,2 Proc. beigemengten Monochlor-
äthovyl-Aothylcn. Für ein Gonionge von S!t,S Proc. C^H'^^O-^ und
10.2 Proc. CUl'CIO berechnen sich:
57,8 Proc. C; 10,7 Proc. H und .3,4 Proc. Cl. ;
während gefunden wurden :
57,6 Proc. C; 1 1,0 Proc. H und 3,4 Proc. Cl.
Dass die analysirte Substanz wirklich ein so zusammengesetztes
Gemenge war ist dadurch ausser Zweifel gesetzt und die Existenz
des dreibasischen Essi gsaure-Aethe rs somit erwiesen.
Das analysirte, also aus nicht ganz reinem dreibasischen Essig-
säure-Aether bestehende Producl ist eine farblose , brennbare, eigen-
thUmlich und angenehm iitheiisch, aber nicht wie gewöhnlicher Essig-
ather riechende Flüssigkeit vom spez. Gew. 0,91 bei 22", welche sich
aus dem zweifach gechlortem Chloräthyl durch Natriumalkoholat nach
der folgenden Gleichung bildet:
ril* H^ CH-'
Als dieselbe mit einer grösseren Menge Wasser in ein Rohr ein-
geschlossen und einen Tag auf 120 — 130" erhitzt worden war, war
sie verschwunden. Die wässrige Lösung reagirte stark sauer, und
liess nach dem Sättigen mit Natriumcarbonat beim Destilliren Alkohol
übergehen , welcher, über Kalk rectificirt. an seinem Geruch , seinem
brennenden Geschmack , seiner Brennbarkeit und seinem Siedepunkt
erkannt werden konnte. Die zurückgebliebene Salzlösung wuide nach
dem Eindampfen zur Trockne mit absol. Alkohol ausgezogen und del
nach dem Abdeslilliren des Letzteren verbleibende Rückstand vorsich-
tig zu schmelzen versuc'^''- ^^ dabei Schwärzung eintrat (wahrschein-
lich bedingt durch das dem angewandten Maleiial beigemengte chlor-
haltige I. Producl) , so wurde die Schmelze nochmals mit abs. Alkohor
ausgezogen, und von der filtrirten Lösung der Alkohol abermals abde-
stillirt. Der nun verbleibende weisse Rückstand, dem noch eine kleine
Menge mit in Lösung gegangenes Natriumchlorid beigemengt war,
wurde zum grössten Theil bei 170" getrocknet, darauf vorsichtig ge-
schmolzen und dann geglüht.
0,0572 Grm. wurden beim Schmelzen zu 0.05702 Grm. und diese
hinterliessen nach dem Glühen 0,0379 Grm. Natriumcarbonat, entspr.
0.016447 Grm. = 28, S Proc. Natrium.
Darnach war dieses Salz also fast reines Natriuniacetat , welches
28.03 Proc. Natrium enthält. Mit dieser Thalsache stimmten auch die
übrigen Reactionen , welche das Salz zeigte, als es mit Alkohol und
Schwefelsäure sowie mil Eisenchlorid zusammen kam.
226 A. Geuther,
Sonach zersetzt sich also der dreibasische Essiysäureiither beim
Erhitzen mit Wasser auf 130" in Alkohol und Essigsäure nach
der Gleichung :
CH3 ™'
Der dreibasische Essigsäureillher ist metamer mit dem Diälhoxyl-
Aether G^II^*>0'', welchen Lieben') durch Behandeln des Dichloräthers
mit überschüssigem Natriun)alkoholat erhalten hat. Letzlerer, welcher
eine farblose, bei 168" siedende Flüssigkeit vom spez. Gew. 0,8924 bei
21" darstellt, ist anders conslituirt, als der dreibasische Essigsäure-
Aelher, es ist nämlich ;
dreib. Essigsäure-Aether. Diäthoxyl-Aether.
GH3 CH3
(ocnpj3 G H2
^ [^ (OC2H5)2j
Ausser den beiden im Vorhergehenden beschriebenen Producten
treten bei der Einwirkung von Natriumalkoholat auf zweifach gechlor-
tes Ghloräthyl noch auf Essigälher und Natriumacetat. Der Essigäther
findet sich in dem von den beiden schwerer Üüchtigen Producten im
Wasserf)ad abdestillirten Aether und kann durch Rectification dessel-
ben, gemischt mit unzersetzl gebliebenem zweifach gechlortem Ghlor-
äthyl, welches fast den gleichen Siedepunkt besitzt, erhalten werden.
Sein Geruch und Siedepunkt sowohl, als seine Zersetzbarkeit durch
wässrige Natriumhydroxydlösung lassen ihn leicht erkennen und von
dem beigemengten zweifach gechlortem Ghloräthyl entfernen. Das
Natriumacetat findet sich in der wässrigen Lösung, welche von der
ätherischen Schicht getrennt worden ist, es kann nach dem Einleiten
von überschüssiger Kohlensäure , Eindampfen zur Trockne und Aus-
ziehen mit warmem absol. Alkohol von beigemengtem Ghlornatrium
getrennt werden.
Diese beiden Producte sind entweder Umsetzungsproducte des
dreibasischen Essigsäureäthers für sich oder mit Natriumalkoholat, in-
dem sich zugleich gewöhnlicher Aether bildet :
H3
H3 H5
n2 P2 D -1— P2
(OG2H^)3-^ OG2H5 (^^'^'^
H3
H3 RS RS
(OG2H5)3"^'^ ONa~ ":,, "^ (OC2H5)
^ ' ONa ^ '
1) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 146. p. 196.
üeber den dreibasischen Essio;sruire-Aether. 227
oder aber sie bilden sich sofort an Stelle des dreibasischen Essigsäure-
iilhcrs. In beiden Fällen ninss die Auvsbeute an dieser letzleren Verbin-
dung dadurch hetleutend vermindert werden , was denn in der That
eintritt, denn man erhält verhältnissniässig nur wenig derselben.
Das eingangs erwähnte beim Oellnen der Röhren in der Flamme
ausströmende, mit grüngesäumter Flamme brennende« Gas vo^rdankt
seine Entstehung wahrscheinlich einfach gechlortem Chlorälhyl, wovon
dem angewandten Product noch etwas beigemengt war und das mit
Natriumalkoliolal das Gas C'-li'GI neben Clilornatiium und Alkohol
bildet.
Jena, Univ. -Laboratorium. Mai 1870.
Heber die Clilorsiihstitiitiousprodiicte des €liIorät%ls.
Von
A. Geuther.
Nach Regnault sind die Produele , welche durch Einwirkung von
Chlor ;iüf Chloiülhyl entstehen, gänzlich verschieden von dem Aethy-
lenchlorid und den aus diesem durch die Einwirkung von Chlor her-
vorgehenden l'roducten, bis auf das letzte SuÖstitutionsproduct, das
Bikohlenstoff-Hexachlorid oder Perchloräthan , welches das nämliche
ist. Bis heutigen Tags ') hat n)an an der Richtigkeit dieser Angaben in
ihrem vollen Umfange, an der thatsachlichen Metamerie aller Glieder
beider Reihen, mit alleiniger Ausnahme des Letzten, nicht gezweifelt
und die eine Ueilie der Produele als die Chlorsubstitulionsproducte des
Chloriithyls von der andern Reihe als den Chlorsubstitutionsproducten
des Aethylenchlorids unterschieden :
Sdp.
Chlorälhyl: C^Hä.Cl + 12«; Aethylen- Sdp.
Einf. gechl. CmJCI,Cl -{- 64°; chlorid: C^H^CP + 820,5
Zweif. gechl. CMl'Cl^, Cl + 75"; Einf. gechl. C2H<C1, CP -j-ilöo
Dreif. gechl. C2H-iCI', Gl + 102»; Zweif. gechl. C2H2C12, CP + ISÖ»
Vierf. gechl. C2HC1S Gl + I460; Dreif. gechl. C2HG12, GP +153o,5
Perchloräthan : C2 Cl\ Gl = G2 GH, GP.
Bei Gelegenheit der wiederholten Darstellung einer grösseren
Menge des zweifach gechlorten Chloräthyls aus Chloräthyl und Chlor
und nachheriger Rectification der Productc habe ich wohl die bei 58 —
64*^ und die bei 75*^ siedenden Substitutionsproducte , niemals aber ein
solches vom Siedepunkt 102" beobachten können. Da zu der jedes-
1) Vergl. Stadel , lieber die Substilutionspioducte der Haloidäther des Aethyls
etc. Tübingen 1869.
üeber die Chlorsubstitutionsproducte des fhlorSthyls. 229
maligen Reclificalion mehr als ein Pfund Flüssigkeit verwandt worden
war, so habe ich mir das Fehlen dieses Productes, zumal genügend viel
noch höher siedender Productc entstanden waren, nicht anders erklä-
renkönnen, als dass es überhaupt nicht existire untl deswegen Hrn.
Dr. Stapff veranlasst die Sache näher zu untersuchen. Die Resultate
dieser Untersuchung sind im F'olgenden mit enthalten.
Bei wieilerholter Darstellung grösserer Mengen der Chlorsubstitu-
tionsproducte des Chlorälhyls ') konnte auch Dr. Stapff niemals ein
Producl erhalten, welches einen l)ei 102" oder in der Nähe gelegenen
Siedepunkt gezeigt luitle, und auch ebensowenig ein Product vom
Siedepunkt 146". Dafür waren aber immer Producle vom Siedepunkt
115", vom Siedepunkt 1'5.')" und vom Siedepunkt 15:}" neben Perchlor-
äthan vorhanden und in diese Producte Hessen sich durch wiederholte
Rectificalion auch die anfänglich zwischen 100 und 110" und zwischen
140 und 150" überdestillirlen Mengen völlig zerlegen. Daraus folgt,
dass bei der Einwirkung von Chlor auf Chloräthyl Sul>slitutionspro-
ducte von der Zusammensetzung C^H^CH und C'^HCI^ welchen der
Siedepunkt 102" und 146" zukommt nicht gebildet werden, dass an
deren Stelle vielmehr die gleich zusammengesetzten Substitutionspro-
ducte des Aethylenchorids vom Siedepunkt 135" und 153",5 auftreten.
Dass auch ein bei 115" siedendes und mit dem einfach gechlorten
Aethylenchlorid identisches Product zugleich mit entstand, ist beson-
ders merkwürdig und wird von seiner Entstehung später noch wie-
der die Rede sein, vorläufig mag die Mittheilung der analytischen
Resultate, welche seine Zusammensetzung zeigen, genügen.
0,4075 Grm. des bei 115",6 corr. siedenden Productes gaben
0,2650 Grm. Kohlensäure und 0,0900 Grm. Wasser, entspr. 0,07227
Grm. = 17,7 Proc. Kohlenstoff und 0,0100 Grm. = 2,5 Grm. Was-
serstoff.
0,8485 Grm. derselben Substanz lieferten 1,1297 Grm, Chlorsilber
entspr. 0,27944 Grm. = 80,2 Proc. Chlor.
ber.
gef.
C2 = 18,0
17,7
H« = 2,2
2,5
Cia = 79,8
80,2
100,0
1) Das Chlorällnl wurde erhalten durch langsames Erhitzen im Was.sfi bade
von Alkohol, in welchen vorher Salzsäuregas geleitet worden war, Waschen des
Gases durch viel Wasser von etwa 200 und Trocknen desselben durch Chlorcaicium.
Die meiste Ausbeule giebt ein mit 2 Th. Wasser verdünnter und mit Salzsäuregas
nahezu gesättigter gewöhnlicher Alkohol.
230 A. Genther,
Es war nun zu untersuchen, ob die fnii^lichen Producle , da sie
bei der Einwirkung von Chlor auf Chloräthyl nicht entstanden waren,
vielleicht bei der Einwirkung von Chlor auf einfach- oder zweifach
gechlortes Chloräthyl entstehen würden. Zu dem Zweck wurde das von
62^ bis 72*' Destillirende, also ein Gemisch von einfach- und zweifach
gechlortem Chloräthyl , der Einwirkung von Chlor ausgesetzt in der
Art, dass zu der in einem Kölbchen befindlichen Substanz welches mit
einem umgekehrten Kühler verbunden war, nicht überschüssiges trock-
nes Chlor geleitet wurde, während das Kölbchen entweder im Sonnen-
schein stand, oder sich im Schatten befand und dann bis zum gelinden
Sieden des Inhalts erwärmt wurdet). Nach vollendeter Einwirkung
und schliesslichem Erhitzen der Flüssigkeit bis alles Salzsäuregas aus-
getrieben war, wurde das Pi'oduct der fractionirten Destillation unter-
worfen. Das im Sonnenschein behandelte unterschied sich von dem im
Schatten und der Wärme behandelten nur durch einen grösseren Ge-
halt an über I37<* Siedendem und an Chlorkohlenstofl", im Uebrigen
war das Resultat dasselbe: Unter 72** destillirte nichts mehr, darauf
eine kleine Menge von 72 — 75'^, also zweifach gechlortes Chloräthyl,
darnach ebenfalls eine kleine Menge bei 115**, also einfach gechlortes
Äethylenchlorid und eine grössere Menge von 133 — 136", also zweifach
gechlortes Äethylenchlorid. Das höher Siedende wurde seiner geringen
Menge halber nicht weiter rectificirt. Ein Product, welches bei 102"
constanl gesiedet hätte, war also auf diese Weise auch nicht zu erhal-
ten gewesen.
Es blieb nun noch die Möglichkeit, dass ein solches Product viel-
leicht bei der Einwirkung von Chlor auf zweifach gechlortes Chloräthyl
allein, dessen nächstes Substitutionsproduct es ja sein sollte, entstehen
würde. Es wurde deshalb in gleicher Weise, wie vorhin erwähnt,
Chlor auf zweifach gechlortes Chloräthyl , welches zwischen 72" und
76" überdestillirte, wirken gelassen und das von Chlorwasserstoff be-
freite Product fractionirt. Das Resultat war, dass, ausser einer geringen
Menge von bei 1 1 5" siedender Flüssigkeit fast nur eine solche erhalten
wurde, welche zwischen 133" und 135" überging, und ausserdem etwas
Perchloräthan, dass aber ein Product vom Siedepunkt 102" nicht be-
obachtet werden konnte.
Aus diesen Versuchen folgt also mit Sicherheit , dass bei der Ein-
1) Zur Erzeugung der nächsten Substitutionsproducte ist Schatten und
Erwärmung der Einwirkung des directen Sonnenlichtes in der Kälte vorzuziehen,
da bei Anwendung des Letzteren ein grosser Tlieil in die letzten Substitutionspro-
ducte sogleich verwandelt wird.
üeber die ClilorsubsHdiJioiisprodiicte des riiloriitliyls. 231
Wirkung von Chlor ;mf (^liloriilhyl , aiil oinfoch gechlortos Chloräthyl
und auf zweifach gechlortes Chloriithyl ein mildern zweifach gechlorten
Aclhylenchlorid nietanieror Körper nicht entsteht, sondern dass
das dabei gebildete Substitulionsproduct von der Zusainniensetzung
C-ll'^Cl' mit dem zweifach gechlorten Ac th y lench lor itl
identisch ist. Es bedarf darnach keiner weiteren Auseinander-
setzung, dass ein mit dem dreifach gechlorten Aethylenchlorid meta-
nieres vierfach gechlortes Aethylchlorid ebensowenig exislirt, als es
sich unter den Substilutionspmducten des Chlorälhyls hat auflinden
lassen, sondern, dass es itlen tisch ist mit dem ilarin entliallenen
dreifach gechlorten Aethylenchlorid.
Was nun zunächst die Knlstehnng dos in allen vorerwähnten Pro-
ducten, wenn auch nur in geringer Menge, enthalliMien einfach gechlorten
Aelhylenchlorids C"^H'*C1^ vom Siedepunkt I lo^ anlangt, so ist dieselbe
längere Zeit nicht aufzuklären gewesen und PIr. Stapfk nahm an, da er
unter den Substitutionsproducten des Chloräthyls kein Aethylenchlorid
zu finden vermochte, dass sich durch Einwirkung von Chlor auf einfach
gechlortes Chlorälhyl stets die 2 mctameren Producte. das zweifach
gechlorte Chloräthyl und das einfach gechlorte Acthylenchloi'id neben-
einander bilden möchten , das erstere aber stets in bei weitem über-
wiegender Menge. Zur Begründung oder Widerlegung dieser Ansicht
habe ich nochmals die zwischen 75^ und 100" dcslillirten Producte,
welche etwa vorhandenes Aethylenchlorid enthalten musslen einer
sorgfältigen und oft wiederholten fractionirten Destillation unterworfen
und dabei allerdings ein langsameres Steigen des Thermometers zwi-
schen 80*^ und 85" wahrgenommen, als es sonst der Fall gewesen sein
würde. Nach vielen Destillationen gelang es auch schliesslich eine
kleine Menge Flüssigkeit, welche innerhalb 81" und 84" überging zu
isolircn. Nach der von Hrn. Matthky damit ausgeführten Analyse weist
sich dasselbe zweifellos als ein mit noch etwas zweifach gechlortem
Aethylchlorid gemischtes Aethylenchlorid aus.
0,3262 Grm. gaben 0,28Ül Grm. Kohlen.säure und 0,0992 Grra.
Wasser, was 0,07803 Grm. = 23,9 Proc. Kohlcnstofl" und 0,01102
Grm. = 3,4 Proc. WasserslofT entspricht.
0,2746 Grm. lieferten 0,8119 Grm. Chlorsilbcr, entsprechend
0,2009 Grm. = 73,2 Proc. Chlor.
ber.
gef.
ber.
C2 = 24,2
23,9
18,0 = C2
H* = 4,1
3,4
2,2 = ir«
C12 = 7I,7
73,2
79,8 = CP
100,0
100,0
232 A. Geuther,
Wenn somit also nach der oben angegebenen Bereitungsweise
des Chloräthyls und seiner Substitutionsproducte neben diesen auch
Aethylenchlorid gebildet wird, so lässt sich das Vorhandensein des ein-
fach gechlorten Aethylenchlorids in dem ursprünglichen Substitutions-
product leicht einsehen; dass auch in der zwischen 62—72" und noch
mehr in der zwischen 72 — 75** destillirten Portion kleine Mengen von
Aethylenchlorid, dessen Siedepunkt (82», 5) ja diesen Temperaturen
naheliegt, enthalten sein können, ist ebenso begreiflich und somit das
Auftreten der kleinen Menge einfach gechlorten Aethylenchlorids ver-
ständlich , welche sich unter den Ghlorsubstitutionsproducten dieser
beiden Producte mit eingefunden hat. Eine andere Frage ist, woher
denn das Aethylenchlorid überhaupt stammt. Dass es bei der Einvsir-
kung von Chlor auf Chloräthyl im Sonnenlicht neben einfach gechlortem
Chloräthyl milgebildet werde, scheint mir nicht wahrscheinlich, wahr-
scheinlich dagegen ist, dass es seine Entstehung Alkoholdampf ver-
dankt, welcher dem Chloräthylgas beigemengt war. Es finden bei der
Einwirkung von Chlor auf Alkohol wahrscheinlich folgende 3 Arten der
Einwirkung statt:
i ) Die Entstehung von Aldehyd unter Bildung von Salzsäure :
CH« CH3
C H2-f- =C0 H-2C1H
OH ^' H
2) Die Entstehung von Chloräthyl durch Einwirkung dieser Salz-
säure unter Bildung von Wasser:
CH3 CH:^
C H2 4- = C H2 + 0H2
OH Cl
3) Die Entstehung von Aethylenchlorid unter Bildung von Wasser:
CH' CH2C1
C H2 4-^^=C H2 -f-0H2.
OH ^^ Cl
Die im Vorhergehenden mitgetheilten Thatsachen lassen sich zu
einem Schluss auf die Constitution des Aethylens benutzen. Dem
Aethylen kann man bekanntlich folgende Formeln beilegen :
-CH2 -CH "CH3
C 2 ^^^ ^ IJ3 *^"ß'' C
Ueber die Chlorsubstitutionsproducte des Chlorüthyls. 233
wahrend die Constitution des Aethans (Aethylwasserstoff) nur durch
IV Q\\\
eine Formel, nämlich C ^ ausgedrückt werden kann. Seine Chlor-
substitutionsproducte haben die Formeln :
<. i. 3. 4. 5. 6.
cir' ciF' Gir' cir^ci ciici2 ccp
^ ir^cr ^ HCl'' ci' ' ci-» ' cp ' er« '
IV
IV Qll'l
Konnnt nun dem Aetiiylen die Formel: G ..,. zu, so sind die For-
mein des Aethyienchlorids und seiner Substitutionsproducte die Fol-
genden :
i. 3. 4. 5. 6.
CH2C1 GH2G1 GH2G1 GHCP CCP
H2C1' HC12 ' Cl^ ' Cl^ ' CP •
Wie man sieht, hört also hier mit dem 3. Gliede die Metamerie
derselben mit den Substitutionsproducten des Aethans auf und mit
dem 4. Gliede beginnt die Identität, was mit den Thatsachen über-
einstimmt.
II IV
IV Q^ II (^Y\:i
Kommt dem Aelhylen aber die Formel : G ,^„ oder G ,, zu,
so sind die Formeln seiner Substitutionsproducte die folgenden :
oder
d. h. entweder beginnt hier die Identität der Producte erst mit dem
.•■). Gliede oder schon iiiil dem i. Gliede, was beides mit den Thatsachen
nicht übereinstimmt.
IV
IV Q]]2
Also ist die Formel des Leuchtgases oder Aethylens : G .
2.
3.
4.
5.
6,
iV
'^ GHG12
^ H3 '
GHG12
^H2CI '
„ GHG12
^ HG12'
GHG|2
^C13 '
r CC13
^GP
2.
3.
4.
5.
6.
IV
- GH' .
HG|2 '
pCH3
^ Gl^ '
GH2G1
GHG12 .
^ Gl ' '
^G13 '
Zum Schlüsse mögen hier noch einige auf die Identität des einfach
gechlorten Chlorälhyrs und des Aldehydclilorids bezügliche Versuche,
welche Hr. Stapff angestellt hat, Platz Hnden.
234 A. Geutber, üeber die Chlorsubstitutionsproducte des Chlorathyls.
Regnault giebt den Siedepunkt des einfach gechlorten Ghloräthyls
zu 04** nn, während der des Aldehydchlorids bei öS",? liegt i). Beil-
stein'^) hat zuerst die Identität beider Verbindungen , gestützt auf die
Analyse eines zwischen 50" und 60** destillirlen einfach gechlorten
Chloräthyls, wobei er 23,9 Proc. statt '24,2 Proc. Kohlenstod' und 4,4
Proc. statt 4,0 Proc. Wasserstoff fand, und gestützt auf eine Anzahl
gleicher Reactionen wahrscheinlich gemacht. Später hat Tollens 3] den
Chlorgehalt eines bei 58 — 60" siedenden einfach gechlorten Chloräthyls
bestimmt und 72 Proc. statt 71,7 Proc. gefunden. Noch später hat
wieder Stadel ^j den Siedepunkt des einfach gechlorten Chloräthyls zu
62^ angegeben und ebenfalls 71,7 Proc. Chlor darin gefunden.
Die analytischen Resultate, welche Hr. Stapff mit einem zwischer^
57" und 59" destilhrtem einfach gechlorten Chloräthyl, von etwa bei-
gemengtem Chloräthyl durch längeres Kochen unter Anwendung eines
umgekehrten Kühlers, erhalten hat, sind die folgenden, welche bewei-
sen , dass einfach gechlortes Chloräthyl und Aldehydchlorid auch den
nämlichen Siedepunkt besitzen.
0,3188 Grm. gaben 0,2785 Grm. Kohlensäure und 0,1195 Grm.
Wasser, entspr. 0,075955 Grm. = 23,8 Proc. Kohlenstoff und 0,01328
Grm. =4,2 Proc. Wasserstoff.
0,2740 Grm. lieferten 0,7955 Grm. Ghlorsilber, entspr. 0,1908
Grm. =71,8 Proc. Chlor.
her. g e f.
C'2 = 24,24 23,8
H4 = 4,04 4,2
Cl'^= 71,72 71,8
100,00
Man kann darnach nun wohl mit Recht auch die Identität beidfer
Verbindungen für erwiesen erachten.
-1) Diese Zeitschrift Bd. I. p. 277.
2) Annal. d. Cham. u. Piiarm. Bd. 1-13. p. ilO.
3) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 137. p. 312.
4) In d. oben angef. Schrift, p. 11.
Jena, Univ. -Laboratorium. Mai 1870.
lieber Scinvefelsäiirecliloridc.
Von
Dr. A. Michaelis.
1. Pyroschwefelsäurechlorid.
Setzt man ein Gemenge gleicher Volumina Ghlorgas und schwef-
liger Siiure dem Sonnenlicht des Juni aus, so erhält man nach Rec.nault i)
eine fai'blose bei 77" siedende Flüssigkeit, die die Formel SOjCl^ hat,
also als das Sulphurylchorid zu betrachten ist. Ein Körper von gleicher
Zusammensetzung soll nach Williamson ^) durch Einwirkung von Phos-
phorsuperchlorid auf Schwefelsiiureanhydrid oder auf Sulphurylhy-
droxylchlorid (S02(0I1)C1) erhalten werden; nach Odi.in« '^j soll sich
derselbe auch durch Einwirkung von Phosphoroxychlorid auf Bleisulfat
bilden. Ich werde nun im Folgenden zeigen, dass diese drei letzten
Angaben vollkommen falsch sind.
Phosphorsuperchlorid wirkt auf reinen, durch nochmalige Destilla-
tion völlig von Hydrat befreiten Schwefelsäureanhydrid, bei gewöhn-
licher Temperatur nur langsam ein, so dass man etwas im Wasserbade
erwärmen muss. Sobald man die Hälfte der nach der Gleichung
S0:5 H- PClj = SO2CI2 + PCI, 0
berechneten IVhMige Phosphorsuperchlorid zugesetzt hat, ist der Schwe-
felsäureanhydrid völlig verschwunden und bei weiterem Zusatz ent-
wickelt sich Chlor und schweflige Säure. Durch fractionirte Destillation
erhielt ich aus der entstandenen Flüssigkeit neben Phosphoroxychlorid
einen bei 1 43"C siedenden Körper, der also nicht Sulphur^ Ichlorid, sen-
il Gmelin, Handbuch der Chem. I. p. 777.
2) Ann. der Chem. u. Pharm. XCII. p. 243. Diese Angabe ist von Schiff, Ann.
der Chem. u. Pharm. ClI. p. 1U bestätigt.
3) OnLiNG, ilandb. der Chem., deutsch von Oppenheim I. p. 169. Hieraus auch
in mehrere neuere Lehrbücher übergegangen.
236 Dr. A. Michaelis,
dern Pyrosulphurylchlorid S2O5CI2 ist. Die Einwirkung verläuft dem-
nach nach der Gleichung
S.A + PCl5 = S.,05Cl2 + PCl3 0.
Dies Pyroschwefelsäurechlorid, dem als solchen die Formel
GI2
zukömmt, ist schon früher von Rose i) durch Einwirkung von Schwe-
felsäureanhydrid auf Chlorschwefel, und von Rosenstiehl 2) durch Ein-
wirkung desselben Körpers auf Chlornatrium dargestellt worden. Der
letztere Chemiker hielt die Verbindung für einfach gechlorte wasserfreie
Schwefelsäure S2O5CI, was damals bei den alten Atomgewichten mög-
lich war. Lieben verdoppelte die Formel, indem er die Verbindung als
II
(SO^)
Disulphurylchlorid „ v 0 auffasste. In der letzten Zeit ist das Py-
(SO^j
CI2
roschwefelsäurechlorid neben Phosgengas von Schützenberger^) durch
Einwirkung von Schwefelsäureanhydrid auf den Chlorkohlenstoff CCI4
erhalten worden, gemäss der Gleichung
S2 Oo H- CCI4 = S2 O5 CI2 + CCI2 0.
Dasselbe bildet eine farblose ölige Flüssigkeit, die bei \i6^C
(corrg) siedet und deren spec. Gew. bei 18öC = 1,819 ist^). Mit
Wasser zersetzt es sich langsam und ohne Geräusch zu Schwefel-
säure und Salzsäure, durch welches Verhalten es sich leicht, wie wir
weiter unten sehen werden, von dem Sulphurylhydroxylchlorid unter-
scheiden lässt. Mit Phosphorsuperchlorid zusammengebracht könnte
unter Bildung von Phosphoroxychlorid das Sulphurylchlorid SO2CI2
entstehen, denn es ist :
S2O5CI2 + PCI5 = 2SO2CI2 -h PCI3O.
Dies ist jedoch nicht der Fall , sondern es treten nur die Zer-
setzungsproducle von SO2CI2 nämlich Chlor und schweflige Säure
i) Gmelin, Handb. d. Chem. I. p. 778. 2) Jahiesber. 14. p. 120.
3) Rep. chim. pure IV. 90. 4) Zeitschrift f. Chem. 1869. p. 631.
5) Diese Zahlen stimmen mit den von H. Rose angegebenen nahe überein.
Dieser fand spec. Gew. = 1,818, Siedep. 1450, während Rosenstiehl spec. Gew.
= 1,762 Siedep. zwischen 145 und 150"^ angiebt. Letzterer giebt auch an, seine
Verbindung habe sich mit Wasser heftig zersetz! ; wahrscheinlich war sie deshalb
ein Gemenge von Pyroschwefelsäurechlorid und Sulphurylhydroxylchlorid.
lieber Schwefelsäurechlorid. 237
auf, welche sich leichl durch Geruch und Farbe nachweisen lassen.
Der wirkliche Verlauf der Reaclion wird also durch die Gleichung
S-2 0,Cl2 + PCij = 280-2 + CU -f- FGI,0
ausgedrückt. Wendet man bei der Einwirkung von Phosphorsuper-
chlorid auf Schwefelsiuneanhydrid soviel des ersteren Körpers an, wie
WiLLiAMSON angiebt, so erhält man nur Phosphoroxychlorid, Chlor und
schweflige Säure.
Ebenso wenig lässl sich das Sulphurylchloiid durch Flin\\irkung
von Phospliorsuperchlorid auf Sulphurylhydroxylchlorid darstellen.
Dieses verhält sieh viehnehr genau so wie 8-2 0,; + H2CI2 und giebt
demnach bei Anwendung der von Williamson angegebenen Menge
Phosphorsuperchlorid nur Chlor, schweflige Säure, Salzsäure und
Phosphorox>(clilorid; ninunt man jedoch nur die Hälfte Superchlorid,
so bildet sich Pyroschwefelsäurechlorid nach der Gleichung:
SoO.H.Cl. + PCI5 = 82O5CI2 + H2CI2 + PCI3O.
Demnach sind beide Angaben Williamson's über die Bildung von
Sulphurylchlorid , sammt der Bestätigung der einen durch Schiff,
unrichtig.
Schliesslich gebe ich noch eine dritte Bildungsweise des Pyro-
schwefelsäurechlorids an. Erhitzt man nämlich 3 Aeq. Schwefelsäure-
anhydrid mit 2 Aeq Phosphoroxychlorid im zugeschmolzenen Rohr
längere Zeit auf 160*^, so entsteht Pyrosäureschwefelchlorid und Phos-
phorsäureanhydrid nach der Gleichung :
■ 382 0« H- 2PCI,0 = 3S2O5GI2 4- P2O5.
Die Angabe Odlings , dass bei der Einwirkung von Phosphoroxy-
chlorid auf Bleisulfat Sulphurylchlorid entstehen sollj ist mir unbe-
greiflich, da auch, wenn beide Substanzen in einer Retorte anhaltend
zusammen erhitzt werden, keine Spur von Einwirkung zu bemerken ist.
Das Sulphurylchlorid SO2CI2 ist also aus dem Schwefel-
säureanhydrid auf keine Weise zu erhalten, letzterer ver-
hält sich vielmehr wie 82 Oß.
2. Sulphurylhydroxylchlorid.
Lässl man Phosphorsuperchlorid auf Schwefelsäurehydrat einwir-
ken , in dem Verhältniss wie sich dies aus der von Williamson ^) auf-
gestellten Gleichung
SU4 H2 + PCI5 = SO;, HCl -f- HCl -h PCI3O
berechne! , und unterwirft den höher siedenden Theil der erhaltenen
1) Ann. d. Chcm. u. Pharm. XCII. p. 242.
Bd. VL 2. 47
238 Dr. A. Michaelis, Ueber Schwefelsäurechlorid.
Flüssigkeit der fractionirten Destillation , so erhält man zwei Producte,
von denen das eine bei 148^, das andere bei 1550 siedet. Nur dies
letztere ist reines Sulphurylhydroxylchlorid , während das erstere aus
Pyroschwefelsäurechlorid besteht, welches sich durch Einwirkung von
dein Phosphorsuperchlorid auf das Hydroxylchlorid gebildet hat. Beide
Körper lassen sich sehr leicht durch ihre Reaction gegen Wasser von
einander unterscheiden. Während nämlich, wie schon oben angegeben,
das Pyroschwefelsäurechlorid sich ohne Geräusch mit Wasser zersetzt,
verursacht jeder Tropfen des Hydroxylchlorids , welcher in kaltes
Wasser fällt, ein explosionsartiges Geräusch, dem vergleichbar,
welches Schwefelsäureanhydrid erzeugt, indem es sich dabei sofort
als Salzsäure und Schwefelsäure auflöst. Ein Gemisch beider Chloride
zeigt immer noch starkes Zischen, wenngleich nicht so heftiges wie die
reine Verbindung.
Reines Sulphurylhydroxylchlorid erhält man nur bei Anwendung
von 8 Aeq. Schwefelsäure auf I Aeq. Phosphorsuperchlorid, wobei letz-
teres in Melaphosphorsäure übergeht.
3SO4 H2 + PCI5 = 2HCI 4- PO3H + 3SO3HCI,
wie schon von Williams i) angegeben ist, oder durch Erhitzen von
Phosphoroxychlorid und Schwefelsäure, wobei ebenfalls Metaphosphor-
säure entsteht, nach der Gleichung:
S04n2 + 2P0C1:, = SO3HCI -h 2PO3II -h HCl.
Lelzeres ist eine sehr bequeme Darslellungsmelhode dieses Chlorids.
Das Sulphurylhydroxylchlorid ist eine farblose Flüssigkeit, die bei
15804 C (corrg) siedet; ihr spec. Gew. ist bei 180C = 1,776. Gegen
Wasser zeigt sie das oben angegebene charakteristische Verhalten.
Eine weitere bequeme Darstellungsweise des Sulphurylhydroxyj-
chlorids ist die durch Einwirkung von Phosphorchlorür auf Schwefel-
säure. Diese beiden Körper wirken bei gewöhnlicher Temperatur erst
bei längerm Stehen auf einander, sehr lebhaft dagegen beim Erwärmen.
Unter Entweichen von Strömen schwefliger Säure und Salzsäure bildet
sich Phosphorsäureanhydrid und die Verbindung nach der Gleichung
3SO4 H2 + 2PCI3 = 2SO2 + SO:i HCl + 5HC1 H- P2 O5.
Diese Reaction ist dadurch merkwürdig, dass der im Phosphor-
chlorür dreiwerthig erscheinende Phosphor hier in fünfwerthigen
übergeht.
1) Zeitschr. f. Chem. u. Pharm. 1869. p. 665.
HelM^r die lüiinirkiiii«; von Phosphorchlorür auf Anhydride
und Chloride.
Von
Dr. A. Michaelis.
Erste Mittheilung.
In einer frülieren Arbeit ') hnbe ich nachgewiesen, dass das Phos-
phorchlorür geliundenen Sauerstoff unter Bildung von Phosphoroxy-
chiorid wegzunehmen vermag, dass dasselbe also zu den reducirenden
Mitteln gehört. Es war nun interessant zu untersuchen, wie weit diese
reducirende Eigenschaft geht, ob das PhosphorchlorUr auch im Stande
ist verhaltnissmässig fest gebundenen Sauerstoff seinen Verbindungen
zu entreissen. Im Allgemeinen habe ich gefunden, dass das Phosphor-
chlorUr bei gewölndicher Ten)peratur keine sehr starke Affinitiit zum
Sauerstoff zeigt, dass aber die Affinität mit wachsender Temperatur
sehr rasch zunimmt und es dann im Stande ist sehr feste Verbindungen
zu zerstören. Die von mir bis jetzt angestellten Versuche sind folgende:
1. Phosphorehlorür und Thionylchlorür.
1 Aeq. Thionylchorür SOCI.2 wurde mit 3 Aeq. Phosphorehlo-
rür im Oelbad im zugeschmolzenen Rohr 24 Stunden lang auf 160"
erhitzt. Beim Erkalten schied sich ein fester weisser Körper aus, der
sich durch sein Verhalten beim Erhitzen und gegen Oxalsäure als Phos-
phorsuperchloiid erwies. Die von ihm abgegossene Flüssigkeit konnte
durch fractionirte Destillation in Phosphoroxychlorid und Phosphorsul-
phochlorid zerlegt werden. Letzteres wurde ausser durch seinen Siede-
punkt (124") auch durch Zersetzen eines Theils der Flüssigkeit durch
«
4) Diese Zeitschrift Bd. VI. p. 93.
17*
240 ^^' A« Michaelis,
Natronlauge und Hinzufügen von Bleiacetat durch das entstehende
Schwefelblei nachgewiesen i).
Die Zersetzung war also nach der Gleichung
3PCI3 + SOCI2 = PCI5 4- POCI3 -f- PSCI3
verlaufen. Sie geht der grossen Beständigkeit des Thionylchlorür wegen
nur langsam vor sich , ist aber vollständig. Nimmt man einen Ueber-
schuss von Thionylchlorür, so erhält man das Phosphorsuperchlorid in
sehr schönen völlig durchsichtigen Krystallen.
Die Resultate dieses Versuchs veranlassten mich auch d i e E i n -
Wirkung jvon Phosphorchlorür auf Chlorschwefel (SCI)
zu untersuchen. Der Letztere wird durch das Phosphorchlorür viel
schneller zersetzt als Thionylchlorür. Schon nach sechsstündigem Er-
hitzen auf 1600 ist die Reaction betMidet; unter Entfärbung der Flüs-
sigkeit scheidet sich Phosphorsuperchlorid aus, indem sich gleichzeitig
Phosphorsulphochlorid bildet
3PCI3 -h 2SC1 = 2PCI3S + PCI5.
Da sich diese beiden Körper durch Destillation leicht reinigen las-
sen, so kann man auf diese Weise bequem reines Phosphorsulphochlorid
darstellen.
2. Phosphorchlorür und Sehwefligsäureanhydrid.
Beide Körper vermischen sich bei gewöhnlicher Temperatur ohne
Wärmeentwicklung, auch als dieselben im verschlossenen Rohr bis auf
140^ erhitzt wurden, fand keine nennenswerthe Einwirkung statt.
3. Phosphorchlorür und Schwefelsäureanhydrid.
Jeder Tropfen Phosphorchlorür bewirkt, wenn er zu Schwefel-
säureanhydrid kommt, lebhaftes Zischen und starke Wärmeentwick-
lung, indem sich schweflige Säure entv\ickelt. Es wurde deshalb 1 Mgt.
Phosphorchlorür tropfenweise zu 1 Mgl. stark abgekühltem Schwefel-
säureanhydrid fliessen gelassen. Unter Entwicklung von viel schwefliger
Säure verflüssigte sich der Anhydrid vollständig und die erhaltene Flüs-
sigkeit erwies sich als fast reines Phosphoroxychlorid. Der Hergang ist:
1^ Bei dieser Gelegenheit will ifli noch einen früher angestellten Versuch an-
geben. Giessl man zu Selenylchlorür Tliionylchloriir, so entstellt unter Entwick-
lung von schwefliger Säure Selentetrachlorid
Se OCii + SOCI2 = SO.) + SeCl«.
So erklärt sich die Angabe Rose's, dass Selentetraclilorid sich unverändert in sdhwef-
iger Säure sublimiren lässt.
üc^cr die Eiiiwirkiini; von Pliosiilinrrliinnir rtiif Anliydride und fhlorido. 21 1
SO, 4- I'Cl;, = SO2 4- PCI3O.
Diese ReJictioii liisst sich am leichlesUui zur diieclen Unjwandlung
des Phosphorchloi ilrs in Phosphoroxychlorid honutzcn ; sie verUiufl fast
ganz glatt, denn iO Grni. ChlorUr lieferten 43 Grm. Oxychlorid.
4. Phosphorchlorür und Arsenigsäureanhydrid.
Arsenigsäuroanliydrid wird schon Itei 110" vom Phosphnrchlortlr
angegriffen, wobei er sich durch ausgeschiedenes Arsen braun färbt.
Zuletzt wurde bis 130" erhitzt, um sicher zu sein, dass die Reaction
beendet sei. Die Flüssigkeit hatte sich sehr vermindert und erwies sich
als bei 132" siedendes Arsenchlorür. Die ausgeschiedenen festen Körper
waren Arsen und Phosphorsäureanhydrid. Die Einwirkung war also
hier nach der Gleichung
öAs^O;, 4- 6PCI3 = 4As -I- 3P2O5 4- 6ASCI3
vor sich gegangen.
Es hätte sich zuerst Phosphoroxychlorid bilden und dieses sich
dann mit dem Arsenigsäureanhydrid im Arsenchlorür und Phosphor-
säureanhydrid umsetzen können
As2 O3 -{- 3PCI3 = 2As 4- 8PGI3 0
AS2O3 + 2PCI3O = 2AsCI;, -f P2O5,
allein dies scheint doch nicht der Fall zu sein, sondern der Phosphor-
säureanhydrid sich unmittelbar zu bilden , da PhosphoroxNchlorid und
Arsenigsäureanhydrid selbst bis 160" erhitzt, keine Einwirkung auf
einander zeigten.
Auf Arsensäureanhydrid wirkt das Phosphorchlorür selbst beim
Erhitzen damit bis auf 200" merkwürdiger Weise gar nicht ein.
lieber die Qiiaiitivaleiiz des Phosphors und über die Eiiiwirkiing
von Phosphorchlorür und Brom auf Beuzo«Stänre.
Von
A. Geuther und A. Michaelis.
Die im Vorhergehenden mitgethcilten Thatsachen über die Leich-
tigkeit, mit welcher das Phosphortrichlorid Sauerstoff von Verbindungen
wegnimmt und sich dadurch in Phosphoroxychlorid verwandelt, schien
uns für die Frage nach der Werthigkeit des Phosphors von Wichtigkeit,
werden zu können. Bekanntlich ist man verschiedener Meinung über
die Valenz. Entweder kann man sie nämlich als absolutes Verbindungs-
vermögen eines Elementes auffassen , oder sie als den Substitutions-
werth oder die Aequivalentigkeit desselben in seinen verschiedenen
Verbindungen, definiren. Während die Werthigkeit, der letzteren An-
sicht zufolge, welche von den einen von uns ^) in der neuesten Zeit für
alle Verbindungen durchgeführt ist, eine wechselnde Grösse für ein
und dasselbe Element sein kann , muss sie nach der ersten Ansicht
nothvvendig eine constante Grösse sein , über deren wirklichen Werth
aber in Beziehung auf viele Elemente verschiedene Meinungen herr-
schen. So halten die Einen den Phosphor für trivalent, die Anderen ihn
dagegen für [)entavalent. Zu den Vertretern der erstcrcn Ansicht gehört
Wichelhaus , welcher in seiner Abhandlung » lieber die Verbindungen
des Phosphors « 2] behauptet, die Frage nach der Werthigkeit dieses
Elements experimentell entschieden zu haben und zwar zu Gunsten
der Trivalenz desselben, indem er die Frage nach der Valenz des Phos-
phors für eine Frage nach der Constitution des Phosphoroxychlorids,
Triäthylphosphinoxyds, so wie deren Analoge erklärt hat.
1) Geuther, Lehrbuch der Chemie, gegr. auf die Werthigkeit der Elemente.
2) Ann. d. Chera. u. Pharm. Supplem. Bd. 6. p. 257.
lieber die (liiaiitivjvleiiz des Phosphors cic. 2 43
Diese Bohniiptung stützt sich hauptsächlich auf folgende zwei. Ver-
suche. Der erste besteht in der Thatsachc, dass durch Einwirkung von
Chlor auf Aethylphosphorigsäurechlorür Phosphoroxychiorid und Chior-
äthyl gebildet werden. Diesen Process fasst Wichelh.us auf als nach
der Gleichung :
p (r.ni=o) (,, _ p (CIO) ,„.j,|
verlaufend. Danach würde also im Aethoxyl das Aelhyl dircct durch
Chlor substituirt werden. Dies ist indessen sehr unwahrscheinlich und
zwar deshalb, da in allen Fällen, wo Chlor auf Ihdroxyl wirkt, es das-
selbe als Ganzes und nicht den Wasserstofl' desselben allein substituirt.
Viel wahrscheinlicher ist es daher, dass dem analog zunächst die ganze
Gruppe Aethoxyl durch ein Chlor ersetzt wird, so dass Phosphorchlorür
und Unlerchlorigsäureäther entstehen, dass Ersteres aber sofort, seiner
Neigung sich zu oxydiren folgend, den gebildeten Aether zu Cbloräthyl
reducirt. Danach würde der Process als nach folgenden zwei Phasen
verlaufend zu denken sein :
C12 ^
PC13 4- (CMl^OjCl = POCP -f cnpci
Demgemäss folgt also aus dieser Einwirkung durchaus nicht die
Formel PC|2(0CI) für das Phosphoroxychlorid.
Der zweite Versuch besieht in dem Folgenden, das wir wöi-liich inil-
theilen. »Lässt man Brom zu einem Gemenge von je 1 Mol. C'H«02 und
PCP tropfenweis zufliessen, so beginnt gleich eine heftige Reaction : es ent-
weichen rauchende Dämpfe, die Chlorwasser braun färben, also Brom-
wasserstoff sind, und es tritt allmählich Verflüssigung ein. Die nach dem
Zusatz von 1 iMol. Brom schwach gefärbte Masse lässt sich ohne Rück-
stand destilliren, enthält also nicht etwa Brombenzoesäure. Man erhält
neben Benzoyl Chlorid einen höher als Phosphoroxychlorid siedenden
Körper, der bei der Rectification den von MENSCHUTKl^ für Phosphor-
oxychlorbromür angegebenen Siedepunkt (135-137'') zeigt und die
entsprechende Zusammensetzung hat, wie aus der folgenden Analyse
hervorgeht >).« Die Analyse ergab 40,54 pC. Er. und 3(j,66 pC. Gl. Die
Formel POCPBr verlangt 40,4 pC. Br und 35,8:) pC. Cl. Der Phosphor
wurde ni cht beslinmit, desgleichen findet sich keine Angabe darüber,
dass das erhaltene Benzo\lchlorid auf seine Reinheit geprüft worden ist.
WiCHELHAis denkt sich nun, unter derAnnahme, dass das von ihm
analysirte, zwischen 135 und 137" destillirle Producl wirklich Phos-
1) a. a. 0. p. 277.
244 A. Geuther und Ä. Michaelis,
phoroxychlorbromid sei, die Reaclion nach den beiden Gleichungen
verlaufend
PC13ßr2 -I- C^H^O.OH = PCI' + C^H'-O.OBr + Brll
PC13 + G7H50.0Br = PC12(0Br) -}- G'H^O.Cl
Sonach ist die Conslilulion des Phosphoroxychloibromids durch
die Formel PCI2 (OBr) , die des Phosphoroxyehlorids durch die Formel
PCi2(0CI] ausgedrückt. Erstere Verbindung enthält also Bromoxyl (OBr) ,
letztere Chloroxyl (OCl).
Wäre die Constitution des Phosphoroxyehlorids wirklich die vor-
erwähnte, so würde es, wie auch Wichelhads schon bemerkt, mit dem
essigsauren Chlor von Sciiütze^berger zu vergleichen sein, in welchem
das Chloroxyl an Stelle von Hydroxyl wirklich enthalten ist. Ein Blick
auf die Eigenschaften beider Verbindungen zeigt indess schon, dass sie
durchaus nicht zu vergleichen sind: das essigsaure Chlor zersetzt sich
schon allmählich bei gewöhnlicher Temperatur und beim Erhitzen auf
100" unter Explosion, das Phosphoroxychlorid ist dagegen eine sehr
beständige Verbindung, welche sich auch in höheren Temperaturen aus
Phosphorchlorür und Sauerstoff bildet. Während ersteres die Unbe-
ständigkeit der verschiedenen Chlorsäuren besitzt, d. h. sehr lose ge-
bundenen Sauerstoff enthält, hat Letzteres eine diesen entgegensetzte
Beständigkeit und enthält den Sauerstoff sehr fest gebunden , so dass
es unter Reduction anderer Sauerstoffverbindungen entsteht und wohl
sein Chlor, nicht aber seinen Sauerstoff abgiebt.
Diese Ueberlegungen waren es, welche uns zur Anstellung der im
Folgenden mitgetheilten Versuche veranlassten. Wir sind im Laufe der
Untersuchung auch dazu geführt worden, den oben angeführten Versuch
zu wiederholen und sind dabei, das sei hier sogleich bemerkt, zu ganz
anderen Resultaten als Wichelhaus gelangt. Wir haben nämlich keine
Spur von Phosphoroxychlorbromid beobachten können , sondern neben
Benzoylchlorid nur Phosphoroxychlorid und Phosphoroxybro-
mid erhalten.
An Stelle der Benzoesäure im obigen Versuch haben wir zunächst
die äquivalente Menge Wasser auf PCl^ und Br2 einwirken lassen.
Würde die Reaction verlaufen wie Wichelhaus annimmt, so müssten
wir erhallen Bromwassersloff , Chlorwasserstoff und Phosphoroxychlor-
bromid :
PC13Br2 4- H.OH = PC|3 + H.OBr -f BrH
PCP -f H.OBr = PC12(0Br) -j- CIH.
Lässt man zu der kalt gewordenen Mischung von 1 Mgt. Phos-
phorchlorür und I Mgt. Wasser allmählich 2 Mgte. Brom fliessen . so
verschwindet die Farbe des Broms sofort unter Entwicklung von Brom-
IVbpr dip QiianfivalPiiz dos Pliospliors de 245
Wasserstoff und Chlorwasserstoff. Der Rückstand liefert naeh fractio-
nirter Destillation unter Hinterlassung von etwas Phosphorsäure bei
HO" siedendes Phosphorovychlorid, und einen krystallinisch erstarren-
den Körper, dessen Siedepunkt (105*') und Schmelzpunkt (46") mit dem
des Phosphorox ybromids übereinstinmit und der in der That
nichts anderes als diese Verbindung ist. Die Einwirkung verläuft also
nicht nach obigen Gleichungen, sondern geht in folgender Weise
vor sich :
^PCI'Br-i _j_ :iOH2 = 2?0CA^ + POBp' + 3C1H + ^^Brll.
Es ist dies oHenbnr durch die grosse Verwandtschaft des Chlors
7Aim Wasserstoff und die tles Phosphors zum Sauerstoff bedingt.
Die Leichtigkeit, mit der die Bildung von Phosphoroxybromid auf
diese Weise vorsieh gehl, ist besonders bemerkenswerth, denn man
braucht nur ein Gemenge von PCI ' und Br in einen feuchten Cylinder
7Ai giessen , um sofort die Wände desselben sich mit Krystallen von
Phosphoroxybromid überziehen zu sehen. Dieselben sind dann aber
nicht farblos, sondern durch das überschüssige Brom rolh gefärbt.
Auf diese Weise lässt sich leicht und schnell Phosphoroxybromid
in grösseren Mengen darstellen. Das gleichzeitig gebildete Phosphor-
oxychlorid kann man bequem durch Destillation entfernen, so dass man
nahezu die berechnete Menge Phosphoroxybromid erhält. Man kann
auch an Stelle der ;i Mgl. Wasser 1 Mgt. Perhydroxyloxalsäure [C2(0H)'']
anwenden , zur Darstellung grösserer Mengen des Phosphoroxibromids
mdess haben wir die Anwendung von Wasser zweckmässiger gefunden.
Nach diesen Versuchen schien es uns sehr wahrscheinlich , dass
auch die Einwirkung von Brom und Phosphorchlorür auf Benzoesäure
nach der Gleichung
3PCI'Br2 -f- ;?(C^H'' 0.011) = 2P0C1* + POBr^ + 3Cni-^0Cl -f- 3BrH
vor sich gehen, dass aber das Phosphoroxybromid von dem Benzoyl-
chlorid ihrer nahezu gleichen Siedepunkte halber (195** und 196") nur
schwer zu trennen sein würde. Wir haben den Versuch mit 40 Grm.
Benzoesäure, 45,2 Grm. Phosphorchlorür und 52,4 Grm. Brom ganz in
derselben Weise ausgeführt, wie es Wichelhaus angiebt. Die unter
Erwärmung und Entwicklung von Bromwasserstoff flüssig gewordene
Masse wurde alsdann der fractionirlen Destillation unterworfen und es
gelang bald den bis 1 90" siedenden Antheil in zw ei Producte von 1 1 0
— 115" und von 150 — 180" Sdp. zu zerlegen. Alles dawischen Sie-
dende verschwand bei wiederholter Destillation vollständig, so dass ein
Producl, welches zwischen 1 35 und 137" constanl gesiedet hätte, nicht
zu erhallen war Das zwischen 150 und I 90" Siedende, welches vor-
handenes Phosphoroxybromid enthalten nmsste, ^vurde in Eiswasser
246 A. Geuther und A. Michaelis,
gesetzt, ohne dass selbst nach längerer Zeit eine Krystallisation zu be-
merken war ; als aber in die so abgekühlte Flüssigkeit ein kleines Kry-
ställchen von Phosphoroxybromid gebracht wurde , erstarrte sie sofort
zum grössten Theil. Die davon abgegossene Flüssigkeit wurde von
Neuem rectificirt; sie Hess sich zerlegen in Phosphoroxychlorid in über
190*^ Siedendes und in ein Zwischenproduct, welches na9h dem Ab-
kühlen und Zufügen eines der vorher erhaltenen Krystalle wieder zum
theilweisen Krystallisiren gebracht werden konnte. Durch forlgesetzte
gleiche Behandlung und durch erneuertes Rectificiren des krystallisirten
Theils liess sich eine Partie des Letzteren fast rein erhallen. Neben-
hergehende Schmelzpunktbestimmungen dienten zur Controle. Der
Schmelzpunkt erhöhte sich bei fortgesetzter Reinigung stelig ; da das
Phosphoroxybromid aber in Phosphoroxychlorid sowohl als in Benzoyl-
chlorid sehr leicht löslich ist, so erniedrigen nur sehr geringe Mengen
von diesen Flüssigkeiten , wenn sie den Phosphoxybromid anhängen,
seinen Schmelzpunkt schon beträchlhch. Es zeigt das die krystallisirle
Substanz , welche zur Analyse verwandt wurde , und die schon bei
400,6 C. schmolz.
1) 0,4898 Grm. derselben gaben 0,9751 Grm. Ghlorsilber-j- Brom-
silber.
2) 0,5997 Grm. dieses Gemenges verloren beim Glühen im Chlor-
gas 0,1586 Grm. an Gewicht.
Daraus berechnen sich 82,63 pG. Brom und 1,18 pG. Chlor.
Ferner gaben
0,4761 Grm. Subsl. 0,1817 P^O^Mg^ entspr. 10,81 pC. Phosphor.
Die analysirten Krystalle waren also fast reines POBr^
b e r. g e f.
P = 10,80 10,81
Br= 83,62 82,63.
Die gefundene Menge Chlor 1,18 pC. rührte wohl von anhängen-
dem Benzoylchlorid her, welches auch den Schmelzpunkt erniedrigte.
Der grösste Theil von gebildetem Phosphoroxybromid ist vom Ben-
zoylchlorid auf oben angegebene Weise indess nicht zu trenneri. Von
seiner Anwesenheil in dem höchst siedenden (196^), wiederholt rectifi-
cirten Thcile kann man sich aber leicht überzeugen, wenn man den-
selben mit Wasser zersetzt. In der Lösung lässl sich dann eine ziemlich
beträchtliche Menge von Brom und Phosphorsäure nachweisen.
Die Analyse des von 1 1 0 — 1 1 5" siedenden Antheils führte zu fol-
genden Resultaten :
1) 0,4581 Grm. Subsl. gaben 1,2608 Grm. AgCl. entspr. 68,08pC.
Chlor.
Uebcrdie (liianlivalenz des Phosphors etc. 247
2) 0,5814 Grm. Subsl. gaben 0,4000 Grm. P^O^Mg^ entspr.
19,21 pC. Phosphor.
Mit der Formel des Phosphoroxychlorids verglichen
her. gei.
Gl = 69,5 68,08
P =20,1 19,21
zeigt sich allerdings keine ganz genaue Uebereinstimmung, indess
machen diese Rcsullale verglichen mit dem Siedepunkte und den
sonstigen Eigenschaflen der Substanz es zAveifellos , dass dieselbe aus
fast reinem Phosphoroxychlorid bestand.
Danach ist also die von Wichelhaus angegebene Art der Einwir-
kung von PCI'Br'^ auf Benzoesäure nicht richtig und das von ihm für
PC12(0Br) gehaltene bei 135 — 137" Destillirende ein Gemenge gewesen,
wohl hauptsächlich aus Phosphoroxychlorid und Phosphoroxybromid
bestehend.
Gang analog wie auf Benzoesäure wirkt PGl^Br^ auch auf Essig-
säure ein
3PG13Br2 -f 3C2n30. (OH) = C2H30.C1 + PBr^O -f- 2PC1=»0 + 3BrH.
Durch eine Nebenwirkung entsteht aber zugleich ein höher sie-
dender Körper , der das Chlorid einer gebromten Essigsäure zu sein
scheint. Dieser verhindert das Erstarren des Phosphoroxybromids
ebenfalls, so dass man auch, um es krystallisirt zu erhalten , genöthigt
ist, das höchst Siedende abzukühlen.
Hier. sei noch eines Versuches Erwähnung gethan, den wir ausge-
führt haben , um die Veränderung zu erfahren , welche das Benzoyl-
bromid durch Phosphoroxychlorid erleidet. Durch Einwirkung von
Brom auf Bitterinandelöl nach Wöhler dargestelltes Brombenzoyl löst
sich beim gelinden Erhitzen vollständig in Phosphoroxychlorid auf.
Beim stärkeren Erhitzen bräunt sich die Lösung und es destillirt bei
196 — 200" eine die Augen heftig reizende Flüssigkeil über, während
ziemlich viel Kohle im Deslillalionsgefäss zurückbleibt. Das Destillat
besteht grösslentheils aus Chlorbeiizoyl und Phosphoroxybromid, welch
letzteres sich auf die oben angegebene Weise theilweise isoliren liess.
Sieht man von dei' tiefer gehenden Zersetzung, welche die Ausschei-
dung der Kohle veranlasste, ab, so lässt sich die Einwirkung durch die
Gleichung ausdrücken
3C"H^0.Br -I- PCI'O = 3C"II^0.CI -f- PBr'O.
Da demnach Phosphoroxychlorid und BenzoylbromUr gar nicht
neben einander bestehen können, so muss, auch wenn man die Ein-
wirkung von PCI'Br2 auf Benzoesäure als eine Wirkung von Phos[)hor-
superchlorid und Phosphorsuperbromid auf dieselbe betrachten wollte,
248 A. Geiither und A. Michaelis, Ueber die Quantivalenz des Phosphors etc.
was man ganz gul kann (denn oPCl'Br'^ = 3PCI^ + 2PBr-^) , doch im
Endproducl das Brom nicht als Benzoylbromid, sondern als Phosphor-
oxybromid enthalten sein.
Diese Versuche , durch welche die auf eine falsche Voraussetzung
basirten Schlüsse von Wichelhals ihre Beweiskraft verlieren, sind eben
des ganz andern Resultates halber, zu welchem sie geführt haben, im
Verein mit der Entstehung des Phosphoroxychlorids aus Phosphorchlorür
und gebundenem Sauerstoff wohl als directe Beweise für die Penta-
valenz des Phosphors d. h. dafür anzusehen, dass die Maxivalenz
dieses Elementes gleich V ist.
Jena, Univ. -Laboratorium , Mai 1870.
Die Bestäubung der lilyuiuospermen.
Von
Dr. Eduard Strasburger.
Mit Tafel VIII.
Schon im Laufe des vorigen Jahres, als ich die Vorgänge der
Befruchtung bei den Coniferen untersuchte, mussle ich mir oft die
Frage aufwerfen, wie denn die Bestäubung dieser Pflanzen erfolge? —
In der Literatur war über diesen GegenstaRd kaum etwas mehr zu fin-
den, als dass der Wind es sei, der diese Bestäubung vermittele. Mir
schien die Sache nicht so einfach sich zu erledigen, denn wenn der
Blüthenstaub , durch den Wind gelragen, auch an die Samenknospen
gelangen kann, so bleibt es doch immer fraglich, wie er, selbst in
bedeutender Menge vorhanden, in die oft so enge Oeffnung der Samen-
knospe gerathen soll.
Bei Pinus war dies noch leichter a priori vorzustellen : hier dürften
die Schuppen den Pollen auffangen und ihn der Micropyle zuleiten; wie
aber sollte die Bestäubung erfolgen bei Taxus oder Salisburia mit ein-
zeln stehenden, geneigten Samenknospen und so enger Micropyle? Die
Vernmlhung, dass eine mechanische Einrichtung hier die Bestäubung
erleichtere , wurde so äusserst nahe gelegt und auch noch durch den
Umstand verstärkt, dass die Pollenkörner nicht etwa an den äusseren
Theilen der Micropyle hängen bleiben, um dort ihre Schläuche zu trei-
ben , sondern stets in das Innere der Samenknospe, bis auf den Knos-
penkern derselben gelangen. Andrerseits sind in allen analogen Fällen,
wo man, auf die grosse Menge der männlichen Rlemente sich stützend,
bisher den Zufall allein als ausreichend erachtete, um die Befruchtur;^
zu sichern, bestimmte Einrichtungen entdeckt worden, \\ eiche das Zu-
sammentreflen der njännlichen und der weiblichen Geschlechtsproducte
250 Dr. Ednard Strasburger,
erleichtern ^) : — so dürften solche auch bei Coniferen zu finden
sein und ich beschloss nach denselben im Laufe dieses Frühjahres zu
suchen.
Die erste Pflanze, welche ich zu beobachten Gelegenheit hatte, war
Taxus baccata^), Fig. I u. 2, und diese war sofort auch geeignet mich
über den fraglichen Vorgang aufzuklären. An einem schönen, sonnigen
Tage, wo die männlichen Blüthen in voller Reife, bei der leisesten Be-
wegung mächtig stäubten, sah ich fast an jeder Samenknospe des unter-
suchten Baumes einen kleinen Flüssigkeitstropfen an der Micropyle
glänzen. Die Rolle dieser Tropfen war nicht schwer zu erralhen : die
vorbeifliegenden Pollenkörner konnten in dieselben mit grösster Leich-
tigkeit gerathen, und bei näherer Untersuchung zeigte sich auch jeder
Tropfen dicht mit Pollenkörnern erfüllt. Allmählich verdunsteten die
Tropfen ; sie zogen sich in die Mycropyle wieder langsam zui*ück. Gegen
Abend war von den Tropfen meist nichts mehr zu erblicken. Die
Pollenkörner dagegen konnte man nun im Inneren der Samenknospe
wiederfinden ; sie waren bis auf den Nucleus gelangt, an dessen Spitze
das Gewebe sich zu der gleichen Zeit aufgelockert , ja zum Theil des-
organisirt hatte , so dass die Pollenkörner leicht ihre Schläuche in das-
selbe treiben konnten. Diese Beobachtungen an Taxus baccata konnte
ich mehrere Tage lang wiederholen und war es mir nicht mehr befrem-
dend , als ich dieselben Erscheinungen etwa einen Monat später mit
allen ihren Eigenlhümlichkeiten bei Salisburia adiantifolia ^) , Fig. 5,
6, 7, auftreten sah. Auch bei Salisburia wird zur Zeit der Bestäubung
an dem zierlich ausgebreiteten Micropyl- Rande der verschiedentlich
orientirten Samenknospen ein klarer Flüssigkeitstropfen ausgeschieden
(Fig. 6), in welchem ebenfalls die Pollenkürner aufgefangen und durch
dessen nachträgliche Verdunstung sie ins Innere der Samenknospe
eingeführt werden (Fig. 7). Das Gewebe an der Spitze des Knospen-
kernes hat sich zur Zeit der Bestäubung aufgelockert, ja theilweise auf-
gelöst, so dass ein tiefer Kanal entsteht, der fast bis in die Mitte des
Knospenkernes führt (Fig. 7). Tief in diese Höhlung gerathen nun die
1) Selbst bei höheren Cryptogamen. (Vergleiche meine Untersuchung über die
Befruchtung bei den Farrnkräulern : Jahrbücher für wissenschaftliche Botanik.
Bd. VII, p. 390. — Die Geschlechtsorgane und die Befruchtung bei Marchantia po-
lymorpha. Ebendaselbst p. 409.)
2) Vergl. Richard und Achille RicHARD filius, Commentatio bot.de Conifereis et
Cycadeis 1826. Taf. 2 und auch Sachs, Lehrbuch der Botanik. 2. Auflage, p. 421.
Fig. 318.
3) Vergl. die Abbildung bei Züccarini, Zur Morphologie der Coniferen, Taf. III,
Fig. 1. — Auch Sachs, Lehrbuch der Botanik. 2. Aufloge, p. 420. Fig. 317.
Die Bestäubung der Gyranosperraen. 25t
PoUenkÖrner und können ihre Schläuche leicht zwischen die aus dem
Vorbande getretenen Zellen treiben. Auch bei Salisburia währte der
Vori^nng mehrere Tage, und da das Welter in diesem Jahre gerade gün-
stig blieb, so konnte ich ungestört die Bildung der glänzenden, kleinen
Tropfen an den einzelnen Samenknospen verfolgen. Die Salisburia
wurde in diesem Jahre reichlich bestäubt und auch jetzt noch (10. Juli)
lässt sich fast in jeder Samenknospe die Anwesenheit der Pollenkörner
nachweisen. — Sobald tlic Bestäubung vorüber ist, verdicken sich die
Ränder des Integumentes um die Micropyle bedeutend , die Micropyle
wird auf diese Weise geschlossen und die beiden lippenarlig ausge-
breiteten Ränder derselben verdorren oder neigen nach innen zusam-
men. Auch die Spitze des Nucleus vertrocknet, schliesst über der
entstandenen Höhlung zusammen und bildet bei alteren Samenknospen
den gebräunten, schnabelförmigen Fortsatz, den man oben am Knos-
penkerne stets bemerken kann.
Die Resultate , die ich bei Taxineen erhalten hatte , bestimmten
mich meine Untersuchungen auch auf andere Gruppen der Coniferen
auszudehnen und auch dort Hessen sich bald eigenthümliche Einrich-
tungen finden , welche die Bestäubung erleichtern. Leider war dieses
Jahr für Coniferen äusserst ungünstig, und es gelang mir nur von eini-
gen Arten auch oft nur wenige Blüthen zu eriangen. Immerhin waren
diese und die vorhandenen fremden Zeichnungen schon ausreichend,
um einen Ueberblick über den Vorgang zu gestatten , wie ich ihn im
Folgenden zu schildern versuchen will.
Ich beginne mit Pinus Pumilio (Fig. 8, 9 und 10) und Pinus syl-
vestris'). Beide verhalten sich in jeder Beziehung gleich; die Zapfen
stehen (licht an der Spitze der jüngsten Triebe noch vor der Ent-
faltung dei" Doppeluadeln und sind in Folge dessen von allen Seiten
zugänglich (Fig. 9] . Sie stehen einzeln oder zu mehreren aufrecht
beisammen, sind von sehr geringer Grös.se, doch bei ihrer freien
Lage leicht zu erblicken , zur Blüthezeit schön bräunlich roth gefärbt,
an der Basis von lancettföi'migen Bracteen umgeben ; die Deckblätter
sind klein, die Fruchtblätter fleischig, breit, abgerundet (Fig. 8), in der
Mitte mit einem stark vorspringenden und verlängerten Kiel versehen,
an der Basis mit dem Deckblatte in einen kurzen Stiel vereinigt; Deck-
blätter und Schuppen schliessen im jungen Zapfen dicht an einander.
Im Augenblick wo die Antheren zu stäuben beginnen , sehen wir die
<) L. C. Richard und Achille Richard filius, Commentatio botanica de Coni-
fereis et Cycadeis, MDCCCXXVI, Taf. 14. - Auch Berü und Schmidt, Besciiieibuiiü
officiueller Gewächse. Taf. 28,
252 Dr« Eduard Strasburger,
Axe des jungen Zapfens sich auf ein Mal bedeutend strecken und in
Folge dieser Streckung rücken die einzelnen Schuppen sichtbar aus-
einander (Fig. 1 0) . Untersuchen wir um diese Zeit die Samenknospen,
welche, eine rechts und eine links, an der Basis jeder Schuppe sich
befinden (Fig. 8) , so sehen wir, dass der, der Axe zugekehrte Micropyl-
Rand einer jeden, in der Ebene der Schuppe zu zwei langen, dünnen,
seitlichen Fortsätzen ausgewachsen ist. Diese dünnen Fortsätze werden
aus farblosen, glashellen Zellen gebildet, die mit Flüssigkeit prall an-
gefüllt erscheinen und dieselbe zur Zeit der Bestäubung in grosser Masse
secerniren. Wenn nun Pollenkörner, welche der leiseste Luftzug in gros-
sen Staubwolken bewegt, auf den jungen Zapfen gerathen , so gleiten
sie an den aufgerichteten Schuppen zu beiden Seiten des Kieles hin-
unter und gelangen unmittelbar, i'echts oder links, zwischen die seitlieh
orientirten beiden Fortsätze der Samenknospe: hier bleiben sie in der
secernirten Feuchtigkeit zwischen denselben haften und werden all-
mählich in das Innere der Samenknospe eingesogen. Der Kiel der
Schuppe ist besonders geeignet durch seine Stellung den richtigen Weg
den Pollenkörnern zu induciren , so gelangen dieselben , an der trock-
nen und glatten Oberfläche gleitend, leicht zu den Samenknospen. Die
wenigen , welche das Ziel verfehlt haben sollten , fallen in die Gänge,
welche rechts und links um die Axe, in Folge der schmalen Insertion
der Schuppen verlaufen und kommen dann leicht tiefer liegenden
Samenknospen zu Gute. Die directe Leitung der Schuppen ist aber
jedenfalls so vollkommen , dass dieser Fall nur selten eintreten mag,
und die Canäle auch zu wenig ausgebildet, um eine leichte Bewegung
der Pollenkörner in ihrem Inneren zu gestatten. Die Deckblätter sind
kleiner als die Schuppen und liegen der Unterseite derselben dicht an,
so dass sie weder störend noch fördernd auf die Bestäubung wirken
können. Der Nucleus ist bei den genannten Pinus-Arten an seiner
Spitze zur Aufnahme der Pollenkörner wie bei Taxineen vorbereitet.
Die Zellen sind aufgelockert, werden theilweise aufgelöst, treten aus
dem Verbände, so dass eine bedeutende Einsenkung an der Spitze des
Knospenkernes entsteht, in der die Pollenkörner bald zu liegen kommen
und ihre Schläuche treiben. Kaum ist die Bestäubung vorüber, so neh-
men die Schuppen bedeutend an Dicke zu. Die Axe streckt sich nicht
in demselben Maasse und die Schuppen sehliessen bald aneinander.
Eine gleichzeitige Absonderung von Harz an den Rändern hilft zu ihrer
Verklebung. Die Bracteen bleiben stationär und auch der Kiel ent-
wickelt sich nicht weiter; er hat seine Aufgabe erfüllt und verdorrt
nun allmählig. Die rothe Farbe des jungen Zapfens geht in Braun,
endlich in Grün über , derselbe senkt sich langsam und nimmt zuletzt
Die Bestaiibiuig der Gymnospermen. 253
eine hiingende Lage an. — Eine Woche nach der Bestäubung fand
icli auch schon die beiden (Hinnen Fortsiitze am Inlegunienl gebriiunl
und theilweise verschrnnipfl. Die Pollenköiner, welche an denselben
hängen geblieben waren , ohne in das Innere dei' Samenknospe zu ge-
langen , hatten keine Pollenschläuche geliiel)en und waren el)enfalls
abgestorben. Die Micropjle blieb noch lange Zeit ollen und wurde
erst viel später durch starke Verdickung des Inlegumentrandes ge-
schlossen ' .
Bei Picea vulgaris-) (Fig. 1! u. -12) sind die Verhältnisse wesenl-
lich dieselben. Die jungen Zapfen werden hier aus den Endknospen
des jährigen Zweiges einzeln entwickelt; sie sind bedeutend grösser
als bei Pinus und ragen deshalb auch zwischen den entwickelten Na-
deln des Zweiges hervor, sie befinden sich zur Blüthezeit in fast auf-
rechter Stellung, die aber bald in eine geneigte übergeht. Die verkehrt
eiförujigen Schuppen sind nicht ganz aufgerichtet wie bei Pinus, son-
dern nur in ihrei' inneren Hälfte aufgerichtet, in ihrer äusseren Hälfte
dagegen fast horizontal abstehend. Ja in manchen Fällen etwas aus-
wärts umgebogen. Den Schuppen ;Fig. 11) mangelt der Kiel , doch
werden die Pollenkörner, wenn sie zwischen die senkrecht abstehen-
den , äusseren Theile der Schuppen gerathen sind , gut zw ischen der
vorspringenden Mitte und den beiden etwas einwärts gebogenen Rän-
dern der inneren empoi'gerichteten Hälfte derselben geleitet. Das
längliche, gewimperte Deckblatt ist bei der Fichte verhältnissmässig
noch kleiner als bei der Kiefer, eiförmig, länglich, der unteren Fläche
der Schuppe fest angedrückt und selbstverständlich ohne jede Rolle bei
der Bestäubung. Die Samenknospen verhalten sich wie bei der Kiefer;
sie sind ebenso gebaut und mit 2 langen, dünnen Fortsätzen (Fig. 1.1)
versehen. Die Pollenkörner gelangen zwischen dieselben und bald
auch in die tiefe Einsenkung am Scheitel des Knospenkernes (Fig 12).
Die ganzen Zäpfchen haben zur Blüthezeit eine schöne, rothe Farbe,
die bald in Braun und Grün übergeht. Die Bracteen verändern sich
nicht nach der Bestäubung, die Schuppen richten sich dagegen allmäh-
lich auf und legen sich fest aneinander, während der Zapfen gleichzeitig
in eine hängende Lage übergeht 3). Anders noch gestalten sich die
1 ) An Pinus pumilio und sylvestris schliessen sich auch Pinus pinaster, rigida etc.
an. (Vergl. Lambert, A description of Genus Pinus, London 4803. Taf. 4 u. 'IS).
Aehnlich in Allem, doch mit einwärts gericiitetem Kiel: Pinus resinosa. (Vergl.
Baillon, Ann. d. sc. nat. 4. Ser. Tom. 14, PI. 12, f. 23.
2) Richard 1. c. Taf. 15, sehr gute Bilder. Audi Bekc und Schmidt I. c. Taf. 31.
3) An Picea vulgaris schliessl sich auch, nach den Ahl)ildungeii von Parlatore,
Studii organogiafiei sui fiori e sui frutti delle Conifere, l'iienze 18C4, Taf. II, Fig. 14.
Bd. VI. 2. 18
254 Dr. Eduard Strasbnrger,
Verhältnisse bei der Lärche*) (Fig. 16 u. 17) und bei der Edeltanne 2)
(Fig. 13. 14. 15). Hier sehen wir das Verhältniss zwischen dem Deck-
blatt und der Schuppe sich umkehren. Das Deckblatt wird stark ent-
wickelt und bildet zur Blüthezeit die Hauptmasse des Zapfens (Fig. 1 6) :
ihm kommt nun auch die Leitung des Pollens zu, während die Schuppe
klein und unansehnlich , sich in dessen Axel birgt und auf die beiden
Samenknospen fast reducirt erscheint (Fig. 17). Die Deckblätter der
Lärche sind violett oder purpurroth gefärbt, eiförmig, oben ausgerun-
det, aufgerichtet und etwas nach Aussen umgebogen; in der Mittellinie
zeigt jedes die Andeutung eines Kieles, der sich eine Strecke weit frei
ausserhalb des Deckblattes fortsetzt. Die Seitenränder des Deckblattes
sind etwas einwärts gebogen , so dass zu beiden Seiten des Kieles je
eine Rinne entstehen muss , welche die Pollenkörner der Schuppe zu-
leitet. Die Kielspur erweitert sich an ihrer Basis und so gehen auch die
Wege der Pollenkörner hier nach rechts und links auseinander; sie wer-
den an die betreffenden Seitenränder der kleinen, fleischigen Schuppe
geführt und gleiten an den abgerundeten Rändern derselben weiter
hinunter (Fig. 1 7) . Dieser Einrichtung gemäss werden die Ränder des
Integumentes an der Samenknospe auch eigenthümlich entwickelt;, sie
wachsen nicht zu je zwei langen, rechts und links gestellten Fortsätzen
aus, wie sie uns bei Pinus-Arten , wo die Zuleitung der Pollenkörner
von oben erfolgt, so vortheilhaft erschienen, sondern zu einem einsei-
tigen , nach oben und nach innen orientirten, helmartig umgebogenen,
breiten Lappen (Fig. 17), in den die, an der Seite der Schuppe her-
abgleilenden Pollenkörner, mit zwingender Nothwendigkeit hineinfallen
müssen. Die Pollenkörner werden in das Innere der Samenknospe auf-
genommen. Der einseitige Fortsatz verdorrt sehr bald, rollt sich nach
innen zusammen und hilft so mit die Micropyle zu schliessen. Dies
Alles erfolgt hier, wo ja die Zapfen noch in demselben Jahre reifen,
äusserst rasch, und mag veranlasst haben, dass die Samenknospen der
Lärche fast stets mit stumpfer Spitze, ohne den erwähnten Integument-
Lappen abgebildet worden sind-^). Auch treten die Haare, welche man
< 5. 16. 17. 18. 19 zu urthfilen, Cedrus Libani an; auch Pinus strobus, alba, nigra
nach den Bildern von Lambert i. c. Taf. 22. 26. 27; auch Pinus canadonsis nacli
eigenen Zeichnungen und Lambert Taf. 32 u. Richard Taf. 17.
1) Richard 1. c. Taf. 13; Schacht, der Baum. Taf. IF, Fig. 23 u. 24. — Berg
und Schmidt Taf. 29. — Parlatore Taf. II, Fig. 20.
2) Schacht, der Baum Taf. I, Fig. 1. — Auch bei Sperk, Gymnospermie, M6m.
de I'Acad. Imp. d. sc. St. Petersb. VII. Serie, XIII. Bd. Taf. III, Fig. 67. — Auch
bei Berg und Schmidt Taf. 30.
3) So z. B. hei Parlatore 1. c. Taf. II, Fig. 22.
Die Bestünbiinq; der Gymnospermen. 255
gewöhnlich um die unleren Schuppen-Ränder zu zeichnen pflegl, (usl
nachlriiph'ch auf und spieU^n deshall) (hirchaus keine Uolle Ihm (Ut Be-
stäubung.
An Larix schliesst sich sehr nahe die Edeltanne (Fig. Ii;}) an').
Die Bracleen (Fig. 14) sind elicnso stark wie l)(>i Larix entwickelt und
mit (Mueni langen Kiel versehen, während die Schuppe klein und llei-
schig in der Axel des Deckblattes verborgen bleibt. Der Inlegumenl-
rand hat auch einen starkeinseitigen, helinartigen Lappen aufzuweisen,
der von dem bei Larix sich zunächst nur duich einen , oft schwachen,
mittleren Einschnitt unterscheidet. Die Pollenkürner gleiten, durch das
Deckblatt geleitet, längs der Ränder der Schuppen hinab und faihm auf
den breiten Lappen ; sie werden in das Innere eingesogen und kommen
in die Vertiefung am Scheitel des Knosj)enkernes zu liegen. Die lnt(f-
gumenlränder verdorren zunächst nicht nach der Bestäubung, rollen
sich auch nichr nach innen zusammen, sie verharren vielmehr lange
Zeit in unveränd(uter Gestalt und Lage; die Micropyle bleibt gcMjlFnet
(Fig. 15).
Sowohl die Tanne als auch die fJirche haben aufrechte Zapfen zur
BlUthezeit (Fig. I 3 u. 16). Bei der Lärche stehen sie auf seit(Misländi-
gen , kurzen , dicken Aestchen , bei der Edeltanne entspringen sie der
Oberfläche, dicht hinter der Spitze der Zweige ; bei beid(m bleil)en sie
aufrecht während ihrer ganzen Entwickelung ; die Schupi^en nehmen
nach der Bestäubung bedeutend an Grösse zu und Hlberholen l)ald die
stationär bleibenden Deckblätter, diese schauen später nur wenig zwi-
schen den Schuppen hervor, während die Letzteren sich fest aneinan-
der gelegt haben um den reifenden Samenknospen Schutz zu gewäh-
ren. — Diese wenigen Beispiele genügen, um uns ein Bild von der Art
und Weise zu entwerfen , wie die Bestäubung bei den Abielineen
erfolgt. Doch auch bei den Cupressineen lassen sich ähnliche Einrich-
tungen finden. Bekanntlich sind die Samenknospen in der Jugend stets
frei und werden erst nachträglich durch die anwachsenden Frucht-
blätter eingeschlossen. Bei .luniperus communis^) (auch rigida Fig. 19)
schauen zur Zeit der Bestäubung die 3 Samenknospen mit verlängertem
Halse zwischen den drei an der Basis verbundenen Fruchtblättern her-
vor und secerniren eine wässerige Flüssigkeit; ihre Micro})) Iränder
sind etwas ausgebreitet, zierlich eingeschnitten, weit geöffnet, so dass
1) Auch Pinus balsanica (Vcrgl. Richard I. c. Taf. i6 und LAMnERT I. c Taf. 31).
2) Richard 1. c. Taf. .5. — Ebenso Junipeius rigida. (Vorgi. SiKiini.D und Zuc-
f CARiM, Flora Japonica, Taf. la.")). Juniperu.s communis bei Sachs, I.ehrbucli, 2. Auf-
lage, p. 421, Fig. 349. — Auch bei Bekc und Schmidt I. c. Taf. 36.
18»
256 Dr. Eduard Strasburger,
die Pollenkörner in dieselben leicht geralhen können ; die Ausscheidung
der Flüssigkeit dagegen verhältnissmässig geringer als bei Taxineen;
die Spitze des Knospenkernes ist ähnlich wie bei Abietineen und Taxi-
neen ausgehöhlt und zur Aufnahme der Pollenkörner bereit. Nach der
Bestäubung verdorren sowohl Micropylrand wie Nucleusspitze ; der
Micropylrand schrumpft zusammen und hilft mit die Micropjle zu
schliessen. Bei Thuya orientalis (Fig. '20. 21. 22) und occidentalis ') ,
Juniperus sabina'^) (Fig. 23), Oxycedrus ^') , Widd rington ia ^j und an-
dern sind die Verhältnisse wesentlich dieselben. Die jungen Blüthen
sind aufrecht oder emporgerichtet, die Samenknospen ziemlich lief
zwischen den Fruchtblättern eingesenkt, doch stets mit ihrer Micropyle
zur Blüthezeit nach aussen schauend, so dass die Pollenkörner , welche
direct auf die Micropyle fallen oder derselben durch die Fruchtblätter
zugeführt werden (Fig. 20) , leicht in das Innere der Samenknospe ge-
rathen können (Fig. 22).
Ganz wie Thuya verhält sich Callitris quadrivalvis ^) , sehr ähnlich
auch Cupressus , während andererseits Dacridium ") , Phyllocladus ")
(Fig. 4), Torrea, Gephalotaxus ^) (Fig. 3], Saxo-Gothea und Podocar-
pus'-*j sich am nächsten an Taxus und Salisburia anschliessen.
Bei Cupressus sempervirens i") (Fig. 24 u. 23) wird der Zapfen von
einer grösseren Anzahl decussirter Fruchtblätter gebildet; an der Basis
eines jeden Fruchtblattes stehen die aufrechten Samenknospen zahlreich
neben einander (Fig. 25) . Die Fruchtschuppen sind emporgerichtet und
helfen nicht. wenig den Pollen zu leiten. Freilich ist hier keine Vorrich-
tung getroffen, welche den Pollen einer jeden Samenknospe speciell
zuleiten könnte, wohl kommt es hier aber auch nuraid' eine Massenwir-
kung an und diese wird dur(-h die Stellung der Schuppen schon völlig
erreicht (Fig. 24) . Die Pollenkörner gleiten auf der Innenfläche derselben
4) Richard 1. c. Taf. 7.
2) Berg und Schmidt 1. c. Taf. 27.
3) Parlatore 1. c. Taf. I, Fig. 1.
4) Sperk 1. c. Taf. V, Fig. 132.
n) Parlatore 1. c. Taf. I, Fig. 7 u. 8.
6) Dacridium cupressinum Richard i. c. Taf. 2. — Dacridium Araucaroides
und taxoides bei Brogniard und Arthur Gris. (Vergl. Flore de la nouvelle Caledonie,
nouv. Archiv, du Museum, Tom. IV, Tai'. 2 u. 3. Auch Dacridium Franciinii bei
Parlatore Taf. II, Fig. 10.
7) Phyllocladus rhomboidalis Richard 1. c. Taf. 3 und Phyllocladus trirhoma-
noides Parlatore Taf. II; Fig. 28.
8) Cephatolaxus P'ortunei Hook. Parlatore Taf. II, Fig. 33.
9) Richard 1. c. Taf. I. — Podocarpus Sellowii. Flora Brasil. Taf. 114.
10) Richard I. c. Taf. 9. — Parlatore 1. c. Taf. I, Fig. 3. 4. 5. 6.
Die Besfiiubiinj!; der Gymiiosperineii. 257
und fallen auf die Samenknospen. — So IkiIIcii (iitiCuprossineen izlcichsain
(ii(^ Mitte zwischen den Abietincen , wo der Pollen einer jeden Samen-
knospe im Besonderen zugeführt wird und den Taxineen , wo er ohne
alle Zuleitung, unmittelbar auf die Mierop\le gelangt. Auch alle ande-
ren Formen Messen sich mehr oder weniger diesen beiden extremen
Gruppen am'eihen. So schliessen sieh Cryptonieria Japoniea 'i (Fig. 2(i
u. 27i mit 3 an der Basis der Schupj)e befestigten, aufrechten Samen-
knospen den Abietineen an ; die Pollenkörner werden durch die Gestalt
der Schuppen geleilet, direct den Samenknospen zugeführt (Fig. 27),
welche der Innenlläche der Schuppe dicht angedrückt, dieselben in
ihre Micropyle aufnehmen.
Wie Cryplomeria verhält sich auch Ghplostrobus helerophyllus"^)
und die Taxodineen überhaupt, während Juniperus comnuinis und
selbst die Thuya-Arten, wo die Zuleitung der Fruchtblätter jedenfalls
eine viel unvollkonunenere ist, sich mehr den Taxineen mit ganz feh-
lender Leitung nähern.
Die Ausscheidung der Tropfen an der Spitze dei- Samenknospe
scheint übrigens nicht allein den Coniferen eigen zu sein, sondern sich
überhaupt auf alle Gymnospermen zu erstrecken ■*) .
Als ich vor wenigen Wochen nieine Beobachtungen an Taxus und
Salisburia dem Herrn Professor Schenk in Leipzig mitth'eilte, erinnerte
sich derselbe, im vorigen Jahre an einem blüh<Miden Exemplare der Cycas
revolula im Leipziger botanischen Garten, um eine gewisse Zeit, ähn-
liche Tropfen-Ausscheidung an sämmtlichen Samenknospen beobachtet
zu haben. Diese Beobachtung findet in den vorhergehenden Unter-
suchungen ihre völlige Erklärung, und dürfte nicht unbeachtet bleiben
bei künftigen künstlichen Bestäubungs versuchen, die man an den Cyca-
deen unserer Treibhäuser vornehmen sollte. Freilich müsste die Be-
stäubung hier stets unmittelbar zu der Zeit des ersten Auftretens der
Tropfen vorgenommen werden , da bei ausgebliebener Bestäubung die
Ausscheidung leicht einen krankhaften Charakter anzunehmen scheint
imd dann jede weitere Bestäubung vereiteln dürfte. — Das möchte ich
wenigstens aus einigen Beobachtungen schliessen, die ich an Salisburia
anstellen konnte; — an einigen Samenknospen sah ich hin und wieder
zu Ende der Blüthezeit einen grossen, glänzenden Tropfen hängen, der
1) Parlatore Taf. 1, \"\^. 33 u. 38.
2) Parlatork Taf. I, \\a. 26—32.
3 Seitdem auch an K[)liedra beobachtet , wo auch die charakteristische
Caiialbildung am Scheitel dc^ KiiMspenkernes sich zur Beslaubungszeit verfol-
gen lässl.
258 Dr. Eduard Strasbiirger,
viel klebriger als die gewöhnlich ausgeschiedenen Tropfen war und
nicht mehr eingesogen wurde. Er erhärtete an der Micropyle und be-
zeichnete so auch später die Samenknospe , in der ich in diesem Falle
nie Pollenkörncr auffinden konnte. Mit dieser Erscheinung hängt auch
vielleicht eine Angabc zusammen , die ich bei Schacht im II. Bande
seiner Anal, und Phys. p. 307 bei Besprechung der Honigbehälter,
Honigdrüsen etc. fand, und wo es unter Anderem heisst: »Bei Fur-
croya gigantea , deren Blüthen, wie es scheint, niemals ansetzen, tritt
ein grosser, klarer Tropfen einer zuckerhaltigen Flüssigkeit aus dem
Staubweg hervor. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich oftmals bei
Formium tenax , zumal wenn die Bestäubung nicht rechtzeitig erfolgte.
Bei Taxus hängt zur Zeit der Bestäubung ein ähnlicher Tropfen am
Knospenmunde der nackten Samenknospe.« Die Beobachtung an Taxus
bezieht sich, wie wir sehen, hier auf den normalen Fall, der aber seine
richtige Deutung nicht gefunden ; wie weit die anderen auch mit nor-
malen Erscheinungen zusammenhängen, bleibt zu untersuchen.
Fassen wir nun das Gesagte noch ein Mal zusammen , so finden
wir, dass die Bestäubung bei den Gymnospermen und zwar vor Allem
bei freistehenden Samenknospen, durch eine Ausscheidung von Tropfen
an der Micropyle erleichtert wird, dass die Pollcnkörner in diese Tro-
pfen gerathen und bei Verdunstung desselben in das Innere der Samen-
knospe hineingerathen. Auch haben wir es als eine allgemeine Erschei-
nung kennen gelernt, dass zur Zeit der Bestäubung die Spitze des
Nucleus aufgelockert, meist tief ausgerandet und so vorbereitet wird,
um die Pollenkörncr zu empfangen und den Pollenschläuchen das
Eindringen in das Gewebe des Knospenkernes zu erleichtern. Die Pol-
lenkörner gelangen, durch den Wind getrieben, bei den Taxineen un-
mittelbar auf die Samenknospe ; bei den Cupressineen werden sie den
aufzecht stehenden Samenknospen theilweise schon durch die Schuppen
zugeleitet. Bei den Abietineen endlich finden wir sehr eigenthümliche
Einrichtungen , eine höchst vollkommene Gestaltung der zuleitenden
Organe, welche den Pollen auf vorgezeichnetem Wege den Samen-
knospen zuführen. Diese Bolle fällt bei Pinus sylvestris, Pumilio, Picea
den Schuppen zu: bei Larix und Abies den Deckblättern. Ein Kiel
dient zur Orientalion der Pollenkörner, um den richtigen Weg densel-
ben vorzuzeichnen und eine eigenthümliche Anpassungserscheinung
ist es gewiss, dass derselbe sich bei Pinus sylvestris, Pumilio und an-
deren verwandten Formen auf der Schuppe, bei Larix und Abies auf
dem Dockblatle entwickelt. Bei Picea ist kein Kiel vorhanden, doch die
Gestallung der Schuppen eine derartige , dass auch ohne dessen Hülfe
die Bestäubung leicht erfolgen kann.
Die Bcsirmbiiiig der Gymnospermen. 250
Die Samenknospen der Abielineen zeigen eine eigcnthUnjüche Ent-
wicklung, der Art und Weise angepassl, wie die Zuicituni; d(\s l'olk-ns
erfolgt. Bei Pinus sylvestris etc. , wo die Schuppe selbst mit ihrer
Oberfläche leitet und die Pollenkörner von oben den Samenknospen
zuführt, zeigen dieselben zwei lange, rechts und links oricntirte Fort-
sätze, zwischen welche die Pollenkörner iiineinfallen. Bei Abies und
Larix, wo die Pollenkörner längs der Ränder der Schuppe gleiten, sind
die Fortsätze dos Micropylrandes einseitig nach dem Rande der Schuppe
zu entw ickelt, sehr breit und geeignet die hier hinuntcrgleitenden Pol-
lenkörner a^^fzufang('n.
Als eine eigenthümliche Anpassung der Pollenkörner der Pinus-
Arten wären endlich noch die beiden Luftsäcke hervorzuheben, welche
den Pollenkörnern dieser Arten eine besondere, leichte Beweglichkeil
verschaflen. Eigenthümlich ist es, dass dieselben gerade bei monöci-
schcn Pinus-Arten auftreten, während sie den diöcischen Juniperinecn
und Taxineen fehlen. Möglich, dass gerade durch diese ausserordent-
liche Beweglichkeit und Fähigkeit sich beim leisesten Luftzuge zu erhe-
ben", eine Selbstbefruchtung bei monöcischen Arten vermieden wird,
wenn auch nicht zu vergessen ist, dass anderen monöcischen Pinus-
Arten: Larix, Pinus canadensis diese Einrichtung fehlt, sich dagegen
bei den diöcischen Podocarpus-Arten wiederfindet. Jedenfalls dürfte
die leichte Beweglichkeit , welche die Luftsäcke den Pollenkörnern der
Pinus-Arten verleihen, bei anderen Pflanzen dieser Gruppe auf ande-
rem Wege erreicht worden sein : so etwa durch die grosse Trocken-
heit der Pollenkörner zur Zeit des Stäubens, ihre bedeutende Klein-
heit u. d. m. 1).
Ich erwähnte in der Einleitung, dass über die Bestäubung der
Coniferen in der Literatur zunächst kaum Etwas zu finden war. Diese
Angabc ist insofern nicht mehr ganz richtig, als vor Kurzem eine Unter-
V, Vcrgl. auch eine Aunahine von HaktIg : Bot. Zeit. 1867. Nr. 49, wonach die
Luftsäcke deshalb bei Fichten , Tannen und Kiefern auftreten, weil die weibliclien
Blüthcn bei beiden ersten sehr ausgeprägt, bei letzteren vorwiegend im Gipfel der
Bäume sich entwickeln. Die Luflsäcke sollen nun den Pollenkörnern zu einer auf-
steigenden Bewegung verhelfen und sie auf diese Weise zu den weiblichen Blüthen
führen. — Weiler hebt Hartig hervor, dass die nahe verwandte Lärche mit ihren
auf demselben Zweige vereinigten männlichen und weiblichen Blüthcn keine Luft-
säcke bildet und sieht das als eine weitere Bestätigung seiner Annahme an. Nun
werden aber durch die HARTic'sche Auseinandersetzung die Luftsäcke der Podocar-
pus-Arten durchaus nicht erklärt Weiter Hesse sich dagegen anführen, dass bei
Pinis canadensis mit ähnlicher Verlhcilung der Blüthcn , wie die Fichten , Tannen
und Kiefern die Luftsäcke fohlten; endlich spricht auch die Art und Weise, wie der
260 Dr. Eduard Slrasburger,
suchung von Delpino ^) erschienen ist, welche diesen Gegensland be-
handelt. Delpino beobachtete die Befruchtungsvorgänge bei Pinus
pinasler und Piiuis halepensis. Auf die Art, wie die Sclni{)pen den
Pollen leiten , geht er nicht weiter ein ; das Hauptgewicht legt er da-
gegen auf die rechts und links um die Axe des jungen Zapfen schrau-
l)enförn)ig laufenden Gänge, welche, wie schon erwähnt, durch die
schuiaL' Insertion der Schuppe an der Axe entstehen. Diesen Gängen
allein sollen die Schuppen den Pollen zuleiten und in diesen Gängen
soll er sich bewegen bis er an den einen oder den anderen in den Gang
hineinragenden Fortsätzen der Samenknospen hängen bleibt. — Diese
Angaben Delpino's bedürfen jedenfalls noch einer Ergänzung und diese
glaube ich im Vorliegenden gegeben zu haben. — Die Zuleitung des Pol-
len ist meist viel directer als es Delpino angenommen, und wenn ich
die Bedeutung der Ganäle auch nicht unterschätzen will, so sind sie
doch andererseits kaum so ausgebildet, als dass, wie Delpino auf p. 7
sich ausdrückt, die Pollenkörnei" im Inneren derselben in wirbelnde
Bewegung gerathen und den Pollenkörnern der Pinus-Arten sogar ihre
Luftsäcke dabei zu Nutze kommen sollten 2] .
Zum Schlüsse möchte ich noch einer Eigenthümlichkeil erwähnen,
welche mir bei Betrachtung der Abietineen-Blüthen vielfach aufgefallen
ist: Die zunächst unscheinbaren, kleinen Zapfen nehmen meist all-
mählich eine schöne hochrothe Färbung an; diese Färbung erreicht
ihren Culminationspunkt zur Zeit der Bestäubung, dann nimmt sie
wieder ab, um durch Bothbraun und Grünlich-Braun nach und nach
ins Grün überzugehen. Wir wissen welche Bedeutung bei angiosper-
men Pflanzen die Färbung der BlUlhenhüllen zur Zeil der Betäubung
hat. Gefärbte Blüthen fallen den Insekten besonders leicht in die Augen
und werden durch deren Vermittelung besonders leicht bestäubt. Die
Färbung der Zapfen der Coniferen kann aber unmöglich in dieser Rich-
Conifereii-Pollen vom Winde bewegt wird, iiaum für diese Annahme. iVergl. liier-
iiber auch Delpino, Ulteriori o.sservazioni p. 6).
1) Ulteriori Osservazicuc sulia Dicoganiia nel regno vegetale per Federico
Delpino, Miiano 1868 — 69. (AUi dclia societä italiana di scienze naturaii. Vol. XI e
XII.) (Seitdem auch in der botanischen Zeitung vom 16. September 1870 ab-
gedruckt).
2) Delpino 1. c. p. 7 : »Ma sc inutile si addirao strano gU avverteli palloncini pel
viaggio aereo che deve compiere il polliiie dei pini , possono in vece tornargU uti-
lissimi , una voita chesia introdotto nelio inlerno delie lubulalure deiconi, per im-
primergii, sotlo l'azione d'un vento forte, quel moto verticoso, che una vetta e
sagace intuizione nella struttura de!!' apparecchio prevede efficacissimo, perche
equa viesca la disiribuzione del polMne a lulti gli stimmi.«
Die Bestäiibniig der Gymnospermen. 261
tung gedeutet werden. Die INtlUMiköiiHM- werden stets nur «liiicli den
Wind übertragen, und es ist auch kein einziger Fall bekannt, wo die
L'ebertragung durch Insekten vern)iltelt werden sollte. — Hei angio-
spcMMien Bilanzen ist die Färbung der IMiitlienhüllen eine gezüchtete
Eigenthüinlichkeit, welche der Bestäubung zu Nutzen kouinit: wie
abei' bei den Coniferen ? Als eine ereil)te Eigenschaft, die früher von
Nutzen, nun weiter gleichgültig vererbt wird, lässt sie si(;h kaum deu-
ten, denn die Coniferen stammen unmöglich von solchen Vorfahren ab,
die dei" Insekten-Hülfe zur Bestäubung bedurften. Bei den höheren
(Irjptügamen , ihren nächsten Voi'gängern, ist ja eine solche Hidfe von
vorne herein ausgeschlossen und die Haupt-Entwickelungs-Zeil der
(/onifeien-Gruppe in dei' Vorzeit fällt ausserdem in eine Erd-P(>riode,
in der die Insekten erst äusserst spärlich vertreten waren. Es bleibt
also nichts übrig, als die roth(> Färbung der Zapfen zur Blüthezeit als
eine Correlativ -Erscheinung aufzufassen, welche durch die erhöhten
Lebens-Processe zur Blüthezeit secundär hervorgerufen in dem Maassc
wieder schwindet, als die Insensität der Enlwickelung am Zapfen
abnimmt 2).
So gicbt uns die rothe Färbung der Zapfen zur Blüthezeit ein
schönes Beispiel für die Art und Weise, wie eine so prägnante Eigen-
Ihümlichkeit zunächst als riMiie Correlativ-Erscheinung auftreten kann,
und wir könnten uns denken , dass auch die analoge F'ärbung der Blü-
th(Mihüll(Mi bei angiospermeii Pflanzen einer ähnlich(Mi Ursache ihre
Entstehung verdankt und erst später bei der Bestäubung vcrwcrlhel,
und weiter gezüchtet wurde.
Erklärung der Tafel.
Fig. 1 u. 2. Taxus baccala. 1. Weihlicher Zweig zui Blüthezeit. 2. Eine längs-
diiichschniUene Samenknospe.
Mg. 3. Cepalotaxu.s loilunei zur Blüthezeit (nach Parlatore, Stuiiii organogra-
hci. Tal'. II, Kig. 33).
lig. 4. Phyllocladus tiichomanoides zur Blüthezeit , ebenlalis nach Parlatoke
1. c. Tal. II, Fig. 28).
1) Aul' diese Weise lasst sich auch nur das .Vultretcn der rothen Farbe in den-
jenigen Blättern erklären, welche z. B. bei Polytrichuni commune die .\nlheridien
umgeben, die sogenannte männliche Bliithe der Moose bildend.
2) Bei der Keimung vieler Samen treten ebenlalis in bestimmten Zellen dersel-
ben, rolhe Faibslolle als Nebenproducte des SlofTwechsels auf.
262 Ur. Eduard Sfrasburgor, Die BesläubuHg der Gymnospermen.
Fig. 5, 6 u. 7. Salisburia adiantifolia. 5. Ein ganzer Zweig zur Blüthezeit. 6. Etwas
vergrösserte Samenknospe mit ausgeschiedenen Tropfen. 7. Längsschnitt
durch die Samenknospe, 16 Mal vergrössert.
Fig. 8, 9 u. 10. Pinus pumilio. 8. Eine einzelne Schuppe, vergrössert. 9. Ein Zweig
mit Blüthen und einjährigem Zapfen. 10. Ein junger Zapfen zur Blüthe-
zeit, vergrössert. *
Fig. 11 u. 12. Picea vulgaris. 11. Eine Schuppe zur Blüthezeit. 12. Der isolirte
Nucleus mit Pollenkörnern, welche Schläuche getrieben haben, 24 Mal
vergrössert.
Fig. 13. 14 u. 15. Abies pectinata. 13. Ein junger Zapfen zur Blüthezeit. (Nach
Schacht, der Baum. Taf. I, Fig. 1). 14. Eine Schuppe zur Blüthezeit,
vergr. 15. Aeltere Samenknospe (10. Juli) von oben gesehen, vergrössert.
Fig. 16 u. 17. Larix europea. 16. Ein junger Zapfen zur Blüthezeit. 17. Eine ein-
zelne Schuppe aus diesem Stadium.
Fig. 18. Abies canadensis zur Blüthezeit.
Fig. 19. Juniperus rigida zur Blüthezeit. (Nach Siebold und Zuccarini, Flora
Japonica. Taf. 125;.
Fig. 20, 21 u. 22. Thuya (Biota) orientalis. 20. Zur Blüthezeit, von oben, 21. im
Längsschnitt. 22. Samenknospe im Längsschnitt, 24 Mal vergrössert.
Fig. 23. Juniperus sabina zur Blüthezeit, von oben, 4 Mal vergrössert.
Fig. 24 u. 25. Cupressus sempervireus zur Blüthezeit. 24. Der junge Zapfen.
25. Eine einzelne Schuppe. (Nach Parlatore I. c. Taf. I. Fig. 3 u. 5.)
Fig. 26 u. 27. Cryptomeria japonica zur Blüthezeit. 26. Der junge Zapfen. 27. Ein-
zelne Schuppe. (Parlatore I. c. Taf. I, Fig. 33 u. 38.)
lieber die Bestiuiuiuii«; der liiclitstärke optischer Iiistriinieiite.
Mit besonderer Berücksichtigung des Mikroskops und der Apparate
zur Lichlconcentration.
Von
E. Abbe.
Mit 6 Figuren in Holzschnitt.
Die wichtigsten Wirkungen optischer Apparate gründen sich be-
kanntlich auf deren Fähigkeit, von lichtstrahlenden Objecten sogenannte
optische Bilder zu erzeugen. Hierdurch ist die den verschiedenartigen
optischen Combinationen gemeinsame Eigenschaft bezeichnet , auf den
Gang der Lichtstrahlen durch Brechung oder durch Spiegelung so ein-
zuwirken, dass alle homocentrischen Strahlenbündel, welche von den
einzelnen Punkten eines leuchtenden Objects ausgehen, nach ihrem
Durchtritt durch den optischen Apparat wiederum als honiocenlrische
Strahlenbüiidel sich darstellen und so verlaufen, wie wenn sie von
correspendirenden Punkten eines im Allgemeinen anders gelegenen und
anders gestalteten Objects in directer Verbreitung ausgegangen wären.
Die Anforderungen, welche an solche optische Bilder, je nach den
Zwecken , denen sie dienen sollen , gestellt werden , sind im Wesent-
lichen von zweierlei Art. Ein Theil derselben bezieht sich auf rein
geometrische Eigenschaften des Strahlenlaufs ; hierher gehört Alles,
was die Lage, die Dimensionen und die geometrische Vollkommenheit
des Bildes, d. h. die Schärfe der Abbildung und ihre Aehnlichkeit mit
dem Gegenstande betrifft. Ein anderer Thcil dagegen zielt a]>aufdie
Inlensitätsverhältnisse der Wirkungen , welche optische Apparate ver-
nntteln; das sind die Anforderungen, welche an die Lichtstärke oder
die Helligkeit der Bilder gestellt werden.
264 E. Abbe,
Von den beiden Aufgaben, auf welche sich demzufolge die Theorie
der optischen Inslruniente zu richten hat. ist die ersterc schon seit
langer Zeil das Ziel zahlreicher Untersuchungen gewesen. Die sogen,
geometrische Optik hat zu ihrem hauptsächlichen Inhalt die Lehren,
welche die Erzeugung optischer Bilder durch spiegelnde und brechende
Medien und die geometrisch definirbaren Eigenschaften derselben be-
treffen , und sie giebt über alle Fragen in dieser Richtung mehr oder
minder vollständige Rechenschaft. Alle Aufgaben namentlich, welche
auf die Bestinmiung der Lagen- und Grössenverhältnisse der optischen
Bilder gehen , haben durch die von Gauss in den bekannten »Dioptri-
schen Untersuchungen« aufgestellte Theorie und die hierauf fussenden
weiteren Arbeiten von Listing, IIelmholtz u. A. einen in den wesent-
lichen Stücken vollendeten Abschluss erhalten. Die anderweitigen
Fragen, zu welchen die Anforderungen an die Vollkommenheil der
Bilder Anlass geben und welche unter dem Titel der sphärischen Aber-
ration und der Farbenzerstreuung erörtert zu werden pflegen , sind
zwar keineswegs in gleich befriedigender Weise zur Erledigung ge-
bracht; jedoch stehen auch hier die Grundsätze für die Behandlung
der einzelnen Aufgaben unzweideutig fest und die Mängel der Theorie
beruhen nur in der Schwierigkeit, welche die Aufstellung allgemein-
gilliger und in der Praxis leicht zu benutzender Regeln findet.
Dem gegenüber ist der in das Gebiet der Photometrie eingj'cifende
Theil der Theorie optischer Instrumente, die Lehre von den Intensi-
tätsverhällnissen ihrer Wirkungen — so weit dem V'erfasser bekannt —
bis jetzt nirgends einer einigermaassen erschöpfenden Behandlung un-
terzogen worden. Was in dieser Richtung gelehrt wird, beschränkt
sich ausschliesslich auf die einfachsten vorkommenden Verhältnisse,
wie sie z. B. das astronomische Fernrohr darbietet, und auf gelegentliche
Erörterung einzelner praktisch wichtigen Fälle von ganz beschränkten
Voraussetzungen aus; für die Behandlung der complicirteren Aufgaben,
zu welchen manche optische Combinationen Anlass geben , fehlt es den
gewöhnlich angenommenen theoretischen Grundsätzen durchaus an der
erforderlichen Strenge und Allgemeinheil. Daher herrscht denn vielfach
grosse Unsicherheit über die Bedingungen, welche für die Wirksamkeit
optischer Instrumente nach dieser Seite hin maassgebend sind und
mancherlei irrthümliche Ansichten , durch voreilige Verallgemeinerung
an sich richtiger Sätze herbeigeführt, verhindern das rechte Verständ-
niss zahlreicher — auch für den praktischen Gebraucii wichtiger —
Vorkommnisse.
Um die Theorie der optischen Instrumente nach dieser Seite hin
zu ergänzen , soll im Folgenden eine Reihe von theoretischen Sätzen
üeber die Bfistiinmiing der Lichtstärke niitisclicr liistnimeiite. 265
aufgestellt werden, nach welchen die Leistungen jonor in Hinsicht auf
die Intensität der Wirkungen (Lichtstärke, Heiligkeit etc.) unter den
verschiedenartigsten Umständen beurlheilt werden können. Zu diesem
Zweck sollen zunächst die wichtigsten Grundsätze der Photometrie in
möglichst elementarer Einkleidung rt^producirl werden. Sodann soll
gezeigt werden, wie sich aus ihnen Tlieoremc ableiten lassen, mit deren
Hilfe die Intensität der Lichtstrahlung optischer Bilder, wie sie beliebige
Systeme von brechenden und spiegelnden Flächen erzeugen, allgemein-
giltig zu bestinnnen ist. Aus ihnen sollen weiter feste Hegeln abgeleitet
werden für die Benitheilung der namhaftesten speciellen Formen opti-
scher Combinalionen, als da sind: Camera (Auge), Fernrohr, Mikroskop
and Apparate zur Lichtconcentration ; und zum Scliluss soll noch — als
ein Beispiel der Anw endung der zu entwickelnden Theorie auf die com-
plicirteren Vorkommnisse der Praxis — eine speciellere Erörterung der
mannigfachen Wiikungsaiten folgen , wie solche bei der Verbindung
lies Mikroskops mit verschiedenen Beleuchtungsvorrichlungen zur Gel-
tung kommen.
Entsprechend der hierdurch schon bezeichneten praktischen Tendenz
dieses Aufsatzes ist es hier weder auf eine ganz vollständige und Schritt
für Schritt durchgeführte Begründung der aufzustellenden Theoreme
noch auf eine erschöpfende Enlwickelung aller Folgerungen abgesehen.
In Bezug auf beides — da es unter allen Umständen eingehendere ma-
thematische Deductionen nöthig macht, als für jenen Zweck wünschens-
werth sind — verweist der Verfasser auf eine demnächst bei Quandt
und Händel in Leipzig erscheinende besondere Schrift über die Theorie
der optischen Instrumente. Hier soll es sich vorzugsweise darum han-
deln, die in Rede stehenden Lehren soweit nach ihrem Zusammenhang
darzulegen und zu erläutern, als erforderlich ist, um den Bei-eich ihrer
Anwendung und die Bedingungen für ihre richtige Anwendung auf die
einzelnen Fälle der Praxis unzweideutig erkennen zu lassen und Die-
jenigen über ihren Gebrauch zu orientiren, welche an den Theoiien der
Optik grade wegen ihrer Anwendungen ein Interesse nehmen.
I. Photometrische Grundbegriffe. Beleuchtungsstärke und Helligkeit;
Leuchtkraft.
Die PliNsik iK'fasst in ihren Erklärungen die verschiedenartigsten
Erscheinungen des Lichts unter der bekannten Vorstellung übei- den
Prozess des Leuchlens, die <lurch die Worte: Lichtstiahlung, strahlen-^
förmige Ausbreitung hinreichend charakterisirt ist. Obwohl Ursprung-
266 E. Abbe,
lieh in enger Verbindung mit den speciellen Hypothesen der Emis-
sionslehre ausgebildet, hat diese Vorstellung einer gradlinigen strah-
lenförmigen Ausbreitung dennoch auch neben den^ ganz veränderten
Ansichten über das Wesen des Lichts , welche die Undulationstheorie
aufstellt, volle Geltung behalten. Denn alle auf Grund derselben gebil-
deten Begriffe, wie der des Lichtstrahls selbst, die ihm beigelegten
Attribute der Brechbarkeit und Reflectirbarkeit, ferner die Begriffe von
Strahlenmenge, Lichtmenge u. A. erweisen sich als durchgängig con-
gruent mit entspreclunden Bestimmungen an einer Wellenbewegung,
als deren kurze und anschauliche Repräsentanten sie nach wie vor nicht
nur brauchbar sondern sogar unentbehrlich bleiben. — Alle Erklärun-
gen der Optik bewegen sich daher auf dem Boden dieser Vorstellung
einer Lichtstrahlung , auch bei denjenigen Problemen , für welche die
Begriffe der geometrischen Optik für sich nicht ausreichen, vielmehr ein
Zurückgreifen auf die zu Grunde liegenden mechanischen Prozesse an
der Hand der Undulationstheorie unerlässlich ist; indem in solchen
Fällen, um denVortheil der weniger abslracten, anschaulicheren Einklei-
dung zu wahren , die Resultate der mechanischen Deduction nachträg-
lich wieder als Eigenschaften der Lichtstrahlen ausgesprochen werden.
In diesem Sinne sind auch die grundlegenden Sätze der Photo-
metrie auf die Strahlungshypothese gebaut. — Wenn ein leuchtender
Kör'])er andere , für sich nichtleuchtende Objecte in seiner Umgebung
erhellt, d. h. ihnen die Fähigkeit ertheilt, ihrerseits eine gl(;icharlige
nur dem Grade n^ch verschiedene Wirkung wie jener auf das Sehorgan
— und auch auf dritte Körper — auszuüben, so denkt man sich dies
dadurch vermittelt, dass die sonst dunkle Oberfläche in ihren einzelnen
Theilen durch eine gewisse Menge von den Oberflächenpunklen der
Lichtquelle ausgehender Strahlen getroffen wird und denkt den Grad
der bewirkten Erhellung — die Stärke der Beleuchtung — als bedingt
durch die Menge von Strahlen, welche auf einem bestimmten Theil der
erhellten Fläche — etwa auf dem Räume der Flächeneinheit — zusam-
mentreffen. Man betrachtet ferner die im einzelnen Falle beobachtete
Erhellung an irgend einer Stelle als Resultat der Summirung der Be-
leuchtungswirkungen , welche die sämmtlichen Flächenelemente der
Lichtquelle einzeln daselbst hervorbringen würden und reducirt auf
diese Art das quantitativ zu bestimmende Grundphänomen auf den
einfacheren Fall der Lichtstrahlung eines leuchtenden Flächen e le-
rnen ts gegen ein anderes in beliebiger Entfernung und Lage. Nahe
liegende Erfahrungen weisen endlich darauf hin , unter den Bedingun-
gen für die Wirkung in diesem Falle erstens solche zu unterscheiden,
welche ausschliesslich durch die Verhältnisse der Lage des beleuchteten
üeber die Bestimmnno; der Lichtstärke optisfher Instrumente.
267
Fliichenelements gegen (Ins leuchten(U' bostimml sind und zweitens
solche, welche in der specifischen Nnlur der Lichlcpielle ihren Grund
haben. Beiden trägt man Rechnung, indem man die Menge der Strah-
len, welche auf das zweite Element treffen , so bemisst, dass sie nur
vom Abstände und den Richtungen beider abhängt, daneben aber den
einzelnen Strahl als Träger einer mit der Natur der Liclil(|uelle ver-
änderlichen , von den räumlichen Verhältnissen aber unabhängigen
Lichtmenge ansieht, deren jeweilige (irösse zugleicl» iler Ausdruck der
specifischen Intensität oder Leuchtkraft der Lichtquelle ist.
Auf diesem Wege gelangt man nun durch einfache Schlüsse zu einer
quantitativen Regel, welche die Abhängigkeit der Lichlwirkung von den
verschiedenen maassgebenden Ursachen für jenen eint'nchslen Fall dar-
stellt und welche — als photo-
metrisches Grundgesetz — in
folgender Form am Kürzesten
ausgesprochen werden kann : Be-
zeichnet / die Leuchtkraft der
Lichtquelle oder die Intensität
des einzelnem von ihr ausgehen-
Strahls, und ü) den körper-
lichen Winkelraum , unter wel-
chem ein leuchtendes Flächen-
element A von dem OrU^ des beleuchteten Flächenelemenls B aus
erscheint (oder welchen die von hier aus nach dem Umfange der Fläche
A gezogenen Linien einschliessen) , ferner f die Grösse der Fläche ß und
a den Winkel zwischen ihrer Normalen und der Verbindungslinie mit
A, so ist die der Fläche B zugeslrahlte Lichtmenge
= / . w . sin a. f.
und diejenige Lichtmenge, welche die Flächen einheit der beleuchte-
ten Fläche empfängt, oder die auf ihr bewirkte Beleuchtungsstärke
s = t . (o . sin a (1)
diese Beleuchtungsstärke mithin einerseits proportional der Leuclitkrafl
der betreffenden Lichtquelle, andrerseits proportional dem körperlichen
Winkel w und dem Sinus des Einfallswinkels der Lichtstrahlen —
wobei durch die Art, wie to sich bestimmt, zugleich d<'r Entfernung,
Grösse und Lage des betrachteten leuchtenden Flächentheils Rechnung
getragen wird.
Für die Beurtheilung der Gesammtwirkung einer beliebig ausge-
dehnten Lichtquelle — deren einzelne Theile im allgemeinsten Falle
auch ungleiche Leuchtkraft besitzen können — ergiebt sich aus obigem
(irundgeselz , dass die Beleuchtungsstärke , welche an verschiedenen
268 E. Abbe,
Stellen in dem umgebenden Raum hervorgebracht wird, sich modifici-
ren kann nach Maassgabe des grösseren oder kleineren Winkelrauines,
unter welchem die einzelnen leuchtenden Theile sich jeweilig darstellen,
sowie auch nach Maassgabe der grösseren oder geringeren Neigung , in
der die Strahlen von diesen aus die beleuchtete Fläche treffen, dass
aber andere Umstände ausser den genannten keinen Einfluss auf sie
üben. Namentlich müssen also zwei verschiedene Lichtquellen von un-
gleicher Grösse , Gestalt und Lage genau dieselbe Wirkung an einem
Orte hervorbringen , von dem aus gesehen sie sich so aufeinander pro-
jiciren, dass jede vom Orte der Wirkung nach ihnen hin gezogene Ricli-
tungslinie beide in Punkten gleicher Leuchtkraft trifft.
Hieraus endlich kann der weitere Schluss gezogen werden, : dass
jede irgendwo gelegene und irgendwie gestaltete leuchtende Fläche
hinsichtlich ihrer Wirkung an je einer bestimmten Stelle im Räume
durchaus ersetzt werden kann durch ihre von hier aus construirte (cen-
trale) Projeclion auf eine willkürlich angenommene, beliebig gestaltete
andere Fläche im nämlichen Medium, wenn man die Leuchtkraft jener
Punkt für Punkt auf die in der Projection correspondirenden Punkte
der letztern übertragen denkt. Man erhält alsdann eine der ursprüng-
lich gegebenen völlig äquivalente Lichtquelle oder vielmehr eine
der wirklich bestehenden äquivalente ideale Vertheilung von Leucht-
kraft, die indess nur für den einen Ort, für weichen sie bestimnU
wurde, Geltung hat, für andere Punkte im Raum sich aber anders
gestaltet.
In Anschluss an die Definition der Beleuchtungsstärke , wie sie
dem Obigen zu Grunde liegt, gewinnt auch der Begriff der Heiligkeil
einen bestimmten Inhalt. Ausgehend von der allgemein angenommenen
Ansicht über das Zustandekommen der Lichtwahrnehmungen , sonach
diese durch getrennte und einzeln zu erregende Elemente des Seh-
nervs vermittelt werden, erscheint es als eine so gut wie selbstver-
ständliche Annahme — die übrigens mehrfacher ControUe in der Erfah-
rung zugänglich ist — dass man die Helligkeit eines Lichteindrucks
entsprechend denkt dem Grade der Erregung der mitwirkenden per-
cipirenden Elemente und diesen proportional setzt der Lichtmenge,
welche je einem derselben durch den optischen Apparat im Auge
zugeführt wird — dabei natürlich die Möglichkeit ungleicher Empfind-
lichkeit der Netzhaut an verschiedenen Stellen und in verschiedenen
Zuständen offen gelassen. Sofern nun angenommen wird, dass die
Erregung gleichzeitig eine grosse Zahl percipirender Elemente neben-
einander, also eine gewisse Fläche der Netzhaut treffe, im Bewusstsein
mithin den Eindruck eines auseedehnten Lichteindrucks hervorrufe.
üeber die Beslimmnng der Lichtgtärke optischer Instrumente. 269
darf oÖenbar die Lichtmenge, die dem einzelnen Element dabei zu
Theil wird, derjenigen proportional gesetzt werden, welche an dieser
Stelle nach Verhältniss der FUichoneinheit der Heiina zukommen würde,
d. h. es darf die an irgend einer Stelle auf der Netzhaut bewirkte
Beleuchtungsstärke als Maass der Helligkeit des daselbst vermittelten
Lichteindrucks angenonmien werden. Beide Bestimmungen, Helligkeit
und Stärke der Beleuchtung auf der Netzhaut , fallen jedoch wieder
auseinander, wenn es sich um Lichtreize handelt, die nicht tlber ein
einzelnes percipirendes Element hinausreichen , w ie von solchen vor-
ausgesetzt werden muss, welche punktförmig erscheinende Objecte zur
Wahrnehmung bringen. Denn es kann alsdann recht wohl die diesem
einen Elemente wirklieh zugefuhrte Lichtmenge dieselbe bleiben und
dennoch diejenige sich ändern , die nach Verhältniss der Ausbreitung
jener der Flächeneinheit zukommen würde - wie auch umgekehrt. In
solchen Fällen darf daher die Helligkeit nicht durch die Beleuchtungs-
stärke auf dem betreffenden Netzhauteleinent, sondern — der ursprüng-
lichen Definition entsprechend — muv durch die absolute Lichtmenge,
die dieses erhält, gemessen werden.
Im Vorstehenden sind die Grundsätze enthalten, aufweiche sowohl
die Photometrie im engern Sinne — die Methoden zur Vergleichung der
Wirkungen verschiedener Lichtquellen und zur Bestimmung ihrer spe-
cifischen Intensität — wie auch die Erörterung derjenigen photometri-
schen Fragen, aufweiche die Erscheinungen bei optischen Instrumenten
führen, sich stützen müssen. Für ihre Feststellung und ihren weiteren
Gebrauch ist vor Allem charakteristisch die Scheidung unter den geo-
metrischen und den physischen Bedingungen der Lichtwirkung, welche
in der Gegenüberstellung von Strahlenmenge und Intensität der Strah-
len oder Leuchtkraft sich ausspricht. Während durch das erstere die-
jenigen Bedingungen zum Ausdruck gebracht sind , welche in den
veränderlichen räumlichen Beziehungen zwischen den betreffenden
Körpern aufgehen , fassl der Begriff der Leuchtkraft alle die Elemente
der Erscheinung in Eines zusammen, die, unabhängig von den wech-
selnden äussern Umständen , in der specifischen Beschaffenheit der
wirksamen Prozesse selbst begründet sind. Dieses Eine mag zwar der
weiter fortgeführten Anahse selbst wieder als aus mehrerlei Factoren
zusammengesetzt ei'scheinen — wie tlenn in der That die Ph\sik die
Leuchtkraft einer Lichtquelle auf das Ausstrahlungsvermögen ihrer
Oberfläche und auf ihre Temperatur zurückführt — jedenfalls aber tritt
es in alle Wirkungen als Ganzes ein und kann rückwärts aus diesen
quantitativ bestimmt werden. Die Gleichung (1) definirt in dieser Art
die Leuchtkraft durch die hervorgebrachten Wirkungen : denn da vei-
Bd. VI. ■> 11»
270 E. Abbe.
möge derselben s und i identisch werden , wenn im einzelnen Falle
w = 1 und zugleich sin a = 1 ist, so wird die Leuchtkraft i einer
Lichtquelle ausgedrückt durch diejenige Beleuchtungsstärke , welche
eines ihrer Flächenelemente auf einer senkrecht bestrahlten Fläche
in solcher Entfernung hervorbringt, in welcher dasselbe unter einem
körperlichen Winkel von der Grösse der Einheit erscheint.
Was soeben als der Grundzug in den Vorstellungen der Photo-
metrie hervorgehoben wurde, giebt zugleich die Richtschnur ab für die
theoretische Betrachtung aller Vorgänge, bei welchen es sich um pho-
tometrische Bestimmungen handelt, im besondei'n auch für die Erörte-
rung derjenigen Erscheinungen, welche irgend welche optische Instru-
mente darbieten. Denn auch iu allen diesen Fällen ist der Gegenstand
der Untersuchung nichts Anderes als die Strahlungswirkung einer
Lichtquelle , nur dass dieselbe in einem von ihr getrennten Räume zur
Geltung kommt und durch spiegelnde oder brechende Flächen vermit-
telt wird. W^ie sich diese Wirkung auch äussern mag, ob in der Erre-
gung eines Sehorgans oder in der Beleuchtung anderer Objecle, jeden-
falls muss sie nach denselben allgemeinen Normen wie die directe
Wirkung dei* Lichtquelle beurtheilt werden können, namentlich also
müssen in ihr solche Elemente nachweisbar sein , die von blossen
Raumbeslimmungen abhängen und wiederum solche, welche durch die
physische Beschaffenheit der betreffenden Körper bedingt sind. Die
Theorie wird daher naturgemäss die Aufgabe haben , einerseits die
Modificationcn der Leuchtkraft in der durch Spiegel- oder Linsencom-
binationen hindurch erfolgenden Lichtstrahlung festzustellen, andrer-
seits Rechenschaft zu geben von den geometrischen Bedingungen, an
welche die schliessliche Wirkung geknüpft ist. Wonach sodann Das-
jenige, was man die Lichtstärke eines optischen Apparates nennt, zu
bemessen sei , muss sich ergeben , wenn man die Bestimmungsstücke
beiderlei Art, wie sie sich im einzelnen Falle für den optischen Apparat
ergeben , mit den entsprechenden Bestimmungsstücken für die directe
Lichtstrahlung des betreffenden Körpers vergleicht.
II. Die mittelbare Lichtstrahlung diffus reflectirender, spiegelnder
und brechender Flächen.
Die Thatsache , dass die in der Nähe eines leuchtenden Körpers
befindlichen Objecte nicht nur dem Sehorgan wahrnehmbar werden,
sondern auch dritte Körper ihrerseits zu erhellen vermögen , führt auf
den Begriff einer mittelbaren Lichtstrahlung und einer in dieser sich
lieber die Bestimiiniiiy; der Lichtstärke optischer liistnimeiite. 271
bekundenden abgeleiteten (erborgten) Leuchlki-aft. Für die Feststellung
der hierdurch bezeichneten Erscheinung sind zwei extreme Formen
zu unterscheiden , welche gesondert auftreten , je nachdem man die
beobachtete Oberfläche entweder als difVus reflectirend oder als regel-
mässig spiegelnd und brechend voraussetzt.
bn ersten Falle, den Körper mit vollkonmien rauher Oberfläche
darbieten, wird alles einfallende Licht, abgesehen von der etwa statt-
findenden Absorption, zerstreut d. h. gleichmässig nach allen Richtun-
gen in den umgebenden Raum zurückgesandt. Die Obernäclienthcile
eines solchen Körpers verhalten sich daher in allen Stücken wie die
Elemente einer selbstleuchtenden Fläche. Auf die von ihr ausgehende
Lichtstrahlung können die unter (l) aufgestellten Sätze ohne Weiteres
angewandt werden, wofern eine Regel gegeben wird, nach welcher die
ihr beizulegende Leuchtkraft bestiiiunbar ist. Dies kann leicht gesche-
hen, wenn man das Veihällniss kennt, in welchem die von je einem
Flächenelemente zurückgestrahlte Lichtmenge zu der gesammten auf
ihm einfallenden steht. Die Zahl, welche dieses Verhältniss misst, muss
ofl'enbar iunner ein ächter Bruch sein , dessen Werth für die verschie-
denen Stoffe zwischen den Grenzen Null und Eins variiren , übrigens
auch für die verschiedenen Farben ungleich sein kann. Ist sie in einem
Falle Null, so wird man den betreffenden Körper absolut schwarz, ist
sie Eins, so wird man ihn absolut weiss nennen ; daher denn der jedes-
malige Werth das Maass für den Grad der Weisse abgeben kann. Dieses
Verhältniss — im Folgenden durch e bezeichnet — als gegeben vor-
ausgesetzt, führt eine kurze Schlussreihe zu dem Resultat, dass ein
Element der diffus leuchtenden Fläche, w^^nn es selbst mit der Beleuch-
tungsstärke s von der ursprünglichen Lichtquelle erhellt wird , seiner-
seits an einem diitlen Körper eine Beleuchtungsstärke bewirkt, deren
W^erth durch die Gleichung
B ^= f e . Sj . tu . sin a (2)
zu bestimmen ist, wobei w und a in Bezug auf das diffus strahlende
Element dieselbe Bedeutung haben, wie in Gleichung (I) dieselben
Zeichen für das dort als selbslleuchtend vorausgesetzte. Mithin ist die
betrachtete Strahlungswirkung, wie die Vergleichung von (2) mit (1)
zeigt, im ganzen Baume die nämliche wie die eines selbstleuchtenden
Flächenelements, für welches
l = — . € . S
in
angenommen wird; und dieser Ausdruck ergiebt demnach die er-
borgte Leuchtkraft, mit wcIcIkm- die diffus reflectirende Oberfläche
49»
272
ll. Abbe,
von jeder Stelle aus wirkt , als proportional dem Grad der Weisse £,
den sie daselbst besitzt und der Beleuchtungsstärke s, die ihr daselbst
mitgetheilt wird.
Der ZAveite der oben unterschiedenen Fälle betrifft diejenigen Kör-
per, welche eine regelmässige Reflexion und Brechung der auf ihre
Oberfläche einfallenden Strahlen bewirken. Jeder einzelne Strahl spaltet
sich alsdann — von doppelter Strahlenbrechung hier abgesehen — im
Allgemeinen in zwei Strahlen, von denen jeder in einer ganz bestimm-
ten Richtung fortgeht, der eine — reflectirte — in das umgebende
Medium zurück, der andere — gebrochene — in das Innere des Kör-
pers. Setzt man eine flächenartig ausgedehnte jedoch begrenzte Licht-
quelle voraus (.4), von deren sämmtlichen Punkten Strahlen in je einem
Punkte der spiegelnden und brechenden Fläche zusammentreffen, so
werden von dieser Punkt für Punkt zwei Strahlen büschel ausgehen,
das eine nach dem äussern
'^- Raum , das andere in das
Innere dei- brechenden
Substanz, beide innerhalb
je eines kegelförmigen
Winkelraums verlaufend,
dessen Lage und Begren-
zung von der Grösse, Ent-
fernung und Gestalt der
Lichtquelle und der Rich-
tung der Tangentialebene
an der betreffenden Stelle
der Fläche abhängt. Da
solches für alle Punkte der
letztern gilt, nur dass die
Lage und Begrenzung jener Strahlenbüschel von Punkt zu Punkt nach
Maassgabe der Krümmung variirt, so verhält sich jedes Element (ß) der
Fläche wie das einer selbstleuchtenden Lichtquelle und zwar — Spie-
gelung und Brechung als gleichzeitig bestehend vorausgesetzt — nach
der äussern und nach der Innern Seite hin; mit dem unterschiede
jedoch, dass es solche Wirkung nicht in allen Richtungen ausübt, wie
ein wirklich selbstleuchtender Körper, sondern nur innerhalb der kegel-
förmigen Winkeh'äume, in welchen die reflectirten und die gebrochenen
Strahlen verlaufen. Innerhalb jedes dieser Räume aber, z. B. für eine
im Punkte C des reflectirten Strahlenkegels angenommene lichtauffan-
gende Fläche, unterscheiden sich die geometrischen Bedingungen der
hier stattfindenden Strahlung, wie sich in aller Strenge ei-weisen lässt,
Fia. 2.
liphpr die Bcstiiiimuntr der Lichlslarke optisetu'r liistnimciitc. 27;>
in gar Nichts von denen einer* solchen, die das Fliichencleinenl li yiis-
idien würde, wenn es selbslleuchlend wäre.
Für alle Theile des äussern und des innern Uauuics. iniierliall) der
htMUcrkten Grenzen, nuiss sicli daher die durch Reflexion odei- Brechung
y verniitlelte Wirkung der Lichtquelle nach den unter (I namhaft ge-
machten (i(>set'/en als eine von der redectirenden Fläche ausgehende
Strahlung l)eslin)nien lassen und es wird hierzu nur niilhig sein , dir
l.euchtkrail i /u erniilteln, welche ihr jedesmal Punkt für l'inikl bei-
zulegen ist. Diese lelztei'c Aufgabe kann darauf zurtlckgel'ührl werden,
die Intensitäten /, und /2 der beiden Strahlen p und r/ zu be.slinuneii,
in welche ein einfallender Strahl von gegebener Inlensitül / (näm-
lich der Leuchtkraft (hv l,i(hl(|uelle in seinem yVusgangspunktej sich
spaltet.
Die Undulationstheorie des Lichts bietet die ausreichenden Grund-
lagen für die Erledigung dieser Frage. Indem man zurückgeht auf die
mechanischen Begriffe , welche die Namen Lichtstrahl und Intensität
einer solchen in der Wellenlehre ausdrücken und den Vorgang der
Reflexion und Brechung auf Grund derselben zergliedei't, gewinnt man
Bestimmungen , die sich nachträglich wieder in die Sprache der Strah-
lungshypothese umsetzen und als die gesuchten Eigenschaften der
beiden entstehenden Theilslrahlen darstellen lassen. Das Resultat, zu
welchem man auf diesem Wege geführt wird, besagt Folgendes :
I) Die Intensität /| des refleclirten Strahls ist ein vom Einfallswin-
kel und den Brechungsexponenten der redectirenden Substanz und des
umgebenden Mediums sowie von den Polarisationsverhältnissen des
einfallenden Strahls abhängiger Bruchlheil von der Intensität des letz-
teren : so dass
/j = A . /. (3'|
zu setzen ist, wenn A diesen Bruchlheil bezeichnet, dessen Werth aus
den angeführten Stücken nach bekannten Formeln berechnet werden
; kann; was hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht.
^ 2) Bezeichnet n., den absoluten Brechungsexponenten des Körj)ers,
«1 den des umgebenden Mediums, in welchem die Licht(iuelle sich be-
findet, so ist
71.2- i ^= "2"'l + "i"'-2
also die Iiilensiläl des gebrochenen Strahls
'^=0'' ('-'•'■' (*'
Diese Ausdrücke geben nun zugleich die Leuchlkran an. welche
der \orher betrachteten Fläche in einem Punkte B nach der äussern
und nach der innern Seite hin beigelegt werden muss, um die durch
274 E. Abbe,
Reflexion und durch Brechung vermittelte Strahlungswirkung an den
Steilen C und D als von ihr selbst ausgehend betrachten zu können,
dabei vorausgesetzt, dass i die Leuchtkraft der ursprünglichen Licht-
quelle in demjenigen Punkte ist, von welchem die Strahlen q und r
ausgegangen sind. — Hierin ist ausgesprochen erstens: dass jedes
Element der spiegelnden und brechenden Fläche für alle Punkte einer
und der nämlichen von ihm ausgehenden Geraden {q oder r) mit je
gleicher Leuchtkraft wirkt und die Grösse dieser ausser von den
Werthen des «2 > "1 und X nur noch abhängt von der Intensität der
Lichtquelle an derjenigen Stelle, aufweiche man geführt wird, wenn
jene Gerade vom Flächenelement aus nach den Regeln der Reflexion
oder der Brechung rückwärts verfolgt wird ; zweitens : dass für
Punkte, die auf verschiedenen Geraden d. h. von dem betrachteten
Flächentheil aus nach verschiedenen Richtungen liegen , diesem im
Allgemeinen eine andere Leuchtkraft zukommen wird, weil andere
Stellen der Lichtquelle dabei maassgebend werden.
Denkt man die vorstehenden Beslinunungen auf alle Theile der
Fläche in Anwendung gebracht, dabei alle auf den nämlichen Ort
bezogen , sei es im äussern Baume , sei es im Innern des von jener
begrenzten Mediums, so erhält man offenbar eine ganz bestimmte Ver-
theilung von Leuchtkraft in ihr, vermöge welcher sie nun selbst-
leuchtend an jenem Orte dieselbe Lichtwirkung (Beleuchtungsstärke)
hervorbringen würde , die sie thatsächlich durch Vermittelung der ur-
sprünglichen Lichtquelle leistet. Die so festgestellte Leuchtkraft-Ver-
theilung ist daher der gegebenen Lichtquelle äquivalent in Hinsicht
auf den einen Punkt, von dem aus sie bestimmt wurde; für jeden
anderen Punkt aber verliert sie ihre Geltung — im Allgemeinen — und
es tritt eine andere an ihre Stelle, da sowohl die den einzelnen Flächen-
elementen correspondirenden Punkte der Lichtquelle wechseln wie
auch der Werlh , der dem Factor X beizulegen ist , jedesmal ein ande-
rer wird.
Macht man die besondere Annahme, dass entweder nur Spiegelung
oder nur Brechiing stattfinde, die in jedem Falle bestehende Nebenwir-
kung der andern Art also zu vernachlässigen sei , und setzt demnach
den Factor l abwechselnd = 1 oder = 0, so vereinfacht sich die Begel
für die Ableilunii der äquivalenten Leuchtkraft. — Bei der Spiegelung
ist alsdann für jedes Flächenelement i\ = /, d. h. es wird auf dasselbe
diejenige Leuchtkraft unge ändert übertragen, welche die Lichtquelle
in dem correspondirenden Punkte besitzt. Da aber, dem Vorstehenden
zufolge, dieser correspondirende Punkt zu irgend einem Flächenelement
/>' derjenige (B') ist, den die Verbindungslinie C/y, vom Orte C der
lieher die Besliiiiiimng (Icr l.irhlsliiilc (i|iii,srlii'i liisliiiini'nU'. "275
Wirkung aus gezogen und nach dem Redcxionsgeselz rückwärts verfolgt,
tiitVl, so crsclioiiU die für den Punkt C sich ergebende Verthcilung der
J.euclitkraft in der Fläche als eine
ceiUrale Projeclion der Licht(|uellc A
auf sie, welche vom Punkte C aus
gemäss der Rodexionsregel zu bilden
ist. — Im F'alle reiner Brechung,
ohne gleichzeitige Spiegelung, erhält
jedes Flächeneiemenl für seine Strah-
lung nach dem Innern des brechen-
den Mediums die Leuchtkraft
daher wird die Leuchtkraft der Lichtquelle Punkt für Punkt auf die
entsprechenden Punkte der brechenden Fläche, im Verhältniss des
Quadrates des relativen Brechungsexponenten des Me-
diums vergrösser t, übertragen; die Regel der Uebertrngung kann
auch hier wieder kurz bezeichnet werden als eine vom Orte der Wir-
kung aus gebildete centrale Projection der Lichtquelle .1 auf die bre-
chende Fläche , nur dass dabei die einzelnen Richtungslinien nach dem
Brechungsgeselz für Lichtstrahlen Ins zu A hin fortzusetzen sind.
Die hier gegebene Zurücki'ührung der durch Reflexion oder Bre-
chung vermittelten Strahlungswirkung einer Lichtquelle auf die directe
Strahlung einer äcpiivalenten Lichtverlheilung lässt sich leicht so weit
verallgemeinern, dass sie auf den schliesslichen Etlecl einer beliebigen
Anzahl spiegelnder und brechender Flächen Anwendung finden kann.
Man gelangt alsdann zu einem dem früheren analogen Theorem, welches
indess hier, um die Betrachtung nicht abstracter zu halten als für die
späteren Untersuchungen nöthig ist, nur in der einfacheren Form dar-
gelegt werden soll, die es annimmt unter der Voraussetzung, dass die
einzelnen Flächen theiis als nur spiegelnd , theils als nur brechend in
Betracht gezogen, die gleichzeitigen Wirkungen der andern Art also
vernachlässigt werden. Es lautet in dieser Einschränkung:
Wirkt eine beliebig gegebene Lichtquelle durch eine Reihe voll-
konnncn spiegelnder oder vollkommen brechender Flächen von irgend
welcher Gestalt und Lage, so lässt sich ihre Wirkung an je einem be-
stinuuten Orte des letzten Mediums, in welchem die Strahlen schliesslich
verlaufen, stets ersetzen durch die directe Strahlung einer in diesem
letzten Medium willkürlich angenommenen, beliebig gestalteten Fläche,
indem man dieser Punkt für Punkt eine Leuchtkraft lieilegt, welche sich
aus der Leuchtkraft in je einem cori'espondirenilen Punkt der Lichtquelle
276 E. Abbe,
ableitet und zwar durch unmittelbare Gleichsetzung , falls das letzte
Medium mit dem ersten gleichartig ist, im andern Falle dagegen durch
Multiplication mit dem Quadrate des relativen Brechungsexponenten
vom ersten zum letzten Medium, Der correspondirende Punkt der
Lichtquelle zu irgend einem Punkte der angenommenen Fläche ist hier-
bei immer derjenige, auf welchen man geführt wird, wenn man die
Verbindungslinie zwischen dem Orte der Wirkung und dem fraglichen
Flächenpunkte nach den Gesetzen der Spiegelung und Brechung eines
Lichtstrahls bis zur Lichtquelle hin fortsetzt; führt diese Forlsetzung,
statt auf die Lichtquelle, in die nichtleuchtende Umgebung, so ist für
die betreffende Stelle der Fläche die Leuchtkraft Null zu setzen.
Es ist nach dem Gesagten selbstverständlich , dass auch in diesem
Falle die zu bestimmende Vertheilung der Leuchtkraft im Allgemeinen
nur für den einen bestimmten Ort Geltung hat , von welchem die Gon-
struction jedesmal ausgeht, und dass sie daher für andere Stellen im
Räume andere Gestalt annehmen wird. Hiegegen machen die vorste-
henden Betrachtungen von keiner Voraussetzung Gebrauch , die nicht
auch erfüllt wäre in dem besondern Fall eines solchen Systems von
brechenden und spiegelnden Flächen , durch das ein regelrechtes opti-
sches Bild der Lichtquelle entsteht, für dessen Ort selbst die Lichtwir-
kung zu bestimmen verlangt würde.
Es mag gleich hier auf einige Folgerungen von praktischem In-
teresse hingewiesen w-erden , die aus den eben dargelegten Sätzen
fliessen. — Als Erstes und Allgemeinstes lassen sie erkennen: dass
keine noch so kunstreich erdachte Combination optischer Apparate in
Hinsicht auf die Stärke des durch eine Lichtquelle in ihrem eigenen
Medium zu erzielenden Beleuchtung jemals mehr leisten kann, als auch
ohne alle Zwischenmitlel erreichbar ist, wenn man entweder der Licht-
quelle von gegebener Beschaffenheit (d. h. gegebener Leuchtkraft) eine
beliebig grosse Flächenausdehnung zu geben vermag oder aber die zur
Verfügung stehende Lichtquelle dem Orte der Wirkung beliebig zu
nähern im Stande ist. Denn die schliessliche Wirkung aller denkbaren
Hilfsapparale reducirt sich immer auf die directe Strahlung einer Fläche,
welche zwar vom Orte der Wirkung aus unter Umständen einen sehr
viel grösseren Winkelraum als die Lichtquelle selbst erfüllen kann, die
jedoch an keiner Stelle eine höhere Leuchtkraft entwickelt als die Licht-
quelle selbst mindestens in einem ihrer Theile factisch besitzt — sofern
nämhch die Wirkung in demselben Medium erfolgen soll. Ist es daher
möglich, die Lichtquelle dem Punkte der Wirkung so weit zu nähern,
dass ihr am intensivsten leuchtender Theil unter einem eben so grossen
Winkeiraum erscheint, so muss auch ihre Lichtwirkung ohne alle Hilfs-
lieber die Bestimmung der Lichtstärke optischer Instrumente. 277
apparate die gleiche werden ; in Wahrheit wird letztere sogar über-
wiegen um den Betrag der unvermeidlichen Lichtverluste, die wieder-
holte Spiegelungen und Brechungen nach sich ziehen. Alle Vorrichtungen
zurVerstärkung einer Beleuchtung, zur sogenannten I.ichtconccnlration,
können daher in'(MnaIs einen andern Zweck haben — wenigstens nie-
mals einen andern wirklich erfüllen — als den: mit Hülfe einer gege-
benen Lichtquelle von beschränkten Dimensionen oder an einem ent-
fernten Orte dennoch eine solche Wirkung zu erzielen, wie sie direct
nur durch eine sonst gleichartige, aber von anderer Ausdehnung oder
in anderer Lage erreichbar wäie.
Durch welche Einrichtungen für bestimmte Verbältnisse dieser
Zweck erreicht werden kann und wie es namentlich möglich ist, unter
Anwendung solcher Combinationen von spiegelnden und brechenden
Medien, welche optische Bilder erzeugen, mit einer wenig ausgedehnten
oder sehr entfernten Lichtquelle den Etfect einer beliebig grossen und
zwar gleichmässig in allen Theilen eines gewissen Raumes zu erzielen.
Dieses Alles wird in den folgenden Abschnitten seine nähere Erörte-
rung finden. Ohne weitere Vorbereitungen lassen sich indess schon
hier mancherlei kleine Nutzanwendungen des Gesagten übersehen.
Fasst man z. B. die Umstände ins Auge, welche beim Gebi'auch
des Mikroskops für die Beleuchtung dei' zu beobachteten Objecte be-
stehen , so lassen sich die gewöhnlich vorkommenden Fälle sehr leicht
nach den aufgestellten Normen vollständig beurtheilen. — Ist die zur
Verfügung stehende Lichtquelle sehr ausgedehnt, etwa eine giosse
Fläche oder ein namhafter Theil des Wolkenhimmels , gleichmässig
erhellt, so müssen alle Vorrichtungen gleich gut wiiken, welche seitlich
einfallende Lichtstrahlen beiläufig in der Richtung der Mikroskopaxe
zum Objecte führen. Wäre es selbst ein Gonvexspiegel, immer würde
er, wofern nur die Lichtquelle gross genug, in eine solche Lage zu
bringen sein, dass alle Richtungslinien, welche vom Object nach den
verschiedenen Punkten seiner Fläche gezogen und nach der Reflexions-
regel weiter forlgesetzt gedacht werden, schliesslich auf die Lichtquelle
treffen ; und dann wird der Erfolg so sein , als ob die ganze Spiegel-
fläche mit der Leuchtkraft der letzteren selbstleuchtend wäre und das
Object besti'ahlte. In diesem Falle also ist die Gestalt des Beleuchtungs-
spiegels vollkommen gleichgiltig; die Wirkung ist allein bedingt durch
seine Grösse und seinen Abstand vom beleuchteten Object, insoweit
beide auf den Winkel Einüuss haben , unter welchem er von hier aus
erscheint; je grösser der letztere, desto stärker unter sonst gleichen
Umständen die bewirkte Beleuchtung.
Da indess die hier gemachte Annahme selten vollständig zutrill't.
278 E. Abb.!,
so wild freilich in den meisten Fällen das Resultat sich anders stellen.
Ist die Lichtquelle von geringerer Ausdehnung — etwa eine einzelne
helle Stelle am Wolkenhimmel, oder gar eine Lichtflamme oder dergl. —
so könnte bei Anwendung eines convexen und selbst noch eines ebenen
Spiegels nur für einen kleinen Theil seiner Fläche die oben bezeichnete
geometrische Bedingung erfüllt sein, von der es abhängt, ob er für das
Object die Eigenschaften einer Lichtquelle gewinne, beim grössern
Theile seiner Oberfläche werden die Richtungslinien vom Object aus,
nach der Reflexionsregel fortgesetzt, auf die nicht- oder nur schwach-
leuchtende Umgebung treflen. Man erkennt aber sogleich, wie dem
abzuhelfen ist, indem man dem Spiegel eine concave Krümmung
von solchem Grade crlheilt, dass jene Richtungslinien als ein nahezu
parallel(>s Bündel ihn verlassen — was darauf hinausläuft, das 01)-
jeet beiläufig in den Brennpunkt der concaven Fläche zu bringen.
Statt dessen kann natürlich auch mit ganz entsprechenden Anforde-
rungen eine Sammellinse diesen Zweck erfüllen, sowohl für sich allein
als auch in Verbindung mit einem Planspiegel (in Form eines Conden-
sors) verwandt; immer wird, wenn einmal die genannte Bedingung
über den Verlauf der Richtungslinicn erfüllt ist, der Erfolg nur von der
Grösse des Winkelraumes abhängen , den der lichtgebende Theil des
Apparates vom Objecte aus gesehen, einnimmt — natürlich abgesehen
von dem Einfluss , den die Einfallsrichtung der das Object treff'enden
Sirahlenkegel gegen die Mikroskopaxe auf die Art der Beleuchtung
(gerade und schiefe Beleuchtung) übt. V^eder kann es hierbei darauf
ankommen, dass das Object genau im Brennpunkte, oder etwas dar-
unter , oder darüber sich befinde, noch viel weniger darauf, dass der
Beleuchtungsapparat frei von chromatischer und sphärischer Aberration
sei. Denn wenn die \n irkliche Lichtquelle vom Instrument aus auch nur
unter einem kleinen Gesichtswinkel erscheint, immerhin wird ihre
Flächenausdehnung genügen , alle vom Object aus rückwärts construir-
len Richtungslinien auch dann noch in sich aufzunehmen , wenn deren
Verlauf in Folge der genannten Abweichungen, sei es füi' alle Farben,
sei es für einige, vom Parallelismus um ein Weniges entfernt ist^).
■1) Das hier über diese praktischen Fragen Gesagte stimmt in allen Stiicken
überein mit der eben so klaren als bündigen Auseinandersetzung in dem bekannten
Buche von Nageli und Scuwendknek »das Mikroskop" (Erster Abschn. Cap. X). Da
jedoch in allen übrigen dem Verf. bekannten Handbüchern ähnlicher Tendenz —
auch in den nach jenem erschienenen — über dieses Thema die unklarsten, zum
Theil irrigsten Vorstellungen zu Tage treten und dabei nach wie vor sonderbare
Difteleien über allerhand unmögliche Dinge vorgebracht werden — so kann es ge-
wiss nicht schaden, wenn man obige Sätze recht oft wiederholt; da sie doch eine
Heber die Besliiimiiiiig der l,icli(sliiike optiscimr liLsliuineiil«. 279
III. Die Lichtwirkung durch Systeme centrirter Kugelflächen.
Die im vorigen Abschnitl aulgeslüllleü jiHgemoinen (lesclzc über
die mittelbare Wirkung einer [jchlquelle lassen sich auf sehr viel
schärfer begrenzte und deshalb einfachere zurückführen , w enn man
über die Lage und Gestalt dei" ])rechendcn oder spiegehideii Flächen
eine solche Voraussetzung macht, durch welche das Zustandekommen
optischer Bilder ausgesi)rochen wird. Diese Voraussetzung soll hier
— um die Darstellung nicht unnöthiger Weise abslract und weitläufig
zu machen — nicht in der allgemeinsten Gestalt, die sie annehmen
kann, in Betracht gezogen werden , sondern gleich in derjenigen enge-
ren Formulirung, in welcher allein sie zu praktischer Anwendung ge-
langt. Ks soll also angenommen werden, dass alle brechenden oder
spiegelnden Flächen kugelförmige seien , deren Mittelpunkte zugleich
auf einer einzigen Geraden (Axe) liegen; und zur Vereinfachung der
Ausdrucksweise soll überdies in der ganzen Auseinandersetzung von
der Mitwirkung reUectirender Flächen abgesehen, mithin allein der Fall
rein dioplrischer Systeme ausdrücklich besprochen werden , wiewohl
der Sache nach nicht nur die schliesslichen Ergebnisse, sondern alle
einzelnen Schlüsse unter Einschaltung der geeigneten W'orte auch auf
die andern Arten, katoptrische und kata-dioptrische Combinationen,
Anwendung finden.
Es werde also als gegeben angenommen ein Object mit selbst-
leuchtender oder diflus strahlender Oberfläche, von bestimmter Lage
und Begrenzung, und von ihm aus eine beliebige Folge durchsichtiger
Medien, getrennt durch cenlrirte Kugelflächen, welche vermittelst suc-
cessiver Brechungen im letzten Medium ein optisches Bild der Licht-
quelle von bestimmter Lage und Gestalt erzeugen mögen. Diese Vor-
aussetzung über das Zustandekommen eines (aberrationsfreien) Bildes
besagt aber nichts Anderes, als dass die sämmtlichen Strahlen, die von
den einzelnen Objectpunkten als homocentrische Büschel ausgehen,
soweit sie überhaupt durch das Linsensystem hindurch treten können,
im letzten Medium wiederum als homocentrische Strahlenbüschel ver-
laufen, d. h. so, als ob sie von entsprechenden Punkten innerhalb des
letzten Mediums in directer Verbreitung ausgingen ; wobei es gleich-
giltig, ob diese — die Bildpunkte — durch das factische Zusammen-
treften der einzelnen Strahlen als reelle , oder durch das Zusammen-
treffen in ihrer blos gedachten Forlsetzung als virtuelle sich darstellen.
sefir wesenllicfie Grundlage für diis Vcrsländniss der Wirkungsweise aller mikrosk(
piscfien Appai'ate ausmachen.
280 E. Abbe.
Mag der eine oder der andere Fall vorliegen , also ein reelles oder
ein virtuelles Bild der Lichtquelle entstehen, jedenfalls kann dieses, da
alle Strahlen, die überhaupt im letzten Medium verlaufen, von seinen
einzelnen Punkten geradlinig ausgehen, als die Ouelle aller Lichtwir-
kungen im letzten Medium aufgefasst werden , sowohl derjenigen,
welche sich objectiv, als Beleuchtung an andern, sonst dunkeln Gegen-
ständen äussert, wie auch derjenigen, durch welche das Bild selbs
von einem Sehorgan im nämlichen Raum wahrgenommen wird. Denn
es veihält sich durchaus wie eine lichtstrahlende Fläche und unter-
scheidet sich von der ihtn congruent angenommenen Oberfläche eines
selbstleuchtenden Körpers an s iner Stelle nur in dem einen Umstand:
dass nämlich seine Punkte (oder Flächenclementc) nicht allseitig strah-
len, sordcrn je innerhalb gewisser Winkeliäume nach Maassgabe
dgr Begrenzung, in welcher das optische System die Strahlenbüschel
von den Punkten der Lichtquelle in sich aufnimmt. Die Strahlungs-
wirkung im ganzen Raum des letzten Mediums vollständig bestimmen,
muss daiier jedenfalls auf die Aufgabe zurückgeführt werden können:
sowohl die den einzelnen Theilen jenes Bildes beizulegende Leuchtkraft
als auch die Bedingungen für die räumliche Begrenzung des von ihm
ausgehenden Strahlenlaufs abzuleiten aus den entsprechenden Beslim-
mungsstücken, w eiche für die Strahlungswirkung des Objects im ersten
Medium mit seiner Beschafl'cnhcit und mit der Einrichtung des Linsen-
systems gegeben sind.
Als maassgebende Eigenschaften des Objects (der Lichtquelle) für
die in Rede stehenden Erscheinungen kommt, ausser der Lage und
Gestalt, natürlich nur die in seinen Oberflächentheilen wirksame
Leuchtkraft in Frage. Die Einrichtung des optischen Apparates, so weit
sie zunächst für die Lage und Grösse des Bildes bestimmend ist, wird,
den Lehren der Dioptrik zufolge , vollständig definirt durch die soge-
nannten Cardinalpunkte, wie dieselben durch die Theorie von G.vuss
nachgewiesen sind, und die Ae(juivalentbrennweite des Systems; durch
welche Daten die Wirkungsweise des Linsensystems, wie es auch sonst
gestaltet sein mag, auf die einer einzigen Linse, resp. einer einzigen
Kugelfläche reducirt werden kann. Was aber die Begrenzung anlangt,
in welcher die Strahlenbüschel von den Punkten der Lichtquelle mit-
telst des optischen Apparates zur Wirkung gelangen , so ist diese bei
aUseitig strahlenden (diftüs- oder selbstleuchtenden) Objecten stets rein
mechanisch gegeben : durch die undurchsichtigen Ränder der Linsen
oder durch irgendwo angebrachte und . irgendwie gestaltete Dia-
phragmen, welche nur den Strahlen innerhalb eines gewissen Winkel-
raumes (gewöhnlich in der Nähe der optischen Axe den freien Durch-
lieber die Bcstiminnnii der Liflitstürkf ((|itiscliei' liisliiimeiilc,
281
gang geslallen. Bei Objeeten dagcgcMi , uciclu' l\<Mn(' selbständige
Strahlung üben , sondern oi)lisch wirksam werden durch die Strahlen
einer hinler ihnen befindlichen I.icht(|uelle — wie es z. B. bei dei'
Verwendung des Mikroskops mit durchlallendeni Licht der Fall ist —
kann die Begrenzung der einfallenden Strahlen auch durch die Conlour
jener Lichtquelle bewirkt werden, wofern nicht eine Blendung vor oder
hinter dem Objecte die von seinen Punkten ausgehenden Stiahlen-
kegel auf (>inen geringeren Oetl'nungswinkel reducirt, als nach der
Ausdehnung der Lichtquelle ihn(Mi znkonnnt. Wie n)an sich alter auch
das, was man die freie Oelfnung des optischen Apparates nennt, im
einzelnen Falle bestimmt denken will , immer wird man sie reduciren
können auf eine innerhalb des eisten Mediums gegebene
durchsichtige l*M;iche in einer den Sirahlenlauf der Lichtquelle
beschränkenden undurchsichtigen Wand, nach An eines wirklichen
Diaphragmas wirkend ; und es w erden sich die verschiedenen Fälle
nur durch die Grösse und Gestalt sowie durch den Oi"t, an welchem
sich dieses wirkliche oder fingirte Dia]ihiagma befindet, von einander
unterscheiden .
Dies vorausgeschickt hat es keinerlei Schw ierigkeil , Rechenschaft
zu geben von den geometrischen Bedingungen, durch v\ eiche die Aus-
breitung der Strahlen im letzten Medium , nach dem Durchgang durch
das optische System und nach Formirung des Bildes der Lichtquelle,
begrenzt ist. Repräsentire in Fig. i. [i eine beliebige Linsencombina-
Fig. 4.
lion , (I das leuchtende Object, h das von ihm entworfene z. B. reelle
Bild im letzten Medium und a die Oetlnung einer den Strahlengang vor
dem System begrenzenden Blendung, diese im Beispiel als zwischen
Object und Linse liegend angenommen. Dann ist einleuchtend, dass
der optische Apparat auch von dem Dia()hragma grade wie \on irgend
einem andern vor ihm befindlichen Gegenstand ein reelles oder vir-
tuelles Bild inj letzten Medium entwirft Denn die Gesammtheit der
282 E. Abbe,
Strahlen, welche von den sämmtlichen Punkten der Lichtquelle a durch
die sämmtlichen Punkte der freien Oeffnung a hindurchtreten, lassen
sich nicht nur zusammenfassen zu Strahlenbüscheln, die von den
Punkten von a — z. B. dem Punkte m — homocentrisch ausgehen,
sondern ebensowohl auch zu solchen , die homocentrisch von den ein-
zelnen Punkten der freien Oeffnung aus verlaufen ; da ja in allen
Stellen einer innerhalb der Contouren von a beliebig angenommen ge-
dachten Fläche — z. B. im Randpunkte f.i — eine Anzahl von Strahlen
sich wirklich kreuzen — je einer von jedem Punkte der Lichtquelle.
Nach dem Begriffe eines bilderzeugenden optischen Systems muss aber
jeder homocentrische Strahlenbüschel , von wo er auch im ersten Me-
dium ausgehen mag (natürlich innerhalb der Schianken, welche durch
das Auftreten der sphärischen Aberration gesteckt sind ) nach dem
Durchgange wieder als homocentrisch verlaufen, d. h, im letzten Me-
dium einen Bildpunkt von seiner Ausgangsstelle erzeugen ; die ganze
in a angenommene Fläche nmss sich mithin Punkt für Punkt, nach
Maassgabe ihrer Lage gegen die Cardinalpunkte des Systems und seiner
Brennweile, im nämlichen Baume mit dem Bilde des Objeöts a voll-
ständig abbilden — sei es reell oder sei es virtuell, jedenfalls so, dass
die Begrenzung (der Rand) dieses Bildes das Bild von dem Rande des
Diaphragmas a ist.
Bezeichne ß dieses (in der Figur als gleichfalls reell angenommene)
Bild von a, welches man kurz das Bild der Oeffnung nennen kann.
Man erkennt nun sogleich, dass irgend ein Stralil, der vor dem Ein-
tritt in das System von einem bestimmten Punkte des Objects a aus und
durch eine bestimmte Stelle der Oeffnung a hindurch gegangen ist, im
letzten Medium in der Verbindungslinie der correspondirenden Punkte
des Objectbildes a und des Oeffnungsbildes ß verlaufen muss;
und dass umgekehrt auch jede Verbindungslinie von irgend zwei
Punkten dieser Bilder den Weg eines in das System eingetretenen
Strahls darstellt. Damit aber ist ausgedrückt, dass im letzten Medium
alle überhaupt vorhandenen Strahlen von den Punkten des Objectbildes
aus und durch die Punkte des Oeffnungsbildes hindurch verlaufen ; oder
in andern Worten: dass die gesammte Strahlung, die im letzten Me-
dium als vom Bilde a der Lichtquelle ausgehend gedacht wird, durch
das im nämlichen Baume auftretende Oeffnungsbild ß des Systems in
allen Stücken ebenso begrenzt ist, wie die Strahlung eines an Stelle
von a gesetzten selbstleuchtenden Objects durch eine mit diesem Oeft-
nungsbilde gleich gestaltete und gleich gelegene Diaphragmenöffnung.
Vorstehende Schlüsse finden unmittelbar auch auf den oben
erwähnten Fall, der bei Beleuchtung eines Objectes mil durchfallendem
lieber die ßestimmniig der Lichtstärke optischer Instrumente. 283
Licht eintreten k;inn , Anwendung. Auch wenn die Begrenzung der
Strahlenkegel , die der optische Apparat von den Objectpunkten auf-
nimmt, hinler (lern Objeol iiiif der vom System alip;ewandlen Seite
erfolgt, etwa durch die Conlouren der Lichl(|uelle sell)st, oder durch
don Rand einer BlendungsölVnung zwischen ihr und dem Object, ist
stets eine Flüche im vordei-en Medium gegeben , weh-.hc die Itolh; des
vorhin betrachteten Diaphragmas a in allen Stücken übernimmt; ihre
veränderte Lage gegen Object und Linsensystem hat ausschliesslich eine
andere Stellung des nunmehrigen Oettnungsbildes gegen das Bild des
übjecls im hinlern Medium zur Folge.
Es kann jedoch auch der Fall vorkommen , dass die Begrenzung
der durch den Apparat hindurch tretenden Strahlen überhaupt nicht
im vordem Baume, sondern entweder durch ein Diaphragma hinler
dem System oder durch ein solches zwischen den Linsen erfolgt. Liegt
ersteres vor, so übernimmt offenbar dieses Diaphragma für das letzte
Medium die Rolle, die vorher dem Oeffnungsbilde zukam; in Betreif
des Sirahlengangs vor dem System aber lässl sich duich eine nahe lie-
gende Betrachtung erweisen, dass das Bild, welches die brechenden
Flächen von der hinter ihnen befindlichen Blendung nach vorn entwer-
fen, mag es reell oder virtuell werden, die eintretenden Strahlenbündel
ebenso wie eine im vordem Medium an seiner Stelle angebrachte wirk-
liche Blendung begrenzt. — Befindet sich endlich das wirksame Dia-
phragma zwischen den brechenden Flächen , so beweist man auf
gleichem Wege, dass für den Sirahlengang im ersten Medium das reelle
oder virtuelle Bild maassgebend ist, welches die vor der Blendung
stehenden Linsen nach dem vordem Raum hin entwerfen, und für den
Sirahlenverlauf im letzten Medium das von den hinler ihr stehenden
nach hinten erzeugte Bild : auf diese beiden Oeflnungsbilder — die
nach bekannten Sätzen der Dioptrik auch stets Bilder von einander
sind — finden die früheren Schlüsse ungeänderl Anwendung.
So sind z. B beim Auge die eintretenden Sirahlenbündel begrenzt
nicht durch die wirkliche Pupillenöfinung im Innern, sondern vielmehr
durch das von der Hornhaut nach vorn entworfene virtuelle Bild der-
selben, gestallet und gelegen genau so, wie die Pupille von aussen
gesehen erscheint. Dieses liegt zwar gleichfalls innerhalb der Augen-
medien; für die Verwendung aber, die es finden soll, ist es in der
virtuellen Fortsetzung des äussern Luftraumes zu denken, so dass die
Strahlen eines vor dem Auge siehenden Objects gradlinig bis zu ihm
hin verlaufen. — Andrerseils finden die Strahlenkegel, welche die
Netzhaut treffen, ihre Begrenzung vermöge des — gleichfalls virtuellen
— Bildes der Pupille, das von der Linse nach hinten entworfen wird
284 E. Abbe,
und in der virtuellen Fortsetzung des Glaskörpers enthalten gedacht
werden muss. < *■
Nachdem auf diese Art Rechenschaft gegeben ist von den geome-
trischen Bedingungen , an welche die Lichtstrahlung in dem Räume
hinter dem optischen System geknüpft ist, insofern man sie daselbst
von den Fanklon des Bildes der Lichtquelle ausgehend denkt, bleibt
zur allseitigen Bestimmung der fraglichen Wirkung nur noch die Leucht-
kraft festzustellen, die diesem Bilde in seinen verschiedenen Theilen
beizulegen ist. Solches kann leicht gescholien, indem man das im vori-
gen Abschnitt aufgestellte a llgem e i ne Theorem über die mittelbare
Lichtstrahlung (nner Lichtquelle durch spiegelnde oder brechende Flä-
chen auf den vorliegenden Fall anwendet — was ohuf Weiteres zulässig
erscheint, da alle für ihn zu machenden Voraussetzungen als mögliche
specielle Fälle in denjenigen Voraussetzungen enthalten sind, aufweiche
jener- Satz sich gründet. Dieser fordert nun im Aligemeinen die Ein-
führung einer beliebig gelegenen und beliebig gestalteten Fläche im
Bereich des letzten Mediums ; er fordert sodann , zur Bestimmung der
Wirkung an je eine m Orte im hintern Räume , dieser Fläche eine
Leuchtkraft beizulegen, die Funkt für Funkt der an einer correspondi-
i'enden Stelle der Lichtquelle auftretenden gleich, bezüglich proportional
ist; und er giebt für die Ermittelung dieser correspondirenden Stellen
eine Regel, die für jeden einzelnen Ort ein eindeutiges, im Allgemeinen
aber für jeden andern ein anderes Resultat liefern muss. Da nun für
die Wahl jener Hülfsfläche, in der die äquivalente Vertheilung dei-
Leuchtkraft aufzunehmen ist, vollkommen freie Hand bleibt, so darf
man sie im einzelnen Falle den ]>esondein Umständen so anpassen,
dass dabei das Endergebniss eine möglichst übersichtliche und einfache
Gestalt gewinnt. Nachdem nun schon, in Rücksicht auf die geometri-
schen Eigenschaften des Strahlenlaufs, das Bild der Lichtquelle selbst
zum Träger der Lichtwirkung im letzten Medium gemacht worden . ist
ihm selbstverständlich auch die Rolle jener Hülfsfläche für die weitere
Betrachtung zuertheilt. In der That wird aber auch durch diese Dispo-
sition für die beabsichtigten photometrischen Bestimmungen die denk-
bar einfachste Form gewonnen.
Denkt man nämlich — um die in Abschnitt II gegebene Con-
struction jetzt anzuwenden - von irgend einer Stelle des letzten
, Mediums Richtungslinien nach den verschiedenen Punkten des Bildes
der Lichtquelle gezogen und nach den Gesetzen für die Brechung eines
Lichtstrahls durch das ganze System hindurch bis zu dieser hin fort-
gesetzt, so muss jetzt jede solche Richtungslinie, von wo aus sie
auch gezogen sei, wofern sie überhaupt zur Lichtquelle gelangt,
lieber die Besliminiiiig' der Lichtstarke optisclier Instrumente. 285
sie nothwendig in demjenigen Punkt erreichen , durch dessen Bild im
letzten Medium sie hindurch geht — wie aus dem Begriffe des optischen
Bildes ohne Weiteres einleuchti^l. Im Hinblick auf die allgemeinen Be-
stimmungen des vorigen Abschnittes folgt hiet aus aber, dass jede Stelle
der Rildfliiche, von welcher überhaupt Strahlen nach irgend einem Orte
des letzten Mediums gelangen, für diesen Ort eine Leuchtkraft gewin-
nen muss, die derjenigen im correspondirenden Objectpunkt nach
Maassgabe des Quadrats des relativen Brechungsexponenten propor-
tional ist; oder in andern Worten: die Lichtquelle überträgt die Leucht-
kraft ihrer einzelnen Theile auf die entsprechenden Theile des von ihr
entworfenen Bildes , Punkt für Punkt modificirt nach Verhältniss des
relativen Brechungsexponenten vom ersten zum letzten Medium.
Bei dieser Form der Bestimmung konnnl nun kein Element mehr
in Betracht, welches auf den Ort Bezug nähme, für welchen die Wir-
kung gesucht wird, ausser für die Entscheidung der Alternative, ob
überhaupt die durch einen Bildj)unkt gezogene Richtungslinie zur Licht-
quelle gelangt oder , vermöge der Begrenzung des Strahlengangs , am
Durchtritt durch den optischen Apparat verhindert wird , d. h. ob für
den angenommenen Ort eine Stelle des Bildes überhaupt zur Mitwir-
kung gelangt oder als ganz unwirksam erscheint. Demnach ergiebt
sich für das Bild der Lichtquelle eine Vertheilung der Leuchtkraft, die
für den ganzen Bereich des letzten Mediums allgemeingiltig ist; mit der
Einschränkung jedoch, dass für jeden andern Ort darin im Allgemeinen
ein anderer Theil der Bildüäche wirksam wird, ein anderer unwirk-
sam bleibt.
Wie sich für die einzelnen Orte im hinteren Räume die Scheidung
des Bildes in einen wirksamen und einen unwirksamen Theil gestalte,
kann endlich ebenfalls leicht bestimmt werden , indem man auf die
Bedeutung des Oeffnungsbildes, wie sie vorher dargelegt ist, zurück-
geht. Das dort Gesagte, zusammengehalten mit dem zuletzt aufgestell-
ten Salz, liefert das kurze und übersichtliche Endergebniss :
Die g e s a m m t e S t r ji h 1 e n w i r k u n g , welche e i n b e 1 i e b i-
g e I' optischer Apparat im Bereich des letzten Mediums
vermittelt, ist nach allen Beziehungen vollständig be-
stimmt, indem man dem Bilde des Objects oder der
Lichtquelle Punkt für Punkt die Leuchtkraft der corre-
spondirenden Stellen des Olijects selbst (oder eine ihr
p r «1 p o r t i o n a I e ] beilegt, und die von» Bilde a u s g e h e n tJ e
Slra hien Verbreitung durch das Bild der Oeffnung so be-
grenzt denkt, wie die Strahlung einer s e I b s 1 1 e u e h l e n d e n
Fläche durch ein entsprechendes Diaphragma.
Bd. VI. 2. äü
286
E. Abbe,
Darauf hin ist unmittelbar zu entscheiden, welcher Abschnitt des
Bildes für irgend einen gegebenen Ort wirksam wird, indem man den
Theil desselben abgrenzt, von welchem aus die Richtungslinien (Strah-
len) nach dem fraglichen Orte in geradliniger Fortsetzung irgend einmal
durch das Bild der freien Oeffnung hindurch treten. Dies ist, wie leicht
einzusehen, immer derjenige und nur derjenige Theil des Objectbildes,
welcher sich von jenem Orte aus auf das Oeflnungsbild projicirt, oder
auf welchen sich das Oeflnungsbild projicirt. — Stellt z. B. in Fig. 5
hc das Bild der Lichtquelle und ßy das im nämlichen Medium entwor-
Flg. 5.
fene Bild der Oeflfnung dar, so giebt für den Ort 0 der Strahl Oßr die
Grenze des wirksamen Theils; der Abschnitt er sendet von allen seinen
Punkten Strahleti nach 0, der Abschnitt rh von Jceinem seiner Punkte;
er ist daher für die in 0 erfolgende Beleuchtungswirkung nicht vor-
handen, oder es ist ihm eine Leuchtkraft = Null zuzuschreiben. Ebenso
findet sich der wirksame Theil des Bildes für die Stelle 0' zwischen den
Punkten s und t, für die Stelle 0" zwischen u und v u. s. w.
Hinsichtlich der Lage beider Bilder gegeneinander und gegen den
Ort der Wirkung können vielfache Modificalionen eintreten. Für den
Theil des letzten Mediums, von welchem aus das Bild der Oeffnung vor
dem Objectbild steht, wie in Fig. 5 für den Abschnitt auf der Seite
des Punktes 0 , wirkt jener in allen Stücken wie ein durchsichtiges
Fenster in einer uödurchsichtigen Wand gegenüber einer hinter dieser
befindlichen Lichtquelle. Aber auch wenn die Lagenverhältnisse andere
sind und dieser Vergleich keine wörtliche Anwendung findet, die Rich-
tungslinien vielmehr die Oeffnung erst treffen, indem man sie rück-
wärts über das Bild hinaus oder vorwärts über den Ort der Wirkung
Ueber die Bestiramiiim ilor Ijclitstäike o|ilisc1i('r Inslrumontc 287
hinaus verliiiii^orl, immer bleibt der Zusammenhang der Sache nach
derselbe. In allen Fällen kann — wie in der Fissur durch die ungleiche
ScIiralTnung angedeutet ist — der ganze Ilaum im Bereiche des letzten
Mediums in drei von einander getrennte Abschnitte zerfällt werden,
vermöge einer Construclion ganz gleichartig derjenigen , durch welche
man Kernschatten, Halbschatten und Lichlraum eines leuchtenden Kör-
pers lindet : erstens in einen solchen , in welchem alle Punkte des
Objectbildes strahlend wirken, — wozu auf alle Fälle die Fläche des
üelVnungsbildes selbst gehört ; zweitens in einen solchen , für welchen
ein Theil leuchtet, ein anderer unwirksam ist; endlich in einen dritten,
für welchen alle Wirkung ausgeschlossen, d. h. das ganze Bild der
Lichtquelle durch die undurchsichtige Wand des Diaphragmas ßy ver-
deckt ist.
Durch die im Vorstehenden entwickelten Sätze ist die photorae-
trische Wirkung einer beliebigen optischen Combination allgemeingiltig
zurückgeführt auf die directe Strahlung einer innerhalb des letzten
Mediums auftretenden — secundären — Lichtquelle, deren Leuchtkraft
in allen Theilen vollkommen bestimmt wird allein durch die Leucht-
kraft der primären Lichtquelle und den relativen Brechungsexponenten
zwischen dem ersten und dem letzten Medium. Wie sich daher jene
Wirkung auch äussern mag, unter allen Umständen kann sie beurtheilt
werden nach den bekannten und unter Abschnitt I zusammengestellten
Gesetzen für die directe Strahlung eines selbstleuchtenden Körpers.
Nach diesen lässt sich — unter Zuhilfenahme der gleichfalls gegebenen
Regeln für die geometrische Begrenzung — die Beleuchtungsstärke be-
stimmen , welche das optische Bild an irgend einer Stelle des Raumes
hervorbringt , ohne dass es nölhig wäre , irgend ein neues Gesetz für
diesen Fall aufzustellen. Namentlich reicht diese Zurückführung auch
aus, um diejenigen Effecte vollständig zu beherrschen, die ein optischer
Apparat darbietet, insofern er als Hilfsmittel für das künstliche Sehen
Verwendung findet, da sie auf Grund derselben ohne Weiteres mit der
entsprechenden Wirkung eines leuchtenden Gegenstandes beim natür-
lichen Sehen verglichen werden können — wie im Folgenden noch
näher erörtert wird.
Nur für einen singulären Fall bedarf die gegebene Entwickelung
noch einer Ergänzung. Wenn nämlich die Lichtwirkung gesucht wird
für einen Punkt, der in das Bild der Lichl(juelle selbst fällt, — wobei
natürlich, sofern physisch realisirbare Verhällnisse ins Auge gefasst wer-
den, dieses Bild ein reelles sein muss. Für diesen Fall — der bei jeder
Sanunellinse für den Ort ihies Focus , beim Auge, Bildmikroskop etc.
eintritt, und in Bezug auf diese Apparate vorzugsweise Interesse
" 20*
'288
E. Abbe,
gewinnt — versagt die aufgestellte Regel zur Bestimmung des wirk-
samen Theils des Bildes ihren Dienst: lässt man den Ort der Wirkung
(etwa den Punkt 0 in Fig. 5) mit irgend einer Stelle des Objectbildes
selbst zusammenfallen, so wird der Theil des letztern, den die Pro-
jection des Oeffnungsbildes deckt oder dessen Projection seinerseits das
Oeffnungsbild bedeckt, absolut Null, während gleichzeitig der Abstand
der als Lichtquelle geltenden Fläche vom Orte der Wirkung und damit
überhaupt die Möglichkeit einer von ihr ausgehenden Beleuchtung auf-
gehoben ist. Die Unbesliuimtheit des Resultats, die in diesem Falle
scheinbar vorliegt, hebt sich indess sogleich, wenn man denselben als
Grenzfall einer immer weiter fortgesetzten Annäherung an die Bild-
lläche auffasst und demgemäss die Wirkung beurtheilt.
Stelle bc (Fig. 6) wiederum das Bild der Lichtquelle und ßy das
der Oeft'nung vor. Betrachtet man zunächst einen Punkt 0 in beliebiger
Entfernung von 6c, für
welchen , nach der oben
gegebenen Regel bestimmt,
der wirksame Theil der
Bildfläche der Raum su
sein mag, so kann die von
ihm in 0 ausgeübte Licht-
wirkung ganz allgemein
auch auf eine Vertheilung
von Leuchtkraft in der
Fläche des Oeffnungsbil-
des zurückgeführt werden.
Denn nach einem in Abschnitt I namhaft gemachten Satz sind die Be-
leuchtungseffecte zweier leuchtenden Flächen an einem bestimmten
Punkt äquivalent, wenn von hier aus die eine sich so auf die an-
dere projicirt, dass Theil für Theil Stellen gleicher Leuchtkraft zu-
sammenfallen. Daher braucht man nur die Leuchtkraft des Bildes bc
in irgend einem Punkte des Stückes su auf den entsprechenden Punkt
rdes Oeffnungsbildes übertragen zu denken, um von diesem aus in 0
die nämliche Wirkung zu erhalten. Dies gilt allgemein , welches auch
die Lage der beiden Bilder gegen einander und gegen den Ort der be-
trachteten Wirkung sein mag. Wenn man hiermit zusammenhält die
Bestimmung, nach welcher die Leuchtkraft des Bildes aus der der Licht-
quelle selbst abgeleitet wird, so rechtfertigt sich leicht der folgende
Ausdruck für das Gesetz der Lichtwirkung , durch einen beliebigen
optischen Apparat : es ist die gesammte Strahlung an irgend
einem Orte des letzten Mediums in allen Stücken iden-
^
t
\
^%=c^
ß
zt.
--^
^^\
T
tv
^0'
y
Fis. 6.
Heber die Besliinmuiig der I.iclilsliirkc oittisrlicr Insliiiint'iilt'. 289
lisih mit ci ner Strahlung aus der Fläche des Oeffnung|s-
hildos, wofern man dieser jedesmal Punkt für Punkt
eine Leuchtkraft beilegt, gleich oder proportional der-
I jenigen der ursprünglichen Lichtquelle in dem Tlieilc,
dessen Bild sich von jenem Orte aus auf das Hihi dcv
0 e f f n u n g p r o j i c i r l.
Diese Form des Gesetzes ist /A\ar im Allgemeinen , gegenüber der
i zuerst entwickelten, für die llebei-siclU dei- givsammten W'irkinigen \\v-
f niger IxMjuem; dagegen ist sie die all(>in anwendbare und zii^lc^ielt
auch die einfachste , wenn es sich um den vorhin namhaft gcinaclilen
besondern Fall handeil. Denn in dem eben aufgeslelllcn Tli('or<Hn hin-
dert Nichts, den Ort der zu b(>slimmenden Wirkung beliebig nahe an
das Objectbild heranrücken und ihn zuletzt in dieses selbst fallen zu
lassen. Je näher — s. Fig. 6 — der Punkt 0' an bc liegt, deslo kleiner
wird der Theil v w , desto kleiner also auch der correspondirende Theil
der Lichtquelle selbst, von welchem die Fläche ßy ihie Leuchtkraft ent-
lehnt, deslo tnehr nähert sich den)nach die Leuchtkraft in ihren ver-
schiedenen TheihMi demselben Werth; rückt 0' schliesslich ganz in das
Bild 6c, so rcducirl sich der Raum vw auf einen einzigen Punkt, des-
sen Lcuchlkraft folglich für alle Theile von ßy zugleich maassgebend
wird. Man erhall daher für den ins Auge gefasslen Fall folgenden ein-
fachen Satz:
Die Lichtwirkung, welche irgend ein optischer Appa-
rat in einem beliebigen P unkte des Bildes einer gegebe-
ne n Lichtquelle vermittelt, ist stets äquivalent einer
Lichtsti'ahlung aus der Fläche des Oeffnungsb il des, wenn
dieser in a 1 1 c n T h e i I e n d i e L e u c h l k r a f t d e s z u g e h ö i- i g e n
0 b j e c tp u n k l e s beigelegt w i i' d — oder eine d i (> s e r im V e r-
hältniss des Quadrats des Brechungsexponenlen pio-
porlionale, fa I Is das letz le Medi um vom ersten verschie-
den ist.
Mit diesei" Ergänzung vermag die aufgestellte Theorie über alle
Fragen Recheiisehaft zu geben , die auf dem Boden der ihr zu Grunde
liegenden Voraussetzungen sich darbieten können. Uebrigens erkennt
man , dass alle wesentlichen Beslandlheile der Darstellung in diesem
Abschnilte, wenigstens als mehr oder minder zulrelfende Näherungen,
oder mit leicht zu überschauenden Coricclionen in Geltung bleiben auch
dann noch, wenn die eine oder die andere jener Voraussetzungen im
einzelnen Falle nicht vollständig erfüllt ist.
So wird namentlich die von Anfang an feslgehallene Annahme rein
spiegelnder oder rein brechender Flächen , die natürlich niemals der
290 E. Abbe,
Wirklichkeit genau entsprechen kann , nur solche Modificationen in den
schHesslichen Ergebnissen herbeiführen, die den allgemeinen Zusam-
menhang der einzelnen Bestimmungen gar nicht mehr berühren und
auch in ihrem Einfluss auf das Quantitative der Wirkung im concreten
Fall meistens leicht abzuschätzen sind. Bei denjenigen Formen opti-
scher Apparate wenigstens, an welche sich das Interesse dieser Unter-
suchung vorzugsweise knüpft, sind die vernachlässigten Nebenwir-
kungen, die Beflexionen an den brechenden, die Absorption an den
spiegelnden Flächen und im Innern der durchsichtigen Medien, — we-
nige exceptionelle Fälle abgerechnet — erstens sehr gering und zwei-
tens für die ganze Ausdehnung je einer Fläche als nahezu constajit
anzusehen. Ihr Einfluss auf das Endergcbniss reducirt sich daher auf
eine an allen Stelleu nahezu gleichförmige Verminderung der Leucht-
kraft der im letzten Baume wirksamen Lichtquelle; man trägt ihr
bequem durch Einführung eines Verlustfactors Bechnung, den man
in jedem concreten Fall aus der Zahl und Beschaffenheit der betref-
fenden Theile nach bekannten Verfahrungsweisen numerisch bestim-
men kann.
Was ferner die sogenannte chromatische und sphärische Ab-
weichung anlangt, so stellt crstere zunächst kein Hinderniss für die
Anwendung der entwickelten Sätze dar; denn diese kann auf die
verschiedenen farbigen Bestandtheilc des Lichts einzeln erfolgen und
liefert alsdann für jeden ein Resultat der gleichen Art, nur dass die
geometrischen Bestimraungsstücke darin , Grösse und Lage der maass-
gebenden Bilder, von einer Farbe zur andern um ein weniges variiren.
Die Gesammtwirkung lässt sich daher bestimmen durch Summation
der Strahleneffecte , welche von den verschiedenen farbigen Bildern,
jedes für sich genommen, ausgehen. Das Auftreten sphärischer Aber-
rationen, und zwar solcher, welche den homocentrischen Verlauf der
Strahlen beeinträchtigen , hebt allerdings den Begriff des optischen
Bildes und damit auch die darauf gegründeten Schlüsse streng genom-
men auf. Daher erlauben die Ergebnisse der vorstehenden Unter-
suchung ohne weiteres die Anwendung nur in dem Falle, dass die
Oeffnungswinkel der wirkenden Strahlenkegel verschwindend klein
bleiben , oder es muss , wenn sie eine endliche Grösse besitzen , aus-
drücklich die Annahme gemacht werden, dass das optische System
wenigstens für die Punkte der beiden maassgebenden Bilder vollkom-
men aberrationsfrei sei. Wie man indess, auch wenn diese Voraus-
setzung nicht erfüllt ist, bei der Betrachtung der rein geometrischen
Beziehungen den einfachen Begriff des optischen Bildes dennoch fest-
hält, indem man die Abweichungen vom Sirahlengang durch Einfüh-
ücber die Besliiniiniiiji der Liclilsirirkr optischer iiistriiiiieiiti'. 2^1
rung kleiner Zerstreuungskreise für die Bildpunkle in Anschlag bringt,
so Inssen sich in diesem Falle auch die pholonietrischen Gesetze in
der entwickelten einfachen Form aufrecht erhalten, wofern iiei ihrer
Anwendung im Einzelnen auf diese Zerstreuungskreis<^ in leicht
ersichtlicher Art Bedacht genommen wird. — Aberrationen (Midlich,
welche sich in anderer Art äussern, etwa in einer Krümmung der
Bilder oder in ungleichförmiger Vergrösserung , sind für die in Rede
stehenden Fragen völlig gleichgiltig, da über die Gestalt des Bildes
keinerlei Voraussetzung gemacht worden ist.
(Schluss folgt.)
lieber Schwefelsäurechloride.
Von
Dr. A. Michaelis.
In einer früheren Abhandlung habe ich gezeigt, dass sich das
Chlorid SO2CI2 auf keine Weise aus einer Schwefelsäureverbindung
darstellen lässt. Beim Vergleichen der Literatur fand ich nun in einer
Abhandlung von Carils •), »Ueber die Chloride des Schwefels«, in einer
Anmerkung die Angabe, dass sich diese Verbindung durch Einwirkung
von Phosphorsuperchlorid auf Bleisulfat bilden solle. Da diese Einwir-
kung, wenn sie wirklich so glatt von statten ginge wie dies Carius
angiebt, eine sehr bequeme Darstellungsmethode des Sulfurylchlorids
sein würde, so säumte ich nicht sie zu prüfen.
Caruis giebt nicht an in welchem Verhältniss er Phosphorsuper-
cblorid und Blcisulfat anwandte. Indem ich voraussetzte, dass die
Einwirkung nach der Gleichung
SOjPb + 2PCI5 = SO2CI2 4-2POCI3 -4- PbCla
vor sich ginge, brachte ich ein inniges Gemenge von 70 Grm. PCI5 und
58 Grm. S04Pb (also ein Ueberschuss von 5 Grm. dieses letzleren Kör-
pers) in einen Kolben, der mit einem umgekehrten LFEBia'schen Kühler
verbunden war und erhitzte im Wasserbade. Da sich nach kurzer
Zeit am oberen Ende des Kühlers ein starker Geruch nach Chlor und
schwefliger Säure bemerkbar machte, so verband ich denselben mit
einem Glasrohr und leitete die sich entwicklenden Gase in ein etwas
W^asser enthaltendes Gefäss. Hier konnte die schweflige Säure, zu
Schwefelsäuse oxydirt, nachgewiesen werden und das Chlor gab sich
durch Geruch und Farbe zu erkennen. Nach fünfstündigem Erhitzen
hatte die Gasentwicklung aufgehört und die vorher trockne Masse war
grösstentheils flüssig geworden. Diese Flüssigkeit Hess sich durch
1) Ann. d. Chem. u. Pharm. CVl. p. 307.
lieber SchwelelsiiHrecliloride. 1293
wiederholte Destillation in drei Theile zerlegen. Der erste, welcher nur
eine sehr geringe Menge darstellte, siedelte von SO — 95". Mit Wasser
zersetzt entwickelte derselbe eine grosse Menge schweflige Säure, wah-
rend die Lösung nur eine geringe Reaction auf Schwefelsäure zeigte.
Dieser Theil bestand also hauptsächlich aus Thionylchlorür, welches
höchstens Spuren von Sulphur^lchlorid enthielt.
Der zweite Theil, dessen Siedepunkt bei I \ 0" lag und fast die ganze
Menge der Flüssigkeit ausmachte, bestand aus Phosphoroxychlorid.
Der dritte Theil endlich , welcher noch weniger wie der niedrigst
siedende betrug und von 145" — 150^ siedele, bildete an der Luft weisse
Nebel und zersetzte sich mit Wasser ganz ruhig. Die Flüssigkeit ent-
hielt dann viel Schwefelsäure. Dies war also jedenfalls Pyrosulfuryl-
chlorid ') .
Hieraus folgt zunächst, dass die Angabe von Carius, die Einwir-
kung von Phosphorsuperchlorid auf Bleisulfat sei eine bequeme Dar-
stellungswoise des Sulphurchlorids, ganz falsch ist; was derselbe für
Sulphurylchlorid gehalten hat, war nur Thionvlchlorür mit höchstens
Spuren von Sulphurylchlorid vermischt. Die wi?kliche Einv^irkung
verläuft im Ganzen vielmehr so, dass statt des Sulphurylchlorids dessen
Zersetzungsproducte Chlor und schweflige Säure auftreten :
SO,Pb -f ilPCI, = SO., -f Cl, -h 2P0CI:. + PbCl,.
Die Bildung des Pyrosulfurylchlorids macht es wahrscheinlich, dass
diese Zersetzung in zwei Phasen verläuft, indem sich zuerst Pyrosul-
phurylchlorid nach der Gleichung :
2S04Pb -f- 3PCI5 = S2O5CI2 -f- 3P0CI;, -\- iPbCl.^
bildet, dies wird aber, wie ich früher gezeigt habe'-), durch Phosphor-
superchlorid in Chlor und schweflige Säure zersetzt nach der Gleichung:
SiO.^CI-i -f- PCI,-, = 'ISO-i 4- ^'Cl -h PCljO.
Das Thionylchlorür ist offenbar ein secundäres Product, entstanden
durch die Einwirkung der sich entwickelnden schwefligen Säure auf
Phosphorsuperchlorid.
Da es mir so auf keine Weise gelang das Sulphurylchlorid darzu-
stellen , so war ich daran die Existenz dieses Körpers überhaupt zu
bezweifeln. Als einzig mögliche Art seiner Darstellung blieb noch die
von Regnault^) übrig, nämlich schweflige Säure und Chlor im Sonnen-
licht auf einander einwirken zu lassen. Regnault giebt als Siedepunkt
des von ihm erhaltenen Körpers 77" an; da nun der Siedepunkt des
<) Vergl. d. Zeitschr. Bd. VI. p. 236.
2) Ebend.
3) Ann. de chim. et de pliys. (3) T. LXXI. p. 445.,
^^4 Dr. A. Michaelis,
damals noch unJiekannlen Thionylchlorürs 78o ist, so konnte vielleicht
eine Verwechselung dieser beiden Körper stattgefunden haben, mit wel-
cher Voraussetzung freilich nicht die analytischen Resultate Regnaült's
und das von ihm angegebene Verhalten dieses Körpers übereinstimmen
Thionylchlorür hätte sich unter Freiwerden von Sauerstoff aus schwef-
liger Säure und Chlor bilden können;
SO2 -f CI.2 = SOCI2 -h 0.
Um hierüber völlige Sicherheit zu erhalten , wiederholte ich die
Versuche von Regnault, und zwar im Monat Juli, da die Sonne nach
Rkgnault um diese Zeit am wirksamsten sein soll.
Ein erster Versuch das Sulphurylchlorid ähnlich dem Carbonyl-
chlorid durch Hindurchleiten von schwefliger Säure und Chlor durch
mehrere dreihalsige Flaschen im directen Sonnenlicht darzustellen,
schlug vollständig fehl; es bildeten sich allerdings nach 6stündigem
Hindurchleiten der Gase einige Tropfen Flüssigkeit, allein viel zu wenig
um sie sammlen zu können.
Ich füllte deshalb 5 grosse Kolben mit den nach ungefähr gleichem
Volum gemischten Gasen. Diese Kolben waren mit zwei Glasröhren,
eine tief in den Kolben hinabgehende, welche zum Einleiten des Gases
diente, und eine kurze, welche mit der längeren Röhre des zweiten
Kolben verbunden war, versehen. Der Kork, durch welchen diese
Röhren hindurchgingen, war mit Siegellack luftdicht überzogen. Nach-
dem durch mehrstündiges Einleiten des sorgfältig getrockneten Gas-
gemisches alle Kolben eine grüne Farbe angenommen hatten , wurden
dieselben mit Kautschukröhren , welche mit einem Stück Glasstab an
einem Ende verstopft waren, geschlossen.
Dem directen Sonnenlicht ausgesetzt, zeigten sich schon nach we-
nigen Stunden kleine Tropfen, welche die Wände der Kolben bedeckten
und nach einigen Tagen sich am Boden zu einer leicht beweglichen
Flüssigkeit sammelten. Nach 4 Tagen war die grüne Farbe der Kolben
verschwunden , worauf dieselben zum zweiten Mal mit den Gasen ge-
füllt wurden. Dabei muss man jedoch die letzten Kolben kühlen , da
sonst von dem Gasstrom ein Theil des leicht flüchtigen Productes'mit
fortgerissen werden kann.
Die schliesslich erhaltene Flüssigkeit, welche, nachdem sie durch
mehrfache Destillation von den absorbirlen Gasen befreit, völlig farblos
war, zersetzt sich mit Wasser in Schwefelsäure und Salzsäure, ohne
Entwickelung von schwefliger Säure. Ich hatte jetzt wirklich die Ver-
bindung SO2CI2, das Sulphurylchlorid, in Händen. Dieselbe zeigte alle
von Reü\ault angegebenen Eigenschaften, zu welchen ich noch folgende
hinzufügen kann.
lieber Sdiwerelsüurecliloride. 295
Mit woni:^ Wasser bildet das Sulphurylchlorid Siilphurylhydroxyl-
chlorid unl(>r I'.ntwickeluiig von Sal/säurc
SO.^CI.2 + II.2O = SO.2 (Oll) Gl -f HCl.
Dicsell)o Verbindung bildet sich durch Krliilzen von Dihydroxyl-
Schwefelsäure mit Sulphurylchlorid
SOt II2 + SO2 CI.2 == 280. (011) Cl.
Diese beiden Reactionen dürften ein genügender Beweis dafür
sein, dass die V(>rl)indung SO;) HCl wirklich als Sulphuryl hydrox yl-
chlorid aufzufassen ist. Da bei der Darstellung des Sulphurylchlorids
etwas Feuchtigkeit nicht zu vermeiden ist, so beobachtet man bei der
Darstellung des Sulphurylchlorids auch immer die Bildung von einer
geringen Menge Sulphurylhydroxylchlorid.
Phosphorsuperchlorid wirkt schon bei gewöhnlicher Temperatur
allmählich auf Sulphurylchlorid ein, unter Entwickelung von Chlor und
Bildung von Thionylchlorür neben Phosphoroxychlorid.
SO.2CI.2 + PCI5 = S0C12 + PCI3O + 2G1.
Hierbei bildet sich wohl zunächst SOCl, , welche Verbindung
dann aber sogleich in Chlor und Thionylchlorür zerfällt.
Jena, Univ. -Laboratorium, August 1S70.
lieber die Eiuwirkiiu^ von Phospliorbroniclilorid auf
8cImefli|a;säiire-Aiiliydrid.
•Von
Dr. A. Michaelis.
Nachdem Gelther und ich in einer früheren Abhandlung die Ein-
wirkung von PCIjBri auf Wasser und Säurehydrale untersucht hatten,
schien es mir nicht uninteressant zu sein, auch die Wirkungsweise dieses
Körpers auf Säureanhydridc /u studiren. Ich wählte hierzu das Schwe-
felsäurennhydrid , da weder Phosphorchloriir noch Brom als solche auf
dieses einwirken. Es musste sich hierbei zeigen, ob das Gemisch von
PCI3 und Br2 als PCI^Br^ oder vielleicht als Gemenge von Phosphor-
superchlorid und Phosphorsuperbromid wirkte, da
ÖPClgBr. = 3PCI5 -I- SPBr^
ist. Es musste je nachdem also entweder Thionylbromür und Phos-
phoroxychlorid oder Thionylbromür, Thionylchlorür, Phosphoroxychlorid
und Phosphoroxybromid entstehen.
Da Phosphorchlorür und Brom sich nicht mischen, so wurde Schwef-
ligsäure-Gas so eingeleitet, dass dasselbe die untere Bromschicht pas-
sirte. Unter starkem Erwärmen der Flüssigkeit wurde dieselbe allmäh-
lich gleichförmig und nahm durchgehends eine braunrothe Farbe an.
40 Grm. Br. und 3i, i Grm. PCI3 nahmen dabei 1 ,^ Grm. SO2 auf, d. h.
ungefähr die Hälfte der Menge, welche hätte aufgenommen werden
müssen, wäre die Einwirkung nach der Gleichung
PCI^Br.^ 4- SO2 = PCI3O + S0Br2
vor sich gegangen ; diese Gleichung verlangt nämlich 1 6 Grm.
Beim Destilliren der erhaltenen Flüssigkeit gingen die ersten An-
theile, die sehr dunkel gefärbt waren , bei 100" über, dann stieg der
öcber die Kiiiwirkimn von Phospliorbromdilorid «ul' Schwefligsäure-Aiiliydiid. 297
Siedepunkt bis 115" und blieb hier eine Weile consUint. Schliesslich
stieg derselbe sehr hoch (bis iOO") und es blieb in der Relorle eine
schwarze schweio Flüssigkeit, die beim weiteren Erhitzen sich stark
aufblähte.
Die von 100 — H5" übergegangene Flüssigkeit zerfiel beim wieder-
holten Destilliren in freies ßi'om und noch nicht ganz farbloses, bei
107 — I 10" siedinides Phosphoroxychlorid. Der bei I l.'j" übergegangene
Theil zerfiel in freies Brom, Phosphoroxychlorid imd in den schwarzen
be4m Destilliren zurückbleibenden Körper.
Das Phosphoroxychlorid konnte durch Destillation üb(!r etwas Zink
völlig farblos erhalten werden , und wurde dann durch bekannte Re-
actionen als solches nachgewiesen.
Die beim Deslilliren zurückgebliebene schwarze, schwere Flüssig-
keit hatte ganz den Geiuch des Ghlorschwefels und wie dieser die
Eigenschaft nicht am Glase zu adhiiriren. Dies machte es wahrschein-
lich , dass diese Flüssigkeit Bromschwefel und zwar BrS war, der sich
durch Zersetzung von SBr4 unter Freiwerden des Broms gebildet haben
konnte. Da jedoch der betreffende Körper noch unrein war, so musste
er zu destilliren versucht werden.
Nach Rose') soll sich der Bromschwefel aber dabei zersetzen,
weshalb ich diese Operation im raschen Kohlensäurestrom ausführte.
Bei 210"— 220" ging der Körper über und bildete nun eine klare roth-
braune Flüssigkeit, deren Geruch der des Chlorschwefels war und
welche am Glase fast ebenso wenig wie Quecksilber adhärirte. Eine
Schwefelbeslimmung, die so ausgeführt wurde, dass eine gewogene
Menge durch Kalilauge zersetzt, der ausgeschiedene Schwefel als sol-
cher und, nachdem die Flüssigkeit mit Chlor gesättigt, die darin ent-
haltene Schwefelsäure als Baryumsulfat bestimmt wurde, ergab folgende
Resultate. :
0,8703 Grm. Subst. gaben 0,1107 Grm. Schwefel und 0,7578
Grm. Baryumsulfat entspr. 0,1040 Grm. Schwefel, also zusammen
= 0,2447 Grm. = 28,1 Proc. Schwefel. Die Formel RrS ver-
langt 28,57 Proc.
Darnach ist der Körper also wirklich dieses Schwefelbromür und
die Einwirkung von PCfj und Br^ auf SO-, in Uebereinstimmung mit
der absorbirlen Menge Schwefligsäure-Anhydrids nach der (Jleiehung
2 PCI;, Br. + S0.2 = 2PCI:, 0 + SBr^
verlaufen. Daraus folgt also, dass das Gemisch von PClj und Br^ wirk-
lich als PClj Br, wirkt und nicht als Gemenge von PCK, und PBr-,. Die
i Ann. li. Cheiu. u. Pharm. Vlll. |). U9.
298 Dr. A. Michaelis, Ueber die Einwirkung von Phosphorbromchlorid etc.
Wirkung erfolgt wahrscheinlich in drei Phasen, indem zuerst Thionyl-
bromiir gebildet wird , welches sodann gleich in Schwefligsäure und
Vierfach-Bromschwefel , und letzterer seinerseits wieder in Schwefel-
bromür und Brom zerfällt:
PCI3 Br2 -+- SO.2 = PC1,5 0 + S0Br2
2SOBr2 = SO2 + SBr4
SBr4 = SBr -f- 3Br.
Jena, Univ. -Laboratorium , August 1870. ,
lieber die rerituietalle.
Von
Dr. Carl Erk.
I. lieber die Trennung des Cer's vom Lanthan und Didym.
Die Cerilmetalle sind seit langer Zeit schon Gegenstand vielfältiger
Untersuchungen gewesen und besitzen bereits eine reichhaltige Lite-
ratur'). Vorzugsweise ist die Trennung des Cer's vom Lanthan und
Didym eine vielerörterte Frage gewesen. Durch Benutzung der Bunsen'-
schen, von Jegel modificirten Methode-), bei welcher das Cer als basi-
sches Cero-Cerisulfat abgeschieden wird, ist es leicht, vollkommen
reines Cer zu erhalten. Schwieriger dagegen ist völlige Trennung des
Lanthan's und Didym's vom Cer. Man suchte bisher die letzten Spuren
vom Cer dadurch zu entfernen , dass man die geglühten , noch cerhal-
ligen Oxyde mit sehr verdünnter Salpetersäure digerirte, wobei sich
Lanthan- und Didymoxyd lösen, Cero-Cerioxyd dagegen ungelöst
bleibt.
Aber nur bei wiederholter Behandlung der Oxyde mit sehr ver-
dünnter Salpetersäuse wird alles Cer auf diese Weise entfernt.
Popp '^) giebt an , dass man durch Behandeln einer cerhaltigen
Didym- und Lanthanchlorürlösung mit Chlor , Versetzen mit Natriura-
1) MosANDER, Pogg. Ann. 46, 648. 47, 207. 56, 504. Bunsen , Ann. d. Ch. u.
I*li. 105, 40. Jegel und Vogler, Journ. f. pr. Chemie 73, 200. Hermann, Ebend.
82, 385. 92, M3. Lange, Ebend. 82, 129. Czudnowicz, Ebend. 80, 16; 82, 277.
Holzmann, Ebond. 75, 321 ; 84, 76. Rammelsberg, Ebend. 77, 67; Pogg. Ann. 108,
40 u. 435. Marignac, Ann. d. Ch. u. Ph. 8, 265; 27, 209. Beringer, Ann. d. Ch. u.
Ph. 68, 212. Popp, Ebend. 131. Zschiesche, Journ. f. pr. Ch. 104, 174; 107,2.
u. Andere.
2) Jegel, Journ. f. pr. Ch. 73, 200.
3; Ann. d. Ch. u. Ph. 131, 359.
300 Dr. Carl Erk,
acetat und Kochen alles Cer als Cero-Cerihydroxyd oder, wie Popp an-
nimmt, als Cersuperoxyd abscheiden kann. Ich versuchte nach dieser
Methode reine Lanthan - und Didympräparate darzustellen. In eine
verdünnte cerhaltige Didym- und Lanthanchlorürlösung wurde Chlor
im Ueherschuss eingeleitet, so dass bestimmt alles Ceroxydul zu Cero-
Gerioxyd oxydirt sein niusste , die Lösung nun mit einem Ueberschuss
von Natriumacetat versetzt und gekocht. Schon bei einer weil unter der
Siedehitze liegenden Temperatur trübte sich die Lösung durch einen
weissgelben, flockigen Niederschlag, welcher mit steigender Temperatur
verhältnissmüssig zunahm. Nachdem die Lösung einige Minuten gekocht
hatte, wurde der Niederschlag auf einem Wasserbadtrichter abfiltrirt
und mit siedendem Wasser ausgewaschen. Das Filtrat war anfangs
farblos , beim Ausw aschen mit heissem Wasser wurde es gelb gefärbt.
Das Wasch Wasser wurde für sich gesammelt, und der Niederschlag so
lange ausi^ewaschen, bis das Filtrat mit Oxalsäure keine Trübung zeigte.
Der Niederschlag hatte hierbei merklich abgenommen , war also in Lö-
sung gegangen, und deshalb war das Wasch wasser gelb gefärbt. Schon
hieraus folgte, dass der Niederschlag nicht aus reinem Cero-Ceri-
hydroxyd oder Cersuperoxyd, sondern aus einem basischen Acetat be-
stehen konnte, was fernere Versuche bestätigt haben.
Auf Zusatz von Natriumacetat wurde der Niederschlag aus dem
Waschwasser wieder ausgefällt und zwar vollständig in der Siedehitze,
er war also in emer Natriumacelatlösung unlöslich. Die ganze Operation
wurde wiederholt, nur mit der Abänderung, dass mit einer verdünnten
Natriumacigtatlösung ausgewaschen wurde. Das Volumen des Nieder-
schlags nahm hierbei gar nicht ab, das Filtrat war farblos und gab
nochmals mit Chlor behandelt und gekocht nur noch einen sehr gerin-
gen Niederschlag. Zum dritten Male mit Chlor behandelt und gekocht,
zeigte die Lösung gar keine Trübung mehr. Um nun die auf diese
Weise erhaltenen getrennten Producte auf ihre Reinheit zu prüfen,
wurde folgendermaassen verfahren. F^ine Probe des Cerniederschlags
wurde in Säure gelöst, durch Oxalsäure als Oxalat gefällt, dieses noch
nass mit gleicher Menge Magnesia alba zusammen gerieben ^j , getrock-
net, geglüht und mit sehr verdünnter Salpetersäure eine Zeit lang
digerirt und abfiltrirt. Im Filtrat, welches, wenn der Niederschlag
nicht lanthan- und didymfrei war, davon neben Magnesia enthalten
musste, Hess sich weder durch Oxalsäure und Ammoniak , noch durch
eine heiss concentrirle Lösung von Natriumsulfat (mit letzterem bilden
Lanthan und Didym gleich dem Cer sehr schwerlösliche Doppelsulfate)
i) BuNSEN, Ann. d Chemie u. Ph. 105, 40.
lieber die Ceritmetallo. 301
uiiu' Spur von diesen beiden Melallen nachweisen. Das Oxalat, welches
aus der Lösung des Niederschlags durch Fällen mit Oxalsäure gewon-
nen wurde, gab geglüht ein hell lachsfarbnes Oxyd, ganz von dem
Aussehen des Cero-Cerioxyds und war wie dieses nur in concentrirter
Schwefelsäure löslich. Der Cerniederschlag konnte demnach für lan-
than- und didymfrei gelten.
Anders verhielt es sich mit der Reinheit der erhaltenen Lanthan-
und Didjmlösung. Als ich zur Trennung des Lanthans vom Didym
überging, fand sich, dass sich die geglühten Oxyde mit gelber Farbe in
Salpetersäure und Schwefelsäure lösten. Diese Farbe ist weder den
Lanthan-, noch Didymlösungen eigen und konnte also nur von einem
Cergehalt herrühren. Vollkommen bewiesen wurde dieses durch Ein-
giessen einer solchen concentrirten Sulfallösung in viel heisses Wasser,
wobei sich basischtis Gero-Cerisulfat abschied, welches letztere in Oxalat
verwandelt, die dem Ceroxalat beim Glühen eigne Zersetzungsweise
und Farbe zeigte. Ceroxalat unterscheidet sich nämlich dadurch auch
vom Lanthan- und Didymoxalat, dass es schon bei geringer Glüh-
hitze unter raschem Verglimmen zu Cero-Cerioxyd wird, während
Lanthan- und Didymoxalat hierbei erst in Garbonat und dann erst bei
stärkerer Glühhitze in Oxyd übergehen. Der Grund, weshalb die be-
sprochene Trennungsmethode nicht zu reinen Lanthan- und Didym-
präparaten führen kann, liegt in der leichten Reducirbarkeit des Cero-
Gerihydroxyds durch die freiwerdende Essigsäure. Versetzt man z. B.
eine Lösung von Gero-Cerisulfat mit Natriumacetat. so wird die gelbe
Farbe sofort durch eintretende Reduction des Cero-Cerioxydes zu Cero-
oxyd verschwinden oder doch heller werden.
Aus dem Gegebenen folgt, dass die Popp'sche Methode durchaus
nicht reine Lanthan- und Didympräparale, wohl aber reines Ger liefern
kann. Da jedoch die ältere Trennungsweise durch Ausfällung des Cers
als basisches Gero-Cerisulfat denselben Erfolg hat und überdies man-
cherlei Unbequemlichkeiten, wie Filtriren durch den Wasserbadtrichter,
Auswaschen mit verdünntem Natriumacetat ersparen lässl, so wird man
letzterer immer den Vorzug geben. Ich bemerke hier nur noch zur
Berichtigung der Popp'schen Angaben , dass der bei der Trennung
erhallne Niederschlag nicht aus Gersuperoxyd, sondern aus einem
basischen Acetal besteht, dessen Eigenschaften und Zusammensetzung
ich unter der Rubrik »Basische Salze des Cers« beschreiben
werde.
Ich kehrte nach diesen Versuchen zu der altern Trennungsmethode
zurück und habe bei Darstellung reiner Cerpräparate, wie folgt, ver-
fahren. Der feingeriebene Cerit wurde mit concentrirter Schwefelsäure
Bd. VI. 2. ii
302 Dr. C;iil Krk,
zu einem dünnen Brei eingerührt an einen warmen Ort gestellt. Nach
wenigen Stunden war die Masse zu einem weissen Pulver geworden,
welches gelinde geglüht und mit viel salpetersäurehaltigem Wasser so
lange ausgekocht wurde, bis eine Probe des Rückstandes mit verdünnter
Salpetersäure gekocht, keine Fällung mit Oxalsäure gab. Die so erhaltene,
abfiltrirte Lösung wurde mit Schwefelwasserstoff" behandelt, wieder von
den gefällten Schwefelmetallen abfillrirt, mit noch etwas Salzsäure ver-
setzt und durch Oxalsäure ausgefällt. Bunsen und Jegel i) fügen zu den
so gewonnenen Oxalaten eine gleiche Menge Magnesia alba, mit welcher
innig gemischt die Oxalate unter Luftzutritt stark geglüht werden.
Bunsen führt als Grund der Anwendung der Magnesia die Thatsache
an, dass Manganoxydul mit Magnesia oder Zinkoxyd geglüht in Oxyd
übergeht, und aus der grossen Aehnlichkeit der Ceroxydalionsstufen
mit denen des Mangans schloss er auf ein ähnliches Verhalten des Cers.
Als ich mir zum ersten Male Material schaff'te, behielt ich die An-
wendung der Magnesia alba bei , fand aber , dass die Magnesia sich
später sehr schwer und nur durch wiederholtes Ausfällen der Lösungen
unter gehörigem Salmiakzusatze entfernen lasse. Dieses, sowie die
Thatsache, dass die Oxydation des Gers bei gehörigem Glühen auch
ohne Anwendung der Magnesia alba leicht erreicht wird , Hess mich
ganz von Anwendung der Magnesia absehen. Die Oxalate wurden für
sich in einer flachen Platinschale unter fleissigem Umrühren , sodass
jedes Theilclien mit dem Sauerstoff" der Luft in Berührung kommen
konnte, portionenweise geglüht, in massig concenti'irter Salpetersäure
gelöst, die überschüssige Säure durch Eindampfen bis zur Syrupdicke
abgeraucht und nun in viel kochendes mit Schwefelsäure versetztes
Wasser gegossen, wodurch sich der grösste Theil des Cers als basisches
Cero-Cerisulfat abscheidet. Auf 30 Gramm geglühte Oxyde wandte ich
6 Kilogramm mit 24 Gramm Schwefelsäure versetztes Wasser an. Die
von mir aus dem Cerit erhaltenen gemischten Oxyde enthielten nämlich
nach einer ungefähren quantitativen Bestimmung zur Hälfte Cero-Ceri-
oxyd, hiernach berechnete ich die nöthige Schwefelsäuremenge. Das
erhaltne basische Cero-Cerisulfat wurde so lange mit heissem Wasser
ausgewaschen, bis das Waschwasser mit Oxalsäure keine Trübung mehr
gab. Das Filtrat, welches jetzt nur wenig Cer mehr enthielt, wurde wie-
der mit Oxalsäure ausgefällt, die Oxalate geglüht, mit sehr verdünnter
Salpetersäure (1 Th. Salpetersäure: lOOTh. Wasser) digerirt, das zurück-
bleibende Cero-Gerioxyd abfiltrirt, die Lösung wieder in Oxyde über-
geführt, mit verdünnter Salpetersäure behandelt und dieses Verfahren
4) Bunsen, Ann. 4 05, 40 Jegel. Journ. f. pract. Chemie 73, 200.
üt'licr die r(>ritiii('tiill('. 303
so lansjjo wiederlioll, bis die 0\\(\v kciiu; Spur eines RUckstnndes heim
Lösen in sehr verdünnter Salpetersäui-e hinlerliessen.
n. Ueber die Trennung des Lanthans vom Didym.
Die Trennuni:; dieser beiden Metalle ist schon seit lani^er Zeit von
verschiedenen Forschern bearbeitet , und verschiedene Methoden sind
dafür in Vorschlag und Anwendung gebracht worden. Ich erwähne
hier nur in der Kürze einiger Trennungs weisen. Mosander ') benutzte
zuerst die verschiedne Löslichkeit der Sulfate zur Trennung durch
wiederholte partielle Krystallisation. Hermann^) ergänzte diese Me-
thode auf folgende Weise. Er fällte eine noch nicht vollkommen reine
Lanthan- resp. Didymlösung theilweise durch Ammoniak aus und Hess
den Niederschlag einige Zeit unter öfterm Umrühren bei gelinder Wärme
mit der übrigen Lösung zusammen. War hierbei eine noch didymhal-
tige Lanthanlösung in Anwendung gekommen , so fällte das im Nieder-
schlag befindliche Lanthan als stärkere Basis das noch in Lösung be-
findliche Didym aus. Im andern Falle, bei noch lanthanhaltigen Didym-
lösungen wurde der grösste Theil der Lösung ausgefällt und durch
Zusammenstehen das noch im Niederschlage befindhche Lanthan in
Lösung gebracht und so der Niederschlag lanthanfrei erhalten.
Auch Marignac^*) hat zum Zwecke einer bessern Trennungsmethode
vielfache Versuche angestellt, ohne zu einem gewünschten Resultat zu
gelangen. Nur folgende 2 Thatsachen erwähnt er:
1) Bei Behandlung der gemischten geglühten Oxyde mit einer un-
zureichenden Menge sehr verdünnter Salpetersäure geht Lanthanoxyd
als stärkere Basis zuerst in Lösung.
2) Ferner scheidet sich beim Erkalten einer heiss bereiteten Lösung
von Didym- und Lanthanoxalat in massig concentrirter Salpetersäure
Didymoxalat als schwerlöslicher zuerst aus. Dieser verschiedene Löslich-
keitsgrad der Oxalate in Säuren ist nun neuerdings von Zschiesche^)
zur Trennung benutzt worden.
Ich habe sowohl die MosANDEu'sche Krystallisationsmethode, als
auch das von Zsceiiesche gegebene Verfahren versucht , fand aber beide
ziemlich zeitraubend und umständlich. Ich theile folgende Versuche
mit, die ich behufs der Trennung anstellte, und die mich schliesslich
zu der von mir benutzten Trennungs weise führten.
■I) Pogg. Ann. 47, 207 u. 56, 504.
•i; Journ. f. pr. Cheuiie 82, 385.
3)' Ann, d. Cli. u. Ph. 71, 306.
4) Journal 1. pr. Ch. 107, 3.
^Q^ Dr. Carl Erk,
1) Das Lanthanoxyd zieht bekanntlich an der Luft leicht Kohlen-
säure an, letzlere Eigenschaft, sowie die relativ grössere Schwerlös-
lichkeit des Sulfates, ferner die stärkere Affinität giebt dem Lanthan
einige Aehnlichkeit mit Kalk. Vielleicht konnte dasselbe wie der Kalk
ein "lösliches saures Carbonat bilden. Beim Glühen der gemischten
Oxalate über einer gewöhnlichen BuNSENschsn Gasflamme bildet sich
nun einerseits das braune Didymoxyd, andererseits Lanthancarbonat,
erst bei stärkerer Gebläsehitze gehen beide in Oxyd über. Ein solches
über einer gewöhnlichen Gasflamme geglühtes Gemenge wurde mit viel
Wasser Übergossen , und in dieses unter öfterm Umrühren der Oxyde
einige Stunden lang Kohlensäure eingeleitet. Ich hofl-te, dass sich hier-
bei ''saures lösliches Lanthancarbonat bilden und das Didymoxyd zu-
rückbleiben würde.
Als das Filtrat behufs Zersetzung des möglicherweise gebildeten
sauren Lanthancarbonats gekocht wurde, entstand zwar eine Trübung,
doch zu unbedeutend , um der angewandten Oxydmenge entsprechen
zu können. Auch auf Zusatz von Ammoniumoxalat blieb es Ijei einer
geringen Trübung.
2) Die beiden folgenden Versuche basiren auf der relativ stärkern
Affinität des Lanthans. Schon Marignac ») hatte darauf aufmerksam
gemacht, dass beim Lösen der gemischten Oxyde in sehr verdünnter
Salpetersäure zuerst Lanthan in Lösung geht.
Vielleicht konnte bei Anwendung einer noch schwächern Säure
auf diese Weise ein günstiges Resultat erzielt werden. Ich versuchte es
mit verdünnter schwefliger Säure. Kleine Portionen über einer Bunsen'-
schen Gaslampe gleichmässig geglühter und feinzertheilter Oxyde wur-
den in der Kälte (in einem Gefässe mit Wasser von QO) unter fortwäh-
rendem Umschütteln mit zur vollkommenen Lösung unzureichender
Menge sehr verdünnter schwefliger Säure behandelt. Das in Lösung
gefangne Oxyd wurde durch Oxalsäure ausgefällt, geglüht und gab ein
entschieden heUeres Oxyd. Ich erwähne hier nochmals, dass Lan-
thanoxalat über einer gewöhnlichen Gasflamme geglüht, weisses
Carbonat, Didymoxalat dagegen braunes Didymoxyd giebt. Diese
Farbenunterschiede wurden als vorläufiges Griterium für die relative
Zusammensetzung der erhaltnen Oxydproben benutzt. Durch partielle
wiederholte Behandlung der Oxyde mit verdünnter schwefliger Saure
können also wohl reine Präparate erhalten werden. Diese Trennungs-
weise wurde nicht weiter ausgeführt, weil ich durch folgende Versuche
auf noch günstigere Resultate geführt wurde.
i) Annalen d. Chem. u. Ph. 71, 306.
üeber die Ceritinetalle. 305
Hermann') fällte, vvio bcroils oben crwühnl, die noch nicht voll-
kommen reinen Lösunt^cn theiivveise durch Ammoniak aus und erhielt
auf diese Weise reine Präparate. Von dies(M- Thatsaehe ausgehend,
wurde eine Lösunt; der gemischten Oxyde durch Ammoniak zur Hälfte
ausgefällt, der Niederschlag abfillrirt, ausgewaschen und mit der noch
übrigen Lösung einen Tag lang unter öflerm Un)riihren bei Zimmer-
temperatur zusammenstehen gelassen. Aus dem Filtrat wurde ein be-
deutend helleres Oxyd erhalten, Lanthan war also als stärkere Basis
vorwiegend in Lösung gegangen. Das Filtrat wurde nochmals zur
Hälfte ausgefällt und wie oben behandelt. Schon nach dieser zwei-
maligen Behandlung wurde eine Lanthanlösung erhalten , an der man
mit blossem Auge keinen röthlichen Ton mehr erkennen konnte, und
die selbst vor dem Spectroskop die für Didymlösungen so äusserst
charakteristischen Absorptionsstreifen nur sehr schwach zeigte. Diese
letztem Spectrallinicn sind ein äusserst feines Erkennungszeichen für
Didyni. ZscniEsciiE^) erwähnt, dass eine Lanlhanlösung, welche Y2sooo
Didymoxyd enthält, noch einen Absorptionsstreifen zeigt. Zur Prüfung
der erhaltenen Lanthanlösungen wurden diese in einer 30 Gentin)eter
langen Schicht vor dem Spectroskop beobachtet und erst dann, wenn
keine Linie mehr zu erkennen war, als didymfrei betrachtet. Die
erhaltenen Lanthanlösungen wurden immer wieder zur Hälfte ausgefällt
und wie oben behandelt. Nach einer solchen viermaligen Behandlung
gab eine 30 Cenlimeter lange Schicht von Lanthanlösung keine Ab-
sorptionsstreifen mehr. In gleicher Weise wurden die erhaltnen didym-
reichen Lösungen behandelt, die Mittelglieder wurden immer wieder
zusammen gegeben und für sich getrennt. Zur Veranschaulichung des
Verfahrens kann folgendes Schema dienen , und zwar bezeichnen die
steigenden Zahlenvverthe die grössere Reinheit der betreffenden Ge-
mische, die nicht mit Zahlen bezeichneten Mitglieder wurden vereinigt
für sich getrennt.
La Di
2La Di La Di-'
♦La Di La Di La Di La Di '
«La Di La Di etc. La Di La Di*
Nach der Farbe der erhaltenen Glieder und mit Hülfe des Spectro-
skops wird jeder, der diese Trennungsvvcise benutzen will, den vor-
1) Journal f. pr. Chemie 82, 385.
2) Journal f. pr. Cliotnie <04, 17*.
306 Dr. Carl Erk.
herrschenden Didyni - resp. Lanlhangehall ermessen und demgcmäss
zweckmässig bei Zusammenstellung der einzelnen Glieder verfahren
können.
Für Reinheit der Lanthanlösungen besitzen wir ein äusserst
scharfes Criterium in den erwähnten Absorptionsstreifen . schwieriger
verhält es sich mit Didymlösungen , hier mangelt uns noch eine be-
stimmte Reaction auf Lanthangehalt. Für lanthanfrei habe ich eine
Didymlösung betrachtet, welche zum grössten Theil durch Ammoniak
ausgefällt und wie ol>en behandelt, keine Verschiedenheit der Farbe
und des Mischungsgewichts der aus dem Niederschlage und aus dem
Filtrat erhaltnen Oxyde ergab. Obgleich die Differenz der Mischungs-
gewichte von Lanthan uud Didym (90 u. 95) nur gering ist, so ist im-
merhin die Mischungsgew ichtsbestimmung, in Ermanglung einer sichern
Reaction auf Lanthan , wichtig zur Reinheitsbestimmung des Didyms,
sofern sie nur mit gehöriger Sorgfalt ausgeführt wird.
Von dem erhaltnen Didym- und Lanlhanoxyd, welches -auf unten
beschriebene Weise auch von Yttererde gereinigt war, wurden vom
Sulfat ausgehend einige Mischungsgewichtsbestimmungen auf folgende
Weise ausgeführt. Das Sulfat der beiden Oxyde wurde im Wasserbade
auskryslallisiren gelassen, die wasserhaltigen Krystalle über einer klei-
nen Flamme entwässert, als wasserfreies Sulfat gewogen, in Wasser
gelöst, durch Ammoniumoxaiat gefällt, das Oxalat getrocknet, zuerst
über einer gewöhnlichen Gasflamme und dann über der Gebiäseflamme
heftig bis zum constanten Gewicht geglüht und als Oxyd gewogen-
Ich bemerke hier , dass der Platintiegel nach dem Glühen nochmals
gewogen wurde, um etwaige Glühverlustc in Rechnung zu bringen.
Im Filtrat wurde auf gewöhnliche Weise die Schwefelsäure bestimmt.
Das hierbei erhaltene Baryumsulfat wurde stark geglüht, mit Salzsäure
behandelt, um das etwa mitgefallene Baryumoxalat zu entfernen, abfil-
trirt, getuocknet und nun erst gewogen. Im andern Falle bestimmte
ich die Schwefelsäure , indem ich die stark angesäuerte Lösung des
Sulfats durch Chlorbaryum fällte. Aus der entweder direct gefundenen
oder aus dem Verlust berechneten Schwefelsäuremenge ergab sich nach
ihrem liekannten Mischungsgewicht das des Lanthans resp. Didyms.
I ) Lanthan- Mischungsgewichlsbestimmung .
a) 0,474 gr. SO'La gaben 0,2705 gr. LaO, die Schwefelsäure aus
dem Verlust berechnet = 0,2035 gr. SO^'.
b) 0,7045 gr. SO»f.a gaben 0,8815 gr. SO^ Ba^ = 0,;^t)27 gr. SO^
und 0, 'lOIS er. LaO,
Ut'ber die rerilimMallP. 307
Mischunt^sij;c\vicliLsiclalion(Mi .
Ada) 0,i035 gr. SO' : 0,2705 gr. LaO — NO : IO(i,:r., dcmn;ioli
La = 90,34.
Adb) 0,3027 gr. SO-' : 0,401 8 gr. LaO :== SO : lOr.,!«, demnarh
La = 90, IS.
2) D idym-Mischungsgewichlsbeslinimungen.
a) 0,556 gr. SO 'Di gaben 0,323 gr. DiO, demnach 0,233 gr. SO^'.
b) 0,674 - SO 'Di - 0,3915 - DiO, - 0,2S25 - SO^'.
c) 0,7065 - SO'Di - 0,859 -SO'Ba-! = 0,2949 - SO''
und 0,4116 gr. DiO.
Mischungsgcwichlsrolalionen :
Ada) 0,233 gr. SO' : 0,323 gr. DiO = SO ; 110,9; Di = 94,9.
b) 0,2825 - SO' : 0,3915- DiO = SO 1 10,86; Di = 94,86.
c) 0,2949 - SO^ ; 0,4116- DiO = 80 : 1 1 1 ,64; Di = 95,64.
Diese Mischungsgewichlsbestimniungen kommen mit den von
ZscHiESciiE ') ausgeführten iiberein, welcher für Lanthan aus 6 Ana-
lysen das Mischungsgewicht 90,18,, für Didym aus 5 Analysen die
Werthe 93 — 96,16 berechnet. Bei Didym erwähnt aber Zsciukschk
ausdrücklich, dass das wahre Mischungsgewicht den höchsten der ge-
fundnen Zahlen am nächsten liege. Die Eigenschaften d(>r Oxyde sind
schon von Zschieschk erörtert worden, ich begnüge mich daher zu
erwähnen, dass ich dessen Angaben bestätigen kann.
III. Heber das Absorptionsspectrum der Didymlösungen.
Auf umstehender Taf(;l habe ich das Absorptionspectrum einer
circa 4 Cenlimeler langen Schicht von concentrirter reiner Didynuiilrat-
lösung gezeichnet. Die über der Scala befindlichen grossen Buchslaben
bezeichnen die entsprechenden FnAiiENHuFER'schen Linien. Darnach
fällt 42 der Scala mit der Linie D zusammen, .le geringer der Didym-
gehall der speclralanalylisch beobachteten Lösung, desto weniger
dunkl(> Linien sind zu bemerken. Bei sehr verdünnten Lösungen ist
nur der Streifen auf 45 im Gelb und der auf 64 im Grün zu sehen,
von diesen beiden ist ersterer aber wieder der stärkste. Die beiden
letzterwähnten Absorptionsstreifen kommen vorzugsweise bei der Tren-
nung des Lanthans und Didyms in Betracht.
BuNSEN und Bahr '-} haben schon früher das Speclrum gezeich-
net und auf die Scide bezogen, welche den in Poggendokff's Annalen
1) Journal f. pr. Chemie 104, 174 n 107. 2
2) Ann. d. Ch. u. Pli. 137.
308
Dr. Carl Erk,
Band 119 enthaltnen Spectrentafeln und den grossen farbigen Tafeln
von Lenoire zu Grunde liegt. Bei dieser Scala coindicirt die Linie D
des Sonnenspectrums mit 50 der Scala. Redu-
cireh wir das BuNSEN'sche Spectrum auf die von
mir benutzte Scale , so fallen beide Spectren
im wesentlichen zusammen , nur hat Bunsen im
Roth zwischen Linie 23 und 45 noch einige
schwächere Linien gezeichnet, welche ich jeden-
falls der geringeren Schärfe des von mir benutz-
ten Apparates halber nicht bemerken konnte.
/>
bs
7t
IV. Ueber die Trennung der Yttererde von
Lanthan- und Didymoxyd.
Die bei obiger Trennungsweise erhaltenen
äussersten Didymglieder zeigten als Oxyd
eine wieder etwas hellere, mehr rostgelbe
Farbe, gaben ferner auch ein niedrigeres Mi-
schungsgewicht. Vielleicht war Yttererde bei-
gemischt, welche von mehreren Forschern im
Cerit gefunden worden ist, eine helle Farbe und
ein niedrigeres Mischungsgewicht besitzt. Ich
hatte nämlich auf Yttererde deshalb keine Rück-
sicht genommen , weil ich bei der ersten Dar-
stellung der Ceriloxyde trotz der Trennung mit
Natriumsulfat '), wie solche bei Gegenwart von
Yttererde vorgeschrieben ist, keine Yttererde
gefunden hatte. Auch Zschiesche scheint auf
Yttererde keine Rücksicht genommen zu haben.
Nach den oben erwähnten Resultaten wurden
die äussersten Didymglieder in Salpetersäure
gelöst, das Didymoxyd durch Natriumsulfat als
Doppelsulfat gefällt und auf diese Weise ein
bedeutend helleres rostgelbes Oxyd aus dem
Filtral erhalten. Die aus verschiedenen Didym-
oxydmengen durch Wiederholung der Ausfäl-
lung mit Natriumsulfat erhaltenen Oxydmengen
wurden gleichfalls zur möglichsten Entfernung
des Didymoxydes wiederholt mit Natriunisulfat
1) Berzelius, Trennung der Yttererde von den Ceritoxyden, [>ehrbuch B. II.
üeber die Ceritmetalle. 309
behandelt und gaben schliesslich ein hellgelbes Ox\d, ungefähr von der
l'jubo des Cero-Cerioxyds. Das so gereinigle Oxyd \\ urde zum Zwecke
der Mischungsgevvichtsbestinunung in Sulfat verwandelt, dieses im
Wasserbade auskryslallisiren gelassen, über einer kleinen Flamme ent-
wässert und wie oben bei Lanthan- und Didymsulfat angegeben ana-
lysirt.
0,5265 gr. wasserfreies Sulfat gaben 0,2875 gr. Oxyd, demnach
0,239 gr. SO».
Mischungsgewichtsrelalion : 0,239 gr. SO'': 0,2875 gr. Oxyd =
80 : 96,22.
Die zu dieser analysirten Probe gehörige Oxydmenge wurde noch-
mals wie oben mit Natriumsulfat behandelt, das so gereinigte Oxyd in
Salzsäure gelöst, durch Oxalsäure gefällt, das Oxalat gut ausgewaschen
und als lufttrocknes Oxalat zu einer Mischungsgewichtsbestimmung auf
folgende Weise analysirt. Das bis zum constanten Gewicht lufttrockene
Oxalat wurde bis zum constanten Gewicht bei 100^ getrocknet. Das so
getrocknete Oxalat wurde nun in einem Verbrennungsrohr im Sauer-
slonstrom mit vorgelegtem Kupferoxyd verbrannt und die Verbren-
nungsproducle im Chlorcalciumrohr und Kaliapparat aufgefangen. Der
im Platinschiffchen verbleibende, aus Oxyd bestehende Rückstand
wurde nochmals vor dem Gebläse stark geglüht und gewogen.
0,7255 gr. lufttrocknes Oxalat gaben bei 100" 0,1085 gr. Was-
ser. 0,617 gr. bei lOO'^ getrocknetes Oxalat gaben beim Verbrennen
0,095 gr. Wasser, ferner 0,2965 gr. Kohlensäure und 0,298 gr. Oxyd.
2 Mischungsgewichte Kohlensäure entsprechen 1 Mischungsgewicht
wasserfreigedachter Oxalsäure (C^O») d.i. 88:72 = 0,2965 gr. Koh-
lensäure: 0,2426 gr. 020^'.
Aus dem bekannten Mischungsgewicht der Oxalsäure berechnet
sich das Mischungsgewicht des Oxydes auf folgende Weise:
0,2426 gr. C^O*: 0,298 gr. Oxyd = 72 : 88,44.
Nehmen wir für Yttererde die Formel Y^O an, so ergiebt sich hier-
aus für Yttrium das Mischungsgewioht 36,44, für das weniger reine,
oben analysirte das Mischungsgewicht 40,11. Das Mischungsgewicht
des Yttriums wurde von Bahr und Blnsen •) zu 30,85, von Delafon-
taine2) zu 32, von Popp») zu 34 bestimmt.
Die von mir erhaltene Yttererde war aber noch didymhaltig, da
ihre Lösungen vor dem Speclroskop die beiden , den Didymlösungen
eignen Absorptionslinien auf 45 im Gell) und auf 61 im Grün zeigten
(siehe oben Didyruspoctrum). Von diesem Didymcehalt rührt odenbar
I) .\nn. d. eil. u l'h. 137. i] Ebcnd. i;U. 3) Ebcnd. 131
310 Dr. Carl Erk,
das höhere Mischungsgewicht her, welches sich aus meinen Resultaten
berechnet. Die erhaltene Yltererde war ein zartes , hellgelbes Pulver.
Ihr Oxalat verglimmte beim Glühen rasch und ähnlich wie das Ceroxa-
lat zu Oxyd.
Zur Trennung der Ceritoxyde von Yttorerde schlage ich folgenden
Weg vor. Nachdem alles Cor, sowie der grösste Theil des Lanthan
nach obiger Trennungsmethode entfernt worden ist, werden die Didym-
oxyde in Salpetersäure gelöst und mit nicht zu concentrirter Natrium-
sulfatlösung gekocht. Alle Ceritoxyde bilden nämlich mit Natriumsulfat
sehr schwerlösliche Doppelsulfate, während das Doppelsalz mit Ytter-
erde viel leichter löslich ist. Sowohl die in Lösung gebliebenen Oxyde,
als auch das als Doppelsulfat ausgefällte Didymoxyd werden wiederholt
mit Natriumsulfat behandelt und auf diese Weise wird einesthcils Di-
dymoxyd, anderntheils Yltererde erhalten.
Die Yttererde findet sich, nachdem Lanthan und Didym getrennt
sind, nur bei den Didymgliedern und zwar in relativ grösserer Menge
bei den äussersten Didymgliedern vor, was ihre geringere Affinität
beweist. Dieses widerspricht ganz und gar den Popp'schen i) Angaben
über eine Trennungsmethode, welche derselbe mit Baryumcarbonat
ausgeführt haben will , indem er eine gemischte Lösung von Yttererde
und Ceriloxyden mit Baryumcarbonat zusammenstellt. Hierbei soll
Yttererde in Lösung bleiben, Didymoxyd und Ceroxyd gefällt werden.
Ich habe diese Trennung mit Baryumcarbonat versucht, fand aber, dass
die im Filtrat gebliebenen Oxyde keine andere Zusammensetzung zeig-
ten, als die im Niederschlage befindlichen.
Ferner vindicirt Popp den Yttererdelösungen ein eigenthündiches
Absorptionsspectrum. Bunsen und Bahr 2) dagegen haben bei Yttererde-
lösungen kein Spectrum bemerkt. Auch meine Yttererdelösung zeigte,
da sie noch didymhaltig war, nur zwei den Didymiösungcn eigene Ab-
sorptionsstreifen im Gelb und Grün. Die Angaben von Popp sind dar-
nach also gewiss unrichtig.
V. Ueber die Zusammensetzung des Ceroxyds.
I. G ero-Gerioxyd.
Ueber die Zusammensetzung des Ceroxyds bestehen sehr wider-
sprechende Angaben. Rammelsberg ^), BuNSEN^), MARUiNAc^) nchmcn
1) Annal. d. Cli. u. Ph 1.^1. 2) Ehcnd. 137. 3) PoftG, Ann ins.
AI Ann. d. Ch. u. Ph. 105. 5 Journal f. pr. Chennio 48,
lieber die rcritnietiille. 311
auf Grund ihrer Untcrsucliungon au, dass das durch Glühen von Cero-
xalal, Cernilrat, Ccro-Cerihydroxyd erhaltene Oxyd der Formel Ce''0^
entspreche, IIkrmann ') dagegen nimmt für das geglühte Ceroxalat und
Cero-Cerihydroxyd die Zusammensetzung Ce^O'^ für das geglühte Cer-
nilrat und das im Sauerstoir geglühte Oxalat dagegen die Zusammen-
set7Amg Ce-'O^ an. Die "Methode der Sauerstoflbestimmung ist verschie-
den bei den genannten Forschern. Rammelsberg verbrannte in acht
Versuchen Ceroxalat im Sauerstoffstrome und bestimmte hierbei aus
der gefundenen Kohlensloflmenge die im Oxalat enthaltene Cermenge.
Aus dieser berechneten Cernienge und der erhaltenen Ceroxydmenge
ergiebt sich aus der Differenz der Sauerstolfgehalt des Oxydes. Diese
acht Versuche ergaben für letzteres 18,2— 20, i Proc. Sauerstoff, v\äh-
rend die Formel Ce^O^ 18,8 Proc, Ce^O» dagegen 23,02 Proc. Sauer-
stofT verlangt. Bunsen bestimmte den SaucrstofTgehalt jodometrisch.
Die Zusammensetzung des geglühten Oxalates berechnete sich nach sei-
nen Bestimmungen in drei Versuchen wie folgt:
Gefunden : Berechnet Ce^O^ :
Ce = 80,99 80,99 80,83 Proc. 81,21 Proc.
0 = 19,01 19,01 19,17 - 18,79 -
Hermann bestimmte den Cergehalt des Oxydes, indem er dasselbe
in Cerosulfat überführte, als solches wog und aus der l>ekannlen Zu-
sammensetzung des Cerosulfats den Cergehalt berechnete. Aus der
Gewichtsdifferenz der angewandten Oxydmenge und der berechneten
Cermenge ergab sich der Sauerstoffgehalt des Oxyds. 1 00 Theile SO^Ce
entsprechen nach seinen Versuchen 61,128 — 61,6i'8 Theilen Oxyd.
Das geglühte Nitrat verliert nach Hermann beim Lösen in concen-
trirter Schwefelsäure 8,28 Proc. Sauerstoff, ebenso das im Sauerstoff
geglühte Oxyd , beide erhallen daher . wie oben bemerkt, die Formel
CeK)\
Ich habe eine Reihe von Versuchen über die Zusamniensetzung
der auf verschiedene Weise erhaltenen Oxyde gemacht und theile fol-
gende Resultate nüt.
Ich bestimmte, wie Hermann, den Cergehalt. Die gewogenen
0\\de wurden in einem schiefgelegten, in einem kleinen Sandbade
befindlichen Porzellan- oder Platintiegel mit concentrirler reiner Schwe-
felsäure zersetzt. Nachdem die überschüssige Säure vorsichtig ab-
geraucht und das gebildete Cero-Cerisulfat trocken geworden war,
wurde letzteres über einer kleinen Flamme bis zum schwachen (ilühen
des Tiegelbodens erhitzt. !Ii(M-durch geht das Cero-Cerisulfat unter
t) .tourn. t. pr Chemie ^i, I LS
312 Dr. Carl Erk,
Schwefelsäure- und Sauerstoffverlust in Cerosulfat (SO*Ce) über. Dieses
wurde wiederholt erhitzt bis zum constanten Gewicht und aus letzle-
rem der Cergehalt berechnet. Das Cerosulfat wurde in Wasser gelöst,
um sicher zu sein , dass alles Oxyd zersetzt war. In einigen Fällen
blieb ein geringer Rückstand von noch unzersetztem Ceroxyd, welcher
abfiltrirt, gewogen und bei der Berechnung in Abzug gebracht wurde.
1. Ceroxyd, durch Glühen des Cero-Cerihydroxyds erhalten :
a) 0,3 1 4 gr. Oxyd gaben 0,51 8 gr. S04Ce= 0,2535 gr. = 80,73 % Ce
b) 0,380 - - - 0,629- - =0,3078 - =81,00 --
0)0,475- - - 0,793- - =0,388 -=81,68 --
2. Ceroxyd, durch Glühen des Cernitrats erhalten:
a) 0,379gr.Oxyd gaben 0,629 gr.SO^Ce = 0,3078 gr.= 81, 21 %Ce
b) 0,712- - - 1,177- - =0,576 - =80,9 - -
3. Ceroxyd, durch Glühen des Ceroxalats erhalten :
a) 0,204 gr. Oxyd gaben 0,336 gr. S04Ce = 0,1 644 gr. = 80,58 %Ce
b) 0,313 - - _ 0,517 - - =0,253 - =80,83 - -
Die Formel Ce^O^ verlangt 81,18 7o Ce
_ Ce203 - 79,31 - - .
Diese Resultate stimmen mit den von Bunsen, Marignac und Ram-
MELSBERG erhaltenen überein. Sic beweisen auf's neue, dass es ein
Ce^O^ nicht giebt und noch weniger ein Ce^'O^, als welches Hebmann
das nach dem Glühen des Nitrats erhaltene Oxyd bestimmt hat.
Es bleibt mir nun noch übrig, das Verhalten und die Zusammen-
setzung des im Sauerstoff geglühten Ceroxydes zu beschreiben.
a) Geglühtes Ceroxalat wurde eine Stunde lang in einem schwer
schmelzbaren Glasrohre im Sauerstoffstrome der heftigsten Hellrolh-
gluth ausgesetzt und die Sauerstoffbestimmung wie oben ausgeführt.
0,481 gr. im Sauerstoff geglühtes Oxyd gaben 0,7945 gr. SO^Ce
entspr. 0,3888 gr. = 80,83 % Ce.
b) Eine andere Oxydmenge wurde eine Stunde lang im Sauerstoff-
strome schwach geglüht.
0,605 gr. Oxyd gaben 0,998 gr. SO^Ce entspr. 0,4884 gr. = 80,79
Proc. Ce.
Auch Rammelsberg hat das Oxyd im Sauerstoff geglüht und stellt
dafür die Formel Ce^'^O'^ auf, sagt aber selbst, dass es wohl keine be-
stimmte Verbindung sei. Ein Cersuperoxydul, Ce^O^, wird also weder
aus dem Nitrat , noch durch Glühen des Oxyds im Sauerstoff erhalten.
Auf die Eigenschaften des Ceroxyds weiter einzugehen ist wohl hier
überflüssig, da sie vielfach von andern schon erörtert sind.
Geber die Ceritmetalle. 313
Rammelsbkrg hnt ferner versucht , durch Schmelzen von Ce '0' mit
Kaliumhydroxyd und Kaliumchlorat eine höhere Oxydalionsstufe dar-
zustellen, ohne zu dem s^ewUnschten Resultat zu kommen. Auch ich
erzielte bei Wiederholung dieses Versuchs kein anderes Resultat. Ich
hoflfle ferner bei der Elektrolyse von Cerlösungen eine höhere Oxyda-
lionsstufe zu erhalten und habe deshalb eine Reihe von elektrolylischen
Versuchen angestellt. Aber auch hier mangelte der gewünschte Erfolg,
wie ich vseiter unten zeigen werde.
2. Gero-Gerihydroxyd.
Rammelsberg ') bestimmte den Wassergehall des Gero-Cerihydro-
xyds, weiches er durch Zersetzung des basischen Cero-Cerisulfats mit
Kaliumhydroxyd und Behandeln mit Chlor erhalten hatte. Er stellte
dafür die Formel Ce^'O^, SH'^O auf. Ich habe den Wassergehalt des
Hydroxyds auch bestimmt und gleiche Zusammensetzung gefunden.
Reines basisches Cero-Cerisulfat wurde durch Kochen mit Aelzammo-
niak in Gero-Gerihydroxyd übergeführt, dieses abfiltrirt, mit heissem,
ammoniakalischem Wasser ausgewaschen und noch nass unter eine gut
schliessende Glocke mit Schwefelsäure und Aetzkalk zusammengestellt
und getrocknet. iJas Gero-Gerihydroxyd nimmt bekanntlich an der
Luft leicht Kohlensäure auf, deshalb obige Vorsichtsmassregeln. Von
dem so erhaltenen Ilydroxyd, welches getrocknet gelblich-weisse Stücke
bildete, wurden folgende Wasserbestimmungen gemacht, einmal direct
durch Glühen, dann indirect durch Ueberführen in SO^Ge.
1 . Durch Glühen :
0,9765 gr. Gero Gerihydroxyd gaben 0,1 385 gr. = 1 4, 1 3 «/^ H20
0,676 - - - - 0,093 - =13,9 - -
0,690 - - - - 0,0965 ~ =13,98 - -
2. 0,444 gr. Gero-Gerihydroxyd gaben 0,624 gr. SO^Ge, welche
entsprechen 0,377 gr. Ge^O^. Die Differenz zwischen letzterem und
der angewandten Substanz giebt den Wassergehalt = 0,067 gr.
= 15,'! Vo H20.
Diese Resultate entsprechen der von Rammelsberg gefundenen For-
mel Ge30*, 31120, welche 13,7% H^O verlangt. Die Constitution des
Gero-Gerihydroxyds ist vielleicht Ge'0''H^ -f- H'^O
..,|o[ce(OH)J
= ^^|0[Ce(OH)] -I- H20.
[OH
i) Poggendorff's Ann. 108.
314 Dr. Carl Krk,
VI. Ueber den Wassergehalt des Ceroxalats.
Das Geroxalat ist insofern von grosser Wichtigkeit, als seine
Schwerlöslichkeit bei der Darstellung von Gerpräparaten aus Gerit be-
nutzt wird. Ferner dient es zur Darstellung des Oxyds und wird bei
quantitativen Ger- Bestimmungen dargestellt. Auch hat man es vor
nicht langer Zeit als Arzneimittel vorgeschlagen i) . Die Eigenschaften
desselben sind hinlänglich sclion bekannt. Ich beschränke mich hier
auf Feststellung des Wassergehaltes. Letzterer ist von verschiedenen
Forschern verschieden bestimmt worden. Rammelsberg-) hat das «sorg-
fältig getrocknete« Geroxalat als G'^O^Ge -f- 3H-0 bestinnnt, Kjerulf-^)
stellt dafür die Formel G^O^Ge-f-H^O auf, doch haben beide Forscher
nicht erwähnt, bei welchen Temperaturen sie das Oxalat getrocknet
haben. Gibbs^) hält die bei lOO*^ getrockneten gemischten Oxalate von
Ger, Lanthan undDidym nach der Formel G^O^Ge-f 3H'-0 zusammen-
gesetzt und benutzt diese Formel bei quantitativen Gerbestimmungen.
Durch die nachfolgenden Untersuchungen habe ich gefunden, dass
das lufltrockne Geroxalat 4H'-0 enthält, bei 100*^ aber drei Mischungs-
gewichte Wasser verliert, während das letzte Mischungsgewicht Wasser
erst bei höherer Temperatur weggeht. Ueber Schwefelsäure verliert
das lufttrockne Oxalat bis zu 3 Proc. Wasser.
Das zu folgenden Versuchen angewandte Geroxalat stellte ich durch
Fällen einer Aeutralen Gerosulfatlösung durch Oxalsäure dar. Das ge-
fällte Oxalat wurde mit kaltem Wasser ausgewaschen und bei Zimmer-
temperatur bis zum Constanten Gewicht getrocknet.
1 . '1 ,261 gr. lufttrocknes Oxalat gaben bei 1 00** 0,265 gr. = 21,01
Proc. H'^O, was drei Mischungsgewichten = 21,4 Proc. Wasser ent-
spricht.
2. 1,498 gr. verloren bei 100" 0,315 gr. = 2i,03 Proc. H2Ü.
Von dem bei 100^ bis zum constanten Gewicht getrockneten Oxa-
lat wurden zwei Bestimmungen in der Weise ausgeführt, dass dasselbe
in einem sorgfältig getrockneten Verbrennungsrohr im Sauerstoff ver-
brannt und das Wasser in einem Ghlorcalciumrohre aufgefangen wurde.
1. 1,032 gr. desselben gaben 0,096 gr. = 9,3 Proc. H20.
2. 0,849 - - - 0,082 - =9,66 -
Nach der Formel G-O^Ge -f- H^O berechnen sich 9,1 Proc. H20.
In zwei andern Versuchen wurde das bei 100*^ getrocknete Oxalat
1) Meyer, Vierteljahrschrift t. Pharm. IX, 401
•äj PoGG. Ann. 108, 44.
3) Ann. d. Ch. u. Ph. 87, 42.
4) Zeitschrift f. Chemie 1865, -15.
Uchcr die Oritiiiftallc. 315
{^cglillil, (liis i'rliiilU'iic 0\ici in Sü'Cc vciNNJindcll, ;ius Ictzlciviii der
Cergohalt. i\us diesem das entsprechende wasserfreie Geroxaliil und aus
der Diilt'tenz zwiselien letzterem und der angewandten Geroxalatinenge
der Wassert^ehalt durch Bereclinung yel'unden.
\. 0,350 gr. bei 100" bis zum conslanten Gewicht getrocknetes
Oxalat gaben 0,336 gr. SO^Ce entspr. 0,164 gr. Ce , welche verlangen
0,321 gr. C'^O^Ce ; die Diflerenz zwischen letzteretn und tlem ange-
wandten Oxalat giebt den Wassergehalt = 0,029 gr. = S,3 Proc. H'^0.
2. 0,5365 gr. gaben nach obiger Beslimnmngsweise 0,51 i gr.
SO^Ce entspr. 0,252 gr.Ge = 0,493 gr. G'^O'Ce = 0,0435 gr. =8,1 Froc.
ir-so.
Bei einem Versuche , das Wasser aus dem Verlust beim Trocknen
im Luftbade zu bestimmen, fand sich, dass das letzte Wasser nicht
ohne Zersetzung des Salzes weggeht, indem bei einer Temperatur von
180" das Oxalat eine dunklere Fiiibung annimmt. Aus diesen Ver-
suchen folgt, dass das lufltrockne Oxalat 4H'-0, das bei 100** getrock-
nete Oxalat dagegen nur lH-0 enthält. Es entspricht also ganz dem
Didymoxalat, welches auch lufttrocken 411-0, bei 1 00" getrocknet 1 M^O
enthält.
VII. Ueber die Zusammensetzung des Cero-Cerisulfats.
Dieses Salz ist Gegenstand vielfältiger Untersuchungen gewesen,
und so viele Forscher sich damit beschäftigt haben , so viele verschie-
dene Resultate und Formeln sind dafür aufgestellt w'orden. Zschiksche
hat neuerdings schon ganz richtig nachgewiesen, dass die Verschieden-
heit der aufgestellten Formeln ihre Begründung findet in einer wech-
selnden Zusammensetzung des Salzes. Man stellt gewöhnlich das Salz
durch Lösen des Oxydes in concentrirter Schwefelsäure dar. Hierbei
wird, je nach der Temperatur, ferner nach dem Verhältniss der an-
gewandten Oxyd- und Schwefelsäuremenge ein bald mehr oder weniger
grosser Theil des trivalenten Geis unter Sauerstoffverlust zu bivalen-
tem Ger i'educirt. Und hierin findet sich die Eiklärung dafür, weshalb
bei den meisten vorliegiuulen Formeln das Verhältniss zwischen bi-
uiui trivalentem Ger nicht dem angewandten Gero- Gerioxyd = Ge^O^
entspricht. In diesem letzteren konunt ein bivalentes Ger auf zwei tri-
valenteGer= CeiOjJ;;^
lo(CeO).
Nur Rammelsberü fand dieses Verhältniss in dem aus einer Gero-
Gerisulfatlösung zuletzt auskrystallisirenden gelben Salz. Man hat bis-
her innner unterschieden zwischen einem rothen zuerst auskrvstalU-
316 Dr- Carl Erk,
j,iren(len und einem gelben zuletzt auskrystallisirenden Salz. Ueber
die Einzelheiten , Unterschiede und Darstellungsweisen verweise ich
auf RammelsbergI), Hermann 2) und ZschiescheS). Was ferner noch zur
Erklärung der variablen Zusammensetzung beiträgt, ist die äusserst
leichte Reducirbarkeit des Salzes durch Staub, Papier etc. Nachstehend
habe ich die verschiedenen Formeln zusammengestellt und vorzüglich
das Verhältniss zwischen bi- und trivalentem Ger berücksichtigt.
biv. : triv.Cer
RAMMELSBERGfandfürdasrotheSalz.3((:eS) + €eS3-fl8H20 3:2-
Hermann _ _ - _ _ 2(CeS:5)-h€e§34-27H20 2:1-
Rammelsberg - - - gelbe - CeS + €e § + 8H20 1:2-
Hermann _ _ - - - 2(Ce2S3)-f-3(€eS)-f42H202 : 3 -
ZscHiESCHE - - - rothe- Ce5S6-f€eS3-|-27H20 5:2-
Rammelsberg allein hat also in dem einen Fall dasselbe Verhältniss
zwischen divalentem und trivalentem Ger gefunden , wie es im Ce-'O^
existirt, doch macht ihm schon Zschiesche den Vorwurf, dass seine ein-
zelnen Analysen sehr differiren , und dass er bei seinen Berechnungen
die grössten gefundenen Werthe für den Sauerstoff und die Basis, und
die kleinsten für die Säure zu Grunde gelegt hat. Dadurch dürfte die
Existenz dieses Verhältnisses auch im gelben Salze bezweifelt werden.
Jedenfalls beweist die schon erwähnte Thatsache, dass beim Lösen des
Oxyds in concentrirter Schwefelsäure ein Theil des trivalenten Gers
reducirt wird, dass die Basis des auf diese W^eise gebildeten Gero-
Gerisulfats nicht Ge^O^, sondern eine bald mehr oder weniger oxydul-
reichere Verbindung ist. Sehr wahrscheinlich war, dass man durch
Lösen des mit Ghlor behandelten Gero-Gerihydroxyds in verdünnter
Schwefelsäure ein Gero-Gerisulfat erhalten konnte, welches oxydreicher
war. Gero-Gerihydroxyd löst sich schon bei massiger Wärme in ver-
dünnter Schwefelsäure , es fallen also hier die Bedingungen weg , wie
höhere Temperatur, concenlrirte Säure, welche beim Lösen des Oxydes
in concentrirter Schwefelsäure Reduction veranlassen. Von diesen Ge-
sichtspunkten ausgehend habe ich Gero-Gerisulfat durch Lösen von mit
Ghlor behandeltem , gut ausgewaschenem Gero-Gerihydroxyd in ver-
dünnter Schwefelsäure unter möglichster Abhaltung von Staub und
andern reducirenden Einflüssen dargestellt.
Die Lösung wurde über Schwefelsäure zur Krystallisation gebracht.
Die Krystalle hatten sich in traubigen , aus concentrisch krystallisirten
4) PoGG. Ann. 108.
2) Journ. f. pr. Chemie 92.
3) ebend. 107, 2.
üeber die Ceritmetallp. 31 7
Kugeln besiehenden Massen abgeschieden iiiul wurden auf einem
porösen Stein von der anhiingenilen Mullerlauiie l)efreil und iielrock-
net. Sie waren anfangs braun, beim Trocknen an der Luft wurden
sie gelb. Das bis zum conslanten Gewicht an der Luft getrocknete
Salz wurde auf folgende Weise analysirt. Bei einer Partie wurde
das bei 100" weggehenile Wasser durch Trocknen im Luftbade be-
stimmt, das so getrocknete Salz gelöst, das Cer als Ceroxalat ausgefallt
und dieses in Ge *0^ durch Glühen übergeführt. Im Filtrat wurde durch
Chlorbaryum die Schwefelsäure besticnmt, und zwar wurde das erhal-
tene Baryumsulfat stark geglüht mit Salzsaure i)ehandelt, um das etwa
mitgefallene Baryumoxalat zu entfernen und hierauf erst gewogen.
0,0795 gr. lufttrocknes Cero-Cerisulfat gaben bei lOOo 0,1 ö2o gr.
= 22,44 Proc. IPO, ferner 0,2517 gr.Ce'O» entspr. 0,2043 gr. =30,07
Proc. Ca und 0,726 gr. SO^Ba"^ entspr. 0,249 gr. = 36,64 Proc. SO^ =
14,65 Proc. S.
In einem andern Versuche wurde das ganze Wasser durch Erhitzen
des Salzes in einem Verbrennungsrohre mit vorgelegtem Bleichromat
durch Auffangen in einem Chlorcaiciumrohr bestimmt. Das in einem
PlalinschilTchen befindliche Cero-Cerisulfat ging hierbei unter Sauer-
stolV- und Schwefelsäureverlust in weisses Cerosulfat über und konnte,
da durchaus nichts verloren worden war, als solches gewogen und
daraus der Cergehalt berechnet werden.
0,5185 gr. lufttrocknes Salz gaben hierbei 0,1485 gr. = 28,64
Proc. H-0, ferner 0,323 -gr. SO^Ce entspr. 0,158 gr. = 30,47 Proc. Ce.
Aus diesen durch die Analyse gefundenen Resultaten berechnet
sich das Salz einer Di -Schwefelsäure, in welchem die Basis Ce'O^ ist,
nämlich, wie folgende Zusammenstellung zeigt, die Formel: S^O'*>Ce^
+ 1 4 H2Ü = (SO^) Ce2Ge -f- 1 4 H^O.
Gefunden: Berechnet:
Ce =30,47 Proc. 30,26 Proc.
S =14,65 - 14,03 -
H-!0 = 28,64 ^ 27,63 -
Ü = - 28,07 -
VIII. lieber die basischen Salze des Cers.
I . Basisches Cero-Cerisulfat.
Basisches Cero-Cerisulfat wird bekanntlich durch Zersetzung des
Cero-Cerisulfats mit viel Wasser erhalten. Aus der oben angeführten
Bd. VI. 2. ii
318 Dr. CarlErk,
wechselnden Constitution des letztern erklärt sich leicht, warum auch
diesem basischen Salz von verschiedenen Forschern verschiedene For-
meln beigelegt worden sind. Ich verweise hier auf die betretfenden
Abhandlungen von Rammelsberg '), Marignac^) und Hermann'^) und be-
rücksichtige nur das Verhältniss des bivalenten zum trivalenten Cer
bei den von genannten Forschern gefundenen Formeln.
biv. :
: tiiv. Cer
Rammelsberg:
1
: 2
Marignac :
3
: 4
Hermann: |
2
1
: 3
: 2
Ich habe ebenfalls dieses basische Salz auf folgende Weise dar-
gestellt und analysirt. Eine concentrirte neutrale Cero-Cerisulfatlösung
(durch Lösen des Oxyds in concentrirter Schwefelsäure erhalten) wurde
mit viel heissem Wasser zersetzt, das entstandene flockige basische
Salz absitzen gelassen, die darüber stehende Flüssigkeil decantirt, das
Salz auf ein Filter gebracht und mit kaltem Wasser ausgewaschen. Mit
heissem Wasser zersetzt sich nämlich das basische Cero-Cerisulfat,
wie ich weiter unten zeigen werde. Es wurde zwischen Fliesspapier
abgepresst und trocknete über Schwefelsäure zu rothgelben, bern-stein-
ähnlichen , durchscheinenden Stücken ein , die sehr spröde waren und
auf dem Bruche starken Wachsglanz zeigten. Das über Schw^efelsäure
bis zum constanlen Gewicht getrocknete und feingeriebene Salz wurde
durch Kochen mit Aetzammoniak in Cero-Gerihydroxyd verwandelt,
letzteres geglüht, als Ge'O^ gewogen und hieraus der Gergehalt berech-
net. Im Filtrat wurde die Schwefelsäure auf gewöhnliche Weise be-
stimmt, der Wassergehalt wurde entweder durch Erhitzen des Salzes
oder durch den Verlust gefunden.
\. 1,443 gr. Substanz gaben 0,930 gr. Ce^^O^ entspr. 0,755 gr. =
52,35 Proc. Ge, ferner 0,925 gr. S04Ba2 entspr. 0,127 gr. = 8,8
Proc. S.
2. 0,6195 gr. Substanz gaben bei 290» getrocknet 0,080 gr. =
12,9 Proc. H20, ferner 0,3^4 gr. Ge^O* entspr. 0,320 gr. = 51,65 Proc.
Ce, ferner 0,408 gr. S0^Ba2 entspr. 0,050 gr. = 9,03 Proc. S.
3. 0,862 gr. Substanz gaben bei 100*^ getrocknet 0,067 gr. =
7,8 Proc. H20, beim Erhitzen bis auf 270» noch 0,033 gr. H^O, Ge-
sammtwassergehalt also 0,110 gr. =12,7 Proc. H^O.
1) PoGG. Ann. -108. 2 Journ. f. pr. Chemie 48. 3) ebend. 92, 113.
üeber die Ceritinetalle.
310
Aus diesen Resuilalen berechnet sich die Furmel S0**HCe2 -f- "iH^O,
O
OH
das Salz einer TetrahNdroxy-Schwefelsäure: SsO)". ^,.,^
^ ^ |q Ce + ill'^O.
• O(CeO)
Oll
OH
011
Ol "
berechnet :
S =9,2 Proc.
Ce = 52,7 -
«20=12,9 -
O = 20,2 -
8,8 Proc.
52, 35 -
12,7 -
oder einer Perhjdro\y-Sch\vefeisaure: S
OJ'
0[Ce(0H)2]
Das Verhältniss zwischen divalenleni mul Irivalenleni Cer ist also 1
Nach obiger Formel
gefunden :
S = 9,03
Ce =51,65
H20= 12,9
0 - — -
Beim Auswaschen des basischen Ccro-Cerisulfats mit heissem
Wasser bemerkte ich, dass lange nachdem das Waschwasser keine
Reactionen mehr auf Zusatz von Oxalsäure oder Ammoniak gab, auf
Zusatz von Chlorbaryum Bar\unisulfat gefallt wurde. Ich schloss dar-
aus, dass sich das Salz bein) Auswaschen mit heissem Wasser zersetzt,
indem es seine Schwefelsäure verliert. Eine vierzehn Tage lang mit
heissem Wasser ausgewaschene Partie gab immer noch im Waschwas-
ser Schwefelsäurereactionen.
Eine hiervon getrocknete Probe wurde analysirt und gab noch
7,3 Proc. Schwefel, hatte also durch Auswaschen circa 1,5 — 1,7 Proc.
Schwefel verloren. Vollkommner und schneller gelang die Zersetzung
des basischen Sulfats durch wiederholtes Auskochen mit immer neuen
Mengen Wassers. Eine Partie wurde auf diese Weise so lange behan-
delt, bis das Waschvvasser keine Schwefelsäurereactionen mehr gab.
Der Niederschlag war jetzt ganz hell geworden und trocknete zu
schmutzig- weissen Stücken ein von der Farbe und dem Aussehen des
Cero-Cerihydroxyds. Eine Probe wurde analysirt und enthielt nun nur
noch 1,5 Proc. Schwefel, es halte also beim Auskochen fast alle Schwe-
felsäure verloren. Durch diese Zersetzung erklären sich zum Tbeil auch
die verschiedenen Resultate der vorhandenen Analysen, die für das
Salz aufgestellt sind ; denn je nachdem das zu analysiiende Salz mehr
oder weniger lang ausgewaschen w urde , dt sto veischiedener musste
die Schwefelsäurebestimmung ausfallen.
320 Dr. Carl Erk,
3. Basisches Cero-Cer initrat.
Giesst man eine concenlrirle Lösung von Cero-Cerinitrat in viel
heissos, salpeteisäurehalliges Wasser aus, so scheidet sich bekanntlich
ein w eissgelbes, flockiges* basisches Nilrat ab. Dieses Verhalten des
Cero-Ccrinitrats ist schon zur Darstellung reiner Cerverbindungcn be-
nutzt worden. Da die Zusammensetzung dieses basischen Salzes noch
unbekannt ist, so habe ich sie in nachfolgenden Bestimmungen fest-
zustellen gesucht. Das basische Nitiat ist in reinem Wasser leicht lös-
lich, dagegen unlöslich in salpetersäurehaltigem Wasser. Estrocknet
über Schwefelsäure zu amorphen, undurchsichtigen, hellgelben Stticken
ein. Die Analysen wurden auf folgende Weise ausgeführt. Um das
Salz von der etwa anhängenden, vom Auswaschen mit salpctersäure-
haltigeni Wasser herrührenden Salpetersäure zu befreien , wurde es
bei 1 1 0" getrocknet. Zur Bestinmmng der Salpetersäure wurde es
durch Kochen mit einer Lösung von Baryumhydroxyd zersetzt, im Fil-
trat, welches durch Einleiten von Kohlensäure vom überschüssigen
Baryt befreit war, das gebildete Baryumnitrat durch Schwefelsäure als
Baryumsulfat bestimmt. Um zu vermeiden , dass durch übergerissene
Salzsäure die Salpelersäurebestinnnung zu hoch ausfiele, schaltete ich
nach dem gewöhnlichen Kohlensäurewaschapparat noch einen mit dop-
peltkohlensaurem Natron gefüllten Cylinder ein.
1,5025 gr. bei 110" bis zum conslanlen Gewicht getrocknetes
Nitrat gaben 0,3io5 gr. SO^Ba^. Ein Mischungsgewicht SO'Ba- ent-
spricht zwei Mischungsgevvichlen Stickstoff. 0,3455 gr. SO^Ba^ ent-
sprechen also 0,0415 gr. = 2,96 Proc. N.
Behufs der Cerbeslinimung wurde das Salz einfach geglüht, da-
duich in Ce^'O* übergeführt, als solches gewogen und daraus das Cer
berechnet. 0,6595 gr. gaben 0,579 gr. Ge^O^ entspr. 0,4 70 gr. = 71,26
Proc. Ge.
Zur Wasserbeslininmng wurde das bei 110" getrocknete Salz in
einem Verbrenniingsrohi- mit vorgelegter stark erhitzter Kupferspirale
geglüht und das freiwerdende Wasser in einem Ghlorcalciumrohr auf-
gefangen. 0,940 gr. gaben hierbei 0,044 gr. IL^O entspr. 0,0049 gr. =
0,52= Proc. IL
Aus diesen drei Beslimmungen berechnet sich ein Salz der Per-
hydroxy- Salpetersäure von der Zusammensetzung:
üeber die Ceritraelalle.
321
NO^HCe^ = N{
OJCC
0H,„
OCeO
oder N ,
0
H
Cc
Co
rill Ol'"
o[Co^3}Co(OH)
Das Veihällniss zwischen clivalentcni und Irivalenteni Cer ist also
gleich dem beim basischen Cero Cerisuifat, 1 div, Cer: 1 Iriv. Cer.
Nach obiger Formel
bcroclincl: i;cfundeii :
N = 2,74 Proc. 2/J(3 Proc.
00 = 7?, Ol - •71/26 -
11 =0,2 - 0,52 -
0 = 25,'2(i - —
3. Basisches Cero-Ceriacetat.
Der bei der zuerst l)eschriebencn Popr'schen Trennungsmethode
(vergl. oben S. 2i)9) erhaltene cerhaltige, nass hellgelbe Niederschlag
ist im Wasser leicht löslich, unlöslich dagegen in einer verdünnten
Natriumacetatlösung und trocknet über Schwefelsäure zu lothbrauncn,
durchscheinenden , auf dem Bruche starken Wachsglanz zeigenden
Stückenein, die ein schwefelgelbes Pulver geben. Getrocknet ist er
weniger leicht in Wasser löslich und kann dann leicht von dem vom
Auswaschen anhängenden Natriumacctat befreit werden. Eine auf
solche Weise gereinigte Probe gab mit Schwefelsäure allein schon, so-
wie auch auf Zusatz von Alkohol die gewöhnlichen Essigsäui'ereactionen,
woraus hervorgeht, dass er nicht aus Cersuperoxydhydrat, wie Popp an-
giebt, noch aus Cero-Cerihydrox\d besteht, sondern vielmehr aus
einem basischen Acelat. Um die quantitative Zusammensetzung dieses
basischen Salzes zu bestimmen, wurde aus einer reinen Cero-Cerinilral-
lösung durch Kochen mit Natriumacctat , Abfiltriren auf dem Wasser-
badtrichter, Auswaschen mit heisser verdünnter Natriumacetatlösung
eine Partie desselben dargestellt. Nachdem das Salz über Schwefel-
säuie getrocknet worden war, wurde das Pulver mit wenig Wasser
behandelt und das anhängende Natriumacctat auf diese Weise entfernt.
Das so gereinigte Salz wurde wieder über Schwefelsäure bis zum con-
stanten Gewicht getrocknet und, wie folgt, analysirt. Es wurde im
Platinschiflchen in einem sorgfältig ausgetrockneten Verbrennungsrohr
im Sauerstofl'strom v(>ibrannt und die Verbrcnnungspro<lu(te in den
bei organischen l^iemenlaraiiaiyscn gelträuchliclicn Apparaten auf-
gefangen. Um sicher zu sein, dass alle |-lssigsäure zu Koiilensäuie ver-
322 Dr. Carl Erk,
branni wurde , wurde überdies noch eine mehrere Zoll lange Schiebt
Kupferoxyd vorgelegt und während der Verbrennung stark geglüht.
Der im Platinschiffchen bleibende Rückstand wurde als Ce^^O^ gewogen
und daraus der Cergohalt berechnet. Da das Salz beim Verbrennen
sich weder aufblähte, noch veispritzte, das Ein- und Ausnehmen des
Platinschiffchens mit Sorgfalt geschah, so war auch die Cerbestimmung
durchaus correcl.. Es wurden zwei Bestimmungen gemacht. In dem
einen Fall gaben 0,834 gr. über Schwefelsäure getrocknetes Salz
0,101.') gr. II20 = 0,011-28 gr. = 1,35 Proc. H, ferner 0,226 gr. CO^
= 0,06164 gr. = 7,39 Proc. C, ferner 0,6885 gr. Ce^O^ = 0,559 gr.
= 67,03 Proc. Ce. bi dem andern Fall wurden erhalten aus 0,545 gr.
Substanz 0,071 gr. H'^O = 0,0079 gr. = 1,45 Proc. H, ferner 0,1 /i85
gr. G02 = 0,0405 gr. = 7,43 Pr'oc. C, ferner 0,452 gr. Ce^O^ =
0,367 gr. = 67,34 Proc. Ge.
Aus diesen Bestimmungen folgt die Zusammensetzung :
Demnach ist es also das Salz einer Di-Essigsäure (siehe Gehther, Lehr-
buch d. Ghemie) :
Nach obiger Formel
berechnet: gefunden:
G = 7,11 Proc. 7,39— 7,43 Proc.
11 = 1,04 - 1,35— 1,45 -
Ge = 68,14 - 67,03 — 67,34 -
0 .= 23,7 _ — _
IX. Elektrolytische Versuche.
Diese Versuche wurden anfänglich in der Absicht angestellt, eine
höhere Oxydationsslufe des Gers darzustellen. Es ist dieses nicht ge-
lungen , doch ist die Zersetzungsweise der der Elektrolyse unterwor-
fenen Lösungen immerhin interessant genug , um hier Erwähnung zu
finden. Bei allen diesen Versuchen wurde eine Batterie von drei Bln-
sEN'schen Zink-Kohlen-Elementen angewandt.
1. Elektrolyse einer concentri rten Gerchlortirlösung.
Am -j- Pol wurde Ghlor frei, am —Pol setzte sich Gero-Cerihy-
droxvd ab.
Heber die CeritinefMle. 323
2. Elektrolyse von inesehinolz enem Ccrocli lorid.
Die "D.arslellune; des CerchlorUrs ist annlog der des Chlormagne-
siums. Das in einem kleinen Porzellantiegel über dem Gebläse schmel-
zende CercJilorür wurde auf folgende Weise zersetzt. Am — Pol schied
sich eine kleine Menge metallisches Cer als schwarzgraues Pulver ab.
Ausserdem bildeten sich vom letzlern Pol ab rölhlich-silberweisse
Blätlchen, welche mit Schwefelsäure übergössen ChlorwasserstolV ent-
wickelten und beim Glühen reines Ge^O^ gaben. Jedenfalls sind diese
Blältchen identisch mit dem von Wühler bei Darstellung von Cerium
erhaltenen Ceroxychlorür. Auch hinterliessen sie beim Lösen in Säure
eine kleine Menge Kieselsäure, welche wohl aus dem Platintiegel
stammte, da er an der Stelle, wo die Platinelektrode aufsass , merk-
lich angegriffen war. Bei der Behandlung der ganzen nach der Elektro-
lyse erhaltenen Masse mit Wasser entwickelte sich ein sehr übelriechen-
des Gas. Am -f-Pol, welcher aus einem Stückchen Gaskohle bestand,
entwickelte sich Chlorwasserstoff, durch den charakteristischen stechen-
den Geruch erkennbar. Die Bildung von Salzsäure erklärt sich aus
der Einwirkung der Feuchtigkeit der umgebenden Atmosphäre, welche
letzlere hier reich an Wasser durch die reichliche Gasverbrennung
wird. Ausser den schon erwähnten Zersetzungsproducten wurde eine
grosse Menge Ce'^O^ erhalten, welche Thatsache für die leichte Zer-
setzbarkeit des Cerchlorürs beim Schmelzen an der Luft durch »iie
Feuchtigkeit derselben spricht.
3. Elektrolyse von concen tri rter Cerosulfatlösung.
Beim Durchgang des Stromes durch eine saure Lösung färbte
sich momentan die Lösung vom -f-Pol aus gelb, indem sich durch
Oxydation Cero-Cerisulfat bildete. Am — Pol schied sich ausser einer
kleinen Menge metallischen Cers, das als ein schwarzer Anflug am Pla-
tindraht erschien , eine flockige Masse ab , w eiche zuerst wachsartig-
plaslisch und bei längerem Zusammenstehen mit der Flüssigkeit kry-
stallinisch wurde. Dieses war ein basisches Sulfat.
Derselbe Vorgang fand bei Anwendung einer neutralen Lösung
statt, nur dass hier die Oxydation und Abscheidung des basischen Sul-
fates durch die geringere Leitungsfähigkeit der neutralen Lösung an-
fangs langsamer erfolgte. Erst, nachdem Säure frei geworden, wurde
der Zersetzungsprozess beschleunigt.
Das flockig ausgeschiedene basische Salz geht bald zu einer wachs-
arligen , plastischen Masse zusammen , welche beim Zusammenstehen
mit der Mutterlauge zu einem gelben , krystallinischen Pulver zerfällt.
324 Dr. Carl Erk, üeber die Ceritmetalle.
Letzteres trocknet aber wieder gleich dem durch Zersetzung des Gero-
Gerisulfats mit Wasser erhaltenen basischen Sulfat zu dunkelgelben,
amorphen, glänzenden Stücken ein , welche, mit Wasser zusammen-
gebracht, wieder, jedenfalls unter Wasseraufnahme, zu einem krystal-
linischen Pulver werden. Die Analyse dieses über Schwefelsäure ge-
trockneten Salzes wurde in der bekannten Weise ausgeführt und ergab
die schon bekannte Zusammensetzung: SO*^HCe'- -f- 211-0 des auf
andere Weise erhaltenen (vergleiche oben S. 319).
1,7135 gr. gaben 0,212 gr. = 12,37 Proc. H^O, ferner 1,272 gr.
S0^Ba2 entspr. 0,1747 gr. = 10,19 Proc. S, ferner 1,06S gr. Ce'^O^
entspr. 0,867 gr. = 50,6 Proc. Ce.
Berechnet: Gefunden:
Ce = 52,7 Proc. 50,6 Proc.
S = 9,2 - 10,2 -
H20 = 12,9 - 12,37 -
0 = 25,2 - —
4. Elektrolyse von neutraler Geronilratlösung.
Die Lösung blieb farblos, am — Pol schied sich eine bräunlich-
gelbe, missfarbige Masse ab. Zugleich entwickelte sich Ammoniak,
so dass die Lösung nach Beendigung der Operation stark ammoniaka-
lisch reagirte. Die Mutterlauge enthielt keine Spur von Ger mehr,
dieses war vollständig durch das entstandene Ammoniak ausgeschie-
den. Das Filtrat wurde zur Trockne vei'dampft und hinterliess eine
entsprechend ; Menge Ammoniumsalz.
Dieselben Reactionen treten bei einer sauren Nitratlösung ein.
5. Elektrolyse einer basischen G e r o - C e r i a c e t a 1 1 ö s u n g.
Eine wässrige Lösung von dem oben beschriebenen basischen
Gero-Geriacetat gab bei der Elektrolyse ebenfalls ein basisches Acetat,
welches zu braunrothen, amorphen Stücken eintrocknete und die ge-
wöhnlichen Essigsäurereaclionen gab.
Den in dieser Abhandlung ausgeführten Berechnungen liegen die
in Geuther's Lehrbuch der Ghemie gegebenen Mischungsgewichle zu
Grunde.
Schliesslich kann ich nicht unterlassen, meinem veiehrten Lehrer,
Herrn Prof. Geuther, in dessen Laboratorium ich vorliegende Unter-
suchungen ausgeführt habe, für seinen vielfach gegebenen gütigen Rath
zu danken.
Jena, im August 1870,
Kleine Mittheilung.
Eiuc gute ^lethode zur Darstellung des dreibasisclien
Ameisensäureüthers.
Von
Dr. E. Stapff.
Bassett') giebt an, auf die Weise, dass er zu einem Gemiscl» von 2 Th. Chloro-
form und 12 Th. Aii<ohol, weiches sich in einem mit aufsteigendem Kühlrohr ver-
sehenen Kolben befand, nach und nach in kleinen Portionen 1 Th. Natrium fügte,
von dem dreibasischen Ameisensäureäther eine »der Menge des angewendeten
Chloroforms fast gleichkommende Ausbeute« erhalten zu haben, während die Ent-
decker dieses Aethers, Kay und Williamson2), nach den von ihnen befolgten Me-
thoden, d.h. langsames Vermischen von Chloroform und Natriumalkoholat , oder
langsames Zufügen von ersterem zu einem Gemisch von Kalihydrat, Aetzkalk und
Alkohol, nur verhältnissmässig wenig der Verbindung erhielten. Ich habe die Ver-
suche Bassett's öfters wiederholt, genau nach seiner Vorschrift gearbeitet und bei
Anwendung auch von erst über Natrium rectificirtem Alkohol nie mehr als höch-
stens 10 Proc. von der Menge des angewandten Chloroforms dreibasischea Ameisen-
säureäther erhalten, eine Ausbeute, welche die Angaben Bassett's darüber durch-
aus nicht bestätigt. In der neuesten Zeit haben Ladenburg und Wichelhaus^J die-
sen Aether so bereitet, dass sie das Gemenge von Chloroform und Alkohol zu
Natrium, das sich unter einer Aetherschicht befand, tropfen Hessen. Sie erhielten
etwa 13 Proc. der angewandten Chloroformmenge von dieser Verbindung.
Auf Veranlassung des Herrn Prof. Geuiher habe ich zur Darstellung dieses
Aethers nicht alkoholhaltiges Natriumalkoholat (C^H^NaO, 2C2H60), wie es bei der
Wechselwirkung von Natrium und Alkohol zunächst entsteht, angewandt, sondern
alkoholfreies Natriumalkoholat (C2H"'NaO) und so eine Ausbeute von zwischen 1460
und 1480 siedendem Product erhalten, dessen Menge 43 Proc. der angewandten
Chloroformraenge betrug.
1) Zeitschrift f. Chemie 1863. S. 238.
2) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 92 S. 346.
3 Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 152 S. 164.
326 Dr- E' Stapft', Eine gute Methode zur Darstellung des dreibas. Amelsensäurerithers.
Das in einer tubulirten Retorte im Wasserstoffgasstrom dargestellte und durch
Erhitzen im Oelbad bis iSOO von Alkohol befreite, ganz weisse Natriumalkoholat
wurde, nachdem die Retorte mit einem umgekehrten Kühler verbunden war, mit
wasserfreiem Aether übergössen, so dass die Masse damit einige Linien hoch über-
deckt war und darauf durch einen in den Tubulus gesetzten Scheidetrichter das
Chloroform langsam zufliessen gelassen. Nachdem dies geschehen, wurde die
Retorte im Wasserbade gelinde erwärmt und in kurzen Pausen geschüttelt, bis all-
mählich das feste Natriumalkoholat zergangen und an seiner Stelle nur fein ver-
theiltes Kochsalz zu bemerken war. Es wurde noch eine Weile der Aether im
Wasserbade im Sieden erhalten, nach dem völligen Erkalten kaltes Wasser zu-
gefügt, die ätherische Schicht von der wässrigen getrennt, mit Chlorcalcium ent-
wässert und rectificirt.
Der Grund, weshalb die Ausbeute auf diese Weise eine bedeutend grössere
war, als sonst, liegt offenbar in der Ausschliessung allen Alkohols, welcher auf das
Natriumalkoholat lösend wirkt. Da eine solche Lösung sich mit dem dreibasischen
Ameisensäureäther, wie BassettI) gezeigt hat, in Kohlenoxyd, Natriumformiat,
Alkohol und Aether umsetzt, so muss natürlich bei Vorhandensein von um so mehr
Alkohol die Ausbeute an dreibasischem Ameisensäureäther um so mehr verringert
werden.
Jena, Univ. -Laboratorium, Mai 1870.
1) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd 132 S. 55.
BEOBACHTUNGEN
DES
PATHOLOGISCHEN INSTITUTS
zu JENA.
VON
WILHELM MULLER.
Specieller Theil.
Erste Beihe.
Mit Tafel IX. X. XI. XII.
Inhalt.
Seite
1. Heber den Bau der Chorda dorsalis 327
2. Ueber Entwicklung und Bau der Hypophysis und des Processus infundi-
buli cerebri 354
3. Ein Fall von kystomatösem Adenom der Hypophysis 425
4. Ueber die Entwicklung der Schilddrüse 428
5. Zwei Fälle von angeborenem Adenom der Schilddrüse 454
6. Zwei Fälle von Cylinder- Epitheliom (Epithelioma cylindrocellulare) der
Schilddrüse nebst Bemerkungen zur Theorie der Epitheliombildung . . . 456
7. Ein Fall von Spindelzellensarcom (Sarcoma fusocellulare) der Schilddrüse
neben altem Kropf mit Metastasen auf Lymphdrüsen und Lungen .... 476
8. Ueber myxomatöses Adenora der Schilddrüse und dessen Beziehungen
zum sog. Gallertkrebs 481
I. lieber den Bau der Chorda dorsalis.
Die erste klare Beschreibmis^ der Foiiiieleinenle der Chorda bei den
Craniolen hat Jon. v. Müller') geliefert, l^r unterscheidet den Gallert-
kcirper, einen weissen bei einigen Thieren in dessen Centrum vorhan-
denen Faden und eine weisse peripherische Schicht. Der Gallerlkörper
besteht nach ihm aus einer durciisichligen, in dicht aneinanderstossenden
Zellen, welche den Pflanzenzellen analog sind, enthaltenen Gallerte und
gehört niilhin unter das in der Thierwelt spai'sam vorhandene Zell-
gewebe mit geschlossenen Zellen. Der im Centrum der Chorda doisalis
verlaufende weisse Streif gehört nach Müllkk einem anderen Gewebe,
wahrscheinlich dem Sehnengewebe an; er besteht aus parallelen Fa-
sern. Die peripherische Schicht endlich, welche noch innerhalb der
Scheide eine ganz dünne weisse Lage bildet, die sich nicht als Haut
von der Gallerte abziehen lässt, besteht nach den Beobachtungen Mül-
ler's aus kleinen mikroskopischen Körnchen.
Th. Schwann 2) hat die Angaben Müller's durch den Nachweis er-
weitert, dass die Zellen der Chorda von verschiedener Grösse, im All-
gemeinen in der Mitte am grössten sind, während sie nach aussen
kleiner werden. Sie enthalten Kerne, welche dicht an der inneren
Wandfläche der Zellen oder in der Wand selbst eingebettet liegen. Die
Körner der Rindenschicht gleichen nach ihm durchaus Zellenkernen ;
sie sind oval und mit Kernkörperchen versehen, nur etwa um die Hidfte
kleiner. Da diese Rindenschicht sich nicht scharf vom eigentlichen Ge-
webe der Chorda abgrenzt und die Zellen der letzteren gegen die Rinde
sich schnell verkleinern, so hält Schwann die Kölner der Rinde für die
Cytoblasten abgeplatteter Zellen , welche die Rinde bilden. Er fügt
hinzu, dass man bei günstiger Beleuchtung in den Zwischenriiumen
Ij Vergleidieiide Anatomie der Myxiiioidcii. Ik-rliii 1S35. p. 74.
Vergleichende Neurolosjie der Myxinoiden. ib. 1840. p. 64.
ij Mikroskopische ücilei suchungen. Berlin 1838. p. 11.
Bd. VI. 3. «3
328 Wilhelm Müller,
zwischen diesen Körnern sehr feine Linien wahrnehme, \^o die Zellen
aneinanderstossen, wie bei dem gewöhnlichen pflasterförmigen Epithel.
Die Darslellung, welclie Müller und Schwann zunächst auf Grund
der Untersuchung von Cyklostomen, Fischen und Amphibien gegeben
hatten, ist später besonders durch die embryologischen Arbeiten Ri;-
mak's ') und die vergleichend-anatomischen Leydig's-) und Gegenbaur's-')
auch für die höheren Wirbellhicre als im Wesentlichen richtig erwiesen
worden, so dass die Annahme allgemeine Geltung gefunden hat, dass
die Chorda dorsalis sämmllicher Granioten aus geschlossenen Zellen
l)esteiie , welche in der Peripherie klein und protoplasmareich (Epithel-
schicht Gegenbauu's), in der Mitte gross und mit hyalinem Inhalt ver-
sehen sind, ferner bei Cyklostomen und Fischen im Inneren Iheilweise
ZQ schmalen bandartigen Formen sich umwandeln.
Nun sind in lelzteier Zeit von zwei Seiten her Angaben veröffent-
licht worden , welche mit der herrschenden Ansicht sich nicht verein-
baren lassen.
Emil Dunsv^) lässt die Chorda bei Vögeln und Säugethieren nur
im Beginn ihrer Entwicklung aus dichtgedrängten Zellen bestehen , im
weiteren Verlauf trete eine helle wässerige bitercellularsubslanz auf,
welche die Zellen auseinanderdrängt, ohne sie vollständig zu isoüren;
dadurch werde ein Netz von Zellen hergestellt, welches von rundlichen
und ovalen Lücken durchsetzt sei. An feinen Durchschnitten hat Ddrsy
sich überzeugt, dass letztere keine Chordazellen sind, sondern Flüssig-
keitsräume, die von den das ganze fötale Leben hindurch sich gleich-
bleibenden zarten Chordazellen eine scharfe Begrenzung eihalten. Bei
Untersuchung von Flächenansichten oder gröberen Durchschnitten
werde man getäuscht, weil die die Flüssigkeitsräume trennenden Chorda-
elemente als eine feinkörnige Blasen enthaltende Grundsubstanz er-
schienen, oder sie wurden auch wohl zuiWand der scheinbaren Blasen
geschlagen und so kam man zur Aufstellung von dickwandigen knor-
pelzellenähnlichen, mit heller Flüssigkeil ganz oder theilweise sich fül-
lenden Choidazellen. Niemals bemerkte Dursy, wie von Einigen gelehrt
wird, eine Grössenzunahme der Cbordazellen oder eine Aufhellung
1) Untersucliungen über die Entwicklung der Wirbeltliiere. Berlin 1855.
2) Anatomisch - histologische Untersiiciiungen übei Fische und Reptilien.
Berlin 1853; ferner Beiträge zur mikroskopischen Anatomie und Entwicklungs-
geschichte der Rochen und Haie. Leipzig 1852.
3) Diese Zeitschrift III. Bd. p. 374. V. Bd. p. 47. Grundzüge der vergleichen-
den Anatomie. Leipzig 1870. p. 595.
4) Zur Entwicklungsgeschichte des Kopfes der Menschen und der höheren
Wirbelthiere. Tübingen 1869. p. 19.
1. Ve\m (Im Riiii dor Clioida dorsiilis. 329
ilil(ts Inlinlls o(I(M' don VitIusI iliici- Kerne oder eine oiuloiieiic Zcllvci-
nielirung oder oinc Umwandlung in grössere, von Tochlcr/cllcii ('ilillltt'
Mullerzcllen.
Nach W. Ilis ') beginnt die Chorda, dem Medullaiiohr- wiiliiend
(h>r gesannnton fi. und 7. Periode (Ende dos zweiten und (hitler Be-
l)riUungstag des Ililiinehens) noch dicht anMegend , gleichwolil scharf
sicli ahzugren/en. Sie stellt dann einen drehiunden Sliang von H.'i —
'(0 fi. I)urciini(!sser dar, der rings herum von einer dünnen anschei-
nend slructurlosen Scheide umgehen isl. Die Zellen sind nach Art
eines Drilsengangs strahlig geoi'dnet und lassen ein mittleres lAunen
IVei von <S— lü ^i.
Der Choi'da des Amphioxus wird ein wesentlich anderei- Bau zu-
geschriel)en als jener dei- Cranioten. Alle Beobachter lassen si(^ aus
einer bindegewebigen Scheide und (jueren, in dieser enthaltenen Schei-
ben oder Platten bestehen. Goonsiii^) hat diese Scheiben zuerst be-
schiieben, ohne id)ei- ihre Nalur sich zu äussern, v. Quatkkfages'') citirt
fälschlich (;o(»i>su{ , als habe letzterer die Scheiben für Zellen erklärt,
wovon in dei- Ahhandlung von GoonsiK nichts zu finden ist, und eiklärt
sie für abgeplattete Zellen. Diese Zc^llen seien kürzer als der Quer-
durchmesser der Chorda und bildeten uuregelmässig sechsseitige Plat-
ten von 0,1 — 0,15 Länge bei 0,02- 0,0?ö Dicke. Die Wände seien
sein- dick und einander sehr genähert, so dass der Zellenraum nur 0,01
— 0,015 betrage, jedoch nirgends mit einander verschmolzen , durch
einen ganz leichten Zug könne man die Grenzlinien fast immer deutlich
her\ortreten lassen.
Gegen die Zellennatur dieserScheiben sprechen sich Max Schultze^)
und KowALEVSKi'*) aus. Nach detn ersteren Beobachter isl von einer
Zusammensetzung derQuerstieifen der Chorda bei Amphioxus aus ein-
zelnen Zellen keine Spur vorhanden. Wo durch ungeschicktes Mani-
puliren eine Biegung oder gar Zerreissung der Chorda eingetreten sei,
sehe man sehr deutlich eine Neigung zum Zerfallen des Inhalts in
quere Scheiben. Diese hält Max Schiltze nebst einer weichen Binde-
subslanz , durch welche sie aneinander gehalten werden, für die ein-
zigen Elementarlheile der Chorda.
1) Untersuchungen über die erste Anlage des Wiibelthierleibs. Leipzis^. 1868.
p. HS.
3) Transmiions ot llie Royal Scn'iety of Kdiiibiirt-'h. W. p. 2.')2.
3) Sur lAniplnuxus. Aniiales des Sciences naturelles. Seiie3. Tome IV. p. 235.
4) Zeilsclirilt für wissenscliaftliche Zoologie ill. 1852. p. 417.
5) Entwicklungsgescliiclite des Amphioxus laiiceolatus. ,\I6moires de l'Aca-
demie de St. Petersbourg. Tome XI. 1867. p. 8. — Entwicklungsgeschichte der
einfachen Ascidien. ibid. Tome X. N. 15. p. 13.
23»
330 Wilhelm Müller,
Nach KowALEVSKi besteht die Chorda des Aniphioxus aus einer
deutlichen Chordascheide und einer centralen Partie, aus homogener
Substanz und in derselben sich bildenden stark lichtbrechenden un-
regelmässigen Körpern. Diese Körper bestanden anfangs aus sehr klei-
nen stark lichtbrechenden Körnchen, welche, allmälig auswachsend,
längliche Form annehmen. Aber zu gleicher Zeit erscheinen in der
homogenen Substanz neue ähnliche Körper, welche anfangs sich ganz
in der Nähe der Scheide bilden und dann allmälig auswachsen und sich
zwischen die existirenden einschieben. Auf der entgegengesetzten Seite
der Chorda dorsalis geht deiselbe Process vor sich und die entgegen-
wacbsenden Substanzen verschmelzen. Auf solche Weise entsteht
endlich eine Reihe von Plättchen, welche die Chorda zusammensetzen.
Dass diese Plättchen keine Zellen sind, brauche nach dem Gesagten
kaum erwähnt zu werden , somit bestehe die Chorda aus einer Scheide
und aus der letzteren ausgeschiedenen Substanz.
Ich habe zur Prüfung der vorstehenden Angaben zunächst die
Chorda dorsalis der Cranioten einer erneuten Untersuchung unterwor-
fen. Zum Ausgangspunkt diente die bleibende Chorda der Cyklostomen.
Es standen mir aus dieser Classe zwei erwachsene und ein junges,
16 Centimeler langes Exemplar von Myxine glutinosa, ferner eine An-
zahl junger und erwachsener Exemplare von Petromyzon fluviatilis zur
Disposition. Ich verdankte diese Thiere der Liberalität der Herren
Gegenbaur und Hackel und G. W. Focke in Bremen.
Die Chorda besass bei allen diesen Thieren während ihres Verlaufs
duich die Schädelbasis einen runden Querschnitt, im Verlauf durch
die Wirbelsäule zeigte die dorsale Fläche eine Depression. Das Chorda-
band lag excentrisch gegen die Rückenfläche zu und stellte einen
schmalen, quer verlaufenden weissen Streif vor, welcher bei den jungen
Exemplaren nur angedeutet war.
Die Elemente, welche die Chorda zusammensetzten, waren an
deren äusserster Peripherie und im Bereich des Chordabandes anders
beschaften als im eigentlichen Gallertkörper. Die Peripherie wurde bei
allen Thieren eingenommen von einer dünnen Schicht sehr kleiner Zel-
len. Diese waren bei den erwachsenen Thieren flach, mit Kern und
deutlicher dünner Membran versehen. Bei den jugendlichen Exempla-
ren von Petromyzon waren sie im Bereich der dorsalen Depression
gleichfalls flach und protoplasmaarm , während sie an den Seiten und
namentlich längs der Bauchfläche quadratische protoplasmareiche Cylin-
der von 0,0045 — 0,006i) Seitenfläche mit rundem Kern, ohne deut-
4) Sämmtliche Zahlen beziehen sich, wo nichts Anderes angegeben ist, auf Mm.
1. Ueber den Bau der riinrda doisaüs. 331
licho peripherische Hülle bihielen. Dieses verschiedene VerhjiUeii lUsst
sich durch die Aniinhiue erkläi'cn, dass dicAnbiidung neuer Zellen im
ventralen Abschnitt der Chorda energischer vor sich geht als im dor-
salen.
Die kleinen Zellen der Peripherie gingen bei allen Thieren rasch
in die vei'hältnissmässig se\\v grossen des eigentlichen Gallertkörpers
über. Letztere waren in der Mitte mehr kugelig, gegenseitig poljgonal
sich abplattend, zugleich von beträchtlicher Grösse, bei Myxinc 0,15,
bei Petromyzon 0,()G im Durchmesser erreichend; im Verlauf gegen
die Peripherie v^'urden sie schmäler und zugleich in der Richtung der
Hadien des Querschnitts verlängert, bei Myxinc 0,05 breit, 0,1 lang,
bei Pelromyzon 0,02 breit, 0,0G lang. Nahe der peripherischen klein-
zelligen Schicht nahmen sie sehr rasch in allen Dimensionen ab. Si(!
besassen eine sehr dünne farblose, nur an einem Theil der grösseren
Zellen dickere und leicht gelblich gefäi'bte Membran. Dies«; Membran
lässt sich durch Garminisirung, noch besser durch die Färbung mit
alkoholischer Silberlösung auch au Balsampräparalen sichtbar darstel-
len. Noch einfacher lässt sich ihre Existenz durch Einlegen eines
Ghordaschnitts in irgend eine verdünnte vvässrige Säurelösung, am
besten etwas Jod enthaltende Jodwasserstoflflösung und nachheriges
Untersuchen in dieser Flüssigkeit oder in Wasser nachweisen. Man
beobachtet bei dieser Untersuchungsmethode an der Oberfläche der
einzelnen Zellen eine grosse Zahl sehr dicht stehender glänzender
Pünktchen, welche zum Theil in regelmässigen Linien angeordnet sind.
Auf der Kanlenansicht entsprechen diesen Pünktchen dicht neben ein-
ander stehende Linien, von welchen die Wandung der Zellen senkrecht
durchsetzt wird. Die Punktirung und Streifung ist deutlicher bei
Myxinc als bei Petronuzon. Ich halte sie für den optischen Ausdruck
von Porencanälen , welche die Zellenwand in senkrechter Richtung
durchsetzen. Die Wandung der Chordazellen lässt sich durch verdünnte
wässrige Säure- und Alkalilösungen etwas zum Aufquellen bringen.
Die Zellen sind sehr innig an einander befestigt, so dass es selbst ])ei
längerer Einwirkung concentrirter Alkalilösungcn nicht geling!, einzelne
Zellen in grösseier Zahl zu isoliren. Der Innenüäche der Zellcnmem-
bran liegt eine unmessbar feine, in Carmin rosenroth sich indjibirende
Protoplasmaschichl an, sie enthält den stets wandsländigen elliptischen
Kern. Diese Protoplasmazone umgiebt die vollkonnnen durchsichtige
structurlose Gallerte, welche das Innere der Z<;llen erfüllt.
Das Chordaband verhielt sich bei den erwachsenen Thieren anders
als bei den jüngeren. Es bestand bei ersteren aus glänzenden, paral-
lel verlaufenden . hie und da wellig gebogenen Fasern und Plättchen,
332 Wilhelm Müller,
welche, aliniälig mii Zahl abnehmend, zwischen den anliegenden Chorda-
zellen sich verloren. Zwischen diesen Fasern fanden sich hie und da
sehr enge in die Länge gezogene Spalten , welche von durchsichtiger
Substanz erfüllt waren. Die Fasern erwiesen sich bei der Untersuchung
im polarisirten Licht als doppeltbrechend , durch die Einwirkung ver-
dünnter wässriger Säure- oder Aikalilösungen lassen sie sich in äh»i-
licher Weise zum Aufquellen bringen wie die Membranen der Chorda-
zellen. Bei den jüngeren Thieren lagen an der Stelle des zukünftigen
Chordabandes zwischen den gewöhnlichen Chordaelementen Gruppen
von Zellen, welche in der Richtung von der Rücken- gegen die Bauch-
fläche eine beträchtliche Abflachung erfahren hatten, Sie unterschieden
sich von der Umgebung durch die beträchtliche Dicke ihrer Wand,
welche an einzelnen bis zu 0,003 im Durchmesser erreichte und An-
deutung einer Schichtung zeigte. Ein Theil dieser Zellen war bis zum
Verschwinden des Lumen abgeflacht, in andern war der gallertige
Inhalt noch nachweisbar, aber in einzelne Klümpchen gesondert. Die
Grösse der Mehrzahl war gering , die Wandung von einzelnen gefaltet.
Die verdickten Zellenv-aiide zeigten im polarisirten Licht Doppel-
brechung, gegen verdünnte wässrige Säure- oder Alkalilösungen ver-
hielten sie sich wie das ausgebildete Chordaband der erwachsenen
Thiere. Ich schliesse aus diesem Befund, dass bei den jüngeren Thie-
ren ein frühes Enlwicklungsstadium des Chordabandes vorlag und dass
letzteres hervorgeht aus einer Verdickung der Wandschichten der ur-
sprünglichen Chordazellen auf Kosten ihres Protoplasmakörpers und
Gallertinhalts mit Volumverkleinerung bis zum vollständigen Schwund
der Zellenhöhle und dichter Aneinanderlagerung der abgeflachten Zel-
lenwände. Ich veimuthe, dass es die ältesten Zellen der Chorda sind,
welche jeweilig die Umwandlung in das Chordaband erfahren, und halte
die excentrische Lagerung des letzteren für die nothwendige Folge
einer ventralwärts energischer vor sich gehenden Anbildung neuer
Zellen, wie sie aus dem früher bereits angeführten Grunde sich ergiebt.
Aus der Classe der Fische untersuchte ich die Embryonen meh-
rerer Haie, und zwar standen mir i und 20 Centimeter lange Embryo-
nen von Acanthias vulgaris und 1 1 Centimeter lange Embryonen von
Mustelus vulgaris zur Disposition. Das Alter der Embryonen erwies
sich auch bei diesen Thieren von Einfluss auf die Beschaffenheit der
Chorda. Bei den jüngeren Embryonen von Acanthias bestand letztere
aus zwei Schichten: einer protoplasmareichen Rindenschicht') und
1) Ich vermeide die Bezeichnung Epithelschicht, weil sie meiner Ansicht
nach den Nachweis zur Voraussetzung hat, dass die Chorda aus dem oberen oder
1. netter den Mau der riiorda dorsalis. 333
(Iciii Giillerlkörper. Ersloro wjir 0,01 ;^ dick uiul I)c.sI;iimI .ms einer
nielirfjielien Lage kleiner Zellen mit rundiiehen Kernen von 0,()0i und
(■id)isclieni oder polygonalen» , diesen undiüllenden Pi'oloj)lasn)akörpor.
J)er Gallertkörper bestand aus Zellen, welelie in der Peripherie sehr
klein waren, um, rasch an Grösse zunehmend, gegen die Mitte hin
einen Durchmesser von 0,0.") — 0,()H /u erreichen. Sie hesassen (^ne
sehr dünne durchsichtige Membran, welche eine ungemein feine
TUplelung zeigte, eim; ungemeine dünne, ihr anliegende, dtiu Kern
enlhallende Proloplasmazone und im hineren die farblose duichsichtige
Gallertsubstanz.
Die Chorda der I 1 Centinieter langen Knd)ryonen von Muslelus
zeigte llindenschicht und Gallertkörper wenig unterschieden. Der letz-
tere enthielt in der Mitte das Cbordaband. Die Rindenschicht bestand
aus ziemlich grossen dickwandigen Zellen und war nach aussen durch
einen sehr schmalen, glänzenden, deutlich radiär gestreiften Saum von
der anliegenden Guticularschicht abgegrenzt. Der Glaskörper bestand
wie früher aus polygonalen Zellen von durchschnittlich ü,Oö Durch-
messer. Sie besassen eine ziemlich dicke durchsichtige Membran,
welche bei der Untersuchung in verdünntem , etwas Jod enthaltendem
Jodwasserstoft' starke Punktirung und auf den Kanten senkrechte Strei-
fung zeigte, eine ungemein zarte, der Membran anliegende, den
Kern enthaltende Protoplasnjazone und durchsichtigen , gallertigen
Inhalt. Das Chordaband bestand aus sehr schmalen, in seitlicher Rich-
tung abgeflachten dickwandigen Zellen, welche nahe dem oberen und
unteren Ende des Gallerlkorpers durch Zwischenstufen an die gewöhn-
lichen Chordazellen sich anschlössen. Ihre Wandungen waren zum
Theil bis zur gegenseitigen Rerührung genähert unter Schwund des
ursprünglichen Zelleninhalts und leicht gelblich gefärbt, so dass der
Anschein ziemlich dicker, parallel verlaufender Fasern entstand. Die
Substanz des Chordabandes erwies sich bei der Untersuchung im pola-
risirten Licht als doppellbrechend , durch verdünnte wässrige Säure-
oder Alkalilösungen wurde sie zum Aufquellen gebracht.
Bei den 20 Centinieter langen Embryonen von Acanthias zeigte
die Chorjla bereits beträchtliche Einschnürungen. Sie Hess nur zwei
Besifindtheile erkennen ; den Gallerlkörper und das Chordaband. Die
Elemente des lelzteien veihielten sich wie jene von Muslelus, jene des
Gallerlkorpers waien merklich kleiner giworden , ihre Wandung war
verdickt, leicht gelblich, der Kapsel von Knorpelzellen ähnlich.
niiterpii KeiinblaU nb>tninnnt, wplcher bis jelzl iiicbl celieferl ist. Die Unfersohei-
durig einer Rindenscbicbl und eines Gallerlkorpers ist unverlanglich.
334 Wilhelm Müller,
Aus der Classe der Amphibien untersuchte ich Rana temporaria.
Das früheste Stadium boten Embryonen, deren Medullarwülste noch
nicht vereinigt waren. Die Chorda stellte hier einen drehrunden Strang
von 0,08 Durchmesser dar. Sie bestand aus cubischen und polygona-
len Zellen von durchschnittlich 0,02 Durchmesser, sämmtlich reich an
schwarzem Pigment und kernhaltig, die in der Mitte liegenden enthiel-
ten zum Theil helle durchsichtige Räume in ihrem Protoplasma.
Bei Embryonen , deren Urnierengänge sichtbar waren , zeigte die
Chorda einen Durchmesser von 0,1. Die central liegenden Zellen be-
gannen jetzt von der Rindenschicht deutlicher sich zu unterscheiden,
indem die Bildung heller Räume auf Kosten des Protoplasma erheblich
fortgeschritten war.
Bei Embryonen von 5 Mm. Länge, welche eben im Ausschlüpfen
begriffen waren, hatte die Chorda einen Durchmesser von 0,16,
Sie lag der Basis des Medullarrohrs dicht an , seitlich war sie durch
spindelförmige Zellen von dem unteren Ende der Urwirbel geschie-
den. Sie Hess eine protoplasmareiche Rindenschicht und den Gal-
lertkörper bereits unterscheiden. Erstere bestand aus theils cubischen,
theils in die Länge gezogenen abgeflachten Zellen mit rundlichen und
elliptischen Kernen von 0,01 und diese umhüllendem, sehr pigment-
reichem Protoplasmakörper. Die Gallertsubstanz war zusammengesetzt
aus Zellen , welche gegen die Mitte rasch an Grösse zunahmen und
einen Durchmesser von 0,02 — 0,03 zeigten. Diese Zellen enthielten im
Innern helle durchsichtige Gallerte, sie war umgeben von einer ziem-
lich dicken Protoplasmazone , welche den elliptischen Kern und zahl-
reiche, sehr feine dunkelbraune Pigmentkörner enthielt. An der Ober-
fläche des Protoplasmas begann die Zellmembran sich abzuscheiden,
sie war, von der Fläche gesehen, von einer grossen Anzahl theils brau-
ner, theils farbloser, inCarmin roth sich imbibirender Pünktchen unter-
brochen.
Bei Larven von 8 Mni. maass die Chorda 0,22. Sie liess auch jetzt
eine protoplasmareiche Rindenschicht und den Gallertkörper unterschei-
den. Erstere hatte ihre Beschafl'enheil nicht geändert, tlie Zellen des
Gallerlkörpers maassen in der Mitte durchschnittlich 0,05, ihr Proto-
plasma war viel dünner als früher, die Zellmembran deutlicher, aber
immer noch von feinen, mit Carmin roth sich imbibirenden Pünktchen
durchsetzt.
Bei Larven von iO Mm. hatte die Chorda einen Durchmesser von
0,.';.'). Ihr» Rindenschicht war pigmentärnier als früher, bestand aber
noch aus einer einfachen Lage protoplasmareichcr Zeihen. 'Der Gallert-
körper bestand aus Zellen von 0,07 — 0,1, welche in der Nähe der Rin-
1. Upbor den Ran disr fliordii dorsalis. '335
denschicht lascli ;ui Volum nbnahincn. Sic wai'on gegenseitig polygona
ahgoplallol und Ix'standen aus einer sehr diinnon durehsielitigen Moni-
l)ran, weiche i)ei der Untersuchung in Wasser oder sein" verdünnter
Jodwasserslofisäuie eine feine Tüpfelung und auf den Kanton eine ent-
sprechende feine radiäre Sti'eifung erkennen liess, einer uninesshar
feinen, in Carniin leicht rosenroth sieii iinhibirenden, der Z(>liniend)ran
dicht anliegenden Proloplasniazone, welche pignientfrei war und den
flachen elliptischen Kern enthielt, und der durchsichtigen farblosen Gal-
lerlsubstanz.
Ich habe ferner I.arven von .'55 Mm. untersucht, welche den
Sch\\an/ noch besassen, aber die vier Extremitäten bereits entwickelt
hatten. Der Einschniirungsprocess der Chorda hatte bereils begonnen,
ihi- Durchmesser wechselte« dem entsprcichend zwischen 0,'i2 und 0,!i.
Die Rindenschichl war viel weniger vom GaHertkörper unterschieden
als früher, ihre Zellen wai-en klein, sehr flach, sie bi'sassen jetzt eine
durchsichtigem Membran, welcher der elliptische schmale Kern anlag
und eine geringe Menge eines hellen durchsichtigen Inhalts. Dei' L'eber-
gang der Riiidenschicht zu den grossen Zellen des Gallertköipers
erfolgte fast plötzlich. Letztere maassen durchschnittlieh 0,1 im Durch-
messer, ihre Mend^ran war theilweise verdickt, wie früher fein getüpfelt
und an der Kantenansicht gestreift, die ihr anliegenden Kerne waren
sehr blass, 0,ü0'2 — 0,004 dick, 0,01—0,015 lang, 0,006—0,01 breit,
der Inhalt wie früher farblos und vollkommen durchsichtig.
Die Chorda des erwachsenen Frosches besass innerhalb der Wirbel-
körper i'unden Querschnitt und t^inen Durchmesser von 0,ö5. Das Organ
war demnach seit Entwicklung der Extren)itäten kaum merklieli in die
Dicke gewachsen. Sie zeigte einen sehr ungleichförmigen Bau, indem po-
lygonale glashelle Zellen neben comprimirten unregelmässig gefalteten
sich fanden. Daneben lagen Gruppen von Zellen mit stark verdickter
homogener Intercellularsubstanz , Knorpelzellen durchaus gleichend.
Der Querdurchmesser des Organes nahn) gegen die Wirbelenden hin
ab, so dass in den Intervertebralscheiben nur ein 0,5 langer, 0,01
dicker, in der Mediaidinie verlaufender Strang übrig blieb, welchei'
parallel verlaufende, glänzende, etwas gewundene Linien zeigte, ent-
sprechend den Contouren von dicht aneinanderliegenden und bis zum
Verschwinden des Lumen abgeplatteten Chordazellen.
Aus deiClasse der Vögel untersuchte ich die Embryonen des Huhns
und der- (ians. Bei dem Huhn vom Ende des zweiten Bebrütungslags
stellic die Chorda eim'u cylindrischen Strang von 0,0.'V Durchmesser
dar. Sie \\i\r , wie sieh aus einem Vergleich von Längs- und Quer-
schnitten ei gab , (luiehaus solid und bestand aus proloplasmareichen,
336 Williclm Müller,
cubisclien, in der Längsrichlung des Organs theil weise etwas abgeplat-
teten Zeilen mit rundenti Kern von 0,006 und durchschnittlich 0,008
Fläcliendurchniesser. An der Peripherie erschien das Piotoplasnia die-
ser Zellen leicht verdichtet, wodurch das Organ scharf von der Um-
gebung sich absetzte, die im Centrum liegenden Zellen waren unbe-
deutend grösser als die peripherischen und stellenweise etwas blasser.
Die Chorda der Gans von der Mitte des dritten Bebrtltungstags stimmte
in jeder Beziehung mit diesem Stadium des Huhns iiberein, das Organ
war ein cylindrischer Strang von 0,0'5-3 Durchmesser, durchaus soüd,
die Zellen sämmtlich pi'oloplasmareich.
Bei dem Huhn vom dritten BebrUtungstag bestimmte ich den Durch-
messer der Chorda innerhalb der Wirbelsäule zu 0,09; sie zeigte eine
leichte Abflachung im medianen Durchmesser und erwies sich auch jetzt
in ganzer Ausdehnung solid; die Zellen, welche sie zusanuuensetzten,
Hessen bereits eine Sonderung in eine protoplasmaarme centrale Gallert-
schicht und eine peripherische protoplasiuareiche Rindenschicht wahr-
nehmen. Die Zellen der ersteren waren polygonal, in der Richtung des
Längsdurchnjessers der Chorda leicht abgeplattet, 0,012 — 0,018 im
Durchmesser und bestanden aus einer dünnen, aus feinen Körnchen be-
stehenden Protoplasmazone und in dieser enthaltenem Kern und einem
centralen farblosen durchsichtigen Inhalt. Die Peripherie der Chorda
wurde gebildet von einer 0,012 dicken Schicht protoplasmareicher Zellen
mit rundhchem Kern von 0,004 — 0,006 und meist quadratischem, in der
Längsrichtung der Chorda leicht abgeflachtem Protoplasmakörper. Em-
bryonen der Gans aus der ersten Hälfte des fünften Bebrütungstags boten
das gleiche Entwicklungsstadium ; der Durchmesser der Chorda betrug
0,09, die protoplasmareiche Rindenschicht 0,013, die centralen auf-
gehellten Zellen waren polygonal, 0,01 — 0,016 im Durchmesser mit
rundlichem Kern. Das Aussehen der Querschnitte der Chorda erinnerte
in Folge der Aufhellung der central liegenden Zellen an jenes eines
Drüsenausführungsganges, von dem Vorhandensein eine^s wirklichen
Lumen, wie His es beobachtet zu haben angiebt, habe ich weder in
diesem noch in dem vorhergehenden Stadium mich überzeugen können,
obwohl ich eine ganze Reihe von Hühner- und Gänseembryonen auf
diesen Punkt geprüft habe.
Bei dem Hühnchen vom vierten Bebrütungstag bestimmte ich den
Durchmesser der Chorda zu 0,16. Sie setzte sich wie in dem vorher-
gehenden Entwicklungsstadium aus einer centralen Gallertschicht und
einer protoplasmareichen Rindenschicht zusammen ; letztere war aber
viel dünner als früher und auf eine einlache Lage protoplasmareicher
in der Längsrichtung der Chorda etwas abgeplatteter Zellen reducirt
1. üeber dt'ii üaii der riiordii dorsnlis. 337
Dio Zellen des GiiileilkiMpocs luilinicti soii di-r Peiiphorie tj;eyen die Mille
rasch an Grösse zu und niaassen in IcUlerei" durclischnilllieli '1,01 (i.
Sie waren polyt^onal und heslanden aus einer durehsieliligen Membran,
einer sehr dünnen, dieser anliegenden Proloplasniaseliichl, welche den
Kern enthielt und itn Innern aus farbloser durchsiehligei- (iallerle.
Am sechsten BebrilUingstag bestimmte ich den Durchmesser der
r4horda zu 0,':\ Die prolopliisiiiareichc Kindenschiclil halle sich gegen
das \orig(! Sladium nicht veiiindert. Die ccnlralen Zellen niaassen
durchschnilllich 0,02, beslandcu aus Membran , Prolnplasiiia7.on(> und
galliMligcm lidiall und (Milhicllcii i'undliche oder elliptische KcriU! mit
grossen, stark glänzenden Kernköiperchen. Die Zellmend)ran liess sich
wie bei den nicdeien \Virb<'Ithieren durch Carmin blassioseniolh, duich
Silbersalpeter bräunlichg(MI) l'aiben, mit veidüniiten wässrigen Alkalien
behandelt quoll sie höchst unbedeuleml. Hei Untersuchung in vei-
dünnler, etwas Jod enlliailender JodwasseisloHsäure liess sie eine sehr
feine IHinktirung der Obcitläche und eine feine radiäre Streifung der
Kanten erkennen.
Bei dem Huhn vom zehnten Bebrütungstag schwankte der Durch-
messer der Chorda zwischen 0,^ und O,^^. Der Bau des Organs
zeigte nur insofern Aon jenem der letzten Stadien sich s'erschieden,
als auch die proloplasmareiche Rindenschichl weniger lebhaft mit
Carmin sich imbibirte als früher, was auf eine allmalige Differenziiung
auch dieser Zellen in den übiigen Chordaelementen gleichwerlhige
Gebilde schliessen lässt.
Aus der Classe der Säugelhiere habe ich 18 — 2'( Mm. lange Em-
bryonen vom Schwein . Schaf, Kaninchen und Menschen untersucht.
Der Bau der Chorda stimmte bei allen überein. Bei dem Schweins-
embryo von 18 Mm. bestimmte ich die Dicke der Chorda beim Eintritt
in den Schädel zu 0,034 fexclusive Cuticula . Sie bestand aus zwei
deutlich unterscheidbaren Lagen ; einer peripherischen, 0,009 dicken
Lage thcils polygonaler/ thcils quadratischer, in der Längsrichtung ab-
gellachter Zellen mit rundem Kern und diesen umschliessendem Proto-
plasmakörper und einer centralen, 0,016 dicken Lage polygonaler Zel-
len, bestehend aus einer sehr dünnen durchsichtigen Membran, einem
sehr feinen , den Kern einschliessenden Protoplasmahi)f und hyalinem
Inhalt. Auf Querschnitten bedingten diese centralen aufgehellten Zilien
den Anschein eines Lumen von O.OII bis 0,01 (> Durchmesser; durch
Aenderung der Einstellung, Untersuchung mit Silbersalpeler gefärbter
Piviparate und Vergleichung von Längsschnitten liess sich der solide
Bau ohne Schwierigkeil nachweisen.
Bei dem Scli.dlolus von 4 Cciilin)eter zeicle die Chorda in der
338 Wilhelm Mfiller,
Schädelbasis welligen Verlauf; ihr Durchmessel' betrug 0,036 exclusive
Cuticularschicht. Sie bestand aus einer dünnen protoplasmareichen
Rindenschicht und dem Gallertkörper. Erstere hatte sich gegen früher
nur in der Dicke verändert; der Gallertkörper bestand aus polygonalen
Zellen mit durchsichtiger Wand, äusserst dünner, dieser anliegender
Protoplasmazone mit rundem oder elliptischem Kern und farblosem,
durchsichtigem Inhalt. Die Zellwand Hess auch hier mit Carmin blass-
roth, mit Silbersalpeter bräunlichgclb sich färben; in Jodwasserstoff
untersucht zeigte sie feine Tüpfelung und auf den Kanten eine äusserst
feine radiäre Streifung.
Bei dem Schaffötus von 7 Centimeter endete die Chorda mit abge-
rundeter Spitze 0.01 G dick in den untersten Lagen des aus spindel-
förmigen Zellen bestehenden Perichondrium des Glivus. Der Unterschied
zwischen Gallerlkörper und protoplasmareicher Rindenschicht war in
dem ganzen Verlauf durch die Schädelbasis kaum angedeutet. Die Zel-
len waren sehr blass, ihre Wandungen dicker als früher, leicht gelblich
gefärbt und wie früher äusserst fein getüpfelt.
Es folgt aus den mitgetheilten Beobachtungen, dass sowohl die
Angaben, welche His über das Vorhandensein eines centralen Lumen
in einem frühen Entwicklungssladiun» der Chorda , als auch die An-
gaben, welche Dirsy über den Bau dieses Organs in späteien Entwick-
lungsstadiei) gemacht hat, der Begründung entbehren. Die Chorda aller
Cranioten crschemt nach demselben Plan gebaut. In den frühesten
Entwicklungsstadien aus einer Anhäufung indifferenter protoplasma-
reicher Zellen bestehend, scheidet sie sich unter Vermehrung dieser
Zellen in einen centralen Theil, in welchem eine Differenzirung des
Zellprotoplasma durch Abscheidung einer durchsichtigen Gallerte nach
innen und einer festen Membran nach aussen staltfindet, und in eine
Rindenschicht, welche aus indifferenten Abkömmlingen der ursprüng-
lichen Zellen der Chordaanlage besteht. Diese Rindenschicht wird im
Lauf der Entwicklung allmälig zur Herstellung differenzirter Elemente
verbraucht; das Aufgehen in letzlere bedeutet die Sislirung des fer-
neren W^achsthums des Organs. Bei allen Cranioten sind die Gallerl-
zellen der Chorda mit einer deutlichen Membran versehen ; diese Mem-
bran besitzt eine besondere Zeichnung, welche wahrscheinlich als der
Ausdruck von Porencanälen betrachtet werden muss, welche die Wan-
dung in senkrechter Richtung durchsetzen. Das sog. Chordaband zeigt
eine für die einzelnen Classen oder Familien typische Anordnung; bei
den Cyklostomen in querer Richtung der Chorda eingelagert, halbirt es
bei den Haien das Organ in senkrechter Richtung. Es besteht überein-
stimmend bei allen aus verdickten und bis zum Verschwinden der Zell-
1. Uebpf (Ich |{;iii dor riinida dorsalis. 339
liölilc ;iI)ii('lI;iclil(Mi Zellen, (liireli deicii {jiciile Aiieiiiiindeiliij^ciillit:;
iiiiinenliicli lu'i den Cykloslonien Befunde bedingt werden, welche an
die Befunde dieiil /usnnunengepi-essler Epilhelien eiinnern, wi(^ man
sie in Neubildungen, nanienllieh Kystomen, nicht sehen zu sehen Gele-
genheit hat.
Die Uebereinslimmung im Bau der Chorda bei sämmtliehen Clas-
sen iler Craniolen liess nur eine neue Untersuchung der Chorda des
Amphioxus wünschenswerth erscheinen. Mein College Anton Doiirn
(Ibersandle mir zu diesem Zweck mit dankenswerlher Liberalität 30
Kxemplare dieses Thieres, welche er Anfangs Mai dieses Jahres in
Neapel gesammelt und sofort in absoluten Alkohol gelegt hatte. Die
Länge der einzelnen Exemplare schwankte zwischen 14 und 40 Mm.
Da dieChoi'da des Amphioxus sowohl bei jungen als erwachsenen Thie-
ren bis an die beiden Enden des Körpers sich erstreckt, so ist mit
diesen Maassen zugleich die Längenausdehnung des Organs gegeben.
Im Querschnitt stellte die Chorda eine Ellipse dar, deren grosse Achse
in der Medianlinie des Körpeis lag. Das Verhältniss der grossen zur
kleinen Achse fand ich durchschnittlich wie 13:8, die absolute Länge
(ier grossen Achse schwankte zwischen 0,20 und 0,5, jene der kleinen
zwischen 0, l(i und O^^O. Ks wuchst demnach die Choida dieses Tliie-
res, so lange letzteres wächst, nicht nur in die Länge, sondern auch in
der Richtung der Breite und Höhe, in letzterer etwas weniger als in
den beiden andern. An der dorsalen und ventralen Fläche zeigte das
Organ einen abgerundeten, über die ganze Länge sich erstreckenden
Vorsprung, welcher dorsalwärls deutlicher sich markirte und bei einer
Basis von 0,1 eine Höhe von 0,().'{ erreichte').
Ich prüfte zunächst das Veihalten der Chorda in der Seitenansicht
des unverletzten Thieres. Zu diesem Zweck färbte ich einige zwischen
I 4 und 20 Mm. messende Exemplare mit Carmin und machte sie hifM-
auf mit Alkohol und Canadabalsam tluichsichtig. Die Chorda zeigte
nach dieser Methode untersucht in ihrer ganzen Ausdehnung die be-
kannten Querbänder, am vorderen und hinleren Ende in Form schma-
lei-, stark liclul>rechender Streifen, welche zum grösseren Theil durch
die ganze Höhe des Organs, zum kleinere^ nur auf eine grössere oder
kleinere Entfernung von der oberen oder unteren Kante sich erstieck-
len. In. übrigen Verlauf wichen die parallelen Querbänder hie und da
zu schmalen spindelförmigen Räumen auseinander, ktlrzere und blas-
sere Formen zwischen sich fassend, welche in verschiedenen Entfer-
1) Die ünhaltbarkeit der Angaben LErKARx's und Pagenstecher's (Müller's
.\rchiv 1858) ergiebl sich aus dieser Beschreibung von selbst.
340 Wilhelm Müller,
nungen von der oberen oder unteren Kante sich erstreckten. Durch
diese an drei Thieren ül^ereinstininiend gemachten Beobachtungen wird
die Angabe Max Schultze's, nach welcher die Querbiinder allenthalben
durch die ganze Dicke des Organs sich erstrecken sollen, für ältere
Thiere widerlegt, nachdem sie durch Kowalevski für die früheren Ent-
wicklungsstadien bereits als nicht zutrelfend erkannt ist. Die Betrach-
tung der Chorda von der Seile her im unverletzten Thier berechtigt
aber überhaupt zu keinem Ausspruch über den Bau des Organs, weil
bei derselben gerade der wichtigste Abschnitt durch das centrale Ner-
vensystem verdeckt bleibt.
Zerlegt man ein Stück eines Amphioxus durch successive in sagit-
taler Richtung geführte I^ängssehnilte und betrachtet man auf solchen
die Chorda, so erscheint ihr Bau am dorsalen Ende anders beschaffen
als in ihrer übrigen Ausdehnung. In einer Höhe von durchschnittlich
0,0;} liegen der Cuticularschicht längs des dorsalen Endes verzweigte
Zellen an, deren Ausläufe hie und da unter einander anastomosiren
und helle Räume zwischen sich lassen. Darauf folgen erst die mit Car-
min lebhaft roth sich imbibirenden glänzenden Querbänder, deren
Dicke 0,00 lö — 0,00:^ beträgt und welche bei jüngeren Thieren in Ab-
ständen von 0,003 bisweilen leichte Einkerbungen zeigen. Sie ver-
laufen parallel durch das Organ; wo sie sich umlegen, erscheinen sie
als flache, ziemlich blasse Plältchen. Am ventralen l^'nde solcher
Schnitte zeigen sich nahe der Cuticulai'schicht statt der glänzenden
Bänder abermals verästelte Zellen, stets sehr blass und in geringerer
Zahl als am dorsalen Ende.
Auf successiven Längsschnitten, welclie man in liorizontaler Rich-
tung durch ein Stück eines Amphioxus legt, vom Rücken gegen die
Bauchseite fortschreitend , erkennt man an der unteren Fläche der- Cu-
ticular.schicht, soweit sie vom Gentralnervensystem bedeckt wird, eine
grosse Zahl verästelter Zellen, deren Ausläufer hie und da anastomo-
siren und helle Räume zwischen sich lassen. Auf sie folgen wieder die
glänzenden , mit starkem Contour versehenen , das Organ der Quere
nach durchsetzenden Bänder. Sie setzen sich mit conischen, 0,003 —
0,004 dicken, 0,01 hohen, lebhaft roth sich imbibirenden Enden an die
Cuticularschicht an und erstrecken sich in gleichförmiger, 0,001 5 — 0,003
betragender Dicke parallel durch das Organ.
Wesentlich anders ist die Beschaffenheit des Bildes , welches die
Chorda des Amphioxus auf Querschnitten darbietet. Schon früher ist
angegeben worden, dass an den beiden Polen der Ellipse, welche der
Querschnitt bildet, Vorsprünge sich finden, von welchen der ventrale
wenig markirt, der dorsale deutlich entwickelt ist. Im Bereich dieser
I. Uchcr den Biiii der ('linrdiMloisiilis. 341
Voi-.spriini;o ist (Wo rJcscIinlVcnlicit <li's ()r^;ms andcis ;ils in di'iii (l;i-
zvvischen lioi^cmlcn Abschnid , dein Miltelsliickc. Der (luliciilnr-.scliichl
dos doi'SJilcn Vorsprunt^s liei^l eine Uoihc \om Zi'llcn an. Sic sind tlicils
llacli, ihoils pioniiniron sie als durchschnilllicli 0,01 hohe, ü,Oo;{ l)reil('
Cylindor c;egen das Innere. Die Mehrzahl dieser Zellen verlängert sich in
[•"orlsälze, welche thcils zur gegcnilbcrlicgenden Wand sich crsliecken,
iheils mit jenen andrer Zellen anastoniosircm. Dadurch wird ein locke-
les Netzwerk hergestellt, dessen Inlerstitien leer, d. h. im naliUlichen
Zustand mit Flüssigkeit erfüllt sind. Wo der dorsale Vorsprung an das
Rlittelstück der Chorda sich ansetzt, verlaufen die Fortsätze dieser Zel-
len mehr gestreckt von der einen Seilenwand zur andern, dabei mehr-
fach sich durchkreuzend, woduich der Anblick eines sehr dichten, aus
blassen, durchschnittlich 0,002 breiten Fasern gebildeten Flechtwerks
entsteht. Alsbald al>er wird die lieschatTenheit des Mittelstücks mehi'
homogen und bleibt so bis nahe an den ventralen Vorsprung. Mit Gar-
min färbt sich dieser ganze Abschnitt sehr wenig, mit einem Stich ins
Gelbliche; die Grenzen der einzelnen Zellen, welche an der lleb(;r-
gangsstelle noch deutlich längs der Cuticularschichl zu unterscheiden
waren, werden undeutlich. Von di^r einen Seilenwand zur and(M-n er-
strecken sich in ziemlich regelmässigen Abständen von durchschnilllich
0,003 blasse Linien, die schmalen F'urchen gleichen. Diese Linien sind
schon von .loii. v. MüLirii gesehen und abgebildet i) worden; sie sind
selbst an Balsampräparaten jederzeit nachweisbar. Ihnen entsprechen
die seichten Kinkerbungen, welche man an den Querscheiben jüngerer
Tliiere auf sagittalen Längsschnitten bisweilen antrillt. Es ist mir nicht
gelungen , im Inneren dieser J>lassen Streifen Kerne oder Kernrudi-
mente aufzufinden. Bei der Untersuchung in verdünntem Jodwasser-
stoff zeigte die Fläche des Mittelslücks eine äusserst feine Punktirung;
ihr entsprach eine gleich feine senkrechte Streifung der Q)uerscheiben
bei Betiachlung von Längsschnitten. Ich halle diese Zeichnung auch
hier für den Ausdruck von I'orencanälen , welche die Wände der ein-
zelnen Querscheiben in .senkrechter Richtung duichselzen. Mit ver-
dünnten wässrigen Säui'en oder Alkalien behandelt zeigt die Substanz
des Mittelstücks deutliches Quellungsvermögen, sie quillt ferner beträcht-
lich bei kürzerem Kochen und bei der Behandlung mit concenlrirter
Chlorcaiciumlösung. Im polarisirlen Licht erwies sie sich stark doppel-
brechend. Die einzelnen Scheiben scheinen durch eine schwer lösliche
Kittsubstanz verbunden zu sein ; ich schliesse dies aus der Schwierig-
1) Ueber den Bau iiikI die Lebenserscheinuncen des Ainphioxus. .Abhand-
lungen der k. Acadeniic der Wiss. zu Berlin aus dem .lalire 184:2. p. 79. Tab.V. Fig. 3.
342 Wilhelm Müller,
keit, mit welcher die Lösung einzelner Scheiben aus der Gonlinuität
der Chorda auch bei Anwendung starker Alkalilösungen verbunden ist.
In der Nähe des ventralen Vorsprungs nimmt das Bild des Mittelstücks
denselben Charakter e'ines dichten Fieehtwerks an , wie in der Nähe
des dorsalen. Der wenig ausgeprägte ventrale Vorsprung selbst zeigt
ein ganz ähnliches lockeres Netzwerk wie lezterer, jedoch ist die längs
der Cuticula liegende Zellenschicht viel weniger entwickelt, die Mehr-
zahl der Zellen in Fortsätze ausgezogen , sehr blass und mit kleinen
elliptischen, mit Carmin roth sich imbibirenden Kernen versehen.
Aus diesen Befunden ergiebt sich zunächst, dass die queren Schei-
ben, aus welchen das Mitlelstück der Chorda des Amphioxus sich
zusammensetzt, nicht als einfache Zellen betrachtet werden können,
wie QuATREFAGES wollto , dcuu mit dieser Auffassung lässt sich der
Befund nicht vereinbaren , welchen diese Scheiben auf Querschnitten
in der Nähe des dorsalen und ventralen Vorsprungs darbieten. Eben-
sowenig ist die Ansicht von Max Schultze und Kowalevski hallbar,
nach welcher die Chorda des Amphioxus blos aus Intercellularsub-
stanz bestehen soll , welche der letztere Beobachter von dei- Scheide
abgesondert werden lässt. Die im Bereich des dorsalen und ven-
tralen Vorsprungs vorhandene Zellenschicht haben beide Beobach-
ter übersehen. Die Kerne, welche Kowalevski in der Choidascheide
beschieibl und abbildet, sind ganz sicher zu keiner Zeit vorhanden,
denn die Cuticula der Chorda des Amphioxus vei'hält sich in allen we-
sentlichen Punkten übereinstimmend mit jener der Cranioten.
Versucht man, auf Grund des thatsächlichen Befundes eine Theorie
des Baues der Chorda bei Amphioxus zu gewinnen , so muss diese
Theorie 1) die Verschiedenheit des Bildes der Chorda auf Quer- und
Längsschnitten, 2/ die Zunahme des Organs nach den drei Dimen-
sionen des Baumes während seines Wachslhums zu erklären vermögen.
Dieser Forderung genügt die Vorstellung, dass die C^horda des Am-
phioxus ursprünglich aus Zellen besteht, deren Abkömmlinge längs der
dorsalen und ventralen Fläche des Organs, besonders reichlich aus
später zu erörternden Gründen längs ersterer, das ganze Leben hin-
durch in deutlicher Sonderung sich erhalten. Diese Zellen sind sehr
blass, sie besitzen Fortsätze, welche theils an analoge Fortsätze anderer
Zellen, theils an die gegenüberliegende Wand der Chorda sich ansetzen,
und scheiden eine flüssige Intercellularsubstanz aus. Im Bereich des
doi'salen und ventralen Vorsprungs stehen diese Zellen mit ihren Fort-
sätzen locker, gegen das Mittelstück zu drängen sie sich dichter anein-
ander und zeigen zugleich die Neigung, in derQuerriehtung des Organs
untereinander zu verschmelzen , während in der zur Längsachse des
1. Vo\m (Ipii Ran der Chorda dnrsalis. 343
Körpers senkrechten Richtuns; eine Ahseheiduni^ fester Inlercellul.ii--
si.I)stnnz auf Kosten dos Proloplnsni;. erfolgt. Aus dieser Vorstellung
orkliirt sich: I) die Scheihenhildung im Miltelslüek des Ortrans. Die
glänzenden Körperchon, vvelehe als erste Andeutung der zukünftigen
Scheiben hei dem Knd)ryo des Arupl.ioxus auftreten, <'nlsprechen ver-
schmolzenen Zellen, welehe bereits eine feste, stark lichtbrechende
Intercellularsubstanz abgeschieden haben; 2) das blasse Au.s.sehen der
Scheiben im Querschnitt im bnbibitionsprä|)aral . da auf «liesem nur
dünne Schichten imbibionsfiihigen Protoplasmas zur Wirkung kommen
können; .{] deren viel stärkere Imbibition auf dem Längsschnitt, da
hier der zNxischen den vordickten Wänden der Scheiben noch vorhan-
• lone Protoplasmaresl auf beträchtlichere Tiefe zur Wirkung gelangt;
i) die zarte Sireifung, \Nelche nian auf Querschnitten des Mittelstücks
wahrnimmt. Die einzelnen Linien zeigen dio Grenzen der ursprünglidi
isoiirten Z.>llen an, durch deren Verschmelzung die Scheibenbildung
zu Stande gekommen ist, wonn't der gegenseitige, durchschnittlich
0,002 — 0,003 betragende Abstand dieser Linien gut in Uebereinstim-
nuing ist; 5) die allmälig deutlicher werdende Sonderung der einzel-
nen Bestandtheile der Scheiben an den Uebergangsstellen in die Zellen-
l.igor des dorsalen und ventralen Vorsprungs; 6) die conische Gestalt
d<M- Enden , mit welchen auf horizontalen Längsschnitten die Scheiben
;m die Cuticula sich ansetzen. Sie stellen die protoplasmareicheren
Roste der verschmolzenen Zellen dar und zeigen aus diesem Grunde
lebhafteres bnbibitions vermögen.
Auch das Wachsthum der Chonla des Amphioxus lässt sich unter
Zugrundelegung dieser Th,>orie mit <lem thatsächlichen Befund in den
nothwendigen Einklang bringen. Das Wachsthum in die Breite erklärt
sich aus einer Anbildung neuer Substanz durch Vermittlung des Proto-
plasman^stes, welcher am Hand der Scheiben sich erhält; das Wachs-
thum in die Höhe aus einer Anlagerung neuer Zellen an die bereits ver-
schn.oizenen und in dieser Beziehung erhält der allmälige Ueberaang
der Scheiben in das Netz isolirler Zellen am dorsalen und ventnilen
iMule des Organs eine- besondere Bedeutung. Das Wachsthum in die
Länge endlich lässt sich nur erklären durch die Annahme einer Ein-
schiebung neuer Zellenreihen zwischen die zu Scheiben bereits ver-
schmolzenen , denn der Durchmesser der Scheiben weicht bei älteren
Thieren von jenem jüngerer nicht erheblich ab. Mit dieser Annahme
stehen nicht nur die Beobachtungen Kgwai.kvski's im Einklang, nach
welchen in frühen Entwicklungsstadien neue glänzende Körper zwi-
schen die bereits vorhandenen sich einschieben, sondern es erklärt
dieselbe auch das Auftreten spindelförmiger Räume im Verlauf der
Bd. VI. 3.
24
344 . Wilhelm Müller,
Chorda, da das Eindringen neuer Zellenreihen zwischen die aneinander-
liegenden Scheiben an der Stelle, wo letztere auseinandergedrängl wer-
den, den Anschein eines spindelförmigen, von glänzenden Contoui'en
eingefassten Raumes erzeugen nmss.
Vergleicht man die Chorda des Amphioxus ^; mit jener der Cianio-
ten , so ergiebt sich, dass das Organ im Verlauf der Transmutationen,
welche zur Entstehung der höheren Wirbelthiere geführt haben , be-
tiächtliche Veränderungen erfahren hat. V^ererbt hat sich auf sämmt-
liche Cranioten die Neigung der peripherischen Zellenschichl zur Cuti-
cularbildung, vererbt hat sich ferner auf Fische und Cjkloslomen die
Neigung der älteren Zellen zur Abscheidung fester Intercellularsub-
slanz, da die Uebereinstimmung in den Eigenschaften das Chordaband
dieser Thiere als das Aequivalent der Scheibenbildung im Mittelstück
der Chorda des Amphioxus betrachten lässt. Verloren gegangen ist die
Neigung der älteren Zellen zur Verschmelzung, verloren gegangen ist
ferner die Fähigkeit zur Ausscheidung einer flüssigen Intercellularsub-
stanz, während die Abscheidung einer gallertigen Flüssigkeit im Innern
der Zellen eine zugleich mit deren grösserer Selbständigkeit neu erwor-
bene Eigenthümlichkeit darstellt.
Ueber das Vorhandensein und die Beschaffenheit einer Chorda-
scbeide und deren Beziehung zur Wirbelbildung bestehen ungleich
grössere Differenzen zwischen den Angaben der einzelnen Beobachter
als über die Chorda selbst.
V, Bar 2) hat zuerst von einer Chordascheide gesprochen und damit
den hellen, glasartig durchsichtigen Raum bezeichnet, welcher in den
ersten Bebrütungstagen die Chorda des Hühnchens rings umgiebt. Er
lindet die Frostigkeit auffallend, welche diese glashelle Masse hat, und
giebt an, dass am 3. Tag die Rückensaile mit einiger Vorsicht aus dei-
Schtnde sich ziehen lasse, wähi'end vom i . Tag an der Versuch ziem-
lich leicht gelinge.
JoH. V. Müller ') hat die Bezeichnung B.vu's auf die Hülle über-
tragen, welche die Chorda der Cjklostomen und Frische umgiebt und
zugleich an dieser Hülle zwei Schichten unterschieden : eine innere
fibröse, der Chorda eigenthümliche, und eine äussere häutige, welche
•1J Den nahe iiegemlen Vergleich mit dem Chordarudiinent der Ascidien un-
terlasse ich, da die zur Zeit über letzteres vorliegenden Angaben weder unter sich,
nocli mit dem übereinstimmen, was ich selbst an Amaurucium proliferum beob-
achtet habe.
2) Ueber Entwicklungsgeschichte der Thiere. Königsberg 1828. I. p. 16.
3) Vergleichende Anatomie der Myxinoiden p. 74. Vergleichende Neurologie
der Myxinoiden p. 64.
I. üclicr (li'ii Ran der fliordii dorsalis. 345
»Mstoro iiiiii;i('hl iiiid, Ix'i den (In klostoiiioii luicli oIxmi sich lorlsctzend,
nllcin (las Hiickcnmiiiksiolu- ImMcI. \'W hcscliicihl die crstcrc Scheide
als ein tihiosos, aus Uiiii;l'ascni iicbildetcs Hoiir und t^ichl an, dass sie
so wcniii als das (icwehc dci' Choida st-lhsl lici iiizcnd cincui Thicr
veiknüchcic. Die äussere Scheide isl nach .Ion. v. Mi i i.kk bei den (])-
kloslonicn hindoiicwchiii, hei den (Ihiniärcn und Haien isl sie der Sil/,
von Üssilicalionen, welche inil den paarii^en WiihelslUcken in s^ar kei-
nem Zusammenhang stehen.
Lkydiü 'j hat die Beschreihuui^ Mijlkkr's duich den Nachweis eiw ei-
tert, dass bei deui Slür die innere Sciieide aus zwei bagen sich zusam-
mensetzt, einerinneren, welche bei der Behandlung mit verdünnten
Säuren oder Alkalien wie Bindegewebe aufquillt, und einer äusseren,
welche die Eigenschaften einer elastischen Membran besitzt.
Mit diesen Angaben Lkydu/s lassen sich die Beobachtungen Köi.u-
ker's-^) nicht vereinbaren. In seiner ersten Mittheilung über die Wirbel-
bildung der Selachier lässt Köllikek die Chorda von einer inneren
elastischen Haut, Elastica interna, umgeben sein, welche sich bei
Ganoiden und Elasmobrachiern in weiter Verbreitung findet. Sie soll
aus einem dichten Netzwerk von Fasern bestehen, welche chemisch
und zum Theil auch mikroskopisch mit elastischen Fasern ganz über-
einstimmen , und in ihren ausgeprägtesten Formen von den schönsten
elastischen Netzhäuten des Menschen in nichts verschieden sind.
KöLLiKER unterscheidet von ihr die bindegewebige Scheide, Tunica
fibrosa, als eigentliche Scheide der Chorda, welche allein an der Wir-
belhildung sich betheiligt. Sie grenzt sich durch eine Elastica externa
von der anliegenden skelelbildenden Schicht ab. In seiner zweiten
Millheilung bezeichnet Kölliker dii' Elastica interna als die eigentliche
oder innere Chordascheide und unterscheidet die Tunica fibrosa als
äussere, wendet mithin in zwei kurz auf einander folgenden Abhand-
lungen dieselbe Bezeichnung auf zwei verschiedene Schichten an. Die
Tunica fibrosa besteht im jugendlichen Zustand stets aus einer Binde-
subslanz mit spindelförmigen Zellen. Die Chordascheide der Cyklosto-
men , Ganoiden und Teleostier besteht nach Kölliker aus denselben
drei Lagen wie jene der Selachier, sie unterscheidet sich aber von die-
ser sehr wesentlich dadurch , dass die Faserschicht nie Zellen enthält.
Nur Lepidosteus soll hievon eine Ausnahme machen , Kölliker verniu-
i) Anatomisch - histologische Untersuchungen über Fische und Reptilien.
Berlin ^853. p. 3.
2) Verhandlungen der physikalisch -medizinischen Gesellschaft zu Würzburg
X. 1860. p.193. — Weitere Beobachtungen über die Wirbel der Selachier. Frank-
furt a/M. ISfU. p.iS (1.
24*
346 Wilhelm Müller,
thet aber, dass bei diesem Thier die Zellen erst secundär durch die |
Spalten dei- Elastica interna in die Chordascheide eingewandert seien.
KöLLiKER betrachtet alle zellen losen Ghordascheiden als Ausscheidungen
der Chordagallerte, weil I) ein alhnäliger Uebergang von den einfach-
sten Chordascheiden der Vö£;el und Säuo;ethiere zu den ausüebildetsten
Formen der Cykloslomen und Ganoidei chondrostei stattfindet; 2) weil
bei den Teleostiern die Chordascheide anfangs ein dünnes Häutchen
sei, das durch Ablagerung von innen sich verdickt. Nach seiner Auf-
fassung stellen die Chordascheiden der Säuger, Vögel, beschuppten
Amphibien und auch die der Selachier den primären Zustand dieses
Organs dar, die Chordascheiden der nackten Amphibien, die auch eine
Elastica externa haben , ein mittleres Stadium und die der Teleostier,
Ganoiden und Cyklostomen mit ihren drei Lagen die ganz ausgebildete
Form.
Gleich .loH. v. Müllek lässl Kölliker die Chordascheide an der Wir-
belbildung sich betheiligen. Er unterscheidet bei den Plagioslomen die
Fälle, in welchen der Wirbelkörper einzig und allein aus der Scheiile
der Chorda hervorgeht, jene, in welchen der Wii'belkörper sich zum
Theil aus der Scheide der Chorda, zum Theil aus den verschmolzenen
knorpligen Bogen bildet und drittens die Fälle, in welchen der Wlibel-
körper aus der Scheide der Clioi'da , einem Antheil der Bogen und aus
Periostablagerungi>n sich bildet. Bei den Teleostiern unterscheidet
Kölliker dieselben Fälle und giebl ausserdem an , dass die erste Ossi-
fication der Wirbel in der mittleien Lage der Chordascheide geschehe
und inuner aus einfacher osteoider zellenloser Substanz bestehe.
Gegenbaur ') hat in seiner ersten Miltheilung den Angaben Leydig's
hinzugefügt, dass auch bei den Amphibien eine Sonderung der inneren
Chordascheide Müller's in zwei Lamellen in grosser Verbreitung vor-
komme, während bei einem Theil d(M\selben ähnlich wie bei den höhe-
ren Wirbelthieren nur eine Lamelle zur Entwicklung gelangt. Bezüg-
lich der Betheiligung der Chordascheide an der W'irbel])ildung bemerkt
Gegenbaur. dass zur Annahme einer Ossification der Chordascheide eine
Nöthigung nicht vorliege, da die sogenannte mittlere Schicht der
Chordascheide, in der bei Seiachiern und Chimären Ossificationen
(Knorpelknochen) auftreten, als ein sehr frühzeitig von der übrigen
skeletbildenden Schicht sich ablösender Theil aufgefasst werden kann,
welcher dann durch eine dünne äussere Lamelle von der übrigen ske-
letbildenden Schicht geschieden wird.
1) Untersuchungen zur vergleiclienden Anatonaie der Wirbelsäule. Leipzig
1862. p. 58. — Jenaische Zeitschrift III. 1867. p. 359 und V. 1869. p. 43.
I. lieber (1(mi Hau der flioidii dorsalis. 347
In seiner spiileion Mitlhcilung weist Gegenbaur die Unhaltbarkeil
diT Angaben Köllikek's über Lepidosleus nach, inodificirt aber zugleich
seine IVühoi'c Verniuthiuiij; ilbei" die Bedouliing der sogenannten mitt-
leren (lliordascheide, indem er versucht, die zwischen der Khistica in-
terna und externa Köli.ikku's liegende Schicht zellenhalliger Bindesub-
stnnz oder Knorpels von der Rindenschicht der Choida abzuleiten.
Indem die Zellen der letzteren nicht blos einseitig, nur auf der äusseren
Oberlläche, sondern in ihrem ganzen Umfang Intercellularsubstanz ab-
scheiden, werden die anfanglich wie die Foi'inelemente der Matri\ dichl
bei einander liegenden Zellen durch die von ihnen gebildete hilercellu-
larsubstanz getrennt und es entsteht ein Gewebe, welches je nach der
BeschalVenheit seiner Formelemenle und der diese umschlicssenden !n-
lercellulaisubstanz Bindegewebe oder Knorpel sein wird. Er bezeich-
net als (lliordascheide die UndiUllungen der Chorda, welche derselben
ausschliesslich angehörend sich in ihrer ganzen Länge erstrecken, ohne
in die Bogenbildungen der Wirbel überzugehen. Es gehören dazu we-
sentlich Theile, welche den Wirbelkörpern zu Grunde liegen. Er
findet bei den Ganoiden , Teleostiern und Cyklostomen die zwei von
Leyiug beschriebenen Lamellen, in unnntlelbarer Umgebung der Choida
eine helle, weichere, und weiter aussen eine elastische und betrachtet
ersiere als eine Cuticularmend^ran, deren Matrix die Rindenschicht der
Chorda bildet. Er beschreibt die concentrische Schichtung und radiäre
Slriehelung dieser Cuticularmembran und deutet letztere als den Aus-
druck von Porencanälen, welche gleichmässig die Schichte durchziehen.
Für die Chorda des Hühnchens gaben Remak, Kölliker, Robi^i und
Uis übereinstimmend an, dass sie von einer slructurlosen Scheide um-
geben sei , welche in gleicher Weise den Säugethieren zukommt und
nach Remar beim Hühnchen vom 5., nach Ibs vom ^. Tag an auftritt.
ÜURSY widerspricht diesen Angaben. Nach ihm existirl weder bei
dem Menschen noch bei den Säugethieren zu irgend einer Zeit des fö-
talen Lebens weder eine eigentliche giashelle, noch eine körnige, noch
eine fasrige Scheide. Auch beim Hühnchen giebt es keine Chorda-
scheide und der dafür gehaltene Canal lässt sich leicht vom ersten An-
fang seiner Bildung verfolgen. Als Grund für diese Behauptung führt
Dlirsy an, dass, wenn die Chorda einmal aus ihrer Umgebung heraus-
fällt oder herausgedrückt wird , dann der ganze zurückbleibende
Chordacanal lediglich nur als eine unmittelbar von Knorpelgewebe um-
gebene wasserhelle Lücke erscheint, ohne alle Structur, an welcher
sich auch am gehärteten und selbst an noch so intensiv gefärbten Durch-
schnitten weder ein innerer, noch ein äussererContour nachweisen lässt.
Ich habe zur Prüfung dieser Ang;iben dieselben Thiere benützt,
348 Wilhelm Müller,
welche 7ai\' Untersuchung der Cliorda seihst gedient halten. Zunächst
habe icli die Beschaffenheit der Gewebsschicht, welclie der Chorda un-
niitlelbar anliegt, bei den verschiedenen Wirbell hierclassen festzustel-
len gesucht.
Bei Amphioxus wird die Chorda rings von einer mattglänzenden
hellen Hülle un)geben. Ihre Dicke bestimmte ich bei Exemplaren von
18 Mm. Länge zu 0,00t), bei solchen von 40 Mm. zu 0,01. Bei stärke-
rer Vergrösserung erschien diese Hülle sehr fein parallel gefasert, aus-
serdem war sie von dichtstehenden hellen Streifen und in grösseren
Absländen von feinen Fasern in radiärer Richtung durchsetzt. Mit
Carmin färbte sich die Hülle ungemein blass, zellige Elemente Hessen
sich in ihr weder bei jüngeren noch bei älteren Thieren nachweisen.
Mit verdünnten wässrigen Säuren oder Alkalien behandelt quoll das
Gewebe in ähnlicher Weise wie die Substanz der Querscheiben; im
polarisirten Licht untersucht zeigte es dieselbe Doppelbrechung wie
letztere. An den Stellen, an welchen der dorsale Vorsprung an das
Miltelstück der Chorda sich ansetzt, zeigte diese Hülle ein sehr merk-
würdiges Verhallen, indem sie von 0,006 weiten Oeffnungen senkrecht
durchsetzt wurde. Diese Oeffnungen sind auf Querschnitten der Chorda
schwer wahrzunehmen , leichter auf senkrechten oder horizontalen
Längsschnitten; auf letzteren sieht man sie zu beiden Seiten der Mit-
tellinie in einem Querabstand von 0,11 und in einem Längenabstand
von je 0,D die Culicularschicht der Chorda senkrecht durchsetzen. Ich
halle diese Oeffnungen für Vorrichtungen, durch welche der Zutritt von
Ernährungsüüssigkeit zu dem das Wachsthum der Chorda in späterer
Zeit hauptsächlich vermittelnden Abschnitt erleichtert wird.
Bei den Cyklostomen lag der Rindenschicht der Chorda eine
schwach lichtbrecliende Hülle unmittelbar an. Sie war constant längs
der Bauchtläche der Chorda dicker als längs der Dorsalfläche ; ihr
Durchmesser schwankte dem entsprechend bei jungen 7 Cenlimeter
langen Flussbricken zwischen 0,02 und 0,00, bei erwachsenen Fluss-
bricken zwischen 0,08 und 0,14, bei Myxine zwischen 0,06 und 0,1.
Die Hülle zeigte die von Geüenbaur beschriebene parallele Streifung und
senkrechte Strichelung, letztere an der dorsalen Fläche constant viel
deutlicher als an der ventralen. Die einzelnen Striche standen in Ab-
ständen von 0,001 — 0,003 und waren durch dunklere Zwischenräume
getrennt, am Kopfende der Chorda von Myxine standen sie so dicht
und waren so ausgesprochen, dass sie an den Anblick von Zahnröhr-
chen erinnerten. Ausserdem wurde auch bei diesem Thier die Hülle
von radiär verlaufenden , an der Peripherie sich verbreiternden feinen
Fibrillen durchsetzt. Mit Carmin färbte sie sich in ganzer Ausdehnung
1. Ueber de» Bau der Chorda dorsalis. 349
bljiss und Hess auch nach Anwendung von Eisessig nirgends zellige
EleMjenlf erkennen. Mit verdünnten wüssrigen Säuren oder Alkalien
hehandcll quoll sie belrächliieh, im polarisirlen l.icht zeigte sie starke
Doppelbrechung.
Von Haien unteisuelUe ich ausser den schon erwähnten Thieren
noch 17 Centiineter lange Knibryonen von Sc>ninus lichia, welche noch
äussere Kiemen besassen.
Bei den •? Ccntiinelei' langen Embryonen von Acanthias vulgaris
war die Rindenschicht der Chorda rings von einer niattglänzenden hel-
len Mülle umgeben. Sie war an der Dorsalfläche 0,0Ü4, an der Bauch-
fläche 0,()0() dick und zeigte bei starker Vergrösserung eine sehr feine
parallele Streifung und an der Dorsalseite Andeutung einer radiären
Strichelung. Mit Carmin färbte sie sich sehr blass und Hess nirgends
zellige Elemente erkennen. Im polarisirten Licht erwies sie sich dop-
pelbrechend, mit verdünnten Säuren und Alkalien Hess sie sich etwas
zum Aufquellen bringen.
Bei den älteren Embryonen von Acanthias setzten die Zellen der
Rindenschicht der Chorda mit einem glänzenden stark radiär gestreif-
ten Saum gegen die Hülle sich ab. Letztere war 0,02 im Mittel dick)
wie früher leicht parallel gestreift und in radiärer Richtung gestrichelt,
doppelbi(>chend und ohne Zellelemente. Mit verdünnten Säuren oder
Alkalien konnte sie auch jetzt zum Auf(iuellen gebracht werden.
Bei den Embryonen von Scynmus lichia betrug die Dicke der Hülle
0,02(); ihre Eigens(;haften stimmten mit jenen bei Acanthias überein.
Bei Muslelus betrug die Dicke 0,01; die Hülle wiir an den eingeschnüi-
ten Stellen wellig gebogen, sonst mit dem entsprechenden Organ von
AcHuthias und Scymnus übereinstimmend.
Von Teleostiern untersuchte ich 3 Centimeter lange Embrxonen
vom Lachs. Die Chorda zeigte bei allen Exemplaren eine flache Ein-
buchtung übci" der Aorta, längs welcher die flachen Zellen der Rinden-
schicht protoplasmareicher waren als im übrigen Umfang. Die Rinden-
schicht war umgeben von einer mallglänzenden Hülle, deren Dicke
dorsahvärts 0,000, ventralwärts 0,008 betrug. Sie zeigte Andeutung
einer concentrischen und radiären Streifung, im polarisirten Licht er-
wies sie sich als doppelbrechend, beim Behandeln mit verdünnten
Säuren und Alkalien Hess sie sich zu leichtem Aufquellen bringen.
Zellige Elemente enthielt sie nirgends.
Von Amphibien untersuchte ich den Frosch und Salan)ander. Bei
Rana Icmporaria erschien die Chorda erst bei Laiven von 0 Mm. Länge,
welche das Ei schon einige Zeit vei'lassen halten, von einer mattglän-
zenden homogenen Hülle von 0,000ö umgeben. Diese Hülle nahm sehr
350 Wilhelm Müller,
langsam während der weiteren Entwicklung an Dicke zu , so dass sie
bei Larven von 35 Mm. Länge, welche ihre vier Extremitäten bereits
entwickelt hatten, nur 0,004 maass. Ihre Beschaffenheit stimmte mit
jener der F'ische überein ; sie erwies sich doppel brechend , liess sich
durch wässrige Sauren und Alkalien zum Aufquellen bringen, färbte
sich mit Carmin sehr blass und enthielt nirgends zellige Elemente.
Bei Salamandra maculata war die Hülle an Embryonen von 1 Cen-
timeter vollkonnnen deutlich, 0,005 dick, während sie bei Embryonen
von 3 Centimeter bis 0,01 zugenommen hatte. Sie besass bei letzteren
welligen Verlauf; ihre Beschaffenheit stimmte' mit jener beim Frosch
überein.
Bei dem Hühnchen beobachtete ich das Auftreten eines homogenen
feinen Saums um die Chorda zuerst im Verlauf des vierten Bebrütungs-
tags. Er war 0,001 dick. Seine Dicke nahm bis zum 10. BebrUtungs-
tag allmälig bis 0,005 zu. Er setzte sich gegen die umgebenden Wir-
bolanlagen mit einem blassen aber deutlichen Contour ab, mit der
Rindenschicht der Chorda hing er fest zusammen. Er liess sich durch
Silbersalpeter bräunlich, durch Carmin sehr blass rosenroth fäiben und
entbehrte zelliger Elemente, mit wässrigen Säuren oder Alkalien quoll
die Substanz wenig, mit Hülfe von Glimmer liess sich an ihr schwache
Doppelbrechung nachweisen.
Bii den untersuchten Säugethiercn fand sich eine Hülle von glei-
cher Beschaffenheit wie bei dem Huhn um die Chorda , nur war sie
mächtiger entwickelt. Ihre Dicke betrug bei dem vSchweinsfötus von
18 Mu). 0,016, bei dem Schaf von i und 7 Centimeter 0,012; sie
hatte demnach bei den jüngsten Embryonen , welche mir zu Gebole
standen, das Maximum ihrer Entwicklung schon erreicht.
Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass bei allen Wirbel-
ihieren die Chorda von einer Hülle umgeben wird, welche keine zelli-
gen Elemente eingelagert enthält. Diese Hülle ist von fester Beschaffen-
heit, denn die Eigenschaften der Quellung und der Doppelbrechung
lassen sich nur mit der Annahme einer festen Beschaffenheit verein-
baren. Damit fallen die Einwendungen, welche Di rsy gegen das Vor-
handensein einer solchen Hülle erhoben hat, als unljegründet zu Boden.
Die Eigenschaften, welche diese Hülle daibietet, sind bei allen Wlrbel-
thieren im Wesentlichen übereinstimmend und von jenen dos elastischen
Gewebes verschieden. Daraus ergiebt sich die Unhaltbarkeit der Anga-
ben Kölliker's, welcher seine Elastica interna dei' Chorda unmittelbar
aufsitzen lässt. Die der Chorda eigenlhümliche Hülle hat Kölliker bei
den Haien übersehen; ihre Aussentläche erst wird von dem inneren
elastischen Saum LEVDnrs überzogen. Was Köllikeh bei den C\klosto-
t. Ueber den Bau der Chorda dorsnlis. 351
inoii und Teleoslicrn überhaupt beobarhlrl hat, liissl sich aus der con-
fuscn Beschreibung gar nicht entnehmen. Damit ist zugleicli die Un-
nuiiiltciikeit erwiesen, die ChordahiiHe der höheren Wirl)ellhiere mit
der Klasliea inlerna der Haie zu identihciren oder die Zellen der Tunica
librosa von den Zellen der Rindenschicht der Chorda abzuleiten, wie
Geüknbaür versucht hat, uni die falschen Angaben Köi.mkkr's zu erklären.
Diese Hülle zeigt bei den (]^klüSlomen und Iheilwcise bei den
Fischen eine sofort in die Augen fallende Abhängigkeit von der Hinden-
schieht der Chorda, indem ihr Wachsthum längs der Abschnitte be-
trächtlicher ist, in welchen der Piotoplasmaieichthum dov Chordazellen
längere Zeit sich erhält. Diese Thatsachc führt im Zusammenhalt mit
dem Umstand, ilass die Hülle eigener Zellelemente enll)ehrt und bei
den niederen Thieren nach aussen an eine elastische Membran grenzt,
zu der Annahme, dass die der Chorda eigenthümlich angehörende Hülle
eine Cuticularbildung darstellt, deren Matrix, wie Gkge>'baur zuerst
richtig hervorgehoben hat, in der proloplasmareichen Rindenschicht,
nicht aber, wie Kölliker will, in der Gallerte der Chorda gesucht wer-
den muss. Es wild sich dem entsprechend empfehlen, zur Vermeidung
dei' Missverständnisse, zu welchen der Gebrauch der Bezeichnung
Chordascheide in einem engei'en und weiteren Sinne geführt hat, diese
Hülle künftig als Culicularschicht der Chorda, Cuticula chordae, zu be-
zeichnen. Mit Gkgenbaur halte ich die radiäre Strichelung , welche die
Culicularschicht bei den niederen Wiibellhieren sehr \erbreilet zeigt,
für den Ausdruck senkrecht sie durchsetzender Porencanäle und die
parallele Faserung für den Ausdi'uck eines mit Unterbrechung vor sich
gehenden Wachslhums.
Bei den Cyklostomen , Fischen und wenigstens einem Theil der
Amphibien wird die Cuticularschicht der Chorda von einei' elastischen
Hülle umgeben. Sie stellt einen bei den Cyklostomen 0,(102, bei den
Fischen und Amphibien 0,001 dicken, stark glänzenden Saum dar,
welcher gegen Reagenlien , namenllich gegen verdünnte Säuren und
Alkalien inditlei'enl sich verhält. Bei Myxine und Pelromyzon wird
diese elastische Membran von zahlreichen queren Spalten durchbrochen,
welche in Absländen von durchschnitllich 0,01 :? auf einander folgen.
Die Spalten sind bis 0,06 lang bei einer Breite von 0.002. Bei den
Haien sind die Spalten geräumiger und werden es noch mehr im Ver-
lauf der Entwicklung. Diese elastische Hülle ist identisch mit der elasti-
schen Schicht der Chordascheide Lkydiü's und mit der Elaslica inlerna
Kölliker's, denn auf sie folgen bei den Haien die ringförmigen Lagen
verkalkenden Faserknorpels. Sie ist ganz allgemein in genetische Be-
zi(>luing zur Chorda gebracht worden, ohne dass irgend ein Beobachter
352 Wilhelm Müller,
auch nur versucht hätte, diese Auffassung zu begründen. Sie zeigt nun
bei Cyklostouien und Haien am Kopfende der Chorda ein Verhalten,
welches mit dieser Annahme sich nicht vereinbaren liisst. Bei Myxine
wird das Kopfende der Chorda beiderseits von hyalinem Knoipel mit
grün gefärbter Intercellularsubslanz eingefasst, während dorsal- und
ventralwärts wie im übrigen Verlauf der Wirbelsäule straffes Binde-
gewebe sich findet. Soweit letzteres reicht, zeigt der elastische Ueber-
zug der Cuticularschicht das gewöhnliche Verhalten. Dagegen ändert
er seine Beschaffenheit an den Stellen, an welchen die Cuticularschicht
an den Knorpel anstösst, indem er in ein lockeres Netz feiner elastischer
Fasern sich auflöst, welche stellenweise sich verbreitern und in den
Verbreiterungen schmale Kerne führen.
Eine weitere Beobachtung hatte ich Gelegenheit an sagittalen
Längsschnitten durch die Schädelbasis von Muslelus zu machen. Die
Chorda verläuft bei diesem Thier durch den Basilarknoipel, um an der
hinteren Fläche der Sattellehne sich zu erheben und aus dem Knorpel
in die untersten Lagen des Perichondrium überzutreten, in \Aelchen sie
mit hakenförmiger Krümmung um die Spitze des Clivus verläuft (vergl.
Taf. IX, Fig. 6j. Soweit das Organ im hineren des Hyalinknorpels der
Schädelbasis verläuft, grenzt die Cuticularschicht an den Knorpel, ohne
dass eine elastische Membran oder ein Netz elastischer Fasern entwickelt
wäre. Sobald die Chorda im Perichondrium der Sattellehne zu liegen
kommt, zeigt sich sofort die Cuticularschicht von einem dichten Netz
glänzender elastischer Fasern umsponnen. Diese Beobachtungen lassen
auf einen Einfluss des umgebenden Gewebes auf die Entwicklung der
inneren elastischen Hülle schliessen und erklären sich einfach aus der
Annahme, dass die Neigung zur Bildung elastischer Grenzsäume in
Bindegewebe und Faserknorpel grösser ist als im Hyalinknorpel. Damit
lässt sich die Thatsache wohl vereinbaren, dass die Bildung elastischer
Grenzsäume aufhört, wenn statt des Faserknorpels Hyalinknorpel zur
Bildung der innersten Partien der Wirbelanlagen verwendet wird, wie
dies bei den höheren Wirbelthieren der Fall ist.
Mit dieser Auffassung stehen die Beobachtungen im Einklang,
welche ich über die Entwicklung der Wirbel beim Frosch gewonnen
habe. Bei diesem Thier sondert sich , noch ehe die Embryonen das Ei
verlassen , die Chorda von den Urw irbeln , die Folge dieser Sonderung
ist das Auftreten eines glashellen leeren Baums um die Chorda. Er
entspricht dem glashellen Baum, welchen v. Bär beim Hühnchen beob-
achtet hat und welcher im Laufe des zweiten Bebrütungstags bei die-
sem Thier leicht zu constatiren ist. Dieser Baum wird aber nicht von
einer festen glashellen Substanz eingenommen, wie v. Bär irrthümlich
1. Uebcr den Bau tli-r Chorda dorsalis. 353
meiiilo, sondern or ist mit kliiivi- Lymphe gefüllt. In diesen Rnuni
wachsen von den Advenlilien der beiden priiniliven Aorlen aus spindel-
förmige Zellen, welche durch ihren geringen Pigmenlgehall von den
Zellen der Urwirbel sofort sich unterscheiden. Sie umwachsen die
Chorda zunächst seillich und liefern die Anlagen der Wiihelhogen, erst
spater umwächst di'' inneiste Schichte die Chorda auch oben und unten
unter Bildung einei' concentrischen aus spindelförmigen Zellen beste-
henden Umhüllung. Diese Umhüllung ist es. welche durch ein mem-
branartiges Netz feiner elastischer Fasein von der Cuticularschicht der
Chorda nach Innen und durch ein viel lockereres von den Wiibclbogm
nach Aussen sich abgrenzt, um später in ganz analoger Weise wie bei
den Haien mit Kalksalzen sich zu imprägniren. Diese Faserknorpellage
entspricht der Tunica fibrosa Köli.ikkr's , sie hat genetisch mit der
Chorda nicht das Geringste zu tl)un. sondern entspricht einem Abschnitt
de;? skeletbildenden Gewebes, welcher gegenüber den Bogen bis zu
einem gewissen Grad selbständig sich entwickelt.
Bei der Uebereinslimmung , welche in dem Bau der embryonalen
Wirbel zwischen dem Frosch und den Haien besteht, zweifle ich nicht,
dass die methodische Untersuchung früher Entwicklungssladien auch
für letztere den Beweis liefern wird, dass die bisher sogenannte äussere
Chordascheide von den bindegewebigen Advcntitien der Aorlen ab-
stammt, zur Chorda und den Urwirbeln dagegen in keiner genetischen
Beziehung steht. Sie wird dem entsprechend zweckmässig als centra-
ler oder perichordaler Abschnitt der Wirbelanlagen den peripherischen
Abschnitten gegenüber gestellt werden. Es bedarf kaum des ausdrück-
lichen Hinweises auf die Uebereinstinmmng, welche zwischen den Re-
sultaten der Beobachtung am Frosch und den Resultaten besteht, welche
Hjs am Hühnchen gewonnen hat, welcher das Verdienst hat, die gene-
tischen Beziehungen des die Chorda umwachsenden Gewebes (der
Wirbelanlagen) für dieses Thier richtig erkaiuU zu haben.
354 Willielm Müller,
3. Heber Eiit^vickluug iiud Bau der Hypophyisis iiud des Processus
iufuudibuli cerebri.
I . Geschichtlicher U e b e r 1) 1 i c k .
Die Angaben, welche über die der Entwicklung der Hypophysis
zu Grunde liegende Formfolge vorhanden sind, lassen sich in vier
Gruppen bringen.
Die erste Gruppe begreift jene Beobachter, welche die Hvpophysis
als einen niodificirten Hirntheil betrachten und aus dem hinleren Ende
des Zwischenhirns, dem Trichter, hervorgehen lassen. In der verglei-
chenden Anatomie ist diese Ansicht für die Fische , Amphibien und
Reptilien noch in den Arbeilen von Jon. v. Müller und Stannius fest-
gehalten. In der Flntwicklungsgeschichle ist es zunächst HuschkeI),
welcher die H\poph\sis aus einer Anschwellung des Endes vom Trich-
lei', in welchem er das eigentliche Ende des Uückenmarks sah, hervor-
gehen Hess. Diese Anschwellung solle sich in einen vorderen und hin--
tei'en Abschnitt, ganz entsprechend dem Rückenmark, Iheilen und
dadurch die beiden aneinanderliegenden Lappen der Hypophysis bilden.
V. Bär 2) giebt an, dass man beim Hühnchen am siebenten Tag der
Bcbiütung an der Spitze des Trichters ein kleines Knöpfchen beobachte,
den Hirnanhang, welcher noch wenig vom Trichter getrennt sei und
vielleicht einer Verwachsung der Spitze des Trichters seine Entstehung
verdanke. Bei der Schilderung der Befunde, welche das Hühnchen am
IL bis 13. Bebrütungslag darbietet, erklärt v. Bär den Hirnanhang
ausdrücklich für die abgestorbene Spitze des Trichters oder das ur-
sprüngliche Ende der dritten Hirnhöhle. Bei der Besprechung der Ent-
wicklungsvorgänge im Batrachierei erwähnt er ferner als einer selbst-
verständlichen Beobachtung, dass es das Zwischenhirn sei, dessen
Höhle nach unten in den Hirnanhang sich verlängere.
Nach F. Schmidt aus Kopenhagen •'•; sitzt die Hjpophysis am
Schlüsse des diillen Monats noch dicht am Rande der kleinen kreis-
runden Oeffnung am Boden der Zwischenhirnblase, der Höhle des
Trichters, an. Der Trichter beginne aber nun sich zu verlangtem und
zuzuspitzen; es sei richtig, dass seine Höhle anfangs mit der ebenfalls
hohlen Hypophysis communicire, am Schlüsse des vierten Monats sei
sie jedoch verschlossen.
1) Schädel, HiiTi und Seele. Jena 1854.
2) Heber Entwicklungsgeschichte derThiere. I. p. 104 u 130. II. p. 993 1828
und 1837.
3;. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. ISG2. 13d. XI. p. 43.
2. Uoher r-iit\vifklmi2: iind Raii der Hvpophysis iiiid des Pincossiis iiiriiiidihnli ccrolni. 3f)f)
Dio zwoilo Gnippo uinfasst jono Hoohjicliti'r, wcklic die Hypophy-
sis aus einer Ausslülpunii; des SchlunddiilsenhlaHs liervoiiiehen lassen.
Diese Ansicht ist zuerst von IIkinkich UAiiiKE^] im Jahre 18.38 ausge-
sprochen worden. Nach Ratiikk findet man in einer sehr frühen Zeit
des Fruchtlebens g;anz hinten in der Mundhöhle unterhalb der Grund-
fläche des Schädels eine kleine unreiielinässiü; rundliche Vei-lic^fung, die
der Schleimhaut des Mundes auiiehörl und ollenbar i-ine blinde Aus-
stülpunc; derselben bildet. Diese Vertiefung bezeichnet (Umi ersten
Schritt zur Bildung des llirnanhangs. Sie bildet sich unter dem hin-
tersten Theil des Ilirnlrichters , dringt darauf , indem sie an Tief(^ zu-
nimmt, durch das BikluTigsgewebe, welches zwischen d^n beiden paa-
rigen Fortsätzen der Chorda in einer massig dicken Schicht abgelagert
ist, schräg nach oben und etwas nach hinten hiiKJiircii und stellt zu
einer gewissen Z<mI, namentlich ])ei der Natter, der Eidechse und dem
Hiilmchen, eine kurze blinde Röhre mit einem recht weiten Eingang
dar. Mit ihrer oberen Hälfte liegt dieselbe der vorderen Seite (l(>s un-
paaren Foilsatzes der Chorda an , erscheint mit ihm auch verwachsen,
ist mit ihrem blinden Ende ein wenig nach \oine umgei>ogen und be-
rührt nnt diesem Ende das stumpfe Ende des Trichteis. Etwas später
entsteht an dem Eingang in das Röhrchen vor demscllx-n eine halb-
fnondförmige Falt(> der Mundhaut, die sich, an Breite zunehmend, über
ihn als eine Klappe immer wcMter nach hinten herül)erzicht und ihn
«iadurch inuner mehr verdeckt. Ist dies geschehen, so schnürt sich das
Röhrchen von der Mundhaul ab; es verschliesst sich die Lücke in der
Grundfläche d(>s Schädels und es verzieht sich die ei'wiihnte Falle bis
zum Verschwinden. Hei den Säugethieren ist der Bildungsvorgang des
Hirnanhangs im Ganzen genommen derselbe wie ho'\ den Reptilien und
Vögeln. Auch beiden Fischeji und Amphibien vermulliet Rathke die-
selbe Entwickhingsweise wie b<>i den über ihnen stehenden 'fhiei'en,
ohne jedoch dies endgültig feststellen zu können.
Luschka -I, welcher sieh für die Richtigkeit der Angaben Ratiikk's
ausspricht, führt zu deren weiterer Begründung an, dass er bei mensch-
lichen I<]nd)ryonen von 8 bis 1 2 Wochen in Ausnahmefällen inmitten
des Schlnndkopfgewölbes ein kleines Grübchen gefunden habe, welches
in ein kurzes blind geendigles Canälchen führte, dessen Einmündung
in der Richtung von vorne nach hinten von einem zarten halbmond-
lürmigen Schlcimhautkäppchen zum Theil überlagert wurde. Die dem
Körper des Keilbeins entsprechende Knorpelmasse zeigte auf sagittalen
i; Arcliiv für Anatomie und Physiologie. i838. Bd. V. p. 482.
2) Der Hiiiuinlian!^ und die Steissdrüsc. Tüljingen 1858.
356 WiUielm Miillw,
Durchschnillen keine Reste einer Ausstülpung der Schlundwand gec;en
den Schädel. Luschka führt zweitens eine menschliche Missgeburt mit
Spina bifida und Ilernia diaphragmatica an, bei welcher die Glandula
])iluitaria eine zapfenarlige, in den Keilbeinkörper sich erstreckende
Verlängerung zeigte, während die Schleimhaut des Schlundkopfs in der
Mittellinie eine '^j^ Mm. breite rundliche Oefl'nung besass, mit einem
verdünnten, fast klappenartigen Rand am vorderen Umfang, durch
welche eine feine geknöpfte Sonde in der Richtung nach vorwärts —
aufwärts 2 Mm. tief eingeführt werden konnte. Die Continuität dieses
Canals mit dem zapfenartigen Fortsatz der Glandula pituitaria konnte
Luschka nicht erweisen, um das Präparat nicht zu verderben. Es liegt
auf der Hand , dass bei dieser Sachlage weder der einen noch der an-
dern Beobachtung Luschka's irgend ein Werth für die Erledigung der
vorliegenden Frage beigemessen werden kann.
Nach DuRSY ') tragen das Kopfende der Chorda und die allgemein
bekannte Schlundausstülpung beide zur Bildung der Hypophyse bei.
Es ist der Ghordaknopf, welcher die Bildung der Hypophyse veranlasst,
indem er von den Urwirbelplatten nur seillich umfasst wird, nicht aber
dorsal- und bauchwärts. Die Schädelbasis besitzt somit hier eine durch
den Ghordaknopf ausgefüllte Lücke , und durch diese erhält sich der
schon von Anfang an bestehende innige Zusammenhang der Ghorda mit
dem Medullarrohr und dem Darmdrüsenblatl. Dabei wird schon sehr
frühe in Folge der hier stattfindenden, anfangs spilzwinkligen Krüm-
mung der Schädelbasis die betreffende Gegend der Schlundhöhle ein-
geklemmt und gewinnt im Medianschnitt das Ansehen einer spitzwink-
lig ausgezogenen Ausbuchtung des Drüsenblatls. Schliesslich vereini-
gen sich die Urwirbelplatten unter der Schlundfläche des Ghordaknopfs
zur Herstellung des die Sattelgrube tragenden Keilbeinslücks, sind aber
nicht im Stande, die Anheftung der Schlundtasche an den Ghordaknopf
zu lösen, schliessen vielmehr dieselbe in Gestalt eines sagittal compri-
mirlen Säckchens ein. Dabei erhält sich sein Zusammenhang mit der
übrigen zelligen Schlundauskleidung noch längere Zeit in Gestalt eines
Strangs. Das endlich völlig abgeschnürte Säckchen verdickt sich hier-
auf sehr bedeutend, nimmt auch an Umfang zu, wobei die sehr mäch-
tig gewordene, aus Zellen bestehende Wand sich vielfach faltet. Seine
Höhle zeigt dann an Sagittaldurchschnitten das Ansehen einer halb-
mondförmig gekrümmten Hauptspalle mit zahlreichen Ausläufern , die
an Zahl fortwährend zunehmen , sich verästeln und schliesslich das
^] Zur Entwicklungsgeschiclite des Kopfs. Tübingen 18fi9 und Mediz. Central-
liUitt 4 868. No. 8.
2, üebcr Kiitwicklniiu und R.ui der llypnplixsis und des Piorpsstis iniiiiidiliiili cprebri. 357
Bild von ScIiliiucluMi und 1{|.is<mi (l;ii-bi(>l(Mi. l'iilcrdtsscii iiiiiiiiit auch
die Masse des Cliordakriopls /u , umlaj^eil das i;eiianiile Säekchen und
verwandeil sich in dessen hlulreiehes Stionia, sj>iell also die Uolle des
DarrnfaserblaUs. Dorsnlwäils izelingl es den Urw ii helplallen nicht, den
Chordaknopf volisländii; zu umwachsen. Sie nölhii;eii jedoch den d( in
Kno|)f anh.ini:enden Boden der vorderen Ilirnblase zur Bildunj; einer
Aussackung, welche allniiilii; durch die in das Diaphragma sellae tur-
cicae sich uinwandehuie Partie der ürwirhelplalten eingeklemmt, somit
in den Trichter und den anfangs ebenfalls hohlen hinteren ll\pophysen-
lappen abgelhcill wiid.
Auch beim Hühnchen verhält sich nach Dirsy der Vorgang der
Hypoph\senbildung ganz analog. Beim Menschen konnte Dursy nach
vollzogener Abschnürung des Schlundsiickchens niemals eine Spur
eines Restes desselben in Form einer in die Schlundhühle sich öffnen-
den Grube oder Tasche wahrnehmen.
Auf (jirund vergleichend -anatomischer Beobachtungen an Haien
spricht sich v. Micllcho-Maclay für die Richtigkeit der Angaben Rath-
ke's aus. Nach Maclav ') bietet das Verhallen der Hjpophysis bei Sela-
chiern das Interessante, dass bei vielen Haien (Scymnus, Acanthias,
Nolidanus und Anderen) der Zusammenhang der Glandula pituitaria
mit der Mundhöhle deutlich persistirt. Es findet sich nämlich in der
Schädelbasis dicht vor dem Sattel eine bei Embryonen einfache Oeff-
nung vor. durch welche ausser den Blutgefässen (Carotis interna) noch
ein bindegewebiger Strang hindurchtritt, der, von der Hypophysis ab-
gehend, einen Nachweis des früheren Zusanunenhangs darbietet. Die
(ilandula pituitaria ist auch hier, wie Bathkk für die frühesten Stadien
iler höheren Wirbelthiere beschreibt, ein abgeschlossenes sackförmiges
Gebilde.
Als ein analoges Residuum der RAiiiKE'schen Schlundausslülpung
beim Menschen fasst Landzkrt"^) einen bei Neugebornen in einer Ver-
längennig der Hypophysengrube des Keilbeins liegenden Fortsatz der
Dura mater auf, welcher sich bisweilen bis zur unteren Fläche des
Knochens erstreckt, gewöhnlich hohl ist, unten aber blind endigt.
Die dritte (Jruppe enthält die Beobachter, welche di(^ Hypophysis
aus dem vorderen Ende der Chorda dorsalis hervorgehen lassen.
Reichert ') hat den Angaben Rathke's schon im Jahre 1840 wider-
sprochen. Es gelang ihm nicht, beim Hühnchen die Ausstülpung der
i) Jenaische Zeitscluift lürMedicin und NatuiNvissenschaften 1868. IV. p. 553.
2) Petersburger mediz. Zeitschrift 1868. Bd. XIV. Heft 111. Henle's Jahres-
l)erioht für 1868. p. 86.
3 Das RnlNvifiihin.i:slobtMi im Wirtxlthioi ificli Heriiii 1S4ü. p. 179.
358 Wilhelm Müller,
Schleimhaut der Mundhöhle in den Schädel zu beobachten , wodurch
nach Rathke die Glandula pituitaria entstehen soll. Die Existenz einer
rundlichen Grube an der unteren Fläche der Schädelbasis bein^ Hühn-
chen wie bei den Schlan£;en giebt Reichert zu, er fand jedoch hier
keine Oeffnung, welche etwa eine Coniniunication der Mund- und
Schädelhöhle bilden würde, sondern konnte stets eine deutliche, wenn
auch zarte Trennungswand freilegen, die mit den dickeren Seitenlhei-
len des Schädels zusammenhing. Auch bemerkt Reichert, dass die
Glandula pituitaria bereits vorhanden sei, wenn die bezeichnete, von
der Mundhaul ausgekleidete Grube erst in der Rildung begriffen. Nach
seinen Beobachtungen veikümmert die Chorda dorsal is zwischen den
Urplatten des ersten Schädelwirbels sehr früh und das Residuum des
vordersten Endes erhält sich als Glandula pituitaria, bis zu welcher noch
einige Zeit der Strang der Wirbelsaite deutlich verfolgt werden kann,
Hisi), weicher über die Bildung der Hypophyse keine speciellen
Untersuchungen besitzt, schliesst sich aus aprioristischen Gründen die-
sen Angaben Reichert's an. Nach der Analogie mit dov Lösung der
sonstigen Verbindungen zwischen Darm und Medullarrohr zweifelt er
nicht, dass auch das vorderste röhrenförmig ausgezog(Mie Ende des
Darms schliesslich vom Gehirn sich trennt und von diesem sich zurück-
zieht. Die Hypophysis scheint auch His aus der Verbindungsmasse ab-
geleitet werden zu müssen, welche beide Theile ursprünglich zusam-
menhielt, d. h. aus dem vordersten Ende des Achsenstrangs, dem
Endknopf.
In der vierten Gruppe bringe ich die Modificationen unter, zu wel-
chen Rathke und Reichert an ihren ursprünglichen Angaben sich ver-
anlasst gesehen haben. Rathke'-) giebt auf (irund von späteren Unter-
suchungen am Hühnchen an . dass nicht der ausgestülpte Theil der
Mundschleimhaut seihst zum Hirnanhang werde, sondern es entwickle
sich dieser an jenem Theil dicht vor dem unpaaren Schädelbalken,
worauf dann die Ausstülpung einschwinde und vergehe.
Auch Reichert •'•) erklärt in der zweiten Abtheilung seines Werkes
über den Gehirnbau seine frühere Auffassung der Hypophysis als eines
Productes der Chorda dorsalis füi- ungewiss , behauptet wiederholt auf
Grund von Untersuchungen von A. Bidder. dass ein Hindurchtreten der
Schleimhaut der Mundhöhle durch die Schädelbasis im Sinne Rathke's
nicht stattfinde und spricht endlich die Vermuthung aus, dass die Glan-
-t) Untersuchungen über die erste Anlage des Wirbeilliierleibs. Leipzig 1868.
p. 134.
2) Entwicklungsgeschichte der Wirbelthiere. Leipzig 1 861.
3) Der Bau des menschlichen Gehirns. Leipzig 1861. H. Theil. p. 18.
2. Ueher Entwickln iit! und fian dt'r H\|iii|ili\,sis und des Prorcssns inrnndilnili (•crclni ;}5*J
(liihi pinralis und viclleichl ;iuc-li die (il.indiilii piUiiliiri-i ;ds WucIk!-
runt;('n dci- Pia tuator anzusehiMi soion.
Die Ani^ahon, wclclie über die lin(\Nicklun^ drr Z\\iseh('nhirid)asis
überhaupt und dos Trichters inslK'sondoro voriiciion, lassen s'ivh eben-
sowenii; in l'linklani; brin!j;en als die Ternnnologie , welche für diesen
Gehirnabsehnill bei den vecschiedenen Wirbelthierelasson im Gebrauch
ist. Die älteren Anatomen von Rifls bis auf \\CQ n'AzY« haben an der
Zwischenhiinbasis ausser dem Chiasma nur das Infundibulum [rrveXig
lUiFus) unterschieden und darunter die ganze Strecke verslanden zwi-
schen Chiasma und Corpora candicantia. Süsimerixg hat an dieser
Strecke einen vorderen Abschnitt, das eigentliche Infundibulum , und
einen hinteien, Tuber cinereum, unteischioden, und diese Unterschei-
dung ist seitdem in der menschlichen Ciehirnlehie beibehalten worden.
Der vor dem Infundibulum liegende Abschnitt der Zwischenhirnbasis
wird bei dem Menschen vom Chiasma l)edeckt und ist wohl aus diesem
Grunde ohne Namen geblieben, nur seine vordere Wand hat die Be-
zeichnung als Lamina terminalis des dritten Ventiikels erhallen. Bei
den Fischen liegt das Chiasma dem vorderen Ende dieses Theils an,
der grössle Theil desselben liegt zwischen Chiasma und Infundibulum
frei zu Tage und wird entweder als Tuber cinereum (Cuvier, Klaatscü)
oder als Trigonum fissum s. Vulva (Gottsciie , Stannius) bezeichnet.
Bei ilen Amphibien liegt das Chiasma am hinteren Ende dieses Ab-
schnitts; der grössle Theil desselben liegt vor dem Chiasma frei zu
Tage und wird allgemein als Tuber cinereum bezeichnet. Man hat
demnach nicht nur verschiedene Bc^zeichnungen für denselben Hirn-
abschnitt, je nachdem er einem Fisch oder einem Amphibium angehört,
sondern auch noch dieselbe Bezeichnung für verschiedene Abschnitte
des Gehirns der Amphibien und des Menschen. Ein solches Verfahren
ist unzulässig, wenn die vergleichende Anatomie und Entwicklungs-
geschichte des Gehirns etwas Anderes als eine Sammlung willkürlicher
Bezeichnungen liefern soll. Ich habe zurVermeidung der Missverständ-
nisse, welche die übliche Terminologie mit sich bringt, der Schilderung
der Zwischenhirnbasis bei den verschiedenen Wirbellhierclassen eine
einheitliche Terminologie zu Grunde gelegt. Man kann von der frühe-
sten Entwicklung an zwei Abschnitte an der Zwischenhii-nbasis unter-
scheiden : einen voideren , welcher constante Lagebeziehungen zum
Chiasma nervorum opticorum zeigt; ich werde ihn im Folgenden als
Trignnum cinereum bezeichnen, und einen hinteien, für welcluMi ich
die alle Bezeichnung des Infundibulum beibehalte. Dieser hinlere Ab-
schnitt entwickelt sich bei Fischen und Amj^hibien zu einem umfang-
reichen Gebilde, welches bei ersteren in Form paariger, bei letzleren
Bd. VI. 3. 25
360 Wilhelm Müller,
in Form eines impaaren Fortsatzes constant seine Lagerung in dem
Raum zwischen Keilbein und Ende der Arteria basilaris und ihrer
Scheide (dem früheren mittleren Schädelbalken) hat. Dieses Gebilde,
gewöhnlich als Lobus inferior benannt, werde ich als Lobus infundibuli
bezeichnen. Ausserdem verlängert sich das Ependyni des dritten Ven-
trikels bei den Cyklostomen und Fischen zu einem dünnwandigen Di-
vertikel, welches constant zur Oberfläche der Hypophysis in Lagerungs-
beziebung tritt und wegen seines Gefässreichthums von Clvier als
Appendix, von Gottsciie als Saccus vasculosus bezeichnet worden ist.
Ich werde die letztere Bezeichnung beibehalten. Bei Reptilien, Vögeln
und Säugethieren verlängert sich das Infundibulum zu einem verhält-
nissmässig unbedeutenden Fortsatz, welcher bei letzteren noch wäh-
rend der Fötalzeit eine Involution erfährt; ich werde diesen Theil,
welcher dem Lol)us infundibuli der Fische und Amphibien entspricht, als
Processus infundibuli bezeichnen. Die dünne Lamelle zwischen Infundi-
bulum und Corpora candicantia, welche das Tuber cinereum Sömmering's
bildet und in früher Jugend viel stärker vorgewölbt ist als beim Erwach-
senen, wird zweckmässig als Lamina posterior infundibuli bezeichnet.
lieber die Entwicklung des Trichters liegen dreierlei Angaben vor,
welche sämmtlich auf Vögel und Säugethiere sich beziehen. Nach der
älteren Ansicht, welche namentlich in Bär und Bischoff ihre Vertreter
gefunden hat, entspräche der Trichter dem ursprünglichen vorderen
Ende des Medullarrohrs und würde dadurch zu einem Fortsatz verlän-
gert, dass bei dem stärkeren Wachsthum der oberen und vorderen
Wand des ungebogenen Medullarrohrs der Boden des Zwischenhirns
stark nach unten gedrängt würde.
Nach den Angaben von His und Dursy ist es der feste Zusammen-
hang zwischen Chordaende und Basis des Zwischenhirns, welcher zur
Entwicklung des Infundibulum führt. Während aber Hts in Folge des
ungleichen Wachsthums der einzelnen Ilirnabschnitte die Zwischen-
hirnbasis zur Basilarleiste sich erheben und deren axialen Theil zum
Trichter werden lässt, wird nach Dursy das Zwischenhirn in der Gegend
lies zukünftigen Infundibulum bei stärkerer Entwicklung der Urwirbel-
platten des Schädels umwachsen und in seinem peripherischen Ab-
schnitt zu einem Strang umgewandelt.
Reichert bestreitet, dass das Infundibulum als das ursprüngliche
Vorderende der Gehirnröhre betraclitet werden könne, dieses sei viel-
mehr genetisch in der späteren Lamina terminalis der dritten Hirnkam-
mer zu suchen. Er lässt den Trichter, mit welchem die Hypophysis in
Verbindung steht und welcher sich mit seiner Spitze fest an die Schä-
delbasis anlegt, durch einen selbständigen Wachsthumsprocess des
2. üeber Entwicklung und Bau der Hypophysis und des Processus infundilnili cerebri. 361
ersten Gehirnbliischens nnch der Basis des Schädels liin und zugleich
etwas nach hinton /u Stande kommen.
2. Em bryoIo|zischer Thci 1.
Ans der Ciasso der Fische liatio icli die Eird>ryonen von Ilaion auf
verschiedenen Entwicklungsstufen zu unlcMsuchen Gelegenhoil. Die
jüngsten Embryonen gehörten Acanthias vulgaris an und maassen
■21) — ;iO Mm. Vergl. Taf. IX, Fig. 5. Die Chorda war bei ihrem Eintritt
in die Schädelbasis 0,;{ dick; sie verlief durch letztere gerade mit we-
nig sich verjüngendem Durehmesser bis zur Basis des mittleren Schä-
dolbalkon. Sie erhob sich in letzlerer auf eine kurze Strecke und
machte hierauf unter beträchtlicher Verschmälerung eine scharfe Bie-
gung nach abwärts, so dass ihr 0,25 langes Ende an der Schlundlläche
des eigentlichen Stranges zu liegen kam^). Der ganze umgebogene
Abschnitt bestand aus kleinen protoplasmareichen Zellen, sein abge-
stumpftes Endo hatte 0,05 im Durchmesser, von demselben erstreckte
sich ein schmaler, 0,2 langer Zellenstrang gegen das obere Ende der
Hypophysenanlagc ; er verlor sich allmälig blasser werdend 0,1 ober-
halb derselben in dem Bildungsgevvebe der Sattellehne. Von dem vor-
liegenden Zwischonhirn war die Chorda längs des ganzen vorderen
Endes durch eine 0,02 dicke Lage spindelförmiger, kernhaltiger Zellen
geschieden. Die Anlage des Sphenoccipitalknorpels umgab die Chorda
allseitig ; ihre Dicke bestimmte ich an der Schlundfläche der Chorda zu
0,14, an der Rückonfläche zu 0,0i, die Dicke der ganzen Schädelbasis
in ihrem hinteren Abschnitt zu 0,48. Sie bestand aus dicht aneinander-
liegenden elliptischen Zellen mit zartem Protoplasma und durchschnitt-
lich 0,004 dickem, 0,01 langem Kein, die Richtung der Zellen wai-
parallel der Längsachse der Schädelbasis. Der mittlere Schädelbalken
hatte von der Umbiegungsstelle der Chorda bis zu seiner Spitze eine
Länge von 0,9: er bestand aus einem unteren dünneren Theil , wel-
chem das hintere Ende dos Zwischenhirns dicht anlag, und einem obe-
ren, 0,ö dicken, dessen vorderster Abschnitt das Ende des Zwischen-
hirns in Form eines dachartigen Vorsprungs überdeckte. Sein Gewebe
bestand aus spindelförmigen und sternförmig verzweigten Zellen, die
beträchtlich lockerer gefügt waren als jene der Schädelbasis. Längs
seiner liinteren Fläche verlief, vom anliegenden Xachhirn durch eine
lockere Schichte theils spindelförmiger, theils netzförmiger Zellen ge-
1) KöLLiKF.R lässf da« Ctiordaende der Haionil)! yonen (n. .i. 0. p.223) nacli olien
umgebocen sei». Dieso Anealio lu^rutit auf eini'in iU'nlia(liliiiii.'sft'liliT.
362 Wilhelm Müller,
schieden, die 0,05 weite Arteria basilaris, um an seiner Spitze nach
vorne sich zu wenden und an der Umbeugungsstelle des Mittelhirns in
das Zwischenhirn ihre Endaste abzugeben. Die Anlage der vorderen
Partie der Schädelbasis setzte sich unter stumpfem Winkel an jene des
Sphenoccipitalknorpels an , die Schädelbeuge war mithin noch in der
Ausgleichung begriffen. Die Dicke dieses Abschnitts der Schädel])asis
war scheinl)ar viel geringer als jene des chordahaltigen Theils, sie be-
tiug im Mittel 0,15. Da die Dicke der Chorda im letzteren 0,3 betrug,
so eigiebt sich nach deren Abzug eine nahezu gleiche Stäike für beide
Abschnitte. Kurz vor der Ansalzstelle enthielt die Anlage des hinleren
Keilbeinknorpels die etwas schief von unten und rückwärts nach oben
und vorne verlaufende innere Carotis, deren Durchmesser 0,06 betrug.
Die unlere Fläche der Schädelbasis war vom Schlundepilhel überzogen,
welches aus flachen quadratischen Zellen in 0,9 dicker Schichte bestand.
Die Anlage der Hypophysis bildete auf Längsschnitten ein in sagitlaler
Richtung comprimirtes Säckchen von I Mm. Länge bei 0,1 Mm. Dicke,
welches an der oberen Fläche der Schädelbasis einen Viertelkreisbogen
beschrieb (Taf. IX , Fig. 5.^). Das vordere Ende lag 0,2 von dem
Chiasma entfernt, das hintere lag an der vorderen Wand des mittleren
Schädelbalken etwas über dessen Abgangsslelle. Auf Querschnitten
erwies sich die Anlage, welche durch leicht gelbliche Färbung von dem
vorliegenden Zwischenhirn sich unterschied, als bestehend aus einem
oberen , mit zwei kurzen seitlichen Ausläufern versehenen Stück und
einem unleren schmäleren zungenarlig verlängerten. Sie besass ein
scharfbegrenztes centrales Lumen und eine Wand von 0,04 Dicke.
Letztere bestand aus radiär gestellten cylindrischen Epithelien von
0,003 Dicke bei 0,0 1 Länge. In der Mitte seiner unleren Fläche stand
dieses Säckchen durch einen 0,03 dicken, von flachem Cylinderepilhel
ausgekleideten , oben und unten leicht Irichlerförmig ei wt'iterten Gang
mit der Höhle des Schlundes in Connnunication. Der Gang lag 0,2 vor
der Carotis, er durchsetzte die Schädelbasis in senkrechter Richtung,
seine Epitlielien führten reichlich Pigmenlkörner von gelblicher Farbe
(Taf. I, Fig. 5. h). Die obere Fläche der Hypophysenanlage wurde vom
Boden des Zwischenhirns üherdeckl und war durch eine äusserst dünne
Lage zarter spindelförmiger Zellen von ihm geschieden. Das ganze
Zw ischenhirn war hohl ; sein Boden zerfiel in einen vor dem Chiasma
liegenden Abschnitt, das Trigonum cinereum, und einem hinter dem
Chiasma liegenden und mit einer Verlängerung nach rückwärts verse-
henen, dem Infundibulum. Letzterer liess bereits die Zusammensetzung
aus einer vorderen niedrigeren und einer hinteren 1,2 Mm. hohen in
einer Verliefung des mittleren Schädelbalken liegenden Abtheilung
2. Ohcr l'.iilwirkliiiiji und K.hi dfi' ll\|iii|ili\sis iind des rroccssiis iiirniidilMili ccirlui, ',\^',\
iMkennon. Die Wiindiini; dos Zwisclicnliirnbodi'iis war duichscliiiilllich
0.:] Min. dick und l)(>sliind aus geschichlclen cyliiidrischcn Epilliolien,
;un Ho(l«Mi dos Itdiindibulurii scidoss sicli an iliit* Pcn'pliorio eine dünni'
nach rückwärts allniälii; sich auskcilcndo Schichic zarter, senkrecht
iicslelllor Proloplasniaforlsätzc an. Der hinterste Abschnitt der Wan-
dung dcvs Zwischenhirns war l)elrächtlicii dünner als die stMtliehe Wand
und der Boden ; das Chiasnia erwies sich solid, während die; beiden
Sehnerven noch hohl und von cylindrischeni flachem Epithel ausgeklei-
det waren.
Ks standen mir ferner I ;> und 2,0 Centimcter lange Embryonen
von Acanlliias vulgaris, 10 Centimeler lange Endjryoncn von Mustelus
vulgaris, sowie 1*7 Cenlinieler lange; von Scymnus lichia und Galcus
canis zur Disposition. Die Resultate variirlen bei den einzelnen Spccie.s
in so unwesenllichon Dingen, dass ich mich mit der Schikhuning des
Befundes von Muslclus begnüge. (Vergl. Taf. IX, Fig. 6.) Die Schädel-
krünunuiig war l)ei den Embryonen dieses Thiers bereits ausgeglichen,
der Verlauf der Schädelbasis daher nahezu gerade. Ihre Dicke betrug
im hinteren Abschnitt durchschnilllich 0,'^, im vorderen 0,5 Mm. Sie
war allenlhalben von hyalinem Knorpel gebildet, der Knorpel der Sat-
tellehne mit jenem der Schädelbasis in continuirlicluMu Zusammenhang,
0,7 hoch, an seiner Basis 0,5 dick, gleich den übrigen Knorpeln von
einer dicken aus spindelföi inigen Zellen bestehenden Perichondriuml.ige
überzogen. Die Chorda trat in den Schädel als runder Strang von 0,iS
Dicke. Sic besass an der Peripherie eine homogene Cuticularschichle
von 0,012 Dicke, gegen welche der anliegende Schädelknorpel mit
(Miiem blassen Saum ohne Andeutung elastischer Netze sich abgrenzte.
Im Verlauf durch die Schädelbasis verdünnte sich die Cuticularschicht
gleich der ganzen Chorda. Die Zellen der letzteren wai-en klein, dvu'ch-
sclinittlich 0,02 im Durchmesser, dickwandig und Knürpelzellen sehr
ähnlich. An der Basis dos Clivus verliess die Chorda mit einer leichten
Biegung nach oben den Schädelknorpcl und kam allmälig ganz inner-
halb der tiefsten Schichten des Pcrichondrium zu liegen, welches den
Clivus überzog, eine leichte Hervorragung desselben bedingend. Ihre
Dicke bestimmte ich an der Austi"ittsstelle zu 0,16. Sie besass hier eine
Culicula von 0,08 Dicke, gegen welche sich das anliegende Pcrichon-
drium mit einem glänzenden elastischen Saum abgrenzte. Sie verlief
unter allmäligcr Verschmälerung um die Spitze des Clivus herum, um
an der vorderen P'läche der Sattellehne mit kurzer, nach abwärts ge-
bogener, 0,06 dicker Spitze zu endigen. Die 0,15 weile Basilararterie
verlief längs der Oberiläche des Clivus und erhob sich über der Spitze
der Saltellchne 2, i Mm. hoch in flachem, nach vorwärts gerichletein
364 Wilhelm Müller,
Bogen, um an der Urnbeugungsslelle des Miltelhirns in das Zwischen-
hirn ihre Endäsle abzugeben. Der frühere mittlere Schädelbalken war
auf eine unbedeutende bindegewebige Adventitia der Basilararterie
reducirt. Von der Spitze der Saltellehne spannte sich eine straffe, 0,03
dicke Bindegcwebslamelle über die Saltelgrube hinweg , in das Peri-
chondrium des vorderen Keilbeinknorpels übergehend. Die Saltelgrube
selbst enlhioll, in Bindegewebe eingebettet, die 0,'2 weiten carotischen
Canäle und einen Theil der ursprünglichen Hypophysenanlage in Form
eines länglichen, etwas gewundenen Hohlraums von 0,2 Durchmesser,
welcher ein scharf begrenztes centrales Lumen und eine aus geschich-
tetem Cylinderepithel bestehende Wandung von 0,04 Dicke besass
(Taf. I, Fig. 6. e) . Die eigentliche Hypophysis lag als ein 3 Mm. langer,
0,4 Mm. dicker Körper oberhalb des vorderen Keill)einknorpels und
des bindegewebigen Operculum der Sattelgrube (Taf. IX, Fig. 6. /).
Sie war von einer dünnen, vorwiegend aus spindelförmigen Zellen be-
stehenden Bindegewebshülle umgeben , von welcher aus Fortsätze in
das Innere sich erstreckten , durch welche die Drüsensubslanz in eine
Anzahl rundlicher und schlauchförmiger Hohlräume von 0,06 bis 0,12
Durchmesser zerlegt wurde. Letztere zeigten gewundenen Verlauf und
hie und da leichte Ausbuchtungen. Sie waren umgeben von einer dün-
nen Membrana propria und ausgekleidet von einer mehrschichtigen
Zellenlage. Die Zellen waren gegen das durchschnittlich 0,01 mes-
sende, zwischen 0,005 und 0,05 schwankende Lumen der Schläuche
zu deutliche Cylinderepithelien von 0,016 Länge bei 0,005 Dicke;
gegen die Peripherie zu erwiesen sie sich mehr spindelförmig und
rundlich mit fein granulirtem, zartem Protoplasmakörper, welcher blasse
Fortsätze gegen die Membrana propria hin entsandte. Nach vorne ging
die Hypophysis in einen schmalen zungenförmigen Fortsalz über, wel-
cher bis nahe an das Chiasma heranreichte. Derselbe lag in einer
flachen Ausbuchtung der Zwischenhirnbasis und war allseitig von einer
Fortsetzung der Pia mater umgeben. Seine Höhe betrug 0,4, seine
Breite 0,6 — 0,8 Mm.; das Innere war hohl, die obere Wand flach ge-
wölbt, 0,05 dick, die untere 0,03 dick und in zahlreiche Längsfalten
gelegt; sie bestand aus einer dünnen Membrana propria und geschich-
tetem Cylinderepithel, welches peripherisch kurze Proloplasmafortsätze
entsandte. Der Verbindungsgang zwischen H^^pophysis und Rachen-
epilhel war vollständig geschwunden ; dagegen der von Bindegew ebe
ausgekleidete , schief von hinten und unten nach oben und vorn ver-
laufende Gang, welcher die Carotiden enthielt, viel weiter als früher.
Dieser Gang ist es, welchen v. Miclucho-Maclay irrlhümlicherweise für
einen Rest des ursprünglichen Hypophysengangs gehalten hat.
2. l'pbprF.iitwirkliiiiti iiinl H.in di'i ll\|inpliysis iiiiil des l'rdct'.ssiis iiiiiiii(lilnili ctMcbii. 365
Das Zwischenhirn wiir aw soIikm' ohoivii Fliicho diircli (;iiic (iiu-re
Furche, an der unleren duicli den das i'">nde der Artei'ia ])asilaris be-
herbergenden F^inschnill von den» Mitlelhirn geschieden. Seine Basis
bestand aus einem vorderen und einem hinteren Abschnitt. Der vor-
dere, Trigonum cinereuni , besass eine mediane, keilförmig nach al)-
wärts sich verschmälernde, mit dem dritten Ventrikel communicirende
Höhle, welche über dem vorderen Ende des Chiasma eine kurze zwei-
lappige Ausstülpung zeigte. Das Chiasma war in die vordere Partie
dieses Abschnitts eingezwängt und verdrängte den Boden 0,9 Mm. hoch
nach aufwärts; sein oberes Ende war etwas nach vorwärts un)gebogen.
Eine kurze Strecke hinter dem Chiasma ging das Trigonum cinereum
in den hinteren Abschnitt der Zwischenhirnbasis, das Infundibuhun,
über. Dieser bestand aus drei schon äusserlich erkennliaren Abihei-
lungen. Die erste ging nach vorne in das Trigonum cinereum , nach
oben in die Substanz des Zwischenhirns continuirlich über; ihr hin-
teres Ende war durch den die Basilararterie enthaltenden Einschnitt
vom überliegenden Mittelhirn geschieden und ragte gleich dem folgen-
den Abschnitt als ein walzenförmiger Fortsalz der Zwischenhirnbasis
in den vor der Sallellehne belindlichen Raun). Die miUlcre Abiheilung
war charakterisirt durch eine leichte Emporwölbung ihrer Decke, beide
besassen einen gemeinsamen seitlichen Fortsatz ; die hinterste endlich
stellte einen sehr dünnen durchsichtigen, fast zweila})pigen Sack vor,
dessen Miltelstück mit der oberen Fläche der Hypophyse fest verwach-
sen war.
Die vorderste Abtheilung enthielt einen Hohlraum von ihombi-
schem Querschnitt , welcher in die spaltartige Höhle des Trigonum ci-
nereum nach vorne überging. Dieser Hohlraum hatte I Mm. Höhe und
ebensoviel Breite; er stand in seiner vorderen Partie durch einen 0,;{
weiten Gang mit dem überliegenden dritten Ventrikel inCommunicalion,
wurde aber alsbald durch das Auftreten einer r)uercommissur und wei-
terhin durch die Entwicklung einer 0,6 mächtigen Decke von ihm ge-
schieden. Nach abwärts verlängerte er sich in einen schmalen, nur
0,02 messenden Spalt, welcher bis nahe an die Pia herabreichte und
mit seinem flach eingebuchteten Boden auf der zungenförmigen Ver-
längerung der Hypoph^sis ruhte. Nach rückwärts ging derselbe in die
Höhle der zweiten Abtheilung ohne Unterbrechung über. Seitlich stand
er durch 0,2 weile Ausläufer mit den beiden halbmondförmig gestal-
teten , 1 Mm. hohen , in eine kurze obere und eine lange untere Spitze
ausgezogenen Ventrikeln derEminentiae laterales inCommunicalion. Sie
bildeten flach gewölbte Uervorragungen zu beiden Seiten des Lobus in-
fundibuli, welche in ihrem vorderen Abschnilt von dem überliegenden
366 Wilhelm Müller,
Zwischenliirn und dein Boden des Infundibuluni durch flache Liings-
furchen oberflächlich geschieden waren. Sie umfasslen mit kurzen,
nach vorne gerichteten Verlängei'ungen das Ende des Trigonum cine-
reum zu beiden Seiten, nach rückwärts erstreckten sie sich bis nahe
an das hintere Ende der zweiten Abtheilung, sie verflachten sich dabei
ganz allmälig und gingen schliesslich in den Boden und die Decke der-
selben ohne scharfe Grenze über. In dieser ganzen Ausdehnung erhielt
sich die Gommunication ihrer Ventrikel mit der Höhle des Infundibu-
lurn ; die vorspringenden Leisten, welche die Communicationsstellc
verengten , wurden gleichzeitig mit der zunehmenden Verflachung der
Seitenwande im Veilauf nach rückwärts immer niedriger und schwan-
den schliesslich vollständig , so dass die anfangs getrennten Höhlen zu
einer gemeinsamen verschmolzen. Die zweite Abtheilung war ausser
dem durch eine nach oben gerichtete Ausstülpung ihrer Höhle charak-
lerisirt. Sie war 2,6 Mm. breit, 0,4 bis 0,63 hoch und stand durch
eine 0,3 weite OefTnung mit letzterer in Gommunication. Ihre Decke
besass eine Mächtigkeit von 0,i und war in eine Anzahl zierlicher, 0,25
hoher, an der Basis 0,35 breiter Längsfallen gelegt. Sie verflachten
sich im Verlauf nach rückwärts und verschwanden beinj üebergang
der Decke in die hintere Wand vollständig. Letzlere verdünnte sich im
Verlauf nach abwärts beträchtlich und ging schliesslich, nach rück-
wärts sich wend nd, in die obere Wand der dritten Abtheilung über.
Die dünne, den Boden bildende Ependyndamelle zeigte nahe dem hin-
teren Ende diesei" Abtheilung eine zweilappige ä cheval der zungen-
föiinigen Verlängerung der Hypophysis liegende Ausstülpung; sie ver-
längerte sich gleichfalls nach rückwärts und bildete die untere Wand
der dritten Abiheilung. Letztere, der Saccus vasculosus, bestand aus
zwei rundlichen, flachen, durch ein schmales Mittelslück verbundenen
Säckchen, welche beim üebergang in den Boden und die hintere Wand
des Infundibuluni halsartig sich verschmälerten. Sie lagen dem hinte-
ren Ende des Infundibuluni und der oberen Fläche des vorderen Endes
des eigentlichen Ilypophysenkörpers dicht an und waren mit ihr fest
verwachsen. Ihre Höhle communicirte mit jener des Infundibuluni.
Hinsichtlich des feineren Baues unterschied sich an den beiden
vorderen Abtheilungen des Infundibulum der Boden und die von den
Eminentiae laterales gebildete seitliche Wand wesentlich von der Decke.
Erstere wurden an der dem Ventrikel zugekehrten Fläche von geschieh -
teteni Cylinderepithel umsäumt; auf dieses folgte, durch eine schmale,
feinkörnige, radiär gestreifte Schichte geschieden, eine durchschnittlich
0,08 — 0,1 dicke Lage von Zollen mit rundem oder elliptischem Kern
von 0,006 — 0,012 und äusserst zartem, hie und da nachweisbar in
1. Ueber tiitwicklmifi iiml l^aii der üypophysis und des Processus iiil'uudibuli ccrebri. 367
eiiuMi spilzon Foilsalz nach der PtMiphciic zu ausj^ezogenein Prolo-
pliisma. Diese Zcllcnlage wurde |)eripherisch umgeben von einer 0,25
inäcliligen, I)is zur Pia sich erstreckenden Schichte einei- leinkörnigen,
in radiäiei' Richtung sehr fein gestreiften, einzelne runde Kerne füh-
renden Substanz. Sic erhielt gleich der Zcllenschicht ihre Gefüsse aus
der überziehenden Pia.
Die llach gewölbte Decke, weldie in ihrer vorderen Hälfte mit dem
überliegendcn Zwischenhirn znsanunenhing, zeigte bis zu tier nach
oben gerichteten Ausstülpung der Höhle« des Infundibulum in dessen
zweitcM- Abiheilung den gleichen Hau. Sie wai" geg(>n die Höhle des
Infundibulum von geschichtetem (.ylinderepithel liekleidet, daran schloss
sich, durch eine dünne Lage feinkörniger Substanz getrennt, ein(^
schmale Lage kegelförnn'ger , in zwei bis drei horizontale Reihen an-
geordneter, nach oben feine Protoplasmafortsatze entsendender Ganglien -
Zellen an. Die ganze übrige Decke bestand aus einer feinkörnigen
Grundsubstanz, in welcher massig dichtslehende rundliehe Kerne und
dreieckige, in zarte Fortsätze ausgezogene Ganglienzellen eingebettet
waren. An der Seiten wand und Decke der nach oben gerichteten Aus-
stülpung des Lobus infundibuli modificirte sich dieser Bau; an das den
Hohlraum auskleidende Epithel schloss sich hier eine ähnliche Schicht
runder, dichtgedrängter Kerne mit zartem, nach oben in dünne Fortsätze
ausgezogenen Protoplasmakörper an, wie sie am Boden und der seitlichen
Wand vorhanden war; diese Zellenschicht wurde von einer peripheri-
schen, feinkörnigen, in radiärer Richtung feingestreiften Substanz um-
geben. Am hinteren Ende keilte sich diese feinkörnige, peripherische
Schicht allmälig aus; der Saccus vasculosus bestand in Folge davon nur
noch aus geschichtetem Gylinderepithel, welches einer dünnen, von der
Pia mater gelieferten Bindegewcbslamelle aufsass. Diese Bindesubstanz-
lamelle enthielt ein regelmässiges Netz 0.03 — 0,06 weiter (iefässc mit
quadratischen Zwischemäumen, welche in einem sehr lockeren Fibril-
lennetz zahlreiche runde Lymphkörpern ähnliehe Zellen zeigten.
Aus der Classe der Amphibien standen mir die Embryonen von
Rana temporaria und Salamandra maculata zur Disposition. Ich unter-
suchte an ersleren die Hypophjsis und den Processus infundibuli voTi
der ersten Anlage bis zur Gewinnung seiner bleibenden Gestalt. Die
frühesten Stadien stammten \on luubryonen der Rana temporaria,
\\elche eben im Ausschlüpfen begiillen waren. Ihre Länge betrug vom
Kopf bis zum Schwanzende 5 Mm. Die Chorda bildete einen cylindri-
sehen Strang, welcher, beim Eintritt in den Schädel 0, IS dick, im
Verlauf durch denselben bis auf 0,1 sich verschmälerte; ihre Spitze
368 Wilhelm Möller,
verdünnte sich sehr rasch und war hakenförmig gegen die Schlund-
flache umgebogen. Die central liegenden Zellen waren bereits aufge-
hellt, polygonal, und besassen nur in der Peripherie noch eine dünne
Lage bräunlichen , in deutliche Körner gesonderten Protoplasmas, ihr
Durchmesser betrug durchschnittlich 0,03. Die Peripherie der Chorda
war eingenommen von einer Lage protoplasniareicher, vorwiegend quer
gestelller Zellen, an welche sich ein ungemein dünner, heller Sauui,
die erste Andeutung der Cuticularschicht, anschloss. Dieser Saum
wurde umfasst von einer an der unteren Fläche der Chorda einfachen,
an der oberen etwas dickeren Lage spindelförmiger und netzförmiger
pignienthalliger Zellen. Das vordere Ende des Centralnervensystems
Hess drei Abtheilungen unterscheiden, welche durch seichte Querfurchen
an der oberen Fläche geschieden waren: das Nachhirn, weiches im
Verlauf nach vorne beträchtlich sich verdickte, das Mittelhirn, welches
einen flachen, den Gipfel ^er Schädelanlage einnehmenden Vorsprung
bildete , und das Vorderhirn , welches noch nicht deutlich in Vorder-
und Zwischenhirn gesondert war. Alle diese Gehirnabschnitte waren
hohl; die Vorderhirnblase erstreckte sich unmittelbar vor dem Chorda-
ende 0,35 Mm. weit nach abwärts, unt(M- nahezu rechtem Winkel in
das Mittelhiin an dessen unterer Fläche übergehend; ihre hintere Wand
war sehr dünn, nur 0,015 messend und bestand aus quadratischen,
stark pigmenlirten Zellen , die untere Wand verdickte sich im Verlauf
nach vorwärts. Zwischen ihr und dem anliegenden Rachenepithel er-
streckte sich eine einfache , von der Umhüllung des Chordaendes aus-
gehende Lage spindelförmiger Zellen. Das Rachenepithel lag der unle-
ren Fläche der die Chorda umgebenden Zellen dicht an, es war 0,02
dick und bestand iheils aus cylindrischen , theils aus (juadratischen
stark pigmenlirten Zellen. Sein Verlauf war gerade bis zur umgeboge-
nen Chordaspitze, welcher es unmittelbar aufsass; von der Chorda-
spitze verlief es unter nahezu rechtem Winkel längs der hinteren Wand
der Vorderhirnblase nach abwärts in das Epithel der Mundhöhle sich
fortsetzend. Es besassen mithin die Embryonen aus diesem Stadium
gleich den jüngeren Haiembryonen eine sehr ausgesprochene Schädel-
krümmung (vergl. Taf. XII, Fig. Ii.
Bei Larven von 8 Mm. verdünnte sich die Chorda nahe der vsie
früher gegen die Schlundfläche hakenförmig umgebogenen Spitze rasch
in beträchtlichem Grade ; ihre Beschaffenheit war wie im vorigen Sta-
dium, die Zellen des verjüngten vordersten Abschnitts aber proto-
plasma- und pigmentreicher als im übrigen Verlauf des Organs. Die
dünne Lage die Chorda und ihre Cuticularschicht umgebender Zellen
war längs der oberen Flache etwas mächtiger- geworden und enthielt
2. UeberEutwickliiiiff und Bau derHypophysis und dfs Piorpssiis infiiiidibiili cerebri. 369
hier die 0,02 weite Anlage der Basil;ir;iilcric. Am (A-iiliiilncivensysleni
liatle sich das Vorderliirn vom Zwisclicnhii-n doiillicher geschieden ;
das xNachhirn zeigte an seiner Basis einen schmalen pigmenllVeien,
durch feine Pioloplasniafortsälze seiner Zellen hervorgebrachten und in
Folge davon senkrecht gestreiften Saum. Die Umheugungsstellc der
unteren Wand des Mittelhirns in das Zwischenhirn war etwas nach
voi'ne gerückt, indem die Anlage der Basilararterie eine kurze Strecke
weit über das vordere Chordaende hinausgewachsen war. Das Zwi-
schenhirn erstreckte sich wie früher vor letzterem nach abwäi'ts: seine
Basis liess jetzt die bleibenden drei Abtheilungen deutlich unterschei-
den : das Trigonum cinereum, dessen Höhle vor dem Chiasma bis nahe
zur Schädelbasis herabreichte, das in dessen unlere Wand einge-
zwängte, 0,0ö hohe, 0,03 dicke Chiasma, endlich das dickwandige
infundibulum mit dem nach rückwärts gerichteten Lobus infundi-
buli. Die hintere Wand des letzteren war wie früher sehr düim , die
pigmenlreichen Zellen, welche sie bildeten, noch niedriger gewoiden.
Die untere Wand verdickte sich rasch im Verlauf nach vorwärts. Das
Sclilundepithel war wie früher stark pigmentirt, die Zellen abei- etwas
llachei". Es haftete der Anlage der Schädelbasis in deren hinterstem
Abschnitt innig an , dicht hinter der Stelle jedoch , wo es mit der um-
gebogenen Chordaspitze zusanimenhine, war es zu einein flachen, 0,06
hohen Vorsprung erhoben. Dieser Vorsprung war dadurch bedingt,
dass an der unteren Fläche der Chorda entsprechend der Stelle, wo sie
nahe dem vorderen Ende ihr Caliber rasch verschmälerte, sternförmig
verästelte Zellen mit zarten Protoplasmafortsätzen in grösserer Menge
sich entwickelt hatten. Zugleich wai- nahe der Schlunddäche der Chorda
ein 0,02 Mm. weites Gefäss sichtbar, die Anlage der inneren Carotis.
Da auch die früher einfache Lage spindelförmiger Zellen zwischen hin-
terer und unterer Wand des Zvsischenhirns und Schlundepilhel bis zu
0,016 sich verdickt hatte, wurde an derL'mbeugungsstelle desSchlund-
epilhels ein trichterförmiger Hohlraum geschaffen von 0,06 Höhe, des-
sen Spitze genau dem umgebogenen Chordaende entsprach , während
er an der Basis mit 0,1 weiter Oeffnung mit der Schlundhöhle com-
municirte.
Bei 9 Mm. langen Embryonen war die Verschmälerung der Chorda
in der Nähe ihres vorderen Endes noch auffallender als im vorhergehen-
den Stadium; die Spitze war wie früher hakenförmig gegen die
Schlundfläche umgebogen, der umgebogene Theil aber nur mehr 0,016
dick, sehr blass und pigmentarm. Die Verbindung der Spitze mit dem
Schlundepilhel war gelöst, indem von der hinter ihr liegenden Anhäu-
fung spindelförmiger und netzförmiger Zellen aus einzelne Zellen
370 Wilhelm Müller,
zwischen beide sich eingeschoben hüllen. Diese Anhäufung erslreckle
sich mit einer mittleren Mächtigkeit von 0,03 längs der unleren Fläche
des verdünnten Choidaendes ; sie bedingte dicht hinter der Chorda-
spitze einen 0,1 hohen, 0,03 dicken fallcnarligen Vorsprung des
Schlundepithcls, welcher niit seiner Spitze etwas nach vorne gerichtet
war. Auch die zwischen der hinlern und untern Wand des Zwischen-
hirns und dem Schlundepithel befindliche Zellenlagc, welche die Forl-
setzung der inneren Carotiden beherbergte, erwies sich verdickt. Der
F^ingang zu dem im vorigen Stadium weit offenen trichterförmigen
Hohlraum unterhall) der Chordaspilze war hiedurch beträchtlich ver-
engt; er stellte jetzt eine 0,13 hohe, mit dem oberen Ende nach rück-
wärts umgebogene Tasche voi', welche von einer Fortsetzung des
Schlundepitlicls ausgekleitlet wurde. Ihre Höhle erweiterte sich im
Verlauf nach abwärts und besass an derCommunicationsslelle mit jener
des Schlundes einen Durchmesser von 0,07 Mm. Durch den vorsprin-
genden, die Hypophysenanlage beherbergenden Zcllenwulst war die
Schädelkrümmung belrächllich abgellacht.
Bei 10 Mm. langen Larven vei'dünnte sich die Chorda nahe dem
vorderen Ende mit raschem Abfall auf 0,09; das verschmälerte Ende
verlief gerade nach vorne, um an der Mitte der hinleren Wand des
Lobus infundibuli mit abgerundeter, 0,05 dicker Spitze zu endigen.
Der umgebogene Theil war bis auf einen geringen Rest von Pigment-
körnchen geschwunden. Die Zellenanhäufung an der unteren Fläche
des verdünnten Chordaendes zeigte eine Mächtigkeit von 0,01. Die
Anlage der Hypophysis halle gegen früher an Höhe gewonnen, an Dicke
verloren; sie stellte eine 0,16 hohe, 0,040 dicke, in sagiltaler Richtung
comprin)irlc Tasche vor, deren un lerer Abschnitt nahezu senkrecht,
deren oberer schief von unten und vorn nach oben und rückwärts ge-
richtet war. Die Wandung war von cubischen pigmenlreichen Zellen
mit rundem, 0,01 messendem Kern ausgekleidet, welche am unleren
Ende in die Zellen des Schlundepithels continuirlich übergingen , die
vordere und hinlere Wand waren einander sehr genähert und Hessen
nur ein ganz schmales, spallförmiges Lumen frei. Die ganze Anlage
erschien etwas nach vorne gerückt durch stärkere Entwicklung der die
hintere Wand umgebenden Zellenlage, so dass ihre Spitze nahe unter
dem vorderen Ende der Chorda zu liegen kam. Auch längs der oberen
Fläche des verdünnten Chordaendes hatten sich spindelförmige und
sternförmige Zellen in grösserer Menge angehäuft (vergl. Taf. XII, Fig. i).
Bei den Larven von 1 2 Mm. Länge war die Schädelkrümmung
vollständig ausgeglichen. Die Chorda war beim Eintritt in den Schädel
0,2 dick, sie verschmälerte sich allmälig inj Verlauf nach vorne bis auf
2. Ut'bei r.iihvickliiiiir rmd [{an der Hy|M)|ili\sis iiiiil des l'rdccssiis iiiCiiiiililMili ccrcltri. 371
0,12. In einer Knlferniinc; von 0,1.') von ihrem vonleren Ende vei-
jilnij;le sie sieh luil iilölzlieheni Ahfiill l»is iuil" O,!).'},') und vtM'li<'f von da
als eN hnihiselier, aus kh-inen, zieinlieh pi^nienlreicheii Zeih'n Itesle-
heiider Sliant; !j;i'i"ade nach vorne, wo sie inil sUinipfeni Miuh» aufhörle.
Die ZeiU'nschichte, wch-Iie das vei-dUnnle Slüek unii^eben halle, war
noeh etwas niäelili£;or geworden und in (h>ui i]o\- Chorda /uniichsl lie-
genden Theil in der Umwandlung in Iljalinknorpel hegiillen als Anlage
der zukünftigen Siitlelleline. Der peripherische Theil dieser Sehiehle
bestand aus zieinlieh dicht gedi'iingten spindelförmigen Zellen; sie ver-
liingerte sieh von der Basis der Sattellehne aus nach vorne und er-
streckte sich conlinuirlich zur Basis des Zwischenhirns. Durch diese
Zellenlage war der unterste, die Verbindung mit der Schlundhiihle ver-
mittelnde Theil der Ilypophysenanlage zum Schwund gebracht und
letztere von der Rachcmhöhie gänzlich abgeschnürt. Der ol)ere Theil
war erheblich nach Höhe und Dicke vergrösserl; erslere betrug 0,?,
letztere 0,07. Er stellte ein stumpfwinkliges Dreieck vor, dessen
grösserer unlerer Schenkel schief von unten und vorne nach oben und
rückwärts, d(>ssen viel kleinerer oberer Sehenkel nahezu senkrecht
nach oben in der Sattelgrube vt>rlief. Das obere Ende lag jetzt dicht
unter dem abgerundeten Ende der Chorda, das untere hinter der Ueber-
gangsstelle der hinteren in die untere Wand des Lobus infundibuli.
Ein c-enlrales Lumen war nicht mehr nachweisbar, da das Innere von
pigmentreichen polygonalen und cylindrischen Zellen dicht erfüllt war.
Die vordere und hinlere Fläche wurden durch schmale Züge spindel-
förmiger Zellen von den Umgebungen getrennt. Das Mitlelhirn war an
seiner unteren Fläche durch den jetzt deutlich sichtbaren , das Ende
der Arteria basilaris beherbergenden, 0,lö langen Einschnitt vom Zwi-
schenhirn geticnnt. Die Basis des letzteren Hess ihre beiden Haupt-
abschnitte sofort erkennen : vorne das hohle Trigonum cinereum und
in seine untere Wand eingezwängt das jetzt 0,1 hohe, 0,08 dicke, mit
dem oberen Ende etwas nach rückwärts umgebogene Chiasma , hinten
das Infundibulum mit seinem Fortsatz. Das Infundibulum zeigte bereits
eine Scheidung von Decke und Boden, letzterer ging, nach rückwärts
sich verflachend, in den zweilappig gestalteten Boden des Lobus infun-
dibuli über, an der unleren Fläche desselben l)egann elien eine pigment-
freie, aus feinen Protoplasnraforlsätzen der Zellen bestehende Schicht
sich zu markiren. Die ursprünglich hintere Wand des hohlen Lobus
infundibuli war durch das stärkere Hervorwachsen der Basilararlerie
und ihrer Scheide über das vordere Chordaende hinaus in ihrem obe-
len Theil zum Verlauf nach vorne und oben genöthigt als Anlage der
zukünftigen Decke dieses Lappens; sie war wie früher ungemein dünn
372 Wilhßlra Müller,
und lediglich durch quadratische, im Verlauf nach oben stark sich ver-
flachende Epithelien repräsentirt.
Die I Centimeter langen Embryonen von Salamandra maculala
waren in demselben Enlwicklungsstadium wie die zuletzt beschrie-
benen Froschembryonen, die Verbindung der Hypophysis mit dem
Rachen war vollständig gelöst, die Basis des Zwischenhirns mit jener
des Frosches in allen wesentlichen Verhältnissen vollständig überein-
stimmend (vergl. Taf. X, Fig. 1).
Bei 20 Mm. langen Froschlarven wurde die Chorda bereits ring-
förmig von einer Hyalinknoipelschichte umfasst. Vor ihrem stumpfen
vorderen Ende lag die 0,15 lange, 0,2 hohe knorplige Anlage der Sat-
tellehne, in welcher das ursprüngliche Chordaende bis auf den letzten
Rest geschwunden war. lieber der oberen Fläche des Schädelknorpels
verlief die Arteria basilaris, deren Ende 0,25 über das vordere Ende
der Sattellehne nach vorne sich erstreckte, von einer dünnen Lage spin-
delförmiger Zellen als Andeutung eines mittleren Schädelbalken um-
geben. Die Basis des Mittelhirns ging an ihrem Ende unter spitzem,
nach rückwärts offenem Winkel in die Decke des Infundibulum über,
welches sich nach rückwärts in den hohlen , mit rudimentärer oberer
und hinterer Wand versehenen Lobus infundibuli verlängerte. Vor dem
Infundibulum lag das Trigonum cinereum, das Chiasma war 0,18 hoch,
0,1 dick. Zwischen der Sattellehne und der hinteren Wand des Lobus
infundibuli, von beiden durch eine dünne Lage spindelförmiger Zellen
getrennt, lag die Hypophysis. Sie war jetzt 0,25 lang, 0,08 dick. Ihre
gerade nach oben gerichtete Spitze begann als ein conischer, 0,07
hoher, 0,05 dicker Körper von dem übrigen Organ durch eine schmale
Furche sich abzugrenzen ; beide bestanden aus dicht gehäuften , theils
quadratischen, theils cylindrischen, kernhaltigen Zellen und einer dün-
nen, sie umschliessenden Bindesubstanzhülle.
Bei Froschlarven von 25 Mm. Länge war die Chorda wie im letz-
ten Stadium ringförmig von Hyalinknorpel umfasst, ihr vorderes Ende
lag 0,2 hinter der vorderen Fläche der Satlellehne. Der hintere Ab-
schnitt der Schädelbasis hatte eine durchschnittliche Dicke von 0,18,
der vordere von 0,08. Der mittlere Schädelbalken hatte eine Länge
von 0,4 bei einer Dicke von 0,035, er bestand aus spindelförmigen
und verästelten Zellen, welche die Basilararterie in Form einer Scheide
umgaben. Die Hypophysis lag im Türkensattel als ein winklig geboge-
ner Körper von 0,3 Länge bei 0,1 Dicke. Ihr grössserer unterer Ab-
schnitt hatte die Richtung von unten und vorne nach oben und rück-
wärts, der obere viel kleinere jene von unten und hinten nach oben
und vorne. Sie bestand aus einer deutlichen bindegewebigen Kapsel,
2. Heber Entwicklung nndBan der Hypophysis und des Processus inliindibnli ocroliri. 373
von welcher aus dünne Zü£»e spindelförmiger Zellen in das Innere ge-
wachsen waren, welche die daselbst befindlichen Epithcizellen in eine
Anzahl kugeligei- und c\ iindriscber Häufchen schieden. Von dein an-
liegenden Zsvischenhirn winde sie dui'ch eine aus spindelförmigen
Zellen bestehende Membran geschieden , welche sich am oberen l^ide
der Drilse an den minieren Schädelbalken anlegte. Die llebergangs-
slelle des Miltelhirns in das Zw isclienhirn zeigte sich noch stark pigmen-
tirt. Der Lobus infundibuli war an seiner Abgangsstelle vom Infundi-
bulum 0,-) hoch und ebenso lang; er besass eine 0,28 lange, OjKhohe
schief längs der unteren Fläche des mittleren Schädelbalken vi-rlaulcnde
Höhle. Die untere Wand ging vorne in den Boden des Infundibulum
über, nach rückwärts vei-jüngte sie sich allmiUig und keilte sich schliess-
lich bis auf eine einfache E})ithellage aus; sie war durch einen media-
nen, sagittal verlaufenden Einschnitt in zwei symmetrische Hälften
getheilt. Sie bestand gegen die Höhle zu aus einer cylindrischen Epi-
thellage, an diese schloss sich eine mehrschichtige Lage pigmenlreicher,
theils rundlicher, theils spindelförmiger Zellen an, sie entsandtei\ nach
abwärts schmale blasse Protoplasmafortsätze, welche ander unteren
Fläche des Bodens das Auftreten einer pigmentfreien, radiär gestieiflen,
im Verlauf von vorne nach rückwärts an Höhe abnehmenden Schicht
bedingU^n. Die hintere, der Trennungsmembran zwischen Hypophysis
und Zwischenhiin anliegende Wand war durch eine einfache Lage
quadratischer E[)ithelien von 0,006 Seitenlänge lepräsentirt, wiihrcnd
die obere mit der unteren Fläche des mittleren Schädelbalken verwach-
sene Wand durch ein einschichtiges ganz flaches Epithel von 0,!!03
Höhe bei 0,01 Fläche hergestellt wurde. Dieses F>pithel setzte sich,
höher werdend , auf die Decke des Infundibulum fort, welche durch
Apposition runder und spindelförmiger Zellen rasch bis auf 0,1 sich
verdickte.
Bei Larven der Rana temporaria von 3;i Mm. Länge war in Folge
einer Reihe wichtiger Veränderungen die definitive Gestaltung der
Hypophysis und der ihr anliegenden Theile bereits wahrnehmbar. Der
Schädelknorpel besass unmittelbar hinter cier Hypophysis 0,2, unter
ihr 0.04, vor ihr 0,06 bis 0,08 Dicke. Der mittlere Schädelbalken war
0,8 lang, OjOi.'i dick, stark pigmentirt, die Basilararterie 0,04 weit.
Die Hypophysis lag viel flacher als früher in der Satlelgrube, ihr
unterer Abschnitt war 0,5 lang, 0,18 dick. Sie war allseilig um-
geben von einer dünnen Kapsel , welche durch Fortsätze den Drü-
senkörper in ein<> Anzahl 0,02 — (J,04 dicker gewundener Schläuche
zerlegte. Der obere, früher winklig nach vorne zu abgebogene Theil
der H\pophysis war gänzlich von ihr gelrennt und lag als ein ellipsoi-
374 Wilhelm Müller,
discber O,"? langer, 0,1 hoher Körper in einer llach<'n Ausbuchtung
der hinteren Hälfte ihrer oberen Fläche. Er bestand aus dicht gedräng-
ten, polygonalen, kernhaltigen Zellen von 0,007 Durchmesser. Die
dünne aus spindelförmigen Zellen bestehende Membran, welche früher
diesen Theil der Hypophysis vom Zwischenhirn schied, in den mitt-
leren Sch;idel])a1ken übergehend , hatte sich in eine dichte Lage fdiril-
lären Bindegewebes umgewandelt, welche in Form eines gleichseitigen
Dreiecks von 0,012 Seitenlänge mit der vorderen Fläche dieses Körpers
und jener der anstossenden Partie des mittleren Schädelbalken zusam-
menhing. Das Infundibulum entsandte wie früher den keilförmigen
Lobus infundibuli nach rückwärts. Er war am Ursprung O.G hoch,
seine Basis 0,7 lang. Sein Boden war wie fi'üher von vorne nach rück-
wärts keilförmig zugespitzt, auf dem Queischnitt zweilappig, die
Structur gegen früher nur insofern verändert, als die früher unter-
scheidbaren Protoplasmafortsätze der Zellen an der unleren Fläche jetzt
eine homogene, feinkörnige, einzelne Kerne einschliessende Schicht
bildeten. Die hintere Wand wurde auch jetzt durch eine einfache Lage
quadratischer, die obere durch eine einfache Lage ganz flacher Epithe-
lien gebildet, welche in das cylindrische Epithel des Bodens und der
Decke des eigentlichen bifundibulum sich fortsetzten (vergl. Taf. X,
Fig. 2).
Aus der Classe der Vögel untersuchte ich die Embryonen der Gans
und des llidnis, von ersterem Thier die früheren, von letzterem die
späteren Stadien. Die jüngsten Embryonen der Gans, welche mir zur
Disposition standen , stammten vom dritten Bel^rütungstag. Das Herz
lag bereits vor dem Schlund, Schlundspalten waren noch keine vor-
handen. Die Chorda verlief als rundei- Strang von 0,04 durch die An-
lage der Schädelbasis, sie verschmälerte sich gegen ihr Ende allmälig
auf 0.03; letzteres war sanft abwärts gebogen und hörte mit conisch
sich verjüngender, abgerundeter Spitze auf. Die Anlage der Schädel-
basis bestand aus einer dünnen Schichte theils spindelförmiger, theils
sternförmiger, sehr locker um die Chorda herumliegender Zellen , ihre
ganze Mächligkeit betrug im Mittel 0,05. Das Schlundepithel bestand
aus einer mehrfachen Lage kurzer Cylinderepithelien ; es erstreckte
sich längs der unteren Fläche der Schädelbasis bis zum Choi'daende,
welchem es unmittelbar ansass, und reichte dicht unterhalb des letz-
teren bis an einen glänzenden, das Vorderhirn umgebenden Saum. An
der hinteren Wand des Vorderhirns stiess es an das die unlere Fläche
des letzleren überziehende Hornblatt. Das Gehirn halle die Gestalt
einer Retorte, deren Hals im Nachhirn lag. Seine sämmtlichen Abschnitte
waren hohl, ihre Wandung leicht gefallet, durchschnittlich 0,02 dick.
2. UehiM' Kiilwii'kliiMti uml H.iii der II\im)|iIi\sis iiikI flcs l'iocussiis iiiriiii(liliiili n-rchii. 375
von kurzen, Iheils cylindrischtMi, llioils spindelförmigen Zellen gebildet.
Sowohl gegen das überziehende Ilornblatl als gegen die Chorda grenzte
sich die Peripherie des Cenlralnervensysttans durch einen sehr feinen,
glänzenden Saum ab. Die Basis des Millelliirns ging unmillelbar
über dem Chordaende unter stumpfem Winkel in die hintere Fläche
des Yorderhirns ü])er, letzl(M-es erstreckte sich vor dem Chordaende
0,1 Mm. weit nach abwärts. Das ganze Vorderhirn war an seiner
Peripherie mit Ausnahme des obersten Theils der hinteren Fläche vom
Hornblatt umgeben, letzteres bestand aus einer grösstentheils (mu-
fachen Lage kurzer Cylinderepithelien von 0,006 Breite bei 0,008
Höhe. Er erstreckte sich längs der hinteren Fläche des Vorderhirns
nach oben, bis es auf die Epithelauskleidung des Schlundes traf,
worauf es längs dessen unlerer Fläche in der Richtung zum Herz
verlief.
Embryonen , welche im Lauf des vierten Brütungstags den Eiern
entnounnen wurden, zeigten die beiden ersten Schlundspalten bereits
entwickelt. Die Chorda war beim Eintritt in die Anlage der Schädel-
basis 0,45 dick, sie verlief wie früher unter allmäliger Verschmälerung
nach vorne und wandte sich nahe ihrem Ende in einem Viertelkreis-
bogen nach abwärts gegen die Schlundlläche, wo sie mit abgerundeter,
leicht hakenförmig gekrümmter, 0,01 dicker Spitze endigte. Die Anlage
der Schädelbasis war 0,1 dick; sie bestand wie früher aus locker ge-
fugten spindel- und sternförmigen Zellen ; letztere erstreckten sich in
gerader Richtung über das abwärts gebogene Chordaende hinaus , zu-
gleich an Mächtigkeit etwas zunehmend und stellten die Anlage des
mittleren Schädelbalken dar in Form eines auf dem Sagiltalschnilt 0,12
langen, 0,2 dicken Fortsatzes. Das Schlundepithel verlief wie früher
längs der unteren Fläche der Schädelbasis bis zum Chordaende , wel-
chem es unmittelbar ansass. Es bog dicht unterhalb des letzteren nach
rückwärts um und berührte hier mit seiner verdünnten unteren Wand
das gleichfalls dünne, die Mundbucht auskleidende Hornblatt, mit ihm
zusammen die RKMAK'sche Rachenhaut bildend. Das Gehirn krüimnte
sich hufeisenförmig um den mittleren Schädelbalken; die Wandung
sämmtlicher- Abschnitte war ungemein stark gefallet, durchschnittlich
0,0;i dick, wie früher durchaus zellig. Die Basis des Mittelhirns ging
am vorderen Ende des mittleren Schädelbalken unter nahezu rechtem
Winkel in jene des Zwischenhirns über. Letztere zeigte dicht unter der
Uebergangsstelle einen kurzen hohlen Vorsprung von 0,02 Höhe bei
0,04 Basis, welcher in einer seichten Bucht der unteren Wand des
mittleren Schädelbalkens lag und bis dicht an das Chordaende und das
letzlerem aufsitzende SchlunddrUs( nl>latl herani'eichte. Die P('rij)hc-
Bd. VI. 3. 26
376 Wilhelm Müller,
rie des Vorder- und Zwischonhirns war wie früher von dem Ilorn-
hlntl in einer Dicke von 0,01 üherkleidel. die Zellen des letzteren waren
zum Theil in Abflaclmnt; bei^rifTen. Der glänzende Saum, weleliei' im
vorigen Stadium das Gehirn vom Hornblatt schied, hatte ein(M" dünnen
Lage spindelförmiger und netzförmig verzweigter, zum Theil in zarte
Fibrillen sich verlängernder Zellen Platz gemacht.
Das nächste Stadium beobachtete ich an Kmbryonen dei- Gans,
welche sämmlliche vier Schlundspallen offen zeigten. Die Chorda be-
sass eine Dicke von 0,06: sie verlief längs der Anlage des Nachhirns
in wenig nach abwärts convexem Bogen ; ihr Ende l)og sich wie fiiiher
in einem Viertelkreisbogen nach abwärts und lief in eine conisch sich
verjüngende, stumpfe, blasse, augenscheinlich in Atrophie begriffene
Spitze aus. Ihre Zellen waren aufgehellt, nur die meist quer veilaufen-
den peripherischen proloplasmareich. Die Anlage der Schädelbasis
hatte eine Dicke von 0,2 im Mittel ; sie bestand aus spindelförmigen
und sternförmigen Zellen , welche um die Chorda dichter gefügt waren
als früher. Der mittlere Schädelbalken erstreckte sich in einer Länge
von 0,28 bei einer Dicke von 0,32 über das Chordaende hinaus als
geradlinige Verlängerung der Schädelbasis. Längs seiner hinteren
Fläche verlief die Basilararlerie, deren Weite 0,02G betrug; sie er-
streckte sich l)is an das obere Ende, wo sie bogenförmig nach vorne
sich krümmte und an derUebergangsstelh^ des Mittel- in das Zwischen-
hirn in ihre Endäste zerfiel. Das Schluiidepithel haftete wie früher in
mehrfacher Schicht der unteren Fläche der Schädelbasis an; hinter dem
Chordaende war dasselbe zu einem flachen Vorsprung erhoben, indem
zwischen ihm und der Schädelanlage die Carotis als ein 0,035 weiter
blutführender Canal sich eingedrängt hatte. Da das Schlundepilhel
dem Chordaende noch anhaftete, so wurde durch diesen Vorsprung an
der Uebergangsstelle auf die hintere Fläche des Zwischenhirns das Auf-
treten einer taschenartigen Verliefung bedingt. Diese Tasche, die An-
lage der zukünftigen Hypophysis, hatte eine Höhe von 0,35; ihr oberes
spitzes Ende lag unter der Spitze der Chorda ; unten stand sie mit 0,1
weiter Oeffnung mit der Schlundhöhle in Communication. Ihre vordere
Wand ging in das die hintere Fläche des Zwischenhirns bekleidende
Epithel continuirlich über, letzteres war von der Substanz des Zwi-
schenhirns durch eine 0,01 dicke Lage spindelförmiger Zellen geschie-
den. Die REMAK'sche Rachenmembran war geschwunden; der Ueber-
gang des Schlunddrüsenblalts in das Hornblatt innerhalb der Mund-
höhle ein continuirlicher. Das Gehirn war weniger gekrümmt als im
vorigen Stadium, da durch die Vergrösserung des Herzens das Vorder-
hirn etwas empoigedrängt war. Die Wandung sämmtlicher Gehirn-
2. l't'bcr Kiitwickliiiig und Ran der llypopliysis und des Processus int'iindibiili ccrchri. '^^^
nh.sclinillc war holiiichllicli ilickci" als IrüliiT, die Fallung etwas gerin-
iiov. Das MiUolhiin giiiij; am voideion Ende des mittleren Schädel-
lialken iinler si^itzem Winkel in die Hasis iles Zwisclienhirns über.
An let/teier waien die beiden llanplal)selmille bereits erkennbar: vorne
lins Triironum (•inereiim, an dessen unlerei' Fläche nahe dem vorderen
Fjide das (Ihiasma sichtbar wai' , hinten das geräumii^e Inliindibidum.
Lt>lzteres lag mit seiner Uilckenlliiche dem mittleren Sehiulelbalken an;
der Hache Vorsprung, weichen es im vorigen Stadium dicht unterhalb
der rebergangsstelle in das Miltelhirn zeigte, hatte sich zu einem cy-
lindrischen, 0,10 langen, an der Basis 0,1 dicken Fortsalz gestaltet,
welcher in einer Vertiefung des mittleren Schädeibalkens lag. Das
\'Au\e dieses Fortsatzes stand mit der Umgebung nirgends im Zusam-
menhang ; es wurde von dem Chordaende durch eine 0,12, von der
vorderen Wand der Hypophysenlasche durch eine 0,6 messende Schicht
spindelfürmiger Zellen geschieden, welche von den) mittleren Schädel-
balken aus zu der noch dünnen Aidage des zukünftigen l'räsphenoid-
knorpels sich erstreckten.
Ich untersuchte endlich einen Embryo der Gans vom 6. Bebrü-
tungstage. Die ('liorda war 0, 1 I dick, sie verlief wie früher in sanftem
bogen durch die Anlage des Sphenooccipitalknorpels und wandle sich
am vorderen F^nde im Bogen nach abwärts, lun mit abgerundeter, auf-
fallend blasser Spitze zu endigen. An der Schädelbasis hatte sich die
Anlage des Sphenooccipitalknorpels von dem Gewebe der Arterien-
scheiden deutlicher gesondert, ihre Dicke betrug durchschnittlich 0,3:
sie bestand aus kurzen spindelförmigen, ziemlich dicht gefügten Zellen,
l'eber das vordere F]nde erstreckte sich der mittlere Schädeibalken in
einer Ilühe von 0,8 bei 0,65 Dicke hinaus, seine Zellen waren viel
lockerer gefügt als jene des zukünftigen Knorpels. Längs der dorsalen
Mäche des Sphenooccipitalknorpels verlief die 0,06 weile Basilararterie
in eine 0, 12 dicke, aus locker angeordneten spindel- und netzförmigen
Zellen bestehende Scheide eingebettet; diese Scheide verschmolz mit
dem mittleren Schädelbalken. Das Schlundepithei war an der unteren
Fläche des hinteren Iveilbeinknorpels durch die jetzt 0,07 weite Carotis
und ihre Scheide von der Schädelbasis abgedrängt, der früher flache
Wulst halte entsprechend an Höhe zugenommen. Die An läge der Hypo-
physis war höher und weiter als im vorigen Stadium und stellte auf
dem Sagittalschnitl ein spitzwinkliges Dreieck dar von 0,65 Höhe, wel-
ches stall der Basis eine 0,15 weile Oeühung besass, n)iltelst welcher
es mit der Höhle des Schlunds «omumnicirte. Das Chordaende lag von
dem oberen Ende der Ilypophysenanlage 0,08 entfernt, indem, wie ich
vernuithe in Folge eines Schwundes der Cliordaspilze, spindelförmige
378 Wilhelm Müller,
Zellen vom anliegenden mittleren Schädelbalken aus zwischen beicie
sich eingedrängt hatten. Zwischen vorderer Wand der Hypophysen-
anlage und dem Zwischenhirn lag eine 0,02 dicke Schicht spindelför-
miger Zellen, welche abwärts in die zwischen 0,15 und 0,3 dicke An-
lage des Präsphenoidknorpels sich fortsetzten. Die Höhlung der Hypo-
physenanlage war in ganzer Ausdehnung von dem Schlundepithel aus-
gekleidet. Die Gehirnkrümmung war gegen früher wieder etwas flacher
geworden. Die Basis des Zwischenhirns zeigte nahe dem vorderen Ende
des Trigonum cinereum die 0,2 hohe, 0,1 dicke Anlage des Chiasma;
das Infundibuium war hohl, seine Wandung 0,05 dick, durchaus zellig,
der Processus infundibuli 0,2 lang, 0,15 an der Abgangsstelle dick,
von dem Ghordaende und der Hypophysenanlage durch zwischenlie-
gende Partien des mittleren Schädelbalkens getrennt.
Auf nahezu gleicher Entwicklungsstufe befanden sich Hühner-
embryonen vom vierten Brütungstag. Die Chorda war von der Anlage
des Sphenooccipitalknorpels umgeben, ihr vorderes Ende krümmte sich
bogenförmig nach abwärts, war sehr blass und endete eine kurze
Strecke von der Ilypophysenanlage entfernt. Die Basilararterie war
0,025 dick, während die Mächtigkeit der Carotiden 0,028 betrug. Die
untere Fläche der Schädelbasis war von dem Schlundepithel in 0,024
mächtiger Schicht bekleidet, letzteres war hinter dem Chordaende
durch die Carotis und ihre Scheide zu einem flachen Wulst erhoben,
welcher die hintere Wand der Hypophysenanlage bildete. Letzteie
stellte einen dreieckigen Hohlraum von 0,25 Höhe dar, welcher oben
spitz zulief, unten mit 0, 1 weiter Oeffnung mit der Höhle des Schlun-
des communicirte und von einer Fortsetzung des Schlundepithels aus-
gekleidet war. Die Zwischenhirnbasis war von der vorderen Wand der
Hypophysenanlage und dem Chordaende durch spindelförmige, vom
mittleren Schädelbalken abstanunende Zellen getrennt, die erste Anlage
des Processus infundibuli als flacher Vorsprung eben kenntlich (vergl.
Taf. IX, Fig. 1).
Bei dem Hühnchen vom fünften Bebrütungstag war das bogen-
förmig gegen die Schlundfläche zu gekrümmte Chordaende in grösserer
Ausdehnung atrophisch geworden. Anlage des Sphenooccipitalknorpels
und Scheide der Basilararterie waren deutlich gesondert, der mittlere
Schädelbalken erstreckte sich 0,6 Mm. weit bei einer Dicke von 0,4
über das Chordaende hinaus. Die Basilararterie war 0,05, die innere
Carotis 0,08 weit, beide besassen eine aus locker gefügten spindel-
und netzförmigen Zellen bestehende Scheide. Das Schlundepithel war
an der unteren Fläche des hinteren Keilbeinknorpels in Folge der Vo-
2. \kWt Kiitwickliiiiji iiiiil liiiii di'i' lly|Hi|ili\sis und des l'roccssiis iiiriiiidilnili ci'ivlni. ;<79
lumzuiuiliMio dcrCnrolis sliirker voi'gowolbl, tut' AiiIat;;o tlor ll\[)o|)liysis
sUillle eine in s;)gitl;iler Richtung coinprimirlo Tasche von 0,ö Länge
bei 0, 1 Weile tlar. Sit; coinniunicirle mit tler Hohle tles Schhuules tlurch
eine trichterförmige. 0,1") weile Oetlnung und war von einer Fort-
setzung des Schhinilepithels ausgekleidet. Das Epithel erwies sich gc-
schiehlel, die innerste Zellcnlage cylindrisch n)il gliinzendeni Saum,
die peripherischen spintlelförmig und rundlich, alle mit zartem Proto-
plasma und rundlichem Kern von 0.0035. Die hintere Wand der Tasche
zeigte einige leichte Faltungen. Das Zwischenhirn war von der vertie-
ren Wand der Hypophysenanlage und dem Chordaendt; durch eine
stärkere Zellenlagc als früher getrennt, der Processus infundibuli hatte
an Länge wenig gewonnen (vergl. Taf. IX, Fig. 2).
Bei dem 7 Tage allen Hühnchen besass die Chorda eine Dicke von
0, 1 i. Sie verlief mit sanftem Bogen dui"ch tlen Sphenooccipitaiknorpel
und endete mit leicht nach der Schlundfläche gekrümmter abgerundeter
Spitze 0,'2 von Iclzleror entfernt. Der milllere Schädelbalken erstreckte
sich 0,9 über tlas Chortlaende hinaus bei 0,45 Dicke, er bestand vor-
wiegend aus locker angeordneten netzförmigen Zellen. Längs seiner
hinteren Fläche vei-lief djp Basilararlerie, um an seinem verdickten
Entle bogenförmig nach \orne sich zu wenden und an der Uebergangs-
stelle des Millelhirns in das Zwischenhirn ihre Endäsle abzugeben.
An der Basis des liiiUercn Kcilbeinknorpels lag, von der hinleivn Fläche
der Hjpophysenanlage nur durch eine 0,02 dicke, aus spintlelförmigcn
Zellen bestehende Lamelle getrennt, die 0,'2 weile innere Carotis. Da
sie regelmässig im Querschnitt erschien, vernmlhe ich. dass in dieser
frühen Zeit eine Anastomose zwischen den beiden Caroliden an der
Basis des hinleren Keilbeins vorhanden ist. Die Anlagen des Spheno-
occipilal- und des Präsphenoitlknorpels hallen an Dicke gewonnen. In
Folge tiavon war der unlere Abschnitt der Hypophysenanlage in einen
schmalen, von Epithel ausgekleideten Giuig umgewandelt, der in einer
Länge von 0,3 bei einer Dicke von 0,07 die Schädelbasis in ziemlich
senkreclitei' Hichlung durchsetzte. Das Lumen dieses Ganges beslinnnte
ich zu 0,01, die Dicke tler Epithelschichl zu 0,03. An der Ausmün-
dungsslelle ging tias Epithel conlinuirlich in das Schlundcpithel über.
Der obere Thei! tler Hypophysenanlage war nach rückwärts umgebogen ;
er zeiglt> bei einer Länge von 0,0 eine keilförmige Gestalt, mit 0,3 brei-
ler, abwäils liegender Basis und 0,005 dicker Spitze. Durch die ganze
Länge tlieses Theils erstreckte sich ein centrales Lumen mit einem
Durchmesser von 0,02. Die Wantlung selbst war gegen fi'üher insofern
verändert, als die Epithelschicht eine Anzahl zapfenförmig in die iim-
gebentle Bindesubslanz vortlringender Verdickungen zeigte, deren Länge
380 Wilhelm Müller,
zwischen 0,05 und 0,1, deren Dicke zwischen 0,01 und 0,05 schwankte.
Das Epithel zeigte wie früher den Charakter geschichteten Cylinder-
cpithels. Der hinleren Fläche des Drüsenkörpers lag der hinlere Keil-
beinknorpel an; nach vorne woirde derselbe durch eine 0,02 breite,
aus spindelförmigen Zellen bestehende Leiste vom anstossenden Zwi-
schenhirn geschieden. Die Wandung des letzteren war dicker als fiü-
hei", durchaus zellig; der Processus infundibuli 0,1 lang, ebenso bi'eit,
hohl ; sein Ende lag dicht über der Spitze der Hypophysenanlage, ohne
mit demselben in festerem Zusammenhang zustehen, seiner hinteren
Flache entsprach eine flache Ausbuchtung des mittleren Schädelbalken
(vergl. Taf. IX, Fig. 3) .
Bei dem 1 0 Tage allen Hühnchen war die Chorda am hinteren
Ende der Schädelbasis 0,17 dick, sie verschmälerte sich im Verlauf
durch dieselbe allmälig und endete nahe der hinteren Fläche des Post-
sphenoidknorpels mit 0,06 dicker abgerundeter Spitze. Die Anlage des
Sphenooccipitalknorpels war nicht nur dicker geworden, sondern es
waren auch ihre Zellen kürzer und von einer merklichen Menge hya-
liner Intercellularsubstanz umgeben. Der mittlere Schädelbalken besass,
vom Chordaende aus gemessen, eine Höhe von 1,4 bei einer Dicke von
0,4. Seine Zellen waren noch lockerer angeordnet als früher, wodurch
sein Gewebe von dem an seiner Basis befindlichen Knorpel auf den
ersten Blick sich unterschied. Die Arteria basilaris verlief dicht hinter
seiner Mitte , ihr Durchmesser betrug 0,15; sie zeigte in ihrer Wand
bereits quergestellte spindelförmige Zellen. In Folge des Beginns der
Verknorpelung war sowohl der Contour der zukünftigen Satlellehne,
welche sich 0,15 über das Choi'daende erhob, als jener des vorderen
und hinteren Keilbeins deutlich erkennbar. Der Zwischenraum beider
Knorpel war ausgefüllt von dichtgedrängten spindelförmigen Zellen;
ausser diesen Zellen fand sich hier ein 0,04 dicker Gang, welcher sich
vom Rachcnepithel aus continuirlich mit einer leichten Biegung nach
vorwärts bis zur Höhle der Hypophysis verfolgen liess. Dieser Gang
besass ein schmales Lumen von 0,008, er war ausgekleidet von einem
niedrigen Cylinderepitheiium. Die ursprüngliche Höhle der Hypophy-
senanlage war auf einen longitudinalen, 0,25 langen, 0,05 breiten Spalt
reducirt. welcher von Gylinderepithel ausgekleidet %var. Die Hypophy-
sis selbst stellte einen nahezu cubischen, 0,6 dicken und ebenso hohen
Körper dar, welcher aus einer grösseren Zahl leicht gewundener, hie
und da anastomosirendcr Schläuche von 0,02 bis 0,04 Mm. Durchmes-
ser sich zusammensetzte. Diese Schläuche besassen eine sehr zarte
Membrana propria und waren erfüllt von kernhaltigen Epithelien,
welche in der Peripherie mehr cylindrisch bei senkrechter Stellung
2. roher Kiitwickliiiiü iiiiil K;iii der II\po|tli\,si,s und di\s l'niccssus mriiiidihiili i'crcliri. ;iS 1
i:('i;t'n die \\ aiuliiiiij: , im liiiinii iiiclii- |)ülyü;on;il uikI ruiidliili ucsl.illcl
\^;l|•cIl. Nur in (Nii/.c^Iiumi Scliliiiuhcn liossoii dicsL« Zrlion ein schinalfs
l.unicn frei. Die liilorslilion ticr Sclilauclic uaicn duiclisclzl von zarlen
HiiidosubsUinzzügen iiiil du'ils .s[)iiuU'll"öiinigoii , tlicil.s nclzföniiii^ vcr-
zwt'iiJtkMi Zollen. Da slcllonwoise IMulköipcM- in dieser 15iiidesid)slan/
erkennbar warcMi , seldiesse ieli, da.ss das inlerstilii'lie (;e\\ol)e in die-
sem Knl\vicklunij;sstadinm bereits ndlGclassanlaf^en versehen i.sl (vergl.
Tal". IX, Kig. 5).
An der unteren l'laehe der Ihpoplixsis dielil liinler (Um* Al)gangs-
slelle ihres Rachengangs lag die 0,i Mm. im Durchmesser hallende Ana-
stomose zwischen den inneren Carotiden; nach vorne grenzte sie an das
Chiasma. durch eine 0, 15 dicke, aus spindelförmigen Zellen bcslehende
senkrechte Leiste von ilun geschieden. Eine ähnliche, in der Richtung
von vorne nach rückwärts sich verjüngende Leiste trennte die obere
Fläche der Hypophysis von dem anliegenden Zwischenhirn. Letzteres
Hess Trigonuni cinereum und Infundibulum lioch deutlicher als fiüher
unterscheiden; an der unteren Fläche des ersteren lag das Chiasma,
welches seine langgestreckten Spalten bereits erkennen iiess. Das In-
fundibulum entsandte dicht über dem hintersten Theil der oberen Fläche
der Hypophysis den conisch gestalteten, 0,25 langen, 0, 1 i Mm. dicken
Processus infundibuli, welcher aus einer centralen, 0,02 im Durchmes-
ser haltenden Höhle und einer aus geschichteten cylindrischen Zellen
besiehenden Wandung von 0,06 Dicke sich zusanmienselzte. Der Fort-
satz hatte sieh zwischen die hintere Fläche der obersten Partie der Il\(io-
physis und des Perichondrium der vorderen Fläche der Sattellehne ein-
gedrängt und war von beiden durch eine eben wahrnehmbare Lage
spindelförmiger Zellen geschieden.
Bei dem zwölf Tage allen Hühnchen hatte die Beschallen heil der
Chorda nicht wesentlich sich verändert. Die Schädelbasis war noch
deutlicher knorplig geworden, der mittlere Schädelbalken ersti-cckte
sich 1,7 Mm. weil über das Chordaende hinaus bei einer Dicke von
0,3 bis 0,5. Er war in voller Unnvandlung zur Scheide der Arteria
basilaris begritVen, welche mit einem Durchmesser von 0,22 durch seine
Mille verlief, sein Gewel)e war wie früher locker, vorwiegend aus Zel-
len mit netzförmig verzweigtem Protoplasma gebildet, dazwischen fan-
den sich bereits deutliche Fibrillenzüge. Vorderer und hinlerer Keil-
beinknorpel waren noch durch eine dünne Perichondriumlage geschie-
den ; durch diese eisli'eckle sich vom vorderen L'mfang dei' Hypophysis
aus ein schmaler, nur 0,0 5 im Durchmessei- haltender Gang nach rück-
wärts und abwärts zum Rachenepithel. Dersell)e war solid und mit
nahezu quadratischen, stark körnigen Zellen dicht erfüllt. Die Gestall
382 Wilhelm Müller,
der Hypophysis war auch jetzt nahezu cu])isch , ihre Höhe und Dicke
ergab sich gleichmässig zu 0,75. Sie bestand wie früher aus cylindri-
schen . etwas gewundenen , hie und da mit einander anastomosirenden
Schläuchen, deren Durchmesser im Mittel 0,03 betrug, von 0,015 bis
0,045 schwankend. Sie hatten nur Iheil weise ein schmales centrales
Lumen und waren wie früher erfüllt von Epithelien , welche an der
Peripherie cylindrisch und spindelförmig , gegen die Mitte zu mehr po-
lygonal und rundlich waren. Die interstitielle Bindesubstanz zeigte
deutliche Gefässanlagen. Die ganze Drüse war von einer dünnen, aus
spindelförmigen Zellen bestehenden Kapsel umgeben. An die untere
Fläche der Hypophysis grenzte die auf 0,12 reducirte Anastomose zwi-
schen beiden inneren Carotiden , letztere besassen einen Durchmesser
von 0,24. Nach vorne grenzte sie an dasChiasma; die zwischen beiden
liegende senkrechte Leiste erwies sich nur mehr 0,1 dick, viel lockerer
als früher und vorwiegend aus netzförmigen Zellen bestehend. Zwischen
der oberen Fläche der Drüse und der Zwischenhirnbasis erstreckte sich
die Anlage der Dura mater in Form einer nach rückwärts sich ver-
schmälernden , aus dicht gedrängten spindelförmigen Zellen bestehen-
den Lamelle. Von der überliegenden Pia malcr aus erstreckten sich
mehrere feine Gcfässe durch ejne Lücke der Dura hindurch zur oberen
Fläche der Hypophysis; letztere hatte eine Anzahl schmaler, parallel
verlaufender Drüsenschläuche längs der Gefässe in die Höhe entsendet,
wodurch ein 0/2 langer, 0,12 dicker, aus Gefässen und Drüsensubstanz
bestehender Strang gebildet wurde. Die Dimensionen sämmllicher Ab-
schnitte der Zwischenhirnbasis hatten entsprechend zugenonunen. Der
Processus infundibuli erstreckte sich wie früher in den Raum zwischen
oberer und hinterer Fläche der Hypophysis und vorderer Fläche der
Sattellehne, seine Länge betrug jetzt 0,35 bei 0,12 Dicke. Das mit der
Höhle des Zwischenhirns communicirende Lumen v^ar 0,02 weit, die
Wandung 0,05 dick. Sie bestand aus einer inneren Lage cylindrischen
Epithels und einer darauf folgenden Lage dicht gedrängter rundlicher
und spindelförmiger, radiär gestellter Zellen, während an der sonst
gleichgebauten Zwischenhirnbasis eine fein radiär gestreifte, homogene
Grenzschicht sich erkennen Hess , welche nahe der Abgangsstelle des
Processus infundibuli sich auskeilte.
In einem noch etwas späteren Entwicklungsstadium befanden sich
die Hypophysis und der Trichterfortsatz eines 24 Mm. langen Staar-
embryos. Die beiden Keilbeinknorpel waren bei diesem Embryo von
continuirlichem Zusammenhang, der mittlere Schädelbalken 1,4 lang,
0,25 bis 0,3 dick, eine lockere Scheide der Basilararterie bildend. Ein
Verbindungsgang zwischen Rachenepithel und Hypophysis war nicht
2. lieber Miilwickliiim imd li.ni der Hypopliysis und des Processus iiidiiidibiili cerelMi. 383
mehr vorliandtMi. Lotzlotc \v;ir ;iuch liier ;uil'dem Sngillalschnilt nahezu
(luadratisrh, (),(> hoch, 0,5 dick. Sie bestand aus denselben schlauch-
föiinii;en üiiisenanlajjjen wie bei den /Adelzt i^eschilderlen IlUhner-
end)ryonen ; nahe ihiei' vorderen Fläehe besass sie eine drei(>ckiij;c,
von Cylindcrepilhel ausgekleidete Höhle von 0,08 Seitenlange als Rest
dei- ursprilni;liehen Anlage. Sie besass eine dünne, aus spindelför-
migen Zellen besiehende Kapsel, von welcher gefassfiihrende Ausläufer
zwischen die Schläuche sieh erstreckten. An der unteren Fläche des
Organs im Hoden der Salt(>lgrube lag, in dichtes Bindegewebe einge-
bettet, ein Plexus dünnwandiger, ziemlich geräumiger Venen. Eine
Anastomose zwischen d(>n Cai-oliden war niciit nachweisbar. Nach
vorne grenzte die Drüse an das Chiasma, durch eine lockere Zellen-
schicht von ihm getrennt; eine aus dichtgedrängten spindelförmigen
Zellen bestehende Membran erstreckte sich zwischen ihrer oberen Fläche
und den weichen Hirnhäuten an der Basis des Zwischenhirns; von
letzteren aus verlief eine Gruppe kleiner Arterien senkrecht zur Hypo-
physis , in die Grenze zwischen mittlerem und hinterem Drittheil von
deren oberei* Fläche eintretend; die DrUsenschläuche traten längs der-
selben als schmale, parallel verlaufende Stränge eine Strecke weit über
das Niveau der 0])crfläche hervor. Der Processus infuudibuli hatte die-
selbe Lagerung wie bei dem lluhu, er maass 0,15 in der Länge, 0, H
in der Dicke, seine mit dem Infundibulum communicii-ende Höhle war
0,o;5:{ weit; sie war ausgekleidet von cWindiischem Epithel, auf dieses
folgte eine Schicht dichtgedrängter runder und spindelförmiger Zellen,
mit dem Epithel von 0,0:{3 Mächtigkeit und auf diese eine schmale pe-
ripherische Lage homogener, feingranulirler Sul)slanz mit spärlichen
runden Kernen in einer Dicke von 0,000, gegen die Spitze des Forl-
satzes zu sich verdünnend.
Aus der Classe der Säugethiere hatte ich Gelegenheit Embryonen
des Schweins, Schafs und Kaninchens ') in einem Stadium zu unter-
suchen, in welchem die Verbindung zwischen Hypophysis und Schlund
noch erhalten war. Die belrcHenden Embryonen hallen übereinstim-
mend eine zwischen 16 und 18 Mm. betragende Länge. Bei allen war
die Schädelbasis stark gekrümmt, so dass sie vom ersten Halswirl)el
bis zur Stirne einen Halbkreis beschrieb, dessen höchster Punkt an der
Ausmündung des Hypophysengangs lag. Die Anlage des Sphenooccipi-
lalknorpels hatte eine Dicke von 0, 'i , jene des vorderen Keilbeinknor-
1) Einen i:;rossen Tlicil des Materials an Säugethierembryonen verdani<e ich
dorn Vorslaiid der hiesigen liiierärztlichen Kliniiv, Medicinalassessor Dr. Zürn und
dorn stadtischen Tlilerarzte zu Nürnberg:, Herrn K. Schwarz.
384 Willidin Mfillpr.
prls eine solche von O,:; Mm. Die ganze Schädelbasis bestand aus
kurzen S|)inde]zellen, welche nur hie und da etwas faiblose Inleivellu-
laisubstanz zwischen sich hatten. Die Chorda verlief mit mehreren
Biegungen durch den hinteren Abschnitt der Schädelbasis, nahe ihrem
vorderen Ende verlor sie ihre honiogene Cuticula; sie krümmte sich,
nur aus proloplasmahaltigen blassen Zellen bestehend, nach abwärts,
um sodann, horizontal nach vorne verlaufend, 0,06 hinler der Hypo-
physenanlage mit einer leichten knopfförmigen Verdickung von 0,036
zu enden. Die unlere Fläche der Schädelbasis war von dem cylindri-
schen Schlundepithel bekleidet, die obere Fläche hatte über sich eine
0,2 dicke, lockere, aus spindelförmigen und netzförmigen Zellen be-
stehende Bindesubstanzschichl. in w-elcher die 0,05 weite Basilararterie
verlief, an das Nachhirn einzelne Zweige abgebend. Der mittlere Schä-
delbalken erhob sich 2,4 Mm. hoch, 0,45 Mm. dick senkrecht gegen die
Schädeü'.öhle; er bestand aus locker angeordneten spindelförmigen und
sternförmigen Zellen und enthielt die nahe seiner hinteren Fläche ver-
laufende Basilararterie, welche sich in seinem verdickten Ende nach
vorwärts krümmte, um an der Uel^ergangsslelle des Mittelhirns in das
Zwischenhirn ihre Endäste abzugeben. Die Anlage der Hypophysis
stellte auf Sagittalschnitten ein elliptisches Säckchen dar von 0,6 Höhe
bei 0,08 Dicke. Sie lag mit ihrer grossen Achse senkrecht zur Längs-
achse der Schädelbasis, besass eine centrale, 0,01 w-eite, längsverlau-
fende Höhle und eine aus geschichtetem Cylinderepithei bestehende
Wandung, welche sich gegen das Lumen scharf abgrenzte. Vom unte-
ren Ende dieses Säckchens , welches im vorderen Theil der Basis des
mittleren Schädelbalkens lag, erstreckte sich ein 0,016 dicker, von
kurzem Cylinderepithei ausgekleideter, an der Ein- und Ausmündungs-
stelle leicht conisch erweiterter Gang senkrecht d\irch die Anlage der
Schädelbasis bis zur Bachenhöhle. Die inneren Carotiden verliefen
hinter diesem Gang, sie waren 0,06 weit, bogen sich unterhalb des
Chordaendes nach vorne und traten hierauf zur Seite der Hypophysen-
anlage senkrecht in die Schädelhöhle ein. Das Zwischenhirn war von
der vorderen Fläche des Hypophysensäckchens durch eine schmale
Schicht spindelförmiger Zellen geschieden, es hatte mit dei- oberen
Fläche des Schädels nirgends einen festereu Zusanmienhang. Seine
Basis Hess eine untere, zwei seitliche und eine hintere Fläche unter-
scheiden; letztere erstreckte sich bis zum Endo der Basilararterie, wo
sie unter scharfer Biegung in die Basis des Miru^ihirns überging. Die
unlere Fläche bestand aus einer weniger geräumigen vorderen Abthei-
lung, Trigonum cinereum, welcher der Anlage des Chiasma anlag, und
einer geräumigeren hinteren , dem Infundibulüm. Letzteres entsandte
2. TcbiT Kiitwirklmii! nml Imii der ll\|i(i|ili>sis iiimI tli'S l'ruci'ssiis iiiriiiiililinli ii'iplni. 385
iliclil üIkt (lein oIkmcii l-liulc dos ll\ |)u|)livs(M).s;ickclu'iKs iiiis si'iiicr hin-
Icicii Wand (l(>n 0, i laiimMi, 0,12 dicken Processus inliindil)uli, wciclier
in der Hiclilimi; nach rückwärts und abwiirls zwischen hinterer Wand
<\cv ll\[)oplnscnanlat;e und niilllerein Schiidclbalken sich eindriingle.
\\y halle ein centrales, durch seine uanze Liiniie sicli erstreckendes Lu-
inen von O,0i, welches mit (h-r llöhU' des Zw isciienhirns in Verl)indung
stand; seine O.Oö dicke Wand war gleich jener des letzleren nach
Innen von cylindrischem Epithel, nach Aussen von einei- niehrschit-h-
liizen Lage spindelförmiger und elliptischer Zellen gebildet, welche in
radiärer Richtung um die Höhle angeordnet waren. Der obere Theil
dci- hinleren Wand des Zwischenhirns, die zukünftige Lamina posterior
infundibuli, liess noch keine Anlage der Corpora candicantia erkennen
^vergl. Taf. X, Fig. 6).
Das nächste Stadium untersuchte ich an ä'i Mu). langen End->ryonen
des Schweins und Mensehen. Die Verhältnisse waren bei beiden in
allen wesentlichen Punkten übereinstinmiend. Die Schädelbasis erwies
sich flacher gekrümmt als früher, ihre Dicke am Sphenooccipitalknorpel
betrug 0,5, am vorderen Keilbeinknorpel 0,5. Sie war wie früher von
spindelförmigen Zellen gebildet. Diese waren in den centralen Ab-
schnitten dicker und kürzer geworden und hatten geringe Mengen einer
homogenen Intercellularsubstanz abgeschieden. Die Chorda bog sich
in ilin-m Verlauf durch den Sphenooccipitalknorpel erst stark nach ab-
wärts, dann mit ihrem vorderen Theil aufwärts, ihr Ende lag 0,'] hinler
der Anlage der Hypophysis, 0.1 unterhalb der Oberfläche d( s vom
Knorpel noch nicht deutlich gesonderten Perichondiiums des hinleren
Keilbeiris. Ihr vorderstes Ende musste einem vollkommenen Schwimd
anheimgefallen sein, da von demselben keine Spur mehr aufzufinden
war. Längs dei- oberen Fläche des Sphenobasilarknorpels verlief, in
eine 0,14 dicke lockere Bindegew ebsschicht eingebettet, die 0,07 weite
Basilararlerie. Der mittlere Schädelbalken war 3 Mm. lang. 0,1 dick;
er bestand wie früher aus locker angeordneten, vorwiegend sternför-
migen Zellen und enthielt, 0,1 von seiner hinleren Fläche entfernt, die
nach oben verlaufende Arieria basilaris. Die Carotis interna verlief wie
früher, ihr Durchmesser halle bis 0.08 zugenommen. Die Anlage der
Hypophysis war 0,7 hoch, 0,3 an den Seilen, 0,? in der Mitte dick.
Ihre Epithellage war durch das Hereinwachsen zarter, aus spindelför-
migen Zellen bestehender Bindesubstanzzüge gefaltet und das früher
(Mnfache Säckchen in eine Anzahl schmaler, noch untereinander com-
nmnicirender Hohlräume zerlegt, deren Durchmesser 0,08 betrug. Sie
besassen eine aus geschichtetem Cylinderepilhel besiehende Wand.
Ein Verbindungsgang zwischen Hypophyse und Hachenepilhel war
386 Wilhelm Müller,
nicht mehr vorhanden. Vom vorliegenden Zwischenhirn wurde die
Drüse durch eine 0,02 dicke Lage spindelförmiger Zellen geschieden.
Der wie früher längs ihrer hinleren iVand sich erstreckende l^rocessus
infundibuli war 0,55 lang, 0,15 dick, seine Beschaffenheit hatte sich
nicht geändert.
Bei dem Fötus des Schafs von 31 Mm. Länge war die Hypophysis
0,85 hoch, 1,25 breit, 0,2 bis 0,35 dick. Die Drüsensubstanz bestand
aus einer Anzahl hohler Schläuche, welche zahlreicher waren als im
vorigen Stadium und durch stärkere Entwicklung der interstitiellen
Bindesubstanz ausser Conliuuilät gesetzt wurden.
Bei dem Schaffötus von 4 Gcntimeter war die Krümmung der Schä-
delbasis sehr gering, der Sphenobasilarknorpel 0,8, der Knorpel des vor-
deren Keilbeins 1,2 dick. Alle diese Knorpel hingen continuirlich zusam-
men, nur jener der Sattellchne war durch einen 0,03 breiten Perichon-
driumstreif von jenem des hinteren Keilbeins abgetrennt. Die Chorda
durchsetzte mit welligen Biegungen den Basilarknorpel, um im hinteren
Keilbeinknorpel sich zu erheben und 0,8Mni. hinter der Spitze der Sattel-
lehne in den unteren Schichten des Perichondrium mit abgerundeter, 0,03
dicker Spitze zu endigen. An der obei'en Fläche des Sphcnobasilarknor-
pels verlief die 0,15 weite Arteria basilaris in eine düiuie Bindegewebs-
hunelle eingebettet; der mittlere Schädelbalken, in dessen Mitte sie zur
Umbeugungsstell(! des Mittelhirns in das Zwischenliirn sich begab, war
3,2 Mm. hoch bei 0,25 Mm. Dicke, er war auf eine dünne, aus Fibrillen mit
zwischen liegenden spindelförmigen Zellen bestehende Scheide tiei- Ba-
silararterie reducirt. Die Carotis verlief 0,18 dick durch die Schädel-
basis, uui seitlich von der Hypophysis in die Schädelhöhle einzutreten.
Die Hypophysis lag in der jetzt deutlich ausgebildeten Keilbeingrube,
schief von unten und rückwärts nach oben und vorne sich erstreckend,
ihre Länge betrug 1 Mm., ihre Dicke am Isthmus 0,35, seitlich 0,45.
Sie bestand aus gewundenen, hie und da anastomosirenden Schläuchen,
deren Durchmesser zwischen 0,01 und 0,05 schwankte. Die Mehrzahl
dieser Schläuche war solid, nur am hinteren Umfang der Drüse hatte
sich ein 0,4 langer, 0,08 breiter Hohlraum erhalten als Best der ui-
sprünglichen Hypophysenhöhle; er war von geschichtetem Cylinder-
epithel ausgekleidet, welches mit scharfem Saum das Lumen begrenzte.
Die schlauchförmigen Drüsenanlagen zeigten eine dünne Membi-ana
propria, ihr Inneres war ganz erfüllt von Zellen, deren Gestalt alle
möglichen Zwischenstufen zwischen ausgeprägten Cylinderepithelien
und kugeligen Formen darbot. Umgeben war die Hypophysis allseitig
von einer an spindelförmigen Zellen reichen bindegewebigen Kapsel,
welche schmale gefässhallige Fortsätze in die Inlerslitien zwischen den
2. l'cltci' Kiitwickliiim und lifiii iltT lly|io|tliysi.s iiml dt-s l'inrcssiis iiiriiii(liliiili rcicliri. 387
finzclncii Schläuchen sandle. Geiicn das Chiasina liin erslirckle sich
von dor llypophysis ein schmaler /.uni;enröiiiiiL;ei' Forlsatz, aus einer
Anzahl kleiner Arlerienz\veig(! und sclmialer paiallel verlaufender Drii-
sengänge sich zusanimenselzend. Die Bcschaüenheil der Zwischenhirn-
basis halle sich geilen das frühei'e Stadium nicht unerheblich verändert,
lieber und vor dem Chiasina lag ein hohlei' Abschnitt, welcher nach
Analogie mit dem entsprechenden Abschnitt der Fische und Amphibien
als Trigonum cinereum bezeichnet werden kann. Er erstreckte sich 1,4
weit über das Chiasma nach vorne und ging hier in die zukünftige La—
mina terminalis über. Das Chiasma lag der unteren Wand des Trigo-
num cinereum an und wölbte letztere aufwärts, es war I Mm. lang,
0,ö hoch, seine Basis beschrieb einen flachen, von einem gefässführen-
den Bindegewebsnetz ausgefüllten Bogen. Das Infundibulum stellte
eine unbedeutende Erweiterung der Höhle des Tuber cinereum anterius
dar, seine Wandung war durchschnittlich 0,15 dick. Sie wurde nach
Innen gebildet von llimmerndem Epithel, darauf von einer 0,07 dicken
Lage runder und spindelförmiger, dicht gedrängter Zellen und schliess-
lich von einer 0,008 dicken Schicht homogener, sehr feinkörniger Sub-
stanz. Der Processus infundibuli, welcher im früheren Stadium von
der hinteren Wand des Infundibulum in einer Höhe von 0,ö über der
Basis entsprungen war, ging jetzt 0,6 Mm. hinler dem Chiasma vom
Ende der Basis des Infundibulum ab. Es musste demnach das Infun-
dibulum gegenüber den umgebenden Theilen in seinem Wachsthum
zurückgeblieben sein. Die Abgangsslelle lag etwas vor dem hinteren
Ende der Hypophysis, der Fortsatz erstreckte sich vor der Sallellehne
in einer Länge von I Mm. bis nahe dem Boden der Sattelgrube. Seine
(ieslalt war cylindrisch, seine Dicke, welche an der Abgangsslelle 0,17
betrug, verminderte sich allmälig gegen die Spitze ; dem entsprechend
verengte sich seine Höhle , welche vom Zwischenhirn aus durch seine
ganze Länge sich erstreckte, von 0,0:i allmälig auf 0,01. Die Wandung
bestand aus einer cylindrischen , das Lumen begrenzenden Epilhel-
schicht, einer mehrfachen Schicht runder und elliptischer, kernhaltiger
Zellen und einer peripherischen, gegen das Ende des Fortsalzes zu sich
verjüngenden Lage feinköi'niger, einzelne Kerne enthallender Substanz,
welche an der Abgangsslelle in die enlsprecliende Lage des Zwischen-
hirns continuirlich sich fortsetzte (vergl. Taf. X, Fig. 7). Dagegen halte
die hinlere Wand der Zwischenhirnbasis gegen früher an Ausdehnung
gewonnen. Schon bei den lunbrjonen von 18 Mm. liess sich an dem
der Vorderfläche des mittleren Schädelbalken oberhalb der Abgangs-
slelle des Processus infundibuli anliegend(>n Gehirnabschnill eine unlere
ilünnere Partie unterscheiden, welche I Mm. oberhalb des Tiichlerfort-
388 Wilhelm Müller,
Satzes in eine senkrechte Falte erhoben war. lieber der Falte folgte eine
dickere Partie, welche in die Basis des Millelliirns ohne scharfe Grenze
sich fortsetzte und gleich dieser die parallelen Fasern der Hirnschenkel
zur peiipherischen Begrenzung hatte. Beide Abschnitte Hessen sich
auch jct/.t unteischeiden. Der untere dünnwandige, die zukünftige La-
niina |)oslerior infundibuli . war 1,4 Mm. hoch; die senkrechte Falte
an seinem oberen Euch' war nahezu ausgeglichen; daraufnahm wie
fi'üher die Dicke der \\ and rasch zu und es erfolgte <ler Uebergang in
das Mittelhirn.
Bei dem Schaffölus von 7 Centimeler Fänge war der Knorpel der
Sattellehne mit jenem des hinteren Keil])eins continuirlich verbunden.
Die Knor|)eI des Basilarbeins und des vorderen Keill>eins waren bereits
in Verkalkung begrill'en ; die Chortla war schmäler als früher, sie ver-
lief gebogen durch die Schädelbasis, erhob sich im hinteren Keilbein
und endigle mit stumpfer, 0,02 dicker Spitze in den unleren Periehon-
driundagen 2 Mm. hinter der Spitze der Satlellehnei). Der mittlere
Schädelbalken war 3,5 hoch, 0,18 dick, er enthielt die 0,15 im Durch-
messer hallende Basilararterie. deren fibröse Scheide darstellend. Die
llypophysis lag wie früher schief von unten und rückwärts nach ol)en
und vorne gerichtet in der Saltelgrube. Sie war 1,2 Mm. lang, 0,0
dick ; von ihrem vorderen Ende erstreckten sich schmale Ausläufer der
Drüsensubslanz bis nahe zum Chiasma nervi optici, von einer Gruppe
dünner, parallel \eilaufender Arlerienzweige umgeben. Der Bau der
Hypophysis sowie jener des interstitiellen Gewebes erwies sich gegen
das vorige Stadium nicht wesentlich verändert. Das Chiasma war 1.5
lang, 1 Mm. hoch; die dünne Partie der hinteren Wand der Zwischen-
hirnbasis erstreckte sich vom Trichlerfortsatz aus 1,8 Mm. voi- dem
mittleren Schädelbalken in die Höhe. Der Trichlerfortsatz ging 1,2 Mm.
hinler dem Chiasma ühev <ler Grenze des mittleren und hinteren Drit-
theils der ol)eren Fläche der Hypophy.sis von der Basis des hifundibu-
lum ab, er war 1,.") Mm. lang, 0,8 dick. Seine Höhle stand wie fridier
mit jener des Infundibulum im Zusammenhang und erstreckte sich
durch seine ganze Länge; ihr Durchmesser betrug nahe dem Ursprung
0,03, nahe der Spitze 0,01 . Seine Epilhelbekleidung und die dieser
anliegende Zellenschicht verh.ielten sich wie früher, die peripherische,
homogene Schicht dagegen war mächtiger geworden ; sie enthielt eine
Anzahl von Capillarschlingen , welche von der Umgebung aus in sie
1) ViRCHow liat beliauptet (Entw. des Scliädolgruniles p. H), tiass die Clionlii
im zweiten Monat beim Mensclien sclion atioplii^t und niclit nieiir auffindl)ar sei.
Diese Beliauptung ist weder für den Mensclien noeli für das Schaf, Sciiwein oder
den ilund riolUig, wie sction (Iegenbai'r und Dursy iiezeigf haben.
2. I'chor Kiitwifkliinii- iiihI Biiii (Inr ll\|i()|ili\sis iiiiil des l'ioccssiis iiiCiiiiililiiili rcicliii. 389
eindiMUi^cn. Zu Itcidcii Seilen der lly|)()pliysis NcilieIVMi die 0,2 weilen
innoron (Jiiioliden , dci- liodeii der Siillelgnihe \\;ir eini^ononinien von
einem (),(> iMin. ni;i('lilii;eii, in slialVes |{ind(>L:e\\ ehe einizehellelen Neneii-
[)le\us.
Z\\o\ Siliiifl'iilns von 12 (lenlinieler l-;iiu;e erliiell ieli IVisch i:ennii,
iini sie inii l'jioli; zu injicireii. An dei' Scliiidellmsis wav die Verk.ilkijnti
erhoblic'h roilij;esclirillen. Die Ily})o|)liysis halle in ihrer Mille eine Möhe
von :i Mm. lu'i 0,<) Dicke, ;in den Seilen, welche (len Processus inl'un-
(hltidi umfasslen, eine Höhe von 2 Mm. bei 1,2 Mm. Dicke. Si(> enl-
s;indle eine Gruppe schmaler DrUsengiinge längs einer Anzahl schmaler
Arlerien l)is dichl an die hinlere Fläche des Chiasma. Ihre Driisensub-
slanz besland aus cylindrischen Schläuchen, sie waren zum Theil viel
kiirzei' als früher, in die Länge gezogenen Follikeln ähnlich. Mit Aus-
nahme einer beschränklen Anzahl am hinlern Umfang tler Drüs(^ lie-
gender Schläuche waien alle solid. Ihr Durchmesser schwankle zwi-
schen 0,01 und 0,0(). Sic waren umhüllt von einer zarlen Membi-ana
|)ropria , welcher bei den hohlen Schläuchen geschichletes (]\,Iinder-
t^pilhel aufsass. Die soliden Schläuche waren erfüllt von Zellen, \\(>lclie
zum Theil gewöhnlichen Cylinderepilhelien glichen und senkrecht zur
Mülle geslelil waren, zum grösseren 'i'heil spindelförmige odcM" polygo-
nale oder ganz unregelmässige Gestalt zeigten. Sie besassen alle einen
zailen Proloplasmakör[>er ohn(> ])eripherische Verdiclitung und giosse
rundliche, zwischen 0,00 'i und 0,Ü0() messende Kerne. Sic wurden
umgeben von dünnen Zügen theils fibrillärer, iheils aus spindellörmigen
Zellen bestehender Bindesuhstanz. In dieser verliefen Capillaren von
durchschnittlich 0,01, zwischen 0,00.} und 0,0JG schwankendem
F>urchinesscr, rhombisclK; Maschen von 0,04 Weile im Mitlei bildend.
Der Boden der Sattelgrube \\ar wie in dem vorigen Entwicklungssla-
dium von einem mächtigen, in einer Verliefung des Knorpels liegenden
Venenplexus erfüllt.
Die Verhältnisse dei" Zwischenhirnbasis waren im Wesenilichen
dieselben wie in dem vorigen Stadium, jedoch trat der mittlere Schä-
delbalken viel weniger über die Satlellehne vor als früher und in Folge
davon ging das Millelhirn in flacherem Bogen in das Zwischenhirn über.
Der Processus infundibuli ging I Mm. hinler dem Chiasma vom Infun-
dibidum ab, er war .\,'.) Mm. lang, an der Abgangsslelle 0,1 dick, seine
Dicke nahm in der Peripherie zu, so dass sie an der Spitze 0,S belrug;
«M- zeigte in Folge dason bereits die künftige Keulenform. Seine Höhle
ersireckle sich von jener des Zw ischeidiirns aus c-onliiuiirlich mit einem
Durchmess(M- \ on (l,ii:! bis 0,01 durch seine ganze Fänge. Dasc^lin-
drische l^fiilhel . welches das Lumen begrenzle. war etwas llacher als
390 VVillielni Müller,
früher, die dem Epithel folgende Lage rundlicher Zellen war gegen frü-
her verdünnt. Auch die peripherische , homogene Schicht hatte gegen
früher ihre Beschaffenheit merklich verändert. Die feinkörnige Sub-
stanz war durchsetzt von ganzen Zügen dicht gedrängter runder und
spindelförmiger Zellen , ähnlich jenen embryonalen Bindegewebes,
welche an die von der Umgebung in den Zwischenhirnfortsatz eintre-
tenden Capillaren sich anschlössen.
Ich habe endlich eine Anzahl von Embryonen des Menschen, Schafs
und Schweins von Ifi bis 18 Centimeter Länge untersucht, jene des
Schweins nach vorgängiger Injection. Die Ilypophysis umgab bei allen
hufeisenförmig das Ende des Processus infundibuU. Von ihrem vorde-
ren Ende erstreckte sich ein schmaler, conisch sich verjüngender Fort-
satz längs der vorderen Fläche des Processus infundibuli nach oben
und vorne gegen das Chiasma hin, es drangen ferner einzelne Ausläu-
fer der Drüsensubstanz von der hinteren und den seitlichen Flächen
aus in die oberflächlichen Schichten des anliegenden Processus infun-
dibuli ein. Sie war rings umgeben von einer dünnen bindegewebigen
Kapsel, welche mit den Gefässen zarte Fortsätze in das Innere entsandte.
Das Drüsenparenchym wurde durch letztere in eine grosse Zahl
schlauchförmiger Gebilde zerlegt. Der Durchmesser dieser Schläuche
schwankte zwischen 0,016 und 0,05, ihre Länge zeigte noch beträcht-
licheie Verschiedenheiten , so dass kürzere , der Kugelform sich annä-
hernde und längere gewundene Formen neben einander vorkamen.
Letztere bildeten bei allen Embryonen die Mehrzahl. Der grösste Theil
war solid, einzelne besassen ein ganz schmales, spaltförmiges Lumen;
nur am hinteren Umfang der Drüse fanden sich sowohl beim Menschen
als beim Schaf hohle , mit geräumigerem , scharf begrenztem Lumen
versehene Schläuche in geringer Zahl. Die Drüsengebilde waren um-
geben von einer zarten Membrana propria, dieser sass an den hohlen
geschichtetes Gylinderepilhel auf. Die soliden Schläuche uaren erfüllt
von Zellen, welche theilweise in der Peripherie Cylinderepithelien von
0,015 Länge bei 0,004 Dicke darstellten mit senkrechter Lagerung
gegen die Fläche der Membrana propria ; zum grösseren Theil zeigten
die Zellen, welche im Inneren lagen, quadratische oder polygonale oder
ganz unregelmässige Formen ; alle besassen einen , selten zwei rund-
liche Kerne von 0,0035 — 0,007 Durchmesser und einen sehr feinkör-
nigen , bisweilen in S})itze Fortsätze ausgezogenen Protoplasmakörper.
Die Interstitien der Drüsensubstanz wurden eingenommen von zarler,
netzförmig angeordneter Bindesubstanz und 0,006 — 0,016 weiten Ca-
pillaren, welche mit rhombischen, 0,03 — 0,05 weilen Maschen die
Drüsenschläuche umsp.innen. Die Arterien , von welchen sie gespeist
2. UebtT Entwicklung und liaii (Iit Hypopliysis und des Processus inl'nudibnli rorebii. 391
wurden, slainmtcii Ihoils aus kleinen, vom Boden der Satlelgrube aus
in die Drüse eindringenden Zweigen, theils aus einer Gruppe parallel
Ncriaufender Arterien, welche sich von der Pia mater aus längs des co-
niscluMi Forlsalzes, welchen die Drüse gegen dasGhiasnia hin enlsandle,
in deren Subslanx einsenkten. Die Venen, in welche sie übergingen,
niUndfU-n in einen dichten an den Seiten und am Boden der Satlelgrube
liegenden Plexus.
Die Zwischenhirnbasis war bei allen Embryonen verhältnissmässig
kurz, die Knickung an der Uebergangsstelle in das Miltelhirn un])edeu-
lend. DasTrigonum cinereum lag über dem Chiasma, die Lamina poste-
rior infundibuli zwischen Trichterfortsatz und den Ursprüngen der
Nervi oculomotorii ; die Corpora candicanlia markirten sich äusserlich
noch nicht deutlich. Der Processus infundibuli zeigte beim Schwein
eine Länge von 2,5, beim Schaf und Menschen eine solche von 4 Mm.,
seine IMcke betrug nahe dem Abgang 0,5 bis 0,8, sein Ende war knopf-
förmig bis zur Dicke von 1,1 angeschwollen. An seiner Abgangsstelle
vom Infundibulum setzte sich die H()hle des letzteren 0,5 weit in seiner
Mille fort, conisch sich verengernd und schliesslich spitz endigend.
Die Wandung iler Höhle war von Gylinderepilhel bekleidet. In dem
minieren Theil des Trichterfortsatzes war die Höhle bereits geschwun-
den, dagegen fanden sich einzelne Reste derselben im knopfförmig ver-
dickten Ende in Form spaltförmiger unregelmässig gebogener Hohl-
räume, deren Wandung von cylindrischem Epithel ausgekleidet war-
Das Gewebe des Processus infundibuli wurde gebildet von runden und
spindelförmigen kernhaltigen Zellen, welche jenen älterer Granulationen
duichaus ähnlich waren ; sie v\aren zum Theil in förmlichen Bündeln
angeordnel , welche sich ähnlich wie in Sarkomen in verschiedenen
Richtungen durchkreuzten. Zwischen den Bindegewebselemenlen ver-
zweigte sich ein regelmässige langgestreckte Maschen von 0,1 Länge
bei 0,04 Weite bildendes Capillarnelz, welches bereits alle Eigenschaf-
ten des bleibenden Capillargefässsyslems dieses Theils dai'bot (vergl.
Taf. X, Fig. 8j.
3) Vergleichend-anatomischer Theil.
Aus der Classe der Acrania untersuchte ich Amphioxus lanceola-
lus. Dieses Thier besitzt weder eine Hypophysis noch einen Processus
infundibuli, weil in Folge der Verlängerung der Chorda über das Ende
des centralen Nervensystems hinaus die Bedingungen zur Entwicklung
beider Organe fehlen.
Aus der Classe der Monorrhina habe ich Myxine glutinosa und
Bd. VI. 3. 37
392 Wilhelm Möller,
Petromyzon fluviatilis untersucht. Die Untersuchung hat ergeben, dass
die Angaben , weJche Joh. v. Müller über die Hypophysis und das In-
fundibuluni dieser Thiere gemacht hat, einer erheblichen Berichtigung
bedürfen.
Nach Joh. v. Müller i) zeigt die dritte Abtheilung des Gehirns von
Myxine ihre Lappen an der un leren Fläche wenig isolirt, indem vorne
zwischen ihnen eine rundliche, breite Erhabenheit hervortritt, welche
nur durch sehr seichte Vertiefungen von ihm getrennt ist. Diese un-
paare mittlere Erhabenheit giebt hinter dem Ursprung des Sehnerven
den Stiel der Hypophysis ab. Sie ist wie das ganze Gehirn solid und
liegt in einer Vertiefung des fibrösen Theils der Basis cranii.
Ich habe zur Prüfung dieser Angaben dieselben drei Exemplare
von Myxine glutinosa verwandt, welche zur Untersuchung der Chorda
gedient hatten. Die Methode, welche ich benutzte, war jene der succes-
siven Schnitte , und zwar zerlegte ich zwei der disponibeln Myxinen-
köpfe in Längs-, einen in Querschnitte. Das Zwischenhirn zeigte an
seiner oberen Fläche eine seichte Längsrinne, an seiner unteren hinter
der Abgangsstelle der dünnen Sehnerven eine flache Hervorragung,
von welcher ein niedriger , aber breiter Fortsatz in der Richtung nach
rückwärts abging. Hinter dieser Vorragung war das Zwischenhirn von
dem Mittelhirn durch eine 0,4 hohe, 0,35 lange Querfurche geschieden;
in dieser auf dem Längsschnitt dreieckigen Furche erhob sich von der
Schädelbasis aus die Arteria basilaris , von fetthaltigem Bindegewebe
umhüllt, um an der Uebergangsstelle des Mittel- in das Zwischenhirn
ihre Endäste abzugeben. Letzteres zeigte 0,5 Mm. unterhalb seiner
oberen Fläche eine 0,03 weite, nach rückwärts mit dem Sinus rhom-
boideus communicirende Höhle, welche nach vorne in der Mitte des
Zwischenhirns blind endigte und von einer einfachen Cylinderepithel-
lage ausgekleidet war. Von dieser Höhle aus Hess sich in der Richtung
nach abwärts eine feine Linie verfolgen, längs welcher beiderseits kern-
haltige runde Zellen dicht gedrängt lagen. Ich vermuthe, dass sie die
Richtung anzeigte, in welcher der obliterirte Theil der Zwischenhirn-
höiile früher verlaufen war. 1 Mm. unterhalb der Höhle wich diese
Linie auf Querschnitten zu einem feinen Spalt auseinander, welcher
nahe der unteren Fläche des Zwischenhirns rasch sich erweiterte. Auf
Längsschnitten zeigte sich, dass das untere Drittheil der ursprünglichen
Zwischenhirnhöhle eine in flachem , nach rückwärts convexem Bogen
nach abwärts sich erstreckende Spalte darstellte , welche von kurzem
1) Vergleichende Neurologie der Myxinoiden p. 9.
2. Ueber Entwicklung und Bau der Hypophysis und des Processus infundibuli ceiebri. 393
Cylinderepithel begrenzt war. Diese SpalU' war selir eng, so dass di(^
gegenüberliegenden Wandungen nur 0,003 bis 0,008 Mm. von ein-
ander entfernt waren. Nahe der unleren Fläche des Zwischenhirns
wichen die Ränder der Spalte aus einandei-, um die llühle des Infun-
dibulum zwischen sich zu fassen. Sie war ringsum von Cylinderepithel
ausgekleidet, ihre Höhe bestimmte ich zu 0,14, ihre Hreile zu 0,24,
ihre Länge zu 0,25. Auf Längsschnitten hatte sie die Gestalt eines Drei-
ecks mit nach rückwärts liegender Spitze, auf Querschnitten hatte sie
in ihrer vorderen Hälfte die Gestalt eines spitzwinkligen Dreiecks, in
ihrer hinteren jene einer (lachen Ellipse. Erstere entsandte an ihrer
unteren Fläche einen nach rückwärts gerichteten Fortsatz, den Proces-
sus infundibuli. Er lag in einer Vertiefung der fibrösen Schädelbasis,
welche, durchschnittlich 0,06 dick, längs seines Verlaufs auf 0,02 re-
ducirtwar, und erstreckte sich von der Abgangsstelle der Sehnerven
nach rückwärts bis nahe zu dem Punkt, an welchem die Basilararterie
von der Schädelbasis sich erhob, um in die Umbeugungsstelle des Mit-
lei - in das Zwischenhirn einzutreten, d. h. bis zur Abgangsstelle des
IVüheren mittleren Schädelbalkeu (vergl. Taf. IX, Fig. 8). Seine Länge
betrug 1,"?, seine Breite 0,7, seine Höhe 0,1 Mm. Er war in ganzer
Ausdehnung hohl, die Höhle stellte einen an der Abgangsstelle 0,015
hohen, gegen die Peripherie sich verflachenden Spalt vor, sie stand
durch eine 0,06 weite trichterförmige Oeffnung mit der Höhle des In-
fundibulum in Verbindung. Die Wandung des Processus infundibuli
war gebildet von einer einfachen Lage cylindrischen Epithels , welches
0,014 hoch, 0,005 bis 0,008 breit, mit glänzendem, hie und da Resle
von Cilien zeigenden Saum gegen das Lumen sich absetzte. Die Epi-
thelzellen entsandten nach der Peripherie fadenförmige Fortsätze, welche
die umgebende homogene Schicht senkrecht durchsetzten. Letztere
war am Ursprung des Processus infundibuli 0,036 dick, um sich rasch
bis auf 0,012 zu verschmälern. Sie war äusserst feinkörnig, schwach
IJchtbrechend und nur an den dickeren Stellen mit einzelnen runden
Kernen versehen. Sie setzte sich in die homogene Bandschichte derZwi-
schenhirnbasis continuirlich fort. Letzlere bestand in der Umgebung des
Infundibulum aus dicht siehenden runden Kernen von 0,008, sämmtlich
mit Proloplasmahöfen versehen, welche an den untersuchten Weingeisl-
präparaten eine gegenseitige Sonderung nicht erkennen Hessen ; dazwi-
schen lagen spärliche Ganglienzellen mit spitzen Proloplasmaforlsätzen.
Die Chorda endete unterhalb des Mittclhirns mit stumpfer Spitze,
ihr Ende war von einem lebhaft grünen Hyalinknorpel umfasst; an
diesen sehloss sich dichtes fibröses Bindegewebe an , welches die vor-
dere Partie der Schädelbasis bildete. Länüs der unleren Fläche der
394 Wilhelm Müller,
letzteren verlief der Nasenraehengang ; die hohen Leisten , welche die
Schleimhaut seiner Decke im vorderen Abschnitt bildete, flachten sich
unter dem vorderen Gehirnende rasch ab, um alsbald vollständig zu
verschwinden. Die obere Wand des hinteren Abschnitts war in Folge
davon flach. 0,03 dick, sie bestand aus einer dünnen Lage fibrösen
Bindegewebes und war von geschichtetem Pflasterepithel überzogen.
Unterhalb der verdünnten Stelle der Sciuidelbasis, \^elcher der Proces-
sus infundibuli auflag, lag zwischen Schädelwand und Wand des Nasen-
rachengangs die Hypophysis in Form eines flachen drüsigen Gebildes
(vergl. Taf. IX, Fig. 8. /) . Ihr Verlauf war jenem des Processus infun-
dibuli parallel , demgemäss lag ihr hinteres Ende nahe unter der Ab-
gangsstelle der Basilararterie (des mittleren Schädelbalken), ihr vorde-
res dicht hinler der Abgangsstelle der Sehnerven, ihre Länge bestimmte
ich zu 1,2, ihre Breite zu 1, ihre Dicke zu 0,1 Mm. Sie bestand aus
rundlichen und in die Länge gezogenen Hohlräumen von 0,02 bis 0,04
Durchmesser , welche aus einer dünnen homogenen Membrana propria
und die Höhlung erfüllenden quadratischen oder polygonalen kernhal-
tigen Zellen von 0,007 — 0,0i Durchmesser bestanden. Die Mehrzahl
der Räume war solid, einzelne zeigten ein schmales centrales Lumen.
Die Interstitien des Drüsengewebes waren erfüllt von strafTen , massig
dicken Bindegewebszügen mit Gefässen (Taf. IX, Fig. 7). Die Drüse
besass keinerlei Verbindung mit dem unterliegenden Rachenepithel.
Myxine glutinosa ist das einzige Thier von allen untersuchten, welches
die ursprüngliche Lagerung der Hypophysis über der oberen Rachen-
wand dauernd beibehält.
Bei Petromyzon liegt nach Jon. v. Müller ') dicht hinter dem Ur-
sprung des Sehnerven an der Basis ventriculi tertii eine blasige, runz-
lige, längliche Hervorragung an. Es ist die hohle Hypophysis. Sie ist
sehr gross, leicht zerstörbar und leicht hat es den Anschein, als ob sich
an ihrer unteren Fläche eine Spalte befinde, welche aber Jon. v.MfiLLER
für nicht natürlich hält. Die Höhle der Hypophysis steht durch eine
Verengerung mit der Höhle des dritten Ventrikels in Verbindung, sie
liegt in der zusammengezogenen Stelle, welche die Hypophysis mit der
Basis des dritten Ventrikels in Verbindung setzt.
Es lässt sich ohne Schwierigkeit zeigen, dass auch für dieses Thier
die Angaben Joh. v. Müller's irrthümlich sind. Bei der gewöhnlichen
Lamprete fand ich das Vorderhirn in zwei seitliche Hälften getrennt,
beide mit horizontal liegendem Ventrikel von 0,15 Höhe bei 0,35 Breite
versehen. Sie standen durch einen unpaaren mittleren Hohlraum mit
1) Vergleichende Neurologie der Myxinoiden p. 32 und 37.
2. Ucber Eiitwickliiiig und Hau der Hypopliysis und des Pioccssii,^ iulundilinll ctTfltri. 395
der schmalen , aber nach oben und unten stark verlängerten Höhle des
Zwischenhirns im Zusammenhang. Letztere zeigte nach oben eine dünn-
wandige, nach vorne gerichtete Verlängerung, deren ObeidäclK^ herz-
förmig ausge])uchtet war, in der Ausbuchtung lag die dunkel pigmen-
liite Epiphysis. Die Basis des Zwischenhirns liess zwei Al)theilungen
untersclieiden, eine vordere, das Trigonum cinereum, und eine hintere,
das Infundibulum. Der Mitte der unteren Wand des Trigonum cine-
reum war das Chiasma angefügt in Form eines 0,35 hohen, 0,1 dicken,
mit seiner oberen Hälfte fast rechtwinklig nach rückwärts umgeliogenen
Körpers. Das Tiigonum cinereum entsandte vor dem Chiasma eine
zweilappige, hohle, dünnwandige Ausstülpung nach abwärts , welche
über den an der Vorderhirnbasis verlaufenden Carotiden lag ; durch
das Chiasma wurde sein Boden aufwärts gedrängt, um alsl)ald hinter
demselben wieder herabzusteigen. Das Herabsteigen erfolgte wegen
der Krümmung des Chiasma schic.'f nach unten und vorne, so dass die
Höhle hier einen kurzen Recessus bildete. Sie stand allenthalben mit
dem dritten Ventrikel in freier Communication, der dünne Boden ihres
hinteren Abschnitts lag der vorderen Hälfte der Hypophysis an. Rück-
wjirts ging das Tuber cinereum untei" Verdickung der Seitenwände und
Erweiterung der Höhle in das Infundibulum über. Dieses stellte eine
nach unten und rückwärts gerichtete Verlängerung des Zwischcnhirn-
bodens dar. Es zeigte dicke Wandungen; sein Boden entsandte in sei-
nem vorderen Abschnitt nach abwärts einen dünnwandigen , flachen,
hohlen Fortsalz, den Processus infundibuli, welcher der oberen Fläche
der hinteren Hälfte der Hypophysis fest ansass. Die Höhle des Infun-
dilndum zeigte in ihrem ganzen Verlauf nach rückwärts dreieckigen
Querschnitt mit oben liegender Spitze, sie war 0,16 breit, 0,1 hoch,
0,.') lang. Sie stand an ihrem Beginn mit jener des überlicgenden drit-
ten Ventrikels im Zusanunenhang, wurde aber alsbald durch das Auf-
treten einer mächtigen Decke von ihr gelrennt. Am Boden stand sie
durch einen schmalen Spalt mit der 0,33 breiten und ebenso langen,
abei- nur 0,0S hohen Höhle des Processus infundibuli in Communication.
Die Wandung dos Infundibulum wurde gebildet nach Innen von cylin-
drischem Epithel, tiarauf von einer mehrfachen Lage kernhaltiger run-
der Zellen, deren Protoplasma zum Theil sehr feine Fortsätze entsandte,
und endlich von einer äusserst feinkörnigen Andeutung radiärer Strei-
fung zeigenden Rindenschicht. Die Dicke der Epithelschicht betrug
0,01, jene der l)eiden äusseren Schichten je 0,08. Am Uebergang auf
den Processus infundibuli verdünnten sich letztere rasch, die Zellen-
schicht keilte sich vollständig aus, so dass die unlere der Hyi)ophysis
aufsitzende Wand dieses Fortsatzes nur 0,012 bis 0,02 Wanddicke
396 Wilhelm Müller,
zeigte. Er bestand aus dem seine Höhle continuirlich auskleidenden
Epithel und einer dünnen feinkörnigen Rindenschicht, welche von
fadenförmigen Fortsätzen der Epithelien senkrecht durchsetzt war.
Hinter dem Infundibulum zeigte die Gehirnbasis eine quere, 0,5 lange,
0,3 hohe Furche, über welcher Mittel- und Zwischenhirn im Bogen in
einander übergingen. In diese Furche erstreckte sich ein an raniificir-
len Pigmentzellen reicher Fortsatz der Hirnhäute.
Die Chorda endete wie bei Myxme conisch sich verjüngend unter-
halb des Mittelhirns. Ihr Ende war von einem lebhaft grünen, theil-
weise verkalkten Ilyalinknorpcl umfasst. an welchen der vordere fibröse
Theil der Schädelbasis sich anschloss. Letzterer war 0,4 dick und
zeigte hinter den Sehnervenursprüngen eine Vertiefung seiner Ober-
fläche, so dass die Dicke auf 0,2 reducirt war. In dieser Vertiefung lag
die Hypophysis. Ihr vorderes stumpfes Ende erstreckte sich bis dicht
an die Eintrittsstelle der Carotiden in den Binnenraum des Schädels,
das hintere reichte, sich verjüngend, bis 0,5 Mm. vor das Ghordaende.
Ihre obere Fläche war von dem überliegenden Zwischenhirnboden durch
eine straffe, 0,016 mächtige Bindegewebslamelle getrennt. Ihre Länge
betrug 0,5, ihre Breite 0,7, ihre Höhe 0,12 (vergl. TaL IX, Fig. 9). Sie
war umgeben von einer dünnen Bindegewebskapsel , welche gefäss-
führende Forlsätze in das Innere entsandte. Durch diese wurde das
Drüsenparenchym in eine Anzahl kugeliger und in die Länge gezogener
Räume von 0,02 — 0,04 Dicke zerlegt. Sie besassen eine dünne Mem-
brana propria und waren im Innern erfüllt von quadratischen und po-
lygonalen kernhaltigen Zellen.
Aus der Glaste der Fische untersuchte ich an erwachsenen Thieren
von Plagiostomen Scymnus lichia und Raja clavata , von Teleostiern
Cyprinus carpio. Die Hypophysis lag bei ersterem Thier mit ihrer Haupt-
masse über dem bindegewebigen Operculum der Sattelgrube , sie ent-
sandte nach vorne einen zungenförmigen , dem Boden des Infundibu-
lum anliegenden Fortsatz. Das Organ besass eine dünne bindegewebige
Kapsel, welche zarte gefässführende Ausläufer an das Innere abgab.
Sie zerlegten das Drüsenparenchym in verschieden lange, etwas gewun-
dene cylindrische Massen von 0,12 bis 0,2 Durchmesser. Sie besassen
eine dünne Membrana propria und waren entweder gänzlich oder unter
Freilassung eines spaltartigen centralen Hohlraums erfüllt von cylindri-
schen Epithelien. Letztere waren geschichtet, alle sehr lang, von 0,016
bis 0,08 messend bei 0,003 bis 0,007 Dicke. Sie bestanden aus einem
cylindrischen , den Kern einschliessenden , mit Garmin deutlich roth
sich imbibirenden Protoplasmakörper und entsandten gegen die Peri-
pherie der Schläuche ungemein blasse, mit Garmin nur wenig sich fär-
2. Ueber Entwicklung und Bau der Hypopliysis und des Processus inrundibuli ccrfliri. ;i97
bende Fortsätze, welche in senkrechter Richtung dicht iiiioinrindcrlic-
j4ond bis zur Mcnibranii propria sich erstreckten. Sie l>edingten das
Auftreten einei- ;uif den ersten Blick homogen erschein(>iuh'n Hinden-
schicht an den Sc^hlauchen, welche kt-rnlos war, bei stärkeren Vergrös-
serungcn und Isolationsversuchcn aber die Zusanimenselzung aus den
ein/ehicn den kernhaltigen Kpitlielien angehörenden Protophisniafort-
sätzen ohne Schwieligkeit erkennen iiess (vergl. Taf. IX, Fig. 10).
Das Zwischenhirn Iiess auch hiei- an seiner Basis einen vorderen Ab-
schnitt, Trigonuin cinereuin, und einen geräumigeren hinteren, das
Infundibulum, unlerscheidcMi. Letzleres zeigte ähnliche Verhältnisse
w ie die älteren Embryonen von Acanthias ; es entsandte von seiner
hinteren und unteren Fläche einen dünnen /,w(Mlap])igen , der oberen
Fläche der Hypopliysis anliegenden Fortsatz, dessen Wandung sehr ge-
fässreich war, den Saccus vasculosus.
Bei Haja cla\ala ') lag die llypophysis als ein gelblicher Körper in
einer llachcn Vertiefung des Kcilbcinknorpels. Vor ihr traten die bei-
den Carotiden in den Schädel ein , über ihren seitlichen Flächen ver-
liefen die beiden Basilararterien , deren strahlig divergirende Kndäste
die BückenOäche des Voi'derhirns versorgten. Sie bestand aus einem
breiten ilachen Hauplkörper von rundlich dreieckiger Gestalt und einem
von diesem aus nach vorne sich erstreckenden zungenförmigen Fort-
satz, welcher dicht hinter dem Chiasnia mit kolbig verdickter Spitze
endigte. Der Bau beider Abschnitte war übereinstimmend. Die Drüse
wurde umgeben von einer dünnen bindegewebigen Kapsel, von wei-
cher aus zarte Forlsätze in das Innere sich erstreckten. Sie führten
Arterien, welche in den Interslilien der Drüsensubstanz zu einem Netz
unverhältnissmässig weiter, im Mittel O.Oo messender Capillaren sich
auflösten, um schliesslich in gleichfalls sehr geräumige Venen über-
zugehen. Die Drüsensubstanz bestand aus stark gewundenen, vielfach
anastomosirenden Schläuchen von 0,07 bis 0,0 lo Durchmesser'^). Sie
waren umgeben von einer zarten Membrana propria und im Innern bis
auf ein schmales Lumen erfüllt von iheils cylindrischen, theils spindel-
förmigen und rundlichen Epithelien.
Nachhirn und Mittclhirn dieses Thieres waren enorm entwickelt.
Ersleres zeigte an seiner oberen Fläche die beiden neben der Mittellinie
verlaufenden keulenförmig gestalteten Lobi nervi trigemini, seitlich die
in Windungen gelegten Lobi nervi vagi. Das Älittelhirn war an seiner
1) Icti verdankte Herrn Di'. G. W. Focke in Bremen die Möglichkeit, zwei er-
wachsene Exemplare von Raja clavata frisch zu untersuciien.
2, Diese Schiaiiclie iial zuerst Alexander Ekler beim Lachs gesellen,
398 Wilhelm Müller,
oberen Fläche durch eine quere Furche , in welcher die beiden Nervi
trochleares entsprangen , vom Nachhirn getrennt , am vorderen Ende
grenzten seine beiden Halbkugeln mit steilem Abfall an die rudimen-
täre Decke des Zwischenhirns ; an seiner Basis setzte es sich mit einer
seichten, durch den Abgang der Lobi infundibuli bedingten Furche
vom Zwischenhirn ab. Die Basis des letzteren Hess auch hier einen
vorderen Abschnitt , Trigonum cinereum , dessen Basis vom Ghiasma
nervorum opticorum fast vollständig bedeckt war, und einen hinteren,
das Infundibulura , unterscheiden. Letzteres besass eine rhombische,
unverhältnissmässig enge, schief von oben und vorne nach unten und
rückwärts sich erstreckende Höhle, seine Wand war ungemein dick
und bildete zu beiden Seiten der Mittellinie ein Paar halbkugelige solide
Hervorragungen, welche der Lage nach den Lobi infundibuli s. inferio-
res der Haie entsprachen. Von der Mitte der hinteren Fläche des Infun-
dibulum ging nahe der Basis ein umfangreicher zweilappiger Fortsatz
ab, der Saccus vasculosus. Dieser Fortsatz lag in Form eines Zwerch-
sacks quer über der oberen Fläche der Hypophysis da , wo der Körper
der letzteren in die zungenförmige Verlängerung überging, er zeigte an
seiner oberen Fläche zwei schmale , durch den Verlauf der Nervi ocu-
lomotorii bedingte Furchen, seine Wandung war sehr dünn, fein höcke-
rig und im frischen Zustand intensiv braunroth ; sein Inneres war hohl,
die Höhle stand mit jener des Infundibulum in ununterbrochenem Zu-
sammenhang. Am gehärteten Präparate zeigte der Saccus vasculosus
eine Wanddicke von 0,3 — 0,4. Die Wandung wurde nach Innen gebil-
det von einer 0,08 dicken mehrfachen Lage von Cylinderepithel , wel-
ches in jenes der Höhle des Infundibulum sich fortsetzte, daran schloss
sich eine dünne Lage fibrillären Bindegewebes. Dieses Bindegewebe
enthielt einen Plexus sehr dünnwandiger, durchschnittlich 0,2 weiter
Gefässe von solcher Mächtigkeit, dass zwischen den einzelnen Gefässen
nur dünne Züge an braunen Pigmentkörnchen reicher Bindesubstanz
nachweisbar waren.
Bei dem. Karpfen lag die Hypophysis als gelblicher ellipsoidischer
Körper in der zwischen Alisphenoid und Orbitosphenoid (Huxley) be-
findlichen Grube. Ihre obere Fläche zeigte eine quere Furche. Der vor
dieser liegende Abschnitt lag unterhalb des Tuber cinereum, der hinter
ihr liegende lag dem gefässreichen Boden des Infundibulum an. Sie
besass eine dünne bindegewebige Kapsel, welche zarte, die Gefässe
begleitende Fortsätze an das Innere abgab. Das Parenchym bestand
theils aus kurzen , der Kugelform sich annähernden , vorwiegend aber
aus langgezogenen, etwas gewundenen Schläuchen von 0,02 — 0,05
Dicke. Sie bestanden aus einer dünnen Membrana propria und waren
2. lieber Eiilwicklimn und Ran der Hypopliysis und des Processus iufuudibuli cerebri. 399
im Inneren erfülll von Iheils cylindrischen , Iheils polygonalen, llieils
ganz uniegelmässig gestalteten Zellen. Das Volum des Nachhirns war
jiiR'h bei diesem Thier Ix'triiehllich, es zeigte in der Mittellinie den un-
paaion Lohns nervi trigomini (Lohns impar) , seitlieh die paarigen
(lachen Anschwellungen der Lohi nervi vagi. Das Miltelhirn war un-
verhältnissmässig gross und bestand aus einem hinteren, id>er den
Lohns nervi trigemini nach rückwärts, und einem vorderen, über das
Zwischenhirn nach vorne sich wölbenden Lappen. Die Decke des Zwi-
schenhirns war auch hier rudimentär, desto entw ickelter war die Basis.
Letztere Hess ihre beiden Abschnitte, das vorne liegende Trigonum ci-
nereum und das hinten liegende Infundibulum mit den paarigen Lobi
infundibuii s. inferiores schon äusserlich unterscheiden. Dem vorderen
Ende des Trigonum cinercum lag das Chiasnia nervorum opticorum an,
der der Lamina terminahs entsprechende Abschnitt war ausgezeichnet
durch eine Lage grosser multipolarer, pigmentreicher Ganglienzellen,
bis zu deren Nähe ein Theil der Olfactoriusfasern sich verfolgen liess.
Das Trigonum cinereum selbst hatte prismatische Gestalt, seine Höhle
communicirte vorne mit jener des dritten Ventrikels, sie war keilförmig
gestaltet, ziemlich enge und am Boden nur durch eine dünne Ependym-
lamelle von der Pia mater getrennt. Sie erweiterte sich am hinteren
E.nde rasch zu der auf dem Querschnitt rhombisch gestalteten, l,:i Mm.
breiten, I hohen, 1,5 langen Höhle des Infundibulum. Diese endete
nach rückw ärts blind , nach oben war sie durch eine mächtige Decke
vom dritten Ventrikel geschieden, nach unten setzte sie sich durch einen
schmalen Spalt im Boden des bifundibulum in die Höhle des kurzen,
über die Gehirnbasis nicht vorspringenden ^j Saccus vasculosus fort.
Dieser war 0,35 weit, dünnwandig, eine Höhle hatte zwei halbmond-
förmige, seilliche Ausläufer, welche sofort an die zweilappige Gestalt
des viel mächtiger entwickelten Saccus vasculosus der Haie und Rochen
erinnerte. Der Boden des Processus infundibuii war dünn, nur aus
cylindrischcm Epithel und einer feingranulirten, senkrecht gestreiften
Schicht bestehend, die seitlichen Wände nahmen nach oben etwas an
Dicke zu, indem eine Lage runder Zellen zwischen diese beiden Lamel-
len sich einschob. Die Pia, welche den Saccus vasculosus überzog, war
1) .\us diesem Umstände erklärt es sich, dass Gotische, Klaatsch und Stan-
Mis den Saccus vasculosus bei einer Anzaiil von Teleostiern, z. B. Esox, niclit
haben finden können. Er ist woiil bei allen vorlianden, aber nicht so voluminös
svic bei Haien und Rochen, oder so lange, wie er nach den Beschreibungen und
Abbildungen von Camper und Kühl bei Lophius ist. Bei den Cyprinoidcn vermag
nur die mikroskopische Untersuchung gehärteter Präparate über seine Anwesenheit
Aufschluss zu geben.
400 Wilhelm Müller,
gefässreicher als in der Umgebung. Den Seitenflächen des Infundibulum
sassen die paarigen Lobi infundibuli s. inferiores (tubercula reniformia
V. Haller) auf. Sie hatten bohnenförniige Gestalt, ihre hinteren Enden
besassen an ihrer medianen Fläche walzenförmige Vorsprünge, mittelst
welcher sie sich in der Mittellinie berührten, die vorderen Enden wichen
auseinander, um das Trigonum cinereum zwischen sich zu fassen. Die
beiden Enden der Lobi infundibuli waren frei ; im weiteren Verlauf
ging die Innenfläche jedes Lappens eine Verwachsung mit der lateralen
Fläche des Trigonum cinereum ein, um alsbald weiter rückwärts das-
selbe zu überwölben und mit dem oberen Abschnitt des Zwischenhirns
sich zu verbinden, welche Verbindung bis zur Abgangsstelle der Lobi
infundibuli vom Zwischenhirn sich erhielt. Beide waren hohl ; ihre
Höhlen waren halbmondförmig gestaltet und lagen der medianen Fläche
näher als der lateralen; sie communicirten durch 0,2 Mm. weite Gänge
mit der Höhle des Infmulibulum und erstreckten sich von der Comnm-
nicationsstelle aus in Form kurzer Vorderhörner nach vorvvärts, sowie
in Form beträchtlich längerer Hinterhörner nach rückwärts bis nahe an
das Ende der Trichterlappen. Sowohl die Höhle des Infundibulum als
jene der Lobi infundibuli waren von mehrschichtigem Cylinderepithcl
ausgekleidet, das E[)ithcl war rings umgeben von einer im Mitlei Ü,Oi
dicken Schicht von Zellen , welche theils rund , klein , aus Kernen von
0,004 — 0,006 und sehr dünnem Protoplasmahof bestehend, theils
grösser und mit spitzen gegen die Peripherie gerichteten Forlsätzen
versehen waren. Der übrige Bau der Lobi infundibuli war einfacher
an ihrer Basis und der unleren Partie ihrer medialen Fläche als an der
lateralen Fläche und der Decke. Erstere zeigte eine mächtige periphe-
rische Schicht feinkörniger, einzelne runde Kerne führender Andeutung
einer radiären Streifung darbietender Substanz. In den lateralen Par-
tien und der Decke fand sich gleichfalls eine mächtige Schicht feinkör-
niger Substanz , sie war aber viel reicher an Zellen und namentlich an
Nervenfasern , welche in starken Bündeln von den Hirnschenkeln aus
fächerförmig sowohl nach den Seiten als in der Richtung nach voi'ne
und rückwärts ausstrahlten. An sie schloss sich eine mehrfache Schicht
kleiner kegelförmiger Ganglienzellen an, welche dicht gedrängt bis an
die Peripherie heranreichten und feine Fortsätze gegen das Innere ent-
sandten, durch welche diese ganze Schicht ein radiär gestreiftes Anse-
hen erhielt 1).
1) Durch die hierund in dem embryologischen Theil gegebenen Beschrei-
bungen berichtigen sich einige Irrthümer, in welche v. Miclucho-Maclav verfallen
ist, dessen Arbeit (Beiträge zur vergleichenden Neurologie der Wirbelthiere, Leip-
2. lieber Eutwickluiig und Bau der Hypophysis und des Processus iiitundibuli cerebri. 401
Aus der Ciasso der Amjihibien uiUcisuchle ich den Landsalatiian-
(i(M- lind den Frosch. Abgesehen von der beträchtlicheren Grösse der
Zeilelerncnte beim Salamander war der Befund bei beiden Thieren so
nahe übereinstimmend, dass ich micii auf die Schildciuni; des Verhal-
tens der Hypophysis und des Infundibuluni beiu) Frosch beschränke,
v^chon IIaivnover ') und Rktssner'-] haben bei diesem Thier einen klei-
neren oberen, zugleich vorne liegenden, und einen grösseren unleren
Lappen an der Hypophysis unterschieden und Reissner hat die weitere
Angabe hinzugefügt, dass über dem oberen Lappen gefasshalliges
Bindegewebe liege. Die Beobachtungen, welche ich an frischen und
gehärteten Injectionspräparaten gewonnen habe, stimmen mit den An-
gaben dieser beiden Anatomen überein und gestatten , sie in einigen
Punkten zu erweitern.
Der Hauptkörper der Hypophysis lag horizontal in der Sattelgrube,
voine begrenzt vom Ende des rudimentären Lobus infundibuli , rück-
wärts von der Abgangsstelle der Arlcria basilaris von der Schädelbasis.
Sie hatte die Gestalt eines flachen EUipsoids und war umgeben von
einei" dünnen bindegewebigen Kapsel. Letztere gab zarte, die Gelasse
in Form einer lockeren Adventilia umhüllende Fibrillenzüge an das
liniere ab. Die Arterien traten am oberen Uinfang etwas vor der Mitte
in eine leichte Vertiefung der Oberfläche ein. Sie lösten sich rasch in
Capillaren auf, welche, 0,006 — 0,018 messend, ein rhombisches Ma-
schennetz um die einzelnen DrUsenabtheilungen bildeten. Letztere
waren iheils der Kugelform sich annähernde, zum überwiegenden Theil
langgezogene, etwas gewundene Schläuche von 0,025 — 0,05, beim
Salamander von 0,03 — 0,07 Durchmesser. Sie besassen eine zarte
Membrana propria und waren im Inneren erfüllt von theils senkrecht
zur Hülle gestellten , cylindrischen Epithelien gleichenden, theils von
zig 1870) mir erst nach Abschiuss dieser Abhandlung zukam. Dass die Basis des
Zwischenhirns aus zwei histologisch ganz verschiedenen Abschnitten besieht, einem
vorderen, dem Trigonum cinereum , und einem hinteren, dem Infundibulum mit
den Lohi infundüjuli und dem Saccus vasculosus, was von Haller bis aufSiANNius
keinem Beobachter entgangen ist, iiat v. Miclucho übersehen. Die Hypophysis der
erwachsenen Plagiostomen habe ich entgegen v. Miclucho stets solid gefunden.
Den zungenförmigen Fortsatz, zu welchem die Hypophysis dieser Thiere gegen das
Chiasma hin sich verlängert, erklärt v. Miclucho für einen Theil des Infundibulum.
Die Enlw icklungsgeschichie und die mikroskopische Untersuchung lassen über des-
sen Natur keinen Zweifel.
1) Adolphe Hannover, Recherches microscopiques sur le Systeme nervcux.
p. 20.
2) E. Reissner, Bau des centralen Nervensystems der ungeschwänzten Batra-
chicr. Dorpal 1864. p. 43 und 94.
402 Willielin Müller,
spindelförmigen und polygonalen Zellen niil zartem Proloplasmakörper
und einem, seiton zwei grossen runden Kernen (vergl. Taf. X, Fig. 3).
Ueber der Eintrittsstelle der Arterien lag der beträchtlich kleinere
Oberlappen. Er war blasser als der untere und bestand aus einem
schmalen Mittelstück und keulenförmig angeschwollenen seitlichen
Enden. Er war gleichfalls von einer dünnen Kapsel umgeben, welche
durch dünne Fortsätze die Drüsensubstanz in durchschnittlich 0,05
dicke, meist senkrecht stehende Gruppen sonderte, bestehend aus einer
Membrana propria und dicht gehäuften, vorwiegend polygonalen Epi-
Ihelien. Ueber diesem Lappen lag ein dichter Arterienplexus, welcher
von anastomosirenden Zweigen der Basilaris und Carotis gebildet
wurde, er gab die Arterienzweige für beide Lappen der Hypophysis
ab ; seine Interstitien wurden von tibrillärem Bindegewebe ausgefüllt.
Ein zweiter kleinerer Gefässplexus fand sich zwischen Ende des Lobus
infundibuli und vorderem Rand des Unterlappens der Hy{)ophysis (vergl.
Taf. X, Fig. 3).
Mittel- und Nachhirn zeigten bei beiden Thieren im Verhältniss zu
den Fischen eine erhebliche Reduction, dafür hatte das Cerebellum an
Masse gewonnen. Das Zwischenhirn war von dem Miltelhirn an seiner
oberen Fläche durch eine quere Furche, an der unteren durch den das
Ende der Arteria basilaris beherbergenden Einschnitt geschieden. Die
Basis des Zwischenhirns Hess die beiden Abschnitte, das vorne liegende
Trigonum cinereum und das hinten liegende Infundibulum unterschei-
den. In die untere Wand des Trigonum cinereum war ganz ähnlich
wie bei Petromyzon das 0,7 hohe, mit seiner oberen Partie nach rück-
wärts un)gebogene Chiasma eingekeilt. Die Wandung des Trigonum
cinereum wurde dadurch emporgedrängt und seine Höhle in einen vor-
deren und einen hinteren Abschnitt zerlegt. Der vordere zeigte am
Boden unmittelbar vor dem Chiasma eine zweilappige Ausbuchtung
von 0,3 Länge bei 0,2 Breite mit keilförmig gestaltetem Mittelstück und
dünner Wand , ganz ähnlich der Ausbuchtung , welche das Trigonum
cinereum vom Petromyzon an der gleichen Stelle zeigt. Der hintere
Abschnitt der Höhle des Trigonum cinereum bildete in Folge der Krüm-
mung des Chiasma einen nach vorne gerichteten Recessus und stand
oben mit dem dritten Ventrikel in Conununication. Die Communica-
tionsstelle war ein kurzer Spalt, da das alsbald sich anschliessende In-
fundibulum durch das Auftreten einer Commissur zwischen den vor-
dersten Abschnitten des Mittelhirns von» dritten Ventrikel getrennt
wurde. Der Uebergang der Wandung des Trigonum cinereum in jene des
Infundibulum war ein continuirlicher , die Höhle des ersteren erfuhr
jedoch an der Uebergangsstellc eine Erweiterung, durch welche das
2. l'oIxT l'.iitwickliiim iiimI B.hi der ll\pii|ili\sis und des l'iorcssiis iiiriiiidilMili ccrchii. 403
ursprünclich spaltfönnii^e Lumen zu cintMii Sinus von rhoinbischcin
Querschnitt sich orweitertc. Das Infundihuluni war 1,6 Mm. breit,
0,8') hocli ; vom überweisenden Zwischenliirn setzte es sich durch eine
llacii(> Furclie ab, in welcher ein Arterienzweii^ verhef. Seine Wanduns;
wurde gebildet von einem unleren voluminöseren Abschnitt, dem Boden,
und einem oberen, «lUnneren, der Decke. Ersterer war durch einen
medianen bis nahe an (li(^ Pia herabreichenden Einschnitt in zw(>i sym-
metrische lliilften abgetheilt; beide Hälften stiegen längs der Mittellinie
steil empor, um hierauf mit gegen die Höhle convexem Boden lateral-
wiirls sich zu wenden. \Vh)v trafiMi sie nn't den seitlichen Partien der
Decke zusammen, welche gleichfalls durch einen kurzen medianen Ein-
schnitt in zwei symmetrische Hälften getheilt war, welche in gegen die
Höhle convexem Bogen lateralwäits sich wandten. Die Vereinigung er-
folgle unter spitzem Winkel, bn Verlauf nach rückwärts erweiterte sich
die Höhle des bifundibulum , indem die Substanzschicht, welche die
lateralwiiits ausspringenden Winkel der Höhle von der Pia Schied,
rasch sich verdünnte und schliesslich bis auf die Epithelschicht aus-
keille, während zugleich die Höhe des Bodens stetig abnahm. Dadurch
wurde der Zusammenhang zwischen Decke und Boden lateralwärts
unterbrochen. Die Decke selbst erstreckte sich nur wenig nach rück-
wiirts von der Stelle, an welcher si(! den unmittelbaren Zusanunenhang
mit dem Boden aufgegeben hatte und hörte hierauf mit steilem Abfall
gegen die überliegende, das Ende der Basilararterie beherbergende Pia
auf. In Folge davon zeigte der von dem bifundibulum nach lückwärts
sich erstreckende Lobus infundibuli s. inferior eine rudimentäre Be-
schafTenheit. Seine Gestalt war keilförmig, seine Liinge betrug 1,4,
seine Breite an der Abgangsstelle 1,S, am Ende 1. seine Höhe 1 bezie-
hungsweise 0,2 Mm. Er war in ganzer Ausdehnung hohl; seine Höhle
besass eine ziemlich gleichbleibende Höhe von 0,2 Mm. Seine untere
Wand bildete eine Verlängerung des Bodens des Infundibulum ; sie
nahm von vorne nach rückwärts an Höhe ab und war in ganzer Länge
durch einen medianen Einschnitt in zwei symmetrische Hälften getheilt.
Sie erstreckte sich bis zum vorderen Rand der Hypophysis, wo sie bis
auf die Epithelschicht sich auskeilte und mit einem queren, die Gestalt
eines dreikantigen Prisma von 0,2 Seitenlänge zeigenden, mehrere Ge-
fässanastomosen beherbergenden Bindegewebswulst zusammenhing.
Der niedrigen hinteren Wand lag der über dem 01)erlappen der Hypo-
physis belindiichc Arlerienplexus an, sie wurde gleich der Decke, an
welche die untere Wand lateralwärts anstiess, durch eine einfache, der
Pia matiM' aufsitzende Epilhcllage repräsentirt.
Hinsichtlich des Baus unterschied sich der Boden des Infundibulum
404 Wilhelm Miiller,
einigermassen von der Decke, die Höhle wurde an beiden von cylindri-
scheni, mit Cilien besetzten Epithel ausgekleidet; an dieses sehloss sich
am Boden eine Schicht von Zellen an , bestehend aus runden Kernen
von 0,004 mit sehr zarten an einzelnen Zellen nachweisbar in einen
spitzen Fortsatz sich ausziehenden Protoplasmahöfen. Zwischen diesen
Zellen verliefen ohne regelmässige Anordnung äusserst feine blasse
Fibrillen. Gegen die Fia zu war diese Zellenschicht umgeben von einer
0,05 dicken äusserst feinkörnigen, einzelne Kerne enthaltenden Ge-
vvebslage, welche eine feine radiäre Streifung erkennen Hess. Beide
Schichten erstreckten sich, allmälig bis zum vollständigen Schwund an
Höhe abnehmend, durch die ganze Länge des Infundibulum und des
Lobus infundibuli. Die Decke des Infundibulum, deren medianer Ein-
schnitt im Verlauf nach rückwärts rasch sich verflachte, bestand wie
die Basis aus Zellen mit runden, im Mittel 0,004 grossen Kernen und
zarten , hie und da nachweisbar in spitze Fortsätze sich ausziehenden
Protoplasmahöfen, diese Zellen wurden aber durch dünne Bündel fein-
ster Nervenfasern in horizontale Reihen angeordnet. Die hintere Wand
des Lobus infundibuli bestand lediglich aus der gefässführenden dün-
nen Pia und dieser aufsitzendem Epithel, welches im Verlauf nach oben
von der cylindrischen in die quadratische und weiterhin rasch in die
ganz flache Form überging. Ebenso wurde die ganze Decke des Lobus
infundibuli lediglich von der Pia und einer einschichtigen, dieser auf-
sitzenden Lage ganz flacher kernhaltiger Epithelien repräsentirt.
Vergleicht man die Befunde der Embryonen des Salamanders und
Frosches mit jenen der ausgebildeten Thiere, so ergiebt sich, dass
Hypophysis und Lobus infundibuli im Laufe der Entwicklung beträcht-
liche Modificationen ihrer Gestalt erfahren. Der ursprünglich schief von
unten und vorne nach oben und rückwärts gerichtete untere Lappen
der Hypophysis liegt später horizontal in der Sattelgrube. Seine ur-
sprünglich nach oben und vorne umgebogene Spitze löst sich vollstän-
dig ab und wird zum kleineren Oberlappen des Organs; als solcher
liegt sie anfänglich am hinteren , später am vorderen Ende der oberen
Fläche des Hauptlappens. Der dreikantige prisniatische Bindegewebs-
wulst, in welchen die Basis des Lobus infundibuli ausläuft, liegt an-
fänglich über, später unmittelbar vor dem Hauptlappen der Hypophysis.
Der Lobus infundibuli steigt in früher Zeit fast senkrecht vor dem
Chordaende herab, welchem seine hintere Wand dicht anliegt. Sie ist
noch zur Zeit des Ausschlüpfens aus dem Ei ziemlich gleich dick wie
der Boden upd von stark pigmenthaltigen , deutlich cylindrischen Epi-
thelien gebildet. Ist das Ghordaende atrophirt und verlängert sich das
Ende der Basilararterie über die Sattellehne hinaus nach vorne, so wird
2. lieber Entwicklung und Bau der Hypophysis und des Processus inlnndibuli cerchri. 405
die hinlere Wand allmälip; nach vorne umgelegt und zur Decke des
Lobus infundihuli. Ihre Anhige erfährt keine weitere Diflei-cnzirung,
viehuehr üacht sich das Kpilhel aUniiilig vollständig ab, wiihivnd die
Anlage der Basis unter Voluinzunahnie ihre drei Gewebsschichlen
ausbildet.
Versucht man, den Lobus infundibuli s. inferior der Amphibien
auf das entsprechende Organ der Fische zu rcduciren , so empfiehlt es
sich zunächst, die der Ily])ophysis anliegende ober- und unterhalb
der Contactstelle von einem Gefässplexus umgebene hinteic Wand
von der übrigen Substanz des Trichterlappens zu unterscheidi'n. loh
kann in ersterer nach Lage und Beschafienheit nichts- Anderes sehen
als das Analogen des Saccus vasculosus der Fische, welcher be-
reits in dieser Classe eine grosse Ungleichföi'migkeit der Ausbildung
zeigt. Vergleicht man den übrigen Lobus infundibuli des Frosches mit
jenem der Haie und Teleostier, so ergiebt sich eine beträchtliche Rück-
bildung. Sie betrifft den Theil des Lappens, welcher mit der Decke
des Infundibulum und den überliegenden Hirnstielen im Zusanunen-
hang steht, während der mit dem Tuber cinereum zusammenhängende
Boden sich erhält. In dieser Beziehung erhält das Auftreten der Aus-
buchtung, welche die Decke des Lobus infundibuli der Haie in ihrem
hinteren Abschnitt zeigt, ein erhöhtes biteresse, indem sie als eine An-
bahnung der weiteren Rückbildung sich auffassen lässl, welche l)ci
den Amphibien Platz gegriffen hat.
Aus der Classe der Reptilien untersuchte ich zw-ei Chelonier,
Testudo graeca und Emys picta. Die Hypophysis lag bei beiden Thieren
in der Sattelgrube und war durch einen dünnen von der Sattellehne
zum vorderen Keilbein sich erstreckenden Fortsatz der Dura mater von
dem überliegenden Zwischenhirn geschieden. Ueber der hinteren
Hälfte der Drüse war dieser Fortsatz der Dura durchbrochen ; es er-
streckten sich hier Ausläufer der Drüsensubstanz gegen den Boden des
bifundibulum, einen gegen die Umgebung nicht scharf sich abgrenzen-
ilen oberen Lappen darstellend. Das vordere Ende der Drüse reichte
bis nahe an das Chiasma, das hintere lag unter dem Ende des Proces-
sus infundibuli. Der obere Lappen des Organs war flach, von geringer
Dicke und Länge; er bestand aus spärlichen schlauchförmigen, vor-
wiegend von polygonalen Epithelien erfüllten Drüsengängen mit reich-
licher interstitieller Bindesubstanz. Letztere war Trägerin eines mäch-
tigen Plexus dünner Arterienzweige , an welchem sich sow ohi Aeste
der Carotiden als der Basilararterie betheiligten. Von diesem Plexus
aus traten Zweige in grüsseier Zahl mit zum Theil parallelem Verlauf
in eine hilusartige Verliefung der obereu Fläche des Hauptlappens (vgl.
406 Wilhelm Müller,
Taf. X, Fig. 4). Dieser besass eine bindegewebige 0,02 dicke Kapsel;
sie stand durch zahlreiche feine Forlsätze mit den die Gefässe umspin-
nenden Bindesubstanzlagen im Inneren des Organs in Verbindung,
Das eigentliche Drüsenparenchym bestand aus cylindrischen, etwas ge-t
wundenen Schläuchen von 0,03 bis 0,07 Dicke. Sie waren umgeben
von einer zarten Membrana propria und im Inneren erfüllt mit theils
cylindrischen zur Hülle senkrecht gestellten , theils spindelförmig oder
ganz unregelmässig gestalteten Epithelien. In der Mitte des Organs
fand sich eine 0.2 hohe, 0,5 lange, mit einer dünnen durchsichtigen
Gallerte __erfüllte Höhle, welche von einer mehrfachen Lage sechsseitiger
am freien Rand mit langem hyalinen Saum versehener Cylinderepilhe-
lien ausgekleidet war. Die Inlerstitien des Drüsengewebes waren erfüllt
von ungleich weiten zwischen 0,006 und 0,02 im Durchmesser schwan-
kenden Capillaren, welche Maschen von 0,03 bis 0,7 Weite bildeten.
Ihr Blut sammelte sich in einer Anzahl kleiner in der Kapsel verlaufen-
der Venenstämme , welche schliesslich zu einem grossen am hinteren
Rand des Organs liegenden Venenslamm sich vereinigten.
Das Zwischenhirn bestand an seiner Basis aus einem vorderen
Abschnitt, Trigonum cinereum, und einem hinteren, dem Infundibulum
mit dem rudimentären Lobus infundibuli. Das Chiasma lag am vorde-
ren Ende des Trigonum cinereum und ragte über letzteres vor; das-
selbe war keilförmig gestaltet, seine Höhle spallförmig; sie stand oben
mit dem dritten Ventrikel in Verbindung, unten zeigte sie am vorderen
Ende eine zweilappige der Mitte des Chiasma aufsitzende Ausstülpung
von 0,5 Länge bei 0,08 Weite. Das Infundibulum stellte eine Verbrei-
terung des Trigonum cinereum dar, welche von dem überliegenden
Zwischenhirn durch eine seichte Furche, in welcher jederseits ein Zweig
der Arieria basilaris verlief, sich abgrenzte. Die spaltarlige Höhle des
Trigonum cinereum erweiterte sich beim Uebergang in das Infundibu-
lum zu einem Ventrikel von 0,8 Höhe und ebensoviel Breite. Dieser
stand vorne durch einen 0,1 weiten Gang mit dem dritten Ventrikel in
Communication, wurde aber alsbald durch eine 0,5 mächtige Decke
von ihm geschieden. Nach rückwärts verlängerte er sich in die Höhle
des Processus infundibuli. Die Wandung des Infundibulum bestand
aus der Decke, den Seilenwänden und dem Boden. Die Decke wurde
gebildet vom Epithel und einer mehrfachen Lage dicht stehender Zellen
mit runden Kernen und zarten in einen spitzen Forlsalz sich verlän-
gernden Protoplasmahöfen, darüber lag eine 0,16 dicke Schichte feiner
quer verlaufender Nervenprimitivfasern. Die seillichen Wände ver-
schmälerten sich im Verlauf nach abwärts, sie waren gebildet von dem
Epithel, einer an dieses sich anschliessenden Zellenschichl und einer
2. Ueber Kiitwickliing imd \h\\ dei' Hypopliysis und des I'rooossiis iiiCniidihiili cerohri. 407
miichliesen periphorischen Lage feinkörniger, durch fadenförmige Aus-
liiufer der Zellenschiclit in radiärer Hichlung fein gestreifter Substanz.
Der Boden des Infundibiilum war gegen die Höhle emi)orge\vöIbt und
hihh^te einen nach den Seiten steil, nacli vorne und rückwärts sanfter
abfallenden Vorsprung. Er war durch einen medianen massig tiefen
Einschnitt in zwei symmetrische Hälften getheilt. Die Epithelschicht
setzte sich über seine ganze oliere Fläche fort; sie war sehr entwickelt,
die (Muzelnen Zellen cylindrisch , bis 0,05 lang, mit 0,01 langen Cilien
versehen; die Zellenschicht der seitlichen Wände griff nur von den
Seiten her mit dünnen Ausläufern auf den Hoden über. Die Hauptmasse
des letzteren wurde gebildet von der Pia mater, in welcher ein mäch-
tiger, aus kleinen Arterien und Capillaren bestehender Gefässplexus
sich entwickelt hatte, von welchem aus an den unten anliegenden obe-
ren und weiterhin an den Hauptlappen der Hypophysis zahlreiche Aesle
mit zum Th(Ml parallelem Verlauf abgingen. Nach rückwärts verlängerte
sich das Infundibulum in den einen kurzen 1 Mm. hohen, 1,'i- Mm.
breiten Fortsatz darstellenden Processus infundibuli, welcher dicht
unter dem Ende der Basilararterie die Zwischenhirnbasis verliess. Er
lag der hinteren Hälfte der oberen Fläche des Ilauptlappens der Hypo-
physis dicht an und war durch das Operculüm der Sattelgrube in seiner
Lage bef(\stigt. Seine Wand bestand aus drei Schichten : einer cylin-
drischen Epithellage, einer mehifachen Lage von Zellen mit rundem
Kern und zartem Protoplasmakörper und einer peripherischen Lage
einer feinkörnigen in radiärer Richtung fein gestreiften Substanz.
Der wenig voluminöse Oberlappen der Hypophysis der Reptilien
stimmt in seiner Beziehung zu dem Hauptlappen, namentlich aber in
seiner Beziehung zu dem überliegenden Arterienplexus mit dem über-
lappen der Hypophysis der Amphibien, weiterhin aber mit der zungen-
förmigen Verlängerung überein, welche die Hypophysis der Haie und
Rochen zur Zwischenhirnbasis entsendet. Das Infundibulum und seine
Verlängerung zum Processus infundibuli zeigen, verglichen mit den
Befunden der Amphibien und Fische, eine erhebliche Reduction. Diese
betrifft den Processus infundibuli in ungleich höherem Grade als das
Infundibulum. In der verdünnten Stelle am Boden des letzteren, welche
dem mächtig entwickelten Gefässplexus der Pia mater anliegt, sehe ich
das Analogen des Saccus vasculosus der Fische, welcher in modificirter
Form , aber mit seinen wesentlichen Attributen sich vererbt hat. Der
Processus infundibuli der Reptilien lässt sich betrachten als hervor-
gegangen aus einer weiter als bei den Amphibien vorgeschrittenen
Reduction. durch welch(> Boden und Decke dieses bei den Fisclien hoch
entANickeilcn Hirntheils gleichmäs»ig betroffen worden sind.
Bd. VI. 3, 28
408 Wilhelm Müller,
Aus der Classe der Vögel urilersuchle ich Columba livia. Die
Hypophysis lag bei diesem Thier in der Sattelgrube und wurde von
dem überliegenden Zwischenhirn durch das dünne knöcherne Oper-
culurn der Sattelgrube geschieden. Dieses war gleich dem Operculum
der Schildkröten durchbrochen ; durch die Lücke erstreckte sich der
Processus infundibuli zum hinteren Ende der Hypophysis und von der
oberen Fläche der letzteren der rudimentäre Oberlappen zum Boden
des Infiindibulum. Der letztere hing mit einer Anzahl parallel verlau-
fender, durchschnittlich 0,2 weiter Arterienzvveige, welche vom Boden
des Inl'undibulum aus senkrecht zum Hauptkörper der Hypophysis ver-
liefen, innig zusanunen und wurde gebildet von einer Anzahl cylindri-
scher, den Arterien parallel verlaufender Drüsenschläuche von 0,0^ —
0,05 Dicke. Sie bestanden aus einer zarten Membrana propria und
waren erfüllt von theiis quadratischen, theils polygonalen, hie und da
deutlich cylindrischen Zellen, welche mit den Epithelien im unteren
Lappen übereinstimmten (vergl. Taf. X, Fig. 5. c).
Die Hypophysis selbst war umgeben von einer dünnen binde-
gewebigen Kapsel und zeigte an ihrer oberen Fläche eine seichte hilus-
artige Einbuchtung. Das Parenchym wurde gebildet von zum kleinen
Theil annähernd kugeligen , zum grösseren Theil in die Länge gezoge-
nen , etwas gewundenen, mehrfach anastomosirenden Schläuchen von
0,Oli — 0,04 Durclimesser. Sie bestanden aus einer zarlen Membrana
propria und wuiden erfüllt von meist quadratischen und polygonalen,
an den dickeren Schläuchen cylindrischen, senkrecht zur Hülle gestell-
ten Epilhelien mit grossem runden Kern und zarlem Protoj^lasmakörper.
Einzelne der Drüsenschläuche zeigten im Inneren ein schmales rund-
liches Lumen, welches regelmässig einen gelblichen, mattglänzenden
Gallertkörper enthielt. Die Inlerstitien der Drüsensubstanz wui'den
ausgefüllt von netzförmiger Bindesubstanz und Gefässen. Letztere tra-
ten mit zahlreichen parallel veilaufenden Arlericnzweigen , welche von
einem am Boden des Infundibulum liegenden Plexus stanunten, iti der
oberen Fläche des Organs ein und verbreiteten sich divergirend in letz-
terem; sie lösten sich in ein Capillarnetz auf, w'elches mit rliombischen
Maschen von 0.02 bis 0,0} Weite die Drüsenschläuche umspann. Sie
sammelten sich in Venen, Vselche in einen lockeren am Boden der Sat-
telgrube und zu deren Seilen befindlichen Plexus sich ergossen.
Die Basis des Zwischenhirns schloss sich an die am Boden des
Mittelhirns befindlichen llirnschenkel unter nahezu rechtem Winkel an.
Sie zerfiel wie bei den Reptilien in einen vorderen Abschnitt, Trigonum
cinereum, und einen hinleren, das hifundilnilum. Das Trigonum cine-
reum lag über und vor dem Chiasma , seine Höhle war spallföiniig und
2. lieber Eiihvieklmiti und Bau der Hypopliysis iiiul des Processus iuriiiidibiili ceicliri. 409
zoiiitt' nin Hodoii eine z\\('il;ippigo AiisIuicIiIiiiil; mit kciiroiiiiii^eiii Mit-
lolstück. Der Grenze zwischen Trigonuni cinercuni und Infundibiiluni
lii|2; das niächlic;e Chiasma an; es waren jedoch beide Abschnitle hier
viel weniger geschieden als l^ei irgend einer der bisher gesciiilderlen
Wirbelthierclassen. Das Infundibuluni Hess eine Decke, einen Boden,
zwei scMtliche und eine hinlere Wand unterscheiden. Die Decke hing
niil dem übrigen Zwischenhirn conlinuirlicli zusainnien und wai" (hnxli
("ine spailartige Verlängerung der Höhle des Infundibuluin <Mne Strecke
weil in zwei synunelrische Hälften zerlegt. Der Boden war dünn, 0,1
bis 0,2 in) Durchmesser. Die; ihm anliegende Pia beherbergte einen
von ZwiMgen der Carotiden und der Basilararterie gebildeten Arlerien-
jtiexus, gegen weichen sich der rudimentäre 01)eilap])(>n d<M- II>)j)oph)-
sis erstreckte. Die Adventilia der Arterien war reich an Lynphkürpern.
Die seitlichen Wände verjüngten sich im Verlauf nach abwärts, sie
gingen vorne ohne schaife Grenze in die seitlichen Wände des Trigo-
num cinereum, rückwärts in die hintere Wand des Infundibuluni übei".
An ihrer Aussenfläche verliefen die mächtigen Tractus nervi optici. Die
hintere Wand war gleich dem Boden dünn und erstreckte sich schief
von unten und vorne nach oben und rückwärts, um dicht vor der Ab-
gangsstelle der beiden Nervi oculomotorii unter nahezu rechtem Winkel
an die Hirnstiele sich anzuschliessen. Das Infundibuluni besass eine
mediane Höhle. Sie begann in dessen Decke als ein medianer Spalt
und erweiterte sich im Verlauf nach abwärts zu einem Hohlraum von
(),S Länge bei 0,-3 Breite bei elliptischem Querschnitt. Sie hatte unten
einen kurzen von dem Boden und den untersten Abschnitten der seit-
lichen Wände begrenzten Anhang von vorne rhombischem, im Verlauf
nach rückwärts sich abrundendem Querschnitt, mit welchem sie durch
einen schmalen Spalt coinmunicirte. Sie stand nach vorne mit der
Höhle des Trigonum cinereum, nach rückwiirls mit jener des Processus
infundibuli in ununterbrochener Verbindung. Letzterer entsprang an
dei' Grenze zwischen Boden und hinterer Wand als ein walzenföiniiger
Anhang von 1,2 Mm. Länge bei 0,7 Dicke und erstreckU! sieh nach
rück- und abwärts zur oberen Fläche der Hypophysis. Kr war in gan-
zer Ausdehnung hohl, die Höhle war auf dem Querschnitt birnförmig,
0,:}.'j hoch, oben 0,0o, unten 0,2 weit, durch eine eben wahrnehmbare
Vorwölbung der Basis leicht zweilappig.
Der feinere Bau des Bodens und der unteren Partieen der seillichen
Wände des Infundibuluni, sowie jener des Processus infundibuli waren
von dem bei den Cheloniern beobachteten wenig verschieden. An das
cylindrisclie Kpithel, welches die Höhlen auskleidete, schloss sich eine
an den Seilenwänden des Infundibuluni und im Verlauf des Processus
410 Wilhelm Müller,
infundibuli mehrfache, am Boden des Infundibulum gegen die Mitte zu
sich verdünnende Lage von Zellen an. Sie waren zum Theil durch
Gruppen feinster Nervenfasern in parallele Reihen zerlegt und l>estan-
den aus runden Kernen mit sehr zarten Protoplasmahöfen , welche an
einem Theil der Zellen nachweisbar in schmale Fortsätze gegen die Pe-
ripherie zu ausgezogen waren. Daran schioss sich eine ziemlich mäch-
tige feingranulirte, durch Ausläufer der Zellen in radiärer Richtung
deutlich gestreifte Rindenschicht. Am Processus infundibuli enthielt
letztere Schicht eine ungewöhnliche Menge Iheiis rundci-, theils ellipti-
scher Kerne.
Aus der Classe der Säugethiere habe ich den Menschen auf ver-
schiedenen Altersstufen untersucht.
Bei dem Neugeborenen verlängert sich die vordere Partie der Hy-
pophysis zu einem dünnen cylindrischen Fortsatz von 0,4 Mm. Durch-
messer, welcher längs der vorderen Fläche des Processus infundibuli
gegen das hintere Ende des Chiasma sich erstreckt. Dieser Fortsatz
enthält eine Anzahl parallel verlaufender 0,01) — 0,1 dicker Arterien,
zwischen deren bindegewebigen Adventitien schmale gestieckt ver-
laufende, cylindrische Drüsenschläuche von 0,012 — 0,02 eingesprengt
sind. Diese Schläuche bestehen aus einer dünnen Menibrana propria
und sind im Inneren erfüllt von meist quadratischen Epithelien von
durchschnittlich 0,000 Seitenlange. Sie gehen am unleren Ende über
in die theils kurzen, der Kugelform sich annähernden, zum grössten
Theil in die Länge gezogenen Schläuche, welche das Drüsenparenchym
conslituiren. Ihre Dicke betrügt 0,016 — 0,04, sie bestehen gleichfalls
aus Membrana propria und Epithel. Die Mehrzahl der Schläuche ist
solid, einzelne besitzen ein schmales centrales Lumen. Am hinteren
Umfang der Drüse nahe ihrer Berührungsfläche mit dem Trichteifortsatz
finden sich einzelne bis 0,li lange und 0,1 breite Hohlräume, welche
von kurzem Cylinderepithel von 0,000 Länge bei 0,001 Dicke ausge-
kleidet und mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt sind. Ich zweifle
nicht, dass dieselben in ähnlicher Weise, wie dies beini Schaf sich ver-
folgen lässl , aus Resten der ursprünglichen Ilypophysenanlage hervor-
gehen. Die Interstitien der Drüsensubstanz werden eifüllt von Gefässen
mit einer lockeren bindegewebigen Adventitia. Die vorwiegend am
oberen Umfang der Drüse eintretenden Arterien lösen sich in ein Capil-
larnetz auf, welches mit rhombischen Maschen die Drüsenschläuche
umspinnt. Die Gapillaren sammeln sich zu Venen, welche vorwiegend
am unteren Umfang der Drüse austreten ; sie ergiessen sich zum
grössten Theil in einen am Boden der Satlelgrube befindlichen Venen-
plexus, welcher durch seitliche Ausläufer mit dem Sinus cavernosus in
2. Ueber Entwicklung und Bau der Hypopliysis und des Processus iiifundibuli cerebri. 411
Vcrl)indung sieht. Dieser Vcncnplexus ist bisweilen in ziemlicher Mäch-
ligkeit enl^^ iekell und in einer Grube des Keilbeins gelagert; in dieser
Torrn ist er von Landzert beschrieben und irrthünilichervveise mit ei-
nem Rest des ursprünglichen Hypophysengangs in Zusammenhang ge-
bracht worden.
Der der hinteren Fläche der Hypophysis anliegende Processus in-
fundibuli zeigte eine Länge von 6 — 8 Mm.; seine Dicke betrug im obe-
ren Theil seines Verlaufs 0,8, sein Ende war kolbig verdickt bis zu
einem Durchmesser von 2 Mm. Der ganze peripherische Abschnitt er-
wies sich solid , nur an der Abgangsslelle erstreckte sich ein kurzer
blind endigender Ausläufer derTrichlerhöhle in den Fortsatz. Er erwies
sich allenthalben gebildet von zum kleineren Theil rundlichen , zum
grösseren spindelförmigen Zellen mit elliptischen Kernen von 0,005
Dicke bei 0,01 T) Länge und tlieils feinkörnigem, theils längsstreifigem
umhüllenden Protoplasmakörper. Diese Zellen waren zu förmlichen
Bündeln vereinigt, welche ähnlich jenen eines Spindelz(>llensarkoms
vielfach sich durchkreuzten. Von der umgebenden Pia aus erstreckten
sich Gefässe durch die ganze Dicke des Trichterfortsatzes unter Bildung
eines lockeren, vorwiegend in rhombischen Maschen angeordneten Ca-
pillarnetzes.
Bei dem vierjährigen Menschen fand ich die Verhältnisse wonig
verändert; der schmale Fortsatz, welchen die Drüse von ihrem oberen
Umfang aus gegen das Chiasma hin entsandte, war auch jetzt in einer
Di(;ke von 0,4 längs der vorderen Fläche des Trichterforlsatzes nach-
weisbar. Die Drüse bestand wie früher aus theils kürzeren, theils län-
geren epithelführenden Schläuchen von 0,01 — 0,04. Der Processus in-
fundibuli maass 10 Mm. in der Länge, seine Dicke betrug am Anfang 1,
am Ende 2,5 Mm. Die Menge fibrillären Bindegewebes in seiner Sub-
stanz war beträchtlicher als früher.
Auch bei dem Erwachsenen findet sich constant ein schmaler Aus-
läufer der Drüse , welcher sich längs der vorderen Fläche des Trichter-
fortsatzes bis nahe an das Chiasma erstreckt. Er führt zahlreiche
schmale Arlerienzweige mit bindegewebiger Advenlitia und zwischen
diesen eine Anzahl gestreckt verlaufender 0,015 — 0,03 dicker, von
quadratischen Epithelien erfüllter Schläuche. Sie setzen sich fort in die
Schläuche, welche das Parenchym der eigentlichen Drüse bilden. Letz-
tere sind theils kurz, der kugeligen Form sich annähernd, zum grösse-
ren Theil sind sie stets in die Länge gezogen , etwas gew unden und
hie und da untereinander in Verbindung. Ihr Durchmesser wechselt
zwischen 0,016 und 0,06. Sie werden umhüllt von einer zarten Mem-
brana pröpiia und enthalten im Inneren Epithelien. Diese sind stets an
412 WillieliB Müller,
Grösse und Forpi sehr verschieden. Ein Theil der peripherisch liegen-
den gleicht kurzen Cylinderepithelien , sie sind 0,00i 0,006 dick,
0,008 — 0,01 4 lang, ein anderer Theil ist mehr conisch oder quadratisch,
die mehr central liegenden sind theils polygonal, theils ganz unregel-
mässig gestaltet; ihr Durchmesser schwankt zwischen 0,006 und 0,01 4,
sie besitzen einen, selten zwei rundliche Kerne von 0,004 — 0,008 und
einen zarten Protoplasmakörper ohne deutliche peripherische Verdich-
tung. Diese Zellen erfüllen die Schläuche theils vollständig, theils las-
sen sie ein schmales centrales Lumen von 0,01 — 0,015 frei, in welchem
in der Regel gelbliche CoUoidmassen enthalten sind. Da die Zellen in
der Umgebung dieser CoUoidmassen von jenen der übrigen Hypophysis
nicht verschieden sind , halte ich das Colloid für das Resultat einer
Eindickung des gewöhnlichen Secrets der Epithelien. Nahe der hin-
teren Fläche der Drüse finden sich constant grössere makroskopisch
wahrnehmbare Hohlräume, welche im Innern theils Flüssigkeit, theils
CoUoidmassen führen. Sie sind von kurzem Cylinderepithel ausgeklei-
det, welches in einzelnen Fällen Cilien führt. Die Interstitieu des Drü-
sengewebes werden von den Gefässen erfüllt mit der sie einscheiden-
den lockeren Adventitia. Die Arterien treten mit zahlreichen Zweigen
am oberen Ende des Organs ein ; sie stammen aus einem ziemlich rei-
chen, am Boden des Infundibulum liegenden Plexus zwischen Zweigen
der Carotiden und der ßasilararterie. Daneben erhält die Hypophysis
mindestens sehr häufig einen kleinen Arterienzweig, welcher von unten
her das Keilbein durchsetzt ; ich vermuthe, dass es ein Ast der Arteria
pharyngea ascendens ist. Die Arterienzweige gehen im hineren der
Drüse in ein Netz 0,01 — 0,02 weiter Capillaren über, welche mit Ma-
schen von durchschnittlich 0,03 — 0,04 Weite die Drüsensubstanz um-
spinnen. Die Venen ergiessen sich in einen lockeren die Hypophysis um-
gebenden Plexus, welcher sich schliesslich in die Sinus cavernosi ergiesst.
Die Basis des Zwischenhirns schliesst sich bei dem Menschen
unter rechtem Winkel an die unter dem Mittelhirn liegenden Hirnstiele
an. Der Anschluss wird bewirkt durch zwei neben der Mittellinie lie-
gende halbkugelige Vorragungen, die Corpora candicantia, welche hier
nicht weiter in Betracht kommen werden. Die vor den Corpora candi-
cantia liegende Zwischenhirnbasis lässt bei den) Menschen und den
übrigen Säugethieren dieselben zwei Abschnitte wie bei den übrigen
Cranioten unterscheiden: einen vorderen, Trigonum cinereum, und
einen hinteren, Infundibulum. Das Trigonum cinereum liegt gerade
oberhalb des Chiasma nervorum opticorum, sein Boden ist dünn, 0,2
im Durchn)esser, und mit der oberen Fläche des Chiasma fest verwach-
sen, an Imbibitionspräparaten njit scharfer Grenze von ihr sich son-
2. lieber Kiilwirkliiim: und Hini der Hypophysis und des Prnccssus infiindibuli cerebri. 413
(l( iikI. I)i<' vordero Wand steigt von dor vorderen Fläche der weissen
Commissur 1,5 Mm. dick senkrecht nach abwärts, um in einer Entfer-
nung von :\ Mm. olierhalb des Chiasmn angelangt zu einem dünnwan-
digen, dreikantigen, dem Sporn eines Widderschiirs älinlich geformten
Vorsprung sich zu verlängern, welcher, allniälig sich /Aischärfend, am
vorderen Ende des Chiasma spitz endigt. Die seitlichen Wände sind
verhäUnissmässig dünn und verjüngen sich etwas im Verlauf nach ab-
wärts. Am hinteren Ende des Chiasma geht das Trigonum cinereum in
das Infundibulum über. Der Boden des erstoren biegt dabei unter
rechtem Winkel in die vordere Wand des Infundibulum um. Diese
verläuft in der Dicke von 1,8 Mm. erst senkrecht längs der hinteren
Fläche des Chiasma nach abwärts, um an dessen unterer Fläche schief
nach unten und vorne sich zu wenden unter gleichzeitiger Verdünnung.
Die seitlichen Wände des hifundibulum werden von den Tractus nervi
optici umfasst, sie verdünnen sich im Verlauf nach abwärts und streben
von beiden Seiten der Mittellinie zu. Die hintere Wand vereinigt sich
3 Mm. unterhalb des Chiasma unter spitzem Winkel mit der vorderen,
sie ist in ihrem ganzen Verlauf höchstens halb so dick als letztere ; sie
verläuft schief von unten und vorne nach oben und rückwärts zunächst
bis zum Niveau der unteren Fläche des Chiasma , um sich von da an,
llacher ansteigend , als die dünne Lamina posterior infundibuli an die
Corpora candicantia anzuschliessen. Diese Lamina posterior ist in der
.lugend stärker vorgewölbt als bei dem Erwachsenen. Sowohl das Tri-
gonum cinereum als das Infundibulum sind hohl , die Höhle beider
steht mit jener des dritten Ventrikels im Zusammenhang. An der Ver-
einigungsstelle der vorderen Wand des Infundibulum mit den seitlichen
und der hinteren endet die Höhle spitz ; die Wandungen verlängern
sich von dieser Stelle aus zu einem nach abwärts und etwas nach vorne
gerichteten, an seinem Ende keulenförmig verdickten Fortsatz, dem
Processus infundibuli. Dieser liegt der hinteren Fläche der Hypophysis
an und wird von beim Menschen verhältnissmässig kurzen , bei dem
Hund langen seitlichen Fortsätzen der Drüse hufeisenförmig umgeben.
Er ist bei sämmtlichen Säugethieren zur Zeit der Geburt solid , aus-
nahmsweise erhält sich zwischen vorderer und hinterer Wand ein schon
mit freiem Auge sichtbarer feiner Spalt in verschiedener Ausdehnung.
Dieser Fortsatz besitzt eine graugelbliche Farbe; er geht in die vordere
Wand des Infundibulum ohne scharfe Grenze über, in die hintere Wand
setzt er eine kurze Strecke sich fort, allmälig von oben nach unten sich
auskeilend; die Stelle, wo Nervensubstanz die hintere Wand aus-
schliesslich bildet, giebt sich für das freie Auge durch eine seichte
Querfurche und eine Aendcrung in der Farbe zu erkennen. Längs der
414 - Wilhelm Müller,
hinteren Wand des Processus infundibuli verlaufen zahlreiche feine
gestreckte Gefässe , welche demselben gleichfalls ein von der übrigen
Wandung des Infundibulum verschiedenes Ansehen verleihen. Von
diesem Befund, welcher die Regel bildet, weicht das Infundibulum in
einzelnen Fällen insofern ab, als dieObliteralion der ursprünglich durch
den ganzen Processus infundibuli sich erstreckenden Höhle auf einen
Theil des Infundibulum selbst übergreifen kann, so dass dessen Höhle
schon im Niveau des Chiasma blind endigt.
Der Boden des Trigonum cinereum und die vordere Wand des In-
fundibulum zeigen übereinstimmenden Bau. Beide werden gegen die
Höhle zu bekleidet von kurzem, mit Flimmern versehenem Cylinder-
epithel, darauf folgt eine dünne Lage feingranulirter Substanz mit spär-
lichen runden und elliptischen, zum Theil mit netzförmigen Proto-
plasmahöfen versehenen Kernen; sie wird ])eripherisch umfasst von
einer mächtigen Lage eines aus feinen vielfach anastomosirenden Proto-
plasmafäden gebildeten Gewebes, welches iheils runde, theils elliptische
Kerne von 0,004 — 0,006 führt. An den seitlichen Wandungen des
Infundibulum lassen sich die beiden inneren Schichten gleichfalls nach-
weisen; die äussere Schicht, welche auch hier das beträchtlichste Volum
besitzt, enthält in einer theils feingranulirten , theils aus feinen netz-
förmig verzweigten Fibrillen gebildeten Kerne führenden Grundsub-
stanz Ganglienzellen von mittlerer Grösse, meist in drei Fortsätze aus-
gezogen und ist ausserdem von radiär verlaufenden feinen Protoplasma-
ausläufern der Epithelien fein gestreift. Die hintere zugleich den Boden
bildende Wand des Infundibulum verhält sich insofern eigenthümlich,
als erst in einiger Entfernung von dem spitzen Ende der Höhle die
Ganglienzellenschicht von den seitlichen Wänden aus auf den Boden
sich fortsetzt, und zwar in einer von vorne und oben nach rückwärts
und unten sanft absteigenden Linie. Dies wird durch den Umstand
bedingt, dass 'der Boden des Infundibulum eine Strecke weit von der
Ansatzstelle des Processus infundibuli aus eine mit letzterem gleiche
Slructur hat und dieser modificirte Bau je weiter nach rückwärts um
so mehr auf die untersten Schichten der hinteren Wand sich beschränkt.
Der Bau dieser Partie ist gleich jenem des Processus von eigenthüm-
licher Beschaffenheit. Die Hauptmasse bildet sowohl beim Menschen als
beim Schwein und Hund fibrilläres Bindegewebe, welches reich ist an
zwischengestreuten runden und spindelförmigen , zum Theil selbst
verästelten Zellen. Dieses ist in Bündeln vereinigt, welche ähnlich
denen eines Spindelzellensarkoms in verschiedenen Richtungen sich
durchkreuzen. Dazu kommen beim Menschen zahlreiche ziemlich grosse
runde oder spindelförmige, zum Theil auch birnförmige Zellen, welche
2. lieber Entwicklung und Bau der llypo|iliysis und des Pioicssiis inliiiidihiili ceri'bri. 415
in ihrem Protopiasniii gelbe Pigiiienlkörnor in grosserer oder gciingerer
Zahl führen. Sie gleichen den Zellen , welche in dci' (llidiioidefi und
der das verliingcile Mark umgebenden Pia die hräunliclie Färbung des
Gewebes bedingen. In dem sellenen Falle . dass Uesle der uisprilng-
lichen Höhle des Processus infnndibuli sich erhallen, findet man diese
ausgekleidet von kurzem flimmerndem Cylin<lerei)ithel. So erklären
sich die Beobachtungen LrsciiKA's, ^^elcher Flimmerzellen als einen Be-
standlheil des Processus infundibuli angegeben hat. Felzlerer erhält
von der überziehenden Pia mater aus Gel'iisse , welche in seiner Sub-
stanz ein sehr lockeres Netz von unregelmässig rhombischen Maschen
bilden.
Vergleicht man den Befund, welchen die Hypophysis (l(>s Menschen
bietet, mit jenem der übrigen Wirbellhierclassen, so ergiel)t sich, dass
das Organ mit all' seinen wesentlichen Attributen durch die ganze
Ahnenreihe sich vererbt hat. Es existirl kein wesentlicher Unterschied
zwischen der Gestaltung des Organs bei Myxine und jener J)ei dem
Menschen. Die vorliegenden Beobachtungen gestatten aber, dem Aus-
läufer, welchen die Hypophysis des Menschen gegen das Ghiasma hin
entsendet, eine bestimmte Bedeutung zuzusprechen : Ich sehe in ihm
den Rest der zungenförmigen Verlängerung, welche bei den Haien und
Rochen an der Basis des Infundibulum gegen das Chiasma hin sich er-
streckt und bei den Amphil)ien, Reptilien und Vögeln zu einem bei
ersteren scharf, bei letzteren weniger schaif von der Hauptmasse des
Organs getrennten Oberlappen geführt hat. Diese Deutung stützt sich
nicht nur auf die Gleichartigkeil der Lagerung und des Drüsenbaues,
sondern namentlich auch auf die constanten Beziehungen , welche die-
ser Ausläufer durch die ganze Wirbelthierreihe hindurch zu einem an
der Basis des Infundibulum liegenden Plexus zwischen Aeslen der Ca-
rotis und Basilaris beibehalten hat. Durch diese Beziehung tritt die
Hypophysis in ein analoges Verhällniss zu dem System der Carotideu
und Schlüsselbeinarterien , wie es für die Schilddrüse der höheren
Wirbellhiere Platz gegriffen hat.
Vergleicht nian den Processus infundibuli des Menschen mit jenen
der Reptilien und Vögel, so ergiebl sich eine vollkommene Reduction.
Diese Reduction ist keine ursprünglich vorhandene, die Ursachen,
welche zu derselben hinführen , werden vielmehr erst gegen das Ende
der ersten Hälfte der Fölalzeit wirksam. Bis dahin stellt der Processus
infundibuli des Menschen und der Säugethiere einen unzweifelhaften
Hirntheil dar, welcher in seinem Bau mit jenem übereiiistinuni, wie er
bei den Cyklostomen und Reptilien das ganze Leben hindurch sich
erhält. Die Rückbildung erfolgt in ähnlicher Weise , wie ein durch
416 Wilhelm Müller,
Mangel der Erregungsquellen ausser Function gesetzter Nerve der In-
volution verfällt. Es ist das die Gefässe umgebende, in letzter Instanz
aus der Pia stammende Bindegewebe, welches mit dem Schwund der
specifischen Substanz in einen Zustand übermässiger Entwicklung
geräth und letztere substituirt. Es ergiebt sich von selbst, dass bei
dieser Sachlage der von Virchow angestellte Vergleich des Processus
infundibuli mit dem Filum terminale des Rückenmarks weder von Seile
der vorgleichenden Anatomie noch der Entwicklungsgeschichte eine
Begründung findet.
4. Seh luss folge run gen.
Aus den voranstehenden Beobachtungen geht hervor, dass die
Formfolge, nach welcher die Hypophysis sich entwickelt, bei allen Cra-
nioten dieselbe ist. Von Einlluss auf diese Formfolge sind : das Zwi-
schenhirn , das ursprüngliche vordere Ende der Chorda , die Basilar-
arterie und die Carotis mit ihren bindegewebigen Scheiden , endlich
das Schlundepithel.
Das vordere Ende der Chorda fällt ursprünglich bei allen Cränioten
gleichwie bei Amphioxus mit dem vorderen Ende des Leibes zusammen.
Oberes Keimblatt einerseits, unteres andrerseits hängen mit demselben
ziemlich fest zusammen. Indem das vordere Ende des zum Medullar-
rohr theilw^eise sich umwandelnden oberen Keimblatts bei den Cränio-
ten das vordere Ende der Chorda im Wachsthum überflügelt, wölbt es
sich vor letzterem nach abwärts, um die zukünftige Zwischenhirnbasis
zu bilden. Dabei wird das vordere Ende der Chorda leicht abwärts
gebogen. Wächst es zu dieser Zeit noch verhältnissmässig rasch, so
erfährt es eine hakenförmige Krümmung, wobei das leicht verdickl<'
Chordaende seinen Platz zwischen den ursprünglichen Stellen des Me-
duUarrohrs und Schlunddrüsenblatts constant beibehält. Die gegen die
Schlundfläche gerichtete Krümmung, welche bei den Haien die Gestalt
eines scharf umgebogenen Hakens hat, koumit bereits bei den Amphi-
bien in viel geringerem Maasse zur Entwicklung und wird bei den
Vögeln und Säugethieren auf einen flachen Bogen reducirt. Die Ele-
mente, welche das vordere Ende der Chorda zusammensetzen, bleiben
wenigstens bei den höheren Cränioten eine Strecke weil ohne Diffe-
renzirung. Dieser Abschnitt verfällt, sobald der Zusaiiuuenliang zwi-
schen Chordaende, Medullarrohr und Schlundepithel gelöst ist, einer
vollständigen Rückbildung. Die Trennung zwischen ursprünglichem
vorderen Ende der Chorda, Medullarrohr und Schlundepitliol wird
durch das Zwischenwachsen embryonaler Bindesubstanz bedingt, in
2. Ueber Entwicklung und I^aii der llypopliysis und des Processus intdiidibiili cerebri. 417
Folge derselben liegt (ins Chordaende üllenM" Embryonen eine Strecke
weit von der Ilyiiophysis entfernt. Di<^ l^lnlfernung ist zu einer Zeit
eine beträcluliche, in welcher das die Ilypophysenanlage um!]5ebende
gefasshaltige Bindegewebe erst sich anschickt, die ursprünglich einfache
Anlage zu einem Complex diüsiger Gebilde umzuwandeln. Ks kann
unter diesen Umstünden weder von einer Umwandlung des Chorda-
endes in die Substanz der Hypophysis im Sinne von Hkiciikkt und IJis
noch von einer Umwandlung in deren iulcrslitielle Bindesubstanz im
Sinne von Dursy die Rede sein.
Dem vorderen Ende der Chorda liegt in früher Zeit das Medullar-
rohr oberhalb, das Schlundepithel unterhalb an. Sobald das Herz und
mit ihm die ersten Gefiissanlagen sich entwickeln , drängt sich sowohl
beim Frosch als beim Hühnchen mit der Anlage der Verlebrales und
ihrer Verlängerung als Basilaris, welche den inneren Carotiden um
etwas vorauseilen, eine Anfangs sehr dünne Schicht embryonalen Binde-
gewebes zwischen Chorda und Medullarrohr einerseits , Chorda und
Schlundepithel andrerseits ein. Dadurch wird der Zusammenhang
zwischen diesen Theilen gelöst mit Ausnahme der leicht verdickten
Chordaspitze, welcher beide Theile zunächst noch anhaften. Von dem
das Chordaende seitlich umgebenden Bindegewebe drängt sich eine
dünne Lamelle zwischen die vordere Gehirnblase und die kurze ihr
anliegende Strecke des Schlundepithels, sowie weiterhin zwischen vor-
dere Gehirnblase und Hornblatt ein. Diese Bindesubstanz, welche ur-
sprünglich von den Arterienadvenlitien ausgeht, ist die gemeinsame
Anlage von Schädel und Hirnhäuten. Sie sondert sich frühzeitig in
einen Theil , welcher mit dem Gefässapparat des Centralnervensystems
in Verbindung bleibt und die Anlage der weichen Hirnhäute bildet,
und in einen anderen, welcher die Chorda und nach aussen von erste-
rem das Gehirn umwächst, er wird zur Anlage der Dura und des Schä-
dels. Es verhält sich in dieser Hinsicht die erste Anlage des Schädels
mit der ersten Anlage der Wirbel analog, denn, wie His für das Hühn-
chen mit Recht angegeben hat und durch eine methodische Unter-
suchung von Froschlarven aus frühen Stadien sich bestätigen lässt,
stammen die ersten Anlagen der Wirbel nicht aus den Urwirbeln , wie
Rkmak fälschlich glaubte, sondern aus den bindegewebigen Adventitien
der primitiven Aorten ').
1) Die Entwicklung des Gefässsystems beim Krosch ist sowolil boi Rusconi
als bei Remak unriclilig dargoslelll. Auch bei dem l-rosch sind zwei primitive Aor-
ten vorhanden, weiche nach Innen von den Urnierengans^en nntci den Mnskelplat-
ten (sog. Urwirbeln) liegen und erst secundär gegen die .Mittellinie rücken und dort
verschmelzen.
418 Wilhelm Müller,
Indem die Basilarartorie in dei' Entwicklung fortschreitet, wächst
sie über das Chordaende hinaus und wird an ihrer unteren Fläche von
einer Lage embryonaler Bindesubstanz in Form einer Scheide gestützt.
Letztere stellt den mittleren Schädclbalken Hkinrich Rathke's dar, des-
sen wahre Bedeutung zuerst Emil Dursy in das richtige Licht gestellt
hat. Schon vor dem ersten Auftreten des mittleren Schädelbalken war
das Zwischenhirn an der Stelle, wo es dem Chordaende anlag, in eine
flache Falte erhoben worden, indem hier keine Bindesubslanz zwischen
Chorda und Medullarrohr sich eingedrängt hatte. Sobald der mittlere
Schädelbalken deutlicher sich markirt, drängt sich embryonale Binde-
substanz auch hier ein und löst den Zusammenhang ; die Falte, welche
von dem Chordaende und dem diesem noch anhaftenden Schlundepithel
durch eine Lage embryonaler Bindesubstanz geschieden wird , ist die
Anlage des Trichters, welcher nun durch selbständiges Wachslhum bei
den verschiedenen Classen der Craniotcn in verschiedener Weise sich
weiter entwickelt.
Fast unmittelbar, nachdem die Lösung der Verbindung zwischen
Medullarrohr und Chordaende erfolgt ist, verdickt sich die embryonale
Bindesubstanz, welche zwischen Chorda und Schlundepithel liegt und
seitlich die beiden Anlagen der inneren Caroliden beherbergt, dicht
hinler dem Chordaende zu einem flachen Yorsprung, welcher das
Schlundepithel vorwölbt. Dadurch wird ein auf dem Sagittalschnill
dreieckiger Anhang der Schlundhöhle zu Stande gebracht. Die vordere
Begrenzung dieses Anhangs wird durch die dünne vom Schlundepithel
überzogene Bindegewebslamelle, welche sich längs des Zwischenhirns
heraberslreckt , die hintere durch den gleichfalls vom Schlundepithel
überzogenen Wulst, die seitliche durch das die Caroliden umgebende
Bindegewebe (die seilliche Schlundwand) bewirkt; die Spitze des drei-
eckigen Raums entspricht dem Chordaende, die untere Fläche wird
durch die Oeftnung repräsentirt, durch welche der Anhang mit dem
Schlund communicirt. Die Bindesubstanz , welche das Schlundepilhel
dicht hinler dem Chordaende vorwölbt, zeigt die Beschalfenheit von
Schleimgewebe , sie nimmt rasch an Masse zu und drängt sich einer-
seits zwischen Chordaende und Schlundepilhel ein, den Zusammenhang
zwischen beiden lösend , andrerseits wächst sie rasch in der Richtung
nach unten und vorne. Das Wachslhum erfolgt rascher an den Seilen,
wo die beiden Caroliden verlaufen, als in der Mille, -was Rathke zur
Aufstellung seiner paarigen oder seitlichen Schädelbalken veranlasst
hat. Da zu gleicher Zeil die Bindcgewebslamelle, welche die Zwischen-
hirnbasis umgiebl, an der Uebergangsslolle der hinteren in die untere
Fläche des Zwischenhirns sich verdickt, wird der Einc;aniz zu dem unter
2. Heber ßiitwickliiiiß: und Ban der Hy|iopliysis und des Processus inriiiidibiili eerebri. 419
tlciii (Mioidiioiidc lieiicndcn Aiiliiiiijj; dor Schlundhöhlo von allen S<'i(en
verengt. Man erhält in Folge davon einen vom Sclilund(>j)itliel ans-
gekleidelen flachen Hohlraum, welcher din-ch einen (Miiz(>n (lanal senk-
leclil oder schief nach rückwärts mit dei- Schlundliölile connnunicirl.
Das obere Ende dieses Holdraums liegt stets im vorderen Umfang der
Basis (\ov bindegewebigen Scheide der Basilararlerie (des mililei-en
Schüdelbalkens von Rathke), seine; Gestalt richtet sich nach der Beschaf-
fenheit der anliegenden Theile. Als allgemeines Gesetz lässt sich aus-
sprechen, dass seine Längsachse um so mehr der Schädelbasis |)ni'allel
veiläuft, je weniger das Zwischeidiirn über das vordere CliordacMide
nach abwiirts sich gewölbt hat, je geringer mit andern Worten die
Schädelkrümmung des betrettenden Thieres ist. Es zeigen sich dem
entsprechend alle Zwischenstufen zwischen der nahezu horizontalen
Lagerung, welche dieser Hohlraum bei den Haien und jedenfalls in noch
höherem Grade bei den Cykloslomen und der nahezu senkri'chten,
welche er bei Vögeln und Säugelhieien darbietet. Dieser Hohlraum ist
die Anlage der Hypophysis, die Bindegewebslamelle, welche an dei-
Uebergangsstelle der hintei'en in die untere Wand des Zwischenhirns
sich verdickt, stellt die Anlage des vorderen, jene, welche dicht hinler
dem Ghoidaende sich entwickelt, jene des hinteren Keilbeins der höhe-
ren Craniolen dar.
Sobald der Zusanmienhang zwischen Chordaspitze und Schlund-
cpithel gelöst ist , atrophirt wenigstens bei den höheren Cranioten das
Chordaende soweit, als seine Zellen ohne Diiferenzirung geblieben
waren. Der Ausführungsgang, durch welchen die Ilypophysenanlage
mit der Schlundhöhle in Verbindung stand, wird durch stärkere Ent-
wicklung der beiden dem vorderen und hinteren Keilbein der höheren
Wirbellhiere tMilsprechenden Bindegew ebsmassen immer mehr verengt
und schliesslich zum Verschwinden gebracht.
Noch während die Abschnürung im Gange ist, nimmt die Anlage
der Hypophysis an Umfang zu. Zu gleicher Zeit ist der über ihr liegende
Abschnitt des Zwischenhirns in scuner Entwicklung zum Infundibulum
begritten. Beide werden durch die Bindegewebslamelle getrennt,
welche schon in früher Zeit von der Umgebung des Chordaendes aus
das Zwischenhirn umwachsen hatte. Diese Lamelle verhält sich widi-
rend der Volumzunahme der beiden Organe bei den Cykloslomen anders
als bei den übrigen Cranioten.
Bei den Myvinoiden ist die Entwicklung des Zwischenhirns und
dem entsprechend auch die Schädelkrümmung sehr gering, das Infun-
(libuhun entwickelt sich zu einem dünnwandigen ttachen Fortsatz, die
vom ChonhuMide aus längs des Zwischeidiirns herabwachsende Binde-
420 Wilhelm Müller,
gewebslamolle erhält sich und wird an der Berührungsslelle mit dem
Processus infundibuli nur leicht vertieft, sie entwickelt sich zur Haupt-
masse des an dieser Stelle bindegewebig bleibenden Schädels. Der
dem Keilbein der höheren Cranioten entsprechende hinler dem Chorda-
ende und an der Uebergangsstelle der hinleren in die untere Wand des
Zwischenhirns sich ausbildende Bindegewebewulst bleibt dünn und
stellt die verhältnissmässig unbeträchtliche Decke desNasenrachengangs
dar. Die Hypophysis liegt horizontal zwischen beiden Lamellen und
behält während des ganzen Lebens die Lage zwischen unterer Schädel-
fläche und Decke des Nasenrachengangs bei.
Bei den Petromyzonten ist insofern eine Wanderung der Hypophy-
senanlage gegen den Binnenraum des Schädels zu constatiren, als der
den beiden Keilbeinen der höheren Cranioten entsprechende auch hier
bindegewebig bleibende Abschnitt der Schädelbasis eine beträchtlichere
Dicke gewinnt , während der zwischen Hypophysis und der Zwischen-
hirnbasis, welche hier zu einem \oluminöseren Infundibulum sich ent-
wickelt, liegende Abschnitt sich verdünnt. Die Hypophysis liegt auch
hier horizontal zwischen den beiden Lamellen des Schädels, aber des-
sen Binnenraum näher als dessen unlerer Fläche.
Bei allen übrigen Cranioten entwickelt sich der unlere die Ab-
schnürung der Hypophysenanlage bewirkende Abschnitt der an der
Zwischenhirnbasis liegenden Bindegewebslamellen zu mächtigen Di-
mensionen , der obere wird in Folge der stärkeren Entwicklung des
Infundibulum und das gleichzeitige Wachsthum der Hypophysis auf
unbedeutende Dimensionen reducirl. Die Hypophysenanlage kommt in
Folge davon frühzeitig in dem Binnenraum des Schädels zu liegen und
tritt mit dem Infundibulum oder einem Theil des letzleren in unmittel-
baren Contact.
Es folgt hieraus, dass von den Angaben, welche Heinrich Rathkb
über die Entwicklung der Hypophysis gemacht hat, soviel richtig ist,
dass die Drüsenepithelien dieses Organs Abkömmlinge des Schlund-
epithels sind, dass aber von einem Hindurchwachsen einer Ausstülpung
der Schlundhöhle durch die Schädelbasis im Sinne dieses Beobachters
aus dem Grunde keine Rede sein kann, weil di« Anlage der Hypophy-
sis von vornherein über der Anlage der beiden Keilbeine oder ihren
Aequivalenten zu liegen kommt.
Wenn die Anlage der Hypophysis einen gewissen Umfang erreicht
hat, beginnt die Umwandlung des ursprünglich einfachen von Epithel
ausgekleideten Hohlraums zu einem Complex drüsiger Gebilde. Diese
Umwandlung erfolgt unter gleichzeitiger Betheiligung des Epithelial-
rohrs und des Gefässsyslems , und zwar sind es Zweige der Carotiden
2. Heber Kiitwickliiiiü und Bau dor Hy|io|tli\sis niid des Pinccssiis infiiiidibiili fprobri. 421
mit iliioii hindf'tjPwobiiKMi Advcnlilicn , \\('lclu' liici' in Hclijiclit knni-
mon. Sio bedingen in der Wandung des Iloliliiunns eine An/;ilil kurzci-
papillcnförmificr Vormgiingi'n , in deren ZwiscIicniiiiiiiK'n veitlirkt sich
das Kpilhci und hildel zaj)fenföi-niiü;e Verlängeiungen. Sie ^ve^den
dincli Verbreiterung der gefässfilhrenden bindegewebigen Exkrescen-
zen alsl)ald imiwaeliscn , wiiluend zu gleicher Zeil durch sliirkere Er-
liel)ung der lelzleren der ursprüngliche llohhauni sich verengt. Sobald
diese Zapfen eine gewisse Lange erreicht haben, werden sie durch seit-
liche Sprossen der unigel)enden gefiisslührenden Bindesubstanz aus der
(Kontinuität des gemeinsamen Epithelialrohrs gesondeil. Die schlauch-
förnu'gen (Jebilile, welche auf diese Art zu Stande kommen, wieder-
holen ihrerseits den Process, welcher zu ihrer Isolirung gefidirt hatte,
indem sie sich verlängern und seitliche Sprossen treiben, welche von
der gefassfährenden Bindesu])stanz umwachsen und später abgeschnürt
werden. Dadurch wird eine grössere Anzahl theils kürzerer der kuge-
ligen Form sich annähernder, theils in die Länge gezogencM' cylindri-
scher Schläuche luM-vorgebiacht, welche je nach der nctheiligung der
auskleidenden Epithelschicht ein centi'ales Lumen besitzen oder von
Epilhelien gänzlich erfüllt wertlen. Der die ursprüngliche Anlage dar-
stellende Hohlraum wird frühzeitig in Folge der Entwicklung der blei-
benden Drüsenelemente verengt; er wird im weiteren Verlauf entwe-
der durch stärkere Erhebung der die Epithelzapfen umgebenden gefäss-
rüiir<'nden Bindegewebsleisten und l'ntgegenwachsen bis zur Berührung
zum Aufbau der Drüse mit verwendet und dadurch zum Verschwinden
gebracht, dies ist der Fall bei Cyklostomen , Fischen und Ami)hibien,
oder es erhalten sich Reste desselben, welche tlann in der Regel eine
constante Lagerung in der ausgebildeten Drüse einnehmen; dies ist
dei' Fall l)ei Reptilien, Vögeln und Säugethieren. Die ausgebildete Hy-
pophysis zeigt im Wesentlichen denselben Bau bei sämmtlichen Cra-
nioten. Ich schiiesse aus diesem Umstände, dass die Drüse ganz be-
stimmte Functionen zu erfüllen hat, welche mit der successiven Ver-
\ollkon)mnung dei- Organisn)en nicht entbehrlich geworden sind, deim
nur unter dieser Voraussetzung wird die Vererbung des Organs durch
die ganze Ahnenreihe mit Beibehaltung seiner wesentlichen Attribute
\erständlich.
Der gleichförmigen Entwicklung, welche die Hypophysis sämml-
licher Cranioten zeigt, steht eine sehr ungleichförmige Enl^^ icklung des
lidundibulum gegenüber. Nach erfolgter Lösung des Zusairunenhaugs
zwischen Chordaende und Zwischenhirn beginnt der vor dem F^nde
dei- Basilararlerie und ihrer Scheide liegende Abschnitt der Zv^ ischen-
hirnbasis seine WanduuL: zu \erdicken und tzeiien den dreieckisen,
242 Wilhelm Müller,
zwischen Scheide der Basilarartei;;ie (sog. milUerem Schädelbalken) und
Schiidelbasis liegenden Raum sich zu verlängern. An beiden Processen
nimmt das Zwischenhirn bei den einzelnen Glassen der Craniolen in
verschiedener Ausdehnung und in verschiedener Weise Antheil. Bei
den Cykloslomen und Fischen beiheiligt sich die ganze vor dem mitt-
leren Schädelbalken liegende Wand des Zwischenhirns an der Ent-
wicklung des hifundibulum. Während aber bei ersteren das Infundi-
bulum entsprechend der geringen Entwicklung des ganzen Gehirns zu
einem Fortsatz von verhältnissmässig einfachem Bau sich verlängert,
entwickelt es sich bei den Fischen zu einem voluminösen Hirntheil von
complicirter Structur und nur ein meist unbedeutender Abschnitt, wel-
cher als Saccus vasculosus constant zur Hypophysis in Lagebeziehung
tritt, bleibt auf einer frühen Entwicklungsstufe stehen. Bei den Am-
phibien tritt eine erhebliche Reduction ein, indem ein grosser Theil der
ursprünglichen hinteren Wand der Zwischenhirnbasis gar nicht sich
verdickt, sondern zur rudimentären Decke des Lobus infundibuli wird.
Bei den Reptilien , Vögeln und Säugethieren findet diese Reduction in
fortschreitendem Maasse statt, indem ein immer grösserer Abschnitt der
hinteren Wand des Zwischenhirns nur wenig sich verdickt und nur die
Uebergangsstelle der hinteren in die untere Wand zu einem relativ
immer unbedeutender werdenden Fortsatz, dem Processus infundibuli,
auswächst. Das Wachsthum des letzteren erfolgt ziemlich langsam und
schreitet zu einer Zeit noch fort, in welcher das ursprüngliche vordere
Chordaende der Atro])hie schon anheimgefallen ist. Während dieser
Fortsatz bei den Reptilien und Vögeln als ein unzweifelhafter Hirntheil
das ganze Leben hindurch persistirt, erfährt er bei den Säugethieren
eine weitere Reduction, indem sein specifisches Gewebe im Verlauf der
zwiMlen Hälfte des Fötallebens schwindet und durch Bindesubstanz
subslituirt wird.
Bei dieser Sachlage ist es selbstverständlich, dass nicht einmal für
die Säugethiero und Vögel davon die Rede sein kann, die Entwicklung
des Processus infundibuli aus mechanischen Einwirkungen der um-
gebenden Theile, namentlich des Ghordaendes, abzuleiten, wie His
und DiiRSY versucht haben , ganz abgesehen davon , dass eine solche
Ableitung keine Rechenschaft für die auffallende Reduction zu geben
vermöchte, welche die Zwischenhirnbasis im Verlauf der Vervollkomm-
nung der Wiibelthiere erfahren hat. Ueber die Ursachen der Verschie-
denheit, welche die Entwicklung der ursprünglich gleichartigen Anlage
der Zwischenhirnbasis bei den einzelnen Glassen der Granioten zeigt,
lassen sich zur Zeit höchstens Vermuthungen aufstellen. Ich halte es
für wahrscheinlich, dass in Folge der erheblichen Veränderungen,
2. lieber Hiitwiekliiiiti, und liaii der ll\,[)iii)liysis und des l'iocessiis iiifiiiulibuli cerebii. 423
Nvolchc an den Einbryonalanlagen der höheren Wirbellhierclassen ge-
genüber jenen der Gyklostonien und Fischen IVühzeilig zu conslaliren
sind, Leilungsbahnen alhnälig in Wegfall gekommen sind, deren Exi-
stenz das bedingende Element für die verhidlnissniässig hohe Entwick-
lung der Zwisehenhirnbasis bei Cykloslonien und namentlich Fischen
gebildet hat, und dass diesem physiologischen Moment die aullal-
lende Reduction zugeschrieben werden muss, welche di(vser llirnlheil
bei der sonstigen Vervollkonminung dei" Wirbelthiere erfahren hat.
Erklärung der Abbildungen.
Tafel IX.
Fig. 1. Sagiüaler LUngssciiriitt durch die Mitte der Schädelbasis eines Hühnchen-
embryo vom dritten Bebrütungstag. a Nachliirn. b Zwisciienhirn. c Hel-
ler Saum an dessen Basis, d Schlundepilhcl. e Arteria basilaris. /"Chorda,
von der Anlage des Sphenooccipitalknorpels umgeben, g Umgebogenes
Chordaende , mit seiner stumpfen Spitze gerade über dem dreieckigen
vom Schlundcpithel ausgekleideten Raum liegend, welcher sich zur Ilypo-
physis umwandelt. Ii Oberkieferfortsatz.
lig. 2. Derselbe Schnitt von einem 5 Tage alten Hühnerembryo, a Zwischenhirn
und Nachliirn. b Chorda, c Atroithirendes Chordaende, d Anlage des
Sphenooccipitalknorpels. e Arteria basilaris. /" Arteria carotis, g Ober-
kieferanlage, h Anlage des Präsphcnoidknorpels. i Anlage der Hypo-
physis.
Fig. 3. Derselbe Schnitt von einem 7 Tage alten Hühnerembryo, a Arteria basi-
laris. b Anlage des Knorpels der Sattellehne, c Chorda, d Zwischenhirn
mit dem sich verlängernden Processus infundibnii. e Arteria carotis.
/'Anlage des Präsphenoidknorpels. g Oberkiefer, h Bindegewebe zwischen
Schlundcpithel und Carotis. / Ausführungsgang der Itypophysis. /r Anlage
der Hypopbysis.
Fig. 4. Derselbe Schnitt von einem 10 Tage alten Hühnchenembryo, a .\rteria
basilaris mit ihrer Scheide (dem sog. mittleren Schädelbalken), b Knorpel
der Sallellehne. c Chorda, d Chiasma norvorum opticoium. e Processus
infundibuli. f Arteria carotis, g Präsphenoidknorpel. h Schlumiliöliie.
i Ausführungsgang tier Hypopbysis. A; Hypopbysis.
Fig. 5. Derselbe Schnitt von einem 30 .Mm. langen Embryo von Acanthias vulga-
ris, a Mittlerer Schädelbalken, b Basilararlcrie. c Poslsphenoidknorpel.
d Chorda, e Carotis. /'Anlage des Infundibulum. gr Anlage der Hypophy-
sis. h Ausführungsgang der Hypopbysis zum Schlund.
Fig. 6. Derselbe Schnitt von einem 12 Cenlimetcr langen Embryo von Mustclus
vulgaris, o Arieria basilaris mit ihrer Scheide, b Poslspbcnoidalknurpel.
c Chorda, d Arteria carotis, e Unterer Theil der ilypophysis. / Hypopby-
sis. g Infundibulum mit der .Vnlage des Saccus vasculosus.
Fig. 7. Feiner Schnitt durch die Hypopbysis von My.vine glulinosa. « Drüsensub-
stanz. b Interstitielles Bindegewebe mit den Gelassen.
Bd. VI. 3. 29
424 Willielra Müller,
Fig. 8. Querschnitt des Schädels von Myxine glutinosa im Niveau der Hypophysis.
ä Schädelwand, b Dritter Ventrikel, c Ganglion nervi trigemini. d Infun-
dibulum mit dem Processus infundibuli. e Nasenrachengang , über dem-
selben bei f die Hypophysis.
Fig. 9. Längsschnitt durch Schädel und Gehirn eines jungen Petromyzon Pla-
nerii). a Schädel. 6 Fortsätze der Pia mater. c Ausstülpung der Decke des
Zwischenhirns mit der darüber liegenden Epiphysis. d Foramen Monroi.
e Trigonum cinereum. f Inl'undibulum. ^Hypophysis.
Fig. 10. Feiner Schnitt durch die Hypophysis von Scymnus lichia. a Drüscnlumen.
b Epithelschicht, c Protoplasmafortsätze der Epilhelien.
Tafel X.
Fig. 1. Sagittaler Längsschnitt durch Gehirn und Schädelbasis eines i 0 Mm. lan-
gen Embryo von Salamandra maculata. a Unterkiefer mit der Zunge.
b Chorda, c Anlage der Schädelbasis, d Hypophysis. e Chiasma nervo-
rum opticorum. /"Lobus infundibuli. g Dessen rudimentär bleibende Decke.
Fig. 2. Sagittaler Längsschnitt durch Gehirn, Hypophysis und angrenzenden Theil
der Schädelbasis einer 35 Mm. langen Larve von Rana temporaria. a Schä-
delbasis. 6 Hypophysis. c Oberlappen der Hypophysis. d Chiasma.
e Infundibulum. /■Rudimentäre Decke des Lobus infundibuli.
Fig. 3. Sagittaler Schnitt durch die Hypophysis und den Lobus infundibuli einer
erwachsenen Rana temporaria. a Hypophysis. b Oberlappen der Hypo-
physis. c Chiasma. d Lobus infundibuli. e Dessen rudimentäre Decke.
/■Arteria basilaris. g Zweig der Art. carotis. Beide bilden über dem Ober-
lappen der Hypophysis einen Plexus.
Fig. 4. Sagittaler Schnitt durch Hypophysis und Processus infundibuli von Emys
picta. a Processus infundibuli. b Oberlappen der Hypophysis. c Hypo-
physis.
Fig. 5. Sagittaler Schnitt durch Hypophysis und Processus infundibuli von Co-
lumba livia. o Processus infundibuli. b Chiasma. c Pia mater zwischen
Hypophysis und Processus infundibuli mit einem lockeren Plexus von
Zweigen der Art. basilaris und Art. carotis, d Oberlappen der Hypophy-
sis. e Hypophysis.
Fig. 6. Sagittaler Schnitt durch Schädelbasis, Hypophysis und Processus infun-
dibuli eines Schweinsembryo von i 8 Mm. a Chorda, gebogen durch die
Anlage des Sphenooccipitalknorpels verlaufend, b Deren atrophirendes
Vorderende, c Anlage des Knorpels der Schädelbasis, d Arteria basilaris.
e Processus infundibuli. /Anlage der Hypophysis mit Ausführungsgang.
Fig. 7. Sagittaler Schnitt durch Schädelbasis, Hypophysis und Processus infundi-
buli eines Schafembryo von 7 Centimeter Länge, a Chordaende, b Knor-
pelige Schädelbasis, c Satteliehne , von der knorpeligen Anlage der Schä-
delbasis durch einen Perichondriumstreif noch getrennt, d Hypophysis.
e Processus infundibuli.
1) Bei dem erwachsenen Petromyzon fluviatilis liegt der unteren Fläche der
Schädelbasis an der Stelle, wo sie die Hypophysis beherbergt, der Nasenrachengang
an, welcher bei jungen Thieren noch nicht entwickelt ist. Der zwischen hifundi-
bulum und Hypophysis befindliche Schädelabschnitt ist zugleich von beträchtliche-
rer Dicke.
3. r.iii Fall von k^stüuiiitüscui Adenom der llypopliysis. 425
Fig. 8. Sagitlalcr Scluiitt durch die oberste Partie der Hypopliysis und des Pro-
cessus infuiidibuli eines Scliwcinscnibryo von 18 Ccntimcler Länge.
a Ende der Holde dos Infundibuiuni. b Processus iiifundibuli, dessen
Holde obliterirt und dessen Wandung von Bündeln vorwiegend spindel-
förmiger Zollen gebildet wird, c Hypopliysis. d Deren Verlängerung gegen
das Chiasma.
Tafel XII.
Fig. 1. Sagittaler Schnitt durch Schädel und Gehirn einer eben aus dem Ei ge-
schlüpften Froschlarve von 5 Mm. Liingc. a Unterkiefer, ü Herz,
c Schlundepithel, rf Chorda, e Anlage der Schädelbasis. /"Gehirn. 9 An-
lage des Lobus infundibuli.
Fig. 2. Schnitt durch Schädel und Gehirn einer Larve von Rana temporaiia von
10 Mm. Länge, a Unterkiefer, b Schkindepithel. c Chorda, d Anlage
der Schädelbasis, e Gehirn. /' Lobus infundibuli. g Anlage der Hypo-
pliysis.
3. Ein Fall von kystouiatösem Adeiioui der Hypopliysis.
K., 81 Jahre alt, Beamter, wurde im Lauf des Jahres 1866 in die
Klinik des Herrn Geh. Ilofrath Gerhaudt aufgenommen. Ueber Erschei-
nungen und Verlauf der Krankheit verdanke ich Herrn Privaldocenten
Dr. Seidel, damals Assistenzärzte der Klinik, folgende kurze Notiz.
Patient hatte seit 6 — 8 Jahren wiederholte apoplektiforme Anfälle, in
deren Verlauf er allmälig geistesschwach wurde. Etwa zwei Wochen
vor der Aufnahme in die Klinik bemerkten die Angehörigen eine un-
vollkommene Lähmung des rechten Arms. Patient selbst ist völlig
ausser Stande, Angaben über seinen Zustand zu machen, seine Sprache
ist unverständlich , monoton, unsicher, erbringt als Antwort auf die
ihm gestellten Fragen gewöhnlich nur die letzten Worte der Frage
mühsam heraus und behält solche dann als stehende. Antwort oft
Wochen lang bei. An seiner Umgebung nimmt er keinen Theil, ist bald
heftig , bald heiler gestimmt ohne entsprechende Veranlassung, lieber
die Sensibilität ist nichts Sicheres zu ermitteln. Der rechte Arm ist in
einem Zustande von Halblähmung, die feineren Bewegungen der Hand
sind ganz unmöglich , Patient kann nicht einmal selbst essen. Heben
und Beugen des Arms sind nur in beschränktem Umfang möglich. Er
kann nur geführt gehen, auch da mühsam; das rechte Bein scheint
schwächer. Will er selbst aufstehen oder gehen, so fällt er in der Regel
schwer. Stuhl und Urin wird in das Bett gelassen. Von Ende Juli an
starkes Jucken am ganzen Körper, so dass er sich überall, besonders
im Gesicht zerki-atzt. Strabisnuis convergens schon länger bestehend.
29*
426 Wilhelm Müller,
Leichte linksseitige Facialisliihmung. Pupillen gleich , das rechte Auge
meist geschlossen. Vegetirt so fort ohne besondere Aenderung. Ende
September Husten , öfteres Frieren , Abnahme des Appetits , der nie
sehr stark war. Anfangs October Zunahme des Hustens. Tod den
10. October früh 8 Uhr ohne besondere Erscheinungen.
Section denselben Tag Abends 4 Uhr. Nur die Eröffnung des
Kopfes gestattet. Dickwandiges Schädeldach , an der Innenseite des
linken Stirnbeins eine erbsengrosse höckerige Exostose. Dura verdickt,
mit der Glastafel fest verwachsen , ihre Innenfläche über beiden Hemi-
sphären von einer zarten mit feinen Gefässen versehenen graugelb-
lichen Membran überzogen , in welcher einzelne frische Hämorrhagien.
Diffuse Trübung der Arachnoides, in ihren Räumen eine die Norm weit
überschreitende Menge klarer Flüssigkeit. Die Gefässe der Pia blutarm.
Das Gehirn atrophisch , die Hirnwindungen, namentlich beider Stirn-
lappen verschmälert und weit aiiseinanderstehend. Umschriebene leichte
Abplattung der beiderseitigen Frontoperietalwindungen unmittelbar
neben der Mittellinie, Marklager und Rinde schmal, die Gonsistenz
zähe. Seitenventrikel erweitert, klare Flüssigkeit führend, Ependym
leicht granulirt. Beide Sehhügel atrophisch bei normaler Gonsistenz
und Farbe, leichte Alropliie von Pens und verlängertem Mark. Die
Arterienzvveige an der Gehirnbasis erweitert und verkalkt. Der linke
Nervus olfaclorius nahe seinem Ursprung unbedeutend abgeplattet.
Beide Nervi optici gleich dem Chiasma und den Tractus verschmälert.
Dura mater über der Sattelgrube in flachem Bogen vorgewölbt durch
eine mit ihr verwachsene weiche die Sattelgrube erfüllende und über
letztei'e vorr.igende Geschwulst vom Umfang einer grünen Wallnuss.
Processus infundibuli mit dem hinteren Umfang der Geschwulst ver-
wachsen, gleich dem Infundibulum ohne erhebliche Veränderung. Sat-
telgrube erweitert, Sattellehne etwas nach rückwärts gebogen.
Die genauere Untersuchung ergab, dass an der Geschwulstbildung
nur die llypophysis betheiligt war. Der Processus infundibuli lag mit
verdicktem Ende der hinteren Fläche der Geschwulst an und liess sich
stellenweise ohne Schwierigkeit von letzterer trennen. Die Geschwulst
selbst war von kugeliger Form , die Oberfläche glatt, auf dem Durch-
schnitt zeigte sie drüsig -körnigen Bau, röthlichgelbe Farbe, weiche
Gonsistenz und gallertiges Aussehen. Nahe der hinteren Fläche enthielt
sie eine runde, erbsengrosse, mit glatter, glänzender Wand versehene,
mit gelblicher, klarer Flüssigkeit erfüllte Höhle. Sie war allseitig von
einer massig dicken bindegewebigen Kapsel umgeben, welche mit den
Gefässen feine Fortsätze in das Innere entsandte. Den Hauptbestand-
theil der Geschwulst bildeten drüsige Schläuche. Sie waren theils kurz,
3. I'",iii Fiill von kystoiiiiitösiMii \(l('iiniii der II\|io|ili\'si.s. 427
(k'r Kiigelfonn sich annähornd, llicils in tlio Länge gezogen und etwas
gewunden, ihr Durchniessci" schwankte zwischen 0,0."^ und 0,-1. Sie
waren gebiUlel von einer zarten Membrana propria, welche namentlich
an den dickeren Schläuchen ungemein dünn war. Erfüllt wurden sie
im Innern von Epithelien. Diese stellten an den kleineren Schläuchen
Cylinder dar von 0,005 Breite bei 0,015 Länge nn't rundem Kern, an
den grösseren Schläuchen lagen die deutlichen Cjlinderepilhelien vor-
wiegcMul j)eripher und waren zum Theil stark verkürzt, nach Innen zu
schlössen sich daran theils (juadratische, theils polygonale, theils rund-
liche Zollen von 0,008 — 0,015 Durchmesser mit einem, seltener zwei
bis drei Kernen und feinkörnigem, hie und da kleine Vakuolen zeigen-
dem Protoplasmakörper ohne peripherische Verdichtung. Diese Zellen
erfülllen die Schläuche theils vollständig, theils Hessen sie ein centrales
Lumen von 0,02 — 0,OG frei. Dieses Lumen erwies sich am gehärteten
Präparat theils leei', enthielt also im frischen Zustand wohl Flüssigkeit,
theils ausgefüllt von gelblichen, mattglänzenden Colloidklumpen, welche
ähnlich jenen der Schilddrüse in Wasser quollen und in verdünnten
Alkalien sich lösten. Die Wandung der kleinen Cyste, welche nahe der
hinteren Fläche der Geschwulst ihren Sitz halte , bestand aus einer
deutlichen Membrana piopria und dieser aufsitzendem mehrfachen
kurzen (]ylinderepithel. Die Interstitien der Drüsensubstanz wurden
erfüllt von Gefässen mit netzföirniger sie umhüllender Bindesubstanz.
Die Arterien und Venen waren in massiger Zahl vorhanden, die Capil-
laren sehr weit, zwischen O.Ol und 0,03 messend, sehr dünnwandig.
Der Befund der Geschwulst weicht in keinem wesentlichen Punkte
von dem Befunde ab , welchen die normale Hypophysis darbietet. Die
Vergrösserung der einzelnen Drüsenschläuche, welche sich constatiren
Hess , reichte nicht hin , um die beträchtliche Volumvergrösserung des
ganzen Organs zu erklären ; es musste demnach neben der Vergrösse-
rung eine Neubildung von Drüsenschläuchen erfolgt sein. Die Cyste,
welche am hinteren Umfang der Geschw ulst vorhanden war, enlsprach
aller Wahrscheinlichkeit nach einem der in der normalen Schleimdrüse
an dieser Stelle gewöhnlich vorhandenen mikroskopischen Hohlräume.
Die Eigenschaften der vorliegenden Geschwulst berechtigen, sie den
Adenomen zuzuzählen ; vermöge der Gallerlabscheidung in der Höhle
der Drüsenräurae nähert sie sich den gelatinösen, vermöge der Cysten-
bildung den kystomalösen Formen des Adenom. Ihre Entwicklung
halte den Erscheinungen während des Lebens nach zu schliessen etwa
acht Jahre beansprucht; diese Langsamkeit der Entwicklung in Ver-
bindung mit dem vorgeschrittenen Hirnschwund, der immerhin theil-
woise der Altersmetamorphose wird zugeschrieben werden nn'isscn,
428 Wilhelm Müller,
erklärt es , dass trotz des beträchtlichen Volums verhältnissmässig ge-
ringfügige anatomische Veränderungen des überliegenden Gehirns zu
Stande gekommen sind.
Vv^enn es nach Vmciiowi) bis jetzt nicht ausgemacht ist, ob der
»vordere Lappen a der Hypophysis sich zu einer Struma gelatinosa ent-
wickeln kann, so gestattet die vorliegende Beobachtung, diese Frage in
positiver Weise zu bejahen. Wenn derselbe Beobachter ferner behaup-
tet, dass die einfache Vcrgrösserung der Hypophysis kein bedeutendes
Maass erreiche und grössere Geschwülste, welche unter dem Namen
der Hypertrophie beschrieben worden sind, ohne Weiteres als Krebs
angesehen werden können , so zeigt der gegenwärtige Fall , dass diese
Behauptung Virchow's der Begründung entbehrt. Es wird sich im
Gegentheil empfehlen , die in den Sammlungen vorhandenen Präparate
von umfänglicheren Neubildungen in der Sattelgrube einer erneuten
mikroskopischen Untersuchung zu unterwerfen , da ich nicht zweifle,
dass eine solche die Zahl der einfachen und gallertigen Adenome der
Hypophysis mehren wird.
4. lieber die Eut^Yickliiug der Schilddrüse.
Die Angaben , welche über die erste Anlage der Schilddrüse vor-
liegen, sind zu widersprechend, als dass sie den Schluss auf einen für
sämmtliche Wirbelthierclassen gemeinsamen Entwicklungsplan gestat-
ten würden.
Nach den Angaben Huschke's^) geht die Schilddrüse hervor aus
einer Umwandlung der äusseren Partien der Kiemenbogen , welche im
Anschluss an deren Involution stattfindet. Zur Begründung dieser An-
gabe führt HuscHKE an : I) das Fehlen der Glandula thyreoidea in der
Classe der Fische, 2) die Lagerung an der äusseren Seite des hinleren
Zungenbeinhorns beim Frosch, 3) ihr paariges Auftreten beim Hühn-
chen am 7. Bebrütungstag , nachdem die Kiemenbogen verschwunden
sind, 4) das Getrenntsein ihrer beiden Hälften in frühen Entwicklungs-
sladien von Vögeln und Säugethieren durch einen weiten Zwischen-
raum, welcher bei den höheren Säugethieren sich verkleinert und erst
1) Die krankhaften Geschwülste. III. p. 86 und 88.
2) Isis 1826. p. 621. 1827. p. 403.
4. Uebcr die Knlwickliinu der Scliilddrüsc. 429
im Affen und Menschen unter Verschmelzung der Drüse zu einem ge-
meinsamen Körper schwindet.
N;ioh Rkmak '), dessen Angaben sich auf die Vögel und speciell das
Hühnchen beziehen , geht die Schilddrüse hervor aus einer unpaarcn
Ausstülpung der vordei-cn Schlundwand. Nach diesem Beobachter zeigt
sich, wenn das Aortenende des Herzens den zweiten Schlundbogen
verlassen hat, was ungefähr um die 70. Bebrütungsstunde zu gesche-
hen pflegt, an der Vereinigungshaut der Schlundbogen dicht über dem
Aortenende des Herzens ein runder undurchsichtiger Fleck von etwa
Vis"' Durchmesser. Bei mikroskopischer Untersuchung überzeugt man
sich leicht, dass dieser Fleck von einer Verdickung des Drüsenblatts
lierrührt, in dessen Zellen an dieser Stelle die Fetttröpfchen grösser
und zahlreicher sind. Dieses runde Stück des Drüsenblatts bildet als-
bald eine sackförmige Ausstülpung, welche sich milsanunt einem zarten
von der Vereinigungshaut herrührenden Ueberzug von der Schlund-
höhle abschnürt, so dass es an der Bauchfläche derselben genau in der
Mittellinie des Körpers dicht über dem Aortenende des Herzens zu lie-
gen kommt. Sobald das Aortenende des Herzens mit den drei Aorten-
bögen sich von den Schlundwänden ablöst, folgt ihm das blasige Drü-
senblattstück und liegt alsdann in dem spitzen Winkel, welchen die
Aorlenwurzeln der rechten und linken Seite mit einander bilden.
Dieses Drüsenblaltstück theilt sich durch Abschnürung alsbald in zwei
Blasen, welche zu beiden Seilen der Luftröhre neben der aus dem in-
nersten Aortenbogen hervortretenden Carotis ihre Lage einnehmen.
His2]^ welcher gleich Remak seine Beobachtungen am Hühnchen
angestellt hat, hält es für wahrscheinlich, dass die Schilddrüse aus
paarigen Verlängerungen der seitlichen Partieen der Schlundwand her-
vorgehe, und giebt eine hierauf bezügliche Abbildung.
Ueber die erste Anlage der Schilddrüse bei Säugethieren liegen
übereinstimmende Angaben von Arnold '^'j und Ratuke ^) vor. Nach
diesen Beobachtern entwickelt sich das Organ aus der Luftröhre, nach
ersterem an der Stelle, wo der Kehlkopf sich bildet, beim Menschen in
der 7. bis 8. Woche, nach letzterem dicht hinter dem Kehlkopf zu der
Zeit, wenn in der Luftröhre die einzelnen Ringe sich zu ])iiden begin-
nen. Nach den Beobachtungen Arnold's ist die Vermulhung Meckel's,
dass die Anlage Anfangs durch einen Ausführungsgang mit der Luft-
röhre communicire, welcher später sich schliesst, sehr begründet.
1) Untersuchungen über die Entwicklung der Wi[i)clthierc p. 39.
2) Untersuchungen über die erste Anlage desWirbelthierleibes. Leipzig 1868.
3) Erhardt's mcdizinisch-ciiirurgischc Zeitung. 1831. IV. p. 301.
4) Nova acta Acad. Leopold. Carol. XIV. p.208.
430 Wilhelm Müller,
lieber die Entwicklung der bleibenden Drüsenelcmenle aus der
ursprünglichen Anlage liegen Angaben von Remak, Billuoth und Köl-
LiKER vor. Sie beziehen sich sämmtlich auf Vögel und Säugethiere.
Nach den Beobachtungen Remak's i) erhalten die beiden Epithelial-
blasen , in welche die unpaare Anlage der Schilddrüse des Hühnchens
sich theilt, alsbald an ihrer Oberfläche mehrere neue Einschnürungen,
was ihnen ein gelapptes Ansehen giebt. In der Thai sind diese Um-
wandlungen auch die erste Andeutung der Lappön, welche man an der
erwachsenen SchiUldrüse unterscheidet. Doch erfolgt die vollständige
Abschnürung dieser Abtheilrfngen von einander erst gegen das Ende
.des Eilebens. Bevor sie eintritt, entstehen in der verdickten Wand der
Epithelialblase, ganz unabhängig von der gemeinsamen Höhle, die An-
lagen neuer Epithelialblasen. Mit der Verdickung der "Wand ist nämlich
eine Zunahme der Zellen verbunden, so dass auf die Dicke der Wand
mehrere Zellen kommen. Jene W^andzellen gruppiren sich nun der-
gestalt, dass in der Wand lange radial gestellte Reihen von Zellenhäuf-
chen zu Stande kommen, von denen ein jedes die Anlage einer blei-
benden Epithelialblase enthält. Unterstützt wird diese Sonderung da-
durch, dass von der bindegewebigen Umhüllung her dünne Fortsätze
zwischen die Reihen der Zellhäufchen eindringen, dazu bestimmt, für
jedes Häufchen eine bindegewebige Hülle zu liefern. Jedes Zellenhäuf-
chen bildet demnach einen runden oder ovalen, soliden, aus Zellen be-
stehenden Körper, welcher, wie es scheint, durch fortschreitende Thei-
lung aus einer einfachen Zelle hervorgegangen ist. Erst gegen das Ende
des Eilebens rücken die kleinen Zellen jener Anlagen so auseinander,
dass sie als ein einschichtiges Epithel eine Höhle umschliessen , die
demnach nicht eine unmittelbare Fortsetzung der primitiver;i Höhle der
Drüsenanlage bildet. Mit anderen Worten, die Epithelbläschen, welche
im erwachsenen Zustande die Alveolen der Schilddrüse auskleiden,
entstehen aus der Wand der primitiven Schilddrüsenblase. Was aus
der Höhle der letzteren wird, konnte Remak nicht hinlänglich eruiren.
Sicher sei nur, dass sie in dem Maasse sich verengt und unkenntlich
wird, in welchem ihre Wand sich verdickt. Es sei daher möglich, dass
sie nicht ganz schwindet, sondern die sie zunächst begrenzende Zellen-
schicht der Wand nicht zur Bildung von secundären Epithelblasen ver-
wendet wird und eine centrale Epithelblase bildet, welche durch fer-
nere Einschnürung in kleinere Blasen zerfällt.
Remak stützt diese Deutung durch das Verhalten der Schilddrüse
bei Säugelhierembryonen. Bei Schweinsembryonen von 4 Zoll Länge
1) a. a. 0. p. 122.
4. Ueber die Entwicklung der Schilddrüse. 4^1
und darüber findet iiiiiii in der l'ciiplKMic» dcv Scliilddrilsc sehr kleine,
rundliche, peschlossonc I'4)ithell)l;Kson. iinCenlruni diiiirpen sehr grosse
und zum Theil schlauchförmige, welche in der Abschnürung begrilFen,
angetiolTen werden. Auch hier bemerkt man Erscheinungen, welche
daraufhindeuten, dass nicht sämrntlichc Blasen durch fortschreitende
Abschnürung sich bilden , sondern auch aus verdickten Stellen der
Blasenwand hervorgehen, in denen unabhängig von der Höhle der Mut-
lerblase eine Höhle Sich bildet, ähnlich wie es bei der Anlage der ersten
secundären Blasen in der Wand der primitiven Schilddrüsenblase des
Hühnchens beobachtet wird. Man beobachtet nämlich Epilhclblasen,
welche zwar eine zirkelrunde Höhle darbieten, deren Wand aber zipfel-
förmige solide Vorsprünge bildet. Diese enthalten offenbar die Anlagen
neuer Blasen , denn man sieht zuweilen grössere Blasen , deren Vor-
sprünge schon kleine runde Höhlen enthalten, ohne dass ein Zusammen-
hang der letzteren mit der Höhle der grösseren Blasen bemerkbar wäre
Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass die Epithelblasen, welche
iUi erwachsenen Zustand der Wirbelthiere die eigenthümlichen Be-
standlheile der Schilddrüse bilden, Abkömmlinge des das Nahrungsrohr
auskleidenden Drüsenblatts sind.
BiLLBOTH ') erklärt, dass er die Angaben Bemak's, welche er repro-
ducirt. bei Hühner- und Natlerembryonen, sowie bei frischen mensch-
lichen Fötus verschiedenen Alters vollständig bestätigt gefunden habe,
um wenige Zeilen später zu erklären , dass er den Entwicklungsgang
beim Hühnchen nicht so klar wie Bemak gefunden habe. Weder für die
eine noch für die andere Angabe bringt Billroth irgend eine Be-
gründung.
Kölliker2] erklärt es für sicher, dass die Schilddrüse bei den
Säugethieren sehr früh auftritt und längere Zeit aus zwei getrennten
Hälften besteht. Er giebt an, sie beim Rindsfötus von 7 — 8'" wahr-
genommen zu haben , wo sie schon gar>z und gar aus kleinen Drüsen-
körnern bestanden habe, welche er zu 0,01 — 0,02'" bestimmte. Bei
dem Menschen sei sie in der 7. — 8. Woche doppelt vorhanden und
besiehe ebenfalls aus kleinen Follikeln. Er lässt die Follikel beim Men-
schen durch Treiben rundlicher Sprossen und Abschnürung derselben
sich vervielfältigen und muss die Angaben Remaks, welcher eine Ver-
mehrung der Blasen durch Bildung solider Epithelknospen wahrgenom-
men zu haben glaubt. voUkonunen bestätigen. Bei Kalbsembryonen
von 3" Länge, bei welchen die zwei Schilddrüsenanlagen schon durch
\) Archiv für Anatomie und Physiologie. 1856. p. 144.
2) Entwicklungsgeschichte p. 390.
432 Wilhelm Müller,
einen Isthmus verbunden waren, fand er nur im Innern hohle Follikel,
während die oberflächlichen Lagen ganz und gar aus eigenthümlichen
soliden Zellenhaufen von den verschiedensten Formen bestanden. Durch
Präparalion gelang es ihm, ziemlich lange, gewundene, leicht ästige
Stränge von 0,008 — 0,015'" Breite zu isoliren, welche theils seitlich,
theils endständig mit cylindrischen oder leicht angeschwollenen Spros-
sen l)esetzt waren, doch glückte es ihm nicht, diese Gebilde vollständig
darzustellen und ihre Form genau zu bestimmen.
Was den Bau der ausgebildeten Schilddrüse betritTt, so lauten,
seit John Simon in der Cyclopaedy die ganz isolirt dastehenden Angaben
Cruveilher's widerlegt hat, die übereinstimmenden Angaben aller
Beobachter dahin, dass die normale Schilddrüse aus mit Flüssigkeit ge-
füllten, geschlossenen, innen von einer Epithelschicht ausgekleideten
Follikeln und interstitieller Blut- und Lymphgefässe führender Binde-
substanz bestehe.
Dem gegenüber behauptet Virchow^), dass die scheinbaren Blasen
oder Follikel, welche die Schilddrüse zusammensetzen, vielfach unter-
einander zusammenhängen und verästelte blasige Auswüchse oder
Fortsätze besitzen, welche jedoch selten in einer Ebene liegen und da-
her je nach der Richtung des Schnitts bald als isolirte, bald als verbun-
dene, runde, ovale oder längliche Gebilde von sehr verschiedener
Grösse erscheinen. Die einzelnen Körner oder Läppchen sind daher
mehr als Systeme verästelter und blasig ausgestülpter Follikel, nicht
als blosse Aggregate getrennter Blasen anzusehen. Jeder Follikel besitzt
eine structurlose Membran , ausserhalb welcher die eigentliche binde-
gewebige Masse und die Gefässe liegen , und in deren Innern eine ge-
wisse grössere oder kteinere Zahl von kernhaltigen Rundzellen enthal-
ten ist. Häufig sehe man auch freie Kerne, indess seien diese wohl aus
zelligen Elementen frei geworden. Früher habe man geglaubt, diese
Zellen bildeten ein Epithel der Follikel ; allein wenn man normale Fol-
likel nimmt, so sieht man sie ganz und gar mit Zellen gefüllt; es ist
keine epitheliale Bekleidung, sondern eine Ausfüllungsmasse; die Zellen
liegen durch die ganze Dicke des Follikels hindurch und stimmen in
Bau und Grösse am meisten mit den Zellen der Lymphdrüsen überein.
Ich habe zur Prüfung der voranstehenden Angaben Repräsentanten
sämmtlicher Wirbelthierclassen untersucht. Bei Amphioxus habe ich
jede Spur der Schilddrüse vermisst. Sie müsste hier als ein rundliches
Säckchen an der Ventralseite des Schlundes gerade zwischen den bei-
1) Dio krankhaften Geschwülste. III. Band. p. 7.
4. lieber die Entwicklung der Schilddrüse. 433
den dircclen Aortenbot;cn liegen. An dieser Stelle fehlt ein solches
Gebilde.
Dagegen ist mir der Nachweis des Organs in der Classe der Cyklo-
stomcn bei Myxine gluliuosa gelungen , welcher die Schilddrüse l)isher
allgemein abgesprochen worden ist. Sie liegt hier in der fettreichen
Bindegewebslanielle, welche sich von der VenlralflUche des Oesophagus
zur oberen Fläche des Kiemenartericnslanimes in dessen ganzer Aus-
dehnung erstreckt und besteht aus einer ziemlich beträchtlichen Zahl
theils zerstreut liegender isolirter, theils zu kleinen Gruppen von 2 — 5
vereinigter rings geschlossener Follikel. Letztere sind theils von kuge-
liger, theils von ellipsoidischer Gestalt, der Durchmesser der ersteren
schwankt zwischen 0,1 und 0,25, der Längendurchmesser der letzte-
ren erhebt sich bis zu 0,4. Sie bestehen aus einer dünnen Mendirana
propria und dieser aufsitzendem einschichtigem Epithel. Die Zellen des
letzteren sind theils cubisch, 0,008 im Durchmesser, theils cylindrisch,
0,012 hoch. 0,008 breit, sämmtlich mit Kernen von durchschnittlich
0,006 und 1 — 2 Kernkörperchen und sehr zartem, feinkörnigem Proto-
plasmakörper versehen. Das Epithel umschliesst eine scharf begrenzte
mit klarer, farbloser Flüssigkeit gefüllte Höhle.
Bei Petromyzon fluviatilis halte ich für das Aequivalent der Schild-
drüse den paarigen birnförmigen Sack, welcher beiderseits vom Zun-
genbeinknorpel, zwischen Muskeln versteckt, bis zum Beginn des
Bronchus sich erstreckt. Er besitzt eine Membrana propria, welche
stellenweise kurze faltenartige Vorsprünge gegen das Innere bildet,
einen Ueberzug von geschichtetem Cylinderepithel und eine scharf be-
grenzte geräumige Höhle. Einen Ausführungsgang habe ich so wenig
als Ratuke auffinden können.
Aus der Classe der Fische habe ich 30 Mm. und 20 Centimeter
lange Embryonen von Acanthias vulgaris sow ie erwachsene Exemplare
von Raja clavata untersucht, die ersteren nach der Methode der succes-
siven Querschnitte.
Bei den 30 Mm. langen Embryonen von Acanthias vulgaris war
die Anlage der Schilddrüse von der Schlundhöhle bereits gesondert.
Sie lag in der Mittellinie der vorderen Schlundwand und stellte ein
ellipsoidisches in der Richtung vom Rücken zum Bauch abgeflachtes
Säckchen dar. Die Breite dieses Säckchens betrug 0,4, seine Länge 0,5,
seine Dicke in der Mitte 0,07, an den beiden verschmälerten Seiten
0,03. Vor demselben waren die Anlagen des Unterkiefers und Zungen-
beins sichtbar, dem hinteren Ende lag die Theilung des 0,08 weiten
Kiemenarterienstamms in seine beiden vordersten Aeste dicht an. Die
untere Fläche war bedeckt von dem deutlich paarigen Musculus slerno-
434 Wilhelm Müller,
hyoideus. die obere durch eine massig dicke, zellcnrciche Bindcsub-
stanzlage mit einzelnen Muskeln vom Schlundepilbel geschieden. Die
Anlage bestand aus einer dünnen Schicht von spindelförmigen Zellen
gebildeter Bindesubstanz, vs'elcher nach Innen mehrschichtiges, cylin-
drisches, an grösseren und kleineren gelben Pigmenlkörnern reiches
Epithel aufsass. Dieses berührte sich an den verschmälerten seitlichen
Enden des Säckchens, während in der Mitte zwischen der unteren und
oberen Fläche ein scharf begrenztes Lumen von 0,0i frei blieb.
Bei den älteren Embryonen von Acanthias bildete die Schilddrüse
einen flachen ellipsoidischen Körper von 1,3 Mm. Durchmesser bei 0,4
Dicke. Sie lag der Mitte der vorderen Fläche des Schlundes an , zwi-
schen Zungenbein und Theilung des Kiemenarterienstammes, ventral-
wärts bedeckt vom Muse, sternohyoideus. Sie besass eine dünne aus
spindelförmigen Zellen bestehende bindegewebige Kapsel, von welcher
aus zarte Fortsätze in das Innere eindrangen. Mit den von beiden Sei-
ten her in die Drüse eintretenden Arterien begaben sich stärkere an
Lymphkörpern reiche Scheiden in das Innere der Drüse, deren Mitte
von einem lockeren Gefässplexus eingenommen wurde. Die Drüsen-
subslanz wurde dargestellt zum grössten Theil von etwas gewundenen
0,08 — 0,1? im Durchmesser haltenden Schläuchen, zum kleineren von
isolirlen kugeligen, 0, 1 5 im Durchmesser haltenden Follikeln. Schläuche
und Follikel bestanden aus einer dünnen Membrana propria und dieser
aufsitzendem cylindrischen Epithel, welches in den Follikeln ein deut-
liches, in den Schläuchen ein schmales spaltartiges Lumen frei liess.
Bei zwei sehr grossen Exemplaren von Baja clavata stellte die
Schilddrüse einen braunrothen. flachen, vor der Theilung des Kiemen-
arterienstammes in seine beiden vordersten Aesle liegenden Körper
dar. Sie bestand aus einer bindegewebigen Kapsel , von welcher aus
gefässführende Septa in das Innere eindrangen, das Organ in eine
spärliche Anzahl von Läppchen zerlegend. Diese setzten sich zusam-
men aus umschriebenen Follikeln und gefässführender interstitieller
Bindesubstanz. Die Follikel waren zum grössten Theil kugelig, zum
kleineren Theil etwas verzogen und länglich, ihr Durchmesser schwankte
zwischen 0,15 und 0,4. Sie besassen eine dünne Membrana propria
und eine Auskleidung von cylindrischem Epithel. Letzteres er\vi(^s sich
an der Mehrzahl der Follikel einschichtig, in lange gegen die Höhle ge-
richtete Forlsätze ausgezogen, die einzelnen Zellen mit feinen gelb-
lichen Pigmenlkörnern versehen und am freien Bande einen feinen
glänzenden Saum zeigend. In einem Theil der Follikel war mehrschich-
tiges Epithel vorhanden , welches hie und da kurze papillenartige Vor-
sprünge gegen das Innere bildolo. Die Höhle der Follikel war an den
4. lieber die Eiilwicklmiü der Scliilddriise. 435
inillleroii uml kleineren ci lullt von durchsichtiger Flüssigkoil, ;m den
giösseren enthielt sie iheils homogene, gelbliche Giillertinjissen , llieils
Anhäufungen rundlicher jm gelbem Pigment reicher Kornchenzellen.
Diis inlerslitielle Gewebe beslnnd aus librilUirer Bindesul)slanz, welche
die verhiiltnissmüssig weiten Gefässe mit lockeren Netzen umsparni.
Aus der Classe dei' Amphibien untersuchte ich \on der Oidiiung
der Urodela Salamandia maculala in erwachsenen Exemplaren l)i(^
Schilddrüse ist bei diesem Thiei'c paarig und liegt als ein länglicher,
braunrother Körper an der inneren Fläche der hinteren Zungenbein-
hörner nahe deren Ende und wird nach Aufhebung des sie deckenden
Muse, omohyoideus sichtbar. Sie besitzt eine dünne bindegewebige
Kapsel und besteht dui'chweg aus geschlossenen kugeligen Follikeln
von 0, |;) — 0,3. Die Follikel l)estehen aus einer homogenen Meml)rana
propria, einem einschichtigen, dieser aufsitzenden Epithel mit cul>i-
schen Zellen von 0,016 Seitenlänge und rundlichen Kernen von 0,01
und einer centralen scharf begrenzten Höhle, welche entweder farblose
Flüssigkeit oder eine blassgelbliche Gallerte enthält. Die Follikel sind
umgeben von dem spärlichen interstitiellen Gewebe, welches, aus einem
Netz fibrillärer Bindesubslanz bestehend, die Gefässe umgiebt. Lelzteie
sind verhältnissmässig weit, die Arterienzweige lösen sich in ein Ca])!!-
larnetz auf, welches auf der Membrana propria der Follikel quadratische
Maschen von durchschnittlich 0,05 Weite bildet.
Aus der Ordnung der Batrachia untersuchte ich die Schilddrüse
des braunen Frosches (Hana lemporaria L. und EcKnu, Rana platyrhi-
nus Stkk.nstrup) von ihrer ersten Anlage bis zur definitiven Gestaltung.
Die frühesten Stadien sind bei diesem Thier schwer zu verfolgen, da
der Reichthum an schwarzem Pigment die Anwendung der Methode
der successiven Schnitte erforderlich macht und methodisch angefertig-
ten Querschnitten entsprechende Längsschnitte zur Seite gehen müssen,
die Schnitte aber bei der grossen Brüchigkeit der Gewebe junger Lar-
ven leicht missglücken. Zur Untersuchung benutzte ich durchweg
Larven, welche 5 Tage in chromsaurem Kali , hierauf in verdünntem
und schliesslich in absolutem Alkohol längere Zeit gelegen halten.
Das früheste Stadium in der Entwicklung der Schilddrüse boten
Larven, welche seit kurzem das Ei verlassen hatten. Das Verbindungs-
stück der beiden vorderen Schlundbogen war leicht verdickt und be-
stand aus massig pigmentreichen, spindelförmigen und rundlichen Zel-
len , in Folge des geringeren Pigmenlreichthums unterschied sich seine
Substanz scharf von den intensiv pigmentirten überziehenden Epithel-
säumen. An seiner unteren Fläche bildete die Haut einen paarigen, mit
ji> einer seichten Einkerbung versehenen Fortsatz, welcher sich bis zur
436 ' Wilhelm Müller,
Herzgegend erstreckte. Das Herz lag unmittelbar hinter dem Verbin-
dungsstück der beiden vorderen Schlundbogen in der vorderen Schlund-
wand, von der Anlage der Rachenschleimhaut und der äusseren Haut
durch einen schmalen Flüssigkeit führenden Hohlraum geschieden.
Der .Conus arteriosus verlängerte sich zu dem kurzen Kiemenarterien-
slamm, welcher an der Theilungsstelle in seine Aeste dem Schlund-
epithel dicht anlag. Letzteres zeigte unmittelbar vor der Theilungsstelle
eine runde mediane Ausstülpung von 0,05 Länge, welche unt«r leich-
ter Verengerung mit der Schlundhöhle communicirte (vergl. TaL XH,
Fig. 3 und 4).
Bei Larven von 6 Mm. Länge hatte das Verbindungsstück der vor-
dersten Schlundbogen stärker sich verdickt. Die rundliche unmittelbar
vor der Theilungsstelle des Kiemenai'terienstammes gelegene mediane
Ausstülpung des Schlundepithels war durch Vermehrung der ausklei-
denden Zellen solid und stellte in Folge ihres Pigmentreichthums einen
kugeligen schwarzen Körper dar, welcher durch eine doppelte Reihe
dicht aneinander liegender cubischer, sehr pigmentreicher Zellen mit
dem analog beschaffenen Schlundepithel zusammenhing. Unmittelbar
hinter der Anlage der Schilddrüse lag die Bifurcalion des Kiemenarte-
rienstnmmes, dessen Endzweige mit einem Durchmesser von 0,046 zu
beiden Seiten derselben sichtbar waren (vergl. Fig. 5 auf Taf. XH).
Bei Larven von 7 Mm. war die Anlage der Schilddrüse durch Zu-
nahme der spindelförmigen und runden Zellen, welche das Verbin-
dungsstück der vorderen Schlundbögen herstellten, vom Schlundepithel
abgeschnürt und der schmale Verbindungsstreif zum letzleren zum
Schwund gebracht. Sie stellte einen kugeligen Körper von 0,07 Durch-
messer dar, welcher dicht vor dem Ende des Kiemenarlerienstammes
lag und durchweg aus cubischen, sehr pigmentreichen Zellen bestand,
welche durch ihren Pigmentgehalt von den lichtbraunen Zellen der
Schlundwand sofort sich unterschieden (vergl. Taf. XH, Fig. 6).
Bei Larven von 1 1 Mm. Länge hatte das Ansehen der vorderen
Schlundwand erheblich sich verändert. Der paarige Fortsatz, welchen
die Haut an der unteren Fläche der vordersten Schlundwand entsandt
hatte, war im Verschwinden. Unter der Haut war die Anlage eines
dünnen quer verlaufenden Muskels (Muse, submaxillaris Eckek) sicht-
bar. Vor diesem Muskel lag auf Längsschnitten der eben in der Diffe-
renzirung begriffene Knorpel des Mittelstücks vom Unterkiefer, über
ihm der ebenfalls in der Differenzirung begriffene Knorpel der Copula
des Zungenbeins, welcher an seinem hinteren Ende einen dreieckigen
Vorsprung nach abwärts entsandte. Auf Querschnitten erschien dieser
Fortsatz gleichfalls dreieckig mit nach vorne gerichteter stumpfer Spitze
4. lieber die Entwicklung der Schilddrüse. 437
und 0,13 Seitenlange und hing seillich mit je einer dünnen Knoipel-
spange zusammen. Die Schilddrüse lag diesem Forlsatz der Copula des
Zungenbeins dicht an ; sie hatte in Folge der Entwicklung des letz-
teren die Gestalt eines Zwerchsacks angenommen von 0,17 Länge und
bestand aus einem dünnen Mittelstück und dickeren seitlichen llüHlen.
Das Mittelstück umgab die vordere Kante des Knoipelfortsalzes an der
Copula des Zungenbeins als ein dünner, nur 0,01 S messender Körper,
die beiden seitlichen Hälften lagen von innen und unten nach aussen
und oben gerichtet deren beiden Seitenflächen an , ihre Dicke betrug
0,05. Sowohl letztere als das Mittelstück bestanden wie früher aus
cubischen, sehr pigmentreichen Zellen und stellten einen schwarzen,
bei dem geringen Pigmentgehalt der Umgebungen leicht sichtbaren
Halbring dar, welcher dem Ende des Kiemenarterienstammes unniillel-
bar vorlag (vergl. Fig. 7 und 8 auf Taf. XII).
Bei Larven von 1 5 Mm. war die Trennung der bisher unpaarcn
Schilddrüsenanlage in zwei symmetrische Hälften vollendet. Sie stell-
ten von innen und unten nach oben und aussen verlaufende, in der
Richtung von oben nach unten sich verschmälernde Körper von 0,12
Länge bei 0,06 Dicke dar und wurden wie früher gebildet von cubi-
schen, kernhaltigen Zellen, welche etwas pigmentärmer waren als frü-
her und zugleich lockerer aneinandergereiht erschienen. Beide Drüsen-
hälften lagen dicht vor dem Anfangsstück der beiden Aeste. in welche
das Ende des 0,13 weiten Kiemenarterienstammes sich theille, am hin-
teren Ende der Seilenflächen des dreieckigen Fortsatzes der Copula des
Zungenbeins, nach unten begrenzt vom Musculus submaxillaris, seitlich
vom Muse, sternohyoideus.
Bei Larven von 20 Mm. halte die Lagerung der Drüse sich nicht
wesentlich verändert, jedoch lag sie von der Bifurcation des Kiemen-
arterienstammes etwas entfernter. Ihr Umfang hatte zugenommen , so
dass sie bei einer Länge von 0,16 eine Dicke von 0,07 zeigte. Sie be-
stand aus einem lockeren Netz solider, cylindrischer, etwas gewunde-
ner Schläuche von 0,013 — 0,016 Durchmesser, welche aus cubischen,
kernhaltigen, in ihrem Protoplasma massige Mengen schwarzen Pigments
führenden Zellen bestanden. Diese Schläuche waren umgeben von
lockeren Zügen einer an spindelförmigen und netzförmigen Zellen rei-
chen Bindesubstanz, welche von den Umgebungen aus in die ursprüng-
lich solide Anlage eingedrungen war (vergl. TaL XII, Fig. 9).
Bei Larven von 25 Mn). bildeten neben soliden von Epilhelien er-
füllten Schläuchen eine Anzahl gesonderter und in Sonderung begrilfe-
ner Follikel das Parenchym. Letztere zeigten kugelige Gestalt und einen
Durchmesser von 0,013 — 0.026. Sie bestanden aus einer eben N\ahr-
438 Willieliii Müller,
nehnibaren Membrana propria , dieser aufsitzendem einschichligen,
cubischcn Epithel , dessen Protoplasma noch schwach pigmenthaltig
war und enthielten im Innern eine scharf begrenzte, mit Flüssigkeit
gefüllte Höhle von 0,01—0,016. Zum Theil hingen diese Follikel mit
schlauchförmigen Drüsenanlagen noch durch einen Isthmus zusammen.
Entsprechend dem Abschnürungsprocess war die interstitielle Binde-
substanz stärker entwickelt; sie führte 0,01 weile Capillaren, welche
von einer aus spindelförmigen Zellen gebildeten Adventitia umgeben
waren , deren Zellen stellenweise dichter gehäuft lagen (vergl. Fig. I 0
auf Taf. XII).
Bei Larven von 35 Mm. mit Schwanz und vier Extremitäten besass
jede Schilddrüsenhälfte eine Länge von 0,3 bei 0,24 Dicke; die um-
gebende Bindesubstauz bildete eine dünne Kapsel und entsandte mit
den Gefässen Fortsätze in das Innere. Die Drlisensubstanz bestand der
Hauptsache nach aus discreten Follikeln, deren Durchmesser jetzt zwi-
schen 0,02 und 0,06 Mm. schwankte. Sie waren theils kugelig, theils
verzogen, die kleineren hie und da in kurze Schläuche sich fortsetzend
und anscheinend in der Abschnürung noch begriffen. Sie bestanden
aus einer sehr dünnen Membrana propria, cubischem, in einfacher Lage
dieser aufsitzendem Epithel von 0,007 Seilenlänge, dessen Protoplasma
pigmentfrei war und einer centralen, scharf begrenzten, Flüssigkeit
führenden Höhle. Das interstitielle Gewebe bestand aus geräumigen
Capillaren, welche von theils fibrillärer, theils aus spindelförmigen
Zellen bestehender Bindesubstanz locker umscheidet wurden.
Bei jungen Fröschen , welche vor wenigen Tagen den Schwanz
verloren hatten , war die Schilddrüse etwas nach hinten gerückt und
lag zu beiden Seiten des Zungenbeinkörpers dicht vor der Ansatzstelle
der Gornua thyreoidea. Sie war allseitig von Muskeln umgeben und
besass eine dünne bindegewebige Kapsel, von welcher aus die Gefässe
mit ihren bindegewebigen Adventitien in das Innere eindrangen. Die
Drusensubstanz bestand durchweg aus rings geschlossenen, theils ku-
geligen, zum kleineren Theil ellipsoidischen oder unregelmässig gestal-
teten Follikeln von 0,05 — 0,15 Diam. Sie bestanden wie früher aus
einer zarten Membrana propria, einem einschichtigen, aus cubischen
Zellen von 0,015 Breite, 0,016 Höhe ohne Pigment bestehenden Epithel
und einer scharf begrenzten centralen Höhle, welche durchsichtige,
farblose Flüssigkeit ohne Formgebilde enthielt. Es hatten sich die Fol-
likel demnach vergrössert; diese Vergrösserung war erfolgt unter Ver-
vielfältigung der auskleidenden Epithelien und Zunahme der Secretion.
Die interstitielle Bindesubstanz mit den Gefässen zeigte keine Abwei-
chung von dem Befund des letzten Stadiums (vergl. Fig. M auf Taf. XII).
4. lieber die Kiitwickluiig der Schilddrüse. 439
Aus der Clnssc der Reptilien unU'rsuchlc ich von der Ordnunti; der
Ophidier Tropidonoliis nnlriv in ei\v;iclisenen l'lvcrnplnicn. Die Scliild-
diüse liegt bei diesem Tliier als unpaarer, llael» rundlicher Körper
unterhalb der Trachea, eine kurze Strecke vor dem Aortenbogen, und
wird zu beiden Seiten von der paai'igen , bei erwachsenen Thieren in
einen langgestreckten Fettküi-j)er verwantlellen Thymus umgeben und
theilweise bedeckt. Sie besitzt eine dünne, bindegewebige Kapsel,
welche mit den Gefiissen zarte b'orlsiitze in ilas Innere entsendet. Das
Parenchym besteht aus kugeligen Follikeln von 0,15 — 0,4 Diam. Sie
liegen dicht gedrängt und zeigen eine dünne Membrana propria, ein
dieser aufsitzendes cul>isches Epithel von 0,006 Seitenlänge und im
Innern eine scharf begrenzte Flüssigkeit oder gelbliche Gallertmassen
enthaltende Höhle. Das interstitielle Gewebe besteht aus einer gering-
fügigen lockeren Bindegewebshülle der Gefässe; letztere bilden in
ihi-em capillaren Abschnitt auf der Membrana propria der Follikel ein
ziemlich regelmässiges Netz von 0,1 Maschenvveite.
Aus der Ordnung der Saurier untersuchte ich Lacerla ocellata in
zwei grossen vollkommen ausgewachsenen Exemplaren. Die Schild-
drüse liegt bei diesem Thier in Form eines schmalen, aus einem me-
dianen Isthmus und zwei seitlichen Hälften bestehenden Halbrings vor
der Trachea, kurz über deren Bifurcation unterhalb des oberen Endes
des Sternum, weit hinter dem Zungenbein. Das eigentliche Parenchym
wird gebildet von geschlossenen Follikeln von kugeliger Form und
0,1 0,2 Diam. Sie liegen in unregelmässigen Gruppen durch das
interstitielle Gewebe zerstreut und bestehen aus einer dünnen Mem-
brana })iopria, einem einschichtigen, dieser aufsitzenden Epithel, wel-
ches lange Cylinder von durchschnittlich 0,01 4 Länge bei 0,00^ — 0,000
Dicke bildet und einer scharf begrenzten centralen Höhle, welche farb-
lose Flüssigkeit oder gelbliche Gallertmassen führt. Das interstitielle
Gewebe, welches durch die dünnen Bindegewebsscheiden der Blut-
gefässe mit der bindegewebigen Kapsel zusammenhängt, ist ungemein
reich an Fettzellen von durchschnittlich 0,06 und drängt durch diesen
Fettreichthum das eigentliche Drüsenparenchym zu unregelmässigen
Gruppen auseinander, welche zum Theil ausser aller Verbindung stehen.
Die Blutgefässe bilden auf der Membrana propria der Follikel ein sehr
zierliches Capillarnetz von durchschnittlich 0,0ö Maschen weite.
Der Befund, welchen die Schilddrüse dieser Thiere darbietet, ist
von besonderem Interesse wegen der nahen Beziehungen , welche er
zu der Schilddrüse der Fische bietet. Das hohe Cylinderepithel, welches
die Schilddrüsen -Follikel der Saurier auskleidet, erinnert an das
gleichfalls sehr langgestreckte Epithel in der Schilddrüse der Rochen,
Bd. VI. 3. 30
440 Wilhelm Müller,
während das zerstreute Auftreten der Follikel in dem fettreichen inter-
stitiellen Gewebe an die Schilddrüse der Myxinoiden und vieler Tele-
ostier erinnert, bei welchen die Zerlegung des Organs in Gruppen
selbständiger Läppchen Platz gegriffen hat.
Von der Ordnung der Chelonier untersuchte ich Emys picta und
Cistudo Carolina. Die Schilddrüse liegt bei beiden als flach rundlicher,
unpaarer Körper dicht vor den Aortenbogen unterhalb der Trachea.
Sie besitzt eine dünne bindegewebige Kapsel, das Parenchym besteht
aus kugeligen Follikeln von 0,2 — 0,8 Diam., welche aus einer Mem-
brana propria, einem einschichtigen, ziemlich flachen, polygonalen
Epithel von 0,006 — 0,01 Fläche bei 0,003 Höhe und centraler, meist
mit homogener Gallerte erfüllter Höhle bestehen. Die Follikel stehen
sehr dicht und lassen für die Gefässe und deren Bindegewebescheiden
nur unbedeutende Zwischenräume frei. Die Blutgefässe bilden in ihrem
capillaren Abschnitt auf der Membrana propria der Follikel Maschen
von durchschnittlich 0,15 Weite.
Aus der Classe der Vögel untersuchte ich die Schilddrüse des
Huhns von der ersten Anlage bis zur Gewinnung der bleibenden Form.
Bei Hühnchen vom Ende des zweiten Bebrütungstags , welche die
beiden oberen Schlundspalten und die drei vordersten Kiemenarterien
entwickelt zeigten, fand ich noch keine Spur der Schilddrüsenanlage.
Das früheste Stadium boten Hühnchen von der Mitte des dritten
Tags. Sie besassen drei Schlundspalten , der vorderste Kiemenbogen
war verdickt, die erste Kiemenarlerie obliterirt, die Verbindung zwi-
sche-n Kiemenarterienstamm und erstem Kiemenbogen gelöst. Die
zweite, dritte und vierte Kiemenarterie waren vorhanden und verliefen
mit einem Durchmesser von 0,03 in den entsprechenden Kiemenbogen.
An der Stelle, wo die beiden vordersten Kiemenarterien aus dem Stamm
entsprangen, um in die Schlundwand einzutreten, fand sich eine birn-
förmige . gegen die Arterienbifurcalion gerichtete Ausbuchtung des
Schlundepithels in der Mitte der vorderen Schlundwand. Sie war
0,15 lang, 0,1 hoch, inwendig hohl und stand durch eine verengerte
OefFnung mit der Höhle des Schlundes in Communication. Von der
Adventilia der vordersten Kiemenarterien erhielt sie einen sehr dün-
nen, aus spindelförmigen Zellen bestehenden Ueberzug (vergl. Taf. XI,
Fig. 1).
Bei Embryonen vom Anfang des vierten Bebrütungstags waren
vier Kiemenspalten entwickelt, die vordere Schlundwand hatte eine
Dicke von 0,14. Auch die zweite Kiemenarlerie war obliterirt, dagegen
die fünfte entwickelt, der Durchmesser der Kiemenarterien betrug 0,04.
Dicht über der Ursprungsstelle der vordersten Kiemenarterien fand sich
4. Hoher die Knlwickliing der Scliilddrüse. 441
in der Milto der vorderen Schlundwand die Anliig(! der Schilddrüse nls
ein rundlicher Körper von 0,12 Durchmesser. Sie besass eine dicke
aus geschichleteni Cjlinderepith(>I gehiUlele Wand und in der Mille
eine [löhlung von 0,003. Ihre Einlhelauskleidung stand durch einen
kurzen von Cylinderepilhel ausgekleideten Gang mit el)en wahrnehm-
barem Lumen mit dem Schlundepithel in Zusanuiienhang.
beim Hühnchen vom Ende des vierten Bebrülungslags war die
vordere Schlundvvand 0,i dick, die diei Kiemenarlerien 0,07 im Durch-
messer. Die Schilddrüse lag wie im vorigen Stadium in der Mitte der
vorderen Schlundwand dicht über der Theilung des Kiemenarlerien-
stannnes in seine vordersten Aesle, sie war rund, 0,17 im Durchmesser
und bestand in der Peripherie aus radiär gestellten, cylindrischen, im
Innern aus cubischen Epilhelien, welche dicht gedrängt lagen und das
Innere vollständig erfüllten. An seiner hinteren Fläche stand dieser
Körper durch einen dünnen, 0,15 langen, 0,016 dicken, von 0,00S
hohem Cylinderepithel ausgekleideten Gang ohne nachweisbares Lumen
mit dem Schlundepithel noch in Zusammenhang; an der ganzen übri-
gen Oberfläche setzte er sich von der umgebenden Schlundwand dureh
einen feinen, von zarten spindelförmigen Zellen umgebenen Spalt ab
(vergl. TaL XI, Fig. 2).
Bei dem Hühnchen vom Ende des fünften Bebrütungstags be-
stimmte ich die Dicke der vorderen Schlundwand zu 0,7. Der Verbin-
dungsgang zwischen Schilddrüsenanlage und Schlundepithel war durch
die stärkere Entwicklung der umgebenden Schlundwand zum Ver-
schwinden gebracht. Die Anlage der Schilddrüse lag wie früher dicht
über der Theilung des Kiemenarterienslammes ; sie war aber mit letz-
terer erheblich nach abwärts gerückt und lag dicht über und vor der
Communication der Larynxanlage mit der Schlundhöhle. Die Wandung
des Schlundes bildete einen nach vorne gerichteten Vorsprung ; tlie
Anlage der Schilddrüse war dem entsprechend in der Mitte verengt und
stellte einen zwerchsackähnlichen Körper dar mit medianem Isthmus
von 0,08 und verdickten Seitenhälften von 0,15 Durchmesser, welche
die Anlage des Larynx beiderseits umgaben. Die ganze Länge der An-
lage bestimmte ich zu 0,o. Sie war solid und bestand in der Perij)herie
aus radiär gestellten cylindrischen, im Innern aus cubischen Epilhelien.
Sie hob sich auch jetzt von der umgebenden Schlundwand scharf ab.
Zu beitlen Seiten der Anlage waren die 0,M im Durchmesser haltenden
vordersten Kiemenarlerien sichtbar, welche unter ihr aus dem Stamm
entsprangen; an der lateralen Wand derselben lag das Ganglion nervi
Vagi als elliptischer, an Ganglienzellen reicher Körper von 0,12 Breite
30*
442 Wilhelm Müller,
bei 0,25 Länge, vor diesen ein kleineres, wohl dem Sympathicus me-
dius angehöriges Ganglion i) (vergl. Taf. XI, Fig. 3).
Bei dem Hühnchen vom Anfang des siebenten Bebrütungstags war
die Anlage der Schilddrüse abermals nach abwärts gerückt, denn die
Comnmnication dos Kehlkopfs mit dem Schlund lag eine Strecke über
ihr. Der schmale Isthmus, welcher im vorigen Stadium die beiden Sei-
tenhälften verbunden hatte , war geschwunden ; sie stellte in Folge
davon einen paarigen , zu beiden Seiten der Trachea liegenden Körper
von O/i Länge bei 0,25 Dicke dar. Ihr Bau unterschied sich in Nichts
von jenem des vorigen Stadiums; die cylindrischen Zellen ihrer Peri-
pherie heben sich auch jetzt von der anliegenden Schlundwand scharf
ab. In letzterer waren feine Gefässe sichtbar, welche bis dicht an die
Schilddrüsenanlage sich verfolgen Hessen , ohne in dieselbe einzudrin-
gen. Hinter der Schilddrüse lag jederseits die Carotis, weiter nach
aussen die Jugularvene, zwischen beiden das Ganglion nervi vagi und
das schon erwähnte kleinere Ganglion vom Sympathicus medius (vergl. ^
Taf. XI, Fig. 4).
Bei dem Hühnchen vom neunten Bebrütungstag war die Schild-
drüse etwas nach rückwärts gerückt und lag als paariger Körper von
0,5 Länge bei 0,3 Dicke an der Seiten wand des Oesophagus, dicht vor
der Carotis und dem Ganglion nervi vagi. Das umgebende Bindegewebe
hatte sich zu einer aus spindelförmigen Zellen bestehenden Kapsel ver-
dichtet, von ihr aus traten gefässführende Fortsätze in das Innere.
Durch diese Fortsätze war die im vorigen Stadium gleichförmige Epithel-
masse zu einem Netz solider cylindrischer Schläuche von 0,015 — 0,025
Dicke umgewandelt. Sie bestanden aus einer sehr dünnen Binde-
gewebshülle und waren im Innern erfüllt von kurzen , cylindrischen,
radiär zur Hülle gestellten Epithelien. Die Zwischenräume dieser
Schläuche waren ausgefüllt von dünnen Zügen spindelförmiger Zollen,
welche zum Theil nachweisbar dünne Gefässe von durchschnittlich 0,01
Durchmesser umgaben.
Bei dem Hühnchen vom zwölften Bebrütungstag lag die Schild-
drüse etwas nach aussen von der Carotis, unmittelbar vor dem Gan-
glion vagi und der Jugularvene. Sie zeigte elliptischen Querschnitt, die
beiden Achsen der Ellipse maassen 0,7 und 0,35. Sie besass eine aus
spindelföi'migen Zellen bestehende Kapsel von 0,02 Dicke, welche eine
grössere Anzahl gefässführender Forlsätze an das Innere abgab. Durch
1) Dieses Ganglion, das bisweilen in zwei zerfallt, muss ich mit den Neben-
schikkliüsen Remak's für identisch halten, von welchen ich sonst keine Spur habe
auffinden können.
4. ücber die Entwicklung der Scliildilrüse. 413
letztere war die Drüsensubstanz in ein Netz cylindrischer Schläuche
zerlegt, welche, im Wesentlichen wie im vorigen Stadium beschallen,
nur zahlreicher waren und im Innern ein spaltartiges Lumen von 0,002
erkennen Hessen. Stellenweise zeigten diese Schläuche an den Enden
leichte Erweiterungen mit davor liegenden Einschnürungen , daneben
fand sich eine geringe Zahl isolirler kugeliger Follikel, bestehend aus
dünner Membrana propria, auskleidendem cylindrischcn Epithel und
centraler Höhle von 0,003, deren Durchmesser zwischen 0,012 und
0,02 betrug. Das interstitielle Gewebe war reich an Blutgefässen; den
verengten Stellen der Schläuche entsprach eine dichtere Anhäufung
seiner theils runden, theils spindelförmigen Zellen.
Damit stimmte der Befund vollkommen überein , welchen die
Schilddrüse eines 30 Mm. langen Slaarembryo darbot, an welchem
eben die Federn im Ilervorsprossen begritlen waren. Die Hauptmasse
des Organs bestand aus einem Netz cylindrischer Schläuche von 0,014
— 0,026 Durchmesser, welche an einzelnen Stellen in der Abschnürung
zu isolirten Follikeln namentlich an den freien Enden begriflen waren.
Auch hier war das interstitielle Gewebe an den verengten Stellen der
Schläuche reicher an Zellen als im weiteren Verlauf derselben (vergl.
Taf. XI, Fig. 6).
Bei dem Hühnchen vom 16. Bebrütungstag lag die Schilddrüse als
paariger ellipsoidischer Körper an der lateralen Wand der Carotis, dicht
unterhalb und vor dem Ganglion nervi vagi. Ihre Kapsel war 0,03
dick und hing durch zarte Fortsätze mit dem interstitiellen Gewebe zu-
sammen. Das Drüsengewebe bestand überwiegend aus rings geschlos-
senen kugeligen Follikeln mit dünner Membrana propria , dieser auf-
sitzendem einschichtigen, kurzen Cylinderepithel von 0,006 — 0,008
Höhe und einer scharf begrenzten centralen Höhle von 0,002 — 0,006.
Ihr Durchmesser schwankte zwischen 0,016 und 0,03. Neben ihnen
fanden sich cylindrische, zum Theil in Abschnürung begriffene Epithel-
schläuche von 0,016 Durchmesser in spärlicher Zahl durch die Drüse
zerstreut. Das interstitielle Gewebe war reich an Capillaren, an welche
sich eine dünne, an Lymphkörpern und spindelförmigen Zellen ziem-
lich reiche Bindesubstanzhüllc anschloss.
Bei dem erwachsenen Huhn ist der Bau der Schilddrüse nur in
Hinsicht der Dimensionen der Bestandtheile von jenem des zuletzt ge-
schilderten Entwicklungsstadiums verschieden. Die Drüse wird um-
geben von einer bindegewebigen Kapsel. Das eigentliche Parenchym
bilden kugelige, rings geschlossene Follikel von 0,04 — 0,1. Sie beste-
hen aus einer dünnen Membrana propria, cubischem , in einfacher
Schicht dieser aufsitzendem Epithel von 0,001 Seitenlänge und centra-
444 Wilhelm Müller,
1er Höhle , welche verhältnissmässig seilen Gallerlmassen enthält. Das
interstitielle Gewebe tritt gegen die Masse des Drüsenparenchyms sehr
zurück. Es besieht aus lockeren Zügen fibrillären Bindegewebes, wel-
ches die Blutgefässe umscheidel. Letzlere bilden in ihrem capillaren
Abschnitt auf der Membrana propria der Follikel ein ziemlich regel-
mässiges Netz von 0,05 Maschenweite.
Aus derClasse der Säugelhiere untersuchte ich die Schilddrüse des
Schweins, Schafs, Hundes und des Menschen.
Das früheste Enlwicklungsstadium beobachtete ich bei Schweins-
embryonen von 18Mm. Länge. Die Schilddrüse stellte einen 0,4 breiten,
in der Mille 0,07 dicken, gegen die Seilenränder etwas sich ver-
dünnenden unpaaren Körper dar , welcher in Form eines wenig gebo-
genen Kreisabschnitts an der vorderen Fläche der Trachea dicht ober-
halb des Aortenbogens lag. Sie bestand aus einer Anhäufung kern-
haltiger Zellen , welche in der Peripherie die Gestalt kurzer Cylinder-
epilhelien von 0,006 Länge bei 0,004 Breite, im Innern cubische Form
zeigten. Diese Zellen waren zu cylindrischen Schläuchen von sehr un-
gleicher Länge und zwischen 0,01 und 0,03 wechselnder Dicke grup-
pirl. Zwischen denselben war in der Mille der Drüse eine Gefässaniage
von 0,01 Durchmesser, ausserdem ein lockeres Netz spindelförmiger
und netzförmig verzweigter Zellen wahrzunehmen. Bei keinem der
drei Embryonen, welche ich der Untersuchung opferte, war eine Tren-
nung der Drüse in zwei Lappen zu constatiren.
Bei Schweinsembryonen von 24 Mm. Länge zeigte die Schilddrüse
auf Querschnitten eine Breite von 1 Mm. bei 0,15 Mn). Dicke. Letztere
war auch jetzt in der Mitte am beträchtlichsten und nahm nach beiden
Seiten hin ab. Die Drüse lag der Vorderfläche der Trachea in deren
Mitte dicht an und bestand aus einem lockeren Netz cylindrischer
Schläuche, welche hinsichtlich ihrer Dimensionen grössere Regelmässig-
keit als im vorigen Stadium zeigten. Ihr Durchmesser betrug im Mittel
0,016, sie bestanden aus radiär goslelllen Cylinderepilhelien von 0,006
— 0,008 Länge bei 0,004 — 0,005 Dicke. Die Mehrzahl entbehrte im
Innern eines deutlichen Lumen ; die EpithelscJiicht wurde von einer
dünnen Bindesubstanzhülle umgeben. Die Interstilien der Schläuche
waren erfüllt von Gefässen, vorwiegend Capillaren von durchschnittlich
0,01 Durchmesser; sie besassen eine dünne Advenlitia spindelförmiger
und netzförmiger Zellen.
Bei Schweinsembryonen von 9 Centimeter Länge war die Schild-
drüse als braunrolher ellipsoidischer Körper vor der Mitte der Trachea
gelagert. Sie besass eine aus spindelförmigen Zellen bestehende Kapsel,
von welcher aus gefässhaltige Fortsätze in das Innere sich erstreckten,
4. lieber die EnfwickliiiiR der Schilddrüse. 445
das Parenchym in eino Anzahl von Läppchen von durchschnitllich ().')
tlu'ilond. Die Läppchen bestanden aus einem lockeren Netz cylindri-
schor, an den lünden hie und da mit Anschwellungen versehener
Schläuche von 0,01 — 0,02 Durchmesser mit dünner Meml)rana propria,
dieser aufsitzendem Epithel und eben wahrnehmbarem centralen Lu-
men. Dazwischen fanden sich in spärlicher Zahl aus der Continuilät
der Schläuche ringsum abgesonderte Follikel von 0,016 — 0,0'2() Durch-
messer , bestehend aus Membrana propria , einschichtigem Cylindcr-
epiilu'l und centraler Hohle. Das interstitielle Gewebe bestand aus un-
gleich weiten, im Galiber zwischen 0,0035 und 0,016 schwankenden
Gapillaren , welche von einem lockeren Netz vorwiegend aus spindel-
förmigi'n Zellen bestehender Bindesubstanz locker umscheidet wurden.
Bei Schweinsembryonen von 12 Centimeler Länge l)estand die
Hauptmasse der DrUscnsubstanz aus isolirten Follikeln. Ihre Gestalt
war überwiegend kugelig, seltener ellipsoidisch oder unregelmässig
verzogen, ihr Durchmesser schwankte zwischen 0,012 und 0,03. Sie
bestanden aus dünner Membrana propria, einschichtigem flachen Gylin-
derepilhel von 0,006 Höhe mit rundem Kern von 0,0045 und scharf
begrenzter centraler Höhle. Neben diesen Follikeln und zuniTheil noch
mit ihnen zusammenhängend fanden sich cylindrische Schläuche von
0,01 — 0,02 Durchmesser. Sie unterschieden sich in nichts von den
früher vorhandenen , standen jedoch an Zahl gegen jene der abge-
schnürten Follikel erheblich zurück. Die Zwischenräume der Drüsen-
substanz wurden von Gefässen mit lockerer ßindesubstai^zhülle aus-
gefüllt, sie traten gegen das Volum derselben bereits zurück.
Bei Schweinsembryonen von 18 Centimcter Länge, von welchen
ich eine grössere Zahl im injicirten Zustande untersuchte, bestanden
die Läppchen der Schilddrüse fast ausschliesslich aus gesonderten ku-
geligen Follikeln. Ihr Durchmesser schwankte zwischen 0,016 und
0,06. Sie bestanden aus dünner Membrana propria, einer einfachen
Lage cylindrischen Epithels und scharf begrenzter centraler Höhle.
Neben den Follikeln fanden sich , etwas häufiger in der Peripherie als
im Centrum der einzelnen Läppchen, cylindrische mit demselben Epi-
thel wie die Follikel ausgekleidete Schläuche von durchschnittlich 0,016
Dicke mit fast verschwindendem Lumen. Sie waren zum Thcil in der
Abschnürung zu Follikeln noch begriflen , wie sich aus localen Erwei-
terungen und diesen entsprechenden Verengerungen schlicssen liess.
Die Bindesubstanz in den Interstiticn der Follikel erwies sich gebildet
von sehr zarten Fibrillen, welche in lockeren Netzen die Blutgefässe
umspannen; daneben fanden sich zahlreiche spindelförmige Zellen und
namentlich in der Advenlitia der Arterien Lyinphkörper. Das Gefäss-
446 Wilhelm Müller,
System bestand in seinem capiilaren Abschnitt aus ungleich weiten,
zwischen 0,003 und 0,015 schwankenden Röhren mit thcils homoge-
ner, blasser, theils sehr fein granulirter und in Carmin noch sich im-
bibirender Wandung. Sie besassen in derselben elliptische, mit Carmin
lebhaft roth sich imbibirende Kerne und in spärlicherer Zahl ungemein
blasse, verästelte Zellen, deren Fortsätze auf der Capillarwand ein fei-
nes, lockeres Netz bildeten. Stellenweise fanden sich die Kerne in den-
Capillarwänden an Stellen, wo sehr dünne Zweige abgingen, etwas
dichter gestellt als im übrigen Verlauf, namentlich in der Umgebung
der kleinsten Follikel; ich schliesse daraus, dass die Absonderung der
Follikel aus den schlauchförmigen Anlagen durch eine Sprossenbildung
der Gefässe und ihrer bindegewebigen Adventitien vermittelt wird
(vergl. Taf. X, Fig. 9).
Vom Schaf untersuchte ich zwei Embryonen von 20 Mm. Länge.
Bei beiden l)ildele die Schilddrüse einen dicht unterhalb der Anlage
des Larynx liegenden Halbring, welcher die vordere und die beiden
Seitenflächen der Trachea umgab. Sie bestand aus einem dünnen Isth-
mus und dicken seitlichen Hälften. Die Drüsonsubstanz wurde durch-
weg gebildet von einem lockeren Netz im Mittel 0,016 dicker, cylindri-
scher Schläuche mit dünner Bindesubstanzhülle , kurzem Gylinder-
epithel und kaum wahrnehmbarem Lumen.
Bei Schafembryonen von 6 und 12 Centimeter Länge bestand die
Drüse, deren Isthmus dicht unterhalb des Kehlkopfs lag, während die
Hörner längs der Seitenflächen des letzteren nach aussen und oben sich
erstreckten, wie früher aus einem Netz cylindrischer, mit Epithel aus-
gekleideter Schläuche , deren Durchmesser zwischen 0,017 und 0,024
schwankte. Sie waren namentlich an den Enden mit Auftreibungen
und vor denselben mit leichten Verengerungen versehen. Das inter-
stitiefle Gewebe führte verhältnissmässig weile Capiilaren, deren Durch-
messer zwischen 0,006 und 0,02 schwankte (vergl. Taf. XI, Fig. 7).
Bei Schafembryonen von 16 Centimeter Länge bildeten lockere
Netze cylindrischer, epithelführender Schläuche wie früher den Haupt-
bestandtheil der Drüse ; neben ihnen fanden sich massig zahlreiche
isolirte Follikel mit unbedeutendem centralen Lumen. Letztere bildeten
erst bei Embryonen von 24 Centimeter Länge den vorwiegenden Be-
standtheil; ihre Dimensionen waren noch gering, zwischen 0,016 und
0,03 Mm. sich haltend; sie standen zum Theil mit schlauchförmigen
Anlagen noch im Zusammenhang.
Bei dem Embryo des Hundes von 15 Mm. Länge (seit der letzten
Begattung 30 Tage alt) bildete die Anlage der Schilddrüse gleichfalls
einen die Trachea vorne und an den Seiten umgebenden Halbring mit
4. üeber die Entwicklung der Sclülddrüsc. ' 447
medianem Isthmus von 0,0S und soitliclion Hälflon von 0/2 Dicke. Sie
bestand aus eincMu Netz an Dicke und Länge sehr ungleich beschalTi^-
ner Ejiilhelanhiiufungen , welche in der Peripherie von kurzen radiär
geslelllen Cylindcrepithelien, im Centrum von cubischen Zellen gebildet
wurden. In den Zwischenräumen fanden sich einzelne Gefässanlagen
von 0.008 Durchmesser und um letzlere dünne Lagen spindelförmiger
Zellen (vergl. TaL XI, Fig. 5).
Von menschlichen Embryonen hatte ich Gelegenheit Zwillinge von
2i Mm. Länge zu untersuchen, deren Muller dem Phosphorismus erlegen
war. Die Schilddrüse umgab bei beiden als ein Ilalbring dicht unter-
halb des Larynx die vordere und die beiden Seitenflächen der Anlage
iler Trachea, in welcher noch kein Knorpel differenzirt war; sie bestand
aus einem schmalen Isthmus und dickeren, mit diesem zusammen-
hängenden seitlichen Lappen. Das Drüsengewebe wurde gebildet von
einem lockeren Netz durchschnittlich 0,014 dicker, cylindrischer
Schläuche, bestehend aus einer zarten BindesubstanzliUllc und dieser
aufsitzendem flach cylindrischen Epithel von 0,006 Höhe bei 0,0045
Dicke. In den Inlerstitien der Schläuche fanden sich zarte Gefäss-
anlagen mit einer dünnen, vorwiegend aus spindelförmigen Zellen be-
siehenden Adventitia. Die Befunde beider Embryonen stimmten sowohl
unter sich als mit jenen der gleichaltrigen Embryonen des Schafs und
Schweins vollständig überein. Daraus folgt, dass die Angaben, welche
Arnold und Rathke über das erste Auftreten der Schilddrüse bei Säuge-
ihieren gemacht haben, nicht haltbar sind, denn die Schilddrüse findet
sich bei diesen schon in einem vorgeschrittenen Entwicklungssladium,
wenn die Knorpelringe in der Trachea noch zu din"erenziren sind.
Die Angabe Kölliker's, dass die Schilddrüse beim Menschen in der
7. — 8. Woche doppelt vorhanden sei und aus kleinen Follikeln bestehe,
stehe ich nicht an, für eine Erfindung zu erklären.
Bei dem menschlichen Embryo vom 5. Monat fand ich die Drüse
bereits in Läppchen von 0,1 Dicke abgelheill. Das Drüsengewebe be-
stand aus einem lockeren Netz drüsiger Schläuche von 0,01 i — 0,024
Durchmesser, deren Bau von jenem des früheren Enlwicklungssladiums
in Nichts abwich. Neben diesen Schläuchen fanden sich abgesonderte
Follikel. Ihre Gestalt wechselte von der kugeligen zur ellipsoidischen
und unregelmässig verzogenen, der Durchmesser schwankte zwischen
0,014 und 0,04. Sie bestanden alle aus einer dünnen Membrana
propria , einschichtigem, dieser aufsitzenden Cylinderepilhel von
0,006 : 0,0045 mit rundem Kern und scharf begrenzter centraler Höhle.
Das interstitielle Gewebe bestand aus Blutgefässen, welche von fibril-
lärer Bindesubstanz in lockeren Zügen umscheidel wurden.
448 Wilhelm Müller,
Bei dem Neugeborenen fand ich die Läppchen der Drüse durch-
schnittlich 0,5 dick. Die Drüsensubstanz setzte sich zusammen aus cy-
lindrischcn Schläuchen von derselben Beschaffenheit wie früher und
aus abgesonderten Follikeln. Ihr Durchmesser schwankte zwischen
0,015 und 0,15, ihre Gestalt war ebenso wechselnd wie früher, der
Bau derselbe. Das interstitielle Gewebe bestand, von den Arterien und
Venen abgesehen , aus Capillaren von durchschnittlich 0,01 Weite mit
dünner bindegewebiger Adventilia ; sie bildeten auf der Wandung der
grösseren Follikel bereits ein rhombisches Maschennetz.
Bei dem dreijährigen Menschen fand ich die Follikel grösser und
zahlreicher, die Menge der schlauchförmigen Drüsenanlagen geringer;
die Follikel auch jetzt an Grösse und Gestalt höchst ungleich. Ich
schliesse daraus , dass auch an ausgebildeten Follikeln durch Herein-
wachsen von Sprossen des Gefässblatts in dieser Zeit Abschnürungen
zu Stande kommen.
Die Veränderungen, welche vom dritten Lebensjahr l>is zur Puber-
tät an der Schilddrüse vor sich gehen , lassen sich dahin zusammen-
fassen, dass die Zahl der embryonalen Drüsenanlagen immer geringer
wird und die Follikel durch die Anhäufung von Secret, welches grosse
Neigung zur Eindickung zeigt , an Umfang zunehmen und der Kugel-
form zustreben. Der Bau der letzteren verändert sich dabei nicht we-
sentlich, sie bestehen aus einer dünnen Membrana propria mit auf-
liegendem Capillarnetz , einschichtigem , ihrer Innenfläche anliegenden
Cylinderepilhel von 0,006 Höhe bei 0,005 Dicke und scharf begrenzter
centraler Höhle. Die Angaben Vircogw's, welcher das Epithel in den
Follikeln der Schilddrüse läugnet und letztere aus soliden Anhäufungen,
den Lymphkörpern ähnlicher Zellen bestehen lässt, zeugen von so ge-
ringer Sorgfalt, dass ich auf eine Widerlegung derselben verzichte.
Ich ziehe aus den voranstehenden Beobachtungen folgende Schlüsse.
Die Schilddrüse entwickelt sich bei allen Wirbelthieren nach demselben
Plan in drei wohl charakterisirten Stadien : einem Stadium der Ab-
schnürung der stets unpaaren Anlage vom Schlundepithel, einem Sta-
dium der Bildung netzförmiger Drüsenschläuche durch Betheiligung des
Gefässblatts und einem Stadium der Follikelbildung.
Den Ausgangspunkt der Entwicklung suche ich in einem ähnlichen
mechanischen Momente, wie es für die erste Anlage der Hypophysis
maassgebend ist, und zwar in einer festeren Adhärenz des Schlund-
opithels an der TheilungsstcUe des primitiven Kiemenarterienstamms.
Indem letzterer mit dem Herz in sehr früher Zeit durch die stärkere
Entwicklung der umgebenden Theile nach rückwärts gedrängt wird,
zieht er das anhaftende Stück des Schlundepithels zu einem rundlichen
4. Ueber die Entwicklung der Scliilddriisi'. 449
Fortsalz aus, welcher etwas nach al)wiirls ^crichlel ist und mit der
Schlundhöhle in der Medianlinie durch eine Anfaniis geräumige Oell'nung
comnmnicirt. Dieser Fortsatz wird von den Ursprüngen der Kiemen-
arlerien in der Art eingefasst, dass das vorderste Paar vor ihm, das
mittlere zu seinen beiden Seiten und das dritte an seiner hinteren
Fläche verläuft, und erhält frühzeitig von deren Advenlitien einen
dünnen , aus spindelförmigen Zellen bestehenden Ueberzug. In Folge
der frühzeitigen Involution der beiden vordersten Kiemenarlerien konmit
dieser Fortsatz des Schlundepilhels dicht vor der Abgangsstelle der
vordersten bleibenden Kiemenarterien zu liegen , mit welcher er durch
seinen dünnen bindegewebigen Ueberzug zusammenhängt. Der Invo-
lution der beiden vordersten Kiemenarterien geht eine Verdickung der
beiden vordersten Kiemenbogen parallel. Indem sie auf die Copula
übergreift, wird die Oeffnung, durch welche der die Schilddrüsenanlagc
darstellende Epithelfortsatz mit der Schlundhöhle comumnicirte , zu
einem Gang verengt, welcher rasch sich verschmälert und dem völligen
Schwund anheimfällt.
Noch während die Abschnürung im Gange ist, verdickt sich die
Epithelauskleidung der Schilddrüsenanlage durch . Vermehrung ihrer
Zellen , dadurch wird das Lumen verengt und wenigstens bei den hö-
heren Wirbelthierclassen vollständig ausgefüllt. Sie stellt in Folge des-
sen zur Zeit der vollendeten Abschnürung einen bei letzteren soliden,
bei den Fischen (Selachiern) mit schmalem centralen Lumen und dicker
Epithehvand versehenen unpaaren Körper dar, welcher in der Mittel-
linie der vorderen Schlundwand zwischen Copula des zweiten Schlund-
bogen (dem zukünftigen Körper des Zungenbeins) und Ende des Kie-
menarterienstamms seine Lagerung hat.
Die nächsten Schicksale dieses Körpers sind bei den einzelnen
Wirbelthierclassen verschieden.
Bei den Cyklostomen und Fischen behält derselbe, entsprechend
der Permanenz der Kiemenarterien , seine ursprüngliche Lagerung de-
finitiv bei, kann aber weiterhin in Folge einer unverhältnissmässigen
Entwicklung des interstitiellen Gewebes in eine Anzahl isoHrter Grup-
pen aufgelöst werden, welche constante Lagerungsbeziehungen zum
Kiemenarterienstamm zeigen.
Unter den Amphibien wird bei den Batrachiern die unpaare, aus
einer soliden Anhäufung stark pigmentirter Epithelien bestehende An-
lage der Schilddrüse durch die Entwicklung eines dreikantigen Fort-
satzes am hinteren Ende der knorpeligen Anlage des Zungenbeins,
welcher später schwindet und an den Zungenbeinkiel der Urodelen
erinnert, in der Mittellinie verschmälert und alsbald in zwei symme-
450 Wilhelm Möller,
Irische, zu beiden Seiten dieses Fortsatzes liegende Hälften getheilt.
Nach erfolgter Theilung werden beide Hälften von Gefässsprossen mit
ihren bindegewebigen Adventitien erreicht und durchwachsen ; gleich-
zeitig erfolgt die Lösung der Adhärenz zwischen Drüsenanlage und vor-
derstem Kiemenarterienpaar. Diesem Umstände schreibe ich es 7a\, dass
späterhin die Drüse dem Rückzug der grossen Gefässstämme gegen den
Thoraxraum nicht folgt, sondern als paariges Organ an der medialen
Fläche der Cornua thyreoidea des Zungenbeins nahe dem Kehlkopf
liegen bleibt. Die analoge Lagerung der Drüse bei den Urodelen, wie
sie für Perennibranchiaten und Derotremen durch die Untersuchungen
von J. G. Fischer ^) -nachgewiesen , bei den Salamandrinen durch Prä-
paration leicht zu constatiren ist, lässt schliessen, dass bei sämmtlichen
Amphibien die Trennung der ursprünglich unpaaren Schilddrüse in
zwei symmetrische Hälften aus derselben Ursache sich ableitet.
Bei allen höheren Wirbelthieren folgt die Anlage der Schilddrüse dem
Ursprung des vordersten bleibenden Kiemenarterienpaars auf seinem
Rückzug in den Thorax eine verschieden weite Strecke und entfernt sich
dadurch von ihrer ursprünglichen Lagerung an der hinteren Fläche des
Zungenbeins, Ich vermag den Grund nicht anzugeben , auf welchem
die Verschiedenheit der Strecke beruht, welche die Schilddriisenanlage
zurücklegt, vermuthe aber, dass sie bei den Reptilien und Säugethieren
früher von Gefässsprossen erreicht und die Adhärenz an den vordersten
Kiemenarterien gelöst wird als bei den Vögeln. Bei den Reptilien bleibt
die Anlage der Drüse während der Wanderung unpaar, nur bei den
Sauriern erhält sie zweilappige Gestalt durch Verschmälerung des Mit-
telstücks. Bei den Vögeln wird sie, während sie über der Anlage des
Larynx nach abwärts rückt, erst in der Mitte verschmälert und alsbald
in Folge der raschen Vergrösserung des letzteren in zwei Theile ge-
trennt; sie folgen dem Rückzug der grossen Gefässe und behalten ihre
Lagerung nahe der Ursprungstelle der beiden Carotiden definitiv bei.
Bei den Säugethieren folgt die Anlage der Schilddrüse den Gefässen
nur bis unterhalb der Anlage des Kehlkopfs; sie bleibt bei einer grossen
Zahl unpaar, erfährt aber bei vielen durch die Vergrösserung der
Trachea eine mediane Verschmälerung, welche bis zur vollständigen
Trennung in zwei seilliche Hälften fortschreiten kann.
Während dieser Ortsveränderungen behält die Anlage der Schild-
drüse ihre ursprüngliche Beschaffenheit bei und besteht demnach aus
einem dünnen Ueberzug spindelförmiger Zellen und einer centralen
1) Anatomische Abhandlungen über die Perennibranchiaten und Derotrennen.
Hamburg 1864.
4. üeber die Entwicklung der Scliilddriise. 451
Epithelmasse, deren peripherische Zellen senkrecht zur Flüche tlcs
Ueherziiij;s stehen. Erst nachdem sie in der Nähe ihrer delinitiven Sliitle
jingelangl ist, tritt das zweite Entwicklungssladiuin ein. Dieses wird
charakterisirt durch das Vordringen von Gefiisssprossen mit den zu-
gehörigen Bindegewebsadventitien von der Kapsel gegen das Innere
der Anlage, wodurch die in letzterer befindlichen E{)ilheln.assen in ein
Anfangs unregehnässiges , bald regelmässigere Foiinen annehmendes
Netz cylindrischer Schläuche gesondert werden, welche aus einer dün-
nen Bindesubstanzhülle und einschichtigem, dieser aufsitzenden Epithel
bestehen. Stets verlängern sich dabei die Epithelien da, wo sie mit
den Abkömmlingen des Gefässblatls in Berührung kommen, und stellen
sich mit ihrer Längsachse senkrecht zur Fläche der umgebenden Hülle.
Bei det)i Frosch behalten die Epithelien zunächst ihre Pigmentirung bei
und unterscheiden sich dadurch auf den ersten Blick von den pigmenl-
armen Gewebszügen, welche dem Gefässblatt angehören. In ähnlicher
Weise lassen sich bei den übrigen Wirbelthieren die protoplasmareichen
Zellen des Epithels durch die Imbibitionsmethode von den viel proto-
plasmaärmeren des interstitiellen Gewebes sondern. Es gehl daraus
hervor, dass bei diesen abgeschnürten Drüsen von einer Entwicklung
von Epithelien aus Elementen des Gefässblatts resp. der Bindesubstanz
ebensowenig die Rede sein kann wie bei der Entwicklung der aus dem
Hornblatt resp. Darmdrüsenblalt diiect hervorgehenden.
Die Schilddrüse bleibt auf dem zweiten Entwicklungsstadium so
lange stehen, bis die Schläuche durch Verlängerung und Sprossen-
bildung bis zu einem gewissen Grade sich vermehrt haben, was bei
verschiedenen Thieren ungleiche Zeiträume beansprucht. Erst wenn
das Lumen im Innern der Schläuche deutlicher sich ausprägt, beginnt
die Sonderung einzelner Abschnitte durch zwischen wachsende Fort-
sätze des Gefässblatls und damit das dritte Stadium, jenes der Follikel-
bildung. Es durchläuft demnach die Schilddrüse analoge Metamorpho-
sen ihres specifischen Parenchyms, wie sie durch die sorgfältigen Unter-
suchungen Pflüger's ') und VValdever s 2) für die specifischen Elemente
des Ovarium feststehen. Während aber im letzteren Fall die Ursache
für die Entwicklung der einzelnen Follikel klar zu Tage liegt, indem
eine zur Eizelle sich differenzirende Epithelzelle den Ausgangspunkt
für die Sonderung der einzelnen Abschnitte bildet, ist die Ursache dqi'
analogen Metamorphose der netzförmigen Schläuche der Schilddrüse
zur Zeit rälhselhaft. Es lässt sich bei der Gleichartigkeit des Epithels
•1) Ueber die Eierstocke der Säugethicre und des Mensclicn. Leipzig 18G2.
2] Eierstock und Ei. Leipzig 1869.
452 Wilhelm Müller,
nur vermuthen , dass bestimmte in dem Secret auftretende Stoffe es
sind, welche zur Ursache werden, dass das anliegende Gefassblatt mit
der zugehörigen Bindesubstanz die zusammenhängenden Schläuche in
einzelne Räume sondert, welche eine möglichst grosse Oberfläche für
den Diffusionsstrom zwischen Inhalt und umspinnenden Blut- und
Lymi)hbahnen darbieten. Wir wissen über diese Stoffe sowie über die
Function der Schilddrüse bis jetzt so gut wie nichts ; ich komme aber
im Gegensatz zu His zu der Ueberzeugung , dass ein Organ , welches
durch die sämmtlichen Wirbelthierclassen unverändert sich vererbt hat
und wenigstens bei den Säugethieren von verschiedenen Seiten her in
so ausgiebiger Weise mit strömendem Blute versorgt wird, im Laufe
der successiven Vervollkommnung der Organismen nicht entbehrlich
geworden sein kann. Es wird Aufgabe der Physiologie sein, durch
eine Vergleichung der aus der Schilddrüse abfliessenden Lymphe mit
der Lymphe anderer Organe und mit dem dieOefässe durchströmenden
Blut namentlich in Bezug auf die in beiden enthaltenen Eiweissmodi-
ficalionen und sogenannten Extractivstoffe den ganz willkürlichen Spe-
culationen über die Function der Schilddrüse ein Ende zu machen,
welche , wie der von Liebermeister veröffentlichte Versuch , als völlig
aus der Luft gegriffen bezeichnet werden müssen.
Erklärung der Abbildungen.
Tafel X.
Fig. 9. Schnitt durch die Schilddrüse eines Schweinsembryo von IS Centimeter.
a Follikel, b Schlauchförmige Drüsenanlage, c Interstitielles Gewebe.
Tafel XI.
Fig. 4. Sagittaler Schnitt durch Kopf und Hais eines Hühnchenembryo vom drit-
ten Bebrütungstag. o Gehörbläschen, b Erster Kiemenbogen. c Schild-
drüsenanlage, d Kiemenarterienstamm.
Fig. 2. Derselbe Schnitt von einem 4 Tage alten Hühnchenembryo, a Erster Kie-
menbogen. 6 Kiemenarterienstamm. c Anlage der Schilddrüse mit ihrem
in Atrophie begriffenen Ausführungsgang.
Fig. 3. Querschnitt des Halses eines Hühnchenembryo vom fünften Bebrütungstag.
a Pharynx. 6 Aditus laryngis, c Vorderste Kiemenarterie (Carotis), d Gan-
glion nervi vagi. e Ein zweites, vor diesem liegendes Ganglion, wohl dem
Sympathicus mcdius angehörend. /"Anlage der Schilddrüse.
Fig. 4. Querschnitt des Halses eines Hühnchenembryo vom Anfang des siebenten
Bebrütungstags. a Oesophagus, b Trachea, c Carotis, d Ganglion vagi.
4. Uebcr die Entwicklung der Schilddrüse. 453
e Von.T jugularis. / fiaiii^lion syinpalliici. g l'iiari^c! Aiilaüo der Scliild-
driisc.
Fip;. 5. Quersclinitt der vorderen Hälfte des Halses eines Hundeemhryo von 15 Mm.
Lange (seil der lelzlen IJegattiini^ 30 Tai^e alt), a Oesophagus, b Trachea,
c Carotis, d Nervus vagus. c Vena jugularis. /Anlage des Musculus stcr-
nothyreoideus. g Anlage der Schilddrüse.
Fig. 6. Schnitt durch die Schilddrüse eines 30 .Mm. langen Staarenihryo.
a Schlauchförmige Drüsenanlagen, b Follikel, c Interstitielles Gewebe.
Fig. 7. Schnitt durch die Schilddrüse eines Schafembryo von 6 Centimclcr.
a Schlauchförmige Drüsenanlagen. 6. In der Bildung begriffene Follikel.
c Interstitielles Gewebe mit den Hlutgefässen.
Tafel XII.
Fig. 3. (Querschnitt einer Froschlarve von 5 Mm. im Niveau der Schilddrüscn-
anlage. a Gehirn mit der Anlage des inneren Ohrs. 6 Chorda, c Schlund-
hohle, d Anlage der Schilddrüse, e Fortsalz der Haut am Buden der
Mundhöhl«.
Fig. 4. Sagittaler Schnitt durch eine Larve von gleicher Länge, o Chorda.
b Schlundepithel, c Anlage der Schilddrüse, d Herz, e Kiemcnarlerien-
stamm.
Fig. 5. Querschnitt einer Larve von Rana temporaria von 6 Mm. Länge, a Gehirn.
b Chorda, c Schlundhohlc. d Aidage der Schilddrüse, durch einen dün-
nen Ausführungsgang mit dem Schlundepithel noch zusammenhängend.
Fig. 6. Querschnitt einer Froschlarve von 8 Mm. o Gehirn mit der Anlage des in-
neren Ohrs, b Chorda, c Schlundhohlc. d Die vom Schlund vollkommen
abgeschnürte Anlage der Schilddrüse.
Fig. 7. Querschnitt einer Larve von 11 Mm. a Geliirn. b Chorda, c Schlund-
höhle, d Dreieckiger Fortsatz des Zungenbeinkorpers. e Anlage der
Schilddrüse, einen zwerchsackähnlichen , stark pigmcntirten Körper bil-
dend.
Fig. 8. Längsschnitt einer Larve von 11 Mm. a Unterkiefer, b Zungenbein, bei
c dessen dreikantiger Fortsatz, d Anlage der Schilddrüse, e Kiemen-
arterienslamm. /"Herz. ^ Darmschlingen. /i Adilus laryngis, links davon
der Durchschnitt des rechten Bronchus.
Fig. 9. Querschnitt des Zungenbeins und der Schilddrüsenanlage einer Larve von
Rana temporaria von 20 Mm. Länge, a Knorpeliger Fortsatz des Zungen-
beins. 6 Schilddrüse im Stadium der schlauchförmigen Drüsenanlagen,
c Muskeln.
Fig. 10. Derselbe Schnitt von einer Larve von 25 Mm. o Fortsatz des Zungenbein-
körpers, b Schilddrüse im Stadium der Follikelbildung. c Muskeln.
Fig. 11. Querschnitt der Schilddrüse und ihrer Umgebungen von einem jungen
Exemplar der Rana temporaria , welches vor kurzem den Schwanz ver-
loren hat. o Processus thyreoideus des Zungenbeins, b Schikhlrüsc.
c Muskeln, d Aeussere Haut.
454 Wilhelm Müller,
5. Zn'ei Fälle von aiigeboreiieiu Adenom der Schilddrüse.
Die beiden nachstehenden Fälle von angeborenem Adenom der
Schilddrüse verdanke ich der Liberalität meines Collegen Professor
Frankenhäuser, in dessen Praxis sie zur Beobachtung gekommen sind.
1) S., während der Geburt verstorbenes Mädchen. Section 134
vom 28. December 1806. Kräftig entwickeltes Kind mit starker Yor-
kopfgeschwulst an der linken Seite des Hinterhaupts. Cyanose der
Lippen. Starke Füllung der Jugularvenen. Beide Lungen luftleer,
blauroth, der Wirbelsäule platt anliegend, nur die rechte an einzelnen
inselförmigen Stellen lufthaltig. Im Rachen und der Trachea grünlich-
gelbe meconiumhaltige Flüssigkeit ; letztere in der Mitte von beiden
Seiten her verengt. Beide Schilddrüsenhörner vom Umfang je eines
massigen Hühnereis, fester Consistenz, biaunrother Farbe, körniger
BeschafTenhoit der Schnittfläche. In allen übrigen Körperorganen ausser
den Folgen der Venenstauung keine bemerkenswerthen Veränderungen.
2) P., während der Geburt verstorbener Knabe. Section 92 vom
2.Ö. Mai 1870. Ausgetragenes Kind. Gesicht cyanolisch. Hals beider-
seits durch eine unter der Haut liegende Geschwulst vorgebuchtet. An
Thorax und Abdomen äusserlich nichts Bemerkenswerlhes. Enorme
Füllung der Venen der Pia mater von dunklem Blut; ebenso der Jugu-
larvenen in der oberen Hälfte des Halses. Umfangreiche doppelseilige
Geschwulst der Schilddrüse von dunkel braunrolher F'arbe, fester Con-
sistenz und drüsig -körnigem Bau. Lungen nur unvollkommen luft-
haltig. Beide Herzventrikel leicht vergrössert, Klappen intact. Die
übrigen Organe ausser den Erscheinungen venöser Hyperämie nichts
Abnormes bietend.
Die Dimensionen der seitlichen Lappen der Schilddrüse waren im
ersteren Fall : Höhe 3,5, Breite 3, Dicke 2,5 Gen timeter; im letzteren
ergeben die entsprechenden Maasse : 4 resp. 3,5 und 2,5 Cent. Form
und Lage des Organs entsprachen in beiden Fällen dem normalen Ver-
halten. Der Bau stimmte mit jenem überein, welchen die Schilddrüse
des Neugeborenen gewöhnlich darbietet. Von der bindegewebigen
Kapsel aus erstreckten sich gefässhaltige Forlsätze in das Innere, durch
welche das Parenchym in eine grosse Zahl von rhomboidischen Läpp-
chen abgetheill wurde. Diese Läppchen setzten sich zu ziemlich glei-
chen Theilen zusammen aus Drüsensubstanz und interstitiellem Gewebe.
Erstere bestand zum grösseren Theil aus einem lockeren Netz cylin-
drischer, an den Enden hie und da mit leichten Auftreibungen ver-
sehener Schläuche von 0,01 4 — 0,03 Durchmesser. Sie bestanden aus
5. Zwei Fälle von aiißphnrfiioiii Adenom der Schilddrüse. 455
einer zarten Bindesubstanzhülle und dieser aufsitzendem kurzen Cylin-
derepithel von 0,007 Länge hei 0,(iOö Dicke mit rundem Kern von
0,0030 — 0,0045. Die Epilhelien Hessen an der Mehrzahl der Schläuche
in der Mitte ein schmales, scharf begrenztes Lumen frei. Zum kleine-
ren Theil bestand die Drüsensubstanz aus abgesonderten Follikeln.
Ihre Gestalt war sehr ungleich, von der kugeligen und ellipsoi-
dischen bis zur unregelmässig verzogenen wechselnd; ihr Durchmesser
schwankte zwischen 0,016 und 0,04. Sie bestanden wie die schlauch-
förmigen Anlagen aus einer dünnen Membrana propria, flachem cylin-
drischen, in einfacher Schicht dieser aufsitzendem Epithel und scharf
begrenzter centraler Höhle. Das interstitielle Gewebe setzte sich zu-
sammen aus den Gefässen und der die letzteren umscheidenden Binde-
substanz. Die Gefässe waren in ihrem capillaren Abschnitt erheblich
erweitert, im Mittel 0,016 im Durchmesser, von 0,01 bis 0,024 schwan-
kend. Ihr Bau Hess ausser stellenweise vorhandenen Schwankungen
im Caliber und dadurch bedingtem varikösen Aussehen keine Abwei-
chung vom gewöhnlichen Verhallen wahrnehmen. Die umscheidende
Bindesubstanz bestand aus einem lockeren Netz dünner Fibrillen mit
zwischenliegenden spindelförmigen Zellen und spärlichen Lymphkör-
pern: sie lag den Capillaren dicht an und erfüllte die schmalen Zwi-
schenräume derselben.
Da weder die interstitielle Bindesubstanz noch die Binnenräume
des Drüsengewebes Abweichungen von dem in der normalen Schild-
drüse des Neugeborenen gewöhnlichen Befund darboten , so ist die
Annahme einer auf acutem Oedem der Bindesubstanz oder stärkerer
Füllung der Drüsenräume bedingten Schwellung der Drüse im Sinne
Bednar's für beide vorliegende Fälle unstatthaft. Der Befund nöthigt
vielmehr zu der Annahme, dass eine das normale Maass weit über-
schreitende Vermehrung der Drüsenanlagen und eine entsprechende
vermehrte Sprossenbildung des Gefässblattes zu der beträchtlichen
Vergrösserung des Organs den Anlass gegeben hat. Letztere beruhte
mithin in beiden Fällen auf ächter Adenombildung i). In Bezug auf die
Aetiologie des ersteren Falls wurde eine Recherche durch die kurz nach
der Entbindung erfolgte Abreise der Mutter verhindert. In dem zwei-
ten Fall ergab sich, dass nicht nur die Eltern der Mutter mit Kropf be-
haftet sind, sondern dass auch die in den zwanziger Jahren stehende,
erst vor Kurzem aus der Umgegend von Tübingen in das Saalthal ein-
1) Ich vermeide die Bezeichnunsi Struma, in welcher ich nichts als einen für
die Praxis vorläufig noch nützlichen CoUectivnamon tüiAnschwellunizen der Schild-
drüse sehe, welche ihrem Wesen nach ganz diflferenten Geschwulstformen ange-
hören können.
Bd. vi. 3. 31
456 Wilhelm Müller,
gewanderte Mutter einen nicht unbedeutenden Kropf besitzt. Dies liisst
auf die Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die Ursache der Kropf-
bilduns von der Mutter auf das Kind übertragen worden ist.
6. Zwei Fälle von Epithelioma cyliiidrocellulare der Schilddrüse
nebst ßeinerkungeu zur Theorie der Epitheliombilduug.
Die Herkunft der specitischen Elemente in den Epitheliomen ist
zur Zeit Gegenstand einer Controverse.
Nach der einen Ansicht erfolgt die Epitheliombildung stets im An-
schluss an priiexistirende Epithelien. Die Vertreter dieser Ansicht füh-
ren zu deren Begründung an: i) dass die Entwicklung der neugebil-
deten Epithelien kein Gegensiand der unmittelbaren Beobachtung sei,
dass man daher nur unter Zuhülfenahme von Analogien Schlüsse über
die Art ihrer Entwicklung aus dem mikroskopischen Befund ziehen
könne (C. Thiersch^)) ; 2) dass man bei der Untersuchung von Epithe-
liomen an den Stellen, an welchen der Process in frischer Entwicklung
begriffen sei, den Zusammenhang der neugebildeten Epithelien mit den
ursprünglich vorhandenen constatiren könne (Hannover^), Remak^I^
TiiiERSCH, Waldeyer^)) ; 3) dass man bei Anwendung geeignetei- Unter-
suchungsmethoden die epithelialen Elemente in den Epitheliomen eben
so scharf von den Elementen der gefässführenden Bindesubstanz tren-
nen könne wie bei der embryonalen Entwicklung der aus dem oberen
oder unteren Keimblatt sich hervorbildenden Drüsen, ohne dass dabei
ein Uebergang von Bindegewebszellen in Epithelien und umgekehrt
sich erweisen lasse; 4) dass die Epitheliombildung als primäre Erkran-
kung wohl den Haut- und Schleimhauttexturen, nicht aber den serö-
sen Häuten zukomme, deren Epithelien gleich jenen des Urogenital-
systems einen andern Stammbaum hätten als die Haut- und Schleim-
hauteiiithelien (C. Thiersch) ; 5) dass das Auftreten von Epitheliomen
und verwandten Geschwülsten an Stellen, welche unter normalen Ver-
hältnissen kein Epithel führen, sich ableiten lasse von Epithelialgebil-
1) Der Epithelkrebs, namentlich der Haut. Leipzig 1865.
2) Das Epithelioma. Leipzig 1852.
3) Deutsche Klinik 1854. p. 170.
4) Archiv für pathologische Analomie 1869. Bd. 41.
6. Zwei Fälle von K[»illielioiUii cytiiidrorftlliilarfi der Scliilddrüse. 457
den, welche abnormen Wachslhumsvorgängen während der Embryonal-
zeit ihre Lagerung verdanken (Remak).
Von diesen Gründon sind die drei ersten weitaus die wichtigsten.
Der vierte winde nur in d(Mii Fall für die Kpilhelioinbildung volle Ver-
werthung finden können, wenn für das Epithel aller Organe, in wel-
chen Epitheliombildung bis jetzt beobachtet ist, die Abstamnuing aus
dem oberen oder unteren K.eind)latt nachgewiesen wäre. Dieser Nach-
weis ist für die epithelialen Elemente des Urogenilalsyslems bis jetzt
nicht gefuhrt, dieses System liefert aber Epitheliome von demselben
Bau, wie sie auf der äusseren Haut oder der Digestionsschleimhaut ge-
funden werden. Der fünfte Grund ist überhaupt schwer zur Evidenz
zu bringen, obwohl seine Berücksichtigung in geeigneten Fällen un-
erlästilich ist.
C. Thiersch, welcher als der Hauptvertreter dieser Ansicht betrach-
tet werden kann, geht noch einen Schritt weiter, indem er eine Theorie
der Epitheliombildung zu geben versucht. Nach ihm ist der Ausgangs-
punkt der Epilheliombildung zunächst in dem Epithel, aber nicht in
diesem allein, eine vermehrte Production von Epithel könne an und für
sich niemals Epilhelkrebs erzeugen. Eine Veränderung des Stroma
müsse dieser Production von Epithel den Weg bahnen, der Widerstand,
welchen das Stroma dem Andringen des Epithels leiste, müsse vermin-
dert sein, sonst lasse sich das rasche Eindringen nicht erklären.
Thiersch glaubt, dass in einer vorgerückten Altersperiode die Wachs-
thumsvorgänge der epithelialen Ueberzüge niancher Orte energischer
von statten gehen als diejenigen des Stroma und sucht in dieser Stö-
rung des Gleichgewichts zwischen gefässlialtigem Stroma und Epithel
die senile Disposition für den Epithelkrebs.
Die zweite Ansicht hat ihren Hauptvertreler in Virchow'). Nach
ihm lassen sich die epidermoidalen Gebilde bezüglich ihrer Herkunft in
drei Gruppen scheiden: 1) die gewöhnliche Epidermis mit ihren Fort-
sätzen in die Haarbälge und Hautdrüsen , sowie die epidermoidalen
Ueberzüge gewisser Canäle und Schleimhäute (des Mundes, des äusse-
ren Ohrs) ; 2) durch Umbildung aus Drüsenzellen entstandene epider-
moidale Zellen : Thymus, Milchdrüse, Ilode ; 3) aus Bindegewebe her-
vorgegangene epidermoidale Zellen : Cankroid, Cholesteatom. Zur Be-
gründung der letzteren Angabe führt Virchow eine Beobachtung von
Cholesteatom in der Pia maier an, welche sich bei einem 34jährigen
Tuberculosen am Pens fand. Ueber den Umfang der Geschwulst findet
sich so wenig eine Angabe als eine Erörterung der Gründe, aus wel-
1 Archiv für patiiniojjisciiP Anatniiiit». Vdf. p. 4U.
31
458 Wilhelm Müller,
eben ViRCHOw ein Wachsthum derselben noch in der letzten Lebenszeit
des Kranken annimmt; es wird nur angeführt, dass derselbe zu keiner
Zeit des Lebens Erscheinungen von Seile des Nervensystems dargeboten
habe.
In der Geschwulst fanden sich ausser grösseren auch kleinere
Perlknoten und drüsige, den Windungen von Schweissdrüsen ähnliche
Schläuche. Für die ersleren gelang es Virchow, eine continuirliche
Reihe von Entwicklungsstadien bis zu einfachen , rundlichen , leicht
granulirten Zellen mit Kern und Kernkörperchen herzustellen, indem
er auf Grund von Essigsäurepräparaten Zellengruppen von verschie-
denen Dimensionen zu einer Entwicklungsreihe verwerthet. Ebenso
werden die Drüsenschläuche für ausgewachsene Zeilen erkläit und da-
für in Fig. II eine naturgetreue Abbildung geliefert, in welcher die
rechts unten befindlichen Gebilde für proliferirende Bindegew ebskörper
erklärt werden , welche in der Umwandlung zu den Epithelien des
Cholesteatom begriffen seien.
Man sollte erwarten, dass zur Begründung einer so weittragenden
Angabe das Gefässsystem durch Injection sichtbar gemacht, dass ferner
durch die Methode der successiven Schnitte oder durch Hebung und
Senkung des Tubus der Beweis wenigstens versuch! worden wäre,
dass die in Fig. II abgebildeten Zellengruppen nicht Querschnitten von
drüsigen Schläuchen entsprachen. Von alle dem findet sich Nichts. Bei
dieser Sachlage kann ich der Beweisführung Virchow's ebensowenig
Gewicht beilegen, als den auf gleich unvollkommene Untersuchungs-
methoden sich gründenden Angaben Förster's '], welcher gleich Virchow
die eigenthümlichen Zellen des Epithelioms aus den zelligen Elementen
der Bindesubstanz hervorgehen lässt.
Durch den Nachweis von Epitheliombildung in einem Organ, wel-
ches normal keine aus dem oberen oder unteren Keimblatt ableitbaren
Epithelien führt, haben Ebertb^) und Arndt ^] die Angaben Virchow's
zu stützen versucht.
Eberth beschreibt ziemlich verbreitete flache Verdickungen der
weichen Gehirnhäute und derGefässscheiden im Gehirn einer 47jährigen
Frau, welche etwa 1 '/2 J^^re die Erscheinungen des Blödsinns dar-
geboten hatte. Er bezeichnet die Veränderung in der Ueberschrift als
Epitheliom (Cholesteatom), um in der Abhandlung selbst zu erklären,
dass an den verdickten Stellen weder geschichtete Epithelien noch
Cholestearinablagerungen sich vorfanden. Es lässt sich nicht einsehen,
1) Die genaueren Literaturangaben sietie bei Thiersch, Epitlielkrebs.
2) Arcliiv für pathologische Anatomie Bd. 49 p. 51.
3) Ebendaselbst Bd. 51. p. 495.
6. Zwei Fülle von Kiiitliclioina cyliiidrocelliiliire der Scliilddrüse. 150
warum dann die Neubildung als Cholesteatom bezeichnet v\ir(l. Sieht
man sich über(ii( s die Beschreibung und die Abbildungen näher an,
so ergiebt sich, dass hier ein bei der fibrösen I.eplninenincilis der b'ren
nichts weniger als seltener Befund vorgelegen hat, weicher mit Kpilhe-
liombildung nicht das Geringste zu thun hat und Jedem bekannt ist,
der sich einigerinaassi n mit den Veränderungen der Hirnhäute und
Hirngefässe von b'ren beschäftigt hat. Ich besitze eine g;inze Reihe von
Präparaten, welche theils mit Hulfe der Goldchlorid- oder Silberim-
prägnation, theils mit Hülfe der Carminfärbung aus den Gehirnen ver-
schiedener Individuen dargestellt sind, welche in der hiesigen Irren-
anstalt an jfibröser Leptomeningitis mit granulirtem Ependym und
Hydrocephalus gestorben sind. Sie geben nicht nur in der Arachnoidea
und Pia, sondern auch in den Scheiden der Hirngefässe die, wie ich
anerkenne, völlig wahrheitsgetreuen Bilder selbst bis auf Einzelheiten
genau wieder, welche Eberth seiner Abhandlung beigegeben hat. Die
Veränderung geht in allen diesen Fällen von der Adventitia derGefässe
aus, welche mit Zellen sich infdtrirt, welche theils mit Lymphkörpern
übereinslinunen, theils grösser, proloplasmareich und mehrkernig sind.
In der Peripherie zeigen diese Zellen eine grosse Neigung, nach Art
embryonaler Endothelien zu cubischen oder regelmässig polygonalen
Gebilden sich zu gestalten und diese Neigung trifft zusammen mit einer
in der Pia stärker, im Innern des Gehirns weniger ausgeprägten Pro-
duclion zollenarliger Sprossen von Seite der verdickten Gefässadven-
titien. Zwischen den Zellenanhäufungen finden sich nicht selten kleine
Hämatoidinkrystalle und theils runde, theils etwas in die Länge gezo-
gene, bisweilen etwas gewundene Gehirnamyloide. Mit Epitheliom-
bildung hat der Process nicht den geringsten Zusammenhang , dagegen
hat er sein Analogen in den Zoltenbildungen. welche an der Oberfläche
der Leber oder der iMilz im Verlauf chronischer Hyperämien dieser
Organe zur Entwicklung kommen.
Mit dem Nachweis, dass die Angaben Eberth's auf einem Irrthum
beruhen, verliert die Beobachtung Arndt's, der sich auf Eberth beruft,
ihre Bedeutung für die Lehre von der Epitheliombildung. Es handelt
sich in diesem Fall um eine wallnussgrosse Geschwulst der Pia mater
von papillärer Beschaffenheit, welche in den) Raum zwischen den Hirn-
stielen, der Brücke und dem hinteren Abschnitt des Infundibulum eines
26jährigen Dienstmädchens sich fand. Ueber die Erscheinungen wäh-
rend des Lebens wird nichts mitgetheilt, ebensowenig über die Beschaf-
fenheil des Gehirnabschnitts, welcher über der Geschwulst lag. Letztere
muss ihren Sitz gerade unterhalb der Corpora candicanlia am Ende der
Basilararterie schabt haben. Die Geschwulst bestand im Wesentlichen
460 Wilhelm Müller,
aus gefässführenden und gefässlosen Papillen , welche von Epithel
überzogen waren. Ob dies Epilhelien oder Endolhelien waren , lässt
sich mit Sicherheit aus der Beschreibung und Abbildung nicht entneh-
men , die Figuren g und k entsprechen nicht den Riffzellen , wie die
Epidermis sie führt. Die Behauptung Arndt's , dass diese Zellen aus
freien Kernen der Gefässwand sich entwickelt haben , spricht für ihre
endotheliale Natur. Drei Möglichkeiten liegen für die Entwicklung der
Geschwulst vor. I) Die Pia führt zwischen dem Ende der Basilararterie
und dem Processus infundibuli einen Plexus kleiner Arterien , das
Ependym am Boden des hinteren Abschnittes des Infundibulum ist na-
mentlich zwischen beiden Corp. candic. äusserst dünn, so dass das
Ventrikelepithel, ein unzweifelhafter Abkömmling des oberen Keim-
blatts, der Pia fast unmittelbar aufsitzt. Hat man Veranlassung, eine
grössere Anzahl von Gehirnen auf die Beschaffenheit der Zwischenhirn-
basis zu untersuchen, wozu mich die Untersuchung über die Entwick-
lung des Infundibulum nöthigte. so findet man in einzelnen Fällen ähn-
liche Abschnürungen des an der Hirnbasis zwischen den Corp. candic.
liegenden Ventrikelabschnitts, wie sie am Hinterhorn häufig sind. Wird
die abgeschnürte Stelle Sitz pathologischer Plexusbildung , so können
die Zotten nach Durchbrechung der dünnen Wand in den Subarach-
noideairaum gelangen. 2) Die Stelle der Pia, von welcher nach der
Angabe Arndt's die Geschwulst ausgegangen ist, entspricht dem Ende
des ursprünglichen mittleren Schädelbalken. Bildet sich frühzeitig eine
Adhäsion zwischen ihm und der anliegenden Pia, so kann ein umschrie-
benes Stück der letzteren zugleich mit dem überliegenden Ependym
während der Umwandlung des mittleren Schädelbalken in die Scheide
der Basilararterie ausgezogen und abgeschnürt werden. Wird dieses
Stück später Sitz von Papillenbildung, so kann eine, Geschwulst von
der Beschaffenheit der beschriebenen zur Entwicklung gelangen.
3) Von den Gefässadventilien der Pia aus kann die Bildung zolten-
arliger Sprossen in Geschwulstform erfolgen, die Endothelien, welche
die Zotten umgeben, köimen in den Vertiefungen in ähnlicher Weise
zu concentrischen Lagen sich gruppiren wie die Epithelien eines Epi-
thelioms. Die Erörterung dieser Möglichkeiten konnte Arndt nicht
umgehen, wenn ihm die einfachsten Thatsachen aus der Entwicklungs-
geschichte der Zwischenhirnbasis und die Arbeiten von Remak und
Thiersch bekannt waren. Angesichts der geringen Vorsicht des Ver-
fassers, von welcher die Unterlassung dieser Erörterung nicht das ein-
zige Beispiel ist^), kann ich ihm nicht beistimmen, wenn derselbe
i) Auf S. 500 werden freie Kerne in dem subadventitialen Lympliraum für
Lymphliörperchen, resp. weisse Blutkörperchen erklärt!
6. Zwei Fälle vnii Kpilliclioiiift cylindroccllulnre der Scliilddriisc 4G1
seine Angaben für geeignet hält, um die Entwicklung von Epithelien
aus Elementen des Gefässhiatls zu erweisen.
Es ist endlieh einer dritten Ansicht zu erwähnen, nach welcher
die specifischen Elemente hei dem Hautkrebs von den Endolhelien der
Lymphgefässe abstammen sollen ']. Diese Ansicht wird hier nicht wei-
ter erörtert werden ; in einer besonderen Abhandlung werde ich den
directen Beweis liefern, dass die Gründe, welche für dieselbe vor-
gebracht werden, für das Epitheliom nicht verwerthbar sind.
Ich komme auf Giund dei" voranstellenden Prüfung tler verschie-
denen Ansichten zu dem Schluss, dass bis jetzt die Vertreter der
Ansicht, nach welcher Epitheliombildung stets im Anschluss an prä-
existirende Epithelien erfolgt und das gefässhaltige Bindegewebe an
der Production dieser Neubildung nur in der Weise sich beiheiligt wie
bei der Entwicklung der aus dem oberen oder unterea Keimblatt ab-
stammenden Drüsen , die besseren Gründe vorzubringen im Stande
sind. Komme ich in dieser Hinsicht zu demselben Schluss wie Han-
nover, Remak und Thiersch, so halte ich es andrerseits für eine
Uebertreibung , wenn Waldeyer"^) den Ausgangspunkt auch für die
Carcinome in den Epilhelialgebilden des Körpers sucht. Die methodi-
sche Untersuchung der Neubildungen , welche seit Errichtung des hie-
sigen pathologischen Instituts zur Beobachtung gekommen sind , hat
mich zu der Ueberzeugung geführt, dass Carcinome und Epitheliome
zwei grundverschiedene Neubildungen sind, in deren Aulfassung aber
sehr wohl ein Schritt nach vorwärts versucht werden kann. Meiner An-
sicht nach sind beide Processe Infectionskrankheiten, bedingt durch die
Einwiikung eines Virus , welches mit einer geeigneten Körperslelle in
Contact kommen muss. Ueber die Natur dieses Virus weiss ich nichts,
nur so viel schliesse ich aus dem Umstand, dass es in wirksamer Weise
zu tief liegenden, nur dem Blutstrom zugänglichen Organen zu gelangen
vermag, dass es, wenn eine feste Substanz, in äusserst feiner Verthei-
lung sich befinden muss. Das Virus zeigt in beiden Fällen eine analoge
Beziehung zu den zelligen Elementen des betrollenen Organs wie die
Spermatozoiden zu den entsprechenden Eiern, indem es dieselben zu
einer der embryonalen entsprechenden Vermehrung veranlasst. Das
Virus, welches dem Carcinom zu Grunde liegt, ist abei' dadurch von
dem die Epitheliombildung hervorrufenden wesentlich verschieden,
dass es gleich dem Virus der Syphilis durch eine specifische Beziehung
1) Karl Kister, die Entwicklung der Carcinome und .Sarcome. Würzburg
1869.
2) Archiv für palliologisclie Anatomie. i869. 1kl. 44.
462 Wilhelm Müller,
zu den zelligen Elementen der Bindesubstanz des Körpers ausgezeichnet
ist, während das Virus, dessen Einwirkung Epitheliombildung im Ge-
folge hat, eine specifische Beziehung zu den Epithelialgebilden des
Körpers besitzt. Von der letzteren Neubildung hat man nach dem ana-
tomischen Befund zwei Formen unterschieden, die eine charakterisirt
durch die vorwiegende oder ausschliessliche Production von pflaster-
förmigen, die andre durch eine solche von cylindrischen Epilhelien,
welche man als Epithelioma pavimcntocellulare und cylindrocellulare be-
zeichnen kann. Ich halte es nicht für nothwendig, dass jeder eine be-
sondere Alodification des eigenlhümlichen Virus zu Gi'unde liegt. Die
Entwicklung jedes Epithelioms ist meiner Ueberzeugung nach das Pro-
duct aus der Einwirkung des Virus und aus den besonderen Eigen-
schaften der Epitholicn der betroffenen Körperstelle. Die cylindrischen
Epithelien der Darmschleimhaut und des Uterus, sowie der Mehrzahl
der aus dem unteren Keimblatt sich hervorbildenden Drüsen liefern in
Folge der Infcction Neubildungen mit cylindrischen» Epithel, welche
wie in den beiden sogleich zu beschreibenden Fällen durch besondere
Anordnung ihre Abstammung aus einem ganz bestimmten Organ verra-
then können. Die Abkömmlinge des Hornblatts und die Epithelial-
gebilde des Larynx, Oesophagus und der Vagina liefern Neubildungen,
deren specifische ^] Zellen durch Neigung zur Abplattung und Verhor-
nung mit jenen des Mutterbodens übereinstimmen. Mit Max Schultze
stimme ich darin überein, dass die Fähigkeit der Zellen, sich zu ver-
mehren, durch deren Proloplasmareichthum wesentlich bestimmt wird.
Dem entsprechend suche ich den Angriffspunkt des Virus bei den mit
geschichtetem Pflasterepilhel überzogenen Körpertheilen in dessen un-
terster, aus cylindrischen Zellen bestehender Schicht und deren Ver-
längerungen zu drüsigen Gebilden, während an den mit cylindrischem
Epithel überzogenen Organen eine zur Einwirkung des Virus geeignete
Zellenschicht frei zu Tage liegt. In dem einen wie in dem andern Fall
halte ich es für wahrscheinlich , dass grösserer ProtopIasn)areichthum
der Epithelien in Folge vorangegangener Hjperämien die Wirksamkeit
des übertragenen Virus wenn nicht bedingt, so doch begünstigt. Durch
diese Annahme erkläre ich mir die Häufigkeil, mit welcher das Epithe-
liom der äusseren Decken an Stellen auftritt, welche bereits patholo-
gische Veränderungen erfahren haben, durch diese Annahme erkläre
ich mir aber ferner im Gegensatz zu Thiersch die mit den Jahren zu-
1) Der Ausdrucli specifisch wird hier nicht im morphologischen, sondern im
physiüloüischen Sinn gebraucht. Die Zeilen eines Epithelioms sind nur specifisch,
insofern sie Trager des Virus sind, welches der Epitheliombildung zu Grunde liegt.
6. Zwei Fällo von r.pitlielioma cylindrocplliilare dor Schilddrüse. 463
nehmende Häufigkeit des Epithelioms, denn Veränderungen der äusse-
ren Decken, sowie chronische Katarrhe innerer Organe, namentheh des
Oesophagus, Magens, ülerus und mithin die die Infeclion begünstigen-
den Momente werden mit zunehmendem Aller erfahrungsgemäss häu-
figer. Die Entwicklung der Epitheliome nach erfolgter Infection ge-
schieht meinen Beobachtungen nach im Wesentlichen übereinstimmend
mit der Entwicklung der Drüsen aus den» Hornblatt und Darmdiüscn-
blatt, indem der Vermehrung der Epithelien eine Sprossenbildung der
anliegenden Gefässe und ein grösserer Zellenreichthum ihrer binde-
gewebigen Adventitien folgt. Durch den letzteren Process und nicht
wie Thiersch annimmt durch eine senile Involution erfolgt meiner An-
sicht nach die zum Eindringen der Neubildung in unterliegende Theile
erforderliche Lockerung der Consistenz. Es findet demnach bei der
Entwicklung der Epitheliome das Umgekehrte statt von dem, was bei
der Entwicklung der syphilitischen Condylome und der zottenförmigen
Exkrescenzen über einem Carcinom sich ereignet. In jenem Falle ist
der Ausgangspunkt der Neubildung das Epithel, das Gefässblatt bethei-
ligt sich secundär, was nicht hindert, dass die Betheiligung wie bei
den papillären und zottigen Formen des Epitheliom eine luxuriirende
werden kann. In den letzteren beiden Fällen ist der Ausgangspunkt
der Neubildung das Bindegewebe, die anliegenden Epithelien bethei-
ligen sich secundär, was wieder namentlich bei den Condylomen eine
sehr ausgesprochene Betheiligung nicht ausschliesst.
Das Wachsthum der Epitheliome erfolgt meinen Beobachtungen
nach ausser durch Vergrösserung der ursprünglichen Infeclionsstelle
durch fortschreitende Infeclion der Nachbarschaft, ihre Vervielfältigung
hauptsächlich, wenn nicht ausschliesslich durch Transplantation enl-
wicklungsfähiger Keime (Küss, Thiersch). Ausser den beiden nach-
stehenden Fällen , deren Eigenthümlichkeiten nur durch die Annahme
ungezwungen sich erklären lassen, dass entwicklungsfähige Keime von
dem ursprünglichen Neubildungsheerde aus verschleppt worden sind,
werden in dem nächsten Heft dieser Beoliachtungen Fälle veröffentlicht
werden, welche gar keine andere Erklärung der Vervielfältigung zu-
lassen und in welchen die Verschleppung zum Theil direct sich hat
nachweisen lassen. Die Transplantation kann erfolgen sowold durch
den Lymph- als durch den Blulstrom. Ein von dem Mutterboden los-
gerissenes und unter den äusserst günstigen Bedingungen, v\ eiche diese
Flüssigkeiten gewähren, transplantirles Geschwulsllheilchen verhält
sich meiner Ueberzeugung nach, wenn es an seiner definitiven Lage-
rungsslälle in einer Lymphdrüse oder einem entfernten Bezirk des
Lymph- oder ßlutgefasssyslems angelangt ist, ganz ähnlich wie die
464 Wilhelm Müller,
Anlage der Hypophysis oder Schilddrüse , so lange das Gefässblalt an
der Entwicklung dieser Organe sich nicht betheiligt hat, oder wie ein
durch Contagion mit den entsprechenden Spermatozoiden befruchtetes
Ei, weiches an einer Stelle der Oberfläche des Peritonäum zur Ent-
wicklung gelangt. In allen diesen Fällen liegt eine in der Vermehrung
begriffene Gruppe von Epithelzellcn vor, welche das Gefässblatt an der
Stelle, mit welcher sie in Berührung kommt, zur Sprossenbildung ver-
anlasst und in den ersleren beiden Fällen von diesen Sprossen durch-
wachsen wird. Mit dieser Annahme steht in Einklang, dass man bei
der Injection von Lebern, welche von Epiiheliomknolen in grösserer
Zahl durchsetzt sind, die kleinsten mikroskopischen*Knoten bei voll-
kommen gelungener Injection der Umgebung zum Theil in gefässlosem
Zustande antrifi't.
Die folgenden beiden Fälle sind , so viel ich aus der mir zugäng-
lichen Literatur 1) entnehmen kann, die ersten Beobachtungen über das
Vorkommen von Epithelioma cylindrocellulare in der Schilddrüse neben
altem Kropf; sie bieten sowohl hinsichtlich des Baues der Neubildung
als hinsichtlich ihrer Verbreitung im Körper Eigenthümlichkeiten,
welche für die Theorie der Epitheliombildung von hohem Interesse sind.
I) K., Therese, 42 Jahr, Schmiedsfrau ausGeroda, wurde den 2. März
1S68 Wegen umfangreicher Geschwülste verschiedener Knochen in die
Klinik des Herrn Geh. Hofrath Ried aufgenommen. Die Anamnese er-
giebt, dass Patientin von gesunden Ellern abstammt und früher nie
krank gewesen ist. Vor sechs Jahren bekam sie Schmerzen im rechten
Schullerblatt, namentlich bei Bewegung mit leichterer Ermüdung. Seit
drei Jahren hat sich eine Geschwulst auf der Höhe des Scheitels ent-
wickelt, welche, stets rundliche Form zeigend, im Laufe des nächsten
Jahres zur Grösse einer Wallnuss, im Laufe des Jahres 1867 zu Apfel-
grösse heranwuchs, seitdem rascher sich vergrössert hat. Vor einem
Jahre bemerkte die Kranke, dass die rechte Schullergegend angeschwol-
len sei, wodurch die Abduction des Oberarms etwas erschwert wurde.
Seit V., Jahr am Jochfortsatz des linken Schläfenbeins eine allmälig sich
vergrössernde Geschwulst, die bis zu Hühnereigrösse herangewachsen
ist. Seit einem halben Jahr schon nach leichter Arbeit Mattigkeit in
den Beinen, hie und da Taubheit und Ameisenkriechen, verminderte
tactile Sensibilität. Seit sechs Wochen Lähmung der unteren Extre-
1) Der .von Gabrilow (Förster) in den Würzburger Verhandlungen beschrie-
bene Kall von Kpitlielionia pavimentocellulare der Scliiiddtüse ist sicher vom Oeso-
phagus ausgegangen, ein Beweis für die primäre Entwicklung in der Schilddrüse
von Gabrilow nicht einmal versucht.
6. Zwei Fiillp von Kpitlielioina cylindrocelliilait' der Scliilddrüsi'. 465
niitäten, rasche Abnahme der Sensibilität, Inoonlinon/, des Urins, Re-
lardalion des Stuhls. Die Sensibilitfilsslörungen betretl'en die unleren
Kxlreniitäton und den Rumpf bis zur Höhe der zweiten Rippe p;leich-
n)ässig auf beiden S(Mlen, zugleich auf beide Arme, in welchen die
Kranke das Gefühl von SchwiJche wahrnahm , so dass sie die einzelnen
Gegenstände nicht mehr sicher und fest zu halten vermochte und die
lactile Sensibilität sich verminderte, zugleich Abmagerung der Vorder-
arme und Hände, rechts mehr als links. In letzterer Zeit starke
reissende Schmerzen in den unteren Extremitäten mit unwillkürlichen
spastischen Contractionen verschiedener Muskelgruppen. Appetit all-
mälig vermindert.
Status praesens: ergiebt ausser den angeführten Geschwülsten
doppelseitigen Kropf. Reide untere Extremitäten willkürlich nicht be-
weglich, dagegen fortwährend in unwillkürlichen Contractionen, beson-
ders auf Einwirkung äusserer Reize. Elektrische Sensibilität an den
oberen Extremitäten nur wenig, an den unteren sehr abgeschwächt;
in gleicher Weise verhält es sich mit der elektrischen Motilität.
7. März Respirationsnoth. Rlutige Sputa. Abends 10 Uhr Tod.
Section 2:5 vom 8. März l8(iS. Mittelgrosse Leiche, kräftiger Rau, mas-
sige Abmagerung. Auf der Mitte des Scheitels eine rundliche Geschwulst
unter der unversehrten, stellenweise mit ihr verwachsenen Haut. Nach
Abpräpariren der letzteren kommt eine Geschwulst von 9 Ccntimcter
Durchmesser bei 7 Cenlimeter Höhe zum Vorschein , welche beide
Scheitelbeine in der Mittellinie durchsetzt. Hire Farbe ist allenthalben
grauröthlich, die Consistenz theils n)ässig fest, theils fast zerflicssend
weich, die Schnittiläche feinköinig und maltglänzend. Eine zweite
hühnereigrosse Geschwulst unter der Haut der linken Schläfe dicht vor
dein Ohr, welche nach Abziehen der Haut als dem Jochfortsatz des
Sfhläfenbeins entsprungen sich erweist. Dura mater mit dem Schädel
fest verwachsen ; ihre Innenfläche glatt und glänzend. Flache Vor-
wölbung derselben in der Mitte der Sagittalnaht im Umfang eines Zwei-
thalerstücks; die prominirende Stelle von zahlreichen erweiterten
Gefässen durchzogen. Die Vorwölbung wird bedingt durch den die
beiden Parietalbeine durchsetzenden Tumor, mit welchem die Dura
locker verwachsen ist. Nach Abziehen der Dura von der Innenfläche
des Schädeldachs kommen zwei weitere flache, die Glastafel wenigstens
stellenweise durchbohrende , in der Diploe des inneren und äusseren
hinteren Winkels des linken Seitenwandbeins sitzende Tumoren von 1,
resp. 3 Centimeter Durchmesser und grauröthlicher Farbe zum Vor-
schein. Flache Vorwölbung der Dura mater im vorderen äusseren Um-
fang der linken minieren Schädelgrube; nach Abziehen derselben zeigt
466 Wilhelra Müller,
sich ein flacher, die Glastafel durchbohrender grauröthlicher, weicher
Tumor von 4 Cenlimeter Flächendurchmesser, 'welcher in der vorderen
Partie des Schläfenbeins seinen Sitz hat und in den Jochbogen sich
erstreckt, von der Wurzel des letzteren aus gegen die äussere Haut
vorragend. Arachnoidealräume des Gehirns fast leer von Flüssigkeit.
Beträchtliche Füllung der Venen der Pia mater. Hirnwindungen be-
sonders in den Occipitallappen abgeflacht; die linksseitigen Parietal-
windungen neben der Mittellinie im Umfang eines Thalers flach unter
das Niveau der Umgebung vertieft, ihre Structur anscheinend unver-
ändert. Gehirn anämisch , Seilenventrikel eng, klare Flüssigkeit ent-
haltend. Der linke Sphenoidallappen nahe der Spitze eine leichte De-
pression in seiner unteren Fläche zeigend. Nach Eröffnung des Rück-
grathcanals zeigt sich die Dura spinalis im Bereich des ersten Brust-
wirbels verbreitert und abgeflacht : nach Herausnahme derselben kommt
ein gegen ihre vordere Fläche andrängender, den Körper des ersten
Brustwirbels subslituirender , grauröthlicher, flach höckeriger Tumor
zum Vorschein, welcher die Rindensubstanz an dei- vorderen und hin-
teren Fläche durchbrochen hat, das Periost vor sich her schiebend.
Innenfläche der Dura spinalis allenthalben glatt, Arachnoides und Pia
ohne bemerkenswerlhe Veränderung. Im Bereich des ersten Dorsal-
nervenursprungs ist das Rückenmark plattgedrückt und in der Aus-
dehnung von I Centimeler, breiig weich, grauröthlich , fleckig, graue
und weisse Substanz nicht unterscheidbar. Dorsaltheil des Rücken-
marks dünn, Lendenanschwellung deutlich. Das Lendenmark fest, die
graue Substanz bleich, die weisse etwas fleckig und je höher nach oben
um so deutlicher über die Schnittfläche der Pia überwallend. An dem
Ueberwallen betheiligen sich am stärksten die Seitenstränge, wenig die
vorderen, gar nicht die hinteren.
Umfangreiche Vorwölbung der Haut über dem rechten Schulter-
blatt. Nach Abziehen derselben zeigt sich die rechte Scapula in eine
über mannskopfgrosse, rundliche, weiche Geschwulst verwandelt von
grauröthlicher Farbe und körniger Schnittfläche. Deltamuskel mit Aus-
nahme leichter Verfärbung unverändert, Trapezius an seinem Ansatz
mit der Geschwulst verwachsen und enorm verdünnt. Supra- und
Infraspinatus nur \n einzelnen Rudimenten angedeutet. Von der Sca-
pula selbst ist nur eine kleine Strecke der Spitze, ausserdem die Crista
mildem Acromion und der Processus caracoideus erhallen. Die Gelenk-
fläche für den Humerus bis auf einige dünne Knochenplällchen ge-
schwunden. Die erste Rippe von ihrem Ursprung an , die zweite und
dritte in der Nähe des Winkels rechlerseits medianwärts eingebogen,
die oberste Partie der rechten Pleurahöhle dadurch massig verengt.
6. Zwei Fälle von Kpitliclioiiia oylindroopUiilan' dei- Scliilddn'lse. 467
Die Lymphdrüsen in der Umgebung des Tumor, sowie jene der rechten
Achselhöhle massig geschwollen, von hlnurolher Farbe, homogener
Beschnffenheil.
Schilddrüse allgemein vergrössert; Isthmus und linker Lappen im
Zustand gewöhnlichen Gallerlkropfs, der letztere von vereinzelten gelb-
weissen fibroiden Bindegewebsmassen durchset/l. Der rechte Lappen
über gänsoeigross, ilach höckerig, weich, auf dem Duichschnitt grau-
rölhlich , feinkörnig, von analoger Färbung und Beschaffenheit wie die
Neubildungen in den verschiedenen Knochen, ohne Gallerleinlagerung.
Im Centrum dieses Lappens ein verästelter, fibroider, theilweise ver-
knöcherter Bindegewebsstrang.
Allseitige Synechie der beiderseitigen Pleuren. Hypostatische
Pneumonie des linken Unterlappens. Strahlige, sämmtliche Häute durch-
setzende Narbe in der Mitte der kleinen Curvatur des Magens. Geringer
Katarrh der Nierenbecken. Retroflexion des Uterus.
Die mikroskopische Untersuchung des linken Schilddrüsenlappens
ergab eine ziemlich allgemeine Vergrösserung der Follikel. Ihr Durch-
messer schwankte zwischen 0,03 und 0,5, im Mittel 0,1 betragend,
ihre Gestalt war überwiegend kugelig. Sie waren ausgekleidet von ein-
schichtigem, flachen Cylinderepithel von 0,006 Seitenfläche und ent-
hielten fast ohne Ausnahme im Innern gelblich gefärbte Gallertmassen
theils in Form homogener Klumpen, theils in Form zahlloser, 0,008
— 0,02 grosser Kugeln, welche durch eine zähe, formlose Kiltsubstanz
zusammengehalten wurden. In der Gallerte fanden sich vielfach kleine
Krystalle von oxalsaurem Kalk, nur sehr vereinzelt von einem Feltkörn-
chenhof umgebene Zellenreste. Die interstitielle Bindesubstanz zeigte
den gewöhnlichen fibrillären Bau, das Gefässsystem keine Abweichung
vom normalen Verhalten.
Der in eine grauröthliche, markige Geschwulst verwandelte rechte
Lappen war von einer 0,4 dicken bindegewebigen Kapsel umgeben.
Sie entsandte die grösseren Gefässe begleitende Fortsätze in das Innere,
welche hier zu einem Netzwerk sich auflösten, durch welches das
Parenchym in sehr ungleiche rhombische Felder zerlegt wurde. Die
Bindesubslanz, welche diese Felder begrenzte, war gleich jener der
Kapsel fibrillär und arm an zelligen Elementen ; gegen die Mitte zu
enthielt sie in reichlicher Menge runde und eckige, glänzende Körnchen
eingelagert, welche in Aether unlöslich, in Säuren unter Aufbrausen
löslich waren (Kalksalze) ; in der Mitte selbst war die Bindesubstanz
diffus verkalkt.
Die von den Fortsetzungen der Kapsel umgebenen Läppchen be-
standen aus zwei verschiedfuien Elementen: Epithelialen Gebilden und
468 Wilhelm Müller,
interstitiellem Gewebe. Die epithelialen Gebilde waren von zweierlei
Art: Zum überwiegenden Theil bildeten sie geschlossene Follikel. Ihre
Gestalt war sehr ungleich, von der vorwiegenden kugeligen bis zur
langgezogenen wechselnd, ebenso verschieden war ihre Grösse, indem
der Durchmesser von 0,012 — 0,5 schwankte. Sie waren umgeben von
einer homogenen, dünnen Bindesubstanzhülle, welcher cylindrisches
Epithel aufsass. Die Epithelien waren 0,01 —0,01 4 hoch, 0,004—0,006
dick , mit der Basis näher liegendem runden oder ellipsoidischen Kern
versehen, sehr protoplasmareich und daher an Imbibitionspräparaten
lebhaft roth gefiirbt, wodurch sie sich von den blassen, niedrigen Epi-
thelien der Follikel des linken Schilddrüsenlappens auf den ersten Blick
unterschieden. An der iMehrzahl der Follikel bildete das Epithel eine
einfache Schicht, welche eine centrale, mit farbloser Flüssigkeit, an
einzelnen Follikeln mit feinkörnigem Detritus und Hämatoidinkrystallen
erfüllte Höhle umschloss. Nirgends war in diesem Lappen Gallerte im
Innern der Follikel nachweisbar. Ein kleinerer Theil der Follikel besass
geschichtetes Cylinderepilhel, welches in dichter Lagerung das Innere
vollständig erfüllte; diese Follikel waren von massiger Grösse und über
Gruppen von Läppchen gleichmässig verbreitet, in welchen die Epithel-
neubildung anscheinend energischer als in den übrigen von statten
ging. An beiden Arten von Follikeln Hess sich durch Heben und Sen-
ken des Tubus die Abgeschlossenheit constatiren (vergl. Fig. 8 auf
Taf. XI).
Die zweite Art epithelialer Gebilde bestand aus epithelführenden
Schläuchen. Sie waren unregelmässig gewunden und hie und da ver-
ästelt; an den Enden zeigten sie theilweise kugelige Auftreibungen.
Ihr Durchmesser schwankte zwischen 0,01 und 0,07. Sie setzten sich
gleich den Follikeln zusanmien aus einer dünnen Bindesubstanzhülle
und dieser aufsitzendem cylindrischen Epithel, dessen Zellen lang-
gestreckt und proloplasraareich waren ; nur in der Peripherie der Ge-
schwulst fanden sich Schläuche mit niedrigerem cubischen Epithel von
0,006 Seitenlänge zwischen den innersten Bindesubstanzlagen der
Kapsel, auch ihre Zellen waren reich an Protoplasma. Das Epithel war
an der Mehrzahl der Schläuche einschichtig und Hess an den dickeren
ein scharf begrenztes centrales Lumen frei, welches farblose Flüssigkeit
führte ; in den Läppchengruppen mit soliden Follikeln erwies sich auch
ein Theil der Schläuche solid und von geschichteten, schmalen, cylin-
drischen Epithelien ausgefüllt.
Das interstitielle Gewebe der Läppchen bestand überwiegend aus
sehr weiten Capillaren von 0,01 — 0,02 Durchmesser. Sie waren um-
geben von netzförmiger Bindesubstanz , bestehend Iheils aus Fibrillen
6. Zwei Kiillo VOM Kpithclioniii cylindrocclliiliirc der Scliilddiüsc. 469
mit spärlich zwischenliegendcn Koiiicn , iheils aus Anhäufungen von
Lymphkörpern und spindeltörniigen Zellen. Stellenweise zeigte die
interstitielle Bindesubstanz grossen Reichtlnini an Iläninloidin. Die
Neubildungen in dei- Scapula, dem ersten Biustwiibel und den Schä-
delknochen stimmten in ihrem Bau sowohl unter sich als mit jenen des
rechten Schilddrüsenlappens überein. Sämmtliche Geschwülste be-
sassen eine bindegewebige Hülle, von welcher aus gefässführende Fort-
sätze in das Innere drangen, letzleres in unregelmässige Läppehen zer-
legend: nur an der Peripherie der im Knochen enthaltenen Abschniile
der Neubildungen fehlte ein deutlicher Ueberzug und eine Lüppchen-
sonderung. Die Geschwülste bestanden wie der rechte Schilddrüsen-
lappen aus epithelialen Gebilden und interstitiellem Gewebe. Erstere
waren auch hier von zweierlei Art: 1) Geschlossene Follikel von über-
wiegend kugeliger Form, 0,02 — 0,1 im Durchmesser, aus dünner ßinde-
substanzhülle und dieser aufsitzendem cylindrischen Flpithel bestehend.
Die Zellen des Epithels 0,004 — 0,006 dick, 0,01 — 0,014 hoch, prolo-
plasmareich, in einem Theil der Follikel in einfacher Lage, ein centra-
les, farblose Flüssigkeit enthallendes Lumen frei lassend, in einem an-
dern Theil geschichtet und das Innere vollständig erfüllend. 2) Epithel-
führende Schläuche von 0,02 — 0,06 Durchmesser, cylindrischer Form,
unregelmässig gewunden, zum Theil mit seitlichen Sprossen und end-
ständigen Auftreibungen versehen. Sie bestanden gleich den Follikeln
aus einer dünnen Bindesubstanzhülle und die.^er aufsitzendem cylin-
drischen, protoplasmareichen Epithel. Diese epilhelführenden Schläu-
che erwiesen sich in sämmtlichen Knochengeschwülslen als der vor-
wiegende Bestandlheil , waren jedoch allenthalben mit abgeschnürten,
rings geschlossenen Follikeln unternsischt. Das interstitielle Gewebe
bestand auch hier aus Blutgefässen und umscheidender Bindesubslanz.
Die Capillaren waren unverhältnissmässig weit, im Mittel 0,02, die
umgebende Bindesubstanz fast durchweg reich an Lymphkörpern und
spindelförmigen Zellen (vei-gl. Fig. 9 auf Taf. XI).
In der Mitte der grossen Geschwulst der Scheitelbeine und an den
weicheren Stellen der Schultergesch wulst befand sich »der Inhalt der
grossen rhombischen Läppchen in vorgeschrittenem feinkörnigen Zerfall.
Es schien von besonderem Interesse, an der Peripherie der Kno-
chengeschwülste die Art des Eindringens in die Knochensubslanz za
untersuchen. Zu diesem Zweck zog ich an den nach vorheriger An-
wendung von I Yo chromsaurem Kali in Alkohol gehärteten Knochen
durch verdünnte Salzsäure die Erdsalze aus, unterwarf die angefertig-
ten Schnitte der Imbibitionsmethode und entzog der Inlercellularsub-
stapz des Knochens duich die F>inwirkung von Eisessig den Farbsloif.
470 Wilhelm Möller,
Es zeigte sich, dass das Eindringen vorwiegend längs derGefässe statt-
fand unter Erweiterung der HAVERs'schen Canälchen in der compacten
Substanz. An den Stellen, wo diese Erweiterung stattgefunden hatte,
zeigte die Oberfläche der Knochensubstanz kleine Ausbuchtungen,
welche anliegenden Epithelien der Neubildung oder Zellen des inter-
stitiellen Gewebes entsprachen ; längs der Contactslelle erstreckte sich
eine roth inibibirte Zone feinkörniger Grundsubslanz im Knochen, wel-
cher der Eisessig den Farbstoff nicht zu entziehen vermochte; sie hob
sich scharf von der gelblichen Intercollularsubstanz des tibrigen Kno-
chens ab, welcher der Farbstoff entzogen war. Die Knochenkörperchen
Hessen ihre elliptischen ^) Kerne in Folge der Imbibition leicht erkennen,
sie zeigten sich nirgends vermehrt oder verändert, auch an den Stellen
nicht, an welchen sie in unmittelbarer Nähe von Usurlücken innerhalb
der roth imbibirten Zone der InterceUularsubstanz lagen.
Ich kann aus diesem Befund nur schliessen, dass der Knochen der
andringenden Neubildung gegenüber durchaus passiv und ganz analog
sich verhielt wie nach Gegenbaur's Beobachtungen der Knorpelknochen
sich verhält gegenüber den andringenden Osteoblasten bei dem Eintritt
der definitiven Knochenbildung. Es ergiebt sich daraus der Schluss,
dass protoplasmareiche, in der Vermehrung begriffene Zellen verschie-
dener Abkunft im Stande sind, die InterceUularsubstanz des Knochens
zu zerstören.
Die geschwollenen blaurothen Lymphdrüsen der rechten Achsel-
höhle zeigten Kapsel und muskelhaltige Trabekeln unverändert. Das
Gewebe der Blutgefässscheiden und jenes der Lymphbahn war deutlich
zu unterscheiden, die follikelarligen Auftreibungen des ersteren halten
0,3 — 0,5 im Durchmesser. Die Lymphbahnen um die Follikel waren
etwas erweitert, letztere selbst im Centrum lockerer gefügt als in der
Peripherie. Sowohl in den Blutgefässscheiden als in den Lymphbahnen
fanden sich Lymphkörper vom gewöhnlichen Aussehen. Die Capillaren
und Venen der Blutgefässscheiden zeigten sich beträchtlich erweitert,
erstere 0,016 im Mittel messend; stellenweise standen die Capillaren
so dicht, dass der Bau an jenen capillärer Angiome erinnerte. In keiner
der untersuchten Lymphdrüsen konnten Geschwulsttheilchen aufgefun-
den werden.
<) Nach Klebs (Mediz. Centralblatl -1868. No. 6) sollen die Knochenkörperchen
hohl und beim erwachsenen Menschen ohne Kern sein. Schon Karl Rüge hat mit
Recht dieser Behauptung widersprochen (Archiv für pathol. Anatomie Bd. 49. p. 237).
Durch die hier benutzte Methode ist es so leicht, von der Anwesenheit von Kernen
im Innern der Knochenköiper sich zu überzeugen, dass ich die Behauptungen
Klebs' auf sich beruhen lasse.
6. Zwei Fülle von Epitheliom» cvliiidrorelluliire der Schilddrüse. 471
2) G. Robert, 46 Jahr. Arbeilshäusler aus Jena, wurde nach kur-
zer poliklinischer Behandlung den II. November 1H(i8 in die Klinik
des Herrn Geh. Hofrath Gerhardt aufgenommen. Die Anamnese ergiebt.
dass der Kranke vor etwa fünf Wochen beim Tragen einer schweren
I.asl ein»'n Fall gelhan hat, wodurch er sich eine Dislorsion des linken
Hüftgelenks und einen Bluterguss in der linken Leistengegend zuge-
zogen hat. Kr giel)t an, seit ungefähr diesem Zeitraum an verminder-
tem Appetit, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwäche in den Beinen,
Schmerzen in der hinteren Partie der beiden Oberschenkel zu leiden.
Er klagt ferner über Sclmierzen beim Athmen, welche nahe der Mitte
des Halses gegen das Jugulum hin ausstrahlen. Der Status praesens
ergiebt eine umfangreiche Struma an der linken Seite des Halses,
welche sich vom Zungenbein bis zur linken Supraclaviculargrube
erstreckt, die Trachea etwas nach rechts drängend. In der Leisten-
gegend findet sich unterhalb des PouPART'schen Bandes der linken Seile
eine flache un verschiebbare Geschwulst, welche sich längs der latera-
len Wand des kleinen Beckens in die Tiefe erstreckt. Die Geschwulst
ist bei der liilei suchung per rectum, dessen linke Wand etwas ein-
wärts gebuchtet ist, an der Seitenwand des kleinen Beckens gleichfalls
fühlbar.
Der Kranke, welcher nach einiger Zeit wieder entlassen wurde,
klagte während des Jahres 1869 über Schmerzen im linken Oberschen-
kel und zunehmende Gebrauchsunfähigkeit der linken unteren Extre-
mität. Die Geschwulst in der linken Leistengeg(^nd nahm dabei allmälig
an Umfang zu. Im Anfang des Jahres 1870 gesellten sich dazu die Er-
scheinungen einer linksseitigen Pleuritis, welchen der Kranke den
22. März erlag.
Section 33 vom 23. März 1870. Kräftiger Körperbau. Massige Ab-
magerung. In der Mitte und an der linken Seite des Halses eine vom
oberen Rand des Schildknorpels bis zum Jugulum reichende verschieb-
bare Geschwulst. Thorav links etwas erweitert. Abdonien flach. In
der linken Weiche eine flache unbewegliche Geschwulst vom Umfang
einer Kinderfaust, die Haut darüber verschiebbar. Linke untere Extre-
mität leicht ödematös angeschwollen. In Schädel und Gehirn nichts
Abnormes. Glandulae mediastinae anteriores und cervicales inferiores
der linken Seite angeschwollen, die Schnittfläche einzelner grauröth-
lich, blutreich, feinkörnig, weich. Herz etwas nach rechts gedrängt.
In der linken Pleurahöhle 4 bis 5 Liter bräunlichgelber, opalisirender
Flüssigkeit. Beide Pleuraflächen der linken Seite netzförmige Fibrin-
beschläge zeigend, welche an der Lungenpleura auf einer geschichteten,
iui Zusammenhange von der Lungenoberfläche ablösbaren, ziemlich ge-
Bd. VI. 3. 32
472 Wilhelm Müller,
fässreichen Pseudomembran aufsitzen. Die Lungenpleura nach Abzug
der Pseudomembran zahlreiche umschriebene grauweisse Verdichtun-
gen zeigend. Linke Lunge vollkommen frei, ihre hinteren Abschnitte
gegen die Wirbelsäule angedrückt, comprimirt luftleer, die vorderen
lufthaltig, blutarm. In der rechten Pleurahöhle etwa 500 CG. rothgelber
Flüssigkeit. Die rechte Lunge frei, durchaus lufthaltig, ihre hinteren
Abschnitte in massigem Grade ödematös. Oesophagus an der Grenze
des oberen und mittleren Drillheils abgeflacht. Die linke Wand der
Trachea gegen das Lumen umschrieben vorgebuchtet. Isthmus und
rechter Lappen der Schilddrüse atrophisch, ersterer 2 Cent, hoch, 0,5
Cent, dick, letzterer 5 Gent, hoch, 2 breit, 0,75 dick, das Gewebe bei-
der braunroth, derb, die Läppchen ungewöhnlich stark gesondert. Der
linke Lappen der Schilddrüse 9 Gontimeter hoch, 7 breit, 3,5 dick, aus
einer voluminöseren oberen und einer kleineren unteren Geschwulst
bestehend. Die obere Geschwulst flach höckerig, ziemlich weich, blut-
reich, ihre Schnittfläche grauröthlich, feinkörnig, stellenweise der
Schnittfläche eines Hoden ähnlich. Die untere Geschwulst von der obe-
ren durch eine derbe fibroide Kapsel getrennt, mehr gegen die Mittel-
linie zu gelagert, einen kugeligen Kropfknoten von 4 Centimeter Durch-
messer darstellend, welcher aus gallertigem Drüsengewebe mit dicken
fibroiden Bindegewebszügen und verästelten Knocheneinlagerungen
besteht. Herz in seinem rechten Abschnitt leicht erweitert, die Mus-
culatur etwas verdickt, sämmlliche Klappen, sowie die Intima der
Aorta unverändert. Eine Anzahl kleiner polypöser Lipome längs der
Insertion des Mesenterium am Dünndarm.
In Milz, Leber und Darm nichts Bemerkenswerthes. Leistendrüsen
linkerseits vergrösserl, die Schnittfläche blutreich, grauröthlich, weich,
feinkörnig. Pectineus und Adductor brevis vorgewölbt und verdünnt,
ebenso der Iliacus internus und Obturatorius internus, ihre Fasern
theils fibroid, theils fettig entartet. Vom linken Sitz und Schambein
aus erstreckt sich ein fast mannskopfgrosser Tumor mit flach höckeriger
Oberfläche sowohl nach vorne unter die Adductoren des Oberschenkels,
als nach hinten und Innen unter den Iliacus internus und Obturatorius
internus, die Höhle des kleinen Beckens von der linken Seite her erheb-
lich verengend. Dieser Tumor substituirt das linke Schambein mit
Ausnahme einer dünnen Knochenlamelle an der Symphysis ossium pubis
und das linke Sitzbein mit Ausnahme der Pfannengegend und des Tuber
ossis ischii nahezu vollständig und greift auf das linke Darmbein längs
des Beckeneingangs über, seine innere Lamelle eine Strecke weil vor-
wölbend und hie und da durchbrechend. Der Tumor zeigt weiche
Consistenz, beträchtlichen Blutreichthum, auf dem Durchschnitt grau-
6. Zwei Falle von lipitlielioiiiii cyliiKlrocelliiiarc der Scliilddiüso. 473
röthliche Farbe und feinkörniges GefUge gleich dem Tumor im linken
SchilddrUsenlappen.
Der mikroskopischen Untersuchung wiu'den unlerworfen die Schild-
drüse, die Glandulae cervical(\s und inguinales, und die Geschwulst
der Beckenknochen. Die Untersuchung erfolgte nach vorheriger HJirtung
der Präpaiale in 1 "/„ chromsaurem Kali und Alkohol unter Anwendung
der Imbibitionsmethode.
Der rechte Lappen und der Isthmus der Schilddrüse zeichneten
sich durch die ungewöhnliche Breite der die einzelnen Läppchen son-
dernden BindegewebszUge aus. deren Durchmesser im Mittel 0,;} — 0,5
betrug. Die Läppchen selbst bestanden aus Follikeln und ungewöhn-
lich reichlichem interstitiellen Gewebe. Die Follikel waren durchweg
kugelig, 0,02 — 0,15 im Durchmesser, die Mehrzahl klein, zwischen
0,02 und O.Oi sich haltend, alle mit dünner Membrana propria und
einschichtigem, dieser aufsitzenden Epithel versehen. Das Epithel der
kleineren war cubisch, von 0,005 Seitenfläche, protoplasmaarm, an den
grösseren war es sehr abgeflacht, 0,005 breit bei 0,0015 — 0,003 Höhe.
Die kleineren Follikel enthielten zum Theil farblose Flüssigkeit, die
übrigen und sämmtliche grössere homogene, gelbliche Gallertmassen.
Das interstitielle Gew^ebe bestand aus Gefässen und diese umhüllender
Bindesubstanz. F>stere waren in ihrem capillaren Abschnitt massig
weit und spärlich, durchschnittlich 0,01 im Durchmesser ; die inter-
stitielle Bindesubstanz dagegen war ungemein reichlich entwickelt,
theils fibrillär, theils aus dicht gehäuften Lymphkörpern und zwischen-
liegenden spindelförmigen Zellen bestehend. Der Befund dieses ganzen
Lappens erinnerte an jenen einer vorgeschrittenen Lebercirrhose und
lässt sich als das Resultat einer Thyreoideilis interslitialis chronica
bezeichnen.
Der abgekapselte Kropfknoten im unteren Abschnitt des linken
Lappens bot den Befund gewöhnlichen gelatinösen Adenoms. Sämmt-
liche Follikel waren vergrössert, 0.1 — 0,5 messend, aus Membrana
propria und cubischem Epithel von 0,006 Seitenfläche bestehend, im
Innern allenthalben homogene, gelbe Gallerlmassen. Das interstitielle
Gewebe stellenweise verdickt und mit Kalkkörnchen infiltrirt. In der
Mitte des Knotens ächter Bindegew ebsknochen.
Der graurölhliche markige Abschnitt des linken Lappens besass
einen 0,5 — 1 Mn>. dicken bindegewebigen Ueberzug, welcher Fortsätze
an das Innere abgab, letzteres in unregeln)ässige rhombische Läppchen
von 0,4 — 1,2 Mm. Durchmesser abtheilen(L Diese Läppchen bestanden
aus FlpitheHalgebilden und interstitiellem Gewebe. Erslere bildeten
theils schlauchförmige, theils zu kugeligen Massen gruj)^)irte I^pithel-
32*
474 Wilhelm Müller,
anhäufungen in ziemlich gleicher Anzahl. Die ersteren waren cylin-
drisch, 0,02 — 0,05 dick, gewunden, hie und da mit seillichen Sprossen
und Auftreibungen versehen. Sie besassen eine dünne Bindegewebs-
hülle und Epithelauskleidung. Sie waren in den peripherischen Schich-
ten der Geschwulst von geringer Dicke, das Epithel einschichtig, cu-
bisch, protoplasmareich, in der Mitte ein schmales Lumen frei lassend.
Weiter nach Innen wurden sie dicker, das Epithel höher, 0,004 —
0,006 : 0,012 — 0,026, in der Mehrzahl geschichtet und das Lumen
vollständig erfüllend. Die kugeligen Massen hatten einen Durchmesser
von 0,03 — 0,15. Sie erwiesen sich bei Hebung und Senkung des Tubus
als rings geschlossen und bestanden aus einer dünnen, homogenen
Bindesubstanzhülle und dieser aufsitzendem cylindrischen Epithel.
Letzteres war in den peripherischen Schichten in einfacher Lage vor-
handen, die Follikel im Innern hohl, farblose FlüssigktMt führend. In
der Mehrzahl der weiter im Innern liegenden Follikel war das Epithel
geschichtet, sehr langgestreckt und erfüllte das Lumen vollständig. Das
interstitielle Gewebe bestand aus ziemlich we.iten Gefässen , welche in
ihrem capillaren Abschnitt 0,01 — 0,024 maassen, und diese umgeben-
der Bindesubstanz. Letztere war zum Theil fibrillär, zum Theil reich
an Lymphkörpern und spindelförmigen Zellen.
Die Lymphdrüsen des Halses und der linken Leistengegend waren
theils vollständig, theils an umschriebenen Stellen von Epitheliom sub-
slituirt. Die Neubildung bestand aus sehr unregelmässigen Läppchen,
welche sich aus epithelialen Gebilden und interstitiellem Gewebe zu-
sammensetzten. Erstere waren theils cylindrische Schläuche von 0,02
— 0,05 Durchmesser, unregelmässig gewunden, theils umschriebene
kugelige Massen von 0,02 — 0,08. Sie bestanden alle aus dünner Binde-
substanzhülle und aufsitzendem Epithel ; letzteres war theils einschich-
tig und Hess in diesem Fall eine centrale, farblose Flüssigkeit führende
Höhle frei , theils geschichtet und das Innere in dichter Aneinander-
lagerung erfüllend. In einzelnen der weniger vergrösserten Lymph-
drüsen war der Neubildungsprocess auf die Lymphbahnen in der Um-
gebung der peripherischen Follikel beschränkt, von letzteren aus auf
verschieden grosse Strecken der Lymphfollikel selbst übergreifend.
Diese Beobachtung lässt sich durch die Annahme erklären , dass hier
Stellen vorlagen, in welchen in verhältnissmässig jüngerer Zeit eine
Zufuhr entwicklungsfähiger Theilchen durch den Lymphstrom statt-
gefunden hatte.
Die Neubildung im Sitz- und Schambein war an ihrer Peripherie
von einer zum Theil ziemlich dicken bindegewebigen Hülle umgeben.
Sie war durch Ausläufer der letzteren in unregelmässig rhomboidische
6. Zwei Fälle von Epithelioma cylindrocellnlare der Scliilddri'ise. 475
Läppchen von 0,5 — 0,lo gcthoill. Diese setzten sich zusaninicn aus
epithelialen Gebilden und interstitiellem Gewebe. Erstere bestanden
aus cylindrischen, gewundenen Schläuchen von 0,02 — 0,06 Durch-
messer und aus ringsgeschlossenen kugeligen Follikeln von 0,03 — 0,15.
Sie stimmten in jeder Beziehung mit den analogen Gebilden des linken
Schilddrüsenlappens und der Leistendrüsen überein. Das interslilielle
Gewebe führte weite Capillaren von im Mittel 0,016 Durchmesser; sie
waren von Ihcils fibrillärer, iheils zellenreicher Bindesubstanz um-
scheidel.
Beide Fälle stimmen darin überein , dass der Ausgangspunkt des
Processes bei Lebzeiten des Kranken nicht erkannt worden ist. Dies
hat für den nichts Ueberraschendes, welcher weiss, dass Kropf jeder
Art und Grösse im Saallhale endemisch ist. Beide Fälle stimmen
feiner überein in den Eigenthümlichkeiten , welche die Geschwülste
bezüglich ihres Baues und ihrer Verbreitung darbieten. Sowohl in dem
ursprünglich betroffenen Organ, der Schilddrüse, als in den metasta-
tisch inficirten Organen zeigen die specifischen Elemente der Neubil-
dung eine Tendenz zur Abschnürung kugeliger follikelähnlicher Massen
aus cylindrischen, schlauchförmigen Anlagen, wie sie bei den Epithe-
liomen anderer Organe, z. B. des Magens und Uterus, in solchein Um-
fang mindestens ungewöhnlich ist. Ich sehe in dieser Eigenthümlich-
keit eine Wiederholung des Processes, welcher bei der normalen Ent-
wicklung der Schilddrüse zur Abschnürung der Follikel aus ihren
schlauchförmigen Anlagen führt, und erkläre sie mir aus einer Vererbung
der besonderen Eigenschaften , welche den Epilhelien der Schilddrüse
zukonunen , auf ihre Abkömmlinge, welche in Folge der Einwirkung
der Ursache, welche der Epitheliombildung zu Grunde liegt, sich ent-
wickelt haben. Bezüglich der Verbreitung zeigen beide Fälle die Eigen-
thümlichkeit einer metastatischen Infection des Knochensyslems, das
einemal ohne, das andremal mit gleichzeitiger Infection der Lymphdrü-
sen. Ich kann mir die Uebereinstimmung in dem Bau der metasia-
tischen Geschwülste mit jenem der ursprünglichen Geschwulst nur
durch die Annahme einer Verschleppung entwicklungsfähiger Theilchen
der letzleren erklären und halte die vorwiegende Betheiligung des
Knochensystems durch den Umstand für begründet, dass das gefäss-
reiche Gewebe des Knochenmarks eine besonders günstige Stätte für
die weitere Entwicklung der transplantirten Theilchen abgegeben hat.
476 Wilhelm Müller,
Erklärung der ibbildangen.
Tafel XT.
Fig. 8. Schnitt durch ein Epithelioma cylindrocellulare des rechten Schilddrüsen-
lappens, o Foliikelähnliche Gebilde, b Schlauchförmige Drüsenanlagen.
c Interstitielles Gewebe.
Fig. 9. Schnitt durch ein Epithelioma cylindrocellulare des linken Schläfenbeins,
metastatisch nach Epitheliom der Schilddrüse entstanden, a Foliikelähn-
liche Gebilde. 6 Schlauchförmige Drüsenanlagen, c Interstitielles Gewebe
mit den Gefässen. d Knochen mit den Kernen der Knochenkörperchen.
e Stärker imbibirte Zone der Intercellularsubstanz des Knochens im Bereich
der Usur.
7. Ein Fall vou SpiiKlelzellensarcoui (Sarconia fusocellulare)
der Schilddrüse neben altem Kropf mit Metastasen auf
Lymphdrüsen und Lungen.
Ich verdanke den nachstehenden Fall der Liberalität des Herrn
Geh. Hofrath Gerhardt, in dessen Privalpraxis derselbe zur Beobachtung
gekommen ist.
K., 66 Jahre aU, Gonditor aus Jena, wie ein grosser Theil der Ein-
wohner Jena's seit längerer Zeit mit Kropf behaftet, bemerkte seit eini-
ger Zeit ein rascheres Wachsthum desselben. Dazu gesellten sich in
der letzten Lebenszeit ein äusserlich fühlbarer Knoten unter der Haut
der rechten Thoraxhälfte, Abnahme der Kräfte und die Erscheinungen
von Lungeninsufficienz , was auf eine Neubildung in Schilddrüse und
Lunge gedeutet wurde. Tod unter den Erscheinungen des Lungen-
ödems den 8. Mai 1867.
Section 49 vom 9. Mai 1867. Grosse Leiche von kräftigem Körper-
bau. Haut bleich. Unterhaulbindegewebe fettreich, Muskeln braunroth,
massig dick. In der Mittellinie und zu beiden Seiten des Halses eine
umfangreiche, flach höckerige, etwas bewegliche Geschwulst, die Haut
darüber verschiebbar. Thorax gut gewölbt, symmetrisch, über dem
Knorpelansatz der zehnten rechten Rippe ein kirschengrosser, abge-
flachter, röthlichweisser Tumor. Abdomen flach. Massige Schwellung
einzelner Zungonfolükel. Anfang des Oesophagus seitlich comprimirt,
seine Schleimhaut unverändert. Trachea 3 Centimeler unterhalb des
7. Kill Fall von Spiiidclzellensarcom (Saicoma fiisocelliilaiT) der Scliilddiiisi'. m
Ringknorpels linkerseits im Unifanü; eines GroschenslUcks von einer
flfu;h höckerigen , gelblichweissen Neubildung durchbrochen , weiche
niil uiceröser Oberfläche in das Lumen hineinragt und mit einer Neu-
bildung des linken Schilddrilsenlappens zusammenhängt.
Schilddrüse in eine umfangreiche höckerige Geschwulst verwan-
delt. Der rechte Lappen <S Centimeter hoch, 4 breit, '.i,'ö dick, vom
rechten Zungenbeinhorn bis /-ur Clavicula reichend, das Gewebe blass-
braun, gelb, körnig, die Körner mit gelber Gallerte erfüllt, in der Mitte
des Lappens ein kugeliger Knoten von 3 Cent. Durchmesser von röth-
lichweisser Farbe , deutlich faserigem Bau , elastischer Consistenz mit
einer buchtigen, käsigen hihalt führenden Höhle. Isthmus der Schild-
drüse 6,5 Cent, hoch, 5 breit, 0 dick, vom unteren Rand des Schild-
knorpels bis zum .lugulum reichend und eine kurze Strecke unter das
Manubrium Storni herabgreifend, durchaus in eine gelblichweisse,
deutlich faserige, massig feste Geschwulst verwandelt. Der linke Lap-
pen 9,5 Cent, hoch, 0 breit, 5 dick, vom Kieferwinkel bis zur linken
Clavicula reichend. Der obere und unlere Umfang dieses Lappens zeigt
auf eine kurze Strecke den gewöhnlichen Läppchenbau der Schilddrüse,
die Läppchen sind körnig, reich an Gallerte, die Hauptmasse ist in eine
flach höckerige Geschwulst verwandelt, von gelblichweisser, an ein-
zelnen Stellen mehr braunrother Farbe, massig fesler Consistenz, fase-
rigem , an den braunrothen Stellen schwammigem Bau. Linke Vena
jugularis interna und anonyma gleich der linken Vena thyreoidea infe-
rior thrombosirt, der Thrombus erstreckt sich bis zur Einmündungs-
stelle in die Cava , in welche er mit zerrissenem Ende hineinragt.
Glandulae cervicales inferiores linkerseits zum Theil in kirschgrosse,
röthlich weisse, massig feste Tumoren verwandelt.
Zwerchfell nach Eröffnung des Thorax am 6. Rippenknorpelansatz.
Herz normal gelagert. Linke Lunge durch einzelne umschriebene Binde-
gewebsstränge derCostalpleura adhärend. Pleura mit einzelnen flachen,
röthlich -weissen, zum Theil im Centrum flach vertieften Geschwülsten
besetzt. Lunge durchaus lufthaltig, die vorderen Partien blutarm,
trocken, die hinteren blutreich, die ganze Lunge von zahlreichen kuge-
ligen, erbsen- bis apfelgrossen , röthlich- weissen , im Centrum zum
Theil verkästen Geschwülsten durchsetzt. In dem zum hinteren Ab-
schnitt des Oberlappens führenden Pulmonalarterienzweig ein der
Gefässwand adhärirender grauröthlicher Embolus. Rechte Lunge um-
schrieben verwachsen , vorne trocken, blutarm, hinten blutreich und
beträchtlich ödematös. In Ober- und Miltellappen zahlreiche, im Unler-
lappen spärliche erbsen- bis wallnussgrosse, kugelige, scharf umschrie-
bene , zum Theil leicht ausschälbare Knoten. Im Stamm der rechten
478 Wilhelm Müller,
Pulmonalarterie ein dünner, wandslandiger, auf die Aeste eine kurze
Strecke weit übergreifender Embolus. Herzbeutel gleich dem Herz sehr
fettreich, letzteres schlaff, Musculatur brüchig, die Klappen intact.
Leichtes Atherom des Anfangsstücks der Aorta , beträchtliches des
Bogens unter Erweiterung. Die Organe des Unterleibs ohne bemerkens-
werthe Veränderung.
Die mikroskopische Untersuchung der gallertigen Abschnitte des
rechten und linken Lappens der Schilddrüse ergab den gewohnlichen
Befund des Gallertkropfs (Adenoma gelatinosum ) : die Follikel fast
durchweg von Kugelform , sehr ungleich vergrössert und dem ent-
sprechend zwischen 0,03 und 1,8 im Durchmesser schwankend, im
Innern erfüllt von homogener, gelblicher Gallerte. Sie bestanden wie
im normalen Zustande aus einer dünnen Membrana propria und dieser
aufsitzendem einschichtigen Epithel. Letzteres war von ungleicher
Beschaffenheil, in einem Theil der Follikel deutlich cylindrisch , 0,008
— 0,01 hoch, 0,00.5 breit, in der Mehrzahl cubisch von 0,006 Seiten-
fläche, in einzelnen stark abgeflacht. Die das Innere erfüllende Gallerte
enthielt ausser Krystallen von oxalsaurem Kalk in einer grossen Zahl
von Follikeln scharf begrenzte, vollkommen wasserhelle Vacuolen von
0,02 — 0.1 Durchmesser. Das interstitielle Gewebe bestand aus Blut-
gefässen und adventitiellem Bindegewebe ; erstere bildeten in ihrem
capillaren Abschnitt auf der Membrana propria der erweiterten Follikel
Netze von der gewöhnlichen Form , das letztere war vorwiegend von
Fibrillen gebildet und arm an zelligen Elementen.
An den Stellen des linken Lappens, an welchen die Neubildung
auf das Drüsengewebe übergriff, zeigte sich das interstitielle Gewebe
verdickt, indem die Gefässe von breiten Zügen dicht aneinanderliegen-
der theils rundlicher, zum grösseren Theil spindelförmiger Zellen um-
geben waren. Letztere Zellen halten eine sehr ungleiche, zwischen
0,012 und 0,03 wechselnde Länge bei 0,002 — 0,006 Breite, sie bestan-
den aus einem zarten , hie und da in netzförmige Ausläufer sich ver-
zweigenden Protoplasmakörper und einem , seltener zwei elliptischen
Kernen mit 1 — 2 glänzenden Kernkörperchen. Die Follikel der Schild-
drüse waren der Zunahme des interstitiellen Gewebes entsprechend
gegen die Neubildung zu durch immer grössere Zwischenräume ge-
trennt, ihr Durchmesser nahm dabei rasch ab und bewegte sich zwi-
schen 0,015 und 0,05 Mm., die Form war bei einem Theil langgestreckt
und wie abgeflacht. Sie bestanden aus einer Membrana propria, die
jedoch an einzelnen kernreich und wie aus einzelnen Zellen zusanimen-
eesetzt war, und einschichtigem ihr aufsitzendem Epithel , welches
stellenweise reichlich mit glänzenden Körnchen infiltrirt war; im Innern
7. Ein Fall von SpindplzpllPiisarcom (Sarcoma fusorelliilare) der Schilddruse. 479
enthielt die Mehrzahl auch der kleineren homogene Gallerte. Das die
Membrana propria dtr Follikel umgebende Gefiissnelz erschien, so weit
die natürlitht* FUllnng der Bahnen am gehärteten Priiparat dies beur-
iheilen licss, an den weiter im Bereich der Ncul)ildiing liegenden Fol-
likeln zurückgebildet. In der Hauptmasse der im linken Lappen der
Schilddrüse liegenden Geschwulst, sowie im ganzen Isthmus fehlten
die specifischen Elemente der Schilddrüse vollständig. Das Gewebe
der Neubildung bestand hier aus ziemlich slrallen, zu dünnen Bündeln
vereinigten Fibrillen vom Aussehen gewöhnlicher Bindegewebsfibrillen
und aus dicht aneinanderliegenden rundlichen, vorwiegend aber spin-
delförmigen Zellen, mit jenen in den Auslaufern der Geschwulst gegen
die adenomatösen Stellen hin übereinstimmend. Zellen und Binde-
gewebsfibrillen waren zu Bündeln vereinigt, welche in den verschie-
densten Richtungen sich durchkreuzten. Ein Unterschied von einem
Stroma und einer davon ditlerenlen Einlagerung wai' nicht zu consta-
tiren. Die Bündel von Zellen und Bindegewebsfibrillen führten Gefasse;
sie waren , soweit sich dies an natürlich injicirten Partieen feststellen
liess, ziemlich spiü-lich und dünnwandig, zum grösslen Theil aus ge-
streckten Capillaren bestehend, der Anordnung nach an die spärlichen
Gefässnetze erinnernd , wie sie der Processus infundibuli erwachsener
Säugethiere besitzt. An einzelnen Stellen im unteren Abschnitt des
linken Schilddrüsenlappens erwiesen sich die kleineren Venen stark
erweitert, einen Plexus 0,1 — 0, 1 5 weiter Hohlräume bildend, zwischen
welchen das eigentliche Gewebe der Geschwulst erheblich reducirt und
theilweise mit körnigem Haemaloidin infiltrirt war. Die erweiterten Ve-
nenräume enthielten theils farbige Blulzellen in dichter Aneiuander-
häufung, Iheils dichte Fibringerinnsel, welche an einzelnen Stellen von
Zellenmassen durchwachsen waren, welche von den Bestandlheilen der
umgebenden Neubildung sich nicht unterscheiden Hessen.
Die Untersuchung der Knoten in den Glandulae cervicales und den
Lungen ergab denselben Befund wie die Geschwulst im linken Lappen
und dem Isthmus der Schilddrüse, Epitheliale F)lemente fehlten voll-
ständig, die Knoten bestanden aus vielfach sich durchkreuzenden Bün-
deln fheils fibrillärer Bindesubstanz, theils runder und spindelförmiger,
kernhaltiger Zellen mit spärlichen und dünnwandigen Gefässen.
Der Befund, welchen die mikroskopische Untersuchung der ver-
schiedenen Geschwülste ergeben hat, stimmt mit dem gewöhnlichen
Befund des Spindelzellensarcom (Sarcoma fusocellulare) überein. Den
Ausgangspunkt der Neubildung suche ich in dem die Gefässe der
Schilddrüse umscheidenden Bindegewebe. Dies ist ursprünglich ein
Bestamllheil desGefässblatts, welcher frühzeitig den eigentlichen Gefäss-
480 Wilhelm Müller,
bahnen gegenüber eine gewisse Selbständigkeit seiner Entwicklung
zeigt. Er versieht bereits die in der Abschnürung begriftene Anlage
der Schilddrüse mit einer aus spindelförmigen Zellen bestehenden Hülle
und betheiligt sich später im Anschluss an das Eindringen der Gefässe
in noch höherem Grade an deren Entwicklung, indem er die epithe-
lialen Gebilde umwächst, die Lücken zwischen den Blulgefässnetzen
ausfüllt und durch selbständiges Wachsthum die Septa liefert, durch
welche die einzelnen Läppchen des Organs gesondert werden. Während
der embryonalen Entwicklung besteht dieser Theil des Gefässblatts aus
runden, den Lymphkörpern gleichenden, vorwiegend aber aus spindel-
förmiget» Zellen. Dieselben Zellenformen sind es, welche durch die
Einwirkung der den Sarcombildungen zu Grunde liegenden Ursache
im vorliegenden Falle in Geschwulstform zur Entwicklung gekommen
sind. Ihre einseitige Vermehrung hat zum Schwund der Epithelial-
gebilde der Drüse und des functionellen Gefässsystems geführt; diesem
Schwund steht eine Neubildung von Gefässen gegenüber, denn die
Anordnung der Gefässnetze in der Geschwulst hatte einen Charakter,
wie er in der normalen Schilddrüse sich nicht findet. Ich betrachte
diese Gefässbildung als eine secundäre, durch die Vermehrung der
adventitiellen Bindesubstanz hervorgerufene; sie hat in dem vorliegen-
den Falle das Maass nicht überschritten , welches bei der Entwicklung
der Spindelzellensarcome innegehalten zu werden pflegt. Der Umstand,
dass im Innern eines Theils der kleinsten Venen der Geschwulst Ge-
websmassen vom Bau der umgebenden Neubildung sich vorgefunden
haben, macht es wahrscheinlich, dass wenigstens ein Theil der in den
Lungen entwickelten Knochen einer directen embolischen Verschlep-
pung kleinster Theilchen der ursprünglichen Neubildung in Lungen-
arterienzweige seine Entstehung verdankt.
8. Ufbcr myxnmalöses Adt^nom d. Scliilddnisr ii. di'ssni Bc/.icliiinuni iiim GiiUeilkrcbs. 181
8. Heber iiivvoniatöses Adeiioiii der Scliihldrüse und dessen
Bezieliiiii<:;eii zum so*jf. (liillertkrehs.
Im Saallhalo, aus welchem das pathologische Inslitiil /ii Jena zum
überwiegenden Theil sein MaUMial bezieht, (indet sich Kropf in ende-
mischer Verl)reilung. Den Ausgangspunkt dei- Schwellung der Schild-
drüse bildet in der Regel eine Vergrösserung ihrer Follikel, bedingt
durch eine Vermehrung der auskleidenden Epilhelien, es beruht dem-
nach der Process auf ächter Adenomhildung. Das Gefiissblatt mit dem
interstitiellen Bindegewebe betheiligt sich häufig secundär; die ge-
wöhnliche Form der Betheiligung des ersteren besteht in einer der
Vergrösserung der Follikeloberlläche entsprechenden Vermehrung der
Capillarcn, von Seite des letzteren findet die Betheiligung mit Vorliebe
statt in Form von Bildung (ibromatöser Knoten oder in Form von Kno-
chenbildung. Die eigentliche Drüseiisubstanz erscheint bei diesen ge-
wöhnlichen Formen des Gallerlkropfs (Adenoma gelatinosum) auf der
Schnittfläche körnig und bald mehr, bald weniger reich an blassgelber
in den Körnern enthaltener Gallerte.
Seltener bietet sich namentlich in umfänglicheren Schilddrüsen-
geschwülsten ein Befund , welcher von dem angegebenen darin ab-
weicht, dass die Schnittfläche des körnigen Gefüges entbehrt und eine
gleichförmige lockere, gelbliche Gallertmasse darstellt, in welcher man
bei genauerer Betrachtung ein lockeres Netz weisser Faserzüge wahr-
ninmit. Es bildet diese Form des Kropfes entweder scharf umschrie-
bene, von einer Kapsel umgebene Einlagerungen oder gleichloimige
Infiltrationen, welche ohne scharfe Grenze in das körnige Prüsengewebe
übergehen. Untersucht man einen solchen Kropfknoten frisch oder
nach vorheriger Härtung, so ergiebt sich, dass sowohl die Bindegewebs-
züge, welche die einzelnen Läppchen der Schilddrüse sondern^ als
auch jene, Vielehe im Innern der Läppchen die den einzelnen Follikeln
zukommenden Gefässe umgeben, in ein lockeres Netz verwandelt sind,
dessen Inlerstitien von einer homogenen, gelblichen, in Carmin blass
rosenrolh sich imbibirenden Gallerle erfüllt sind. Das Netz wird gebil-
det von feinen , meist gestreckt verlaufenden Fibrillen , welche unter
spitzen Winkeln mit einander anastomosiren und hie und da zu dün-
nen Bündeln sich vereinigen; sie stehen mit den dünnen, die kleinsten
Arterien und Capillaren un)scheidenden Fibrillenzügen in vielfacher
Verbindung. In den Knotenpunkten des Netzwerks finden sich ellipti-
sche Kerne, umgeben von einem dünnen, bisweilen eine Anzahl glän-
zender Körnchen enthaltenden Trotoplasmahof , eben solche finden sich
482 Wilhelm Müller,
im Verlauf der dünnen durch die Vereinigung von Fibrillen entstande-
nen Bündel. Die Gefässe durchsetzen in spärlicher Zahl die Gallert-
uiasse. Die Follikel der Schilddrüse sind entsprechend der Gallert-
infiltration der interstitiellen Bindesubstanz durch grössere Zwischen-
räume als normal getrennt. Sie sind an den Stellen, an welchen die
Gallertinfiltration weil vorgeschritten ist, stets klein, ihr Epithel meist
in fettiger Umwandlung, bisweilen stark abgeflacht; im Innern ent-
halten sie entweder homogene, gelbliche Gallerte oder abgestossenes in
Verfettung begriffenes Epithel.
Es ist mir im Laufe dieses Frühjahrs gelungen , /um Zweck der
Feststellung der Betheiligung des Gefässsysteras eine mit dieser Kropf-
form behaftete Schilddrüse wenige Stunden nach dem Tod mit blauer
Leimmasse zu injiciren. Es handelte sich um die infiltrirte Form, und
zwar zeigte der betreffende Schilddrüsenlappen eine körnige Periphe-
rie, welche ohne scharfe Grenze in die homogene, das Innere erfül-
lende Gallertmasse überging.
Die Untersuchung des peripherischen Abschnitts ergab den ge-
wöhnlichen Befund des gallertigen Adenoms: Die Läppchen der Schild-
drüse durch gefässführende Bindegewebssepta geschieden, aus Folli-
keln und interstitiellem Gewebe bestehend. Erstere waren von mitt-
lerer zwischen 0,0 2 und 0,1 wechselnder Grösse, theils rund, theils in
die Länge gezogen, sie bestanden aus Membrana propria, einschichtigem,
dieser aufsitzenden Flpithel von cubischer Gestalt und 0,007 Seiten-
fläche und homogener, gelblicher Gallerte im Innern. Das interstitieller
Gewebe erfüllte die sehr geringen, durchschnittlich nicht über 0,02
messenden Zwischenräume zwischen den einzelnen Follikeln ; es be-
stand aus Gefässen , welche in ihrem capillaren Abschnitt mit Maschen
von durchschnittlich 0,05 Weite die Membrana propria der Follikel
umspannen und einem lockeren diese umgebenden Netz von Binde-
gewebsfibrillen mit spärlichen Zellelementen. An der Grenze des drü-
sigen gegen den homogenen , gallertigen Theil des Lappens wurden in
einzelnen Läppchen die Interstitien zwischen den Follikeln geräumiger,
indem zwischen den aufgefaserten und theilweise zellenreicheren Zügen
der Bindesubstanz schmale Gallertmassen sich abgelagert halten. Die
Follikel zeigten dieselbe Beschaffenheit wie in dem körnigen Abschnitt
des Lappens, jedoch war ihr Gefässapparat spärlicher und die Gefässe
zum Theil auffallend verschmälert. Weiter gegen das Innere verw ischten
sich die Grenzen zwischen den einzelnen Läppchen, indem sowohl die
Sepia zwischen denselben als die intersliliellen Bindesubslanzzüge im
Innern diffus aufgefasert und von homogener Gallerte in den Maschen-
räumen infillrirl waren (vergl. Taf. XI, Fig. 10). Die Follikel waren
8. lieber myxomittöses Adenora d. Schilddrüse u. dessen Beziebiinuen lum Gallerlkrebs. 483
dem entsprechend durch weite bis 0,? betragende Zwischenräume ge-
lrennt, kleiner als in dem körnigen Abschnitt der Drüse, 0,01 — 0,05
messend, in der Mehrzahl 0.03 nicht (iberschreitend ; ihr Kpithel viel-
fach in Verfettung und abgeplattet, im Innern theils homogener Gallerte,
theils Häufchen verfetteten Epithels' Das auf der Membrana propria
der Follikel normal sich ausbreitende Capillargefiisssystem war nur an
ein/einen Follikeln in Hudinienten noch nachweisbar, die Mehi/.ahl
derselben besass keine eigenthümlichen Gefässe ; dem entsprechend
fanden sich grössere bis 0,1 dicke, n)it glänzenden Körnchen dicht
inhltrirte, nach Art von Gelassen vei-äslelte Stränge in der (Jallerte,
welche zum Theil an durchgängige Gefässe sich ansetzten, aber keine
Injectionsmasse aufgcnomnien hatten. Das eigentliche Capillargefäss-
system in den gallertigen Partien wuide gebildet von langgestreckten,
im Mittel 0,01 weiten Capillaren , welche ein nicht ganz regelmässiges
unter spitzen Winkeln anastomosii-endes, spärliches Netz bildeten.
Sowohl ihre Wand als jene der kleineren Arterien und Venen wurde
von lockeren Bindegewebsscheiden umgeben , mit welchen das die
Gallertc durchsetzende Netzwerk in vielfacher Verbindung stand.
Innerhalb der dickeren Arterienscheiden fand sich stellenweise Gallerte
in solcher Anordnung, dass sie an eine Füllung von Lymphgefässen mit
Gallertmasse erinnerte.
Die Beschaffenheit, welche die interstitielle Bindesubstanz in dem
letzteren und in allen analogen Fällen dargeboten hat, welche ich zu
untersuchen Gelegenheit hatte, stimmt mit den Eigenschaften iiberein,
welche das fötale Gallert- oder Schleimgewebe darzubieten pflegt. Der
Befund im Ganzen lässt sich auffassen als eine diffuse Myxombildung
im interstitiellen Gewebe, welche im Anschluss an einfache Adenom-
bildung Platz greift und bei den höheren Graden zu Atrophie der Epi-
thelialgebilde und des letzteren eigenthümlichen Gefässsystems führt.
Es muss meiner Ansicht nach diese Form von Gallertumwandlung der
Schilddrüse als Adenoma myxomalosum dem gewöhnlichen Gallert-
kropf, dem Adenoma gelatinosum gegenübergestellt werden. Die letz-
tere Form beruht auf einer Vermehrung der Epithelien der Sehilddrü-
senfollikel unter Vergrösserung oder Neubildung von letzteren, und
einer entsprechenden Vermehrung des gallertigen Inhalts bei noinialer
Beschaffenheit des interstitiellen Bindegewebes , die erstere dagegen
beruht auf einer Umwandlung der interstitiellen Bindesubstanz in achtes
Gallert- oder Schleimgewebe, wobei die Schilddrüsenfollikcl normal
sich verhalten oder bei höheren Graden mit ihrem functionellen Gefäss-
netz der Rückbildung anheimfallen können.
Diese Form des myxomatöscn Adenoms der Schilddrüse bietet aus
484 Wilhelm Müller,
dem Grunde ein ganz besonderes Interesse, weil sie, wie ich aus einen»
im Jahre 1 868 beobachteten Fall und zwei weiteren , in der Sammlung
des pathologischen Instituts seit längerer Zeit befindlichen Präparaten
schliessen muss , den Schlüssel zu einer sehr einfachen Deutung des
Neubiidungsprocesses liefert, welcher der Mehrzahl der Fälle, wenn
nicht allen Fällen von sog. Gallertkrebs zu Grunde liegt. Die Beobach-
tungen, auf welche diese Ansicht sich stutzt, sind folgende.
O. Friedrich, 71 .lahre alt, Beamter, seit längerer Zeit in der Pri-
vatpiaxis des Herrn Geh. Hofralh Gerhardt wegen Harnbeschwerden
mit gelegentlicher Hämaturie behandelt, daneben in letzterer Zeit Stuhl-
verstopfung mit Diarrhöen abwechselnd , eine fühlbare Geschwulst im
Abdomen, Verfall der Kräfte. Tod den 10. Oclober 1868 Abends.
Section lil vom 12. Oclober 1868. Aeltere und frische Tuber-
culose des Oberlappens der rechten Lunge, hypostatische Pneumonie
in den Unterlappen beider Lungen. Umfangreicher Gallertkropf mit
Knochenbildung und leichter Compression der Trachea. Wallnuss-
grosses Adenom der Prostata mit massiger Verengerung der Urethra.
Drei bohnengrosse Phosphatsteine in der Blase neben eitrigem Katarrh
in Harnblase und rechtem Nierenbecken. Varixbildung in den hämor-
rhoidalen und urethralen Venen. Das Netz nach links gezogen und mit
den unterliegenden Darmschlingen verwachsen. Colon transversum
winklig geknickt, seine Mitte nahe der Symphyse liegend. Die obere
Partie des Dickdarms ausgedehnt und milKoth gefüllt. Flexura sigmoi-
dea neben dem Promontorium einen mehr als faustgrossen Tumor bil-
dend, welcher mit den anliegenden Dünndarmschlingen, der geknick-
ten Stelle des Colon transversum , dem Netz und dem Parietalperito-
näum über dem unteren Ende der linken Niere theils lose, theils fest
verwachsen ist. Bei dem Versuche , die Adhäsionen zu lösen , kommt
unter dem Netz bräunliche abgesackte Flüssigkeit und nach deren Ent-
fernung eine umschriebene Perforation der Flexura sigmoidea zum
Vorschein. Lumen der letzteren durch eine handtellergrosse, den gan-
zen Ringunifang einnehmende Neubildung verengt. Ihre Oberfläche
zeigt an zwei Stellen ziemlich tiefe Einschnitte, wodurch sie in drei,
dem Ringumfang des Darms parallel verlaufende Abtheilungen zerlegt
wird. Sie erhebt sich mit umgeworfenen Rändern 1 — 2 Gentimeter
über das Niveau der umgebenden Schleimhaut und zeigt eine unebene,
mit zahlreichen zottigen und keulenförmigen Excrescenzen bedeckte
Oberfläche. Zwischen den Excrescenzen finden sich ausgedehnte bucb-
lige Verschwärungen , deren eine trichterförmig die ganze Darmwand
durchsetzt und zur Dui'clil)ohrung der letzteren geführt hat. Die Con-
sislonz der Neubildung ist allenthalben weich, an den ulcerösen Stellen
8. lieber inyxoinatöses Adenom d. Schilddrüse ii. dessen Beziehungen zum Gallertkrcbs. 485
zeigt sie sich gebildet von einem alveolären Bindegewebsnetz , dessen
Maschen von einer gelblichen , zitternden Gallerte erfüllt sind. Auf
einem der Länge nach geführten Durchschnitt zeigt sich die Geschwulst
an ihrer Peripherie von kolossal vergrösserten Darmfalten gebildet,
indem das subnuiköse Bindegewebe in Form von I — 2 Mm. breiter,
gegen das Darmlun)en vorspringender Leisten sich erhebt, welche unter
Abgabe seitlicher Sprossen sich verschmälern und /-ugespit/t endigen.
Sie werden von einem grauweissen, feinkörnigen Gewebe überzogen,
welches an der Oberfläche zu einer Anzahl zottenförmiger und papil-
lärer Exkrescenzen sich erhelU. Die Muskelwand und Serosa des Darms
sind an den peripherischen Stellen einfach verdickt, weiter nach Innen
von grauweissen und gallertigen Einlagerungen durchsetzt, die Ober-
fläche des Darms höckerig uneben. Das grauweisse, die Peripherie der
Geschwulst bildende Gewebe macht weiter gegen das Innere ohne
scharfe Grenze einer gelblichen Gallertsubslanz Platz , welche, in ein
weissliches, areoläres Maschennelz eingeschlossen, die ganze Dicke der
Neubildung von der zottigen Oberfläche bis zur vorgewölbten Serosa
durchsetzt. In der Umgebung der Geschwulst zeigen sich , durch
schmale, gesunde Schleimhautpartien getrennt, inselförmige, breite
Excrescenzen der Schleimhaut mit zottiger Oberfläche und grauweissem
feinkörnigen Durchschnitt mit Verdickung der unterliegenden Darm-
schichten.
Die mikroskopische Untersuchung der Neubildung wurde nach
vorheriger Härtung in 1 % chromsaurem Kali und Alkohol vorgenom-
men; zur Markirung vorhandener Epithelialgebilde wurde, da wässrige
Carminlösungen wegen der starken Quellungsfähigkeit des Gallert-
gewebes als unbrauchbar sich erwiesen , alkoholische Anilinblaulösung
benutzt.
Die Schleimhaut in der Umgebung der Neubildungen zeigte die
normale Beschaft'enheit. Ihre schlauchförmigen Drüsen standen palli-
sadenförmig nebeneinander, ihre Weile betrug durchschnittlich 0,00
Mm. , sie waren mit einschic^hligem Cylinderepithel versehen. Die
Bindesubstanz erwies sich namentlich an der Basis der Drüsen reich an
Lym|)hkörpern , die Muscularis mucosae war 0,05 dick und entsandte
schmale Bündel senkrecht nach oben in die Interslitien der Drüsen.
Die Leisten , zu welchen sich das submuköse Bindegewebe in der
Peripherie der Neubildung erhob, bestanden aus fihrillärem Binde-
gewebe mit massigem Gehalt an zelligen Elementen. Das sie über-
ziehende Gewebe setzte sich zusammen aus zweierlei Bestandtheilen :
Epilhelialgebilden und interstitiellem Gewebe. Erstere bildeten an der
Oberfläche senkrecht stehende, cylindrische Schläuche, in den tieferen
486 Wilhelm Müller,
Schichten nahmen sie unregelmässig gewundene Formen an und zeig-
ten seitliche Sprossen , welche zum Theil netzförmig unter einander in
Verbindung standen ; ihr Durchmesser war ziemlich ungleich, zwischen
0,06 und 0,3 schwankend.
Der Bau dieser Epilhelialgebildo war allenthalben derselbe: sie be-
standen aus einer dünnen Bindesubstanzhiille und dieser aufsitzendem
cylindrischen Epithel. Letzteres war einschichtig , seine Zellen proto-
plasmareich, 0,004—0.006 dick, 0,02 — 0,0:^ lang, mit der Basis näher
liegendem Kern. An der Basis der Neubildung, da wo sie an die nor-
male Schleimhaut angrenzte, erstreckten sich Ausläufer dieser Epithe-
lialgebilde, zum Theil mit normalen Drüsenenden in Zusammenhang
stehend, durch Lücken in der Muscularis mucosae in das submuköse
Bindegewebe und bildete dort langgezogene , vorwiegend dem Verlauf
der Fibrillen parallele Einlagerungen. Diese Epithelialgebilde waren
umgeben von dünnen Lagen einer an Lymphkörpern und spindelför-
migen Zellen reichen Bindesubslanz, welche ausserdem Gefässe führte,
deren capillarer Abschnitt die Epithelialgebilde mit lockeren Netzen
umspann. An der Oberfläche der Geschwulst bildete diese zellenreiche
Bindesubstanz verschieden gestaltete papilläre Excrescenzen, in welche
Gefässschlingen sich fortsetzten und welche an ihrer Oberfläche von
einschichtigem cylindrischen Epithel überzogen waren. Die isolirten,
in der Nähe der Geschwulst vorhandenen Neubildungen in der Schleim-
haut stimmten in ihrem Bau mit der Peripherie der Hauptgeschwulsl
überein.
In einiger Entfernung von der Peripherie änderte sich dieser Bau
insofern , als an Stelle der fibrillären oder zellenreichen interstitiellen
Bindesubstanz Schleimgewebe auftrat. Diese Umwandlung der Binde-
substanz erfolgte zunächst an umschriebenen Stellen, indem die Adven-
litia der kleineren Arterien sich auflockerte und in den Interstitien eine
homogene Gallertmasse sichtbar wurde. Weiter gegen das Innere ver-
breitete sich die Auffaserung und gallertige Infiltration über die ganze
interstitielle Bindesubstanz, so dass die festeren Bindegewebszüge auf
spärliche schmale Bündel reducirt wurden , durch welche das Gallert-
gewebe in rundliche und längliche, 0,1 — 0,8 messende Aveolen zerlegt
wurde. Die homogene, blassgelbe, in Wasser stark quellentie, in ver-
dünnten Alkalien leicht lösliche Gallerte wurde wie an den isolirten
Stellen der Arterienscheiden von einem Netzwerk feiner, hie und da
zu kleinen Bündeln vereinigter Fibrillen durchsetzt. In den Knoten-
punkten des Netzwerks fanden sich elliptische und eckige Kerne,
ausserdem fanden sich grössere, durch Blässe ihres feinkörnigen Proto-
plasma ausgezeichnete runde und elliptische Zellen von 0,016 — 0,2 Dicke
8. Ucber myxomatoscs Adenom d. Sfliilddri'ise ii. di'SSPii Hczicliiiiiui'ii zum (iiilleilkrcbs. 487
bei 0,021 — 0,03 Länge, mit I bis % rundlicluMi, 0,004 l)is 0,007 mes-
senden Kernen und versehieden gi'ossen , his 0,01 i messenden, voll-
kommen wnsserhellen , runden Vacuolen , die runden scheinbar frei in
der Gallerte liegend, die elliptischen tirösslentheils durch sehr zarte
Protoplasmafortsälze mit dem Fibr'illennelz in Verbindung. Die Gallerle
enthielt ausserdem gestreckt verlaufende Capillaren von 0,00(5 -0,016;
ihre Wand war umgeben theils von einer dünnen librilliiren Adven-
litia, von welcher aus Fibrillen an das die Gallerle durchsetzende Netz-
werk sich abzweigten, theils von aneinandergereihten, elliptischen,
aulfallend blassen Zellen mit grossen , gleichfalls bhissen Kernen und
hie und da beginnender Vacuolenbildung.
Die Epitlielialgebilde, welche in der Peripherie der Geschwulst
das vorwiegende Element bildeten, fehlten auch in dem gallertigen
Theil nicht. Ihr Veihalten zur Gallerlumwandlung der umliegenden
Bindesubslanz liesS sich an den Stellen verfolgen, an welchen letzlere
noch auf isolirte Strecken der Adventitia der kleineren Arterienzweige
sich beschränkte. Die hie und da mit Erweiterungen versehenen, mit
cylindrischem Epilliei ausgekleideten Schläuche wurden entweder auf
eine grössere Strecke ihres Verlaufs von der galleitigen Bindesubslanz
einfach umwachsen oder letztere drängle sich an einzelnen Stellen
gegen die epilhelfiihrende Wand wie eine mit breiler Basis aufsitzende
Papille vor, die Epilhelialbekleidung vor sich herschiebend (vergl.
Taf. XI, Fig. M). An den weiter im Innern liegenden Partien der Ge-
schwulst mit diffuser, von der zottigen Obeifläche bis zu den die Serosa
infiltrirenden Theilen sich verbreitender Gallertmetamorphose der in-
terstitiellen Bindesubslanz zeigten die Epilhelialgebilde ein verschiede-
nes Verhalten, An den theil weise in Schleimgewebe verwandelten
zolligen F^xkrescenzen der Oberfläche zeigte sich der einschichtige
Cylinderepithelüberzug unversehrt; in den lieferen Schichten waren
die Epilhelialgebilde in Rückbildung begriffen. Am häufigsten erschie-
nen sie von dem Galleitgewebe rings umwachsen , schmäler als in der
Peripherie der Geschwulst, hie und da noch mit seitlichen Sprossen
versehen ; das auskleidende F^pithel entweder noch deutlich cylindrisch
oder häufiger in deutlicher Verfettung, unregelmässig gestaltet, das
Protoplasma reich an glänzenden Körnchen. Es fanden sich ferner
rundliche Massen von Gallerlgewebe, welche entweder ringsum oder
in einer Strecke ihrer Peripherie eine Bekleidung von einschichtigem
Cylinderepilhel zeigten , welche bisweilen auf die gegenüberliegende
Fläche der Gallertmasse sich fortsetzte. Ich erkläre sie mir als Quer-
oder Längsschnitte von Stellen, an welchen frühzeitig ein Hineinwach-
sen des umgebenden Schleimgewebes in erweiterte Abschnitte der
BH. VI .1. 33
488 Wilhelm Müller,
Epilhelialgebilde in Papillenform stattgefunden hat. Im Innern enthiel-
ten die epithelführenden Schläuche dieses Abschnitts der Geschwulst
entweder farblose Flüssigkeit, mit einzelnen körnigen Epithelzellen,
so lange unverändertes Epithel sie bekleidete, oder feinkörnigen Detri-
tus, wenn die Fettdegeneration des Epithels weiter fortgeschritten war
(vergl. Taf. XI, Fig. 12). Von dem die Epithelialgebilde in der Peri-
pherie der Geschwulst umspinnenden Capillarnelz Hessen sich in den
centralen Partien kaum Spuren constatiren , das Capillarsystem redu-
cirte sich auf die spärlichen gestreckten Zweige, welche im Innern der
Gallertsubstanz sich verbreiteten.
Es ergiebt sich als Resultat der Untersuchung, dass die vorlie-
gende Geschwulst aus zwei Bestandtheilen sich zusammensetzt, welche
in den peripherischen und centralen Partien verschiedene Modificatio-
nen und eine verschiedene Wachsthumsenergie darbieten. Der eine
Bestandtheil ist hervorgegangen aus einer Sprossenbildung der Darm-
drüsen , bedingt durch eine Vermehrung der cylindrischen Epithelien
des Darmdrüsenblatts. Der andere Bestandtheil ist hervorgegangen aus
einer Vermehrung der Zellen der inlerstitiiUen Bindesubstanz. Diese
Vermehrung hat in der Peripherie der Geschwulst und in den umge-
benden kleineren Geschwülsten stattgefunden in analoger Weise wie
bei der embryonalen Entwicklung der Darmdrüsen, indem sie sich auf
die Production zellenreicher Umhüllungen der Epithelialgebilde be-
schränkt hat. Diese Abschnitte der Geschwulst stimmen mit dem Befund
eines gewöhnlichen Epithelioma cylindrocellulare überein. In den von
der Peripherie entfernteren Partien der Geschwulst ist das interstitielle
Bindegewebe Sitz eines weiteren Entwicklungsprocesses geworden,
welcher zu einer Umwandlung desselben in achtes Gallert- oder Schleim-
gewebe geführt hat. Diese Umwandlung ist wenigstens stellenweise
erfolgt zum Nachtheil der epithelialen Gebilde und der sie umgebenden
Gefässe, welche der Rückbildung anheimgefallen sind. Dieser Theil der
Geschwulst entspricht seinem Bau nach einem diffusen Myxom ; ich
halte seine Entwicklung für einen secundären Vorgang, da die Stellen,
in welchen der Neubildungsprocess allem Anscheine nach im Fort-
schreiten oder in frischer Entwicklung begriffen ist, der Gallertmassen
entbehren. Es muss eine besondere Ursache im Verlauf der Epithe-
liombildung zur Einwirkung gekommen sein, welche zur diffusen
Myxombildung Seitens der interstitiellen Bindesubstanz geführt hat.
Für die ganze Neubildung empfiehlt sich in Berücksichtigung ihres ge-
mischten Charakters die Bezeichnung des Epithelioma myxomatosum.
Ich habe zur Prüfung dieser Auffassung zwei weitere Präparate
von sog. Gallertkrebs untersucht, welche seit längerer Zeit in der
8. üeber myxomatöses Adenom d. Schilddrüse u. dessen Beziehungen zum flallertkrebs. 489
Sammlung des hiesigen pathologischen Instituts sich befinden, das eine
dem Dickdaim, das andere der Brustdrüse enlstanmiend.
In dem cisteren Präparat ist ein Theil des Dickdarms, wahrschein-
lich die Flexur, in einen den ganzen Ringumfang des Darms einneh-
menden fast kopfgrossen Tumor verwandelt, w^elcher mit dem Seheitel
der Harnblase und einer Anzahl von Dünndarmschlingen fest verwach-
sen ist. Die Geschwulst beschränkt sich in ihrer Peripherie auf die
Schleimhaut, welche zu einer flachen, mit umjicworfenem Rande, an
der Oberfläche mit feinen zottigen Exkrescenzen versehenen Neubil-
dung von weicher Consistenz, gleichförmig grauweisser Farbe und fein-
körniger Schnittfläche veidickt ist. Die Muskelwand und Serosa des
Darms sind unter dem peripherischen Abschnitt der Geschwulst ein-
fach verdickt, weiter nach Innen wird erstere an n)ehreren Stellen von
der Geschwulst durchsetzt, welche sich in der Serosa in grosser Aus-
dehnung verbreitet. Eine Strecke von der Peripherie entfernt verän-
dern sich die Eigenschaften der Geschwulst, indem sie an Dicke erheb-
lich zunimmt, eine stark zerklüftete, mit zottigen und papillären Ex-
krescenzen bedeckte Oberfläche und dazwischen buchtige, tief greifende
UIcerationen zeigt. In diesem ganzen Abschnitt ist die Consistenz der
Geschwulst zugleich erheblich weicher als in der Peripherie, das kör-
nige Gefüge geschwunden, stall dessen findet sich eine gelbliche, zit-
lernde Gallerle allenthalben in ihre Substanz infillfirt, welche von- einem
weisslichen Fasernetz durchsetzt wird. An zwei Stellen haben die
UIcerationen an der Basis der Geschwulst zu Durchbohrungen der Darm-
wand und ihr anliegender Organe geführt; nach oben communicirt die
Höhle des Dickdarms mit einer Dünndarmschlinge , deren Wandung in
der Umgebung der groschengrossen Perforation von einer weichen,
grauweissen , feinkörnigen Neubildung substiluirt wird, welche keine
Gallerteinlagerung zeigt. Eine zweite Perforation findet sich zwischen
Dickdarm und Scheilel der Blase, deren Wand in der Umgebung der
Perforationsstelle gleichfalls in eine kugelig vorgewölbte, an der Ober-
fläche feinzottige, der Gallerteinlagerungen entbehrende Neubildung
verwandelt ist.
Die mikroskopische Untersuchung ergiebt in den peripherischen
Partien und in den Geschwülsten der Dünndarm- und Harnblasenwand
den Befund des Epithelioma cylindrocellulare. Die Entwicklung von
Gallertgewebe zeigt sich auch hier zunächst an inselförmigen Stellen
der Adventilia kleinerer Arterien, und erst weiter im Innern diffus
über die interstitielle Bindesubstanz verbreitet mit Atrophie der hier
befindlichen Epithelialgebilde unter Verfettung ihres Epithels und Ver-
schmälerung ihres Durchmessers bis fast zur Unkenntlichkeit.
33*
490 Wilhelm Müller,
Das zweite Präparat stellt eine ellipsoidische Geschwulst der Brust-
drüse dar von 6 Centimeler Höhe, 9 Centimeter Länge, 8 Centimeter
Breite. Die Brustwarze nebst der umliegenden Haut ist an die Ge-
schwulst fixirt, die Haut in grosser Ausdehnung verdünnt, so dass an
einzelnen Stellen unterliegende gelbliche Gallerlkörner durchschim-
mern. In einiger Entfernung von der Brustwarze ist sie im Umfang
eines Thalers von der Neubildung durchbrochen. Die Durchbruchs-
stelle ist flach vorgewölbt und l)esteht aus dünnen, mit verdickter Epi-
derniis überzogenen Hautreslen und dazwischen befindlichen runden
ülcerationen. Die an letzleren blossliegende Neubildung zeigt ein
areoläres Maschennelz und in dieses eingebettet eine gelbliche, durch-
scheinende Gallerle. Auf dem Durclischnilt zeigt die Geschwulst eine
Zusammensetzung aus einer Anzahl kirschen- bis hühnereigrosser,
durch Bindegewebssepla unvollkommen geschiedener Lappen. Diese
sind in den lieferen Schichten der Brustdrüse von grauweisser Farbe,
massig fesler Consislenz, körnigem, diüsenähnlichen Bau, in den obe-
ren Schichten blassgelb, von weicher Consislenz und immer mehr gal-
lertiger Beschafl"enheit, von einem weissen, gegen die Oberfläche zu
immer lockerer und spärlicher werdenden Fasernetz durchsetzt.
Die mikroskopische Untersuchung ergielit schon bei schwachen
Vergrösserungen , dass in der Geschwulst zweierlei Beslandlheile sich
unterscheiden lassen : Drüsengewebe und inlerslilielle Bindesubslanz
mit Gefässen. Das Drüsengewebe besieht aus 0,1 — 0,3 Mm. im Durch-
messer haltenden cylindrischen Gängen, welche baumförmig sich ver-
zweigen und in kurze, an ihren Enden mit einer oder mehreren flachen
Auftreibungen versehene Ausläufer übergehen. Die zu einem Drüsen-
gang gehörenden Ausläufer mit ihren rudimentären Endbläschen wer-
den durch stärkere Bindegewebszüge von den benachbarten geschieden,
dadurch wird die Bildung einer Anzahl secundärer Läppchen bedingt,
welche der Schnittfläche der tieferen Schichten ihr feinkörniges An-
sehen verleihen. Die Drüsengänge bestehen aus einer dünnen Mem-
brana propria und auskleidendem Epithel. Letzteres ist in den grösse-
ren Gängen cylindrisch und besieht aus kernhaltigen Zellen von 0,005
Dicke bei 0,008 Höhe; in den Ausläufern und deren Endauftreil)ungen
ist es viel flacher, Iheils cubisch, theils abgeflacht, polygonale Plällchen
von 0,006 — 0,01 Durchmesser darstellend. Das Lumen der drüsigen
Gänge ist theils scharf begrenzt, Iheils in den Ausläufern und Endbläs-
chen erfüllt mit Epithelien von der Beschaff'enheil der die Wandung
bekleidenden. Diese Drüsengänge und Endbläschen, welche von jenen
einer jungfräulichen Manmia nur durch grösseren Epithelreichthum
und geringere Regelmässigkeit der Form sich unterscheiden, werden
8. Ucltpr myxomalöses Adcnnin d. Scliilddrfise n. dessen RezieliiinKeii /.iim (Tallerfkrelts. 491
uintiohcn von Bind€'sul)staiiz uiui (I(>f;iss(<n. Die l<in(l('sii|)s(;m/, z(ml;1 an
ciiiom Thcil der frstoirn, dciillicli körniiicii Stellen der (lesehw iilsl (<inc
Zusainnionsetzunij; aus Fibrillen mit elli|)tisclien Kernen und zwisc^hen-
liogenden runden und spindolfönnit^cn Zellen. Diese Stellen entsi)iechen
dem Befund, wie er bei einfachen Adenomen der lirusldiilse häufiij; ist.
Um die Mehrzahl dei- Drüsengänj^e und ihrer Kntlen isl die Bindosub-
slanz auch In den lieferen Sehiehten der Geschwulst locker, wie auf-
gefasert, 0,016 — 0,08 breite, scheidenarligc Umhüllungen bildend
(vergl. Taf. IX, Fig. II).
Diese Umhüllungen werden piripherisch begrenzt von slratten
Bindegew ebsbündeln , an welche sich zartere Fibrillenzügo in conccn-
trischer Anoi'dnung anreihen. Gegen die Mitte wird die Anordnung der
letzteren stellenweise mehr netzförniig, mit runden und eckigen Kernen
in den Knotenpunkten, hi den Zwischenräumen dieser Fibrillen findet
sieh eine homogene, dnrchsic htige Gallertmasse, hie und da runde oder
elliptische, blasse, mit rundem Kern und hyalinen Vaeuoleg versehene
Zellen enthallend. Die in der Bindesiibslanz verlaufenden kleinen
Aiteiien und Capillaren zeigen sehi- entwickelte bindegewebige Sehei-
den , von welchen aus zahlrcMche Fasern an das die Gallerte durch-
setzende Netzwerk sich abzweigen.
In den weiter gegen die Oberfläche zu liegenden Abschnitten der
Geschwulst tritt das Drüsengewebe gegen die Gallei tsubstanz erheblich
zurück. Das Zurücktreten findet allmällg statt, sodass, während in
den tieferen Partien das Drüsengewebe innerhalb der Gallertsubslanz
noch leicht nachweisbar ist, in den obeitliichlichen nur Rudimente des-
selben angetroffen werden. Die Bindesubstanz dieser Partien bildet
stärkere Züge, welche, zahlreiche Anastomosen bildend, das Gewebe in
rundliche und polygonale Felder von 0,ü5 — 0,2 Durchmesser zerlegen.
Von diesen Rindegewebszügen sondern sich schmale Bündel ab, welche
unter rascher Auffaserung In das Innere der Felder eintreten, in letz-
leren ein zum Theil sehr zai'tes Netzwerk bildend. Die Bindesubstanz
dieses Netzes besieht theils aus Fibrillen vom gewöhnlichen Aussehen
mit runtfen und eckigen Kernen in den Knotenpunkten , theils isl ihre
Substanz zarter, sehr feinkörnig, noch nicht umgewandeltem l'roto-
plasma iihnlich. Lelzlei'e enthalten i'eichlichere zellige F^lemente, theils
in Form elliptischer, mit stark körnigem Piotoplasma umgebener Kerne,
(^heils in Form grösserer, 0,01 'i breiter, O,0ii —0,03 langer Zellen mit
I — i Kernen, sehr blassem fcMnköi'nigen Protoplasma, an welches sich
an beiden Enden sehr zaite Ausläufer anschliessen, und wass(Mhellen,
runden, l)is 0,01 messenden Vacuolen im Protoplasma. Die Zwischen-
räume des Netzes sind ausgefüllt mil homogener Gallerle, welche ein-
492 Wilhelm Müller,
zelne runde Zellen frei im Innern beherbergt. Die drüsigen Gebilde,
welche im Innern der Gallerte enthalten sind , zeigen sich , je weiter
man mit der Untersuchung gegen die stark gallertigen Partien der Ober-
fläche fortschreitet, durch um so grössere Zwischenräume getrennt; ihr
Durchmesser zum Theil erheblich verschmälert, das Innere nur an ein-
zelnen Stellen noch mit erkennbaren Epilhelien, zum grössten Theil
mit körnigem, rundliche Kerne einschliessenden Detritus gefüllt.
Diese Gallertgeschwulst der Brustdrüse stimmt in den wesent-
lichen Eigenschaften mit der von Franz Eilhardt Schulze ^) beschrie-
benen überein. Den Ausgangspunkt der Geschwulslhildung suche ich
in einer Sprossung der Drüsengänge der Mamma, mithin in einer Ade-
nombildung, wodurch sich die Uebeieinstimmung des drüsigen Theils
der Neubildung mit dem Bau der jungfräulichen Brustdrüse ungezwun-
gen erklärt. Als ein secundäres Ereigniss, welches immerhin sehr früh-
zeilig Platz gegriffen haben kann , betrachte ich die diffuse Umwand-
lung der interstitiellen Bindesubstanz in Schleimgewebe. Sie beruht
auf ächter Myxombildung. Die Verschiedenheit der Bilder, welche
Schnitte aus verschiedenen Niveaus der Geschwulst darbieten, leite ich
ab von einer Verschiedenheit in der Energie des Wachsthums der Ab-
kömmlinge der beiden an der embryonalen Entwicklung der Brustdrüse
betheiligten Blätter, des vom Hornblatt abslanmienden Drüsenepithels
und des aus dem Gefässblatl stammenden interstitiellen Bindegewebes,
und schreibe die Reduclion, welche die Drüsensubstanz stellenweise
im Verlauf der Geschwulstbildung erfahren hat, dem energischeren
Wachsthum der interstitiellen Bindesubstanz zu, welche durch die Ein-
wirkung einer besonderen Ursache zur Entwicklung von Schleim-
gewebe veranlasst worden ist.
Ich komme auf Grund dieser übereinstimmenden an verschiedenen
Organen gewonnenen Resultate zu wesentlich anderen Schlüssen über
die Natur des sog. Gallertkrebses als die Beobachter, welche sich in
letzterer Zeit mit dessen Untersuchung beschäftigt haben. Ernst
Wagner 2) hat das Verdienst, auf die Häufigkeit der Gallertmetamor-
phose in Krebsen mit regelmässig gelagerten cylindrischen Zellen zuerst
aufmerksam gemacht zu haben. Er läugnet die Specificität des Gallert-
krebses und leitet dessen Eigenthümlichkeit ab von einer Schleim-
metamorphose der Krebszellen. In letzteren treten seinen Beobachtun-
gen nach helle Flecke auf, welche sich vergrössern und die Wandung
1) Arctiiv für mikroskopische Anatomie I. Bund, ^. Heft.
2) Archiv für physiologische Heilkunde I856-. Archiv der Heilkunde 1860.
1862.
8. Ueber myxoraAtOses Adenom d. Schilddrüse n, dessen Beziehungen zum Gnllertkrebs, 493
der Zellen zum Schwund bringen. Dadurch komme der Inhalt dieser
hellen Flecke zum Austreten und bleibe isolirl oder fliesse mit der glei-
chen Substanz anderer Zellen zusammen. Die ex(|uisil alveolare Structur
des sog. Gallerlkrebses leitet Ernst Wagner ab von einer Vergrüsse-
rung zahlreicher Krebsalveolen durch die mit der Schleimmelamorphose
einhergehende Volumzunahme ihrer Zellen und aus demselben Grunde
die eigenthümliche Beschaflenheil des Stroma.
Ich muss dem gegenüber hervorheben , dass sowohl in einfachen
Adenomen als einfachen Epitheliomen des Darms und Uterus Becher-
zellen , wie sie Franz Eu.iiaru Schulze'] beschrieben und abgebildet
hat, nicht selten in ungeheurer Menge sich finden, ohne dass diese
Neubildungen ausser grösserem Saftreichlhum eine Abweichung vom
gewöhnliehen Verhalten darböten. Auch in dem epithelialen Theil so-
genannter Gallertkrebse kann eine solche Becherzellenbildung Platz
greifen, sie bedingt aber nicht die charakteristische BeschafTenheit der
Neubildung. Bei Anwendung der Färbemethode ist es nicht schwierig,
sich zu überzeugen, dass die Gallertentwicklung von den epithelialen
Elementen unabhängig und dem interstitiellen Gewebe eigenthUmlich
ist. Der alveolare Bau eines Theils der Gallertkrebse erklärt sich sehr
einfach aus dem Umstand, dass nur die lockereren die kleineren Gefässe
umscheidenden Bindesubstanzzüge Sitz der Ent\v icklung von Schleim-
gewebe sind , während die stärkeren Bündel der Bindesubstanz und
die Scheiden der stärkeren Gefässe ihren ursprünglichen Bau im
Wesentlichen beibehalten. Durch letztere wird die Neubildung in die
schon mit freiem Auge wahrnehmbaren Felder getheilt, welche die Gal-
lertsubstanz im Innern beherbergen.
Die in dem RuDNEw'schen Institut gewonnenen Resultate Stra-
domsky's^) bezeichnen einen weiteren Fortschritt in der Erkenntniss
dieser Neubildungsform , insofern derselbe die epithelialeri Elemente,
welche ei" als Bestandtheile der untersuchten Geschwülste aufgefunden
hat, als Abkömmlinge der normalen Epithelien des Darmdrüsen blatts
erkannt hat. Wenn derselbe aber die neugebildeten Drüsenschläuche
sich erweitern und zuletzt durch stete Zunahme der Erweiterung ber-
sten, das in ihnen enthaltene Epithel in das umgebende Bindegewebe
hineintreten und auf diese Weise die Alveolen entstehen lässt, deren
zelliger Inhalt nach und nach eine colloide Metamorphose erleide, so
1) .\rchiv für miliroskopisclje Anatomie 111. Bd p. 145.
2; Zur Lelire über die Entwicklung des Coiloidkrebses im Magen und Netz.
Petersburg 1868. Es muss hier bemerkt werden , dass schon früher Robin zu ähn-
lichen Resultaten gekommen ist wie Stradomsky.
494 Wilhelm Müller,
muss ich seine Angaben aus denselben Gründen wie jene Ernst
Wagner's für irrthümlich erklären.
Auf Grund von Silberpräparaten hat KösterI) es wahrscheinlich
zu machen gesucht, dass sowohl im Ilautkrebs als im Gallertkrebs die
epithelialen Elemente aus den Epilhelien der capillaren Lymphbahnen
sich entwickelten. Versucht man diese Annahme, für welche die nor-
male Entwicklung nicht den geringsten Anhalt bietet, auf die im Vor-
stehenden geschilderten Beobachtungen zu übertragen , so würden die
Lymphgefässepithelien in der Schilddrüse Epithelialgebilde in Form ge-
schlossener Follikel, in der Brustdrüse solche von der Anordnung einer
traubenförmigen Drüse und im Darm solche von Schlauchform produ-
cirt haben. Ich glaube, dass diese Thatsachen einfacher aus einer con-
linuirlichen Entwicklung der aus dem Drüsenblalt stammenden Gebilde
sich ableiten lassen, ganz abgesehen davon, dass, so lange eine Ent-
wicklungsgeschichte der Gewebselemente , welche in den capillaren
Lymphbahnen die Silberzeichnung geben, nicht vorliegt, eine Verwer-
thung dieser Bilder für pathologische Neubildungsprocesse auf völlig
unsicherem Boden steht.
Meinen Beobachtungen zufolge müssen die Fälle, in welchen die
an der Zusammensetzung von Adenomen und Epitheliomen betheilig-
ten Epithelialgebilde Ursache einer stärkeren Schleim- oder Gallert-
anhäufung sind, von jenen unterschieden werden, in welchen die inter-
stitielle Bindesubstanz Sitz von Schleimgewebentwicklung wird.
Im ersteren Fall kann Gallerte im Innern von drüsigen Hohlräumen
in grösserer Menge sich anhäufen; dies findet namentlich statt bei den
folliculären und" kystomatösen Adenomen der Schilddrüse, Nieren,
Ovarien, des Uterus u. s. w., während mir bisher ein Fall von Anhäu-
fung feslerer Gallertmassen im Innern der drüsigen Bäume eines Epi-
thelioms nicht zur Beobachtung gekommen ist. In diesen Fällen stellt
die Gallerte ein Sekret der Epilhelien dar, das interstitielle Gewebe
zeigt die normale Beschaffenheit, Für sie empfiehlt sich die Bezeichnung
des Adenoma, resp. Kystoma gelatinosnm.
Es können ferner die Epilhelien eines Adenoms oder Epithelioms
in grosser Zahl in Becherzellen verwandelt werden; auch in diesem
Fall kann das interstitielle Gewebe normal sich verhallen, die Ge-
schwülste unterscheiden sich von den gewöhnlichen Adenomen und
Epitheliomen nur durch etwas giössere Weichheit und grösseren Saft-
reichthum. Für diese Form empfiehlt sich die Bezeichnung des Ade-
noma, resp. E|)ithelioma mucocellulare.
1) Die Entwicklung der Carcinome und Sarconie. Wiiizhuig 1869.
8. Üeber myxomatöses Adenom d. Scliilddriise ii. dessen Hezieliiiiigen ziiiii (jiiller(krel)S. 495
Diesen Fällen müssen jene gegenübergestellt werden , in welchen
die interstitielle Bindesubstanz Sitz von Gallcrtablagerung wird, indem
sie sich zu achtem Schleinitiewobe umwandelt. Für sie empfiehlt sich
die Bezeichnung des F^pitlieiioiiia , rcsp. Adenoiiia myxomatosum. In
diese Kategorie gehört die überwiegende Zahl der Fälle von sog. Gal-
lertkrebs.
Erklärung der Abbildungen.
Tafel IX.
Fig. H. Feiner Schnitt durcli ein Adonoma myxomatosum mammae. a Driisen-
subslanz. b Inlerstiliolles Gewebe , in der Nähe der Drüsensubstaiiz auf-
gelockert und in den Inlerslitien Gallerte enthallend.
Tafel XI.
Fig. 10. Schnill durch ein Adenoma myxomatosum glanilulae thyreoideae. a Folli-
kel, bei a' in Atrophie begriffen, b Capillargefäss. c Schleimgewebe, die
Interstitien mit Gallerte erfüllt.
Fig. 11. Schnitt durch ein Epithelioma myxomatosum coli, o Epitheliale Schlauche.
b Schleimgewebe, von der Adventitia kleinerer Arterien ausgehend
c Stelle, an welcher das Schleimgewebe die Wand eines epithelführenden
Hohlraums eingebuchtet hat. Man sieht bei c das niedrige Epithel der
jenseiligen Wand noch eine Strecke weit verlaufen.
Fig. 12. Schnitt durch eine weiter gegen die Mitte zu liegende Stelle derselben Ge-
schwulst, a Epithelialer Schlaucli, das Innere erfüllt von stark körnigen
Zellen, b Schleimgewebe, den epithelialen Schlauch rings umgebend.
lieher die Kopfiierveii von Hexanchus und ihr Verhältniss
zur „Wirheitheorie" des Schädels.
Von
Carl Gegenbaur.
Mit Tafel XIII.
1. Vorbemerkungen.
Die vergleichende Anatomie des peripherischen Nervensystems
der Wirbelthiere kann nach zwei verschiedenen Richtungen behandelt
vi^erden. Einmal kann, von einer niederstehenden Einrichtung aus,
die Reihe von Veränderungen verfolgt v^^erden, welche sich in den
höheren Zuständen darbietet. Es kann nachgewiesen werden, wie
durch Umwandelung anderer, sei es den Nervenbahnen benach-
barter Körpertheile, sei es die Endigungen der Nerven empfangender,
somit den Verbreitungsbezirk derselben darstellender Organe ein modi-
ficirender Einfluss auf das Nervensystem selbst ausgeübt wird, der sich
sowohl an den Volums- wie an den Verlaufsverhältnissen der Nerven
äussert. Indem man versucht diesen Veränderungen in continuirlicher
Reihe nachzugehen, werden Einrichtungen klar, die, an ihrem End-
punkte betrachtet, unverständlich erscheinen, in demselben Maasse als
sie eigenthümlich und auffallend sind. Im Gebiete der Kopfnerven,
wie sie die Anatomie des Menschen zuerst und am genauesten kennen
lehrte, finden sich zahlreiche Beispiele hiefür. Indem die Vergleichung
jene Eigenthümlichkeiten und Complicationen als Umwandlungen ein-
facher Zustände nachweist, und die dem höheren Organismus zukom-
mende Einrichtung aus dem niederen erklärt, ist sie von der Anatomie
als Wissenschaft untrennbar. Die Kenntniss des peripherischen Ner-
vensystems niederer Wirbelthiere ist aber auch aus einem anderen
Grunde als unentbehrlich anzusehen. Während nämlich für viele Or-
gansysteme die einfacheren Zustände aus der Ontogenie erschlossen
werden, wo wir sie in den frühesten Stadien vorübergehend repräsen-
tirt finden, so dass von hier aus eine reiche Quelle für das Verständniss
Bd. VI. 4.
34
498 Carl Gegenbaur,
complicirter Einrichtungen fliesst, verhält es sich anders mit dem peri-
pherischen Nervensystem. Die Entwickelungsgeschichte des Darmrohrs
und seiner Drüsenorgane, der Organe des Kreislaufs, sowie jener des
Urogenitalsystems u. a. m., lässt eine Fülle von Licht auf das compli-
cirtere Verhallen des ausgebildeten Organismus ausstrahlen, und erläu-
tert Einrichtungen , die ohne jene Kennlniss zusammenhangslos blei-
ben. Die Beispiele hiefür sind so zahlreich und dabei so nahe liegend,
dass wohl keines angezogen zu werden braucht. Wenn nun jene
ontogenetischen Befunde zwar wieder nur durch die Vergleichung auf-
geklärt werden, insofern sie dabei als ererbte Zustände sich erweisen,
so sind sie doch schon an sich wichtige Mittel für die wissenschaftliche
Begründung der Anatomie. Für's peripherische Nervensystem dagegen
ist uns die ontogenetische Grundlage einer Erklärung des complicir-
teren Verhaltens im ausgebildeten Organismus entzogen, wir kennen
(abgesehen von dem Verhalten einiger Norvenstämme zu den Visceral-
bogen) von jenem Systeme keine emhryologische Thatsache, die in
jener Richtung verwerthbar wäre, denn es ist noch völlig ungewiss,
ob die spätere Gestaltung den niederen Zuständen entsprechende Vor-
läufer besitzt, oder ob die histiologische DifFerenzirung der betreffen-
den Theile gleich mit dem definitiven Verhalten beginnt, indem die
einfacheren Zustände übersprungen werden. Jedenfalls bietet die On-
togenie hier eine bedeutende Lücke, welche nur durch das Zurückgehen
auf das definitive Verhalten des bezüglichen Organsystems bei niede-
ren Wirbellhieren ausgefüllt werden kann. Daraus ergiebt sich die hohe
Bedeutung dieser Richtung der vergleichenden Neurologie.
Die andere Richtung der Behandlung der vergleichenden Neuro-
logie zielt nach der Erkenntniss des einfachsten Zustandes des Nerven-
systems der Wirbelthiere und sucht dabei nach Verknüpfungen mit
verwandten Wirbellosen. Beim Betreten dieses Weges wird von den
niedersten Formen der Wirbelthiere ausgegangen werden müssen,
während der andere ersterwähnte seinen Ausgangspunkt bei höher
organisirten, d. h. differonzirteren Formen nehmen kann, je nach dem
Grade der Ausdehnung, den man der Untersuchung zu geben beabsich-
tigt. Es ist aber begreiflich, dass die Untersuchung an den niedersten
Formen reichere Ergebnisse für die Vergleichung liefern wird, um so
mehr als auch von da aus auf die Einrichtungen des Nervensystemes
bei der problematischen Stammform der Wirbelthiere geschlossen wer-
den kann.
Die in dieser Beziehung zunächst in Betracht kommenden Fragen
dürften sich auf die Vergleichung der Kopfnerven mit den Spinalnerven
beziehen. Das Aufsuchen und der Nachweis von liomodynan)ien i.st
Ueber die Koiiriierveii von Hexaiicliiis ii. iliiVciliältniss zur Wiibeltlieorie d.ScIiädels. 499
die aus jener Richtung der vergleichenden Neurologie entspringende
Aufgabe.
Das Problem lautet: Lassen sich die aus dem Gehirne entsprin-
genden Nerven nach dem «Typus« der aus dem Rückenmarke entsprin-
genden eiklären, und sind erstere demgemUss durch eineUmwandelung
von solchen Nerven entstanden nachzuweisen, welche ursprünglich
mit den letzteren übereinstimmten?
Diese Fragen sind zugleich Theile eines weil umfänglicheren
Problems, jenes der Entstehung des Kopfes der Wirbelthiere. Würde
nachzuweisen sein, dass zu der Annahme Grund besteht, die Kopfner-
ven seien aus Modificationen von nach dem Typus von Spinalnerven
sich verhaltenden Nerven heivorgegangen, so würde nicht blos das
Gehirn als das modificirte Vorderende eines ursprünglich mit dem
Rückenmarke gleichartigen centralen Nervensystemes sich heraus-
stellen, sondern der ganze als Kopf erscheinende Körperabschnitt würde
sich auf einen einfacheren Zustand zurück verfolgen lassen, in dem er
von dem übrigen Körper nur wenig verschieden sich ergübe. Dass hie-
bei auch das Kopfskelel in Retracht gezogen werden muss, ist selbst-
verständlich. Somit eröffnet sich hier vom Nervensysteme aus der Weg
zu einer der wichtigsten Fragen vergleichend-anatomischer Forschung.
Auf dem Verfolge dieses Weges w ird sich ergeben, ob und welche Aus-
sicht zur Losung der Frage besteht.
Die Auffassung eines Theiles der Kopfnerven als »nach dem Typus
von Spinalnerven« gebauter Nerven ist nicht neu, wenn man auch noch
nicht versucht hat, daraus zu weitergehender Untersuchung die Induc-
tion zu nehmen. Rei jener Auffassung ist jedoch fast nur die Zusam-
mensetzung des bezüglichen Nervenstammes aus einer sensiblen und
motorischen Wurzel maassgebend gewesen , weniger der Verlauf und
die Reziehung der Nerven zu seinem Endgebiete. Auch ist man dabei
meist nur von den höheren Wirbelthieren ausgegangen, wo doch das
primitive Verhalten als durch viele Complicationen am meisten gestört
angenommen werden musste. Endlich ist der Frage kaum gedacht
worden, ob einer der mit Spinalnerven verglichenen Kopfnerven einem
einfachen Spinalnerven entspreche oder einer Summe von solchen, eine
Frage, deren Rerechtigung kaum abgesprt»t;hen werden dürfte.
Indem wir den Versuch wagen, zur Lösung des angedeuteten ana-
tomischen Problems die ersten Schritte zu ihun, ist es wichtig, die Wir-
belthierabtheilung zu bestimmen, die als Ausgangspunkt zu dienen hat.
Dass es sich hier vor allem um die »Fische« handeln dürfte, ist
wohl zweifellos. Allein die Abtheilung derselben kann in Frage kom-
men. Da bei den Leplocardiern noch kein gesonderter Kopftheil am
34*
500 Carl Gegenbaur,
Körper besteht, werden diese ausgeschlossen werden müssen, wo es
sich um Kopfnerven handelt. Auch die Cyclostomen dürften bei unserer
Frage ausser Betracht bleiben, denn schon die Organisation ihres Kopf-
skelets stellt sie weit entfernt von den übrigen Vertebraten, und bietet
wenig Aussicht für die Auffindung von festeren Verknüpfungen des
Nervensystems mit jenem der höheren Wirbelthiere.
Es bleiben also nur die Gnathostomen übrig, deren Nervensystem
ebenso wie fast alle anderen Einrichtungen ihres Organismus nahe
Verbindungen aufweist. Die am glänzendsten durch das an sorgfaltigen
Beobachtungen reiche Werk von Stannius i) vertretenen , zahlreichen
Untersuchungen über das Nervensystem der hieher gehörigen Fische,
Selachier, Ganoiden und Teleostier, haben zwar viele Eigenthümlich-
keiten kennen gelehrt, aber zu einer Verbindung derselben sowohl
unter sich, als auch mit dem Verhalten der höheren Wirbelthiere war
nur selten ein Versuch gemacht worden. Einen neuen Schritt hiezu
zu thun veranlasste mich zunächst die Untersuchung der Kopfnerven
von Hexanchus griseus, bei dem sich manche Verhältnisse in einer
Weise darstellten, dass daraus nicht nur ftir das Verständniss der be-
züglichen Organisation bei höheren Formen erfolgreiche Vergleichungen
zu gewinnen waren, sondern dass bezüglich der Beziehungen zu den
Spinalnerven weiter vorgedrungen werden konnte 2),
1) Das peripherische Nervensystem der Fische. Rostock 1849, 4.
2) Von der Untersuchung eines Selachiers den Ausgangspunkt zu wählen, be-
stimmte mich vorwiegend die Beziehung dieser Abtheiiung zu den Ganoiden und
Teleosliern sowohl, als zu den höheren Wirbelthieren. Wer die Organisation der
Selachier mit jener der anderen gf^nannten Abtheiiungen der Fische vergleicht,
wird nicht blos erkennen, dass bei ersteren in den meisten Einrichtungen niedese
Zustände vorliegen, sondern dass auch jene anderen Abtheilungen in ihrer Organi-
sation unverständlich sind, wenn wir sie nicht von dem Verhalten der Selachier
ableiten. Nehmen wir das Skelet, so ist es klar, dass wir den knorpeligen Zustand
als^den Vorläufer des jknöchernen setzen müssen, wenn wir wissen, dass Fische
mit knöchernem Skelet zuvor ein knorpeliges besassen. Die Ganoiden (ich spreche
von den lebenden und nicht von den fossilen) besitzen ein zum grösseren oder ge-
ringeren Theile ossificirtes Kopfskelet, welches aus einem rein knorpeligen hervor-
ging. Wenn wir bei anderen Fischen dasselbe knorpelige Kopfskelet persistiren
sehen, so ist es nur logisch, diesen Zustand als den niederen anzusehen, und wenn
wir derartige Verhältnisse auf ganze Reihen von Organsyslenien ausgedehnt finden,
so ist es wiederum nur folgerichtig, die Träger jener Organsysteme für die niederen
Formen zu halten. Mit Bezug auf die Descendenztheorie ist das so darzustellen,
dass wir sagen : die Fische mit knorpeligem Skelet etc. werden sich weniger weit
von dem Zustande entfernt haben, der auch den anderen mit knöchernem Skelet als
Stammform gedient hat. Dass nicht daran gedacht werden kann, die lebenden
Ganoiden etwa von den lebenden Selachiern abstammen zu lassen, ist so
Upljpr dicKoprilPrvcii von lloxiincliiis ii. ilirVcrliüKniss 7iii'Wirli('lllu'nrip d, Srliiidols. 501
In mehr als oiin-ni Punkte konnle ich dabei die; duivli viele andere
Forscher aufgedecklen Thatsachen verwerlhen und freue mich zugleich
zui' Ausl)ildung der früher von mir heztlglich der Kopfnerven geäusser-
ten Auffassungsweise (Grundzilge, 3te Aufl.) mnncjhen verbessernden
und umgestaltenden Nachtrag liefern zu können. Aus jener Auffassung
der Kopfnerven entsprangen Resultat(^ für die Auffassung des Kopf-
skeletes derWii-belthiere. In den Schlussbetiachlungen soll das Haupt-
sächlichste mitgetheilt werden, indem ich mir vorbehalte, diese für die
Genese des Kopfes wichligim Punkte an einem andern Orte ausführ-
licher vorzulegen,
2. Untersuchung und Verglei chun g.
Die beschreibende Anatomie pflegt die Kopfnerven mit dem Olfac-
lorius und Opticus zu beginnen, über welche ich keine neuen That-
sachen, wohl aber eine die Stellung zu den übrigen Nerven präcisirende
Anschauung vorzutragen habe. Sie wird zweckmässiger ihre Stelle
weiter unten linden. Auch die Augenmuskelnerven n)uss ich bei der
Vorführung, wenn auch aus anderen Gründen, zurücksetzen, so dass
ich mich sogleich zum Trigeminus wenden kann.
Ich finde denselben (Fig. II. Tr) aus zwei Stämmen zusammenge-
setzt, einen vorderen und einen hinteren, beide von annähernd gleicher
Stärke, der vordere Stamm (Fig. II. a) verlässl das vordere linde der
unteren (ventralen) Fläche der Medulla oblongata, dicht vor der Aus-
trittsstelle des Facialis [Fa] in zwei Wurzeln gesondert, die aber so
dicht aneinander liegen, dass ihre Trennung nur schwer zu erkennen
ist. Nach Stannius ist die Scheidung dieser Portionen bei andern Se-
lachiern deutlicher. Dieser so gebildete Stamm begiebl sich schräg nach
unten zur Schädelwand, auf welchem Wege er von dem hinteren Stamme
[b] überlagert wird. Der letztere setzt sich aus zwei sehr deutlieli ge-
klar, dass es eigentlicti keiner Erwähnung bedürfte. Doch scheint Professor Rol-
leston mir so etwas zu imputiren. denn nur dann wird mir verständlich, wenn er
in dem in »the Academy« No. 10 w.W. 1870 über die zweite Auflage meiner Grund-
züge publicirten Syllabus errorum als mit meiner Auffassung der Seiachier unver-
einbar erklärt, dass manclion Haien ein Schwinimhlasenrudiment zukomme. Mein
Fehler isl natürlich um so grösser, als ich dieses Rudimentes in meinem Ruche Er-
wähnung thue. Warum soll, frage ich, an den Selachicrn, auch wenn siedei- Urfornn
der Fische am nächsten stehen, nicht ein Organ sich rückgehiidet haben, das bei
den andern sich erhielt? Oder meint der Oxforder Professor vielleicht, dass an
den Ganoiden, die er für die älteren Formen hält, gar nichts Rückgebildetes vor-
komme ?
502 Carl Gegenbaur,
trennten Wurzeln zusammen, einer oberen (a) und einer unteren (ß).
Erstere beginnt oben, vorne und seitlich an der MeduUa oblongata mit
einer in den vierten Ventrikel ragenden mächtigen Anschwellung, ver-
einigt sich dann im Weiterverlaufe mit der unteren Wurzel, nachdem
vorher einige Fädchen zum Facialis getreten sind, und bildet einen brei-
ten Nerven, der über den ersterwähnten Stamm zur Schädelwand tritt.
In Fig. II ist recbterseits der hintere Stamm von dem von ihm an
der Durchtrittsstelle durch die Schädelwand überlagerten vorderen
Stamme abgehoben und etwas nach rückwärts gezogen. Die untere
Wurzel verlässt die MeduUa oblongata durch einen Zwischenraum von
der oberen getrennt, dicht über der Facialiswurzel und auch etwas vor
und über jener des Acusticus. Sie bildet einen mehr platten Strang,
der sich hinter den der oberen Wurzel anschmiegt, so dass beide
schon vor der Erreichung der Schädelwand mit einander verbunden
sind. Stannius hat die functionellen Verhältnisse dieser Stränge und
ihrer Wurzeln bei Selachiern nachgewiesen.
In dem nach aussen zu trichterförmig erweiterten Austrittscanale
sind beide Stränge zwar enge aneinander gelagert, aber doch nicht
ohne dass sie leicht getrennt werden könnten. Ausserhalb der Schädel-
höhle lagert der hintere Stamm über dem vorderen und beide bieten
daselbst eine Anschwellung dar, welche das Ganglion Gasseri vor-
stellt. Darauf scheint zwischen beiden Stämmen ein Faseraustausch
stattzufinden , da die fernere Trennung ohne Zerreissen von Nerven
nicht gelingen will.
Aus dem gemeinsamen Truncus begiebt sich nach vorne zu der
erste Hauptast des Trigeminus, den man als Ra mus ophthalm i-
cus zu bezeichnen pflegt i). Derselbe nimmt die obere Wurzel des
hinteren Stammes auf, deren sensible Natur von Stannius erwiesen
wurde. Sie scheint den grössten Theil dieses Ramus vorzustellen,
wenn sie nicht denselben ausschliesslich bildet. Er wendet sich gegen
die Orbitalfläche des Craniums und verläuft längs derselben in eine
Rinne eingebettet, nach vorne (Fig. I. //). um alsbald in einen Canal
einzutreten, der an der vordem Hälfte der Orbita beginnt. Dieser Canal
tritt schräg nach vorne und aufwärts, durchsetzt so das Cranium und
kommt an der Oberfläche auf der Ethmoidalregion zum Vorschein
1) Den gemeinsamen Austritt der Trigeminusäste aus dem Cranium besitzen
noch Heptanclius die Dornhaie, Scymnus und die Rociien. Bei einer Gruppe von
Haien dagegen tritt den Ramus ophthalmicus von dem Hauptstamme gesondert
aus dem Cran i um. Er begiebt sich durch eine vor und über dem Trigeminus-
loche in verschiedener Entfernung liegende Oeffnung an die Aussenfläche der Orbi-
talwand bei Carcharins, Sphyrna, Galous, Mustelus und den Scyllien.
Ueber die Kopliierveii von Hexaiiclnis ii, ihr V>iiiril(iiiss zur Wirbell lu^orie d. ScIiSdeis. 503
(Fig. J. /;), wo er sich als llalhrinno {»iiiiillcl init dem OibiUtlraixIo litlo-
ral nach vorne fortsetzt.
Auf seinem Wege giebl der Raums ojilahalniicus zahh"eiclu> Aesle
ab. Zuerst entsendet er einen nicht unbedeutenden Ast, der wie bei
anderen Fischen der Ciharnerv (vergl. von Sqviatina Fig. III. a) zwi-
schen dem M. rectus superior und externus verläuft und sich bald mit
einem vom Oculomotorius kommenden Fädchen verbindet. Mit diesem
verschmelzend verläuft der Nerv alsdann abwärts in das gallertige
Bindegewebe, welches das Ende des Bulbusträgers umgiebt, und senkt
sich unter dem verdickten Ende jenes Knorpels zum Bulbus, wo er, in
den Bulbus tretend, eine sehr schwache Anschwellung bildet. Die
laia*ere repräsentirt vielleicht ein Ciliarganglion, das von Stannius bei
anderen Selachiern vermisst ward.
Das Verhalten dieses Nerven zum Bulbus oculi ist fernerhin ein
sehr eigenthündiches. Man sieht nämlich nach der Entfernung des
Bulbus aus der Orbita wie von der Eintrittsstelle dieses Nerven an,
über der Eintrittsstelle des Opticus ein weisslicher Streif horizontal
nach vorne verläuft, durch den man wieder zu einem Nervenstämm-
chen geleitet wird, das vom Bulbus aus zur vorderen Orbitalwand tritt.
Es durchsetzt hier nach Abgabe eines gleichfalls zur Orbitalwand ver-
laufenden feinsten Zweiges den Ursprung des M. obliquus superior
und verläuft im Knorpel aufwärts und vorwärts, um sich schliesslich
mit dem lateralen Endzweige des Stammes des Ramus Ophthal micus
auf der Oberfläche der seitlichen Ethmoidalregion zu vereinigen.
Die nähere, durch Oetfnung der knoi'peligen Sklerotica in Angriff
genonnnene Untersuchung zeigt nun, dass der genannte Ast des Oph-
thalmicus die Sklerotica durchsetzt. Er durchbohrt die Sklerotica, läuft
zw ischen dieser und der Chorioidea in einer leichten Furche dei- ersle-
ren weiter, um die Sklerotica behufs des Austritts zum zweitenmale
zu durchbohren. Die Länge des Verlaufs dieses Nerven innerhalb
der Sklerotica betrug bei dem von mir untersuchten Exemplar
9 Mm. Nach dem Eintritte gehen einige feine Ciliarnerven ab.
Dieser Nerv verhält sich somit abweichend von dem Befunde bei
anderen Selachiern. Es ist klar, dass er dem sogenannten Ramus oph-
thalmicus profundus entspricht, der bei Acanthias, Carcharias, Raja
und Torpedo nach Stannius ^) »unter dem M. rectus und obliquus su-
perior, dicht an dem Bulbus gelegen« nach vorne verläuft. Wie dieser
Ciliarnerven absendet, so treten diese auch von unserem Nerven ab,
wenn auch erst nachdem er die Sklerotica durchbohrt hat. Das
4) Op. cit. S. 36.
504 Carl Gegeiibaur,
wesentlich Verschiedene läge also hier in der Aufnahme einer Nerven-
strecke in den Bulbus oculi. Auch die Vereinigung mit dem Stamme
des R. ophthalmicus ausserhalb der Orbila ist als Abweichung anzufüh-
ren, da diese Verbindung bei anderen Selachiern schon innerhalb der
Augenhöhle zu Stande kommt, nachdem der R. superior einen in der
Umgebung der Nasenhöhle sich verästelnden Zweig entsendet hat. Den
getrennten Austritt aus der Orbita theilt unter den Ganoiden Accipenser.
Einen Uebergang von dem Verhalten bei Hexanchus und den von
Stannius untersuchten Selachiern finde ich bei Centrophorus. Der R.
profundus des Ophthalmicus verläuft hier am Bulbus vorüber, ver-
lässt aber selbständig die Orbitalhöhle i).
Während seines Verlaufes an der Orbitalwand giebt der Ramus
ophthalmicus noch 5 — 6 feinere Zweige zur oberen Fläche des Schädels
ab, wohin sie durch feine gerade aufsteigende Canälchen gelangen.
Die Austrittsstelle des Nervenstammes auf der Oberfläche des Craniums
entspricht dem hintern Ende der Nasenkapsel. Ausgetreten theilt sich
der Nerv in zwei rechtwinkelig divergirende Aeste (Fig. 1. cd). Der
Mediale [d) verläuft oberflächlich weiter und endigt mit Verzweigungen
an der Schnauzenspitze (Rostrum) des Kopfes. Der laterale Ast (c)
nimmt seinen Weg in einer flachen Rinne, und tritt seitlich von der
Nasenkapsel wieder in einen kurzen Canal, in welchem er zur Unter-
fläche des Schädels tritt und sich bis gegen einen dem Oberkiefer an-
gelagerten vom untern seitlichen Theile der Ethmoidalregion des Cra-
niums ausgehenden Knorpelfortsatz verzweigt. Von da konnten die
feinsten Zweige bis zu der die Labialknorpel deckenden Haut verfolgt
werden, also in die Umgegend des oberen Mundrandes.
Es sei hier noch hervorgehoben, dass die erwähnte Beziehung zu
einem Knorpelcanal bei den Haien constant ist. Der aus den beiden
in der Orbita getrennt verlaufenden Aesten entstehende Stamm ver-
zweigt sich nach dem Austritte aus der Orbita in reiche zu den Ampul-
len der eigenthün)lichen Sinnesorgane verlaufende Fäden, sowie auch
vom lateralen Endaste Fäden zu der den ersten (oberen) Labialknorpel
bedeckenden Haut zu verfolgen sind.
Das äusserste Ende des ganzen Stammes findet sich demgemäss
ausserhalb und entfernter vom Cranium voi' den Labialknorpeln, oder,
wo diese fehlen, doch an der entsprechenden Stelle des Integumentes.
Wo Theile des Nerven oder sogar der grösste Theil desselben noch
1) Die Vereinigung des Ramus profundus mit dem R. superficialis scheint
übrigens häufiger zu sein. Nach einer Darstellung von Scarpa iiommt sie aucli bei
Raja vor. (De audilu et olfactu. Ticini, 1789. Tab. I. Fig. I.j
Ueber die Kopfnerveii von llrx.iiiclnis ii. ilir\t'ili,illiiiss 7,iiiWirbpltliPoric d. Srliiidpls. 505
ciiu'n vvcileivn Wog iirliiiicn, \\'\o bei Uiiigschnauzigeii Haien uiul
Rochen, wo der von mir als Roslriun hezeichnele iiUernasale Theil des
(Iranium sich weil nach vorne forlsetzl, von starken Zweigen vom Ende
des R. oplUhahniciis begieilct, werden wir dies als ein secundäres
Veihailen aufzufassen haben, da eben die Bildung jenes Rostrums,
welche mit dem grössern Verbreitungs})ezirke des Nerven in Zusam-
menhang steht, als eine sccundäre Bildung nachgewiesen weiden
kann ').
Bringen wir hiemil in Zusammenhang, dass derselbe Ramus oph-
thalmicus in anderen Abtheilungen der Fische am Zwischenkiefer seine
Endverbreilung empfängt, dass er mit der Ausdehnung des Zw ischen-
kiefers sich bedeutend verlängert, wie das z. B. bei Belone der Fall
ist 2), so wird die Beziehung des Nerven als eine feste erscheinen,
\Nenn man noch Prämaxillare und ersten oberen Labialknorpel als zu-
sammengehörige, und, wenigstens in ganz allgemeiner Beurtheilung als
homologe Skeletlheile betrachtet^). Unter den Reptilien bleiben diese
1) Das Rostrum felilt den Embryonen der spilzsclinanzigen Rochen elienso
wie bei den später mit einem Roslrum versehenen Haien. Die Schädelfoim der
Embryonen alier Seiachier (soweit sie bis jetzt bekannt sind) stimmt um so melir
überein, als das betreffende Stadium ein frühes ist. Sie ist durch die vordere Ab-
rundung ausgezciclinel. Unter den Haien erhält sich diese primitive stumpfe Schä-
doiform, soweit ich ilie Cranien näher unteisuciit habe, bei Hexanchus, Scymnus,
Scjuatina, Heterodontus , unter den Rnclien bei Trygon und Myliobatis. Die
Rostriimbiidung beginnt bei Heptanchus und Cenirophorus, ist bei Acanthias weiter
entwickelt, und führt bei Carcharias, Mustelus, Galeus und den Scyliien zu einem
ziemlich übereinstimmenden dreischenkeligen Fortsatze. Unter den Rochen ist sie
bei Torpedo angedeutet, mehr bei Raja und Rhinobatus, am meisten beiPristis ent-
wickelt. Differenzen in dem Baue dieses Rostrums gehören nicht hiehcr. — Gehen
wir auf die Grundform zurück, so werden die das Rostrum begleitenden Nerven-
äste, als erst mit diesem entstanden, d. h. fortgesetzt, angesehen werden müssen,
und wo es sich um die Nachweisung des ursprünglichen Nervengebietes handelt,
kommen die.'ie Nerven, wie mächtig sie auch immer sein mögen, als blossen An-
passungen entsprechend, nicht mit in Betracht.
2) Vergl. Stanniüs Op. eil. S. 37.
3) Ueber die Beziehungen der !,abialknorpel der Se|achier zu den Kiefer-
knochen (Prämaxillare und Maxillarc) siehe meine Grundzüge der vergl. Anat.
2te Aufl. S. 645. Anmerk. Ausführliches darüber soll später mitgetheilt werden.
Hier sei nur so viel bemerkt, dass die Homologie zwischen dem ersten oberen La-
bialknorpel und dem Prämaxillare eine bedingte ist. Aus dem Labialknorpel gehl
nicht das Prämaxillare hervor, etwa durch Ossification des Knorpels, sondern das
Prämaxillare entsteht als Beleg auf dem Knorpel. Während der Knochen sich ver-
erbt, geht die knorpelige Unterlage verloren, wie bei allen höheren Wirbelthieren,
oder besteht nur in unansehnlichen Resten unter dem Knochen fort, bei manchen
Teleostiern. .Meine Auffassung ist also dadurch von der CuviF.n'schen, die das Rich-
tige schon im Allgemeinen giebt, doch ziemlich verschieden.
506 Cari Gegeiibaur,
Verhältnisse fortbestehen und bei den Vögeln ist die Forlsetzung des
R. Ophthalmicus als Prämaxillarnerv sogar überaus deutlich, der be-
treffende Nerv häufig von ansehnlicher Stärke.
Unter den Säugethieren finden wir den Nerven im Ramus ethmoi-
dalis vom Nasociliaris vorgestellt. Die Austrittsslelle des Ethmoidalis
aus der Orbita entspricht der Austrittsstelle des Stammes bei den Se-
lachiern. Die auf der Lamina cribrosa bis zur Crista galli verlaufende
Strecke ist bei den Selachiern durch den Verlauf des Nerven in
einem Canale desCraniums repräsenlirt, und der Eintritt in die Nasen-
höhle entspricht dem Verlaufe auf der Oberfläche der Nasenkapsel der
Selachier. Diese Vergleichung mag wohl recht paradox klingen, und
vor Allem mag es mehr als kühn erscheinen, eine bei Selachiern ober-
flächlich am Cranium verlaufende Nervenstrecke mit einer bei Säuge-
thieren im Innern der Schädelhöhle verlaufenden zusammengestellt zu
sehen. Aber doch wird es nicht anders sein, wie wir erkennen, sobald
wir uns objectiv der Sache nähern. Dazu mag die folgende Betrach-
tung führen.
Zum Verständniss der eben aufgestellten Homologie haben wir
folgende Punkte uns zu vergegenwärtigen, welche die Veränderungen
des Craniums l)ctrefl'en, die es von dem bei den Selachiern gegebenen
Zustande bis zu jenem der Säugethiere erleidet. Erstlich haben wir zu
beachten, dass bei den Selachiern ein vollständiges Primordialcranium
besteht, bei den Säugethieren dagegen ist es unvollständig, das ganze
Schädeldach wird durch neue Gebilde hergestellt. Dann haben wir
den so verschiedenen Grad dei' Ausdehnung der Schädelhöhle zu be-
rücksichtigen und endlich drittens das verschiedene Verhallen der Na-
senscheidewand.
Nehmen wir an, dass unter gleichzeitiger Ausdehnung der Schä-
delhöhle eine Rückbildung des knorpeligen Schädeldaches erfolgt, dass
der Schwund des Knorpelcraniums bis zum ersten vom Ramus ophthal-
micus der Selachier durchsetzten Canal verläuft, so wird, wenn sich
die Schädelhöhle nach vorne zu gegen die Ethmoidalregion vergrössert
hat, der bei Hexanchus in einem Knorpelcanal verlaufende Nerv in die
Schädelhöhle zu liegen kommen. Die ihn von der Schädclhöhle trennen-
den Knorpelpartieen sind geschwunden , und die stall des Knorpels
das Dach der Schädelhöhle vorstellenden Knochen können, da sie von
Aussen her hinzugetreten sind, keine von der Schädelhöhle trennenden
Theile abgeben. Das ursprüngliche extracraniale Verhalten des Nerven
erhält sich bei den Säugethieren noch dadurch fort, dass er ausser-
halb der Dura maier seinen Weg nimmt.
Eine fernere Modification wird durch das Septum nasale hervor-
Ilclicr die Konriicrvcii von llcxiiiiclins ii. iluVViiiältiiiss /.iiiWiihclIlicniic d.Srliiidcls. 507
gerufen. Denken wir uns den Ijei llexanehus Itieileii , zw ischen den
beiden Nasenkapseln Ix'findlichen Knorpel auf das schmale der Lamina
peij)endicularis des Siebl)eins /u Giunde lieiicnde Knorp(>lst(lek redu-
eirt, so werden dadurch die hcidcMseitigen Nerven einander in dem-
selben Maasse genähert werden. Die auf der knorpeligen Nasenkapsel
lateral und median verlaufenden Zweige ergeben sich noch bei den
Siiugelliieren in demselben Verhallen, indem zwei Endäste des N. eth-
moidalis auf der knorpeligen Nasenkapsel ihre Bahnen finden, so lange
dieser Knorpel fortbesteht. Es ist der Ramus externus naiium und
der Hamus lateralis, während der Ramus septi narium den Knorpel
durclibohrt hat. Der Raums lateralis behält auch bei den Säugethieren
dieselbe Ausdehnung bis zum Prämaxillare, oder doch in die Nähe dessel-
ben. Das Gebiet des Nerven findet hier also im vordersten Abschnitte
der dorsalen Schädelregion, an die er bis zum vordersten demVisceral-
skelete entstammenden Stücke hinab sich verbreitet. Beachtcnswerth
ist, dass er diesem Skeletstücke niemals mit seinem Stamme aufge-
lagert ist, sondern dass die zu jenem Theile tretenden Endzweige von
oben herabkommen.
Bei Raja ist der mediane Endzweig als N. nasalis anterior exter-
nus von BoNSüORFF ') richtig gedeutet worden. Dagegen wird der late-
rale Endzweig als N. ethmoidalis (in der Tafelerklärung wohl durch
einen Druckfehler als N. frontalis) bezeichnet, womit wohl kein ver-
gleichendes Urtheil ausgesprochen werden sollte.
Der Hauptstamm des »R. ophthalmicus« der Selachier entspricht
keineswegs in seinem ganzen Verhalten dem R. ophthalmicus der Säu-
golhiere oder speciell des Mensehen. Er ist aber auch nicht blos Naso-
ciliaris, wieBoNSDORFF angiebt. DasVerhältniss wird vielmehr so aufge-
fasst werden müssen. Der Stamm des Ophthalmicus umschliesst bei
den Selachiern die bei Säugethieren früher als Aeste abgehenden Theile
länger. So lange er Rami frontales entsendet, die bei den Säugethieren
zu einem Aste vereinigt, die Orbitalhöhle durchziehen, entspricht er
dem Ophthalmicus, und erst bei seinem Verlassen der Orbita tritt er in
die Bahn des Nasociliaris, um daim das diesem zukommende Verhalten
einzugehen. Daraus kann geschlossen werden, dass der Nasociliaris
die Fortsetzung des llauptstannnes des Ophthalmicus ist, dessen beim
Menschen als gleichwerthig angegebene Aeste in dieser Beziehung eine
secundäre Bedeutung besitzen.
Die eigenlhümlichen Verlaufs\ei-li;Utnisse des R. ophthalmicus füh-
ren bei näherer Prüfung zu folgenden Erwägungen. Die Richtung des
i) Acta Societatis Fennicae. T. V. S. 195.
508 Carl Gegeiibnur,
Hauplstaiitmes ist bei den einzelnen Selaciiiern verschieden. Bald ver-
läuft der Nerv an der Orbilalwand gerade nach vorne, bald steigt er
auf diesem Wege etwas empor, je nach der Lage des Canals, durch
den der Slannn die Orbila wieder verlässl. Daraus erwächst auch für
die vorhin als Rami frontales bezeichneten Zweige einige Verschieden-
heit in der Winkelslellung zum Stauime. Wenn letzterer steiler auf-
steigt, so gehen sie in spitzen Winkeln ab. Ist dabei das Ende des
Stammes nach Abgabe zahlreicher Fronlalzweige minder ansehnlich,
wie es bei geringerer Ausdehnung des Rostiums und minderer Aus-
bildung des sensorischen Canalsyslems der Fall ist, so kann man den
die Orbita verlassenden Stamm einem der Frontalzweige gleich erach-
ten. Wie jeder derselben durchsetzt er den knorpeligen Orbitalrand,
und nimmt ferner im Integument seine Verbreitung. Dass er weiter
vorne austritt als die Frontaläste, bietet jedenfalls keine wesentliche
Verschiedenheit, denn auch die Frontaläste sind unter sich in demselben
Maasse verschieden. Der Eintritt eines auf der Nasalregion angelangten
Zweiges in einen zweiten Knorpelcanal ist nicht minder bei dieser Auf-
fassung von untergeordneter Bedeutung. Durch die Gleichwerlhigkeil
der Frontal zweige mit dem aus der Orbita tretenden Stammende wird
der Nerv zu einem dorsal verlaufenden gestempelt, und die mit der
Ausdehnung des Verbreitungsgebietes nach vorne zu stattfindende Ab-
lenkung des Stammes von der rein dorsalen Richtung kann als eine
Anpassung aufgefasst werden, die mit der allmählichen Ausbildung
des vorderen Abschnittes jenes Endgebieles erfolgt.
Damit tritt der R. ophth;dnncus in Ungleichwerlhigkeil zu den
beiden andern Hauplästen des Trigeminus.
Der Ramus maxillaris superior kommt bei Hexanchus aus
dem gemeinsamen Stamme (Fig. II. Tr) des Trigeminus, mit dessen
drittem Aste er inniger verbunden ist, als mit dem Ramus ophthalmicus.
Der Stamm [e] verläuft alsbald auf dem Boden der Augenhöhle und
zvvai- dem Oberkieferknorpel aufgelagert nach vorne, seitlich und ab-
wärts, liegt eine Strecke weit in einer Furche, welche lateral an einem
aufwärtssehenden Forlsatze des Oberkieferknorpels sich darbietet, und
tritt mit seinem grössten Theile (Vergl. Fig. I) in einem Einschnitte,
welcher unterhalb des Knorpels der Ethmoidalregion seitlich längs
eines Knorpelfortsatzes verläuft, nach aussen zur unleren Fläche der
Schnauze.
Die bis dahin abgehenden Aesle sind theils solche, welche gleich
am Beginne des Nerven abgehen, theils solche, die kurz vor dem Aus-
tritte aus der Orbita entspringen. Von ersteren sehe ich drei (Fig. I. f),
an Stärke vom ersten bis zum dritten abnehmend. Sie theilen sich sehr
Ueher die Kopf'nerveii von Hexiiiichiis n. ihrVerliältiiiss ziirWirbeltlieorift d. Schädels. 509
bald, um sicli initcroinander plexusarlii^ zu vtM'l)inden. Sic verlaufen
gleichfalls ültcr denOberkieferknorpel, der erste ganz nahe dem Ramus
tertiusNervi trigemini angelagert, dann treten sie über einen schlanken
mit einer platten Endsehne zu dem vorerwähnten Forlsatze der Kthmoi-
dalregion gelangenden Muskel hinweg, in die Haut der oberen Mund-
winkelfalle, wo sie sich nach aussen von den hier liegenden Labial-
knorpeln verzweigen. ,
Diese Nerven entsprechen dem R. buccalis der bei anderen Se-
lachiern , auch bei Chimaera und vielen Teleostiern vorkommt. Mit
Beziehung hierauf ist das Verhalten bei Hexanchus deshalb von Inter-
esse, weil es statt des Einen Stammes eine Anzahl kleinerer Aeste
daibietet, so dass die Bildung jenes Stammes aus der Vereinigung die-
ser einzelnen Aeste entstanden angesehen werden kann. Dicht vor dem
Austritte aus der Orbita treten vom Stamme des Maxillaris superinr
wiederum einige Bündel feiner Nervenslämmchen ab, die sich eben-
falls zur Haut über dem Mundrande vertheilen.
Der aus der Orbita an die Unterfläche der Elhmoidalregion getre-
tene Nervenslamm wendet sich vorwärts und median hinter der Nasen-
kapsel, um sieh nach beiden Seiten zu den hier zahlreich lagernden
Gallerlröhren zu verzweigen. Vor diesem Verlaufe giebt er ein laterales
Aeslchen ab, welches seitlich von der Nasenkapsel sich verbreitet.
Die Vertheilung vieler Zweige dieses Nervenstammes findet zwar
in der Nähe der hier in einer Oberlippenfalte eingebetteten beiden La-
bialknorpel statt, allein der Hauplslamm tritt immer an der Unterflärhe
der Schnauze entlang, so dass dieses Ende als das bedeutendste an-
gesehen werden kann. Damit stimmen auch die von Stannius über
andere Selachier gemachten Abgaben. Von Bonsdorff ist dieser Nerv
in seiner Fortsetzung längs der unteren Seite des Rostrums von Raja
als Sphenopalatinus aufgeführt worden und der fernere Verlauf als Na-
sopalatinus; ich glaube, dass einiger Grund zur Vergleichung mit
den gleichnamigen Nerven der höheren Wirbelthiere nachgewiesen
werden kann.
Es erhebt sich nun die Frage, wo der bei den höheren Wirbel-
ihieren bestehende Infraorbitalis, der bei diesen als die Fortsetzung
des Hauptstammes erscheint, zu suchen sei. Die Buccaläste geben bei
Hexanchus keinen Anhaltepunkt. Es werden vielmehr Beziehungen zu
Skelettheilen aufgesucht werden müssen, und da ist es der zweite
obere Labialknorpel, der in Betracht kommen muss, nachdem sich die-
ser n)ir als der Vorläufer des Oberkieferknochens ergeben hatte. Da
bei Hexanchus der zweite obere Labialknorpel dicht dem ersten ange-
schlossen liegt und beide relativ unansehnliche Gebilde sind, wird ein
510 Carl Gegenbaur,
Hai mit ausgebildeterem Labialknorpelsystenie dem etwaigen Nachweis
eines dem Infraorbitalis homologen Nerven am besten dienen können.
Squatina erfüllt diese Bedingungen. Der Stamm des Maxillaris supe-
rior (Fig. III. Tr") verläuft hier median von dem gegeh die Schädelbasis
gerichteten Gelenkfortsatze des Oberkieferknorpels nach vorne aus der
Orbita und theilt sich alsbald in drei Aeste. Zwei (c) wenden sich auf-
wärts an die unlere Fläche der Nasenkapsel an der einer mehr median,
der andere mehr lateral sich vertheilt. Der dritte (a) nimmt seinen
Weg in einer Hautfalle zum zweiten oberen Labialknorpel {Lk'), über
den er nahe an dessen Verbindungsstelle mit dem Oberkieferknorpel
hinwegläuft, um nunmehr zwischen den beiden oberen Labialknorpeln
{Lk, Lk') bis zum Mundwinkel hin sich zu vertheilen. Von da geht
noch ein feiner Zweig zur Haut über, welche den unteren Labialknor-
pel überzieht. In diesem zu den oberen Labialknorpeln tretenden Ner-
ven wird der Infraorbitalast des Raums maxillaris superior erkannt
werden müssen, sobald wir an der Annahme festhalten, dass der zweite
obere Labialknorpel dem Maxillare in analoger Weise entspricht, wie
der erste obere Labialknorpel dem Prämaxillare. Dass das Prämaxillare
resp. der erste obere Labialknorpel hier zugleich vom Ramus maxillaris
superior und nicht vom R. ophthalmicus N. trigemini versorgt wird,
ist nicht nur aus der Lagerung dieses Theils bei Squatina erklärlich,
wo mit der relativ geringen Entwickelung des Cranium, besonders des
Ethmoidaltheiles desselben der erste Labialknorpel weiter als sonst vom
Cranium entfernt liegt, sondern es wird dieses Verhalten auch dadurch
begreiflich, dass der R. ophthalmicus einen dorsalen Zweig repräsen-
tirt. Die oben hervorgehobene Beziehung des Ophthalmicus zum Prä-
maxillare giebt sich damit ungeachtet ihrer Verbreitung in ihrer secun-
dären Bedeutung kund. Sie erscheint nur da, wo das Prämaxillare,
oder der erste obere Labialknorpel dem typischen Endgebiete des R.
ophthalmicus nahe gelagert ist, und fehlt, wo jene Nachbarschaft nicht
besteht. Bei Gentrophoms, der ebenfalls alle drei Labialknorpel be-
sitzt, ist ein ähnliches Verhalten zu beobachten, doch ist der Infraorbi-
talis ein ganz schwacher Zweig im Verhältniss zum Stamme des Maxil-
laris superior, der sich mit seiner Hauptmasse in zwei Aesten zu
den an der Unterfläche der Ethmoidalregion gelagerten Sinnesorganen
des Integumentes begiebt. Wir sehen hier zugleich, wie die Ausbil-
dung einzelner Theile die relativen Volumverhältnisse der Nerven-
stämme beeinflusst, so dass derselbe Nerv in dem einen Falle als Zweig
des Hauptslammes erscheint, während er in dem anderen den Haupt-
stamm selbst vorstellt, der in einem Zweige den andernfalls bestehen-
den Hauplstamm erkennen lässt. Man wird daran abei- auch ersehen,
üeber die Kopliierven von Hexanclms ii. ilirVerliältniss zur Wirbeltlieorie d. Schädels. 51 1
wie sehr die Volumsverhäilnisse für die Vergleichung in den Hinter-
grund zu treten haben.
Je nachdem wir hier die zur Unterfläche der Ethmoidalregion Ire-'
lenden Aeste, dort den zu dem zweiten oberen Labialknorpel gelangen-
den vorwiegen sehen, wird Z\Neifel entstellen können, welcher Ast als
der ursprüngliche llauplast, als die Fortsetzung des Slarnnies des Ma-
xillaris superior anzusehen sei. Wer auf das Volum das grossen^ Ge-
wicht legt, wird also in dem einen Falle den einen, ui dem anderen
den andern Ast als Ilauptast betrachten , und, damit befriedigt, der
weiteren Forschung entsagen. Wir werden also von jener Betrach-
tungsweise Umgang nehmen, und vielmehr die morphologische Dignität
der Organe prüfen, für welche die Endverbreitung der fraglichen Aeste
bestimmt ist. In dieser Beziehung müssen die schon bei den Selachiern
ausseiordenllich schwankenden Sinnesapparate des Integumentes gegen
die mit Skeleltheilen in Beziehung stehenden Theile gar weit zurück-
treten, denn die constanteren Verhältnisse sind an den Labialknorpeln
gegeben, und sie gehören zu den ererbten Einrichtungen, indess die
Sinnesorgane des Integumenls, wie Gallertröhren u. s. w. secundäre
durch Anpassungen entstandene Gebilde sind. Wenn man Letzteres
auch in Zweifel ziehen möchte, so kann man doch die Bedeutung der
Labialknorpel noch durch das Gewicht vermehren, welches durch die
Beziehungen derselben zu Skelettheilen der höheren Wirbelthierab-
Iheilungen uothwendig entsteht.
Durch diese Folgerung kommen wir zum Schlüsse, dass der über
den zweiten oberen Labialknorpel tretende Infraorbitalis als Fortsetzung
des Hauptstammes des Maxillaris superior zu gelten hat. Wir können
ihn so als Nerv des zweiten oberen Labialknorpels ansehen, oder da er
sich seitlich auch noch auf den unteren Labialknorpel fortverfolgen
liissl, als Nerv des durch jene beiden Knorpel gebildeten Bogens. Durch
die Fintsendung eines Zweiges an den ersten obern Labialknorpel tritt
der Nerv in eine inlercrurale Beziehung, welche in einstimmender
Weise auch an den übrigen, zu Bogen des Visceralskelets verlaufenden
Nerven besteht. In demselben Maasse, als wir diese Bedeutung für
den gesammten Maxillaris superior voranstellen, werden wir jene Aul-
fassung diesem gesammten Nervenstamme übertragen können, und die
übrigen Verzweigungen in zweite Reihe ordnen.
Der R a m u s maxillaris inferior ist etwas schwächer als der
zweite Ast des Trigeminus ; er setzt sich innerhalb der Orbita aus zwei
Portionen zusammen. Die grössere ist die Fortsetzung des oberen, bei
den Wurzeln des Trigeminus als vorderer Stanan bezeichneten Ab-
schnittes, der aus den vorderen Strängen der Medulla oblongata aus-
512 Carl Gegenbaur,
tritt. Mit dieser verbindet sich als kleinere Portion ein vom Anfange
des zweiten Trigeminusastes kommender Nervenzweig , welcher mit
der grösseren Portion sich innig vereinigt. Wahrscheinlich werden hie-
durch der motorischen Portion sensible Fasern zugeftihrt. Der so gebil-
dete Stamm (/?) des Maxillaris inferior verläuft, anfänglich eng an den
ersten Buccalast des Maxillaris superior angelagert, quer durch den
hinteren Theil der Orbita nach aussen, legt sich auf den oberen Rand
des Oberkieferknorpels (ä) und verläuft aussen auf dem Hebemuskel
des Unterkieferknorpels nach hinten und abwärts zur Gegend hinter
dem Mundwinkel. Unterwegs hat er dem Muskel bedeutende Aeste
abgegeben. Von da an tritt bald auf den Unterkieferknorpel der vor-
dersten Zahnreihe genähert, und verzweigt sich hier beiderseits in der
Haut und der Mundschleimhaut bis zur Medianlinie hin. Da dieser
Nerv in überaus deutlicher Weise dem Ober- und Unterkieferknorpel
folgt, giebt er sich als der Nerv dieser Theile, die wir auch als einen
Visceralbogen auffassen können, und damit als der Nerv des Kiefer-
bogens zu erkennen.
Bezüglich der Augenmuskelnerven habe ich für die Aus-
trittsstellen aus dem Gehirne und für die Endvertheilung den bereits
bekannten Verhältnissen gegenüber keine bemerkenswerth abweichende
Angabe zu machen. Vom Oculomotorius (Fig. I. om] kann hervor-
gehoben werden, dass er, obwohl vor dem Trigeminus die Schädel-
wand durchsetzend, ausserhalb des Schädels unter den ersten Trige-
minusast zu liegen kommt. Von demselben Nerven ist bereits oben
der Abgabe eines feinen Zweiges zu einem zur Sklerotika tretenden
Aestchen des R. ophthalmicus Erwähnung geschehen. Nach seinem
Austritte aus der Schädelwand schickt er Zweige zum M. rectus supe-
rior und internus, wendet sich zwischen dem ersteren und dem R. ex-
ternus in die Tiefe, versorgt den R. inferior mit einem Zweige und endet
im Obliquus inferior. Einen selbständigen Ramus ciliaris, der von
Stannius bei andern Selachiern gesehen wurde, habe ich vermisst.
Für den, wie bekannt, sehr hoch oben die Schädelwand durch-
setzenden Trochlearis [ti-) ist beachtensvverth, dass er nach seinem
Austritte gleichfalls unterhalb des R. ophthalmicus Hegt, dessen Ver-
lauf er kreuzt. Eine Verbindung des Trochlearis mit dem Trigeminus,
deren Miklucho bei Scymnus und Scyllium gedenkt'), habe ich nicht
wahrgenommen. Der Trochlearis ergab sich mir an jener Kreuzungs-
stelle nur durch Bindegewebe mit dem R. ophthalmicus in Zusammen-
hang.
\\ Jenaische Zeitschrift Bd. IV. S. 556.
lieber die Kopfnervcii von Ilexancluis ii. ilirVerliiiltiiiss ziirWirbeltlu'orn' d.Sdiädels. 5i;{
Eine solche Lagerung zu ;nulorn Kopfnerven zeigt nuch der Ah-
duceus, der anfangs unter dem Facialis und Acusticus gelegen, und
unter diesen die Schädelhöhie verlassend, di(> Schädelwand schräg' nach
vorne zu durchbohrt, um wieder unterhalb des Trigeniinus und zwar
unter der Austrillsslelle desselben zur Orbila zu gelangen. (Vergl. von
Squatina Fig. III. ab). So untergeordnet diese Thalsachen an sich schei-
nen mögen, so wichtig sind sie für die Vcrgleichung dieser Nerven,
worauf am Schlüsse dieser Arbeit eingegangen werden soll. Hier sei
nur noch das bemerkt, dass zur Deutung des hervorgehobenen Austrit-
tes der Augenmuskelnerven in ihrer Lagerung zum Trigeminus der Um-
stand nicht hinreicht, dass wir es eben mit motorischen Nerven zu thun
haben, die, da sie von vorderen Strängen der Medulla oblongata her-
vorgehen, also unterhalb des sensiblen Nervenursprungs, auch unter-
halb solcher Nerven zu liegen kommen müssen, und unterhalb dersel-
ben auch ausserhalb der Orbita verlaufen. Das mag für Oculomolorius
lind Abduceus passen, aber nicht passt es für den Trochlearis, inso-
fftrne dieser, der eine dicht neben dem andern , aus dem Hirndache
zwischen Zwischenhirn und Mittelhirn hervortritt i). (Nach Stannius
aus den crura cerebelli ad corpora quadrigemina). Der Nerv besitzt
so, wenigstens bei seinem Austritte aus dem Gehirne, eine obere Lage-
rung, und man sieht nicht ein, warum er nicht ebenso gut über den
H. ophthalmicus hinweg zur Endverbreitung im Obliquus superior ge-
langen sollte, wenn der constante Verlauf un terh alb des R. ophthal-
micus nicht eine tiefere Begründung besässe.
Die in den unteren Abtheilungen der Wirbelthiere sehr verbreitete
Verbindung der Wurzeln des Trigeminus mit jener des Facialis hat
vielfach eine Verknüpfung der Beschreibung beider Nerven veran-
lasst. Bei Hexanchus zeigt der Nerv in Beziehung auf den Trigemi-
nus ein gesondertes Verhalten, wie bei allen Selachiern, aber aucli das
bekannte Verhalten zum Acusticus. Dicht vor diesem gelagert ver-
lässt der Facialis (Fig. II. Fa] das Gehirn, überlagert von der unteren
Wurzel des hinteren Stammes des Trigeminus, die hier ein plattes
I) Die Austrittsstelle (ich vermeide alisichtlich die übliche aberzuviel sagende
Bezeichnung: Ursprungsstelle) des Trochlearis aus dem Gehirne ist für die°Deu-
lung des Gehirns der Fi<^che von Wichtigkeit gewesen, indem man daraufhin das
Mittellurn der I-ische alsCerebellum auffasste. M.klucho hat bei seiner Deutung des
sogenannten Cerebellums der Fische als Mittelhirn, der ich vollkommen beipflichte,
die durch den Trochlearis sich darbietende Schwierigkeit für zu gering geschätzt,'
und auf keinen Fall ist sie durch die von ihm aufgeführten Gründe (.lenaische Zeil-
schrift Bd. IV. S. 556) hinweggeräumt. Sie besteht so lange als für die angenom-
mene W;,nderung des Trochlearis nicht Uebergangsstufen nachgewiesen sind.
Bd. VI. 4. „_
35
514 Carl Gegenbaur,
Nervensträngchen ihm anfügt. Wir können demgemäss für den Facialis
zwei Wurzeln annehmen, eine stärkere vor dem Acusticus austretende
und eine schwächere vom Trigeminus ihm zugetheilte. Beide verbin-
den sich vor einer noch innerhalb der Schädelhöhle gelegenen An-
schwellung. Der Nerv tritt dann dicht vor den Acusticus in einen kur-
zen die Schädelwand quer durchsetzenden Ganal, und wendet sich von
seiner Austrittsstelle an die Schädelwand angelagert nach hinten. Dicht
an der Austrittsslelle geht von ihm der Ramus palatinus ab (Fig. 1. k)
von einer zweiten Anschwellung, deren auch Stannius gedenkt. Ich
lasse ihre Gangliennatur, die der genannte Autor für andere Haie nach-
gewiesen hat, für Hexanchus ebenso in Frage wie die der ersten.
Der Nervus palatinus begiebt sich fast senkrecht abwärts zum Gau-
men, wo er sich wie bei andern Fischen verbreitet. Auf dem Wege
zur Gaumenschleimhaut kreuzt der N. palatinus den Stamm der schräg
vor ihm zur Basis cranii verlaufenden Vena arteriosa (Fig. I. V. a] der
Spritzlochkieme.
Nach Abgabe des N. palatinus verläuft ein feiner Zweig (Fig. I. a)
auf der Wand des Spritzlochcanals nach aussen, und ist mit Mühe bis
zu der Stelle verfolgbar, wo innerhalb die Kiemenblättchenreihe ange-
bracht ist. Relativ stärker finde ich diesen Zweig bei Haien mit weite-
rem Sprilzloche (Centrophorus , Scymnus). Er verläuft hier an dei'
Basis der in Mehrzahl vorhandenen Spritzlochknorpcl, welche aus Kie-
menslrahlen hervorgegangen sind.
Der Stamm des Facialis (Truncus hyoideo- mandibularis nach
Stannius) tritt nun hinter dem Spritzloch, zwischen ihm und dem obe-
ren Stücke des Zungenbeinbogens (Hyomandibulare) nach aussen, und
entsendet zwischen Hyomandibulare und Oberkieferknorpel (Palato-
quadratum) gelagert den Ramus mandibularis externus (Fig. I. n).
Dieser tritt quer über den hintern die Articulation mit dem Unterkiefei'
bildenden Theil des Oberkieferknorpels hinweg zur Haut des Unterkie-
fers (R. mandibularis externus), wo sich einzelne Fäden mit dem R.
maxillaris inferior trigemini in Vei'bindung setzen. Die Fortsetzung des
Facialis [tn] verlheilt sich als Ramus hyoideus (R. mandibularis internus
s. profundus) in der Zungenbeingegend, in einen Haut- und einen
Muskelast gesondert, deren bereits Stannius ') bezüglich ihrer Endbe-
zirke ausführliche Erwähnung that. Da diese Verbreitung für unsere
Zwecke unwichtig ist, so kann ihre Beschreibung unterlassen werden.
Ich habe diesen Nerven nach dem Vorgange anderer Anatomen von
seinem Beginne an als Facialis aufgofassl, wobei ich mich minder auf
1) 1. c. p. 65.
Uebcr dio Kopt'iicrvoii von llcviiinliiis ii. ilii\('iiiältiiiss /.iiiWirlx'ltlicniii! d. ScliHdels. 515
seine Verbreitung an respiratorische Muskeln, wie solches vorzüglich
von Büchner, auch von Stannius geschieht, als auf die Beziehung zu
den benachbarten Hirnnerven und den Verlauf des Stanuncs stützte.
BüNSDORFK bezeichnet ihn bei Raja als dritten Ast des Trigerninus. Die
Zusammenstellung dieses Nerven mit dem gleichnamigen der Säuge-
thiere. den man als rein motorischen anzusehen gewöhnt ist, unterliegt
bei der gemischten Natur des Facialis der Selachier einigen Bedenken.
Diese werden sich mindern, wenn wir, abgesehen von der Frage be-
züglich des Ganglion geniculi, in Erwägung ziehen, dass. ebenso wie
bei der Vergleichung der Verzweigung eines und desselben Nerven-
astes bei verschiedenen Thieren, Haut- und Muskelzweige in sehr ver-
schiedenen Stärkeverhältnissen sich ergeben, in einem andern Falle die
einen oder die andern Zweige derart zurückgetreten sind, dass der
sonst gemischte Nerv nur den einen oder den andern Charakter trägt,
oder endlich sogar ausschliesslich als sensibler oder motorischer Nerv
erscheint. Wir werden das dann so beurtheilen, dass wir die eine oder
die andere Abiheilung des Nerven nach Rückbildung ihres bezüglichen
Kndgebietes als gleichfalls rückgebildet und geschwunden ansehen.
Demnach kann es nichts Befremdendes haben, wenn ein in unteren
Abtheilungen der Wirbelthiere gemischter Nerv in einer höheren Ab-
theilung als rein oder doch überwiegend motorischer Natur erscheint.
V^'as den Ramus palatinus betrifft, so wird bei der Frage nach
dessen Bedeutung vor allem von den Beziehungen dieses Nerven bei
den Teleostiern abgesehen werden müssen. Durch die Verbindung des
Facialisstammes mit dem Trigeminus, die bei Einigen derselben schon
beim Austritte aus dem Cranium stattfindet, sowie durch den bei den
meisten Knochenfischen gleich nach dem getrennten Austritte beider
Nerven stattfindenden Eintritt eines Ramus communicans trigemini
zum Facialis, endlich duich das so sehr verschiedene Verhalten des N.
palatinus selbst i) ist in dieser Abtheilung kein sicherer Ausgangspunkt
für die fragliche Beurthcilung zu gewinnen. Da wir den genannten
Nerv bei den Selachiern allgemein als einen Ast des Facialis sehen,
wird er von da aus nur einem von demselben Nerven abgezweigten
Aste verglichen werden dürfen.
Demzufolge wird an den N. sphenopalalinus nicht zudenken sein.
Näher stellt sich uns dagegen der N. petrosus superficialis major der
Säugethiere , an den Stannius mit Recht erinnert, indem er aber die
zuerst von BmnER gemachte Angabe vom Verlaufe des genannten Ner-
ven zum Maxillaris superior, oder vielmehr in die Bahn desselben
1) Vergl. darüber Stahmus op. cit. p. 55.
35
516 Carl Gegenbaur,
(Sphenopalatinus) als noch nicht gesichert betrachtet, erklärt er die
Frage für unerledigt. Ich möchte dieser Meinung beipflichten und die
Feststellung einer Homologie des N. palatinus der Selachier (nicht der
Teleostier, bei denen der N. palatinus wenigstens theilweise dem N.
sphenopalatinus zu entsprechen scheint) mit dem N. petrosus super-
ficialis major erst dann für reif erklären, wenn die Beziehungen des
letzteren Nerven zum Ganglion sphenopalatinum, resp. zu den aus
demselben austretenden Gaumenmuskelnerven festgestellt sind*).
Was das Verhalten des Facialis zum Visceralskelete betrifft, so er-
scheint (lieser Nerv als vorwiegend dem Zungenbeinbogen angehörig.
Diesem folgt der Hauptstamm, während an den vorhergehenden Bogen
(den Kieferbogen) nur Zweige treten.
Der G I 0 s s 0 p h a r y n g e u s verlässt bei Hexanchus die Medulla ob-
longala vor dem Vagus und etwas unterhalb desselben, näher der Me-
dianlinie fFig. 11. Gp). Vom Acusticus ist die Austrittsstelle durch
einen ziemlichen Zwischenraum getrennt -). Der Nerv verläuft inner-
halb der Schädelhöhle schräg nach aussen und hinten und tritt in einen
unterhalb des Labyrinthes verlaufenden Canal , der ihn am hintei'en
seitlichen Theile des Cinniunis ausleitet. Der in d«m Canal eintretende
Nerv, an Stärke bedeutend geringer als der Oculomotorius, hat wäh-
rend seines Verlaufes durch den Knorpelcanal im Dickedurchmessei'
auffallend zugenommen, was nicht etwa auf Rechnung der hinzugetre-
tenen Nervenscheide gesetzt werden kann. Stannius, der dieses Vei-
halten sowohl bei Selachiern als bei Knochenfischen fand, giebt an, dass
bei einigen Fischen die Quelle dieser Massenzunahme »in dem Zuwachs
von Elementen zu suchen ist, die der Grenzstrang des N. sympathicus
dem Glossopharyngeus zuführt«. Bei Hexanchus hat dieses sicher keine
Geltung, vielmehr möchte die Zunahme in den auf die letzte Hälfte des
Verlaufs des Nerven im Knorpelcanal bestehende Ganglienbildung ihre
Ursache haben . durch welche die Nervenbahn neue Elemente erhält.
1) Die Thalsache, dass bei facialis -Lähmung aucii die Gaumenmusculatur
der betroffenen Seite sich gelähmt zeigt, spricht zwar für jene Beziehung des
vom Facialis kommenden N. petrosus sup. major zu dem N. palatinus, allein sie
kann deshalb noch nicht für unsere Zwecke verwerthet werden, weil es sich hier
um motorische Nerven handelt, indess der N. palatinus der Selachier, wie aus sei-
nem Verbreilungsbezirkc in der Raciienschleimhaut hervorgeht, ein sensibler Ast
ist. Anders würde sich die .Sachlage gestalten, w<'nn in ihm auch motori.sche Ele-
mente naoiigewiesen werden könnten.
-l] Das Verhalten an der Untertläche der Medulla oblongnla ist bei Miklccho-
Macl.w I. c. Tab. II, Fig. 9 daigestelll. Ich beziehe mich auf dieselbe, da das der
Abhiiilung zu Grunde gelegene l'räparat mir vorliegt.
Uebcr die Kopriicrvcii von ilcxaiicliiis ii. ilir\('rliiiltuiss ziirWirbi-ltlicoiic (1. Scli;i<l('ls. .") I 7
Ohtzloich der Sliiiuin dos ;ins dcni Scliiidol iioli-otiuicii Nerven sliirker
ist cds die Wurzel, so ist er dorli etwas schwächer als die eingeschlos-
sene letzte Strecke, auf u eiche also die Gnnglienbildung vertheilt sein
wird ').
Auf dem Wege durch das Cranium und zwar von dem letzten
Dritttheile dieses Abschnittes, enl sendet der Nerv einen von Stanmus
hei Acanthias und Carcharias erkannten freien Ramus dorsalis ab, der
hinter dem hintern Bogengänge des Labyrinthes in einem besondern
Canal eingeschlossen das Cranium durchsetzt und sich in der Haut nahe
den zum Gehöroi'gnne führenden Löchern verbreitet.
Nach dem Austritte aus dem Cranium geht der Glossopharyngeus
eine Theilung in mehrere Aeste ein. Er schickt einen Zweig abwärls
zum l'harvnx. imd sendet ferner einen Ast ;a zum Zungenbeinbogen
[Z], dersogleich dicht andasIlyomandibularstückdiescsBogens tritt, um
an der llinterfläche der am Zungenbeinbogen aufgereihten Knorpelstrahlen
zu verlaufen. Die Fortsetzung des Nervenstammes tritt in der Richtung
des austretenden Nerven zum ersten Kiemenbogen (I), längs dem er
vor der Knorpelstrahlenreihe' seinen Verlauf und seine Verzweigung
findet. Durch dieses Verhalten stellt sich der Glossopharyngeus als
hauptsächlichster Nerv des eisten Kiemenbogens dar.
Während in dem Verhalten der bisher aufgeführten N(Mven bei
Hexanchns im Vergleiche mit den vorzüglich von Stanxh s untersuch-
ten Selachiern minder bedeutende Verschiedenheiten hervorzuheben
waren, so stellten sich andere Ergebnisse bezüglich des Vagu s dar.
StanniuS'^) sagt: »Bei allen untersuchten Knochenfischen besitzt der N.
vagus mit Einschluss des Seitennerven, zwei ganz discrete Wurzelpor-
tionen von beträchtlicher Stärke.« «Mit diesem Verhalten stimnit auch
Accipenser überein und die untersuchten Plagiostomen : Carcharias,
Spinax und Raja bieten keine wesentliche Abweichung dar.« »Die
erste der beiden Wurzelportionen besteht immer aus einem
einzigen Bündel. Sie entspringt nicht nur weiter vorwärts, sondern
beständig auch höher aufwärts als die zweite, deren Ursprung denmach
nicht nui- weiter nach dem hinteren Kopfende zu, sondern auch dei'
Basis der Medulla oblongata nidier liegt. Bei ausschliesslicher Berück-
l; Aul die Verh;ilttiisse der Ganglien der koptnerven, specieli der Selacliier
werde ich bei einer anderen Gelegenlieit nälier eingehen können. Da die wenigen
mir zu Gebote stellenden Exemplare von Hexanchus für die mikroskopische Un-
tersuchung kein passendes Dbject waren, niusste ich bei dieser Gattung von der
Untersuchung abstehen. Für die in vorliegender .\rbeit gesetzte Aufgabe dürfte
daraus kaum ein Hinderniss entstanden sein.
i) Op. eil. p. 80 fl'.
518 Carl Gegenbaur,
sicliLiguny dieser Lagcnvciii.illnisse könnte man versucht werden, die
zweite Wurzelportion eine vordere, die erstere, höher entspringende,
dagegen eine hinlere Wurzel des N. vagus zu nennen.« »Die zweite
Wurzelporlion des Vagus ist gewöhnlich bedeutend stärker als die
erste, sie kommt tiefer abwärts, und weiter hinterwärts : d. h. dem
Ende der Schädelhöhlo näher aus der Medulla oblongata. « »In der
Regel wird diese zweite- Wurzelportion aus mehreren kurzen Stiängen
zusammengesetzt, welche zu einem gemeinsamen Wurzelstrange sich
vereinigen. « Zwei dickere Stränge fand Stannujs bei Zoarces, Gadus,
Lota, Silurus, zwei ungleich starke Stiänge beiEsox; drei bei Cottus
und Scombor; vier bei Cyclopterus; fünf bei Belone, Pleuronectes,
Salmo. Bei (lyprinus sind 6 — 8 kurze Stränge vorhanden. Man sieht
ausser den lasern, die von dem Lobus vagi absteigen, andere die von
der unterliegenden Medulla oblongata konmien. Fünf stärkere Stränge
wurden bei Accipenser gezählt, zu denen noch mehrere feinere hintere
höher aufwärts entspringende Stränge hinzutreten. Bei Raja clavata
beläuft sich die Zahl dieser Stränge auf 2^ — 28, während bei Spinax
acanlhias nur 4 beträchtlichere Stränge wahrgenommen werden.«
Was diesem sehr mannichfaltigen Verhalten gegenüber Hexanchus
betrifl't, so ist zunächst zur Unterscheidung einer vorderen und einer
hinteren Wurzelportion kein anatomischer Anhaltepunkt gegeben.
Die V a g u s w II r z e 1 n b i 1 d (» n eine c o n t i n u i r I i c h e Reihe,
welche dicht hinter der Glosso])harjngeus-Wurzel, aber über derselben
zur Seile der Medulla oblongata austritt, und hinter dem Calamus scri-
ptorius fortgesetzt ist. S. Fig. I u. Fig. II). Die einzelnen Wurzeln neh-
men dabei von vorne nach hinten stufenweise ab, so dass die hintersten
dem unbewaffneten Auge kaum sichtbar sind. Dabei gewinnen die
Zwischenräume an Ausdehnung. Sämmtliche Wurzeln sind an der
Austiittsslelle aus dem Cranium zusannnengetreten und bilden Einen
Nervonstamn» [Vg].
Die Zahl dieser Wurzeln ist schwer genau fesistellbar, da die stär-
keren vorderen auf ihrer Oberfläche Trennungss})uren in Gestalt von
leichten Furchen aufweisen. Streckenweise kann man in diese Fur-
chen leicht eindringen und so eine Trennung darstellen, welche an
einzelnen Stellen ohne die geringste Gewalt ausfulirbar ist. Vorne wie
hinten verschmolzene Nervenstränge sind also auf einer Strecke hin
discret. Ein anderer Wurzelstrang ist aus zvkci getrennt austretenden
entstanden, und wieder ein anderer theilt sich und verbindet eine Por-
tion der vorhergehenden, eine andere (h v nachfolgenden Wurzel.
Da diese an zwei Gehirnen untersuchten Verhältnisse nicht blos
nach den Individuen, soiuiorn auch nach den beiden Seilen des-
[leber die Kopfnerveii von IIcmiiicIiiis ii.ilir Ncrliriltniss /iiiWiilirltlicoiic d. Scliiidcls. r)19
selben (Ichirnes verseliiodcn sich li'-raiissIclMen, so isl wohl k;iiini t'iii
Zweifel daran, dass in dieser slreekenweiscn Verbindung einzelner
Stränge nur untergeoi'dncle Verhältnisse ausgedrückt sind.
Von den stärkeren Strängen kann ich fünf bis sechs zählen, der
schwächeren, inclusi\e der feinsten, etwa ebensoviel, wobei jedoch
das oben von der Trennung und dem Zusaninienlrelen d(>r Stiiinge
Gesagte berücksicliligt werden niuss.
Die hinleren feinen Stränge setzen sich dicht an der Auslrillsstelle
meist wieder aus noch feineren Fädchen zusanmien. Die Ausliillsstel-
len dieser Fädchen nähern sich um so mehr der oberen Metlianlinie
der Medulla oblongala, je weiter nach hinten sie entspringen (vergl.
Fig. 11), ein Verhallen, welches mildem Sinus rhomboidalis insofern in
Zusammenhang sieht, als es genau der allmählichen Näherung der Häii-
der dieses Sinus entspricht. Die hinler den Calamus scriptorius ent-
springenden Fädchen sind denmach von der Medianlinie des Rücken-
marks ebensoweit als die zur Seite der Raulengrulie hervorgelienden
von den» Rande der letzteren entfernt. Als ferner beachtenswerlh kann
noch hervorgehoben werden, dass jene hinteren Wurzelfädchen anfäng-
lich schräg nach vorne zu verlaufen , um die nächslvorhergehenden
zu gewinnen, mit denen sie zusammengeschlossen den Weg nach hin-
ten und aussen zui' gemeinsamen Auslrillsstelle des Complexes der Va-
guswurzeln aufsuchen.
Mit den reihenweise austretenden Wurzeln des Vagus darf einVei-
hallen der M( dulla oblongala in Zusammenhang gebracht werden, näm-
lich die »perlschnuiförmig aneinander gereihten Erhabenheiten«, welche
den Haien allgemein zukommen, aber den Rochen fehlen. Sie liegen
nicht, wie Stannils ') für andere Selachier angiebt, am Roden der Rau-
lengrube, sondern genau an der Seilenwand und zwar nicht bios bei
Hexanchus, sondern auch bei anderen Haien. Diese Erhal)cnhciten,
deren bei Hexanchus sechs bestehen (vergl. Fig. II. g), gehören einem
Limgsstrange an, der vom Calamus scriptorius aus die Rautengrube ^i
oben und hinten begrenzt, und in die hinteren Rückenmarkstränge
übergeht. Dieser Strang (.s) verdoppelt sich nach vorne zu, durch Spal-
tung in einen oberen [s'j und unteren. Der letztere trägt die Anschwel-
lungen Uj), von denen die erste und die letzte weniger deutlich ent-
v^ickelt sind als die dazwischen befindlichen. Die vorderste ist aber
1) Zoofomic dei' Fisclio p. 138.
2) Hier sei bemerkt, dass sich aus den) liiiiterii Ende der Rautonsirubc der
micli sonst Ijei Fischen sehr weile CentraieannI ganz aliniiihiich Iditselzl. sc dass
ilcssi II Anfang als ein Innggcslrcckter 'I richler ersclieinl.
520 Citri Gegeubaur,
bei alledem die stärkste. Aus der vordersten Anschwellung setzt sich
der Strang, viel dicker als hinten, in parallelem Verlaufe mit den am
Boden der Rauicngrube vorspringenden Vorderslriingen (Fig. II. ]>) des
Rückenmarks (vorderen Pyramiden) nach vorne zu fort, um dann etwas
seitwärts auszubiegen. Er vereinigt sich da mit dem oberen Strange
in der als Lobus nervi Irigemini (Fig. X. U) bekannten Anschwellung
der Urtigrenzung des vordem Abschnittes der Rautengrube. Was den
oberen Strang betrifft, so beginnt dieser als eine schmale, die fraglichen
Erhabenheiten von oben und von der Seite her elvNas bedeckende La-
melle, die nach vorne zu stärker wird. Dabei entfernt sie s-ich etwas
von dem unteren Strange, und tritt vorne, einen median gerichteten
Winkel bildend, in die genannten Lobi ein. Sie grenzt unmittelbar an
das Dach der Rautengrube.
Die vorhin beschriebenen reihenweise liegenden Anschwellungen
entsprechen genau der Austrittsstelle der Vagusvvurzeln, und zwar der
stärkeren derselben. Es liegt nahe, in jenen Anschwellungen die Ur-
sprungsganglien des Vagus zu sehen, wie sie dann auch als Lobi nervi
Vagi bezeichnet wurden. Betrachten wir das vorläufig als eine gewiss
zu rechtfertigende Annahme, so ist mit dem Auftreten dieser »Ganglien«
die Stärke der betreffenden Vaguswurzeln in Einklang zu bringen, und
die nach hinten zu eifolgende Abnahme harmonirt mit dem Schwächer-
werden der bezüglichen Ganglien, bis den feineren Wurzelft endlich
der einfache, nicht weiter gegliederte Strang entspricht. Bei der Wür-
digung dieser Verhältnisse wird man sich auch der Anschwellungen zu
erinnern haben, welche das Rückenmark an den Ursprüngen stärkerer
Nerven auch äusserlich aufweist, z. B. des Verhaltens bei Trigla. Man
kann hier einwenden, dass im letzleren Falle doch etwas Anderes vor-
liegt, da die Anschwellungen zunächst nur als äusserliche bekannt sind,
während sie bei Hexanchus wie überhaupt bei den Haien in die Höh-
lung eines Sinus vorspringen. Darauf wäre zu entgegnen, dass die
Anschwellung selbst die Hauptsache ist, und der Ort des Vorragens
die Nebensache, die duich andere Verhältnisse bestimmt wird. Wo
ein engerer Axenraum das Vorragen nach innen verbietet, wird eine
Vermehrung der Elemcntartheile einer Strecke eine Vorragung nach
aussen bedingen, während eine geräumige Höhle, wie die Rautengrube
es ist, eine Vermehrung der Formelemente ihrer Wände in Gestalt in-
nerer Anschwellungen aufzutreten gestatten wiid.
Wenn wir so die mehrfachen Vaguswurzeln mit diesen in den Sinus
rhomboidalis vorragenden Anschwellungen eines Stranges der Wand
des genannten Sinu'^ in Zusammenhang bringen, und das Verhalten
von Spinalnerven zu alleidiiiLS nur im Allgemeinen ähnlichen An-
lieber die Kopliierveii von Hexancluis ii. ilirVcrliiiltiiiss znrWirbeltlieorie d. ScliSdels. 521
.sLliv>cllunt;( n cK-s Riickdiniiirks crwüszcii, so ^^il•(l urus ilic Kraiic cnl-
strlu'ii, ol) der so aus einei' Roür' cin/cIner liintei' oiniiiulcr lioL'ciitlcr
Wiiizcln entstandene Nervenstanini \viiklich einem einzigen Spinalnei-
ven entspricht, oder ol) er nicht viehnehr einer Summe von solchen
vergleichbar sei, folglich aus einer Summe von einzelnen Nerven ent-
standen angenommen W(>rden dürfe.
iK Zur Prüfung dieser Frage hai)en wir vor Allem noch zwei That-
sachen herbeizuziehen. Die erste betrifft eine auch von Stannius ^j
gewürdigte »Eigenlhümlichkeitu. Er sagt: »In die Bahn des Vagus
treten hier ;l)ei Spinav und Carchaiias) ein paar vordere W'uiz(>ln ein,
welche rücksichtlicli ilirer Ursprungsverhältnisse ganz ebenso sich ver-
liallen wie die vorderen Wurzeln der Spinalnei'ven. Die vorderste die-
ser Wurzeln entsteht n)il einem einfachen, die zweite mit einem dop-
pelten Wurzelstranse. Jede tritt durch einen eigenen abgesonderten
Knorpelcanal auswärts, um in die die Schädelhöhle verlassende Ner-
venmasse des Vagus überzugehen. Höchst wahrscheinlich sind diese
Wurzeln dem eigentlichen Vagus fremd, und ihm nur temporär jux-
taponirt.«
Von diesen Nervenfädchen bestehen bei Hexanchus drei l)is vier
Paaie, die von vorne nach hinten an Stärke zunehmen'^). Das vor-
derste, feinste, fand ich von einei- kleinen Arterie begleitet, die es an
Dicke übertraf. Diese Nerven (Fig. II. V(j) treten in Canälc, welche die
üccipilalregion des Craniums durchsetzen und dort in einer conlinuir-
lichen Linie unterhalb der Austritlsstelle des Vagus zu finden sind.
Sie liegen mit den unteren resp. vorderen Wuizeln der Spinalnerven
in gleicher Reihe. An einem Schädelpriiparat von Hexanchus finde ich
die Austrittsstelle dieser Nerven durch fünf feine in einer Reihe lie-
gende Oefl'nungen dargestellt. Ob hier die Zahl der Nerven eine ent-
sprechende war, kann ich nicht (Mitscheiden. Dass nicht allgemein
übereinstimmende Verhältnisse bestehen, ergab sich daraus, dass diese
Nerven in einem Falle zu drei Paaren, in einem andei-en zu vier Paaren
vorkairien. Daraus kann wohl auch dei" Befund am Cranium als auf
eine fernere Vermehrung verweisend gedeutet werden. Jedenfalls ist
das bezügliche Canälchen, sowohl am Eingange wie am Ausgange mit
den übrigen . bestimmte Nervenfädchen durchlassenden in gleicher
1, Das peripliorisclie Nervensyslem der Fisclie. [). 83.
i) Eine Abbildung dieser Nerven von der ventralen Seite her liat MiKi.rrHo-
Maclay i;ei,'ehe!i. Vergl. dessen Beiträge zur vergi. Neurologie. Leipzig 1870-
Tnf. II, Fig. y. Eine Bezeichnung der Nerven fehlt, wie auch eine Erwähnung im
Te.tt.
522 Carl Gegeiibiinr,
Lagerung, und n vch in glcichom Absland von den niichslcn Ciiniilchcn
anzuliTÜen.
Diese sämmtlichcn Nervenfäden verbinden sich ausserhalb des Schä-
dels mit dem Vagusslamme, und bilden so einen Beslandlheil desselben.
Sie als »dem eigentlichen Vagus fremd« anzusehen, liegt kein zwingen-
der Grund vor. Zudem würde dann die nicht leicht zu beanlvvortende
Frage entstehen, welchem Nerven sie eigentlich angehören. Stannius
glaubt, dass diese fraglichen Nerven vom Vagus ab zu Musk( In treten,
welche »über dem äusseren Kiemenkorbe gelegen« »die Schulter vor-
wärts ziehen«. Darnach würde der Vagus sich als ein gemischter Nerv
herausstellen, der seine motorischen Wurzeln von einer Reihe selbstän-
dig entspringender inul selbständig austretender Nervenfädchen em-
pfängt. Sehen wir nun jene getrennt den Schädel durchsetzenden Fäd-
chen als motorische Wurzeln des Vagus an, so werden wir diesen Wurzeln
nach ihrem ganzen Verhalten bezüglich Ursprung und Veilauf bei der
Vergleichung mit motorischen Wurzeln von Spinalnerven dieselbe Be-
deutung zuschreiben müssen. Wir werden aber nicht einfach alle zu-
sammen, sondern jede von ihnen der motorischen Wurzel eines Spi-
nalnerven für homodynam erachten, und gelangen dadurch zu dem
Schlüsse, dass bei Hexanchus eine Summe von motorischen Wurzeln
zum Vagusstamme tritt, dass also der Vagus bezüglich seiner motori-
schen Wurzeln einer Summe von Spinalnerven entspricht. Zur Ver-
gleichung dieser Nerven mit den Wurzeln einzelner Spinalnerven be-
rechtigen uns einmal die ziemlich weit von einander entfernten Aus-
Irittsstellen, dann aber auch der selbständige Durchtritt der einzelnen
durch die Schädelwand.
Diese Anschauungsweise erläutert uns zugleich das Verhalten der
Zusammensetzung des sogenannten »eigentlichen Vagusslammes«, d.h.
des Wurzelcomplexes. der in eine Reihe aus den theilweise n)it An-
schwellungen versehenen seitlichen Strängen der Medulla oblongata
hervorgeht. Wenn wir diese, wie nicht anders möglieli , als hin-
tere Wurzeln beurtheilen , so werden wir, nachdem s^ir die vor-
erwähnten Nerven als den motorischen Wurzeln mehrfacher Spi-
nalnerven homodynam fanden , auch für jene hinteren Wurzeln
die Homodynamie mit einer Summe von Spinalnerven aufstellen
müssen. Diesem entspricht auch vollkommen das Verhallen jener Wur-
zeln, ihr discreter Austritt aus der Medulla, sowie die Beziehungen?
wenigstens der stärkeren Wurzelstränge zu den eben beregten Erha-
benheiten. Wir deuten also die geschilderten anatomischen Tliatsachen
bezüglich des Vagus dahin, dass wir denselben als aus einem Com-
plexe von Nerven , die nach dem Typus der Spinalnerven sich verhal-
lieber die Kopl'iiervcii von llcxiiiuliiis u. ilirVciiiältniss ziirWirltcItlicnrie (l.ScIiädcIs. 52Ii
Icn, /,us;iiinii('ui^(VS(>tzt IxUiiichlon. wobei die hinteren resp. oberen
Wurzeln sich schon auf ihrem Verhmle durch das Cranium, das sie
t:;emeinsani durchsetzen, zu einem Stamme verbinden, indess die vor-
(leieii lesp. unteirn Wurzeln nicht blos i;elrennl aus der Meduila ob-
loHi^ata. sondern auch getrennt aus dem Schädel treten, und erst als-
dann mit dem Stamme, der aus den sensil)len Wurzeln sich bildete,
sich vei'binden. Jene vortlern Wurzeln als einem einzit^en Nerven
entsprechend anzusehen, liisst viel triftigere Einwände zu, als die hier
vorgeführte entgegengesetzte Annahme. Zunächst ist die relativ be-
deutende Entfernung der Austrittsslellen ein (legengrund, dann das
selbständige Verhalten beim Dui clilriUe, endlich, als wichtigstes Mo-
ment , das Fehlen von hintein (olKMcn) Wurzeln , deien («in Nerv,
w(>nn ei- mit Spinalnerven verglichen werden soll, nicht entbehren
darf. Will man aber trotz alledem jene vordem Nerven als getrennte
Theile eines einzigen Nerven, resp. als motorische Wurzeln eines sol-
chen betrachten und in dem übrigen Vagusstamme die hiezugehörigen
hinteren oder sensiblen Wurzeln, so tritt, ganz abgesehen von dem
bezüglich des lU lundes dieses Stammes bereits Dargelegten, in der
peripherischen Verbreitung ein ganzer Berg von Schwierigkeiten empor,
die nicht überwunden werden können
Diese peripherische Verbreitung bildet das zweite für das Ver-
sländniss des Vagus wichtige Moment. Sie muss daher genauer be-
trachtet werden, obschon das meiste davon mit den bereits bekannten
Thatsachen in Uebereinstimmung ist. Schon auf dem Verlaufe durch
den Endabschnitt d( s Schädelcanals beginnt der durch das Zusammen-
treten der Wurzeln der oberen Reihe gebildete Stamm zu einem Gang-
lion anzuschwellen. Vom Ende dieses Abschnittes entspringt ein feiner
in den' Schädelknorpel eindringender Zweig, der erst nach aussen sich
wendet, dann am hinteren Bogengänge des Labyrinthes vorüber, aber
hinter demselben aufwärts iritt, um dann mehr medianwärts zu ver-
laufen. Der Nerv gelangt dann auf der Schädeloberfläche zun) Austiilt.
Es ist ein Ramus dorsal is, der nach Stannius bei anderen Sela-
chiern fehlt ^l .
1) Man konnte Bedenken tragen, diesen durch den Schädclknorpel verlaufen-
den Nerven mit dem Sctiädelhöiilenast des Vagus der Teleostler für homolog zu
halten, eben wegen der anscheinenden Differenz des Verlaufs. Diese Verschieden-
heit löst sich jedoch auf, wenn man in Erwägung zieht, dass bei den Teleostiern
ein grosser Theil des I'rimordialcraniums der Selachier, und gerade vom Schädel-
cavum her geschwunden ist, so dass dadurcii Theile nach innen zu liegen kommen,
die bei den Selachiern von der Wand des Knorpelcraniums umschlossen sind, wie
das vom Labyrinthe ja allgemein bekannt ist.
524 Carl Gegenbaur,
All der Anschwellung des Vagusstammes seheint der eiste stärkste
Wui/el liang nicht betheiligl zu sein. Derselbe liegt im Schädelcanal
zwar dicht an den übrigen Wurzeln, und ist mit diesen auch durch
Faseraustausch verbunden. Aber bereits an der zweiten Hälfte des be-
treffenden Schädelcanals, da wo die Ganglienbildung des Stammes be-
ginnt, löst sich die Fortsetzung jenes Wurzelstranges vom anliegenden
übrigen Vagus ab und gehl in eine langgestreckte selbständige An-
schwellung über, die noch ausserhalb des Canals wahrnelimbar ist.
Daraus setzt sich ein Nerv fort, der zwar noch dem Vagus eine kurze
Strecke weit angelagert bleibt, aber alsdann sich seitwärts zum zweiten
Kiemenbogen wendet (Fig. I. Vg'). Bevor er zu diesem tritt, sendet er
einen Ast («) zum ersten Kiemenbogen, der dort n)it dem Stamme des
Glossopharyngeus auf dem Knorpel seinen Verlauf, und zur vordejn
Kieme der zweiten Tasche seine Verzweigung nimmt.
Der folgende Theil des Vagus lagert sich auf den dorsalen Glied-
sti'^ken der Kiemenbogen (1—6) und sendet noch vier Aeste zu eben-
soviel Kiemenbogen, wo sie sich gleich jenem erstbeschriebenen vei-
halten, also immer einen schwachen Zw eig [a] zum nächst vorhergehen-
den Kiemenbogen absenden. Dieser kleinere Ast giebt nahe an seiner
Ursprungsstelle je einen Ramus phaiyngeus ab. So ist es ganz genau
genommen. Im Allgemeinen kann man das Verhältniss so auffassen,
dass jeder Ramus branchialis sich in drei Zweige iheilt, davon der
vordere schwächere zum nächst vorhergehenden, der hintere stärkere
zum nächst folgenden Kiemeny)ogen gelangt, indess ein zwischen diesen
beiden austretender drittel- Zweig sich zum Pharynx begiebt. Diese
Rami pharyngei versorgen theils die Musculatur zwischen den dorsalen
Endgliedern der Kiemenbogen, theils gelangen sie an der Schleimhaut
des Pharynx zur Vertheilung. Als besonders beachtenswerth hebe ich
heivor, dass in diesen Pharynxästen eine Uebereinstimmung jedes eir-
zelnen Ramus branchialis des Vagus mit dem Glossopharyngeus besteht.
Selbst der Facialis kann ohne jede Schwierigkeit hieher bezogen wer-
den, indem dessen Ramus j^ a 1 a t i n u s d e m R a m u s phaiyn-
geus des Glossopharyngeus oder eines Ramus branchi-
alis des Vagus völlig sich gleich veihält. Nehmen wir
hiezu noch das Verhalten des Facialis zur Spritzlochkieme, so ist am
Facialis ebensogut wie am Glossopharyngeus und an einem der Rami
branchiales des Vagus die Theilung in drei Zweige nach\Aeisbar, und
der Spritzlochast erscheint homolog einem Ramus anterior, wie der Ra-
mus hyoideus einen Ramus posterior und der Ramus palatinus einen
R.pharyngeus repräsentirte. Die Fortsetzung des Stammes bildet der
bekannte Ramus intestinalis (/), dessen Verhalten für unsere Zwecke
Üeber die Kopfuerveii von Hexanchus u. ilirVerhältiiiss zurWirbelfheorie i. Schädels. 525
nicht in Belfaclil zu kommen brauclit. Dasselbe s^ill votnRamus lateralis
(Fig. 1. L), der gleich an der Auslrillsstelle sicli abgezweigt hat. Er
setzt sich im Schiidelcanal aus mehreren, aus dem Anfange des gang-
lionären Theiles des Vagus kommenden Bündeln zusammen, und nimmt
schon an der Auslrittsslelle des Vagus eine mediale Lagerung ein.
Ausser dem Umstände, dass bei Hexanchus die Zahl der Kiemen-
iisle des Vagus um Einen vermehrt ist, entsprechend der Zahl der Kie-
nientaschen, ist die grössere Selbständigkeit des ersten Ramus bran-
chialis luM'vorzuheben. Durch dieses Verhalten wird ein gemeinsamer
Truncus branchio-intestinalis, den andere Selachier besitzen, nicht un-
lerscheidbar , und es erscheint der bezügliche Nerv schon vor seiner
Austrittsstelle aus dem Cranium in demselben Befunde wie die beiden
vorhc'igchenden Nerven, der Glossopharyngeus und der Facialis, die
nur noch durch selbständige Austriltscanäle in der Schüdelwand aus-
gezeichnet sind. Man kann das Verhiiltniss dieses ersten R. branchia-
lis viigi zum Vagusstamme im Vergleiche mit dem bekannten Befunde
bei anderen Fischen als einen gewissen Grad von Selbständigkeit auf-
fassen, die besonders durch das eigene Ganglion eine Stütze empfängt,
l^in bei anderen Selachiern mit dem Vagus innig verbundenen Nerven-
zweig löst sich bei Hexanchus sehr frühe selbständig ab.
Die ViMtheilungsweise der Kiemenäste ist ungeachtet der längst-
bestchenden Kenntniss dieses Verhaltens besonderer Beachtung werth.
Jeder Ramus branchialis sendet den stärkeren Zweig zu je einem hin-
leren, den schwächeren zu je einem vorderen Kicmcnbogon, woselbst
sie nahe aneinander verlaufen. Diese Nachbarschaft wird allmählich an
jedem Kiemenbogen durch die demselben ansitzenden knorpeligen Kie-
miMistrahlen getiennt, indem von der Stelle an, wo die letzteren auf-
treten, der eine Zweig vor, der andere hinler den Kiemenstrahlen lagert.
Mit Beziehung auf die Kiementaschen gehört demnach der vordere Zweig
eines Ramus branchialis der vorderen Wand, der hintere Zweig dage-
gen der hinleren Wand einer Kiemenlasche an. Diese Verhältnisse sind
nach vorne über das Gebiet des Vagus hinaus fortgesetzt. Der Glosso-
pharyngeus verhält sich wie ein Kiemenasl des Vagus. Der vordere
Zweig, der an den Zungenbeinbogen Irill, verläuft hinler die hier
zweifellos als Kiemenstrahlen erscheinenden knorpeligen Radien des
Bogens, und der hintere Zweig verläuft vor den Kiemenstrahlen des
folgenden Rogens, welcher der erste Kiemenbogen ist. Modihcirl ist das
Verhallen des Facialis. Sein zum Zungenbeinbogen tretender Haupt-
stanun lagert wie ein hinterer Zweig eines Ramus branchialis vor den
Kicmrnslrahhni des Zungenbeinliogcns, und der vor den Sprilzlochsack
Irt'tt'ndcZwciig verläufl hinter dem (bei Hexanchus fehleiulen) Sprilzloch-
52() Carl Gegeiibaiir,
kuorpel. Wenn derletztereaus einem Kiemenstrahl hervorging, wie ich aus
mehreren Thatsachen nachzuweisen vermag, so ist auch der genannte Ast
desFaciaHs mit dem vorderen Zweige eines Kiemennerven in völlig glei-
chem Verhalten, und der Facialis wird zum Nerven der in da^ß Spritz-
loch übergegangenen Kiementasche, die ihre vordere Stütze vom Kie-
menbogen empfangt. Der Ramus maxillaris inferior des Trigeminus ist
dann der hintere, vor den auf den Spritzlochknorpel reducirten Radien
eines Rogens verlaufende Zweig. So lässt sich also ein am Vagus be-
stehendes Verhalten in allmählichen Modificationen auf den Tiigeminus
fortverfolgen, und es treten damit scheinbar sehr entfernte Zustände
unter einander in die engste Verbindung.
Auch die Vergleichung der Wurzeln des Vagus bei Hexanchus mit
dem Verhalten anderer Selachier oder mit dem der Ganoiden und Kno-
chenfische bietet wichtige Ergebnisse. Während bei diesen zwei Wur-
zelportionen unterschieden werden, von denen die zweite hintere in
der Zahl ihrer einzelnen Stränge sehr wechselnde Verhältnisse dar-
bietet, ist bei Hexanchus eine solche Scheidung nicht durchführbar.
Eine vordere Portion, als von einer hinteren gesonderte Rildung, existirt
nicht. Wenn auch der vorderste Strang der Wurzelreihe (nämlich der
oben als obere Wurzeln unterschiedenen, denn die mehrfachen Paare
unterer Wurzeln wurden von den Autoren dem Vagus nicht beigezählt)
den nächstfolgenden an Stärke übertrifft, so ist doch diese Verschieden-
heit kaum bedeutender als die zwischen den übrigen Wurzelsträngen
wallende, daher sie kein Motiv für Aufstellung und Scheidung abgeben
kann. Auch durch die Lage der Austrittstelle aus der Medulla wird
das bestätigt, da diese in gleicher Höhe mit den übrigen Wurzelsträn-
gen sich vorfindet. Es ist also bei Hexanchus bezüglich dieses Verhal-
tens ein Zustand der Indifferenz gegeben, der nur einen niede-
ren Organisationsbefund erkennen lässt. Das bei anderen Selachiern,
und da anschliessend bei Ganoiden (Stör) undTeleostiern, sich findende
Verhaltender Vaguswurzeln bietet aber ausser der grösseren Differenzi-
rung, d. h. der minderen Gleichartigkeit der Wurzeln, noch eine Zusam-
menziehung dar. Da nicht angenommen werden kann, dass die grosse
Zahl der Wurzelstränge bei Hexanchus ausschliesslich durch die Ver-
mehrung der Kiemen bedingt sei, da vielmehr im letzteren Verhältnisse
selbst nur der theilweise Ausdruck eines niederen Zustandes liegt, so
wird die Vermehiung der Wurzeln als dem Fortbestehen einer Tren-
nung entsprechend zu deuten sein, von Gebilden, die bei andern, auf
einer höheren Stufe der Forlentwickelung, durch engere Verbindung
und endliche Verschmelzung unter einander neue anatomische Refunde
hervorgehen lassen. Die aus gleichartigen, nur allmählich von vorn
Ueber die Knpliiervcii von Hoxaiicliiis ii. ilirVt'iiiälliilss ziirVVirbeltheorie d. Schrulels. 527
nach liinUMi zu an Dicke ahnohincndcn Stränt^en zusamrnengosetzte
Wurzolreihe des Vagus bei Ilexanchus, ist also bei anderen Selachiern
in zwei Theile gesondert, die man als vordere und hintere Wurzel un-
terschieden hat. Die hintere, dem grössten Theile des Wurzelcomplexes
bei Hexanchus homologe, besitzt bei vielen Selachiern, vielleicht sogar
bei allen, deutliche Spuren ihrer Zusanunensetzung aus mehrfachen
Strängen, ja in Füllen sogar aus einer grossen Anzahl von solchen.
Diese Mehrzahl von Wurzc^Isträngen erhält sich discret bei Ganoiden
(Accipenser) und vielen Teleostiern, wie aus dem oben S. 517) gegebe-
nen Cilate aus Stannius zu ersehen ist. Die Reduction führte aber hier
])is zur Verschmelzung zu nur zwei Strängen.
Die Vergleichung der in Rede stehenden Wurzelreihe des Vagus
bei Hexanchus mit dem bezüglichen Verhalten bei andern Fischen lässt
also neben der Ausbildung eines vordem Stranges (vordere Wurzel von
Sta.n.mls), eine allmähliche Zusammenziehung der hinleren Stränge der
Wurzelreihe, eine Rückbildung in dei- Anzahl der Stränge erkennen,
woraus die sogenannte hintere Wurzel entsteht. Wenn hiebei auch
noch offene Frage bleibt, ob die »vordere Wurzel« in allen Fällen nur
.ms dem ersten stärksten Strange bei Hexanchus gebildet wird, oder
ob nicht noch einige der folgenden Stränge in sie eingehen, so ist doch
im Allgemeinen das Resultat der Vergleichung sicher, insofern sie eine
Reduction in der Anzahl, oder eine Zusammcnziehung der Wurzeln
nachweist. Ich möchte die letztere Auffassung deshalb betonen und
sie von der allgemeineren in dem Worte : Reduction sich ausdrücken-
den trennen, weil dem Regriffe der Reduction auch das materielle
Schwinden , der Verlust in einem andern Falle bestehender Theile,
innewohnt, während es sich in unserem Falle nicht um das Verloren-
gehen von Nervensträngen , nicht um deren gänzliche Rückbildung,
sondern nur um das Aufhören des von benachbarten gleichartigen Thei-
len getrennten Restehens handeln kann.
Eine analoge Erscheinung mit der, die wir eben aus der Verglei-
chung der oberen Wurzelreihe des Vagus nachweisen konnten, bieten
jene discret austretenden Fädchen dar, die ich oben als untere Wurzeln
des Vagus aufgefasst hatte. Wenn ich dabei auf den selbständigen Au.s-
Irilt aus der Schädelhöhle kein Gewicht legte und mich dadurch nicht
bestimmen liess, sie als Repräsentanten eines besonderen Nerven an-
zusehen, so geschah das vorzugsweise deshalb, weil bekanntlich auch
die oberen und unteren (resp. vorderen und hinteren) Wurzeln der
Spinalnerven bei den Haien getrennt die knorpelige Wand des Rück-
;:r;Ucanals verlassen. F^s ist also nichts Auffälliges, wenn an einem
Hirnnerven dasselbe wiederkehrt, ja der gegentheilige Fall wäre viel-
528 Carl Gegenbaur,
inehf auffallig zu nennen. Es liegt somit darin, dass (Jiese Nervenfäd-
chen nicht mit den oberen Wurzeln zusammen den Schädel durchsetzen,
kein Grund sie mit Stannius als »dem Vagus fremd« anzusehen. In wie
ferne aber der Umstand, dass jeder dieser Nerven flir sich austritt,
für die Vergleichung zu verwerthen ist, soll weiter unten besprochen
werden.
Die Vergleichung dieser ausserhalb desCraniums dem Vagusstamme
(d. h. dem aus der ol)eren Wurzelreihe zusammengesetzten Theile) sich
anschliessenden Nerven mit jenen anderer Haie lehrt uns wieder-
um eine Reduction der Zahl kennen , da bei jenen an der Stelle der
drei oder vier Fädchen von Hexanchus nur zwei vorhanden sind. Ob
auch hiebei eine Verschmelzung vorliegt, kann für jetzt nicht entschie-
den werden. Bestimmt ist nur, dass derselbe bei Hexanchus aus einer
grössern Zali! bestehende Fadchcncomplox bei andern Haien, wie Stan-
Nius angiebt, nur durch zwei Fädchen repräsentirt wird. Diese wenn
auch bezüglich der Anzahl schv^'ankende, den Haien zukommende Ein-
richtung kehrt mit anderen Modifurationen gepaart bei Teleostiern wie-
der, wenig.' tons glaube ich die von E. H. Weber i) beim Karpfen und
Wels zuersl aufgefundenen Nervenfädchen, die gelrennt von einander
von der Medulla hinter dem Vagus entspringen, hieher rechnen zu
dürfen, doch kann das nicht ohne nähere Prüfung der bezüglichen Ver-
hältnisse geschehen.
Der fragliche Nerv ist von E. H. Weber zuerst als Uypoglossus,
dann als Accessorius Willisii gedeutet worden. Erstere Deutung erfuhr
er wegen seiner Austrittsstelle durch ein seitlich von Foramen niagnum
befindliches Loch, und die spätere Auffassung stützte sich auf den
Verbreitungsbezirk des Nerven, der in der vorderen Musculatur des
Schultergürtels sich findet. Endlich ist der fragliche Nerv, zuerst von
Desmoulins^), für den ersten Spinalnerven erklärt worden, welche Mei-
nung sich bis in die neuste Zeit erhielt, wenn auch ihr Autor sie bald
mit einer anderen vertauscht hatte. F]in Spinalnerv, der von der Me-
dulla oblongata entspringt und durch den Schädel austritt, ist aber ge-
wiss ein höchst bedenkliches Ding, ebenso wie ein Accessorius Willisii,
der vordere und hintere Wurzeln besitzt. Dass derartige Deutungen
nicht durchgreifen können, hat zuerst Bischoff ^^) ausgesprochen. Nach
dessen Meinung entbehrt der WsBER'sche Nerv manche der Eigen-
1) De aiire et auditu hominis et aiiinialiuni. Lips. 1820. Ferner: Arcliiv f.
Anatomie und Pliysiologie. IS47. p. 307. 312.
i) Anatomie des Systeme nerveux des animaux ä vertebres. i'aris 1825.
3) Nervi accessorii Willisii Anatomia et Physiologia. Heidelbergae 1832. p. 51.
Uebcr die Koiifncrvcn von Hoxandiiis ii.ilirVoilirillniss '/iirWirlioltlioorio d. Scliädcls. 529
Schäften, die ihn zum Accossorius stempeln konnten. D;is ist vorzüg-
lich auf die Verbindung mit andern Nerven, z. B. mit dem Trigeminus
bei Cyprinus carpio, begründet, dann aber auch auf die Retheiligung
einer vom oberen Theile der Medulla oblongata austretenden Wurzel.
Letztere Thatsache erschwert zugleich die Vergleichung des WEBER'schen
Accessorius der Teleostier mit den beregten Nerven der Haie, die an-
dererseits duirh ihre Verbindung mit den Vagus von dem vorgenann-
ten Nerven verschieden sind. Somit besteht keine directe Verknüpfung,
und man möchte sich der Meinung hingeben, dass der WKBEß'sche Ac-
cessorius (so wird der fragliche Nerv zum Untei'schiede speciell vom
WiLLis'schen aufgeführt werden dürfen) der Teleostier ein gänzlich
neues Gebilde sei, sowie dass die vorderen (unteren) Vaguswurzeln bei
den Teleostiern verschwunden seien.
Einer solchen Meinung möchte ich jedoch nicht das Wort reden,
bevor triftige Gründe dafür beigebracht sind, die zugleich jede andere
Aufstellung ausschliessen. In der That kann eine Auffassung gefunden
werden, welche die bei Teleostiern und bei Haien bestehenden Ver-
hältnisse in Einklang bringt, ohne der misslichen Voraussetzung vom
Verschwinden und Neubilden zu bedürfen. Nehmen wir nämlich den
V^'EBEft'schen Accessorius der Teleostier als einen Theil des gesammten
Vagus der Haie an, als eine aus dem letzteren entstandene Sonderung,
welche die auf einen Faden reduzirten unteren Wurzeln, sowie den
gleichfalls auf einen Nervenfaden reduzirten hinteren Abschnitt der
oberen Wurzelreihe des Vagus in sich begreift, so vermag man der
Lösung jener Frage auf anderem Wege entgegenzukommen. Die Factoren,
mit denen dabei gerechnet wird, sind bekannte, schrittweise verfolg-
bare Verhältnisse : Erstlich Reduclionen in der Zahl von Nervenwur-
zeln, und zweitens die Auflösung eines Nervencomplexes in mehrere.
Dem Vagus der Teleostier bliebe dann der gesammte vordere Abschnitt
der oberen Wurzel reihe, deren hinterer Abschnitt vom vorderen ge-
trennt, mit einem der vom unteren Theile der Medulla oblongata kom-
menden Fädchen in Verbindung tritt. Was den selbständigen Austritt
des so zu Stande gekommenen Accessorius Weberi der Teleostier
angeht, so ist zu beachten, dass die AustriltsöfTnungen der unteren
Wurzelfäden des Vagus der Haie zwar etwas unterhalb, aber auch
median zur Auslriltsstelle des Hauptstammes des Vagus gelagert sind.
Nimmt man an, dass diese Austriltscanälchen zu einem einzigen zu-
sammenfliessen , und dass den durch dieses auspassirenden Nerven
auch noch der hinterste, auf ein Fädchen reduzirte Theil der oberen
Wurzelreihe sich zugesellt, so erhält man einen median vom Vagus,
lateral vom Foramen occipitale niagnum austretenden Nerven. Diese
R.l. VI. i. 3G
530 Carl Gegeiibaur,
Auffassung macht zugleich die von Bischoff nachgewiesene Verbindung
des WEBER'schen Accessorius mit dem Vagus beim Karpfen verständ-
lich, und es wartet nur noch die Verbindung mit dem Trigeminus wei-
terer Aufschlüsse.
Durch die genannte Verbindung des WEBER'schen Accessorius mit
dem Vagus wird keine Instanz zu Gunsten einer Homologie mit dem
Accessorius Willisii gewonnen. Dieser Nerv der höheren Wirbelthiere
ist bei Hexanchus offenbar durch den 'hinteren Abschnitt der oberen
Wurzelreihe des Vagus repräsentirt, ist noch ein Theil des Vagus selbst.
Die Vergleichung des Verhaltens bei Hexanchus mit dem von Reptilien,
z. B. der Schildkröte nach den Darstellungen von Bojanus, von anderen
Reptilien nach Bischoff, Bendz , Fischer u. A. lässt wohl kaum einen
Zweifel daran. Vagus ^und Accessorius Willisii zusammen bieten hier
übereinstimmende Verhältnisse mit der oberen Wurzelreihe des Vagus
von Hexanchus. Wenn aber der den Accessorius Willisii repräsenti-
rende Theil des Vagus der Haie, wie wir oben deduzirten, bei den Te-
leostiern in dem WEBER'schen Accessorius , und zwar nicht für sich,
sondern in Verbindung mit vorderen Vaguswurzeln der Selachier zu
suchen ist, so folgt daraus, dass den Teleostiern ein gesonderter Acces-
sorius Willisii abgeht, dass diese Fische also auch hierin aus der auf-
steigenden Reihe der Wirbelthiere sich entfernen.
Der WEBER'sche Accessorius der Knochenfische ist somit zwar als
ein neuer Nerv oder vielmehr als eine neue Gombination eines Nerven
anzusehen, aber die Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, sind
nicht für neu zu halten. Der Nerv ist daher keine vollständige Neubil-
dung. Seine Wurzeln finden sich im Vagus der Haje vor, in den hin-
teren Fäden der oberen Wurzelreihe und in den unteren Wurzeln.
Für diese unteren Wurzeln des Vagus von Hexanchus, welche bei
den Teleostiern insoferne einige Selbständigkeit gewonnen haben, als
sie nicht mehr in der Bahn des Vagus verlaufen, wird bei den höheren
Wirbelthieren ein grösseres Maass der Sonderung geboten. Sie stellen
hier den Hypoglossus vor, dessen Verbreitungsbezirk wenigstens
theilweise dem Gebiete entspricht, welches vom WEBER'schen Accesso-
rius versorgt wird.
Die Entstellung des Hypoglossus aus dem bei Hexanchus gegebe-
nen Verhalten setzt zunächst eine Vereinigung der unteren Wurzeln des
Vagus, und einen unter sich gemeinsamen, aber im oberen Wurzel-
complexe des Vagus getrennten Austritt aus dem Schädel. Wenn die
bei Hexanchus bestehenden einzelnen Canälchen, welche den vorderen
Vaguswurzeln zum Durchlass dienen, zu Einem Loche zusammenflies-
sen, so wird derselbe median vor dem Austritte des Hauptstammes des
Ueber die Kopfiierveii von Iloxaiiclnis ii. ihiVcrliriltiiiss ztirWirbeltlieorie d. Scliädels. 531
Vagus und lalcral und etwas unterhall) des Foramen magnum gelegen
sein, und damit der Auslrittsslelle des Ilypoglossus höherer Wirbel-
thiere entsprechen. Anscheinend möchte diese Durchtrittsslelle der
Austrittsöffnung des WEBEu'schen Accessorius der Teleoslier homolog
gelten. Diese Annahme ist aber deshalb bedenklich, weil hier noch
obere Wurzeln mit vorkonunen , so dass es wahrscheinlicher wird,
dass die Einrichtung bei den Teleostiern auch bezüglich der Austritts-
stelle des Accessorius Weberi eine neue ist, d. h. aus einem Sonde-
rungsvorgang einer anfanglich alle Wurzeln des Vagus gemeinsam
durchlassenden Oeffnung entstand. Man kann das in folgender Weise
sich vorstellen : die bei den Haien bestehenden Austrittscanälo der un-
teren Vaguswurzeln haben sich mit dem Canale vereint, durch welchen
der durch die oberen Wurzeln gebildete Hauptslamm des Vagus aus-
tritt, so dass dadurch E i n Nervenstamm und eine einzige Austrilts-
öffnung für den gesammlen Vaguscomplex besteht. Allmählich sonderte
sich der Vagusslamm in zwei Theile, einen grösseren vorderen, der aus
dem vorderen Abschnitt der oberen Wurzelreihe und ihren Modifica-
tionen sich formte, und einen hinleren kleineren Nerven, der die un-
teren Wurzeln, und einen Theil, den hinteren, aus der obern Wur-
zelreihe empfängt. Indem sich für jede dieser beiden Portionen eine
besondere Austrittsöffnung aus der gemeinsamen bildete, verlassen sie
als discrcle Nerven den Schädel, und der eine, vordere, stärkere stellt
den Vagus, der andere, hinlere, schwächere, den WEBEa'schen Acces-
sorius der Knochenfische vor.
Der Vagus von Hexanchus bietet diesen meinen Deutungsversuchen
gemäss die Elemente für zwei Nerven der Teleostier, für den Vagus
und den Weber sehen Accessorius , welche letztere die Elemente des
Hypoglossus und des Accessorius Willisii höherer Wirbelthiere in sich
schliesst; daher fehlen die beiden letztgenannten Nerven den Teleostiern.
Im Vagus von Hexanchus finden sich also dieser Auffassung ge-
mäss die Elemente für drei Nerven der höheren Wirbelthiere M. Er
1) Die Verhältnisse dieser Nerven liegen bei Amphibien, Reptilien, Vögeln
und Säugethieren etwas verschieden. Bei den Amphibien fehlt ein Hypoglossus als
Hirnnerv, es fehlt der Nerv, den wir sonst als Hypoglossus bezeichnen, denn der
erste Spinalnerv kann eben ein für allemal nicht Hypoglossus sein, es müsste denn
das Cranium eine mindere Ausdehnung besitzen, wofür kein Grund zur Annahme
besteht. Wir werden also nur sagen können, dass der erste Spinalnerv in der
Bahn des Hypoglossus sich verbreitet. Die Beachtung des Umstandes, dass das
Eingehen der vordersten Spinalnerven in den Hypoglossus bei Reptilien verbreitet
ist, dass auch bei Säugethieren der erste Spinalnerv mit dem Hypoglossus gleich
nach dessen Austritt vor der Schädelliöble Verbindungen eingeht, macht verständ-
36*
532 Carl Gegcnbaur,
repräsenlirt den Vagus, den Accessorius Willisii und den Hypoglossus.
Daher fehlt den höheren Wirbellhieren ein Nerv, der dem WEBEn'schen
Accessorius der Teleoslier entspräche. —
"Während durch die bisher geführten Vergleichungen die Beziehun-
gen des Vagus der Selachier im Allgemeinen und von Hexanchus ins-
besondere zu Nerven anderer Wirbelthiere aufzudecken versucht wurde,
erübrigt noch das Verhalten des Vagus zum Visceralskelete und seinen
Adnexis zu beurtheilen. Die thatsächliche Unterlage hiezu ist bereits
oben geliefert worden. Die beiden vor dem Vagus den Schädel ver-
lassenden Nervus' facialis und glossopharyngeus finden sich für je einen
Bogen des Visceralskelets bestimmt, der Facialis für den Zungenbein-
bogen, der Glossopharyngeus für den ersten Kiemenbogen. Von dem
Vagus finden sich dagegen bei Hexanchus fünf, bei den übrigen Sela-
chiern (mit Ausschluss von Heptanchus) vier Kiemenbogen versorgt.
Da tritt die Frage heran, ob diese Beziehung des Vagus zu mehrfachen
Kiemenbogen, nicht als der Ausdruck einer Verbindung mehrfacher ur-
sprünglich discreter Nervenstämme zum Einen Vagusstamm betrachtet
werden könne.
Ausser von dem peripherischen Verhalten des Vagus wird jene
Frage noch angeregt durch die bei andern Wirbellhieren vorkommende
Verbindung des Glossopharyngeus mit dem Vagus, und des Facialis mit
demTrigeminus. Wie diese bei Selachiern getrennt bestehenden Nerven
sich zu einem Stamme verbunden haben, so kann auch im Vagus der
Selachier ein Complex von Nerven vorliegen, die in früheren Zuständen
sich ebenso discret verhielten , wie der Glossopharyngeus und der
Facialis der Selachier es noch ist. Daraus mag die Berechtigung jener
Frage sich herleiten lassen.
lieh, dass unter gewissen bis jetzt noch nicht ermittelten Voraussetzungen der Hy-
poglossus durch den R. anterior eines Spinalnerven vertreten sein kann. Bei
den Crocodilen geht von den zwei Wurzeln des Hypoglossus eine in das Vagus-
ganglion, eine andere setzt sicli zum Hypoglossusstamme fort, nachdem derselbe
aus den erwähnten Ganglien einen Verbindungszweig erhalten. Bei Varanus (V.
bengalensis) besteht eine Verschmelzung mit dem Vagus (Fischer). Der Hypo-
glossus bietet demnach hier noch niedere Verhältnisse dar. Die peripherische Ver-
bindung mit dem Vagus ist übrigens noch auch da, wo Austritt und Verlauf des
Nerven discret erscheint, allgemein vorhanden. So bei den Vögeln und auch bei
den Säugethieren, bei welch letzteren der Plexus nodosus des Vagus einige Hypo-
glossusfäden zu empfangen pflegt. ^„ Die beim Menschen zuweilen vorkommende
Trennung des dem Hypoglossus zur Austrittsöffnung dienenden Foramen condyloi-
deum in zwei Löcher erklärt sich aus der Zusammensetzung der Hypoglossus-
Wurzeln aus vorderen Wurzeln mehrerer Nerven, die selbst noch bei Reptilien
in ansehnlichen Abständen die Medulla oblongata verlassen. Auch bei Vögeln kom-
men mehrfache discret austretende Wurzeln vor.
Ut'bor die K'o|iriieivoii von llcxiiiirlius ii. ilirVcrliiillniss ziirNViibelllicorie d. Scliädels. 533
Für die Begründung dor noch als Frage dargestellten Anschauungs-
weise dienen folgende Punkte :
1) Das Ursprungsverhalton, resp. der Austritt des Vagus aus der
Medulla oblongata geschieht in der oberen Wurzcireihe, obgleich die
einzelnen Stränge, namentlich die stärkeren, dicht aneinander lagern,
doch in von einander getrennten Bündeln, und eine engere Verbindung
derselben untereinander findet erst auf dem Wege durch das Granium
statt.
2) Der erste Kiemenast des Vagus ist selbständiger als die übrigen ;
er vermittelt dadurch das Verhalten der letzteren zu einem vollständig
discreten Nerven. Das Zusammentreten einer Anzahl ursprünglich dis-
creter Nerven zu Einem nicht weiter zerlegbaren Stamm, erscheint
demnach hier noch mit einem Uebergange zu dem ersten Zustande, der
schon bei anderen Selachiern, wie sonst, einer vollständigeren Verbin-
dung gewichen ist.
3) Den Austrittsstellen der einzelnen Nervenstränge entspricht
eine Reihe von Ganglien, d'ie in den Raum der Sinus rhomboidalis
einragen. Diese Anschwellungen weisen deutlich auch auf getrennte
Ursprungsställen der bezüglichen Nerven hin.
4) An den unteren (vorderen) getrennt aus dem Granium tretenden
Wurzeln des Vagus ist die Selbständigkeit noch vollständiger erhalten.
Sobald wir diese Nerven zum Vagus rechnen, den sie ausserhalb des
Granium, gleichwie den oberen Wurzeln der Rückenmarksnerven die
unlern Wurzeln derselben ausserhalb des Rückgrates, sich zugesellen,
bleibt keine andere Auffassung des Vagus möglich, als jene, die ihn
aus mehrfachen, ursprünglich getrennten Nerven ent-
standen annimmt. Die Verschiedenheit der Anzahl der obern und
unlern Wurzeln bildet dabei keinen Gegengrund, da ja die Vollständig-
keit der fraglichen Wurzeln keineswegs behauptet ist, und auch an
diesen Wurzeln selbst innerhalb der Selachiergruppe eine Reduclion in
der Zahl erweisbar ist. Auch an Spinalnerven ist das Fehlen von Wur-
zeln beob achtet. Bei manchen Sauriern fehlen die obern Wurzeln der
ersten Spinalnerven , und zu gänzlichem Mangel einer Wurzel füh-
rende Reductionen des Volums derselben gehören nicht zu den seltenen
Erscheinungen.
Wenn wir mit der Erwägung dieser einzelnen, die bezüglichen
Thatsachen umfassenden Punkte die peripherische Verbreitung des Vagus
an dem Kiemenbogengerüste in Zusammenhang bringen, wird sich die
vorgetragene Auflassung zu einer wohl begründeten Hypothese gestal-
ten, die uns die Beziehungen des Vagus zu andern Hirnnerven sowie
zu den Spin;»Inerv(>n klarer erscheinen liisst.
534 Carl Gegenbaur,
Wir betrachten demnach den Vagus aus einem Complexe ursprüng-
lich discreter Nerven entstanden, deren Rami ventrales für die hinte-
ren Bogen des primitiven Visceralskeletes bestimmt sind. Die Reihe
der oberen Wurzeln erhält sich nur am Ursprünge gesondert, und ver-
einigt sich auf dem gemeinsamen Durchtrilte durch den Schädel zu
Einem Stamme. Die unteren Wurzeln dagegen, an Zahl gegen die
oberen reduzirt, behalten ihren discreten Verlauf durch das Cranium,
und wiederholen in diesem Verhalten jenes der unteren Wurzeln der
Spinalnerven.
Die Zahl der spinalnervenartigen Theile des Vagus ist weder aus
den Wurzeln noch aus dem Verhalten des Stammes zu ersehen, da-
gegen ist sie erschliessbar aus der Zahl der Visceralbogen, welche vom
Vagus versorgt werden.
Was die übrigen grossen Aeste des Vagus, den Ramus lateralis,
sowie den vom Stamme der Kiemenäste abgehenden Ramus intestinalis
betrifft, so lasse ich dieselben hier ausser Beurtheilung, da durch eine
solche die Erreichung des mir gesteckten Zieles weder gefördert noch
gehemmt wird.
3. Schlussbetrachtungen über das Verhältniss der
Hirn nerven zum Kopfskelet.
Mehrfach ist der Versuch gemacht vvorden, die Kopfnerven mit den
Spinalnerven zu vergleichen und dabei an den ersteren Einrichtungen
nachzuweisen, welche in letzteren von allgemein durchgreifender Gel-
tung sind. Man lernte so llirnncrven kennen, welche »nach dem Typus
der Spinalnerven« gebaut sind, und unterschied diese von denjenigen
Hirnnerven, welche jenen Typus nicht erkennen lassen. Von grösstem
Einflüsse auf jene Auffassung der Nerven war die Vorstellung, welche
nmn sich von der Zusammensetzung des Schädels aus Wirbeln machte.
Da die Annahme von drei oder vier solcher Wirbel die verbreiteste,
von den bedeutendsten Anatomen aufrecht erhaltene war, musste die
Zahl der »spinalartigena Hirnnerven auch eine dem entsprechende, so-
mit geringe sein. Drei verlebrale Kopfnerven nahm bekanntlich Joe.
Müller an, den Trigeminus als ersten, den Vagus, Glossopharyngeus
und Accessorius Willisii zusammen als zweiten , und als dritten den
Hypoglossus. Dass hiebei die höchsten Wirbellhierformen den Aus-
gangspunkt abgeben, ist deutlich genug erkennbar.
Was von vielen Andern noch über diesen Punkt geäussert ward,
will ich übergehen, und nur Stannius sei noch erwähnt, der in seiner
mehrfach citirten Arbeit für Herstellung eines anderen Ausgangspunk-
Ucber die Kopfiierveii von Hoxnntlins ii. ilirVciliältniss ziirWirbeUheorie d. Schädels. 535
tcs eine breite und feste Grundlage geliefert hatte. Aber auch Stan-
NiL's kommt nur zu di-oi Nerven, die freilich andere sind als jene Jon.
Müller's. Auf den llinlerhauptswirbel kommen nach Stannils drei
Nerven, der erste Spinalnerv, der N. vagus und der Glossopharyngeus,
auf den zweiten einer, der N. facialis, und auf den vordersten wieder
einer, der N. trigeminus. Es waren hiebei nur die Beziehungen der
Nerven zur Schädelkapsel, nicht zum Visceralskelct berücksichtigt. Die
Belrachtu/ig des Verhältnisses der ventralen Aeste der spinalartigen
llirnnerven zu den Visceralbogcn schien auch Stannils fruchtbarer.
Aber da der Zusammenhang des Visceralskeletes mit dem Cranium nicht
als nothwendig angenommen, und auch nicht aufgesucht ward, fand
sich ein eigenthümliches Endergebniss, und die mangelnde üeberein-
stimmung der Schädelwirbel mit den Bogen des Visceralskelets fand in
den Nerven ihre Bestätigung, Es ergiebt sich also das Bestehen eines
Missverhältnisses zwischen den sogenannten Schädelwirbeln und den
Visceralbogcn, oder es wird angenonmien werden müssen, dass die letz-
teren den Schädelwirbeln fremde Gebilde sind. Im letztern Falle wird
der Ramus ventralis eines Hirnnerven etwas ganz anderes sein müssen,
als derselbe Ast eines Spinalnerven, der letztere geht zu einem zum
betreffenden Wirbel gehörigen Abschnitte des Körpers, der erstere da-
gegen tritt an einen Theil der nicht zu demjenigen Wirbel gehört, zu
dem der betreffende Nervenstamm Beziehungen besitzt. Wenn sich
nun ein Nervenast nur nach dem Theile bestimmt, zu dem er sich ver-
breitet, so liegt die Verschiedenheit der beiden verglichenen Rami zu
Tage, Damit wird der Vergleichungsversuch hinfällig, und es könnte
sich fragen, ob dann mit der Kenntniss dieser oder jener Spinalnerven-
Eigenthümlichkeit an diesem oder jenem Cerebralnerven viel gewonnen
sei. Und doch ist es so ! Haben sich uns doch hierin, wenn auch nur
vereinzelte Spuren zur Erkenntniss des Ganzen erhalten, Spuren, die
uns immer wieder zu neuen führen und uns vom Groben und Augen-
fälligen zum Feinen und Verborgenen leitend uns allmählich den Sinn
schärfen zur Wahrnehmung des Bedeutungsvollen selbst in unansehn-
lichen Resten,
Theilweise ist bereits in der vorhergehenden Abtheilung dieser
Arbeit auf die Vergleichung von Hirnnerven mit Spinalnerven hinge-
wiesen worden, bei einigen näher und schärfer, bei anderen mehr nur
von der Ferne, je nach dem Grade, in dem das betreffende Verhältniss
hervortrat.
Dagegen will ich jetzt versuchen, jene Vergleichung mit Beziehung
auf das Kopfskelet weiter zu führen, und den Facloren , welche aus
dem Verhalten des letzteren sich als einflussreiche für die Umgeslallung
536 C'irl Gegenbaur,
der ursprünglichen Beziehungen erkennen lassen, besondere Rücksicht-
nahme schenken. Indem ich von den Selachiern, speciell von He-
xanchus, ausgehe, befinde ich mich in dem günstigen Falle, nicht
durch »Schädelwirbel« gehindert zu sein in der Beziehung des Visceral
skelets auf das Cranium. Diese Beziehungen bilden den Angelpunkt
der Frage. Gehört das Visceralskelet nicht dem Cranium an , so ist
jeder Vergleichungsversuch an den Nerven verlorene Mühe, denn
wird dann unmöglich zur Einsicht in eine Organisation zu kom-
men, die mit dem Verhalten des hinteren Axenskeletes Aehnlichkeit
besitzt, und aus derartigen Bildungen, wie wir sie an der Wirbelsäule
und ihren Anhängen finden, entstanden gedacht werden kann. Fragen
wir also zuvörderst, ob und welche Gründe bestehen, die das Visceral-
skelet zum Cranium gehörig betrachten lassen. Dass diese zusammen-
gehörige Theile sind, lehren zunächst die bei Notidaniden conslanlen
Verbindungen zweier Visceralbogcn mit dem Cranium, es ist der Kie-
fer- und der Zungenbeinbogen, die dem Cranium articuliren, und von
dem nur der letztere dieses Verhältniss in den höheren Abtheilungen
noch beibehält ').
Dass aber auch die anderen Visceralbogcn dem Cranium zugehö-
ren, kann zunächst aus den ihnen zukommenden Nerven ersehen wer-
den, die sämmllich von dem im Cranium liegenden Theile des centra-
len Nervensystems stammen, und sämmllich die Schädelwand durch-
setzen. Der Nachweis der die Ablösung eines Theiles des Visceralske-
lets bedingenden Momente wird im Stande sein können, die Anschau-
ung von der Zusammengehörigkeit zum Cranium zu befestigen. Ver-
gleichen wir den Kieferbogen mit dem Zungenbeinbogen, oder einem
der Kiemenbogen, so tritt uns zunächst die bedeutende Volumenver-
schiedenheit entgegen. Die beiden mächtig entwickelten Gliedstücke
diesesBogens — Palaloquadratum oder Oberkieferstück, und das Unter-
kieferstück — mit den ihnen aufgelagerten ansehnlichen Muskeln (vergl.
Fig. i) werden die dahinter gelegenen Bogen beeinträchtigen und sie
aus der queren in eine mehr schräge Richtung versetzen. Mehr als
die Vergrösserung des Kieferbogens \\ird noch eine ungleichgradige
1) Die Aiticulationsslelle des Kielerbogens der Notidaniden ist nicht das ge-
wöhnliche, fast allen Haien zukommende, durch einen aufsteigenden Fortsatz des
Palaloquadratum gebildete Gelenk an der Schädelbasis, oder am Orbitalboden, sie
findet sich vielmehr am oberen postorbitalen Schädeltheile vor, in ziemlich gleicher
Höhe mit dem Gelenke des Hyomandibularstückes. Dass auch noch ein dritter
Visceralbogen bei den Notidaniden bleibende Schädelverbindung besitzt, ist sehr
wahrscheinlich. Auf diese Verhältnisse kann hier jedoch nicht weiter eingegan-
gen werden.
lieber die Kü|irii('iveii von llcxaiicliiis ii. ilirVeiliillliiiss zur Wiihiltlieorie d. Stliätlels. 537
Yoliiniszunahuie j(>ner hinteren Visceralbogcn (Kiemenbogen) und des
dazu gehörigen Abschnittes des Granium wirksam gewesen sein, der-
gestalt, dass letzterer mit der Entfernung der Visceralbogen nicht glei-
chen Schritt hiilt. In diesem Falle wird eine Ablösung der Bogen vom
Granium erfolgt sein müssen. Da aber der am Schädel sich stützende
Zungenbein- und Kieferbogen eine Verschiebung der abgelösten Bogen
nach vorne zu nicht gestaltet, so ist die Richtung nach hinten die ein-
zige , in welcher Verschiebung Platz greifen konnte. Die vom Gra-
nium abgelösten Bogen werden also hinter das Granium zu liegen
konunen, wodurch der Schein von Beziehungen der Kiemenbogen zur
Wirbelsäule verbreitet wird. Die Entfernung der Kiemenbogen vom
Schädel und ihre Lagerung hinler denselben kann nicht ohne Einfluss
bleiben auf die für sie bestimmten Nerven. Wenn wir annehmen, dass
der austretende Nerv unmittelbar an seiner Austrittsstelle den ihm zu-
kommenden Körperabschnitl (Metamer) findet, wie solches für die Spi-
nalnerven, mit Ausnahme der eben durch die Visceralbogen erzeugten
Störungen der Fall ist, so werden bei bestehender Verbindung der Vis-
ceralbogen mit dem Granium die austretenden Nerven einzeln die Schä-
delwand durchsetzen können. In diesem Falle findet sich der zum Zun-
genbeinbogen tretende Facialis, sowieauch noch der zum ersten Kiemen-
bogen gelangende Glossopharyngeus. Letzterer ist wohl nur deshalb dis-
crelen Verlaufs, da der, wenn auch abgelöste Bogen doch dem Schädel noch
nahe liegt. Je weiter dagegen nach hinten die Kiemenbogen folgen,
desto mehr werden sie sich von der Austrittsstelle der bezüglichen Ner-
ven entfernen, und desto mehr werden die letzteren enger sich anein-
ander schliessen, und auf ihrem Wege von der Medulla oblongala zur
Austriltsstelle aus dem Schädel convergiren müssen. In dieser Be-
ziehung wird man sich vorstellen können, dass gelrennte Nerven all-
mählich ihre Austritlslöcher zusammenfliessen lassen werden, je weiter
entfernt von der Austrittsstelle nach hinten zu sie ihren Verbreitungs-
bezirk finden. Im Befunde des Vagus von Hexanchus drückt sich diese
Beziehung recht deutlich aus (vergl. Fig. 1). Die Vaguswurzeln con-
vergiren sämmllich nach hinten. Denkt man sie sich einzeln aus dem
Schädel gelangend unter Vergrüsserung resp. Verlängerung des bezüg-
lichen Theiles des Graniums, so wird man schliesslich zu einem Ver-
halten der Kiemenbogen zum Granium kommen , welches wir vorhin
voraussetzten, und welches jenem entspricht, das noch am Zungen-
beinbogen fortbesteht.
Die angenommene Voraussetzung findet demgemäss in dem that-
sächlichen Verhallen der Nerven ihre volle Bestätigung. Als ein Ein-
wand kann aber noch das Verhalten der unteren Vaguswurzeln dienen.
538 Carl Gegenbaur,
Man könnte in dieser Hinsicht sagen : ist die Verbindung der einzelnen
zu den Kiemenbogen tretenden Nervenstränge, welche die obere "Wur-
zelreihe des Vagus darstellen, zu einem einzigen den Schädel durch
einen einzigen Canal verlassenden Nervenstamm durch eine Verschie-
bung der Kiemenbogen nach hinten erfolgt, so müsste das gleiche Ver-
halten auch an den unleren Wurzeln stattgefunden haben. Diese tre-
ten jedoch getrennt aus dem Schädel. Der oben angenommene Einfluss
der Verschiebung der Kiemenbogen hat also hier keine Aeusserung ge-
funden, daher der aufgestellte Causalnexus zwischen Lagerung der
Kiemenbogen und Zusamnienfliessen von Nervensträngen mindestens in
Zweifel zu ziehen ist.
Hiegegen bemerkeich: I) dass jene unteren Vaguswurzeln deshalb
nicht in völlig gleichem Verhalten wie die oberen sich treffen können,
weil sie an Zahl viel geringer sind; 2) dass bis zu einem gewissen
Grade in der That dasselbe Verhällniss sich gegeben findet, insoferne
die Convergenz der bezüglichen Nerven nach hinten gleichfalls besieht.
Die Austriltsstellen liegen einander näher als die Eintrittsstellen in die
Schädelwand, und letztere sind wieder näher an einander als die Aus-
Irittsstellen aus der Mcdulla oblongala. Je weiter diese einzelnen Stel-
len nach aussen lagern, desto weiter sind sie nach hinten gerückt. In
Beachtung dieses Verhallens erkennen wir also das Gleiche wie an den
oberen Wurzeln, und wenn der Verlauf durch die Schädelwand doch
ein isolirler bleibt, so ist zur Erklärung dieses Umstandes die geringere
Zahl der schwachen Nervenfädchen vollkommen genügend. Wir sehen
demnach in dem Befunde der unteren Wurzeln nicht nur keinen Grund
gegen unsere Annahme, sondern finden vielmehr in ihm eine Bestäti-
gung derselben, da er damit in vollem Einklänge steht.
Dieselbe Uebereinslimmung ergiebt sich im Verhalten der vorder-
sten Spinalnerven. Dieselben senden ihre Rami dorsales zum dorsalen
Seitenrumpfmuskel empor, lassen aber die Rami ventrales nach hinten
treten, und zwar gleichfalls unter bedeutender Convergenz. Die End-
verbreitung dieser R. ventrales findet erst hinler deren Kiemengerüste
statt, und die von den einzelnen Nerven zurückzulegende Wegeslrccke,
auf der keine Verzweigung statt hat, ist um so länger, je näher dem
Cranium die Nerven aus dem Rückenmark austreten. Diese Verlaufs-
verhältnisse lassen erkennen, dass die Verbreitungsbezirke der Rami
ventrales der genannten Spinalnerven von der ursprünglichen Lagerung
sich entfernt haben müssen , sie sind nach hinten gerückt , und ihre
Stelle wird von den Kiemenbogen eingenommen, die ihre Nerven von
dem Cranium beziehen und denselben dcmgemäss einen ähnlichen nach
hinten gerichteten Verlauf zutheilen musslen.
lieber die Koplnervcn von Hexanclius ii. ilirVerliaKiiiss zurWirbelllieorie d. Schridels. 539
Aus der Summe aller dieser Thatsachen ergiebt sich, dass im Va-
gus eine Mehrzahl ursprünglich discrcler Nerven vorliegt, die sich den
Spinalnerven homolog verhallen, die aber Iheils durch die Lageverän-
derung des von ihnen versorgten Abschnilles des Visceralskeleles, theiis
durch Ungleichmässigkeit der Volumsentfaltung des betreffenden Ab-
schnittes des Cenlralnervensyslenis und der dasselbe umschliessenden
Skelotbiidung im Vergleiche zu dem dazugehörigen Theile des Visceral-
skeleles, allmählich zu einem einzigen Nervenstamme zusammengetre-
ten sind. Wir sehen also den Vagus nicht als einem ein-
zigen Spinalnerven, sondern als einer Summe von sol-
chen homodynam an. Consequent muss dann auch der die Va-
guswurzeln tragende Theil der Medulln oblongata einem, eine grössere
Anzahl von Spinalnerven Ursprung gebenden Abschnitte des Rücken-
marks verglichen werden. Da aber jene Strecke der Medulla oblongata
kürzer ist als eine selbst nur drei Spinalnerven entsendende Strecke
des Rückenmarks, so stellt sich aus dem Vergleiche mit letzterem für
die Medulla oblongata eine Zusammenziehung heraus, die uns zugleich
die dichte Folge der austretenden Vaguswurzeln verständlich macht.
Diese Verkürzung eines Abschnittes des Gentralnervensystemes verlangt
einen ähnlichen Vorgang für den es umschiessenden Abschnitt des Cra-
niums, wofür gleichfalls Belege beigebracht werden können. Vor Allem
ist dieser Vorgang der Verkürzung an beiden Theilen nachweisbar. Er
besteht nämlich in einem gewissen Maasse im Verlaufe der Onlogenie,
wie mich Messungen der bezüglichen Theile an Embryonen von Acan-
ihias und die Vergleichung mit erwachsenen Thieren gelehrt haben.
Dem Einflüsse dieser Verkürzung muss somit für die Verschiebung des
Visceralskeletsnach hinten die grösste Bedeutung zugeschrieben werden.
Wie gross die Anzahl der zur Bildung des Vagus zusammengetre-
tenen Nerven ist, wird sich am sichersten aus der Anzahl der zu den
bezüglichen einzelnen Melameren des Körpers tretenden Nervenäste
bestimmen lassen. Als solche Melameren erscheinen die Bogen des
Visceral skelels, hier die Kiemenbogen. Da nun der Vagus bei Hexan-
chus fünf Kiemenbogen versorgt, werden wir fünf im Vagus verschmol-
zene Nerven annehmen müssen. In Anbetracht des intervertebralen
Verhaltens der Spinalnerven wird der erste, auch noch einen Ast zum
Zungenbeinbogen sendende Ramus ventralis (resp. R. branchialis) jenem
der problematischen Nervenstämme angehören, der zwischen der Verbin-
dung des Zungenbeinbogens und des ersten Kiemenbogens seinen Aus-
tritt aus dem Cranium hatte, und die übrigen dann in entsprechender
Weise. Dass bei Heptanchus, wo die Zahl der Kiemenbogen um einen
vermehrt ist, nicht die Zahl der den Vagus zusammensetzenden Nerven
540 Carl Gegenbaiir,
als eine entsprechend höhere anzusehen, erscheint als wahrscheinlich.
Ob sie ebenso bei den übrigen, mit nur fünf Kiemenbogen versehenen
Selachiern ais eine verminderte zu gelten hat, ist dagegen in hohem Grade
fraglich. Das Vorkommen eines rudimentären sechsten Kiemenbogens
liesse schliessen, dass eine höhere Zahl der in Rede stehenden Bogen
nicht blos allgemeiner verbreitet war, sondern dass vielmehr jene mit
beschränkterer Zahl der Bogen von solchen mit zahlreicheren Bogen
abstammen, dass die Minderung daher keine ursprüngliche, sondern
eine innerhalb des Selachierstammes erworbene ist. Jenes von Stannius
angegebene Rudiment ist jedoch nicht nachweisbar. Wie also für die
mit nur fünf Kiemenbogen versehenen Selachier eine ursprünglich grös-
sere Zahl von Kiemenbogen, vorläufig nur aus dem Vorkommen eines
ausgebildeten sechsten (Hexanchus), oder sogar eines ausgebildeten
siebenten (Heptanchus), angenommen werden darf, so ist auch das
Gleiche bezüglich der Nerven vorauszusetzen. Dass die Minderung der
Bogenzahl keine plötzliche war, etwa gleich bei der ersten Embryonal-
anlage dieser oder jener Form entstandene, möchte aus der Art anderer
Reductionen zu erschliessen sein, und ich darf unterlassen, die hiefür
bestehenden sonstigen Gründe aufzuführen. Gehen wir davon aus,
und erkennen die Rückbildung als einen von Individuum auf Indivi-
duum durch Generationen sich bildenden , durch bestimmte Bedin-
gungen erhaltenen und stelig umsichgreifenden Vorgang, der so-
mit in der Generationsreihe erworben wurde, so ist, da der gleiche
Vorgang auch für die bezüglichen Nerven gellen muss, die Annahme
einer die Kiemenbogenzahl übertreffenden Anzahl von discrelen Nerven
im Vagusslamme für die eine geminderte Kiemenbogenzahl besitzenden
Selachier nothwendig, sie ist nothwendig eben weil wir jene einen
reicheren Kiemenapparat besitzenden Formen als Stammform oder doch
als solche die jener nahe stehen, betrachten müssen. Ob bei Rückbil-
dung der R. branchiales auch bezüglich der als Va'guswurzeln erschei-
nenden Nervenslämme eine Reduction Platz gegriffen, ist für jetzt nicht
bestimmbar; nothwendig ist ihre Annahme deshalb nicht, weil aus
dem Vagus auch noch andere Organe als die Kiemenbogen versorgt
werden.
Es ist bisher nur von den ventralen Aeslen des Vagus die Rede
gewesen, und diese waren es, die grossentheils für die zusammenge-
setzte Natur des Vagus Zeugniss ablegten. Wenn wir aber die den
Vagus zusammensetzenden ursprünglich discrelen Nerven als den Spi-
nalnerven homodynam annehmen, so muss bei der Constanz des Vor-
kommens von dorsalen Aeslen an letzteren auch am Vagus das Bestehen
dorsaler Aeste sich nachweisen lassen, oder es müssen für die Rück-
lieber die Kopriicrvcn von llexaiicliiis n.ilirVeili.iltiiiss ziirWirbelthenrie d. Scliridcls. 541
l)il(lung oder das Fehlen von solchen beslimmto Ursachen erkennbar
sein.
Bei den Selachiern fehlen nach Staxmus dorsale Vagusfiste,, allein
bei Hexanchus ist ein solcher Ramus dorsalis vorhanden. Es ist also
unnöthig , andere Zweige als Rami dorsales deuten zu wollen , wie
den R. lateralis, den man hin und wieder wohl für einen hieher zu
rechnenden Nerven ansah. Er kann aber 'schon deshalb nicht für
einen doi'salen Ast gelten, weil er sich gar nicht in dem Gebiete des
Vagus verlheilt. Das fragliche Gebiet kann nämlich nicht etwa hin-
ler dem Cranium, über dem Visceralskelet, oder gar noch weiter
caudalwärts gesucht werden, sondern es kann nur über dem Occi-
pilal-Theile des Craniums liegen. Iliebei kommt wieder die Ver-
schiebung in Betracht, welche das Visceralskelet erlitten, und die Ver-
breitungsbezirke der R. ventrales hinter das Cranium verlegt hat. Da
dieser Vorgang nicht auch an dorsalen Skeletlheilen (der Umschlies-
sung des occipitalen Abschnitts der Schädelhöhle) stattfand, können
auch hierauf austretende und sich verzweigende dorsale Aeste von Ner-
ven keine Lage Veränderung erfahren haben. Bei diesem verschiedenen
Verhallen dorsaler und ventraler Parthieen am Kopfe kann aus der
relrocranialen Verbreitung der R. ventrales (R. branchiales) des Vagus
kein Schluss auf die Nolhwendigkeit der gleichen Verbreitung etwaiger
R. dorsales gezogen werden, und es beschränkt sich das Gebiet der
dorsalen Aeste mit Nolhwendigkeit auf die erwähnte Localiläl. Die
Dislocalion des Kiemenskelets war, wie oben schon auseinandergesetzt,
Iheilweise bedingt von einer ungleichgradigen Entwickelung dorsaler
und ventraler Theile. Während letztere eine bedeutende Volumsent-
fallung eingingen, blieben erslere auf niederer Stufe stehen, und erlit-
ten, im Gegensalz zur Expansion des bezüglichen Visceralskelets, eine
bedeutende Contraction. Sowohl in der Medulla oblongata als Gonten-
tum, sowie an dem betreffenden Schädeltheile als dem Conlinens ist
das deutlich erkennbar. Die so entstandene VolumsdilTerenz des ven-
tralen und dorsalen Abschnittes kann nicht ohne Anlheilnahme der be-
züglichen Nerven bestehen; dem so bedeutend grösseren ventralen
Gebiete werden mächtige Nervenslämme zukommen, indess wir am be-
schränkten dorsalen höchstens unansehnliche Zweige erwarten dürfen.
Durch diese Piüfung der Verhältnisse gelangen w ir zur Erklärung des
Thalbestandes, nämlich der Rückbildung der dorsalen Aeste, welche
der Rückbildung des dorsalen Gebietes vollkommen entspricht. Dass
die Rückbildung des dorsalen Gebietes des Vagus keineswegs eine all-
gemein gleiche ist, sowie dass sie wiederum stufenweise sich ent-
wickelte, das zeigt das Verhalten von Hexanchus im Vergleiche mit den
542 Carl Gegenbaur,
anderen Selachiern denen ein Ramus dorsalis des Vagus abgehen soll.
Wenn dieser Ramus dorsalis sich bei den Teleostiern zwar nicht allge-
mein, aber doch verbreitet findet (als sogenannter Schädelhöhlenast des
Vagus), so geht daraus hervor, dass der Befund bei Hexanchus trotz
seiner Isolirtheit unter den Selachiern als der ursprünglich allgemeinere
zu gelten hat, denn die den Dorsalast besitzenden Teleostier verweisen
auf eine Stammform, welche in jener Hinsicht mit Hexanchus überein-
gestimmt haben muss.
Da der fraghche Nerv bei den Teleostiern aus den beiden Wurzel-
portionen des Vagus sich zusammensetzt, besteht Grund zur Annahme,
dass er die Elemente mehrfacher Dorsaläste des Vagus in sich schliesst,
und aus einer ähnlichen Verschmelzung oder Zusammenziehung her-
vorging, wie der sogenannte Stamm des Vagus. Für die Begründung
dieser Ansicht verweise ich auf das, was oben (S. 518 u. 527) bezüglich
der beiden Wurzelportionen des Vagus der Teleostier in Beziehung auf
das Verhalten bei Selachiern, speciell bei Hexanchus, bemerkt wurde.
Die für den Vagus bei der Mannichfaltigkeit der umgestaltenden
Beziehungen nur auf w^eiten Umwegen erreichte Erkenntniss seines
Verhaltens zu Spinalnerven, ist leichter zugänglich beim nächst vor-
hergehenden Glossopharyngeus. Da dieser Nerv nur an zwei Vis-
ceralbogen sich vertheilt, davon er dem einen als Hauptslamm ange-
hört, ist seine Bedeutung von der Peripherie her klar, zumal auch
ein Ramus dorsalis die Uebereinstimmung mit Spinalnerven bestätigt.
Bedeutend complicirter sind die Verhältnisse des Facialis. Wenn
auch die extracranialen Beziehungen dieses Nerven ihn unbedenklich
anderen mit Spinalnerven homodynamen Nerven, wie dem nächstfol-
genden Glossopharyngeus, gleich beurtheilen lassen, so ergiebt sich
doch aus der Verbindung mit dem Acusticus ein bedeutendes Hinder-
niss, dessen Beseitigung versucht werden soll. Da der Facialis mit sei-
nem Hauptaste zum Zungenbeinbogen mit einem schwächeren Zweige
zum oberen Theile (Palato-Quadratum) des Kieferbogens tritt, der von
seiner ursprünglichen Bedeutung als Kiemenbogen nur den unansehn-
lichen, anatomisch und functionell modificirten Rest einer Kieme in der
Spritzlochkieme behalten hat, so kann man in ihm nur einen einzigen
Nerven erblicken, und nicht einen Gomplex wie beim Vagus. Ob er
aber vollständig einem einfachen Nerven verglichen werden kann,
das wird von den Beziehungen zum Acusticus abhängig sein.
Man hat den Facialis als der motorischen Portion eines Nerven
entsprechend angesehen, wobei der Acusticus die sensible Wurzel
repräsentiren solle, indem man von den Säugethieren , speciell vom
Menschen ausging, dessen Facialis ein Bewegungsnerv ist. Diese Be-
üebpi' die Kopfnerven von Hcxatichus ii. ihrVerhällniss zur Wirbeltliporic d. ScIiRdels. 543
liachlungsweise kann für uns deshalb keine Geltung haben, da bei den
Solachiern der Facialis keineswegs jene exclusivc functionelle Bedeu-
tung besitzt. Es fragt sich also nicht, ob der Acusticus die sensible
Wurzel des Facialis vorstelle, sondern vielmehr ob er entweder einen
Theil derselben rcpräsentire, oder ob er gar keine ursprüngliche Be-
ziehung zum Facialis besitze. Im letzlei'cn Falle könnte er als selbstän-
diger Sinnesnerv gelten, etwa ebenso wie der Opticus. Die Verbin-
dung mit dem Facialis, welcher vollkommen einem Spinalnerven ent-
spräche, wäre dann eine sccundäre. Ein für diese Auffassung sprechen-
des nennenswerthes Argument könnte etwa in der ersten Anlage des
Acusticus gefunden werden, wenn derselbe als ein blasenförmiges Ge-
bilde erschiene. Da der Acusticus selbst in seiner ersten Gestalt schon
den Anschluss an den Facialis darbietet, kann aus jenem Verhalten
nicht auf eine ursprüngliche Trennung vom Facialis geschlossen wer-
den. Die Frage nach dem Verhältniss zum Facialis wird aber durch
die ersten Zustände im Verlaufe der embryonalen Entwickelung nicht
in jener anderen Weise beantwortet, und damit fällt der von da etwa
ableitbare Einwand Wir können also die Verbindung beider Nerven
am Austritte aus der Medulla, ihren Verlauf und dann ihren gemein-
samen Eintritt in die Schädelwand für die Auffassung der Zusammen-
gehörigkeit in Anschlag bringen, und die Homodynamie beider zusam-
men mit einem Spinalnerven aufrecht erhalten. Der Facialis kann dann
als der Haupttheil des Nerven gelten, von dessen sensibler Wurzel ein
Theil zum Acusticus ward. Wenn man den niedersten Zustand des
Gehörorganes der Wirbelthiere als eine an der Körperoberüäche gela-
gerte Grube betrachtet, zu deren Epithel die Endigungen der Hör-
nerven treten, so ist zur Versorgung eines derartigen einfachen Organs
eine um vieles geringere Quantität von Nervenfasern nöthig, als für
den spätem Zustand , der aus dem durch Umbildung der Grube ent-
standenen Labyrinthbläschen sich differenzirt. Daher kann ein als
primitiver Acusticus fungirender Zweig des Facialis zur Versorgung jenes
Organs ausgereicht haben. Da ein Sinnesorgan in seiner specifischen
Leistung gleichfalls nur allmählich entstanden und nicht durch einen
plötzlichen Act, sei es einer ausserhalb, sei es einer innerhalb des Orga-
nismus wirksame »Kraft« hervorgerufen , vernünftigerweise gedacht
werden kann, so ist es nothwendig, der Existenz des specifischen Or-
ganes einen indifferenteren EmpfindungSfipparat vorausgehend zu
setzen. Das Organ würde demgemäss aus einem Theile der allgemein
von sensiblen Nerven versorgten Körperoberfläche durch allmähliche
Differenzirung entstanden sein. Ein sensibler Nervenzweig geht mit
jenem Prozesse in einen sensorischen über, und ander von ihm versorg-
544 f"i>i'l nejjoiibiiiir,
ten Hautstelle sondert sich das specifische Organ. Wer mit dem Be-
funde der Sinnesorgane niederer Thiere bekannt ist, wird an dieser
Vorstellung keinen Anstoss nehmen. Durch diese Betrachtungsweise
erklärt sich der bestehende Zusammenhang eines höheren Sinnesner-
ven mit einem andern Nerven, der in seinem Verhalten von den vom
Rückenmark abgehenden nichts wesentlich Abweichendes darbietet.
Dabei darf aber Ein Umstand nicht übersehen werden, jener nämlich,
dass der zum Acusticus werdende Zweig schon von der sensiblen
Wurzel abgeht, oder einen Theil dieser Wurzel vorstellt. Keine sensible
Spinalwurzel tritt direct zu ihrer Endverzweigung, ohne zuvor in ein
Ganglion einzugehen. Ebenso gilt die Durchflechtung der aus dem
Ganglion getretenen Fasern mit denen der vorderen Wurzel für charak-
teristisch. Deshalb kann der Acusticus nicht als ein blosser Zweig
eines einem Spinalnerven sich homodynam verhaltenden Nerven ange-
sehen werden, und es muss bei Aufrechlhaltung der Zusammengehörig-
keit mit dem Facialis, für jenes Verhalten eine erklärende Deutung ge-
sucht werden.
Dieser Versucli kann angetreten werden durch die Erwägung, dass
die Erscheinung der Spinalganglien nicht absolut primärer Natur ist.
Bei den Cyclostomen hat sie J. Müller nicht deutlich wahrgenomnien,
und bei den Teleostiern hat man sie lange Zeit vermisst. Das letztere
rührte von dem Verhalten der Ganglien her, die sich oft auf eine län-
gere Strecke der Nerven ausdehnen und dann keine deutliche Anschwel-
lung bilden, so dass erst durch das Mikroskop der Nachweis eines Gang-
lion geliefert wird. Wenn wir diesen Zustand als eine Vertheilung von
Ganglienzellen im Verlaufe von sensiblen Nervenfasermassen ansehen,
und finden , dass die Zusannnenziehung der Ganglienzellen auf eine
beschränkte Stelle, und damit die sogenannte Ganglienbildung im grob
anatomischen Sinne keineswegs eine allgemeine Bedeutung besitzt,
wenn wir ferner hiezu noch erwägen, dass auch dem Acusticus minde-
stens in seinen terminalen Parthieen ein ganglionärer Abschnitt zu-
kommt, so steht uns noch die mangelnde Durchflechtung des Acusticus
mit motorischen Elementen des Facialis im Wege.
In den Spinalnerven hat die Durchflechtung der sensiblen und der
motorischen Elemente die Bedeutung jedem der beiden aus dem Ner-
venstamme entstehenden Hauptäste (R. dorsalis et venlralis) ^) beiderlei
i) Dass die Sonderung der peripherischen Spinalnerven in einen Ramus dor-
salis und ventralis gleichfalls erst ein allmählich gebildeter Zustand ist, lehren die
Cyclostomen, bei denen nur ein einziger sich dorsal und ventral in Zweige auflö-
sender Stamm für jeden Spinalnerven vorkommt.
Heber die k'opfnervtMi von Hcvanrliiis ii. ihiVpiliältniss zur Wiihcltliooric (I.ScliiidcIs. 545
Elomcnle ziizutheilen. Sie wird überall da stattfinden, wo beide Aeste
Empfindungs- und Bewegungsnerven entsenden. Sie ist also ein An-
passungsverhiiltniss an das Endgebiet. Nehmen wir an, dass einer der
Aeste nur Eine Art Nerven abzugeben hat, so wird dieser Ast direet aus
der betreffenden Wurzel sich fortsetzen können. Solches ei;ßcheint nun
für den als Acusticus bezeichneten Nerven gegeben.
Es wird bei dieser Auffassungsweise verständlich sein, dass solch'
eine Wurzelportion des Acustico-Facialis nicht erst eine geineinsanie
r.anglienbildung eingeht, und sich mit einer andern Portion durchHicht,
sondern direet zu ihrem peripherischen Endayparate tritt. Die nahe
Lagerung des Letzteren an der Austritlsstelle der fraglichen Wurzelpor-
tion aus der Schädelhöhle mag für die Herstellung des besprochenen
Verhaltens gleichfalls von Einfluss sein.
Im Verfolge dieses Ideenganges scheint es nicht unwichtig, den Acu-
sticus und Facialis zusammen als einen einzigen Nerv zu betrachten
\on dem Ein Theil gleich von der Wurzel aus sich zu seinem nahelie-
genden Endorgane, dem Labyrinth, begiebt, und dadurch vom übrigen
sich sondert. Ob der erstere, der den Acusticus vorstellt, dabei zu-
gleich einen sonst fehlenden Ramus dorsalis vertritt, bleibt noch eine
Frage, die zur Besprechung mir noch nicht reif erscheint.
Für den Trigeminus konmit wieder eine Reihe von Fragen in
Betracht. Den drillen und den vierten Ast dieses Nerven haben wir
als Nerven zweier Bogen des Visceralskelels, des Kieferbogens und des
Lippenknorpelbogens, kennen gelernt. Sie entsprechen damit ven-
tralen Aeslen. Nach dem oben (S. Ö3G) aufgestellten und ausgeführten
Satze, dass die Visceralbogen dem Cranium zugehörende Bildungen
sind, und dass jeder derselben einem mit einem Wirbel homodynamen
Abschnitte des Graniums entspricht, müssen im Trigeminus zwei mit
einander verbundene Nerven gesehen werden.
Es liegt nahe, diese Auffassung auszudehnen und auch den ersten
Ast (R. oplulialmicus) als einen ursprünglich discreten Nerven zu be-
urtheilen. Ich hatte mich dazu verleiten lassen durch die Beziehun-
gen, welche ein Endzweig dieses Astes zu dem auf dem ersten oberen
Labialknorpel entstehenden Prämaxillare der Teleostier sowohl wie der
Amphibien und auch der höheren Wirbelthiere besitzt. Dennoch kann
ich diesen Ast nicht mit den beiden andern für homodynam halten,
und damit nicht als einen Ramus ventralis ansehen. Erstlich tritt er zum
oberen Lippenknorpel, nachdem er zuvor über die Dorsalfläche des Cra- '
niums verlief; zweitens durchsetzt er auf diesem Wege, meist schräg
aufwärtssteigend das Cranium, und drittens nimmt er seinen Verlauf
über den Opticus. Der erste und zweite Funkt spricht für einen R.
Bd. VI.
37
546 C'"^''' Gegenbanr,
dorsalis. Der dritte Punkt bedar» der Erläuterung. Berücksichtigt man,
dass der Opticus vor dem Trigeminus seineu Ursprung hat, so wird bei
Ausdehnung des ventralen Trigeminusgebietes nach vorne zu, vor dem
Opticus, jeder ventrale Ast des Trigeminus nur hinter oder unter dem
Opticus liegen können. Da nun der R. ophthalmicus über dem Opti-
cus lagert, so kann er keinen R. ventralis vorstellen. Sieht man ihn
als einen R. dorsalis an, wie das zuerst von Stannuis, wenn auch in
anderer Auffassung des gesammten Trigeminus geschah, so entspricht
dem der ganze Verlauf, sowie die Verbreitung des Nerven i). Die Ab-
lenkung der geraden Richtung in die schräg vorwärts und aufwärts
gerichtete wird genügend erklärt durch Ausdehnung des Schädels nach
vorne zu, die sich auch durch das Verhalten des zweiten Trigeminus-
astes erkennen lässt. Für diesen, der Erscheinung am hinteren Schä-
delabschnilte gerade entgegengesetzten Zustand, sind folgende Verhält-
nisse in Betracht zu ziehen, welche, theilweise bestimmt, als wichtige
umgestaltende Factoren gelten dürfen.
Als bedeutendsten Factor betrachte ich die Differenzirung der ein-
zelnen Bogen des Visceralskelets, und zwar das Heraustreten des Kie-
ferbogens aus einem indifferenten, etwa mit den Kiemenbogen ähn-
lichen Zustande. Die voluminöse Gestaltung der beiden, jede Bogen-
hälfte zusammensetzenden Stücke, dann die Bildung des Oberkiefer-
1) Als ein möglicher Einwand gegen die Deutung des Ramus ophthalmicus als
Ramus dorsalis kann die Verbindung eines Zweiges desselben mit dem Ganglion
ciliare gelten. Dadurch stellt sich der Ramus ophthalmicus mit dem zweiten und
dritten Aste auf gleiche Stufe, aber nicht blos das, er tritt auch in dasselbe Verhal-
ten zum Sympathicus wie die Rami ventrales der Spinalnerven. Kein Ramus dor-
salis ist mit einem sympathischen Ganglion versehen, also wird der R. ophthalmi-
cus der ein solches besitzt, keinen Ramus dorsalis vorstellen. So mag die Folge-
rung lauten, die man aus jener Thatsache ziehen kann. Ob die Folgerung richtig
ist, ist eine andere Frage. Ich beanstande die Richtigkeit, denn die Verbindung mit
einem sympathischen Ganglion ist etwas ganz secundäres. Der Mangel der Verbin-
dung mit dem Sympathicus liegt weniger im Wesen der Rami dorsales an sich, als
er vielmehr aus dem Gebiete der letzteren resultirt. Sie versorgen keine Körper-
theile, in denen der Sympathicus eine reiche Verbreitung besitzt. Wir können aber
die Möglichkeit nicht in Abrede stellen, dass auch einem Ramus dorsalis, wenn er
zu Organen tritt, die vom Gebiete des Sympathicus versorgt werden, ein Ganglion
dieses Systems sich anfügt, dass da ein Ganglion sich ausbildet und mit der Entfal-
tung eines besümmlen, anfänglich vielleicht nur von einigen Fasern versorgten Or-
ganes eine reichere Zahl sympathischer Nerven entsteht. Die Beziehung des R.
ophthalmicus zum Ganglion ciliare ist damit als eine Anpassung aufzufassen, und
aus diesem Verhalten entsteht um so weniger ein Grund gegen obige Deutung des
R. opthalmicus, als das Ganglion wie der ganze Kopftheil des Grenzstranges gerade
den Selachiern fehlt.
lieber die Kopf'iierveii von Hexaiicliiis ii.ilirVerliältniss /iii-Wiilielllieorie d. Sehiidels. 517
Ibrlsalzes, der beide Dorsalslücke (Palalo(iuadratuin) des Bogens me-
dian einander näher bringt, wird nicht ohne Einlluss auf die Ausdeh-
nung des Craniums nach vorne zu sein, wenn, wie das bei Selachiern
der Fall ist, der Oberkieferfortsatz der Schädelbasis eine besondere
Stütze hat. Die Entfaltung des Kieferbogens hat zugleich die in die
Labialknorpel sich umbildenden Visceralbogen nach vorne gedrängt,
dem entspricht die Richtung des Verlaufes der beiden ventralen Trigc-
minusäste. Die Anpassung des Nervenverlaufs an die durch die mas-
siven Kiefertheile und ihre Muskulatur bedingte Aenderung "der Ver-
hältnisse ist auf der beigegebenen Fig. 1 augenfällig.
Als zweites wichtiges Moment für die Umgestaltung des vordem
Schädelabschnittes ist die Enlwickelung der Nasenkapseln sowie der
Augäpfel anzuführen. Durch erstere empfängt der vorderste Schädei-
theil eine beträchtliche Breite, und durch Entwickelung des Bulbus
uculi dehnt sich ein Abschnitt des Craniums zum Orbitaltheil aus, in
dessen Buchtung der Bulbus sich einbettet. Die mediane Wand der
Orbita liegt vor der Austrittsstelle des Trigeminus, welche so ziemlich
dem hintersten Winkel der Orbita entspricht. Die mit dieser Wand in
Beziehung tretenden Nerven (mit einziger Ausnahme des Opticus ) ver-
laufen parallel zu ihr (Olfactorius innen, Bamus ophthalmicus aussen),
oder wenn ein Nerv die Wand durchsetzt (wie der, Trochlearis), so
ist doch eine Strecke des Verlaufs in spitzem Winkel zur Orbitalwand
gerichtet und die Durchtrillsstelle durch die Schädelwand liegt weit
vor der Austrittsstelle aus dem Gehirn. Wenn dieses incongruente Ver-
halten wie billig als ein erworbenes angesehen werden muss, so findet
sich seine Ursache entw'eder in einem Zurückweichen des Gehirns, oder
in einem Vorwärtstreten der seitlichen Schädeltheile sammt Bulbus.
Ersteres mag in kleinem Maassstabe stattgefunden haben, wie aus der
Thatsache erschliessbar ist, dass das embryonale Gehirn der Selachier
stets die Schädelhöhle ausfüllt, während es später bei den meisten
einen geringen Raum einnimmt. Vollkommen ausreichend ist jedoch
die Annahme eines Zurückweichens des Gehirns deshalb nicht , weil
der Trochlearis, nur wenig vor dem Facialis das Gehirn verlässt, wel-
cher in Aus- und Durchlrittsstelle gleiche Querrichtung darbietet, somit
das für diese Stelle sich treffende Fortbestehen des ursprünglichen Ver-
haltens bezeugt. Er stellt in dieser Beziehung gewissermaassen einen
inditferenzpunkt vor; die hinter dem Facialis liegenden Nerven sind
schräg nach hinten, die vor ihm liegenden schräg nach vorne gerichtet.
Da nun die zwischen Aus- und Durchtrittsstelle des Trochlearis ent-
standene Difterenz nicht aus einer veränderten Lagerung des Gehirnes
ausreichend erklärt werden kann, so wird nöthig, die Veränderung am
37*
548 Carl Gegeiibaur,
Schädel selbst anzunehmen, sie in einer Ausdehnung zu suchen, die
etwa von der Austrittsslelle des Facialis an, nach vorne zu staltfand.
Einen Rest dieses Vorgangs vermag die Ontogenie noch nachzuweisen.
Was die ursächlichen Momente angeht, welche die Vereinigung
zweier Nerven zur Bildung des Trigeminus hervorriefen, so sind dar-
über minder bestimmte Angaben möglich, als es für den Vagus der
Fall war. DieThatsache zweier, zu ebensovielenVisceralbogen gehenden
Rami ventrales muss daher einstweilen genügen. Vielleicht ist auch die
Ungleicharligkeil der Diflerenzirung der ersten drei ursprünglichen Vis-
ceralbogen (Labialknorpel und Kieferbogen), so wie die Ablösung des
Labialknorpelbogens vom Granium als daran betheihgl zu erachten,
letzteres insofern als dabei das Intervertebralspatium zwischen dem
zweiten und dritten Trigeminusast reduzirt, und damit für ein Zusam-
mentreten gelrennt den Schädel verlassender Nerven ein Anlass gebo-
ten ward.
Endlich ist für die Auffassung des Trigeminus als eines Gomplexes
zweier Nerven, der als Ramus dorsalis erscheinende Schädelhöhlenast
von Bedeutung, der bei vielen Fischen nachgewiesen ist. Es bestehen
demnach zwei Rami dorsales, da wir den Ramus ophlhalmicus gleich-
falls als solchen gedeutet haben.
Das functionelle Verhällniss der aus dem Trigeminusslamme tre-
tenden Aeste fordert zu ferneren Erwägungen auf. Da der erste Ramus
dorsalis (R. ophlhalmicus) sowie der erste Ramus venlralis (R. secun-
dus, s. R. maxillaris superior) rein sensibler Natur ist, während der
zweite Ventralasl (R. terlius, s. R. maxillaris inferior) einen gemisch-
ten Nerven vorstellt, so ergiebt sich, dass der ganze erste den Trigemi-
nus bilden helfende Nerv motorischer Theile entbehrt. Man könnte
annehmen, dpss dieselben unter Rückbildung der peripherischen End-
organe schwanden, wenn man nicht auf besondere rein motorische Ner-
ven verwiesen würde, die im Trigeminusgebiete sich verzweigen.
Ob die drei Augennmskelnerven sämmtlich hieher bezogen werden
können, erscheint mir zwar keineswegs über jedem Zweifel, doch glaube
ich, dass für den Abduceus und Oculomotorius mindere Bedenken be-
stehen.
Die Zugehörigkeit zum Trigeminus sehe ich in folgenden That-
sachen ausgedrückt:
1) in dem gleichen Verzweigungsgebiete, in Muskeln derselben Re-
gion, deren Haultheile vom Trigeminus versorgt werden.
2) hl der bei manchen Fischen und Amphibien vorkommenden
Verbindung mit dem Trigeminus. Diese ist entweder derart, dass dis-
crele Nerven wurzeln in den Trigeminus eingehen, oder dass ohne das
I'clicr die KoiitiHMvcii von lloxniicliiis u.ilirVciiiiilliiiss zur Wirln-Iilironc «I.Sdiiidols. 549
BosU'hcn solch' discrotor Wurzeln dcv Trigcminus die l»ezilylirli(>n Mus-
keln versorgt').
Der selbständige Austritt dieser Nerven aus der Scliädelhöhle fallt
als Gegengrund ^^cg, sobald wir das Verhalten der Spinalnerven be-
achten/deren motorische Wurzeln gleichfalls getrennt von den sensi-
blen, die Wandung des Rückgratcanals durchsetzen, wie schon oben bei
den untern (vordem), ähnliche Verhältnisse darbietenden VagusNvurzeln
hervorgehoben ward. Es ist also nur der Umstand, dass die Augen-
muskelnerven nicht zusammen durch eine gemeinsame SchädelöfTnung
austreten, und dass sie ausserhalb des Craniums keine Verbindung n)it
dem zweiten Trigeminusastc eingehen, auffallend und unerklärt. Bei-
des wird verständlicher durch die Beachtung der getrennt liegenden
Endgebiete und der sofort nach dem Austritte aus der Schädelwand
sich ergebenden Endverbreitung. Auch dadurch können wir begrei-
fen , dass die Orbitalwand erst mit der Entstehung des Auges eine
bedeutende Ausdehnung gewann, so dass anfänglich nahe beisammen
liegende Thcile auseinanderrückten. Als eine bis jetzt unlösbare
Frage bleibt noch die Entfernung der ürsprungsställen dieser Nerven,
namentlich das Verhältniss des Trochlearis [zum Oculomotorius und
Abducens bestehen. Selbst nur zur Besprechung dieser Frage bedürfte
es einer tieferen Erkenntniss des Gehirnes, namentlich seines vorderen
Abschnittes. Ich halte daher die von mir aufgestellten Beziehungen
der genannten Nerven zu einander einer ferneren Begründung bedürf-
tig, und kann für meine Ansicht vorerst nur einen gewissen Grad von
Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Die für die hintere Abtheilung der
llirnnerven aus der Vergleichung hervorgegangenen Auffassungen ge-
stalten sich demnach viel weniger bestimmt für die vorderen, das dort
r Ein Ueberblick über diese Verhältnisse' zeigt folgendes; Wenn wir von
den Myxinoiden wegen der bestehenden Rückbildung ihrer Sehorgane absehen, so
ergeben die Petromyzonten unter den Cycloslomen nur einen gesonderten Troch-
learis, während der Abducens ein Zweig des Trigeminus ist, der aucti den Rectus
inferior versorgt. Der Oculomotorius ist daher in seiner Verbreitung beschränkt, da
nur Rectus superior internus und Ohliquus inferior von ihm versorgt wird. Bei Lc-
pidosircn werden alle drei Augenmuskelnerven nach Hvrtl »durch Zweige desQuin-
tus vertreten«. Bei den Amphibien bieten die Urodelen bezüglich des Trochlearis
Schwierigkeiten, discret ist er nur bei Siredon beobachtet, bei Menobranchus, Sa-
lamandra und Triton ist er, wie es scheint, durch einen Trigeminuszweig ersetzt
(Fischer). Die Anurcn besitzen sehr verbreitet die Abducenswurzel in die Bahn
des Trigeminus übergegangen (Fischer, Wyman). Selbständigen Verlaufs ist der
Abducens bei Bufo palmaruni, wo er ausser im Rectus cxternus auch noch im Sus-
pcnsorius bulbi sich verzweigt (Fischer).
550 Carl Gegenbaur,
verhältnissmässig Klare und Einfache wird hier dunkel und complicirt,
und es bleibt auch bei der genauesten Prüfung manches problematisch.
Auch dieser Umstand fügt sich uns in den Zusammenhang. Indem
wir die hintere Nervengruppe (den Glossopharyngeus und den Vagus
mit seinen Differenzirungen) mit den darauf folgenden Spinalnerven
verglichen, ergeben sich für erstere bedeutungsvolle Umwandlungen,
die bei der Vergleichung der hintern Hirnnervengruppe mit der vorde-
ren (Facialis, Trigeminus, Augenmuskelnerven] bei dieser noch in höhe-
rem Maasse sich steigerten. Es besteht somit in der Reihe von hinten
nach vorne zu eine Zunahme der Veränderung. Der an den Spinal-
nerven ausgesprochene »Typusa verliert sich an Hirnnerven in dem
Maasse als letztere vom Rückenmarke entfernt entspringen. Dem er-
weist sich das Verhalten des Gehirnes parallel, das an dem hinteren
Abschnitte, der Medulla oblongata, mit dem allmählich aus ihm sich fort-
setzenden Rückenmarke viel grössere Uebereinstimmungen bietet als
am vorderen. Es kann also am gesamniten Nervensystem eine den
Kopftheil desselben betrelTende Differenzirung erkannt werden , die
vom Rückenmarke aus nach vorne zu stetig zunimmt, centrale und
peripherische Theile gleichmässig ergreifend.
Den Hirnnerven werden noch zwei Nerven zugezählt, die ich bis-
her ausser Retracht gelassen haben, der Olfactorius und der Opticus,
beide stellen sich ausserhalb der Reihe, in welche die übrigen sich ein-
fügen.
Der Olfactorius kann, soweit er in der Schädelhöhle liegt, nicht
als peripherischer Nerv betrachtet werden. Er ist vielmehr ein vom
Vorderhirn differenzirter Abschnitt, der seine Natur als Centralorgan
(Lobus olfactorius) unter keinen Umständen aufgiebt. Von dem vor-
dersten Ende dieses Gentralorgans entspringen stets zahlreiche Nerven,
welche die eigentlich cn peripherischen Theile sind und sich sofort zum
Riechorgan begeben. Je nach der grösseren oder geringeren Entfer-
nung der Riechgrube vom Vorderhirn, gestaltet sich das Centralorgan
der Riechnerven länger oder kürzer. Rei grösserer Entfernung sondert
es sich in zwei Abschnitte, einen vorderen bei allen Selachiern stets
dem von den Riechnerven durchbrochenen Gründe der Riechgrube an-
gelagert bleibend, und eine gangliöse Reschaffenheit behaltend (Rulbus
olfactorius), und einen hinteren, der die Verbindung mit dem Vorder-
hirne vermittelt (Tractus olfactorius) . Der Refund des Tractus kann bei
Hintansetzung der Erwägung seines constanlen Verlaufes innerhalb
der Schädelhöhle am meisten zu der Auffassung verleiten, der ich oben
entgegengetreten bin. Die Onlogenie führt zu den gleichen Resultaten,
indem sie die Entstehung des Lobus olfactorius aus dem Vorderhirn
üeber die Kopfnerven von Ilexanclms u.ihrVeiiiriltiiiss zurWirbeltheoric d. Scliädels. 551
kennen lehrt, und die Bildung des Tractus als einen secundären Vor-
gang nachweist.
Aehnlich verhält es sich mit dem Opticus bozUghch seiner Ent-
stehung durch Differenzirung aus dem Centralorgane des Nervensy-
stems. Wenn dieser Nerv auch die Schiidelhöhle verliisst, so verweist
doch seine und Iheilweiso seines Endapparates Entstehung auf engere
Beziehungen zum Centralorgane. Diese bestimmter zu präcisiren ist
gegenwärtig unmöglich, einestheils weil das Wirbelthierauge uns bis
jetzt nur in einem relativ hohen Entwickelungszustande bekannt ist,
anderntheils weil die embryologischen Thatsachen bezüglich des Seh-
organes nicht derart gestaltet sind, dass daraus mit einiger Sicherheit
auf jenen postulirten niederen Zustand geschlossen werden könnte. In
der Ontogenie des Auges scheinen zahlreiche Stadien zusammengezogen
zu sein, die palaeontologisch weit auseinander liegen. Damit harmonirt
sowohl das frühe Auftreten der ersten Anlage in der sogenannten pri-
mären Augenblase, als auch die Betheiligung so mannichfaltiger Prozesse
an der Bildung des Bulbus oculi. Obgleich die erste Anlage noch weit
davon entfernt ist, ein Sehorgan vorzustellen, so kann doch aus ihrem
Bestehen auf eine palaeontologisch sehr weit zurückliegende Entstehung
dieses Organes geschlossen werden. Danach dürfte auch der Opticus
zu beurtheilen sein.
Für das Geruchsorgan deuten zwar weniger die seine Anlage be-
gleitenden, an sich ziemlich einfachen Vorgänge, als vielmehr wiederum
die frühzeitige Entstehung auf dasselbe Verhältniss hin, dessen vorhin
beim Auge gedacht wurde. Für beide Organe ergiebt sich damit ein
Grund, sie für solche Einrichtungen zu halten, welche aus einem nie-
deren Zustande in den Wirbelthiertypus übergingen.
Wer nicht für besser hält, den niedersten Wirbelthierzustand spon-
tan entstanden sich vorzustellen, der wird die Voraussetzung eines un-
gegliederten, d.h. der Theilung des Körpers in den Wirbeln ent-
sprechende Segmente (Metamcren) , entbehrenden Zustandes für noth-
w endig halten, aus welchem der Organismus durch die Metamerenbil-
dung in die Wirbelthierform überging.
Einem solchen ungegliederten Organismus scheinen die beiden
Sinnesorgane angehört zu haben. Sie haben ihren Platz am vorder-
sten Körpertheile, der der Metamerenbildung nicht unterworfen ward,
wie aus der Thatsache hervorgeht, dass die vordersten Bogen des Vis-
ceralskelctes., den ihnen zugctheilten Nerven zufolge, einem hinter
jenen Sinnesorganen liegenden Abschnitte des Craniums angehören.
Demzufolge wird begreiflich, dass Olfnctorius (rcsp. dessen Endäste)
wie Opticus, der mit der Metamerenbildung erworbenen Einrichtung
552 Ciiil Gegeiibaur,
des übrigen peripherischen Nervensystems nicht folgen, sondern diesem
gegenüber ein selbständiges Verhalten darbieten, welches zugleich für
jeden dieser einem specifischen Sinnesorgane angehörigen Nerven ein
besonderes ist.
Nach diesem morphologischen Gesichtspunkte sondere ich die Kopf-
nerven in zwei grosse Abtheilungen, deren eine die Nerven der nicht
auf Metameren vertheilten Organe des Geruch- und des Gesichtsinncs
begreift, indess die andere Abtheilung alle übrigen umfasst.
Das Verhalten der auf Metameren sich vertheilenden Nerven ist am
Kopfe ^durch die hier mehr oder minder deutHch erhaltcne^i ventralen
Rami erkennbar, welche das Visceralskelet, niimlich die ventralen Bo-
genstücke des Kopfskelets, versorgen. Es ist in folgender Uebersicht
darstellbar, wobei dem durch die Verzweigung eines Astes an zwei
benachbarte Metameren ausgesprochenen intervertebralen (intermcta-
meren) Verhalten i) Rechnung getragen ist.
Primäres Umgewandeltes »^ vn
Visceralskelet: Visceralskelet: iNeiven:
Her Bogen Erster oberer Labialknorpel 1
^ '^ [ Ramus
2lter Bogen Labialknorpelbogen i secundus
(zweiter oberer und un- i „ )Trigemini
. T u- 1 1' i\ I Ramus (
tcrcr Labial-Knorpel) . \ tertius
3ter Bogen Kieferbogen ....
4ter Bogen Zungenbeinbogen .
öter Bogen Erster Kiemenbogen . . i o op aiyngeis.
( Ramus branchialis ^
6ter Bogen Zweiter Kiemenbogen . . j primus
I Ramus branchialis
7ter Bogen Dritter Kiemenbogen . . ( secundus
/ Ramus branchialis
Hier Bogen Vierter Kiemenbogen . . ( tertius
,,. ,, ,... r. 1-- I ( Ramus branchialis
üter Bogen t-ünlter Kiemenbogen . . ( quartus
Bezüglich der Zahl der Kiemenbogen ist in dieser Uebersicht der
bei Hexanchus sich treffende Befund zu Grunde gelegt. Für Heptanchus
1
Facialis.
Vagi.
1) Diese Vertheilung eines Ramus ventralis in zwei, je zwei benachbarte Vis-
«eralbogen versorgende Zweige ist zunächst als eine Anpassung an die durch die Kie-
menspalte gebildete intercrurale Durchbrechung anzusehen. Sie l'ehll daher an den-
jenigen Nerven, welche Visceralbogen versorgen, zwischen denen keine Kiemenspal-
ten vorkommen. So z. B. an dem zwischen den Labialknorpeln verzweigten
Endaste des Ramus maxillaris superior des Trigeminus, ebenso am Ramus maxilla-
ris inferior der zwischen Kieferbogen und Labialknorpelbogen sich vertheilt. Da-
gegen besteht die Theilung auch zwischen jenen Bogen, die eine rückgebildete
Kiemenspalte begrenzen, wie am Kiefer- und Zungenbeinbogen, zwischen denen
das Spritzloch liegt.
Icljcr dii' Ko|ilii('i\('ii vdii IIc\.iik'Iiiis n. ihr Nciiiiilliiiss /.iirW iiliclllirdric d. Srliiidcls. 553
ist an der Vermehrung der Bogen auch der Vagus um einen Kiemenast
vermehrt, und bei den übrigen Selachicrn besieht in demselben Maassc
gegen llexanchus eine Verminderung. Dasselbe gilt in cntsjirechender
Weise von den Ganoiden und Telcostiern. Dass sich hienach auch die
Verhältnisse bei den höheren Wirbelthieren beurtheilen lassen, bedarf
wohl keiner besonderen Ausführung.
Mit Beziehung auf Spinalnerven bieten die Kopfnerven der Sela-
chier, am meisten die Notidaniden, wie llexanchus lehrte, die am we-
nigsten bedeutenden Veränderungen dar, die oben bereits dargelegt
worden. Bei den Ganoiden und Teleosticrn sowohl, als auch bei den
höheren Wirbelthieren ist jenes Verhältniss noch undeutlicher gewor-
den. Durch neue Combinationen sind neue Nerven entstanden und
l)ei den Sclachiern noch discrete Nerven haben sich mit anderen ver-
bunden. •
Aus dem Gesammtbildc dieser Erscheinungen heben sich 7Avei
Gruppen von Nerven hervor, die ich bereits früher (Grundzüge 2. Aufl.
S.T'iÜ) als Trigem inus- und Vagusgruppc unterschied.
Das Ilauptgebiet der ersten bildet der Trigeminus mit den Augen-
muskelncrven. Dazu kommt noch der Facialis (mit Acusticus), da dieser
Nerv, sowohl bei n)anchen Fischen (einige Teleostier und Lepidosircn)
als bei ungeschwänzten Amphibien mit dem Trigeminus sich verbun-
den hat, d, h., wie man sich ausdrückte, in der Bahn des Trigeminus,
verläuft. Dass die Sonderung vom Trigeminus, dem ursprünglichen
Zustande entspricht, lehrt die Untersuchung von Larven der Anuren.
bei deren jene Trennung vorübergehend sich vorfindet. Mit Beziehung
auf Spinalnerven sind nach dem früher Dargelegten drei Nerven in der
Trigeminusgruppe vereinigt.
Eine grössere Anzahl repräsentirt die Gruppe des Vagus. Die Zahl
bestimmt sich nach der Zahl der ursprünglich vorhandenen Kiemen-
bogen. Der vorderste dieser Nerven verhält sich als Glossopharyngeus
fast regelmässig in Selbständigkeit. Doch ist er sowohl bei Cyclostomen
als bei Lepidosircn und den Am[)hibien mit dem Vagus verschmolzen.
Im Vagus treten stets die übrigen dieser Gruppe angehörigen Nerven-
wurzeln zusanunen (Selachicr). Daraus lösen sich in verschiedener
Weise einzelne Portionen ab und bilden neue Nerven. Als solche
haben wir oben den Acccssorius Weberi der Teleostier, sowie den Ac-
cessorius Willisii und den Hypoglossus der höheren Wirbelthicrc ken-
nen gelernt. —
Indem die Nerven der Trigeminus- wie der Vagusgruppc in ihrem
Verhalten die Eigenschaften von Spinalnerven erkennen Hessen, wobei
die Abweichungen von letzteren zum grossen Theile als Modificalionen
554 Carl Gegenbanr,
nachweisbar waren, so ergiebt sich als naturgemässeste Erklärung jener
Uebereinstimmung die Annahme einer Vererbung von einem entfernter
liegenden Zustande, in welchem die fraglichen Hirnnerven nicht sowohl
den Spinalnerven ähnlich, sondern vielmehr von ihnen nicht unterschie-
den waren. Wir werden somit zur Voraussetzung eines Zustandes der
Indifferenz geführt, aus dem allmählich mit der Bildung des Kopfes ein
Theil der peripherischen Nerven aus der Gleichartigkeit mit den übri-
gen Nerven hervortrat. Damit sonderten sich die Spinalnerven, die in
ihrem früheren Zustande fortbestanden, von den Hirnnerven die ihn
aufgaben , und unter sich wiederum mannichfaltige Verschiedenheiten
erlangten , durch Anpassung an die Differenzirung des Kopfskeletes.
Nur unter dieser Voraussetzung empfängt der Bau der Hirnnerven »nach
dem Typus der Spinalnerven« Bedeutung, und wird verständlich, weil
sich jener )>T;,pus« als etwas Ererbtes erklären lässt.
Wenn wir aber annehmen, dass die fraglichen Hirnnerven, die
noch theilwoise an ihnen bestehende Aehnlichkeit mit Spinalnerven
aus einer ursprünglichen Gleichartigkeit mit letzteren erhielten, so folgt
daraus nicht blos dasselbe für die Hirntheile, welche jenen Nerven den
Ursprung geben, sondern auch für das das Gehirn umschliessende Ske-
letgebilde, das Cranium. Das letztere muss, jenen Voraussetzungen
zufolge, sich als eine Differenzirung des vordersten Abschnittes einer
primitiven Wirbelsäule herausstellen. Es wird aus einzelnen Abschnit-
ten entstanden sein müssen, die jenen an der Wirbelsäule gleichartig
waren, und die sich zu einem Continuum allmählich verbanden. Dies
führt uns auf die Wirbellheorie des Schädels.
Da das Object, von dem ausgehend ich zu den vorstehenden Re-
flexionen gelangte, keine Spur von Ossificationen am Cranium zeigt,
besteht kein äusserer Grund auf die aus dem knöchernen Cranium ab-
geleitete für ihre Zeit höchst wichtige, für alle Zeit bahnbrechende
Wirbeltheorie einzugehen. Es kann vielmehr sogleich versucht wer-
den, von dem durch die vergleichende Untersuchung der Nerven und
Beachtung des Visceralskeletes erlangten Standpunkte aus jene Frage
näher zu betrachten.
Durch die Bogen des Visceralskelets werden wir auf die Zahl der
in das Cranium eingegangenen Wirbel verwiesen , ebenso durch die
Zahl der zu jenen Bogen verlaufenden Nerven, durch welche das Vis-
ceralskelet dem Cranium untrennbar zugetheilt erscheint. Die Zahl
der zum Cranium verschmolzenen Wirbel wird zwar keine geringere
sein dürfen als die Zahl der Visceralbogen ; sie wird aber eine höhere
sein können, da ungewiss ist, wie hoch das Maximum der Bogenzahl
sich ursprünglich stellte. Ich meine dies in dem Sinne, dass die Mög-
Ueber die Kopfnerven von Hexanchns u. ihrViThSllniss zur Wiibelllieorie d. Scliädcls. 555
lichkeit der Abslammung von einer eine grössere Bogenzahl besitzenden
Urform besteht, zu der sich die Notidaniden etwa wie die übrigen Se-
lachier zu diesen verhalten. Da mit den Yisceiaibogen auch die Nerven
schwinden, wird es sich bezüglich der zu bestimmenden Wirbelzahl
im Cranium nur um eine Minimalzahl handeln. Dieselbe wird auf
Grundlage des bezüglichen Befundes bei den Notidaniden auf 1 0 zu
bestimmen sein. Bei Amphioxus findet sich der in den Kopf der Cra-
niota eingegangene Abschnitt in dem ganzen die Kiemen tragenden
Körpertheile gegeben und nicht etwa in dessen vorderstem Abschnitte
derselben.
Es fragt sich nun, wie sich diese ins Cranium eingegangenen Wir-
bel in ihm vcrtheilen. Hiebei können wieder nur die Austrittsstellen
der Nerven massgebend sein. Da wir aber an den Nerven mannich-
fachcs Zusammentreten einzelner zu grössern Complexen erkannt haben,
so ist dies mit in Rechnung zu bringen, und daraus geht hervor, dass
für nicht wenige Segmente auch keine Andeutung mehr erhalten sein
kann. Wir erschliessen sie also aus der Zahl der Nervensliimme, die,
wenn auch mehrfach verschmolzen, aus ihren Endästen am Visceral-
skelet erkennbar sind.
Aus der Vertheilung der Austrittsstellen der Nerven am Cranium
ergiebt sich eine höchst werthvoUe Thatsache. Man findet nämlich jene
Austrittsstellen bei der Betrachtung des Craniums auf dem Median-
schnitte sämmtlich im hin teren Abschnitte. Sie liegen hinter
einer Linie, welche man von der Hypophysisgrube aus aufwärts zieht.
Nur der Trochlearis macht davon eine Ausnahme, die durch das oben
über diesen Nerven bemerkte von ihrem Gewichte verliert.
Aus dieser Beschränkung der Austrittsslellen auf den hinteren von
der Medulla oblongata eingenommenen Schädelraum ist zu schliessen,
dass nur der diesen enthaltende Abschnitt des Craniums aus Wirbeln
entstand. Dem entspricht die Ausdehnung der Chorda dorsalis in dem
Basilartheil des Craniums. Die Bedeutung, welche die Chorda dorsalis
für die primitive Wirbelbildung besitzt, hat von jeher die Annahme von
Wirbeln vor dem vordem Chordaende bedenklich erscheinen lassen.
Das Zusammenfassen der Thatsachen : dass die Chorda sich nur eine
bestimmte Strecke weit in die Schädelbasis erstreckt, und dass nur
auf dieser Strecke »nach dem Spinalnerventypus gebaute« Nerven die
Schädelhöhle verlassen, lässt nur den genannten hinteren Schädelab-
schnitt als einen aus Wirbeln entstandenen ansehen. Damit entsteht ein
Gegensatz zu dem vorderen Abschnitte, der als ein erst secundär aus
dem bereits durch dieWirbelconcrescenz gebildeten Cranium entstandener
Theil erscheint. Er erscheint als eine Anpassung an zwei Sinnes-
556 Carl Ge^enbatir,
organe: die Nasengrube und den Bulbus oouli, welche ihm Iheils ein-,
Ihcils angelagert sind. Auch die Bildung der vorderen Gehirnthcile
mag damit in Zusammenhang stehen.
Das G ra nium scheidet sich also in zwei Abschnitte,
den hinteren, vertebralen oder cerebralen, und den vorderen
evertebralen oder facialen Theil. Wieder letztere vornehmlich
durch Beziehungen zu Sinnesorganen eine bestimmte Gestalt empfängt,
so ist auch am ersteren die Aufnahme eines Sinnesorganes (des Gehör-
organs) in die Wandung von umgestaltendem Einflüsse, der sich zu-
nächst durch die bedeutende Ausdehnung der Labyrinthregion kund
giebt. In diesem Umstände findet die formale Abweichung des hinteren
Schädclabschnittes vom darauffolgenden Bückgrate ihre Erklärung').
Miczu muss noch die Erwägung treten, dass ausser der Concrescenz
der im vertebralen Theile des Craniums verbundenen Wirbel die aus
der Vorgleichung der Nerven mit den Spinalnerven sich ergebende Ver-
kürzung dieses Stückes eine Bolle spielt. Denkt man sich die Bedin-
gungen weg, deren Einfluss die Eigen thümlichkeiten hervorrief, so ist
CS möglich, das Cranium wieder in eine Anzahl von Wirbeln aufgelöst
sich vorzustellen, welche von denen des folgenden Abschnittes des
Axenskeletes nicht verschieden sind.
Auf diese Weise lässt sich bei den Selachiern unter Berücksichti-
gung der Nerven wie des Visceralskeletes eine Grundlage für eine neue
Auffassung des Schädels gewinnen, welche sich an die früheren an-
schliesst, insofcrne auch nach ihr der Schädel ein dem Axenskelet ver-
wandtes Gebilde ist. Aber sie entfernt sich von der bisher gültigen, da
sie dem Schädel eine viel grössere Wirbelzahl zutheilt, und diese zudem
nur an einem bestimmten Abschnitte des Craniums erkennt.
Es bedarf wohl keiner besonderen Erörterung, dass diese Auffas-
sung sich nicht auf die Selachier zu beschränken hat. Da der Schädel
aller Wirbelthiere eine, gleich dem Schädel der Selachier, knorpelige
Anlage — das Primordialcranium — besitzt, so lässt er darin ein
1) Die Sonderung des Craniums von der Wirbelsäule ist keine in allen Fällen
scharfe. Bei den Notidaniden ist die Grenzbeslimraung sehr schwer, da der Occipi-
laltheil des Schädels eine mit den folgenden Wirbeln ganz gleiche Beschaffenheit
besitzt. Auch der Befund bei den Stören, wo eine beträchtliche Strecke der Wir-
belsäule mit dem Cranium verschmolzen ist, erscheint mit Beziehung auf die Schä-
delgenese von hoher Wichtigkeit. Der das Cranium bildende Prozess hat hier
weiter als sonst zurückgegriffen. Dass aber mit der Concrescenz nicht auch die
andern am Cranium bestehenden Modificationen auftreten, lässt sich verstehen, so-
bald wir die Factoren ins Auge fassen, welche am Cranium umgestaltend walteten.
Sie fehlen für den vom Rückgrate eingenommenen Körpertheil.
Ueber die Kopliierveii von Hexiincliiis ii.ilirVoiliäUuiss ziirWirboltlioorio d. Sclirulcls, 557
Erbstück erkennen, welches sicli, bald mehr bald minder vollkommen
cnUvickeit, von solchen Zuständen her forteihalten hat, bei denen es,
wie noch bei den gegenwärtig existirenden Selachiern die einzige Ske-
letbildung des Craniums vorstellte. Wenn wir für's Primordialcra-
niuin diese Beziehung als festgestellt betrachten, so kann ftlr die an
ihm auftretenden Ossificationen keine Vergleichung mit Stücken knö-
cherner Wirbel ferner in Frage kommen, zumal kein einziger der soge-
nannten Schädehvirbel einem der Abschnitte entspricht, die am Knor-
pelcranium aus ursprünglich discreten knorpeligen Wirbeln hervorge-
gangen aufgefasst werden müssen.
Jena, im December 1870.
I
Erklärung der Abbildungen.
Tafel Xni.
Fig. i. Kopf von Hexanchus griseus in '-/a natüii. Gr. Die Schädclhöhle ist
geofliief, nach rechts der Knorpel der Nasah-egion bis auf den Bulbus
olfactorius abgetragen. Auf derselben Seite ist der Augapfel sammt
Muskeln, Opticus und dem Stützknorpel des Bulbus entfernt; der Knor-
pel der Labyrinthregion undOccipitalregion bis zu den Durchtritlsstellen
der llirnnerven abgetragen. Das Niveau dieser Stelle ist ein nach den
Nerven verschiedenes. Man sieht den durchschnittenen hinleren Bogen-
gang mit seiner Ampulle.
Linkerseits ist am Schädel die Orbita mit ihren Contentis oflcngelegt.
Der Rückgratcanal ist geöffnet und die Wände desselben sind bis
fast zu den Durchtritlsstellen der oberen Wurzeln der Spinalnerven abge-
tragen. Man sieht die durchschniltenen Bogen- und Iiilercruralknorpel.
Auf der ganzen rechten Hälfte ist die Muskulatur bis zum Visccral-
skelet entfernt.
Die Theile desGehirns sind nicht näher bezeichnet, da sie aus Fig. IF
leicht zu verstehen sind.
A. Lücke des Craniums, mit Gallertgewebe erfüllt.
N. Obere Wand der Nascnkapsel.
bo Bulbus olfaclorius.
tr. 0 Tractus olfactorius.
0. Opticus.
OS M. obliquus supcrior.
oi M. obliquus inferior.
ri M. rectus internus.
rs M. rectus superior,
re M. rectus t-xternus.
558 Erklärung der Abbildungen.
iS Spritzloch.
Va "Vena arteriosa der Spritzlochkieme.
ßr', ßr», ßr»', Brlü, Br" , Br"^ Kiementaschen.
K Oberes Stück des Kieferbogens (Palatoquadratum).
Z Oberes Stück des Zungenbeinbogens (Hyomandibulare)
1, 2, 3, 4, 5, 6 Kiemenbogen.
M Rückenmark.
rd Obere Wurzeln der Spinalnerven.
P Spinalnerven.
Tr Nervus trochlearis.
Oin Oculomotorius.
Tr Stamm des T r i g e m i n u s.
a Ramus ophthalmicus.
h R. ethmoidalis.
c lateraler Ast desselben.
d medialer Ast.
e Ramus maxillaris inferior.
f Rami buccales.
(j Vorderer Theil des Ranuis maxillaris superior.
h Ramus maxillaris inferior.
t Rami buccales.
Fa. Nervus facialis.
fc Ramus palatinus.
/ Spritzlochast.
m Ramus hyoideus.
n Ramus mandibularis exlernus.
Gp. Glossopharyngeus.
a Ramus anterior.
ß Ramus posterior.
Vg. Vagus.
Vg' Erster Ramus branchialis des Vagus.
Vg" Ramus branchio-intestinalis.
/ Ramus intestinalis.
L Ramus lateralis N. vagi.
('. Ramus anterior 1
ß Ramus posterior } eines R. branchialis. N. Vagi.
Y
Ramus pharyngeus J
Fig. 2. Gehirn von Hexanchus griseus von der Dorsalscite in natürlicher
Grösse. (Nach einem von H. Miklucuo-Maclay der hiesigen anatom.
Sammlung übergebenen Präparate). Das Vorderhirn [Vh] ist nicht voll-
ständig dargestellt. Zwischenhirn (Z/t) und Mittelhirn [Mh) nur in Um-
rissen. — Von der Medulla oblongata ist die rechte Hälfte des Daches
des Ventriculus quartus weggenommen. Die linke Hälfte befindet sich
noch in situ. — Die Bezeichnung der Nervenstämme ist mit der für
Fig. \ gegebenen übereinstimmend.
Lt Lobus nervi trigemini.
a vorderer j ^^^^^^ der Trigeminuswurzel.
h hmtcrer | °
f
Rrklfirung dor Abbildiiiißen. 550
« obere I pq^^jq^ (jgg hinteren Wurzclstammcs.
ß untere )
g Lobi nervi vagi.
s Ungetlieilter Abschnitt des Seitenstranges der Medulla oblongata.
s' Obere Lamelle derselben, die Lobi nervi vagi tlicilwcise deckend.
p Vordere Pyramidenstränge der Medulla oblongata.
vg Vordere Vaguswurzeln.
Fig. 3. Orbitalnerven von Squatina vulgaris.
Natürliche Grösse. Die rechte Orbitalhöhle ist von oben biosgelegt.
Lk Vorderer/ , ,. , „,
Lk' hinterer | ""^^'^^ L.ppenknorpel.
rs, ri, re, os, oi Augenmuskeln wie in Fig. 1 .
V Durchschnittsstelle des hinleren Orbitalfortsatzes des Craniums.
S Rechles Spritzloch.
0 Opticus.
Tr Trochlearis.
om Oculomotorius.
ab Abducens.
Tr' Ramus ophthalmicus N. Irigemini, bei op abgeschnitten.
ci Ciliarnerv desselben.
Tr" Ramus maxillaris superior.
a Infraorbitalis.
b Endverzweigung desselben zwischen den Lippenknorpeln.
c Durclischniltene Zweige.
lieber die Aethyhliacetsäiire und eiiiise Abköuiuiliii<i'e derselben.
Von
A. Geuther.
I. Ueber die beste D.arstellungsweise der Aetliyldiaeetsäure.
Wenn man Natrium auf Essigsäureälher einwirken lässt, so hängt
es von der relativen Menge beider ab, ob man viel vom Nalriumsalz
der Säure oder weniger und dann mehr von den Producten erhält,
welche dieses Salz bei der Einwirkung von Wärme liefert. Wendet
man, so wie ich früher angab, auf 100 Th. Essigälher 12 Th. Natrium
an '), so wird in Folge der anhaltenden Erwärmung, welche nöthig ist,
die letzten Mengen von Natrium in Lösung zu bringen, ein Theil des
gebildeten Natriumsalzes schon unter Bildung harzartiger Producte,
Dehydracetsäure u. a. verändert'^). Es ist deshalb für die Darstellung
von Aethyldiacetsäure vortheilhaft, einen grossen Ueberschuss von Es-
sigälher anzuwenden, damit die Lösung des Natriums vollständig schon
bei niederer Temperatur sich vollendet, wie dies bei einem früher von
mir zu anderem Zwecke aufgestellten Versuche geschehen war, wobei
unter Anwendung von 4 Pfund Essigäther und 60 Grm. Natrium
165 Grm. Säure erhalten wurden''). Diese Menge entspricht einer
Menge Natriumsalz, in welcher fast genau die Menge des angewandten
Metalls enthalten war und welche überhaupt die grösste ist, welche
unter diesen Umständen gebildet werden wird.
4) Diese Zeilschrift Bd. II. p. 390.
2) Ebend. p. 397.
3] Zeit.'icilrifl f. Chemie. N. F. Bd. 4. p. tiO.
Ucbi'i' die AeMiyhliiioelsünrc und einige Abköimiilingc deiselk'ii. HG I
II. lieber die Einwirkung von Pliospliorpenlaclilorid auf
Aethyldiacetsiiure.
Phosphorpentachlorid wirktauf Aelhyldiacelsäure leicht, al)cr ohne
starke Erwärmung und unter Entwickluni^ gasförmiger Producle ein.
Um die Einwirkung zu vollenden, sind 2 Mgte. des ersteren, auf I Mgt.
des letzteren, oder 330 Grm. auf 100 Grm. nöthig. Schliesslich voll-
endet man die Reaclion durch gelindes Erwärmen. Man wendet am
besten eine geräumige Kochflasche an, in welche man die Aelhyldiacet-
säure bringt, schtlttet aus einer anderen ebensolchen das Phosphorpen-
tachlorid in kleinen Mengen zu und verschliesst die crstere Kochflasche
beständig zur Abhaltung von Feuchtigkeit durch einen mit einem olTe-
nen Chlorcalciumrohr versehenen Kork. In dem Maasse, wie die Ein-
wirkung unter Verschwinden des PhosphorpentachloridS und unter
Entwicklung von Gasen fortschreitet, bräunt sich die Flüssigkeil, bis
sie schliesslich eine dunkelrolh braune Farbe angenommen hat.
Die bei der Einwirkung reichlich sich entwickelnden Ga'se bestehen
aus Salzsäure hauptsächlich und Ghloräthyl. Ghloracetyl bildet sich
nicht, denn weder konnte im vorgeschlagenen Wasser, noch bei der
Zersetzung des niedrigst siedenden Destillationsproductes mit Wasser
Essigsäure gefunden werden.
Die gebildete Flüssigkeit besteht aus Phosphoroxychlorid und den
Ghlorüren mehrerer Säuren ; sie destillirt unter Zurücklassung eines
kohligen Rückstandes bis zu 160° über. Das bei 120*^ DeslilHrende
besteht hauptsächlich aus Phosphoroxychlorid, es zcrtelzt sich unter
starker Erhitzung mit Wasser und abs. Alkohol, das zwischen 120^ und
1 40*^ Uebergegangene enthält weniger Phosphoroxychlorid, es zersetzt
sich mit Wasser und abs. Alkohol weniger heftig, während das zwischen
140" und 1G0" Destillirle eine noch geringere Erwärmung bei seiner
Zersetzung mit Wasser und abs. Alkohol verursacht. Da bei wieder-
holter Destillation des Productcs immer etwas kohliger Rückstand bleibt,
also dabei eine theilweise Zersetzung stattfindet, und da ferner die Zer-
setzungsproducte mit abs. Alkohol auch nicht durch Destillation in rei-
nem Zustande zu erhalten waren, so wurde die Zersetzung mit Wasser
zur Trennung der gebildeten Producte resp. deren Zersetzungsproducte
angewandt.
Das durch die Einwirkung des Phosphorpentachlorids auf die
Aethyldiacetsäure erhaltene unmittelbare Product wird nach dem Er-
kalten zu kaltem Wasser, welches sich in einem von aussen gut abge-
kühlten Kolben befindet, allmählich gegossen. Nach jedesmaligem Um-
schülteln löst es sich leicht auf. Der Kolben wird darauf mit einem
Bd. VI. 4. 38
562 A. Geuther,
Kühler verbunden und erhitzt. Zuerst destillirt neben Wasser resp.
Salzsäure ein klares, auch bei starker Abkühlung nicht erstarrendes
Oel reichlich über, allmählich vermindert sich die Menge desselben und
die mitdestillirende wässrige Flüssigkeit wird milchig. Da nun bei guter
Kühlung das noch mitdestillirende Oel krystallinisch erstarrt und die
milchige Flüssigkeit gleichfalls Krystalle liefert, so ist es gut anfangs
stark zu kühlen, wenn aber dieser Zeitpunkt eingetreten ist, die Vor-
lage zu wechseln und gar nicht mehr zu kühlen, damit das Wasser im
Kühler warm werde oder das kalte Wasser in Letzterem durch warmes
zu ersetzen, um ein leicht eintretendes Zukrystallisiren des Kühlrohrs
zu verhindern. Bei fortgesetzter Destillation nimmt die milchige Be-
schaifenheit des Destillats wieder ab; ist das Letztere längere Zeit völ-
lig klar übergegangen, so unterbricht man die Destillation.
Die auf diese Weise gewonnenen zwei Destillate und der Rück-
stand enthalten jedes der Hauptsache nach ein bestimmtes, aber mit
dem andern noch gemengtes Product, nämlich das erste Destillat ein
mit den Wasserdämpfen sehr leicht übergehendes, nicht erstarren-
des neutrales Oel, das zweite Destillat eine mit den Wasserdämpfen
sich leicht verflüchtigende Säure und der Rückstand eine mit den
Wasserdämpfen sich nur s e h r schwer verflüchtigende Säure. Durch
wiederholte gleiche Destillationen mit Wasser erreicht man eine weitere
Trennung der in den beiden ursprünglichen Destillaten enthaltenen
Substanzen, während eine Anzahl von wässrigen Rückständen bleibt,
welche noch schwer flüchtige Säure enthalten. Vollständig rein wird
schliesslich das neutrale Oel, welches immer noch viel der leicht flüch-
tigen Säure gelöst enthält, gewonnen, wenn man dasselbe wiederholt
mit einer conc. überschüssigen Lösung von Natriumcarbonat schüttelt,
bis alle Säure gebunden ist und keine Kohlensäure mehr entweicht,
und es dann abdestillirt. Das rückständig bleibende Natriumsalz mit
Schwefelsäure übersättigt, liefert die gelöst gewesene Säure, welche
gleichfalls mit den W^asserdämpfen überdestillirt wird. Dieselbe wird
abfiltrirt, mit den bei den früheren Destillationen krystallisirt abge-
schiedenen reinen Portionen vereinigt und unter wenig Wasser zusam-
mengeschmolzen. Aus den dabei erhaltenen Filtraten kann die gelöste
Säure durch wiederholte kurze Destillationen gewonnen werden. Zur
Reindarstellung der schwerflüchtigen Säure wird der ursprüngliche
Destillationsrückstand sammt den späteren ebensolchen mit Natrium-
carbonat neutralisirt, von einer grösseren Menge eines ausgeschiedenen
dunklen Harzes durch Filtriren getrennt, eingedampft, ein Theil des
Natriumphosphats auskrystallisiren gelassen und die noch braune Mut-
terlauge schliesslich zur Trockne eingedampft. Der Rückstand wird
Uehor Aw AotliyldiivcelsSiirf und einige Aliköiiiinliiiifc (Icrsolhcii. 5(33
mit Alkohol völlig; ausgezogen, welcher das Salz der Säure auflöst,
wühlend Nalriuniphosphat und Kochsalz völlig ungelöst bleiben. Nach
dem Abdestilliren des Alkohols wird die conc. wässrige Lösung der
vollständigen Entfernung allen Alkohols halber noch einige Zeit erhitzt,
darauf mit überschüssiger Schwefelsäure versetzt und zur Entfernung
von noch etwa vorhandener leichlflüchtigen Säure mit dem Kühler ver-
bunden gekocht. Sobald das Uebergchende ganz wasserhell erscheint
und keine Spur von Oel mehr enthält, wird erkalten gelassen und der
Kolbenrückstand mit alkoholfreiem Aelher wiederholt ausgezogen. Nach
dem Entwässern der ätherischen Lösung mittelst Chlorcalcium und
Abdestilliren des Aethers bleibt ein braunes Oel zurück, das beim
Stehen über Schwefelsäure fast vollständig krystallinisch erstarrt. Zur
Reinigung wird die wässrige Lösung der Krystalle mit Thierkohle ent-
färbt und durch langsames Eindunsten zur Kryslallisation gebracht.
Die nicht weiter Krystalle liefernde Mutterlauge besteht aus der wäss-
rigen Lösung einer ölföimigen Säure, welche, obwohl nur in geringer
Monge vorhanden, doch die Ursache ist, dass eine grössere Menge der
kryslallisirenden Säure gleichzeitig in Lösung erhalten wird.
Die auf diese Weise erhaltene, mit den Wasserdämpfen sich sehr
schwer verflüchtigende Säure ist im Folgenden mit dem Namen Mo-
nochlortetracr y Is äure bezeichnet. Sie hat die nämliche Zu-
sammensetzung, wie die sich milden Wasserdämpfen leicht verflüch-
tigende Säuie, welche den Namen Monochlor qua rtenylsäurc
erhallen hat.
1. Monochlorquarten y Isäure.
Es ist dies dieselbe Säure, deren Eigenschaften und Salze von
0. Frülicu unter dem Namen »Monochlorcrotonsäure und ihre Salze«
früher beschrieben worden sind ') . Dies geschah zu einer Zeit, da die
Angaben Schlippe's über die flüchtigen Säuren des Crotonöls noch nicht
als falsch erkannt waren und speziell die Nichtexistenz einer Säure von
der Formel G'H''0'^ unter ihnen noch nicht erwiesen war. Seitdem ist
das geschehen 2) und in Folge dieser Erkenntniss der Name »Croton-
säure« für eine Säure C^H^O^, welche zum Crotonöl in gar keiner Be-
ziehung steht, als unpassend aufzugeben. Der Name »Quartenylsäure«
ist nach der von A. W, IIofmann vorgeschlagenen Nomenclatur der Koh-
lenwasserstofleä) gebildet: zu dem Quartenyl (G^Il^) steht die Quarte-
1) Diese Zeitschrift I3d. V. p. Si.
2) Ebend. Bd. VI. p. 45.
3) Jahresbericht f. 1865. p. 413.
38*
564 A. Geiilher,
nylsäure (von welcher unsere Saure ein Chlorsubslilutionsproduct ist)
in derselben Beziehung, wie die Essigsäure zum Aethyl,
Den am angeführten Orte mitgetheilten Eigenschaften der Saure
und ihrer Verbindungen ist hier nichts weiter hinzuzufügen, als etwa,
dass die Säure mit überschüssiger Kalilauge ohne Zersetzung gekocht
werden kann.
2. Monochlortetracrylsäure.
Diese Säure bildet farblose, lange, stark lichtbrechende, nadel-
oder säulenförmige monokline Kryslalle, welche bei 94^ unverändert
schmelzen und zwischen 206" und 211*^ deslilliren. Dabei findet theil-
weise Zersetzung statt, indem unter bemerkbarem Salzsäureauslritt eine
niedriger schmelzende oder flüssige Substanz gebildet wird. Das etwas
schmierig erscheinende Destillat schmilzt bei 89^. Die Monochlortetra-
crylsäure ist in Wasser leichter löslich als die mit ihr metamere Mono-
chlorquartcnylsäure: 35,2 Th. Wasser von 19° lösen 1 Th. der Säure.
Beim Sieden ihrer Lösung verflüchtigt sie sich mit den Wasserdämpfen
nur langsam, aber unverändert.
0,2129 Grm. der über Schwefelsäure getrockneten und darauf vor-
sichtig geschmolzenen Säure gaben 0,0853 Grm. Wasser und 0,3053 Grm.
Kohlensäure, was 0,009478Grm. = 4,4Proc. Wasserslofl" und 0,083264
Grm. =39,1 Proc. Kohlenstolf entspricht.
0,2058 Grm. lieferten 0,2455 Grm. Ghlorsilber, entsprechend
0,060733 Grm. = 29,5 Proc. Chlor.
ber.
gef.
C^ = 39,8
39,1
H^ = 4,1
4,4
Gl = 29,5
29,5
02 = 26,6
—
100,0
Die Monochlortetracrylsäure ist eine ziemlich starke Säure, welche
leicht die kohlensauren Salze zersetzt. Mit überschüssiger Kalilauge
kann sie nicht ohne Zersetzung gekocht werden (siehe unten : Tetrol-
säure). Von ihr sind bis jetzt die folgenden Salze, welche z. Th. in
Wasser sehr leicht löslich sind, dargestellt worden.
Natriumsalz. Glänzende, dünne, blättrige, luftbeständige Kry-
slalle, welche in Wasser ungemein leicht löslich sind, noch leichter als
<las Natriumsalz der Monochlorquartenylsäure und sich gleichfalls in
Alkohol leichter als das letztere Salz lösen.
0,0883 Grm. luftlrocknes Salz verloren über Schwefelsäure und
lieber die Aeüiyldiacclsiiiiro und cmgc Abköininliiigc derselben. 565
im Luftbcid bei 100— 105'» 0,0058 Grni. = 0,0 Froc. Wasser und lie-
ferten 0,0414 Grm. Nalriumsulfat, entspr. 0,01341 Grm. = 15,2 Proc.
Natrium.
Für die Formel: ^[G'II'CIO^Naj -f OII'^ berechnen sich G,0 Proc.
Wasser und 15,2 Proc. Natrium.
Baryumsalz. Dicke farblose riiombisrhc Octaeder, welche" in
Wasser leicht löslich sind, indem 1 Th. derselben zurLösungnur2,2Th.
Wasser von 1 8" bedürfen.
0,4166 Grm. der lufltrocknen Krystalle verloren weder Über
Schwefelsäure, noch beim Erhitzen auf 110" an Gewicht und liefer-
ten 0,2557 Grm. S0'Ba2, entsprechend 0,150347 Grm. = 36,1 Proc.
Baryum.
Die Formel: C^H^ClO^Ba verlangt 36,4 Proc. Baryum.
Die wässrige Lösung der Krystalle fallt Silbernitratlösung weiss,
fein krystallinisch, dagegen nicht die Lösungen von Blei- und Kupfcr-
Acetat.
Kupfersalz. Kleine dicke blaue Krystalle, welche sich beim
Eindunsten der blauen Lösung von Kupfercarbonat in der Säure über
Schwefelsäure ausscheiden.
0,1392 Grm. lufltrockner Krystalle verloren bei 100 — 102", indem
sie grün wurden, 0,0043 Grm. = 4,0 Proc. Wasser und hinterliessen
beim Glühen an der Luft 0,0328 Grm. Kupferoxyd, entspr. 0,02619
Grm. = 18,8 Proc. Kupfer.
Die Formel : [6^11^0102] 2Cu + OH2 verlangt 5,6 Proc. Wasser und
19,8 Proc. Kupfer.
Silber salz. Fein krystallinischcr Niederschlag, welcher beim
Vermischen der Lösungen von Argentinilrat und dem Baryumsalz der
Säure entsteht.
Monochlorlelracrylsäure-Aethyläther. Wird durch
mchrlägigt^sDigeriren der Säure mit durch Salzsäuregas gesättigtem Al-
kohol, Ausscheiden mit Wasser und Rectificiren erhalten. Er ist eine
farblose, stark lichtbrechende Flüssigkeit von einem angenehmen aro-
malischen, den des Monochlorquartenylsäure-Aethers sehr ähnlichen
Geruch. Erdestillirt bei 184" corr. unverändert und besitzt das spez.
Gewicht 1,U I bei 16", 5. Seine Zusammensetzung ist: C4H4C102. C2H\
0,2590 Grm. des bei 180—181 (uncorr.) siedenden Haupttheils
gaben 0,4633 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,126356 Grm. = 48,8 Proc.
Kohlenstoff und 0,1461 Grm. Wasser, entspr. 0,016233 Grm. =6,3
Proc. Wasserstoff.
56G A. Geuther,
be r.
gef.
C6= 48,5
48,8
H9= 6,1
6,3
Cl= 23,9
—
02= 21,5
—
100,0
3. Das ölförmige Product.
Dasselbe stellt eine farblose, und wenn es zur Entfernung etwa
darin gelöster Monochlorquartenylsäure mit überschüssiger Natrium-
carbonatlösung genügend gewaschen worden ist, auch eine neutral rea-
girendo Flüssigkeit dar, welche schwerer als Wasser ist. Nach dem
Entwässern mittelst Calciumchlorids destillirt geht sie von 155 — SOO**
über, zuletzt unter theilweiser Zersetzung. Da innerhalb dieser Gren-
zen die Siedepunkte des Aethyläther von der Monochlorquartenylsäure
(161^,4) und von der Monochlortetracrylsäure (184o) liegen, so war es
wahrscheinlich, dass das ölförmige Product der Hauptsache nach ein
Gemenge dieser beiden Aethylverbindungen sei, womit auch der Ge-
ruch desselben in üebereinstimmung war. Um dies zu beweisen, wur-
den verschieden siedende Theile der Analyse unterworfen.
0,2107 Grm. einer zwischen 158 und löQ*^ destillirten Portion lie-
ferten 0,2084 Grm. Argentichlorid, was 0,051556 Grm. = 24,4 Proc.
Chlor entspricht.
0,2458 Grm. einer zwischen 161 und 163^ destillirten Portion
gaben' 0,4323 Grm. Kohlensäure, entspr. .0,1179 Grm. = 48,0 Proc.
Kohlenstoff und 0, 1 429 Grm. Wasser, entspr. 0,01 5878 Grm. =6,5 Proc.
Wasserstoff.
0,1966 Grm. des zwischen 175 — 180^ unter geringer Zersetzung
siedenden Theils gaben 0,31 95 Grm. Kohlensäure entspr. 0,0871 36 Grm.
= 44,3 Proc. Kohlenstoff und 0,1069 Grm. Wasser, entspr. 0,011878
Grm. = 6,0 Proc. Wasserstoff.
ber.
gef.
C6= 48,5
—
48,0
44,3
m= 6,1
—
6,5
6,0
Gl = 23,9
24,4
—
—
02= 21,5
—
—
—
100,0
Diese Resultate zeigen in der That, dass der Haupltheil des öligen
Products aus Monochlorquartenylsäureäther und Monochlortetracryl-
Ueber die AetliyWiiicelsiimc und einige Abkömiiiliiijre derselben. 567
säureälhci* besieht, dass dem letzteren aber noch ein nicht unverändert
dcslillirbares Prodiict beigemengt ist.
Zur weiteren Bestätigung dieses Nachweises und um zugleich die
helrelTenden Säuren zu gewinnen, wurden die das ölförmige Product
ausmachenden Aether wieder gleichförmig gemischt und mit Hülfe von
conc. wässriger Salzsäure zersetzt. Sie wurden dazu mit dem 3fachen
Volum der Säure in Ilühren eingeschlossen und während mehrerer Tage
im Oelbad bis auf 1 25*^ erhitzt. Von Zeit zu Zeit wurden die Röhren
erkalten gelassen und nach dem Oeffnen in der Flamme durch Stellen
in warmes Wasser von dem gebildeten Aethylchlorid befreit, von Neuem
zugeschmolzen und so fort verfahren, l)is eine Bildung von Chloräthyl
nicht mehr zu bemerken war. Es w ar nun nur noch eine geringe Menge
Oel übrig geblieben, welches von Neuem mit conc, Salzsäure einge-
schlossen und erhitzt nicht weiter verändert wurde. Dasselbe besitzt
einen eigenthümlich scharfen Geruch und destillirt zwischen 165 und
195*^ Ül)er. Da dasselbe hiernach offenbar ein Gemenge darstellte und
seine Zersetzung der geringen Mengesubstanz halber nicht ausführbar
war, so w urde es nicht weiter untersucht. Wird der gesammte wäss-
rige Röhreninhalt, welcher eine braune Farbe angenommen hat, in einen
Kolben gebracht und gekocht, so destillirt zuerst noch eine Kleinigkeit
des el)enerwähnten Oels, darauf aber Monochlorquartenylsäure, wäh-
rend, wenn diese nicht mehr übergeht, im Kolbenrückstand viel Mono-
chlortetracrylsäure enthalten ist, welche durch alkoholfreien Aether
leicht ausgezogen werden kann. Nach dem Verdunsten des Aethers
bleibt sie, von nur ganz wenig einer nicht weiter untersuchten öligen
Säure durchtränkt, krystallinisch zurück, Sie wird aus Wasser um-
krystallisirt und dabei mit Thierkohle entfärbt. Die Ölige Säure findet
sich als sehr leicht löslich in der letzten Mutterlauge. Sie sowohl als
das durch Salzsäure nicht weiter angreifbare Oel sind offenbar die Zer-
setzungsproducte jener im ursprünglichen Oel enthaltenen Substanz,
welche die bei der Destillation der höher siedenden Thcile beobachtete
geringe Zersetzung verursacht.
Eine Zersetzung des Aethergemisches mit Hülfe von überschüssi-
ger Kalilauge an Stelle von Salzsäure gelingt vorzüglich bei Zusatz von
etwas Alkohol und Erhitzen im Wasserbade leicht, dabei bleibt aber
nur die Monochlorquartenylsäure unverändert, während die Monochlor-
tetracrylsäure unter Austritt von Chlor und Wasserstoff in eine Säure
von der Zusammensetzung C^Il^O^ (siehe »Tetrolsäure«) verwandelt
wird.
568 A. Geutber,
Die wesentlichen Producle der Einwirkung von Pliosphorpenla-
chlorid auf Aethyldiacctsäureäther sind also die Chloride der Monochlor-
quartenylsäureundder Monochlortelracrylsäurc, die Aelher dieser beiden
Säuren, Aethylchlorid, Salzsäure, Phosphoroxychlorid und ein die
braune Färbung bewirkender beim Destilliren der mit Wasser zersetz-
ten Producte als braunes Harz zum Vorschein kommender I^örper. Ab-
gesehen von diesem letzteren lässt sich die Bildung der ersteren aus
der Aethyldiacetsäure durch folgende einfache Gleichungen ausdrücken :
C6H10O3 -f- 2 PC15 = C^H^GIO, Gl + G2H5G1 + HGl + 2 POGl^.
C6H10O3 4- PG15= G^H4C102, G2H5 + HCl + POGP.
Dass der erwähnte harzartige Körper ein wesentliches Zerselzungspro-
duct ist, geht daraus hervor, dass die Mengen von Ghlorquartenylsäure,
Chorletracrylsäure und den Aethern beider, welche erhalten werden,
verhältnissmässig kleiner sind. Aus 600 Grm. Aethyldiacetsäure wur-
den erhalten: 105 Grm. reine Monochlorquartenylsäure, 36 Grm. reine
Monochlortetracrylsäure, 76 Grm. des neutralen Aethergemisches beider
Säuren und 36 Grm. der über Schwefelsäure nicht weiter eindunsten-
den und Krystalle abscheidenden Mutterlauge der Chlortetracrylsäure,
welche aus dieser Säure zu 2/., noch bestehen mochte. Die Mengen der
beiden metameren Säuren sind also, wie man sieht, nicht gleich gross,
es wird mehr Monochlorquartenylsäure als Monochlortetracrylsäure er-
halten, was gewiss in der leichteren Veränderlichkeit der letzteren
Säure mit begründet ist.
4. Quartenyl säure.
Eine gesättigte Lösung des Natriumsalzes der Monochlorquartenyl-
säure wird mit Nalriumamalgam bei gewöhnlicher Temperatur zusam-
mengebracht und häufig umgeschüttelt. Dabei findet unter geringer
Erwärmung der Flüssigkeit anfangs nur spärliche Wasserstoffentwick-
lung, die erst gegen das Ende der Reaction etwas reichlicher wird,
statt. Sobald diese letztere gleichförmig weiter geht, kann die Reaction
als beendigt angesehen w erden. Die alkalische Lösung wird vom Queck-
silber abgegossen, filtrirt, mit Schwefelsäure übersättigt und mit alko-
holfreiem Aether wiederholt durchgeschüttelt. Nach dem Entwässern
der ätherischen Auszüge mittelst Chlorcalcium wird der Aether aus dem
Wasserbade abdestillirt und die zurückbleibende ölförmige Säure^recti-
ficirt, Sie geht fast ganz zwischen 168^ und ITo^ über und nur wenn
die angewandte Ghlorquartenylsäure] etvsas Chlortetracrylsäure enthält,
destillirt ein dem entsprechender Theil etwas höher. Die auf diese
Ucber die Aclliyliliacelsiiiire und ciiii^ic AliköininliiiKf dcrscllii'ii. 569
Weise enlstehendc Säure ist ehiorfrei und hat, wie die folgende Analyse
zeigt, die Zusnmnicnsetzung : C'IF'O^.
0,2500 Gni). des zwischen 168 und IG'J" destillirten Thcils gaben
0,5105 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,139227 Grni. = 55,6 Proc. Koh-
lensloflund 0,1677 Grni. Wasser, enlspr, 0,018633 Grni. = 7,4 Proc.
Wasserstoff.
bc r.
gcf.
C^= 55,8
55,6
11«= 7,0
7,i
02= 37,2
—
100,0
Die Quar tenylsäurc ist eine farblose ölige Flüssigkeit von
stechendem, an Buttersäure erinnernden Geruch , welche selbst bei
— 1 5" nicht fest wird und sich mit Wasser in allen Verhältnissen mi-
schen lässt. Ihr Siedepunkt liegt bei 17l,90corr., ihr spec. Gewicht
ist 1,018 bei 250.
Sie entsteht aus der Monochlorquartenylsäure nach der Gleichung :
G4H'C102 + 2H = C^lF-02-|-HCl.
Aus 12 Grm. der ersteren wurden 7,5 Grm. der letzteren gewonnen.
Von den Salzen der Quartenyl säure sind die folgenden dar-
gestellt worden :
Natriumsalz. Aus der mit Natriumcarbonat gesättigten Lösung
der Säure krystallisirt es nach dem Eindampfen in nadeiförmigen, in
Wasser sehr leicht löslichen, in feuchter Luft zerfliesslichen Krystallen.
Baryumsalz. Kleine luflbeständige, sehr leicht in Wasser lös-
liche Krystalle, welche beim Sättigen der Säurelösung mit Bariumcar-
bonat nach dem Eindampfen der filtrirten Lösung erhallen werden.
Ihre Zusammensetzung entspricht der Formel : C^H502, Ba ^- OfP.
0,2763 Grm. des lufltrocknen Salzes verloren über Schwefelsäure
und dann im Luftbad auf 105'^ erhitzt 10,6 Proc. Wasser und hintcr-
liessen nach dem Glühen 0,1571 Grm. Baryumcarbonat, entspricht
0,10925 Grm. = 39,5 Proc. Baryum.
Die obige Formel verlangt: 10,5 Proc. Wasser und 39,9 Proc.
Baryum.
Calci um salz. Sehr leicht lösliche concenlrisch gruppirte, oft
sternförmig an einander gereihte Nadeln oder Blättchen von der Zusam-
mensetzung : 0^11502, Ca 4- 0H2.
0,3695 Grm. lufttrocknes Salz verloren über Schwefelsäure und
schliesslich im Luftbad bis 1 02" erhitzt 0,0504 Grm. = 1 3,7 Proc. Was-
ser und hinterlicssen nach dem Glühen 0,0861 Grm. Calciumoxyd, ent-
570 A. Geuther,
spricht 0,615 Grui. = 16,6 Proc. Calcium. Die Formel verlangt:
14,6 Proc. Wasser und 16,3 Proc. Calcium.
Bleisalz. Feine verfilzte in der Flüssigkeit hell und durchsich-
tig, nach dem Trocknen weiss und atlasglänzend erscheinende Nadeln,
welche bei 68^ zu einer halbdurchsichtigcn Masse schmelzen, die auch
nach dem Erkalten amorph bleibt. Sie haben die Zusammensetzung :
(G^H502)2Pb + OH2. Entstehen durch Auflösen von Bleicarbonat
in wässriger, warmer Quarlenylsäurelösung.
0,3016 Grm. lufttrocknes Salz verloren bei 100« 0,0108 Grm.
= 3,6 Proc. Wasser und lieferten 0,2284 Grm. Bleisulfat, entspricht
0,15604 Grm. =51,7 Proc. Blei.
Die Formel verlangt: 4,6 Proc. Wasser und 52,4 Proc. Blei.
Sil bersalz. Die Lösung des Natriumsalzes giebt mit Argentini-
trat einen weissen käsigen, in Wasser fast unlöslichen, am Lichtesich
nur langsam schwärzenden Niederschlag von der Zusammensetzung :
(C*H''02)2Ag.
0,2645 Grm. von einer ersten, durch zur vollständigen Umsetzung
ungenügenden Silbernitratmenge bewirkten Fällung verloren lufttrocken
angewandt beim Erhitzen auf 95** (bei höherer Temperatur tritt Bräu-
nung ein) nichts am Gewicht und lieferten 0,1937 Grm. Chlorsilber,
entspr. 0,14578 Grm. = 55,1 Proc. Silber.
0,2051 Grm. derselben Fällung über Schwefelsäure getrocknet
gaben 0,1838 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,050127 Grm. = 24,4 Proc.
Kohlenstoff und 0,0544 Grm. Wasser, entspr. 0,006044 Grm. = 2,9
Proc. Wasserstoff.
0,2726 Grm. durch völlige Ausfällung des Filtrats der ersten Fäl-
lung durch Silbernitrat erhalten und bei 95" getrocknet, lieferten
0,1996 Grm. Chlorsilber, entspr. 0,150222 Grm. = 55,1 Proc. Silber.
ber.
gef.
CS = 24,9
24,4 —
Hio= 2,6
2,9 —
Ag = 55,9
55,1 55,1
04= 16,6
— —
100,0
Die Lösung der quartenylsauren Salze giebt mit Ferrichlorid
eine braungelbe, flockige, mit Cupriacctat eine hellblaue, in kleinen
Mengen fast weiss erscheinende Fällung.
Quartenylsäure - Aethyläther. Farblose, eigenthümlich
nicht unangenehm riechende bei 136** corr. siedende Flüssigkeit, deren
spez. Gew. 0,927 bei 19<* ist.
lieber die Ai'tliyldiaci'lsiiiirc und einige Abköiüinlinge derselben. 571
0,1884 Gi-ni. des bei 134—1350 destillirtcn Theils gaben 0,4381
Grill. Kohlensäure, entspr. 0,11948 Grm. = 03,5 Proc. Kohlcnsloir
und 0,1 539 Gnu. Wasser, enlspr. 0,0171 Grm. = 9,1 Proc. Wassersloü".
b e r. g 0 f.
' C6 = 63,1 63,4
W 111"= 8,8 9,1
02 = 28,1 —
400,0
Die Zersctzuag, welche die Qua rlenyl säure beim Schmel-
zen m il Ka 1 i h yd ra t erleidet, wurde auf folt^ende Weise untersucht.
Die mit Kalilauge neulralisirte Lösung der Säure wurde zur Trockne
eingedampft und mit der dreifachen Menge gepulverten Kalihydrats ge-
mischt im Silbertiegel so lange vorsichtig geschmolzen, bis die anfangs
auftretende starke WasscrstofTgascntwicklung nachliess. Die Schmelze
wurde nach dem Erkalten gelöst, mit Schwefelsäure übersättigt und
destillirt. Es wurden 2 saure Destillate erhalten, das zuerst überge-
gangene Destillat A. und das zuletzt üi)ergegangcne Destillat B. Das
erste Destillat A. wurde nahezu zur Hälfte wieder mit Natriumcarbonat
ncutralisirt und abermals destillirt. Das erhaltene saure Destillat wurde
mit Natriumcarbonat schwach übersättigt, zur Trockne eingedampft
und mit abs. Alkohol ausgezogen. Der nach dem Abdestilliren des Al-
kohols verbleibende Rückstand (I.) betrug nur wenig und wurde ganz
zu einer Natriumbestimmung verwandt.
I. Die 0,091 3 Grm. desselben wurden nach dem Trocknen bei 120"
erst vorsichtig geschmolzen, w'as ohne Verlust geschah, und darauf ver-
brannt. Es hinterblieben 0,Oö15Grm. weisses geschmolzenes Natrium-
carbonat, entspr. 0,02235 Grm. =24,5 Proc. Natrium.
Der verbliebene Destillationsrückstand wurde nun mit Natrium-
carbonat genau neulralisirt, im Wasserbade zur Trockne gebraciit und
mit einer zu seiner Lösung unzureichenden Menge abs. Alkohols dige-
rirt. Das Gelöste (IL) sowohl, als das Ungelöste (IIL) wurde jedes für
sich ganz zur Analyse verwandt.
IL 0,1396 Grm. getrocknetes und ohne Verlust schmelzbares Salz
hinterliessen nach dem Verbrennen 0,0879 Grm. Natriumcarbonat, ent-
spricht 0,038145 Grm. = 27,3 Proc. Natrium.
IIL 0,1114 Grm. ebenso geschmolzenes Salz gaben 0,0706 Grm.
Natriumcarbonat, enlspr. 0,030638 Grm. = 27,5 Proc. Natrium.
Das letzte Destillat B. wurde ebenfalls mit Natriumcarbonat schwach
übersättigt, zur Trockne gebracht und mit abs. Alkohol behandelt. Das
572 A. Gi'uther,
darin Lösliche (IV.) wurde nach dem Abdestilliren des Alkohols zur
Analyse verwandt.
IV. Die 0,1970 Grni. konnten nach dem Trocknen ohne Verlust
geschmolzen werden. Sie hinterliessen nach dem Glühen 0,1277 Grm.
Natriumcarbonat, entspr. 0,055417 Grm. = 28,1 Proc. Natrium.
Aus diesen Resultaten folgt, dass die Hauptmenge der Salze (II.,
III. und IV.), also etwa Y5 vom Ganzen, fast reines Natrium- Ac etat
war, welches 28,0 Proc. Natrium enthält, und dass der kleine Theil (I.),
also etwa 1/5 vom Ganzen, aus einem Gemisch der Natriumsalze von
Essigsäure und noch unveränderter Quartenylsäure (welches 21,3 Proc.
Natrium verlangt) bestanden hat. Darnach kann es aber keinem Zweifel
unterliegen, dass als Zersetzungsproduct der Quartenylsäure beim
Schmelzen mit Kalihydrat nur Essigsäure gebildet wird, nach der
Gleichung :
C^H502, K + KOH -f 0H2 = 2 (C2H302, K) 4- 2H.
Die Quartenylsäure stimmt darin also vollständig überein mit der
einen von den beiden bekannten metameren Säuren, nämlich der Te-
tracrylsäure (»feste Crotonsäure«) , unterscheidet sich darin aber von
der andern, der Methacrylsäure, welche mit Kalihydrat geschmolzen
Ameisensäure und Propionsäure liefert.
5. Tetra'crylsäure.
• (»Feste Crotonsäure«.)
Dieselbe entsteht aus der Monochlorletracrylsäui'c auf ganz analoge
Weise und unter analogen Umständen, wie die Quartenylsäure aus der
Monochlorquarlenylsäure. Die mit Natriumamalgam behandelte wäss-
rige Lösung des Natriumsalzes, bis eine gleichmässigc Wasserstoffent-
wicklung eintritt, wurde vom Quecksilber abgegossen, mit Schwefel-
säure übersättigt und mit Aether exlrahirt. Nach dem Deslillircn des
Aethcrs im Wasserbade bleibt die Säure geschmolzen zurück. Sie er-
starrte sehr rasch beim Erkalten zu farblosen Nadeln. Eine damit vor-
genommene Schmelzpunktsbestimmung ergab denselben zu 79, ö^ und
den Erstarrungspunkt zu 78^. Die Krystalle erwiesen sich ausserdem '
als frei von Chlor. Da der Schmelzpunkt der sogen, »festen Croton-
säure« aber bei 72^ und ihr Erstarrungspunkt bei 70, 5" liegt, so konnte
die beobachtete Abweichung wohl in der Beimengung einer höher
schmelzenden Substanz begründet sein. Die Krystallmasse wurde des-
halb zur Reinigung aus Wasser umkryslallisirt. Die den grösseren
Theil ausmachenden, zuerst ausgeschiedenen Krystalle, welche dicke
farblose Tafeln des monoklinen Systems darstellten, besassen nun in
Uebfir (lio Aclliyldiaootsrnirc und eiiiiKc Al)küiniiiliiiy,c (ler.sollioii. 57^
der Tliat den Schmelzpunkt 7I",I), den Erslanungspunkl 70" und aus-
serdem den corr. Siedepunkt 187^,4, wie iiin die Säure aus Cyanallyl
zeigt. Dass sie auch dieselbe Zusammensetzung wie die letztere he-
siissen, zeigt die folgende Analyse.
0,2890 Grm. der über Schwefelsäure getrockneten Kryslallc gaben
0,5912 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,161236 Grm. = 5f),7 Proc. Koh-
lenstofl'und 0,1830 Grm. Wasser, entspr. 0,020333 Grm. = 7,0 Proc.
Wasseivstod'.
ber.
gef.
C* = 55,8
55,7
H« = 7,0
7,0
ü-^= 37,2
—
100,0
Mit den späteren Krystallisationen stieg der Schmelzpunkt und
betrug bei der letzten 81 — 81,5", ohne dass äusserlich eine Verände-
rung an denselben wahrzunehmen gewesen wäre. Die Analyse dieser
Partie ergab folgende Zahlen: 0,1995 Grm. der geschmolzenen und
über Schwefelsäure getrockneten Krystalle gaben 0,4092 Grm. Kohlen-
säure, entspr. 0,1116 Grm. = 55,9 Proc. Kohlenstoff und 0,1 148 Grm.
Wasser, entspr. 0,012756 Grm. =6,4 Proc. Wasserstoff; also im
Kohlenstofl' eine Abweichung von nur 0,1 Proc, im Wasserstoff" von
0,0 Proc. von der Zusammensetzung der Tetracrylsäure. Darausgeht
schon zur Gnüge hervor, dass die höher schmelzenden Kryslalle zum
grössten Theil noch aus Tetracrylsäure bestanden, und dass die Ursache
des erhöhten Schmelzpunktes der Beimengung einer Säure zuzuschrei-
ben ist, deren KohlenstofTgehalt etwas grösser, deren WasserstofTgehalt
aber geringer und deren Schmelzpunkt beträchtlich höher sein muss,
als der der Tetracrylsäure.
Es wurden nun sämmtliche Krystallisationen vom Schmelzpunkt
über 72'* und bis 81" vereinigt und destillirt. Sie gingen zwischen
170" und 184" über. Die von 170 — 1 75" destillirte Portion besass einen
Schmelzpunkt von 72 — 75" und ergab bei der Analyse 56,5 Proc. Koh-
lenstoIT und 6,8 Proc. Wasserstoff, während die von 175 — 184" destil-
lirte Portion einen Schmelzpunkt von 77 — 80" besass und bei der Ana-
lyse 50,3 Proc. Kohlenstoff und 6,5 Proc. Wasserstoff besass. Diese
Resultate bestätigen die oben ausgesprochene Vermuthung im Betreff
der Zusammensetzung der Verunreinigung und zeigen, dass der Siede-
punkt derselben jedenfalls niedriger, als der der Tetracrylsäure sein
wird.
574 ^' Genllier,
6. Tetrolsäure.
Diese Säure entsteht aus der Monochlortelracrylsäure, wenn deren
Aetlier durch überschüssige Kalilauge zersetzt wird. Dabei geht die
Monochlorlelracrylsäure unter Austritt von Chlorwasserstoff in Tetrol-
säure über. Zu ihrer Darstellung kann man bequem das ölförmige Pro-
duct der Einwirkung von Phosphorpentachlorid auf Aethyldiacetsäure,
also das Gemenge von Monochlorquartenylsäure- und Monochlortetra-
crylsäure-Aether verwenden (siehe oben S. 066). Man versetzt das-
selbe mit einer etwas grösseren Menge Kalilauge, als zur völligen
Zersetzung der Aether nöthig ist, fügt noch etwas Alkohol hinzu und
erwärmt den an einem umgekehrten Kühler befestigten Kolben so
lange im Wasserbade, bis das ölförmige Product verschwunden ist.
Sollte die Flüssigkeit, ehe dies geschieht, neutral geworden sein, so
fügt man noch etw^as Kalihydrat hinzu, vermeidet aber einen zu
grossen Ueberschuss, da durch einen solchen die Tetrolsäure selbst
wieder verändert wird. Der Inhalt des Kolbens wird nun destillirt bis.
kein Alkohol ') mehr übergeht, dann mit Schwefelsäure übersättigt und
abermals destillirt bis die als Aether vorhanden gewesene und durch
diese Operationen nicht veränderte Monochlorquartenylsäure völlig
Übergegangen ist. Der saure Rückstand wird mit alkoholfreiem Aether
ausgezogen, die ätherische Lösung mit Chlorcalcium entwässert und
im Wasserbade vom Aether befreit. Der beim Erkalten krystallinisch
erstarrende bräunlich gefärbte chlorfreie Rückstand kann durch mehr-
maliges Umkrystallisiren aus Wasser farblos erhalten werden und stellt
nun die reine Säure dar. Dieselbe besitzt, wie die folgende Analyse
zeigt, die Zusammensetzung : C'^H^O'^.
0,24.^6 Grm. der über Schwefelsäure völlig getrockneten Säure
aaben 0,51 ':J6 Grm. Kohlensäure, entsprechend 0,1398 Grm. = 57,0
Proc. Kohlenstoff und 0,111 Grm. Wasser entspr. 0,012333 Grm. =
5,0 Proc. Wasserstoff.
ber. gef.
C-» = 57,1 57,0
H4 = 4,8 5,0
Q2= 38,1 —
100,0
Die Tetrolsäure krystallisirt aus der wässrigen Lösung in farblosen,
durchsichtigen, rhombischen Tafeln, welche in Wasser sehr leicht lös-
1) Mit diesem destillirt eine kleine Menge eines durch Vermischen mit Wasser
und naclihcriges Schütteln mit Aether zu erhaltenden, lauchartig riechenden chlor-
haltigen Oels, wahrscheinlich identisch mit dem, welches beim Behandeln der Aether
mit Salzsaure übrig bleibt.
üeber die Aetliyldiacolsanrft und einige Abkömmlinge derselben. 575
lieh und in feuchter Luft zerfliesslich sind. In Alkohol uiul A(;ther ist
sie gleichfalls leicht löslich. Sie schmilzt, wenn über Schwefelsäure
völlig getrocknet, bei 76**,5 und erstarrt vollständig wieder bei 70",5.
Sie siedet bei 203" corr. und dcstillirt unverändert über, beim Erkalten
sofort wieder zu einer krystallinischen Masse erstarrend. Sie geht aus
der Monochlorletracrylsäure hervor nach der Gleichung :
C4H5G102 — HCl = C^H402.
Um dieser Gleichung gemäss die Tetrolsäure direct aus der Mono-
chlortetracrylsäure zu erzeugen, wurden 2 Grm. der Letzteren mit drei-
mal so viel Kalihydrat, als zur Neutralisation hingereicht hätte, in wäss-
riger Losung 12 Stunden im Wasserbade unter Ersetzung des verdam-
pfenden Wassers behandelt. Darauf wurde die Flüssigkeit mit Schwe-
felsäure übersättigt und mit reinem Aether ausgezogen. Nach dem Ver-
dunsten desselben hinterblieb nur sehr wenig krystallisirte Säure,
welche sich als völlig chlorfrei erwies (alle Monochlortetracrylsäure war
also unter Bildung von Kaliumchlorid zersetzt worden), und nachdem
sie auf Fliesspapier über Schwefelsäure völlig getrocknet worden war,
den Schmelzpunkt 76" zeigte. Da sie auch ausserdem zerfliesslich wie
die Tetrolsäure war, so ist es offenbar, dass sie aus derselben bestand.
Der Grund, weshalb trotz der völligen Zersetzung der Monochlor-
tetracrylsäure durch die Kalilauge doch nur so sehr wenig Tetrolsäure
• erhalten wurde, kann nur in einer weiteren Zersetzbarkeit auch dieser
Säure durch überschüssige Kalilauge begründet sein. Da aber andere
fixe Zersetzungsproducte nicht aufgefunden werden konnten, so können
es nur flüchtige sein, welche dabei entstehen, vermuthlieh Kohlen-
säure und Aceton, welche nach der Gleichung :
C4H402-f-OH2 = CO' + Cm'0
aus ihr hervorgehen.
III. lieber das Diäthyldiacetsäure - Amid und die Eiiiwirkimg
von Ammoniak auf Aethyldiacetsäure • Aether in der Hitze.
Die Einwirkung des conc. Ammoniaks auf Aethyldiacetsäure-Aelher
bei gewöhnlicher Temperatur verläuft bekanntlich so, dass 2 Producte
etwa zu gleichen Mengen entstehen: ein in Wasser lösliche s! Amid
(C''H"N02), welches unter Zutritt von 1 Mgt. Ammoniak und Austritt
von I Mgt. Alkohol entsteht und ein in Wasser unlösliches Amid
(C''Ii'''NO-], welches unter Zutritt von 1 Mgt. Ammoniak und Austritt von
1 Mgt. Wasser gebildet wird. Das Erstere kann also als das Amid der
576 A. Geudier,
Aelhyldiacetsäure, das Letztere als das Amid der Diaethyldiacelsäure
oder aber als das Aelhylaniidder Aetbyldiacetsäure angesehen werden i).
Zur Entscheidung der Frage, ob die eine oder die andere Auffassung
für das unlösliche Amid die richtigere sei, wurden folgende Versuche
unternommen.
1. Wird das unlösliche Amid in schlecht verschlossenen Gefasscn
aufbewahrt, oder werden die Gefässe öfters geöffnet, so bemerkt man
zugleich mit dem allmählichen Flüssigwerden kleiner Mengen der Kry-
stalle das Auftreten von Ammoniak. Es lag der Gedanke nahe, dass
diese Veränderung des Amids durch die Feuchtigkeit bewirkt werde
und dasselbe schon durch Wasser, rascher wahrscheinlich wässrige
Sauren unter Bildung von Ammoniak wieder in Aethyldiacetsäureäther
übergehe, aus welchem es durch Ammoniak unter Austritt von Wasser
gebildet wurde. Der Versuch hat, was die Wirkung der verdünnten
Säuren anlangt, diese Vermulhung bestätigt. 2 Grm. des unlöslichen
Amids wurden mit verdünnter Salzsäure in einen verschliessbaren Cy-
linder einen Tag lang öfters durchgeschüttelt. Bald nach dem Zusam-
mensein schon begann die Verflüssigung der Krystalle, allmählich ver-
schwand der eigenthümliche Geruch des Amids und dafür trat derjenige
des Aethyldiacetsäureäthers auf. Das schliesslich übriggebliebene Oel
wurde von der wässrigen Flüssigkeit abdestillirt und entwässert. Es
l)etrug 1,5 Grm. und ging beim Rectificiren zwischen 175^ und 196'^
über. Seine Analyse ergab, dass es fast reiner Aethyldiacetsäureäther
war. Der wässrige salzsaure Rückstand hinterliess nach dem Eindam-
pfen zur Trockne 0,75 Grm. in absoluten Aether unlöslichen, reinen
Salmiak. Wenn die Zersetzung nach der Gleichung:
CbHi5N02 + OH2 + llCl = C^H'^0'-f-NH4Cl
verlaufen wäre, so hätten % Grm. Aethyldiacetsäureäther und 0,7 Grm.
Salmiak erhalten werden müssen.
Aus diesen Thatsachen gehr hervor, dass das unlösliche Amid nicht
als das Aethylamid der Aelhyldiacetsäure, sondern als das Amid der
Diäthyldiacelsäure aufzufassen ist.
2. Es wurden 6 Grm. des unlöslichen Amids mit 27 Grm. Wasser
in ein Rohr eingeschlossen und zunächst im Wasserbade erhitzt. Nach
kurzei" Zeit wurde das Rohr wieder erkalten gelassen, wobei die zu
einem Oel geschmolzenen Krystalle, vornehmlich beim Schütteln, wie-
der erstarrten ; aber schon nach 4stündigem Erhitzen fand dies nicht
mehr statt, zugleich hatte das Oel an Volumen abgenommen. Es wurde
die Erhitzung während mehrerer Tage fortgesetzt und allmählich im
\) Vergl. d. Zeilschrift Bd. II. p. 404.
Uebei' die Aetlivliliacetsäiiifi iiiid i'iiiiuc Abköinmliiiop dcrsflbcu.
Ö77
Luftbad die TcinporaUir bis 1:30" ij;oslcigerl, so lange nändich, als noch
eine Vülumabnahnie des Oels zu bemerken war. Das Volumen der nun
verbleibenden öligen Flüssigkeit betrug ein Dritllheil vom Volumen der
angewandten geschmolzenen Krystalle. Beim Ocirnen des Ilohrs in der
Flamme war kaum ein Druck wahrnehmbar, der Inhalt roch stark am-
moniakalisch. Derselbe wurde in ein Kölbclien gespült und das Oel
mit dem Kühler überdestillirl. Da der wässrige Tlieil des Destillats
viel Anunoniumcarbonat enthielt, so wurde das gesammte Destillat mit
verdünnter Schwefelsäure schwach sauer gemacht, was unter starkem
Aufbrausen von Kohlensäure stattfand, und abermals destillirt. Die
Menge des über Chlorcalcium entwässerten Oels betrug 3 Grm. und
destillirte von 78 — '208<' über. Es enthielt ausser einer kleinen Menge
Alkohol hauptsächlich Aethylaeeton und wenig höher siedendes Product,
Der erste wässrige Destillationsrückstand wurde auf dem Wasserbado
langsam zur Trockne gebracht und ergab 1 Grm. des löslichen fein
krystallinischen Amids der Aethyldiacetsäure mit all seinen charakte-
ristischen Eigenschaften.
Der Verlauf der Einwirkung war also der Hauptsache nach so,
dass ein Theil des unlöslichen Amids unter Wasseraufnahme und Alko-
holbildung in das lösliche Amid überging nach der Gleichung:
C41i^N0-:+ OH2 = G"HiiN02 +C2HiiO
und ein Thoil von diesem durch weitere Aufnahme von Wasser in
Aethylaeeton, I<Lohlensäure und Ammoniak verwandelt wurde nach der
Gleichung :
C6HiiN02 + OH2=C^Hioo + C02 + NH^
Dass diese Zersetzung des löslichen Amids in der That statthat,
diess sowohl als das, warum es dieselbe nur theilweisc erleidet, haben
zwei vergleichende Versuche gelehrt. In dem einen wurde lösliches
Amid mit der 1 üfachen Menge reinen Wassers in ein Rohr eingeschlossen
und während 9 Stunden auf 1 35*^ erhitzt. Das Resultat war eine theil-
weisc Zersetzung desselben nach obiger Gleichung in Aethylaeeton und
Anmioniumcarbonat. Der Grund, warum eine vollständige Zersetzung
bei dieser Temperatur nicht statthatte , konnte in der Bildung des Am-
moniumcarbonats begründet sein, und in der Thal blieb lösliches Amid
mit einer wässrigen massig conc. Lösung von Ammoniumcarbonat in
gleicher Weise behandelt, fast vollständig unverändert.
Was die geringe Menge höher siedendes Product war, welches bei
der. Zersetzung des unlöslichen Amids im oben angeführten Versuche
mit erhalten wurde, konnte seiner geringen Menge halber hier nicht
entschieden werden. Um dasselbe in grösserer Menge zu erhalten,
wurde nicht erst das unlösliche Amid dargestellt, sondern sogleich die
Bd. VI. 4. 39
578 A. Gciitlior,
Materialien dazu, Ammoniak und Aethyldiacetsäureälher auf einander
wirken gelassen.
3. Aelhyldiacetsäure-Aether wurde mit dem 4 — öfachen Volum
conc. wässrigen Ammoniaks in Röhren eingeschlossen und im Oelbad
während mehrerer Tage von 100^ auf ISO^ erhitzt, nämlich so lange,
bis die Volummenge des Aethefs sich nicht mehr verminderte. Es war
diess der Fall, wenn die gute Hälfte seines ursprünglichen Volumens
verschwunden war. Nach dem Erkalten wurde die wässrige Flüssig-
keit so vollständig als möglich vom aufschwimmenden Oel getrennt,
dieses zunächst einmal mit reinem Wasser, ein zweitesmal mit schwe-
felsäurehaltigem destillirt und dann entwässert. 65 Grm. angewandter
Aether gaben so 20 Grm. ölförmiges Product.
Als die wässrige Lösung destillirt wurde, ging sehr viel Alkohol
mit nur wenig Oel in Lösung über, ausserdem war an das mit destil-
lirendem 'Ammoniak eine beträchtliche Menge Kohlensäure gebunden.
Das ölförmige Product zeigte sich bei der Rectification aus 3 Par-
tieen bestehend, aus einer etwas über 1 00^ siedenden, aus einer zwi-
schen 190 und 2000 destillirenden und aus einer von 200 — 21 5^ über-
gehenden. Die mittlere bestand aus noch unzersetzt gebliebenem Aethyl-
diacetsäureälher, sie wurde abermals mit conc. Ammoniak eingeschlos-
sen und weiter zersetzt. Die niedrigst siedende Portion war wahr-
scheinlich Aethylaceton , sie wurde durch Schütteln mit saurem Na-
triumsulfit in eine krystallinische Verbindung übergeführt, welche nach
dem Abfiltriren und Abpressen durch Kochen mit Natriumcarbonat
wieder zersetzt wurde. Das übergehende Oel, welches leichter als
Wasser war, wurde mit Chlorcalciumlösung geschüttelt, entwässert und
rectificirt. Es ging zwischen 100 und 102o über.
0,1678 Gim. desselben gaben 0,4273 Grm. Kohlensäure, entspr.
0,11654 Grm. = 69,5 Proc. Kohlenstoff und 0,1842 Grm. Wasser,
entspr. 0,020467 Grm. = 12,2 Proc. Wasserstoff.
Darnach war es also in der That Aethylaceton , welches vcr-
laugt: 69,7 Proc. Kohlenstoff und 11^7 Proc. Wasserstoff.
Die etwa 8 Grm. betragende Menge höchst siedendes Product wurde
wiederholt destillirt, und schliesslich, da vermuthet wurde, dass es
der von Frankland und Duppa beobachtete Diäthyl-diacetsäureäther
(C10H1SO3J 1) vorzüglich sein möchte, welcher zwischen 210 und 21 2^
destillirt, das zwischen diesen Temperaluren übergehende analysirt.
Es wurden erhalten 63,9 Proc. Kohlenstoff und 9,9 Proc. Wasserstoff,
während der Diälhyldiacetsäureäther 64,5 Proc. Kohlenstoff und 9,7
i) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 138. p. 208.
Deber die Authylcliiicclsiiiirc imd ciiiijio Ahkömmlinjic (icrsflljon. 579
Proc. Wasscrslofl" vcrinugl. Es unlorlioiil (hir-nach keinem Zweifel, dass
in der Thal diess Produet Diu thy 1-di acelsü ureii t her ist.
Aus diesen Resultaten ergiebt sich, dass bei der Zersetzung des
ActhyldiacetsäuroiUhers durch Aiiuuonink in höherer Temperatur oder
auch bei der Zersetzung des unlöslichen Amids (Diüthyl-diacetsäure-
Amid) durch Wasser in der Wärme neben löslichem Amid (Aetbyldiacet-
Amid) eine geringe Menge von Diäthyl-diacetsäureäther entsteht nach
den Gleichungen :
2CsiIi4O3 + NU3 = Ci0Hi8O3 + C«HiiNO2-|-Ori2
2C8Hi5N02 + OH2 = Ci"His03 + C6HiiN02 + NH3.
Ich kann diese Mittheilungen nicht schliessen, ohne der wesent-
lichen Hülfe dankend zu gedenken, welche mir mein früherer Assistent
Herr Dr, 0. Frölich bei den zeitraubenden und zum Theil schwierigen
Untersuchungen in ausgezeichneter Weise geleistet hat.
Jena, Anfang Februar 1 871 .
39*
llntersuchiingcii über B<iii und Eiitivickeluug der Arthropoden^]
Von
Dr. Anton Dohrn.
Mit Tafel XIV. u. XV.
12. Zur Embryologie und Morphologie des Limulus Polyphemus.
Einleitung.
Unter allen heute lebenden Grustaceen lässt sich kaum eine zweite
Form finden , die unter so mannigfachen Gesichtspunkten ein gleich
hohes Interesse einflösst, wie die verschiedenen Arten der Gattung Li-
mulus. Den Systematikern hat sie seit lange Schwierigkeiten ver-
ursacht, da sie allem Anschein nach ohne nähere Verwandte besteht
und nur in oberflächlichen Berührungen mit Formen wie Apus zu
denken ist. Ihnen und den Paläontologen ward sie aber gleich wichtig,
seites sich herausstellte, dass Petrefacten wie B e 1 1 i n u r u s ein Mittelglied
zwischen Limulus und den Trilobiten darstellten. Die Trilobi-
ten aber reihen sich in vieler Beziehung unter die interessantesten
Fossilien, welche die Primärformationen enthalten. Sie zeigen uns
eine Formenwelt, deren überaus reiche Entfaltung zu jenen sog. Urzei-
ten der Erde den schlagendsten Beweis liefert, wie weit entfernt von
der Wahrheit der Ausdruck »Urzeit« für die Periode ist, in welcher die
Trilobiten lebten, da diese zu der phyletischen Entwicklung ihrer For-
men, mit denen sie schon in den Cambrischen Schichten auftreten, doch
1) Die zur Reihenfolge dieser Untersuchungen gehörenden Aufsätze: 9. Eine
neue Naupliusform (Archizoea gigas) ; 10. Beiträge zur Kennlniss der Malacostra-
ken und ihrer Larven ; ll. Zweiter Beitrag zur Kenntniss der Malacoslraken und
ihrer Larven, befinden sich im XX. und XXL Bande der Zeitschrift für wissensch.
Zoologie.
Uiitcrsuchungeii über naii und r.nlwickliiiiff (k'r Arlliro[io(leii. 5S1
einen ganz gewaltigen Zeitraum beanspruchen müssen. Den Moi-
phologen fesselt Limulus besonders duich die bisher erfolglos geblie-
benen Bemühungen, die Conformation seines Körpers in vergleichender
Betrachtung auf die andrer Krebse zurückzuführen, — eine Lücke,
welche der Embryolog auszufüllen hoffen durfte; der Genealog endlich
erwartete nicht mit Unrecht, aus dem Studium der ontogenelischen
Entwicklung des Limulus Licht zu gewinnen nicht nur über dieses
letzteren eigne Urgeschichte, sondern auch zugleich über die der Tri-
lobi ten und der gewaltigen Pterygotus und Eurypterus, deren
Ueberreste uns der Devon hinterlassen hat.
So trafen in dem einen Brennpunkte Strahlen aus den verschieden-
sten Disciplinen der Zoologie zusammen und machten das Studium der
Entwicklungsgeschichte des Limulus zu einem der wichtigsten und
interessantesten auf dem ganzen Gebiet der vergleichenden Krebs-Em-
bryologie.
Es waren solche Erwägungen, die mich schon vor Jahren bei dem
Beginn meiner genealogischen Studien veranlassten, diese Aufgabe nah
in's Auge zu fassen. Ich versuchte mir vor allen Dingen durch Corre-
spondenz Nachrichten über Erscheinen, Lebensweise, Trächtigkeit und
Ei-Ablage des Limulus Polyphemus, dessen häufiges Vorkommen
an der Ostküste Nordamerikas ja hinlänglich constatirl ist, zu verschaf-
fen, in der Absicht, wenn ich darüber hinlängliche Sicherheit gewon-
nen haben würde, selbst nach New-York oder Boston zu reisen, und
an Ort und Stelle mit lebendem Materiale die Untersuchung anzustel-
len. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es mir endlich durch
die freundhchen Bemühungen des Dr. A. S. Packard jun. in Salem
(Massachusetts] Auskunft zu erhalten, ja Dr. Packard versprach sogar
mir eine Zusendung von Eiern und Embryonen in Alkohol zu machen,
da er selber an lebenden Stücken zu beobachten gedächte. Bald dar-
auf erschien in dem »American Naturalist Vol. IV. — Juli, 1870 — No, 5«
ein Aufsatz »The horse Foot Grab by Rev. S. Lockwood, Ph. D.« und
dann in derselben Zeitschrift No. 8 eine Mittheilung Packard's «On the
Embryology of Limulus Polyphemus«, auf die ich noch weiter unten
zurückkommen werde. Im November I 870 erhielt ich dann zwei kleine
Fläschchen mit einigen Hundert Eiern und Embryonen, und lasse nun
folgen, was mir deren Untersuchung ergab.
Untersuchung der Embryonen und Larven des Limulus.
Uel)er die ersten Stadien bin ich leider nicht im Stande , etwas zu
berichten, sie sind weder direct noch durch Behandlung mit Reagentien
582 Anton Dohrn,
zu irgend einer l^enntlichkeit zu bringen^). Was von den oben genann-
ten Beobachtern darüber mitgetheilt wird, werde ich weiter unten an-
führen. Nur die Grösse der Eier mag hier verzeichnet werden, Sie
beträgt im Längsdurchmesser 2 Millimeter, im Querdurchmesser 1 1/2 Mil-
limeter, die Eier gehören mit zu den grössten bekannten Krebs-Eiern.
Ihre Hüllen sind sehr eigenthümlicher Art. Die äussere ist ein dickes,
lederartiges, aus, wie es scheint, 6 — 9 einzelnen Schichten bestehendes
Exochorion, dessen Bildung vielleicht nicht imOvarium selbst, sondern
in einem besondern dafür bestimmten Abschnitt der Ausführungsgänge
bewirkt wird. Bei Schnitten durch das ganze Ei sieht man die Schich-
ten dieses Exochorion in ziemlicher Deutlichkeit, und beim Zerschneiden
derselben in kleinere Stücke kommt es oft vor, dass an den Ecken ein
Aufblättern derselben erfolgt.
Dicht unter diesem lederarligen Exochorion , dessen Farbe ein
schmutziges Grün ist, befindet sich das eigentliche Chorion, welches
durchsichtig ist, aber jene auffallende, zellenartige Structur besitzt, die
wir schon mehrfach an Chorien zu erkennen Gelegenheit hatten. Man
nimmt an, dass es von den das Ei umgebenden Epitelzellen des Eier-
stocks in der Weise ausgeschieden würde, dass die Begrenzung jeder
einzelnen Zelle auch wieder an dem Ausscheidungsproduct erkennbar
würde. Mag dem so sein oder nicht, bei dem Ei von Limulus finden
wir wiederum die zellenartige Structur des Chorion, und zwar mit der
Besonderheit, dass es von nicht geringer Dicke ist, diese Dicke ermög-
licht auch die später stattfindende, ausserordentliche Dehnung, die es
erleidet, wobei die zellenartige Structur den Anschein von dachziegel-
artig über einander liegenden Schuppen gewinnt. Wodurch es ge-
schieht, dass dies Chorion, statt zu platzen, sich allmählich immer mehr
ausdehnt und schliesslich einen Durchmesser von mehr als 4 Millimeter
erreicht, veimag ich an den Spiritus-Exemplaren, die allein mir vor-
liegen, nicht zu ergründen.
lieber Dotterfurchung und erste Anlage des Embryo ist also von
mir nichts beobachtet. Das frühste Stadium, das ich zur Untersuchung
bringen konnte, zeigt bereits die Anlage ven 5 Extremitäten-Paaren,
die in zwei Reihen als kleine Knöpfchen an der Peripherie des Dotters
dicht unter dem Chorion zu erkennen waren. Das fünfte war zugleich
das grösste, das erste das kleinste; dennoch und besonders nach dem
Vergleich mit spätem Stadien, vermuthe ich, dass die sechste Extre-
mität nicht hinter jener fünften, grössten, zu suchen ist, sondern vor
1) Leiderwaren die Embryonen nicht in absolutem Aicoliol, sondern nur in
»starkem Whislcey« ; daraus ergaben sich viel Schwierigkeiten für die Untersuchung
der nicht hinreichend erhärteten Cbjecte.
Untersuchtingeu über liaii und liiitwicklniig der Ardiropoden. 583
der ersten, kleinsten, und glaube, dass sie auch schon in jenem friihslen
von mir beobachteten Stadium bestanden haben mag, aber wohl nicht
zu erkennen gewesen ist, wegen ihrer ganz geringen Grösse. Mit die-
sen Extremitäten zusammen geht eine Gürlclbildung über die ganze
Peripherie der Kugel, die in eben so viele Zonen getheilt erscheint, als
Extremitäten-Paare zu sehen sind, und ausserdem an den beiden Polen
je eine Kappe besitzt. Diese Zonen deuten oflenbar auf die ursprüng-
liche Segmentbildung, — wir könnten sie, wenn etwas daran läge,
»Ursegmenle« laufen.
In diesem Stadium erscheint das Ei noch wenig über die anfäng-
lichen Dimensionen hinausgewachsen, Chorion und Exochorron schlies-
sen dicht an, — die Untersuchung gelang mir nur durch einen Schnitt
durch die Aequatorial-Ebene des Eies, wodurch es möglich ward, das
ziemlich zähe und unnachgiebige Exochorion zusammt dem, ihm jetzt
noch dicht anliegenden Chorion als eine halbe Ilohlkugcl abzunehmen
und den Keiniabschnitl direct unter das Mikroskop zu bringen.
Ein nächstes Stadium lässt bereits einen wesentlichen Forlschritt
erkennen. Erstlich haben die Extremilälen die Knopfform aufgegeben
und sind mit breiterer, etwas schräg und in die Quere gestellter Basis
sowie mit nach innen mittelst einer Beugung gerichteten Endabschnit-
ten versehen. Dann aber macht sich eine weitere Bildung hinler dem
sechsten Paare sehr deutlich bemerklich. Aus dem hinlern Eipole,
oder vielmehr aus der Keimhaulskappe , welche ihm aufsitzt, bildet
sich jetzt der ganze hintere Leibesabschnilt des Limulus. Der hinler
dem letzten Exlremilälen-Paare gelegene Rand der Kappe verdickt sich
etwas; zu gleicher Zeit entfernt er sich durch stärkeres Wachslhum
der ganzen Kappe, — wenn man sie so nennen will, der Schwanz-
kappe — von diesem Exlremitälenpaare, und zwischen sie schiebt sich
die, w ie es scheint, gleichzeitig erfolgende Anlage von zwei neuen, und
dem Schwanzlheil angehörenden Extremitäten - Paaren. Dieselben
ahmen aber durchaus nicht die Form der bereits vorhandenen nach,
sondern entstehen als keilförmige Verdickungen , deren Spitze nach
aussen gelegen ist, während ihr dickerer Grundtheil nach innen liegt.
Ausserdem ist ihre Insertion noch um Vieles breiter, als die der älteren
Extremitäten und nach innen zu slosscn sie fast zusammen. Sie liegen
ausserdem schräg gegen die Mittellinie des Keimstreifs.
Auch an dem vorderen Hauptabschnitt des Eies machen sich Ver-
änderungen bemerklich. Die ganze, die Extremitäten tragende Seite
wird nämlich von einer verdickten Zone umgeben, welche von der wul-
sligcren Begienzung der Schwiinzkappe ausgeht und etwas unterhalb
der Aequatorialebene , also näher den Extremitäten, und um den vor-
584 " Anton Dohrn,
deren Abschnitt des Eies herumgeht. Diese Verdickung stellt die erste
Anlage des Kopfschildes dar, und bildet später seinen, mit mancherlei
noch zu besprechenden Bildungen versehenen Rand.
So haben wir also jetzt zwei der typischen Abschnitte des späteren
L im ul US -Leibes in der Anlage gegeben. Es fehlt uns noch der dritte,
der grosse Schwanzstachel. Die vorhandenen beiden sind aber noch
dadurch wesentlich von ihren späteren Zuständen unterschieden , dass
beide noch deutlich eine Zusammensetzung aus Segmenten erkennen
lassen.
An dem nächsten Stadium haben wir zunächst eine bedeutende
Vergrösserung des Chorion-Durchmessers und eine zu glei-
cher Zeit erfolgte Spaltung de s Exochorion zu erkennen. Diese
Spaltung erfolgt durch mehr als % ^^s Umfanges ; die beiden so ent-
standenen Halbkugeln des Exochorion umfassen trotzdem noch einen
Abschnitt des Chorions, welcher sich aber allmählich immer mehr aus-
dehnend, später völlig von jenen Halbkugeln befreit (Taf. XIV. Fig. 1).
Hier ist es auch an der Stelle, einer Bildung zu gedenken, welche schon
in früheren Stadien aufgetreten ist, aber schwer erkennbar bleibt:
nämlich einer feinen Membran, welche den ganzen Embryo inner-
halb des Chorion umgiebt, die entweder als Blastodermhaut aufzufassen
ist, oder als erstes Häutungsproduct des Embryo. In dem hier zu be-
schreibenden Stadium findet sich diese Haut bereits zerrissen und als
ein kleiner, etwas ins Gelbliche spielender Knäuel frei beweghch zwi-
schen Embryo und Chorion.
Der Embryo bietet in diesem Stadium (Taf. XIV. Fig. 2) folgende
Eigenthümlichkeiten dar. Die 6 Extremitäten des Kopflheiles sind in
die relativen Grössen- Verhältnisse eingetreten, welche sie später inne-
halten sollen, aber es ist noch keine Spur von Scheerenbildung an ihnen
zu erkennen. Das erste Paar liegt mit seiner Insertion, entsprechend
seiner Lagerung an dem fertigen Thiere, viel näher der Mittellinie, als
das zweite, ja man könnte beinah sagen, es läge zwischen den Inser-
tionspunkten dieses zweiten Paares. Das dritte Paar wiederum liegt
etwas ausserhalb des zweiten mit seiner Insertion. Das vierte und
fünfte sind dem dritten ziemlich gleich, ihre Endstücke sind alle noch
gleichermaassen nach innen gerichtet und zugespitzt. Das sechste Paar
aber weicht nicht unansehnlich von dieser Gestaltung ab. Erstlich
ist seine Spitze anfänglich zwar auch nach innen gerichtet, aber schliess-
lich wendet sie sich nach hinten. Die Basis aber ist sehr viel ausge-
dehnter, als bei den vorangehenden Extremitäten, da sie besonders
nach hinten zu die eigentliche Breite der Beinanlage weit tafelförmig
überragt und noch dazu an ihrem äusseren Stück einen kurzen knöpf-
Uiitersncliiiiigcn öbei Rau iiiiii llnlwickliinii der ArtliKiiiodcii. 585
förmigen Aufsatz trügt, aus welchem späterhin der sonderbare Anhang
werden soll, welcher den Ilüflthcil des sechsten Extremitäten-Paares
charakterisirt.
Hinter diesem sechsten Beinpaare hat sich nun eine wesentliche
Neubildung zugetragen. Es haben sich nämlich nach innen, mehr nach
der Mittellinie des ganzen Embryo zu, zwei kleine keilförmige, nach
aussen spitze, nach innen stunipfere Wülste gebildet, welche in gewis-
ser Weise der Anlage nach den nachfolgenden Platten -Extremitäten
des Schwanztheils gleichen , doch aber wohl keinerlei Anspruch auf
Gleichselzung mit diesen erheben können. Diese beiden Wülste bilden
in ihrer späteren Ausgestaltung die Unterlippe, welche von hinten her den
Raum der Kauwerkzeuge abschliesst und vervollständigt. W^ir werden
noch weiterhin umständlich von diesen Theilen zu sprechen haben.
Die beiden Extremitäten-Paare des Schwanztheils zeigen ebenfalls
eine Fortbildung. Sie haben sich mehr der Plattengestalt genähert und
ihr freier Rarid ist mehrfach eingebuchtet, gleichsam als stellten diese
Einbuchtungen den letzten Rest einer ursprünglichen Gliederung dar.
Sie liegen noch schräger, als in dem früheren Stadium, was aber wohl
mit der Gesammtlagerung des Schwanztheils in Zusammenhang zu
bringen ist. Derselbe zeigt nämlich jetzt auf das Allerdeutlichste die
Zahl von 7 Segmenten, aus denen er zusammengesetzt ist; da er aber
gerundet ist, und nach innen herumgebogen, so bilden diese Segmente
keine gleichmässigen Zonen, sondern allmählich sich verkleinernde Dot-
terwülste, die von gemeinsamen Wandungen eingeschlossen werden.
Ausser den bisher erwähnten Eigenthümlichkeiten dieses Stadiums
ist denn nun auch Einiges mitzutheilen über die Anlage des Nerven-
systems, so weit die unvollkommenen Untersuchungen an Spiritus-
Exemplaren derlei Mittheilungen möglich erscheinen lassen. Wie zu
erwarten stand, legen sich Ganglien jederseits von der Mittellinie zwi-
schen dieser und den Insertionen der Extremitäten an, — der im er-
wachsenen Thier vorhandene Schlundring, aus dem die Nerven für die
ü Paar Kopf- Extremitäten hervorgehen, entsteht also in normalerweise
als gewöhnliche Bauch-Ganglienkette. Aber durch die Lage der Mund-
öflnung, welche aufzufinden ziemlich schwierig war, wird eine grosse
Anomalie gegenüber den übrigen Crustaceen hergestellt. Bei allen
Kruslern empfangen nämlich die beiden vorderen Extremitäten-Paare
ihre Nerven aus dem oberen Schlundganglion, erst die Mandibeln, als
drittes Paar, werden von dem unteren Schlundganglion versorgt. Bei
Limulus aber wird nur das vorderste Paar derGliedmaassen von dem
oberen Schlundganglion versorgt, die übrigen empfangen ihre Nerven
aus der Bauchganglicnkette. Dies Verhällniss, welches das Verstand-
586 Anton Dohrn,
niss der Homologieen ausserordentlich erschwert, — ja in gewisser
Weise vorläufig noch illusorisch macht, — wäre nur durch die genauste
Beobachtung am Embryo zu constatiren, — allein eben da wird es,
wenigstens bei meinen Untersuchungsobjecten, sehr schwierig. Nun
findet sich zwar oberhalb des ersten Gliedmaassen-Paares noch eine
nicht unbeträchtliche Verlängerung der Ganglienkette, — wenigstens
lässt der äussere Anschein bei der Beobachtung keinen Unterschied
zwischen beiden Abschnitten erkennen, — und sogar eine Verbreite-
rung, wie man sie nach allen Analogieen von dem oberen Schlundgang-
lion erwarten konnte, allein wie von da und von den übrigen Ganglien
die Nerven abgehen, das zu beobachten ist an den Spiritus-Präparaten
leider unmöglich. Die Mundöffnung glaube ich an einem Embryo genau
zwischen der Insertion des zweiten Extremitäten-Paares wahrgenom-
men zu haben, die Abbildung (Taf. XIV. Fig. 2 m) deutetdies Verhältniss
in sehr bestimmter "Wiedergabe an. Was dann die Ausdehnung der
Ganglienkette nach hinten zu angeht, so erlauben die Präparate auch
da keine klare Beobachtung ; es scheint allerdings, dass, wie es von
vornherein zu vermuthen steht, zwischen den beiden Platten-Extremitä-
ten eine weitere Ganglienbildung statthat, — aber da es nicht deutlich
zu machen ist, so müssen wir es vorläufig auf sich beruhen lassen.
Indem wir nun zu einem nächsten Stadium übergehen, erkennen
wir sofort einen bedeutenden Schritt weiter zur Realisation der eigent-
lichen Li mulus- Gestalt. Der Embryo ist nun ganz frei innerhalb
des ausserordentlich ausgedehnten Chorionsundflotlirtdarin, wenn man
die Kugel umrollt. Die beiden Hauptabschnitte des Körpers, Kopf- und
Schwanztheil, sind deutlich von einander geschieden, der letztere hat sich
etwas nach oben geklappt, so dass man seine Unterseite erkennen kann.
Von dem Schwanzstachel ist noch keine Spur wahrzunehmen.
Der Kopftheil, — um von diesem zuerst zu sprechen, — hat sich
zu einem, von unten gesehen, breiten Schilde ausgebildet. Seine Rän-
der sind stark gerundet, sein Hinterrand ist ziemlich gerade abgestutzt.
Die Oberseile — der Rücken — ist vollkommen halbkuglig gewölbt.
Sein Innenraum ist völlig mit Dottermasse erfüllt. Dieser Dotter lässt
nachfolgende Vertheilung erkennen : Von oben, d.h. vom Rücken ge-
sehen, nimmt man vor Allem eine bilaterale Symmetrie wahr. Sie ist
besonders deutlich am Vorderrande, wo die ganze Dottermasse durch
eine halbkreisrunde Einbuchtung des Kopfschildes getheilt ist. Diese
Theilung setzt sich an der Oberfläche des Dotters bis an den hinteren
Rand des Kopfschildes fort, — es bildet sich hier später das lange
Rückengefäss aus. Zu beiden Seiten dieser Furche erkennt man 6 quere,
lappenartige Theilungen der Dottermasse, — die letzten Andeutungen
üiitcrsiiclimigcii filjcr Bau iiiiil lüitwickliiiiK der Ailhiopodeii. 587
der ursprünglichen Zonenbildung. Jetzt liegen sie aber nicht mehr
parallel, sondern die drei vorderen sind radienarlig von der Mitte des
Kopfschildes nach vorn gerichtet. Auch sind diese vorderen Dolter-
lappen an ihren blinden Enden wieder in mehrere secundiire Lappen
gespalten, — sie bereiten sich vor, aus sich die Verästlungen der zahl-
reichen, den Innenraum des Kopfschildes durchziehenden Leberschliiuche
zu bilden. Auf der Unterseite erkennt man die Theilung der Dotter-
lappen noch leichter, sie ist hier noch mannichfaltiger.
Sehr wichtig ist eine Neubildung, die man nach dem Rücken des
Kopftheiles wahrnehmen kann. Es findet sich nämlich dicht unter der
Wandung über den Spitzen der drittletzten Dotterlappen jedcrseits ein
schwarzer Pigmentfleck, von länglicher Form, etwa dreimal so lang als
breit. Ebenso ist in der Mittellinie, dicht hinter der halbkreisrunden
Einbuchtung zwischen den dort befindlichen Doiterlappen ein dritter
schwarzer Pigmentfleck zu erkennen. Wir haben es hier natürlich mit
der Anlage der seitlichen grösseren und der beiden centralen kleineren
Augen zu thun.
Auch in dem Schwanzlheil zeigt sich die Dottermasse in 7 aufein-
ander folgende, in der Mitte durch eine auf der Rückenseite verlaufende
Furche geschiedene Wülste gelheilt, damit gleichfalls die ursprüngliche
Segmentzahl andeutend.
Was dann die Extremitäten anlangt, so ist jetzt schon die Gliede-
rung und Scheerenbildung vollkommen deutlich erkennbar, wenn auch
nicht bis zur völligen Ausbildung gelangt; die Beine sind auseinander-
gefaltet und ragen fast überall über den Rand des Kopflheils hinweg.
Wie es zu erwarten stand, sind auch jetzt die Grössenverhältnisse ins
Definitive übergetreten. Das erste Paar ist wesentlich kleiner, als die
übrigen und ist mit seiner Insertion fast ganz in die Mitte gerückt.
Ihm gegenüber, am hinteren Ende des Kopftheils, sieht man die beiden
kleinen Platten, welche die Unterlippe darstellen, jetzt noch mit ihren
Spitzen nach hinten und aussen gerichtet, aber doch auch schon mehr
in der Form, welche sie später definitiv einnehmen sollen.
Wenn somit die beiden Bildungen, weiche vorn und hinten den
Kauraum einschliessen, noch nicht zur völligen Reife gediehen sind, so
fehlen auch an den Hüfttheilen der dazwischen liegenden Extremitäten
noch die Zähne und Zacken, welche bei dem in der Gestalt ausgebilde-
ten Thiere die wesentlichsten Kauorgane herstellen. Von der Mund-
öffnung ist jetzt gar nichts mehr zu sehen, offenbar weil die Oberlippe^
deren gesonderte Wahrnehmung freilich in diesem wie in den vorher-
gehenden Stadien nicht möglich war, sich darüber ausdehnt, und unter
sich den Eingang in den Vorderdarm verdeckt.
588 Anton Dohrn,
Von den Ganglien ist an Embryonen dieses Stadium nichts mehr
von der Fläche her wahrzunehmen, und alle Schnitte, die ich machte,
um aufs Klare zu kommen, misslangen wegen zu geringer Consistenz
der embryonalen Gewebe.
Sehr bedeutende Fortschritte haben auch die beiden bis jetzt allein
vorhandenen Plattenpaare des Schwanztheiles gemacht. Beide sind in
ihrer Gestalt als Platten vollkommen ausgebildet, auch ist an ihrer
Innern Seite der kleine, meist als innerer Ast betrachtete Anhang deut-
lich zu erkennen. (Taf. XIV. Fig. 3.]
Wenn wir nun wieder einen Schritt weiter thun, so kommen wir
an ein Stadium, welches sich bereits von der Umhüllung der Ghorion
befreit hat. Auch ist eine Cuticula, welche auf der vorigen Stufe den
ganzen Embryo, sowie auch die einzelnen Extremitäten umhüllte, be-
reits entfernt, und wir erkennen wieder einen wesentlichen Schritt
weiter zur Erlangung der endgültigen Gestalt. Das Stadium, welches
wir jetzt betrachten wollen, können wir am besten und bezeichnend-
sten das Trilobiten-Stadium benennen, wodurch zu gleicher Zeit aus-
gedrückt ist, ein wie hohes Interesse wir daran zu nehmen haben.
Die Dimensionen der Larve, — denn so müssen wir das Thier nach
dem Verlassen des Chorion folgerichtigerweise nennen, — sind : in der
Länge 3 Millim., von denen der Kopftheil die grössere Hälfte einnimmt,
grösste Breite des Kopfschildes am Hinterrande 2,8 Millim., Breite des
Schwanztheils 2,2 Mm. (Taf. XIV. Fig. 4.)
Als wesentlichste Neuerung tritt uns die Gestaltung des Kopfschil-
des entgegen. Hier ist keine Spur mehr von der ursprünglichen Coni-
position aus 6 Zonen oder Ringen , sondern ein gemeinsames Ganze,
dessen Conformation am besten auf dem Querschnitte zu studiren ist.
Da kann man nämlich mit Leichtigkeit einen centralen und zwei seit-
liche Abschnitte unterscheiden. Der centrale erhebt sich leistenförmig
in der Mittellinie und fällt nach beiden Seiten in ziemlich starker Sen-
kung ab; die seitlichen Theile setzen sich daran, anfänglich ziemlich
horizontal, dann bilden auch sie eine Leiste und fallen jenseits derselben
ziemlich schräg gegen den Aussenrand zu ab (Taf. XV. Fig. 1 2) . Der Kiel
des centralen Theils beugt sich in ziemlich starker Krümmung gegen den
Vorderrand zu; die Leiste der beiden seitlichen Stücke geht mit stärkerer
Krümmung als der Aussenrand des ganzen Kopfschildes um den Cen-
traltheil herum ; wo sie mit dem Centralkiel nah am Vorderrande zu-
sammentrifft, liegt der centrale Pigmenlfleck mit den beiden noch weiter
zu besprechenden centralen Augen. Auf halbem Laufe dagegen tragen
diese seitlichen Leisten eine kleine Wölbung, in welcher die Pigment-
Uiiteisiicliiiugeii über Biiii iiiiil Kiilwickliiiin tl"'' Arlhropodcii. 580
Masse und die lichtbrechenden Theile der grösseren seillichen Augen
belegen sind.
Das Kopfschild ragt seitlich und vorn ziemlich weit nach unten
vor, so dass es die sämmtlichen Extremitäten, welche gewöhnlich zu-
sammengebogen sind, von oben her wie von den Seiten völlig bedeckt.
Der Aussenrand ist mit mehrfachen Cuticular- Anhängen versehen,
über die aber erst bei der Besprechung des nächsten, des eigentlichen
L imulus- Stadiums nähere Angaben gebracht werden sollen.
Der Schwanztheil hat fast noch beträchtlichere Veränderungen auf-
zuweisen. Deutlich erkennt man jetzt, dass er aus 8 Segmenten be-
steht, deren jedes wiederum in einen Centraltheil und zwei Leisten-
theilen sich ändert, Sämmtliche Centraltheile bilden zusammen ein
Gegenstück zu dem Centraltheil des Kopfschildes: mit breiter Basis
beginnend , verengern sie sich bis zu der Spitze des Schwanztheils,
welche in einer Verlängerung des centralen Kiels besteht, der über alle
Segmente sich hinzieht. Während aber am Kopfschild keinerlei Seg-
mente mehr erkennbar sind, sieht man am Schwanztheil die Segment-
grenzen als zarte Linien über den Kiel herüberziehen, ja an den letzten
beiden Segmenten bildet der Kiel kleine Vorsprünge, die ein wenig
über die Basis der folgenden Segmente wegragen. Der Centraltheil ist
gleichfalls über die Seilenlheile erhoben. Diese letzteren sind nach
unten und hinten gebogen, und zwar ist jedes folgende Segment stär-
ker nach hinten gerichtet, als das vorhergehende, so dass das letzte
fast die ganze jetzt bereits bestehende Anlage des Schwanzstachels ein-
schliesst. Die einzelnen Segmente verbreitern sich gegen den Aussen-
rand hin, der Aussenrand selbst ist gezähnt, dicht hinter einer äusser-
sten Kante, die wie ein scharfer Zahn vorspringt, befindet sich jeder-
seits ein beweglicher Dorn. Nur am ersten und am achten Segment
fehlen diese Dornen. Das erste Segment hat weiterhin die Eigenthüm-
lichkcit, dass sein Centraltheil nicht mehr deutlich erkennbar ist, da
derselbe in die Einsenkung trifft, welche zwischen Kopfschild und
Schwanztheil besteht. — eine Einsenkung, welche durch die später zu
berührenden Ortsbewegungen des L imulus bedingt wird. Ebenso
ist auch die Grösse der Seilenlheile dieses Segments geringer, — wie
es auch später gegenüber den andern Segmenten eine grössere Selbstän-
digkeit beobachtet.
Zwischen den Seilentheilen des achten Segments endlich findet
sich die erste bestimmte Anlage des Schwanzstachels. Wahrscheinlich
haben wir in ihm ein neuntes, wenn nicht noch mehr Segmente, zu
oiblicken. Der Kiel der Centraltheile aller übrigen Segmente setzt sich
590 Antou üohrn,
auch auf ihn fort, aber er ragt noch nicht so bedeutend vor den übrigen
Segmenten nach hinten zu vor.
Die Unterseite des ganzen Schwanztheils ist ebenso gewölbt, wie
die des Kopfschildes, so dass die an ihm befindlichen Extremitäten
gleichfalls vollkommen bedeckt und geschützt sind.
Was nun die sämmtlichen Extremitäten selbst anlangt, so haben
wir es jetzt, — abgesehen von der Zahl, — im Wesentlichen bereits
mit der Gestaltung zu thun, wie wir sie bei dem ausgewachsenen Li-
mulus antreffen. So sind besonders die des Kopftheils so gut wie gar
nicht davon unterschieden, abgesehen davon, dass sie noch vollständig
durchsichtig sind, und dass die Zähne und Stacheln an den Hüftstücken
weniger zahlreich sind. Auch ist der sexuelle Unterschie(^, der sich an
der zweiten Extremität daran bemerklich macht, dass dieselbe beim
Männchen keine Scheere trägt, jetzt noch keineswegs erkennbar, denn
bei allen Embryonen und Larven, unter denen sicher ein gut Theil
Männchen sind, trägt das zweite Extremitäten-Paar seine Scheere so
gut wie alle übrigen. Nur an dem sechsten Paare gewahrt man ge-
ringfügige Verschiedenheiten, insofern die Scheere, welche auch hier
besteht, im Verhältniss zu den später sie umgebenden Stacheln, noch
ziemlich gross ist.
Abweichender gestalten sich in Etwas die Extremitäten des Schwanz-
theils. Ursprünglich offenbar nach einem Typus gebaut und zu den-
selben Functionen verwandt, haben sie ihre Gestalt etwas differenzirt,
als die Functionen sich schieden. Das erste Paar trägt bekanntlich bei
dem erwachsenen Limulus keine Branchialplatten, sondern dient ein-
mal als Deckplatte für die übrigen 5 Paare,' dann aber trägt er auf
seiner nach innen gekehrten Fläche die Mündung der Geschlechtsorgane.
Durch beide Thätigkeiten hat es sich einigermaassen geändert in seiner
Gestalt. Beim ausgewachsenen Thiere sind die beiden Extremitäten in
der Mitte zu einem Stücke verschmolzen, so dass sie aufhören, geson-
dert bewegt zu werden. Im Embryo sind sie anfänglich natürlich voll-
ständig getrennt, und noch in der Larve, ja sogar noch wenn die end-
gültige Limulus-Gestalt schon angenommen ist, erkennt man in der
Mittellinie sehr deutlich die ursprüngliche Trennungslinie. Die Grund-
form nun, aus der bei dem Embryo sowohl dies erste, als die darauf
folgenden Plattenpaare sich aufbauen, ist eine nach hinten und aussen
abgerundete Platte , die mit breiter Basis der Unterseite des Schwanz-
theHs eingefügt ist, und an der inneren Kante einen kleinen, platten,
schmalen und nach aussen gekrümmten Fortsatz trägt. Aus diesen
beiden Elementen entstehen durch Gliederung resp. Verwachsung die
Deckelplatten und die kiemeniragenden Platten. Die äussere grosse
lIiilcisiRliiiiiiicii Über Bau und Kiihvickluiifi der Ardiropodcii. 591
Scliciho zerfällt in I Abschnitte, die sich durch ebensoviele grade quer-
ilberhiurcnde Beuguugslinien von einander sondern lassen. Die Grös-
senverhiiltnisse dieser AbscJinilte sind ursprünglich die folgenden : der
Basaliibschnitt ist der kleinste, der auf ihn folgende ist kaum grösser,
— beide zusammen sind die Träger der anfänglich nur aus 5 Blättern
bestehenden eigentlichen Kiemen. Der dritte Abschnitt ist der grösste,
der viei'le etwas kleiner, so gross wie der erste und zweite zusammen-
genommen. Bei dem ersten l'lattenpaare überwiegt dieser letzte Ab-
schnitt indess bedeutend an Grösse alle übrigen; und der Randab-
schnitt verändert sich bei den Kiementrägern weiterhin wesentlich, je
mehr Kiemenblätter von ihm aus sich bei den späteren Häutungen er-
zeugen.
Worin übrigens am meisten die Larven von den fertigen Thieren
abweichen, ist nicht sowohl die Gestalt als vielmehr die Zahl der Plat-
ten. Ausser den Deckelplatten besitzt der Limulus noch fünf kie-
menlragende Platten. Bei der Larve, welche das Trilobiten-Stadium
repräsentirl, linden sich aber nur zwei vorgeschrittenere und ein drittes
eben angelegtes Plattenpaar; bei dem jüngsten Limulus- Stadium
ist dies dritte Paar auch schon weiter entwickelt und ein viertes ange-
legt. Die weitere Entwicklung der vorgeschrittenen Form macht sich
am wesentlichsten kenntlich durch Erzeugung und Vermehrung der
eigenllicheu, an der Rückseite der Basalabschnitte auftretenden Kie-
menblätter.
Der kleine innere Anhang der Platten wird an dem Deckelplatten-
paar spitzig und fast rudimentär. Bei den nachfolgenden gliedert er
sich in drei Abschnitte, deren erster sich an den dritten Abschnitt der
grossen Scheibe anfügt. Zwischen ihnen erscheint bei allen Piatten-
panren ein medianer, spitzer, zipfelartiger Fortsatz des verwachsenen
Theils der Platten. Nur bei dem Deckelplaltenpaare fehlt dieser Zipfel,
weil da die Verwachsung sich sogar auf die inneren Anhänge selbst
erstreckt.
Betrachten w ir nun die Veränderungen, welche mit der äusseren
Gestalt unserer Larven vor sich gehen, wenn sie nun schliesslich in die
definitive Limulus-Form übergehen. Ich halte mich dabei an ein
Exemplar, welches einschliesslich des Schwanzstachels 6 Millim. in der
Länge, i,.T Millim. in der grössten Breite des Kopfschildes misst.
Am Kopfschilde selbst haben wir als wichtigste Veränderung der
ganzen Form die Bildung eines breiteren, abgeplatteten Vorderrandes
zu erkennen, dessen äussere Kante leicht nach oben aufgebogen ist und
jedenfalls dem Thiere seine eigenthümliche, schaufelnde Bewegung we-
sentlich erleichtert. Ausserdem tritt der Centralkiel und die seitlichen
592 Atitou Dolirii, •
Leisten sehr viel schärfer hervor, und an der Stelle, wo die mittleren
Augen sich befinden, erhebt sich ein kleiner Höcker.
Viel bedeutender sind die Umwandlungen des Schwanztheiles,
den wir jetzt ebensogut das Schwanzschild nennen können. Die noch
in dem vorigen Stadium sehr deutliche Segmentirung ist fast vollstän-
dig geschwunden, — nur das erste Segment lässt noch eine gewisse
Selbständigkeit erkennen. Die übrigen sind zu einem gemeinsamen,
in sich nicht weiter beweglichen Schilde vers hmolzen, welches ähn-
lich wie das Kopfschild am Vorderrande so am Hinter- und besonders
an den Seitenrändern abgeplattet ist. Diese eigenthümliche Abplat-
tung werden wir als aus der Lebensweise der Thiere hervorgegangen,
nachher leicht einsehen lassen. Das Schwanzschild ist nicht mehr so
gerundet, wie es im vorigen Stadium war, vielmehr ist der mittlere
Kiel stärker hervorragend, und an den Seiten ist die bereits erwähnte
Abplattung auch auf der Oberseite spürbar. Die Seitenränder sind
auch weniger gerundet, im Ganzen weniger schräge geworden. Die
beweglichen Dornen, welche an den Hinterwinkeln der einzelnen Seg-
mente Sassen, befinden sich auch noch an derselben Stelle, nur in so
weit verschieden, als der Rand jetzt wie ein Ganzes erscheint, das
sägeförmig ausgezackt ist ; in dem Boden der Zacken stehen jetzt die
Dornen.
Von dem centralen Kiele fallen die Seitentheile, wie gesagt, schräg
nach unten ab, — mit Ausnahme des ersten, mehr selbständigen Seg-
ments. Dieses erhebt sich nämlich an den Seiten flügelartig, sein Aus-
senrand biegt sich sogar höher hinauf als der Centraltheil , und mit
einer geschwungenen Linie bildet er eine Fortsetzung der stark erha-
benen Leiste des Seitentheils des Kopfschildes. Auch diese auffallende
Bildung dürfte durch Betrachtung der Lebensweise des Limulu^ ver-
ständlich werden.
In dem hinteren Ausschnitt des Schwanzschildes lenkt sich nun
der endlich frei und vollständig gewordene Schwanzstachel ein. Er
ist jetzt noch nicht so lang wie die Längsaxe des Centraltheils des
Schwanzschildes.
So weit lässt sich an dem mir vorliegenden Materiale die Entwick-
lung der äusseren Gestaltung des Limulus verfolgen. Um zu einigen
Einblicken in die Bildung der inneren Organe und der feineren histo-
logischen Differenzirung zu gelangen, griff" ich zu dem Mittel, Längs-
und Querschnitte anzufertigen. Dieselben gelangen einigermaassen nur
bei den beiden letzten Stadien, dem Trilobiten- und dem eigentlichen
Limulus-Stadium. In denselben beobachtete ich Nachfolgendes.
Der Darm setzt sich wie gewöhnlich aus Vorder-, Mittel- und
Untersiichiingoii über Biin und I'ntwicklmig der Arlliropoden. 593
Ilinterdarm zusammen (Taf. XV. Fig. 10). Die Mundöffnung erkennt man
an den Liingsschnilton unlcrhalb des zweiten Exlremitälonpaares ; man
begreift dann auch, dass sie von der Bauclilläclie aus nicht sichtbar zu
machen ist, weil die Oberlippe sie gänzlich verdeckt. Der Oesophagus
steigt nur ganz gering an, begiebt sich nach vorn und bildet dort eine
grössere Höhlung, welche ober von den Wandungen aus wiederum durch
Vorsprünge in kleinere Abtheilungen getheilt wird und so den compli-
cirten Magen bildet, welchen wir am ausgebildeten Thiere kennen.
Auf dem Querschnitt sind diese VorsprUnge am besten zu erkennen,
denn durch sie wird das Lumen vollkommen sternförmig. Die Verbin-
dung des Mitteldarms mit dem Vorderdarm geht mit einer Intussus-
ceptio des letzleren in den ersteren von Statten, — die histologische
Vorbindung ist nicht näher erkennbar. Der Mitleldarm ist am breite-
sten an der Aufnahmestelle des Vorderdarms, er geht fast cylindrisch
bis über die halbe Länge des Schwanzschildes und verbindet sich dort
in gleichfalls nicht weiter erkennbarer Weise mit dem Hinterdarm, der
an der W^urzel des Schwanzstachels eine fast kreisrunde, deutlich er-
kennbare Afteröffnung zeigt. Nicht uninteressant war es mir, in dem
Mitteldarme noch die deutlich erkennbaren Reste eines Copepoden zu
finden, der, wie es scheint, zur Familie der Corycäiden gehört hat, —
es beweist dieser Fund, dass Limulus seine Nahrung nicht so voll-
ständig zur Unkenntlichkeit zermalmt, wie es von anderer Seite be-
hauptet wird.
An dem Längsschnitt kann man nun auch sehen, wie die ur-
sprüngliche Anlage der Ganglien allmählich zu der ringförmigen Ge-
stalt sich zusammendrängt, mit der sie am erwachsenen Thiere auftritt.
Freilich ist es nicht möglich, diesen Vorgang genau zu verfolgen, —
aber man erkennt doch den alhnählichen Process des Zusammendrän-
gens. In dem letzten Stadium, das hier besprochen werden kann, ragt
die Oberlippe und mit ihr die Mundöffnung schon bis an das dritte
Bauchganglion, — die vorhergehenden zwei sind also schon zu Seiten-
theilen des später sich bildenden Ringes geworden. Das obere, oder
hier richtiger das vordere Schlundganglion ist bei weitem das grösste;
seine histologische Composilion wie auchdieder übrigen Ganglien scheint
aus zwei verschiedenartigen Theilen zu bestehen, die wir hier freilich nur
als helle und dunklere Masse unterscheiden können. Erstere wird von
letzterer umgeben. An den eigentlichen Bauchganglien bemerkt man
gleichfalls diese beiden Substanzen ; die hellere bildet auf der Ober-
seite eine dünne zusammenhängende Schicht, die dunklere auf der Un-
terseite : beide greifen mit abgerundeten längeren Fortsätzen in einan-
der w4e Zahn und Trieb, — wobei noch zu bemerken, dass nach vorn
r.j. VI. '.. /,u
594 Anton Dohrn,
zu eine wesentliche Verkleinerung statt hat, so dass das erste Bauch-
ganglion fast ganz verschwindet. Wie sich hinter dem sechsten Bauch-
ganglion die weitere Beschaffenheit des Nervensystems darstellt, ist
wiederum nicht ergründlich.
Zwischen Mitteldarm und Nervensystem findet sich aber noch ein
Raum , der von einem eigenthümlichen Gebilde eingenommen wird.
Es ist eine Sehnenscheibe, — (»lame aponeurotique« Van der Hoeven's)
— welche den meisten Muskeln sowohl des Kopf- als auch des Schwanz-
schildes zum Ansatzpunkt dient (Taf. XV. Fig. 12 pl). Welcher Art ihre
histologische Composition ist, giebt uns weder Van der Hoeven noch der
die Histologie ausführlicher behandelnde Aufsatz Gegenbaur's an, (»Anato-
mische Untersuchung eines Limulus mit besonderer Berücksichtigung der
Gewebe 1 858«). — Dass sie nicht von derselben knorpelartigen Beschaf-
fenheit ist, wie die nachher zu erwähnenden Kiemenstützen, scheint
aus der sehr deutlich erkennbaren Structur dieser letzteren hervorzu-
gehen.
Ueber dem Mitteldarm findet sich das sehr umfangreiche Rücken-
gefäss, das vorn über dem Magen sich theilt, nach hinten zu aber bis
an das Ende des Mitteldarms verläuft. Von den andern Gefässen ist
mit Deutlichkeit nichts wahrzunehmen. Nur Eins kann ich der ziem-
lich ausführlichen Beschreibung Gegenbaur's noch hinzusetzen : die Exi-
stenz eines grossen Randgefasses im Kopfschilde. Am lebenden Thiere,
würde man der Durchsichtigkeit halber bestimmen können, ob dies
Gefäss ein Sammelplatz venösen oder ein Vertheilungsbezirk für arte-
rielles Blut ist, — nach Analogie mit andern Krustern möchte man ge-
neigt sein, es lieber für einen Sammelplatz verbrauchten arteriellen
Blutes zu halten, welches von allen Seiten her aus dem grossen Kopf-
schilde in dies Randgefäss zusammenliefe. Ueber Vorhandensein von
discreten Wandungen kann ich nichts ermitteln.
Interessanter als diese spärlichen Angaben sind die Notizen, welche
in Bezug auf die Muskulatur und ihre Insertion zu geben sind. Von
hier aus werden wir nämlich am besten im Stande sein, die Geschichte
der Umwandlung der Trilobiten- Vorfahren in den heutigen Limu-
lus zu verstehen. Van der Hoeven hat zwar im Wesentlichen das ganze
Muskelsystem beschrieben, allein über die allmähliche Ausbildung
findet sich nichts bei ihm. Bekannt ist, dass sich im Schwanzschilde
je 0 Apophysen des Rückenpanzers nach innen begeben , und dass
diese der Muskulatur zum Ansatz dienen. Im jugendUchen, besonders
im Trilobilen-Stadium erkennt man nun deutlich, welcher muskulösen
Einwirkung diese 6 oder vielmehr 7, — denn man muss die an der
Grenze zwischen Kopf- und Schwanzschild den letzteren auch noch
Uiilcrsucliiiiigpii filxT Ball 1111(1 Kiitwickliiiiii der Artlirn|(0(l('ii. 595
zurechnen — Apopliysen ihre Enlslcliunij; veidonken. (lowohnlich hiilL
man dafür, dass sie den Kienienniuskeln luuiplsächlicli zum Ansatz
dienen, — das ist aber nicht richtig. In der Hauptsache ist es, wie
Vax dkr Hokven auch angiebt, die Muskulatur, welche von der im Kopf-
schilde über dem Nervensysteme gelegenen Sehnenscheibe abgeht, und
die sich im Schwanzschilde in eben so viele Bündel spaltet als Apophy-
sen, d. h. mit andern Worten, als Segmente ursprtinglich in die Bil-
dung des Schwanzgebildes eingegangen sind. Durch diese Muskulatur
und ihre Richtung ist auch die Richtung der Apophysen bedingt, die,
wie die Abbildung lehrt, je weiter nach hinten entspringend, desto
entschiedener nach vorn gekrümmt sind, so dass die gesammte Con-
traction des grossen Muskels an jeder einzelnen Apophyse einen mäch-
tigen Zug ausüben und das ganze Schwanzschild gegen das Kopfschild
stark beugen wird. Wir werden nachher bei der Schilderung der
Lebensweise des Limulus erkennen, von welcher Bedeutung diese
Muskelaction für die Thiere ist.
Es steht nicht anders zu erwarten, als dass dieser kräftigen Mus-
kelgruppe ein ebenso kräftiger Antagonist Widerpart halten wird. Und
so sehen wir auch in der That von dem Centraltheil des Kopfschildes
und besonders von den auch hier nach innen entwickelten, aber als
zusammenhängende Leisten erscheinenden Apophysen an der Verbin-
dungsstelle des Cenlraltheiles mit den Seitentheilen des Kopfschildes
eine grosse Zahl von Muskelbündeln entspringen, die sich alle conver-
girend an eine starke von dem Vorderrande des Schwanzschildes unter
den Hinterrand des Kopfschildes vorragende Leiste ansetzen und durch
ihre Contraction die Beugung des Schwanzschildes aufheben und in
eine Streckung verwandeln werden.
Neben diesen beiden hauptsächlichsten Muskelbezirken haben wir
dann die der Extremitäten zu betrachten, wobei uns wesentlich nur
die der Huftslücke, als in directem Zusammenhang mit der Ausbildung
der äusseren Körpergestalt stehend interessiren. Hier haben wir sowohl
Muskeln, die sich an die Sehnenscheibe, wie solche, die sich an die
Apophysen des Kopfschildes ansetzen. Sie sind Beuger und Strecker
und bewogen das llüftstück sowohl um seine Quer- als um seine Längs-
axe. Für die Plattenpaare des Schwanzschildes ist als allgemeineres
Resultat von Interesse , dass die Apophysen der Rückenseite nur in
sehr secundärer Weise zu Stützpunkten ihrer Muskeln werden, wäh-
rend neben ihnen die Ilauptmuskeln sich direct an die Rückenseite an-
setzen.
Von anderweitigem Interesse ist die Bildung jener knorpelartigen
Stränge, welche zuerst und ziemlich ausführlich von Gegenbaur (a. a. 0.
40*
596 Anton Dolirn, ..
p. 15 ff.) beschrieben werden. Sie entstehen als eine auf dem Längs-
schnitt doppelte Zellschicht im Innern der Plattenpaare. Eine solche
Platte legt sich aber aus 5 — 7 solcher Zellschichten an ; die äusserste
wird zur eigentlichen Wandung, welche die Cuticula ausscheidet, die
übrigen wachsen mannichfaltig aus in die verbindenden Balkchen, jene
typischen Bildungen aller Grustnceen-Kiemen, oder schieben sich bei
weiterer Entwicklung in die Reihe der äusseren Schichten ein, nur die
beiden mittleren Schichten bleiben an einander vorläufig unverändert
liegen, niiht>rn sich zwar der vorderen Wandung der Platte, scheinen
aber doch nur an der Spitze in bestimmtere, gewebliche Verbindung
mit demselben zu treten, ragen aber weit hinein in die Höhlung des
Schwanzschildes, wo sie aussen von den bereits mehrfach besprochenen
Apophysen der Rückenfläche ein Ende nahmen. Auf den Querschnit-
ten, die durch das Schwanzschild geführt werden, erkennt man dann,
dass von oben nach unten diese knorpelartigen Stränge sich verbrei-
tern, dass aber, während sie oben vielleicht nur die Breite von 2—^3
Zellen haben, sie unten 7— 10 besitzen (Taf XV. Fig. 6,7f/; 10,13/1;;
14). Kehren wir aber wieder zu dem Längsschnitt zurück, so sehen
wir, wie bei weiter vorgeschrittenen Plattenpaaren zwischen Knorpel-
strang und die Wandungen der dazu gehörigen Platte starke Muskel-
bündel sich gedrängt haben, welche sich an sie von beiden Seiten an-
setzen und antagonistisch abduciren und adduciren. In jeder der Zellen
erkennt man einen Kern; die Zellen sind aber sehr ungleich in Grösse
und Gestalt, auf den Schnitten in Canadabalsam und Glycerin erschei-
nen sie etwas bläulich. Aus dieser Darstellung geht hervor, dass jede
der Knorpelkapseln , die noch so viele Tochterzellen enthalten mag,
einer dieser ursprünglichen Zellen entsprochen haben muss.
Bei der Bildung der Kiemenblätter macht sich innerhalb der In-
nenwand der betreffenden Platte eine Wucherung und Faltenbildung
der Matrix geltend, so dass die sämmtlichen bei der nächsten Häutung
entstehenden Kiemenblälter hier als ebensoviele Falten der Plattenwan-
dung vorgebildet sind. Die einander gegenüberliegenden Wandungen
der einzelnen Blätter senden dann Fortsätze aus, und so entsteht das
bekannte Kiemen- Gitlerwerk.
Eine auffallende Bildung ist fernerhin an den Plattenpaaren zu
registriren. Wie die Abbildungen (Taf. XV. Fig. 5 — 8) erläutern, bestehen
sie ursprünglich aus einer einfachen Blase, welche an dem untern, Innern
Winkel einen kleinen Anhang haben. Allmählich macht sich eine Gliede-
rung und eine basale Verwachsung bemerkbar. Der grössere, blasenför-
mige Abschnitt erhält vier Einbuchtungen, welche ebenso vielen Quer-
linien entsprechen, die mehr oder weniger vollständig die ganze Breite des
üntersucliuiigcii über Biui und Kiitwickliing der Arthioiiüden. 597
Anhanges durchziehen, und so eine Art von Gliederung herstellen. An
der Innenseile des so entstandenen dritten Gliedes lenkt sieh dann der
ursprüngliche Anhang ein, der nun auch seinerseits in drei Glieder
gelheilt erscheint. Zwischen den beiden Anhiingen beider Plalten
macht sich dann ein allmählich innner weiter sich ausdehnender, durch
Verwachsung der basalen Theile der Innenränder entstandener spitzer
Forlsalz geltend. Die Ränder der so entwickelten Platten sind mit
Ilaaren dicht besetzt, ja auch auf der Wandung finden sich dünner
stehende. Nun zeigt sich aber eine sonderbare Bildung auf dem drit-
ten Gliede des äusseren, grösseren Abschnittes der Platte, — nämlich
ein Oval, das von einer scharfen doppelten Conlur umgeben, dunkler
gefärbt als der übrige Theil der Platte, aber ebenfalls mit ausgewachse-
nen Querbälkchen versehen ist (Fig. 6 u. T a) . Mir ist bis jetzt unerfindlich,
wozu dies Gebilde dient. Dass es aber von Bedeutung sein muss, erkennt
man aus dem weiter entwickelten zweiten Plaltenpaare, wo ein ähn-
liches Oval in dem letzten Gliede des grösseren Abschnittes auftritt, mit
dem Unterschiede jedoch, dass während das Eine in der äusseren Wan-
dung der Platten liegt, das Andere sich in der inneren vorfindet. Die
Kiemenplalten befinden sich an dem ersten und zweiten Gliede der
Platte inserirt, so zwar,»dass die Zunahme immer an dem ersten Gliede
erfolgt, das sich dann auch weiterhin in immer mehr gliederartige
Abschnitte zu Iheilen genöthigt ist.
Die Muskulatur zur Bewegung der Plattenpaare senkt sich bis in
das Basalglied des inneren dreigliedrigen Anhangs; dagegen erkennt
man den knorpelartigen Strang nur bis zur Grenzlinie des zweiten und
dritten Gliedes des grösseren äusseren Abschnittes, woselbst er von
den Muskeln umgeben wird , sich aber mit der Aussenwandung der
Platten in näherer Weise zu vcibinden scheint.
Abweichend in Function und Struclur ist, wie schon erwähnt und
auch ohne das längst bekannt, das erste Plattenpaar (Fig. 5). Es ist das
grösste und bedeckt die übrigen von unten her. In dem jungen Li-
mulus ist es eben so durchsichtig wie die anderen Plaltenpaare auch,
irägl aber eine stärkere Behaarung auf der Aussenseile der Wandungen.
Der Anhang stellt hier nicht mehr einen so bedeutend entwickelten
Theil dar, ist nicht mehr dreigliedrig, vielmehr sind die sonst vorhan-
denen beiden Endglieder hier in eine kleine, geringfügige Spitze ver-
wandelt, an der man die rudimentäre Natur des Gebildes besonders
wahrnehmen kann. Die Platten sind bereits mit einander am Innen-
rande eng verbunden, doch ist noch ein ziemlich langer Spalt vorhan-
den, der erst später verschwinden mag. Das Grössenverhällniss der
einzelnen Glieder des hier fast ausschliesslich bestehenden, äusseren
598 Anton Üolirn,
Theils ist auch von dem der übrigen Plattenpaare untersctiieden, denn
das letzte Glied ist fast ebenso gross wie die übrigen zusammenge-
nommen.
Da die Extremitäten des Kopftheils fast gar nicht von denen des
erwachsenen Thieres unterschieden sind, uns also wesentlich nur in
morphologischer Hinsicht bezüglich der Homologie -Bestimmung von
Interesse sind, so übergehen wir hier ihre nähere Betrachtung und
enden die Darstellung unserer nur fragmentarischen Untersuchung mit
dem Hinweis auf einige Cuticularbildungen des Kopfschildes.
Fassen wir den Rand dieses Körpertheiles näher ins Auge, so zeigen
sich mancherlei Caticular-Anhängean demselben (Taf. XV. Fig. 1 (5). Die
gewöhnlichsten sind natürlich Haare. Deren finden wir zwei Arten, die
sich eigentlich nur der Grösse nach unterscheiden. Nicht ohne Bedeutung
ist die Richtung derselben ; man sieht sie nämlich sich von beiden Seiten
der Mittellinie nach hinten und aussen lagern, sie stehen nicht nach vorn
vor oder aufrecht. Interessanter aber als diese Gebilde sind andere.
Der Vorderrand des Kopfschildes erscheint mit sonderbaren napfartigen
Gruben ausgerüstet, die durch einen langen Canal in directe Verbin-
dung mit dem Innenraum des Schildes zu treten scheinen. Der Canal
ist doppelt contourirt und scheint in seinem Innern einen Faden zu be-
herbergen. Es ist mir nicht gelungen, diesen Faden überall deutlich
zur Anschauung zu bringen, seine Existenz ward mir aber in einigen
dieser Canäle unzweifelhaft. Nach innen zu wusste ich ihn in keine
Verbindung mit andern Bildungen zu bringen, — was wohl eine Schuld
des mannichfaeh veränderten, ins Undeutliche gebrachten Gewebes ist.
Nach aussen aber scheint er sich an eine sonderbare Art Stachel fort-
zusetzen, welche auf dem Grunde der erwähnten Gruben mit kegelför-
miger Basis sich ansetzt und in eine scharfe feine Spitze ausläuft, die
noch ein kleines Stück über den Rand der Grube hervorsieht. Ich
glaube nicht im Unrecht zu sein, wenn ich diesen Apparat für ein Sin-
nesorgan halte, der an dieser Stelle dem Thiere um so werthvoller sein
muss, als der Mangel von eigentlichen Antennen es gegen vielfache
Einflüsse schutzlos gelassen hat. Doch hierüber werden wir weiter
unten noch weiter zu sprechen haben.
Die Behaarung des grössten Theiles des Kopfschildes, die zackige
Natur des Seiten- und eines Theils des Hinterrandes sind Erscheinun-
gen, welche weiter nichts Merkwürdiges bieten. Das Innere des Kopf-
schildes zeigt noch die bei Krebsen so häufige und besonders bei den
Larven der Panzerkrebse, den Phyllosomen, genauer bekannte Bildung
von Querbälkchen zwischen oberer und unterer Wandung, zwischen
denen beim jungen Thiere die vielfältig verzweigten Leberschläuche
Uiilerstichmigeii liln-r Hau und Kiilwickliinu; ili'r Aiiliroiiodcii. 599
sich ausdehnen, bei dem alten noch die ausserordentlich umfangreichen
Geschlechtsorgane sich finden.
Und so haben wir denn zuletzt nur noch zu sagen, dass die Sli'uc-
tur der seitlichen Augen uns verborgen geblieben ist, die der einfache-
ren, vorderen aber in zwei linsenförmigen Verdickungen der Culicula
besieht, welche nach innen in je einen kleinen Hohlraum vorragen,
der von der gemeinsamen Pigmentmasse begrenzt w ird ; diese Pigment-
masse steht durch einen dünnen Streifen schwarzen Pigments mit einer
andern noch grösseren, aber ganz unregelmässig gestalteten Pigment-
masse in Verbindung, die sich auf der Unterseite des Kopfschildes dicht
vor dem oberen Schlundganglion ausbreitet (Taf. XV. Fig. 15).
Soweit erlaubte das etwas mangelhafte Material, das mir vorlag, in
die Entwicklungszustände des Limulus einzudringen, — ich werde
nun versuchen, aus den bereits angeführten Aufsätzen der beiden ame-
rikanischen Naturforscher einige ergänzende Angaben zusammenzustel-
len, zugleich auch auf einige Widersprüche, die zwischen ihnen und
meiner Untersuchung bestehen, hinzuweisen. Da aber besonders der
Aufsatz des Rev. S. Lockwood eine ziemlich ausführliche Darstellung
der Lebensweise des Limulus enthält, auch über die Zeit und andere
äussere Umstände der Entwicklung sehr werthvolle Angaben enthält, so
glaube ich am besten zu thun, wenn ich seinen Aufsatz auszUglich, aber
ohne etwas Wichtigeres zu übergehen, hier reproducire.
Dr. S. Lockwood und Dr. A. S. Packard über Lebens-
weise und Entwicklung des Limulus.
(American Naturalist IV. No. 5 & 8. 1870.)
»Die nachfolgende Darstellung der Lebensweise des Limulus ist
das Resultat von Beobachtungen, die sich über mehrere Jahre erstreckten.
»Der Limulus lebt in massig tiefem Wasser, — etwa von 2 bis
G Faden (12 — 36 Fuss). Mit Ausnahme ganz junger Exemplare, die
wahrscheinlich von der Fluth dahin gebracht werden, sieht man nie-
mals den Limulus in seichtem Wasser, — es sei denn zur Zeit der
Fortpflanzung. Er ist recht eigentlich ein wülilendes Thier und lebt
buchstäblich im Schhunm, worin er sich seinen Weg mit grosser Leich-
tigkeit bahnt. Beim Wühlen wird die vordere Kante des Kopfschildes
nach unten gedrückt und schaufelt nach vorwärts, während das Schwanz-
schild winklig dagegen gebeugt ist und die scharfe Spitze des Schwanz-
stachels als Fulcrum dient, indem es den Schlamm durchdringt. Au
der Unterseite sind die Füssc ununterbrochen ihätig, die Eide aufzu-
600 Allton Dohni,
kratzen und nach beiden Seiten hervorzustossen. Auf diese Weise
bildet sich eine auffallende Kraftersparniss in der Wtihlarbeit des Li-
mulus, denn das abwechselnde Beugen und Strecken des Kopf- und
Schwanzschildes, verbunden mit der drängenden oder schiebenden
Thätigkeit des Schwanzslachels bewerkstelligen zu gleicher Zeit das
Graben und das Fortschreiten unter dem Schlamme. Dieserhalb könnte
man den Li mulus den Seemaulwurf nennen.
»Limulus ist ein Fleischfresser, seine Nahrung bilden die wei-
chen Nereisarlen und andere Würmer. Mitunter findet man Exemplare,
deren eine Extremität zwischen die Schalen einer Venus mercena-
ria eingeklemmt ist. Das kommt daher, weil auch Venus merce-
naria ein Wühler ist; der Limulus packt dabei gelegentlich ihren
Sipho, den das Mollusk aber rasch einzieht, wol)ei dann die Limulus-
Klaue mit zwischen die Schalen geräth und dort festgehalten wird. In
dem Wunsch genau zu ermitteln, welche Nahrung und wie die Thiere
sie verzehren, setzte ich ein Exemplar, das den Sommer vorher ausge-
krochen war, in ein kleines Aquarium und gab ihm eine reichliche
Masse von frischer und zartei" Ul va latissima. Aber dieser Meeres-
Salat blieb gänzlich unberührt, obwohl der junge Limulus seit drei
Wochen nichts anderes zu essen bekommen hatte. In der That hatte
ihn der Hunger auch buchstäblich durchsichtig gemacht. Darauf ver-
suchte ich es mit animalischer Kost. Ich öffnete eine lebendige Venus
mercenaria, störte den kleinen Burschen aus seinem Schlupfwinkel
im Sande auf und gab ihm ein Stück von der Muschel, Sofort machte
er sich darüber her und vertilgte es mit wahrem Heisshunger. Ausser
dieser hauptsächlichen Speise gab ich ihm zu verschiedenen Zeiten noch
andere Nahrung. Jedes Mollusk, das hinreichend zart war, behagte
ihm. Er ass sogar Rindfleisch, aber nicht mit der Vorliebe wie Mollus-
ken. Das aber konnte ich constatiren, dass er, wohlgenährt wie er
war, niemals todte Thiere angriff; ich kann aber nichts darüber aus-
sagen, ob das auch unterblieben wäre, wenn er hungrig gewesen wäre.
»Bis jetzt halte ich aber den Process des Essens selbst nicht gesehen.
Dies Alles war verborgen durch das grosse Kopfschild. Aber ich wollte
es durchaus direct beobachten. So Hess ich also zu allererst das Thier
so lange hungern, dass mit Sicherheit ein guter Appetit zu erwarten
war Hierauf legte ich ein Slück eines Mollusk's vor den hungrigen
Krebs, welches augenblicklich mit den Klauen nach unten gezogen
wurde. In demselben Moment drehte ich das Thier um, so dass es
seine Unterseite gegen die Glasscheibe des Aquariums kehrte, und in
dieser Stellung wohl 5 Minuten lang beharrle. Dabei Hess sich denn
der Process des Fressens hinreichend beobachten , und in der That
Untersiicliuiigcn über Bau iiml Eiitwickliiiig dur Ai-tliio|iodcn. GOl
erscheint derselbe merkwürdig genug. Wenn das Thitr in seiner na-
lürlichen Lage sicii befindet, so wiid die Nahrung von den Klauen oder
Scheeren des letzten kieferloscn Extroniitiilenpaares unniillelbar unter
den Mund geschoben, und in dieser Lage, wenn nöthig, auch von den
übrigen Extienntälcn gehalten , indem sie die Nahrung erst mit den
Stacheln und Zähnen der einen, dann mit denen der andern bearbeiten.
Die kleinen, losgelösten Stückchen gehen dann in den Mund. Hier-
aus lässt sich leicht abnehmen, wie schwer es ist, von dieser klein ge-
riebenen Nahrung innerhalb der Gedärme noch eine deutliche Spur von
dem ursprünglich verzehrten Gegenstände zu finden und denselben dar-
aus zu erkennen. Von der grossen Zahl der Individuen, die ich öffnete,
verrieth mir kein einziges, wovon sie sich nährten, und erst aus dem
obigen Experiment Hess sich erkennen, ob Limulus von Pflanzen-
oder von Thierstoffen lebe.
»Die Häutungen des Limulus erfolgen mehrmals während des ersten
Lebensjahres und in kurzen Zwischenräumen. Wie viele es sind, kann
ich nicht angeben, da es je nach dem Zeitpunkt des Auskriechens aus
dem Eie verschieden sein muss. Doch aber glaube ich, dass die Jun-
gen, welche im letzten Theile des Juni hervorgebracht werden, noch
5 — 6 Häutungen durchmachen, ehe das kalte Welter eintritt. Ja, was
bei Krebsen entschieden für eine Ausnahme zu gelten hat, selbst die
ausgewachsenen Thiere scheinen ihre Haut mehr als einmal im Jahre
abzuwerfen. Beim Austernfischen wird sogar während des Winters
gelegentlich mit der schweren Eisendragge ein Limulus gefangen ; un-
ter diesen befand sich, — es war im Februar bei ungewöhnlich schö-
nem Wetter in Bariton Bay — ein erwachsenes Weibchen, welches erst
kürzlich sich gehäutet haben musste, da die Körperwandung noch ganz
weich war.
»Mitunter kann man das Abstreifen der Haut unter sehr ungewöhn-
lichen Umständen direct beobachten. Ein grosses, im August gefange-
nes Weibchen, häutete sich in der Gefangenschaft, trotzdem es mehrere
Tage lang in freier Luft gelegen hatte. Die Operation war sehr müh-
selig und dauerte drei bis vier Tage , wobei das Thier ganz trocken
ward. Hin und wieder ward aus Mitleid etwas Wasser über das Thier
gegossen ; dies war aber nicht einmal Meereswasser, sondern süsses.
Jedenfalls muss das Abstreifen der Haut unter so aussergewöhnlichen
Umständen eine sehr schwierige und wahrscheinlich recht schmerzhafte
Operation sein, — ja es ist zu verwundern, dass es überhaupt geschah,
Unter natürlichen Verhältnissen werden dafür nur wenige Minuten in
Anspruch genommen. Eine dünne, schmale Kante läuft rund um die
Unterseile des vorderen Theils des Kopfschildes, des bekanntlich wei-
602 Antoii Dohrn,
testen Theiles des Thieres. Dicht vor der Zeit der Häutung entsteht
eine Trennung zwischen dieser Kante und dem Perimeter des Schil-
des. Dem unbewaffneten Auge bleibt dieser Riss fast unsichtbar,
nur durch die Anstrengungen des Thieres öffnet er sich, und durch
diese Oeffnung verlässt dasselbe die alte Schale. Durch diese Oeffnung
vorn am Kopfe und an der Stelle der grössten Weite, besonders aber
noch, da die Schale halb lederartig ist, etwas nachgiebt und grade an
diesem Platze sehr dünn ist, hatLimulus einen offenbaren Vortheil
Verden höheren Krustern voraus, deren Häutung nolhwendigerweise
von hinten aus sich vollzieht, und deren Haut ausserdem aus unnach-
giebigerem Stoffe besteht. Den Limulus so gleichsam aus sich selbst
herauskommen zu sehen, ist ein so komischer Anblick, dass man un-
willkürlich zu der Vorstellung kommt, er speie sich selbst aus seinem
eigenen Munde aus.
»Als das Exemplar, das wir hier besonders im Auge haben, aus
seiner alten Haut herauskam, maass es 91/2 Zoll im kürzeren Durch-
messer des Kopfschildes, während die leere Schale an derselben Stelle
nur 8 Zoll hielt. Wenn sie also mehr als einmal im Jahre sich häuten,
so müssen sie ein rapides Wachsthum besitzen ; wenn nicht, so scheint
mir, dass sie mindestens ein Alter von 8 Jahren und drüber erreichen,
ehe sie geschlechtsreif werden. Doch darüber werden wir nachher noch
mehr zu sprechen haben. Ich habe ferner beobachtet, dass in jedem
Frühjahr, d. h. sobald als das Wasser seine Wintertemperatur verloren
hat, eine grosse Zahl von Jungen, die vom vergangenen Sommer dati-
ren, an den seichten Stellen sich finden. Diese messen zwischen 1 bis
21/2 Zoll in dem kürzeren Durchmesser. Da nun das Thier, wenn es
auf eigne Hand zu leben anfängt, nur einen Viertelzoll, und das kaum,
im Durchmesser besitzt, so würde das ein ausserordentlich rasches
Wachsen beweisen, — so glaube ich aber auch, dass die grösseren
unter jener Zahl schon zwei Winter durchlebt haben.
»Es ist Grund dazu vorhanden, anzunehmen, dass Eier von dem-
selben Individuum in derselben Saison mehr als einmal abgelegt wer-
den. Ich hörte Fischer dies mit vollkommner Sicherheit behaupten.
Da sie es aber nicht beweisen konnten, so ward ihre Behauptung weiter
nicht beachtet, bis das folgende Factum sich zutrug. Ueberall da, wo
Limulus sehr gemein ist, hat man die Gewohnheit, ihn zu fangen und
Geflügel damit zu füttern, in dem Glauben, das mache dasselbe mürbe,
wie es jedenfalls sie und die Schweine fett macht, aber zu gleicher Zeit
dem Fleische beider einen höchst unangenehmen Beigeschmack verleiht.
Die W^eibchen werden dabei ihrer Eier halber vorgezogen , deren es
meist nicht weniger als eine halbe Pint hat. die dicht aneinander im
Uiitcrsucliuiigeii über Hau iiiid lüitwickliiiiii; der Arlliroiiodi'ii. 603
Kopfschild liegen. Man erhält dieselben, indem man die Spitze eines
Messers unter die vordere, untere Ecke des Schildes einsetzt und damit
rund um die dünne Kante, die bereits erwähnt ward, herunjfährt,
so dass die Eier, die wie Senfsaamen, aber von aschgraugrüner Farbe,
aussehen, ganz frei gelegt werden. Nun fand es sich, dass ein Weib-
chen, von dem ich genau wussle, es habe im Mai bereits Eier abgelegt,
im Juli geöfl'nel ward und zu meinem nicht geringen Erstaunen ganz
voll von wohlgeformten und anscheinend reifen Eiern war.
»Limulus legt seine Eier um Neu- und Vollmond in den Mona-
ten Mai, Juni und Juli. Damit ist gesagt, dass es während der Zeit der
ganz besonders starken Ebbe und Fluth, ( — Springfluth und Spring-
ebbe — ) geschieht, worauf ja der Mond einen so bedeutenden Einfluss
ausübt. Sie kommen dann bei einer besonders hohen Fluth herauf,
auf dem Meeresboden vorschreitend, bis sie einen passenden Fleck
nahe an der äussersten Linie der Fluth, aber immer innerhalb dersel-
ben, erreichen, iliedurch werden drei Vortheile gewonnen. Erstlich:
die Eiablage geschieht unter Wasser; zweitens : die Linie der gewöhn-
lichen Fluth ist so ausgewählt; drittens: die Eier sind einer kurzen
Ebbe ausgesetzt, wobei durch die Sonnenhitze die Beschleunigung der
Entwicklung erreicht werden kann.
»Dass ein erwachsener Limulus zu anderer als zur Begattungs-
zeit den Strand besucht, ist sehr selten. Zu dieser Zeit aber kommen
sie paarweise in grossen Haufen, — und, wörtlich gesprochen, — in
ehelichen Banden, denn das Männchen sitzt auf dem Schilde des Weib-
chens; es hält sich in dieser Stellung fest, indem es die Seiten des
Schwanzschildes umfasst mit den beiden starken und kurzen Klauen,
die nur den Männchen eigen sind, durch die, — gleichzeitig mit der
geringeren Grösse der Männchen, — das Geschlecht sofort erkannt wer-
den kann. Das Weibchen gräbt dann eine kleine Vertiefung in dem
Sande und lässt die Eier hineinfallen ; hierauf entlässt das Männchen
die befruchtende Flüssigkeit über die Eier, — und sofort w ird das Nest
verlassen, die Eltern ziehen sich zusammen mit dem sich zurückzie-
henden Meere wieder in ihr Element zurück, — nur mitunter bleibt
ein Pärchen, das vielleicht weniger munter ist, als die andern, zurück,
wird aber doch noch, wenn ungestört, die See wieder erreichen. Durch
die Thätigkeil des Wassers werden die Eier nun sofort mit Sand be-
deckt; wobei es denn freilich oft geschieht, dass ungünstiger Wind eine
Menge Eier hinwegwaschen lässt und in allen Bichtungen auf den Strand
wirft, wo sie dann vielen hungrigen Vögeln, oder im W^asser von Fischen
und Mollusken gefressen werden.
»Limulus lebt in Monogamie, — aber es ist nicht unwahrschein-
604 Anton Dolirn,
lieh, dass zu jeder Geschlechlsperiode ein anderes Männchen angenom-
men wird. Hin und wieder geschieht es aber auch, dass ein Weibchen
auf den Strand kommt, mit drei Verehrern zu gleicher Zeit, deren zwei
vergeblich versuchen, den glücklichen Besitzer wegzujagen. Diese Er-
scheinung hat die Fischer zu der Annahme verleidet, die Zahl der
Männchen überwöge die der Weibchen ; — mir scheint aber , dieser
Punkt könne nicht in solcher Weise erklärt werden.
»Früher waren die Limulus in Bariton-Bay sehr häufig, — ge-
genwärtig sind sie seltner. Demgemäss muss man ihnen jetzt beson-
ders aufpassen. Im Mai 1 869, selbst durch Zeitmangel verhindert, be-
auftragte ich einen Fischer, aufzupassen, bis ein Pärchen heraufkäme
und es dann zu fangen, sobald es Anstalt mache, wieder in die See
zurückzukehren ; auch war er instruirt, mit einem zinnernen Gefäss
die ganze Eiermasse mit Sand und Allem aufzuschöpfen, die Eier aber
nicht mit den Händen zu berühren. Ich glaube, dass der Mann diesen
Auftrag pünktlich ausgeführt hat. So gelangten also die Eier und die
Eltern unverletzt in meinen Besitz. Meine Vorbereitungen waren be-
reits mit aller Umsicht getroffen. Gefässe, in denen die Eier auskriechen
sollten, waren schon seit einigen Tagen zurecht gemacht und das Was-
ser darin befand sich in sauerstoffreichem Zustande. Nur eine, zu-
gleich sehr ernste Schwierigkeit bestand noch. Ich konnte das Wasser
nur der reflectirten Sonnenwärme exponiren, Directes Sonnenlicht wäre
in den Sommermonaten zu warm gewesen und hätte das Wasser
verdorben. Das Resultat war, dass die Entwicklung der Eier sehr
langsam vor sich ging, — was man nicht vergessen möge, zugleich mit
der Thalsache, dass der Mangel von Bewegung und Veränderung des
Wassers und seiner Tiefe und besonders der Mangel von directer Ein-
wirkung von Luft und Sonne, die bei der Ebbe sonst für die Eier statt
hat, diese Verzögerung wohl hervorgebracht hat.«
Im Folgenden gebe ich nun noch einige der Notizen, die Dr. Lock-
wood über die Entwicklung der Eier selbst in seinem Aufsatze mittheilt.
»Mai 26. 1869. — Die Eier wurden heut ausgelegt. Sie waren
grünlich weiss, trübe, fast schmutzig aussehend. Im Fortgange der
Entwicklung ward die äussere Schale Zusehens dunkler und noch leder-
artiger. Ich glaubte dieses letzteren Umstandes wegen, sie seien be-
reits im Zerfall, — aber sie besitzen eine ausserordentliche Lebens-
zähigkeit. Selbst bei einer bedeutenden Verzögerung werden sie
schliesslich doch zum Auskriechen kommen. Die der Oberfläche zu-
nächst liegenden Eier entwickelten sich am raschesten.«
»Juli 18. — 34 Tage nach Ablage der Eier. Der dunkle Chorion
ist geplatzt und die innere durchsichtige Hülle wird frei. Im Innern
UiitcrsiicIiiiMoon üitor Riiii und riihviokliinir der Arlliropodoti. fi05
findet sich ein trilobitenartiger Embryo. Auffallend ist die verlängerte
Gestalt des Abdomen neben der sehr breiten Form des Kopfschildes.
Die Beine sind weit vorgeschritten in der Entwicklung und die beiden
seitlichen Augen sind deutlich erkennbar. Nach 2 — 3 Tagen war der
Embryo beträchtlich verändert. Im Verhältniss zu dem Schwanztheil
war der Kopfschild nicht mehr so breit. Die Beine reichten über den
Rand des letzteren hinaus. Die seillichen Augen ragten schon etwas
vor, aber die centralen Ocellen fehlten noch, (?) denn an deren Stelle
N\ar eine Einbuchtung in dem Vorderi'ande des Schildes. Die beiden
Theile des Embiyo sind noch gegen einander gebeugt. Der Embryo
rollt sich fast unaufhörlich in der durchsichtigen Hülle herum, mitunter
ruht er einige Minuten, und liegt gewöhnlich auf dem Rücken. Dies
Umrollen hat wohl die Wirkung, dass die durchsichtige Hülle durch die
Reibung allmählich gesprengt wird.
»August 3. — 70 Tage nach der Eiablage. Ein. Embryo hat heute
die Hülle verlassen. Er misst 21/2'" in der Länge und 2'" in der Breite.«
(Dies Stadium entspricht dem oben beschriebenen Trilobiten-Stadi.um.
Ich enthalte mich also der Wiedergabe von Mr. Lockwood's Angaben
darüber.)
»Das Thierchen fing sofort an für sich selbst zu arbeiten, indem es
hartnäckige Anstrengungen machte, wie seine Eltern zu graben. Der
Mangel des beweglichen Schwanzstachels ward aber sofort fühlbar,
denn bei dem geringsten Hinderniss fiel es auf den Rücken, konnte sich
durch den Stachel nicht wieder aufrichten, wie es die Alten thun, und
begann nun eine kräftige Bewegung mit den Branchial-Plattenpaaren.
Hiedurch wird es in dem Wasser nach aufwärts bewegt; dann lässt es
sich wieder sinken, um vielleicht wieder auf die Bauchseite zu fallen.
Sollte das nicht gelingen, so wird das Aufsteigen wiederholt bis schliess-
lich der Zweck erreicht wird.
»August l.j. — 82 Tage nach der Eiablage. Sehr viele Individuen
sind ausgekrochen, viele aus Mangel an hinreichend sorgfältiger Be-
handlung zu Grunde gegangen. Ich beobachtete fast ausschliesslich
das bereits erwidmte Exemplar. Es häutete sich heute zum zweiten
Male. Wenige Minuten reichten hin, um es von seinem Kinderkleide
zu befreien. Ich bemerkte, dass es sich eine Zeitlang ausruhte, wäh-
rend der Schwanzstachel noch halb in der abgestreiften Hülle stecken
blieb. Als es endlich ganz herauskam, war die Li m ul u s -Gestalt
vollkommen ausgebildet. Es misst 1/4" Breite und der Schwanzslachel
' j,)" Länge. Die Borsten am Schwanzschilde und die Haare und Sla-
eiieln am Kopfschilde sind jetzt fast ganz geschwunden. Als das Thier-
chen vor dieser letzten Häutung über den Schlamm einherzog, machte
606 Anton Dolirn,
es ganz kleine Furchen mit den seitlichen Dornen des Schwanzschildes,
wobei ein freier Platz zwischen diesen Reihen blieb, der jetzt von einer
mittleren Linie, hervorgebracht durch den eingedrückten Schwanz-
stachel, gleichfalls gefurcht wird. «
Hier enden die Beobachtungen des Dr. Lockwood, da eine Krank-
heit ihm den Gebrauch der Augen für längere Zeit raubte. Aber noch
einige andere, nicht weniger interessante und für die Gesammtgeschichte
des Limulus wichtige Mittheilungen verdanken wir dem geschickten
Beobachter und geistvollen Darsteller, — und ich trage kein Bedenken,
auch sie hier folgen zu lassen.
Derselbe bemerkt über die Bedeutung des Schwanzstachels für die
Lebensweise des Limulus: »Dem Limulus ist der Besitz des
Schwanzstachels so nöthig, wie dem Bergsteiger der Alpenstock. Er
ist jeden Augenblick in Gefahr, bfei der geringsten Erschütterung oder
irgend einem Hinderniss, auf den Rücken geworfen zu werden, und
ohne seinen Schwanzstachel würde er so hilflos sein, wie eine Schild-
kröte in derselben Lage. Aber dann beugt er den Stachel, steckt die
Spitze in den Schlamm oder Sand, und nach einigen kräftigen Anstren-
gungen gelingt es ihm, sich wieder umzudrehen. Seine Beine dagegen
sind so schwach, dass, wenn man seine Unterseile den Angriffen von
Fischen aussetzt, diese bald seinen Lebenslauf zu Ende bringen wür-
den. Darum muss er immer den Rücken oben behalten, will er nicht
sein Leben verlieren. « Hiebei wird, meinen eignen Beobachtungen in
Aquarien zufolge, noch durch lebhaftes Auf- und Abklappen der Kie-
menplatten nachgeholfen.
»Ich will nun noch eine andere wichtige functioiielle Metamor-
phose erwähnen, die mir höchst bemerkenswerth erscheint. Der Un-
terschied in der Gestalt zwischen dem zweiten Extremitätenpaar des
Männchens und Weibchens ist so bedeutend, dass sogar Kinder sofort
am Strande hiedurch den Unterschied der beiden Geschlechter erken-
nen. Beim Weibchen ist diese Extremität lang, schlank und schwach;
heim Männchen kurz, stark und geschwellt. Ihre Klaue, zum Festhal-
ten bestimmt, gleicht einem Schraubstocke. Ihr Gebrauch besteht darin,
das Schild des Weibchens festzuhalten, so dass das Männchen seine
Stellung inne halten kann, während das Paar an den Strand zieht in
der Paarungszeit. Und dieses Festhalten ist so sicher, dass keine Hef-
tigkeit des Sturms, kein Angriff eifersüchtiger Nebenbuhler ihn von
seinem Platze verdrängen kann. Das wissen auch die Fischer sehr gut,
die im Wasser stehen, um das Weibchen aufzuspiessen, wenn es ange-
zogen kommt in ehelicher Umarmung. Sie trachten nur danach, das
Weibchen zu fangen, denn es würde einer Kraftanstrengung bedürfen.
Uiilcrsiichmigeii über Bau und Kntwickliiiin der Arthropoden. ()()7
um das Männchen von ihm zu trennen. Diese starke Klaue, oder wie
die Fischer es nennen, Hand, hat im frühen Leben keine Verwendung.
Limulus hat seine Pubertätsperiode, — erst dann ist er erwachsen.
Aber nach der Grösse zu urtheilen, welche die sich begattenden Männ-
chen haben, die ziemlich gleich ist, und ihrem wirklichen Wachsthum
nach, möchte ich glauben, dass die Pubertät des Krebses nicht vor dem
dritten oder vierten Lebensjahre eintritt. Und erstaunen würde es
mich nicht, wenn diese Zahl sogar das Minimum darstellte. Aber das
Wesontlicliste ist, — erst zu der Pubertätszeit erleidet das Männchen
die letzte Verwandlung. Dabei erhält es erst die grossen Klauen, oder
wörtlich verstanden, — die Hochzeitshand.
»Diese Facta sind zwar nur negativer Natur, aber darum nicht
weniger beweisend. Erstlich war der Verdacht gegeben, dass es sich
so verhalten möchte, dann ward danach gesucht, ob ein junges Männ-
chen die Geschlechlsklauen bereits ausgebildet besässe. Aber trotz der
numerischen Gleichheit von Männchen und Weibchen ward dieses nicht
gefunden, obwohl grosse Mengen junger Exemplare untersucht wurden.
Ueberdios habe ich auch keinen Fischer gesprochen, der dies je gesehen
hätte. « —
»Gegen Ende der warmen Jahreszeit des letzten Jahres (1869)
mussten die Gefässe ungefähr 200 junge Limulus enthalten haben.
Ich habe nun bereits mitgetheilt, dass die Jungen sofort nach ihrem
Auskriechen aus dem Eie, anfangen, sich einzugraben wie die Alten ;
daher ist es selten, dass man das Abwerfen der Haut zur Beobachtung
bringen kann. In der Hoffnung, meine Beobachtungen über das Wachs-
thum meiner interessanten Familie im folgenden Jahre fortsetzen zu
können, wurden die Gelasse sorgfältig bei Seite gestellt. Geringe Auf-
merksamkeil indessen ward der Temperatur geschenkt, die bei ver-
schiedenen Gelegenheiten auf den Gefrierpunkt niedersank. Am 3. Mai
1870 leere ich nun die Gefässe, um zu sehen, wie meine Pfleglinge vor-
wärts kämen, — und musste mich überzeugen, dass nicht Einer von
ihnen mehr am Leben war, — aber wunderbarer Weise an ihrer Stelle
ein Dutzend kleiner Burschen, alle erst in diesem Frühjahr ausgekro-
chen, an ihre Stelle getreten waren. Mit diesen fanden sich dann auch
noch wenigstens 30 Eier in verschiedenen Entwicklungsstadien völHg
am Leben! In einigen derselben konnte man den Embryo sich umrol-^
len sehen. Die Erklärung dieser Erscheinung ist, dass in der That
einige der im vorigen Jahre eingelegten Eier nah dem Grunde der Ge^
fasse gelegen hatten und dadurch jeder Berührung mit der Sonnen^
wärme entzogen worden waren. Sofort, — freilich nicht ohne alle Be-
fürchtung hinsichtlich des Erfolges, — sorgte ich für die geeigneten
608 Anton Dohrn,
Massregeln , um die weitere Entwicklung zu begiinsligen , indem ich
frisches Seewasser kommen liess, Sand hineinwarf, die Eier darauf
legte und das Ganze dann an einen günstig gelegenen Platz stellte.
Gegen Y2 4 Uhr Nachmittags am 1 1 . Mai kroch vor meinen Augen der
erste Limulus aus! Die Eier waren fast ein ganzes Jahr alt, — es
fehlten nur noch zwei Wochen! Und noch mehr: die Eier waren be-
reits im vorigen Jahre bis zu einem gewissen Stadium entwickelt! So
ist also nicht blos eine ausserordentlich beträchtliche Zögerung in der
Entwicklung, sondern vielmehr ein vollkommener Stillstand eingetreten
gewesen, der 7 — 8 Monate gedauert und doch das Leben nicht aufge-
hoben hat ! «
Soweit die sehr werthvollen Mittheilungen des Dr. Lockwood.
Einige morphologische Betrachtungen, die derselbe Forscher seinem
Aufsatze noch beigefügt hat, wollen wir weiter unten im Zusammen-
hange mit meinen eignen Anschauungen noch näher kennen lernen.
Ich wende mich nun zu dem Aufsatze des Dr. A. S. Packard jr.
Die Untersuchungen dieses Forschers sind an Materialien angestellt,
welche ihm von Dr. Lockwood mitgetheilt wurden, so dass, da auch die
von mir benutzten Eier und Embryonen derselben Quelle entstammen,
hiedurch eine Einheit hervorgebracht wird, welche die drei Arbeiten
zu gegenseitiger Ergänzung verbunden erscheinen lässt. Ich setze
demgemäss nur so viel aus Dr. Packard's Aufsatz hierher, als nöthig
wird, um ein möglichst vollständiges Bild der Entwicklung zu liefern ;
die daran gefügten morphologischen Betrachtungen übergehe ich auch
hier wieder, um sie nachher in den Zusammenhang eintreten zu lassen.
»Nicht nur in den Eiern, die bereits abgelegt sind, sondern auch
in den unbefruchteten, die dem Eierstocke entnommen wurden, war
der Dotter leicht zusammengezogen und liess einen hellen Baum zwi-
schen sich und der Schale. Nur ein oder zwei Eier wurden im Fur-
chungsprocess begriffen gesehen. In einem derselben war der Dotter
in drei ungleich grosse Stücke zerfallen. In dem andern war die Fur-
chung fast vollendet.
»In dem nächsten Stadium fanden sich die ersten Anzeichen des
Embryo, bestehend in drei kleinen, flachen, runden (?) Vorragungen,
deren beide vorderen Seite an Seite sich befanden, während der dritte
unmittelbar dahinter sich befand. Das Paar der Vorragungen stellt
wahrscheinlich das erste Gliedmaassenpaar dar, das dritte einzelne da-
gegen das Abdomen (?). In weiter vorgeschrittenen Eiern konnte man
drei Paar beginnender Extremitäten beobachten, deren vorderstes, das
erste Extremitätenpaar, sehr viel kleiner war als die andern. Die
Mundöffnung befindet sich dicht dahinter. In einem späteren Stadium
UntcrsnolimiffPii iikr Üini und l'.nlwirkliiim- der Artliropodeii. 609
bildet der Embryo ein ovales Feld, umgeben von einem noch blasseren
Ringe, der wie eine Leiste erhaben ist, und dazu bestimmt ist, die Kante
des Körpers oder die Trennungslinie zwischen Bau(;h- und Uiicken-
lliiche zu bilden.« Dieses Stadium kommt völlig überein mit dem ersten
von mir in dem vorhergehenden Abschnitt beschriebenen; ich ver-
meide darum, das hier zu wiederholen, was dort schon gesagt ist. Nur
einen Irrthum, der möglicherweise störend wirken könnte, muss ich
hier berichtigen. Dr. Packard hält nämlich das, was ich oben als Exo-
chorion beschrieben habe, für das eigentliche Chorion, was ich dagegen
als Chorion betrachte, das sieht er einmal als »inner egg-membranc«,
dann als »amnion« und schliesslich als homolog der »larval skin of Ger-
man embryologists« an, womit offenbar Fritz Mlller's und meine eig-
nen Darstellungen gemeint sind. Dass nun diese Vermischung von sehr
verschiedenartigen Gebilden hier eingetreten ist, liegt wohl an der gros-
sen Schwierigkeit, durch die sich oft widersprechenden und schwan-
kenden Darstellungen der Entwicklungszustände der Arthropoden ohne
genaues Nacharbeiten seinen Weg zu finden ; wie dem aber auch sei,
jedenfalls steht die EihüUe des Limulus, von der hier die Rede ist,
sicherlich nicht in Beziehung morphologisch-homologer Art zu einem
der drei erwähnten membranösen Gebilde. Wir haben es gewiss nur
mit einem Chorion des Limuluseies zu thun.
Die weitere Daivstellung der Entwicklung ist nicht wesentlich ab-
weichend von derjenigen, die ich selbst gegeben, wenn schon weniger
ausführlich, da Dr. Packard das Veröffentlichte nur als eine auszügliche
Mitlheilung ansieht, auf die er vielleicht noch weitere, an lebendem
Materiale gewonnenen Darstellungen folgen lässt.
Geographische Verbreitung der lebenden und fossilen
Limulus- Arten.
Vax der Hoeven unterscheidet in seinen »Recherches sur l'histoire
naturelle et l'anatomie des Limules« 4 lebende Arten der Gattung Li-
mulus: L. mol uccanus Latreille, L. longispina Hoeveiv, L. ro-
tundicauda Latreille und L. Polyphemus Latreille. Diese Ar-
ten leben sowohl auf der östlichen, wie auf der westlichen Hemisphäre,
denn L. Polyphemus ist sehr häufig an der Ostküste von Nord-Ame-
rika, L. moluccanus in Ost-Indien und auf den Molukken, L. ro-
tundicauda ebenfalls, L. longispina endlich findet sich an der
Küste Chinas und Japans.
Zu dieser weiten geographischen Verbreitung kommen nun noch die
bis jetzt conslatirten Fälle von palaeontologischem Vorkommen. Die
I5d. VI. 4. 4<
610 Allton Dolirn,
ersten Ueberreste eines versteinerten Liraulus fanden sich in Solen-
liofen und wurden von Walch & Knorr in den »Monuments du Belüge«
abgebildet. Diese Abbildung copirten Desmarest & Buogniart. Etwas
später fanden sich auch Spuren von Limulus im Muschelkalk in der
Nähe von Bayreuth. Derselbe ward L. priscus genannt. Herrmann
V. Meyer beschrieb eine zweite Art derselben Localität als L. agnotus.
Der Graf Münster entdeckte dann im Jurakalk noch eine Art, und be-
schrieb die nachfolgenden: L. Walchii, L. ornatus, L. inter-
medius, L. brevispina, L. brevicauda, L. sulcatus und
L. giganteus. '
Ob nun diese Namen wirklich verschiedene Arten bezeichnen, das
lassen wir dahingestellt, können die Entscheidung darüber vorläufig
auch nur für irrelevant halten. Bewiesen wird dadurch aber, dass
Limulus als Gattung schon in den Secundärschichten vorkam, und
zwar an einer Localität, die nach heutiger Erdoberflä.chen-Beschaflen-
heit grade in der Mitte zwischen den Punkten ihres jetzigen Vorkom-
mens gelegen ist. Sonach müssen wir für Limulus ein hohes Alter
in Anspruch nehmen und unsere Aufgabe, seine heutige Gestalt auf vor-
hergehende zurückzuführen, verlegt sich weit in die Vorzeit hinein, da
wir dieselbe Aufgabe schon lösen müssen für die Limulus der Trias.
Limulus und die Gigantostr ak en.
(Merostomata Dana & Woodward.)
Die Untersuchung, die uns jetzt beschäftigen wird, behandelt das
Problem von der Verwandtschaft der Limulus aus den Secundär-
schichten. Zunächst werden wir uns also ein Bild der Entwicklung
des Krusterstammes jener Zeit zu entwerfen haben, — eine Aufgabe,
Welche durch die vortreffliche »Chart of Fossil Crustacea by J. W. Sal-
ter & H. WooDWARD , London 1 865« wesentlich gefördert ist, uns also
fast nur eine Wiederholung der dort gewonnenen Resultate aufnölhigt.
Im Lias haben wir bereits deutliche Spuren der^ Decapoden zu be-
merken. Die Gattungen Er yon, Aeger und Scapheus sind zum
Theil sehr wohl erhaltene Repräsentanten dieser gegenwärtig in ihrer
Blüthezeit stehenden Ordnung.
Pemphix in der Trias und Palaeocarabus in der Kohlenfor-
mation zeigen sogar noch tiefere Verbreitung derselben. Daneben wer-
den auch einige Edriopthalmen abgebildet, die bereits zu so später Zeit
existirt haben sollen. Da ist freilich zu sagen, dass diese Deutung von
Formen wie Gampsonyx, noch mehr aber von Prosoponiscus
und Pygocephalus, doch sehr problematisch erscheint und keinen-
lIiit(Msudiniiü(>ii üIk'I' liiiii iiikI lliilwickliiiiif der Aitliropodcii. 61 1
falls als Grundlage zu iigond wolclicn bündigen Schlüssen benutzt
werden kann.
Wir haben dann in der Trias einen Apus, im Lias Spuren von
Cirripeden, eine nicht unbedeutende Zahl von Oslracoden und einen
Li niulus- artigen Krebs.
Gehen wir aber weiter hinab in den geologischen Schichten, so
treten in mächtigster Entfaltung sowohl die Phyllopoden — wenig-
stens rechnet man Formen wie Ui thy roca ris, Dictyocaris und
Geratiocari's zu denselben — , die Oslracoden, und vor Allem
die E u r y p t e r i d e n und die T r i 1 o b i t e n auf. Hier also, wenn irgend
wo, haben wir die Ausgangspunkte des Limulus zu erwarten. Und
gleich in der äusseren Form überraschend ähnlich erscheinen die Gat-
tungen Bei i nur US und Prestwichia, die erstere mit den Arten
B. Beginae (Taf, XIV. Fig. 19) und arcuatus, die letztere mit
P. anthrax und rotundata (Taf. XIV, Fig. 17). Da haben wir
nur einen Schritt in der morphologischen Entwicklung des Limulus
zurückzuthun, um in diese beiden Gattungen zu gerathen : wir haben
nur die feste, schildförmige Verwachsung der auf das Kopfschild fol-
genden Segmente wieder aufzulösen, — und Belinurus ist fertig.
Lassen wir im Gegentheil die am Bande schon, wie es scheint, einge-
tretene engere Verbindung jener Segmente völlig vor sich gehen, so
verwandeln sich die Prestwichia in Limulus.
So haben wir also einen bedeutenden Schritt rückwärts gewonnen.
Die paläontologische Parallele zu dem embryologischen Befunde ist zum
Theil bereits aufgedeckt, — der weitere Schritt wird auch nicht fehlen.
Was die beiden Gattungen, die eben besprochen wurden, noch beson-
ders nahe an Limulus hält, ist die Zahl der Segmente, welche zwi-
schen dem Kopfschilde und dem Schwanzstachel sich vorfinden, die
l)ei allen dreien identisch zu sein scheint. Diese wird aber überschrit-
ten bei einer Form, die aus dem oberen Silur bekannt geworden ist,
Hemiaspis limuloides Woodward (Taf. XIV. Fig. 1 8) . Hier finden
wir noch das Kopfschild, — wenn auch schon mit mancherlei Verände-
rungen, — wir finden den Schwanzstachel, aber dazwischen 9 deut-
liche Segmente , die sich auch nicht halbkreisförmig nach hinten zu
verengern , sondern kegelförmig und ohne auffallend abzusetzen in die
Basis des Schwanzstachels übergehen.
Diese Form bahnt uns den weiteren Weg nach zwei Seiten : zu
den Eurypteriden und zu den Trilobiten.
Die Eurypteriden oder, wie der neueste Monograph derselben,
Mr. H. Woodward, sie mit Dana nennt, die Merostomata unterschei-
den sich von Limulus vor Allem durch die Zahl ihrer Segmente und,
41 *
k
612 Anton Dolirn,
— wenigstens nach der Meinung einiger der bisherigen Bearbeiter, die
noch keine thatsächliche Widerlegung gefunden hat, — auch durch die
Zahl der Extremitätenpaare. Erstere ist bedeutender als bei Limu-
lus , denn sie beträgt inclusive Schwanzstachel oder Telson nach Wood-
ward 20, letztere ist geringer, denn mit Einschluss der entdeckten Platten
sind es doch nur 6 Paar. Hier also ist die morphologische Entwicklung
nicht so leicht hergestellt, und daher auch von erfahrenen Zoologen ab-
gelehnt worden ^). Dennoch aber führen uns eine Reihe von Charak-
teren, die beiden Familien gemeinsam sind, dazu, diese Ableitung vorzu-
nehmen, — sollten wir auchdabeiauf dieAuskunft kommen, dass beide
gemeinsame Vorfahren gehabt und zwei verschiedenartige', immerhin
aber nah genug gebliebene Entwicklungsrichtungen eingeschlagen haben.
Das Kriterium zur Unterscheidung von Familien, welches herge-
nommen wird aus der Zahl der Segmente, hat nur dann einen wesent-
lichen Werth, wenn vorgängig festgestellt wurde, dass eine bestimmte
Segmentenzahl durch eine grosse Reihe von Formen und einen bedeu-
tenden Zeitraum hindurch unabänderlich festgehalten wurde. Es ist
dann durch diese Thatsache selbst der Beweis geliefert, dass in der
weiteren , morphologischen Ausbildung wesentlich nur die Natur und
Beschaffenheit der ein für alle Mal gegebenen Segmente unter einander
sich verändern kann, dass Verwachsungen, Verlängerungen, Verkür-
zungen etc. innerhalb dieser festen Zahl vorkommen mögen, — die Zahl
selbst aber nicht verändert wird. Diesen Stand der Dinge offenbaren
uns z. B. die Malacostraken. Welche Verschiedenheit der äusse-
ren Gestalt, der Gruppenbildung zwischen den einzelnen Segmenten,
der Verwachsung und Verkürzung auch auftreten mögen, — und man
braucht nur P a g u r u s , P a I a e m o n , C a p r e 1 1 a und I d o t h e a anzu-
sehen, — inuuer bleibt die Zahl der Segmente constant, höchstens
verringert sie sich durch den Ausfall des Poslabdomens. Hier also, bei
so ausserordentlicher Beständigkeit kann die Segmentenzahl ein wich-
tiges, vielleicht das wichtigste Mei'kmal sein. Aber wie die 19 Segmente
der Malacostraken doch sicherlich nicht von Anbeginn bestanden haben,
sondern zu dieser Gonstanz entweder durch Verringerung einer früher
bedeutenderen Zahl, oder durch Vermehrung einer geringeren gekom-
men sind, so muss auch eine Nebenlinie von Crustaceen bestehen oder
bestanden haben, welche eine dieser Alternativen verwirklicht, und mit
den Malacostraken denselben Ursprung hat. Diese Nebenlinie sind,
aller Wahrscheinlichkeit nach, die P h y 1 1 o p o d e n , die durch N o b a 1 i a
noch auf das Intimste mit den Schizopoden zusammenhängen. Ne-
1) So besonders von Huxley in seiner Arbeit : »On the Anatomy and Affinities
of the genus Pterygotus«. Pag. 34.
Uiitersiicliiiiigeii ültoi' Ran und Knlwickliinu r/er Arthropoden. 6I3
b a 1 i a zeii^t aber 20 Sognienlc ; die übrigen IMiyllopoden noch mehr,
ja bis GO bei Apus. Wir haben aber doch kein Bedenken, Nebalia ,
Apus, Branchipus etc. in eine Ordnung einzuschliesscn, — wenn-
schon hier noch einige Bedenken anderer Art enlgegcnslehen, — wess-
halb sollen wir nicht die 15 Segmente zählenden Limulus und Bel-
linurus, die wahrscheinlich 16 besitzenden Heniiaspis, mit den
20 zeigenden Pterygotus in eine Ordnung einschliessen? Ordnung
bedeutet für den genealogischen Systemaliker ohnehin nichts Anderes
als eine mehr oder weniger grosse, nachweisbare oder vermuthete, ge-
nealogische Einheit. Sind wir im Stande an den in Frage stehenden
Thiercn gew isse gemeinsame Eigenthümlichkeiten zu erkennen, können
wir andererseits ihre übrigen Eigenschaften ohne viel Mühe aus einan-
der oder von einem gemeinsamen , nicht gar zu entfernten Ursprung
herleiten, so hindert uns nichts, sie als einer Ordnung angehörig zu
betrachten. Freilich müssen wir den Standpunkt als gänzlich unhalt-
bar aufgeben, der in der Composition der gegenwärtig vielleicht zahl-
reichsten Ordnung den eigentlichen Typus der ganzen Glasse erkennen
will, und etwa die Formation der Decapoden als die eigentlich allen
üebrigen zu Grunde liegende ansehen will, — mit diesem Standpunkt
müssen wir platterdings brechen. Was da von Kopf, Thorax, Abdo-
men und Postabdomen als nothwendigen Abschnitten des Cruslacecn-
körpers gelten soll, das hat keinenfalls für unsern Standpunkt die ge-
ringste bindende Kraft.
Die geringere Zahl der Gliedmaassenpaare bei Pterygotus kann
ebensowenig ein ausschlaggebendes Kriterium gegen seine Vereinigung
mit den Poecilopoden sein. Erstlich ist meiner Meinung nach die
Beschaflenheit der fossilen Ueberreste dieser riesigen Krebse nicht so
vollkommen, dass man mit grosser Sicherheit behaupten könnte, soviel
und nicht mehr Extremitäten hatte Pterygotus. Man weiss, welche
ungeheuren Massen von Trilobiten in den Sammlungen der Paläon-
tologen seil mehr als 100 Jahren sich befinden und dass trotzdem erst
im Jahre 1870 die Extremitäten eines derselben entdeckt wurden. War
doch sogar schon die Meinung ziemlich verbreitet, die Trilobiten
hätten überhaupt keine Extremitäten gehabt, — was gradezu als eine
morphologische Unmöglichkeit gelten musste , — sonach wird man es
also auch nicht für allzu skeptisch aufnehmen, wenn von Seiten der
Morphologen die bisherigen Angaben der Paläontologen über die Zahl
und Bedeutung der Pterygotus- Gliedniaassen nicht als definitive
und unw idersprechliche angesehen werden — um so weniger als die
Lückenhaftigkeit des zur Untersuchung gelangenden Materiales von Jahr
zu Jahr verringert wird.
614 Anton Polini,
Was aber eine so nahe Zusammengehörigkeit der Eurypteriden
und des Limulus in morphologischer Beziehung ausser Frage stellt,
das ist, — wenn wir von der Zahl vorläufig einmal absehen, — ; die
Structur der Gliedmaassen. Ihre auffallendste Eigenlhümlichkeit, mit
der sie zugleich so gut wie ganz ausserhalb der übrigen Kruster stehen,
ist die Beschaffenheit des Hüftstiickes und dessen Function. Wie die
Beobachtungen des Dr. Lockwoop erwiesen haben, wird beim Limu-
lus der ganze Kauvorgang durch das gegeneinander Reiben dieser Stücke
vollführt, und demgemäss sind sie bekanntlich mit zahlreichen beweg-
lichen Zahnen versehen. Eine fast noch ausgeprägtere Structur in der-
selben Richtung zeigen die GHedmaassen der Pterygotus. Die Hüft-
stücke erscheinen noch um Wesentliches selbstständiger und gegen die
eigentlichen Gliedmaassen vorwiegend, — ja die des letzten Paares der
Kopfschild- Extremitäten sind von so ausserordentlicher Grösse, dass
sie gewiss eine sehr bedeutende Wirksamkeit, zugleich aber auch die
entsprechende Muskulatur und Sehnenbeschaffenheit voraussetzten.
Fast noch mehr als beim Limulus scheinen bei Pterygotus
diese Kautheile sich um den Mund concentrirt und zusammengeschoben
zu haben, — was eben hauptsächlich aus der Grösse des letzten Hüft-
slückes und der an seine innere obere Kante gerückten Zahnreihe her-
vorgeht. Zugleich damit mussten sich aber auch die übrigen Theile
der Extremitäten, die als Palpen etc. beschrieben wurden, mit Aus-
nahme des letzten, grossen Ruderbeines mehr zusammenschieben; da-
her ist nicht unwahrscheinlich, dass bei den fossilen Stücken durch die
Compression der übereinanderliegenden Theile eine wesentliche Un-
klarheit Platz gegriffen hat und statt 4 Paaren zwischen den vordersten
und dem letzten Extremitätenpaare nur 3 Paare erkennbar werden.
Grade wie bei Limulus scheint auch bei Pterygotus eine Arbeits-
theilung innerhalb der Extremitäten Platz gegriffen zu haben : die ersto
und letzte Extremität haben sich jede zu einer speciellen Function um-
gebildet. Dass die letzte bei Pterygotus eine Art Ruder vorstellt,
kann ihrer Structur nach füglich nicht bezweifelt werden, und, wenn
anders die paläontologischen Befunde nicht trügen, so ist die erste Ex-
tremität ein entschiedenes und sehr geschicktes Greiforgan, Die zwi-
schen diesen beiden liegenden Paare aber scheinen wesentlich nur zum
Graben und Wühlen geschickt gewesen zu sein, — darauf deuten die
Stacheln und Dornen, die zum Theil in bedeutender Grösse — cf. Pte-
rygotus punctatus — vorhanden gewesen sind. Erscheint es nun
nach morphologischen Maximen glaubhaft, dass von den 4 Extremitäten,
die bei dem Limulus zwischen dem ersten und letzten Paare sich be-
finden, und also sicherlich auch bei den Vorfahren des Limulus im
Uiilcrsiic'liiiimPii iilicr liiiii niid Kiihvickliiiiy, der Arlliinpndcii. 615
Silur vorhanden gewesen sind, — dass von diesen e ine ausgefallen
sei? Besonders da Pterygotus in der Grösse noch so weit über Li-
niiilus das Uebergewichl gchal)t habe? Ich nuiss bekennen, dass es
mir höchst unwahrscheinlich ist. Man könnte aber glauben, dass die
grosse Ruderoxtreniilät des Pterygotus homolog sei der fünften Ex-
tremität des Limulus, und dass die sechste ausgefallen sei. Dem
scheint aber zu widersprechen, dass wir wie beim Limulus so auch
bei Pterygotus gleich auf die grosse Ruderextremität jenes Platten-
paar folgen sehen, das wie ein Deckel sich über die folgenden, kiemen-
Iragenden Platten hinüberlegt. Danach kann nicht bezweifelt werden,
dass die beiden Plattenpaare und das sie tragende Segment bei beiden
l'ormen homolog sind, — mithin bliebe dann nur noch die Möglichkeit,
dass das erste, sdieerenförmige Extremitätenpaar des Pier y gotus,
z.B. bei Pt. bilobus, nicht dem ersten Extremitätenpaar des Limu-
lus entspräche. Aber wie dieses befindet sich auch jenes in einer von
den übrigen Extremitäten verschiedenartigen Insertion, — mehr vor
dem Munde, als neben demselben. Man würde dann schwer begrei-
fen, wie diese Verlegung der Insertion stattgefunden haben sollte, wenn
etwa schon hier ein Extremitätenpaar, — das dann also in Wirklich-
keit dem ersten des Limulus homolog gewesen wäre — bestanden
hätte, aber durch irgend welche äusseren Einflüsse zu Grunde gegan-
gen wäre. Es muss aber doch augenscheinlich um Vieles leichter sein,
dies erste kleine Paar beim Limulus zu einer ansehnlicheren Grösse
zu entwickeln, als es ausfallen zu machen und das zweite an seine
Stelle zu rücken.
Wie es also auch mit dem Ihatsächlichen paläontologischen Befunde
stehen mag, — das Postulat der Morphologie lautot dahin, bei Ptery-
gotus und allen übrigen Eurypteriden ebenso viele Exlremitälcn
des Kopfschildes anzunehmen, als sich gegenwärtig beim Limulus
vorfinden.
Um dies Postulat, welches sich auf die Annahme der nahen genea-
logischen Verwandtschaft der beiden in Rede stehenden Formen grün-
det, noch mehr zu stützen, müssen wir fortfahren, eben diese genealo-
gische Verwandtschaft aus den morphologischen Befunden weiter abzu-
leiten.
Eine der auffallendsten Bildungen des Limulus, — wie wir wei-
terhin noch näher zu begründen haben werden, — ist die hinter dem
sechsten Extremitätenpaare am Grunde des Kopfschildes sich ent-
wickelnde, gespaltene Unterlippe, — wenn wir die beiden anfänglich
alsPlallen, später als bewegliche zahntragende und nach vorn gekrümmte
Höcker erscheinenden Keile so nennen wollen. Dieselben dienen
616 Anton Dohrn,
im Wesentlichen dazu, die Spalte, welche durch die 6 Extremitäten-
paare im Umkreise der Mundöffnung gebildet wird, nach hinten zu ab-
zuschliessen, und beim Kauen behilflich zu sein.
Eine in der Gestalt zwar ziemlich verschiedene, aber der Lage und
Bedeutung nach offenbar identische Bildung erkennen wir nur bei Pte-
rygotus in der von den Autoren »Hypostoma« i) genannten Platte. Da
ihre Insertion hinter dem 6ten Extremitätenpaare liegt, die Mundöffnung
aber, im Gegensatz zu Limulus, bei Pterygotus weit nach vorn
gerückt ist, — was wir schon vorhin aus der vergrösserlen Beschaffen-
heit der letzten Hüftstücke ersahen, — so ist es nicht zu verwundern,
dass auch das Ilypostoma eine sehr verlängerte Gestalt erhalten hat,
um erfolgreich an der Bildung und Action des Kauapparates theilneh-
men zu können. Seine bilaterale Gestalt und Anlage geht noch deut-
lich aus der Natur des Vorderrandes hervor, der in der Mitte eine tiefe
und scharfe Einbuchtung erkennen lässt. Auch zieht sich ein Kiel oder
eine Furche der Länge nach in der Mittellinie von dieser Einbuchtung
an die Basis (cf. Slimonia [Pterygotus] acuminata Salter).
Gehen wir nun einen Schritt weiter zurück am Körper der Pte-
rygotus, so begegnen wir der bereits erwähnten Platte. Diese Plat-
ten kennen wir in verschiedener Gestalt von Pt. anglicus (Taf. XIV.
Fig. 20), bilobus und Slimonia acuminata (Taf. XV. Fig. 27).
Bei allen dreien bestehen sie aus einem Stück, — aber dennoch müs-
sen wir annehmen, dass sie aus zwei ursprünglich getrennten Stücken
nur zusammengewachsen sind. Dies wird uns sehr anschaulich, wenn
wir die Structur und Bildungsweise der gleichnamigen Platte bei Li-
mulus in's Auge fassen. Wir sahen, dass dieselben ursprünglich aus
einer breiten Platte und einem daran befindlichen kleineren, inneren
Anhange bestanden. Später gliedern sich beide, legen sich mit dem
innern Rande nah an einander und verschmelzen schliesslich, wobei der
innere Anhang bei Limulus freilich fast verschwindet. Liessen wir
ihn aber fortbestehen, wie er es bei dem zweiten und den folgenden
Plattenpaaren thut, so würde er an seinem innern Rande mit dem der
andern Seite verschmelzen und einen mittleren, längeren Griffel mit
jederseits einer breiten Platte herstellen, — grade das, was wir bei
Pterygotus zu erkennen haben, wo auch noch sogar die Naht in
diesem centralen Griffel stellenweise deutlich wird, bei einigen auch die
Gliederung sowohl der Seitentheile, als der Centraltheile noch hervortritt.
In seinen letzten Mittheilungen beschreibt nun der Monograph der
1) Uebrigens wohl zu unterscheiden von dem Hypostoma der Trilobiten,
welches vielmehr der Oberlippe entsprichU
Untersuchungen über Bau und Fntwicklung der Artlirnpndcn. 017
Merostomata , Mr. II. Woodward noch Thcilc, welche er für die
letzten Ueberreste der Kieincnl)l;ilter des Plerygot us hiilt. iJass nach
alledeni, was liier gesagt worden, die Anwesenheit von Kienien, und
zwar blattförmigen Kiemen, ein ebenso bestimmtes Postulat für die Or-
ganisation der Pterygotus bilden niuss, wie die (3 Kxtremiliiten des
Kopfschildes, braucht nicht erst ausgesprochen zu werden. Nach Lage
und Bildung zu schliessen, scheint es auch, dass Woodward wirklich
diese Organe aufgefunden hat. Freilich sollen sie von den Kiemenblät-
tern des Limulus darin abweichen, dass sie nicht, wie diese, wie die
Blätter eines Buches über einander, sondern wie die Zähne einer Harke
neben einander stehen, dass ferner in ihnen eine deutliche Verzwei-
gung von Blutgefässen erkennbar sein soll. Wir müssen die Feststel-
lung dieser Verhältnisse den Paläontologen überlassen ; — vom mor-
phologischen Standpunkte aus ist vorderhand nichts dagegen einzu-
wenden, dass es sich so, wie angegeben, damit auch in Wirklichkeit
verhalten haben könne, wennschon jede mögliche Deutung dieser Ge-
bilde, welche sie der Limulusgestalt näher führen könnte, unzweifel-
haft beifälliger aufgenommen werden müsste.
Aber von wesentlicherer Bedeutung ist noch die Frage : bestand
nur dies eine Plattenpaar, oder gab es noch mehrere? Lagen unter
dem bekannten , bei den oben genannten Arten aufgefundenen noch
andere Plattenpaarc '? Hierauf erhalten wir vorläufig noch keine be-
stimmte Antwort, — und doch müssen wir um so mehr auf diesen
Punkt hinweisen, als es sehr bedenklich ist, anzunehmen, dass Limu-
lus 5 kiementragende Gliedmaassen besessen habe, und dass an jeder
Extremität 100 — 150 breite Kiemenblälter gesessen haben, Pterygo-
tus aber, der mehr als noch einmal so gross und voluminös war, nur
ein Paar mit an Zahl und Grösse sehr viel geringeren Kiemenblättern,
Diese Frage verbindet sich noch mit einer andern, über die Gestalt
der auf das Kopfschild folgenden 12 Segmente und die Bedeutung der
auf den ersten 6 derselben befindlichen Eindrücke jederseits neben der
Mittellinie des Rückens. Wir wissen, dass auf dem Schwanzschilde
des Limulus sich gleichfalls 6 Paar solcher Eindrücke vorfinden und
haben aus der Anatomie und Entwicklung gelernt, dass denselben nach
innen gehende Fortsätze der Rückenwandung entsprechen. An diese
Fortsätze setzen sich MuskelbUndel des grossen Flexor an, der Kopf-
und Schwanzschild gegen einander beugt, ferner auch Bündel der Mus-
kulatur, welche zur Bewegung der Plattenpaare dient. Einem anderen
Zwecke dienen diese Fortsätze nicht. Wenn wir nun bei Pterygotus
dieselben Eindrücke bemerken, in derselben Lage und Zahl wie bei
Limulus, wenn wir uns zugleich der ursprünglichen Zusammen-
618 Aiitoii Dolii'ii,
Setzung des Schwanzschildes dieses letzleren aus 8 Segmenten erinnern,
— so scheint es als wenn wir durchaus berechtigt wären, von der Exi-
stenz dieser Eindrücke auf das Vorhandensein der Fortsätze zu schlies-
sen, von da auf die Beugemuskeln und auf die Plattenmuskeln, — und
damit kämen wir denn auch auf die Platten und die daran befindlichen
Kiemen selber.
In einem Aufsatze »On some poinls in the structure of the Xipho-
sura having reference lo their relationship with the Eurypleridae«
(Quarterly Journal of the Geological Society 1867. pg. 31) theilt uns
übrigens Mr. H. Woodward mit, dass er das Vorhandensein dieser
Branchialplatten nicht in Zweifel zöge. »This latter point«, heisst es
a. a. 0., )^I think, is established on the evidence of specimens both in
the Museum of Practical Geology and in the British Museum, showing
Iwo opercular-shaped plates associated together and evidently belong-
ing to the same individual. One plate also exhibits two small rounded
prominences, which, there ean be little doubt, were ovarian openings.«
Ebenso erscheint auf der noch nicht veröffentlichten Abbildung eines
Stückes von Slimonia acuminata (dessen Mittheilung ich der
Freundlichkeit des Verfassers, Mr. Woodayakd, verdanke) das Vorhan-
densein von wenigstens drei Plattenpaaren constatirt werden zu kön-
nen ; eine isolirte Platte lässt ausserdem die entschiedenste Aehnlich-
keit mit denen des Limulus hinsichtlich der Gliederung erkennen.
Mit Entschiedenheit behauptet aber das Vorhandensein von 6 Plalten-
paaren Dr. Jon. Nieszkowski in seiner Schrift: »Der Euryplerus remi-
pes aus den obersilurischen Schichten der Insel Ossel.« (Archiv für die
Naturkunde Liv-, Ehst- und Kurlands erster Serie, Bd. II. 1858,
pag. 299 — 344.) Dieser Autor behauptet mit grosser Bestimmtheit die
nahe Zusammengehörigkeit des Eurypterus und Limulus, — ja,
was sehr wichtig ist, er stimmt gleichfalls für die Annahme, dass Eu-
rypterus wie Limulus 6 Gliedmaassenpaare am Kopfschilde beses-
sen habe. Auf Seite 330 1. c. heisst es: «Beim Limulus sind ihrer sechs
Paare vorhanden, beim Eurypterus habe ich nur fünf mit Bestimmtheit
nachweisen können ; doch möchte ich glauben, dass beim lebenden
Thier noch ein sechstes vorderes Paar existirt habe, was auch' un-
ser Material in Rudimenten zeigt.«
Alle diese Fragen haben aber noch eine besondere Tragweite, wenn
es sich darum handelt, eine Hypothese über die Lebens- und Fortbe-
wegungsweise der Eurypteriden aufzustellen. Es scheint durchaus
unmöglich, annehmen zu wollen, die GHedmaassen des Kopfschildcs,
hätten hingereicht, um diese Thiere auf dem Grunde des Meeres, krie-
chend , fortbewegen zu können. Erstlich sind sie viel zu klein, um
Uiitrrsii(iniiiiii'ii iilicr Bau tiiid riilwickliing der Aillirn|iiHli'ii. 619
diese mächtige Last zu schleppen, — sift.hal)cn nicht cinnial Hauni ge-
nug, um eine entsprechende Muskulatur zu lassen. Dann aber ist ihr
Inserlionspunkt fast an der Spitze des langen, — zwischen 1 — 5 Fuss
messenden — Körpers sicherlich kein Anzeichen dafür, dass sie der
Ortsbewegung dienten. Zwar ist die letzte Extremität des Kopfschildes
ein eigentlicher Ruderfuss, — und Kurypterus remipes (Taf. XIV.
Fig. 21) hatdieserhalb seine Namen bekommen, — dennoch aber möchte
ich aus nachfolgenden Erwägungen zu der Meinung kommen, diese Ex-
tremität verdiene viel mehr den Namen »Sleuerfuss« als Ruderfuss. Wenn
es nämlich als mechanisches Gesetz gelten muss, dass die Fortbewegung
einer Last um so leichter und rascher geht, je näher dem Schwerpunkte
die fortbewegenden Kräfte sich finden, so werden wir darauf zu rechnen
haben, dass die eigentlichen ortsbewegcnden Kräfte nicht am Kopf-
schilde der Euryp teriden, sondern an den mittleren Körpersegraen-
ten sitzen. Und da für ein im Wasser lebendes Thier, — es mag noch
so viel auf oder gar in dem Meeresgrunde sich aufhalten, — Schwimm-
organe die wesentlichsten Fortbewegungsmitlei sind, so werden wir
auch in den Plattenpaaren des Mittelleibes der Eurypteriden nicht
nur die Träger der Athmungsorgane, sondern auch die Locomotions-
Organe zu erblicken haben. Dann erklärt sich auch ohne Zwang das
Verwachsen der Platten eines Paares am inneren Rande, weil dadurch
eine grössere Fläche hergestellt und eine stärkere Wirkung gegen das
Wasser ausgeübt werden kann. Auch die Breite und Stärke der die
Platten tragenden Segmente gewinnt auf diese Weise eine klärende
Begründung, da sie eine viel bedeutendere Muskulatur zu beherbergen
halten, als wenn sie nur Träger von Kiemenplatten gewesen wären.
Ueberdies zeigt die Structur der Platten bei Eurypterus remipes
dieselbe Schuppenbildung wie die übrigen Wandungen des vorderen
Körpertheils, woraus auf eine nicht unbeträchtliche Stärke und Resi-
stenz derselben zu schliessen ist, was unnölhig gewesen wäre, hätte es
sich nur darum gehandelt, Kiementräger herzustellen, welche durch
Auf- und Niederklappen die zum Gasauslausch nöthige Bewegung und
Veränderung des Wassers hervorgebracht hätten. Waren aber diese
Klappenpaare wirklich die Locomotionsorgane, so wird durch ihr Ver-
wachsensein ein besonderes Steuerorgan um so mehr von Nöthen, und
es ist wohl nicht ungegründet, wenn wir hier die eigentliche Function
des letzten Extremitälenpaares des Kopfschildes zu erkennen glauben,
falls die Bewegung des hinteren Körpertheils nicht allein schon hin-
gereicht haben sollte. Keinenfalls dürfen wir übrigens die Eurypte-
riden für gute Schwimmer halten ; wahrscheinlich wird ihr Schwim-
men verbunden gewesen sein mit einem wühlenden Durchsuchen des
620 Aiitoii Dolirii,
schlammigen Meeresgrundes, wobei das Kopfschiid mit seinen Extre-
mitäten das Suchen und Fangen der im Schlamme steckenden Thiere
betrieben haben wird, der Miltelleib aber mit den Plattenpaaren die
langsame Fortbewegung bewerkstelligte und zugleich für die hinrei-
chende Athmung sorgte.
Nach alledem bleibt immer noch ein wesentlicher Unterschied zw i-
schen den Eurypteriden und Limulus bestehen, nämlich die
grössere Zahl von Segmenten bei den ersteren. Müssen wir nämlich
den Schwanzstachel des letzteren mit dem letzten Segmente oder Telson
der Pterygotus gleichsetzen, — und das scheint das Richtige zu sein,
— so fehlen dem Limulus noch 4 Segmente, die den Eurypteri-
den durchgehends zuzukommen scheinen. Hat Limulus oder seine
direclen Vorfahren, Bellinurus, Prestvvichia und Aehnliche die-
selben besessen oder nicht? und wenn so : wie und warum hat er sie
verloren?
Dass der Körper des Limulus Verkürzungen erfahren hat, scheint
aus der Natur des Schwanzschildes hervorzugehen, das seine ganze
Existenz überhaupt nur einem solchen Processe der Verkürzung und
Verwachsung dankt. In Prestwichia und Bellinurus sind uns
noch die Formen aufbewahrt, welche die un verwachsenen Segmente
zeigen, — und es scheint als ein ausnahmloses Gesetz zu gelten, dass
segmentarisch gebildete Körpertheile ursprünglich aus identischen Ab-
schnitten bestanden, ehe sie aus Gründen veränderter Lebensweise Ver-
schiedenheiten in der Bildung dieser Abschnitte aufzeigten. Waren also
die Segmente des jetzigen Schwanzschildes beim Limulus ursprüng-
lich gleich, oder wenigstens einander viel ähnlicher in Dimension und
Gestall als jetzt, so kommen wir von selbst auf Formen, wie wir sie
bei den Eurypteriden noch heule sehen. Nun findet sich aber bei
diesen letzteren i Segment, das, ohne Platten zu tragen, — ich folge
hierin den Angaben Niezckowski's, — dennoch die Form der vorher-
gehenden Segmente mehr erkennen lässt, als die dann folgenden. An-
dererseits sehen wir auch bei den Larven des Limulus, dass nicht
alle Segmente des späteren Schwanzschildes Extremitäten-tragende
werden, sondern dass nur 6 Plattenpaare auf 8 ursprüngliche Segmente
sich finden — mithin zwischen dem letzten Plattenpaare und dem
Schwanzstachel 2 Segmente noch mitten inne liegen. Diese Segmente
haben offenbar gar keine Bedeutung mehr für den Haushalt des Thieres,
— es könnte ohne sie vollkommen so gut leben, sie stehen auf der
Werthstufe rudimentärer Organe. So mag es vorher schon den viel-
leicht vorhanden gewesenen weiteren 4 Segmenten gegangen sein, die
wir bei den Eurypteriden finden und die in Folge dessen bei Limulus
Unfprsiirlmnnpii iihor Raii und F.iilwifkliing dor Artlirnpndoii. 621
ausgefallen sind, — und wir kamen dann lür Li ni ul us, Pl.TVgo-
lus, Slimonia, Eurypleius elc. etc. auf gemeinsame Vorfahren,
die freilich im Allgemeinen den Eurypteriden ähnlicher gewesen
wären, als den Poecilopoden von heute oder aus dem Lias.
Fragen wir aber nach dem Grunde der vorgegangenen Verkürzung
in dem Körper des Limulus, so werden wir denselben jedenfalls nui'
in einer veränderten Lebensweise zu suchen haben. Nach Dr. Lock-
wood's Angaben scheint es, als wenn Limulus überhaupt nicht mehr
schwämme, sondern nur kriechend und wühlend sich fortbewege. Das
w ürde uns dann begreiflich machen, wie der Schwerpunkt des Körpers
aus dem Mittelleibe nach vorn in das Kopfschild verlegt worden ist,
und eine Verkürzung und Verschmälerung der Segmente dieses, jetzt
zum Schwanzschilde gewordenen Mittelleibes eintreten musste. Denn
wenn die Plattenpaare nicht mehr für die Ortsbewegung, sondern nur
für die Bewegung der Kiemenblälter vorhanden sind, — und das scheint
wohl der Fall zu sein — so brauchten sie nicht so starke Consistenz
ihrer Wandungen, nicht so bedeutende Muskelmasscn zu ihrer Bewe-
gung, und keine so bedeutenden Insertionsflächon für diese Muskelmas-
sen. Auf der andern Seite musste die veränderte Lebensweise aber
nicht nur negativ verändernden Einfluss auf die Körpergestalt ausüben,
sie musste ihn auch in neue Verhältnisse forlbildend entwickeln. Ward
die Körpermuskulatur, die Flexoren und Exlensoren des Kopfschildes
und der verkürzten Segmente des Mittelleibes, eines der llauplmittel
zur Fortbewegung und zur erfolgreichen Nahrungsbeschaffung, so wird
es begreiflich, dass das Kopfschild selbst stark und für bedeutende
Muskelmassen eingerichtet wird, andererseits auch, dass aus den Seg-
menten des Mittelleibes eine feste, den Muskeln bedeutende Resistenz
entgegensetzende Platte oder Schild sich herausbildete, die Segmente
aber, welche hiezu vielleicht von vornherein sich nicht mehr eigneten
oder überflüssig w'aren, sobald nicht mehr geschwommen wurde, aus-
fielen.
Manche Autoren haben die Meinung ausgedrückt, in dem Schwanz-
stachel eine Verwachsung von Segmenten erblicken zu dürfen, — dem
steht aber das einfache Factum entgegen, dass die Aflerüllnung dicht
vor der Einlenkung des Stachels in dem Schwanzschilde gelegen ist, —
mithin der Stachel nur als Telson in Anspruch genommen werden kann,
wenn man diesen ursprünglich bei den Amphipoden zuerst ge-
brauchten Ausdruck überhaupt zur Bezeichnung zulassen will. —
Wenn wir aber so die Zusammengehörigkeit des Limulus mit
den Gigantostra ken, die ja schon von mehreren Forschern sehr
stark betont wurde, nach morphologischen Gesichtspunkten zweifellos
622 . Anton Dolirn,
gemacht zu iiaben glauben, so IVagt es sich: müssen wir nun hier
stehen bleiben ? Giebt es keinen Schritt weiter zurück in die Urzeit
der Erde, zu dem uns die hier behandelten Thierformen Führer sein
könnten? Der nächste Abschnitt soll versuchen, darauf zu antworten.
Limulus und die Trilobiten.
Seit langer Zeit ist es ein den Paläontologen und Morphologen ge-
meinsames Problem, die Organisation und die systematische Stellung
der Trilobiten, dieser ältesten aller Versteinerungen, — wenn wir
von Eozoon canadense einmal absehen — auszukundschaften.
Eigenthümliche Schwierigkeiten haben bis auf den heutigen Tag ge-
wirkt und die Lösung dieser Aufgabe erschwert. Auffallenderweise
Hessen nämlich die paläontologischen Befunde über eine der wichtig-
sten Thatsachen für die Entscheidung dieser Frage im Dunkeln. Trotz
der vielen Tausende von Trilobiten, die von den cambrischen
Schichten an bis übei' den Devon hinaus gefunden worden sind, besass
man doch kein einziges Stück, welches eine Spur von Extremitäten
offenbart hätte. Man verfiel schon den abenteuerlichsten Vermuthungen
über die Fortbewegungsweise der Trilobiten, indem man annahm,
dieselben hätten überhaupt keine Extremitäten gehabt, sie hätten sich
mit dem Hypostoma, einer Art Oberlippe, auf dem Meeresgrunde fort-
geschleppt, — weil man es sich eben gar nicht vorstellen konnte, dass
die etwa vorhanden gewesenen Extremitäten bei dem Fossilwerden
sollten gänzlich abhanden gekommen sein. Dass die Trilobiten auch
aus dem Bereiche der Arthropoden heraus zu den Mollusken, be-
sonders in die Nähe von Chiton gebracht wurden, ist seit Latreille
freilich nicht wieder geschehen. — aber über ihren eigentlichen Platz
innerhalb der Gliederthiere ist man noch immer nicht im Reinen, —
und wir werden sehen, dass diese Unsicherheit in der Natur der Sache
liegt.
Von allen Bearbeitern der Gruppe besass die ausgebreitetsten zoo-
logischen Kenntnisse unstreitig Burmeister. So ist denn auch sein Werk
»Die Organisation der Trilobiten aus ihren lebenden Verwandten ent-
wickelt«, wennschon es im Jahre 1843 erschien, noch heute die eigent-
liche Grundlage für alle morphologischen Speculationen, deren Gegen-
stand die Trilobiten seitdem geworden sind. Da auch die musterhafte
Monographie Barrande's in dem ersten Bande des »Systeme silurien de
la Boheme« in consequenter Selbstbeschränkung nach keiner Seite hin
den Boden des unmittelbar Beobachteten aufgiebt, und bezüglich der
zoologischen Gesichtspunkte sich hauptsächlich an Burmeister anschliesst,
üntersiichnnKeii fibor Bau niul Riilwifkliiiiftdcr Arlliinpodoii. 023
da ferner auch Mr. Saltkr in seinem »Monograph of JBrilisl) Ti i!ol)ileS((
nur vorübergehend das Problem der systematischen Stellung der von
ihm dargestellten Fossilien berührt, — so haben wir es hier eigentlich
nur mit den Erörterungen zu ihun, welche Bukmeistku in dem zweiten
Capitel seiner angeführten Schrift unter der Ueberschrift »Beziehung
der Trilobiten zu den jetzt lebenden Gliederlhieren« pag. 35 — GO nie-
dergelegt hat.
Die theoretische Grundlage des zoologischen Forschens damaliger
Zeit war nun freilich von der heute im Aufstreben begriffenen Uich-
lung weit verschieden. Zwar galt es seit Guvikr für eine dringende^
Aufgabe, die Beziehungen der fossilen Thiere zu den heule lebenden
durch genaue Anatomie der lebenden und daran geschlossene Verglei-
chung der entsprechenden Theile der fossilen festzustellen, allein das
Axiom vom Typus und seiner verschiedenartigen Entfaltung in den
verschiedenen Schüpfungsperioden musste doch nolhwendiger Weise
auf die Lösung dieser Aufgabe einen anders bestimmenden Einfluss
ausüben, als wir mit zu Grundelegung des theoretischen Gedankens
der Abstammungslehre zu gewärtigen haben. Burmeister wird von der
Ansicht geleitet, »dass die untergegangenen Organismen älterer Perio-
den nicht in das System der lebenden hineinpassen, sondern mit ein-
zelnen Charakteren mehr oder weniger von dem Ideengange, welcher
der jetzigen Schöpfung zum Grunde liegt, abweichen. Ferner »dass
die organische Natur unseres Erdkörpers zwar von vornherein nach ein
und demselben Plane geschaffen wurde, dass aber die Ideen der ver-
schiedenen Organismen anfänglich keineswegs so klar und bestimmt
gefasst waren, wie sie in ihren heuligen Bepräsentanlen uns erscheinen,
vielmehr die verschiedenen Eigenschaften gleichwerlhiger Gruppen mit
einander verschmolzen auftreten und eine Form ergeben, die gleichsam
im unverarbeiteten Zustande die mancherlei Eigenschaften vereint be-
sitzt, welche heutzutage als sehr wichtige Gruppenunterschiede stets
nur von einander gesondert angetroffen werden. « Der metaphysische
Hintergrund dieser Aussprüche verhindert, dass ihre Anwendung die
nach unserer heutigen Meinung thatsächlich bestanden habenden Ver-
hältnisse träfe: wir können schwerlich damit einverstanden sein, in
den Trilobiten die verschiedenen Eigenschaften der heutigen Crusta-
ceen mit einander verschmolzen zuerkennen; unsere Anschauungsweise
verlangt eine speciellere Rückführung der einzelnen Theile auf einander
und den Nachweis, dass keine Unvereinbarlichkeiten übrig bleiben
dürfen, falls wir die Ableitung der Einen von den Andern als geschehen
annehmen sollen.
Auf Seite 52 des angeführten Werkes spricht Burmeister sein Ur-
624 Anton Dohrn,
theil im Speciellen nun folgendermaassen aus: »Die Trilobiten bil-
den eine eigenthümliclie, den heutigen Phyll opoden am meisten ver-
wandte Krebsfamiiie, welche sich zunächst an die Gattung Branchi-
pus anschliesst und in gewisser Beziehung die Lücke ausfüllen dürfte,
welche in der heutigen Formenreihe der Krebse zwischen den Phyl-
1 opoden und Poecil opoden angetroffen wird. «
Falls wir uns diesem Unheil anzuschliessen hätten, würde uns vor
Allem die Frage im Wege stehen: lassen sich die Trilobiten vom
Nauplius ableiten? Ihre Bejahung oder Verneinung wäre ausschlag-
gebend. Wäre nun noch ein Trilobit lebend übrig geblieben, so könnte
man hoffen, durch das Studium seiner Embryologie sofort in's Klare
gebracht zu werden. Aber auch ohne das ist man doch nicht ganz ohne
alle Aufschlüsse über die Entwicklung dieser Thiere geblieben, da es
durch die unermüdlichen Nachforschungen Barrande's geglückt ist, die
Entwicklungsstadien mehrerer Trilobiten bis zu einer Kleinheit von
1 Millim. in ziemlich gut erhaltenen Abdrücken untersuchen zu können.
So kennen wir nun die jüngsten Formen von Sao hirsuta ( Taf. XV.
Fig.^fi), Trinucleus ornatus (Taf.XV. Fig. 25), Dalmanites
Hausmanni, Arethusina Koningki, verschiedenen Agnostus
und eine grosse Zahl von Entwicklungstadien anderer Trilobiten, die
aber offenbar schon weiter von dem Anfangsstadium entfernt sind. Lei-
der abersind wir damit nicht viel gefördert worden, denn bereits die jüng-
sten Stadien der Sao, des Trinucleus etc. lassen auf das Deutlichste
die Anlage des Ti"ilobi tenkörpers erkennen, ohne uns im Geringsten
eine Andeutung zu gewähren, welche Bildungen ihm wohl vorausgegan-
gen seien. Wir sind da in derselben Lage, als wären uns von allen
Crustaceen keine andern Formen übriggeblieben als die Amphipoden
und Isopoden mit ihrer völlig unterdrückten Verwandlung, ohne eine
Spur von Nauplius-, Phyllopoden- und Schizopoden-Sta-
dium, die sie doch alle, — wie ich im weiteren Verlaufe meiner Darstel-
lung der Geschichte des Krebsstammes darthun werde, — durchgemacht
haben. Durch die Amphipoden und Isopoden würden wir niemals
eine Vorstellung von all diesen Larvenstadien, die eben so viel phyle-
lische Entwicklungstufen des Krebsstammes bedeuten, gewonnen haben,
— wir würden dieselben vielleicht als eine an das Wasserleben ange-
passte, aberrirende Form der Myriapoden ansehen, — jedenfalls
würden wir auf keine Weise ihre wirkliche Stammesgeschichte haben
enträthseln können. So geht es uns nun leider auch mit den Tri lo-
biten. Die kleinste Form der Sao hirsuta oder des Trinucleus
ornatus ist von der Gestalt eines Nauplius ebensoweit entfernt wie
ein aus dem Ei gekrochener Asellus oder Gammarus; — und
Untersiichnngen fiber Bau und Kiilwickliing dor Arthropoden. 625
könnten wir nicht durch Reduction des Asellus auf Cuma, von
Cuma auf andere Schizopoden und Decapoden den Nachweis
führen, dass die aus den Larvenstadien dieser letzteren ableitbaren
phyletischen Entwicklungsstadien auch den Amphipoden und Iso-
poden haben zukommen müssen, — wir wären vielleicht für immer
mit der Ableitung dieser Krebse auf einem unauflöslichen Probleme
stehen geblieben.
Fast scheint es, als sollte uns diese Eventualität mit den Tri lo-
b i l e n bereitet werden.
Da ging kürzlich eine Notiz durch wissenschaftliche Journale, dass
endlich ein Trilobit mit noch deutlich erkennbaren Resten von Extre-
mitäten entdeckt worden sei. Der glückliche Entdecker sei Mr. E. Bil-
LiNGs und das Stück, an dem die Entdeckung gemacht, ein Asaphus
platycephalus (Taf. XIV. Fig. 24) aus dem Trenton Limestone von
Ottawa m Nord-America. Durch die Gefälligkeit meines Freundes
Mr. H. WooDwARi) bin ich wiederum in den Stand gesetzt, den Aufsalz
welchen die Mittheilungen Mr. Billings sowie die Abbildung des Asa-
phus platycephalus enthält, zu benutzen. Er findet sich in den
»Proceedings of theGeological Society of London 1870« pag. 479—486,
unter dem Titel : «No^es on some specimens of Lower Silurian Trilo-
bites«, und ist gefolgt von einem anderen Aufsatze aus der Feder Mr.
WooDWARD's: »Note on the Palpus and other Appendages of Asaphus
from the Trenton Limeslone in the British Museum«.
Folgendes hat Mr. Billlngs gefunden.
»Auf der Unterseite des Asaphus erstreckt sich eine breite, flache
Verliefung von der Stelle zwischen den beiden Zipfeln des Hypostoma,
wo wir die Lage der Mundöffnung vermuthen dürfen, nach rückwärts
die Mittellinie entlang bis zu dem Pygidium. Dieselbe entpricht in der
Lage dem Slernura der gewöhnlichen Krebse. Die Beine sind in 8 Paa-
ren vorhanden, deren Basen für jedes Paar genau unter einem der 8
Thoraxsegmente liegen, zu den Seiten der sternalen Furche.
»Die Beine des ersten Paares sind besser erhalten, als die übrigen.
Sie krümmen sich nach vorwärts und können bis zu einem Punkte ver-
folgt werden nahe an der äusseren Kante des Auges, oder vielmehr,
zwischen dem Auge und der Aussenseite des Kopfes. Die andern 7
Paare folgen in durchschnittlicher Entfernung von 21/2 Linien von ein-
ander. Die 8 Paare nehmen so über 20 Linien der Länge der Unter-
seite ein. Grade dies ist aber die Länge der Oberseile des Thorax, und
ausserdem besitzt dieserTrilobit grade 8 Thoracalsegmente. So scheint
also auf jedes Segment ein Gliedmaassenpaar zu kommen. Obwohl nun
einige derselben sehr unvollständig sind, und die zurückgebliebenen
Bd. VI. 4. ^5j
626 Anton Dolim,
Theile etwas verschoben erscheinen, so kann doch bei genauerem Un-
tersuchen wahrgenommen werden, dass sie alle nach vorn gekrümmt
sind und darum wohl eher als Schreit-, denn als Schwimmorgane an-
gesehen werden müssen.
»Es scheint, als ob jede dieser Extremitäten aus mehreren Glie-
dern bestanden habe ; die genaue Zahl derselben kann aber nicht fest-
gestellt werden. Die ersten 4 Gliedmaassen der linken Seite zeigen
jedenfalls ganz deutlich wenigstens % Glieder, das Eine ö'" von der
mittleren Vertiefung entfernt, das Andere noch 3'" weiter. Die Lage
jedes derselben ist durch eine kleine Vorragung bezeichnet. Auf der
rechten Seite sind die erhaltenen Theile der Beine länger und erweisen
so eine grössere Zahl von Gliedern, obschon man sie nicht deutlich un-
terscheiden kann. Ich glaube, jedes Bein bestand aus wenigstens 4
oder o GKedern.
»An demPygidium finden sich 3 kleine ovale Höcker, in einer Linie
gelegen ; sie scheinen organischer Natur zu sein. Wenn das der Fall
ist, so stellen sie vielleicht Fortsätze vor, an welchen Kiemenfüsse be-
festigt waren.
»Die Länge des Stückes beträgt 41/2", die Breite 272"- Von der
Seite gesehen beträgt die Höhe des Kopfes gerade hinter den Augen 9'",
gegen die Mitte des Thorax zu gegen 7'". Die Tiefe der inneren Höh-
lung des hinteren Kopflheiles beträgt 7'", und an dem letzten Thoral-
Segment 4'". Somit ist die Ebene, in welcher die Beine gelegen sind
nicht so niedrig wie die Enden der Pleuren. Die Eingeweidehöhle ist
somit über 1/3 geringer als die ganze Masse des Thieres.«
Soweit Mr. Bilungs. Das Stück, an welchem der entscheidende
Fund gemacht war, ist der Geological Society von London vorgelegt
worden, und Mr. Woodward hat darüber bemerkt (1. c. p. 486) : »dass
unzweifelhaft die Anwesenheit von Schreitbeinen auf der Unterseite des
Thorax bewiesen wäre. Die Anwesenheit solcher Gliedmaassen hätte
a priori erschlossen werden können; die Beschaffenheit der Schale
mache es wahrscheinlich, dass die Trilobiten schreitende, nicht schwim-
mende Isopoden seien. Die Kiemen hätten wahrscheinlich unter dem
Telson gesessen, daher sei dieses so gross.«
Mr. Woodward beschreibt dann einen Abdruck von einem A s a -
phus, an dem er eine Maxille mit einem Sgliedrigen Palpus entdeckt
zu haben glaubt, »grade zur Seite des Hypostoma, in einer Stellung,
die sie bei Lebzeiten des Thieres eingenommen haben muss, — wie
bei Apus oder Serolis«.
Ein dritter Punkt endlich betrifft die sogenannten »Pander'schen
Organe«, kleine Höcker, die sich auf der Unterseite der Seitentheile
Untersuchungen über Ran und Rntwicklnng der Arthropoden. 627
aller Thoracalsegmenle nahe am Ausscnrande vorfinden. Mr. Billings
glaubt ebenso wie Dr. Volborth und Dr. EicnwALn in ihnen die Anhef-
lungspunkle von Schvvimnibcinen erkennen zu diii'fen. Woodward be-
merkt dagegen mit Recht, dass kein Kruster bekannt sei, der 2 Paar
l'^xtremiliiten an einem Segment trüge, dass mithin, wenn die wahren
(Jliedmaassen neben der Mittellinie des Köi'pers eingelenkt seien, diese
Höcker vielleicht die Fulcra vorstellten, an denen sich die Pleuren be-
wegten.
Wie aus allen diesen Mittheilungen hervorgeht, haben wir es also
mit einer neuen Phase der Trilobiten-lnterpretation zu thun. Freilich
müssen wir uns gleich von voi'n herein mit grösster Bestimmtheit
gegen dieselbe erklären. Der (»rund dafür ist folgender.
Schon im vorigen Capitel dieser Arbeit musste darauf hingewiesen
werden, dass innerhalb der Malacostraken der alle die mannichfal-
ligen Formen zusammenhallende, gemeinsame Charakter die Beständig-
keit der Segmentenzahl sei. Wir zählen im ganzen 19 Segmente in
dieser grössten der gegenwärtig lobenden Krebsabtheilungen. Die Ver-
grösserung dieser Zahl um 2 weitere Segmente erscheint uns, in Ver-
bindung mit einigen andern Kennzeichen, sogar hinreichend, Neba-
lia von derselben auszuschliessen , wennschon ihre Entwicklungsge-
schichte beweist, dass sie in die allernächste genealogische Berührung
zu Mysis und den Schizopoden treten muss. Die Entwicklungs-
geschichte liefert aber fernerhin den unzweifelhaften Nachweis, dass
wir die Isopoden als die allernächsten Verwandten einer kleinen
Decapodenfarailie anzusehen haben, — nämlich der Gumaceen.
(Vergl. meine Darstellung im V. Bande der Jenaischen Zeitschrift für
Med. u. Naturw.] Die Decapoden mitsammt den Cumaceensind
aber als Nachkommen der Schizopoden, diese als Producte der
Phyliopoden anzusehen. Sagen wir also, die Trilobiten seien
Isopoden, so heisst das mit andern Worten, sie seien Nachkommen
von Gumaceen -artigen Decapoden, von Schizopoden, von
Phyliopoden. Für Phyliopoden erklärte sie nun zwar Burmeistek
und die Meisten seiner Nachfolger, — aber es war einer der wesent-
lichsten Gründe der, dass sie wie die Phyliopoden eine durchaus
veränderliche Segmentenzahl besässen. Sollen sie aber von den Phyl-
iopoden durch die Decapoden hindurch wieder zu einer schwan-
kenden Segmentenzahl gekommen sein, nachdem sie als Decapoden
nur 19 besessen hatten? Das erscheint nach morphologischen Maximen
wenig glaubhaft. Gesetzt aber, man erwiderte uns, die Ableitung der
Isopoden von Decapoden sei nicht richtig, wir hätten die Isopo-
den vielmehr aus den Trilobiten herzuleiten und anzunehmen, dass
42*
628 Anton Dolirn,
diese sich zu ihnen verhielten, wie die Phyllopoden zu den Deca-
poden, dass aus einer schwankenden Segmentenzahl allmählich die
festgeschlossene von 19 für die heutigen Isopoden sich herausgebil-
det habe, wie die feste Segmentenzahl der Decapoden aus der schwan-
kenden der Phyllopoden. Darauf wäre einfach mit dem Hinweis
auf die, wie es scheint, unwiderlegliche, von der Entwicklungsge-
schichte hinreichend nachgewiesene Verwandtschaft der Isopoden
mit den Cumaceen zu antworten, auf die vielen und schwerwiegen-
den Uebereinstinuuungen in der inneren Organisation, auf die Identität
der Brusttaschenbildung von Isopoden, Amphipoden, Cuma-
ceen und Schizopoden, — kurz auf all das, was heutzutage nach
klarer theoretischer Einsicht und in der Praxis bewährter Methode
zu morphologisch -genealogischen Resultaten geführt hat und allein
führen kann.
Aber auch bei rein äusserer Vergleichung der Trilobiten mit den
Isopoden ergeben sich so viel Unterschiede, dass es wohl für im höch-
sten Maasse gewagt erklärt werden muss, auf das einzige, so sehr man-
gelhaft erhaltene Stück der Unterseite des Asaphus platycepha-
lus ein solches Urtheil über die systematische Zugehörigkeit der Tri-
lobiten gründen zu wollen, wie denn ja auch schon Burmeister, auf
solche rein anatomische Vergleiche gestützt, jeden Versuch der Art zu-
rückgewiesen hat (vergl. pag. 38 ff. seiner Schrift).
Sehen wir also einmal völlig von den bisher geäusserten Ansich-
ten ab und suchen wir die Verwandten der Trilobiten da, wo uns
die Maxime von der Parallele embryologischer und palaeontologischer
Entwicklung sie zu suchen anweist, so treten wir unmittelbar in die
Consequenzen unserer obigen Untersuchung ein und haben als den
einzigen, nachweisbaren Verwandten der grossen ausgestorbenen Ord-
nung den Li mulus zu erkennen.
Auch auf diese Verwandtschaft ist schon von früheren Autoren
hingewiesen worden. Wenn man aber damit nicht durchzudringen
vermocht hat, so liegt die Schuld wohl wesentlich an der mangelnden
Unterstützung der Embryologie des Liniulus, die wir jetzt für diese
These vollgültig in's Feld führen können. So haben auch schon meine
beiden Vorgänger in der Bearbeitung dieser Entwicklungsgeschichte,
Dr. Lockwood und Dr. Packard, mit vollem Rechte auf dieses wichtigste
Ergebniss derselben hingewiesen, und in der Heranziehung der Tri -
nucleusgestalt gewiss diejenige ausgewählt, welche am unzweideu-
tigsten für die Richtigkeit dieses Vergleiches spricht.
Indem wir dasjenige Stadium der Limulus-Embryonen, welches
wir oben mit dem vorausgreifonden Namen Trilobitenstadium belegten,
ünfersuchuii{!;en über Bau und l'jilwickliiiiü, der Arttirniindcii. 029
mit einem gleichfalls nicht voll enlwickcllen Trinucleus (Taf. XV.
Fig. 25) zusammenhalten, wie ihn uns etwa die Taf. 30. Fig. 44 oder 50
von BARUANnK's grosser Monographie zeigen, wenn wir es mit Taf. 7.
Fig. ü desselben Werkes, einer jungen Sao hirsula (Taf. XV. Fig. 26)
vergleichen, so ist in der That kein irgendwie durchgreifender Unter-
schied zu erkennen, — abgesehen davon, dass dem Trinucleus die
Augen fehlen, was aber bekanntlich bei der grossen Mehi-zahl der Tri-
lübiten nicht der Fall ist. Wir sehen bei beiden ein grosses Kopf-
schild, welches den hinteren Theil des Körpers an Breite und Volumen
wesentlich übertrifTt, und eben diesen hinteren Theil aus einer Anzahl
von Segmenten bestehend, die nach hinten zu kleiner werden. Wir
sehen fernerhin, dass die Eigenschaft, welche den Trilobiten ihren
Namen verschafft hat, die äussere Gliederung ihrer Segmente in drei
Theile, genau in derselben Weise bei den Larven des Limulus wie-
derkehrt, wir erkennen in den grossen seillichen Augen beider iden-
tische Theile, — somit sind also die eigentlichen Grundlagen der Kör-
pcrbildung für das in Rede stehende Larvenstadium des Limulus und
die Trilobiten dieselben.
Andererseits ist es durchaus nicht zu verwundern, wenn sich auch
beträchtliche Unterschiede einstellen. So ist von jener auffallenden Struc-
turderGlabella (Taf. XIV. Fig. 23) beimLimulus an dem entsprechen-
den centralen Theil des Kopfschildcs nichts zu sehen. Es kann aber kei-
nem Zweifel unterliegen, dass diese beiderseitigen Querfurchen der Gla-
bella durch eine innere Cristenbildung hervorgebracht wird, die ihrerseits
wieder als Inserlionspunkte für die Muskulatur der Kopfschildglied-
maassen dienen und von deren Stärke in ihrer Grösse bedingt wird.
Dass diese Verhältnisse also wandelbar sind, und keine tiefere Noth-
wendigkeit besitzen, das ergiebt sich nicht nur aus dieser Erwägung,
sondern auch aus dem Vorhandensein einer Reihe von Trilobitenarten,
deren Glabella nicht mit den tiefen Furchen versehen ist. Sonach kann
also auch der Mangel derselben beim Limulus nicht als etwas funda-
mental Trennendes angesehen werden.
Wichtiger ist das anscheinend sichere Factum, dass die Trilobi-
ten ausser den beiden grossen seitlichen Augen keine Spur von kleinen
centralen Augen besessen haben. Es wäre zwar nicht undenkbar, dass
diese kleinen Linsen beim Fossilwerden der Schale unkenntlich gewor-
den seien, aber erstlich hat man sie doch bei den Plery^otus und
Eurypterus nachgewiesen, wo sie ebenso gut hätten zu Grunde
gehen können, und zweitens sind Texturverschiedenhcilen der Trilo-
bitenschalen erhalten worden, die noch um vieles minutiöser sind, als
die beiden Linsen der Centralaue;en des Limulus.
630 Anton Dohrn,
Was dann die vielbesprochenen und für die Artenunterscheidung
der Trilobiten sehr wichtigen Suturen des Kopfschildes anbelangt,
so darf es wohl ebenfalls nicht erstaunen, wenn dieselben beim Limu-
lus nicht in derselben Art angetroffen werden. Wir wissen freilich
nicht, ob die sogenannte » grosse« Sutur (Taf. XIV. Fig. 23 a), welche von
den Stirnlappen der Glabella herum nach beiden Seiten zu den Augen
und hinter denselben an den Aussenrand sich begiebt, wirklich eine
Trennung des Kopfschildes hervorgebracht habe, die es den durch sie
geschiedenen Theilen ermöglicht habe, sich gegen einander, in wenn
auch noch so geringem Maasse zu bewegen. Aber selbst wenn es der
Fall wäre, so würde daraus auch nichts weiter zu folgern sein, als dass
die Verschmelzung der in das Kopfschild eingegangenen Segmente nicht
so durchgreifend erfolgt sei, wie später beim Limulus, Es erscheint
mir aber sehr fraglich, ob die Suturen eine solche Bedeutung besitzen.
Vergleichen wir ferner die Structur der einzelnen Segmente, die
auf das Kopfschiid folgen, so treffen wir die Dreitheilung genau bei dem
Einen wie bei dem Andern. Der centrale Abschnitt ist schmäler als die
lateralen, zugleich aber stärker gewölbt, wo sich die seitlichen Stücken
an den centralen anschliessen, bildet eine innere Crista zur Anheftung
für die Beugemuskeln und für die Insertion der Exlremitätenmuskeln.
Solchen Cristen begegnen wir auch, — wenn auch nicht in so ausge-
bildeter Form — bei den Trilobiten, und es ist also sehr wahrschein-
lich, dass sie gleichfalls einer ähnlichen Muskulatur zum Ansatzpunkt
dienten. Barrande spricht ferner von einer »partie interne und externe
de la Plevre«, dieselben Theile lassen sich ebenso an den Segmenten
des Schwanzlheiles der Limuluslarve unterscheiden; der innereist
etwas gewölbter als der äussere, welcher letzterer später zudemLimbus
verschmilzt, wenn sich dieser ganze Körperabschnitt zu dem Schwanz-
schilde umwandelt.
Ob wir ferner den Schwanzstachel für das letzte Segment des
Pygidiums der Trilobiten halten dürfen, das erscheint um so weniger
zweifelhaft, als wir wohl berechtigt sind, da, wo ein eigentliches, aus
vielen Segmenten in Eins verschmolzenes Pygidium nicht vorkommt,
die Afteröffnung in dem vorletzten Segmente zu vermuthen, und daran
nur noch ein letztes, dem Telson vergleichbares, sich schliessen lassen.
Die Entwicklungsgeschichte des Limulus scheint dies zweifellos zu
machen.
Wenn vsir nun aber so weit in der Rückführung des Limulus
auf die Trilobiten gegangen sind — was ergiebt sich daraus für die
brennende Frage nach der Natur der Extremitäten dieser Letzteren ?
Die Frage wird sich kaum genügend beantworten lassen. Das
lliitersiichiingen übor Ran niid Kntwickliing der Arthropoden. 631
einzige Organ, das uns auf der Unterseile der Trilobiten zugänglich
geworden ist, ist das Uypostonia , — die Oberlippe. Aber sie ist we-
sentlich von dem Organe verschieden, was wir bei Liraul us gesehen
haben. Dort ist die Oberlippe ziemlich klein und unbedeutend, im
Vergleich zur Grösse des Kopfschildes fast verschwindend. Hier, bei
den Trilobiten im Gegenlheil, ist sie von mächtiger Entfaltung, zeigt
die verschiedenartigsten Gestalten und Sculpluren und bedeckt unter
Umständen ein Drittel der ganzen Unterfläche des Kopfschildes. Es ist
also nicht anders möglich, als dass diese so sehr verschiedene Ober-
lippe auch einen wesentlichen Einfluss auf die Gestallung der eigent-
lichen Mundwerkzeuge gehabt habe. Setzen wir z.B. voraus, dass
dieselbe wie beim Limulus an ihrer Basis das vorderste Extremi-
täten-Paar getragen habe, so müssten wir die übrigen mit ihren ba-
salen Kaustücken zwischen der Unterseile der Oberlippe und der
Körperwandung vermuthen. Darauf hin würde auch die Cristenbil-
dung der Glabella weisen, da sicherlich die Muskeln der Kauwerkzeuge
so kurz und gedrungen als möglich gewesen sind. Ob nun die von
H. WoonwARD beschriebene und als Maxille gedeutele Platte mit dem
8-gliedrigen Anhange den letzten Rest dieser Kauorgane in Wirklichkeit
bildet, muss noch weiteren Bestätigungen vorbehalten bleiben, — un-
wahrscheinlich ist es wohl nicht, wenn man sich der Plattenbildung
erinnert, welche die Kaustücke der Pterygotusgliedmaassen charakterisirt.
Ueber die Zahl der so vorauszusetzenden Mundorgane sind wir
wiederum rein auf Analogieen angewiesen. Wie viel Segmente sind
in die Bildung des Kopfschildes der Trilobiten eingegangen? So viel
Extremitäten werden wir auch wohl vorauszusetzen haben. Die Gla-
bella scheint auf 5 Crislenpaare eingerichtet zu sein, — somit hätten
wir also Ansatzpunkte für 5 Paar von Extremitätenmuskulalur. Aber
wir vermulheten schon vorher, dass das erste Gliedmaassenpaar wie
beim Limulus an der Basis der Oberlippe, — hier dem Hypostoma, —
eingelenkt gewesen sei, und wenn wir einen vergleichenden Blick auf
die Tafeln 2 A , 2 B und 3 des BARRANDü'schen Werkes w erfen , so be-
merken wir auch an vielen dieser Organe an der Basis jederzeit eine
Ausbuchtung oder Höhlung, die recht gut für die Einlenkung einer
solchen Extremität hätte bestimmt sein können. Das wäre denn also
die sechste gewesen, und die Identität mit der Bildungsweise beim
Limulus vväre hergestellt.
Soweit scheint es also ohne Schwierigkeiten zu gehen. Aber wie
steht es nun mit der Unterlippe ! Gab es eine oder gab es keine ? Wir
sahen beim Limulus dies Organ schon in ziemlich beträchtlicher
Grösse, bei den Eurypteriden gar in ausserordentlicher Entfaltung,
^^2 Anton Dohrn,
- können wir annehmen, dass die Trilobiten desselben entbehrt
haben? Es erscheint nicht glaublich , - aber dennoch sind wir nicht
im Stande, etwas Bestimmtes darüber zu sagen.
Noch schwieriger wird die Frage : welcherlei Gliedmaassen tragen
die freien Segmente zwischen Kopfschild und Pygidium? Auf die
Unterlippe folgt bei Limulus sofort das grosse Plattenpaar, welches die
übrigen, kiementragenden bedeckt. Fand sich dasselbe bei den Trilo-
biten? Dagegen scheint nun der Fund des Mr. Billings auf das Ent-
schiedenste Verwahrung einzulegen. Seiner Interpretation zufolge sollen
hier mehrfach gegliederte, cylindrische Extremitäten befindlich gewesen
zu sein, — die vielleicht in der Form sich denen des Kopfschildes mehr
angeschlossen haben, ohne die Hüftstücke zu Kauorganen werden zu
lassen. Aber Athmungsorgane müssen die Trilobiten gehabt haben, und
bei der allgemeinen Aehnlichkeit mit dem Limulus ist Zehn gegen Eins
zu wetten , dass sie auch , wie bei diesen , in Plattenpaaren bestanden
haben , an denen die Kiemenblätter sassen. So bliebe also z. B. Asa-
phus platycephalus nur das Pygidium übrig als Träger dieser
Organe, — aber keine Spur ist mehr von demselben erhalten. Die
beiden von Billings beschriebenen Höcker auf der Unterseite des Pygi-
diums können zur Entscheidung dieser Frage auch weiter nichts bei-
tragen, als dass sie es noch wahrscheinlicher machen, dass auch das
Pygidium Gliedmaassen gelragen habe.
Aber aus dieser Unsicherheit erwächst noch eine weitere. Welche
Segmente des Trilobitenkörpers hinler dem Kopfschilde sind überhaupt
den das Schwanzschild zusammensetzenden Segmenten des Limulus
homolog? Wir haben nur zwei feste Punkte zufolge der bisherigen
Erörterungen : das Kopfschild und das letzte Segment des Körpers,
welche dem Kopfschilde und dem Schwanzstachel des Limulus ent-
sprechen. Wo fallen nun die Segmente des Trilobitenkörpers, die
über die Zahl 8 weggehen, aus? Hinter dem Kopfschild oder vor dem
Pygidium und dem letzten telsonartigen Segmente? Diese Frage com-
plicirt sich zugleich mit der schon im vorhergehenden Abschnitt be-
handelten , nach dem Verblieb der 4 Segmente , welche in dem E u -
rypteridenkörper mehr als bei Limulus vorhanden sind. Nach
unsern dortigen Ermittelungen waren dieselben vor dem Telson aus-
gefallen, — mithin — wenn wir die Eurypteriden zugleich mit
Limulus auf die Trilobiten zurückbeziehen wollen, — werden
wir nicht umhin können, auch das Ausfallen dieser Trilobitensegmente
anzunehmen.
Wir haben nun bisher die ausgebildeten Trilobiten mit der ersten,
aber bereits aus dem Ei gekrochenen Lim ulus-Larve verglichen.'
Unlersiichiiiioeii über P;iii und Eiit\vickliiii(!: der Arllirnpnden. 03;}
Aber von beiden Objecten sind uns noch frühere Stadien bekannt ge-
worden. Barrande's bereits erwähnte Entdeckungen über die jüngsten
Zustände der Sao hir SU ta , des Trinucleus orna tus und andrer
lassen sich füglich zusammenstellen mit den ersten Ei-Stadien, die wir
am Limulus kennen zu lernen hatten. Es erwächst daraus ein Grund
mehr zur morphologisch -genealogischen Verkettung beider Formen,
und vielleicht dürfen wir das am Limulus-Ei und Embryo Gesehene,
unmittelbar auf die Trilobiten übertragen. Barrande giebt z. B. an,
dass Sao h irsuta in ihrem jüngsten Stadium keine Spur von Thoracal-
Segmenten und Pygidium erkennen lasse, und dass diese erst, langsam
sich vermehrend, aufträten. Dasselbe haben wir bei Limulus zu
beobachten Gelegenheit gehabt, wo auch erst die Anlage der 6 Kopf-
schildextremitäten geschah , ehe sich eine deutliche Wahrnehmung der
darauf folgenden Segmente gewinnen Hess , w orüber freilich erst die
genauen Mittheilungen durch das Studium am lebenden Embryo ge-
wonnen werden können. Bei Trinucleus wiederum erscheint das
Pygidium bereits in den jüngsten Studien , die Thoraxsegmente werden
erst allmählich zwischengeschoben. "Vielleicht ist ein jüngeres Stadium
hier noch zu vermuthen , welches auch des Pygidiums entbehrt. Also
auch auf diesem Wege gewinnen wir keine Sicherheit zur Entscheidung
dieser Frage. So werden wir sie also wohl so lange vertagen müssen,
bis ein neuer Fund über die Natur der Trilobitenextremitäten den
sichern Aufschluss bietet, den wir leider aus Mr. Billings Entdeckung
noch nicht entnehmen können.
Es w äre an dieser Stelle wohl passend , auch über die jüngsten
Funde, welche die Gattung Cyclus betreffen, ein Wort zu sagen, —
aber es scheint, dass wir wohl, da einmal die Aufmerksamkeit der
Palaeontologen auf diese sonderbaren Formen gelenkt ist, bald Weiteres
über dieselben zu erfahren haben werden, wodurch die Erörterung
w eniger problen)atisch ausfallen dürfte , als gegenw artig. Es scheint
aber schon jetzt nicht zweifelhaft zu sein, dass Cyclus in näheren
Beziehungen zu den hier besprochenen Formen gestanden hat, und
vielleicht, — wie Mr. Woodward vermuthet, — als Larvenformen den
P r e s t w i ch i a oder B e 1 1 i n u r u s zugeschrieben w erden muss.
Welche Stellung nimmt Limulus zu den Crustaeeen ein?
Diese Frage scheint den Systematikern in den letzten Jahren we-
niger Schwierigkeiten bereitet zu haben, als es eigentlich hätte ge-
schehen sollen. Seit dem Auftreten der Descendenztheorie hat dieselbe
634 Anton Dolirn,
eine neue Bedeutung gewonnen , — und es mussten neue Mittel zu
ihrer Lösung in Bewegung gesetzt werden.
Die Frage ist jetzt identisch mit der andern: stammt Limulus
vom Nauplius ab? Wir haben durch die bisherigen Auseinander-
setzungen schon hinreichend klar machen können, dass es schwierig
ist, auf solche Frage mit Ja oder Nein zu antworten. Die Embryologie,
als einzige, wahrhaft entscheidende Instanz, giebt uns leider keine Ant-
wort, da die Entwicklung sofort und auf dem kürzesten Wege die
definitive Lim ulus-Gestalt vorbereitet. Zwar giebt Dr. A. S. Packard
an , es träte zuerst ein Naupliussladium an dem Embryo auf, aber dies
erscheint doch noch problematisch und weiterer Bestätigung bedürftig.
Es sind nämlich zwei Punkte in der Organisation des Limulus,
welche vorläufig unübersteigliche Schwierigkeiten bei der Rückführung
derselben auf die Crustaceen bieten. Der Eine ist das von Van der
HoBVEN hervorgehobene Vorhandensein nur einer Extremität, die vom
oberen Schlundganglion aus innervirt wird , der Andre die Stellung
und Ausbildung der Unterlippe.
Wenn wir uns erinnern , dass bei allen Krebsen zwei Antennen-
paare vorkommen, die beide vom oberen Schlundganglion mit Nerven
versehen werden und zugleich dessen eingedenk bleiben , wie grade
diese Eigenthümlichkeit bisher jeden Versuch einer Homologisirung
derselben mit Spinnen , Tausendfüssen und Insecten scheitern liess, so
können wir doch unmöglich dies selbige Vorkommen von nur einem
Gliedmaassenpaar mit Innervation vom oberen Schlundganglion beim
Limulus gleichgiltig bei Seite schieben. Wir werden sofort gefragt :
welchem der beiden Antennenpaare , — also welchem der beiden vor-
deren Extremitätenpaare des Nauplius — entspricht dies erste Paar
des Limulus? Da wir aber, bis jetzt wenigstens, keine Spur eines
rudimentären zweiten Paares vor oder hinter diesem ersten haben auf-
finden können , so müssen wir diese Frage vollständig unbeantwortet
lassen. Aber hiedurch wird uns die Beantwortung aller übrigen auf
die Homologiebestimn)ung der Extremitäten gerichteten Fragen glei-
cherweise unmöglich, — und wir stehen dann mit Limulus nicht
viel anders als mit den Insecten und Spinnen gegenüber dem Problem,
ob sie vom Nauplius abstammen oder nicht.
Dazu kommt noch der zweite Punkt, die Insertion der Unterlippe
betreffend. Wie die Oberlippe ist die Unterlippe bei allen Krebsen
eine Faltenbildung der Keimhaut gleich hinter der Mundöffnung. Sie
bildet sich auf gleicher Höhe mit den Mandibeln, sogar mitunter noch
vor ihnen, — je nach der Lage der Mundöffnung. Beim Limulus
hingegen erfolgt die Anlage weit von dem Munde entfernt hinter dem
üntersnchun^di über Piiu und Kiilwiokliinn der Arlliioiiodcn. 035
sechsten Glicdmaassenpaare und mit zwei deutlich getrennten Stücken,
so dass ich anfänglich sehr zu der Meinung neigte, sie als ein siebentes
Exlremitätenpaar des Kopfschikies zu betrachten. T^cider erlaubte die
Beschaflenheit der Embryonen nicht über die Innervation dieser Gebilde
ins Klare zu kommen, besonders darüber, ob diesen Theilen nicht ein
eignes Ganglion zukonimt, womit dann wolil ihie eigentliche Extremi-
fätennatur festgestellt wäre.
Diese beiden Eigenthümlichkeiten machen es, wie mir scheint,
fürs Erste unthunlieh, den Limulus den Crustaceen zuzurechnen.
Freilich geschieht das heute fast überall. Aber wo ein Versuch ge-
macht wird, ins Einzelne diese Einordnung durchzuführen, da ergeben
sich denn auch natürlich die grössten Schwierigkeiten.
Der Erste, welcher sich von diesen Schwierigkeiten Rechenschaft
gab , ist Savigny in seinem epochemachenden Werke » Theorie des or-
ganes de la bouche des animaux invertöbres el arlicules , compris par
Linne sous le nom d'Insecles«. Savigny spricht dem l.imulus die An-
tennen ab, und glaubt auch die Mandibeln fehlten, nur ihr Palpus sei
vorhanden. Wir haben seit diesem bedeutenden Versuch, die Glied-
maassentheorie der Arthropoden zu begründen, alle möglichen andern
Versuche erlebt, und keiner ist dauernd stehen geblieben, — meiner
Meinung nach , die ich schon an einem andern Orte ausgesprochen
habe, weil die Theile, welche homologisirt werden sollen, nicht als
homologe nachge\\iesen werden können, ehe nicht ihre gemeinsame Ab-
kunft von einem Stammvater nachgewiesen ist, der diese Theile bereits
besass. Mir erscheint jeder Versuch , diese morphologische Theorie der
Gliedmaassen ohne eine vorgängige Grundlegung vergleichender Em-
bryologie vorzunehmen, illusorisch; ja, er ist sogar schädlich, da er
nothwendigerweise dogmatisch und irreführend sein muss. Savigny
verblendete sich auch nicht im Geringsten über die Beziehungen des
Limulus zu den Phyllopoden, mit denen derselbe gewöhnlich
in nächste Berührung gebracht wird. Er sagt: »Fassons ä un autre
Entomostrace qui, par une negligence assez singuliere, se Irouve au-
jourd'hui place dans la m«^me famille que l'Apus«. Und weiter: »De
TApus au Limule , la distance est presque aussi grande, l'opposition
aussi marquee, que du Grabe au Phalangium.« Diese Distanz hat denn
auch Stralss-DCrckheim im Jahre 1829 bewogen, den Limulus in
die nächsten Beziehjungen zu den Arachniden, insbesondere zu den
Scorpionen zu bringen. Dieser Naturforscher stützt sich dabei im
Wesentlichen auf die Zahl der Gliedmaassen des Kopfschildes , auf die
Gestalt des ersten Paares und auf seine Innervation. Ferner vergleicht
er die sehnige Platte, welche sich im Innern des Kopfschildes findet
636 Anton Dolini,
mit dem inneren Sternum der Scorpione, und findet eine allgemeine
Analogie der Form zwischen beiden Thieren. Diese Vergleiche sind
heutzutage wieder aufgenommen worden und sowohl von H. Woodward
wie von Huxlev einer genealogischen Herleitung der Scorpione aus den
Eurypteriden zu Grunde gelegt worden. Wir werden darüber noch
nachher einige Worte zu sagen haben.
Nach Strauss-Dürckheim spricht Latreilie in seinem Gours d'Ento-
mologie pag. 442-457 noch einmal tiber denLimulus. Seine Mei-
nung summirt sich in folgenden Worten: »Quoique ces crustaces nous
paraissent d'abord s'eloigner du type normal, nous venons de voir que
Ton pouvait expliquer facilement ces aberrations, en supposant que le
post-abdomen ou les derniers anneaux du corps ont disparu ou ont ete
remplaces par un stylet, et que tous les organes de la manducation sont
devenus, ainsi que dans les myriapodes, des organes de locomotion, en
conservant neanmoins une partie de leurs facultes primitives.«
Im Jahre 1 838 ist es Van der Hoeven , der seine Ansichten aus-
einandersetzt. Er entscheidet sich weder für die Zutheilung des Li-
m u 1 u s zu den Krebsen , noch zu den Spinnen , weil seiner Meinung
nach die Grenzen dieser beiden Classen nicht hinreichend fixirt seien.
»Mais seit qu'on ränge les Limules parmi les Crustaces, soit qu'on les
mette avec les Arachnides , ils devront toujours former ä eux seuls un
ordre distinct qui , dans l'etät actuel de nos connaissances , est eloigne
de tous les autres ordres de ces deux classes. G'est en effet bien gra-
tuitement et seulement d'apres une simple ressemblance exlerieure,
que la plupart des naturalistes ont place le genre Apus ä cöte des
Limulesci.
Milne-Edwarüs hat in seiner »Histoire naturelle des Crustaces« die
Xiphosuren zu allerletzt behandelt. Er meint »qu'on est oblige de les
isoler autant que possible et d'en former une sous-classe particuliere
qui se lie ä la division des Branchiopodes et a celle des Trilobites,
mais se distingue de ces Crustaces et de tous les autres animaux de la
meme classe par l'ensemble de l'organisation«.
Von den neueren Classificationen haben wir zuerst Gerstäcker zu
erwähnen . der in dem mit Carls herausgegebenen Handbuch der Zoo-
logie die Poecilopoden zwischen die Isopoden und Branchio-
p 0 d e n stellt. Bezüglich der Auffassung der Körpergestalt des L i m u -
lus weicht dieser Autor von den früheren wesentlich ab, indem er das
erste Extremitätenpaar zwar als Antennen , die drei nächsten aber als
die drei Kieferpaare angesehen wissen will. Darnach sollen drei Paar
Thoraxbeine folgen , denn auch das erste Plattenpaar wird als Extre-
mität des Kopfschildes angesehen. Die f-ünf kiementragenden Platten-
üntorsiicliungoii Mm Raii und Rntwicklmig der Aidunpodoii. 637
paare wären dann gleichzusetzen den fünf Beinpaaren der Dcciipoden,
und die jederseils am Schwanzschilde sicli vorfindenden 6 beweglichen
Dornen dem ersten bis sechsten Pleopodenpaare (!), der Schwanzstachel
aber dem siebenten. Dadurch würde dann, wie Gi;rst.u:kek hinzusetzt,
der mittlere Theil des Schwanzschildes als Abdomen aufzufassen sein,
die Seilentheile aber als Postabdomen, das sich gespalten (!) und an das
Abdomen zu beiden Seiten herangeschoben hätte. »Noch pausender ((,
fährt der Autor aber fort, »würden sich vielleicht die sechs beweglichen
Dornen, jederseits, deren Gliedmaassennatur nicht zweifelhaft (?) sein
kann, als dem dritten Brust- und den fünf Abdominalbeinpaaren ent-
sprechendauffassen lassen, so dass die sechs lamellösen Gliedmaassen-
paare, als dem Postabdomen angehörig, mit den entsprechenden der
Isopoden zu vergleichen seien.«
In den »Grundzügen der Zoologie« von Claus bildet Limulus
gleichfalls unter dem Ordnungsnamen der Poecilopoden eine be-
sondere Ordnung zwischen den Branchiopoden und den Arthro-
stra ka. Claus enthält sich aber jeder Speculation über die Morpholo-
gie derselben.
Als besondere Gruppe zwischen den Branchiopoden und Co-
pepoden führt G. 0. Sars die Poecilopoden in seiner »Histoire des
Crustaces d'eau douce de la Norvege« auf.
Dr. A. S. Packard endlich scheint nicht abgeneigt, nähere Beziehun-
gen des Limulus und seiner fossilen Verwandten milden Bran-
chiopoden anzunehmen.
Von denjenigen Zoologen, die bereits den Versuch gemacht haben,
die Arthropoden in der Form des Stammbaums zu classificiren, hat sich
der Schöpfer der Crustaceen-Genealogie, Fritz Müller nicht über den
Limulus und die Trilobiten vernehmen lassen, weil er sie nicht
selbst hat untersuchen können. IIaeckel dagegen glaubt die Trilobi-
ten als eine Unterabtheilung der Phyllopoden ansehen zu dürfen,
aus der sich die Poecilopoden vielleicht entwickelt hätten; diese
letzten iheilt er in die beiden Legionen Xiphosura und Giganto-
straka; doch drückt er seine Meinung sehr reservirt aus. Gegenbaur
schliesst sich dieser Auffassung genau an.
Wesentlich anders fasst Huxlky die genealogischen Beziehungen.
In einer Recension von IIaeckel's »Natürliche Schöpfungsgeschichte«
sagt er (Academy Nov. 13. 1869. pag. 42) : » — I imagine that the Cope-
poda represent the hypothelical Aichaeocarida most closely. Apus
and Sapphirina indicate the relations of these Archaeocarids wilh
the Trilobila, and the Eurypterida connecl the Trilobita and the Cope-
poda with the Xiphosura. But the Xiphosura have such closc morpho-
638 ' Anton Dolini,
logical relations with the Arachnida, and especially with the oldest
known Arachnidan, Scorpio, that I cannot doubt the existence of a ge-
nitic connection between the two groups.«
Was bei Savigny andeutungsweise, bei Strauss-Dürckheim mit Ein-
seitigkeit ausgesprochen wurde, das tritt also jetzt unter dem Ge-
sichtspunkte der Descendenztheorie von Neuem auf. Die Verbindung
der Arachniden mit den Crustaceen soll durch Limulusund
die ihm verwandten Eurypteriden gegeben sein. Dieser Meinung
schliesst sich H. Woodward bedingterweise ebenfalls an.
Von vornherein lässt sich Manches dafür, wie dagegen sagen. Die
Sechszahl der Kopfschildextremitäten, die Gestalt, Insertion und Inner-
vation des ersten derselben, eine gewisse Uebereinstimmung der äus-
seren Leibesform zwischen Pterygotus und Scorpio, — auch
mancherlei in der Bildung der inneren Organe ; aber andererseits wiegt
die Lage der Unterlippe, die Natur der Plattenpaare mit den Kiemen,
die seitlichen Augen etc. diese scheinbare Uebereinstimmung wieder
auf. Wir sahen indess, wie schwierig die Beziehungen der Crustaceen
zu Limulus ins rechte Licht zu rücken waren, trotzdem wir durch die
Untersuchungen der letzten Jahre über die Embryologie derselben weit
besser aufgeklärt worden sind, als frühere Zeiten. Vom Scorpion aber
wissen wir bezüglich seiner Entwicklungsgeschichte so gut wie nichts,
da eine Darstellung derselben leider in russischer Sprache erschienen
ist, andere nur vorläufige Mittheilungen darstellen und das morpholo-
gische Element so gut wie gar nicht ins Auge fassen. Die Untersuchun-
gen GlaparKde's über die Entwicklung einiger Spinnen können diese
Lücke nicht ausfüllen. Ohne die Hülfe der Embryologie ist aber hier
nichts zu entscheiden, alle Uebereinstimmungen der äusseren Form
und der Gliedmaassen sind unzureichende Criterien. Welche Theile
des Limulus sollen den Kämmen der Scorpione entsprechen? Das
erste Platlenpaar oder die Unterlippe? Beide Ansichten sind aufgestellt
worden. Es ist ja durchaus wahrscheinlich, dass die Abdominalseg-
mente der Arachniden in früheren, weit zurückgelegenen Epochen
gleichfalls Extremitäten besessen haben, deren Spuren sich noch an
den Embryonen entdecken lassen, — aber damit allein ist doch noch
nicht der genetische Zusammenhang mit den Krustern speciell mit Li-
mulus ausgesprochen. Und ob es überhaupt möglich sein wird, die
Athmungsorgane der Scorpione und Spinnen aus den Kiemenplatten
der Eurypteriden herzuleiten, das ist doch überaus fraglich, —
abgesehen davon, dass diese Möglichkeit an sich nicht den geringsten
Beweis für die Wirklichkeit abgiebt.
Diese Frage kann also nicht eher zum Auslrag gebracht werden,
Untersiiclimigeii über Bau und l-'iihvißklituo' der Ai-lliropodoii. 630
als bis wir über die Embryologie der Spinnen und besonders i]o<^ Scor-
pions gründlicher aufgeklärt sein werden, — wobei denn auch nicht
vergessen werden soll, dass auch die Untersuchung lebender [>iniu-
1 US -Embryonen noch ein Desideratum ist. Es ist überflüssig, dieser
Entsclveidung durch Vcrniuthungen vorgreifen zu wollen, wennschon
es durchaus nicht überflüssig ist, die Frage danach überhaupt aufzu-
werfen. Je weiter die Descendenztheorie in die unmittelbare Arbeit
der Zoologie eingreift, um so mehr zeigt sie ihren eminent praktischen
Charakter, indem sie nicht nur Probleme auflöst, sondern auch die
richtige Fragstellung vorbereitet. So zerstört sie zwar die traditionelle
Systematik, aber sie baut sofort eine neue auf; — wie wir denn auch,
fragen w ir nach dem Resultat der hier in diesem Aufsatze geschehenen
Anwendung derselben, zu folgendem Schlusssatze gelangen :
»Limulus ist zunächst verwandt milden Gigantostraken;
»beide erscheinen verwandt mit den Trilobiten , obwohl diese Ver-
»wandtschaft nicht in alle Details nachgewiesen werden kann. Die
«morphologisch-genealogischen Beziehungen dieser drei Familien zu
»den Crustaceen lassen sich vorderhand nicht feststellen, bleiben
»vielleicht für immer zweifelhaft. Ueber die Beziehungen derselben
»zu den Arachniden sind wir vorläufig gar nicht im Stande etwas
»anzugeben. Sonach bleibt uns nur übrig, diese drei Familien unter
«einem gemeinsamen Namen, wofür ich den IlAECKEL'schen Ausdruck
»Gigan tos traka möchte in Vorschlag gebracht haben, selbständig
«zucnnslituiren und im System neben die Crustaceen zu stellen. h
firkläruDg der Abbildungen.
(Auf Taf. I befinden sich die Fig. 1—4, 17—24. Die übrigen auf Tafel II.)
Fig. 1. Ein Ei, de.ssen Exochorion (b) in zwei Halbkugeln das daraus hervorlre-
lende Chorion umschliesst.
Fig. 2. Ein Embryo, umgeben von dem Chorion (c). Die Gliedmaassen sind mit
römischen Ziffern I — VIII bezeichnet. (6) bedeutet die Leiste, welche
den Rund des späteren Kopfschildes bildet, (d) ist die Unterlippe, (o) i.st
der Abdominaltheil, (?«) die Mundöffnung. Zwischen den Beinen und
auch vor der Mundöffnung erkennt man die Ganglienkette.
Fig. 3. Ein weiter entwickelter Embryo. Das Chorion (c) hat sich sehr stark
ausgedehnt, der Embryo ist in einer Flüssigkeit suspendirt und rollt
darin umher.
Fig. 4. Das Trilobitensladium. Chorion sowohl wie Exochorion sind zer-
sprengt; der Körper der Larve bestellt aus Kopfschild und Abdominal-
theil, letzterer lässt auf das Deutlichste die Segmentirung erkennen.
(e) die vorderen Augen, (/") die seillichen Augen.
Fig. 5. Das erste Plattenpaar, welches den übrigen als äusserer Deckel dient.
Von einem Stück, welches schon die definitive Limulusgosfalt angenom-
men hat.
640 Allton Dohrii, üntersnchungen u. s. w.
Fig. 6. Das zweite Plattenpaar von demselben Individuum, (a) die ovalen Bil-
dungen (verg. Seite 397), (6) die Kiemeublätter, (c) der mittlere Zipfel,
{d) die knorpelartigen Kiementräger.
Fig. 7. Das dritte Plattenpaar. Buchstabenbezeichnung wie bei Fig. 6.
Fig. 8. Das vierte Plattenpaar eben erst in der Bildung begriffen.
Fig. 9. Die feinere Structur des Chorion.
Fig. iO. Ein Längsschnitt durch einen bereits mit dem Schwanzstachel versehe-
nen jungen Limulus. Die römischen Ziffern bedeuten wiederum die
entsprechenden Gliedmaassen. (a) Afteröffnung, (d) Unterlippe, (e) vor-
deres Auge, ig) oberes Schlundganglion, (g^) die übrigen Ganglien,
[h] Rückengefäss, (i) die Fortsätze des Abdominalschildes mit einigen
Muskelbündeln von dem grossen Beugemuskel des Kopfschildes, (fc) die
knorpelartigen Kiementräger, (o) die Mundöffnung, {q) der Streckmus-
kel des Kopfschildes, (v) der Magen, {sehst) der Schwanzstachel.
Fig. 11. Ein Querschnitt durch die Mitte des Kopfschildes eines jungen Limulus
im selben Stadium wie der vorige. Buchstabenbezeichnung wie bei
Fig. ■lO. [l) Durchschnittene Leberschläuche.
Fig. 12. Querschnitt durch den hinteren Theil des Kopfschildes des trilobiten-
arligen Larvenstadiums. Buchstabenbezeichnung wie bei Fig. 10. {pl) Die
Sehnenplatte, (dtt) Dottermassen, welche noch den grössten Theil des
Leibesraums ausfüllen. An dem Extremitätenpaare VI sieht mau bei {x)
den seitlichen Anhang. Bei (r) das Randgefäss des Kopfschildes.
Fig. 13. Ein Querschnitt durch das Abdominalschild des trilobitenartigen Larven-
stadiums. Dieselbe Buchstabenbezeichnung.
Fig. 14. Eine etwas vergrösserte Darstellung eines knorpelartigen Kiementrägers.
Fig. 15. Querschnitt durch den vorderen Theil des Kopfschildes eines jungen
Limulus im Stadium von Fig. 10. (e) Die linsenartigen Verdickungen
der Wandung, darunter ein bohnenförmiger Hohlraum und ein dicker
Pigmentballen. Das Ganze stellt die vorderen Augen dar. {v) Quer-
schnitt durch den Magen. [pg] Pigmentmassen, die vor dem oberen
Schlundganglion sich finden.
Fig. 16. Ein Stück des Kopfschildrandes eines jungen Limulus. (a) Cuticula,
(6) grössere Haare, (c) feineres Haar, (d) Tastorgane (?J .
Fig. 17. Prestwichia rotundata Woodwaiu) (Copie nach »Woodward, On
some points in the structure of the Xiphosura having reference to their
relationship wilh the Eurypteridae«, in Quarterly Journal of the Geolo-
gical Society for February 1867. PI. I. Fig. 2).
Fig. 18. Hemiaspis limuloi des WooDWARDs (1. c. pl. 1. Fig. 3).
Fig. 19. Belinurus reginae B.mly (nach Woodward 1. c. pl. I. Fig. 1).
Fig. 20. Pterygotus anglicus Agassiz. (Nach einer stark verkleinerten Re-
stauration von Woodward in »A Monograph of the British fossil Crustaceä
belonging to the Order Meroslomata« in Transactions of the Palaeonto-
graphical Society 1867. Plate VIII.)
Fig. 21. Eurypterus remipes Dekay. (Nach Nieszkowski »Der Eurypterus
remipes aus d'^n obersilurischen Schichten der Insel Oesel. Archiv für
dieNaturkundeLiv-, Ehst- u, Kurlands. Erste Serie. Bd. II. Tab. I. Fig. 1.)
Fig. 22. Trinucleus ornatus Sternberg. (Nach Barrande Systeme silurien
de la Boheme I. PI. 30. Fig. 53.)
Fig. 23. Kopfschild des Cheirurus claviger. (a) Grosse Sutur, [l] Glabella.
(Nach Barrande. 1. c. PI. 2B. Fig. 1.)
Fig. 24. Asaphus pla tyceph a 1 us mit den Ueberresten der Extremitäten.
(NachBiLLiNGs in : Quarterly Journal of the Geological Society. Vol. XXVI.
PI. XXXII. Fig. 1.)
Fig. 25. Vier Stadien aus der Entwicklungsgeschichte des Trinucleus orna-
tus. (Nach Barrande 1. c. pl. 30. Fig. 42, 44, 46 u. 48.)
Fig. 26. Sechs Stadien aus der Entwicklungsgeschichte der Sao hirsuta. (Nach
Barrande 1. c. pl.7. Fig. 1, 2, 3, 4, 6 u. 10.)
Fig. 27. Zwei Plattenpaare von S 1 imonia zusammen versteinert. (Nach Wood-
ward in Quarterly Journal of the Geological Society of London. Vol. XXIII.
PI. II. Fig. 11.)
lieber die sexuelle Fortpflaiiziiiii»' und das natürliche System
der Sclmänime.
Von
Ern st Haeck e 1.
Die Untersuchungen »über den Organismus der Schwämme und
ihre Verwandtschaft mit den Corallen«, welche vor drei Jahren von mir
begonnen und deren vorläufige Resultate im Sommer I 869 mitgelheilt
wurden '), sind seitdem ununterbrochen fortgesetzt worden. Die Mono-
graphie der Kalkschwämme oder Grantien, welche sich aus jenen Un-
tersuchungen entwickelte, ist ihrem Abschluss nahe. Das sehr reich-
haltige Material, welches mir auf meine Bitte von befreundeten Collegen
und von vielen anderen Spongienbesitzern zugesandt wurde, ist in-
zwischen so angewachsen, dass die Zahl der Species von Calcispongien,
welche ich 1869 in meinem »Prodromus eines Systems der Kalk-
schwämme «2) aufführte, um mehr als das Doppelte gestiegen ist. in
dem bedeutenden Umfang, welchen meine Monographie in Folge dessen
erreicht hat , liegt zugleich die Entschuldigung für das verspätete Er-
scheinen derselben. Da die Anfertigung der dazu gehörigen zahlrei-
chen Kupfertafeln sich immer noch bis in das nächste Jahr hinziehen
wird, halte ich es für angemessen, inzwischen über einige Fortschritte
zu berichten, welche ich in der Erkenntniss jener höchst merkwürdigen
Thiergruppe gemacht habe.
Nachdem die angeführten Untersuchungen »über den Organismus
der Schwämme« im Sommer 1869 publicirt worden waren, habe ich
noch zwei Reisen an die Meeresküste angetreten, um durch erneute
i) Vergl. diese Zeitschrift, Bd. V, p. 207.
2) Vergl. diese Zeitschrift, Bd. V, p. 236.
is.l. VI 4. 43
G4^ Krnst Haeckel,
Beobachtung von lebenden Schwämmen , und insbesondere Kalk-
schwämmen, die Lücken auszufüllen, welche in der Anatomie
der früher vorzugsweise untersuchten Weingeistpräparate gebheben
waren. Zugleich machten genealogische Untersuchungen ȟber die
Entstehung der Arten « , welche einen beträchtlichen Theil der Mono-
graphie der Kalkschwämme bilden , es nothwendig , möglichst grosse
Mengen dieser Thiere an ihrem natürlichen Standorte in Bezug auf ihre
gesellschaftliche Ansiedelung und ihre topographische Verbreitung zu
untersuchen, und Massen von Individuen von den verschiedenen Stand-
orten zur Vergleichung zu sammeln. Meine erste Reise (im August
und September 1869) war nach Norwegen gerichtet, wo ich bei
Brandesund auf der Insel Gis-Oe (einige Meilen südwestlich von Ber-
gen) Kalkschwämme aus verschiedenen Gattungen in reichlicher Menge
vorfand. Die zweite Reise (im März und April 1871) unternahm ich
nach dem adriatischen Meere, dessen ausserordentlicher Reichthum
an Schwämmen durch die vieljährigen, umfassenden und ergebniss-
reichen Untersuchungen von Oskar Schmidt erschlossen worden ist.
Auf der Insel Lesina an der Küste des südlichen Dalmatiens , welche
mir Oskar Schmidt besonders empfohlen hatte und deren reiche Fauna
vorzüglich durch Heller's fleissige faunistische Arbeiten bekannt ist,
fand ich die beste Gelegenheit, alle Arten von Kalkschwämmen , die
bisher aus dem adriatischen Meere beschrieben wurden , lebend zu
beobachten. Von mehreren der wichtigsten Arten konnte ich daselbst
solche Massen von Individuen sammeln und die ausserordentliche Bieg-
samkeit ihrer Form so im Zusammenhang verfolgen, dass die »Ent-
stehung der Arten« dadurch auf das Klarste beleuchtet wurde.
Das Resultat dieser fortgesetzten Untersuchungen ist eine voll-
ständige Bestätigung fast aller derjenigen Angaben, welche ich in mei-
ner früheren Mittheilung »Ueber den Organismus der Schwämme« ge-
macht hatte. Nur in einem einzigen wesentlichen Punkte habe ich
mich zu corrigiren, nämlich in Bezug auf die geschlechtliche
Fortpflanzung der Schwämme. Ich hegte damals gegen die
sexuelle Differenzirung der Spongien erhebliche Zweifel. Weder bei den
Kalkschwämmen, noch bei den andern Schwämmen, welche ich früher
untersucht halte, war es mir jemals gelungen, Zoospermien aufzufin-
den. Ebenso hatten andere Naturforscher, darunter die erfahrensten
Kenner der Schwämme, 0. Schmidt und Bowerbank, stets vergeblich
nach männlichen Organen gesucht. Unter den positiven Angaben,
welche von anderen Beobachtern darüber gemacht waren , schienen
nur diejenigen von Lieberkühn über Spongilla Vertrauen zu ver-
dienen. Nach diesen letzteren Angaben sollen sich bei den Süsswasser-
lieber die soxiielle Foripüanziiiiü und diis iiiitiiiiiclie Svslein der Scliwiiinme. (U'>
schwämmen slecknadelförmigc bewegliche Zoospermicn in besonderen
Samenkapseln entwickeln.
Die Untersuchungen , welche ich bezüglich der sexuellen Diflercn-
zirung der Spongien auf meiner norwegischen Reise (im Herbst 4 869)
anstciUe , hatten el)enfalls nur negative Resultate. Trotzdem ich da-
mals Kalkschwämme der verschiedensten Geltungen (Leucosolenia,
Leuconia, Sycon etc.) zu Hunderten genau darauf untersuchte,
trotzdem ich bei diesen allenthalben Mengen von Keimzellen und zum
Theil auch Embryonen auf verschiedenen Stadien der Entwickelung
, intraf, wollte es mir doch nicht gelingen, irgend eine Spur von be-
fruchtenden männlichen Elementen zu entdecken. Ich glaubte daher,
jene geschlechtslosen Keimzellen mit Recht als Sporen,
und nicht als Eier, bezeichnet zu haben (1. c. p. 223.).
Andere Resultate erhielt ich auf meiner letzten Reise nach Dal-
nialien. Hier gelang es mir endlich nach vielfachen vergeblichen Be-
mühungen, Zoospermien l)ei Kalkschwämnien aus den verschiedensten
Gruppen (Asconen, Leuconen, Syconen) , und ebenso auch bei einigen
Kieselschwämmen aufzufinden. Allerdings ist deren Nachweis ausser-
ordentlich schwierig und die Art ihres Vorkommens und ihrer Entwicke-
lung erklärt hinlänglich, warum fast alle früheren daraufgerichteten
Remühungen vergeblich waren. Die Zoospermien der Schwämme
sind nämlich n i c h t s w e i t e r als m o d i f i c i r t e G e i s s e 1 z e 1 1 e n
des Entoderms, der flimmernden epithelialen Zellenlage, welche
aus dem inneren Keimblatt hervorgellt. Gleichwie an den verschie-
densten Stellen dieses Flimmer-Epithels einzelne Zellen desselben ihr
langes schwingendes Geisselhaar einziehen und sich zu Eiern von der
Form nackter amoeboidcr Zellen umbilden, so verwandeln sich an
anderen Stellen einzelne Geisseizellen in Samenzellen. Diese Meta-
morphose beginnt damit, dass die Flimmerzelle ihr Geisselhaar einzieht
und durch mehrfach wiederholte Theilung in eine grössere Zahl
( — wie es scheint, wenigstens acht) sehr kleine Zellen zerfällt. Jedes-
mal geht der Theilung der Zelle diejenige ihres Kernes vorher. Die so
entstandenen Tochlerzellen sind vielmals kleiner als die ursprünglichen
Flimmerzellen. Die winzigen Zellen der jüngsten Generation verwan-
deln sich direct in Zoospermien, indem die sehr geringe Quantilät-von
Protoplasma, welche den rundlichen Kern umhüllt, sich an der frei in
das Canalsystcm hineinragenden Seile in einen sehr langen und feinen
fadenförmigen Fortsatz auszieht. Dieser Faden ist der »Schwanz«, der
am basalen Theile desselben befindliche Zellenkern der »Kopf« des
Zoospermiums. Der »Schwanz« beginnt sich langsam in Bewegung zu
setzen, indem er hin und schwer schwingt. Wenn die Bewegung
43*
644 Ernst Haeckel,
rascher wird, löst sich der noch festsitzende »Kopf« von seiner Unter-
lage ab, und die kleine Geisselzclle schwimmt nun als frei bewegliches
Zoosperm im Wasser umher.
Bei manchen Kalkschwämmen ist auch an den ursprünglichen Geis-
selzellen des Entoderms die Quantität des Protoplasma so gering, dass
dasselbe nur eine sehr dünne Hülle um den verhältnissmässig grossen
Kern zu bilden scheint. Nur an der Stelle, wo der schwingende lange
Geisseifaden von dieser Hüllschicht abgeht, ist dieselbe etwas dicker.
Diese Flimmerzellen sind daher eigentlich nur durch ihre beträchtlichere
Grösse von den Zoospermien zu unterscheiden und können sehr leicht
mit ihnen verwechselt werden. Die Verwechselung Beider ist um so
leichter, als die Form der Bewegung des schwingenden Protoplasma-
fadens keine wesentlichen Unterschiede darbietet. Allerdings bewegen
sich die reifen Samenzellen im Ganzen lebhafter, als die einzelnen ab-
gelösten Flimmerzellen ; allein unter Umständen schwingen sie auch
langsamer und können selbst gleich den letzteren sich wieder in amoe-
boide Zellen zurückverwandeln. Anderseits setzen auch verstüm-
melte Flimmerzellen, bei denen ein Theil ihres nackten Protoplasma-
Körpers abgerissen ist, ihre schwingenden Bewegungen fort und können
dann oft kaum von Zoospermien unterschieden werden.
Vielleicht würde ich selbst die Ueberzeugung , dass die fraglichen
kleinen Geisseizellen wirklich echte Zoospermien sind , nicht gewonnen
haben , wenn es mir nicht mehrere Male geglückt wäre , den Befruch-
tungsakt direct zu beobachten. In Präparaten von frisch zerzupften
Schwammstücken nämlich, in welchen zahlreiche lebhaft schwingende
Samenzellen und einzelne gleich Amoeben umherkriechende Eizellen
sich durch einander bewegten, konnte ich zu wiederholten Malen beob-
achten, wie einzelne Samenzellen, die zufällig mit einer Eizelle in Be-
rührung gekommen waren , mit derselben verschmolzen. Zunächst
schien das kleine Zoosperm , sobald es mit der Oberfläche der nackten
Eizelle in Berührung gekommen war, an dieser anzukleben und seine
schwingenden Bewegungen zu beschleunigen. Dann aber wurden die-
selben allmählig langsamer und hörten zuletzt ganz auf, während
gleichzeitig das Ei seine trägen amoeboiden Bewegungen einstellte.
Endlich schien das Zoosperm völlig mit dem Ei zu verschmelzen oder
sich in der Doltermasse desselben aufzulösen.
Dass diese mehrmals mit ziemlicher Sicherheit wiederholte Beob-
achtung wirklich den Befruchtungsprocess betraf, glaube ich daraus
schliessen zu düi'fen, dass in einigen Fällen bald nachher die Furchung
des befruchteten Eies begann. Die kugelig zusammengezogene Zelle
zerfiel erst in zwei , dann in vier Zellen u. s. f. , w-obei Iheilweise die
(Her die sexuelle Fortpflanziinc: niid diis uiilürliclie System der Scliwäinmc. (> 15
der Theilung des Protoplasma vorhergehende Spaltung des Kernes er-
kannt Nverden konnte. In Folge dieser Beobachlungen nehme ich die
Zweifel, weiche ich früher gegen allere Angaben über Zoospcrmien der
Schwämme ausgesprochen hatte (1. c. p. 224) , ausdrücklich zurück.
Insbesondere glaube ich, dass die von Ln:iu;nKLiiN bei Spongilla und
die von Hl'xley bei Tethya beschriebenen Zoospermien wirklich
solche gewesen sind. Uebrigens ist zu bemerken , dass der Nachweis
derselben bei den meisten Schwämmen ausserordentlich schwierig und
bei vielen Arten mir trotz aller Bemühungen doch nicht gelungen ist.
Abgesehen von den vorher angeführten Schwierigkeiten und nament-
lich von der sehr leicht möglichen Verwechselung der Zoospermien mit
verstümmelten oder abgelösten Flimmerzellen, ist es ( — wenigstens
bei den Kalkschwämmen — ) niemals möglich, das Sperma in irgend
beträchtlicher Menge nachzuweisen. Da die Samenzellen gleich den
Eiern überall in der einfachen epithelartigen Zellenschicht des Ento-
derms ohne bestimmte Ordnung zerstreut liegen , da mithin ebenso
wenig Hoden als Eierstöcke existireu , und da die meisten Samenzellen
sofort einzeln in das Wasser des Ganalsystems treten und mit dem
Wasserstrom fortgeführt werden , seist selbstverständlich nicht daran
zu denken, das Sperma , wie bei den anderen Thieren , tropfenweis zu
demonstriren oder selbst nur ein mikroskopisches Samentröpfchen mit
einigen hundert Zoospermien nachzuweisen ; höchstens findet man
einige Dutzend der letzteren beisammen.
Bei allen Kalkschwämmen, bei denen ich Zoospermien nachweisen
konnte, fand ich auf einer und derselben Person zugleich Eier vor,
und zwar lagen die einzelnen grossen amoeboiden Eizellen und die
kleinen Samenzellen ohne Ordnung im Entoderm zerstreut, meistens
durch beträchtliche Zwischenräume getrennt. Die Personen der Kalk-
schwämme sind demnach als Hermaphroditen zu bezeichnen.
Durch diesen Beweis der sexuellen Differenzirung der Kalk-
schwämme wird das letzte und wesentlichste Hinderniss aufgehoben,
welches man dem von mir versuchten Nachweise ihrer nahen Ver-
wandtschaft mit den Hydroiden und Corallen noch hätte entgegenstellen
können. Während dadurch einerseits ihre Zugehörigkeit zum Stamme
der Goelenteraten nur bestätigt wird, fällt andererseits einer der
wichtigsten Gründe, den man für ihre Vereinigung mit den ge-
schlechtslosen Protisten oder Protozoen hätte anführen können. Ueber-
haupt sei hier noch bemerkt, dass meine fortgesetzten Untersuchungen
die Ansichten, welche ich in der früheren Mittheilung über die Verwandt-
schaft der Schwämme und Gorallen ausführte, lediglich bestätigt haben.
Ich werde dieselben in meiner Monographie ausführlich besprechen.
646 Ernsl Hacckl,
Von den übrigen Beobachtungen , welche ich an lebenden Kalk-
schwämmen in Norwegen und Dalmalien anzustellen Gelegenheit hatte,
erwähne ich hier nur noch kurz einige eigenlhümliche Bewegungs-
erscheinungen des Protoplasma , und zwar sowohl an den isolirlen
Zellen des Entoderm, als an den verschmolzenen des Ectoderm. Schon
in meinen »Beiträgen zur Piastidentheorie « ') hatte ich gezeigt, dass bei
den Kalkschwämmen unter Umständen die flimmernden Geissel-
zellen des Entoderm sich in amoeboide Zellen verwan-
deln und hatte diesen Uebergang zu Gunsten meiner Ansicht von der
«Identität der Flimmerbewegung und der amoeboiden
Protoplasmabewegung« angeführt (1. c. p. 540). Die erste be-
zügliche Beobachtung bei Kalkschwämmen hatte ich in Norwegen an
Leucosolenia coriacea und L. variabilis gemacht. Die durch
Zerzupfen des Schwammes isolirten Geisselzellen , gingen hier nach
einiger Zeit unmittelbar in amoeboide Zellen über; die lange schwin-
gende Geissei, welche jede Flimmerzelle des Entoderm trägt, wurde
eingezogen und an ihrer Stelle wurde eine grössere Anzahl spitzer
Fortsätze hervorgestreckt. Diese bewegten sich langsam und wurden
wieder eingezogen , während andere amoeboide Fortsätze an ihrer
Stelle hervortraten. Die einzelnen isolirten Zellen krochen mittelst
dieser wechselnden Forlsätze wie Amoeben umher. Auf meiner letzten
Reise in Dalmalien habe ich diese Beobachtung fast täglich wiederholt,
und zwar bei Kalkschwämmen aus allen Gruppen , bei Asconen , Leu-
conen und Syconen. Einige Male gelang es mir hier aber auch zu
sehen, wie sich einzelne amoeboide Zellen wieder in Geisselzellen zu-
rückverwandelten. Nimmt man nun dazu noch die Thatsache, dass
auch die Zoospermien ursprünglich Geisselzellen sind , so erscheint es
nicht mehr auffallend , dass auch die Samenzellen aus amoeboiden
Zellen hervorgehen und sich unter Umständen wieder in amoeboide
Zellen verwandeln können. Phylogenetisch betrachtet ist die amoeboide
Bewogungsform des Protoplasma die älteste. Aus dieser hat sich sc-
cundär die Flimmerbewegung, und aus dieser wiederum tertiär die
Zoospermien-Bewegung entwickelt.
Eine andere Bewegungserscheinung des Protoplasma fand ich
gleichfalls in Dalmatien Gelegenheit zu bestätigen. Ich hatte dieselbe
schon in Norwegen beobachtet, aber nicht früher mitzutheilen gewagt,
weil ich vor einer Täuschung nicht ganz sicher war. Sic betrifft aus-
gezeichnete Pseudopodienbildung am Ectoderm der Kalk-
schwämme. Das Ectoderm, welches aus den verschmolzenen Zellen
1) Vergl. diese Zeitschrift, Bd. V, p. 492.
Uebor dio scviiolle Kortpfliiiiziiiig und das iialfirliclip System dor Scliwammc ()47
des äusseren embryonalen Keimblattes besteht und ausser den Kernen
jener Zellen auch die Kalknadeln des Skelots uinschliesst, bildet unter
[gewissen Umständen an seiner überdäciie dichle Massen von sehr
feinen Pseudopodien , so dass bei Anwendung sehr starker Vergrösse-
rungen (mindestens 500-700) die glatte Obcrdäche des Ecloderms wie
mit einem dichten Flaum von äusserst feinen lläärchen bedeckt erscheint.
Besondere Neigung zur Hildung eines solchen Protoplasmapelzes zeigen
die Ectodermschciden , welche die isolirten Spicula umgeben. Oft er-
hebt sich senkrecht auf der Oberlläche einer einzigen Kalknadel ein Flaum
\on mehreren Hundert sehr feinen Pseudopodien. Ich werde diese
merkwürdige Erscheinung, die ich übrigens nur bei Kalkschwämmen
fand und nach der ich bei andern Schwämmen vergeblich suchte, in
nuMuer Monographie ausführlich erörtern.
Von den übrigen Resultaten meiner Untersuchungen, die ebenfalls
in der Monographie der Kalkschwämme eingehend geschildert werden
sollen , will ich schliesslich nur noch das miltheilen , dass es mir ge-
lungen ist, das natürliche System, d. h. den Stammbaum
der K a 1 k s c h w ä m m e und die Entstehung ihrer Arten in einem Maasse
zu erkennen und sicher zu stellen , wie es bei wenigen andern Grup-
pen von Organismen möglich sein dürfte. In der Thal lässt sich bei
diesen merkwürdigen Thieren die Genesis der Species Schritt für
Schritt verfolgen , und die Species-Unterscheidung in dem gewöhn-
lichen (dogmatischen) Sinne hört hier vollständig auf. Ich hatte daher
schon in meinen früheren Mittheilungon den Satz ausgesprochen: »Die
gan ze Na turgesch ich te der Spongien ist eine zusammen-
hängende und schlagende Beweisführung für Darwin.«
Seitdem hat auch der um unsere Spongienkenntnisse so hochverdiente
Gratzer Zoolog, mein Freund Oskar Schmidt, in seiner letzten, an
interessanten Ergebnissen sehr reichen Arbeit ') eine Masse von neuen
Beweisen für jenen Satz geliefert, und auf Grund dieser Beweise den
Anfang zu einem natürlichen System der vereinigten Kiesel- und Ilorn-
schwämme gemacht. Da diese letzleren viel formenreicher sind, als
die Kalkschwämme, so ist die Aufgabe hier eine viel schwierigere. Bei
der kleinen und wenig differenzirten Gruppe der Kalkschwämme lässt
sich aber das natürliche System desshalb so ausgezeichnet erkennen,
weil einerseits man den Antheil , den die beiden formbildenden Kräfte,
Vererbung und Anpassung, an der Production jeder indivi-
duellen Form haben, hier mit seltener Sicherheil beslinunen kann, und
i) Oskar Schmiüt, GiuiKl/üge einer Spongieii-I'auna des atlantisclien Ge-
liit'tcs. Leipzig 1870.
648 lernst Haeckel,
weil anderseits alle erwünschten Uebergangsformen und verbinden-
den Zwischenstufen zwischen den verschiedensten Arten der kleinen
Gruppe zu Gebote stehen. Meine beiden Reisen nach Norwegen und
Dalmatien haben mir hierfür ein ausserordentlich reiches und instruc-
tives Material geliefert, in welchem die höchst variablen Individuen der
einzelnen Species nach Hunderten und theilweise nach Tausenden zäh-
len, und bezüglich der Formenübergänge und Umwandlungen wirklich
das Erstaunlichste zeigen
Was nun das natürliche System der Kalkschwämme selbst be-
trifft, so musste dasselbe auf ganz neuen Grundlagen aufgerichtet wer-
den. Alle bisherigen Classificationsversuche bei den Kalkschwämmen,
insbesondere diejenigen von Bowerbank, Lieberkühn, Oscar Schmidt,
Gray, waren künstliche. Ebenso ist der »Prodromus eines Systems der
Kalkschwämme ((, den ich vor zwei .Tahren gegeben habe, ganz künst-
lich, wie ich selbst schon damals andeutete. Das natürliche System
der Kalkschwämme, wie es sich als letztes Gesammtresultat aus meinen
dreijährigen Untersuchungen ergiebt, unterscheidet zunächst nach der
Bildung des Canalsystems drei Hauptgruppen oder Familien, für welche
ich die Bezeichnungen Ascones, Leucones und Sycones beibe-
halten habe. Diese drei Gruppen habe ich bereits unterschieden in
der, dem Prodromus etc. angehängten »Synoptischen Tabelle über die
Familien der Kalkschwämme mit vorwiegender Berücksichtigung der
Canalisationsverhältnisse« (1. c. p. 253). Die dort gebrauchten Bezeich-
nungen Microporeuta, Cladoporeuta, Orthoporeuta drücken
allerdings die unterscheidenden Charaktere der drei Familien tref-
fend aus , dürften aber bequemer durch die angeführten kürzeren Be-
zeichnungen ersetzt werden , die sich theilw eise an ältere und bereits
eingebürgerte Namen anschliessen. ')
Die erste Familie (Ascones s. Microporeuta e) umfasst alle
Kalkschwämme, deren Magenwand ganz einfach von unbeständigen
Hautporen (Lochcanälen) durchsetzt wird. Sie entspricht im Gan-
zen den »Grantiae« von Lieberkühn, den »Leucosoleniae« von
Bowerbank. Aeltere bekannte Arten sind Gran tia (Leucosolenia)
botryoides und G. coriacea. Sie stehen nächst den Hydroiden,
Die zweite Familie (Leucones oder Cladoporeutae) begreift
alle Kalkschwämme , deren Magenwand ganz unregelmässig von unge-
1) In der »synoptischen Tabelle« etc. habe ich ausser diesen drei Gruppen
noch eine vierte unter dem Namen Aporeuta angeführt, welche nur das eine
Genus Prosycum umfassen sollte. Wie ich mich jetzt in Dalmatien überzeugt
habe, ist Prosycum nur ein vorübergehender Zustand von Oly n thus, nämlich
ein Ol yn thus mit geschlossenen Poren. Das Nähere darüber in der Monographie.
Ueber die sexuelle Fortpflanziiii» iiiul diis iiiüiirliche System der ScliwäinniP. 649
raden und verästelten Gefassen (Astcanälen) durchzogen wird. Sie
entspricht im (lanzen den )>Granliac(( von üskah Schmidt, d(!n »Leu-
coniae« von Bowerbank (mit InbegriU" der Loucogypsiae). Aeltere
bekannte Arten sind Grantia (Leuconia) nivea und G. sei i da.
Die dritte Familie (Sycones oder Orlhoporeutae) enthält a\ie
Kalksclnvämme , deren Magen wand ganz regehnässig von geraden und
unverästelten radialen Gefassen (Strahlcanä len) durchbohrt wird.
Sie entspricht im Ganzen den oGrantiae« von Bowerkank, den Sy-
cones von Lieberkühn. Aeltere bekannte Arten sind Grantia (Sycon)
ciliataundG. compressa. Sie stehen nächst den Corallen.
Das genealogische Verhällniss dieser drei Familien liegt ganz klar
vor Augen. DieAsconen oder Microporeuten , durch einfache Haut-
poren ausgezeichnet, bilden die Stammgruppe der Kalkschwämme, aus
<ler sich nach zwei verschiedenen Richtungen hin die beiden anderen
Gruppen entwickelt haben, einerseits die Leuconen oder Cladopo-
reuten mit ihren verästelten Canälen, anderseits die Sycon en oder
Orthoporeuten mit ihren radialen Tuben. Diese beiden divergirenden
Gruppen stehen unter sich in keinem näheren Zusammenhang.
Für die Eintheilung der Kalkschwämme in Genera und Species
sind bisher von den verschiedenen Autoren in erster Linie theils die
Individualitäts-Verhällnisse (1. c. p. 215, 252) theils die Beschaffenheit
der Mundöffnung, theils die äussere Körperform benutzt worden.
Alle diese Charaktere sind von untergeordneter und secundärer Bedeu-
tung , weil sie in hohem Maasse der Abänderung durch Anpassung
unterworfen sind, und zwar in so hohem Maasse, dass nicht allein inner-
halb eines Genus , sondern sogar innerhalb einer Species die verschie-
densten Extreme und dazwischen die vermittelnden Uebergänge be-
züglich jener Charaktere auftreten können. Alle hierauf gegründete
Classification ist daher künstlich. Als einzig natürliche Basis der gene-
rischcn und specifischen Unterscheidung hat sich die Beschaffenheit
der mikroskopischen Skelettheile herausgestellt. Die Form und Zusam-
mensetzung dieser Nadeln oder Spicula vererbt sich innerhalb der
Species so relativ constant, und bietet zugleich allein so fesle,
mathematisch bestimmbare Verhältnisse dar, dass sie für die natürliche
Classification der Genera .und Species von höchster, ja von allein
maassgebender Bedeutung ist. Ganz naturgemäss unterscheiden
sich die Genera nach den Ilauptformen der Nadeln und ihrer Combi-
nationsweise, während die Species durch untergeordnete GestaltdilVe-
renzen der einzelnen Ilauptformen bestimmt werden.
Es giebt bei den Kalkschwämmen nur drei verschiedene Haupt-
formen Non Spicula, nämlich 1) einfache Nadeln oder Stabnadeln;
650 Knist Haeckel,
2) dreischenkelige Nadeln oder Drei strahier ; 3) vierschenkelige Nadeln
oder Vierstrahler, i) Jede dieser drei Grundformen bildet entweder für
sich allein das Skelet der Gattung , oder in Combination mit einer oder
mit beiden anderen Grundformen. Demnach sind im Ganzen sieben
v«rschiedene Skeletformen mathematisch möglich , und alle sieben sind
zugleich in der Natur verwirklicht: 1. Skelet bloss aus Stabnadeln
gebildet. 2. Skelet bloss aus Dreislrahlern gebildet. 3. Skelet bloss
aus Vierstrahlern gebildet. 4. Skelet aus Stabnadeln und Dreistrahlern
zusammengesetzt. 5. Skelet aus Stabnadeln und Vierstrahlern zusam-
mengesetzt. 6. Skelet aus Dreistrahlern und Vierstrahlern zusammen-
gesetzt. 7. Skelet aus Stabnadeln , Dreistrahlern und Vierstrahlern
zusammengesetzt.
Da nun diese sieben möglichen Fälle der Skelet-Construction in
jeder der drei Familien der Kalkschwämme wirklich vorkommen, so
ergeben sich im Ganzen für das natürliche System dieser Thiere ein-
undzwanzig Gattungen , welche durch die nachstehende Tabelle über-
sichtlich werden. Diese 21 Genera entsprechen in keinem einzigen
Falle vollständig den früher unterschiedenen Kalkschwammgattungen,
welche nach gänzlich verschiedenen Principien aufgestellt wurden.
Da diese letzteren einen wesentlich verschiedenen Inhalt und Umfang
bezeichnen, so war es unumgänglich noth wendig, für die neuen Gat-
tungsbegriffe des natürlichen Systems neue Bezeichnungen aufzustellen.
Ich habe diese Bezeichnungen , indem ich den drei Namenwurzeln der
drei Familien correspondirende Gattungsendigungen anhängte, so ge-
wählt, dass sie möglichst leicht im Gedächtniss zu behalten sind und
übersichtlich die Analogien der drei Gruppen darstellen. Die ausführ-
liche Begründung dieses natürlichen Systems wird meine Monographie
der Kalkschwämme geben.
1) In dem Aufsatz »Ueber den Organismus der Schwämme« etc. habe ich
ausser diesen drei Grundformen noch eine vierte angeführt, nämlich zwei-
schenkelige (gabelförmige oder hackenförmige) Nadeln (p. 229). Diese bilden
jedoch , wie ich mich jetzt überzeugt habe , nur eine untergeordnete Modification
der einfachen (cyiindrischen oder spindelförmigen) Nadeln.
Ueber die sfixiielle Foilpdanziing und das iiiilüiliche System der Schwämme. 05 1
Synopsis der Cleuera
in den drei natUiliciien Familien der Kalkschwämme.
Skelet-Structur
Grantien mit
Loch-Canälen
Ascones
(iraiitien mit
Ast-Canälen
Leucones
GraiilioM mit
Strahl-Canalen
Sycones
Spicula alle einfach
Ascyssa
Leucyssa
Sycyssa
Spicula alle dreisfrahlig
Ascetta
Leucetta
Sycetta
Spicula alle vierstrahlig
Ascilla
Leucilla
Sycilla
Spicula theils einfach, theils
dreistrahlig.
Ascortis
Leucortis
Sycortis
Spicula theils einfach, theils
vierstrahlig
Asculmis
Leuculmis
Syculmis
Spicula theils' [ dreistrahlig,
theils vierstrahlig
Ascaltis
Leucaltis
Sycaltis
Spicula theils einfach, theils
dreistrahlig,' theils vierstrahlig.
Ascandra
Leucandra
Sycandra
Kleine Mittheilung.
An die Redaktion der .lenaischen Zeitschrift für Medizin und Naturwissenschaften.
Herr A. Kölliker hat in einem Brief vom 25. April d. J., welchen ich anlie-
gend zurücksende, Reklamation wegen des Ausdrucks Erfindung erhoben, welchen
ich gegen ihn gebraucht habe.
Ich habe auf seine Reklamation Folgendes zu erwidern.
Der Ausdruck Erfindung wird bei amtlichen und halbamtlichen Berichtigungen
häuOg und zwar dann gebraucht, wenn es sich darum handelt, nicht nur die that-
sächliche Grundlosigkeit einer Angabe zu konstatiren, sondern dem Autor zugleich
bemerklich zu machen, dass eine Information über den wahren Sachverhalt für ihn
verhältnissmässig leicht gewesen wäre.
Wird der Ausdruck für sich, ohne beigesetztes Adjektiv wie geflissentlich oder
absichtlich, gebraucht, so wird vorausgesetzt, dass der betreffende Autor aus Man-
gel an Vorsicht, nicht aber aus einer besonderen Absicht die unbegründete Angabe
gemacht habe.
In diesem Sinne und in dieser Voraussetzung habe ich die Angaben des Herrn
Kölliker über das Verhallen der Schilddrüse beim Rind und dem Menschen in
einer sehr frühen Entwicklungsperiode als eine Erfindung bezeichnet, weil ich es
für geboten hielt, gegenüber den Herren Arnold und Rathkk, welche mit den un-
vollkommenen Hülfsmitteln einer früheren Zeit das, was möglich war, geleistet
haben, Herrn Kölliker es zu markiren, dass seine Hülfsmittel und die Fortschritte
in den Methoden ihm die Information über den wahren Thatbestand verhältniss-
mässig leicht gemacht hätten.
Ich glaube, dass diese Erklärung geeignet ist, die Reklamation des Herrn Köl-
liker zu erledigen. Zu einer Zurücknahme des betreffenden Satzes sehe ich mich
nicht veranlasst.
Ich richte an die Redaktion der Jenaischen Zeitschrift die Bitte, diese Erklä-
rung, von welcher ich eine gleichlautende Abschrift zu den Aklen beilege, zur
Kenntniss des Herrn A. Kölliker zu bringen und denselben zugleich zu benachrichti-
gen, dass ich gegen eine Veröffentlichung seines Briefes und meiner Erklärung im
nächsten Heft der Jenaischen Zeitschrift, falls er dieselbe verlangt, Nichts einzu-
wenden habe.
Jena, 6. Mai 1871.
W. Müller.
Druck von Breitkopf und Härte! in Leipzig.
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Jen at sehe Zeitschrift, 8d. VI.
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litli . Allst. vE Silt-scli '?ni.
Jenaische Zeitschrifl Bd VI
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Piö-.OT.
PitfKOI.
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Anst V, S.uiltsA, .!?:
Jenaische Zeitschrifi Bd. VI
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knaischeleitschnfi Bd.VI.
Taf iK.
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Jenaische Zeitsdrift Bd VI
Fitt'. 1.
TafX.
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Tvt 2.
Pit3.
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Fitf 5.
Fia-G.
Kiiller Uäi
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Fii.8.
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Jenaischi lertschrM Bd n
Taf.XI.
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Dnick T. ü. uiiisch, j'eiii
Jenaische Zeitschrift Bd VI.
TafXII.
Fis-.S.
IV. 6.
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Druck v.E.Cilts eil, Jeiu
Jenaische ZeitschriTt, Bd. l^/.
Taf.XIII.
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LittiAnst.vE.CiltscIi.J™
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Jenaische leitidntt Bd.
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