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WELLESLEY COLLEGE
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Dean ?und
JOHANNES GABRIELI
und
SEIN ZEITALTER.
Zur Geschichte
der Blüthe heiligen Gesanges im sechzehnten, und der ersten Entwickelung der
aauptformen unserer heutigen Tonkunst in diesem und dem folgenden
Jahrhunderte ) zumal in der Venedischen Tonschule.
Dargestellt
durch
ERSTER TKEIZ..
BERLIN, 1834.
ZM VBRZiAGi: DER SCHZiESZNßEIl'SCBEIf BUCH- Um> ISTrSZSZXAVSZiTrire.
M
fiednirkt \tn L. F. Herrmann.
Seiner Excellenz
des Königlichen Wirklichen Geheimen Staats-31inisters für die geistlichen, Unterrichts-,
und Medicioalangelcgenheiten, Ritters des schwarzen Adlerordens etc. etc.
Herrn Freiherrn
VON STEIN ZUM ALTENSTEIN
ehrfurchtsvoll gewidmet
1>E3»S VERFASSER.
VORREDE.
JLlie Darstellung der Geschichte auch nur einer einzelnen Kunst, ist eine Aufgabe,
deren Lösung im vollsten Sinne des Wortes kaum irgend ein Einzelner gewachsen
sein dürfte. Denn soll eine solche Darstellung auf einer Reihe lebendiger Anschauun-
gen ruhen von dem Beginne, dem Fortwachsen und Blühen der Kunst, soll sie etwas
mehr sein als eine Reihe von Namen der Künstler und von Titeln ihrer Werke, oder
höchstens ein zu flüchtiger Unterhaltung gereichender Bericht über ihre Lebensverhält-
nisse: welcher Vorarbeiten, und zumal in der Tonkunst, bedarf der Darstellende, um
nur die Grundlage für die Lösung seiner Aufgabe zu gewinnen; wie sehr ist zu be-
fürchten, dafs ehe er nur die Bedingungen derselben gefunden habe, schon die Kraft
von ihm gewichen sein werde, deren er bedarf, ihr zu genügen.
Am öftersten aber erlahmt diese Kraft an demjenigen, was die Forschung am
meisten zu reizen pflegt. Wir möchten die Kunst in ihren Uranfangen belauschen, in
die geheimnifsvoUe Werkstatt ihres Entstehens möchten wir dringen, ihr Emporkeimen
in dunkelen Zeiten mit eben der Klarheit schauen, in der ihre Blüthe sich vor uns
entfaltet. Da nun jene Anfange dasjenige sind, mit dem jede vollständige Darstellung
einer Kunstgeschichte noth wendig beginnen mufs, so scheint auch die, eben auf sie
gerichtete Forschung vor allen die erste und unerlafslichste. üeberhlicken wir nun,
was auf dem Gebiete der Tonkunst von jenen Anfängen selbst, oder Berichten über
sie, uns noch zugänglich ist: wie dürftig, wie geringe, finden wir Eines und das An-
dere, (der vorchristlichen Zeit zu geschweigen), noch in den ersten Jahrhunderten christ-
licher Zeitrechnung! Wie schwer, ja fast unmöglich ist es, den Zusammenhang zu er-
kennen zwischen dem Früheren und dem Späteren! Selbst auch wenn wir vordringen
zu lichteren Zeiten, die wir an Denkmalen anderer Künste verhältnifsmäfsig schon reich
nennen dürfen: wie kärglich erscheint die Ernte, deren wir fiur die Anschauung des
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frühesten Standes der Tonkunst uns erfreuen dürfen! Wie fremd stellt sich das Ge-
erntete dar, wie unzugänglich, ein verschlossenes, unserem Verständnisse sich entzie-
hendes Geheimnifs! Sollten wir nun, wenn unsere Geschichten der Tonkunst doch be-
ginnen müssen mit diesen Anrängen, ihr Gehäude aufführen wollen auf diesen rohen,
nicht zu einander passenden, in keine Verbindung zu bringenden Grundlagen?
Freilich soll, und wird die Schwierigkeit nur die Forschung mehr noch reizen
und spornen, die Kraft erhöhen, die Erfolge vermehren, und keinesweges kann die Mei-
nung sein, unbedingt von ihr abzumahnen. Derjenige vielmehr, der in jene dunkelen
Zeiten weiter eindringend, bisher Verborgenes an den Tag fordert, den Gewinn seiner
Vorarbeiter von Entstellungen und Verdunkelungen reinigt, ihn besser, übersichtlicher
ordnet, wird zu allen Zeiten des Dankes, der Anerkenntnifs derer gewifs sein können,
die nicht dem Namen nach nur für Freunde der Kunst sich geben. Aber nur ein Mit^
arbeiter wird er sein können an einer Geschichte der Tonkimst, die wie jedes tüch-
tige, dauernde menschliche Werk, ja, wie jedes Erzeugnifs der Kunst selbst, ein Ge-
meinsames ist, seinem einzelnen Urheber erst dann möglich wird, wenn durch die Be-
mühungen seiner Vorgänger, seiner Mitlebenden, es in ihm zur Reife gedieh.
Nur als ein solcher Mitarbeiter möchte der VerHisser dieser Blätter angesehen
sein, sei es auch in anderem Sinne als jene, zumeist auf die Uranfänge der Kunst ge-
richteten Forscher. Ihn beschäftigen, wenn im Allgemeinen wenig bekannte, doch lich-
tere Zeiten der Kunst: Denkmale aus ihnen, zugänglichere als jene ältesten, deshalb aber
dennoch bisher nicht genauer durchforschte, bietet er den Mitlebenden, und versucht,
über ihren inneren Werth, über das Wesen und die Entwicklung der Kunst die an
ihnen sich darlegt, Rechenschaft zu geben. Er glaubt aber deshalb nicht minder auch
für jene Forscher und im Sinne ihrer Bemühungen thätig gewesen zu sein. Denn
wird uns das Frühere dann erst recht verständlich, wenn wir es im Zusammenhange
mit dem Späteren betrachten, so bleibt ja zu hoffen, dafs, je weiter wir allmählig zu-
rückdringen von unserem gegenwärtigen Standpunkte in frühere Zeiten, um so mehr
auch das in neuer Frische und Anschaulichkeit hervorgehende Aeltcre ein helleres Licht
verbreiten werde über seinen Zusammenhang mit seiner unmittelbaren Vorzeit: dafs
die frühesten unscheinbaren Keime allgemach eine Ahnung werden erkennen lassen
«I
vir —
ihrer loheiuligou Beaeutsa.ukeil für die gesannutc Kunsl, dafs auol, denen, die cl.on
mit ihnen vor Allein Anderen sich beschäftigen, ein neues Verständnifs dorselhen anf-
gehen könne, nnd werde.
Weshalh aber der Verfasser jene Zeit gewählt habe, «nd jenen Meister, welche
die Gegenstände seiner vorliegenden Darstellung sind, darüber hat er noch hier Rechen-
sehaft abzulegen: n.it Wenigen, nur, da er hoffen darf, dafs seine Wahl durch das
Geleistete sich rechtfertigen werde.
Durch besondere Verhältnisse, welche näher zu entwickeln hier nicht der Ort
ist, waren seiner ersten Jugendzeit, in .reiche die kräftigste Blüthe der grofsen deut-
schen Tonmeister Ilaydn und Mozart fiel, auch die Werke der ausgezeichneten Ton-
künstler der ersten Ilälfle des achtzehnten Jahrhunderts nicht fremd geblieben, sie Ma-
ren ihm ein Bekanntes, Vertrautes, um seiu selbst willen werth Gewordenes. Wcnu
es ihm damals auch an der nöthigen Vorbereitung fehlte, um das Verhältnifs der Mei-
ster jener beiden Zeitabschnitte zu erkennen, so nahm er doch ein Gemeinsames i„
ihnen wahr, das ihm ihr Verständnifs erleichterte; was er von der Tonlehre wufste,
fand er auf die Einen wie die Andern gleich anwendbar, über die verschiedenen, bei ihnen
wahrgenommenen Formen fehlte es nicht an Gelegenheit, sich näher zu unterrichJen.
IVun war schon um jene Zeit oft die Rede von der unübertreftlichen Herrlich-
keit einer nur in Rom noch fortlebenden, geistlichen Tonkunst, wie sie in den Werken
I»alestri„a-s und anderer Meister des sechzehnten Jahrhunderts erschienen sei. Wie
es eigentlich damit sich verhalte, wufste Niemand zu berichten. Et« as üeberschwengli-
ches. einer anderen Welt Angehörendes - so war es ihm oft bezeichnet worden "-
dachte der Jüngling dabei, nur dafs, da es einmal doch Gestalt gewinnen mufste, er
diese unbewufst seinen Lieblingsstücken übereinstinuuend bildete, und so von dieser
Sphärenmusik fortträumte.
Mcht wenig nun fand der unterdefs an Jahren Gereiftere sich überrascht, als
später zuerst einige dieser gepriesenen 3Iusiken, wenn auch nicht vor sein Ohr, doch
in seine Hände kamen. Die Khrftircht vor ihnen brachte er mit, und auch der Mangel
des Verständnisses vermochte nicht sie zu erschüttern: denn, was ihm davon zugJing-
Üch war, machte auf ihn den Eindruck des Grofsartigen, Aufserordentlichen, regte die
— vin —
S
ai
Lust in ihn. anf, Aehnlichcs, vielleid.i Znsänglichovos nocl, als Besitzthum zu gcwumcn.
.Hein >veaer seinen Trann.bil.lorn fand er sie übercinslin.mena, nocl. »ollte das Maafs,
„.il den. er bis dahin die Hcnorbrinsungcn auch verschiedener Zeiten z« messen ver-
.echt hatle, auf sie passen: Konnte er doch keinen einzigen dieser Gesänge den ge-
bräuchliche« Tonarten unterordnen! Er suchte Belehrung, n.an verwies ihn auf d.e
Geschichtswerke der Engländer und Franzosen; diese wiesen auf „och ältere Quellen
.urück: aus diesen, aus den Werken geschätzter Tonlehrer, ersähe er dann wohl, dafs
seine Gesänge nicht den Tonarten der Gegenwart, sondern sogenannte« Kirchentonen
angehören sollten, welche durch griechische Benennungen aber auch auf ein fernes,
„eben vielem Andern durch Dichtkunst und Bildnerei glorreiches Alterthum zurück-
wiesen Mit eifriger Wifsbegier suchte er sich zu unterrichten, wie es doch beschaffen
sein möge mit jenen Kirchentönen; allein was er davon erfuhr, war eben so nngenü-
•end für das Verständnifs jener Denkmale älterer Kunst, als die Lehre von den Ton-
Jrte« der Gegenwart es gewesen. Zwar begann die Ueberzeugung zu dämmern: jene
seiner Deutung sich entziehenden Werke seien die Blüthe einer Kunstrichtung, ganz
verschieden von der spätere«, ihm offener da liegenden: allein jene prunkenden Benen-
nungen, an welche die Einbildungskraft so Vieles zu knüpfen bereit war, blieben .hm
ein leeres Wort, ein hohler ISame.
Ein zweijähriger Aufenthalt in Italien, zumal in Rom, gewährte ihm freilich spä-
ter eine Fülle von Anschauungen mannigfacher Art, doch nicht in gleichem Maafse als
für die anderen Künste, und für Geschichte überhaupt, war er ihm fruchtbar für jene
Aufgabe, deren Lc.snng er suchte. Nur in Rom allein zwar lebt «och jetzt die heilige
Tonkunst früherer Seit fort; allein, in wie engem Kreise bewegt sie sich! Nur Werke
der römischen Schule vernimmt man dort in des Papstes Capelle, und ein beschränk-
t*r, örtlicher Vaterlandseifcr möchte den Fremden glauben machen, überall nur in Rom,
„nd sonst nirgends, habe in früherer Zeit eine ächte, hellige Tonkunst bestanden!
Wenig Glauben zwar fand diese oft bekräftigte Versicherung bei dem \ erf\.sser. Halte
er doch spätere grofse Meister zu Venedig, zu Neapel, in eigenthümlicher ThäUgkeit
auf dem Gebiete heiliger Tonkunst kennen gelernt, waren doch Lotti, -Caldara, ßlar-
eeUo, Scarlatti, Leo, Durantc, ihm werthe Namen „nd Gestallen! Deutete manches in
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ihnen doch zurück auf jene ältere Kunst, und doch sollte es nicht eine Vorzeit, phcn
seine Vorzeit besitzen? Ja, eine mannigfach entwickelte Lebenshlüthe kirchlicher Ton-
kunst iiefs sich ahnen in jenen bildungskräftigen Tagen des sechzehnten Jahrhunderts,
in einer Fülle lebendiger Anschauungen nuifste sie das lebhaft ersehnte, deutende Woit
gewähren: allein immer noch schwieg es dem Verlangenden wie zuvor. Denn w-as man
endlich in Rom, auch von den besten 3Ieistern. lernen kann für ein tieferes Verständnifs
jenes Zweiges der gesammten Kunst, ist eben nichts Anderes, als was man auch schon
durch Bücher erfahren mag.
So verliefs denn der Verfasser Italien, und kehrte zu einer früheren, amtlichen
Tliätigkeit im Vaterlande zurück, die 3iufsestuuden, die sie ihm gcAvälirte, der geliebten
Kunst vorzugsweise widmend, und einer Zeit entgegenharrend, wo dasjenige, was er
hier und dort in verschiedenen Richtungen für dieselbe gesammelt hatte, ihm zu einem
grofsen, gemeinsamen Bilde sich gestalten werde.
Nach kurzer Zeit mufste er seine Vaterstadt mit Breslau vertauschen; und. was
er lange gesucht liatte, sollte er unerwartet dort finden. Denn das Forschen in der
Tonkunst, die Sorge für deren Anbau, sonst nur das dleschäft seiner Nebenstunden,
wurde dort zugleich Gegenstand einer, neben seiner ursprünglichen fortgehenden Amts-
thätigkeit. Diese vertraute ihm unter anderem auch die Aufsicht an über einen reichen
Schatz bis dahin völlig ungeordneter alter, aus dem Büchervorrathe der aufgehobenen
Klöster zusammengebrachter Tonwerke, deren die meisten dem sechzehnten Jahrhun-
derte angehörten. Bald entdeckte er zu seiner Ueberraschung, dafs nicht Rom allein,
dafs auch andere Städte Italiens, und zumal Venedig, treffliche Meister auf dem öe-
biete der heiligen Tonkunst in jenem Jahrhunderte besafsen: ja, eine freiere, eigenthüm-
lichere, durch herkömmliche Schranken weniger eingeengte Ausbildung dieser herrlichen
Kunst schien dort ihm gediehen zu sein, und bald wendete sich seine Neigung dem
grofsen Meister zu, dessen Name diesen Blättern voranstellt, und der ihm wohl würdig
schien, mit dem allgefeierten Palestrina zu wetteifern. Halfen doch dessen Mitlebende
wohl eben diese Meinung getheilt, zumal die Deutschen, da sie die Werke dieses Mei-
sters und seiner Landesgenossen fast mehr noch als die der Römer in die von ihnen
veranstalteten Sammlungen aufnahmen! Eine Reihe älterer Deutscher Tonwerke
lehrte ihn xiigloicli lioiinen, >\as um dioselhe Seit von unserem Vaierhvnile in der Ton-
kunst geleistet worden; hei wachsender Fülle der Ansehauungen wuchs iluu auch das
ersehnte Verstäuduifs. Jlocherfrcut aher war er, als eben sein neuer Wohnort in der
dortigen Rhcdigerschen Bihliotliek eine neue Fundgrube für seine Forschungen ihm
eröffnete: eine Sammlung- der hedeutendsten Tonwerke seit dem Anfange des siebzehn-
ten Jahrhiniderts, deutscher und italienischer, bis hin fast zu dessen Ausgange. In
den späteren Erzeugnissen dieses Zeitabschnittes fand er nun bereits einige Uebercin-
stinunung mit den schon früher von ihm gedeuteten Kunstwerken des folgenden Jahr-
hunderts; je weiter er zurückging, um desto mehr Beziehungen traten ihm entgegen
mit der früiiercn Zeit, und doch schien ihm diese, wie er zuvor bereits geahnt hatte,
auf einer anderen Ansdiaiuiug des Tonreiches zu ])eruhcn als die spätere; er glaubte
in ihr eine, zwar mit jener lebendig zusammenhängende, aber doch eigenthümlieh er-
schlossene Blülhe der Kunst zu erkennen. j\irgcnd aber lelieudiger, anschaulicher,
schien dieser innere Zusammenhang beider Richtungen ihm hervorzugehen, als in dem
Verhältnisse Gabrieli^s zu seinem Schüler, Heinrich Schütz. Deutschland und Italien,
die älteren und die neueren in beiden Ländern gezeitigten Kunslformen, die heilige, die
wellliche Tonkunst in ihren mannigfachen Verzweigungen, die Kirchentöne in ihrer
herberen, die neueren Tonarten in ihrer glänzenderen Eigenthünilichkeit, die lebendige
Wecliselwirkinig des CJobens und Empfangens, die Blüthe luid der Verfall verschiede-
ner Kunstrichtungen, standen nun lebendig vor seiner Seele. Was ilnn zuvor ein leeres
Wort, ein lH)hler Name gewesen, wurde nun eine lebendige, durch geistreiche Werke
immer anfs Aeue bethätigte Anschainnig.
Die Beziehung dieser Werke zu der äufseren Gestalt der Zeit ihres Entstehens,
iiir Zusammenhang mit der allgemeinen Bildungsgeschichte, wurde nun zunächst Ge-
genstand seiner ferneren Forschungen, und so entstanden diese Blätter, und andere,
wenn auch bisher nur begonnene, Darstellungen anderer Zeiten der Kunstgeschichte,
die er, >venn ihm einst 3Iufse vergönnt wird, sie zu vollenden, und wenn man das hier
Dargebotene als eine wirkliche, dieses JVaniens würdige Mitarbeit für die Kunstge-
schichte erkennen sollte, künftiger 3Iittheilung vorbehält.
Was er als Beigabe an Tonwerken der Zeilen darbietet, von denen er redet.
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thoils in vollsfändiger, (heils auszngswoiser MiÜhoilung-, liat er (l,is auf zwei Bni.!,-
slückc von 3Ia(lrigalen des Fürsten von Venosa) ans den vorhandenen, einzelnen Stinnnen
sorgrallig- selber inPar<itnr gehrael.f, und - die Berichügung und Cnterlegung- der Texte
ausgenonunen, denen ältere Drucke sehen grofse Aufniersanikeit gewidmet haben - sich nir-
g:endeincAenderung dabei erlaubt. Die ältere Schreibweise ist zuweilen mit der neueren,
allgemein versländlichen vertauscht worden, namentlich bei den Tonschlüsseln: nur das
Bezeichnende aber, nicht das Bezeichnete, ist dadurch anders geworden. Beibe-
halten ist sie überall, wo sie - wie bei Bindungen - gröfsere Anschaulichkeit der
Toufiguren gewährte. Auch die ältere Generalbafsbezeichnung der Ursclirifteu (wo
eine solche vorhanden war) ist unverändert, und unergäuzt geblieben. Versetzungs-
zeichen, wo sie nach seiner Ueberseugung zu ergänzen waren, sind über den einzcl-
nen Tonzeichen nur angedeutet, so dafs mau jedes einzelne Toustück in seiner ur-
sprünglichen Gestalt empfangt. Hoffentlich werden in dieser Beispielsammlung je zwei
und zwei Gesänge von Palestrina und Orlando Lasso nicht unwillkommen sein. Bei
deren Auswahl leitete den Verfasser zunächst sein Hauptzweck, das Verhältnirs beider
Meister zu GabrieÜ anschaulich zu machen: dann aber ist er, um zunächst Palestrinas
Verdienst in helles Licht zu setzen, dessen neuestem Lebensbeschreiber und inuigem
Verehrer, Bahn, gefolgt. Der ersten Rücksicht zumeist verdankt das sechsstimnuge
.,0 Doimne Jesu anisfe'- seine Aufnahme, als Seitenstück zu dem Gabrielischen; (f.
A. 3.) der zweiten das achtstimmige: „Sarge, illumhune Jermulem.^' Vou beiden re.let
liidni n.it Bewun.lerung: das letzte nennt er (Tom. IL pag. IS.) .,*7 capo cropera del
moteffi a due eori del Pierhngir jenem rühmt er nach, es gehöre zu den Motetten
seines Trhebers: ,,c7,e preseiUano vn hello di prinC ordine.- (T. L p. 352.) Die Dar-
stellung des gesammten Bildungsganges, des vollen VVerthes beider grofsen Tonuieister,
würde freilich eine Beispielsammlung von gröfserem Umfange erfordert haben, als die
Verhältnisse des vorliegenden Werkes gestatten.
Möge diese Arbeit im Uebrigen durch ihren Inhalt ihre Rechtfertigung finden!
Sie soll vorzugsweise das Verhältuifs älterer und späterer Tonkunst zur Anschauung
bringen, aber auch durch die Blüthe jener ersten über deren Anfänge Licht ver-
breiten. Hat sie ihre Bestimmung erreicht, so trägt sie ihre Gewähr in sich selbst.
— xii —
a
woloho sie sonst von Aufscn her nirgend erhalten kann. Darnni biüet ihr Verfasser
auch nicht «n. Schonung oder Nachsicht für sie, so erfreuend ihm auch das wohlwoU
l.nde Anerkenninifs seines Strchens sein wird, selbst wenn man des.en Früchte nicht
durchhin von ächter Reife halten sollte. Dafs er mit Vorliebe für einen Gegenstand
beschrieben, der ihn lange beschäftigle, bekennt er gern: allein ohno sie hätte er über-
„11 nichts zu leisten vermocht; ist ilun der sichere Blick für seine Aulgabe dadurch
getrübt worden, so wird er mit Dank darüber Belehrung empfangen. Auch eine Vor-
liebe Tür Venedig will er offen eingestehen. In früherer Zeit Schüler einer Bildungs-
anstalt, welche durch die Süftuug eines deutschen, im venedischen Staate eingebür-
..erten Kaufmannes, alljährlich zu einer Lobrede auf sein neues Vaterland verpflichtet
war umgeben von Jugend auf mit mannigfachen Bildern jener wunderbaren Meeres-
stadt und auf solche Weise lange zuvor in ihr heimisch, ehe er sie wirklich betrat,
.„ochte er auch von jeher sich gern mit ihr beschäftigen, und das von ihr gewonnene
Bild sich ferner ausmahlen. Hat die gegenwärtige Darstellung gröfsere AnschauHch-
keit dadurch gewonnen, so ist sein Wunsch errdllt, der dahin ging, ein lebendige
Bild der Zeiten und ihrer Verhältnisse zu gewähren, von denen er schrieb.
Johannes Gabriel!
und
sein Zeitalter.
ERSTER THEXI^.
n/ohanncs Gabrieli und seine Zeit- tmd Knnstgenossen während des
sechzehnten Jahrhunderts.
— XIV
INHALT.
ERSTES HAVFTSTtrCK.
A'i'iicdi;; und ilio Kirclio ilos lieiligcii 3Iarcus im soelizcluilpii Jalirlniiiilcrt S. 1 Ijis 19.
ZWEITES HAUPTETÜCK.
Vciii'difts Aiisl.lUou für kircliliclio ToiiKiinsl, und iillcio Toiinicislcr lils auf Ju1iaiin<\s Galiileli iO — 33.
DRITTES »AVPTSTÜCK.
,l(diaiiiics <j'al)riidi. dessen Lolioiisvorliälhiisse und Zeitgenossen 34 — .)3.
VIERTES KAVFTSTäCK.
Der «ro^orianisclie KIrclion;;<'sang. dessen Bedeuluiig \ind das Verliältniss der allen belgisolion Tonmei-
.sler zu domseUicn, zumal Adrian \Villaerrs, des Stifters der venedisclien Tonscliule .'i4 — 73.
FÜNFTES HAUFTSTTTCE.
Die Kir.l.enl.ine 73 — 108.
SECHSTES HAUPTSTÜCK.
Millaerfs Siliüler und Xaclifolser: CVjirian de Horo , Zarlino, (Claudio 3Ierulo, Andreas GaLrieli, und
deren \'erdlei!sle um lianuouisclie Entfaltung , 108 — 124.
EIEBENTES UAVPTSTÜCIC.
Die illi.vlliniili der all(Men Tonmeister. , , . 124 — 147.
ACUTES HATTFTSTVCK.
■loliannes <»'alirieli in seiner früheren Ivünsllerisclien Tliätigkeit l)is zum Ausgange des seclizehnten Jalir-
Iimideils. Nein ^Crliältniss zu Palesirina und Orlando Lasso 147 — 19G.
ERSTE BEILAGE.
I. Verzeiclinifs der .Slinf^ernu-isler und Org.inisten an der Kirche des lieiligen .^larcus laut deren Aroliiven.
j4. JHni;s!ri dclla IJiicul Caprlla di S. Marco, trttlli dci libri actorum dell' airhhio dclla cliiesa di
S. Mnno , . 197 — 198.
It. Orgiimsti de/ primo Orguno 198 — 199,
C. Organisli del srcimdo Organa. . . , 199.
ZWEITE BEIIiAGE.
II. Koleiidiuck und Musikhandel zu Venedig im seclizehnten und siehzehnlen Jahrhunderte '.'00 — 202.
ERSTES HAUPTSTÜCK.
Venedig mid die Kirche iles heiligen . Marcus im sechzehnten
Jahrhundert.
«regen Rlittag des Thciles von Venedig der dem schlangenförmig durch die Stadt gewundenen, sie in
7,\vei ungleiche Hälften thcilcndcn grofsen Canale östlich gelegen ist; unfem der Gegend, wo diese Haupt-
strafse der wunderbaren Stadt mit dem breiteren Canale der Giudecca sich vereint, der den südlichen
Theil derselben von ihr scheidet, liegt St. Marcus, die vornehmste Kirche Venedigs, wenn auch nicht
die älteste, noch vonnals die Kathedrale der Stadt. Zwei Plätze, beide nadi ihr genannt, die bedeutend-
sten der Sladt, verbhulet der vor ihr hegende Raum. Zu ilircr Linken den kleinen Marcusplatz; von
dem herzoglichen Pallaste und öffentlichen Bibliothekgebäude begrenzt, fiJirt er unmittelbar zu der grofsen
VVasserfläcIie liin, welche der Stadt südösthch hegt, eröfihet die anmutliige Aussicht auf die lange und
gclimale Insel der Giudecca so \nc links Aon ihr ilie kleinere von St. Giorgio Maggiore, und leitet den
Blick auf die herrlichen Marmorpalläste und Kirchen, wclclic beide schmücken. Vor ihren Haupfpforten
den gröfsercn Platz von St. IMarcus; zu beiden Seiten umgeben ihn die Palläste der Procuratoren, deren
offene HaDen ihr gegenüber vormals durch die alle, jetzt zerstörte Kirche des h. Geminian getrennt vn\r-
dcn. Auf der Grenze beider Plätze, von der Kirche gesondert, erhebt sich auf eine Höhe von beinahe
vierhundert Fufs der zu ihr gehörende Glockenthurm : die ganze Stadt, die Lagunen mit ihren Inseln bis
Iiin zu dem festen Lande breiten von seiner Höhe sich aus vor dem Auge des Beschauers. So bezeich-
net schon durch ihre Lage und Umgebung die Kirche des h. Marcus, dafs sie die erste eines mächtigen,
reichen, hochgebildeten Freistaates gewesen.
Alte Berichte *) setzen ilire Gründung in das Jahr 827. Sie erzählen, dafs ßuono aus Malamocco
und Rustico aus TorccUo gebürtig, Bürger Venedigs beide, um jene Zeit zu Alexandria sich befanden,
als die Heiden die über den Gebeinen des h. Marcus daselbst erbaute, ilim geweilite Kircl)e abzubrechen
begannen, um die kösthchen Steine welche sie schmückten, zu dem Baue eines Pallastes für ihren Kö-
nig anzuwenden. Die Bcsorgnifs, dafs jene lieiligen Uebcrreste den Heiden in die Hände fallen und von
ihnen scliimpflich behandelt werden möchten, soll die Vorsteher der Kirche bewogen haben, jenen Vene-
digern sie durch Kauf zu überlassen. Durch List entzogen sie diese den Nachforschungen der Ungläubi-
') Chronic. Danduli. VJU. C. TL P. 6.
C. T. WiDtorfclJ. Joh. Gabriel! u. s. Zeitalter.
— '2 —
^en uiul brachleii üie luirJi \ cneilii^. wo nuiii sie als einen kostbaren Scliatz empfing, den Bau einer
neuen, dem Evangelisten geweiliten kirehc bcsdilol's, und diesen selber zum Schutzheiligen der Stadt
erwählte, da es zuvor der heilige Theodorus gewesen war. Dieses geschähe unter den Dogen Justi-
iiian und Johannes Partecipazio ; der letzte, vormals Pilger nach Jerusalem, gab der über den Gebeinen
des Heiligen neu erbauten KircJie die Gestalt der Basihka, die er in der heihgen Stadt über dem Grabe
des Herrn gesehen halle ').
JNur wenig über hundert Jahre stand der damals erriclitete Bau. Um 976 wurde Peter Candiano,
der vierte dieses Namens und vierzehnte Doge von Venedig, verhafst durch Frcvellhaten, furchtbar durch
Gewaltthätigkeiten, imerträglich durch Bedrückungen, von dem erbitterten Volke in seinem Pallasle
belagert, durch Flammen daraus vertriehen, imd fiel mit seinem unmündigen Sohne durch das Schwert ' ).
Viele Pallhste und Kirchen, man zählt ihrer <lreihimdert, mit ihnen auch die des neu erwälJten Sdiutz-
heiligen wurden damals durch das Feuer zerstört. Des TjTannen Nachfolger, Peter Urseolo °), gelobte
nunmehr die Gründung einer neuen Kirche, prächtiger noch als die zerstörte, ja, der gröfseslen und
wundervollsten, welche man bisher in der Christenheit gesehen. Der Grund dazu -wurde im Jahre 977
gelegt ''), das Gebäude aber beinahe hundert Jahre später, um 1071, unter Domenico Coularini seinen
Haupttlieilen nacli erst A-olIcndet, imd fast jedes folgende Jahrhundert hat seitdem zu seiner Ausschmi'ik-
kung beigetragen. Als im Jahre 1204 ^'on den verbündeten Abendländern die \ enediger die ersten wa-
ren, welche unter Anfülirung ihres Dogen, des blinden Helden Dandolo, die IMauern Conslantinopels er-
stiegen, imd das Banner des heiligen IMarcus auf sie pflanzten, wurden aus der reichen Beute die vier
aus Kupfer getriebenen vergoldeten Bosse ihnen zu Theil, welche den Eingang des Hippodroms der alten
oströmischen Kaiserstadl bislier geziert halten, und eine IMenge des kostbarsten IVIarmors : alles v urde dem
Sclimuck der Kirche ihres Schulzheiligen bestimmt, und nach ^'enedig gesendet. Den Eifer, mit dem
man jenes Werk betrieb, konnten aucli wiederholte Störungen nicht diüiipfen. Schon um 1106 halte die
Kirche diu-ch Brand gelitten: fünf und zwanzig Jahre nach der Eroberung Constantinopels, im zweiten
der Regierung des Jakob Tiepolo traf sie ein Unfall gleicher Art. Bedeutender waren ihre Beschädi-
gungen durch Feuer im fünfzehnten Jahrhundort ^): das erste Blal 1119 am dritten Blärz imter Thomas
Mocenigo, nicht ohne den Verdadii boshafter, absiclillicher Anlegung; späterhin um 1129 am sechsten
März, wo das Blei, mit welchem sie gedeckt war, gänzlich schmolz. Eben so litt sie bei dem Brande,
weldier imi 1577 unter Sebastian ^'^enier einen Theil des herzoglichen Ballastes und mit ihm die Bilder
Tizians und Bellins zerstörte '). Der St. Blarcustliurm , um 1118 unter Domenico Morosini errichtet,
erfuhr im Uten, 15lcn und 16ten Jahrhunderte ähnhdie, bald mindere, bald bedeutendere Beschädigun-
gen; und es ist dieser Unglücksfäfle hier um deswillen nur mit einiger Ausführlichkeit gedacht, damit
neben der Ausdauer, mit der die Venediger das Zerstörte jederzeit tüditiger und pracJitvoUer herzuslellen
trachteten, auch die Veranlassung erwähnt werde, durch weldie der Mangel an Urkunden über manche
Verhältnisse der Kirche zu erklären ist, ^^'eldlen schon Flaminio Corner, der fleifsigsle Sammler über die
Kirdien seiner Vaterstadt, beklagt.
Am Schlüsse des sedizehnten Jahrhunderts, dem Zeitalter des Mannes, dem diese Blätter vorzüg-
lich gewidmet sind, konnte man mit Recht behaupten, dafs der durd» so viele Anstrengimgen, mit Ueber-
') Jl>. l'III. C. \A. p. 34. ') Eccl Venetae Flam. Corn. Dec. nil. l'ol. J. p. 84. narh einer Chronik des elften
Jahrhunderts. ') Ehendaselbst 123. *) Ebcnd. nach Dandvlo. *) Eecl. t'en. X. f.XIII- \.J p. 112. 111. nach JUo-
rosinl's Chronik l. XVJII. XX. '') Ib. pag. 109 — 113.
Windung so vieler Hindernisse geförderte Bau den \'S ünschen seines ersten Urhebers entspreclie , dafs die
Kirche zu den prächtigsten und eigcnthünilichsten Italiens gehöre. In Kreuzesform zur Rechten des her-
zoglichen Pallasles erbaut, erhebt sie fünf Kuppeln in die Luft, eine gröfsere, lun welche vier kleinere
sich reihen, und erhält dadurcli ein morgonländisches , fremdartiges Ansehen. Durch fünf Pforten tritt
man von der liauptseite aus in die \orhalIe, welche sie rings lungiebl, deren Seitenflächen kostbarer
weifser Slarmor schmückt, mit schwärzlichem Geäder, in dessen seltsamer Verfleclitung die geschäftige
Phantasie allerhand \\ undcrbare Gestalten £;efundcn hat. \\ ie der katholische Cultus die heilige Geschichte
des alten Testaments als \ orbild dessen darstellt, v.as in Christo und seiner Kirche erfüllt worden, das
in jener weissagend Angedeutete, dem in dieser VoUendelcn bei der Feier einer jeden festlichen Zeit be-
deutsam gegenüber treten läfst: so sehen wir in den Gewölben der Vorhalle auf goldenem Grunde in
musivischer Arbeit die Schöpfung der \\cU gebildet, den Sündcnfall, die Geschichten der Patriarchen, den
Auszug aus Aegj'pten: steigen wir empor in das Imicre der Kirche, so überrascht der Glanz des Goldes,
der aus Kuppeln und Ge^völben uns entgegenstraJdt , und den Bildern aus der heiligen Geschichte des
neuen Testaments zum Hintergründe und zur Einfassung dient. Christi Leben nach Schrift und Leo-ende
so wie die ^^ mider der Ofibnbarimg welche die letzten Dinge prophetisch vorbilden, zeigen die Gewölbe
in reichen Bildern, aus farbigen Steinen künsthch zusammengesetzt: auf den vier marmornen Säulen
welclie den Baldacliin des Ilauptaltars tragen, wiederholen in erhabener Arbeil sich die Thalen des Erlö-
sers. Die Kuppeln zeigen Uieils sinnbUdliche Darstellungen, tlieils Bilder von Hauptmomenten der Ge-
scliichte christlicher Kirche: hier Christum mit der Weltkugel, in der IMitte der Evangelisten, wie er seg-
nend über der heiligen Jungfrau und den Propheten schwebt, welclie ^\^ede^um über David, dem heihcren
Sänger, und Salomon, dem Erbauer des ersten Tempels tlironen: hier die geistUclien und weltlichen Tu-
genden: hier Cherubim mit den Worten des dreimal heilig, schwebend über den Aposteln, auf welche
der heilige Geist sich herabsenkt, und zu deren Füfsen wir die versclüedenen ^ölker erblicken, wie die
heilige Schrift in dem Berichte von dem ersten Pfingstfeste sie uns nennt. In ähnlicher Arbeit stellt uns
das Chor fUe Gescliichte des Schutzheiligen nach der Legende dar: die Auflindimg seines Leichnams,
dessen Leberfalirt nach Wnedig, seinen festlichen Empfang daselbst. Zwei Orgeln, einander gegenüber*
stehend, begrenzen in der Höhe das Chor ; auf einem Gange, der von ihnen ausgeht, mit einer Brustwehr
geschmückt, an welcher die \^'appenschiIde der Herzoge nach ihrem Tode aufgehängt wurden, kann man
um die ganze Kirche wandeln. ^^ enn aus Kuppeln und Gewölben Sinnbilder und heilige Geschichten
auf uns herabschauen, so zeigt der Fufsboden der Kirche mis einen reichen Tcppich: dem Grunde von
Marmor sind Laubwerk imd Arabesken von farbigen Steinen ^v^e eingewrkt, und auch hier fehlt es nicht
an sinnbildlichen Darstellungen, welche Ereignisse der Geschichte des Freistaates und ganz Italiens ver-
hüllt andeuten, oder auf gleiche Art die Häupter Venedigs bildhch warnen sollen, wie jene Lö\^'en, deren
eines Paar über den Wellen schwebt , von Kraft strotzend , das andere kraftlos und abgezehrt auf der
Erde steht, anzuzeigen, dafs Meeresherrschaft, nicht Besitz auf dem festen Lande \'enedigs Gröfse gegrün-
det, und sie erhalten werde. Können wir nicht leugnen, dafs die bildende Kunst, weldie heilige Gebäude
ihrer Bestimmung gemäfs enrichtet und schmückt, aus der Gesinnung und Richtung ilires Zeitalters lebendig
hervorgehe-, dafs die Tonkimst, welche dem scliweigenden Räume, dem stummen Bilde, ja auch dem hei-
ligen Gebrauche eine Stimme verleiht, in der ihr inneres Leben herv'orbricbt und kmid A\-ird, mit der
Bildnerei in der innigsten Verbindung stehe; so wrd in der genauen Beziehung beider Künste unter sich
und mit dem Leben des Volkes, aus dessen IMitte sie sich gestalten, auch die vorangehende DarsteUung
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gereclitfertjgt erscheinen, tind sie wird weder überflüssig noch unverhältuirsmäfsig genannt werden dürfen,
wenn sich späterhin bewährt, dafs Gabrieli, wie Venedig, so vornehnihch der Kirche, welche ihn acht
und zwanzig Jahre liindurch hesafs, recht cigentliündich angehört liahe. Ja, als nolhwendige Folge des
Gesagten wird die Forderung hervorgclicn, dafs, che wir das Leben und die Werke des merkwürdigen
JMannes näher belrachlen, dessen Name diesen Blättern voransteht, auch die besondere Verfassung der
kircldiclicn Anstalt, deren einer Zweig ilim anvertraut war, und das Leben seines Vaterlandes, in welchem
sie wurzelte, mit einigen Zügen dargelegt werde.
Sey es nun, dafs ^'cncdigs erste Gründung in den Anfang des fünften Jahrhunderts faUe, wo die
Bewohner des zerslörlen Aquileja und der benachbarten Landschaften einen Zufluchtsort vor der Muth
des Attila auf den Inseln, zwischen den Untiefen des Adrialischen IMeeres sucblen, welche in der Nähe
des Ausflusses der Brenta liegen; sey es, dafs frülier schon jene Orte bewohnt waren, tlie Anfänge der
Sladt also einem noch fri'dicren Zeitalter angehören; genug, nach der Mitte des sechzelmlcn Jahrhunderts
stellte Venedig den überraschenden Auhhck einer grofsen, präclitigen, mitten in den Wellen hegenden
Stadt, und das ehrwürdige Bild eines Freistaats von mehr als tausendjälirigem Alter dar. Was es früher
gewesen freilich, ein Staat seiner Macht und seinem Ansehen nach neben die ersten Europas zu steUen,
war es nicht mehr. Die IlauptqueUe seines Reichlhums, der Besitz des ostindischen Handels war gegen
das Ende des vorangehenden Jalirliunderts ziuii Thcd versiegt, seit die Portugiesen den neuen Weg nach
Indien um die Südspitze Afrikas gefunden, seit Christoph Colonibo, ein Bürger des Freistaats der seit
alter Zeit Venedigs Nebenbulderinn gewesen, Spanien durch die Entdeckung Amerikas eine neue Gold-
und Ilandelsquelle crölTnet hatte. Seit hundert Jahren bereits war um jene Zeit der Sitz des alten ost-
römischen Kaiserlhums in den Händen der Türken, übermütluger, gefährhclier Naclibarn, niclit allein für
Venedigs Besitzungen in Griechenland und Dalmatien, sondern auch für sein Gebiet auf dem festen Lande
Italiens, das schon mehr als einmal ihren Verwüstungen und Räubereien ausgesetzt gewesen war. Neapel
im Süden, Mailand Im Norden Italiens halten zu Anfange des Jahrlumderts Spaniens imd Frankreichs
Herrschbegier gereizt ; Entzweiung und Ehrgeiz Einzelner einen Innern Krieg neben demjenigen entzündet,
welcher durch Fremde herbeigeführt eine der scliönsten mid glückhchsten Landschaften Europas ver-
heerte. Italiens Freiheit war unter diesen Kämpfen Üieds erschüttert, Uieils zu Grunde gegangen; nur
Venedig stand allein nocli ungefährdet, fast In seinem allen Glänze da. Der gereizte Stolz der gröfsern
Mächte, die Eifersucht der kleinern Italiens wollle auch Ihm seinen LTnlergang bereiten. Das Bündnifs,
oder ('wie' Venedlsche Schriflsteller es nennen) die Versdiwörung zu Cambray trachtete, nachdem man
durch Versicherungen geneigter imd wohlmeinender Gesinnungen der vereinigten Älächte Venedig zu be-
ruhigen und zu sichern gesucht, es durch den Bannslrahl des heiligen Vaters geistlich zu vernicliten,
durch gemelnschafthchen Angriff seine Macht zu zerstören, und sein ganzes Gebiet zu tlieilcn. Nach
wechselndem Glücke und einem harten Kampfe ging ^^enedig, zwar nicht siegreich, doch mit Ehre aus
diesen Stürmen hervor, innerlich erschöpft, wenn auch ohne bedeutenden Verlust nach aufsen. Von nun
an aber, bis etwa hundert Jahre vor einem endhchcn Fafle, sähe es sich zu einem fortwährenden Kampfe
für sein Bestehen gezwungen, und so lange es diesen mulliig, besonnen, ausdauernd fortgekämpft, hat es
nicht allein bestanden, sondern auch manche hcrrliclie Blüthe in seinem Innern entfaltet. Als aber mit
dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts es sich In Dunkelheit zurückzog, alle Thciln.-dime an den
grofsen Welterelgnissen ablehnte, alle ihm drohende Gefahr durch Unterhandlungen, durcli ein Gewebe
von Doppelsinn, List und helmhchem Spüren zu beseitigen trachtete, ist es, wenn auch vciTathen, doch
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nicht schuldlos noch rülinüich gefallen. Der erste Zeitraum jenes Kampfes ist das Zeitalter Gabrieli's.
Drei unglückliche Kriege halle der Freistaat seit der Eroberung Konstantinopels mit den Türken gefülirt.
Ein vierter kostete ihm den Besitz von Cypern, dem er früher eine Königinn gegeben, es später als zins-
bares Königreich beherrscht hatte. Ohne kräftigen Beistand von Seiten der itahenischen Staaten, von
Spanien als einer der Hauptmächte der Halbinsel nur schwach unterstützt, konnten (Ue Venediger zur
See zwar ihren alten Ruf der Tapferkeit und Erfahrenheit he^vähre^, ohne andern Erfolg jedoch, als den
vorübergehenden Glanz einzelner grofser Thaten. Der glorreiche Tag von Lepanto am 7. October 1571 '),
dessen vor allem zwar die Spanier sich gerühmt, war docli zum gröfsesten Theile die Frucht der Tapfer-
keit der VenecUschen Flotte und ihrers Anfülircrs Sebastian Venier, der sechs Jahre später, wenn auch
nur auf kurze Zeit, den herzogUchen Sluhl bestieg. ZweUiundert Scliiffe und nahe an dreifsigtausend
3Iann halten die Türken verloren; aber von seinen Bundesgenossen verlassen, durch Versprechungen hin-
gehalten, und encUicli auf sich selbst beschränkt, verlor Venedig alle Vortheüe eines so ausgezeichneten
Sieges. Famagusta, die Hauptstadt Cvperus, war zwei IMonate vorher am 1. August 1571 nach einer
tapfern Gegenwehr von beinahe einem Jahre gefallen, und nur dann erst, als IMundvorräthe und Lebens-
mittel gänzhch erschöpft waren. Ein TheU der Besatzung ^TOrde ein Opfer der Grausamkeit und Treu-
losigkeit der Türken, die nur Anfangs die gewährten Bedingungen der Uebergabe Iiielten, dann aber völ-
bg davon sich lossagten =); der Verthcidiger der Stadt, Marco Antonio Bragadino, fiel unter den grausam-
sten Martern, bis auf den letzten Augenblick die Würde des Vaterlandes behauptend, von den Barbaren
auf das Schimpflichste gehöhnt, und nacli dem Tode noch auf das Unwürdigste verspottet, mit der Stand-
haftigkeit eines Helden, mit der frommen Ergebung eines Christen, die Worte des Slsten Psahns im
fliunde: Schaffe in mir, Herr, ein reines Herz, und gicb mir einen neuen gewissen Geist =). Der Friede
von 1573 scliien Venedig auf einige Zeit Ruhe zu sichern; aber ein neues Ungemach bereiteten ihm für
mehrere Jahre die Unternehmungen der Uskoken, von den Türken verjagter, in Dalmatien niedergelasse-
ner Flüchlhnge. In kaiserlichem Solde gegen den dn-istbclien Erbfeind stehend, nicht zufrieden diesem
allein Abbruch zu thun, arteten sie bald zu den kühnsten und gefährlichsten Seeräubern aus, erstreckten
ihre Plünderungen und Gcwaltthalen selbst auf christhche Seefalirer, namenüich venedische Schifl'e, und
wufsten, obwohl in einzelnen FäUen hart gezüchtigt, doch meistens der Verfolgung sich zu entziehen:
ja, niclit ohne Verdacht fremder Begünstigung gaben sie iliren Unternehmungen gegen die Türken das
Ansehen, als seien sie mit Vorwissen \enedigs verübt, damit sie als Friedensbruch erscheinen, und den
Freistaat abermals in einen Krieg verwickeln möchten, der seine durch aufserordentllche Anstrengungen
gebrochenen Kräfte voUends aufreibe. Dazu kam 1575—1576 unter AJuise Älocenigo eine furclitbare
Pest, welche vierzig tausend Einwohner VenetUgs hinrafl'te, unter ihnen (im 99ten Jahre seines Alters)
den berülimten Tizian. Der Doge, der Senat und alle Behörden der Stadt gaben bei dieser furchtbaren
Plage ein Beispiel männUcber Standhaftigkeit und Unerschrockenheit. Niemand aus ihrer Mitte verliefs
die Stadt sich der Seuche zu entziehen; die Versammlungen aller Behörden wurden regehnäfsig gehalten,
obgleich die Anzahl ihrer i^Iitglleder durch tägliche Todesfälle sich minderte; aUe Geschäfte wurden mit
gewohntem Elfer betrieben, als drohe keine Gefahr. Ein Gelübde des Senats verhiefs, wcim das Uebel
aiifliöre, dem Erlöser eine Kirche, und dieses Gelübde wurde im folgenden Jahr unter Sebastian Venier
gelöst, indem Palladio den Grund zu der Kirche dcl Redentore alla Zuecca legte.
|) rergl. Paolo Parula Th. II. lib. IL p. 211. der c« Venedig bei Domenico NicolM 1605 erschientnen Au.'>gu6e.
) rergl. Paolo Parula a. a, O. p. 179. ») Fasti ducales. p. 319.
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Hatte Venedig eolchcrgesUat mit dtr Lauheit und dem üblen Willen seiner Nachbarn und Bundes-
"•enossen, mit der Wuth und Treulosigkeit des Erljfcindes der Christen, mit furclilbaren u nah wendlichen
Naturerei'gnissscn zu kämpfen; so Avurde ihm von der andern Seile ein nicJit minder hartnäckiger Kampf
bereitet durch die Eingriffe des römischen Slulds in seine Selbständigkeit. Liegt es gleich aufser den
Grenzen dieser Darstellung bei jenen Streitigkeiten zu verweilen, so mag es kaum doch ihrer Absicht
fremd ersclielnen, Alles, worin Venedische Sinnesweise lebendig kund wird, in sich aufzunehmen. Denn
sie will in anschauhchcm Bilde zeigen, wie in diesem mcrkwiudigen A'olke cnlschlcdene (Jegensälze sich
begegnet und vereint haben; glühende ßegeislerung, und strenger, herber Ernst, Neigung zu dem Geheim-
nifsreichen, und scharfsinnige Gewandheit in Lebensverhältnissen aller Art, Prachtüebe und Sinnigkeit,
streng kirchliche Frömmigkeit und Freisinn.
Venedigs Staat halle von jeher den Ruhm strenger Anhänghchkeit an den katholischen Glauben,
und Treue gegen den römischen Sluhl bewahrt, ja denselben auch bei Streit igkeilen mit diesem zu er-
halten gewufsl, da sein Widerstand gegen dessen Anmafsungen, wie unerschülterhcli in seinem Wesen,
doch ehrerbietig in seinen äufsem Formen bhcb. Auf der Kirchenversamndung zu Trident, welcher den
Silz In Mcenza zu gewähren der Senat abgelehnt, erschienen venedische Gesandte, ohne jedoch an deren
Beralhungen lebhaften Anthcd zu nehmen: ja aufser einer Slrciligkelt derselben mit den bairischen Ge-
sandten, bei ^velcher sie den ^'orrang Venedigs mit Nachdruck behaupteten, finden ^^^r von ihrer Thätlg-
kclt bei den Verhandlungen der gelsllichen \ ätcr nichts Erhebhches aufgezeldmct. Dennoch blieb jene
Kirchcnversammlung niiiit ohne Einflufs auf Venedigs ferneres Sclilcksal. Unwillkührhch werden wir
an die gedrängte, aber kraftvolle Acufserung über dieselbe liier gemahnl, weldie Paul Sarpi, ihr Gescliiclit-
schreiber, und Rathgeber Venedigs in geistlichen Angelegenheiten, seinem Werke voranstellt. „'S'on Eini-
gen betrieben und gefördert, (heifst es bei Ihm), von Andern verhindert und vcrsclioben, durch aclitzehn
Jahre, bald vereint, bald aufgelöst, immer mit verschiedenen Zwecken gehallen, gewann sie eine Gestalt
und Vollendung, gänzlich abweichend von den Absichten derer welche sie gefördert, von den Besorgnis-
sen derer, welche sie nach allen KräRen geslörl; zum sicheren Zeichen, dafs wir unser Wollen und Den-
ken in Gottes Hand zu legen und nicht auf menschliche Klugheit zu bauen haben. Fromme Männer
hatten eine Kirchenversammlung gewünscht und befördert, der beginnenden Kirchenlreimung zu wehren,
und sahen sie den Blfs erweitern, die streitenden Theile nur hartnäckiger, die Zwietracht unversöhnlicher
machen. Die Fürsten hatten ihrer zur Besserung des geistliclien Standes sicli bedienen wollen, und sa-
hen sie eine Verunstaltung herbeiführen, welche ihres Gleichen nicht gehabt, seit der christhche Name
lebt: die Bischöfe hatten gehofll, durch sie ihr bischöfliches Ansehen wieder zu gewinnen, welches zum
grofsen Theile auf den römischen Papst übergegangen war, und haben dieses gänzlich durch sie verloren,
sind nur in noch gröfsere Abhängigkeit gerathen ; der römisdie Hof dagegen, welcher sie gefürchtet und
vermieden, als wirksames Mittel, seine aus kleinen Anfängen hervorgegangene, im Forlschritte der Zeit
zu unbegränztem Uebermaafs gediehene, drückende Oberherrschaft zu zügehi, hat eben diese über den
ihm gebliebenen Thell derselben durch sie auf eine solche 'SVelse befestigt und gestärkt gesehen, dafs sie
niemals so grofs gewesen ist, noch so wohlgegmndet. " Dafs dem römischen Stuhle davon die Ueber-
leugung geworden, sollte Venedig in den letzten Jahren des sechzehnten, in den ersten des folgenden
Jahrhunderts erfahren, und fortwährenden Anlafs finden seine bisherigen Grundsätze femer in Ausübung
zu bringen.
Im Jahre 1580 unter dem Dogen Nicolo da Ponte, vormals Abgesandten bei der Kirchenversamm-
wir
Jung, beabsichletc Gregor XIII. durch Abgeordnete aus Rom eine ^'isltaüon sämmtlicher Klöster in dem
Gebiete des Freistaates und aller Kirchen des ganzen Patriarchats von Venedig. Der Do-'e und der Se-
nat weigerten sich standliaft, dieses Geschäft durch einen andern als einen venedisclien Prälaten, in Ge-
meinschaft mit drei Edlen aus dem Käthe der Zehn vornehmen zu lassen. Als der päpstliche Nuntius
dem Doge mit geistliclicn Rügen gegen die Regierung drohte, soU dieser, ein Greis von damals neunzig
Jahren, geant^^'ortet haben: des Papstes geistliche Rügen sind ^ie ein Schwert in der Scheide, das nicht
voreilig entblöfst m erden sollte, damit eine solche mizeidg gebrauchte Wehr endlich niclit verachtet werde,
und aufhüre zu verwunden. Der Senat drang durch, und die ^^sitation geschähe nacli seinem Antrage
im Jahre 1581 durch Agostin \'aher einen venedischen Prälaten, in Gemeinschaft mit Lorenzo Campeggi
aus Bologna. Die Lobsprüclic. welcJie beide \isitatoren der venedischen Geistlichkeit ertheilten, die ge-
ringfügige, gelinde Rüge, welcJie sie nötlüg fanden, eben weil man eine vaterländische einer römischen
Auszeichnung vorgezogen hatte, sind so bezeichnend, dafs ihr Bescheid hier auszugsweise einen Platz ver-
dient '). \Mr wollen, heilst es dort, in unsrer Zuschrift an Euch uns der Worte bedienen, welche
bereiU in unserer Predigt in der Kirche der heiligen Engel an Eucli gerichtet haben, der Worte des hei
ligen Paulus nämlich in dem Briefe an die Philipper: Freuet euch, ihr Priester Venedigs, und abermals
sage ich, freuet eucli : eure Lindigkeit lasset allen kmid werden. Freuet euch Brüder, dafs unter so -vie-
len Priestern kein einziger gefunden worden, der mit dem geringsten Aussätze der Ketzerei befleckt ge-
wesen, der den mindesten \^erdacht irriger und verderblicher IMeinungcn dargeboten hätte. Freuet euch,
dafs ihr in einer vorzüglich rechtgläubigen Stadt lebt, dafs ihr die Gestalt und Schöne eines wohlgeord-
neten Staates scliaut, dafs ihr des glücklichsten Friedens zur Ehre Gottes geniefst, dafs ihr in der Rlitte
so ■\'ieler frommen 3Iänncr lebt, welche manniclifaclic Gelehrsamkeit und heilige Sitten auszeichnen, und
ihre Lehren für einen gerechten und heiligen Wandel empfangen konntet; dafs ihr die Kirchen, eure
Bräute, durch frommer und reicher IMänner Spenden sclunückt, dafs ilir eine edle Schaar weidet, dafs
ihr den ^"ertheldigern des wahren Glaubens und des heiligen apostohschen römischen Stuhls die heiligen
Sakramente reicht; dafs ihr in einer Stadt lebt, wo wackere JMänner in hohen Ehren gehalten werden,
wo kein guter Priester jemals gedarbt hat, wo er vielmehr mit mannichfachen ^Vürden geschnüickt vird.
Freuet euch, dafs Gott der Herr zur Zeit der apostolisclien Heimsuchung euch erhalten, dafs der Stalt-
halter Christi väterlich für euch Sorge getragen, euch mit grofser Liebe zur \'erwaltung eures Amtes er-
malint, euch, gehebtesten Brüder, mit seinem Segen gestärkt hat." Und weiteriün heifst es 2): „Höre
die niedere Geistliclikeit Venedigs Christum: Welche weiche Kleider tragen, sind in den Häusern der
Könige. ^Vas euer priesterhches Baret angeht, so möget ihr wissen, dafs wir den Ralh unsers heiligen
\ aters Gregor, des Mahren Oberherrn und Fürsten über alle kircldichen Anffelesenhelten, darüber erbeten
ob es nutz sey, dafs ihr eucli des prieslerhchen Barets in Kreuzesfomi bedient, oder dessen \ielmehr,
welches ihr bisher getragen, dessen sich die Edeln unter den Laien bedienen. Der heilige ^ ater
hat seinen Orakelspruch mit lauten Worten dahin abgegeben: der heihge Stuhl zu Rom habe Aufsicht
und Verordnung über alles, was den Anstand und lobenswerthe Gewohnheiten der Geistlichkeit betreffe;
dun gefalle es, dafs alle jener Form des priesterlichen Barets sich bedienten, welche der heilige Stuhl
gebilligt: doch solle niemand Zwang angetlian werden, als denen welche die heihgen Weihen zu empfan-
gen begehrten, welchen es künftig untersagt se^ai solle, eines andern Barets zu gebrauchen als dessen
') Flum. Conu. Eccl. VeMt. T. XIII. p. 179. ') Ib. p. 180.
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slcli der römische Hof bediene. Dir Brüder, bewaliret den Anstand, gehorchet dem Statthalter Christi,
dem römischen Papste." , . tt • • u i •• • ,r/.r.
Im Jahre 1589 nach dem j^ewallsamen Tode Heinrichs des Dntten machte Hemnch, komg von
Navarra, sein Recht auf den französischen Thron geltend. Venedig war unter den ersten die >hn als
König anerkannten, ungeachtet der Papst und Spanien sich lebhaft widersetzten, em \erbrechen dann
Gndend, dafs man einem Ketzer die Königswürde zugestehe. Der päpstliche Gesandte hefs es an Dro-
hungen nicht fehlen, verhefs sogar ohne Abschied die Stadt. Badoer, Gesandter Venedigs be. dem romi-
schen Stidile erhielt den Auftrag sich deshalb bei Slxtus V. zu beschweren, und Genuglhuung zu for-
dern- er suchte, obwohl fieberkrank, den Papst in Terraclna auf, und redete vor ihm mit solchem Ji^rnst
und Nachdruck, dafs ein Bruch verhindert, dem päpsthchen Gesandten die Rückkehr befohlen ^vurde.
Es h^ in den Grundsätzen der venedlschcn Regierung, bei allem Elfer für die kathohsche Religion, ,eder
Verfolgung Andersglaubcnder zu wehren, Glaubensgenossen aller Art ohne Druck und Beschränkung in-
nerhalb ihres Gebiets zu dulden. Mehrere Protestanten hielten sich zu Venedig auf, deren Rebgionsubun-
Sen man nicht Idnderte, ihnen selbst das Begräbnifs in geweihtem Grunde nicht versagte. Wie hatte
Ln also Anstand nehmen können, die Rechte eines Königs deshalb für minder gültig zu halten, weil er
sich nicht zu der katholischen Kirche bekannte? Ganz entgegen den Grundsätzen des romischen Hofes,
der den Mord, welchen ein König von Frankreich an vielen lausend seiner andersglaubenden Lnterthanen
verübt als eine grofse, der Kirche hellsame Tliat durch Dankfeste gefeiert, ermahnte der edle Mocemgo,
VcnedU Do-e, den Nachfolger jenes Königs bei seinem Besuche in Venedig um 1571 den mnem Feh-
den sehies Reiches ein Ende zu machen, durch Milde und Wohlwollen die im Glaübenszwlste getrennten
Gemülher zu besänftigen und zu vereinigen, und auf diese Welse Frankreich wahrhafte, innere Starke
zu geben; das Verfahren gegen den grofsen Heinrich zeigte, dafs man, den in jener Ermahnung ausge-
sprochenen Grundsätzen gelreu, demjenigen als dem kräftigsten Verbündeten sich anschl.efsen wolle, wel-
kem die Macht und die Einsicht gegeben war, jene Vereinigung zu bewirken, welches Glaubens er auch
sein mochte. Man begnügte sich, so lange der König Protestant bhcb, seinen Gesandten zu den kircU.-
chen Feierlichkeiten nicht mit einzuladen '). ,..-,•
Wir über-chen die Störungen unter Clemens VID., und wenden uns zu den ungleich vichtigem
Händeln unter Paul V., vormals Cardinal CamlUo Borghese, der um 1605 den päpstliclien Thron bestieg.
Die Art wie Venedig sein Verhältnlfs zu dem römischen Stuhle in klrcbliclier und staatsrccbtbcl.er Hin-
sicht angesehen, der Geist, welcher das Volk und die Häupter des Staates beseelt, tritt In ihnen so ei-
.'enthümllch hervor, dafs sie eine ausfülirlichere Daricgung verdienen.
Im Jahre 1603 war zu Venedig ein Gesetz ergangen, das bei der grofsen Menge bereits vorhan-
dener Kirchen und Klöster die Erbauung neuer ohne ausdrückliche Genehmigung des Staates untersagte.
Zwei Jahre später, um 1605, wrde eine im vorangegangenen Jahrhunderte bereits dreimal erneuerte
Verordnung vom Jahre 1357 abermals bekannt gemacht, die aUe Schenkungen und Veräufscrungen zum
Besten gelstliclier Anstalten verbot. Der römische Stuld sähe in diesen Gesetzen cm wiUkuhrhches Ein-
greifen in die klrclJiche Verwaltung, ein frevelhaftes Hindern gottgefälliger Werke, eine scclenverderbende
Gewallthätigkeit, welche den Reuigen das Abkaufen ihrer Sünden verschränke, \ergebens fülirle man
von Selten Venedigs an, dafs die grofse Menge bereits bestehender Kirchen die Gründung neuer unnothig,
') f^ettor Sandi. l. X. cap. 15. arf. 3.
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ja verderblich mache; dafs die hier eingetretene Beschränkung eine blofse, die Religion gar niclit betref-
fende VerwaltnngsmaaTsregel sei; dafs auch Päpste selbst die Schenkungen zu Gunsten geistlicher Anstal-
ten untersagt und bescliränkt hätten; dafs die Vennehrung abgabenfreier Güter die Hülfsquellen des Staa-
tes vermindere , liier auch kein neues Gesetz gegeben, nur ein altes in das Gedächtnifs zurückgerufen sei.
Alle VorsteUimgen fruchteten um so weniger, als in zweien, um jene Zeit bald hintereinander erfolgten
Verhaftungen von Priestern, eines Canonicus von Vicenza, Scipion Sarraceno, imd des Abts von Narvesa,
Brandolin Valdimarcno, der römische SlulJ einen höhnenden Eingriff in sehie geistliche Gerichtsbarkeit
zu sehen glaubte, war auch der eine jener Geislhchen wegen grober Aussclnveifungcn, der andere wegen
todeswürdiger Verbrechen gefangen gesetzt. Ein Breve des Papstes erklärte die Verordnungen des Senats
für nichtig, befalil die Auslieferung der Gefangenen, den Widerruf der cr\vähnten Gesetze, und unterwarf
alle welche zu denselben mitgewirkt, oder sie gebilligt, den geistlichen Rügen. Durch so entschiedene
Rlaafsregcln zu gleicher Entscheidung aufgefordert, wünschte doch der Senat in den Augen des Volkes
und ganz Italiens den Anschein zu vermeiden, als wolle er in einer Angelegenheit, bei welcher die Kirche
gefährdet scheine, ohne Befragung erfahnier Geistlicher vorgehen. Es wurde daher neben dem Rathe
anderer Gotlesgelehrten auch das Gutachten des erwähnten Paid Sarpi erfordert, damals Ser^itenmönchs.
später öffentlichen Rathgebers in geistlichen Angelegenheiten. Auf die Erklämng der Befragten: dafs die
von der Regierimg genommenen IMaafsregeln niclits entliiellen, was den Rechten der Kirche zuA\'ider sei,
antwortete sie in den ehrfurchtvoUsten , aber bestimmtesten Ausdrücken, dafs sie nicht wiedeiTufen, son-
dern die ergangenen Verordnimgen aufrecht erhalten, die Gefangenen nicht ausliefern werde.
Dieser Widerstand reizte den Zorn des Papstes auf das Ilöcliste. Eine Frist von vier imd zwan-
zig Tagen setzte er in einer zweiten Bulle vom 7. April 1603 dem Doge und dem Senat, binnen wel-
clier Gehorsam zu leisten sei, bei Strafe der Excommunication, von der die Lossprechung im Todeskampfe
zwar zulässig, bei meder gewonnener Gesundlieit aber nichtig sein werde; den auch Losgesprochenen
solle das cliristliche Begräbnifs unnachsichtlicli versagt bleiben. VMirden der Doge und der Senat ihre
Herzenshärte so •weit treiben, drei Tage nach Ablauf jener Frist in ihrer Halsstarrigkeit noch zu verhar-
ren: so soUe Venedig imd sein ganzes Gebiet mit dem Interdikte belegt sein, aller Gottesdienst ohne
Ausnahme aufhören, alle Lehne der Kirclie, welclie der Freistaat besitze , dem römischen Stiüde ver-
fallen sein.
Kaum hatte man von dieser Bulle in ^'^enedig Kenntnifs erhalten, als der Gesandte am römischen
Hofe abberufen, und den Häuptern der Geisthchkeit anbefohlen wm-de, keine Verordnung des römischen
Hofes mehr bekannt zu machen, sondern jeden Erlafs von doi-tlier dem Senate unerbrochen äbzidiefern.
Dem Volke wurde durcli einen Aufruf bekannt gemacht, dafs eine Verordnung von Rom ^Us gegen den
Staat erlassen, imd es Pflicht jedes guten Bürgers sei, Abschriften und Abdrücke, welche ihm etwa in die
Hände kämen, der Obrigkeit auszuliefern.
Wie sehr nicht allein das Volk, sondern selbst die Geistlichkeit mit jenen Maafsregeln einverstan-
den gewesen, sehen wir an dem Erfolge dieses Aufrufes. Viele tausend Exemplare der Bulle wurden
abgeliefert; Anerbietungen von beträclithchen Geldvorschüssen, wenn der Staat deren bedürfen solle, ge-
schahen selbst von Klostergeisthchen. Die Bidle des Pabstes %vurde durch eine Bekaimtmachmig des
Senats als den Hoheilsrechten Venedigs ziwidcr, für nichtig, die Berufung auf eine allgemeine Kirchen-
versammlung daher auch für unnötliig erklärt; die Geisthchkeit aufgefordert ihre Aratsvemchtungen ohne
Unterbrechung fortzusetzen, das Volk ermahnt der katholischen Rehgion und dem heihgen Stuhl treu zu
C- r. Wirterfeld Job. GaLrieli n. s. Zt^ttalter. 2
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bleiben, in der Erwartunp;, dafs derjenige, welcher gegenwartig darauf sitze, zu väterlichen Gesinnungen
zurückkehren werde. Die Geistlichkeit ^erspracJj Gehorsam: der Grofsvikar zu Padua, welclier sich vor-
behalten woUlc, 2U tliun was der heilige Geist ihn heifsen werde, empllng die Antwort, dafs der heilige
Geist den Ralh der Zehn herells geheifsen habe, alle Ungehorsame auflicnken zu lassen, inid fügte sich.
Die Jesuiten wollten z^\iscJlen der Messe und dem übrigen l'lieile des Gottesdienstes unterscheiden, imd
jene zufolge des Interdikts einstellen: sie empfingen den Befehl, noch desselben Tags das Gebiet Venedigs
zu räumen, und schifften sidi unter dem Jlohngczisch des Volkes ein. Die Franziskaner, welclie, in der
Ueberzeugung, der Christenheit ein grofses Beispiel schuldig zu sein, erklärt hatten, dafs sie eher alles
dulden, als dem Interdikt nicht gehorchen wollten, traf ein gleiches Schicksal der ^'erbannung: imd ein
bald darauf ergangenes Gesetz, welches die Einziehung sämmüichcr Güter der imgehorsamen IMönche ver-
ordnete, erklärte sie auf immer für verbannt, und llire Zurückberufung nur durch den Beschlufs einer
Stimmenmehrheit von fünf Sechstheilen des Senats zuJässia;.
Ein voUes Jalir verflofs nach so enlsclieidenden Schritten, ohne dafs \^enedigs Ruhe gestört wor-
den wäre. Von Seiten Spaniens war dem Papste zwar kräftige Unterstützimg gegen die Verächter des
Interdikts verheifsen, aber nicht geleistet worden. Der Senat, treu dem einmal ausgesprochenen Grund-
satze, das verhängte Interdikt, als ohne Ursach ausgesprochen, sei für nichtig zu erachten, tliat keinen
Schritt für seine Losspreclmng. Diese unerschütterliche Festigkeit, und die Besorgnifs, durcli eine Be-
harrlichkeit solcher Art müsse das Ansehen des römischen Stuhles imtergraben werden, vermochte endhch
Paul V. die angebotene Vermittelung Heinrichs des I\^ anzunehmen. Man schlug vor: Venedig möge
durch den Gesandten Frankreichs den Papst um Aufhebung des Interdikts angehen: dieses einige Tage
hindurcli halten, wo dann zu gleicher Zeit die päpstliche Lossprechung und die Zm-ücknahme der Er-
klärung des Senats auf die Bulle geschehen solle. Die Gefangenen sollten zur Ausantwortung an den
Papst dem Könige von Frankreich ausgeliefert, die verbannten Mönche zurückgerufen werden, endlich die
Vollstreckung der den Mönchen nacht heiligen Gesetze bis dahin aufgeschoben bleiben, wo man darüber
sich nälier verständigt haben werde.
Der Senat versprach die AusHeferung der Gefangenen an den König ^'on Frankreich aus blofser
Rücksicht für denselben, inid die Zurücknahme seiner Erklärung auf die verhängten geistlichen Rüsten,
sobald diese auch ohne sein Ansuchen als aufgehoben erklärt sein >\ürden; doch müsse diese Erklärung
nur mündlich, und durch einen Abgeordneten des Papstes in Venedig selber geschehen. Die Zin-ückbe-
rufung der Franziskaner möge einer besondern Erwägung vorbehalten bleiben, der Jesuiten halber könne
nicht unterhandelt werden; das Interdikt, da es für nichtig erklärt sey, werde auch nicht eine Stunde
befolgt, tlie der Kirchen wegen gegebenen Gesetze würden aufrecht erhallen, aber mit aller IMäfsigung in
Ausübung gebracht werden.
Nach fruchtlosen Versudien von Seiten des römischen Stuhles, günstigere Bedingungen zu erhalten,
erfolgte die Versöhnung auf die vorgeschlagene Art. Der Gesandte Frankreichs erhielt am 21. April 1607
die Gefangenen mit der Erklärung, dafs sie ilnii aus Rücksicht fiir seinen Monarchen und mit der aus-
drücklichen Verwahrung überliefert würden, dafs Venedig durcli diesen Schritt seiner Hoheitsrechte über
die Geistlichen sich keinesweges begebe. Der Cardinal Joyeuse erklärte vor dem Doge und dem versam-
melten Senat: dafs er sidi glücldich schätze, anzeigen zu können, die geistlichen Rügen seien aufgehoben,
und dafs er sich eines für die Christenheit, namenthch Italien, so glücldichen Ereignisses freue. Leonardo
DonatoCflo/io^ damals Doge, händigte dem Cardinal darauf die schrifllichc Zurücknahme der Erklärung
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des Senates ein. Sie war als eine Bekanntmachung an cUe GelstUchkelt abgefafst. Da es endUch Gelun-
gen sei, hiefs es darin, den heiligen Vater von der Ehrfucht zu überzeugen, welclie man immer -e-en
ihn bewahrt, da er den Gründen nachgegeben, die man ihm vorgelegt, und sich entscldossen habe", °die
Ursache aUer Zwstigkeiten hinwegzurämnen : so sei nunmehr der Wunsch erfüllt, welchen der Doge
und der Senat als gehorsame Söhne der Kirche ohne Aufhören gehegt hätten. WeU nun in Gemäfsheit
dessen die geistlichen Rügen zurückgenommen worden, so nehme auch der Senat seine Erkläruno- auf
dieselben zurück, um dadurch, ^^\e durch aUe seine HantUungen, zu bezeugen, dafs er dem Glauben" und
der Frömmigkeit der Väter immer treu bleiben werde.
Der Cardinal verUefs lücrauf die Versamndung, um die Messe zu halten, welcher jedoch weder
der Doge noch der Senat beiwohnten. Denn wie sie jedes Ansinnen einer förmlichen Lossprechung von
emer schon zu Anfang für nichtig erklärten Küge abgelehnt, und deshalb auch jeden schriftlichen Erlafs
darüber verbeten hatten, woUten sie auch jetzt durcJi ihre Anwesenheit nidit den Schein entstehen lassen
als legten sie einer dem Pabste von nun an erst wdeder reclitmäfsig erscheinenden Feier einen besondern
VVerth bei. Ob der Cardinal, wie behauptet %^4rd, bei dem Eintritte in die Versammlung des Senats
eme Lossprechungsforniel leise nnirmelud, das kreuz unter seinem geistlichen Gewände gemacht, bleibe
daliingestellt.
So endete (Ueser merk^^•ürdIge Handel in m ekhem Venedig neben der unerschütterhchsten Beharr-
hchkeit eine lobenswerthe IMäfsIgung an den Tag legte. Diese erscheint um so mehr der Be^vunderun«•
werth, wenn man sein Verfahren mit dem des römisclien Stuhles unti seiner Anhänger verolelclit. Es
genüge zu (Ueser Verglelchmig (Ue anfache Zusammenstellung dessen, was von der einen und^der andern
Seite geredet, geschrieben, gehandelt ^^orden. In der \ ersammhmg der Cardinäle, welcher der Papst sei-
nen Entschliils VenccUg mit den geistlichen Rügen zu belegen, eröffnete, liielt der beriilimte Baronlns
der Geschlditschreiber der römischen kirdie Ihm folgende Anrede, ein denkwürdiges Beispiel sonderbarer
Sdulftauslegung: „Zwiefach, heiligster Vater, ist das Amt Petri: zu weiden, und zu tödten. Denn der
Herr hat zu ihm gesprochen: weide meine Schafe, und vom Himmel hörte er eine Stimme: „„sdilachte
und Ifs. "• Die Sdiafe weiden heifst Sorge tragen für die gehorsamen und gläubigen Christe'n'. welche
m DemuÜi mid Frömmigkeit als Schafe und Lämmer sich beweisen. Sind aber nldit Schafe und Läm-
mer zu besorgen, sondern Urnen und andere widermUige und streltsüditlge Thiere zu behandeln, da
ist dem heiligen Petrus gehelfsen zu sddaditen, das wIU sagen, sie zu bekämpfen und nieder zu kämpfen,
damit sie vöUIg aufhören zu sein. Weil aber em solches Schladiten nicht anders gesdiehen soll, als aus
höchster Liebe, Ist Uun befohlen zu essen, was er getödtet, nämlldi ilurch diristliche Liebe es in sich
aulzunehmen, dafs wir Eins seien in Christo, ^vde der Apostel gesagt hat: „„idi einsehe euch aufgenom-
men m Jesu Christo.""' So aber ist soldies Tödten kehie Grausamkell, sondern Bai-mherzigkeit, weil
durch dasselbe gerettet wird, was auf seine Weise fortlebend wahrhaft zu Grunde ginge." — Die Gnmd-
sätze weldie der erwähnte Redner neben den Cardlnälen Bellarmin und Colonna zur Reditfertlgung der
Schritte des Papstes vertlieidigte, lauteten also: „Die wdtlldic Madit der Fürsten ist der geistlichen des
Papstes unterworfen; denn dieses folgt unmittelbar aus derselben, da sie sonst sich nicht erhalten könnt..
Der Papst daher ist Oberherr und Richter der Fürsten; er kann auch ohne Schuld von ihrer Seite, wenn
das Wohl der Kirche es eriielscht, sie ihrer Herrschaft berauben, und diese fällt alsdann dem ersten an-
heim, wekher Besitz davon ergreift, ohne andern Titel als den eines Vollstreckers des päpstlichen Urtheil-
spruches. Die Völker sind des Eides der Treue in solchem Falle los und ledig, ja im Voraus losgespro-
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chen von aller Gewallili.äiigkeit inid Verriuhcrei gogpn ihre bislierlgen Tlevrn. Die Freiheit der Geistlichen
von aller bürgerlichen Verantwortung ist unbeschränkt, da sie gi'dtlichcn Rechtes ist, sie erstreckt sich
auf ihre Personen, wie ihre Güter; kein Fürst kann, auch wegen iVIajcstätsverbrechen, einen Geistlichen
zur Verantwortung ziehen. Da der Papst unfehlbar ist, so sind seine Befehle allen Gläubigen Gesetz,
auch Menn sie nicht bekannt gemacht worden. Venedig ist mit dem Interdikt belegt, daher hat kein
Sakrament mit Wirksamkeit ertlieilt werden können; alle seitdem gesdJossenen Ehen sind also nichtig,
die Frauen Beischläferinnen , die Kinder Bastarde. "
Schriften solcher Art, ja andere voU bitterer Schmähungen, hielt \'enedigs Regierung zu unterdrücken
für überflüssig; sie erschienen ihr ohne alle Gefalir, da sie ihre IMaafsregeln mit der allgemeinen Gesinnung
übereinstinmiend wufste. Mit siegender Verslandesschärfe aber trat ilir Rathgeber, Paul Sarpi, in seinen Denk-
scliriften jenen Anmaafsungen entgegen. Kirche und Staat, heifst es dort, sind vor Gott gleich wolilgefällig:
die eine soU der Menschen inneres Leben, der andere ihre äufsere Thätigkeit der ewigen Ordnimg gemäfs
lenken. Ein gewaltsamer Eingriff der einen Anstalt in die der andern eigenüiümlichen Angelegenheiten ist
daher in gleichem Maafse Acrderbhch imd sündlich. Wenn die Kirche eines sichtbaren Oberhauptes bedarf, so
ist es deshalb, dgmit dasselbe über die Gleichförmigkeit imd Reinheit der Lehre waclie , deren erster Grund
in unzweideutigen Stellen der heiligen Schrift beruht, und damit es den Bedürfnissen der Zeit gemäfs die
kirchliche Zucht aufrecht erhalte. Nur in so weit sind die Aussprüche dieses Oberhauptes untrüglich, als der
erste Gerichtshof eines wohleingerichteten Staats in allem für lurtrüglich gilt, was Auslegung mid Anwen-
dung der Gesetze betrifft. Es ist Gotteslästcnmg, zu behaupten, der Papst könne nicht irren, Sünde gegen
den heiligen Geist, seinen Ausspiüchen vor dem klaren Inhalte der Bibel imd der Stimme des Gewissens
den Vorzug zu geben. Der gute Christ hat alles zu venneiden, was die Andacht stören und Aergemifs
herbeiführen kann: einen Eingriff in seine Freiheit aber, in die ungehinderte Thätigkeit nach dem Gebote
Gottes, wie er es in jedes Menschen Ilerz geschrieben, und in seine heilige Offenbarung niedergelegt, hat
er abzuwehren. Der Herr hat keine weltliclie Macht geübt, er hat sie daher seinem Statthalter nicht
übertragen können. Der römische Stidil hat eine solche sich nacli und nach angcmaafst, indem er .sich
den Landzwingern angeschlossen, ilire Anmaafsungen durcli seine Billigung geheiligt hat. So ist die geist-
liche Herrschaft, während alles andere in dieser Welt abgenommen hat, allein gewachsen; wenn wir die
Heiligkeit ausnehmen, in der sie nicht zugenommen hat.
Den Mann, welclier so besonnen und so külm einem mächtigen Widersacher gegenüber zu reden
wagte, vor welcliem selbst die gröfsern Mächte Europas zitterten, und ihm nicht entgegenzutreten wagten,
verfolgten die Dolche gedungener Mörder bis mitten in Venedig, so sorgsam der Senat auch für seine
Sicherheit wachte. Drei gefährlidie Wunden neben fielen \'erletzungen erhielt er eines Abends bei der
Rückkehr nach seinem Kloster, doch sie kosteten ilm nicht das Leben. Heiter wie immer, aber auch
mit beifsendem Spotte, soll er damals mit Bezug auf einen der Dolche, der in seinem rechten Kinnbak-
ken haften geblieben war, gesagt haben, dafs er den Styl des römischen Hofes darin erkenne; dann aber
soU er rmmutliig geworden seyn, als man ihm berichtet, ^^^ewohl ohne Grund, dafs seine Mörder ergrif-
fen seien, wed er besorgt, sie köimten etwas bekennen, was der Welt ein Aergemifs geben imd der
Religion Schande bringen möge.
Kamjjfe und Stürme der Art, wie wir sie eben betrachtet, halfen eine geistige Kraft im Innern
Venedigs erhalten, eine Regsamkeit fördern, in welcher edle Blüten des Geistes allein sich entfalten und
gedeihen können. Auch in diesem Zeitalter des beginnenden Verfalls fehlte es Venedig nicht an Männern,
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die aus wahrhaft frommer Begeisterung für das Vaterland ilir Lehen für sein Heil dahin gaben. Lesen
vir nicht ohne Erhebimg, dafs Bragadino, während er unter den iMartern der Feinde sehies Glaubens
für sein ^ aterland litt, mit \\ orten der heiligen Schrift im 3Iunde den Geist aufgegeben habe: so lulden
%vir uns ergriffen diu-ch die Glut, mit der Sarjji's letzte Worte in seiner Todesstunde, nach dem Gebete
für sein seeliges Hinübergehen, den ^^lmscIl für evige Dauer seines geliebten Vaterlandes aussprachen.
Auf diese fromme, ja wr dürfen sagen lieihge ^^e^ehrlmg des Vaterlandes, sehen wir alle eigentliümUchen
Einriclitungen ^^enedigs unverkennbar gegründet, und lernen in ilir erst deren wahrhafte Bedeutung finden.
Rlochte auch die Ahgesclilossenheit der meerumgebenen Stadt, die sinnliche Erregbarkeit des Südens,
der mehr als anderswo noch in Venedig zusammenströmende Reichthum, mächtige Reizungen zu Schwel-
gerei und Ausschweifung gewähren: so tritt doch überall das Streben uns entgegen, EinfaclJieit , Ernst,
Rläfsigkeit, in dem Leben der Einzelnen zu erhalten. Strenge Gesetze waren gegeben, der Ueppigkeit
Einhalt zu thmi, wo durch Verkehr mit Fremden sie etwa eingeschhclien sein konnte; mit würdigem
Beispiele gingen die Häupter dem Volke vor. Alte vaterländische Gebräuche wurden um so helhger ge-
halten, bis auf die einfaclic herkömmhche Tracht, da im übrigen Italien alles der französischen und spa-
nischen Sitte auch in der Kleidung zu luddigeu begann, imd das mehr als tausendjälirige Venedig aucli
hierin unwandelbar und miangetastet neben den zu seiner Seite untergegangenen und mngebildeten Staa-
ten zu erscheinen trachtete. Kein Gesetz schränkte den Glanz der Erscheinimg des Staatsoberhauptes
ein. Ihm war nicht etwa vermöge seiner ^^ ürde die vollziehende Gewalt übertragen, oder irgend eine
besondere ausgezeichnete IMacht verliehen; es sollte ^ielmehr nur den Glanz, die Hoheit, die Herrlichkeit
des Staates sichtbar mid äufserlich darstellen. Dafs diese in dem W ürdigsten und Verdientesten kund
werden möge, war die Pflicht der ^^ähler: und so sehen wir zu jener Zeit eine Reihe mannigfach aus-
gezeiclmeter Fürsten auf einander folgen: den hochherzigen !\Iocenigo, den Seelielden Venier, den gelehr-
ten da Ponte, den frommen Cicogna, die staatsklugen Grimani mid Danato. Die feierhche Pracht aber,
die den Fürsten umgab, die Verehrung welche ihm er\%iesen wurde, galt nicht seiner Person, sondern
dem Bilde des Vaterlandes, das er darstellte: ja die Gescliichte giebt ims ein furchtbares Beispiel strenger,
an jener geübten Gerechtigkeit in IMarino Falieri, der sich gegen das \'alerland vergangen hatte. Vielfach
war der Fürst beschränkt, ja, die Trennung seiner \\ürde und seiner Person ausgesprochen. Ohne Zu-
ziehung des Senats konnte er In öffenthchen Angelegenlieiten nlclits vornehmen, ohne dessen Erlaubnifs
durfte er Venedig nicht verlassen. Münzen wurden mit seinem Namen, niclit mit seinem Bildnisse ge-
prägt; sein \Vappenscliild durfte er — den Pallast ausgenonmien — nirgend mit der herzoglichen Krone
schmücken. \Var er gewählt, so wurde er In die Kirche des heiligen IMarcus gefülirt, bestieg dort die
marmorne Bühne zur Rechten des Chors, empfing die Zustimmung und die Huldigung des Volks. \^ enn
er sodann der IMesse beigewohnt, legte er den Eid auf die ^ erfassung ab, empfing das Banner des heili-
gen 3Iarcus, und wurde nunmehr mit dem herzoglichen Gewände bekleidet. So trugen die Arsenaloten
ihn im Triumphe auf dem ftlarcusplatze umher, wobei er die ersten unter seinem Namen geprägten
IMünzen aaswavf. Im Pallaste empfing ihn der grofse Rath; aus den Händen des jüngsten Mltgheds des-
selben erJiielt er die herzogliche Krone. War er gestorben, so wurde er drei Tage lang im herzoglichen
Schmucke auf einer dazu errichteten Bülmc im Pallaste ausgestellt, von Edlen aus dem grofsen Rathe,
in Scharlach gekleidet, fort^välirend bewacht. Am Tage der Bestattung ging ein feierlicher Zug der sechs
grofsen geisthchen Brüderschaften seiner Bahre voran, sein Wappenschild, dem Todten zugewendet, wurde
ihr vorgetragen; seine Dienerschaft, sodann die Senatoren, zu ihrer Rechten die vornehmsten Leidtragen-
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flpii mit verhüllten Häuptern folgten unter dem Geläute aller Glocken. War die Bahre vor der Haupt-
pfortc der 8t. Marcuskirchc angelangt, so ^vurdc sie, ^^'ie zum Abschiede von ihr, neunmal emporgehoben.
In der Kirche der Heihgen Johannes und Paulus wurde Uim die Leichenrede und das Todtenamt gelial-
ten, der Leichnam sodann den Anordnungen seines Testaments oder seiner Verwandten gemäfs beerdigt,
sein Wappenschild an der Brustwehr des obern Gangs um das Gewölbe in der St. Marcuskirche neben
deni seines Vorgängers aufgehängt. Drei Lujuisitoren prüften nach geschehener Bestattung, ob der Ver-
storbene dem eidlichen Versprechen bei seiner Einsetzung nachgekommen sey, und nicht selten haben
sie seine Verwandten wegen Genugthuung in Ansprucl» genouunen. Fünf Correktoren hatten bis zur
Besetzung des Stuhles zu untersuchen, vas an den bisherigen \'orrechten und Versprechungen des Doge
etwa zu ändern sey.
An den grofsen Kirclienfesten , und anderen für Venedig eigenthümlich festlichen Gedenktagen, be-
suchte der Doge im feierUchen Zuge tlie Kirche des heiligen Marcus, oder andere bestimmte Kirchen
der Stadt. Ein langer Mantel von Goldstoff mit einem grofsen Kragen von Ilenuehn über Brust und
Schultern bekleidete Lim alsdann, auf dem Haupte trug er einen feinen weifsen Scldeier, darüber die gol-
dene heraogUchc Krone CcornoJ einer phrygischcn IMütze ähnlich, mit ehiem Kranze von zwölf verscliie-
denen Edelsteinen, nicht ohne sinnbildliche Bedeutung, geschmückt. Man trug Uim acht Fälmlein an gol-
denen Stäben voran, je zwei weifs, rotli, blau und \TloIett, Friede, Krieg, Bündnifs, Stillstand bezeichnend;
je nachdem der Staat in der einen oder der andern dieser fragen sich befand, ^vTirde die bezeichnende
Fajbe vorangetragen. Den Fahnen folgten sechs silberne Drommeten; eine Meifse grofse Wachskerze
von einem Geistlichen in priesterlichem Gewände getragen, die Oberherrschaft über die Ivirche des heihgen
Marcus andeutend; ein kurzes Schwert und goldene Sporen, ihn als Ritter zu bezeichnen: ein goldner
Sessel mit einem Kissen von Goldstoff, zur Erinnerung, dafs Papst Alexander UL einst den Dogen Ziani
o-ehelfsen mit dem Kaiser Friedrich l. an seiner Seite niedei-zusitzen , und zum Zeichen, dafs er wertli
sei neben den ersten Fürsten der Christeuheit seinen Platz einzunehmen. Ueber seinem ILiupte trug
man einen Scliinii, als Zeichen seiner hohen Würde, und zum Andenken daran, dafs der erwähnte Papst,
als ihm und dem Kaiser, da sie in Ancona mit dem Dogen gelandet Maren, zum Schulz gegen (he bren-
nende Sonne Schirme gereicht worden, einen dritten dem Doge zu reichen befohlen, weil — wie uns
Dandolo erzählt — er ihn, den Papst, aus der Hitze der Bedrängnifs gerettet, ihn in den kiJJenden
Schatten des Friedens geleitet habe '). So, im Triumphzuge, wie es die Venediger nannten, ging der
Fürst, die Häupter des Staates in langen Scliarlachge wanden zu seiner Seite nach der Kirche, in welcher
dem Herkommen gemäfs der festhclie Tag zu begehen war. Solcher Gedenktage, in St. IMarcus aufser
den grofsen Kirchenfesten zu feiern, kommen um die letzte Hälfte des sechzehnten bis nach den zwölf
ersten Jaln-en des siebzehnten Jahrhuiulerts drei vor: der Taa; des heiliiren Marcus, als Schulzhcrm der
Stadt, am 25. Aprd; der Tag der Verkündigung Maria (25. März) als der Tag der Gründung der ersten
lürche VenecUgs (St. Glacomo in Rlalto, um das Jahr 421) und mit Ihm der Stadt; der Tag des heihgen
Isidor, (16. April), an welchem (um 1.354) die ^Verschwörung des Slarino FaUerl entdeckt, und „Gerech-
tigkeit an einem grofsen Schuldigen geübt worden war." In Gemcinscliaft mit dem Patriarchen MTirde
das Fest der Hlmmelfalu-t Christi, und an ihm die feierliche Vermählung des Doge mit dem Meere be-
gangen: eine sinnblldUche Handlung, damals noch von ernster Bedeutung, da Venedig die Oberherrschaft
'J Dandolo X. C. 1. p. 3a.
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über das Adnaüsche Meer fortdauernd behauptete, und der Sieg seine Flotten im Mittelmeere stets be
gleitete. Bei der Kirclie St. Nicolo in Lido, wo man aus den Lagunen in das Meer eintritt, erwartet*
der Patnarcl, und d.e Ge.stliclüceit der Calhedrale von St. Peter in einer kostbar geschmückten Poote
den Doge; m dem Bucmtoro, seinem, mit vergoldetem Schnitzwerk und purpurnem Sammet reich ver-
ziertem PradUscliiffe begab dieser sich dort lün, die Geistlichkeit von St. Marcus und die Häupter des
Staats m sauer Begleitung. Von dem Verdecke seines Fahrzeugs besprengie der Patriarch den Doge
und s«„e ßeglcter aus emem Gefäfse nüt Weihwasser, und beide Fahrzeuge, der Bucintoro zur Rech-
ten begaben s.cli sodann zu der Einfahrt in das Meer. Hier stimmte der Patriarch die Litaneyen an
und wenn er mit den Worten geschlossen: mr.gest du o Herr gewähren, dafs cUeses Meer uns, und allen
ie darauf scluffen, f^em.dhch sei; das bitten Mir, erhöre uns; vergofs er unter dem Segen das geweihte
Wasser m das Meer, der Doge aber warf einen Ring hinein mit den Worten: zum Zeichen wahrer und
dauernder Herrschaft. Der Ursprung dieses Gebrauchs ist nirgends mit Bestimmtheit zu finden- docl.
bestand er unfelübar bereits vor der Ankunft Alexanders lU. in Venedig um 1177, welcher bei Gele-^en-
he.t desselben schon einen Streit über die Ehrenrechte des Patriarchen und des Abtes von St ISicolo
beuidegen fand; und wahrscheinlich hat er seinen Ursprung der feierlichen Einsegnung des Doge durch
den Patnarchen be. den. Auszuge in den siegreicl.en Kampf gegen die Sklavonier um das Jahr 998 zu
verdanken ). Erschemen bei dieser Feier das weltliche und geisthche Haupt Venedigs vereint, so sehen
r be. emer andern beule getrennt und auch dem Fürsten als Sehutzherrn der Kirche ge.issermafsen
«ne geisthche \^urde be.gelegt; ..e wu- denn überhaupt in .äelen Gebräuehen dieser Art, welche in
Venedig von Alters her bestan.len, eine vorwallende Neigmig zu sinnbildlichen und bedeutsamen Hand-
lungen finden. Der Vorabend des Festes der Reinigung Maria war in älterer Zeit der Einsegnung der
Ellen ^cned,scher Brä.ite durch den Patriarchen geweil.t, und M-urde ein besonders festliclier Gedekta«
durch die Ennnerung, dafs eben an ihui einst im zehnten Jahrhundert triestinische Seeräuber die J
schmückten Bräute entführt, ihre ^ erlobte sie wiederuui befreit hatten. Der folgende heilige Tac^ wurde
durcli emen feierlichen Umgang der grofsen geisthchen Brüderschaften begangen. Diese verfü^n sich
zuvorderst nach de,n herzoglichen Pallaste, wo ihnen von dem Doge der Segen ertl.eilt wurde ^)! sodann
nach der Calhedrale von St. Peter, dort den Segen des Patriarchen zu empfangen. Dafs bei dieser Ge-
legenheit der Fürst auch in seiner äufsern Erscheinung eine priesterhche \Vürde darzulegen gesuclit, ist
uns m dem Beispiele des Andreas Gritti aufgezeiclinet "), welcher an diesem Tage und den Festen der
heihgen Jungfrau seinen goldnen Talar mit einem aus SilberstofT vertauschte, wie auch die Priester der
römischen Kirche an diesen Festen Mefsgewänder von gleicliem Stoffe zu tragen pOegen.
Wir übergehen die andern feieriichen Gedenktage, wenn M-ir zuvor bemerkt haben, dafs deren drei
im seclizehnten Jahrhimdert, und von ihnen die beiden letzten zu Job. Gabriehs Zeiten den übrigen liin-
zutraten: der Tag der heihgen Marina (17. Juli) wegen Wiedererobemng Padua's zur Zeit des Bündnisses
von Cambray: der Tag der heiligen Justina (7. October) wegen des Sieges bei Lepanto; endlich der
lag der Gründung der dem Erlöser geweihten Kirche in der Giudecca, wegen des Aufhürens der Pest
von 1576. Die Oberherrscliaft des Doge über die Kirche des heiligen Marcus, welche wir bei den Prunk-
zugen desselben sinnbildlich angedeutet ftuiden, fülirt uns auf (Uese Kirche zurück, mit welcher unsere
DarsteUung begann; und ein kurzer Bericht über ihre besonderen Verhältnisse zu dem Fürsten, und die
) Fl. Corn. IX. p. 60. 60. Ecd. f'enet. (de eccl. S. Nicolai in litorej. fer^leiche: ib. XJII. p. 17. 18. de ecr/esia
patnarchali S. Petri Apostoli. >) Sansovi^io lib. XI. f. 185. ») Ib. 177 versa.
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bei ihr befindlichen, dem Manne untergebenen Anstallen, welchem diese Blätter vorzüglich gewdmet sind,
möo'e den Uebergang zu ihm, der uns bald aussei Jiefslich beschäfllgen Avird, einleiten.
Sclion bei iln'er Erbaimng wurde die, dem neuen Schutzheiligen des Staats geweihte Kirche, dem
Staatsoberhaiipte durch die Bezeichnung als seine Capelle besonders zugeeignet. So entstand neben dem
bischöflichen Sitze der Hauptstadt eine besondei-e von der bischöflichen Gerichtsbarkeit ausgenommene
Hauptkirche des Staats. Gcislliche in vcrhältnifsmäfsiger, später erst (durch Anton Venler am
17. März 1393) auf 26 bestimmter Anzahl wurden bestellt luul anständig ausgestattet, den heiligen Dienst
in ihr zu verrichten '). Den Canonikern sonst in allen Verhältnissen gleich, führten sie jedoch niclit die-
sen Titel, sondern wurden Capeliane des Doge genannt, damit jeder Anschein der Unterordnung imter
des Bischofs Gerichtsbarkeit venuieden werde. Doch mögen einzelne von ihnen spälerliin jene, ihrer
Meinung nach höhere Benennimg der Canoniker angenommen oder gefordert haben; denn vir finden in
einer Verordnung des Andreas Dandolo *) ihnen dieses ausdrücklich mvlcisagt, luid sie auf ihr Verhältnlfs
als Capeliane des Doge zurückgewiesen. Wie nötliig es gewesen, jene dem Anscheine nacli gleichgültige
Benennung zu berichtigen, zeigte sicli bald nacJdier ^). Paul Foscari, der 1367 den bischöflichen Sitz zu
St. Peter einnahm, mehr auf Erhöhung seines eignen Ansehens, als auf Eihaltung alten vaterländischen
Herkommens bedacht, trug bei dem Papste Ürban V. darauf an, auch St. IMarcus seinen Sprengel einzu-
verleiben, indem er sich dabei auf die Benennimg Canoniker berief, welche die Geisthchen jener Kirche
bisher gefülirt. Allein Ihm wurde entgegnet, dafs die Fülirimg jenes Titels auf einer blofsen Anmafsung
beruht habe, dafs jene Geisthchen und ilrr Vorsteher von je an durch das Staatsoberliaupt allein gewälilt
und eingesetzt worden, dafs sie zu seinem Haushalt gehörten. Von ehen so geringem Erfolge war ein
Versuch, den der Vikar des Patriarchen von Grado späterliin durch eine mit Strafandrohung geschärfte
Vorladung der Geisthchkeit von St. IMarcus machte, um falls derselben Gehorsam geleistet werde, iliescn
als ein Recht künftig in Anspruch nehmen zu können; denn es erfolgte eine feierhclie Verwahrung ■*)
gegen die vorausgesetzte Unterordnung, und spätere päpsthche Bullen erkennen die Unabhängigkeit der
Kirche des heihgen Marcus wiederholt und ausdrückUch an ^). Der Geisthchkeit derselben war ein Vor-
steher unter dem Namen Primicerius schon seit ihrer Erbauung durch Angelus und Justinian Parteci-
pazio vorangesteUt. Einem alten Gebrauche ") zufolge, dessen Ursprung wir nicht aufgezeichnet finden,
wurden bei Erledigung dieses Amts von den Geistliclien der Kirche fünf aus Ihrer IMltte gewählt, um
die Wahl des neuen Oberhaupts zu besorgen '). Ueher dieses Verfahren befragte man, dem Herkommen
zufolge, jedesmal den Doge, welcher es in jedem einzelnen Falle bUligte, den gewäldten Primicerius aber
durch folgende Fonnel bestätigte und einsetzte: ^) „Wir, der Schutzlierr und ^\-ahre Regierer unserer
Kirche und Kapelle des helligen Marcus bekleiden Euch mit der Würde des Primiccriats derselben, imd
allen den Rechten und Gerichtsbarkeiten, welche dem Primiceriat zustehen: so wie es unsere Vorfahren
rühmlichen Andenkens bei den andern Primicerlen gethan, welche in vergangenen Zeilen gewesen."
Aus der Hand des Doge erhielt sodann der Primicerius, Ring, Stab und Mitra, welche Innocenz IV. *)
dem Primiceriat in Jakob Behgno, dem elften dieser Würde, verliehen hatte: und wiederum empfing der
neugewählte Doge, wenn er in der St. Marcuskirche mit dem herzoglichen Gewände bekleidet worden,
') Com. de Basilica ducali S. Marc!. 24. 25. 81. 82. — iJ. 290. ») ('('«'" 17. Juli 1353. ib. 286 — 288.^ ') ji. 183.
*) fAm 20. September 1577. ib. p. 288.^ ') liulh Clemens des Achten vom 7. Dccember 1596. p. 301. ib. Ob omni
ordinarii Jurisdictionc exempta, sedl apostolicae immediate subjecta est ') (p. 179. ib.) ^ ') (p. 186.> ") (p. 189.>
») VgheUi Italia sacra T. V. col. 1330.
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vor dem Prlmicerius knieeml, aus dessen Hand das Banner des lieiligen Marcus. Seit dem Jahre 1471 ')
war durcli einen Bescidufs des grofsen Ralhs festgesetzt, dafs nur aus der Zahl der Edehi, ein aus rechl-
niäfsiger Ehe Entsprossener zu der Würde des Primiceriats gelangen köinie: und ein Beschhifs vom
11. Mai 1478 ') setzte als wahlfähiges Alter das vollendete flmf und zwanzigste Jahr fest
In der Verwaltung der dem Doge hienach als Schutzlierrn imd oherstem Rogicrer untergehenen
Kirche waren ihm die Procuratoren, und späterhin aucli die Räthe, Häupter der Vierzig, an die Seite ge-
setzt. Die Procuratoren entstanden aus den Aufsehern üher den Bau der Kirche, und als der erste un-
ter ilmen, von Justinian Partecipazio hestcUt, wird Thomas Deodat genannt. Zu ihren Verrichtungen ge-
hörte es demnächst, die Einkünfte der Kirche zu verwalten, die Gehülfeu der Piiester zu erwälden, die
Musiker zu bestellen, über den Scliatz und das Archiv zu wachen ^). Dieses, auf die Angelegenlieiten
der Kü'che anfangs beschränkte Am t, Avuchs späterhin an l^mfaiig mid /Vnsehen, so dafs es zu den höch-
sten Würden des Freistaats gerechnet v.urde, und man endlich die Dogen zumeist aus der Mitte der
Procuratoren erwäldto *). Mit dem Umfange der Obliegenheiten derselben war auch ihre Zald vermehrt
worden, um das Jalu* 1112 waren ihrer neun, von denen drei unter dem Namen Procuratoren' de
stipra auf den anfänglichen Amtskreis beschränkt blieben: drei, de cltra genannt, die \'erwaltung der
Vermächtnisse und ^ onnundschaften diesseits des Kanals, drei, d' ultra geheifsen, jenseits desselben zu
besorgen hatten. In A^elchcn Fällen der Doge die Procuratoren mid die erwähnten Räthe bei der kirch-
lichen Verwaltung ausdrücklich zu befragen liabe; in wie weit er, oder jene Erstgenannten allein etwas
zu bestimmen ermächtigt seien , findet sich in zwei Beschlüssen des grofsen Raüies aus dem sechzehnten
Jahrhundert festgesetzt. Der eine, vom 7. Jui 1536 ''), verordnet, dafs bei Neubauten, Anstellung neuer
Beamten der Kirche, oder Erhohmig der Gehalte bei'cits bestehender, ein gemeinscIiafÜicJicr ßesclüufs der
erwähnten Personen und des Doge vorangehen müsse, der bei einer Stimmenmehrheit von zwei
Drittheilcn erst in Kraft treten könne. Der andere, vom 9. Juni 1577 ") legt dem Doge das ausschliefs-
liche Recht der Wahl imd Einsetzung des Primicerius, der Capellane, Sacristane und Untersacristane bei:
wogegen den Procuratoren das Recht zugestanden wird, die untergeordneten Geistlichen, die Sänger, Or-
ganisten, und andere Kirchenbediente zu bestellen, ohne dafs der Doge die Wahl hindern könne.
Was endlich die Ordmnig des Gottesdienstes in der Kirche des heUigen Marcus betrifft, so ist die
von Einigen, namenthch Sansovino ') aufgestellte IMeinung, dafs der Byzantinisch -giiechische Ritus dort
eingeführt gewesen, den genauen Untersuchungen Foscariui's und Flaminio Corners zufolge ungegründet ^).
Jene IMeinung konnte nur durch Betrachtung des lebhaften ^"erkeh^s veranlafst worden, das von jeher
zwischen den Griechen und N'enedig bestand, und wodurch doi-t manches auch unbe^viifst ein morgenläu-
disches Gepräge erliielt: durch die grofse \ erehrung der griechischen Christen gegen die Kirdic des hei-
ligen IMarcus, vornehmlich der byzantinischen Kaiser, von denen ihr Alexius nach dem Zeugnisse der
Anna Comnena sämmtliche Amallitanische Handelsleute zu Constantinopel zinsbar machte: durch die Jüer-
aus ohne fernere Prüfung hergeleiteten, scheinbar gegründeten Folgerungen. Die Liturgie war durchaus
') BescMu/s äcs grofsen Hathes vom 14. November jenes Jahres. Com. 1. r. pag.l^Ü. ') Ib. 19(. ^) Ib. 307.308.
') Eine sichere Reihe ßnilel .s/cA erst von dem Jahre 1131 an In der Chronik des Jlarco Barbara, und Hanier Zeno
ist der erste ton welchem der Tag der Wahl, und die Zahl der Stimmen aufgezeichnet ist, ^4. Dec. 1178 mit 340
Stimmen gegen 320. Com. l. c. pag. 315. S. auch Foscarini Lib. IT. p. 173. not. 200.^ ') Ib. 239. *) Nach diesen
Beschlüsse vom 9. Juni 1577 dürjen die Procuratoren wählen: die Sotfocanonici, lilaestri e Preti di Coro, Diaconi
Suddiaconi, Zaghi (ClericiJ Cantori, Organisti ed altri Ministri. ') l'enezia. lib. IJ. fol. 39. verso. ') f''ergl, Pos-
carini lib. IL pag. 192. not. 254. Fl. Com. de Basilica Ducali S. ßlarci p- 205.
C. V. Winterfeld. Job. Gabrieli u. s. Zeitalter. 3
— 18 —
grcgorianiscli, und enthielt nichts, was nicht in der römischen l*wirche schon vor der Verbesserung des
IMissals und Breviers chuch Paul \. üblich gewesen wäre. Besondere altherkömmliche Gebräuche bei
einzelnen Festen dmftcn aucli vermöge der Bidlen jenes Papstes von den Jahren 1568 und 1570, w eiche
dem verbesserten IMissal luid Brevier voranstehen, beibehalten werden, weil dieselben (den dort ausge-
sprochenen Bedingimgen zufolge) theils schon bei Gründung der Kirche elngefolirt gewesen waren, theils
eine länger als zweihunderijährige Gewohnheit für sie angefiUirt werden konnte. Bei den grofsen allge-
gemeinen Kirclienfestcn war bis auf geringe Kleinigkeiten völhge Uebereinstimmung mit den römischen
Gebräudien vorhanden, bedeutendere Abweicliungen ') fanden sich bei den Litaneien der Jungfrau Maria
und der Heiligen; am bemerklichsten war die \^ersclüedeuheit bei den der Kirche eigenthümlichcn Festen
der IMarter des heiligen Rlarcus, der Ankmift seines Leichnams in Venedig, mid seiner Erscheinimg.
Eine alte Legende erzählt die Veranlassung dieses letzten Festes folgendermafsen. Nach dem Tode
des Peter Candianus, imd der Zerstörung der alten Kirche durch Feuer war man ungewifs, ob auch der
Leiclinam des Schulzheihgen gerettet sei, luid wo sicli derselbe befinde. Einer dunkeln Sage zufolge ')
sollte er nach seiner Uebcrkmift in eine der Säulen der jetzt zerstörten Ivirche verborgen worden sein,
um ihn vor Entwendung zu sichern: aber nirgend war an denen, welche von der Zerstörung verschont
geblieben, die mindeste Spur möglichen Eröfifnens zu entdecken. Der Ort, wo die Gebeine des Heihgen
ruhten, war immer luu- dem Doge imd dem Procurator bekannt gewesen, ^on dem einen dem Nachfol-
ger des andern mündUch übcrhefcrt worden, und beide waren als Opfer der VolkswuUi gefallen. In
Trauer imd Ungewifsheit ordnete man öffentliche Fasten, Bufsübungen und Umgänge an. Als nun diese
durch drei Tage fortgedauert hatten, und noch immer nichts ofl'enbar geworden war, man schon fürchtete,
dafs die köslUclien Ueberreste von den Flammen Acrzehrt seien, öffnete sich plötzlich am 25. Juni 976
eine der stehen gebUebenen Säulen der zerstörten Kirche: ein köstUcher Rosenduft drang aus derselben
hervor, die eiserne Truhe zeigte sich, in der die Gebeine des Heihgen verscUossen lagen. Dank
und Freudenfeste wurden nun angeordnet, jener Tag bis in die neuesten Zeiten als elu Aorzügliches Fest
gefeiert. Rlit kösthchen Teppichen \vurde die, nun besonders heilig gehaltene Säule geschmückt, grofse
Waclisfackcln ..um sie her angezündet, in feierlichem Zuge umgingen sie alle Prälaten der Venedisclien
Liscln, alle Geisthchcn der Hauptstadt, in reichem priesterlidien Schmuck; mit geweihtem Rosenwasser
wurde das \plk besprengt zum Gedächtnifs des Wunders. Die Gebeine des Heiligen legte man in der
neuerbauten Kirche au einen Ort nieder, um welchen nur der Doge, der Procurator und späterhin dessen
Genossen, so wie der Primicerius wufsten.
Dieses ist das merkwürdigste, was wir von den bcsondem kircldichen Gebräuclien bei St. Marcus
aufgezeichnet finden. Dafs man sicJi einer altern lateinischen Uebersetzung derPsahnen bedient^) welche
jedoch nur in einzelnen Ausdrücken, mcht aber im Siimc, von der in der römischen Kirche gebräuchlichen
abgewichen, zeigt Fl. Corner an einzelnen Beispielen. Eine vollständige Ordnung des Gottesdienstes liefs
zuerst Simon IMoro ■*), um 1287 Primicerius der Kirclic, zusanunentragen : alte daneben noch herkömm-
hche Gebräuche aber Matthäus Venier ^) der um 1308 ehi gleiclies Amt bekleidete, sammeln und sichten.
Einem Bescldusse des grofsen Rathes vom 26. August 1315 zufolge, versammelten sich wöchentlich ein-
mal der Doge, die Procuratoren von St. Marcus und 12 Savj, um über Zweifel in Kturgischen Angele-
genheiten sich zu berathen, und ihre Schlüsse dem grofsen Rathe zur Prüfung vorzulegen. ^)
') Fl. Corn. p. 212. /. c. Foscarini IL 173. not. 205. 206. =) Flam. Com. p. 65 — 67 znm Tlu-il nach Dandolo's
Chionik. ') Corn. p. 213. ") Ib. 205. rcrgl. Foscarini lib.II.p.lTis «'«^A ib. not. 202. '} Corn. 208. ^) Jb. 209.
— 19 —
Auf solche Welse sehen wir das Obcrliaupt Venedigs die erste kircliliehe Anstalt des Staates regieren,
eingeschränkt in einigen Nebendingen, in der Hauptsache niu-, insofern jede Neuerung allein dem grofscn
Käthe als gesetzgebendem Körper zustand. Hier, in dem prächtigsten, bedeutungsvoU geschmückten Räume
erblicken wir die Feste der Kirclie mit feierlicher, sinniger Pracht begangen, alte vaterländische Gebräuche
heiUg gehallen, das Andenken an merkwürdige Ereignisse des Vaterlandes, an grofse Thaten der Voräl-
tern jährhcli erneuet, den Glanz und die Herrlichkeit des Ganzen in einem bedeutsamen Bilde durch das
Oberhaupt dargestellt, dieses sich beugend vor der Kirche in deren erstem Diener, In welcliem es die
geistliche Würde, nicht aber Rang und Macht ehrt, da jener von ihm allein besteUt und begabt ist. Wie
unter solchen Umgebungen und ^Verhältnissen , getragen durch den Geist, der in dem Leben des Gan-
zen, wie es in einigen Zügen dargelegt worden, sich offenbarte, eine elgenthümhche Kunst aus geringen
Anfängen in einem merkwürdigen flianne crbliUit sei, ist der Gegenstand der folgenden DarsteUung.
ZWEITES HAUPTSTÜCK.
Venedigs Anstalten ßlr kirchliche Tonkunst, nnd ältere Tonmeister bis
auf Johannes Gabrieli,
Die erste Gründung des später so berühmten Sängerchors des helligen Marcus ist aller WahrscheinUch-
keit nach mit Erbauung der Kirche gleichzeitig anzunehmen, wenn ihrer aucli nicht in der Chronik
des Dandolo ■), sondern nur bei Baronius in dem Leben des HeiHgen Erwähnung gescliieht Die
grofse Verehrung, welche die Venediger ihrem neu erwählten Schutzherrn weihten, dessen Gebeine mm-
mehr eine Ruheslütte in Uirer fllilte gefunden, erweckt die \Vermullumg, dafs sie aUes aufgeboten den
heiligen Dienst seiner Kirche nicht weniger zu schmücken, als er es früher in Alexandiia gewesen ^^■ar
Dort aber hatte sclion im vierten Jahrhundert die heilige Tonkunst vorzüglich geblülit. Ein Denknial
jener Zeit, das uns der Abt Gcrberl in seiner Sammlung aller SchriflsteUer über Älusik aufbewalirt Jjat,
das sogenannte Geronllcon des Pambo, Abts zu Nilria ■) berichtet, dafs ein junger Münch, In Geschäften
seiner Brüderschaft nach Alexandria gesendet, dort, in der Kirclie des heiligen Marcus, dem Gesangxj mit
grofsem Eifer zugehört habe, von seiner Süfsigkeit entzückt worden sei. Mit allem Fleifse habe e^r sich
bemüht die gehörten Gesangsweisen zu erlernen, lun sie in seine Heimath zu verpflanzen. Damit aber
se. es üun nicht gelungen, und nicht allein die Freude jenes Gesanges habe er entbehren, sondern aucli
die harten Venveise des Abtes erdidden müssen, dafs er sich an demjenigen ergötze, das nur zum ^ er-
derben der Seele gereiche, und zur Finslernifs des Heidenthums zmückfiiJire. Der herbe Sinn welcher
jene Vorwürfe erzeugt hatte, war spälerhin wohl eben so wenig bis nach Alexandria gedrungen, als ^^^r
dem zur Zeit der Erbauung der Kirche eben frisch aufblülienden Venedig einen solchen beimessen dürfen.
') Dandolo VIIl. C. 3. P. I. >) Gerberl .cHptore, I. pag. 1 bis 4.
3*
— 20 —
Dcnnotli fiiulcn ^a ir bis zu Anfange dos vierzehnten Jalirliunderts keine Spur, dafs die Häupter des Staa-
tes, die Scliutzhcrrn der ersten Kivehc der Stadt, dem lielligen Gesänge xuid den dafür vorhandenen An-
stalten eine besondere Aufnicrksamkeil geschenkt liällen. Um jene Zeil wird Meister Ziicchetlo als Or-
ganist von St. Marcus genannt, inid als das Jahr seiner Erwiiblung 1318 angegeben; von ihm au aber
bis auf die neuesten Zeiten ist uns eine Namenrcilie von Organisten ohne Unterbrechung aufbehalten.
Sehr wahrscheinlich ist es, dafs um jene Zeit aucJi die erste Orgel in St. IMarcus errichtet, und jenes
Amt zuerst eingesetzt ^^■orden sei. Gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts ^^1lrde, wie wir gese-
hen, die Ordnung des Gottestlicnslcs in St. IMarcus zuerst bestimmter festgesetzt, alte Gebräuche gesam-
melt, geprüft und gesichtet; mit dem Anfange des folgenden aber (um 1315) eine wiederkehrende Bera-
Üiung über liturgische Angelegenheiten eingesetzt. Die Annahme, dafs durch diese neue Ordnung auch
wiederum die Aufmerksainkeit auf grofsercn Schmuck des Gottesdienstes durch heilige Tonkunst gelenkt
worden sei, erscheint hienacli Mohlbegründet. und ^^^rd durch das Zusammentreffen mit z\vei liinlänglich
bewährten ThatsacJien luiterstützt ; dafs durch Rlarin Sanudo den älteren um 1312 zuerst eine \on einem
Deutschen ^'erfertigte Orgel nach \ enedig gekommen ist, imd dafs wir um 1318 zuerst einen Organisten
von St. Alarcus erv\ähnt finden. Es soU aber deshalb nicht behauptet werden, dafs man in früheren Zei-
ten weder Orgeln noch Orgelbaukimst in ^'cnedig gekannt habe. Wir müfsten den IMangel dieser Kennt-
nifs bezweifeln, sdion der ^'erhältnisse dieser Stadt zu dem Älorgenlande halber, \'on woher die ersten
Orgeln nach Europa gekonnnen sein sollen; allein ausdrückliche, ältere Berichte zeugen auch dagegen auf
das bestimmteste. Das älteste imd sidierste Zeugnifs, das ^ir darüber besitzen, ist von Eginhard in
den Jahrbüchern der Thaten LudA\igs des Frommen. Um 826, ein Jahr vor Erbauung der Kirclie des
heiligen Marcus, soll Georg, ein Priester aus Venedig zu jenem Könige gekonmien sein, und sicli gerülimt
haben, dafs er eine Orgel zu bauen ^ erstehe. Der König soll mit Thankolf seinem Capellan ('sacellarioj
ihn nacli Aaclien gesendet, ilnn alles zu Erbauung ErforderUclie gereicht, Georg aber in der Capelle de.s
Pallastes init bc■^^^lndernswel•tl^er Kunst eine Orgel errichtet haben, der Art, wie die Griechen sie Hy-
draide nennen '). Derselbe Georg soll nacli spätem Zeugnissen (des Dom Bedos de Celles) Scliülcr
gezogen haben, durch welche die Orgelbaukunst auch in Italien weiter verbreitet worden, wie er jenem
älteren Berichte zufolge unbez\^eifelt der erste ist, dem namentlich die Erriclitung einer Orgel in
Deutscldand nacligerülimt ■«ard. Zarlino's Behauptung eines noch höhern Alters der Orgeln im Venedi-
schen Gebiete ist ohne ZuA'erlässigkeit. Er beschreibt die in seinem Besitze befindliclie WintUade einer
alten, vorgeblich dem sechsten .Talnlumdert angehörigcn, in Grado gestandenen Orgel ^), imd wenn er dabei
audi anmerkt, dafs Vincenzo Colonna, damals beridimter Orgelbaumeister, ilmi diesen Thell der allen
Orgel überlassen habe, so sagi er doch nicht, auf welche Weise derselbe in dessen Hände gekommen,
noch wodurch seine Aeditheit imd sein Alter beglaubigt gewesen sei. Der dem Bemardo Giustiniani
nacherzählte Bericht, dafs die alte Stadt Grado im Jalire 580 ■\on dem Patriarchen Poppo von Aqidleja
geplündert worden sei, dafs kurze Zeit nadiher deren Hauptkirche durch Fortunat den Arianer, mid
') Vergl. EglnTiard. Annal. de geslis Liidovici pii imperatoris, ad ann. 826; desgleichen Acta Sancfor. meiisis Junii
Vol. J. p. 201 desselben Eg'mhard's Bericht de translafione et miraculis SS. Marcellini et Petri, am Schlüsse des ach~
ten Capitels. Auch zu Anfange des siebenten Capilels (ib. pag. 199^ wird jenes Georg gedacht. Eginhard kannte ihn
persönlich: Georg erhielt durch ihn die Reliquien der Heiligen Marcellinus und Petrus^ und übersandte ihm später einen
Bericht über die durch dieselben gewirkten Vunder. Dieser ist der erwähnten Erzählung zu Grande gelegt. Eginhard
nennt den Georg: Georgius presbyter et rector jnonasterii S. Salvii marfyris quod in pago Fanomartensi ^ in vico l^a~
lentianas appellaio, in ripa Scaldis Jlucii situm est. ') Suppl, inusicali l. f'JIJ. cap. 3. p. 291>
— 21 —
Lupo, Herzog von Friaul, ein äliiillches Scliicksal cvlillcii habe, kann weder jenen Mangel ersetzen, noch
das Alter des erwälinten Denkmals niit Sicherheit bestimmen. Zarlino hat aber auch seinen Gewährs-
mann nicht genauer geprüft; denn Giustiniani erziililt keinesweges, dafs jene Plünderung (deren Gegen-
stand, ■wie wir zu glauben veranlafst M'crden, auch die gedachte Orgel gewesen sein soll) im Jahre 580
statt gehabt habe '). Melmehr ist jenes Jahr als das der Gründung des Patriarchats zu Grado angegeben,
die Plünderung durcli Pepo oder Poppo, Patriarchen von Aquileja, aber in das eilfte Jahrhundert gesetzt,
womit aucli des Andreas Dandolo und des Jüngern IMarin Sanuto Zeugnisse übereinstimmen ; in eine Zei-
also, wo es nicht auffallend sein kann, eine Orgel in einer Kirche vorzufinden. Seit dem erwälmteu
Zeugnisse des Eginhard nun bis zu deni später anzuführenden des Sanso\'ino mangelt es uns an ßericlit
ten über Orgeln in den Kirclien Venedigs, und deren Vervollkommnung in Itahen überhaupt; jenem Flo-
rentiner aber, dem ^ enedig zweites Vaterland geworden war, der von dieser Stadt nicht anders als mit
^ erehrung imd Bewunderimg redet, und keine Gelegenlieit vorübergehen läfst. wo er etwas zu ihrem
Rulune Gereichendes erzälden kann, ist lun defswillcn so eher zu glauben, wenn er bericlitet, dafs aus
Deutscl Jand, woliin von Venedig aus, nächst dem Morgeidande, die Orgelbaukunst zuerst gekommen war,
das erste nacli gröfserem Rlaafsstabe errichtete, und verbesserte Instrument dieser Art mederum daliin
zurückgelangt sei. HIezu kömmt, dafs in Deutschland die Orgelbaukunst seit dem ersten Bekanntwerden
mit Eifer geübt worden war: dafs man daselbst in mehreren Ilauptkirchen , wie zu IMagdeburg in der
St. Jakobskirdie , zu Halberstadt, zu Erfurt in der Pauhnerkirche , bereits im eilften Jahrhunderte Orgeln
besafs, und es um so w ahrscheinhclier wird, dafs verbesserte Werke dieser Art von Deutschland nach
Italien verpflanzt seien, nicht aber dort durch Eingeborne eine ^ ervollkommimng statt gefunden habe, als
der römisclie Stidd die Orgcll)aukunst durch seine beharrlidie Ausschliefsung der Orgel, so wie jeden
') f^ergl. Bern. Justin, de origine tirliis 1'eneliarum. L. VJl. Elias ex Aquileiensi episcopo Gradensis patriarcha renun-
tiatus est. .Agebatur autem anniis Domini yiiiiigentesinius octogcsimi/s aiit circifei: Es ist darauf von den Reliquien
der Heiligen llermagoras und Forfunutus die Rede, von denen es weiterhin hei/st.- Ea corpora usque ad annuni domini
M. apud Gradiim summa veneratione sunt habita: periclitata verso Hotonis ducis tempore et Ursonis ejus fratris
pafriarchae Gradensis. Kam cum ambu per seditionem civilem in Histriam coneessissent : Pepo, jiquileiensis patriarcha,
gente Germanus , acerrimus l'enetorum hostis , an-epta orcasione , armis Uenrici imperatoris per dolum ins;diis positis,
iacautos Gradenses, urbem ten^plumque et ecclesiam invadit. Diripuere preciosissima quaeque et thesanros omnes ecclesiae.
Es geschähe hienach die Beraubung zur Zeit des Patriarehen Urso und des Herzogs Otto CUrseolusJ , von denen
der letzte um 1009 COandolo IX, 2. im Eingänge) den herzoglichen Stuhl bestieg, der andre etiva 9 Jahr später Pa-
triarch wurde (Ib. Pars. 6.J. Die Bemühungen des Poppo, Patriarchen von Aquileja, sich die Kirche zu Grado zu
unterwerfen, erfolgten um 1023 Cpars 9. 10. loco cit.J, die rerwüstung zur Zeit wo Herzog und Patriarch in Jstria
sich im Exil befanden ("11. l. c), wie auch Bernardo Giustiniaa erzählt, welcher wegen des M'iederßndens der Körper
des Hermagoras und Fortunat späterhin selber auf Dandolo Bezug nimmt, fi^- 15. ist bei Dandolo dasselbe ersähltj.
Eine Beraubung der Hauptkirche zu Grado (auro, vestibus et ornamentisj und der „eccles. baptismales Isiriae et xeno-
dochia quae huic ecclesiae subjecta erant " durch den Arianer Fortunat geschähe um 630 nach dem Tode des Patriar-
chen Cyprian; (Dandolo /"/., 6. p. 13.J durch Lupo von Friaul aber (zur Zeit des Grinioald, Königs der Langobarden
fzuHsehen den Jahren 662 — 73/ etwa dreifsig Jahre später.J Hievon erzählt Just. L. VIJI. Lupus du.c Foroiulia-
nus uinato genti in J'enetos odio diripere et ipse Gradensem ecclesiam instituif: navibus cumpluribus coactis militibusque
completis Gradum annavigat. Gradenses incauti et qiti nihil tale metuerent, facile opprimuntur. Jlle basilieam quae
quotidie magis Jlorere ineipiebat, spoliat diripitquc.
Eine spätere Beraubung geschähe nach Dandolo (IX. '. p. \J durch den erwähnten Poppo um 1044 unter Dome-
nico Contarini. Marin Sanudo erzählt ohne genauere Zeitangabe, daß Fortunat Patriarch von Aquileja die Kirche zu
Irrado beraubt habe. Die spätere Beraubung durch Poppo (wo sie auch verbrannt , nachher aber wieder aufgebaut
wordenj setzt er unter die Regierung des Domenico Fla&anigo , des 'iSsten Dogen 0032 — 1043^. Muratori scriplo-
res XXIL col. 409. 475.
— 22 —
Iiislniineiiles von der Kirche, niclil, begünstigte, und aucli spätere Verbesserungen der Orgeln in Italien
immer nur Deutschen zugeschrieben ^^erden. Der gedachte Sansovino nun erzählt uns bei Gelegenheit
seiner Besclireibung der Kirche des Erzengels Rafael in dem Stadttlieile Dorsoduro in Venedig, dafs in
einer daselbst befindlichen Capelle der Familie Micheli, aufser einem Bilde der Heiligen Nikolaus, Ludwig
und Johannes von einem IMalilcr Namens Piva, auch noch die Abbildung eines Instrumentes, Rigabcllo
genannt, merkwürdig sei, dessen man sich in den Kirclien vor Erfindung der Orgel bedient habe ').
Eine gleicJie Abbildung sehe man auch in der Celeslla auf dem Grabmale des Celsi. Nach dem Riga-
bello sei das Torsello aufgekommen, das man mit Stäben (inazzej gespielt habe ^). Ein Deutscher,
des (ällcrn) Geschichtsschreibers M. Sanudo Schützhng. habe es nach Venedig gebraclit. Nach dem Tor-
sello habe man die Ninfali erfunden, Instrumente, welche der Spieler um sich gegürtet, mit Tasten ver-
sehen wie die Orgeln, aber nur mit der linken Hand gespielt. Eine Abbildung davon finde sich über
einer der Pforten der Kirche der Carilä, und in den Händen der Engel auf dem BUde des Paradieses
in dem Saale dos grofson Ralhes. Endlich seien die Orgeln aufgekommen, deren man sich noch jetzt
bediene. — Jene Nachriclit scheint nur ein einziges Instrument und dessen Umgestaltung imd ^ erbesse-
rung in verschiedenen Zeiten zu betrcflen. Das sogenannle Rigabello ist zwar nidit beschrieben, noch
die Art seiner Behandlung cr\\ähnt, sein Name deutet aber auf das noch späterliin übliche Regal; ein
Pfeifenwerk (wie es Prälorius beschreibt) ^) in einem länghchten schmalen Kasten verborgen, hinten mit
zwei Blasebälgen versehen, welche durch die Hand eines Gehülfen in Bewegung gesetzt werden; auf ein
tragbares Orgelwerk also, von geringem Umfange, und in früherer Zeit, der Kindheit der Kunst gemäfs,
wohl xmvoUkommcner und dürftiger Einrichtung. Das Torsello, Nwihrscheinlich nach dessen erstem Be-
förderer, Marin Sanudo, ^\ elcher diesen Zunamen fiilirte, so benannt, gleicht der Beschreibung zufolge den
gröfsern deutschen Orgelwerken des dreizehnten und vierz,chnten JjJnhunderts, an deren Grenzen der äl-
tere Marin' Sanudo blühte. Die Tasten dieser \> erke waren von imgewöhnlichor Breite und Sdiwere,
die innere Zusammensetzung des Ganzen inibehülfiich und scli werfällig, die Behandlung erforderte grofse
Anstrengung und Körperkräflo , und mag ohne die Hülfe starker, am andern Ende in Breite und Dicke
zunehmende Stäbe CmazzeJ nicht möglich gewesen seyn. Dafs man in den Kirdien sich der Ninfali,
wie Sansovino sie beschreibt, späterhin anstatt des Torsello bedient, dürfte minder eine beglaubte That-
sache, als eine Voraussetzung des Berichterstatters sein, der jenes Instrument auf Bildern aus späteren
Zeiten sab. Sie sind wahrscheinlich mir ein Versuch in kleinerem Maafsstabe gewesen, die Leitimg des
Windes auf eine mehr einfache Art zu bewirken, die innere Euirichtung des Orgelwerks A'oUkommener zu
' ) fVelcher Art das envähnle IH^abello gewesen, ist durch eigenen Augenschein sjläterhin zu prüfen unmöglich gewor-
den: denn im Jahre 1618 hut man die Kirche des Enem^els Riifael abgetragen und von Grund aus neu erbaut.
Fl. Corner, de Vccl. Parochiali S. Raphaelis archangeli. Bccl. fen. f. p. 335. ^) Sansorin's Behauptung frenezia
Lib. VI. f. hS.J dafs von jenem Instrumente M. Sanudo den Beinamen Torsello empfangen habe ist ron Foscarini Clitl.
Veneziana lib. IV. p. 343. n. \6J durch die Zeugnisse des Marco Barbara und Andrea Dandolo viderlegt , welchen
s,ufo1ge es in Venedig schon zur 'Aeit Pipins eine Familie des Aamens Torselli gab. Wahlscheinlicher ist es daher,
wie Foscarini behauptet , dafs jener Beiname durch Erbrecht auf Marin Sanudo übergegangen gewesen , und dafs von
ihm das zuerst nach Venedig gebrachte Instrument seinen Namen erhalten habe. Gerber fA. L. I. Col. 385^ citirt für
jene Nachricht unter Angabe des Jahres 1312. Henr. Uliarton appendix ad Guilielm. Cave. hist. literar. pag. 10.
-) Vcrgl. Praetorius Organographia (Syntagm. Tum. II. Tlieil 1. cap. 45. pag. 45. pag. Tl — Ih, und die Abbildung
des Ilcgals Fig. 2. der lOten Tafel seines Theatr. instr. Wird dort der Name: Regal von opus regale, quasi dignum
rege hergeleitet: so dürfte im Latein des Mittelalters int opus „regi bellum" wohl dasselbe bezeichnen, das italienische
rigabello aber nur eine Verstümmlung dieses Namens sein.
— 23 —
machen, und höchstens mag man sich ihrer bei geistlichen Umzügen bedient haben, nicht aber in den
Kirchen, für welche sie sicli niclit eignen konnten. Und so war die nächst ihnen als spätere Erfindung
angegebene Orgel nach aUeni diesem wohl nur eine Verbesserung der Instrumente, die schon früher-
hin auf unvollkonimne A\eise bestanden hatten.
Ob die erste Orgel in St. Marcus dieselbe gewesen, welche Marin Sanudo der ältere nach ^enedi.r
gebracht, ist wegen Mangels bestimmter Nachrichten mit Ge^vifsheit nicht zu behaupten, obgleich sich
voraussetzen lafst, dafs er, gewissermaafsen der älteste Geschichtschreiber seines Vaterlandes ') auch be
dacht gewesen sein werde, dessen vornehmste Kirche mit jenem AVcrke neuer und mehr vollkommner
Art zu schmücken. Mndestens wird es der Orgel, welche man damals dort neu errichtet, zum Vorbüde
gedient haben, diese auch moIiI von dem neuangekommenen deutschen Meister erbaut worden sein. Nicht
lange nachlier, um die Mitte des vierzehnten Jalirhunderfs, finden wir auch eines Organisten als ausge-
zeichneten Künsüers gedacht. Um das Jahr 1364 unter der Regierung des Lorenzo Cdsi, als der KöL
von Cypem sich in Venedig befand, und auch der berühmte Petrarca daselbst verweUte, als die Anwe"
senheit des hohen Gastes durch prächtige Feste gefeiert wurde, soU Francesco, mit dem Beinamen der
Bhnde, em Florentiner von der Familie der Lnndini, seine aufserordentliche Kunst im Orgelspiel bewsen
haben, und dafür mit einem Lorbeerkranze belohnt worden sein. ZweifelJiaft bleibt es freihch, ob die
lim. erwiesene Ehre nicht vielmehr eine Belohnung der ilim zugleich nachgerühmten Dichtergabe gewe-
sen denn hierin weichen die Berichterstatter von einander ab, wenn auch aUe ilm als TonkiTnstler und
Dichter ndimen. Um dieselbe Zeit wird Francesco da Pesaro als Naclifolger des Meisters Zucchem
un Aitite des Organisten an der Marcuskirche genannt; doch ist uns aufser der Nachricht, dafs er diese
Stelle seit dem 10. Api-il 1.337 bis zum Jahre 1368 bekleidete, niclits über ihn aufgezeichnet, ja wir ken-
nen nicht einmal seinen Familiennamen. Um defswülen. und weil er kein Florentiner war, sind >vii-
nicJit berechtigt, ihn mit dem obengenannten für eine Person zu halten ^).
- Mt Einscldufs des genannten Francesco da Pesaro werden uns von sechs Organisten des vier-
zehn eu Jahrhunderts, den nächsten Nachfolgern des Meister ZucckeUo, die Namen u,^ die Tage ihrer
nalJ genann,; hierauf aber bescliränken siel, alle Nachrichten über dieselben, denn von ihren U^Z
umst^uiden linden wir mchts aufgezeichnet, und Werke sind uns von ihnen niclit aufbehalten. Aul
«^d ..r dergleichen von jener Zeit zu erwarten nicht berechtigt, wo die Kunst der Harmonie sieht
Arer ersten Ki.idlieit befand, und die Unbehülillchkeit der vorhandenen Orgelwerke dem kuns.Wsen
mehrstmimigen Spiele unübersteigliche Hindernisse entgegen setzen m.iTste. Was die er t^ h^S To t
Ha.idscbi.ft ^.eilt, bei der Entzifferung (wenn auch absichtslos) nachgeholfen habe, denn spätere,
Jane ,.,„. ..:: ^t;r;:.!::;::a;-':r:i ^ c 77- ^;;-" ««^ -- -- ^^>.-'^-^o,
Florentinae saec. .Y^. Toni IS Hf r, "iC — ii '^^,' '<"•&'■ ^ingelo Maria BamUni specimen literaturac
ien Preis. Jift ,ber ä^t^^L^Z i^Tr 7" 7 T^ ^''-"- '^ '^ ''" «->'<^'-""""»o- - meiner ge,rö..
— 24 —
obcnfMs 7Ave;st!mmi-c Beispiele aus einer ITanilsclnift des vierzehnten Jalirhunclcrls (1374) von dem Abte
("cvberl J.n z^veilcn Tbeilc seines Werkes de cania et muslca sacra aiil bewahrt, sind ungleich roher;
,lic ■M^clle Stimme begleitet meist nur im Wechsel von Oclaven und Quinten; von den letzten folge.,
einander wie um die Zeit der ersten rohen Anfange, bis vier unmittelbar in gleicher Bewegung; durch-
eehende' Noten finden siclx hin und wieder, obgleich selten. Jenes früliere Beispiel dagegen .e,gt schon
eine re^elmäfsigere Bewegung und Gegenbewegung beider Stimmen, und erweckt dadurch Zwe.fel an der
Genauigkeit seiner Mitthellung. Eine Verordnung des Papstes Johannes XXB. ') aus dem Anfange des
vierzehnten Jahrhunderts, welche die Verdunkelung des heiligen Gesanges verbietet, und nur gestaltet
dafs an festlichen Tagen vornehmlich, bei der Messe und andern Theilen des Gottesdienstes, hm und
wieder eine Ouarte, Quinte oder Octave auf melochsche Weise über dem einfachen Knchengesange sich
boren lasse, ohne Ihn zu entstellen, lehrt uns nur, was andere Denkmale bereits aufser Zwe^el gesetzt
haben dafs mau mehrstimmigen Gesaug damals schon kannte, allein sie glebi uns kernen Beweis für
bedeutende Fortsdultte desselben. Aber weniger auch von ihm und seiner zu üppigen Ausbildung scheint
sie Verdunkelung des Klrcheugesanges zu fürchten, als von einzelnen Sängern welche durch willkuhrhche.
unmelodische, verwirrende Auszierungen und Veränderungen Ihn entsteUten; dmen empfiehlt - Mafs.gung
Id Rücksicht auf Wolüklaug. Zarhno, der seine Behauptung: „schon Im vierzehnten Jahrhunderte
habe der mehrstimmige Gesang eine bedeutende Stufe der Bildung erreicht," auf sie gründet vermag
weder durch sie noch seine übrigen Aufülumigen uns die Ueberzeugung davon zu gewähren. Ernüm^
sich zwar des Besitzes urkundlicher Beweise : zweier, auf Pergament gut geschriebener Bucldein mit zwe.
und dreistimmigen Gesäugen. Das erste, erzählt er. enthalte die Aufsclirift mit kaufinänmscheu Zügen:
Im N-imen Gottes 1397, gebe durch den augenscheinfich neueren Einband, und die von der Anschrift
verscluedeuen Schriftzüge des Inhalts jedoch ein höheres Alter zu erkennen, so dafs jene nur den Anfang
des Besitzes eines spätem Elgenthümers zu bezeichnen sclieine. Das andere sei d.m durch Joseph
Guami den ausgezeichneten Orgaulsten zu Lucca, nachmals an St. Marcus zu Venedig (seit dem 30
October 1588) verehrt, und wahrschelnhch noch älter. Aus beiden Denkmalen hat es ihm ,edocIi nicht
.efaUen uns Proben mitzuthelleu, Ihr Alter bestimmt er nur nach Vermuthungen ; er lehrt uns, woran
tvir nicht zweifelten, dafs schon Im ^derzelmten Jahrhunderte Mehrstimmigkeit geübt worden sei, aUein
wir gewannen nicht aus eigner Anschauung die Gewifsheit, dafs die damahgen ^ ersuche x.ber che ersten
Anfale hinausliegen, und den Namen von Kunstwerken auch Im beschränktesten Sinne bereis verdienen.
Von der UnbehüUllchkeit der Oigelwerke zu Anfang des vie«elmten Jahrhunderts g.ebt schon der von
Sanso^-lno eiv.ählte Umstand hinlängliches Zeugnifs, das Torsello, welches Mann Sanudo nach ^nedig
jZdit, habe mit Stäben gespielt werden müssen. Lesen wir ferner In andern Berichten, Ms bei der
^Jofsen Breite der Tasten jene Werke höchstens den Umfang einer Doppeloctave gehabt, da^ ein r,e^
L Taste mehre, ,a bis 40 Pfeifen zugethellt gewesen, Registerzüge aber, und mit ihnen die Moghchkeit
S^r Abwechselung gänzlich gefehlt, ja, dafs erst Im folgenden Jalnhunderte bei der in der Kirche zu
StEtidlen in Braunschweig 1456 errichteten Orgel die Breite der Tasten soweit vermindert wollen sa
dl die ausgespannte Ila.ul eine Quinte zu erreichen vermocht ^): so bleibt uns ^^^^.^"^^^
von einem kunst.emäfsen , harmonischen Orgelspiele damals nicht die Rede sein können, daf. P alo
Z vZs'et::;^ auf den damaligen Orgeln sei „der schlechte Choral einfälüg gemacht worden
— „ ,. <• irr Cnn T Is wird von dieser Verordnung in der Folge ausfiUir! icher
'■) rergl. hier Zarlino SiippUmenU musjeali L. I. Cap. 3. J.s .«»« to« o
gehandelt nerden. ») rergl. Prätori,. Organographia (Synt. U. Th. 2. Cup. 6. p. 109.^
— 25 —
gegründet sei, und dafs jene Werke überhaupt nur die Absiclil gehabt, den einfachen kirchengesang zu
regfhi, zu \erstävken, ihn mit voller Ge^valt ertönen zu lassen, nicht dem kunstfertigen Meister Gelegen-
heit zu geben, aus und neben demselben eine Mannigfaltigkeit begleitender Stimmen zu entwickeln.
Den Anfans; des fünfzehnten Jahrhunderts bezeichnet eine Verordnuns: weircn des Sänscrchors
des heiligen IMarcus, am 18. Februar 1403 von seclis Ruthen des Doge JMichel Steno im Auftrage des-
selben Tuid des Rathes der Zehn, auf einen Beschhifs des grofsen Raths erlassen '). „Da es zum Ruhme
und zur Ehre unserer Herrschaft gereicht, helfst es darin, wenn unsere Kirche des heiligen IMarcus gute
Säuger besitzt, angesehen, dafs diese Kirche die erste luiserer Stadt ist, so haben die Ijutcrschriebcnen
bescldossen, acht Knaben, aus Venedig gebürtig, als Helfer anzunehmen, welche im Gesänge luitcnichtet
^\'crden sollen. INur für diesesmal soll ein Knabe aus IMontona unter sie aufgenommen werden, der ge-
genwärtig im Dienste der Kirche ist, mid trefflich singt. Den Procuratoren unserer Kirche des heiligen
RIarcus soU befohlen werden, zu Unterstützung dieser Knaben an Kleidung und andern Bcdürfiüssen,
wie es ilmcn am besten und dienlichsten scheinen ^^^^d, einem jeden von ihnen monathch einen Dukaten
in Golde zu reichen, und sie sollen darauf sehen, dafs dieselben von den Sängern der Kirche des heili-
gen RIarcus im Gesänge gründhch imterrichtet werden. Geht einer von diesen aclit Knaben ab, so sollen
die Procuratoren an seine Stelle einen andern annehmen."
Der Inhalt dieser \ erordnung fülirt inigezwungcn auf die \ oraussclzimg . dafs man damals zuerst
den mehrstimmigen Gesang und seine Ausbildung der Aufmerksamkeit wcrth geachtet habe, wenn «leich
darüber nichts ausdrücklicli in derselben ausgesprochen ist; denn nur jene Rücksicht konnte den Besitz
ausgebildcler Stimmen verschiedenen Umfangs ■\^-ünschenswerth machen. Von den Leistungen dieses neu
gebildeten Chors al)er ist ims so wenig als über die fünf Organisten, die während des fünfzehnten
Jalnhundcrts der Kirche ilienten, etwas bestimmtes berichtet. Doch sind zwei initer iluien, auf welche
sich die Nacliricht von einer merk\\a\rdigen, aus dieser Zeit hervorgegangenen Erfindung beziehen könnte,
von der Sabellicus in dem achten Buche des zehnten Abschnittes seines imter dem Titel ..Enneaden"
(1501 bei Jean Petit zu l'aris zuerst) erschienenen Werkes redet. Der eine beider Männer, Kleister Ber-
iiardiiw genannt, wurde am dritten April 1119, der andere, Bernhard Miired, sein Nachfolger, am fünf-
zehnten April 1415 zimi Organisten erwählt, in welchem Amte am zn% ei inid zwanzigsten September 1459
ihm Bartholomäus Batlislu. der letzte Organist von St. JMarcus im fünfzehnten Jahrhundert, nachfolgte,
„t'm jene Zelt" -) — erzählt Sabellicus, luid meint damit das Zeltalter Si.xtus des Vierten, dessen er
^orher gedacht hat — ..besafs Venedig durch mehre Jahre einen IMann, der ohne Zweifel allen, die
es jemals gegeben, in der Tonkunst voranzustellen ist; Bernhard, der Deutsclie genannt, mit Rücksicht
auf seinen Ursprung. iVlle musikalischen Instriunente wufste er mit Fertigkeit zu behandeln; er zuerst
gab den Stimmen der Orgel gröfscre Fülle, indem er dui-ch angehängte Seile auch die Füfse zu Mittiel-
fcrn bei dem Spiele maclite; er besafs ausgezeichnete Gelehrsamkeit in der Kunst, und eine Stimme,
die sich jeder Gesangsweise anzuschmiegen verstand. Durcli göttliche ^ orselumg war er dazu gebo-
ren, dafs er ein Solcher sei, in welchem die herrlichste Kunst ihre ganze Kraft offenbare. Einem jeden
freilieh ist nidit alles gegeben; so wird auch an ihm ebie ge^^issc Unbeständigkeit gerügt, damit jener
Spruch als ein weiser sich bewälire: es gebe keinen ausgezeichneten Geist ohne Beimischung von
Thorheit. Er war sonst von srofser Frönimi"keit imd reinem Wandel; und Ariele von denen, die unter
') Fl. Com, de Basilica Ducali S. Marci p. 244. *) Fol. 192 der gedachten Ausgabe,
C. T. AViotcrfelJ. Job. CaLrieli u. c. ZeiUlWr. -4
— 2(J —
ihm j^elenit, linI)oii in j(Mier KiiiisL oiiioii boriiliiufoii \aincn crlüiigt." E.s ist aus dieser Er/.iiliiuni; deiil-
lic'li z,u ciiliK-liiiu'ii. (laCs damals /.u \ ciicdig tlas IVdal an der Orgel crruiiden worden; der Eriinder aber
isl , wie bei den llalieiieru liäulig gescliielU, nur mit dem Taufnameii, nicht aber mit dem Geschlechts-
namen genaimt, an dessen Stelle ent^^eder, wie hier geschehen, die IJcneimung des \'aterlandes. oder ein
von ii-gend einer Thal, einer äiiCseru Zuialiigkeit, dem betriebenen (lewerbe, liergenommener Beiname
tritt, wodurch zwar l'iir die !Mil lebenden, nicht aber die Geschichte, die Person liinlänglich bezinchnet
wird, l'jben so lehlt die genauere Angabe der Zeit, in welcher die Erfindung geschehen ist; denn das
Jahr 1170, das wir bei Prätorius ') linden, ist wohl nur wlllkührlich angenommen, mit Rücksicht auf die
Erhebung 8i\tus I\^ auf den päpstlichen Stuhl, welche um 1471 erfolgte. Sabellicus mindestens hat
keine Jahreszahl, und wenn Prätorius ihn als seinen GeM .'ihrsmann nennt, so kann sein Zeugnifs nur in
so weit gellen als er mit seiner Quelle übereinstimmt, nicht aber einen neuen Beweis liefern. Dafs der
Eriinder Organist an St. Blarcus gewesen, darüber haben Avir nur Gerbers Versicherung -) ohne Angal)c
einer Quelle; dieser A'ersicherung aber sieht die ^ermulhung zur Seite, dafs man die ausgczeiclmetsten
Künstler jederzeit zum Dienste der llauptkircbe berufen haben Merde, welche sich durch das bis auf die
neuesten Zeiten beobachtete Verfahren bestätigt. Erwägen wir nun, dafs Sabellicus an der mitgctheilten
Stelle von den 3Ii(lebenden Sixtus I\'. überhaupt, nicht den Zeilgenossen seiner Regierung allein redet,
dafs er am Schlüsse seines Berichtes über die ausgezeichneten ^länner seiner Zeit hinzuiügt, dafs sie da-
mals entweder bereits einen berühmten ^i'amen erlangt gehabt, oder zu blühen angefangen hätten: so dür-
fen wir uns berecliti"t halten, die Zeit zwisclien den Jahren 1113 — 1159 für die der Erfinduna;. Bern-
hard Mured aber (dessen '\\-ahrscheinlich -Nerstümmelter Name auf deutschen T'rsprung hin-weist) als den
Erlinder anzunehmen, zumal unter den Zeitgenossen auch (Jenlile und Johann BeUin genannt werden,
von denen der eine damals in seinem ^ier imd zwanzigsten bis acht und dreifsigsten Lebensjahre stand,
der andere um vier Jahre jünger war. beide aber mindestens in den Jahren ihres beginnenden Rufes sich
befanden. IMeistcr Eernardino, lun sechs imd zwairzig Jahre älter, berührt tles Sixtus Zeltalter, da er in
dessen fünftem Lebensjahre bereits den Dienst antrat ^) zu wenig, inul steht .seinem Regierungsautritt zu
fern, um (Ue Vermuthung auf sich lenken zu können; zu geschwcigen, dafs wir keine N'eraidassung ha-
ben, ilni deutschen Urspnmgs zu halten.
Die Erihulung des Pedals, so ^vichlig fih- die Ausbildung des Orgelspiels, ja der ganzen Kunst der
Ilannonie überhaupt, wurde es insonderheit auch für die Kirche des heiligen i\Iarcus. Es leidet keinen
Zweifel, dafs man damals schon die neue Erfindung bei der voibandeneii Orgel angewendet habe; eben
so wenig, dafs die am Orte lebenden Orgelbamneister zu gröfserer \ ervollkommnung ihrer Kunst dadurch
angeregt worden. Am Schlüsse des fünfzehnten Jahrhimdcrts wird uns Bruder llrlan aus ^ enedig '^)
als vorzüglicher Orgelbaumeister genannt. Er er])aute, wahrscheinlich um das Jahr 1190. niclit allein
') Vergl. Prätorius Organograjikia Cxynt. nuif. II. Th. 3. Cup. 2. p. 92 J n-o die zuvor angeführte Stelle ritirt ist,
and ib. cap. /". p. 96 wo Sal/cllicus iibernmls citirt wird f\ membro partis primae primi tomi c. 10; ein Citat das
aufzufinden mir unmiiglich genesen, da eine Abtheilung der angegebenen Art in Sabellicus Werken sieh nicht J'nidcl]
Wolf Caspar Printz f Historische lieschreibung der edlen Sing, und Kling-Kunst §. 29 Cap. X.J hat das Jahr ] I7ü
unter gleichmäfsiger Berufung auf Sabellicus, und daher mit nicht griifserem Hechte als Prätorius. ^) Sie liegt in
der Angabe dafs er im Dienste eines Herzogs von l'enedig geicesen. JV. Lc.vikon I. col. 367. ') Siartus II'. u-ar
lilA geboren. Vergl. Ghilini teatro d'uomini lettcrati II. 93. *) ,S". Sansorino I'enezia lib. V. fol. 75; bei lieschrei-
bung der Kirche S. Cassano (früher Santa CeciliaJ im Stadtheile Santa Croce. E l'organo fu di mnno di Frate l'r-
bano il quäle si dice da' musici che non hebbe aleun pari in compor cosi fatti strunienti.
- 27 —
eme neue Orgel an die S.cUo der bisl.erigen ä!.e™ in Sl. Marcus, sondern aneh eine .weile ihr o,o,n.
ui.er. cbe zwar beule „a^t „.ein- vorbanden sind, aber n.it den. Nan:en ihres Irbebers be.elbne,
Aas dem Arcb.ve derselben geht hervor, dafs nm das Jahr 1490 a.n .Manzigsten Angus, Francesco
IJnro als der erste Organ.s, an der zweiten Orgel gewählt worden. Ein noeh verbanden s, wenn Je ^
d.e.elbe Jahresz.^d, von der wn- Inenaeh n.it Keeht voraussetzen dürlen. .lafs sie aueh das Jahr der ^o^
endung der Orgel anze.ge, wenn diese gleich nur die Inschrift tührte: ...lieses seltene ^Verk hat Br
Irban aus Venedig verlertigl ')." „bnc weitere Zeitangabe
Das folgende Jahr 1J.91 .sähe .lie Anstalten f.ir geistliche Tonkunst bei St. Marens ^o^endet
/;re.0.^.an.sten besafs nunmehr diese Kirche, und ein geübtes Sangerchor, das „m jene Zeit auch wohl
che Verke der dan.als bhU.enden, ansgezeiebneten nie.lerbindiscben Sangn.eister ausieführt haben Ti
b.s dalun aber scheu.t es nur unter „unmittelbarer Aufsicht des ältesten der Sänger, nicht eines besondern
Sangerme.sters gesü.nden zu haben. Als solcher wird. un. 11.01 .„ ein und d.^ifsi.sten August erwii
u> uerst eu. Pnester Fossa (äe Ca FosslsJ genannt; unsere Kenntnifs von ihn^ beseb.ä.^t «ich a
Ied,ghch auf semen Namen Denn linden wir gleich in späteren Sammlungen geis,li,.her (iesänge dergleid.en
or von denen ^.o.««,» /-Wals (rheber genannt WP-), so enthalten diese am Schlüsse dL sechzehnten
mui zu Anlange des s.ebzehntea Jahrhunderts erschienener. Samndungen do,.h .rr.fsteutheils nur \Nerke jün-
gerer oder alterer Zctgenossen der Sanunler, oder ^on Meistern der nächst ^„rhergehenden Zei,- es wird
also wal.rschemheb,dafs die in ihnen entbaltci.en Gesänge des Jo/.anncs Fossa von einen jün-en, Meisler
d.eses Namens herrühren, zumal sie aucl. sämmthch das Gepräge späterer Entsteluu,, ... .si,i; „-aoen '
Der Anfang des sechzehnten Jahrhunderts endlich war es, wo zu Venedig dem heilio-en Ge
sänge em neues L,cht aufging in einem ai.sgezeicbucten Fremden, der mit Recht als erster Gründer
der ^e„e^scl,en Schule genannt ^^ird. Um das Jahr 1527, am 12. Dccember, ^^-urde 4driau UU-
lacH als Sängerme.ster von St. Marcus erwählt. Er war aus Brügge in Flandern gebürtig, wiewohl an-
-lere .hn emen I- ranzosen nennen, veranlafst wahrscheinlich nur dnrcb den l n.sll.nd. dafs er in Paris
iruherhm der hechlswissensehaft oblag. Der eigenihiunlichen \erdienste dieses Meislers um die Vusbil
duug des he.bgen Gesanges werden wir im Folgenden gedenken, wenn wir .liese in. Zusa,„,..enhanoe
betrachten. Iher genüge die Zusannnenstellung desjenigen, was Zarlino. AVUlae.ts da.,kbarer Schüler in
•seinen ^^erke^ über Tonkunst hin und wieder zersl.eut uns von den Lebensumständen seines Meislers
orzahlt. Schon d.e \ .„rede zu seinen Institutionen gedenkt desselben mit l.ei;eisle.1em Lohe Der
5"ad,se Gott , (hcfsl es daselbst) .,dem es wohlgefällig ist. dafs seine unc.dlici.e Macht, Weisheit und
Gute von den .Menschen gepriesen und kund getlian wenle .lureh aumuli.igen vu.tl süfsen Gesang hcihger
?'■ y^ .*Z ™'"'"'»/"'-*'''''" ''--'«* /• />-« Bild des racconi hat die Ins.hrifl: Fr„„cisci Tochoni Cremon.
'.";"',; "' -^ ^''"'S'- *''"««•« '■« '''■'• Beschreibung der KireheJ. Xacfi den ,„,. Mosrhini ^e,cl,enen Xach-
ruhtea (Gu.du per la eitfh di Veue-.ia 1«15 /-„/. /. p. 'im. 2H1J n:.rdc. beide Orgeln ran J„cop„ und Carlo de'
nem au. lerona ,„, Jahre 1671 erneuert, dir ffei^emvärfig. „„rh bestehende,, aber 176ß von Gaefano Calido erbaut
ß:,ne lieseUre,b„ns; derselben, n-ie sie zu Gabrieli's Zeit beschaffen f.e,vesen . ist d,,her „ieht mehr mih^/ieh ; doch möchte
d,e von Malthes,.n in, rMo,n,„enen Capelln.eisler (cap. XXW. «j. ZIJ. von einer derselben gesehene Nachricht, da
■s,e ,l.,en Zustand nach der ersten Juneueruufc ,„„ l^ll bet riffl . auf den urspriingliehen am ersten schließen lassen.
, II, e m des t.eorg. l iclorinus Thcsau,;,s litauiaru.n. München 1593 Buch II. Ao. 12 ; des DonMed p,o„,ptuar ■
Straßburg 16-2,. Tb. III. Xo. 56. 13S ,- desselben ririda.-i„m musico - Marianum etc.
4*
28 —
Lieder er der es nicht län-or dulden konnte, dafs jene Kunst verachtet hlelbo, die seiner Verehrung dient,
und hienieden die Süfsi^keri des Gesanges der Engel uns ahnen hisset, die im Himmel des Herrn Ilerr-
hcJikeil unaufhörlich preisen, hat uns die Gnade erwiesen, dafs zu unserer Zeit Adrian WiUaert geboren
wurde, einer der seltenslcn Miiuuer, welche jemals die Tonkunst geübt haben. Er, ein neuer Pylhagoras,
durchforsclite auf das genaueslc alles, was in ihr vorkommen kann, und da er sie durch unendliche Irr-
Ümmer verdunkelt fand, begann er diese hinwegzuräumen, sie zu jener Ehre und Wurde zurückzubrin-
gen welche sie eiust bcsafs, und allem Rechte nach immer besitzen sollte. Er hat gezeigt, wie mit
Verstand und Anmuth ein jeder Gesang zu ordnen sei, und in seinen Werken davon selber ein augen-
scheinliches Beispiel gegeben." In einem spätem Werke (den Dimostraüoni armonlche etc.) ') führt
er seinen Äleister selber redend ein, und läfst ihn von seinen Lebensumständen erzählen. Alionso von
Este (so beginnt sein Werk) sei im Jahre 1562 nach Venedig gekommen, von den Häuptern des Staates
ehreuvoU empfangen worden. In seiner Gesellschaft habe sicli Francesco Viola befunden, sem tapell-
meister, und Ml^diülcr des Erzidders bei WiUaert. Er habe ilm besucht, sie seien auf dem Marcusplatze
umhergewaudelt, in die Kirche getreten, und zu ihnen habe nach Beendigung der Vesper auch Clmuho
Merulo aus Corresii^io, der Orsjanist, sich gesellt. IMit diesem vereint seien sie dann gegangen den Meister
Adrian aufzusuchen, der des Podagra wegen das Zimmer gehütet. Hier sehen wdr mm den alten Meister
selbst, der von iUfonso eben einen Besuch empfangen hat, dessen Güte, die von dim bei Herausgabe
seiner' Werke empfangene Unterstützung riUnnt, der alten Zeiten gedenkt, und endlich mit seinen Schu-
lern und einem fremden, später hinzukommenden Besucher, in ein liefsinniges Gespräch über Tonkunst
gerälh. Wir hürcn ihn dabei öfter mit einer gewissen Behaghcldvclt seiner früheren Rechtsstudien geden-
ken und alte Juiistcn citiren. Desiderlo, der am spätesten lünzugekommene IMItunterredner, fragt ihn:
llir seid in Paris gewesen, Meister Adi-ian, nach dem, was ihr gesagt habt. Idi war dort, antwortet
Adrian, und fing an zu studiren; aber Golt-hat gewoUt, dafs ich endlich Musik lehren solle. Darauf,
fährt Zarhuo fort, wendete icli mich zu Uim, und sprach: Gott, unser Herr, hat wohl gewufst, dafs die
Welt eines Mannes bedürfe, wie Dir seid, damit Dir diejenigen erleuchten möchtet, welche sich dieser so
edlen Kunst, und Ich darf wohl sagen, auch dieser >VIssenschaft erfreuen. Denn wäret Ihr nicht gewe-
sen, mir in deren Ausübung hülfreich zu sein, so würde Ich niemals, ^^ie ich es gethan, so tief in das
Innere und Einzelne der Tonkunst haben eindringen können; ich würde, A\'ie es vielen geschehen, auf
da& Urtlieil anderer mich vertasseu, mich an dasjenige gehalten haben, was ich in ihren Schrifien gefun-
den, und überzeugt gewesen sein, es verhalle sich so, wie sie berichlet. Defshalb war es wohl gethan,
dafs Ihr die Besciiäfügung mit den Gesetzen verlassen, und Euch zu der Tonkunst gesendet hahl; denn
in ihr nehmt Dir die erste Stelle ein, und Gott welfs es (wenn Dir auch nicht ohne gesundes Urtlieil
seid) ob Dir unter den Rcchtsgelehrten die dritte erhalten haben wüidet. Gott hat es nun so gewollt,
antwortet Adrian, und ich stelle mich damit zufrieden -). —
In Paris genofs Adrian, nachdem er die Rechls^dsscnscliaft aufgegeben, den Unterricht des Johan-
nes Mouton, eines Schülers von dem berühmten Josquin des Pres, und schritt bald in der Kunst bedeu-
tend vor. Hierauf scheint er sich nach seinem Vaterlande zurückgewendet zu haben, und von dort aus
nach Rom gegangen zu sein, wie aus der folgenden Ei-zählung Zarllno's zu enliielmien ist"). „Was
') Zuerst 1.371 zu l'enedlg gedrurlct , dcmiiäcJist ehendaselbst mit den Institutionen, siipplimenti mnsicali , und andern,
die Tonkunst nicht botreflaiden Werken 1589 uhermals herausgegeben. =) Rag- I. p. 3. Rag. IV. proposla I. in fine
p. 201. Rag. I. p. 13. ") Zarlino. Jnsfit. Lib, IV. C. 35. in fme.
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Umvissenheit und Bosheit der iMenschen im Vereine vermögen," (heifst es bei ihm) „sehen vär recht an
demjenigen, Avas sich mit unsenn vortreEflichcn IMeister Adrian in der päpstlichen Capelle zu Rom begab,
ab er von Flandern aus zur Zelt Leos X. nach Italien gekommen war. An den Festen unsrer lieben
Frauen pflegte man dort den Gesang: Verbum bomim et suave unter dem Namen des Josquin aufzu-
fiUiren, und liiclt ilm bis daliin für einen der schönsten Gesänge jener Zeit. Als jedoch Adrian den Sän-
gern eröffncL hatte, dafs jener Gesang, wie es auch wirklich der Fall war, von ihm gesetzt sei, vermochte
Unwissenheit, oder (besclieiden zu reden) Bosheit und Neid so viel über sie, dafs sie von da an ihn
iiiclit mehr singen mochten." — Von Rom aus, wo man sein grofses Verdienst nicht zu schätzen wufste,
scheint er an den Hof Ludwigs II., Königs von Ungarn und Bölmien, Gemahls der IMaria, Scliwcster
Kaiser Carls V., gegangen zu sein; mindestens -svird uns ■\'on Printz in seiner Beschreibung der edlen
Sing- und Kling- Kunst ') (Dresden 1690) berichtet, dafs er dort in grofsem Ansehen gestanden habe.
Da er nun seit dem Jahre 1527 bis zu seinem 1563 erfolgten Tode in Venedig gebheben ist, König
Ludwig den Thron um 151'6 (also während der Regierung Leos X.) bestieg, um 1526 aber bei iMohacz
von den Türken ersciilagen ^^an•de, so miterstützt das Zusammentreffen dieser Umstände die obige Zeit-
angabe. Venedig Miirde dem flandrischen IMeister zweites Vaterland. Er sah sich allgemein geehrt und
geliebt, unter seinen Pländen eine neue Kunstblüthe gedeihen, seine in Venedig gezogenen Schüler auf
sein Vaterland wiederum zurück ^vV/ken. LTm 1557 reiste Peter Sweliiick aus Deventer nach Venedig,
um dort Zarlinos Untenlclit zu empfangen, und bildete sich unter dessen Anleitung zu einem der kunst-
fertigsten und berülimtesten Organisten seiner Zeit, welcher wiederum Schüler aus verschiedenen Gegen-
den Deutscldands zälilte, namenthcli aus Halle den naclimals hochgefeierten Samuel Scheidt, aus Hamburg
die nicht minder hocliscachteten lleinridi Sclieidemann und Jakob Prätorius. so dafs man ihn dort nur
den hamburgischen Oiganistenmacher zu nennen pflegte '^). — Adrian arbeitete mit Bedäditliclikeit und
Fleifs seine meist künstlicli verwobenen mehrstimmigen Gesänge, und scheute nicht den Vorwurf der
Langsamkeit, weil er nur IMusterhaftes zu leisten strebte. Auch hierüber hat uns Zarlino eine Erzälilung
auOjewalirt '), die wir imi so lieber ausfülu-hch mittheilen, weil sie zugleicli dienen kann, einen Irr-
Üiuin über Zarlinos Geburtsjahr zu berichtigen. ..Ich nehme Gelegenheit, einen Vorfall zu erzälden,
schreibt Zarlino, „der sich im Jahre 151] unscrs Heils zutrug, dem ersten, wo ich nach Venedig
kam, daselbst zu wohnen. Am 5. December, am Tage des lielllgen Nikolaus, soflte für eine Brüder-
sdiaft der Tudischeerer in der Kirche des lieihgcn Joliannes des Almoseniers in Rialto, eine feierliche
Vesper gesungen werden. Noch waren nicht alle Sänger beisammen , deren es dazu bedurfte, als einem
der gegenwärtigen unter ilinen der Einfall kam, einen von ilim gesetzten, etwas breit ausgefülirten Gesang
zu lünf Stimmen zu hören, und er die anwesenden Sänger bat, ihm dazu beiiülflich zu sein. Mit vieler
Artigkeit waren sie ihm darin gefäUIg, ja sie wiederholten ihn ein zweites Mal, und stellten ihn danut
vollkommen zufrieden. Nun wandte er sich mit frölilichem Gesiditc zu Parabosco, der ebenfalls anwe-
send war, und fragte ihn: .,]\Iit Vergunst, IMeister Ilieronymus, sagl mir doch, we AieleZeit wohl würde
Meister Adrian gebraucht haben, einen solchen Gesang zu setzen. In ^^ahrileit, antwortete Parabosco,
IMeister All)crt (so liiefs der Tonsetzer) einen Gesang a on solcher Länge zu setzen, würde ilm mindestens
zwci>Ionate gekostet haben. Ist es möglich, dafs er so lange daran gearbeitet hätte, sagte der Tonsetzer
und lächelte. Wisset, vorgestern setzte idi midi nieder, und stand nicht eher auf als bis idi ihn zu
') Cap. XI. §. -1. ') Maffhrson Ehrenpforte, p. 33!. 332. Aufserdem uareii noch Melchior Schild aus Hannover
und Paul S;ifert aus Danzig SiuelincJcs Schüler. ^) Supplimenfi masicali. Lib. VIII. C. 13.
— 30 —
lüide gebracht liallc. ^Vilh^lich Meister Albert, fiel ihm Parabosco ins Wort, ich glaube es Eucli.
und CS befremtlet micli nur. dafs in so langer Zeit Ihr nicht zehn der Art zu Stande gel)racht liabl.
Wundert Euch aber nichl, dal's ich auf diese Weise zu Euch rede; denn Mcini iMcister Adrian seine
Gesänge setzt, so geschieht es mit allem Fleifs und Elfer, er richtet sehie Gedanken und sein Streben
fest auf dasjenige, was er maciil, che er es vollendet, imd öffentlich werden läfst, luid aus keinem andern
(uunde als diesem prcis't man ilm als den Ersten unserer Zeit."
Willaerts vorzüglichste Scliiiler waren der schon oft genannte Zarlino imd Cyprian de Bore, die-
ser sein unmittelbarer -Naclifolger im Amte, jener nach demselben. Buniey ') giebt als Zarlino's Geburls-
jahr 1540 an; die eben mitgethellte Erzählung jedoch widerlegt diese Annahme. Denn Zarlino redet
von jenem Vorfalle offenljar als Augenzeuge, und nennt das Jalir 1511, in welchem er sich zutrug, nicht
elwa als sein Geburlsjalir (\^ie hienach leicht zu erachten) sondern als das erste, wo er seinen Wohn-
sitz In Venedig genommen, da er nämlich in Chioggia geboren war; zu geschAveigen, dafs sclion um 1557
l'cter Swelink sein Schüler war, welche liinlängllch beglaubigte Thatsache auchi für sich allein Buruev's An-
gabe widersprechen a\ ürdc. ^Veniger als ausübender Künstler, imd fast ausschliefscnd als Mathematiker
hat Zarlino der Kunst genützt; wir werden auch seiner Bemühungen %vie der seines Meisters In dem
Folgenden gedenken. Höher als Künstler unstreitig steht Vyprlan de Rare. Seiner Grabschrifl in der
llauplkirchc zu Parma zufolge, welche 1565 als sein Todesjahr, sei»., Alter auf 49 Jahr angiebt. war er
um 1516 geboren, zu Mecheln in Brabant. Seinen vortreffliclien Gaben kam ^\illaerts gründlicher Un-
terricht sehr zu Statten; sclion fridie erwarben ihm seine allgemein bewunderten \\erke in Italien den
iNamen des Götlllchen. Auch in Deutschland waren seine Verdienste hochgeehrt, und einer der knnst-
liebendstcn Fürsten jener Zeit legte in dem Sinuc derselben einen redenden Beweis da\'on an den Tag.
AVIe jenem Zeitalter der harmonische Gesang überhaupt mehr für eine köstliche und zierliche Einfassung
heiliger Worte, uralter überlieferter Tonweisen galt, als dafs man in ihm die Entfaltung ihres Geistes
durch eine elgenthümllche, gehclnmlfsvidle Kunst geahnet hätte, so geschähe es nicht selten, dafs um gf-
.schätzte Tonwerke in diesem Sinne \\ie(K"runt zu ehren, m.in von ihnen, auch nach Erlindung der Buch-
druckerknnst, die zierlichsten und praclit\'oilstcn Abschriften verfertigen Ilcfs. und sie mit den Bildern der
Meister und andern, auf den Iiüialt des Werkes bezüglichen, in den leuclitendsten Farben ausgemalten
Darstellungen schmückte. Diese Ehre erwies Herzog Albert V. von Bayern den vier- bis achtslhumlgen
Gesäugen des Cyprlan de Rore; tlic Abschrift derselben und die der Bul'spsalmen des Orlandos I^assus.
den jener Fürst vorzüglich aclilele, werden noch jetzt aid' der Büchersanimlung zu München auf-
bewahrt. Cyprlan de Bore trat zuerst in die Dienste Herkules 11., Herzogs von Ferrara; nach dessen
um 1558 erfolgteni Tode scheint er auf N'erlangcn seines [Meisters, der die letzten Jahre seines Lebens
durch Krankheit an \\ ahruelmiung seiner Berufspfllchlcn gehindert wurde, sich nach ^ enedlg gewendet
und die Stelle seines iMilhellers Cl'ice-niaestroJ angenommen zu haben. Nach dessen Tode wurde er
am ellfleu October 156.3 von den Procuratoren zu seinem Nachtolger gewäldf, blieb jedoch mir zwei Jahre
in diesem Amte, indem er schon 1565 dem Rufe des Octavlo Farncse, zweiten Herzogs in Parma, folgte.
aber noch in demsel])eii Jahre mit Tode abging. a\o denn Zarlino (am iiinllen .(tdius erwiihlt) ihm nach-
folgte. Dafs er zuerst den ^'^ orten ihr volles Kecht bei dem Gesänge habe widerfahren lassen, rühmt
ihm Artusl -) vorzugsweise nach; dafs er aucii im Orgelspiel erfahren gewesen, zeigt ein um 1549 von
') Biirnet/ hixlort/ of miisic JII. 162. -J Impcr/ezzii'ii dctUt mifilrit moilcrnn. i'enezia IfiOO. Fol. 19 ier»o et 20.
I
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ihm und ^ViUaert zu Wno.lig erM-liionones Werk, das fj.cils freier, Üieils künstlicher U7ul strenger für die
Orgel gearbeitete Tonstücke enüiäll. Audi seiner \\erden ^\ir ferner gedenken.
Neben diesen drei Sängormeislem besafs um jene Zeit die Kirdie auch vortreffliche Organisten:
Jaquet von Berghem, Hieronymus Parabosco und Claudio Merulo von Correggio an der ersten Orgel,
Bruder Armonio und Hamdbal aus Päd „a an der zweiten. >Vir übergelien liier, M^e früher, die Namen
der weniger bedeutenden >). Die Amtsililirung Jnquefs , der am fünfzehnten Juli L541 erwählt wurde.
föUt m die letzten Lebensjahre ^Villaerts; er war der letzte Niederländer und überhaupt aufserhalb iLahen
Geborne, weldier der Kirdie tUente. Seine Benennung nadi seinem Geburtsorte Bercken bei Anlweqien.
die seinen Geschleditsnamen ungewifs läfst, hat \-eranlassung gegeben, ihn mit Jakob Waet und Ja-
kob de Wert zu verwechseln, da die von ihm gedruckten AVerke dodi aus den Jahren 1539-1.557
herrüliren ^). die jener beiden andern Kleister aber aus der letzten Hälfte des Jahrhunderts ; (1560—1.599)
auch alle unter Jaquets Namen ersdiienenen Werke offenbar das GepWige früherer Zeit tragen. Sein
Amtsgenossc bei der an.lern Orgel, Bruder Armano oder Armonio aus dem Orden der crociccineri, seit
dem sedizehulen September 1516 im Dienste, ersdieint uns neben seiner Kunstfertigkeit von einer be-
sondern, seinem Stande und Beruf nicht ganz entsprechenden Seite: als Lustspiddiditer und komischer
Schauspieler. Als solchen rühmt lim Sansovino % mid durdi Tiraboschi *) erfahren wir, dafs sein voU-
standiger Name Giovanni Armonio Marse war. Ein lateinisches Lustspid, Sieplianlum, ist von ihm zu
\enedig bei Beniard.no \ itali gedruckt, und wufste selbst dem so eklen Sabdiicus =) Beifall abzulocken.
In einem Briefe an den Aerfasser lobt er den Inhalt, die Würde der Personen, die Ge^A iditlgkeit der
Denksprüche, den iJiells allerthümlidien, theils sinnreidi gebildeten, in Anmuth dem Plaulinisdien älinli-
dicn Ausdruck. ..Ilüre," (fügt er dann hinzu,) „was du für eine grofse Thatgelhan: dem klagen ddnes Sa-
belllcus, gewohnt, nidits verdauen zu künnen, was unsere Zeit bringt, hat gleich einer neuen ausgesudi-
len Speise ein Dnvdilesen seines Amionio soldien Reiz gewährt, als sd etwas iu ihm, das die sdilum-
mcrnde Gaunieulust aufs neue erwecke. So grofse Bewunderung nun dieses Lesen mir entlockt hat, so
ausndimendes A ergnügen hat mir die Vorstdlung gewährt. Denn nicht zufrieden mit dem Namen 'des
.iutors, hast du audi Actor sdn wollen, und in (Ueser Art so aUgemeiu gefallen, dafs idi, (denn von den
.Indern zu sdiweigen, will ich nur \on mir reden) der idi dem Schauspiel nid.t aUein bdwohnte, son-
dern audi dabei den A^orsitz fiUirte, durdi deine Kunst veraulafst wurde mir vorzustellen. id> sitze, nicht
etwa in der Halle eines Klosters, sondern in des Marcdlus oder Pompejus Theater, und sdie cm Sdiau-
.spiel des Plaulus oder Cäcilius vorstdien." — \'on den musikalisdien Werken des Bruder Annonio i.st
uns nidils aufbehallen, wolil aber von denen des HIeronjTm.s Parahosco aus Piacenza, der (nadi
dem Abgang des Jaquet) um das Jahr 1551 erwählt, eine kurze Zeit noch sein Amtsgenosse Mar, und
glddve Neigung mit ihm für das Drama, wie überhaupt die Didilkunst, thdlle. Als fertiger Organist und
fruchtbarer Tonküusller wird er gerühmt; wie verständig er dnen vorlauten Sänger und Tonsefzer zu-
rechtgewiesen, haben wir in dem Vorigen gesehen. i\ldir nodi sdieint man ihn als Schauspiddichter
geachtet zu haben; weldicm seiner Talente er sdber gröfsem Werth beigelegt, können ^^ir nidit sagen,
da sdion Peter Aretin in einem freundschaftlidien Briefe an ihn sdne Doppelzüngigkeit in dieser Rücksidit
scherzhaft rügt"). Im Odober 1518. als Parabosco's Tragödie, Progne, in Venedig zuerst erschienen
'j Das roHstlindig^e f'erzelchnifs aller hl als Anhang beigefügt. ^ />'« «'" 1561 iei Gardanus m l'encdig grdruek-
ten Motetten sind eine neue Auflage. 'J l'enezia X. fol. 168 vcrso. "J Tiraloschi J'U. 1400. 'J Epistohe SaMli-
ci lil). X. "J heitere dl Pletro Arellno Lll>. V. pag. 195.
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war, schreibt ihm jener, uiiler herzllelicr Ermahimnn; forUufahren, damit er, als junger I\Iann in den Kün
sten schon so weil ^orgeschnKen, in reiferen Jalircn noch Gediegeneres, Gröfscres liefere: „Parabosco,
es ist ffe%vifs, dnfs Ihr und ßuonarotti eine gleiche Art habt, Euch selbst zu rülnnen, wenn von Eurem
HandA\erke die Rede Ist; aber mit einer so neuen und so schlauen Art von Bescheidenheit, dafs man
Euren Selbstndiin Ansprucldosigkcit taufen mufs. Giebt es da Einen, der Euch sagt, wie schön die
Progne sei, Eine Tragödie, so antwortet Iln-: Musiker bin ich, und nicht Poet. Lobt man den Gesang
der Motetten, die Du- habt ausgehen lassen, so zuckt Dir höflich die Achseln, und sprecht: Poet bin ich,
luul nicht Tonkiinstler. Gerade so maclit Ihr es darin wie IVIichel Angelo. Erhebt man ihm seine Ca-
pelle bis in den Himmel, so entschuldigt er sich mit der Versicherung er sei Bildliauer imd nicht iMahler.
Preist man seine Bildsäulen des Julian und Lorenz von Äledicis, so schüttelt er das Haupt und ruft, icli
mahle, ich mcifsele nicht. So trachtet Ihr beide mit Euren Entschuldigungen nach nichts geringerem
als göttlicher Ehre, und es ist keinem von Encli etwas anzuliaben." — Auf die Fortbildung der Kunst
mehrstimmigen Kirchengesanges hat Parabosco unmittelbar keinen bedeutenden Einflufs geübt, so Avenig
als Bruder Arnionio, und es könnte daher der ausführlichere Bericht von beiden als überflüssig erscheinen.
Allein es wird die Folge ergeben, wie sehr die damals erwachende INcIgung für das Dramatische auch
auf den Bildungsgang der heiligen Tonkunst eingewirkt habe, und es Ist bemcrkenswerth diese Neigung
bei IMännern, die Uir Beruf und ihr grofses Gesclilck jener andern Kirnst vorzugsweise hätte gewinnen
müssen, in so hohem Grade vorwallen zu sehen, dafs ein IMönch nicht verschmähte, Lnstspieldichtcr,
ja komlsclier Scliauspicler zu sein, und sein Amisgenosse, obgleicli seine Aeufserimg als bescheidene
Ausflucht gelten kann, doch Im Ernste wohl schwerlich wufsle. welche Kinist ihm mehr am Herzen hege.
Einen vorzüglicheren Platz als die ebengenanuten nehmen imtcr den Organisten von St. IMarcus
Uire Nachfolger ein, die unmittelbaren Vorgänger des Andreas Gabrieli und seines Neflen Johannes.
Claudio Merulo, zu Correggio um das Jahr 15-32 geboren, am zA\-eilen Juli 1557 nach Parabosco's Ab-
gange erwählt, lernten wir sclion früher vorläufig als iMiluntcrredner in dem Gespräche zwischen Adrian
WUlaert, ZarUno und Francesco ^ iola kennen. Er und sein nachher zu ermähnender Amisgenossc wer-
den von Vincenzo GalUel ') nebst noch [zwei andern als die gröi'sesten Organisten Ihrer Zeit gepriesen;
auch Artus! ^) und Pietro della ^ aUe rühmen den IMerulo besonders. Nach sieben und z^^'anzigjährigem
Dienste verliefs er Venedig, um sich an den Hof des Herzogs von Parma, seines angebornen Fürsten,
zu begeben. Bei Simon ^ erovio zu Koni gab er um das Jahr 159S eine Sammlung OrgelsÜickc heraus,
und Uefs denselben um 160-1 ehi zweites Buch folgen. Dieses .Talir Ist das Iclzte, In welchem wir von
Ulm hören ; aus demselben besitzen wir auch ein Blldnifs 'xon Ihm , auf dem er als Greis \on zwei und
siebzig Jahren mit kalilem, lorbeergekrönten Scheitel, langem Barte, die Brust mit einer goldnen Gnaden-
kelle gesclimückt, vorgestellt ist. So hat es Hiacynlh I\Icrnlo sein Nefl'e der von ihm fünf Jahre später
veranstalteten Ausgabe einer acht und einer zwölfstimmigen Jlesse im IlolzscJniltle beigefügt, die er
dem liebsten Freunde des Verewigten, Marcello Prato aus Parma, zueignete. Es erweckt ein günstiges
Vorurthell, üin nicht aUein von seinen Zeitgenossen, sondern auch von dem, gegen ältere Tonsetzer im
Vergleiche gegen neuere sonst mit seinem Lobe oft kargen Mattlieson gerühmt zu sehen, der In seiner
eigentliümlichen Schreibart Um „einen fleifsigen Faniastcn" nennt, „in gutem Verstände genommen, der
seine Styl- Früchte vor mehr als hundert Jahren nicht nur gedruckt, sondern in dem saubersten Kupfer-
') Vialogo della musica anlica e modema. 1581. p. 136. ») Artusi. Imperfeizioni della modema musica. fol. 67
fversoj 6S.
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slichc hinterlassen, den man nur mit Augen sehen Ivann')". Hannibul aus Pudiia, sein Aiiil.sgeuo.sse,
seit dem neun luid zwanzigsten November 1552 Narhfolger des Bruders Armonio, erliillle nach der \ er-
.slcherung seines Landsmanns Scavdeoni -) ganz Ilalieii mit seinem Lobe. Nach eben erst vollendetem
^ier und zwanzigsten Jahre \\;ihUcn ihn die Procnratoren zu der damals ausgezeichneten Ehrenslelle ei-
nes Organisten an St. Marens; er war hienacli um «las Jahr 1528 geboren, (iesclmiack imd Geläufigkeit
im Orgelspiel, Gelehrsamkeit luid Gründlichkeit in seinen mehrstimmigen Gesängen werden ilun nachge-
riilmil. Sein Znsanmienleben mit einem grofsen Kiiti.sller gleicher Arl, mit dem er auch gleichen Sinnes
gewesen sein mufs, gal) \ eranlassung dazu, dal's beide au den grol'sen kirchenrcslen und bei den felerll
chen Kirchgängen des Doge sich zugleich auf ihren Orgeln hören liefsen, ein Gebrauch, der seitdem bei-
behalten worden ist. —
Dieses ist das ^^ esenthchste , was wir von den Lebensumsländen der Vorgänger heider Gabrieli's
aufgezeichnet finden. Die Ent^ickelung des inneren Bildungsganges der kirclihchen Tonkunst zu Venedig,
den Bericht über die Einwrkung jener Meister auf denselben, behalten ^vir dem Folgenden auf, wo Bei-
des in fortgehender Darstellung erfolgen kann, ohne dafs es dann einer Unterbrechung durch dasjenige
bedarf, was die eben beendigle Erzählung vorausgenommen hat. L'm jedoch Alles, was wir über die
äufsere damalige Lage des gesannnten Musikchors des heiligen Marcus bemerkt finden ^), hier der Voll-
ständigkeit wegen noch mitzutheilen, so betrug die gesammte Ausgabe für den Kirchendienst von St. Mar-
cus um jene Zeit jährlich 12000 a enedische Ducaten. Der Sängermeister bezog ein Gehalt von 400 J)u-
calen, oder 1100 Giüden, aufser freier Wohnung, Geschenken und andern unbestimmten Einnahmen;
der ihm zur Hülfe beigegebene \ icemeisler die Hälfte. Die beiden Organisten, zwischen denen kein
N^oiTang stattgefunden zu haben scheint, erhielten ein jeder 200 Ducaten oder 550 Gulden jäln-hch; (k-
ncben hatte ein jeder von iimen nocli einen Gehülfen. Der Sänger waren nicht unter 40; auch Geiger
und Bläser waren in verhällnifsmäfslger Anzahl mit jährlicher Besoldung angestellt. Die Ausslattnng tlle-
ser Bedienungen mufs für jene Zeit uns um so reicher erscheinen , wenn Avir aus einer handschriflUchen
NacJiriclit über Kaiser Rudolfs II. Hofstaat zu Prag *) ersehen, dafs sein Capellmeister jäbrhch nur 360
Gulden bezog, daneben an Kleidcrgeldern, INeujahrsgeschenk und Hauszins nur nocJi 120 fl. an Zubufse;
der Kammerorganist eben so viel, wenn man tlie ihm daneben ertheillen Vergünstigungen in Anschlug
bringt; und dafs dennoch die kaiserliche CapcUe damals nelist der herzoglich Bairischen zu München für
die bedeutendste und am besten ausgestattete in Deutschland galt.
') Im roUliommenen Capellmeister Cap. X. §§.96. 97. ') Seardeuni: de antiquilute titbis Pufaiii: />. //. Cl. XII. de
claris musieis Patariiiis fiit JirieJ. ^) S. IJo^ltoni Ije vose notablli e maravi^/josc della eitta dt J'enczia efr. umpUate
da Ziianne Zitlio. Venczia IÖ62. Lib. II. pag. 203 — 206. Sanxuvino L. II. f. 39. iO. ') Rieger: Archiv der Cr
Schichte und SlaHslilc von liiiliinen. II, 193 «yy.
. rl'.l.l ,lol.. I.,il>i'i.'li II -. Zcilnli,
M
•ji
BRITTES HAUFTSTÜCK.
,Tohannes GahrieU; dessen IjeheiLwerliäUmssc ntid Zteit genossen.
tfohanncs Gabileli wurde zu \ enedig, Avahrschelnlicli gegen die Mitte des scchzcluilcn Jahrhunderts, ge-
boren. Sein Name deutet auf Abstammung -son einem edlen Gescldechte. Die Gabrielli, früher Cavo-
belli genannt, gehörten zu den ältesten patrizisclien Familien Venedigs; öfter finden wir ilircr gedacht
als mit hohen Ehrenämtern bekleidet, durch Geistesgaben und Gelehrsamkeit geschmückt. Andreas Ga-
brieli, früherhin Statthalter in Candia, und Zacharias Gabrieli wurden zu Anfange des seclizehnten Jahr-
Inmderts zu Procuratoren gewählt; dem letzten ei-Avarb ein patriotisches Geschenk von 7000 Ducaten an
den erschöpften Schatz jene Würde. Mit Rulim wird um die Rlitte des Jahrhunderts Trifon Gabrieli
genannt, imd Jakob sein INeffe; beide als ausgezeichnclc Astronomen, der erste als Verehrer seiner Wis-
senscliaft in so hohem Maafse '), dafs er sich aller öfTcnlhclien Aemter, aller Reichthümer cntselilagen,
seine Freude nur an seinen Büchern, in seine» Schülevu gefunden habe. Dafs Johannes Gabrieli von
ihm abstamme, ist nicht zu behaupten, wahrscheinlich aber, dafs seinen \ atcr, oder irgend einen seiner
Vorfahren, die Vermählung mit einer Person bürgerlicher Abkunft für seine Naclikommen der Vorreclitc
adhcher Geburt, \vie es Herkommen zu ^^enedig war, verlustig gemacht liabe. Beschäftigung mit den
Wissenschaften, Bekleidung öffenthcher Lehrämter, war den Edlen Venedigs vergönnt, der Handel ihnen
bald verboten, bald erlaubt, öfter sogar empfohlen; die Ausübung irgend einer Kunst aber, auch der
edelsten, untersagt, wenn sie des Erwerbes willen geschähe: alle Vorrechte edler Geburt gingen ihnen
dadurch verloren, in so hohen und verdienten Ehren man sie auch als Künstler gehalten haben A\ürde.
Finden wir nun unter den Tonküustlern venedischer Abkunft, die thclls der Kirche des heiligen
Marcus, tliells auch fremden Fürsten dienten, Namen wie IMemo, l\larln, ZlanI, Prlull, Capello, welche
an die edelsten Geschlechter, ja die berühmtesten Fürsten Venedigs, erinnern, und erwägen wir, dafs selten
einer der Edeln, auch der verarmtesle, für seine Person freiwIUig den Rechten seiner Geburt um eines
Vortlieils willen entsagen moelile; so werden wir auf die Vermnthung geführt, dafs die im Sinne des
Freistaats nicht reine Abkunft jener JMänner, wenn sie ihnen auch den Namen nicht rauben können,
docli sie Dircs Standes verlustig gemacht, und dadurch jene sonst nicht erlaubte Art des Erwerbes Ihnen
freigestellt habe. So mag es denn auch mit Johannes Gabrieli, und Andreas, seinem Oheim luid Lehrer
der Fall gewesen sein. Dieser letzte, einer der ausgezeichnetsten Tonkünstlor seiner Zeit, wuixlc lun
das Jahr 1556 am dreifsigsten September als Organist an der zweiten Orgel zu St. IMarcus erwählt, nach
dem Abgange Hannibal's des Paduaners, der dieses Amt nur \ier Jahre lang bekleidet hatte. In den
Areliiven der Kirche wird er nldit mit seinem Gescldeclitsnamen , sondern Andrea da Canareio ^) ge-
') Uoglioni pnff. 298. ') Unter diesem Namen wird er auch, neben Claudio da Correggio, t'incenzo Bel/avere und
Paolo da Caslello CGiusloJ zu den gröj'sesten Organisten gezählt von Garzoni, Piazza universale cte. Dise. XIII.
pag. 440 der 1599 zu l'eacdig bei Robert Meictti crschieneen Aasgabe.
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iiannt. nach dem Stadlllicile in welchem er gehören war. Avic es um jene Zeit häufig geschähe, üreifsis,
JaJire lang diente er der Kirche, die heiden letzten als Anrtsgenosse seines Neffen und Schülers, die frü-
heren in Gemeinschaft mit Parahosco und Claudio IMerulo; \\illaert und dessen Schüler C's'^irian und
Zarlino standen führend seiner Amtsführung dem Chore der Sänger vor. Die gröfscstcn Tonmeister
der älteren Schule trafen um jene Zeit in \ cnedig /Aisammcn, unter Umständen, wie sie für die Ausbil-
hildung jeder Kunst nicht förderlicher sein konnten, zumal einer erst aufljlühenden, ■wie die Kunst voll-
stimmigen Gesanges, welche ausgezeichnete fremde Meister zuerst dahin verpflanzt hatten. Zu jenen
günstigen \'erhältn!ssen mufs, wie Venedigs Lage als Ilandelsstaat üherhaupt. so insbesondere der lebhafte
\ erkehr mit Deutschland gerechnet werden, namentlich den Reichsstädten Augsburg imd Kürnberg. Die
zu Anfange des sechzehnten Jahrhunderts eingetretenen, für Venedigs Handel ungünstigen Ereignisse hat-
ten auf die \ erbindiuig mit Deutschland durch den Lauf desselben noch keinen bedeutenden Einflufs;
ja. nachdem durch die Kirchenverbesserung imd die seit Carl dem Fünften unterbhebenen Römerzüge der
Zusammenhanir mit Rom tlieils imt erbrochen, tlieils irelöst worden war, schien Venedia; vorzuiLSweisc der
Vereinigungspunkt für beide Völker geworden zu sein, weil hier vor allem die Evangelischen eine gast-
freie imd freundliclie Aufnahme erfuhren, dem Handel .iber alle Förderung zu Theil wurde. Augsburg
sandte die Söhne seiner reichen Patricler nach ^ enedig als der hohen Schule für llandelskunde mid feine
Sitte; iNürnbers; erbat in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die \ erordnungeu \ enedigs über vormund-
schaflliche ^'er^^altung, und erlüelt sie; ohne LTnterbrechung blieb der freundliche Verkehr dieser drei
Städte. Schon seit dem Anfange des Jahrhunderts, um 1506, hatten die Deutschen am grofsen Kanäle,
in der JNähc der Brücke von Rialto, ein geräumiges, prächtiges Kaufbaus für sich erbaut '), es mit den
Rudern der grofsen venedischen !\leister Giorgionc und Tizian gescluuückt. So erhielten sie ge\\-isser-
maafsen das Bürgerrecht \enedigs, imd indem sie, was Kunst und Gewerbfleifs in ihrem \ aterlande ge-
schaffen, zum Austausche gegen Gleiches und gegen den Ge\\inn des venediselien Seehandels dorthin
.scJiafl'ten , empfingen und gaben sie zugleich mannigfache geistige Anregung, wodurch ein ^Velteifer ge-
w-eckt A\urde, dessen Aeufserunsen Mir in dem Fokenden noch näher belrachlen werden. Ein ähnhcher
aber zeigte sich auch im Iimern, jede Regung eigenthümlichen Lebens mehr zu er^ ecken luul zu schärfen.
\ on jeher Mar. Mie in Italien überhaupt, so auch in Venedig der Trieb zu \ erbrüderungen für gemein-
same Zwecke sehr lebhaft gewesen. Der Handwerksinnungen nicht zu gedenken, Mciche dort iint«r
besonderen \ erhältnissen bestanden, gab es ^'ereIne mancherlei Art, in mannigfachem Sinne. Dahhi ge-
hörten die schon früher im Vorbcigelien erwähnten, sechs grofsen Brüderschaften: Verbindungen von
Einwohnern jeden Standes, zu gemeinschaftlichen Andachtsübungen, zu ^^ erken der Bannherzigkeit und
der Liebe; reich durch die Beiträge vermiigender IMitglieder. durcii fromme Zuwendungen, thätig in Er-
füllung ilirer Hauptzwecke, und daneben in Förderung der Kunst jeder Art, durch AuffüJirimg prächtiger
Versammlungsörter, Schiden genannt, durch Ausschmückimg derselben mit den Bildern der gröfsesten
Meister, durch feierlichen Gottesdienst in ihren CapcUen, bei dem die heilige Tonkunst nicht fehlen
durfte. Die beiden ältesten tlieser Brüderschaften ") bestanden bereits seit der lelzlen Hälfte des dreizehn-
ten Jahrhunderts; unter Urnen war die des heiligen Johannes des Evangelisten im sechzehnten Jahrhun-
derte so angesehen, dafs selbst der stolze Philipp R.. der Infant Don Ferdinand, und Don Juan von Oester-
reich seit 1571 ilir als Mitglieder beitraten; die vier jungem entstanden theils seit dem fünfzehnten, tlieils
') Mosrhini Gitklii II. 545 — 547. ^) Sansoiino f'eiiezia, f'II. 99. -syi?.
5'
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st'il (loni folscndoii .»i.lnlniiulorle. in >\.-1(1i.mii iiIIo au yViisiloliiuing und Ansehen gewannen. Daneben
landen wiederum innerliall. jedeu (Jeweriv.-.s eii-ere. IVonune Veil)iuduua;en -slalh, bei grofsen kircblielien
^eranlassu^-en Iralen diese alle liei-voi-, ein maunigfallig, ei-eulliüudieli aiegllederlcs Leben ersehien bei
jeder gollesdieusUieben Feier, ein grofsarliges Gepräge crbiell sie durcb die Verbindung mit dem öffent-
liebcn Leben, dureli giolsc Erinnerungen der Vorteil. Damit aber aueU bei aufseiordenllielicn Gelegen
heilen, bei erwimsdileu Ereignissen, es an soleheu nlelil fehle, dureh welehe die allgen\eiue Freude auf
würdige Weise üffentlieh kund werde, so pflegleu bei \ eraulassungen soleher Art die JüugUnge unter den
Edlen Venedigs sich zu Brüderschaften zu verbinden, einen gemeinschaflliehen Denkspruch, einen Na-
men lur ihren Verein zu wählen '). Als Haupt desselben ernannten sie Irgend einen angesehenen Bürger,
auch wohl einen auswärtigen Fürsten, scUlen Schreiber ein und andre Aemter Behufs Ihrer Inneren \ er-
wallung, auch Capellane für den gemeinsamen (;ottesdiensl, hörten andächtig bei ihrem Zusammeulreten eine
hellige Geislmesse, und gelobten sich dann feiertich die gegenseitige Fcsthaltung der sich selber gegebenen
Verfassung. Drei und vierzig solcher ^'erbindungen hatten nach Sansovino bis lun 1562 bestanden, unter
den wunderhchen Namen der Pfauen, der Entzündeten, Königlichen, Unendlichen u. s. w. mit dem Zwecke,
In pracht- und geschmackvollen Spielen bei festlichen Gelegenheiten zu wetteifern, und die erforder-
liche Ordnung bei denselben zu erhalten. Die nach allem diesen In jeder Lebensäufserung hervortre-
tende Rlchtunn auf das Oeffenlliche, Gemeinsame, Hebe auch der damals erst eigenthümlleh aufblü-
henden Tonkunst jenes besondere Gepräge, wie des Grofsen und des Kulmen, so des Ernstes imd helli-
o^er Kidic das wir an den \Verken derselben noch bewundern, und das allezeit nur unter ähnli-
chen Umständen errelclit werden wird. Das nämlich unterscheidet die Tonkunst von den anderen
Künsten, dafs bei ihr nicht, wie bei jenen, mit dem \\erke der Hände, der blofsen Aufzeichnung, auch
das Kunstwerk vollendet dasteht; dafs, wenn es gröfserer Art, unil eben In dem SImie geschaffen Ist,
in welchem tUe Tonkunst in der Zell, von der wir reden, sich fortbildete, es ein Zusammenwirken
mehrer Kräfte erfordert, jedesmal, Avenn es für die Anschauung hingestellt werden soll. So war denn
die Ausübung jener Kunst ihrem Innern >\esen nach gesellig, und wo ihr neu erwachendes Leben Irgend
einer Anstalt, zumahl der Kirche, aus der sie hervorgegangen war, slcli anschllefsen sollte, die JNolli-
wendlgkeit einer ^ erbrüdcrung schon Im Voraus gegeben, damit der IMelster die Kräfte linde, durch
die sein Werk in das Leben treten könne. AN er aber auch sonst au demselben sich erfreuen moclile,
wollte In jener Zelt des frischen Aufblühens es nicht etwa so gcniefsen, wie gegenwärtig der Forscher
im einsamen Gemaehe an der N^erknüpfung der einzelnen Stinnnen in\ Gesamiutüberbllcke sich sIjU er-
götzt; das durstige Dhr moIUc die neuen Klänge unmittelbar In sich trinken, nicht für den Ueberbhek
zusammengestellt, für die Ausführung Aorbereilet, mufste das Werk dargeboten werden, we wir denn
finden, dafs alle zu jener Zeit öffcuthch gewordenen Tonwerke In den einzelnen Gesangstinuncn erscliic-
nen sind. Durch den schönsten Inneren Drang fanden sich Künstler luul Freunde der Kiuist notliwendig
verknüpft; das Streben welches sie vereinte aber, sprach, auf ähnliche Weise für diesen und jenen ge-
meinsamen Zweck die Einzelnen enger verbindend, sich ebenfalls In dem Ganzen aus. Das Ilerrlichsle
was die Tonkunst geschaffen, war bestimmt bei feierlicher Gelcgeid)eit an das gröfseslc, allen Menschen
widerfaluene Hell zu erinnern, In das Leben zu treten in einem weilen, klingenden, durch die frounne
Kunst der Vorältern zu einem Irdischen Kelliglhumc sinnig geschmückten llaume; da.s eigeuthümllche
') Sans. A'. 152 syj.
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Leben, der Glan/. und die Ilolieit de.s Valcrlnndes .sollten in diesem /.„gleich auf l.edenlsame ^^•eise sich
darsicllen, in aller ihrer Herrlichkeit aber auch wiederum vor dem Ewi-en den.üthio in den Staub dahin
sinken. AVas aus dem frischen Blldungstriebc hervoroeo-annen war, sollte bei öflentlicher Freude unter
freiem Ilimmel, unter der eioenthümlichsteu , festlichsfen, grofsartigsten Umgebung ertilnen; darf man
leugnen, dafs unter solchen Bedingungen aucJi die Gedanken des Meisters einen grofseu, freien, kühnen
Flug gewinnen mufsten? Eben damals aber - wie mIv dieses später entwickeln werden - war auch
der heiligen Tonkunst in den Kircheutönen /.„erst der Mittelpunkt aufgegangen, von woher über die frü^
bereu, kunsthclien zwar und sinnreichen, aber verwoiTcnen Tougewebe, ein ordnendes, belebendes, ge-
süiltendes Licht sicli ergofs. An die SteUe eines bunten, schnell verrauschenden TongeN>ines trat nunmehr
cm eigeuUminlicli gegliedertes und beseeltes Tonleben, in Fülle und Glanz der Gegenwart sich anscliüe-
fsend, gegenüber jedocli dem bewegten, mannigfaltigen Leben derselben, ihre Bedeutung in grofsartiger
Kühe otTenbarend. Eines lebendigen Bildes .1er Gcgeuwait, die unsern Meister imigab, bedürfen wir
also, wollen wir sein Streben und Bilden völlig verstehen; und }e weniger wir von den Begebenheiten
semer früheren Jahre aufgezeichnet finden, um so lieber verweilen wir bei demjenigen, was den frische-
sten Eindruck auf seine kräftige Jugend machen mufste, zumal wir diejenigen dabei thäÜg finden, denen
die Leitung derselben anvertraut war.
In die Jugendjahre des Johannes Gabrieli, in die Zeit der Amtsführung seines Oheims Andreas
traf der Sieg der Venediger und Spanier über die Türken hei Lepanto '). Die allgemeine, lebhafte Freude
bei der ersten Nachricht von demselben ging (so erzählen uns glaubwürdige Zeitgenossen) bald in das
Bestreben jeden Theils der Bewohner Venedigs über, es dem andern an neuen und geschmackvollen
FesÜ.ddceiten zuvorzuthun. Zu den ersten bei denen dasselbe sich äufscrte, gehörten die damals dort
anwesenden deutschen Kaufleute. Sie erbaten und erhielten von dem Doge und dem Senate die Erlaub-
nifs, den erfoclitenen glänzenden Sieg über den Erbfeind der Christenheit durch drei Tage mit öffenthcheu
Frendenhezeugungen zu begehen; unter der I'.edingung jedoch, nichts Unheihges dabei einzumiscli^n , da
jede Aeufserung der Freude bei solcher (.'elegeuheit vor allem Andern dahin gerichtet sein müsse,
Dank gegen Gott an den Tag zu legen, und sein Lob zu verkünden. Defshalb soUle jede Festlicldvcit
aucli erst nach gehaltenem öffentlichen Gottesdienste statt finden dürfen. IMan wählte dazu die Kirche
des heiligen Jakob in Rialto, vielleicht, weil sie als die älleste, schon seit dem fünften Jahrhunderte be-
stehende Knchc Ncnedigs am meisten geeignet schien, den Sieg der Christenheit über ihren Erbfeind
dmt zu feiern. Auf dem Platze vor dieser Kirche, der mit offenen Hallen rings umgeben ist, war ein
Altar errichtet, und eine Bühne für die Sänger; die Kirche selber war zu klein um die Menge der 4n-
daditigeu zu fassen. Dorthin begab man sicJi in feierUchem Zuge: das Büd des Gekreuzigten wurde
vorangetragen, Spieler mit verschiedenen lusfruinenten, eine zahlreiche I\renge von Sängern und Priestern
lolgtc nach. Die Musik der Messe, die man sang, war nach Sansovinos Versicherung bewunderns-
würdig; eben so die der Vesper, welclie erst z^^ei Stunden naeh Sonnenuntergang endigte. Das Köst-
hclisle Nvas Bdducrci und Kunstllcifs erzeugt hatte, wurde ausgesteUt, das Fest zu schmücken; Fremde
und Emlieimischc stritten dabei um den \'orrang. Alle neue Gebäude des Platzes RiaKo waren durch
') f ergl. Epislola Rocchi Uene.lwti ad rl. fi,-. Ilicroiiymuni Dimhm elf. de hilaritate solemnis gratulalionis et dier.im
festorum p'optcv vicforiam partum pmßlga/a r!as:fe turcica l'enetih celebratorum. l'om 20. November 1571 dutlrl
Desgl. Sunsoriiio l'enezia. /. X. ful. 1 jb'. 159.
38 —
die dort ^^■ollnelulo1) relclieii vcnedischen Kanflcute mit kostbarem purpurnen Stoffe bezogen, in gleichen
Entfernungen Gemiilde daran gehoflet. Iliinniclblauer Stoff mit goldgestickten Sternen schmückte die
Ge^vi•.lbe der über Inindert Schritt langen J lallen der 'ruchkaufleute ; mit Cieliängen mul kostliarcn Teppi-
chen A\'ar jede Säule, jede Halle geziert, luid zum gröfsesten Schmucke gereichten ihr die darin ausge-
stellten Bilder der trefflichsten IMeister venedischer und römischer Schule. Die gläirzendste Erleuchtung
begann mit dem sinkenden Tage: grofse vergoldele Eeuclitcn, von den C.eMÖlhen herabhängend, viele
Fackeln, erhellten das Innere der Hallen, die den Platz umgaben, tausend Lichte auf kostbaren Leuch-
tern die' Fenster und Simse der Gebäude: der Schlufs der kirchlichen Feier, der Beginn der lauteren,
aUen Berichten zufolge aber durch kehien Unfrieden oder irgend einen ITnfall gestörten Freude y\im\e
durch die edelste und glänzendste l^mgebnng verherrlicht. Unfern der Brücke RiaUo, die er.st sechzehn
Jahre später (1587) von Stein aufgefiilirt ^vurde. ist das Kaufhaus der Deutschen, dessen zuvor gedacht
worden, am grofseu Canale belegen. Schon seine Lage allein hätte eine minder prächtige Erleuchtung
bedeutend liei^ortreten lassen; aber der AVetteifer der Deutschen mit den Eingebornen hatte jene veran-
lafst. einen solchen Reichthum von Fackeln daraTi zu versclnvenden, von den untersten HaUen an bis zu
den obersten Zinnen des Daches, dafs nach Sansovino's ^'ersicherung, von fern gesehen, es ein gestirnt<?r
Himmel schien. Der Ton kriegerischer Instrumente, das Krachen des Geschützes von dort aus, verkün-
dete den Beginn neuer Festlichkeiten nach dem Schlüsse der Vesper: imd nun ertönten von den AJtanen
des Gebäudes mehre Stunden nach einander die ausgesuchtesten Gesänge und das trefflichste Instrumen-
tenspiel. Männer und Frauen jeden Standes, in prächtigem Sclnnuck, zogen verlarAt über die Brücke
dem Platze zu und vieder zurück, von Spielern nmsikalischer Instrumente begleitet; hatten die einen
ihr Spiel geendigt, so begannen wetteifernd die andern; von fröhlichen Klängen war die Luft erfiillt; der
heiterste Himmel begünstigte das schöne Fest. AVir finden ihe Tonmeister nicht genannt, deren Gesänge
die kirddiche Feier Verherrlichten; doch läfst deren migewidmlich lange Dauer voraussetzen, dafs, bei
der Vesper nameutUch, man Werke der gröfsesten Meister Venedigs aneinandergereiht, dafs man das Be-
deutendste dargeboten haben werde, was die heihge Tonkunst dort hervorgebracht, um durch die That
zu bestätigen, was maTi glcidi anfangs ausgesprochen: dafs vor aUem andern bei einer solchen Gelegen-
heit das Lob des Herrn zu verkünden sei; und so ist damals gewifs auch Andreas Gabrieli hervorgetre-
ten wenn wir ihn schon nicht namentlich erwähnt finden. Die frische Freude aber an den henlichsten
Kuiistscliöpfungen der Vorzeit und Gegenwart die sich damals offenbarte, der heitere und lebensfrohe
Sinn, Mclclier die ganze Umgebung des Festes, ja dieses selber, zu einem Kunstwerke umschuf, giebt
Zeug'uifs daRir, ^^'ie lebendig die bildende Kraft sich geregt habe, ^^^e jedes was sie erschaffen, da es mit
vollem Anerkenutnlfs und reiner Freude genossen wurde, als die eigenste Lebensäufserung des Ganzen
anzuseilen sei; der gedeihlichste Zustand für die Entfidtung und Pflege jeder Kunst.
Drei.Tahrc später, um 1571, linden ^^ Ir Andreas Gabrich bei einer Gelegenheit genannt, wo ^ enedig
einem auswärtigen Fürsten seinen Glanz und seine Herrlichkeit in einem Emiifange zu zeigen strebte, der
durch die besondere Lage der Stadt und die shinvoUe Anordnung des Festes ein bedeutendes, reiches
Bild darstellte. Nach dem ^Fode Karls des Neunten ^on Frankreich hatten dessen Nachfolger Ilcmrich
der Dritte, damals Ki'.nig von Polen, sich von Cracau heindich entfernt, um jedem Hindernisse bei der
Besitznahme des längst ersehnten väterUchen Thrones auszuweichen, und wünschlc auf seinem Wege
nach Frankreich Venedig zu sehen, und mit den Häuptern des Staates einen Freundschaftsbund zu sdilie-
fsen. Es liegt aufser den Grenzen dieser Blätter, eine ausfühilidic Beschreibung seines Empfanges zu
— 39 —
geben: es genüge eine jVndeutnng dessen, ^vodu^ch die EigenthiimliL-likeit der Sladl und des Kunstsinnes
ilirer Bewoluier am meisten licrvortrat. Den Eintritt, in das Gebiet \ enedigs bezciclniete aucli liier wie
bei den frülier beschriebenen Festen eine kirchliclic Feier. In der Aähc der Kirclie San JNicoIo in Lido,
dem Orte, "\vo der König bei der Einfahrt in die Lagunen an das Land zu steigen bestimmt halte, war
von Palladio ein Ehrenbogen errichtet, luid eine ofTene Capelle ihm gegenüber mit einem Altare. Hier
kniete der König nieder, mit iiim die Häupter des Staates und alle Anwesende, Gott für seine glückliche
Ankunft zu danken; die Sänger von St. ]Marcus stimmten das Tedeum an, der Patriarch Trivisano er-
theilte allen den Seegen '). Der König, der Doge jMocenigo, und die Vornehmsten bestiegen nun den
Bucintoro: ein zaldreiches Gefolge von PrachtschilTen und Gondeln — Sansovino giebt bis auf sechstau-
send an — mncah ihn und foktc ihm, fcsthch geschmückt, in biuitem Gewimmel. INicht minder über-
raschend war der Anblick der Stadt, als des in sie hinein^^ ogenden Zuges. Das Ufer der Sklavonier,
der kleine SLircusplatz mit dem herzoglichen Pallaste, der grofse Canal, inugcben von den grofsaiiigsten
. und fremdesten Bauwerken, die lumiittelbar meist aus dem Wasser sich erheben ohne gepflasterte Dämme
vor ihren Pforten; alles dieses, auch weniger belebt, gewährt schon ein Bild, wie keine andre Stadt
in Europa es geben kann: jetzt aber N^ogte auf den Uferdämmen eine zahllose IMenschenmenge , alle
Fenster waren mit reichgeschmückten Frauen, alle Dächer mit neugierigen Zuschauern besetzt Als
VVolinung hatte man dem Könige den Pallast Foscarl eingerichtet, der an der scliönsten imd günstig-
sten Stelle des grofsen Canales belegen ist, wo dessen ^^indung den Bhck sowold gegen St. iMarcus,
als die Brücke Rialto hin gestattet, und die Aussicht auf den gröfseslen TheU desselben eröffnet. Als
der Doge und die Häupter des Staates den König ^'erlasscn hatten, genofs dieser aou dem Altane seiner
Wohnung des neuen und grofsen Anblicks; aber ein noch gröfserer, als zauberhaft beschriebener, stand
ihm bevor. Eine Erleuchtung der Gebäude auf jeder Seite des grofsen Canals begann mit anbrechender
Nacht, von St. IMarcus an, bis hin nach Santa Lucia, eine Länge von bcinalie zwei italienischen JMeilen.
Lihen, Säulen, Kronen, die verschiedensten Gebilde aller Art, zeigten sich flammend in schönstem Eben-
maafsc an aUen Gebäuden, bis zu ihren Zinnen hinauf; iVlIes, gleich wie der lieiterste Stemenliimmel,
der das Fest begünstigte, auf der rulilgen Wasserfläclie abgespiegelt. Zwischen diesen leuchtenden Bil-
dern uml ihrem ^^iderscheinc glitten die Gondeln derer hin, die das wunderbare Schauspiel zu ge-
niefsen gekommen waren. Z^^•ei Stunden nach Anbrucli der Nacht schwamm gegen die ^^ ohnung
des Königs eine offne Säulenhalle heran, auf grofsen Barken befestigt, die man künstlich versteckt hatte:
die Sänger von St. Marcus, inid Spieler jeder Art von Instrumenten erflUlten diesen Raum. Lautes Ge-
töne von Trompeten und Pauken en-egte Aufmerksamkeit und gebot Stillschweigen: nun aber begannen
Gesänge aller Art ziun Lobe des Königs. Zwei imter ihnen sind uns in einer dreizehn Jahre später,
um 1587, zu Venedig bei Gardano gedruckten Sammlung aufbehalten, und von dort in eine zu iNürnberg
im folgenden Jahre erschienene Sammlung unter dem Titel „gemma tnusicalls" übergegangen; beide
von Andreas Gabriel! , zu zwölf Stimmen der eine, zu acht der andere, beide in zwei CJiöre abgetheilL
Das eine der Gedichte ergeht sich in ganz allgemeinen, prunkenden Lobreden — wie deren Gegenstand
denn kaum zu anderen veranlassen konnte — das andere, ohne gröfseren Wcrtli zu besitzen, mag die
Gegenwärtigen dennoch begeistert haben, da des Anblicks, welcher aUen damals vor Augen war, mit
Lebhaftigkeit darin erwähnt, und wenn aucli des königliclien Gastes mit Preise gedacht, dennoch bei dem
') Sansovbw l'enezia. I. X. 161 und folgende.
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(Jla.iAo vomi!;li<l' M'••^voiU ^^n■A. ävn ilie Valcr.slaclt vor seinen Augen enirnllelc: zix jvesclnveigrn iler
Wirkung des Zusanunenklanges von 'Mvei ylelslimn.igen. kräftig in einander greifenden, bald iui >\ echsel,
bald znsannnenstimmend ertönenden diören.
An seinem Orte werden wir eines anderen Gclegenlieitsgesanges von Andreas Gal)ricU gedenken,
und wenn wir das ^'erlläiluirs seines Neffen Joha.nies /ai den ihm %'orangegangenen I\Ieistern darlegen,
aucli zu ihm wiederum -/.luiukkeliren. Inter seiner Leilmig, unter den günstigen Einflüssen der damali-
.ven Geo-euwarl, entwickelten sieh des Johannes Anlagen vax bedeutender ■Meisterschaft. Schon um 1575 ')
\n einer von Cosimo Bottegari /.u ^ enedig herausgegebenen Sanmilung vier- und fünfslimmiger Madrigale
finden Avir seinen Namen neben die der gröfsesten Meister jener Zeit gestellt, und ans allen Städten Ita-
Uens sagt ein späterer Berichterstatter ^). strömten die Künstler nach Venedig, sein Orgelspiel xu hören
und zu bewundern. So geschähe es, dafs er nach dem Abgänge des Claudio IMerulo von den Procura-
toren Jakob Foscariui, Franz Cornaro und Jakob Euto. für ^^ürdig geachtet wurde die Stelle dieses gro-
fsen I\Ieisters zu ersetzen, lu.d dafs sie ihn uui das Jahr 1584, dem letzten der Regierung des gelehrten
und kunstliebenden Dt.ge da Ponte, am siebenten No^ember, zum Organisten an der ersten Orgel von
St. IMarcus cr^^:ilJlen. Auch in anderer Rücksicht war dieses Jahr für ihn ein merkwürdiges. Jlans
Leo Haßler von Nürnberg, späterhin einer der gröfsesten deutschen Tonmeister seiner Zeit, kam m dem-
selben nach Venedig, mn unter des Andreas Gahrieli Leitung sich ferner auszubilden. Gleiche Gesinnung
und "leiche Liebe zur Kunst stiftete zwischen ihm und dem Johannes, des verschiedenen Glaidjensbe-
kennüiisses ungeachtet, bald herzliche Freundschaft, die auch durch Ilafslers im folgenden Jahre bereits
eintretende Abreise von ^^euedig nicht gestört wurde. Beiden schlofs ein Nürnbergischer Kunstfreund
sidi an, wenn auch seihst nicht Künstler, (^eorf^ aruher. wegen Handelsgeschäften wahrschcnd.cli eine
Weile zu Venedig eiuheimiscli; einer von jenen eifrigen Verehrern der Tonkunst, die nicht ruhen, bis
sie es dahin gebracht, alles um sich versauunelt zu haben, und es ihr Eigenihum nennen zu dürfen, was
von deren Werken ihr Gemüth ergrillen hat. „Vom ersten Knabenalter an" — sagt er selbst ') —
hin- ich an der Tonkunst und pflegte ihrer, so weit es meine Lebensverhältnisse zuliefsen; wie ,ch
','iun m, Jahren zunahm, wuchs auch in mir die Liebe zu dieser herrhchen Kunst, so dafs ich um die
Freundschaft ausgezeichneter l^oukünstler warb, die erlesenen Gesänge, (he sie mir mitthedten und an-
vertrauten, Üieils dem Drucke überiiefs, tlieils wie einen Schatz mir aufbewahrte; so jedoch, dafs ich
weder unseren Kirdien, noch den Ncreinen meiner Freunde ihren Gehrauch vorenthielt." Aon der treuen
und herzlichen Freundschaft dieser 3Iänucr, der Künstler und des Kunstfreundes, giebt uns (he Aulschrift
zweier Iloclizeitgesänge ^) einen Beweis, welche Gahrieli und llafsler, der eine von Venedig, der andere
von Augsburg her, wo er sich als Organist des Grafen Octavian Fugger aufhielt, zum DruAe nach Nürn-
berg an^Paid Kaufmann sandten, ihrem l-reundc Gruber ..zu Lieb' und Ehren" für den Tag seiner Ver-
mählung mit Helena Kolmann. am elften Juni 16(10. Beide sagen darin, dafs ihre Freundschaft durcli
') n secmido libro de' niadiigali a cin^ue loci, de Jlovidi vhtiiosi del seienissimo d<,ca di Baviera, ron mo a dieci.
Kuovamente posli in luce. In J'inegia appresso V erede di Cirotamo Scutlo. 1575. Unser Meister vird hier Giovanni
di Andrea Gabrielli genannt, nohl als Pßegesohn seines Oheim's. ^) üoglioni. l. IL p- 203. 206. ^) S. die Vorrede
zu den Reliq. saerornm eoncent. Joh. Gabrielis et Joh. Leo. llassleri cte. ') Uonori et amori Gcorgii Gruberi ciiis
JVorinAergensis, sccundmn sponsi ornatissimi: et Uelenae Joannis Itolmanni. conciris ibidem , fUiae , rirginis leclissimae
sponsue: socialia sacra peragentium /'. Id. Mensis Junonii . Anno Epoehuc Christiimae MDC. Joannes Gahrieli, ad
D. Marei t'enef. et Johannes Leo Uassler , ilhistriss. 1). Fuggerorum etc. August. Organisfae ; auspiratum thalamun,
comprecaudo .■ omina secunda concipiendo : piiblicam congratulationem illnstrando: amicitiam^musici sludii amore conccptam-
— 41 —
Liebe zur Tonkmist cntstanilcn. durcli briklerliclie Bande crliöht, durch AulVicIil:i£;koil helV.slij;! worden
sei; und Gruber hat seinen Freunden später ein schönes inid würdiges Denkmal dadurch e;esliriet, dal's
er beider ilun anvertraule geistliche (icsäiine, nach ihrem, in' einem und demselben Jalire (1612) erfolglen
Tode, als ihr kösÜichslcs Vermächlnirs, zu jNürnberg in einer feldcrfrcien Ausgabe an das Lichl treten liels ').
Dem Johannes wurde hierin vergollen, was er friilier an seinem Oheime Andreas gethan, dessen Tod im
Jahre 15S6 nach dreifsigjiihriger Dienstzeit erfolgt war. Sieben und sechzig, bis dahin ungedrucklc, oder
doch in früheren vermischten iSammhmgen zerstreute Gesänge seines Oheims von sechs bis zehn Stimmen
gab er um 1587 ^) zu \ cnedig bei Gardano heraus, nebst zehn eignen. Seine Zuschrift an Jakob Fug-
ger zu Augsburg, den Fremid und (Jönner des Verstorbenen, giebl uns ein Zeugnifs seiner kindlichen
V^erehrung für seinen Lein-er und ^'\ ohllliätcr. ,,^Väre Andreas Gabricll nicht mein Oheim gewesen" —
sagt er darin — ,,so dürfte ich ohne Furcht vor Tadel kidmlich behauplen, dafs. wie es im Ganzen
wenig ausgezeichnete Mahler und Bildner neben einander gegeben, auch wenig Tonmeister imd Orgel-
spieler gelebt haben, die ihm gleich kämen. Da ich aber durch Bande des Blutes ilun wenig minder
als Sohn gewesen, darf icli nicht frei heraus reden, was iNeigung und \\ ahrheit mir sonst eingeben
würde. Wer kann leugnen, dafs er in jedem Theile der harmonischen Kunst bewuiulernsweilb, ja. gleich-
sam göttlich gewesen? Seine Fertigkeit könnte ich loben, seine seltenen Erfindungen, seine neuen Wen-
dungen, seine anmuthige Sdueibart; des Ernstes, der Gelehrsamkeit seiner Gesänge könnte ich i!;edenken.
aber auch ihrer Frische und Lieblichkeit, so dafs in der That, wer nur gehört, wie klangrcicli seine
einfachen, seine kunstreich verwobenen Werke waren, bekennen durfte, er habe erfaiiren, was wahr-
hafte Bewcgtnig des Gemütlies sei, was es heifse, imgewohnte Süfsigkeit von der Tonkunst geniefsen.
Icli könnte sagen, dafs aus seinen Werken oflenkmulig hervorgehe, \\ic er einzig gewesen in Eriin-
dimg von Klängen, welche die Kraft der Rede luid der Gedanken ausdrücken; aber damit im L'cbermaafse
der iSeigung ich nicht lästig fallen möge, zumal ich sein INcffe bin, so stelle ich es den Kimdigen anLeim,
über ihn zu urtheilen, welche ihn bis in die innerste AVerkslatt seiner (iodanken hin ergründet haben.
friiterno rinciilo ampliainm, si/neriljitc ronfirmatuni, renorando, If/incmieos hoicc mudii/aiaiäui: Xuribergac apiid Puu-
liim Kuiifmannum. 1600. Der iltilieiiisrhe Text des Gabrielhclieii Oesaiiges lautet fuli^cndermaiij'Hen:
Seher za Amarilli e dort
K I par^oleiti amorif
Tra' Jtor danzando iil sueii d'allc parule :
Ostro direntan patlide viole.
■ S^alle^'ran ^-l' dementia
E d'uura i bei coneenti
Sodono mormorar in oo'ni eanto :
Cagion n'e sol di Giorgio il sommo ruiilol
Georg Gritber nahm im Jahre 1615 dieses sechsstimmige Madrigal in die bald zu eriuähnende Sammlung mit auf, al-
lein er gestaltete es zu einer Auferstehungsmotettc um, durch Unterleguiig folgenden Textes: Alleluia , quundo jam
emersit e vineulis sepulchri Draconis sti/gii triumphator! E.rsultate animis , .llleluia! saltate coeli , euneta elementa ,
Victoria eelebri triumpho parfa est nobis , per Christum . justitiae solem radiranlem ; mecum rccmite Alleluia !
) Reliqiiiae saerorum courenluum Gio. Gabrielis Si Joh. Leonis IJaesleri, utriuspie pr.ieslantlssimi musici,
et aliquot aliorum praerellentium aetutis nostrae artißcum motectae 6. 7. 8. 9. JO. 13. 11- 16. IS & 19^ vocum
noviter crpromptae a Georgio Grubcro, JVorimbergcnsi. — JVoribergae, ti/pis et sumptibus Pauli Kaufmanni 1615. Diese
Sammlung enthält neunzehn Stiich-e von Joh. Gabrieli: 4 sechs-, 4 acht-, 3 zehn-, 3 zwölf stimmige: ein sieben-, drei-
zehn-, vierzehn-, sechzehn-, neiinzchnstimmmiges. -) Concerti di Andrea e di Gio. Gabrieli, Organistl della Serenis-
sima Signoria di l'enezia: eontinenfi jlusit a di Chiesa , Madrigali et alfro , per rovi e stromenti musicali , a 6. 7. 8.
10. Vi & 16. Xoramente eon ogni diligeiii'ia dati in lucc. In l^enezin appresso .tngc/o Gurdauo l.'JST.
C. T. Wiutcrfeld. Joh. 4>al>ricli o. s, Zeitalter. (i
— 42 —
Es geliol Gotics liöclisleni Rallischlusse, iliii im vergangenen Jahre von der Erde in seine liimmlisclie
Freude zu vtivscUoii, in reifem, au Jahren reichem Alter, aber zu einer Zeit, wo sein Geist mehr als je
lebendig luid erfindungsreich in der Tonkunst war. Mehre Concerte, Dialogen und andere Tonslücke,
für Singslimmen und Inslrumente eingericiitet, wie sie in den Ilauplkirchen der Fürsten imd den Ver-
samnduugen (arademicj der Vornehmen übhch sind, hatte er auf das fleifsigste ausgearlieitet und vf>ll-
endet, Euch, o Herr, ein Geschenk damit zu machen, und dadurch ein lebendiges Zeichen seiner Ehr-
furcht und Zuneigung für Euch an den Tag zu legen. Aber zu einem besseren Leben wurde er berufen,
und sein Wunsch blieb unerfüllt. Wie er jedoch mich als Erben seiner äufseren Güter hinterlassen, so
hat er von den inneren (neben seinen Lehren in der Tonkunst) auch jene besondere, ehrfurchtsvolle Zu-
neigung auf mich vererbt, die er zu Euch trug. Da ich nun desselben Wunsches lebe, mit welchem
er lebte und starb, so weihe ich diese Friichte seiner Kunst Euch, und erfülle damit seinen VVillen, wie
ich meinem eigenen gcuugthue. Weniges habe icli hinzugethan von eigenen Versuchen, Schöfslingen
gleichsam, aus demselbigen Stamme getrieben. Euch lege ich sie dar wie einer belebenden Sonne, deren
Strahl sie kräftige, damit aucli sie der Welt heb imd erwünscht werden mögen."
Wie wir den Johannes hier bei dem Beginnen seines Wirkens schon in einem gleichsam ange-
erbten V^erhältuisse sehen zu einem Deutschen berülimten Stammes, so finden wir ihn auch später, wenn
auch von seinen Landsleuten hochgeehrt, doch in den innigsten Verhältnissen eben mit Deutsclien.
Ob er selber in Deutschland gewesen sei, und namentlich München, ISürnberg und Augsburg besucht
habe, ist mit Bestimmtheit nicht zu versichern; lassen mannigfaltige, freundschaftliclie Verbindungen in
jenen Städten es vermuthen, so ist mederum dagegen anzuführen, dafs sein Ruf auch ohne persönliche
Bekanntschaft ihm dort Verehrer und Freunde gewonnen haben werde. Albert V., Herzog zu Baiern,
gehört zu seinen vornehmsten und frühesten Göimern. Schon imi 1575 nennt ihn Cosimo Bottegari in
der zuvor gedachten Sanmilung unter den „blühenden Tonkünsllern" (Jloridi virfuoslj dieses Fürslen;
und auch auf dessen Söhne Wilhelm und Albert pflanzte sich die Neigung und Ilodiachtung für unsem
Meister fort. Unter den Fuggern lebte er, nächst dem genannten Jakob, in enger Verbindung vornchm-
licli mit Georg, des Marcus Fugger Sohn, und des Jakob Neffen; sei es nun, dafs er ihn mittelbar durch
Hans Leo Ilafsler kennen gelernt hatle, der seit 1585 sich zu Augsburg aufliielt, oder auch persönlich,
während seiner Anwesenheit zu Venedig als Gesandter Kaiser Rudolf des zweiten. \ crnnithlich war es
auch Georg, der ihn um 1597 zu seiner eigenen imd seiner Brüder Hochzeit nach Augsburg einge-
laden, und dadurch die Zueignung des ersten Theilcs seiner symphonlae sacrae, dea zweiten von ihm
gedruckten Gesangwerkes '), an alle vier Söhne des INIarcus Fugger, Georg, Anton, Philipp und Albert
') Sacrae si/mpJtoniae Johanni.i G abri elii Sereniss. Reip. l'enetiar. Organistae in ecclesia Divi Jflarci: Se«i>, 7. 8. 10.
12. 14. 15 & 16. fam vocibus quam iiistriimentis. Editio novo. Cum. priv. J'enetiis apiid Angcluni GarJaiwin. 1597.
Dieses Werk enthält an Gesängen: 4 sechs- ^ 4 sieben-, 19 acht-, 8 zehn-, 7 zwölf stimmige : einen 14, 15^ 16 stim-
migen: an Instrumentalstiiclcen : 6 acht-, 6 zehn-, 3 zwül/stimmigc und ein fun/zchnstimmiges. An Orgelcumpositionen
waren bereits früher erschienen: Infonntioni d^Organo. lib. 1. l'en. 1593.
llicercari, lib. 2. Ib. 1595.
- 3. - 1595.
Diese drei Werke führt der Pater Martini in dem „Indice degli autori" des ersten Bandes seiner Storia della mitsira
f Bologna \lblj an, mit Bezug auf die 136s/e Note seiner zweiten Dissertation: „Qual canto in consonanza nsassero
gl'antichi wo er unter den klassischen Organisten auch auf Johannes Gabrieli wegen des Grundsatzes sich beruft,
dafs jeder Schlufs eines Tonstücks mit der grofsen Terz erfolgen miisse. Der Verfasser des gegenwärtigen Werkes
111
— 43 —
veranlafst hatte. „Eine so innige Verwandscliaft " — sclircibt iliiien Johannes Gabrieli — ..w'w des IJht-
tes, so der Gemüllier, besteht unter Eiieh, dafs mir scheint, ich sei von Euch ji'Jeii eln-eladcn, d;i
einer von Eiicli mich bittet, bei Eurer liohen Vcrmähhing zugegen zu sein. \Nie ich utiu (l.uin abeniial.s
recht klar Euren Willen erkenne, mir eine Liebe zu erweisen, den Ihr frülier schon mir durch ^ iele und
grofse Wohllhaten an den Tag gelegt liabt. so wird mir dadurch zugleich die giinsligsle Gelegenheit, Euch
ein Zeiciien meines dankbaren Gemüthes darzubringen, wie ich danach lange schon mich geselmt habe.
So trete ich denn unter Euch, mitten in Eurer Ilochzcitfreude Euch Cicsänge von meinen Stimmen bie-
tend: und wahrlich, keine angemessenere Gabe war zu erwarten, weder von mir, noch für Euch, noch
selbst das Fest Eurer ^ ermiihlung. Denn vier sind Eurer, wie vier die Zalil der Slinnnen ist, welche
zu vollständigen Gesängen sich vereinen; so einig aber seid Ihr in dem Strclieii den allen Glanz Eures
Gesclilechtes zu erhalten, so einstimmig, den katbolisclicn Glauben millcn uuler dem Ifadcr in Deutsch
land zu be^vallren, dafs ich nicht weifs, was ich edleres, was l'rbmmercs hätte ersinnen mögen als hai-
moniselie Gesänge, es Euch darzubieten. Aber auch eine \ erniähhmg mag ohne Harmonie ja keinesMc-es
bestehen. Denn geben wir dem gegenseitigen, so engen Vereine der .Neigungen, wie er in der Ehe
statt finden soll, den Namen einer siifsen Hamaonic der Seelen, so inen wir gewilslich nicht. Ein an^^e
messenes Gesclienk also, vielleicht aber auch ein geringes, N\ird es heifsen, dais ich Euch brinoe; und
dieses mindestens gestehe ich freimiithig. Denn ^^■ie Euer Geschlecht der Fugger allen ^'orallsteht an
glorreichen Thaten, in der Ileimath und Fremde verübt, so übertritTl es mich wohl alle an Reichlhnm:
was man daher Euch bieten mag, mufs um dcfswillen entweder gar keines, oder mir eines sehr i;erinffen
VVeiilics erscheinen. An Euch ist es defslialb, mehr den Sinn des Gebers, als den Wertli der Gabe
Acht zu nehmen; und so kann es gescliehen, dafs dieses geringe Gesdienk auch für ein gar grofses gel-
ten mag, nach der Zuneigung, dem Eifer Euch dankbar zu sein und Euch zu dienen, mit welchen ich
zu dieser Zeit es Euch weihe, es nach Euch benenne; wie ich denn gewilslich niemandem weiclic in
Liebe, Ehrfurcht, und Dienstheflissenheil gegen Euch."
Dafs Johannes damals der Einladung der ^ier Brüder nicht gefolgt sei, geht aus seiner schrifthcheii
Zueignung nicht sowohl, als andern gleichzeitigen Ereignissen hervor. !\Iarciis Fugger erkrankte, die
Vermählung seiner Söhne wimlc aufgeschoben, und sein am achzehnfen Juni 1597 erfolgter Tod verur
saclite ihre Verlegung bis in das folgende Jahr. Aber aucli ohne jene Störung hätte ein, eben mn die
Zeit der Einladung, zu Venedig eintretendes öffentliches, und seltenes Fest ähnlicher Art, dem gefeierten
KünsÜer kaum erlaubt seine \aterstadt zu verlassen. IMarin Grimani. seil 159.5 nach dem Tode des
Pasqual Cieogna Doge von Venedig, feierte am vierten 3Iai 1597 die Krönung seiner Gemaldin il/oro*»«n.
ein seil vierzig Jahren zum erstenmale wiederkehrendes Fesl, dem erst in sechs und neunzig Jahren ein
ähnliches nachfolgen, dessen Gedenktag aber nach zweihundert Jahren der Bcschlufs des grofsen Halbes
bezeichnen soUle, den Frieden mit Frankreich um jeden Preis, auch die Auflösung der alten Verfassung,
zu erkaufen, wodurch man in der Tiiat nur den l'od des ^ aterlandes erkaufte. Von selbst drängt jene
ZusammensteUung sich auf. wenn ^^ ir uns erinnern, dafs Franz Moro.shn. der heldenmüthige V erlheidiger
Candia's, von dem Geschlechte hersl;nmnte. dem die damals gekrönte Fürstin angehörte; wenn wir
erwägen, dafs er zu den lelzlen Edeln \ enedigs gerechnet werden nniCs. in denen die alle Tugend der
Vorfahren sich kund gab. und dafs sein Nacbfoiger das erste I'csl ähnlicher Art nach dem erwähnten
hat diese drei Sammlungen (die sich u-ahrscUci„li,h in dem Aidiiae^der philliarmmiisehcn Gesellschaft zn Bologna l„.
finden. KerdenJ leider nicht zur Benutzung auftreiben können. -■,-\ ;,V, :-
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Mifileiuin l).-ins '); ^vcnn wir den tcrofsartigen Frohsinn betrachten, der jenes friUiere Fest bezeichnete,
den lebendigen, allgemeinen Aniheil, der an einem Ereignisse genommen wurde, das der eigenÜiüm-
lichen Verfassnng \^enedigs znfolge nicht einmal zu Hoffnungen Tür die Zukunft berechtigte, bei dem
man in der Person eines wolilvcrdienleu IMilbürgcrs und seiner Angeliörigen eigcnÜicli nur das Vater-
land, dessen Würde. Ansehen und Glanz leierte und darzulegen strebte, daliei zwar die Gelegenlieit zu
Freude und Geniils nicht verschmähte, aber doch, wie die Folgezeit lehrte, und wir bereits gesehen ha-
ben, zu einem Kampfe von ernster Art gerüstet blieb, und ihn mit Ehren durchfocht; während späterliin
die allen vaterländischen Feste, in dem wüsten Treiben von Scbwclgerei und erkünsteltem Genüsse, dem
übersättigten Haufen nur eine Abwed.slung Avaren in dem Gaukelspiele, das wie ein bunter, verworrener
Traum seine träge Ruhe ergiitzte; jene Kühe, die zu erhalten und zu sichern kein Preis zu theuer schien.
Die Krönung der Gemahlin^ des Giimanl bietet uns erwünschte Züge das Bild des venedischen Lebens
im sechzehnten Jahrhunderte zu voUenden, utuI unseres Kleisters früheres Streben, wenn aud» auf folgen-
den Blättern erst, daran zu erläulern; war schliefsen luis einem gleichzeitigen Berichte an, ohne uns an
seine ängstliche AusfiUrrhchkeit zu binden, durch ,lle Einzelnes hervorgehoben, das Bild des Ganzen aber
verwischt wird. Nicht um der Pracht willen, die dabei an den Tag gelegt wurde, erschaut m.s
diese Felerllcbkcit merkwürdig, sondern weil darin, zumal In dem Zuge nach Sl. IVIarcus, und von dort
nach dem herzoglichen PaUaste, N'enedlgs Eigentluünhchkeit sich so bedeutsam und zugleich so erg.itzhch
entfallet. Defshalb werden wir auch bei diesem Zuge vor allem verweilen.
Von dem Pallastc Morosini Avird die Fürstin, mit dem herzoglichen Schmucke schon bekleidet,
durch den Buci.itoro abgeholl; dreihundert besonders eingeladene Frauen und .Tungfrauen edler und bür-
gerlicher Abkunft begleilen sie, ihrem Stande und Alter gemäfs übereinstimmend gekleidet, und schmücken
das Prachtsdiiff des Staates, in weldiem sonst nur dessen Häupter In feierhdiem Ernste s.di zeigen,
durch den anmr.thigsten und festhchsten Anblick. Durdi die Reihe der PaUäs.e, die den grofsen Ca-
nal bekrinzen sdieu ^^Ir nun das Schiff sich langsam fortbewegen, von andern smnre.di erfundenen und
ver/Ierten beo'leitel, welche die Zünfte für das Fest haben erbauen lassen. Vor allen zeidinet das der
BaumwoUenwirker (bombaserij sidi aus. Einen Triumphwagen stellt es dar, mit Rädern, die .n clem
Wasser sich zu drehen und ihn fortzubewegen sd.einen; zwei vorangespannte Secrosse lenkt scheinbar
ein Meer^^ott, der das adriatische Meer bezeldmet, die Zügel haltend in einer Hand, mit der .nnde.-«
den Dreilack sdrwlngend. Der hintere Thcll zeigt Venedig, eine auf zwei Löwen ruhende Jungfrau, die
über dem Haupte de; Doge und seiner Gemahlin die herzoghdie Krone hält; Neptun am Steuerruder
lenkt das Ganze. Durch ^zwei Ehrenbogen, an dem Landungsplatze und vor St. Marcus von der Flei-
scherzunft errid.tet, bewegt und entfaltet sich nunmehr der Zug, unter dem Krachen des Gesdmtzes.
Herolde voran; dann die Jungfrauen, weifs und reich gekleidet, in der einen Hand einen F^icher von
Straufsfedern, mit der andern auf ihre Begleiter gestützt, die einen Blumenstraufs mit goldener Handhabe
ihnen tragen. Frauen folgen, in grün und velkhenblau , diesen die angesehensten Matronen m Sdiwarz.
Den Verwandtinnen der Fürstin, die kein Aufwandsgesetz bindet, und die defshalb aUein unter allen
Juwelen und kösthche Kleinodien tragen, gehen die Schreiber der Pregadi, die herzoghdien Ralhe, det
^Um 15.=i7 hatte Loremo Pru.ll seine Gen.ahlU 7Mia Bandola gekrönt. (Sans. 1. X. fol 15^ -7?-> -^-^ «*
4. Miir. 1694 krönte une.lcr Sihestro l'aUer seine Gcnaklln Elisabeth Qulrlnl: Paulina Loredana GenMn desCar
Contarlni (ißbi-WbGJ .-urde nicht gekrönt. C/astl durales p. 328. iUJ. Wegen des Beschlusses des große.. Hathes
vom 4. 3Iai 1797 vergl. Dum, hisloire de Penise. Livre 3S. rjJL
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Grofskanzlcr, in ihrer Amtstracht voran; unmittelbar vor tlcr Fürstin, deren langer iMangel von Goldstück
durch zwei Jungfrauen getragen wird, schreiten ihr Zwerg mid ihre Zwergin einher, in grüner Seide mit
Silber und Gold gekleidet. So tritt man in die Kirche ein, das Tedeum wrd gesungen, knieend leistet
die Fürstin auf das iMefsbuch das von ihreni Gemahl bei seiner Erhebung bereits abgegebene ^Versprechen.
Nun zieht sie ein mit ilirem Gefolge in den Pallast; ehe sie aher an den Fufs der Treppe gelangt, die
in den Saal des grofsen Rathes führt, hat sie alle die Hallen zu durchwandeln, in denen sonst die ein-
zelnen Behörden der Stadt ihren Sitz haben. Hier, wo mit Strenge imd Ernst an andern Tagen alle
Lebensverhältnisse geordnet werden, wo man allen Streit in denselben schlichtet, entfaltet sich nunmehr
das Leben selbst auf reiche und mannigfaltige Weise. Einer alten Sitte zufolge mufs der Doge bei einer
festlichen Gelegenheit dieser Art einer jeden Handwerkszunft eine Verehrimg machen von Früchten,
\^ein und Gebacknem: am Morgen des Festes ziehen alle Zünfte, in reiche Livereien gekleidet, in den
Pallast ein, dieses Geschenk zu empfangen, und von den für sie bestimmlen Hallen Besitz zu nehmen.
Dort wird es aufgestellt in kosi baren Gefiifsen, und der durchziehenden Fürslin als Erquicknng ange-
boten. Eine jede Zunft wetteifert mit der andern in gcsclmiackvoller Auszierung des Raumes den sie
einnimmt; wo es thunlich ist, schmücken ihn Erzeugnisse ihres Handwerks, sinnreich, auch fanta-
stisch geordnet. So haben die Spiegclmacher diesesmal von allen Seilen, auch an der Decke, ihre
Halle mit Spiegeln bekleidet, eine grofse Pyramide von denselben in deren JMItle aufgestellt; der präch-
tige Zug der diesen so seltsam gesclmiücklen Raum durchwandelt, sieht mit Erstannen sich tausendfach
vervielfältigt, zum Ergötzen aller zeigt er sich sogar umgekehrt in der Höhe. Die Waflenschmiede haben
manm'gfaltige Trophäen künstlich gearbeiteter Waffen errichtet, die ein grofses Schild umgeben, gebildet
durch Scln\erter mit goldenem Griffe, deren Spitzen dem iMittelpunkte des Kreises zugekehrt sind, mit
dem Sinnspruche: ..in dem Kriege der Frieden" Cin hello pn.rj. Die Goldschmiede haben einen grofsen
Schenktisch mit den künstlichsten G'elafsen besetzt, diese reihenweise über einander geordnet; reiche
Gehänge, die ilm umgeben, bestehen wiederunr aus kostbaren und simn-eichen ^^'erken dn-er Hände.
Lauten, Violen, imd andere sanfte Instrumente lassen in jeder Halle zu Ergötzung der Eintretenden sich
hören. So gelangt die Fürstin bis in den Saal des grofsen Rathes, in welchem für die grofse Zalil der
Gäste ein prächtiges Festmahl bereitet isl ; nachdem es geendet, treten die Tonkünstler ein, und wie es
auch nach den öffentUchen Gastmahlen des Doge zu geschehen pflegt, die er zu bestimmten Zeiten des
Jahres hält, tragen sie Gesänge vor: diesesmal ein dramatisches ') Geilicht des Sanesers Andreas Pic-
colomini. Die Feier des Tages wird mit einem Schifferstechen (^regaia) im grofsen Canale beschlossen.
INiederländische , holländische und brittische Sdiiffer, »he eben in Venedig vor Anker liegen, führen zu
Erhi'ihung der Festhchkeit ein Ritterspiel seltsamer Art frei\\ illig daneben ans, ein Lanzenrennen, bei dem
der lenksame Nachen die Stelle des Streitrosses vertritt. Dnrdi vierzig Jünghnge, die als Ordner des
Festes sicli diesesmal verbunden hatten, war für den folgenden Tag eine Ergötzhchkeit vorbereitet, die
wegen heftiger Stürme und Regengüsse unterbleiben mufste. Ein grofses Schiff nach antiker Weise hat-
ten sie hauen lassen, Argo von ihnen genannt, mit erhobenem künstlichem Sehnitzwerke verziert: es
trug eine offene, nur oben bedeckte Säuleniialle , in deren IMitte auf sechs Säulen ruliend eine kleine
Kuppel sich erhob. Vier Barken waren bestinmit es zu ziehen, als Fische gebildet, so künstUch, dafs
Ruder und alles, was sie in BewcKung setzte, versteckt bheb. IMit diesem Fahrzeuge wollte man Abends
^o""o
') Die Worte: cantando e reeitando una rappreseatazione mo/to raga etc. lassen darauf schliefsen. Vergl Dog-
Honi I. c. pag. 127. aus dessen Berichte die Hauptmomente dieser Erzählung genommen sind.
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bei Fackclcrleuchtuiig. unter Tana xiiul Gesang den grofsen Canal befahren, und ein prächtiges Mahl sollte
den Zug der neuen Argonauten beschliefscn. Als dieses sinnreiche Werk späterhin auf dem grofsen
Canale sich sehen liefs, erregte es allgemeine Bcwundennig, und man hätte gewünscht es erhalten zu
sehen, doch wurde es später auseinander genommen.
Vergleichen wir den Inhalt dieser Erzählung mit unsern früheren Berichten über andere Feste zu
Venedig gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts, so scheint freilich die Ausheute, die sie für den näch-
sten Zweck dieser Blätter gewähren könnte, anfangs nur gering. Der Tonkunst, namentlich der kirchh-
chen, ist darin nur vorübergehend, iniseros Kleisters (dürfen w\t gleich seine IMitwirkung voraussetzen)
gar niclit gedacht; wogegen wir seinen Lehrer zuvor ausdrücklich genannt fanden, die lieihge Tonkunst
aber eine ausgezeichnete Stehe einnehmen sahen. Dafs wir im Verlaufe dieser Blätter Gelegenheit haben
werden, ein ^Verk unseres Meislers, und nicht eines seiner geringeren, in bestimmterem Zusammenhange
mit dem eben erzählten Feste zu finden, M-erde zwar erwähnt; an sich aber würden wr dadurch allein
zu so langem Verweilen bei dieser Feier ims nicht berechtigt hallen können. Eine allgemeinere Bezie-
hung gewährt uns dieses Recht. Denn bei genauer Zusammenstellung dieses unseres letzten Bericlites
mit den vorliergel?nden. bei aufmerksamer Betrachtung des Bildes öffentlicher Freudenbezeugimgen , das
alle bei Anlässen verschiedener Art ims darbieten, werden wir über eines belehrt, das für die Geschichte
der Kunst und ihrer Schicksale von hoher Wichtigkeit ist. Es ist eben dieses, was bei ähnlicher Gele-
genheit zuvor schon angedeutet worden: dafs der heitere, lebensfrohe Sinn der Zeit bei festlichen An
lassen die o-anze Umgebimg des Festes, ja dieses selber, zu einem Kunstwerke umgeschaffen habe. Nir-
gend finden wir dabei etwas willkührlicli, äufserlich aufgetragen; überall das Gegenwärtige, Vaterländische,
auf solche Weise in den Kreis der allgemeinen Freude hineingezogen, dafs es, wie aus innerer Lust, sein
eigenstes Leben auf die bedeutsamste Weise eutfaltet. Was dem Venediger von Anbeginn zu Erhaltung
des Lebens, zu Begründung seiner Macht, ernster Beruf gewesen, die Schifffahrl, ^vird ihm zum heiter-
sten sinnreichsten Spiele; die Stadt selbst, zinn Schulzorte vor der Wuth der Barbaren auf unfruchlba-
ren Inseln, zwischen Untiefen und Sümpfen entstanden, auf dem anscheinend imgünstigslen Platze für
eine weithin, herrschende Hauptstadt, die sie im Forlgange der Zeiten durch IMutli, Klugheit imd Aus-
dauer ihrer Bewohner geworden, mufs, wie den sonderbarsten, so mm auch den grofsarligslen Anljlick
darbieten, die eigenthümlichste Einfassung des bunten, mannigfachen Lebens, das in ihrer lAlille sich be-
wegt. Ja, selbst die besondere Weise, wie der Ernst des Lebens zurücktritt vor der allgemeinen I'reude,
wie der Aufenthalt .strenger Ordner und Richter der mannigfaltigsten Lebensverhältnisse, auf das fremdeste
und sinnreichste geschmückt, mm mit demjenigen prangt, was die Kunst und das Handwerk sinnig und
emsig geschaffen, wie selbst diejenigen Räume, wo die Herrscher des Ganzen sonst geiicimnifsvoll über
das Schicksal des Vaterlandes berathcn, zu Wohnungen der Lust mid Freude, des Tanzes, des frohen
Mahles umgewandelt werden, zeigt auf das klarste, dafs niclit bedeutungslose ^^ illkühr, dafs tieferes Ver-
ständnifs und lebendiger Sinn für die Eigenlhümlidikeit des allgemeinen vaterländischen Lebens bei der
Ordnung des Festes obgewaltet. Die Enlwckeluiig und Erhallung dieses Sinnes müssen wir ohne Zwei-
fel der besonderen liagc Venedigs im Vergleiche gegen die damaligen ^Verhältnisse der übrigen Staaten
IlaUens beimessen. Eine festgegründele Verfassung und kraftvolle Ver\\ altung hatte \\ ährend der Sliirme,
welche das übrige Ilahcn durchlobten, ^"encdig vor dem Untergänge gerettet. Das Bewufsisein, dem
vereinten Angriffe der bedeutendsten ^Mächte Europas habe man zu begegnen, den christlichen Erbfeind
oft glückhch, Immer ehrenvoll zu bekämpfen, den Anmafsungen der sich neu erhebenden Hierarchie kräf-
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tig zu widerstehen vermocht; alles dieses erhielt die alte Zuversieht, und nährte einen edlen Stok. Kein
offentbclies Fest vvar das nIcIU irgend eine alte, grofse Erinnerung hervorgerufen hätte; fand ja seihst
manehe hohe k.rehhehe Fe.er mit einem vaterländischen Gedenktage auf bedeutsame ^Veise sich verknüpft,
vne das Fest der Verkünd.gung Maria mit dem Tage der Gründung Venedigs; wurde doch die Reihe
jener Gedenktage durcl» grofse Thaten und Schicksale der Gegenwart noch fortwährend bereichert. Und
finden Mnr endhch, ,m Einverständnisse mit dieser Gestalt des öflentllchen J.ehens, durch eine besondere
Verfassung, d.eCapelle des Staatsoberhauptes, trotz einem in der liauplstadt bestehenden patriarchahschem
Sitze, dennoch M.ttelpunkt jeder kirchlichen, jeder vaterländischen Feier, so wird eben in dieser Einheit
aUer Bestrebungen das gesunde, kräftige Leben jeder einzelnen Richtung uns klar, es trtlt in jeder Aeufse-
rung derselben uns deutlich entgegen. Mochte nun auch um die Zeit, welche uns bescl.äfligt, die hoch-
T ^u T Z ^'""''' '" ^*''''" ''^"''' %^^velkt, Baukunst und Bildnerei in entscluedenem
Urfalle begnffen sem, die letzten Töne wahrhaft dichterischer Begeisterung eben verkLngen: am längsten
konnte Vened.g „»seinen Malern, seinen Bankünstlez-n, noch eine Nachblüü.e der früheren, besseren Zeit
erhalten, am lebendigsten der Sinn für die Hervorbringungen jener bildungskräftigen Tage dort bewahrt
bleiben Im des \erblühens einiger Künste willen war aber auch der schöpferische Trieb im AUgemei-
nen nodi kemesweges erloschen; und linden wir ihn mit voller Kraft, auf die eigenthünJichste Weise,
nunmehr der Fonkunst zugewendet, so erscheint diese, wie überall in Italien, doch vor aUem in Vene-
dig, und zumal, wenn sie als heilige In den kunstreich m.d bedeutungsvoll eixichteten und geschmück-
ten renipeln m höherem Snme erMacht, die jüngste aller anderen Künste, als die lebendige, das innerste
Wesen derselben erschhefsende Stinune, und der letzte Schritt zu einer wahrhaften Vereinl^unn- aller
Allem eben dieses Erwachen .1er Tonkunst in luiberem Sinne trifft in eine ZeiC die, wir
dürfen es uns nicht verhehlen, auch die alhnähllg durchbrechenden Keime des Verderbens bereits in sich
trug, ^.chl n.ehr die frohe Entfaltung des Inneren Lebenstriebes allein, sondern vorzugsweise den Kampf
für das e.gene Bestehen _ wenn gleicli in diesem auch jene - .eigt uns Venedig in diesen Jahrhun-
derten. Den alten ^orrang unter den übrigen Staaten Itahens, wie er theils in mehr allseitiger Entwicke-
ung der umeren Kräfte, theils in feindlichem Kampfe sich bewährt hatte, wollte man auc^. jetzt noch
esthalten; nolhwend.g aber mufste dieses Streben endlich in leeres Ueberbielen der Pracht nachbarlicher
Hofe sich aidlösen, damals, wo das elgenthümhche Leben alter Freistaaten untergegangen war, und zwar
neue Verhältnisse sich gehll.let hatten, kein neues Leben aber aus ihnen sich endaltete. So nahm man
-renides auf, und wähnte sich reicher, es mannigfach umbildend m.d verkünstelnd, während man inner-
hdi unmer mehr verarmte. So sucl.te man zu Anfange des siebzehnten .Jahrhunderts das um jene Zeit
erfundene Schauspiel der Könige (wie man es nannte), die Oper, sicli anzueignen; und waren auch bei
« cren Lntstchung, wie w.r später zu entwickeln gedenken, Bestrebungen anderer und besserer Art leben-
d.g, so trat sie docli unter Umständen In das Leben, nicht geeignet, der Tonkunst eine höhere, umfas-
senclere Lntwickelung zu sichern, m^c man sie allerdings erstrebte. Als üienerinn der Eitelkeit und
irachtüebe vielmehr mufste diese Kunst sich unterordnen, andern, damals mehr ausgebildeten Künsten den
Vorrang lassen, wed sie föhiger waren, der bei allgemein verbreiteter sittlicher Erschlaffung immer wach-
senden Genulssncht feinere Reizmittel zu gewähren.
In Florenz trat diese neue Kunstschöpfung zuerst an das Licht. Diese Stadt, vormals der Haupt-
sitz emes der mächtigsten Freistaaten Italiens nächst Venedig, ^^ar durch äufseren EInflufs und inne-
re.. \errath einem Herrscherstamme anheimgefallen, der, ausgezeidmeten Bürgern des allen Freistaats
_ 4S —
u V -hvon N.mon für sich anrühren konnte, Jas Andenken des j-Tofsen Cosmn.s Vater des
verwand, zw , " "^ ^ '"[ ^^.j ..,.^^.^^ ,^^. .vissenschaf.on nnd derKünsle, nicht anf irgend ein Recht aber
Vateriandes, des '^^^^^^^^Z vennochte. Anf Blut U.rer Mitbürger halten die neuen Fürsten
den "-"-«f ^"7/^! ;f X; 1 u belesligen und zu erhalten, des Verra.hes und Meuchehnordes,
weniger als ^- J^^^'^- ^ _^ ^^.^^. _-^^,,„^,;^.,^,^ Entwickelung offenbar gestört, von allem Zusammen-
lag: so wd s.e ^\'^^ ^2Lu.eluen Lebens getrennt, und der Eimvirkung trübender Einflüsse hm-
""ZT-^ ^:^ll ; ":~ ihrer Fü^erer künnen bei tie^r, sittlicher ^ erderbnils dersell^n
egeben ^ b n^e ^ ^^^^^^^ _^^^^^ ^^^^^^^^^ ^^^^^^^^ .^^^^ Kunstrichtung, w.e wn- be. Lr-
r^r' le On m" er sich Verden kund geben sehen, hervorgegangen wie sie war aus der M.tte
fmdnng de. Opei s.e spater '^ ; ^^^ ^uiseren Umstünde migeachtet, auch emen
frrT'tlt^ST^'^^ '^^>- ^-- Ausbildung; die Art, w.e die Zeit seines
bedeutenden I^'"";^ J! ^^^^j ^ ' , .^,„, f,,„,,,„ .,,„ ,, .erleugnen. Dafs die Tonkunst aber _
t.rsprunges ™ "^J^ E^d r - dan.als nur dienend angetreten sei, anderen, mehr ausgebildeten,
nr:r^.^^rW.^ jedoch bereits abgewichenen Künsten sid. habe unterordnen müssen, g.
denk Ul fernerem VerLfe unserer Darstellung am gehörigen Orte .u .e.gen, und nehmen ner als
zlnrnur d^ eines spMeren Berichterstatters dafür in Anspruch der .e ersten An ange
de C noch eriebte, de^ (Diovan Vittorio Rossi. >) Denn rülnnt dieser gle.cb da s man damals de
aU^ aber durch viele Jahrimnderte abgekommene Weise, Com<Klien und Tragöd.en be. Sa.tensp.el ud
ötenkJ n' abzusingen, erneut habe, und Uifst den Bestrebungen der Tonkünstler dabe. volle (.erecht.g
k ridcrFab^^^^^ so war es ihm zufolge doch vornehmUch die Pracht der Seenen, d.e Manu.gfalügke.t
d s ^^^ges, wodurch damals ^nz Italien angezogen und ergötzt wurde; hier auch e.pe^t s,cl.
n L b :m bereciesten, zum Zeichen, in welchem Sinne n.an das neue Sc ausp.e genossen habe.^
,Durcb bewegliche Wände," sagt er, „sähe man bald g,^nende Geti.de ''7-^'^"^- .^^'^''^^^tr
ie Meer, bald anmulbioe Gärten; bald ,nn^^i■.lkle sich der llinanel unversehens , sebst b.s zmn Entset-
zen unter, Sturm und Lngewitter; bald sähe n.an die ^Nobnungen der Seebgen. bald d.e ew,ge Pen, der
') Vergl. Janicii Erythrmi pinacotheco elr. Vol. Jgi: 164a. paa;. f>l «nie, 'lern .vn^c,
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Vcrilaminlen ; die Bäume ihatcn freiwiUJ;;; ilire Riiiilc ntd'. liiul glcicli^rtii! von iliiicii «elxui'H, gliij;«'» sciiiMic
IMäclclien ans denselben hervor. Wälder, die sicli plüUlich erhoben, zcii^len raunen, Salyrc, Wald- und
ßergnjTiiphen ; in Flüssen und Qnellen erschienen Najaden, und vieles noch hei weitem mehr Bc^vun-
dcms^^'iu•dige, was kein Auge vor jener Zeit jemals gesehen halle." ^^olllen nun auch die Erlinder jenes
neuen Schauspiels, der Oper, in eigcnthümlichem Sinne die Tonkunst fortbilden, sie auf eine höhere Stufe
heben, so trat doch Awedcrum die Art, wie ihr Zeitalter die ganze äufscre Erscheinung desselben auf-
fafste, der Sinn , in welcliem es die Früchte ihres besonderen, dabei thätigen Bestrebens genofs, mit dem-
selben in AViderspruch ; und so mächtig ist das Wechselverhältnifs z^\isclleu dem Künstler, und den Hö-
rern, den Beschauern seiner Werke, dafs es, ihm unbewufst, notlnvendig seine Einwirkimg auf ilm be-
währt: wie hätten also jene ihm zu entrinnen vermocht! Dieser Zwiespalt erklärt mis so manche sonst
unbegreifliche Erscheinung auf dem Kunstgebiele jener Zeit, wo seit Erfindung der Oper, in den Werkpn
geschätzter Tonmeister, Einfalt, bis zur Psüchternheit getrieben, mit schwülstigem Prunke, fade Süfshchkeit
mit bitterer Herbheit in ^\ iderstrebender Vereinigung erscheinen. Die iSoth^vendigkeit, eine mehr in das
Innere, Einzelne gehende Betrachtung des Kunstlebcns jener Zeit, und ziunal der aus ihm her\"orgegaugc-
nen ^Verke unseres IMeisters, von der DarsteUims; der äufseren Gestalt seines Lehens und seiner Umae-
bungen zu trennen, erlaubt luis hier nur die allgemeine Andeutung, dafs seine \\erke, je nachdem der
Einflufs jener äufseren Bedingungen darin wahrzunehmen ist, eine frühere imd spätere Periode unterscliei-
den lassen. Jene, in welclier die Kunst im Zusammenhange mit dem allgemciucn Leben sich frei, ge-
sund entwickelte, und in dem Sinne, wie im sechzehnten Jahrhunderte die Tonkunst zu höhcrem Leben
erwacht war, eine schöne, eigenthümliche Blüthe desjenigen Z^\'eiges derselben zeitigte, der uns die hei-
lige heifst, eignen wir mit Recht auch diesem Jahrhunderte an; diese, wo die Kunst, indem sie eine
Erneuerung erstrebte, aus ihrem Bildungsgänge herausgedrängt, der Prachtliebc mul Cenufssucht sich un-
terordnen mufste, bezeichnen wir als dem siebzehnten Jahrhunderte zugehörend, in welchem jenes umge-
staltende Streben erst zu völligem Bewnfstsein gelangte, imd durch die Einflüsse der Zeit seine Gestalt und
Farbe empfing. Bedeutend, wie überall, \\ erden wir auch in dieser Periode seines Wirkens unsem !\Ieister
finden: der Riclitung seines Zeitalters theils hingegeben, theils unbewufst unterworfen, llieils in oft unentschie-
denem Kampfe mit derselben begrifl'eu ; und möchten wir den \A crken aus jenem früheren Lebensabsclinitte als
den gereiften FrücJiten einer vor ihm begonnenen Kunstrichtung vorzugsweise unsere Liebe zuwenden, in-
dem wir in den späteren die Klarheit inid Durchbildung vermissen, die jenen so vorzüghch eigen sind, so mögen
wir uns erinnern, dafs er in diesen letzten mehr grols erscheint durch dasjenige, was durch ihn erstrebt, als
was durcli ihn errungen worden ist; dafs in diese, über ihrer Zeit stehenden, durch sie aber aucli in ihrer
Reife aufgehaltenen W erkc die Keime niedergelegt sind. A^elche am Schlüsse des siebzehnten und zu An-
fange des folgenden Jah,rliunderts sich zu einer neuen Kunstblüthe herrhch entfaltet, und nicht allein für
V euedig und Itahen, sondern auch für Dculscldand reichliche Früchte gebracht haben.
In Deutschland gehörte unser Meister seit dem Ausgange des sechzehnten Jahrhunderts zu den am
meisten geachteten und beliebten Italiens. Sieben verschiedene Sammlungen ') gescliätzter, meist geislJi-
' ) L's waren folgende :
1) Coniinuaiio cantionum sacraruin 4. 5. 6. 7. 8 et plurium vocum de festis praecipuis unni etc. studio et opera fri'
derlei Liiidneri etc. Noiih. ex ojficina fijpogr. Cath. Gcrlachiae 1588. (Sie enthält einen acht- und einen zwölf-
stimmigen Gesang, Gabrieli's.J
2) Ccmnta mtisicalis, seleclissimas tmii st'jli cantiones Cvnigo Ifalis Madrigal! et tVapolitane dicimttirj i. i. 6 et
. Wintcrffld. Job. <>alirie]i u. k. Zcitnllar. V
— iii) —
tlier Gesänge waren l)is 1609 daselbsl erschienen, unter ihnen sechs zu Nürnberg, in denen seine Ton-
werke, wie der Zalil, so aucli dem hineren VVertlie nach, die vorzügUchsle Stelle einnahmen. Vornehmen
und mächtigen (iöimern, ausgezeichneten Tonkünstlern in Deutschland nahe befreundet, wie er war, konnte
es nicht fehlen, dafs man sich um ihn bewarb, dafs man hoffnungsvolle junge Künstler seiner Leitung
anvertraut ^vüliscllle. So geschähe es mii Heinrich Schütz im Jalire 1609. Dieser, geboren zu Köstritz
im Vogllaiide am achlen Octoher 1585, früh diuch eine vortrefflidie Stimme und vorzüghche Anlagen
Hir die Tonkunst ausgezeichnci, um die ersterwähnte Zeit bereits seit zwei Jahren Rechtsheflissener zu
Marburg, ja, im Begriff die Doclorwüvde zu erlangen, gab der Aufforderung des Landgrafen Moritz nach,
welcher damals jene Hochschule besuchte, imd, erfreut durch die bereits erworbene Geschicklichkeit des
jungen Blannes in der l'onkmist, ihm das Anerbieten machte, auf seine Kosten für einige Jahre nach
Venedig zu Johannes Gabrieh zu reisen, um imlcr dessen Leitung die letzte Hand an seine Ausbildung
zu legen. Beinahe vier Jahre lang hatte er als Schülei-, wohl auch Hausgenosse unsers IMcisters, sich zu
\ cncdig aufgehalten, als ihm dieser durch den Tod entrissen wurde, im Jahre 1612. Es ist anziehend
zu beobachten, wie verschieden auf Beide, den bereits gereiften, kunsterfahrnen, in Jahren vorgeschrilte-
nen IMcisler, imd den, in seiner Bildung durch ihn zuerst begründeten, aufstrebenden, das Neue begierig
plufUnn vocuni contUiens etc. Lih, /, 1588. lAh. //. 1.589 -• von deniseWen Herausgeber gesammelt ^ und eben daselbst
erschienen. 5 Jladriga/c GabrieWs, Jedes zu Je 6. 7. 8. 10. 12 Stimmen sind hierin enthalten,
3) CoroUarium cantionum sacrarum etc. ebenjril/s von demselben Herausgeber gesammelt, und eben da erschienen 1590.
j&V« zehnstimmigeSy zwcichöriges Dlotett von Gabrieli enthalt diese Sammlung, deren Quelle, wie die der drei vorher^
gehenden, die von Joh. Gabrieli bei Gardano zu J'enedig 1587 herausgegebene Auswahl von Gesängen seines Oheims^
vnd eigenen, ist.
4) Fiori del Giardino di dir. eccell. aulori a i. 5. 6. 7. 8 et 9 voci: bei Paul Iiaufmann zu Nürnberg 1597. Sie
enthält ein Jun/slimmigcs, und zwei achlsfimmige Jladrigale, desgleichen zwei achtstimmige Instrumental - Canzonen
von Joh. Gabrieli.
5) a. Sacrae symphoniae diversorum excellcntissimorum autorum 4. 5. 6. 7. 8. 10. VI et \G tarn vocibus quam instru-
mentis. Norib. ap. l'auhim Iiaufmann 1 598. Sie begreift zwei sechsstimtnige, zwei siebenstimmige, sieben achtstim-
mige Gesänge; ein zehn-, zwälf-^ seclizehn.-<f immiges Jfloteft von J. Gabrieli.
1). Sacrarum symphuniiirum continuatio. Ibidem. 1600. .Sie enthält einen sechsstimmigen Gesang, und drei sieben-,
drei acht-, vnd zwei zehnsfimmige Gesänge von J. Gabrieli.
6) Magnißcal 8 lonorum divers, ejccelt. nuctorum etc. Ib. 1600. Ein achtstimmiges Magnißcat dorischer Tonart ist
hierin enthalten.
7) Florilegium selerfissimarum cantionum pracstantissimorum actatis nostrae auctorum, \, 5. 6. 7 ef 8 vor. in illustri
Gymnasio Portensi ante et posf cibum sumptum nunc tcmporis usitatanim etc. studio et labore Erhardi Bodensehat z
etc. Lipsiae, excudcbat Abraham Lamberg. Anno 1603. (^Ein sieben- und ein achfstimmiges Jilotett von Joh. Ga-
brieli sind in diese Sammlung au/genommen. Beide enthält auch die unter JVo. 5 b. envähnfe.
Spätere in Deutschland erschienene Sammlungen, welche Wer/ce unseres Meisters aufbewahrt haben, sind:
a. Die vier Theilc des von Abraham Schadäus und Caspar J'incentius zu Strafsburg bei Paul I.edcrtz her-
ausgegebenen Promptuarii musiei. ^1611. 1612. 1613. 1617.J Sie enthalten zusammen zwä/f Jferke desselben: eines
zu sechs, eines zu sieben, zehn zu acht Stimmen.
b. Die zwei Theile des von Erhard Bodensvhatz herausieegebenen florilegium Purtense. fS. das zuvor unter JVo. 7)
angeführte If'erk.J Leipzig 16{8. 1621. Der erste Theil enthält einen siebenstimmigen und zwei achtstimmige
Gesänge unseres Kleisters, von denen zwei schon in der Ausgabe von 1603 begriffen waren. Der zweite, drei acht-
stimmige, welche auch in der Sammlung des Schadäus zu Jinden sind.
c. Sacrae symphoniae ditersorum ed-cellcntissimorum autorum, quaiernis, 5. 6. 7. 8. 10. 12 et IQ vocibus tam vivis
quam insirumentalibus accommodatae: studio et opera Casparis llassleri etc. JVorib. typis et sumptibus Pauli
haufmanni, 1613. Diese Sammlung umfuj'st alle Gesänge Gabrieli's, welche bereits in den bei demselben l'crleger
um 1598 und 1600 erschienenen sympho.'iiis sacris enthalten waren. (S. JVo. 5 a. und h.J
51 —
ergreifenden Sclüiler, jene flurcli die Gcstall der Zeit hedino-le, und zum grofscn Tlieil ije.scliriiiikle, Ke-
giing eingewirkt, welclic durcli die Bildung der Oper, imd mit derselben die Tonkunst uni/.ugcstallcii
Iraclilete. Wir widmen in der Darlegung des inneren Fortbiidcns der Knnsl durch unsern Meister und
seine ^'orgänger, cUeser Betraclitnng eine besondere Stelle. Hier, am Schlüsse unser« Berichtes über die
Lebensumstände desselben, bleibt uns von den Irl heilen seiner Zeitgenossen über ihn, xm den zu Ve-
nedig mit ihm lebenden, der Kirche des heiligen ^Marcus cUencnden Tonkünstlern, nur noch Einiges nach-
zutragen.
Am nächsten liegt dabei ohne Zweifel dasjenige, was von seinen beiden uns bekannleii Schü-
lern über ihn aHsges])rocIien worden; von Heinrich Schütz, dem nachmals so hocbgefeierten, beinahe
hundert Jahre nadi dem ersten Auftreten seines Kleisters noch ridnnvoll auf dem Ccbicte ,1er Tonkunsl
Ihäligcn Deutschen, und von Aloys Grani, seinem Landsmann mid i^Iit\ollslrecker seines letzten \Villens.
weniger berühmt, aber seines Meisters nicht unwerüi, und ihm mit irn.iger Verehrung ergeben. Secb/ehn
Jahre nach dem Tode GabrieH's. um 1Ö28, begab sich Heinrich Schulz umi zueilenmale nach \enedi«.
um daselbst, (mit seinen eigenen Worien zu reden) •), „der inzwischen a.ilgcbrachlen. neuen, und henll
gen Tags gebräuchlichen IVLinier der I\Iusik sich zu erkundigen." — Obgleich aber dem Neuen nach-
strebend, war er dennoch mil seinen Gedanken zuerst auf seine, in der iNäbc seines alten IMeislers ver
lebten Jugendjahre, auf dessen Griissc in der Kunst gerichlet. .,Als ich nach Venedig kam,' (sai;! er in
dem Vorwort einer, ein Jahr nach seiner Ankunft von ihm herausgegebenen Sannidtnig geisllicjier Ge-
sänge) ■") „ging ich dort vor Anker, wo ich als Jüngling unter dem grofsen Gabrieli die ersten Lehrjahre
in meiner Kunst zugebracht hatte. Ja, Gabrieh! Ihr unsterblichen Gütter, welch" ein Mann Mar der!
Hätte ihn das wortreiche Alterthum gekannt, den Amphionen würde es ihn vorgezogen haben; oder
wünschten die Musen Verniählung, so besäfse IWclpomenc keinen andern Gemahl als ihn, solch ein Mei-
ster des Gesanges war er. Das verkündet der Ruf, aber der beständigste. Ich selbst war defs reichlich
Zeuge, der ich ganzer vier Jahre lang seines Umganges genofs, gar sehr zu meinem Frommen." _ We-
niger pompliaft, aber herzlicher und würdiger klingen die ^Vorle. mit denen Aloys Grani die nni 1615
von ihm gesannnelten, ^) zum Theil nocli ungedruckten, sechs- bis ncunzehnslimmigen Gesän-e seines
iMeisters, einem deutschen Freunde des Verewigten zueignete, dem Abte des Ueichsslifls Sancl^^Udalrich
und Afra zu Augsburg. Johannes IMerck aus I\Iindclheim. .,Ist auch dieses endliclie Leben (spricht er)
das wir hienieden fiU.ren, ehrwürdiger \aler Abt, noch nicht ein seeliges zu nennen, so bietet es doch
zuweilen einen \ orschmack jenes secligen und ewigen, ich meine unsterblichen Ruhm luid Ehre, der
Tugend eigensten Lohn; wie denn Seneca mit Recht in jenem Ruche idier den frühzeitigen Tod be-
zeugt, dafs die Tugend aUein es sei, die uns Unsterblichkeit gewähren kiinne. Hat dahw gleich Jo-
hannes Gabrieli, jener ausgezeichnete, keinem andern seines Zeilallers weiclicnde Tonkünsticr, seit einigen
Jahren, von den Fesseln des Irdisdien gelöst, seine leibliche und irdische Hülle abgestreift, so darf ich
Um doch mit Recht glücklich preisen, da er durch seine Tüchligkcil, seine ^Vissenschaft, ewiges, unver-
') In der Zueignung; des drillen Theih seiner s,jmphoniae saerae (Dresden, leöOJ «« den Chnrfürsten Johann Georg von
Snehsen.— ^) S,jmpl,oniae snerae a 3.4.5.6. Opus ecr/esiastieum secimdum. f'enelüs afiid Barfho/omaeum Mai^ni. 1629
) Symphoniae saerae Joa„n\is Gabrielii Sereni/s. Iteip. l'enet. organisluc in cechsia Divi Marci. Liber secnndus.
Sems, 7, 8, 10, 11. 12. 13. 11. 15. 16. 17 cf 19 fam vociius '/nam instninienlis. Editio nora. Cum privifegio. Si^^num
aardani: .lere liarlholonuiei Magni. l'enetiis 1G15. Sie enlhalten 32 (Jesiinge: zirei see/.sslimmige , -.nei siehcnslim.
nvge, arlit „chlstimwige , ,hei zehnstimmige , einen elßl immigen , sieben zuM/fstimmige . einen drei-.rhnslimmigen , drei
r.erzehnslimmige. einen ßinfzehn-, zwei sevkzehn-, einen siebzehn- nnd einen nennze/.HStimmiffm,.
— 52
oänoliclics I.0I, uikI (;.-.lä<I.I,r.rs in .liosem Leben sich berellet hal. Mag er verstummt sein, der Welt,
die "seiner Gesänge Süssiokclt enl/.ückt, werden diese nimmer verstummen; mag seine Hand aufgehört
haben uns seine Gedanken aufzuzeichnen, was sie aufgezeichnet, w-ird die Nachwelt der Unvergiinghch-
keit zu weihen nicht aufhören; möge uns seine leiblidie Erscheimmg entzogen sein, in den Vcremen
unserer Tonkiinsller wird sein Andenken immer gegenwärtig bleiben, ja, seine grofse Kunst und Tüch-
tigkeit v^'ird lebendig selbst bis zu denen dringen, die er niemals gesehen noch gekannt hat." ISht eben
so innio-er Verehrung endlich nennt der Augustinermöncli Pater Thaddäus von Venedig, der m demsel-
ben Jahre (1615) dem Herzoge Albert von Bayern Gabrieli's nachgelassene Instrnmenialstückc ') über-
reichte unsern IVIeister eine Zierde der Grazien ^''^0«* gratiar„mj indem er den Gön.ier des Verewig-
ten mit dessen eigenen \Vorten als .,Bayerns köstlichste Zierde" rühmt. MöclUe es aber scheuen, als
trü-^en diese Lobsprücbc der nächsten Freunde unseres Meisters das Gepräge der Parthedichke.t: so wer-
den wir doch nicht umhin kimnen, dem Zeugnisse des ArtusI Glauben beizumessen, der m sem-r Dar-
le.'uno- der Vnvollkonmicnheilen der Tonkunst seiner Zelt, den Johannes Gabnch an mehren Jrten unter
de'ii vorzüglichen Tonkünstlern, den Meistern der guten Schule nennt, und dem Urtheile des Midiacl
Prätorius beizupflichten, des gründlichsten Tonmeisters und Tonlehrers seiner Zeil, welcher des Gabneh
in den meisten Abschnitten des dritten Thelles seines Syntagma nmsirwn als Musters gedenkt, und seiner
selten erwähnt, ohne ihn zugleich „den vortrefflichsten, hochberühmtesteiv' zu nennen; we denn auch
Seth Calvlslus In seiner AbhantUung über die redite Kenntnifs der Touarlea auf GabrieU öfter alslMusler
hinweist.
ISeben allgemeinem Anerkenntnisse liatte unser Meisler aber audi des Zusammenlebens und \\ ir-
kens mit auso^ezeldineten Amtsgenossen sich zu erfreuen. \'on Buhhasar Donato, dem Nachfolger
des Zarlino Ini Amte des Sängermeisters bei St. Marcus (seit dem neunten März 1590) sind meist nur
weltlldie Gesänge auf uns gekommen; einzelne geistliche, die m verscliledenen Sammlungen sieh zer-
streut finden, geben nldit liinreidiendc 'videgenheit, sein Verdienst um die klrchhdic Tonkunst würdigen
zu lernen. Artnsl nennt audi ihn unler den besseren Tonkünstlern seiner Zeit. Schon seit 1596 Mar,
Ihm Johannes Croec. nadi seiner Vaterstadt Chioggla oft nur Chiozzotlo genannt, als Milhelfcr beige-
sellt und seit dem dreizehnten Juli 1603 sein Nad.folger. ^Vir wertlm bei Darlegung des mnei-en B.l-
dun^soanoes der heiligen Tonkunst zwar nicht Gelegenhdt finden können, auf Um wiederum zuruckzu-.
konmen, da er auf diese unmittdbar, weder fördernd noch umgestaUend, auf bedeutende Weise einge-
wirkt hat; aber mizwelfelliaft gehört er zu den besseren Mdstern der damaligen Zeit, zu jenen gluckh-
dien Naturen, wdche die Ihnen, wenn audi nur innerhalb eines engeren Kreises, verhdienen Gaben auf
das befrledi-^endste zu ent^vickeln Avissen, und durdi Ihre liebenswürdige Eigenthümlid.ke.t immer anzie-
hend bleiben. Hdter imd freundhch, wie er selber im Umgange gewesen sdn soll, sind audi seme ge.st-
lldien Gesänge; sdbst in den ernsteren herrsdit dne gewisse Wdchhelt, die sie denen vorzugsweise ge.^
niefsbar madil, wddien, durch die Gegenwart verwöhnt, die geistliche Tonkunst jener Zeit sonst nidit
') Cauzonl e Sanale dcl S!gn: Giovanni Gahriell, organista della serenissinia repuhlicadl l'ene-.ia in S. Marco.
vi 3 5 G 7 8 10 12 14. 15 et 22 voci: per sonar con ogni Sorte d'instmmenti, con it Basso per l Organ». Dcd,-
cate al Serenissimo Dura di Baviera dal Rov. P. F. Thaddeo da Veneria, Agostiniano. Con Privilegio. Stampa del
Gardano. Jn Veneria 1G15. Appresso Bartolommeo Magni. Der Jnstrumentahtdcke sind ein und z,ran^.g: eines «c
drei, fünf, rie,zehn. funf-.ehn, ^u'ci und -.n-anzig Stimmen: drei -.u sechs, drei zu sieben, sechs zu acht, z,re, zu zehn
und zu-ei zu zu-ölf Stimmen.
— 53 —
zusagt. So erschienen sie bereits den Kunslfreinulen der letzten Hallte des siebzehnten Jahrhunderts,
einer Zeit, die mit den Kunstansichten der niichstvorhergehenden meist in entschiedenem Gegensatz, ni
Beurtlieilungen von AVerken früherer Meister sonst oft einsoilig und ungerecht sich darstellt. ,.Noch,
(sclireibt Doglioni von ihm.) sind seine Werke in den Händen der Kunstfreunde, und werden täglich mit
grofsem Beifalle von den iMusikchiiren gesungen. Und wiewohl es scheint, als würden um des Neuen
willen, das ja vorzügUch zu gefallen pflegt, die Künstler am meisten gepriesen, und als sei das zu-
letzt Erfundene auch immer das Behebteste, so verhält es sich doch anders bei «liesera .^lelsler, denn je
öfter man seine Gesänge hört, um desto mehr pflegen sie zu gefallen."
Julius Cäf/ar Martlncngo aus Verona, seit dem zwei und zwanzigsten August IfiüS des Croce
Nachfolger, war früherhin bei der Ilauplkirchc zu Udine angestellt gewesen. Ueber seine ^^ erkc sind
uns keine Nachrichten aufbehalten. Seine Lebendigkeit im Ausdrucke, seinen ausgesuchten Geschmack,
finden wir mit allgemeinen Worten gerülmit, und können, ohne im Stande zu sein ein eigenes Urtheil
über ihn zu bilden, aus der ilun anvertrauten Ehrenstelle und diesen Lobsprüchen nur schliefsen, dafserzn
den ausgezeichneten Tonkünsllern seiner Zeit gehört habe. Er starb in jugendlichem Aller, und ihm folgte seit
dem neunzehnten August 1613 Claudio Monteverde aus Cremona, ein Sclüiler des IMarco Antonio Ingegneri,
und früher im Dienste VIncenz Gonzaga des ersten, Herzogs zu IMantua. Als einen der vornehmsten Beför-
derer jener neuen Richtung, die seit Erfindvuig der Oper auch der geistlichen Tonkunst sich bemei-
stertc, tinden wir ihn von seinen Zeitgenossen, wie ihre Sinnesweise sie dem Alten zuwendete oder dem
Neuen, theils bitter getadelt, tlieils abgöttiscli verehrt. Während er, von dem Tadel jener verwundet,
in der Zueignung eines geistlichen Werkes an den Papst Paul V. diesen demütliig um seuien Seegen
littet, damit (beziehungsweise auf seinen Namen): „der kleine Hügel seines Geistes immer mehr grüne, und
der IMund werde des IMonteverde Afterrednern verschlossen" Cut moitn e.vlguus ingenii mei magis ac magis
virescat in dies, et claudantur ora in Claudium loguentium iniqua) sehreiben seine Bewunderer
von ihm: „was er geüian, ist der Welt ofienbar, es ist unniöglicli mit rohem Kiele es sattsam zu preisen;
denn gleicli einem ^^ under in dieser Kunst hat er menschhche Ersvarlimg überiroiren." Wie jene .ih-
weichenden Urtlieile sicli gestalten konnten, wie seine Bestrebungen und Leistungen zu denen des.,:J:0-
hannes Gabricli sicli verhalten, werden wir in dem Folgenden sehen. ' '•'^- f'tli .mrtitt
Und so bleiben uns am Scldusse dieses Abschnittes nur nocli die Namen der drei Nachfolger des
Andreas Gabricli bei der zweiten Orgel von St. IVlai-cus zu erwähnen, w eiche Amtsgenossen seines Neffen
Johannes waren: Vincensi Bei (oder BeW avere.) Joseph Gunmi. und Paul Giusto, welche In kurzen
Zwlsclienräumen (den 30. December 1586, 30. October 1588, 15. September 1591) auf einander folgten.
Von ihren Lebensumstanden ist uns nichts Näheres bekannt: geachtet waren sie bereits seit der letzten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Des ersten wird künftig noch zu gedenken sein, des zweiten ist
in Zarllno's Zeugnisse bereits rühmllcli gedacht worden, und an dem letzten lobt Dos;lIoni vornehmlicU
die Uebereinstimmung seines Spiels mit dem Gesänge. ' .ih'w
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— 54 —
VIERTES HAUFTSTÜOK.
Der gregoriaiitsclK! Kirchengcsang ; dessen Bedcntung, und das Ver-
hältnifs der aUen belgischen 3Ielster %n demselben, %mnahl Adrian
Mlllaerfs, des Stifters der Venedischen Tonschuf e.
Auf doppelte Weise können wir jeden Gesang bclrachten. Ais eine Reihe von Tönen zuerst, ver-
schieden nach Höhe und Tiefe, in deren Verknüpfung wir dem Gesetze nachforschen, das sie zu einem
Ganzen vereint. Als innig verbunden mit dem \Aoiie sodann, das durch ihn verklärt werden soU; ver-
scliicden gestaltet von innen heraus durch dessen Inhalt, äul'serlich geregelt durch sein Maafs. Enger ist
die erste Betrachtimgsweise, die nur den Stoff zum Gegenstande nimmt, umfassender die zweite,
welche mit dem Kunstwerke, seinem innern Wesen nach, sich beschäftigt. Gedenken wir nun in dem
vorliegenden Absclmitte den Zustand der Kunst heiligen Gesanges um die Zeil des Adrian Willaert,
Stifters einer VcnediscJien Gesangschule, darzulegen, und sein Verdienst um dieselbe zu würdigen, so
bietet von selbst dabei jener doppelte Gesichtspunkt sicli dar. Wir beginnen mit der letzten Belracli-
tungsweise, denn fruchtbarer wird nach ihr uns die erste sein, wir werden auf diesem Wege uns in den
Stand gcselzt finden, das W esen, die Bedeutung der Klrclientonartcn zu entwickeln, zu deren Erforschung
er uns leiten Avird.
-de on Bei jeder kirchlichen Feier bietet der katholische Gottesdienst uns Gesänge verschiedener Art und
mannichfiiltigpn Ursprunges. Die heilige Schrift frciüch ist die Quelle der meisten, doch findet der Reich-
tJmm, den sie bietet, auf verschiedene WVise sich ange\\endet. Bald sind es ganze Gesänge gröfseren
Umfanges; Psalmen und fromme Lieder, von heiligen Frauen und Männern bei besonderen Ereignissen
iials gesungen oder gesprochen aufgezeiclinet; biblische Bruchstücke bald, in Verbindung gesetzt mit Ge-
sängen solcher Art, oder mit Stellen der Schrift und der Väter, welclie der Vorlesimg bestimmt sind.
In solcher \erblndung, und nach Weise derselben unterschieden, finden wir gegenwärtig Antiphonieen
und Responsorien, jene den Psalmen und heiligen Liedern, diese den Lektionen gegenübergestellt, nach
dieser Beziehung in den älterein Zeiten der Kirche freilich nicht zu bezeichnen. Denn was gegenwärtig
diesön Namen führt, \\as auch zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts schon im Wesentlichen gestaltet
war. wie jetzt, beschränklc in früheren Zelten sich nicht auf biblische ßruchslücke allein. Es ■\\aren
ganze Psalmen, und die Namen Antiphoiiic und Responsorium dcnleten auf die besondere \\ eise des
Vortrages im Gesänge: wie sie der Chor nändich, entweder in zwei Hälften gesondert, gegeneinander ab-
sang, oder mit dem Vorsänger wechselnd, das von ihm Ausgesprocliene durch einstimmige Wiederho-
lung bekräftigte. Beiden Arten heiliger Gesängo im ANesenIlichen übcreinsliinnicnd, nach ihrer Stellung
bei verschiedenen Theilcn des Gottcsdiensles aber versrhieden benanTit, finden wir: Invilatorien, und
Introitus, Gradualien imd Offertorien, deren gemeinschaftliche Quelle überall die heilige Schrift ist.
— 55 —
Aber auch metrische Gesänge dirlsllichcr Dicliter, für einzelne Feste zu verschiedenen Zeiten be-
sonders gediclitet, wurden seit den hüJiesten Zeiten der Klrclie angewendet, und mit dem allgemeinen
Namen Hymnen bezeichnet; bei der Messe endUch die verschiedenartigsten Gesänge zu einem'' Ganzen
vereinigt
Nur die Betrachtung der Art, wie aUe jene Gesänge bei einer bestimmten festlichen ^'eranlassun"-
angewendet wurden, vermag ein anschauliches Bild derselben zu geben. \\ir wählen unter den andern
kirclihchen Festen das Osterfest, als eines der bedeutungsvollsten, auch defshalb am liebsten, weil Aiele
der dabei üblichen Gesänge durch Joliannes GabricH in Musik gesetzt sind.
Der Früligottesdienst, die Mette des Osterfestes, beginnt mit dem Gesänge der drei ersten Psal-
men Da^ds; ihnen folgt, je an einem der drei feslUchen Tage, eine besondere Vorlesung; am ersten
Tage: des Evangehi von der Auferstehung des Herrn, wie es bei IMarcus im sechzehnten Kapitel aufge-
zeichnet ist; am zweiten: der Erzählung von den Jüngern zu Emaus; am dritten: von dem letzten Ab-
sclucde des Herrn und seiner Jünger nach seiner Auferslehun^, wie beides vom Lukas im vier und
zwanzigsten Kapitel bericlitet wird. An den beiden ersten Oslerlagen schliefsen sicli dem EvangeUo drei
Abschnitte aus den Honnlien des heiligen Gregorius an; drei dergleichen aus dem Ambrosius sind dem
Evangebo des dntten Festtags beigegeben. Z^^^chen die Psalmen sind doppelte Antiphonieen eingeschal-
tet, und zwei dergleichen gehen denselben voran, von denen die erste, ihrer Stellung nach, als Einleitung
zu der ganzen Feier des Tages, den Namen Invitatoiium fidirt. Ein Responsorium folgt den beiden
ersten zu verlesenden Abschnitten; dem letzten der ambrosianische Lobgesang.
Das Invitatorium:
Der flerr ist wahrhaftig auferstanden, Halleluja!
und der ihm folgende 94 (95)ste Psalm:
Kommt herzu, und lasset uns dem Herrn frohlocken, und jauchzen dem Hort unseres Heils'
rufen den Gegenstand des Festes, die Stimmung, welche es erwecken soll, sofort in das Gemüth; die
anderen Psalmen, die Seeligkeit desjenigen preisend, der da Lust hat an dem Gesetze des Herrn, seine
Macht rühmend, die des Tobens der Heiden spottet, bei der sein Volk Hülfe iindet und Seegen, un-
terhallen diese Stimmung, und auf das Sinnreichste wird in den Antiphonieen aus eben diesen Psalmen
und anderen Theilen der Schrift das auf den erstandenen Erlöser prophetisch liindeuten.le zusammen-
gestellt.
„Ich bin, der ich bin," beginnt die erste mit den Worten Jehovah's zu Moses, als er aus dem
feungca Busche ihm den Auszug aus Aegj^ten verkündete, und fahrt dann, wie die übrigen, fort mit
Stehen aus den verlesenen Psalmen: „Ich bin, der ich bin, ich wandele nicht im Rathe der Gottlosen
sondern habe Lust zum Gesetze des Herren, Halleluja! Ich habe geheischt ^on meinem \^ater. Halleluja!
und er hat nur die Heiden zum Erbe gegeben, der ^Velt Ende zum Eigenthum, HaUeluja! Ich lag und
sclUiet und bm erwacht, denn der Herr hält mich! Halleluja!"
Dem ersten der vorzulesenden Abschnitte folgt am ersten Festtage ein Responsorium, genommen
aus der Erzählung des Mattl.äus von der Auferstehung, im acht und zwanzigsten Kapitel:
„Der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu, wälzte den Stein von der
Tlmr, setzte sicli darauf, und sprach zu den \^ eibern: Fürclitet euch nicht, ich weifs.
dafs ihr Jesum den Gekreuzigten suclit. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er
gesagt hat. Kommet her und sehet die Stätte, da der HeiT gelegen hat. Halleluja!".'. -i
- 56 -
l'nler dem Namen l'ersus folgen tlaTin die Worte des Marcus im seelizeliiileu Kapitel:
„Und sie gingen hinein in das Grab, inid sahen einen JüngUng zur rechten Hand sitzen, der
halte ein langes -vveifses Kleid an, und sie entsetzten sidi; er aber sprach zu ihnen:
Fürchtet euch nicht u. s. w."
%\o sodann die, beiden Evangeüsten gemeinsamen Worte des Engels, wie sie am Sddusse desResponso-
riums früher vorkamen, das Ganze beenden.
Auf eben so bedeutsame W eise scldiefst am zweiten Festtage dem zweiten verlesenen Abschnitle»
d(>r Betrachtung über die Erzählung von den Jüngern zu Emaus, das folgende Responsorium sich an:
„Er ist auferstanden der gute lErte, der sein Leben dahingab für die Schaafe, für seine Ileerde
in den Tod zu gehen gewürdigt hat, Ilallcluja, Halleluja, llalleluja!"
und der \ers:
„Denn Christus ist als unser Passah geopfert,"
wo dann mit dem dreifachen Halleluja der Bescldufs gemacht wird.
Gesungen, in engerer Bedeutung des Worls, wurden in der alten Kirche von den eben mitgeUied-
tcn Stellen der .Schrift, nur die daraus zusanimengcselzten Invilatorien , Anliphonieen und Responsorien.
Die Psalmen, hier, wie bei andern Theilen des Gottesdienstes, trug man auf eine ^\eise vor, welclie
die Mitlc hält z>vischcn rednerischem Vortrage und eigenlhcliem Gesänge. Der eigenthümhchen Geslal-
lun«^ der Psalnien^erse, die in der Mitte gcwi)hnlich einen Abschnitt zulassen, sich so in zwei Hälften
theilen, die dem Ilauptiulialle nach einander gleichen, schlofs auch der Vortrag sich an: zu Anfange auf
einem Tone ruhend, die .Stimme gegen den Abschuilt in der IMilte hin bald erhebend, bald senkend; in
der zAveiten Hälfte nach abermaligem Verweilen auf einem Tone, den .Schlufs ganz ähnUch gestaltend.
Nur bei der, jedem Schlüsse eines Psalmes folgenden Doxologie: „Ehre sei dem Vater und dem Sohne
und dem heiligen Geisle, wie es zu Anfang war, und nun und immer, und von Ewigkeit zu Ewigkeit,
Amen!" pflegte man die Eiidworte: seriilorum amen, wenn auch nach einer ähnliclien Formel, doch be-
stimmter singend zu beschliefsen. Acht verschiedene Tropen oder Kirchentönc, nach, den einzelnen
Psalmen, den festlichen Veranlassungen, verschieden, hatten sich hienach gebildet, durch Anfang,
IMitte und die Schhifsgesangsformel zu erkennen, die man in den P.saltcrien durdi die in dem „secu-
loittm amen" enthaltenen Vokale E, u, o, n, a, e bezeichnete. Dafs man zu den Zeiten, wo kirchliclie
Einriclitimgen sich zuerst gebildet, durch solche Art des Vortrages die Psalmen hörbarer, versländUcIier
zu machen gestrebt, dafs man das Bedeutendste, am meisten Bezeichnende jeden Festes durch Gesang
noch eindringlicher zu machen beabsichligt, mit diesem, wie mit einer kösilichen Einfassung, das Ganze
des (ioLlesdIenstes umgeben woUle, leuchtet ein. Als ein Hergebrachtes erliiell sich diese Einrichtung in
dem Cathedralgottesdienste, nachdem tlie Sprache der ganzen kirchlichen l'^eicr dem Volke bereits eine
fremde geworden wai.
Der Abendgollesdiensl, die N'espcr des Osterfestes, biete! neben fünf Psalmen und deren Antipho-
nitteu uns noch heilige Gesänge anderer Art.
Den Psalmen: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: selzc dich zu meiner Rechlen, bis dafs idi
lege deine Telnde zum Schemel deiner Fiifse;" „Ich danke dem Herrn von ganzem Herzcü, im Rathe
der l'roumien und in der Gemeine;" ,,\N ohl dem, der den Herrn fürchtet, der grolse Lust hat zu sei-
nen Geboten;" „Lobet ihr Knechte des Herrn, lobet den ISamen des lierrn," wie sie die ^ ulgala in dem
P.salmlnu'lic unter den Zahlen 109 bis 112 enthält, folgl der. in derselben mil der Zahl 113 bezeichnete,
— 57 —
den 114 und Holen Psalm der lutherischen BibeUihersetzung zusammenfassende heilige Gesane: Üa
Israel aus Acgj'pten zog," die Auswanderung des Hauses Jakobs aus dem fremden Volke, als pro-
phetische ^Verkündigung aufstellend der Auswanderung von der Knechtschaft des Gesetzes, zu der Freiheit
des Evangelii, errungen durch denjenigen, der da war der Erstling derer, die schlafen. Für diesen Psahn •^ab
es, abweichend von den übrigen aclit Kirchentönen, einen besonderen neunten, ihm eigenthümlichen, der
Pilgerton genannt (ioiitts peregrmusj, eine Gesangsformel, die in manchen lutherischen Gemeinen noch
dem deutschen Slagnificat sich angepafst findet. Aeltere Breviarien, namentlich die der Kirche des heili-
gen IMarcus zu Venedig, welche auch seit den durch Pins V. eingeführten \'eninderungen der katholischen
Liturgie noch alte Gebräuche beibehielt, sclireiben nach den erwähnten Psalmen noch den Gesang der
Hymnen vor: Jesu noslra redemtio; Ad coenain Agni providi, von denen namentlich der letzte die
christlicfie Bedeutung des vorangegangenen Psalmes näher entwickelt:
Bereitet za des Lammes Malil
' Mit weifsen Kleidern angetlian,
Da hinter uns des Meeres Balin,
Des Heilands Lob mm Lebet an ').
Der neuere katholisclie Cultus schhefst in der Osterfeier den Gesang der Hymnen aus.
Die Hymnen, metrische Gesänge frommer Dichter christhcher Zeit, bald in gereimten Versen, wie
die eben angeführten, bald in antiken Maafscn mit hindurchklingenden Reimen, wie die noch in der lu-
Üterischen Kirdic an manciien Orten in deutscher Uebertragung und mit geringer N'cränderun"- ihrer alten
Weisen üblichen: A soUs ortus cardine; Vita sanctorum dectts angelorum etc. unterscheiden hiedurch
sclion von andern heiligen Gesängen sich hinlänglich. Die Vesper endUch wird mit dem JMao-nificat bc-
sclilossen, dem Lobgesange der heiligen Jungfrau (Luc. II.) : „ Bleinc Seele erhebet den Herrn , und mein
Geist freuet sicli Gottes, meines Heilandes;" einem Gesänge, der, gegenübergestellt der prophetischen Ver-
helCsung des 109 (llOten) Psalmes, die Erfüllung verkündet, nicht in irdisclier Pracht und Herrhchkeil,
welclie vergehet vor dem Hauche des Herrn, der die Gewaltigen stöfset vom Stuhl und die INiedri^en
erhöhet, sondern in dem Erwachen eines innern, neuen, heiligen, in DemutJi begonnenen Lebens.
Dieser Gesang, in seiner äufsern Einrichtung den Psalmen ähnlich, (wie denn die Canlica auch
Psalmi majores, die gröfsern Psalmen, genannt werden) wurde in der Kirche, den festlichen Veraidas-
sungen zufolge, ebenfalls wie die Psalmen nach acht vorhandenen Tropen oder Kirchentönen voro^etra-^en,
INur waren die Intonationen festlicher, gesangälmlicher , als bei diesen. Seit der Reformation ist, wie
sclion erwähnt worden, dem IVIagnificat in der lutherischen Kirche nur der, bei demselben frülier
niclit gcbräucliliche Pilgerton geblieben. Zwisclien den Psalmen und dem Lobgesange der Rlaria, die
durdi ihren Vortrag auf die angegebene Weise unterschieden, und dennoch einander genähert waren,
traten ihre Anliphonieen hervor, gesungen im strengeren Sinne. Der Hymnus aber zeichnete sich vor
der ganzen heiligen Feier besonders aus: der gemessene Schritt seiner Worte gab auch seiner Gesangs-
weise eine bestimmter gezeichnete Gestalt, da Antiphonieen und Responsorien, wie wir gesehen haben,
in ungei)undener Rede verfafsl, aus zusammengereihten einzelnen Stellen der Schrift bestanden.
*) Ad cocnam agni providi
I^t stolis albis candidi
Post traHSiimn maris ritbri
Cliriafo canamus priiicipi.
C'. r. Wiuterfcltl. Joh. Gabrieli ii. s. Zeitalter.
— 58 —
Die Messe endlich, der IlaiipUlieil des katholischen Gottesdienstes, bietet uns eine Rcilie mannigfach
zusammengesetzter Gesänge. Dem Osterfeste sind mit allen hohen Festen gewsse derselben gemeinscliaft-
lich, deren Inlialt, als allgemein bekannt, wir nur andeuten. Es sind diese: das Kyrie und Christe
eleison; das Gloria, unter dem Namen des Morgengesanges sclion in der ältesten christlichen Kirche be-
kannt, zusammengesetzt aus dem Lobgesange der Engel bei der Geburt des Erlösers, aus Gebeten und
Danksagungen; das Nicänische Glaubensbekenntnifs ; das dreimal Heilig, der Lobgesang der Cherubim
in dem Gesichte des Esaias; endheh das Agnus Dei. Stetig ihrem Inhalte nach, in ihren Gesangsweisen
wechselnd (bis auf das Credo) nach den verscliiedenen heihgen Zeiten, den Festen der Jungfrau, der
Engel und der Apostel, bezeichnen sie diese nur durch eine ^^erschiedenheit solcher Art. Eigenthümlich
aber, ihrer Gesangsweise und ihrem Inlialte nach, treten, den verscliiedenen festUclieu Veranlassungen zu-
folge, heraus: der Introitus, das Graduale, die Sequenz, das Ofifertorium, die, dem dreimal Ileihg voran-
gehende Präfation.
In seiner musikaUschen Behandlung den Antiphonieen ähnlich, beginnt der Introitus die Feier des
Hochamtes am Osterfeste, llicils mit den eigenen Worten des 138 (1.39sten) Psalmes, Üieils mit solchen,
die auf seinen Inhalt deuten; zwischen diesen läfst ein dreifaches Ilalleluja sicli hören:
„Icli bin auferstanden, und bin noch bei dir, Ilalleluja: du hältst deine Hand über mir, Hal-
leluja: solclies Erkenntnifs ist mir zu wunderbar und zu hocli, Ilalleluja! Herr du erfor-
schest mich und kennest micli: ich sitze oder icli stehe auf, so weifst du es."
Diesem Eingange scliliefsen Kyrie und Gloria sicli an, den Vater und den Sohn um Erbarmen
flehend; in dem Gesänge der Engel bei der Geburt des Herrn sodann, und den damit verbundenen Wor-
ten des Lobes imd Gebetes, das höcliste Erbarmen preisend.
Das Graduale folgt dem aus dem fünften Kapitel des ersten Corintherbriefes vorgelesenen Ab-
schnitte, und leitet die Vorlesung des Evangelü ein. Eine alterÜiiimliche , in der Kirche des heiligen
Marcus zu Venedig beibehaltene Sitte erklärt anscliauhch seine Benennung. Nocli jetzt stehen zur Rech-
ten und Linken des Hoclialtars dort zwei erhabene Bülmen ^ambonesj, zu denen Stufen hinanfiiliren.
Der Diakon, wenn er die Epistel von der einen Bühne verlesen, tritt zu dem Iloclialtar, und, nachdem
er das Evangelienbuch von dessen Glitte geholt, besteigt er die andere, lun von ihr das Evangelium zu
verkünden. Während dessen ertönt eben das Graduale, angestimmt von dem Sängerclior auf den Stufen
des ambo. Es beginnt mit Worten des 117 (118) ten Psalms, imd indem es damit Stellen aus dem ver-
lesenen Abschnitte verbindet, tritt es zu ilim in ein Verhältnifs wie das der Antiphonieen zu ihren Psal-
men. Seine Gesangsweise, in frülieren Zeiten von dem Vorsänger und dem Chore wechselnd vorgetragen,
ist im Wesenthchen der des Introitus älinhch, nur dafs sie reicher, festlicher tönt, und sicli durch be-
stimmtere Einschnitte auszeichnet:
„Diefs ist der Tag, den der Herr macht, lasset uns freuen nnd fröhlich darinnen sein."
„Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglicli, Ilalleluja,
Hallehija! "
„Auch wir haben ein Osterlamm, Christus, für uns geopfert"
„Lasset uns Ostern halten in dem Süfsteigc der Lauterkeit und der Wahrheit. "
Dem Graduale folgt unmittelbar die Sequenz, früher bei allen Festen, jetzt nur noch bei einigen
in der katliolisclien Kirche üblich, bald in gebundener, bald, wie hier, in ungebmulener Rede verfafst,
durch welche liie und da ein Reim hinklingt; ausgezeichnet vor den übrigen heiligen Liedern bei der
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Messe durch die Einrichtung ihrer Gesangsweise, die, aller sonstigen Vcrscliiedenlieit ungeaclitet, den-
noch in den Hauptzügen allen Sequenzen gemein ist. Die Gesangsweise aller nämlich besteht aus mehren,
einander gleichartigen Abschnitten, deren einige verschiedenen Abtheüungen des Textos öfter angepafst
sind, in derselben Art, wie dieses in der bekannten alten Melodie des ambrosianischen Lobgesanges ge-
schieht. Diren Namen trägt die Sequenz nach ilirem Ursprünge. Uebereinstimmenden Zeugnissen gemäfs
entstand sie aus Dehnungen, mit welchen man singend die letzte Sylbe des dreifachen Ilalleluja an hohen
Festen ausschmückte: aus dem wortlosen Jubel, der dem Gesänge folgte, das Lob im himmlischen Va-
terlande anzudeuten, für das hienieden die Worte fehlten, welche frommer Sinn dennoch in späterer
Zeit ihm anzupassen suchte.
Die Worte der folgenden Ostersequenz sind nirgend bestimmt aus der Sdirift entnommen, sie
enthalten nur Anklänge aus derselben:
„Dem Passaliopfer weiliet Lobgesänge, ihr Christen. Das Lamm hat die Schaafe erlöset,
Christus, der Unschiddige, hat dem Vater versöhnet die Sünder."
„Der Tod und das Leben rangen in wunderbarem Kampfe, der Fürst des Lebens, der ge-
storbene, regieret lebendig."
„Maria, sage, was du geschauet auf deinem Wege?"
„„Christi, des Lebendigen Grab, des Auferstandenen Herrlichkeit hab' ich geschaueL""
„„Die Engel, defs Zeugen: das Scliwcifstuch und die Kleider.""
„„Christus, meine Hoffnung, ist erstanden, er gehet euch vorauf in Galiläa.""
„!\Iehristzu glauben IVIaria, der einen, Walirhafteu, als dcrSchaar der Juden, der lügenhaften. "
„Wir wissen, dafs Christus wahrhaft auferstanden ist von den Todten: du, unser Sieger, un-
ser König, erbarme dich unser! Amen, Halleluja!"
Der Sequenz schhefst die Vorlesung des Evangelü von der Auferstehung sich an, nach dem sech-
zehnten Kapitel des 3Iarcus; dieser das nicänisclie Glaubensbekenntnifs ; sodann (während in älterer Zeit
die Gläubigen, ihre Spenden niederzulegen, der Priester, die Hostie darzubieten, vor den Altar traten) wird
das Offertorium gesungen, aus dem neiuiten und zehnten Verse des 75 (76)ten Psalmes genommen:
ii-i „Es erschrickt das Erdreich und wrd stille, wenn Gott sich aufmachet zu richten."
Seine Gesangsweise gleicht der den Anfiphonieen eigcnthümlichen.
Nun beginnt die Präfation. ^Vie bei der Messe der Weilie des Brotes und des Kelches, so gehet sie am
grofsen SabbaÜi vor Ostern der Weihe der Osterkerze und des Wassers voran. Für die verscliiedenen heiligen
Zeiten, die Feste der heihgen Jungfrau, der Apostel, der Evangelisten u. s. w. dem hihalte nach wecliselnd, ist
der für sie festgesetzte Gesang nur in so fern verschieden, als er sich abweichenden Worten anzuschmiegen hat.
Wechselgesänge, früher wohl des Liturgen und der Gemeine, später des Priesters und Sängerchors, gehen
ihr voran; der Priester leitet sodann, allein singend, mit ihr die Weihung und das während derselben
gesungene dreimal Heilig ein. Im Wesentlichen kann man den, obgleich reicher geschmückten Gesang
der Präfation, dem der Psalmen ähnhch nennen. Er läfst, wie die für jene bestimmten Weisen, sich in
zwei zu einander gehörende Abschnitte tlieilcn, von denen der erste, so oft nach einander wiederholt,
als es die vorzutragenden Worte erheischen, mit Erhebung der Stimme die ersten Sätze jeder Periode
schhefst; der zweite, mit einer wiederkehrenden Schlufsformel den Schlufssatz derselben bezeichnet. Fol-
gende sind die Worte der Präfation am Osterfeste. Die Wechselgesänge mit denen sie beginnt, treten
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tUnch den Inliait srlioii vollkouiincn ilcullich heraus; die initiieren und Ilauptabsclmitte, wie die Formel
des Gesanges sie hervorhebt, sind durch Absätze bezeiclmct.
.,Der Herr sei mit eucli — und mit deinem Geiste. Aufwärts die Herzen — haben wir bu
dem Herrn. Lasset uns dem Herrn imscrm Gölte danken — würdig ist es und gerecht.
Wahrhaft würdig ist es und gcredit, billig und heilsam,
Dich, o Herr, ^vie zu jeder Zeit, so vor Allem an diesem Tage, herrlicl» zu verkünden,
Wo Christus, unser Osterlamni, für uns geopfert ist. —
Denn er ist das wahrhafte Lamm, das der Welt Sünde trug,
Das durch seinen Tod unscrn Tod vernichtete,
Und auferstehend uns das Lehen ^^^ederbrachte. —
Und um des willen, mit den Engeln und Erzengeln,
Mit den Fürstentlüimern und Herrschaften, Cthronis ei dominationihmj
mit allen himmlischen Heerschaaren, tönt unser Lied zu deinem Preise, da wir unaufliörlich
singen:
Heilig! HeiUg! Heilig ist der Herr Zebaolh, alle Lande sind seiner Ehre voll,
Hosianna in der Höhe!
Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn,
Hosianna in der Höhe!"
Der Sclilufsgesang der Messe: „Du Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, erbarme dicli unser,
gieb uns Frieden," veranlafst uns zu keiner besonderen Bemerkung.
Ueberschanen wir nun noch einmal jene verschieden gearteten Gesänge, wie in ihrer Anwendung
bei einem bestimmten Feste w'ix sie uns vorüber gehen hefsen, so nehmen wir eine Steigerung dcuthch
wahr, von dem der Rede sich mehr nähernden Vortrage, bis zu feierlichem, künstlichem Gesänge. Das
imter dem Namen „Lektionen," als der Vorlesung bestimmt, unmittelbar Bezeichnete, tritt durch erhöh,
ten Ton über die gewöhnUche Rede allein liinaus; zum Gesänge wird es in der heiligen Woche, wo
die Klagelieder des Jeremias einen Theil der Lektionen bei den Metten einnehmen. Höher erhebt sich
die Stimme bei der Vorlesimg des Evangelii; eine gesangartige Schlufsformel bezeichnet die einzelnen
Absclmitte des Verlesenen, und tritt an dessen Ende noch bestimmter heraus. Gesangähnlicher wird
auch der Vortrag des Evangelii in der hcihgen Woche. Drei Priester, im Vereine mit dem Chore, lassen
aus der schlicliten Erzählung des Evangehstcn von der LeidensgescJiichte, die Reden des Herrn, seiner
Jünger, seiner Richter und Peiniger, das Gesclirel des Volkes, fast dramatisdi uns vorübergehen. Die
Psalmen und helligen Lieder zeigen in scliiddlcher Steigerung sclion eine förmllclie Gesangswelse, die
sich in zwei einander entsprecliende Hälften theilt, in bestimmter gestaltetem Gesänge endet Aehnllch
geordnet, geht die Präfatlon, nacli dem unglelclien Wechsel der beiden. Dir mit den Psalmenweisen ge-
melnschaftllclien Hälften, zum Gesänge Immer mehr sicli erhebend, endlich in die feierlichen Töne des
dreimal Heilig über.
Wie nun diese, der Rede verhältnlfsmäfsig ähnhclieren Theile des Kircliengesanges sicli zum Ge-
sänge allmählig steigern, so auch entfaltet sidi dieser immer bestimmter, immer reidier: von den Lnita-
torlen und Introitus an, welche die heihge Feier einleiten, zu den, zwischen den Psalmen sich hervorhe-
benden Antiphonieen, den im Wcchselgesange schon künstlicher heraustretenden Responsorien , bis zu
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dem fesllidien Gesänge der Hymnen, deren riiythmische ^^ eisen, bei gleieli;ntif;en Stroplien wiedeikelirend,
sich um so fester einprägen.
Bei dem Kyrie, dem Sanclus und Agnus Dei in der Blesse, tritt das Wort sclion fast ganz zurück
gegen den Gesang, der in mannigfaltigen Tonverbindungen hier um so gescbmückter, ja am höchsten
gesteigert ersdieint, als er nur wenigen ^Vorten sich anzuschlicfscn hat. Z\Nischen den gröfseren, un
gleidiarligen ^lassen des Gloria und Credo hebt die Sequenz, am bestimmtesten gestaltet, sich heraus,
mehre mit einander wechselnde Gesangsweisen zu einem Ganzen verbindend. Die Introilus, die Gradua-
üa und Offertorien, die übrigen Gesänge und \ orlesungen einleitend, und zwischen sie hindurch gewebt,
maclien diesen Thcll des Gottesdienstes, den IMIttelpunkt jeder kirchlich -katholischen Feier, auch in Hin-
sicht des Gesanges zu dem am reichslen, am mannigfaltigsten ausgestatteten.
So war , seinen Gnmdzügen nacli, der Kirchengesang beschaffen, so stellte sein Verhältnifs zu dem
Worte sicli dar, dem er zunäch.st sich auschlofs, so zu dem Geiste, der in Anordnung des ganzen
Gottesdienstes waltete, als. nach dürftigen und spärlichen jVnfangen, um die 3Iitte des fünfzehnten Jahr-
hunderts, in den ?yiederlanden eine neue frisclie Blüthe durdi die Kmist der Harmonie aus ihm sich ent-
faltete. So audi bestand er zu \ enedig, als um den Anfang des sedizelmten, Adrian ^'N iUacrt jener, bis
dahin nur als fremde Blüthe dort gepflegten Kunst, eine heinüsche Stätte bereiten sollte. Fragen wir
nun, ^vie jene Kunst damals besciiaffen gewesen , so können wir diese Frage iiicht anders genügend be-
antworten, als wenn \\ir jenen alt- überheferten , so mannigfadi gestalteten Kirchengesang zuvor auch
aus jenem zweiten, zu Anfange bereits aufgestellten, Gesiditspunkte betrachtet haben; nach dem Stoffe,
aus dem er geijildet worden, den Tonreilien. die ihm zu Grunde liegen.
Schon zuvor haben wir gesehen, dafs für die Intonation der Psalmen und heihgen Lieder acht
sogenannte Tropen üblich waren, denen für den Psalm: ..da Israel aus Aegj'pten zog" ein neunter, der
Pilgerton, sich gesellte; dafs diese Formeln für eine Art redeähnliclien Gesanges, nach der Weise miter-
schieden wuirden, wie der Stimme vorgeschrieben war, zu Anfange sich zu erheben, in der Glitte des
Verses zu einem Ruhepuidi^te , am Ende zu einem völligen Schlüsse überzugehen. JNach diesem IMaafse
jedoch konnte man die übrigen, in angemessener Sleigenmg immer künstlicher ausgebildeten Kirchenge-
sänge nicht messen. Jene Formehi waren zumeist auf einen Umfang von nur fünf Tönen beschränkt;
diese andern Gesänge erfüllten nicht allein gewöhnlich den Umfang einer Octave, sie gingen auch wold
damber lünaus. Dennoch woUte man auch hier jene kirclilidi einmal geheiligte Zahl beibehalten, sie
durch ein Gesetz rechtfertigen, eut%vickelt aus den Tonreihen, die jenen Gesängen zu Grunde lagen.
Oft aber fand man sich dabei in Widersprüchen befangen. Denn das Ergebnifs rücksichtsloser Forsdiung
stimmte selten dem kirdihch Festgesetzten und Geheiligten überein, oder dem von den Alten Gelehrten,
wie es der Zeit, nach IMaafsgabe ihrer Kenntnifs, ihres \ erständnlsses derselben, ersdilen. So finden
wir denn in den alten Tonlehrern aus dem sechsten bis zum zehnten Jahrhundert hinab, deren Samm-
lung wir dem Fleifse des Abtes Gerbert verdanken, bald fünfzehn, bald zwölf, bald neun und bald acht
Tonarten genannt, und jene Zahl, bald auf die Bewegung der Himmelskörper, die Verrichtung verschie-
dener Organe bei Hervorbringung der menschlichen Stimme, die Lehre ^'on den ^^ oUklängen, mehr oder
minder sinnreich imd anschaulich gegründet, den Tonarten griechisdie Benennungen, doch nicht immer
auf gleiche Welse beigelegt, oft sie nur durch Zahlen bezeidmet '). Seit dem elften Jalirhundert, über-
') Cassiodor fGerbert scriptores I. p. VlJ nimmt 15 Töne an fim sechsten Jahrhundert J so auch fim «euntenj Remigius
fon A\ucerre (ih, p. 63. 66.^. Der erste gründet sie auf seine Theorie von den Jf Wohlklängen ; der tn-eite nimmt 5 prin-
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Iiaupt, naclulcm Guido von Arezzo der Lehre gröfsere Bestimmtheit gegeben, bis auf Glarean, der um
die RllUc des seclizehnten Jahrhunderts eine andere Ansicht vertheidigte , sind ziemlich allgemein acht
Kirchenlöne angenommen, und diese gegründet auf die verschiedene Weise, wie die Lage der halben
Töne sich verändert, wenn die diatonische Leiter ohne willkührliche Erhöhung ilirer Glieder mit dem
einen oder dem andern derselben begonnen wird. Dafs man so gelehrt, ist unbestrittene Thatsache ; wo-
her aber jene, dem Anscheine nach, völUg villkührhche Lehre? Denn, besteht die diatonische Leiter
ohne Zweifel aus nur sieben Tönen, weil die Octave als Schlufston Wiederholung des Grundtons ist,
und kann diese daher als Anfangspunkt einer neuen Reihe, einer, von denen welche die vorangehenden
Töne beginnen und bilden, wesentlich verschiedenen, nicht angesehen werden; woher aclit, und nicht
vielmehr sieben Tonarten? Und lehrte man, dafs jede Tonart in Haupt- und Nebenton unterschieden
werden müsse; weshalb nicht vierzehn Tonarten in Allem? Eine innere Nothwendigkeit der ange-
nommenen Zahl vermögen Avir nicht aufzufinden, wold aber wird jene Annahme durch den Geist der
Zeit, die ilir eigenthüniliche Art wissenschaftlicher Forschung gerechtfertigt. Die griechischen Tonlehxer
beschlossen ilire drei Klanggcscldechter, das diatonische, chromatische, und enharmonische, innerhalb einer
Reihe von vier Tönen, einem Tetracliord, dessen äufserste Tongrenzen das Verhältnifs einer Quarte dar-
stellten; durch Verknüpfung solcher Reihen, durch Wiederholung der in ihren beschlossenen Verhältnisse,
bildeten sie ilire Tonarten. Die gefeierten Alten ehrte man als Quelle aller Erkenntnifs, schöpfte man
auch, selbst bis in die Mtle des sechzehnten Jahrhunderts nocli, niclit aus ihren Tonlehrem unmittelbar,
sondern meist nur aus BoeÜiius die Kenntnifs der bei ihnen gangbaren Grundsätze. Ihnen nachfolgend
bescliränktc man sicli auf ^icr Grundtöne aller Tonarten, unser D, E, F, G; enthielten sie doch in ihrer
Folge die ^c^hältnisse des kleinen und grofsen Tons und des Halbtons, deren Zusammensetzung die
diatonisclie Leiter, und alle gröfseren, in derselben vorkommenden Tonverhältnisse bildete; in ihnen, so
glaubte man, sei defshalb auch das Reich der Töne vollständig erschlossen. Jedem der durch sie begon-
nenen Haupttöne, wurde mm, nach dem Vorgange der Alten, noch eine Nebentonart beigesellt, eine
Reihe, bezogen zwar auf denselben Grundton, doch von ihm aufwärts nur bis zu seiner Quinte, abwärts
dagegen bis Iiinab zu seiner Unterquarte sich erstreckend. Als äufserste Grenzen dieser vier neuen Rei-
hen ergaben sicli so die Töne A, H, C, D; mit den Grundtönen der Haupttonarten zu einer Reihe ver-
einigt, stellten sie die acht Töne der Octave vollständig dar, und die Zahl acht erscliien, als alle Tonar-
ten in sicli bcscblicfscnd, durch die Lehre der Alten, durch ein von der Kirche geheihgtes Gesetz, voll-
kommen gerechtfertigt. Aber die Kirche axich hatte dasselbe nicht ohne tieferen Grund geheiligt Ein
wunderbares Gcheimnifs, sagte man, waltet, wie über den Zahlen im Allgemeinen, so vornehmlich über
der Vier imd Acht. Erschliefst in ihnen sich nicht die Bedeutung alles Irdischen wie Geistigen? Aus
vier Elementen ist gebildet, was uns umgiebt, in dem Wechsel der vier Zeiten des Jahres, in ^■ic^ Tem-
peramenten, offenbart sich uns die Eigen thündichkeit der Erde und des Mensclien. Vier Evangelisten
haben uns die Geheimnisse der Offenbarung verkündet; am achten Tage wurde Jesus dem ^^ate^ geweiht,
am achten nach seinem Einzüge in die heilige Stadt erstand er von den Todlen. Achtfach sind die
Freuden der Seeligkeit; und zeigt uns nicht endlich, wenn wir zu den Tönen zurücJvkehren, das Ver-
-ri'ii <''/'"''"■' ""' "'"' *<^'-' jedem 2 Kehent'ünc zur Seile. Berno Augiensis (im Wteii Jahrhundert) gründet 9 Töne auf die
Verrichtungen verschiedener Organe; nennt acht als im hirchliehen Gebrauch, encähnf jedoch die 3Ie'mung einiger,
j,,; weiche deren tnö!/ annehmen. Aierelian ton Rheims^, (im neunten) Kofleer, Hucbald , Regina von Prüm und Oddo von
Cüigntj (im lehnten Jahrhundert) nennen ap^ht^v^d ^üi>e^hßKJpt,Sf> G^iifo's .JXach/oIger.
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hältmfs der Octave in seinen beiden ungleiclien Hälften, deren doppelte Zusammenfügung Haupt- und
Nebentöne g.ebt, sinnbildlicli das alte und neue Testament, die Liebe Gottes und des Nächsten, das tliäti<^e
und beschauliche Leben? ^
So bereit^vimg wir jenen frommen Sinn eliren, der in allem Irdischen ein bedeutungsvoUes Sinn
bdd des Ewigen fand, der die Form, in welcher die e.dge Ordnung der Dinge von ihm angescl^aut
worden auf jedes Enizelne übertrug; so wenig werden Avir dennocli durdi jene Lehre mis befriedigt
finden können, da sie, nicht sowohl ein in dem Wesen der Töne beruhendes Geset. für deren wL
knupfungen zu erforschen als ein bereits einseitig angenommenes, als allgemein gültig zu rechtfertigen
strebt Dafs auch d.e frül,ere Zeit, so wenig, als die spätere, vöUig davon überzeugt worden sei, erge-
ben schon d.e angeftihrten, neben der aUgemeinen Lehre dennoch vorkommenden Abwelclmngen , und
deren manmd.fach versuchte Begründ,n,g. So künstlich aber auclr späterhin Glarean und Zarlino, jener
m der ersten, dieser in der letzten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, il,r neues Lehrgebäude von
zwölf Tonarien aufzuführen streben, so scliarfsinnig sie es zu rechtfertigen trachten, immer fühlen wir
uns unbefneigt; ,ene Richtung auf das Sinnbildliche, in der die Zahl lebendig wird, ist verlassen, die
ZaU, das durch sie ausgedrückte Verhältnifs herrschen in il.rer Nacküieit, die Regel erscheint als been-
gende Schranke die Ausübung in stetem Widerstreit mit derselben. Wir erfahren durch jene Lehrge-
bäude nicht, ob eine, und welclie, eigenthümliche Anscliauung der Tonwelt jener Zeit aufgegangen sei-
war boren nur, w^e es mit den Tonarten beschaffen sein müsse, und dafs nur einzelne Meister Ld un-
ter diesen am wenigsten die ausgezeichneten, diesen strengen Forderungen genügt haben. Die ei-^en-
thumhche Gbederung einer jeden dieser Tonarten, so scheint es, müsse auch den innerhalb dersefben
gebildeten Melodieen eine besondere Färbung geben, einer jeden von ihnen verscJiiedene Wendungen
und Ausweichungen aneignen, überhaupt eine jede mit dem Kreise der anderen mannichfach verknüpfen
Die Eigenschaften jeder Tonart nun legt uns Zarlino, Meitläuiig beschreibend, jedesmal dar, ohne sie'
jedoch aus ihrem Wesen überzeugend zu entwickeln; zu unserm Befremden aber weist er einer jeden
von Ihnen gleiche Ausweichungen an. Wenn in früherer Zeit, bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhun-
derts, bei nur dürftigen Ueberbleibseln von Tonwerken, w auf die Bericlite der Tonlehrer uns fast aus-
sclihefsend beschrankt finden, und, - einzelne Hinweisungen auf den alten, überlieferten Kirchengesan«
misgenommen - der lebendigen Beispiele ganz entbehren müssen, weil die beigebrachten, theils zun.
Beweise des eben vorgetragenen Lehrsatzes erst erfunden, theUs, wie deren die meisten beiFranco, offen-
bar unnclitig niedergesdineben sind, da sie weder zu den vorangehenden Lehrsätzen passen, nodi innere
Uebereinstimmung der m ihnen verknüpften Töne darsteUen: so sehen wdr in dem Zeitalter jener spät.-
reu Tonlehrer - aller Verwahrlosung musikalischer Denkmalile aus jener Zeit ungeachtet - uns einem
Reiditliume von selbständigen Werken gegenüber; und wiU es der Lehre nicht geKngen, vollkommene
Uebereinstimmung mit der Kunstübung zu eireidien, durch innere überzeugende Kraft uns zu gewännen,
J, rechtfertigt sidi die Voraussetzung: sie habe mit der gleidizeitigen FortbUdung der Kunstübung nidit
Sdinlt gehalten, sie könne nur in sdir besdiränktem Sinne als Sd.lüssel für dieselbe gelten; wer die
Tonkunst, namenüich das Wesen der Tonarten jener Zeit woUe kennen lernen, sei an ihre Werke fast
aussdihefsLcli zu verweisen; er habe nidit sie nadi der Lehre, sondern die Lehre „ad. ihnen zu
prüfen, nadi dem Leben der Töne, das in Urnen sidi ersdiliefse.
Freihch hat mandier Forsdier, unwillig und ermüdet, von jenem besdiwerlichen Wege sich bald
abgewendet. Wie die Erzeugnisse der Tonkunst überhaupt, so bieten audi die Werke jener Zdt nicht
— ßl —
bevoU^vnli^ seiner ForscLun^ ^id. -lar. gleich den NVerlcen clor biiaenden Künslo. Aus fod.en Zelcl.en,
1 hc .Ic nie.lcP^elegt si.u», mufs er sie mühsam ersl nieder beleben, das für d.c Ausfidirung m
'"•'''ein^ebien TLeih. Zerle^-Ie aus denselben sieh ^vieder aufbauen; und ^vill er sieh nieht begnügen, ,m
cZe .Hein die Ansebammg des Kunstwerkes zu erringen, so hat er eine Mehrzahl von Kräften um s.di
.rversammeln, sie mit Anstrengung heran zu bilden, um den sinnlichen Eindmek zu gewinnen Darum
"eil hat die Mehmhl, der Forselnmg in den Lehrgebäuden sieh zugewendet, welehe den W^fsbegiengen
'" Eroründung sofort vorliegen, welehe überall nur Bekanntes voraussetzen, den Ton, und das mefsbare
Verhälluifs auf das er zurückgeführt ^Ird, und hienaeh nur einfache Thätigkelt des Verstandes erheischen,
um in sie 'einzudringen. Mit Ueberzeugm.g wählen .nr jenen anderen, müliseeligen zwar doch s.cheren
We.- und - widersprechend, wie es sel.einen möge, dennoch Ist es wahr _ d.e Tonlehrer jener Ze.t
seC werden ihn uns ebnen helfen; wenn auch nicht durch das von ihnen ausgesprochene W o r t unmit-
telbar doch durch den ganzen Sinn und che Eigenthümhchkeit ihres Verfahrens.
GWean leint um 1547 von sechs Haupttünen, die er nach Lage des Ilalbtons unterscheulet; dem
dorlselien phrygischen, lydischen, mixolydischen, acoliscl.en und ionischen; in dem schon zuvor entwieke-
fen st^ gesellt er einem jeden von ihnen einen Nebenton, dessen Ver^vandtscha t mrt semem Ilaupt-
one (iedoi bei vorwaltender Richtung nach der Tiefe) durch die Benennung des hypodonschen, hypo-
nW eben u s. w. ausgedrückt wird. Mehrstimmige Beispiele dienen ,hm als Belege semer Lehre;
doTfiudet er 'eben bei den besten Meistern die häufigsten Abweichungen von derselben; eine semer Tonarten,
d^ vdische weifs er nur an unzureichenden Mustern nachzuweisen. Dieses Mifsverhaltuifs zwischen
Lchrl und Kunst in jener Zeit, dem .-ir in dem Folgenden eine genauere Betrachtung widmen werden
bet liot in uns die Ueberzengung: der hannonischen Kunst, in welcher Sinn und innerer Gehalt ,ede
Tonart%lcli erschliefst, dürfe - wie Glarean mit Recht lehre _ ein höheres Alter nicht be^emessen
werden als ein bis in die Mitte des fünfzehnten Jahihunder.s hinaufreichendes; früherer Andeutimgen
Tnd Ve;suclie ungeachtet, denen eben nur als solchen, um des Strebens .nllen In das Wesen der Zu-
l^.nklän.^c ein7udrin.^en, die gehelmnlfsvollen Beziehungen zu fassen, denen zufolge die Tone em-
:ir^:7t^^:s.^.., l^ WerUi zugestanden werden kann. Das fnsche Tugendalter d. I mist
harmorcher S.immcnverknüpfung, so behauptet Glarean, habe et^va siebzig Jahre «) vor semer Zeit be-
tr," um 1470 hienaeh. nllt Hobrecht und Okenheim, den Lehrern und Vorgängern des Josqum de«
Pr" Drelfsi. Jahre ^) nach jenem Zeitpunkte sei ihr männhehes Alter eingetreten; a^so mit dem An-
an.c des sechzehnten Jahrhunderts, den späteren Lebensjahren Josquins. Noch um ftinf und zwanzig
Tahfe später») sei sie zu Ihrer vülligen Reife gediehen; mit dem Zeitalter Wlllaert's also, u.ul der beg.n
nenden venedischen Schule; finden .4r auch deren Meister bei Ihm nicht genannt. Nun aber weissagt
er derselben Ihr herannahendes Greisenalter, weil sie in Tändelei versunken sc., die Spur der Allen v er-
lasse die Grenzen der Tonarten nicht mehr beobachte. In einen verkehrten Gesang verfaUe. Lin ahnh-
L'urlhell aber fällt er bereits über den von Ihm so hoch gefeierten und verehrten ^oscpun, der
Ihm zufoI<^e dem kräftigen, männlichen Alter der Kunst angehört, wenn er von ihm, fast mit denselben
VWen, behauptet: er Äcnne die Grenzen der Tonarten, er strebe auf verkehrte Weise nacli^Neuem
und Unerhörtem. Ein so auffalleuder Widerspruch ist nur durch die Annahme aufzulösen: Bei dem
.) Ante anno. LXX. ') Ante anno. XL: also 30 Jalue nach Jene,n crs>en 7.Upunk,. ') A XXV Jan. annis. Dode-
cachord: p. 240. 211. Lib. III. Cap. 13.
— 65 —
Lobe jenes Mo^ters rede des Verfassers ndiUger Kunstsinn, bei dem Tadel, sein, durch ,Ue von ihm
verfochtene Lehre mifsleitetes Urtheil. Mit dieser Annahme freilich föllt Glarean's Behauptung von einem
bereis beschlossenen Kre.se der Kunstbildung dahin, an .eichen zu glauben .."r ohneL ^icht geneigt
«exn durften; denn was d,m den Verfall andeutet, hätte ja sd.on jene Zeit eigenüuhnlich bezeichne^
d.e der voihgen Rc.fe der Kunst erst voranging. Sein Zeugnifs über das Alter derselben aber ge^
wmn überzeugende Kraft En.mal sehen wir deutlich aus jenem schwankenden Wechsel des TadS
m,d ch.s Lobes, damals habe etwas sich zu entwickeln begonnen, das dem bisher angenommenen MaafL
oder doch .nem m gleichem Sinne neu aufgesteUten, widerstrebend, Tadel und WidersprZ e^etn'
müssen, wahrend an Ke.m neuen Lebens dennoch darinn nicht ungeahnet geblieben sei DannTs I^
bemerkenswerth, dafs Glareans Prüfung der von ihm mitgetheüten ^^heispiSe immer mr je^e ei ehL
der zu en.em Ganzen verwobenen Stimmen zum Gegenstande hat. Haupl und Nebenton IhToW
«ne andere verwandte Tonart, erkUngen ihm in den verschiedenen Stimmen zugleich, .äe z B. L]Z
s^^::^^^^^^^^^ vit'^^'-f ^"^ 'T'-' ""'''' -' ''- ^^^'^'- ^-- ^'" ^^
»opran und ßafs. ) ^ on Ausweichungen also ist nur in jenen einzelnen Stimmen nicht In ,1.
:;lTd fd ''TT ^" — "^'-^- »»er ,he llle; da jener Zusamm kla.; d ^
.una hst durch das Ohr Vernommene, bei höherem Alter der hannonischcn Kunst die Fotschun: tf
das d.m zu Grunde hegende Gesetz noünveni-g würde haben leiten müssen, so ergicbt sich die Fol I
rung: n,an habe das Ganze defshalb nur nach seinen einzelnen ßestandtheilen .emes e„ w 1 Jele
tracl^tung b.s dahm nur Kunstwerke gekannt, die jenen einzelnen Bcstandtheilen gldchart" Ce e ' oder
nur solche Verbindungen versclnedener Gesünge, welche, ohne dieselben zu einem Ganze^ 1 v ehmd
zen, s.e nur au solche We.se vereinigt, dafs dem Ohre kein .Mifsklang lästig gefallen, wenn ^tt
dem Zusammenkange ken, eigenthümliches Leben hervorgegangen sei. So aLh wird es erklär ich wl
b Ib die Werke cmer fnsch und kräftig in neuem Sinne sich entfaltenden, und fortwachsenden Knst ni^
u eremstnnmen konnten mit den ^Wschriften einer Lehre, welche, den vorhandenen Denkm I^ ^
olge, durch einen Zeitraum von fünf Jahrhunderten in ihren Grundsätzen schwankend sich Tdl ch h
festigt, dmch vier Jahrhunderte sich vüllig beg^indet, und die von Glarean voroetra!"!; Äu de W L
Wonnen hatte; c^nn die Ausbildung dieser Lehre war einem noch langsame gedtirentn S: I^^^^^^
S^enuber geschehen, und er im Wesentlichen unveränderten Gestalt eines übeSieferten, Ln ^
m^ Ig festzuhaltenden KiKhcngesanges. Hatte man aber zu Glareans Zeiten auch das Ungenüge fde^j itr
1 1 7 y d ^-T r' ""''"'''" «^''"*' "" ^"^^ '''-' "^"-"""S ^-h nur insofem^esch len
.k die Zahl der bisher gangbaren Formeln als Maafse für das Norhandene vermehrt worden ; 'uchZ'
ne^m geschähe sie nur, m em man durch immer genauere Berechnungen die einzelnen Tonve^ni se
sorgfältiger zu bestimmen, das neue Lehrgebäude mit den Ergebnissen der Forschung in den athü r
Vergessenheit allmähhg .^eder hervorgehenden Werken der griechischen Tonlehrer 1 also dem «tX
lTsS7;ird''""'Tr ? ^'"^^^^ ^^ehereinstimmung zu bringen trachtete; nil, i!:l
rKll f -fbluhende, neue Leben der Kunst einer gründlicheren Betrachtung .vürdi»;. In voreili-
fZenc^che R 7 Tt^ "''" '^"•'" ''"'^"' ^'" herannahendes Greisenalter, da' zu erbUcken, wo die
Lere^dl h 7 r """" ""'"' ^"'' ""'' "P^'^^^' ''^'^ ^"^f^^^^^' ^^ '^S« schlummernde Le-
ben ndlu^h zun. Bewufstsem zu gelangen, an das helle Licht des Tages zu dringen strebte. Es ist dieses
emVrb^^ zu aUen Zeiten sich offenbaren .Hrd. wo die Kunst lebensk^ftig fortwächst, das aber
') Dodecachord: /iL ITT. Cap. 24 p. 365.
C. T. W-intrrMd Joi. Gairisli ■. ,. ZeittlWr
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— (j() —
zu sokhon Zeilen, ^vie .lio uns jel/.l bcsrhiiflisende, am schiicidcndslen hcrvorlrelen mufs. Um so wc-
„i..er darf es aber nns befremden, als selbst bei den Tonmeistern jener Zeit wir eb Mvlcfacbes Bilden
wahrnebmen, das Zusammenfügen vcrscbicdoner Melodicen. nnd das lebendige Entwickeln der
einen ans der andern, so Ms eine die andere hebt und trägt, im Zusammenklange sie verkliirl. Bei dem
einen fol-ten sie dem berecbnenden Verstände, dem bis dabin klar Erkannten; bei dem andern emcm
unerkannten y-war und dunklen, aber sieber leitenden GefiUJe, das allmäblig zi. klarem Bewnfslse.n re.fen
mufste jemehr sie mit den Tiinen, dem von der Katur ilmen gebotenen, dureb sie /-u bildenden Stofle,
vertraut wurden, sie als ibren Leib sieb aneigneten, als die belebende. berrseJ.endc Seele in ibnen wobnlen
Damals ergötzte man sich an der bunten IMannicbfaltigkeit vielfach verwobenen, in seiner Fülle wohl-
klingend dahinrausclienden Gesanges; selten nur, und dunkel ahnend, dafs ein mächtiger Geist, von den
Unbewufsten gebannt, der Geist der Harmonie, sich rege in jenem Zn.sammenklange, in ihm sich zu offen-
baren strebe. Darin aber bestand seine Offenbarung, dafs nicht jede einzelne der verwobenen Stimmen
mehr einem besonderen Gesetze gehordiend erschien, dafs ^-lehnehr, unbescliadet der lebendigen Gliede-
rung des Ganzen, in den durch \'erelnigung aller Stimmen gebildeten Zusammenklängen nnd ihrer gegen-
seitigen Beziehung, ein gemeinsames Gesetz für das Ganze kund wurde; eben der Kirchenton, dem es
•m^iörte Die Darlegung jenes Gesetzes, nicht als einer hemmenden Schranke, sondern als eines m
den Werken der letzten Hälfte des seclizehnten Jahrhunderts lebenden, sich in ihnen verk..rpernden,
durch sie bewährenden, ist die Aufgabe, die wir in dem folgenden Absclmitte dieser Blätter zn li.sen ver-
suchen Uns dazu vorzubereiten, den Anfangspimkt jener neuen Kunstb'ütbe zu finden, fassen wir ein
Bild des Lebens der geisthchen Tonkunst in tlie Augen, wie es um den Anfang des sechzehnten Jahr-
lumderts sich darstellt in den unmittelbaren Vorgängern WiUaerts, des Stifters der Venedisclien Schule.
Dieses Bild wird die, wenn auch flüchtige, Betrachtung einiger N^ erke des damals so hochgefeierten Jos-
„uin lies Prds uns am sichersten gewähren, eines Meisters, den wir um so eher als \"\ iUaerls unmittel-
baren Vorgänger ansehen dürfen, weil dieser ein Zf.gling seines Scliiders, Johannes IVIonton, war, und,
wie schon erzählt worden, der eigenthümlicben Weise Josquins so sehr sieh zu bemächtigen gewufst
hatte dafs ein von ihm gesetzter heiliger Gesang in der päpstlichen Kapelle lange Zeit für eines der
schönsten Werke jenes Meisters gelten konnte, bis die Sänger, über den wahren Urheber unterrichtet,
ihn für immer trotzig zurücklegten. An der ganzen Art der Stimmenverflechtung, dem Verhältnisse des
Wortes und des Tones, wie es in den Werken dieses ftleisters sich darstellt, an der Stellung gegen deu
alten, überheferten Kirchengesang, werden wir die Hindernisse erkennen, welche der tieferen barmonisclien
Entfaltung des Gesanges damals entgegenstanden, das dennoch Ersclilossene um so freudiger anerkennen,
die Urtlreile der Zeitgenossen erst redit verstehen lernen.
In Josquins Werken, gründen sie auch meistens sich auf alte Kirchenweisen, finden wir doch
nirgend jene Steigerung heaclitet von dem mehr redeähnlidien zum kunstreidi ausgebildeten Gesänge,
wie ihn jene Weisen, von den Psahnen und heihgen Liedern bis zu den Hymnen und Mefsgesängen dar-
legen. Auch dasjenige, was, altem Herkommen gemäfs, nur mit erhöhter Stimme vorzutragen, durdi
Gesang einzuleiten und zu umgeben war, wie die Absdmitte aus den Evangelien bei der Messe, findet
bei ihm, slnnreidi und seltsam, auf das Künstlidiste sidi ausgeziert. So das Evangdium des Oster-
dienstags') Luc. 24, 36 — d7, die ErzälJung, wie der Herr den versammdten Jüngern erscliienen sei,
') S. Magnum opus musicum, eontinens clarissimontm symphonistarum etc. opera. Koribergae etc. 15a9.
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ihnen seine Auferstehung verkündet, sie von seiner leiblichen Gegenwart iiber/.eugt habe. Fünl'Slimnieu,
bald in freier, bald strenger, immer jedoch der engsten jNachahmung verwoben, tragen diese Erzähhmg
vor. In langen gehaltenen Tönen singt dazwischen eine Tenorstimme einen Theil desjenigen ab, was
Matthäus von der Auferstehung des Herrn berichtet, wie die Erde gebebt habe, der Engel des Herrn ge-
kommen sei, den Stein von des Grabes Tlüh- abzn^^•;ilzen ; eine Erzählung, welche als Antiphonie bei der
Vesper und als Rcsponsorium bei jenem Feste vorkommt. VN eniger befremdend an sich erscheint eine
künstliclie Verschrünkung verschiedener Gesänge bei der ohnciiin reicher ausgestatteten Ostersequenz ; nxu-
dafs die Wahl des V erbundenen auflbllen mufs. ' ) Jener nur vierstimmige Gesang läfst in jeder von den
drei tieferen Stimmen die alte Kirchenweise in allen ihren einzelnen Thoilen abwechselnd ertönen, die
anderen beiden mit INachalimungcn luul aussclmiückcnden VYendungen sich dagegen fortbe\\egen ; in der
Oberstimme dagegen sind die V\ orte des heiligen Gesanges einem gemeinen V'olksliede angepafst. Bei
dem von Josquin vierstimmig gesetzten hundert dreizehnten, die Vesper des Osterfestes eigenlhümlich be-
zeichnenden Psalm, -) zeigt sich zu Anfange zwar die Formel des demselben zugchöngen Pilgertons,
welche im Laufe des ersten Abschnittes in künstlicher \ erschränkung öfter wiederholt wird; hierauf be-
scluänkt sieh aber aucli das ganze Bestreben des Meisters sich diem Gegebenen anzuschliefsen ; es bleibt
bei einem äufserlichen Kennzeichen stehen, imd der heilige Gesang wird nicht als einzelner Theil eines
in der Gesammtheit des Cultus dargestellten gröfseren Ganzen, sondern nur für sich bestehend betrachtet.
hl den Mefshjnnnen zeigt bei Josquin und seinen Zeilgcnossen sich zwar das Streben nach Darstelliui"-
einer Einheit mchrer Gesänge, jedocli nur einer äufserlichen. Eine gemeinsame Gesangsweise, oft ein
Volksüed, wurde allen zu Grunde gelegt, bei einer jeden in niannichfach abwechselnder Verflechtung der
einzelnen Stimmen künstlich durchgeluhrl . Leicht wurde es freilich bei dem Kyrie, Sanctus, Bcnediclus
und Agnus l)ei, die nur wenige Worte enthalten, ein durch sinnreiche INachahmungen verschiedener
Art abgerundetes Ganze zu liefern; eine ähnliche Behandlung aber war bei den Gesängen gröfseren Um-
fanges, dem Gloria und Credo, nicht möglich; nur der Anfang konnte hier das gewählte Thema andeuten
im Verfolge des Gesanges trat es zerstückelt hervor, indem man einzelne Thellc desselben in verschiede-
nen Stimmen mit einander verflocht, auch wohl Bruclislückc der, jenen Gesängen ursprünslich anaeeio-
neten Kirclienw eisen damit in Verbindung brachte, von denen man sonst ganz abging aufser da, wo
man sie zu Hülfe nahm, das bunte Gewebe zu vollenden. Es leuchtet ein, dafs bei einem solchen Ver-
fahren von einer innigen Verschmelzung des Wortes mit dem Tone nicht die Rede sein konnte, jenes
vielmehr durchaus zurücktreten mufstc. Strenge und Ucbereinstimmung der ^||achabmungen in den ein-
zelnen Stimmen Avar ja die Hauptsaclie; eine vorhandene Gesaugsweise wurde einem gegebenen Texte
angepafst, widersprechend wie sie ihm auch sein mochte; die rechte Betonung der Sylben und Worte
blieb völlig unbeachtet, ja, die willkülu-lichc Trennimg einzelner Sätze, selbst auch Worte, Avurde nirgend
vermieden. Fügte man eine alte Kirchenweisc, als sogenannten oantus Jirmus, in ihrem ernsten, stetigen
Fortschritte der lebhafteren Bewegung anderer, in unaufliörHcher Nachalunung begriflfenen Stimmen bei,
so mufste selbst diese — auch bei der Beibehaltung jedes ihrer einzelnen Töne — docli Dehnung und
Abkürzung erleiden, dem künstlichen Tongewebe des Meisters sich fügen, damit aller Mifsklang vermie-
den werde. So blieb sie also, theils durch die meist unverhällnifsmäfsige Dehnung, theils durch jene
') S. Dodecachuid : Hb. III. Cap. XXII'. p. 363. 364. — 368. bis 371. m f'ergleick mit lib. II. Cap. A'A7A'. pag.
111. und yd. 104 icrao. 105 der Psalmodiit des Lucas Lojsiiis. ") IHagniini opm musiciiiii elc. Pars III.
9 •
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willküJirliclie Veränderung alles rhythniisclien \'erljällnisses ilem Ohre unversländlicli ; das ^^'ort, hätte
man es sonst aucli wohl vernehmen mögen, ^Mn•de durch das Geräusch, die lebhafte Bewegung der um-
gebenden höheren und tieferen Stimmen völlig verdunkelt; das Ganze endlich, dem Sinne, der es mimit-
telbar vernehmen sollte, luigeniel'sbar, nur dem, die einzelnen Stimmen in ihrer Gesammtheit überschauen-
den Auge in seiner \ erwebung zugänglich, l'nd dennocli sclieinen nicht selten die Bande des strengen
Gesetzes siel» zu lösen, welche den Gang einer Stimme unwiderruflicli an den der anderen fesseln; aus
freier Liebe und innerer Lust beginnt die eine der andern zu folgen, in anmutliiger Bewegung das Lebeu
der Töne, iln-er Gheder, entfaltend; sicli an die Gefiihrtinn schmiegend, mit ihr zusammenklingend, strebt
sie ihr Inneres auszutönen ; aber noch vermag die scliwellende Knospe ihre grüne Verhüllung nidit vöUig
zu durclibredicn. So in einem der älteren Gesänge Josquins, ') dem Grufsc des Engels an die Jung-
frau, welchem selbst Glarean nachrühmt: „er sei ihm werther, als seclishundert andere, wie sie zu seiner
Zeit täghch auftauchten;" wie er denn aucli dem Kleister, den er sonst der naturwidrigen ^'erknüpfung
der fremdesten Tonarten, des ungebundenen Strebens nach Neuheit, anklagt, an einem anderen Orte wil-
lig zugesteht: ,,es sei ilmi eine ungewöhnhchc Kraft des Geistes eigen, die ihn den sinnreichsten Män-
nern in andern Wissenschaften gleichstelle;" und oflcn bekennt: „es gebe eine Verwandt sdiaft der Töne,
eine Entwickelung des einen aus dem andern, die auf einem unergründüdien Katurgesetze beruhe, das
der Kmistgelehrte nicht zu begreifen vermöge."-)
Zu allen Zeiten, und auch damals, hat es sogenannte Kimslkenner gegeben, denen an jedem Kunst-
werke nur das tüditig gezimmerte, künstlidi zusanunengefügte Gerüst werth ist; so wie einfache, sinnige
Gemütlier, weldie, dem Eindrucke sich willig hingebend, in freudiger Begeisterung ihn bekennend, uns
in Liebe zu sich zidien, ohne durdi ilire Aeufserinigen luis weiter zu belehren. Vielfach rühmende
Zeugnisse in dem einen und in dem andern Sinne sind über Josquin und seine Zeilgenossen ims aufbe-
halten, deren nähere Erwähnung wir nicht bedürfen. Allein entgegengesetzte Stimmen; die einen, laut
geworden din'ch das zu Anfang des sedizehnten Jahrhunderts so lebendig erwachte Gefülil der Verdun-
kelung diristlicher Lehre, der Verderbnifs der Kirchenzucht, der mannigfaltigsten, in das Ilelllgthum ein-
geschUdienen JMIfsbräuche, durdi die Besorgnifs, audi die neue Kunst der Harmonie wirke dahin, das
heilige Wott zu verdunkeln und zu überbauen; die andern, in der lebendigen, frisdien Ahnimg einer
neuen Zeit, deren Keime zu treiben, an das Licht zu dringen und sidi zu entwdckeln begönnen: Stimmen
solcher Art, von bedeutenden Männern jener Zeit, sind ohne Zweifel es werth, dafs wir sie vernehmen,
zu unserer Belehrung bei ilmcn verweilen.
Drei IMänner, jeder an einem andern Orte heimisch, des verschiedensten Strebens, der ungleichsten
Stellung in der Welt, der abweidiendsten Gesinnung, lassen mit gleidien Rügen, mehr oder minder lieftig,
sich venichmcn.
So schreibt der gelehrte und weltklugc Erasmns in seiner Erklärung des ersten Briefes Pauli an
die Corlnther c. 14: „Eine verkünstelte und theatrahschc IMusik haben v\ir elngcfdlirt in die Kirchen,
ein Gesdirei und Getümmel verschiedener Stimmen, wie es meines Erachtcns wohl niemals in den Thea-
tern der Griedien imd Römer gehört worden ist. Von Hörnern, Trompeten, Pfeifen, Sdiallmelen, wird
.illes durclirfiiischl; mit ilinen wetteifern mensddidie Stimmen. \^erliebte, unzüchtige Gesänge lassen sich
hören, welche sonst nur die Tänze der Buhlerinnen und der Spafsmadier begleiten. In die Kirchen
') DodecaclicT^: p. 358 — 361. Lib. UI. Cap. 23. rergl. p. 354. ») Jb.cap.1\. p. 362.363. /'erg-/. 364. Dagl.
rup. XW. pag. 251. cap. XXrj. pag. 448.
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rennt man, ^^^e vor die Bühue, des Ohrenkitzels wegen. Dafür besoldet man mit grofsem Aufwände
Orgelmacher und Schaaren von Knaben, deren Jugend darüber hingeht solche Dinge zu lernen und
ie aller besseren Bildung fremd bleiben. Ein Schwärm nichtswürdiger Menschen, wie sie meistens sind,
wird ernährt, mit so grofsen Kosten die Kirche belastet, einer so verderbhclien Seuche wegen "
Nicht minder hart läfst der unruhige, geistreiche, nach geheimen Wissen traclitcnde^ Agrippa von
Netteshenn nn siebzehnten Kapitel seines ^^ erkes von der Eitelkeit der Wissenschaften sich vernehmen-
Eme solche Frechheit hcnscht heutigen Tages in der kircldichen Tonkunst, dafs selbst während der
Wandelung m der Messe man unverschämter Liedlein auf der Orgel sich bedient, dafs man das heilifie
Amt, ie frommen Gebete der Kirche, durch leichtfertige, mit grofsen Kosten gedungene Sänger hersingen
lalst, nicht zu Erhebung des Gemüthes, nicht den Hörern zu tieferem Verstandnisse, sondern zu wollü-
stigem Kitzel, nicht mit menschlicher Stimme, sondern mit thieriscliem Getöse. Da wiehern die Knaben
den Diskant, andere brummen den Alt, eine Füllsümme beUen jene, andere blöken den Tenor, brüllen
den Bafs, so dafs zwar wohl ein küngender Lärm, von den Worten, den Gebeten aber nichts vemora-
meu, den Ohren, wie dem Gemüthe das rechte Verständuifs entzogen wird."
„Mögen wir, schreibt endhch der feine und geschmackvolle Sadolet (früher Leos X. Geheimschrei-
ber dann Cardmal der römischen Kirche) mögen wir in der Musik nicixt weiter von den Musen uns
entfernen! Im Gesänge und Saitenspiele ekelt unserem Zeitalter an, was dem frülieren doch besonders
wohlgef.el, jenes stetige, ernsthafte, würdevolle Zusa.nmenstinmien. Eine gewisse Art von Ausweichun-
gen heben wir, von Aussclmiückungen , vvodurch der Gesang zerstückelt und zertrennt, jene voUe klans;
reictie Kraft und Gewalt der Stimme entnervt wird. Das Zeitmaafs unerwartet ändern und wieder auf
nehmen, Töne auf harte Weise versclilucken , die Stimme plützhch schweigen lassen, den Gesang ver-
stummein, da, wo man am wenigsten es ahnen sollte, das gut nunmehr für das Mark der Kunst und
gewinnt den Beifall der iMengc."
ISicht desJosquin. nicht eines andern gleichzeitigen Meisters, erwähnen diese Zeugnisse namentlich-
em jedes von ihnen jedoch erinnert an einen der Züge des frülier von uns betraditeten Bildes in dem'
eigenlhunüichen Sinne des Schreibers, der bald die würdevolle Einfachheit der, wenn auch nur im Geiste
gescliaulen, Tonkunst der Alten zurückwünsclit, bald den ehrwürdig -geheimnifsvoUen Kirchengesang herr-
schend sehen möchte, bald durch das Unangemessene, Geschmacklose sich verletzt fmdet, während von
allen die M.lsbräuche bei der Ausführung gerügt werden. Selten sind Geister, welche w^e Luüier, neben
dem üefen \ erderben, das sie rücksiclitslos strafen, auch che Keime des Bessern überall erbhcken Jener
Lebenskeime m den Werken Josquins und seiner Zeitgenossen, hat er, unter seinen Müebenden fast der
anzige, ,„ dem redeten Sinne sicli gefreut, mit begeisterten, ja prophetischen Worten darüber geredet,
Hidem er von dem Mangelhaften der Gegenwart nicht gestört, im Geiste dasjenige schaute, was einer
spatern Zeit erst zur Reife zu bringen aufbehalten war. Sein Ausspruch wo er von Gesetz und Evan-
gehum redet: „ dafs Gott auch durch die Toidcunst das Evangehum predige, ^^ie an Josquin zu sehen
«ei, bei welchem der Gesang „„fein fröhlich, wUlig, milde und hebhch herausfliefse und gehe, nicht g^
zwungen und genöüiiget und an die Regeln sclumrgleich gebunden;"" seine muntere Versicherung:
^Josquan sei der Tone Meister, andere würden durch die Töne gemeistert," zeigen deutüch, dafs die
Hcrrhchkeit der he.hgen Tonkmist, ihr Leben und Uire Bedeutung, aucli in dem verschlossenen Keime,
«einem tiefen mid reichen Geiste nicht fremd geblieben sei.
So nun fand Adrian WiUaerl die Kunst hannonischen Gesanges, so lautete das Urtheü seiner
— 70
Zcitficnossen iihcr dk^sclbc, .Is ,m- a,n /.MÜlftcn December 1527 das Amt <lcs Sängermeisters bei St. Mar-
cus zu \'encaio- antrat. Wollen wir auch dem Urtheile seines begeisterten Sdiülers Zarlino, dessen
lioclaonenden Lobsprüchen, nicht in dem lyiaafsc Glauben schenken, dafs wir ihn für den ersten Meisler
seines Zeitalters einen wahrhaften Erneuerer auf dem gan/.en Gebiete der Kunst lialten, so erg.ebt doch
die Prüfuno- seiner ims aufl)chnltenen Werke, ihre Vergleichung mit den Zeugnissen der Mitlebenden,
dafs er unter die aufserordcTithchen Erscheinungen jener Zeit gehört habe. Seine Fruchtbarkeit mufs m
Erstaunen setzen, wenn wir nicht weniger als zehn von ilnn zu Ve-u-cUg herausgegebene, d.e meisten
der zum Gottesdienst gehörigen Gesänge umfassende Werke auf der königlichen BibUothek zu München
Uuden und daneben noch vier und dreifsig Sammlungen, theils handschriftliche, Üieils zu Venedig, zu
Nürnb'ero- zu Paris, In den Niederlanden gedruckte, für welche er Tonstücke der verschiedensten Art
.ehefert'hat, meist in nicht geringer Anzahl, und nicht unbe(rächthclien Umfangs; ein Zengmfs zugleicli
für seine all-^emeine Beliebtheit. Schbchlc deutsche Volksgesänge, leichtfertige französische L.edlem, sinn-
reich und künstlich gearbeitete itahenische Madrigale, Tanzweisen fast aller damals übhchen Formen, sehen
vvir neben kunstreich verwobenen Orgelstücken, neben tiefsinnigen geistlichen Gesängen, m bunter Man-
„icl.f.Hi^keit vor uns vorübergehen, wenn wir jene Samminngen durchblättern. Messen wir nun dem
Worte des Parabosco Glauben bei, der, jenem sehnellfertigen Sänger gegenüber, von ihm behauptete:
er briiK^e mindestens zwei Monate darauf hin, einen Gesang von bedeutendem Umfange zu setzen, er
Insse nidvts bekannt werden, was er nicht zuvor sorgsam geprüft und als reife Frucht seines Geistes er-
funden habe und sehen wir jene Genauigkeit und Sorgsamkeit hi der AusfiUirung bei den meisten seiner
Werke in der That vorwalten, so erregt sein Fleifs nicht geringere Verwunderung. Bei einer so weit
ausgebreiteten, so sorgsamen Ausübung seiner Kunst aber, mufs er auch wissenscliafthch in ihr mit Eifcr
leforsdit haben, wenn er gleidi nichts schrifthdi über seine Forsdiungen hniterlassen hat. Sein Scluüer
Zarlino mindestens stellt ihn als ITanplnnlerredner auf und Belehrer in seinem musikahsch-speculativen,
in Gesprächsform abgefafsten Werke: Uunoslrazioni armoniche, und Artusi ') theilt uns in einem ^^n
ihn, gehetzten, zweistimmigen Gesänge ein Beispiel sd.erzhafter Art zu belehren n.L Den aUe.n aufbe-
haltenen Anfangsworten nadi: ,.jnülnan. ebrietas^' soll dieses Tonstück wohl die W.rkmigen der Inm-
kenheit darstellen, indem die uniere Stimme dem Auge sdieinbar so weit von dem gle.dimafs.gen har-
monischen Fortgänge mit der oberen abirrt, ja, hintaumdt, dafs sie gegen dieselbe in der Untersepüme
zu schliefsen scheint; du Uebelstand, der bei der Ausführung sidi dadurdi behebt, dafs die l nterstimme,
wenn der Sänger die Regel genau befolgt, nur consonirende hilervalle auszuüben, sidi endbdi vermittelst
der danach nö.hig gewordenen Erniedrigungen um einen ganzen Ton üefer findet, als sie gesdineben
steht das d der Oberstimme also mit dem doppelt erniedrigten e der Unlerstimmc enie Octave bildet:
du Beispiel dnrdi das die Behauptung des Meislers auch auf dem Wege der Erfahrung erwiesen werden
soll dafs der Ton in zwei gleiche 1 laibtöne, die Octave in deren zwölf zerfalle.
' Der geistlidien Tonkunst war, wie seiner amllidien Stellung, so audi seiner Neigmig zufolge, sein
Streben voi-züglich gewidmet, und hier sehen wir Um theils in der Ridilnng seiner Vorgänger und Zeit-
genossen befangen, theils eine neue Bahn eröffnend. Seine Messen sind ganz nach der damals ubi.dien,
noch lange naclilier beibdialtenen Art eingerichtet, da es gewöhnlid. war (nadi Zarlmos Beridit) -) sie
auf eine bestimmte, ent^veder von dem Tonkünsller selbst erfundene, oder ans dem Knchengesange (auch
^':i:Z^,per/e.-.!oni .teil., .nod.n.a mnsica (Vene-J,. IfiOOJ M. l M n- ') Z'""'"'» "'^tltu-Joni Hl. C.p. 56.
u. 345- f'/''i' Aiisiriilie sfliirr sümmtlirhcit WcrPrJ.
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wohl einem Volkslicde) enliiommene SingAveise durcliaus zu sel/.en. und »Uerhand sinnreiche und artige
Erllndungon dahei anzubringen, wodurcli an die S(elle der reiclien JMannichfaltigkell des allen Kivchenge-
sanges freilicli ein blofs äufserliclies Spiel mit den Kunstniilleln, neben einer gleidi unerfreulichen Einför-
migkeil, Irclcn niufsle.
Eben so luidcn Mir bei ihm, dem Geiste des alten Kirchengesanges entgegen, auch die Evangelien
auf ähnliche Art musikalisch beliaudelt, ■svie bei Josquin, ja auch andere biblische, der kirchliclien ^ orle-
sung nidit bestimmte Erzählungen. So hat er die abgekürzte Historie von der Susanna ') fünfsümmig
in drei Abschnitten in 31uslk gesetzt. Durch vier Stimmen, nach ^Veise jener Zeit behandelt, wird die
Erzählung selbst abgesungen, die fünfte läfst als catilus firtmis einen auf die Aorgetragene Begebenheit
bezüglichen Psalmcnvers hören; zu dem ersten Abschnitte die ^y orte: „Der Sünder Tücke wird bescliämt
werden, du virst den Gerechten leiten;" zu dem Bericlite ^on der Bosheit der Aelteslen: „Ich erhob
meine Stimme zu dem Herrn, und er hat mich erhört;" zu dem Schlüsse des Ganzen: „Der Herr hat
meine Stimme gehöret, der Slrick ist entzwei luul wir sind befreit." Dafs diese Art biblische Erzäldun-
gen zu behandeln (namcntlicJi die Episteln luid Evangelien bei der IMesse) in ^"enedig allgemein übhch
gewesen, dürfen wr nicht mit Gewifsheit annehmen. Zwar finden wir in einer zu rSurnberg in den
Jahren 1554 — 1556 in seclis Theilen erschienenen Sammlung mehrstimmig gesetzter Evangelien, deren
neun und zwanzig \on vier Tonkünstlern, welche um die erste Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts zu
Venedig blühten: a on iVillaerf, seinen Schülern CypriaH de Rore und Zarlino, und von Jaquet. Nur
einer jedoch von jenen Tonkünstlern, Zarhno, ist aus dem ^'enedischen gebürtig, aber Scliüler eines Nie-
derländers, und eifriger ^ erchrer der flamländischen Schule; die drei übrigen sind Niederländer, wie denn
aucli die anderen Tonkünstler, deren AVerkc jene Sammlung cntliäll, \\e\- imd siebzig an der Zahl, neben
einigen Deutschen, Franzosen luid Spaniern, nur Niederländer sind. In Frankreich aber und dem Bur-
gundisclien Reiche hatte, nacli dem Zeugnisse alter IMefsbücher, aller abweichenden Bestimmungen von
Päpsten und Concilien Tuigcaclitet, die nur gesangähnliclie Erhebung der Stimme bei dem \^orlragc
der Episteln und Evangelien, nicht kunstreidien Gesänge gestatten wollten, eine abweichende Sitte sich
gebildet und erhalten. Die Episteln vornehmlich pflegte man mit Erklärungen zu durchweben, mandmial
in lateinisdier, öfter in der Landessprache , die mit ihnen abgesungen wurden ; die Evangelien aber,
namentlidi das Gesdilechtsregister Christi, mit vielen Aussdunückungen singend vorzutragen. Die musi-
kahsdie Behandlung jener bibhschen Abschnitte, als man in den Niederlanden zuerst anfing mehre Stim-
men künstlidr und sinnreich zu verflediten, läfst hienadi auf jene alte Sitte ungezwungen sich zurück-
fiiliren. Es kann nicht auffallen, niederländische Rleisler, auch in der Fremde, jene in ihrem Vater-
lande beliebte Tonsetzweise beibehalten zu sehen, wenn auch nicht zu unmittelbarem kirdilichen Ge-
braudie; und da wir endhch Tonslücke solcher Art bei venedischen Künstlern späterhin selten antreffen,
so ist es wahrsdieinlich, dafs dergleichen wolil nur zu Nadiahmung niederländischer IMeister angefertigt,
zur Anwendung bei dem Gottesdienste aber nicht bestimmt gewesen.
In Behandlung der Psalmen zeigt sidi Willaert's wesentlidies Verdienst um den Kirchengesang;
als Erfinder einer neuen Weise erscheint er hier, oder viehnehr eine alte, in dem Wesen des Kirchenge-
sanges begründete, erneuend, die harmonische Kunst wahrhaft fördernd. „Die Psalmen (schreibt Zarlino
sein Sdiüler) *) bei der Vesper oder andern Theilen des Gottesdienstes pflegen zu Venedig mit zwei oder
' ) Secunda pars magni operis musici, continens clarissimorum, tarn reterum quam recentiorum, praecipue vero ClementU
HÖH Papae, carmina elegantissima, quinque vocum. Nwibergae 1559. *) Instituzioni III. Cap. 56. pag. 345 — 347.
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mehr Chören, zu vier oder mehr Stimmen gesungen zu werden, die theils mit einander wechseln,
Iheils, wo es schicklich ist, sich vereinigen. Solche Chöre werden am Besten so eingerichtet, Aah jeder
Chor für sich vollständig und wolilivlingend ist, als sei er ein wohlgesetzter Aaerstimmiger Gesang. Diese
Art, mit getheiltem Chor fa coro spexxatoj genannt, hat der vortrefiliche Adrian erfunden. Am Besten
ist es die Bässe im Einklänge und Octaven sich fortbewegen zu lassen, selten in Terzen; auch ist es
nicht zu tadeln, wenn bei mehr Chören die Bässe alle im Einklänge gehen, indem das Ganze so eine
festere, überall besser vernehmliche Grundlage erhält. "
In ihren Grundzügen schildert der mitgetheilte Bericht jene Behandlungswelse; was sie aber für
die Geschichte harmonischen Kirchengesanges besonders wichtig macht, ist zwiefacher Art. Einmal sehen
wir den alten antiphonischen Gesang, die früheste Weise des Vortrages der Psalmen durch zwei gegen
einander singende Chöre, durch sie erneuet, von welcher in älteren harmonischen Tonwerken wir kein
Beispiel finden. Der Tonsetzer scheint zwar die überlieferte Weise des Psalmengcsanges gänzhch zu
verlassen, denn die früher übliclien Gesangsformchi finden sicli nicht ferner angewendet, als zu Anfange,
den Psalm durch sie anzustimmen; doch bringt er in der That in höherem Sinne wieder zur Anwen-
dung, was jene Formeln gebildet, das innige Anschliefsen an die eigenlhümliche Einrichtung der Psal-
menverse; imd so sehen wir denn auch die Chöre bald in ganzen, bald halben Aersen mit einander
wechseln, wie es Sinn und Ausdruck erfordert, bedeutende Sprüclie auch wo\\\ im Gegencinandcrsingen
wiederholt, die Glieder des heihgen Gesanges deutlich auseinander treten, die bei der früheren \Veise
künstUcher und mannichfacher Stimmenverwebung , verwirrt mit einander verschlungen waren. So
war denn einerseits dem Worte sein Recht bei dem Gesänge wieder gewonnen, den Tonkünsllem der
spateren Zeit die Bahn eröffnet, es bedeutsam zu verklären. Auf tler andern Seite, und hier zeigt sich
doppelter Gewinn, brach für die innerste Entfaltimg der harmonischen Ivinist jetzt ein schöneres IMorgen-
roth hervor. Nicht mehr der einzelnen Stimme wurde die andere, dem einen klingenden Körper viel-
mehr der andere entgegengesetzt, und beide, wo es auf schickhche, bedeutsame A> eise gescliehen konnte,
vereinigt. Der ganze Psalm aber sollte den Charakter der Gesangsformel, des Kirchontoncs tragen, mit
welchem er angestimmt worden; zum erstenmale ■war also hier die Anforderung bestimmter ausgespro-
clieu, dafs dieser Kirchenton im Zusammenklange von mehren Stimmen sein inneres Wesen entfalte,
dafs in diesem Zusammenklange das Gesetz sich offenbare, das in der Reihe von Tönen durch die
jene Gesan^sformel gebildet worden, nur auf einseitige Art sich kund gegeben hatte. So war derm
auch dem Tone ein neues, schöneres Recht errungen, der Kirchengesang in beiderlei Rücksicht auf eine
höhere Stufe gestellt. Hierin hat Adrian Willaert um die von ihm gegründete vcnedische Schule, wie
um die Kunst überhaupt, sich wesentlich verdient gemacht, und dahin mitgewirkt einen Theil des Tadels
zu beseitigen, den geistreiche und gelehrte Männer nicht ohne Grund über die Kunst harmonischen
Gesanges ausgesprochen.
Wie seine Nachfolger auf ihn fortgebaut , wie in Johannes Gabrieli die schönste Blüthe der Kunst-
übung in älterem Sinne, der Keim einer neuen Entfaltung in späterer Zeit erschienen sei — alles dieses
soll auf den folgenden Blättern näher betrachtet werden. Hier indefs findet sich der Ort, jene Entwicke-
lung anzuschliefsen , auf die wir schon zu Anfange dieses Abschnittes, so wie öfter in dessen Verlaufe,
hingedeutet haben; des Gesetzes nämlicli, das, wie In den kirchlichen Gesangsformeln jener Zeit, so auch
in lliren ausgerüluten heiligen Gesängen als belebende, gestaltende Kraft vorgewaltet, als solche in ihrer
mit Willaert. so bedeutsam beginnenden harmonischen Entfaltung in noch tieferer Bedeutung sich kimd
— 73 —
gegeben habe. Um so AvJchtigcr nun diese Lehre von den Kirchen tönen ist, nm so mehr erfordert
sie eine in sich gescldossene, bestimmt abgegrenzte Darstelhmg. Dalier wir gegenwärtig unsern Bericht
von den Vorgängern Gabriehs unterbrechen, wo wir ilin bis zu einem Pmikte fortgefdJirt haben, an
welchem eines Theils das grofse Verdienst des Stifters der vcnedisciien Tonschule in hellem Lichte er-
schienen ist, andern Theils die Keime gezelg-t worden, aus denen wir in Gabrieli künftig eine eisenthüm-
liclie kirchliclie Kunst im Siinie seines Vaterlandes herrlich werden emporblühen seh
Den.
FÜNFTES HAUPTSTÜCK.
Die Kirchentöne.
In Klang und Maafs erschhefst sich das Leben jeder Gesangsweise; ein doppelter Gesichtspunkt also
für unsere Betrachtung ist uns eröffnet, wollen wr das Wesen des Gesanges in jener Zeit erforschen,
die uns gegenAvärtig beschäftigt. Der ^Veg jedoch, den unsere Darstellung gewählt, und bisher verfolgt
hat, leitet ftir jetzt imsere Aufmerksamkeit auf den Klang allein; imd in der festen Ucberzeununo-, dafs
nur in strenger Sonderung Klarheit der Anschauung gewonnen werde, unterwerfen wir uns noch eine
Weile dieser selbstn;ew ählten Beschränkung.
Die gegenseitigen Beziehungen nach Höhe und Tiefe der eine Gesangsweise bildenden Töne, wie
diese in der Zeil einander folgen, sind es zuvörderst, durch die im Klange ihr Leben sich kündet;' docli
.^rscblicfst es sich noch auf andere und tiefere Weise. Jedem dieser Töne gesellen sich verwandte, mit
ihm zusammenklingende: in solchen Zusammenklängen vird jede Wendung der Melodie, ihrer Bedeu-
tung, ihrer Eigenthümlichkeit nach, erst völlig klar ausgesprochen; nicht etwa sind sie in ihrer Fülle nur
ein der Melodie äufserhch angelegter Schmuck, sie sagen aus, was in dieser als ihre Seele lebt, sie ent-
talten, was in ihr, der verschlossenen Knospe, verborgen ndit. Wie aber dieses innere Leben, diesen
harmonischen Gehalt einer Gesangsweise mit Worten aussprechen? Nur die Töne vermögen in ihrer
ganzen Fülle beides darzulegen. Je näher wir der Werkstatt des eigensten Lebens dringen, desto mehr
fühlen wir das Ungenügende der Rede; in Bildern, in Anschauungen, erborgt von dem Leben selber,
annähernd, vergleichend nur vermag sie das sonst Unaussprechliche auszudrücken. Dodi ist ihr gegeben
bis auf eine bestimmte Grenze hin, wenn auch nicht völlig auszusprechen, doch genügend anzudeuten,
was ihr als Aufgabe hier gestellt wird.
Jede Gesangsweise nämlich hat einen Grundton, einen gewissen Standpunkt, von welchem aus
das Reich der Töne in ihr sich erschliefst, durch den ihr \ crhällnils zu demselben bedingt ^vird. Sie
läfst sich auf eine, mit diesem Grundtone beginnende, oder doch auf ihn bezogene Tonreihe zurückfüh-
ren, welche durch ihn eigenthümlich aus der Menge der übrigen Töne ausgeschieden wird: eine Ton-
C. V. Winterfeld. Juh. Gabrieli u. s. Zeiu-Uter, "Ifi
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reihe, der selion die >ialur dadiireh bcsliinnilc Grciixen gcselzl hat, dafs die wachsende Spannung nacli
der Hölie eine i!,eschiirftere 7,^\ar, docli mit dem Grundtone wiederum völlig A'erschniclzende \\iedcrho-
lung desselben in beslimmten Zwischenräumen erzeiigt, dafs die innerlialb dieser Zwisdienräumc hervor-
tretende, bcstinnnle GliederTuig der engeren, sie ausfüllenden Tonverhältnisse überall dieselbe bleibt, nicht
also eine in Höhe und 'J'iefe endlos hinauf inid hinabreiebende, sondern in sich geschlossene Reihe un-
serer Belraclitung vorliegt. Welclies nun das ^ erhältnifs des Grundtones sei zu der von ihm begonne-
nen, auf ihn bezogenen Tonreihe; seine Stellung gegen jeden einzelnen der sie bildenden Töne, sofern
dieser fähig ist, als Gnnidton wiederum eine selbständige Reihe zu bilden ; -wie hienach die, einer IMelodie
zu Grunde liegende Tonreihe, wie die Gesangsweise selber zu dem Reiche der Töne sich verhalte, wel-
clien harmonischen Gehalt sie dadurch gewinne: dieses darzidcgen ist uns vergönnt, es ist die Aufgabe
der folgenden Blätter, und soll in der Lehre von den Kirchentönen gescliehen. Nicht, als wäre es
die Absichl, eine umfassende, allgemein gültige Ton- und Harmonielehre hier zu geben. Von dem Leben
der Töne, wie es eine bestimmte Zeit, von einem einzelnen, besonderen Standpimkte aus erkannte, ist
liier die Rede; von einer Anschauung dieses Lebens, wie sie in den Werken jener Zeit mehr, als in
der, aus manchen, schon dargelegten Gründen, ihrer Bestimmung nicht genügenden Lehre sich darstellt
Auf einem Gegebenen, der diatonischen Leiter, ndite diese Anschauung; auf der damals allgemein gang-
baren Art, dieselbe aus den einzelnen Tönen aufzubauen, einem Verfahren, nach dessen Gründen wir für
jetzt nicht forschen, weil der Verlauf unserer Darstellung sie uns vielleicht enthüllt. Sie ist gegründet
femer auf die Beziehiuigen und Verwandtscliaften der Töne, wie die Natur in der Entwickelung des einen
aus dem andern sie ims ofTenbart; auf ein damals innerlich lebhaft geahntes, diu'ch die Ausübung als
bindend anerkanntes, wenn bi der Lehre aucli als solclies nirgend bestimmt ausgesproclienes Naturgesetz.
Von der Gescliichte freilich würden wir nunmehr den Bericlit erwarten, wie jene Anscliauung sich
nach und nach entfallet habe, wie sie in den Werken jener Zell allmähllg m das Leben getreten sei; ohne
die Darstellung jedoch, mIc sie zur Zelt der höchsten Blülhc der auf sie gegründeten Kimslübung in den
Kunstwerken wirklich gelebt, wäre es nicht möghcli, auch mit einiger \ erständlidikell nur diese Aufgabe
zu lösen. Die bildende Kunst findet ihre Foi-men in der Natur: von dem Standpimkte aus, den er für
seine Darstellung wählte, hat der Bildner deren Leben in seiner höclisten Bedeutung zu entfalten; er
hat die Formen nicht zu schaffen, nin- zu wählen. Dem Tonküustler bietet In den 'J'önen, den Klang-
verhiütnissen , die Natur den Stoff luu-, und das Ihn bindende Gesetz; ihn hat er zu beseelen, aus Ihm
die Formen für seine Darstellung erst zu erschaffen. Wie der bildende Künstler die Bedeutung der von
der Natur schon ihm gebotenen Formen allmähh'g gefunden, als lebendigen Leib seiner DarsI elhingen
sie sich angeeignet habe, das vermögen wir ohne Vorbereitung darzidegen, von der niedrigsten Stufe der
Erkenntnifs, bis zur höchsten forlschrcilend; denn es ist Niemandem ein Geheimnifs, woran seine Dar-
stellung sich ■\'erkörpert. Nicht so in der Tonkunst. Die erfundene Form, ist sie selber, so wie die
Anschauung der Tonwelt, aus der sie erwuchs. Im \ erlaufe der Zelt einmal verdrängt worilcn, niufs
ihrem Wesen, ihrer vollen Bedeutung nacli, erst wieder hingestellt werden, elie uns vergöinit sein kann
darzulegen, wie sie geworden.
Wir fanden luu das sechzehnte Jahrhundert acht Kirchentöne im Gebrauch, zu einer Hälfte als
Haupt-, zur andern als Nebentöne bezeichnet; einen neunten neben üinen, den Pilgerton. Auf die Ver-
setzung der diatonischen Leiter, die so veränderte Folge der sie bildenden Ton^'erhäIlnisse, sahen In der
Lehre jener Zelt wir die Elgenthümlicldieit einer jeden dieser Tonarien zurückgeführt. VMr werden
— 73
finden, dafs hledurdi fünf, und rechnen wir die Nebcntöne liinzu, zelin Tonarten sebildel wcidon
können, und der Kunstübung zufolge wirkUch gebildet worden seien. Eine besondere Art die diatoni-
sclie Leiter aus den einzchien Tönen aufzubauen, war damals allgemein üblich, cnllclmt in ihren Gnmd-
zügeu ursprünglich von den Griechen, doch im Fortgange der Zeit eigenthümllch umgcslallet. Der Ein-
flufs jener Vorstellungen auf die Enlwickelung der kirchlich harmonischen Kunst des seclizehnten Jahr-
hunderts ist zu bedeutend, um nicht für einen Augenbhck bei denselben zu verweilen.
Das diatonisdre Klanggeschlecht bestand den Griechen aus einer Reihe von vier Tönen, deren
äufserste Grenzen in dem Verhältnisse einer Quarte standen; der tiefste zu dem folgenden das Verhält-
nifs des Halbtons, der zweite zu dem dritten, wie dieser zu dem vierten das des ganzen Tones dar-
stellte. Durch Zusammenfügung solclier Reilien oder Tetrachorde wurde ihr diatonisches System gebil-
det. Entweder knüpfte mau eine zweite gleichartige uumiUclbar an den Schlufspunkt der vorhern-ehen-
den, machte diesen wiederum zu dem Anfangspunkte der folgenden; oder die höchste Tongrcuze des
tieferen Tetracliords , die tiefste des höheren, stellten das ^'erhältnifs des ganzen Tones dar. So auch
verfuhren die Tonlehrer des sechzehnten Jahrhunderts; nur sind ihre Tetrachorde in sofern anders gc-
gHedert, als in ihnen das ^ erhaltnifs des Ilalbtons auf der letzten Stolle vorkommt.
Diese doppelte Art der Zusammenfügung müssen wir als noUiwendig anerkennen, ^venn wir er-
wägen, dafs Höhe und Tiefe naturgemäfs durch die Octave in bestimmte Absclmilte getheilt werden;
dafs diese nicht aus zweien Quarten, sondern einer Quinte und Quarte besteht, eine Folge von Octaven
also durch eine Reihe von Quarten, auf die eine oder andere \Aeise gleichmäfsig aueinandergcknüpft,
sich nicht darstellen lafst. Indem man aber die angegebene zwiefache Art der \ crkiüipfung wählte, hielt
mau den Gnmdsalz durch die That gerechtfertigt: jenes Tonverhältnifs, das alle die engeren des grofsen
und kleinen Tons und Halbtons, durch welche die diatonische Leiter gebildet werde, bereits in sich be-
greife, die Quarte, müsse in ihren Verknüpfungen wiederum das ganze diatouisclie System bilden.
Die Tonlohrer des sechzehnten Jalirhunderts nun beginnen ihren Aufeinanderbau ') von Tetra-
diorden mit unserm grofsen G. An die Oberquarte dieses Tones, mit welcher das erste Tetrachord
schhefst, knüpft sich das zweite c — f ; au dieses auf gleiclie Art ein drittes f — b, dessen liöchste Ton-
grenze ihre Interoctave in den bisher aneinander gereihten Tönen schon nicht mehr vorfindet, und bei
einer fortgesetzten gleichen Art der Tonverkettimg eine Reihe beginnen würde, die, anstatt in der
Höhe mit der ersten, tieferen zusammenzufallen, immer nur ferner von ihr abklänge. Darum wird dem
zweiten, \ erbundenen Tetrachorde, neben dem an dasselbe geknüpften, noch ein anderes, getrenntes, g c
angefügt, das erste in der Höhe wiederholend; auf diese Weise aber, an denselben Stellen verknüpfend
und trennend, der Aufbau des diatonisclien Systems vollendol,
ZM'ei neben einander hinlaufende Tonreihen ^^urdeu durch dieses \ erfahren gebildet, von denen
jede einzelne, für sich angeschen, statt einer Verknüpfung von Quarten eigentlich nur Verkettungen je
einer Qumte und Quarte, wie die Octave sie bcfafsl, darstellte; eine Verkettung zweier Quarten aber nur,
sofern man die Oberocta^■e des Grundtons nicht als Schlufspunkt der Reihe, sondern Anfangspunkt einer
neuen betrachtet. So knüpft die erste dieser Reihen die Tetrachorde G — c. c — f aneinander, und wie-
derholt in den oberen Oclaven diese Tonverbindung; die zweite auf gleiche \^ eise die Tetrachorde C — f,
^ — ^- ßeide Reihen, indem sie überall gleichgegUederte Touverliältnisse auf gleidie Art mit einander
; J»o stellt er sich in den nach Tetrarhorden zusammengeschobenen Guidonischen Ilexachorden dar. S. Gtarcan Do-
decachord: Cap. 2. Lib. I. pag. 4.
10'
— 76 —
verknüpfen, stimmen in dieser wesenlliclicn Bcziehunc; (von der verschiedenen Tonhöhe ihrer Anfangs-
punkte abgesehen) völlig niil einander iibcrein; sie stellen aber auch beide dieselben einzelnen Töne als
verbunden dar, bis auf einen. Das dritte, getrennte Tetrachord nämlich in der erslen jener zuvor er-
wähnten Reihen, zeigt als erstes Glied des heschliefscnden Halbtons den von uns II benannten Ton; das
dritte, verbundene aber (^enn vir nämlich die xwe'dc mit C beginnende, ursprünglich auf jene erste
fortgebautc Reihe, als eine Fortsetzung derselben betrachten; sonst freilich das zweite) als letztes Cdied
des Halbtons imser B. Dieser doppelgestaltige Ton, nach Guldo's Lehrgebäude damals allgemein B ge-
nannt, erhielt, jenachdem er der einen oder andern Reihe angeliörle, eine imtersclicidende Benennung und
Bezeichnung. Als Schlufspunkt des dritten, verbundenen Tetrachords liiefs man ihn bmoUe, bczeidniete
Um durch ein rundes b, die ganze Reihe, welcher eben er eigenthiunhch war, durch den Namen des
weichen Systems; als erstes Ghed des Halbtons bei dem getrennten Tetracliorde wurde er b durum
genannt, bezeichnet durch ein vierecktes ^, seine Reihe aber das harte System geheifscn.
Angenommen nun — wie es in der That so ist — dafs die Versetzung der diatonischen Leiter,
die so veränderte Folge der sie bildenden Tonveriiähnisse, die verscliiedene , daraus entstehende Bezie-
hung der Grundtöne zu den auf sie folgenden Tönen, die Kirchentonarten gestaltet habe; so erglebt
sich zunächst, dafs eine Versetzung solcher Art nur sieben mal statt finden könne. Denn die äufser-
sten Tongrenzon der Octa^'e verschmelzen im Zusammenklange völlig mit einander, sie können defshalb
nur für einen Ton gelten, also auch nur sieben verschiedene Anfangspunkte der versetzten diatonischen
Leiter voriianden sein. Es leuchtet ferner ein, dafs jene Versetzungen in den beiden zuvor beschriebe-
nen diatonischen Reihen, dem sogenannten harten und weichen Systeme, wenn auch übereinstimmend
in der Folge ihrer Tonverhältnisse, doch auf verschiedener Tonhöhe sich darstellen werden; in dem
harten Systeme iiuierhalb der Töne C bis h; in dem weichen, der Töne F bis e.
Die Verhältnisse der (aundtönc aber zu den Ghedern der auf sie bezogenen Tonreilien, wodurch
deren Eigeuthümlichkeit gestaltet wird, sind ihrer allgemeinsten Beziehung zufolge, entweder wohlklingende
oder mifskhngende. Unter jenen sind die Quinte und Quarte (wofern sie anders ihre Eigenschaft als \Vohl-
klän^c nicht einbüfsen sollen) nur iii einer Gestalt denkbar; in ihnen also kann das Bezeichnende
keiner Tonart acfunden werden. yVnsschhefslich defshalb sind es unter den Wohlklängen die Terz und
Sexte, welche es begründen, denn beide erscheinen in doppelter Beziehung, als grofse und kleine.
Von thesem Gesichtspunkte aus betrachtet, zeigen unter den Versetzungen der diaionischen Leiter sich
drei, welchen tlie grofse Terz eignet, tlie mit den Tönen C, F, G im harten, mit F, B, C im wei-
chen Systeme beginnenden; die vier übrigen stellen die kleine Terz dar. Jenen drei ersten eignet
dabei ohne Unterschied die grofse, diesen vier letzten die kleine Sexte, bis auf eine einzige; denn
die mit D im harten, mit G im welchen System beginnende Versetzung, schliefst die grofse Sexte
m sich.
Nun aber soll eine jede dieser \'erseiznngen durch die in ihr beschlossenen Tonverhältnisse har-
moniscli sich zu entwickeln vermögen. Dieses kann nur in so fern geschehen, als sie im Fortschreiten
von ihrem Grundtone aus, die Gheder eines der belilcn Dreiklänge berührt, deren wesentliche Verschie-
denheit durch die Lage der grofsen und kleinen Terz gebildet wird. Der Drciklang nämlich, soll das
Ohr in Ihm Beruhigung und vöUIges Genügen empfinden, schUefst in sich das Veihältnlfs der reinen
Quinte, und besclJossen In dasselbe, mit ilim zusannnenkllngcnd, die Verhältnisse der grofsen und kleinen
Terz. Den harten nennen wir ihn, sofern die grofse Terz dem Grundlone, den weichen, sofern die-
- 77 -
selbe dessen Oberqmnte zunächst liegt. Die mit dem Tone h im harten, mit e im weichen Systeme
beginnende Versetzung der diatonischen Leiter erscheint dieser VoraussHznng zufolge fiir harmonische
Entfaltung untüchtig; denn im Forigange von ihrem Crundlone aus, nachdem sie dessen kleine Terz bc-
riihrt hat, wird sie nicht zur grofsen, sondern abermals zur kleinen hingeleitet, und es maugelt ihr also
die reine Quinte ihres Grundtons. Wollte man aber einwenden, dafs die xv-illkührliche Erhiihung der
vierten, im Aufsteigen berührten Stufe, ihr dieses abgehende Tonverhältnifs oewähre; so ergiebt sich'doch,
dafs eme solche künstUch zubereitete Tonleiter dieselben ^ erhüllnisse in gleicher Folge darstellt, als im
harten Systeme die mit e, im weichen die mit a anhebende Versetzung der diatonischen Leiter; nur
«ne um eme Quinte erhöhte Wiederholung dieser Reihe also, nicht eine wesentUch verschiedene, würde
man auf diesem Wege erhalten.
Sechs jener ursprünglichen sieben Versetzungen der diatom'schen Leiter bleiben birnach nu^
übrig; aber audi eine andere nocli, die mit F im harten, mit B im weichen Systeme beginnende finden
wir, wenn gleich nicht'in der Lehre, doch in der Kunslübung des seclizehnten Jahrhunderts, aller Ver-
suche ungeachtet, auch dort in Uebereinstimnumg mit jener sie festzidialten , aus der Reihe der Tonar-
ten allsgeschlossen. Sie steUt nämlich niclit das reine Verhältnifs der Quarte, sondern das mifsklingendc
des Tritonus, der übcrmäfsigen Quarte, dar. Dafs eben dadurch die AusschUefsung der sogenannten
lydischen Tonart (so bezeichnete man diese Versetzung) sicli rechtfertige, wird in der Foloe näher
auseinander gesetzt werden. Als eine durch die Kunstübung bewährte That.sacbe nehmen wir "für jetzt
an: das sechzehnte Jahrhundert habe fünf, durch die Versetzung der diatonischen Tonleiter entstehende
Kirchentonarten gekannt. Deren Eigenthümlichkeit, sofern sie durch die in ihnen vorkommenden mlfs-
klingenden Tonvcrhältnisse begründet M-ird, haben wir nunmehr noch zu betrachten.
Von jenen fünf Tonreihen, zeigen, der vorangegangenen Betrachtung ilircr wohlklin »enden
Verhältmsse zufolge, zwei die grofse Terz, die mit C und G (F und C) ') beginnenden, und beide dane-
ben die grofse Sexte; drei die kleine Terz und von ihnen zwei zugleich die kleine Sexte, die mit E
und A (A und D) anhebenden; eine nur die grofse, die auf che Töne D im harten, G Im weichen
System sich gründende. Eine dreifache Verschiedenheit also gestalten die wohlklingende n Verhältnisse
dieser Reihen; eme zwiefache werden wir unter den durcl. jene noch niclit cigenthümlicl, a^i^cinander
gehaltenen durch die mlfskllngenden Beziehungen zu ihren Grmidtönen sich bilden sehen. Die Se-
cunde namlicli und Septime erscheinen in zwiefacher Gestalt innerhalb aller zuvor besprochenen Ver-
setzungen; als grofse und kleine. Alle, bis auf die zwischen den Tönen C - c (F - f) bescldos-
sene Reihe, zeigen die kleine Septime; <lie beiden, durch die Urnen gemeinsame grofse Terz und grofse
Sexte sonst übereinstimmend gegliederten Reihen ^) werden also dadurch auseinander gehalten, dafs der
mit l, (II) beginnenden die grofse, der mit G (C). anhebenden die kleine Septime eignet. Alle ferner,
bis aul die innerhalb der Töne E - e (A _ a) liegende Reihe, beschhefsen In sich das \^erhältnifs der
grolsen Secunde; beide, In der kleinen Terz und Sexte sonst einander gleichende ^Versetzungen sind
mithin dadurch unterschieden, dafs der zuvorgenannten die kleine, der andern zwischen A-a (D-d)
besclüossenen die grofse Secunde daneben eignet.
Jene fünf Tonarten: die Ionische durch C - c (F _ f) begrenzle; die Dorische innerhalb
D - d (G _ g) helegne; die Phryglschc durch E _ e (A - a) beschlossene; die Mixolydische
') D. h. im «reichen Systeme. ') C ~ r, G - g im harten; F - f, C - c im tceichen Sy^emc.
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von (; _ n; (C — c) bcfafste; die Acolischc endlich, zwischen A — a (D — d) sich bewegende stel-
len liiciiach als cigentlühnllch gegliederte sich dar. Ueberall, werden wir finden, Ist es in der That die
La£;e des Ilalbtons, welche diese GUederung büdet. Die grofse Terz, die grofse Septime des loni-
sciren ^^ erden durcli die ersten Glieder desselben dargestellt; durch sein erstes Glied an der friÜieren
Stelle die grofse Terz des IMlxolydischen, dessen kleine Septime durch sein letztes Glied an der späteren;
so die grofse Scxle des Dorischen durch sein erstes, die kleine Secunde des Phrj'gischen durch sein
letztes Glied, liier an der ersten, dort an der späteren SteUe seines Eintritts. Ehe wir nun die gegensei-
tigen hannonischen Beziehmigen jener ^J^onarten näher entwickeln, ist es erforderlich, einen aus der Lehre
jo^,er Zeit mlllelbar, aus der damals übUchen Art der Bezeichnung unmittelbar hervorgegangenen Irrlhura
zu beseitigen. Fast allgemein nändich gilt die Vorstellung: in der Abwesenheit aller ^' ersetzungszeiclien
nur, hele^der harmonische Gehalt der Kirchentilne In seiner vollen Reinheit ller^'or; die Anvvendung jener
Zeichen trübe, ja vei-wiscl.e ihre Eigenlhümllchkell, sie sei als eine spätere Entartung zu betrachten. J(^
man hat — In sogenannter strenger Behandlung alter Choralmelo(Ueen vornehmlich — durch absichtliche,
kinistllche \cnneiduni; jeder vv lUkiU.rlichen Erhöhung und Erniedrigung, eine besondere Würde, einen
eioenthümllcli -feierlichen lernst des Ausdrucks zn erreichen gestrebt, und gewähnt, der alten klrchhch -hafr
monischen Kunst dadurch näher zu treten; In der Ausführung alter Tonwerke aber an das niedergeschrie-
bene Zeichen sieh ängstlich gehalten, so rauh und gezwungen der Gesang auch tönen mochte. Jene
Treue, die jede über das wörtlich Aufgezeiclmete — dafs wir so reden — iiinausgehende Deutung als
Verfälschung ablehnt, ist gewifs ehrenwerth; dem Forscher jene Gewissenhaftigkeit unerlafsllch, die jede
willkührliche Voraussetzung und Beziehung verschmähen, und nur solche anerkennen helfsl, die aus dem
betrachteten Gegenstande unmittelbar sich ergeben. Hier indefs erscheinen eben jene zuvor genannten
Grundsätze als willkülirllche Voraussetzungen solcher Art. Denn wir finden — aufser jenem durch <Lis
weiche System bedingten runden h — in den Werken jener Zelt, und eben den besseren, Versetzungs-
zeichen allerdings angewendet, wenn gleich nicht ühcraU, wo wir sie erwarten; und sollten wir überhaupt
der Ansicht ohne strenge Prüfung Gehör leihen mögen, dafs lebendige Entfaltung ihren IVIlttelpunkt jemals
in einer blofsen Verneinung finden könne? In der Ausübung des Gesanges — dafür reden die glaub-
würdigsten Zeugnisse der Millebenden — erlaubte man sich damals unbezwelfelt Erhöhung und Eruic-
drigung einzelner Töne, aber strenge Tonlehrer, denen die Regel überall nur beengende Schranke war,
hielten es für uuthunllch, durch Beifügung eines ^'ersetzungszelcJlens sie einzugestehen; mit solchen soge-
nannten chromatischen Zeichen meinten sie das rein diatonische System zu verunstalten. Noch der heller
blickende Michael Prätorlus beklagt sicli darüber, dafs viele „treffliche und vornehme Componisten" sei-
ner Zelt, nach dem Beispiele älterer Meister, Ihren Schülern die Versetzungszeichen ausdriickhch unter-
sagten, vorwendend: es wisse ja ein jeder, dafs eine falsche Quinte, eine überniäfslgc Quarte zu vermei-
den, dafs bei einem förmlichen Schlüsse der Halbton vor dem Schlufstone anzuwenden sei u. s. w.
In dem Bewufstsein der UnzulängUchkelt dieser Regeln, der durch sie nicht aufgehobenen Zweideuligkeit
mancher Stellen fügt er hinzu: ') „Ich aber bin gänzUeh der IMclnung, dafs es nicht allein sehr nülz und
bequem, sondern auch hochnöthlg sei (die \crsetzungszeiclien beizufügen), nit allein vor die Sanger. damit
dieselben In ihrem Singen nit luterturbiret werden, sondern auch vor einfältige Stadtlnslruinentisten und
Organisten, welche musicam nit recht verstehen, viel weniger recht singen können, und daher, wie ich
') Si/nlaffma mus: P. 111. pag. 3?..
— 79 —
Selbsten zum öfteren gesehen und erfahren, keinen rechfen Liilersdieid hicrinnen 7ai machen wissen; /.u
gcschweigen, dafs der Componisten ihre Composition also beschaffen, dafs diese beiden slgna chromalica
an elHclien Oertern gebrauchet, an etlichen aber nicht in Acht genommen werden dürfen; darumb denn
die beste Caution wäre, wenn es die Componisten an allen Oertern, da es von Nötlien ist, klärUch da-
bei schrieben, so hätte man keines Nachsinnens oder Zweifclns ^on Nöthen." — Jener Einseitigkeit
älterer Tonlchrer gegenüber, durch welche sie jedem Vorwurfe der Abweichung von ihrem Systeme zu
begegnen meinten, dennocli aber Lehre und Ausübung geständlich einander entgegensetzten, maclien Mir
den Versuch, (auf das \'erfaliren ims gründend, das wir in den Kunstwerken älterer Zeit überein-
stimmend beobachtet finden) jene Zweifel virkhch zu lösen, und scheuen uns nicht, hier zu behaupten:
in der folgerechten Anwendung der Versetzungszeichen eben sei der tiefere behalt der Kirclientöne erst
an das Licht getreten, ilire gegenseitige Beziehung erst völlig ausgesprochen worden; bei den besten
Meistern finde deren Eigentliümlichkeit sich nirgend durch dieselben getrübt; Erhöhinig, wie Erniedrigung
der Tonverhältnisse sei von ihnen, einer lebhaft gefülilten, wenn aucli in der Tonlehre nicht ^^^irlhch
ausgesprochenen Regel zufolge, innerhalb eines, durch das Wesen der Kirclientöne bestimmt begrenzten
Kreises zur Anwendung gebracht worden. ; .iii.iK
\\ir wenden uns nunmehr zurück zu der Frage: welche die gegenseitige harmonische Beziehung
jener fünf von uns gefundenen Tonarten sein könne, und wirklich gewesen sei? Nacli den Grund-
sätzen der Tonkunst unserer Tage würden wir diese Frage leicht beantworten. Ein jeder Ton hat zu
seiner Oberquinte die nächste harmonische Beziehung; mit dem Tone der schwingenden iSaite ertönt diese
der Oberoclave ziuiädist, welche, mit dem Grundtonc zusammenfallend, nur als dessen Wiederholung in
der Höhe angesehen werden darf; in gleicher Folge entwickeln sich dieselben Verhältnisse aus dem Grund-
tone der mit wachsender Stärke angeblasenen Pfeife. So steht luis die harte diatonische Tonleiter, einem
Naturgesetze zufolge, in nächster Beziehung zu einer z^veiten Tonreihe, deren Grundton die Oberquinte
des ilirigen ist, mid welche in derselben Folge alle Verhältnisse der ersten viedcr darstellt. Diese zweite
hat ein gleiches Verhältnifs zu einer dritten, und so fort, bis der Kreislauf miseres heul igen Tonsjstems
beschlossen ist. Die weiclie Tonleiter ftihren wir zunäclist auf die harte zurück; der Grundton dieser
letzten wird zu der kleinen Terz der weichen, ihre grofsc Terz zur ()uinte von jener. Das nädisle \ev-
hältnifs der so entstandenen Tonreihe bleibt das zu dei-jenigen, aus weicher sie gebildet vurde; auf die-
ses folgt Aviederum ein ähnlidies zu einem Kreise, dessen Lmfang durch quinten^^ eise Fortsclneitung
von ihrem Grmidtone aufwärts gebildet w ird. Jedes innerhalb des Umfanges dieser beiden Kreise unserer
Tonarten liegende Glied aber hcschliefst in sich dieselben Verhältnisse, dieselben Vervvandschaften; es
unterscheidet sich ym\ dem andern nur nach Höhe luid Tiefe seines Grundtones, und eine dadurch ver-
änderte Färbung der jMclodieen, die sich innerhalb seiner ReiJie beA\egen. Ist es (wie einige meinen)
audi durdi die verschiedene Weise, wie die Abweichung ^on der strengen, durch Zahlenverhällnisse aus-
gedrückten Reinheit der Tonverhältnisse, die jener Kreislauf der Töne unabänderlidi erheischt, unter sie
verthcilt, und dadurch ausgeglichen wird? blcil)t doch jene AbMeichnng, (so hört man oft behaupten)
ohne das ^Nesen jener Verhältnisse aufzuheben, dem gesdiiü-ften Ohre dennoch nicht un^ernehmbar, da
es nadi ihr, und nldit nach Höhe und Tiefe allein, eine jede unserer Tonarten zu erkennen vermag!
Oder tritt deren EigenthümUdikeit nur alsdann hervor, wenn sie auf Instrumenten geübt werden; durch
das hellere oder dunklere Erklingen ihrer, an verschiedener Stelle, durch veränderte Handgriffe, erzeugten
Töne? \Nir dürfen es hier unentschieden lassen. Denn dem Wesentlichen nadi bleiben uns nur jene
— 80 —
7Avei Tonrcihen übrii', die harte und weiche, die auf verschiedenen Stufen sich wiederholen; und mögen
wir aucli die näclisl verwandten, wie die fernsten, mit gleicher Leichtigkeit zu verbinden gelernt haben,
mag eine reiche Mannigfaltigkeit von Verknüpfungen uns zu Gebote stehen, mögen wir darin die Ton-
meister des sechzehnten Jahrhunderts bei weitem übertreffen; dennoch müssen wir zugestehen, dafs jene
Manni-^faltigkeii allein durch unsere ^Villkühr bedingt, durch sie erst ein Leben gestaltet werde, das keiner
von unseren Tonarten, als solcher, eigenthümlidi entblühe, ihr ausscliliefsead eigne; dafs wr endlich nur
eine harte und eine weiche Tonart besitzen, allseitig bewegUch und geschmeidig wie eine jede der-
selben auch sein möge. i
Eine jede der TonreUien liingegen, die wir mit dem Namen der Kirchentonarten bezeichnen, '
stellt, wie eine wesentlich verschiedene Folge der darin vorkommenden Tonverhältnisse, so auch eine
besondere Beziehung zu allen übrigen dar. Diese Beziehung oder Verwandtschaft beruht einmal auf der,
einer jeden Reihe eigenlhümhchcn Lage der Tonverhiiltnisse , ilirer melodischen Gliederung; sodann
anf dem harmonischen Verhältnisse des Grundtons einer jeden zu dem der andern, das wir aus einem
doopelten Gesichtspunkte betrachten können, der sich ims ergeben wird, wenn wir auf die Erzeugimg
der Töne aus einander, ihre daduicii bedingte Folgereihe zuvor unsern Blick werden gerichtet haben.
In der Folge der, mit der scliwingenden Saite zugleich erklingenden, auf der tönenden Pfeife
ilem Grundtone unmittelbar nach einander sich anschliefsendcn Tonverhältnisse tritt der harte Drei-
klan «^ als ein von der INatur Gegebenes licrvor. Der Grundton wiederholt sicli zunächst in seiner Ober-
octaAe, im Zusammenklänge völlig mit ilir verschmelzend; erzeugt aus derselben ihre Oberquinte, aus
dieser deren Oberquarte oder die Doppeloctave des Grundtons: aus jener erhebt sich sodann die grofse,
aus dieser wiederum die kleine Terz. In dem Zusammenklänge der Töne, welche diese Verhältnisse
ben-renzen, vernehmen wir dieselben in ihrer vollen Reinheit aufcinandergebaut; fünf Wolxlklänge also,
obgleicli wir wesentlich nur deren drei zu hören glauben, da beide Octaven des Grundtones mit ihm zu-
sammenfallen, die Qmnte aber imd die beiden Terzen im Zusammenklange über die Quarte vorherrschen.
Mit diesen Tönen ist zugleich die Reihe der im Zusammenklange harmonisch verschmelzenden, wie die
iNatur sie unmittelbar erzeugt, beschlossen. <)^
Jene harmonische Folgeordimng der Töne nun läfst uns die Grundtöne der, durch Versetzung der
diatonischen Leiter enl stehenden, melodisch eigenthümlich gegliederten Tonarten, in doppelter Weise auf
einander beziehen. Betrachten wir einen jeden als selbständigen Anfangspunkt einer solchen harmoni-
sdien Reihe, so erscheint das V^erhältnlfs zu seiner Oberquinte als sein nächstes harmonisches: und wird
hienach die Folge der Tonarten geordnet, beginnend mit der zwischen dem Tone C und dessen Ober-
octave beschlossenen Reihe, so treten die Grundtinie C, G, D, A, E, wie sie lüer hinter einander stehen, in
nächste Beziehung zu einander, und bilden eine geschlossene Reihe, da die quintenweise Fortschrei-
tung bis a\if II sich nicht ausdehnen kann, weil die mit diesem Tone beginnende melodische Reihe har-
monischer Entfaltung nicht fähig ist, wie ^vir gefunden haben. Schon diese Folgeordnimg, übereinstim-
mend wie sie scheinen möchte mit den Verwandschaften miserer heutigen Tonarten, stellt dcnnocJi völlig
abweichende Beziehungen dar. Denn ^^^r sehen hier zunächst eine harte Tonart einer harten, diese einer
weichen, diese und die folgende zwar wiederum einer weichen, jedoch Aon ihr verschieden gestalteten,
verwandt, so wie überall das Ungleichartige auf einander bezogen ; wo wir dagegen in dem Kreise unserer
Tonarten jede harte zu einer gleichartigen harten, jede weiche zu einer gleichartigen weichen und einer
harten überall in nächster Beziehung vorfinden. Aber einen jeden Grundion können wir auch als Glied
— bi —
jener harmonischen Folgereihe belrachlen, tlurch welche der harte Droiklang sich bildet. Dafs auch hie-
dtirch besondere harmonische Bcziehun2;on enlslehen, dafs sie durch die melodische Ghederung der, je-
dem Grmidtone sich anschlicfsendcn Reihe nodi kräftiger vermittelt werden, dafs hier das eigenthümlichc
Leben der Kirchenlöue beginne, soll tUc folgende Darstellung zeigen. Sie wird die Kirchcnlönc in der
Folge betrachten, welche die qiiintenweise Beziehung llirer (hundlönc ergiebt, den Ehiflufs der harmoni-
scheu Tonfolge aber, so -wie die melodische Gliederung einer jeden dabei zugleicli in Erwägimg ziehen.
Die zwischen dem Tone C mid seiner Obcroctave beschlossene ionische Tonart, welche die
diatonische Leiter in unveränderter Loge darstellt, in deren Grundtoue uns beide erwähnte Beziehungen
zusammenfallen, hatte defshalb unbedingt die nächste Beziehung zu derjenigen Tonreihe, die mit der Quinte
ilires Grundtoncs begiimt, also durch den Ton G und dessen Oberoctave begrenzt wird. In dieser letz-
ten Reilie aber trat das Verhällnifs des Grundtones zu seiner Obcrqiiarte gleich mächtig hervor. Nicht
nur, dafs es nach der ()uinte in der harmonischen Reihefolge der Töne das nächste ist,, ja, in der vor-
liegenden Tonreihe selbst als das nähere deshalb sich darstellen durfte, weil es dem Grundtone derselben,
G, in jener harmonischen Tonfolgc am nächsten hegt; auch schon durch che eigenthümliche Gliederung
der mit G begimicnden ^ ersetzung der diatonischen Leiter war das Ilinstreben jenes Tones nach sei-
ner Oberquaitc vermittelt. Keine unter allen übrigen Reihen nänüich schhefst in sich die Bcstandtheile
des Zusammenklanges, den unsere heutige Tonlehre den wesentlichen Septimenaccord nennt, als die,
zwischen den Tönen G — g beschlossene mlxolydische Tonart; eben ihr allein eignen die \'erhält-
nisse der grofsen Terz, der Quinte imd kleinen Septime in ihrer ^''erknüpfung. Der durch dieselben ge-
bildete, uns auf der Quinte oder Dominante jeder Tonart sich aufbauende Zusammcnklnng war dort auf
dem Grundtone schon immittelbar gelagert, ur.d bechngte liienach the Ausweichung nach dessen Unter-
quinte oder Oberquarte. Selten, es ist waln-, tritt in den Werken der Tonmeister des sechzehnten, ja,
noch des siebzehnten Jahrhunderts, Menn sie auf kirchlichen Ernst Anspruch machen, der wesentliche
Septimenaccord wirklich hervor; da, wo die kleine Septime die Ausweichung wesentlich vermittelt,
pflegt sie bei ihnen sich zu verbergen. ^^ Ird sie aber auch durch das äufsere Ohr nicht vei'uommen, so
bleibt iln-e IMacht doshalb doch nicht minder fiUilbar: ^^as sie bewirkt, geschieht anscheinend ohne sie,
ein Anhauch des Geheimnifsvollen Avird über den Gesang dadurcli verbreitet. Aber auch die besondere
Stellung dieses so mächtig im \ erborgenen wirksamen Ton^erhältnisses gegen die Tonart selber, scliärft
deren eigenthümhches Gepräge. Hat der wesenthche Sepliraenaccord in unserer Tonkunst seinen Sitz
auf der Dominante jeder Tonart, so wirkt er nur dahin, eine jede In ihre Grenzen zurückzideiten: in der
mixolydischcn, auf deren Grundtone er sich aufbaut, leitet er, über jene Grenzen hinaus, zu einem lieferen
Ursprünge dieses Grundtones hin; in jenem %\ iniderbaren Zuge ist die Ausweichung nach der Oberquarle
begründet; denn in dieser, als seiner Doppeloctave, verschmilzt der Grundton des durch die Natur gegebenen
Dieiklangs weder mit sich selber, nachdem er die Quinte aus sich erzeugt hat. Ms ein kräftiges Auf-
streben, nicht weichliches Zurücksinken erscheint jene Ausweichung bei allen älteren "^ronmelstern, durch
die ^Vcndung der Rlelodie so^^ohl, als die Entfernung der kleinen Septime, die mit der grofsen Ter«,
verbunden zu sehr das Gepräge zarter, %\clcher Sehnsucht an sich trägt.
Nicht minder mächtig aber blieb In der mixolydischcn Tonart die Neigung ihres Grundtones, be-
trachten wir Ihn selbständig, zu seiner Oberquinte. Diese jedoch leitete sie niclit zu der Ausweichung
in eine harte Tonart hin, wie et^^'a unser G dur nach dem nächst verwandten D dur übergeht, sondern
zu einer elgenthümllch gestalteten weichen, ; Denn die, mit dem Tone ,_p,beginn(end9;yergetzving| der
C. T. AVintcrfild. JoL. üaLrleli n. i ZeltalUr. ' Jl
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diatonischen Leiter, wird von ilirem Grundtone aus nicht zu der grofsen, sondern zu der kleinen Terz
hingeleilet. Wir haben diesem zufolge, an der mixolydischen Tonart eine, von unseren harten Tonlei-
tern wesentlich verschiedene, ihre Verwandscliaften aus der Folge der in llir beschlossenen Tonverhäll-
nisse lebendig und noth wendig entwickelnde, auf besondere Weise harmonisch sich entfaltende kennen
gelernt. Es bleibt uns noch übrig, eine andere mit den übrigen Kirchentonarten ihr freilich gemeinsame,
bei einer jeden durch ihre besonderen Neigungen aber doch wieder abweichend sich gestaltende Eigen-
schaft näher zu betrachten.
Die Eigenthümlichkeit des älteren Tonsystems, vermöge deren der siebente Ton der diatonischen
Leiter, unser h, auf doppelte Weise gebraucht, hienach eine jede Tonart in dem weichen Systeme ge-
gen das harte um eine Quinte tiefer, eine Quarte hoher ausgeübt werden konnte, gewährte noch einen
anderen Vorlheil. Die Versetzung des Gesanges aus dem harten Systeme In das weiche durch Ernie-
drigung des h um einen halben Ton nämlich, vergönnte die einer jeden Tonart beiwohnende Neigung
zu der mit der Oberquinte Uires Grundtones beginnenden darzustellen, ohne dafs sie ilire anfanglichen
Grenzen zu verlassen brauchte; denn eine solche einfache Veränderung ihrer ursprünglichen Tonreihe
verwandelte sie nun in diejenige, nacli -welcher hin auszuweichen sie sonst liebte. Durch eine
solche Verwandlung der mixolydischen Tonleiter, welche die ilu- angchörige grofse Terz mit der kleinen
vertauschte, das in ilir auf der dritten Stufe zuerst vorkommende Verhältnifs des halben Tones auf die
zweite Stufe versetzte, gewann sie die EigentliüinUchkcit und die Verhältnisse der dorischen, mit der
Quinte Ihres Grundtones beginnenden Tonreihe, von welcher nachmals die Rede sein wrd. Dafs aber,
und wefshalb, der mixolydischen Tonart das Hinstreben zu der ionischen nicht minder, ja voriüglich
eigen gewesen, ist in dem Vorhergehenden ausgefülnt worden. Sollte nun jene, eben nur den Kir-
chentönen, vermöge der verscliledenen Folge der in ihnen vorkommenden Verhältnisse, ihrer Ei-schei-
nung in zwei besonderen Tonordnungen, eigenthümllche , doppelte Art der jModulation, durch Auswei-
chung und Verwandlung, nur auf eine der beiden, gleich mächtigen Neigungen der mLxolydischen
sich beschränken dürfen? Die Folgerechtigkeit des Systems, seinem Buchstaben gemäfs, scliien es zu er-
heischen; nicht minder dringend aber der immer reger für lebendige Entfaltung dieses Systems erwachende
Sinn das Gegentheil zu gebieten. Was dem streng einseitigen Tonlehrer eine Abweichung von der fest-
stehenden' Grundform der Kirchentöne, das erschien dem begeisterten Tonmeister als deren vollkom-
menste, eigenste Entwickelung. In diesem Sinne aber ist die Erhöliung des siebenten Tones der mixo-
lydischen Tonreihe, des f, um einen llalbton, wodurch diese Reihe mit der ionischen zusammenfällt,
nicht eine wlllkührliche, blofs chromatische Auszicnmg, sondern eine nothwendige Verwandlung derselben,
um Ihre vornehmste Neigimg innerhalb ihrer eigenen Grenzen darzustellen. In der Regel aber bedienten
die alten Tonmeister (im Sinne des von Ilinen geübten Systems) sich jenes erhöhten Tones niclit wc
wir des Unterhalbtons Cscmitomi modij in unserer harten Tonart G, um einen vollen Schlufs am Ende
Ihrer mLxolydischen Gesänge herbeizufülnen ; sie hätten dieselben auf solche Weise mit einer fremden
Modulation geendet, statt sie Ilnen eigenthümlichcn Verhältnissen gemäfs zu bcschliefsen. Defswegen
leiteten sie den Scldufs vielmehr auf der Oberquarte oder Untcrquinle C ein, wodurch die Beziehung
auf die ionische Tonart besonders hervorgehoben wurde ; oder zogen sie statt eines solchen halben Schlus-
ses einen vollen, nur durch jenen erhöhten Ton einzuleitenden, vor, so gaben sie der mixolydisclien Lei-
ter daneben noch die kleine Terz, und erhielten sie auf diese Weise zwischen ihren beiden Ilauptbezle-
hungen, der dorisclicn und ionischen, scliwebcnd; oder sie liefsen docli das f, die bezcicluiendc kleine
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Septime des Grundtones, unmittelbar vor dem Schlüsse, wenn aucli nicht in dem nach ihr benannten
Zusammenklange, hören. So wurde, auf dem einen wie dem anderen Wege, am Endpunkte die Eigen-
tliiinüichkeit des Mixolydischen bei Rückkehr in dessen Grenzen recht fiililbar gemacht.
Die dorische Tonreihe liegt der mixolydischen zunächst; zwischen der Quinte des Grundtones
dieser letzten und deren Obe^ocla^'e ist sie bescl Jossen, und liiedurch die nahe Verwandschaft beider
Tonarten begründet. Dieser Hinneigung der dorischen zu der mixolydischen ungeachtet, tritt in der ersten
dennocli das Streben ihres Grundtons nach seiner Oberquinte mächtiger heraus, als das nach seiner Ober-
quarte: jenes findet seine Begründung in dem früher ausgesproclienen Naturgesetze, dieses ist in der
dorischen Leiter nirgend vermittelt, denn nicht der Zusammenklang der grofsen Terz mit der kleinen
Septime, sondern der kleinen Terz mit jener ruht auf Direm, wie dem Grundtone aller übrigen Kir-
chentonarten; die mit A beginnende Tonreihe, die aeolische Tonart, ist also der dorischen näher ver-
wandt, als die mixolydische. Audi liegt der dorische Grundton D so wenig, als der aeolisdie A innerhalb
jener harmonischen Kcihe, welche durch die (ilieder des harten Dreiklanges in der natürlichen Tonfolge
gebildet wird, als deren Anfangspuidvt inul Grundton wir den Ton C gesetzt haben. ISIcht also ein \er-
hältnifs jener Reihe kann auf beide Tonarten einwirken; wir dürfen in diesem Sinne sie nur selbständig
betraditenj'^das Nerhältnifs der Quinte, das erste wesentlich harmonisdie, also auch als das in ihnen vor-
herrsdiende annehmen. Die dorische Tonart als eine der nächsten Ausxn eichungen der mixolydischen,
und dadurch auf sie gegründet, zeigt uns aber dieselben Töne als vorzüglich bezeichnende, welche es in
jener waren: h, das die grofse Terz, f, das die kleine Septime dort bildete. Hier jedoch gestalten sie
andere \'crhältnisse; diese wird zu der kleinen Terz, jene zur grofsen Sexte des dorischen, die es
von unsern IMolllönen unterscheidet, denen die kleine Sexte, die grofse aber nur ausnahmsweise bei
aufsteigender Leiter eignet. Jenes Kennzeichen des Dorischen aber leitet uns zu einer Folgerung, welche
durch die ^^crke der grofsen Tonmeister des sedizehnten Jahrhunderts sich bewährt. AVir fanden be-
reits zuvor, dafs die kleine Septime allen ^xeichen Kirdientonarten eigne, und eben so überzeugten
wir uns, dafs die kleine Sexte ein Urnen allen gemeinsames Tonvcrliällnifs sei, und dafs nur das Do-
rische davon eine Ausnahme mache. Ist mm die kleine Septime allen weichen Kirchentonarten ge-
mein, so ist sie keiner von Urnen ein wesentliches, unterscheidendes Kennzeichen; sie darf also eine zu-
fällige N^eränderung durch Versetzungszeichen erleiden, wo nicht andere, aus der Resonderheit jener Ton-
aiten hervorgehende Gründe es verbieten. Nun wird in der dorischen Tonart zwar der, durch seine
Lage für eine jede sonst bezeichnende halbe Ton an der zweiten Stelle durch die grofse Sexte h, die
kleine Septime c gebildet; von beiden aber ist nur die erste, nicht die zweite jener Tonart elgenthümlkh:
deren Erhöhung um einen halben 'I'on also gefährdete das Wesen derselben nicht, führte auch kein \ or-
hältnlfs ein, das dem diatonischen Klanggcschlcdile an sich fremd gewesen wäre. Durch die Zulässigkcit
einer solchen Erhöhung wurde der dorisdien Tonart der Unterhalbton eis für einen vollen Sdilufs ge-
währt, den jedoch die allen Meister nur unter ähnlichen Besdiränkungcn ainvendeten , als in der mixoly-
dischen; denn hier wie überall in dem Kreise ihrer Kirdientöne wollten sie die Ilauptbeziehungen des
von Uinen gewählten, nadidem sie im Laufe des Gesanges vielfach laut geworden waren, am Sdilusse
noch einmal zusammenfassen und sie anklingend vernehmen. Jenes y/.v, durch die Ver\vandlung der
mixolydlsdien kleinen Septime gewonnen, die grofse Terz des dorischen Grundtones D, wurde am
Schlüsse statt der, ihm sonst beiwohnenden kleinen von ihnen angewendet, damit in ihm, als Unter-
)ialbton von G, die mixolydische Beziehung anklinge; die dorische grofse Sexte wurde in die kleine,
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der naelistvenvandtcn acoli sehen Tonaii eignende venvandclt, einen Anklang auch dieser Verwandt-
schaft zu gewinnen; noch lebhafter üalcn diese Beziehungen in dem dorischen halben Schlüsse diu-ch
die unmittelbare Folge des weichen Dreiklangs auf der dorischen Unterquinte G, des harten auf dem
Grundtone 1) heraus. Diese durch harte Dreiklänge überall gebildeten Tonschlüssc sind ohne Zweifel
auf dem Bestreben gegründet, jene Beziehungen stets recht lebendig zu erhallen. Der harte Dreiklang, in
der Folgereihe der nacli eiuaiuler sich erzeugenden Töne gegeben, der helle, heitere, ist nicht allein der
ursprünglich naturgemäfse, und defshalb a orzugsweise gefühlte; wenn er auf dem Grundtone jeder
Kirchentonart schhcfsend ndit, stellt aucli der Ton, durch welchen das ihn bezeichnende Verhältnifs der
gTofsen Terz gebildet ^ird, den Leilton derjenigen Tonart dar, welche kraft eines Naturgesetzes uns
als die, der eben geübten unmittelbar vorangehende erscheint; wir empllnden, und ziunal bei halben
Schlüssen, ein fiiJilbares Hinneigen zu dieser Vorgängerin. Der Kückbbck auf sie, den Urspnuig der
eben verkluugenen, deren Grundton aus dem ihrigen sich entwickelte , leiht dem Gesänge das eigenthüm-
licli fromme Gepräge demülhiger Beugung.
Zu der aeoli sehen, zwischen den Tönen A — a (D — d) sich bcMegendcn Tonart, als der,
dem Doi-ischen nächst verwandten, werden wir, dem oft erwähnten Naturgesetze zufolge, hinübergeleitet.
Die bezeichnende grofse Sexte des Dorischen w ird in der acolisclien Leiter zur grofsen Secunde des Grund-
tons, und bestimmt, als das erste der beiden, das ^'erhältnifs des Ilalbtons bildenden Glieder die kleine
Terz, durch -welche das Aeolisdie zu einer weichen Tonart sich gestaltet; die kleine Terz des Dorisclien
wiederum wird zur aeolischen kleinen Sexte, dem z^■^-eiten Ghede des Halbtons an der zweiten Stelle.
So be\\irken dessen Glieder, liier, we bei den früher betrachteten Kirchcutönen, überall wesentUch
miterscheidende Verhältnisse zu dem Gruudlone einer jeden; so ^verden wir auch die llauptver-
wandtschaft des Aeolischen zu der, mit der Quinle seines Grnniltones anhebenden, ebenfalls weichen,
phi-ygisclien Tonleiter, wesentlich verschieden finden \-on seiner Beziehung zu dem Dorischen. Die kleine
Septime des Aeolischen, als fih- dasselbe niciit bezeichnend, imterliegt aus denselben Gründen, wie eben
jenes VerhäUaifs in der dorischen Leiter, einer Erhöbung um einen halben Ton, durch welche sie in
gis umgewandelt ^^ird; unr dafs die ^^esoliheit des Aeohschen erfordert, die Berührung der bezeichnen-
den Sexte in derselben Slinune immittelbar vorher zu vermelden, damit sie nicht zu Verhütung des,
dem diatonischen Klanggeschlcclite fremden \'erhältulsscs einer übermäfsigcn Secunde eine zufällige Erhö-
hmig erleiden dürfe, ^^urde sie mivermeidlich , so pflegten die alten IMeisler, um, der uolhgedruiigenen
Abweichung uiigeachlct, dennoch das Kennzeichen des Aeolischen zu erhallen imd nachdrückhch liervor-
zulreben , unmittelbar vor der erliöhtcn kleinen Septime, in einer andern A'on den zusanunenkliiigenden
Stimmen die kleine acolische Sexte hören zu lassen. Jene Erhöhung der Septime nun, die wir bislier
in sclion zwei Fällen zulässig fanden, erlaubte die Ausweichung in die, dem JMixolydischen und Dorisclien
näclisl verwandten Tonarten auf den Oberquiiiten ihrer Grundlöne einzuleiten: auf a durch die erhöhte
kleine Septime des Dorischen {clsj den mixolydischen Gesang nach jener Tonart hinzuwenden, den dori-
schen in das Aeolische auf e durch die erhöhte kleine Septime jener Tonart (gisj hinüberzuführen. An-
ders verhält es sich in der aeolisclien Tonart. Ihr ist nicht gestattet, in die ihr näclistverwandte phrygisclie
Tonart auf der Oberquinte des Gruiullous derscllien, h, hinübergeleitet zu werden. Denn diesem Tone
ChJ fehlt wcsentUch die reine Qmute, wefshalb vtir ihn früher schon zur Bildung einer harnioiiiscli zu
cntwickehiden Leiter untüchtig fanden. Es darf nicht eingewendet w^erden, durch die Venvandlung des
Mixolydischen in das Ionische sei ja diese reine Oberquinte C^sJ schon gefunden. Denn wir sahen
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bereits, dafs der Ton U durch sie nicht befiihigt werde, als GruiidLon eine neue, cigenliiüiuliilie Toiuvlhc
zu bilden, ^^ar also auch ein Hüirslon vorhanden, durcli den dessen reine Quinte darsgclelll werden
konnte, so war er doch nicht um ihretwillen gefunden, nicht im Bezüge auf sie aus der harmonischen Eut-
wicklung der Tonarten hervorgegangen. Um aber die zuvor beschriebene Ausweichung des Aeolischcn
nach dem Plnygisclicn einzideiten, hätte es aufser der Quinte von h, auch der grofscn Terz dieses
Tones, </««, nocli bedurft; weshalb aber die streng in sich beschlossene Entfaltung des diatonischen
Systems diesen Ilülfston ausgesclJossen habe, wird die Betrachtung der phryglschen Tonart uns
verdeutüclicn. Zu ihr wenden wir uns niumiehr, um die Eigenthüiidichkeit des Aeolischcn, sehie Bezie-
hung zu ihr, seine ^ erwandlung, seine Ausweichung in sie, kennen, imd verstehen zu lernen. —
Die plirygische Leiter wird durch den Ton E und dessen Oberociavc begrenzt; die der aeoli-
schcn wesentlichen ^erhältnisse der kleinen Terz und Sexte, durch die Töne c und f, in ihrer Beziehung
zu dem aeohschen Gnnidtoue ausgedrückt, werden , indem sie nunmehr zu dem phrygischen (nundlone
E in ein neues Vcrhällnifs treten, zu der für diese Tonart bezeicinieudcn kleinen Secunde und
Sexte. Hiemus aber folgt, dafs derselben auch die kleine Terz eigentliüinlich sei; denn der kleinen
Secunde würde die grofsc Terz ohne das, dem diatonischen Klanggesddcchic fremde \ erliältnifs der
übennäfsigen Secunde niclit folgen können. Eben so crgiebt sich ferner, dafs der Unterhalbton ihr nolh-
wendig abgehe; also auch die Uuvcränderlicldvcit der kleinen Septime (d), der gänzliclie Mangel eines
vollen Schlusses zu ilircm ^^ cscn gehöre. Denn ist dieser allein auf der Obcrcjuiute oder Unterquarte
jeder Tonart einzuleiten, dazu aber, neben der reinen Quinte, auch die grofse Terz erforderlich; jene bei
der phrygischen Oberqiüntc (m ie wir gefunden) wesenilich ausgeschlossen, diese im Siinie des diatonischen
Klanggeschlechts der falschen Quinte, ohne die unharmonische \ erbindinig einer grofscn und venuinder-
ten Terz nicht beizugesellen; so fehlt ihm in der phrygischen Tonart alle notliM endige Vorbereitung, sie
mufs ilm gänzhcli verschmähen, will sie anders ihrem innersten VVesen treu bleiben, und nicht zwei ihr
eigeulhümliche Vcrhidluissc zugleich aufgeben. ISoch auf andere Weise ist die Unzuläfsigkeit eines vollen
Schlusses in der phrygischen Tonart darzidegen. Enien vollen Schlufs nämhch leitet in jeder Tonart
der'.ri grofse Obersecunde auf der Unterquarte ihres Grundlones ein; beide Ton Verhältnisse, selbständig
a'.if einander bezogen, stellen eine reine Quinte dar. Zwischen beide fügt sich die, in jedem Kirchentone
y (C ausgeuoniuien, das die grofse Septime in seiner ursprünglichen Leiter besitzt) um einen Ilalbton zu
erhöhende, in dieser Gestalt die grofse Terz der Unterquarte des Grundtones bildende kleine Septime
ein. Der phrygischen Tonart aber, luul dieser allein, ist die kleine Obersecunde wesentlich; diese
bildet jcdodi gegen die L^nterquarle des phrvgischen Grundtoues eine falsclie Quinte; beiden könnte (he
orli()hlc phrygische Septime (als grofsc Terz jener Unterquart(^) sich nicht einfügen , ohne ein mibarmo-
nischcs, dem diatonischen Klanggcsclileclitc widerstrebendes Vcrhällnifs zu erzeugen; die Erhöhung der
phrygischen Obersecunde endlich, um die reine Quinte der Unterquarte des Grundions zu ge\^iunen,
würde durch den Zusammenklang aou ZMci, jener Tonart fremden V^crhältnissen, deren VVesen ■\ollig
zerstören. Sofern aber die Quinte des phrvgischen Grundtones eine eigenÜiümlich harmonisch zu ent-
wickelnde Tonreilie zu gestalten unlüditig, und durch willkülirliche Erhöhung ihrer Quinte nur eine
solche zu begründen fähig ist, ■\^ eiche in veränderter Tonhöhe nur die phrygischen Verhältnisse abermals
wiederholt, kann auch dem phrygischen Kirchentone die Neigung nicht beiwohnen, innerhalb seiner Gren-
zen die Verhältnisse einer harmonisch unlücliligcn Tonrcihc darzuslellen, der Möglichkeit harmoiiischer
Entfaltung sich zu berauben. Das Aeolisclie jedocli vermag in das Phiygische sich zu verwandeln
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tliTTch Anwendung des b, den Uebergang in das weiche System (mit den allen Tonmeistern zu reden);
es weicht in dasselbe aus, theils durch einen halben, auf dem aeolischen Grundtone eingeleiteten
S<-hlufs theils durch Verbindung der letzten beiden Töne der auf- und der absteigenden phrygischen
I^eilcr wodurch beide, eben nur dieser Tonreihe eigcnlhündichc Tonfälle zusammenklingen, und sie vor
allen andern harmonisch bezeichnen. Auch in seinen Schlufsfallen endlich deutet das Aeolische seine
Verwandtschaft mit dem Phrjgischen an; in dem vollen SclJusse, durch dessen früher beschriebene
Anordnung, indem die kurz vor dem letzten Zusammenklange gehörte kleine aeolische Sexte zugleich die
itlirv'ische Obersecundc ist; in dem lialben Sdüusse durch die unmittelbare Folge des weichen Drei-
klanos auf der aeolischen Unlcrquinle D, imd des harten auf dem aeolischen Grundtone A: in jenem
klinnt die klehie phrygische Sccunde an, und indem dieser in seiner Quinte den phrygischen Grundton
hören liifst, vernclinien w ir durch beide den abfallenden phrygischen Tonschlufs, gemildert nur durch eine
dem Aeolischen eigen ihündiche Harmonie. Der J^eitton in das Dorische aber, der in der grofsen Terx
des Schlufszusammenklangs sich darstellt, deutet auch jene Beziehung des Aeohschen an; und ist der
aeolische Schlufs, ^\^e wir ihn zuvor beschrieben, an sich dem dorischen auch völlig gleich, so weiclit er
doch von ihm dadurch ab, dafs kein, der Tonart selber fremdes Verhällnifs ihn gestaltet, (wie dort die
entlehnle kleine Sexte) dafs er unmiKelbar aus ihr hervorgeht. Ein Kennzeichen für sie wird er also
nur durch tue Beziehung auf alles ihm ^'orangchende.
Wenn vir die Vel•^vandlschaflen des Dorischen und Aeolischen, welche wir zuletzt betrachtet
haben, nur auf jenes Naturgesetz zu gründen vermochten, welchem zufolge jedem Tone, für sich ange-
sehen das \^erhältnifs zu seiner Oberquinte das näcliste harmonische ist; so fmden wir bei dem Phrygi-
schen, zu dem vir mis nvmmehr zurückwenden, jene Beziehung durch seine melodische Gliederung zwar
Äusn^eschlossen, um so mächtiger dagegen die ^'er^^ andtschaft vorwalten, welche durcli die Folge entsteht,
in der die schwngende Saite, die tönende Pfeife, die Gheder des harten Dreiklanges erzeugen; durch die
besondere Weise, wie der Grundton immer geschärfter durch sie hinklingt, einem jeden von ihnen näher
tritt. So trat uns das fllixolydisclie, da der Grundton des Ionischen den seinigen von jeder Seile um-
schliefst, zu jener Tonart in näcliste Beziehung; so werden wir jetzt neben dem Aeolischen das Phrjgi-
schc dem lonisclien nahe verwandl iindcn. Denn der Grundion, wenn er nach Erzeugung seiner Quinte
abermals geschärft über sie hingeklungen, läfst nunmehr seine grofse Terz ertönen; diese aber ist eben
der Grundlon des Phrygischen, e, und ein Naturgesetz begründet solchergestalt die nahe harmonische
Beziehung beider, so durch C als E begonnenen Tonreihen. Auch die melodische Gliederung dieser
letzten vermittelt daneben ihren Uebergang in die ionische; die kleine, ihrer Leiter wesentliche Secunde,
tmi eine Octavc erhöht, zusammenkUngend mit der phrygischen kleinen Terz, leitet als wesentliche Sep-
time zu dem Ionischen hinüber. Aber selten bedienten die Tonmeister des sechzehnten Jahrhunderts
sich der wesentliclien Septime: eben hier bedurften sie ihrer kaum, eine solche Ausweichung zu ver-
mittehi; denn der phrygischen Tonleiter kann die ionische, der harmonischen Beziehung ihrer Grundtönc
wegen, unmittelbar untergelegt werden, in gleiclimäfsig fortschreitendem Zusammentönen wohlklingend
sie begleiten. Darum auch wohl verschmähten die frülieren Tonmeister durch willkührliche Erhöhung
der Secunde, Sexte und Septime die phrygische Tonart zur ionischen umzuwandeln; konnte sie doch
ohne alle Veränderung ihrer eigenthümlichen Verhältnisse mit jener sich verbinden, liarmonisdi in sie
verschmelzen, wie sonst kein Kirchenton in den Uim nächst ver\vandten; denn Quarten- und QuintenfpU
gen In gleicher Bewegung konnte nur die Kindheit der Kunst erträglich, ja anmutliig fmden, und ebeft
— 87 —
in diesen Tonverluiltnissen , wie wir gesehen, beliehen die Grundtöne der übrigen Tonarten sicii auf
einander. Neben dieser Eigenschaft, welche sie vor allen übrigen auszeiclmet, trägt auch die phrygisclie
Tonart in ihren V^erwandtschaftcn ein ganz eigen thümhches Gepräge. Einem I\aturgesel/.e zufolge, auf
dem der Zusammenhang aller übrigen Kirchcniönc gegründet ist, weift ihr Grundfon zurück auf seine Un-
terquinte; einem nicht weniger mächtigen gehorchend, in welchem die reidisten, fruchtbarsten Beziehungen
der Töne sieh entfalten, deutet er zugleich hin auf seine grofse Unlerterz; und so erklingt eben in jenen
^'e^wandtschaften, verhüllter nur und geheimnifs voller, als der, wo das Reich der Töne sich erschlicfst,
offen und hell hinausstrahlende harte Dreiklang, der weiche; aus beiden erblidit in reicher Entfallung
das Geheimnifs der Beziehung aller Tonarten, welche in ihren äufsersten Enden einander am nächsten
berüliren, in der dorischen aber, der von beiden gleichweit entfernten, in beiden Dreiklängen unmit-
telbar nicht gegebenen, ihren Mittelpunkt finden. In anderem Sinne können wir hienach von einem
Kreise der Kirchentöne reden, als A'on dem Kreise unserer Tonarten. Eine, nach oben und unten
qnintenwelse fortgesetzte Beziehung würde in beiden Richtungen eine nimmer sich scidiefsende Linie
bilden, würden nicht beide durch Milderimg der ursprünghchen Schärfe und Reinheit des ^'erhältnisses
der Quinte in Kreisform künsthch hineingebildet. Ein hiedurch gewonnenes, nach allen Seiten hin be-
wegliches und geschmeidiges System, dessen Entstclumg wir späterhin betrachten werden, Acrknüpft
zwar die entferntesten und nächsten Punkte jenes Kreises mit gleicher Leichtigkeit; jedoch nur Entfer
nungen niclit Eigenthümlichkeiten, wie das einfache System der alten IMcister. AVie nun jede,
wahrhaft lebendige und tiefe Naturanschauung eben nur das Werk frommen Sinnes isf; wie dieser
in Allem, was durch ihn erkannt, gebildet worden, sich lebendig abspiegelt, so finden wir es auch hier.
Jene Beziehung der Töne auf einander ist nicht ein klar geschautes Naturgesetz allein: sie ist ein Werk
des frommen Geistes derjenigen Zeit, welcher das Auge zuerst dafür geöffnet wurde, eines Geistes, der
immer inniger, tiefer, lebendiger in dasselbe sich hineingebildet hat. ^'ermochtc doch ein solcher Geist:
allein, jenen Tonreihen das Gepräge der Kirclilichkeit einzudrücken; oder redet man von einem alten ge-
heiligten Herkommen, das sie zu Kirchenlönen erhoben; wer anders als jener Geist war im Stande ein
solches Herkommen zu heiligen? Auf eine Tonreihe w^erden alle übrigen bezogen, die ionische, die in
sich abgeschlossen, auf den hell und heiter hinausstrahlenden harten Dreiklang, eine durch die Natur
selber hinklingende, befiiedigende ^ crschnielzung verschiedener Töne gegründet, auch das Gepräge heite-
ren, frohen Genügcns träg-t. Mit ihr tritt eine zweite, die mixolydische, in nächste Beziehung; ihr
Grundton, ein lebendiges Glied jenes Dreiklangs, das näcliste harmonische Erzeugnifs des Grundtons jener
ersten, trägt und begründet nicht minder einen gleichen Zusammeidilang: aber aucli eine Tonreihe beginnt
und begründet er, in der alles wieder hinklingt, hinstrebt zu dem Ursprünge, aus welchem Ihr Grimdton
erwuchs, durch die ein Zug der Sehnsuclit hingeht neben jenem heiteren Genügen, dem christlichen Seh-
nen gleich nach geistllclier Wiedergeburt, Erlösung, Rückkehr einer früheren UnscJuild, gemildert aber
durcli die Seligkeit der Liebe und des Glaubens. Erscheint nun jenes Zurückstreben in solchem Sinne
als wahrhaftes geistiges Aufwärtsdringen, so mangelt es docli jenem Tone aucli nicht an einem Drange,
der auf ein durch alle Töne mächtig waltendes Naturgesetz gegründet, als ein mehr sinnlicher, irdischer
sich darstellt. Allein dieses Streben fiihrt unmittelbar nicht zu sehgem Genügen: auf dem Griuidtone
der so errelclitcn nächst verwandten Tonart, der dorischen, ruht nicht der harte, helle Dreiklang mehr,
sondern der trübere, weiche; aber tröstend, erheiternd, ermutliigend klingt durcli die Tonrelhc ein Glied
jenes hellen Zusanuoenklanges wieder, der dem früheren Kirchenlone eignete, die mixolydisclie grofse
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Terz nunmehr zur grofscn dovlschen Sexlc geNvordcn, xmA leiht ilir das Gcpriige frommen, ruhigen, hei-
lin-cn Enisles; dnher aucJi in dieser Tonart die meisleii heiligen Gesänge gesehalTcn Avorden. ^ on nun
an streht, jenem Naturgesetze zufolge, jeder (irnndlon aufwärts, enic neue Rellie zu hilden; dem Ur-
spnmge eines jeden ersclielnt der Dlick wieder zugewendet. Der aeolischen, als der nächsten auf
diesem Wege erstrehten Reihe, leuchtet schon nicht ferner eine heitere Erinnerung an ihre \ orgängerin;
an dcrselhcn Stelle, wo In jener der klare Geist der ihi-igen ahnend wiederklang', ti'.nt in dir dasjenige
an. ^^üd!^■cll jene geUübt wurde, die kleine dorische Terz, nunmehr zm- kleinen aeoUschen Sexte umge-
wandelt. Eiu Schatten tiefer >Vehmuth legt sich hin über sie, und ein noch tieferes Dunkel verhüllt
die piiryglsche, der eine andere Tonredie aus sich zu erzeugen nicht mehr gestattet, nur ein trü-
ber RiU-kblkk auf ihre ^'orgängerIn vergiinnt Ist; tlle überall tiefe Bedürftigkeit, Zerknirschung, alkin
auszusprechen scheint. Aber neu belebend, erfrischend, erliellend, tritt nun der Grundton jener ersten
Tonroilio, der ionischen, hinein zwischen ihren und den Gnmdton Ihrer Vorgängerin; in neuer, tiefere?
Bedeutung erklingt der reiche Dreiklang, das innige Verhältnifs dieser drei Kirclientiine bezeichnend.
Mit dem hellen, heiteren Ionischen darf das trübe Phrygisclic unmittelbar verschmelzeu ; der tiefsten hei-
ligen Zerknirsclumg steht himmlischer Trost auch am näclisten; je tiefer der Mensch seine Sünde, jö
Inniger fiildt er die Seligkeit seiner Erlösung. Darum erklangen In diesem Tone seit den ersten Zelten
der Kirche nicht allein Bufspsalmen. sondern auch feierliehe Lobgesänge; in der lutherischen Kirche neben
dem: „Erbarm dich mein, o llerrc Gott," auch das: „Herr Gott dich loben wir;" und wie In ionlsdieii
Ivlün-en die frohe Kunde von der Geburt des Erlösers, das freudige Lied der Ilirten, in dem mlxoly-
dischen „Gelobet seist du Jesus Christ," das In reine, helle Freude ausströmende Gefühl der endUch ge-
stillten. Iau2;en Sehnsucht ertönte, so durfte in dem phrygischen „Christum wir sollen loben schon,' auch
das Bewid'stseln laut Averden, so grofses Heil sei eben nur um der Sünder willen gekommen.
Das ist es, wodurch die alte kirchliche Tonkunst Aon der neuen sich wesentlich unterscheidet,
die geistige, eigenthümliehe, feste Gestaltung des flüssigsten, beweglichsten Blldiuigsstoffes, welchen die
ISaliir uns bietet, der Töne. Es war nicht starres Festhalten an dem Ueberlieferten oder Bequemen nach
demselben, wie man so oft hehaupiel; es war tiefe, lebendige Erkcnntuifs, welche das System der alten
Tonmeister gebildet. Denn, wo die mangelhafte Betrachtung, die einseitige Lehre, an dem starren Ge-
rüste festhielt, da durchbrach der bildende Geist jene beengende, willkührhche Schranke, und rechtfer-
tlo-te als lebendigen Fortschritt, was äufserlich als Abweichung erschien. Unser fein ausgebildetes, gelen-
kes, geschmeidiges Tonsystem, das alle anscheinende Ilärle und Unebenheit in jeder Tonart ausgeghchen, ^
aber auch ihre Eigenthümllchkelt -s'erwischt hat, giebt einem schwankenden, reizbaren, in grundlose Tiefe
sich versenkendem GefiÜde so leicht sich hin, das mit ilun in das Unbestimmte immer mehr sich ver-
liert mul verniiclitigt. iNIcht, dafs uns leid sein sollte ein solches System, und mit ihm freie, allseitige
Beweglldikelt gehuulen zu haben; aber wir sollen nicht aufgeben, was wir damit nicht anders elnbüfsen,
als wenn wir in frevelnder Selbstgenügsamkeit es wegwerfen, die Anschauung der alten IMelster von der g
Tonwell. Gern sollen wir an den Werken, die aus ihr hervorgegangen, als an den Erzeugnissen eines
edlen Geistes, uns erfrischen, und bevor sie ihr inneres Leben uns völLg aufgesclilossen, sie in Demuth
hochhall cn, als solche, die einst ein Geschlecht kräftiger, geistreicher Menschen erhoben und erfreut
haben, die an dem eifrigen, sinnigen Forscher, dem hingegebenen, thätig aufnehmenden Hörer unserer Zeit
ilereinst gewlf»lich ihre Kraft, wiederum bewähren ■\verden. Nicht sollen w'iv mit kaltem Hohne uns von
ihnen wegwenden, oder sie meistern nach Anforderungen, die mit Ihrem AVesen unvereinbar sind, nach
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Regeln, die niclit für sie gegeben worden, wodurch wir nicht ihren Umverth, sondern mir unsere \"er-
sdilossenheit und Bcsciuänkung an den Tag legen. Eben darin werden w4r Johannes GabrieU vor seinen
Zeitgenossen als grofs erkennen, dafs er, einer der ersten, kräftigen, geistreiclien Förderer der neuen Zeit,
dennoch der alten, in der sein Dasein wurzelte, die er durcli seine \\erke verherrlichte, fortdauernd auf
die rechte Weise treu blieb, und selbst da, wo wir beide Zeiten im Kampfe und Widerstreben bei ihm
erblicken, stets — wenn auch verhüUte und unscheinbare — Keime für künftige, scliönere Entfaltung
beut. Gewährt aber der Forlgang dieser Betrachtungen uns die Ueberzeugung. dafs diese Entfallung und
das durch sie bedingte Hervorgehen unseres heutigen Tonsystems auf einem ganz anderen Gebiete liege,
als dem kircldichen, dafs mit ihr die kircldiclien Grundformen, theils mit Bewufstsein durchbrochen, thells
allmählig abge^ielkt sind: mögen wir dann, so lieb uns kircliliclies Leben und die Blüthen sind, die es
zeitigt, bei denjenigen gern verweilen, die zu den frischesten der Kunst gehören, die es entfaltet iiat, und
wenn wir an ilinen seiner schöpferischen Kraft inne geworden, aucli der Ilofl'nung leben, dafs dereinst
Tielleiclit, wenn es in mid durch uns sich wahrhaft verjüngt, eine neue Blüthe jenem alten Stamme enl-
spriefsen könne.
Vielfach sind die Vorwürfe, die wir täglicli noch dem Systeme der alten Tonmeister machen
hören, durch die der unbefangene Sinn geüübt und gebunden gehalten wrd. Wie Einige es dnrclihin
dem Becpiemen nach dem unbelüiUlichen , ungelenken Büdungsstoffe zuschreiben, den jene alten IMeisler
vorgefunden, bezüchtigen Andere wiederum iiuc hannonische Behandlung desselben, das Zusanmiensiellen
einer Folge von Dreiklängen namenthch, ohne hannonische Beziehung im Sinne unserer heutigen Ton-
kunst, der Unkennlnifs besserer IModulation, einer kindischen Ungescliicklheit in Ilandliabung der Kunst-
mittel, der die Gegenwart längst entwachsen, auf die mit vornehmen Lächeln heralizuschauen sie
wohl berechtigt sei. Frelhch verbinden wir, nur ein Naturgesetz kennend, das die Verwandtscliaft der
Töne beslhnmo, in der Regel aucli nur auf eine Weise DreiUänge mit einander; in einer quinten- oder
quartenweis aufsteigenden Folge ihrer Grundtöne: so aber niclit die alten Meister. Nicht jenes Naturge-
setz allehi: ein anderes, das in der Beziehung der Glieder beider Dreikläuge, des harten und des wei-
chen, sidi kund gab; eine Besonderheit ihres Systems, die Urnen vergönnte, jede Tonart innerhalb
ihrer eigenen Grenzen in (Ue llir nächstverwandte umzuwandeln, bradite'^ die anscheinend entferntesten
DreiUänge einander nahe, so wie dadurch eine mannigfach gegüederte Bezielumg aller Tonarten sidi
gestaltete. So tritt bei jenen alten Tonmeistern üi der Folge von Dreiklängen, die sie verbinden, die
Eigenthümhchkeit jeder Tonart in ilirem Hinneigen zu allen übrigen, in strengen, grofsartigen , besÜmm-
ten Zügen heraus, und auch dem scheinbar fremdesten feldt nidit der 3Iittelpunkt, den es jederzeit in
der gemeinsamen Bezidiung auf den Grundton des Ganzen, auf die durch ihn begonnene und geregelle
Tonreihe findet. Jenes durdi die mLxolytUsche, dorische, phrygisdie, aeolische Tonart; so mächtig,
so beziehungsreich in seinem VerluÜliusse zu deren Grundlönen hinklingende /, gestaltet durch seinen
Dreikkmg, wenn wr in jeder einzelnen dieser Tonarten, in einer Folge solcher Zusammenklänge, Uin
vernehmen, sich nicht minder abwechselnd und eigenthümlich. Anders tönt er im Mixolychschen , hell
und klar, wo sein Grundton durch seine Beziehung zu dem jener Tonart ihr Seimen nach ihrem Ur-
sprünge vermiltdt; anders im Plirygischen, wo in tlem mallen AbfaUe nach dem Giundtonc jener Tonart
hin, der seinige den Ausdruck tiefster Bufse und Zerknirsdiung verbreitet, diese aber gelöst, gesänftigt,
erhört erscheinen, sobald durch klare Töne die in seinem Gnindtone schlummernde Harmonie her-
vorbridit, einem hellen Lldite des Himmels gleich, das den im Gebet Versunkenen unerwartet umleudi-
12
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Id.; anders wleilcium und milder im Dorischen, wo heiliger Ernsl, stille ^^ ehmuth, durcli das Verhältnifs
seines Grnndtons xu dem jener TonarL ausgedrückt wird; anders endlich seihst innerhalb aller jener Ton-
arlcii. durch die nächsle ZusanmienstoIIung, in der an Ir ihn vorfuiden. Unser gelenkes System frei-
licJi erlaubt uns die widerstrebcndslen Töne, wie zu herben IMifsklängen, so zu entzückenden Wohllauten
zu verbinden, scJmicicliehid durch reizeiule N^crmischung des abklingenden und versciuuelzenden ; beide
auf die mannigfachste Weise aufzidösen, zu den entferntesten Beziehungen des Grundtones liinüberzu-
Icitcn, die ganze Tiefe des Gefühles dadurch zu erscldiefsen, die zartesten Abscliattungcn desselben zu
ofl'enbaren. ISirgend aber linden jene Beziehungen in einer oder der andern unserer Tonarten wahrhaft
eine llelmatli; und hier eben müssen wir luis zurückgescimtten erkennen, so viel näher dem Ziele der
Vollendung wir uns auch wähnen mögen. Unleugbar strebten aucli die alten Tonmeister nach Beweg-
lichkeit und Geschmeidigkeit ihres Tonsystems, damit sie, nicht an ehie bestimmte Stufe der Höhe oder
Tiefe unwiderruilicli gebunden, jeden Gesang auf einer solclien ausüben könnten, wo er am frischesten
und anmuthigsten klänge; nicht war jedocli ihr Ziel eine völlige Ausgleichung aller Tonleitern, und mit
ihr der Tonarten; auf jeder Stufe vielmehr soUte jede derselben ihrem Wesen nach erhalten, die eigen-
ihümliche, harmonische Entfaltung ihr gesicliert bleiben. Audi später noch, selbst als einer neuen Kimst-
riclitung der Zeit die alten Grundfonneu nicht mehr genügten, (wie sie denn nur einem Gebiete der
Tonkunst, der heiligen, lebendig eigneten;) als neue Aufgaben neue Kunstmiltel bedingten, und d^ren
reichere Fülle auch diejenigen reizte und aidockte, welche das Gebiet kirchlicher Tonkunst anbauten;
als dem ernsten, feierlichen, und dennoch — wie wir zu zeigen gedenken — mannigfaltigen imd an-
mutliigen Schritte jener alten Gesänge, eine raschere BewegUclikeit folgte, aus der, wie das Zierliche,
Feine, so das Gewaltsame, ja Allgewaltige sich entAvickelte; als man bedeutende Sangweisen, in denen
auch tlie IMifsklänge wesentUch gestaltende Glieder geworden, kimstreich verweb, und während in diesem
Gewebe das anscheinend Widerstrebendste, IMIfsslimmendste zusammenklang, dennoch die Auflösung, leb-
haft und dringend, wie das Ohr bei jedem Schritte sie ersehnen mufste, leicht und natürlicli herbeigc-
füiirt, und eben hierin ein neuer Zauber der Töne entfaltet wurde: auch da klangen jene alten Bezie-
hungen, trüber freilich und enifernicr, doch immer noch an, bis der lebendige Geist, der sie erschlos-
sen und beseelt hatte, der Beweglichkeit des iitbschen Stofl"es weichen, jede Erinnerung an das
Alte, das allgemach als luigelenk, unbeholfen, hinter der IMannigfaltlgkeit des Neuen in herber Einfalt
weit zurückstehend erschien, völlig verklingen nuifste; und, wollen wir auch niclit sagen die Befriedigung
des blofsen Sinnenreizes allein, doch A'orzunsA\eise entweder die Darlcirun<r der sranzen Fülle er\\-orbener
Kunstmitlei luul Ferligkelten, oder die Darstellung leidenschaftlicher BewegUclikeit. inneren Spieles der
Empfindungen, erstrebt wurde. So hat die wclthche Tonkunst auch von dem Gebiete der heihgcn all-
mählig Besitz genommen; und verständigen wir uns über die Anforderungen, die wir jetzt an diese zu
machen gewohnt sind, so werden wir nicht leugnen können: wir suclien In ihr unter anderem Namen
dasselbe, was in jener uns rülirt und reizt. Durcli die HerbIgkeit und den Ernst der altkircliliclien Kunst
fühlen wir ims verletzt, und möchten Beides darum gern als Zeichen einer niederen Stufe darstellen, auf
der sie gestanden, um mit besserem Gewissen unserer heutigen Kunst In einer jeden ihrer Ilervorbringun-
gen huldigen zu können. Aber wir vergessen darüber, dafs sie weltlicli geworden isl, dafs jene llclmalh-
loslgkelt Ihrer sciielnbar so reichen Beziehungen, jene vielfach verschlungenen Sllfsklänge ohne liefere
Beziehung auf einen gemeinsamen Älittelpunkt, In ihrer IMannigfaltlgkeit und Vieldeutigkeit, dem kirch-
lichen Ernste, dem helligen Frieden, der an gottgeweihter Stätte walten soll, gänzlich widersprechend
N
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sind. Haben v-ir nun zuvor den Wunsch, die Hoffnung der Erneuerung jener alten Kunst ausgesprochen
in der wr Beides so bedeutsam, so erhebend %viederfinden, so ist niclit die Meinung gewesen, damit zu
todter Wiederhohing, leerem Abschreiben desjenigen aufzufordern, was unsere Vorgänger geleistet- denn
wie überaU, so auch hier, tödtet der Buchslabe, und nur der Geist aUein macht lebendig. Ein jedes Zeit'
alter noch hat in seinem Verhällnisse zu der Kunst ei.ie doppelte äufserste Richtung dargelegt: die eine
Derer, welche auf die nächstvergnngene Zeit mit Sehnsucht zurücksehen, in der Gegenwart nur tiefe Ent
artung erbhcken, in dem Roste, mit welchem die Zeit die \yerke ihrer Vorgänger überzogen, das wahre
Siegel der VoUkommenheit zu schauen wähnen; eine andere Solcher, die rasch vor^värtsstrebend , den
Kunststoff immer gefügiger zu bilden, das Neue, noch Unerhörte zu leisten trachten, in der Gegenwart
nur den Fortschritt, in der Vergangenheit nur die eben verlassene niedere Stufe erblicken. So tliöricht
c« nun ist zu glauben, dafs nur im Stillstande oder Rückgänge das wahre Heil zu suchen sei. oder gar
zu meinen, dafs die Zeit dem BUde eines Pfuschers jemals den Schmelz der Farben, die Anmulh, die
Bedeutsamkeit eines flleister%verkes zu leihen vermöge; eben so vergebhch ist die Hoffnung derer' die
in Verknüpfungen, wie sie bisher auf solche ^^ eise noch nicht dagewesen, das Musterhafte, ^^ollkom-
mene, UneiTeichbare zu schaffen wähnen. Der Stoff, in welcliem die Kunst bildet, den sie durch
dnngt, wnrd im Fortgange der Zeit gclenker, gefiigiger, bildsamer, und dieses um so mehr, je vielseitiger
man ihn behandelt; liier nehmen M-ir ehie Stufenleiter sonder Zweifel wahr, von diesem Standpunkte
der Betrachtung aus stehet eine Zeit über der andern. ^Vo aber in bestimmter Richtung das helle
Auge des Geistes den Stoff lebeiuUg erkannt, seine bildende Kraft ilin vöUig durchdrungen hat, da hat
sicli ein eigentliümliches Leben gebildet; es gehört zwar einestheils der Zeit an, in der e"s erschienen ist
aber es schwebt auch über derselben, und nicht diirfoif Mir Jiöhcr, vollendeter nennen, A,as dem fügsa-
meren Stoffe im Fortgänge der Zeit eingeprägt worden ist: die völlige Durclidringung in klar aus-esnro
diener Riclitung erzeugt zu jeder Zeit das ^ ollkommene. Enveckend, belebend, erleuclKoiul e-scheint
überall nur dieses allein, auch wo nur eine Annäherung an dasselbe vorhanden ist, wie ja unsere be
scliränkten Kräfte ein Höheres uns nicht gestatlen. In diesem Sinne erbhcken wir in der Gesclrchte der
Kunst eine reich und mannigfaltig entwickelte Lebensblüthe, nicht eine Stufenleiter allein wo der auf der
höchsten Sprosse angelangte mit Wohlgefallen den zurückgelegten Weg ermessen, und selbstgeniigsam
lächelnd, auf die unteren Stufen herabschauen, hoch über sie erhaben sich brüsten könne. Eine solche
Ansicht, wo sie in herber Einseitigkeit hervortritt, vernichtet allen geistigen Zusammenhang verschiedener
Zeiten; dem Thönchten, der sich ilir hingegeben, wird das Büd der Vollkommenheit, das er zu umf-.s-
sen wähnt, in Raucli und Nebel zerfliefsen, der Stoff, den seine ^ orgänger, mannigfacli zugerichlel
und für fernere Durchdringung befihigt, ihm verhefsen, unter seinen Händen einem leeren, kümmerlichen
durfügen Spiele sicii hingeben: wie könnte unter dessen Händen aucli ein neues Leben sich entfallen
der absichtheh jede Erinnerung frülieren Lebens für sich vernichtet, einem jeden Anklänge aus der \'er-
gangenheit sem Ohr stansinnig verschlossen hat? Einer solchen verkehrten Richtung wehrt che Gescliichte-
die leicht verlöschende Erinnerung an das früher Gebildete ^^^rd durch sie aufi^efrischt, dem Geiste, indem
das Vollkommenste, was eine jede Zeit erschuf, ilim näher gebracht wird, eine Art AUgegenwart verlie-
hen, welclie ihn in jeder Zeit heimisch macht, und erkennen lehrt, dafs das Trefllicliste einer jeden,
wenn aucli in ihr wurzelnd, doch dem Himmel entgegenstrebe, dafs in seiner tiefsten Bedeutung es über
aller Zeit stehe. Aber auch das wird ihm klar, dafs in jeder Zeit eine bestimmte Riclitung nur Vonvalte,
nicht ausschliefsend herrsche; dafs sie nicht selten in den zu bUdendcn Stoff einseitig sich vertiefend.'
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die wahre geistige Durchtlringung flesselben auf ilirem Wege verfclile, während unerwartet ein anderer
sich erhelle, eine neue, wahrhaft vergeistigende luchtung beginne; dafs von der früheren daiui wohl, als
einer vergeblichen, einseitig abgemahnt, das Streben der Vorgänger als ein geistloses, todtes gescholten
werde, dennoch aber ein köstlicher Schatz auf dem verlassenen Wege xmer>vartct sich finde, ein Lebens-
keim, wo er einmal sich geregt, selten völlig verloren gehe, dafs dem, eine Zeillang fiir ilm verschlosse-
nen Auge des Geistes ein schöneres, helleres Erwachen bevorstehen könne. Diesem Geiste, der köst-
lichsten Gabe von oben, der allein belebenden, deren W irkungen wir erkennen, ohne sie zu durchschauen,
soll die Gescliiclite Bahn machen, damit in der Gegenwart ein neues, frisches Leben an der Betrachtung,
der lebendigen Anschauung der V^orzcit sich entzünde; wie es der Bereclmung, dem verständigen Ab-
wägen so wenig zu entkeimen vennag, als dem willkülirlichen Aufregen und Erhitzen der Einbildungs-
kraft. So streben wir vonvärts, indem wir znrückdringen in die Vorzeit, so \\irkcn wir in dem Geiste
der Edelsten, weldie sie schmückten, und doch tiefer vielleicht und scliöner, wenn uns gegeben wird,
was wir in Demuth zu erwarten mid hinzunehmen, dessen wir aber niclit lobpreisend uns zu rülimen
haben.
Wir können jedoch diese imsere Betrachtung des Wesens der Kirchentöne niclit bescldiefsen, ohne
sie zuvor noch auf einen doppelten Gegenstand gerichtet zu haben; einmal auf die lydische Tonart,
an deren Stelle wir, den älteren Tonlehrcrn entgegen, die ionische gesetzt, dann aber auf den Lnter-
schied zwisdien authentischen und plagalischen Tonarten, dem in neuester Zeit eine andere
Bedeutung gegeben worden, als bei den alten Toidehrern sich findet; wobei wir GclegeiJieit nehmen
werden, da wir hierin der Lehre der Alten ims mit LTeberzengimg ansdiliefsen , diese, ihren Gnnulzügen
und ihrer Anwendbarkeit nadi, näher darzustellen, als in frülicren Andeutungen durdi diese Blätter hat
geschehen können.
Unsere frühere Darstellung setzte den wesentlichen Unterschied der Tonarten in die wechselnde
Lage des Halbtons; sie fand, dafs ein soldier Wechsel nach der Zahl der Töne, welche die diatonisdie
Leiter bilden, siebenmal möglich sei; sie hat die letzte der durch ihn erzeugten Tonarten aus dem
Kreise der harmonisch cntwickelungsfähigen mit Recht ausgeschlossen, und also darüber noch sich zu
rechtfertigen, wefshalb sie uns gegenwärtig nur fünf in jenem Sinne bildungsfähige Tonarten nachgewie-
sen habe, oder, wenn sie späterhin statt der lydischen ims die ionisclic vorgeführt, ob, imd %;arum sie
jene erste aus dem Kreise harmonisch zu belebender liinausgewiesen haben wolle? da diese so\\'oId als
jene uns dodi eine versdiiedene Lage des Ilalbtons unzweifelhaft aufweis't, beide also von allen übrigen
Tonarten wesentUch verschieden ersdieinen.
Die lydische Tonart hat mit der ionisdicn den Ilalbton auf der siebenten Stufe gemein; dage-
gen ersdieint er bei ihr zu Anfange auf der vierten, in jener auf der dritten Stufe. Statt der reinen
Quarte besitzt sie hienach die übermäfsige, und als deren Ergänzung nicht die reine, sondern die ver- M
minderte Quinte; ihr ganzes Wesen also ist auf einen IMifsklang gegründet. Wollen wir nun auch da-
von absehen, dafs die alten Tonmeister der Mifsklänge sich spärlich, und meist nur als Vorhalte bedient
haben, indem wir uns erinnern, dafs auch absichtlich vemiiedene, oder nur selten bestimmt ausgesprocliene
Mifsklänge die EigenÜiümlidikeit einer Tonart zu bestimmen fähig sind, (wie wir dieses im IMixolydischen
gefunden) und dafs unser neues, in Anwendung der Dissonanzen so bedeutend mehr ausgebildetes System
uns vielleicht befälilge hier zu leisten, was den Alten verwehrt, oder von ihnen absichtlich nicht erstrebt
gewesen: so werden wir dodi immer jene Besonderheit des Lydischen, wie einerseits eine herbe, so |
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andcrntheils eine harmonisch unbedeutende nennen müssen. Die beiden T.ine, f nämlich und h, welche
im Lydischcn den Grundton und dessen übonnäfslge Oberquarte bilden, ersclieinen vorzugsweise fi.r das
M.xolyd.sche und Dorisclie, demnächst für das Phrygisclie und AcoUsclie bedeutsam; es wird durch sie,
hier d,e grofse Terz und kleine Septime des MLxolydischen , die kleine Terz und grofse Sexte des Do-
rischen; dort die kleine Secunde und reine Quinte des Phrvgischen, die grofse Secunde und kleine
Sexte des Aeohschen dargestellt. Aber nicht dieses allein; denn wie tUe Gheder des \^erhältnisses der
ubermafsigen Quarte, und ihrer Ergänzung, der verminderten oder falsclien Quinte, lüer in die kleine
Sexte lunaus, dort in die grofse Terz zurück, als in die Auflösungen jener IVIIfsklänge , streben, wird
durch sie die Ausweichung nach c, oder, im Sinne der alten Tonmeister, in das Ionische begründet: nach
dessen Verhältmssen zu den Grundtöuen der genannten Tonarten aber, die mlxolydisclie In Ihre Ober-
quarte, die dorische in ihre Oberseptime, die phiygische in ihre grofse Unterterz, die aeoUsche endlich
m ilire kleine Oberterz auszuweichen befähigt; allen mithin neben der aUgemeinen, auf em Naturgesetz
gcgriindeten Neigung jeden Grundtons zu seiner Oberquinle, noch eine besondere zweite eingeprägt, in
dem IMixolydischen und Phrygischen aber eine auf ein anderes Naturgesetz gegründete Neigung noch
kiäftlger vermittelt. In dem Lydischen jedoch geschieht dadurch nichts Anderes, als die herbe NöÜiIgung
zu einer Ausweicimng, die jenes erste Naturgesetz für alle Tonarten als allgemeine bedingt; tlle lydlsche
gelangt dadurch nur in eine andere Tonart, in der ein, eben Uir eigenthümlicher IMIfsklang gcschhchtet
ist, eine Scldichtung, die eben so leicht durch venvandehide IModulation, lebergang aus dem harten in
das weiche System {^^■ic wir ihn zuvor beschrieben) gefunden wdrd. Oder woUen wir (aufserhalb des
Kreises von Beziehungen, den ^vlr im Vorigen gesetzt) den lydischen Gnmdton zurückleiten auf eine
ünterqiünte, welche ihn erzeugt habe; so erglebt diese, das weiche b, wiederum eine, mit der lydischen
in aUen Grundverhällnissen vöUig zusammaifaUcnde Tonleiter. Arm an harmonisclien Beziehimgen hle-
nach, melodisch herbe, zeigt sich uns das Lydische, seine friUie Aussclillefsung aus dem Kreise der übri-
gen Tonarten liinlängUch gerechtferÜgt, und die von Alters her oft wiederholte Klage, dafs es aufser
Gebrauch gekommen sei, aus mifsverstandener Anliängllchkcit an einen nie In das Leben wrklich ein-
getretenen Lehrsatz hervorgegangen. Mäclitig aber und beziehungsreich klingen die jener Tonart eigen-
thüiTdlclien Verhältnisse hin durch aUe übrigen, und jene Anklänge, wenn auch nicht fähig eine Reihe
zu bilden, die selbständig in den Kreis der übrigen harmonlscli eintreten könnte, werden doch ein Band,
das aucli die entferntesten unter ihnen verknüpft ').
') l'er^. über das Lydische hier folgende merltxmlrdige Stelle bei Ularchetto da Padova CniiJ. Liicidarium tmisicae
planae Traci. X. Cap. ir. in dem Abschnitte de quinto tono. (Gerlert scriptores. III. p. 110. 111.)
q,uintu3 tonus formatur in suo aacensii ex tertia specie diapente et tertia diatessaron. superius
m desceusu lero ex eadem specie diatessaron et ex quarfa diapente
-ß—t-
-O-
-S-T-
P^=^
roz:©:
Scd dicet aliquis: ergo videtur quod quintas tonus in ejus ascensu cantetar per ^ quadrum, et in descensu per b rotwi-
dum. Dicimus quod sie, et triplici ratione ; prima est, quod cum ascendif a fine ad diapente supra quomodocunque . ta-
lium prolatio notarum dukior atque suavior ad auditum transit, nee non aptior ia ore proferentis existit etc. — (aho
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Viel bedeutsamer m jeder Rücksicht zeigt sich dagegen das Ionische. In die Mitte aller übri-
gen Tonarten gesteUt, durch die dargelegten so mannichfaltigen Beziehungen ilinen allen verwandt, er-
scheint es wie allen zugänghch, docli wiederum vor ilmen eigenthümlich gestaltet. Seine Ilanptneigung,
,uf das Il'instreben seines Grundtones nach der Oberquinte gegründet, leitet es hinüber zu dem Mixoly-
dischen einer Modulation, welclie durch Verwandlung der ilim wesentUclien grofsen Septmie m die
kleine' innerhalb seiner eigenen Grenzen dargesteUt, und von den alten Tonmeistern gewöhnUch vor
dem ionischen vollen Scldusse angewendet wird, aber audi meistens nur diesen zu bezeichnen pflegt,
d-, wie wir .^ef.mden, der mlxolydische Sclilufs, wenn ein halber, auf die Ver^vandtschaft jener
Tonart zu der'' ionischen hindeutet; wenn ein voller, zugleich ihre Beziehung zu dem Donschen hrn-
durclddin^en läfst. Selten jedoch wird die ionisclie Tonart in iliren eigenthümlichen Grenzen mnerhalb
des harten Tonsystems, meistens dagegen in ihrer durclx das weiche System bedingten Versetzung m
die Oberquarte ihres Gmndtons von den alten Meistern ausgeübt. So vertauscht sie ihren Umfang mit
dem des Lydischen; ja durch ein besonderes Spiel geben einige Tonmeister, namenthcli Gahrieh, mdera
sie das harte System mit dem weichen wechseln lassen, llir die herbe Eigenthümhclikeit des Lydischen
als eine zufällige Würze bei. ^ , .^ , ,. . • i. o .
Und damit endlich die harmonisclx bildungsRihigen Töne mnerhalb des diatonischen Systems m
(dne Fol-e neben einander gelegt erscheinen, verläfst mit seinen ursprünglichen Grenzen das Ionisclie
auch die^ihm zukommende erste Stelle; das Dorische, sclion bei den Griechen hochgepriesen , dann
unter den Tropen als der erste genannt, von uns in die Mitte der Kirchentöne gestellt, nimmt nun,
dem alten Kirclicngcbrauche zufolge, die erste Stelle wieder ein; das Ionische scliliefst sicli dem Phrygi-
Ichen, diesem endlich das Mixolydische an; das Letzte der ganzen Reihe ist der alte Pilgerton, das Aeo-
ILsclie'. Ein JNebenton, von wclcliem bald die Rede sein wird, ist jeder Tonart beigesellt, und so ist
zwisdien den alten Tropen und den Kirdientönen des sedizehnten Jahrhunderts, wenn auch nicht völ-
lige doch einige Uebereinstimnumg hergestellt. Dafs eine durdigängige nidit möglidi sei, beliauptet
schon SethCahlsius mit Redit. Nur Formeln für den Gesang der Psalmen sind jene Tropen, sagt er;
das Wesen der Tonarten wird durdi sie weder riditlg angedeutet, noch entfaltet; selten heben sie innerhalb
ilirer wahren Grenzen an, und sdiliefsen meist auf ungehörige Weise. Dennodi ist ilire Kcniifnifs fiir
den Gesang der Psalmen hiklist widilig, und — setzen wir hinzu — audi ohned:els wird ISiemand
jene dirwürdigen Reste des Altcrthums, weldie der fromme Sinn der Meister des sedizehnten Jalirhun-
derts harmonisdi reicher zu entfalten gestrebt hat, anders als mit Ehrfudit betradilen.
An jenen wesentlichen Kennzeichen allein, die wir nunmehr bei allen Tonarten dargelegt haben,
Ist jede dersdben zu erkennen; jcdodi erst nach vollständiger Prüfung jedes einzelnen Gesanges aus je-
nem Zeitalter für Uin richtig zu bestimmen; nidit, wie bei unseren Tonarten, schon nadi der Vorzeich-
nung zu Anfange, und dem Sdilufsfalle des Basses allein. Die alten Tonmeister kannten überhaupt nur
eine Vorzeidmung neben dem Sddüssel Uirer Gesänge, die des b, um damit anzudeuten, dafs der Ge-
q/TonJor nur der Jii.sweichung icegen in die Quinte, welche der durch das 0 gebildete I/albfon am elndringlichslen he-
ieirlmetej. — Tertia ratio est, ul cum vellet c/umfus ad ejus perfectionem ascendere , non inreniatur Iritoni duritia,
quae adesset, si per b rotundum ipsum ascendeus cantaremus, scilicet a b primo acuta ad e acutum. fOiese Wirte frei-
lich fände sich ebeufalls bei dem Jonischen, überhaupt bei alten Tonarten: ausreichender ist der folgcude Grund. J
Cantari dcbct etiam per b rotundum suo scilicet in dcscensu , ut cum rult se a diapente supra ad finem deponeie, possil
Iritoni duritiam eritare.
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sang in ihrem weichen System ausgeübt werden solle. Erst später, zu Anfange des siebzehnten Jahr-
hunderts, trat auch die des Doppelkreuzes (oder sogenannten h cancellatum) allgemeiner ein, zu Bezeich-
niuig einer Versetzung aus dem harten System in das harte, oder mit andern Worten, der Versetzung
eines Gesanges aus den seiner Tonart eigenen Grenzen in die einer andern Tonreihe, welclie die Vor-
zeichnung, (;mi sie jener ersten übereinstimmend zu machen) in der Folge ilu-er Verhältnisse zwar ver-
änderte, ohne sie jedoch in das, dem weichen Systeme angehörende verbundene Tetrachord liinüber zu
leiten. Im ersten Anfange also wurde nur das System durch die Vorzeichmmg angedeutet, olme die
Tonart mit derselben bezeichnen zu wollen; späterhin, ebenfalls ohne die Absicht einer Bestimmmig
dieser Art, die Versetzung eines Gesanges aus seinen cigenthümliclien Grenzen, ohne Veränderung
des Systems. Eine solche Versetzung (die sogenannten ttioni ßnti im Gegensatz der tuoni trasposti
des weiclien Systems) wurde durch die bei der hannonischen Entfaltung aller Kirchentöne nach und
nach henorgegangenen Halbtöne statthaft. Der erste, der unter ilmen sicli uns ergab, durch welchen
die \'envandelung des Mixolydischen in das Ionische vermittelt wurde, das erhöhte f odery?«, gewährte
nun zugleich die Möglichkeit, eine jede Tonart in der Oberquinte oder Unterquarte ilires Grundtons aus-
zuüben, eine Versetzung, durch welclie die den Kirchentönen eigentliümliche , verwandelnde Modula-
tion niclit ausgescldossen büeb, welclie lüer, statt das weiche b einzufuliren , nur die Vorzeiclmung des
Kreuzes tilgte, tmd so in dem Umfange der versetzten Tonart die Eigenthümliclikeit der ilir nächstver-
wandten, auf ihre Oborquinte gegründeten darstellte. Das erhöhte c und g, zufalliger zwar, als jener
erste Halbton, doch nicht olme Borechtigung, und dem Wesen der Tonarten völlig mibeschadct, in den
Kreis der Töne aufgenommen, reichten pjr das, auf diese zweite Weise (nadi D und A) versetzte I\Iixo-
lydisclie und Dorische aus. Kur dem Aeolisclien und vornehmlich dem Phrygischen, die sich nunmehr
auf den Grundtönen E und R darstellten, fehlte, wenn auch jenem nur der selten und zufiillig erschei-
nende Unterliaibton, doch diesem die für seinen Schlufs so wesentliche grofse Terz seines versetzten
Grundtons, der in dieser eben notliAvendig anklingende Leitton in das Aeoüsche. jNiclit, dafs man das
Phrygisclie in dieser Versetzung selbständig geübt habe; man dehnte eine solche nicht über die Grenzen
aus, welclie die Bequemlichkeit der Ausrüiirung erheisclitc, und Prätorius gicbt nur von dem MLxolydi-
sclien und Aeolischen Beispiele dieser Art; allein sollte das so versetzte Aeohsclie nicht seiner besonders
vorwaltenden Richtung — der nach dem Phrygischen — beraubt bleilien, so war ihm die Erhöhung des
d mii einen halben Ton unerlafslich. Dieser neu eingeführte Halbton, dis, als Oberquinte von gis
und grofse Terz von h fiel jedoch mit dem, durch das weiche System als Unterquinte des b schon ge-
gebenen es nicht zusammen; einem Tone, der als kleine Septime des versetzten ionischen Grundtons
F, die mixolydische ^ er\vandtscliaft des Ionischen anldingen Hefs, und so ferner als kleine Terz von C,
als kleine Sexte von G, die Hinneigung des IMixolydischen zum Dorisclicn und dieses zu dem Aeolischen.
D'ts, mit jenem es nicht versclimelzend, erforderte auf den Orgeln jener Zeit eme besondere Taste, und
erlüelt sie durch Theilung der für jenes es bestiimnten. Auf gleiclie Weise wurde auch gis getheilt,
um as als Unterquinte -^on es und kleine Oberlerz von f zu gewinnen, wenn die Stimmung der Orgel
es erforderte bei Begleitung eines Gesanges jenen Ton als Grundton zu wählen. Beide Halbtöiie finden
wir bereits in Werken von Tonmeistern aus der letzten Hälfte des seclizchnlcn Jalirhunderts liin und
vrieder angewendet; ilir friÜiester Gebraucli wird bald Acm Cyprian de Rore, bald dem Orlandus Lassus
zugeschrieben. In den ursprünglichen Systemen der Tonmeister jener Zeit, dem harten mid weichen,
finden beide nicht ihre Begründung; eine für die Bequemlichkeit der Ausführimg notli wendige Versetzung
— 9G —
ei-zeuclc beide als nebenlier geduklele Abweichungen, ohne sie in den Kreis der übrigen zufälligen Halb-
töiie mil aufzunehmen, sie durch eine Temperatur in unserem Sinne mit Ihnen zu verschmelzen. Vor-
handen waren beide gevifs früher, als die obgenannlen Meister sich derselben bedienten, und auch frülier,
als man die \crschiebung des Systems durch ^^orzelchnung eines Kreuzes zuerst andeutete, um dem
Orn-anislcn die vorher nothige Versetzung aus dem Stegreife zu ersparen, und ilim die Bequemlichkeit
zu gewähren, die Begleitung, dem Aufgezeiclmeten gcmäfs, sogleich ausfüliren zu können. Die Anwen-
dun<^ derselben ist aber in sofern nur ein Fortschritt, eine lebendige Erweiterung der Kunst zu nennen,
als sie, ohne Rücksicht auf Verschiebung eines Gesanges, diese Halbtöne in den Kreis der übrigen
hineinzog, den Geist, das Wesen der bestehenden Tonarten durch sie eigenthümhcher entfaltete. In wie
weit dieses von jenen Meistern, ob es auch durdi Gabrieh gescliehen, werden wir zu seiner Zeit näher
betrachten.
So bleibt denn nur noch von den, frülier im Vorbeigehen beinilirten Nebentönen oder plaga-
len Tonarten zu reden, und wenn die besondere Bedeutung, welche diesen in neuester Zeit hat ge-
«'eben werden sollen In der Anslclit der frülieren Tonlehrer nicht begmndet gefmiden, dieser Ansicht
aber beigestimmt wird, der Widerspruch aufzulösen. In welchen die eben vorgetragene Lehre dadurch
mit sich selber zu treten scheint, dafs sie, von den alten Tonlehrern unabhängig sich gestaltend, dennoch
eine ilir hemde Ansicht durch deren Ausspruch zu widerlegen strebt. Leicht aber wird dieser scheinbare
Widerspruch durch die Bctraclitimg geschhchtet, dafs die gegenwärtige Lehre, sofern sie manches aus-
sprach, 'As Grundsatz aufstellte, was in den älteren Tonicliren sich nicht also findet, von ihnen dennocli
sicli ke'meswegs zu trennen, vielmehr ihre Vorschriften mit der Kunstübung jener Zeit In LTebereinslim-
mim"- zu bringen, das in ihnen unvollendet gebliebene, von Iliren Nachfolgern bei veränderter Richtung
gänzlich verlassene oder nur in seiner damaligen Gestalt bewahrte Lehrgebäude völlig zu begründen, in
sidi alw.usclilicfscn beniülit war. Immer nur melodische Eigenthünilichkelt, wie wir gesehen, war Ge-
genstand der Untersuchungen jener Lehrer; was wr Harmonie nennen, war Ihnen nur gleichzeitiges
Ertönen mannlchfach verwobener GesangswcIsen, ohne Beleidigung des Ohres, nicht Entfallung des Inne-
ren Lebens der, jene Weisen wesentlich regelnden Tonreihen in der Fülle, Kraft und Anmuth des Zu-
sammenklanges; wie jenes Leben aus jeder besonderen Tonreilie sich entfalten können, wie es um jene
Zelt sich ■wirklich gestaltet habe, Ist ergänzend darzulegen versucht worden. Darum mufsten wir aus
jenen Lehrern, als der sichersten, ja einzigen Quelle, Namen und Beschreibung aller einzelnen Tonarten
scliöpfen, durften uns aber auch berechtigt halten von ihrer harmonischen Eigenthümliclikeit ein Mehres
auszusagen, als wir bei jenen verzeichnet finden, dasjenige nämlich, was die lebendige Kunstblüte jener
Zeit uns darüber vertraut hat. Mit gleichem Rechte schhefsen wir uns jenen Tonlehrern an, wo sie
ims innerhalb aller Tonai-ten eine melodische, bei einer jeden nach gleichen Gesetzen geregelte Abwei-
diung nachweisen. Eine solche werden uns die plagalen im Gegensatze der abgehandelten Haupt-
oder authentischen Tonarten ersdieinen. Eine Lehre, welche die Namen jener Abarten beibehaltend
doch ein Anderes von ihnen aussagi, als die allen Lehrer, können wir nur in so weit für eine richtige er-
kennen, als sie die mangelliafte Untersuchung derselben durch das Kinistleben Ilirer Zeit zu ergänzen trachtet.
Wie jene melodisdie Abweichung, nicht sowohl sich gebildet, als wie sie diu:ch die Lehre für
regelrecht anerkannt worden, wie sie beschafTen gewesen, wollen wir zuerst darlegen; leicht wird diese
Betrachtung das Maafs ilirer harmonischen X'N'ichligkeit ergeben. Die Ergebnisse dieser Bctraditung ge-
denken wir sodann mil unseren Grundsätzen von der harmonischen Entfaltung der Haupttöne, und mit
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demjenigen zu vcigleidieu , wns ein Forscher unserer Tage über die Nebentöne in gleicher Rücksieiit
aufgestellt hat: die Prüfung jener neueren Lehre Avird so am schicklichsten eüigelcltet und durchgeführt
Verden können. Die gedrängte Darlcgiuig der Lehrgebäude eines früheren und eines späteren Tonfor-
schers im sechzehnten Jahrhundert, eines Venedigers und eines Deutschen, möge das Verhältnifs der Lehre
jener Zeit zu dem gegebenen Versuche ihrer Ergänzung A'öllig xur Anschauung bringen, diesen Abschnitt
von den Kirchenli'inen /.u einem Canzen runden.
Der Gesang, bcrnjit auch seine Ausbildung und sein Fortschritt auf nolhwendigen Bedingungen,
die dem aufmerksamen Betrachter des fertigen Gebildes nicht entgehen, die, je mehr der bildende
Trieb mit ßewufstsein geübt vird, ein Gegenstand der Lehre und künstlerischer Zuclit werden müssen,
hatte doch schon eine gevisse Reife der Ausbildung erreicht, ehe jenes iMaafs von Selbstbewufstsein ein-
getreten war, das ihn zu einem Gegenstande sondernder Betrachtung machen konnte. Wir dürfen um
so Moniger daran zwei fehl, da Mir in dem ^^origen so oft gesehen haben, wie die Betraclitung hinter
der Ausübung allezeit zurückgeblieben, Avie sie nicht selten durch diese irre gemacht und aufgehalten
worden sei. Frühe war der unbezweifelt richlige Grundsatz gefunden worden: ein jeder Gesang gehöre
einer Tonreihe an, die seine Eigenthümhclikeit bestimme und rogle; dennoch bheb es schwierig jenen
Grundsatz genügend anzuwenden, jedes Einzelne gehörig unterzuordnen. Innerhalb der Grenzen, welche
der tiefste und h(>chstc der Töne bildeten, die in dem eben betracJiteten Gesänge vorkamen, so schien
es, mufsle jene Tonreihe, der Scldüssel zu seinem Wesen, gesucht werden; wie leicht aber konnte der
eine oder der andere jener Endpunkte ein zufälliger sein, die wahren Grenzen derselben überschritten,
oder auch nicht erreicht haben, dennocli aber ihre Eigentliümlichkeit in ihm vorwalten? woran sollte sie
innerhalb dieser gestörten Grenzen erkannt werden? Gewisse Kennzeichen mufsten es sein, Ruhepunkte
in der Wendmig des Gesanges, die auf den wahren Anfangspunkt der Reihe, den ihre W\'senheit
bedingenden (irundton, zurückzuschliefsen erlaubten. Aber auch diese, sofern verwandten Reihen gewsse
^^endungen gemeinsdiaftlich waren, blieben noch zweideutig; zu geschweigen der oft unregelmäfsigen
Anfänge und Schlüsse mancher Gesänge, da Anfangs- und Endpunkt ja sonst die sichersten FüJirer bei
jener Untersuclunig gewesen a'\ ären. Daher auch die Schw'ierigkeit die Tonart jeden Gesanges richtig zu
bestinnnen. über die man in jener Zeit so oft klagen hört; unserer Tonkunst eine längst gesclilichtete,
da ^'orzeichnung xmd Schlufsfall darüber jetzt keinen Zw cifcl, selbst dem Lehrlinge, mehr lassen, der frei-
Uch auch um- zu prüfen hat, ob das ihm vorgelegte Slück einer harten oder weichen Tonart angehöre,
und auf welcher Stufe dieselbe geübt werde, ohne dafs ihm zugemuthet würde, nach ihrer Eigenthürn-
lichkcit jede Tonart zu bestimmen. Daher, der starren Vorschrift gegenüber, der so heftige Tadel über
Ausartung der Kunst, üppiges Ueberwnchern der Regel, als sei das leicht Untergeordnete allein das Voll-
kommene; daher AAiederum, Lehre und Kunstübung in gleichem Maafse zu retten, jene Menge von Un-
terabtheilungen, Abarten, Ausnahmen, die von einigen neben der strengen Regel festgesetzt, von an-
dern, als die Lehre vervA'irrend mid verdinikelnd, mit Recht abgewiesen AATjrden. Jene ScliAvierigkeit zu
beseitigen, die atis überschrittenen oder nicht völlig erreichten Grenzen der Tonart für deren Bestim-
mung in einzelnen Fällen erwuchs, vereinigte man sich endüch über eine als regelrecht zu erkennende
Abweichung zwschen Sangweisen, welche, wenn auch in verschiedenen Grenzen der Höhe und Tiefe
sich bewegend, dennoch derselben Reihe, nach anderen Kennzeichen unzweifelhaft anzugehören schienen.
Ist es aucli schwierig, sagte man, in Bestimmung des wahren Grnndlones für jeden Gesang, mit
dem auch dessen Tonart gefunden ist, nicht zu Irren , so mufs dieselbe nach sicheren Kennzeichen
C T. WhilrrfeW. Job. iiübilcli u. s. ZeitoUer. | O
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dncli getroffpn -wcrdpii können, lutbeii ^\\r uns über diese nur ersl geeinigt. \Ycndiing und Ruliepunkte
des Gesanges aber sind unter ibnen die sichersten; ancii der unregclmäfsigc ^Vnfang leitet gewifs endlich
7.U einer Ausweichung, durch welclie, in Vergleiclnmg mit den andern vorkommenden, auf die Tonart
gesdilossen werden kann; der unregelmäfsige Schlufsfall ist meist nur ein angefügter, niemals ein der
'J'onarl an sich fremder, nur sofern er in den (Jrundlon nicht /.iirückleilet , ein ungehöriger. Deutet er
in \>rbiudung mit den ^ orkonnnendcn Ausweichimgen , auf einen bestimmten, wenn auch durcli ihn
nicht berührten Grundton, so müssen wir diesen als den richtigen annehmen, und am wonigsten darf
die Vergleichung mit dem Anfangspunkte des Gesanges uns hiebe! irren, da dieser ja überall in der Ton-
reihe gcnonnnen werden kann. Die Endpunkte in der Höhe imd Tiefe, wie sie uns die Zusammenstel-
lung der einzelnen Töne des Gesanges bietet, dessen Tonart wir erforschen wollen, sind für diese, allein
betrachtet, die zweideutigsten Kennzeichen. Nicht an diesen äufsersten Grenzen allein, oder selbst nur
in deren Kühe darf man den Grundton suchen. Geschieht es doch nicht immer, dafs der Gesang, von
dem tiefsten Endpunkte seiner Leiter l)is zu deren höchstem aufwärts strebend sich hin bewegte, noch
seltener, dafs er von diesem durchaus zur Tiefe liin abfiele: die freie, wecliselnde Bewegung zwischen
diesen Grenzen gewährt ihm ja erst Leichtigkeit und Anmuth. Auch findet es sich wohl, dafs der Grund-
ton in der Milte des Ganzen sich verbirgt, der Gesang von Ihm auf inid abuärls schweift, ohne dnrcli
diese Besonderheit seiner Bewegung, wenn auch innerhalb verschiedener, gleichsam erborgter äufserer
Grenzen beschlossen, der Reüie weniger anzugehören, an deren Spitze jener Grundton steht. Auf dop-
pelte Weise gestaltet hienach sich jeder Gesang: liegt er auch äufserhch meist innerhalb der Grenzen
derjenigen Tonrcihe beschlossen, durch die sein Gang geregelt wird, ist sein Grundton, wenn nicht der
tiefste, doch einer der tieferen unter den von Ihm berührten Tönen, so gehört er der authentischen,
der llaupttonart an, welche durch diese Reihe dargestellt wrd; erborgt er seine äufseren Endpunkte
von einer fremden Reihe, findet aber In dem Gnmdtone jener ersten dennoch seinen iMittelpiuikt, so
hängt jene erborgte Reihe mit dieser iuif das innigste zusannnen, Ist mit Recht als deren Nebentonart,
als plagalische zu bezeichnen. Die fortscbreilende, je länger je mehr sich läuternde, das Wesentliche
von dem Zufälligen sondernde Betrachtimg fand auf diese ^VeIse für die nähere Bestimmung und L^^nter-
ordnung jeden Gesanges zwei feste, sichere Kennzeichen; die nähere Abgrenzung aber wurde hier mit
Recht auf eine Naturanschauung gegründet, die Neigung jeden Tones zu seiner Oberquinte. I\Iag der
Gesang aucli um ein weniges hinschweifen über seine Grenzen, sagte man, das fremde Gebiet, das er
eben nur beruint, sei es In der Höhe oder Tiefe, zieht ihn defshalb noch nicht zu sich hinüber. Erreicht
er jedocli in der Höhe nicht den Endpimkt seiner Reihe, hält er sich innerhalb der Schranken der Ober-
quinte, und sucht, was er In der Höhe eingebüfst, in der Tiefe bis hinab zu deren Unteroctave wieder
zu gewinnen, so schreitet er \ölllg hinüber In ein fremdes Gebiet, erhält, Mcnn auch der Eigentiiümllch-
keit seiner Tonart imbesdiadet, einen durchaus verschiedenen melodischen Ausdruck. Daher auch die
Benennung jener Nebentöne, welche sie unter die Grenzen des llaupttons hinabgeschritlen bezeichnet,
durch die Namen der hypodorischen, hypophrygischen, hypoionischen, hj-pomlxülydlschen, hypoaeolischen
Tonart, dennoch aber dabei zu erkennen glebt, wie nahe verwaiult sie jenen sind. Beachten wir blofs
die zufälligen Grenzen, so bewegt freihcli das Hypodoriscbe sich innerhalb der Endpunkte des Aeolischen,
das Hypomixolydlsche des Dorischen, das Hypophrygische gar in den Grenzen einer Tonreihe (der zwi-
schen H und h beschlossenen), die wir zu harmonischer Entwickelung untüchtig fanden; allein alle
jene Nebentöne bleiben nicht minder der Eigenthümlichkeit ilirer Haupttöne getreu, da es immer der
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Grundton ist, auf welchen die in Urnen vorkommenden \"er]iällnisse bezogen werden, mag dieser mm
der ftliltelpunkt der Reilie sein, mag er an deren äufsersten Grenzen liegen. Ist dieses aber der Fall,
so bleiben aucli dem Haupt- wie dem Nebentone alle Ausweichungen, und mit ilinen die harmonisclie
Entfaltung überhaupt, völlig gemein; es ändert in dieser nichts, mag eine Weise authentisch, ma»- sie
plagalisdi heifsen. Nur bei solciien Gesängen, in denen, m ie bei einfach gesetzten Chorälen, eine Stimme
unbedingt die herrschende ist, dürfte der veränderte melodische Fortschritt aucli den harmonischen Wen-
dungen eine verschiedene Färbung verleilien. Bei anderen, wo eine iMelodie durcli den ganzen Zusam-
menklang nur leise sicli hinzieht, in keiner einzelnen Stimme allein angetroffen wird, oder bei solchen
in denen die Kunst des Contrapmikts am tiefsinnigsten hervortritt, wo jede Stimme, eigenthümlich ge-
staltet, von der andern gesondert erscheint, mit allen übrigen aber vereint ertönend, dennocli das Leben
einer Tonart, wie es im Zusammenklänge nach alleii Seiten hin ausstrahlt, zu offenbaren strebt bei
allen Gesängen solclicr Art mufs der Unterschied dos Authcntisclion und Plagahsclien völlig verschwinden.
Audi erscheint er, je mehr die Kunst der Harmonie sicIi ausbllilcte, immer unwesentlicher; eis,fnen Zeu«--
nissen der alten Tonlehrer zufolge könnte man ihn durch dieselbe für gänzHch vernichtet anneh-
men. Ueberhaupt mufsten diese, da nur melodische Eigenthümlidikeit ihre Forsdiungen beschäf-
tigte, jener Untersdiied aber ehi melodlsdier war, tlle Tonart, auch eines mehrstimmigen Gesano-es,
immer nach einem als Hauptstimme betraditeten Theile des Ganzen beurtlieilen. Nun Maren aber
ihre mehrstimmigen Gesänge nicht ijnmer der Art, dafs eine der Stimmen unmittelbar die li^rr-
schende gewesen wäre; sie waren öfter noch auf die beiden anderen, zuvor beschriebenen Weisen ein"-e-
gerichlet. Die Kunst aber, den harmonischen Gang eines Tonstückes über dessen tiefster Stimme hinzu-
zeichnen, der Generalbafs, war von ihnen noch nicht gefunden worden, sehen wir auch dessen späterhin
erst ausgesprochene Regeln unbewufst von ihnen geübt. Es blieb ihnen hienach, die ßestimmuno- der
Tonart, der durch sie bedinglen harmonischen Entfaltung zu treffen, nichts übrig, als eine Stimme vor
den andern als die Haupfstlmme zu bezeichnen. Diese -war bei Ihnen, nicht wie bei uns, die Oberstimme,
sondern der Tenor; sei es nun, dafs dieser, dem reifen männllciien Aller angehörigen Stimme, defshalb
auch die Rechte männhcher Obergewalt eingeräumt werden sollten; sei es, da bei Kirchengesäntren der
Hauptstimme die übrigen, unterstützend und schmückend, nach und nach in der Tiefe und Höhe hinzu-
traten seit die Kunst der Harmonie sich ausbildete, dafs die von dem Tenor des Geistlichen vorgetra°-ene
alte, überlieferte Kirchenweise, auch jener Stimme vor den übrigen gröfsere Würde, und die unbedinoie
Herrschaft zusicherte. Wir finden mindestens, dafs nicht nur in mehrstimmigen heiligen Liedern der
alten KIrdie aus dem fünfzehnten Jahrhundert, sondern auch in den ältesten evangehschen Gesängen
seit der Reformation, die llauptsllmme allezeit in den Tenor gelegt ist, dafs ihr, wie Luther sidi aus-
drückt, der himmlische Reihentanz der übrigen sich zugesellt. Von dem Tenor aber schreibt Zarlino im
ein und drelfsigsten Kapitel des vierten Buches seiner hislitutlonen folgendes vor: der Tenor vorzügUch
sei es, auf welchen der Tonkünstler sein Augenmerk richte; er stelle die Natur der gewählten Tonart
auf anmuÜiige und bezeldinendc Weise dar. Der Bafs scliHefse sich ihm .in der Art an, dafs wenn jener
z. B. innerhalb der Grenzen einer autlientlschen Tonart sich bewegt, dieser die entsprechende plagaüsche
darstelle, luid umgekehrt; in gleichem Verhältnisse stehe der Alt zur Oberstimme. Wenn aber diesen
Vorschriften zufolge, Haupt- und Nebenton In verschiedenen Stimmen zusammenkUngen sollen ^ so folgt
unmittelbar, dafs deren Untersdiied völlig verschwinde, und dafs nur die harmonische Ejgenthümlichkeit
13'
— lüO —
■/.urückbleibc, welche ans iler beiden gemeinsamen, in dev einen und der andern imr verscliicden gewen-
deten Toineihe entspiingL
\'or einigen Jnhren hat Peter Mortimer in einem AVerke, das die Frage zn beantworten sneht:
woher es komme, dal's in den ('horahnelodieen der Allen etwas sei, das licut zu Tage nidit mein- er-
reicht ^\erdc, die Lehre von den Kirclientönen aufs Neue vorgetragen; ein Unternehmen, das lebhaften
Dank verdient, und dessen Früchte nicht ausbleiben werden. Aucli bei nur mangelhafter Kenntnifs der
Meister und Tonlehrer des sechzehnten Jahrhunderts hat ein richtiges Gefühl den ^crfasser meist
sicher geleitet, und in den Hauptsachen stimmt die eben vorgetragene Lehre mit der seinigen überein.
Seinem Vortrage von den plagalen Tonarten jedoch mangelt die Bestätigung durch ältere Zeugnisse,
die Begründung durch ächte Beispiele. Auffallend ist es zunäclist, dafs ihm zufolge nur drei plagalische
Tonarten, die hypoionische, hypodorische, hypomixolydisclie, in den evangelischen Kirchengesängen noch
angetroffen werden, da docli Seth Calvisius nicht weniger Beispiele von den beiden andern, als von
jenen anführt. Es befremdet ferner, dafs Haupt- und Nebenton nach seiner Ansicht nicht allein durch die
melodische Wendung, dafs sie wesentlich von einander verschieden sein, dafs jedem besondere, ihm
eigenlliündiche Ausweichungen zustehen soUen. Diese Ansicht gründet sich auf einseitige Betrachtimg
des Umfanges der plagalen Tonarten. Ihren äufseren Grenzen nach freilich ist die hypodorische zwischen
den Tönen A und a, die hypomixolydische z\^isd^en D und d beschlossen; nach Mortimer aber sollen
diese Endpunkte auch als Grundtönc beider gelten, alle Verhältnisse der durch sie befafsten Reihen
nach ihnen bestimmt werden; diese Verhältnisse aber sollen nicht innerhalb jener Grenzen, sondern in
denen der authentischen Tonarten geübt, inid Haupt- und Nebenton so in Verljindung gebracht Merden.
Das Ilypodorische würde hienach mit dem versetzten Aeolischen, das Hypomixolydisclie mit dem ver-
setzten Dorischen zusammenfallen. Denn die erste jener beiden plagalischcn Tonarten erklärt INIorlimer
als eine IMolltonart mit vorherrschender kleiner, die letzte als eine solche mit überwiegender grofser
Sexte; eine Erklärung, welclie auf die genannten aulhentischen Tonarten nicht minder pafst. Diese
LTebereinstimmung jedoch soll nur eine scheinbare sein; heiTSche sie auch vor in der Folge der Tonver-
hältnisse beider Reihen, dennoch sollen die verschiedenen Grenzen, in denen beide geübt werden, jenach-
dem sie als Haupt- oder Nebentöne sich gestalten, ihren hinmonischen Gehalt bedingen; das Hypodori-
sche, zeige es auch aeohsche \^erhältnisse, soll, da es sie in dem LTmfange des Dorischen übe, dennoch
ein ganz Anderes sein, als das Aeolisehe, und so das Hjqiomixolydische wiederum ein völlig von dem
Dorischen ^Verschiedenes. Nun aber gilt ganz allgemein bei den vornehmsten Tonlehrern des sechzehn-
ten Jahrhiuidcrls und den Meistern jener Zeit, welche ihre Gesänge mit der Bezeichnung der Tonart
versehen liaben, die zwisclien den Tönen D und d im weichen Systeme befafste ReUie für eine versetzte
aeolisehe, die zwischen G und g in demselben Systeme beschlossene für eine versetzte dorische
Tonart; das Hypodorische zwar M'ird zwischen den erstgedachten Grenzen im weichen Systeme zuweilen
geübt, doch allezeit so, dafs G der alle Verhältnisse ordnende Grundton ist; eben so auch das Hypomixo-
lydische innerhalb der erwähnten Endpunkte in Beziehung auf C. Die verschiedenen Octaven können
nacli älterer Lehre also eine wesentliche Verschiedenheit zwischen den erwähnten Haupt- und Nebentö-
nen nicht begründen; diejenige jedoch, welche unser Verfasser durch eine abweichende harmonische Be-
handlung darzulegen sucht, giebt zwar von seinem Scliarfsinne Zeugnifs; wie sie aber von ilim geständ-
lich auf nur willkührHche Gesetze gegründet werden kann, so mangelt ihr aucli alle Bestätigung durch
ächte Beispiele älterer Zeit. Denn bei den Psalmen der französich Reformirten (hat der Verfasser deren
(
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Gesangs« eisen ;;lt'ich aus unbczweifelt äcliien Quellen e,esclii(pf() ist doch voisäl/.ücli und \\issenUicli die
alle liarmouisclio Behandlung von ihm unbeachlet geblieben; und daii" man iim hier delsbalh niehl ladehi,
weil jene BearbeiUmg aus dei- ersten Hälfte des sechzehnlen Jahrhunderts herrührt, einem Zeiträume, in
welchem die harmonische Eigen tliümlichkeit der Kirchenliinc erst allmiihllg sich zu entwickeln begann,
sie also nicht geeignet schien, deren Blüthc daran darzulegen: so hat er doch bei anderen kircbcn-
gesängen darin gefeldt, dafs er ohne alle lliicksichl auf die vorzüglichsten .Heister der Iclzlen ihilfte jenes
Zeitabschnittes, inn- nach neuen, von ihm als imtadelhaft erkannten Beispielen weiter folgernd, meist auch
nur an die mimer zweideutig bleibende nielodisclie ^Yendung sich hallend, Gesetze aufzustellen trachlcl,
welche der streng historischen Prüfung als solche keines\vegs sich bewiihren. Dieses zeigt sich auf das
Bestimmteste bei seiner zweiten Ilauptquelle, den von Gabrich's Schüler llcimich Schütz viersl immig ge-
setzten Bcckcrschen Psahnen. Die ^'on Ihm aus denselben angeführten Beispiele stinmicn, namentlich
bei solchen Stellen, die als vorzüghch beweisend in Ansprucli genommen Verden, weder in Grundtou
noch Harmonie mit der Urschrift überein; ja unser Verfasser gesteht selber, diese l^rschrift nicht gesehu
zu haben, die Psalmen nur durch handschriftliche Miltheilung eines geschätzten Organisten zu kennen.
„Ihre Begleitung ist den Kirclicntonarten vollkommen angemessen," ') sagt er dabei, ..und dieses ist mir
genug." Schwerhch aber dürfte der Geschichtsforscher an einer so oberflächlich beglaubigten Quelle sich
genügen lassen, und billig Anstand nehmen, ein bei den iNcbontonarten so in das Einzelne und Feine
Jiusgebildeles Eehrgebäude als das IMortimersche ist, auf so schwacher Grundlage aufzuführen, zumal
wenn er, ohne andere Ursache, als dafs sie nach vorgefafsten Gnindsälzen nicht anzutreffen seien, dabei
zwei jener Nebentonarten, die hj^ophrygische und hypoaeolische, aus dem Kreise der übrigen hinauswei-
sen müfste, wie IMortimer (dem ausdrückhchen Zeugnisse eines so geschätzten Tonlehrers wie Seth Cal-
visius, entgegen) gcthan hat. Je dankenswertber die Bemühungen unseres \'crfassers sind, je lobenswer-
llier sein Scharfsinn, der ilm meist das Richtige finden lehrte, imi so mehr sind seine Leistungen der
slrena;sten Prüfung zu unterwerfen, damit 'nicht, einiger \\ illkührhchkeiten imd Uebereilungen seiner Dar-
stellung -wegen, die gute Sache, che er so warm imd eifrig vertheidigt hat, von voreihgen und übeh\i>l- .
lenden Riclitern aufs Neue, wie in älterer Zeit geschehen ist, als der Forschung unwertli verworfen
werde.
Von der neuesten Bearbeitung jener Lehre wenden wir ims nun zu ihrer Behandlung durch zwei
Tonforsclier des sechzehnten Jahrhunderts. Zarlino , IMitlebender, ja noch Amtsgenosse Johannes Ga-
brieli's, trägt sein Lehrgebäude von den Tonarten in dem neunten bis ein und dreifsigsten Kapitel des
vierten Buches seiner musikalischen Institutionen vor. „Die Octave," sagt er, „besteht ans zwei miglci-
chen Theüen, einer Quinte und Quarte. Jene besclihefst drei ganze und einen halben Ton hi sich, diese
zwei ganze und einen halben; legen wir die Quinte dem Grundtone ziuiächst, so sagen ^^ir, die Octave
sei harmonisch getheilt, arithmetisch dagegen, wenn das kleinere Verhältnifs der Quarte ihm zu-
nächst liegt. Es giebt aber vier verschiedene Arten der Quinte und drei der Quarte, die durch Verände-
rung der Lage des in beiden vorkommenden Halbtons entstehen, welche in der aus ^^er Tonverhältnissen
bestehenden Quinte vierfach, in der aus dreien zusammengesetzten Quarte eben defshalb dreifach sein
mufs. Jede von den vier Arten der Quinte nun kann mit jeder der drei Arten der Quarte verbunden
werden; hieraus entstehen zwölf Veränderungen der Octave und mit ilinen eben so viel Tonarten. Dafs
') Pag- 29 in der Anmerkung.
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•hier gerade nur diese Zahl gedacht werden könne, ergiebt auch der Grundsatz von der harmonischen
und arithmetischen Theihmg der Octave. Der sieben Töne wegen, aus denen die diatonische Leiter
besteht, giebt es sieben, durch die Lage der beiden Halblöne sieh unterscheidende Arten der Octave.
Könnte jede derselben so harmonisch, wie aritlimelisch gethcilt werden, so würden wir vierzehn
Tonarten besitzen. Nun aber leidet die mit F beginnende Octave keine arlllimelische, die mit H
anfangende keine harmonische Thellung durch die in der diatonischen Leiter vorkommenden Klang-
stufen; es bleiben also auch hier wiederum zwölf Tonarten übrig. Diese sind entweder authentisch
oder plagalisch, jenachdem die Octave harmonisch oder arithmetisch gelhedt wrd; jene werden durch
.He ungeraden, diese durch die geraden Stufen der Zahlcnreilie bis zwölf bezeichnet. Jede plagale Ton-
nrl hat mit Ihrer autlientischen Grund- und Schlufston gemein; in der plagalen nämlich wird der Grund-
ton der authentischen zu der arltinnetiscli tliellenden ()uartc, oder mit andei-en Worten, die in der Haupt-
tonart durch die Obcrcpilnte des (irundtons in der l^icfe, durcl» dessen Oberoctave in der Höhe begrenzte
Quarte wird nunmehr an die harmonisch theilende Quinte in imigekehrter Ordnung angefügt, so dafs sie
^'on der LTnteroctave der oberen Tongrenze tlieser Quinte In der l^lefe, von dem Grundtone selber in der
Höhe, wie früherhin von dessen Oberoctave, befafst wird. Beide Arten der Quinte und Quarte also, aus
denen der Hauptton bestand, bleiben in dem Nebentone dieselben, sie finden sich nur In verschiedener
Lage an einander gefügt, und behalten des gemeinsamen L^rsprunges wegen auch denselben Grundton
bei. Nicht durch zufiiUige Versetzungszeichen, wohl aber durch Verwechslung des harten mit dem wei-
chen Systeme innerhalb derselben Tonreihe wird jede Tonart wesentlich verändert; diese Verwcclislung
aber gewährt die Bequemlichkeit, eine jede um eine Quarte höher oder eine Quinte tiefer auszuüben-
Dle drei ersten Haupttonarten, deren Grundtöne wir mit den Buchstaben c, d, e, ihre Stellen mit
den Zahlen 1, -3, 5 bezeichnen, entstehen durch Verbindungen der drei ersten Arten der Qiünte mit den
drei Arten der Quarte. In der ersten Art der Quarte nimmt der Halbton die letzte Stelle ein, in der
zweiten die mittlere, in der dritten die erste. In der ersten Art der Quinte kommt er auf der dritten
Stufe vor, in den beiden folgenden geht er auf die zweite und dann auf die erste über. Es bleibt in
der vierten Art also nur die letzte Stufe noch für ihn übrig; diese Art der Quinte . ■v'ilrd in dem vierten
mit f beginnenden Ilaupllone (In der llellie aller Tonarten der siebenten) wiederum mit der ersten Art
der Quarte Aerbunden. In dem fünften Haupttone, (der neunten, zwischen G imd g beschlossenen Ton-
art) verbindet sich der ersten Art der Qiünte die zweite der Quarte; In dem sechsten, (der elften, durch
A und a begrenzten Tonart) endllcli der zweiten Art der Quinte wiederum die dritte der Quarte. Die
zwischen diesen Haupttönen hegenden Nebentöne stellen diese Zusammenfügimgen In umgekehrter Ord-
nung dar.
Regelmäfsige Ausweichungen jeder autlientischen Tonart sind die nach der Oberterz, Ober-
quinte, Oberoctave ihres Grundtones. In der plagalen bleiben sie zwar dieselben in Bezug auf den ge-
meinschaftlichen Grundton, mit llückslcht auf die tiefste Tongrenze der plagalen Reihe aber erscheinen
sie nach der Oberquarte, Obersexte und Octave gCAvendet. Der dritte und elfte Ton (das Dorische und
Aeollsche) sind einander nahe verwandt, weil sie dieselbe Art der Quinte gemein haben; eben so deren
Nebentöne, der vierte und zwölfte. Auch besteht zwischen den letztgenannten und dem sechsten Tone
(dem hypoaeolischen und liypophrygischen) eine nahe Beziehung. Der fünfte Ton (das Phrygische) pflegt
mit dem neunten und elften (dem Mixolydischen und Aeolischen) sich gern zu vermischen."
Die Mängel dieses Lehrgebäudes sind bei aufmerksamer Betrachtung leicht zu erkennen. Zuvor-
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derst ist der Beweis für die Zahl der Tonarten ungenügend. Nach der eigenen späteren Ausfiilaung des
Verfassers entstehen dieselben kelnesM-egs, wie er früher behauptet, aus der Verbindung einer jeden von
den vier Arten der Quinte mit jeder von den dreien der Quarte; denn sonst müfsic jede Art der Quinte
dreimal vorkommen, da sie doch, die beiden ersten ausgenommen, welche doppelt angetroffen werden,
in jeder Reihe der Tonarten nur einmal erscheinen, so dafs in beiden llcihea zusammengenommen jede
der ersten zwei Arten der Quinte viermal, der beiden lelzten zweimal sich zeigt. Finden doch nur sechs
der sieben in der diatonischen Leiter vorkommenden Töne in den folgenden klangstufen eine zu ihnen
gehörige reine Obertpiinte, und sind doch der Arten jener Quinten überall nur vier, so dafs deren zwei
doppelt erscheinen müssen; wird ja aucli unserm Verfasser zufolge in den plagalen Tonarten keine neue
Verbindung geknüpft, die früliere nur anders geordnet. Aber auch die Ilerleitung der zwölf Tonarten
aus der harmonisclien und arillmietischen Theilunir der Octave ist eben so wenie; befriediirend. Denn
Haupt- und jNebenton entstehen ja durch jene doppelte Art der Theilung nicht in derselben Octave;
der Nebenion gehört einer andern an, in welclier der Grundtou seiner authentisclien Reihe zur arith-
meliscli theilenden Quarte wird, diese Stelle aber imr durch eine veränderte Zusammenfügimg beider
Theile der Octave erhält, deren kleinster dabei der Erniedrigimg um eine Octave sicli miterwcrfen mufs.
Das Zusammengehörende mufs liienach in fremden Grenzen gesucht werden; innerhalb derselben
Octave findet man, die Theilung mag auf die eine oder die andere Weise vorgenommen werden, immer
nur das einander Fremde. Ist daher auch das Ergebnifs der Zaiil jener Theilungen richtig, so mangelt
doch dem Lehrsatze: dafs dadurcli in der That je sechs und sechs verscliiedene Tonarten gefunden
werden, von denen je zwei in nächster Beziehung zu einander stehen müssen, hinlängliche Begründung.
Eben so verhält es sich mit den angegebenen Verwandtscliaften der Tonarten. Die nalie Beziehung des
dritten und elften, des vierten und ZMÖlflen Tones wird auf die ihnen gemeinsame Quinte gegründet;
die Verwandtschaft des sedisten und zwölften, des fünften und elften könnte aus ihrer gleichen Quarte
hergeleitet werden, welche in der That (Zarhno's Theilung angenommen) in der hypoaeolischen luid hy.
pophrygischcn, und defshalb auch in ihren authentischen Tonarten dieselbe ist: allein woher die Ver-
wandtschaft des Phrygisclien und 3Ii\olvdischen, seines fünften imd neunten Tones, denen weder Quarte
noch Quinte gemeinsam ist? Es fehlt liienacli seinem Lehrgebäude an einem .Alittelpimkte, in welchem
alle in der Tonwelt vorkommenden Erscheinimgen gegründet sind; daher in späterer Zeit so Adele IMifs-
deutungen desselben, so häufige Abweichungen z%\ischen Lehre inid kimstübinig. Die Begrüntlung der
von ihm behaupteten, jeder Tonart eigenthümfichen Ausweicliungen hat Zarlino niclit einmal versucht;
man sieht aber, sie sind sämmtlich nadi der einem jeden Grundtone eignenden Terz und Quinte, den
Gliedern des auf ihm ndienden Drciklanges gerichtet; und so ersclieinen sie auch wirklicli in den von
ihm ausgearbeitcn zweisthnmigen Beispielen für jede Tonart. Nun aber soll dem fünften und seclisten^
dem neunten und zehnten Tone, (den angenommenen grlechisclien Benennungen zufolge, der phrygisclien
und mixolydischcn Tonart,) wie iliren Nebentönen die Ausweicliung nach h defshalb vorzüglich zukom-
men. Ein zweistimmiges Beispiel, in welchem beide Stimmen in der Gegenbewegung diesem Tone sich
zuwenden, konnte eine solche IModulation auch leiclit darstellen, Zarüno hat sie in den seinigen überall
so zu bewirken gewufst; allein durch sein richtiges Gefülil wurde er auf deren UnStatthaftigkeit in mehr-
stimmigen Gesängen aufmerksam gemacht. „In den genannten Tonarten," sagt er, „kommt jene Aus-
weichung regelmäfsig vor; da aber jener siebente Ton der diatonischen Reihe in den übrigen weder eine
Oberquinte, noch Unterquarte in ihren reinen Verhältnissen findet, so erscheint sie hart und mufs in
— 104 —
viplslinimii!;en Gesängen acniildcii worden," eine IMildening, welche nur durch dieLnlerterz od(;r Ouinl^
jenes Tones erl'iilgen kann, die belianplele Ausweirlnrng aber harmonisch \(')lhg verniclilcf. Von dem
siehcnlen Tone, dem lydisclien, geslehl Zarlino ein, dafs er wegen der übenniifsigen Quarte (des Trilo-
nus) und der durch sie entstehenden Härte nicht oft vorkomme, wie denn schon (ilarean seine Selten-
heit beklagt, auch meist alle Beispiele des Lydisclien ans jener Zeit bei dem Wechsel des harten mit
Acm welchen b als rein nicht angesehen werden können, mid dem vcrset/,ten Ionischen arjgeliörig er-
sclieinen müssen; er versuclit al)cr niclit die jener Tonart ixnd ihi'cm ?s'ebeutone aiigew iesenc Slelle näher
zu begründen. Seine Bestimmung des eigenthümlichen Ausdrucks jeder l^nart ist nicht minder ungenü-
gend, ja durcliaus willkiihrlich, da nirgend zu errallien ist, worauf er sie eigentlich gründe. Wenn er
von seinem neunten Tone, dem mix ol ydisch e n, sagt: „Worte oder Beden sind für ihn geeignel, welche
leichtfertig sind oder von Leichtfertigkeiten handeln, muntere aber mit Anstand gesagte-, solche ferner
welche Drohungen, Geniüthsumuhe, Zorn ausdrücken;" von dem zehnten Tone, der hypomixolydischen
Tonart aber behauptet: ..eine natürhche Anmutb , eine überfliefsende Süfsigkeit trägt sie in sich, welche
der Zuhörer Gemülii mit hoher, freudiger, aber sanfter INIunterkcit erfüllt; man will, sie sei aller Leichl-
fevligkeit, allem Laster vöUig fremd. Darum sind sanfte, anständige, ernste AN orte oder Reden ihre Be-
gleiter, tiefen, beschaulichen, göttlichen Inhaltes, solche, die das götlliclie Erbarmen herabztiflehen sich
eignen:" so ist in dieser letzten Beschreibung den beiden Tönen niixolydlscher Art zwar nicht Unrecht
gethan, aber doch nicht einzusehen, wie Haupt- und rsebenton bei so naher Verwandtschaft so gänzlich
verschieden im Ausdrucke sein sollen, und woraus diese Verschiedenheit entspringe.
A'S'ir \\ürden Unrecht thun, wegen dieser Mängel den Zarlino gering zu halten; für Messung luul
Bestinnnung der Tonverliältnisse hat er ungemein viel gelhan, er hat der Tonjehre eine neue Bahn ge-
brochen, und wenn er sie nicht überall \'öllig geebnet hat, so ist nicht sowohl ihm, als der SchA\ ierigkeit
seines Unternehmens die Schuld lieizimiessen , dem Versuche, auf einer durchaus abweichenden Stufe der
Bildung, bei fast gänzlichem Mangel an Ueberblcibseln altgriecliischer Tonkunst, dennoch die nur in
unreiner oder spärlicher Ueberliefcrung forlgepllanztcn Lehren alter Tonmeister mit der Kunstübimg seiner
Zeit in Uebcreinstimmung zu bringen; ein Versuch, der um so mehr mifslingen mufste, als er an den
eigentlichen Kern des Kunstlebens sich wagte, Defsbalb auch sehen wir ihn an den gröfsesten Meistern
seiner Zeit, Palestrina, Orlandus Lassus, Andreas Gabrieli, vorübergehen, gleichsam als fürdile crdieKimst-
ühung seiner Zeit auf Wegen zu fuiden, die er als Abwege erklären müsse. INur ein Beispiel eines
Landesgenossen, des Francesco Viola hat er angeführt, eben für die lydische Tonart, wo es ihm schwer
Averden mochte, deren anderswo zu finden; alle übrigen sind von altern Meistern aus der niederländischen
Schule entlehnt, Isaac und Josquin, Mouton uml Adrian Willaert, Morales, Pierre de la Rue, Verdelot,
(jombert; zwei von seinen\ älteren Amtsgenossen Jaquet, eines von seinem Mitschüler Cyprian de Rorc,
eben auch dieses für die lydische Tonart; die übrigen aus seinen eigenen AVerken — alle nur angedeutet,
nicht mitgetheilt, jedoch in Sammlungen jener Zeit in)s meist noch erhalten. So sind denn Glarean
und Zarlino uns die wicliligsten Führer, wenn wir die Art, wie die Kircbenlöne um die erste Hälfte
des sechzeliijten .Tahrhunderts harmonisch behandelt worden, wollen kennen lernen; jener freilich der
bequemere, da er seine Beispiele zuglcidi vollständig mittheill.
Seih Calvi<iiu.?y um das Jahr 1556 in einem thüringischen Dorfe ') geboren, seit 1582 Cantor in
Zu (-lvr^rfilc(ten den til. i^ehniar 15r»f5.
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Scliulpfort, von 159i bis zu seinem 1615 ') erfolgten Tode an der Thomasschule zu Leipzig, war Zeit-
genosse Joliann GabricU's, den er um drei Jahr überlebte. Sein Lehrgebäude von den Kirchentönen Ist
in einem um das Jalir 1600 gedruckten Büclilein niedergelegt: de modis musicis rede cognoscendis
Für jede Tonart smd relchhche Beispiele in Bezug genommen, theils von den berühmtesten Tonmei-
stern semer Zeit, theils aus des Verfassers eigenen Kirchengesängcn, wodurch jenes Werklein vorzüc-
Uch wichtig Mnd. Unter den Deutsclien beruft er sich am meisten auf Orlandus Lassus, Säno-ermeiste^r
zu Münclien, und Jakob Iländl oder GaUus, am erzbischöflichen Hofe zu Prag; unter den Italienern am
häutigsten auf gi'ofse um jene Zelt zu Venedig blühende Meister ^): Ilannibal von Padua Claudio
Merulo, und vorzüglich Johannes Gabrieli, dessen Werke er fast bei jeder Tonart In Bezu-^ nimmt So
wird er zum sicheren Führer, wenn wir erforsclien wollen, wie imser Meister die Kirchentöne belian-
delt habe.
Die Lehre des Seth Calvisius stimmt In den Ergebnissen mit der desZarlIno übercin. Er nimmt
zwölf Tonarten an, je seclis Haupt- und Nebentöne; jene entstehen Ihm zur Hälfte aus der Verbindung
von zwei gleichnamigen Arten der Quinte und Quarte (der ersten, zweiten und dritten), zur Hälfte ^Z.
der \erbindung ungleichnamiger (der vierten und ersten, ersten und zweiten, zweiten und dritten)- diese
aus umgekehrter Zusammenfdgung beider, auf jene Weise verbundener Tonverhältiusse , wobei die
neu entstehende Reihe, als plagale, den Grundton Uirer authentischen jedesmal beibehält. Die Tonarten
selber bezeichnet er mit deren, auch In unserer Abhandlung angewendeten, griechischen Benennun
gen; in der Bcihefolge weicht er In sofern von Zarlino ab, dafs er nicht wie dieser die Ionische
sondern die dorische an die Spitze derselben stellt; wohl darum, damit die Zahlenbezeichnung mit der
] von den entsprechenden kirchlichen Intonationen übereinstimme. Denn Zarlino's Art zu zählen hat
I selbst zu ^^enedig niemals allgemeine Anwendung gefunden, weil sie von jener kirchlich geheiligten sich
I entfernte, und dadurch leicht Ver^vechselungen herbeifülirte. Eine jede Tonart, lehrt Seth Calvisius ferner
kann durch Anwendung des welchen Systemes um eine Quarte höher, eine Quinte tiefer ausgeübt werden'
durch jenen ^Vechsel des Systemes fällt die lydls che Tonart, die fünfte in der Reihefolge, mit der versetz!
ten lomschen meist zusammen; selten überhaupt finden wir sie In völliger Reinheit vor ^). Reo^elmäfsi-
weidit jede Tonart In die Oberterz, Quinte, Octave Ihres Grmidtons aus; nur die mixolydische und
phrj-.sche machen luerin eine Ausnahme. Jene, vornehmlich wenn sie als plagale ersclieint wendet
sicli häufig zum lonisclien hin; die phrygisclie Oberquinte Ist sclion an sich kaum zu einem Schlufsfalle
geschickt, dalier denn die phrygische Tonart ihre regclmäTsIgen Ausweichungen liintansetzt, und anderen
I Ionen sicli zuwendet, namentlich ihrer Oberquarte und grofsen Unterterz. Sie Ist hienach unter allen
anderen die am wenigsten unter die allgemeine Regel zu befassende, und an Ihrem Sclilufsfalle ne.vöhn-
j hell erst zu erkennen.
' c u ^^'!'f ^•f^'^™"S vornehmlich Ist es, wodurch, von anderen Vorzügen seines Werkleins abgesehen.
Seth Cahisms Lehre mis wichtig wird. Eine Unregehnäfsigkeit .,drd von llim bemerkt, durch welche
■) Den 24. Premier. ») Bei der Bezugnahme sfnd der ßlelster Namen nicht immer ausdrücklieh an.eOihri. Er
beruft s,ch auf d.e -.u seiner Zeit in mmherg erschienenen Sammlungen geistlicher Gesänge, und in diesen ßnden ,crr
dje belogenen unter den Aamcn jener Meister. ^) Z,oel Beispiele Jur das L,jdische und dessen Nebenton, .„n Philipp
2rC/'t!'t tZ "/;'''•''/''"'■«>-'• ^^"'^-" ""' nächsten kommen; allein auch sie bestätigen das EingeständnZ
Z tiri '^1 'l^'ff^'"'^'"^^''' '""l ""^ ''«-■*- — »• ^"sgeführte. S. pag. 53. 54. des ongefühHen Werks
.. w /,, ^"^"""'' "'"^ Fr,edrich Lindners: CoroUarium eanfionum saerarum etc. Nürnberg 1590. No.XrjI. XXA'IJ
C. r. WjnUrfeia. Job. GaLricli n. ». Zoilaltor. ° i"^". -"<»• -•.»■ Jd- ..\.l.^n.
14
— 106 —
•iwcl ToiKulcu, eben die recht eigen! Iiiimlid. klrclilichcn, vor Jen übrigen sich auszeichnen; doch erkennt
er sie an als der Besonderheit jener Tonarten entspringend, nielit durch WiUkühr der Meister seiner
Zelt elnoeführt. Ein besserer Beohaditer als Zarhno darf er also genannt werden, dessen WiUkühr allen
Tonarten gleiche Gesetze vorschrieb; denn gründet auch schi Lehrgebäude sich nur auf Betrachtung einer
elnzl-en Ilaupislimme, des Tenors, an welcher die Ausweichungen jeder Tonart erforscht und aufgezeigt
^vcrden, so ist er doch In den AYerken der IVIltlebenden von dem überall mächtig herrsclienden Geiste
der Harmonie lebendig berührt, in seiner Forschung riditlg geleitet worden; nur hat er frelUch nicht ge-
funden dafs eben dieser Geist jene scheinbaren Unregelmäfsigkelten durch ein höheres Gesetz als vöU.g
regelrecht ja nothwendig bewähre. Hier durfte er defshalb nicht vergessen werden, weil er es gewesen
ist, der dem vorliegenden Versuche einer möghdist voUständigen Begründung der Lehre von den Ivir-
chcnlönen und ihrer harmonischen Entfaltung vorzüghch als Wegweiser diente.
I^Iit wenigen W^orten fassen wir den Hauptinhalt dieser Lehre, sie aus eniem anderen Gesidits-
punktc betrad.tend,nodi einmal zusammen. Auf den In der Reüie stufenweiser Entwicklung der Töne aus-
einander von der Natur sdion gebildeten harten Drelklang, und auf die als gesdiiditlldie Thatsadie
geo-ebene dlatonlsdic Leiter, weldie die gröfseren Verhältnisse jener Tonreihe durch kleinere, sich wie-
derholende ausfüllt, gründete unsere Darstellung die Verwandtschaft, die Eigenthümllchke.t der Ton-
arten. Beide Reihen aber gdiüven wesenthdi zusammen, sie sind urspmngUdi Glieder einer fortlau-
fenden Tonfolge. Denn zuerst erzeugt (he Natur das für harmonischen Zusammenklang Geeignete, so-
dann das zu melodisdier Aufeinanderfolge Bestimmte: Beides hat die Kunst lebendig zu verknüpfen,
zu versdmidzen gestrebt, mufsten audi um dcfs willen die natürlichen Verhältnisse beider Reihen theU-
welse gemildert oder geschärft werden. Das hienach Verknüpfte, die diatonisdie Leiter, ersdieint defs-
halb naturgemäfs zugleich und Erzeugnifs menschlldien Kunsttriebes. Das von der Natur In dem frühe-
ren, harmonlsdien Gllede der Tonreihe gegebene Gesetz, nadi welchem das Zusammenkhngeude aus ei-
nem Grundtone in bestimmter Folge sidi erzeugt, der Grundton zu seiner Oberoctave, zu der zwschen
'•Iir und seiner Doppcloctave hegenden Oberquintc und Unterquarte beider, sodann der grofsen Terz seiner
Doppeloctave in das nädiste Verhältiiifs tritt, wurde uns auch Gesetz für die Verwandtschaft der Tonarten.
Aus dieser endhch ging audi der weidie Dreiklang uns hervor, im Wcdiselverhältnlsse, wie durdi sie be-
gründet, so auch sie .viederum begründend. Das spätere, melodische Ghed der ganzen natürlidien
Tonreihe, die Oudle der EigenthümUchkelt aller Tonarten, fanden wir schon bei den Alten, ^vie es in
seiner Beziehung auf jenes friUiere, harmonische, als diatonisdie Leiter gestaltet erscheint , nicht ohne
Bedeutung nach Quarten weiter geghedert. Die Quarte, obgleidi von jeher unter die Wohlklänge ge-
redmet, steht doch auf der Grenze zwisdien diesen und den Ittifsklängen. Jene gewähren, zusammen-
khngend, dem Ohre volle Befriedigung; mit allen Gliedern des harten Dreiklangs in Uirer natürlichen
Folge ist dieses der Fall, die Quarte ausgenommen. Denn wie sie das Hinaufstreben der aus dem
Grundtone erzeugten Quinte In dessen geschärfte Wiederholung ausdrückt, so setzt sie aud» zugleich
ihn selber voraus als harmonlsdie Grundlage, um vöUIg Im Zusammenklange zu befriedigen. Ersdieint
sie hienach, harmonisch betraditet, als unvollkommener Wohlldang, so bewährt sie, mdodisch ange-
sehen, um so mdir sldi als vollkommener; denn in jenem, für sich betraditet, mdodischen Aufstreben
der Quinte, wie es vorhin beschrieben worden, wodurch eben die Quarte entsteht, wird für deren üofere
Tongrenze das vollkommen befrlecUgende Ziel ja errcidit; zu gcsclnvelgcn, dafs che Quarte alle (he enge-
ren Tonverhältnlssc des dlatonisdien KlanggesdJcdils schon innerhalb ihrer Grenzen befafst. Vor aUem
— 107 —
anderen bedeutsam daher mufsle der allen Tonkunst in ihrer vorherrschenden melodischen Iliclifunj; das
Verhiillnifs der Quarte sein, ja sie durfte ihr das unbedingt in ihren Tonreihen \ orherrschende, dieselben
Regelnde werden. AVie aber das frühere, harmonische Glied der natürlichen Tonreihe das Verschmelzende,
in einander Aufgehende zeigt, die Consonanz, so tritt in dem späteren, melodischen, zur diatonisclien
Leiter künsthcli gegüederten, das Abklingende, Entzweite heraus, die Dissonanz, inid zwar unter zwei
wiederum z^^'iefach gelheillen Ilauptformen. Als nothwendig Entzweites zuerst, ursprüngliclie Dissonanz,
in dem Verhiiltnisse der Septime, imd ihrer Umkehrung, der Secunde, welche beide wiederum in der
doppelLcn Ceslau der kleinen imd grofsen erscheinen. jVls getrübter ^Vohllaut sodann, abgeleitete Disso-
nanz, und diese-.' Art ist die übermäfsige Quarte in der diatonischen Reihe, der sogenannte Tri t onus,
und dessen Umkehrung, die falsche Quinte.
Wie das melodiscJie System der älteren Tonkimst in doppelter Gestalt, als hartes und weiches,
sich in Quaricnfolgen geghcdert dargestellt, wie eine jede dieser Quarten zu Anfange das \ crhälinifs des
ganzen Tones zweim.al, einmal am Scldusse das des halben Tones befafst; wie die Octave jenes letzte
zweimal cnüiallen, es durch Weclisel ihres Anfangspiuikles an vcrscliiedenen Stellen gezeigt, ^ie in jener
veränderten Lage die EigenÜiümhchkcit der Tonarten beruht habe — alles dieses ist im Vorigen schon
gesagt worden. In zwiefach wichtiger Bedeutung, so für Eigenthümhchkeit als Verwandtschaft der Ton-
arten aber zeigt sicli die letzte der zuvor gedachten beiden Dissonanzen, der Tritonus ; in seiner ursprüng-
lichen Gestalt nicht minder, als in seiner Umkehrung. Denn die Tongrenzen beider stehen mit dem Ver-
hältnisse des Halbtons in genauer Beziehung; das letzte Glied desselben au seiner ersten Stelle in der
diatonisclien Leiter (f), das erste an seiner letzten Stelle (h) bilden die übermäfsige Quarte in der dori-
sclien, phrygischen, ionischen Reihe, die falsche Quinte in der mixolydischen und aeoUschen. Die Lage
des Halbtons also, welche das Wesen jeder Tonart bestimmt, weis't auch dem Tritonus und seiner Um-
kehrung ihre Stelle an: eine beider Formen beschliefst jede Tonart innerhalb iiu'cr Grenzen, keine der-
selben aber wird durch sie in Bezielumg auf ihren Grundton melodisch getrübt. Denn dessen reine
Quarte, wenn gleich mit verscliiedener Lage der durcli sie befafsten engeren Tonverhältnisse, ja, eine
V erknüpfung zweier Quarten (die Oberquinte des Grundtons als tiefere Tongrenze der zweiten angesehen)
stellt jede von ihnen dar. Darum (scheint es) mufstcn die mit dem vierten und siebenten Tone der
diatonisclien Leiter (f imd h) beginnenden Reihen, wird gleicli die erste derselben von Vielen als lydisciie
Tonart verfochten, der älteren Tonkunst widerstehen ; denn die erste von ihrem Grundtone, die zweite von
dessen Quinte aufsteigend, zeigte die melodisch regelnde Quarte in getrübter Gestalt, der harmonischen LTn-
brauclibarkeit der letzten Reihe durch die falsche Quinte ihres Grundtons nicht zu gedenken; auch defshalb
konnte es, {wie in dieser Darstellung angenommen worden) nur fünf Tonarten geben. Harmonisch
wichtig aber sind Tritonus und falsche Quinte durch ihre Auflösung, ihr Hinaus- und Hineiustreben in
die kleine Sexte und grofse Terz, die dadurch bewirkte Beziehung jeder Tonart auf die ionische,
die Begründung ihrer Gesammtverwandtscliaft, (näheren oder ferneren,) zu derjenigen, die wir als
Wurzel aller Tonarten aufgezeigt haben; und es ist nicht ohne Bedeutung, dafs da, wo diese Ver-
wandtschaft am stärksten heraustritt, in der mixolydischen, sie durcli die Verbindung beider Hauptdisso-
nanzen der melodischen Reihe, der Septime in der Form der kleinen, des Tritonus in seiner Umkehrung,
nocli bestimmter vermittelt wird. Die Anschauung der älteren Tonkunst von den Kirchentönen, wie sie
in ihren Werken in das Leben getreten ist, die aus ilir zu ent\\ickeh]de Lehre, darf hienach nicht minder
naturgemäfs, als kunstgerecht in sich zusammenhängend genannt werden. Dafs bei Darlegung dieser
14'
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Lehre altgriechisclio Namen für die Kirchenlönc angewendet worden, erheischt in so weit eine Rechtfer-
tigung, als da(hirch die \'^crmuthung entstehen könnte, sie sollten unmittelbar aus der allgricchischcn
Tonkunst abgeleitet werden. Eine solche Ableitung aber würde tiefere gescliichtliche Begründung er-
fordern, als hier, als Aielleicht überall geleistet werden kann, bei dem Mangel an ächten Uebcrbloibseln
allgriecliischcr Tonkunst, der so bewirkten Sclnvierigkeit des Verständnisses der ohnehin nicht aus der
Blütliezeit des griechischen Kunstlebens henührenden Tonlehrer. Besser, so möchte es scheinen, wäre
es also gewesen, statt jener Namen die Bezeichnung durch Zahlen anzuwenden; allein diese, so oft auf
verschiedene Weise gebraucht, hätte nur Verwirrung imd Zweideutigkeit herbeigeführt, das Versländnifg
augenscheinlich erschwert. Darum blieb die herkömmliche, in iliren Grundzügen allgemein verständliche
Bezeichnung durch jene alten Namen die beste, und mit dem Vorbehalt, dafs dadurch ein Mchres nicht
angedeutet werden solle, möge sie gerechtfertigt, damit aber auch der Vonvurf abgewendet sein, den
der gelehrte deutsche Tonmeister Fux anderen Tonlehrem gemacht: '„dafs sie, da kaum ein Schatte
der alten griechischen Tonkunst uns übrig geblichen, den Tonarten der neuen Zeit jene fremden Benen-
nungen aufzudringen, einen ohnelün schwierigen Gegenstand durch eitle Namen zu vevduidveln gewagt
hätten. "
SECHSTES HAUPTSTÜCK.
fVillaert's Scimler und JVachfoJger, Cyprkm de Rore, ^arlinO} Claudio
MerulOi Andreas Gahrielt, und deren Verdienste um
harmonische Entfaltung.
W enn ein wahrhaftes Kunstwerk überall nur da vorhanden ist, wo lebendige Gliederung aller einzelnen
Theile zu einem Ganzen sich findet, so machen wir mit Recht eine solche Forderung nicht minder an
W^erke der Tonkunst, als der übrigen Künste. Die einfache Gesangsweise soll in den zusammengereihten
Tönen, die sie ims hören läfst, einen Quell erkennen lassen, dem sie alle lebendig entströmen, ihre Ton-
art; künsthch verflochtene Welsen, ^vcnn sie mit einander ertönen, sollen, wie den Geist jeder einzelnen,
so ein gemeinsames Leben aller erschliefsen: in der Gefährlinn soll eine jede er\vachen, und ihrer selbst
in höherem Sinne bewufst, mit Ihr mm erst iln- Innerstes aus tönen, während der Zusammenklang aller,
eben wiederum in der Tonart, das Band ims kund giebt, welches alle umscldingt. Eine solclie Vcrflecli-
tung war gemeint, wenn von harmonischer Entfaltung zuvor geredet wurde: in Ilir tritt aucli die melo-
dische Gliederung jeder einzelnen Stimme erst in vöUiger Bedeutimg heraus; und selbst da, wo in mehr-
stimmigen Gesängen eine der Stimmen die herrsdiende ist, die andern ihre Dienerinnen, und zumeist be-
stimmt sind, das innere, harmonlsclie Leben jener austönen zu lassen, selbst da mufs jede einzelne dieser
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untergeordneten Stimmen melodisch gegliedert sein, ein gegenseitiges Geben und Empfangen mufs statt-
finden, denn nicht lebendig entfaltet, nur dürftig gestützt, mit todtem Sclmiucke äufserlich aufgeputzt,
würde uns sonst die herrsdiende Stimme erscheinen.
Nach solcher harmonischen Entfaltung strebten ohne Zweifel bereits die niederländischen Meister
früliercr Zeit; der Geist der Ilannonie bricht oft hell liindurch in ihren Werken, jedoch waltet er nirgend
völlig wach in seiner ganzen Macht. So bleiben sie denn meist nur Zusammenfügende, Componisten
in beschränktem Sinne, so bewundernswerlh sie auch erscheinen in ihrem Verfahren, der sorgfälligen
Ausbildung alles Einzelnen, der genauen, zierlichen, reinlichen, jeden IMifsklang vermeidenden Zusammen-
setzung, ja der oft grofsarligeu Beziehung des in einander Gefügten; einer jedoch mehr poetiscli als
musikalisch bedeutsamen Beziehung, da sie nur in den Worten hegt, die den zusammengefügten Ge-
sangsweisen aufgeprägt sind, wälucnd diese in ilirer Verscliränkung nicht zugleich harmonisch entfallet
werden.
Adrian Willaert, einer der ersten, in denen der Sinn für solche Enlfaltung zum Bewnfstsein er-
wachte, nimmt dalier mit Recht einen ehrenvollen Platz ein, nicht nur unter den älteren Kleistern der von
ilim gestifteten ^'cnedischen Schule, sondern des sechzehnten Jahrhunderts überhaupt. Li dem Geiste, in
dem Bildungsgange jenes Zeitalters lag es, dafs eben in ilim eine solche Eiitwickelung der Tonkunst
stattfinden mufsle. Schon durch das ganze vorangehende Jahrhundert zog sich das Streben hin nach
einer Kirchenverbesserung, das in dem folgenden zur Tliat reifte, zu einer auf mancherlei Wegen begon-
nenen Reinigung der Lehre und des Gottesdienstes. In diesem war es zumal der lebendige, thätig-e
Antheil der Gemeine an der kirchhchen Feier, den man vermifste, dem mau Balm zu machen begann.
Freilich halte schon \qx der Reformation ein Slreben sich gezeigt, che kirchhche, an eine fremde Sprache
gebundene Feier, konnte und wollte man aucli der Gemeine niclit tliätige Rlilwirkung bei ilir einräumen,
docli in der Tonkunst mindeslens volksgemäfser zu machen, geschähe es gleich auf wenig angemes-
sene, mit Recht getadelte Weise. Den fliesscn, dem IMagnificat legte man die Sangweisen bekannter,
oft ausgelassener, schlüpfriger V^olkslieder unter: indem so das Heihge an das Gemeine geknüpft wurde,
sollte die Ivunst dem Volke näher treten; ein Verfahren, das nicht allein seinen Zweck verfehlte, son-
dern ^^^e wir gesehen, den Besseren zum Acrgernisse gereichte. Dennoch trug späterhin das \6\k seine,
in der IMuttersprache gediclitcten geislUchen Gesänge, mit denen es niui selbstlhätig in die Kirche eintrat,
auf jene alten, ihm hebgewordenen Weisen über, ohne Rücksicht auf den nicht selten frechen Inhalt der
Lieder, zu denen sie ursprünghch bestimmt gewesen: nicht allein zu keinem Aergernisse in der neuen
Kirche, sondern zu wahrhafter, allgemeiner Erbauung, ja selbst Bereicherung des Kirchengesanges. Denn
jedes Glied der Gemeine, indem es singend hingezogen wurde zu dem frommen Inhalte der von allen
vorgetragenen Lieder, fand dadurch schon sich abgelenkt von allen Anklängen, welclie die Sangweisen
sonst in ilim erweckt haben könnten; diese, anfangs nur ein dem Liede zufälhg geborgter Schmuck,
wuclisen ihm allmähhg mit jenem völlig zusammen, jede unlieilige Erinnerung verlosch eudhch ganz, die
Sangweise fand durch das fromme Lied sich geheihgt, ja, auf eine zarte Weise äidserlich umgestaltet. Nicht
so ui früherer Zeit, wo ein Sängerclior Vermittler war, V^ertreter der nur still zuhörenden Geraeine bei
dem Gottesthcnste. Einem Theile derselben blieb der Inlialt der in fremder Spraclie abgesungenen, hei-
ligen Worte YöUig fremd; der Sinn des andern war für ihn durch wiederholte Anhörung bereits abge-
stumpft, und würde nur dann aufs neue von ihm getroffen worden sein, wenn jene Worte ihm in be-
deutsamer Betonung entgegengetreten wären, durch welche der ganze geheimnifsvolle Sinn der kircliUchen
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l'cicr dem Gemiitlie erst recht lebendig aufi;;rht. Nim erscliienen aber jene heiligen ^Yol•te in ein frem-
des, erborgtes Gewand gekleidet; der Gegensalz des Heiligen imd jenes ihm aufgedrungenen -sveUlichen,
unheib'i^cn Schmuckes üble den imwidersleldichen Zauber des Seltsamen auf die Zuhörer; je -williger sie
dem Gehörten sich hingaben, um so eher wurde die Erinnerung wach an die leichtfertigen, frechen
Worte, welche die Gesangsweisen in ihnen aufriefen: ja mn so ferner sie aus dem künstlich verwobcnen
Ganzen heraustönten, um so verlockender waren sie, immer mehr den Drang crri gend die dunklen An-
klänge, die in dem ^^erhüTlten aufdämmerten, Hehler zu machen und völlig zu erwecken. Wie ein
jeder Versuch hicnach fruchllos bleiben mul'ste, auf diesem Wege die Kunst, dem Volke näher zu brin-
gen, sie, und mit ihr den Gottesdienst zu erneuern, so war dagegen der lebendige Eintritt des \^oUcsgesan-
ges in die kirchliche Tonkunst von den wichtigsten Foigcii für deren Ausbildung. Jene Volksweisen,
durch fromme Lieder geheiligt, wurden nimmehr aucii GegcnSiaiiu der KümsI. Wir dürfen bei dem Kir-
chengesange der evangelisclien Gemeinen jener Zeit nicht an jenes rohe, übel zusammenslimmende Ge-
schiüi denken, das in unserer Zeit an so vielen Orten das Ohr des Gebildelen beleidigt. Gesangliebend,
^vie das Volk war, dürfen wir es auch gesangfertig nennen; dafür spricht die grofse Menge der damals
mil ilirca Gcsangswcisen erscliienencn Sammlungen geisllicher Lieder, von denen mehr als die Hälfte yic\-
slimmig gesetzt waren ; nicht etwa nur bestimmt, zu häuslicher Erbauung Gebildeter im engem Famillen-
ki-cise von sangfertigen Gliedern desselben vorgetragen zu werden, sondern bei dem öffentlichen Gottes-
dienste, von allen zu Ihätiger Tlieilnahmc an ihrer Ausführung gleich befähigten Gemcinegliedern. Zwar
behandelte man jene Gesänge anfangs der hergebrachten künstlich zusammenfügenden und verschränken,
den Weise gemäfs; aber schon fridie leitete ihre Bestimmung zu einer einfaclieren , allgemein fafslichen
Behandlung: das Bcdürfnifs gröfserer Einfalt erweckte allgemach den Sinn für schlichte harmonische Ent-
failun'^ einer Gosangsweise, und mit derselben für ihr cigenlhümlichcs, eben in der Harmonie ausströmen-
des, tieferes Leben. Nim erst gewann die Kirnst, verschiedene Gesangsweisen sinnreich zu verweben,
ihre wahrhafte Bedeulung : jetzt galt es, in dieser Venvebimg das innere Leben einer jeden zu entfalten,
nicht mehr konnte es genügen nur den Mifsklang zu vermeiden.
In Deutschland, den Niederlanden, in Frankreich, überall wo die neue Lehre sich verbreitete, wo
für die Gemeine lliäliger Aniheil an dem Goltesdlenslc gefordert wurde, war der Volksgesang in die
Kirche eingedrungen. Die Töne der alten deutschen Berg- und Jagdreihen, selbst Tanzweisen wurden
auf geistliche Lieder überlragen; man hielt es für ein gollgcfälliges Werk, Gassenhauer und Reilerhedlein
„cliristlicli luid moraliter," unter Beibehaltung ihrer Weisen zu ändern, „damit die Jugend der Biddtexte
abgehen möchte;" wir besitzen eine flamländischc Ueberselzimg der Psalmen, die einen jeden von
ihnen einer bekannten gemeinen Weise ,,zii Erbauung und geistlicher ^'ermalmung" anpafst; die noch
in der französischen Kirche üblichen Gesangsweisen der Psalmen gehören nicht minder ursprünglich Volks-
liedern an. Einer ausführlichen Geschichte des evangelischen Choralgesanges bleibt es vorbclialten , aus
den vorhandenen Quellen dieses alles näher nachzuweisen: für den gegenwärtigen Z^veck genügt es zu
erwälmcn, dafs wie die Niederlande, und der an sie grenzende Theil Frankreichs und Deutsclilands die
Wiege der Kunst harmonischer Slimmcnverwobung waren, eben hier, den angeführten Thalsaehen zufolge,
auch die ersten Keime der Kunst harmonischer Entfaltung sich regen mufsten. Frühe schon war fredich
\>'illaert aus seinem Vaterlande gewandert, hatte noch vor der Reformation sicli in Frankreich und Italien
aufgehalten, allein deshalb \\'Xirde er nicht minder von der neuen, auf die Tonkunst einwirkenden Regung
erfafst, zumal auch in Ungarn, wo er vor seiner Verpflanzung nach Venedig verweilte, die neue Lehre
— 111 —
und Alles, was sich an sie knüpfte, frühe eindrang, ja die Gcmaldin König Ludwgs, IMaria, ihr eifrig
ergeben war, wie noch das Lied zeigt: „mag ich Unglück nit ^\idcrstan" das als das ihrige in alten
Sammlungen ihr besonders angeeignet wird. Bedeutender jedoch als A'N illaerts Beispiel, das hier zum
erstenmale in Anspruch genommen ist, wird für die Meisten das des Johannes Pierluigi von Palcstrina
sein, der als Vater einer neuen, reineren, eben auf einfache harmonische Entfaltung gegründeten kirchli-
chen Tonkunst allgemein genannt wird. Er war Schüler Goudimels, der in der ersten Ilälflc des sech-
zehnten Jalirhunderts die frülicste einfach harmonische Behandlung der Lieder^veisen herausgab, die man
der französisclien Uebersetzung der Psalmen angepafst hatte. INiederländcr also, die Lehrer Italiens in
der Tonkunst, die ersten Gründer aller daselbst sich erhebenden Schulen, trugen die ersten Keime einer
neuen Blülhc jener Kirnst mittelbar und unmittell)ar dort hinüber; der den Einwohnern jenes Landes
angebornc Sinn für die Tonkunst nahm dieselben lebendig auf, sie wuchsen imd gcdieiien auf das herr-
licliste dort, imd die Italiener wurden aUmählig befähigt, Cluster der übrigen Völker in der Tonkunst zu
werden. Freilich nicht auf dem Wege wie bei jenen, Vvö der Volksgesang in die Kirche gedLvngen war-,
konnte bei ilmcn die heib'ge Tonkunst fortschreiten. Der tliätige Antheil der Gemeine an dem Gottcs-
dieusle bhcb in Itahen, das die neue Lehre abwies, beharrlich ausgeschlossen; dem VoUcsgesange (hätte
es ilm in der Art aucli besessen wde die Deutsdien), war der Weg in die Kirche verwehrt. Allein den
edelsten Geistern Italiens Miirde das Auge für das neue Leben geschärft, das in jenen einfachen, durch
frommen Sinn geheiligten Volksweisen aufgegangen war; der erfrischte Bück wendete sicli den alten, über-
lieferten Kirchengesängen zu, in denen ja ein nidit minder cigenthümUches mid herrliches Leben sich
erschliefsen mid'ste. So wurden denn auch sie, nicht, wie von älteren deutschen INIeistern schon gesche-
hen war, als kösthche Edelsteine durch künstliche Einfassung sinnreich verschräidcter Weisen geschmückt,
sondern lebendig harmonisch entfaltet, und in ihnen eben erblüliten die Kirchentöne in neuer, tieferer
Bedeutung, wie harmonisch, so auch melodisch, in neuen, im Geiste der alten erfundenen kirchliclien
Gesängen.
Gehen vir auf den L^rsprung beider zurück, des N^oUcs- ^^^e des Kirchengesanges, indem wir bei
diesem jene alten Gesänge im Sinn haben, welclie die katholische Kirche seil direm Beginne als einen
kösthchen Schatz hegte; so ist er bei beiden in Dunkel gehüllt, und kaum dürfen wir uns darüber
vrundem, da beide, so verschieden sie erscheinen, doch einer gemeinsamen Wurzel entsprossen sind.
Was bei innerer Lcbcnsfiille, bei reicher, sinnUchcr Kraft, ein Volk bewegt, sei es Sehnsucht, \'\'ch
oder Lust, Ucbermulh, ja Freclilicit, dem macht es Bahn in Liedern, die sich steigern zum Gesänge:
das Einzelne aus jener Kegung HerA'orgehende , allgemein anerkannt und aufgenommen wie es ist, und
von aller Lippen ■\^^ederholt, ei-sclicint als gemeinsames Erzeugnifs Aller; der einzelne Urheber, gleichsam
nur der zufällige ^^ ortführer des Ganzen, verliert sich unter die Menge. So bildet sicli eine IMasse von
Gesängen, deren erste Urheber Nvir nicht mehr zu erforschen vermögen. Jenen allgemeinen Lcijonsver-
hältnissen, die, obgleich in jedem Zeitalter sich ■\\'iederholend , docli immer neu und friscli bleiben,
entquellen, wie sie bei verschiedenen Völkern sich eigenthümlich gestallen, jene Lieder inuner aufs neue
in reicher IMannigfalligkeit, und in Zeiten grofser allgemeiner Bewegung gewinnen auch sie eine tiefere
und ernste Bedcutiuig. Eine andere, nicht minder allgemeine Regung gab jenen alten kirchliclien Gesän-
gen in den ersten christlidien Zeiten ihr Entstehen. INiclit das Gefühl frischer, sinnhcher Lebensfülle,
sondern ein innerer, kräftiger, von der Sinncnlust sich abwendender Drang, die Begeisterung der Entsa-
gung, in dem lebendigen Bcwufstsein eines höheren, vom Himmel stammenden, in der Zeit erschienenen
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Lebens hauclilc sich aus in diesen Liedern. Und mögen vir auch — wenn gleich oft mit geringer
Sicherheit und nur dürftiger ^^erbürgung — einige der Urheber der lieiligen Gedichte jener Zeit zu nen-
nen wissen: von den Urhebern jener, damals zuerst laut gewordenen, bis in unsere Zeit hinein tönenden
Gesänge scliM'cigen alle Berichte früherer Zeit. Ein neues Leben drang damals in die heihgen Lieder
des allen Bundes, imd tönte aus im Gesänge: mit nie gehörter Stimme liefscn die des neuen sich ver-
nehmen, eine Fülle des Gesanges, wie Aaelleidit zu keiner Zeit, wurde damals wach, aber vergebens for-
schen wir, durch welche Einzelne er zuerst Stimme gewonnen; ja, einem jeden, in jenen ersten Zeiten
christhclier Bcgeistcnnig erst neu gedichteten Gesänge, so scheint es, war schon unmittelbar seine Weise
mitgegeben, sobald er lebendig eindrang in die Gemeine. Heihgte man auch damals Gesangsweisen, die
schon lange im Rhmde des Volkes gelebt, oder Hymnen des griecliischen Altertimms durch fromme
Lieder? besilzen wir (wie einige gemeint) in jenen alten, bis auf uns gekommenen Gesängen, ächte
Ueberbleibscl des allen Tempclgesanges der Hebräer? Bei so grofser Entfernung der Zeilen, bei dem
Mangel bestimmter Berichte, dürfen wir nicht wagen das eine oder das andere mit Gcm ifsheit zu behaup-
ten, noch weniger, aus der Beschaffenheit dieser Gesänge auf die ilirer vermeintlichen Quellen zurück zn
schliefsen. Den Gesang aber, sei er damals eine in neuer Bedeutsamkeit wieder laut gewordene Stimme
früherer Zeil, oder eine der Begeisterung der Gegenwart neu entströmende gewesen, sehen vär mit dem
Chrislenthumc lebendiger als je erwachen. Denn das laute ßekenntnifs des Glaubens, die nothwendige
Ijcbensäufsenmg der damals erwachten Begeisterung, war auch der Bekenner eigenste Thal, die Bewäh-
rung, dafs es ein höheres Gut für sie gebe, als das irdische Leben; mit ihm traten sie iliren Feinden
kühn entgegen, ja, nach dem Marlcrlhum dürstend, reizten sie absichthch damit iliren Zorn. Durch Ver-
hole, durch Verfolginigen eingeengt, überschwoll jener Strom des Bekenntnisses im heiligen Gesänge nur
so mächtiger seine Ufer; selbst die Verfolger, ^^'ie wir in einzelnen Beispielen lesen, mit sich fortreifsend.
Jene Zeilen des Dranges und der Verfolgung gingen vorüber, die Kirche begann sich nach aufsen zu bilden
und zu befestigen, vielfach, in äufscrcr Richtung und That, gestallete sicli das im Chrislenlhum er\vachte
neue Leben; ^\'ie die Begeisterung des lauten Bekenntnisses, trat auch der lebendige Strom des heiligen
Gesanges wieder zurück. Das Streben, in dem Wechsel der Ersclieinungen ein Festes, Stätiges hinzu-
stellen, hatte die zeitliche Gestalt der Kirche, die Ordnung des Gollesdiensles geschaffen, die sorgfältige
Wahl des, yVngemessenslcn füi- diesen aus dem reichen Vorrathe der Erzeugnisse früherer Begeiste-
rung geleitel; in diesem Sinne sehen wir Gregor den Grofsen thütig. Allein je mehr, je eifriger ein
äufseres Bestehen erstrebt wurde, um so leichter wirkte man zum Erslarren der Erscheinung.
Denn das Leben ist Wechsel, Blülien, Reifen und Vergehen zu neuer Entfaltung, deni waluhaft Bestän-
digen in der Zeit. Gewifs, ein würdiges Bestreben war es, den Werken frülierer Begeisterung ernste
Belrachtung zu weihen, ihren inneren Zusammenhang genau zu erforsclien, die Kenntnifs von ihnen auf
das Fafshchste zu übertragen, sie in reinster Uebcrheferung zu bewahren; hätte man nur auch den Glau-
ben bewalirt, in ihnen schlummere ein frischer Lebenskeim zu neuer Entfaltung. Wie man aber vom
Anbeginne bemüht gewesen, aus Besorgnifs vor Entartung und Verfälschung, jeder anscheinenden Neue-
rung zu wehren, so schien eine solche dann zumahl gefährlidi, als die Kirche und ihre Diener durch
fromme Spenden der Gläubigen zu Reichtlium und weltliclier Maclit gelangt waren, als Sinnlichkeit und
Ausgelassenheit freien Eingang fanden in das entwürdigte IleiligÜmm, Glanz und Pracht allgemach an die
Stelle der früheren Demuth und Einfalt traten, aus denen die Blüthen des Geistes um so herrlicher sich
erschlossen hatten: als auch dem heiligen Gesänge in üppiger ^ Verzierung und aufgednmgenem Sclimucke
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das allgemeine \ crdeibeii nicht fremd blieb. Heilige iMänner, würdige Kirchcidiäiipter, liefsen mit Recht
ernste und drohende Stimmen gegen solche Verunstaltung laut werden ; aber es ist nicht zu leugnen, dals
dadurch mancher unbemerkt gebliebene Keim tieferer Entfaltung wiedennn erstickt, oder doch in seiner
Entwicklimg zurückgehalten ^\urde. Die Baukunst war von der Kirche als Schöpfcrinn ihrer Tempel
gepflegt worden; die Blldnerci im weitesten Sinne halte sie zwar anfangs von sich gestofsen als Diene-
rinn der Abgötterei, dann sie mit Liebe wieder aufgenommen, als eine Kunst, die ihr lebendin;e Anschauun»-
der heiligen Geschichten gewähre; beide Künste, in ihr gehegt, Aon ihr geschirmt, wurden endlich zu
Iierrlicher Blülhe gezeitigt. Die Tonkunst, ihre älteste Gefährtinn, durch deren Stimme zuerst ihr
inneres Leben ofienbart worden, rief dagegen die Kirche nicht herbei zu frischer, neuer ^Virksamkeit im
Bunde mit jenen beiden; nur in den Erzeugnissen einer fernen Vergangenheit wurde sie von ihr geehrt,
in Liedern, eingefafst A\ie köstliche Edelsteine in die hehre, von jenen geschaffene Umgebung, gehegt als
imantastbarer Schatz in dem durch jene bereiteten Ileiligthmnc; darf es befremden, da nun endlieh der
Bildungstrieb dieser gebeimnifsvollen Kunst dennoch, wach und mächtig geworden, sich Bahn gemacht
hatte, dafs, gehemmt wie sie gewesen in ihrer Ent\\-icklung, gebunden an das L^eberlieferle , sie, weniger
in dem ihr eigentliümlichen Sinne wirksam, als verführt durch die Erzeugnisse jener andern Künste, ihr
ganzes Streben voi-zugsweisc dahin >^endete, in mannigfacher, sinnreicher ^^erfleclltung verschiedener Ge-
sänge, dem die Tonzeichen überschauenden Auge zu genügen, dem Ohre aber nur, sofern alle Beleidicun"-
desselben durch IMifstöne vermieden blieb? Dafs, je weniger das Leberlieferte in seiner wahren Bedeu-
tung noch dem inneren Sinne aufgegangen war, man dem Volksgcsange sich zuwendete, der, ^on aller
äufseren Beschränkung frei, kräftig und frisch entfallet, als ein Belebendes (so wähnte man) für die künst-
lichen Tongebäude und Tongemälde in tUe Kirche hineinzuzieJien sei; in die Kirche, die. auch über-
wältigt durch den Drang der Zeit und deren Riclitung, nicht minder dagegen sicli auflehnte als früher.
Dafs der Volksgesang dennoch, aber in anderem Sinne, endlich Bürgerrecht gewonnen habe in
einem Theile der auch hierin getrennten Kirche, dafs durch sie und in ihm eine lebendige Entfaltung der
Tonkunst herbeigefülirt worden, haben wir in dem \ origen gezeigt, und dabei gesehen, wie auch die
ältere, den jNamen «ler allgemeinen beibehaltende Kirche von hier aus eine neue, frisclie Blülhe des
von ihr bewahrten Scliatzes der Ueberlieferungen heiliger Tonkunst genossen habe. Die Kirche also war
es, durch welche dem heiligen wie dem Volksgcsange lebendige Entwickelung damals zu Thcil Aviude:
noÜiwendig nivifsle daher in jener Zeit der kirchhche Styl der vorherrschende, allgemeinere sein; jene
durch die allen Kirchenweisen lebendig hervorgerufene, in die Kirchentöne niedergelegte Anschaiumg \on
der Tonwelt, übertragen auf die in Kirchenweisen umgewandelten Volksgesänge nmfste auch ihnen eine
geistliche Verklärung leilien, die ihren unheiligen Ursprung allgemach vöUig verdunkelte. ^Velcher Art
jene Anschauimg der Tonwelt gewesen, wie der fromme Sinn der Zeit den ernsten Forscher, den be-
geisterten Tonmeister geleitet, was sicli liienacli in den Kirclieutönen ausgesprochen, das haben wir in
dem Vorangehaiden darzulegen versucht. Ein Bild jener Zeit und ilires Strebens hoffen wir danu't ge-
geben, inid defshalb, weil kein einzelner älterer Bericht als Gewähr des von uns AufgestclUcn sich an-
fiihren läfst, nicht den A onviu'f verdient zu haben, als hätten wir jener Zeit eine ihr frenide Ansicht anf-
gcdrungeu. Bei allen älteren Forschern, bis auf Glarean und Zarhiio hinab, linden wir das unverkenn-
bare Streben, in den Beziehungen der Töne zu einander eine tiefe, geheimnifsvolle Bedeutung zu linden;
sollten die \N erke der Tonkunst also nicht dem Drange, jenem Geheimnisse eine Stimme zu verleihen,
ihr Dasein verdanken? ^V'enn Aribo der Scholastiker das tiefere Tetrachord mit Christi iMenschheit ver-
C. r. WiutcrfclJ Juh. Gabrieli u. s. Zcilaltcr. 1 ^
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"lelihl, MO er in IltlVr i^riiiri!ii!;niii; ;il!(' nifiisfliliflipii Gfbredicn gclheill: das folgende, die Eiid- und
die Grundlöne ilcr Tonarten eiillialtende mit Clirisli leibliciieni Tode, seinem Lebensende für eine Zeit,
in Mflcher aiicU dos Tempels ^ orhang, der Felsen Hürlc, der Sonne Klarheit, der Erde Festigkeit sich
zum Ende geneigt; die beiden Iiöheren Tetrachorde endlich mit des Herrn Auferstehung und Himmelfahrt;
wenn Guido von Arezzo seine acht Tonarten mit den acht Gestalten der Seligkeit vergleicht; beide
aber, indem sie ohne Zweifel aus inniger, frommer Ucberzcugung so reden, doch der Neigung ihrer Zeit
im Spiele mit Worten und Zahlen initerliegcn, indem jener durch die Bez.eichnungen der Tiefe, des En-
des, der Hi'ihc, des Höchsten verleitet wird, dieser durch die Zahl, die Um nebenbei noch zu der ^ani-
malischen \^ergleichung mit den acht Eedetlieilen verführt: so wird man eine Darstellung nicht schelten
dürfen, die bei dem Streben, aus der einfachen, keiner Zeit fremden Grundlage christlicher Gesinmmg
den Bildungsgang einer bestimmten Zeit, den inneren Gehalt ihrer Erzeugnisse zu erklären, eben so sehr
jenes eitle Spiel zu vermeiden suchte als die, .nller hochtönenden Worte imgeachtet, in das Grenzenlose,
Unbestimmte verschwimmende Allgemeinheit der Charakteristik, welche die Schriften der Tonlehrer jener
Zeit von ihren Kirchentönen ims geben.
Wir wenden uns zurück zu Adrian Willaert, von dem Avir ausgingen; und haben vnr ihn unter
den ersten genannt in denen der Sinn für lebendige harmonische Entfaltung erwacht sei, so dürfen vnr
ein gleiches von seinem Schüler Ci/prian de Rore, seit 1563 seinem Amtsnachfolger, rühmen. In den
meisten seiner Werke herrscht ein fülilbares Streben imd Ringen nach Entwicklung eines, wenn auch
mehr geahnten als erkannten, Lebens der Töne. Auf das lebhafteste fühlte er jene, den Zusammenklän-
gen, ihrer sinnigen Beziehung auf einander inwohnende Kraft; dafs den Ikonen vergönnt sei, dem Worte
nicht allein äufsern Sclimuck zu verleihen, sondern auch dem Geist und Sinne nach es wahrhaft zu ver-
klären, war ihm nicht verborgen gebheben. Andere INIeister seiner Zeit haben in Vorreden und Zuschrif-
ten hin und wieder von der Richtung ihres Strebens ein Zeugnifs abgelegt; ihm hat es nicht gefallen,
uns ein solches zu hinterlassen, allein seine Werke zeugen für ihn, und ihnen zufolge behaupten wir:
in der Harmonie mehr, weniger in der Melodie sei ihm das Wesen der Tonkunst aufgegangen ; in jener
habe er die geheimnifsvoUe Kraft, welclie das Wort verklärt, mannigfach zu schauen gemeint, in dieser
nur selten sie erkannt. So erblicken wir in ihm das Streben nach harmonischer Bedeutung, nach tiefem
Ausdruck des Wortes durch dieselbe, abgesehen fast von allem melodischen Gehalte im engeren Sinne,
von aller kunstreichen Verflechtimg; dann aber wiederum, wie er er der Schule nach Niederländer war,
das Trachten nach mannigfacher, sinnreicher Stimmenverwebung, dem Wahrzeichen jedes tüchtigen Mei-
sters seiner Zeit und seines Volkes. Durch jene erste Richtung nun hat er zwar der hannonischen Ent-
faltung der Kirchentöne nicht unmittelbar gefruchtet. Frühe schon in Ilitlien eingebürgert, bis zu dem
Ende des Jahrhimderts durch mehr als fünfzig Jahre gleich verehrt und geliebt, wie es wiederholte Auf-
lagen seiner Werke bekunden, wie es die Aufnahme vieles Einzelnen aus denselben in Sammlungen der
erlesensten Gesänge zeigt, welche in Deutschland, Italien, den Niederlanden veranstaltet wurden, scheint
er diese Verehrung doch mehr seinem Eifer für weltliche, als geistliche Tonkunst zu verdanken.
Aufser dem schon erwähnten, prächtig auf Pergament geschriebenen, mit IVIiniaturen versehenen Bande
lateinischer Gesänge, geistUchen Inhalts zwar auch, doch meist aus Denksprüchen und vorzüglich belieb-
ten Stellen alter Dichter bestehend, besitzt die königliche BüchersamrrJung zu München von ihm an
handschriftlichen geistlichen W^erken nur drei Messen und einen Band fünf- imd sechsstimmiger
Motetten: an gedruckten nur fünf Sammlungen heiliger Gesänge, von denen vier nicht mehr als acht
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dergleichen neben denen anderer Meister von ihm miltlicilen, und nur die fiinfle ihm vorziiglirh 2,('\\i(j-
met ist. Dagegen finden wir dort zwanzig, seit dem Jalire 1513 in den Niederlanden, in Italien, in
Deutschland im Druck erschienene Sammlungen von iMadrigalen und Liedern, welche aussehlicfslich oder
doch hauptsäclilich von ihm gesetzt sind. Lebhaften Geistes, •s\ ic er m ar, sirndich, hefiig — so zeigt iJni
auch sein Bildnifs vor der gedachten Handsclirift — mufstc er an Gesängen, in welche leidenschaftlicher,
lebhafter Ausdruck gelegt werden konnte, das meiste Gefallen finden. Die Liebende klagt gegen den
Gehebten, der sie verlassen will, sie schilt die Freuden der Liebe trügerisch, sie umscldingt ihn, wie die
Rebe die Ulme, und will ihn nicht lassen; der Liebende preist die Huld seiner Geliebten; dann nieder
irrt er verzweifelnd zwischen Felsklüften, über welche düstere Nebel hinziehen, in dunkelcn Wäldern —
Bilder solclier Art, so sehen wir es in seinen Werken, waren dem Cyprian am meisten willkommen,
liier konnte er als Tonmeister die eigenUiündiche Ncigmig seines Geistes am meisten onl fallen. Sein
Streben nun nach leidenscbafthchein Ausdruck, nach iMalerei dm-ch die Töne, wie es ber\ orp,ing aus dieser
Neigung, scheint Um miserer gegenwärtigen Darstellung, welche die Fortschritte der heiligen Tonkunst,
die harmonische Entfallung der Kirchentöne vornehmlich zimi Gegenstande hat, fern stellen zu müssen.
Allein sofern wir ihm naclirülmien müssen, er habe das Verhältnifs des Wortes zum Tone zuerst tiefer
gefülJt, die Kraft der Harmonie lebhafter empfunden, ist er uns von hober ^Nichtigkeit, nir.g er auch
mittelbar nur der kirchhchen Kunst dadurch genützt haben. Ein vollgültiges Zeugnifs für ihn legt
Artusi ab, jener strenge Richter des Verderbens der Tonkimst seiner Zeit. „Er war ein denkender Mei-
ster," sagt er von ilmi, „er hat den Ausübenden hell vorangeleuchtet; und behauptete ich, er sei der
erste gewesen der Wort und Ton zu rechter üebereinstimmung verbimden habe, so würde ich nicht die
Unwahrheit sagen, denn vor ihm und zu seiner Zeit waren Barbarismen sehr gewöhnbch. " Neben dieser
für die Ausbildung der Tonkunst im AUgemeinen, und also auch für die heilige, erfprielshchen Richtung,
finden wir aber auch bei ihm die frühesten Keime jenes dcclaniatorisch-recitati\'ischen Gesanges, der
in späterer Zeit sich ausbildete: eben in der gleidimäfsig durch alle Stimmen dem Worte, Sylbe fürSylbe,
mit genauer Beobachtung des Maafses, sich anschliefsenden Betonung; und trachtete unser Meister hie-
bei nach harmonischer Bedeutsamkeit, so trat freilidi das Streben seiner Nachfolger späterhin gegen die
\ ollstimmigkeit in den entschiedensten Gegensatz, be^virkte die bestimmtere Trennung des kirchlichen
von dem \\ eltbchen Style, tnid wirkte auf die Umbildung (wohl auch \ erbildung) jenes ersten so mäch-
tig ein, wie wir dieses zu seiner Zeit näher entwickeln werden.
In der Chromatik fand unter den Tonkünstlern seiner Zeit zuerst Cypiian ein Mttel, dem Worte
lebendigere Betonung, der Harmonie besondere Kraft zu verleilien. Wenn wir dieses behaupten, liegt
uns eine doppelte Erörtenmg ob: des Sinnes zuerst, in welchem ^^ir jene, aus der Tonkunst der Allen
entlehnte Benennung chromatisch genommen wissen wollen; der Gründe sodann, aus denen das Ver-
dienst des Erfinders dem Cyprian hier zugeschrieben wird. Die Ver\vand tschaft der Kirchentöne, wie wir
gesehen haben, gründete sich hauptsächhch auf die Reihefolge, in welcher die Natur, wie die einzelnen
Töne, so die Tonverhältnisse aus einem Grundlone entstehen läfst; auf die diatonische Leiter so-
dann, dem Vorgange der Alten zufolge gebildet durch Verkettung und Zusammenfügurig von Quarten,
die nach den kleineren Verhältnissen des Tons und des Halbtons in wiederkehrender Folge gegliedert
waren; auf die fünffache V^ersetzimg dieser Leiter endhch, deren jede, der besonderen Stellung des sie
regehiden Grundtones zufolge, in doppelter Gestalt erschien. In der Art der Verkettung, der Zusammen-
fügung jener Tetrachorde fanden vir die Doppelgestalt des siebenten Tons der diatonischen Leiter, als h
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liier trilt in dem zweiten Tlieile der Symjihouiae sacrae (Venedig 1615) uns zuerst ein dreistlm-
niiger, durch AU, Tenor und Bafs besetzter Gesnng entgegen, der von zwei Zinken, zwei Geigen
und ^ier Posaunen begleitet werden soll. Er ist für das Osterfest bestimmt, doch ist sein Text nicht
eigentlich liturgisch, wenn auch \'ieles darin entweder aus der heiligen Schrift entnommen ist, oder auf
sie deutet. „Christus ist erstanden" ') (so lauten seine Worte) „und der Herr hat gedonnert vom Him-
mel, Halleluja; und der Höchste hat seine Stimme tönen lassen, llalleluja; am Tage Eurer Feier werde
ich Eucli fülnen in ein Land, darinnen IMilch und Honig fleufst, llalleluja; Ihr, sein Volk und Erbe, ver-
kündet seine Thaten, Halleluja." Die Beziehung dieser Worte auf den Auszug auf Eg)^ten, den das
jüdische Osterfest feierte, das Anknüpfen von da aus an das christliche, von welchem jenes als eine
Vorandeutung betrachtet wird, an den geschichtlich sinnbildlichen Zusammenhang beider, wie der katho-
lische Gottesdienst ihn so eindringlich hervorzidieben trachtet, ist nicht zu verkennen, dieser Gesang also
dem kirclihchen Sinne völlig gemäfs, wenn aucli nicht in den Kreis der in der Kirche üblichen aufge-
nommen. Nun, wissen wir, war zu ^'enedig das kirchliche und Staatslcben in seiner öffentUchen Er-
scheinung auf eigenthünihche Weise verknüpft; kirchliche Feste reihten sich oft an vaterländische Ereig-
nisse, viele von jenen wurden durcli feierliche KIrcIigänge des Doge begangen, und überall, wo dieser
öffentlich erschien, wo die Bedeutung imd Würde des Freistaats durch ihn dargestellt wurde, durfte
DIclitkunst und Gesang niemals fehlen, die Festlichkeit besonders zu verherrlichen. Es lag also sehr
nahe, jede feierliche, öffentliche Erscheinung des Staatsoberhaupts, sein Ersclieinen an helbger Stätte, um
sich vor dem Herrn aller Herrscher zu demülhigen, durch Gesänge, nach Art der kirchbchen erfunden,
zu feiern, ihnen angemessenen, neuen, bedeutungsvollen Schmuck zu geben, die kirchliche Feier in ili-
rem eigensten Sinne dadurch zu erweitern. So, glauben wir, ist auch dieser Gesang entstanden, und
damals vielleicht der Doge am Osterfeste, bei seinem Eintritt in die Kirche des heiUgen Zacharlas, welche
er nach Anliörung der Predigt in St. Marcus an diesem Tage zu besuchen hatte, oder bei seinem Er-
scheinen in der Kirche des heiligen Gcmlnlan, in welche er am achten Tage nacldier einzog, damit feier-
lich begrüfst worden. Dafs eben eine Gelegenheit dieser Art Ihn veranlafst habe, wird auch durch seine
ganze Einrichtung wahrscheinlich. Er beginnt nämlich nicht, wie es bis dahin allgemein üblich war, mit
vollem Chore, sondern es geht ihm — eine neue Erfindung unsers Meisters — eine Instrumentalsym-
phonie voran, durch ihre imgewöhnllche Erscheinung die Anwesenden auf etwas Aufserordentllches vor-
zubereiten. Durch zwei Zinken und vier Posaunen, in einem kurzen fugirten Satze von nur dreizehn
Tacten, ip dessen Schlid"sfall die Singstimmen einfallen, ausgeführt, zeigt diese Symphonie ein Älotiv,
dessen sich der IMelster im Verlaufe des Ganzen nicht ferner bedient, als bei ihrer späteren, um fünf
Tacte erweiterten Wiederholung; ein offenbares Zeichen, dafs sie ihm durch ihr Hervortreten vor dem
übrigen Theile des Ganzen als einleitend und vorbereitend dienen sollen. Das Ganze läfst drei Theile
unterscheiden: die Verkündigung der Auferstehung, als eines Geschehenen, die alttestamentllchen Ver-
heifsungen, die Ihr sich anscldlefsen, den in dem Halleluja durch alles dieses verwobenen Lobgesang.
Diese drei Theile nun hat unser Meister auch durch seine Behandlung besonders hervoi^ehoben. Die
einleitende Symphonie, zuerst der Verkündigung vorangehend, sodann, durch zwei Stimmen (zwei Geigen)
') Surrexit Christus; et Dominus rfe coeh intonuit , AIhluia : et Altissimus dedit Kocem suam, jtUeluia ; in die solem-
nitatis festrae inducam vos in terrani Jluentem lac et mel, Alleltiia ; populus acguisitionis , annuntiate virtutes ejus Alle-
luia! (S. das Beispiel II. A. b.J
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verstärkt, in längerer Ausfiihrung desselben Grundgedankens ihr folgend, sondert diesen Theil des Gan-
zen von allem Uebrigen ab, wie er durch den Vortrag von blofsen Singstimmen, und durch den unge-
raden Tact, vor demselben schon ausgezeichnet ist. Der Lobgesang, das Halleluja, bei jeder Wiederho-
lung auf dieselbe Weise im Verein aller Stimmen und Instrumente wiederkehrend, hebt sich ebenfalls
durch den ungeraden Tact heraus, an den ein feierlicher Schlufs im geraden Tacte sich reiht, welcher
am Ende des Ganzen durcli Verdoppelung des Werthes der Noten, bei völlig gleichbleibendem Verhält-
nisse derselben, nocli eindringlicher wird. Die Verheifsung, der sie schliefsendc Aufruf zum Lobgesange
entfaltet sich immer voller und präclitiger vor uns. ^'or dem ersten Halleluja beginnt die Oberstimme»
der Alt, mit Begleitung von drei Posaunen; ihr folgt der Tenor, zu Anfang nur von einer Posaune und
zwei Zinken begleitet, endlich von dem ganzen Chore der Posaunen, da, wo es heifst, dafs der Höchste
seine Stimme vernehmen lassen. Den Hauptinhalt der ^'erheifsung endlich trägt die Bafsstimme vor, der
sich zuletzt auch die übrigen Stimmen anschüefsen. Ilir sind zu Anfange nur ein Zinken, und zwei Po-
saunen gesellt, deren harmonische Grundlage sie bildet; dann treten ihr, bis auf die Bafsposaune, alle
Instrumente hinzu, im Wechsel mit ihr sich in zwei Chöre sondernd, deren einer auf ihr, der andere
auf zwei Posaunen ruht, dieser die beiden Zinken zu Oberstimmen hat, jener aus der zweiten Posaune
und den beiden Geigen sich aufbaut. Der Schlufs vereint alles in dem Ganzen Singende und Khngende,
bald in vollen Zusammenklängen, bald in wechselnden Chören. Der Aufruf an das Volk zum Lobe er-
hält dadurch etwas prächtig und bedeutsam Hervortretendes, dafs er jederzeit mit dem harten Drei-
klange der kleinen LTntcrferz des Grundions von dem unmittelbar zuvor gehörten Zusammenklange ein-
tritt, so, dafs der harte Dreiklang von d auf den von y folgt, der harte Dreiklang von e sich dem von
g anschliefst; eine Folge, gegründet auf der Beziehung unserer harten zu den ihnen gesellten weichen-
Tonarten, dadurch indefs überraschend, dafs statt weicher Dreiklänge, die auf Grundtönen gleichen Ver-
hältnisses gebauten harten sich hören lassen, wodurch mittelbar das chromatische Verhältnifs des klei-
nen Halbtons, als des Unterschiedes zwischen der kleinen und grofsen Terz, hervortritt, in seiner Steige-
rung einem Gehör gebietenden Aufrufe wohl angemessen. Der kleine Halbton nun ist das einzige chro-
matische Ton verhältnifs, das in dem Ganzen eingeführt ist; als chromatischer Ton ist dis angewen-
det, um den harten Dreiklang auf h zu den Worten ,.populns acf^uisitionis" unerwartet hören zu las-
sen. Das Ganze zeigt uns, wie sinnig imser IMeistcr Spiel und Gesang, und in jenem eigenthümUch ge-
färbte Klänge entgegen zu setzen inid zu verbinden gewufst, und giebt uns ein neues Beispiel der ilnn
oft schon zuvor nachgerühmten Kunst der Entfaltung, die wir auch ferner noch als etwas, seiner künst-
lerischen Thäligkeit besonders Eigenthümlichcs, werden zu rühmen haben. Das Ganze bewegt sich in
der Tonart F-dur; wir bezeichnen sie lieber mit diesem, als dem INamcn der ionischen Tonart, denn
die besonderen Beziehungen dieser treten nur in entfernten Anklängen hervor, und wir scliliefsen daraus
mit Recht, dafs dieses Tonwerk der spätereren Zeit unseres Meisters angehöre, wie es denn auch in ei-
ner Sammlung zuerst an das Licht getreten ist, welche, nach des IMeisters Tode erschienen, meist nur
Werke dieser späteren Zeit neben einigen urkundlich früheren umfafst.
Aber auch zu einer anderen ßetrachtimg noch veranlafst uns das vorliegende Tonwerk. Präto-
rius '), wo er von der Art, wie seine eigenen geistlichen Tonstücke durch Instrumente und Singstim-
men zu besetzen seien, ausführlich redet, gedenkt auch der ilmen vorangehenden Symphonieen, und be-
') Syntagm. III. Abth. 3. Cap. 8. p. 189.
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sie alle (Icheiiniiisse der Tonkunst enlliülll, die des Alleithums wiederum ins Leben gerufen zu haben
ejlanblo. So fülut er es aus in seinem l.')55 zu lloni erschienenen Werke: Vaiitica musica ridolla ulla
moderna prafica: sein Bildnifs ist demselben vorangeheflet mit der rühmenden Inschrift: „Nicolaus
Vincentinus im vier und inerzigsten Jaiire, des Archicyinbahmis Erfinder, wie der Theilung des chroma-
tischen und enharmonischen Klanggeschleclits für die Ausühung." Daneben steht noch der letzte Thell
des achten Verses aus dem ein und fünfzigsten Psalm: Du liefsest mich wissen die heimliche Weisheit,
die Wahrheit, die im Verborgenen liegt.
AUein alle diese Thatsachen, unbezweifelt wie sie sind, stehen unserer Annahme nielit entgegen.
Willaert arbeitete sein zweistimmiges Tonstück aus, seinen Lehrsatz zu beweisen, dafs die Octave in
zwölf völlig gleiche Halbtöne zerfalle; dem Auge, dem es einen ungehörigen Schlafs darstellte, sollte
es zugleich das Bild eines Trunkenen gehen, der im Gesänge nicht Ton, im Gange niclit Schritt zu hal-
ten weifs: scherzend woUte er belehren, ohne irgend einen künstlerisclien Zweck dabei zu verfolgen,
wie denn die JNeigung zum Chromatischen audi in denjenigen seiner ^Verke, welche Cyprians Madrigalen
einverleibt sind, nirgend hervortritt. Nicolo Vicentino und Zarlino woUlen sichtbar und hörbar die Klang-
geschlechter der Alten darstellen; weiter gingen ihre Bemülmngen niclit, als den L'mfang des Kunststoffs
zu erweitem. Cyprian hat ein Gleiclies geleistet, aber ihn zugleich begeistigt, als schaffender Künstler
sich ihn imterthan gemacht. Hier, wo wir mit der Kunst als solcher, mit der Lehre aber nur in sofern
zu thun haben, als sie uns den Weg zeigt, welchen jene genommen, ist er uns Erlinder, mögen andere
auch früher bemüht gewesen sein, den Stoff vorzubereiten. Seine Werke fanden allgemeinen Aidclang,
man ahmte sie nach, schiitt auf dem geebneten Wege weiter fort; des Nicolo Vicentino so hoch ge-
rühmte Erfindung blieb wenig beachtet. Instrumente wie sein Archicymbalum gehörten fünfzig Jahre
später noch zu Seltenheiten. Michael Prätorius, der um 1619 schrieb, erzäldt als etwas Besonderes,
dafs er ein solches bei Carl Luython zu Prag, dem Iloforganisten weiland Kaiser Rudolfs II. gesehen
habe, das dreifsig Jahre früher (also um 15S9) zu Wien gebaut worden; aus mündhchen Berichten
anderer Tonkünstler erinnert er sich eines Spinets und Positivs ähnlicher Art, welche in Italien verfertigt
worden, lobt und empfiehlt sie sehr für Begleitung chromalisclier Bladrigalc. Hatten jedoch zu jener
Zeit chromatische Wendungen selbst bis in die Kirche schon den Weg gefunden, fühlte man gleich leb-
haft in einzelnen Fällen das Bedürfnifs der Verschiebung des Tonsystems, und mit ihm den Mangel
mancher' Töne auf der Orgel, so waren doch die damaligen Orgeln für solche Zwecke noch nicht einge-
richtet, selbst die Tasten es und gis nicht einmal überall getheilt, um die Töne dis und as zu gewinnen;
so wenig hatte des Nicolo Vicentino Erfindung den Ausübenden gefruchtet, denen sie angepriesen war,
und nur einzelne Liebhaber hatten davon Vortheil gezogen. Die seltsamen Vorschriften, welche Prätorius
für den Gebrauch unzureichender Orgeln erthellt, geben davon den Beweis. „Wenn das tj," sagt er,
„mit dem^* und in der Mitte die terlia major, das dis, welches etwas zu jung und zu hoch, und also
dargegen falsch ist, gegriffen werden mufs: so mufs nicht allein ein Organist solches mit Fleifs durch-
sehen und überschlagen, sondern auch gute Aclit haben, dafs er et weder die terliam gar aufsen lasse,
oder die tertiam minorem, das d, tangire, oder aber mit scharfen mordanten es also vergüte, damit die
Dissonanz so eigentlichen nicht observirt und gehört werde. Darumb ist sehr gut und hochnöthig, dafs
in denen Orgeln und Clavicymbeln , welche zu Concerten in der Musik gebraucht werden, das schwarze
Semitonium es und wo möglich auch das gis dupliret werde, vvae ich im andern Theile Gap. 39. beim
Universal Clavicymbel erinnert,"
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Zarlino, ^voIletl wir auch armclinien, seine Forschungen hätten seinem Mitscliiiler Cyprian den
Weg geebnet, ist als ausübender Tonkünstler mit diesem auf keine \^eise zu vergleichen. Abgesehen
von dem Gebrauche der Chromatik, den er bei seinen Zeilgenossen tadelt, von welcliem wir in seinen
Werken keine Spur finden, zeigen diese auch nirgend einen besondern Aufschwung des Geistes; sie sind
regelrecht in dem Sinne der alten niederländischen Tonkünstler gearbeitet, aber sieben gegen die der
bessern selbst unter den früheren dieser !\leisler zurück. Auch sciieint er ^vedc^ besonders fruchtbar,
noch beliebt als Künstler gewesen zu sein. Vier Sammlungen enthält die Königl. Bibliothek zu München,
drei zu Venedig in den Jahren 1549 bis 1563, eine zu IS'ürnberg in sechs Theilen 1551 — 1556 erschie-
nen, welche sieben Gesänge Zarlino's, imt er ihnen sechs geisthchen Inhalts mittheilen; handschriftlich nur ein
einziges Ave regina coelorum zu fünf Stimmen. Einige dieser Tonstücke sind wiederum in die Samm-
lung aufgenommen , welche sein Schüler Philipp Jusbert im Jahre 1566 zu Venedig bei Franz Rampaz-
zotto mit einer Zuschrift an die Procuratoren von S. Marco herausgab, und welche ein imd zwanzig Ge-
sänge ausschliefslich ^on ZarUno enthält. Sie sollten (so sagt der Herausgeber) zu den Institutionen
seines Meisters ergänzende Beispiele geben, wie er ja Uirer in denselben auch öfter gedenke; sie sollten
der Welt zeigen, dafs der scliarfsinnige, gelehrte Forscher auch ein ausgezeichneter Künstler sei. Aber
dennoch setzt er hinzu, sei es nöthig, dafs er seinen Kleister unter den Schutz jener würdigen Männer
stelle, denen er sein ausgezeichnetes Amt verdanke: ihr Ansehn solle ihn vor den giftigen Bissen des
Neides sichern, vor dem Gebelle der Mifswollenden. Dafs unter dem INeider, dem Uebelwollenden, \in-
cenz Galilei, Zarlino's Schüler, naclimals sein Gegner, gemeint sei, ist nicht wahrsclieinlich; denn dessen
Gespräche über alte imd neue Musik kamen erst 1581, seine Abhandlung über Zarlino's Werke erst
acht Jahre später heraus. Jusbert halle daher ^vohl weniger einen lieslimmten Gegner im Sinne, als die
Lauheit seiner Mitbürger in Aufnahme der Werke seines Lehrers, den man als Künstler so viel geringer
fand wie als Forscher, der in der allgemeinen IMeinung hinter seinen so viel talentvolleren Amtsgenossen
Claudio Merulo und Andreas Gabrieli, seinem erst kürzlich verstorbenen so hoch geachteten Vorgänger
Cyprian bei \\eilem zurückstand. Wie oft gilt nicht der mit Recht begünstigte Nebenbuhler unverschul-
det für einen Neider! Cileichzeitige imd spätere Schriftsteller geben mittelbar Zeugnifs von der allgemeinen
Meinung i'iber Zarlino. Doglioni ') rühmt ihn fast nur als Gelehrten überhaupt, namentUch als Mathe-
matiker. Alberici *) gedenkt seiner gar nicht unter den Tonkünstlem, und führt in dem Inhaltsverzeich-
nisse seines W^erkes. ihn imter der nicht wohl gewählten Benennung .,ingegnere" auf. Sansovino's ^)
preisende Bemerkung, dafs er in Lehre imd Kunst ohne Gleichen sei, dafs man bei der Anwesenheit
Heinrich des Dritten in Venedig wunderwürdige Gesänge von ihm gehört habe, ist wohl von geringem
Gewichte, und kaum mehr, als eine gelegenthche , freundschaftliche Höflichkeitsbezeigung. Denn Zarlino
war Sängermeister an St. Marco, es war vorauszusetzen, dafs er bei der Anwesenheit des fremden Kömgs
mit seinen Werken hervorgetreten sei ; Sansovino aber befand sich damals gar niclit anwesend in Venedig,
und Rocco de' ßenedetti, sein Gewährsmann, gedenkt des Zarlino mit keiner Sylbe. Wird uns endUch
von ßettinelli versichert, Zarlino habe bei jener Gelegenheit sogar eine Oper, Orfeus, hören lassen, so steht
jene Behauptung ohne alle Gewälir da, und schwerlich möclite jenes Werk, hat überall Zarhno ein sol-
ches aufgefülirt, etwas anderes gewesen sein, als einige mehrstimmige Madrigale, als Chöre ZAvischen die
Aufzüge einer Tragödie jenes Namens eingeschaltet, und im Style der alten niederländischen Meister
gearbeitet
') Doglioni L. 1. p. 74. /. ir. p. 203 — 206. ') Al6e>: p. 41. ') Saus, yenaia I. X. p. 165 verso.
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So dürfen wir denn mit einiger Zuverlässigkcil behauplen, Cyprian habe nnter den Tonkünstlern
der neuen Zeit zuerst wiederum der Chromalik in dem Sinne sich bedient, als sie ihm IMittel geworden,
sein Bestreben nach Ausdruck von Gemüthsbc wegungen durch die Ilannonic xu erreichen; wie sein
Meisler Adrian luiter seinen Zeitgenossen zu den ersten gerechnet werden dürfe, durch dessen ^^erke
die Kirchentöne als CIruudfornien für bcstlnunte, aus der christlichen Gesinnung liervorgehende Gemüt bs-
stimmungen in ihrer harmonischen Bedeutsamkeit dargelegt worden. Ist die Harmonie überall Seele
jeden Gesanges, müssen wir eingestehen, dafs ilire Gesetze, wo nur der Ton sich erzeugt, durch die
ganze Natur hin walten, in dem Innern des Menschen also nicht minder tief gewurzelt sind; dafs sie
es waren, die ihn Töne auf bedeutsame Weise zu 3Ielodiecn verbinden lehrten, so dafs jede ^Aen-
dun», jede Verknüpfung, anscheinend zwar seiner Willkühr heimgegeben, doch auf einem Grundverhällr
nisse heridite, das, getreten in das Leben durch seinen Gesang, ihn erfreute und seine Hörer, während
es ihrem Erkennen sich vorbarg: so müssen wir es einen gleich nothwendigen als bedeutenden Schritt
der allgemeinen Kunstentwickelung, ein wahrhaftes Erschliefsen der Lcbensfüllc des Tonreiciies nennen,
wenn einfache, durch jene Gesetze gewordene Sangweisen nunmehr auch ein geheimuifsvolles Innere
entfalteten, wenn jedem ihrer einzelnen Glieder eine mit ihm versclimelzende Tonfülle entquoll, wenn das
in dem Einfachen früher kund gewordene Gesetz in dem Mannigfaltigen so aufs Neue sich scliöpferisch
bewiihrle, die Bedeutung jedes Tones in seinem ^'erhäUnisse zu der Sangweise imn völlig cnüiüllt, lUe leben-
dige Verknüpfung mehrer Gesänge zu einem, ihr gemeinsames Leben austönenden Ganzen möglich gemacht
wurde. Die IMchrseitigkoit jener Entfaltung aber, der Gesinnung, der Richtung der Künstler zufolge, . bürgt
Tür die Kraft und Frische der damals ihrem inneren Sinne, wenn auch nicht ihrem Erkennen, aufgegange-
nen Anschauung.
T»3i; Mögen ^^ir nun auch mit einigem Rechte sagen können: Cyprian habe in seinem Streben nach
Ausdruck von Gemütbshewegungen, der später sich erhebenden, in die Kirche eindringenden weltlichen,
leidenschaftlichen Richtung vorgearbeitet, durch das Auflinden neuer gegenseitiger Beziehungen der Töne
als Mittel für solchen Ausdruck, habe er jenen, durch alle LTeberheferung geheiligten, in sich be-
schlossenen Kreis harmonisch zu entfaltender Grundformen zu erweitem imd zu durchbrechen gesucht,
er verschulde ihre endliche, völlige A erdunkeluug ; so haben wir doch wiederum zu bedenken, dafs eben
die Ruhe, die Slätigkeit frommer Stimmungen des Gemüthcs, die Schöpferin jener Grundformen, in
ihrer vollen Bedeutung für uns nur dann in das Leben trilt, wenn wir lebhaft empfinden, dafs alle un-
ruhigen, verlangenden, strebenden Regungen des Innern in ihr gesänftigt, gcschhchlet, dem Höchsten zu-
gewendet, und (dafs wir so sagen) der Erlösung theilhaft geworden sind, dafs jene Ruhe eine Fülle von
Leben in sieb schliefse. Wie der Bildner, bevor nicht das besondere Leben und Wesen jedes einzelnen
Gliedes von ihm recht erkaiuit, in seinen mannigfiichen Bewegungen und Verrichtungen aufgefafst wor-
den, kaum im Stande sein wird, eine ruhende Gestalt uns so ^'or das Auge zu bringen, dafs wir
den durch sie hinwallenden Lebensstrom auch in dem unbedeutendsten Thoile noch empfinden: so
wird auch der Tonkünstler nicht vermögen, das wahrhaflc, lebendige Bild einer frommen Gemülhs-
stimmung uns darzulegen, ohne die Erkenntnifs des eigenthümlichen Seins, der so vielfachen Beziehun-
gen der Töne, jenes bewegUchsten , flüssigsten Stoffes, in welchem auch unwillkührlich jede Regimg des
Gemüthes sich kimd giebt, ja, der eben recht eigentlich dazu bestinmit ist, sie zu verkörpern.
Cyprian hat also, indem er nur sein Eigenstes, Besonderstes darlegte, der weltlichen Tonkinist ihre Bahn
vorzelclmete, dennoch der heiügen ebenfalls gefruchtet; denn ging ihm auch jene innere Ruhe des
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Gemuü.es ab. we che zu Darsteüung frommer Slirnn.un.en befaLig,, erscLelnon seine geistlichen Ges^in^e
mest trodcen und s renge, so hat er doch eben die Beziehungen der Töne in seine^ ^Verken völli.:r
e.her offenbart, und wenn w. sehen, wie das von ihn» einseitig Anfgefafste und DargesteUte von m '
ebenden Meistern wiederum n ihrem eigen.hinnhchen Sinne aufgenomn.en und weiter g bi^I
o ü.tt uns eben h,er das redUe Wesen einer Schule entgegen. Hier i.t der Ort, des Anär^ ^
6,W. wieder zu gedenken. Dafs er Scluder Cyprians gewesen, ist uns nicht berichtet, auch nicht" ^
scl.cnü,ch, da Cypr.an 1516 geboren war, Andreas um 1586 (der Versichenn,. seines Nefle
^%e) m ,.hem Alter starb, beide also Altersgenossen waren! w ahrscheinlic.::; ^^r 't TiZ
Scl^uler des damals so hochgefeierten Adrian gelten. Dafs aber das Streben seines Alters- und An !e
genossen Cvpnan besonders auf ihn eingewirkt habe, ist aufser Zweifel. Nicht eben in ^Veiterbi^dut
der Chromat-k tJaU s.ch dieses kund, berichtet auclx Ax.usi «), er habe in beider Madrigalen chro „a , :
Gange gefunden, und mmmt auch der Verfasser dieser Blätter, dem bei Andreas Gabrieh .lern.leicl.en ich
vorgekommen, d^eses Zeugnifs gern als voUgül.ig an, da er sich bescheiden mufs, es dürfln nidU a^
^^erke djeses Me.sters zu sauer Ansid.t gelangt sein. Sondern der Kern von dessen künstlerische 1
ügkat schaut Am zu beruhen u. dem Trachten nach gröfserer BewesKdd.eit und Freiheit des me Li
^.e. Ihedes semer Gesänge, dem Streben, jede, durch seinen Text, ja dessen einzelne Wort 'y:; „e
An.chauung durd. entsprechende, „r s.d. vers.ändlid.e Tonfiguren auszudrücken, deren Bedeutull "b
angemessene IL.nnon.e vöhg zu künden; in dnen. Streben, wod..d. das von C.prian nur einsli. G^
lastete saue Ergänzung fand. Kaum also w^rde Andreas ergänzend genannt werden dürfen f ^ dni
Sd.affen sanes Genossen hätte er zuvor nid.t erkannt, wie vid, mit .vie grofser ^Virkung, C^^,rian b"
rats gelastd, w:e Mand>es nod» gesd.dxen müsse, um den Geist der Tonkunst völlig u mvecken
^enn wu- m der Zuschrift der Werke des Andreas Gabridi, die san Neffe Johannes nad. dessen Tode'
herausgab .hnrdunen hören: „wer diese Werke kennen gelernt, wisse nun erst, was wahrha te ßlwe
gung desGemuthes sa; aus d,nen gd.e offenkundig hen^or, der Meister sd dnzig gewesen in Ernndun.
von Klangen, wdche die Kraft der Rede und der Gedanken ausdrückten:' so fnin wir die L Lob vTr'
nem.bch durch seme Madrigale bestätigt, allan aud. auf seine geistlichen ^Verke (deren er „ach ZeuT
n. s der m der Buchersammlung zu IMünd.en behndlichen ungefähr dne gldd.e Anzahl herausgegeben
h ben ..rd) smd d.ese Vorzüge auf sinnige Art übertragen. Der gewählte Kirchenton tritt in^ d n«
nd. alen sanen Kennzad.en n.t Sduirfe und Bestimmtheit heraus; nid^t sowohl die Entfalt.m/der
mann.gfad.en anem jeden zu Gebote stehenden Anklänge ist erstrebt, als die mdodisch bedeutsame'son
denmg der anzdnen Gheder des Gesanges, das deutliche Hervorheben dnes jeden in der StiZent
hat!:!' ^ r r".'.'" '^^•^^'^ ^^'" ^-"^^ ''--''' ^^^^^'•^'-- ^« - '-- .wö.fs.immige ;:
handlung des .eben und sed.z.gsten (nach der Vulgata des 66ten) Psahns ^). Dra Chöre, einer von
üefen, aner von hohen, der mittlere von den vier gewöhnlid.en Singstimmen sind von dninder Jon
dert; anem „m.gen, frommen Gebete glddi beginnt der Gesang in dem tieferen Chore: „Gott sei uns'
gnädig und segne uns;" „er lasse san Antlitz uns leuchten" fährt in gldd.em Sinne der mittlere Chor
ort; der höhere sddiefst im Wed.sd mit beiden die Worte an: „dafs wir erkennen auf Erden sanen
^^"»- ^»"«tm.m.g nun tönt es von allen dra Chören: „unter allen Hdden san Heü." Eben das Wort:
': /; iinim/ip cmiger n erke seines damals kürzlich verstorbenen Oheims.
«.. r. Miulcrfcl.1. Jok. Cabricli u. s. ZeitjUcr
16
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„sein Heil" \'»ircl mil besonders feierlidiem Ernst herausgehoben, und dadurch vor allem tritt es hervor,
dafs es nicht von allen Chören, auch nicht von einem einzelnen, sondern von erlesenen Stimmen je-
den Chores in volltönender Verwebinig avisgesprochen wird. Wir schweigen davon, we lebendig und
fcun'g der Gesang ,.cs danken dir Gott die Völker, es danken dir die Völker" im Wechsel der Chöre
ertönt; wie sinnig der Meister die Worte „die Völker freuen sich und jauchzen" durch Wechsel des
Maafses und wiederum Verschränkung erlesener Stimmen aus allen Chören hervortreten läfst; wie das
Gebet „es segne uns Gott, unser Gott" durch feierlich clioralmäfsigen Gesang, durch phrygische und
mixolydische Anklänge innerhalb der ionischen Tonart, der das Ganze angehört, sich Jiervorhebt. Worte
geben ohnehin nur ein schwaches und trübes Abbild von der Ilerrhchkeit des Gesanges. Darum jedoch
bedurfte es dieser allgemeinen Andeutung an diesem Orte, um näher zu zeigen, wie der Meister seine
Gesänge geordnet habe, ■\\'ie ein tieferer Sinn für das Leben der Töne ihm aufgegangen sei, wie nicht
allein inniges Gefühl von dem Wesen der Harmonie seine Melodieen ihn bilden, sie mehrstimmig ent-
falten gelehrt, wie sie auch in Maafs und Bewegung ihm Gestalt gewonnen. Nicht etwa, dafs vor
ihm Andeutungen davon gemangelt hätten, dafs den frülieren Meistern eben diese Seite gänzlich fremd
geblieben sei. Josquin des Pres, in vieler Rücksiclit so belebend für seine Zeit, durch seine Einwirkung
auf Adrian Willaert auch für die venedische Schule, zeigt uns das Gcgentheil; und sollte nicht schon
der Volksgesang, der, ein Erzeugnifs des bewufsllosen Kunsttriebes früherer Zeit, auf so verschiedenen
Pfaden seinen ^Veg in die Kirche gefunden, eben durch das IMaafs seinen Weisen Gestalt und Bedeutung
verliehen haben? Was wir aus jener früheren Zeit davon kennen, lehrt uns, dafs es also gewesen. Bei
Antlrcas Gabrieli jedoch sehen -wir, was zuvor in Andeutungen allein vorhanden war, mit künstlerischer
Besonnenheit zu einem bedeutsamen Bilde gestaltet. Und so giebt er uns Gelegenlicit, nachdem wir in
dem nächstvorhergehenden Abschnitte von dem \^esen der Kirchentöne gehandelt, und gezeigt haben,
wie in ihnen das Leben der Melodie im Klange aufgegangen sei, in der Harmonie sich völlig entfaltet
habe, nunmehr auch zu der Betraclitung überzugehen, wie es in Maafs und Bewegung kiuul ge-
worden sei.
Wir können jedoch diesen Abschnitt nicht beschUefsen, ohne mit einigen Worten noch Claudio
Jflerulo's zu gedenken, des verdienten Amisgenossen unseres Andreas, und eben mit Beziehung auf das
zuvor beschriebene Eindringen des ^'olksgesanges in die Kirche. In der niederländischen, in der deut-
schen Schule, blieb man nocli lange bei der Gewohnheit, eine gemeine Sangweise den Messen, den Mag-
nificat als Thema unterzidegen ; die römische Schule, wenn auch die bisherige Art der Behandlung bei
behaltend, zog es doch vor, ihre Themen aus dem Kirchengesange, oder auch selbsterfundencn geistliche
Gesängen berühmter Meister zu entlehnen, in deren durch die Mefshymnen anklingenden ^Vorten auf
eine zarte Weise an die Bedeutung der eben begangenen Kirclienfeste zu erinnern; die venedische, wie
sie freie Erfindung allem Andern vorzog, obgleich dem einen imd dem andern Verfahren bisweilen sich
anschhefsend , scheint doch beides bald hintangesetzt zu haben, nadidcm sie sich eigenthümlich gestaltet
hatte. Von IVIerulo besitzen wir zwei Messen, die er als Greis verfertigt hat, und die von seinem INeffen
Hiacynth Mcrulo nach seinem Tode herausgegeben sind. Die eine, acbtstiinmig zu zwei Chören, auf
ein fünfstimmiges Bladrigal des Jaques de ^'Sert: Cava la vita mia; die andere, z« ölfstinmiig zu drei
Chören, auf ein Motett seines Amtsgenossen Andreas Gabrieli: Benedicam Domino in omni tempore ').
)S
i
') Beide sind 1609 :« Venedig hei Ait^elo Gardnno und seinen Brüdern er.trhienen.
— 123 —
Das Madrigal, welches der achtsliinniigen Messe zu Grunde liegt, ist iiavh (■vpnjiiis VN'eise goselzl, so,
dafs alle Stimmen, meist zugleicli mit einander fortgehend, dem Gewicht der einzehien Sylbcn sich genau
anschliefsen ; nur ein kleiner Theil desselben zeigt ein leises Streben nach künstlicher Stimmenverwebuna; ;
häufig sondern die Stimmen sich in zwei Chöre, so dafs in dem durch die tieferen gebildeten dasjenige
wiederklingt, Mas in dem höheren eben zuvor gehört worden war. Diese Beschafl'enheit seines Musters
machte es dem IMerulo leichter, den musikalischen Hauptgedanken, wie er den Worten angepafst war,
überall aufzufassen und anklingen zu lassen, als halte er ein bereits künstlerisch mannigfach durcligebil-
detes Ganze zertrennen und zerlegen müssen, um aus solchen zerstückelten Gliedern — wie es bei vielen
seiner Zeitgenossen geschähe — ein neues Ganze in verschiedenem Sinne zu bilden. Haben wir mi-
sern Blick aber eine ^V eile auf seinem Muster ruhen lassen, und überschauen luuimehr sein neugcbildetes
Werk, so ergreift uns eigenthümliche Rührung, wenn wir sehen, wie er jenes in demselben anklingen
läfst. Dort ist von einem Liebenden die Rede, der auch in böser Zeit der unwandelbaren Treue der
Geheblcn sich freut; hier linden wir die zartesten Liebesworte, durch die Töne, in denen sie laut gewor-
den waren, auf den Erlöser bezogen. Die Melodie der Stelle seines Musters wo es heifst: ,, diese tlieuren
Liebesworte, die einzigen der Welt, die meine herbe Qual zu sänftigen vermögen" finden wir in der
Messe dem Salze angepafst: „du allein bist hcihg, allein Herr, allein der Höchste;" wo in ihr von dem
gekreuzigten Erlöser die Rede ist, klingen uns die \^'o^te wieder „icli schaue es mit den Augen, dieses
heitre AntUtz, ich höre die süfse Rede." Dafs es Absicht des Meisters gewesen, der in seinem lan-^en
und tliätigen Kunslleben sicli geislhcher wie weltlicher Tonkunst in gleichem Maafse beflissen, uns anzu-
deuten, wie an der Grenze seines zcitUclien Seins alles irdische Lieben ihm aufgegangen sei in die ewige
Liebe, wird uns noch klarer, wenn wr mit dieser ersten seine zweite Messe vergleichen, in welcher durch
voUere, prächtigere Chöre nocli, die Worte wiederklingen: ,,ich will den Herren loben allezeit." Viele
edle Dichter früherer und späterer Zeit haben einen Kreis von Liebesgesängen mit einem frommen Liede
beschlossen und geheiligt. Dem Petrarca \'\ar in der heiligen Jungfrau ein Sinnbild der ewicjen Liebe
aufgegangen, sein letztes Lied ist ein (iebet an sie; Merulo's gvofser Zeilgenosse, Michael Angelo Buona-
rotti, endet einen Kranz zarter und tiefsinniger Sonette mit einem Gedidit an die ewige Liebe, die vom
Kreuze auf ihn herabschaut. Am Schlüsse eines thaten- und gesangreichen Lebens erschien diesen IMei-
stern, was sie geleistet, gegen das, was sie gewollt, was dem ßewufstsein ihres inneren Wesens zufolge
sie erstrebt, zwar gering, in jener edlen Liebe und Begeisterung, in der sie gewirkt, aber gereinigt imd
geheiligt, jeder Irrthum getilgt; ihr Scheidegrufs , wenn auch ein ^^ehmülhiger, ist doch von jener wohl-
thuenden Heiterkeit überstrahlt, welche das Bewufst^ein darum erzeugt. Von einem jüngeren Zeitgenossen
Merulo's dagegen, dessen wir schon ehrenvoll gedacht haben, Luca Marenzio, wird uns durch Gio.
Vittorio Ros.si^) berichtet, das Andenken an seine Liebesgesänge habe noch seine letzten Augenbhcke
vergiftet „0 mein Vater' (soll er dem Glovenale Ancina, einem geschätzten Tonknnstler, seinem Freunde,
und wohl auch Beichtvater, zugerufen haben) „o mein V^ater, hätte ich doch jene Töne nimmer Jiören
lassen, oder könnte ich bis auf die letzte Spur sie mit meinem Blute vertilgen." Der Erzähler nennt
jene Gesänge „wenig züchtige:" doch sind sie reineren Inhalts, als die der meisten Zeitgenossen, und nur
in einigen herrsclit sinnlich leidenschaftliche Glut. Ob er überhaupt die völlige ^Vahrheit bericlite. ob
er nur einen ^'orübergehenden Augenblick der Angst und des Z^^eifels absichtlich hervorgehoben habe,
') Jaahii Kiythiari pmacothcca etc. (CnK ^gr. IGi^J pag. MG.
irr
— 124 —
wissen wir niclil ; fast aber mödilen wir es vermulhen, da er auch andere Meisler in ähulicliem Sinne
reden läfst, oder mit frommen Achselzucken an iliren letzten Augenblicken vorübergeht. Das aber ist
eewifs: icner Sinn, dem alle Kunst, nur durch die Lust des Lebens gehalten, endlich als irdische Tän-
delei unl ergeht; jener Sinn, der den sonst verbotenen Genufs durch trügerische Verkleidung des Un-
heiligen in frommes Gewand zu reclitfertigen meint, ist ein völlig anderer als derjenige, welcher um die
Zeit der Glaubensreinigung aucli das Frevelhafte und Ausgelassene heihgte; das Verderben aller heiligen
Kunst beginnt mit jener unseligen Vermisclnmg, die sie zur Dienerinn sinnlicher Lust herabwürdigt,
nicht minder jedocli mit jener unerfreidichcn Strenge, in der sie aller wahrhaften Begeisterung, alles fri-
schen Lebens in lierbcr Abscliliefsung sicli entäufsert.
SIEBENTES HAUPTSTÜCK.
Die Rhythmik der älteren Tonmeister,
Jl^ie Tonkunst, ihrem Wesen nach an die Zeit geknüpft, und defshalb an die Bewegung, ist ohne die-
selbe, so wie diese wiederum ohne ordnendes IVLiafs nicht zu denken. In Klängen zwar kündet sie Uir
Leben, in der Beziehung auf einen gemeinsamen Millelpunkt gestalten sicli diese zu Mclodieen; allein
nicht ein ruhendes, mit einem Blicke zu überschauendes Bild wird uns dadurch gegeben. Wie die
Klänge, der eine den andern verdrängend, im Wechselspiele uns vorübergehen, sollen ^^^r es auflassen
und unserem inneren Sinne einprägen; vermöchten wir dieses ohne lebendige Ghederung in jenem sonst
nur vci-wirrenden Weclisel? Das Gesetz, nach welchem diese erfolgt, nennen wir Maafs, die einander
entsprechenden Glieder, weldie, durch dasselbe geregelt, sich gestalten, heifsen wir Rhythmen, und
rhythmische Glieder wiederiun die lebendigen Bestandtheile dieser letzten; nach diesen Beziehungen
geordnet tritt die Melodie völlig in das Leben. ^Jun hören wir oft behaupten: von der Diclitkunst, mit
der sie von jeher im früliestcn innigsten Bunde geslanden, habe die Tonkunst ihre Rhythmik enllelmt;
und vieles freilich scheint diese Meinung zu bestätigen. Die griechischen Toidchrer, die auf uns ge-
kommenen geringen Uebcrblcibsel griechisclier Tonkunst, bieten uns nur Zeichen für Höhe und Tiefe,
nicht die Dauer der Klänge; sollten so doch ofl"enbar diese an das IMaafs der Verse gebunden, durch
dasselbe geregelt werden. Allein, zugestanden auch, es sei liienach der Rliythmus der Rede überfra-
gen worden auf den Gesang, so haftete er ja eben an dem Tönenden in jener, dieses erheischte ihn
zu seiner vi'illigen Durchbildung; auf dem Wege der Steigerung der Rede zum Gesänge gestaltete er sich,
und sclion eine oberflächliclie Betraclitung zeigt uns, dafs er in dem Gesänge allgemach zu einer Man-
nigfaltigkeit sich ausgebildet habe, durcli welche der rhythmische Rcidithum der Poesie bei -weilein über-
troffen worden, einer Mannigfalligkeit, frei entwickelt aus dem Leben der Töne, wie es dem Sinne der
— 125 —
mit ainen vermählten Rede, den Bildern welche sie bot, den Sllmmungen die sie erweckte, lebendig er-
blülit war, an ^Vorten und Sylben in so veit ferner nur haftend, als sie deren ursprünghches Maafs
niclit verletzte. Seinem tieferen Ursprünge nach halten wir daher den Rliyümius am innigsten und frü-
hesten eben der Tonkunst ver^vandt; seine Gesetze, >vie jene der Harmonie, wie alles dessen überhaupt,
wodurch das Bilden und Schaffen des Menschen Gestalt und Bedeutung gewinnt, leben in dessen Innern,
sem Thun und ^Mrken .>ird auch unbcMufst durch sie geregelt; dafs er sie erkenne in dem von ihm
Geschaffenen, mit Be^^'ufstsein nach ihnen fortwirke, Ist ihm als Aufgabe gestellt. In allen ihren Ver-
zweigungen strebt die Kunst das Leben in höchster Bedeutung zu oflenbaren. Die Gestalt, voUendet in
dem Sinne der In die Natur durch den Scliöpfer gelegten büdenden Kraft, vüllig durchdrungen und be-
seelt von dem ^In^ oluienden Geiste, durch ihn verklärt; das ^Vort, niclit nothwendige Vermittelung ge-
genseitigen Verständnisses allein, sondern das Innerste des Geistes deutend, in Laut und Maafs, als Be-
hältnifs des kösÜiclisten Inlialts würdig geschmückt, oder ^delmehr durcJi Hin von Innen heraus gestaltet;
der Ton, dem ^yorte nahe venvandt, in Klang mid Bewegung es gehelmnlfsvoU verklärend, durcli beide,
auch von jenem getrennt, dem Inneren Sinne noch verständlich, in MclocUeen Ihm wiederum Gestalten
hmzaubemd — alle woUen sie endlich nur eines und dasselbe, das grofse Geheiimiifs des Lebens ent-
falten, das um uns, das in uns waltet; in verschiedenem Stoffe, durch andere IMIttel ein jedes, in denen
der Künsüer das Wesen wie die Schranken seines Wirkens zu erkennen hat. Denn erkennen .soU
er die Gesetze, nach denen er scliafft, nicht sie eigenmächtig erfinden, aus einzelnen Walirnehmungen
an den äufseren Dingen sie wUIkülirhch erklügeln. Darmn sollen wir auch nicht fragen, durch wen
der Rhythmus erfunden worden; waren doch seine Keime, wo der Gesang hervortrat ,° mit ihm schon
unmittelbar gegeben, um herrlicher, völliger, im Fortgange der Zeit sich zu entfalten; das wahrhaft Er-
fundene hegt auf dem ^^'ege dieser Entfaltung.
Forsclien -svlr nun dem Gange derselben nach, so finden. In wie entferntere Zelten wr zurück-
gehen, ^vegen IMangcls an Werken der Tonkunst, an unmittelbarer lebendiger Anschaumig, Mir uns im-
mer verlassener, und nur der Unterschied zwischen einfachem kircldiclien, und gemessenem Gesänge —
cantus planus et mensurntus — den wir schon friilie antreffen, scheint darauf zu deuten, dafs man'' dem
klrdillchen Ernste das ^Vechselspiel verschiedener Rhythmen für ungeziemend, und es nur dem weltlichen
Gesänge für angemessen erachtet habe. Gewifs aber dürfte daraus nicht folgen, dafs der heilige Gesan-
von Anbeginn des Rhjihmus vöUig entbehrt habe; denn er war zum Tlieile ja rhythmischer Rede ver^
bunden, und sollte er, ein Werk der Begeisterung, ohne alle BcriÜirung mit jener belebenden, gestalten-
den Kraft geblieben sein? Der Eifer jedoch für seine Reinheit mag die Ansicht herbelgefülirt haben, dafs
ihm das Maafs überall niclit gezieme, und frülie schon mag aUes iMannIgfalllge. Bewegte, als Verimstal-
tung von ihm ausgeschieden worden sein, Um zu ehier Strenge und Einfalt zurückzufiihren, wie man sie
allein für Hin geeignet hielt; ein Schicksal, das der Kirchengesang der Evangehschen In spälerer Zeit
niclit minder hat erfahren müssen. Der In der letzten Hälfte des ÄDttelalters überall wieder 'er\vacliende
Kunsttrieb drang aber, wenn auch am spätesten, doch mächtig in die helUge Tonkunst ein. Ein Zeug-
nlfs davon legt uns der ^deder erwachende Eifer ab für die Reinheit des Kirchengesanges. Li der schon
fmher gedaclilen ^^erordnung Johannes XXII. ') hören wir den Papst eifern „gegen jene Anhänger einer
neuen Schidc, weldie auf Zeltmaafs bedacht neue Töne ersinnen, heber eigene erfinden, als die alten
') Extravag. comm. I. III. Je fita et >,o„estale ckriconim. Johannes XXII, (c. an. 132> AvcnioniJ.
T'
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nift^en, den ernslen gleithmäfsl-en Gesang iheilen und wieJcrnm Üiellen '), die Töne hervor-
gclihichzend ilin zertrennen,^)" und dergleichen und anderes als entstellende Milsbräuche unter Androhung
von Strafen verbieten. Mifsbräuche waren es ohne Zweifel; weltliche Gesinnung, durch den Ernst des
kirchlichen Gesanges zurückgeschreckt, hatte gcwifs nicht minderen Einfhifs auf das Streben, ihn durch
rhYlhmisrhc IMannigfalligkeil zu schmücken, als der lebendig in der Tonkunst wieder erwachte Bildungs-
Irieb: aber wir dürfen diesen, irre geleitet wie er hier sich zeigt, auch in seinen Aussch\\eifungen nicht
verkennen. Trug man nun damals auf den alten, überlieferten Kirchengesang unmittelljar jenes so hart
getadelte Zeitniaafs über, ihn verändernd und verkünstelnd, oder umgab man ihn, Tongebäude von meh-
ren Stimmen zuerst versuchend, mit gemessenem (Jesange, auch ihn dadurch mittelbar einem fremden
Maafse unterwerfend, und ihn verdunkelnd? Das eine vie das andere mag der Fall gewesen sein; denn
der Papst sdiilt auch jene: „die nicht wissen, worauf sie bauen, welche die Tonarten nicht kennen,
»ie nicht unterscheiden, sie verwechseln, durch einen Haufen von Tönen den keuschen Aufschwung, das
gemäfsigtc Senken des einfachen kirchliclicn Gesanges, in welchem die Tonarien sich kund geben, un-
kenntlich machen."
Es ist eine schwierige Aufgab«^ das Verhältnifs der geistlichen Tonkunst zu der weltlichen— aus
welcher ohne Zweifel das rhythmisch -Bewegte in jene hineinzudringen strebte — wie es zu jener
Zeit (dem Beginne des vierzehnten Jahrhunderts) bestand, genügend darzi\legen. An Ueberresten welt-
liclier GesäM'-e fehlt es zwar nicht ganz, allein die Ouellen, aus denen sie geschöpft werden können, sind
selten und zerstreut, die Tonzeichen jener Zeit, so weit sie die verhältnifsmäfsige Dauer der einzelnen
Töne andeuten sollen, unbestimmt und vieldeutig, und vornehndich hat der Forscher vor der einem
jeden unhewufst beiwohnenden Neigung sich zu hüten, dafs er Aelleres nicht im Sinne der Gegenwart
deute, wo dessen immittelbares Versländnlfs ihm erschwert ist. Eine, auf jene Zeit eigends gerich-
tete Forschung wird künftig vielleicht alle jene Schwierigkeiten überwinden, uns ilire Gestalt lebendig
zur Anschauung bringen. Können ^^ir jedoch aus dem Gange, den Lehre und Kimstübung in einem
späteren, an Denkmalen reicheren Zeitalter nahmen, mit einiger Sicherheit auf jenes fridiere zurückschhefsen,
in welchem sich vorbereitete, was später gedacht und gebildet wurde: so dürften folgende Behauptungen
von der Wahriieit wenig entfernt liegen. Der Geist der Harmonie regte um jene Zeit zuerst in einzelnen
Keimen sich kräftiger als voriiin, mit ihm wurde auch der Sinn für IMaafs und Bewegung >vacher und
lebendiger; die ältesten Versuche, das Verständnils beider zu gewinnen, es den Zeitgenossen zu eröffnen,
fallen in diese und die nächst vorhergehende Zeit; allein die Neigung, sichere, feste Regeln für das nur
eben sich Entfaltende aufzustellen, ein in sich begründetes Lehrgebäude dafür zu besitzen, Gesetze zu
"■eben, statt der Erkcnnlnifs des immer mächtiger sich regenden Triebes nachzustreben, verdunkelte
das wahre Verständnifs, ver*\inie und erschwerte die Kunstübung. In einer solchen Verwirrung treffen
wir um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts am meisten die Lehre; mid wenn wir derselben auch
nicht in alle ihre Verzweigungen zu folgen gesonnen sind, weil, ohne genügende Anschauung zu gewäh-
ren, wir fürchten müfsten, viele Blätter dabei nur zwecklos anzufüllen, so bedürfen wir doch eines allge-
meinen Ueberblickes derselben, um ihr Veriiällnifs zu der Kirnst einzusehen, und uns zu überzeugen, dafs
hier, wie bei der harmonischen Belebung der Kirchentöne, aus gleichen Gründen es sich ganz ähnlich
') In semibreves et minimas Ecclcsiaslicn caninntur. ^) Melutlias hoqueüs inleriecanl. rergl. Franconii miisica et
tantut mensurabilis. Cap. XIII. de Ochetis (Gerberl scrlplores III. p. l'^-J
,, Ochelus trunealio <>tl cauliis, sectis omissisgiie vocibits fnincafe prolatiis.
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gestaltet habe. Einer diesem Gesiclitspunkle geinäfs zu gebenden gedrfmgtcn Uebersicht schicken wir
bilh'gerweise einen kurzen Bcridit über die Tonzeidien voran, in soweit sie Dauer und al)gestufte Geltung
der Töne ausdrücken.
Es galt zunächst als allgemeine Regel: das gröfsere Tonzeichen fafst das der Geltung zufolge
nächst geringere entweder dreimal in sich, und heilst dann vollkommen, oder zweimal, und wird
dann unvollkommen genannt. In solchen Verhältnissen führte man die Abstufung diu-cli drei Grade
fort; von dem gröfseslen Tonzeichen fmaximaj hinab zu dem langen, (longaj von diesem zu dem
kurzen ('brevlsj bis hinunter zum halbkiu'zcn (^semibrevisj , das seinerseits zwar \vicderum das kleinste
CmiuimnJ in gleichen ^^erhältnissen befallsle, jedoch als Grenze dieser Abstufungen; denn die folgenden
kleineren Tonzeichen der semimlnima. fitsa, und semifusa — unsere Viertel, Achtel und Sechzehntheil-
Noten, durch Orgel und Instrumentenspieler zu Bezeichnung schnell daliinrollender Töne erfunden —
wurden damals nur in den Verhältnissen des Doppelten und der Hälfte angewendet. — Drei Arten des
Maafses nun wurden jener dreifachen Abstufung zufolge angenommen, von denen jede das gröfsere dar-
stellte als gemessen durch das an Geltung nächst kleinere, welchem JMessenden in dieser Bedeutung das
der Zeitdauer nach völlig unbestimmte Gewicht eines Schlages (taciusj beigelegt war. Diese drei Arten
des Slaafses führten die iNamen modus, tcnqms und vrohtilo, deren Uebersetzung durch die Worte Art,
Zeit und Austönen wir versuchen, deren wir in dem Folgenden, wo es schicklich sein wird, uns zu be-
dienen gedenken. Das gröfste und lange Tonzeichen war in der Art das Gemessene, und hienach ^vllrde
sie in die grofse imd kleine Cmodiis major et minorj getheUt; das kurze Tonzeichen in der Zeit; in
dem Aus tönen endlich das halbkurze Tonzeichen, für welches dieser Name bei dem angenommenen
doppelten ^'erhältnisse der Abstufung nur schwankend und unzureichend erscheint. Eine besondere Vor-
zeichnung deutete bei jedem Tonstücke an, welche dieser verscliledcnen Gattungen dos IVIaafses in dem-
selben vorwalte. Der Kreis war ihnen allen gemeinsam; in der vollkommenen gröfseren Art (mo-
dus mnjor perfrclusj war ihm die 3, in der kleineren Cm. minor p.J die 2 beigefügt; beide Zahlen
wurden auf gleiche Weise einem ungeschlossenen Halbkreise beigefügt, die unvollkommene gröfsere
und kleinere Art zu bezeichnen. Der einfache Kreis und Halbkreis waren die Zeichen für die vollkom-
mene, für die unvollkommene Zeit; beide Gattungen des Austönens anzudeuten wurde diesen Zeichen
in der Mitte ein Punkt beigefügt. Daneben finden wir noch einer verminderten Zeil, eines vermin-
derten Austönens gedacht, und die gewöhnlichen Zeichen beider ursprünglichen Gattungen vermittelst
des Durchmessers getheilt oder nach der Rechten zu gcsclilosseu , um ihnen die Bedeutung jener Ver-
minderung — des um die Hälfte gekürzten Wertlies der Tonzeichen — beizulegen ') Vergleichen wir,
abgesehen von der Geltmig der Tonzeichen, welche jede dieser Gattungen als gemessene, als mes-
sende in sich begreift, dieselben mit einander, so werden ynx keinen wesentUchen Unterschied zwischen
n
03 02 C3 C2
o c
G G
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ihnen fesüialten können. Denn dafs das Gemessene in der einen an Gellung gröfser, in der andern
eerino^er war, konnte, da das Messende (überall das nächst kleinere) ohne Ausnahme die gleiche
Dauer eines Schlages hatte, für die Ausführimg keinen Unterschied begründen, es wäre denn jener ge-
wesen, dafs dem Meistgeltenden die äufserste Grenze der Abstufung am fernsten blieb, in einen Schlag
also mehr des Mindergeltenden zusammengcfafst werden konnte, als auf der nächst niedem Stufe; ein
Unterschied, der durch Erweiterung der Grenzen nach dem Kleineren bin AÜlilg A\ioder aufgehoben
wurde. Nun stellen ältere Tonlehrer •) den Begriff von Maafs dahin fest, dafs es sei „die Güede-
runn- der Bewegung durch Abiheilungen oder Schläge, ftactusj welche den Tonzeichen und Pausen
jeden Gesanges ihrer Gellung nach ihr rechles Verhällnifs gewähre;" damit dieses geschehen könne, be-
durfte man aber eines allgemein Messenden, wenn auch an sich, seiner Zeitdauer nach, nicht Be-
stimmten, doch der einmal willkührlich festgesetzten zufolge, die Dauer aller übrigen Tonzeichen verhält-
nifsmäfsio- Reirelnden. Slillsciiwcisrendc Uebercinkunft setzte als solches das halbkurze Tonzeichen fest,
unsere — Note, das Messende in der Zeil. So bildete sich zuerst die Anschauung von demjenigen, was
4
wir jetzt Tact heifsen, was man damals, dem Gemessenen zufolge, Zeitmaafs Cmensura temporisj
nannte; jene Regel, durch welche gleichgcgliederte, durch ein Tonstück sich hinziehende Zeilabschnitte
von glciclier Dauer entstehen, und seine Bewegung gestalten; vollkommene oder unvollkommene — dem
nns geläufigem Ausdruck zufolge ungerade oder gerade Tacte — je nachdem sie drei oder zwei Scldäge
befafslen.
Dafs die Bewegung der, die Schläge, und mit ihnen das Zeitmaafs angebenden Iland eine doppelte
sei, ein Niederschlagen und Erheben zu ferncrem Schlage, liegt in der Natur der Sache. Bei älteren
Tonlehrern jedoch bis zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts finden wir Auf- und Niederschlag nicht
unterschieden, also auch nicht sogenannte gute und schlechte Theilc des Zeitmaafses; ein Beweis, dafs
die so einflufsreiche Anschauung des Tactgewichts, des wahrhaft Belebenden, Gestaltenden für das
Zeitmaafs, wenn auch ohne Zweifel der Kunstübung, docli ihnen gar nocli nicht aufgegangen war, oder
sehr im Hintergrunde ihrer Erkcmitnlfs lag.
Auf die so eben beschriebene Weise war denn freilich jedes Tonstück in sich geregelt; es blieb
jedoch seine mehr oder muider beschleunigte Bewegung näher zu bestimmen, sei es im Ganzen, sei es
einzelner Thelle in Beziehung auf einander. Strenge ^^erhältnifsmäfsigkeit, eine solcJie, die durdi Zahlen,
dem Bezeichnenden für alle Klangverbältnisse, dem Schlüssel \\ie der Ton lehre, um so mehr nun auch
der Lehre von den Maafsen ausgedrückt werden könne, war es, der man liier nachstrebte. Und
so finden wir denn seit dem fünfzehnten Jahrhundert, bis hinein selbst noch in das .siebzelmle — wenn
gleich damals weniger allgemein — den rascheren oder langsameren Fortschritt der Gesänge durch ein
Zahlengewebe geregelt, dessen Bedeutung in der Lehre von den Proportionen durch ältere Tonlehrer
entwickelt Avird.
Ein jedes Verhällnifs setzt ein Bekanntes voraus, mit dem ein Unbekanntes verglichen und danacli
näher bestimmt wird. In der Proportionenlebre war dieses Bekannte wiederum das, einem Schlage gleicli-
gellende halbkurze Tonzeichen, seiner Zeitdauer nach zwar unbestimmt, durch stillschweigende, allgemeine
Uebereinkunft jedoch der Dauer eines mäfsigen Erhebens und Scnkens der Hand gleichgeachtet, und
') l'ergl. Scbald Ueyden: de arte canendi Nürnberg 1540. pag. 56".
hienach als Maafs des wesentlichen Werüies der Tonzeid.en - essentlaUs raloris notulamm - anor-
nommen. ]M,t Rücksieht auf diesen festgesteUtcn , wesentlichen Wcrth, ^vurden zwei Zahlen, nach A,f
eines Braches gerade übereinandergestellt, den Gesängen beigcRigt, üiren mehr oder minder raschen Fort-
schntt zn regeln. Entweder nun ging die obere in der unteren völlig auf CproporUo dupla, Mpla e(c )
oder diefs war nicht der Fall, sondern das von der oberen Uebrighleibende stellte zu der unteren erst ein
solches Verhältnifs dar, es war deren Hälfte, Drittel etc. (proportio ses^nialtera, sesquitertia etc.) In
dem ersten FaUe deutete die untere Zahl die Schläge, die obere das ^-erhältnifs der Tonzciclien zu den-
selben an. Die Zalilen ^ z. B. bezeichneten, dafs die von einem Schlage ausgerdlite Zelt mm von drei
halbkurzen Noten zu erfüllen sei, deren sonst jede einzelne die Daner eines Schlages habe; die Bewegun«^
war hienach um das Dreifache zu beschleunigen, und die auf die erwähnte ^\eise bezeichnete pronorZ
trtpla gehörte zu den, die wesentliche Geltung der Tonzeichen mindernden. Die umgekehrte Zahlen-
steUung ^ dagegen deutete an, dafs ein von drei ScMägen gewöhnlich erfüllter Zeitraum durch das sonst
nur den dritten Theil dieser Dauer einnehmende Tonzeichen zu erfüllen sei; die hierin gegebene pro-
Portio suUripla gehörte also zu den, die wesentliche Geltung der Tonzeichen mehrenden. In dem
zweiten FaUe - des nicht unmittelbaren Aufgehens der einen Zalil in der andern, wohl aber des Restes
m der theUenden - wurde durch beide Zalden das Verhältnifs der Tonzeichen unter sich angedeutet
mit Rücksiciit entweder auf den wesenllichen AVerlh des allgemeinen Maafses für alle Zeitdauer" im Ge-
sänge, (der semibrevis,) oder den zufälligen Wcrtli, welchen dieses dnrcli eine frülier etwa vorgeschrie-
bene Proportion erlangt hatte. Denn war durch eine vorangegangene Proportion die wesentlit^he Gel-
tung der semibrevis, und im Verhältnifs gegen sie, auch die der minderen Tonzeichen bereits gemehrt
oder gemindert, jene Proportion aber durch das Zeichen der entgegengesetzten nicht ansdrückllch aufge-
hoben worden, so bezog sich die neu bezeichnete jederzeit auf die, durch die vorangehende festgestelHe
Geltung der Tonzeichen, den durch sie geregelten Gang der Bewegung. Dieses vorausgesetzt'^ sollte
z. B. die Bezeichnung ,^ andeuten, der in der angenommenen Art des Maafses sonst durch zwei Tonzei-
chen ausgefüllte Zeitraum soUe nunmehr von dreien erfüUt, die zufolge der Tonzeiclien an sich eintre-
tende Bewegung um die Hälfte beschleunigt werden. Wir finden es daher in jener Zeit eben so wohl
bei sokhen ungeraden Tacten angewendet, deren Theile semibreves (ganze), als minimae (halbe Tact-
noten) sind; mit den Allen zu reden, sowohl in der vollkommenen Zeit (tempore perfecto) als dem voU-
kommnen Austönen (prolatione perfecta.) Kam es dort vor, so sagte es aus, die von drei ganzen
Schlägen sonst zu erfüllende Zeitdauer soUe nun bei unverändertem Zeitmaafse auf eine nur durch
zwei Schläge erfüllte beschränkt werden; fand es sich hier, so soUte ein Gleiches bei einer Zeitdauer
von drei halben Schlägen eintreten, hier we dort also jede Note danach verhältnifsmäfsig rascher vorge-
tragen werden. Die umgekehrte ZahlensteUung ^ bezeichnete unter beiderlei Bedingungen das umgekehrte
Verhältnifs, imd eben so sind die Zeichen ^ und ^ zu verstehen und selbst zusammengesetztere noch,
welche die Spitzfindigkeit einzelner Tonkünstler hin und wieder anwendete; mufsten gleich verstandige
Tonlehrer ') zugestehen, dafs mit der 3 und 4 die Reihe der im Gesänge ausführbaren mehrenden und
mindernden Verhältnisse sich beschliefse, dafs die übrigen zwar in Zahlen leicht darzusteUen, im Singen
jedoch nicht füglich zu tretfen seien.
') Seb. Heyden p. 99. /. c.
f. V. Winlcrfcld. Jut. UaiirieU u. i. Zoitalter.
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— 130 —
Die Voraussel-Aiing, oline Verhüll iiifsmäfsigkcit der Bewegungen eines Tonstücks finde keine kimst-
cemäfse Ausfiilirung desselben statt, ist unbezweifelt richtig, und jeden geübten, erfahrenen Anführer
eines Cliores wird ein sidieres Gefülil unstreitig dahin leiten, dieselbe zu beobacliten. Die Forderung
mathematisch genauen Abmessens nach einer gegebenen Gröfse, zumal wo eben diese nicht ein mit ma-
ihematisclier Genauigkeit bestimmter Maafsstab war, wird damals wohl so wenig streng erfüllt worden
sein, als es gegenwärtig würde geschehen können. Für uns namentlich liegt in der Bezeichnung der
Proportionen dadurch ein Verwirrerndes, dafs ähiüiche Zeiclien, bei völlig verschiedenen Grundsätzen der
Bezeichnung, uns so ganz Anderes bedeuten; weil vnr namentlicli — die bei Brüchen gebräucldichen Be-
nennungen als die allgemein verständlichen beizubehalten — durch die Zähler der imseren Tonstücken
vorangesetzten Ziffern meistens das Maafs, durch den Nenner das Gemessene ausdrücken; so dafs
z. B. die Bezeichnungen ^ und "j aussagen, dafs in den Tonstücken, denen sie voranstehen, halbe, oder
Ja \
Viertchioten durch drei Schläge gemessen werden; eine Bezeichnimg, die in unseren sogenannten tri- i
plirten Tacten wiederum eine andere Deutung erhält, indem sie, wie z. B. in dem Tacte, f
ohne die Tacttlieile zu nennen, nur die Tactglieder zählt. Bei den älteren Tonlehrern dagegen bedeu-
teten die Zeiclien ^, ^ so völlig Verschiedenes: die Zeiclien ~^ und aber würden bei ihnen mit
2 4 o 4 A
so wie y mit völhg Gleiches angedeutet haben, da Zähler und Nenner, mit einander verglichen, dort
ein gleiches Verhältnifs ausdrücken. Abgesehen selbst davon aber, liegt in dieser Lehre von den Pro-
portionen aucli eine nahe Veranlassmig zu ^'erwechslung der Begriffe von Zeitmaafs — jener stetigen,
durch ein TonsLück sich hinziehenden, es in gleichartige Zeitabschnitte theilenden Güederung — und
rascherem oder langsamerem Fortschritte der Bewegung, welcher bei gleiciien Maafsen offenbar statt finden
kann. Denn nehmen wir die beiden von Sebald Heydcn aufgestellten allgemeinen Regeln (regulae ca-
tholicaej ') ihrem buchstäblichen Sinne gemäfs an, (wie wir es müssen, weil alle ihnen vorangehende
und folgende Erklärungen diesem ^^ ort verstände gemäfs abgefafst sind); diese nämlich:
1. dafs in allen Gesängen, wahrhaft kunstgemäfs, nur einerlei und zwar die einfachste Art der
Schläge anzuwenden,
2. alle Zeiclien, mindernde oder mehrende, auf den wesentlichen Werth der seinibrevls, als die
Grundlage der gesammten ProporlioTienlehre zurückzuführen seien:
so ergiebt sich uns daraus die augenscheinlich widersinnige \ orschrift für den Chorführer, er habe durch
den Gesang hin, die Hand senkend und hebend, nur jenen wesentlichen Werth der semibrevis zu be-
zeichnen^ und den Ausführenden zu überlassen, in diese Reihe von Schlägen — gleichsam wie der Maler
in ein über ein Gemälde gespanntes Netz — alle verschiedenen Theile und Verhältnisse des Gesanges
hineinzufügen ; eine Forderung, welche wohl die wenigsten Sänger ohne künstllclie und mühsame Abricli-
tung zu erfüllen geschickt gewesen wären, und die den Schlag offenbar nur als IMaafs des Fortschrit-
tes der Bewegung, nicht des Zeltmaafses (nach unserer Art zu reden, des Tactes) voraussetzt, dieses da-
durch völlig zerstört. Richtiger offenbar ist daher die Ansicht Glareans, *) der die mehrenden und min-
dernden Zeichen auf Beschleunigung oder Verzögerung der Schläge deutet, nach Verhältnifs zu dem als
Maafs angenommenen wesentlichen Werthe eines Schlages, wodurch das Zeitmaafs festgehalten, die Be-
') Lib. IL cap. 6. pag. 100. ') Dodecachord: hih. III. Cap. t'IJI. pag. 205.
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wegung auf fafsliche Weise durch den Chorführer geleitet, der wesenthche Unterschied beider gehörig
festgehalten wird.
Es giebt ein lebendiges Wissen, die aus der allseitigen Betrachtung des zu erforschenden Ge-
genstandes hervorgehende Erkenntnifs der Bedingungen seines eigenthüiTdichen Daseins; ein unfrucht-
res dagegen, das nur einerlei Bedingungen für jedes Dasein annehmend, ihnen alle Dinge unterthan zu
machen strebt, dabei den Gegenstand seiner Forschung bald verliert, und sich in sich selber fortspinnt.
Dieser Art war ohne Zweifel eben jenes künstliche Lehrgebäude der älteren Tonlehrer von den Maafsen
und Verhältnissen. Ueber ihren scharfsinnigen Abtiicilungen und Unterabtheilungen, aus der Zahlenlehre
auf die Tonkunst übertragen, vergafsen sie eben des Wichtigsten. Mit vollem Rechte nennen wr es so,
denn es ist nichts anderes, als die Erkenntnifs des Tongewichts, jener Bedeutung, die ein Ton vor
den übrigen ilim gesellten durch seine Stellung zu ihnen gewinnt, so dafs die Folge und gegenseitige
Beziehung aller das IMaafs erst erschafift, und die gleichförmigen Zeitabschnitte, welche dadurcli entstehen
nicht etwa nur jenem Netze gleichen, das der IMaler über ein Bild ausspannt, um dessen einzelne Theile
für seine Nachbildung leichter aufzufassen, sondern dafs sie lebendige Pulse werden, welche durch den
Gesang hin schlagen, und das Lebensblut durch alle seine Glieder ergiefsen. War jene Zeit — die Grenze
zwischen dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderte, und die erste Hälfte dieses letzten — eine Zeit
des frischen AufbliUiens der Tonkunst, wie jene frühere, von der wir ausgingen, ihres Aufkeimens, so
haben jene Pulse, wo nicht ihr Leben durch erklügelte Regeln der Kunstübung willkührlich gehemmt
war, aucli unerkannt, gewifs mächtig und belebend geschlagen; waren sie doch unerlafsliche Bctlingung
des Lebens jeder Melodie überhaupt, durch den immer mächtiger hervortretenden BildungsLrieb in der
Tonkunst also nothwendig mit erweckt. Wir werden an ihrem Orte sie in jenen einfachen ^'olksgesän-
gen wieder erkennen, aus denen, ^^^e das tiefere Leben der Harmonie, so auch der Bewegung für die
Kunst erblülite; in jenen Gesängen, von denen Glarean, der selbst so tief in der einseitigen Richluns; seiner
Zeit Befangene, er, welcher der Lehre von den Verhältnissen nachrühmt: „nur sie allein sei gebildeter
Ohren werth, denn sie falle unter unzweifeUiafte ^Forschriften der Kunst," ') doch mit Begeisterung aus-
zurufen sich gednmgen fühlt: *) „sie rühren AUer Gemüth, prägen sich dem Geiste ein, haften so in un-'
serem Gedächtnisse, dafs sie uns beschleichen, ohne dafs wr an sie denken, dafs, wie aus dem Schlafe
erwacht, wir singend in sie ausbrechen." Auch in der Lehre, (bis gegen das Ende des sechzehnten Jahr-
hunderts Seth Calvisius die rechte Bedeutung des Tactgewichts wohl zuerst erkannte), fehlt es niclit an
einzelnen Andeutungen, dafs man sie mindestens geahnet habe. Frülier jedoch erdrückte jene willkühr-
lich ausgebildete Lehre jede freie Bewegung. Aus der am frühesten den Tonlchrern aufgegangenen An-
schauung von der Fortbewegung war sie ursprünglich entstanden, aus der ^Vahrnehmung des längeren
oder kürzeren Lebens der Töne in der Zeit; das Streben sie zu messen, \ielfacli abzustufen, auf manclierlei
Weise ihre Bewegung verhältnifsmäfsig zu beschleimigen und aufzuhalten, war daraus entsprungen; das
Gefdlil der Bedeutung des Tactgewichtes dämmerte nur leise in den L^nterabtheilungen und Abstufimgen
nach der Drei und Zwei. Fein und künsthch fortgesponnen, verdunkelte die Proportionenlehre dieses
Gefühl immer mehr; bald gestaltete sie sich zu einer von der Tonkunst, und namentlich der Rhytiimik
im ächten Sinne, %'öllig gesonderten Wissenschaft, auf ähnliclie Weise fast wie auf dem Gebiete der Har-
monik, die in sich einseitig forlgebildete kanonische Kunst. Die Menge verschiedenartiger Zeichen,
') Dodecachord: L. III. Cap. VUJ. pag. 205. ') Jb. JI. Cap. 38. pag. 174.
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die man erriinden, die voibeselirleijeneii drei Ai'ten des Maafses, deren Unlcrabllieilungen, die mannig-
fallii^eii Pr()|)()rlioiieii aii.s/.iidrückeii. die grofse Anzahl nnd Vieldeutigkeit jener Zeichen — fast ein jeder
Tonkünsller und Tonlehrcr bediente sicli ihrer in anderem Sinne — machten die blofsc Kenntnifs des
äufsercn Gerüstes der Kunst zu einer höchst schwierigen, veranlafsten nnaufliürlichen Hader unter den
Tonlehrern, unl(')sl)are \'erwirrung unter den Lehrlingen, mid dampften allen geistigen Aufschwung. ')
Auch hier finden ^^ir wieder Josijtiin des Pres unter den ersten, Avelche, jede lähmenden, nur durch
menscliliche Willkiihr bereiteten Bande zeiTcifsend, solche Schranken allein anerkennen, die durch den
Gegenstand und die IMittel der Thätigkeit gegeben sind. Sehr lebhaft und auf merkwürdige Weise äufsert
sein Schüler Adrian Petit CocJicus ^) die mit der seinen übereinstimmende Gesinnung seines Meisters j in
dem von iinn verfafsten Ilandbucbe der Tonkunst. „IMit voller Ueberzeugung," schreibt er, „wünsche
ich der Jugend es unaufhörlich an das Herz zu legen, imd werde nicht müde, sie zu ermahnen, dafs sie
nicht zu lange an den Sclniften der mathematischen Tonkünstler klebe, die so viele Arten mehrender
und mindernder Zeichen ersonnen haben, ans denen kein Nutzen, wohl aber allerhand Gezänk und
Zwietracht hervorgeht, und die eine an sich leichte Sache höchst schwierig machen; sondern dafs sie
alle Kraft des Geistes dahin wende, zierhch singen, und die Worte gehörig unterlegen zu lernen. Denn
Gott hat uns die Tonkunst gegeben, um die Töne auf anmutliige Weise zu verbinden, nicht um zu ha-
dern, imd für einen rechten Tonkünstler darf gelten, nicjjt, wer von Zahlen, Prolationen, Zeichen, Gel-
tungen, Vieles zu schwatzen und zu schreiben weifs, sondern wer angenehm und regelrecht singt, jedem
Tone die gebülnende Sylbe zutheilt, und so setzt, dafs er fröhlichen Worten muntere Maafse giebt, xmd
umgekehrt. — In den Belgischen Städten, wo die Sänger Belohnungen erhalten, wo man, ihrer theilhaft
zu werden, keine Mühe scheut, um zu dem Ziele, einem ausgebildeten Gesänge, zu gelangen, wird in
den Schulen kein Heft in die Feder gesagt noch nachgeschrieben. So auch hat mein Lehrer Josquin
des Pres nie ein solches Heft verfafst noch vorgelesen. Denn er hielt seine Schüler nicht mit langen
und eitlen Vorschriften hin, sondern im Gesänge selber lehrte er mit wenigen Worten die Regel durch
deren Ausübimg unmittelbar kennen. Sähe er die Seinen gesangsfest, in guter Aussprache, angemessener
Verzierung, zweckmäfsiger Unterlegung der VN'orte woldgeübt, so lehrte er sie die vollkommenen und
unvollkommenen \^^ohlklänge kennen , über einen Kirchengesang eine begleitende Stimme erfinden, u. s. w.
Nahm er nun wahr, dafs einer munteren und regen Geistes sei, so lehrte er ihn mit wenigen Worten
dreistimmig, dann vier- fünf- seclissümmig setzen, immer an Beispielen ihn fortleitend. Denn nicht alle
hielt Josquin zu Tonsetzern für geschickt, xmd es war sein Grundsatz, nur solche dahin auszubilden,
die ein besonderer, innerer Drang zu dieser herrlichen Kunst hinzog; denn — sagte er — es giebt so
viele anmuüiige Werke dieser Kunst, dafs Achnliches, oder Besseres kaum einer unter Tausenden her-
vorbringen wird."
Es ist einleuchtend: jener verständige, erfahrne Meister, der (wie wir gesehen haben) die tiefere
Bedeutung der Harmonie zuerst geahnet hatte, dem die belebende, gestaltende Kraft des Rhythmus nicht
entgangen war, habe die Seinen von einem imfruchtbaren, verwirrenden Wissen zu unmittelbarer An-
schauung des Lebens zurückführen, sie in den Stand setzen wollen, die Kunstmittel als Organe der in
ihnen lebenden, schöpferischen Kraft sich anzueignen; damit eben nur dieser Bahn gemacht werde, die
\'erwinung aufhöre, welche leere Gelehrsamkeit, dürftiges Spiel mit den Kunstmitteln, ja mit den
') Seth. Call: exercitalio de origine et progressu musices etc. Lips. 1600. Cp- 131 — 135.^ ') CompenJ, musices.
Norib, 1552. Pars II. de musica Jtgurali.
— 133 —
blofsenZei dien herbeigeführt, habe er nur Solrhe in die lieferen Geheimnisse der Kmist eingeweilit, denen
er lebendiges Eindringen in dieselben, und dessen Betliätigung in eigenem Schaffen zugetraut; er sei um
defswillen zu den Wiederherstcllern der Kunst, und, (wenn auch nur mittelbar), zu den Reinigern der
Lehre zu rechnen. Und dennoch, betrachten ^ir seine ^^crke, wie sehr zeigt er sich noch in der Rich-
tung seiner Zeit befangen; und dürfen wir von demjenigen, Avas sein Schüler aus seinem Munde aufge-
zeichnet, zurückschlicfsen auf den Inhalt seiner Lehre, >vie wenig wufste er sich und den Seinigen Rechcn-
scliaft zu geben von demjenigen, wodurch die Lehre nicht aUein von dem Ueberflüssigen und Verbilde-
ten gereinigt, sondern aucli wahrhaft erneut und belebt werden konnte! VYir woUen jener wunderüchen
Tonstücke hier nicht gedenken, die wir bei ihm eben so wie bei seinen Zeitgenossen finden; jener Ge-
sänge, deren ganze Schwierigkeit allein in der gewählten Bezeichnung liegt, in denen jede der ein-
zelnen Stimmen eine Art des IMaafses und der ihm zukommenden Zeichen darlegt, welche der, in den
andern %orkommenden völlig zu widersprechen scheint, und wo dieser, durch die gewählten Zeichen
mühsam gesteigerte ^yiderstreit durch beigefügte Zeichen eben so mülisam ersonnener Proportionen wie-
der aufgehoben wird. Jene seltsamen RäÜisel sind dem Auge und dem Verslande aUein bestimmt; dem
Hörer versclnvinden sie bei der Ausfidirung völlig, und wohl mochte der iMeister seinen, in ihrem ver-
meintlidien Wissen aufgebliÜiten Zeitgenossen nur zeigen wollen, dafs er ihre Künsteleien nicht darum
verachte, weil er sie nidit zu handhaben wisse. Audi aus jener andern Art von Gesängen wollen wir
kein Zeugnifs wider ihn hernehmen, in denen, scheinbar aus blofser WiUkülir ohne künstlerische Absicht,
widerstrebende Maafse verknüpft sind; wie in jenem fünfstimmigen — einer Prophezeihung der Babylo-
nischen Gefangenschaft, — wo, wiihrend vier Stimmen, nach unserer Art zu reden, durdi den ^ Tact
geregelt sind, (die Zusammensetzung zweier prolaüonum perfectarum, durch welche diese Tactart ent-
steht), in der fünften durchaus der ^ Tact Ctempus perfectinnj angewendet ist; denn es gewinnt fast das
Ansehen, als habe er in trotzigem Ankämpfen gegen jene andere Art der Künstelei, welche das in der
Aufzeidnnmg widerstrebend Erscheinende durdi Enlräthselung als übereinstimmend darzustellen aufforderte,
zeigen woUen, dafs audi das wahrhaft Widerstrebende sich vereinigen lasse, und dafs es eine würdigere
Aufgabe sei, auf diese Art seiner 31elsler zu werden. AUein so unverkennbar auch ein tieferes Verstand
nlfs des Lebens, das der Gesang durch den Rhythmus gewinnt, In seinen besten Werken sidi bethätigt,
ein wie genügendes Zeugnifs unter andern auch jenes so hodi von Glarean gerülimte Ave Maria davon
ablegt; so erscheint Josquin dodi in bei weitem den meisten auch auf diesem Gebiete nur als Componist,
Zusammenfügender; einzelne RhyÜmicn In verschiedenen Stinmien künstlich verschränkend, statt einen
ganzen Gesang durdi rhythmlsdie Entfaltung wahrhaft künstlerisch zu beleben; ein merkwürdiges Beispiel,
wie die Madit der Gewohnheil und des Herkommens auch über den aufstrebendsten Geist herrscht, und
dafs es nicht genüge, des Unfreien zu spotten, sich selber als frei bekennend, sondern dafs man lerne
es zu werden.
Dafs eine freie, rhythmische Entfaltung überall vorbereitet wurde, haben wir aber dem richtigen
Gefühle Josquins und seiner Zeltgenossen zu danken, das Ihre Aufmerksamkeit den Volkswelsen zuwen-
dete, jenen Früchten des unbewufsten Kunsttriebes, die aus dessen frisdier Fülle hervorgegangen,
eben defshalb am ersten geeignet waren, den durch Irre geleitete Lehre verdunkelten Bhck wiedenun zu
erfrisdien, das getrübte Auge für lebendige Ansdiauung zu schärfen. Denn defshalb eben lebten jene
Weisen In AUer Munde, weU sie den allgemeinen Bildungsgesetzen gemäfs lebendig entstanden waren,
welche, wie sie durch die ganze Natur liln walten, so auch der Brust desEinzeben tief eingeprägt sind,
— 134 —
wenn sie auch nicht überall klar erkannt werden. Wir dürfen hier nicht wiederholen, was über die
verfehlte Anwendung volksniäfsiger Gesänge zu Belebung gröfserer, künstlicher Kirchenstücke bereits ge-
sagt worden ; allein der ungemein grofsen Einwirkung alter Liederweisen auf harmonische Entfaltung, imd in
ihr auf tieferes Verständnifs der Tonkunst, des Zusammenhanges derselben mit der damals allgemein vor-
waltenden Richtung auf Erneuerung und Herstellung des kirchlichen Lebens, müssen wir uns hier erinnern.
Wie nun keine wahrhaft lebendige Einwirkimg jemals eine einseitige bleibt, wie das mit Liebe und Lust
Aufgefafsle jederzeit mit seinem ganzen Sein und Wesen, mit allen seinen Kräften auf denjenigen einwirkt,
der sich ihm hingiebt, so auch hier, nachdem die Kunst von spitzfindigen Berechnungen, willkülirlich
erklügelten Grundsätzen, dem Leben wiederum sich zugewendet hatte. Das eigentliümliche W esen der
Harmonie war in der venedischen Schide durch Willaerts imd Cyprians W^erke zur Anschauung gekom-
men; andere Zöglinge der deutschen und niederländisclien Schule hefsen die belebende Kraft desRhj'thmus
in ihren W^erken wiederum erkennen. So Andreas Gabrieli, tiefer noch sein Neffe Johannes; tmd irren
wir nicht, so sehen wir die Einwirkung des deutsclien Volksliedes durch des einen Lehrling, des andern
Mitschüler Hans Leo Hafsler liier wiederum vermittelt, wie ja überhaupt Deutschland und Venedig fort-
währenden, gegenseitigen Einflufs auf einander übten.
Es ist nach allem diesen imscrcr Forschung nicht unwerth, ja, ein unerlafsliclier Theil derselben,
zu seilen, wie jene alten Gesänge rhythmisch geghedert waren, und dazu finden wir hier uns mehr be-
fähigt, als früherhin. Der Schlufs des fünfzehnten, der Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, sind eine
an Denkmalen der Tonkunst reichere Zeit, als das vierzehnte; vieles aus derselben ist uns durch die
immer mehr sich verbreitende Buclidruckerkunst erhalten worden, ^^^e denn auch das Vorhandene durch
allgemeinere Verbreitung einflufsreicher geworden v,ar. IMcist alle die alten Gesänge sind nocli auf uns
gekommen, nach denen Josquin und seine Zeitgenossen ihre Messen bildeten, sie nach ihnen benannten.
Einen grofsen Theil derer, die der fromme Sinn jener Zeit zu Kirchenweisen lieifigte, zeigen umfassende
Sammlungen uns in ihrer ursprüngfichcn Gestalt; mit ihnen liegen uns alte Clioralgesängc in ihrer frühesten
liannonischen Bearbeitung vor, entweder augenscheinlich dem Volksgesange unmittelbar entnommen, oder
doch im Sinne und Geiste desselben in jener Zeit entstanden, mannigfach rhythmisch belebt gegen ihre spä-
tere Gestalt, wo frommer Eifer alle Mannigfaltigkeit dieser Art, als der Kirche mifsziemend, ausgetilgt, sie zu
jener Gleichförmigkeit hingefülirt hatte, welche ihm kirclilicher ^V ürde allein angemessen scliien. Bestimm-
tere Bezeichnung der Dauer aller einzelnen Tonzeichen setzt ims in den Stand, ihre rhytlniiischen Bezie-
hungen genauer zu prüfen , ohne fürchten zu dürfen , dafs wir die Ansichten der Gegenwart willkührUch
auf die aus diesen Rhytlmien hervorgehenden \^ eisen übertragen; und fehlt es gleieli hier wiederum
nicht an Räthseln, indem das einzelne Tonzeichen seiner Stellung zufolge oft eine, durch dasselbe
an sich niclit ausgedrückte Geltung erhält: so finden dergleichen doch in der Regel nur bei den vollkom-
menen — durch die Drei geregelten — Maafsen statt, wo das Messende in bestimmter Stellung gegen das
Gemessene dasselbe um den Betrag seiner Geltung kürzt (^imperjicitj und mit ihm zusammengenommen
erst das Maafs vollkommen erfüllt; dann aber sind sie durch die vorhandenen Regeln auch leicht zu lö-
sen, und nach einiger Uebung darf man kaum mehr besorgen, zu irren.
Der Unterschied des durch die Drei oder die Zwei geregellen Maafses, des ungleichen und des
gleichen, ist der erste, bei jenen Gesängen sich uns darbietende; durch ihn M'ird auch jetzt noch
in unserer Tonkunst jede rhythmische Gestaltung in ihren allgemeinsten Grundzügen geregelt. Es ist
eben der Unterscliied des gleichmäfsig ruiügen und des bewegteren Fortschrittes, sei er nun strebendes
— 135 —
Andringen, anmuthig leichtes Dahinschweben , feierlicli gemessenes Einlierschrciten. Eben weil die be-
wegteren, erselieinen die durch die Drei geregelten Gesänge jener Zeit auch die schärfer, bestimmter ge-
stalteten; und, vne ein richtiges Gefiilil den Unterschied der Drei und Zwei als Regel der Maafse In der
Lehre voranstellte, so mag ein gleiches auch die Benennung des vollkommenen jMaafses für das durch
die Drei geregelte gewählt haben, niclit allein der reiclieren Untcrabtlieilung, der gröfseren Fülle des
darin Befafsten halber, sondern auch der schärferen rhytlimischen Gestaltung, welche ilim eignete.
Das aber befremdet uns, — gewöhnt wie wir sind, durcli unsere Tonstücke ein bestimmtes Maafs
unverändert sich hinziehen, einzelne Theile derselben durch verschiedenes, aber iimerhalb ilirer wiederum
streng festgehaltenes Maafs sich scharf von den übrigen sondern zu sehen, — dafs wir in jenen Gesängen oft»,
mals innerhalb der Glieder desselben Rhythmus die Drei mit der Zwei wecliselnd antreffen. Ein regel-
mäfsiges Fluthen zwischen dem ruhigen und bewegten Fortscliritte erscheint in ihnen als der in dem
Ganzen vorherrschende, belebende Pulsschlag; das IMaafs — jene überein gegliederte, durch das Ganze
sonst auf gleiche Weise vorwaltende Zeitabtheilung — zieht sicli in den Rhythmus zurück, die in ihm
durcli dasselbe gestalteten gröfseren Glieder bestimmen in ihren gegenseitigen Verhältnissen den inneren
Bau des Ganzen. Bald beginnt der Gesang in bewegterem, durcli die Drei geregelten Fortschritte, und
das folgende Ghed des Rhytlimus schliefst sich in ruliigem, durch die Zwei bestimmten Gange an; bald
liebt er ruhig an, und schwebt am Sclilusse des Rliytlimus, sich steigernd, bewegter daher; bald sdJiefst
das eine oder das andere Wechselspiel dieser Art in der Mitte des Ganzen solche Rliythmen ein, deren
gleichmäfsig ruliiger Fortschritt allein durch die Zwei geregelt ist. Docli ist hier nicht jener Wechsel
gemeint, der zwsclien verscliieden gegliederten, an Zeitdauer jedoch gleichen Abschnitten sich darstellt.
Auch ein solcher war damals nicht selten. Je lebendiger die Anschauung von der gestaltenden Kraft
des Tactgewichtes in das ßewufstsein getreten war, um so verschiedener hatte die früliere Bedeutung
manclier Proportionen in der Folge sich ausgebildet. IMan war zu der Ueberzeugung gelangt, eine wesent-
lich abweichende, durch das Gewicht bedingte Gliederung könne auch innerhalb gleicher Zeitabschnitte
statt haben; und müsse da, wo ein solcher bisher durch zwei gleichgemessene Töne erfüllt gewesener
Abschnitt nun durch deren drei, unter sich an Zeitdauer ebenfalls gleiche eingenommen werden solle,
die Bewegung eines jeden einzelnen von ihnen auch verhältnifsmäfsig beschleunigt werden, so erleide
die durch den Gesang sich liinziehende Abtheilung auf diese Weise in ihrem Gleichmaafse docli keine
Veränderung; die Proportion beziehe sich allein auf die verhältnifsmäfsig gekürzte oder gemehrte Dauer
einzelner, gleich bezeichneter Töne, innerhalb gleicher Abtheilungen. Sollte ein Wechsel der Drei mit der
Zwei in diesem Sinne schnell vorübergehend eintreten, so pflcgie man ilin durch Schwärzung der sonst
offenen Tonzeichen anzudeuten ; drei minimae z. B. welche die Dauer von deren zwei ausfüllen sollten
wurden unseren Viertehioten gleicli dargestellt, oder die jetzt ungewöhnliche Bezeiclinung eines schwarzen
Notcukopfes ohne Stiel angewendet, wo eine mit einer minima wechselnde semibrevis eintrat. Ganz
anders verhält es sich mit jenem Weclisel der Drei und Zwei, den wir hier im Sinne haben. Die
Tonzeichen bleiben ihrer Geltung, Ilirer Zeitdauer nacli, dabei völlig unverändert, ein Wechsel der Bewe-
gung, wie Ihn die Proportionen ausdrückten, tritt nicht ein; das versclüedene Gewicht jedoch, das die
einzelnen Töne in geordnetem Wechsel in andere ^ crhältnisse zu einander bringt, läfst dennocli das
Gefülü des bewegteren, des riüiigcrn Fortschrittes in ims entstehen. Es zeigt sich eine Proportion, aber
in völlig umgekehrtem Sinne wie jene vorhin er\vähnte. Dort erschien Innerhalb gleicher Zeitabschnitte
Theilung und Gliederung ungleich, aber nach einem bestimmten Gesetze verhältnifsmäfsig; hier, (die
— 136 —
eiii7.elnen Töne für sich angesehen) finden wir gleiche Theilung und Unterahlheilung, ein cigcnthümliclj
gestallendes Gcselz aber bildet ungleiche, auf dieselbe Weise jedoch verhältnifsmäfsige Zeitab-
schnitte -wie zuvor ihre Theile, ihre Glieder es waren '). Die Bezeichnung des Eintrittes solcher ver-
änderten Verhiillnisse suchen wir vergebens in der Tonschrift jener Zeit, aucli konnte sie nicht wohl
vorhanden sein. Die Zeichen der Proportionen drückten ein ganz anderes, späterhin eben das umgekehrte,
aus • die Anwendung eines verschiedenen Zeichens in der Mitte des Rhythmus hätte diesen anscheinend zer-
trennt den Ausfiilirenden verwirrt. Seinem Gefiilile also blieb es überlassen, das richtige Gewicht, die
angemessene Betonung zu treffen, welche dem Aufmerksamen, von der Zeit Getragenen, sich- wohl über-
all von selber aufdrang; weniger freilich uns, die wir an das Glelchmaafs gewöhnt, durch ein Flulhen
solclier Art wie es neuere geistvolle Tonkünsller meist nur neckend und scherzend angewendet lia-
^jgjj uns leicht beunruhigt fühlen, uiul Indem wir auch hier das Glelchmaafs geltend machen wollen,
das An-^ehörige trennen, das Gewicht unrichtig verthcllen, den lebendigen Gliedern des Gesanges lähmende
Fesseln anlegen. Sollte jene Zeit — obgleich sie nirgend darüber sich ausspricht — in den einzelnen,
für die Ausfülirenden bestimmten Gesangsslimmen gröfserer Tonwerke die Tactstriche, deren es zu bes-
serer Verthellung des Einzelnen unter das zu Anfange vorgezelehnete Maafs sonst bedurft haben würde,
absichtlich weggelassen haben, weil eine solche strenge Verthellung überall nicht statt finden sollte?
Partituren die uns darüber Aufklärung geben könnten, kommen in jener Zeit selten vor, denn die-
jenigen Prachlwerke wird man nicht so nennen wollen, in denen ein Buch auf je zwei einander gegen-
überstehenden, in der Mitte getheilten Selten, alle Stimmen eines Tonwerks umfafst; sie sind Stimm-
bücher wie jene, und ermangeln der Tactstriche wie sie. Finden wir aber wirklich — wie meistens
erst zu Ende des sedizehnten , zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts — alle Stimmen zu gemein-
schafthcher Uebersicht auf einem Blatte über und untereinandergestellt, so sind mehr die einzelnen
Glieder als die Tacte des Ganzen durch Striche gesondert, und eine Abtlieilung dieser letzten Art
') Zivei Choräle der evangelischen ICirche in ihrer ursprünglichen Gestalt, rhythmisch (nicht tactischj eingetheilf,
werden das hier Gesagte verdeutlichen f die ll'eise des letzten von ihnen gehört urkundlich einem l'olksliede an.
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fergl. auch die Notenbeispiele I. B. 4. o und b.
— 137 -
konnte auch da erst recht amvendbar,ja Bedüvfnifs ^verden, als das Glcichmaafs die unbedingte Ilerrscliaft
gewonnen halte, als zu Bezeichnung schnell dahinrollender, unter sich nach mannigfachen Verhältnissen
der Lange und Kürze verbundener Töne eine Menge Zeichen erfunden waren, welche, immer mehr ver
^-Ielfalt■st und mannigfacher abgestuft, es wünschenswerlh machten, die in einen Tact zusammenzufassenden
durcl, dessen sichtbare Abgrenzung erkennbar zu machon, damit sie leichter in die gehörige Bezielmnc
zu bnngen seien, das zukommende Gewicht ihnen sicherer zugetheilt werden könne. Tonstücke von
grolserem Lmfange vermögen frellicli nicht, eine so leicht übersichtliche rhythmische Gliederung da«ule
gen, als em Lied von wenigen Zeilen. Haben wir j.doch einmal die Eigenthümlichkeit jener Ghedmm.
w,e Sic ni \olksgesängen jener Zeit hervortritt, recht aufgefafst, sie in unser Gefühl lebendig auf.enom
mcn, so werden mu- sie aucli in dem Baue grofser und kimstreicher Gesänge leicht wiederfinden "inner
halb des ernsten, ruhigen Flusses kirclilicher Gesänge spielt die Woge bewegteren, zarteren Gefüldes
hmem, durch jenen \A echsel dessen wir gedachten; das durch die Drei geregelte Maafs tritt im Lob-^esan-^e
bedeutend hervor, m seinen schärfer, bestimmter gestalteten Gliedern bricht die Begeisterung mächtl-^
heraus, oft ist in dem lorangehenden es schon zart und leise angedeutet: gewöhnlich aber, ja wir dürf
ten sagen jederzeit, endet das Ganze wiederum in jenem breiten, ruhigen, durch die Zwei ^erec^elten
Strome des Gesanges. Ja, wir finden ganze heihge Lieder - me Palestrina's allbekanntes Stabatmattr _
auf jenen Wchsel der Drei und der Zwei gegründet, wie Um sclion das trocliäische Maafs des Gedichtes
hervorrufen mufste. In jeder einzelnen Zeile bricht die Drei hervor aus der Zwei, und sinkt wiederum
in sie zurück. Als in der Mitte des Ganzen, was früher Erzählung, theilnehmende Klage n-e^vesen zu
einer Anrufung der Mutter des Herrn sich gestaltet, tritt das Maafs der Drei, lange vorgedeutet, nun un
bedingt herrschend hervor, im voUsten Glänze stralJt es aus in den erweiterten Rhythme^n auf die WortT-
„dals ich mit dir traure, gieb" — „lafs mein Herz in Lieb' erglühen gegen meinen Gott und Her-
ren" ')— dann zieht es allgemach wiederum in jenen anfänglichen Weclisel sich zurück, und die letzten
Töne des Ganzen werden durch das ruhig ernste IShäk der Zwei geregelt. So bricht die Passionsblume
in ihrer wunderbaren Gestalt hervor aus der unscheinbaren Knospe, um, wenn sie ihren vollen Glanz
entfaltete, in die grüne Umliüllung die ilin bisher verbarg, keusch zurückzusinken.
Auf vielfache Weise geben heilige Gesänge jener Zeit das allgemein ervvacbte Streben nach rhyth
mischer Entfaltung kund. Das aber erscheint dabei überaU als das Bezeiclmende, dafs das stren-e Maafs
sich verbirgt, das an sich Gleichgemessene durch das Gewicht dennoch verschieden gestaltet Mird. Das
Gefülil von der grofsen Bedeutung erweiterter Rhythmen, durch welche der Strom des Gesan-es z^u
mächtiger Breite unerwartet anschwUlt, zeigt sich besonders lebendig; und nicht allein auf solche \^ eise
finden wir jene Erweiterung angewendet, dafs ein bereits früher eingeführter RhyÜimus, das ^'erhältnifs
seiner GUeder bewahrend, sich vor uns ausbreitet: auch wo ein solcher zuerst erscheint,' dehnt er in der
Mitte oft sich aus, verweilend und schwebend, gleichsam um auf der Höhe des Gesanges die frische Lust
des Ausstrahlen« der Töne recht zu geniefsen ^). Diese Elgenthümliclikeit haben wir vorzüglich zu be-
achten, wenn wir das innere Verhältnifs seiner Ghederung recht erforschen, und ihn nicht nadi den Re
geln unserer heutigen Tonkunst beurthellen wollen, durch welche er nicht gemessen werden darf. Zu
') Fac ut tecum lugeam.
Fac vi ardeat cor meum
In amando Christum Deum.
») rergl den vierten und fünf ten Tact des ersten Soprans in dem Xotenbeispiele I. A. 7.
C. V. Wiaterfeld Job Gabrlell u. i. Zeitalter. - ^
— 138 —
dieser besonderen Art rhythmischen Baues mögen die Gesangsformehi für die Psahnen und heiligen Lie-
der Veranlassung gegeben haben, deren verweilendes Schweben auf einem Tone in der Mitte, dessen
Zeitdauer durch die Länge des llim zugelheilten Verses bedingt war, wir darin wieder erkennen.
Die Synkope — damals eine neue Erfindung und allgemein beliebt — hebt in einer oder meh-
ren der zusammenklingenden Stimmen das Maafs völlig auf, während eine derselben es festliält. Das
ordnende Maafs verbirgt sicli ohne dadurch un^virksam zu werden, denn eben weil seine Wirkung leben-
dig &|rtempfunden wird, erhält ihre Störung einen eigenlhümlichen Reiz. In dem durch die Zwei geord-
neten Maafse hat sie vornehmlich, wenn auch nicht ausschliefslich, ihren Sitz, wie Erweiterung
und \'erengung der Rhythmen in dem durch die Drei geregelten; denn auch eine Verengung finden wir,
wenn gleich mehr in der weltUchen, als kirdilichen Tonkunst jener Zeit. Kommt sie in dieser vor, so
haben wir in der Regel sie mehr als Synkope zu betrachten; denn, im strengsten V^erstande genommen,
hebt sie das IMaafs der Drei plötzUch und unerwartet auf, zerschneidet den Tact in zwei durch die Drei
gemessene Hälften, und das Gefühl empfindet in ihr mehr eine plötzhche, störende Rückung, als jenes
die Rhythmik jener Zeit bezeiclmende, geregelte Hinüberwogen.
Ein anderes noch ist es, wodurch die Synkope in der damaligen Tonkunst bemerkenswerth er-
scheint. Sie und der Durchgang (celeritasj waren die einzigen Mittel in jenen Tagen zu Einfidirung
der Dissonanzen, deren man sich damals nur als einer zufälligen Würze bediente. Im Durchgange,
im schnellen Dahinrauschen, sollten dieselben so gestellt werden, dafs, von vorangehenden und folgenden
Wohlklängen umfchlofsen, fie bei lebendiger Bewegimg ohne Verletzung des Ohres zugelafsen werden
könnten, dafs zum Nachtheile rhythmischer Mannigfaltigkeit ihr Eintreten nicht vermieden werden dürfe.
Die Synkope aber fiihrte sie eben als solche ein; ihr Eintritt war auf den guten, ilire Auflösung auf
den schlechten Tlieilen des Tactes ausdrücklich vorgeschrieben; die Aufhebung des IMaafses sollte durch
sie auch als Trübung des Wohlklanges angekündigt, dieser in der Nähe des Mifsklanges fast nur geduldet
werden, bis er bei Wiederkehr der Ordnung imi so freucfiger wiederuni ausstrahle. An vielen Orten
äufsern alte Tonlehrer sicli darüber, in welchem Sinne IMifsklänge A'on ihnen angewendet werden. „Töne
wollen nicht verschmelzen" sagt Seth Calvisius, „wenn kein harmonisches Verhältnifs sie befafst; ein
jeder strebt dann aus aller Macht, seine Eigentliümllchkeit zu bewahren, und defshalb stehen sie einander
feindlich entgegen, und dringen mit Beschwerde in das Ohr. Dennoch dienen sie (wenn der Sinn der
Worte es erheischt) als Uebergänge, als ftllttel die Harmonie raulier zu madien, sie zu schmücken und
zu vermannigfaltigen. Denn besteht die Harmonie gleich meistens imd vorzügüch aus den Wohlklängen,
so wird doch, wenn diese Sättigung hervorgebracht (wie es bei älmhchen Dingen zu geschehen pflegt)
dieser Ekel durch die Mifsklänge gehoben; die folgenden Wohlklänge erscheinen dem Ohre süfser und
angenehmer, wie nach der FInsternifs das Licht, das Süfse nach dem Bittern uns doppelt ergötzt. "
Ueberschauen wir imnmehr, nach Inhalt der gegenwärtigen Ausführung, und der vorangehenden
Abthellungen , wie den älteren Tonkimstlem ilire Kunst harmonlscli und rhythmisch sich gestaltet habe,
so erkennen wdr: die Lust an dem Klange war bei ihnen das Vorherrschende, und in Ihr wiederum die
Freude an den Wohlklängen, an deren bedeutsamer Beziehung auf einen gemeinsamen Mttelpunkt;
das Maafs, das überall regelnde und gestaltende, wollten sie heber in den einzelnen Gliedern Ihrer
Gesänge als das ordnende wahrnehmen, in deren Verhältnissen übereinstimmenden Bau erkennen, als
durch das Ganze hin das Maafs unbedingt streng walten sehen. Je gröfsere IMacht eine Weile die Zahl
über sie geübt, um desto mehr wollten sie fühlen, dafs das Ge\vicht das eigentlich Belebende und Gestal-
— 139 —
tende sei, dafs auch in freiem \VecIisel das Maafs dadurch nicht aufgehoben, sondern in \"\'ahrhcil ersl
erschaffen werde, dafs ohne dasselbe die Bewegung, mannigfach abgemessen und durch die Zahl bc
schleunigt oder aufgehalten, nur ein formloses Dahinrauschen der Töne sei. Je mehr die Lehre versäumt
hatte, ihre Betrachtung auf dassell)e zu richten, um so eindringlicher sollte es die Kunstübung als das Bele-
bende darstellen, in seiner scheinbaren Aufhebung sollte seine JMacht erst recht fiililbar werden. Je mannin-fa-
dier, bunter, leidenschaftlicher be^^•egt das Leben erschien, um so mehr sollte die Kunst, wenn auch
überall in Uebcreinstimmung mit dessen reicher, glanzvoller Erscheinung, das Ridiige, Gemessene, würdig
Ernste darlegen; an ihm ^\ollte das Gemiith sich erheben und beridiigen. Jene Fülle von Mifsklängen,
deren Verbindung das Gemülh aufregt, luid im \'ereine des Widerstrebenden dennoch dem Ohre nüt
Wolillaut schmeichelt, jene keck, gewaltig, stürmisch anstrebenden, brausend hinabrollenden, sanft dahin-
gleitenden Rliythmen, mit denen unsere Tonkunst das in ihr streng festgehaltene Gleichmaafs mannig-
facli übcrkleidet, alles dasjenige, wodurch sie den inneren Sinn in bedeutungsvollem Spiele anzuregen,
zu beleben, zu erfrischen strebt, lag der I^unsl jener Tage fern; in der Verwandtschaft der Klänge wie
sie in der Natur hervortritt, sollten, nachdem die kindische Kunst lange nur bewufstlos mit ihnen ge-
spielt, fromme Stimmungen des Gemüthes sich abspiegeln, die tiefsten Beziehungen zu dem ewigen Quell
alles Seins kund werden; in dem Wechsel der Töne sollte Gleiches und Ungleiches, mannigfach geson-
dert und gepaart, hervortreten, eine höhere Ordnimg da kund werden, wo das ordnende Gesetz scheinbar
zurücktrat. Dafs nach vielerlei Mifsverständuissen die rhyünnische Kunst auf diese Weise sich gestaltete,
haben wir dem Abwenden von wülkülirhch ersonnenen Gesetzen, der Ilinneigimg zu den Erzeugnissen
des unbewufsten Kunsttriebes in dem \ olksgesange zugeschrieben; und forschen Mir nach anderen, äufse-
ren Beziehungen, um iliren Bildungsgang zu erklären, so finden wr diese leicht in der immer mehr wach-
senden Liebe zu dem klassischen Alterthume, der sich ausbreitenden Bekanntschaft mit demselben. Die
lyiisdien Maafse der Alten scheinen die gebildeten Tonkünstler jener Zeit durch ihren eigenthümlichen
Schritt besonders angezogen, sie zu musikalischer Darstellung derselben vermocht zu haben. L^m 1.534
gab Ludwig Senfl seine Bearbeitung horazischer und anderer antiker 3Iaafse heraus; die Vorrede und
Zueignung des Simon MinerAius an Bartliolomäus Sclirenck, Patricier zu jMünchen, berichtet, dafs friüier
sollen Peter Tritonius eine solche versucht, seine Arbeit aber aus Bescheidenheit zurückgehalten und
auf Senfl als den tüchtigem, einem solchen Unternehmen mehr gewachsenen Meister hingewiesen habe.
Glarean erzählt uns, er habe um 1508 als Jüngling von zwanzig Jahren vor den versammelten MitgUe-
dem der Universität Colin den Ilerrmann v. d. Busche '), (nach des Erasmus Zeugnifs einen trefflichen
Dichter jener Zeit) ein Lobüed auf jene alte Reichsstadt in heroischen Versen, und in der ionischen Ton-
art, zu seinem grofsen Ergötzen absingen hören. Er selbst habe die musikalische Bearbcilung einiger
horazischen Oden versucht; man habe sie ohne seinen ^^illen, und ohne ihn zu nennen, in Deutschland
herausgegeben, und, seiner Absicht entgegen, die nur einem bestimmten Gedichte angeeigneten, von
ihm erfundenen Gesangsweisen, auch auf andere von gleichem IVIaafse übertragen, was jedenfalls unzweck-
mäfsig ersclieine. Da in allen diesen alten IVIaafsen der PJiythmus überwiegend hervortritt, strenge Gleich-
mäfsigkeit des Tactes im Siime unserer Tonkunst auf sie nicht angewendet werden kann, wie es Glarean
zugesteht, mit dem Bemerken, dafs seine Behandlung derselben affcktvolle Stellen — nolulae nffectnum —
') Derselbe , der nachmals vm die Zeit der Wiedertüuferischen Vnruhen sieh !n Münster befand, und nährend der-
selbeit zu nUlmen starb. Cap. /'. p. 85. 86. l'Il. p- 124. Jochnius. Geschichte der liirchenreformation tu Miinster.
IS'
— 140 —
enthalte, die er des Lesers Urtheil anheimgebe, so zeigten sie ein demjenigen Aehnliches, was, von
innerem Triebe bewufstlos bewegt, auch der Volksgesang offenbart hatte; die Hinneigung zu diesem, so
wie die Riclitnng auf Wiederbelebung des Altcrtlunns, treffen auf eigenthümliche Weise zur Ausbildung
der Tonkunst zusammen. Wir haben schon erwähnt, dafs Seth Calvisius in der Lehre den Lnterschied
des Tactgewichtes zuerst ausgesprochen habe, jener verschiedenen Bedeutung, welche die Töne ge-
winnen, sofern die Senkung oder Hebung der Hand bei Andeutung der Schläge auf sie trifft. Diese
erkennt er jedoch nur in dem durch die Zwei geregelten Maafse, mindestens spricht er nur in Bezie-
hung auf dasselbe sie deutlich aus. Durch sie erhielt dieses Maafs vier, je zwei und zwei unter sich
gleichwiegende Theile, der erste und diitte als auf den INiedcrschlag treffend, von gröfserem Gewichte.
Des vollkommnenen, durch die Drei geregelten Zeitmaafses, des durch das Gewicht begründeten Unter-
schiedes seiner Theile — so viel bestimmter und scliärfer derselbe aucli hervortreten möge — finden wir
bei ihm nicht gedacht. Glarean dagegen macht diesen Unterscliied, wenn auch nur beiläufig, an der
Metrik der Alten deutlich. Im siebzehnten Capitel des dritten Buches seines Dodecachords bemerkt er:
„es seien Einige, welche die jenem Maafse widerstrebende zweilheilige Scheidung bei demselben anwen-
deten," und in dem folgenden achten Capitel: „er möge dieses Maafs am liebsten das trochäische
nennen, werde auch zuweilen ein Jambus oder Tribrachys angewendet." Forscht man dem Sinne dieser
beiden Aeufscrungen in ihrer gegenseitigen Beziehung ferner nach, so gelangt man leicht zu dem Ergeb-
nisse: dafs, wenn drei semibreves axif einen Schlag — jenen präclitigen und erhabenen, wie Glarean
ilm nennt — gerechnet werden, die Anwendung der Zwei auf diese Art des Maafses nur auf den Auf-
und Niedersclilag sich beziehen könne; dergestalt, dafs, wo es trochäisch, mit voi'anslehender Länge,
erscheine, dem Niederscldage zwei, dem Aufschlage ein TheU; wo jambisch, dem INiederschlage ein,
dem Aufschlage zwei Theile des Maafses angehört; wo tribrachysch, zwar eine gleiclie Abtlieilung
als die letzterwähnte statt gefunden, jedoch ohne das, dem Aufschlage durch sein Längenverhältnifs gegen
den Niederschlag beigelegte Uebergewcht. Als das Bezeichnende nahm man also hier eine durcligängig
ungleichartige Vertheilung des Gewichts inid IMaafses innerhalb der einzehien Schläge waln-, im Ge-
gensatz des graden, durch zwei Längen gleich gemessenen, und daher auch wohl spondäisch genan-
ten Maafses. Eben defshalb vieUeiclit ist die firühere Benennuns; vollkommenen luid unvollkom-
meuen Maafses nachmals durch die des ungleichen und gleichen verdrängt worden, mit Beziehung
auf die verscliiedene Zeitdauer der Senkung und Hebung innerhalb eines Schlages.
So erneuend und fruchtbar aber auch der Eintritt des Volksgesanges in die heilige Tonkunst, die
wachsende Kenntnifs des Alterthums, für dieselbe sich zeigt, so müssen wir doch jener alten Proportio-
nenlehre, erkünstelt und einseitig in sich fortgebildet wie sie sein mochte, dennoch zugestehen, sie sei
nicht völlig unfruchtbar fiir die Kunst gewesen. Als der fiir die Tonkunst neu erwachte Sinn ihr Leben
in der Zeit erkannt hatte, das flüchtige Dahingleiten, das endliche ^'erschw^nden der Töne, war es sein
Bestreben, diesem Strome ein Bett zu ebnen, in w elchem er wohlgeregelt fortzurollen, dem Beschauer die
ruhige Beobachtung seines Laufes zu gönnen vermöge; sein rasclieres, sein ruhigeres \ or^värtsstreben
sollte sicheren Gesetzen sich fiigen. Aber nidit in der Bewegung als solcher allein, offenbart sich der
Geist der Tonkunst, sofern ihr Leben an die Zeit geknüpft ist, also aucli nicht ansschliefslich in den ge-
regelten Verhältnissen ihres schnelleren, ihres langsameren Fortschrittes. Die dahinschwindenden Töne
sollen auch als Gestalten uns erkennbar werden, niclit den flüchtigen, wenn auch grofsartigen Eindruck
eines gewaltigen Stromes allein, auch den eines, unserem inneren Sinne sich entfaltenden, vor ihm dahin-
— 141 —
t^t:;rl:'^:^1 e„tschwu„de„ doch fest anseprägten Bildes sollen sie uns gewahren. So
geslalteten s,ch die Gheder des Gesanges, In den durch das TongewJcht Reo-ebenen schönferischen C.
f^Geir 'T,rf ", '"r'"^'^' ''-'' ''-'- - ^'-" V:rhaUnIssLfu ::L^^^^^^^^
v.^^^^^^^^^^^^^^ ^" '^^^-^-- ^-»^ ^-- ß'^.— „g entzog siei. die lebend|
eTb IdelT^^ r ' f"" Glcichgemessenen in mannigfachen Verhältnissen die GlLder ihrer Gestal
Befirnnf™^^^^ H " J""' ""'''^" "'" '" '^^" 'P'^'"^ ^"'^ ^'-- «- vorübergehende
,W XX^^^^^^ ^'V- ""''■' ^'^ — "^^-'d völlig weg, dem müchtIgen'vYaHen
P^äTZtlCZ^ - gan^bcher PLngebung sieh überlassend. Allein der Verstand, ^mmerdar
Srltetr, . p'r''"^r'^'"' '" ''^"•^"' S-«*^^-»' S-^ärkt eben in dieser Hingebung, befesti-^te
one, sa es der dnich s.e gebddeten Gheder des Gesanges, und strebte zu dessen lebendiger Anschauung
undurch.udnngen. ^^^ er nun zuvor Gleiches und Ungleiches übereinstimmend abzngrelen ve 3
(da durch die Zwe. und die Drei, auch M^ohl künstlidiere Zalilen Geregelte) entdeckte er eTlcrdTfl'
oudi eme Veremigung beider müglich sei; Abschnitte, gleichgemessen dutch iet ^ i: d^^; 1^^^^^
lungen geghedert durch die Drei. So entstand die Anscliauun-^ triplirter T.h/ ,
Toi^ehre sie nenn, gebUd. durch das Fortwirken der Richtu^, ::lr^;/^^o::Z:: ^
hatte, wenn auch iese m dner früheren Gestalt nicht mehr voriianden war. Etwas dieser T tar A hn
hchcs zeigt Sich bereits in Tonwerken der ersten Hälfte des seclizehnten Jalirhunderts, ocl^^W t^^^
dasselbe uixi ^eseZcit hervortHt., die Lehre immer noch die Drei als das allein Regelnde T I^LZ
zt;- irr r. rr,r f: -.--:-; * r-,i— x:
.e„.c T„„o «,„e„srfafi. „.*„ sollten, «.eil v„„ sechs »„.■„„•,„■„„■. dleZei.H„„„ ausjll™ L
welche SCSI deren vier eingenommen; « „eil die von ™ei „„„;„„-, erfullle Zeitdaner nun .„„ ,,. '
d. se laelart als o,„e gerade, in ihren beiden Ahlheilun-en durch die Drei ge-liederle zu denken tl I
nee s,e m,.| und se,* dieser Proportion das Zeiche.: der doppeUen Vel „de™ g ," rt "^c "^
!! i:: rixtie' iir ^-t- ""•"-'• ^■™'" ■»"• '- '^ -*» .-od',.™: :^
rius sich vorlllid „ 1 f """ f™" " »■"■ '"' ™ »'» ßel^pi* derselben bezieht Prä.o-
Ich '^"''"',"'"''/'J™'- r™»<«scl,e Tanzmeistcr, so erzählter, halten allezeit den un.|ciel>en Ta«
HldTd des A 7"'^" ','"" »'""'"" ^'■''"''" ^™*"' ''™' "-'■' "■ hä"r«;eBo.ves„n. d
uL „och uhHg is,,^i:rdie";::„;:r "ter^^^^^^ i:-. *'■;-":-»■
') JUegahjaodia Sionia iN>. 14.
einzelner Meister, ihre Werke durcli dieselbe inRäthscl zu kleiden.
— 142 —
„nd etwa die Benennung Proportion oder Proporz für den SchlufssaU einzelner Tanzslücke, ^venn
... i,n «n-^eradon Tacle gleiche Bewegung hallen soll mit dem ^'orangehenden , nach geradem Tacte ge-
messenen" Auch in der Wahl der ^otengattung für Motetten und Madrigale dämmert noch etwas von
•hr- für i'ene werden die gröfseren Noten gewählt, ihnen das Zeichen beschleunigter Bewegung vorange-
' tzf die kleineren für diese, mit der Vorzeichnung langsamer Bewegung; dem Wesenthchen nach
werden beide Notengattungen dadurch vüUig ausgeglichen - wie in jenen früheren ProporLonalrath-
sein - und der Sinn bleibt endlich nur der, dafs auch bei gleicher Bewegung, dort em nachdruckh-
eher ernster, hier ein leicliter Vortrag eintreten solle. In diesem Sinne, von ihrem früheren S^"^ «b- f
weiiend, stehen bei Prätorius nun z. B. die Zeichen ? und ^ gegenüber, den Motetten jenes, den Ma-
drigalen dieses angeeignet; eben so im geraden Tacle die Zeichen des ungeschlossenen, und des nach der
Rechten lün von dem Durchmesser begrenzten Halbkreises, wie beide nocl. jetzt m unserer Tonsdmft
übhch sind; doch gesteht Prätorius zu, man habe sich ihrer schon damals nicht m gleichem Smne, gleich- 1
.eiti-^e selbst neben einander lebende Meister oft in ganz verschiedenem bedient. Die Bewegung zu be-
zeichnen schienen sie daher unzureichend; und bald beschränkten einzelne Meister, wo sie es für erfor-
derlich hielten, sich darauf, ihre Absicht durch Worte im Allgemeinen anzudeuten; „ein hochnolliig tn-
ventwn" (wie es Prätorius nennt) um Verwirrungen vorzubeugen. ')
Wir haben in dem Vorigen die Proportionenlehre mit der, eine Zeitlang gleich einseitig ausgebil-
deten kanonischen Kunst verglichen; so eben haben wir der Motetten und Madrigale zu er>vähnen
Gelegenheit gehabt, sie in unmittelbarem Zusammenhange mit der Pxliylhmik, und deren Beze.clinung in
mittelbarer Beziehung auf dieselbe betrachtet. Wir finden hierin den Anknüpfmigspunkt für einen kurzen
Bericht über diese Gattungen von Tonstücken und Uire Benennungen, welcher die Stelle, die er hier ein-
nimmt, durch sicli reclitfertigen möge.
Was wir jetzt Canon nennen, hiefs bei den alten Tonlchrern und Meistern Fuge, die strenge
Nachahmung einer Stimme durch andere, nach einem bestimmten Zeit- und Tonverhältnisse ihr nach-
folgende mit ihr zusammenkhngende. Man sähe es an, als treibe die eine Stimme die andere vor sich
her- defshalb der Name von der im mittleren Latein vorkommenden Bedeutung des Wortes fuga als
Jacrd und Ja-dredit. ^) Eben jene strenge Nachahmung fülirte leicht darauf, dafs eine Stimme als Keim
des Ganzen die anderen enthalte, dafs diese aus ihr entwickelt werden könnten. Der Neigung jener Zeit
zufol-e in welcher Harmonie und Rhythmus zuerst wieder aufzideben begannen, wurde nun ein ganzes
TonsÜick jener Art gchcimnifsvoU und räthseUiaft in eine Stimme verschlossen; zur Lösung des Räthsels
mufste das Ton-, das Zeitverhältnifs gefunden werden, in welchem eine, oder mehr folgende Stimmen der
gesehenen sich anschliefsen sollten. Dazu bedurfte es einer Regel, am dringendsten da, wo die folgenden
Stimmen in ihren Wendungen, in der Geltung ihrer einzelnen Töne, der ersten nicht unverändert, wenn
^uch in diesen Abweichungen streng durch sie geregelt, nachfolgen soUten. Diese Regel, oft wiederum
in den wunderlichsten Sprüchen als Räthscl gefafst, nicht das Tonstück selbst, hiefs Cano». Beides
ergiebt schon der Wortverstand unmittelbar, läfst auch die spätere Bedeutung des Wortes Canon sich
rechtfertigen, da eine Gattung, in welcher eine Stimme die streng bindende Regel für eine aus ihr zu
^rergleiche wegen dieser letzten Aeußervng Syntagma III. Cap. VlI. pag. 51. und wegen des Vorhergehenden, V>.
pae:. 73 "6- T^" sextuplo seit tactii trochaico diminuto.J
») D« Gange ad loe: Fuga. Call: Oiasse vel chace : Venatio, yis venationh. quia venando fugantur ferae etc.
— 143 —
entwickelnde iMehrheit in sich schlofs, wohl vor andern den INamen der regelrechten, ja einer Regel
selbst, verdiente. Wir haben früher die Ansicht aufgestellt: jene, einem strengen inneren Bau unterwor-
fene, alle Freiheit ausscliliefsende Gattung, wie in diesem Baue sie eben nur dem die Tonzeichen über-
schauenden Auge völlig verständlich sei, deute zugleich auf eine abhängige Stellung der als Kunst ihre
Gestaltung beginnenden IMusik zu den bildenden, auf der Bahn ihrer Entwickelung bei weitem mehr vor-
geschrittenen Künsten; in dieser Abhängigkeit werde zugleich die Erscheinung gerechtfertigt, dafs so sinn-
reiche Tonverwebungen als die ältesten Erzeugnisse der Kunst mehrstimmigen Gesanges hervorträten.
Dafs in der ganzen \\ eise der Gestaltimg solcher Tonverwebungen aber die frühesten, rohesten Ansichten
von Bewegung und Zusammenklang thätig sind, eben nur Treiben und Eilen, Vorangehen und Folgen
ergötzt, eben nur die Lust daran hervortritt, dafs diese nebeneinander hingehenden, einzelnen Tonverbin-
dungen iliren gemeinsamen Lauf wohlkhngend ohne lästige Mifstöne zu vollenden vermögen — alles
dieses mufs unsere Verwunderung damber mindern, dafs eine eben nur beginnende Kunst in Bildungen
hahe hervortreten können, an denen jetzt imr der vollendete Meister sich bewähre. Denn sie waren und
sind eben nicht Kunstwerke im höchsten Sinne; damals kindische Spiele mit den Kunstmitteln, an denen
der neu erwadite Bildungstrieb seine Kraft übte; Uebungen jetzt, an welchen die erworbene Kraft sicli
erprobt. Versuche, auch da noch höheren Forderungen zu genügen, wo jedes Aufstreben durch wilUcühr-
liche, beengende Schranken gehemmt wird. Jenem rüstigen Drängen und Treiben, wie es, an eine bin-
dende Regel streng geknüpft, die Anfänge der harmonischen Kunst in der Canonik bezeiclinet, wäre die
Verbindung mit einem ruhig, gleichmäfsig, selbständig Fortschreitenden schon des Gegensatzes AviUen na-^
türUch gewesen, es würde einen solchen aufgesucht haben, hätte es ihn nicht bereits vorgefunden in
jenem alten, überlieferten Kirchengesange, welchen zu schmücken, ihn mannigfaltig zu lunspielen, in die-
sem Spiele die Bedeutung der Kunst wie man sie damals erkannte, zu offenbaren, eben jene Zeit strebte.
Aber das Zeit-, das Tonverhältnifs, wodurch jenes Spiel geregelt werden soll, mag der Bhck des die
Stimmen überschauenden Kundigen, mag vielleicht selbst das Ohr des einfachen Hörers wahrnehmen; es
bleibt immer nur das Bedingende, nicht ist es das Belebende, durch das Ganze hin mächtig Vor-
herrschende und Gestallende. Ist der Lauf, den es regeln soll, einmal losgelassen, so geht er stetig fort,,
imd mag an einzelnen Punkten uns auch gestattet sein, jene ursprünghchen N'erhältnisse wieder zu er-
kennen, so entsch\^^ndcn sie ims docli bald wieder in jenem rastlosen Forteilen. Eines gemeinsamen
Mittelpunktes also bedarf es, von welchem aus eine belebende Kraft jenen Lauf regle und gestalte; und
diesen giebt zuvörderst die rhythmische Entfaltung, die Gestaltung des Zeitverhältnisses, damit,
was in der Zeit, sich verdrängend, auf einander folgt, dem Sinne als ein ruhendes, aus neben einander
bestehenden Theilen hervorgehendes Bild erkennbar werde. Wie aber in verschiedenen W^endungen und
Stellungen seiner Glieder ein lebendiger Leib erst recht das Wesen ihrer Verhältnisse, seiuc aus ihren
Beziehungen hervorgehende Bedeutung darlegt; so soll auch das Tonbild, damit es vollkommen gestaltet
sei, dem Zeitleben seiner BestandÜieile gemäfs, ein imter mannigfach wechselnden Bedingungen erschei-
nendes, dennoch aber stets dasselbe sein. Eine höhere Regel offenbart sich nunmehr in den durch rhyth-
mische Entfallung hervorgehenden Motiven; der, jene künstlichen Tonverbindungeu bewegenden Kraft,,
aber auch den stetigen, das BewegKche gestaltenden, das Ganze oder einzelne Theile desselben beleben-
den Grundgedanken. Die Seele jenes Bewegenden, wie des Gesammtlebens alles dessen, was durch das-
selbe gestaltet, zu einem gemeinsamen Bilde sich vereinigt, erschliefst uns aber die harmonische Ent-
faltung. Durch sie erhiJt das sonst willkülullch angenommene Tonverhältnifs, in welchem der be
— 144 —
"-iuuenden Stimme die fol2;cnde sich anschlicfst, seine ^vahre Bedeutung, die rechte Fühlharkcit, durch
die es dem äurseicn wie dem inneren Sinne sich einprägt. Das' Zeitverhältni fs aber ist in der
rhythmischen Entfaltung lebendig geworden. In ihr haben die wechselnden Töne vor unserem Sinne
Gestalt und feste Umrisse erhalten, das Bild was sie ilmi boten, haben wir in seinen durch die Zeit ge-
o-ebenen Beziehunscn erkannt ; und wie nun dieses in allen Stimmen nach inid nach sich entw ickelt, aus
jeder einzelnen und allen zusammengenommen uns immer reiclier entgegcnblühl, empfinden wir auch das
Zeitvcrhällnifs als ein lebendiges inid notln\ endiges, in welchem, wie in der einfachen Gesangsweise die
einzelnen Töne, so hier Bild und Abbild in verschiedenen Stimmen einander ^^ec]lselnd verdrängen. Dafs
in diesem Wechsel zunächst das Verhältnifs der Quinte und Quarte, sofern dadurch die gegenseitige Be-
ziehung des Haupt- und Nebentons ausgedrückt wird, sodann diejenigen Tonverhältnisse, welche aus den
der gewählten Tonart eigenthümlichen Verwandtschaften sich ergeben, die hei'vortretenden sind, beruht
in dem Wesen harmonischer Entfaltung. Der Unterschied des Haupt- und INebentons erscheint liier in
der eigenthümlichen Gestalt, welche das Älotiv, die belebende Gesangsweise, gewinnt, sofern sie in der
gröfseren oder kleineren Hälfte der Octave sich bewegt, nach der Quinte hin aufstrebt, mit dieser begin-
nend in den Grundton zuriickkehrt, als bedeutungsvoll und nothwendig. Durch eine belebende Regel ist
nun die äuTserhch, willkührhch bindende zmiickgedrängt, durch den ersten Schritt hat der IMeister nicht
sein ganzes W^erk unwiderruflich im Voraus bestimmt, er bleibt Herr seines Gewebes, um, nacli innerer
Nothwendigkeit zwar, doch seinem Sinne gemäfs, es fortzuw irkcn ; es schiefst nicht, den Crystallen gleich,
in festbestimmter, unabänderlich gleicher Gestaltung ein Tlieil dem anderen an, sondern es blüht einer
Pflanze ähnlich, in seinem V'Suchse und seiner Gestaltung durch ein Grundgesetz geregelt, dennoch frei,
ja in ansclieinender WiUkühr hervor. Gesänge solcher Art, im Fortgange der Kunst allmählig ausgebil-
det, heifsen nicht mehr Fugen, sondern fugenartige Cad fugam.) Eine Fuge im Sinne unserer heu-
tigen Tonkunsl, ein aus strengeren oder freieren Nachahmungen in bestimmter Folge, nach einem gewis-
sen Zuschnitte zusammengewebtes, mehrstimmiges Tonstück, finden wir in den Werken der Meister des
sechzehnten Jahrhunderts nicht vor; aucli ist in dieser Zeit, wo nicht ein streng durchgefülirter Canon
in der Bedeutung der Gegenwart, eine bis an das Ende fortgehende fuga gleicher Art in dem Sinne der
alten Meister statt fand, immer nur von Fugen innerhalb eines Tonstücks, nicht von einem solchen als
einer Fuge die Rede. So redet davon Prätorius, ') in seiner cigenthümhchen Weise die Ansicht seiner
Zeit darlegend. Fugen sagt er, sind häufige Wiederklänge (crebrae resultationesj desselben musikalischen
Gedankens in verschiedenen Stimmen, die durch Pausen getrennt, auf einander folgen ; die Italiener nennen
sie ricercari; denn ricercare bedeutet forschen, suchen, auswählen, „dieweil in Traktirung einer guten
Fugen mit sonderbarem Fleifs und Nachdenken aus aUen Winkeln zusammengesucht werden niufs, wie
und auf mancherlei Art und Weise dieselbe in einander gefügt, geflocliten, ordentlich, künslhch und an-
muthig zusammengebracht und bis zum Ende hinaus gefiilirt werden können." Denn das ist der wahre
Prüfstein eines Tonkünstlers, wenn er, der Eigenthümlichkeit des bewegenden Gedankens zufolge (pro
certa motorum natura) schickliche Fugen aus ihm entwickeln (enierej , und die von ilmr erfundenen
zu gutem, lobenswerthem Zusammenhange rcclit zu verbinden weifs.
Bei fugenartigen, oder fugirten Tonstücken pflegen nun Schriftsteller des sechzehnten Jahrhun-
derts zu unterscheiden zwischen dem Styl der Motetten und Madrigale, ohne dafs wir vermöcliten
') Synlagma III. 21.
— 145 —
das Bezeichnend, beider Behnndinn.sweisen mit reclUer Schärfe nufznfnssen, weder dnrcl. ihre Berichte
nod. ans den lonstucken selber, denen .vir die eine oder die andere ßenennnn, beigelegt finden. L i
räch :st de,en.se Unterschied anfzn.eigen, den der Gegenstand der Ge ä„ge ersieht. Die M
te ten behandcl.en Stellen ans der heiligen Schrift; ein ''xhell eines Gregoria, Ische^ G sanges w r
entweder d.eGrnndIage Cr^n.,. y^n.u.J , nn. welche die übrigen SthJen sich bewegten' oder
ser T^ l r S'?"-" '''«"S-vebes waren ans einen, solchen entnommen. Name nnd Behandlung die-
ser Art n,ehrs,.mm.ger Gesänge scheint .„folge einer Stelle des elften Abschnitts In Francos Knnst des
gemessenen Gesanges etwa nm die Mille des drel.ehnlen Jahrhunderts aufgekommen zu sein. Drei Jahr-
hunderle früher noch wnfste Hucbald eine ^.irchenwelse nur durch eine Folge von Quarten oder Oulnlen
^.schmucken; hundert Jahre nach Ihm führte Guido die Abwechselung verschiedener begleItenden\vohl-
TlvrW ''"""''" '"'"■' ^'"'''" ""'' ^'^?<^"'^'^^^'^Ji""g ""'1 zieren schicklichen ^Vechsel beobachten und
auch 31,rsklange nicht versclnnähend, vier bis fünf Stimmen auf diese Art zusammenfügen. Dabei unter
schcdet er em doppeltes ^ erfahren: dasjenige, welches sein Tongebäude auf eine einzige Grundlage
auHuhre (w.e es m Canlilenen, R.mdgesängen und dem Klrchengesange geschehe); ein anderes, das ihrer
2WP. anwende. Iher bedient er sich der früher nicht vorkommenden Benennung „Motetten" indem
zwei
, '"• — »^"^ >"i.v,jimiiLiun,-ii Benennung „luoietten mdem
er bemerkt, diese Gattung von Tonslücken habe eine drille, wiederum einer Gnmdlage gleichgellende
Stnnme. Auf einen heiligen Spruch, auf dessen überlieferte alte Kirchenweise, so scheint es. gründete
sich also das Ganze; allein auch eine andere Gesangswelsc noch, jener ersten gegenüber „Sprüchlein"
CmolefusJ genannt, eine barbarische AYortblldung nach dem Franzüslschen „Motr ent^^Ickelte aus sich
abermals eine andere begleitende Stimme, und dieses Doppelppar Murde so eingeriditet, dafs es wohl-
khngend mit einander sich fortbewegen konnte. Dem dreizehnten Jahrhundert aber gehört diese Erfin-
düng wahrscheinhch an, well Marchelto von Padua, der um die letzte Hälfte dieses Zellabschnitles schrieb,
des Franco als seines Vorgängers er.^ähnt, Papst Johann XXII. endlich. In seiner ofter.vähnten Verord-
nung vom Jahre 1-322 jene Tripeln, Motetten, jene Art des Hervorschluchzens der Gesänge, welche Franco
unter dem gleich barbarischen Namen ..Ochefus' zuerst von den uns bekannten älteren Tpnlehrern an-
wendete, als Erilndungen einer neuen Schule bezeichnet, also einer In das vorangehende Jahrhundert
schwerlich weit zurückgehenden. Die Beziehung auf Franco ^^ Ird noch deutlicher dadurch, dafs der Papsl.
nachdem er denen gezürnt, welche dem Kirchengesange eine üppige, begleitende Stimme hinzufügen, ja
durch gemeine Sprüchlein und Tripeln ihn überbauen, seinen Gang und seine Tonart unkenntUch machen, ' )
die N'ergünstigung hinzufügt, bei feierlicher Gelegenheit hin und Avieder einzelne mittönende Wohlklänge
anzuwenden. Wir erkennen daraus, eben jenes, bald ]Mit- bald Gegen- bald Auseinanderbewegen der
Stimmen, das Franco gelehrt, habe als unkirchliche Ueppigkeit seinen Unwillen erregt; jene einfache
Art begleitenden Gesanges, etwa nach Guidos ^^'cisc, habe er zurückgewünscht. So können wir uns
denn — auch bei dem Mangel an Beispielen von Motetten aus diesem Zeltaller Ihrer Kindheit — über
die Zeit ihres Entstehens, Ihre früheste Beschaffenheit einigermaafsen unterrichtet halten: nachdem sie
jedoch bis gegen den Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts sich mannigfach ausgebildet, vermögen wir
das wesentlich Interscheldciidc Ihrer Behandlung von der In den Madrigalen vorkommenden kaum mehr
festzuhalten. Die IMadrigale behandeilen Meltliche Gegenstände, materialia; davon ist offenbar, so vielen
•' discaiifibus lubricant, IrijiHs et molelis iiilgaribiix nonniinguam inculcant, adeo vf itilerdum anliphoiiurii et Gra-
ihalis fundamenta rlespiciant, ignorent siipfr quo nedißcant, fonos iiescianf etc.
C. r. Wiiil»rfeia. Juli. Galiricii u. 4. Zcitaltir. ig
— 146 —
geschraubten Erklärungen gegenüber, ihr Name auf die natürlichste, ungezwungenste Weise herzuleiten.
Im Wesentlichen aber zeigte die Behandlungswelse bei ihnen und den Motetten sich übereinstimmend.
Kurze, fugirto Sätze wechselten mit einander, dort waren die IMotivc meist aus dem Kirchengesangc, hier
von Volksweisen cntleJmt, oder von den Tonmeistern eigends erfunden; jene daher strenger, ernster,
diese geschmeidiger, lebhafter. In den Ausweichungen, in der Behandlung der Harmonie überhaupt, läfst
bis um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts kaum eine Verschiedenheit sich wahrnehmen. Die Kunst
harmonischer Stimmverwebung, in der Kirche entstanden, trug, als man sie auf weltliche Gesänge anzu-
wenden begann, die Farbe ihres Ursprunges auch zu diesen liinüber: Cyprian de Rore, Luca Marenzio,
der Fürst von Venosa, übersdirilten zwar, wie wir gesehen, in ihren IVIadrIgalen die Grenzen der durch
harmonische Entwickelung der Kirchentöne herbeigeführten zufälligen Erhöhungen und Erniederungcn
einzelner Töne; ihre chromatischen Madrigale jedoch bildeten innerhalb der allgemeinen Gattung solcher
Gesänge nur eine abgesonderte Art, die, auf weltUche und geistliche Tonkunst gleichen Einflufs übend,
dem grofseren Kreise, dem sie angehörte, eine scliarfe, bestimmte Abgrenzung zu gewähren nicht ver-
moclite. Je freier, lebendiger, frischer der Motettenstyl nachmals sich ausbildete, je öfter selbsterfundene
Motive an die Stelle der allen, streng Gregorianischen traten, um so weniger konnte eine solche Abgren-
zung sich gestalten, und vergebens finden wir einzelne Forscher und Künstler bemüht, die den Motetten
ausschlicfsend eigentliümhche Art festzustellen. •) W^oUte Plühpp de Monte, des Orlando Lasso Schü-
ler, den Namen Motette (nacli ihm Mutette) von mutare (verändern, wechseln) herleiten, wegen des
Weclisels der Fugen und Harmonieen, so fand ein solcher Wechsel ja nicht minder bei den Madrigalen
statt; wollte Johann Magirus die Benennung Motecta (so schreibt er) n modo tecto, d. h. davon herge-
nommen wissen, dafs der Tenor, der alten Lehre zufolge die Stimme, welche die Tonart darstelle und
recht erkennen lasse, bedeckt wie er sei durch das künstliche Toiigewebe der ihn tragenden und über
ihm scliwebenden Stimmen, sie nur verhüllt anzeige, so \var auch dieses wiederum von den Madrigalen
zu sagen. Die meisten mitlebenden und späteren Schriftsteller kommeii darin überein . dafs die rechte
Motettenart bei dem Orlando sich zeige; und doch läfst sein IMotettenstyl von der Behandlung seiner
Madrigale kaum sich unterscheiden, ja nicht einmal der früherhin bezeiclmende , mehr jedoch von dem
Stofif als seiner Behandlung hergenommene LTnterschled sich festhalten, nach den Motiven nämlich, sofern
sie aus dem Kirchengesangc entlehnt, oder eigene Erluidung des Meisters sind. So finden wir z. B.
in der 1587 von ihm zu Nürnberg bei Catharina Gerlacliln in zwei Thellen herausgegebenen Sammlung
geistlicher Gesänge, gemeinhin Motetten genannt (qiias vvlgo ntvletas vocant) deren, wo eine alte
Kirchenweise bald Grundlage, bald Motiv des Gesanges ist (das Te lieiim z.B.;) andere dagegen, wo bei
dringender Aufforderung einen alten, feierlich schönen Kirchengesang harmonisch zu behandeln, dennoch
selbsterfundene Motive überall vorgezogen sind (den Hymnus f'eni crealor sptr'tlus.J Der ^on Kircher
gesetzte Unterschied zwischen geistlichem sogar, und IMotettenstyl, dem streng geregellen, über eine
alle Kirchenweise künstlich gewirkten Tongewebe, imd der freien Behandlung aus einer solchen entnom-
mener Motive, ist zwar ein deutlich ausgesprochener, durch Beispiele aus älteren Meistern *u belegender,
doch ist er in ihrem Spracligebrauche nicht begründet, und mag nur das von jenem gelehrten Forscher
aufgestellte Fach werk rechtfertigen, Ueber das wesentllcli Unterscheidende der Moteltenart von der ma-
drigahschen glebl er uns keinen Aufschlufs; denn was allen, von jener befafsten Abarten, als gemelnschaft-
') Vergl. Prätoriui l. c. p. 8. 9. Kircher: Musurgia J. p. 401. 5S5. sejj.
— 147 —
lieh, stillschweigend vorausgesetzt wird, der unmittelbare Ursprung aus dem alten Kirchengesange , lärsl
sich eben durch das Beispiel der anerkannt trefflichsten Meister als ein solches Gemeinsame nicht nach-
weisen. Gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts scheint man die Benennung Motetten oft absicht-
lich vermieden zu haben; wir finden sie durch die Ausdrücke ,,Cantiones sacrae, moduli, st/mphoniae
etc." umgangen; dann Madrigal und IMotclt nur dem geistlichen und weltlichen Inhalte der Gesänge zu-
folge auseinandergehalten, aucli diesen Unterschied aber wiederum durch die Benennung ,,madrigalia
sa^ra" getrübt, die man zumeist geistlichen Gesängen in der Muttersprache beilegte.
Wir gedenken in dem Folgenden beider Ausdrücke, Madrigal und Motett, nur im Allgemeinen mit
Bezug auf geistlichen oder weltlichen Inhalt der Gesänge uns zu bedienen, die wir unserer näheren Be-
trachtung unterwerfen. Wo innerhalb beider Kreise wirklich eine eigenthümliche Art der Behandlung
sich gestaltet hat, werden wir ihr Wesen mit möglichster Bestimmtheit darzulegen versuchen, gleichzeiti-
ger Benennimgen aber nur vorübergehend gedenken, und da allein sie ausschliefsend anwenden, wo ihr
Gebrauch in jener Zeit eine solclie Anwendung rechtfertigt.
ACHTES HAUPTSTÜCK.
tlohannes Gabrieli in seiner früheren künstlerischen TTiäUgkeit bis %tim
Ausgange des sechzehnten JTahrhunderts. Sein Verhältnijs %u
Palestrina und Orlando Lasso.
14.JrchUche Bilder, aller grofsen Mannigfaltigkeit ihrer Gegenstände ungeachtet, lassen dennoch eine
doppelte Art des Sinnes, in dem sie geschaffen worden, als wesentlich Unterscheidendes erkennen. Auf
vielen finden wir nicht ein bestimmtes Ereignifs der heiligen Geschichte dargcstellL Fromme Männer
und Frauen, auch der verschiedensten Zeiten, durch die Kirche einander nahe gerückt, durch die
ewige Gegenwart des himmUschen Vaterlandes, (erscheinen sie auch in des Einen vormaliger, irdischer
Heimath) sind in heiliger Rulie neben einander gestellt, verklärt ein jeder auf eigenthiimhche Weise durch
den, der Alles ist in Allem. Oder es erscheint Einer in der Umgebung seines früheren, irdisciien Le-
bens, in einem Augenblicke, der diesem angehört, einem solchen aber, von dem die heilige Geschichte
schweigt, und schweigen mufs, weil nichts in ihm sich zugetragen hat, oder gewirkt worden ist, wovon
mit Worten sich etwas aufzeichnen und überliefern liefse; aber die Gestalt, \ne sie nns vor das Auge
19'
— US —
cefülirl wird, thut kuiid, dafs ein Geisl sie belebe, getränkl durch jenen Strom des Lebens, der in das
ewige rinnt. So steht Cäcilia da, dem Gesänge der Engel horchend, irdisches Tonwerkzcng verbrochen
zu ihren Füfsen, ja, die Orgel ihren Hunden entsinkend; Paulus und IMagdalena zu ihren Seiten; der
V'erfolger, dann das auser\\ iildtc Rüstzeug der Kirche, gestützt auf das Schwert, das er in blinilem Ijfer
gegen die Heiligen gezückt, durch das er, der Sage zufolge, das Marterthmn erlitten; die Büfserin,
das Salbgefäfs tragend, einst das Werkzeug eitler Ueppigkeit, dann dem Dienste des HeiTn geheiligt, ihn
zum letzten, schweren Gange zu rüsten. Beiden sind zugesellt der heilige Seher Johannes, der Vater
der Kirche Augustinus, die begeisterten, tiefsinnigen ^'erkündiger der Herrlichkeit von der Stadt Gottes,
die im Anschauen des Bildes unserem geistigen Auge sich eröffnet; der das Irdische, Eitle, Vergänghche
fremd, von ihr ausgeschlossen bleibt, in die aber auch die Sünder eingehen, duidi des Herrn Gnade und
Macht geheiligt, der unsem nichtigen Leib verklärt, und gleich macht seinem unvergänglichen Leibe. —
So sehen wir iMaria sitzen am Kornfelde, in dem bescheidenen Gewände der Gärtnerin; das Buch in dem
sie gelesen im Arme, umfafst sie liebevoll den Knaben, dessen Händchen danach zu langen scheint, dessen
ernstes Auge in ihr reines, demüthig gegen ihn gesenktes scliaut, während der kleine Johannes, knieend
auf dem Rasen zu ihren Füfsen, mit kindlidter Ehrfurcht hinblickt zu dem künftigen ^^ elterlöser. Flur
und Strom und Gebirge von dem heitersten Frühlinge überglänzt, erscheint nur als Abglanz des himmli-
schen FrühUngcs, der in dem Herzen der Jungfrau und der Kinder imvergänglich wohnt. Auf das Ein-
dringlichste reden diese stummen Gebilde zu uns; nicht etwa als äufserliche Zeichen eines in sie nieder-
gelegten tieferen Sinnes, sondern als lebendig gewordene, in Gestalten erblühte Gedanken ihres begeister-
ten Schöpfers. So aiicli reden Töne zu uns, und möchten, flüchtig luid enteilend wie sie sind, uns die
Herrlichkeit des himmlischen Vaterlandes, jenes über allen Wechsel erhabenen, ewigen Seins verkünden;
sie gesellen sich heiligen Worten, sie in der eigenthümlichen Weise ihres im Klange sich erscliliefsenden
Lebens. geheimnifsvoU zu verklären; nicht durch bedeutsame Betonung allein, sich hineinbildend in das
Wort, sondern dem Worte einen neuen vergeistigten Leib schaffend, es auflösend in Töne, und in sie
umgestaltend. So ersclieint, was wir IMelodie, Gesangsweisc , nennen; der lebendig gewordene Gedanke
des Tonmeisters, wie dort die Gestalt des Bildners, und doch nur die verschlossene Knospe, die in
harmonischen Zusammenklängen, wie die Bhnne in Farbenglanz und Duft, ihr inneres Leben erst völlig
entfallet. Eben ein Entfalten solcher Art ist das Dahinströmen heihger Gesänge: das Erschhefsen des
ganzen, gegen das Ewige gerichteten Lebens, niclit das Heraustreten einer einzelnen, leidenschaftlichen
Regimg, die eine gleiche in uns will anklingen lassen. Könnten heilige Bilder, wie wir sie beschrieben,
auch in Tönen ihr Leben ausstrahlen, sie würden so zu imserem Ohre sprechen; so würden jene
Töne, wäre ihnen vergönnt in sichtbare Gestalten sich zu verköi-pern, vor unser Auge hintreten. Meist
mit solclien Bildern, fast mit solchen Gesängen allein, sclimücklc die ältere Zeit Kirche und (Got-
tesdienst.
Aber heilige Geschichte und Sage bieten dem Künstler ein weites, reiches Feld für seine Bildun-
gen. JSicht immer ist es das lebendige BeAvufstsein einer heiligen Gemeinschaft, das ihn begeistert, das
zu Bildern, zu Tönen reift in seiner Seele, in ihnen sich offenbart. Es ist auch das einzelne Ereignifs
des heiligen Lebens, das Leiden wie die That, die mannigfachen Gegend virkungen menschlichen Slrebens,
menschhcher Leidenschaft, aus denen die bedeutsame Begebenheit sicli gestallet, das ihn anregt und
ergreift. Der Heiland, sein Kreuz tragend und unter dessen Last erliegend; die Mutter ohnmächtig da-
— 149 —
hingesunken, Magdalena aufgelöst in ücfen Schmerz; der Streit roher ßlulgier oder knechtisch kalter
Grausamkeit mit der Mutterhebe bei dem Morde der Kinder zn ßeüdchem; oder der Sieg des Glaubens
über das Ileidenthum, das vergebliche, trotzige Ankämpfen des Frevels gegen das IleiUge, wie im Leo
und Altila, oder Constanlins Schlacht. Hier zeigt sich die einzelne, mächtig hervortretende Regung, hier
Ringen und Anstreben, nicht ^vie dort, ruhige Entfaltung des ganzen inneren Lebens. Wird, ^ie der
Bildner, so der Sänger auf diese Weise ergriiTen, dann bildet diesem der Ton vorzugsweise sieh ein in das
Wort; und möge er auch, von demselben getrennt, eine eigenthümliche Gesangsweise gestalten, immer
hat diese in der rechten, bedeutsamen Betonung des ^Vortes, nicht, wie dort, in dessen Vergeistigung
erst ilir Leben gewonnen. Bilder, und zumahl Gesänge dieser Art, sind erst geschaffen worden, nach-
dem jene anderen bereits in AÜlIiger P.eife zur Anschauung gelangt waren.
^icllt etwa, weil diese später gerelfte Richtung auch erst nach jener andern Uiren Anfang genom-
men, oder aus derselben als höhere Blüthe sich entwickelt liätte. Beide A-ielmehr sind gleich wesentUch
und noth^endig, und zu gleicher Zeit entstanden, wenn auch bei dem Vorherrschen der einen die an-
dere hinter ihr eine Weile zurückbleiben mufstc. Auf dem Gebiete der bildenden Kunst haben beide
aus jenen herben Anfingen sich entMickelt, welche die Gestalt eben nur als Siimbild, als äufscres Zeichen
des Gedankens darstellen; in denen ein bestimmtes ^■erhältmfs der Gesichtszüge, ein gewisser Zuschnitt
der Tracht oder deren Farbe, ein mitgegebenes Beiwerk, einen gefeierten Heiligen völlig kennbar machen,
Ruhe und [Majestät, heilige ^Vürde, durch Bewegungslosigkeit, Abgemessenheit bis zur Steifheit, ausge-
drückt M-crdcn sollte; während in jener anderen Richtung die vereinzelte Gebcrdc als Zeichen des
Strebens, der Leidenschaft, der daraus entsprungenen That gelten mufstc; bis endlich jene starren
Züge sich allmählig belebten , jene steifen Glieder sich anmuthig entfalteten, imd auch in heihgcr Ruhe
und Stille die herrlichste Lebensrülle des vergeistigten Leibes offenbarten; bis die ganze IMannigfaltigkeit
der BcAvegungen des strebenden, des erliegenden Leibes zu lebendiger Anschauung gebracht wurde.
Auf ähnliche \Veisc verhält es sich in der Tonkunst. Wie in der Bildncrci anfangs die Gestalt
Zeichen des Gedankens, so sollte hier die überlieferte Gesangsweisc die für alle Zelt allgemein gültige
Einfassung heiliger Worte sein; stammte sie doch aus jenen ersten, dem Quelle der Offenbarung so viel
näheren Zeiten frommer Begeisterung. Eine bestimmte Zahl von Formeln sollte die Keime aller In jenen
Welsen erscheinenden Mannigfaltigkeit in sich schliefsen; bis die Fülle des Klanges endlich durchbrach,
jene Keime anfingen zu treiben, und nun das Ueberlicferte nicht verdrängt, sondern neu begeisligt, nacli
allen Selten hin sprlefsend nnd blühend, ein Leben entfaltete, ein lange in AJmung gehegtes, jetzt zu
scliöncr Erfüllung an das Lldit dringendes.
^Venn wir nun fragen: wie es docli geschehen sei, dafs jene doppelte Richtung in der bildenden,
der Kirche geweihten Kunst fast neben einander entstehen, ja ihre höchste Entfaltung in demselben gros-
sen Meister habe finden können, eben demjenigen, dessen Werke wir zuvor angedeutet; In der Tonkunst
lUe Blüthe der einen und der anderen weiter als lun ein Jahrhundert auseinander hege, beide . anfangs
sich trennen, bis zuletzt, nachdem es nur wenigen, erlesenen IMeistern gelungen, wenn sie aucl» der einen
vorzugsweise huldigen, doch die andere auch In ihren Werken darzulegen, endhch die frühere in die
spätere, ganz dem ^ Veitlichen ergebene, in die Mannigfaltigkeit der Erscheinung versinkende, völlig auf-
geht, und der helligen Tonkimst nur ein zwitterhaftes Scheinleben übrig bleibt: so düifen wir die genü-
— 150 —
gende Lösung dieser Frage nur von dem Fori gange der Geschichte erwarten. Nicht abgewiesen, nur
an ihre Slellc verwiesen sei also deren Beantwortung, welche, so hoffen wir, durch jeden Fortschritt
der Darstellung mehr wird vorbereitet werden. Hier galt es jene beiden Wege anzudeuten; verweilen
dürfen wir nur bei dem ersten, früheren.
Die erste Pflegerin der Tonkunst, die Kirclic, wie sie das Ewige innerhalb des Wechsels und
Flusses mensclilichcr Dinge zu bewahren strebt, hatte anfangs, wie wir gesehen, in diesem Sinne das
Ueberlieferle, aus einer vor allen heilig gepriesenen Zeit stammende, zu bewahren, es vor der Vergäng-
lichkeit zu schützen gestrebt. Docli nicht in dem Festhalten der Erscheinung liegt die Gewähr ungestör-
ter Dauer. Das innere Leben war siegreich durchgebrochen; in viel höherem Sinne, als die Pfleger
gewähnt, war in dem irdischen Stoffe ein Abbild des Himmels kund geworden. Ein solches war früher
schon in der Baukunst erschienen, der Kunst, welche der Kirche auf Erden ihre Heiligthümer geschaffen
halte. Dircm innersten Wiesen nach sLeUt sie, an den härtesten Stoff gebunden, das Feste, Ruhende,
W ohlbegründelc dar; so aucli sollte das Heiligthum im Wechsel des Lebens erscheinen. In der streng-
sten, erhabensten, grofsartigsten Gestalt, bildete, diesem Sinne zufolge, das Alterthum seine dorischen
Tempel; doch im Fortgange der Zeit sehen wir immer mehr das Strebende, Bewegliche, Sprossende
hineindringen in diese strenge Buhe. Die Säulen, jene festen, starken Träger, wachsen schlanker empor,
Abbilder des Lebenden schmücken immer zierlicher ihr Haupt, bis in der korinthischen Ordnung es durch
volles Laubwerk umkrönt wird. So keimt das Leben der Mitte der Zeiten immer mehr entgegen. Nicht
mehr Sims und Gebälk tragen nun Säulen: über festgegründeten Pfeilern wölbt sich, leicht schwebend,
ein Abbild des Firmaments, die Kuppel empor; in dem hellen Scheine des Goldes, von welchem sie
glänzt, auf dessen Hintergrunde geheimnifsvoU die Gestalten des Erlösers und seiner Heiligen sich erhe-
ben, sclieint ein inneres Licht sicli zu entzünden, die Gläubigen zu überstrahlen. Nirgend aber bedeu-
tungsvoller und mannigfaltiger ersclieint dieses, dem ewigen, unerschöpflichen Quelle in reicher Fülle im-
mer neu entspriefsende Leben dem harten Stoffe eingeprägt, als in der deutschen Baukunst. Aus schlan-
ken Pfeilerbüscheln, als den Stämmen, scliiefsen. Zweigen gleicli, die Rippen des Gewölbes zusammen;
jeden dieser Stämme krönt mannigfaches Laubwerk. Hier falten, wie im Keime zart verschlossen, Blätter
sich dicht zusammen, dort dehnen sie schwellend sich auseinander, dort sehen wir sie üppig entfaltet.
Durch den Farbenglanz bunter Fenster dringt Licht in das Heiligthum; vielfach harmonisch verschränkte
Farbenkreise erheben sich über den, auf glänzendem Grunde tlironenden Gestalten der Heihgen; dem in
das lebendige Spiel Dires Glanzes sich versenkenden Auge scheinen hier die Blüthen jener wunderbaren
Stämme sich immer aufs Neue zu crschliefsen , und wo der letzte Glanz der scheidenden Sonne durch
die bunte Fensterrose noch in das Heihgthum dringt, die wundervollste, köstlichste Blume sich zu ent-
falten. Dem festgegründeten, unbeweglich ruhenden Baue, war so die ganze FüUe des bewegten, keimen-
den, wachsenden, blühenden Lebens entsprossen; jener Kunst, die nur den Augenblick zu haschen,
ihn für die Dauer festzuhalten vermag, war es auf unbegreifliche Weise gelungen aucli den Wechsel der
Zeiten zu bannen. In Heiligihümer solcher Art trat nun die Tonkunst ein, die bewegliche, flüchtige,
sclmell voriibcrrauschende ; ein schönes aber vergängliches Leben gewährten ihr diese weiten, tönenden
HaUen. Je mehr sie aber sich fühlte als die lebendige, diesen hehren Räumen verhehenc Stimme, je
mehr im Bewufstsein ihres wahrhaften Wesens ihre früheste Richtung zurücktrat, kraft deren sie, nur
dem Auge übersehliche, dem Ohre nicht vernehmbare, sinnreiche und künstliche Baue in den Tonzeichen
— 151 —
aufzuführen gestrebt hatte, um so mehr mufste, jener verwandten Kunst entgegenstrebend, welche ihr
die Heimath geschaffen, sie dahin trachten, auch in der Fülle der Bewegung Stetigkeit und heilige Ruhe
zu offenbaren; so nur konnte der innigste Bund zwischen beiden gesclilossen werden. In dem weiten
Baume erwacht zuerst eine einzelne Stimme; anfangs die höheren, nachhallend sodann die tieferen ent-
falten einfach harmonisch ihren Gesang. Eine zweite Stimme nun, eine neue, eigentliümlicli verschiedene
Gesangsweise gestaltend, gesellt sich der beginnenden; durch sie geweckt, antworten ihnen, an- und nach-
klingend, die übrigen Stimmen, bis in diesem Wechsel, dem Tongewebe, das durch ihn sich zusammen-
flicht, jede dieser beiden Melodieen, bald in der tiefsten Stimme die übrigen tragend, bald in der höclisten
durch sie getragen, bald von ihnen, nach den Worten des frommen Lutlier, in himmliscliem Tanzreihen
heblich umspielt, endlich ihr volles Leben ausgetönt hat. Wenn unser Ohr diese Klänge vernimmt, so
sclieint es als sehe imser Auge eine Knospe schwellend sich erschliefsen , die zart gefärbten Blätter sich
immer weiter, immer reicher, in stets erhöhtem Farbenglanze ausdehnen, bis die volle Rose ihre ganze
Pracht und Fülle vor uns entfaltet hat, in Glanz und Duft ihr holdes Leben uns entgegenströmt. So
gewinnen die verfliegenden Töne Gestalt und Dauer; was in den harten Stein gebildet wir neben ein-
ander vor uns sehen, tritt in den versclüedenen Augenbhcken seiner Entwickelung vor unseren Sinn,
dafs wir es werden fülden, die Bedeutung seiner Gestalt sich uns tiefer einprägt. So nicht das Zarteste
allein, auch das Erhabenste und Gröfseste: das gcheimnifsvolle Wehen des Geistes, das den ganzen Bau
erfüllt, das einfache Grundverhältnifs , aus dem in reicher FüUe von Beziehungen unserem Auge ein
so wunderbares Leben sidi erschliefst, durch das, als ihre Einheit, diese unendliche Mannigfaltigkeit
gedeutet wird. Werden wechselnde und sich vereinende volle Chöre in der ganzen Pracht der Harmo-
nie vor uns laut, suchen wir anfangs in diesem Strome von Klängen vergeblich in einer einzelnen Stimme
die durch alle sich hinziehende IMelodie, möchte dem überraschten Hörer eben hier eine zwar mächtige,
klangreiche, aber gestaltlose Tonfülle entgegentreten: da leiht der Kirchenton, wenn auch anfangs nur
geahnet, wie dem Gemülhe die Stimmung, so dem Tonstrome feste Gestalt und Bedeutung; nicht mehr
formlos wogt er hin und her, ein geordnetes, inneres, ganzes, dem Höchsten eigentliümlicli zugewandtes
Leben strömt er aus. So ist nun der Bmid gescldossen z\vischen zweien Künsten, welche, an die zu-
meist entgegengesetzten Stoffe geknüpft, ihrem innersten \^'esen nach einander zu widerstreben scheinen.
Das irdische Heiligtlium der Kirche ist nicht mehr ein kaltes Sinnbild des Dauernden, des Ewigen in
dem Wechsel des ZeitUchen, es ist eine Heiniath des Lebens geworden. Die Töne verhaUen nicht mehr
flüchtig, ein leerer Sinnenrausch; wie dem ewigen Leben der Quell des irdischen zuströmt, sind sie, dem
Stoffe nacli dessen eigenstes Bild, zu Verkündigern des ächten Seins geworden; und verkhngen sie auch
sclinell dem äufscren Ohre, ihr Bild vermögen sie fest dem Gemüthe einzuprägen, das sie in Glauben
und Liebe bewalirt, in Hoflliung einer Zukunft entgegensehend, wo einer sehgen Gegenwart ewige Lob-
lieder enttönen werden. So, in einem doppelten Gesichte, hat das Wesen des himmlischen Paradieses
dem grofson Dichter sich erschlossen. Einen klaren Strom erbhckt Dante, von dessen Ufern tausend
Blumen hinunterblicken und sich spiegeln in ihn; leuclitendc Tropfen sprühen aus ihm in die Kelche
der Blumen ; dann , durch ihren Duft erfrischt und berauscht , tauchen sie wieder liinab in die Fluth.
Kaum aber hat nur der Saum seiner AugenUeder von jenen Tropfen getrunken, so thut in wachsendem
Lichte seinem immer mehr gestärkten Auge die Schaar der Seligen sicli kund, einer weifsen Rose gleich^
welclie Duft des Lobes der ewigen Früldingssonne zuliaucht, in welche die Schaar der Engel, Friede
bringend, heiüge Gluth anfachend, den Bienen gleich sich hinabsenkt.
— 152 —
Mön^c in diesen Bildern, diesen Worten, Denjenigen, wcldie die MaelU der Tonkunst, an sich er-
fuhren, auch nur einigermaafsen die Ueberzeugung sich erneut haben, dafs ihres Zeitlehens ungeachtet,
iene "■ehciuinirsvolle Kunst eine Ahnung, ja ein Abbild des Ewigen zu gehen fiiJiig sei, und dofshalb
in ihrer höchsten Bedeutung den INanien der heiligen wohl verdiene; dafs jene beiden (ieslaltun-
gen, die eine, in der mannigfache, reiche, xnid dennoch durch einen Grundgedanken beherrschte Bczie-
hun"-en hervortreten, die Fugenkunst; die andere, einfachere, in der eine eigentbümlirh gestaltete
Tonfolge in schliciitcn Zusammenklängen ihr Leben ausströmt, die Choralkunst, aus innerer ISotlnven-
dio-kcit ihr vorzüglich eignen. So ist denn der Chorgesang vor allein in ihr heimisch; in den frühe-
sten Zeiten der Kirche und der Kunst dargcslollt durch die ganze versammelte Gemeine, sodann allge-
mach durch eine besondere, kunstmäfsig geübte, erlesene Zahl von Sängern, als Vertretern der Gemeine.
So erscheint der Sängerchor in der Kirche, woldier unser INIeistcr angehörte, der katholischen; so wird
er in jeder Gestalt der christlichen Kirciie erscheinen müssen, welche die Tonkunst nicht ^iillig von sich
abweis't. Denn die bedingte Ausschlicfsung des Gesanges der Gemeine, die IS'othwendigkelt eines schul-
gerecht geübten Chors führt jene Kunst überall mit sich, mo sie als solche eintritt in den Gottesdienst.
Was wir also hier über den Sinn zu sagen haben, in welchem der Chor \ertretcr der Gemeine zu
nennen sei, wird, wenn auch zunächst auf den kathohschcn Gottesdienst bezüglich, docli auf jede an-
dere Gestalt cliristltcher Gottesverehrung ebenfalls anzuwenden sein.
Nicht darin allein aber besteht der Beruf des Chores, die allgemein menschliche Theilnahme der
Gemeine an dem jedesmal gefeierten Ereignisse der heiligen Geschiclitc, ihr dadurcli gewecktes Gefühl
oder geistiges Bedürfnifs darzustellen, sie auf diese Weise zu vertreten. Betrachten wir jenes Bild der
Feier eines einzelnen Festes, wie es in den vorangehenden Blättern niedergelegt ist, so linden wir den
Chor oft der Gemeine auch entgegengesetzt als A'erkündigcr an dieselbe, in einfacher Erzählung der
eben gefeierten Thatsache der heiligen Geschichte, in geheimnifsvoll prophetisch darauf gedeuteten Wor-
ten der Schrift. So in der Kunde von der Engel Erscheinung am Grabe des Herrn; so in der Zusam-
menstellung der Worte Jehovah's an Moses aus dem feurigen Busche mit \ ersen aus den drei ersten
Psalmen; der geheimnifsvollen Deutung des Auszugs aus Aegypten auf den versöhnenden Tod des Herrn,
die Erlösöng von der Knechtschaft der Sünde. W^o wir aber den Chor wirklich als ^ ertrcter der
Gemeine antreffen, da ist es seine Bestimmung, ihr allgemein menschhchcs Gefühl zum frommen za
heiligen und zu läutern; vertretend zwar, doch vorbildlich nocJi mehr, den tiefsten Sinn des gesun-
genen Wortes in Tönen zu entfalten. In diesem Sinne aber vertritt er die Gemeine auf zwiefache Weise.
Im Gebete einmal, wie in verschiedenen Theilen der Mefsgesänge, in vielen Besponsorien und Aulipho-
nieen, wo die gebundene Seele Hülfe erfleht von oben. „Du Lamm Gottes, das der Welt Sünde tilgt,
erbarme dich unser, gieb uns deinen Frieden — Herr erhöre mein Gebet, und lafs mein Sclireien vor
dich kommen — O Herr Jesu Christ, der du an das Kreuz für ims gescldagen, mit Galle und Essig ge
tränkt wurdest, wir bitten dich, lafs deine Wunden unserer Seele Arznei, und unser Leben sein — Ich
sprach: Herr sei mir gnädig, heile meine Seele, -denn ich habe an dir gesündigt (Ps. 11, 5. Vulg. XL. 4.)
Herr kehre dich wieder zu uns endlich, und sei deinen Knechten gnädig (Ps. 90, 13; LXXXIX, 15.)
Deine Güte Herr sei über uns, wie wir auf dich hoffen." (Ps. 33, 22; XXXII, 22) Im Lobgesa nge
sodann, wo die befreite Seele, ihrer Sehgkeit bewufst, in Tönen ihr Entzücken ausströmt. „Heilig ist
Gott, der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll — Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf
— 153 —
Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen — Meine Seele erhebet den Herrn, und mein Geisl freut
sich Gottes meines Heilandes." — Oft auch schliefst den Worten der Verkündigung eines und das andere
unmittelbar sich an, Gebet oder Lobgesang. Zu allen Zeiten nun hat man es wohl gefühlt, dafs überall
wo Worte der heiligen Schrift, Geschehenes oder Künftiges, oder göttliche Geheimnisse unmittelbar verkün-
dend, bei kirchlicher Feier im Gesänge zu uns reden sollen, dieser ein besonderes Gepräge des Feierli-
chen und Ernsten tragen müsse, das ihn von weltlicher Tonkunst völUg fern halte. Niclit so bei dem
Gebete, bei dem Lobgesange. Sehr oft hat man die Behauptung gehört, und neuerlich noch ist sie ver-
nontunen worden: die Kirche verdanke der Oper gröfsere Lebhaftigkeit des Ausdrucks ihrer heihgen
Gesänge ; ja als ein, diesen lange freventlich vorenüialtenes Recht, hat man einen lebhafteren, heifserfen Aus-
druck der Gefühle für sie in Anspruch genommen. Allein wir werden gestehen müssen: es sei nicht
der Ausdruck eines erregten, gesteigerten Gefühles, es sei jener tiefe, innige Friede des Gemüthcs, welcher
durch die Laute der Freude, wie der Trauer, der Sehnsucht, wie des seligen Genügcns hinklingt,
der in ächten, heiligen Gesängen uns so wunderbar entzückt und ergreift. In unseren Gemüthem finden
sie durch jene menschlichen Gefülile Anklang; für ims, aus unseren Herzen heraus sind sie gesungen;
jener Friede aber ist es, der das menschliche Gefülil in ihnen läutert und heiligt; nicht mehr der irdi-
sclien, streitenden. Bedürftigen Kirche, der heiligen Gemeine ist der Gesang entströmt. Die heilige Kunst
würde fehlen, wo wir jenen läuternden, seligen Frieden vermifsten; athmete er nicht in mensclilichen
Gefühlen, so würden jene Töne als ein Fremdes und Unverständliches an uns vorüberklingen. Diese
Vereinigung des MenschUchen, Irdischen, mit dem Heiligen und Ewigen, wie sie in der Mitte der Zeiten
uns offenbart worden, hat von jeher in mannigfachen Gebilden die christliche Kunst immer aufs Neue
zur Anschauung zu bringen gestrebt; von hier aus die Tonwelt anschauend, in diesem Sinne die Gesetze
erkennend, denen zufolge die Natur den einen Klang aus dem andern entstehen läfst, hat die kircb.
liehe Tonkunst die Formen gefunden, in denen frei und mannigfach sich bewegend, sie Uire Werke
schafft. Aber, wird man einwenden, gicbt es nicht viele kirclihche Gesänge — nur das Dies irae in
der Todteinnesse zu nennen — in denen die geängstete Seele betend ringt, jenen Frieden, den verlornen,
otler in seiner ganzen Fülle nie gekannten erst zu gewinnen? Wir mögen es so empfinden, weil neuere
treffliche Tonmeister jenen Gesang theilweise in diesem Sinne aufgefafst haben; er ist aber gewifslich in
demselben nicht gedichtet. Jener Zeitpunkt, welchen alte Weissagungen als den der Zerstörung alles
Irdischen voraus verkündet, ^vird in diesem Liede uns gegenwärtig vor das Auge gerückt; aus Staub
und Asche wieder erstanden, sieht der Mensch dem Richter sich gegenüber, vor dem kein Lebendiger
gereclit ist; jener furchtbare Richter jedoch ist zugleich sein Erlöser, der sein grofses Werk nicht verge-
bens begonnen haben wird; so gewifs dem Zeugnisse des heiligen Sängers und der alten Prophetin zu-
folge die Herrlichkeit der Wdt einst zusammenbricht, so ge\vifs auch bleibt es dem Gläubigen, dafs Der-
jenige, welcher den reuigen Schacher losgesprochen, auch ihm die siclier ^erheifsene Hoffnung der Selig-
ligkeit erfüllen werde, um die er betet. So wird das heilige Lied zu uns reden, wenn wr unbefangen
uns ilim hingeben; in diesem Sinne haben die ältesten Meister heiliger Kunst es aufgefafst. AVie all-
mälillg, eben an ihm, die Aufgabe sich gestaltet habe, das Bild des Endes der Zeiten anschauhch, gegen-
wärtig, vor uns hinzustellen; wie daraus das Bestreben hervorgegangen sei, die mannigfachen Bewegungen
des Gemüthes zu entfalten, gegenüber diesem grofsartigen Bilde der in Gegenwart, und eine ewige Ge-
g-cnwarl. nacli dem Aufliören alles Zeillichen, umgewandelten Zukunft; wie hierin ein bedeutsames Be-
gegnen sich darstelle jener beiden von uns zuvor angedeuteten Richtungen — alles dieses wird an sei-
C. r. WilitcrfulJ Juh. üobricU u. i Z»ilait r. 20
— 154 —
nein Oift^ küiiflig uns ausführlich beschäftigen. Dafs die Tonkunst, wie sie das Innerste und Tiefste
menschhchcr (iefülile zu erscldiefsen vermag, jenen Kampf der geängsteten, um Gnade ringenden Seele
darzustellen fähig sei, ist nicht zu leugnen; allein je besser sie es leistet, um so weniger wird sie auf
den JNamen der kircli liehen Anspruch machen dürfen. Die Kirche in ihrer zeitlichen Erscheinung
soll der menschlichen Claubensbedürftigkeit aufhelfen, indem der Einzelne in ihr das Bewufstsein seliger
Gemeinschaft des Glaubens erneuert. Von ihm, dem Bedürftigen, Leidenden, fordert sie also mit Recht,
dafs in sie eintretend er sein besonderes Leiden von sicli werfe, und von ihr gehalten und getragen
wird er es am ersten vermögen. Blickt er, in dem Bewufstsein der in ihr lebendig ihm wieder aufge-
gangenen Einigung mit Gott zurück auf sein inneres Verderben, seine mannigfachen, daraus hervorgehenden
Fehler und Uebertretungen, auf jedes Leiden, das sonst ihn drückt, so wird auch der herbste Schmerz
sich lindern, das geängstete imd zerschlagene Herz, Dem gegenüber, der es nicht verschmäht, lebendig
fühlen, dafs seine Nähe auch die bittersten Thräncn des Schmerzes und der Reue in Seligkeit und Wonne
auflöst. Im gläubigen Gebete aber wird er inne werden, dafs ein solches, in der völligen Hingebung des
eigenen Willens, in dem seligen, daraus erblühenden Frieden, die Gewähr seiner Erhörung schon in
sich trage, ^"ielfacli zu Kampf und That zwar fordert das Leben auf, in schmerzlichem Ringen oft wird
erst das Ewige gewonnen, und wer hätte nicht den Zustand eines verlassenen und zerschlagenen Her-
zens erfahren, das im Gebete hindurchzudringen strebt zu Gott? Ein solches aber bringt der Bedürftige
im einsamen Kämmerlein vor den Herrn, und nicht naht er mit demselben, als Vertreter der Gemeine,
seinem Angesichte; denn gehört er gleich der Kirche an, sofern er um ihn weifs, so ist er doch aufser
derselben indem er ihn erst sucht, um so weniger also zu ihrem Vertreter berufen. Ein Abbild jenes
Ringens, w'enn es die Kunst mis bietet, werden wir weder verschmähen, noch verwerfen — wie denn
der Mensch sein Leben und Sein auf vielfache Weise in der Kunst abgespiegelt anschauen will; — was
aber im Leben wir kämpfend erst erbauen, von dem wollen in der Kirche wir uns erinnern, dafs in
Gott wir es bereits haben, die Krone des Lebens schon besitzen, und in diesem Sinne erbaut sein.
Die heiligen Gesänge der letzten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts tragen auf wahrhaft grofs-
artige Weise dieses Gepräge des Kirchlichen, und eben durch die Kirchentöne. Harte und weiche Ton-
art, Trübes und Heiteres, wie wir bereits sahen, sind auf eigenthündiche \'Seise in ihnen gemischt, untl
dem Trübsten steht das Heiterste wiederum zunächst. Eine zarte Beweglichkeit gewinnen sie durch die
mannigfachen Anklänge, welche die Verwandlung einer Tonart In die andere, ohne die Grenzen der ver-
wandelten zu s'erlassen, erzeugt. Nicht zufällig, sondern Im Geiste heiliger Tonkunst tief begründet, er-
schien uns bereits in der den Kirchentönen besonders gewidmeten Betrachtung, die Thatsache, dafs alle
In denselben sich bewegenden helligen Gesänge, harmonisch entfaltet, mit dem harten Dreiklange schlies-
sen, sollten sie auch einer weichen Tonart angehören. Der harte Dreiklang, so sagten wir dort, in der
Folgereihe der nach einander sieb erzeiigendcn Töne gegeben, der helle, heitere, ist nicht allein der ur-
eprünglldi naturgcmäfse ; wenn er auf dem Grundtone jeden Kirchentones schliefsend ruht, stellt auch
das ihm elgenthümllche Verhältnlfs der grofsen Terz den Leitton derjenigen Tonart dar, aus welcher
wir den eben beschlossenen Kirchenton, Im Kreise der Verwandtschaft aller, als zunächst entsprossen
denken müssen; und besonders lebendig tritt diese Beziehung hervor In den sogenannten halben, fast
durcligängig vorwaltenden Schlüssen, welche dem schliefsenden Dreiklange den auf der Unterquinte seines
Grundtones ruhenden (sei es der welche oder harte) vorangehen lassen. Nun hat zwar, wenn wir alle
Kirchentöne aus der Versetzung der diatonischen Leiter als entstanden uns denken, nur das lonisclie wirk-
— 155 —
lieh einen Leitton in dem Sinne unserer heutigen Tonkunst; allein das Bediirfnifs eines solchen wurde
auch frülierhin nicht minder als ein allgemeines empfunden, und wir hahen gesehen, dafs die mixolvdischp
Tonart durcli Verwandlung in die nächst verwandte ionische ihn finde, die dorische ohne Verlust ihrer
eigenthümhchen Tonverhältnisse ihn gewinne, die aeolisclie an sich ihre Eigenthümlichkeit durch ihn
nicht cinbüfse, wenn sie auch mit ihm um so öfter in das Dorische hinüberklinge; dafs nur der phrygi-
schen — dem letzten Kirchentone in der Reihe der Verwand tscliaften aller, — er fehle, dafs jedoch An-
und riinüberkhngen des Phrygischen in das Ionische durch unmittelbare \'crschmclzung der Tonreilien
beider sich bilde. In allen, bis auf eine, den Kreis der Verwandtschaften beschlicfsende, ist er daher
wirkhcli vorhanden; und hören wir in den Schlüssen heihger Gesänge ihn anklingen, so klingt in ihm
auch das Gefühl in »ins an, dafs eine jede Tonart auf einen höheren Ursprung, ein allen gemeinsames
Band zurückweise; dafs der heilige Gesang, der in ihr sich bewegt, habe er auch sein Eigenstes in ihr
ausgetönt, den Grundton seines Gefühles in ihr gefunden, doch nicht sich lostrennen und vereinzeln, son-
dern in diesem gehelmnifsvoUen Anklingen demüthig verhallen wolle. So weht also Demulli und heili-
ger Friede, die Seele jedes wahren Gebetes, durch alle heiligen Gesänge, deren Inhalt ein solches ist;
in diesem Sinne vertritt hier der Chor die Gemeine.
Auf ähnliche Weise auch verhält es sich mit heiligen Lobgesängen. Denn ist in den Kirchen-
tftnen dem Herbsten das Heiterste nahe verwandt, so zieht auch wiederum durch das Heiterste sich das
Gefülil heihger Sehnsucht, frommen Ernstes, ja das ßewufstsein tiefer Bedürftigkeit, demütliigcr Zerknir-
schung. Wie mächllg und grofsartlg also auch der Gesang in ihnen dahertöne, er wird nie — dem
Siime eines frommen Lobliedes entgegen — in wilden, weltlichen Jubel, in stolzen Triumphgesang aus-
arten können, \lele jener aus der heiligen Schrift in die kirchliche Feier aufgenommenen Lobgesänge,
ja die meisten, erinnern aber zugleich wiederum an geheimnifsvolle, wunderbare Ereignisse der heiligen
Geschichte. So das Dreimalheillg , der Gesang der Cherubim in dem Gesichte des .lesaias, das Gloria,
das Lobhed der Engel bei der Geburt des Herrn, das Magnificat, der demüthig- fromme Lobgesang der
Maria; so die Psalmen Davids, die aus ihnen für kunstreiclieren Gesang zusammengestellten Responsorien
und Antiphonieen. Hier also, wie in jenen prophetisch verkündenden Gesängen, ertönt wiederum eine
.Stimme von Oben, sei es der himmlischen Heerschaaren , sei es eines selig Vollendeten aus alter Zeit,
dessen Geist lebendig fortlebt in der Gemeine, dessen frommer Gesang, für alle Zeit güllig, in ihr fort-
lönt, ihr das Wort des Lobliedes leiht, das, wie zu ihr geredet, so wiederum aus ihr laut wird. Meist
die dorische Tonart, die feierlich ernste, finden wir bei solchen Lobliedern angewendet, und nicht ohne
Bedeutung ist es, dafs in den Messen jenes Jahrhundcris das Gloria mit den Worten: „Ehre sei Gott
in der Höhe" durchaus von dem Liturgen allein angestimmt, von dem Chore aber erst mit den Worten
„und Friede auf Erden," aufgenommen wird, so dafs hier der höclisle Ton des Lobliedes nicht erklingt,
und erst dem Dreimalheihg bei der Weihung des Brotes und Kelches aufbehalten bleibt; wogegen in
die Antiphonleen und Responsorien der Wellinachtszeit , als ihr besonders angehörig, das Gloria um so
festlicher hineintönt bei der Verkündigung von der Geburt des Erlösers. Mit zarter Rücksicht ist überall
die Eigenthümhchkeit jedes Festes beachtet, und auch bei Lobliedern wiederum vertritt der Chor die
Gemeine auf würdige Weise.
So bildete die heilige Tonkunst um die letzte Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in Italien sich
eigenthümlich aus, und erfreute sich einer Blüthe, deren schönere Entfaltung ohne Zweifel (wie bereits
20*
— 156 —
angedeutet worden) wir den grofsen kirchlichen Bewegungen zu Anfange des Jahrhunderts zuschreiben
müssen, deren Rückwirkung auch bis dahin sich erstreckte, wo die Kirclienverbesserung , wie in Italien,
niclit eindrang. Der schöne, reine, strenge Sinn, mit welchem jene Kunst in eine Zeit mannigfachen
sittliclien Verderbens eintrat, mufste jedoch bald der Weltlust und Prachtliebe weichen, eben wie ein
verkehrtes und mifsvcrstandenes Trachten nach Wiederbelebung des klassischen Alterthums auf jene
schöne Begeisterung für dasselbe folgte, die dessen reiche Lebenskeime zu neuer Blütlie für die Gegen-
wart jener Tage gezeitigt hatte. Ehe man noch völlig sich bewufst geworden war, was man erstrebe,
hatte die Zeit schon einen Umschwung herbeigeführt, die Ansichten verwirrt, und mit der ersten Hälfte
des siebzehnten Jahrhunderts (wir dürfen es behaupten) hatten namentlich die Kirchentöne aufgehört, le-
bendige Organe der Darstellung zu sein, und waren für die Mehrzalil nur eine äufsere, willkührlich be-
engende Schranke geworden. Widersprechend, wie es scheinen mag, dennoch ist es Avahr: wir haben
den Geist der Kirclieutöne in späterer Zat fast nur bei Denen zu suchen, welche äufserlich von denselben
sich lossagten. Denn der Begeistermig für den heiligen Gesang sich frei überlassend, eigneten sie oft
unbewufst die elgcnthümlichen Züge friUierer kirchlicher Kunst sich an ; wogegen Solchen, die den alten,
glelcli unvollkommenen, als von ihnen mifsverstandenen Vorschriften sich anschlössen, und nicht in leben-
diger Entfaltung, sondern strenger Aussonderung des, ihrer Ansicht nach Fremdartigen, das acht Kirchliche zu
leisten wähnten, in solcher Verneinung die wahre Bedeutung des von ihnen Erstrebten verloren gehen mufste.
In DeutsclJand schien durch lebendige Verknüpfung des Gesanges der Gemeine mit den Leistungen eines
kuustgeüblcn CJiores, von denen wir in den VVerken trefflicher evangelischer Meister bis zu Anfang des sieb-
zehnten Jahrhunderts überall Spuren finden, der heiligen Tonkunst im Bunde mit dem Gottesdienste ein
secgenreiches Morgenroth anbrechen zu wollen. Allein, wie eine scliwere, das innerste Lebensmark aufzeh-
rende Seuche ras'te in diesem Jahrhunderte der verderblichste Krieg in unserem Vaterlande ; und als nach
dreifsig Jahren, w ie aus einem düsteren, verwirrenden Traume es wiederum erwachte, da war die Erinnerung
an das Meiste, was man frülierhin erstrebt, verdunkelt und erloschen, die schönsten Keime zerknickt und
zertreten, und nicht, wie früher, im lebendigen, geistigen Verkehr, sondern im Bewufstsein der Blaltigkeit
und Erschöpfmig suchte man bei Fremden Heil, willig theilnehmend an dem Verderben, das in die Kinist
dort eingedrungen war. Glorreich ragen einzelne edle IMeister hervor in diesen Tagen der Verwirrung,
Lebenskeime aus früherer Zeit fortpflanzend, entfaltend, bis nahe hin zu unseren Tagen in ihren Nach-
folgern und Schülern das Dasein einer heiligen Kunst bewährend, eine frische Lebensblüliie derselben
zeitigend, zu unserem Bewnnidem, unserer Begeisterung. Aber in den herrlichsten, tiefsinnigsten dieser
IMeister haben oft ihre Landesgenofsen und Mitlcbenden, entweder nur die Gewandheit der Hände, die
Fertigkeit in dem Machwerke angestaunt, oluie einen Blick in ihre von dem Höchsten ergriffene Seele
zu thun; oder sie haben Fremden überlassen Ihren ganzen Werth zu erkennen, die Entfaltung einer
Kraft zu fördern, die in dem Vaterlande niemals vielleicht zu vollem Bewufstsein, zu genügender Ent-
wickelung gediehen sein würde, obgleich sie aus ihm stammt, ihm wahrhaft angehört.
Doch, es genüge hier die flüchtige Andeutung der äufseren Elntvirkungen , welche dazu beitrugen
die Zelt einer schönen Blüthe kirchlicher Kunst in Italien, wie in Deutschland zu verkürzen; haben wir
ja die nähere Betrachtung und Erörtening derselben schon zu Anfange unseres Abschnittes dahin ver-
wiesen, wo unsere Darstellung bis zu den späteren Lebensjahren Gabrieli's, seiner Theiliiahine an der
überhand nehmenden, veränderten Richtung seiner Zeit- und Kunstgenossen, seinem mäclitigen Einflüsse
— 157 -
auf dieselbe, vorgerückt sein wird. Hier haben wir nur zu bewahrheiten, was xuvor nur als allgemeine
Behauptung hingestellt wurde: dafs Gabrieli in der früheren, dem sechzehnten Jahrhunderte angehörigen
Zeit seines Kunsllebens, jene eigenlhümliche, schöne Blüthe heiliger Tonkimst im älteren Sinne — deren
Wesen wir so eben zu entwickeln versuchten — in seinen Werken darstelle. Nicht unwillkommen
wird dabei eine Vergleichung sein zwischen seiner Art und Kunst, und der von zweien seiner Zeitgenossen,
die, um Weniges nur älter als er, öfter jedocli von der Gegenwart genannt werden — des Römers Palestrina,
des Niederländers Orlando Lasso. Nicht, damit unser Meister etwa ihnen vorangestellt werde, sondern
damit beurtlieilt werden könne, was in seinen Werken der Zeit angehört habe, was den besten Meistern
derselben gemeinsam, was dagegen ihm und einem jeden dieser beiden andern eigenthümUch gewesen
sei. Nur so werden wir den Standpunkt mit Sicherheit erkennen, welchen Gabrieli in seinem Zeitalter
einnimmt.
Gabrielas frühere Werke erscliienen, wie bereits erwähnt wurde, zu Venedig in den Jahren 15S7
und 1597; denn jene ältere Sammlung des Cosimo ßottegari vom Jahre 1575, da sie nur weltliche Ge-
sänge enthält, bleibt an diesem Orte unserer Betraclitung fem, wo uns die heilige Tonkunst ausschliefsend
beschäftigt. Sie enthält nur ein IMadrigal Gabrieh's, die fünfstimmige Behandlung eines scherzhaften Ge-
dichtes, der Klage eines Alten, dafs in jungen Jahren er wohl Gmist bei den IMädchen gefunden, nun
aber jede ihn lieifse ein anderesmal wiederkommen. In der Sanunlung von 1587 hat unser Kleister den
Nachlafs seines Oheims und Lehrers Andreas zusammengestellt mit einigen seiner eigenen Werke. Es
sind deren zehn, fünf geistlichen, und eben so viel weltlichen Inhalts; von diesen, wie jenen, eines sechs-,
sieben-, acht-, zehn- und zwölfstimmig, eine Stimmenzahl, in der sie sich den übrigen sieben und sechzig
Gesängen des Andreas anschliefsen. Der erste Thell der symphoniae saci-ae des Johannes Gabrieli, 1597
zu Venedig erschienen, und den vier Söhnen des Marcus Fugger als Ilochzeitgabe von ilun zugeeignet,
enthält sechs und vierzig Gesänge und siebzehn Instrumentidstücke ; diese zu acht, zehn, zwölf und
fünfzehn Stimmen, selten mit Angabe der anzuwendenden Instrumente; jene mit Anwendung der schon
in der früheren Sammlung gebrauchten Stimmenzahl, daneben aber je einer noch zu vierzehn, fünfzehn
und sechzehn Stimmen. In beiden Werken sind vier andere Gesänge, drei zu sieben, und einer zu acht
Stimmen, nicht enthalten, welclie wir später in deutschen Sammlungen antreffen; zwei in dem zweiten
Theile der zu Nürnberg 1598 imd 1600 bei Paid Kaufmann erschienenen sympheniae saeme, die beiden
andern in dem zweiten Theile des von Schadaeus zu Strafsburg l&ll — 1617 lierausgegebenen promp-
tuarii miisici. Sic tragen jedocli auf das Unverkennbarste, wie das Gepräge der Werke unseres IMelsters
überhaupt, so insbesondere das seiner früheren Zeit; auch werden wir an geeignetem Orte die Gründe
darlegen, wefshalb sie muthmaafsUch in die erwähnten venedischen Sammlungen nicht mit aufgenommen;
sind. Auf eigene Anschauung von sieben und siebenzig Tonstücken Gabrieli's gründen wir hienacli unser
Ürlheil über das Wesen seiner Kunst in seiner früheren Zeit; doch beschränken wir uns hier auf seine
Gesangstücke, einem eigenen Abschnitte dasjenige vorbehaltend , was über die Instrumentalmusik seiner
Zeit überhaupt, und seine Leistungen in derselben insbesondere zu sagen ist
Die fünf geistlichen Gesänge der Sammlung von 1587 bewegen sich in drei Kirchentönen: dem
aeolischen und phrygischen in ihrer ursprünghchen Tonhöhe und Versetzung, dem dorischen in dieser
letzten Gestalt, ^^ir heben unter ihnen di-ei heraus, um durch sie erkennen zu lernen, wie unser Mei-
ster die Kirchenlöne behandelt habe, \\\c Fugen- und Choralkunst bei ihm sich darstelle.
— 158 —
Die beiden ersten Verse des seclis und aclitzigstcn Psalms ') (nach Luthers BibelüberseUung; Vulg.
85) sind der Gegenstand des sechsslimmigen unter diesen drei Gesängen. „Neige deine Ohren Herr, und
erhöre mich, denn ich bin arm imd elend; bewahre meine Seele, denn ich bin heilig. Deinem Knechte
hilf dn, mein Gott, der sich verläfst auf dich." Die Tonart ist die versetzte acolische; sie erscheint in
dem tieferen, ursprünglich der dorischen angehörigcn Umfange, daher denn auch neben der Grundstimme
und zweien Tenoren, zwei tiefe Alte und ein Sopran in den mittleren und liefen Tönen das ganze Ge-
webe bilden. Jeder lliilfte einer jeden einzelnen Zeile der biblischen Worte ist eine besondere Gesangs-
weise angeeignet; nachdem sie in allen Stimmen erschienen, mannigfach in ihnen verwoben worden ist,
und jene nunmehr zu einem Schlufsfalle sich hinwenden, schlicfsen die Worte der andern Iliilfle der Zeile
mit einer neuen Gesangsweise sich an, die aus der ersten gleichsam hervorblidit, und entweder sich ihr
noch verbindet, oder einem neuen Gewebe als Grundlage dient, so dafs nirgend ein Stillstand in dem
Gesänge eintritt, so wenig man aucli die zu dem Versländnisse erforderlichen Ruhepunkte vermissen wird.
So schreitet das Ganze fort bis zu dem halben Schlüsse in den liavten Dreiklang von D, womit es en-
det, einer Zurückweisung auf das versetzte Dorische, in dessen ursprünglichen Grenzen, wenn auch mit
veränderten Tonverhältnissen, der Gesang sich bewegt hat. Diese Art der Behandlung, wie sie eben be-
schrieben worden ist, schliefst den heiligen Worten so bedeutsam dadurch sicli an, dafs jedem einzelnen
Satze, jedem Wortgebilde, dafs wir so sagen, das Tongebild in welchem es laut wird, so eigends ent-
spricht, den Sinn desselben in Tönen darlegend und entfallend; das Tongewebe, auch von den Worten
«'ctrennt, bleibt so noch verständlich, wie nahe sonst es ihnen sich anschliefst. Wie im frommen Gebete
der Erlösungsbedürftige in demütliiger Beugung sich niederwirft vor Dem, von welchem allein die Hülfe
kommt, dann aber vertrauend und sehnsüchtig das Auge zu ihm erhebt, so auch beugt die Gesangsweise
im Beginne, nachdem sie mit der Quinte angehoben, sich herab in den Grundton, und wenn sie eine
Weile still in ihm gerulit, erhebt sie durch seine kleine Terz sich hinauf zu seiner kleinen Sexte, durch
'),
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— 159 —
sie den Schlufsfall findend in seine Obeiquarfe, aber aucli die Tonart des Ganzen durch dieses Aufstre-
ben auf das Nachdrücklichste bezeichnend. Beides nun, das dcmüthigc Hinsinken, das vertrauensvolle
Aufblicken, wird in den einzelnen Stimmen, wie eine der andern sich allmählich anschlicfst, auf bedeut-
same Weise verwoben, und wie eben beides allezeit mit einander ist, das eine durch das andere auf das
Eindringlichste hervorgehoben wird, erscheint in dem Ganzen das bedürftige Flehen, die heiligende, trö-
stende Nähe des Herren, das Gebet und seine Erhörung. auf eine Art vereint, wie es nur der Tonkunst
möglich ist. Auch den eigenthümlichen Klang einer jeden Stimme auf den verschiedeneu Stufen ihres
Umfanges finden wir in diesem Gesänge geistreich benutzt, und lernen daran erkennen: nicht die Ton-
höhe an sich, sondern das Verhältnifs jedes erklingenden Tones zu dem Grundtone der Stimme, welcher
er angehört, bilde die besondere Farbe seines Klanges. So, gegen den Schlufs des Ganzen, scheint der
Tenor in seinen höheren Tönen die übrigen Stimmen zu überflügeln; defshalb nur, weil sie in ihren
mittleren Tönen einhergehen, während sie doch über ihm sich bewegen.
Wichtiger nocli wegen der Behandlung der darin vorheiTSchenden Tonart, der versetzten phrygischen,
und seines ganzen inneren Baues, ist der nächstfolgende siebenslimmige, aus verschiedenen Psalmenversen
zusammengesetzte Gesang. ') ,,Icli sprach: Herr sei mir gnädig — heile meine Seele, denn ich habe an
dir gesündigt — Hen', kehre dich wieder zu uns endlich, und sei deinen Knechten gnädig — deine Güte
Herr sei über uns, v4e wir auf dich hoffen." — Bald, wie zu Anfange, tritt die künslüche Stimmenver-
flechtung des fugirten Styles in ihm hervor; dann breitet eine Reihe von Dreiklängen, zart ausgehaucht
zuerst, dann mächtig anschwellend vor uns sicli ans, zusammengewebt dennoch, wie genauere Prüfung
zeigt, aus Nacliahmungen in den einzelnen Stimmen, welche durch nachdrückUche Betonung des Wortes
„sann/' heile, (meine Seele) jenen einfachen Zusammenklängen in ihrem Anwachsen und Verhallen ein
eif'entliüinliclies Leben verleihen; dann wieder rufen alle Stimmen, zu vollem Chore vereint, die heiligen
Worte uns kräftig entgegen, oder die tieferen hallen in zarten Klängen, betend, demüthig bekennend, wie-
der, was in den höheren zuvor auf gleiche \^ eise erklungen war. Ein hoher, ein tiefer Chor, in einander
eingreifend, sondert sicli dann aus, bald rhythmisdi bewegt, bald den breiten, mächtigen Strom der Har-
monie ergiefsend in die Klänge des andern, und mit ihm sodann in feierlichem Scldusse verhallend.
Wie der Text dieses Gesanges zusammengewebt ist aus ^'erscn verschiedener Psalmen, des ein und vier-
zigsten, neunzigsten, drei und dreifsigsten, alle jedoch ihrem Sinne nach auf einander bezüglich sind, so
hat auch unser INIeister sein Werk vor vielen gleichzeitigen dadurch ausgezeichnet, dafs es bestimmte
Ruhepunkte enthält. Nicht wie sonst, wird durch eine einzelne in den Schlufsfall eintretende Stimme,
die dem folgenden Harmonieengewebe das Grundbild gewährt, der Strom des Gesanges liier ohne äufsere
Unterbrechung fortgelcitet, sondern das Folgende stellt sich, völlig gesondert, neben das Vorangegangene;
selbständig zwar, aber in sinniger, harmonischer Beziehung dennoch bedeutsam mit ihm verbunden. So
bewegt der erste Abschnitt des Gesanges sich in der versetzten phrygischen Tonart (A mit der kleinen
Secunde); ^^ie nun seinen Worten: „Ich sprach: Herr sei mir gnädig" die folgenden sich anreihen „heile
meine Seele," eben in jener Reihe von Dreiklängen, deren wir zuvor gedachten, beginnt der Gesang in den
mittleren Stimmen mit dem zart ausgehauchten Dreiklange von C, gegründet auf die kleine Oberterz von
dem Grundtone des unmittelbar ihm vorangegangenen Zusammenklanges (auf A mit der grofsen Terz.)
Dadurch zugleich tönt uns die der phrygischen Tonart eigene, mixolydische Beziehung entgegen; denn
') S. lieispiebammjung. /• -f- 1-
— 160 —
dorn in der natürlichen Tonreihe zum zweiten Male geschärft wiederkehrenden Grundtone, wenn er die
crofse Terz (den phrygisclien Grundton) aus sich erzeugt hat, folgt sodann seine Oberquinte, die kleine
Terz des ihr vorangegangenen Tones (der mixolydischc Grundton), und in dieser Folge berulit beider Tonar-
ten Verwandtschaft, wie schon früher entwickelt worden. Heller, kräftiger bricht in das Phrygisclie seine
ionische Beziehiuig hinein, die seines Grundtons zu seiner grofscn Unlcrterz; sie hat unser Meister dem
Scldufssatze seines Gesanges vorbehalten; milder ertönt die mixolydischc, hier wie eine Friedensalmung,
welclie dem Betenden, Heilung seiner Seele Erflehenden, die Erhörung seines Gebetes verkündet
Aber auch den Ausdruck des Gefüliles tiefer Verlassenheit, wo des Herrn Nähe mangelt, hat Ga-
brieli für die Worte gefunden: „kehre dich wieder zu uns endlich Herr," imd ebenfalls durch eine be-
sondere, seiner Zeit ungewöhnliche, liarmonische Beziehung. Oefter im Fortgange dieser Darstellung ist
bemerkt worden, dafs ein jeder Sclilufs in den Kirclientönen durch den harten Dreiklang erfolge, dafs
in diesem eine Beziehung auf die nächstvorangehende Tonart anklinge, ein gemeinsames, alle umschlingen-
des Band darin kund werde. Hier schliefst Gabricli den weichen Dreiklang auf E an den vorangehen-
den gleichartigen, auf A; mit der kleinen Terz dieses lang austönenden Zusammenklanges ist jene wohl-
lliätige, beruhigende Bczicliung ausgetilgt, die Töne verhallen, wie in fruclitloser, getäuschter Sehnsucht:
ein Gefühl, zu herbe vielleicht für ein frommes Gebet, wäre es nicht vorübergehend, und gemildert bald
durch das Folgende. Denn unser Meister läfst alle Töne seines Zusammenklanges, den höchsten (e) aus-
genommen, verklingen; diesem aber, der eine Weile einsam, und nun auch ersterbend fortgetönt hat, baut
er wieder den harten Dreiklang von A unter, den frülieren, herben Eindruck sänftigend.
Die heiterste Verwandtschaft des Phrygisclien, die ionische, .inklingen zu lassen, hat Gabrieli
dem Schlüsse seines heiligen Liedes vorbehalten: da aber tritt sie aucli A'erklärend ein, das Ganze mit
himmlischem Lichte überglänzend. Es ist bei den Worten: „deine Gnade sei mit uns Herr, wie wir
auf dich hoffen. " Auch hier wiederum vereint sich, dem Kunstwerke das Gepräge des Heiligen, Kirch-
liclien verleihend, Gebet und Erhörung: das Flehen um göttliche Gnade wird ausgesprochen, und schon
umwallt auch ihr reiner, beseligender Strom den Betenden. Zu wiederholen, wie jene ^'erwandtschaft
beider Kirchcnlöne sich darstellt, wäre nicht erforderhch, da es erst kurz zuvor gesagt worden ist; doch
knüpft an' die Art, wie sie eben hier eingeführt wird, sich eine für Gabrieli's Art und Kunst nicht un-
wichtige Betrachtung, welche daher alles um ihrcntAvillen Wiederholte entschuldigen möge.
Der Gesang, den wir so eben betrachten, bewegt sich in der versetzten phrygischen Tonart;
in F also, als der grofsen Unterterz ihres Grundtons A, würde ihre ionische Beziehung sich darstellen.
So aber nicht in dem uns vorliegenden Gesänge. In denselben Tonverhältnissen zwar, doch nicht
In derselben Tonhöhe wird die Verwandtschaft ausgesprochen; denn dem weichen Dreiklange aufC folgt
der harte auf Es, der grofsen Unterterz seines Grundtons. In dem Umfange von G und seiner Oberoc-
tave daher wird hier das Phrygisclie gedacht; und dafs dem so sei, zeigt sich deutlicli durch den bald
darauf erscheinenden Ton as, die kleine Obersecunde von G, bezeichnend als solche mithin für die phry-
gische Leiter, wenn jener Ton als ihr Grundton gedacht wird. Der Ton as, so haben wir in unseren
vorangehenden Untersuchungen gefunden, hegt niclit in dem Kreise derjenigen Hülfstöne, welche durch
die harmonisdie Entfaltung der Kirchentöne eingeführt waren; er ist um defswillen in dem früher ent-
wickelten Sinne ein chromatischer, und wir fuiden nach allem diesem bei unserem Meister in einem
heiligen Gesänge, dem wir aus vielen Gründen mit voller Ueberzeugung diesen Namen beigelegt haben,
eine Wendung, die wir als unkirchlich bezeichnen müfsten. Allein seine Reclilfertigung ergiebt sich
— 161 —
dadurd., dafs er ja nicht ein Tonverhältnifs eingeführt hat, das dem diatonischen Klan-es.hle<I,lo nn
dem Orte Widerspräche, wo es sich zeigt, dafs sein fremder, umgefärbter Ton ihm nur\lazn dient in
der von ihm gewählten Tonart eine Uir eigenthiimhche Beziehung nachdrückHcli zu bezeichnen- eine solche
die eben an dem Orte wo er sie hat erscheinen lassen, nicht erwartet werden konnte: und in dieser
Gestalt darf das auch be. .hm hervortretende Chromatische nicht der Unkirchlichkeit beschuldigt
werden. Es .st em anderes, als das des Cvprian de Rore, dessen Streben dahin gerichtet war. die GreL
en der bestehenden Tonarten zu erweitern; de,m GabrieU will U.ren Geist, ihr Wesen auch unvermuthet
hervorbrechen lassen durch seine Neuerung. ""vermutJiet
Betrachten wir die Kirchentöne in ihrer Versetzung, dem sogenannten weichen Svsteme der
alten Tonme.s er, so drängt sich uns bald die Bemerkung auf, dafs in dieser Gestalt sie an ihrem äufser
sten Grenzpunk^e, dem Phrygischen, eine Ausweichung zulassen, welche ihnen fehlt, wenn sie in ihrer
«rsprunshdien Tonhöhe (dem harten Systeme) sid. bewegen. ^Vir gewinnen diese Ueberzeugung, ™
v..r den Kre.s von Hulfstönen uns zurückrufen, der den alten Tonkünstlem regelmäfsig zu Gebote
sU.nd. Aus dem weichen Systeme war nämlich der Ton es, das um einen Halbton erniedrigte e d
(nterqumte des diesem System eigenen b, übergegangen mit ihm aud. in das harte; aus diesem'.'
derum m jenes d,e Töne f,», eis, gU, deren Ursprung wir bereits ausführlich betrachtet haben dI'
e.nen, wie dem andern gemeinschafthd» in der Kunstübung, dienten diese Hülfstöne jenen manni'ofache"
Anklangen, durch welche man das Gefühl der \Wandtschaft der Kirchentöne lebendig zu erlnUe^ 1
Jener letzte Ton nun ^i,, nicht sowohl als aeohsdier Unterhalbton, sondern vielmd.r, sofein m.n in
betrachtete als che auf das Aeollsche zuriickwdsende grofse Terz des ursprünglichen phrygisd.en Grund
tons, gewahrte dem versetzten phrygischen (A-) den Unterhalbton, durch den es'in das lonisl
sich zu verwandeln vermochte; eine Ver^vandlung, deren Möglidikeit ohne einen neuen, zußlli. erhö^i'
ten Ton C^.sJ, dem Phrygisdien auf seiner ursprünglidien Tonhöhe abgeht. Eine nahe Veradassut
xu einer Erhöhung dieser Art damit, hier wie dort, man sidi mit gleicher Freiheit bewegen könne Z
offenbar diese ßetraditung. Auch diesen zufälüg erhöhten Ton finden wir in unseres Meisters älren
Werken emige Mal angewendet, namentlich in sdnem sechssHmmigen Miserere vom Jahre 1597- anS^e
nend m dem zuvor beschnehenen Sinne, um das Phrygische in das Ionische zu ver.vanddn um d"
ph^gisdienTonschM, bfaliend im Basse durch die kleine Obersecunde in den Grunit ^^frt^g
m der Oberstimme durdi die kleine Oberseptime des Grundtons zu dessen Octave, und dem chliefsend n
hären Dreddange den Sextenaccord voransteUend _ auch eine Quinte höher in den Tönen . Ä arzu
ste len wozu es der gro sen Oberterz dieses letzten Tones, dis, bedurfte. AUein durch andere 'stXn
gieb dieser Gesang zu erkennen, dafs es dem Mdster hier nicht sowohl angdegen gewesen sd Te.e
i^:l:xi TT'''"' r^^'^^> -^^^ -'-'-'- ^^^ - -^^•^-' ^'« ^^^2^nZ
Ausdrudcsmittel zu bedienen sollten sie auch dem diatonischen Systeme fremd sdn. So sdireitet
durch drei halbe Tone fort, diesen Gang in drd Stimmen nachahmend: er sdirdbt die verminderte Ouarte
vor ,m Absteigen ^e, gis,- f, cisj, und auch diese melodische Wendung läfst er nachahmend in drd
Stimmen vernehmen; er .drd dadurch, obgleich eben hier keine fremden Hülfstöne anwendend
chromatisch im engem Sinne; ja sofern er (wenn gldch an verschiedenen Orten) den Ton di. audi
als e, den Ton ^,,, audi als a. anwendet, dürfte man ihn enharmonisch nennen. Wie dieser Ge
'7 w-rJu^cT? ^"' " "'"'" 'P'"'^'" ^^^*^" hervortretenden Kunstrichtung enthaUe: wie er'
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obgleich würdig und emst, den heiligen Worten eng sich anschliefsend, doch an die Grenzen des Gebietes
kirclihcher Tonkunst im älteren Sinne streife, einerseits den Verfall dieser Kunst, aber auch das Aufblü-
hen einer neuen eigenthümliclien Anschauung des Lebens der Töne andeute — alles dieses werden wir
näher betrachten in dem besonderen Abschnitte, den wir den spätem Werken unseres Meisters widmen.
Sofern wir ihn nach neuen, dem Diatonischen fremden Ausdrucksmitteln streben sehen, kann ims
schon hier nicht entgehen, dafs er, dessen Gesänge die reichste, bedeutsamste Entfaltung der Kirchen-
töne darlegen, auch sclion deren Verfall erkennen lasse. Dafs eben in dem Phrygischen, an der
Grenze der quintenweisen Beziehung der kirclihchen Tonarten, dieser Verfall am frühesten hervortrat,
ist leicht erklärlich. Unser Meister zwar erkannte noch den innigen Zusammenhang dieser Tonart mit
der ionischen, er legte auf die bedeutungsvollste Weise ein Zeugnifs davon ab in seinen Werken; seine
Naclifolger dagegen, die nur an seine Neuerungen sich liielten, empfanden in dem Aufhören dieser
quintenweisen Beziehungen eine beengende Schranke; die Lehre ihrer Zeit, welche die dem Phrygischen
eigenthümliclien Ausweichungen niclit aus dessen innerem Wesen herleitete, sondern sie nur als Abwei-
chungen bezeichnete, veranlafste leicht zu Versuchen, Lehre und Ausübung mit einander auszugleichen,
imd das immer mehr sich verherende lebendige Gcfüld von dem Wesen der Kirchentöne fdlirte im Ver-
folge dieser Ausgleichungen endlich imser heutiges diatonisch -chromatisches System herbei.
Wir kehren zurück zu der Betrachtung der älteren kirchlichen Gesänge Gabrieli's. Der dritte
aus der frühesten Sammlung derselben '), den Mar dieser Betrachtung gleich anfangs vorbeliielten,
ist zehnstimmig: ein tiefer, ein hoher Chor zu fünf Stimmen wecliseln zuerst mit einander, dann ver-
einen sie sich zu vollem harmonischen Gesänge. Als ein Beispiel der ßehandlimg solcher Wechselchöre,
und des Sinnes, in welchem Gabrich die Choralkunst geübt, haben wir ihn gewählt. Wird liier die
Choralkunst genannt, so haben wir dabei nicht jene einfach harmonische Behandlung geistlicher Lieder
im Sinne, wie die evangelische Kirche sie liebt, jenes unbedingte Vorherrschen einer Gesangsweise, die
in harmonischen Zusammenklängen ihr inneres Leben ausströmt. Wir setzen die Choralkunst liier der
Fugenkunst entgegen; wie ein melodischer Grundgedanke in dieser durch mehre, kunstreich in einander
gewebte Stimmen entfaltet wird, so in jener die Tonart als solclie: die Tonreihe, in der sie er-
scheint, die ■ mannigfachen Verhältnisse ihrer Glieder zu ihrem Grundtone, die Beziehungen, welclie dadurch
zu anderen, verwandten Tonreihen sich bilden; so dafs hienach die Tonart als harmonischer Grund-
gedanke (Motiv) des Ganzen hervortritt. Wie aber innerhalb der einfachen ReUie von Tönen, in welclier
die Tonart erscheint, die Melodie durch den Wechsel der hatmonischen Beziehungen jener Glieder der-
selben gebildet wird; wie ein mehrstimmiges Tongewebe, wenn auch zumeist durch einen harmoni-
schen Grundgedanken beherrscht, doch wiederum iu seinen einzelnen Theilen einen Wechsel solcher
Art, einen melodischen also, darstellt, geregelt durch gemeinsame Beziehung; wie ein solches Gewebe
daher durch den Verein verschiedener Melodieen erst wirklich in das Leben treten kann: so ist äugen-
scheinhch auch hier das Älelodische nicht ausgeschlossen, nur dafs es nicht das Bewegende, das Regelnde
ist, sondern wie es dort herrschte, liier aus dem durch den harmonischen Grundgedanken geleiteten Stimm-
vereine lebendig hervorbiüht, in dem Zusammenklange aller Stimmen erst ^virklicli erscheint ,^ in der ein-
zelnen, gesangreich und fliefseud wie sie sein möge, nicht völlig zur Anschauung kommt. Diese durch
') S. Beispiel J. A. 2.
— 163 —
das Ganze verhüllt hindurchscheinende Melodie, die eben nur erschlossene Blüthe des Gesanges, gewährt
helligen Liedern dieser Art aus früherer Zeit jenen geheimnifsvoUen Reiz, der für die Verkündigung der
tiefsten Geheimnisse heihger Worte durch die Tonkunst diese Behandlung vorzüglich geeignet macht.
Die Worte, auf welche Gabrieli sie hier angewendet hat, sind die fünf ersten ^'^e^se des drei und sech-
zigsten Psalms, ein frommes Gebet, wie es die zuvor betrachteten Gesänge darstellen. „Gott du bist
mein Gott, frühe wache ich zu dir — es dürstet meine Seele nach dir, mein Fleisch verlanget nach dir —
in einem trockenen und dürren Lande, wo kein Wasser ist — daselbst sehe ich nach dir In deinem
Heiligthume, wollte gerne schauen deine Macht und Ehre — denn deine Güte ist besser denn Leben.
Meine Lippen preisen dich. Daselbst wollte ich dich gerne loben mein Leben lang, und meine Hände
in deinem Namen aufheben." — Die gewählte Tonart ist die aeolische in ihrer ursprünglichen Tonhöhe.
Ein regelmäfsiger Wechselgesang, In welchem der liefere Chor beginnt, eröffnet das Ganze; ohne fugen-
artige Behandlimg Im engeren Sinne, zeigt dieser Chor vorübergehende, aber nicht ohne Bedeutsamkeit
elngefiüirte Nachalimungen , im Gegensatze gegen den höheren, welcher rein harmonisch dahinströmt.
Nur in den Schlufs des vorhergehenden Chores tritt erst jeder folgende ein; in die verhallenden, tiefen
Töne des beginnenden mischen sich leise die hellen Klänge des höheren, welche allmählig anschwellend,
während jene ersterben, dann im vollen Glänze allein vorherrschen; wiederum bauen sich die milden,
tiefen Laute des andern Chores, den sanft ausgehauchten, lielleren Klängen des höheren unter, sie endlich
in ihr ernstes Dunkel verhüllend. Der beginnende tiefe Chor hält die Tonart zu Anfange, dem Sinn
der helligen Worte gemäfs. In Ihrer herberen Beziehimg zu der phrygischen fest; dann, wie der höliere
eintritt, der Ausdruck der Bedürftigkeit, der Trauer, aber auch der Sehnsucht wächst, klingt vorüberge-
hend die dorische, mixolydische. Ionische Verwandtschaft an, die Hoffnung Inmitten des innigen Flehens;
Wort und Ton aber vereinen ^ich bei der Stelle: „denn deine Güte ist besser als Leben" zu dem Aus-
drucke des lebendigsten, kräftigsten Glaubens. Der höhere Chor hat im dorischen Tone geschlossen, der
tiefere stimmt nunmehr den mixolydischen, dadurch ungezwungen vorbereiteten Dreiklang an, der höhere
mischt hier zuni ersten Male durch einen gleichen Eintritt seine Töne dauernd mit jenem; In der kräftig-
sten Tonfülle hebt jene heitere Beziehung sich hervor, prägt den Sinn der helligen Worte auf das Ein-
dringlichste In unser Gemüth: beide Chöre strömen nun in raschem Wechsel, lebendigem Ineinander-
greifen, endhch vereint dem Scldusse zu.
Bisher haben ^vIr die frühesten heiligen Gesänge unseres Meisters betrachtet, sofern sie als Ge-
bete sicli darstellen, und seine elgenthümhche Art den phrygischen und aeolischen KIrchenfon zu be-
handeln, daran kennen gelernt. Wir gehen nunmehr über zu seinen um zehn Jahre später erschienenen
Werken, die In der frülieren Sammlung übrigen zwei geistlichen Gesänge für jetzt übergehend, ungeachtet
der eine als Lobgesang, der andere als Verkimdigung sich darstellt, imd also eine Betrachtung besonderer
Art sich daran würde anknüpfen lassen. Denn es scheint angemessener — da jene Gesänge gegen die
zehn Jahre späteren gehalten, nicht eben eine abweichende Art der Behandlung darlegen — zunächst die
gleichartigen der späteren Sammlung, die Bittgesänge also, uns näher vorüberzufdhren.
Zwei dieser Gesänge heben wir demnach heraus, in welchen die sinnreiche Auffassung der mixo-
lydischen Tonart unsere Aufmerksamkeit verdient Nahe verwandt, dennoch aber innerlich entgegen-
gesetzt, erscheinen das MLxolydlsche und das so eben näher betrachtete Phrygische. Nahe verwandt,
21'
— 164 —
denn sie Iheilcn dieselbe Bezieliuiig, das Hinneigen z,uni Tonisclien; wie dieses auf der nalürliclien Ton-
folge, dem an der Grenze derselben nahe zusammengerückt erscheinenden harten Dreiklange beruhe, ist
vor Kurzem wiederholt erläutert worden. Aber auch innerlich entgegengesetzt erscheinen beide Tonarten,
eben durch die Art wie jene ihnen gemeinsame, eigenthümliche Beziehung in sie hineintrilt. Der mixo-
lydische Grundton entspringt, einem durch alle Tonarten hin bis zur phrygischcn gleiclnnäfsig wallenden
Gesetze zufolge, immittclbar aus dem ionischen; die Gliederung der mixolydischen Tonreihe führt durch
die ihr wesentliche, auf dem harten DrcikJange ruhende kleine Septime mächtig zurück auf ihn; leicht
und natürlich erscheint hier das Aufstreben nach dem Ionischen, einem sauft wachsenden Lichte gleich
tritt sein hellerer Glanz hinein in den milderen des Mixolydischen. Das Phrygische, gegründet auf den
weichen Dreiklang, herbe abfallend in seiner melodischen Gliederung durch die kleine Secundc, wenn
auch küJiner aufstrebend durch die kleine Septime bei wesenthchem Mangel des Unterhalbtons, trägt ein
düsteres, ernst feierliches Gepräge; unmittelbar weis't sein Grundton zurück auf das weiche, klagende
Acolische, durch dessen eigenthümlichen Ausdruck sein herber Ernst gemildert wird. Tritt nun das
Ionische hinein, als näcliste Beziehung, hi das Phrygische, so wird es plötzlich überstrahlt von hellem
Glänze "und verklärt, es erscheint alles in ihm verwandelt und erneuert. Ist aber, was beide Tonarten
einander nähert, hienacli eben ■wiederum dasjenige, was sie cigenthümlich von einander sondert, so offen-
bart diese Sonderung sich noch mehr in ihrer allgemeinen Beziehung zu ihren Wrwandtschaften. AUe
Ausweichungen des Phrygischen ohne Ausnahme sind erheiternde; sie sänftigen seinen düsteren Ernst,
wie die nach dem weichen Aeolischen, sie überglänzen es mit hellerem oder milderem Lichte, wie die
ionisdie, die durch dasselbe vcnnittelte mixolydische: eine trübe Einfassung bringt uns heitere Bilder
entgegen. Das Mixolydische, durch die fortwährend ausgesprochene, in seinem eigentlichen Sclüusse
fortklingende ionische Beziehung trägt im Ganzen das heitere Gepräge gestillter Sehnsucht; seine Neigung
jedoch zum Dorischen, die auf die vorbeschriebene Art vermittelten phrygischen Anklänge, tragen heiligen,
ja feierlich trüben Ernst liinüber in jene heitere Einfassung. So stehen denn beide Kirchentöne in ihren
Grundbeziehungen sich völlig entgegen, und eben diesen Gegensatz hat unser Kleister, die eine wie die
andere wählend als Grundton für Bittgesänge, geistreicli mid sinnig aufgefafst.
So zuerst in einem achtstimmigen, dem Inhalte zufolge der Passionszeit angehörigen Gesänge, ob-
gleich er nicht in die Liturgie ausdrücklich mit aufgenommen ist'). „O Herr Jesu Christ, ich bete dich
an, der du an das Kreuz für uns geschlagen, mit Galle und Essig getränkt wurdest; icli flehe dich an.
lafs deine Wunden meiner Seele Arznei, und mein Leben sein." Zwei Chören, einem hoher, dem andern
tiefer Stimmen, hat der Meisler diese Worte zugetheilt; bald sind Beide gegenübergestellt, bald kräftig
ineinandergreifend verwoben. Sclion sein Inhalt theilt diesen Gesang in zwei Abschnitte. Anbetung der
erste, demütliiges Hinsinken, gläubiger Aufschwung zu dem Geber aller Gnade. Hier ist anfangs die
ionische Beziehung die vorwaltende; eine jede andere, durch Verflechtung der Stimmen herbeigeführte
wird diuch sie bald verdrängt. Dann aber tritt das Bild des verwundeten, fiir unsere Sünde geschlagenen
Erlösers mächtig vor die Seele; die feierlich ernste dorische Beziehung, die sanft trauernde aeolische,
die herbe phrygische treten nun überwiegend hervor; bei dem Worte feile, wo die Stimmen zu einem
aeolisclien Sclilusse sich hinneigen, wird der grofsen Terz des Bafstons E, (gis) dessen kleine Se.xte (c)
' ) Beispiel I. A. 3.
— 165 —
vcrbundeti. deren IIcrbhciL Wellcidit nialcrisrli auf das dabei ausgesprochene \Yort „Galle" Jiindeuten
soU. So bildet sicli der Ucbergang zu dem zweiten AbscluiiUe, dem Bitlgesange. Eingeleitet wird er
durch die Worte .Je dcprecor'' ich flehe dicJi an. Dreimal treten sie hinein in die \^ echselgesänge des
h.ilieren und tieferen Chores in synkopisclicr Aufhebung des Maafses, und eben dadurch gegen jene, in
welchen aUe Stimmen gleichmäfsig mit einander sich fortbewegen, den entschiedensten Gegensatz bildend;
inniges, flehentliches Anstreben in dem „ich flehe dich an," ruhiges, demüthlges Aussprechen des I.dialtes
der Bitte m den ^Vorten: „lafs deine ^Vunden meiner Seele Arznei sein." Bedeutsam sind in diesem
Wechsel der Chöre verschiedene Tonarten in übereinstimmender Tonhöhe entgegengesetzt, so wie gleich-
namige m verschiedener; mit den alten Tonlehrern zu reden: das harte dem weichen System. Aus dem
Dorischen entwickelt sicli hier das versetzte Aeolische, das mit ihm gleichen Umfang theüt; das weiche
Phrygische, dessen Grundton so leicht in das ursprüngliche hinüberfülnt, steflt sich dort diesem entge-
gen; das Aeolische leitet in das lonlsclie, so wie dieses (in die mixolydlsche Tonhöhe versetzt) in das
Dorische leicht hinüber. Wie aber die zufällige grofse Terz auf dem dorischen Grundtone zugleich der
Unterhalbton ist des. In das lonisci.e, verwandelten IMLxolydlschen, so wird die Rückkehr in die Grund-
tonart dadurcli wiederum vermitteil; das heilere Licht des Ionischen, eine Weile zurückgedrängt, strahlt
wiederum dauernd hervor; der streng mixolydlsche Schlufs hält diese Beziehung fest. Das Kreuz ist
nicht mehr allein das Werkzeug der Marter des geliebten, bitter leidenden Erlösers, sondern auch seiner
Erhöhung, sein Anblick tilgt die schmerzlichen Wunden der Seele, das Leben blüht hervor aus dem
Tode. Das Gebet ist erhört, denn der Herr ist erhöhet In dem Herzen, und welche an ihn glauben
werden nicht sterben, sondern das ewige Leben behalten.
Der zweite jener Bittgesänge, die ^^i^ gewählt haben, Gabriells Behandlung des Mixolydischen
daran kennen zu lernen, ist aus dem hundert und zwcilcn (\ ulg. lOL) Psalm, und dessen zweiten und
dritten \ erse entlehnt '). Die kathollsclie Kirche bedient sich desselben iMIttwoch's in der Leidenszeit;
die \'orlesmig des drei und fünfzigsten Kapitels aus dem Jesaias geht ihm voran, die Prophezeiung von'
dem Herrn, der unsere Krankheit und Schmerzen getragen, auf dem die Strafe liegt, damit wir Friede
hätten; ihm folgt der Bericht von der Kreuzigung des Herrn nach dem Lidcas, ausgezeichnet vor den
Erzählungen der andern E\angellstcn durch die tröstliche Verlielfsung an den reuigen Schacher. Die
Worte unseres Gesanges, die früher aucli und später an der Feier desselben Tages durch Gesang und
Gebet hinklingen, lauten also: „Herr höre mein Gebet, und lafs mein Schreien zu dir kommen: verbirg
dein Antlitz niclit vor mir in der NoUi, neige deine Ohren zu mir; wenn Ich dich anrufe, so erhöre
micli bald." Zehn Stimmen hat unser Kleister hier in zwei fiinfstimmige Chöre geordnet, den beginnen-
den nur um Weniges tiefer gehalten, als den anderen. Aeltere Tonlehrer würden hier das MIxolydische
mit dem Hypomixolydlschen verbunden antreffen; denn der Tenor des höheren Chores bewegt sich zwi-
schen dem mixolydischen Grundtone und dessen Oberoctave, der des tieferen zwischen dessen Unterquarte
und Oberquinte. Der Ausdruck gläubiger Zuversicht, und In ihm heilige Feier und >\ürde liegt in der
gleich anfangs hervortretenden ionischen Beziehung; ein elgentliümllches Leben offenbart sicli in dem
Verhältnisse der oberen Stimme jeden Chores zu den übrigen. In dem tieferen, beginnenden Chore,
tritt sie ihnen nach, in dem höheren geht sie Urnen voran: während dort auf dem Worte „exaudi"
•) Beispiel I. A. 4.
— 166 —
(erhöre) der volle Chor den ionischen Dreiklang anscliwellend bereits hat ertönen lassen, schwingt, ihm
naclifolgend , die Oberstimme mit anwachsender Stärke sich hinauf von dem Grundtone in dessen Ober-
quarle; melodiscli und harmonisch gleich bedeutsam straldt die Tonart hervor. So nun tönt wiederum
in den Schlufsfall des beginnenden Chores die Oberstimme des höheren zuerst hinein, die übrigen sich
nachziehend; diesen folgen die vier tieferen Stimmen des zweiten Chores, ihnen endlich dessen Ober-
stimme. Dreimal hebt in diesem vollen Chorgesangc die Betonung des Wortes exaudi sich bedeutsam
hervor. Mit ihm schwingt die erste Stimme des höheren Chores sich auf zu dem mixolydischen
Grundtone, von dessen Dreiklange begleitet; ihr folgt dessen zweite Stimme, zu dem Dreiklange des
Ionischen dessen Grundion berührend; külmcr noch strebt zu diesem die höchste Stimme des tieferen
Chores empor, doch läfsl die Wendung des Basses nun den aeoli sehen Dreiklang zu ihm ertönen. Das
Ohr, in die Fülle dieser Klänge versunken, diese nachdrückliclien , wechselnden Betonungen vernehmend,
glaubt getäuscht einem dreifachen Chore, statt einem doppelten, sich gegenüber. Wir haben an dem begin-
nenden Chore ein auffallendes Beispiel derjenigen Art von Modulation, die wir als „verwandelnde" früher
bezeichneten. Seine Wendung nach g, dem mixolydischen Grundlone, wird durch Einfülirung von dessen
kleiner Terz CbJ eine Ausweichung in das versetzte Dorische, das den Grundton mit dem Mixoly-
dischen theilt; der in den Schlufsfall des tieferen Chores eintretende höhere wird dadurch befähigt jene
letzte Tonart wiederum in ilircm ursprünglichen Umfange darzustellen; dann aber, ausweichend im
enteren Sinne, führen beide vereinte Chöre durch das Aeolische sie hinüber zu dem ursprünglichen Do-
rischen. In dem folgenden ^Vechsel beider Chöre geschieht abermals, was wir in dem zuvor betrachteten
Gesänge wahrnehmen; die Darstellung gleicher Tonarten in verschiedenen Tongrenzen. So wendet sich
der obere Chor, nacli dem gemeinschaftlichen Riüiepunkte beider, mit den Worten: „und lafs mein
Schreien vor dich kommen" hinüber in das Aeolische; dessen Grundton n ergreifend, dieselben Worte
wiederholend, schreitet der tiefere zurück nacli d; indem er jedoch die kleine Sexte dieses Tones, b,
anwendet, welche dem Aeolischen eigenthümlicli ist, stellt er wiederum diese Tonart dar, dem beginnen-
den Chore auf eine Weise nachklingend, wie es eben nur in den Kirchenlönen möglich ist. Zugleich
aber wird durch diese Wendimg der Rückschritt in das Mixolydische vorbereitet, dessen Grundton die
Unterquinte des versetzten Aeohschen ist. Die Grundstimme des höheren Chores ergreift, einsam zuerst
in den Schlufs des tieferen hineinrufend, den Grundton seines letzten Zusammenklanges; mit lautem,
mächtigem, einmülhigem Rufe folgen ihr dann beide vereinte Chöre, in vollslimmiger Pracht den mixoly-
dischen Dreiklang um sie herbreitend; nur der tiefere Tenor des zweiten Chores sondert sich aus von
diesem, einzeln eingreifend in den Gesang der Grundstimme des ersten, die er nachahmt, und so wieder-
um treten in dem Folgenden zwei andere Stimmen des höheren Chors zu einander in ein ähnliches Ver-
hältnifs : überall, auch wo vereinte Chöre ein gemeinsames Leben darstellen, entwickelt irgend ein Beson-
deres sich bedeutungsvoll in diesem. Ein solches lebendiges Ineinandergreifen der beiden CJiöre, der ein-
zelneu Stimmen, und dieser wiederum in die Chöre, bezeichnet diesen Gesang vor allen andern, und am
Grofsartigsten tritt es hervor gegen den Schlufs des Ganzen, wo eines immer näher dem andern sich
anschliefst in dringendem Flehen: „wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald." Hier nun — wie aucli
in anderen heiligen Gesängen Gabrieh's — schwebt in ihren äufsersten Tönen die höchste Stimme des
oberen Chores, während die übrigen das Maafs festhalten, über ihnen, es synkopisch aufhebend; auf
den Wellen ihres Tonstroms sich wiegend, ihr stürmendes Anstreben beherrschend: ein grofsartiger, in
die lebhafte Bewegung eben des gegenwärtigen Gesanges ernste Ruhe hineintragender Ausdruck. Diese
— 167 —
lebhaftere Bewegung auch hat unsem !\Ieister hier zu dem ungewöhnliclieren , vollen mlxolydischcn
Schlüsse hingeleitet: die kleine Terz (TjJ über dem Grundtone weis't hinüber in das Dorische, doch der
letzte Zusammenklang ninmit die grofse ChJ ^^^ede^ auf; in ihr klingt das Gefiild der Giundtonart um
so mehr ungetrübt an, als bereits im Beginne die ionisclie Beziehung so mächtig und bedeutsam hervor-
gehoben war, und durch das Ganze ^'v^ederholt ertönte. So, durch seinen ganzen inneren Bau, durch
seine Stellung bei dem Gottesdienste, gewinnt dieser heilige Gesang eine eigenthümlichc, liefe Bedeutung.
Wie der Herr einst auf den Wellen des stürmenden Meeres gewandelt, so schwebt er siegend am Kreuze
über den Schmerzen ''"S Todes; der gläubigen Zuversicht, die zu ihm sich erhebt, stillt er die bangen
Zweifel, verkündet ihr Worte des Friedens: darum dafs seine Seele gearbeitet hat, sieht er seine Lust
und hat die Fülle, die Menge ist ihm zur Beute gegeben, und die Starken zum Raube.
Die Betrachtung dieses Bittgesanges, des bewegtesten unter allen, die wir von GabrieU besitzen,
bahnt uns den Uebergang zu seinen Lobgesängen, da sie im Ausdruck, in der Behandlung, ilim sich zu-
nächst anschliefsen. Wir wählen unter der ftlenge derselben fünf heraus, da eben sie in lelclUer Ueber-
sicht uns zeigen können, was alle anderen auszeichnet.
Zuerst sei hier das Responsoriiun des zweiten Ostertages erwähnt: *) „Er ist auferstanden der
gute Hirte, " dessen wir in der Beschreibung der kirchlichen Feier bereits ausfülirlich gedachten. Das
Halleluja zieht sich hin durch diesen Gesang, seine einzelnen Abschnitte treimend, und ihn beschliefsend;
in dem elgenthümlidien Verhältnisse zu dem Ganzen, das er ihm gegeben, zeigt Gabriel!, in welchem
Sinne er kirchUclie Lobgesänge aufgefafst habe. Auch hier hat er zehn Stimmen in zwei fünfstimmige
Chöre gesondert, einen höherer, den andern lieferer Stimmen. Külni aufstrebend in den weiteren Ton-
verhältnissen der Quinte und Octave, verkünden, einander nachalunend, die einzelnen Stimmen, in dem
höheren Chore zuerst, dann in dem tieferen, in beiden vereinten Chören zuletzt, die Auferstehung des
Erlösers ; ein kurzer, bewegter, durch die Drei geregelter Salz wiederholt diese Kunde ; beide Chöre nim-
mehr greifen nachahmend in einander; endlich tritt die höchste Stimme Ihnen einzeln nach, Indem sie
die Untersllmme ihres Chores (einen Tenor) nachahmt; während sie über dem Ganzen beherrschend
sdiwebt, wird auch hier die Täuschung erregt, als trete ein dritter Chor hinzu. Nun folgt das Halleluja,
aber nicht jubelnd; feierUch gemessen steigen die Oberstimmen der mit ihm wechselnden Chöre die dia-
tonischen Stufen hinauf und liinab, als solle in den Scli\\'ung des Lobliedes heiliger Friede und Ernst
durch sie einkehren, das hohe, gclieimnifsvolle Wunder der Auferstehung in tiefer Anbetung gefeiert wer-
den. So Ist das Halleluja auch ferner zwischen die Hauptabsätzc des Gesanges hineingewoben, im Ge-
gensatze gegen das kühnere Hinauf- und Hcrabschwingen der Rlelodle in denselben; in diesem Sinne be
schhefst es endlich das Ganze. In der Grundtonarl desselben, der versetzten dorischen, ist die Nei-
gung zum Aeollschen, IMixolydischen und Ionischen die vorherrschende. Eine Wendung nach A mit
vollem Schlüsse würde (mit Rücksicht auf den Grundion des Ganzen, G mit kleiner Terz) ims eine Aus-
weichung nach dem welchen Phrygischen mit gänzlicher Aufhebung seiner EigenthümUchkeit, völliger
Verwandlung desselben in das Ionische erscheinen können, belelirte uns nicht die kurz vorangegangene
Modulation nach D mit bestimmt vorherrschender grofser Sexte eines anderen; wie sie ohne Zweifel ein
') Beispiel I. B. 1.
— 168 —
Uebergang ist in das iirsprünglidie Dorische, nicl»t das versetzte Aeolische, so ist jene sich an sie schlie-
fsende eben so offenbar eine \^endung in das ursprüngliche Aeolische, und die Bemerkung, z.u welcher
unseres IMeislers sechsstiinmiges Miserere uns früher veranlafstc, findet hier nicht Anwendung.
Aehnlich ist das Verhiiltnifs des Ilalleiuja in einem siebenstimmigen Gesänge mixoivdi.scher Ton-
art für das Plingstfest. ') Er gehört 2U denen, von welchen wir im Eingänge erwähnten, dafs sie in der
Sammhuig der symplioniae sacrae nicht enthalten sind, die unser Meister im Jahre 1597 zu Venedig
herausgab, und den vier Sölmen des Marcus Fugger zueignete. Zuerst findet er sich in dem zweiten
Theile einer unter gleichem Titel zu Nürnberg bei Paul Kaufmann in den Jahren 1598 und 1600 er-
schienenen Sammlung geisthcher Gesänge deutscher und italienischer IMeisler; in einer ebenfalls gleich-
namigen Sammlung sodann, welche Kaspar Hafsler um 1613 ebendaselbst herausgab, sämmiliche, in beiden
Theilen der früheren zerstreuten Werke Gabrieli's, im Ganzen sechs und zwanzig, darin zusammenfassend.
Wahrsclieiulicli kam er durch Hans Leo Hafsler, des Herausgebers Bruder, Gabrieli's Freund, -s'ielleicht
als ein Geschenk, nach Deutschland, imd erschien defshalb früher dort, als in des IMeisters Vaterstadt.
Entschietle auch nicht das erste Jahr seiner Bekanntmachung (ist es schon das letzte des seclizehnten
Jahrhimderts,) so würde doch sein ganzer innerer Bau uns veranlassen ihn der früheren Periode GabrieU's
angehörig zu halten.
Die ihm zu Grunde liegenden Worte zeigen eine ähnliche Anordnung, ein gleiches Hineingreifen
des Ilalleiuja, als das so eben betrachtete Responsorium. ..Heute sind vollendet die Tage der Pfingsten,
Halleluja: heute erscliien feurig der heilige Geist den Jüngern, Halluja: und geAvährle ihnen die Gaben
der Gnade, Halleluja: und sandte sie aus in die ganze V^elt, zu predigen und zu bezeugen, dafs wer
glaube und die Taufe empfange selig werde, Halleluja, Halleluja, Halleluja." AucJi hier ist das Halleluja
zwischen die einzelnen Absclmitte des Gesanges hineingewoben, und durch seine ganze Gestaltung vor
ihnen ausgezeiclmet. Jene zeigen kurze Sätze in geradem Tacle, fheils fugirte, tJieils die Stimmen in
Wechselchöre theilende, theils beide Arten der Behandlung verbindende; das Halleluja erscheint, durcli
die Drei gemessen, belebter, bewegter. Nun ist es aber hier die harmonische Behandlung, wie dort die
melodische, welche bei allem erhöhten Aufschwimge, ihm des Gepräge feierlichen Ernstes leiht. In den
Hauptsätzen nämlich nämlich tritt die heitere, ionische Beziehung des Slixolydischen allezeit herrschend
hervor, wie es dem frohen Feste geziemt; jeder andere Anklang wird durch sie bald verdrängt, das ver-
setzte, dann das ursprüngliche Phrygische, wie es in den getheilten Chören des dritten Abschnittes vor-
übergehend erscheint, dient nur dazu, jener vorherrschenden Ausweichung ein noch festlicheres Gepräge
zu geben. Das Halleluja dagegen bezeichnet durchgängig der milde Ernst des Dorischen, den bewegteren
Schritt des Rhythmus sänftigend; in diese Tonart wendet überall das Mixolydische gleich Anfangs sich
hin, und das Aeolische wird nur ergriffen um sogleich in das Dorische zurückzukehren. Endlich behaup-
tet auch in dem letzten Hauptsatze das Dorische den Vorrang über das Ionische, und dieses klingt erst
in dem letzten Halleluja wiederum an, das aber nunmehr das Maafs nicht ferner ändert, sondern gleichen
Schrittes mit dem Hauptsatze dem Ende entgegengeht. So ist durch das Ganze ein gleicher Ton har-
') Behpiel I. B. t.
— 169 —
monisch festgehalten, dasselbe erreicht, ^vie in dem Kesponsorium des Osterfestes, obgleich der Mannigfaltig
keit unbeschadet, denn es ist durdi verschiedene Älittel geschehen. Die Stimmführung bei dem schliefsenden
Halleluja ') zeigt, wenn wir die guten Tacttheile allein beachten, eine Folge von fünf Octaven zwischen
zwei mittleren, von vier Quinten in den äufsersten Stimmen, beides im Absteigen, sind sie auch durch
Zwischenwendungen der einen von ihnen für das Auge vermieden, durch Bindungen und \ orhalte auch
für das Ohr fast durchaus vertilgt. \VolIte unser Meister vielleicht durch die That zeigen, auf welche
Weise ähnliche Fortschreitungen, die wir sonst niemals bei ihm antrefien, eingeführt werden dürften, der
Regel ungeachtet, welche sie verbiete? Wir fmden einen ähnlichen Gang bei seinem Schüler Heinrich
Schütz, *) den Gabrieli also wahrscheinUch mit seinen Ansichten auch hierüber hekannt machte, imd ihn
überzeugte; eine blofse Nachläfsigkeit hat bei der offenbar hervortretenden Absichtlichkeit, bei der fleifsi-
gen Ausarbeitung aller seiner Tonstücke, gewifs hier nicht statt gefunden.
Den höchsten Ton des Lobhedes stimmt Gabrieh an in einem Abschnitte des sieben und vierzig-
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') S. den Sehlu/s des Beispiels II. A. 8 i«m vorletzten (V.) Ahschnitte des iweifen Uauptstückes im Zteeiten Theile. Gäu
ge ähnlicher Art waren in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts sehr beliebt, vnd kommen bei den besten Mei-
stern vor: to finden wir bei Herrmann Schein in seinem ., Israel' s Briinnlein" Leipzig 1623. den folgenden:
V. V. Wiuicrfeld. Job. Gabrieli u. s. Zeitalter.
22
— 170 —
gten (Vul^. 46.) Psalmes, der für das Fest der Himmelfahrt bestimmt ist ') Ein Theil der Worte dieses
Psalmes folgt unmittelbar dem Eingänge zu dem Hochamte jenes Tages; einzelne Verse Idingen durch
die ganze Feier des Festes hin. „Alle Völker, froldocket mit Händen, und jauclizet Gott mit fröhlichem
Schalle. Denn der Herr, der Allerhöchste, ist erschrecklich, ein grofser König auf dem ganzen Erdboden.
Er wird die Völker unter uns zwingen und die Leute unter unsere Füfse. Er erwählet uns zum Erb-
tlieil, die Herrliclikeit Jakobs, den er hebet. Gott fähret auf mit Jauchzen, und der Herr mit heller Po-
saune, Halleluja!" Vier Chöre von abgestufter Höhe, ein jeder zu vier Stimmen, finden sich liier ver-
einigt. In kurzen Zwischenräumen tritt gleich zu Anfange dem beginnenden höchsten Chore die volle
Harmonie der übrigen allmählich hinzu, die ganze Klangfülle sechzehn wesentlich wirksamer Stimmen
vor dem Hörer ausbreitend; dann wirken jene vier Chöre, bald gleich vier einzelnen Stimmen gegenein-
ander, (meist in dem gemessenem, ruliigeren Theile des Gesanges, der durch die Zwei geregelt wird) bald
treten sie, in dieser Verbindung mannigfach wechselnd, in zwei achtstimmigen Chören sich gegenüber, deren
innerer Bau aber ein reges Leben aller einzelnen Stimmen zeigt, und dieses in den bewegteren, durch die
Drei geordneten Abschnitten, bei den Worten: „frohlocket mit Händen" „Gott fähret auf mit Jauchzen,"
Endlich in dem Sclilufssatze „und der Herr mit heller Posaune," lös't das Ganze sich auf in lebhafte
Nachahmungen einzelner Stimmen, und ihre Verbindung zu besonderen Chören tritt gänzlich zurück; die
übrigen Stimmen, in gehaltenen Tönen eine quintenweise Folge harter und weicher Dreiklänge ausstrah-
lend, bilden die Grundlage, auf welclier dieses rege Leben sicli bewegt, eine ernste, feierliche Einfassung
um jenes reiche Bild. UnwillkührUch werden wdr dabei erinnert an jenes Gesiclit Dantes im Paradiese
von dem klaren Strome, aus welchem leuchtende Tropfen sprühen in die Kelclie der Blumen die ihn
umkränzen, und dann wieder hinabtauchen in seine Fluth. Und damit jene grofsartige Pracht auch
kirchUches Gepräge trage, ist das Dorische in seinen ursprüngUchen Grenzen als Grundton gewählt, und
durch das Ganze hin unbedingt vorherrschend; die ionischen, mixolydischen Anklänge bezeidmen nur die
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bringen ihre Gar-ben u.
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bringen ih - re
Gar -
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S-^d-
:#t
.^— .
■#P
ben
-O:
elc.
gen
Pur den Kunstwerth der Hervorbringungen jener Zeiten werden ir fr tie billigerweise nicht zum Maafsstabe wählen.
») Beispiel I. B. 3.
— 171 —
helleren Lichtpunkte. Es möchte niclit das Streben allein gewesen sein, die Feier jenes Festes der \n-
herrlicliung des Erlösers auf würdige Art zu schmücken, welche unseren Meisler bewogen hat, eine solche
Fülle von Glanz neben allem heihgen Ernste eben hier vor uns zu entfalten. Ein vaterländisches Fest
Vcnedig's schlofs unmittelbar jener Feier sich an, das der Vermählung mit dem Meere; und sind jene
Psalmenvcrse auch der kirchlichen Feier ausschliefsend angehörig, so dafs sie bei dem vaterländischen
Feste nirgend vorkamen, so erinnert doch Einzelnes in ihnen an dasselbe; eben zu Anfange jene Ver-
heifsung der Herrschaft, deren dieses Fest (wenn auch in anderem Sinne) als eines dauernden Besitz-
timms sich freute. Damals aber durfte eine sinnbildhche Handlung wie jene, welcher das ganze Fest
als seinem Mittelpunkte sich anschlofs, noch eine bedeutungsvolle genannt werden, nicht war sie, wie
später, herabgesunken zu einem blofsen, der Schaulust dienenden Prunkaufzuge. iNoch herrschte Vene-
dig, wenn auch schon verfallend, wirklich auf dem Meere; ein glorreicher Sieg über den Erbfeind der
Christenheit lebte noch in frischem Andenken; der Venediger, gewohnt, das Leben des Staates, wo es
öffentlich hervortrat, in bedeutsamen Sinnbildern dargestellt zu sehen, wo es sich verbarg, als eine ge-
heime, den Feind der Ordnung unausweichhch und sicher ereilende Macht zu fürchten, bhckte mit Ver-
ehrung und heüiger Scheu auf jene geheimnifsvollen Begehungen, aber auch mit dem stolzen ße%vufst-
sein, selber ein GHed jenes erlauchten Freistaates Cserenissima repnblicaj zu sein. So dürfen denn An-
klänge dieses Gefühles bei unserem Meister nicht befremden, ziunal, wenn wir uns erinnern, dafs eben
jenes Jahr, in welchem der von ims betrachtete Gesang öffentlich erschien, und wahrscheinlich auch ge-
schaffen ist (1597) durch ein anderes seltenes vaterländisches Fest, die Krönung der Gemalilln des Doge,
verherrlicht wurde, dessen Feier (am vierten Mai) den Tag der Himmelfahrt nahe berührte, die festliche
Stimmung, und deren ganze, durch Ort und Zeit bedingte eigenthümliclie Färbung dauernd erhielt.
Ist in diesem und den meisten der im Vorigen vorübergeflÜirten Gesänge jener Wechsel des Ge-
wichts bei bleibender, gleichgemessener Zeitdauer der einzelnen Töne (dessen wir als einer Besonderheit
der älteren Tonkunst gedachten) mehr oder minder vorherrschend, so tritt er in Gabrieh's achtstimmiger
Behandlung des achten Psalmes *) „Herr unser Herrsclier, wie herrhch ist dein Name in allen Landen"
auf bedeutsame Weise als Grundcharakter des Ganzen heraus. Nicht verhält es sich hier wie in Palestri-
nas achtstimmigem Stabat mater, wo in dem Wechsel der Chöre aus der Zwei gleichmäfsig die Drei
hervorblülit, dann jene völlig zurückdrängt, in erweiterten Rhythmen majestätisch sich entfaltend, bis sie
ruhig am Schlüsse wiederum in jene sich zurückzieht; der hohe, prophetische Ton dieses Lobliedes er-
laubte nicht eine ruhige Entfaltung solcher Art. Ein scheinbar willkülirliches Hin- und Herwogen der
Töne tritt uns hier entgegen, doch läfst es, genauer betrachtet, einen geordneten Bau erkennen, der, von
dem inneren Sinne auch lebhaft gefühlt, bei allem grofsartigen , begeisterten Schwünge, doch jede leiden-
schaftüche Beweglichkeit ausschliefst. Es ist die wachsende Wärme der immer lebendiger in das Be-
wufstsein tretenden Begeisterung, die nach der Eigentliümhchkeit jedes heiligen Gesanges, auf ver-
schiedene Weise sich offenbart bei unserem Meister. Läfst er in anderen seiner Gesänge, hier, eine der
mittleren Stimmen aus der Tiefe sich aufscliwingen, bis an die äufserste Grenze ihres Umfanges sich
hinbewegen, und melodisch bedeutsam hervortreten vor den übrigen; läfst er sie, obgleich von ihnen
umgeben, ihnen scheinbar unterliegend, dennoch das Ganze beherrschen; läfst er dort in dem Vereine
mehrer Stimmen die eine über alle hinausschreiten, und harmonisch bedeutsam, den Zusammenklang
'") Beispiele I. B. 4. n. b.
22 '
— 17-2 —
eigenthümlich gestalten und färben: so ordnen in unserem Psalme Töne von durchgängig gleich gemesse-
ner Zeitdauer in feierlich ernstem und dodi anmuthigen Wechsel zu Gliedern verschieden geordneten
inneren Baues sich zusammen. Bald erscheinen sie gedrängter, bald mehr ausgebreitet, und wie sie sich
zusammenziehen, dann sich geraumer entfalten, entsteht jene Täuschung, als finde eine beschleunigte,
eine langsamere Bewegung statt, während ein gleiches Maafs, ein unverändertes Verhältnifs der einzelnen
Töne in ihrer Zeitdauer, durch das Ganze hin obwaltet. Defshalb auch ist jeder einzelnen Stimme das
Zeichen des geraden Tactes vorangesetzt, die durchhin herrschende Abstufung nach dem Doppelten und
der Hälfte anzudeuten. Nun könnte daraus zwar die Folseruna: erwachsen, es sei nicht wirklicher
Wechsel des Gewichtes vorhanden wo man lim anzutreffen meine, sondern jene vorübergehende Auflie-
bung desselben durcli tlle Synkope sei gemeint. Allein dieser Meinung wlderspriclit schon der Anfang
des Gesanges auf das Bestimmteste; denn hier finden wir beides, Wechsel des Gewichts und Synkope,
ein jedes In seiner vollen Eigenthümllchkelt gegenüber gestellt. Bei jenem gehen alle Stimmen glelch-
mäfsig mit einander fort, Länge und Kürze der Tonzeichen entspricht der redegeniüfsen Betonung jeder
einzelnen Sylbe der gesungenen heih'gen Worte; hienach gestalten sich ungezwungen verschiedene, eigen-
thümlich gegliederte rhythmische Abtheilungen des Gesanges. Ein durchgehend gleichförmiges Gewiclit
\vürde der Anführende hier nur durch Bewegung seines Körpers, oder merklich hörbares Niederschlagen
festhalten können, und Beides finden wir bereits von Zeitgenossen ausdrücklich verboten, oder als zweck-
widrig getadelt, und mit vollem Rechte; denn das Gewicht, der belebende Pulsschlag jeden Gesanges, soll
in den Tönen allein sich offenbaren, welche die Ausführenden vortragen; diesen nur soll der Tactscldag
das gleichförmige Zusammenstimmen erlelclitern, nicht soll er dem Hörer auf störende Welse durch fremd-
artiges Geräusch im Verständnisse nachhelfen wollen. Auf Weclisel des Gewichts wie er hier beschrie-
ben v/orden, wo keine Proportion im Sinne der älteren Tonlehre statt findet, und die Schläge allerdings
durchhin gleich bleiben, darf jene Vorschrift Sebald Heydens wörtlich gedeutet werden: dafs Innerhalb
eines Tonstücks überhaupt nur einerlei, und zwar die einfachste Art der Schläge anzuwenden sei; dann
aber deuten sie auch nur das Zeltmaafs Im engeren Sinne an, ohne das Gewicht zu bezeichnen.
Ganz anders stellt die Synkope sich dar, wie sie bald nacliher zu Anfange unseres Gesanges eintritt.
Dem beginnenden tieferen Chore, wenn er auf die beschriebene Weise die Worte vorgetragen hat: „Herr
unser Herrscher, wie herrlich Ist dein Name" sclillefst dann der höhere sich an, und In den vollen Klän-
gen beider Chöre ertönen nunmehr die Worte „In allen Landen." Sechs Stimmen, In kanonischer Nach-
ahmung begriffen, halten In dieser ein gänzlich gleichförmiges Tactgewicht fest, während zwei andere,
(die Ober- und die Unterstimme des höheren Chores,) auf ähnliche Welse nachahmend verflochten, das
Gewicht durchaus verscliieben, und In dem Gegensatze gegen jene die eigenthümllche Wirkung der Syn-
kope erst hervorbringen. In dem Eingange des Psalmes Ist durch das gleiche Maafs, während im begei-
sterten Aufschwünge der Gesang seine Glieder mannigfach entfallet, docli heilige, hohe Ruhe bewahrt; es
gemahnt uns jener rhythmische Wechsel, jene durch ihn offenbarte steigende \Värme der Begeisterung,
an Dante's Paradies, wo die Seligen im freudigen Wiedersehen der Ilirlgen von hölicrem Lichte verklärt
glänzen, und diese Freude doch nicht eine leidenschaftliche ist, sondern nur ein Abglanz des Lichtes, das
aus dem Quelle e^vige^ Liebe, ewigen Lebens stammt, das bald in die Tiefe des Innern sicli zurückzieht,
dann nadi Aufsen dringend die Erscheinung verklärt, und dennoch Immer dasselbige bleibt. — Ueber
dem vollen. In geordneter Bewegung sodann hinwogenden Tonstrome beider Chöre herrsclit aber auch
hier wiederum (%vie in jenem Bittgesänge für die Leidenszelt) die obere Stimme vor i'ber alle andere,
— 173 —
indem sie das Gewicht aufhebt; wie die Macht und Herrlichkeit des Herrn über alles Erschaffene ver-
breitet ist, Ordnung und Waafs auch da offenbarend, wo beides sicli unserem Auge verbirgt. Und wie
gleich Anfangs das Gemüth sich emporgeschwungen zum Anschauen dieser Herrlichkeit, so entfaltet sie
auch im Fortgange sich vor ihm, bald in mächtigeren bald in zarteren Klängen: auf gleiche Weise wie
im Beginne sind die Worte gesungen: „aus dem Munde der Kinder und Säuglinge hast du dein Lob
bereitet" „Mas ist der Mensch, dafs du sein gedenkest, und des ]\Ienschen Kind, dafs du seiner dich an-
nimmst," nur dafs sie hier in den helleren Tönen des höheren Chores erklingen. Der Schlufs des Gan-
zen aber, dem Psalme übereinstimmend, der mit seinen Anfangsworten endet, fülirt auch den Beginn des
Gesanges Aviederum zurück; allein nun kündigt er in den vollen Tönen beider Chöre sich an, grofsar-
tiger und nachdrücklicher den heiligen Lobgesang krönend.
Wir können die Betrachtung der von unserem Meister durch seine Töne belebten kirchlichen
Lobgesänge nicht schliefsen, ohne sie zuvor nocli einem derselben zugewendet zu haben, den seine Zeit
unter allen besonders hochhielt; nicht die kathohsche Kirche allein, sondern auch die evangelische. Es
ist das Magni/icaf, der Lobgesang der Maria, von dem Evangelisten Lucas im sechs und vierzigsten bis
fünf und fünfzigsten Verse seines ersten Kapitels aufgezeichnet. In ihm erklingt die letzte prophetische
Stimme, welche das Heil verkündet, das nun, da die Glitte der Zeiten gekommen, sichtlich ersclieinen
werde in der sündigen Welt. In demüthiger, gläubiger Hoffnung preiset es diejenige, welche zum Werk-
zeuge seiner Erscheinung gewählt worden war, xmd in üirem IMunde tönt der Gesang als eine Ahnung
des Frühlings, der nun herbeikomme, da der ^Vinter Aergangen sei, die Blumen hervorspriefsen im Lande ;
jener heiligen Erneuung des Herzens, da das steinerne liinweggenommen , das fleischerne an seine Stelle
gesetzt sein werde; jener Zeit der Gnade, da des Herrn Barmherzigkeit für und für bleibe mit denen, die
ihn fürchten, da er seinem Diener Israel auflielfe, seiner erlösenden Liebe und Gnade eingedenk. In
diesem Sinne setzt die katliolisdie Kirche diesen Lobgesang bei der Feier des Abendgottesdienstes (der
Vesper) bedeutsam entgegen den prophelisclien Worten des hundert und zehnten (^ ulg. 109) Psalmes
von dem neuen Königreiche des Herrn, auf welches er selber hindeutet (Malth. XXII., 42 — 45;) aber
sie stellt ihn auch an den Festen der Maria mit anderen Psalmen In Verbindung, durch welche sie, die
hohe Stelle rechtfertigend, welche in Ihrem gottesdienstlichen Leben der IMutler des Herren beigelegt
wird, diese selber als bedeutungsvolles Vorbild der Kirclie darzustellen strebt. Denn betrachten wir das
ganze kunstreiche Gebäude des katholischen Gottesdienstes, so finden wir, dafs darin überall die christ-
liche Kirche ersclieint als eine schon in ihrer irdischen Gestalt vollendete \'erklärung des alten jüdischen
Gesetzdienstes. Dort nun galt Jerusalem, die heilige Stadt, als erwählter Sitz des Herrn, als der Ort,
wo allein ihm die Gaben seines Volkes dargebracht werden durften: Diejenige, in welcher, leiblich und
geistig, er \Vohnung gemacht, in der sein irdisches Leben herangereift war, die seine erste Pflegerin ge-
wesen, die Worte der Verhelfsung, die Zeichen der Erfüllung in reinem Herzen demülhig bewegt hatte,
ihm zuletzt bis unter das Kreuz gefolgt war, sollte nun audi als sein heiligster Tempel gefeiert werden,
als Fürbitterin gelten bei ihm, die Gebete der Gläubigen vor ihn bringen. Und so sind denn auch der
hundert und ein und zwanzigste, hundert und sechs und zwanzigste und hundert und sieben und vier-
zigste Psalm, alle bezüglich auf die heilige Stadt, an den Festen der IVIaria in prophetischen Zusammen-
hang gebracht mit ihrem Lobgesange, welcher die Abendfeier schliefst, wie mit den weissagenden Worten des
hundert zehnten Psalmes, welche sie beginnen. In diesem Sinne ertönen die Verse: „Ich freue mich
dessen, das mir geredet ist, dafs wir werden in das Haus des Herrn gehen, und dafs imsere Füfse wer-
— 174 —
(Ion sielicn in deinen Thorcn, Jenisalem; Wo der Herr nicht das Haus bauet, so arbeiten umsonst, die
daran bauen; Preise Jerusalem den Herren, lobe Zion deinen Gott." So freilich ehrt nicht die evange-
lische Kirche die Mutter des Herrn, und ihren in der heiligen Schrift aufgezeichneten Lobgesang; sie
preiset nicht selig „den Leib der ilui getragen, und die Brüste, die ihn gesäugt," wie jenes Weib, deren
Rede er bericlitigte, sondern seinem Ausspruche gemäfs „die Gottes Wort (wie Maria gethan) hören imd
bewalnen. ' Sie verwarf und verwirft jenen Dienst, der die Anbetung, welche dem Schöpfer allein ge-
bührt, auf das Geschöpf überträgt, und Hülfe und Erlösung bei derjenigen sucht, die den Herrn geprie-
sen, der ihre Niedrigkeit angesehen, die (nach Luthers Auslegung unseres Lobgesanges) „sich aller Güter
und Ehren nichts angenommen, und nichts mehr, denn eine fröhliche Herberge und wilUge Wirlhin sol-
chen Gastes gewesen, die einfältig und gelassen gebheben, dafs sie darum nicht hätte eine geringe Magd
unter sich gehallen. ' Aber mit dem grofsen Anfänger der Glaubensreinigung hält sie jenen Lobgesang
hoch „dessen Wort daher gehet aus grofser Inbrunst und überschwängUclier Freude, darin sich Gemüth
und Leben von inwendig im Geiste erhebt;" und eben so preis't sie mit ihm Maria selig „welche nicht
mehr, denn Gottes Gütigkeit angesehen, und nur in derselben ihre Lust und Freude gehabt," welches
(nach seinen Worten) ist „eine hohe, reine, zarte Weise zu lieben und zu loben, die wohl eignet einem
solchen hohen, zarten Geiste, als dieser Jungfrauen ist." Um defsvnllen blieb denn auch das Magnificat
den Evangelisclien eine herrliche Aufgabe für die heilige Tonkunst, in deren Lösung sie gern dem Ge-
brauche der alten Kirche sich anschlössen. „So hoch (sagt Prätorius in der Vorrede zu semer Mega-
lynodia Sionia 1611) hielten die frommen Alten jenen herrlichen Lobgesang, dafs sie in allen Tönen
imd ihren Abarten ihn abzusingen hebten, nach Gelegenheit der Sonn- und Festtage;" auch Luther, der
hohe Mann, nannte dieses hohe Lied „einen Meistergesang, werth eine Stelle bei dem abendlichen Got-
tesdienste einzunehmen;" denn mit IMaria dankt am Abende dem in den letzten Zeiten, im neuen Bunde
erschienenen Messias die demüthige, unwürdige Kirche, und freut sich der Barmherzigkeit Gottes gegen
die Niedrigen und Verachteten, der Macht Christi über die Stolzen und Verächter, der Treue des Herrn,
womit er seine Verheifsungen erfüllt." Von den Verirrungen der Lehre, eines ausgearteten Dienstes, un-
gestört, forsclite man so dem frommen Sinne nach, der in beiden ursprünglicli ruhte, obgleich mannigfach
überkleidet und entstellt; die Kunst, meist die heihge Freistätte, in die er sich zurückzieht, lehrte ihn am
sichersten erkennen, und so finden wr, selbst in jener Zeit der durch die Lehre immer tiefer gehenden
Spaltung, des immer schrofler hervortretenden Gegensatzes, auch solche Gesänge treffhcher ItaUenischer
Meister, deren Worte die heilige Jungfrau ganz in kathohschem Sinne preisen imd sie anrufen, von Evan-
•^ehschen hochgeehrt und vn\]ig aufgenommen; die Worte freihch allezeit so gewendet, dafs wenn auch,
dem Geiste der Töne gemäfs, die Verklärung der Demuth, das aus zarter, jungfräuhcher Blüthe ahnimgs-
voU entspriefsende höchste. Alles erlösende Leben gefeiert blieb , die Ehre doch allein Dem gegeben wurde,
dem sie überall, und an heiliger Stätte zumal, ausschliefsend gebülirt, und Bitte und Dank Demjenigen
zugewendet, aufser welchem kein Heil, und kein Name den Menschen gegeben ist, als der Seine, darin
sie könnten selig werden. Solche Aufnahme des wirklich Geisligen, Frommen, Erhebenden aus dem
Dienste der alten Kirche, rechtfertigt — selbst bei demjenigen, was die evangelische Kirche am schärfsten
von der kathohschen schied, dem Mefsopfer, der Anrufung der Heiligen — Prätorius (in der Vorrede za
seiner ßJis.sudia SioniaJ auf seine eigenthümliche Weise. „Von jenem eiteln, abergläubigen Dienste
durcli Gottes Gnade erlöst (sagt er), tragen wir doch seinen Gesang auf Gottes wahre und fromme
Verehrung mit Recht über, nicht anders, wie die Kinder Israel die goldenen und silbernen GefaEse,
— 175 —
den Raub der Aegypter, womit diese Mifsbrauch getrieben, dem rechten Gebrauche im HelligtJiume
weihten.
Darin nun, dafs man beiderseits in der harmonischen Entfall ung des Lobgesanges der Maria am
liebsten „den Tönen und ihren Abarten" (tonis fonommque differentns) sich anschlofs, offenbart
sich auch, dafs man ihn, seinem Sinne gemäfs, mehr als demüthiges Danklied, denn als festlichen Jubel-
gesang aufgefafst habe. Wenn Prätorius an der angefülirten Stelle jenes in der Ursprache und Ueber-
setzung mitgetheilten Ausdrucks sich bedient, so hat er dabei nicht die Kirchentöne im Sinne, wie die-
selben nach der Lehre des Seth Calvisius von xms früher betrachtet worden sind, sondern er meint da-
mit die alten kirchlichen Intonationen oder Tropen, eingedenk, dafs ihnen ältere Tonmeister eben hier
sich vorzugsweise angeschlossen hatten; jenen ehrwürdigen, altertliümlichen Ueberresten, deren Kenntnifs
auch Seth Calvisius empfiehlt, obgleich er, den Tonarten gegenüber, von ihnen aussagt, „dals sie das
Wesen derselben weder richtig andeuten, noch entfalten, selten innerhalb ihrer wahren Grenzen anheben,
meist auf ungehörige Weise schUefsen." Defshalb herrsdit bei ihnen und ihrer harmonischeu Entfaltung
die weiche Tonart auch bei weitem vor über die harte, welche, streng genommen, nur zweimal, im
secJisten und achten Tone, bei ihnen angetroffen -svird. W^ollten wir (wie es Spätere gethan) des Seth
Calvisius Lehre, seiner bestimmt ausgesprochenen Verwahrung entgegen, auch auf die Tropen anwenden:
so wären freilich die vier ersten dorischer und phrygisclier Art, also Molltöne im Sinne unserer heutigen
Tonkunst; die vier letzten lydischcr und mixolydischer Abkunft, imd mithin Durtöne; beide hienach, die
harte, wie die weiche Tonart in gleichem Maafse bei ilmen anzutreffen. Allein bei diesen vier letzten
vornelmdich zeigt es sich, wie richtig Seth Calvisius über sie geurtheilt, wie sehr durch den allgemeinen
Gebrauch der Zeitgenossen sein LTrtheil sich rechtfertige. Die kirchUche Intonation des fünften Tones
nämlich (welcher ■\aelen für lydisch oder doch ionisch gelten soll) schliefst niclit in y, sondern in a, der
Oberterz dieses Tones; als wirklichen Scblufston aber, nicht in der gedachten Beziehung auf das für den
Grundton des Ganzen angenommene f haben die vorzüglichsten Meister des sechzehnten Jahrhunderts
jenes a immer angesehn, wenn sie diese Intonation harmonisch entfalteten, sei es dafs sie dieselbe als
festen Grundgesang ihrem Tongewebe unterlegten, oder die belebenden, bewegenden Gedanken aus der-
selben entnahmen. So Palestrina in seinem Magnificat des fünften Tones zu vier Stimmen, so die Nie-
derländer Leschenel und Orlandus Lassus in den ihrigen (1557, 1567), so endUch, .den von Choron in
neuester Zeit herausgegebenen Bruchstücken zufolge, wiederum Palestrina in einem fünfstimmigen
Magnificat, Bonifazio Pasquale von Bologna, Cristoforo Morales '). Durcli einen solchen Schlufs-
fall aber wird der vollstimmige Gesang, wenn er aucli in der ionischen Tonart anhebt, doch endlich in
das Aeolische hinübergeleitet, ja, durch Anwendung des h in das versetzte Phrygische: die Freude geht
über in das Gefülil demütliigen Dankes oder tiefer Anbetung. Die siebente der kirchliclien Intonationen
wendet sich in der Älitte nacli d und endet in a; von den alten Tonlehrern hätte keiner, mochte ihnen
aucli der siebente Ton (aber in ganz anderem Sinne) für mixolydisch gelten, eben sie dieser Tonart an-
seeignet. Ihre harmonische Entfaltung zeigt bei den besten Meistern jener Zeit, den melodischen Wen-
dungen angemessen, allezeit vorherrschenden dorischen Charakter (höclistens mit zufalliger Hinwendung
nach der mixolydischen Tonart) und aeolischen Schlufs. So in Palestrina's, so in Orlandus Lassus Mag-
nificat des siebenten Tons (1567), so endhch in den von Choron aufgestellten Beispielen, drei ausgenom-
') S. Ckuron. principes de eompositiou des e'coles d'Italie etc, Tom IIJ. Cmqaieme ton. Beispiel 3. 4. 5.
— 176 —
men (das erste, zweite und sechste), welche wirklich mixolydisch sind, und denen zufolge er hier, wie
bei dem fiinflen 'l'onc, die Intonation und die Tonart völlig verwechselt, sein sonst verdienstliches und
lelirreiches \Verk fiir den Lernenden zu einer Quelle von Zweifeln und Verwirrungen gemacht hat. —
Dieses nun erwogen, so erhalten wir unter den achtfachen Magnificat jener Zeit, \'ier, von entschieden
weicher Tonart (die der vier ersten Töne), zwei, welche in der weichen Tonart enden, bei denen die
harte sich anllös't in jene (die des fünften und siebenten Tones) und nur zwei endlicli von entschieden
harter Tonart, in so weit nämUch das Ionische und Mixolydische mit unseren Durlönen übereinstimmen,
die Magnificat des sechsten und achten Tones. Bei weitem also herrscht die weiche Tonart hier über
die harte; die Demuth, das Bewufstsein, so Grofses sei der Lobsingenden geschehen ohne Verdienst, sie
habe es empfangen als ein Geschenk der Gnade, spricht vor Allem als Grundgefiihl sich aus. Hieraus
wird es erklärlich, wefshalb auch die spätere Zeit, selbst da, wo sie der kirclilichen Intonation sich nicht
anschlofs, dennoch dem Magnificat am hebslen eine weiche Tonart aneignete. Audi Johannes Gabrieli,
dessen Magnificat durchaus freie Erfindungen sind , verfuhr bereits auf gleiche Weise. Seine symphoiiiae
sacrae vom Jahre 1597 enthalten zwei Magnificat ; das eine in zwei vierstimmigen Chören in der ursprüng-
lichen dorischen Tonart, das zweite zu drei Chören in der versetzten Tonart gleichen Namens. Der
nach seinem Tode von Aloys Grani um 1615 herausgegebene zweite Theil dieser Sammlung, meist seine
späteren Werke entlialtend, hat uns drei Magnificat, zu zwölf, vierzehn und siebzehn Stimmen aufbewahrt.
Von diesen ist nur das zwölfstimmige ionisch (aus dem sechsten Tone) und da es, den Schlufs und das
Gloria, so vie die vorangehende Intonation abgerechnet, durchaus im ungeraden Tacte gehalten ist, stellt
es sich dar als ein Versuch (für eine besondere Gelegenheit vielleicht) auch diesem demüthigen Lobge-
sange das Gepräge hoher Festlichkeit zu geben, wie es sonst keiner der heiligen Gesänge unseres Mei-
sters in diesem Maafse darstellt. Die Betrachtung seiner späteren Werke wird uns GelegenJieit geben
noch einmal darauf zurückzukommen. Seine anderen beiden Magnificat zeigen, das vierzehnstimmige die
versetzte dorische, das siebzehnstimmige die versetzte aeolische Tonart. Unter fünfen also ist nur eines
einem harten Tone angehörig, und eben dieses tritt auf ganz besondere Art aus dem Kreise aller seiner
Werke hervor.
Das ältere dorische Magnificat Gabrieli's zu acht Stimmen '), welche in zwei Chöre, der eine nur
um weniges tiefer gehalten als der andere, verlheilt sind, zeigt die Tonart selber als harmonisch beleben-
den Grundgedanken, wie wir eine ähnliche Behandlung schon bei seiner Bearbeitung des zwei und sech-
zigsten Psalmes fanden. In weiteren, in engeren Zwischenräumen, M'ie es der Inhalt der heiligen AVorte
erheisclite, wechseln die Chöre oder treten zu vollslimmigem Gesänge zusammen; Stellen, wie jene: „es
werden mich selig preisen alle Kindeskinder" „an mir that Grofses" „defs Name heilig ist" „die
Hungrigen füllet er mit Gütern" werden durch solchen Verein beider Chöre vor den andern aus-
gezeichnet, und auch hier wiederum sind es mannigfache Anklänge verwandter Tonarten, durch welche
im Wechsel der Chöre beide vor einander herausgehoben, und doch in die innigste Beziehung gesetzt
sind, in welchen die trösthchen Aussprüche der heiligen Worte auf das Zarteste und Kräftigste erklingen.
So, in ruhigem Flusse, strömt der heilige Gesang dahin, bis zu der Doxologie „Ehre sei dem Vater und
dem Sohne und dem heiligen Geiste u. s. w. ;" zum erstenmal an dieser Stelle ersclieint der Ton des
festlichen Lobgesanges bestimmter ausgesprochen, das Ganze rhytlimisch belebter, vde denn auch hier,
') S. Beispiel J. A. 5.
— 177 —
wenn gleich nur auf kurze Zeil, der ungerade Tact eintritt. Das Ganze schliefst sich völh'g der Behand-
hing der Vesper im ältesten Kirchengcsange an, xuul scheint aus den von Adrian ^Villae^t erfundenen
gelheilten Chören lebendig hervorgegangen, welche zunächst, wie wir gesehen haben, auf diese Behand-
lungsart gegründet waren ; nur dafs bei unserem IMeister, was dort nur in verschlossener Knospe ruhte,
der Geist der Tonarten, hier in lebendiger und kräftiger Entfaltung sich zeigt.
Von den Tonwerken Gabrieli's, welche der Maria als Lob und Bittgesänge besonders geweiht
sind, heben wir zwei heraus ; einmal, weil sie zu denen gehören, die auch von evangehschen Zeitgenossen
aufgenommen wurden, und wir daraus auf den allgemeinen Beifall schliefsen dürfen, den sie damals ge-
nossen; dann aber auch, weil ihr innerer Bau uns zu anziehenden Betrachtungen Veranlassung giebt.
Beide sind einander auf gewisse Art entgegengesetzt: der eine beginnt mit Gebet, und schliefst mit Lob-
gesang, wogegen der andere mit dem Preise der heiligen Jungfrau anhebt, und mit einem Gebete an die-
selbe endet. In dem ersten ') wird zu Maria gebetet: „dafs sie den Elenden helfen, die Schwachen stär-
ken möge" u. s. w., Bitten, welclie die deutsche Ausgabe dieses Gesanges an den Erlöser richtet. Eine
einzelne Tenorstimme, in einer einfachen durch zwei ganze Töne (f — g — a.) aufsteigenden kirchlichen
Intonation beginnt mit dem Anrufe ..Saiicta Maria" und diese Intonation ist dann der bewegende
Grundgedanke der folgenden Stimmenverflechtung; in ihren lang aushallenden Tönen mit einem lebhafter
bewegten melodischen Satze verbunden, auf die Worte: „succurre viiseris" (liilf den Elenden) wird sie
durch diesen Gegensatz bedeutsam hervorgehoben. Dadurch aber gewinnt diese ganze Ausführung eine
besondere Klarheit, dafs, nachdem ihr Grundgedanke im Beginne von einer einzigen Stimme vorgetragen
worden, er sodann zuerst von drei der höheren, darauf drei der tiefereu, unter den sieben, das Ganze
bildenden Stimmen, einfach harmoniscli entfaltet, dem inneni Sinne dadurch nachdrücklich eingeprägt
wird, dafs die reichere, melodisch -harmonische Entfaltung, welche dieser einfacheren sich anreiht, aus
ihr als liöhere Blüthe sich vor uns erschliefst, so wie jene aus wenigen einfachen Tönen, als dem Keime
des Ganzen erwuchs. Dieses zarte, imd doch feierliche Ausbreiten der Töne giebt dem heiligen Gesänge
einen eigenen Reiz, und es ist eine sinnvolle Anordnung des Ganzen, dafs die folgenden Bitten kürzer
gehalten sind, bis zu dem preisenden Schlufssatze, der, wie das Vorangehende durch die Zwei geregelt
war, nun durch die Drei beherrscht wird, deren Eintritt schon in dem ^^orhergehenden , wo die Bitte
leise verhallt, durch rhythmischen \^ eclisel angekündigt wurde ; dafs nun statt jenes zarteren Tongewebes,
wie es der Bitte geziemte, über einen scharf rhythmisch gestalteten Grundgedanken ein anderes angelegt
wird, in welchem der Ton des Lobliedes, das am Sclilusse wiederum in einen breiten, feierlich verrin-
nenden Tonstrom ausgeht, auf das Bestimmteste erklingt, im Gegensatze gegen das beginnende Gebet.
Die Tonart des Ganzen ist die versetzte ionische; zu Anfange hat Gabrieh sogar die lydischc anklingen
lassen, indem er bei der einhich harmonischen Entfallung des Grundgedankens den Tritonus (in seiner
Versetzung als verminderte Quinte) sowohl in den höheren als den liefern Stimmen hören läfst; dem
Tone g seine Untersexte ä als Unterslimme beigesellt imd dieser deren falsche Oberquinte / hinzufügt.
In der Folge erscheint dieses Tonverhält nifs nur noch einm.il in der Gestalt des Tritonus b, e. gemildert
jedoch durch die kleine ünterseptime in der Grundstimme; der wesentliche Septimenaccord, eine seltene
Erscheinung in der äUcren Tonkunst, die gewöhnlichste in der unsrigen, tritt hier seiner Seltenheit we-
sen mit überraschender ^Virkun"; her^■o^.
') S. Beispiel 1. A. 6.
t'. ». WUtcrfeW Job. Ualiricli u. I ZrilillT 23
— 178 —
Aiulcis, aber nicht weniger sinnvoll liat unser IMcisler den zweiten * ) seiner Gesänge an die heilige
Junnfrau "corclnct, dessen ^^or^e wir vollständig niitlheilen, um seine Behandlung daran verfolgen zu
können: «''^elig bist du Jungfrau jMaria; was du geglaubt hast, ist nun alles erfüllet, was dir verheifsen
worden; siehe nun bist du erhöhet über die Chöre der Engel. Vertritt uns bei Gott, unserem Herren!"
Die deniülhige, gläubige Hingebung wird hier zuerst gepriesen, deren Verherrliclmng daim gefeiert, end-
lich folüt das Gebet: in diesem Sinne auch schliefst den Worten die Tonkunst sicli an. Sechs Stimmen
bilden das Ganze, die Tonart ist die aeolische. Im Beginne des Gesanges waltet diese ausschlielsend
vor, und auch hier wiederum sondern sich zuerst die Stimmen in zwei einander nachklingende Chöre;
ein höherer, aus den drei oberen Stimmen gebildet, geht voran, ein tieferer hallt seinen Gesang wieder.
Doch findet nicht blofse einfach harmonische Entfaltung eines Grundgedankens statt, sondern dieser er-
sclieint sofort in dem oberen Chore, und sodann in dem tieferen ausgeführt in einem dreistimmigen Satze
enger ISaciialmmngen, welche endlich im Vereine aller, zu einen rein seclisstimmigen Satz sich verflech-
tender Stimmen beider Chöre, um so voller, nachdrücklicher erklingen. Die Tonart allein jedoch läfst
hier sdion nicht zu, dafs der höchste Schwung des Lobliedes ertöne; dieser bleibt der IMItte des Gesan-
ges vorbehalten, wo die Ionische Tonart, nachdem bei den Worten „was dir verheifsen" sie allmählich
eln<^eleltet worden, hell und festlich hervorstrahlt bei der Stelle „Siehe mm bist du erhöhet," und nun
eine Verflechtung z^^eIer melodisclier Sätze beginnt, eines feierlich langsam sich erhebenden, um welchen
ein lebendig aufstrebender In fröhlichem Jubel sich bewegt ; als solle, wie wir es auf alten Bildern sehen,
die aus dem Blumengrabe sicli erhebende, von Engeln umschwebte Himmelskönigin unserem inneren
Sinne dargestellt \\'erden. Das Gebet einzuleiten, welches das Ganze sclillefst, wird hier die aeolische
Tonart zurückgeführt, doch erscheint Uire Rückkehr nicht als ein matter Abfall; eine ^erbindung von
drei einfachen Dreiklängen vielmehr bringt eine völlig enigegengesetzte \Airkung hervor. Der Gesang
ist in das Dorische hin übergeleitet worden; auf dem Grundtone desselben, J5, ertönt der harte Dreiklang
zu dem Schlüsse der Worte „Siehe nun bist du erhöhet," und nun bei den folgenden „über die Chöre
der Engel" bricht unerwartet der Ionische Dreiklang heraus aufC, als der hellste, strahlendste Lichtpunkt
des Ganzen; es ist als offenbare sich uns die ganze FüUe einer überschwänglichen Herrlichkeit, xmd
wenn nun durch den so leicht und ungezwungen sich anreihenden, welchen Dreiklaiig auf A die aeolische
Tonart wiederkehrt, tritt dieser Schlufs uns entgegen als demüthiges Hinsinken vor dieser glänzenden
Erscheinung. So, auf ganz gleidie Welse gefühlt, erscheint in Händeis älterem Te Deum der Schlnfs
des Heilig, (nach Hillers lateinischer Unterlegung zu den Worten „majestalis glortae tuae^') nur dafs
dort der frülier angestimmte Ton des Lobliedes auch das Gonze kiönt, und dieses nlclit in demüthi-
ger Anbetung endet.
Dem Gebete nun, das unseren Gesang beschliefst, ist ein kurzer Satz mit phrygischem
Anklänge, als ruhender, nicht bewegender Grundgedanke untergelegt; der gebräuchlichen Kunstworte
uns zu bedienen, nicht als Rlotiv, sondern als cantus ßrmus: um Um, als die erste Hälfte des Schlnfs-
satzes „Vertritt uns" soll der letzte Theil desselben „bei Gott unserem Herren" im Gesänge sich bewe-
gen, ihn belebend, und auch von ihm Leben empfangend. Diesen Grundgedanken nun läfst Gabrieh,
wie er es in dem kurz zuvor betrachteten Gesänge getlian, von drei der höheren Stimmen zuerst, dann
von den drei tieferen einfach harmonisch entfalten; dann endlidi strahlt er, von dem Gewebe der übrigen
') Beispiel I. A.
— 179 —
Stimmen bald umgeben, bald in der iiöchsten Stimme getragen, bald in der tiefsten Stimme das ganze
künstlielie Gebäude tragend, in ernster Ruhe vor allen lieraus. So wendet das Ganze dem Schlüsse sieh
zu, der auf das Dorische zurückweist, nachdem kurz vor seinem Eintritt nach das Ionische, der Mittel-
punkt des Ganzen, bedeutungsvoll angeklungen ist. Dafs unser !\Ieister, der harmonischen Entfaltung im
Sinne seiner Zeit auf seltene Weise mächtig, mit zartem und tiefem Sinne auch das Wesen melodischer
Entfaltung aufgefafst habe, zeigen uns die beiden eben vorübergcfüln-ten Gesänge; die einfache Gesaugs-
weise in besclieidener Einfalt, wie sie ihr iiuicres Leben zuerst in schlichten Zusammenkläniren ausströmt,
dann ein ganzes künstliches Tongewebe hen-schend belebt, ruhend von ihm verklärt wird.
Schon im \ orhcrgchenden ist erwähnt worden, dafs in deutschen Sammlungen gleichzeitiger, erle-
sener geistliclier Gesänge, deren vier von Gabricli angetroffen werden, welche ihrem ganzen \Vescn zufolge
seinem frülieren Kunstleben angehören, in seinen um 1597 zu Venedig erschienenen symphoniis saerlä
aber so wenig, als deren später erschienenem zweiten Theile mit abgedruckt sind, obgleich dieser selbst
einige Werke der Sammlung von 1587 wieder mit aufgenommen hat. Einen dieser Gesänge haben wir
bereits im Verlaufe dieser Darstellung näher betrachtet, jenen siebenstimmigen, dem Pfingslfcste angehöri-
gen; einen zweiten übergehen wir, da er nur eine wenig verändernde siebenstimmige Umgestaltung eines
in dem ersten Theile der symph. sacr. enthaltenen aclitstimmigen Gesanges ist, welche (walirsclieinlich
für einen uns imbekannten, besonderen Zweck) das bearbeitete Tonwerk um eine Stimme verminderte,
die Grundstiinme aber in dem ilir friUier ange\viesenen bedeutenden umfange in der Tiefe bescln-änkte;
eine Bearbeitung, die nachmals von dem Meister nicht weiter beachtet, wohl in die Hände seiner deut-
schen Freunde überging, und von üinen bekannt gemacht wurde." Es bleiben uns also noch zwei dieser
(iesänge übrig, deren nähere Belraclitung wir an diesem Orte anschliefsen, weil sie, der eine als Lob-,
der andere als Bittgesang ilire Stelle am zweckmäfsigsten hier finden, wo wir eben von diesen beiden
Formen kirchlicher Tonwerke geredet haben.
Der erste derselben, der Lobgesang, kommt in der Gestalt, wie er uns vorliegt, in der katholischen
Liturgie nicht vor. Er zeigt eine Zusammensetzung einiger ^ erse des hundertsten (Vulg. 99), des hundert
acht mid zwanzigsten (\ ulg. 127) und hundert vier uuil dreifsigsten Psalms , in welcher die Beziehung
auf eine besondere Gelegenheit nicht zu verkennen ist. „Jauchzet dem Herrn alle Welt '): also wird
gesegnet der Mann, der den Herrn fürchtet. Jauchzet dem Herrn alle Welt! Der Herr, der Gott Israels
vereine euch, und er selber sei mit euch; er sende euch Hülfe aus dem Heiligthume, und schütze euch
von Sion. Jauchzet dem Herrn alle \\elt! Euch segne der Herr aus Sion, der Himmel und Erde ge-
macht hat. Jauchzet dem Herrn alle Welt, dienet ihm mit Freuden!" Wir sehen, das beginnende, immer
wiederkehrende, das Ganze bescliLefsende , freudige LoIj, bildet die Einfassung des Gesanges; dazwischen
stehen Segenswünsche, weniger an eine versammelte Gemeine, als an besondere Personen gerichtet.
Dürften wir eine Vermuthung wagen, welche von allen \veiteren historischen Zeugnissen zwar cntblöfst.
jedoch nicht ohne innere Wahrscheinlichkeit ist, so hat Gabrieh diesen Gesang für die Krönung der Do-
garessa Morosina, die dabei staltgefundene kirchliche Feier, gefertigt; jene Festlichkeit, deren Bild wir be-
reits vorüberführten, als wir unseres Meisters Lebensereignisse, das Merk^\Tirdigste, was unter seinen Au-
gen in seiner Vaterstadt sich zutrug, berichteten. Der hundert sieben mul zwanzigste Psalm, aus welchem
Vieles in unserem Gesänge entnommen ist, war und ist noch im katholischen Gottesdienste bei feierlicher
') Beispiel I. A. 8.
•2,S
— 180 —
Einsegnung der Ehen üblich; nur das ßild der Frucht barkeil, das er uns darstellt, ist hier nicht auf-
genommen, denn es wird nicht ein neuer Bund gesegnet, sondern ein bereits bestehender, von Eheleuten
in schon vorgerücklem Aller, ein Bund, dadurch erneuert, dafs der zu der höchsten Würde erhobene
Mann, auch seine Gattin zu derselben feierlich emporhebt. Diese Kröumig fand statt um das Jahr 1597,
zu derselben Zeil, wo Gabrieh den ersten Theil seiner symphoniae sacrae herausgab, ihn seinen Gönnern
und Freunden, den vier Brüdern Fuggcr in Augsburg zueignete; was aber dem gefeierten Fürstenpaare
damals besonders gewidmet war, durfte ohne Verletzung des Schicklichen nicht leicht in eine Sammlung
aufgenommen werden, welche, laut ilijer Zueignung, bei einer ähnlichen Veranlassung den auswärtigen
Freunden des Meisters als Ilochzeitgeschenk dargeboten wurde. Wahrscheinlich also ist um jene Zeit
unser Gesang — wie überhaupt gelegentliche Kunstwerke — besonders abgedruckt, und als einzelnes
Blatt bei der von Gabrieli's Schüler, Aloys Grani, achtzehn Jahre später veranstalteten Herausgabe seines
Nachlasses übersehen worden; wogegen Georg Gruber, sein Nürnberger Freund, der in demselben Jahre
(1C15) Gabrieli's und Hafslcr's „Reliquien" herausgab, ihn in seine Sammlung aufgenommen hat. Er-
schienen war er bereits zwei Jahre früher (um 1613) zu Strafsburg, in dem dritten TheiJe von Abraham
Schadäus prowi^j/HnrtMwi niHsicnm, einer höchst schätzbaren Blumenlcse heiliger Gesänge der letzten Hälfte
des sechzehnten Jahrhunderts; auch erwähnt seiner gelegcnthch Friedrich Weissensee schon eilf Jahre
zuvor (1602) in der Vorrede seiner unter dem Titel ..opus meliriim" zu Magdeburg herausgegebenen
Sanunlung eigener Beispiele von Behandlung der Tonarten. Dafs er also dem sechzehnten Jahrhunderte
angehöre, dürfen wir, zeigte es auch nicht sein ganzer innerer Bau, doch aus äufseren Umständen eben-
falls schhefsen. Mit besonderer Liebe ist er gearbeitet, und ohne Zweifel eines der vorzügliclisten Werke
unseres Meisters. Die Tonart ist die ionische in ihrem ursprünglichen Umfange ; die Stimmen sind durcli-
gängig in ihren hohen Tönen angewendet, das helle, glänzende, festliche Gepräge der Tonart nocli zu
vermehren. Wir besitzen zwar viele Gesänge aus jener Zeit — und einige unseres Meisters haben wir
schon früher betrachtet — durch welche ein oftmals wiederkehrender Zwischensatz hingewoben ist,
wie das Ilalleluja durch die Gesänge des Osler- und Ptlngslfestes ; in dem vorhegenden aber ist jenes
wiederkehrende: „Jauchzet dem Herrn alle Well" der Hauptsatz des Ganzen; der, wenn auch immer
unverändert zurückgefiilirle, doch mannigfach entfaltete Grundgedanke; und dieser Art finden wir We-
niges unter den Werken der Zeitgenossen. In zwei Stimmen und ihrer engen kanonischen Nachahmung
erscheint allezeit dieser Grundgedanke; in den höchsten zuerst, dann kehrt er, absteigend, immer in zwei
gleich gepaarten wiederum zurück. Den beiden oberen Stimmen, wie sie erst langsam aufsteigend, dann
sinkend um sich wieder höher zu erheben, in schnell hinrollcnden Tönen endhch sich aufzuschwingen,
einander jubelnd überschreiten, sich nachahmend überflügeln, treten im Beginne, fast nur eine volle Har-
monie aUmähhg ihnen unterbauend, die andern hinzu; dann, wie der Hauptgedanke in den tieferen Stim-
men nach und nach ersclieint, gesellen auch sie sich dem fröhlichen Aufschwünge des Gesanges, die hö-
heren zumal; nur die tiefsten Sthnmen, obgleich allmähhg lebhafter bewegt, haben bei dreimaliger Wie-
derkehr des „Jauchzet" das Gepräge der ernsten Grundlage des Ganzen nocli nicht ^•erlol•en: da tritt
endhch auch in sie der Hauptgedanke ein, der nun alle Stimmen bewegt, alle im Strome der Begeiste-
rung forlreifst. Diese allmälilige, sinnige Entfaltung, wie wir sie in den Werken unseres Meisters schon
öfter wahrgenommen haben, zeigt sich hier auf eigenthündiche Weise das Ganze durchdringend, es
in immer erneuetem Schwünge erhebend; dabei ist durch das allezeit festgehaltene, durch ein-
zelne Anklänge verwandter Tonarten nur zuweilen unterbrochene Ionische ein Glanz ergossen über den
— 181
Gesang, wohlgcziemcnd dem heiteren Gepränge, das, wie wir gern voraussetzen, ihn umgab, durch ihn
eine neue, tiefere Bedeutung erliielt.
Der zweite von den unserer Betrachtung hier vorbchaltenen Gesängen ist siebenstimmig, entlehnt
aus dem Gebete Salomons bei der Weilie des Tempels (1 Könige 8, 28 ff.) '). „Wende dich zum Gebet
deines Knechtes, und zu seinem Flehen, HeiT, mein Gott, auf dafs du hörest das Lob und Gebet, das
dein Knecht heute vor dir thut, dafs deine Augen offen stehen über dieses Haus, Nacht und Tag." Als
Responsorium begleiten diese Worte die Vorlesungen aus der Gescliichte der Könige Juda, denen in der
katholischen Kirclie die Zeit vom Trinitatissonntage bis zum ersten August geweiht ist; bedeutsam treten
sie hinein zwischen die ^Vorte der Erzaldung von der Salbung Salomons, seiner ^Vahl der Weisheit vor
allen Gütern, der Herrlichkeit des Ilerni, die sein Haus erfüllt, der Wiederauölndung des Gesetzes unter
Josias, der endliclien Zerstörung des Tempels: liier wederum, wie so oft, eine prophetische Hindeutung
auf die in der Kirche offenbarte Verklärung des alten jüdisclien Dienstes. Allein befremdend ist es, eben
sie in dem römischen Ponlifical nicht unter denjenigen zu finden, die bei den mannigfachen Gebräuchen
für Weihung neuerbauter Kirchen vorgeschrieben sind. Dennocli — bei so manclien Abweichungen der
venedischen Liturgie von der römischen, ihrer rein gregorianischen Grundlage ungcaclitet — möcliten
wir behaupten, Gabrieli habe sein Werk für eine Feier solcher Art besonders geschaffen, und es bei die-
ser Gelegenheit einzeln herausgegeben; es verhalte sicli also mit ihm auf ähnüclie Weise, wie mit dem
kurz vorher betrachteten. Zwei Fälle der Weihung neuer Kirchen nämhch ereigneten sich zur Zeit sei-
ner Amtsfülirung, während der höchsten Blütlic seines frülieren künstlerischen Strebens. Venedigs Doge
und Senat hatten, um 1576, während in der Stadt die furchtbarste Pest wüthete, ein Gelübde gethan,
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— 182 —
wcim die Wulh der Seuche nachlasse, dem Erlöser eine Kirche zu erbauen. Schon im August desselben
Jahres ') erhielten Augustin ßarbadigo inul Anton ßragadin den Auftrag, einen schicklichen i'lalz für den
Aufbau auszusuchen; am ein und zwanzigsten September \\ählle der Senat unter den vorgeschlagenen
denjenigen, wo sie noch jetzund auf der Gludecca steht '^). Im folgenden Jahre 1577 am dritten Mai
lc"ie Johannes Trivisano. damals Patriarch, den Grundstein ^), fünfzehn Jahre später war sie vollendet,
und erhielt am sieben luul zwanzigsten September 1592 •*) die Weihe durch den Patriarchen Lorenz
Priuli im achten Jahre der Amtsführung unseres iMeistcrs, und fünf Jahre nachdem er neben den nachge-
lassenen Werken seines Oheims Andreas, auch treffliche eigene Gesänge herausgegeben hatte.
Aclit Jahre später jedoch (um 1600) ^) weihte der ebengenannte Patriarch abermals eine zweite,
nicht neu erbaute, aber durch den fiommcn Eifer einer edlen \'enedigerin, Perpetua Pasquahgo, erneuerte
Kirclie. Es war die der heihgeu Jnstina, seit dem glorreichen Siege zu Lepanto, (1571) der an dem
Festtage dieser Heiligen erkämpft wurde, das Ziel eines jährlichen, feierlichen Kircligangs des Doge, imd
für Venedig, jener Veranlassimg wegen, ein besonders w erlh geachtetes Heiligthnm. Zwischen den beiden
fesüiclien Tagen der einen und der andern Weihe schwankt imsere Vcrmulhung; doch möchten wir uns
lieber für den letzten entscheiden, als denjenigen, welchem Gabrieli sein Werk bestimmt habe; denn
eben hier war keine Veranlassung für Ihn vorhanden, dasselbe von der um 1597 herausgegebenen Samm-
lung auszuscldicfsen ; leichter dürfte es, um 1600 einzeln erschienen, bei der späteren, erst nach dem
Tode unseres Meisters von seinem Schüler veranstalteten, übersehen worden sein. Auch hier verdankt
Deutschland seinem Freunde Gruber in INurnberg die Bekanntmachung eines trefflichen \Verkes, wenn
aucli nicht die früheste; denn uni 1612 schon hatte es Abraham Schadäus In den zweiten Tliell seines
zu Strafsbnrg erschienenen jjronqjluarü musicl aufgenommen.
Dieser Gesang Ist eines der vorzüglichsten Werke unseres Kleisters im fugirten Stile seiner Zeit.
Jedem Hauptgedanken der heiligen Worte schliefst sich ein melodischer Satz innig an, und wird von
den einzelnen Stimmen, meist in enger Nachahmung, doch ohne sich au streng kanonische Folge zu bin-
den, ausgefüJn-t; dann tritt ein zweiter den folgenden Worten angeeigneter hinzu, und so bis zum Schlüsse
flicht sich das Gewebe der Stimmen fort. In nie unlerbrochenem Strome des Gesanges. W ie der Eintritt
jeder, den Hauptgedanken des eben vorwaltenden Satzes entfaltenden Stimme, so Ist auch das Hineindrin-
gen jedes -neuen bewegenden Gedankens bezelclmend und nachdrücklich herbeigeführt; eine jede Stimme
scheint nur Ihrer selbst willen da zu sein, und dennoch wird Ihre Bedeutung erst dann recht lebhaft ge-
fülilt, wenn sie den andern sich anschliefst; daneben tritt dann auch die Eigenthümllchkcit der Grund-
tonart, der aeollschen, ihre Hinneigung zu der phrygischcn und ionischen, so wie zu der dorischen, über-
all bedeutsam hervor. Eben dieser besonderen Liebe wegen, welche In der Ausfülirung überall hervor-
leuchtet, und in dem kurzen Zeiträume weniger Minuten ein so belebtes, vollendetes Bild uns vorüber-
führt, ist nicht zu glauben, dafs Gabrieli dieses sein Werk anders als für eine, ihm besonders werthe
Feier geschaffen habe, oder dafs er es, einmal vollendet, von einem Kreise solcher Werke habe ausschlie-
fsen wollen, die er lieben Freunden und liochgeachteten Gömiem als ehrende und erfreuhche Gabe dar-
bot — eine genügende Ursache für die Annahme, dafs es zu der späteren Weihe der Kirche der heiligen
Juslina um 1600 bestimmt gewesen , damals In einzelnem Abdrucke erschienen , und dann , sei es seiner
in Vencdi- schon allgemeinen Verbreitung wegen, oder weil die Handschrift des Meisters nicht mehr vor-
'^ f'ergl. Flaminü Coroelii etc. Eccleaiae f'eneiac XJ. p. 13. ') Ib. p. 17. ') p. 18. ') p. 19. ') p. 209.
— 183 —
handen war, in die nacli seinem Tode in seiner Vaterstadt herausgekommene Samndung seines iSachlasses
nicht wieder aufgenommen worden.
Es Weihen ims nunmehr solche Gesänge unseres Meisters allein zu hetracliten noch übrig, die
wir darstellende nennen möchten, verkündende imd weissagende; die mit Worten der Schrift oder auch
der Sage, Geschehenes imd Künftiges, oder heilige Geheimnisse ofFenbaren. Eine viel gröfsere Ausdeh-
nung nehmen diese ein in der katholischen, als in der evaugchschen Kirche. Hier war es nur die Schrift,
die ilinen Eingang sichern konnte; dort war auch die Ueberlieferung geheiligt, sei es nun die blofs münd-
lich fortgepflanzte, oder die neben den Urkunden heiliger Offenbanmg durch die Berichte glaubwürdiger
Scliriftzengen aufbewahrte. Auch diese läfst dort in heiligen Gesängen sich hören In der Kirche, und
fanden wir am Osterfeste, neben anderen, wörtlich aus der heihgen Schrift entlehnten Gesängen, in der
Sequenz ein GespräcJi der Jünger mit Rlagdalena, nicht dem Buchstaben, doch dem wesentlichen Inlialte
nach auf die Schrift gegründet, eine dichterische Erweiterung des dort Aufgezeichneten; so lassen an an-
dern Festen auch die Stimmen von Glaubenszeugen späterer Jalirhunderte zwischen ^ orlesungen und
Gebeten sich yernelimen; ja völlig persönlich, gegenwärtig, treten diese hervor, als gesdiehe ihnen vor
den Augen der Gemeine eben dasjenige, wodin-ch sie ihren Glauben bewährten. So ertönt im Gesänge
die Kunde von der heihgen CäciUa, welche der Sage gemäfs ihr Leben von jedem irdischen Genüsse
entfernt hielt, es der Betrachtung göttlicher Dinge allein weihte, und, nachdem sie ihren heidnischen Ver-
lobten, dessen der Abgötterei eifriger noch ergebenen Bruder bekehrt hatte, mit Ihnen den ]\Iartertod
erlitt. „Als nun die Flöten (des Iloclizeitreigens) ertönten, tönte es in Cäcilia's Herzen allein ihrem Her-
ren, und sie sprach: „„Erhalte, o Herr, Geist und Leib mir unbefleckt, dafs ich nicht zu Schanden
werde."" So hören wir sie zu dem Bruder Ihres Verlobten reden: „„Heute nenne Ich dich wahrhaft
meinen Bruder, da die Liebe Gottes dich gelehrt hat che Abgötter verachten. Gottes Liehe machte deinen
Bruder mir zum Gemahl, dich mir zum Blutsverwandten."" So tritt der Apostel Andreas vor uns hin
und sein Rlartertlmm, in jenem Responsorium: „Als Andreas das Kreuz erblickte rief er aus: „„o du
wunderwiirdiges , begehrenswerthes Kreuz, das du über die ganze Welt hin strahlest, nimm auf einen
Jünger Christi, und durcli dich nehme Derjenige mich auf, der an dir starb und mich erlöste." Ganze
Gespräche selbst ziehen sicli hin durch Psalmengesang und Vorlesungen. So \drd am Feste des helligen
Laurentius dessen Zusammentieflen mit dem zum Tode gehenden römischen Bischöfe Sixtus uns vor-
übergeführt ; die Klage des frommen Priesters, seinem Biscliofe niclit folgen zu können, dessen Weissagung
seines baldigen Martertodes. „W^ohln gehest du, ^'ater, ohne deinen Sohn, wohin hcihger Priester ohne
deinen Helfer?" Fröhhcli eile ich zum Tode. „Also verlassest du mich, mein Vater? was denn an mir
hat dir mlfsfallen? Siehe zu ob du einen würdigen Diener an mir erwählt, des Herren Leib und Blut
zu spenden!" Nicht verlasse Ich dich mein Sohn; sondern ein grofserer Kampf erwartet dich für Christi
Glauben. Einen leichteren Gang zu gehen, ist uns Greisen zugetliellt, dich aber erwartet ein Sieg, ruhm-
würdi"-er nocli, über den Wüthericli." — Oft und mit Vorliebe finden wir um jene Zeit Gesänge eben
solclier Art von den besten Meistern behandelt. Von l'alestrina besitzen wir das erwähnte Responsorium
der heiligen CäciUa fünfstimmig'); von Johann Asula aus Verona das Gespräch der Heiligen SLxtus
und Laurentius achtstimmig zu zwei Chören; auf älmhclie Weise hat Leo Leoni aus Vicenza das Ge-
sprädi Christi mit Petrus behandelt von dem Weiden der Schafe und dem Amte der Sclilüssel (aus
') Lib. III. Motel torum etc. t'eitetiis 1575.
— 184 —
Joli. XXI., 15 — 17. uiul Malth. XVI., 18. 19. zusammengeseUt, ohne die dort befindlichen verbindenden
Worte der Erziibhmg); so anch des Herrn Rede zu Paulus bei seiner Bekehrung und des Apostels Ant-
worten (Apost. Gesch. XX., 3 — 6.) ' ). Unseres Meisters Werke enthalten ebenfalls nianelies hieher zu
redinende; luul können wir Gesänge der eben betrachteten Art, wie wir es zuvor getlian, darstellende
nennen, haben wir neben diesen noch verkündende und weissagende genannt; so wühlen wir nun
aus dem ^'orrathc der Werke Gabrieli's drei heraus, wie sie jenen drei Arten angehören, vun an ihnen
die möglichst allseitige Betrachtung seiner eigenthümhchen Behandlung geistUcher Tonkunst während
seiner früheren Wirksamkeit fortzideiten und zu beschhefsen.
Die Benennung „darstellende Gesänge" freilich dürfte mancher, und nicht zu verwerfenden Ein-
wendung unterliegen. Denn die Kunst jeghcher Art, so fern sie das innerlich Geschaute hineinstellt in
das Gebiet der Erscheinung, ist darstellend; eine Benennung also, die einem jeden KunstAverke ohne
Ausnahme gebührt, möchte wenig geeignet sein, eine gewisse Kunstrichtung ausschliefsend zu bezeichnen.
Darstellend also wären, von dieser Seite betrachtet, nicht minder solche Gesänge, in denen, durch den
Sängerchor vertreten, im Gebet und Lobgesange die Gemeine ilire fromme Stimmung ofTenbart; darstel-
lend solche, in denen eben dieser Chor Vergangenes ihr als gegenwärtig vorüberfülirt, als alte, heilige
Kunde es in das Gedäclitnifs ruft, oder Verheifsungen, ewig fortgehende, und ewig wiederum erfüllte Weis-
sagungen, in tiefster Bedeutung vor ihr ausspricht. Darin jedoch finden wir die Rechtfertigung jener Be-
nennung, dafs, im Gebet, im Lobgesange, die Gemeine, höre sie auch schweigend einem kunstgeübten
Chore zu, doch gedacht \vird als von ihm vertreten, singend und spielend dabei in ihrem Herzen, ein-
stimmend innerlich in jeden Laut, der zu Ihrem Ohre dringt ; als mit thätig also, nicht als Hörerin allein ;
wo aber das Vergangene, das Verheifsene, aus dem Munde der Sänger zu ihr redet, als verstummend erscheint
vor der heihgen Kunde, in stiller Demuth ilir horchend; aufnehmend, dem ilir Dargestellten gegen-
über, dessen Urheber, der Sängerchor, den Namen des Darstellenden um so mehr verdient, je gegenwär-
tigei", anschauhcber, das Bild ist, welches er hervorruft. In diesem Sinne wünschen wir jene Benennung
aufgenommen zu sehen; möge das Folgende sie rechtfertigen.
Darstellend hionach im engeren Sinne, die verkündete Begebenheit der heiligen Geschichte ge-
genwärtig, anschaulich vorüi)erfuhrend ,'^ erscheint ims Gabrieli's achtstimmige Behandlung des Responso-
riums für die Feier des ersten Ostertages, das wir bei der Darstellung des hieher gehörigen Tlieiles der
katholisclien Liturgie bereits ausführlich mittheilten, hier aber, der Vollständigkeit wegen wiederholen '').
„Der Engel des Herren kam vom Himmel herab, trat hinzu, wälzte den Stein von der Thür, setzte sich
darauf, und sprach zu den Weibern: Fürchtet euch niclit, ich weifs, dafs iiir Jesum den Gekreuzigten
suclit. Er ist nicht hier, er ist auferstanden, -svie er gesagt hat. Kommt her, und sehet die Stätte, da
der Herr gelegen hat. Halleluja!" Das grofsarlige Bild des herabschwebenden Engels, wie er, die Scbwin
gen entfallend, sich erst erhebt, dann herniedersenkt, in stiller Majestät hinzutritt, den Stein wegv.'ilzt
vom Grabe und auf ilnn ruht, wie er mit sanft tröstender Stimme den Frauen zuspricht, in frohem .(übel
endheh die Auferstehung verkündet, einem Jubel, der das Ganze im vereinten Gesänge beider Cliöre
schliefst — alles dieses stellt der Meister hier unserem innerem Sinne dar. Er wählt, wie es s[)älerc
grofse ronkünstlcr bei ähnlichen Darstellungen auch gethan, im Anfange zwei schhchte melodische Fi-
guren. Die eine erbebt sich durch die Stufen der diatonischen Leiter, langsamer zuerst, dann schneller;
') Alles dreies ist m dem dritten Tkelle von Abraham Schadäas promptuarium musicum CStraßburg 1613> zu finden.
= ) Beispiel I. B. 5. a.
— 185 —
schliefst in dieser einfaclien Bewegung jede andere Anscliauung aus. als die des Aufschwunges. Einfach
\uid langsam senkt sich die andere durch nur drei Töne. Jene verflechten und entfalten zuerst vier ein-
zelne Stimmen in enger kanonisclier jNachahnrung; diese ertönt durch jene vier Stimmen, von der höch-
sten hinab bis zu der tiefsten, so, dafs jede folgende hineingreift in den Schlul'sfall der vorangehenden.
Dann aber «ird das Bild des Aufsch\\ingens, des Medersenkens, grofsartiger noch \or uns entfaltet: mIc
zuvor durcli vier Stimmen, so breiten die Nachahmungen nunmehr durch deren achl sich aus; wie anfangs
nur die einzelne Stinnne eingriiTin die andere, greift nunmehr ein voller Chor hinein in den andern. \Yo der her-
abgekommene Engel zu dem Steine des Grabes liitt, da krönt das ganze Bild seiner Er.scheinmig, abermal.s,
wie in jenem zuvor betrachteten Lobgesange an die heilige Jungfrau, die überraschendcZusannnenstellungzweier
Dreiklänge. Dem anfc. dem ionischen (Jrundlone, von welciiem aus die IModidalion anscheinend in rnliisem
Fortgange nach f hinstrebt, schliefst unmittelbar, unerwartet, der Dreiklang des darunter liegenden ganzen
Tones, i, sich an: als eine himmlische Erscheinung erkennen wir nun in der Nähe, ^^as auf so grofs-
artige \\else schon aus der Ferne sich uns ankündigte. Die \\orte des Engels sind einfacher Choral-
gesang; wo er die Kunde der Auferstehung ausspricht'), wo er ib"e Frauen hinweis't zu der Stelle, wo
der Herr gelegen, und nun nicht mehr zu finden ist, wird er belebter; hier vereinen beide Chöre ihren
Gesang in lebendiger, gemeinsamer Stimmverflechtung; es ist als gehe der Glaube au das herrliche Wun-
der nun in aller Herzen auf, im \^ echselchore schliefst das Halleluja sicii an, ein Lobgesang der Engel,
wie derer, denen so Grofses verkündet wurde.
Zu einer ähnlichen Behandlimg, so scheint es, \üirde der zweite der von uns ausgewählten
Gesänge unseres IMeisters, dem Inhalte seiner ^^ orte zufolge, ihn haben aidTordern nüissen. Es ist
ein ries])onsorium für das Weihnachtsfest, zu zwölf Stimmen in zwei Chören, einem hohen, einem
tiefen. .,Der Engel sprach zu den Hirten: Ich verkündige euch grofse Freude, denn euch ist heute der
Heiland der ^Velt geboren, Halleluja! Ehre sei Gott in der lliihe. und Friede auf Erden, und den Men-
schen ein VVoblgcfallen, Halleluja!" Hier tritt jedoch in schlichtem Choralgesange , der nur in der Einlei-
tung durch 'den Verein beider Chöre eine geheimnifsvolle Kunde andeutet, die Verkündigung uns ein-
fach entgegen; nur die Worte noch: „grofse Freude*' prägt der Aolle Gesang beider Chöre naciidrücklich
ein; der tiefere sonst ist der allein verkündende. Sein Schlufs wendet aus dem Phrygiscben, (!er (Jrnnd-
tonart des Ganzen, Melche hier in strenger Behandlung erscheint, zu dem I^Iixoh dischcn sich hin. eine
Ausweichuna;, welche zweifeUiaft erscheinen könnte wegen der kurz zuvor sehörten kleinen Terz 6 des
mixolydischen Grundtons, wüfsten wir nicht, dafs bei v{dlen mixolydischen Tonschlüssen durch dieses
Tonverhältnifs ein Anklang nach dem Dorischen hin sich bilde. Nun schliefst, durch die Drei geregelt,
im Wech.selgesange beider Chöre das Halleluja sich an; ionisch zuerst, wie dem mixolydisciien Dreiklange
leicht und natürlicli der Dreiklang dieser Tonart folgt, dann aeolisch scliliefsend. Der Grundion des Aeo-
lisdien aber wird nun als der des versetzten Pbrvgischen angesehen, tnid auf dessen grofser Unlerlerz /",
dem Grundtone des versetzten Ionischen, in vollem Gesänge aller Stimmen, ertönt das (iloria. Leise
nur liefs im Anfange unser Meister die ionische Verwandtschaft des Phrygiscben anklingen; bestimmter
zwar, doch zarter auch, schlofs in der 'Mitte dem mixolydisciien St-hlusse das Ionische sicii an: hier bricht
es heraus in voller Kraft, im schärfsten Gegensatze gegen das Phrygische. und dennoch ihm am nächsten
' .S. /. li. h b.
l'. ». Wiutr-i-M.l- .iL.b. G^ilriill u. ». ZiilillM. 2-1
— 186 —
verwandt; unerwartet, well beule Tonarten hier nicht in ihren ursprünglichen Grenzen erscheinen: in
den Gesang strahlt es hinein, wie das göttliche Licht der Offenbarung in die dunkle, sündige Welt.
Weissagend endlich dürfen wir vorzugsweise jenen Gesang zum Eingange der Feier des Oster-
festes nennen, den wir auch schon in dem Vorigen betrachteten, welcher >Vorte des vierzehnten Verses
aus dem dritten Kapitel des zweiten Buches IMose mit Stellen aus den drei ersten Psalmen verknüpft;
die Erlösung Israels aus der aegyptischen Knechtschaft, durch Jehova im feurigen Busche dem Moses
verkündet, prophetisch deutend auf die Erlösung von der Knechtschaft der Sünde und des Todes durch
den auferstandenen Heiland, wie schon David, der heilige Sänger sie verkünde. „Ich hin, der ich bin;
ich wandle nicht im Rathe der Gottlosen, sondern habe Lust zum Gesetze des Herrn, Halleluja! Ich
habe geheischt von meinem Vater, Halleluja, und er hat mir die Heiden zum Erbe gegeben, der Welt
Ende zum Eigenlhum, Halleluja! Ich lag und schlief und bin erwacht, denn der Herr hält mich, Hal-
leluja I" Es sind diese letzten Worte, welche Gabrieli zum Mittelpunkte des Ganzen gemacht hat. Der
in der Kirche des helligen Marcus zu Venedig üblichen lateinischen Psalmenübersetzung zufolge, deuten
sie beslinuuter noch auf den Tod und die Auferstehung des Herrn, als Luthers Uebertragung dieser
Stelle. (^Ego dormhii et sontnum cepi ; et resurrexi, quoniam Dominus suscepit tne. Ich habe ge-
schlafen und des Schlummers genossen, und bin auferstanden, denn der Herr hat mich aufgenommen.)
Das versetzte lonisclie ist der Grundton des Ganzen, mixolydische Anklänge durch die Hinwendung nach
der Oberquarte tönen feierUch bereits in den Anfang hinein; zwei gleiche vierstimmige Chöre, der eine
meist der Nachklang des andern, wechseln mit einander, und kräftig klingt zwischen die einzelnen pro-
phetischen Worte in vollem Gesang aller Stimmen das Halleluja hinein. Nun werden jene, auf des Her-
ren Tod, seine Auferstehung, deutenden Worte ausgesprochen: geheimni fsvoll tritt hier zum ersten Male
die phrygische Tonart hinein in das Ganze; ihr aufsteigender Schlufsfall durch einen ganzen Ton, ilir
abfallender durch einen halben, beide eben ihr allein eigen, für sie daher auf das Schärfste bezeichnend,
werden in den zwei Unterstinmien beider Chöre verbunden; alle Stimmen halten, leisen Lautes, sich in
ihren tiefsten Tönen; es ist die Rrdie, die Stille des Grabes, die aus ihnen spricht: „ich h^be geschla-
fen '). " Aber ein Strahl des Lebens dringt in diesen geheininifsvollen Schlummer; die lonart, ihre
Grenzen nicht verlassend, verwandelt sich in die aeolische; auch hier wiederum stehen die harten Drei-
klänge auf dy auf c unmittelbar neben einander; eine eigenthümllche Beziehung des Lichtes und des To-
nes giebt jenem letzten Dreiklange gegen den vorhergehenden jenen hellstrahlenden Glanz, den hier, wie
in anderen Werken unseres Meisters, die eine gleiche Verbindung uns zeigt f^n, jeder Hörer lebendig fiili-
len wird. Der Herr hat des Schlummers genossen, aber das göttliche Leben bricht siegreich durch die
Bande des Todes — er ist auch auferstanden; imn strebt der Gesang wieder hinauf in das hebte Ionische,
bewegter, in glänzender Fülle. Nur dreistimmig zwar greifen beide Chfire ineinander; aus beiden jedoch
sondern sich zwei einzelne Stimmen aus, der Tenor aus dem ersten, der Alt aus dem zweiten, und tre-
ten in gleichen Ton und Zeitverhältnissen, wie jene, einander nach; einen Wechsel von vier Chören
glauben wir so zu vernehmen, bis alles zu einem kräftigen Zusammenklange verschmilzt bei der Stelle
„denn der Herr,** und nun in den beiden wechselnden Chören, die Worte: „hat mich aufgenommen"
durch zartes, synkopisches Hingleiten der beiden Oberstimmen das Gepräge liebenden Hinneigens erhal-
ten; es ist der N'ater, der den Sohn, an dem er Wohlgefallen hat, der zurückkehrt zu ihm, wieder auf-
nimmt zu seiner Rechten.
I) Belsjjiel I. a. 6.
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Es dürfte befremden, nachdem von mehren Werken unseres Meislers ausführlich gehandelt wor-
den, kfine einzige Messe von ihm erveähnt zu finden, da dieser Mittelpunkt der katholischen Liturgie
bei späteren Tonmeistern gewöhnlich als Hauptaufgabe ihrer Tonschöpfungen erscheint. Allein hier eben,
wo der bedeutende Umfang und die Verscliiedeuartigkeit der Gesangsworte den Späteren besonders will-
kommen war, um eine Mannigfaltigkeit von Tonbildern an ihnen zu entwickeln, erscheinen die Aelteren
zumeist strenge und ernst. Die Durciiführung eines einzigen (Grundgedankens in allen Theilen des Gan-
zen war fast allezeit als Aufgabe gestellt, durch sie erstrebte man äufsere Einlieit dieser bedeutenden
Massen; eigenthüm liehe Färbung aber suchte man über sie zu verbreiten durch die Wahl dieser Grund-
gedanken; durch sinnreiche Anklänge aus fremden, sei es geistlichen oder weltlichen Gesängen, bezüglich
auf das gefeierte Fest oder die Persönlichkeit des Meisters, gewählt vielleicht auch nur wegen ihres lieb-
lichen Gesanges, ihres für kunstreiche Ausfuhrung besonders geeigneten Fortschrilles. .Tedenfalls aber
herrscht in den Messen jener Zeit, geistreich wie einzelne Meister aucli sie zu beleben gewufst, das Her-
kömmliche vor; und wer ältere Tonmeister in ihrer vollen Eigenthümhchkeit will kennen lernen, hat
mehr zu forschen in ihren, durch die IMesse oder andere Theile des Gottesdienstes nach ^ erschiedenheit
der Feste wechselnd hindurchgewobenen Gesängen, wo kein Herkömmliches sie hinderte, sich frei und
mannigfaltig zu bewegen, als in ihren IMessen, in denen die meiste äufsere Uebereinstimmung hervortritt,
die in vielen Fällen unserem Zeitalter sogar als Einerleiheit erscheinen dürfte.
Um jedoch von unserem Meister in möglichster ^'ollsländigkeit zu handeln, dürfen N'N-ir nicht über-
gehen, dafs die beiden venedischen Sammlungen seiner W'erke nur zwei Bruchstücke von IMessen enllial-
len, von denen das in die frühere von 1597 aufgenommene, Kyrie, Gloria, Sanctus und ßcnedictus iim-
fafst; das in der späteren von 1615 mitgcthcilte, dieselben Gesänge mit Ausschlufs des Gloria. Nur das
letzte Bruchstück hat der Verfasser dieser Blätter aus den vorhandenen Stimmbüchern vollständig herzu-
stellen vermocht; von dem andern war ihm mir die Einsicht eines einzigen Exemplars vergönnt, das
nicht alle Stimmbücher enthielt, und von dem die vorhandenen eben in diesem Theile unvollständig
waren. Es läfst sich daher nur über eines dieser Bruchstücke vollständig, über das andere nur in so
weit berichten, als die vorhandenen Theile desselben einigen Ueberblick gewährten.
Dem Herkömmlichen hat unser Meister darin sich angeschlossen, dafs ein bestimmter Grundge-
djinke, wenn auch niclit überall streng ausgeführt, doch angedeutet mindestens, allen einzelnen Mefsgc-
sängen (bis auf das Benedictus) gemeinsam ist. Doch läfst er, wider den Gebrauch seiner Zeitgenossen,
nicht sofort alle Stimmen, sei es in Chöre gesondert, oder allmählig ein volles Ilarmoniegewebe zusam-
menflechtend, in Thäligkeit treten. Sein älteres, wie sein späteres Bruchstück, auf zwölfstimmigen Satz
in drei Chören angelegt, wendet im ersten Kylie, und dem folgenden Christc, das eine in jedem nur
acht, das andere zuerst nur fünf, dann acht Stimmen an; erst das letzte Kyrie tritt mit sollen Chören
hervor, so dafs die ganze Pracht der Harmonie gegen das Gloria hin sich zuerst entfaltet. Sanctus und
Benedictus des früher erschienenen Bruchstücks haben nicht vollständig hergestellt werden können; die
des späteren gehören unbezweifelt zu den vorzüglichsten Werken unseres IMeisters, und hätte er die Messe
vollendet, so würden sie gewifs auf die Avürdigste, bedeutsamste \^'eise ihren Mittelpunkt gebildet haben.
Das Sanctus zeigt den Gnmdgedanken des Ganzen zuerst in jedem einzelnen der drei Chöre, dann in ihrem
vollen Zusammentönen, in enger IS'achahinung entfaltet zu den ^Vorten: „Heilig ist Gott, der Herr Ze-
baoth; " dann greifen alle Stimmen kühn und mächtig in einander, eine breite, volle Harmoniemasse bil-
dend zu den Worten: „alle Lande sind deiner Ehre voll;" auf den höchsten Gipfel erhebt sich die Be-
24*
— 18S —
celslpruiio- In dirn .. [losinnnn in der Ili'ilip," wo in ^ ti nnilprlc m Rhyllinnis die Droi als licrrsrliciid her-
voiUill. ^|||| <'ilöiil, einlach und z.arl das l?i'ncdirhis ') {(icsognci, der da kommt in dem Naiaou des
JfeiTii) in .scliiicliten, harmonisclieii INaclikliingen dreier (^liöre, eines Jiolier, und eines anderen tiefer Slim-
men, zwischen denen in der !\litte ein dritter schA\eht. der durch die gewölmhchen vier Singstimmen ge-
bildet wird. In der Tiefe heben diese zarten Klänge an, in der Tiefe verkhngen sie wieder, inid das
feurige, bewegte Hosianna, in derselben Cestalt wiederkehrend wie anfangs, krönt sodann das Ganze, zu-
letzt in einem breiten, durch die Zwei geregelten Tonstrome verhallend.
Diese beiden Gesänge tragen so ganz das Gepräge der frülieren Kunstrichtung unseres IVIeisters,
das CJnisle und das letzte Kyrie schliefsen in so völlig gleichem Sinne sich ihnen an. dafs wir sie, unge-
achtet sie erst inii das Jahr 1(515 erschienen sind, deiuioch seinen früheren Werken beirechnen miifsten.
Denn die in jenem .Tahre herausgegebene Sammlung hat neben späteren aucli solclie Gesänge abermals
aufgenommen, welche bereits 1587 gedruckt waren, und wir dürften daher nicht anstehen durch innere
Kennzeichen unsere Beurtheilung ihres Alters leiten zu lassen. Allein das ersle Kyrie erregt wiederum
Zweifel, da es auf das Entschiedenste seinen späteren Hervorbringungen gleicht, und dennoch seinen
Zusammenhang mit dem Folgenden, theils durch den gemeinsamen Griuidgedanken, Iheils die forlsclirei-
tendc, ihn später entfaltende Stimmenfulle , unzweideutig zu erkennen gicbt. Es ist ein fünfstimmi-
ger Satz, imd ein solclier zeigt in seinen früheren Werken sich niemals, in denen wir nie weniger als
seclis Stimmen angewendet finden; es ist auf Begleitung musikalischer Instrumente angelegt, und auch
diese wird dort nirgends angetroffen. Zwar ist der Name keines dieser Instrumente angegeben, die Worte
auch einer jeden Stimme vollständig untergelegt; allein die der Oberstimme ausdrücklich beigefügte Be-
zeichnung Voce (wie sie in seinen späteren ^Verken vorkommt, wo die Anwendung beslimmter musika-
lisclier Instrumente den AusriUirenden überlassen blieb) giebl zu erkennen, dafs nur sie allein von einer
menscbliclien Stimme habe vorgetragen werden sollen. Gesangsverzierungen, wie die spätere Zeit sie
erfunden, kommen in der Singstimme vor, und werden von den Instrumenten nachgeahmt: ja, zuletzt
tönen diese nur die Harmonie einfach durch mehre Tacle aus, während die Singstimme einen kur/,en
recitativisclien Gang, einmal mit voller, dann wiederholend mit leiser Stimme vorliägt, (eine hier aus-
drücklich vorgesclniebene Vortragsweise) in einem raschen Laufe sidi in die Höhe aufschwingt, und mit
einem langen Triller auf dem Unterhalbtone endet. ^) Ungeachtet dieser, gegen frühere \A erke imsercs
Meisters so bedeutend verschiedenen Behandlung, und troz des augenscheinlichen Zusammenhanges der
folgenden CJesänge mit diesem vorangehenden, so wie ihrer gleichzeitigen Erscheinung nach dem Tode
ihres Urhebers, bleibt aber dennoch die Vermuthung nicht ausgesclilossen , dafs jene zuerstgenannten sei-
ner früheren Zeit wirklich angehörten. Er, der uns überall so strebend erschien, hat von Gesängen denen
seine Kirche eine bedeutende Stelle bei dem Gottesdienste einräumte, nur einzelne Bruchstücke hinter-
lassen. Es drängt die Vermuthung sich auf, dafs er, durch das Herkömmliche beengt, hier eine freiere
Behandlung, wie sie nur immer vergönnt gewesen, erstrebt, zu verscliiedenen Zeiten ^ ersuclie darin ge-
macht, sich vielleicht niemals völlig habe genügen können, und so mag vielleicht Sanctus und Benedictus
am frühesten entstanden, in gleichem Sinne ihnen das Christe und das letzte Kyrie gesellt ^vorden sein;
das einleitende Kyrie aber bei einer durcliaus anderen Richtung seines künstlerischen Strebens erst später
') Beispiel J. A. 9. ») Beispiel I. B. 7.
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einen Pliitx nobrii ilnien i;criin.1.>ii li;.l)(>ii. uin! nur dun-li den Cnnidiifdanken in einige äufscrliche Rexicr
hung /.u iliiicn gesel/.l worden sein.
INIil dem Aovliegeiideii Absclmitle liaben ^^'n■ die DaislelluDg der fiülieren Kunslrlehtung unseres
Meisters besdilossen. Sie gehört Mescnllicli jener alleren Zeit an, in der die Künste in innigem Bunde
mit der Kirche .standen, unler deren .Seluit/. und Pflege der den Geiuütliern der iMenschen oinge-
pflauzle schaffende 'J'rieb am frühesten xu vollem Bewul'slsein erwacht war; wie in den bildenden Kün-
sten, so in der Tonkunst, wenn auch hier nacli längerem .Schlummer. AMe die Tonkunst in den Lei-
stungen eines kunstgeübten, die Gemeine vertretenden, die >Vorte der Verkündigung, der Verheifsung ihr
offenbarenden, das Gescheliene, das Künftige ihr gegenwärtig vorüberführenden Chores in das Leben ge-
treten sei bei dem Gottesdienste, haben vir darzustellen versuchl. Als \ edrcter der Gemeine fanden
wir den Chor berufen /.u Darstellung frommer, jedes irdische Gefühl reinigender, verklärender Gemüths-
stimmungen, im Gebete, im Lobgesange; nicht jenes flüchtigen, rastlosen \\ echsels von Empfindungen
also, wie die weltliche Tonkunst ilm darlegt, sondern des Bleibenden, Ruhenden, den güttlichen Ursprung
im menscliHclien Gemüthe kündenden, desjenigen, wodurch, wie allen Kegungen desselben, so den Bestre-
bungen des schaffenden Triebes das Gepräge des Christlichen aufgedrückt vinl. In diesem Sinne sahen
wir ''die Tonkunst, ihrem flüchtigen, an die Zeit gebundenen Stoffe Daner und Gestalt verleihend, der
Baukunst gegenüber sich heranbilden. Auf diesem Gange ihres Bestrebens trat die Entwickelung bestimm-
ter wiederkehrender Grundformen ihrer Darstellungen tms entgegen, der Kirchentöue; Grundfor-
men durch jene geistige Richtung, durch eine von ihr bedingte, eigenthümliche Naturanscliauung gebildet,
eben defshalb nothwendige IMittel der Offenbarung beider, Gedanken, wie Gefühle erst lebendig gestaltend.
In scharfen aber rohen Unnissen fanden vir diese ausgeprägt in alt-überlieferten, der ersten Zeit christ-
licher Begeisterung nahe stehenden Kirchengesängen, solchen Ursprunges halber mit besonderer Ehrfurcl.t
hocli-ehalten. Auch wir, um des geistigen Lebens willen dessen Erzeugnisse sie sind, der oft wunder-
baren Durchdringung des noch ungebildeten Stoffes, die aus ihnen hervorscheint, dürfen ein ehrfurchts-
volles Anerkennlnifs^hnen nicht versagen, müssen wir auch bedauern, dafs in herbem ISIifsverstande man
lange Zeit an ihnen festhielt als für alle Zeiten allgemein gültigen, die heilige Kunst vüllig erschüpfenden
Fr7euonissen; dasjenige also, was belebende Form der Darstellung in ihnen werden konnte, und spater
geworden ist, in eine^eengendc Schranke umwandelte. Eine ungenügende Lehre war bestrebt, selbst
bis hin '/u den Zeiten, in welchen wir einer solchen Belebung uns bcreils ..rfreuen dürfen, aus ihnen,
anknüpfend an unvollkommene UeberUeferungen aus dem Alterthume. einen Kreis von Formeb auszu-
scheiden als llülfsmitteln zu besserem Verständnisse des bereits Gebildeten, nicht als Typen, Grund-
formen für neue Bildungen. Denn wo die Kunst irgend im Wachsen begriffen ist, werden deigleiclien
nicht auf serlich als Regeln für die Kunstübung festgesetzt: sollen sie in achtem Snine sein, was jene
Benennunc^ aussagt, Grundformen, in denen der schaffende Trieb sich offenbart, so erzeugen sie auch
ohne äufsere Vorschrift, kraft innerer Aothwendigkeit, sicli immer wieder von selbst in seinen Ilervor-
brin.un.en, und irgend ein äufseres Gebot, das ihretwegen etwa ergeht, spricht dann nur bekraf igend
undVilllend aus, was auch ohne dasselbe bereits Regel geworden war. ^^ as aber jene Fonueln früher
wirklich gewesen, Typen, nach denen jene alten heiligen Gesänge von innen heraus sich nothwend.g
gestaltet hatten, das sollten sie im Verfolge jener grofsen, lange vorbereiteten, geistigen Bewegung, durch
Welche die Kirchenverbesserung hervortrat, m noch viel höherem Maafse werden. Bisher hatte man,
künstlich und sinnreich, jene alten, heilig gehaltenen Gesänge mit anderen Stimmen umbaut und ge-
— 190 —
stlimückt. jenen, auf älterer Kunslübung gegründeten Regeln sich dabei strenge angeschlossen, jene, durch
sie festgesetzten Grundformen dabei zur Anschauung zu bringen gesucht, in sorgsamer Anwendung der
Kunstmittel die Kunst beinahe verloren. Auf anderem Gebiete hatte diese, der Diclitkunst unterthan,
eine Weile forlgewaltet; in jenen mannigfachen Lebenskreisen, welche neben der Kirche gebildet, im
höclisten Sinne doch von ihr umfafst und gelragen, durclx sie geheiligt werden sollen. Dafs dieses ge-
.schehe, die Kirche nicht als gesonderte JMachl länger dastehe neben jenen Lebenskreisen, dafs sie, die
von jeher die allgemeine Multer sich genannt, dieses in der That werde, ihr Geist alles lebendig durch-
dringe, nicht die äufsere Satzung als solche mehr gelle, sondern sofern sie durch innere jNoth wendigkeit
o-eheiligt, durch den Ausspruch der Offenbarung bestätigt sei — alles dieses erstrebte die Klrcbenverbes-
serung; die Sehnsucht danach hatte in den herrlichsten Erzeugnissen aller Künste sich lange zuvor grofs-
arlig, tiefsinnig, rührend ausgesprochen. Jener Zweig der Tonkunst nun, einer fremden Kunst gesellt,
mit und in ihr zum Leben erwacht, allein dennoch durch kein äufseres, z-^^ingendes Gebot gehemmt,
hatte in unbewufstem Walten des scliaffenden Triebes bald zarte, licbliclie Blütlien gezeitigt; ein eigen-
iJiümUcher Geist hatte in ihnen sich erschlossen , die Offenbarung der Tonkunst als einer frei mit der
Dichtkunst verschwlslcrtcn. ihre ^Verke verklärenden, nicht nothwendig imd für immer ihr dienstbaren
Kunst. Jene herbe, strenge, kirchliche Kunst, überlieferten Kunsterzeugnissen, bindenden, aus ihnen her-
«^eleiteten Regeln dienstbar, suchte nun, in Uebereinstimmung mit der aus dem Innern mächtiger stets
hervordringenden Geistesrichlung, sich zu stärken und zu erquicken an jenen frisclien, lebendigen Blüthen,
an ihnen des mächtiger aus der Tiefe des GcmüÜies sich entfaltenden Triebes bewufsl zu werden. Wie
anfangs \ ermischung des herkömmlich Kirclilichen und des W'eltliclien, dann Verklärung und lebendige
Durchdringung dieses letzten durch jenes, hervorgegangen sei aus diesem Streben, wie jene alten Grund-
formen des Kirchengesanges, die Kirchentöne, als wahrhafte Typen erkannt worden, ihr Geist und ihre
Bedeutung auf zarte Weise auch dem in die Kirche lebendig aufgenommenen Volksgesange sich mitgetheilt
habe, in ihnen und durch sie eine eigenthümliche , neue kirchliche Kunst entfaltet worden sei — das
hoffen wir zu einiger Ueberzeugung in dem Vorangehenden dargelegt, und durch die Betraclitung einzel-
ner Werke unseres Meisters bewährt zu haben. .
Aber wir haben aucli jene ältere kirchliche Kunst, als eigenthümliche Offenbarung des schaffen-
den Geistes eine in sicli vollendete genannt; und dennoch werden wir nicht leugnen dürfen, sie stehe
nicht frei da, sie scliliefse sich einer vorhandenen Form des Gottesdienstes noth^^'endig an, ihr wahrhaf-
tes Verständnifs erscheine an diese geknüpft, ihre Leistungen durch sie bedingt; ihre Erzeugnisse, ver-
einzelt, von geringem Umfange, seien jenen grofsartigen Werken späterer Zeit nicht zu vergleichen,
die eine Gesammtheit einzelner Tonbilder durch einen gemeinsamen IMittelpimkl lebendig verknüpfen,
frei dastehend von allen äufseren Bedingungen ihrer Ersclieinung und ihres Verständnisses. Sollte uns
also jene ältere Kunst nicht vielmehr als eine Andeutung dessen erscheinen, was später erst in hö-
herem Sinne geleistet worden; und wenn wir den ohne Widerspruch so viel bedeutenderen Umfang
von Kunstmitteln erwägen, dessen die spätere Zeil sich zu erfreuen hat, die so viel gröfsere Geschmei-
digkeil tmd Biegsamkeit ihres Tonsystems, sollte uns die ältere dagegen nicht vielmehr beschränkt und
arm erscheinen?
Es ist gewifs zuerst: frei soll die Kunst sein, ihre Erzeugnisse in sich versländhch, keiner Erklä-
rung, noch irgend einer äufseren Einrichtung zu ihrem \erständnisse bedürftig. Unwiderruflich aber und
überall ist die heilige Tonkunst in ihren tiefsinnigsten Erzeugnissen geknüpft an das Wort der Offenba-
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mng; sie ist es also in jenen Werken späterer Zeit nicht minder, als den Hervorbringungen der früiieren.
Sind aber Wort wie Ton dasjenige, wodurch sie als Kunst erst in das Leben treten kann, worin der
schaffende Geist zwar gebunden, aber auch wiederum gestaltet und offenbart wird, so ist, nicht minder
als alle übrigen Künste, auch die ältere, wie spätere heilige Tonkunst frei tu nennen in diesem Zusam-
menhange mit dem Worte, die eine auf gleiche \\eise mit der andern. Die eine aber wie die andere
lös't ihre höclisten Aufgaben innerhalb des christlichen Gebietes; je heimischer der Hörer ist in demsel-
ben, um so mehr ist ihm das Verständuifs beider gegeben, da sie Blülhen eines und desselben Stammes
sind. Aber mögen wir die Werke der früiieren Zeit auch defshalb niclit geringer achten, weil sie bei
dem ersten Anblicke uns vereinzelter, beschränkter erscheinen. Jene einzelnen Verse der Psalmen und
heiligen Lieder, jene aus den Worten des Heilandes und der Apostel entnommenen Sprüche, finden alle
in der gröfsesten That der Geschichte ihren IVIittelpunkt, um deren einzelne Momente in besonderen Fe-
sten durch den Lauf des ganzen Jahres wiederum eigenthündiche Kreise der Darstellung sich bilden. In
Gebet und Lobgesang, in W'eissagung und Verkündigung auf diesen gemeinsamen IVIittelpunkt hindeutend,
treten jene, anscheinend vereinzelte Tonbilder zusammen in ein einziges, grofsartiges Ganze, ein Faden
der Liebe und der Begeisterung zieht sich hin durch alle; in geheimnifsvoller Verwandtscliaft verknüpft,
offenbart ein Kreis von Tönen die innere Seele des heiligen Wortes. So trat jedes einzelne Kunstwerk
dem Hörer einst entgegen in der bedeutsamsten Umgebung, im Zusammenhange mit dem Leben der
Kirche, wie es an den verschiedenen helligen Zeiten, an den einzelnen Festen, in immer wiederkehren-
dem Kreislaufe sich offenbarte. Getragen von allem diesen, dadurch vorbereitet, vermochte er es reiner
aufzufassen, inniger sich anzueignen. Das Kunstwerk erfreute sich einer Heimalh, der Hörer einer Ver-
mittelimg; nicht dafs er ihrer zum Verständnisse des Kinistwerkes unumgänglich bedurft hätte, aber sie
entfernte von ihm alles Störende und Zerstreuende, stellte ihn demselben in der rechten Stimmung ge-
genüber: was ihm zu Theil wurde, war nicht blofser Kunstgenufs in beschränktem Sinne, sondern wahr-
hafte Erbauung. Jenes gröfseste Werk heiliger Tonkunst der späteren Zeit, das in einer Fülle von
Bildern die ewige That der Erlösung, wie kein anderes, vor uns hinstellt, schliefst freilich keinem kirch-
lichen Gebrauche sich an, keiner einzelnen heiligen Zeit, weil es allen angehört; es vermag mit keiner
Art des Gottesdienstes in ^'e^bindung gesetzt zu werden, es hat bisher, wenn auch zur Erscheinung ge-
bracht an heiliger Stätte, in der Kirche noch niemals seine wahre Heimath gefunden ; jeder Tempel scheint
für dasselbe zu eng, jede Anknüpfung an bestimmten Zeitunifang zu beschränkt, es fordert uns auf, ein-
zu'^ehen in dasselbe, wie in einen heiligen Tempel selber, in tiefer Andacht zu vernehmen ,^ was uns in
ihm verkündet wird. Und wahrlich, könnte es eine Zeit geben, wo Hörer wie Ausfidirende in diesem
Sinne völlig in dem grofsartigen Werke lebten, so wären jene gelieimnifsvollen Worte der Offenbarung
erfüllt von der Stadt Gottes, die keines Tempels bedarf, noch der Somie und des Mondes dafs sie in
ihr scheinen, da der Herr, der allmächtige Gott, luul das Lamm, das der Welt Sünde getragen, ihr Tem-
pel ist, und die Herrlichkeit des Herrn sie erleuchtet,- die höchste Aufgabe der heiligen Kunst wäre in
ihm gel(>st. Allein, wir versauuneln uns ihm gegenüber, wie zu j^eder andern Erholung,, wie zu dem
leichtesten Kunstgenüsse; Ort und Zeit gestatten auch dem Fremdartigsten unsere Samndung zu stören,
wenn wir sie irgend gewinnen konnten; demjenigen, das als künstlcrisclie Leistung uns entgegentritt,
o-eccnüber. können wir nicht lunhiu zu prüfen, in wiefern es den AusliUircnden gelungen sei, ihre grofse
Aufgabe zu lösen, und so geht uns oft genug das hingebende Aufnehmen, das Üiätige Aneignen verloren.
In sich beschlossen ^^^ar, aber heimathlos, steht so das grofse Werk da, prophetisch; und so wenig
— 1Ü2 —
liiöflil." es jpiJKiI.s lile.iii-.len seine wahre, genügende Stelle finden, als die evan-.-ll.sihe Kirche in ihrer
tiefslen Hededlnna,, ihrem waiiren Wesen, jemals vollständig ^^ird können erhaul 'sveidi-n anf Krden.
Micht etwa, als sei in der katholischen Form des Gottesdienstes (die ja überall, wo der Kalho-
lieismus herrschend gehliehen ist. im Ganzen sich nnverändert erhallen hat) ancli der ächte Styl der liei-
lio^en Tonkunst allein lieimiseh; denn s<nist miifsle er noch jet/.t ansschliel'send dort an/.ulreiTen sein,
was doch offenbar nicht ist. und nur dershall), weil der lebendige Zusammenhang der Tonkunst mit der
kirchlichen Feier und ihrer Bedenlung längs', gelöst ist, weil neuere Aleisler last ausschliefscnd an die
Messe, ihre gröCseren liturgischen IMassen, als für ein ausgeführtes, umfangreiches Kunsli>verk am meisten
geeignet, sich gehalten, als solches sie möglichst selbständig hin/AisIcllen getrachtet haben; hier aber, wo
alte Meister in fast herber Strenge ein heiliges Cielieimnifs feierlen, nur eine Begebenheit sahen, an die
ein möglichst reiches Spiel wechselnder F.mplindungen geknüpft werden könne, die eine Reihe glän-
zender, mannigfalliger Bilder darbiete, die nun den Hörer flüchtig umgaukeln, ihn ergöl/.en und unterhalten,
daim mid wann auch vielleicht eine fruchtlose, vorübergehende lUduung in ihm Ijcrvorbringen. Jener
frühere, lebendige Zusammenhang der Kunst mit der kirchlichen Feier, beruhte aber auch nicht auf dem-
jenigen, was wir jetzt, im (Jegensatzc gegen das Evangelische, katholisch zu nennen pflegen; was ihn
vermiltelte, war vielmehr der geistige, christliche Gehalt jener Form des Gottesdienstes, eben dasje-
nin-e, worauf jene grofse kirchliche Bewegung zn Anfange des sechzehnten Jahrhunderts neu begeisligend
einwirkte; eine Bewegung, die unzweifelhaft diejenigen 'l'heile der christlichen ^^ elt ohne Ausnahme
duTclidrang, erschütterte, umgestaltete, die irgend bisher in lebendigem Zusammeidiange geblieben
waren; deren Einwirkungen, auch unbewul'st, von denjenigen erfahren wurden, deren Aeufserungen
ein ganz anderes Verhältnifs zu ihr sollten vermuthen lassen. Denn Sinn mid Geist eines Zeitalters hat
man nicht sowohl in den. ausdrücklich in ihm darüber lautgewordenen Reden zu erforschen, als in seinen
Thaten, ja seinen dichterischen und künstlerischen Ilervorbringungen, welche nicht minder dahin zu rech-
nen sind. So rühmt Gabricll seinen Freunden, den vier Brüdern Fugger. nach, während er ihnen seine
eeistlichen Gesänge überreicht, dafs sie mitten in dem Hader in Deutschland den katholisclien Glauben
in seiner Reinheit bewahrt hätten; und wir dürfen voraussetzen, dafs er selber ihm eifrig und aufrichtig
angehangen habe, dafs seine Kirche, die er durch seine AVerke verherrlichte, ihm eine wahrhafte geistige
Ilcimath gewesen sei. Er ähnele aber wohl kaum, dafs jene Blüthe tiefer Frömmigkeit, deren reinster
Abdruck die meisten seiner Gesänge sind, durch jene, vor ihrem gewaltsamen Ausbruche lange schon
still fortwirkende Regung wesentlich gezeitigt worden, welche auch den ihm so verhafsten Jlader mittel-
bar veranlafst hatte; dafs eben, was durch sie in der Kunst lebendig erschlossen worden, auch dasjenige
war, was ihn mit seinen anders glaubenden Freunden zu innigem Bunde vereinigte; dafs jener Hader,
wie er in allmähliger Auflösung des alten Kaiserreiches hervortrat, in leerem Schulgezänk, in den Gräueln
der Wiedertäufer, dem Wahnsinne des Bildersturms, und denjenigen, der um sicli her nur fest gesicherte
gesellschaftliche Bande erblickte und kirchliche Einigkeit, in dem AYerke das eine Kirchenverbesserung
zu sein sich rühmte, und dennoch scheinbar solche Früchte trug, nur gotteslästerlichen Frevel erblicken
lassen mufste, Auflösung alles Gehorsams, Verderbnifs aller Lehre, Losgebundenheil aller Sitte, Zerstörung
aller Kunst, und seinen tiefsten Abscheu erregen — dafs jener Hader, nicht das Werk dieser wahrhaft
reinigenden Bewegung gewesen, sondern der, in jeder aufgeregten Zeit mit erwachenden, selbstischen,
leidenschaftlichen, verkehrten Neigungen des menschlichen Herzens, deren zerstörender Einflufs das inner-
lich wesenhaft Thätige nicht ungetrübt zur Ersclieinung kommen liefs; jener dunkeln Mächte, welche
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lange zurückgehalten durch eine äufserliche, nun plöb-luli zusammenbrechende Schranke, nicht innerlich
besiegt und gebrochen durch die geistige, reinigende Macht des gölthchen Wortes, nun in aller ihrer un-
heilbringenden Gewalt sich hervordrängten, und nicht etwa bei denen allein, die man als Neuerer be-
zeichnete, sondern auch denen, die bei dem Alten verharrten, und jedes menschlichen Gefühles sich ent-
äufsern zu dürfen meinten gegen diejenigen, welche mit ihnen nicht länger auf demselben Wege fort-
gingen. Und endlich, hätte er es ahnen können, dafs seine, wenige Jahre zuvor ehe er dieses schrieb
als vorzüglich rechtgläubig und fromm gerühmte Vaterstadt, etwa um ^ben so \'iele Jahre später den
Fluch des obersten Kirchenhauptes auf sich laden, und dennoch, oluie jenen Ruhm irgend dadurch ge-
trübt zu wähnen, diesen Flucli als einen nichtigen imbeachtet lassen werde, in dem Bewufstsein, sie
habe nur unveräufserliche , mit ihrem innersten Leben zusammenhängende Rechte vertlieidigt? — Niclit
also in dem Zurückkehren zu jener Form mögen wir nach allem diesem das Heil kirchlicher Kunst su-
chen, da nicht sie es war, welche das Gedeihen jener an sich nothwendig bedingte, aber auch nicht ver-
gessen, dafs in dem Geistigen, Lebendigen in ihr die heilige Kunst auf die erfreulichste Weise sich er-
schlossen habe, dafs sie von ihr getragen worden sei, dafs die ehrwürdige alte UeberUeferung, wie die
frische Blüthe der Gegenwart, in dieser Kunst eine eigcnthümliche ßegeistigung erfahren habe, dafs es
ihr gelungen sei, statt beschränkender Regeln, wesentlich lebendige Grundformen (Typen) für ihre Dar-
stellungen zu bilden, in Urnen den Geist heiliger Worte darzidegen; und mögen wir alsdann, indem wir
jener Form ein gerechtes Anerkenntnifs nicht versagen, dieser Kunst, da sie ihre Aufgabe vollständig
gelüs't hat, auch den Rulnn einer in sicli vollendeten zugestehn.
Was aber jenen gröfsern Umfang von Kunstmitteln betrifft, den wir der neueren Kunst gleich
anfangs bereitwillig zugestanden haben, so mögen vnr nicht vergessen dafs jedes Kunstmittel doch nur in
sofern walirhaft ein solches ist, als die Kunst seiner bedarf um ihre Aufgaben zu lösen, dafs es für sie gar
nicht vorhanden ist, sofern diese Lösung ohne dasselbe geschehen kann ; dafs, selbst wenn wir diese Kunst-
mittel als einen gesammelten, aufgespeicherten Vorrath ansehen \^ ollten, es dennoch dem Künstler nicht zur
L'nehre oder mindestens nicht als Mangel angerechnet werden dürfe, wenn er von einem jeden nicht Gebrauch
machen können; uns also hüten in die so oft gehörten Worte einzustimmen, dafs dieser oder jener ältere,
oder auch der Gegenwart zu früh entrückte Künstler, wenn ihm das zu Gebote gestanden, was von seinen
Nachfolgern leicht gehandhabt worden, noch viel Grölseres würde geleistet haben. Selbst die Biegsamkeit
und Geschmeidigkeit des Tonsystems, deren allerdings die spätere Zeit in höherem Maafse sich erfreut als die
ältere, ist dieser nicht als wesentlicher Mangel fülilbar gewesen. Den Kreis von Tönen, dessen sie
zu lebendiger Entfaltung ihrer Grundformen — welche wir ja auf eine eigenthümliche Naturanschauung
gegründet fanden — bedurfte, hatte sie selber sicli geschaffen; aus einem doppelten Grunde aber ging
seine Erweiterung hervor. Einmal, aus dem Streben, das Wesen jener Grundformen auf jeder möghchen
Tonhöhe darzustellen, ohne umviderruflich an eine bestimmte gebunden zu sein; ein solches Streben
fanden wir in den Werken unseres Meisters, und in seinem Sinne war es allerdings ein Erweitern der
Kunstmiltel im Geiste der altern Zeit, der Erwerb des möglichst gröfsesten Reichthums an denselben,
dessen Fülle freilich das Wesen ihrer Aufgabe ihr endlich entrückte. Dann aber auch gründete sich
jener Erwerb neuer Kunstmiltel auf einer neuen Aufgabe, in deren Lösung wir schon unsers Mei-
sters Vorgänger, Cyprian de Rore bcgriiTen fanden, der Darstellung des Wechsels mannigfacher Gern üth s-
bewegungen, einer Aufgabe, völlig aufserhalb des Kreises kirchlicher Tonkunst. Eine Mannigfaltigkeit
neuer Ausdrucksmiltel wurde auf diesem Wege nothwendig, eine ganz andere Anschf<uung der Töne
C. r. Wintcrfeld Joh. GabrUli n. s. ZeidJler. 25
— 194 —
und ihres Zusammenhanges mufste sich hilden; auf dieser Seite liegen die Andeutungen der neueren
Kunst, und hier allerdings war für deren ältere Bestrebungen in nur unvollkommenem Maafse vorhanden,
was dieselbe in so viel reicherer Fülle in ihrem vollkommen ausgebildeten diatonisch -chromatischen
Systeme sich endlich angeeignet hatte.
Dafs aber die Aufgabe der älteren kirchhchen Tonkunst einer mannigfaltigen Lösung fiihig gewe-
sen, zeigt uns auf das Anschauhcliste das Beispiel der drei gröfsesten Meister jener älteren Zeit: des
Orlando Lasso, Palestrina und Gahrieli. In diesem letzten können wir die reichste, vollste Entfaltung
der früheren venedischen Schule, ihre ganze Eigenthümlicldceit erkennen. Hatte Willaert in seinen ge-
ihelltcn Chören die Tonart zuerst als harmonischen Grundgedanken ahnen lassen, war Cyprian weit
hinübergeschweift über die damals bestehenden Grenzen des Tonsystems, nach neuen Ausdrucksmitteln
für seine Gedanken, so sehen wir die tiefste Eigenthümllchkeit der Tonarten, die zartesten Beziehungen
der einen zu den andern hervortreten in Gabriel i\ Werken; in der Fülle von Anklängen, die er uns
vorüberfülirt, begegnet uns etwas Aehnliches wie jenes zarte und doch kräftige Farbenspiel, das man
als besonders bezeichnenden Vorzug der venedischen Mahlerschule anzuführen pflegt. Das Herkömm-
liche, die unmittelbare Beziehung auf die überlieferte Kirchenweise, da ausgenommen, wo er seine Ge-
sänge, dem Kirchengebrauche gemäfs, durch sie anstimmen lassen mufs, hat er ganz verlassen; um so
inniger aber in dem zuvor gedachten Sinne der Grundform sich angeschlossen, in welcher, durch innere
JJotliwendigkeit bedingt, jene alten KiTchenweisen erscliienen waren. Eben so tritt die strenge kano-
nische Form nirgend mehr absichtlich und als solche bei Uim hervor: belebend überall, nicht bedingend,
soll der bewegende Grundgedanke sein, und auf wie mannigfaltige Weise er ihn auszuprägen, durch das
ihm Beigegebene ihn herauszuheben verstanden, hoffen wir gezeigt zu haben. Jene sinnreichen Ver-
flechtungen der alten kirchlichen Kunst aber, sofern sie das Ohr nicht mehr zu vernehmen vermag,
sind völlig bei ihm ausgescldossen ; nur zu dem Sinne allein soll die Kunst reden, dei', ihrem Wesen zu-
folge, sie allein aufzunehmen vermag, und zaubert sie dem Hörer auch bestimmte Bilder hin, so sollen
diese doch nur durcli jenen Sinn vermittelt werden.
Als Zögling der alten niederländischen Schule dagegen erscheint uns In seinen Weiken Orlando
Lasso. Mehr als die früheren IMoistcr derselben zwar pafst er dem Tone das Wort an, doch hat die
Stimmenverwebung bei ihm durchaus vor der Entfaltung das Uebergewicbt. Ist also aucli jedem
Wortsatz ein angemessener Tonsatz verbunden, er sei nun des Meisters Erfindung, oder aus dem Kir-
chengesange entnommen, so waltet das Streben jeden dieser einzelnen Tonsätze in enger Nacliahmung,
künstlicher Verwebung, baldmöglichst hören zu lassen, doch überwiegend vor; in diesen relclien, mannig-
faltigen Verflechtungen erscheint uns die Seele jedes TonbUdes nicht selten gebunden, verhindert sich
frei zu entfalten. Allein als Meister, beides, der Stlmmverwebung und harmonischen Entfaltung, thuf
er sich kund in denjenigen seiner Gesänge, welchen, sei es als ruhender oder bewegender Grundgedanke,
eine kirclihclie Intonation durch mehre Abschnitte hin zu Grunde Hegt, wie In vielen einzelnen Theilen
seiner achtfachen jMagnIficnt. Die elgenthümllchen Wendungen jener alten Gesangsformeln werden hier
durcli das sie umgebende und tragende Tongewebe In ihrer vollen Bedeutung erst recht hervorgehoben;
es ist bewundernswerlh, mit welcher Erfindungsgabe, der selbstgewählten Beschränkung ungeachtet, er
seinen Stoff beherrscht. Ihn geistig durchdringl. Nur tiefe Andacht will er hier ausdrücken, gänzliches
Versenken des Einzelnen in Gelt, verschwinden soll jedes irdisclie Gefühl bis auf dessen leisesten An-
klang; nur was der Ivirchenton ausspricht, wie er in dem durch die KIrclie geheiligten Gesänge sich
/
— 195 —
verkörpert, soll bleiben, das besondere Verhältnifs der betenden Gemeine zu dem Herrn. Dem Kirclion-
gebrauche zufolge, trug, mit dem einfachen Gesänge der Geistlichen Strophe um Strophe wechselnd, in
der Regel der Chor Gesänge vor, in denen, vne bei dem Magnificat, eine Gesangsformel bleibend durch
alle Abschnitte sich hinzieht, oder, wie in dem Te Deum, mehre Gesangsstrophen, bald sich wiederho-
lend, bald wechselnd dem Ganzen zu Grunde liegen. In dem Chorgesange nun läfst Orlando bald ein-
zelne, bald alle Stimmen zusammentreten; bald unverändert, bald durch Gesangeswendungen verziert,
füliren sie die uralte Kirchenweise aus, ohne durch den ihr geliehenen, bescheidenen Schmuck ihren
eigenthümliclicn Fortschritt zu verduidceln; bald ahmen alle Slimmcn sie vollständig nach, bald sind ein-
zelne Abschnitte derselben unter sie verlheilt. Je weniger der verflochtenen Stimmen sind, desto mei-
sterhafter ist gewöhnlich die Ausführung; an Klarheit, Fülle des Klanges, zartem Spiel der Beziehungen
der Kirchentöne zu einander kommen diesen Sätzen wenige ihrer Zeit gleich. Die enge Nachalimung,
sonst weniger fafslich, tritt hier mit mehr Klarheit heraus, eindringlicher das Verhältnifs der, den Kir-
cliengesang umgebenden Stimmen zu ihm selber. Ist er (wie in dem Te Deum bei dem Satze: te pro-
phetarum etc.J zuweilen nur zwei hohen Stimmen übertragen, so entfaltet sich vor uns das rei-
zendste Spiel, wenn beide, sinnig ihn ausschmückend, einander überflügeln, dann sich zart an einander
schmiegen, sich wiederum entfernen, eine Fülle der reinsten und zartesten Klänge in ihren hellen,
klaren Tönen ausströmen. In dieser Verklärung des alten Kirchengesanges, wo ilim gestattet ist seine
Ausführung durch mehre auf einander bezügliche Sätze auseinanderzubreitcn, ist Orlando ohne Zweifel
unübertroflen in seiner Zeit; eben hierin, obgleich sie darüber sich nicht deutlicher ausdrückt, fand sie
vielleicht jene „rechte Motettenart" deren Besitz vor Allem sie ihm nachrühmt. Doch in dem
Choralmäfsigen aucli vermissen wir nicht die reiclie Beweglichkeit seines Geistes. Einsam zuerst hören
wir den Grundton laut werden, seine Quinte und Unteroctave dann sich ihm gesellen, mit seiner Ober-
octave endhch seine grofse Terz, den vollständigen Dreiklang ausstraldend , ertönen. Jene letzten beide
kh'ngen aushallend fort, allein der Gang der anderen Stimmen verwandelt sie, jene in die kleine Terz,
diese in die Oberquinte eines neuen Bafstones. Dieser Wechsel des Forttönens und Fortbewegens in
den einzelnen Stimmen, die Veränderung seines Verhältnisses, die auch das Unbewegliche erfährt,
jenes allmäldige, tiefe Anschwellen des Gesanges durch den Hinzutritt mehrer Stimmen, verbreiten über
seine choralmäfsigen Sätze ein frisches Leben, einen besonderen Glanz.
Strenge und bedeutsam fanden wir Palesfrina einen rh)i;hmischen Grundgedanken durch einen
Gesang von beträchthchem Umfange festhalten: sein stabat mater erschien uns zuvor als ein Musler
rhythmischer Entfaltung. In ähnUcher Reinheit und Strenge hält er überall die gewählte Tonart fest,
und versclimäht jene mannigfaltigen Anklänge, in denen Gabrieli vor Allem sich wohlgefällt. Alle Härte
jedoch weifs er in dieser Strenge zu vermeiden, jede Reibung zwischen den sich mannigfach durchkreu-
zenden Stimmen; nur Wohlklang sollen sie erzeugen wo sie einander begegnen. Eben mn jenes Klang-
reichen seiner Gesänge willen, ihrer Keuschheit und Heiligkeit wegen (dafs wir es so bezeichnen) welche
jeden Schmuck abweis't, hat man ihn oft als denjenigen Meister genannt, dessen Werke am reinsten
das Gepräge des Kirchlichen tragen; und in der That, da jene Beschränkung nicht eine äufserUch hem-
mende, sondern aus dem ganzen inneren Wesen dieses Meisters hervorgehende ist, so fühlen wir sie
auch 'als eine nothwcndige, dem kirchlichen Ernste allerdings vorzüglich geziemende: nur mögen -mr
niclit, alles eigenthümllcJie Leben der Kunst vernichtend, sie als eine allgemeine dahin übertragen, wo
sie alle freie Entfaltung zurückdrängen müfste.
25*
— 196 —
Eine alte, nicht gehörig verbürgte Sage erzählt uns, dafs die Reinheit und Keuschheit der Gesänge
Palestrina's die mit dem Untergange bedrohte heilige Kunst gerettet habe; ein frommer Zeitgenosse
schreibt einem Gesänge des Orlando Lasso, der das strenge, kirclihcli Ueberliefertc so liebücli und
bedeutungsvoll zu entfalten wufste, die Kraft zu, düstre Wolken zu vertreiben, und die Sonne hcrvorzu-
locken; ein begeisterter Schüler Gabricli's will seinem klangreichen, tief ergreifenden Meister sogar die
tragische Muse der Alten vermälden. Möge jene alte Sage unseren Zweifel, aber auch imsere Forschungs-
lust reizen '); mögen wir lächeln, nicht minder über jenen frommen, einfältigen Glauben, als diese prun-
kende Lobrede: eingestehen müssen wir, dafs in allem diesen ein Gefülil von der wahren Eigenthümlich-
keit der drei Meister dämmert, und so schliefsen wir, auf alle den Wunscli ausdehnend, den ein
anderer Schüler GabrieU's prophetisch über seinen Meister ausspricht: dafs ihre grofse Tüchtigkeit und
Meisterschaft auch bis zu denen dringen, von ihnen lebendig erkannt werden möge, welche nimmer ihr
Angesicht geschaut haben.
') Für Ermittelung der IV'ahrheit ist Jetzt durch Baini's Vorsehungen fiele« geschehen, l'ergl. seine Memorie ttorico
eriliche sopra la vila e Ic opere di Giovanni Picrluigi da J'alcslrina etc. Tom. J. Sa, 11, Cup. 8.
197 —
BEILAGEN ZUM ERSTEN THEILE.
/. Ver%eichnifs der Sängermeister mid Organisten an der Kirche des
heiligen Marcus laut deren Archiven,
Ifieses Verzeichnifs, einem beglaubten Auszuge „dei libri actorum deW archivio della cliiesa di S.
Marco'' gleichlautend, erscheint hier mit allen Unfolgerechtigkeiten der Schreibweise der Namen, (zumal
der Taufnamen) die wahrscheinlich den verscliiedenen Personen beizumessen sind, welche die jedesmali-
gen Eintragungen der Wahlen besorgten. Weder die Namen der Vicemeister noch die Tage ihrer Wahl
and in demselben angezeigt; nur bei Rovella, der bis zu seiner endlichen Erwählung eine solche Stelle
bekleidet zu haben scheint, findet eine Ausnahme statt, und bei Furlante, dessen Wahl bereits in die
Zeit nach dem Aufhören des alten Venedig fällt. Bei denen imter den Sängermeistem, die zuvor Orga-
nistenstellen bekleideten, ist durch die Buchstaben B. C. und die laufende Nummer angedeutet, wo die-
selben in den Verzeichnissen der Organisten an beiden Orgeln zu finden sind: auch sind sie durcli ge-
sperrte Schrift ausgezeichnet.
Die Naclirichten über die Sängermeister reichen bis über das Ende des alten \'enedig hinaus, die
über die Organisten an der ersten Orgel hören bald nach der Mitte, die von denen an der zweiten Orgel
schon vor den ersten zwanzig Jahren des achtzehnten Jahrhunderts auf.
3Iaestri dcUa Ducal Caitella di S. Marco, tratti dei libri actorum deW archivio
della chiesa di S. 3Iarco.
1. D. P. de Ca Fossis, eletto Tanno 1491 a' 31. Agoalo.
1. D. Adriano 0VillaertJ Fiammingo 1527 12. Decemhre.
3. D. Cipriano Bore 1563 18. Oltobrc.
4. P. Iseppo Zarlino 1565 5. Luglio.
5. P. Baldisscra Donali 1590 9. Marzo.
(3. P. Ziiane Croce (^Giovanni Croce detfo ChiozzoltoJ .... 1603 13. Luglio.
7. P. GiuHo Ccsare ^larlinengo 1609 22. Agosto.
8. D. Claudio Montcverde 1613 19. Agosto.
9. D. Giovanni Rovetla 1649 (43) 8. OUobre.
(^21. Febbrajo.J
10. D. Francesco Coletto detto Cavalli (C. 11.) .. . . 1668 20. Novembre.
— 198 —
11. P. ISadal Monferralo eUUo luimo 1676 d 30. Agoslo.
VI. P. Zuanc Legi-emi 16S5 23. Aprile,
13. P. Gio. Batt. Volpe (B, 23.) detto Roettino . 1690 6. Agosto.
14. P. Gio. Dometiico Partenio . . , 1692 10. Maggie.
16. P. Antonio Bißi 1701 5. Febbrajo.
16. D. Aritonio Lotli (B. 25.) 1736 2. Aprile.
17. D. Antonio Polaroli 1740 22. Maggie.
18. D. Giuseppe. SarateUi 1749 24. Settetnbre.
19. Baldassarro Gahippi detto Biiranello .... 1762 6. Aprile.
20. Ferdinando Bertoni (B. 27.) 1784 21. Gennajo.
21. Bonaventura l'urlante ff^icemaesfroj .... 1797 23. Decembre.
22. Giannone Perotti 1817 2. Maggio.
1.
2.
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8.
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10.
11.
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14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
B. Organisti del priino Org
Mistro Zuchetlo eletto Fatmo 1318
— Francesco da Pesaro 1337 a'
Gio. Domenico Dattolo 1368
Andrea de San Silvestro 1375
Joannino Tagiapietra 1379
Fra Antonio de" Sert^j 1389
— Giacomo Filippo de' Servj 1397
— Maestro Zuane 1406
Maestro Bernardino 1419
Bernardo Mured 1445
Barlolamio Battista 1459
Aluise Arciero 1j18
Giulio Segnal 15i»0
Baidissera da Imola 1533
dachet (Fiammingo) 1541
Girolamo Parabosco 1551
Claudio {Merulo da CorreggioJ 1557
Zuane Gabrieli , 1584
Gio. Paolo Vavij 1616
Gio. Batt. Grillo 1619
Carlo Fillago 1623
Massimiliano Neri 1644
Gio. Batt. Volpe detto Roettino 1664
Carlo Francesco Pollarolo 1690
Antonio Lotli 1693
ano.
(ohne Angabe des Monatslages.)
10. Aprile.
20. Gennaro.
8. Novembre.
Marzo.
12,
10.
1.
7,
3,
Luglio.
Agosto.
IJecembre.
Aprile,
15. Aprile.
22. Setlembre.
21. Febbrajo.
10. Novembre.
29. Marzo.
15. Luglio.
(ohne Angabe)
2. Luglio.
7. Novemhre.
10. Agosto.
Decembre.
Maggio.
Decembre.
Gennaro. (s. A. 13.)
30,
1.
18
11,
13,
Agosto.
31. Luglio. (s. A, 16.)
— 199 —
26. Agoslino Coletti elello Vanno 1736
27. Ferdinando Bertoni 1752
C Organisti del secondo
1. Francesco Davo . eletto Fanno 1490
2. Zuane de Marin ' . . 1502
3. Fra Dionisio Memo 1507
4. Fra Armuno 1516
5. Annihal Padovano 1552
6. Andrea CGalrleliJ da Canareio 1556
7. Vicenzo Bei (BelVaverJ 1586
8. Iseppo Guammj 1588
9. Paolo Giusto 1591
10. Zan Pietro Bcrij 1624
11. Francesco Cotelto detlo Cavalli 1638
12. Pietro Andrea Ziani 1668
13. P. Giacomo Filippo Spada 1677
14. Benedetto Vinaccsi . •• 1704
15. P. Aluise TaveUi 1719
o* 21. Maggio.
27. Agosto. (s. A. 20.)
Orgatio,
a' 20. Agosto.
6. Fehbraro.
22. Setletnbre.
16. Settembre.
29. Novemhre.
30. Settembre.
30. Deccmbre,
30. Ottobre.
15. Settembre.
16. Settembre,
23. Gennaro. (s. A. 10.)
20. Geunaro.
16. Gennaro.
7. Settembre.
30, Giiigno.
— 200 —
II. Notendruck und Musikhandel %u Venedig im sechzehnten und
siebzehnten tiahrhunderte.
Unter den Städten Italiens war Venedig vor allen, wie die erste, die geschätzte Tonwerke durch den
Druck bekannt machte, so die vorzüglichste Beforderin der Verbreitung derselben; auch Werke berühm-
ter Meister aus anderen Theilen der Halbinsel finden wir im Laufe des sechzehnten und siebzelmten
Jahrhunderts zumeist dort gedruckt. Der früheste Drucker und Verleger praktischer IMusikwerke daselbst
scheint Ollavio Petrucci aus Fossonibrone gewesen zu sein. Um das Jahr 1502 finden wir bei ihm fünf
Messen von Josquin sehr sauber und geschmackvoll in einzelnen Stimmen gedruckt, so, dafs die Zahl
der einzelnen Blätter, von der höchsten Slimmb anfangend, durch alle hin bis zum Schlüsse des Basses
fortläuft. Dort steht die Bemerkung: Impressum Venetiis per Octavianum Petrutitim Forosempronien-
»em die 27. Decembrls 1502. Cum privilegio invictissimi Dominii Venetiarum, quod nullus possit
rantum JJguratum imprimere, sub poena in ipso privilegio conlenta. Die Titel der Messen sind : läomme
arme super voces musicales. — La sol Ja re mi. — Gaudeamus. — Fortuna desperata. — liomme
arme sexli toni; und dieser letzten ist noch ein vierstimmiges Ecce pulchra es, amica mea, angehängt.
Diesen Messen folgten 1503 (am 24. März) fünf dergleichen von Ohrecht; eben so viel am 17. Juni
desselben Jahres von Brumel, am 15. Juli deren vier von Johannes Ghiselin, fünf am 31. October von
Pierre de la Rue, und eine gleiche Anzald am 23. März des folgenden Jahres 1504 von Alexander
Agricola. Noch mehre dergleichen von Petrucci verlegte IMessenwerke , jedocli ohne Angabe der Jahr-
zahl, findet man pag. 96. 97 der zu Amsterdam 1829 gedruckten Preissclirift des Herrn Hofraths Kiese-
vsetter zu Wien (über die Verdienste der Niederländer um die Tonkunst) verzeichnet, wie man denn
eben da (pag. 93 — 95) sich über die in den Jahren 1503 bis 1508 bei diesem rüstigen Musik Verleger
erschienenen Lieder und Motettensammlungen näher unterrichten kann. Um das Jahr 1514 jedoch, wo
bei ihm das erste Buch der Moteiti della Corona (einer mit diesem Zeichen versehenen Sammlimg von
Motetten zumeist niederländischer Meister) erschien, befand sich Petrucci bereits wieder in seiner Vater-
stadt Fossombrone, vielleicht, weil sein, nur auf eine bestimmte Anzahl von Jahren erthoiltes Privilegium
erloschen war, und man Bedenken trug es zu erneuern. Dennoch scheint es eine Weile gedauert zu
haben, ehe der Musikverlag zu Venedig bedeutend in Aufnahme kam; die Verleger hauptsächlich theore-
tischer, wenn auch mit INotenbeispielen versehener Werke tragen wir aber Bedenken, hier mit Musikver-
leg€rn in eine Reihe zn stellen. In diesem Sinne beginnt erst um 1537 durch Antonio Gardano zu
Venedig die Blütlie des Musikverlages. In jenem Jahre finden wir durch diesen, eigene Gesänge, und der-
gleichen von niederländischen Meistern herausgegeben, deren Namen der Verfasser dieser Nachrichten an-
zumerken unterlassen hat. In dem folgenden (1538) erschienen bei ihm 25 vierstimmige französische Ge-
sänge von Clement Jannequin, Certon, Des Fruz, Damien Uauriey, Besdin, Heurtcur, Passereau,
in 2 Büchern; in dem folgenden (1539) unter den Titel „Motetli del Frutto" Geistliche Gesänge von
Claudin, Guarnier, Jaquet etc., und seitdem sehen wir seine Presse in allen folgenden Jahren (mit eini-
gen Ausnahmen) in ununterbrochener Thätigkeit, so dafs bis zum Jahre 1571 , wo seine Söhne Angela
und Alexsandro auf den Scliauplatz traten, imierhalb eines Zeitraums von drei und dreifsig Jahren hun
— 201 —
dert und zwölf meist umrängliche Tonwerke durch ihn an das Licht getreten sind (blofser Wiederabdrucke
nicht zu gedenken;) eine Anzahl, die wahrscheinlich um Vieles sich erhöhen würde, wenn nicht eine
Menge jener alten Werke durch JNichtachtung und Nacliläfsigkeit verloren gegangen wären, wenn wir
mindestens über alles Erschienene sichere und genaue Nachrichten besäfsen, oder auch nur das noch Vor-
handene zu allgemeiner Uebersicht zusammenstellen könnten,
Gardano's Söhne finden ^^-ir bis zum Jahre 1575 als gemeiuschafthche Herausgeber von Ton-
werken; erst von da an scheint Angela Gardano, wenn auch schon seit 1570 hin und wieder allein
auftretend, von seinem Bruder Alessandro sich getrennt, und einen selbständigen Musikverlag eingerichtet
zu haben. Alessandro kommt noch um 1580 zu Venecb'g vor, seit 1584 aber zu Rom; vielleicht also
wurde die Trennung der Brüder durcli das Unternehmen veranlafst, einen Zweig der von ihrem V^ater ge-
stifteten sich immer mehr ausbreitenden Musikhandlung nacli der Hauptstadt Italiens zu verpflanzen. In
den neunziger Jahren des seclizehnlen Jahrhunderts ist auf den Titeln zu Venedig erscliienener Tonwerke
häufig nur der Druckerei des Gardano fStampa del Gardano) gedacht: zuweilen wird dabei Barto-
lommeo Magni als Herausgeber genannt, andere Male nicht. \Vir sind also nicht berechtigt, diesen bis
in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts hin rüstigen Musikverleger als späteren Eigenthümer dieser
Druckerei anzusehen, und dürften nur annehmen, dafs gegen das Ende des Jahrhunderts auch Angela
Gardano seinem Vater nachgefolgt, das früher unter diesem Namen geführte Verlagsgeschäft aber nun-
mehr in das einer, gewifs aber noch sehr umfänglichen, blofsen Notendruckerei übergegangen sei. Diese
finden wir noch länger als hundert Jahre nach Antonio Gardano's Erscheinen in voller Thätigkeit: um
1650 ist unter andern dort eine Sammlung drei bis fünfstimmiger Completorien von Biugio G/ierardi,
Capellmeister am Dome zu Verona, gedruckt.
Fast gleichzeitig mit Antonio Gardano tritt Marcfiio Sejsa (1539) auf die Bahn, und nur ein
Jahr später (1540) sehen wir Girolamo Scoto, nächst Gardano wohl den bedeutendsten Musik-
verleger Venedigs, dort erscheinen, und mit geringen Unterbrechungen fast jedes folgende Jahr bis
1573 seine Presse in Thätigkeit. Doch möchten, was uns Unterbrechungen scheinen, wohl nur Lücken
unserer Kenntnifs von dem gesammten Umfange seines Verlages sein: wie denn ohnehin alle diese An-
gaben nur ungefähre sein können, da sie auf den Bemerkungen beruhen, die seit einer Reihe von Jahren
der Verfasser dieser Blätter über die in den bedeutendsten Büchersammlungen Deutschlands und Italiens
ihm durch die Hände gegangenen älteren Musikwerke zu einem anderen Zwecke aufgezeichnet hat. Um
1573 schon erscheinen aufser Girolamo Scoto auch dessen Erben, daher denn jenes Jahr mit ziemlicher
Gewifsheit als sein Todesjahr anzunehmen ist.
Weniger bedeutend als Musikverleger zu Venedig scheinen im sechzehnten Jahrhimdert gewesen
zu sein: Francesco Rampazzotto, (seit 1566) Claudio da Coreggio — der als Organist und Tonsetzer
so ausgezeichnete ßlertdo — den wir in eben dem Jahre viermal mit Fausto Belhanio zu einem
solchen Geschäfte vereinigt finden; Zuan Giacomo de' Zorzi (^aW insegna del cagniuoloj 1569; Jo-
»ephus Guglielmtts 1576; Ricciardo Amadino, seit dem Jahre 1583 in Gemeinschaft mit Giacomo
Vincenti, bis um 1586, wo beide sich trennen, und jeder ein abgesondertes Geschäft beginnt. Nach den
ersten fünfzehn Jahren des folgenden Jahrhunderts verschwinden beide Namen, und auch das Geschäft
des Amadino scheint seitdem aufgehört zu haben: allein nun tritt Alessandro Vincenti bedeutend auf,
vielleicht ein Sohn, oder doch Erbe des Giacomo, und Fortführer seiner Verlagsunternehmungen. Zwi-
schen ihm und Bartolommeo Magni scheint seitdem der Älusikverlag in Venedig sich getheilt zu haben,
f. r. WiiitcrMJ JoL. üabricli u. s Zeitiller. 26
— 202 —
doch bleibt immer d;is üebergewitlit auf VinfeniVs Seite, dem wir innerhalb der sieben und dreifsig
Jahre von 1620 bis 1657 — wobei uns doch aus bereits erwähnten Gründen über die Jahre 1621,
1624 1631, 1632 nähere Angaben mangeln — zweihundert und vier, meist sehr bedeutende Verlags-
artikel dieser Art nachrechnen können, während wir von Magni zwisclien 1616 und 1644 (innerhalb
acht und zwanzig Jahren) nur deren neun und achtzig verzeiclinet finden. Für Vincenli war das Jahr
1637 das ergiebigste, wo er dreizehn Werke herausgab, nächstdcm die Jahre 1628, 1640 wo er deren
elf, 1636, 1649, 1650 wo er deren zehn verlegte: für Magni die Jahre 1640 und 164l in deren jedem
zwölf Werke seine Presse verhefsen. Mit 1651 kömmt s\.üi\. Bar lolommeo, Francesco Magni vor, wahr-
scheiidich wiederum dessen Sohn un^ Erbe; mid dessen Gescliäft können wir bis zum Jahre 1665 verfolgen.
Am längsten durch beide Jahrhunderte pflanzt sich hienacli des Gardano Wirksamkeit fort ; nächst
ihm die der Vincenti, von 1583 bis 1657, durch vier und siebzig Jahre, endUch die der Magni, durch
deren fünfzig. Fast ein jeder von diesen Venedischen Musikverlegern fülnt ein besonderes Sinnbild, mit
dem die bei ihm erschienenen Werke geschmückt sind, wenn nicht deren Urheber vorzogen, sie einem
hohen Gönner cigends zu widmen, und sein Wappen auf dem Titelblatte, ein Zeichen gewissermaafsen
des von ihm begehrten und erwarteten Schutzes, ilinen voranzustellen. Auf Antonio Gardano's und
seiner Nachfolger Ausgäben halten Löwe und Bär eine aufgeschlossene Rose, in deren Mitte eine Lilie
sich zeigt, das Ganze mit der Umschrift: Concordes virtute et naturae mlracidis. Girolamo Scoto führt
als Sinnbild Palme und Oelzweig, durdi den Anker zusammengehalten, das Ganze auf einem hohlen
Stamme ruhend mit Waben, aus denen Bienen hervorscliwärmen ; die dabei befindllclien Buchstaben S.
O. S. wüfsten wir nicht zu deuten. Alessandro Vincenti hat eine Pinienfrucht mit der Umschrift:
aeque honnm atque tutum ; Ricciardo Amadino eine Orgel mit einem Herzen in der Mitte, und dem
Denkspruche: magis corde quam organo; und so Andere Anderes. IVIit dem Ausgange des siebzehnten
Jahrhunderts, jemelir die Oper allgemeiner beliebt, und statt eines blofsen Prachtschauspiels an Fürsten-
höfen zu einem Volksschauspiele wurde, nimmt die Thätigkcit der Pressen ab, die wir bis dahin fast in
gleichem IMaafse beschäftigt finden geisthche, wie weltliche Ton%\ crke zu verbreiten. Man hat nun täglicl»
Gelegenheit die neuesten und glänzendsten Erzeugiiisse, durch die hervorragendsten Talente ausgefülirt,
zu vernehmen, man geniefst sie wie die Erzeugnisse der Jahreszeit, und läfst ihr Verwelken sich niclit
kümmern, weil ja der nächste Früliling neue Blumen bringen, der Herbst neue Früchte reifen werde.
Statt der Notenpressen werden nun Abschreiber beschäftigt, die das Neueste, Glänzendste, Behebteste, oft
verstohlen, verbreiten. Eines der letzten grofsen, durch die Presse \n\ achtzehnten Jahrhundert verbrei-
teten geistliclien Tonwerke scheinen Bcnedetto Marcello's, (wiederum eines Venedigers) erste 50 Psalme
für eine bis vier Stimmen zu sein, die in den Jahren 1724 bis 1727 unter dem Titel: Estro poetico
armonico herauskamen: ein Werk, das noch gegenwärtig, unter allen Tonwerken fast das einzige, in
Itahen als ein nationales anerkannt wird, und noch zu Anfange des laufenden Jalirhunderls (1803), nach-
dem Sehastiano Valle wiederum eine Notendruckerei zu Venedig angelegt hatte, dort abermals neu auf-
gelegt ist. Wenn nun gleich die Riclitung der Zeit und die dermaligen Verhältnisse diesem Verleger
nicht gestatten konnten, mit einem Gardano, Scoto, Vincenti, Magni zu wetteifern: so gcbülirt ihm
doch das Lob, nach Kräften zu Verbreitung gediegener, mindestens anerkannter, geistlicher Tonwerke
thätig gewesen zu sein: wie denn auch das vierstimmige, begleitete Miserere von Ferdinando Bertoni, des
letzten Sängermeisters des alten Venedig, von Ilim im Jahre 1802 herausgegeben ist.
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Due
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1
-n.
Library Bureau
Cal. No. 1137
780.9 W73s
^ 3 5002 02027 2071
Winterfeld, Carl Georg August Vivegens v
Johannes Gabneli und sein Zeitalter. Zu
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-2
Winterfeld, Carl
Georg
Augus-t Vivigens
von.
1784-
Johannes Gabrlell
und
sein
Zeitalter
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