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Full text of "Johannes Gabrieli und sein Zeitalter. Zur Geschichte der Blüthe heiligen Gesanges im sechzehnten, und der ersten Entwicklung der Hauptformen unserer heutigen Tonkunst in diesem und dem folgenden Jahrhunderte, zumal in der Venedischen Tonschule"

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WELLESLEY  COLLEGE 


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Dean  ?und 


JOHANNES    GABRIELI 

und 

SEIN   ZEITALTER. 


Zur  Geschichte 

der  Blüthe  heiligen  Gesanges  im  sechzehnten,  und  der  ersten   Entwickelung  der 

aauptformen  unserer  heutigen  Tonkunst  in  diesem  und  dem  folgenden 

Jahrhunderte )  zumal  in  der  Venedischen  Tonschule. 


Dargestellt 

durch 


ERSTER   TKEIZ.. 


BERLIN,  1834. 

ZM     VBRZiAGi:    DER    SCHZiESZNßEIl'SCBEIf    BUCH-     Um>    ISTrSZSZXAVSZiTrire. 


M 


fiednirkt  \tn  L.  F.  Herrmann. 


Seiner   Excellenz 

des  Königlichen  Wirklichen  Geheimen  Staats-31inisters  für  die  geistlichen,  Unterrichts-, 
und  Medicioalangelcgenheiten,  Ritters  des  schwarzen  Adlerordens  etc.  etc. 

Herrn  Freiherrn 
VON   STEIN   ZUM   ALTENSTEIN 


ehrfurchtsvoll  gewidmet 


1>E3»S  VERFASSER. 


VORREDE. 


JLlie  Darstellung  der  Geschichte  auch  nur  einer  einzelnen  Kunst,  ist  eine  Aufgabe, 
deren  Lösung  im  vollsten  Sinne  des  Wortes  kaum  irgend  ein  Einzelner  gewachsen 
sein  dürfte.  Denn  soll  eine  solche  Darstellung  auf  einer  Reihe  lebendiger  Anschauun- 
gen ruhen  von  dem  Beginne,  dem  Fortwachsen  und  Blühen  der  Kunst,  soll  sie  etwas 
mehr  sein  als  eine  Reihe  von  Namen  der  Künstler  und  von  Titeln  ihrer  Werke,  oder 
höchstens  ein  zu  flüchtiger  Unterhaltung  gereichender  Bericht  über  ihre  Lebensverhält- 
nisse: welcher  Vorarbeiten,  und  zumal  in  der  Tonkunst,  bedarf  der  Darstellende,  um 
nur  die  Grundlage  für  die  Lösung  seiner  Aufgabe  zu  gewinnen;  wie  sehr  ist  zu  be- 
fürchten, dafs  ehe  er  nur  die  Bedingungen  derselben  gefunden  habe,  schon  die  Kraft 
von  ihm  gewichen  sein  werde,  deren  er  bedarf,  ihr  zu  genügen. 

Am  öftersten  aber  erlahmt  diese  Kraft  an  demjenigen,  was  die  Forschung  am 
meisten  zu  reizen  pflegt.  Wir  möchten  die  Kunst  in  ihren  Uranfangen  belauschen,  in 
die  geheimnifsvoUe  Werkstatt  ihres  Entstehens  möchten  wir  dringen,  ihr  Emporkeimen 
in  dunkelen  Zeiten  mit  eben  der  Klarheit  schauen,  in  der  ihre  Blüthe  sich  vor  uns 
entfaltet.  Da  nun  jene  Anfange  dasjenige  sind,  mit  dem  jede  vollständige  Darstellung 
einer  Kunstgeschichte  noth wendig  beginnen  mufs,  so  scheint  auch  die,  eben  auf  sie 
gerichtete  Forschung  vor  allen  die  erste  und  unerlafslichste.  üeberhlicken  wir  nun, 
was  auf  dem  Gebiete  der  Tonkunst  von  jenen  Anfängen  selbst,  oder  Berichten  über 
sie,  uns  noch  zugänglich  ist:  wie  dürftig,  wie  geringe,  finden  wir  Eines  und  das  An- 
dere, (der  vorchristlichen  Zeit  zu  geschweigen),  noch  in  den  ersten  Jahrhunderten  christ- 
licher Zeitrechnung!  Wie  schwer,  ja  fast  unmöglich  ist  es,  den  Zusammenhang  zu  er- 
kennen zwischen  dem  Früheren  und  dem  Späteren!  Selbst  auch  wenn  wir  vordringen 
zu  lichteren  Zeiten,  die  wir  an  Denkmalen  anderer  Künste  verhältnifsmäfsig  schon  reich 
nennen  dürfen:    wie  kärglich  erscheint  die  Ernte,    deren  wir  fiur  die  Anschauung  des 


—  YI  — 


frühesten  Standes  der  Tonkunst  uns  erfreuen  dürfen!  Wie  fremd  stellt  sich  das  Ge- 
erntete  dar,  wie  unzugänglich,  ein  verschlossenes,  unserem  Verständnisse  sich  entzie- 
hendes Geheimnifs!  Sollten  wir  nun,  wenn  unsere  Geschichten  der  Tonkunst  doch  be- 
ginnen  müssen  mit  diesen  Anrängen,  ihr  Gehäude  aufführen  wollen  auf  diesen  rohen, 
nicht  zu  einander  passenden,  in  keine  Verbindung  zu  bringenden  Grundlagen? 

Freilich  soll,    und  wird  die  Schwierigkeit   nur  die  Forschung   mehr  noch  reizen 
und  spornen,  die  Kraft  erhöhen,  die  Erfolge  vermehren,  und  keinesweges  kann  die  Mei- 
nung  sein,   unbedingt  von  ihr  abzumahnen.     Derjenige   vielmehr,   der  in  jene  dunkelen 
Zeiten  weiter  eindringend,  bisher  Verborgenes  an  den  Tag  fordert,  den  Gewinn  seiner 
Vorarbeiter  von  Entstellungen   und  Verdunkelungen  reinigt,   ihn  besser,   übersichtlicher 
ordnet,  wird  zu  allen  Zeiten  des  Dankes,  der  Anerkenntnifs  derer  gewifs  sein  können, 
die  nicht  dem  Namen  nach  nur  für  Freunde  der  Kunst  sich  geben.     Aber  nur  ein  Mit^ 
arbeiter  wird  er  sein  können   an  einer  Geschichte   der  Tonkimst,   die   wie  jedes  tüch- 
tige, dauernde  menschliche  Werk,  ja,   wie  jedes  Erzeugnifs  der  Kunst  selbst,  ein  Ge- 
meinsames ist,  seinem  einzelnen  Urheber  erst  dann  möglich  wird,  wenn  durch  die  Be- 
mühungen seiner  Vorgänger,  seiner  Mitlebenden,  es  in  ihm  zur  Reife  gedieh. 

Nur  als  ein  solcher  Mitarbeiter  möchte  der  VerHisser  dieser  Blätter  angesehen 
sein,  sei  es  auch  in  anderem  Sinne  als  jene,  zumeist  auf  die  Uranfänge  der  Kunst  ge- 
richteten Forscher.   Ihn  beschäftigen,  wenn  im  Allgemeinen  wenig  bekannte,  doch  lich- 
tere Zeiten  der  Kunst:  Denkmale  aus  ihnen,  zugänglichere  als  jene  ältesten,  deshalb  aber 
dennoch   bisher  nicht   genauer   durchforschte,   bietet  er  den  Mitlebenden,   und  versucht, 
über   ihren   inneren  Werth,    über   das  Wesen   und   die   Entwicklung   der   Kunst   die   an 
ihnen  sich  darlegt,  Rechenschaft  zu  geben.     Er  glaubt  aber  deshalb  nicht  minder  auch 
für  jene   Forscher  und   im  Sinne   ihrer  Bemühungen   thätig  gewesen   zu   sein.     Denn 
wird  uns  das  Frühere   dann  erst  recht  verständlich,    wenn   wir  es  im  Zusammenhange 
mit  dem  Späteren  betrachten,  so  bleibt  ja  zu  hoffen,  dafs,  je  weiter  wir  allmählig  zu- 
rückdringen von  unserem   gegenwärtigen   Standpunkte  in   frühere  Zeiten,    um   so  mehr 
auch  das  in  neuer  Frische  und  Anschaulichkeit  hervorgehende  Aeltcre  ein  helleres  Licht 
verbreiten   werde   über    seinen   Zusammenhang  mit    seiner  unmittelbaren   Vorzeit:     dafs 
die    frühesten    unscheinbaren    Keime    allgemach    eine   Ahnung    werden    erkennen    lassen 


«I 


vir      — 


ihrer  loheiuligou  Beaeutsa.ukeil  für  die  gesannutc  Kunsl,  dafs  auol,  denen,  die  cl.on 
mit  ihnen  vor  Allein  Anderen  sich  beschäftigen,  ein  neues  Verständnifs  dorselhen  anf- 
gehen  könne,  nnd  werde. 

Weshalh  aber  der  Verfasser  jene  Zeit  gewählt  habe,  «nd  jenen  Meister,  welche 
die  Gegenstände  seiner  vorliegenden  Darstellung  sind,  darüber  hat  er  noch  hier  Rechen- 
sehaft  abzulegen:  n.it  Wenigen,  nur,  da  er  hoffen  darf,  dafs  seine  Wahl  durch  das 
Geleistete  sich  rechtfertigen  werde. 

Durch   besondere  Verhältnisse,    welche   näher  zu   entwickeln    hier   nicht  der  Ort 
ist,  waren  seiner   ersten   Jugendzeit,    in   .reiche  die  kräftigste  Blüthe   der  grofsen  deut- 
schen   Tonmeister   Ilaydn  und    Mozart  fiel,    auch    die  Werke  der   ausgezeichneten  Ton- 
künstler der  ersten  Ilälfle  des  achtzehnten  Jahrhunderts  nicht  fremd  geblieben,   sie   Ma- 
ren  ihm   ein    Bekanntes,    Vertrautes,    um   seiu  selbst   willen    werth   Gewordenes.      Wcnu 
es  ihm   damals   auch  an  der  nöthigen  Vorbereitung  fehlte,   um   das  Verhältnifs   der  Mei- 
ster  jener  beiden    Zeitabschnitte   zu    erkennen,    so    nahm    er  doch    ein    Gemeinsames    i„ 
ihnen  wahr,    das  ihm  ihr  Verständnifs    erleichterte;    was    er  von   der  Tonlehre   wufste, 
fand  er  auf  die  Einen  wie  die  Andern  gleich  anwendbar,  über  die  verschiedenen,  bei  ihnen 
wahrgenommenen  Formen  fehlte   es  nicht  an   Gelegenheit,   sich   näher  zu  unterrichJen. 

IVun  war  schon  um  jene  Zeit  oft  die  Rede  von  der  unübertreftlichen  Herrlich- 
keit  einer  nur  in  Rom  noch  fortlebenden,  geistlichen  Tonkunst,  wie  sie  in  den  Werken 
I»alestri„a-s  und  anderer  Meister  des  sechzehnten  Jahrhunderts  erschienen  sei.  Wie 
es  eigentlich  damit  sich  verhalte,  wufste  Niemand  zu  berichten.  Et« as  üeberschwengli- 
ches.  einer  anderen  Welt  Angehörendes  -  so  war  es  ihm  oft  bezeichnet  worden "- 
dachte  der  Jüngling  dabei,  nur  dafs,  da  es  einmal  doch  Gestalt  gewinnen  mufste,  er 
diese  unbewufst  seinen  Lieblingsstücken  übereinstinuuend  bildete,  und  so  von  dieser 
Sphärenmusik  fortträumte. 

Mcht  wenig  nun  fand  der  unterdefs  an  Jahren  Gereiftere  sich  überrascht,  als 
später  zuerst  einige  dieser  gepriesenen  3Iusiken,  wenn  auch  nicht  vor  sein  Ohr,  doch 
in  seine  Hände  kamen.  Die  Khrftircht  vor  ihnen  brachte  er  mit,  und  auch  der  Mangel 
des  Verständnisses  vermochte  nicht  sie  zu  erschüttern:  denn,  was  ihm  davon  zugJing- 
Üch  war,  machte  auf  ihn  den  Eindruck  des   Grofsartigen,  Aufserordentlichen,  regte  die 


—      vin      — 


S 
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Lust  in  ihn.  anf,  Aehnlichcs,  vielleid.i  Znsänglichovos  nocl,  als  Besitzthum  zu  gcwumcn. 
.Hein  >veaer  seinen  Trann.bil.lorn  fand  er  sie  übercinslin.mena,  nocl.  »ollte  das  Maafs, 
„.il  den.  er  bis  dahin  die  Hcnorbrinsungcn  auch  verschiedener  Zeiten   z«  messen  ver- 
.echt  hatle,    auf  sie  passen:    Konnte  er  doch  keinen   einzigen  dieser  Gesänge  den  ge- 
bräuchliche«   Tonarten   unterordnen!      Er   suchte   Belehrung,    n.an   verwies   ihn  auf  d.e 
Geschichtswerke  der  Engländer   und  Franzosen;    diese  wiesen    auf  „och  ältere  Quellen 
.urück:  aus  diesen,  aus  den  Werken  geschätzter  Tonlehrer,  ersähe  er  dann  wohl,  dafs 
seine  Gesänge  nicht  den  Tonarten  der  Gegenwart,  sondern  sogenannte«  Kirchentonen 
angehören    sollten,    welche    durch    griechische   Benennungen   aber   auch   auf  ein   fernes, 
„eben    vielem    Andern    durch   Dichtkunst    und    Bildnerei  glorreiches   Alterthum    zurück- 
wiesen      Mit  eifriger  Wifsbegier  suchte  er  sich  zu  unterrichten,  wie  es  doch  beschaffen 
sein  möge  mit  jenen   Kirchentönen;    allein  was  er  davon  erfuhr,    war  eben  so  nngenü- 
•end  für  das  Verständnifs  jener  Denkmale   älterer  Kunst,  als  die  Lehre  von  den  Ton- 
Jrte«  der  Gegenwart  es  gewesen.     Zwar  begann  die  Ueberzeugung  zu  dämmern:  jene 
seiner  Deutung   sich  entziehenden   Werke   seien   die  Blüthe   einer   Kunstrichtung,    ganz 
verschieden  von  der  spätere«,  ihm  offener  da  liegenden:  allein  jene  prunkenden  Benen- 
nungen,  an  welche  die  Einbildungskraft  so  Vieles  zu  knüpfen  bereit  war,   blieben  .hm 

ein  leeres  Wort,  ein  hohler  ISame. 

Ein  zweijähriger  Aufenthalt  in  Italien,  zumal  in  Rom,  gewährte  ihm  freilich  spä- 
ter  eine  Fülle  von  Anschauungen  mannigfacher  Art,  doch  nicht  in  gleichem  Maafse  als 
für  die  anderen  Künste,  und  für  Geschichte   überhaupt,   war  er  ihm  fruchtbar  für  jene 
Aufgabe,  deren  Lc.snng  er  suchte.     Nur  in  Rom  allein  zwar  lebt  «och  jetzt  die  heilige 
Tonkunst  früherer  Seit  fort;  allein,  in  wie  engem  Kreise  bewegt  sie  sich!   Nur  Werke 
der  römischen  Schule  vernimmt  man  dort  in  des  Papstes  Capelle,  und  ein  beschränk- 
t*r,  örtlicher  Vaterlandseifcr  möchte  den  Fremden  glauben  machen,  überall  nur  in  Rom, 
„nd    sonst   nirgends,    habe    in    früherer   Zeit   eine   ächte,    hellige    Tonkunst   bestanden! 
Wenig  Glauben  zwar  fand  diese  oft  bekräftigte  Versicherung  bei  dem  \  erf\.sser.     Halte 
er  doch   spätere   grofse   Meister  zu  Venedig,  zu  Neapel,  in  eigenthümlicher  ThäUgkeit 
auf  dem  Gebiete  heiliger  Tonkunst  kennen  gelernt,  waren    doch   Lotti,  -Caldara,  ßlar- 
eeUo,  Scarlatti,  Leo,   Durantc,  ihm  werthe  Namen  „nd  Gestallen!     Deutete  manches  in 


—  IX  — 

ihnen  doch  zurück  auf  jene  ältere  Kunst,  und  doch  sollte  es  nicht  eine  Vorzeit,  phcn 
seine  Vorzeit  besitzen?  Ja,  eine  mannigfach  entwickelte  Lebenshlüthe  kirchlicher  Ton- 
kunst iiefs  sich  ahnen  in  jenen  bildungskräftigen  Tagen  des  sechzehnten  Jahrhunderts, 
in  einer  Fülle  lebendiger  Anschauungen  nuifste  sie  das  lebhaft  ersehnte,  deutende  Woit 
gewähren:  allein  immer  noch  schwieg  es  dem  Verlangenden  wie  zuvor.  Denn  w-as  man 
endlich  in  Rom,  auch  von  den  besten  3Ieistern.  lernen  kann  für  ein  tieferes  Verständnifs 
jenes  Zweiges  der  gesammten  Kunst,  ist  eben  nichts  Anderes,  als  was  man  auch  schon 
durch  Bücher  erfahren  mag. 

So  verliefs  denn  der  Verfasser  Italien,  und  kehrte  zu  einer  früheren,  amtlichen 
Tliätigkeit  im  Vaterlande  zurück,  die  3iufsestuuden,  die  sie  ihm  gcAvälirte,  der  geliebten 
Kunst  vorzugsweise  widmend,  und  einer  Zeit  entgegenharrend,  wo  dasjenige,  was  er 
hier  und  dort  in  verschiedenen  Richtungen  für  dieselbe  gesammelt  hatte,  ihm  zu  einem 
grofsen,  gemeinsamen  Bilde   sich  gestalten  werde. 

Nach  kurzer  Zeit  mufste  er  seine  Vaterstadt  mit  Breslau  vertauschen;  und.  was 
er  lange  gesucht  liatte,  sollte  er  unerwartet  dort  finden.  Denn  das  Forschen  in  der 
Tonkunst,  die  Sorge  für  deren  Anbau,  sonst  nur  das  dleschäft  seiner  Nebenstunden, 
wurde  dort  zugleich  Gegenstand  einer,  neben  seiner  ursprünglichen  fortgehenden  Amts- 
thätigkeit.  Diese  vertraute  ihm  unter  anderem  auch  die  Aufsicht  an  über  einen  reichen 
Schatz  bis  dahin  völlig  ungeordneter  alter,  aus  dem  Büchervorrathe  der  aufgehobenen 
Klöster  zusammengebrachter  Tonwerke,  deren  die  meisten  dem  sechzehnten  Jahrhun- 
derte angehörten.  Bald  entdeckte  er  zu  seiner  Ueberraschung,  dafs  nicht  Rom  allein, 
dafs  auch  andere  Städte  Italiens,  und  zumal  Venedig,  treffliche  Meister  auf  dem  öe- 
biete  der  heiligen  Tonkunst  in  jenem  Jahrhunderte  besafsen:  ja,  eine  freiere,  eigenthüm- 
lichere,  durch  herkömmliche  Schranken  weniger  eingeengte  Ausbildung  dieser  herrlichen 
Kunst  schien  dort  ihm  gediehen  zu  sein,  und  bald  wendete  sich  seine  Neigung  dem 
grofsen  Meister  zu,  dessen  Name  diesen  Blättern  voranstellt,  und  der  ihm  wohl  würdig 
schien,  mit  dem  allgefeierten  Palestrina  zu  wetteifern.  Halfen  doch  dessen  Mitlebende 
wohl  eben  diese  Meinung  getheilt,  zumal  die  Deutschen,  da  sie  die  Werke  dieses  Mei- 
sters und  seiner  Landesgenossen  fast  mehr  noch  als  die  der  Römer  in  die  von  ihnen 
veranstalteten    Sammlungen    aufnahmen!       Eine    Reihe    älterer    Deutscher    Tonwerke 


lehrte  ihn  xiigloicli  lioiinen,  >\as  um  dioselhe  Seit  von  unserem  Vaierhvnile  in  der  Ton- 
kunst geleistet  worden;  hei  wachsender  Fülle  der  Ansehauungen  wuchs  iluu  auch  das 
ersehnte  Verstäuduifs.  Jlocherfrcut  aher  war  er,  als  eben  sein  neuer  Wohnort  in  der 
dortigen  Rhcdigerschen  Bihliotliek  eine  neue  Fundgrube  für  seine  Forschungen  ihm 
eröffnete:  eine  Sammlung-  der  hedeutendsten  Tonwerke  seit  dem  Anfange  des  siebzehn- 
ten Jahrhiniderts,  deutscher  und  italienischer,  bis  hin  fast  zu  dessen  Ausgange.  In 
den  späteren  Erzeugnissen  dieses  Zeitabschnittes  fand  er  nun  bereits  einige  Uebercin- 
stinunung  mit  den  schon  früher  von  ihm  gedeuteten  Kunstwerken  des  folgenden  Jahr- 
hunderts; je  weiter  er  zurückging,  um  desto  mehr  Beziehungen  traten  ihm  entgegen 
mit  der  früiiercn  Zeit,  und  doch  schien  ihm  diese,  wie  er  zuvor  bereits  geahnt  hatte, 
auf  einer  anderen  Ansdiaiuiug  des  Tonreiches  zu  ])eruhcn  als  die  spätere;  er  glaubte 
in  ihr  eine,  zwar  mit  jener  lebendig  zusammenhängende,  aber  doch  eigenthümlieh  er- 
schlossene Blülhe  der  Kunst  zu  erkennen.  j\irgcnd  aber  lelieudiger,  anschaulicher, 
schien  dieser  innere  Zusammenhang  beider  Richtungen  ihm  hervorzugehen,  als  in  dem 
Verhältnisse  Gabrieli^s  zu  seinem  Schüler,  Heinrich  Schütz.  Deutschland  und  Italien, 
die  älteren  und  die  neueren  in  beiden  Ländern  gezeitigten  Kunslformen,  die  heilige,  die 
wellliche  Tonkunst  in  ihren  mannigfachen  Verzweigungen,  die  Kirchentöne  in  ihrer 
herberen,  die  neueren  Tonarten  in  ihrer  glänzenderen  Eigenthünilichkeit,  die  lebendige 
Wecliselwirkinig  des  CJobens  und  Empfangens,  die  Blüthe  luid  der  Verfall  verschiede- 
ner Kunstrichtungen,  standen  nun  lebendig  vor  seiner  Seele.  Was  ilnn  zuvor  ein  leeres 
Wort,  ein  lH)hler  Name  gewesen,  wurde  nun  eine  lebendige,  durch  geistreiche  Werke 
immer  anfs  Aeue  bethätigte  Anschainnig. 

Die  Beziehung  dieser  Werke  zu  der  äufseren  Gestalt  der  Zeit  ihres  Entstehens, 
iiir  Zusammenhang  mit  der  allgemeinen  Bildungsgeschichte,  wurde  nun  zunächst  Ge- 
genstand seiner  ferneren  Forschungen,  und  so  entstanden  diese  Blätter,  und  andere, 
wenn  auch  bisher  nur  begonnene,  Darstellungen  anderer  Zeiten  der  Kunstgeschichte, 
die  er,  >venn  ihm  einst  3Iufse  vergönnt  wird,  sie  zu  vollenden,  und  wenn  man  das  hier 
Dargebotene  als  eine  wirkliche,  dieses  JVaniens  würdige  Mitarbeit  für  die  Kunstge- 
schichte erkennen  sollte,  künftiger  3Iittheilung  vorbehält. 

Was  er  als  Beigabe  an  Tonwerken   der   Zeilen    darbietet,    von   denen   er   redet. 


—         XI         — 


thoils   in    vollsfändiger,    (heils   auszngswoiser  MiÜhoilung-,    liat  er  (l,is   auf  zwei    Bni.!,- 
slückc  von  3Ia(lrigalen  des  Fürsten  von  Venosa)  ans  den  vorhandenen,  einzelnen  Stinnnen 
sorgrallig-  selber  inPar<itnr  gehrael.f,  und  -  die  Berichügung  und  Cnterlegung-  der  Texte 
ausgenonunen,  denen  ältere  Drucke  sehen  grofse  Aufniersanikeit  gewidmet  haben  -  sich  nir- 
g:endeincAenderung  dabei  erlaubt.    Die  ältere  Schreibweise  ist  zuweilen  mit  der  neueren, 
allgemein  versländlichen  vertauscht  worden,  namentlich  bei  den  Tonschlüsseln:  nur  das 
Bezeichnende  aber,  nicht  das  Bezeichnete,    ist  dadurch   anders   geworden.      Beibe- 
halten   ist  sie    überall,    wo   sie   -    wie   bei   Bindungen   -   gröfsere   Anschaulichkeit  der 
Toufiguren   gewährte.      Auch    die    ältere    Generalbafsbezeichnung    der   Ursclirifteu    (wo 
eine  solche  vorhanden  war)   ist   unverändert,    und   unergäuzt  geblieben.      Versetzungs- 
zeichen, wo  sie  nach  seiner  Ueberseugung  zu  ergänzen  waren,  sind  über   den    einzcl- 
nen    Tonzeichen  nur   angedeutet,    so    dafs    mau  jedes  einzelne    Toustück   in    seiner   ur- 
sprünglichen  Gestalt  empfangt.      Hoffentlich   werden  in   dieser  Beispielsammlung  je  zwei 
und  zwei  Gesänge   von  Palestrina   und  Orlando    Lasso  nicht  unwillkommen    sein.       Bei 
deren  Auswahl  leitete  den  Verfasser  zunächst  sein  Hauptzweck,    das  Verhältnirs  beider 
Meister  zu  GabrieÜ  anschaulich  zu  machen:  dann  aber  ist  er,  um  zunächst  Palestrinas 
Verdienst  in  helles  Licht   zu   setzen,    dessen    neuestem  Lebensbeschreiber   und    inuigem 
Verehrer,  Bahn,    gefolgt.      Der   ersten   Rücksicht   zumeist  verdankt    das   sechsstimnuge 
.,0  Doimne  Jesu   anisfe'-  seine  Aufnahme,    als   Seitenstück  zu    dem    Gabrielischen;    (f. 
A.  3.)  der  zweiten  das  achtstimmige:  „Sarge,  illumhune  Jermulem.^'     Vou  beiden  re.let 
liidni  n.it  Bewun.lerung:  das  letzte  nennt  er  (Tom.  IL  pag.   IS.)  .,*7  capo   cropera   del 
moteffi  a  due  eori  del  Pierhngir  jenem  rühmt  er   nach,    es   gehöre    zu  den   Motetten 
seines  Trhebers:  ,,c7,e  preseiUano  vn  hello  di  prinC  ordine.-     (T.  L  p.  352.)     Die  Dar- 
stellung des  gesammten  Bildungsganges,  des  vollen  VVerthes  beider  grofsen  Tonuieister, 
würde  freilich  eine  Beispielsammlung  von  gröfserem  Umfange  erfordert  haben,    als    die 
Verhältnisse  des  vorliegenden  Werkes  gestatten. 

Möge  diese  Arbeit  im  Uebrigen  durch  ihren  Inhalt  ihre  Rechtfertigung  finden! 
Sie  soll  vorzugsweise  das  Verhältuifs  älterer  und  späterer  Tonkunst  zur  Anschauung 
bringen,  aber  auch  durch  die  Blüthe  jener  ersten  über  deren  Anfänge  Licht  ver- 
breiten.    Hat  sie   ihre   Bestimmung   erreicht,    so    trägt   sie   ihre  Gewähr   in    sich    selbst. 


—      xii      — 


a 


woloho  sie  sonst  von  Aufscn   her   nirgend    erhalten   kann.      Darnni    biüet   ihr    Verfasser 
auch  nicht   «n.  Schonung  oder  Nachsicht  für  sie,  so  erfreuend  ihm  auch   das  wohlwoU 
l.nde  Anerkenninifs  seines  Strchens  sein  wird,  selbst   wenn   man    des.en   Früchte  nicht 
durchhin  von  ächter  Reife  halten    sollte.      Dafs   er   mit   Vorliebe    für   einen    Gegenstand 
beschrieben,  der  ihn  lange  beschäftigle,  bekennt  er  gern:  allein  ohno  sie  hätte  er  über- 
„11  nichts    zu   leisten   vermocht;    ist   ilun    der   sichere    Blick   für   seine   Aulgabe    dadurch 
getrübt  worden,  so  wird  er  mit  Dank  darüber  Belehrung  empfangen.     Auch  eine  Vor- 
liebe   Tür  Venedig  will  er  offen  eingestehen.      In    früherer  Zeit  Schüler    einer  Bildungs- 
anstalt,    welche    durch    die    Süftuug    eines    deutschen,   im    venedischen    Staate    eingebür- 
..erten  Kaufmannes,  alljährlich  zu  einer    Lobrede   auf  sein   neues   Vaterland  verpflichtet 
war    umgeben  von   Jugend   auf  mit   mannigfachen   Bildern  jener  wunderbaren   Meeres- 
stadt   und  auf  solche  Weise  lange    zuvor   in   ihr   heimisch,     ehe    er   sie    wirklich    betrat, 
.„ochte    er  auch  von  jeher  sich  gern  mit  ihr  beschäftigen,  und  das   von  ihr  gewonnene 
Bild  sich   ferner   ausmahlen.      Hat   die   gegenwärtige   Darstellung   gröfsere    AnschauHch- 
keit  dadurch    gewonnen,    so    ist   sein    Wunsch   errdllt,    der   dahin   ging,    ein   lebendige 
Bild  der  Zeiten  und  ihrer  Verhältnisse  zu  gewähren,  von  denen  er  schrieb. 


Johannes     Gabriel! 


und 


sein     Zeitalter. 


ERSTER   THEXI^. 


n/ohanncs  Gabrieli  und  seine  Zeit-  tmd  Knnstgenossen  während  des 

sechzehnten  Jahrhunderts. 


—        XIV 


INHALT. 


ERSTES     HAVFTSTtrCK. 

A'i'iicdi;;   und   ilio   Kirclio   ilos   lieiligcii  3Iarcus   im   soelizcluilpii  Jalirlniiiilcrt S.      1   Ijis      19. 

ZWEITES     HAUPTETÜCK. 

Vciii'difts   Aiisl.lUou   für   kircliliclio   ToiiKiinsl,   und   iillcio   Toiinicislcr  lils   auf  Ju1iaiin<\s   Galiileli iO    —      33. 

DRITTES    »AVPTSTÜCK. 

,l(diaiiiics   <j'al)riidi.   dessen  Lolioiisvorliälhiisse  und  Zeitgenossen 34    —      .)3. 

VIERTES     KAVFTSTäCK. 

Der  «ro^orianisclie   KIrclion;;<'sang.   dessen  Bedeuluiig  \ind  das  Verliältniss    der   allen    belgisolion    Tonmei- 

.sler  zu   domseUicn,   zumal  Adrian  \Villaerrs,   des  Stifters  der  venedisclien  Tonscliule .'i4     —      73. 

FÜNFTES    HAUFTSTTTCE. 

Die   Kir.l.enl.ine 73    —    108. 

SECHSTES     HAUPTSTÜCK. 

Millaerfs  Siliüler  und  Xaclifolser:  CVjirian  de  Horo ,    Zarlino,    (Claudio  3Ierulo,    Andreas  GaLrieli,    und 

deren   \'erdlei!sle   um   lianuouisclie   Entfaltung , 108    —    124. 

EIEBENTES    UAVPTSTÜCIC. 

Die  illi.vlliniili    der  all(Men  Tonmeister.  , ,      .      124    —    147. 

ACUTES     HATTFTSTVCK. 

■loliannes  <»'alirieli   in  seiner  früheren  Ivünsllerisclien  Tliätigkeit  l)is  zum  Ausgange  des  seclizehnten  Jalir- 

Iimideils.     Nein  ^Crliältniss  zu   Palesirina  und  Orlando  Lasso 147    —    19G. 

ERSTE    BEILAGE. 

I.  Verzeiclinifs   der  .Slinf^ernu-isler  und   Org.inisten   an   der  Kirche  des  lieiligen  .^larcus  laut  deren  Aroliiven. 

j4.      JHni;s!ri  dclla  IJiicul  Caprlla  di  S.  Marco,  trttlli  dci  libri  actorum  dell'  airhhio    dclla    cliiesa    di 

S.  Mnno ,      .  197    —    198. 

It.      Orgiimsti  de/  primo   Orguno 198    —    199, 

C.      Organisli  del  srcimdo    Organa.      .      .      , 199. 

ZWEITE    BEIIiAGE. 

II.  Koleiidiuck  und  Musikhandel  zu  Venedig  im  seclizehnten  und  siehzehnlen  Jahrhunderte '.'00    —    202. 


ERSTES  HAUPTSTÜCK. 


Venedig  mid  die  Kirche  iles  heiligen .  Marcus  im  sechzehnten 

Jahrhundert. 

«regen  Rlittag  des  Thciles  von  Venedig  der  dem  schlangenförmig  durch  die  Stadt  gewundenen,  sie  in 
7,\vei  ungleiche  Hälften  thcilcndcn  grofsen  Canale  östlich  gelegen  ist;  unfem  der  Gegend,  wo  diese  Haupt- 
strafse  der  wunderbaren  Stadt  mit  dem  breiteren  Canale  der  Giudecca  sich  vereint,  der  den  südlichen 
Theil  derselben  von  ihr  scheidet,  liegt  St.  Marcus,  die  vornehmste  Kirche  Venedigs,  wenn  auch  nicht 
die  älteste,  noch  vonnals  die  Kathedrale  der  Stadt.  Zwei  Plätze,  beide  nadi  ihr  genannt,  die  bedeutend- 
sten der  Sladt,  verbhulet  der  vor  ihr  hegende  Raum.  Zu  ilircr  Linken  den  kleinen  Marcusplatz;  von 
dem  herzoglichen  Pallaste  und  öffentlichen  Bibliothekgebäude  begrenzt,  fiJirt  er  unmittelbar  zu  der  grofsen 
VVasserfläcIie  liin,  welche  der  Stadt  südösthch  hegt,  eröfihet  die  anmutliige  Aussicht  auf  die  lange  und 
gclimale  Insel  der  Giudecca  so  \nc  links  Aon  ihr  ilie  kleinere  von  St.  Giorgio  Maggiore,  und  leitet  den 
Blick  auf  die  herrlichen  Marmorpalläste  und  Kirchen,  wclclic  beide  schmücken.  Vor  ihren  Haupfpforten 
den  gröfsercn  Platz  von  St.  IMarcus;  zu  beiden  Seiten  umgeben  ihn  die  Palläste  der  Procuratoren,  deren 
offene  HaDen  ihr  gegenüber  vormals  durch  die  alle,  jetzt  zerstörte  Kirche  des  h.  Geminian  getrennt  vn\r- 
dcn.  Auf  der  Grenze  beider  Plätze,  von  der  Kirche  gesondert,  erhebt  sich  auf  eine  Höhe  von  beinahe 
vierhundert  Fufs  der  zu  ihr  gehörende  Glockenthurm :  die  ganze  Stadt,  die  Lagunen  mit  ihren  Inseln  bis 
Iiin  zu  dem  festen  Lande  breiten  von  seiner  Höhe  sich  aus  vor  dem  Auge  des  Beschauers.  So  bezeich- 
net schon  durch  ihre  Lage  und  Umgebung  die  Kirche  des  h.  Marcus,  dafs  sie  die  erste  eines  mächtigen, 
reichen,  hochgebildeten  Freistaates  gewesen. 

Alte  Berichte  *)  setzen  ilire  Gründung  in  das  Jahr  827.  Sie  erzählen,  dafs  ßuono  aus  Malamocco 
und  Rustico  aus  TorccUo  gebürtig,  Bürger  Venedigs  beide,  um  jene  Zeit  zu  Alexandria  sich  befanden, 
als  die  Heiden  die  über  den  Gebeinen  des  h.  Marcus  daselbst  erbaute,  ilim  geweilite  Kircl)e  abzubrechen 
begannen,  um  die  kösthchen  Steine  welche  sie  schmückten,  zu  dem  Baue  eines  Pallastes  für  ihren  Kö- 
nig anzuwenden.  Die  Bcsorgnifs,  dafs  jene  lieiligen  Uebcrreste  den  Heiden  in  die  Hände  fallen  und  von 
ihnen  scliimpflich  behandelt  werden  möchten,  soll  die  Vorsteher  der  Kirche  bewogen  haben,  jenen  Vene- 
digern sie  durch  Kauf  zu  überlassen.     Durch  List  entzogen  sie   diese  den  Nachforschungen  der  Ungläubi- 


')   Chronic.  Danduli.  VJU.  C.  TL  P.  6. 

C.  T.  WiDtorfclJ.  Joh.  Gabriel!  u.  s.  Zeitalter. 


—        '2        — 

^en  uiul  brachleii  üie  luirJi  \  cneilii^.  wo  nuiii  sie  als  einen  kostbaren  Scliatz  empfing,  den  Bau  einer 
neuen,  dem  Evangelisten  geweiliten  kirehc  bcsdilol's,  und  diesen  selber  zum  Schutzheiligen  der  Stadt 
erwählte,  da  es  zuvor  der  heilige  Theodorus  gewesen  war.  Dieses  geschähe  unter  den  Dogen  Justi- 
iiian  und  Johannes  Partecipazio ;  der  letzte,  vormals  Pilger  nach  Jerusalem,  gab  der  über  den  Gebeinen 
des  Heiligen  neu  erbauten  KircJie  die  Gestalt  der  Basihka,  die  er  in  der  heihgen  Stadt  über  dem  Grabe 
des  Herrn  gesehen   halle   '). 

JNur  wenig  über  hundert  Jahre  stand  der  damals  erriclitete  Bau.  Um  976  wurde  Peter  Candiano, 
der  vierte  dieses  Namens  und  vierzehnte  Doge  von  Venedig,  verhafst  durch  Frcvellhaten,  furchtbar  durch 
Gewaltthätigkeiten,  imerträglich  durch  Bedrückungen,  von  dem  erbitterten  Volke  in  seinem  Pallasle 
belagert,  durch  Flammen  daraus  vertriehen,  imd  fiel  mit  seinem  unmündigen  Sohne  durch  das  Schwert ' ). 
Viele  Pallhste  und  Kirchen,  man  zählt  ihrer  <lreihimdert,  mit  ihnen  auch  die  des  neu  erwälJten  Sdiutz- 
heiligen  wurden  damals  durch  das  Feuer  zerstört.  Des  TjTannen  Nachfolger,  Peter  Urseolo  °),  gelobte 
nunmehr  die  Gründung  einer  neuen  Kirche,  prächtiger  noch  als  die  zerstörte,  ja,  der  gröfseslen  und 
wundervollsten,  welche  man  bisher  in  der  Christenheit  gesehen.  Der  Grund  dazu  -wurde  im  Jahre  977 
gelegt  ''),  das  Gebäude  aber  beinahe  hundert  Jahre  später,  um  1071,  unter  Domenico  Coularini  seinen 
Haupttlieilen  nacli  erst  A-olIcndet,  imd  fast  jedes  folgende  Jahrhundert  hat  seitdem  zu  seiner  Ausschmi'ik- 
kung  beigetragen.  Als  im  Jahre  1204  ^'on  den  verbündeten  Abendländern  die  \  enediger  die  ersten  wa- 
ren, welche  unter  Anfülirung  ihres  Dogen,  des  blinden  Helden  Dandolo,  die  IMauern  Conslantinopels  er- 
stiegen, imd  das  Banner  des  heiligen  IMarcus  auf  sie  pflanzten,  wurden  aus  der  reichen  Beute  die  vier 
aus  Kupfer  getriebenen  vergoldeten  Bosse  ihnen  zu  Theil,  welche  den  Eingang  des  Hippodroms  der  alten 
oströmischen  Kaiserstadl  bislier  geziert  halten,  und  eine  IMenge  des  kostbarsten  IVIarmors :  alles  v  urde  dem 
Sclimuck  der  Kirche  ihres  Schulzheiligen  bestimmt,  und  nach  ^'enedig  gesendet.  Den  Eifer,  mit  dem 
man  jenes  Werk  betrieb,  konnten  aucli  wiederholte  Störungen  nicht  diüiipfen.  Schon  um  1106  halte  die 
Kirche  diu-ch  Brand  gelitten:  fünf  und  zwanzig  Jahre  nach  der  Eroberung  Constantinopels,  im  zweiten 
der  Regierung  des  Jakob  Tiepolo  traf  sie  ein  Unfall  gleicher  Art.  Bedeutender  waren  ihre  Beschädi- 
gungen durch  Feuer  im  fünfzehnten  Jahrhundort  ^):  das  erste  Blal  1119  am  dritten  Blärz  imter  Thomas 
Mocenigo,  nicht  ohne  den  Verdadii  boshafter,  absiclillicher  Anlegung;  späterhin  um  1129  am  sechsten 
März,  wo  das  Blei,  mit  welchem  sie  gedeckt  war,  gänzlich  schmolz.  Eben  so  litt  sie  bei  dem  Brande, 
weldier  imi  1577  unter  Sebastian  ^'^enier  einen  Theil  des  herzoglichen  Ballastes  und  mit  ihm  die  Bilder 
Tizians  und  Bellins  zerstörte  ').  Der  St.  Blarcustliurm ,  um  1118  unter  Domenico  Morosini  errichtet, 
erfuhr  im  Uten,  15lcn  und  16ten  Jahrhunderte  ähnhdie,  bald  mindere,  bald  bedeutendere  Beschädigun- 
gen; und  es  ist  dieser  Unglücksfäfle  hier  um  deswillen  nur  mit  einiger  Ausführlichkeit  gedacht,  damit 
neben  der  Ausdauer,  mit  der  die  Venediger  das  Zerstörte  jederzeit  tüditiger  und  pracJitvoUer  herzuslellen 
trachteten,  auch  die  Veranlassung  erwähnt  werde,  durch  weldie  der  Mangel  an  Urkunden  über  manche 
Verhältnisse  der  Kirche  zu  erklären  ist,  ^^'eldlen  schon  Flaminio  Corner,  der  fleifsigsle  Sammler  über  die 
Kirdien  seiner  Vaterstadt,  beklagt. 

Am  Schlüsse  des  sedizehnten  Jahrhunderts,   dem  Zeitalter  des  Mannes,  dem  diese  Blätter  vorzüg- 
lich gewidmet  sind,  konnte  man  mit  Recht  behaupten,  dafs  der  durd»  so  viele  Anstrengimgen,  mit  Ueber- 


')  Jl>.  l'III.  C.  \A.  p.  34.  ')  Eccl  Venetae  Flam.  Corn.  Dec.  nil.  l'ol.  J.  p.  84.  narh  einer  Chronik  des  elften 
Jahrhunderts.  ')  Ehendaselbst  123.  *)  Ebcnd.  nach  Dandvlo.  *)  Eecl.  t'en.  X.  f.XIII-  \.J  p.  112.  111.  nach  JUo- 
rosinl's  Chronik  l.  XVJII.  XX.     '')  Ib.  pag.  109  —  113. 


Windung  so  vieler  Hindernisse  geförderte  Bau  den  \'S  ünschen  seines  ersten  Urhebers  entspreclie ,  dafs  die 
Kirche  zu  den  prächtigsten  und  eigcnthünilichsten  Italiens  gehöre.  In  Kreuzesform  zur  Rechten  des  her- 
zoglichen Pallasles  erbaut,  erhebt  sie  fünf  Kuppeln  in  die  Luft,  eine  gröfsere,  lun  welche  vier  kleinere 
sich  reihen,  und  erhält  dadurcli  ein  morgonländisches ,  fremdartiges  Ansehen.  Durch  fünf  Pforten  tritt 
man  von  der  liauptseite  aus  in  die  \orhalIe,  welche  sie  rings  lungiebl,  deren  Seitenflächen  kostbarer 
weifser  Slarmor  schmückt,  mit  schwärzlichem  Geäder,  in  dessen  seltsamer  Verfleclitung  die  geschäftige 
Phantasie  allerhand  \\  undcrbare  Gestalten  £;efundcn  hat.  \\  ie  der  katholische  Cultus  die  heilige  Geschichte 
des  alten  Testaments  als  \  orbild  dessen  darstellt,  v.as  in  Christo  und  seiner  Kirche  erfüllt  worden,  das 
in  jener  weissagend  Angedeutete,  dem  in  dieser  VoUendelcn  bei  der  Feier  einer  jeden  festlichen  Zeit  be- 
deutsam gegenüber  treten  läfst:  so  sehen  wir  in  den  Gewölben  der  Vorhalle  auf  goldenem  Grunde  in 
musivischer  Arbeit  die  Schöpfung  der  \\cU  gebildet,  den  Sündcnfall,  die  Geschichten  der  Patriarchen,  den 
Auszug  aus  Aegj'pten:  steigen  wir  empor  in  das  Imicre  der  Kirche,  so  überrascht  der  Glanz  des  Goldes, 
der  aus  Kuppeln  und  Ge^völben  uns  entgegenstraJdt ,  und  den  Bildern  aus  der  heiligen  Geschichte  des 
neuen  Testaments  zum  Hintergründe  und  zur  Einfassung  dient.  Christi  Leben  nach  Schrift  und  Leo-ende 
so  wie  die  ^^  mider  der  Ofibnbarimg  welche  die  letzten  Dinge  prophetisch  vorbilden,  zeigen  die  Gewölbe 
in  reichen  Bildern,  aus  farbigen  Steinen  künsthch  zusammengesetzt:  auf  den  vier  marmornen  Säulen 
welclie  den  Baldacliin  des  Ilauptaltars  tragen,  wiederholen  in  erhabener  Arbeil  sich  die  Thalen  des  Erlö- 
sers. Die  Kuppeln  zeigen  Uieils  sinnbUdliche  Darstellungen,  tlieils  Bilder  von  Hauptmomenten  der  Ge- 
scliichte  christlicher  Kirche:  hier  Christum  mit  der  Weltkugel,  in  der  IMitte  der  Evangelisten,  wie  er  seg- 
nend über  der  heiligen  Jungfrau  und  den  Propheten  schwebt,  welclie  ^\^ede^um  über  David,  dem  heihcren 
Sänger,  und  Salomon,  dem  Erbauer  des  ersten  Tempels  tlironen:  hier  die  geistUclien  und  weltlichen  Tu- 
genden: hier  Cherubim  mit  den  Worten  des  dreimal  heilig,  schwebend  über  den  Aposteln,  auf  welche 
der  heilige  Geist  sich  herabsenkt,  und  zu  deren  Füfsen  wir  die  versclüedenen  ^ölker  erblicken,  wie  die 
heilige  Schrift  in  dem  Berichte  von  dem  ersten  Pfingstfeste  sie  uns  nennt.  In  ähnlicher  Arbeit  stellt  uns 
das  Chor  fUe  Gescliichte  des  Schutzheiligen  nach  der  Legende  dar:  die  Auflindimg  seines  Leichnams, 
dessen  Leberfalirt  nach  Wnedig,  seinen  festlichen  Empfang  daselbst.  Zwei  Orgeln,  einander  gegenüber* 
stehend,  begrenzen  in  der  Höhe  das  Chor ;  auf  einem  Gange,  der  von  ihnen  ausgeht,  mit  einer  Brustwehr 
geschmückt,  an  welcher  die  \^'appenschiIde  der  Herzoge  nach  ihrem  Tode  aufgehängt  wurden,  kann  man 
um  die  ganze  Kirche  wandeln.  ^^  enn  aus  Kuppeln  und  Gewölben  Sinnbilder  und  heilige  Geschichten 
auf  uns  herabschauen,  so  zeigt  der  Fufsboden  der  Kirche  mis  einen  reichen  Tcppich:  dem  Grunde  von 
Marmor  sind  Laubwerk  imd  Arabesken  von  farbigen  Steinen  ^v^e  eingewrkt,  und  auch  hier  fehlt  es  nicht 
an  sinnbildlichen  Darstellungen,  welche  Ereignisse  der  Geschichte  des  Freistaates  und  ganz  Italiens  ver- 
hüllt andeuten,  oder  auf  gleiche  Art  die  Häupter  Venedigs  bildhch  warnen  sollen,  wie  jene  Lö\^'en,  deren 
eines  Paar  über  den  Wellen  schwebt ,  von  Kraft  strotzend ,  das  andere  kraftlos  und  abgezehrt  auf  der 
Erde  steht,  anzuzeigen,  dafs  Meeresherrschaft,  nicht  Besitz  auf  dem  festen  Lande  \'enedigs  Gröfse  gegrün- 
det, und  sie  erhalten  werde.  Können  wir  nicht  leugnen,  dafs  die  bildende  Kunst,  weldie  heilige  Gebäude 
ihrer  Bestimmung  gemäfs  enrichtet  und  schmückt,  aus  der  Gesinnung  und  Richtung  ilires  Zeitalters  lebendig 
hervorgehe-,  dafs  die  Tonkimst,  welche  dem  scliweigenden  Räume,  dem  stummen  Bilde,  ja  auch  dem  hei- 
ligen Gebrauche  eine  Stimme  verleiht,  in  der  ihr  inneres  Leben  herv'orbricbt  und  kmid  A\-ird,  mit  der 
Bildnerei  in  der  innigsten  Verbindung  stehe;  so  wrd  in  der  genauen  Beziehung  beider  Künste  unter  sich 
und  mit  dem   Leben  des  Volkes,  aus  dessen  IMitte  sie  sich  gestalten,   auch  die  vorangehende  DarsteUung 

1* 


—        4        — 

gereclitfertjgt  erscheinen,  tind  sie  wird  weder  überflüssig  noch  unverhältuirsmäfsig  genannt  werden  dürfen, 
wenn  sich  späterhin  bewährt,  dafs  Gabrieli,  wie  Venedig,  so  vornehnihch  der  Kirche,  welche  ihn  acht 
und  zwanzig  Jahre  liindurch  hesafs,  recht  cigentliündich  angehört  liahe.  Ja,  als  nolhwendige  Folge  des 
Gesagten  wird  die  Forderung  hervorgclicn,  dafs,  che  wir  das  Leben  und  die  Werke  des  merkwürdigen 
JMannes  näher  belrachlen,  dessen  Name  diesen  Blättern  voransteht,  auch  die  besondere  Verfassung  der 
kircldiclicn  Anstalt,  deren  einer  Zweig  ilim  anvertraut  war,  und  das  Leben  seines  Vaterlandes,  in  welchem 
sie  wurzelte,  mit  einigen  Zügen  dargelegt  werde. 

Sey  es  nun,  dafs  ^'cncdigs  erste  Gründung  in  den  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  faUe,  wo  die 
Bewohner  des  zerslörlen  Aquileja  und  der  benachbarten  Landschaften  einen  Zufluchtsort  vor  der  Muth 
des  Attila  auf  den  Inseln,  zwischen  den  Untiefen  des  Adrialischen  IMeeres  sucblen,  welche  in  der  Nähe 
des  Ausflusses  der  Brenta  liegen;  sey  es,  dafs  frülier  schon  jene  Orte  bewohnt  waren,  tlie  Anfänge  der 
Sladt  also  einem  noch  fri'dicren  Zeitalter  angehören;  genug,  nach  der  Mitte  des  sechzelmlcn  Jahrhunderts 
stellte  Venedig  den  überraschenden  Auhhck  einer  grofsen,  präclitigen,  mitten  in  den  Wellen  hegenden 
Stadt,  und  das  ehrwürdige  Bild  eines  Freistaats  von  mehr  als  tausendjälirigem  Alter  dar.  Was  es  früher 
gewesen  freilich,  ein  Staat  seiner  Macht  und  seinem  Ansehen  nach  neben  die  ersten  Europas  zu  steUen, 
war  es  nicht  mehr.  Die  IlauptqueUe  seines  Reichlhums,  der  Besitz  des  ostindischen  Handels  war  gegen 
das  Ende  des  vorangehenden  Jalirliunderts  ziuii  Thcd  versiegt,  seit  die  Portugiesen  den  neuen  Weg  nach 
Indien  um  die  Südspitze  Afrikas  gefunden,  seit  Christoph  Colonibo,  ein  Bürger  des  Freistaats  der  seit 
alter  Zeit  Venedigs  Nebenbulderinn  gewesen,  Spanien  durch  die  Entdeckung  Amerikas  eine  neue  Gold- 
und  Ilandelsquelle  crölTnet  hatte.  Seit  hundert  Jahren  bereits  war  um  jene  Zeit  der  Sitz  des  alten  ost- 
römischen Kaiserlhums  in  den  Händen  der  Türken,  übermütluger,  gefährhclier  Naclibarn,  niclit  allein  für 
Venedigs  Besitzungen  in  Griechenland  und  Dalmatien,  sondern  auch  für  sein  Gebiet  auf  dem  festen  Lande 
Italiens,  das  schon  mehr  als  einmal  ihren  Verwüstungen  und  Räubereien  ausgesetzt  gewesen  war.  Neapel 
im  Süden,  Mailand  Im  Norden  Italiens  halten  zu  Anfange  des  Jahrlumderts  Spaniens  imd  Frankreichs 
Herrschbegier  gereizt ;  Entzweiung  und  Ehrgeiz  Einzelner  einen  Innern  Krieg  neben  demjenigen  entzündet, 
welcher  durch  Fremde  herbeigeführt  eine  der  scliönsten  mid  glückhchsten  Landschaften  Europas  ver- 
heerte. Italiens  Freiheit  war  unter  diesen  Kämpfen  Üieds  erschüttert,  Uieils  zu  Grunde  gegangen;  nur 
Venedig  stand  allein  nocli  ungefährdet,  fast  In  seinem  allen  Glänze  da.  Der  gereizte  Stolz  der  gröfsern 
Mächte,  die  Eifersucht  der  kleinern  Italiens  wollle  auch  Ihm  seinen  LTnlergang  bereiten.  Das  Bündnifs, 
oder  ('wie'  Venedlsche  Schriflsteller  es  nennen)  die  Versdiwörung  zu  Cambray  trachtete,  nachdem  man 
durch  Versicherungen  geneigter  imd  wohlmeinender  Gesinnungen  der  vereinigten  Älächte  Venedig  zu  be- 
ruhigen und  zu  sichern  gesucht,  es  durch  den  Bannslrahl  des  heiligen  Vaters  geistlich  zu  vernicliten, 
durch  gemelnschafthchen  Angriff  seine  Macht  zu  zerstören,  und  sein  ganzes  Gebiet  zu  tlieilcn.  Nach 
wechselndem  Glücke  und  einem  harten  Kampfe  ging  ^^enedig,  zwar  nicht  siegreich,  doch  mit  Ehre  aus 
diesen  Stürmen  hervor,  innerlich  erschöpft,  wenn  auch  ohne  bedeutenden  Verlust  nach  aufsen.  Von  nun 
an  aber,  bis  etwa  hundert  Jahre  vor  einem  endhchcn  Fafle,  sähe  es  sich  zu  einem  fortwährenden  Kampfe 
für  sein  Bestehen  gezwungen,  und  so  lange  es  diesen  mulliig,  besonnen,  ausdauernd  fortgekämpft,  hat  es 
nicht  allein  bestanden,  sondern  auch  manche  hcrrliclie  Blüthe  in  seinem  Innern  entfaltet.  Als  aber  mit 
dem  Anfange  des  achtzehnten  Jahrhunderts  es  sich  In  Dunkelheit  zurückzog,  alle  Thciln.-dime  an  den 
grofsen  Welterelgnissen  ablehnte,  alle  ihm  drohende  Gefahr  durch  Unterhandlungen,  durcli  ein  Gewebe 
von  Doppelsinn,  List  und  helmhchem  Spüren  zu  beseitigen  trachtete,  ist  es,  wenn  auch  vciTathen,  doch 


—       5       — 

nicht  schuldlos  noch  rülinüich  gefallen.     Der  erste  Zeitraum  jenes  Kampfes  ist   das  Zeitalter  Gabrieli's. 
Drei  unglückliche  Kriege  halle  der  Freistaat  seit  der  Eroberung  Konstantinopels  mit  den  Türken  gefülirt. 
Ein  vierter  kostete  ihm  den  Besitz  von  Cypern,  dem  er  früher  eine  Königinn  gegeben,  es  später  als  zins- 
bares  Königreich  beherrscht  hatte.     Ohne  kräftigen  Beistand  von  Seiten  der  itahenischen  Staaten,    von 
Spanien  als  einer  der  Hauptmächte  der  Halbinsel  nur   schwach   unterstützt,    konnten    (Ue  Venediger  zur 
See  zwar  ihren  alten  Ruf  der  Tapferkeit  und  Erfahrenheit  he^vähre^,  ohne  andern  Erfolg  jedoch,  als  den 
vorübergehenden  Glanz  einzelner  grofser  Thaten.     Der  glorreiche  Tag  von  Lepanto  am  7.  October  1571 '), 
dessen  vor  allem  zwar  die  Spanier  sich  gerühmt,  war  docli  zum  gröfsesten  Theile  die  Frucht  der  Tapfer- 
keit der  VenecUschen  Flotte  und  ihrers  Anfülircrs  Sebastian   Venier,    der  sechs  Jahre  später,    wenn  auch 
nur  auf  kurze  Zeit,    den  herzogUchen  Sluhl  bestieg.     ZweUiundert  Scliiffe  und  nahe  an  dreifsigtausend 
3Iann  halten  die  Türken  verloren;  aber  von  seinen  Bundesgenossen  verlassen,  durch  Versprechungen  hin- 
gehalten, und  encUicli  auf  sich  selbst  beschränkt,    verlor  Venedig  alle  Vortheüe  eines  so  ausgezeichneten 
Sieges.     Famagusta,    die  Hauptstadt  Cvperus,  war   zwei  IMonate   vorher  am    1.  August   1571  nach  einer 
tapfern  Gegenwehr  von  beinahe  einem  Jahre  gefallen,  und  nur  dann  erst,  als  IMundvorräthe  und  Lebens- 
mittel gänzhch  erschöpft  waren.     Ein  TheU  der  Besatzung  ^TOrde  ein  Opfer  der  Grausamkeit  und  Treu- 
losigkeit der  Türken,  die  nur  Anfangs  die  gewährten  Bedingungen  der  Uebergabe  Iiielten,  dann  aber  völ- 
bg  davon  sich  lossagten  =);  der  Verthcidiger  der  Stadt,  Marco  Antonio  Bragadino,  fiel  unter  den  grausam- 
sten Martern,   bis  auf  den  letzten  Augenblick  die  Würde  des  Vaterlandes  behauptend,   von  den  Barbaren 
auf  das  Schimpflichste  gehöhnt,  und  nacli  dem  Tode  noch  auf  das  Unwürdigste  verspottet,  mit  der  Stand- 
haftigkeit   eines   Helden,    mit  der   frommen  Ergebung   eines   Christen,    die  Worte   des  Slsten   Psahns  im 
fliunde:   Schaffe  in  mir,  Herr,  ein  reines  Herz,  und  gicb  mir  einen  neuen  gewissen  Geist  =).     Der  Friede 
von  1573  scliien  Venedig  auf  einige  Zeit  Ruhe  zu  sichern;   aber  ein  neues  Ungemach  bereiteten  ihm  für 
mehrere  Jahre  die  Unternehmungen  der  Uskoken,  von  den  Türken  verjagter,  in  Dalmatien  niedergelasse- 
ner Flüchlhnge.     In  kaiserlichem  Solde  gegen   den  dn-istbclien  Erbfeind  stehend,    nicht  zufrieden  diesem 
allein  Abbruch  zu  thun,  arteten  sie  bald  zu  den  kühnsten  und  gefährlichsten  Seeräubern  aus,  erstreckten 
ihre  Plünderungen  und  Gcwaltthalen  selbst  auf  christhche  Seefalirer,  namenüich  venedische  Schifl'e,  und 
wufsten,    obwohl  in  einzelnen  FäUen  hart  gezüchtigt,    doch  meistens  der  Verfolgung  sich  zu  entziehen: 
ja,  niclit  ohne  Verdacht  fremder  Begünstigung   gaben  sie  iliren  Unternehmungen  gegen   die  Türken  das 
Ansehen,  als  seien  sie  mit  Vorwissen  \enedigs  verübt,  damit  sie  als  Friedensbruch  erscheinen,  und  den 
Freistaat  abermals  in  einen  Krieg  verwickeln  möchten,    der  seine  durch  aufserordentllche  Anstrengungen 
gebrochenen  Kräfte  voUends  aufreibe.     Dazu  kam  1575—1576   unter  AJuise  Älocenigo  eine  furclitbare 
Pest,   welche  vierzig  tausend  Einwohner  VenetUgs  hinrafl'te,    unter  ihnen  (im  99ten  Jahre  seines  Alters) 
den  berülimten  Tizian.     Der  Doge,  der   Senat  und  alle  Behörden  der  Stadt  gaben  bei  dieser  furchtbaren 
Plage  ein  Beispiel  männUcber  Standhaftigkeit  und   Unerschrockenheit.     Niemand   aus  ihrer  Mitte  verliefs 
die  Stadt  sich  der  Seuche  zu  entziehen;  die  Versammlungen  aller  Behörden  wurden  regehnäfsig  gehalten, 
obgleich  die  Anzahl  ihrer  i^Iitglleder  durch  tägliche  Todesfälle  sich  minderte;    aUe  Geschäfte  wurden  mit 
gewohntem  Elfer  betrieben,   als  drohe  keine  Gefahr.     Ein  Gelübde  des  Senats  verhiefs,   wcim  das  Uebel 
aiifliöre,   dem  Erlöser  eine  Kirche,    und  dieses  Gelübde  wurde  im  folgenden  Jahr  unter  Sebastian  Venier 
gelöst,  indem  Palladio  den  Grund  zu  der  Kirche  dcl  Redentore  alla  Zuecca  legte. 

|)  rergl.   Paolo    Parula    Th.  II.   lib.  IL  p.   211.   der   c«  Venedig  bei   Domenico   NicolM  1605   erschientnen   Au.'>gu6e. 
)  rergl.  Paolo  Parula  a.  a,   O.  p.  179.      »)  Fasti  ducales.  p.  319. 


—        6        — 


Hatte  Venedig  eolchcrgesUat  mit  dtr  Lauheit  und  dem  üblen  Willen  seiner  Nachbarn  und  Bundes- 
"•enossen,  mit  der  Wuth  und  Treulosigkeit  des  Erljfcindes  der  Christen,  mit  furclilbaren  u  nah  wendlichen 
Naturerei'gnissscn  zu  kämpfen;  so  Avurde  ihm  von  der  andern  Seile  ein  nicJit  minder  hartnäckiger  Kampf 
bereitet  durch  die  Eingriffe  des  römischen  Slulds  in  seine  Selbständigkeit.  Liegt  es  gleich  aufser  den 
Grenzen  dieser  Darstellung  bei  jenen  Streitigkeiten  zu  verweilen,  so  mag  es  kaum  doch  ihrer  Absicht 
fremd  ersclielnen,  Alles,  worin  Venedische  Sinnesweise  lebendig  kund  wird,  in  sich  aufzunehmen.  Denn 
sie  will  in  anschauhchcm  Bilde  zeigen,  wie  in  diesem  mcrkwiudigen  A'olke  cnlschlcdene  (Jegensälze  sich 
begegnet  und  vereint  haben;  glühende  ßegeislerung,  und  strenger,  herber  Ernst,  Neigung  zu  dem  Geheim- 
nifsreichen,  und  scharfsinnige  Gewandheit  in  Lebensverhältnissen  aller  Art,  Prachtüebe  und  Sinnigkeit, 
streng  kirchliche  Frömmigkeit  und  Freisinn. 

Venedigs  Staat  halle   von  jeher  den   Ruhm   strenger   Anhänghchkeit    an  den  katholischen  Glauben, 
und  Treue  gegen  den  römischen  Sluhl   bewahrt,    ja  denselben    auch  bei  Streit igkeilen   mit  diesem  zu  er- 
halten gewufsl,    da  sein  Widerstand  gegen  dessen  Anmafsungen,    wie  unerschülterhcli  in   seinem  Wesen, 
doch  ehrerbietig  in  seinen  äufsem  Formen  bhcb.     Auf  der  Kirchenversamndung  zu  Trident,   welcher  den 
Silz  In  Mcenza  zu  gewähren  der  Senat  abgelehnt,  erschienen  venedische  Gesandte,  ohne  jedoch  an  deren 
Beralhungen  lebhaften   Anthcd   zu   nehmen:    ja  aufser  einer  Slrciligkelt  derselben  mit  den  bairischen  Ge- 
sandten, bei  ^velcher  sie  den  ^'orrang  Venedigs  mit  Nachdruck  behaupteten,  finden  ^^^r  von  ihrer  Thätlg- 
kclt  bei  den    Verhandlungen    der  gelsllichen  \  ätcr   nichts  Erhebhches   aufgezeldmct.     Dennoch   blieb  jene 
Kirchcnversammlung   niiiit   ohne   Einflufs    auf  Venedigs    ferneres   Sclilcksal.     Unwillkührhch   werden   wir 
an  die  gedrängte,  aber  kraftvolle  Acufserung  über  dieselbe  liier  gemahnl,  weldie  Paul  Sarpi,  ihr  Gescliiclit- 
schreiber,  und  Rathgeber  Venedigs  in  geistlichen  Angelegenheiten,  seinem  Werke  voranstellt.     „'S'on  Eini- 
gen betrieben  und  gefördert,  (heifst  es  bei  Ihm),  von  Andern  verhindert  und  vcrsclioben,  durch  aclitzehn 
Jahre,  bald  vereint,  bald  aufgelöst,  immer  mit  verschiedenen  Zwecken  gehallen,  gewann  sie  eine  Gestalt 
und  Vollendung,   gänzlich  abweichend  von  den  Absichten  derer  welche  sie  gefördert,   von  den  Besorgnis- 
sen derer,  welche  sie  nach  allen  KräRen  geslörl;  zum  sicheren  Zeichen,  dafs  wir  unser  Wollen  und  Den- 
ken in  Gottes   Hand    zu  legen   und   nicht   auf  menschliche  Klugheit    zu  bauen   haben.     Fromme  Männer 
hatten  eine  Kirchenversammlung  gewünscht  und  befördert,  der   beginnenden  Kirchenlreimung  zu  wehren, 
und  sahen  sie  den  Blfs  erweitern,  die  streitenden  Theile  nur  hartnäckiger,  die  Zwietracht  unversöhnlicher 
machen.     Die  Fürsten  hatten  ihrer  zur  Besserung  des  geistliclien   Standes  sicli  bedienen  wollen,    und  sa- 
hen sie  eine  Verunstaltung  herbeiführen,    welche  ihres   Gleichen  nicht  gehabt,    seit  der  christhche  Name 
lebt:    die  Bischöfe  hatten  gehofll,   durch  sie  ihr  bischöfliches  Ansehen  wieder  zu  gewinnen,  welches  zum 
grofsen  Theile  auf  den  römischen  Papst  übergegangen  war,  und  haben  dieses  gänzlich  durch  sie  verloren, 
sind  nur  in  noch  gröfsere  Abhängigkeit  gerathen ;   der  römisdie  Hof  dagegen,  welcher  sie  gefürchtet  und 
vermieden,    als  wirksames  Mittel,   seine   aus  kleinen  Anfängen  hervorgegangene,   im  Forlschritte  der  Zeit 
zu  unbegränztem  Uebermaafs   gediehene,    drückende   Oberherrschaft  zu   zügehi,    hat  eben  diese  über  den 
ihm  gebliebenen  Thell  derselben  durch  sie  auf  eine  solche  'SVelse  befestigt  und  gestärkt  gesehen,  dafs  sie 
niemals  so  grofs  gewesen  ist,    noch   so   wohlgegmndet. "     Dafs   dem  römischen   Stuhle  davon  die  Ueber- 
leugung  geworden,    sollte  Venedig   in  den  letzten  Jahren    des  sechzehnten,    in  den  ersten  des  folgenden 
Jahrhunderts  erfahren,    und  fortwährenden  Anlafs  finden  seine   bisherigen  Grundsätze  femer  in  Ausübung 
zu  bringen. 

Im  Jahre  1580  unter  dem  Dogen  Nicolo  da  Ponte,  vormals  Abgesandten  bei  der  Kirchenversamm- 


wir 


Jung,    beabsichletc  Gregor  XIII.  durch    Abgeordnete  aus  Rom  eine    ^'isltaüon  sämmtlicher  Klöster  in  dem 
Gebiete  des  Freistaates   und  aller  Kirchen   des  ganzen  Patriarchats   von  Venedig.     Der  Do-'e  und  der  Se- 
nat weigerten  sich  standliaft,    dieses  Geschäft  durch  einen  andern  als  einen  venedisclien  Prälaten,    in  Ge- 
meinschaft  mit  drei   Edlen  aus  dem  Käthe   der  Zehn    vornehmen  zu  lassen.     Als   der  päpstliche  Nuntius 
dem  Doge  mit  geistliclicn  Rügen  gegen  die  Regierung  drohte,   soU  dieser,   ein  Greis   von  damals  neunzig 
Jahren,  geant^^'ortet  haben:  des  Papstes  geistliche  Rügen  sind  ^ie  ein  Schwert  in  der  Scheide,  das  nicht 
voreilig  entblöfst  m  erden  sollte,  damit  eine  solche  mizeidg  gebrauchte  Wehr  endlich  niclit  verachtet  werde, 
und  aufhüre   zu  verwunden.     Der  Senat   drang  durch,    und  die  ^^sitation  geschähe  nacli  seinem  Antrage 
im  Jahre  1581  durch  Agostin  \'aher  einen  venedischen  Prälaten,  in  Gemeinschaft  mit  Lorenzo  Campeggi 
aus  Bologna.     Die  Lobsprüclic.   welcJie  beide  \isitatoren  der  venedischen  Geistlichkeit  ertheilten,  die  ge- 
ringfügige, gelinde  Rüge,    welcJie  sie  nötlüg  fanden,    eben  weil    man  eine  vaterländische   einer  römischen 
Auszeichnung  vorgezogen  hatte,  sind  so  bezeichnend,  dafs  ihr  Bescheid  hier  auszugsweise  einen  Platz  ver- 
dient ').     \Mr  wollen,  heilst  es  dort,   in  unsrer  Zuschrift  an  Euch  uns  der  Worte  bedienen,  welche 
bereiU  in  unserer  Predigt  in  der  Kirche  der  heiligen  Engel  an  Eucli  gerichtet  haben,  der  Worte  des  hei 
ligen  Paulus  nämlich  in  dem  Briefe  an  die  Philipper:    Freuet  euch,   ihr  Priester  Venedigs,   und  abermals 
sage  ich,  freuet  eucli :  eure  Lindigkeit  lasset  allen  kmid  werden.     Freuet  euch  Brüder,  dafs  unter  so  -vie- 
len Priestern  kein  einziger  gefunden  worden,   der  mit  dem  geringsten  Aussätze  der  Ketzerei   befleckt  ge- 
wesen, der  den  mindesten  \^erdacht  irriger  und  verderblicher  IMeinungcn  dargeboten  hätte.     Freuet  euch, 
dafs  ihr  in  einer  vorzüglich   rechtgläubigen  Stadt  lebt,    dafs  ihr  die   Gestalt  und  Schöne  eines  wohlgeord- 
neten Staates  scliaut,   dafs  ihr  des  glücklichsten  Friedens  zur  Ehre  Gottes  geniefst,    dafs  ihr  in  der  Rlitte 
so  ■\'ieler  frommen  3Iänncr  lebt,   welche  manniclifaclic  Gelehrsamkeit  und  heilige  Sitten  auszeichnen,  und 
ihre  Lehren  für  einen   gerechten   und   heiligen  Wandel   empfangen   konntet;    dafs   ihr   die   Kirchen,    eure 
Bräute,    durch  frommer  und  reicher  IMänner  Spenden  sclunückt,    dafs  ilir  eine   edle  Schaar  weidet,    dafs 
ihr  den  ^"ertheldigern  des  wahren  Glaubens  und   des  heiligen  apostohschen  römischen  Stuhls  die  heiligen 
Sakramente  reicht;    dafs  ihr  in  einer  Stadt  lebt,    wo  wackere   JMänner  in  hohen   Ehren  gehalten  werden, 
wo  kein  guter  Priester  jemals  gedarbt  hat,  wo  er  vielmehr  mit  mannichfachen  ^Vürden  geschnüickt  vird. 
Freuet  euch,    dafs  Gott  der  Herr  zur  Zeit  der  apostolisclien  Heimsuchung   euch  erhalten,    dafs  der  Stalt- 
halter Christi  väterlich  für  euch  Sorge  getragen,  euch  mit  grofser  Liebe  zur  \'erwaltung  eures  Amtes  er- 
malint,   euch,   gehebtesten  Brüder,   mit  seinem  Segen  gestärkt  hat."     Und  weiteriün  heifst  es  2):    „Höre 
die  niedere   Geistliclikeit  Venedigs  Christum:    Welche   weiche   Kleider   tragen,    sind   in  den   Häusern   der 
Könige.     ^Vas  euer  priesterhches  Baret  angeht,   so  möget  ihr  wissen,    dafs  wir  den   Ralh  unsers  heiligen 
\  aters  Gregor,  des  Mahren  Oberherrn  und  Fürsten  über  alle  kircldichen  Anffelesenhelten,  darüber  erbeten 
ob  es  nutz  sey,    dafs  ihr  eucli  des   prieslerhchen   Barets   in   Kreuzesfomi  bedient,    oder   dessen  \ielmehr, 
welches   ihr    bisher  getragen,    dessen    sich    die   Edeln    unter    den    Laien    bedienen.      Der  heilige    ^  ater 
hat  seinen  Orakelspruch  mit  lauten  Worten    dahin   abgegeben:    der  heihge  Stuhl   zu  Rom  habe  Aufsicht 
und  Verordnung  über  alles,   was  den  Anstand  und  lobenswerthe  Gewohnheiten  der  Geistlichkeit  betreffe; 
dun  gefalle  es,    dafs  alle   jener  Form  des   priesterlichen  Barets   sich  bedienten,    welche   der  heilige  Stuhl 
gebilligt:  doch  solle  niemand  Zwang  angetlian  werden,  als  denen  welche  die  heihgen  Weihen  zu  empfan- 
gen begehrten,    welchen  es  künftig  untersagt  se^ai  solle,    eines  andern   Barets    zu  gebrauchen   als   dessen 

')  Flum.   Conu.  Eccl.   VeMt.  T.  XIII.  p.  179.       ')  Ib.  p.   180. 


—       8       — 

slcli  der  römische  Hof  bediene.    Dir  Brüder,  bewaliret  den  Anstand,  gehorchet  dem  Statthalter  Christi, 

dem  römischen  Papste."  , .     tt  •    •  u     i  ••  •    ,r/.r. 

Im  Jahre  1589  nach  dem  j^ewallsamen   Tode  Heinrichs  des  Dntten  machte  Hemnch,    komg  von 
Navarra,   sein  Recht  auf  den  französischen  Thron  geltend.     Venedig  war  unter  den  ersten      die  >hn  als 
König  anerkannten,   ungeachtet  der  Papst  und  Spanien  sich  lebhaft  widersetzten,    em  \erbrechen   dann 
Gndend,    dafs  man  einem  Ketzer  die  Königswürde  zugestehe.     Der  päpstliche  Gesandte  hefs  es  an  Dro- 
hungen nicht  fehlen,  verhefs  sogar  ohne  Abschied  die  Stadt.     Badoer,  Gesandter  Venedigs  be.  dem  romi- 
schen Stidile     erhielt  den  Auftrag   sich  deshalb  bei  Slxtus  V.  zu  beschweren,    und  Genuglhuung  zu  for- 
dern-   er  suchte,  obwohl  fieberkrank,  den  Papst  in  Terraclna  auf,  und  redete  vor  ihm  mit  solchem  Ji^rnst 
und  Nachdruck,    dafs  ein  Bruch  verhindert,   dem  päpsthchen  Gesandten   die  Rückkehr  befohlen  ^vurde. 
Es  h^  in  den  Grundsätzen  der  venedlschcn  Regierung,  bei  allem  Elfer  für  die  kathohsche  Religion,  ,eder 
Verfolgung  Andersglaubcnder  zu  wehren,    Glaubensgenossen   aller  Art  ohne  Druck  und  Beschränkung  in- 
nerhalb ihres  Gebiets  zu  dulden.    Mehrere  Protestanten  hielten  sich  zu  Venedig  auf,  deren  Rebgionsubun- 
Sen  man  nicht  Idnderte,   ihnen  selbst  das  Begräbnifs  in  geweihtem   Grunde  nicht  versagte.     Wie  hatte 
Ln  also  Anstand  nehmen  können,  die  Rechte  eines  Königs  deshalb  für  minder  gültig  zu  halten,  weil  er 
sich  nicht  zu  der  katholischen   Kirche  bekannte?     Ganz  entgegen   den  Grundsätzen  des  romischen  Hofes, 
der  den  Mord,  welchen  ein  König  von  Frankreich  an  vielen  lausend  seiner  andersglaubenden  Lnterthanen 
verübt   als  eine  grofse,  der  Kirche  hellsame  Tliat  durch  Dankfeste  gefeiert,  ermahnte  der  edle  Mocemgo, 
VcnedU  Do-e,    den  Nachfolger  jenes  Königs  bei  seinem  Besuche  in  Venedig  um  1571  den  mnem  Feh- 
den sehies  Reiches  ein  Ende  zu  machen,  durch  Milde  und  Wohlwollen  die  im  Glaübenszwlste  getrennten 
Gemülher  zu  besänftigen  und  zu  vereinigen,   und  auf  diese  Welse  Frankreich  wahrhafte,    innere  Starke 
zu  geben;    das  Verfahren  gegen  den  grofsen  Heinrich  zeigte,  dafs  man,   den  in  jener  Ermahnung  ausge- 
sprochenen Grundsätzen  gelreu,  demjenigen  als  dem  kräftigsten  Verbündeten  sich  anschl.efsen  wolle,  wel- 
kem die  Macht  und  die  Einsicht  gegeben  war,  jene  Vereinigung  zu  bewirken,  welches  Glaubens  er  auch 
sein  mochte.     Man  begnügte  sich,  so  lange  der  König  Protestant  bhcb,  seinen  Gesandten  zu  den  kircU.- 
chen  Feierlichkeiten  nicht  mit  einzuladen  ').  ,..-,• 

Wir  über-chen  die  Störungen  unter  Clemens  VID.,  und  wenden  uns  zu  den  ungleich  vichtigem 
Händeln  unter  Paul  V.,  vormals  Cardinal  CamlUo  Borghese,  der  um  1605  den  päpstliclien  Thron  bestieg. 
Die  Art  wie  Venedig  sein  Verhältnlfs  zu  dem  römischen  Stuhle  in  klrcbliclier  und  staatsrccbtbcl.er  Hin- 
sicht angesehen,  der  Geist,  welcher  das  Volk  und  die  Häupter  des  Staates  beseelt,  tritt  In  ihnen  so  ei- 
.'enthümllch  hervor,  dafs  sie  eine  ausfülirlichere  Daricgung  verdienen. 

Im  Jahre  1603  war  zu  Venedig  ein  Gesetz  ergangen,  das  bei  der  grofsen  Menge  bereits  vorhan- 
dener Kirchen  und  Klöster  die  Erbauung  neuer  ohne  ausdrückliche  Genehmigung  des  Staates  untersagte. 
Zwei  Jahre  später,  um  1605,  wrde  eine  im  vorangegangenen  Jahrhunderte  bereits  dreimal  erneuerte 
Verordnung  vom  Jahre  1357  abermals  bekannt  gemacht,  die  aUe  Schenkungen  und  Veräufscrungen  zum 
Besten  gelstliclier  Anstalten  verbot.  Der  römische  Stuld  sähe  in  diesen  Gesetzen  cm  wiUkuhrhches  Ein- 
greifen in  die  klrclJiche  Verwaltung,  ein  frevelhaftes  Hindern  gottgefälliger  Werke,  eine  scclenverderbende 
Gewallthätigkeit,  welche  den  Reuigen  das  Abkaufen  ihrer  Sünden  verschränke,  \ergebens  fülirle  man 
von  Selten  Venedigs  an,  dafs  die  grofse  Menge  bereits  bestehender  Kirchen  die  Gründung  neuer  unnothig, 

')  f^ettor  Sandi.  l.  X.  cap.  15.  arf.  3. 


—       9       — 

ja  verderblich  mache;  dafs  die  hier  eingetretene  Beschränkung  eine  blofse,  die  Religion  gar  niclit  betref- 
fende VerwaltnngsmaaTsregel  sei;  dafs  auch  Päpste  selbst  die  Schenkungen  zu  Gunsten  geistlicher  Anstal- 
ten untersagt  und  bescliränkt  hätten;  dafs  die  Vennehrung  abgabenfreier  Güter  die  Hülfsquellen  des  Staa- 
tes vermindere ,  liier  auch  kein  neues  Gesetz  gegeben,  nur  ein  altes  in  das  Gedächtnifs  zurückgerufen  sei. 
Alle  VorsteUimgen  fruchteten  um  so  weniger,  als  in  zweien,  um  jene  Zeit  bald  hintereinander  erfolgten 
Verhaftungen  von  Priestern,  eines  Canonicus  von  Vicenza,  Scipion  Sarraceno,  imd  des  Abts  von  Narvesa, 
Brandolin  Valdimarcno,  der  römische  SlulJ  einen  höhnenden  Eingriff  in  sehie  geistliche  Gerichtsbarkeit 
zu  sehen  glaubte,  war  auch  der  eine  jener  Geislhchen  wegen  grober  Aussclnveifungcn,  der  andere  wegen 
todeswürdiger  Verbrechen  gefangen  gesetzt.  Ein  Breve  des  Papstes  erklärte  die  Verordnungen  des  Senats 
für  nichtig,  befalil  die  Auslieferung  der  Gefangenen,  den  Widerruf  der  cr\vähnten  Gesetze,  und  unterwarf 
alle  welche  zu  denselben  mitgewirkt,  oder  sie  gebilligt,  den  geistlichen  Rügen.  Durch  so  entschiedene 
Rlaafsregcln  zu  gleicher  Entscheidung  aufgefordert,  wünschte  doch  der  Senat  in  den  Augen  des  Volkes 
und  ganz  Italiens  den  Anschein  zu  vermeiden,  als  wolle  er  in  einer  Angelegenheit,  bei  welcher  die  Kirche 
gefährdet  scheine,  ohne  Befragung  erfahnier  Geistlicher  vorgehen.  Es  wurde  daher  neben  dem  Rathe 
anderer  Gotlesgelehrten  auch  das  Gutachten  des  erwähnten  Paid  Sarpi  erfordert,  damals  Ser^itenmönchs. 
später  öffentlichen  Rathgebers  in  geistlichen  Angelegenheiten.  Auf  die  Erklämng  der  Befragten:  dafs  die 
von  der  Regierimg  genommenen  IMaafsregeln  niclits  entliiellen,  was  den  Rechten  der  Kirche  zuA\'ider  sei, 
antwortete  sie  in  den  ehrfurchtvoUsten ,  aber  bestimmtesten  Ausdrücken,  dafs  sie  nicht  wiedeiTufen,  son- 
dern die  ergangenen  Verordnimgen  aufrecht  erhalten,  die  Gefangenen  nicht  ausliefern  werde. 

Dieser  Widerstand  reizte  den  Zorn  des  Papstes  auf  das  Ilöcliste.  Eine  Frist  von  vier  imd  zwan- 
zig Tagen  setzte  er  in  einer  zweiten  Bulle  vom  7.  April  1603  dem  Doge  und  dem  Senat,  binnen  wel- 
clier  Gehorsam  zu  leisten  sei,  bei  Strafe  der  Excommunication,  von  der  die  Lossprechung  im  Todeskampfe 
zwar  zulässig,  bei  meder  gewonnener  Gesundlieit  aber  nichtig  sein  werde;  den  auch  Losgesprochenen 
solle  das  cliristliche  Begräbnifs  unnachsichtlicli  versagt  bleiben.  VMirden  der  Doge  und  der  Senat  ihre 
Herzenshärte  so  •weit  treiben,  drei  Tage  nach  Ablauf  jener  Frist  in  ihrer  Halsstarrigkeit  noch  zu  verhar- 
ren: so  soUe  Venedig  imd  sein  ganzes  Gebiet  mit  dem  Interdikte  belegt  sein,  aller  Gottesdienst  ohne 
Ausnahme  aufhören,  alle  Lehne  der  Kirclie,  welclie  der  Freistaat  besitze ,  dem  römischen  Stiüde  ver- 
fallen sein. 

Kaum  hatte  man  von  dieser  Bulle  in  ^'^enedig  Kenntnifs  erhalten,  als  der  Gesandte  am  römischen 
Hofe  abberufen,  und  den  Häuptern  der  Geisthchkeit  anbefohlen  wm-de,  keine  Verordnung  des  römischen 
Hofes  mehr  bekannt  zu  machen,  sondern  jeden  Erlafs  von  doi-tlier  dem  Senate  unerbrochen  äbzidiefern. 
Dem  Volke  wurde  durcli  einen  Aufruf  bekannt  gemacht,  dafs  eine  Verordnung  von  Rom  ^Us  gegen  den 
Staat  erlassen,  imd  es  Pflicht  jedes  guten  Bürgers  sei,  Abschriften  und  Abdrücke,  welche  ihm  etwa  in  die 
Hände  kämen,  der  Obrigkeit  auszuliefern. 

Wie  sehr  nicht  allein  das  Volk,  sondern  selbst  die  Geistlichkeit  mit  jenen  Maafsregeln  einverstan- 
den gewesen,  sehen  wir  an  dem  Erfolge  dieses  Aufrufes.  Viele  tausend  Exemplare  der  Bulle  wurden 
abgeliefert;  Anerbietungen  von  beträclithchen  Geldvorschüssen,  wenn  der  Staat  deren  bedürfen  solle,  ge- 
schahen selbst  von  Klostergeisthchen.  Die  Bidle  des  Pabstes  %vurde  durch  eine  Bekaimtmachmig  des 
Senats  als  den  Hoheilsrechten  Venedigs  ziwidcr,  für  nichtig,  die  Berufung  auf  eine  allgemeine  Kirchen- 
versammlung daher  auch  für  unnötliig  erklärt;  die  Geisthchkeit  aufgefordert  ihre  Aratsvemchtungen  ohne 
Unterbrechung  fortzusetzen,  das  Volk  ermahnt  der  katholischen  Rehgion  und  dem  heihgen  Stuhl  treu  zu 

C-  r.  Wirterfeld    Job.  GaLrieli  n.  s.  Zt^ttalter.  2 


—       10       — 

bleiben,  in  der  Erwartunp;,  dafs  derjenige,  welcher  gegenwartig  darauf  sitze,  zu  väterlichen  Gesinnungen 
zurückkehren  werde.  Die  Geistlichkeit  ^erspracJj  Gehorsam:  der  Grofsvikar  zu  Padua,  welclier  sich  vor- 
behalten woUlc,  2U  tliun  was  der  heilige  Geist  ihn  heifsen  werde,  empllng  die  Antwort,  dafs  der  heilige 
Geist  den  Ralh  der  Zehn  herells  geheifsen  habe,  alle  Ungehorsame  auflicnken  zu  lassen,  inid  fügte  sich. 
Die  Jesuiten  wollten  z^\iscJlen  der  Messe  und  dem  übrigen  l'lieile  des  Gottesdienstes  unterscheiden,  imd 
jene  zufolge  des  Interdikts  einstellen:  sie  empfingen  den  Befehl,  noch  desselben  Tags  das  Gebiet  Venedigs 
zu  räumen,  und  schifften  sidi  unter  dem  Jlohngczisch  des  Volkes  ein.  Die  Franziskaner,  welclie,  in  der 
Ueberzeugung,  der  Christenheit  ein  grofses  Beispiel  schuldig  zu  sein,  erklärt  hatten,  dafs  sie  eher  alles 
dulden,  als  dem  Interdikt  nicht  gehorchen  wollten,  traf  ein  gleiches  Schicksal  der  ^'erbannung:  imd  ein 
bald  darauf  ergangenes  Gesetz,  welches  die  Einziehung  sämmüichcr  Güter  der  imgehorsamen  IMönche  ver- 
ordnete, erklärte  sie  auf  immer  für  verbannt,  und  llire  Zurückberufung  nur  durch  den  Beschlufs  einer 
Stimmenmehrheit   von  fünf  Sechstheilen  des  Senats  zuJässia;. 

Ein  voUes  Jalir  verflofs  nach  so  enlsclieidenden  Schritten,  ohne  dafs  \^enedigs  Ruhe  gestört  wor- 
den wäre.  Von  Seiten  Spaniens  war  dem  Papste  zwar  kräftige  Unterstützimg  gegen  die  Verächter  des 
Interdikts  verheifsen,  aber  nicht  geleistet  worden.  Der  Senat,  treu  dem  einmal  ausgesprochenen  Grund- 
satze, das  verhängte  Interdikt,  als  ohne  Ursach  ausgesprochen,  sei  für  nichtig  zu  erachten,  tliat  keinen 
Schritt  für  seine  Losspreclmng.  Diese  unerschütterliche  Festigkeit,  und  die  Besorgnifs,  durcli  eine  Be- 
harrlichkeit solcher  Art  müsse  das  Ansehen  des  römischen  Stuhles  imtergraben  werden,  vermochte  endhch 
Paul  V.  die  angebotene  Vermittelung  Heinrichs  des  I\^  anzunehmen.  Man  schlug  vor:  Venedig  möge 
durch  den  Gesandten  Frankreichs  den  Papst  um  Aufhebung  des  Interdikts  angehen:  dieses  einige  Tage 
hindurcli  halten,  wo  dann  zu  gleicher  Zeit  die  päpstliche  Lossprechung  und  die  Zm-ücknahme  der  Er- 
klärung des  Senats  auf  die  Bulle  geschehen  solle.  Die  Gefangenen  sollten  zur  Ausantwortung  an  den 
Papst  dem  Könige  von  Frankreich  ausgeliefert,  die  verbannten  Mönche  zurückgerufen  werden,  endlich  die 
Vollstreckung  der  den  Mönchen  nacht  heiligen  Gesetze  bis  dahin  aufgeschoben  bleiben,  wo  man  darüber 
sich  nälier  verständigt  haben  werde. 

Der  Senat  versprach  die  AusHeferung  der  Gefangenen  an  den  König  ^'on  Frankreich  aus  blofser 
Rücksicht  für  denselben,  inid  die  Zurücknahme  seiner  Erklärung  auf  die  verhängten  geistlichen  Rüsten, 
sobald  diese  auch  ohne  sein  Ansuchen  als  aufgehoben  erklärt  sein  >\ürden;  doch  müsse  diese  Erklärung 
nur  mündlich,  und  durch  einen  Abgeordneten  des  Papstes  in  Venedig  selber  geschehen.  Die  Zin-ückbe- 
rufung  der  Franziskaner  möge  einer  besondern  Erwägung  vorbehalten  bleiben,  der  Jesuiten  halber  könne 
nicht  unterhandelt  werden;  das  Interdikt,  da  es  für  nichtig  erklärt  sey,  werde  auch  nicht  eine  Stunde 
befolgt,  tlie  der  Kirchen  wegen  gegebenen  Gesetze  würden  aufrecht  erhallen,  aber  mit  aller  IMäfsigung  in 
Ausübung  gebracht  werden. 

Nach  fruchtlosen  Versudien  von  Seiten  des  römischen  Stuhles,  günstigere  Bedingungen  zu  erhalten, 
erfolgte  die  Versöhnung  auf  die  vorgeschlagene  Art.  Der  Gesandte  Frankreichs  erhielt  am  21.  April  1607 
die  Gefangenen  mit  der  Erklärung,  dafs  sie  ilnii  aus  Rücksicht  fiir  seinen  Monarchen  und  mit  der  aus- 
drücklichen Verwahrung  überliefert  würden,  dafs  Venedig  durcli  diesen  Schritt  seiner  Hoheitsrechte  über 
die  Geistlichen  sich  keinesweges  begebe.  Der  Cardinal  Joyeuse  erklärte  vor  dem  Doge  und  dem  versam- 
melten Senat:  dafs  er  sidi  glücldich  schätze,  anzeigen  zu  können,  die  geistlichen  Rügen  seien  aufgehoben, 
und  dafs  er  sich  eines  für  die  Christenheit,  namenthch  Italien,  so  glücldichen  Ereignisses  freue.  Leonardo 
DonatoCflo/io^  damals  Doge,  händigte  dem  Cardinal  darauf  die  schrifllichc  Zurücknahme  der  Erklärung 


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des  Senates  ein.  Sie  war  als  eine  Bekanntmachung  an  cUe  GelstUchkelt  abgefafst.  Da  es  endUch  Gelun- 
gen sei,  hiefs  es  darin,  den  heiligen  Vater  von  der  Ehrfucht  zu  überzeugen,  welclie  man  immer  -e-en 
ihn  bewahrt,  da  er  den  Gründen  nachgegeben,  die  man  ihm  vorgelegt,  und  sich  entscldossen  habe",  °die 
Ursache  aUer  Zwstigkeiten  hinwegzurämnen :  so  sei  nunmehr  der  Wunsch  erfüllt,  welchen  der  Doge 
und  der  Senat  als  gehorsame  Söhne  der  Kirche  ohne  Aufhören  gehegt  hätten.  WeU  nun  in  Gemäfsheit 
dessen  die  geistlichen  Rügen  zurückgenommen  worden,  so  nehme  auch  der  Senat  seine  Erkläruno-  auf 
dieselben  zurück,  um  dadurch,  ^^\e  durch  aUe  seine  HantUungen,  zu  bezeugen,  dafs  er  dem  Glauben" und 
der  Frömmigkeit  der  Väter  immer  treu  bleiben  werde. 

Der  Cardinal  verUefs  lücrauf  die  Versamndung,  um  die  Messe  zu  halten,  welcher  jedoch  weder 
der  Doge  noch  der  Senat  beiwohnten.  Denn  wie  sie  jedes  Ansinnen  einer  förmlichen  Lossprechung  von 
emer  schon  zu  Anfang  für  nichtig  erklärten  Küge  abgelehnt,  und  deshalb  auch  jeden  schriftlichen  Erlafs 
darüber  verbeten  hatten,  woUten  sie  auch  jetzt  durcJi  ihre  Anwesenheit  nidit  den  Schein  entstehen  lassen 
als  legten  sie  einer  dem  Pabste  von  nun  an  erst  wdeder  reclitmäfsig  erscheinenden  Feier  einen  besondern 
VVerth  bei.  Ob  der  Cardinal,  wie  behauptet  %^4rd,  bei  dem  Eintritte  in  die  Versammlung  des  Senats 
eme  Lossprechungsforniel  leise  nnirmelud,  das  kreuz  unter  seinem  geistlichen  Gewände  gemacht,  bleibe 
daliingestellt. 

So  endete  (Ueser  merk^^•ürdIge  Handel  in  m  ekhem  Venedig  neben  der  unerschütterhchsten  Beharr- 
hchkeit  eine  lobenswerthe  IMäfsIgung   an  den  Tag  legte.     Diese  erscheint   um  so  mehr  der  Be^vunderun«• 
werth,  wenn  man  sein  Verfahren   mit  dem  des   römisclien   Stuhles   unti   seiner   Anhänger   verolelclit.     Es 
genüge  zu  (Ueser  Verglelchmig  (Ue  anfache  Zusammenstellung  dessen,  was  von  der  einen  und^der  andern 
Seite  geredet,  geschrieben,  gehandelt  ^^orden.     In  der  \ ersammhmg  der  Cardinäle,  welcher  der  Papst  sei- 
nen  Entschliils  VenccUg  mit   den  geistlichen    Rügen    zu   belegen,   eröffnete,    liielt   der  beriilimte  Baronlns 
der  Geschlditschreiber  der  römischen  kirdie  Ihm  folgende  Anrede,  ein  denkwürdiges  Beispiel  sonderbarer 
Sdulftauslegung:     „Zwiefach,  heiligster  Vater,  ist  das  Amt  Petri:    zu  weiden,  und  zu  tödten.     Denn  der 
Herr  hat  zu  ihm  gesprochen:  weide  meine  Schafe,    und  vom  Himmel  hörte  er  eine  Stimme:   „„sdilachte 
und  Ifs.  "•     Die  Sdiafe   weiden  heifst  Sorge  tragen  für   die  gehorsamen   und   gläubigen   Christe'n'.    welche 
m  DemuÜi  mid  Frömmigkeit  als  Schafe  und  Lämmer   sich  beweisen.     Sind   aber  nldit  Schafe  und  Läm- 
mer zu  besorgen,    sondern  Urnen  und   andere   widermUige   und  streltsüditlge  Thiere   zu  behandeln,   da 
ist  dem  heiligen  Petrus  gehelfsen  zu  sddaditen,  das  wIU  sagen,  sie  zu  bekämpfen  und  nieder  zu  kämpfen, 
damit  sie  vöUIg  aufhören  zu  sein.     Weil  aber  em  solches  Schladiten  nicht  anders  gesdiehen  soll,  als  aus 
höchster  Liebe,    Ist  Uun  befohlen  zu  essen,    was  er  getödtet,    nämlldi  ilurch  diristliche   Liebe  es  in  sich 
aulzunehmen,  dafs  wir  Eins  seien  in  Christo,  ^vde  der  Apostel  gesagt  hat:  „„idi  einsehe  euch  aufgenom- 
men  m  Jesu  Christo.""'     So  aber   ist   soldies  Tödten   kehie   Grausamkell,   sondern    Bai-mherzigkeit,    weil 
durch  dasselbe  gerettet  wird,  was  auf  seine  Weise  fortlebend  wahrhaft  zu  Grunde  ginge."  —  Die  Gnmd- 
sätze  weldie  der   erwähnte  Redner  neben    den  Cardlnälen   Bellarmin  und  Colonna  zur  Reditfertlgung  der 
Schritte  des  Papstes  vertlieidigte,  lauteten  also:    „Die   wdtlldic  Madit  der  Fürsten  ist  der  geistlichen  des 
Papstes  unterworfen;  denn  dieses  folgt  unmittelbar  aus  derselben,  da  sie  sonst  sich  nicht  erhalten  könnt.. 
Der  Papst  daher  ist  Oberherr  und  Richter  der  Fürsten;  er  kann  auch  ohne  Schuld  von  ihrer  Seite,  wenn 
das  Wohl  der  Kirche  es  eriielscht,   sie  ihrer  Herrschaft  berauben,   und  diese  fällt  alsdann  dem  ersten  an- 
heim,  wekher  Besitz  davon  ergreift,  ohne  andern  Titel  als  den  eines  Vollstreckers  des  päpstlichen  Urtheil- 
spruches.     Die  Völker  sind  des  Eides  der  Treue  in  solchem  Falle  los  und  ledig,  ja  im  Voraus  losgespro- 

2' 


-      12      — 

chen  von  aller  Gewallili.äiigkeit  inid  Verriuhcrei  gogpn  ihre  bislierlgen  Tlevrn.  Die  Freiheit  der  Geistlichen 
von  aller  bürgerlichen  Verantwortung  ist  unbeschränkt,  da  sie  gi'dtlichcn  Rechtes  ist,  sie  erstreckt  sich 
auf  ihre  Personen,  wie  ihre  Güter;  kein  Fürst  kann,  auch  wegen  iVIajcstätsverbrechen,  einen  Geistlichen 
zur  Verantwortung  ziehen.  Da  der  Papst  unfehlbar  ist,  so  sind  seine  Befehle  allen  Gläubigen  Gesetz, 
auch  Menn  sie  nicht  bekannt  gemacht  worden.  Venedig  ist  mit  dem  Interdikt  belegt,  daher  hat  kein 
Sakrament  mit  Wirksamkeit  ertlieilt  werden  können;  alle  seitdem  gesdJossenen  Ehen  sind  also  nichtig, 
die  Frauen  Beischläferinnen ,  die  Kinder  Bastarde. " 

Schriften  solcher  Art,  ja  andere  voU  bitterer  Schmähungen,  hielt  \'enedigs  Regierung  zu  unterdrücken 
für  überflüssig;  sie  erschienen  ihr  ohne  alle  Gefalir,  da  sie  ihre  IMaafsregeln  mit  der  allgemeinen  Gesinnung 
übereinstinmiend  wufste.  Mit  siegender  Verslandesschärfe  aber  trat  ilir  Rathgeber,  Paul  Sarpi,  in  seinen  Denk- 
scliriften  jenen  Anmaafsungen  entgegen.  Kirche  und  Staat,  heifst  es  dort,  sind  vor  Gott  gleich  wolilgefällig: 
die  eine  soU  der  Menschen  inneres  Leben,  der  andere  ihre  äufsere  Thätigkeit  der  ewigen  Ordnimg  gemäfs 
lenken.  Ein  gewaltsamer  Eingriff  der  einen  Anstalt  in  die  der  andern  eigenüiümlichen  Angelegenheiten  ist 
daher  in  gleichem  Maafse  Acrderbhch  imd  sündlich.  Wenn  die  Kirche  eines  sichtbaren  Oberhauptes  bedarf,  so 
ist  es  deshalb,  dgmit  dasselbe  über  die  Gleichförmigkeit  imd  Reinheit  der  Lehre  waclie ,  deren  erster  Grund 
in  unzweideutigen  Stellen  der  heiligen  Schrift  beruht,  und  damit  es  den  Bedürfnissen  der  Zeit  gemäfs  die 
kirchliche  Zucht  aufrecht  erhalte.  Nur  in  so  weit  sind  die  Aussprüche  dieses  Oberhauptes  untrüglich,  als  der 
erste  Gerichtshof  eines  wohleingerichteten  Staats  in  allem  für  lurtrüglich  gilt,  was  Auslegung  mid  Anwen- 
dung der  Gesetze  betrifft.  Es  ist  Gotteslästcnmg,  zu  behaupten,  der  Papst  könne  nicht  irren,  Sünde  gegen 
den  heiligen  Geist,  seinen  Ausspiüchen  vor  dem  klaren  Inhalte  der  Bibel  imd  der  Stimme  des  Gewissens 
den  Vorzug  zu  geben.  Der  gute  Christ  hat  alles  zu  venneiden,  was  die  Andacht  stören  und  Aergemifs 
herbeiführen  kann:  einen  Eingriff  in  seine  Freiheit  aber,  in  die  ungehinderte  Thätigkeit  nach  dem  Gebote 
Gottes,  wie  er  es  in  jedes  Menschen  Ilerz  geschrieben,  und  in  seine  heilige  Offenbarung  niedergelegt,  hat 
er  abzuwehren.  Der  Herr  hat  keine  weltliclie  Macht  geübt,  er  hat  sie  daher  seinem  Statthalter  nicht 
übertragen  können.  Der  römische  Stidil  hat  eine  solche  sich  nacli  und  nach  angcmaafst,  indem  er  .sich 
den  Landzwingern  angeschlossen,  ilire  Anmaafsungen  durcli  seine  Billigung  geheiligt  hat.  So  ist  die  geist- 
liche Herrschaft,  während  alles  andere  in  dieser  Welt  abgenommen  hat,  allein  gewachsen;  wenn  wir  die 
Heiligkeit  ausnehmen,  in  der  sie  nicht  zugenommen  hat. 

Den  Mann,  welclier  so  besonnen  und  so  külm  einem  mächtigen  Widersacher  gegenüber  zu  reden 
wagte,  vor  welcliem  selbst  die  gröfsern  Mächte  Europas  zitterten,  und  ihm  nicht  entgegenzutreten  wagten, 
verfolgten  die  Dolche  gedungener  Mörder  bis  mitten  in  Venedig,  so  sorgsam  der  Senat  auch  für  seine 
Sicherheit  wachte.  Drei  gefährlidie  Wunden  neben  fielen  \'erletzungen  erhielt  er  eines  Abends  bei  der 
Rückkehr  nach  seinem  Kloster,  doch  sie  kosteten  ilm  nicht  das  Leben.  Heiter  wie  immer,  aber  auch 
mit  beifsendem  Spotte,  soll  er  damals  mit  Bezug  auf  einen  der  Dolche,  der  in  seinem  rechten  Kinnbak- 
ken  haften  geblieben  war,  gesagt  haben,  dafs  er  den  Styl  des  römischen  Hofes  darin  erkenne;  dann  aber 
soU  er  rmmutliig  geworden  seyn,  als  man  ihm  berichtet,  ^^^ewohl  ohne  Grund,  dafs  seine  Mörder  ergrif- 
fen seien,  wed  er  besorgt,  sie  köimten  etwas  bekennen,  was  der  Welt  ein  Aergemifs  geben  imd  der 
Religion  Schande  bringen  möge. 

Kamjjfe  und  Stürme  der  Art,  wie  wir  sie  eben  betrachtet,  halfen  eine  geistige  Kraft  im  Innern 
Venedigs  erhalten,  eine  Regsamkeit  fördern,  in  welcher  edle  Blüten  des  Geistes  allein  sich  entfalten  und 
gedeihen  können.     Auch  in  diesem  Zeitalter  des  beginnenden  Verfalls  fehlte  es  Venedig  nicht  an  Männern, 


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die  aus  wahrhaft  frommer  Begeisterung  für  das  Vaterland  ilir  Lehen   für  sein  Heil  dahin  gaben.     Lesen 
vir  nicht  ohne  Erhebimg,    dafs   Bragadino,    während  er   unter   den  iMartern   der  Feinde   sehies    Glaubens 
für  sein  ^  aterland  litt,  mit  \\ orten  der  heiligen  Schrift  im  3Iunde  den  Geist  aufgegeben  habe:    so  lulden 
%vir  uns  ergriffen  diu-ch  die  Glut,   mit  der  Sarjji's  letzte  Worte  in  seiner  Todesstunde,    nach  dem  Gebete 
für  sein  seeliges  Hinübergehen,    den  ^^lmscIl   für  evige  Dauer    seines   geliebten  Vaterlandes  aussprachen. 
Auf  diese  fromme,  ja  wr  dürfen  sagen  lieihge  ^^e^ehrlmg  des  Vaterlandes,  sehen  wir  alle  eigentliümUchen 
Einriclitungen  ^^enedigs  unverkennbar  gegründet,  und  lernen  in  ilir  erst  deren  wahrhafte  Bedeutung  finden. 
Rlochte   auch   die   Ahgesclilossenheit  der  meerumgebenen   Stadt,    die    sinnliche    Erregbarkeit   des   Südens, 
der  mehr  als  anderswo  noch  in  Venedig  zusammenströmende  Reichthum,  mächtige  Reizungen  zu  Schwel- 
gerei  und  Ausschweifung  gewähren:    so  tritt  doch   überall  das  Streben    uns  entgegen,  EinfaclJieit ,  Ernst, 
Rläfsigkeit,    in  dem  Leben   der  Einzelnen    zu  erhalten.     Strenge   Gesetze  waren    gegeben,    der  Ueppigkeit 
Einhalt  zu  thmi,    wo  durch  Verkehr   mit  Fremden   sie  etwa   eingeschhclien    sein   konnte;    mit   würdigem 
Beispiele  gingen  die  Häupter  dem  Volke  vor.     Alte   vaterländische  Gebräuche  wurden  um  so  helhger  ge- 
halten,  bis  auf  die  einfaclic  herkömmhche  Tracht,    da  im  übrigen  Italien  alles  der  französischen  und  spa- 
nischen   Sitte  auch  in  der  Kleidung  zu  luddigeu  begann,   imd  das    mehr  als   tausendjälirige  Venedig  aucli 
hierin  unwandelbar  und  miangetastet  neben  den  zu   seiner  Seite  untergegangenen  und  mngebildeten  Staa- 
ten  zu   erscheinen  trachtete.     Kein    Gesetz  schränkte   den   Glanz    der   Erscheinimg   des    Staatsoberhauptes 
ein.     Ihm  war  nicht  etwa   vermöge  seiner  ^^  ürde   die  vollziehende   Gewalt  übertragen,   oder   irgend   eine 
besondere  ausgezeichnete  IMacht  verliehen;   es  sollte  ^ielmehr  nur  den  Glanz,  die  Hoheit,  die  Herrlichkeit 
des  Staates   sichtbar  mid  äufserlich   darstellen.     Dafs   diese  in   dem    W  ürdigsten   und   Verdientesten  kund 
werden  möge,   war  die  Pflicht  der  ^^ähler:    und  so  sehen  wir  zu    jener  Zeit  eine   Reihe  mannigfach  aus- 
gezeiclmeter  Fürsten  auf  einander  folgen:  den  hochherzigen  !\Iocenigo,  den  Seelielden  Venier,  den  gelehr- 
ten da  Ponte,    den  frommen  Cicogna,   die  staatsklugen  Grimani  mid  Danato.     Die  feierhche  Pracht  aber, 
die  den  Fürsten  umgab,    die  Verehrung  welche  ihm  er\%iesen  wurde,    galt  nicht   seiner  Person,    sondern 
dem  Bilde  des  Vaterlandes,  das  er  darstellte:  ja  die  Gescliichte  giebt  ims  ein  furchtbares  Beispiel  strenger, 
an  jener  geübten  Gerechtigkeit  in  IMarino  Falieri,  der  sich  gegen  das  \'alerland  vergangen  hatte.    Vielfach 
war  der  Fürst  beschränkt,  ja,  die  Trennung  seiner  \\ürde  und  seiner  Person  ausgesprochen.     Ohne  Zu- 
ziehung des   Senats  konnte  er  In  öffenthchen  Angelegenlieiten  nlclits  vornehmen,   ohne  dessen  Erlaubnifs 
durfte  er  Venedig   nicht  verlassen.     Münzen  wurden  mit   seinem   Namen,    niclit  mit  seinem  Bildnisse  ge- 
prägt; sein  \Vappenscliild  durfte  er  —  den  Pallast  ausgenonmien  —  nirgend   mit  der  herzoglichen  Krone 
schmücken.     \Var  er  gewählt,    so  wurde  er  In  die  Kirche  des  heiligen   IMarcus    gefülirt,    bestieg  dort  die 
marmorne  Bühne  zur  Rechten  des  Chors,  empfing  die  Zustimmung  und  die  Huldigung  des  Volks.     \^  enn 
er  sodann  der  IMesse  beigewohnt,  legte  er  den  Eid  auf  die  ^  erfassung  ab,  empfing  das  Banner  des  heili- 
gen 3Iarcus,   und  wurde  nunmehr  mit   dem  herzoglichen  Gewände  bekleidet.     So  trugen  die  Arsenaloten 
ihn   im   Triumphe   auf  dem   ftlarcusplatze   umher,    wobei  er    die   ersten   unter  seinem   Namen    geprägten 
IMünzen  aaswavf.     Im  Pallaste  empfing  ihn  der  grofse  Rath;   aus  den  Händen  des  jüngsten  Mltgheds  des- 
selben erJiielt  er  die  herzogliche  Krone.     War  er  gestorben,  so  wurde  er  drei  Tage  lang  im  herzoglichen 
Schmucke  auf  einer  dazu  errichteten   Bülmc  im   Pallaste  ausgestellt,    von    Edlen  aus   dem  grofsen  Rathe, 
in  Scharlach  gekleidet,  fort^välirend  bewacht.     Am  Tage  der  Bestattung  ging  ein  feierlicher  Zug  der  sechs 
grofsen  geisthchen  Brüderschaften  seiner  Bahre  voran,  sein  Wappenschild,  dem  Todten  zugewendet,  wurde 
ihr  vorgetragen;   seine  Dienerschaft,  sodann  die  Senatoren,  zu  ihrer  Rechten  die  vornehmsten  Leidtragen- 


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flpii  mit  verhüllten  Häuptern  folgten  unter  dem  Geläute  aller  Glocken.  War  die  Bahre  vor  der  Haupt- 
pfortc  der  8t.  Marcuskirchc  angelangt,  so  ^vurdc  sie,  ^^'ie  zum  Abschiede  von  ihr,  neunmal  emporgehoben. 
In  der  Kirche  der  Heihgen  Johannes  und  Paulus  wurde  Uim  die  Leichenrede  und  das  Todtenamt  gelial- 
ten,  der  Leichnam  sodann  den  Anordnungen  seines  Testaments  oder  seiner  Verwandten  gemäfs  beerdigt, 
sein  Wappenschild  an  der  Brustwehr  des  obern  Gangs  um  das  Gewölbe  in  der  St.  Marcuskirche  neben 
deni  seines  Vorgängers  aufgehängt.  Drei  Lujuisitoren  prüften  nach  geschehener  Bestattung,  ob  der  Ver- 
storbene dem  eidlichen  Versprechen  bei  seiner  Einsetzung  nachgekommen  sey,  und  nicht  selten  haben 
sie  seine  Verwandten  wegen  Genugthuung  in  Ansprucl»  genouunen.  Fünf  Correktoren  hatten  bis  zur 
Besetzung  des  Stuhles  zu  untersuchen,  vas  an  den  bisherigen  \'orrechten  und  Versprechungen  des  Doge 
etwa  zu  ändern  sey. 

An  den  grofsen  Kirclienfesten ,  und  anderen  für  Venedig  eigenthümlich  festlichen  Gedenktagen,  be- 
suchte der  Doge   im   feierUchen   Zuge   tlie    Kirche   des  heiligen  Marcus,    oder  andere   bestimmte  Kirchen 
der  Stadt.     Ein  langer  Mantel   von    Goldstoff  mit  einem  grofsen   Kragen   von   Ilenuehn   über  Brust  und 
Schultern  bekleidete  Lim  alsdann,  auf  dem  Haupte  trug  er  einen  feinen  weifsen  Scldeier,  darüber  die  gol- 
dene heraogUchc  Krone  CcornoJ  einer  phrygischcn  IMütze  ähnlich,  mit  ehiem  Kranze  von  zwölf  verscliie- 
denen  Edelsteinen,  nicht  ohne  sinnbildliche  Bedeutung,  geschmückt.     Man  trug  Uim  acht  Fälmlein  an  gol- 
denen Stäben  voran,  je  zwei  weifs,  rotli,  blau  und  \TloIett,  Friede,  Krieg,  Bündnifs,  Stillstand  bezeichnend; 
je  nachdem  der  Staat  in  der   einen    oder  der  andern  dieser  fragen  sich  befand,    ^vTirde   die   bezeichnende 
Fajbe   vorangetragen.     Den   Fahnen   folgten   sechs   silberne   Drommeten;    eine   Meifse   grofse  Wachskerze 
von  einem  Geistlichen  in  priesterlichem  Gewände  getragen,  die  Oberherrschaft  über  die  Ivirche  des  heihgen 
Marcus  andeutend;    ein   kurzes  Schwert  und  goldene  Sporen,    ihn   als  Ritter  zu  bezeichnen:    ein  goldner 
Sessel  mit  einem  Kissen  von  Goldstoff,  zur  Erinnerung,   dafs  Papst  Alexander  UL  einst  den  Dogen  Ziani 
o-ehelfsen  mit  dem  Kaiser  Friedrich  l.  an  seiner  Seite   niedei-zusitzen ,    und   zum  Zeichen,    dafs    er  wertli 
sei  neben   den   ersten  Fürsten  der   Christeuheit   seinen   Platz   einzunehmen.      Ueber   seinem   ILiupte   trug 
man  einen  Scliinii,  als  Zeichen  seiner  hohen  Würde,  und  zum  Andenken  daran,  dafs  der  erwähnte  Papst, 
als  ihm  und  dem  Kaiser,  da  sie  in  Ancona  mit  dem  Dogen  gelandet  Maren,  zum  Schulz  gegen  (he  bren- 
nende Sonne  Schirme  gereicht  worden,    einen  dritten   dem  Doge  zu  reichen   befohlen,    weil  —  wie  uns 
Dandolo  erzählt  —  er  ihn,    den   Papst,    aus  der  Hitze   der  Bedrängnifs   gerettet,    ihn   in    den   kiJJenden 
Schatten  des  Friedens   geleitet  habe  ').     So,   im  Triumphzuge,    wie   es  die  Venediger  nannten,    ging  der 
Fürst,  die  Häupter  des  Staates  in  langen  Scliarlachge wanden  zu  seiner  Seite  nach  der  Kirche,  in  welcher 
dem  Herkommen  gemäfs   der  festhclie  Tag  zu  begehen   war.     Solcher   Gedenktage,    in  St.  IMarcus  aufser 
den   grofsen   Kirchenfesten  zu  feiern,  kommen    um   die  letzte   Hälfte  des   sechzehnten  bis  nach  den  zwölf 
ersten  Jaln-en  des  siebzehnten  Jahrhuiulerts  drei  vor:    der  Taa;    des  heiliiren  Marcus,    als  Schulzhcrm  der 
Stadt,  am  25.  Aprd;    der  Tag  der  Verkündigung  Maria  (25.  März)   als  der  Tag  der  Gründung  der  ersten 
lürche  VenecUgs  (St.  Glacomo  in  Rlalto,  um  das  Jahr  421)  und  mit  Ihm  der  Stadt;  der  Tag  des  heihgen 
Isidor,  (16.  April),  an  welchem  (um  1.354)  die  ^Verschwörung  des  Slarino  FaUerl  entdeckt,  und  „Gerech- 
tigkeit an    einem  grofsen   Schuldigen  geübt   worden   war."     In   Gemcinscliaft  mit   dem  Patriarchen  MTirde 
das  Fest  der  Hlmmelfalu-t  Christi,    und   an  ihm  die   feierliche  Vermählung   des  Doge  mit  dem  Meere  be- 
gangen:  eine  sinnblldUche  Handlung,  damals  noch  von  ernster  Bedeutung,  da  Venedig  die  Oberherrschaft 


'J  Dandolo  X.  C.  1.  p.  3a. 


—      15      — 


über  das  Adnaüsche  Meer  fortdauernd  behauptete,    und  der  Sieg  seine  Flotten  im  Mittelmeere  stets  be 
gleitete.     Bei  der  Kirclie  St.  Nicolo  in  Lido,    wo  man  aus  den  Lagunen  in  das  Meer  eintritt,    erwartet* 
der  Patnarcl,  und   d.e  Ge.stliclüceit   der   Calhedrale   von   St.  Peter  in   einer   kostbar  geschmückten   Poote 
den  Doge;    m  dem  Bucmtoro,   seinem,   mit  vergoldetem  Schnitzwerk  und  purpurnem  Sammet  reich  ver- 
ziertem  PradUscliiffe   begab   dieser  sich    dort  lün,    die  Geistlichkeit   von  St.  Marcus    und  die  Häupter  des 
Staats  m  sauer  Begleitung.     Von   dem  Verdecke  seines  Fahrzeugs  besprengie   der  Patriarch  den   Doge 
und  s«„e  ßeglcter  aus  emem  Gefäfse    nüt  Weihwasser,   und  beide  Fahrzeuge,    der  Bucintoro  zur  Rech- 
ten    begaben  s.cli  sodann   zu   der  Einfahrt   in  das   Meer.     Hier   stimmte    der  Patriarch   die  Litaneyen  an 
und  wenn  er  mit  den  Worten  geschlossen:  mr.gest  du  o  Herr  gewähren,  dafs  cUeses  Meer  uns,  und  allen 
ie  darauf  scluffen,  f^em.dhch  sei;  das  bitten  Mir,  erhöre  uns;  vergofs   er  unter  dem  Segen  das  geweihte 
Wasser  m  das  Meer,  der  Doge  aber  warf  einen  Ring  hinein  mit  den  Worten:   zum  Zeichen  wahrer  und 
dauernder  Herrschaft.      Der   Ursprung   dieses   Gebrauchs   ist  nirgends   mit  Bestimmtheit   zu  finden-    docl. 
bestand  er  unfelübar  bereits  vor  der  Ankunft  Alexanders  lU.   in  Venedig  um  1177,   welcher  bei  Gele-^en- 
he.t    desselben   schon  einen   Streit  über  die  Ehrenrechte   des   Patriarchen    und    des  Abtes    von  St  ISicolo 
beuidegen  fand;    und  wahrscheinlich   hat  er  seinen   Ursprung  der  feierlichen  Einsegnung  des  Doge  durch 
den  Patnarchen  be.   den.  Auszuge  in  den  siegreicl.en   Kampf  gegen   die  Sklavonier   um  das  Jahr  998  zu 
verdanken    ).     Erschemen  bei  dieser  Feier  das  weltliche  und  geisthche  Haupt  Venedigs  vereint,  so  sehen 
r  be.  emer  andern  beule  getrennt     und  auch   dem   Fürsten  als   Sehutzherrn  der  Kirche  ge.issermafsen 
«ne  geisthche   \^urde   be.gelegt;    ..e  wu-  denn  überhaupt   in   .äelen   Gebräuehen   dieser   Art,    welche   in 
Venedig  von  Alters  her  bestan.len,    eine  vorwallende  Neigmig  zu  sinnbildlichen   und   bedeutsamen  Hand- 
lungen finden.     Der  Vorabend   des  Festes   der   Reinigung  Maria    war   in  älterer  Zeit   der  Einsegnung   der 
Ellen  ^cned,scher  Brä.ite  durch   den  Patriarchen  geweil.t,   und  M-urde   ein  besonders  festliclier  Gedekta« 
durch   die  Ennnerung,    dafs    eben  an   ihui  einst  im    zehnten    Jahrhundert   triestinische   Seeräuber   die  J 
schmückten  Bräute  entführt,  ihre  ^  erlobte  sie   wiederuui   befreit  hatten.     Der  folgende  heilige  Tac^  wurde 
durcli   emen   feierlichen  Umgang   der  grofsen   geisthchen   Brüderschaften   begangen.     Diese   verfü^n   sich 
zuvorderst  nach  de,n  herzoglichen  Pallaste,  wo  ihnen  von  dem  Doge  der  Segen  ertl.eilt  wurde  ^)!  sodann 
nach  der  Calhedrale  von  St.  Peter,    dort  den   Segen  des  Patriarchen  zu  empfangen.     Dafs  bei  dieser  Ge- 
legenheit der  Fürst  auch  in  seiner  äufsern    Erscheinung  eine   priesterhche  \Vürde   darzulegen  gesuclit,    ist 
uns  m  dem  Beispiele  des  Andreas  Gritti   aufgezeiclinet  "),    welcher  an  diesem  Tage   und  den  Festen  der 
heihgen  Jungfrau  seinen  goldnen  Talar  mit  einem  aus  SilberstofT  vertauschte,    wie   auch  die   Priester  der 
römischen  Kirche  an  diesen  Festen  Mefsgewänder  von  gleicliem  Stoffe  zu  tragen  pOegen. 

Wir  übergehen  die  andern  feieriichen  Gedenktage,  wenn  M-ir  zuvor  bemerkt  haben,  dafs  deren  drei 
im  seclizehnten  Jahrhimdert,  und  von  ihnen  die  beiden  letzten  zu  Job.  Gabriehs  Zeiten  den  übrigen  liin- 
zutraten:  der  Tag  der  heihgen  Marina  (17.  Juli)  wegen  Wiedererobemng  Padua's  zur  Zeit  des  Bündnisses 
von  Cambray:  der  Tag  der  heiligen  Justina  (7.  October)  wegen  des  Sieges  bei  Lepanto;  endlich  der 
lag  der  Gründung  der  dem  Erlöser  geweihten  Kirche  in  der  Giudecca,  wegen  des  Aufhürens  der  Pest 
von  1576.  Die  Oberherrscliaft  des  Doge  über  die  Kirche  des  heiligen  Marcus,  welche  wir  bei  den  Prunk- 
zugen  desselben  sinnbildlich  angedeutet  ftuiden,  fülirt  uns  auf  (Uese  Kirche  zurück,  mit  welcher  unsere 
DarsteUung  begann;  und  ein  kurzer  Bericht  über  ihre  besonderen  Verhältnisse  zu  dem  Fürsten,  und  die 

)   Fl.    Corn.   IX.  p.  60.  60.  Ecd.   f'enet.  (de  eccl.  S.  Nicolai    in  litorej.      fer^leiche:   ib.  XJII.  p.    17.   18.  de  ecr/esia 
patnarchali  S.  Petri  Apostoli.     >)  Sansovi^io  lib.  XI.  f.  185.     »)  Ib.  177  versa. 


—      16      — 

bei  ihr  befindlichen,  dem  Manne  untergebenen  Anstallen,  welchem  diese  Blätter  vorzüglich  gewdmet  sind, 
möo'e  den  Uebergang  zu  ihm,  der  uns  bald  aussei Jiefslich  beschäfllgen  Avird,  einleiten. 

Sclion  bei  iln'er  Erbaimng  wurde  die,  dem  neuen  Schutzheiligen  des  Staats  geweihte  Kirche,  dem 
Staatsoberhaiipte  durch  die  Bezeichnung  als  seine  Capelle  besonders  zugeeignet.     So  entstand  neben  dem 
bischöflichen  Sitze  der  Hauptstadt  eine  besondei-e  von  der  bischöflichen  Gerichtsbarkeit  ausgenommene 
Hauptkirche    des    Staats.      Gcislliche    in    vcrhältnifsmäfsiger,    später    erst    (durch    Anton   Venler    am 
17.  März  1393)  auf  26  bestimmter  Anzahl  wurden  bestellt  luul  anständig  ausgestattet,  den  heiligen  Dienst 
in  ihr  zu  verrichten  ').     Den  Canonikern  sonst  in  allen  Verhältnissen  gleich,  führten  sie  jedoch  niclit  die- 
sen Titel,    sondern  wurden  Capeliane   des  Doge  genannt,    damit   jeder  Anschein  der  Unterordnung  imter 
des  Bischofs   Gerichtsbarkeit  venuieden   werde.     Doch    mögen   einzelne   von   ihnen    spälerliin  jene,    ihrer 
Meinung  nach  höhere  Benennimg  der  Canoniker  angenommen  oder  gefordert  haben;    denn  vir  finden  in 
einer  Verordnung  des  Andreas  Dandolo  *)  ihnen  dieses  ausdrücklich  mvlcisagt,  luid  sie  auf  ihr  Verhältnlfs 
als  Capeliane  des  Doge  zurückgewiesen.     Wie  nötliig  es  gewesen,  jene  dem  Anscheine  nacli  gleichgültige 
Benennung  zu  berichtigen,   zeigte  sicli  bald  nacJdier  ^).     Paul  Foscari,  der  1367  den  bischöflichen  Sitz  zu 
St.  Peter  einnahm,   mehr  auf  Erhöhung  seines  eignen  Ansehens,    als  auf  Eihaltung   alten  vaterländischen 
Herkommens  bedacht,  trug  bei  dem  Papste  Ürban  V.  darauf  an,  auch  St.  IMarcus  seinen  Sprengel  einzu- 
verleiben,   indem  er  sich  dabei  auf  die  Benennimg  Canoniker  berief,  welche  die  Geisthchen  jener  Kirche 
bisher  gefülirt.     Allein  Ihm  wurde  entgegnet,  dafs  die  Fülirimg  jenes  Titels  auf  einer  blofsen  Anmafsung 
beruht  habe,  dafs  jene  Geisthchen  und  ilrr  Vorsteher   von  je  an  durch  das  Staatsoberliaupt  allein  gewälilt 
und  eingesetzt  worden,    dafs  sie  zu  seinem  Haushalt  gehörten.     Von   ehen  so   geringem  Erfolge  war  ein 
Versuch,    den   der  Vikar   des   Patriarchen    von  Grado  späterliin   durch  eine  mit  Strafandrohung  geschärfte 
Vorladung  der  Geisthchkeit  von  St.  IMarcus  machte,  um  falls  derselben  Gehorsam  geleistet  werde,  iliescn 
als  ein  Recht  künftig   in  Anspruch   nehmen  zu   können;    denn   es    erfolgte   eine    feierhclie   Verwahrung  ■*) 
gegen  die  vorausgesetzte  Unterordnung,    und  spätere  päpsthche  Bullen   erkennen   die  Unabhängigkeit   der 
Kirche  des  heihgen  Marcus  wiederholt  und  ausdrückUch  an  ^).     Der  Geisthchkeit   derselben  war  ein  Vor- 
steher unter  dem  Namen  Primicerius  schon   seit  ihrer  Erbauung   durch  Angelus  und  Justinian  Parteci- 
pazio  vorangesteUt.     Einem   alten  Gebrauche  ")  zufolge,    dessen  Ursprung   wir  nicht  aufgezeichnet  finden, 
wurden  bei  Erledigung   dieses  Amts  von    den  Geistliclien   der  Kirche   fünf  aus  Ihrer  IMltte    gewählt,    um 
die  Wahl  des  neuen  Oberhaupts  zu  besorgen  ').     Ueher  dieses  Verfahren  befragte  man,  dem  Herkommen 
zufolge,  jedesmal  den  Doge,  welcher  es  in  jedem  einzelnen  Falle  bUligte,  den  gewäldten  Primicerius  aber 
durch   folgende  Fonnel   bestätigte   und  einsetzte:  ^)     „Wir,    der  Schutzlierr   und  ^\-ahre   Regierer  unserer 
Kirche  und  Kapelle  des  helligen  Marcus  bekleiden  Euch  mit  der  Würde   des  Primiccriats  derselben,    imd 
allen  den  Rechten  und  Gerichtsbarkeiten,   welche  dem  Primiceriat  zustehen:    so  wie  es  unsere  Vorfahren 
rühmlichen    Andenkens   bei    den    andern   Primicerlen   gethan,    welche    in   vergangenen    Zeilen    gewesen." 
Aus  der  Hand  des  Doge  erhielt  sodann   der  Primicerius,  Ring,   Stab   und  Mitra,    welche  Innocenz  IV.  *) 
dem  Primiceriat  in  Jakob  Behgno,  dem  elften  dieser  Würde,  verliehen  hatte:   und  wiederum  empfing  der 
neugewählte  Doge,    wenn  er   in  der  St.  Marcuskirche   mit  dem   herzoglichen  Gewände  bekleidet  worden, 


')  Com.  de  Basilica  ducali  S.  Marc!.  24.  25.  81.  82.  —  iJ.  290.  »)  ('('«'"  17.  Juli  1353.  ib.  286  —  288.^  ')  ji.  183. 
*)  fAm  20.  September  1577.  ib.  p.  288.^  ')  liulh  Clemens  des  Achten  vom  7.  Dccember  1596.  p.  301.  ib.  Ob  omni 
ordinarii  Jurisdictionc  exempta,  sedl  apostolicae  immediate  subjecta  est  ')  (p.  179.  ib.) ^  ')  (p.  186.>  ")  (p.  189.> 
»)    VgheUi    Italia    sacra    T.   V.  col.  1330. 


^       17      — 

vor  dem  Prlmicerius  knieeml,  aus  dessen  Hand  das  Banner  des  lieiligen  Marcus.  Seit  dem  Jahre  1471  ') 
war  durcli  einen  Bescidufs  des  grofsen  Ralhs  festgesetzt,  dafs  nur  aus  der  Zahl  der  Edehi,  ein  aus  rechl- 
niäfsiger  Ehe  Entsprossener  zu  der  Würde  des  Primiceriats  gelangen  köinie:  und  ein  Beschhifs  vom 
11.  Mai  1478  ')  setzte  als  wahlfähiges  Alter  das  vollendete  flmf  und  zwanzigste  Jahr  fest 

In  der  Verwaltung  der  dem  Doge  hienach  als  Schutzlierrn  imd  oherstem  Rogicrer  untergehenen 
Kirche  waren  ihm  die  Procuratoren,  und  späterhin  aucli  die  Räthe,  Häupter  der  Vierzig,  an  die  Seite  ge- 
setzt. Die  Procuratoren  entstanden  aus  den  Aufsehern  üher  den  Bau  der  Kirche,  und  als  der  erste  un- 
ter ilmen,  von  Justinian  Partecipazio  hestcUt,  wird  Thomas  Deodat  genannt.  Zu  ihren  Verrichtungen  ge- 
hörte es  demnächst,  die  Einkünfte  der  Kirche  zu  verwalten,  die  Gehülfeu  der  Piiester  zu  erwälden,  die 
Musiker  zu  bestellen,  über  den  Scliatz  und  das  Archiv  zu  wachen  ^).  Dieses,  auf  die  Angelegenlieiten 
der  Kü'che  anfangs  beschränkte  Am  t,  Avuchs  späterhin  an  l^mfaiig  mid  /Vnsehen,  so  dafs  es  zu  den  höch- 
sten Würden  des  Freistaats  gerechnet  v.urde,  und  man  endlich  die  Dogen  zumeist  aus  der  Mitte  der 
Procuratoren  erwäldto  *).  Mit  dem  Umfange  der  Obliegenheiten  derselben  war  auch  ihre  Zald  vermehrt 
worden,  um  das  Jalu*  1112  waren  ihrer  neun,  von  denen  drei  unter  dem  Namen  Procuratoren'  de 
stipra  auf  den  anfänglichen  Amtskreis  beschränkt  blieben:  drei,  de  cltra  genannt,  die  \'erwaltung  der 
Vermächtnisse  und  ^  onnundschaften  diesseits  des  Kanals,  drei,  d' ultra  geheifsen,  jenseits  desselben  zu 
besorgen  hatten.  In  A^elchcn  Fällen  der  Doge  die  Procuratoren  mid  die  erwähnten  Räthe  bei  der  kirch- 
lichen Verwaltung  ausdrücklich  zu  befragen  liabe;  in  wie  weit  er,  oder  jene  Erstgenannten  allein  etwas 
zu  bestimmen  ermächtigt  seien ,  findet  sich  in  zwei  Beschlüssen  des  grofsen  Raüies  aus  dem  sechzehnten 
Jahrhundert  festgesetzt.  Der  eine,  vom  7.  Jui  1536  ''),  verordnet,  dafs  bei  Neubauten,  Anstellung  neuer 
Beamten  der  Kirche,  oder  Erhohmig  der  Gehalte  bei'cits  bestehender,  ein  gemeinscIiafÜicJicr  ßesclüufs  der 
erwähnten  Personen  und  des  Doge  vorangehen  müsse,  der  bei  einer  Stimmenmehrheit  von  zwei 
Drittheilcn  erst  in  Kraft  treten  könne.  Der  andere,  vom  9.  Juni  1577  ")  legt  dem  Doge  das  ausschliefs- 
liche  Recht  der  Wahl  imd  Einsetzung  des  Primicerius,  der  Capellane,  Sacristane  und  Untersacristane  bei: 
wogegen  den  Procuratoren  das  Recht  zugestanden  wird,  die  untergeordneten  Geistlichen,  die  Sänger,  Or- 
ganisten, und  andere  Kirchenbediente  zu  bestellen,  ohne  dafs  der  Doge  die  Wahl  hindern  könne. 

Was  endlich  die  Ordmnig  des  Gottesdienstes  in  der  Kirche  des  heUigen  Marcus  betrifft,  so  ist  die 
von  Einigen,  namenthch  Sansovino  ')  aufgestellte  IMeinung,  dafs  der  Byzantinisch -giiechische  Ritus  dort 
eingeführt  gewesen,  den  genauen  Untersuchungen  Foscariui's  und  Flaminio  Corners  zufolge  ungegründet  ^). 
Jene  IMeinung  konnte  nur  durch  Betrachtung  des  lebhaften  ^"erkeh^s  veranlafst  worden,  das  von  jeher 
zwischen  den  Griechen  und  N'enedig  bestand,  und  wodurch  doi-t  manches  auch  unbe^viifst  ein  morgenläu- 
disches  Gepräge  erliielt:  durch  die  grofse  \  erehrung  der  griechischen  Christen  gegen  die  Kirdic  des  hei- 
ligen IMarcus,  vornehmlich  der  byzantinischen  Kaiser,  von  denen  ihr  Alexius  nach  dem  Zeugnisse  der 
Anna  Comnena  sämmtliche  Amallitanische  Handelsleute  zu  Constantinopel  zinsbar  machte:  durch  die  Jüer- 
aus  ohne  fernere  Prüfung  hergeleiteten,    scheinbar  gegründeten  Folgerungen.     Die  Liturgie   war  durchaus 

')  BescMu/s  äcs  grofsen  Hathes  vom  14.  November  jenes  Jahres.  Com.  1.  r.  pag.l^Ü.  ')  Ib.  19(.  ^)  Ib.  307.308. 
')  Eine  sichere  Reihe  ßnilel  .s/cA  erst  von  dem  Jahre  1131  an  In  der  Chronik  des  Jlarco  Barbara,  und  Hanier  Zeno 
ist  der  erste  ton  welchem  der  Tag  der  Wahl,  und  die  Zahl  der  Stimmen  aufgezeichnet  ist,  ^4.  Dec.  1178  mit  340 
Stimmen  gegen  320.  Com.  l.  c.  pag.  315.  S.  auch  Foscarini  Lib.  IT.  p.  173.  not.  200.^  ')  Ib.  239.  *)  Nach  diesen 
Beschlüsse  vom  9.  Juni  1577  dürjen  die  Procuratoren  wählen:  die  Sotfocanonici,  lilaestri  e  Preti  di  Coro,  Diaconi 
Suddiaconi,  Zaghi  (ClericiJ  Cantori,  Organisti  ed  altri  Ministri.  ')  l'enezia.  lib.  IJ.  fol.  39.  verso.  ')  f''ergl,  Pos- 
carini  lib.  IL  pag.  192.  not.  254.  Fl.  Com.  de  Basilica  Ducali  S.  ßlarci  p-  205. 
C.  V.  Winterfeld.  Job.  Gabrieli  u.  s.  Zeitalter.  3 


—      18      — 

grcgorianiscli,  und  enthielt  nichts,  was  nicht  in  der  römischen  l*wirche  schon  vor  der  Verbesserung  des 
IMissals  und  Breviers  chuch  Paul  \.  üblich  gewesen  wäre.  Besondere  altherkömmliche  Gebräuche  bei 
einzelnen  Festen  dmftcn  aucli  vermöge  der  Bidlen  jenes  Papstes  von  den  Jahren  1568  und  1570,  w  eiche 
dem  verbesserten  IMissal  luid  Brevier  voranstehen,  beibehalten  werden,  weil  dieselben  (den  dort  ausge- 
sprochenen Bedingimgen  zufolge)  theils  schon  bei  Gründung  der  Kirche  elngefolirt  gewesen  waren,  theils 
eine  länger  als  zweihunderijährige  Gewohnheit  für  sie  angefiUirt  werden  konnte.  Bei  den  grofsen  allge- 
gemeinen  Kirclienfestcn  war  bis  auf  geringe  Kleinigkeiten  völhge  Uebereinstimmung  mit  den  römischen 
Gebräudien  vorhanden,  bedeutendere  Abweicliungen  ')  fanden  sich  bei  den  Litaneien  der  Jungfrau  Maria 
und  der  Heiligen;  am  bemerklichsten  war  die  \^ersclüedeuheit  bei  den  der  Kirche  eigenthümlichcn  Festen 
der  IMarter  des  heiligen  Rlarcus,  der  Ankmift  seines  Leichnams  in  Venedig,  mid  seiner  Erscheinimg. 
Eine  alte  Legende  erzählt  die  Veranlassung  dieses  letzten  Festes  folgendermafsen.  Nach  dem  Tode 
des  Peter  Candianus,  imd  der  Zerstörung  der  alten  Kirche  durch  Feuer  war  man  ungewifs,  ob  auch  der 
Leiclinam  des  Schulzheihgen  gerettet  sei,  luid  wo  sicli  derselbe  befinde.  Einer  dunkeln  Sage  zufolge  ') 
sollte  er  nach  seiner  Uebcrkmift  in  eine  der  Säulen  der  jetzt  zerstörten  Ivirche  verborgen  worden  sein, 
um  ihn  vor  Entwendung  zu  sichern:  aber  nirgend  war  an  denen,  welche  von  der  Zerstörung  verschont 
geblieben,  die  mindeste  Spur  möglichen  Eröfifnens  zu  entdecken.  Der  Ort,  wo  die  Gebeine  des  Heihgen 
ruhten,  war  immer  luu-  dem  Doge  imd  dem  Procurator  bekannt  gewesen,  ^on  dem  einen  dem  Nachfol- 
ger des  andern  mündUch  übcrhefcrt  worden,  und  beide  waren  als  Opfer  der  VolkswuUi  gefallen.  In 
Trauer  imd  Ungewifsheit  ordnete  man  öffentliche  Fasten,  Bufsübungen  und  Umgänge  an.  Als  nun  diese 
durch  drei  Tage  fortgedauert  hatten,  und  noch  immer  nichts  ofl'enbar  geworden  war,  man  schon  fürchtete, 
dafs  die  köslUclien  Ueberreste  von  den  Flammen  Acrzehrt  seien,  öffnete  sich  plötzlich  am  25.  Juni  976 
eine  der  stehen  gebUebenen  Säulen  der  zerstörten  Kirche:  ein  köstUcher  Rosenduft  drang  aus  derselben 
hervor,  die  eiserne  Truhe  zeigte  sich,  in  der  die  Gebeine  des  Heihgen  verscUossen  lagen.  Dank 
und  Freudenfeste  wurden  nun  angeordnet,  jener  Tag  bis  in  die  neuesten  Zeiten  als  elu  Aorzügliches  Fest 
gefeiert.  Rlit  kösthchen  Teppichen  \vurde  die,  nun  besonders  heilig  gehaltene  Säule  geschmückt,  grofse 
Waclisfackcln  ..um  sie  her  angezündet,  in  feierlichem  Zuge  umgingen  sie  alle  Prälaten  der  Venedisclien 
Liscln,  alle  Geisthchcn  der  Hauptstadt,  in  reichem  priesterlidien  Schmuck;  mit  geweihtem  Rosenwasser 
wurde  das  \plk  besprengt  zum  Gedächtnifs  des  Wunders.  Die  Gebeine  des  Heiligen  legte  man  in  der 
neuerbauten  Kirche  au  einen  Ort  nieder,  um  welchen  nur  der  Doge,  der  Procurator  und  späterhin  dessen 
Genossen,  so  wie  der  Primicerius  wufsten. 

Dieses  ist  das  merkwürdigste,  was  wir  von  den  bcsondem  kircldichen  Gebräuclien  bei  St.  Marcus 
aufgezeichnet  finden.  Dafs  man  sicJi  einer  altern  lateinischen  Uebersetzung  derPsahnen  bedient^)  welche 
jedoch  nur  in  einzelnen  Ausdrücken,  mcht  aber  im  Siimc,  von  der  in  der  römischen  Kirche  gebräuchlichen 
abgewichen,  zeigt  Fl.  Corner  an  einzelnen  Beispielen.  Eine  vollständige  Ordnung  des  Gottesdienstes  liefs 
zuerst  Simon  IMoro  ■*),  um  1287  Primicerius  der  Kirclic,  zusanunentragen :  alte  daneben  noch  herkömm- 
hche  Gebräuche  aber  Matthäus  Venier  ^)  der  um  1308  ehi  gleiclies  Amt  bekleidete,  sammeln  und  sichten. 
Einem  Bescldusse  des  grofsen  Rathes  vom  26.  August  1315  zufolge,  versammelten  sich  wöchentlich  ein- 
mal der  Doge,  die  Procuratoren  von  St.  Marcus  und  12  Savj,  um  über  Zweifel  in  Kturgischen  Angele- 
genheiten  sich   zu  berathen,    und  ihre   Schlüsse   dem   grofsen   Rathe   zur  Prüfung   vorzulegen.  ^) 

')  Fl.  Corn.  p.  212.   /.  c.  Foscarini  IL    173.  not.  205.   206.        =)  Flam.    Com.  p.  65  —  67    znm    Tlu-il  nach  Dandolo's 
Chionik.     ')  Corn.  p.  213.     ")  Ib.  205.     rcrgl.  Foscarini  lib.II.p.lTis  «'«^A  ib.  not.  202.     '}  Corn.  208.     ^)  Jb.  209. 


—       19      — 


Auf  solche  Welse  sehen  wir  das  Obcrliaupt  Venedigs  die  erste  kircliliehe  Anstalt  des  Staates  regieren, 
eingeschränkt  in  einigen  Nebendingen,  in  der  Hauptsache  niu-,  insofern  jede  Neuerung  allein  dem  grofscn 
Käthe  als  gesetzgebendem  Körper  zustand.  Hier,  in  dem  prächtigsten,  bedeutungsvoU  geschmückten  Räume 
erblicken  wir  die  Feste  der  Kirclie  mit  feierlicher,  sinniger  Pracht  begangen,  alte  vaterländische  Gebräuche 
heiUg  gehallen,  das  Andenken  an  merkwürdige  Ereignisse  des  Vaterlandes,  an  grofse  Thaten  der  Voräl- 
tern  jährhcli  erneuet,  den  Glanz  und  die  Herrlichkeit  des  Ganzen  in  einem  bedeutsamen  Bilde  durch  das 
Oberhaupt  dargestellt,  dieses  sich  beugend  vor  der  Kirche  in  deren  erstem  Diener,  In  welcliem  es  die 
geistliche  Würde,  nicht  aber  Rang  und  Macht  ehrt,  da  jener  von  ihm  allein  besteUt  und  begabt  ist.  Wie 
unter  solchen  Umgebungen  und  ^Verhältnissen ,  getragen  durch  den  Geist,  der  in  dem  Leben  des  Gan- 
zen, wie  es  in  einigen  Zügen  dargelegt  worden,  sich  offenbarte,  eine  elgenthümhche  Kunst  aus  geringen 
Anfängen  in  einem  merkwürdigen  flianne  crbliUit  sei,  ist  der  Gegenstand  der  folgenden  DarsteUung. 


ZWEITES  HAUPTSTÜCK. 


Venedigs  Anstalten  ßlr  kirchliche  Tonkunst,  nnd  ältere  Tonmeister  bis 

auf  Johannes  Gabrieli, 

Die  erste  Gründung  des  später  so  berühmten   Sängerchors  des  helligen  Marcus  ist  aller  WahrscheinUch- 
keit    nach   mit   Erbauung   der  Kirche   gleichzeitig  anzunehmen,   wenn    ihrer    aucli    nicht  in    der   Chronik 
des    Dandolo  ■),    sondern    nur    bei   Baronius    in   dem   Leben    des   HeiHgen    Erwähnung   gescliieht       Die 
grofse  Verehrung,  welche  die  Venediger  ihrem  neu  erwählten  Schutzherrn  weihten,    dessen  Gebeine  mm- 
mehr  eine  Ruheslütte  in    Uirer   fllilte  gefunden,    erweckt  die  \Vermullumg,    dafs  sie  aUes    aufgeboten    den 
heiligen  Dienst  seiner  Kirche  nicht  weniger  zu  schmücken,   als  er  es  früher  in  Alexandiia  gewesen ^^■ar 
Dort  aber  hatte   sclion   im   vierten  Jahrhundert   die   heilige   Tonkunst   vorzüglich   geblülit.     Ein   Denknial 
jener  Zeit,    das  uns  der  Abt  Gcrberl  in  seiner  Sammlung  aller  SchriflsteUer  über  Älusik  aufbewalirt  Jjat, 
das  sogenannte  Geronllcon  des  Pambo,  Abts  zu  Nilria  ■)  berichtet,  dafs  ein  junger  Münch,  In  Geschäften 
seiner  Brüderschaft  nach  Alexandria  gesendet,  dort,  in  der  Kirclie  des  heiligen  Marcus,  dem  Gesangxj  mit 
grofsem  Eifer  zugehört  habe,  von  seiner  Süfsigkeit  entzückt  worden  sei.     Mit  allem  Fleifse  habe  e^r  sich 
bemüht  die  gehörten  Gesangsweisen  zu   erlernen,    lun  sie  in  seine   Heimath  zu   verpflanzen.     Damit  aber 
se.  es  üun  nicht  gelungen,  und  nicht  allein  die  Freude  jenes  Gesanges  habe  er  entbehren,   sondern  aucli 
die  harten  Venveise  des  Abtes  erdidden  müssen,   dafs  er  sich  an  demjenigen  ergötze,    das  nur  zum  ^  er- 
derben der  Seele  gereiche,  und  zur  Finslernifs  des  Heidenthums   zmückfiiJire.     Der  herbe  Sinn     welcher 
jene  Vorwürfe  erzeugt  hatte,  war  spälerhin  wohl  eben  so  wenig  bis  nach  Alexandria  gedrungen,  als  ^^^r 
dem  zur  Zeit  der  Erbauung  der  Kirche  eben  frisch  aufblülienden  Venedig  einen  solchen  beimessen  dürfen. 

')  Dandolo   VIIl.  C.  3.  P.  I.      >)   Gerberl  .cHptore,  I.  pag.  1  bis  4. 

3* 


—       20       — 

Dcnnotli  fiiulcn  ^a  ir  bis  zu  Anfange  dos  vierzehnten  Jalirliunderts  keine  Spur,  dafs  die  Häupter  des  Staa- 
tes, die  Scliutzhcrrn  der  ersten  Kivehc  der  Stadt,  dem  lielligen  Gesänge  xuid  den  dafür  vorhandenen  An- 
stalten eine  besondere  Aufnicrksamkeil  geschenkt  liällen.  Um  jene  Zeil  wird  Meister  Ziicchetlo  als  Or- 
ganist von  St.  Marcus  genannt,  inid  als  das  Jahr  seiner  Erwiiblung  1318  angegeben;  von  ihm  au  aber 
bis  auf  die  neuesten  Zeiten  ist  uns  eine  Namenrcilie  von  Organisten  ohne  Unterbrechung  aufbehalten. 
Sehr  wahrscheinlich  ist  es,  dafs  um  jene  Zeit  aucJi  die  erste  Orgel  in  St.  IMarcus  errichtet,  und  jenes 
Amt  zuerst  eingesetzt  ^^■orden  sei.  Gegen  das  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  ^^1lrde,  wie  wir  gese- 
hen, die  Ordnung  des  Gottestlicnslcs  in  St.  IMarcus  zuerst  bestimmter  festgesetzt,  alte  Gebräuche  gesam- 
melt, geprüft  und  gesichtet;  mit  dem  Anfange  des  folgenden  aber  (um  1315)  eine  wiederkehrende  Bera- 
Üiung  über  liturgische  Angelegenheiten  eingesetzt.  Die  Annahme,  dafs  durch  diese  neue  Ordnung  auch 
wiederum  die  Aufmerksainkeit  auf  grofsercn  Schmuck  des  Gottesdienstes  durch  heilige  Tonkunst  gelenkt 
worden  sei,  erscheint  hienacli  Mohlbegründet.  und  ^^^rd  durch  das  Zusammentreffen  mit  z\vei  liinlänglich 
bewährten  ThatsacJien  luiterstützt ;  dafs  durch  Rlarin  Sanudo  den  älteren  um  1312  zuerst  eine  \on  einem 
Deutschen  ^'erfertigte  Orgel  nach  \  enedig  gekommen  ist,  imd  dafs  wir  um  1318  zuerst  einen  Organisten 
von  St.  Alarcus  erv\ähnt  finden.  Es  soU  aber  deshalb  nicht  behauptet  werden,  dafs  man  in  früheren  Zei- 
ten weder  Orgeln  noch  Orgelbaukimst  in  ^'cnedig  gekannt  habe.  Wir  müfsten  den  IMangel  dieser  Kennt- 
nifs  bezweifeln,  sdion  der  ^'erhältnisse  dieser  Stadt  zu  dem  Älorgenlande  halber,  \'on  woher  die  ersten 
Orgeln  nach  Europa  gekonnnen  sein  sollen;  allein  ausdrückliche,  ältere  Berichte  zeugen  auch  dagegen  auf 
das  bestimmteste.  Das  älteste  imd  sidierste  Zeugnifs,  das  ^ir  darüber  besitzen,  ist  von  Eginhard  in 
den  Jahrbüchern  der  Thaten  LudA\igs  des  Frommen.  Um  826,  ein  Jahr  vor  Erbauung  der  Kirclie  des 
heiligen  Marcus,  soll  Georg,  ein  Priester  aus  Venedig  zu  jenem  Könige  gekonmien  sein,  und  sicli  gerülimt 
haben,  dafs  er  eine  Orgel  zu  bauen  ^  erstehe.  Der  König  soll  mit  Thankolf  seinem  Capellan  ('sacellarioj 
ihn  nacli  Aaclien  gesendet,  ilnn  alles  zu  Erbauung  ErforderUclie  gereicht,  Georg  aber  in  der  Capelle  de.s 
Pallastes  init  bc■^^^lndernswel•tl^er  Kunst  eine  Orgel  errichtet  haben,  der  Art,  wie  die  Griechen  sie  Hy- 
draide  nennen  ').  Derselbe  Georg  soll  nacli  spätem  Zeugnissen  (des  Dom  Bedos  de  Celles)  Scliülcr 
gezogen  haben,  durch  welche  die  Orgelbaukunst  auch  in  Italien  weiter  verbreitet  worden,  wie  er  jenem 
älteren  Berichte  zufolge  unbez\^eifelt  der  erste  ist,  dem  namentlich  die  Erriclitung  einer  Orgel  in 
Deutscldand  nacligerülimt  ■«ard.  Zarlino's  Behauptung  eines  noch  höhern  Alters  der  Orgeln  im  Venedi- 
schen  Gebiete  ist  ohne  ZuA'erlässigkeit.  Er  beschreibt  die  in  seinem  Besitze  befindliclie  WintUade  einer 
alten,  vorgeblich  dem  sechsten  .Talnlumdert  angehörigcn,  in  Grado  gestandenen  Orgel  ^),  imd  wenn  er  dabei 
audi  anmerkt,  dafs  Vincenzo  Colonna,  damals  beridimter  Orgelbaumeister,  ilmi  diesen  Thell  der  allen 
Orgel  überlassen  habe,  so  sagi  er  doch  nicht,  auf  welche  Weise  derselbe  in  dessen  Hände  gekommen, 
noch  wodurch  seine  Aeditheit  imd  sein  Alter  beglaubigt  gewesen  sei.  Der  dem  Bemardo  Giustiniani 
nacherzählte  Bericht,  dafs  die  alte  Stadt  Grado  im  Jalire  580  ■\on  dem  Patriarchen  Poppo  von  Aqidleja 
geplündert  worden   sei,    dafs  kurze  Zeit  nadiher    deren    Hauptkirche    durch   Fortunat   den   Arianer,    mid 

')  Vergl.  EglnTiard.  Annal.  de  geslis  Liidovici  pii  imperatoris,  ad  ann.  826;  desgleichen  Acta  Sancfor.  meiisis  Junii 
Vol.  J.  p.  201  desselben  Eg'mhard's  Bericht  de  translafione  et  miraculis  SS.  Marcellini  et  Petri,  am  Schlüsse  des  ach~ 
ten  Capitels.  Auch  zu  Anfange  des  siebenten  Capilels  (ib.  pag.  199^  wird  jenes  Georg  gedacht.  Eginhard  kannte  ihn 
persönlich:  Georg  erhielt  durch  ihn  die  Reliquien  der  Heiligen  Marcellinus  und  Petrus^  und  übersandte  ihm  später  einen 
Bericht  über  die  durch  dieselben  gewirkten  Vunder.  Dieser  ist  der  erwähnten  Erzählung  zu  Grande  gelegt.  Eginhard 
nennt  den  Georg:  Georgius  presbyter  et  rector  jnonasterii  S.  Salvii  marfyris  quod  in  pago  Fanomartensi ^  in  vico  l^a~ 
lentianas  appellaio,  in  ripa  Scaldis  Jlucii  situm  est.     ')  Suppl,  inusicali  l.  f'JIJ.  cap.  3.  p.  291> 


—      21      — 

Lupo,  Herzog  von  Friaul,  ein  äliiillches  Scliicksal  cvlillcii  habe,  kann  weder  jenen  Mangel  ersetzen,  noch 
das  Alter  des  erwälinten  Denkmals  niit  Sicherheit  bestimmen.  Zarlino  hat  aber  auch  seinen  Gewährs- 
mann nicht  genauer  geprüft;  denn  Giustiniani  erziililt  keinesweges,  dafs  jene  Plünderung  (deren  Gegen- 
stand, ■wie  wir  zu  glauben  veranlafst  M'crden,  auch  die  gedachte  Orgel  gewesen  sein  soll)  im  Jahre  580 
statt  gehabt  habe  ').  Melmehr  ist  jenes  Jahr  als  das  der  Gründung  des  Patriarchats  zu  Grado  angegeben, 
die  Plünderung  durcli  Pepo  oder  Poppo,  Patriarchen  von  Aquileja,  aber  in  das  eilfte  Jahrhundert  gesetzt, 
womit  aucli  des  Andreas  Dandolo  und  des  Jüngern  IMarin  Sanuto  Zeugnisse  übereinstimmen ;  in  eine  Zei- 
also,  wo  es  nicht  auffallend  sein  kann,  eine  Orgel  in  einer  Kirche  vorzufinden.  Seit  dem  erwälmteu 
Zeugnisse  des  Eginhard  nun  bis  zu  deni  später  anzuführenden  des  Sanso\'ino  mangelt  es  uns  an  ßericlit 
ten  über  Orgeln  in  den  Kirclien  Venedigs,  und  deren  Vervollkommnung  in  Itahen  überhaupt;  jenem  Flo- 
rentiner aber,  dem  ^  enedig  zweites  Vaterland  geworden  war,  der  von  dieser  Stadt  nicht  anders  als  mit 
^  erehrung  imd  Bewunderimg  redet,  und  keine  Gelegenlieit  vorübergehen  läfst.  wo  er  etwas  zu  ihrem 
Rulune  Gereichendes  erzälden  kann,  ist  lun  defswillcn  so  eher  zu  glauben,  wenn  er  bericlitet,  dafs  aus 
Deutscl  Jand,  woliin  von  Venedig  aus,  nächst  dem  Morgeidande,  die  Orgelbaukunst  zuerst  gekommen  war, 
das  erste  nacli  gröfserem  Rlaafsstabe  errichtete,  und  verbesserte  Instrument  dieser  Art  mederum  daliin 
zurückgelangt  sei.  HIezu  kömmt,  dafs  in  Deutschland  die  Orgelbaukunst  seit  dem  ersten  Bekanntwerden 
mit  Eifer  geübt  worden  war:  dafs  man  daselbst  in  mehreren  Ilauptkirchen ,  wie  zu  IMagdeburg  in  der 
St.  Jakobskirdie ,  zu  Halberstadt,  zu  Erfurt  in  der  Pauhnerkirche ,  bereits  im  eilften  Jahrhunderte  Orgeln 
besafs,  und  es  um  so  w ahrscheinhclier  wird,  dafs  verbesserte  Werke  dieser  Art  von  Deutschland  nach 
Italien  verpflanzt  seien,  nicht  aber  dort  durch  Eingeborne  eine  ^  ervollkommimng  statt  gefunden  habe,  als 
der  römisclie  Stidd   die   Orgcll)aukunst   durch   seine   beharrlidie   Ausschliefsung    der   Orgel,    so   wie  jeden 


')  f^ergl.  Bern.  Justin,  de  origine  tirliis  1'eneliarum.  L.  VJl.  Elias  ex  Aquileiensi  episcopo  Gradensis  patriarcha  renun- 
tiatus  est.  .Agebatur  autem  anniis  Domini  yiiiiigentesinius  octogcsimi/s  aiit  circifei:  Es  ist  darauf  von  den  Reliquien 
der  Heiligen  llermagoras  und Forfunutus  die  Rede,  von  denen  es  weiterhin  hei/st.-  Ea  corpora  usque  ad  annuni  domini 
M.  apud  Gradiim  summa  veneratione  sunt  habita:  periclitata  verso  Hotonis  ducis  tempore  et  Ursonis  ejus  fratris 
pafriarchae  Gradensis.  Kam  cum  ambu  per  seditionem  civilem  in  Histriam  coneessissent :  Pepo,  jiquileiensis  patriarcha, 
gente  Germanus ,  acerrimus  l'enetorum  hostis ,  an-epta  orcasione ,  armis  Uenrici  imperatoris  per  dolum  ins;diis  positis, 
iacautos  Gradenses,  urbem  ten^plumque  et  ecclesiam  invadit.    Diripuere  preciosissima  quaeque  et  thesanros  omnes  ecclesiae. 

Es  geschähe  hienach  die  Beraubung  zur  Zeit  des  Patriarehen  Urso  und  des  Herzogs  Otto  CUrseolusJ ,  von  denen 
der  letzte  um  1009  COandolo  IX,  2.  im  Eingänge)  den  herzoglichen  Stuhl  bestieg,  der  andre  etiva  9  Jahr  später  Pa- 
triarch wurde  (Ib.  Pars.  6.J.  Die  Bemühungen  des  Poppo,  Patriarchen  von  Aquileja,  sich  die  Kirche  zu  Grado  zu 
unterwerfen,  erfolgten  um  1023  Cpars  9.  10.  loco  cit.J,  die  rerwüstung  zur  Zeit  wo  Herzog  und  Patriarch  in  Jstria 
sich  im  Exil  befanden  ("11.  l.  c),  wie  auch  Bernardo  Giustiniaa  erzählt,  welcher  wegen  des  M'iederßndens  der  Körper 
des  Hermagoras  und  Fortunat  späterhin  selber  auf  Dandolo  Bezug  nimmt,  fi^-  15.  ist  bei  Dandolo  dasselbe  ersähltj. 
Eine  Beraubung  der  Hauptkirche  zu  Grado  (auro,  vestibus  et  ornamentisj  und  der  „eccles.  baptismales  Isiriae  et  xeno- 
dochia  quae  huic  ecclesiae  subjecta  erant  "  durch  den  Arianer  Fortunat  geschähe  um  630  nach  dem  Tode  des  Patriar- 
chen Cyprian;  (Dandolo  /"/.,  6.  p.  13.J  durch  Lupo  von  Friaul  aber  (zur  Zeit  des  Grinioald,  Königs  der  Langobarden 
fzuHsehen  den  Jahren  662  —  73/  etwa  dreifsig  Jahre  später.J  Hievon  erzählt  Just.  L.  VIJI.  Lupus  du.c  Foroiulia- 
nus  uinato  genti  in  J'enetos  odio  diripere  et  ipse  Gradensem  ecclesiam  instituif:  navibus  cumpluribus  coactis  militibusque 
completis  Gradum  annavigat.  Gradenses  incauti  et  qiti  nihil  tale  metuerent,  facile  opprimuntur.  Jlle  basilieam  quae 
quotidie  magis  Jlorere  ineipiebat,  spoliat  diripitquc. 

Eine  spätere  Beraubung  geschähe  nach  Dandolo  (IX.  '.  p.  \J  durch  den  erwähnten  Poppo  um  1044  unter  Dome- 
nico Contarini.  Marin  Sanudo  erzählt  ohne  genauere  Zeitangabe,  daß  Fortunat  Patriarch  von  Aquileja  die  Kirche  zu 
Irrado  beraubt  habe.  Die  spätere  Beraubung  durch  Poppo  (wo  sie  auch  verbrannt ,  nachher  aber  wieder  aufgebaut 
wordenj  setzt  er  unter  die  Regierung  des  Domenico  Fla&anigo  ,  des  'iSsten  Dogen  0032  —  1043^.  Muratori  scriplo- 
res  XXIL  col.  409.  475. 


—       22       — 

Iiislniineiiles  von  der  Kirche,  niclil,  begünstigte,  und  aucli  spätere  Verbesserungen  der  Orgeln  in  Italien 
immer  nur  Deutschen  zugeschrieben  ^^erden.  Der  gedachte  Sansovino  nun  erzählt  uns  bei  Gelegenheit 
seiner  Besclireibung  der  Kirche  des  Erzengels  Rafael  in  dem  Stadttlieile  Dorsoduro  in  Venedig,  dafs  in 
einer  daselbst  befindlichen  Capelle  der  Familie  Micheli,  aufser  einem  Bilde  der  Heiligen  Nikolaus,  Ludwig 
und  Johannes  von  einem  IMalilcr  Namens  Piva,  auch  noch  die  Abbildung  eines  Instrumentes,  Rigabcllo 
genannt,  merkwürdig  sei,  dessen  man  sich  in  den  Kirclien  vor  Erfindung  der  Orgel  bedient  habe  '). 
Eine  gleicJie  Abbildung  sehe  man  auch  in  der  Celeslla  auf  dem  Grabmale  des  Celsi.  Nach  dem  Riga- 
bello  sei  das  Torsello  aufgekommen,  das  man  mit  Stäben  (inazzej  gespielt  habe  ^).  Ein  Deutscher, 
des  (ällcrn)  Geschichtsschreibers  M.  Sanudo  Schützhng.  habe  es  nach  Venedig  gebraclit.  Nach  dem  Tor- 
sello habe  man  die  Ninfali  erfunden,  Instrumente,  welche  der  Spieler  um  sich  gegürtet,  mit  Tasten  ver- 
sehen wie  die  Orgeln,  aber  nur  mit  der  linken  Hand  gespielt.  Eine  Abbildung  davon  finde  sich  über 
einer  der  Pforten  der  Kirche  der  Carilä,  und  in  den  Händen  der  Engel  auf  dem  BUde  des  Paradieses 
in  dem  Saale  dos  grofson  Ralhes.  Endlich  seien  die  Orgeln  aufgekommen,  deren  man  sich  noch  jetzt 
bediene.  —  Jene  Nachriclit  scheint  nur  ein  einziges  Instrument  und  dessen  Umgestaltung  imd  ^  erbesse- 
rung  in  verschiedenen  Zeiten  zu  betrcflen.  Das  sogenannle  Rigabello  ist  zwar  nidit  beschrieben,  noch 
die  Art  seiner  Behandlung  cr\\ähnt,  sein  Name  deutet  aber  auf  das  noch  späterliin  übliche  Regal;  ein 
Pfeifenwerk  (wie  es  Prälorius  beschreibt)  ^)  in  einem  länghchten  schmalen  Kasten  verborgen,  hinten  mit 
zwei  Blasebälgen  versehen,  welche  durch  die  Hand  eines  Gehülfen  in  Bewegung  gesetzt  werden;  auf  ein 
tragbares  Orgelwerk  also,  von  geringem  Umfange,  und  in  früherer  Zeit,  der  Kindheit  der  Kunst  gemäfs, 
wohl  xmvoUkommcner  und  dürftiger  Einrichtung.  Das  Torsello,  Nwihrscheinlich  nach  dessen  erstem  Be- 
förderer, Marin  Sanudo,  ^\  elcher  diesen  Zunamen  fiilirte,  so  benannt,  gleicht  der  Beschreibung  zufolge  den 
gröfsern  deutschen  Orgelwerken  des  dreizehnten  und  vierz,chnten  JjJnhunderts,  an  deren  Grenzen  der  äl- 
tere Marin'  Sanudo  blühte.  Die  Tasten  dieser  \>  erke  waren  von  imgewöhnlichor  Breite  und  Sdiwere, 
die  innere  Zusammensetzung  des  Ganzen  inibehülfiich  und  scli werfällig,  die  Behandlung  erforderte  grofse 
Anstrengung  und  Körperkräflo ,  und  mag  ohne  die  Hülfe  starker,  am  andern  Ende  in  Breite  und  Dicke 
zunehmende  Stäbe  CmazzeJ  nicht  möglich  gewesen  seyn.  Dafs  man  in  den  Kirdien  sich  der  Ninfali, 
wie  Sansovino  sie  beschreibt,  späterhin  anstatt  des  Torsello  bedient,  dürfte  minder  eine  beglaubte  That- 
sache,  als  eine  Voraussetzung  des  Berichterstatters  sein,  der  jenes  Instrument  auf  Bildern  aus  späteren 
Zeiten  sab.  Sie  sind  wahrscheinlich  mir  ein  Versuch  in  kleinerem  Maafsstabe  gewesen,  die  Leitimg  des 
Windes  auf  eine  mehr  einfache  Art  zu  bewirken,  die  innere  Euirichtung  des  Orgelwerks  A'oUkommener  zu 


' )  fVelcher  Art  das  envähnle  IH^abello  gewesen,  ist  durch  eigenen  Augenschein  sjläterhin  zu  prüfen  unmöglich  gewor- 
den: denn  im  Jahre  1618  hut  man  die  Kirche  des  Enem^els  Riifael  abgetragen  und  von  Grund  aus  neu  erbaut. 
Fl.  Corner,  de  Vccl.  Parochiali  S.  Raphaelis  archangeli.  Bccl.  fen.  f.  p.  335.  ^)  Sansorin's  Behauptung  frenezia 
Lib.  VI.  f.  hS.J  dafs  von  jenem  Instrumente  M.  Sanudo  den  Beinamen  Torsello  empfangen  habe  ist  ron  Foscarini  Clitl. 
Veneziana  lib.  IV.  p.  343.  n.  \6J  durch  die  Zeugnisse  des  Marco  Barbara  und  Andrea  Dandolo  viderlegt ,  welchen 
s,ufo1ge  es  in  Venedig  schon  zur  'Aeit  Pipins  eine  Familie  des  Aamens  Torselli  gab.  Wahlscheinlicher  ist  es  daher, 
wie  Foscarini  behauptet ,  dafs  jener  Beiname  durch  Erbrecht  auf  Marin  Sanudo  übergegangen  gewesen ,  und  dafs  von 
ihm  das  zuerst  nach  Venedig  gebrachte  Instrument  seinen  Namen  erhalten  habe.  Gerber  fA.  L.  I.  Col.  385^  citirt  für 
jene  Nachricht  unter  Angabe  des  Jahres  1312.  Henr.  Uliarton  appendix  ad  Guilielm.  Cave.  hist.  literar.  pag.  10. 
-)  Vcrgl.  Praetorius  Organographia  (Syntagm.  Tum.  II.  Tlieil  1.  cap.  45.  pag.  45.  pag.  Tl  —  Ih,  und  die  Abbildung 
des  Ilcgals  Fig.  2.  der  lOten  Tafel  seines  Theatr.  instr.  Wird  dort  der  Name:  Regal  von  opus  regale,  quasi  dignum 
rege  hergeleitet:  so  dürfte  im  Latein  des  Mittelalters  int  opus  „regi  bellum"  wohl  dasselbe  bezeichnen,  das  italienische 
rigabello  aber  nur  eine   Verstümmlung  dieses  Namens  sein. 


—      23      — 

machen,  und  höchstens  mag  man  sich  ihrer  bei  geistlichen  Umzügen  bedient  haben,  nicht  aber  in  den 
Kirchen,  für  welche  sie  sicli  niclit  eignen  konnten.  Und  so  war  die  nächst  ihnen  als  spätere  Erfindung 
angegebene  Orgel  nach  aUeni  diesem  wohl  nur  eine  Verbesserung  der  Instrumente,  die  schon  früher- 
hin  auf  unvollkonimne  A\eise  bestanden  hatten. 

Ob  die  erste  Orgel  in  St.  Marcus  dieselbe  gewesen,  welche  Marin  Sanudo  der  ältere  nach  ^enedi.r 
gebracht,    ist  wegen  Mangels  bestimmter   Nachrichten  mit   Ge^vifsheit  nicht   zu    behaupten,    obgleich    sich 
voraussetzen  lafst,  dafs  er,   gewissermaafsen  der  älteste  Geschichtschreiber  seines  Vaterlandes  ')      auch  be 
dacht  gewesen  sein  werde,    dessen   vornehmste   Kirche  mit  jenem  AVcrke   neuer  und  mehr  vollkommner 
Art  zu  schmücken.     Mndestens  wird  es  der  Orgel,  welche  man  damals  dort  neu  errichtet,  zum  Vorbüde 
gedient  haben,  diese  auch  moIiI  von  dem  neuangekommenen  deutschen  Meister  erbaut  worden  sein.    Nicht 
lange  nachlier,    um  die  Mitte  des  vierzehnten    Jalirhunderfs,    finden  wir  auch  eines  Organisten  als  ausge- 
zeichneten Künsüers  gedacht.     Um  das  Jahr  1364  unter  der  Regierung  des  Lorenzo  Cdsi,  als  der  KöL 
von  Cypem  sich  in  Venedig  befand,    und  auch  der   berühmte  Petrarca  daselbst  verweUte,    als  die  Anwe" 
senheit  des  hohen  Gastes  durch  prächtige  Feste  gefeiert  wurde,    soU  Francesco,  mit  dem  Beinamen  der 
Bhnde,  em  Florentiner  von  der  Familie  der  Lnndini,  seine  aufserordentliche  Kunst  im  Orgelspiel  bewsen 
haben,    und  dafür  mit  einem  Lorbeerkranze  belohnt   worden  sein.     ZweifelJiaft   bleibt  es   freihch,    ob  die 
lim.  erwiesene  Ehre  nicht  vielmehr    eine  Belohnung  der  ilim   zugleich   nachgerühmten   Dichtergabe  gewe- 
sen     denn  hierin  weichen  die  Berichterstatter  von  einander  ab,   wenn  auch  aUe  ilm  als  TonkiTnstler  und 
Dichter  ndimen.     Um  dieselbe   Zeit  wird   Francesco   da  Pesaro   als  Naclifolger   des  Meisters    Zucchem 
un  Aitite  des  Organisten  an    der  Marcuskirche  genannt;    doch  ist  uns  aufser  der  Nachricht,    dafs  er  diese 
Stelle  seit  dem  10.  Api-il  1.337  bis  zum  Jahre  1368  bekleidete,  niclits  über  ihn  aufgezeichnet,  ja  wir  ken- 
nen  nicht   einmal  seinen   Familiennamen.     Um   defswülen.    und    weil  er  kein   Florentiner  war,    sind  >vii- 
nicJit  berechtigt,  ihn  mit  dem  obengenannten  für  eine  Person  zu  halten  ^). 

-  Mt  Einscldufs   des  genannten  Francesco   da  Pesaro  werden   uns  von   sechs  Organisten   des  vier- 

zehn eu  Jahrhunderts,  den  nächsten  Nachfolgern  des  Meister  ZucckeUo,  die  Namen  u,^  die  Tage  ihrer 
nalJ  genann,;  hierauf  aber  bescliränken  siel,  alle  Nachrichten  über  dieselben,  denn  von  ihren  U^Z 
umst^uiden  linden  wir  mchts  aufgezeichnet,  und  Werke  sind  uns  von  ihnen  niclit  aufbehalten.  Aul 
«^d  ..r  dergleichen  von  jener  Zeit  zu  erwarten  nicht  berechtigt,  wo  die  Kunst  der  Harmonie  sieht 
Arer  ersten  Ki.idlieit  befand,  und  die  Unbehülillchkeit  der  vorhandenen  Orgelwerke  dem  kuns.Wsen 
mehrstmimigen  Spiele  unübersteigliche  Hindernisse  entgegen  setzen  m.iTste.     Was  die  er  t^  h^S To  t 

Ha.idscbi.ft  ^.eilt,    bei    der  Entzifferung    (wenn    auch    absichtslos)   nachgeholfen  habe,    denn  spätere, 

Jane  ,.,„. ..::  ^t;r;:.!::;::a;-':r:i  ^  c  77-  ^;;-"  ««^  --  --  ^^>.-'^-^o, 

Florentinae  saec.   .Y^.    Toni    IS     Hf   r,         "iC  —  ii     '^^,'  '<"•&'■  ^ingelo    Maria    BamUni   specimen    literaturac 

ien  Preis.  Jift  ,ber  ä^t^^L^Z i^Tr  7"        7  T^  ^''-"-  '^  '^  ''"  «->'<^'-""""»o-  -  meiner  ge,rö.. 


—      24      — 

obcnfMs  7Ave;st!mmi-c   Beispiele  aus  einer  ITanilsclnift  des  vierzehnten  Jalirhunclcrls  (1374)  von  dem  Abte 
("cvberl  J.n  z^veilcn   Tbeilc   seines  Werkes   de  cania   et  muslca  sacra   aiil bewahrt,    sind   ungleich   roher; 
,lic  ■M^clle  Stimme  begleitet  meist  nur   im  Wechsel  von   Oclaven   und  Quinten;    von   den   letzten  folge., 
einander    wie  um  die  Zeit  der  ersten  rohen  Anfange,    bis  vier  unmittelbar  in  gleicher  Bewegung;    durch- 
eehende' Noten  finden  siclx  hin  und  wieder,    obgleich  selten.     Jenes   früliere  Beispiel  dagegen  .e,gt  schon 
eine  re^elmäfsigere  Bewegung  und  Gegenbewegung  beider  Stimmen,  und  erweckt  dadurch  Zwe.fel  an  der 
Genauigkeit  seiner  Mitthellung.     Eine  Verordnung   des  Papstes   Johannes  XXB.  ')   aus   dem  Anfange  des 
vierzehnten  Jahrhunderts,    welche  die  Verdunkelung   des  heiligen   Gesanges   verbietet,    und   nur  gestaltet 
dafs  an    festlichen  Tagen   vornehmlich,    bei  der  Messe  und   andern  Theilen   des  Gottesdienstes,    hm   und 
wieder  eine  Ouarte,    Quinte  oder  Octave  auf  melochsche  Weise  über  dem  einfachen  Knchengesange  sich 
boren  lasse,  ohne  Ihn  zu  entstellen,   lehrt   uns  nur,   was  andere  Denkmale  bereits  aufser  Zwe^el  gesetzt 
haben     dafs  mau  mehrstimmigen   Gesaug  damals    schon   kannte,    allein   sie  glebi  uns  kernen  Beweis   für 
bedeutende  Fortsdultte  desselben.     Aber  weniger  auch  von  ihm  und  seiner  zu  üppigen  Ausbildung  scheint 
sie  Verdunkelung  des  Klrcheugesanges  zu  fürchten,  als  von  einzelnen  Sängern    welche  durch  willkuhrhche. 
unmelodische,  verwirrende  Auszierungen  und  Veränderungen  Ihn  entsteUten;  dmen  empfiehlt  -  Mafs.gung 
Id   Rücksicht   auf  Wolüklaug.      Zarhno,    der   seine   Behauptung:    „schon  Im   vierzehnten  Jahrhunderte 
habe   der  mehrstimmige  Gesang   eine   bedeutende   Stufe   der  Bildung  erreicht,"    auf  sie   gründet     vermag 
weder  durch  sie  noch  seine  übrigen  Aufülumigen  uns  die  Ueberzeugung  davon  zu  gewähren.     Ernüm^ 
sich  zwar  des  Besitzes  urkundlicher  Beweise :  zweier,  auf  Pergament  gut  geschriebener  Bucldein  mit  zwe. 
und  dreistimmigen  Gesäugen.     Das   erste,   erzählt   er.    enthalte  die  Aufsclirift  mit  kaufinänmscheu  Zügen: 
Im  N-imen  Gottes  1397,    gebe  durch  den   augenscheinfich  neueren   Einband,    und   die  von  der  Anschrift 
verscluedeuen  Schriftzüge  des  Inhalts  jedoch  ein  höheres  Alter  zu  erkennen,  so  dafs  jene  nur  den  Anfang 
des   Besitzes    eines    spätem    Elgenthümers    zu    bezeichnen    sclieine.     Das   andere   sei  d.m   durch  Joseph 
Guami     den  ausgezeichneten   Orgaulsten   zu  Lucca,    nachmals   an   St.  Marcus   zu  Venedig   (seit  dem  30 
October  1588)  verehrt,  und   wahrschelnhch  noch  älter.     Aus  beiden  Denkmalen   hat  es  ihm  ,edocIi  nicht 
.efaUen     uns  Proben  mitzuthelleu,   Ihr  Alter  bestimmt  er  nur  nach  Vermuthungen ;    er  lehrt  uns,   woran 
tvir  nicht  zweifelten,    dafs  schon  Im  ^derzelmten  Jahrhunderte   Mehrstimmigkeit  geübt  worden  sei,    aUein 
wir  gewannen  nicht  aus   eigner  Anschauung  die  Gewifsheit,    dafs  die  damahgen  ^  ersuche  x.ber  che  ersten 
Anfale  hinausliegen,  und  den  Namen  von  Kunstwerken  auch  Im  beschränktesten  Sinne  bereis  verdienen. 
Von   der  UnbehüUllchkeit  der   Oigelwerke  zu   Anfang   des  vie«elmten   Jahrhunderts  g.ebt   schon  der  von 
Sanso^-lno  eiv.ählte  Umstand    hinlängliches  Zeugnifs,    das  Torsello,    welches  Mann    Sanudo  nach  ^nedig 
jZdit,  habe  mit  Stäben  gespielt  werden  müssen.     Lesen  wir  ferner  In  andern  Berichten,   Ms  bei  der 
^Jofsen   Breite  der   Tasten  jene  Werke  höchstens  den    Umfang  einer  Doppeloctave  gehabt,   da^  ein  r,e^ 
L  Taste  mehre,  ,a  bis  40  Pfeifen  zugethellt  gewesen,  Registerzüge  aber,  und  mit  ihnen  die  Moghchkeit 
S^r  Abwechselung   gänzlich  gefehlt,    ja,  dafs   erst   Im    folgenden   Jalnhunderte  bei   der  in  der  Kirche  zu 
StEtidlen  in  Braunschweig  1456  errichteten  Orgel  die  Breite  der  Tasten  soweit  vermindert  wollen  sa 
dl  die  ausgespannte  Ila.ul  eine  Quinte  zu  erreichen  vermocht  ^):  so  bleibt  uns  ^^^^.^"^^^ 
von   einem  kunst.emäfsen ,    harmonischen   Orgelspiele   damals   nicht  die  Rede   sein  können,    daf.   P  alo 
Z   vZs'et::;^    auf  den  damaligen   Orgeln   sei     „der    schlechte   Choral    einfälüg    gemacht    worden 

— „       ,.        <•  irr    Cnn    T     Is  wird  von  dieser  Verordnung  in  der  Folge  ausfiUir! icher 

'■)   rergl.  hier  Zarlino  SiippUmenU  musjeali  L.  I.   Cap.  3.    J.s  .«»«  to«  o 

gehandelt  nerden.     »)   rergl.  Prätori,.   Organographia  (Synt.  U.  Th.  2.   Cup.  6.  p.   109.^ 


—      25      — 

gegründet  sei,  und  dafs  jene  Werke  überhaupt  nur  die  Absiclil  gehabt,  den  einfachen  kirchengesang  zu 
regfhi,  zu  \erstävken,  ihn  mit  voller  Ge^valt  ertönen  zu  lassen,  nicht  dem  kunstfertigen  Meister  Gelegen- 
heit zu  geben,  aus  und  neben  demselben  eine  Mannigfaltigkeit  begleitender  Stimmen  zu  entwickeln. 

Den  Anfans;  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  bezeichnet  eine  Verordnuns:  weircn  des  Sänscrchors 
des  heiligen  IMarcus,  am  18.  Februar  1403  von  seclis  Ruthen  des  Doge  JMichel  Steno  im  Auftrage  des- 
selben Tuid  des  Rathes  der  Zehn,  auf  einen  Beschhifs  des  grofsen  Raths  erlassen  ').  „Da  es  zum  Ruhme 
und  zur  Ehre  unserer  Herrschaft  gereicht,  helfst  es  darin,  wenn  unsere  Kirche  des  heiligen  IMarcus  gute 
Säuger  besitzt,  angesehen,  dafs  diese  Kirche  die  erste  luiserer  Stadt  ist,  so  haben  die  Ijutcrschriebcnen 
bescldossen,  acht  Knaben,  aus  Venedig  gebürtig,  als  Helfer  anzunehmen,  welche  im  Gesänge  luitcnichtet 
^\'crden  sollen.  INur  für  diesesmal  soll  ein  Knabe  aus  IMontona  unter  sie  aufgenommen  werden,  der  ge- 
genwärtig im  Dienste  der  Kirche  ist,  mid  trefflich  singt.  Den  Procuratoren  unserer  Kirche  des  heiligen 
RIarcus  soU  befohlen  werden,  zu  Unterstützung  dieser  Knaben  an  Kleidung  und  andern  Bcdürfiüssen, 
wie  es  ilmcn  am  besten  und  dienlichsten  scheinen  ^^^^d,  einem  jeden  von  ihnen  monathch  einen  Dukaten 
in  Golde  zu  reichen,  und  sie  sollen  darauf  sehen,  dafs  dieselben  von  den  Sängern  der  Kirche  des  heili- 
gen RIarcus  im  Gesänge  gründhch  imterrichtet  werden.  Geht  einer  von  diesen  aclit  Knaben  ab,  so  sollen 
die  Procuratoren  an  seine  Stelle  einen  andern  annehmen." 

Der  Inhalt  dieser  \  erordnung  fülirt  inigezwungcn  auf  die  \  oraussclzimg .  dafs  man  damals  zuerst 
den  mehrstimmigen  Gesang  und  seine  Ausbildung  der  Aufmerksamkeit  wcrth  geachtet  habe,  wenn  «leich 
darüber  nichts  ausdrücklicli  in  derselben  ausgesprochen  ist;  denn  nur  jene  Rücksicht  konnte  den  Besitz 
ausgebildcler  Stimmen  verschiedenen  Umfangs  ■\^-ünschenswerth  machen.  Von  den  Leistungen  dieses  neu 
gebildeten  Chors  al)er  ist  ims  so  wenig  als  über  die  fünf  Organisten,  die  während  des  fünfzehnten 
Jalnhundcrts  der  Kirche  ilienten,  etwas  bestimmtes  berichtet.  Doch  sind  zwei  initer  iluien,  auf  welche 
sich  die  Nacliricht  von  einer  merk\\a\rdigen,  aus  dieser  Zeit  hervorgegangenen  Erfindung  beziehen  könnte, 
von  der  Sabellicus  in  dem  achten  Buche  des  zehnten  Abschnittes  seines  imter  dem  Titel  ..Enneaden" 
(1501  bei  Jean  Petit  zu  l'aris  zuerst)  erschienenen  Werkes  redet.  Der  eine  beider  Männer,  Kleister  Ber- 
iiardiiw  genannt,  wurde  am  dritten  April  1119,  der  andere,  Bernhard  Miired,  sein  Nachfolger,  am  fünf- 
zehnten April  1415  zimi  Organisten  erwählt,  in  welchem  Amte  am  zn%  ei  inid  zwanzigsten  September  1459 
ihm  Bartholomäus  Batlislu.  der  letzte  Organist  von  St.  JMarcus  im  fünfzehnten  Jahrhundert,  nachfolgte, 
„t'm  jene  Zelt"  -)  —  erzählt  Sabellicus,  luid  meint  damit  das  Zeltalter  Si.xtus  des  Vierten,  dessen  er 
^orher  gedacht  hat  —  ..besafs  Venedig  durch  mehre  Jahre  einen  IMann,  der  ohne  Zweifel  allen,  die 
es  jemals  gegeben,  in  der  Tonkunst  voranzustellen  ist;  Bernhard,  der  Deutsclie  genannt,  mit  Rücksicht 
auf  seinen  Ursprung.  iVlle  musikalischen  Instriunente  wufste  er  mit  Fertigkeit  zu  behandeln;  er  zuerst 
gab  den  Stimmen  der  Orgel  gröfscre  Fülle,  indem  er  dui-ch  angehängte  Seile  auch  die  Füfse  zu  Mittiel- 
fcrn  bei  dem  Spiele  maclite;  er  besafs  ausgezeichnete  Gelehrsamkeit  in  der  Kunst,  und  eine  Stimme, 
die  sich  jeder  Gesangsweise  anzuschmiegen  verstand.  Durcli  göttliche  ^  orselumg  war  er  dazu  gebo- 
ren, dafs  er  ein  Solcher  sei,  in  welchem  die  herrlichste  Kunst  ihre  ganze  Kraft  offenbare.  Einem  jeden 
freilieh  ist  nidit  alles  gegeben;  so  wird  auch  an  ihm  ebie  ge^^issc  Unbeständigkeit  gerügt,  damit  jener 
Spruch  als  ein  weiser  sich  bewälire:  es  gebe  keinen  ausgezeichneten  Geist  ohne  Beimischung  von 
Thorheit.     Er  war  sonst  von  srofser  Frönimi"keit  imd  reinem  Wandel;   und  Ariele  von  denen,   die  unter 


')  Fl.  Com,  de  Basilica  Ducali  S.  Marci  p.  244.      *)  Fol.  192  der  gedachten  Ausgabe, 
C.  T.  AViotcrfelJ.  Job.  CaLrieli  u.  c.  ZeiUlWr.  -4 


—      2(J      — 

ihm  j^elenit,  linI)oii  in  j(Mier  KiiiisL  oiiioii  boriiliiufoii  \aincn  crlüiigt."  E.s  ist  aus  dieser  Er/.iiliiuni;  deiil- 
lic'li  z,u  ciiliK-liiiu'ii.  (laCs  damals  /.u  \  ciicdig  tlas  IVdal  an  der  Orgel  crruiiden  worden;  der  Eriinder  aber 
isl ,  wie  bei  den  llalieiieru  liäulig  gescliielU,  nur  mit  dem  Taufnameii,  nicht  aber  mit  dem  Geschlechts- 
namen genaimt,  an  dessen  Stelle  ent^^eder,  wie  hier  geschehen,  die  IJcneimung  des  \'aterlandes.  oder  ein 
von  ii-gend  einer  Thal,  einer  äiiCseru  Zuialiigkeit,  dem  betriebenen  (lewerbe,  liergenommener  Beiname 
tritt,  wodurch  zwar  l'iir  die  !Mil lebenden,  nicht  aber  die  Geschichte,  die  Person  liinlänglich  bezinchnet 
wird,  l'jben  so  lehlt  die  genauere  Angabe  der  Zeit,  in  welcher  die  Erfindung  geschehen  ist;  denn  das 
Jahr  1170,  das  wir  bei  Prätorius  ')  linden,  ist  wohl  nur  wlllkührlich  angenommen,  mit  Rücksicht  auf  die 
Erhebung  8i\tus  I\^  auf  den  päpstlichen  Stuhl,  welche  um  1471  erfolgte.  Sabellicus  mindestens  hat 
keine  Jahreszahl,  und  wenn  Prätorius  ihn  als  seinen  GeM .'ihrsmann  nennt,  so  kann  sein  Zeugnifs  nur  in 
so  weit  gellen  als  er  mit  seiner  Quelle  übereinstimmt,  nicht  aber  einen  neuen  Beweis  liefern.  Dafs  der 
Eriinder  Organist  an  St.  Blarcus  gewesen,  darüber  haben  Avir  nur  Gerbers  Versicherung  -)  ohne  Angal)c 
einer  Quelle;  dieser  A'ersicherung  aber  sieht  die  ^ermulhung  zur  Seite,  dafs  man  die  ausgczeiclmetsten 
Künstler  jederzeit  zum  Dienste  der  llauptkircbe  berufen  haben  Merde,  welche  sich  durch  das  bis  auf  die 
neuesten  Zeiten  beobachtete  Verfahren  bestätigt.  Erwägen  wir  nun,  dafs  Sabellicus  an  der  mitgctheilten 
Stelle  von  den  3Ii(lebenden  Sixtus  I\'.  überhaupt,  nicht  den  Zeilgenossen  seiner  Regierung  allein  redet, 
dafs  er  am  Schlüsse  seines  Berichtes  über  die  ausgezeichneten  ^länner  seiner  Zeit  hinzuiügt,  dafs  sie  da- 
mals entweder  bereits  einen  berühmten  ^i'amen  erlangt  gehabt,  oder  zu  blühen  angefangen  hätten:  so  dür- 
fen wir  uns  berecliti"t  halten,  die  Zeit  zwisclien  den  Jahren  1113  —  1159  für  die  der  Erfinduna;.  Bern- 
hard  Mured  aber  (dessen  '\\-ahrscheinlich  -Nerstümmelter  Name  auf  deutschen  T'rsprung  hin-weist)  als  den 
Erlinder  anzunehmen,  zumal  unter  den  Zeitgenossen  auch  (Jenlile  und  Johann  BeUin  genannt  werden, 
von  denen  der  eine  damals  in  seinem  ^ier  imd  zwanzigsten  bis  acht  und  dreifsigsten  Lebensjahre  stand, 
der  andere  um  vier  Jahre  jünger  war.  beide  aber  mindestens  in  den  Jahren  ihres  beginnenden  Rufes  sich 
befanden.  IMeistcr  Eernardino,  lun  sechs  imd  zwairzig  Jahre  älter,  berührt  tles  Sixtus  Zeltalter,  da  er  in 
dessen  fünftem  Lebensjahre  bereits  den  Dienst  antrat  ^)  zu  wenig,  inul  steht  .seinem  Regierungsautritt  zu 
fern,  um  (Ue  Vermuthung  auf  sich  lenken  zu  können;  zu  geschwcigen,  dafs  wir  keine  N'eraidassung  ha- 
ben, ilni  deutschen  Urspnmgs  zu  halten. 

Die  Erihulung  des  Pedals,  so  ^vichlig  fih-  die  Ausbildung  des  Orgelspiels,  ja  der  ganzen  Kunst  der 
Ilannonie  überhaupt,  wurde  es  insonderheit  auch  für  die  Kirche  des  heiligen  i\Iarcus.  Es  leidet  keinen 
Zweifel,  dafs  man  damals  schon  die  neue  Erfindung  bei  der  voibandeneii  Orgel  angewendet  habe;  eben 
so  wenig,  dafs  die  am  Orte  lebenden  Orgelbamneister  zu  gröfserer  \  ervollkommnung  ihrer  Kunst  dadurch 
angeregt  worden.  Am  Schlüsse  des  fünfzehnten  Jahrhimdcrts  wird  uns  Bruder  llrlan  aus  ^  enedig  '^) 
als  vorzüglicher    Orgelbaumeister   genannt.     Er   er])aute,    wahrscheinlich   um  das   Jahr  1190.    niclit  allein 


')  Vergl.  Prätorius  Organograjikia  Cxynt.  nuif.  II.  Th.  3.  Cup.  2.  p.  92 J  n-o  die  zuvor  angeführte  Stelle  ritirt  ist, 
and  ib.  cap.  /".  p.  96  wo  Sal/cllicus  iibernmls  citirt  wird  f\  membro  partis  primae  primi  tomi  c.  10;  ein  Citat  das 
aufzufinden  mir  unmiiglich  genesen,  da  eine  Abtheilung  der  angegebenen  Art  in  Sabellicus  Werken  sieh  nicht  J'nidcl] 
Wolf  Caspar  Printz  f Historische  lieschreibung  der  edlen  Sing,  und  Kling-Kunst  §.  29  Cap.  X.J  hat  das  Jahr  ]  I7ü 
unter  gleichmäfsiger  Berufung  auf  Sabellicus,  und  daher  mit  nicht  griifserem  Hechte  als  Prätorius.  ^)  Sie  liegt  in 
der  Angabe  dafs  er  im  Dienste  eines  Herzogs  von  l'enedig  geicesen.  JV.  Lc.vikon  I.  col.  367.  ')  Siartus  II'.  u-ar 
lilA  geboren.  Vergl.  Ghilini  teatro  d'uomini  lettcrati  II.  93.  *)  ,S".  Sansorino  I'enezia  lib.  V.  fol.  75;  bei  lieschrei- 
bung der  Kirche  S.  Cassano  (früher  Santa  CeciliaJ  im  Stadtheile  Santa  Croce.  E  l'organo  fu  di  mnno  di  Frate  l'r- 
bano  il  quäle  si  dice  da'  musici  che  non  hebbe  aleun  pari  in  compor  cosi  fatti  strunienti. 


-      27      — 


eme  neue   Orgel  an  die  S.cUo  der  bisl.erigen  ä!.e™   in  Sl.  Marcus,    sondern    aneh  eine  .weile  ihr  o,o,n. 
ui.er.    cbe   zwar   beule    „a^t    „.ein-    vorbanden    sind,    aber    n.it    den.    Nan:en    ihres    Irbebers   be.elbne, 

Aas   dem   Arcb.ve    derselben   geht   hervor,    dafs   nm   das   Jahr   1490   a.n    .Manzigsten  Angus,   Francesco 
IJnro  als  der  erste  Organ.s,  an  der  zweiten  Orgel  gewählt  worden.     Ein  noeh  verbanden  s,  wenn  Je  ^ 

d.e.elbe  Jahresz.^d,  von  der  wn-  Inenaeh  n.it  Keeht  voraussetzen  dürlen.  .lafs  sie  aueh  das  Jahr  der  ^o^ 
endung   der  Orgel   anze.ge,    wenn  diese   gleich   nur   die   Inschrift   tührte:    ...lieses   seltene    ^Verk   hat   Br 
Irban  aus  Venedig  verlertigl  ')."  „bnc  weitere  Zeitangabe 

Das   folgende    Jahr   1J.91    .sähe   .lie  Anstalten    f.ir    geistliche    Tonkunst    bei   St.   Marens   ^o^endet 
/;re.0.^.an.sten  besafs  nunmehr  diese  Kirche,  und  ein  geübtes  Sangerchor,  das  „m  jene  Zeit  auch  wohl 
che     Verke  der  dan.als    bhU.enden,    ansgezeiebneten    nie.lerbindiscben  Sangn.eister   ausieführt   haben  Ti 
b.s  dalun  aber  scheu.t  es  nur  unter  „unmittelbarer  Aufsicht  des  ältesten  der  Sänger,  nicht  eines  besondern 
Sangerme.sters  gesü.nden  zu  haben.     Als  solcher  wird.  un.  11.01  .„  ein  und  d.^ifsi.sten  August  erwii 
u>     uerst  eu.  Pnester  Fossa  (äe  Ca  FosslsJ  genannt;   unsere  Kenntnifs  von  ihn^  beseb.ä.^t  «ich  a 
Ied,ghch  auf  semen  Namen     Denn  linden  wir  gleich  in  späteren  Sammlungen  geis,li,.her  (iesänge  dergleid.en 
or  von  denen  ^.o.««,» /-Wals  (rheber  genannt  WP-),  so  enthalten  diese  am  Schlüsse  dL  sechzehnten 
mui  zu  Anlange  des  s.ebzehntea  Jahrhunderts  erschienener.  Samndungen  do,.h  .rr.fsteutheils  nur  \Nerke  jün- 
gerer oder  alterer  Zctgenossen  der  Sanunler,  oder  ^on  Meistern  der  nächst  ^„rhergehenden  Zei,-  es  wird 
also  wal.rschemheb,dafs  die  in  ihnen  entbaltci.en  Gesänge  des  Jo/.anncs  Fossa  von  einen  jün-en,  Meisler 
d.eses  Namens  herrühren,   zumal  sie  aucl.  sämmthch  das  Gepräge  späterer  Entsteluu,,  ...  .si,i;  „-aoen  ' 

Der  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  endlich  war  es,  wo  zu  Venedig  dem  heilio-en  Ge 
sänge  em  neues  L,cht  aufging  in  einem  ai.sgezeicbucten  Fremden,  der  mit  Recht  als  erster  Gründer 
der  ^e„e^scl,en  Schule  genannt  ^^ird.  Um  das  Jahr  1527,  am  12.  Dccember,  ^^-urde  4driau  UU- 
lacH  als  Sängerme.ster  von  St.  Marcus  erwählt.  Er  war  aus  Brügge  in  Flandern  gebürtig,  wiewohl  an- 
-lere  .hn  emen  I- ranzosen  nennen,  veranlafst  wahrscheinlich  nur  dnrcb  den  l  n.sll.nd.  dafs  er  in  Paris 
iruherhm  der  hechlswissensehaft  oblag.  Der  eigenihiunlichen  \erdienste  dieses  Meislers  um  die  Vusbil 
duug  des  he.bgen  Gesanges  werden  wir  im  Folgenden  gedenken,  wenn  wir  .liese  in.  Zusa,„,..enhanoe 
betrachten.  Iher  genüge  die  Zusannnenstellung  desjenigen,  was  Zarlino.  AVUlae.ts  da.,kbarer  Schüler  in 
•seinen  ^^erke^  über  Tonkunst  hin  und  wieder  zersl.eut  uns  von  den  Lebensumständen  seines  Meislers 
orzahlt.  Schon  d.e  \  .„rede  zu  seinen  Institutionen  gedenkt  desselben  mit  l.ei;eisle.1em  Lohe  Der 
5"ad,se  Gott  ,  (hcfsl  es  daselbst)  .,dem  es  wohlgefällig  ist.  dafs  seine  unc.dlici.e  Macht,  Weisheit  und 
Gute  von  den  .Menschen  gepriesen  und  kund  getlian  wenle  .lureh  aumuli.igen  vu.tl  süfsen  Gesang  hcihger 

?'■  y^  .*Z  ™'"'"'»/"'-*'''''"    ''--'«*  /•      />-«   Bild   des    racconi   hat    die  Ins.hrifl:     Fr„„cisci    Tochoni    Cremon. 
'.";"',;  "'   -^    ^''"'S'-  *''"««•«  '■«  '''■'•  Beschreibung  der  KireheJ.     Xacfi    den   ,„,.    Mosrhini   ^e,cl,enen  Xach- 

ruhtea  (Gu.du  per  la  eitfh  di  Veue-.ia  1«15  /-„/.  /.  p.  'im.  2H1J  n:.rdc.  beide  Orgeln  ran  J„cop„  und  Carlo  de' 
nem  au.  lerona  ,„,  Jahre  1671  erneuert,  dir  ffei^emvärfig.  „„rh  bestehende,,  aber  176ß  von  Gaefano  Calido  erbaut 
ß:,ne  lieseUre,b„ns;  derselben,  n-ie  sie  zu  Gabrieli's  Zeit  beschaffen  f.e,vesen  .  ist  d,,her  „ieht  mehr  mih^/ieh  ;  doch  möchte 
d,e  von  Malthes,.n  in,  rMo,n,„enen  Capelln.eisler  (cap.  XXW.  «j.  ZIJ.  von  einer  derselben  gesehene  Nachricht,  da 
■s,e  ,l.,en  Zustand  nach  der  ersten  Juneueruufc  ,„„  l^ll  bet riffl .  auf  den  urspriingliehen  am  ersten  schließen  lassen. 
,  II, e  m  des  t.eorg.  l  iclorinus  Thcsau,;,s  litauiaru.n.  München  1593  Buch  II.  Ao.  12 ;  des  DonMed  p,o„,ptuar  ■ 
Straßburg  16-2,.    Tb.   III.   Xo.  56.   13S ,-  desselben    ririda.-i„m  musico - Marianum  etc. 

4* 


28      — 


Lieder  er  der  es  nicht  län-or  dulden  konnte,  dafs  jene  Kunst  verachtet  hlelbo,  die  seiner  Verehrung  dient, 
und  hienieden  die  Süfsi^keri  des  Gesanges  der  Engel  uns  ahnen  hisset,  die  im  Himmel  des  Herrn  Ilerr- 
hcJikeil  unaufhörlich  preisen,  hat  uns  die  Gnade  erwiesen,  dafs  zu  unserer  Zeit  Adrian  WiUaert  geboren 
wurde,  einer  der  seltenslcn  Miiuuer,  welche  jemals  die  Tonkunst  geübt  haben.  Er,  ein  neuer  Pylhagoras, 
durchforsclite  auf  das  genaueslc  alles,  was  in  ihr  vorkommen  kann,  und  da  er  sie  durch  unendliche  Irr- 
Ümmer  verdunkelt  fand,  begann  er  diese  hinwegzuräumen,  sie  zu  jener  Ehre  und  Wurde  zurückzubrin- 
gen welche  sie  eiust  bcsafs,  und  allem  Rechte  nach  immer  besitzen  sollte.  Er  hat  gezeigt,  wie  mit 
Verstand  und  Anmuth  ein  jeder  Gesang  zu  ordnen  sei,  und  in  seinen  Werken  davon  selber  ein  augen- 
scheinliches Beispiel  gegeben."  In  einem  spätem  Werke  (den  Dimostraüoni  armonlche  etc.)  ')  führt 
er  seinen  Äleister  selber  redend  ein,  und  läfst  ihn  von  seinen  Lebensumständen  erzählen.  Alionso  von 
Este  (so  beginnt  sein  Werk)  sei  im  Jahre  1562  nach  Venedig  gekommen,  von  den  Häuptern  des  Staates 
ehreuvoU  empfangen  worden.  In  seiner  Gesellschaft  habe  sicli  Francesco  Viola  befunden,  sem  tapell- 
meister,  und  Ml^diülcr  des  Erzidders  bei  WiUaert.  Er  habe  ilm  besucht,  sie  seien  auf  dem  Marcusplatze 
umhergewaudelt,  in  die  Kirche  getreten,  und  zu  ihnen  habe  nach  Beendigung  der  Vesper  auch  Clmuho 
Merulo  aus  Corresii^io,  der  Orsjanist,  sich  gesellt.  IMit  diesem  vereint  seien  sie  dann  gegangen  den  Meister 
Adrian  aufzusuchen,  der  des  Podagra  wegen  das  Zimmer  gehütet.  Hier  sehen  wdr  mm  den  alten  Meister 
selbst,  der  von  iUfonso  eben  einen  Besuch  empfangen  hat,  dessen  Güte,  die  von  dim  bei  Herausgabe 
seiner'  Werke  empfangene  Unterstützung  riUnnt,  der  alten  Zeiten  gedenkt,  und  endlich  mit  seinen  Schu- 
lern und  einem  fremden,  später  hinzukommenden  Besucher,  in  ein  liefsinniges  Gespräch  über  Tonkunst 
gerälh.  Wir  hürcn  ihn  dabei  öfter  mit  einer  gewissen  Behaghcldvclt  seiner  früheren  Rechtsstudien  geden- 
ken und  alte  Juiistcn  citiren.  Desiderlo,  der  am  spätesten  lünzugekommene  IMItunterredner,  fragt  ihn: 
llir  seid  in  Paris  gewesen,  Meister  Adi-ian,  nach  dem,  was  ihr  gesagt  habt.  Idi  war  dort,  antwortet 
Adrian,  und  fing  an  zu  studiren;  aber  Golt-hat  gewoUt,  dafs  ich  endlich  Musik  lehren  solle.  Darauf, 
fährt  Zarhuo  fort,  wendete  icli  mich  zu  Uim,  und  sprach:  Gott,  unser  Herr,  hat  wohl  gewufst,  dafs  die 
Welt  eines  Mannes  bedürfe,  wie  Dir  seid,  damit  Dir  diejenigen  erleuchten  möchtet,  welche  sich  dieser  so 
edlen  Kunst,  und  Ich  darf  wohl  sagen,  auch  dieser  >VIssenschaft  erfreuen.  Denn  wäret  Ihr  nicht  gewe- 
sen, mir  in  deren  Ausübung  hülfreich  zu  sein,  so  würde  Ich  niemals,  ^^ie  ich  es  gethan,  so  tief  in  das 
Innere  und  Einzelne  der  Tonkunst  haben  eindringen  können;  ich  würde,  A\'ie  es  vielen  geschehen,  auf 
da&  Urtlieil  anderer  mich  vertasseu,  mich  an  dasjenige  gehalten  haben,  was  ich  in  ihren  Schrifien  gefun- 
den, und  überzeugt  gewesen  sein,  es  verhalle  sich  so,  wie  sie  berichlet.  Defshalb  war  es  wohl  gethan, 
dafs  Ihr  die  Besciiäfügung  mit  den  Gesetzen  verlassen,  und  Euch  zu  der  Tonkunst  gesendet  hahl;  denn 
in  ihr  nehmt  Dir  die  erste  Stelle  ein,  und  Gott  welfs  es  (wenn  Dir  auch  nicht  ohne  gesundes  Urtlieil 
seid)  ob  Dir  unter  den  Rcchtsgelehrten  die  dritte  erhalten  haben  wüidet.  Gott  hat  es  nun  so  gewollt, 
antwortet  Adrian,  und  ich  stelle  mich  damit  zufrieden  -).  — 

In  Paris  genofs  Adrian,  nachdem  er  die  Rechls^dsscnscliaft  aufgegeben,  den  Unterricht  des  Johan- 
nes Mouton,  eines  Schülers  von  dem  berühmten  Josquin  des  Pres,  und  schritt  bald  in  der  Kunst  bedeu- 
tend vor.  Hierauf  scheint  er  sich  nach  seinem  Vaterlande  zurückgewendet  zu  haben,  und  von  dort  aus 
nach  Rom   gegangen   zu  sein,    wie   aus  der  folgenden  Ei-zählung  Zarllno's   zu    enliielmien   ist").     „Was 

')  Zuerst  1.371  zu  l'enedlg  gedrurlct ,  dcmiiäcJist  ehendaselbst  mit  den  Institutionen,  siipplimenti  mnsicali ,  und  andern, 
die  Tonkunst  nicht  botreflaiden  Werken  1589  uhermals  herausgegeben.  =)  Rag-  I.  p.  3.  Rag.  IV.  proposla  I.  in  fine 
p.  201.     Rag.  I.  p.  13.      ")   Zarlino.  Jnsfit.  Lib,  IV.   C.  35.  in  fme. 


—      29      — 

Umvissenheit  und  Bosheit  der  iMenschen  im  Vereine  vermögen,"  (heifst  es  bei  ihm)  „sehen  vär  recht  an 
demjenigen,  Avas  sich  mit  unsenn  vortreEflichcn  IMeister  Adrian  in  der  päpstlichen  Capelle  zu  Rom  begab, 
ab  er  von  Flandern  aus  zur  Zelt  Leos  X.  nach  Italien  gekommen  war.  An  den  Festen  unsrer  lieben 
Frauen  pflegte  man  dort  den  Gesang:  Verbum  bomim  et  suave  unter  dem  Namen  des  Josquin  aufzu- 
fiUiren,  und  liiclt  ilm  bis  daliin  für  einen  der  schönsten  Gesänge  jener  Zeit.  Als  jedoch  Adrian  den  Sän- 
gern eröffncL  hatte,  dafs  jener  Gesang,  wie  es  auch  wirklich  der  Fall  war,  von  ihm  gesetzt  sei,  vermochte 
Unwissenheit,  oder  (besclieiden  zu  reden)  Bosheit  und  Neid  so  viel  über  sie,  dafs  sie  von  da  an  ihn 
iiiclit  mehr  singen  mochten."  —  Von  Rom  aus,  wo  man  sein  grofses  Verdienst  nicht  zu  schätzen  wufste, 
scheint  er  an  den  Hof  Ludwigs  II.,  Königs  von  Ungarn  und  Bölmien,  Gemahls  der  IMaria,  Scliwcster 
Kaiser  Carls  V.,  gegangen  zu  sein;  mindestens  -svird  uns  ■\'on  Printz  in  seiner  Beschreibung  der  edlen 
Sing-  und  Kling- Kunst ')  (Dresden  1690)  berichtet,  dafs  er  dort  in  grofsem  Ansehen  gestanden  habe. 
Da  er  nun  seit  dem  Jahre  1527  bis  zu  seinem  1563  erfolgten  Tode  in  Venedig  gebheben  ist,  König 
Ludwig  den  Thron  um  151'6  (also  während  der  Regierung  Leos  X.)  bestieg,  um  1526  aber  bei  iMohacz 
von  den  Türken  ersciilagen  ^^an•de,  so  miterstützt  das  Zusammentreffen  dieser  Umstände  die  obige  Zeit- 
angabe. Venedig  Miirde  dem  flandrischen  IMeister  zweites  Vaterland.  Er  sah  sich  allgemein  geehrt  und 
geliebt,  unter  seinen  Pländen  eine  neue  Kunstblüthe  gedeihen,  seine  in  Venedig  gezogenen  Schüler  auf 
sein  Vaterland  wiederum  zurück  ^vV/ken.  LTm  1557  reiste  Peter  Sweliiick  aus  Deventer  nach  Venedig, 
um  dort  Zarlinos  Untenlclit  zu  empfangen,  und  bildete  sich  unter  dessen  Anleitung  zu  einem  der  kunst- 
fertigsten und  berülimtesten  Organisten  seiner  Zeit,  welcher  wiederum  Schüler  aus  verschiedenen  Gegen- 
den Deutscldands  zälilte,  namenthcli  aus  Halle  den  naclimals  hochgefeierten  Samuel  Scheidt,  aus  Hamburg 
die  nicht  minder  hocliscachteten  lleinridi  Sclieidemann  und  Jakob  Prätorius.  so  dafs  man  ihn  dort  nur 
den  hamburgischen  Oiganistenmacher  zu  nennen  pflegte  '^).  —  Adrian  arbeitete  mit  Bedäditliclikeit  und 
Fleifs  seine  meist  künstlicli  verwobenen  mehrstimmigen  Gesänge,  und  scheute  nicht  den  Vorwurf  der 
Langsamkeit,  weil  er  nur  IMusterhaftes  zu  leisten  strebte.  Auch  hierüber  hat  uns  Zarlino  eine  Erzälilung 
auOjewalirt  '),  die  wir  imi  so  lieber  ausfülu-hch  mittheilen,  weil  sie  zugleicli  dienen  kann,  einen  Irr- 
Üiuin  über  Zarlinos  Geburtsjahr  zu  berichtigen.  ..Ich  nehme  Gelegenheit,  einen  Vorfall  zu  erzälden, 
schreibt  Zarlino,  „der  sich  im  Jahre  151]  unscrs  Heils  zutrug,  dem  ersten,  wo  ich  nach  Venedig 
kam,  daselbst  zu  wohnen.  Am  5.  December,  am  Tage  des  lielllgen  Nikolaus,  soflte  für  eine  Brüder- 
sdiaft  der  Tudischeerer  in  der  Kirche  des  lieihgcn  Joliannes  des  Almoseniers  in  Rialto,  eine  feierliche 
Vesper  gesungen  werden.  Noch  waren  nicht  alle  Sänger  beisammen ,  deren  es  dazu  bedurfte,  als  einem 
der  gegenwärtigen  unter  ilinen  der  Einfall  kam,  einen  von  ilim  gesetzten,  etwas  breit  ausgefülirten  Gesang 
zu  lünf  Stimmen  zu  hören,  und  er  die  anwesenden  Sänger  bat,  ihm  dazu  beiiülflich  zu  sein.  Mit  vieler 
Artigkeit  waren  sie  ihm  darin  gefäUIg,  ja  sie  wiederholten  ihn  ein  zweites  Mal,  und  stellten  ihn  danut 
vollkommen  zufrieden.  Nun  wandte  er  sich  mit  frölilichem  Gesiditc  zu  Parabosco,  der  ebenfalls  anwe- 
send war,  und  fragte  ihn:  .,]\Iit  Vergunst,  IMeister  Ilieronymus,  sagl  mir  doch,  we  AieleZeit  wohl  würde 
Meister  Adrian  gebraucht  haben,  einen  solchen  Gesang  zu  setzen.  In  ^^ahrileit,  antwortete  Parabosco, 
IMeister  All)crt  (so  liiefs  der  Tonsetzer)  einen  Gesang  a  on  solcher  Länge  zu  setzen,  würde  ilm  mindestens 
zwci>Ionate  gekostet  haben.  Ist  es  möglich,  dafs  er  so  lange  daran  gearbeitet  hätte,  sagte  der  Tonsetzer 
und  lächelte.     Wisset,  vorgestern    setzte  idi   midi   nieder,    und   stand   nicht   eher   auf  als   bis  idi  ihn  zu 

')   Cap.  XI.   §.  -1.      ')   Maffhrson   Ehrenpforte,  p.  33!.  332.     Aufserdem   uareii   noch    Melchior   Schild   aus    Hannover 
und  Paul  S;ifert  aus  Danzig  SiuelincJcs  Schüler.     ^)  Supplimenfi  masicali.  Lib.   VIII.  C.  13. 


—      30      — 

lüide  gebracht  liallc.  ^Vilh^lich  Meister  Albert,  fiel  ihm  Parabosco  ins  Wort,  ich  glaube  es  Eucli. 
und  CS  befremtlet  micli  nur.  dafs  in  so  langer  Zeit  Ihr  nicht  zehn  der  Art  zu  Stande  gel)racht  liabl. 
Wundert  Euch  aber  nichl,  dal's  ich  auf  diese  Weise  zu  Euch  rede;  denn  Mcini  iMcister  Adrian  seine 
Gesänge  setzt,  so  geschieht  es  mit  allem  Fleifs  und  Elfer,  er  richtet  sehie  Gedanken  und  sein  Streben 
fest  auf  dasjenige,  was  er  maciil,  che  er  es  vollendet,  imd  öffentlich  werden  läfst,  luid  aus  keinem  andern 
(uunde  als  diesem  prcis't  man  ilm  als  den  Ersten  unserer  Zeit." 

Willaerts  vorzüglichste  Scliiiler  waren  der  schon  oft  genannte  Zarlino  imd  Cyprian  de  Bore,  die- 
ser sein  unmittelbarer  -Naclifolger  im  Amte,  jener  nach  demselben.  Buniey  ')  giebt  als  Zarlino's  Geburls- 
jahr 1540  an;  die  eben  mitgethellte  Erzählung  jedoch  widerlegt  diese  Annahme.  Denn  Zarlino  redet 
von  jenem  Vorfalle  offenljar  als  Augenzeuge,  und  nennt  das  Jalir  1511,  in  welchem  er  sich  zutrug,  nicht 
elwa  als  sein  Geburlsjalir  (\^ie  hienach  leicht  zu  erachten)  sondern  als  das  erste,  wo  er  seinen  Wohn- 
sitz In  Venedig  genommen,  da  er  nämlich  in  Chioggia  geboren  war;  zu  geschAveigen,  dafs  sclion  um  1557 
l'cter  Swelink  sein  Schüler  war,  welche  liinlängllch  beglaubigte  Thatsache  auchi  für  sich  allein  Buruev's  An- 
gabe widersprechen  a\  ürdc.  ^Veniger  als  ausübender  Künstler,  imd  fast  ausschliefscnd  als  Mathematiker 
hat  Zarlino  der  Kunst  genützt;  wir  werden  auch  seiner  Bemühungen  %vie  der  seines  Meisters  In  dem 
Folgenden  gedenken.  Höher  als  Künstler  unstreitig  steht  Vyprlan  de  Rare.  Seiner  Grabschrifl  in  der 
llauplkirchc  zu  Parma  zufolge,  welche  1565  als  sein  Todesjahr,  sei».,  Alter  auf  49  Jahr  angiebt.  war  er 
um  1516  geboren,  zu  Mecheln  in  Brabant.  Seinen  vortreffliclien  Gaben  kam  ^\illaerts  gründlicher  Un- 
terricht sehr  zu  Statten;  sclion  fridie  erwarben  ihm  seine  allgemein  bewunderten  \\erke  in  Italien  den 
iNamen  des  Götlllchen.  Auch  in  Deutschland  waren  seine  Verdienste  hochgeehrt,  und  einer  der  knnst- 
liebendstcn  Fürsten  jener  Zeit  legte  in  dem  Sinuc  derselben  einen  redenden  Beweis  da\'on  an  den  Tag. 
AVIe  jenem  Zeitalter  der  harmonische  Gesang  überhaupt  mehr  für  eine  köstliche  und  zierliche  Einfassung 
heiliger  Worte,  uralter  überlieferter  Tonweisen  galt,  als  dafs  man  in  ihm  die  Entfaltung  ihres  Geistes 
durch  eine  elgenthümllche,  gehclnmlfsvidle  Kunst  geahnet  hätte,  so  geschähe  es  nicht  selten,  dafs  um  gf- 
.schätzte  Tonwerke  in  diesem  Sinne  \\ie(K"runt  zu  ehren,  m.in  von  ihnen,  auch  nach  Erlindung  der  Buch- 
druckerknnst,  die  zierlichsten  und  praclit\'oilstcn  Abschriften  verfertigen  Ilcfs.  und  sie  mit  den  Bildern  der 
Meister  und  andern,  auf  den  Iiüialt  des  Werkes  bezüglichen,  in  den  leuclitendsten  Farben  ausgemalten 
Darstellungen  schmückte.  Diese  Ehre  erwies  Herzog  Albert  V.  von  Bayern  den  vier-  bis  achtslhumlgen 
Gesäugen  des  Cyprlan  de  Rore;  tlic  Abschrift  derselben  und  die  der  Bul'spsalmen  des  Orlandos  I^assus. 
den  jener  Fürst  vorzüglich  aclilele,  werden  noch  jetzt  aid'  der  Büchersanimlung  zu  München  auf- 
bewahrt. Cyprlan  de  Bore  trat  zuerst  in  die  Dienste  Herkules  11.,  Herzogs  von  Ferrara;  nach  dessen 
um  1558  erfolgteni  Tode  scheint  er  auf  N'erlangcn  seines  [Meisters,  der  die  letzten  Jahre  seines  Lebens 
durch  Krankheit  an  \\  ahruelmiung  seiner  Berufspfllchlcn  gehindert  wurde,  sich  nach  ^  enedlg  gewendet 
und  die  Stelle  seines  iMilhellers  Cl'ice-niaestroJ  angenommen  zu  haben.  Nach  dessen  Tode  wurde  er 
am  ellfleu  October  156.3  von  den  Procuratoren  zu  seinem  Nachtolger  gewäldf,  blieb  jedoch  mir  zwei  Jahre 
in  diesem  Amte,  indem  er  schon  1565  dem  Rufe  des  Octavlo  Farncse,  zweiten  Herzogs  in  Parma,  folgte. 
aber  noch  in  demsel])eii  Jahre  mit  Tode  abging.  a\o  denn  Zarlino  (am  iiinllen  .(tdius  erwiihlt)  ihm  nach- 
folgte. Dafs  er  zuerst  den  ^'^  orten  ihr  volles  Kecht  bei  dem  Gesänge  habe  widerfahren  lassen,  rühmt 
ihm  Artusl  -)  vorzugsweise  nach;  dafs  er  aucii  im  Orgelspiel  erfahren  gewesen,    zeigt    ein    um  1549  von 


')  Biirnet/  hixlort/  of  miisic  JII.   162.      -J   Impcr/ezzii'ii  dctUt  mifilrit  moilcrnn.      i'enezia  IfiOO.  Fol.    19   ier»o  et  20. 


I 


—      31       — 

ihm  und  ^ViUaert  zu  Wno.lig  erM-liionones  Werk,  das  fj.cils  freier,  Üieils  künstlicher  U7ul  strenger  für  die 
Orgel  gearbeitete  Tonstücke  enüiäll.     Audi  seiner  \\erden  ^\ir  ferner  gedenken. 

Neben  diesen  drei  Sängormeislem  besafs   um   jene  Zeit   die   Kirdie   auch   vortreffliche    Organisten: 
Jaquet  von  Berghem,  Hieronymus  Parabosco   und  Claudio  Merulo   von  Correggio  an  der  ersten  Orgel, 
Bruder  Armonio  und  Hamdbal  aus  Päd „a  an  der  zweiten.     >Vir  übergelien  liier,  M^e  früher,  die  Namen 
der  weniger  bedeutenden  >).     Die  Amtsililirung  Jnquefs ,  der  am  fünfzehnten  Juli    L541    erwählt  wurde. 
föUt  m  die  letzten  Lebensjahre  ^Villaerts;  er  war  der  letzte  Niederländer  und  überhaupt  aufserhalb  iLahen 
Geborne,  weldier  der  Kirdie  tUente.     Seine  Benennung  nadi  seinem  Geburtsorte  Bercken  bei  Anlweqien. 
die    seinen   Geschleditsnamen    ungewifs   läfst,    hat   \-eranlassung   gegeben,   ihn    mit   Jakob    Waet  und  Ja- 
kob de  Wert  zu  verwechseln,   da   die   von    ihm   gedruckten   AVerke   dodi   aus   den   Jahren  1539-1.557 
herrüliren  ^).  die  jener  beiden  andern  Kleister  aber  aus  der  letzten  Hälfte  des  Jahrhunderts ;  (1560—1.599) 
auch  alle  unter  Jaquets   Namen   ersdiienenen   Werke    offenbar   das   GepWige   früherer  Zeit  tragen.      Sein 
Amtsgenossc  bei  der  an.lern  Orgel,  Bruder  Armano  oder  Armonio  aus  dem  Orden   der  crociccineri,  seit 
dem   sedizehulen  September    1516  im  Dienste,   ersdieint   uns  neben    seiner  Kunstfertigkeit  von  einer  be- 
sondern, seinem  Stande  und  Beruf  nicht   ganz   entsprechenden   Seite:   als  Lustspiddiditer  und  komischer 
Schauspieler.     Als  solchen  rühmt  lim  Sansovino  %  mid   durdi  Tiraboschi  *)  erfahren  wir,  dafs  sein  voU- 
standiger  Name  Giovanni  Armonio  Marse  war.     Ein  lateinisches  Lustspid,  Sieplianlum,   ist   von    ihm   zu 
\enedig  bei  Beniard.no  \  itali  gedruckt,   und  wufste  selbst  dem  so  eklen  Sabdiicus  =)  Beifall  abzulocken. 
In  einem  Briefe  an  den  Aerfasser  lobt    er   den   Inhalt,   die   Würde    der   Personen,   die   Ge^A iditlgkeit   der 
Denksprüche,   den  iJiells  allerthümlidien,  theils  sinnreidi  gebildeten,  in  Anmuth  dem  Plaulinisdien  älinli- 
dicn  Ausdruck.     ..Ilüre,"  (fügt  er  dann  hinzu,)  „was  du  für  eine  grofse  Thatgelhan:  dem  klagen  ddnes  Sa- 
belllcus,  gewohnt,  nidits  verdauen  zu  künnen,  was  unsere  Zeit  bringt,  hat  gleich  einer  neuen  ausgesudi- 
len  Speise  ein  Dnvdilesen  seines  Amionio  soldien  Reiz  gewährt,    als  sd    etwas  iu  ihm,  das   die  sdilum- 
mcrnde  Gaunieulust  aufs  neue  erwecke.     So  grofse  Bewunderung  nun  dieses  Lesen  mir  entlockt  hat,  so 
ausndimendes  A  ergnügen  hat  mir  die  Vorstdlung  gewährt.     Denn   nicht   zufrieden   mit   dem   Namen  'des 
.iutors,  hast  du  audi  Actor  sdn  wollen,  und  in  (Ueser  Art  so  aUgemeiu  gefallen,  dafs  idi,  (denn  von  den 
.Indern  zu  sdiweigen,   will  ich  nur  \on  mir  reden)  der  idi  dem  Schauspiel  nid.t    aUein    bdwohnte,   son- 
dern audi  dabei  den  A^orsitz  fiUirte,  durdi  deine  Kunst  veraulafst  wurde  mir  vorzustellen.  id>   sitze,  nicht 
etwa  in  der  Halle  eines  Klosters,  sondern  in  des  Marcdlus  oder  Pompejus  Theater,  und  sdie  cm  Sdiau- 
.spiel  des  Plaulus  oder  Cäcilius  vorstdien."  —     \'on  den  musikalisdien  Werken  des  Bruder  Annonio  i.st 
uns    nidils    aufbehallen,    wolil   aber    von    denen    des    HIeronjTm.s    Parahosco   aus   Piacenza,    der   (nadi 
dem  Abgang  des  Jaquet)  um  das  Jahr  1551  erwählt,  eine  kurze  Zeit   noch   sein   Amtsgenosse  Mar,   und 
glddve  Neigung  mit  ihm  für  das  Drama,  wie  überhaupt  die  Didilkunst,  thdlle.     Als  fertiger  Organist  und 
fruchtbarer  Tonküusller  wird  er  gerühmt;    wie   verständig   er  dnen   vorlauten   Sänger    und  Tonsefzer  zu- 
rechtgewiesen,  haben   wir   in   dem  Vorigen  gesehen.      i\ldir  nodi  sdieint  man  ihn  als  Schauspiddichter 
geachtet  zu  haben;  weldicm  seiner  Talente  er  sdber  gröfsem  Werth  beigelegt,   können    ^^ir  nidit  sagen, 
da  sdion  Peter  Aretin  in  einem  freundschaftlidien  Briefe  an  ihn  sdne  Doppelzüngigkeit  in  dieser  Rücksidit 
scherzhaft   rügt").     Im   Odober  1518.    als  Parabosco's  Tragödie,   Progne,   in    Venedig  zuerst  erschienen 

'j  Das  roHstlindig^e  f'erzelchnifs  aller  hl  als  Anhang  beigefügt.  ^  />'«  «'"  1561  iei  Gardanus  m  l'encdig  grdruek- 
ten  Motetten  sind  eine  neue  Auflage.  'J  l'enezia  X.  fol.  168  vcrso.  "J  Tiraloschi  J'U.  1400.  'J  Epistohe  SaMli- 
ci  lil).   X.      "J  heitere  dl  Pletro  Arellno  Lll>.   V.  pag.   195. 


—       32      — 

war,  schreibt  ihm  jener,  uiiler  herzllelicr  Ermahimnn;  forUufahren,  damit  er,  als  junger  I\Iann  in  den  Kün 
sten  schon  so  weil  ^orgeschnKen,  in  reiferen  Jalircn  noch  Gediegeneres,  Gröfscres  liefere:  „Parabosco, 
es  ist  ffe%vifs,  dnfs  Ihr  und  ßuonarotti  eine  gleiche  Art  habt,  Euch  selbst  zu  rülnnen,  wenn  von  Eurem 
HandA\erke  die  Rede  Ist;  aber  mit  einer  so  neuen  und  so  schlauen  Art  von  Bescheidenheit,  dafs  man 
Euren  Selbstndiin  Ansprucldosigkcit  taufen  mufs.  Giebt  es  da  Einen,  der  Euch  sagt,  wie  schön  die 
Progne  sei,  Eine  Tragödie,  so  antwortet  Iln-:  Musiker  bin  ich,  und  nicht  Poet.  Lobt  man  den  Gesang 
der  Motetten,  die  Du-  habt  ausgehen  lassen,  so  zuckt  Dir  höflich  die  Achseln,  und  sprecht:  Poet  bin  ich, 
luul  nicht  Tonkiinstler.  Gerade  so  maclit  Ihr  es  darin  wie  IVIichel  Angelo.  Erhebt  man  ihm  seine  Ca- 
pelle  bis  in  den  Himmel,  so  entschuldigt  er  sich  mit  der  Versicherung  er  sei  Bildliauer  imd  nicht  iMahler. 
Preist  man  seine  Bildsäulen  des  Julian  und  Lorenz  von  Äledicis,  so  schüttelt  er  das  Haupt  und  ruft,  icli 
mahle,  ich  mcifsele  nicht.  So  trachtet  Ihr  beide  mit  Euren  Entschuldigungen  nach  nichts  geringerem 
als  göttlicher  Ehre,  und  es  ist  keinem  von  Encli  etwas  anzuliaben."  —  Auf  die  Fortbildung  der  Kunst 
mehrstimmigen  Kirchengesanges  hat  Parabosco  unmittelbar  keinen  bedeutenden  Einflufs  geübt,  so  Avenig 
als  Bruder  Arnionio,  und  es  könnte  daher  der  ausführlichere  Bericht  von  beiden  als  überflüssig  erscheinen. 
Allein  es  wird  die  Folge  ergeben,  wie  sehr  die  damals  erwachende  INcIgung  für  das  Dramatische  auch 
auf  den  Bildungsgang  der  heiligen  Tonkunst  eingewirkt  habe,  und  es  Ist  bemcrkenswerth  diese  Neigung 
bei  IMännern,  die  Uir  Beruf  und  ihr  grofses  Gesclilck  jener  andern  Kirnst  vorzugsweise  hätte  gewinnen 
müssen,  in  so  hohem  Grade  vorwallen  zu  sehen,  dafs  ein  IMönch  nicht  verschmähte,  Lnstspieldichtcr, 
ja  komlsclier  Scliauspicler  zu  sein,  und  sein  Amisgenosse,  obgleicli  seine  Aeufserimg  als  bescheidene 
Ausflucht  gelten  kann,  doch  Im  Ernste  wohl  schwerlich  wufsle.  welche  Kinist  ihm  mehr  am  Herzen  hege. 
Einen  vorzüglicheren  Platz  als  die  ebengenanuten  nehmen  imtcr  den  Organisten  von  St.  IMarcus 
Uire  Nachfolger  ein,  die  unmittelbaren  Vorgänger  des  Andreas  Gabrieli  und  seines  Neflen  Johannes. 
Claudio  Merulo,  zu  Correggio  um  das  Jahr  15-32  geboren,  am  zA\-eilen  Juli  1557  nach  Parabosco's  Ab- 
gange erwählt,  lernten  wir  sclion  früher  vorläufig  als  iMiluntcrredner  in  dem  Gespräche  zwischen  Adrian 
WUlaert,  ZarUno  und  Francesco  ^  iola  kennen.  Er  und  sein  nachher  zu  ermähnender  Amisgenossc  wer- 
den von  Vincenzo  GalUel  ')  nebst  noch  [zwei  andern  als  die  gröi'sesten  Organisten  Ihrer  Zeit  gepriesen; 
auch  Artus!  ^)  und  Pietro  della  ^  aUe  rühmen  den  IMerulo  besonders.  Nach  sieben  und  z^^'anzigjährigem 
Dienste  verliefs  er  Venedig,  um  sich  an  den  Hof  des  Herzogs  von  Parma,  seines  angebornen  Fürsten, 
zu  begeben.  Bei  Simon  ^  erovio  zu  Koni  gab  er  um  das  Jahr  159S  eine  Sammlung  OrgelsÜickc  heraus, 
und  Uefs  denselben  um  160-1  ehi  zweites  Buch  folgen.  Dieses  .Talir  Ist  das  Iclzte,  In  welchem  wir  von 
Ulm  hören ;  aus  demselben  besitzen  wir  auch  ein  Blldnifs  'xon  Ihm ,  auf  dem  er  als  Greis  \on  zwei  und 
siebzig  Jahren  mit  kalilem,  lorbeergekrönten  Scheitel,  langem  Barte,  die  Brust  mit  einer  goldnen  Gnaden- 
kelle gesclimückt,  vorgestellt  ist.  So  hat  es  Hiacynlh  I\Icrnlo  sein  Nefl'e  der  von  ihm  fünf  Jahre  später 
veranstalteten  Ausgabe  einer  acht  und  einer  zwölfstimmigen  Jlesse  im  IlolzscJniltle  beigefügt,  die  er 
dem  liebsten  Freunde  des  Verewigten,  Marcello  Prato  aus  Parma,  zueignete.  Es  erweckt  ein  günstiges 
Vorurthell,  üin  nicht  aUein  von  seinen  Zeitgenossen,  sondern  auch  von  dem,  gegen  ältere  Tonsetzer  im 
Vergleiche  gegen  neuere  sonst  mit  seinem  Lobe  oft  kargen  Mattlieson  gerühmt  zu  sehen,  der  In  seiner 
eigentliümlichen  Schreibart  Um  „einen  fleifsigen  Faniastcn"  nennt,  „in  gutem  Verstände  genommen,  der 
seine  Styl- Früchte  vor  mehr  als  hundert  Jahren  nicht  nur  gedruckt,    sondern  in  dem  saubersten  Kupfer- 

')  Vialogo   della   musica   anlica   e  modema.    1581.   p.    136.        »)  Artusi.   Imperfeizioni  della   modema  musica.  fol.  67 
fversoj  6S. 


—      33      — 

slichc  hinterlassen,  den  man  nur  mit  Augen  sehen  Ivann')".  Hannibul  aus  Pudiia,  sein  Aiiil.sgeuo.sse, 
seit  dem  neun  luid  zwanzigsten  November  1552  Narhfolger  des  Bruders  Armonio,  erliillle  nach  der  \  er- 
.slcherung  seines  Landsmanns  Scavdeoni  -)  ganz  Ilalieii  mit  seinem  Lobe.  Nach  eben  erst  vollendetem 
^ier  und  zwanzigsten  Jahre  \\;ihUcn  ihn  die  Procnratoren  zu  der  damals  ausgezeichneten  Ehrenslelle  ei- 
nes Organisten  an  St.  Marens;  er  war  hienacli  um  «las  Jahr  1528  geboren,  (iesclmiack  imd  Geläufigkeit 
im  Orgelspiel,  Gelehrsamkeit  luid  Gründlichkeit  in  seinen  mehrstimmigen  Gesängen  werden  ilun  nachge- 
riilmil.  Sein  Znsanmienleben  mit  einem  grofsen  Kiiti.sller  gleicher  Arl,  mit  dem  er  auch  gleichen  Sinnes 
gewesen  sein  mufs,  gal)  \  eranlassung  dazu,  dal's  beide  au  den  grol'sen  kirchenrcslen  und  bei  den  felerll 
chen  Kirchgängen  des  Doge  sich  zugleich  auf  ihren  Orgeln  hören  liefsen,  ein  Gebrauch,  der  seitdem  bei- 
behalten worden  ist.  — 

Dieses  ist  das  ^^  esenthchste ,  was  wir  von  den  Lebensumsländen  der  Vorgänger  heider  Gabrieli's 
aufgezeichnet  finden.  Die  Ent^ickelung  des  inneren  Bildungsganges  der  kirclihchen  Tonkunst  zu  Venedig, 
den  Bericht  über  die  Einwrkung  jener  Meister  auf  denselben,  behalten  ^vir  dem  Folgenden  auf,  wo  Bei- 
des in  fortgehender  Darstellung  erfolgen  kann,  ohne  dafs  es  dann  einer  Unterbrechung  durch  dasjenige 
bedarf,  was  die  eben  beendigle  Erzählung  vorausgenommen  hat.  L'm  jedoch  Alles,  was  wir  über  die 
äufsere  damalige  Lage  des  gesannnten  Musikchors  des  heiligen  Marcus  bemerkt  finden  ^),  hier  der  Voll- 
ständigkeit wegen  noch  mitzutheilen,  so  betrug  die  gesammte  Ausgabe  für  den  Kirchendienst  von  St.  Mar- 
cus um  jene  Zeit  jährlich  12000  a  enedische  Ducaten.  Der  Sängermeister  bezog  ein  Gehalt  von  400  J)u- 
calen,  oder  1100  Giüden,  aufser  freier  Wohnung,  Geschenken  und  andern  unbestimmten  Einnahmen; 
der  ihm  zur  Hülfe  beigegebene  \  icemeisler  die  Hälfte.  Die  beiden  Organisten,  zwischen  denen  kein 
N^oiTang  stattgefunden  zu  haben  scheint,  erhielten  ein  jeder  200  Ducaten  oder  550  Gulden  jäln-hch;  (k- 
ncben  hatte  ein  jeder  von  iimen  nocli  einen  Gehülfen.  Der  Sänger  waren  nicht  unter  40;  auch  Geiger 
und  Bläser  waren  in  verhällnifsmäfslger  Anzahl  mit  jährlicher  Besoldung  angestellt.  Die  Ausslattnng  tlle- 
ser  Bedienungen  mufs  für  jene  Zeit  uns  um  so  reicher  erscheinen ,  wenn  Avir  aus  einer  handschriflUchen 
NacJiriclit  über  Kaiser  Rudolfs  II.  Hofstaat  zu  Prag  *)  ersehen,  dafs  sein  Capellmeister  jäbrhch  nur  360 
Gulden  bezog,  daneben  an  Kleidcrgeldern,  INeujahrsgeschenk  und  Hauszins  nur  nocJi  120  fl.  an  Zubufse; 
der  Kammerorganist  eben  so  viel,  wenn  man  tlie  ihm  daneben  ertheillen  Vergünstigungen  in  Anschlug 
bringt;  und  dafs  dennoch  die  kaiserliche  CapcUe  damals  nelist  der  herzoglich  Bairischen  zu  München  für 
die  bedeutendste  und  am  besten  ausgestattete  in  Deutschland  galt. 


')  Im  roUliommenen   Capellmeister   Cap.  X.   §§.96.  97.      ')   Seardeuni:  de  antiquilute  titbis   Pufaiii:    />.  //.   Cl.  XII.  de 
claris   musieis  Patariiiis    fiit  JirieJ.       ^)  S.  IJo^ltoni    Ije  vose  notablli  e  maravi^/josc  della  eitta  dt  J'enczia  efr.  umpUate 
da   Ziianne   Zitlio.    Venczia   IÖ62.   Lib.   II.  pag.  203  —  206.      Sanxuvino   L.   II.  f.  39.    iO.       ')   Rieger:     Archiv  der   Cr 
Schichte  und  SlaHslilc  von  liiiliinen.  II,   193  «yy. 


.  rl'.l.l    ,lol..  I.,il>i'i.'li  II    -.  Zcilnli, 


M 


•ji 


BRITTES  HAUFTSTÜCK. 


,Tohannes  GahrieU;  dessen  IjeheiLwerliäUmssc  ntid  Zteit genossen. 

tfohanncs  Gabileli  wurde  zu  \  enedig,  Avahrschelnlicli  gegen  die  Mitte  des  scchzcluilcn  Jahrhunderts,  ge- 
boren. Sein  Name  deutet  auf  Abstammung  -son  einem  edlen  Gescldechte.  Die  Gabrielli,  früher  Cavo- 
belli  genannt,  gehörten  zu  den  ältesten  patrizisclien  Familien  Venedigs;  öfter  finden  wir  ilircr  gedacht 
als  mit  hohen  Ehrenämtern  bekleidet,  durch  Geistesgaben  und  Gelehrsamkeit  geschmückt.  Andreas  Ga- 
brieli,  früherhin  Statthalter  in  Candia,  und  Zacharias  Gabrieli  wurden  zu  Anfange  des  seclizehnten  Jahr- 
Inmderts  zu  Procuratoren  gewählt;  dem  letzten  ei-Avarb  ein  patriotisches  Geschenk  von  7000  Ducaten  an 
den  erschöpften  Schatz  jene  Würde.  Mit  Rulim  wird  um  die  Rlitte  des  Jahrhunderts  Trifon  Gabrieli 
genannt,  imd  Jakob  sein  INeffe;  beide  als  ausgezeichnclc  Astronomen,  der  erste  als  Verehrer  seiner  Wis- 
senscliaft  in  so  hohem  Maafse  '),  dafs  er  sich  aller  öfTcnlhclien  Aemter,  aller  Reichthümer  cntselilagen, 
seine  Freude  nur  an  seinen  Büchern,  in  seine»  Schülevu  gefunden  habe.  Dafs  Johannes  Gabrieli  von 
ihm  abstamme,  ist  nicht  zu  behaupten,  wahrscheinlich  aber,  dafs  seinen  \  atcr,  oder  irgend  einen  seiner 
Vorfahren,  die  Vermählung  mit  einer  Person  bürgerlicher  Abkunft  für  seine  Naclikommen  der  Vorreclitc 
adhcher  Geburt,  \vie  es  Herkommen  zu  ^^enedig  war,  verlustig  gemacht  liabe.  Beschäftigung  mit  den 
Wissenschaften,  Bekleidung  öffenthcher  Lehrämter,  war  den  Edlen  Venedigs  vergönnt,  der  Handel  ihnen 
bald  verboten,  bald  erlaubt,  öfter  sogar  empfohlen;  die  Ausübung  irgend  einer  Kunst  aber,  auch  der 
edelsten,  untersagt,  wenn  sie  des  Erwerbes  willen  geschähe:  alle  Vorrechte  edler  Geburt  gingen  ihnen 
dadurch  verloren,  in  so  hohen  und  verdienten  Ehren  man  sie  auch  als  Künstler  gehalten  haben  A\ürde. 
Finden  wir  nun  unter  den  Tonküustlern  venedischer  Abkunft,  die  thclls  der  Kirche  des  heiligen 
Marcus,  tliells  auch  fremden  Fürsten  dienten,  Namen  wie  IMemo,  l\larln,  ZlanI,  Prlull,  Capello,  welche 
an  die  edelsten  Geschlechter,  ja  die  berühmtesten  Fürsten  Venedigs,  erinnern,  und  erwägen  wir,  dafs  selten 
einer  der  Edeln,  auch  der  verarmtesle,  für  seine  Person  freiwIUig  den  Rechten  seiner  Geburt  um  eines 
Vortlieils  willen  entsagen  moelile;  so  werden  wir  auf  die  Vermnthung  geführt,  dafs  die  im  Sinne  des 
Freistaats  nicht  reine  Abkunft  jener  JMänner,  wenn  sie  ihnen  auch  den  Namen  nicht  rauben  können, 
docli  sie  Dircs  Standes  verlustig  gemacht,  und  dadurch  jene  sonst  nicht  erlaubte  Art  des  Erwerbes  Ihnen 
freigestellt  habe.  So  mag  es  denn  auch  mit  Johannes  Gabrieli,  und  Andreas,  seinem  Oheim  luid  Lehrer 
der  Fall  gewesen  sein.  Dieser  letzte,  einer  der  ausgezeichnetsten  Tonkünstlor  seiner  Zeit,  wuixlc  lun 
das  Jahr  1556  am  dreifsigsten  September  als  Organist  an  der  zweiten  Orgel  zu  St.  IMarcus  erwählt,  nach 
dem  Abgange  Hannibal's  des  Paduaners,  der  dieses  Amt  nur  \ier  Jahre  lang  bekleidet  hatte.  In  den 
Areliiven  der  Kirche   wird  er  nldit  mit  seinem   Gescldeclitsnamen ,    sondern  Andrea   da  Canareio  ^)  ge- 


')  Uoglioni  pnff.  298.  ')  Unter  diesem  Namen  wird  er  auch,  neben  Claudio  da  Correggio,  t'incenzo  Bel/avere  und 
Paolo  da  Caslello  CGiusloJ  zu  den  gröj'sesten  Organisten  gezählt  von  Garzoni,  Piazza  universale  cte.  Dise.  XIII. 
pag.  440  der  1599  zu   l'eacdig  bei   Robert  Meictti  crschieneen  Aasgabe. 


—      35      — 

iiannt.  nach  dem  Stadlllicile  in  welchem  er  gehören  war.  Avic  es  um  jene  Zeit  häufig  geschähe,  üreifsis, 
JaJire  lang  diente  er  der  Kirche,  die  heiden  letzten  als  Anrtsgenosse  seines  Neffen  und  Schülers,  die  frü- 
heren in  Gemeinschaft  mit  Parahosco  und  Claudio  IMerulo;  \\illaert  und  dessen  Schüler  C's'^irian  und 
Zarlino  standen  führend  seiner  Amtsführung  dem  Chore  der  Sänger  vor.  Die  gröfscstcn  Tonmeister 
der  älteren  Schule  trafen  um  jene  Zeit  in  \  cnedig  /Aisammcn,  unter  Umständen,  wie  sie  für  die  Ausbil- 
hildung  jeder  Kunst  nicht  förderlicher  sein  konnten,  zumal  einer  erst  aufljlühenden,  ■wie  die  Kunst  voll- 
stimmigen  Gesanges,  welche  ausgezeichnete  fremde  Meister  zuerst  dahin  verpflanzt  hatten.  Zu  jenen 
günstigen  \'erhältn!ssen  mufs,  wie  Venedigs  Lage  als  Ilandelsstaat  üherhaupt.  so  insbesondere  der  lebhafte 
\  erkehr  mit  Deutschland  gerechnet  werden,  namentlich  den  Reichsstädten  Augsburg  imd  Kürnberg.  Die 
zu  Anfange  des  sechzehnten  Jahrhunderts  eingetretenen,  für  Venedigs  Handel  ungünstigen  Ereignisse  hat- 
ten auf  die  \  erbindiuig  mit  Deutschland  durch  den  Lauf  desselben  noch  keinen  bedeutenden  Einflufs; 
ja.  nachdem  durch  die  Kirchenverbesserung  imd  die  seit  Carl  dem  Fünften  unterbhebenen  Römerzüge  der 
Zusammenhanir  mit  Rom  tlieils  imt erbrochen,  tlieils  irelöst  worden  war,  schien  Venedia;  vorzuiLSweisc  der 
Vereinigungspunkt  für  beide  Völker  geworden  zu  sein,  weil  hier  vor  allem  die  Evangelischen  eine  gast- 
freie imd  freundliclie  Aufnahme  erfuhren,  dem  Handel  .iber  alle  Förderung  zu  Theil  wurde.  Augsburg 
sandte  die  Söhne  seiner  reichen  Patricler  nach  ^  enedig  als  der  hohen  Schule  für  llandelskunde  mid  feine 
Sitte;  iNürnbers;  erbat  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  die  \  erordnungeu  \  enedigs  über  vormund- 
schaflliche  ^'er^^altung,  und  erlüelt  sie;  ohne  LTnterbrechung  blieb  der  freundliche  Verkehr  dieser  drei 
Städte.  Schon  seit  dem  Anfange  des  Jahrhunderts,  um  1506,  hatten  die  Deutschen  am  grofsen  Kanäle, 
in  der  JNähc  der  Brücke  von  Rialto,  ein  geräumiges,  prächtiges  Kaufbaus  für  sich  erbaut  '),  es  mit  den 
Rudern  der  grofsen  venedischen  !\leister  Giorgionc  und  Tizian  gescluuückt.  So  erhielten  sie  ge\\-isser- 
maafsen  das  Bürgerrecht  \enedigs,  imd  indem  sie,  was  Kunst  und  Gewerbfleifs  in  ihrem  \  aterlande  ge- 
schaffen, zum  Austausche  gegen  Gleiches  und  gegen  den  Ge\\inn  des  venediselien  Seehandels  dorthin 
.scJiafl'ten ,  empfingen  und  gaben  sie  zugleich  mannigfache  geistige  Anregung,  wodurch  ein  ^Velteifer  ge- 
w-eckt  A\urde,  dessen  Aeufserunsen  Mir  in  dem  Fokenden  noch  näher  belrachlen  werden.  Ein  ähnhcher 
aber  zeigte  sich  auch  im  Iimern,  jede  Regung  eigenthümlichen  Lebens  mehr  zu  er^  ecken  luul  zu  schärfen. 
\  on  jeher  Mar.  Mie  in  Italien  überhaupt,  so  auch  in  Venedig  der  Trieb  zu  \  erbrüderungen  für  gemein- 
same Zwecke  sehr  lebhaft  gewesen.  Der  Handwerksinnungen  nicht  zu  gedenken,  Mciche  dort  iint«r 
besonderen  \  erhältnissen  bestanden,  gab  es  ^'ereIne  mancherlei  Art,  in  mannigfachem  Sinne.  Dahhi  ge- 
hörten die  schon  früher  im  Vorbcigelien  erwähnten,  sechs  grofsen  Brüderschaften:  Verbindungen  von 
Einwohnern  jeden  Standes,  zu  gemeinschaftlichen  Andachtsübungen,  zu  ^^  erken  der  Bannherzigkeit  und 
der  Liebe;  reich  durch  die  Beiträge  vermiigender  IMitglieder.  durcii  fromme  Zuwendungen,  thätig  in  Er- 
füllung ilirer  Hauptzwecke,  und  daneben  in  Förderung  der  Kunst  jeder  Art,  durch  AuffüJirimg  prächtiger 
Versammlungsörter,  Schiden  genannt,  durch  Ausschmückimg  derselben  mit  den  Bildern  der  gröfsesten 
Meister,  durch  feierlichen  Gottesdienst  in  ihren  CapcUen,  bei  dem  die  heilige  Tonkunst  nicht  fehlen 
durfte.  Die  beiden  ältesten  tlieser  Brüderschaften  ")  bestanden  bereits  seit  der  lelzlen  Hälfte  des  dreizehn- 
ten Jahrhunderts;  unter  Urnen  war  die  des  heiligen  Johannes  des  Evangelisten  im  sechzehnten  Jahrhun- 
derte so  angesehen,  dafs  selbst  der  stolze  Philipp  R..  der  Infant  Don  Ferdinand,  und  Don  Juan  von  Oester- 
reich  seit  1571  ilir  als  Mitglieder  beitraten;  die  vier  jungem  entstanden  theils  seit  dem  fünfzehnten,  tlieils 


')  Mosrhini  Gitklii  II.  545  —  547.     ^)  Sansoiino  f'eiiezia,   f'II.  99.  -syi?. 

5' 


—       36       — 

st'il  (loni  folscndoii   .»i.lnlniiulorle.    in    >\.-1(1i.mii   iiIIo   au  yViisiloliiuing    und   Ansehen  gewannen.      Daneben 
landen  wiederum  innerliall.  jedeu    (Jeweriv.-.s  eii-ere.    IVonune  Veil)iuduua;en    -slalh,   bei  grofsen  kircblielien 
^eranlassu^-en  Iralen  diese    alle  liei-voi-,    ein  maunigfallig,    ei-eulliüudieli   aiegllederlcs   Leben  ersehien  bei 
jeder  gollesdieusUieben  Feier,    ein    grofsarliges   Gepräge   crbiell   sie  durcb  die  Verbindung   mit  dem  öffent- 
liebcn  Leben,    dureli  giolsc  Erinnerungen   der  Vorteil.     Damit  aber  aueU  bei  aufseiordenllielicn  Gelegen 
heilen,  bei  erwimsdileu  Ereignissen,    es  an  soleheu  nlelil  fehle,   dureh  welehe  die  allgen\eiue  Freude  auf 
würdige  Weise  üffentlieh  kund  werde,  so  pflegleu  bei  \  eraulassungen  soleher  Art  die  JüugUnge  unter  den 
Edlen  Venedigs   sich   zu  Brüderschaften   zu   verbinden,    einen  gemeinschaflliehen   Denkspruch,    einen  Na- 
men lur  ihren  Verein  zu  wählen  ').     Als  Haupt  desselben  ernannten  sie  Irgend  einen  angesehenen  Bürger, 
auch  wohl  einen  auswärtigen  Fürsten,  scUlen  Schreiber  ein  und  andre  Aemter  Behufs  Ihrer  Inneren  \  er- 
wallung,  auch  Capellane  für  den  gemeinsamen  (;ottesdiensl,  hörten  andächtig  bei  ihrem  Zusammeulreten  eine 
hellige  Geislmesse,  und  gelobten  sich  dann  feiertich  die  gegenseitige  Fcsthaltung  der  sich  selber  gegebenen 
Verfassung.     Drei  und  vierzig  solcher  ^'erbindungen  hatten  nach  Sansovino  bis  lun  1562  bestanden,  unter 
den  wunderhchen  Namen  der  Pfauen,  der  Entzündeten,  Königlichen,  Unendlichen  u.  s.  w.  mit  dem  Zwecke, 
In   pracht-  und   geschmackvollen   Spielen    bei    festlichen   Gelegenheiten   zu   wetteifern,    und   die   erforder- 
liche Ordnung  bei   denselben    zu   erhalten.     Die   nach   allem    diesen   In   jeder  Lebensäufserung  hervortre- 
tende  Rlchtunn    auf    das    Oeffenlliche,     Gemeinsame,    Hebe    auch    der   damals    erst    eigenthümlleh    aufblü- 
henden Tonkunst  jenes  besondere  Gepräge,  wie  des  Grofsen  und  des  Kulmen,  so  des  Ernstes  imd  helli- 
o^er    Kidic      das    wir    an     den   \Verken   derselben    noch   bewundern,    und    das    allezeit    nur    unter    ähnli- 
chen  Umständen    errelclit  werden    wird.     Das   nämlich    unterscheidet   die    Tonkunst    von    den    anderen 
Künsten,  dafs  bei  ihr  nicht,  wie  bei  jenen,   mit  dem  \\erke  der  Hände,   der  blofsen  Aufzeichnung,  auch 
das  Kunstwerk   vollendet  dasteht;    dafs,   wenn   es  gröfserer  Art,    unil   eben  In   dem  SImie  geschaffen  Ist, 
in   welchem   tUe   Tonkunst   in   der  Zell,    von   der  wir   reden,    sich  fortbildete,    es  ein   Zusammenwirken 
mehrer  Kräfte  erfordert,    jedesmal,    Avenn  es    für  die  Anschauung   hingestellt   werden  soll.     So  war  denn 
die  Ausübung  jener  Kunst  ihrem  Innern  >\esen  nach  gesellig,  und  wo  ihr  neu  erwachendes  Leben  Irgend 
einer  Anstalt,    zumahl  der  Kirche,    aus  der   sie   hervorgegangen  war,    slcli  anschllefsen  sollte,    die  JNolli- 
wendlgkeit   einer   ^  erbrüdcrung    schon   Im   Voraus   gegeben,    damit   der   IMelster  die   Kräfte  linde,    durch 
die  sein  Werk  in  das  Leben    treten    könne.     AN  er  aber  auch   sonst  au   demselben   sich  erfreuen  moclile, 
wollte  In  jener  Zelt  des  frischen   Aufblühens  es   nicht  etwa  so   gcniefsen,    wie   gegenwärtig  der  Forscher 
im   einsamen   Gemaehe   an   der  N^erknüpfung    der  einzelnen   Stinnnen  in\   Gesamiutüberbllcke  sich  sIjU  er- 
götzt;    das  durstige  Dhr  moIUc    die  neuen   Klänge  unmittelbar   In  sich  trinken,    nicht  für  den  Ueberbhek 
zusammengestellt,    für  die  Ausführung  Aorbereilet,   mufste   das  Werk   dargeboten  werden,    we   wir  denn 
finden,   dafs  alle  zu  jener  Zeit  öffcuthch  gewordenen  Tonwerke  In  den  einzelnen  Gesangstinuncn  erscliic- 
nen  sind.     Durch  den  schönsten  Inneren  Drang  fanden  sich  Künstler  luul  Freunde  der  Kiuist  notliwendig 
verknüpft;    das  Streben   welches  sie  vereinte   aber,  sprach,    auf  ähnliche  Weise  für   diesen  und  jenen  ge- 
meinsamen Zweck  die  Einzelnen  enger  verbindend,    sich   ebenfalls  In    dem  Ganzen  aus.     Das  Ilerrlichsle 
was  die  Tonkunst  geschaffen,   war  bestimmt  bei  feierlicher  Gelcgeid)eit  an  das  gröfseslc,   allen  Menschen 
widerfaluene  Hell  zu  erinnern,   In  das  Leben  zu   treten  in   einem  weilen,   klingenden,   durch  die  frounne 
Kunst   der  Vorältern    zu   einem   Irdischen    Kelliglhumc   sinnig   geschmückten   llaume;    da.s   eigeuthümllche 


')  Sans.  A'.  152  syj. 


—      37       — 

Leben,    der  Glan/.  und  die  Ilolieit  de.s  Valcrlnndes  .sollten  in  diesem  /.„gleich  auf  l.edenlsame  ^^•eise  sich 
darsicllen,  in  aller  ihrer  Herrlichkeit  aber  auch  wiederum  vor  dem  Ewi-en  den.üthio   in  den  Staub  dahin 
sinken.     AVas  aus  dem  frischen  Blldungstriebc  hervoroeo-annen  war,    sollte  bei  öflentlicher  Freude     unter 
freiem   Ilimmel,    unter   der   eioenthümlichsteu ,    festlichsfen,    grofsartigsten   Umgebung   ertilnen;    darf  man 
leugnen,  dafs  unter  solchen  Bedingungen  aucJi  die  Gedanken  des  Meisters  einen  grofseu,    freien,  kühnen 
Flug  gewinnen  mufsten?     Eben   damals    aber  -  wie   mIv  dieses   später  entwickeln  werden  -  war  auch 
der  heiligen  Tonkunst  in  den  Kircheutönen  /.„erst  der  Mittelpunkt  aufgegangen,  von  woher  über  die  frü^ 
bereu,   kunsthclien  zwar  und  sinnreichen,    aber  verwoiTcnen  Tougewebe,   ein  ordnendes,   belebendes,  ge- 
süiltendes  Licht  sicli  ergofs.    An  die  SteUe  eines  bunten,  schnell  verrauschenden  TongeN>ines  trat  nunmehr 
cm  eigeuUminlicli  gegliedertes  und  beseeltes    Tonleben,    in  Fülle  und   Glanz  der  Gegenwart  sich  anscliüe- 
fsend,  gegenüber  jedocli  dem   bewegten,    mannigfaltigen  Leben   derselben,  ihre   Bedeutung  in   grofsartiger 
Kühe    otTenbarend.      Eines   lebendigen   Bildes  .1er    Gcgeuwait,    die   unsern  Meister  imigab,    bedürfen    wir 
also,  wollen  wir  sein  Streben  und  Bilden   völlig    verstehen;    und  }e  weniger  wir  von   den  Begebenheiten 
semer  früheren  Jahre  aufgezeichnet  finden,  um  so  lieber  verweilen   wir  bei  demjenigen,  was  den  frische- 
sten Eindruck  auf  seine  kräftige  Jugend  machen  mufste,  zumal  wir  diejenigen  dabei  thäÜg  finden,  denen 
die  Leitung  derselben  anvertraut  war. 

In   die  Jugendjahre   des   Johannes   Gabrieli,    in   die  Zeit  der  Amtsführung   seines   Oheims  Andreas 
traf  der  Sieg  der  Venediger  und  Spanier  über  die  Türken  hei  Lepanto  ').     Die  allgemeine,  lebhafte  Freude 
bei  der  ersten  Nachricht  von   demselben   ging   (so  erzählen  uns   glaubwürdige  Zeitgenossen)   bald   in   das 
Bestreben   jeden    Theils   der   Bewohner  Venedigs    über,    es    dem   andern   an   neuen   und   geschmackvollen 
FesÜ.ddceiten  zuvorzuthun.     Zu   den  ersten    bei  denen   dasselbe   sich   äufscrte,    gehörten    die   damals  dort 
anwesenden  deutschen  Kaufleute.     Sie  erbaten  und  erhielten  von  dem  Doge  und  dem  Senate  die  Erlaub- 
nifs,  den  erfoclitenen  glänzenden  Sieg  über  den  Erbfeind  der  Christenheit  durch  drei  Tage  mit  öffenthcheu 
Frendenhezeugungen  zu  begehen;   unter  der  I'.edingung  jedoch,   nichts  Unheihges  dabei  einzumiscli^n ,  da 
jede    Aeufserung    der    Freude    bei    solcher    (.'elegeuheit    vor  allem   Andern    dahin   gerichtet    sein    müsse, 
Dank  gegen  Gott  an   den  Tag  zu  legen,    und  sein  Lob  zu   verkünden.     Defshalb   soUle  jede  Festlicldvcit 
aucli  erst    nach  gehaltenem   öffentlichen    Gottesdienste   statt   finden   dürfen.     IMan    wählte   dazu  die  Kirche 
des  heiligen  Jakob  in  Rialto,    vielleicht,   weil  sie  als  die  älleste,  schon  seit  dem  fünften  Jahrhunderte  be- 
stehende  Knchc    Ncnedigs   am   meisten   geeignet   schien,    den   Sieg  der   Christenheit  über   ihren  Erbfeind 
dmt  zu  feiern.     Auf  dem   Platze  vor  dieser  Kirche,    der  mit  offenen   Hallen  rings   umgeben  ist,    war  ein 
Altar  errichtet,    und  eine  Bühne  für  die  Sänger;    die  Kirche  selber  war  zu  klein  um  die  Menge  der  4n- 
daditigeu    zu   fassen.     Dorthin   begab   man   sicJi   in   feierUchem   Zuge:    das  Büd   des   Gekreuzigten   wurde 
vorangetragen,  Spieler  mit  verschiedenen  lusfruinenten,  eine  zahlreiche  I\renge  von  Sängern  und  Priestern 
lolgtc  nach.      Die   Musik   der  Messe,    die    man   sang,    war    nach   Sansovinos   Versicherung   bewunderns- 
würdig;   eben   so  die  der  Vesper,   welclie   erst  z^^ei  Stunden   naeh  Sonnenuntergang  endigte.     Das  Köst- 
hclisle  Nvas  Bdducrci  und  Kunstllcifs  erzeugt  hatte,    wurde  ausgesteUt,    das  Fest  zu  schmücken;    Fremde 
und  Emlieimischc   stritten  dabei   um   den    \'orrang.     Alle   neue    Gebäude  des   Platzes   RiaKo   waren  durch 

')  f  ergl.  Epislola  Rocchi  Uene.lwti  ad  rl.  fi,-.  Ilicroiiymuni  Dimhm  elf.  de  hilaritate  solemnis  gratulalionis  et  dier.im 
festorum  p'optcv  vicforiam  partum  pmßlga/a  r!as:fe  turcica  l'enetih  celebratorum.  l'om  20.  November  1571  dutlrl 
Desgl.  Sunsoriiio    l'enezia.  /.    X.  ful.   1  jb'.    159. 


38      — 


die  dort  ^^■ollnelulo1)  relclieii  vcnedischen  Kanflcute  mit  kostbarem  purpurnen  Stoffe  bezogen,   in  gleichen 
Entfernungen   Gemiilde   daran   gehoflet.      Iliinniclblauer    Stoff   mit   goldgestickten    Sternen    schmückte    die 
Ge^vi•.lbe  der  über  Inindert  Schritt  langen  J lallen  der  'ruchkaufleute ;  mit  Cieliängen  mul  kostliarcn  Teppi- 
chen A\'ar  jede  Säule,    jede  Halle  geziert,    luid  zum  gröfsesten   Schmucke  gereichten   ihr  die  darin  ausge- 
stellten Bilder  der    trefflichsten  IMeister   venedischer  und  römischer   Schule.     Die   gläirzendste  Erleuchtung 
begann   mit  dem  sinkenden   Tage:    grofse  vergoldele   Eeuclitcn,    von   den   C.eMÖlhen  herabhängend,   viele 
Fackeln,   erhellten  das  Innere  der   Hallen,    die  den  Platz  umgaben,  tausend  Lichte  auf  kostbaren  Leuch- 
tern die' Fenster  und   Simse    der  Gebäude:    der  Schlufs   der  kirchlichen   Feier,    der  Beginn   der  lauteren, 
aUen  Berichten   zufolge  aber   durch  kehien   Unfrieden   oder  irgend   einen    ITnfall   gestörten   Freude   y\im\e 
durch  die  edelste  und  glänzendste  l^mgebnng   verherrlicht.     Unfern  der  Brücke  RiaUo,    die  er.st  sechzehn 
Jahre  später  (1587)  von  Stein  aufgefiilirt  ^vurde.  ist  das  Kaufhaus    der  Deutschen,   dessen  zuvor  gedacht 
worden,    am  grofseu  Canale   belegen.     Schon  seine  Lage   allein  hätte   eine  minder  prächtige  Erleuchtung 
bedeutend  liei^ortreten  lassen;    aber  der  AVetteifer  der  Deutschen  mit  den  Eingebornen  hatte  jene  veran- 
lafst.  einen  solchen  Reichthum  von  Fackeln  daraTi  zu  versclnvenden,  von  den  untersten  HaUen  an  bis  zu 
den  obersten  Zinnen  des  Daches,  dafs  nach  Sansovino's  ^'ersicherung,  von  fern  gesehen,  es  ein  gestirnt<?r 
Himmel  schien.     Der  Ton  kriegerischer  Instrumente,   das  Krachen  des  Geschützes  von  dort  aus,  verkün- 
dete den  Beginn  neuer  Festlichkeiten  nach  dem  Schlüsse  der  Vesper:  imd  nun  ertönten  von  den  AJtanen 
des  Gebäudes  mehre  Stunden   nach  einander  die  ausgesuchtesten   Gesänge  und   das  trefflichste   Instrumen- 
tenspiel.    Männer   und  Frauen   jeden  Standes,    in  prächtigem   Sclnnuck,   zogen   verlarAt   über   die  Brücke 
dem  Platze  zu   und   vieder  zurück,    von   Spielern   nmsikalischer  Instrumente   begleitet;    hatten   die   einen 
ihr  Spiel  geendigt,  so  begannen  wetteifernd  die  andern;  von  fröhlichen  Klängen  war  die  Luft  erfiillt;  der 
heiterste  Himmel  begünstigte  das  schöne  Fest.     AVir  finden  ihe  Tonmeister  nicht  genannt,  deren  Gesänge 
die  kirddiche  Feier  Verherrlichten;    doch  läfst  deren   migewidmlich   lange  Dauer   voraussetzen,    dafs,    bei 
der  Vesper  nameutUch,  man  Werke  der  gröfsesten  Meister  Venedigs  aneinandergereiht,  dafs  man  das  Be- 
deutendste dargeboten  haben  werde,    was  die  heihge  Tonkunst  dort  hervorgebracht,    um  durch  die  That 
zu  bestätigen,   was  maTi  glcidi  anfangs  ausgesprochen:    dafs  vor   aUem  andern  bei  einer  solchen  Gelegen- 
heit das  Lob  des  Herrn  zu  verkünden  sei;    und  so  ist  damals  gewifs   auch  Andreas  Gabrieli  hervorgetre- 
ten   wenn  wir  ihn  schon  nicht  namentlich  erwähnt  finden.     Die  frische   Freude  aber  an  den  henlichsten 
Kuiistscliöpfungen   der  Vorzeit    und   Gegenwart   die   sich    damals    offenbarte,    der  heitere   und   lebensfrohe 
Sinn,    Mclclier  die  ganze  Umgebung   des  Festes,   ja  dieses  selber,   zu  einem  Kunstwerke    umschuf,    giebt 
Zeug'uifs  daRir,  ^^'ie lebendig  die  bildende  Kraft  sich  geregt  habe,  ^^^e  jedes  was  sie  erschaffen,  da  es  mit 
vollem  Anerkenutnlfs   und  reiner   Freude  genossen  wurde,    als  die  eigenste  Lebensäufserung   des  Ganzen 
anzuseilen  sei;  der  gedeihlichste  Zustand  für  die  Entfidtung  und  Pflege  jeder  Kunst. 

Drei.Tahrc  später,  um  1571,  linden  ^^  Ir  Andreas  Gabrich  bei  einer  Gelegenheit  genannt,  wo  ^  enedig 
einem  auswärtigen  Fürsten  seinen  Glanz  und  seine  Herrlichkeit  in  einem  Emiifange  zu  zeigen  strebte,  der 
durch  die  besondere  Lage  der  Stadt  und  die  shinvoUe  Anordnung  des  Festes  ein  bedeutendes,  reiches 
Bild  darstellte.  Nach  dem  ^Fode  Karls  des  Neunten  ^on  Frankreich  hatten  dessen  Nachfolger  Ilcmrich 
der  Dritte,  damals  Ki'.nig  von  Polen,  sich  von  Cracau  heindich  entfernt,  um  jedem  Hindernisse  bei  der 
Besitznahme  des  längst  ersehnten  väterUchen  Thrones  auszuweichen,  und  wünschlc  auf  seinem  Wege 
nach  Frankreich  Venedig  zu  sehen,  und  mit  den  Häuptern  des  Staates  einen  Freundschaftsbund  zu  sdilie- 
fsen.     Es  liegt  aufser  den  Grenzen   dieser  Blätter,    eine   ausfühilidic  Beschreibung  seines  Empfanges  zu 


—      39      — 

geben:  es  genüge  eine  jVndeutnng  dessen,  ^vodu^ch  die  EigenthiimliL-likeit  der  Sladl  und  des  Kunstsinnes 
ilirer  Bewoluier  am  meisten  licrvortrat.  Den  Eintritt,  in  das  Gebiet  \  enedigs  bezciclniete  aucli  liier  wie 
bei  den  frülier  beschriebenen  Festen  eine  kirchliclic  Feier.  In  der  Aähc  der  Kirclie  San  JNicoIo  in  Lido, 
dem  Orte,  "\vo  der  König  bei  der  Einfahrt  in  die  Lagunen  an  das  Land  zu  steigen  bestimmt  halte,  war 
von  Palladio  ein  Ehrenbogen  errichtet,  luid  eine  ofTene  Capelle  ihm  gegenüber  mit  einem  Altare.  Hier 
kniete  der  König  nieder,  mit  iiim  die  Häupter  des  Staates  und  alle  Anwesende,  Gott  für  seine  glückliche 
Ankunft  zu  danken;  die  Sänger  von  St.  ]Marcus  stimmten  das  Tedeum  an,  der  Patriarch  Trivisano  er- 
theilte  allen  den  Seegen  ').  Der  König,  der  Doge  jMocenigo,  und  die  Vornehmsten  bestiegen  nun  den 
Bucintoro:  ein  zaldreiches  Gefolge  von  PrachtschilTen  und  Gondeln  —  Sansovino  giebt  bis  auf  sechstau- 
send an  —  mncah  ihn  und  foktc  ihm,  fcsthch  geschmückt,  in  biuitem  Gewimmel.  INicht  minder  über- 
raschend  war  der  Anblick  der  Stadt,  als  des  in  sie  hinein^^  ogenden  Zuges.  Das  Ufer  der  Sklavonier, 
der  kleine  SLircusplatz  mit  dem  herzoglichen  Pallaste,  der  grofse  Canal,  inugcben  von  den  grofsaiiigsten 
.  und  fremdesten  Bauwerken,  die  lumiittelbar  meist  aus  dem  Wasser  sich  erheben  ohne  gepflasterte  Dämme 
vor  ihren  Pforten;  alles  dieses,  auch  weniger  belebt,  gewährt  schon  ein  Bild,  wie  keine  andre  Stadt 
in  Europa  es  geben  kann:  jetzt  aber  N^ogte  auf  den  Uferdämmen  eine  zahllose  IMenschenmenge ,  alle 
Fenster  waren  mit  reichgeschmückten  Frauen,  alle  Dächer  mit  neugierigen  Zuschauern  besetzt  Als 
VVolinung  hatte  man  dem  Könige  den  Pallast  Foscarl  eingerichtet,  der  an  der  scliönsten  imd  günstig- 
sten Stelle  des  grofsen  Canales  belegen  ist,  wo  dessen  ^^indung  den  Bhck  sowold  gegen  St.  iMarcus, 
als  die  Brücke  Rialto  hin  gestattet,  und  die  Aussicht  auf  den  gröfseslen  TheU  desselben  eröffnet.  Als 
der  Doge  und  die  Häupter  des  Staates  den  König  ^'erlasscn  hatten,  genofs  dieser  aou  dem  Altane  seiner 
Wohnung  des  neuen  und  grofsen  Anblicks;  aber  ein  noch  gröfserer,  als  zauberhaft  beschriebener,  stand 
ihm  bevor.  Eine  Erleuchtung  der  Gebäude  auf  jeder  Seite  des  grofsen  Canals  begann  mit  anbrechender 
Nacht,  von  St.  IMarcus  an,  bis  hin  nach  Santa  Lucia,  eine  Länge  von  bcinalie  zwei  italienischen  JMeilen. 
Lihen,  Säulen,  Kronen,  die  verschiedensten  Gebilde  aller  Art,  zeigten  sich  flammend  in  schönstem  Eben- 
maafsc  an  aUen  Gebäuden,  bis  zu  ihren  Zinnen  hinauf;  iVlIes,  gleich  wie  der  lieiterste  Stemenliimmel, 
der  das  Fest  begünstigte,  auf  der  rulilgen  Wasserfläclie  abgespiegelt.  Zwischen  diesen  leuchtenden  Bil- 
dern uml  ihrem  ^^iderscheinc  glitten  die  Gondeln  derer  hin,  die  das  wunderbare  Schauspiel  zu  ge- 
niefsen  gekommen  waren.  Z^^•ei  Stunden  nach  Anbrucli  der  Nacht  schwamm  gegen  die  ^^  ohnung 
des  Königs  eine  offne  Säulenhalle  heran,  auf  grofsen  Barken  befestigt,  die  man  künstlich  versteckt  hatte: 
die  Sänger  von  St.  Marcus,  inid  Spieler  jeder  Art  von  Instrumenten  erflUlten  diesen  Raum.  Lautes  Ge- 
töne  von  Trompeten  und  Pauken  en-egte  Aufmerksamkeit  und  gebot  Stillschweigen:  nun  aber  begannen 
Gesänge  aller  Art  ziun  Lobe  des  Königs.  Zwei  imter  ihnen  sind  uns  in  einer  dreizehn  Jahre  später, 
um  1587,  zu  Venedig  bei  Gardano  gedruckten  Sammlung  aufbehalten,  und  von  dort  in  eine  zu  iNürnberg 
im  folgenden  Jahre  erschienene  Sammlung  unter  dem  Titel  „gemma  tnusicalls"  übergegangen;  beide 
von  Andreas  Gabriel! ,  zu  zwölf  Stimmen  der  eine,  zu  acht  der  andere,  beide  in  zwei  CJiöre  abgetheilL 
Das  eine  der  Gedichte  ergeht  sich  in  ganz  allgemeinen,  prunkenden  Lobreden  —  wie  deren  Gegenstand 
denn  kaum  zu  anderen  veranlassen  konnte  —  das  andere,  ohne  gröfseren  Wcrtli  zu  besitzen,  mag  die 
Gegenwärtigen  dennoch  begeistert  haben,  da  des  Anblicks,  welcher  aUen  damals  vor  Augen  war,  mit 
Lebhaftigkeit  darin  erwähnt,  und  wenn  aucli  des  königliclien  Gastes  mit  Preise  gedacht,  dennoch  bei  dem 


')  Sansovbw   l'enezia.  I.  X.  161   und  folgende. 


—       40 


(Jla.iAo  vomi!;li<l'  M'••^voiU  ^^n■A.  ävn  ilie  Valcr.slaclt  vor  seinen  Augen  enirnllelc:  zix  jvesclnveigrn  iler 
Wirkung  des  Zusanunenklanges  von  'Mvei  ylelslimn.igen.  kräftig  in  einander  greifenden,  bald  iui  >\  echsel, 
bald  znsannnenstimmend  ertönenden  diören. 

An  seinem  Orte  werden  wir  eines  anderen   Gclegenlieitsgesanges   von  Andreas   Gal)ricU   gedenken, 
und  wenn  wir   das  ^'erlläiluirs  seines   Neffen   Joha.nies   /ai  den   ihm   %'orangegangenen   I\Ieistern    darlegen, 
aucli  zu  ihm  wiederum  -/.luiukkeliren.     Inter  seiner  Leilmig,   unter  den  günstigen  Einflüssen  der  damali- 
.ven  Geo-euwarl,  entwickelten  sieh  des  Johannes  Anlagen  vax  bedeutender  ■Meisterschaft.     Schon  um  1575  ') 
\n  einer  von  Cosimo  Bottegari  /.u  ^  enedig  herausgegebenen   Sanmilung  vier-  und  fünfslimmiger  Madrigale 
finden  Avir  seinen  Namen  neben  die  der  gröfsesten  Meister  jener  Zeit  gestellt,    und  ans  allen  Städten  Ita- 
Uens    sagt  ein  späterer  Berichterstatter  ^).    strömten  die  Künstler   nach  Venedig,   sein  Orgelspiel  xu  hören 
und  zu  bewundern.     So  geschähe  es,    dafs  er  nach    dem  Abgänge  des   Claudio  IMerulo  von  den  Procura- 
toren  Jakob  Foscariui,   Franz  Cornaro  und  Jakob  Euto.  für  ^^ürdig  geachtet  wurde  die  Stelle  dieses  gro- 
fsen  I\Ieisters  zu  ersetzen,  lu.d  dafs  sie  ihn  uui  das  Jahr  1584,    dem  letzten  der  Regierung  des  gelehrten 
und  kunstliebenden  Dt.ge  da   Ponte,    am  siebenten  No^ember,    zum  Organisten   an  der  ersten  Orgel  von 
St.  IMarcus   cr^^:ilJlen.      Auch   in   anderer   Rücksicht  war  dieses   Jahr  für  ihn   ein  merkwürdiges.     Jlans 
Leo  Haßler  von  Nürnberg,  späterhin  einer  der  gröfsesten  deutschen  Tonmeister  seiner  Zeit,  kam  m  dem- 
selben nach  Venedig,  mn  unter  des  Andreas  Gahrieli  Leitung  sich  ferner  auszubilden.     Gleiche  Gesinnung 
und  "leiche  Liebe   zur  Kunst  stiftete   zwischen   ihm   und   dem  Johannes,    des   verschiedenen   Glaidjensbe- 
kennüiisses  ungeachtet,    bald  herzliche  Freundschaft,   die  auch  durch  Ilafslers   im  folgenden  Jahre  bereits 
eintretende   Abreise  von  ^^euedig   nicht   gestört  wurde.      Beiden   schlofs   ein   Nürnbergischer  Kunstfreund 
sidi  an,    wenn  auch  seihst  nicht  Künstler,  (^eorf^  aruher.  wegen  Handelsgeschäften  wahrschcnd.cli  eine 
Weile  zu  Venedig  eiuheimiscli;    einer  von  jenen  eifrigen  Verehrern   der  Tonkunst,    die   nicht  ruhen,    bis 
sie  es  dahin  gebracht,  alles  um  sich  versauunelt  zu  haben,  und  es  ihr  Eigenihum  nennen  zu  dürfen,  was 
von   deren   Werken  ihr   Gemüth   ergrillen   hat.      „Vom    ersten   Knabenalter  an"  —   sagt   er  selbst  ')  — 
hin-  ich  an  der  Tonkunst  und  pflegte   ihrer,    so   weit   es  meine    Lebensverhältnisse   zuliefsen;    wie  ,ch 
','iun  m,  Jahren  zunahm,    wuchs  auch  in  mir   die  Liebe  zu   dieser  herrhchen   Kunst,    so  dafs  ich  um  die 
Freundschaft  ausgezeichneter   l^oukünstler   warb,    die  erlesenen   Gesänge,    (he  sie  mir  mitthedten  und  an- 
vertrauten,   Üieils  dem  Drucke  überiiefs,    tlieils  wie   einen    Schatz  mir  aufbewahrte;    so  jedoch,    dafs  ich 
weder  unseren  Kirdien,  noch  den  Ncreinen  meiner  Freunde  ihren  Gehrauch  vorenthielt."    Aon  der  treuen 
und  herzlichen  Freundschaft  dieser  3Iänucr,  der  Künstler  und  des  Kunstfreundes,  giebt  uns  (he  Aulschrift 
zweier  Iloclizeitgesänge  ^)  einen  Beweis,  welche  Gahrieli  und  llafsler,   der  eine  von  Venedig,  der  andere 
von  Augsburg  her,  wo  er  sich  als  Organist  des  Grafen  Octavian  Fugger  aufhielt,  zum  DruAe  nach  Nürn- 
berg an^Paid  Kaufmann  sandten,    ihrem  l-reundc  Gruber  ..zu  Lieb'  und  Ehren"  für  den  Tag  seiner  Ver- 
mählung mit  Helena  Kolmann.  am  elften  Juni  16(10.     Beide   sagen   darin,    dafs   ihre  Freundschaft  durcli 

')  n  secmido  libro  de'  niadiigali  a  cin^ue  loci,  de  Jlovidi  vhtiiosi  del  seienissimo  d<,ca  di  Baviera,  ron  mo  a  dieci. 
Kuovamente  posli  in  luce.  In  J'inegia  appresso  V  erede  di  Cirotamo  Scutlo.  1575.  Unser  Meister  vird  hier  Giovanni 
di  Andrea  Gabrielli  genannt,  nohl  als  Pßegesohn  seines  Oheim's.  ^)  üoglioni.  l.  IL  p-  203.  206.  ^)  S.  die  Vorrede 
zu  den  Reliq.  saerornm  eoncent.  Joh.  Gabrielis  et  Joh.  Leo.  llassleri  cte.  ')  Uonori  et  amori  Gcorgii  Gruberi  ciiis 
JVorinAergensis,  sccundmn  sponsi  ornatissimi:  et  Uelenae  Joannis  Itolmanni.  conciris  ibidem ,  fUiae ,  rirginis  leclissimae 
sponsue:  socialia  sacra  peragentium  /'.  Id.  Mensis  Junonii .  Anno  Epoehuc  Christiimae  MDC.  Joannes  Gahrieli,  ad 
D.  Marei  t'enef.  et  Johannes  Leo  Uassler ,  ilhistriss.  1).  Fuggerorum  etc.  August.  Organisfae ;  auspiratum  thalamun, 
comprecaudo  .■  omina  secunda  concipiendo  :  piiblicam  congratulationem  illnstrando:  amicitiam^musici  sludii  amore  conccptam- 


—       41       — 

Liebe  zur  Tonkmist  cntstanilcn.  durcli  briklerliclie  Bande  crliöht,  durch  AulVicIil:i£;koil  helV.slij;!  worden 
sei;  und  Gruber  hat  seinen  Freunden  später  ein  schönes  inid  würdiges  Denkmal  dadurch  e;esliriet,  dal's 
er  beider  ilun  anvertraule  geistliche  (icsäiine,  nach  ihrem,  in' einem  und  demselben  Jalire  (1612)  erfolglen 
Tode,  als  ihr  kösÜichslcs  Vermächlnirs,  zu  jNürnberg  in  einer  feldcrfrcien  Ausgabe  an  das  Lichl  treten  liels '). 
Dem  Johannes  wurde  hierin  vergollen,  was  er  friilier  an  seinem  Oheime  Andreas  gethan,  dessen  Tod  im 
Jahre  15S6  nach  dreifsigjiihriger  Dienstzeit  erfolgt  war.  Sieben  und  sechzig,  bis  dahin  ungedrucklc,  oder 
doch  in  früheren  vermischten  iSammhmgen  zerstreute  Gesänge  seines  Oheims  von  sechs  bis  zehn  Stimmen 
gab  er  um  1587  ^)  zu  \  cnedig  bei  Gardano  heraus,  nebst  zehn  eignen.  Seine  Zuschrift  an  Jakob  Fug- 
ger zu  Augsburg,  den  Fremid  und  (Jönner  des  Verstorbenen,  giebl  uns  ein  Zeugnifs  seiner  kindlichen 
V^erehrung  für  seinen  Lein-er  und  ^'\  ohllliätcr.  ,,^Väre  Andreas  Gabricll  nicht  mein  Oheim  gewesen"  — 
sagt  er  darin  —  ,,so  dürfte  ich  ohne  Furcht  vor  Tadel  kidmlich  behauplen,  dafs.  wie  es  im  Ganzen 
wenig  ausgezeichnete  Mahler  und  Bildner  neben  einander  gegeben,  auch  wenig  Tonmeister  imd  Orgel- 
spieler gelebt  haben,  die  ihm  gleich  kämen.  Da  ich  aber  durch  Bande  des  Blutes  ilun  wenig  minder 
als  Sohn  gewesen,  darf  icli  nicht  frei  heraus  reden,  was  iNeigung  und  \\  ahrheit  mir  sonst  eingeben 
würde.  Wer  kann  leugnen,  dafs  er  in  jedem  Theile  der  harmonischen  Kunst  bewuiulernsweilb,  ja.  gleich- 
sam göttlich  gewesen?  Seine  Fertigkeit  könnte  ich  loben,  seine  seltenen  Erfindungen,  seine  neuen  Wen- 
dungen, seine  anmuthige  Sdueibart;  des  Ernstes,  der  Gelehrsamkeit  seiner  Gesänge  könnte  ich  i!;edenken. 
aber  auch  ihrer  Frische  und  Lieblichkeit,  so  dafs  in  der  That,  wer  nur  gehört,  wie  klangrcicli  seine 
einfachen,  seine  kunstreich  verwobenen  Werke  waren,  bekennen  durfte,  er  habe  erfaiiren,  was  wahr- 
hafte Bewcgtnig  des  Gemütlies  sei,  was  es  heifse,  imgewohnte  Süfsigkeit  von  der  Tonkunst  geniefsen. 
Icli  könnte  sagen,  dafs  aus  seinen  Werken  oflenkmulig  hervorgehe,  \\ic  er  einzig  gewesen  in  Eriin- 
dimg  von  Klängen,  welche  die  Kraft  der  Rede  luid  der  Gedanken  ausdrücken;  aber  damit  im  L'cbermaafse 
der  iSeigung  ich  nicht  lästig  fallen  möge,  zumal  ich  sein  INcffe  bin,  so  stelle  ich  es  den  Kimdigen  anLeim, 
über  ihn  zu  urtheilen,    welche  ihn   bis  in   die   innerste  AVerkslatt   seiner   (iodanken  hin    ergründet  haben. 


friiterno  rinciilo  ampliainm,  si/neriljitc  ronfirmatuni,   renorando,   If/incmieos  hoicc  mudii/aiaiäui:      Xuribergac  apiid  Puu- 
liim  Kuiifmannum.   1600.      Der  iltilieiiisrhe   Text  des   Gabrielhclieii    Oesaiiges  lautet  fuli^cndermaiij'Hen: 

Seher za  Amarilli  e   dort 

K  I  par^oleiti  amorif 

Tra'  Jtor  danzando  iil  sueii  d'allc  parule : 

Ostro   direntan  patlide  viole. 
■    S^alle^'ran  ^-l'  dementia 

E  d'uura   i  bei  coneenti 

Sodono  mormorar  in  oo'ni  eanto : 

Cagion  n'e  sol  di   Giorgio   il  sommo   ruiilol 
Georg   Gritber  nahm  im  Jahre  1615  dieses  sechsstimmige  Madrigal   in  die    bald    zu  eriuähnende   Sammlung  mit  auf,    al- 
lein er  gestaltete  es    zu    einer  Auferstehungsmotettc   um,     durch    Unterleguiig  folgenden    Textes:     Alleluia ,   quundo  jam 
emersit  e  vineulis   sepulchri  Draconis    sti/gii   triumphator!     E.rsultate   animis ,   .llleluia!    saltate    coeli ,    euneta  elementa , 
Victoria  eelebri   triumpho  parfa    est  nobis ,    per     Christum .   justitiae   solem  radiranlem ;    mecum  rccmite  Alleluia ! 

)  Reliqiiiae  saerorum  courenluum  Gio.  Gabrielis  Si  Joh.  Leonis  IJaesleri,  utriuspie  pr.ieslantlssimi  musici, 
et  aliquot  aliorum  praerellentium  aetutis  nostrae  artißcum  motectae  6.  7.  8.  9.  JO.  13.  11-  16.  IS  &  19^  vocum 
noviter  crpromptae  a  Georgio  Grubcro,  JVorimbergcnsi.  —  JVoribergae,  ti/pis  et  sumptibus  Pauli  Kaufmanni  1615.  Diese 
Sammlung  enthält  neunzehn  Stiich-e  von  Joh.  Gabrieli:  4  sechs-,  4  acht-,  3  zehn-,  3  zwölf  stimmige:  ein  sieben-,  drei- 
zehn-, vierzehn-,  sechzehn-,  neiinzchnstimmmiges.  -)  Concerti  di  Andrea  e  di  Gio.  Gabrieli,  Organistl  della  Serenis- 
sima  Signoria  di  l'enezia:  eontinenfi  jlusit  a  di  Chiesa ,  Madrigali  et  alfro ,  per  rovi  e  stromenti  musicali ,  a  6.  7.  8. 
10.  Vi  &  16.  Xoramente  eon  ogni  diligeiii'ia  dati  in  lucc.  In  l^enezin  appresso  .tngc/o  Gurdauo  l.'JST. 
C.  T.  Wiutcrfeld.  Joh.  4>al>ricli  o.  s,  Zeitalter.  (i 


—       42       — 

Es  geliol  Gotics  liöclisleni  Rallischlusse,  iliii  im  vergangenen  Jahre  von  der  Erde  in  seine  liimmlisclie 
Freude  zu  vtivscUoii,  in  reifem,  au  Jahren  reichem  Alter,  aber  zu  einer  Zeit,  wo  sein  Geist  mehr  als  je 
lebendig  luid  erfindungsreich  in  der  Tonkunst  war.  Mehre  Concerte,  Dialogen  und  andere  Tonslücke, 
für  Singslimmen  und  Inslrumente  eingericiitet,  wie  sie  in  den  Ilauplkirchen  der  Fürsten  imd  den  Ver- 
samnduugen  (arademicj  der  Vornehmen  übhch  sind,  hatte  er  auf  das  fleifsigste  ausgearlieitet  und  vf>ll- 
endet,  Euch,  o  Herr,  ein  Geschenk  damit  zu  machen,  und  dadurch  ein  lebendiges  Zeichen  seiner  Ehr- 
furcht und  Zuneigung  für  Euch  an  den  Tag  zu  legen.  Aber  zu  einem  besseren  Leben  wurde  er  berufen, 
und  sein  Wunsch  blieb  unerfüllt.  Wie  er  jedoch  mich  als  Erben  seiner  äufseren  Güter  hinterlassen,  so 
hat  er  von  den  inneren  (neben  seinen  Lehren  in  der  Tonkunst)  auch  jene  besondere,  ehrfurchtsvolle  Zu- 
neigung auf  mich  vererbt,  die  er  zu  Euch  trug.  Da  ich  nun  desselben  Wunsches  lebe,  mit  welchem 
er  lebte  und  starb,  so  weihe  ich  diese  Friichte  seiner  Kunst  Euch,  und  erfülle  damit  seinen  VVillen,  wie 
ich  meinem  eigenen  gcuugthue.  Weniges  habe  icli  hinzugethan  von  eigenen  Versuchen,  Schöfslingen 
gleichsam,  aus  demselbigen  Stamme  getrieben.  Euch  lege  ich  sie  dar  wie  einer  belebenden  Sonne,  deren 
Strahl  sie  kräftige,  damit  aucli  sie  der  Welt  heb  imd  erwünscht  werden  mögen." 

Wie  wir  den  Johannes  hier  bei  dem  Beginnen  seines  Wirkens  schon  in  einem  gleichsam  ange- 
erbten V^erhältuisse  sehen  zu  einem  Deutschen  berülimten  Stammes,  so  finden  wir  ihn  auch  später,  wenn 
auch  von  seinen  Landsleuten  hochgeehrt,  doch  in  den  innigsten  Verhältnissen  eben  mit  Deutsclien. 
Ob  er  selber  in  Deutschland  gewesen  sei,  und  namentlich  München,  ISürnberg  und  Augsburg  besucht 
habe,  ist  mit  Bestimmtheit  nicht  zu  versichern;  lassen  mannigfaltige,  freundschaftliclie  Verbindungen  in 
jenen  Städten  es  vermuthen,  so  ist  mederum  dagegen  anzuführen,  dafs  sein  Ruf  auch  ohne  persönliche 
Bekanntschaft  ihm  dort  Verehrer  und  Freunde  gewonnen  haben  werde.  Albert  V.,  Herzog  zu  Baiern, 
gehört  zu  seinen  vornehmsten  und  frühesten  Göimern.  Schon  imi  1575  nennt  ihn  Cosimo  Bottegari  in 
der  zuvor  gedachten  Sanmilung  unter  den  „blühenden  Tonkünsllern"  (Jloridi  virfuoslj  dieses  Fürslen; 
und  auch  auf  dessen  Söhne  Wilhelm  und  Albert  pflanzte  sich  die  Neigung  und  Ilodiachtung  für  unsem 
Meister  fort.  Unter  den  Fuggern  lebte  er,  nächst  dem  genannten  Jakob,  in  enger  Verbindung  vornchm- 
licli  mit  Georg,  des  Marcus  Fugger  Sohn,  und  des  Jakob  Neffen;  sei  es  nun,  dafs  er  ihn  mittelbar  durch 
Hans  Leo  Ilafsler  kennen  gelernt  hatle,  der  seit  1585  sich  zu  Augsburg  aufliielt,  oder  auch  persönlich, 
während  seiner  Anwesenheit  zu  Venedig  als  Gesandter  Kaiser  Rudolf  des  zweiten.  \  crnnithlich  war  es 
auch  Georg,  der  ihn  um  1597  zu  seiner  eigenen  imd  seiner  Brüder  Hochzeit  nach  Augsburg  einge- 
laden, und  dadurch  die  Zueignung  des  ersten  Theilcs  seiner  symphonlae  sacrae,  dea  zweiten  von  ihm 
gedruckten  Gesangwerkes  '),    an  alle  vier  Söhne  des  INIarcus  Fugger,   Georg,   Anton,   Philipp  und  Albert 


')  Sacrae  si/mpJtoniae  Johanni.i   G abri  elii  Sereniss.  Reip.  l'enetiar.   Organistae  in  ecclesia  Divi  Jflarci:  Se«i>,  7.  8.  10. 
12.  14.   15  &   16.  fam  vocibus  quam  iiistriimentis.  Editio  novo.   Cum.  priv.   J'enetiis   apiid  Angcluni   GarJaiwin.   1597. 
Dieses   Werk  enthält  an   Gesängen:  4  sechs- ^   4  sieben-,   19  acht-,  8  zehn-,   7   zwölf  stimmige :   einen    14,   15^  16  stim- 
migen: an  Instrumentalstiiclcen :  6  acht-,  6  zehn-,  3  zwül/stimmigc  und  ein  fun/zchnstimmiges.     An   Orgelcumpositionen 
waren  bereits  früher  erschienen:     Infonntioni  d^Organo.   lib.   1.    l'en.  1593. 

llicercari,  lib.  2.   Ib.   1595. 
-     3.     -    1595. 
Diese  drei    Werke  führt  der  Pater  Martini  in  dem  „Indice  degli  autori"  des  ersten   Bandes  seiner  Storia  della  mitsira 
f Bologna  \lblj  an,  mit  Bezug  auf  die   136s/e   Note  seiner  zweiten    Dissertation:    „Qual  canto  in  consonanza  nsassero 
gl'antichi       wo    er  unter  den    klassischen    Organisten   auch    auf  Johannes    Gabrieli   wegen    des    Grundsatzes    sich   beruft, 
dafs  jeder  Schlufs  eines   Tonstücks  mit  der  grofsen   Terz  erfolgen  miisse.     Der  Verfasser  des  gegenwärtigen   Werkes 


111 


—       43       — 

veranlafst  hatte.     „Eine  so  innige  Verwandscliaft "  —  sclircibt  iliiien  Johannes  Gabrieli  —  ..w'w  des  IJht- 
tes,   so  der  Gemüllier,   besteht  unter  Eiieh,    dafs   mir   scheint,    ich    sei   von   Euch   ji'Jeii    eln-eladcn,    d;i 
einer  von  Eiicli  mich  bittet,  bei  Eurer  liohen  Vcrmähhing  zugegen  zu  sein.     \Nie  ich  utiu  (l.uin  abeniial.s 
recht  klar  Euren  Willen  erkenne,  mir  eine  Liebe  zu  erweisen,  den  Ihr  frülier  schon  mir  durch  ^ iele  und 
grofse  Wohllhaten  an  den  Tag  gelegt  liabt.  so  wird  mir  dadurch  zugleich  die  giinsligsle  Gelegenheit,  Euch 
ein  Zeiciien  meines  dankbaren   Gemüthes  darzubringen,    wie  ich   danach    lange  schon  mich  geselmt  habe. 
So  trete  ich  denn  unter  Euch,   mitten  in  Eurer  Ilochzcitfreude  Euch  Cicsänge  von  meinen  Stimmen  bie- 
tend:   und  wahrlich,  keine  angemessenere  Gabe  war  zu  erwarten,    weder  von  mir,  noch  für  Euch,  noch 
selbst  das  Fest  Eurer  ^  ermiihlung.     Denn  vier  sind   Eurer,    wie  vier  die   Zalil  der  Slinnnen  ist,    welche 
zu  vollständigen  Gesängen   sich  vereinen;    so  einig   aber  seid  Ihr  in  dem  Strclieii    den  allen  Glanz  Eures 
Gesclilechtes  zu  erhalten,    so  einstimmig,  den  katbolisclicn  Glauben   millcn  uuler  dem  Ifadcr  in  Deutsch 
land  zu  be^vallren,   dafs  ich  nicht  weifs,  was  ich  edleres,   was  l'rbmmercs  hätte   ersinnen  mögen   als  hai- 
moniselie  Gesänge,  es   Euch  darzubieten.     Aber  auch  eine  \  erniähhmg  mag  ohne  Harmonie  ja  keinesMc-es 
bestehen.     Denn   geben   wir  dem  gegenseitigen,    so    engen    Vereine    der  .Neigungen,   wie    er  in    der   Ehe 
statt  finden  soll,  den  Namen  einer  siifsen  Hamaonic  der  Seelen,  so  inen  wir  gewilslich  nicht.     Ein  an^^e 
messenes  Gesclienk  also,    vielleicht  aber  auch  ein  geringes,   N\ird  es  heifsen,    dais  ich  Euch  brinoe;    und 
dieses  mindestens    gestehe   ich    freimiithig.     Denn   ^^■ie   Euer   Geschlecht   der  Fugger   allen    ^'orallsteht   an 
glorreichen  Thaten,    in  der  Ileimath  und  Fremde  verübt,    so  übertritTl  es  mich  wohl  alle  an  Reichlhnm: 
was  man  daher  Euch  bieten  mag,  mufs  um  dcfswillen  entweder  gar  keines,  oder  mir  eines  sehr  i;erinffen 
VVeiilics  erscheinen.     An  Euch  ist  es  defslialb,   mehr  den  Sinn  des   Gebers,    als  den  Wertli  der  Gabe 
Acht  zu  nehmen;  und  so  kann  es  gescliehen,  dafs  dieses  geringe  Gesdienk  auch  für  ein  gar  grofses  gel- 
ten mag,  nach  der  Zuneigung,    dem  Eifer  Euch  dankbar  zu  sein   und  Euch  zu  dienen,    mit  welchen  ich 
zu  dieser  Zeit   es  Euch  weihe,    es  nach   Euch   benenne;    wie  ich  denn  gewilslich  niemandem  weiclic  in 

Liebe,  Ehrfurcht,  und  Dienstheflissenheil  gegen  Euch."  

Dafs  Johannes  damals  der  Einladung  der  ^ier  Brüder  nicht  gefolgt  sei,  geht  aus  seiner  schrifthcheii 
Zueignung  nicht  sowohl,  als  andern  gleichzeitigen  Ereignissen  hervor.  !\Iarciis  Fugger  erkrankte,  die 
Vermählung  seiner  Söhne  wimlc  aufgeschoben,  und  sein  am  achzehnfen  Juni  1597  erfolgter  Tod  verur 
saclite  ihre  Verlegung  bis  in  das  folgende  Jahr.  Aber  aucli  ohne  jene  Störung  hätte  ein,  eben  mn  die 
Zeit  der  Einladung,  zu  Venedig  eintretendes  öffentliches,  und  seltenes  Fest  ähnlicher  Art,  dem  gefeierten 
KünsÜer  kaum  erlaubt  seine  \aterstadt  zu  verlassen.  IMarin  Grimani.  seil  159.5  nach  dem  Tode  des 
Pasqual  Cieogna  Doge  von  Venedig,  feierte  am  vierten  3Iai  1597  die  Krönung  seiner  Gemaldin  il/oro*»«n. 
ein  seil  vierzig  Jahren  zum  erstenmale  wiederkehrendes  Fesl,  dem  erst  in  sechs  und  neunzig  Jahren  ein 
ähnliches  nachfolgen,  dessen  Gedenktag  aber  nach  zweihundert  Jahren  der  Bcschlufs  des  grofsen  Halbes 
bezeichnen  soUle,  den  Frieden  mit  Frankreich  um  jeden  Preis,  auch  die  Auflösung  der  alten  Verfassung, 
zu  erkaufen,  wodurch  man  in  der  Tiiat  nur  den  l'od  des  ^  aterlandes  erkaufte.  Von  selbst  drängt  jene 
ZusammensteUung  sich  auf.  wenn  ^^  ir  uns  erinnern,  dafs  Franz  Moro.shn.  der  heldenmüthige  V  erlheidiger 
Candia's,  von  dem  Geschlechte  hersl;nmnte.  dem  die  damals  gekrönte  Fürstin  angehörte;  wenn  wir 
erwägen,  dafs  er  zu  den  lelzlen  Edeln  \  enedigs  gerechnet  werden  nniCs.  in  denen  die  alle  Tugend  der 
Vorfahren   sich  kund   gab.    und    dafs    sein  Nacbfoiger    das   erste  I'csl  ähnlicher  Art  nach  dem  erwähnten 

hat  diese  drei    Sammlungen    (die  sich  u-ahrscUci„li,h   in  dem  Aidiiae^der  philliarmmiisehcn   Gesellschaft  zn  Bologna  l„. 
finden.  KerdenJ  leider  nicht  zur  Benutzung  auftreiben  können.         -■,-\  ;,V,  :- 


—      44      — 

Mifileiuin  l).-ins  ');    ^vcnn  wir  den  tcrofsartigen  Frohsinn  betrachten,    der  jenes  friUiere  Fest  bezeichnete, 
den   lebendigen,    allgemeinen  Aniheil,    der  an    einem  Ereignisse   genommen   wurde,    das   der    eigenÜiüm- 
lichen   Verfassnng  \^enedigs   znfolge   nicht   einmal   zu  Hoffnungen   Tür   die  Zukunft    berechtigte,    bei   dem 
man  in  der   Person   eines   wolilvcrdienleu   IMilbürgcrs   und   seiner   Angeliörigen    eigcnÜicli   nur   das   Vater- 
land,   dessen  Würde.    Ansehen  und  Glanz  leierte  und  darzulegen   strebte,   daliei  zwar  die  Gelegenlieit  zu 
Freude  und  Geniils  nicht  verschmähte,  aber  doch,   wie  die  Folgezeit  lehrte,   und  wir  bereits  gesehen  ha- 
ben, zu  einem  Kampfe  von  ernster  Art  gerüstet  blieb,  und  ihn  mit  Ehren  durchfocht;  während  späterliin 
die  allen  vaterländischen  Feste,  in  dem  wüsten  Treiben  von  Scbwclgerei  und  erkünsteltem  Genüsse,  dem 
übersättigten  Haufen  nur  eine  Abwed.slung  Avaren  in  dem  Gaukelspiele,  das  wie  ein  bunter,  verworrener 
Traum  seine  träge  Ruhe  ergiitzte;  jene  Kühe,  die  zu  erhalten  und  zu  sichern  kein  Preis  zu  theuer  schien. 
Die  Krönung  der  Gemahlin^  des   Giimanl  bietet   uns   erwünschte   Züge   das   Bild   des  venedischen   Lebens 
im  sechzehnten  Jahrhunderte  zu  voUenden,  utuI  unseres  Kleisters  früheres  Streben,  wenn  aud»  auf  folgen- 
den Blättern  erst,  daran  zu  erläulern;    war  schliefsen  luis  einem   gleichzeitigen  Berichte  an,    ohne  uns  an 
seine  ängstliche  AusfiUrrhchkeit  zu  binden,  durch  ,lle  Einzelnes  hervorgehoben,  das  Bild  des  Ganzen  aber 
verwischt    wird.     Nicht    um    der    Pracht    willen,    die    dabei    an    den    Tag   gelegt   wurde,    erschaut  m.s 
diese  Felerllcbkcit  merkwürdig,  sondern  weil  darin,  zumal  In  dem  Zuge   nach  Sl.  IVIarcus,  und  von  dort 
nach  dem  herzoglichen  PaUaste,  N'enedlgs  Eigentluünhchkeit  sich  so  bedeutsam  und  zugleich  so  erg.itzhch 
entfallet.     Defshalb  werden  wir  auch  bei  diesem  Zuge  vor  allem  verweilen. 

Von  dem  Pallastc  Morosini   Avird   die  Fürstin,    mit   dem   herzoglichen  Schmucke    schon   bekleidet, 
durch  den  Buci.itoro  abgeholl;  dreihundert  besonders  eingeladene   Frauen  und  .Tungfrauen  edler  und  bür- 
gerlicher Abkunft  begleilen  sie,  ihrem  Stande  und  Alter  gemäfs  übereinstimmend  gekleidet,  und  schmücken 
das  Prachtsdiiff  des  Staates,    in  weldiem   sonst    nur   dessen  Häupter    In   feierhdiem   Ernste   s.di   zeigen, 
durch  den  anmr.thigsten   und   festhchsten   Anblick.     Durdi    die  Reihe    der  PaUäs.e,    die    den  grofsen  Ca- 
nal  bekrinzen    sdieu  ^^Ir  nun  das  Schiff  sich  langsam  fortbewegen,  von  andern  smnre.di  erfundenen  und 
ver/Ierten   beo'leitel,    welche  die  Zünfte   für  das  Fest   haben  erbauen   lassen.     Vor  allen  zeidinet  das  der 
BaumwoUenwirker  (bombaserij  sidi   aus.     Einen  Triumphwagen   stellt  es  dar,   mit   Rädern,    die  .n  clem 
Wasser  sich  zu  drehen  und   ihn  fortzubewegen  sd.einen;    zwei   vorangespannte   Secrosse  lenkt  scheinbar 
ein  Meer^^ott,   der   das    adriatische   Meer   bezeldmet,    die   Zügel    haltend  in  einer  Hand,    mit    der  .nnde.-« 
den  Dreilack  sdrwlngend.     Der  hintere  Thcll  zeigt  Venedig,  eine  auf  zwei  Löwen  ruhende  Jungfrau,  die 
über  dem  Haupte  de;  Doge  und   seiner  Gemahlin   die  herzoghdie   Krone   hält;    Neptun   am   Steuerruder 
lenkt  das  Ganze.     Durch  ^zwei   Ehrenbogen,    an  dem   Landungsplatze   und  vor   St.  Marcus  von  der  Flei- 
scherzunft   errid.tet,    bewegt  und   entfaltet  sich   nunmehr  der   Zug,   unter  dem   Krachen   des  Gesdmtzes. 
Herolde  voran;    dann  die   Jungfrauen,    weifs  und  reich   gekleidet,    in  der  einen   Hand  einen  F^icher  von 
Straufsfedern,  mit  der  andern  auf  ihre  Begleiter  gestützt,  die  einen  Blumenstraufs  mit  goldener  Handhabe 
ihnen  tragen.     Frauen  folgen,  in  grün  und  velkhenblau ,  diesen  die  angesehensten  Matronen  m  Sdiwarz. 
Den  Verwandtinnen   der  Fürstin,    die   kein    Aufwandsgesetz  bindet,    und  die    defshalb    aUein  unter  allen 
Juwelen  und  kösthche  Kleinodien  tragen,    gehen  die  Schreiber  der  Pregadi,   die  herzoghdien  Ralhe,    det 

^Um  15.=i7  hatte  Loremo  Pru.ll  seine  Gen.ahlU  7Mia  Bandola  gekrönt.  (Sans.  1.  X.  fol  15^  -7?->  -^-^  «* 
4.  Miir.  1694  krönte  une.lcr  Sihestro  l'aUer  seine  Gcnaklln  Elisabeth  Qulrlnl:  Paulina  Loredana  GenMn  desCar 
Contarlni  (ißbi-WbGJ  .-urde  nicht  gekrönt.  C/astl  durales  p.  328.  iUJ.  Wegen  des  Beschlusses  des  große..  Hathes 
vom  4.  3Iai  1797  vergl.  Dum,  hisloire  de  Penise.  Livre  3S.  rjJL 


—      45      — 

Grofskanzlcr,  in  ihrer  Amtstracht  voran;  unmittelbar  vor  tlcr  Fürstin,  deren  langer  iMangel  von  Goldstück 
durch  zwei  Jungfrauen  getragen  wird,  schreiten  ihr  Zwerg  mid  ihre  Zwergin  einher,  in  grüner  Seide  mit 
Silber  und  Gold  gekleidet.  So  tritt  man  in  die  Kirche  ein,  das  Tedeum  wrd  gesungen,  knieend  leistet 
die  Fürstin  auf  das  iMefsbuch  das  von  ihreni  Gemahl  bei  seiner  Erhebung  bereits  abgegebene  ^Versprechen. 
Nun  zieht  sie  ein  mit  ilirem  Gefolge  in  den  Pallast;  ehe  sie  aher  an  den  Fufs  der  Treppe  gelangt,  die 
in  den  Saal  des  grofsen  Rathes  führt,  hat  sie  alle  die  Hallen  zu  durchwandeln,  in  denen  sonst  die  ein- 
zelnen Behörden  der  Stadt  ihren  Sitz  haben.  Hier,  wo  mit  Strenge  imd  Ernst  an  andern  Tagen  alle 
Lebensverhältnisse  geordnet  werden,  wo  man  allen  Streit  in  denselben  schlichtet,  entfaltet  sich  nunmehr 
das  Leben  selbst  auf  reiche  und  mannigfaltige  Weise.  Einer  alten  Sitte  zufolge  mufs  der  Doge  bei  einer 
festlichen  Gelegenheit  dieser  Art  einer  jeden  Handwerkszunft  eine  Verehrimg  machen  von  Früchten, 
\^ein  und  Gebacknem:  am  Morgen  des  Festes  ziehen  alle  Zünfte,  in  reiche  Livereien  gekleidet,  in  den 
Pallast  ein,  dieses  Geschenk  zu  empfangen,  und  von  den  für  sie  bestimmlen  Hallen  Besitz  zu  nehmen. 
Dort  wird  es  aufgestellt  in  kosi baren  Gefiifsen,  und  der  durchziehenden  Fürslin  als  Erquicknng  ange- 
boten. Eine  jede  Zunft  wetteifert  mit  der  andern  in  gcsclmiackvoller  Auszierung  des  Raumes  den  sie 
einnimmt;  wo  es  thunlich  ist,  schmücken  ihn  Erzeugnisse  ihres  Handwerks,  sinnreich,  auch  fanta- 
stisch geordnet.  So  haben  die  Spiegclmacher  diesesmal  von  allen  Seilen,  auch  an  der  Decke,  ihre 
Halle  mit  Spiegeln  bekleidet,  eine  grofse  Pyramide  von  denselben  in  deren  JMItle  aufgestellt;  der  präch- 
tige Zug  der  diesen  so  seltsam  gesclmiücklen  Raum  durchwandelt,  sieht  mit  Erstannen  sich  tausendfach 
vervielfältigt,  zum  Ergötzen  aller  zeigt  er  sich  sogar  umgekehrt  in  der  Höhe.  Die  Waflenschmiede  haben 
manm'gfaltige  Trophäen  künstlich  gearbeiteter  Waffen  errichtet,  die  ein  grofses  Schild  umgeben,  gebildet 
durch  Scln\erter  mit  goldenem  Griffe,  deren  Spitzen  dem  iMittelpunkte  des  Kreises  zugekehrt  sind,  mit 
dem  Sinnspruche:  ..in  dem  Kriege  der  Frieden"  Cin  hello  pn.rj.  Die  Goldschmiede  haben  einen  grofsen 
Schenktisch  mit  den  künstlichsten  G'elafsen  besetzt,  diese  reihenweise  über  einander  geordnet;  reiche 
Gehänge,  die  ilm  umgeben,  bestehen  wiederunr  aus  kostbaren  und  simn-eichen  ^^'erken  dn-er  Hände. 
Lauten,  Violen,  imd  andere  sanfte  Instrumente  lassen  in  jeder  Halle  zu  Ergötzung  der  Eintretenden  sich 
hören.  So  gelangt  die  Fürstin  bis  in  den  Saal  des  grofsen  Rathes,  in  welchem  für  die  grofse  Zalil  der 
Gäste  ein  prächtiges  Festmahl  bereitet  isl ;  nachdem  es  geendet,  treten  die  Tonkünstler  ein,  und  wie  es 
auch  nach  den  öffentUchen  Gastmahlen  des  Doge  zu  geschehen  pflegt,  die  er  zu  bestimmten  Zeiten  des 
Jahres  hält,  tragen  sie  Gesänge  vor:  diesesmal  ein  dramatisches  ')  Geilicht  des  Sanesers  Andreas  Pic- 
colomini.  Die  Feier  des  Tages  wird  mit  einem  Schifferstechen  (^regaia)  im  grofsen  Canale  beschlossen. 
INiederländische ,  holländische  und  brittische  Sdiiffer,  »he  eben  in  Venedig  vor  Anker  liegen,  führen  zu 
Erhi'ihung  der  Festhchkeit  ein  Ritterspiel  seltsamer  Art  frei\\  illig  daneben  ans,  ein  Lanzenrennen,  bei  dem 
der  lenksame  Nachen  die  Stelle  des  Streitrosses  vertritt.  Dnrdi  vierzig  Jünghnge,  die  als  Ordner  des 
Festes  sicli  diesesmal  verbunden  hatten,  war  für  den  folgenden  Tag  eine  Ergötzhchkeit  vorbereitet,  die 
wegen  heftiger  Stürme  und  Regengüsse  unterbleiben  mufste.  Ein  grofses  Schiff  nach  antiker  Weise  hat- 
ten sie  hauen  lassen,  Argo  von  ihnen  genannt,  mit  erhobenem  künstlichem  Sehnitzwerke  verziert:  es 
trug  eine  offene,  nur  oben  bedeckte  Säuleniialle ,  in  deren  IMitte  auf  sechs  Säulen  ruliend  eine  kleine 
Kuppel  sich  erhob.  Vier  Barken  waren  bestinmit  es  zu  ziehen,  als  Fische  gebildet,  so  künstUch,  dafs 
Ruder  und  alles,  was  sie  in  BewcKung  setzte,  versteckt  bheb.     IMit  diesem  Fahrzeuge  wollte  man  Abends 


^o""o 


')  Die   Worte:   cantando  e  reeitando  una  rappreseatazione  mo/to  raga  etc.  lassen   darauf  schliefsen.     Vergl  Dog- 
Honi  I.  c.  pag.   127.  aus  dessen  Berichte  die  Hauptmomente  dieser  Erzählung  genommen  sind. 


—      46       — 

bei  Fackclcrleuchtuiig.  unter  Tana  xiiul  Gesang  den  grofsen  Canal  befahren,  und  ein  prächtiges  Mahl  sollte 
den  Zug  der  neuen  Argonauten  beschliefscn.  Als  dieses  sinnreiche  Werk  späterhin  auf  dem  grofsen 
Canale  sich  sehen  liefs,  erregte  es  allgemeine  Bcwundennig,  und  man  hätte  gewünscht  es  erhalten  zu 
sehen,  doch  wurde  es  später  auseinander  genommen. 

Vergleichen  wir  den  Inhalt  dieser  Erzählung  mit  unsern  früheren  Berichten  über  andere  Feste  zu 
Venedig  gegen  das  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  so  scheint  freilich  die  Ausheute,  die  sie  für  den  näch- 
sten Zweck  dieser  Blätter  gewähren  könnte,  anfangs  nur  gering.  Der  Tonkunst,  namentlich  der  kirchh- 
chen,  ist  darin  nur  vorübergehend,  iniseros  Kleisters  (dürfen  w\t  gleich  seine  IMitwirkung  voraussetzen) 
gar  niclit  gedacht;  wogegen  wir  seinen  Lehrer  zuvor  ausdrücklich  genannt  fanden,  die  lieihge  Tonkunst 
aber  eine  ausgezeichnete  Stehe  einnehmen  sahen.  Dafs  wir  im  Verlaufe  dieser  Blätter  Gelegenheit  haben 
werden,  ein  ^Verk  unseres  Meislers,  und  nicht  eines  seiner  geringeren,  in  bestimmterem  Zusammenhange 
mit  dem  eben  erzählten  Feste  zu  finden,  M-erde  zwar  erwähnt;  an  sich  aber  würden  wr  dadurch  allein 
zu  so  langem  Verweilen  bei  dieser  Feier  ims  nicht  berechtigt  hallen  können.  Eine  allgemeinere  Bezie- 
hung gewährt  uns  dieses  Recht.  Denn  bei  genauer  Zusammenstellung  dieses  unseres  letzten  Bericlites 
mit  den  vorliergel?nden.  bei  aufmerksamer  Betrachtung  des  Bildes  öffentlicher  Freudenbezeugimgen ,  das 
alle  bei  Anlässen  verschiedener  Art  ims  darbieten,  werden  wir  über  eines  belehrt,  das  für  die  Geschichte 
der  Kunst  und  ihrer  Schicksale  von  hoher  Wichtigkeit  ist.  Es  ist  eben  dieses,  was  bei  ähnlicher  Gele- 
genheit zuvor  schon  angedeutet  worden:  dafs  der  heitere,  lebensfrohe  Sinn  der  Zeit  bei  festlichen  An 
lassen  die  o-anze  Umgebimg  des  Festes,  ja  dieses  selber,  zu  einem  Kunstwerke  umgeschaffen  habe.  Nir- 
gend finden  wir  dabei  etwas  willkührlicli,  äufserlich  aufgetragen;  überall  das  Gegenwärtige,  Vaterländische, 
auf  solche  Weise  in  den  Kreis  der  allgemeinen  Freude  hineingezogen,  dafs  es,  wie  aus  innerer  Lust,  sein 
eigenstes  Leben  auf  die  bedeutsamste  Weise  eutfaltet.  Was  dem  Venediger  von  Anbeginn  zu  Erhaltung 
des  Lebens,  zu  Begründung  seiner  Macht,  ernster  Beruf  gewesen,  die  Schifffahrl,  ^vird  ihm  zum  heiter- 
sten sinnreichsten  Spiele;  die  Stadt  selbst,  zinn  Schulzorte  vor  der  Wuth  der  Barbaren  auf  unfruchlba- 
ren  Inseln,  zwischen  Untiefen  und  Sümpfen  entstanden,  auf  dem  anscheinend  imgünstigslen  Platze  für 
eine  weithin,  herrschende  Hauptstadt,  die  sie  im  Forlgange  der  Zeiten  durch  IMutli,  Klugheit  imd  Aus- 
dauer ihrer  Bewohner  geworden,  mufs,  wie  den  sonderbarsten,  so  mm  auch  den  grofsarligslen  Anljlick 
darbieten,  die  eigenthümlichste  Einfassung  des  bunten,  mannigfachen  Lebens,  das  in  ihrer  lAlille  sich  be- 
wegt. Ja,  selbst  die  besondere  Weise,  wie  der  Ernst  des  Lebens  zurücktritt  vor  der  allgemeinen  I'reude, 
wie  der  Aufenthalt  .strenger  Ordner  und  Richter  der  mannigfaltigsten  Lebensverhältnisse,  auf  das  fremdeste 
und  sinnreichste  geschmückt,  mm  mit  demjenigen  prangt,  was  die  Kunst  und  das  Handwerk  sinnig  und 
emsig  geschaffen,  wie  selbst  diejenigen  Räume,  wo  die  Herrscher  des  Ganzen  sonst  geiicimnifsvoll  über 
das  Schicksal  des  Vaterlandes  berathcn,  zu  Wohnungen  der  Lust  mid  Freude,  des  Tanzes,  des  frohen 
Mahles  umgewandelt  werden,  zeigt  auf  das  klarste,  dafs  niclit  bedeutungslose  ^^  illkühr,  dafs  tieferes  Ver- 
ständnifs  und  lebendiger  Sinn  für  die  Eigenlhümlidikeit  des  allgemeinen  vaterländischen  Lebens  bei  der 
Ordnung  des  Festes  obgewaltet.  Die  Enlwckeluiig  und  Erhallung  dieses  Sinnes  müssen  wir  ohne  Zwei- 
fel der  besonderen  liagc  Venedigs  im  Vergleiche  gegen  die  damaligen  ^Verhältnisse  der  übrigen  Staaten 
IlaUens  beimessen.  Eine  festgegründele  Verfassung  und  kraftvolle  Ver\\  altung  hatte  \\  ährend  der  Sliirme, 
welche  das  übrige  Ilahcn  durchlobten,  ^"encdig  vor  dem  Untergänge  gerettet.  Das  Bewufsisein,  dem 
vereinten  Angriffe  der  bedeutendsten  ^Mächte  Europas  habe  man  zu  begegnen,  den  christlichen  Erbfeind 
oft  glückhch,  Immer  ehrenvoll  zu  bekämpfen,  den  Anmafsungen  der  sich  neu  erhebenden  Hierarchie  kräf- 


-  47  - 
tig  zu  widerstehen  vermocht;  alles  dieses  erhielt  die  alte  Zuversieht,  und  nährte  einen  edlen  Stok.  Kein 
offentbclies  Fest  vvar  das  nIcIU  irgend  eine  alte,  grofse  Erinnerung  hervorgerufen  hätte;  fand  ja  seihst 
manehe  hohe  k.rehhehe  Fe.er  mit  einem  vaterländischen  Gedenktage  auf  bedeutsame  ^Veise  sich  verknüpft, 
vne  das  Fest  der  Verkünd.gung  Maria  mit  dem  Tage  der  Gründung  Venedigs;  wurde  doch  die  Reihe 
jener  Gedenktage  durcl»  grofse  Thaten  und  Schicksale  der  Gegenwart  noch  fortwährend  bereichert.  Und 
finden  Mnr  endhch,  ,m  Einverständnisse  mit  dieser  Gestalt  des  öflentllchen  J.ehens,  durch  eine  besondere 
Verfassung,  d.eCapelle  des  Staatsoberhauptes,  trotz  einem  in  der  liauplstadt  bestehenden  patriarchahschem 
Sitze,  dennoch  M.ttelpunkt  jeder  kirchlichen,  jeder  vaterländischen  Feier,  so  wird  eben  in  dieser  Einheit 
aUer  Bestrebungen  das  gesunde,  kräftige  Leben  jeder  einzelnen  Richtung  uns  klar,  es  trtlt  in  jeder  Aeufse- 
rung  derselben  uns  deutlich  entgegen.     Mochte  nun  auch  um  die  Zeit,  welche  uns  bescl.äfligt,   die  hoch- 

T  ^u     T     Z  ^'""'''   '"   ^*''''"   ''^"'''   %^^velkt,    Baukunst  und  Bildnerei  in  entscluedenem 

Urfalle  begnffen  sem,  die  letzten  Töne  wahrhaft  dichterischer  Begeisterung  eben  verkLngen:  am  längsten 
konnte  Vened.g  „»seinen  Malern,  seinen  Bankünstlez-n,  noch  eine  Nachblüü.e  der  früheren,  besseren  Zeit 
erhalten,  am  lebendigsten  der  Sinn  für  die  Hervorbringungen  jener  bildungskräftigen  Tage  dort  bewahrt 
bleiben  Im  des  \erblühens  einiger  Künste  willen  war  aber  auch  der  schöpferische  Trieb  im  AUgemei- 
nen  nodi  kemesweges  erloschen;  und  linden  wir  ihn  mit  voller  Kraft,  auf  die  eigenthünJichste  Weise, 
nunmehr  der  Fonkunst  zugewendet,  so  erscheint  diese,  wie  überall  in  Italien,  doch  vor  aUem  in  Vene- 
dig, und  zumal,  wenn  sie  als  heilige  In  den  kunstreich  m.d  bedeutungsvoll  eixichteten  und  geschmück- 
ten renipeln  m  höherem  Snme  erMacht,  die  jüngste  aller  anderen  Künste,  als  die  lebendige,  das  innerste 
Wesen  derselben  erschhefsende  Stinune,  und  der  letzte  Schritt  zu  einer  wahrhaften  Vereinl^unn-  aller 

Allem    eben    dieses    Erwachen    .1er    Tonkunst    in    luiberem   Sinne   trifft    in     eine   ZeiC  die,    wir 
dürfen  es  uns  nicht  verhehlen,  auch  die  alhnähllg  durchbrechenden  Keime  des  Verderbens  bereits  in  sich 
trug,     ^.chl  n.ehr  die  frohe  Entfaltung  des  Inneren  Lebenstriebes  allein,  sondern  vorzugsweise  den  Kampf 
für  das  e.gene  Bestehen  _  wenn  gleicli  in  diesem  auch  jene   -   .eigt  uns    Venedig   in   diesen   Jahrhun- 
derten.    Den  alten  ^orrang  unter  den  übrigen  Staaten  Itahens,  wie  er  theils  in  mehr  allseitiger  Entwicke- 
ung  der  umeren  Kräfte,  theils  in  feindlichem   Kampfe   sich   bewährt   hatte,   wollte   man    auc^.   jetzt   noch 
esthalten;  nolhwend.g  aber  mufste  dieses  Streben  endlich  in   leeres  Ueberbielen  der  Pracht  nachbarlicher 
Hofe  sich  aidlösen,  damals,  wo  das  elgenthümhche  Leben  alter  Freistaaten  untergegangen  war,   und  zwar 
neue  Verhältnisse  sich  gehll.let  hatten,  kein  neues  Leben  aber  aus  ihnen  sich  endaltete.     So  nahm  man 
-renides  auf,  und  wähnte  sich  reicher,  es  mannigfach  umbildend  m.d  verkünstelnd,   während  man   inner- 
hdi  unmer  mehr  verarmte.     So  sucl.te  man  zu  Anfange  des  siebzehnten  .Jahrhunderts  das  um   jene  Zeit 
erfundene  Schauspiel  der  Könige  (wie  man  es  nannte),  die  Oper,   sicli  anzueignen;   und  waren   auch    bei 
« cren  Lntstchung,  wie  w.r  später  zu  entwickeln  gedenken,  Bestrebungen  anderer  und  besserer  Art  leben- 
d.g,  so  trat  sie  docli  unter  Umständen  In  das  Leben,  nicht  geeignet,   der   Tonkunst   eine   höhere,    umfas- 
senclere  Lntwickelung   zu   sichern,    m^c   man    sie   allerdings   erstrebte.      Als   üienerinn   der  Eitelkeit  und 
irachtüebe  vielmehr  mufste  diese  Kunst  sich  unterordnen,  andern,  damals  mehr  ausgebildeten  Künsten  den 
Vorrang  lassen,  wed  sie  föhiger  waren,   der  bei  allgemein  verbreiteter  sittlicher  Erschlaffung  immer  wach- 
senden Genulssncht  feinere  Reizmittel  zu  gewähren. 

In  Florenz  trat  diese  neue  Kunstschöpfung  zuerst  an  das  Licht.  Diese  Stadt,  vormals  der  Haupt- 
sitz  emes  der  mächtigsten  Freistaaten  Italiens  nächst  Venedig,  ^^ar  durch  äufseren  EInflufs  und  inne- 
re.. \errath  einem  Herrscherstamme   anheimgefallen,    der,    ausgezeidmeten  Bürgern  des  allen   Freistaats 


_       4S      — 

u  V  -hvon  N.mon  für  sich  anrühren  konnte,    Jas   Andenken   des   j-Tofsen   Cosmn.s     Vater   des 

verwand,  zw  ,  "  "^  ^  '"[  ^^.j  ..,.^^.^^  ,^^.  .vissenschaf.on  nnd  derKünsle,  nicht  anf  irgend  ein  Recht  aber 
Vateriandes,  des  '^^^^^^^^Z  vennochte.  Anf  Blut  U.rer  Mitbürger  halten  die  neuen  Fürsten 
den  "-"-«f  ^"7/^!  ;f  X;    1    u  belesligen  und  zu  erhalten,  des  Verra.hes  und  Meuchehnordes, 

weniger    als   ^- J^^^'^-  ^    _^  ^^.^^.   _-^^,,„^,;^.,^,^  Entwickelung    offenbar  gestört,   von  allem  Zusammen- 

lag:   so  wd  s.e  ^\'^^ ^2Lu.eluen  Lebens  getrennt,  und  der  Eimvirkung   trübender  Einflüsse  hm- 
""ZT-^  ^:^ll  ;  ":~    ihrer  Fü^erer  künnen  bei  tie^r,  sittlicher  ^  erderbnils  dersell^n 
egeben    ^  b     n^e  ^  ^^^^^^^    _^^^^^      ^^^^^^^^^  ^^^^^^^^  .^^^^  Kunstrichtung,  w.e  wn-  be.  Lr- 

r^r'      le    On  m"  er  sich  Verden  kund  geben  sehen,  hervorgegangen  wie   sie   war   aus    der  M.tte 

fmdnng  de.  Opei  s.e  spater  '^  ;    ^^^         ^uiseren  Umstünde  migeachtet,  auch  emen 

frrT'tlt^ST^'^^  '^^>-  ^--  Ausbildung;  die  Art,  w.e  die  Zeit  seines 
bedeutenden  I^'"";^  J!  ^^^^j  ^  '  ,  .^,„,  f,,„,,,„  .,,„  ,,  .erleugnen.  Dafs  die  Tonkunst  aber  _ 
t.rsprunges  ™  "^J^  E^d  r  -  dan.als  nur  dienend  angetreten  sei,  anderen,  mehr  ausgebildeten, 
nr:r^.^^rW.^  jedoch  bereits  abgewichenen  Künsten  sid.  habe  unterordnen  müssen,  g. 
denk  Ul  fernerem  VerLfe  unserer  Darstellung  am  gehörigen  Orte  .u  .e.gen,  und  nehmen  ner  als 
zlnrnur  d^  eines  spMeren  Berichterstatters   dafür  in   Anspruch     der     .e   ersten   An  ange 

de   C  noch  eriebte,  de^ (Diovan   Vittorio  Rossi.  >)     Denn  rülnnt    dieser   gle.cb      da  s  man   damals   de 
aU^    aber  durch  viele  Jahrimnderte  abgekommene  Weise,   Com<Klien   und    Tragöd.en   be.    Sa.tensp.el     ud 
ötenkJ  n'  abzusingen,  erneut  habe,  und  Uifst  den  Bestrebungen    der  Tonkünstler   dabe.   volle   (.erecht.g 
k  ridcrFab^^^^^    so  war  es  ihm  zufolge   doch  vornehmUch   die   Pracht   der   Seenen,    d.e   Manu.gfalügke.t 
d  s  ^^^ges,  wodurch  damals  ^nz  Italien  angezogen  und   ergötzt   wurde;   hier  auch   e.pe^t   s,cl. 
n  L  b  :m  bereciesten,    zum   Zeichen,    in   welchem   Sinne  n.an   das   neue   Sc  ausp.e     genossen   habe.^ 
,Durcb  bewegliche  Wände,"    sagt  er,  „sähe  man  bald   g,^nende  Geti.de  ''7-^'^"^-   .^^'^''^^^tr 
ie  Meer,  bald  anmulbioe  Gärten;  bald  ,nn^^i■.lkle  sich  der  llinanel  unversehens ,   sebst  b.s    zmn   Entset- 
zen unter,  Sturm  und  Lngewitter;  bald  sähe  n.an  die  ^Nobnungen  der  Seebgen.  bald  d.e  ew,ge  Pen,  der 

')   Vergl.  Janicii  Erythrmi  pinacotheco  elr.     Vol.  Jgi:  164a.  paa;.  f>l  «nie,    'lern  .vn^c, 


-      49      - 

Vcrilaminlen ;  die  Bäume  ihatcn  freiwiUJ;;;  ilire  Riiiilc  ntd'.  liiul  glcicli^rtii!  von  iliiicii  «elxui'H,  gliij;«'»  sciiiMic 
IMäclclien  ans  denselben  hervor.     Wälder,  die  sicli  plüUlich  erhoben,   zcii^len  raunen,  Salyrc,  Wald-  und 
ßergnjTiiphen ;  in  Flüssen  und  Qnellen   erschienen   Najaden,   und   vieles   noch   hei   weitem  mehr  Bc^vun- 
dcms^^'iu•dige,  was  kein  Auge  vor  jener  Zeit  jemals  gesehen  halle."     ^^olllen  nun  auch  die  Erlinder  jenes 
neuen  Schauspiels,  der  Oper,  in  eigcnthümlichem  Sinne  die  Tonkunst  fortbilden,  sie  auf  eine  höhere  Stufe 
heben,  so  trat  doch  Awedcrum   die  Art,  wie   ihr  Zeitalter   die    ganze    äufscre   Erscheinung   desselben   auf- 
fafste,  der  Sinn ,  in  welcliem  es  die  Früchte  ihres  besonderen,  dabei  thätigen  Bestrebens  genofs,  mit  dem- 
selben in  AViderspruch ;  und  so  mächtig  ist  das  Wechselverhältnifs  z^\isclleu  dem  Künstler,   und  den   Hö- 
rern, den  Beschauern  seiner  Werke,  dafs  es,  ihm  unbewufst,    notlnvendig   seine  Einwirkimg   auf  ilm   be- 
währt: wie  hätten  also  jene  ihm  zu  entrinnen  vermocht!     Dieser  Zwiespalt  erklärt  mis  so  manche  sonst 
unbegreifliche  Erscheinung  auf  dem  Kunstgebiele  jener  Zeit,  wo  seit  Erfindung  der  Oper,  in  den  Werkpn 
geschätzter  Tonmeister,  Einfalt,  bis  zur  Psüchternheit  getrieben,  mit  schwülstigem  Prunke,  fade  Süfshchkeit 
mit  bitterer  Herbheit  in  ^\ iderstrebender  Vereinigung  erscheinen.     Die  iSoth^vendigkeit,    eine  mehr  in  das 
Innere,  Einzelne  gehende  Betrachtung  des  Kunstlebcns  jener  Zeit,  und  ziunal  der  aus  ihm  her\"orgegaugc- 
nen  ^Verke  unseres  IMeisters,  von  der  DarsteUims;  der   äufseren  Gestalt  seines  Lehens   und  seiner  Umae- 
bungen  zu  trennen,  erlaubt  luis  hier  nur  die  allgemeine  Andeutung,   dafs    seine   \\erke,   je   nachdem   der 
Einflufs  jener  äufseren  Bedingungen  darin  wahrzunehmen  ist,  eine  frühere  imd  spätere  Periode  unterscliei- 
den  lassen.     Jene,  in  welclier  die  Kunst  im  Zusammenhange    mit   dem   allgemciucn   Leben    sich   frei,   ge- 
sund entwickelte,  und  in  dem  Sinne,  wie  im  sechzehnten  Jahrhunderte  die  Tonkunst  zu   höhcrem  Leben 
erwacht  war,  eine  schöne,  eigenthümliche  Blüthe  desjenigen  Z^\'eiges  derselben  zeitigte,   der  uns  die  hei- 
lige heifst,    eignen  wir  mit  Recht  auch  diesem  Jahrhunderte   an;    diese,    wo  die  Kunst,    indem  sie  eine 
Erneuerung  erstrebte,  aus  ihrem  Bildungsgänge  herausgedrängt,  der  Prachtliebc   mul  Cenufssucht   sich   un- 
terordnen mufste,  bezeichnen  wir  als  dem  siebzehnten  Jahrhunderte  zugehörend,  in  welchem  jenes  umge- 
staltende Streben  erst   zu  völligem  Bewnfstsein  gelangte,  imd  durch  die  Einflüsse  der  Zeit  seine  Gestalt  und 
Farbe  empfing.     Bedeutend,  wie  überall,  \\ erden  wir  auch  in  dieser  Periode  seines  Wirkens  unsem  !\Ieister 
finden:  der  Riclitung  seines  Zeitalters  theils  hingegeben,  theils  unbewufst  unterworfen,  llieils  in  oft  unentschie- 
denem Kampfe  mit  derselben  begrifl'eu ;  und  möchten  wir  den  \A  crken  aus  jenem  früheren  Lebensabsclinitte  als 
den  gereiften  FrücJiten  einer  vor  ihm  begonnenen  Kunstrichtung  vorzugsweise  unsere  Liebe  zuwenden,   in- 
dem wir  in  den  späteren  die  Klarheit  inid  Durchbildung  vermissen,  die  jenen  so  vorzüghch  eigen  sind,  so  mögen 
wir  uns  erinnern,  dafs  er  in  diesen  letzten  mehr  grols  erscheint  durch  dasjenige,  was  durch  ihn  erstrebt,  als 
was  durcli  ihn  errungen  worden  ist;  dafs  in  diese,  über  ihrer  Zeit  stehenden,  durch  sie  aber  aucli  in  ihrer 
Reife  aufgehaltenen  W  erkc  die  Keime  niedergelegt  sind.  A^elche  am  Schlüsse  des  siebzehnten  und  zu  An- 
fange des  folgenden  Jah,rliunderts  sich  zu  einer  neuen  Kunstblüthe  herrhch  entfaltet,   und  nicht  allein  für 
V  euedig  und  Itahen,  sondern  auch  für  Dculscldand  reichliche  Früchte  gebracht  haben. 

In  Deutschland  gehörte  unser  Meister  seit  dem  Ausgange  des  sechzehnten  Jahrhunderts  zu  den  am 
meisten  geachteten  und  beliebten  Italiens.     Sieben  verschiedene  Sammlungen  ')  gescliätzter,   meist   geislJi- 


' )  L's  waren  folgende  : 

1)  Coniinuaiio  cantionum  sacraruin  4.  5.  6.  7.  8  et  plurium  vocum  de  festis  praecipuis  unni  etc.  studio  et  opera  fri' 
derlei  Liiidneri  etc.  Noiih.  ex  ojficina  fijpogr.  Cath.  Gcrlachiae  1588.  (Sie  enthält  einen  acht-  und  einen  zwölf- 
stimmigen  Gesang,  Gabrieli's.J 

2)  Ccmnta  mtisicalis,   seleclissimas    tmii    st'jli    cantiones    Cvnigo    Ifalis    Madrigal!    et    tVapolitane    dicimttirj    i.  i.    6    et 
.  Wintcrffld.  Job.  <>alirie]i  u.  k.  Zcitnllar.  V 


—     iii)     — 

tlier  Gesänge  waren  l)is  1609  daselbsl  erschienen,  unter  ihnen  sechs  zu  Nürnberg,  in  denen  seine  Ton- 
werke, wie  der  Zalil,  so  aucli  dem  hineren  VVertlie  nach,  die  vorzügUchsle  Stelle  einnahmen.  Vornehmen 
und  mächtigen  (iöimern,  ausgezeichneten  Tonkünstlern  in  Deutschland  nahe  befreundet,  wie  er  war,  konnte 
es  nicht  fehlen,  dafs  man  sich  um  ihn  bewarb,  dafs  man  hoffnungsvolle  junge  Künstler  seiner  Leitung 
anvertraut  ^vüliscllle.  So  geschähe  es  mii  Heinrich  Schütz  im  Jalire  1609.  Dieser,  geboren  zu  Köstritz 
im  Vogllaiide  am  achlen  Octoher  1585,  früh  diuch  eine  vortrefflidie  Stimme  und  vorzüghche  Anlagen 
Hir  die  Tonkunst  ausgezeichnci,  um  die  ersterwähnte  Zeit  bereits  seit  zwei  Jahren  Rechtsheflissener  zu 
Marburg,  ja,  im  Begriff  die  Doclorwüvde  zu  erlangen,  gab  der  Aufforderung  des  Landgrafen  Moritz  nach, 
welcher  damals  jene  Hochschule  besuchte,  imd,  erfreut  durch  die  bereits  erworbene  Geschicklichkeit  des 
jungen  Blannes  in  der  l'onkmist,  ihm  das  Anerbieten  machte,  auf  seine  Kosten  für  einige  Jahre  nach 
Venedig  zu  Johannes  Gabrieh  zu  reisen,  um  imlcr  dessen  Leitung  die  letzte  Hand  an  seine  Ausbildung 
zu  legen.  Beinahe  vier  Jahre  lang  hatte  er  als  Schülei-,  wohl  auch  Hausgenosse  unsers  IMcisters,  sich  zu 
\  cncdig  aufgehalten,  als  ihm  dieser  durch  den  Tod  entrissen  wurde,  im  Jahre  1612.  Es  ist  anziehend 
zu  beobachten,  wie  verschieden  auf  Beide,  den  bereits  gereiften,  kunsterfahrnen,  in  Jahren  vorgeschrilte- 
nen  IMcisler,  imd  den,  in  seiner  Bildung  durch  ihn  zuerst  begründeten,  aufstrebenden,    das   Neue   begierig 


plufUnn  vocuni  contUiens  etc.  Lih,  /,  1588.  lAh.  //.  1.589 -•  von  deniseWen  Herausgeber  gesammelt ^  und  eben  daselbst 
erschienen.     5  Jladriga/c    GabrieWs,  Jedes  zu  Je  6.  7.  8.   10.  12  Stimmen  sind  hierin  enthalten, 

3)  CoroUarium  cantionum  sacrarum  etc.  ebenjril/s  von  demselben  Herausgeber  gesammelt,  und  eben  da  erschienen  1590. 
j&V«  zehnstimmigeSy  zwcichöriges  Dlotett  von  Gabrieli  enthalt  diese  Sammlung,  deren  Quelle,  wie  die  der  drei  vorher^ 
gehenden,  die  von  Joh.  Gabrieli  bei  Gardano  zu  J'enedig  1587  herausgegebene  Auswahl  von  Gesängen  seines  Oheims^ 
vnd  eigenen,  ist. 

4)  Fiori  del  Giardino  di  dir.  eccell.  aulori  a  i.  5.  6.  7.  8  et  9  voci:  bei  Paul  Iiaufmann  zu  Nürnberg  1597.  Sie 
enthält  ein  Jun/slimmigcs,  und  zwei  achlsfimmige  Jladrigale,  desgleichen  zwei  achtstimmige  Instrumental  -  Canzonen 
von  Joh.   Gabrieli. 

5)  a.  Sacrae  symphoniae  diversorum  excellcntissimorum  autorum  4.  5.  6.  7.  8.  10.  VI  et  \G  tarn  vocibus  quam  instru- 
mentis.  Norib.  ap.  l'auhim  Iiaufmann  1 598.  Sie  begreift  zwei  sechsstimtnige,  zwei  siebenstimmige,  sieben  achtstim- 
mige  Gesänge;  ein  zehn-,  zwälf-^  seclizehn.-<f immiges  Jfloteft  von  J.   Gabrieli. 

1).  Sacrarum  symphuniiirum  continuatio.     Ibidem.   1600.      .Sie  enthält  einen  sechsstimmigen  Gesang,  und  drei  sieben-, 
drei  acht-,  vnd  zwei  zehnsfimmige   Gesänge  von  J.   Gabrieli. 

6)  Magnißcal  8  lonorum  divers,  ejccelt.  nuctorum  etc.  Ib.  1600.  Ein  achtstimmiges  Magnißcat  dorischer  Tonart  ist 
hierin  enthalten. 

7)  Florilegium  selerfissimarum  cantionum  pracstantissimorum  actatis  nostrae  auctorum,  \,  5.  6.  7  ef  8  vor.  in  illustri 
Gymnasio  Portensi  ante  et  posf  cibum  sumptum  nunc  tcmporis  usitatanim  etc.  studio  et  labore  Erhardi  Bodensehat  z 
etc.  Lipsiae,  excudcbat  Abraham  Lamberg.  Anno  1603.  (^Ein  sieben-  und  ein  achfstimmiges  Jilotett  von  Joh.  Ga- 
brieli sind  in  diese  Sammlung  au/genommen.     Beide  enthält  auch  die  unter  JVo.  5  b.  envähnfe. 

Spätere  in  Deutschland  erschienene  Sammlungen,  welche    Wer/ce  unseres  Meisters  aufbewahrt  haben,  sind: 

a.  Die  vier  Theilc  des  von  Abraham  Schadäus  und  Caspar  J'incentius  zu  Strafsburg  bei  Paul  I.edcrtz  her- 
ausgegebenen Promptuarii  musiei.  ^1611.  1612.  1613.  1617.J  Sie  enthalten  zusammen  zwä/f  Jferke  desselben:  eines 
zu  sechs,  eines  zu  sieben,  zehn  zu  acht  Stimmen. 

b.  Die  zwei  Theile  des  von  Erhard  Bodensvhatz  herausieegebenen  florilegium  Purtense.  fS.  das  zuvor  unter  JVo.  7) 
angeführte  If'erk.J  Leipzig  16{8.  1621.  Der  erste  Theil  enthält  einen  siebenstimmigen  und  zwei  achtstimmige 
Gesänge  unseres  Kleisters,  von  denen  zwei  schon  in  der  Ausgabe  von  1603  begriffen  waren.  Der  zweite,  drei  acht- 
stimmige, welche  auch   in  der  Sammlung  des  Schadäus  zu  Jinden  sind. 

c.  Sacrae  symphoniae  ditersorum  ed-cellcntissimorum  autorum,  quaiernis,  5.  6.  7.  8.  10.  12  et  IQ  vocibus  tam  vivis 
quam  insirumentalibus  accommodatae:  studio  et  opera  Casparis  llassleri  etc.  JVorib.  typis  et  sumptibus  Pauli 
haufmanni,  1613.  Diese  Sammlung  umfuj'st  alle  Gesänge  Gabrieli's,  welche  bereits  in  den  bei  demselben  l'crleger 
um  1598  und  1600  erschienenen  sympho.'iiis  sacris  enthalten  waren.  (S.  JVo.  5  a.  und  h.J 


51       — 


ergreifenden  Sclüiler,  jene  flurcli  die  Gcstall  der  Zeit  hedino-le,  und  zum  grofscn  Tlieil  ije.scliriiiikle,  Ke- 
giing  eingewirkt,  welclic  durcli  die  Bildung  der  Oper,  imd  mit  derselben  die  Tonkunst  uni/.ugcstallcii 
Iraclilete.  Wir  widmen  in  der  Darlegung  des  inneren  Fortbiidcns  der  Knnsl  durch  unsern  Meister  und 
seine  ^'orgänger,  cUeser  Betraclitnng  eine  besondere  Stelle.  Hier,  am  Schlüsse  unser«  Berichtes  über  die 
Lebensumstände  desselben,  bleibt  uns  von  den  Irl heilen  seiner  Zeitgenossen  über  ihn,  xm  den  zu  Ve- 
nedig mit  ihm  lebenden,  der  Kirche  des  heiligen  ^Marcus  cUencnden  Tonkünstlern,  nur  noch  Einiges  nach- 
zutragen. 

Am  nächsten   liegt   dabei   ohne   Zweifel   dasjenige,    was   von   seinen    beiden    uns   bekannleii    Schü- 
lern über  ihn  aHsges])rocIien  worden;    von  Heinrich  Schütz,   dem    nachmals   so   hocbgefeierten,    beinahe 
hundert  Jahre  nadi  dem  ersten  Auftreten  seines  Kleisters  noch  ridnnvoll   auf  dem  Ccbicte    ,1er  Tonkunsl 
Ihäligcn  Deutschen,  und  von  Aloys  Grani,  seinem  Landsmann  mid  i^Iit\ollslrecker  seines  letzten  \Villens. 
weniger  berühmt,  aber  seines  Meisters  nicht  unwerüi,  und  ihm  mit  irn.iger  Verehrung  ergeben.     Secb/ehn 
Jahre  nach  dem  Tode  GabrieH's.  um  1Ö28,  begab  sich  Heinrich  Schulz    umi   zueilenmale   nach    \enedi«. 
um  daselbst,  (mit  seinen  eigenen  Worien  zu  reden)  •),  „der  inzwischen  a.ilgcbrachlen.  neuen,  und  henll 
gen  Tags  gebräuchlichen  IVLinier  der   I\Iusik   sich   zu   erkundigen."   —     Obgleich   aber   dem    Neuen    nach- 
strebend, war  er  dennoch  mil  seinen  Gedanken  zuerst  auf  seine,  in  der  iNäbc    seines   alten    IMeislers    ver 
lebten  Jugendjahre,  auf  dessen  Griissc  in  der  Kunst  gerichlet.     .,Als  ich  nach  Venedig  kam,'   (sai;!  er  in 
dem  Vorwort  einer,  ein  Jahr  nach   seiner   Ankunft   von   ihm   herausgegebenen   Sannidtnig   geisllicjier   Ge- 
sänge) ■")  „ging  ich  dort  vor  Anker,  wo  ich  als  Jüngling  unter  dem  grofsen  Gabrieli  die  ersten  Lehrjahre 
in  meiner  Kunst  zugebracht  hatte.     Ja,    Gabrieh!     Ihr   unsterblichen   Gütter,    welch"   ein   Mann    Mar   der! 
Hätte  ihn   das   wortreiche   Alterthum   gekannt,    den   Amphionen    würde   es   ihn    vorgezogen   haben;    oder 
wünschten  die  Musen  Verniählung,  so  besäfse  IWclpomenc  keinen  andern  Gemahl  als  ihn,  solch  ein  Mei- 
ster des  Gesanges  war  er.     Das  verkündet  der  Ruf,  aber  der  beständigste.     Ich  selbst  war  defs  reichlich 
Zeuge,  der  ich  ganzer  vier  Jahre  lang  seines  Umganges  genofs,  gar  sehr  zu  meinem  Frommen."  _  We- 
niger pompliaft,  aber  herzlicher  und  würdiger  klingen  die  ^Vorle.  mit   denen   Aloys   Grani   die   nni    1615 
von  ihm  gesannnelten,  ^)  zum  Theil  nocli   ungedruckten,    sechs-    bis   ncunzehnslimmigen  Gesän-e    seines 
iMeisters,  einem  deutschen  Freunde  des  Verewigten  zueignete,  dem  Abte  des   Ueichsslifls   Sancl^^Udalrich 
und  Afra  zu  Augsburg.  Johannes  IMerck  aus  I\Iindclheim.     .,Ist   auch   dieses    endliclie   Leben   (spricht  er) 
das  wir  hienieden  fiU.ren,  ehrwürdiger  \aler  Abt,  noch  nicht  ein  seeliges  zu  nennen,   so   bietet   es   doch 
zuweilen  einen  \  orschmack  jenes  secligen  und  ewigen,    ich   meine    unsterblichen   Ruhm    luid  Ehre,    der 
Tugend   eigensten  Lohn;   wie  denn  Seneca   mit   Recht   in   jenem   Ruche    idier   den   frühzeitigen   Tod   be- 
zeugt,   dafs  die  Tugend   aUein  es   sei,    die   uns    Unsterblichkeit   gewähren   kiinne.      Hat  dahw  gleich  Jo- 
hannes Gabrieli,  jener  ausgezeichnete,  keinem  andern  seines  Zeilallers  weiclicnde  Tonkünsticr,  seit  einigen 
Jahren,  von  den  Fesseln  des  Irdisdien  gelöst,  seine  leibliche   und  irdische  Hülle   abgestreift,    so   darf  ich 
Um  doch  mit  Recht  glücklich  preisen,  da  er  durch  seine  Tüchligkcil,   seine  ^Vissenschaft,  ewiges,   unver- 

')  In  der  Zueignung;  des  drillen  Theih  seiner  s,jmphoniae  saerae  (Dresden,  leöOJ  ««  den  Chnrfürsten  Johann  Georg  von 
Snehsen.—  ^)  S,jmpl,oniae  snerae  a  3.4.5.6.  Opus  ecr/esiastieum  secimdum.  f'enelüs  afiid  Barfho/omaeum  Mai^ni.  1629 
)  Symphoniae  saerae  Joa„n\is  Gabrielii  Sereni/s.  Iteip.  l'enet.  organisluc  in  cechsia  Divi  Marci.  Liber  secnndus. 
Sems,  7,  8,  10,  11.  12.  13.  11.  15.  16.  17  cf  19  fam  vociius  '/nam  instninienlis.  Editio  nora.  Cum  privifegio.  Si^^num 
aardani:  .lere  liarlholonuiei  Magni.  l'enetiis  1G15.  Sie  enlhalten  32  (Jesiinge:  zirei  see/.sslimmige ,  -.nei  siehcnslim. 
nvge,  arlit  „chlstimwige ,  ,hei  zehnstimmige ,  einen  elßl immigen  ,  sieben  zuM/fstimmige .  einen  drei-.rhnslimmigen ,  drei 
r.erzehnslimmige.  einen  ßinfzehn-,   zwei  sevkzehn-,  einen   siebzehn-  nnd  einen   nennze/.HStimmiffm,. 


—      52 


oänoliclics  I.0I,  uikI  (;.-.lä<I.I,r.rs  in  .liosem  Leben  sich  berellet   hal.     Mag  er  verstummt  sein,    der   Welt, 
die  "seiner   Gesänge    Süssiokclt   enl/.ückt,    werden  diese  nimmer  verstummen;    mag  seine   Hand  aufgehört 
haben  uns  seine  Gedanken  aufzuzeichnen,   was  sie  aufgezeichnet,  w-ird   die  Nachwelt   der  Unvergiinghch- 
keit  zu  weihen  nicht  aufhören;    möge  uns   seine  leiblidie  Erscheimmg   entzogen    sein,    in   den    Vcremen 
unserer  Tonkiinsller  wird  sein  Andenken  immer  gegenwärtig  bleiben,   ja,  seine  grofse  Kunst   und   Tüch- 
tigkeit v^'ird  lebendig  selbst  bis  zu  denen  dringen,  die  er  niemals  gesehen  noch  gekannt  hat."     ISht  eben 
so  innio-er  Verehrung  endlich  nennt  der  Augustinermöncli  Pater  Thaddäus   von  Venedig,    der  m   demsel- 
ben  Jahre   (1615)   dem   Herzoge  Albert  von  Bayern    Gabrieli's   nachgelassene   Instrnmenialstückc ')  über- 
reichte   unsern  IVIeister  eine  Zierde  der  Grazien  ^''^0«*  gratiar„mj   indem  er  den  Gön.ier   des   Verewig- 
ten mit  dessen  eigenen  \Vorten  als   .,Bayerns  köstlichste  Zierde"   rühmt.     MöclUe  es    aber   scheuen,    als 
trü-^en  diese  Lobsprücbc  der  nächsten  Freunde  unseres  Meisters  das  Gepräge  der  Parthedichke.t:  so  wer- 
den wir  doch  nicht  umhin  kimnen,  dem  Zeugnisse  des  ArtusI  Glauben  beizumessen,    der  m   sem-r  Dar- 
le.'uno-  der  Vnvollkonmicnheilen  der  Tonkunst  seiner  Zelt,  den  Johannes  Gabnch  an  mehren  Jrten  unter 
de'ii  vorzüglichen  Tonkünstlern,    den   Meistern  der  guten  Schule   nennt,    und   dem   Urtheile   des  Midiacl 
Prätorius  beizupflichten,  des  gründlichsten  Tonmeisters  und  Tonlehrers   seiner  Zeil,    welcher  des  Gabneh 
in  den  meisten  Abschnitten  des  dritten  Thelles  seines  Syntagma  nmsirwn  als  Musters  gedenkt,  und  seiner 
selten  erwähnt,  ohne  ihn  zugleich   „den  vortrefflichsten,   hochberühmtesteiv'   zu  nennen;    we  denn  auch 
Seth  Calvlslus  In  seiner  AbhantUung  über  die  redite  Kenntnifs  der  Touarlea  auf  GabrieU  öfter  alslMusler 

hinweist. 

ISeben  allgemeinem  Anerkenntnisse  liatte  unser  Meisler  aber  audi  des  Zusammenlebens   und  \\  ir- 
kens   mit  auso^ezeldineten   Amtsgenossen   sich  zu   erfreuen.      \'on   Buhhasar   Donato,    dem  Nachfolger 
des  Zarlino  Ini  Amte  des  Sängermeisters  bei  St.  Marcus    (seit   dem   neunten  März  1590)    sind  meist  nur 
weltlldie  Gesänge  auf  uns  gekommen;    einzelne   geistliche,    die   m  verscliledenen   Sammlungen   sieh  zer- 
streut finden,  geben  nldit  liinreidiendc  'videgenheit,  sein  Verdienst  um   die  klrchhdic  Tonkunst  würdigen 
zu  lernen.     Artnsl  nennt  audi  ihn  unler  den  besseren  Tonkünstlern  seiner  Zeit.     Schon    seit   1596   Mar, 
Ihm  Johannes  Croec.  nadi  seiner  Vaterstadt  Chioggla  oft  nur  Chiozzotlo  genannt,    als    Milhelfcr  beige- 
sellt   und  seit  dem  dreizehnten  Juli  1603  sein  Nad.folger.     ^Vir  wertlm  bei  Darlegung   des   mnei-en    B.l- 
dun^soanoes  der  heiligen  Tonkunst  zwar  nicht  Gelegenhdt  finden  können,    auf  Um   wiederum   zuruckzu-. 
konmen,    da  er  auf  diese  unmittdbar,  weder   fördernd   noch   umgestaUend,   auf  bedeutende  Weise   einge- 
wirkt hat;  aber  mizwelfelliaft  gehört  er  zu  den  besseren  Mdstern  der  damaligen  Zeit,    zu  jenen   gluckh- 
dien  Naturen,  wdche  die  Ihnen,  wenn  audi  nur  innerhalb  eines  engeren  Kreises,  verhdienen  Gaben  auf 
das  befrledi-^endste  zu  ent^vickeln  Avissen,  und  durdi  Ihre  liebenswürdige  Eigenthümlid.ke.t  immer  anzie- 
hend bleiben.     Hdter  imd  freundhch,  wie  er  selber  im  Umgange  gewesen  sdn  soll,  sind  audi  seme  ge.st- 
lldien  Gesänge;  sdbst  in  den  ernsteren  herrsdit  dne  gewisse  Wdchhelt,  die  sie  denen  vorzugsweise  ge.^ 
niefsbar  madil,  wddien,  durch  die  Gegenwart  verwöhnt,   die  geistliche   Tonkunst  jener   Zeit   sonst   nidit 


')  Cauzonl  e  Sanale  dcl  S!gn:  Giovanni  Gahriell,  organista  della  serenissinia  repuhlicadl  l'ene-.ia  in  S.  Marco. 
vi  3  5  G  7  8  10  12  14.  15  et  22  voci:  per  sonar  con  ogni  Sorte  d'instmmenti,  con  it  Basso  per  l  Organ».  Dcd,- 
cate  al  Serenissimo  Dura  di  Baviera  dal  Rov.  P.  F.  Thaddeo  da  Veneria,  Agostiniano.  Con  Privilegio.  Stampa  del 
Gardano.  Jn  Veneria  1G15.  Appresso  Bartolommeo  Magni.  Der  Jnstrumentahtdcke  sind  ein  und  z,ran^.g:  eines  «c 
drei,  fünf,  rie,zehn.  funf-.ehn,  ^u'ci  und  -.n-anzig  Stimmen:  drei  -.u  sechs,  drei  zu  sieben,  sechs  zu  acht,  z,re,  zu  zehn 
und  zu-ei  zu  zu-ölf  Stimmen. 


—      53      — 

zusagt.  So  erschienen  sie  bereits  den  Kunslfreinulen  der  letzten  Hallte  des  siebzehnten  Jahrhunderts, 
einer  Zeit,  die  mit  den  Kunstansichten  der  niichstvorhergehenden  meist  in  entschiedenem  Gegensatz,  ni 
Beurtlieilungen  von  AVerken  früherer  Meister  sonst  oft  einsoilig  und  ungerecht  sich  darstellt.  ,.Noch, 
(sclireibt  Doglioni  von  ihm.)  sind  seine  Werke  in  den  Händen  der  Kunstfreunde,  und  werden  täglich  mit 
grofsem  Beifalle  von  den  iMusikchiiren  gesungen.  Und  wiewohl  es  scheint,  als  würden  um  des  Neuen 
willen,  das  ja  vorzügUch  zu  gefallen  pflegt,  die  Künstler  am  meisten  gepriesen,  und  als  sei  das  zu- 
letzt Erfundene  auch  immer  das  Behebteste,  so  verhält  es  sich  doch  anders  bei  «liesera  .^lelsler,  denn  je 
öfter  man  seine  Gesänge  hört,  um  desto  mehr  pflegen  sie  zu  gefallen." 

Julius  Cäf/ar  Martlncngo  aus  Verona,  seit  dem  zwei  und  zwanzigsten  August  IfiüS  des  Croce 
Nachfolger,  war  früherhin  bei  der  Ilauplkirchc  zu  Udine  angestellt  gewesen.  Ueber  seine  ^^  erkc  sind 
uns  keine  Nachrichten  aufbehalten.  Seine  Lebendigkeit  im  Ausdrucke,  seinen  ausgesuchten  Geschmack, 
finden  wir  mit  allgemeinen  Worten  gerülmit,  und  können,  ohne  im  Stande  zu  sein  ein  eigenes  Urtheil 
über  ihn  zu  bilden,  aus  der  ilun  anvertrauten  Ehrenstelle  und  diesen  Lobsprüchen  nur  schliefsen,  dafserzn 
den  ausgezeichneten  Tonkünsllern  seiner  Zeit  gehört  habe.  Er  starb  in  jugendlichem  Aller,  und  ihm  folgte  seit 
dem  neunzehnten  August  1613  Claudio  Monteverde  aus  Cremona,  ein  Sclüiler  des  IMarco  Antonio  Ingegneri, 
und  früher  im  Dienste  VIncenz  Gonzaga  des  ersten,  Herzogs  zu  IMantua.  Als  einen  der  vornehmsten  Beför- 
derer jener  neuen  Richtung,  die  seit  Erfindvuig  der  Oper  auch  der  geistlichen  Tonkunst  sich  bemei- 
stertc,  tinden  wir  ihn  von  seinen  Zeitgenossen,  wie  ihre  Sinnesweise  sie  dem  Alten  zuwendete  oder  dem 
Neuen,  theils  bitter  getadelt,  tlieils  abgöttiscli  verehrt.  Während  er,  von  dem  Tadel  jener  verwundet, 
in  der  Zueignung  eines  geistlichen  Werkes  an  den  Papst  Paul  V.  diesen  demütliig  um  seuien  Seegen 
littet,  damit  (beziehungsweise  auf  seinen  Namen):  „der  kleine  Hügel  seines  Geistes  immer  mehr  grüne,  und 
der  IMund  werde  des  IMonteverde  Afterrednern  verschlossen"  Cut  moitn  e.vlguus  ingenii  mei  magis  ac  magis 
virescat  in  dies,  et  claudantur  ora  in  Claudium  loguentium  iniqua)  sehreiben  seine  Bewunderer 
von  ihm:  „was  er  geüian,  ist  der  Welt  ofienbar,  es  ist  unniöglicli  mit  rohem  Kiele  es  sattsam  zu  preisen; 
denn  gleicli  einem  ^^  under  in  dieser  Kunst  hat  er  menschhche  Ersvarlimg  überiroiren."  Wie  jene  .ih- 
weichenden  Urtlieile  sicli  gestalten  konnten,  wie  seine  Bestrebungen  und  Leistungen  zu  denen  des.,:J:0- 
hannes  Gabricli  sicli  verhalten,  werden  wir  in  dem  Folgenden  sehen.  '    '•'^-  f'tli  .mrtitt 

Und  so  bleiben  uns  am  Scldusse  dieses  Abschnittes  nur  nocli  die  Namen  der  drei  Nachfolger  des 
Andreas  Gabricli  bei  der  zweiten  Orgel  von  St.  IVlai-cus  zu  erwähnen,  w  eiche  Amtsgenossen  seines  Neffen 
Johannes  waren:  Vincensi  Bei  (oder  BeW  avere.)  Joseph  Gunmi.  und  Paul  Giusto,  welche  In  kurzen 
Zwlsclienräumen  (den  30.  December  1586,  30.  October  1588,  15.  September  1591)  auf  einander  folgten. 
Von  ihren  Lebensumstanden  ist  uns  nichts  Näheres  bekannt:  geachtet  waren  sie  bereits  seit  der  letzten 
Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Des  ersten  wird  künftig  noch  zu  gedenken  sein,  des  zweiten  ist 
in  Zarllno's  Zeugnisse  bereits  rühmllcli  gedacht  worden,  und  an  dem  letzten  lobt  Dos;lIoni  vornehmlicU 
die  Uebereinstimmung  seines  Spiels  mit  dem  Gesänge.  '    .ih'w 

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—       54       — 


VIERTES  HAUFTSTÜOK. 


Der  gregoriaiitsclK!    Kirchengcsang ;   dessen   Bedcntung,   und   das    Ver- 

hältnifs  der  aUen  belgischen  3Ielster  %n  demselben,  %mnahl  Adrian 

Mlllaerfs,  des  Stifters  der  Venedischen  Tonschuf e. 

Auf  doppelte  Weise  können  wir  jeden  Gesang  bclrachten.  Ais  eine  Reihe  von  Tönen  zuerst,  ver- 
schieden nach  Höhe  und  Tiefe,  in  deren  Verknüpfung  wir  dem  Gesetze  nachforschen,  das  sie  zu  einem 
Ganzen  vereint.  Als  innig  verbunden  mit  dem  \Aoiie  sodann,  das  durch  ihn  verklärt  werden  soU;  ver- 
scliicden  gestaltet  von  innen  heraus  durch  dessen  Inhalt,  äul'serlich  geregelt  durch  sein  Maafs.  Enger  ist 
die  erste  Betrachtimgsweise,  die  nur  den  Stoff  zum  Gegenstande  nimmt,  umfassender  die  zweite, 
welche  mit  dem  Kunstwerke,  seinem  innern  Wesen  nach,  sich  beschäftigt.  Gedenken  wir  nun  in  dem 
vorliegenden  Absclmitte  den  Zustand  der  Kunst  heiligen  Gesanges  um  die  Zeil  des  Adrian  Willaert, 
Stifters  einer  VcnediscJien  Gesangschule,  darzulegen,  und  sein  Verdienst  um  dieselbe  zu  würdigen,  so 
bietet  von  selbst  dabei  jener  doppelte  Gesichtspunkt  sicli  dar.  Wir  beginnen  mit  der  letzten  Belracli- 
tungsweise,  denn  fruchtbarer  wird  nach  ihr  uns  die  erste  sein,  wir  werden  auf  diesem  Wege  uns  in  den 
Stand  gcselzt  finden,  das  W  esen,  die  Bedeutung  der  Klrclientonartcn  zu  entwickeln,  zu  deren  Erforschung 
er  uns  leiten  Avird. 

-de  on  Bei  jeder  kirchlichen  Feier  bietet  der  katholische  Gottesdienst  uns  Gesänge  verschiedener  Art  und 
mannichfiiltigpn  Ursprunges.  Die  heilige  Schrift  frciüch  ist  die  Quelle  der  meisten,  doch  findet  der  Reich- 
tJmm,  den  sie  bietet,  auf  verschiedene  WVise  sich  ange\\endet.  Bald  sind  es  ganze  Gesänge  gröfseren 
Umfanges;   Psalmen  und  fromme  Lieder,  von  heiligen  Frauen   und   Männern   bei   besonderen   Ereignissen 

iials  gesungen  oder  gesprochen  aufgezeiclinet;  biblische  Bruchstücke  bald,  in  Verbindung  gesetzt  mit  Ge- 
sängen solcher  Art,  oder  mit  Stellen  der  Schrift  und  der  Väter,  welclie  der  Vorlesimg  bestimmt  sind. 
In  solcher  \erblndung,  und  nach  Weise  derselben  unterschieden,  finden  wir  gegenwärtig  Antiphonieen 
und  Responsorien,  jene  den  Psalmen  und  heiligen  Liedern,  diese  den  Lektionen  gegenübergestellt,  nach 
dieser  Beziehung  in  den  älterein  Zeiten  der  Kirche  freilich  nicht  zu  bezeichnen.  Denn  was  gegenwärtig 
diesön  Namen  führt,  \\as  auch  zu  Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  schon  im  Wesentlichen  gestaltet 
war.  wie  jetzt,  beschränklc  in  früheren  Zelten  sich  nicht  auf  biblische  ßruchslücke  allein.  Es  ■\\aren 
ganze  Psalmen,  und  die  Namen  Antiphoiiic  und  Responsorium  dcnleten  auf  die  besondere  \\  eise  des 
Vortrages  im  Gesänge:  wie  sie  der  Chor  nändich,  entweder  in  zwei  Hälften  gesondert,  gegeneinander  ab- 
sang, oder  mit  dem  Vorsänger  wechselnd,  das  von  ihm  Ausgesprocliene  durch  einstimmige  Wiederho- 
lung bekräftigte.  Beiden  Arten  heiliger  Gesängo  im  ANesenIlichen  übcreinsliinnicnd,  nach  ihrer  Stellung 
bei  verschiedenen  Theilcn  des  Gottcsdiensles  aber  versrhieden  benanTit,  finden  wir:  Invilatorien,  und 
Introitus,  Gradualien  imd  Offertorien,  deren  gemeinschaftliche  Quelle  überall  die  heilige  Schrift  ist. 


—      55      — 


Aber  auch  metrische  Gesänge  dirlsllichcr  Dicliter,  für  einzelne  Feste  zu  verschiedenen  Zeiten  be- 
sonders gediclitet,  wurden  seit  den  hüJiesten  Zeiten  der  Klrclie  angewendet,  und  mit  dem  allgemeinen 
Namen  Hymnen  bezeichnet;    bei  der  Messe  endUch  die  verschiedenartigsten  Gesänge  zu  einem''  Ganzen 


vereinigt 


Nur  die  Betrachtung  der  Art,  wie  aUe  jene  Gesänge  bei  einer  bestimmten  festlichen  ^'eranlassun"- 
angewendet  wurden,  vermag  ein  anschauliches  Bild  derselben  zu  geben.  \\ir  wählen  unter  den  andern 
kirclihchen  Festen  das  Osterfest,  als  eines  der  bedeutungsvollsten,  auch  defshalb  am  liebsten,  weil  Aiele 
der  dabei  üblichen  Gesänge  durch  Joliannes  GabricH  in  Musik  gesetzt  sind. 

Der  Früligottesdienst,  die  Mette  des  Osterfestes,  beginnt  mit  dem  Gesänge  der  drei  ersten  Psal- 
men Da^ds;  ihnen  folgt,  je  an  einem  der  drei  feslUchen  Tage,  eine  besondere  Vorlesung;  am  ersten 
Tage:  des  Evangehi  von  der  Auferstehung  des  Herrn,  wie  es  bei  IMarcus  im  sechzehnten  Kapitel  aufge- 
zeichnet ist;  am  zweiten:  der  Erzählung  von  den  Jüngern  zu  Emaus;  am  dritten:  von  dem  letzten  Ab- 
sclucde  des  Herrn  und  seiner  Jünger  nach  seiner  Auferslehun^,  wie  beides  vom  Lukas  im  vier  und 
zwanzigsten  Kapitel  bericlitet  wird.  An  den  beiden  ersten  Oslerlagen  schliefsen  sicli  dem  EvangeUo  drei 
Abschnitte  aus  den  Honnlien  des  heiligen  Gregorius  an;  drei  dergleichen  aus  dem  Ambrosius  sind  dem 
Evangebo  des  dntten  Festtags  beigegeben.  Z^^^chen  die  Psalmen  sind  doppelte  Antiphonieen  eingeschal- 
tet, und  zwei  dergleichen  gehen  denselben  voran,  von  denen  die  erste,  ihrer  Stellung  nach,  als  Einleitung 
zu  der  ganzen  Feier  des  Tages,  den  Namen  Invitatoiium  fidirt.  Ein  Responsorium  folgt  den  beiden 
ersten  zu  verlesenden  Abschnitten;  dem  letzten  der  ambrosianische  Lobgesang. 
Das  Invitatorium: 

Der  flerr  ist  wahrhaftig  auferstanden,  Halleluja! 
und  der  ihm  folgende  94  (95)ste  Psalm: 

Kommt  herzu,  und  lasset  uns  dem  Herrn  frohlocken,  und  jauchzen  dem  Hort  unseres  Heils' 
rufen  den  Gegenstand  des  Festes,  die  Stimmung,  welche  es  erwecken  soll,  sofort  in  das  Gemüth;  die 
anderen  Psalmen,  die  Seeligkeit  desjenigen  preisend,  der  da  Lust  hat  an  dem  Gesetze  des  Herrn,  seine 
Macht  rühmend,  die  des  Tobens  der  Heiden  spottet,  bei  der  sein  Volk  Hülfe  iindet  und  Seegen,  un- 
terhallen  diese  Stimmung,  und  auf  das  Sinnreichste  wird  in  den  Antiphonieen  aus  eben  diesen  Psalmen 
und  anderen  Theilen  der  Schrift  das  auf  den  erstandenen  Erlöser  prophetisch  liindeuten.le  zusammen- 
gestellt. 

„Ich  bin,  der  ich  bin,"  beginnt  die  erste  mit  den  Worten  Jehovah's  zu  Moses,  als  er  aus  dem 
feungca  Busche  ihm  den  Auszug  aus  Aegj^ten  verkündete,  und  fahrt  dann,  wie  die  übrigen,  fort  mit 
Stehen  aus  den  verlesenen  Psalmen:  „Ich  bin,  der  ich  bin,  ich  wandele  nicht  im  Rathe  der  Gottlosen 
sondern  habe  Lust  zum  Gesetze  des  Herren,  Halleluja!  Ich  habe  geheischt  ^on  meinem  \^ater.  Halleluja! 
und  er  hat  nur  die  Heiden  zum  Erbe  gegeben,  der  ^Velt  Ende  zum  Eigenthum,  HaUeluja!  Ich  lag  und 
sclUiet  und  bm  erwacht,  denn  der  Herr  hält  mich!  Halleluja!" 

Dem  ersten  der  vorzulesenden  Abschnitte  folgt  am  ersten  Festtage  ein  Responsorium,    genommen 
aus   der  Erzählung  des  Mattl.äus  von  der  Auferstehung,  im  acht  und  zwanzigsten  Kapitel: 

„Der  Engel  des  Herrn  kam  vom  Himmel  herab,  trat  hinzu,  wälzte  den  Stein  von  der 
Tlmr,  setzte  sicli  darauf,  und  sprach  zu  den  \^ eibern:  Fürclitet  euch  nicht,  ich  weifs. 
dafs  ihr  Jesum  den  Gekreuzigten  suclit.  Er  ist  nicht  hier;  er  ist  auferstanden,  wie  er 
gesagt  hat.     Kommet  her  und  sehet  die  Stätte,  da  der  HeiT  gelegen  hat.     Halleluja!".'.  -i 


-      56      - 

l'nler  dem  Namen   l'ersus  folgen  tlaTin  die  Worte  des  Marcus  im  seelizeliiileu  Kapitel: 

„Und  sie  gingen  hinein  in  das  Grab,   inid  sahen  einen  JüngUng  zur  rechten  Hand  sitzen,  der 
halte   ein   langes   -vveifses   Kleid   an,    und  sie   entsetzten  sidi;    er  aber   sprach   zu   ihnen: 
Fürchtet  euch  nicht  u.  s.  w." 
%\o  sodann  die,  beiden  Evangeüsten  gemeinsamen  Worte  des  Engels,  wie  sie  am  Sddusse   desResponso- 
riums  früher  vorkamen,  das  Ganze  beenden. 

Auf  eben  so  bedeutsame  W  eise  scldiefst  am  zweiten  Festtage  dem  zweiten  verlesenen  Abschnitle» 
d(>r  Betrachtung  über  die  Erzählung  von  den  Jüngern  zu  Emaus,  das  folgende  Responsorium  sich  an: 

„Er  ist  auferstanden  der  gute  lErte,  der  sein  Leben  dahingab  für  die  Schaafe,  für  seine  Ileerde 
in  den  Tod  zu  gehen  gewürdigt  hat,  Ilallcluja,  Halleluja,  llalleluja!" 
und  der  \ers: 

„Denn  Christus  ist  als  unser  Passah  geopfert," 
wo  dann  mit  dem  dreifachen  Halleluja  der  Bescldufs  gemacht  wird. 

Gesungen,  in  engerer  Bedeutung  des  Worls,  wurden  in  der  alten  Kirche  von  den  eben  mitgeUied- 
tcn  Stellen  der  .Schrift,  nur  die  daraus  zusanimengcselzten  Invilatorien ,  Anliphonieen  und  Responsorien. 
Die  Psalmen,  hier,  wie  bei  andern  Theilen  des  Gottesdienstes,  trug  man  auf  eine  ^\eise  vor,  welclie 
die  Mitlc  hält  z>vischcn  rednerischem  Vortrage  und  eigenlhcliem  Gesänge.  Der  eigenthümhchen  Geslal- 
lun«^  der  Psalnien^erse,  die  in  der  Mitte  gcwi)hnlich  einen  Abschnitt  zulassen,  sich  so  in  zwei  Hälften 
theilen,  die  dem  Ilauptiulialle  nach  einander  gleichen,  schlofs  auch  der  Vortrag  sich  an:  zu  Anfange  auf 
einem  Tone  ruhend,  die  .Stimme  gegen  den  Abschuilt  in  der  IMilte  hin  bald  erhebend,  bald  senkend;  in 
der  zAveiten  Hälfte  nach  abermaligem  Verweilen  auf  einem  Tone,  den  .Schlufs  ganz  ähnUch  gestaltend. 
Nur  bei  der,  jedem  Schlüsse  eines  Psalmes  folgenden  Doxologie:  „Ehre  sei  dem  Vater  und  dem  Sohne 
und  dem  heiligen  Geisle,  wie  es  zu  Anfang  war,  und  nun  und  immer,  und  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit, 
Amen!"  pflegte  man  die  Eiidworte:  seriilorum  amen,  wenn  auch  nach  einer  ähnliclien  Formel,  doch  be- 
stimmter singend  zu  beschliefsen.  Acht  verschiedene  Tropen  oder  Kirchentönc,  nach,  den  einzelnen 
Psalmen,  den  festlichen  Veranlassungen,  verschieden,  hatten  sich  hienach  gebildet,  durch  Anfang, 
IMitte  und  die  Schhifsgesangsformel  zu  erkennen,  die  man  in  den  P.saltcrien  durdi  die  in  dem  „secu- 
loittm  amen"  enthaltenen  Vokale  E,  u,  o,  n,  a,  e  bezeichnete.  Dafs  man  zu  den  Zeiten,  wo  kirchliclie 
Einriclitimgen  sich  zuerst  gebildet,  durch  solche  Art  des  Vortrages  die  Psalmen  hörbarer,  versländUcIier 
zu  machen  gestrebt,  dafs  man  das  Bedeutendste,  am  meisten  Bezeichnende  jeden  Festes  durch  Gesang 
noch  eindringlicher  zu  machen  beabsichligt,  mit  diesem,  wie  mit  einer  kösilichen  Einfassung,  das  Ganze 
des  (ioLlesdIenstes  umgeben  woUle,  leuchtet  ein.  Als  ein  Hergebrachtes  erliiell  sich  diese  Einrichtung  in 
dem  Cathedralgottesdienste,  nachdem  tlie  Sprache  der  ganzen  kirchlichen  l'^eicr  dem  Volke  bereits  eine 
fremde  geworden  wai. 

Der  Abendgollesdiensl,  die  N'espcr  des  Osterfestes,  biete!  neben  fünf  Psalmen  und  deren  Antipho- 
nitteu  uns  noch  heilige  Gesänge  anderer  Art. 

Den  Psalmen:  „Der  Herr  sprach  zu  meinem  Herrn:  selzc  dich  zu  meiner  Rechlen,  bis  dafs  idi 
lege  deine  Telnde  zum  Schemel  deiner  Fiifse;"  „Ich  danke  dem  Herrn  von  ganzem  Herzcü,  im  Rathe 
der  l'roumien  und  in  der  Gemeine;"  ,,\N  ohl  dem,  der  den  Herrn  fürchtet,  der  grolse  Lust  hat  zu  sei- 
nen Geboten;"  „Lobet  ihr  Knechte  des  Herrn,  lobet  den  ISamen  des  lierrn,"  wie  sie  die  ^  ulgala  in  dem 
P.salmlnu'lic  unter  den  Zahlen   109  bis  112  enthält,  folgl   der.    in  derselben  mil   der  Zahl  113  bezeichnete, 


—      57      — 

den  114  und  Holen  Psalm  der  lutherischen  BibeUihersetzung  zusammenfassende  heilige  Gesane:  Üa 
Israel  aus  Acgj'pten  zog,"  die  Auswanderung  des  Hauses  Jakobs  aus  dem  fremden  Volke,  als  pro- 
phetische ^Verkündigung  aufstellend  der  Auswanderung  von  der  Knechtschaft  des  Gesetzes,  zu  der  Freiheit 
des  Evangelii,  errungen  durch  denjenigen,  der  da  war  der  Erstling  derer,  die  schlafen.  Für  diesen  Psahn  •^ab 
es,  abweichend  von  den  übrigen  aclit  Kirchentönen,  einen  besonderen  neunten,  ihm  eigenthümlichen,  der 
Pilgerton  genannt  (ioiitts  peregrmusj,  eine  Gesangsformel,  die  in  manchen  lutherischen  Gemeinen  noch 
dem  deutschen  Slagnificat  sich  angepafst  findet.  Aeltere  Breviarien,  namentlich  die  der  Kirche  des  heili- 
gen IMarcus  zu  Venedig,  welche  auch  seit  den  durch  Pins  V.  eingeführten  \'eninderungen  der  katholischen 
Liturgie  noch  alte  Gebräuche  beibehielt,  sclireiben  nach  den  erwähnten  Psalmen  noch  den  Gesang  der 
Hymnen  vor:  Jesu  noslra  redemtio;  Ad  coenain  Agni  providi,  von  denen  namentlich  der  letzte  die 
christlicfie  Bedeutung  des  vorangegangenen  Psalmes  näher  entwickelt: 

Bereitet  za  des  Lammes  Malil 
'  Mit  weifsen  Kleidern  angetlian, 

Da  hinter  uns  des  Meeres  Balin, 
Des  Heilands  Lob  mm  Lebet  an  '). 

Der  neuere  katholisclie  Cultus  schhefst  in  der  Osterfeier  den  Gesang  der  Hymnen  aus. 

Die  Hymnen,  metrische  Gesänge  frommer  Dichter  christhcher  Zeit,  bald  in  gereimten  Versen,  wie 
die  eben  angeführten,  bald  in  antiken  Maafscn  mit  hindurchklingenden  Reimen,  wie  die  noch  in  der  lu- 
Üterischen  Kirdic  an  manciien  Orten  in  deutscher  Uebertragung  und  mit  geringer  N'cränderun"-  ihrer  alten 
Weisen  üblichen:  A  soUs  ortus  cardine;  Vita  sanctorum  dectts  angelorum  etc.  unterscheiden  hiedurch 
sclion  von  andern  heiligen  Gesängen  sich  hinlänglich.  Die  Vesper  endUch  wird  mit  dem  JMao-nificat  bc- 
sclilossen,  dem  Lobgesange  der  heiligen  Jungfrau  (Luc.  II.) :  „  Bleinc  Seele  erhebet  den  Herrn ,  und  mein 
Geist  freuet  sicli  Gottes,  meines  Heilandes;"  einem  Gesänge,  der,  gegenübergestellt  der  prophetischen  Ver- 
helCsung  des  109  (llOten)  Psalmes,  die  Erfüllung  verkündet,  nicht  in  irdisclier  Pracht  und  Herrhchkeil, 
welclie  vergehet  vor  dem  Hauche  des  Herrn,  der  die  Gewaltigen  stöfset  vom  Stuhl  und  die  INiedri^en 
erhöhet,  sondern  in  dem  Erwachen  eines  innern,  neuen,  heiligen,  in  DemutJi  begonnenen  Lebens. 

Dieser  Gesang,  in  seiner  äufsern  Einrichtung  den  Psalmen  ähnlich,  (wie  denn  die  Canlica  auch 
Psalmi  majores,  die  gröfsern  Psalmen,  genannt  werden)  wurde  in  der  Kirche,  den  festlichen  Veraidas- 
sungen  zufolge,  ebenfalls  wie  die  Psalmen  nach  acht  vorhandenen  Tropen  oder  Kirchentönen  voro^etra-^en, 
INur  waren  die  Intonationen  festlicher,  gesangälmlicher ,  als  bei  diesen.  Seit  der  Reformation  ist,  wie 
sclion  erwähnt  worden,  dem  IVIagnificat  in  der  lutherischen  Kirche  nur  der,  bei  demselben  frülier 
niclit  gcbräucliliche  Pilgerton  geblieben.  Zwisclien  den  Psalmen  und  dem  Lobgesange  der  Rlaria,  die 
durdi  ihren  Vortrag  auf  die  angegebene  Weise  unterschieden,  und  dennoch  einander  genähert  waren, 
traten  ihre  Anliphonieen  hervor,  gesungen  im  strengeren  Sinne.  Der  Hymnus  aber  zeichnete  sich  vor 
der  ganzen  heiligen  Feier  besonders  aus:  der  gemessene  Schritt  seiner  Worte  gab  auch  seiner  Gesangs- 
weise eine  bestimmter  gezeichnete  Gestalt,  da  Antiphonieen  und  Responsorien,  wie  wir  gesehen  haben, 
in  ungei)undener  Rede  verfafsl,  aus  zusammengereihten  einzelnen  Stellen  der  Schrift  bestanden. 


*)    Ad  cocnam  agni  providi 
I^t  stolis  albis  candidi 
Post  traHSiimn  maris  ritbri 
Cliriafo  canamus  priiicipi. 


C'.  r.  Wiuterfcltl.  Joh.  Gabrieli  ii.  s.  Zeitalter. 


—      58      — 

Die  Messe  endlich,  der  IlaiipUlieil  des  katholischen  Gottesdienstes,  bietet  uns  eine  Rcilie  mannigfach 
zusammengesetzter  Gesänge.  Dem  Osterfeste  sind  mit  allen  hohen  Festen  gewsse  derselben  gemeinscliaft- 
lich,  deren  Inlialt,  als  allgemein  bekannt,  wir  nur  andeuten.  Es  sind  diese:  das  Kyrie  und  Christe 
eleison;  das  Gloria,  unter  dem  Namen  des  Morgengesanges  sclion  in  der  ältesten  christlichen  Kirche  be- 
kannt, zusammengesetzt  aus  dem  Lobgesange  der  Engel  bei  der  Geburt  des  Erlösers,  aus  Gebeten  und 
Danksagungen;  das  Nicänische  Glaubensbekenntnifs ;  das  dreimal  Heilig,  der  Lobgesang  der  Cherubim 
in  dem  Gesichte  des  Esaias;  endheh  das  Agnus  Dei.  Stetig  ihrem  Inhalte  nach,  in  ihren  Gesangsweisen 
wechselnd  (bis  auf  das  Credo)  nach  den  verscliiedenen  heihgen  Zeiten,  den  Festen  der  Jungfrau,  der 
Engel  und  der  Apostel,  bezeichnen  sie  diese  nur  durch  eine  ^^erschiedenheit  solcher  Art.  Eigenthümlich 
aber,  ihrer  Gesangsweise  und  ihrem  Inlialte  nach,  treten,  den  verscliiedenen  festUclieu  Veranlassungen  zu- 
folge, heraus:  der  Introitus,  das  Graduale,  die  Sequenz,  das  Ofifertorium,  die,  dem  dreimal  Ileihg  voran- 
gehende Präfation. 

In  seiner  musikaUschen  Behandlung  den  Antiphonieen  ähnlich,  beginnt  der  Introitus  die  Feier  des 
Hochamtes  am  Osterfeste,  llicils  mit  den  eigenen  Worten  des  138  (1.39sten)  Psalmes,  Üieils  mit  solchen, 
die  auf  seinen  Inhalt  deuten;  zwischen  diesen  läfst  ein  dreifaches  Ilalleluja  sicli  hören: 

„Icli  bin  auferstanden,  und  bin  noch  bei  dir,  Ilalleluja:  du  hältst  deine  Hand  über  mir,  Hal- 
leluja:  solclies  Erkenntnifs  ist  mir  zu  wunderbar  und  zu  hocli,  Ilalleluja!  Herr  du  erfor- 
schest mich  und  kennest  micli:  ich  sitze  oder  icli  stehe  auf,  so  weifst  du  es." 

Diesem  Eingange  scliliefsen  Kyrie  und  Gloria  sicli  an,  den  Vater  und  den  Sohn  um  Erbarmen 
flehend;  in  dem  Gesänge  der  Engel  bei  der  Geburt  des  Herrn  sodann,  und  den  damit  verbundenen  Wor- 
ten des  Lobes  imd  Gebetes,  das  höcliste  Erbarmen  preisend. 

Das  Graduale  folgt  dem  aus  dem  fünften  Kapitel  des  ersten  Corintherbriefes  vorgelesenen  Ab- 
schnitte, und  leitet  die  Vorlesung  des  Evangelü  ein.  Eine  alterÜiiimliche ,  in  der  Kirche  des  heiligen 
Marcus  zu  Venedig  beibehaltene  Sitte  erklärt  anscliauhch  seine  Benennung.  Nocli  jetzt  stehen  zur  Rech- 
ten und  Linken  des  Hoclialtars  dort  zwei  erhabene  Bülmen  ^ambonesj,  zu  denen  Stufen  hinanfiiliren. 
Der  Diakon,  wenn  er  die  Epistel  von  der  einen  Bühne  verlesen,  tritt  zu  dem  Iloclialtar,  und,  nachdem 
er  das  Evangelienbuch  von  dessen  Glitte  geholt,  besteigt  er  die  andere,  lun  von  ihr  das  Evangelium  zu 
verkünden.  Während  dessen  ertönt  eben  das  Graduale,  angestimmt  von  dem  Sängerclior  auf  den  Stufen 
des  ambo.  Es  beginnt  mit  Worten  des  117  (118)  ten  Psalms,  imd  indem  es  damit  Stellen  aus  dem  ver- 
lesenen Abschnitte  verbindet,  tritt  es  zu  ilim  in  ein  Verhältnifs  wie  das  der  Antiphonieen  zu  ihren  Psal- 
men. Seine  Gesangsweise,  in  frülieren  Zeiten  von  dem  Vorsänger  und  dem  Chore  wechselnd  vorgetragen, 
ist  im  Wesenthchen  der  des  Introitus  älinhch,  nur  dafs  sie  reicher,  festlicher  tönt,  und  sicli  durch  be- 
stimmtere Einschnitte  auszeichnet: 

„Diefs  ist  der  Tag,  den  der  Herr  macht,  lasset  uns  freuen  nnd  fröhlich  darinnen  sein." 
„Danket   dem    Herrn,    denn    er    ist  freundlich,    und    seine   Güte    währet    ewiglicli,    Ilalleluja, 

Hallehija! " 
„Auch  wir  haben  ein  Osterlamm,  Christus,  für  uns  geopfert" 
„Lasset  uns  Ostern  halten  in  dem  Süfsteigc  der  Lauterkeit  und  der  Wahrheit. " 

Dem  Graduale  folgt  unmittelbar  die  Sequenz,  früher  bei  allen  Festen,  jetzt  nur  noch  bei  einigen 
in  der  katliolisclien  Kirche  üblich,  bald  in  gebundener,  bald,  wie  hier,  in  ungebmulener  Rede  verfafst, 
durch  welche  liie  und  da  ein  Reim  hinklingt;    ausgezeichnet  vor  den  übrigen  heiligen  Liedern  bei  der 


—      59      — 

Messe  durch  die  Einrichtung  ihrer  Gesangsweise,  die,  aller  sonstigen  Vcrscliiedenlieit  ungeaclitet,  den- 
noch in  den  Hauptzügen  allen  Sequenzen  gemein  ist.  Die  Gesangsweise  aller  nämlich  besteht  aus  mehren, 
einander  gleichartigen  Abschnitten,  deren  einige  verschiedenen  Abtheüungen  des  Textos  öfter  angepafst 
sind,  in  derselben  Art,  wie  dieses  in  der  bekannten  alten  Melodie  des  ambrosianischen  Lobgesanges  ge- 
schieht. Diren  Namen  trägt  die  Sequenz  nach  ilirem  Ursprünge.  Uebereinstimmenden  Zeugnissen  gemäfs 
entstand  sie  aus  Dehnungen,  mit  welchen  man  singend  die  letzte  Sylbe  des  dreifachen  Ilalleluja  an  hohen 
Festen  ausschmückte:  aus  dem  wortlosen  Jubel,  der  dem  Gesänge  folgte,  das  Lob  im  himmlischen  Va- 
terlande anzudeuten,  für  das  hienieden  die  Worte  fehlten,  welche  frommer  Sinn  dennoch  in  späterer 
Zeit  ihm  anzupassen  suchte. 

Die  Worte   der  folgenden  Ostersequenz  sind  nirgend  bestimmt  aus  der  Sdirift  entnommen,    sie 
enthalten  nur  Anklänge  aus  derselben: 

„Dem  Passaliopfer  weiliet  Lobgesänge,    ihr  Christen.     Das   Lamm  hat  die  Schaafe  erlöset, 

Christus,  der  Unschiddige,  hat  dem  Vater  versöhnet  die  Sünder." 
„Der  Tod  und  das  Leben  rangen  in  wunderbarem  Kampfe,    der  Fürst  des  Lebens,    der  ge- 
storbene, regieret  lebendig." 
„Maria,  sage,   was  du  geschauet   auf  deinem  Wege?" 

„„Christi,    des  Lebendigen  Grab,   des  Auferstandenen  Herrlichkeit  hab'  ich  geschaueL"" 
„„Die  Engel,  defs  Zeugen:  das  Scliwcifstuch  und  die  Kleider."" 
„„Christus,  meine  Hoffnung,  ist  erstanden,  er  gehet  euch  vorauf  in  Galiläa."" 
„!\Iehristzu  glauben  IVIaria,  der  einen,  Walirhafteu,  als  dcrSchaar  der  Juden,  der  lügenhaften. " 
„Wir  wissen,  dafs  Christus  wahrhaft  auferstanden  ist  von  den  Todten:   du,  unser  Sieger,  un- 
ser König,  erbarme  dich  unser!  Amen,  Halleluja!" 

Der  Sequenz  schhefst  die  Vorlesung  des  Evangelü  von  der  Auferstehung  sich  an,  nach  dem  sech- 
zehnten Kapitel  des  3Iarcus;   dieser  das  nicänisclie  Glaubensbekenntnifs ;    sodann  (während  in  älterer  Zeit 
die  Gläubigen,  ihre  Spenden  niederzulegen,  der  Priester,  die  Hostie  darzubieten,  vor  den  Altar  traten)  wird 
das  Offertorium  gesungen,  aus  dem  neiuiten  und  zehnten  Verse  des  75  (76)ten  Psalmes  genommen: 
ii-i  „Es  erschrickt  das  Erdreich  und  wrd  stille,  wenn  Gott  sich  aufmachet  zu  richten." 

Seine  Gesangsweise  gleicht  der  den  Anfiphonieen  eigcnthümlichen. 

Nun  beginnt  die  Präfation.  ^Vie  bei  der  Messe  der  Weilie  des  Brotes  und  des  Kelches,  so  gehet  sie  am 
grofsen  SabbaÜi  vor  Ostern  der  Weihe  der  Osterkerze  und  des  Wassers  voran.  Für  die  verscliiedenen  heiligen 
Zeiten,  die  Feste  der  heihgen  Jungfrau,  der  Apostel,  der  Evangelisten  u.  s.  w.  dem  hihalte  nach  wecliselnd,  ist 
der  für  sie  festgesetzte  Gesang  nur  in  so  fern  verschieden,  als  er  sich  abweichenden  Worten  anzuschmiegen  hat. 
Wechselgesänge,  früher  wohl  des  Liturgen  und  der  Gemeine,  später  des  Priesters  und  Sängerchors,  gehen 
ihr  voran;  der  Priester  leitet  sodann,  allein  singend,  mit  ihr  die  Weihung  und  das  während  derselben 
gesungene  dreimal  Heilig  ein.  Im  Wesentlichen  kann  man  den,  obgleich  reicher  geschmückten  Gesang 
der  Präfation,  dem  der  Psalmen  ähnhch  nennen.  Er  läfst,  wie  die  für  jene  bestimmten  Weisen,  sich  in 
zwei  zu  einander  gehörende  Abschnitte  tlieilcn,  von  denen  der  erste,  so  oft  nach  einander  wiederholt, 
als  es  die  vorzutragenden  Worte  erheischen,  mit  Erhebung  der  Stimme  die  ersten  Sätze  jeder  Periode 
schhefst;  der  zweite,  mit  einer  wiederkehrenden  Schlufsformel  den  Schlufssatz  derselben  bezeichnet.  Fol- 
gende sind  die  Worte  der  Präfation   am   Osterfeste.     Die  Wechselgesänge  mit  denen  sie   beginnt,  treten 

8' 


—       60       — 

tUnch  den  Inliait  srlioii  vollkouiincn  ilcullich  heraus;   die  initiieren  und  Ilauptabsclmitte,  wie  die  Formel 
des  Gesanges  sie  hervorhebt,  sind  durch  Absätze  bezeiclmct. 

.,Der  Herr  sei   mit  eucli  —  und  mit  deinem  Geiste.     Aufwärts    die  Herzen  —  haben  wir  bu 
dem  Herrn.     Lasset  uns  dem  Herrn  imscrm  Gölte  danken  —  würdig  ist  es  und  gerecht. 
Wahrhaft  würdig  ist  es  und  gcredit,  billig  und  heilsam, 

Dich,  o  Herr,  ^vie  zu  jeder  Zeit,  so  vor  Allem  an  diesem  Tage,  herrlicl»  zu  verkünden, 
Wo  Christus,  unser  Osterlamni,  für  uns  geopfert  ist.   — 
Denn  er  ist  das  wahrhafte  Lamm,  das  der  Welt  Sünde  trug, 
Das  durch  seinen  Tod  unscrn  Tod  vernichtete, 
Und  auferstehend  uns  das  Lehen  ^^^ederbrachte.  — 
Und  um  des  willen,  mit  den  Engeln  und  Erzengeln, 
Mit  den  Fürstentlüimern  und  Herrschaften,  Cthronis  ei  dominationihmj 
mit  allen  himmlischen   Heerschaaren,  tönt  unser  Lied  zu  deinem  Preise,    da  wir  unaufliörlich 
singen: 

Heilig!  HeiUg!  Heilig  ist  der  Herr  Zebaolh,  alle  Lande  sind  seiner  Ehre  voll, 
Hosianna  in  der  Höhe! 

Gesegnet  sei,  der  da  kommt  im  Namen  des  Herrn, 
Hosianna  in  der  Höhe!" 
Der  Sclilufsgesang  der  Messe:  „Du  Lamm  Gottes,  das  der  Welt  Sünde  trägt,  erbarme  dicli  unser, 
gieb  uns  Frieden,"  veranlafst  uns  zu  keiner  besonderen  Bemerkung. 

Ueberschanen  wir  nun  noch  einmal  jene  verschieden  gearteten  Gesänge,  wie  in  ihrer  Anwendung 
bei  einem  bestimmten  Feste  w'ix  sie  uns  vorüber  gehen  hefsen,  so  nehmen  wir  eine  Steigerung  dcuthch 
wahr,  von  dem  der  Rede  sich  mehr  nähernden  Vortrage,  bis  zu  feierlichem,  künstlichem  Gesänge.  Das 
imter  dem  Namen  „Lektionen,"  als  der  Vorlesung  bestimmt,  unmittelbar  Bezeichnete,  tritt  durch  erhöh, 
ten  Ton  über  die  gewöhnUche  Rede  allein  liinaus;  zum  Gesänge  wird  es  in  der  heiligen  Woche,  wo 
die  Klagelieder  des  Jeremias  einen  Theil  der  Lektionen  bei  den  Metten  einnehmen.  Höher  erhebt  sich 
die  Stimme  bei  der  Vorlesimg  des  Evangelii;  eine  gesangartige  Schlufsformel  bezeichnet  die  einzelnen 
Absclmitte  des  Verlesenen,  und  tritt  an  dessen  Ende  noch  bestimmter  heraus.  Gesangähnlicher  wird 
auch  der  Vortrag  des  Evangelii  in  der  hcihgen  Woche.  Drei  Priester,  im  Vereine  mit  dem  Chore,  lassen 
aus  der  schlicliten  Erzählung  des  Evangehstcn  von  der  LeidensgescJiichte,  die  Reden  des  Herrn,  seiner 
Jünger,  seiner  Richter  und  Peiniger,  das  Gesclirel  des  Volkes,  fast  dramatisdi  uns  vorübergehen.  Die 
Psalmen  und  helligen  Lieder  zeigen  in  scliiddlcher  Steigerung  sclion  eine  förmllclie  Gesangswelse,  die 
sich  in  zwei  einander  entsprecliende  Hälften  theilt,  in  bestimmter  gestaltetem  Gesänge  endet  Aehnllch 
geordnet,  geht  die  Präfatlon,  nacli  dem  unglelclien  Wechsel  der  beiden.  Dir  mit  den  Psalmenweisen  ge- 
melnschaftllclien  Hälften,  zum  Gesänge  Immer  mehr  sicli  erhebend,  endlich  in  die  feierlichen  Töne  des 
dreimal  Heilig  über. 

Wie  nun  diese,  der  Rede  verhältnlfsmäfsig  ähnhclieren  Theile  des  Kircliengesanges  sicli  zum  Ge- 
sänge allmählig  steigern,  so  auch  entfaltet  sidi  dieser  immer  bestimmter,  immer  reidier:  von  den  Lnita- 
torlen  und  Introitus  an,  welche  die  heihge  Feier  einleiten,  zu  den,  zwischen  den  Psalmen  sich  hervorhe- 
benden Antiphonieen,   den  im  Wcchselgesange  schon  künstlicher  heraustretenden  Responsorien ,    bis   zu 


—       Gl       — 

dem  fesllidien  Gesänge  der  Hymnen,  deren  riiythmische  ^^  eisen,  bei  gleieli;ntif;en  Stroplien  wiedeikelirend, 
sich  um  so  fester  einprägen. 

Bei  dem  Kyrie,  dem  Sanclus  und  Agnus  Dei  in  der  Blesse,  tritt  das  Wort  sclion  fast  ganz  zurück 
gegen  den  Gesang,  der  in  mannigfaltigen  Tonverbindungen  hier  um  so  gescbmückter,  ja  am  höchsten 
gesteigert  ersdieint,  als  er  nur  wenigen  ^Vorten  sich  anzuschlicfscn  hat.  Z\Nischen  den  gröfseren,  un 
gleidiarligen  ^lassen  des  Gloria  und  Credo  hebt  die  Sequenz,  am  bestimmtesten  gestaltet,  sich  heraus, 
mehre  mit  einander  wechselnde  Gesangsweisen  zu  einem  Ganzen  verbindend.  Die  Introilus,  die  Gradua- 
üa  und  Offertorien,  die  übrigen  Gesänge  und  \  orlesungen  einleitend,  und  zwischen  sie  hindurch  gewebt, 
maclien  diesen  Thcll  des  Gottesdienstes,  den  IMIttelpunkt  jeder  kirchlich -katholischen  Feier,  auch  in  Hin- 
sicht des  Gesanges  zu  dem  am  reichslen,  am  mannigfaltigsten  ausgestatteten. 

So  war ,  seinen  Gnmdzügen  nacli,  der  Kirchengesang  beschaffen,  so  stellte  sein  Verhältnifs  zu  dem 
Worte  sicli  dar,  dem  er  zunäch.st  sich  auschlofs,  so  zu  dem  Geiste,  der  in  Anordnung  des  ganzen 
Gottesdienstes  waltete,  als.  nach  dürftigen  und  spärlichen  jVnfangen,  um  die  3Iitte  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts, in  den  ?yiederlanden  eine  neue  frisclie  Blüthe  durdi  die  Kmist  der  Harmonie  aus  ihm  sich  ent- 
faltete. So  audi  bestand  er  zu  \  enedig,  als  um  den  Anfang  des  sedizelmten,  Adrian  ^'N  iUacrt  jener,  bis 
dahin  nur  als  fremde  Blüthe  dort  gepflegten  Kunst,  eine  heinüsche  Stätte  bereiten  sollte.  Fragen  wir 
nun,  ^vie  jene  Kunst  damals  besciiaffen  gewesen ,  so  können  wir  diese  Frage  iiicht  anders  genügend  be- 
antworten, als  wenn  \\ir  jenen  alt-  überheferten ,  so  mannigfadi  gestalteten  Kirchengesang  zuvor  auch 
aus  jenem  zweiten,  zu  Anfange  bereits  aufgestellten,  Gesiditspunkte  betrachtet  haben;  nach  dem  Stoffe, 
aus  dem  er  geijildet  worden,  den  Tonreilien.  die  ihm  zu  Grunde  liegen. 

Schon  zuvor  haben  wir  gesehen,  dafs  für  die  Intonation  der  Psalmen  und  heihgen  Lieder  acht 
sogenannte  Tropen  üblich  waren,  denen  für  den  Psalm:  ..da  Israel  aus  Aegj'pten  zog"  ein  neunter,  der 
Pilgerton,  sich  gesellte;  dafs  diese  Formeln  für  eine  Art  redeähnliclien  Gesanges,  nach  der  Weise  miter- 
schieden  wuirden,  wie  der  Stimme  vorgeschrieben  war,  zu  Anfange  sich  zu  erheben,  in  der  Glitte  des 
Verses  zu  einem  Ruhepuidi^te ,  am  Ende  zu  einem  völligen  Schlüsse  überzugehen.  JNach  diesem  IMaafse 
jedoch  konnte  man  die  übrigen,  in  angemessener  Sleigenmg  immer  künstlicher  ausgebildeten  Kirchenge- 
sänge nicht  messen.  Jene  Formehi  waren  zumeist  auf  einen  Umfang  von  nur  fünf  Tönen  beschränkt; 
diese  andern  Gesänge  erfüllten  nicht  allein  gewöhnlich  den  Umfang  einer  Octave,  sie  gingen  auch  wold 
damber  lünaus.  Dennoch  woUte  man  auch  hier  jene  kirclilidi  einmal  geheiligte  Zahl  beibehalten,  sie 
durch  ein  Gesetz  rechtfertigen,  eut%vickelt  aus  den  Tonreihen,  die  jenen  Gesängen  zu  Grunde  lagen. 
Oft  aber  fand  man  sich  dabei  in  Widersprüchen  befangen.  Denn  das  Ergebnifs  rücksichtsloser  Forsdiung 
stimmte  selten  dem  kirdihch  Festgesetzten  und  Geheiligten  überein,  oder  dem  von  den  Alten  Gelehrten, 
wie  es  der  Zeit,  nach  IMaafsgabe  ihrer  Kenntnifs,  ihres  \  erständnlsses  derselben,  ersdilen.  So  finden 
wir  denn  in  den  alten  Tonlehrern  aus  dem  sechsten  bis  zum  zehnten  Jahrhundert  hinab,  deren  Samm- 
lung wir  dem  Fleifse  des  Abtes  Gerbert  verdanken,  bald  fünfzehn,  bald  zwölf,  bald  neun  und  bald  acht 
Tonarten  genannt,  und  jene  Zahl,  bald  auf  die  Bewegung  der  Himmelskörper,  die  Verrichtung  verschie- 
dener Organe  bei  Hervorbringung  der  menschlichen  Stimme,  die  Lehre  ^'on  den  ^^  oUklängen,  mehr  oder 
minder  sinnreich  imd  anschaulich  gegründet,  den  Tonarten  griechisdie  Benennungen,  doch  nicht  immer 
auf  gleiche  Welse  beigelegt,    oft  sie  nur  durch  Zahlen  bezeidmet  ').     Seit  dem  elften  Jalirhundert,  über- 

')   Cassiodor  fGerbert  scriptores  I.  p.  VlJ  nimmt  15  Töne  an  fim  sechsten  Jahrhundert J  so  auch  fim  «euntenj  Remigius 
fon  A\ucerre  (ih,  p.  63.  66.^.   Der  erste  gründet  sie  auf  seine  Theorie  von  den  Jf Wohlklängen ;  der  tn-eite  nimmt  5  prin- 


-      62      — 

Iiaupt,  naclulcm  Guido  von  Arezzo  der  Lehre  gröfsere  Bestimmtheit  gegeben,  bis  auf  Glarean,  der  um 
die  RllUc  des  seclizehnten  Jahrhunderts  eine  andere  Ansicht  vertheidigte ,  sind  ziemlich  allgemein  acht 
Kirchenlöne  angenommen,  und  diese  gegründet  auf  die  verschiedene  Weise,  wie  die  Lage  der  halben 
Töne  sich  verändert,  wenn  die  diatonische  Leiter  ohne  willkührliche  Erhöhung  ilirer  Glieder  mit  dem 
einen  oder  dem  andern  derselben  begonnen  wird.  Dafs  man  so  gelehrt,  ist  unbestrittene  Thatsache ;  wo- 
her aber  jene,  dem  Anscheine  nach,  völUg  villkührhche  Lehre?  Denn,  besteht  die  diatonische  Leiter 
ohne  Zweifel  aus  nur  sieben  Tönen,  weil  die  Octave  als  Schlufston  Wiederholung  des  Grundtons  ist, 
und  kann  diese  daher  als  Anfangspunkt  einer  neuen  Reihe,  einer,  von  denen  welche  die  vorangehenden 
Töne  beginnen  und  bilden,  wesentlich  verschiedenen,  nicht  angesehen  werden;  woher  aclit,  und  nicht 
vielmehr  sieben  Tonarten?  Und  lehrte  man,  dafs  jede  Tonart  in  Haupt-  und  Nebenton  unterschieden 
werden  müsse;  weshalb  nicht  vierzehn  Tonarten  in  Allem?  Eine  innere  Nothwendigkeit  der  ange- 
nommenen Zahl  vermögen  Avir  nicht  aufzufinden,  wold  aber  wird  jene  Annahme  durch  den  Geist  der 
Zeit,  die  ilir  eigenthüniliche  Art  wissenschaftlicher  Forschung  gerechtfertigt.  Die  griechischen  Tonlehxer 
beschlossen  ilire  drei  Klanggcscldechter,  das  diatonische,  chromatische,  und  enharmonische,  innerhalb  einer 
Reihe  von  vier  Tönen,  einem  Tetracliord,  dessen  äufserste  Tongrenzen  das  Verhältnifs  einer  Quarte  dar- 
stellten; durch  Verknüpfung  solcher  Reihen,  durch  Wiederholung  der  in  ihren  beschlossenen  Verhältnisse, 
bildeten  sie  ilire  Tonarten.  Die  gefeierten  Alten  ehrte  man  als  Quelle  aller  Erkenntnifs,  schöpfte  man 
auch,  selbst  bis  in  die  Mtle  des  sechzehnten  Jahrhunderts  nocli,  niclit  aus  ihren  Tonlehrem  unmittelbar, 
sondern  meist  nur  aus  BoeÜiius  die  Kenntnifs  der  bei  ihnen  gangbaren  Grundsätze.  Ihnen  nachfolgend 
bescliränktc  man  sicli  auf  ^icr  Grundtöne  aller  Tonarten,  unser  D,  E,  F,  G;  enthielten  sie  doch  in  ihrer 
Folge  die  ^c^hältnisse  des  kleinen  und  grofsen  Tons  und  des  Halbtons,  deren  Zusammensetzung  die 
diatonisclie  Leiter,  und  alle  gröfseren,  in  derselben  vorkommenden  Tonverhältnisse  bildete;  in  ihnen,  so 
glaubte  man,  sei  defshalb  auch  das  Reich  der  Töne  vollständig  erschlossen.  Jedem  der  durch  sie  begon- 
nenen Haupttöne,  wurde  mm,  nach  dem  Vorgange  der  Alten,  noch  eine  Nebentonart  beigesellt,  eine 
Reihe,  bezogen  zwar  auf  denselben  Grundton,  doch  von  ihm  aufwärts  nur  bis  zu  seiner  Quinte,  abwärts 
dagegen  bis  Iiinab  zu  seiner  Unterquarte  sich  erstreckend.  Als  äufserste  Grenzen  dieser  vier  neuen  Rei- 
hen ergaben  sicli  so  die  Töne  A,  H,  C,  D;  mit  den  Grundtönen  der  Haupttonarten  zu  einer  Reihe  ver- 
einigt, stellten  sie  die  acht  Töne  der  Octave  vollständig  dar,  und  die  Zahl  acht  erscliien,  als  alle  Tonar- 
ten in  sicli  bcscblicfscnd,  durch  die  Lehre  der  Alten,  durch  ein  von  der  Kirche  geheihgtes  Gesetz,  voll- 
kommen gerechtfertigt.  Aber  die  Kirche  axich  hatte  dasselbe  nicht  ohne  tieferen  Grund  geheiligt  Ein 
wunderbares  Gcheimnifs,  sagte  man,  waltet,  wie  über  den  Zahlen  im  Allgemeinen,  so  vornehmlich  über 
der  Vier  imd  Acht.  Erschliefst  in  ihnen  sich  nicht  die  Bedeutung  alles  Irdischen  wie  Geistigen?  Aus 
vier  Elementen  ist  gebildet,  was  uns  umgiebt,  in  dem  Wechsel  der  vier  Zeiten  des  Jahres,  in  ^■ic^  Tem- 
peramenten, offenbart  sich  uns  die  Eigen  thündichkeit  der  Erde  und  des  Mensclien.  Vier  Evangelisten 
haben  uns  die  Geheimnisse  der  Offenbarung  verkündet;  am  achten  Tage  wurde  Jesus  dem  ^^ate^  geweiht, 
am  achten  nach  seinem  Einzüge  in  die  heilige  Stadt  erstand  er  von  den  Todlen.  Achtfach  sind  die 
Freuden   der  Seeligkeit;   und  zeigt  uns   nicht  endlich,    wenn  wir  zu   den  Tönen  zurücJvkehren,    das  Ver- 


-ri'ii  <''/'"''"■'  ""'  "'"'  *<^'-'  jedem  2  Kehent'ünc  zur  Seile.  Berno  Augiensis  (im  Wteii  Jahrhundert)  gründet  9  Töne  auf  die 
Verrichtungen   verschiedener    Organe;    nennt  acht   als  im    hirchliehen    Gebrauch,    encähnf   jedoch   die  3Ie'mung   einiger, 

j,,;  weiche  deren  tnö!/  annehmen.     Aierelian  ton  Rheims^,  (im  neunten)   Kofleer,  Hucbald ,  Regina  von  Prüm  und  Oddo  von 

Cüigntj  (im  lehnten  Jahrhundert)  nennen  ap^ht^v^d  ^üi>e^hßKJpt,Sf>  G^iifo's .JXach/oIger. 


—      63 


hältmfs  der  Octave  in  seinen  beiden  ungleiclien  Hälften,  deren  doppelte  Zusammenfügung  Haupt-  und 
Nebentöne  g.ebt,  sinnbildlicli  das  alte  und  neue  Testament,  die  Liebe  Gottes  und  des  Nächsten,  das  tliäti<^e 
und  beschauliche  Leben?  ^ 

So  bereit^vimg  wir  jenen  frommen  Sinn  eliren,  der  in  allem  Irdischen   ein  bedeutungsvoUes  Sinn 
bdd  des  Ewigen  fand,    der  die  Form,    in   welcher  die  e.dge  Ordnung  der  Dinge  von  ihm  angescl^aut 
worden     auf  jedes  Enizelne  übertrug;    so  wenig  werden  Avir  dennocli  durdi  jene   Lehre  mis  befriedigt 
finden  können,    da  sie,    nicht  sowohl  ein  in  dem  Wesen  der  Töne  beruhendes  Geset.   für  deren  wL 
knupfungen  zu  erforschen     als  ein  bereits  einseitig  angenommenes,    als  allgemein  gültig  zu  rechtfertigen 
strebt     Dafs  auch  d.e  frül,ere  Zeit,  so  wenig,  als  die  spätere,    vöUig  davon  überzeugt  worden  sei,   erge- 
ben  schon  d.e  angeftihrten,    neben  der  aUgemeinen  Lehre   dennoch  vorkommenden  Abwelclmngen ,    und 
deren  manmd.fach  versuchte  Begründ,n,g.     So  künstlich  aber  auclr  späterhin  Glarean  und  Zarlino,    jener 
m  der  ersten,    dieser  in  der  letzten  Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts,    il,r  neues  Lehrgebäude  von 
zwölf  Tonarien  aufzuführen  streben,    so  scliarfsinnig   sie   es   zu   rechtfertigen  trachten,    immer  fühlen  wir 
uns  unbefneigt;    ,ene  Richtung  auf  das  Sinnbildliche,    in  der  die  Zahl  lebendig  wird,    ist  verlassen,    die 
ZaU,  das  durch  sie  ausgedrückte  Verhältnifs  herrschen  in  il.rer  Nacküieit,    die  Regel  erscheint  als  been- 
gende Schranke     die  Ausübung  in  stetem  Widerstreit  mit  derselben.      Wir   erfahren  durch  jene  Lehrge- 
bäude nicht,   ob  eine,  und  welclie,  eigenthümliche  Anscliauung  der  Tonwelt  jener  Zeit  aufgegangen  sei- 
war boren  nur,  w^e  es  mit  den  Tonarten  beschaffen  sein  müsse,  und  dafs  nur  einzelne  Meister    Ld  un- 
ter diesen  am  wenigsten   die  ausgezeichneten,    diesen  strengen  Forderungen  genügt  haben.     Die  ei-^en- 
thumhche  Gbederung  einer   jeden  dieser  Tonarten,    so   scheint   es,    müsse  auch   den   innerhalb  dersefben 
gebildeten  Melodieen   eine   besondere  Färbung  geben,    einer  jeden  von  ihnen   verscJiiedene  Wendungen 
und  Ausweichungen  aneignen,  überhaupt  eine  jede  mit  dem  Kreise  der  anderen  mannichfach  verknüpfen 
Die  Eigenschaften   jeder  Tonart  nun  legt  uns  Zarlino,    Meitläuiig  beschreibend,    jedesmal  dar,    ohne  sie' 
jedoch  aus  ihrem  Wesen  überzeugend  zu  entwickeln;    zu  unserm  Befremden  aber  weist  er  einer  jeden 
von  Ihnen  gleiche  Ausweichungen  an.     Wenn  in  früherer  Zeit,  bis  in  die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhun- 
derts, bei  nur  dürftigen  Ueberbleibseln  von  Tonwerken,  w  auf  die  Bericlite  der  Tonlehrer  uns  fast  aus- 
sclihefsend  beschrankt  finden,  und,  -   einzelne  Hinweisungen  auf  den  alten,    überlieferten  Kirchengesan« 
misgenommen  -  der  lebendigen  Beispiele  ganz  entbehren  müssen,    weil  die  beigebrachten,    theils  zun. 
Beweise  des  eben  vorgetragenen  Lehrsatzes  erst  erfunden,  theUs,  wie  deren  die  meisten  beiFranco,  offen- 
bar unnclitig  niedergesdineben  sind,  da  sie  weder  zu  den  vorangehenden  Lehrsätzen  passen,  nodi  innere 
Uebereinstimmung  der  m  ihnen  verknüpften  Töne  darsteUen:  so  sehen  wdr  in  dem  Zeitalter  jener  spät.- 
reu  Tonlehrer  -  aller  Verwahrlosung  musikalischer  Denkmalile  aus  jener  Zeit  ungeachtet  -  uns  einem 
Reiditliume  von  selbständigen  Werken  gegenüber;    und  wiU   es  der  Lehre  nicht  geKngen,   vollkommene 
Uebereinstimmung  mit  der  Kunstübung  zu  eireidien,  durch  innere  überzeugende  Kraft  uns  zu  gewännen, 
J,  rechtfertigt  sidi  die  Voraussetzung:  sie  habe  mit  der  gleidizeitigen  FortbUdung  der  Kunstübung  nidit 
Sdinlt  gehalten,    sie  könne  nur  in   sdir  besdiränktem  Sinne  als  Sd.lüssel  für  dieselbe  gelten;    wer  die 
Tonkunst,  namenüich  das  Wesen  der  Tonarten  jener  Zeit  woUe  kennen  lernen,  sei  an  ihre  Werke  fast 
aussdihefsLcli  zu  verweisen;    er  habe  nidit  sie  nadi  der  Lehre,    sondern   die  Lehre  „ad.  ihnen   zu 
prüfen,  nadi  dem  Leben  der  Töne,  das  in  Urnen  sidi  ersdiliefse. 

Freihch  hat  mandier  Forsdier,  unwillig  und  ermüdet,  von  jenem  besdiwerlichen  Wege   sich  bald 
abgewendet.    Wie  die  Erzeugnisse  der  Tonkunst  überhaupt,  so  bieten  audi  die  Werke  jener  Zdt  nicht 


—    ßl    — 


bevoU^vnli^  seiner  ForscLun^  ^id.  -lar.  gleich  den  NVerlcen  clor  biiaenden  Künslo.  Aus  fod.en  Zelcl.en, 
1  hc  .Ic  nie.lcP^elegt  si.u»,  mufs  er  sie  mühsam  ersl  nieder  beleben,  das  für  d.c  Ausfidirung  m 
'"•'''ein^ebien  TLeih.  Zerle^-Ie  aus  denselben  sieh  ^vieder  aufbauen;  und  ^vill  er  sieh  nieht  begnügen,  ,m 
cZe  .Hein  die  Ansebammg  des  Kunstwerkes  zu  erringen,  so  hat  er  eine  Mehrzahl  von  Kräften  um  s.di 
.rversammeln,  sie  mit  Anstrengung  heran  zu  bilden,  um  den  sinnlichen  Eindmek  zu  gewinnen  Darum 
"eil  hat  die  Mehmhl,  der  Forselnmg  in  den  Lehrgebäuden  sieh  zugewendet,  welehe  den  W^fsbegiengen 
'"  Eroründung  sofort  vorliegen,  welehe  überall  nur  Bekanntes  voraussetzen,  den  Ton,  und  das  mefsbare 
Verhälluifs  auf  das  er  zurückgeführt  ^Ird,  und  hienaeh  nur  einfache  Thätigkelt  des  Verstandes  erheischen, 
um  in  sie 'einzudringen.  Mit  Ueberzeugm.g  wählen  .nr  jenen  anderen,  müliseeligen  zwar  doch  s.cheren 
We.-  und  -  widersprechend,  wie  es  sel.einen  möge,  dennoch  Ist  es  wahr  _  d.e  Tonlehrer  jener  Ze.t 
seC  werden  ihn  uns  ebnen  helfen;  wenn  auch  nicht  durch  das  von  ihnen  ausgesprochene  W  o r t  unmit- 
telbar   doch  durch  den  ganzen  Sinn  und  che  Eigenthümhchkeit  ihres  Verfahrens. 

GWean  leint  um  1547  von  sechs  Haupttünen,  die  er  nach  Lage  des  Ilalbtons  unterscheulet;  dem 
dorlselien    phrygischen,  lydischen,  mixolydischen,  acoliscl.en  und  ionischen;  in  dem  schon  zuvor  entwieke- 
fen  st^  gesellt  er  einem  jeden  von  ihnen  einen  Nebenton,   dessen   Ver^vandtscha  t  mrt   semem   Ilaupt- 
one    (iedoi  bei  vorwaltender  Richtung  nach  der  Tiefe)  durch  die  Benennung  des  hypodonschen,  hypo- 
nW   eben  u    s.  w.   ausgedrückt   wird.      Mehrstimmige   Beispiele   dienen   ,hm   als   Belege   semer  Lehre; 
doTfiudet  er  'eben  bei  den  besten  Meistern  die  häufigsten  Abweichungen  von  derselben;  eine  semer  Tonarten, 
d^  vdische     weifs   er  nur  an  unzureichenden  Mustern   nachzuweisen.     Dieses   Mifsverhaltuifs   zwischen 
Lchrl  und  Kunst  in  jener  Zeit,  dem  .-ir  in  dem  Folgenden  eine  genauere    Betrachtung  widmen   werden 
bet  liot  in  uns  die  Ueberzengung:    der  hannonischen  Kunst,    in  welcher  Sinn   und  innerer  Gehalt  ,ede 
Tonart%lcli  erschliefst,  dürfe  -   wie  Glarean   mit  Recht   lehre   _   ein   höheres   Alter  nicht  be^emessen 
werden     als   ein  bis  in   die   Mitte   des   fünfzehnten  Jahihunder.s   hinaufreichendes;   früherer  Andeutimgen 
Tnd  Ve;suclie  ungeachtet,  denen  eben  nur  als  solchen,    um  des   Strebens  .nllen  In   das   Wesen   der  Zu- 
l^.nklän.^c  ein7udrin.^en,   die  gehelmnlfsvollen   Beziehungen   zu   fassen,    denen   zufolge    die   Tone   em- 
:ir^:7t^^:s.^..,  l^  WerUi  zugestanden  werden  kann.     Das  fnsche  Tugendalter  d.  I  mist 
harmorcher  S.immcnverknüpfung,  so  behauptet  Glarean,  habe  et^va  siebzig  Jahre  «)   vor  semer  Zeit  be- 
tr,"   um  1470  hienaeh.  nllt  Hobrecht  und  Okenheim,  den  Lehrern  und  Vorgängern   des   Josqum   de« 
Pr"       Drelfsi.  Jahre  ^)  nach  jenem  Zeitpunkte  sei  ihr   männhehes  Alter  eingetreten;    a^so   mit  dem   An- 
an.c  des  sechzehnten  Jahrhunderts,   den  späteren  Lebensjahren  Josquins.     Noch   um   ftinf  und  zwanzig 
Tahfe  später»)  sei  sie  zu  Ihrer  vülligen  Reife  gediehen;  mit  dem  Zeitalter  Wlllaert's  also,  u.ul  der  beg.n 
nenden  venedischen  Schule;  finden  .4r  auch  deren  Meister  bei   Ihm  nicht   genannt.      Nun   aber  weissagt 
er  derselben  Ihr  herannahendes  Greisenalter,  weil  sie  in  Tändelei  versunken  sc.,  die  Spur  der  Allen  v er- 
lasse    die  Grenzen  der  Tonarten  nicht  mehr  beobachte.  In  einen  verkehrten    Gesang  verfaUe.      Lin   ahnh- 
L'urlhell   aber  fällt   er   bereits    über  den   von   Ihm    so   hoch   gefeierten   und   verehrten    ^oscpun,    der 
Ihm  zufoI<^e  dem  kräftigen,  männlichen  Alter  der  Kunst  angehört,  wenn  er  von  ihm,   fast  mit   denselben 
VWen,  behauptet:  er  Äcnne  die  Grenzen  der  Tonarten,  er  strebe  auf  verkehrte  Weise   nacli^Neuem 
und  Unerhörtem.      Ein  so   auffalleuder  Widerspruch   ist   nur   durch   die   Annahme   aufzulösen:     Bei   dem 


.)  Ante  anno.  LXX.     ')  Ante  anno.  XL:  also  30  Jalue  nach  Jene,n  crs>en   7.Upunk,.      ')  A  XXV Jan.  annis.    Dode- 
cachord:  p.  240.  211.     Lib.  III.     Cap.  13. 


—      65      — 


Lobe  jenes  Mo^ters  rede  des  Verfassers  ndiUger  Kunstsinn,  bei  dem  Tadel,  sein,  durch  ,Ue  von  ihm 
verfochtene  Lehre  mifsleitetes  Urtheil.  Mit  dieser  Annahme  freilich  föllt  Glarean's  Behauptung  von  einem 
bereis  beschlossenen  Kre.se  der  Kunstbildung  dahin,  an  .eichen  zu  glauben  .."r  ohneL  ^icht  geneigt 
«exn  durften;  denn  was  d,m  den  Verfall  andeutet,  hätte  ja  sd.on  jene  Zeit  eigenüuhnlich  bezeichne^ 
d.e  der  voihgen  Rc.fe  der  Kunst  erst  voranging.  Sein  Zeugnifs  über  das  Alter  derselben  aber  ge^ 
wmn  überzeugende  Kraft  En.mal  sehen  wir  deutlich  aus  jenem  schwankenden  Wechsel  des  TadS 
m,d  ch.s  Lobes,  damals  habe  etwas  sich  zu  entwickeln  begonnen,  das  dem  bisher  angenommenen  MaafL 
oder  doch  .nem  m  gleichem  Sinne  neu  aufgesteUten,  widerstrebend,  Tadel  und  WidersprZ  e^etn' 
müssen,  wahrend  an  Ke.m  neuen  Lebens  dennoch  darinn  nicht  ungeahnet  geblieben  sei  DannTs  I^ 
bemerkenswerth,  dafs  Glareans  Prüfung  der  von  ihm  mitgetheüten  ^^heispiSe  immer  mr  je^e  ei  ehL 
der  zu  en.em  Ganzen  verwobenen  Stimmen  zum  Gegenstande  hat.  Haupl  und  Nebenton  IhToW 
«ne  andere  verwandte  Tonart,  erkUngen  ihm  in  den  verschiedenen  Stimmen  zugleich,  .äe  z    B.  L]Z 

s^^::^^^^^^^^^    vit'^^'-f  ^"^  'T'-' ""''''  -' ''-  ^^^'^'-  ^--  ^'"  ^^ 

»opran  und  ßafs.    )     ^  on  Ausweichungen  also  ist  nur  in  jenen  einzelnen  Stimmen     nicht  In  ,1. 

:;lTd     fd  ''TT   ^"  — "^'-^-   »»er  ,he   llle;    da   jener   Zusamm     kla.;  d ^ 

.una  hst  durch   das    Ohr  Vernommene,    bei  höherem   Alter   der  hannonischcn   Kunst   die   Fotschun:  tf 
das  d.m  zu  Grunde  hegende  Gesetz  noünveni-g  würde  haben   leiten  müssen,   so   ergicbt   sich   die   Fol  I 
rung:    n,an   habe  das  Ganze   defshalb   nur  nach   seinen   einzelnen  ßestandtheilen   .emes  e„     w    1  Jele 
tracl^tung  b.s  dahm  nur  Kunstwerke  gekannt,  die  jenen  einzelnen  Bcstandtheilen  gldchart"  Ce  e  '  oder 
nur  solche  Verbindungen  versclnedener  Gesünge,  welche,  ohne  dieselben  zu  einem  Ganze^  1  v      ehmd 
zen,  s.e  nur  au    solche  We.se  vereinigt,   dafs  dem  Ohre  kein  .Mifsklang  lästig  gefallen,    wenn  ^tt 
dem  Zusammenkange  ken,  eigenthümliches  Leben  hervorgegangen  sei.     So  aLh  wird  es  erklär  ich    wl 
b  Ib  die  Werke  cmer  fnsch  und  kräftig  in  neuem  Sinne  sich  entfaltenden,  und  fortwachsenden  Knst  ni^ 
u  eremstnnmen  konnten  mit   den   ^Wschriften   einer  Lehre,    welche,    den  vorhandenen  Denkm  I^    ^ 
olge,  durch  einen  Zeitraum  von  fünf  Jahrhunderten  in  ihren  Grundsätzen  schwankend     sich   Tdl  ch  h 
festigt,  dmch  vier  Jahrhunderte  sich  vüllig  beg^indet,  und  die  von  Glarean  voroetra!"!;   Äu  de W  L 
Wonnen  hatte;    c^nn   die   Ausbildung   dieser  Lehre  war   einem   noch   langsame     gedtirentn   S:  I^^^^^^ 
S^enuber  geschehen,  und     er  im  Wesentlichen  unveränderten   Gestalt   eines   übeSieferten,   Ln        ^ 
m^  Ig  festzuhaltenden  KiKhcngesanges.     Hatte  man  aber  zu  Glareans  Zeiten  auch  das  Ungenüge  fde^j itr 

1  1  7  y  d      ^-T  r'  ""''"'''"  «^''"*'  ""  ^"^^  '''-'  "^"-"""S  ^-h  nur  insofem^esch    len 

.k  die  Zahl  der  bisher  gangbaren  Formeln  als  Maafse  für  das  Norhandene  vermehrt  worden ; 'uchZ' 
ne^m  geschähe  sie  nur,  m  em  man  durch  immer  genauere  Berechnungen  die  einzelnen  Tonve^ni  se 
sorgfältiger  zu  bestimmen,  das  neue  Lehrgebäude  mit  den  Ergebnissen  der  Forschung  in  den  athü  r 
Vergessenheit  allmähhg  .^eder  hervorgehenden  Werken  der  griechischen  Tonlehrer   1   also   dem   «tX 

lTsS7;ird''""'Tr  ?  ^'"^^^^  ^^ehereinstimmung  zu  bringen  trachtete;  nil,  i!:l 
rKll  f  -fbluhende,  neue  Leben  der  Kunst  einer  gründlicheren  Betrachtung  .vürdi»;.  In  voreili- 
fZenc^che  R  7      Tt^  "''"  '^"•'"  ''"'^"'   ^'"  herannahendes  Greisenalter,   da' zu  erbUcken,  wo   die 

Lere^dl  h  7  r  """"  ""'"'  ^"''  ""''  "P^'^^^'  ''^'^  ^"^f^^^^^'  ^^  '^S«  schlummernde  Le- 
ben    ndlu^h  zun.  Bewufstsem  zu  gelangen,  an  das  helle  Licht  des  Tages  zu  dringen  strebte.     Es  ist  dieses 

emVrb^^      zu  aUen  Zeiten  sich  offenbaren  .Hrd.  wo  die  Kunst  lebensk^ftig  fortwächst,  das  aber 

')   Dodecachord:  /iL  ITT.     Cap.  24  p.  365. 
C.  T.  W-intrrMd  Joi.  Gairisli  ■.  ,.  ZeittlWr 

9 


—     (j()     — 

zu  sokhon  Zeilen,  ^vie  .lio  uns  jel/.l  bcsrhiiflisende,  am  schiicidcndslen   hcrvorlrelen   mufs.      Um   so  wc- 
„i..er  darf  es  aber  nns  befremden,  als  selbst  bei   den   Tonmeistern    jener  Zeit  wir   eb   Mvlcfacbes   Bilden 
wahrnebmen,  das  Zusammenfügen   vcrscbicdoner  Melodicen.  nnd   das   lebendige  Entwickeln  der 
einen  ans  der  andern,  so  Ms  eine  die  andere  hebt  und  trägt,  im  Zusammenklange  sie  verkliirl.     Bei  dem 
einen  fol-ten  sie  dem  berecbnenden  Verstände,    dem  bis   dabin  klar  Erkannten;    bei   dem  andern   emcm 
unerkannten  y-war  und  dunklen,  aber  sieber  leitenden  GefiUJe,  das  allmäblig  zi.  klarem  Bewnfslse.n  re.fen 
mufste    jemehr  sie  mit  den  Tiinen,  dem  von  der  Katur  ilmen  gebotenen,    dureb  sie   /-u   bildenden  Stofle, 
vertraut  wurden,  sie  als  ibren  Leib  sieb  aneigneten,  als  die  belebende.  berrseJ.endc  Seele  in  ibnen  wobnlen 
Damals  ergötzte  man  sich   an   der  bunten   IMannicbfaltigkeit   vielfach   verwobenen,    in   seiner  Fülle  wohl- 
klingend dahinrausclienden  Gesanges;  selten  nur,  und  dunkel  ahnend,  dafs  ein  mächtiger  Geist,   von  den 
Unbewufsten  gebannt,  der  Geist  der  Harmonie,  sich  rege  in  jenem  Zn.sammenklange,  in  ihm  sich  zu  offen- 
baren strebe.     Darin  aber  bestand  seine  Offenbarung,   dafs  nicht  jede   einzelne   der   verwobenen   Stimmen 
mehr  einem  besonderen  Gesetze  gehordiend  erschien,  dafs  ^-lehnehr,    unbescliadet  der  lebendigen   Gliede- 
rung des  Ganzen,  in  den  durch  \'erelnigung  aller  Stimmen  gebildeten  Zusammenklängen  nnd  ihrer  gegen- 
seitigen Beziehung,  ein  gemeinsames  Gesetz  für  das   Ganze   kund   wurde;    eben   der  Kirchenton,   dem   es 
•m^iörte      Die  Darlegung  jenes   Gesetzes,    nicht  als   einer   hemmenden    Schranke,    sondern  als  eines  m 
den  Werken    der  letzten    Hälfte    des  seclizehnten   Jahrhunderts   lebenden,    sich  in  ihnen  verk..rpernden, 
durch  sie  bewährenden,  ist  die  Aufgabe,  die  wir  in  dem  folgenden  Absclmitte  dieser  Blätter  zn  li.sen  ver- 
suchen     Uns  dazu  vorzubereiten,    den  Anfangspimkt  jener  neuen  Kunstb'ütbe  zu  finden,    fassen  wir  ein 
Bild  des  Lebens  der  geisthchen  Tonkunst  in  tlie  Augen,    wie   es  um  den  Anfang  des   sechzehnten  Jahr- 
lumderts  sich  darstellt  in  den  unmittelbaren  Vorgängern  WiUaerts,    des   Stifters   der   Venedisclien   Schule. 
Dieses  Bild  wird  die,  wenn  auch  flüchtige,  Betrachtung  einiger  N^  erke  des  damals  so  hochgefeierten  Jos- 
„uin  lies  Prds  uns  am  sichersten  gewähren,  eines  Meisters,  den  wir  um  so  eher  als   \"\  iUaerls   unmittel- 
baren Vorgänger  ansehen  dürfen,  weil  dieser  ein  Zf.gling  seines  Scliiders,    Johannes  IVIonton,    war,    und, 
wie  schon   erzählt  worden,    der  eigenthümlicben  Weise   Josquins   so   sehr  sieh   zu   bemächtigen   gewufst 
hatte     dafs  ein  von  ihm   gesetzter  heiliger   Gesang   in   der  päpstlichen   Kapelle   lange   Zeit  für   eines    der 
schönsten  Werke  jenes  Meisters  gelten  konnte,    bis   die  Sänger,    über   den  wahren   Urheber  unterrichtet, 
ihn  für  immer  trotzig  zurücklegten.     An  der  ganzen  Art  der  Stimmenverflechtung,    dem  Verhältnisse    des 
Wortes  und  des  Tones,  wie  es  in  den  Werken  dieses  ftleisters  sich  darstellt,   an  der  Stellung   gegen  deu 
alten,  überheferten  Kirchengesang,  werden  wir  die  Hindernisse  erkennen,  welche  der  tieferen  barmonisclien 
Entfaltung  des  Gesanges  damals  entgegenstanden,  das  dennoch  Ersclilossene  um    so  freudiger  anerkennen, 
die  Urtlreile  der  Zeitgenossen  erst  redit  verstehen  lernen. 

In  Josquins  Werken,  gründen  sie  auch  meistens  sich  auf  alte  Kirchenweisen,  finden  wir  doch 
nirgend  jene  Steigerung  heaclitet  von  dem  mehr  redeähnlidien  zum  kunstreidi  ausgebildeten  Gesänge, 
wie  ihn  jene  Weisen,  von  den  Psahnen  und  heihgen  Liedern  bis  zu  den  Hymnen  und  Mefsgesängen  dar- 
legen.  Auch  dasjenige,  was,  altem  Herkommen  gemäfs,  nur  mit  erhöhter  Stimme  vorzutragen,  durdi 
Gesang  einzuleiten  und  zu  umgeben  war,  wie  die  Absdmitte  aus  den  Evangelien  bei  der  Messe,  findet 
bei  ihm,  slnnreidi  und  seltsam,  auf  das  Künstlidiste  sidi  ausgeziert.  So  das  Evangdium  des  Oster- 
dienstags')  Luc.  24,  36  —  d7,  die  ErzälJung,  wie  der  Herr  den  versammdten  Jüngern   erscliienen  sei, 

')  S.  Magnum  opus  musicum,  eontinens  clarissimontm  symphonistarum  etc.  opera.     Koribergae  etc.  15a9. 


—      07       — 

ihnen  seine  Auferstehung  verkündet,  sie  von  seiner  leiblichen  Gegenwart  iiber/.eugt  habe.     Fünl'Slimnieu, 
bald  in  freier,  bald  strenger,  immer  jedoch   der   engsten   jNachahmung   verwoben,    tragen   diese   Erzähhmg 
vor.     In  langen   gehaltenen   Tönen    singt   dazwischen   eine  Tenorstimme  einen  Theil  desjenigen   ab,    was 
Matthäus  von  der  Auferstehung  des  Herrn  berichtet,  wie  die  Erde  gebebt  habe,  der  Engel   des  Herrn  ge- 
kommen sei,  den  Stein  von  des  Grabes  Tlüh-  abzn^^•;ilzen ;  eine  Erzählung,  welche  als  Antiphonie  bei  der 
Vesper  und  als  Rcsponsorium  bei  jenem  Feste  vorkommt.      VN  eniger   befremdend   an   sich   erscheint  eine 
künstliclie  Verschrünkung  verschiedener  Gesänge  bei  der  ohnciiin  reicher  ausgestatteten  Ostersequenz ;  nxu- 
dafs  die  Wahl  des  V  erbundenen  auflbllen  mufs.  ' )     Jener  nur  vierstimmige  Gesang  läfst  in  jeder  von  den 
drei  tieferen  Stimmen    die   alte   Kirchenweise   in   allen   ihren   einzelnen    Thoilen  abwechselnd   ertönen,   die 
anderen  beiden  mit  INachalimungcn  luul  aussclmiückcnden  VYendungen  sich  dagegen  fortbe\\egen ;    in   der 
Oberstimme  dagegen  sind   die  V\  orte   des   heiligen   Gesanges   einem   gemeinen   V'olksliede   angepafst.     Bei 
dem  von  Josquin  vierstimmig  gesetzten  hundert  dreizehnten,  die  Vesper  des  Osterfestes  eigenlhümlich  be- 
zeichnenden   Psalm,  -)     zeigt    sich   zu    Anfange   zwar   die   Formel    des    demselben   zugchöngen    Pilgertons, 
welche  im  Laufe  des  ersten  Abschnittes  in  künstlicher  \  erschränkung  öfter   wiederholt   wird;   hierauf  be- 
scluänkt  sieh  aber  aucli  das  ganze  Bestreben  des  Meisters  sich   diem  Gegebenen    anzuschliefsen ;   es   bleibt 
bei  einem  äufserlichen  Kennzeichen  stehen,  imd  der  heilige  Gesang   wird    nicht   als  einzelner   Theil    eines 
in  der  Gesammtheit  des  Cultus  dargestellten  gröfseren  Ganzen,  sondern  nur  für  sich  bestehend  betrachtet. 
hl  den  Mefshjnnnen  zeigt  bei  Josquin  und  seinen  Zeilgcnossen  sich   zwar   das   Streben   nach   Darstelliui"- 
einer  Einheit  mchrer  Gesänge,  jedocli  nur   einer   äufserlichen.     Eine   gemeinsame   Gesangsweise,    oft   ein 
Volksüed,  wurde  allen  zu  Grunde  gelegt,  bei  einer  jeden  in  niannichfach  abwechselnder  Verflechtung  der 
einzelnen  Stimmen  künstlich  durchgeluhrl .     Leicht  wurde  es  freilich  bei  dem  Kyrie,  Sanctus,  Bcnediclus 
und   Agnus   l)ei,    die   nur  wenige   Worte   enthalten,    ein    durch   sinnreiche  INachahmungen   verschiedener 
Art  abgerundetes  Ganze  zu  liefern;  eine  ähnliche  Behandlung  aber  war  bei  den  Gesängen   gröfseren  Um- 
fanges,  dem  Gloria  und  Credo,  nicht  möglich;  nur  der  Anfang  konnte  hier  das  gewählte  Thema  andeuten 
im  Verfolge  des  Gesanges  trat  es  zerstückelt  hervor,  indem  man  einzelne  Thellc  desselben  in  verschiede- 
nen Stimmen  mit  einander  verflocht,  auch  wohl  Bruclislückc  der,   jenen   Gesängen    ursprünslich  anaeeio- 
neten    Kirclienw eisen   damit  in  Verbindung  brachte,    von  denen   man    sonst   ganz   abging   aufser  da,    wo 
man  sie  zu  Hülfe  nahm,  das  bunte  Gewebe  zu  vollenden.     Es  leuchtet  ein,  dafs  bei  einem  solchen  Ver- 
fahren von  einer  innigen  Verschmelzung  des  Wortes  mit  dem  Tone   nicht   die   Rede   sein    konnte,    jenes 
vielmehr  durchaus  zurücktreten  mufstc.     Strenge  und  Ucbereinstimmung   der  ^||achabmungen   in  den   ein- 
zelnen Stimmen  Avar  ja  die  Hauptsaclie;    eine  vorhandene   Gesaugsweise  wurde   einem  gegebenen   Texte 
angepafst,    widersprechend  wie  sie  ihm  auch  sein  mochte;    die   rechte  Betonung   der  Sylben   und  Worte 
blieb  völlig  unbeachtet,  ja,  die  willkülu-lichc  Trennimg  einzelner  Sätze,  selbst  auch  Worte,  Avurde  nirgend 
vermieden.     Fügte  man  eine  alte  Kirchenweisc,  als  sogenannten  oantus  Jirmus,  in  ihrem  ernsten,  stetigen 
Fortschritte  der  lebhafteren  Bewegung  anderer,    in   unaufliörHcher  Nachalunung  begriflfenen  Stimmen  bei, 
so  mufste  selbst  diese  —  auch  bei  der  Beibehaltung  jedes  ihrer  einzelnen  Töne   —   docli   Dehnung  und 
Abkürzung  erleiden,  dem  künstlichen  Tongewebe  des  Meisters  sich  fügen,   damit  aller   Mifsklang  vermie- 
den werde.      So   blieb   sie   also,    theils  durch  die  meist  unverhällnifsmäfsige  Dehnung,    theils  durch  jene 


')  S.  Dodecachuid :  Hb.  III.  Cap.  XXII'.  p.  363.  364.  —  368.  bis  371.  m    f'ergleick   mit   lib.  II.    Cap.   A'A7A'.    pag. 
111.  und  yd.   104   icrao.   105  der  Psalmodiit   des  Lucas  Lojsiiis.      ")  IHagniini   opm  musiciiiii  elc.      Pars  III. 

9  • 


—      68      — 

willküJirliclie  Veränderung  alles  rhythniisclien  \'erljällnisses  ilem  Ohre  unversländlicli ;  das  ^^'ort,  hätte 
man  es  sonst  aucli  wohl  vernehmen  mögen,  ^Mn•de  durch  das  Geräusch,  die  lebhafte  Bewegung  der  um- 
gebenden höheren  und  tieferen  Stimmen  völlig  verdunkelt;  das  Ganze  endlich,  dem  Sinne,  der  es  mimit- 
telbar  vernehmen  sollte,  luigeniel'sbar,  nur  dem,  die  einzelnen  Stimmen  in  ihrer  Gesammtheit  überschauen- 
den Auge  in  seiner  \  erwebung  zugänglich,  l'nd  dennocli  sclieinen  nicht  selten  die  Bande  des  strengen 
Gesetzes  siel»  zu  lösen,  welche  den  Gang  einer  Stimme  unwiderruflicli  an  den  der  anderen  fesseln;  aus 
freier  Liebe  und  innerer  Lust  beginnt  die  eine  der  andern  zu  folgen,  in  anmutliiger  Bewegung  das  Lebeu 
der  Töne,  iln-er  Gheder,  entfaltend;  sicli  an  die  Gefiihrtinn  schmiegend,  mit  ihr  zusammenklingend,  strebt 
sie  ihr  Inneres  auszutönen ;  aber  noch  vermag  die  scliwellende  Knospe  ihre  grüne  Verhüllung  nidit  vöUig 
zu  durclibredicn.  So  in  einem  der  älteren  Gesänge  Josquins,  ')  dem  Grufsc  des  Engels  an  die  Jung- 
frau, welchem  selbst  Glarean  nachrühmt:  „er  sei  ihm  werther,  als  seclishundert  andere,  wie  sie  zu  seiner 
Zeit  täghch  auftauchten;"  wie  er  denn  aucli  dem  Kleister,  den  er  sonst  der  naturwidrigen  ^'erknüpfung 
der  fremdesten  Tonarten,  des  ungebundenen  Strebens  nach  Neuheit,  anklagt,  an  einem  anderen  Orte  wil- 
lig zugesteht:  ,,es  sei  ilmi  eine  ungewöhnhchc  Kraft  des  Geistes  eigen,  die  ihn  den  sinnreichsten  Män- 
nern in  andern  Wissenschaften  gleichstelle;"  und  oflcn  bekennt:  „es  gebe  eine  Verwandt sdiaft  der  Töne, 
eine  Entwickelung  des  einen  aus  dem  andern,  die  auf  einem  unergründüdien  Katurgesetze  beruhe,  das 
der  Kmistgelehrte  nicht  zu  begreifen  vermöge."-) 

Zu  allen  Zeiten,  und  auch  damals,  hat  es  sogenannte  Kimslkenner  gegeben,  denen  an  jedem  Kunst- 
werke nur  das  tüditig  gezimmerte,  künstlidi  zusanunengefügte  Gerüst  werth  ist;  so  wie  einfache,  sinnige 
Gemütlier,  weldie,  dem  Eindrucke  sich  willig  hingebend,  in  freudiger  Begeisterung  ihn  bekennend,  uns 
in  Liebe  zu  sich  zidien,  ohne  durdi  ilire  Aeufserinigen  luis  weiter  zu  belehren.  Vielfach  rühmende 
Zeugnisse  in  dem  einen  und  in  dem  andern  Sinne  sind  über  Josquin  und  seine  Zeilgenossen  ims  aufbe- 
halten, deren  nähere  Erwähnung  wir  nicht  bedürfen.  Allein  entgegengesetzte  Stimmen;  die  einen,  laut 
geworden  din'ch  das  zu  Anfang  des  sedizehnten  Jahrhunderts  so  lebendig  erwachte  Gefülil  der  Verdun- 
kelung diristlicher  Lehre,  der  Verderbnifs  der  Kirchenzucht,  der  mannigfaltigsten,  in  das  Ilelllgthum  ein- 
geschUdienen  JMIfsbräuche,  durdi  die  Besorgnifs,  audi  die  neue  Kunst  der  Harmonie  wirke  dahin,  das 
heilige  Wott  zu  verdunkeln  und  zu  überbauen;  die  andern,  in  der  lebendigen,  frisdien  Ahnimg  einer 
neuen  Zeit,  deren  Keime  zu  treiben,  an  das  Licht  zu  dringen  und  sidi  zu  entwdckeln  begönnen:  Stimmen 
solcher  Art,  von  bedeutenden  Männern  jener  Zeit,  sind  ohne  Zweifel  es  werth,  dafs  wir  sie  vernehmen, 
zu  unserer  Belehrung  bei  ilmcn  verweilen. 

Drei  IMänner,  jeder  an  einem  andern  Orte  heimisch,  des  verschiedensten  Strebens,  der  ungleichsten 
Stellung  in  der  Welt,  der  abweidiendsten  Gesinnung,  lassen  mit  gleidien  Rügen,  mehr  oder  minder  lieftig, 
sich  venichmcn. 

So  schreibt  der  gelehrte  und  weltklugc  Erasmns  in  seiner  Erklärung  des  ersten  Briefes  Pauli  an 
die  Corlnther  c.  14:  „Eine  verkünstelte  und  theatrahschc  IMusik  haben  v\ir  elngcfdlirt  in  die  Kirchen, 
ein  Gesdirei  und  Getümmel  verschiedener  Stimmen,  wie  es  meines  Erachtcns  wohl  niemals  in  den  Thea- 
tern der  Griedien  imd  Römer  gehört  worden  ist.  Von  Hörnern,  Trompeten,  Pfeifen,  Sdiallmelen,  wird 
.illes  durclirfiiischl;  mit  ilinen  wetteifern  mensddidie  Stimmen.  \^erliebte,  unzüchtige  Gesänge  lassen  sich 
hören,    welche   sonst  nur  die  Tänze   der  Buhlerinnen   und    der  Spafsmadier  begleiten.     In   die   Kirchen 

')  DodecaclicT^:  p.  358  —  361.     Lib.  UI.  Cap.  23.     rergl.  p.  354.     »)  Jb.cap.1\.  p.  362.363.     /'erg-/.  364.     Dagl. 
rup.   XW.  pag.   251.   cap.   XXrj.  pag.  448. 


i 


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rennt  man,  ^^^e  vor  die  Bühue,  des  Ohrenkitzels  wegen.  Dafür  besoldet  man  mit  grofsem  Aufwände 
Orgelmacher  und  Schaaren  von  Knaben,  deren  Jugend  darüber  hingeht  solche  Dinge  zu  lernen  und 
ie  aller  besseren  Bildung  fremd  bleiben.  Ein  Schwärm  nichtswürdiger  Menschen,  wie  sie  meistens  sind, 
wird  ernährt,  mit  so  grofsen  Kosten  die  Kirche  belastet,  einer  so  verderbhclien  Seuche  wegen  " 

Nicht  minder  hart  läfst  der  unruhige,  geistreiche,  nach  geheimen  Wissen  traclitcnde^  Agrippa  von 
Netteshenn  nn  siebzehnten  Kapitel  seines  ^^  erkes  von  der  Eitelkeit  der  Wissenschaften  sich  vernehmen- 
Eme  solche  Frechheit  hcnscht  heutigen  Tages  in  der  kircldichen  Tonkunst,  dafs  selbst  während  der 
Wandelung  m  der  Messe  man  unverschämter  Liedlein  auf  der  Orgel  sich  bedient,  dafs  man  das  heilifie 
Amt,  ie  frommen  Gebete  der  Kirche,  durch  leichtfertige,  mit  grofsen  Kosten  gedungene  Sänger  hersingen 
lalst,  nicht  zu  Erhebung  des  Gemüthes,  nicht  den  Hörern  zu  tieferem  Verstandnisse,  sondern  zu  wollü- 
stigem Kitzel,  nicht  mit  menschlicher  Stimme,  sondern  mit  thieriscliem  Getöse.  Da  wiehern  die  Knaben 
den  Diskant,  andere  brummen  den  Alt,  eine  Füllsümme  beUen  jene,  andere  blöken  den  Tenor,  brüllen 
den  Bafs,  so  dafs  zwar  wohl  ein  küngender  Lärm,  von  den  Worten,  den  Gebeten  aber  nichts  vemora- 
meu,  den  Ohren,  wie  dem  Gemüthe  das  rechte  Verständuifs  entzogen  wird." 

„Mögen  wir,  schreibt  endhch  der  feine  und  geschmackvolle  Sadolet  (früher  Leos  X.  Geheimschrei- 
ber dann  Cardmal  der  römischen  Kirche)  mögen  wir  in  der  Musik  nicixt  weiter  von  den  Musen  uns 
entfernen!  Im  Gesänge  und  Saitenspiele  ekelt  unserem  Zeitalter  an,  was  dem  frülieren  doch  besonders 
wohlgef.el,  jenes  stetige,  ernsthafte,  würdevolle  Zusa.nmenstinmien.  Eine  gewisse  Art  von  Ausweichun- 
gen heben  wir,  von  Aussclmiückungen ,  vvodurch  der  Gesang  zerstückelt  und  zertrennt,  jene  voUe  klans; 
reictie  Kraft  und  Gewalt  der  Stimme  entnervt  wird.  Das  Zeitmaafs  unerwartet  ändern  und  wieder  auf 
nehmen,  Töne  auf  harte  Weise  versclilucken ,  die  Stimme  plützhch  schweigen  lassen,  den  Gesang  ver- 
stummein, da,  wo  man  am  wenigsten  es  ahnen  sollte,  das  gut  nunmehr  für  das  Mark  der  Kunst  und 
gewinnt  den  Beifall  der  iMengc." 

ISicht  desJosquin.  nicht  eines  andern  gleichzeitigen  Meisters,  erwähnen  diese  Zeugnisse  namentlich- 
em jedes  von  ihnen  jedoch  erinnert  an    einen  der  Züge   des  frülier   von  uns    betraditeten   Bildes  in  dem' 
eigenlhunüichen  Sinne  des  Schreibers,  der  bald  die  würdevolle  Einfachheit  der,  wenn  auch  nur  im  Geiste 
gescliaulen,    Tonkunst  der  Alten  zurückwünsclit,  bald  den  ehrwürdig -geheimnifsvoUen  Kirchengesang  herr- 
schend sehen  möchte,  bald  durch  das  Unangemessene,   Geschmacklose  sich  verletzt  fmdet,   während  von 
allen  die  M.lsbräuche  bei  der  Ausführung  gerügt  werden.     Selten  sind  Geister,  welche  w^e  Luüier,  neben 
dem  üefen  \  erderben,  das  sie  rücksiclitslos  strafen,  auch  che  Keime  des  Bessern  überall  erbhcken      Jener 
Lebenskeime  m  den  Werken  Josquins  und  seiner  Zeitgenossen,  hat  er,  unter  seinen  Müebenden  fast  der 
anzige,    ,„  dem  redeten  Sinne  sicli  gefreut,    mit  begeisterten,    ja  prophetischen  Worten   darüber  geredet, 
Hidem  er     von  dem  Mangelhaften  der  Gegenwart  nicht  gestört,    im  Geiste  dasjenige  schaute,    was  einer 
spatern  Zeit  erst   zur  Reife  zu  bringen   aufbehalten    war.     Sein  Ausspruch   wo  er  von  Gesetz  und  Evan- 
gehum  redet:    „  dafs  Gott  auch   durch  die  Toidcunst   das  Evangehum  predige,    ^^ie   an  Josquin  zu  sehen 
«ei,  bei  welchem  der  Gesang  „„fein  fröhlich,  wUlig,  milde  und  hebhch  herausfliefse  und  gehe,  nicht  g^ 
zwungen    und   genöüiiget    und    an    die    Regeln    sclumrgleich  gebunden;""     seine    muntere  Versicherung: 
^Josquan  sei  der  Tone  Meister,    andere   würden  durch   die  Töne   gemeistert,"    zeigen   deutüch,    dafs  die 
Hcrrhchkeit  der  he.hgen  Tonkmist,    ihr  Leben  und  Uire  Bedeutung,  aucli  in  dem  verschlossenen  Keime, 
«einem  tiefen  mid  reichen  Geiste  nicht  fremd  geblieben  sei. 

So  nun  fand  Adrian  WiUaerl  die  Kunst  hannonischen  Gesanges,   so  lautete   das  Urtheü  seiner 


—       70 


Zcitficnossen   iihcr  dk^sclbc,  .Is  ,m-  a,n  /.MÜlftcn  December  1527  das  Amt  <lcs  Sängermeisters  bei  St.  Mar- 
cus  zu  \'encaio-  antrat.     Wollen   wir    auch   dem  Urtheile    seines    begeisterten   Sdiülers    Zarlino,    dessen 
lioclaonenden  Lobsprüchen,  nicht  in  dem  lyiaafsc  Glauben  schenken,  dafs  wir  ihn  für  den  ersten  Meisler 
seines  Zeitalters    einen  wahrhaften  Erneuerer  auf  dem  gan/.en  Gebiete  der  Kunst  lialten,  so  erg.ebt  doch 
die   Prüfuno-   seiner   ims   aufl)chnltenen   Werke,    ihre  Vergleichung  mit   den   Zeugnissen   der  Mitlebenden, 
dafs  er  unter  die  aufserordcTithchen  Erscheinungen  jener  Zeit  gehört  habe.     Seine   Fruchtbarkeit  mufs  m 
Erstaunen   setzen,    wenn  wir   nicht  weniger  als  zehn  von  ilnn  zu  Ve-u-cUg  herausgegebene,    d.e  meisten 
der  zum  Gottesdienst  gehörigen  Gesänge  umfassende  Werke    auf  der   königlichen   BibUothek  zu  München 
Uuden     und  daneben  noch   vier  und  dreifsig  Sammlungen,  theils  handschriftliche,    Üieils  zu  Venedig,    zu 
Nürnb'ero-     zu  Paris,    In  den  Niederlanden  gedruckte,    für  welche    er  Tonstücke   der  verschiedensten  Art 
.ehefert'hat,  meist  in  nicht  geringer  Anzahl,  und  nicht  unbe(rächthclien  Umfangs;    ein  Zengmfs  zugleicli 
für  seine  all-^emeine  Beliebtheit.     Schbchlc  deutsche  Volksgesänge,  leichtfertige  französische  L.edlem,  sinn- 
reich und  künstlich  gearbeitete  itahenische  Madrigale,  Tanzweisen  fast  aller  damals  übhchen  Formen,  sehen 
vvir  neben  kunstreich  verwobenen   Orgelstücken,  neben  tiefsinnigen   geistlichen  Gesängen,  m  bunter  Man- 
„icl.f.Hi^keit  vor   uns  vorübergehen,    wenn    wir  jene   Samminngen   durchblättern.     Messen  wir  nun  dem 
Worte   des  Parabosco  Glauben  bei,    der,    jenem   sehnellfertigen  Sänger   gegenüber,    von  ihm  behauptete: 
er  briiK^e  mindestens   zwei  Monate   darauf  hin,  einen  Gesang  von  bedeutendem    Umfange    zu   setzen,    er 
Insse  nidvts  bekannt  werden,  was  er  nicht  zuvor  sorgsam  geprüft  und  als  reife  Frucht  seines  Geistes  er- 
funden habe    und  sehen  wir  jene  Genauigkeit  und  Sorgsamkeit  hi  der  AusfiUirung  bei  den  meisten  seiner 
Werke  in  der  That   vorwalten,    so  erregt   sein  Fleifs  nicht   geringere  Verwunderung.     Bei  einer  so  weit 
ausgebreiteten,  so  sorgsamen  Ausübung  seiner  Kunst  aber,  mufs  er  auch  wissenscliafthch  in  ihr  mit  Eifcr 
leforsdit  haben,  wenn  er  gleidi  nichts  schrifthdi  über  seine  Forsdiungen  hniterlassen  hat.     Sein  Scluüer 
Zarlino  mindestens   stellt  ihn  als  ITanplnnlerredner   auf  und  Belehrer   in  seinem  musikahsch-speculativen, 
in  Gesprächsform  abgefafsten  Werke:    Uunoslrazioni  armoniche,   und  Artusi  ')  theilt  uns  in  einem  ^^n 
ihn,  gehetzten,   zweistimmigen  Gesänge   ein  Beispiel   sd.erzhafter   Art  zu  belehren  n.L     Den  aUe.n  aufbe- 
haltenen Anfangsworten  nadi:    ,.jnülnan.  ebrietas^'  soll  dieses  Tonstück  wohl  die  W.rkmigen  der    Inm- 
kenheit  darstellen,    indem  die  uniere  Stimme   dem  Auge   sdieinbar  so  weit  von  dem  gle.dimafs.gen  har- 
monischen Fortgänge  mit  der  oberen  abirrt,   ja,    hintaumdt,   dafs  sie  gegen   dieselbe  in  der  Untersepüme 
zu  schliefsen  scheint;  du  Uebelstand,  der  bei  der  Ausführung  sidi  dadurdi  behebt,  dafs  die  l  nterstimme, 
wenn  der  Sänger  die  Regel  genau  befolgt,  nur  consonirende  hilervalle  auszuüben,  sidi  endbdi  vermittelst 
der  danach  nö.hig  gewordenen   Erniedrigungen   um    einen   ganzen   Ton   üefer   findet,    als    sie  gesdineben 
steht     das  d  der  Oberstimme    also  mit  dem  doppelt    erniedrigten  e  der  Unlerstimmc   enie  Octave  bildet: 
du  Beispiel  dnrdi  das  die  Behauptung  des  Meislers  auch  auf  dem  Wege  der  Erfahrung  erwiesen  werden 
soll    dafs  der  Ton  in  zwei  gleiche  1  laibtöne,  die  Octave  in  deren  zwölf  zerfalle. 

'  Der  geistlidien  Tonkunst  war,  wie  seiner  amllidien  Stellung,  so  audi  seiner  Neigmig  zufolge,  sein 
Streben  voi-züglich  gewidmet,  und  hier  sehen  wir  Um  theils  in  der  Ridilnng  seiner  Vorgänger  und  Zeit- 
genossen befangen,  theils  eine  neue  Bahn  eröffnend.  Seine  Messen  sind  ganz  nach  der  damals  ubi.dien, 
noch  lange  naclilier  beibdialtenen  Art  eingerichtet,  da  es  gewöhnlid.  war  (nadi  Zarlmos  Beridit)  -)  sie 
auf  eine  bestimmte,  ent^veder  von  dem  Tonkünsller  selbst  erfundene,  oder  ans  dem  Knchengesange  (auch 

^':i:Z^,per/e.-.!oni  .teil.,   .nod.n.a    mnsica   (Vene-J,.   IfiOOJ  M.  l  M   n-         ')   Z'""'"'»    "'^tltu-Joni  Hl.   C.p.  56. 

u.   345-  f'/''i'   Aiisiriilie   sfliirr   sümmtlirhcit    WcrPrJ. 


—      71       — 

wohl  einem  Volkslicde)  enliiommene  SingAveise  durcliaus  zu  sel/.en.  und  »Uerhand  sinnreiche  und  artige 
Erllndungon  dahei  anzubringen,  wodurcli  an  die  S(elle  der  reiclien  JMannichfaltigkell  des  allen  Kivchenge- 
sanges  freilicli  ein  blofs  äufserliclies  Spiel  mit  den  Kunstniilleln,  neben  einer  gleidi  unerfreulichen  Einför- 
migkeil, Irclcn  niufsle. 

Eben  so  luidcn  Mir  bei  ihm,  dem  Geiste  des  alten  Kirchengesanges  entgegen,  auch  die  Evangelien 
auf  ähnliche  Art  musikalisch  beliaudelt,  ■svie  bei  Josquin,  ja  auch  andere  biblische,  der  kirchliclien  ^  orle- 
sung  nidit  bestimmte  Erzählungen.  So  hat  er  die  abgekürzte  Historie  von  der  Susanna  ')  fünfsümmig 
in  drei  Abschnitten  in  31uslk  gesetzt.  Durch  vier  Stimmen,  nach  ^Veise  jener  Zeit  behandelt,  wird  die 
Erzählung  selbst  abgesungen,  die  fünfte  läfst  als  catilus  firtmis  einen  auf  die  Aorgetragene  Begebenheit 
bezüglichen  Psalmcnvers  hören;  zu  dem  ersten  Abschnitte  die  ^y orte:  „Der  Sünder  Tücke  wird  bescliämt 
werden,  du  virst  den  Gerechten  leiten;"  zu  dem  Bericlite  ^on  der  Bosheit  der  Aelteslen:  „Ich  erhob 
meine  Stimme  zu  dem  Herrn,  und  er  hat  mich  erhört;"  zu  dem  Schlüsse  des  Ganzen:  „Der  Herr  hat 
meine  Stimme  gehöret,  der  Slrick  ist  entzwei  luul  wir  sind  befreit."  Dafs  diese  Art  biblische  Erzäldun- 
gen  zu  behandeln  (namcntlicJi  die  Episteln  luid  Evangelien  bei  der  IMesse)  in  ^"enedig  allgemein  übhch 
gewesen,  dürfen  wr  nicht  mit  Gewifsheit  annehmen.  Zwar  finden  wir  in  einer  zu  rSurnberg  in  den 
Jahren  1554  — 1556  in  seclis  Theilen  erschienenen  Sammlung  mehrstimmig  gesetzter  Evangelien,  deren 
neun  und  zwanzig  \on  vier  Tonkünstlern,  welche  um  die  erste  Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  zu 
Venedig  blühten:  a  on  iVillaerf,  seinen  Schülern  CypriaH  de  Rore  und  Zarlino,  und  von  Jaquet.  Nur 
einer  jedoch  von  jenen  Tonkünstlern,  Zarhno,  ist  aus  dem  ^'enedischen  gebürtig,  aber  Scliüler  eines  Nie- 
derländers, und  eifriger  ^  erchrer  der  flamländischen  Schule;  die  drei  übrigen  sind  Niederländer,  wie  denn 
aucli  die  anderen  Tonkünstler,  deren  AVerkc  jene  Sammlung  cntliäll,  \\e\-  imd  siebzig  an  der  Zahl,  neben 
einigen  Deutschen,  Franzosen  luid  Spaniern,  nur  Niederländer  sind.  In  Frankreich  aber  und  dem  Bur- 
gundisclien  Reiche  hatte,  nacli  dem  Zeugnisse  alter  IMefsbücher,  aller  abweichenden  Bestimmungen  von 
Päpsten  und  Concilien  Tuigcaclitet,  die  nur  gesangähnliclie  Erhebung  der  Stimme  bei  dem  \^orlragc 
der  Episteln  und  Evangelien,  nicht  kunstreidien  Gesänge  gestatten  wollten,  eine  abweichende  Sitte  sich 
gebildet  und  erhalten.  Die  Episteln  vornehmlich  pflegte  man  mit  Erklärungen  zu  durchweben,  mandmial 
in  lateinisdier,  öfter  in  der  Landessprache ,  die  mit  ihnen  abgesungen  wurden ;  die  Evangelien  aber, 
namentlidi  das  Gesdilechtsregister  Christi,  mit  vielen  Aussdunückungen  singend  vorzutragen.  Die  musi- 
kahsdie  Behandlung  jener  bibhschen  Abschnitte,  als  man  in  den  Niederlanden  zuerst  anfing  mehre  Stim- 
men künstlidr  und  sinnreich  zu  verflediten,  läfst  hienadi  auf  jene  alte  Sitte  ungezwungen  sich  zurück- 
fiiliren.  Es  kann  nicht  auffallen,  niederländische  Rleisler,  auch  in  der  Fremde,  jene  in  ihrem  Vater- 
lande beliebte  Tonsetzweise  beibehalten  zu  sehen,  wenn  auch  nicht  zu  unmittelbarem  kirdilichen  Ge- 
braudie;  und  da  wir  endhch  Tonslücke  solcher  Art  bei  venedischen  Künstlern  späterhin  selten  antreffen, 
so  ist  es  wahrsdieinlich,  dafs  dergleichen  wolil  nur  zu  Nadiahmung  niederländischer  IMeister  angefertigt, 
zur  Anwendung  bei  dem  Gottesdienste  aber  nicht  bestimmt  gewesen. 

In  Behandlung  der  Psalmen  zeigt  sidi  Willaert's  wesentlidies  Verdienst  um  den  Kirchengesang; 
als  Erfinder  einer  neuen  Weise  erscheint  er  hier,  oder  viehnehr  eine  alte,  in  dem  Wesen  des  Kirchenge- 
sanges begründete,  erneuend,  die  harmonische  Kunst  wahrhaft  fördernd.  „Die  Psalmen  (schreibt  Zarlino 
sein  Sdiüler)  *)  bei  der  Vesper  oder  andern  Theilen  des  Gottesdienstes  pflegen  zu  Venedig  mit  zwei  oder 

' )  Secunda  pars  magni  operis  musici,  continens  clarissimorum,  tarn  reterum  quam  recentiorum,  praecipue  vero  ClementU 
HÖH  Papae,  carmina  elegantissima,  quinque  vocum.  Nwibergae  1559.      *)  Instituzioni  III.  Cap.  56.  pag.  345  —  347. 


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mehr  Chören,  zu  vier  oder  mehr  Stimmen  gesungen  zu  werden,  die  theils  mit  einander  wechseln, 
Iheils,  wo  es  schicklich  ist,  sich  vereinigen.  Solche  Chöre  werden  am  Besten  so  eingerichtet,  Aah  jeder 
Chor  für  sich  vollständig  und  wolilivlingend  ist,  als  sei  er  ein  wohlgesetzter  Aaerstimmiger  Gesang.  Diese 
Art,  mit  getheiltem  Chor  fa  coro  spexxatoj  genannt,  hat  der  vortrefiliche  Adrian  erfunden.  Am  Besten 
ist  es  die  Bässe  im  Einklänge  und  Octaven  sich  fortbewegen  zu  lassen,  selten  in  Terzen;  auch  ist  es 
nicht  zu  tadeln,  wenn  bei  mehr  Chören  die  Bässe  alle  im  Einklänge  gehen,  indem  das  Ganze  so  eine 
festere,  überall  besser  vernehmliche  Grundlage  erhält. " 

In  ihren  Grundzügen  schildert  der  mitgetheilte  Bericht  jene  Behandlungswelse;  was  sie  aber  für 
die  Geschichte  harmonischen  Kirchengesanges  besonders  wichtig  macht,  ist  zwiefacher  Art.  Einmal  sehen 
wir  den  alten  antiphonischen  Gesang,  die  früheste  Weise  des  Vortrages  der  Psalmen  durch  zwei  gegen 
einander  singende  Chöre,  durch  sie  erneuet,  von  welcher  in  älteren  harmonischen  Tonwerken  wir  kein 
Beispiel  finden.  Der  Tonsetzer  scheint  zwar  die  überlieferte  Weise  des  Psalmengcsanges  gänzhch  zu 
verlassen,  denn  die  früher  übliclien  Gesangsformchi  finden  sicli  nicht  ferner  angewendet,  als  zu  Anfange, 
den  Psalm  durch  sie  anzustimmen;  doch  bringt  er  in  der  That  in  höherem  Sinne  wieder  zur  Anwen- 
dung, was  jene  Formeln  gebildet,  das  innige  Anschliefsen  an  die  eigenlhümliche  Einrichtung  der  Psal- 
menverse; imd  so  sehen  wir  denn  auch  die  Chöre  bald  in  ganzen,  bald  halben  Aersen  mit  einander 
wechseln,  wie  es  Sinn  und  Ausdruck  erfordert,  bedeutende  Sprüclie  auch  wo\\\  im  Gegencinandcrsingen 
wiederholt,  die  Glieder  des  heihgen  Gesanges  deutlich  auseinander  treten,  die  bei  der  früheren  \Veise 
künstUcher  und  mannichfacher  Stimmenverwebung ,  verwirrt  mit  einander  verschlungen  waren.  So 
war  denn  einerseits  dem  Worte  sein  Recht  bei  dem  Gesänge  wieder  gewonnen,  den  Tonkünsllem  der 
spateren  Zeit  die  Bahn  eröffnet,  es  bedeutsam  zu  verklären.  Auf  tler  andern  Seite,  und  hier  zeigt  sich 
doppelter  Gewinn,  brach  für  die  innerste  Entfaltimg  der  harmonischen  Ivinist  jetzt  ein  schöneres  IMorgen- 
roth  hervor.  Nicht  mehr  der  einzelnen  Stimme  wurde  die  andere,  dem  einen  klingenden  Körper  viel- 
mehr der  andere  entgegengesetzt,  und  beide,  wo  es  auf  schickhche,  bedeutsame  A>  eise  gescliehen  konnte, 
vereinigt.  Der  ganze  Psalm  aber  sollte  den  Charakter  der  Gesangsformel,  des  Kirchontoncs  tragen,  mit 
welchem  er  angestimmt  worden;  zum  erstenmale  ■war  also  hier  die  Anforderung  bestimmter  ausgespro- 
clieu,  dafs  dieser  Kirchenton  im  Zusammenklange  von  mehren  Stimmen  sein  inneres  Wesen  entfalte, 
dafs  in  diesem  Zusammenklange  das  Gesetz  sich  offenbare,  das  in  der  Reihe  von  Tönen  durch  die 
jene  Gesan^sformel  gebildet  worden,  nur  auf  einseitige  Art  sich  kund  gegeben  hatte.  So  war  derm 
auch  dem  Tone  ein  neues,  schöneres  Recht  errungen,  der  Kirchengesang  in  beiderlei  Rücksicht  auf  eine 
höhere  Stufe  gestellt.  Hierin  hat  Adrian  Willaert  um  die  von  ihm  gegründete  vcnedische  Schule,  wie 
um  die  Kunst  überhaupt,  sich  wesentlich  verdient  gemacht,  und  dahin  mitgewirkt  einen  Theil  des  Tadels 
zu  beseitigen,  den  geistreiche  und  gelehrte  Männer  nicht  ohne  Grund  über  die  Kunst  harmonischen 
Gesanges  ausgesprochen. 

Wie  seine  Nachfolger  auf  ihn  fortgebaut ,  wie  in  Johannes  Gabrieli  die  schönste  Blüthe  der  Kunst- 
übung in  älterem  Sinne,  der  Keim  einer  neuen  Entfaltung  in  späterer  Zeit  erschienen  sei  —  alles  dieses 
soll  auf  den  folgenden  Blättern  näher  betrachtet  werden.  Hier  indefs  findet  sich  der  Ort,  jene  Entwicke- 
lung  anzuschliefsen ,  auf  die  wir  schon  zu  Anfange  dieses  Abschnittes,  so  wie  öfter  in  dessen  Verlaufe, 
hingedeutet  haben;  des  Gesetzes  nämlicli,  das,  wie  In  den  kirchlichen  Gesangsformeln  jener  Zeit,  so  auch 
in  lliren  ausgerüluten  heiligen  Gesängen  als  belebende,  gestaltende  Kraft  vorgewaltet,  als  solche  in  ihrer 
mit  Willaert.  so  bedeutsam  beginnenden  harmonischen  Entfaltung   in   noch   tieferer   Bedeutung   sich  kimd 


—      73      — 

gegeben  habe.  Um  so  AvJchtigcr  nun  diese  Lehre  von  den  Kirchen  tönen  ist,  nm  so  mehr  erfordert 
sie  eine  in  sich  gescldossene,  bestimmt  abgegrenzte  Darstelhmg.  Dalier  wir  gegenwärtig  unsern  Bericht 
von  den  Vorgängern  Gabriehs  unterbrechen,  wo  wir  ilin  bis  zu  einem  Pmikte  fortgefdJirt  haben,  an 
welchem  eines  Theils  das  grofse  Verdienst  des  Stifters  der  vcnedisciien  Tonschule  in  hellem  Lichte  er- 
schienen ist,  andern  Theils  die  Keime  gezelg-t  worden,  aus  denen  wir  in  Gabrieli  künftig  eine  eisenthüm- 
liclie  kirchliclie  Kunst  im  Siinie  seines  Vaterlandes  herrlich  werden  emporblühen  seh 


Den. 


FÜNFTES  HAUPTSTÜCK. 


Die    Kirchentöne. 


In  Klang  und  Maafs  erschhefst  sich  das  Leben  jeder  Gesangsweise;  ein  doppelter  Gesichtspunkt  also 
für  unsere  Betrachtung  ist  uns  eröffnet,  wollen  wr  das  Wesen  des  Gesanges  in  jener  Zeit  erforschen, 
die  uns  gegenAvärtig  beschäftigt.  Der  ^Veg  jedoch,  den  unsere  Darstellung  gewählt,  und  bisher  verfolgt 
hat,  leitet  ftir  jetzt  imsere  Aufmerksamkeit  auf  den  Klang  allein;  imd  in  der  festen  Ucberzeununo-,  dafs 
nur  in  strenger  Sonderung  Klarheit  der  Anschauung  gewonnen  werde,  unterwerfen  wir  uns  noch  eine 
Weile  dieser  selbstn;ew  ählten  Beschränkung. 

Die  gegenseitigen  Beziehungen  nach  Höhe  und  Tiefe  der  eine  Gesangsweise  bildenden  Töne,  wie 
diese  in  der  Zeil  einander  folgen,  sind  es  zuvörderst,  durch  die  im  Klange  ihr  Leben  sich  kündet;' docli 
.^rscblicfst  es  sich  noch  auf  andere  und  tiefere  Weise.  Jedem  dieser  Töne  gesellen  sich  verwandte,  mit 
ihm  zusammenklingende:  in  solchen  Zusammenklängen  vird  jede  Wendung  der  Melodie,  ihrer  Bedeu- 
tung, ihrer  Eigenthümlichkeit  nach,  erst  völlig  klar  ausgesprochen;  nicht  etwa  sind  sie  in  ihrer  Fülle  nur 
ein  der  Melodie  äufserhch  angelegter  Schmuck,  sie  sagen  aus,  was  in  dieser  als  ihre  Seele  lebt,  sie  ent- 
talten,  was  in  ihr,  der  verschlossenen  Knospe,  verborgen  ndit.  Wie  aber  dieses  innere  Leben,  diesen 
harmonischen  Gehalt  einer  Gesangsweise  mit  Worten  aussprechen?  Nur  die  Töne  vermögen  in  ihrer 
ganzen  Fülle  beides  darzulegen.  Je  näher  wir  der  Werkstatt  des  eigensten  Lebens  dringen,  desto  mehr 
fühlen  wir  das  Ungenügende  der  Rede;  in  Bildern,  in  Anschauungen,  erborgt  von  dem  Leben  selber, 
annähernd,  vergleichend  nur  vermag  sie  das  sonst  Unaussprechliche  auszudrücken.  Dodi  ist  ihr  gegeben 
bis  auf  eine  bestimmte  Grenze  hin,  wenn  auch  nicht  völlig  auszusprechen,  doch  genügend  anzudeuten, 
was  ihr  als  Aufgabe  hier  gestellt  wird. 

Jede  Gesangsweise  nämlich  hat  einen  Grundton,  einen  gewissen  Standpunkt,  von  welchem  aus 
das  Reich  der  Töne  in  ihr  sich  erschliefst,  durch  den  ihr  \  crhällnils  zu  demselben  bedingt  ^vird.  Sie 
läfst  sich  auf  eine,  mit  diesem  Grundtone  beginnende,  oder  doch  auf  ihn  bezogene  Tonreihe  zurückfüh- 
ren, welche  durch   ihn   eigenthümlich    aus   der   Menge   der   übrigen   Töne  ausgeschieden   wird:   eine   Ton- 

C.  V.  Winterfeld.  Juh.  Gabrieli  u.  s.  Zeiu-Uter,  "Ifi 


—       74       — 

reihe,  der  selion  die  >ialur  dadiireh  bcsliinnilc  Grciixen  gcselzl  hat,  dafs  die  wachsende  Spannung  nacli 
der  Hölie  eine  i!,eschiirftere  7,^\ar,  docli  mit  dem  Grundtone  wiederum  völlig  A'erschniclzende  \\iedcrho- 
lung  desselben  in  beslimmten  Zwischenräumen  erzeiigt,  dafs  die  innerlialb  dieser  Zwisdienräumc  hervor- 
tretende, bcstinnnle  GliederTuig  der  engeren,  sie  ausfüllenden  Tonverhältnisse  überall  dieselbe  bleibt,  nicht 
also  eine  in  Höhe  und  'J'iefe  endlos  hinauf  inid  hinabreiebende,  sondern  in  sich  geschlossene  Reihe  un- 
serer Belraclitung  vorliegt.  Welclies  nun  das  ^  erhältnifs  des  Grundtones  sei  zu  der  von  ihm  begonne- 
nen, auf  ihn  bezogenen  Tonreihe;  seine  Stellung  gegen  jeden  einzelnen  der  sie  bildenden  Töne,  sofern 
dieser  fähig  ist,  als  Gnnidton  wiederum  eine  selbständige  Reihe  zu  bilden ;  -wie  hienach  die,  einer  IMelodie 
zu  Grunde  liegende  Tonreihe,  wie  die  Gesangsweise  selber  zu  dem  Reiche  der  Töne  sich  verhalte,  wel- 
clien  harmonischen  Gehalt  sie  dadurch  gewinne:  dieses  darzidcgen  ist  uns  vergönnt,  es  ist  die  Aufgabe 
der  folgenden  Blätter,  und  soll  in  der  Lehre  von  den  Kirchentönen  gescliehen.  Nicht,  als  wäre  es 
die  Absichl,  eine  umfassende,  allgemein  gültige  Ton-  und  Harmonielehre  hier  zu  geben.  Von  dem  Leben 
der  Töne,  wie  es  eine  bestimmte  Zeit,  von  einem  einzelnen,  besonderen  Standpimkte  aus  erkannte,  ist 
liier  die  Rede;  von  einer  Anschauung  dieses  Lebens,  wie  sie  in  den  Werken  jener  Zeit  mehr,  als  in 
der,  aus  manchen,  schon  dargelegten  Gründen,  ihrer  Bestimmung  nicht  genügenden  Lehre  sich  darstellt 
Auf  einem  Gegebenen,  der  diatonischen  Leiter,  ndite  diese  Anschauung;  auf  der  damals  allgemein  gang- 
baren Art,  dieselbe  aus  den  einzelnen  Tönen  aufzubauen,  einem  Verfahren,  nach  dessen  Gründen  wir  für 
jetzt  nicht  forschen,  weil  der  Verlauf  unserer  Darstellung  sie  uns  vielleicht  enthüllt.  Sie  ist  gegründet 
femer  auf  die  Beziehiuigen  und  Verwandtscliaften  der  Töne,  wie  die  Natur  in  der  Entwickelung  des  einen 
aus  dem  andern  sie  ims  ofTenbart;  auf  ein  damals  innerlich  lebhaft  geahntes,  diu'ch  die  Ausübung  als 
bindend  anerkanntes,  wenn  bi  der  Lehre  aucli  als  solclies  nirgend  bestimmt  ausgesproclienes  Naturgesetz. 
Von  der  Gescliichte  freilich  würden  wir  nunmehr  den  Bericlit  erwarten,  wie  jene  Anscliauung  sich 
nach  und  nach  entfallet  habe,  wie  sie  in  den  Werken  jener  Zell  allmähllg  m  das  Leben  getreten  sei;  ohne 
die  Darstellung  jedoch,  mIc  sie  zur  Zelt  der  höchsten  Blülhc  der  auf  sie  gegründeten  Kimslübung  in  den 
Kunstwerken  wirklich  gelebt,  wäre  es  nicht  möghcli,  auch  mit  einiger  \  erständlidikell  nur  diese  Aufgabe 
zu  lösen.  Die  bildende  Kunst  findet  ihre  Foi-men  in  der  Natur:  von  dem  Standpimkte  aus,  den  er  für 
seine  Darstellung  wählte,  hat  der  Bildner  deren  Leben  in  seiner  höclisten  Bedeutung  zu  entfalten;  er 
hat  die  Formen  nicht  zu  schaffen,  nin-  zu  wählen.  Dem  Tonküustler  bietet  In  den  'J'önen,  den  Klang- 
verhiütnissen ,  die  Natur  den  Stoff  luu-,  und  das  Ihn  bindende  Gesetz;  ihn  hat  er  zu  beseelen,  aus  Ihm 
die  Formen  für  seine  Darstellung  erst  zu  erschaffen.  Wie  der  bildende  Künstler  die  Bedeutung  der  von 
der  Natur  schon  ihm  gebotenen  Formen  allmähh'g  gefunden,  als  lebendigen  Leib  seiner  DarsI elhingen 
sie  sich  angeeignet  habe,  das  vermögen  wir  ohne  Vorbereitung  darzidegen,  von  der  niedrigsten  Stufe  der 
Erkenntnifs,  bis  zur  höchsten  forlschrcilend;  denn  es  ist  Niemandem  ein  Geheimnifs,  woran  seine  Dar- 
stellung sich  ■\'erkörpert.  Nicht  so  in  der  Tonkunst.  Die  erfundene  Form,  ist  sie  selber,  so  wie  die 
Anschauung  der  Tonwelt,  aus  der  sie  erwuchs.  Im  \  erlaufe  der  Zelt  einmal  verdrängt  worilcn,  niufs 
ihrem  Wesen,  ihrer  vollen  Bedeutung  nacli,  erst  wieder  hingestellt  werden,  elie  uns  vergöinit  sein  kann 
darzulegen,  wie  sie  geworden. 

Wir  fanden  luu  das  sechzehnte  Jahrhundert  acht  Kirchentöne  im  Gebrauch,  zu  einer  Hälfte  als 
Haupt-,  zur  andern  als  Nebentöne  bezeichnet;  einen  neunten  neben  üinen,  den  Pilgerton.  Auf  die  Ver- 
setzung der  diatonischen  Leiter,  die  so  veränderte  Folge  der  sie  bildenden  Ton^'erhäIlnisse,  sahen  In  der 
Lehre  jener  Zelt  wir  die  Elgenthümlicldieit  einer  jeden  dieser  Tonarien   zurückgeführt.      VMr  werden 


—         73 


finden,  dafs  hledurdi  fünf,  und  rechnen  wir  die  Nebcntöne  liinzu,  zelin  Tonarten  sebildel  wcidon 
können,  und  der  Kunstübung  zufolge  wirkUch  gebildet  worden  seien.  Eine  besondere  Art  die  diatoni- 
sclie  Leiter  aus  den  einzchien  Tönen  aufzubauen,  war  damals  allgemein  üblich,  cnllclmt  in  ihren  Gnmd- 
zügeu  ursprünglich  von  den  Griechen,  doch  im  Fortgange  der  Zeit  eigenthümllch  umgcslallet.  Der  Ein- 
flufs  jener  Vorstellungen  auf  die  Enlwickelung  der  kirchlich  harmonischen  Kunst  des  seclizehnten  Jahr- 
hunderts ist  zu  bedeutend,  um  nicht  für  einen  Augenbhck  bei  denselben  zu  verweilen. 

Das  diatonisdre  Klanggeschlecht  bestand  den  Griechen  aus  einer  Reihe  von  vier  Tönen,  deren 
äufserste  Grenzen  in  dem  Verhältnisse  einer  Quarte  standen;  der  tiefste  zu  dem  folgenden  das  Verhält- 
nifs  des  Halbtons,  der  zweite  zu  dem  dritten,  wie  dieser  zu  dem  vierten  das  des  ganzen  Tones  dar- 
stellte. Durch  Zusammenfügung  solclier  Reilien  oder  Tetrachorde  wurde  ihr  diatonisches  System  gebil- 
det. Entweder  knüpfte  mau  eine  zweite  gleichartige  uumiUclbar  an  den  Schlufspunkt  der  vorhern-ehen- 
den,  machte  diesen  wiederum  zu  dem  Anfangspunkte  der  folgenden;  oder  die  höchste  Tongrcuze  des 
tieferen  Tetracliords ,  die  tiefste  des  höheren,  stellten  das  ^'erhältnifs  des  ganzen  Tones  dar.  So  auch 
verfuhren  die  Tonlehrer  des  sechzehnten  Jahrhunderts;  nur  sind  ihre  Tetrachorde  in  sofern  anders  gc- 
gHedert,  als  in  ihnen  das  ^  erhaltnifs  des  Ilalbtons  auf  der  letzten  Stolle  vorkommt. 

Diese  doppelte  Art  der  Zusammenfügung  müssen  wir  als  noUiwendig  anerkennen,  ^venn  wir  er- 
wägen, dafs  Höhe  und  Tiefe  naturgemäfs  durch  die  Octave  in  bestimmte  Absclmilte  getheilt  werden; 
dafs  diese  nicht  aus  zweien  Quarten,  sondern  einer  Quinte  und  Quarte  besteht,  eine  Folge  von  Octaven 
also  durch  eine  Reihe  von  Quarten,  auf  die  eine  oder  andere  \Aeise  gleichmäfsig  aueinandergcknüpft, 
sich  nicht  darstellen  lafst.  Indem  man  aber  die  angegebene  zwiefache  Art  der  \  crkiüipfung  wählte,  hielt 
mau  den  Gnmdsalz  durch  die  That  gerechtfertigt:  jenes  Tonverhältnifs,  das  alle  die  engeren  des  grofsen 
und  kleinen  Tons  und  Halbtons,  durch  welche  die  diatonische  Leiter  gebildet  werde,  bereits  in  sich  be- 
greife, die  Quarte,  müsse  in  ihren  Verknüpfungen  wiederum  das  ganze  diatouisclie  System  bilden. 

Die  Tonlohrer  des  sechzehnten  Jalirhunderts  nun  beginnen  ihren  Aufeinanderbau  ')  von  Tetra- 
diorden  mit  unserm  grofsen  G.  An  die  Oberquarte  dieses  Tones,  mit  welcher  das  erste  Tetrachord 
schhefst,  knüpft  sich  das  zweite  c  —  f ;  au  dieses  auf  gleiclie  Art  ein  drittes  f  —  b,  dessen  liöchste  Ton- 
grenze  ihre  Interoctave  in  den  bisher  aneinander  gereihten  Tönen  schon  nicht  mehr  vorfindet,  und  bei 
einer  fortgesetzten  gleichen  Art  der  Tonverkettimg  eine  Reihe  beginnen  würde,  die,  anstatt  in  der 
Höhe  mit  der  ersten,  tieferen  zusammenzufallen,  immer  nur  ferner  von  ihr  abklänge.     Darum  wird   dem 

zweiten,  \  erbundenen  Tetrachorde,  neben  dem  an  dasselbe  geknüpften,  noch  ein  anderes,  getrenntes,  g c 

angefügt,  das  erste  in  der  Höhe  wiederholend;   auf  diese  Weise  aber,    an   denselben   Stellen   verknüpfend 
und  trennend,  der  Aufbau  des  diatonisclien  Systems  vollendol, 

ZM'ei  neben  einander  hinlaufende  Tonreihen  ^^urdeu  durch  dieses  \  erfahren  gebildet,  von  denen 
jede  einzelne,  für  sich  angeschen,  statt  einer  Verknüpfung  von  Quarten  eigentlich  nur  Verkettungen  je 
einer  Qumte  und  Quarte,  wie  die  Octave  sie  bcfafsl,  darstellte;  eine  Verkettung  zweier  Quarten  aber  nur, 
sofern  man  die  Oberocta^■e  des  Grundtons  nicht  als  Schlufspunkt  der  Reihe,  sondern  Anfangspunkt  einer 
neuen  betrachtet.  So  knüpft  die  erste  dieser  Reihen  die  Tetrachorde  G  —  c.  c  —  f  aneinander,  und  wie- 
derholt in  den  oberen  Oclaven  diese  Tonverbindung;  die  zweite  auf  gleiche  \^  eise  die  Tetrachorde  C  — f, 
^ — ^-     ßeide  Reihen,  indem   sie   überall   gleichgegUederte   Touverliältnisse   auf  gleidie  Art  mit  einander 

;   J»o  stellt  er  sich   in  den  nach   Tetrarhorden   zusammengeschobenen    Guidonischen   Ilexachorden    dar.      S.    Gtarcan    Do- 
decachord:  Cap.  2.  Lib.  I.  pag.  4. 

10' 


—      76      — 

verknüpfen,  stimmen  in  dieser  wesenlliclicn  Bcziehunc;  (von  der  verschiedenen  Tonhöhe  ihrer  Anfangs- 
punkte abgesehen)  völlig  niil  einander  iibcrein;  sie  stellen  aber  auch  beide  dieselben  einzelnen  Töne  als 
verbunden  dar,  bis  auf  einen.  Das  dritte,  getrennte  Tetrachord  nämlich  in  der  erslen  jener  zuvor  er- 
wähnten Reihen,  zeigt  als  erstes  Glied  des  heschliefscnden  Halbtons  den  von  uns  II  benannten  Ton;  das 
dritte,  verbundene  aber  (^enn  vir  nämlich  die  xwe'dc  mit  C  beginnende,  ursprünglich  auf  jene  erste 
fortgebautc  Reihe,  als  eine  Fortsetzung  derselben  betrachten;  sonst  freilich  das  zweite)  als  letztes  Cdied 
des  Halbtons  imser  B.  Dieser  doppelgestaltige  Ton,  nach  Guldo's  Lehrgebäude  damals  allgemein  B  ge- 
nannt, erhielt,  jenachdem  er  der  einen  oder  andern  Reihe  angeliörle,  eine  imtersclicidende  Benennung  und 
Bezeichnung.  Als  Schlufspunkt  des  dritten,  verbundenen  Tetrachords  liiefs  man  ihn  bmoUe,  bczeidniete 
Um  durch  ein  rundes  b,  die  ganze  Reihe,  welcher  eben  er  eigenthiunhch  war,  durch  den  Namen  des 
weichen  Systems;  als  erstes  Ghed  des  Halbtons  bei  dem  getrennten  Tetracliorde  wurde  er  b  durum 
genannt,  bezeichnet  durch  ein  vierecktes   ^,  seine  Reihe  aber  das  harte  System  geheifscn. 

Angenommen  nun  —  wie  es  in  der  That  so  ist  —  dafs  die  Versetzung  der  diatonischen  Leiter, 
die  so  veränderte  Folge  der  sie  bildenden  Tonveriiähnisse,  die  verscliiedene ,  daraus  entstehende  Bezie- 
hung der  Grundtöne  zu  den  auf  sie  folgenden  Tönen,  die  Kirchentonarten  gestaltet  habe;  so  erglebt 
sich  zunächst,  dafs  eine  Versetzung  solcher  Art  nur  sieben  mal  statt  finden  könne.  Denn  die  äufser- 
sten  Tongrenzon  der  Octa^'e  verschmelzen  im  Zusammenklange  völlig  mit  einander,  sie  können  defshalb 
nur  für  einen  Ton  gelten,  also  auch  nur  sieben  verschiedene  Anfangspunkte  der  versetzten  diatonischen 
Leiter  voriianden  sein.  Es  leuchtet  ferner  ein,  dafs  jene  Versetzungen  in  den  beiden  zuvor  beschriebe- 
nen diatonischen  Reihen,  dem  sogenannten  harten  und  weichen  Systeme,  wenn  auch  übereinstimmend 
in  der  Folge  ihrer  Tonverhältnisse,  doch  auf  verschiedener  Tonhöhe  sich  darstellen  werden;  in  dem 
harten  Systeme  iiuierhalb  der  Töne  C  bis  h;  in  dem  weichen,  der  Töne  F  bis  e. 

Die  Verhältnisse  der  (aundtönc  aber  zu  den  Ghedern  der  auf  sie  bezogenen  Tonreilien,  wodurch 
deren  Eigeuthümlichkeit  gestaltet  wird,  sind  ihrer  allgemeinsten  Beziehung  zufolge,  entweder  wohlklingende 
oder  mifskhngende.  Unter  jenen  sind  die  Quinte  und  Quarte  (wofern  sie  anders  ihre  Eigenschaft  als  \Vohl- 
klän^c  nicht  einbüfsen  sollen)  nur  iii  einer  Gestalt  denkbar;  in  ihnen  also  kann  das  Bezeichnende 
keiner  Tonart  acfunden  werden.  yVnsschhefslich  defshalb  sind  es  unter  den  Wohlklängen  die  Terz  und 
Sexte,  welche  es  begründen,  denn  beide  erscheinen  in  doppelter  Beziehung,  als  grofse  und  kleine. 
Von  thesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  zeigen  unter  den  Versetzungen  der  diaionischen  Leiter  sich 
drei,  welchen  tlie  grofse  Terz  eignet,  tlie  mit  den  Tönen  C,  F,  G  im  harten,  mit  F,  B,  C  im  wei- 
chen Systeme  beginnenden;  die  vier  übrigen  stellen  die  kleine  Terz  dar.  Jenen  drei  ersten  eignet 
dabei  ohne  Unterschied  die  grofse,  diesen  vier  letzten  die  kleine  Sexte,  bis  auf  eine  einzige;  denn 
die  mit  D  im  harten,  mit  G  im  welchen  System  beginnende  Versetzung,  schliefst  die  grofse  Sexte 
m  sich. 

Nun  aber  soll  eine  jede  dieser  \'erseiznngen  durch  die  in  ihr  beschlossenen  Tonverhältnisse  har- 
moniscli  sich  zu  entwickeln  vermögen.  Dieses  kann  nur  in  so  fern  geschehen,  als  sie  im  Fortschreiten 
von  ihrem  Grundtone  aus,  die  Gheder  eines  der  belilcn  Dreiklänge  berührt,  deren  wesentliche  Verschie- 
denheit durch  die  Lage  der  grofsen  und  kleinen  Terz  gebildet  wird.  Der  Drciklang  nämlich,  soll  das 
Ohr  in  Ihm  Beruhigung  und  vöUIges  Genügen  empfinden,  schUefst  in  sich  das  Veihältnlfs  der  reinen 
Quinte,  und  besclJossen  In  dasselbe,  mit  ilim  zusannnenkllngcnd,  die  Verhältnisse  der  grofsen  und  kleinen 
Terz.     Den  harten  nennen  wir  ihn,  sofern  die  grofse  Terz  dem  Grundlone,  den  weichen,  sofern  die- 


-      77      - 

selbe  dessen  Oberqmnte  zunächst  liegt.  Die  mit  dem  Tone  h  im  harten,  mit  e  im  weichen  Systeme 
beginnende  Versetzung  der  diatonischen  Leiter  erscheint  dieser  VoraussHznng  zufolge  fiir  harmonische 
Entfaltung  untüchtig;  denn  im  Forigange  von  ihrem  Crundlone  aus,  nachdem  sie  dessen  kleine  Terz  bc- 
riihrt  hat,  wird  sie  nicht  zur  grofsen,  sondern  abermals  zur  kleinen  hingeleitet,  und  es  maugelt  ihr  also 
die  reine  Quinte  ihres  Grundtons.  Wollte  man  aber  einwenden,  dafs  die  xv-illkührliche  Erhiihung  der 
vierten,  im  Aufsteigen  berührten  Stufe,  ihr  dieses  abgehende  Tonverhältnifs  oewähre;  so  ergiebt  sich'doch, 
dafs  eme  solche  künstUch  zubereitete  Tonleiter  dieselben  ^  erhüllnisse  in  gleicher  Folge  darstellt,  als  im 
harten  Systeme  die  mit  e,  im  weichen  die  mit  a  anhebende  Versetzung  der  diatonischen  Leiter;  nur 
«ne  um  eme  Quinte  erhöhte  Wiederholung  dieser  Reihe  also,  nicht  eine  wesentUch  verschiedene,  würde 
man  auf  diesem  Wege  erhalten. 

Sechs  jener  ursprünglichen  sieben  Versetzungen  der  diatom'schen  Leiter  bleiben  birnach  nu^ 
übrig;  aber  audi  eine  andere  nocli,  die  mit  F  im  harten,  mit  B  im  weichen  Systeme  beginnende  finden 
wir,  wenn  gleich  nicht'in  der  Lehre,  doch  in  der  Kunslübung  des  seclizehnten  Jahrhunderts,  aller  Ver- 
suche ungeachtet,  auch  dort  in  Uebereinstimnumg  mit  jener  sie  festzidialten ,  aus  der  Reihe  der  Tonar- 
ten allsgeschlossen.  Sie  steUt  nämlich  niclit  das  reine  Verhältnifs  der  Quarte,  sondern  das  mifsklingendc 
des  Tritonus,  der  übcrmäfsigen  Quarte,  dar.  Dafs  eben  dadurch  die  AusschUefsung  der  sogenannten 
lydischen  Tonart  (so  bezeichnete  man  diese  Versetzung)  sicli  rechtfertige,  wird  in  der  Foloe  näher 
auseinander  gesetzt  werden.  Als  eine  durch  die  Kunstübung  bewährte  That.sacbe  nehmen  wir  "für  jetzt 
an:  das  sechzehnte  Jahrhundert  habe  fünf,  durch  die  Versetzung  der  diatonischen  Tonleiter  entstehende 
Kirchentonarten  gekannt.  Deren  Eigenthümlichkeit,  sofern  sie  durch  die  in  ihnen  vorkommenden  mlfs- 
klingenden  Tonvcrhältnisse  begründet  M-ird,  haben  wir  nunmehr  noch  zu  betrachten. 

Von   jenen  fünf   Tonreihen,    zeigen,    der  vorangegangenen  Betrachtung  ilircr  wohlklin »enden 
Verhältmsse  zufolge,  zwei  die  grofse  Terz,  die  mit  C  und  G  (F  und  C)  ')  beginnenden,  und  beide  dane- 
ben die  grofse  Sexte;  drei  die  kleine  Terz  und  von  ihnen  zwei  zugleich  die  kleine  Sexte,    die  mit  E 
und  A  (A  und  D)  anhebenden;    eine   nur  die  grofse,    die   auf  che    Töne  D  im  harten,    G  Im   weichen 
System  sich  gründende.     Eine  dreifache  Verschiedenheit  also  gestalten  die  wohlklingende  n  Verhältnisse 
dieser  Reihen;  eme  zwiefache  werden  wir  unter  den   durcl.  jene  noch  niclit  cigenthümlicl,  a^i^cinander 
gehaltenen  durch  die  mlfskllngenden  Beziehungen  zu  ihren  Grmidtönen  sich  bilden   sehen.      Die  Se- 
cunde   namlicli  und   Septime   erscheinen  in   zwiefacher   Gestalt   innerhalb   aller    zuvor    besprochenen   Ver- 
setzungen; als  grofse  und  kleine.     Alle,   bis  auf  die  zwischen   den   Tönen   C  -  c   (F  -  f)   bescldos- 
sene  Reihe,  zeigen  die  kleine  Septime;  <lie  beiden,  durch  die  Urnen  gemeinsame  grofse  Terz  und  grofse 
Sexte  sonst  übereinstimmend  gegliederten  Reihen  ^)   werden  also  dadurch  auseinander  gehalten,    dafs  der 
mit  l,  (II)  beginnenden  die  grofse,  der  mit  G  (C).  anhebenden  die  kleine  Septime  eignet.     Alle  ferner, 
bis  aul  die  innerhalb  der  Töne  E  -  e  (A  _  a)  liegende  Reihe,  beschhefsen  In  sich  das  \^erhältnifs  der 
grolsen  Secunde;  beide,  In  der    kleinen   Terz  und   Sexte   sonst   einander  gleichende   ^Versetzungen    sind 
mithin  dadurch  unterschieden,  dafs  der  zuvorgenannten  die  kleine,  der  andern  zwischen  A-a  (D-d) 
besclüossenen  die  grofse  Secunde  daneben  eignet. 

Jene  fünf  Tonarten:    die  Ionische  durch  C  -  c  (F  _  f)  begrenzle;    die  Dorische  innerhalb 
D  -  d  (G  _  g)  helegne;  die  Phryglschc  durch  E  _  e  (A  -  a)  beschlossene;    die  Mixolydische 

')  D.  h.  im  «reichen  Systeme.     ')  C  ~  r,  G  -  g  im  harten;  F  -  f,  C  -  c  im  tceichen  Sy^emc. 


78 


von  (;  _  n;  (C  —  c)  bcfafste;  die  Acolischc  endlich,  zwischen  A  —  a  (D  —  d)  sich  bewegende  stel- 
len liiciiach  als  cigentlühnllch  gegliederte  sich  dar.     Ueberall,   werden   wir  finden,  Ist  es  in  der  That  die 
La£;e    des    Ilalbtons,    welche    diese    GUederung   büdet.     Die  grofse  Terz,    die  grofse  Septime  des  loni- 
sciren   ^^  erden   durcli   die    ersten   Glieder   desselben   dargestellt;    durch   sein   erstes  Glied   an    der  friÜieren 
Stelle  die  grofse  Terz  des  IMlxolydischen,  dessen  kleine  Septime  durch  sein  letztes  Glied  an  der  späteren; 
so  die   grofse  Scxle   des   Dorischen  durch  sein  erstes,    die  kleine  Secunde  des  Phrj'gischen  durch  sein 
letztes  Glied,  liier  an  der  ersten,  dort  an  der  späteren  SteUe  seines  Eintritts.     Ehe  wir  nun  die  gegensei- 
tigen hannonischen  Beziehmigen  jener  ^J^onarten  näher  entwickeln,  ist  es  erforderlich,  einen  aus  der  Lehre 
jo^,er  Zeit  mlllelbar,  aus  der  damals  übUchen  Art  der  Bezeichnung   unmittelbar  hervorgegangenen  Irrlhura 
zu   beseitigen.     Fast  allgemein  nändich  gilt  die  Vorstellung:    in  der  Abwesenheit  aller   ^' ersetzungszeiclien 
nur,  hele^der  harmonische  Gehalt  der  Kirchentilne  In  seiner  vollen  Reinheit  ller^'or;  die  Anvvendung  jener 
Zeichen  trübe,  ja  vei-wiscl.e  ihre  Eigenlhümllchkell,  sie  sei  als  eine  spätere  Entartung  zu  betrachten.     J(^ 
man  hat  —  In  sogenannter  strenger  Behandlung  alter  Choralmelo(Ueen  vornehmlich  —  durch  absichtliche, 
kinistllche  \cnneiduni;  jeder  vv lUkiU.rlichen   Erhöhung  und   Erniedrigung,    eine   besondere  Würde,    einen 
eioenthümllcli -feierlichen  lernst  des  Ausdrucks  zn  erreichen  gestrebt,  und  gewähnt,  der  alten  klrchhch -hafr 
monischen  Kunst  dadurch  näher  zu  treten;  In  der  Ausführung  alter  Tonwerke  aber  an  das  niedergeschrie- 
bene Zeichen  sieh  ängstlich  gehalten,    so   rauh   und   gezwungen   der   Gesang   auch  tönen   mochte.      Jene 
Treue,  die  jede  über  das  wörtlich  Aufgezeiclmete  —  dafs  wir  so  reden  —   iiinausgehende  Deutung  als 
Verfälschung  ablehnt,  ist  gewifs  ehrenwerth;  dem  Forscher  jene  Gewissenhaftigkeit   unerlafsllch,    die  jede 
willkührliche  Voraussetzung  und  Beziehung  verschmähen,  und  nur  solche  anerkennen  helfsl,  die  aus  dem 
betrachteten  Gegenstande  unmittelbar  sich   ergeben.      Hier  indefs   erscheinen   eben  jene   zuvor   genannten 
Grundsätze  als  willkülirllche  Voraussetzungen  solcher  Art.     Denn  wir  finden   —   aufser  jenem  durch   <Lis 
weiche  System   bedingten  runden  h  —  in  den  Werken  jener  Zelt,  und  eben  den   besseren,    Versetzungs- 
zeichen allerdings  angewendet,  wenn  gleich  nicht  ühcraU,  wo  wir  sie  erwarten;  und  sollten  wir  überhaupt 
der  Ansicht  ohne  strenge  Prüfung  Gehör  leihen  mögen,  dafs  lebendige  Entfaltung  ihren  IVIlttelpunkt  jemals 
in  einer  blofsen  Verneinung  finden  könne?     In  der  Ausübung  des  Gesanges  —  dafür  reden  die  glaub- 
würdigsten Zeugnisse  der  Millebenden  —   erlaubte   man   sich   damals   unbezwelfelt   Erhöhung   und  Eruic- 
drigung  einzelner  Töne,    aber  strenge  Tonlehrer,    denen  die  Regel   überall  nur  beengende  Schranke  war, 
hielten  es  für  uuthunllch,  durch  Beifügung  eines  ^'ersetzungszelcJlens  sie  einzugestehen;  mit  solchen  soge- 
nannten chromatischen  Zeichen  meinten  sie  das  rein  diatonische  System  zu  verunstalten.     Noch  der  heller 
blickende  Michael  Prätorlus  beklagt  sicli  darüber,    dafs   viele  „treffliche  und  vornehme  Componisten"  sei- 
ner Zelt,  nach  dem  Beispiele  älterer  Meister,    Ihren    Schülern    die   Versetzungszeichen   ausdriickhch   unter- 
sagten, vorwendend:  es  wisse  ja  ein  jeder,  dafs  eine  falsche  Quinte,  eine  überniäfslgc   Quarte    zu  vermei- 
den,   dafs    bei  einem   förmlichen    Schlüsse    der  Halbton   vor    dem   Schlufstone   anzuwenden   sei  u.  s.  w. 
In  dem  Bewufstsein  der  UnzulängUchkelt  dieser  Regeln,  der  durch  sie  nicht  aufgehobenen  Zweideuligkeit 
mancher  Stellen  fügt  er  hinzu:  ')  „Ich  aber  bin  gänzUeh  der  IMclnung,  dafs  es  nicht  allein  sehr  nülz  und 
bequem,  sondern  auch  hochnöthlg  sei  (die  \crsetzungszeiclien  beizufügen),  nit  allein  vor  die  Sanger.  damit 
dieselben  In  ihrem  Singen  nit  luterturbiret  werden,   sondern  auch  vor  einfältige    Stadtlnslruinentisten   und 
Organisten,  welche  musicam  nit  recht  verstehen,  viel  weniger  recht  singen  können,    und  daher,    wie  ich 


')  Si/nlaffma  mus:   P.  111.  pag.  3?.. 


—       79      — 

Selbsten  zum  öfteren  gesehen  und  erfahren,  keinen  rechfen  Liilersdieid  hicrinnen  7ai  machen  wissen;  /.u 
gcschweigen,  dafs  der  Componisten  ihre  Composition  also  beschaffen,  dafs  diese  beiden  slgna  chromalica 
an  elHclien  Oertern  gebrauchet,  an  etlichen  aber  nicht  in  Acht  genommen  werden  dürfen;  darumb  denn 
die  beste  Caution  wäre,  wenn  es  die  Componisten  an  allen  Oertern,  da  es  von  Nötlien  ist,  klärUch  da- 
bei schrieben,  so  hätte  man  keines  Nachsinnens  oder  Zweifclns  ^on  Nöthen."  —  Jener  Einseitigkeit 
älterer  Tonlchrer  gegenüber,  durch  welche  sie  jedem  Vorwurfe  der  Abweichung  von  ihrem  Systeme  zu 
begegnen  meinten,  dennocli  aber  Lehre  und  Ausübung  geständlich  einander  entgegensetzten,  maclien  Mir 
den  Versuch,  (auf  das  \'erfaliren  ims  gründend,  das  wir  in  den  Kunstwerken  älterer  Zeit  überein- 
stimmend beobachtet  finden)  jene  Zweifel  virkhch  zu  lösen,  und  scheuen  uns  nicht,  hier  zu  behaupten: 
in  der  folgerechten  Anwendung  der  Versetzungszeichen  eben  sei  der  tiefere  behalt  der  Kirclientöne  erst 
an  das  Licht  getreten,  ilire  gegenseitige  Beziehung  erst  völlig  ausgesprochen  worden;  bei  den  besten 
Meistern  finde  deren  Eigentliümlichkeit  sich  nirgend  durch  dieselben  getrübt;  Erhöhinig,  wie  Erniedrigung 
der  Tonverhältnisse  sei  von  ihnen,  einer  lebhaft  gefülilten,  wenn  aucli  in  der  Tonlehre  nicht  ^^^irlhch 
ausgesprochenen  Regel  zufolge,  innerhalb  eines,  durch  das  Wesen  der  Kirclientöne  bestimmt  begrenzten 
Kreises  zur  Anwendung  gebracht  worden.  ;  .iii.iK 

\\ir  wenden  uns  nunmehr  zurück  zu  der  Frage:    welche    die  gegenseitige  harmonische  Beziehung 
jener  fünf  von  uns  gefundenen  Tonarten   sein  könne,  und  wirklich  gewesen  sei?    Nacli  den  Grund- 
sätzen der  Tonkunst  unserer  Tage  würden  wir   diese  Frage  leicht  beantworten.     Ein    jeder   Ton  hat  zu 
seiner  Oberquinte  die  nächste  harmonische  Beziehung;  mit  dem  Tone  der  schwingenden  iSaite  ertönt  diese 
der  Oberoclave  ziuiädist,  welche,  mit  dem  Grundtonc  zusammenfallend,   nur  als  dessen  Wiederholung  in 
der  Höhe  angesehen  werden  darf;  in  gleicher  Folge  entwickeln  sich  dieselben  Verhältnisse  aus  dem  Grund- 
tone  der  mit  wachsender  Stärke  angeblasenen  Pfeife.     So  steht  luis  die  harte  diatonische  Tonleiter,  einem 
Naturgesetze  zufolge,  in  nächster  Beziehung  zu  einer  z^veiten    Tonreihe,    deren  Grundton  die  Oberquinte 
des  ilirigen  ist,  mid  welche  in  derselben  Folge  alle  Verhältnisse  der  ersten  viedcr  darstellt.     Diese  zweite 
hat  ein   gleiches  Verhältnifs    zu   einer  dritten,  und  so  fort,  bis  der  Kreislauf  miseres  heul  igen  Tonsjstems 
beschlossen  ist.     Die   weiclie  Tonleiter   ftihren   wir  zunäclist   auf  die   harte   zurück;    der   Grundton  dieser 
letzten  wird  zu  der  kleinen  Terz  der  weichen,  ihre  grofsc  Terz  zur  ()uinte  von  jener.     Das  nädisle  \ev- 
hältnifs  der  so  entstandenen  Tonreihe  bleibt  das  zu  dei-jenigen,  aus  weicher  sie  gebildet  vurde;    auf  die- 
ses folgt  Aviederum   ein  ähnlidies   zu   einem    Kreise,    dessen   Lmfang   durch   quinten^^ eise   Fortsclneitung 
von  ihrem  Grmidtone  aufwärts  gebildet  w  ird.     Jedes  innerhalb  des  Umfanges  dieser  beiden  Kreise  unserer 
Tonarten   liegende  Glied  aber  hcschliefst   in   sich    dieselben  Verhältnisse,    dieselben   Vervvandschaften;    es 
unterscheidet  sich  ym\  dem  andern  nur  nach  Höhe  luid  Tiefe  seines  Grundtones,    und  eine  dadurch  ver- 
änderte Färbung   der  jMclodieen,    die  sich   innerhalb   seiner   ReiJie    beA\egen.     Ist  es   (wie  einige  meinen) 
audi  durdi  die  verschiedene  Weise,  wie  die  Abweichung  ^on  der  strengen,  durch  Zahlenverhällnisse  aus- 
gedrückten Reinheit  der  Tonverhältnisse,   die  jener  Kreislauf  der  Töne  unabänderlidi  erheischt,  unter  sie 
verthcilt,  und   dadurch  ausgeglichen    wird?     blcil)t   doch   jene  AbMeichnng,    (so  hört  man  oft  behaupten) 
ohne  das  ^Nesen  jener  Verhältnisse  aufzuheben,   dem  gesdiiü-ften  Ohre  dennoch  nicht  un^ernehmbar,    da 
es  nadi  ihr,    und   nldit  nach  Höhe  und  Tiefe   allein,   eine   jede    unserer  Tonarten    zu  erkennen  vermag! 
Oder  tritt  deren  EigenthümUdikeit  nur  alsdann  hervor,   wenn  sie  auf  Instrumenten  geübt  werden;    durch 
das  hellere  oder  dunklere  Erklingen  ihrer,  an  verschiedener  Stelle,  durch  veränderte  Handgriffe,  erzeugten 
Töne?  \Nir  dürfen  es  hier  unentschieden  lassen.     Denn  dem  Wesentlichen  nadi  bleiben  uns  nur  jene 


—      80      — 

7Avei  Tonrcihen  übrii',  die  harte  und  weiche,  die  auf  verschiedenen  Stufen  sich  wiederholen;   und  mögen 
wir  aucli  die  näclisl  verwandten,    wie  die  fernsten,   mit  gleicher  Leichtigkeit  zu  verbinden  gelernt  haben, 
mag  eine  reiche  Mannigfaltigkeit   von  Verknüpfungen   uns  zu  Gebote   stehen,    mögen   wir  darin  die  Ton- 
meister des  sechzehnten  Jahrhunderts  bei  weitem  übertreffen;  dennoch  müssen  wir  zugestehen,  dafs  jene 
Manni-^faltigkeii  allein  durch  unsere  ^Villkühr  bedingt,  durch  sie  erst  ein  Leben  gestaltet  werde,  das  keiner 
von  unseren  Tonarten,  als  solcher,  eigenthümlidi  entblühe,  ihr  ausscliliefsead  eigne;  dafs  wr  endlich  nur 
eine  harte  und  eine  weiche  Tonart  besitzen,  allseitig  bewegUch  und  geschmeidig  wie  eine  jede  der- 
selben auch  sein  möge.  i 
Eine  jede  der  TonreUien  liingegen,    die  wir  mit  dem  Namen  der  Kirchentonarten   bezeichnen,     ' 
stellt,    wie  eine  wesentlich   verschiedene   Folge  der   darin  vorkommenden   Tonverhältnisse,    so  auch  eine 
besondere  Beziehung  zu  allen  übrigen  dar.     Diese  Beziehung  oder  Verwandtschaft  beruht  einmal  auf  der, 
einer  jeden  Reihe  eigenlhümhchcn   Lage   der  Tonverhiiltnisse ,    ilirer  melodischen   Gliederung;    sodann 
anf  dem  harmonischen  Verhältnisse  des  Grundtons  einer  jeden  zu  dem  der  andern,  das  wir  aus  einem 
doopelten  Gesichtspunkte   betrachten  können,    der  sich  ims   ergeben  wird,    wenn   wir  auf  die  Erzeugimg 
der  Töne  aus  einander,  ihre  daduicii  bedingte  Folgereihe  zuvor  unsern  Blick  werden  gerichtet  haben. 

In  der  Folge  der,  mit  der  scliwingenden  Saite  zugleich  erklingenden,  auf  der  tönenden  Pfeife 
ilem  Grundtone  unmittelbar  nach  einander  sich  anschliefsendcn  Tonverhältnisse  tritt  der  harte  Drei- 
klan «^  als  ein  von  der  INatur  Gegebenes  licrvor.  Der  Grundton  wiederholt  sicli  zunächst  in  seiner  Ober- 
octaAe,  im  Zusammenklänge  völlig  mit  ilir  verschmelzend;  erzeugt  aus  derselben  ihre  Oberquinte,  aus 
dieser  deren  Oberquarte  oder  die  Doppeloctave  des  Grundtons:  aus  jener  erhebt  sich  sodann  die  grofse, 
aus  dieser  wiederum  die  kleine  Terz.  In  dem  Zusammenklänge  der  Töne,  welche  diese  Verhältnisse 
ben-renzen,  vernehmen  wir  dieselben  in  ihrer  vollen  Reinheit  aufcinandergebaut;  fünf  Wolxlklänge  also, 
obgleicli  wir  wesentlich  nur  deren  drei  zu  hören  glauben,  da  beide  Octaven  des  Grundtones  mit  ihm  zu- 
sammenfallen, die  Qmnte  aber  imd  die  beiden  Terzen  im  Zusammenklange  über  die  Quarte  vorherrschen. 
Mit  diesen  Tönen  ist  zugleich  die  Reihe  der  im  Zusammenklange  harmonisch  verschmelzenden,  wie  die 
iNatur  sie  unmittelbar  erzeugt,  beschlossen.  <)^ 

Jene  harmonische  Folgeordimng  der  Töne  nun  läfst  uns  die  Grundtöne  der,  durch  Versetzung  der 
diatonischen  Leiter  enl stehenden,  melodisch  eigenthümlich  gegliederten  Tonarten,  in  doppelter  Weise  auf 
einander  beziehen.  Betrachten  wir  einen  jeden  als  selbständigen  Anfangspunkt  einer  solchen  harmoni- 
sdien  Reihe,  so  erscheint  das  V^erhältnlfs  zu  seiner  Oberquinte  als  sein  nächstes  harmonisches:  und  wird 
hienach  die  Folge  der  Tonarten  geordnet,  beginnend  mit  der  zwischen  dem  Tone  C  und  dessen  Ober- 
octave  beschlossenen  Reihe,  so  treten  die  Grundtinie  C,  G,  D,  A,  E,  wie  sie  lüer  hinter  einander  stehen,  in 
nächste  Beziehung  zu  einander,  und  bilden  eine  geschlossene  Reihe,  da  die  quintenweise  Fortschrei- 
tung bis  a\if  II  sich  nicht  ausdehnen  kann,  weil  die  mit  diesem  Tone  beginnende  melodische  Reihe  har- 
monischer Entfaltung  nicht  fähig  ist,  wie  ^vir  gefunden  haben.  Schon  diese  Folgeordnimg,  übereinstim- 
mend wie  sie  scheinen  möchte  mit  den  Verwandschaften  miserer  heutigen  Tonarten,  stellt  dcnnocJi  völlig 
abweichende  Beziehungen  dar.  Denn  ^^^r  sehen  hier  zunächst  eine  harte  Tonart  einer  harten,  diese  einer 
weichen,  diese  und  die  folgende  zwar  wiederum  einer  weichen,  jedoch  Aon  ihr  verschieden  gestalteten, 
verwandt,  so  wie  überall  das  Ungleichartige  auf  einander  bezogen ;  wo  wir  dagegen  in  dem  Kreise  unserer 
Tonarten  jede  harte  zu  einer  gleichartigen  harten,  jede  weiche  zu  einer  gleichartigen  weichen  und  einer 
harten  überall  in   nächster  Beziehung  vorfinden.     Aber   einen  jeden  Grundion   können  wir  auch  als  Glied 


—      bi       — 

jener  harmonischen  Folgereihe  belrachlen,  tlurch  welche  der  harte  Droiklang  sich  bildet.  Dafs  auch  hie- 
dtirch  besondere  harmonische  Bcziehun2;on  enlslehen,  dafs  sie  durch  die  melodische  Ghederung  der,  je- 
dem Grmidtone  sich  anschlicfsendcn  Reihe  nodi  kräftiger  vermittelt  werden,  dafs  hier  das  eigenthümlichc 
Leben  der  Kirchenlöue  beginne,  soll  tUc  folgende  Darstellung  zeigen.  Sie  wird  die  Kirchcnlönc  in  der 
Folge  betrachten,  welche  die  qiiintenweise  Beziehung  llirer  (hundlönc  ergiebt,  den  Ehiflufs  der  harmoni- 
scheu Tonfolge  aber,  so  -wie  die  melodische  Gliederung  einer  jeden  dabei  zugleicli  in  Erwägimg  ziehen. 

Die  zwischen  dem  Tone  C  mid  seiner  Obcroctave  beschlossene  ionische  Tonart,  welche  die 
diatonische  Leiter  in  unveränderter  Loge  darstellt,  in  deren  Grundtoue  uns  beide  erwähnte  Beziehungen 
zusammenfallen,  hatte  defshalb  unbedingt  die  nächste  Beziehung  zu  derjenigen  Tonreihe,  die  mit  der  Quinte 
ilires  Grundtoncs  begiimt,  also  durch  den  Ton  G  und  dessen  Oberoctave  begrenzt  wird.  In  dieser  letz- 
ten Reilie  aber  trat  das  Verhällnifs  des  Grundtones  zu  seiner  Obcrqiiarte  gleich  mächtig  hervor.  Nicht 
nur,  dafs  es  nach  der  ()uinte  in  der  harmonischen  Reihefolge  der  Töne  das  nächste  ist,,  ja,  in  der  vor- 
liegenden Tonreihe  selbst  als  das  nähere  deshalb  sich  darstellen  durfte,  weil  es  dem  Grundtone  derselben, 
G,  in  jener  harmonischen  Tonfolgc  am  nächsten  hegt;  auch  schon  durch  che  eigenthümliche  Gliederung 
der  mit  G  begimicnden  ^  ersetzung  der  diatonischen  Leiter  war  das  Ilinstreben  jenes  Tones  nach  sei- 
ner Oberquaitc  vermittelt.  Keine  unter  allen  übrigen  Reihen  nänüich  schhefst  in  sich  die  Bcstandtheile 
des  Zusammenklanges,  den  unsere  heutige  Tonlehre  den  wesentlichen  Septimenaccord  nennt,  als  die, 
zwischen  den  Tönen  G  —  g  beschlossene  mlxolydische  Tonart;  eben  ihr  allein  eignen  die  \'erhält- 
nisse  der  grofsen  Terz,  der  Quinte  imd  kleinen  Septime  in  ihrer  ^''erknüpfung.  Der  durch  dieselben  ge- 
bildete, uns  auf  der  Quinte  oder  Dominante  jeder  Tonart  sich  aufbauende  Zusammcnklnng  war  dort  auf 
dem  Grundtone  schon  immittelbar  gelagert,  ur.d  bechngte  liienach  the  Ausweichung  nach  dessen  Unter- 
quinte oder  Oberquarte.  Selten,  es  ist  waln-,  tritt  in  den  Werken  der  Tonmeister  des  sechzehnten,  ja, 
noch  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  Menn  sie  auf  kirchlichen  Ernst  Anspruch  machen,  der  wesentliche 
Septimenaccord  wirklich  hervor;  da,  wo  die  kleine  Septime  die  Ausweichung  wesentlich  vermittelt, 
pflegt  sie  bei  ihnen  sich  zu  verbergen.  ^^  Ird  sie  aber  auch  durch  das  äufsere  Ohr  nicht  vei'uommen,  so 
bleibt  iln-e  IMacht  doshalb  doch  nicht  minder  fiUilbar:  ^^as  sie  bewirkt,  geschieht  anscheinend  ohne  sie, 
ein  Anhauch  des  Geheimnifsvollen  Avird  über  den  Gesang  dadurcli  verbreitet.  Aber  auch  die  besondere 
Stellung  dieses  so  mächtig  im  \  erborgenen  wirksamen  Ton^erhältnisses  gegen  die  Tonart  selber,  scliärft 
deren  eigenthümhches  Gepräge.  Hat  der  wesenthche  Sepliraenaccord  in  unserer  Tonkunst  seinen  Sitz 
auf  der  Dominante  jeder  Tonart,  so  wirkt  er  nur  dahin,  eine  jede  In  ihre  Grenzen  zurückzideiten:  in  der 
mixolydischcn,  auf  deren  Grundtone  er  sich  aufbaut,  leitet  er,  über  jene  Grenzen  hinaus,  zu  einem  lieferen 
Ursprünge  dieses  Grundtones  hin;  in  jenem  %\ iniderbaren  Zuge  ist  die  Ausweichung  nach  der  Oberquarle 
begründet;  denn  in  dieser,  als  seiner  Doppeloctave,  verschmilzt  der  Grundton  des  durch  die  Natur  gegebenen 
Dieiklangs  weder  mit  sich  selber,  nachdem  er  die  Quinte  aus  sich  erzeugt  hat.  Ms  ein  kräftiges  Auf- 
streben, nicht  weichliches  Zurücksinken  erscheint  jene  Ausweichung  bei  allen  älteren  "^ronmelstern,  durch 
die  ^Vcndung  der  Rlelodie  so^^ohl,  als  die  Entfernung  der  kleinen  Septime,  die  mit  der  grofsen  Ter«, 
verbunden  zu  sehr  das  Gepräge  zarter,  %\clcher  Sehnsucht  an  sich  trägt. 

Nicht  minder  mächtig  aber  blieb  In  der  mixolydischcn  Tonart  die  Neigung  ihres  Grundtones,  be- 
trachten wir  Ihn  selbständig,  zu  seiner  Oberquinte.  Diese  jedoch  leitete  sie  niclit  zu  der  Ausweichung 
in  eine  harte  Tonart  hin,  wie  et^^'a  unser  G  dur  nach  dem  nächst  verwandten  D  dur  übergeht,  sondern 
zu   einer  elgenthümllch  gestalteten  weichen, ;  Denn   die,    mit  dem  Tone  ,_p,beginn(end9;yergetzving|  der 

C.  T.  AVintcrfild.  JoL.  üaLrleli  n.  i    ZeltalUr.  '  Jl 


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diatonischen  Leiter,  wird  von  ilirem  Grundtone  aus  nicht  zu  der  grofsen,  sondern  zu  der  kleinen  Terz 
hingeleilet.  Wir  haben  diesem  zufolge,  an  der  mixolydischen  Tonart  eine,  von  unseren  harten  Tonlei- 
tern wesentlich  verschiedene,  ihre  Verwandscliaften  aus  der  Folge  der  in  llir  beschlossenen  Tonverhäll- 
nisse  lebendig  und  noth wendig  entwickelnde,  auf  besondere  Weise  harmonisch  sich  entfaltende  kennen 
gelernt.  Es  bleibt  uns  noch  übrig,  eine  andere  mit  den  übrigen  Kirchentonarten  ihr  freilich  gemeinsame, 
bei  einer  jeden  durch  ihre  besonderen  Neigungen  aber  doch  wieder  abweichend  sich  gestaltende  Eigen- 
schaft näher  zu  betrachten. 

Die  Eigenthümlichkeit  des  älteren  Tonsystems,  vermöge  deren  der  siebente  Ton  der  diatonischen 
Leiter,  unser  h,  auf  doppelte  Weise  gebraucht,  hienach  eine  jede  Tonart  in  dem  weichen  Systeme  ge- 
gen das  harte  um  eine  Quinte  tiefer,  eine  Quarte  hoher  ausgeübt  werden  konnte,  gewährte  noch  einen 
anderen  Vorlheil.  Die  Versetzung  des  Gesanges  aus  dem  harten  Systeme  In  das  weiche  durch  Ernie- 
drigung des  h  um  einen  halben  Ton  nämlich,  vergönnte  die  einer  jeden  Tonart  beiwohnende  Neigung 
zu  der  mit  der  Oberquinte  Uires  Grundtones  beginnenden  darzustellen,  ohne  dafs  sie  ilire  anfanglichen 
Grenzen  zu  verlassen  brauchte;  denn  eine  solche  einfache  Veränderung  ihrer  ursprünglichen  Tonreihe 
verwandelte  sie  nun  in  diejenige,  nacli  -welcher  hin  auszuweichen  sie  sonst  liebte.  Durch  eine 
solche  Verwandlung  der  mixolydischen  Tonleiter,  welche  die  ilu-  angchörige  grofse  Terz  mit  der  kleinen 
vertauschte,  das  in  ilir  auf  der  dritten  Stufe  zuerst  vorkommende  Verhältnifs  des  halben  Tones  auf  die 
zweite  Stufe  versetzte,  gewann  sie  die  EigentliüinUchkcit  und  die  Verhältnisse  der  dorischen,  mit  der 
Quinte  Ihres  Grundtones  beginnenden  Tonreihe,  von  welcher  nachmals  die  Rede  sein  wrd.  Dafs  aber, 
und  wefshalb,  der  mixolydischen  Tonart  das  Hinstreben  zu  der  ionischen  nicht  minder,  ja  voriüglich 
eigen  gewesen,  ist  in  dem  Vorhergehenden  ausgefülnt  worden.  Sollte  nun  jene,  eben  nur  den  Kir- 
chentönen, vermöge  der  verscliledenen  Folge  der  in  ihnen  vorkommenden  Verhältnisse,  ihrer  Ei-schei- 
nung  in  zwei  besonderen  Tonordnungen,  eigenthümllche ,  doppelte  Art  der  jModulation,  durch  Auswei- 
chung und  Verwandlung,  nur  auf  eine  der  beiden,  gleich  mächtigen  Neigungen  der  mLxolydischen 
sich  beschränken  dürfen?  Die  Folgerechtigkeit  des  Systems,  seinem  Buchstaben  gemäfs,  scliien  es  zu  er- 
heischen; nicht  minder  dringend  aber  der  immer  reger  für  lebendige  Entfaltung  dieses  Systems  erwachende 
Sinn  das  Gegentheil  zu  gebieten.  Was  dem  streng  einseitigen  Tonlehrer  eine  Abweichung  von  der  fest- 
stehenden' Grundform  der  Kirchentöne,  das  erschien  dem  begeisterten  Tonmeister  als  deren  vollkom- 
menste, eigenste  Entwickelung.  In  diesem  Sinne  aber  ist  die  Erhöliung  des  siebenten  Tones  der  mixo- 
lydischen Tonreihe,  des  f,  um  einen  llalbton,  wodurch  diese  Reihe  mit  der  ionischen  zusammenfällt, 
nicht  eine  wlllkührliche,  blofs  chromatische  Auszicnmg,  sondern  eine  nothwendige  Verwandlung  derselben, 
um  Ihre  vornehmste  Neigimg  innerhalb  ihrer  eigenen  Grenzen  darzustellen.  In  der  Regel  aber  bedienten 
die  alten  Tonmeister  (im  Sinne  des  von  Ilinen  geübten  Systems)  sich  jenes  erhöhten  Tones  niclit  wc 
wir  des  Unterhalbtons  Cscmitomi  modij  in  unserer  harten  Tonart  G,  um  einen  vollen  Schlufs  am  Ende 
Ihrer  mLxolydischen  Gesänge  herbeizufülnen ;  sie  hätten  dieselben  auf  solche  Weise  mit  einer  fremden 
Modulation  geendet,  statt  sie  Ilnen  eigenthümlichcn  Verhältnissen  gemäfs  zu  bcschliefsen.  Defswegen 
leiteten  sie  den  Scldufs  vielmehr  auf  der  Oberquarte  oder  Untcrquinle  C  ein,  wodurch  die  Beziehung 
auf  die  ionische  Tonart  besonders  hervorgehoben  wurde ;  oder  zogen  sie  statt  eines  solchen  halben  Schlus- 
ses einen  vollen,  nur  durch  jenen  erhöhten  Ton  einzuleitenden,  vor,  so  gaben  sie  der  mixolydisclien  Lei- 
ter daneben  noch  die  kleine  Terz,  und  erhielten  sie  auf  diese  Weise  zwischen  ihren  beiden  Ilauptbezle- 
hungen,  der  dorisclicn  und  ionischen,    scliwebcnd;    oder  sie  liefsen  docli  das  f,    die  bezcicluiendc  kleine 


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Septime  des  Grundtones,  unmittelbar  vor  dem  Schlüsse,  wenn  aucli  nicht  in  dem  nach  ihr  benannten 
Zusammenklange,  hören.  So  wurde,  auf  dem  einen  wie  dem  anderen  Wege,  am  Endpunkte  die  Eigen- 
tliiinüichkeit  des  Mixolydischen  bei  Rückkehr  in  dessen  Grenzen  recht  fiililbar  gemacht. 

Die  dorische  Tonreihe  liegt  der  mixolydischen  zunächst;  zwischen  der  Quinte  des  Grundtones 
dieser  letzten  und  deren  Obe^ocla^'e  ist  sie  bescl Jossen,  und  liiedurch  die  nahe  Verwandschaft  beider 
Tonarten  begründet.  Dieser  Hinneigung  der  dorischen  zu  der  mixolydischen  ungeachtet,  tritt  in  der  ersten 
dennocli  das  Streben  ihres  Grundtons  nach  seiner  Oberquinte  mächtiger  heraus,  als  das  nach  seiner  Ober- 
quarte: jenes  findet  seine  Begründung  in  dem  früher  ausgesproclienen  Naturgesetze,  dieses  ist  in  der 
dorischen  Leiter  nirgend  vermittelt,  denn  nicht  der  Zusammenklang  der  grofsen  Terz  mit  der  kleinen 
Septime,  sondern  der  kleinen  Terz  mit  jener  ruht  auf  Direm,  wie  dem  Grundtone  aller  übrigen  Kir- 
chentonarten; die  mit  A  beginnende  Tonreihe,  die  aeolische  Tonart,  ist  also  der  dorischen  näher  ver- 
wandt, als  die  mixolydische.  Audi  liegt  der  dorische  Grundton  D  so  wenig,  als  der  aeolisdie  A  innerhalb 
jener  harmonischen  Kcihe,  welche  durch  die  (ilieder  des  harten  Dreiklanges  in  der  natürlichen  Tonfolge 
gebildet  wird,  als  deren  Anfangspuidvt  inul  Grundton  wir  den  Ton  C  gesetzt  haben.  ISIcht  also  ein  \er- 
hältnifs  jener  Reihe  kann  auf  beide  Tonarten  einwirken;  wir  dürfen  in  diesem  Sinne  sie  nur  selbständig 
betraditenj'^das  Nerhältnifs  der  Quinte,  das  erste  wesentlich  harmonisdie,  also  auch  als  das  in  ihnen  vor- 
herrsdiende  annehmen.  Die  dorische  Tonart  als  eine  der  nächsten  Ausxn  eichungen  der  mixolydischen, 
und  dadurch  auf  sie  gegründet,  zeigt  uns  aber  dieselben  Töne  als  vorzüglich  bezeichnende,  welche  es  in 
jener  waren:  h,  das  die  grofse  Terz,  f,  das  die  kleine  Septime  dort  bildete.  Hier  jedoch  gestalten  sie 
andere  \'crhältnisse;  diese  wird  zu  der  kleinen  Terz,  jene  zur  grofsen  Sexte  des  dorischen,  die  es 
von  unsern  IMolllönen  unterscheidet,  denen  die  kleine  Sexte,  die  grofse  aber  nur  ausnahmsweise  bei 
aufsteigender  Leiter  eignet.  Jenes  Kennzeichen  des  Dorischen  aber  leitet  uns  zu  einer  Folgerung,  welche 
durch  die  ^^crke  der  grofsen  Tonmeister  des  sedizehnten  Jahrhunderts  sich  bewährt.  AVir  fanden  be- 
reits zuvor,  dafs  die  kleine  Septime  allen  ^xeichen  Kirdientonarten  eigne,  und  eben  so  überzeugten 
wir  uns,  dafs  die  kleine  Sexte  ein  Urnen  allen  gemeinsames  Tonvcrliällnifs  sei,  und  dafs  nur  das  Do- 
rische davon  eine  Ausnahme  mache.  Ist  mm  die  kleine  Septime  allen  weichen  Kirchentonarten  ge- 
mein, so  ist  sie  keiner  von  Urnen  ein  wesentliches,  unterscheidendes  Kennzeichen;  sie  darf  also  eine  zu- 
fällige N^eränderung  durch  Versetzungszeichen  erleiden,  wo  nicht  andere,  aus  der  Resonderheit  jener  Ton- 
aiten  hervorgehende  Gründe  es  verbieten.  Nun  wird  in  der  dorischen  Tonart  zwar  der,  durch  seine 
Lage  für  eine  jede  sonst  bezeichnende  halbe  Ton  an  der  zweiten  Stelle  durch  die  grofse  Sexte  h,  die 
kleine  Septime  c  gebildet;  von  beiden  aber  ist  nur  die  erste,  nicht  die  zweite  jener  Tonart  elgenthümlkh: 
deren  Erhöhung  um  einen  halben  'I'on  also  gefährdete  das  Wesen  derselben  nicht,  führte  auch  kein  \  or- 
hältnlfs  ein,  das  dem  diatonischen  Klanggcschlcdile  an  sich  fremd  gewesen  wäre.  Durch  die  Zulässigkcit 
einer  solchen  Erhöhung  wurde  der  dorisdien  Tonart  der  Unterhalbton  eis  für  einen  vollen  Sdilufs  ge- 
währt, den  jedoch  die  allen  Meister  nur  unter  ähnlichen  Besdiränkungcn  ainvendeten ,  als  in  der  mixoly- 
dischen; denn  hier  wie  überall  in  dem  Kreise  ihrer  Kirdientöne  wollten  sie  die  Ilauptbeziehungen  des 
von  Uinen  gewählten,  nadidem  sie  im  Laufe  des  Gesanges  vielfach  laut  geworden  waren,  am  Sdilusse 
noch  einmal  zusammenfassen  und  sie  anklingend  vernehmen.  Jenes  y/.v,  durch  die  Ver\vandlung  der 
mixolydlsdien  kleinen  Septime  gewonnen,  die  grofse  Terz  des  dorischen  Grundtones  D,  wurde  am 
Schlüsse  statt  der,  ihm  sonst  beiwohnenden  kleinen  von  ihnen  angewendet,  damit  in  ihm,  als  Unter- 
)ialbton  von  G,   die  mixolydische  Beziehung  anklinge;    die  dorische  grofse  Sexte  wurde  in  die  kleine, 

11' 


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der  naelistvenvandtcn  acoli sehen  Tonaii  eignende  venvandclt,  einen  Anklang  auch  dieser  Verwandt- 
schaft zu  gewinnen;  noch  lebhafter  üalcn  diese  Beziehungen  in  dem  dorischen  halben  Schlüsse  diu-ch 
die  unmittelbare  Folge  des  weichen  Dreiklangs  auf  der  dorischen  Unterquinte  G,  des  harten  auf  dem 
Grundtone  1)  heraus.  Diese  durch  harte  Dreiklänge  überall  gebildeten  Tonschlüssc  sind  ohne  Zweifel 
auf  dem  Bestreben  gegründet,  jene  Beziehungen  stets  recht  lebendig  zu  erhallen.  Der  harte  Dreiklang,  in 
der  Folgereihe  der  nacli  eiuaiuler  sich  erzeugenden  Töne  gegeben,  der  helle,  heitere,  ist  nicht  allein  der 
ursprünglich  naturgemäfse,  und  defshalb  a orzugsweise  gefühlte;  wenn  er  auf  dem  Grundtone  jeder 
Kirchentonart  schhcfsend  ndit,  stellt  aucli  der  Ton,  durch  welchen  das  ihn  bezeichnende  Verhältnifs  der 
gTofsen  Terz  gebildet  ^ird,  den  Leilton  derjenigen  Tonart  dar,  welche  kraft  eines  Naturgesetzes  uns 
als  die,  der  eben  geübten  unmittelbar  vorangehende  erscheint;  wir  empllnden,  und  ziunal  bei  halben 
Schlüssen,  ein  fiiJilbares  Hinneigen  zu  dieser  Vorgängerin.  Der  Kückbbck  auf  sie,  den  Urspnuig  der 
eben  verkluugenen,  deren  Grundton  aus  dem  ihrigen  sich  entwickelte ,  leiht  dem  Gesänge  das  eigenthüm- 
licli  fromme  Gepräge  demülhiger  Beugung. 

Zu  der  aeoli sehen,  zwischen  den  Tönen  A  —  a  (D  —  d)  sich  bcMegendcn  Tonart,  als  der, 
dem  Doi-ischen  nächst  verwandten,  werden  wir,  dem  oft  erwähnten  Naturgesetze  zufolge,  hinübergeleitet. 
Die  bezeichnende  grofse  Sexte  des  Dorischen  w  ird  in  der  acolisclien  Leiter  zur  grofsen  Secunde  des  Grund- 
tons, und  bestimmt,  als  das  erste  der  beiden,  das  ^'erhältnifs  des  Ilalbtons  bildenden  Glieder  die  kleine 
Terz,  durch  -welche  das  Aeolisdie  zu  einer  weichen  Tonart  sich  gestaltet;  die  kleine  Terz  des  Dorisclien 
wiederum  wird  zur  aeolischen  kleinen  Sexte,  dem  z^■^-eiten  Ghede  des  Halbtons  an  der  zweiten  Stelle. 
So  be\\irken  dessen  Glieder,  liier,  we  bei  den  früher  betrachteten  Kirchcutönen,  überall  wesentUch 
miterscheidende  Verhältnisse  zu  dem  Gruudlone  einer  jeden;  so  ^verden  wir  auch  die  llauptver- 
wandtschaft  des  Aeolischen  zu  der,  mit  der  Quinle  seines  Grnniltones  anhebenden,  ebenfalls  weichen, 
phi-ygisclien  Tonleiter,  wesentlich  verschieden  finden  \-on  seiner  Beziehung  zu  dem  Dorischen.  Die  kleine 
Septime  des  Aeolischen,  als  fih-  dasselbe  niciit  bezeichnend,  imterliegt  aus  denselben  Gründen,  wie  eben 
jenes  VerhäUaifs  in  der  dorischen  Leiter,  einer  Erhöbung  um  einen  halben  Ton,  durch  welche  sie  in 
gis  umgewandelt  ^^ird;  unr  dafs  die  ^^esoliheit  des  Aeohschen  erfordert,  die  Berührung  der  bezeichnen- 
den Sexte  in  derselben  Slinune  immittelbar  vorher  zu  vermelden,  damit  sie  nicht  zu  Verhütung  des, 
dem  diatonischen  Klanggeschlcclite  fremden  \'erhältulsscs  einer  übermäfsigcn  Secunde  eine  zufällige  Erhö- 
hmig  erleiden  dürfe,  ^^urde  sie  mivermeidlich ,  so  pflegten  die  alten  IMeisler,  um,  der  uolhgedruiigenen 
Abweichung  uiigeachlct,  dennoch  das  Kennzeichen  des  Aeolischen  zu  erhallen  imd  nachdrückhch  liervor- 
zulreben ,  unmittelbar  vor  der  erliöhtcn  kleinen  Septime,  in  einer  andern  A'on  den  zusanunenkliiigenden 
Stimmen  die  kleine  acolische  Sexte  hören  zu  lassen.  Jene  Erhöhung  der  Septime  nun,  die  wir  bislier 
in  sclion  zwei  Fällen  zulässig  fanden,  erlaubte  die  Ausweichung  in  die,  dem  JMixolydischen  und  Dorisclien 
näclisl  verwandten  Tonarten  auf  den  Oberquiiiten  ihrer  Grundlöne  einzuleiten:  auf  a  durch  die  erhöhte 
kleine  Septime  des  Dorischen  {clsj  den  mixolydischen  Gesang  nach  jener  Tonart  hinzuwenden,  den  dori- 
schen in  das  Aeolische  auf  e  durch  die  erhöhte  kleine  Septime  jener  Tonart  (gisj  hinüberzuführen.  An- 
ders verhält  es  sich  in  der  aeolisclien  Tonart.  Ihr  ist  nicht  gestattet,  in  die  ihr  näclistverwandte  phrygisclie 
Tonart  auf  der  Oberquinte  des  Gruiullous  derscllien,  h,  hinübergeleitet  zu  werden.  Denn  diesem  Tone 
ChJ  fehlt  wcsentUch  die  reine  Qmute,  wefshalb  vtir  ihn  früher  schon  zur  Bildung  einer  harnioiiiscli  zu 
cntwickehiden  Leiter  untüchtig  fanden.  Es  darf  nicht  eingewendet  w^erden,  durch  die  Venvandlung  des 
Mixolydischen  in  das  Ionische  sei  ja  diese  reine  Oberquinte  C^sJ  schon  gefunden.   Denn  wir  sahen 


—      85      — 

bereits,  dafs  der  Ton  U  durch  sie  nicht  befiihigt  werde,  als  GruiidLon  eine  neue,  cigenliiüiuliilie  Toiuvlhc 
zu  bilden,  ^^ar  also  auch  ein  Hüirslon  vorhanden,  durcli  den  dessen  reine  Quinte  darsgclelll  werden 
konnte,  so  war  er  doch  nicht  um  ihretwillen  gefunden,  nicht  im  Bezüge  auf  sie  aus  der  harmonischen  Eut- 
wicklung  der  Tonarten  hervorgegangen.  Um  aber  die  zuvor  beschriebene  Ausweichung  des  Aeolischcn 
nach  dem  Plnygisclicn  einzideiten,  hätte  es  aufser  der  Quinte  von  h,  auch  der  grofscn  Terz  dieses 
Tones,  </««,  nocli  bedurft;  weshalb  aber  die  streng  in  sich  beschlossene  Entfaltung  des  diatonischen 
Systems  diesen  Ilülfston  ausgesclJossen  habe,  wird  die  Betrachtung  der  phryglschen  Tonart  uns 
verdeutüclicn.  Zu  ihr  wenden  wir  uns  niumiehr,  um  die  Eigenthüiidichkeit  des  Aeolischcn,  sehie  Bezie- 
hung zu  ihr,  seine  ^  erwandlung,  seine  Ausweichung  in  sie,  kennen,  imd  verstehen  zu  lernen.  — 

Die  plirygische  Leiter  wird  durch  den  Ton  E  und  dessen  Oberociavc  begrenzt;  die  der  aeoli- 
schcn wesentlichen  ^erhältnisse  der  kleinen  Terz  und  Sexte,  durch  die  Töne  c  und  f,  in  ihrer  Beziehung 
zu  dem  aeohschen  Gnnidtoue  ausgedrückt,  werden ,  indem  sie  nunmehr  zu  dem  phrygischen  (nundlone 
E  in  ein  neues  Vcrhällnifs  treten,  zu  der  für  diese  Tonart  bezeicinieudcn  kleinen  Secunde  und 
Sexte.  Hiemus  aber  folgt,  dafs  derselben  auch  die  kleine  Terz  eigentliüinlich  sei;  denn  der  kleinen 
Secunde  würde  die  grofsc  Terz  ohne  das,  dem  diatonischen  Klanggesddcchic  fremde  \  erliältnifs  der 
übennäfsigen  Secunde  niclit  folgen  können.  Eben  so  crgiebt  sich  ferner,  dafs  der  Unterhalbton  ihr  nolh- 
wendig  abgehe;  also  auch  die  Uuvcränderlicldvcit  der  kleinen  Septime  (d),  der  gänzliclie  Mangel  eines 
vollen  Schlusses  zu  ilircm  ^^  cscn  gehöre.  Denn  ist  dieser  allein  auf  der  Obcrcjuiute  oder  Unterquarte 
jeder  Tonart  einzuleiten,  dazu  aber,  neben  der  reinen  Quinte,  auch  die  grofse  Terz  erforderlich;  jene  bei 
der  phrygischen  Oberqiüntc  (m  ie  wir  gefunden)  wesenilich  ausgeschlossen,  diese  im  Siinie  des  diatonischen 
Klanggeschlechts  der  falschen  Quinte,  ohne  die  unharmonische  \  erbindinig  einer  grofscn  und  venuinder- 
ten  Terz  nicht  beizugesellen;  so  fehlt  ihm  in  der  phrygischen  Tonart  alle  notliM endige  Vorbereitung,  sie 
mufs  ilm  gänzhcli  verschmähen,  will  sie  anders  ihrem  innersten  VVesen  treu  bleiben,  und  nicht  zwei  ihr 
eigeulhümliche  Vcrhidluissc  zugleich  aufgeben.  ISoch  auf  andere  Weise  ist  die  Unzuläfsigkeit  eines  vollen 
Schlusses  in  der  phrygischen  Tonart  darzidegen.  Enien  vollen  Schlufs  nämhch  leitet  in  jeder  Tonart 
der'.ri  grofse  Obersecunde  auf  der  Unterquarte  ihres  Grundlones  ein;  beide  Ton  Verhältnisse,  selbständig 
a'.if  einander  bezogen,  stellen  eine  reine  Quinte  dar.  Zwischen  beide  fügt  sich  die,  in  jedem  Kirchentone 
y  (C  ausgeuoniuien,  das  die  grofse  Septime  in  seiner  ursprünglichen  Leiter  besitzt)  um  einen  Ilalbton  zu 
erhöhende,  in  dieser  Gestalt  die  grofse  Terz  der  Unterquarte  des  Grundtones  bildende  kleine  Septime 
ein.  Der  phrygischen  Tonart  aber,  luul  dieser  allein,  ist  die  kleine  Obersecunde  wesentlich;  diese 
bildet  jcdodi  gegen  die  L^nterquarle  des  phrvgischen  Grundtoues  eine  falsclie  Quinte;  beiden  könnte  (he 
orli()hlc  phrygische  Septime  (als  grofsc  Terz  jener  Unterquart(^)  sich  nicht  einfügen ,  ohne  ein  mibarmo- 
nischcs,  dem  diatonischen  Klanggcsclileclitc  widerstrebendes  Vcrhällnifs  zu  erzeugen;  die  Erhöhung  der 
phrygischen  Obersecunde  endlich,  um  die  reine  Quinte  der  Unterquarte  des  Grundions  zu  ge\^iunen, 
würde  durch  den  Zusammenklang  aou  ZMci,  jener  Tonart  fremden  V^crhältnissen,  deren  VVesen  ■\ollig 
zerstören.  Sofern  aber  die  Quinte  des  phrvgischen  Grundtones  eine  eigenÜiümlich  harmonisch  zu  ent- 
wickelnde Tonreilie  zu  gestalten  unlüditig,  und  durch  willkülirliche  Erhöhung  ihrer  Quinte  nur  eine 
solche  zu  begründen  fähig  ist,  ■\^ eiche  in  veränderter  Tonhöhe  nur  die  phrygischen  Verhältnisse  abermals 
wiederholt,  kann  auch  dem  phrygischen  Kirchentone  die  Neigung  nicht  beiwohnen,  innerhalb  seiner  Gren- 
zen die  Verhältnisse  einer  harmonisch  unlücliligcn  Tonrcihc  darzuslellen,  der  Möglichkeit  harmoiiischer 
Entfaltung  sich  zu  berauben.     Das  Aeolisclie  jedocli  vermag  in  das  Phiygische  sich   zu  verwandeln 


—       86       — 

tliTTch  Anwendung  des  b,  den  Uebergang  in  das  weiche  System  (mit  den  allen  Tonmeistern  zu  reden); 
es  weicht  in  dasselbe  aus,  theils  durch  einen  halben,  auf  dem  aeolischen  Grundtone  eingeleiteten 
S<-hlufs  theils  durch  Verbindung  der  letzten  beiden  Töne  der  auf-  und  der  absteigenden  phrygischen 
I^eilcr  wodurch  beide,  eben  nur  dieser  Tonreihe  eigcnlhündichc  Tonfälle  zusammenklingen,  und  sie  vor 
allen  andern  harmonisch  bezeichnen.  Auch  in  seinen  Schlufsfallen  endlich  deutet  das  Aeolische  seine 
Verwandtschaft  mit  dem  Phrjgischen  an;  in  dem  vollen  SclJusse,  durch  dessen  früher  beschriebene 
Anordnung,  indem  die  kurz  vor  dem  letzten  Zusammenklange  gehörte  kleine  aeolische  Sexte  zugleich  die 
itlirv'ische  Obersecundc  ist;  in  dem  lialben  Sdüusse  durch  die  unmittelbare  Folge  des  weichen  Drei- 
klanos  auf  der  aeolischen  Unlcrquinle  D,  imd  des  harten  auf  dem  aeolischen  Grundtone  A:  in  jenem 
klinnt  die  klehie  phrygische  Sccunde  an,  und  indem  dieser  in  seiner  Quinte  den  phrygischen  Grundton 
hören  liifst,  vernclinien  w  ir  durch  beide  den  abfallenden  phrygischen  Tonschlufs,  gemildert  nur  durch  eine 
dem  Aeolischen  eigen ihündiche  Harmonie.  Der  J^eitton  in  das  Dorische  aber,  der  in  der  grofsen  Terx 
des  Schlufszusammenklangs  sich  darstellt,  deutet  auch  jene  Beziehung  des  Aeohschen  an;  und  ist  der 
aeolische  Schlufs,  ^\^e  wir  ihn  zuvor  beschrieben,  an  sich  dem  dorischen  auch  völlig  gleich,  so  weiclit  er 
doch  von  ihm  dadurch  ab,  dafs  kein,  der  Tonart  selber  fremdes  Verhällnifs  ihn  gestaltet,  (wie  dort  die 
entlehnle  kleine  Sexte)  dafs  er  unmiKelbar  aus  ihr  hervorgeht.  Ein  Kennzeichen  für  sie  wird  er  also 
nur  durch  tue  Beziehung  auf  alles  ihm  ^'orangchende. 

Wenn   vir   die   Vel•^vandlschaflen    des   Dorischen  und   Aeolischen,    welche  wir  zuletzt  betrachtet 
haben,  nur  auf  jenes  Naturgesetz  zu  gründen  vermochten,    welchem  zufolge  jedem  Tone,    für  sich  ange- 
sehen   das  \^erhältnifs  zu  seiner  Oberquinte  das  näcliste  harmonische  ist;   so  fmden  wir  bei  dem  Phrygi- 
schen, zu  dem  vir  mis  nvmmehr  zurückwenden,  jene  Beziehung  durch  seine  melodische  Gliederung   zwar 
Äusn^eschlossen,  um  so  mächtiger  dagegen  die  ^'er^^  andtschaft  vorwalten,  welche  durcli  die  Folge  entsteht, 
in  der  die  schwngende  Saite,  die  tönende  Pfeife,  die  Gheder  des  harten  Dreiklanges  erzeugen;  durch  die 
besondere  Weise,  wie  der  Grundton  immer  geschärfter  durch  sie  hinklingt,  einem  jeden  von  ihnen  näher 
tritt.     So  trat  uns  das  fllixolydisclie,  da  der  Grundton   des   Ionischen   den   seinigen   von   jeder   Seile  um- 
schliefst, zu  jener  Tonart  in  näcliste  Beziehung;  so  werden  wir  jetzt  neben  dem   Aeolischen   das   Phrjgi- 
schc  dem  lonisclien  nahe  verwandl  iindcn.     Denn  der  Grundion,  wenn  er  nach  Erzeugung  seiner  Quinte 
abermals  geschärft  über  sie  hingeklungen,    läfst   nunmehr  seine  grofse  Terz  ertönen;    diese  aber  ist  eben 
der  Grundlon  des  Phrygischen,    e,    und   ein  Naturgesetz   begründet   solchergestalt  die   nahe   harmonische 
Beziehung  beider,    so  durch   C  als   E   begonnenen   Tonreihen.      Auch   die   melodische   Gliederung   dieser 
letzten  vermittelt  daneben  ihren  Uebergang  in  die  ionische;  die  kleine,  ihrer  Leiter  wesentliche  Secunde, 
tmi  eine  Octavc  erhöht,  zusammenkUngend  mit  der  phrygischen  kleinen  Terz,  leitet  als  wesentliche  Sep- 
time zu   dem  Ionischen  hinüber.      Aber   selten   bedienten   die   Tonmeister   des   sechzehnten  Jahrhunderts 
sich  der  wesentliclien  Septime:    eben  hier  bedurften   sie    ihrer  kaum,    eine   solche  Ausweichung   zu   ver- 
mittehi;  denn  der  phrygischen  Tonleiter  kann  die  ionische,  der  harmonischen  Beziehung  ihrer  Grundtönc 
wegen,    unmittelbar  untergelegt  werden,    in   gleiclimäfsig   fortschreitendem  Zusammentönen  wohlklingend 
sie  begleiten.     Darum  auch  wohl   verschmähten  die   frülieren   Tonmeister   durch   willkührliche   Erhöhung 
der  Secunde,  Sexte  und  Septime  die  phrygische  Tonart  zur  ionischen  umzuwandeln;  konnte  sie  doch 
ohne  alle  Veränderung  ihrer  eigenthümlichen   Verhältnisse   mit  jener   sich   verbinden,    liarmonisdi  in   sie 
verschmelzen,  wie  sonst  kein  Kirchenton  in  den  Uim  nächst  ver\vandten;   denn  Quarten-  und  QuintenfpU 
gen  In  gleicher  Bewegung  konnte  nur  die  Kindheit  der  Kunst  erträglich,    ja  anmutliig  fmden,    und  ebeft 


—      87      — 

in  diesen  Tonverluiltnissen ,    wie  wir  gesehen,    beliehen   die   Grundtöne   der   übrigen  Tonarten  sicii  auf 
einander.     Neben  dieser  Eigenschaft,  welche  sie  vor  allen  übrigen  auszeiclmet,    trägt  auch  die  phrygisclie 
Tonart  in  ihren  V^erwandtschaftcn  ein  ganz    eigen thümhches   Gepräge.      Einem  I\aturgesel/.e  zufolge,    auf 
dem  der  Zusammenhang  aller  übrigen  Kirchcniönc  gegründet  ist,  weift  ihr  Grundfon  zurück  auf  seine  Un- 
terquinte; einem  nicht  weniger  mächtigen  gehorchend,  in  welchem  die  reidisten,  fruchtbarsten  Beziehungen 
der  Töne  sieh  entfalten,  deutet  er  zugleich  hin  auf  seine  grofse  Unlerterz;  und  so  erklingt  eben  in  jenen 
^'e^wandtschaften,  verhüllter  nur  und  geheimnifs voller,   als  der,   wo  das  Reich  der  Töne   sich   erschlicfst, 
offen  und  hell  hinausstrahlende  harte  Dreiklang,  der  weiche;   aus  beiden  erblidit  in  reicher   Entfallung 
das  Geheimnifs  der  Beziehung   aller  Tonarten,   welche  in  ihren  äufsersten    Enden   einander  am   nächsten 
berüliren,  in  der  dorischen  aber,  der  von  beiden    gleichweit   entfernten,    in   beiden   Dreiklängen   unmit- 
telbar nicht   gegebenen,    ihren   Mittelpunkt   finden.      In   anderem   Sinne  können   wir  hienach    von  einem 
Kreise   der   Kirchentöne  reden,    als   A'on   dem   Kreise   unserer   Tonarten.     Eine,    nach    oben   und   unten 
qnintenwelse    fortgesetzte    Beziehung  würde   in  beiden   Richtungen    eine    nimmer   sich    scidiefsende   Linie 
bilden,  würden  nicht  beide  durch  Milderimg   der  ursprünghchen   Schärfe    und   Reinheit   des   ^'erhältnisses 
der  Quinte  in  Kreisform  künsthch  hineingebildet.     Ein  hiedurch  gewonnenes,    nach  allen   Seiten  hin  be- 
wegliches und    geschmeidiges   System,    dessen    Entstclumg    wir    späterhin  betrachten  werden,    Acrknüpft 
zwar  die  entferntesten  und  nächsten  Punkte  jenes  Kreises  mit  gleicher  Leichtigkeit;  jedoch  nur  Entfer 
nungen  niclit  Eigenthümlichkeiten,    wie   das   einfache   System   der   alten   IMcister.      AVie   nun   jede, 
wahrhaft  lebendige    und    tiefe   Naturanschauung   eben    nur  das  Werk    frommen   Sinnes   isf;    wie    dieser 
in  Allem,  was  durch  ihn  erkannt,  gebildet  worden,  sich  lebendig  abspiegelt,    so  finden  wir  es  auch   hier. 
Jene  Beziehung  der  Töne  auf  einander  ist  nicht  ein  klar  geschautes  Naturgesetz  allein:    sie  ist  ein  Werk 
des  frommen  Geistes  derjenigen  Zeit,    welcher  das  Auge  zuerst  dafür  geöffnet  wurde,    eines  Geistes,    der 
immer  inniger,  tiefer,    lebendiger  in  dasselbe  sich  hineingebildet  hat.      ^'ermochtc   doch  ein   solcher   Geist: 
allein,  jenen  Tonreihen  das  Gepräge  der  Kirclilichkeit  einzudrücken;  oder  redet  man  von  einem  alten  ge- 
heiligten Herkommen,  das  sie  zu  Kirchenlönen   erhoben;    wer  anders  als  jener  Geist  war   im  Stande   ein 
solches  Herkommen  zu  heiligen?     Auf  eine  Tonreihe  w^erden  alle  übrigen  bezogen,  die  ionische,  die  in 
sich  abgeschlossen,    auf  den   hell    und   heiter  hinausstrahlenden  harten  Dreiklang,    eine   durch   die   Natur 
selber  hinklingende,  befiiedigende  ^  crschnielzung  verschiedener  Töne  gegründet,   auch  das  Gepräge   heite- 
ren,   frohen  Genügcns  träg-t.      Mit  ihr  tritt  eine  zweite,   die  mixolydische,    in  nächste  Beziehung;    ihr 
Grundton,  ein  lebendiges  Glied  jenes  Dreiklangs,  das  näcliste  harmonische  Erzeugnifs  des  Grundtons  jener 
ersten,  trägt  und  begründet  nicht  minder  einen  gleichen  Zusammeidilang:  aber  aucli  eine  Tonreihe  beginnt 
und  begründet  er,  in  der  alles  wieder  hinklingt,  hinstrebt  zu  dem  Ursprünge,   aus  welchem  Ihr  Grimdton 
erwuchs,  durch  die  ein  Zug  der  Sehnsuclit  hingeht  neben  jenem  heiteren  Genügen,  dem  christlichen  Seh- 
nen gleich  nach  geistllclier  Wiedergeburt,    Erlösung,    Rückkehr  einer   früheren  UnscJuild,    gemildert  aber 
durcli  die  Seligkeit  der  Liebe  und  des  Glaubens.     Erscheint   nun  jenes   Zurückstreben   in   solchem   Sinne 
als  wahrhaftes  geistiges  Aufwärtsdringen,  so  mangelt  es  docli  jenem   Tone  aucli  nicht  an  einem  Drange, 
der  auf  ein  durch  alle  Töne  mächtig  waltendes  Naturgesetz  gegründet,    als  ein  mehr  sinnlicher,   irdischer 
sich  darstellt.     Allein  dieses  Streben  fiihrt   unmittelbar  nicht   zu   sehgem   Genügen:    auf  dem   Griuidtone 
der  so  errelclitcn  nächst  verwandten  Tonart,  der  dorischen,  ruht  nicht  der  harte,  helle  Dreiklang  mehr, 
sondern  der  trübere,  weiche;  aber  tröstend,    erheiternd,  ermutliigend  klingt  durcli  die  Tonrelhc  ein  Glied 
jenes  hellen  Zusanuoenklanges  wieder,    der  dem  früheren  Kirchenlone   eignete,    die  mixolydisclie  grofse 


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Terz  nunmehr  zur  grofscn  dovlschen  Sexlc  geNvordcn,  xmA  leiht  ilir  das  Gcpriige  frommen,  ruhigen,  hei- 
lin-cn  Enisles;  dnher  aucJi  in  dieser  Tonart  die  meisleii  heiligen  Gesänge  gesehalTcn  Avorden.  ^  on  nun 
an  streht,  jenem  Naturgesetze  zufolge,  jeder  (irnndlon  aufwärts,  enic  neue  Rellie  zu  hilden;  dem  Ur- 
spnmge  eines  jeden  ersclielnt  der  Dlick  wieder  zugewendet.  Der  aeolischen,  als  der  nächsten  auf 
diesem  Wege  erstrehten  Reihe,  leuchtet  schon  nicht  ferner  eine  heitere  Erinnerung  an  ihre  \  orgängerin; 
an  dcrselhcn  Stelle,  wo  In  jener  der  klare  Geist  der  ihi-igen  ahnend  wiederklang',  ti'.nt  in  dir  dasjenige 
an.  ^^üd!^■cll  jene  geUübt  wurde,  die  kleine  dorische  Terz,  nunmehr  zm-  kleinen  aeoUschen  Sexte  umge- 
wandelt. Eiu  Schatten  tiefer  >Vehmuth  legt  sich  hin  über  sie,  und  ein  noch  tieferes  Dunkel  verhüllt 
die  piiryglsche,  der  eine  andere  Tonredie  aus  sich  zu  erzeugen  nicht  mehr  gestattet,  nur  ein  trü- 
ber RiU-kblkk  auf  ihre  ^'orgängerIn  vergiinnt  Ist;  tlle  überall  tiefe  Bedürftigkeit,  Zerknirschung,  alkin 
auszusprechen  scheint.  Aber  neu  belebend,  erfrischend,  erliellend,  tritt  nun  der  Grundton  jener  ersten 
Tonroilio,  der  ionischen,  hinein  zwischen  ihren  und  den  Gnmdton  Ihrer  Vorgängerin;  in  neuer,  tiefere? 
Bedeutung  erklingt  der  reiche  Dreiklang,  das  innige  Verhältnifs  dieser  drei  Kirclientiine  bezeichnend. 
Mit  dem  hellen,  heiteren  Ionischen  darf  das  trübe  Phrygisclic  unmittelbar  verschmelzeu ;  der  tiefsten  hei- 
ligen Zerknirsclumg  steht  himmlischer  Trost  auch  am  näclisten;  je  tiefer  der  Mensch  seine  Sünde,  jö 
Inniger  fiildt  er  die  Seligkeit  seiner  Erlösung.  Darum  erklangen  In  diesem  Tone  seit  den  ersten  Zelten 
der  Kirche  nicht  allein  Bufspsalmen.  sondern  auch  feierliehe  Lobgesänge;  in  der  lutherischen  Kirche  neben 
dem:  „Erbarm  dich  mein,  o  llerrc  Gott,"  auch  das:  „Herr  Gott  dich  loben  wir;"  und  wie  In  ionlsdieii 
Ivlün-en  die  frohe  Kunde  von  der  Geburt  des  Erlösers,  das  freudige  Lied  der  Ilirten,  in  dem  mlxoly- 
dischen  „Gelobet  seist  du  Jesus  Christ,"  das  In  reine,  helle  Freude  ausströmende  Gefühl  der  endUch  ge- 
stillten. Iau2;en  Sehnsucht  ertönte,  so  durfte  in  dem  phrygischen  „Christum  wir  sollen  loben  schon,'  auch 
das  Bewid'stseln  laut  Averden,  so  grofses  Heil  sei  eben  nur  um  der  Sünder  willen  gekommen. 

Das  ist  es,  wodurch  die   alte   kirchliche    Tonkunst   Aon    der  neuen   sich  wesentlich  unterscheidet, 
die  geistige,  eigenthümliehe,   feste   Gestaltung   des   flüssigsten,    beweglichsten  Blldiuigsstoffes,    welchen  die 
ISaliir  uns  bietet,  der  Töne.     Es  war  nicht  starres  Festhalten  an  dem  Ueberlieferten  oder  Bequemen  nach 
demselben,  wie  man  so  oft  hehaupiel;  es  war  tiefe,  lebendige  Erkcnntuifs,   welche  das  System   der  alten 
Tonmeister  gebildet.     Denn,  wo  die   mangelhafte   Betrachtung,    die  einseitige  Lehre,    an  dem  starren   Ge- 
rüste festhielt,    da  durchbrach   der  bildende   Geist  jene  beengende,    willkührhche  Schranke,   und  rechtfer- 
tlo-te  als  lebendigen  Fortschritt,  was  äufserlich  als  Abweichung  erschien.     Unser  fein  ausgebildetes,   gelen- 
kes,  geschmeidiges  Tonsystem,  das  alle  anscheinende  Ilärle  und  Unebenheit  in  jeder  Tonart  ausgeghchen,  ^ 
aber  auch  ihre  Eigenthümllchkelt  -s'erwischt  hat,  giebt  einem  schwankenden,  reizbaren,  in  grundlose  Tiefe 
sich  versenkendem  GefiÜde  so  leicht  sich  hin,  das  mit   ilun   in   das   Unbestimmte   immer   mehr  sich   ver- 
liert mul  verniiclitigt.     iNIcht,   dafs  uns  leid  sein  sollte  ein  solches  System,    und  mit  ihm  freie,    allseitige 
Beweglldikelt  gehuulen  zu  haben;  aber  wir  sollen  nicht  aufgeben,  was  wir  damit  nicht  anders  elnbüfsen, 
als  wenn  wir  in  frevelnder  Selbstgenügsamkeit  es  wegwerfen,  die  Anschauung  der  alten  IMelster  von  der  g 
Tonwell.     Gern  sollen  wir  an  den  Werken,    die  aus  ihr  hervorgegangen,    als  an  den  Erzeugnissen  eines 
edlen  Geistes,  uns  erfrischen,  und  bevor  sie  ihr  inneres  Leben  uns  völLg  aufgesclilossen,    sie  in   Demuth 
hochhall cn,    als  solche,    die   einst   ein    Geschlecht  kräftiger,    geistreicher  Menschen  erhoben  und  erfreut 
haben,  die  an  dem  eifrigen,  sinnigen  Forscher,  dem  hingegebenen,  thätig  aufnehmenden  Hörer  unserer  Zeit 
ilereinst  gewlf»lich  ihre  Kraft,  wiederum  bewähren  ■\verden.     Nicht  sollen  w'iv  mit  kaltem  Hohne  uns  von 
ihnen  wegwenden,  oder  sie  meistern  nach  Anforderungen,  die  mit  Ihrem  AVesen  unvereinbar  sind,    nach 


—      89      — 

Regeln,  die  niclit  für  sie  gegeben  worden,  wodurch  wir  nicht  ihren  Umverth,  sondern  mir  unsere  \"er- 
sdilossenheit  und  Bcsciuänkung  an  den  Tag  legen.  Eben  darin  werden  w4r  Johannes  GabrieU  vor  seinen 
Zeitgenossen  als  grofs  erkennen,  dafs  er,  einer  der  ersten,  kräftigen,  geistreiclien  Förderer  der  neuen  Zeit, 
dennoch  der  alten,  in  der  sein  Dasein  wurzelte,  die  er  durcli  seine  \\erke  verherrlichte,  fortdauernd  auf 
die  rechte  Weise  treu  blieb,  und  selbst  da,  wo  wir  beide  Zeiten  im  Kampfe  und  Widerstreben  bei  ihm 
erblicken,  stets  —  wenn  auch  verhüUte  und  unscheinbare  —  Keime  für  künftige,  scliönere  Entfaltung 
beut.  Gewährt  aber  der  Forlgang  dieser  Betrachtungen  uns  die  Ueberzeugung.  dafs  diese  Entfallung  und 
das  durch  sie  bedingte  Hervorgehen  unseres  heutigen  Tonsystems  auf  einem  ganz  anderen  Gebiete  liege, 
als  dem  kircldichen,  dafs  mit  ihr  die  kircldiclien  Grundformen,  theils  mit  Bewufstsein  durchbrochen,  thells 
allmählig  abge^ielkt  sind:  mögen  wir  dann,  so  lieb  uns  kircliliclies  Leben  und  die  Blüthen  sind,  die  es 
zeitigt,  bei  denjenigen  gern  verweilen,  die  zu  den  frischesten  der  Kunst  gehören,  die  es  entfaltet  iiat,  und 
wenn  wir  an  ilinen  seiner  schöpferischen  Kraft  inne  geworden,  aucli  der  Ilofl'nung  leben,  dafs  dereinst 
Tielleiclit,  wenn  es  in  mid  durch  uns  sich  wahrhaft  verjüngt,  eine  neue  Blüthe  jenem  alten  Stamme  enl- 
spriefsen  könne. 

Vielfach   sind  die  Vorwürfe,    die  wir  täglicli  noch  dem   Systeme  der  alten   Tonmeister  machen 
hören,  durch  die  der  unbefangene  Sinn  geüübt  und  gebunden  gehalten   wrd.      Wie   Einige    es   dnrclihin 
dem  Becpiemen  nach  dem  unbelüiUlichen ,   ungelenken  Büdungsstoffe  zuschreiben,    den  jene  alten  IMeisler 
vorgefunden,  bezüchtigen  Andere  wiederum  iiuc  hannonische  Behandlung  desselben,  das  Zusanmiensiellen 
einer  Folge  von  Dreiklängen  namenthch,  ohne  hannonische  Beziehung  im   Sinne   unserer  heutigen   Ton- 
kunst, der  Unkennlnifs  besserer  IModulation,  einer  kindischen  Ungescliicklheit  in  Ilandliabung  der  Kunst- 
mittel,   der    die    Gegenwart    längst    entwachsen,    auf    die    mit    vornehmen    Lächeln    heralizuschauen    sie 
wohl  berechtigt  sei.     Frelhch  verbinden  wir,   nur  ein  Naturgesetz  kennend,    das  die  Verwandtscliaft   der 
Töne  beslhnmo,  in  der  Regel  aucli  nur  auf  eine  Weise  DreiUänge  mit  einander;   in  einer  quinten-  oder 
quartenweis  aufsteigenden  Folge  ihrer  Grundtöne:    so  aber  niclit  die  alten  Meister.     Nicht  jenes  Naturge- 
setz allehi:    ein  anderes,    das  in  der  Beziehung  der  Glieder  beider  Dreikläuge,    des   harten   und  des  wei- 
chen,   sidi    kund    gab;    eine  Besonderheit  ihres   Systems,    die  Urnen    vergönnte,    jede   Tonart  innerhalb 
ihrer  eigenen  Grenzen  in    (Ue  llir  nächstverwandte    umzuwandeln,    bradite'^  die   anscheinend   entferntesten 
DreiUänge   einander  nahe,   so  wie   dadurch   eine    mannigfach  gegüederte   Bezielumg  aller  Tonarten    sidi 
gestaltete.     So  tritt  bei  jenen  alten  Tonmeistern  üi  der  Folge  von  Dreiklängen,    die  sie  verbinden,    die 
Eigenthümhchkeit  jeder  Tonart  in  ilirem  Hinneigen  zu  allen  übrigen,   in  strengen,   grofsartigen ,   besÜmm- 
ten  Zügen  heraus,    und  auch  dem  scheinbar  fremdesten   feldt  nidit   der  3Iittelpunkt,    den  es  jederzeit  in 
der  gemeinsamen  Bezidiung  auf  den  Grundton  des  Ganzen,   auf  die  durch  ihn   begonnene   und  geregelle 
Tonreihe  findet.     Jenes    durdi    die    mLxolytUsche,    dorische,    phrygisdie,    aeolische    Tonart;  so    mächtig, 
so   beziehungsreich  in  seinem  VerluÜliusse   zu  deren   Grundlönen   hinklingende  /,    gestaltet   durch    seinen 
Dreikkmg,    wenn  wr  in  jeder  einzelnen  dieser   Tonarten,   in    einer   Folge   solcher  Zusammenklänge,   Uin 
vernehmen,    sich  nicht  minder  abwechselnd  und  eigenthümlich.     Anders  tönt  er  im  Mixolychschen ,  hell 
und  klar,  wo  sein  Grundton  durch  seine    Beziehung   zu  dem   jener  Tonart  ihr   Seimen   nach  ihrem  Ur- 
sprünge vermiltdt;  anders  im  Plirygischen,  wo  in  tlem  mallen  AbfaUe  nach  dem  Giundtonc  jener  Tonart 
hin,  der  seinige  den  Ausdruck  tiefster  Bufse  und  Zerknirsdiung   verbreitet,    diese  aber  gelöst,    gesänftigt, 
erhört  erscheinen,    sobald    durch  klare    Töne   die    in  seinem    Gnindtone    schlummernde   Harmonie    her- 
vorbridit,  einem  hellen  Lldite  des  Himmels  gleich,  das  den  im  Gebet  Versunkenen  unerwartet  umleudi- 


12 


—      90      — 

Id.;  anders  wleilcium  und  milder  im  Dorischen,  wo  heiliger  Ernsl,  stille  ^^  ehmuth,  durcli  das  Verhältnifs 
seines  Grnndtons  xu  dem  jener  TonarL  ausgedrückt  wird;  anders  endlich  seihst  innerhalb  aller  jener  Ton- 
arlcii.  durch  die  nächsle  ZusanmienstoIIung,  in  der  an  Ir  ihn  vorfuiden.  Unser  gelenkes  System  frei- 
licJi  erlaubt  uns  die  widerstrebcndslen  Töne,  wie  zu  herben  IMifsklängen,  so  zu  entzückenden  Wohllauten 
zu  verbinden,  scJmicicliehid  durch  reizeiule  N^crmischung  des  abklingenden  und  versciuuelzenden ;  beide 
auf  die  mannigfachste  Weise  aufzidösen,  zu  den  entferntesten  Beziehungen  des  Grundtones  liinüberzu- 
Icitcn,  die  ganze  Tiefe  des  Gefühles  dadurch  zu  erscldiefsen,  die  zartesten  Abscliattungcn  desselben  zu 
ofl'enbaren.  ISirgend  aber  linden  jene  Beziehungen  in  einer  oder  der  andern  unserer  Tonarten  wahrhaft 
eine  llelmatli;  und  hier  eben  müssen  wir  luis  zurückgescimtten  erkennen,  so  viel  näher  dem  Ziele  der 
Vollendung  wir  uns  auch  wähnen  mögen.  Unleugbar  strebten  aucli  die  alten  Tonmeister  nach  Beweg- 
lichkeit und  Geschmeidigkeit  ihres  Tonsystems,  damit  sie,  nicht  an  ehie  bestimmte  Stufe  der  Höhe  oder 
Tiefe  unwiderruilicli  gebunden,  jeden  Gesang  auf  einer  solclien  ausüben  könnten,  wo  er  am  frischesten 
und  anmuthigsten  klänge;  nicht  war  jedocli  ihr  Ziel  eine  völlige  Ausgleichung  aller  Tonleitern,  und  mit 
ihr  der  Tonarten;  auf  jeder  Stufe  vielmehr  soUte  jede  derselben  ihrem  Wesen  nach  erhalten,  die  eigen- 
ihümliche,  harmonische  Entfaltung  ihr  gesicliert  bleiben.  Audi  später  noch,  selbst  als  einer  neuen  Kimst- 
riclitung  der  Zeit  die  alten  Grundfonneu  nicht  mehr  genügten,  (wie  sie  denn  nur  einem  Gebiete  der 
Tonkunst,  der  heiligen,  lebendig  eigneten;)  als  neue  Aufgaben  neue  Kunstmiltel  bedingten,  und  d^ren 
reichere  Fülle  auch  diejenigen  reizte  und  aidockte,  welche  das  Gebiet  kirchlicher  Tonkunst  anbauten; 
als  dem  ernsten,  feierlichen,  und  dennoch  —  wie  wir  zu  zeigen  gedenken  —  mannigfaltigen  imd  an- 
mutliigen  Schritte  jener  alten  Gesänge,  eine  raschere  BewegUclikeit  folgte,  aus  der,  wie  das  Zierliche, 
Feine,  so  das  Gewaltsame,  ja  Allgewaltige  sich  entAvickelte;  als  man  bedeutende  Sangweisen,  in  denen 
auch  tlie  IMifsklänge  wesentUch  gestaltende  Glieder  geworden,  kimstreich  verweb,  und  während  in  diesem 
Gewebe  das  anscheinend  Widerstrebendste,  IMIfsslimmendste  zusammenklang,  dennoch  die  Auflösung,  leb- 
haft und  dringend,  wie  das  Ohr  bei  jedem  Schritte  sie  ersehnen  mufste,  leicht  und  natürlicli  herbeigc- 
füiirt,  und  eben  hierin  ein  neuer  Zauber  der  Töne  entfaltet  wurde:  auch  da  klangen  jene  alten  Bezie- 
hungen, trüber  freilich  und  enifernicr,  doch  immer  noch  an,  bis  der  lebendige  Geist,  der  sie  erschlos- 
sen und  beseelt  hatte,  der  Beweglichkeit  des  iitbschen  Stofl"es  weichen,  jede  Erinnerung  an  das 
Alte,  das  allgemach  als  luigelenk,  unbeholfen,  hinter  der  IMannigfaltlgkeit  des  Neuen  in  herber  Einfalt 
weit  zurückstehend  erschien,  völlig  verklingen  nuifste;  und,  wollen  wir  auch  niclit  sagen  die  Befriedigung 
des  blofsen  Sinnenreizes  allein,  doch  A'orzunsA\eise  entweder  die  Darlcirun<r  der  sranzen  Fülle  er\\-orbener 
Kunstmitlei  luul  Ferligkelten,  oder  die  Darstellung  leidenschaftlicher  BewegUclikeit.  inneren  Spieles  der 
Empfindungen,  erstrebt  wurde.  So  hat  die  wclthche  Tonkunst  auch  von  dem  Gebiete  der  heihgcn  all- 
mählig  Besitz  genommen;  und  verständigen  wir  uns  über  die  Anforderungen,  die  wir  jetzt  an  diese  zu 
machen  gewohnt  sind,  so  werden  wir  nicht  leugnen  können:  wir  suclien  In  ihr  unter  anderem  Namen 
dasselbe,  was  in  jener  uns  rülirt  und  reizt.  Durcli  die  HerbIgkeit  und  den  Ernst  der  altkircliliclien  Kunst 
fühlen  wir  ims  verletzt,  und  möchten  Beides  darum  gern  als  Zeichen  einer  niederen  Stufe  darstellen,  auf 
der  sie  gestanden,  um  mit  besserem  Gewissen  unserer  heutigen  Kunst  In  einer  jeden  ihrer  Ilervorbringun- 
gen  huldigen  zu  können.  Aber  wir  vergessen  darüber,  dafs  sie  weltlicli  geworden  isl,  dafs  jene  llclmalh- 
loslgkelt  Ihrer  sciielnbar  so  reichen  Beziehungen,  jene  vielfach  verschlungenen  Sllfsklänge  ohne  liefere 
Beziehung  auf  einen  gemeinsamen  Älittelpunkt,  In  ihrer  IMannigfaltlgkeit  und  Vieldeutigkeit,  dem  kirch- 
lichen Ernste,    dem  helligen  Frieden,    der  an  gottgeweihter  Stätte   walten  soll,    gänzlich  widersprechend 


N 


—      91      — 


sind.     Haben  v-ir  nun  zuvor  den  Wunsch,  die  Hoffnung  der  Erneuerung  jener  alten  Kunst  ausgesprochen 
in  der  wr  Beides  so  bedeutsam,  so  erhebend  %viederfinden,  so  ist  niclit  die  Meinung  gewesen,    damit  zu 
todter  Wiederhohing,  leerem  Abschreiben  desjenigen  aufzufordern,  was  unsere  Vorgänger  geleistet-    denn 
wie  überaU,  so  auch  hier,  tödtet  der  Buchslabe,  und  nur  der  Geist  aUein  macht  lebendig.     Ein  jedes  Zeit' 
alter  noch  hat  in  seinem  Verhällnisse  zu  der  Kunst  ei.ie  doppelte  äufserste  Richtung  dargelegt:    die   eine 
Derer,  welche  auf  die  nächstvergnngene  Zeit  mit  Sehnsucht  zurücksehen,  in  der  Gegenwart  nur  tiefe  Ent 
artung  erbhcken,  in  dem  Roste,  mit  welchem  die  Zeit  die  \yerke  ihrer  Vorgänger   überzogen,  das  wahre 
Siegel  der  VoUkommenheit  zu  schauen   wähnen;    eine   andere  Solcher,    die  rasch   vor^värtsstrebend ,    den 
Kunststoff  immer  gefügiger  zu  bilden,    das  Neue,    noch  Unerhörte  zu  leisten  trachten,    in  der  Gegenwart 
nur  den  Fortschritt,  in  der  Vergangenheit  nur  die  eben  verlassene   niedere   Stufe   erblicken.     So   tliöricht 
c«  nun  ist  zu  glauben,  dafs  nur  im  Stillstande  oder  Rückgänge  das  wahre  Heil  zu  suchen  sei.    oder  gar 
zu  meinen,  dafs  die  Zeit  dem  BUde  eines  Pfuschers  jemals   den   Schmelz   der  Farben,    die  Anmulh,    die 
Bedeutsamkeit  eines  flleister%verkes  zu   leihen   vermöge;    eben   so   vergebhch   ist   die  Hoffnung  derer'    die 
in  Verknüpfungen,  wie  sie  bisher  auf  solche    ^^  eise   noch   nicht   dagewesen,    das   Musterhafte,    ^^ollkom- 
mene,    UneiTeichbare   zu   schaffen    wähnen.      Der   Stoff,    in  welcliem    die   Kunst  bildet,    den   sie  durch 
dnngt,  wnrd  im  Fortgange  der  Zeit  gclenker,  gefiigiger,  bildsamer,  und  dieses  um  so  mehr,   je  vielseitiger 
man  ihn  behandelt;    liier  nehmen  M-ir  ehie   Stufenleiter  sonder  Zweifel  wahr,    von  diesem  Standpunkte 
der  Betrachtung  aus   stehet   eine  Zeit   über   der    andern.       ^Vo   aber  in   bestimmter  Richtung  das  helle 
Auge  des  Geistes  den  Stoff  lebeiuUg  erkannt,    seine   bildende  Kraft  ilin  vöUig  durchdrungen  hat,    da  hat 
sicli  ein  eigentliümliches  Leben  gebildet;  es  gehört  zwar  einestheils  der  Zeit  an,  in  der  e"s  erschienen  ist 
aber  es  schwebt  auch  über  derselben,  und  nicht  diirfoif  Mir  Jiöhcr,    vollendeter  nennen,    A,as   dem  fügsa- 
meren Stoffe  im  Fortgänge  der  Zeit  eingeprägt  worden  ist:  die  völlige  Durclidringung  in    klar  aus-esnro 
diener  Riclitung  erzeugt  zu  jeder  Zeit  das   ^  ollkommene.      Enveckend,    belebend,    erleuclKoiul   e-scheint 
überall  nur  dieses  allein,    auch  wo   nur   eine  Annäherung  an  dasselbe   vorhanden  ist,    wie   ja  unsere  be 
scliränkten  Kräfte  ein  Höheres  uns  nicht  gestatlen.     In  diesem  Sinne  erbhcken  wir  in  der  Gesclrchte  der 
Kunst  eine  reich  und  mannigfaltig  entwickelte  Lebensblüthe,  nicht  eine  Stufenleiter  allein    wo  der  auf  der 
höchsten  Sprosse  angelangte  mit  Wohlgefallen   den   zurückgelegten   Weg   ermessen,    und  selbstgeniigsam 
lächelnd,  auf  die  unteren  Stufen  herabschauen,  hoch  über  sie   erhaben  sich   brüsten  könne.      Eine   solche 
Ansicht,  wo  sie  in  herber  Einseitigkeit  hervortritt,  vernichtet  allen  geistigen  Zusammenhang  verschiedener 
Zeiten;    dem  Thönchten,  der  sich  ilir  hingegeben,    wird  das  Büd  der  Vollkommenheit,    das  er  zu  umf-.s- 
sen   wähnt,    in  Raucli   und  Nebel   zerfliefsen,    der  Stoff,    den    seine    ^  orgänger,    mannigfacli   zugerichlel 
und  für  fernere  Durchdringung  befihigt,  ihm  verhefsen,  unter  seinen  Händen  einem  leeren,  kümmerlichen 
durfügen  Spiele  sicii  hingeben:    wie  könnte  unter  dessen  Händen   aucli    ein  neues   Leben   sich   entfallen 
der  absichtheh  jede  Erinnerung  frülieren  Lebens  für  sich  vernichtet,   einem  jeden  Anklänge  aus  der  \'er- 
gangenheit  sem  Ohr  stansinnig  verschlossen  hat?     Einer  solchen  verkehrten  Richtung  wehrt  che  Gescliichte- 
die  leicht  verlöschende  Erinnerung  an  das  früher  Gebildete  ^^^rd  durch  sie  aufi^efrischt,  dem  Geiste,  indem 
das  Vollkommenste,  was  eine  jede  Zeit  erschuf,  ilim  näher  gebracht  wird,    eine  Art  AUgegenwart  verlie- 
hen,   welclie  ihn  in  jeder  Zeit  heimisch  macht,    und   erkennen   lehrt,    dafs   das   Trefllicliste   einer  jeden, 
wenn  aucli  in  ihr  wurzelnd,  doch  dem  Himmel  entgegenstrebe,  dafs  in  seiner  tiefsten  Bedeutung  es  über 
aller  Zeit  stehe.     Aber  auch  das  wird  ihm  klar,  dafs  in  jeder  Zeit  eine  bestimmte  Riclitung  nur  Vonvalte, 
nicht  ausschliefsend  herrsche;    dafs   sie  nicht  selten  in   den  zu   bUdendcn   Stoff  einseitig  sich   vertiefend.' 


12' 


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die  wahre  geistige  Durchtlringung  flesselben  auf  ilirem  Wege  verfclile,  während  unerwartet  ein  anderer 
sich  erhelle,  eine  neue,  wahrhaft  vergeistigende  luchtung  beginne;  dafs  von  der  früheren  daiui  wohl,  als 
einer  vergeblichen,  einseitig  abgemahnt,  das  Streben  der  Vorgänger  als  ein  geistloses,  todtes  gescholten 
werde,  dennoch  aber  ein  köstlicher  Schatz  auf  dem  verlassenen  Wege  xmer>vartct  sich  finde,  ein  Lebens- 
keim, wo  er  einmal  sich  geregt,  selten  völlig  verloren  gehe,  dafs  dem,  eine  Zeillang  fiir  ilm  verschlosse- 
nen Auge  des  Geistes  ein  schöneres,  helleres  Erwachen  bevorstehen  könne.  Diesem  Geiste,  der  köst- 
lichsten Gabe  von  oben,  der  allein  belebenden,  deren  W  irkungen  wir  erkennen,  ohne  sie  zu  durchschauen, 
soll  die  Gescliiclite  Bahn  machen,  damit  in  der  Gegenwart  ein  neues,  frisches  Leben  an  der  Betrachtung, 
der  lebendigen  Anschauung  der  V^orzcit  sich  entzünde;  wie  es  der  Bereclmung,  dem  verständigen  Ab- 
wägen so  wenig  zu  entkeimen  vennag,  als  dem  willkülirlichen  Aufregen  und  Erhitzen  der  Einbildungs- 
kraft. So  streben  wir  vonvärts,  indem  wir  znrückdringen  in  die  Vorzeit,  so  \\irkcn  wir  in  dem  Geiste 
der  Edelsten,  weldie  sie  schmückten,  und  doch  tiefer  vielleicht  und  scliöner,  wenn  uns  gegeben  wird, 
was  wir  in  Demuth  zu  erwarten  mid  hinzunehmen,  dessen  wir  aber  niclit  lobpreisend  uns  zu  rülimen 
haben. 

Wir  können  jedoch  diese  imsere  Betrachtung  des  Wesens  der  Kirchentöne  niclit  bescldiefsen,  ohne 
sie  zuvor  noch  auf  einen  doppelten  Gegenstand  gerichtet  zu  haben;  einmal  auf  die  lydische  Tonart, 
an  deren  Stelle  wir,  den  älteren  Tonlehrcrn  entgegen,  die  ionische  gesetzt,  dann  aber  auf  den  Lnter- 
schied  zwisdien  authentischen  und  plagalischen  Tonarten,  dem  in  neuester  Zeit  eine  andere 
Bedeutung  gegeben  worden,  als  bei  den  alten  Toidehrern  sich  findet;  wobei  wir  GclegeiJieit  nehmen 
werden,  da  wir  hierin  der  Lehre  der  Alten  ims  mit  LTeberzengimg  ansdiliefsen ,  diese,  ihren  Gnnulzügen 
und  ihrer  Anwendbarkeit  nadi,  näher  darzustellen,  als  in  frülicren  Andeutungen  durdi  diese  Blätter  hat 
geschehen  können. 

Unsere  frühere  Darstellung  setzte  den  wesentlichen  Unterschied  der  Tonarten  in  die  wechselnde 
Lage  des  Halbtons;  sie  fand,  dafs  ein  soldier  Wechsel  nach  der  Zahl  der  Töne,  welche  die  diatonisdie 
Leiter  bilden,  siebenmal  möglich  sei;  sie  hat  die  letzte  der  durch  ihn  erzeugten  Tonarten  aus  dem 
Kreise  der  harmonisch  cntwickelungsfähigen  mit  Recht  ausgeschlossen,  und  also  darüber  noch  sich  zu 
rechtfertigen,  wefshalb  sie  uns  gegenwärtig  nur  fünf  in  jenem  Sinne  bildungsfähige  Tonarten  nachgewie- 
sen habe,  oder,  wenn  sie  späterhin  statt  der  lydischen  ims  die  ionisclic  vorgeführt,  ob,  imd  %;arum  sie 
jene  erste  aus  dem  Kreise  harmonisch  zu  belebender  liinausgewiesen  haben  wolle?  da  diese  so\\'oId  als 
jene  uns  dodi  eine  versdiiedene  Lage  des  Ilalbtons  unzweifelhaft  aufweis't,  beide  also  von  allen  übrigen 
Tonarten  wesentUch  verschieden  ersdieinen. 

Die  lydische  Tonart  hat  mit  der  ionisdicn  den  Ilalbton  auf  der  siebenten  Stufe  gemein;  dage- 
gen ersdieint  er  bei  ihr  zu  Anfange  auf  der  vierten,  in  jener  auf  der  dritten  Stufe.  Statt  der  reinen 
Quarte  besitzt  sie  hienach  die  übermäfsige,  und  als  deren  Ergänzung  nicht  die  reine,  sondern  die  ver-  M 
minderte  Quinte;  ihr  ganzes  Wesen  also  ist  auf  einen  IMifsklang  gegründet.  Wollen  wir  nun  auch  da- 
von absehen,  dafs  die  alten  Tonmeister  der  Mifsklänge  sich  spärlich,  und  meist  nur  als  Vorhalte  bedient 
haben,  indem  wir  uns  erinnern,  dafs  auch  absichtlich  vemiiedene,  oder  nur  selten  bestimmt  ausgesprocliene 
Mifsklänge  die  EigenÜiümlidikeit  einer  Tonart  zu  bestimmen  fähig  sind,  (wie  wir  dieses  im  IMixolydischen 
gefunden)  und  dafs  unser  neues,  in  Anwendung  der  Dissonanzen  so  bedeutend  mehr  ausgebildetes  System 
uns  vielleicht  befälilge  hier  zu  leisten,  was  den  Alten  verwehrt,  oder  von  ihnen  absichtlich  nicht  erstrebt 
gewesen:   so  werden  wir  dodi  immer  jene  Besonderheit  des  Lydischen,   wie  einerseits  eine  herbe,   so     | 


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andcrntheils  eine  harmonisch  unbedeutende  nennen  müssen.     Die  beiden  T.ine,  f  nämlich  und  h,  welche 
im  Lydischcn  den  Grundton  und  dessen  übonnäfslge  Oberquarte  bilden,   ersclieinen  vorzugsweise  fi.r  das 
M.xolyd.sche  und  Dorisclie,  demnächst  für  das  Phrygisclie  und  AcoUsclie  bedeutsam;    es  wird  durch  sie, 
hier  d,e  grofse  Terz  und  kleine  Septime  des  MLxolydischen ,  die  kleine  Terz  und  grofse  Sexte  des  Do- 
rischen;   dort  die  kleine  Secunde   und   reine  Quinte   des   Phrvgischen,    die   grofse   Secunde   und  kleine 
Sexte  des  Aeohschen   dargestellt.     Aber  nicht  dieses   allein;    denn   wie  tUe  Gheder   des  \^erhältnisses  der 
ubermafsigen  Quarte,    und  ihrer  Ergänzung,    der  verminderten  oder  falsclien  Quinte,   lüer  in  die  kleine 
Sexte  lunaus,    dort  in  die  grofse  Terz  zurück,    als  in  die  Auflösungen  jener  IVIIfsklänge ,    streben,  wird 
durch  sie  die  Ausweichung  nach  c,  oder,  im  Sinne  der  alten  Tonmeister,  in  das  Ionische  begründet:  nach 
dessen  Verhältmssen  zu  den  Grundtöuen   der  genannten  Tonarten  aber,    die   mlxolydisclie  In  Ihre  Ober- 
quarte,  die  dorische  in  ihre  Oberseptime,   die  phiygische   in  ihre  grofse  Unterterz,   die   aeoUsche  endlich 
m  ilire  kleine  Oberterz  auszuweichen   befähigt;    allen  mithin  neben   der  aUgemeinen,    auf  em  Naturgesetz 
gcgriindeten  Neigung  jeden  Grundtons  zu  seiner   Oberquinle,   noch  eine   besondere   zweite  eingeprägt,  in 
dem    IMixolydischen  und    Phrygischen  aber   eine   auf  ein   anderes   Naturgesetz   gegründete   Neigung   noch 
kiäftlger  vermittelt.     In  dem  Lydischen  jedoch  geschieht  dadurch  nichts  Anderes,  als  die  herbe  NöÜiIgung 
zu  einer  Ausweicimng,   die  jenes  erste  Naturgesetz  für  alle  Tonarten  als  allgemeine  bedingt;    tlle  lydlsche 
gelangt  dadurch  nur  in  eine  andere   Tonart,    in  der  ein,   eben  Uir  eigenthümlicher  IMIfsklang  gcschhchtet 
ist,  eine  Scldichtung,    die  eben  so  leicht  durch  venvandehide  IModulation,    lebergang  aus  dem  harten  in 
das  weiche  System   {^^■ic  wir  ihn  zuvor  beschrieben)  gefunden  wdrd.     Oder  woUen   wir   (aufserhalb  des 
Kreises   von  Beziehungen,    den   ^vlr  im  Vorigen   gesetzt)    den  lydischen    Gnmdton   zurückleiten  auf  eine 
ünterqiünte,  welche  ihn  erzeugt  habe;  so  erglebt  diese,  das  weiche  b,  wiederum  eine,  mit  der  lydischen 
in  aUen  Grundverhällnissen   vöUig  zusammaifaUcnde  Tonleiter.     Arm  an  harmonisclien   Beziehimgen  hle- 
nach,  melodisch  herbe,  zeigt  sich  uns  das  Lydische,  seine  friUie  Aussclillefsung  aus  dem  Kreise  der  übri- 
gen Tonarten  liinlängUch   gerechtferÜgt,    und   die   von   Alters  her   oft  wiederholte   Klage,    dafs  es  aufser 
Gebrauch  gekommen   sei,    aus   mifsverstandener  Anliängllchkcit   an  einen   nie  In   das  Leben  wrklich  ein- 
getretenen  Lehrsatz   hervorgegangen.     Mäclitig  aber  und   beziehungsreich   klingen  die  jener  Tonart  eigen- 
thüiTdlclien  Verhältnisse  hin  durch  aUe  übrigen,    und  jene  Anklänge,   wenn  auch  nicht  fähig  eine  Reihe 
zu  bilden,  die  selbständig  in  den  Kreis  der  übrigen  harmonlscli  eintreten  könnte,  werden  doch  ein  Band, 
das  aucli  die  entferntesten  unter  ihnen  verknüpft  '). 

')    l'er^.  über  das  Lydische  hier  folgende  merltxmlrdige  Stelle  bei  Ularchetto  da   Padova  CniiJ.     Liicidarium  tmisicae 
planae  Traci.  X.  Cap.  ir.  in  dem  Abschnitte  de  quinto  tono.     (Gerlert  scriptores.  III.  p.  110.  111.) 
q,uintu3  tonus  formatur  in  suo  aacensii  ex  tertia  specie  diapente  et  tertia  diatessaron.  superius 


m  desceusu  lero  ex  eadem  specie  diatessaron  et  ex  quarfa  diapente 


-ß—t- 


-O- 


-S-T- 


P^=^ 


roz:©: 


Scd  dicet  aliquis:  ergo  videtur  quod  quintas  tonus  in  ejus  ascensu  cantetar  per  ^  quadrum,  et  in  descensu  per  b  rotwi- 
dum.  Dicimus  quod  sie,  et  triplici  ratione ;  prima  est,  quod  cum  ascendif  a  fine  ad  diapente  supra  quomodocunque .  ta- 
lium  prolatio  notarum  dukior  atque  suavior    ad  auditum  transit,    nee  non  aptior   ia  ore  proferentis  existit  etc.  —  (aho 


—      94      — 

Viel  bedeutsamer  m  jeder  Rücksicht  zeigt  sich  dagegen  das  Ionische.  In  die  Mitte  aller  übri- 
gen Tonarten  gesteUt,  durch  die  dargelegten  so  mannichfaltigen  Beziehungen  ilinen  allen  verwandt,  er- 
scheint es  wie  allen  zugänghch,  docli  wiederum  vor  ilmen  eigenthümlich  gestaltet.  Seine  Ilanptneigung, 
,uf  das  Il'instreben  seines  Grundtones  nach  der  Oberquinte  gegründet,  leitet  es  hinüber  zu  dem  Mixoly- 
dischen  einer  Modulation,  welclie  durch  Verwandlung  der  ilim  wesentUclien  grofsen  Septmie  m  die 
kleine'  innerhalb  seiner  eigenen  Grenzen  dargesteUt,  und  von  den  alten  Tonmeistern  gewöhnUch  vor 
dem  ionischen  vollen  Scldusse  angewendet  wird,  aber  audi  meistens  nur  diesen  zu  bezeichnen  pflegt, 
d-,  wie  wir  .^ef.mden,  der  mlxolydische  Sclilufs,  wenn  ein  halber,  auf  die  Ver^vandtschaft  jener 
Tonart  zu  der''  ionischen  hindeutet;  wenn  ein  voller,  zugleich  ihre  Beziehung  zu  dem  Donschen  hrn- 
durclddin^en  läfst.  Selten  jedoch  wird  die  ionisclie  Tonart  in  iliren  eigenthümlichen  Grenzen  mnerhalb 
des  harten  Tonsystems,  meistens  dagegen  in  ihrer  durclx  das  weiche  System  bedingten  Versetzung  m 
die  Oberquarte  ihres  Gmndtons  von  den  alten  Meistern  ausgeübt.  So  vertauscht  sie  ihren  Umfang  mit 
dem  des  Lydischen;  ja  durch  ein  besonderes  Spiel  geben  einige  Tonmeister,  namenthcli  Gahrieh,  mdera 
sie  das  harte  System  mit  dem  weichen  wechseln  lassen,    llir  die  herbe  Eigenthümhclikeit  des  Lydischen 

als  eine  zufällige  Würze  bei.  ^        ,    .^    ,        ,.  .     •    i.        o     . 

Und  damit  endlich  die  harmonisclx  bildungsRihigen  Töne  mnerhalb  des  diatonischen  Systems  m 
(dne  Fol-e  neben  einander  gelegt  erscheinen,  verläfst  mit  seinen  ursprünglichen  Grenzen  das  Ionisclie 
auch  die^ihm  zukommende  erste  Stelle;  das  Dorische,  sclion  bei  den  Griechen  hochgepriesen ,  dann 
unter  den  Tropen  als  der  erste  genannt,  von  uns  in  die  Mitte  der  Kirchentöne  gestellt,  nimmt  nun, 
dem  alten  Kirclicngcbrauche  zufolge,  die  erste  Stelle  wieder  ein;  das  Ionische  scliliefst  sicli  dem  Phrygi- 
Ichen,  diesem  endlich  das  Mixolydische  an;  das  Letzte  der  ganzen  Reihe  ist  der  alte  Pilgerton,  das  Aeo- 
ILsclie'.  Ein  JNebenton,  von  wclcliem  bald  die  Rede  sein  wird,  ist  jeder  Tonart  beigesellt,  und  so  ist 
zwisdien  den  alten  Tropen  und  den  Kirdientönen  des  sedizehnten  Jahrhunderts,  wenn  auch  nicht  völ- 
lige doch  einige  Uebereinstimnumg  hergestellt.  Dafs  eine  durdigängige  nidit  möglidi  sei,  beliauptet 
schon  SethCahlsius  mit  Redit.  Nur  Formeln  für  den  Gesang  der  Psalmen  sind  jene  Tropen,  sagt  er; 
das  Wesen  der  Tonarten  wird  durdi  sie  weder  riditlg  angedeutet,  noch  entfaltet;  selten  heben  sie  innerhalb 
ilirer  wahren  Grenzen  an,  und  sdiliefsen  meist  auf  ungehörige  Weise.  Dennodi  ist  ilire  Kcniifnifs  fiir 
den  Gesang  der  Psalmen  hiklist  widilig,  und  —  setzen  wir  hinzu  —  audi  ohned:els  wird  ISiemand 
jene  dirwürdigen  Reste  des  Altcrthums,  weldie  der  fromme  Sinn  der  Meister  des  sedizehnten  Jalirhun- 
derts  harmonisdi  reicher  zu  entfalten  gestrebt  hat,  anders  als  mit  Ehrfudit  betradilen. 

An  jenen  wesentlichen  Kennzeichen  allein,  die  wir  nunmehr  bei  allen  Tonarten  dargelegt  haben, 
Ist  jede  dersdben  zu  erkennen;  jcdodi  erst  nach  vollständiger  Prüfung  jedes  einzelnen  Gesanges  aus  je- 
nem Zeitalter  für  Uin  richtig  zu  bestimmen;  nidit,  wie  bei  unseren  Tonarten,  schon  nadi  der  Vorzeich- 
nung zu  Anfange,  und  dem  Sdilufsfalle  des  Basses  allein.  Die  alten  Tonmeister  kannten  überhaupt  nur 
eine  Vorzeidmung  neben  dem  Sddüssel  Uirer  Gesänge,   die  des  b,   um  damit  anzudeuten,   dafs  der  Ge- 

q/TonJor  nur  der  Jii.sweichung  icegen  in  die  Quinte,  welche  der  durch  das  0  gebildete  I/albfon  am  elndringlichslen  he- 
ieirlmetej.  —  Tertia  ratio  est,  ul  cum  vellet  c/umfus  ad  ejus  perfectionem  ascendere ,  non  inreniatur  Iritoni  duritia, 
quae  adesset,  si  per  b  rotundum  ipsum  ascendeus  cantaremus,  scilicet  a  b  primo  acuta  ad  e  acutum.  fOiese  Wirte  frei- 
lich fände  sich  ebeufalls  bei  dem  Jonischen,  überhaupt  bei  alten  Tonarten:  ausreichender  ist  der  folgcude  Grund. J 
Cantari  dcbct  etiam  per  b  rotundum  suo  scilicet  in  dcscensu ,  ut  cum  rult  se  a  diapente  supra  ad  finem  deponeie,  possil 
Iritoni  duritiam  eritare. 


—       1*5       — 

sang  in  ihrem  weichen  System  ausgeübt  werden  solle.     Erst   später,   zu  Anfange  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts, trat  auch  die  des  Doppelkreuzes  (oder  sogenannten  h  cancellatum)  allgemeiner  ein,   zu  Bezeich- 
niuig  einer  Versetzung  aus  dem  harten  System  in  das  harte,    oder  mit   andern  Worten,    der  Versetzung 
eines  Gesanges   aus  den  seiner  Tonart    eigenen  Grenzen  in    die  einer  andern  Tonreihe,    welclie  die  Vor- 
zeichnung,   (;mi  sie  jener  ersten  übereinstimmend  zu  machen)  in   der  Folge   ilu-er  Verhältnisse  zwar  ver- 
änderte,  ohne  sie  jedoch  in  das,   dem  weichen  Systeme   angehörende  verbundene  Tetrachord  liinüber  zu 
leiten.     Im  ersten  Anfange   also  wurde   nur  das   System  durch   die  Vorzeichmmg  angedeutet,    olme  die 
Tonart  mit  derselben   bezeichnen  zu   wollen;    späterhin,    ebenfalls   ohne  die  Absicht   einer   Bestimmmig 
dieser  Art,  die  Versetzung  eines  Gesanges  aus  seinen  cigenthümliclien  Grenzen,  ohne  Veränderung 
des  Systems.     Eine   solche   Versetzung   (die  sogenannten  ttioni  ßnti  im  Gegensatz  der  tuoni  trasposti 
des  weiclien  Systems)   wurde   durch  die    bei  der  hannonischen  Entfaltung  aller  Kirchentöne  nach  und 
nach  henorgegangenen   Halbtöne  statthaft.     Der  erste,    der  unter  ilmen   sicli  uns   ergab,    durch  welchen 
die  \'envandelung  des  Mixolydischen  in  das  Ionische   vermittelt  wurde,  das  erhöhte  f  odery?«,  gewährte 
nun  zugleich  die  Möglichkeit,  eine  jede  Tonart  in  der  Oberquinte  oder  Unterquarte  ilires  Grundtons  aus- 
zuüben,  eine  Versetzung,   durch  welclie  die  den  Kirchentönen  eigentliümliche ,  verwandelnde  Modula- 
tion niclit  ausgescldossen  büeb,   welclie  lüer,  statt  das   weiche  b  einzufuliren ,   nur  die  Vorzeiclmung  des 
Kreuzes  tilgte,    tmd  so  in  dem  Umfange   der  versetzten  Tonart  die  Eigenthümliclikeit  der  ilir  nächstver- 
wandten,   auf  ihre  Oborquinte   gegründeten  darstellte.     Das  erhöhte  c  und  g,    zufalliger    zwar,    als  jener 
erste  Halbton,    doch  nicht  olme  Borechtigung,  und  dem  Wesen  der  Tonarten  völlig  mibeschadct,   in  den 
Kreis  der  Töne  aufgenommen,  reichten  pjr  das,  auf  diese  zweite  Weise  (nadi  D  und  A)  versetzte  I\Iixo- 
lydisclie  und  Dorische   aus.     Kur   dem  Aeolisclien  und  vornehmlich  dem  Phrygischen,  die  sich  nunmehr 
auf  den   Grundtönen  E  und  R  darstellten,   fehlte,  wenn    auch  jenem  nur   der  selten  und  zufiillig  erschei- 
nende Unterliaibton,    doch  diesem  die  für  seinen  Schlufs  so   wesentliche  grofse  Terz  seines  versetzten 
Grundtons,    der  in  dieser  eben  notliAvendig  anklingende  Leitton   in  das  Aeoüsche.     jNiclit,    dafs  man  das 
Phrygisclie  in  dieser  Versetzung  selbständig  geübt  habe;    man  dehnte  eine  solche  nicht  über  die  Grenzen 
aus,    welclie  die  Bequemlichkeit  der  Ausrüiirung  erheisclitc,    und  Prätorius  gicbt  nur  von  dem  MLxolydi- 
sclien  und  Aeolischen  Beispiele  dieser  Art;  allein  sollte  das  so  versetzte  Aeohsclie  nicht  seiner  besonders 
vorwaltenden  Richtung  —  der  nach  dem  Phrygischen  —  beraubt  bleilien,  so  war  ihm  die  Erhöhung  des 
d   mii   einen   halben   Ton    unerlafslich.      Dieser   neu  eingeführte  Halbton,    dis,    als  Oberquinte  von  gis 
und  grofse  Terz  von  h  fiel  jedoch  mit  dem,   durch  das  weiche  System  als  Unterquinte  des  b  schon  ge- 
gebenen  es  nicht  zusammen;    einem  Tone,    der  als   kleine  Septime  des  versetzten   ionischen  Grundtons 
F,  die  mixolydische  ^  er\vandtscliaft  des  Ionischen  anldingen  Hefs,  und  so  ferner  als  kleine  Terz  von  C, 
als  kleine  Sexte  von  G,  die  Hinneigung  des  IMixolydischen  zum  Dorisclicn  und  dieses  zu  dem  Aeolischen. 
D'ts,  mit  jenem  es  nicht  versclimelzend,  erforderte  auf  den  Orgeln  jener  Zeit  eme  besondere  Taste,   und 
erlüelt  sie  durch  Theilung  der  für  jenes   es   bestiimnten.      Auf  gleiclie  Weise  wurde    auch  gis  getheilt, 
um  as  als  Unterquinte  -^on  es  und  kleine  Oberlerz   von  f  zu  gewinnen,    wenn  die  Stimmung  der  Orgel 
es  erforderte  bei  Begleitung   eines  Gesanges  jenen  Ton  als  Grundton  zu  wählen.     Beide  Halbtöiie  finden 
wir  bereits   in  Werken  von  Tonmeistern   aus  der   letzten   Hälfte   des   seclizchnlcn  Jalirhunderts  liin  und 
vrieder  angewendet;   ilir  friÜiester  Gebraucli  wird  bald  Acm  Cyprian  de  Rore,  bald  dem  Orlandus  Lassus 
zugeschrieben.     In   den  ursprünglichen   Systemen   der  Tonmeister  jener   Zeit,    dem  harten   mid  weichen, 
finden  beide  nicht  ihre  Begründung;  eine  für  die  Bequemlichkeit  der  Ausführimg  notli wendige  Versetzung 


—      9G      — 

ei-zeuclc  beide  als  nebenlier  geduklele  Abweichungen,  ohne  sie  in  den  Kreis  der  übrigen  zufälligen  Halb- 
töiie  mil  aufzunehmen,  sie  durch  eine  Temperatur  in  unserem  Sinne  mit  Ihnen  zu  verschmelzen.  Vor- 
handen waren  beide  gevifs  früher,  als  die  obgenannlen  Meister  sich  derselben  bedienten,  und  auch  frülier, 
als  man  die  \crschiebung  des  Systems  durch  ^^orzelchnung  eines  Kreuzes  zuerst  andeutete,  um  dem 
Orn-anislcn  die  vorher  nothige  Versetzung  aus  dem  Stegreife  zu  ersparen,  und  ilim  die  Bequemlichkeit 
zu  gewähren,  die  Begleitung,  dem  Aufgezeiclmeten  gcmäfs,  sogleich  ausfüliren  zu  können.  Die  Anwen- 
dun<^  derselben  ist  aber  in  sofern  nur  ein  Fortschritt,  eine  lebendige  Erweiterung  der  Kunst  zu  nennen, 
als  sie,  ohne  Rücksicht  auf  Verschiebung  eines  Gesanges,  diese  Halbtöne  in  den  Kreis  der  übrigen 
hineinzog,  den  Geist,  das  Wesen  der  bestehenden  Tonarten  durch  sie  eigenthümhcher  entfaltete.  In  wie 
weit  dieses  von  jenen  Meistern,  ob  es  auch  durdi  Gabrieh  gescliehen,  werden  wir  zu  seiner  Zeit  näher 
betrachten. 

So  bleibt   denn  nur  noch  von  den,    frülier  im  Vorbeigehen  beinilirten  Nebentönen  oder   plaga- 
len  Tonarten  zu   reden,    und  wenn   die  besondere  Bedeutung,   welche  diesen   in  neuester  Zeit  hat  ge- 
«'eben  werden  sollen   In  der  Anslclit   der   frülieren   Tonlehrer  nicht  begmndet  gefmiden,    dieser   Ansicht 
aber   beigestimmt  wird,    der  Widerspruch   aufzulösen.    In  welchen   die  eben  vorgetragene   Lehre  dadurch 
mit  sich  selber  zu  treten  scheint,  dafs  sie,  von  den  alten  Tonlehrern  unabhängig  sich  gestaltend,  dennoch 
eine  ilir  hemde  Ansicht  durch  deren  Ausspruch  zu  widerlegen  strebt.     Leicht  aber  wird  dieser  scheinbare 
Widerspruch  durch  die  Bctraclitimg  geschhchtet,    dafs  die   gegenwärtige   Lehre,    sofern  sie  manches  aus- 
sprach, 'As  Grundsatz  aufstellte,  was  in  den  älteren  Tonicliren  sich  nicht  also  findet,  von  ihnen  dennocli 
sicli  ke'meswegs  zu  trennen,    vielmehr  ihre  Vorschriften  mit   der  Kunstübung   jener  Zeit  In  LTebereinslim- 
mim"-  zu  bringen,   das  in  ihnen  unvollendet  gebliebene,    von  Iliren  Nachfolgern   bei  veränderter  Richtung 
gänzlich  verlassene  oder  nur  in  seiner   damaligen  Gestalt  bewahrte   Lehrgebäude  völlig   zu  begründen,    in 
sidi  alw.usclilicfscn  beniülit  war.     Immer  nur  melodische  Eigenthünilichkelt,  wie  wir  gesehen,  war  Ge- 
genstand  der  Untersuchungen  jener  Lehrer;    was  wr   Harmonie  nennen,    war  Ihnen  nur  gleichzeitiges 
Ertönen  mannlchfach  verwobener  GesangswcIsen,  ohne  Beleidigung  des  Ohres,  nicht  Entfallung  des  Inne- 
ren Lebens  der,    jene  Weisen  wesentlich  regelnden  Tonreihen  in  der  Fülle,    Kraft  und  Anmuth  des  Zu- 
sammenklanges;  wie  jenes  Leben  aus  jeder  besonderen  Tonreilie  sich  entfalten  können,  wie  es  um  jene 
Zelt   sich  ■wirklich   gestaltet  habe,    Ist  ergänzend   darzulegen   versucht  worden.     Darum    mufsten  wir  aus 
jenen  Lehrern,  als  der  sichersten,  ja  einzigen  Quelle,  Namen  und  Beschreibung  aller  einzelnen  Tonarten 
scliöpfen,   durften  uns  aber  auch  berechtigt  halten  von   ihrer  harmonischen  Eigenthümliclikeit  ein  Mehres 
auszusagen,  als  wir  bei  jenen  verzeichnet  finden,    dasjenige  nämlich,   was  die  lebendige  Kunstblüte  jener 
Zeit  uns  darüber  vertraut  hat.     Mit  gleichem  Rechte   schhefsen   wir  uns   jenen  Tonlehrern   an,    wo   sie 
ims  innerhalb  aller  Tonai-ten  eine  melodische,  bei  einer  jeden  nach  gleichen  Gesetzen  geregelte  Abwei- 
diung   nachweisen.     Eine   solche  werden  uns  die  plagalen   im   Gegensatze  der   abgehandelten   Haupt- 
oder authentischen  Tonarten  ersdieinen.     Eine  Lehre,  welche  die  Namen  jener  Abarten  beibehaltend 
doch  ein  Anderes  von  ihnen  aussagi,  als  die  allen  Lehrer,  können  wir  nur  in  so  weit  für  eine  richtige  er- 
kennen, als  sie  die  mangelliafte  Untersuchung  derselben  durch  das  Kinistleben  Ilirer  Zeit  zu  ergänzen  trachtet. 
Wie   jene  melodisdie    Abweichung,    nicht  sowohl  sich  gebildet,    als  wie  sie    diu:ch  die  Lehre  für 
regelrecht  anerkannt  worden,  wie  sie  beschafTen  gewesen,   wollen  wir  zuerst  darlegen;  leicht  wird  diese 
Betrachtung  das  Maafs  ilirer  harmonischen  X'N'ichligkeit   ergeben.     Die   Ergebnisse   dieser  Bctraditung  ge- 
denken wir  sodann  mil  unseren  Grundsätzen  von   der  harmonischen  Entfaltung  der  Haupttöne,    und  mit 


—      97      — 

demjenigen  zu  vcigleidieu ,  wns  ein  Forscher  unserer  Tage  über  die  Nebentöne  in  gleicher  Rücksieiit 
aufgestellt  hat:  die  Prüfung  jener  neueren  Lehre  Avird  so  am  schicklichsten  eüigelcltet  und  durchgeführt 
Verden  können.  Die  gedrängte  Darlcgiuig  der  Lehrgebäude  eines  früheren  und  eines  späteren  Tonfor- 
schers  im  sechzehnten  Jahrhundert,  eines  Venedigers  und  eines  Deutschen,  möge  das  Verhältnifs  der  Lehre 
jener  Zeit  zu  dem  gegebenen  Versuche  ihrer  Ergänzung  A'öllig  xur  Anschauung  bringen,  diesen  Abschnitt 
von  den  Kirchenli'inen  /.u  einem  Canzen  runden. 

Der  Gesang,  bcrnjit  auch  seine  Ausbildung  und  sein  Fortschritt  auf  nolhwendigen  Bedingungen, 
die  dem  aufmerksamen  Betrachter  des  fertigen  Gebildes  nicht  entgehen,  die,  je  mehr  der  bildende 
Trieb  mit  ßewufstsein  geübt  vird,  ein  Gegenstand  der  Lehre  und  künstlerischer  Zuclit  werden  müssen, 
hatte  doch  schon  eine  gevisse  Reife  der  Ausbildung  erreicht,  ehe  jenes  iMaafs  von  Selbstbewufstsein  ein- 
getreten war,  das  ihn  zu  einem  Gegenstande  sondernder  Betrachtung  machen  konnte.  Wir  dürfen  um 
so  Moniger  daran  zwei  fehl,  da  Mir  in  dem  ^^origen  so  oft  gesehen  haben,  wie  die  Betraclitung  hinter 
der  Ausübung  allezeit  zurückgeblieben,  Avie  sie  nicht  selten  durch  diese  irre  gemacht  und  aufgehalten 
worden  sei.  Frühe  war  der  unbezweifelt  richlige  Grundsatz  gefunden  worden:  ein  jeder  Gesang  gehöre 
einer  Tonreihe  an,  die  seine  Eigenthümhclikeit  bestimme  und  rogle;  dennoch  bheb  es  schwierig  jenen 
Grundsatz  genügend  anzuwenden,  jedes  Einzelne  gehörig  unterzuordnen.  Innerhalb  der  Grenzen,  welche 
der  tiefste  und  h(>chstc  der  Töne  bildeten,  die  in  dem  eben  betracJiteten  Gesänge  vorkamen,  so  schien 
es,  mufsle  jene  Tonreihe,  der  Scldüssel  zu  seinem  Wesen,  gesucht  werden;  wie  leicht  aber  konnte  der 
eine  oder  der  andere  jener  Endpunkte  ein  zufälliger  sein,  die  wahren  Grenzen  derselben  überschritten, 
oder  auch  nicht  erreicht  haben,  dennocli  aber  ihre  Eigentliümlichkeit  in  ihm  vorwalten?  woran  sollte  sie 
innerhalb  dieser  gestörten  Grenzen  erkannt  werden?  Gewisse  Kennzeichen  mufsten  es  sein,  Ruhepunkte 
in  der  Wendmig  des  Gesanges,  die  auf  den  wahren  Anfangspunkt  der  Reihe,  den  ihre  W\'senheit 
bedingenden  (irundton,  zurückzuschliefsen  erlaubten.  Aber  auch  diese,  sofern  verwandten  Reihen  gewsse 
^^endungen  gemeinsdiaftlich  waren,  blieben  noch  zweideutig;  zu  geschweigen  der  oft  unregelmäfsigen 
Anfänge  und  Schlüsse  mancher  Gesänge,  da  Anfangs-  und  Endpunkt  ja  sonst  die  sichersten  FüJirer  bei 
jener  Untersuclunig  gewesen  a'\ ären.  Daher  auch  die  Schw'ierigkeit  die  Tonart  jeden  Gesanges  richtig  zu 
bestinnnen.  über  die  man  in  jener  Zeit  so  oft  klagen  hört;  unserer  Tonkunst  eine  längst  gesclilichtete, 
da  ^'orzeichnung  xmd  Schlufsfall  darüber  jetzt  keinen  Zw  cifcl,  selbst  dem  Lehrlinge,  mehr  lassen,  der  frei- 
Uch  auch  um-  zu  prüfen  hat,  ob  das  ihm  vorgelegte  Slück  einer  harten  oder  weichen  Tonart  angehöre, 
und  auf  welcher  Stufe  dieselbe  geübt  werde,  ohne  dafs  ihm  zugemuthet  würde,  nach  ihrer  Eigenthürn- 
lichkcit  jede  Tonart  zu  bestimmen.  Daher,  der  starren  Vorschrift  gegenüber,  der  so  heftige  Tadel  über 
Ausartung  der  Kunst,  üppiges  Ueberwnchern  der  Regel,  als  sei  das  leicht  Untergeordnete  allein  das  Voll- 
kommene; daher  AAiederum,  Lehre  und  Kunstübung  in  gleichem  Maafse  zu  retten,  jene  Menge  von  Un- 
terabtheilungen, Abarten,  Ausnahmen,  die  von  einigen  neben  der  strengen  Regel  festgesetzt,  von  an- 
dern, als  die  Lehre  vervA'irrend  mid  verdinikelnd,  mit  Recht  abgewiesen  AATjrden.  Jene  ScliAvierigkeit  zu 
beseitigen,  die  atis  überschrittenen  oder  nicht  völlig  erreichten  Grenzen  der  Tonart  für  deren  Bestim- 
mung in  einzelnen  Fällen  erwuchs,  vereinigte  man  sich  endüch  über  eine  als  regelrecht  zu  erkennende 
Abweichung  zwschen  Sangweisen,  welche,  wenn  auch  in  verschiedenen  Grenzen  der  Höhe  und  Tiefe 
sich  bewegend,  dennoch  derselben  Reihe,  nach  anderen  Kennzeichen  unzweifelhaft  anzugehören  schienen. 
Ist  es  aucli  schwierig,  sagte  man,  in  Bestimmung  des  wahren  Grnndlones  für  jeden  Gesang,  mit 
dem   auch    dessen   Tonart   gefunden   ist,    nicht   zu   Irren ,    so    mufs   dieselbe    nach    sicheren    Kennzeichen 

C  T.  WhilrrfeW.  Job.  iiübilcli  u.  s.  ZeitoUer.  |  O 


—       98      — 

dncli  getroffpn  -wcrdpii  können,  lutbeii  ^\\r  uns  über  diese  nur  ersl  geeinigt.  \Ycndiing  und  Ruliepunkte 
des  Gesanges  aber  sind  unter  ibnen  die  sichersten;  ancii  der  unregclmäfsigc  ^Vnfang  leitet  gewifs  endlich 
7.U  einer  Ausweichung,  durch  welclie,  in  Vergleiclnmg  mit  den  andern  vorkommenden,  auf  die  Tonart 
gesdilossen  werden  kann;  der  unregelmäfsige  Schlufsfall  ist  meist  nur  ein  angefügter,  niemals  ein  der 
'J'onarl  an  sich  fremder,  nur  sofern  er  in  den  (Jrundlon  nicht  /.iirückleilet ,  ein  ungehöriger.  Deutet  er 
in  \>rbiudung  mit  den  ^ orkonnnendcn  Ausweichimgen ,  auf  einen  bestimmten,  wenn  auch  durcli  ihn 
nicht  berührten  Grundton,  so  müssen  wir  diesen  als  den  richtigen  annehmen,  und  am  wonigsten  darf 
die  Vergleichung  mit  dem  Anfangspunkte  des  Gesanges  uns  hiebe!  irren,  da  dieser  ja  überall  in  der  Ton- 
reihe gcnonnnen  werden  kann.  Die  Endpunkte  in  der  Höhe  imd  Tiefe,  wie  sie  uns  die  Zusammenstel- 
lung der  einzelnen  Töne  des  Gesanges  bietet,  dessen  Tonart  wir  erforschen  wollen,  sind  für  diese,  allein 
betrachtet,  die  zweideutigsten  Kennzeichen.  Nicht  an  diesen  äufsersten  Grenzen  allein,  oder  selbst  nur 
in  deren  Kühe  darf  man  den  Grundton  suchen.  Geschieht  es  doch  nicht  immer,  dafs  der  Gesang,  von 
dem  tiefsten  Endpunkte  seiner  Leiter  l)is  zu  deren  höchstem  aufwärts  strebend  sich  hin  bewegte,  noch 
seltener,  dafs  er  von  diesem  durchaus  zur  Tiefe  liin  abfiele:  die  freie,  wecliselnde  Bewegung  zwischen 
diesen  Grenzen  gewährt  ihm  ja  erst  Leichtigkeit  und  Anmuth.  Auch  findet  es  sich  wohl,  dafs  der  Grund- 
ton in  der  Milte  des  Ganzen  sich  verbirgt,  der  Gesang  von  Ihm  auf  inid  abuärls  schweift,  ohne  dnrcli 
diese  Besonderheit  seiner  Bewegung,  wenn  auch  innerhalb  verschiedener,  gleichsam  erborgter  äufserer 
Grenzen  beschlossen,  der  Reüie  weniger  anzugehören,  an  deren  Spitze  jener  Grundton  steht.  Auf  dop- 
pelte Weise  gestaltet  hienach  sich  jeder  Gesang:  liegt  er  auch  äufserhch  meist  innerhalb  der  Grenzen 
derjenigen  Tonrcihe  beschlossen,  durch  die  sein  Gang  geregelt  wird,  ist  sein  Grundton,  wenn  nicht  der 
tiefste,  doch  einer  der  tieferen  unter  den  von  Ihm  berührten  Tönen,  so  gehört  er  der  authentischen, 
der  llaupttonart  an,  welche  durch  diese  Reihe  dargestellt  wrd;  erborgt  er  seine  äufseren  Endpunkte 
von  einer  fremden  Reihe,  findet  aber  In  dem  Gnmdtone  jener  ersten  dennoch  seinen  iMittelpiuikt,  so 
hängt  jene  erborgte  Reihe  mit  dieser  iuif  das  innigste  zusannnen,  Ist  mit  Recht  als  deren  Nebentonart, 
als  plagalische  zu  bezeichnen.  Die  fortscbreilende,  je  länger  je  mehr  sich  läuternde,  das  Wesentliche 
von  dem  Zufälligen  sondernde  Betrachtimg  fand  auf  diese  ^VeIse  für  die  nähere  Bestimmung  und  L^^nter- 
ordnung  jeden  Gesanges  zwei  feste,  sichere  Kennzeichen;  die  nähere  Abgrenzung  aber  wurde  hier  mit 
Recht  auf  eine  Naturanschauung  gegründet,  die  Neigung  jeden  Tones  zu  seiner  Oberquinte.  I\Iag  der 
Gesang  aucli  um  ein  weniges  hinschweifen  über  seine  Grenzen,  sagte  man,  das  fremde  Gebiet,  das  er 
eben  nur  beruint,  sei  es  In  der  Höhe  oder  Tiefe,  zieht  ihn  defshalb  noch  nicht  zu  sich  hinüber.  Erreicht 
er  jedocli  in  der  Höhe  nicht  den  Endpimkt  seiner  Reihe,  hält  er  sich  innerhalb  der  Schranken  der  Ober- 
quinte, und  sucht,  was  er  In  der  Höhe  eingebüfst,  in  der  Tiefe  bis  hinab  zu  deren  Unteroctave  wieder 
zu  gewinnen,  so  schreitet  er  \ölllg  hinüber  In  ein  fremdes  Gebiet,  erhält,  Mcnn  auch  der  Eigentiiümllch- 
keit  seiner  Tonart  imbesdiadet,  einen  durchaus  verschiedenen  melodischen  Ausdruck.  Daher  auch  die 
Benennung  jener  Nebentöne,  welche  sie  unter  die  Grenzen  des  llaupttons  hinabgeschritlen  bezeichnet, 
durch  die  Namen  der  hypodorischen,  hypophrygischen,  hypoionischen,  hj-pomlxülydlschen,  hypoaeolischen 
Tonart,  dennoch  aber  dabei  zu  erkennen  glebt,  wie  nahe  verwaiult  sie  jenen  sind.  Beachten  wir  blofs 
die  zufälligen  Grenzen,  so  bewegt  freihcli  das  Hypodoriscbe  sich  innerhalb  der  Endpunkte  des  Aeolischen, 
das  Hypomixolydlsche  des  Dorischen,  das  Hypophrygische  gar  in  den  Grenzen  einer  Tonreihe  (der  zwi- 
schen H  und  h  beschlossenen),  die  wir  zu  harmonischer  Entwickelung  untüchtig  fanden;  allein  alle 
jene  Nebentöne  bleiben  nicht  minder  der  Eigenthümlichkeit  ilirer  Haupttöne  getreu,    da  es  immer  der 


—      99      — 

Grundton  ist,  auf  welchen  die  in  Urnen  vorkommenden  \"er]iällnisse  bezogen  werden,  mag  dieser  mm 
der  ftliltelpunkt  der  Reilie  sein,  mag  er  an  deren  äufsersten  Grenzen  liegen.  Ist  dieses  aber  der  Fall, 
so  bleiben  aucli  dem  Haupt-  wie  dem  Nebentone  alle  Ausweichungen,  und  mit  ilinen  die  harmonisclie 
Entfaltung  überhaupt,  völlig  gemein;  es  ändert  in  dieser  nichts,  mag  eine  Weise  authentisch,  ma»-  sie 
plagalisdi  heifsen.  Nur  bei  solciien  Gesängen,  in  denen,  m  ie  bei  einfach  gesetzten  Chorälen,  eine  Stimme 
unbedingt  die  herrschende  ist,  dürfte  der  veränderte  melodische  Fortschritt  aucli  den  harmonischen  Wen- 
dungen eine  verschiedene  Färbung  verleilien.  Bei  anderen,  wo  eine  iMelodie  durcli  den  ganzen  Zusam- 
menklang nur  leise  sicli  hinzieht,  in  keiner  einzelnen  Stimme  allein  angetroffen  wird,  oder  bei  solchen 
in  denen  die  Kunst  des  Contrapmikts  am  tiefsinnigsten  hervortritt,  wo  jede  Stimme,  eigenthümlich  ge- 
staltet, von  der  andern  gesondert  erscheint,  mit  allen  übrigen  aber  vereint  ertönend,  dennocli  das  Leben 

einer  Tonart,   wie  es  im  Zusammenklänge  nach  alleii  Seiten  hin  ausstrahlt,   zu  offenbaren  strebt  bei 

allen  Gesängen  solclicr  Art  mufs  der  Unterschied  dos  Authcntisclion  und  Plagahsclien  völlig  verschwinden. 
Audi  erscheint  er,  je  mehr  die  Kunst  der  Harmonie  sicIi  ausbllilcte,  immer  unwesentlicher;  eis,fnen  Zeu«-- 
nissen    der    alten    Tonlehrer    zufolge    könnte    man    ihn    durch    dieselbe    für    gänzHch    vernichtet    anneh- 
men.     Ueberhaupt    mufsten    diese,    da    nur   melodische   Eigenthümlidikeit   ihre  Forsdiungen   beschäf- 
tigte,   jener  Untersdiied   aber   ehi   melodlsdier   war,    tlle   Tonart,    auch   eines   mehrstimmigen  Gesano-es, 
immer    nach   einem    als    Hauptstimme   betraditeten   Theile    des   Ganzen    beurtlieilen.       Nun   Maren   aber 
ihre    mehrstimmigen    Gesänge    nicht    ijnmer    der    Art,     dafs    eine    der    Stimmen    unmittelbar    die    li^rr- 
schende  gewesen  wäre;  sie  waren  öfter  noch  auf  die  beiden  anderen,  zuvor  beschriebenen  Weisen  ein"-e- 
gerichlet.     Die  Kunst  aber,  den  harmonischen  Gang  eines  Tonstückes  über  dessen  tiefster  Stimme  hinzu- 
zeichnen, der  Generalbafs,  war  von  ihnen  noch  nicht  gefunden  worden,  sehen  wir  auch  dessen  späterhin 
erst  ausgesprochene  Regeln   unbewufst   von  ihnen   geübt.     Es  blieb  ihnen   hienach,    die  ßestimmuno-   der 
Tonart,    der  durch  sie  bedinglen  harmonischen   Entfaltung  zu  treffen,    nichts    übrig,  als  eine  Stimme  vor 
den  andern  als  die  Haupfstlmme  zu  bezeichnen.     Diese  -war  bei  Ihnen,  nicht  wie  bei  uns,  die  Oberstimme, 
sondern  der  Tenor;    sei  es  nun,   dafs  dieser,   dem  reifen  männllciien  Aller  angehörigen  Stimme,  defshalb 
auch  die  Rechte  männhcher  Obergewalt   eingeräumt  werden  sollten;    sei  es,    da   bei  Kirchengesäntren  der 
Hauptstimme  die  übrigen,  unterstützend  und   schmückend,    nach  und  nach  in  der  Tiefe  und  Höhe  hinzu- 
traten seit  die  Kunst  der  Harmonie  sich  ausbildete,  dafs  die  von  dem  Tenor  des  Geistlichen  vorgetra°-ene 
alte,   überlieferte  Kirchenweise,  auch  jener  Stimme   vor  den  übrigen  gröfsere  Würde,   und  die  unbedinoie 
Herrschaft  zusicherte.     Wir  finden   mindestens,    dafs   nicht   nur  in   mehrstimmigen   heiligen   Liedern   der 
alten   KIrdie   aus   dem   fünfzehnten   Jahrhundert,    sondern   auch   in   den   ältesten   evangehschen   Gesängen 
seit  der  Reformation,   die  llauptsllmme   allezeit  in  den  Tenor  gelegt  ist,    dafs  ihr,    wie   Luther  sidi  aus- 
drückt, der  himmlische  Reihentanz  der  übrigen  sich  zugesellt.     Von  dem  Tenor  aber  schreibt  Zarlino  im 
ein  und  drelfsigsten  Kapitel  des  vierten   Buches  seiner  hislitutlonen   folgendes  vor:    der  Tenor  vorzügUch 
sei   es,    auf  welchen   der  Tonkünstler  sein  Augenmerk   richte;    er  stelle  die  Natur  der  gewählten  Tonart 
auf  anmuÜiige  und  bezeldinendc  Weise  dar.     Der  Bafs  scliHefse  sich  ihm  .in  der  Art  an,  dafs  wenn  jener 
z.  B.  innerhalb  der  Grenzen  einer  autlientlschen  Tonart  sich  bewegt,  dieser  die  entsprechende  plagaüsche 
darstelle,  luid  umgekehrt;    in  gleichem  Verhältnisse   stehe   der  Alt  zur   Oberstimme.     Wenn  aber  diesen 
Vorschriften  zufolge,   Haupt-  und  Nebenton  In  verschiedenen    Stimmen  zusammenkUngen  sollen ^   so  folgt 
unmittelbar,  dafs  deren  Untersdiied  völlig  verschwinde,   und  dafs  nur  die  harmonische  Ejgenthümlichkeit 

13' 


—      lüO      — 

■/.urückbleibc,  welche  ans  iler  beiden  gemeinsamen,   in  dev  einen   und  der  andern  imr  verscliicden  gewen- 
deten Toineihe  entspiingL 

\'or  einigen  Jnhren  hat  Peter  Mortimer  in   einem  AVerke,    das   die  Frage   zn   beantworten    sneht: 
woher  es  komme,    dal's  in  den  ('horahnelodieen  der  Allen  etwas  sei,    das   licut  zu  Tage    nidit  mein-  er- 
reicht ^\erdc,  die  Lehre  von  den  Kirclientönen  aufs  Neue  vorgetragen;    ein  Unternehmen,    das  lebhaften 
Dank  verdient,  und  dessen  Früchte  nicht  ausbleiben  werden.     Aucli  bei   nur  mangelhafter  Kenntnifs    der 
Meister    und    Tonlehrer    des    sechzehnten    Jahrhunderts    hat    ein    richtiges    Gefühl    den    ^crfasser    meist 
sicher  geleitet,    und  in  den  Hauptsachen  stimmt   die  eben   vorgetragene   Lehre   mit  der   seinigen  überein. 
Seinem   Vortrage   von    den  plagalen   Tonarten  jedoch   mangelt  die   Bestätigung    durch   ältere    Zeugnisse, 
die  Begründung  durch  ächte  Beispiele.     Auffallend  ist  es  zunäclist,   dafs  ihm  zufolge  nur  drei  plagalische 
Tonarten,  die  hypoionische,  hypodorische,  hypomixolydisclie,  in  den  evangelischen  Kirchengesängen   noch 
angetroffen  werden,    da   docli   Seth   Calvisius   nicht  weniger   Beispiele   von   den   beiden  andern,    als    von 
jenen  anführt.     Es  befremdet  ferner,  dafs  Haupt-  und  Nebenton  nach  seiner  Ansicht  nicht  allein  durch  die 
melodische  Wendung,  dafs  sie  wesentlich  von  einander  verschieden  sein,  dafs  jedem  besondere,  ihm 
eigenlliündiche  Ausweichungen   zustehen   soUen.      Diese  Ansicht   gründet  sich  auf  einseitige   Betrachtimg 
des  Umfanges  der  plagalen  Tonarten.     Ihren  äufseren  Grenzen  nach  freilich  ist  die  hypodorische  zwischen 
den  Tönen  A  und  a,  die  hypomixolydische  z\^isd^en  D  und  d  beschlossen;    nach   Mortimer  aber   sollen 
diese  Endpunkte  auch  als  Grundtönc   beider  gelten,    alle   Verhältnisse   der  durch   sie   befafsten   Reihen 
nach  ihnen  bestimmt  werden;    diese  Verhältnisse  aber  sollen  nicht  innerhalb   jener   Grenzen,    sondern  in 
denen  der  authentischen  Tonarten  geübt,  inid  Haupt-  und  Nebenton  so   in   Verljindung  gebracht  Merden. 
Das  Ilypodorische  würde  hienach  mit  dem  versetzten   Aeolischen,    das   Hypomixolydisclie  mit  dem   ver- 
setzten Dorischen  zusammenfallen.     Denn  die  erste  jener   beiden   plagalischcn   Tonarten  erklärt  INIorlimer 
als   eine   IMolltonart  mit  vorherrschender  kleiner,    die    letzte   als   eine    solche   mit   überwiegender   grofser 
Sexte;     eine   Erklärung,    welclie   auf  die   genannten   aulhentischen   Tonarten   nicht  minder  pafst.      Diese 
LTebereinstimmung  jedoch  soll  nur  eine  scheinbare  sein;  heiTSche  sie  auch  vor  in   der  Folge  der  Tonver- 
hältnisse beider  Reihen,  dennoch  sollen  die  verschiedenen  Grenzen,  in  denen  beide  geübt  werden,  jenach- 
dem  sie  als  Haupt-  oder  Nebentöne  sich  gestalten,  ihren  hinmonischen    Gehalt  bedingen;    das   Hypodori- 
sche, zeige  es  auch  aeohsche  \^erhältnisse,  soll,    da  es  sie  in  dem  LTmfange   des  Dorischen  übe,   dennoch 
ein  ganz  Anderes  sein,  als  das  Aeolisehe,  und  so  das    Hjqiomixolydische   wiederum   ein   völlig   von   dem 
Dorischen  ^Verschiedenes.     Nun  aber  gilt  ganz  allgemein  bei   den  vornehmsten   Tonlehrern  des   sechzehn- 
ten Jahrhiuidcrls  und   den  Meistern   jener  Zeit,    welche   ihre   Gesänge   mit  der  Bezeichnung   der  Tonart 
versehen  liaben,  die  zwisclien  den  Tönen  D  und  d  im  weichen  Systeme  befafste  ReUie  für  eine  versetzte 
aeolisehe,    die   zwischen    G  und  g   in   demselben   Systeme   beschlossene   für   eine    versetzte   dorische 
Tonart;  das  Hypodorische  zwar  M'ird  zwischen  den  erstgedachten  Grenzen  im  weichen  Systeme  zuweilen 
geübt,  doch  allezeit  so,  dafs  G  der  alle  Verhältnisse  ordnende  Grundton  ist;  eben  so  auch  das  Hypomixo- 
lydische innerhalb  der  erwähnten  Endpunkte  in   Beziehung   auf  C.      Die  verschiedenen   Octaven   können 
nacli  älterer  Lehre  also  eine  wesentliche  Verschiedenheit  zwischen   den   erwähnten  Haupt-   und   Nebentö- 
nen nicht  begründen;  diejenige  jedoch,  welche  unser  Verfasser  durch   eine   abweichende  harmonische   Be- 
handlung darzulegen  sucht,  giebt  zwar  von  seinem  Scliarfsinne  Zeugnifs;   wie  sie  aber  von   ilim   geständ- 
lich  auf  nur  willkührHche  Gesetze  gegründet  werden  kann,  so  mangelt  ihr  aucli  alle  Bestätigung  durch 
ächte  Beispiele  älterer  Zeit.     Denn  bei  den  Psalmen  der  französich  Reformirten  (hat  der  Verfasser  deren 


( 


—     101     — 

Gesangs« eisen  ;;lt'ich  aus  unbczweifelt  äcliien  Quellen  e,esclii(pf()    ist  doch  voisäl/.ücli  und  \\issenUicli  die 
alle  liarmouisclio  Behandlung  von  ihm  unbeachlet  geblieben;  und  daii"  man  iim  hier  delsbalh  niehl  ladehi, 
weil  jene  BearbeiUmg  aus  dei-  ersten  Hälfte  des  sechzehnlen  Jahrhunderts  herrührt,    einem  Zeiträume,    in 
welchem  die  harmonische   Eigen tliümlichkeit   der   Kirchenliinc   erst   allmiihllg   sich   zu    entwickeln    begann, 
sie   also    nicht   geeignet   schien,    deren    Blüthc    daran   darzulegen:    so    hat   er   doch   bei    anderen    kircbcn- 
gesängen  darin  gefeldt,  dafs  er  ohne  alle  lliicksichl  auf  die  vorzüglichsten  .Heister  der  Iclzlen  ihilfte  jenes 
Zeitabschnittes,  inn-  nach  neuen,  von  ihm  als  imtadelhaft  erkannten  Beispielen  weiter  folgernd,  meist  auch 
nur  an  die  mimer  zweideutig  bleibende  nielodisclie  ^Yendung  sich   hallend,    Gesetze   aufzustellen   trachlcl, 
welche  der  streng  historischen  Prüfung  als  solche  keines\vegs  sich  bewiihren.     Dieses   zeigt   sich   auf  das 
Bestimmteste  bei  seiner  zweiten  Ilauptquelle,  den  von  Gabrich's  Schüler  llcimich  Schütz   viersl immig  ge- 
setzten  Bcckcrschen  Psahnen.     Die   ^'on   Ihm  aus   denselben   angeführten   Beispiele   stinmicn,    namentlich 
bei  solchen  Stellen,    die  als  vorzüghch  beweisend  in  Ansprucli   genommen    Verden,    weder   in    Grundtou 
noch  Harmonie  mit  der  Urschrift  überein;  ja  unser  Verfasser  gesteht  selber,  diese  l^rschrift   nicht   gesehu 
zu  haben,    die  Psalmen  nur   durch  handschriftliche   Miltheilung   eines   geschätzten   Organisten   zu   kennen. 
„Ihre  Begleitung  ist  den  Kirclicntonarten  vollkommen  angemessen,"  ')  sagt  er  dabei,   ..und  dieses  ist  mir 
genug."     Schwerhch  aber  dürfte  der  Geschichtsforscher  an  einer   so  oberflächlich  beglaubigten  Quelle  sich 
genügen  lassen,  und  billig   Anstand  nehmen,   ein    bei  den  iNcbontonarten   so    in   das   Einzelne   und   Feine 
Jiusgebildeles   Eehrgebäude   als    das   IMortimersche    ist,    auf  so   schwacher   Grundlage   aufzuführen,    zumal 
wenn  er,  ohne  andere  Ursache,  als  dafs  sie  nach  vorgefafsten  Gnindsälzen  nicht   anzutreffen  seien,    dabei 
zwei  jener  Nebentonarten,  die  hj^ophrygische  und  hypoaeolische,  aus  dem  Kreise  der  übrigen  hinauswei- 
sen müfste,  wie  IMortimer  (dem  ausdrückhchen  Zeugnisse  eines  so  geschätzten  Tonlehrers  wie   Seth   Cal- 
visius,  entgegen)  gcthan  hat.     Je  dankenswertber  die  Bemühungen  unseres  \'crfassers  sind,  je  lobenswer- 
llier  sein  Scharfsinn,  der  ilm    meist   das  Richtige   finden  lehrte,    imi  so    mehr  sind  seine   Leistungen   der 
slrena;sten  Prüfung  zu  unterwerfen,  damit 'nicht,  einiger  \\  illkührhchkeiten  imd  Uebereilungen  seiner  Dar- 
stellung -wegen,  die  gute  Sache,  che  er  so  warm  imd  eifrig  vertheidigt  hat,    von   voreihgen   und  übeh\i>l- . 
lenden  Riclitern   aufs  Neue,    wie  in   älterer  Zeit  geschehen  ist,    als  der  Forschung  unwertli  verworfen 
werde. 

Von  der  neuesten  Bearbeitung  jener  Lehre  wenden  wir  ims  nun  zu  ihrer  Behandlung  durch  zwei 
Tonforsclier  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Zarlino ,  IMitlebender,  ja  noch  Amtsgenosse  Johannes  Ga- 
brieli's,  trägt  sein  Lehrgebäude  von  den  Tonarten  in  dem  neunten  bis  ein  und  dreifsigsten  Kapitel  des 
vierten  Buches  seiner  musikalischen  Institutionen  vor.  „Die  Octave,"  sagt  er,  „besteht  ans  zwei  miglci- 
chen  Theüen,  einer  Quinte  und  Quarte.  Jene  besclihefst  drei  ganze  und  einen  halben  Ton  hi  sich,  diese 
zwei  ganze  und  einen  halben;  legen  wir  die  Quinte  dem  Grundtone  ziuiächst,  so  sagen  ^^ir,  die  Octave 
sei  harmonisch  getheilt,  arithmetisch  dagegen,  wenn  das  kleinere  Verhältnifs  der  Quarte  ihm  zu- 
nächst liegt.  Es  giebt  aber  vier  verschiedene  Arten  der  Quinte  und  drei  der  Quarte,  die  durch  Verände- 
rung der  Lage  des  in  beiden  vorkommenden  Halbtons  entstehen,  welche  in  der  aus  ^^er  Tonverhältnissen 
bestehenden  Quinte  vierfach,  in  der  aus  dreien  zusammengesetzten  Quarte  eben  defshalb  dreifach  sein 
mufs.  Jede  von  den  vier  Arten  der  Quinte  nun  kann  mit  jeder  der  drei  Arten  der  Quarte  verbunden 
werden;  hieraus  entstehen  zwölf  Veränderungen  der  Octave  und  mit  ilinen  eben  so  viel  Tonarten.    Dafs 


')     Pag-  29  in  der  Anmerkung. 


—      102      — 

•hier  gerade  nur  diese  Zahl  gedacht  werden  könne,  ergiebt  auch  der  Grundsatz  von  der  harmonischen 
und  arithmetischen  Theihmg  der  Octave.  Der  sieben  Töne  wegen,  aus  denen  die  diatonische  Leiter 
besteht,  giebt  es  sieben,  durch  die  Lage  der  beiden  Halblöne  sieh  unterscheidende  Arten  der  Octave. 
Könnte  jede  derselben  so  harmonisch,  wie  aritlimelisch  gethcilt  werden,  so  würden  wir  vierzehn 
Tonarten  besitzen.  Nun  aber  leidet  die  mit  F  beginnende  Octave  keine  arlllimelische,  die  mit  H 
anfangende  keine  harmonische  Thellung  durch  die  in  der  diatonischen  Leiter  vorkommenden  Klang- 
stufen; es  bleiben  also  auch  hier  wiederum  zwölf  Tonarten  übrig.  Diese  sind  entweder  authentisch 
oder  plagalisch,  jenachdem  die  Octave  harmonisch  oder  arithmetisch  gelhedt  wrd;  jene  werden  durch 
.He  ungeraden,  diese  durch  die  geraden  Stufen  der  Zahlcnreilie  bis  zwölf  bezeichnet.  Jede  plagale  Ton- 
nrl  hat  mit  Ihrer  autlientischen  Grund-  und  Schlufston  gemein;  in  der  plagalen  nämlich  wird  der  Grund- 
ton der  authentischen  zu  der  arltinnetiscli  tliellenden  ()uartc,  oder  mit  andei-en  Worten,  die  in  der  Haupt- 
tonart durch  die  Obcrcpilnte  des  (irundtons  in  der  l^icfe,  durcl»  dessen  Oberoctave  in  der  Höhe  begrenzte 
Quarte  wird  nunmehr  an  die  harmonisch  theilende  Quinte  in  imigekehrter  Ordnung  angefügt,  so  dafs  sie 
^'on  der  LTnteroctave  der  oberen  Tongrenze  tlieser  Quinte  In  der  l^lefe,  von  dem  Grundtone  selber  in  der 
Höhe,  wie  früherhin  von  dessen  Oberoctave,  befafst  wird.  Beide  Arten  der  Quinte  und  Quarte  also,  aus 
denen  der  Hauptton  bestand,  bleiben  in  dem  Nebentone  dieselben,  sie  finden  sich  nur  In  verschiedener 
Lage  an  einander  gefügt,  und  behalten  des  gemeinsamen  L^rsprunges  wegen  auch  denselben  Grundton 
bei.  Nicht  durch  zufiiUige  Versetzungszeichen,  wohl  aber  durch  Verwechslung  des  harten  mit  dem  wei- 
chen Systeme  innerhalb  derselben  Tonreihe  wird  jede  Tonart  wesentlich  verändert;  diese  Verwcclislung 
aber  gewährt  die  Bequemlichkeit,  eine  jede  um  eine  Quarte  höher  oder  eine  Quinte  tiefer  auszuüben- 

Dle  drei  ersten  Haupttonarten,  deren  Grundtöne  wir  mit  den  Buchstaben  c,  d,  e,  ihre  Stellen  mit 
den  Zahlen  1,  -3,  5  bezeichnen,  entstehen  durch  Verbindungen  der  drei  ersten  Arten  der  Qiünte  mit  den 
drei  Arten  der  Quarte.  In  der  ersten  Art  der  Quarte  nimmt  der  Halbton  die  letzte  Stelle  ein,  in  der 
zweiten  die  mittlere,  in  der  dritten  die  erste.  In  der  ersten  Art  der  Quinte  kommt  er  auf  der  dritten 
Stufe  vor,  in  den  beiden  folgenden  geht  er  auf  die  zweite  und  dann  auf  die  erste  über.  Es  bleibt  in 
der  vierten  Art  also  nur  die  letzte  Stufe  noch  für  ihn  übrig;  diese  Art  der  Quinte . ■v'ilrd  in  dem  vierten 
mit  f  beginnenden  Ilaupllone  (In  der  llellie  aller  Tonarten  der  siebenten)  wiederum  mit  der  ersten  Art 
der  Quarte  Aerbunden.  In  dem  fünften  Haupttone,  (der  neunten,  zwischen  G  imd  g  beschlossenen  Ton- 
art) verbindet  sich  der  ersten  Art  der  Qiünte  die  zweite  der  Quarte;  In  dem  sechsten,  (der  elften,  durch 
A  und  a  begrenzten  Tonart)  endllcli  der  zweiten  Art  der  Quinte  wiederum  die  dritte  der  Quarte.  Die 
zwischen  diesen  Haupttönen  hegenden  Nebentöne  stellen  diese  Zusammenfügimgen  In  umgekehrter  Ord- 
nung dar. 

Regelmäfsige  Ausweichungen  jeder  autlientischen  Tonart  sind  die  nach  der  Oberterz,  Ober- 
quinte, Oberoctave  ihres  Grundtones.  In  der  plagalen  bleiben  sie  zwar  dieselben  in  Bezug  auf  den  ge- 
meinschaftlichen Grundton,  mit  llückslcht  auf  die  tiefste  Tongrenze  der  plagalen  Reihe  aber  erscheinen 
sie  nach  der  Oberquarte,  Obersexte  und  Octave  gCAvendet.  Der  dritte  und  elfte  Ton  (das  Dorische  und 
Aeollsche)  sind  einander  nahe  verwandt,  weil  sie  dieselbe  Art  der  Quinte  gemein  haben;  eben  so  deren 
Nebentöne,  der  vierte  und  zwölfte.  Auch  besteht  zwischen  den  letztgenannten  und  dem  sechsten  Tone 
(dem  hypoaeolischen  und  liypophrygischen)  eine  nahe  Beziehung.  Der  fünfte  Ton  (das  Phrygische)  pflegt 
mit  dem  neunten  und  elften  (dem  Mixolydischen  und  Aeolischen)  sich  gern  zu  vermischen." 

Die  Mängel  dieses  Lehrgebäudes  sind  bei  aufmerksamer  Betrachtung   leicht   zu   erkennen.     Zuvor- 


—     103     — 

derst  ist  der  Beweis  für  die  Zahl  der  Tonarten  ungenügend.     Nach  der  eigenen  späteren  Ausfiilaung  des 
Verfassers  entstehen  dieselben  kelnesM-egs,  wie  er  früher  behauptet,  aus  der  Verbindung   einer   jeden   von 
den  vier  Arten  der  Quinte  mit  jeder  von  den  dreien  der  Quarte;  denn  sonst  müfsic  jede  Art  der  Quinte 
dreimal  vorkommen,    da  sie  doch,   die    beiden  ersten  ausgenommen,    welche  doppelt  angetroffen  werden, 
in  jeder  Reihe  der  Tonarten  nur  einmal  erscheinen,  so  dafs  in  beiden   llcihea   zusammengenommen   jede 
der  ersten  zwei  Arten  der  Quinte  viermal,  der  beiden  lelzten  zweimal  sich  zeigt.     Finden  doch  nur  sechs 
der  sieben  in  der  diatonischen  Leiter  vorkommenden  Töne  in  den  folgenden   klangstufen    eine   zu   ihnen 
gehörige  reine  Obertpiinte,  und  sind  doch  der  Arten  jener  Quinten  überall  nur  vier,  so  dafs  deren  zwei 
doppelt  erscheinen  müssen;  wird  ja  aucli  unserm  Verfasser  zufolge  in  den  plagalen  Tonarten  keine  neue 
Verbindung  geknüpft,  die  früliere   nur  anders  geordnet.      Aber  auch   die    Ilerleitung   der   zwölf  Tonarten 
aus  der  harmonisclien  und  arillmietischen   Theilunir   der  Octave  ist   eben   so   wenie;   befriediirend.      Denn 
Haupt-  und  jNebenton  entstehen  ja  durch  jene  doppelte    Art   der   Theilung  nicht  in   derselben   Octave; 
der  Nebenion  gehört  einer  andern  an,  in  welclier   der   Grundtou   seiner   authentisclien  Reihe   zur  arith- 
meliscli  theilenden  Quarte   wird,    diese   Stelle    aber  imr    durch    eine   veränderte   Zusammenfügimg  beider 
Theile  der  Octave  erhält,  deren  kleinster  dabei  der  Erniedrigimg  um  eine  Octave  sicli  miterwcrfen  mufs. 
Das   Zusammengehörende   mufs   liienach   in    fremden   Grenzen    gesucht  werden;    innerhalb   derselben 
Octave  findet  man,  die  Theilung  mag  auf  die  eine  oder  die  andere  Weise  vorgenommen  werden,    immer 
nur  das  einander  Fremde.     Ist  daher  auch  das  Ergebnifs  der  Zaiil   jener   Theilungen  richtig,    so  mangelt 
doch   dem   Lehrsatze:    dafs    dadurcli   in  der   That  je   sechs    und    sechs    verscliiedene   Tonarten   gefunden 
werden,  von  denen  je  zwei  in  nächster  Beziehung  zu  einander  stehen  müssen,   hinlängliche   Begründung. 
Eben  so  verhält  es  sich  mit  den  angegebenen  Verwandtscliaften  der  Tonarten.     Die  nalie  Beziehung  des 
dritten  und  elften,   des  vierten  und  ZMÖlflen   Tones   wird   auf  die   ihnen   gemeinsame   Quinte   gegründet; 
die  Verwandtschaft  des  sedisten  und  zwölften,  des  fünften  und  elften   könnte   aus    ihrer   gleichen   Quarte 
hergeleitet  werden,  welche  in  der  That  (Zarhno's  Theilung  angenommen)  in  der  hypoaeolischen  luid  hy. 
pophrygischcn,    und  defshalb  auch   in   ihren   authentischen   Tonarten   dieselbe   ist:    allein   woher   die   Ver- 
wandtschaft des  Phrygisclien  und  3Ii\olvdischen,  seines  fünften  imd  neunten  Tones,  denen  weder  Quarte 
noch  Quinte  gemeinsam  ist?     Es  fehlt  liienacli  seinem  Lehrgebäude  an  einem  .Alittelpimkte,    in   welchem 
alle  in  der  Tonwelt  vorkommenden  Erscheinimgen  gegründet  sind;  daher  in  späterer  Zeit  so   Adele   IMifs- 
deutungen  desselben,  so  häufige  Abweichungen  z%\ischen  Lehre  inid   kimstübinig.      Die   Begrüntlung   der 
von  ihm  behaupteten,  jeder  Tonart  eigenthümfichen   Ausweicliungen   hat  Zarlino   niclit   einmal   versucht; 
man  sieht  aber,    sie  sind   sämmtlich  nadi   der  einem  jeden  Grundtone   eignenden  Terz  und  Quinte,    den 
Gliedern  des  auf  ihm  ndienden  Drciklanges  gerichtet;    und   so  ersclieinen   sie  auch   wirklicli  in   den  von 
ihm  ausgearbeitcn  zweisthnmigen  Beispielen  für  jede  Tonart.     Nun  aber  soll  dem  fünften   und   seclisten^ 
dem  neunten  und  zehnten  Tone,  (den  angenommenen  grlechisclien  Benennungen  zufolge,  der  phrygisclien 
und  mixolydischcn  Tonart,)  wie  iliren  Nebentönen  die  Ausweicliung   nach  h   defshalb  vorzüglich  zukom- 
men.    Ein  zweistimmiges  Beispiel,  in  welchem  beide  Stimmen  in  der  Gegenbewegung  diesem  Tone  sich 
zuwenden,  konnte  eine  solche  IModulation  auch  leiclit  darstellen,  Zarüno  hat  sie  in   den   seinigen  überall 
so  zu  bewirken  gewufst;  allein  durch  sein  richtiges  Gefülil  wurde  er  auf  deren  UnStatthaftigkeit  in  mehr- 
stimmigen Gesängen  aufmerksam  gemacht.      „In   den   genannten   Tonarten,"    sagt  er,    „kommt  jene  Aus- 
weichung regelmäfsig  vor;  da  aber  jener  siebente  Ton  der  diatonischen  Reihe  in  den  übrigen  weder  eine 
Oberquinte,    noch  Unterquarte  in  ihren  reinen  Verhältnissen  findet,    so  erscheint  sie  hart  und  mufs  in 


—      104      — 

viplslinimii!;en  Gesängen  acniildcii  worden,"  eine  IMildening,  welche  nur  durch  dieLnlerterz  od(;r  Ouinl^ 
jenes  Tones  erl'iilgen  kann,  die  belianplele  Ausweirlnrng  aber  harmonisch  \(')lhg  verniclilcf.  Von  dem 
siehcnlen  Tone,  dem  lydisclien,  geslehl  Zarlino  ein,  dafs  er  wegen  der  übenniifsigen  Quarte  (des  Trilo- 
nus)  und  der  durch  sie  entstehenden  Härte  nicht  oft  vorkomme,  wie  denn  schon  (ilarean  seine  Selten- 
heit beklagt,  auch  meist  alle  Beispiele  des  Lydisclien  ans  jener  Zeit  bei  dem  Wechsel  des  harten  mit 
Acm  welchen  b  als  rein  nicht  angesehen  werden  können,  mid  dem  vcrset/,ten  Ionischen  arjgeliörig  er- 
sclieinen  müssen;  er  versuclit  al)cr  niclit  die  jener  Tonart  ixnd  ihi'cm  ?s'ebeutone  aiigew  iesenc  Slelle  näher 
zu  begründen.  Seine  Bestimmung  des  eigenthümlichen  Ausdrucks  jeder  l^nart  ist  nicht  minder  ungenü- 
gend, ja  durcliaus  willkiihrlich,  da  nirgend  zu  errallien  ist,  worauf  er  sie  eigentlich  gründe.  Wenn  er 
von  seinem  neunten  Tone,  dem  mix  ol  ydisch  e  n,  sagt:  „Worte  oder  Beden  sind  für  ihn  geeignel,  welche 
leichtfertig  sind  oder  von  Leichtfertigkeiten  handeln,  muntere  aber  mit  Anstand  gesagte-,  solche  ferner 
welche  Drohungen,  Geniüthsumuhe,  Zorn  ausdrücken;"  von  dem  zehnten  Tone,  der  hypomixolydischen 
Tonart  aber  behauptet:  ..eine  natürhche  Anmutb ,  eine  überfliefsende  Süfsigkeit  trägt  sie  in  sich,  welche 
der  Zuhörer  Gemülii  mit  hoher,  freudiger,  aber  sanfter  INIunterkcit  erfüllt;  man  will,  sie  sei  aller  Leichl- 
fevligkeit,  allem  Laster  vöUig  fremd.  Darum  sind  sanfte,  anständige,  ernste  AN  orte  oder  Reden  ihre  Be- 
gleiter, tiefen,  beschaulichen,  göttlichen  Inhaltes,  solche,  die  das  götlliclie  Erbarmen  herabztiflehen  sich 
eignen:"  so  ist  in  dieser  letzten  Beschreibung  den  beiden  Tönen  niixolydlscher  Art  zwar  nicht  Unrecht 
gethan,  aber  doch  nicht  einzusehen,  wie  Haupt-  und  rsebenton  bei  so  naher  Verwandtschaft  so  gänzlich 
verschieden  im  Ausdrucke  sein  sollen,  und  woraus  diese  Verschiedenheit  entspringe. 

A'S'ir  \\ürden  Unrecht  thun,  wegen  dieser  Mängel  den  Zarlino  gering  zu  halten;  für  Messung  luul 
Bestinnnung  der  Tonverliältnisse  hat  er  ungemein  viel  gelhan,  er  hat  der  Tonjehre  eine  neue  Bahn  ge- 
brochen, und  wenn  er  sie  nicht  überall  \'öllig  geebnet  hat,  so  ist  nicht  sowohl  ihm,  als  der  SchA\  ierigkeit 
seines  Unternehmens  die  Schuld  lieizimiessen ,  dem  Versuche,  auf  einer  durchaus  abweichenden  Stufe  der 
Bildung,  bei  fast  gänzlichem  Mangel  an  Ueberblcibseln  altgriecliischer  Tonkunst,  dennoch  die  nur  in 
unreiner  oder  spärlicher  Ueberliefcrung  forlgepllanztcn  Lehren  alter  Tonmeister  mit  der  Kunstübimg  seiner 
Zeit  in  Uebcreinstimmung  zu  bringen;  ein  Versuch,  der  um  so  mehr  mifslingen  mufste,  als  er  an  den 
eigentlichen  Kern  des  Kunstlebens  sich  wagte,  Defsbalb  auch  sehen  wir  ihn  an  den  gröfsesten  Meistern 
seiner  Zeit,  Palestrina,  Orlandus  Lassus,  Andreas  Gabrieli,  vorübergehen,  gleichsam  als  fürdile  crdieKimst- 
ühung  seiner  Zeit  auf  Wegen  zu  fuiden,  die  er  als  Abwege  erklären  müsse.  INur  ein  Beispiel  eines 
Landesgenossen,  des  Francesco  Viola  hat  er  angeführt,  eben  für  die  lydische  Tonart,  wo  es  ihm  schwer 
Averden  mochte,  deren  anderswo  zu  finden;  alle  übrigen  sind  von  altern  Meistern  aus  der  niederländischen 
Schule  entlehnt,  Isaac  und  Josquin,  Mouton  uml  Adrian  Willaert,  Morales,  Pierre  de  la  Rue,  Verdelot, 
(jombert;  zwei  von  seinen\  älteren  Amtsgenossen  Jaquet,  eines  von  seinem  Mitschüler  Cyprian  de  Rorc, 
eben  auch  dieses  für  die  lydische  Tonart;  die  übrigen  aus  seinen  eigenen  AVerken  —  alle  nur  angedeutet, 
nicht  mitgetheilt,  jedoch  in  Sammlungen  jener  Zeit  in)s  meist  noch  erhalten.  So  sind  denn  Glarean 
und  Zarlino  uns  die  wicliligsten  Führer,  wenn  wir  die  Art,  wie  die  Kircbenlöne  um  die  erste  Hälfte 
des  sechzeliijten  .Tahrhunderts  harmonisch  behandelt  worden,  wollen  kennen  lernen;  jener  freilich  der 
bequemere,  da  er  seine  Beispiele  zuglcidi  vollständig  mittheill. 

Seih  Calvi<iiu.?y  um  das  Jahr  1556  in  einem  thüringischen  Dorfe  ')  geboren,  seit  1582  Cantor  in 

Zu    (-lvr^rfilc(ten   den  til.   i^ehniar   15r»f5. 


—     105 


Scliulpfort,  von  159i  bis  zu  seinem  1615  ')  erfolgten  Tode  an  der  Thomasschule  zu  Leipzig,  war  Zeit- 
genosse Joliann  GabricU's,  den  er  um  drei  Jahr  überlebte.  Sein  Lehrgebäude  von  den  Kirchentönen  Ist 
in  einem  um  das  Jalir  1600  gedruckten  Büclilein  niedergelegt:  de  modis  musicis  rede  cognoscendis 
Für  jede  Tonart  smd  relchhche  Beispiele  in  Bezug  genommen,  theils  von  den  berühmtesten  Tonmei- 
stern semer  Zeit,  theils  aus  des  Verfassers  eigenen  Kirchengesängcn,  wodurch  jenes  Werklein  vorzüc- 
Uch  wichtig  Mnd.  Unter  den  Deutsclien  beruft  er  sich  am  meisten  auf  Orlandus  Lassus,  Säno-ermeiste^r 
zu  Münclien,  und  Jakob  Iländl  oder  GaUus,  am  erzbischöflichen  Hofe  zu  Prag;  unter  den  Italienern  am 
häutigsten  auf  gi'ofse  um  jene  Zelt  zu  Venedig  blühende  Meister  ^):  Ilannibal  von  Padua  Claudio 
Merulo,  und  vorzüglich  Johannes  Gabrieli,  dessen  Werke  er  fast  bei  jeder  Tonart  In  Bezu-^  nimmt  So 
wird  er  zum  sicheren  Führer,  wenn  wir  erforsclien  wollen,  wie  imser  Meister  die  Kirchentöne  belian- 
delt  habe. 

Die  Lehre  des  Seth  Calvisius  stimmt  In  den  Ergebnissen  mit  der  desZarlIno  übercin.     Er  nimmt 
zwölf  Tonarten  an,  je  seclis  Haupt-  und  Nebentöne;   jene  entstehen  Ihm   zur  Hälfte  aus  der  Verbindung 
von  zwei  gleichnamigen  Arten  der  Quinte  und  Quarte   (der  ersten,  zweiten  und  dritten),   zur  Hälfte  ^Z. 
der  \erbindung  ungleichnamiger  (der  vierten  und  ersten,  ersten  und  zweiten,  zweiten  und  dritten)-  diese 
aus    umgekehrter    Zusammenfdgung    beider,    auf    jene    Weise    verbundener    Tonverhältiusse ,    wobei    die 
neu  entstehende  Reihe,   als  plagale,  den  Grundton  Uirer  authentischen  jedesmal  beibehält.     Die  Tonarten 
selber  bezeichnet    er    mit   deren,    auch  In    unserer    Abhandlung   angewendeten,    griechischen    Benennun 
gen;    in    der    Bcihefolge    weicht   er    In   sofern   von    Zarlino   ab,    dafs   er   nicht   wie   dieser  die    Ionische 
sondern  die  dorische  an  die  Spitze  derselben  stellt;    wohl   darum,    damit   die  Zahlenbezeichnung  mit  der 
]   von    den    entsprechenden    kirchlichen    Intonationen    übereinstimme.      Denn    Zarlino's   Art  zu   zählen   hat 
I  selbst  zu  ^^enedig  niemals  allgemeine  Anwendung  gefunden,   weil  sie  von  jener  kirchlich  geheiligten  sich 
I  entfernte,  und  dadurch  leicht  Ver^vechselungen  herbeifülirte.     Eine  jede  Tonart,  lehrt  Seth  Calvisius  ferner 
kann  durch  Anwendung  des  welchen  Systemes  um  eine  Quarte  höher,  eine  Quinte  tiefer  ausgeübt  werden' 
durch  jenen  ^Vechsel  des  Systemes  fällt  die  lydls  che  Tonart,  die  fünfte  in  der  Reihefolge,  mit  der  versetz! 
ten  lomschen  meist  zusammen;   selten  überhaupt  finden  wir  sie  In  völliger  Reinheit  vor  ^).     Reo^elmäfsi- 
weidit  jede  Tonart  In  die  Oberterz,    Quinte,    Octave  Ihres  Grmidtons  aus;     nur  die  mixolydische   und 
phrj-.sche  machen  luerin  eine  Ausnahme.     Jene,    vornehmlich   wenn  sie  als  plagale  ersclieint     wendet 
sicli  häufig  zum  lonisclien  hin;   die  phrygisclie  Oberquinte  Ist  sclion  an  sich  kaum  zu  einem  Schlufsfalle 
geschickt,  dalier  denn  die  phrygische  Tonart  ihre  regclmäTsIgen  Ausweichungen  liintansetzt,   und  anderen 
I  Ionen  sicli   zuwendet,    namentlich  ihrer  Oberquarte  und  grofsen   Unterterz.     Sie  Ist  hienach  unter  allen 
anderen  die  am  wenigsten  unter  die  allgemeine  Regel  zu  befassende,  und  an  Ihrem  Sclilufsfalle  ne.vöhn- 
j  hell  erst  zu  erkennen. 

'  c    u  ^^'!'f  ^•f^'^™"S  vornehmlich  Ist  es,  wodurch,  von  anderen  Vorzügen  seines  Werkleins  abgesehen. 
Seth  Cahisms  Lehre  mis  wichtig  wird.     Eine  Unregehnäfsigkeit  .,drd  von  llim  bemerkt,    durch  welche 

■)  Den  24.  Premier.  »)  Bei  der  Bezugnahme  sfnd  der  ßlelster  Namen  nicht  immer  ausdrücklieh  an.eOihri.  Er 
beruft  s,ch  auf  d.e  -.u  seiner  Zeit  in  mmherg  erschienenen  Sammlungen  geistlicher  Gesänge,  und  in  diesen  ßnden  ,crr 
dje  belogenen  unter  den  Aamcn  jener  Meister.  ^)  Z,oel  Beispiele  Jur  das  L,jdische  und  dessen  Nebenton,  .„n  Philipp 
2rC/'t!'t  tZ  "/;'''•''/''"'■«>-'•  ^^"'^-"  ""'  nächsten  kommen;  allein  auch  sie  bestätigen  das  EingeständnZ 
Z  tiri  '^1  'l^'ff^'"'^'"^^'''  '""l  ""^  ''«-■*-  — »•  ^"sgeführte.     S.  pag.  53.  54.  des  ongefühHen   Werks 

..      w        /,,  ^"^"""''  "'"^  Fr,edrich  Lindners:  CoroUarium  eanfionum  saerarum  etc.  Nürnberg  1590.  No.XrjI.  XXA'IJ 
C.  r.  WjnUrfeia.  Job.  GaLricli  n.  ».  Zoilaltor.  °    i"^".   -"<»•  -•.»■  Jd-  ..\.l.^n. 

14 


—      106     — 


•iwcl  ToiKulcu,  eben  die  recht  eigen! Iiiimlid.  klrclilichcn,  vor  Jen  übrigen  sich  auszeichnen;  doch  erkennt 
er  sie  an  als  der  Besonderheit  jener  Tonarten  entspringend,  nielit  durch  WiUkühr  der  Meister  seiner 
Zelt  elnoeführt.  Ein  besserer  Beohaditer  als  Zarhno  darf  er  also  genannt  werden,  dessen  WiUkühr  allen 
Tonarten  gleiche  Gesetze  vorschrieb;  denn  gründet  auch  schi  Lehrgebäude  sich  nur  auf  Betrachtung  einer 
elnzl-en  Ilaupislimme,  des  Tenors,  an  welcher  die  Ausweichungen  jeder  Tonart  erforscht  und  aufgezeigt 
^vcrden,  so  ist  er  doch  In  den  AYerken  der  IVIltlebenden  von  dem  überall  mächtig  herrsclienden  Geiste 
der  Harmonie  lebendig  berührt,  in  seiner  Forschung  riditlg  geleitet  worden;  nur  hat  er  frelUch  nicht  ge- 
funden dafs  eben  dieser  Geist  jene  scheinbaren  Unregelmäfsigkelten  durch  ein  höheres  Gesetz  als  vöU.g 
regelrecht  ja  nothwendig  bewähre.  Hier  durfte  er  defshalb  nicht  vergessen  werden,  weil  er  es  gewesen 
ist,  der  dem  vorliegenden  Versuche  einer  möghdist  voUständigen  Begründung  der  Lehre  von  den  Ivir- 
chcnlönen  und  ihrer  harmonischen  Entfaltung  vorzüghch  als  Wegweiser  diente. 

I^Iit  wenigen  W^orten  fassen  wir   den  Hauptinhalt  dieser  Lehre,    sie   aus   eniem  anderen  Gesidits- 
punktc  betrad.tend,nodi  einmal  zusammen.   Auf  den  In  der  Reüie  stufenweiser  Entwicklung  der  Töne  aus- 
einander   von    der  Natur   sdion   gebildeten   harten  Drelklang,    und  auf  die  als   gesdiiditlldie   Thatsadie 
geo-ebene    dlatonlsdic  Leiter,    weldie  die   gröfseren  Verhältnisse  jener  Tonreihe  durch  kleinere,   sich  wie- 
derholende  ausfüllt,    gründete  unsere    Darstellung   die  Verwandtschaft,    die   Eigenthümllchke.t    der    Ton- 
arten.    Beide    Reihen   aber  gdiüven   wesenthdi  zusammen,    sie   sind    urspmngUdi   Glieder    einer    fortlau- 
fenden Tonfolge.     Denn   zuerst  erzeugt  (he  Natur  das  für  harmonischen  Zusammenklang  Geeignete,    so- 
dann das  zu    melodisdier   Aufeinanderfolge   Bestimmte:    Beides   hat    die  Kunst  lebendig   zu   verknüpfen, 
zu  versdmidzen   gestrebt,    mufsten  audi  um  dcfs willen   die  natürlichen  Verhältnisse   beider  Reihen  theU- 
welse  gemildert  oder  geschärft  werden.     Das  hienach  Verknüpfte,   die   diatonisdie  Leiter,   ersdieint  defs- 
halb naturgemäfs  zugleich  und  Erzeugnifs  menschlldien  Kunsttriebes.     Das  von   der  Natur  In  dem  frühe- 
ren, harmonlsdien  Gllede  der  Tonreihe  gegebene   Gesetz,   nadi  welchem  das  Zusammenkhngeude  aus  ei- 
nem Grundtone  in  bestimmter  Folge  sidi  erzeugt,   der  Grundton  zu  seiner  Oberoctave,   zu  der  zwschen 
'•Iir  und  seiner  Doppcloctave  hegenden  Oberquintc  und  Unterquarte  beider,  sodann  der  grofsen  Terz  seiner 
Doppeloctave  in  das  nädiste  Verhältiiifs  tritt,  wurde  uns  auch  Gesetz  für  die  Verwandtschaft  der  Tonarten. 
Aus  dieser  endhch  ging  audi  der  weidie  Dreiklang  uns  hervor,  im  Wcdiselverhältnlsse,  wie  durdi  sie  be- 
gründet,    so   auch  sie  .viederum  begründend.     Das   spätere,    melodische   Ghed   der  ganzen   natürlidien 
Tonreihe,   die  Oudle  der  EigenthümUchkelt  aller  Tonarten,  fanden   wir  schon   bei  den  Alten,    ^vie  es  in 
seiner  Beziehung  auf  jenes  friUiere,  harmonische,  als  diatonisdie  Leiter  gestaltet  erscheint ,  nicht  ohne 
Bedeutung   nach  Quarten  weiter   geghedert.     Die  Quarte,    obgleidi   von   jeher   unter   die  Wohlklänge   ge- 
redmet,   steht  doch  auf  der  Grenze   zwisdien  diesen  und   den  Ittifsklängen.     Jene  gewähren,   zusammen- 
khngend,    dem  Ohre  volle   Befriedigung;    mit  allen   Gliedern   des  harten  Dreiklangs  in   Uirer  natürlichen 
Folge    ist   dieses   der  Fall,    die   Quarte    ausgenommen.     Denn   wie   sie   das  Hinaufstreben   der   aus   dem 
Grundtone  erzeugten  Quinte  In   dessen  geschärfte   Wiederholung   ausdrückt,    so    setzt  sie   aud»   zugleich 
ihn  selber  voraus   als  harmonlsdie  Grundlage,   um  vöUIg  Im  Zusammenklange   zu  befriedigen.     Ersdieint 
sie  hienach,  harmonisch  betraditet,  als  unvollkommener  Wohlldang,  so  bewährt  sie,  mdodisch  ange- 
sehen, um  so  mdir  sldi  als  vollkommener;  denn  in  jenem,  für  sich  betraditet,  mdodischen  Aufstreben 
der  Quinte,  wie  es  vorhin  beschrieben  worden,  wodurch  eben  die  Quarte  entsteht,  wird  für  deren  üofere 
Tongrenze  das  vollkommen  befrlecUgende  Ziel  ja  errcidit;   zu  gcsclnvelgcn,  dafs  che  Quarte  alle  (he  enge- 
ren Tonverhältnlssc  des  dlatonisdien  KlanggesdJcdils  schon  innerhalb  ihrer  Grenzen  befafst.     Vor  aUem 


—     107     — 

anderen  bedeutsam  daher  mufsle  der  allen  Tonkunst  in  ihrer  vorherrschenden  melodischen  Iliclifunj;  das 
Verhiillnifs  der  Quarte  sein,  ja  sie  durfte  ihr  das  unbedingt  in  ihren  Tonreihen  \  orherrschende,  dieselben 
Regelnde  werden.  AVie  aber  das  frühere,  harmonische  Glied  der  natürlichen  Tonreihe  das  Verschmelzende, 
in  einander  Aufgehende  zeigt,  die  Consonanz,  so  tritt  in  dem  späteren,  melodischen,  zur  diatonisclien 
Leiter  künsthcli  gegüederten,  das  Abklingende,  Entzweite  heraus,  die  Dissonanz,  inid  zwar  unter  zwei 
wiederum  z^^'iefach  gelheillen  Ilauptformen.  Als  nothwendig  Entzweites  zuerst,  ursprüngliclie  Dissonanz, 
in  dem  Verhiiltnisse  der  Septime,  imd  ihrer  Umkehrung,  der  Secunde,  welche  beide  wiederum  in  der 
doppelLcn  Ceslau  der  kleinen  imd  grofsen  erscheinen.  jVls  getrübter  ^Vohllaut  sodann,  abgeleitete  Disso- 
nanz, und  diese-.'  Art  ist  die  übermäfsige  Quarte  in  der  diatonischen  Reihe,  der  sogenannte  Tri t onus, 
und  dessen  Umkehrung,  die  falsche  Quinte. 

Wie   das  melodiscJie  System   der  älteren   Tonkimst  in  doppelter  Gestalt,    als   hartes  und  weiches, 
sich  in  Quaricnfolgen  geghcdert  dargestellt,   wie  eine  jede  dieser  Quarten  zu  Anfange  das  \  crhälinifs  des 
ganzen  Tones  zweim.al,  einmal  am  Scldusse  das  des  halben  Tones  befafst;  wie  die  Octave  jenes  letzte 
zweimal  cnüiallen,  es  durch  Weclisel  ihres  Anfangspiuikles  an  vcrscliiedenen  Stellen  gezeigt,  ^ie  in  jener 
veränderten   Lage  die  EigenÜiümhchkcit   der  Tonarten   beruht  habe  —  alles   dieses  ist  im  Vorigen  schon 
gesagt  worden.     In  zwiefach  wichtiger  Bedeutung,  so  für  Eigenthümhchkeit  als  Verwandtschaft  der  Ton- 
arten aber  zeigt  sicli  die  letzte  der  zuvor  gedachten  beiden  Dissonanzen,  der  Tritonus ;  in  seiner  ursprüng- 
lichen Gestalt  nicht  minder,  als  in  seiner  Umkehrung.     Denn  die  Tongrenzen  beider  stehen  mit  dem  Ver- 
hältnisse des  Halbtons  in   genauer  Beziehung;    das   letzte  Glied   desselben  au   seiner   ersten  Stelle  in  der 
diatonisclien  Leiter  (f),   das  erste  an  seiner  letzten  Stelle  (h)  bilden  die  übermäfsige  Quarte  in  der  dori- 
sclien,  phrygischen,  ionischen  Reihe,  die  falsche  Quinte  in  der  mixolydischen  und  aeoUschen.     Die  Lage 
des  Halbtons  also,  welche  das  Wesen  jeder  Tonart  bestimmt,  weis't  auch  dem  Tritonus  und  seiner  Um- 
kehrung ihre  Stelle  an:    eine  beider  Formen  beschliefst  jede  Tonart  innerhalb  iiu'cr  Grenzen,   keine  der- 
selben aber  wird   durch   sie   in   Bezielumg  auf  ihren  Grundton   melodisch   getrübt.      Denn   dessen   reine 
Quarte,    wenn  gleich   mit  verscliiedener  Lage  der   durcli  sie  befafsten    engeren  Tonverhältnisse,    ja,    eine 
V  erknüpfung  zweier  Quarten  (die  Oberquinte  des  Grundtons  als  tiefere  Tongrenze  der  zweiten  angesehen) 
stellt   jede   von  ihnen   dar.     Darum  (scheint  es)   mufstcn  die   mit   dem   vierten   und    siebenten  Tone   der 
diatonisclien  Leiter  (f  imd  h)  beginnenden  Reihen,  wird  gleicli  die  erste  derselben  von  Vielen  als  lydisciie 
Tonart  verfochten,  der  älteren  Tonkunst  widerstehen ;  denn  die  erste  von  ihrem  Grundtone,  die  zweite  von 
dessen  Quinte  aufsteigend,  zeigte  die  melodisch  regelnde  Quarte  in  getrübter  Gestalt,  der  harmonischen  LTn- 
brauclibarkeit  der  letzten  Reihe  durch  die  falsche  Quinte  ihres  Grundtons  nicht  zu  gedenken;  auch  defshalb 
konnte  es,    {wie  in  dieser  Darstellung   angenommen  worden)   nur  fünf  Tonarten   geben.     Harmonisch 
wichtig  aber  sind  Tritonus  und   falsche  Quinte   durch  ihre  Auflösung,    ihr  Hinaus-  und   Hineiustreben   in 
die    kleine    Sexte    und    grofse   Terz,    die    dadurch    bewirkte   Beziehung    jeder   Tonart    auf   die    ionische, 
die    Begründung    ihrer    Gesammtverwandtscliaft,     (näheren    oder  ferneren,)    zu    derjenigen,    die    wir    als 
Wurzel   aller    Tonarten   aufgezeigt  haben;    und   es  ist    nicht   ohne  Bedeutung,    dafs   da,    wo   diese    Ver- 
wandtschaft am  stärksten  heraustritt,  in  der  mixolydischen,   sie  durcli  die  Verbindung  beider  Hauptdisso- 
nanzen der  melodischen  Reihe,  der  Septime  in  der  Form  der  kleinen,  des  Tritonus  in  seiner  Umkehrung, 
nocli  bestimmter  vermittelt  wird.     Die  Anschauung   der  älteren  Tonkunst  von  den  Kirchentönen,  wie  sie 
in  ihren  Werken  in  das  Leben  getreten  ist,  die  aus  ilir  zu  ent\\ickeh]de  Lehre,  darf  hienach  nicht  minder 
naturgemäfs,    als  kunstgerecht  in   sich   zusammenhängend    genannt  werden.     Dafs    bei   Darlegung   dieser 

14' 


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Lehre  altgriechisclio  Namen  für  die  Kirchenlönc  angewendet  worden,  erheischt  in  so  weit  eine  Rechtfer- 
tigung, als  da(hirch  die  \'^crmuthung  entstehen  könnte,  sie  sollten  unmittelbar  aus  der  allgricchischcn 
Tonkunst  abgeleitet  werden.  Eine  solche  Ableitung  aber  würde  tiefere  gescliichtliche  Begründung  er- 
fordern, als  hier,  als  Aielleicht  überall  geleistet  werden  kann,  bei  dem  Mangel  an  ächten  Uebcrbloibseln 
allgriecliischcr  Tonkunst,  der  so  bewirkten  Sclnvierigkeit  des  Verständnisses  der  ohnehin  nicht  aus  der 
Blütliezeit  des  griechischen  Kunstlebens  henührenden  Tonlehrer.  Besser,  so  möchte  es  scheinen,  wäre 
es  also  gewesen,  statt  jener  Namen  die  Bezeichnung  durch  Zahlen  anzuwenden;  allein  diese,  so  oft  auf 
verschiedene  Weise  gebraucht,  hätte  nur  Verwirrung  imd  Zweideutigkeit  herbeigeführt,  das  Versländnifg 
augenscheinlich  erschwert.  Darum  blieb  die  herkömmliche,  in  iliren  Grundzügen  allgemein  verständliche 
Bezeichnung  durch  jene  alten  Namen  die  beste,  und  mit  dem  Vorbehalt,  dafs  dadurch  ein  Mchres  nicht 
angedeutet  werden  solle,  möge  sie  gerechtfertigt,  damit  aber  auch  der  Vonvurf  abgewendet  sein,  den 
der  gelehrte  deutsche  Tonmeister  Fux  anderen  Tonlehrem  gemacht:  '„dafs  sie,  da  kaum  ein  Schatte 
der  alten  griechischen  Tonkunst  uns  übrig  geblichen,  den  Tonarten  der  neuen  Zeit  jene  fremden  Benen- 
nungen aufzudringen,  einen  ohnelün  schwierigen  Gegenstand  durch  eitle  Namen  zu  vevduidveln  gewagt 
hätten. " 


SECHSTES  HAUPTSTÜCK. 


fVillaert's  Scimler  und  JVachfoJger,  Cyprkm  de  Rore,  ^arlinO}  Claudio 

MerulOi  Andreas  Gahrielt,  und  deren  Verdienste  um 

harmonische  Entfaltung. 

W  enn  ein  wahrhaftes  Kunstwerk  überall  nur  da  vorhanden  ist,  wo  lebendige  Gliederung  aller  einzelnen 
Theile  zu  einem  Ganzen  sich  findet,  so  machen  wir  mit  Recht  eine  solche  Forderung  nicht  minder  an 
W^erke  der  Tonkunst,  als  der  übrigen  Künste.  Die  einfache  Gesangsweise  soll  in  den  zusammengereihten 
Tönen,  die  sie  ims  hören  läfst,  einen  Quell  erkennen  lassen,  dem  sie  alle  lebendig  entströmen,  ihre  Ton- 
art; künsthch  verflochtene  Welsen,  ^vcnn  sie  mit  einander  ertönen,  sollen,  wie  den  Geist  jeder  einzelnen, 
so  ein  gemeinsames  Leben  aller  erschliefsen:  in  der  Gefährlinn  soll  eine  jede  er\vachen,  und  ihrer  selbst 
in  höherem  Sinne  bewufst,  mit  Ihr  mm  erst  iln-  Innerstes  aus  tönen,  während  der  Zusammenklang  aller, 
eben  wiederum  in  der  Tonart,  das  Band  ims  kund  giebt,  welches  alle  umscldingt.  Eine  solclie  Vcrflecli- 
tung  war  gemeint,  wenn  von  harmonischer  Entfaltung  zuvor  geredet  wurde:  in  Ilir  tritt  aucli  die  melo- 
dische Gliederung  jeder  einzelnen  Stimme  erst  in  vöUiger  Bedeutimg  heraus;  und  selbst  da,  wo  in  mehr- 
stimmigen Gesängen  eine  der  Stimmen  die  herrsdiende  ist,  die  andern  ihre  Dienerinnen,  und  zumeist  be- 
stimmt sind,  das  innere,  harmonlsclie  Leben  jener  austönen  zu  lassen,  selbst  da  mufs  jede  einzelne  dieser 


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untergeordneten  Stimmen  melodisch  gegliedert  sein,  ein  gegenseitiges  Geben  und  Empfangen  mufs  statt- 
finden, denn  nicht  lebendig  entfaltet,  nur  dürftig  gestützt,  mit  todtem  Sclmiucke  äufserlich  aufgeputzt, 
würde  uns  sonst  die  herrsdiende  Stimme  erscheinen. 

Nach  solcher  harmonischen  Entfaltung  strebten  ohne  Zweifel  bereits  die  niederländischen  Meister 
früliercr  Zeit;  der  Geist  der  Ilannonie  bricht  oft  hell  liindurch  in  ihren  Werken,  jedoch  waltet  er  nirgend 
völlig  wach  in  seiner  ganzen  Macht.  So  bleiben  sie  denn  meist  nur  Zusammenfügende,  Componisten 
in  beschränktem  Sinne,  so  bewundernswerlh  sie  auch  erscheinen  in  ihrem  Verfahren,  der  sorgfälligen 
Ausbildung  alles  Einzelnen,  der  genauen,  zierlichen,  reinlichen,  jeden  IMifsklang  vermeidenden  Zusammen- 
setzung, ja  der  oft  grofsarligeu  Beziehung  des  in  einander  Gefügten;  einer  jedoch  mehr  poetiscli  als 
musikalisch  bedeutsamen  Beziehung,  da  sie  nur  in  den  Worten  hegt,  die  den  zusammengefügten  Ge- 
sangsweisen aufgeprägt  sind,  wälucnd  diese  in  ilirer  Verscliränkung  nicht  zugleich  harmonisch  entfallet 
werden. 

Adrian  Willaert,  einer  der  ersten,  in  denen  der  Sinn  für  solche  Enlfaltung   zum  Bewnfstsein  er- 
wachte, nimmt  dalier  mit  Recht  einen  ehrenvollen  Platz  ein,  nicht  nur  unter  den  älteren  Kleistern  der  von 
ilim  gestifteten  ^'cnedischen  Schule,  sondern  des  sechzehnten  Jahrhunderts  überhaupt.     Li  dem  Geiste,  in 
dem  Bildungsgange  jenes   Zeitalters   lag  es,    dafs   eben  in  ilim  eine   solche   Eiitwickelung   der    Tonkunst 
stattfinden  mufsle.     Schon   durch   das   ganze  vorangehende  Jahrhundert   zog   sich   das   Streben   hin   nach 
einer  Kirchenverbesserung,  das  in  dem  folgenden  zur  Tliat  reifte,  zu  einer  auf  mancherlei  Wegen  begon- 
nenen Reinigung   der  Lehre   und  des   Gottesdienstes.     In   diesem  war   es   zumal   der   lebendige,    thätig-e 
Antheil  der  Gemeine  an  der  kirchhchen  Feier,    den  man  vermifste,   dem  mau   Balm  zu  machen  begann. 
Freilich  halte  schon  \qx  der  Reformation  ein  Slreben  sich  gezeigt,  che  kirchhche,  an  eine  fremde  Sprache 
gebundene  Feier,  konnte  und  wollte  man  aucli  der  Gemeine  niclit  tliätige  Rlilwirkung  bei  ilir  einräumen, 
docli   in   der    Tonkunst  mindeslens   volksgemäfser  zu   machen,    geschähe   es   gleich   auf  wenig   angemes- 
sene,   mit   Recht   getadelte  Weise.     Den  fliesscn,    dem   IMagnificat  legte   man   die   Sangweisen  bekannter, 
oft  ausgelassener,  schlüpfriger  V^olkslieder  unter:  indem  so  das  Heihge  an  das   Gemeine   geknüpft   wurde, 
sollte  die  Ivunst  dem  Volke  näher  treten;    ein  Verfahren,    das   nicht  allein  seinen  Zweck  verfehlte,    son- 
dern ^^^e  wir  gesehen,  den  Besseren  zum  Acrgernisse  gereichte.     Dennoch  trug  späterhin  das  \6\k  seine, 
in  der  IMuttersprache  gediclitcten  geislUchen  Gesänge,  mit  denen  es  niui  selbstlhätig  in  die  Kirche  eintrat, 
auf  jene  alten,  ihm  hebgewordenen  Weisen  über,  ohne  Rücksicht  auf  den  nicht  selten   frechen  Inhalt  der 
Lieder,  zu  denen  sie  ursprünghch  bestimmt  gewesen:    nicht  allein   zu  keinem   Aergernisse    in   der   neuen 
Kirche,  sondern  zu  wahrhafter,  allgemeiner  Erbauung,  ja  selbst  Bereicherung  des  Kirchengesanges.     Denn 
jedes  Glied  der  Gemeine,   indem  es   singend   hingezogen  wurde   zu  dem   frommen   Inhalte   der  von   allen 
vorgetragenen  Lieder,    fand  dadurch  schon  sich  abgelenkt  von  allen  Anklängen,    welclie  die  Sangweisen 
sonst  in  ilim  erweckt  haben   könnten;    diese,    anfangs  nur  ein   dem  Liede   zufälhg   geborgter  Schmuck, 
wuclisen  ihm  allmähhg  mit  jenem  völlig  zusammen,  jede  unlieilige  Erinnerung  verlosch  eudhch  ganz,  die 
Sangweise  fand  durch  das  fromme  Lied  sich  geheihgt,  ja,  auf  eine  zarte  Weise  äidserlich  umgestaltet.   Nicht 
so  ui  früherer  Zeit,  wo  ein  Sängerclior  Vermittler  war,    V^ertreter  der  nur  still  zuhörenden   Geraeine  bei 
dem  Gottesthcnste.     Einem  Theile  derselben  blieb  der  Inlialt  der  in  fremder  Spraclie  abgesungenen,    hei- 
ligen Worte  YöUig  fremd;  der  Sinn  des  andern   war   für  ihn   durch   wiederholte   Anhörung  bereits   abge- 
stumpft,   und  würde  nur  dann  aufs  neue  von  ihm  getroffen  worden  sein,    wenn  jene  Worte  ihm  in  be- 
deutsamer Betonung  entgegengetreten  wären,  durch  welche  der  ganze  geheimnifsvolle  Sinn  der  kircliUchen 


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l'cicr  dem  Gemiitlie  erst  recht  lebendig  aufi;;rht.  Nim  erscliienen  aber  jene  heiligen  ^Yol•te  in  ein  frem- 
des, erborgtes  Gewand  gekleidet;  der  Gegensalz  des  Heiligen  imd  jenes  ihm  aufgedrungenen  -sveUlichen, 
unheib'i^cn  Schmuckes  üble  den  imwidersleldichen  Zauber  des  Seltsamen  auf  die  Zuhörer;  je  -williger  sie 
dem  Gehörten  sich  hingaben,  um  so  eher  wurde  die  Erinnerung  wach  an  die  leichtfertigen,  frechen 
Worte,  welche  die  Gesangsweisen  in  ihnen  aufriefen:  ja  mn  so  ferner  sie  aus  dem  künstlich  verwobcnen 
Ganzen  heraustönten,  um  so  verlockender  waren  sie,  immer  mehr  den  Drang  crri  gend  die  dunklen  An- 
klänge, die  in  dem  ^^erhüTlten  aufdämmerten,  Hehler  zu  machen  und  völlig  zu  erwecken.  Wie  ein 
jeder  Versuch  hicnach  fruchllos  bleiben  mul'ste,  auf  diesem  Wege  die  Kunst,  dem  Volke  näher  zu  brin- 
gen, sie,  und  mit  ihr  den  Gottesdienst  zu  erneuern,  so  war  dagegen  der  lebendige  Eintritt  des  \^oUcsgesan- 
ges  in  die  kirchliche  Tonkunst  von  den  wichtigsten  Foigcii  für  deren  Ausbildung.  Jene  Volksweisen, 
durch  fromme  Lieder  geheiligt,  wurden  nimmehr  aucii  GegcnSiaiiu  der  KümsI.  Wir  dürfen  bei  dem  Kir- 
chengesange  der  evangelisclien  Gemeinen  jener  Zeit  nicht  an  jenes  rohe,  übel  zusammenslimmende  Ge- 
schiüi  denken,  das  in  unserer  Zeit  an  so  vielen  Orten  das  Ohr  des  Gebildelen  beleidigt.  Gesangliebend, 
^vie  das  Volk  war,  dürfen  wir  es  auch  gesangfertig  nennen;  dafür  spricht  die  grofse  Menge  der  damals 
mil  ilirca  Gcsangswcisen  erscliienencn  Sammlungen  geisllicher  Lieder,  von  denen  mehr  als  die  Hälfte  yic\- 
slimmig  gesetzt  waren ;  nicht  etwa  nur  bestimmt,  zu  häuslicher  Erbauung  Gebildeter  im  engem  Famillen- 
ki-cise  von  sangfertigen  Gliedern  desselben  vorgetragen  zu  werden,  sondern  bei  dem  öffentlichen  Gottes- 
dienste, von  allen  zu  Ihätiger  Tlieilnahmc  an  ihrer  Ausführung  gleich  befähigten  Gemcinegliedern.  Zwar 
behandelte  man  jene  Gesänge  anfangs  der  hergebrachten  künstlich  zusammenfügenden  und  verschränken, 
den  Weise  gemäfs;  aber  schon  fridie  leitete  ihre  Bestimmung  zu  einer  einfaclieren ,  allgemein  fafslichen 
Behandlung:  das  Bcdürfnifs  gröfserer  Einfalt  erweckte  allgemach  den  Sinn  für  schlichte  harmonische  Ent- 
failun'^  einer  Gosangsweise,  und  mit  derselben  für  ihr  cigenlhümlichcs,  eben  in  der  Harmonie  ausströmen- 
des, tieferes  Leben.  Nim  erst  gewann  die  Kirnst,  verschiedene  Gesangsweisen  sinnreich  zu  verweben, 
ihre  wahrhafte  Bedeulung :  jetzt  galt  es,  in  dieser  Venvebimg  das  innere  Leben  einer  jeden  zu  entfalten, 
nicht  mehr  konnte  es  genügen  nur  den  Mifsklang  zu  vermeiden. 

In  Deutschland,  den  Niederlanden,  in  Frankreich,  überall  wo  die  neue  Lehre  sich  verbreitete,  wo 
für  die  Gemeine  lliäliger  Aniheil  an  dem  Goltesdlenslc  gefordert  wurde,  war  der  Volksgesang  in  die 
Kirche  eingedrungen.  Die  Töne  der  alten  deutschen  Berg-  und  Jagdreihen,  selbst  Tanzweisen  wurden 
auf  geistliche  Lieder  überlragen;  man  hielt  es  für  ein  gollgcfälliges  Werk,  Gassenhauer  und  Reilerhedlein 
„cliristlicli  luid  moraliter,"  unter  Beibehaltung  ihrer  Weisen  zu  ändern,  „damit  die  Jugend  der  Biddtexte 
abgehen  möchte;"  wir  besitzen  eine  flamländischc  Ueberselzimg  der  Psalmen,  die  einen  jeden  von 
ihnen  einer  bekannten  gemeinen  Weise  ,,zii  Erbauung  und  geistlicher  ^'ermalmung"  anpafst;  die  noch 
in  der  französischen  Kirche  üblichen  Gesangsweisen  der  Psalmen  gehören  nicht  minder  ursprünglich  Volks- 
liedern an.  Einer  ausführlichen  Geschichte  des  evangelischen  Choralgesanges  bleibt  es  vorbclialten ,  aus 
den  vorhandenen  Quellen  dieses  alles  näher  nachzuweisen:  für  den  gegenwärtigen  Z^veck  genügt  es  zu 
erwälmcn,  dafs  wie  die  Niederlande,  und  der  an  sie  grenzende  Theil  Frankreichs  und  Deutsclilands  die 
Wiege  der  Kunst  harmonischer  Slimmcnverwobung  waren,  eben  hier,  den  angeführten  Thalsaehen  zufolge, 
auch  die  ersten  Keime  der  Kunst  harmonischer  Entfaltung  sich  regen  mufsten.  Frühe  schon  war  fredich 
\>'illaert  aus  seinem  Vaterlande  gewandert,  hatte  noch  vor  der  Reformation  sicli  in  Frankreich  und  Italien 
aufgehalten,  allein  deshalb  \\'Xirde  er  nicht  minder  von  der  neuen,  auf  die  Tonkunst  einwirkenden  Regung 
erfafst,    zumal  auch  in  Ungarn,   wo  er  vor  seiner  Verpflanzung  nach  Venedig  verweilte,   die  neue  Lehre 


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und  Alles,  was  sich  an  sie  knüpfte,  frühe  eindrang,  ja  die  Gcmaldin  König  Ludwgs,  IMaria,  ihr  eifrig 
ergeben  war,  wie  noch  das  Lied  zeigt:  „mag  ich  Unglück  nit  ^\idcrstan"  das  als  das  ihrige  in  alten 
Sammlungen  ihr  besonders  angeeignet  wird.  Bedeutender  jedoch  als  A'N  illaerts  Beispiel,  das  hier  zum 
erstenmale  in  Anspruch  genommen  ist,  wird  für  die  Meisten  das  des  Johannes  Pierluigi  von  Palcstrina 
sein,  der  als  Vater  einer  neuen,  reineren,  eben  auf  einfache  harmonische  Entfaltung  gegründeten  kirchli- 
chen Tonkunst  allgemein  genannt  wird.  Er  war  Schüler  Goudimels,  der  in  der  ersten  Ilälflc  des  sech- 
zehnten Jalirhunderts  die  frülicste  einfach  harmonische  Behandlung  der  Lieder^veisen  herausgab,  die  man 
der  französisclien  Uebersetzung  der  Psalmen  angepafst  hatte.  INiederländcr  also,  die  Lehrer  Italiens  in 
der  Tonkunst,  die  ersten  Gründer  aller  daselbst  sich  erhebenden  Schulen,  trugen  die  ersten  Keime  einer 
neuen  Blülhc  jener  Kirnst  mittelbar  und  unmittell)ar  dort  hinüber;  der  den  Einwohnern  jenes  Landes 
angebornc  Sinn  für  die  Tonkunst  nahm  dieselben  lebendig  auf,  sie  wuchsen  imd  gcdieiien  auf  das  herr- 
licliste  dort,  imd  die  Italiener  wurden  aUmählig  befähigt,  Cluster  der  übrigen  Völker  in  der  Tonkunst  zu 
werden.  Freilich  nicht  auf  dem  Wege  wie  bei  jenen,  Vvö  der  Volksgesang  in  die  Kirche  gedLvngen  war-, 
konnte  bei  ilmcn  die  heib'ge  Tonkunst  fortschreiten.  Der  tliätige  Antheil  der  Gemeine  an  dem  Gottcs- 
dieusle  bhcb  in  Itahen,  das  die  neue  Lehre  abwies,  beharrlich  ausgeschlossen;  dem  VoUcsgesange  (hätte 
es  ilm  in  der  Art  aucli  besessen  wde  die  Deutsdien),  war  der  Weg  in  die  Kirche  verwehrt.  Allein  den 
edelsten  Geistern  Italiens  Miirde  das  Auge  für  das  neue  Leben  geschärft,  das  in  jenen  einfachen,  durch 
frommen  Sinn  geheiligten  Volksweisen  aufgegangen  war;  der  erfrischte  Bück  wendete  sicli  den  alten,  über- 
lieferten Kirchengesängen  zu,  in  denen  ja  ein  nidit  minder  cigenthümUches  mid  herrliches  Leben  sich 
erschliefsen  mid'ste.  So  wurden  denn  auch  sie,  nicht,  wie  von  älteren  deutschen  INIeistern  schon  gesche- 
hen war,  als  kösthche  Edelsteine  durch  künstliche  Einfassung  sinnreich  verschräidcter  Weisen  geschmückt, 
sondern  lebendig  harmonisch  entfaltet,  und  in  ihnen  eben  erblüliten  die  Kirchentöne  in  neuer,  tieferer 
Bedeutung,  wie  harmonisch,  so  auch  melodisch,  in  neuen,  im  Geiste  der  alten  erfundenen  kirchliclien 
Gesängen. 

Gehen  vir  auf  den  L^rsprung  beider  zurück,  des  N^oUcs-  ^^^e  des  Kirchengesanges,  indem  wir  bei 
diesem  jene  alten  Gesänge  im  Sinn  haben,  welclie  die  katholische  Kirche  seil  direm  Beginne  als  einen 
kösthchen  Schatz  hegte;  so  ist  er  bei  beiden  in  Dunkel  gehüllt,  und  kaum  dürfen  wir  uns  darüber 
vrundem,  da  beide,  so  verschieden  sie  erscheinen,  doch  einer  gemeinsamen  Wurzel  entsprossen  sind. 
Was  bei  innerer  Lcbcnsfiille,  bei  reicher,  sinnUchcr  Kraft,  ein  Volk  bewegt,  sei  es  Sehnsucht,  \'\'ch 
oder  Lust,  Ucbermulh,  ja  Freclilicit,  dem  macht  es  Bahn  in  Liedern,  die  sich  steigern  zum  Gesänge: 
das  Einzelne  aus  jener  Kegung  HerA'orgehende ,  allgemein  anerkannt  und  aufgenommen  wie  es  ist,  und 
von  aller  Lippen  ■\^^ederholt,  ei-sclicint  als  gemeinsames  Erzeugnifs  Aller;  der  einzelne  Urheber,  gleichsam 
nur  der  zufällige  ^^  ortführer  des  Ganzen,  verliert  sich  unter  die  Menge.  So  bildet  sicli  eine  IMasse  von 
Gesängen,  deren  erste  Urheber  Nvir  nicht  mehr  zu  erforschen  vermögen.  Jenen  allgemeinen  Lcijonsver- 
hältnissen,  die,  obgleich  in  jedem  Zeitalter  sich  ■\\'iederholend ,  docli  immer  neu  und  friscli  bleiben, 
entquellen,  wie  sie  bei  verschiedenen  Völkern  sich  eigenthümlich  gestallen,  jene  Lieder  inuner  aufs  neue 
in  reicher  IMannigfalligkeit,  und  in  Zeiten  grofser  allgemeiner  Bewegung  gewinnen  auch  sie  eine  tiefere 
und  ernste  Bedcutiuig.  Eine  andere,  nicht  minder  allgemeine  Regung  gab  jenen  alten  kirchliclien  Gesän- 
gen in  den  ersten  christlidien  Zeiten  ihr  Entstehen.  INiclit  das  Gefühl  frischer,  sinnhcher  Lebensfülle, 
sondern  ein  innerer,  kräftiger,  von  der  Sinncnlust  sich  abwendender  Drang,  die  Begeisterung  der  Entsa- 
gung, in  dem  lebendigen  Bcwufstsein  eines  höheren,  vom  Himmel  stammenden,  in  der  Zeit  erschienenen 


—     112     — 

Lebens  hauclilc  sich  aus  in  diesen   Liedern.      Und  mögen  vir  auch    —    wenn  gleich  oft  mit  geringer 
Sicherheit  und  nur  dürftiger  ^^erbürgung  —  einige  der  Urheber  der  lieiligen  Gedichte  jener  Zeit   zu   nen- 
nen wissen:  von  den  Urhebern  jener,  damals  zuerst  laut  gewordenen,  bis  in  unsere  Zeit  hinein  tönenden 
Gesänge  scliM'cigen  alle  Berichte  früherer  Zeit.      Ein  neues   Leben   drang   damals   in   die   heihgen   Lieder 
des  allen  Bundes,  imd  tönte  aus  im  Gesänge:  mit  nie  gehörter  Stimme   liefscn   die   des   neuen   sich  ver- 
nehmen, eine  Fülle  des  Gesanges,  wie  Aaelleidit  zu  keiner  Zeit,  wurde  damals  wach,   aber  vergebens  for- 
schen wir,  durch  welche  Einzelne  er  zuerst  Stimme  gewonnen;   ja,  einem  jeden,    in  jenen  ersten  Zeiten 
christhclier  Bcgeistcnnig  erst  neu  gedichteten  Gesänge,  so  scheint  es,  war   schon  unmittelbar  seine  Weise 
mitgegeben,  sobald  er  lebendig  eindrang  in  die  Gemeine.     Heihgte  man  auch  damals   Gesangsweisen,    die 
schon   lange    im  Rhmde   des   Volkes   gelebt,    oder  Hymnen    des  griecliischen  Altertimms   durch  fromme 
Lieder?    besilzen  wir   (wie  einige  gemeint)  in  jenen  alten,    bis  auf  uns  gekommenen  Gesängen,    ächte 
Ueberbleibscl  des  allen  Tempclgesanges  der  Hebräer?     Bei   so   grofser  Entfernung   der  Zeilen,    bei   dem 
Mangel  bestimmter  Berichte,  dürfen  wir  nicht  wagen  das  eine  oder  das  andere  mit  Gcm  ifsheit  zu  behaup- 
ten, noch  weniger,  aus  der  Beschaffenheit  dieser  Gesänge  auf  die  ilirer  vermeintlichen  Quellen  zurück  zn 
schliefsen.     Den  Gesang  aber,  sei  er  damals  eine  in  neuer  Bedeutsamkeit  wieder  laut  gewordene  Stimme 
früherer  Zeil,  oder  eine  der  Begeisterung  der  Gegenwart  neu  entströmende  gewesen,  sehen  vär  mit  dem 
Chrislenthumc  lebendiger  als  je  erwachen.     Denn  das  laute  ßekenntnifs   des   Glaubens,    die  nothwendige 
Ijcbensäufsenmg  der  damals  erwachten  Begeisterung,  war  auch  der  Bekenner  eigenste  Thal,    die  Bewäh- 
rung, dafs  es  ein  höheres  Gut  für  sie  gebe,    als  das  irdische   Leben;    mit  ihm   traten   sie   iliren   Feinden 
kühn  entgegen,  ja,  nach  dem  Marlcrlhum  dürstend,  reizten  sie  absichthch  damit  iliren  Zorn.     Durch  Ver- 
hole, durch  Verfolginigen  eingeengt,  überschwoll  jener  Strom  des  Bekenntnisses   im  heiligen  Gesänge  nur 
so  mächtiger  seine  Ufer;  selbst  die  Verfolger,  ^^'ie  wir  in  einzelnen  Beispielen  lesen,  mit  sich  fortreifsend. 
Jene  Zeilen  des  Dranges  und  der  Verfolgung  gingen  vorüber,  die  Kirche  begann  sich  nach  aufsen  zu  bilden 
und  zu  befestigen,  vielfach,  in  äufscrcr  Richtung  und  That,  gestallete  sicli  das  im  Chrislenlhum  er\vachte 
neue  Leben;  ^\'ie  die  Begeisterung  des  lauten  Bekenntnisses,  trat  auch   der  lebendige  Strom   des  heiligen 
Gesanges  wieder  zurück.     Das  Streben,  in  dem  Wechsel  der  Ersclieinungen   ein   Festes,    Stätiges   hinzu- 
stellen, hatte  die  zeitliche  Gestalt  der  Kirche,    die  Ordnung  des  Gollesdiensles   geschaffen,    die   sorgfältige 
Wahl    des,  yVngemessenslcn    füi-    diesen   aus    dem  reichen   Vorrathe    der    Erzeugnisse    früherer    Begeiste- 
rung geleitel;    in   diesem   Sinne   sehen   wir  Gregor  den  Grofsen   thütig.     Allein   je  mehr,    je  eifriger   ein 
äufseres    Bestehen    erstrebt    wurde,    um    so    leichter    wirkte    man    zum  Erslarren   der  Erscheinung. 
Denn  das  Leben  ist  Wechsel,  Blülien,  Reifen  und  Vergehen  zu  neuer  Entfaltung,    deni  waluhaft  Bestän- 
digen in  der  Zeit.      Gewifs,    ein   würdiges   Bestreben  war  es,    den  Werken   frülierer  Begeisterung  ernste 
Belrachtung  zu  weihen,  ihren  inneren  Zusammenhang  genau  zu  erforsclien,   die  Kenntnifs  von  ihnen  auf 
das  Fafshchste  zu  übertragen,  sie  in  reinster  Uebcrheferung  zu  bewahren;  hätte  man  nur  auch  den  Glau- 
ben bewalirt,  in  ihnen  schlummere  ein  frischer  Lebenskeim  zu   neuer  Entfaltung.      Wie  man    aber  vom 
Anbeginne  bemüht  gewesen,  aus  Besorgnifs  vor  Entartung  und  Verfälschung,  jeder  anscheinenden  Neue- 
rung zu  wehren,    so  schien  eine  solche  dann  zumahl  gefährlidi,    als  die  Kirche   und  ihre  Diener  durch 
fromme  Spenden  der  Gläubigen  zu  Reichtlium  und  weltliclier  Maclit  gelangt  waren,    als  Sinnlichkeit  und 
Ausgelassenheit  freien  Eingang  fanden  in  das  entwürdigte  IleiligÜmm,  Glanz  und  Pracht  allgemach  an  die 
Stelle  der  früheren  Demuth  und  Einfalt  traten,  aus  denen  die  Blüthen  des  Geistes  um  so  herrlicher  sich 
erschlossen  hatten:  als  auch  dem  heiligen  Gesänge  in  üppiger ^ Verzierung  und  aufgednmgenem  Sclimucke 


—     113     — 

das  allgemeine  \  crdeibeii  nicht  fremd  blieb.  Heilige  iMänner,  würdige  Kirchcidiäiipter,  liefsen  mit  Recht 
ernste  und  drohende  Stimmen  gegen  solche  Verunstaltung  laut  werden ;  aber  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dals 
dadurch  mancher  unbemerkt  gebliebene  Keim  tieferer  Entfaltung  wiedennn  erstickt,  oder  doch  in  seiner 
Entwicklimg  zurückgehalten  ^\urde.  Die  Baukunst  war  von  der  Kirche  als  Schöpfcrinn  ihrer  Tempel 
gepflegt  worden;  die  Blldnerci  im  weitesten  Sinne  halte  sie  zwar  anfangs  von  sich  gestofsen  als  Diene- 
rinn  der  Abgötterei,  dann  sie  mit  Liebe  wieder  aufgenommen,  als  eine  Kunst,  die  ihr  lebendin;e  Anschauun»- 
der  heiligen  Geschichten  gewähre;  beide  Künste,  in  ihr  gehegt,  Aon  ihr  geschirmt,  wurden  endlich  zu 
Iierrlicher  Blülhe  gezeitigt.  Die  Tonkunst,  ihre  älteste  Gefährtinn,  durch  deren  Stimme  zuerst  ihr 
inneres  Leben  ofienbart  worden,  rief  dagegen  die  Kirche  nicht  herbei  zu  frischer,  neuer  ^Virksamkeit  im 
Bunde  mit  jenen  beiden;  nur  in  den  Erzeugnissen  einer  fernen  Vergangenheit  wurde  sie  von  ihr  geehrt, 
in  Liedern,  eingefafst  A\ie  köstliche  Edelsteine  in  die  hehre,  von  jenen  geschaffene  Umgebung,  gehegt  als 
imantastbarer  Schatz  in  dem  durch  jene  bereiteten  Ileiligthmnc;  darf  es  befremden,  da  nun  endlieh  der 
Bildungstrieb  dieser  gebeimnifsvollen  Kunst  dennoch,  wach  und  mächtig  geworden,  sich  Bahn  gemacht 
hatte,  dafs,  gehemmt  wie  sie  gewesen  in  ihrer  Ent\\-icklung,  gebunden  an  das  L^eberlieferle ,  sie,  weniger 
in  dem  ihr  eigentliümlichen  Sinne  wirksam,  als  verführt  durch  die  Erzeugnisse  jener  andern  Künste,  ihr 
ganzes  Streben  voi-zugsweisc  dahin  >^endete,  in  mannigfacher,  sinnreicher  ^^erfleclltung  verschiedener  Ge- 
sänge, dem  die  Tonzeichen  überschauenden  Auge  zu  genügen,  dem  Ohre  aber  nur,  sofern  alle  Beleidicun"- 
desselben  durch  IMifstöne  vermieden  blieb?  Dafs,  je  weniger  das  Leberlieferte  in  seiner  wahren  Bedeu- 
tung noch  dem  inneren  Sinne  aufgegangen  war,  man  dem  Volksgcsange  sich  zuwendete,  der,  ^on  aller 
äufseren  Beschränkung  frei,  kräftig  und  frisch  entfallet,  als  ein  Belebendes  (so  wähnte  man)  für  die  künst- 
lichen Tongebäude  und  Tongemälde  in  tUe  Kirche  hineinzuzieJien  sei;  in  die  Kirche,  die.  auch  über- 
wältigt durch  den  Drang  der  Zeit  und  deren  Riclitung,  nicht  minder  dagegen  sicli  auflehnte  als  früher. 

Dafs  der  Volksgesang  dennoch,  aber  in  anderem  Sinne,  endlich  Bürgerrecht  gewonnen  habe  in 
einem  Theile  der  auch  hierin  getrennten  Kirche,  dafs  durch  sie  und  in  ihm  eine  lebendige  Entfaltung  der 
Tonkunst  herbeigefülirt  worden,  haben  wir  in  dem  \  origen  gezeigt,  und  dabei  gesehen,  wie  auch  die 
ältere,  den  jNamen  «ler  allgemeinen  beibehaltende  Kirche  von  hier  aus  eine  neue,  frisclie  Blülhe  des 
von  ihr  bewahrten  Scliatzes  der  Ueberlieferungen  heiliger  Tonkunst  genossen  habe.  Die  Kirche  also  war 
es,  durch  welche  dem  heiligen  wie  dem  Volksgcsange  lebendige  Entwickelung  damals  zu  Thcil  Aviude: 
noÜiwendig  nivifsle  daher  in  jener  Zeit  der  kirchhche  Styl  der  vorherrschende,  allgemeinere  sein;  jene 
durch  die  allen  Kirchenweisen  lebendig  hervorgerufene,  in  die  Kirchentöne  niedergelegte  Anschaiumg  \on 
der  Tonwelt,  übertragen  auf  die  in  Kirchenweisen  umgewandelten  Volksgesänge  nmfste  auch  ihnen  eine 
geistliche  Verklärung  leilien,  die  ihren  unheiligen  Ursprung  allgemach  vöUig  verdunkelte.  ^Velcher  Art 
jene  Anschauimg  der  Tonwelt  gewesen,  wie  der  fromme  Sinn  der  Zeit  den  ernsten  Forscher,  den  be- 
geisterten Tonmeister  geleitet,  was  sicli  liienacli  in  den  Kirclieutönen  ausgesprochen,  das  haben  wir  in 
dem  Vorangehaiden  darzulegen  versucht.  Ein  Bild  jener  Zeit  und  ilires  Strebens  hoffen  wir  danu't  ge- 
geben, inid  defshalb,  weil  kein  einzelner  älterer  Bericht  als  Gewähr  des  von  uns  AufgestclUcn  sich  an- 
fiihren  läfst,  nicht  den  A  onviu'f  verdient  zu  haben,  als  hätten  wir  jener  Zeit  eine  ihr  frenide  Ansicht  anf- 
gcdrungeu.  Bei  allen  älteren  Forschern,  bis  auf  Glarean  und  Zarhiio  hinab,  linden  wir  das  unverkenn- 
bare Streben,  in  den  Beziehungen  der  Töne  zu  einander  eine  tiefe,  geheimnifsvolle  Bedeutung  zu  linden; 
sollten  die  \N  erke  der  Tonkunst  also  nicht  dem  Drange,  jenem  Geheimnisse  eine  Stimme  zu  verleihen, 
ihr  Dasein  verdanken?     ^V'enn  Aribo  der  Scholastiker  das  tiefere  Tetrachord  mit  Christi  iMenschheit   ver- 

C.  r.  WiutcrfclJ  Juh.  Gabrieli  u.  s.  Zcilaltcr.  1  ^ 


—     114     — 

"lelihl,  MO  er  in  IltlVr  i^riiiri!ii!;niii;  ;il!('  nifiisfliliflipii  Gfbredicn  gclheill:  das  folgende,  die  Eiid-  und 
die  Grundlöne  ilcr  Tonarten  eiillialtende  mit  Clirisli  leibliciieni  Tode,  seinem  Lebensende  für  eine  Zeit, 
in  Mflcher  aiicU  dos  Tempels  ^  orhang,  der  Felsen  Hürlc,  der  Sonne  Klarheit,  der  Erde  Festigkeit  sich 
zum  Ende  geneigt;  die  beiden  Iiöheren  Tetrachorde  endlich  mit  des  Herrn  Auferstehung  und  Himmelfahrt; 
wenn  Guido  von  Arezzo  seine  acht  Tonarten  mit  den  acht  Gestalten  der  Seligkeit  vergleicht;  beide 
aber,  indem  sie  ohne  Zweifel  aus  inniger,  frommer  Ucberzcugung  so  reden,  doch  der  Neigung  ihrer  Zeit 
im  Spiele  mit  Worten  und  Zahlen  initerliegcn,  indem  jener  durch  die  Bez.eichnungen  der  Tiefe,  des  En- 
des, der  Hi'ihc,  des  Höchsten  verleitet  wird,  dieser  durch  die  Zahl,  die  Um  nebenbei  noch  zu  der  ^ani- 
malischen \^ergleichung  mit  den  acht  Eedetlieilen  verführt:  so  wird  man  eine  Darstellung  nicht  schelten 
dürfen,  die  bei  dem  Streben,  aus  der  einfachen,  keiner  Zeit  fremden  Grundlage  christlicher  Gesinmmg 
den  Bildungsgang  einer  bestimmten  Zeit,  den  inneren  Gehalt  ihrer  Erzeugnisse  zu  erklären,  eben  so  sehr 
jenes  eitle  Spiel  zu  vermeiden  suchte  als  die,  .nller  hochtönenden  Worte  imgeachtet,  in  das  Grenzenlose, 
Unbestimmte  verschwimmende  Allgemeinheit  der  Charakteristik,  welche  die  Schriften  der  Tonlehrer  jener 
Zeit  von  ihren  Kirchentönen  ims  geben. 

Wir  wenden  uns  zurück  zu  Adrian  Willaert,  von  dem  Avir  ausgingen;  und  haben  vnr  ihn  unter 
den  ersten  genannt  in  denen  der  Sinn  für  lebendige  harmonische  Entfaltung  erwacht  sei,  so  dürfen  vnr 
ein  gleiches  von  seinem  Schüler  Ci/prian  de  Rore,  seit  1563  seinem  Amtsnachfolger,  rühmen.  In  den 
meisten  seiner  Werke  herrscht  ein  fülilbares  Streben  imd  Ringen  nach  Entwicklung  eines,  wenn  auch 
mehr  geahnten  als  erkannten,  Lebens  der  Töne.  Auf  das  lebhafteste  fühlte  er  jene,  den  Zusammenklän- 
gen, ihrer  sinnigen  Beziehung  auf  einander  inwohnende  Kraft;  dafs  den  Ikonen  vergönnt  sei,  dem  Worte 
nicht  allein  äufsern  Sclimuck  zu  verleihen,  sondern  auch  dem  Geist  und  Sinne  nach  es  wahrhaft  zu  ver- 
klären, war  ihm  nicht  verborgen  gebheben.  Andere  INIeister  seiner  Zeit  haben  in  Vorreden  und  Zuschrif- 
ten hin  und  wieder  von  der  Richtung  ihres  Strebens  ein  Zeugnifs  abgelegt;  ihm  hat  es  nicht  gefallen, 
uns  ein  solches  zu  hinterlassen,  allein  seine  Werke  zeugen  für  ihn,  und  ihnen  zufolge  behaupten  wir: 
in  der  Harmonie  mehr,  weniger  in  der  Melodie  sei  ihm  das  Wesen  der  Tonkunst  aufgegangen ;  in  jener 
habe  er  die  geheimnifsvoUe  Kraft,  welclie  das  Wort  verklärt,  mannigfach  zu  schauen  gemeint,  in  dieser 
nur  selten  sie  erkannt.  So  erblicken  wir  in  ihm  das  Streben  nach  harmonischer  Bedeutung,  nach  tiefem 
Ausdruck  des  Wortes  durch  dieselbe,  abgesehen  fast  von  allem  melodischen  Gehalte  im  engeren  Sinne, 
von  aller  kunstreichen  Verflechtimg;  dann  aber  wiederum,  wie  er  er  der  Schule  nach  Niederländer  war, 
das  Trachten  nach  mannigfacher,  sinnreicher  Stimmenverwebung,  dem  Wahrzeichen  jedes  tüchtigen  Mei- 
sters seiner  Zeit  und  seines  Volkes.  Durch  jene  erste  Richtung  nun  hat  er  zwar  der  hannonischen  Ent- 
faltung der  Kirchentöne  nicht  unmittelbar  gefruchtet.  Frühe  schon  in  Ilitlien  eingebürgert,  bis  zu  dem 
Ende  des  Jahrhimderts  durch  mehr  als  fünfzig  Jahre  gleich  verehrt  und  geliebt,  wie  es  wiederholte  Auf- 
lagen seiner  Werke  bekunden,  wie  es  die  Aufnahme  vieles  Einzelnen  aus  denselben  in  Sammlungen  der 
erlesensten  Gesänge  zeigt,  welche  in  Deutschland,  Italien,  den  Niederlanden  veranstaltet  wurden,  scheint 
er  diese  Verehrung  doch  mehr  seinem  Eifer  für  weltliche,  als  geistliche  Tonkunst  zu  verdanken. 
Aufser  dem  schon  erwähnten,  prächtig  auf  Pergament  geschriebenen,  mit  IVIiniaturen  versehenen  Bande 
lateinischer  Gesänge,  geistUchen  Inhalts  zwar  auch,  doch  meist  aus  Denksprüchen  und  vorzüglich  belieb- 
ten Stellen  alter  Dichter  bestehend,  besitzt  die  königliche  BüchersamrrJung  zu  München  von  ihm  an 
handschriftlichen  geistlichen  W^erken  nur  drei  Messen  und  einen  Band  fünf-  imd  sechsstimmiger 
Motetten:  an  gedruckten  nur  fünf  Sammlungen  heiliger  Gesänge,  von  denen  vier  nicht  mehr  als  acht 


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dergleichen  neben  denen  anderer  Meister  von  ihm  miltlicilen,  und  nur  die  fiinfle  ihm  vorziiglirh  2,('\\i(j- 
met  ist.  Dagegen  finden  wir  dort  zwanzig,  seit  dem  Jalire  1513  in  den  Niederlanden,  in  Italien,  in 
Deutschland  im  Druck  erschienene  Sammlungen  von  iMadrigalen  und  Liedern,  welche  aussehlicfslich  oder 
doch  hauptsäclilich  von  ihm  gesetzt  sind.  Lebhaften  Geistes,  •s\  ic  er  m  ar,  sirndich,  hefiig  —  so  zeigt  iJni 
auch  sein  Bildnifs  vor  der  gedachten  Handsclirift  —  mufstc  er  an  Gesängen,  in  welche  leidenschaftlicher, 
lebhafter  Ausdruck  gelegt  werden  konnte,  das  meiste  Gefallen  finden.  Die  Liebende  klagt  gegen  den 
Gehebten,  der  sie  verlassen  will,  sie  schilt  die  Freuden  der  Liebe  trügerisch,  sie  umscldingt  ihn,  wie  die 
Rebe  die  Ulme,  und  will  ihn  nicht  lassen;  der  Liebende  preist  die  Huld  seiner  Geliebten;  dann  nieder 
irrt  er  verzweifelnd  zwischen  Felsklüften,  über  welche  düstere  Nebel  hinziehen,  in  dunkelcn  Wäldern  — 
Bilder  solclier  Art,  so  sehen  wir  es  in  seinen  Werken,  waren  dem  Cyprian  am  meisten  willkommen, 
liier  konnte  er  als  Tonmeister  die  eigenUiündiche  Ncigmig  seines  Geistes  am  meisten  onl fallen.  Sein 
Streben  nun  nach  leidenscbafthchein  Ausdruck,  nach  iMalerei  dm-ch  die  Töne,  wie  es  ber\  orp,ing  aus  dieser 
Neigung,  scheint  Um  miserer  gegenwärtigen  Darstellung,  welche  die  Fortschritte  der  heiligen  Tonkunst, 
die  harmonische  Entfallung  der  Kirchentöne  vornehmlich  zimi  Gegenstande  hat,  fern  stellen  zu  müssen. 
Allein  sofern  wir  ihm  naclirülmien  müssen,  er  habe  das  Verhältnifs  des  Wortes  zum  Tone  zuerst  tiefer 
gefülJt,  die  Kraft  der  Harmonie  lebhafter  empfunden,  ist  er  uns  von  hober  ^Nichtigkeit,  nir.g  er  auch 
mittelbar  nur  der  kirchhchen  Kunst  dadurch  genützt  haben.  Ein  vollgültiges  Zeugnifs  für  ihn  legt 
Artusi  ab,  jener  strenge  Richter  des  Verderbens  der  Tonkimst  seiner  Zeit.  „Er  war  ein  denkender  Mei- 
ster," sagt  er  von  ilmi,  „er  hat  den  Ausübenden  hell  vorangeleuchtet;  und  behauptete  ich,  er  sei  der 
erste  gewesen  der  Wort  und  Ton  zu  rechter  üebereinstimmung  verbimden  habe,  so  würde  ich  nicht  die 
Unwahrheit  sagen,  denn  vor  ihm  und  zu  seiner  Zeit  waren  Barbarismen  sehr  gewöhnbch. "  Neben  dieser 
für  die  Ausbildung  der  Tonkunst  im  AUgemeinen,  und  also  auch  für  die  heilige,  erfprielshchen  Richtung, 
finden  wir  aber  auch  bei  ihm  die  frühesten  Keime  jenes  dcclaniatorisch-recitati\'ischen  Gesanges,  der 
in  späterer  Zeit  sich  ausbildete:  eben  in  der  gleidimäfsig  durch  alle  Stimmen  dem  Worte,  Sylbe  fürSylbe, 
mit  genauer  Beobachtung  des  Maafses,  sich  anschliefsenden  Betonung;  und  trachtete  unser  Meister  hie- 
bei  nach  harmonischer  Bedeutsamkeit,  so  trat  freilidi  das  Streben  seiner  Nachfolger  späterhin  gegen  die 
\  ollstimmigkeit  in  den  entschiedensten  Gegensatz,  be^virkte  die  bestimmtere  Trennung  des  kirchlichen 
von  dem  \\ eltbchen  Style,  tnid  wirkte  auf  die  Umbildung  (wohl  auch  \  erbildung)  jenes  ersten  so  mäch- 
tig ein,  wie  wir  dieses  zu  seiner  Zeit  näher  entwickeln  werden. 

In  der  Chromatik  fand  unter  den  Tonkünstlern  seiner  Zeit  zuerst  Cypiian  ein  Mttel,  dem  Worte 
lebendigere  Betonung,  der  Harmonie  besondere  Kraft  zu  verleilien.  Wenn  wir  dieses  behaupten,  liegt 
uns  eine  doppelte  Erörtenmg  ob:  des  Sinnes  zuerst,  in  welchem  ^^ir  jene,  aus  der  Tonkunst  der  Allen 
entlehnte  Benennung  chromatisch  genommen  wissen  wollen;  der  Gründe  sodann,  aus  denen  das  Ver- 
dienst des  Erfinders  dem  Cyprian  hier  zugeschrieben  wird.  Die  Ver\vand tschaft  der  Kirchentöne,  wie  wir 
gesehen  haben,  gründete  sich  hauptsächhch  auf  die  Reihefolge,  in  welcher  die  Natur,  wie  die  einzelnen 
Töne,  so  die  Tonverhältnisse  aus  einem  Grundlone  entstehen  läfst;  auf  die  diatonische  Leiter  so- 
dann, dem  Vorgange  der  Alten  zufolge  gebildet  durch  Verkettung  und  Zusammenfügurig  von  Quarten, 
die  nach  den  kleineren  Verhältnissen  des  Tons  und  des  Halbtons  in  wiederkehrender  Folge  gegliedert 
waren;  auf  die  fünffache  V^ersetzimg  dieser  Leiter  endhch,  deren  jede,  der  besonderen  Stellung  des  sie 
regehiden  Grundtones  zufolge,  in  doppelter  Gestalt  erschien.  In  der  Art  der  Verkettung,  der  Zusammen- 
fügung jener  Tetrachorde  fanden  vir  die  Doppelgestalt  des  siebenten  Tons  der  diatonischen  Leiter,  als  h 

15* 


—      116     — 

liier  trilt  in  dem  zweiten  Tlieile  der  Symjihouiae  sacrae  (Venedig  1615)  uns  zuerst  ein  dreistlm- 
niiger,  durch  AU,  Tenor  und  Bafs  besetzter  Gesnng  entgegen,  der  von  zwei  Zinken,  zwei  Geigen 
und  ^ier  Posaunen  begleitet  werden  soll.  Er  ist  für  das  Osterfest  bestimmt,  doch  ist  sein  Text  nicht 
eigentlich  liturgisch,  wenn  auch  \'ieles  darin  entweder  aus  der  heiligen  Schrift  entnommen  ist,  oder  auf 
sie  deutet.  „Christus  ist  erstanden"  ')  (so  lauten  seine  Worte)  „und  der  Herr  hat  gedonnert  vom  Him- 
mel, Halleluja;  und  der  Höchste  hat  seine  Stimme  tönen  lassen,  llalleluja;  am  Tage  Eurer  Feier  werde 
ich  Eucli  fülnen  in  ein  Land,  darinnen  IMilch  und  Honig  fleufst,  llalleluja;  Ihr,  sein  Volk  und  Erbe,  ver- 
kündet seine  Thaten,  Halleluja."  Die  Beziehung  dieser  Worte  auf  den  Auszug  auf  Eg)^ten,  den  das 
jüdische  Osterfest  feierte,  das  Anknüpfen  von  da  aus  an  das  christliche,  von  welchem  jenes  als  eine 
Vorandeutung  betrachtet  wird,  an  den  geschichtlich  sinnbildlichen  Zusammenhang  beider,  wie  der  katho- 
lische Gottesdienst  ihn  so  eindringlich  hervorzidieben  trachtet,  ist  nicht  zu  verkennen,  dieser  Gesang  also 
dem  kirclihchen  Sinne  völlig  gemäfs,  wenn  aucli  nicht  in  den  Kreis  der  in  der  Kirche  üblichen  aufge- 
nommen. Nun,  wissen  wir,  war  zu  ^'enedig  das  kirchliche  und  Staatslcben  in  seiner  öffentUchen  Er- 
scheinung auf  eigenthünihche  Weise  verknüpft;  kirchliche  Feste  reihten  sich  oft  an  vaterländische  Ereig- 
nisse, viele  von  jenen  wurden  durcli  feierliche  KIrcIigänge  des  Doge  begangen,  und  überall,  wo  dieser 
öffentlich  erschien,  wo  die  Bedeutung  imd  Würde  des  Freistaats  durch  ihn  dargestellt  wurde,  durfte 
DIclitkunst  und  Gesang  niemals  fehlen,  die  Festlichkeit  besonders  zu  verherrlichen.  Es  lag  also  sehr 
nahe,  jede  feierliche,  öffentliche  Erscheinung  des  Staatsoberhaupts,  sein  Ersclieinen  an  helbger  Stätte,  um 
sich  vor  dem  Herrn  aller  Herrscher  zu  demülhigen,  durch  Gesänge,  nach  Art  der  kirchbchen  erfunden, 
zu  feiern,  ihnen  angemessenen,  neuen,  bedeutungsvollen  Schmuck  zu  geben,  die  kirchliche  Feier  in  ili- 
rem  eigensten  Sinne  dadurch  zu  erweitern.  So,  glauben  wir,  ist  auch  dieser  Gesang  entstanden,  und 
damals  vielleicht  der  Doge  am  Osterfeste,  bei  seinem  Eintritt  in  die  Kirche  des  heiUgen  Zacharlas,  welche 
er  nach  Anliörung  der  Predigt  in  St.  Marcus  an  diesem  Tage  zu  besuchen  hatte,  oder  bei  seinem  Er- 
scheinen in  der  Kirche  des  heiligen  Gcmlnlan,  in  welche  er  am  achten  Tage  nacldier  einzog,  damit  feier- 
lich begrüfst  worden.  Dafs  eben  eine  Gelegenheit  dieser  Art  Ihn  veranlafst  habe,  wird  auch  durch  seine 
ganze  Einrichtung  wahrscheinlich.  Er  beginnt  nämlich  nicht,  wie  es  bis  dahin  allgemein  üblich  war,  mit 
vollem  Chore,  sondern  es  geht  ihm  —  eine  neue  Erfindung  unsers  Meisters  —  eine  Instrumentalsym- 
phonie voran,  durch  ihre  imgewöhnllche  Erscheinung  die  Anwesenden  auf  etwas  Aufserordentllches  vor- 
zubereiten. Durch  zwei  Zinken  und  vier  Posaunen,  in  einem  kurzen  fugirten  Satze  von  nur  dreizehn 
Tacten,  ip  dessen  Schlid"sfall  die  Singstimmen  einfallen,  ausgeführt,  zeigt  diese  Symphonie  ein  Älotiv, 
dessen  sich  der  IMelster  im  Verlaufe  des  Ganzen  nicht  ferner  bedient,  als  bei  ihrer  späteren,  um  fünf 
Tacte  erweiterten  Wiederholung;  ein  offenbares  Zeichen,  dafs  sie  ihm  durch  ihr  Hervortreten  vor  dem 
übrigen  Theile  des  Ganzen  als  einleitend  und  vorbereitend  dienen  sollen.  Das  Ganze  läfst  drei  Theile 
unterscheiden:  die  Verkündigung  der  Auferstehung,  als  eines  Geschehenen,  die  alttestamentllchen  Ver- 
heifsungen,  die  Ihr  sich  anscldlefsen,  den  in  dem  Halleluja  durch  alles  dieses  verwobenen  Lobgesang. 
Diese  drei  Theile  nun  hat  unser  Meister  auch  durch  seine  Behandlung  besonders  hervoi^ehoben.  Die 
einleitende  Symphonie,  zuerst  der  Verkündigung  vorangehend,  sodann,  durch  zwei  Stimmen  (zwei  Geigen) 


')  Surrexit  Christus;  et  Dominus  rfe  coeh  intonuit ,  AIhluia :  et  Altissimus  dedit  Kocem  suam,  jtUeluia ;  in  die  solem- 
nitatis  festrae  inducam  vos  in  terrani  Jluentem  lac  et  mel,  Alleltiia ;  populus  acguisitionis ,  annuntiate  virtutes  ejus  Alle- 
luia!     (S.  das  Beispiel  II.  A.  b.J 


—     117     — 

verstärkt,  in  längerer  Ausfiihrung  desselben  Grundgedankens  ihr  folgend,  sondert  diesen  Theil  des  Gan- 
zen von  allem  Uebrigen  ab,  wie  er  durch  den  Vortrag  von  blofsen  Singstimmen,  und  durch  den  unge- 
raden Tact,  vor  demselben  schon  ausgezeichnet  ist.  Der  Lobgesang,  das  Halleluja,  bei  jeder  Wiederho- 
lung auf  dieselbe  Weise  im  Verein  aller  Stimmen  und  Instrumente  wiederkehrend,  hebt  sich  ebenfalls 
durch  den  ungeraden  Tact  heraus,  an  den  ein  feierlicher  Schlufs  im  geraden  Tacte  sich  reiht,  welcher 
am  Ende  des  Ganzen  durcli  Verdoppelung  des  Werthes  der  Noten,  bei  völlig  gleichbleibendem  Verhält- 
nisse derselben,  nocli  eindringlicher  wird.  Die  Verheifsung,  der  sie  schliefsendc  Aufruf  zum  Lobgesange 
entfaltet  sich  immer  voller  und  präclitiger  vor  uns.  ^'or  dem  ersten  Halleluja  beginnt  die  Oberstimme» 
der  Alt,  mit  Begleitung  von  drei  Posaunen;  ihr  folgt  der  Tenor,  zu  Anfang  nur  von  einer  Posaune  und 
zwei  Zinken  begleitet,  endlich  von  dem  ganzen  Chore  der  Posaunen,  da,  wo  es  heifst,  dafs  der  Höchste 
seine  Stimme  vernehmen  lassen.  Den  Hauptinhalt  der  ^'erheifsung  endlich  trägt  die  Bafsstimme  vor,  der 
sich  zuletzt  auch  die  übrigen  Stimmen  anschüefsen.  Ilir  sind  zu  Anfange  nur  ein  Zinken,  und  zwei  Po- 
saunen gesellt,  deren  harmonische  Grundlage  sie  bildet;  dann  treten  ihr,  bis  auf  die  Bafsposaune,  alle 
Instrumente  hinzu,  im  Wechsel  mit  ihr  sich  in  zwei  Chöre  sondernd,  deren  einer  auf  ihr,  der  andere 
auf  zwei  Posaunen  ruht,  dieser  die  beiden  Zinken  zu  Oberstimmen  hat,  jener  aus  der  zweiten  Posaune 
und  den  beiden  Geigen  sich  aufbaut.  Der  Schlufs  vereint  alles  in  dem  Ganzen  Singende  und  Khngende, 
bald  in  vollen  Zusammenklängen,  bald  in  wechselnden  Chören.  Der  Aufruf  an  das  Volk  zum  Lobe  er- 
hält dadurch  etwas  prächtig  und  bedeutsam  Hervortretendes,  dafs  er  jederzeit  mit  dem  harten  Drei- 
klange der  kleinen  LTntcrferz  des  Grundions  von  dem  unmittelbar  zuvor  gehörten  Zusammenklange  ein- 
tritt, so,  dafs  der  harte  Dreiklang  von  d  auf  den  von  y  folgt,  der  harte  Dreiklang  von  e  sich  dem  von 
g  anschliefst;  eine  Folge,  gegründet  auf  der  Beziehung  unserer  harten  zu  den  ihnen  gesellten  weichen- 
Tonarten,  dadurch  indefs  überraschend,  dafs  statt  weicher  Dreiklänge,  die  auf  Grundtönen  gleichen  Ver- 
hältnisses gebauten  harten  sich  hören  lassen,  wodurch  mittelbar  das  chromatische  Verhältnifs  des  klei- 
nen Halbtons,  als  des  Unterschiedes  zwischen  der  kleinen  und  grofsen  Terz,  hervortritt,  in  seiner  Steige- 
rung einem  Gehör  gebietenden  Aufrufe  wohl  angemessen.  Der  kleine  Halbton  nun  ist  das  einzige  chro- 
matische Ton  verhältnifs,  das  in  dem  Ganzen  eingeführt  ist;  als  chromatischer  Ton  ist  dis  angewen- 
det, um  den  harten  Dreiklang  auf  h  zu  den  Worten  ,.populns  acf^uisitionis"  unerwartet  hören  zu  las- 
sen. Das  Ganze  zeigt  uns,  wie  sinnig  imser  IMeistcr  Spiel  und  Gesang,  und  in  jenem  eigenthümUch  ge- 
färbte Klänge  entgegen  zu  setzen  inid  zu  verbinden  gewufst,  und  giebt  uns  ein  neues  Beispiel  der  ilnn 
oft  schon  zuvor  nachgerühmten  Kunst  der  Entfaltung,  die  wir  auch  ferner  noch  als  etwas,  seiner  künst- 
lerischen Thäligkeit  besonders  Eigenthümlichcs,  werden  zu  rühmen  haben.  Das  Ganze  bewegt  sich  in 
der  Tonart  F-dur;  wir  bezeichnen  sie  lieber  mit  diesem,  als  dem  INamcn  der  ionischen  Tonart,  denn 
die  besonderen  Beziehungen  dieser  treten  nur  in  entfernten  Anklängen  hervor,  und  wir  scliliefsen  daraus 
mit  Recht,  dafs  dieses  Tonwerk  der  spätereren  Zeit  unseres  Meisters  angehöre,  wie  es  denn  auch  in  ei- 
ner Sammlung  zuerst  an  das  Licht  getreten  ist,  welche,  nach  des  IMeisters  Tode  erschienen,  meist  nur 
Werke  dieser  späteren  Zeit  neben  einigen  urkundlich  früheren  umfafst. 

Aber  auch  zu  einer  anderen  ßetrachtimg  noch  veranlafst  uns  das  vorliegende  Tonwerk.  Präto- 
rius  '),  wo  er  von  der  Art,  wie  seine  eigenen  geistlichen  Tonstücke  durch  Instrumente  und  Singstim- 
men zu  besetzen  seien,  ausführlich  redet,  gedenkt  auch  der  ilmen  vorangehenden  Symphonieen,  und  be- 


')   Syntagm.  III.  Abth.  3.    Cap.  8.  p.   189. 


—      118      — 

sie  alle  (Icheiiniiisse  der  Tonkunst  enlliülll,  die  des  Alleithums  wiederum  ins  Leben  gerufen  zu  haben 
ejlanblo.  So  fülut  er  es  aus  in  seinem  l.')55  zu  lloni  erschienenen  Werke:  Vaiitica  musica  ridolla  ulla 
moderna  prafica:  sein  Bildnifs  ist  demselben  vorangeheflet  mit  der  rühmenden  Inschrift:  „Nicolaus 
Vincentinus  im  vier  und  inerzigsten  Jaiire,  des  Archicyinbahmis  Erfinder,  wie  der  Theilung  des  chroma- 
tischen und  enharmonischen  Klanggeschleclits  für  die  Ausühung."  Daneben  steht  noch  der  letzte  Thell 
des  achten  Verses  aus  dem  ein  und  fünfzigsten  Psalm:  Du  liefsest  mich  wissen  die  heimliche  Weisheit, 
die  Wahrheit,  die  im  Verborgenen  liegt. 

AUein  alle  diese  Thatsachen,  unbezweifelt  wie  sie  sind,  stehen  unserer  Annahme  nielit  entgegen. 
Willaert  arbeitete  sein  zweistimmiges  Tonstück  aus,  seinen  Lehrsatz  zu  beweisen,  dafs  die  Octave  in 
zwölf  völlig  gleiche  Halbtöne  zerfalle;  dem  Auge,  dem  es  einen  ungehörigen  Schlafs  darstellte,  sollte 
es  zugleich  das  Bild  eines  Trunkenen  gehen,  der  im  Gesänge  nicht  Ton,  im  Gange  niclit  Schritt  zu  hal- 
ten weifs:  scherzend  woUte  er  belehren,  ohne  irgend  einen  künstlerisclien  Zweck  dabei  zu  verfolgen, 
wie  denn  die  JNeigung  zum  Chromatischen  audi  in  denjenigen  seiner  ^Verke,  welche  Cyprians  Madrigalen 
einverleibt  sind,  nirgend  hervortritt.  Nicolo  Vicentino  und  Zarlino  woUlen  sichtbar  und  hörbar  die  Klang- 
geschlechter der  Alten  darstellen;  weiter  gingen  ihre  Bemülmngen  niclit,  als  den  L'mfang  des  Kunststoffs 
zu  erweitem.  Cyprian  hat  ein  Gleiclies  geleistet,  aber  ihn  zugleich  begeistigt,  als  schaffender  Künstler 
sich  ihn  imterthan  gemacht.  Hier,  wo  wir  mit  der  Kunst  als  solcher,  mit  der  Lehre  aber  nur  in  sofern 
zu  thun  haben,  als  sie  uns  den  Weg  zeigt,  welchen  jene  genommen,  ist  er  uns  Erlinder,  mögen  andere 
auch  früher  bemüht  gewesen  sein,  den  Stoff  vorzubereiten.  Seine  Werke  fanden  allgemeinen  Aidclang, 
man  ahmte  sie  nach,  schiitt  auf  dem  geebneten  Wege  weiter  fort;  des  Nicolo  Vicentino  so  hoch  ge- 
rühmte Erfindung  blieb  wenig  beachtet.  Instrumente  wie  sein  Archicymbalum  gehörten  fünfzig  Jahre 
später  noch  zu  Seltenheiten.  Michael  Prätorius,  der  um  1619  schrieb,  erzäldt  als  etwas  Besonderes, 
dafs  er  ein  solches  bei  Carl  Luython  zu  Prag,  dem  Iloforganisten  weiland  Kaiser  Rudolfs  II.  gesehen 
habe,  das  dreifsig  Jahre  früher  (also  um  15S9)  zu  Wien  gebaut  worden;  aus  mündhchen  Berichten 
anderer  Tonkünstler  erinnert  er  sich  eines  Spinets  und  Positivs  ähnlicher  Art,  welche  in  Italien  verfertigt 
worden,  lobt  und  empfiehlt  sie  sehr  für  Begleitung  chromalisclier  Bladrigalc.  Hatten  jedoch  zu  jener 
Zeit  chromatische  Wendungen  selbst  bis  in  die  Kirche  schon  den  Weg  gefunden,  fühlte  man  gleich  leb- 
haft in  einzelnen  Fällen  das  Bedürfnifs  der  Verschiebung  des  Tonsystems,  und  mit  ihm  den  Mangel 
mancher'  Töne  auf  der  Orgel,  so  waren  doch  die  damaligen  Orgeln  für  solche  Zwecke  noch  nicht  einge- 
richtet, selbst  die  Tasten  es  und  gis  nicht  einmal  überall  getheilt,  um  die  Töne  dis  und  as  zu  gewinnen; 
so  wenig  hatte  des  Nicolo  Vicentino  Erfindung  den  Ausübenden  gefruchtet,  denen  sie  angepriesen  war, 
und  nur  einzelne  Liebhaber  hatten  davon  Vortheil  gezogen.  Die  seltsamen  Vorschriften,  welche  Prätorius 
für  den  Gebrauch  unzureichender  Orgeln  erthellt,  geben  davon  den  Beweis.  „Wenn  das  tj,"  sagt  er, 
„mit  dem^*  und  in  der  Mitte  die  terlia  major,  das  dis,  welches  etwas  zu  jung  und  zu  hoch,  und  also 
dargegen  falsch  ist,  gegriffen  werden  mufs:  so  mufs  nicht  allein  ein  Organist  solches  mit  Fleifs  durch- 
sehen und  überschlagen,  sondern  auch  gute  Aclit  haben,  dafs  er  et  weder  die  terliam  gar  aufsen  lasse, 
oder  die  tertiam  minorem,  das  d,  tangire,  oder  aber  mit  scharfen  mordanten  es  also  vergüte,  damit  die 
Dissonanz  so  eigentlichen  nicht  observirt  und  gehört  werde.  Darumb  ist  sehr  gut  und  hochnöthig,  dafs 
in  denen  Orgeln  und  Clavicymbeln ,  welche  zu  Concerten  in  der  Musik  gebraucht  werden,  das  schwarze 
Semitonium  es  und  wo  möglich  auch  das  gis  dupliret  werde,  vvae  ich  im  andern  Theile  Gap.  39.  beim 
Universal  Clavicymbel  erinnert," 


—      119     — 

Zarlino,  ^voIletl  wir  auch  armclinien,  seine  Forschungen  hätten  seinem  Mitscliiiler  Cyprian  den 
Weg  geebnet,  ist  als  ausübender  Tonkünstler  mit  diesem  auf  keine  \^eise  zu  vergleichen.  Abgesehen 
von  dem  Gebrauche  der  Chromatik,  den  er  bei  seinen  Zeilgenossen  tadelt,  von  welcliem  wir  in  seinen 
Werken  keine  Spur  finden,  zeigen  diese  auch  nirgend  einen  besondern  Aufschwung  des  Geistes;  sie  sind 
regelrecht  in  dem  Sinne  der  alten  niederländischen  Tonkünstler  gearbeitet,  aber  sieben  gegen  die  der 
bessern  selbst  unter  den  früheren  dieser  !\leisler  zurück.  Auch  sciieint  er  ^vedc^  besonders  fruchtbar, 
noch  beliebt  als  Künstler  gewesen  zu  sein.  Vier  Sammlungen  enthält  die  Königl.  Bibliothek  zu  München, 
drei  zu  Venedig  in  den  Jahren  1549  bis  1563,  eine  zu  IS'ürnberg  in  sechs  Theilen  1551  — 1556  erschie- 
nen, welche  sieben  Gesänge  Zarlino's,  imt er  ihnen  sechs  geisthchen  Inhalts  mittheilen;  handschriftlich  nur  ein 
einziges  Ave  regina  coelorum  zu  fünf  Stimmen.  Einige  dieser  Tonstücke  sind  wiederum  in  die  Samm- 
lung aufgenommen ,  welche  sein  Schüler  Philipp  Jusbert  im  Jahre  1566  zu  Venedig  bei  Franz  Rampaz- 
zotto  mit  einer  Zuschrift  an  die  Procuratoren  von  S.  Marco  herausgab,  und  welche  ein  imd  zwanzig  Ge- 
sänge ausschliefslich  ^on  ZarUno  enthält.  Sie  sollten  (so  sagt  der  Herausgeber)  zu  den  Institutionen 
seines  Meisters  ergänzende  Beispiele  geben,  wie  er  ja  Uirer  in  denselben  auch  öfter  gedenke;  sie  sollten 
der  Welt  zeigen,  dafs  der  scliarfsinnige,  gelehrte  Forscher  auch  ein  ausgezeichneter  Künstler  sei.  Aber 
dennoch  setzt  er  hinzu,  sei  es  nöthig,  dafs  er  seinen  Kleister  unter  den  Schutz  jener  würdigen  Männer 
stelle,  denen  er  sein  ausgezeichnetes  Amt  verdanke:  ihr  Ansehn  solle  ihn  vor  den  giftigen  Bissen  des 
Neides  sichern,  vor  dem  Gebelle  der  Mifswollenden.  Dafs  unter  dem  INeider,  dem  Uebelwollenden,  \in- 
cenz  Galilei,  Zarlino's  Schüler,  naclimals  sein  Gegner,  gemeint  sei,  ist  nicht  wahrsclieinlich;  denn  dessen 
Gespräche  über  alte  imd  neue  Musik  kamen  erst  1581,  seine  Abhandlung  über  Zarlino's  Werke  erst 
acht  Jahre  später  heraus.  Jusbert  halle  daher  ^vohl  weniger  einen  lieslimmten  Gegner  im  Sinne,  als  die 
Lauheit  seiner  Mitbürger  in  Aufnahme  der  Werke  seines  Lehrers,  den  man  als  Künstler  so  viel  geringer 
fand  wie  als  Forscher,  der  in  der  allgemeinen  IMeinung  hinter  seinen  so  viel  talentvolleren  Amtsgenossen 
Claudio  Merulo  und  Andreas  Gabrieli,  seinem  erst  kürzlich  verstorbenen  so  hoch  geachteten  Vorgänger 
Cyprian  bei  \\eilem  zurückstand.  Wie  oft  gilt  nicht  der  mit  Recht  begünstigte  Nebenbuhler  unverschul- 
det für  einen  Neider!  Cileichzeitige  imd  spätere  Schriftsteller  geben  mittelbar  Zeugnifs  von  der  allgemeinen 
Meinung  i'iber  Zarlino.  Doglioni  ')  rühmt  ihn  fast  nur  als  Gelehrten  überhaupt,  namentUch  als  Mathe- 
matiker. Alberici  *)  gedenkt  seiner  gar  nicht  unter  den  Tonkünstlem,  und  führt  in  dem  Inhaltsverzeich- 
nisse seines  W^erkes.  ihn  imter  der  nicht  wohl  gewählten  Benennung  .,ingegnere"  auf.  Sansovino's  ^) 
preisende  Bemerkung,  dafs  er  in  Lehre  imd  Kunst  ohne  Gleichen  sei,  dafs  man  bei  der  Anwesenheit 
Heinrich  des  Dritten  in  Venedig  wunderwürdige  Gesänge  von  ihm  gehört  habe,  ist  wohl  von  geringem 
Gewichte,  und  kaum  mehr,  als  eine  gelegenthche ,  freundschaftliche  Höflichkeitsbezeigung.  Denn  Zarlino 
war  Sängermeister  an  St.  Marco,  es  war  vorauszusetzen,  dafs  er  bei  der  Anwesenheit  des  fremden  Kömgs 
mit  seinen  Werken  hervorgetreten  sei ;  Sansovino  aber  befand  sich  damals  gar  niclit  anwesend  in  Venedig, 
und  Rocco  de'  ßenedetti,  sein  Gewährsmann,  gedenkt  des  Zarlino  mit  keiner  Sylbe.  Wird  uns  endUch 
von  ßettinelli  versichert,  Zarlino  habe  bei  jener  Gelegenheit  sogar  eine  Oper,  Orfeus,  hören  lassen,  so  steht 
jene  Behauptung  ohne  alle  Gewälir  da,  und  schwerlich  möclite  jenes  Werk,  hat  überall  Zarhno  ein  sol- 
ches aufgefülirt,  etwas  anderes  gewesen  sein,  als  einige  mehrstimmige  Madrigale,  als  Chöre  ZAvischen  die 
Aufzüge  einer  Tragödie  jenes  Namens  eingeschaltet,  und  im  Style  der  alten  niederländischen  Meister 
gearbeitet 

')  Doglioni    L.  1.  p.  74.  /.  ir.  p.  203  —  206.      ')  Al6e>:  p.  41.      ')  Saus,   yenaia  I.  X.  p.  165  verso. 


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So  dürfen  wir  denn  mit  einiger  Zuverlässigkcil  behauplen,   Cyprian  habe  nnter  den  Tonkünstlern 
der  neuen  Zeit  zuerst  wiederum  der  Chromalik  in  dem  Sinne  sich  bedient,  als  sie  ihm  IMittel  geworden, 
sein  Bestreben  nach  Ausdruck  von  Gemüthsbc wegungen  durch  die  Ilannonic  xu  erreichen;  wie  sein 
Meisler  Adrian   luiter  seinen  Zeitgenossen    zu   den  ersten   gerechnet  werden  dürfe,    durch    dessen  ^^erke 
die  Kirchentöne  als  CIruudfornien  für  bcstlnunte,  aus  der  christlichen  Gesinnung  liervorgehende  Gemüt bs- 
stimmungen  in  ihrer  harmonischen   Bedeutsamkeit  dargelegt  worden.     Ist   die   Harmonie  überall  Seele 
jeden  Gesanges,    müssen   wir   eingestehen,  dafs  ilire  Gesetze,   wo  nur  der  Ton   sich  erzeugt,    durch  die 
ganze   Natur   hin  walten,    in  dem  Innern  des  Menschen  also  nicht   minder   tief  gewurzelt  sind;    dafs   sie 
es   waren,    die   ihn   Töne   auf  bedeutsame   Weise    zu  3Ielodiecn  verbinden  lehrten,    so   dafs    jede    ^Aen- 
dun»,  jede  Verknüpfung,   anscheinend  zwar  seiner  Willkühr  heimgegeben,  doch  auf  einem  Grundverhällr 
nisse  heridite,   das,  getreten  in  das  Leben  durch  seinen  Gesang,   ihn  erfreute   und  seine  Hörer,   während 
es  ihrem  Erkennen   sich  vorbarg:    so  müssen  wir  es    einen  gleich   nothwendigen  als   bedeutenden  Schritt 
der  allgemeinen  Kunstentwickelung,  ein  wahrhaftes  Erschliefsen   der  Lcbensfüllc  des  Tonreiciies  nennen, 
wenn   einfache,    durch  jene   Gesetze  gewordene    Sangweisen   nunmehr  auch   ein   geheimuifsvolles   Innere 
entfalteten,  wenn  jedem  ihrer  einzelnen  Glieder  eine  mit  ihm  versclimelzende  Tonfülle  entquoll,  wenn  das 
in   dem  Einfachen   früher  kund  gewordene   Gesetz  in  dem  Mannigfaltigen  so  aufs  Neue  sich  scliöpferisch 
bewiihrle,  die  Bedeutung  jedes  Tones  in  seinem  ^'erhäUnisse  zu  der  Sangweise  imn  völlig  cnüiüllt,  lUe  leben- 
dige Verknüpfung  mehrer  Gesänge  zu  einem,  ihr  gemeinsames  Leben  austönenden  Ganzen  möglich  gemacht 
wurde.     Die  IMchrseitigkoit  jener  Entfaltung  aber,  der  Gesinnung,  der  Richtung  der  Künstler  zufolge, .  bürgt 
Tür  die  Kraft  und  Frische  der  damals  ihrem  inneren  Sinne,  wenn  auch  nicht  ihrem  Erkennen,  aufgegange- 
nen Anschauung. 

T»3i;      Mögen  ^^ir  nun  auch  mit   einigem  Rechte   sagen   können:    Cyprian  habe  in    seinem  Streben  nach 
Ausdruck  von  Gemütbshewegungen,   der  später  sich  erhebenden,    in  die  Kirche  eindringenden  weltlichen, 
leidenschaftlichen  Richtung  vorgearbeitet,    durch  das  Auflinden  neuer  gegenseitiger  Beziehungen  der  Töne 
als  Mittel   für   solchen   Ausdruck,    habe   er    jenen,    durch   alle    LTeberheferung    geheiligten,    in    sich   be- 
schlossenen Kreis   harmonisch  zu   entfaltender  Grundformen   zu  erweitem  imd   zu   durchbrechen    gesucht, 
er  verschulde  ihre  endliche,  völlige  A  erdunkeluug ;  so  haben  wir  doch  wiederum  zu  bedenken,  dafs  eben 
die  Ruhe,    die  Slätigkeit    frommer  Stimmungen   des   Gemüthcs,    die  Schöpferin   jener  Grundformen,    in 
ihrer  vollen  Bedeutung  für  uns  nur  dann  in  das   Leben  trilt,   wenn  wir  lebhaft  empfinden,  dafs  alle  un- 
ruhigen, verlangenden,  strebenden  Regungen  des  Innern  in  ihr  gesänftigt,  gcschhchlet,  dem  Höchsten  zu- 
gewendet, und  (dafs  wir  so  sagen)  der  Erlösung  theilhaft  geworden  sind,  dafs  jene  Ruhe  eine  Fülle  von 
Leben  in  sieb  schliefse.     Wie  der  Bildner,  bevor  nicht  das  besondere  Leben  und  Wesen  jedes  einzelnen 
Gliedes  von  ihm   recht  erkaiuit,    in  seinen  mannigfiichen  Bewegungen   und  Verrichtungen  aufgefafst  wor- 
den,   kaum  im  Stande  sein   wird,    eine   ruhende   Gestalt  uns  so   ^'or    das   Auge  zu   bringen,    dafs   wir 
den   durch    sie  hinwallenden    Lebensstrom    auch   in   dem    unbedeutendsten    Thoile   noch   empfinden:    so 
wird  auch   der   Tonkünstler   nicht  vermögen,    das   wahrhaflc,    lebendige   Bild   einer   frommen   Gemülhs- 
stimmung  uns  darzulegen,  ohne  die  Erkenntnifs  des  eigenthümlichen  Seins,   der  so    vielfachen  Beziehun- 
gen der  Töne,  jenes  bewegUchsten ,  flüssigsten  Stoffes,  in  welchem  auch  unwillkührlich  jede  Regimg  des 
Gemüthes    sich    kimd    giebt,    ja,     der    eben    recht    eigentlich    dazu    bestinmit    ist,    sie    zu    verkörpern. 
Cyprian  hat  also,  indem  er  nur  sein  Eigenstes,  Besonderstes  darlegte,  der  weltlichen  Tonkinist  ihre  Bahn 
vorzelclmete,    dennoch    der   heiügen   ebenfalls   gefruchtet;    denn    ging   ihm   auch    jene    innere    Ruhe    des 


—      121     — 


Gemuü.es   ab.  we  che  zu  Darsteüung  frommer  Slirnn.un.en   befaLig,,  erscLelnon  seine  geistlichen  Ges^in^e 
mest  trodcen  und  s  renge,    so  hat  er  doch  eben   die  Beziehungen  der  Töne   in  seine^  ^Verken  völli.:r 
e.her  offenbart,  und  wenn  w.  sehen,  wie  das  von  ihn»  einseitig  Anfgefafste  und  DargesteUte  von  m   ' 
ebenden  Meistern    wiederum    n    ihrem   eigen.hinnhchen   Sinne   aufgenomn.en    und   weiter    g  bi^I 
o  ü.tt  uns  eben  h,er  das    redUe  Wesen  einer   Schule   entgegen.     Hier   i.t  der  Ort,    des  Anär^  ^ 
6,W.  wieder  zu  gedenken.     Dafs  er  Scluder  Cyprians  gewesen,  ist  uns  nicht  berichtet,  auch  nicht"  ^ 
scl.cnü,ch,    da  Cypr.an  1516  geboren  war,  Andreas  um   1586    (der  Versichenn,.    seines  Nefle 
^%e)  m  ,.hem  Alter  starb,  beide  also  Altersgenossen  waren!  w ahrscheinlic.::;  ^^r  't     TiZ 
Scl^uler  des  damals  so  hochgefeierten  Adrian   gelten.     Dafs  aber   das  Streben   seines  Alters-  und  An    !e 
genossen   Cvpnan  besonders  auf  ihn   eingewirkt  habe,   ist   aufser  Zweifel.     Nicht   eben  in  ^Veiterbi^dut 
der  Chromat-k  tJaU  s.ch  dieses  kund,  berichtet  auclx  Ax.usi  «),  er  habe  in  beider  Madrigalen  chro  „a      , : 
Gange  gefunden,  und  mmmt  auch  der  Verfasser  dieser  Blätter,  dem  bei  Andreas  Gabrieh  .lern.leicl.en     ich 
vorgekommen,   d^eses  Zeugnifs  gern  als  voUgül.ig  an,   da  er  sich  bescheiden   mufs,    es  dürfln  nidU  a^ 
^^erke  djeses  Me.sters  zu  sauer  Ansid.t  gelangt  sein.     Sondern  der  Kern  von  dessen  künstlerische   1 
ügkat  schaut  Am  zu  beruhen   u.  dem  Trachten   nach   gröfserer   BewesKdd.eit   und  Freiheit   des  me Li 
^.e.  Ihedes  semer  Gesänge,  dem  Streben,  jede,  durch  seinen  Text,  ja  dessen  einzelne  Wort    'y:;    „e 
An.chauung  durd.  entsprechende,  „r  s.d.  vers.ändlid.e  Tonfiguren  auszudrücken,  deren  Bedeutull     "b 
angemessene  IL.nnon.e  vöhg  zu  künden;   in  dnen.  Streben,  wod..d.  das  von  C.prian  nur  einsli.  G^ 
lastete   saue   Ergänzung    fand.      Kaum   also    w^rde   Andreas    ergänzend   genannt   werden    dürfen    f  ^  dni 
Sd.affen  sanes  Genossen    hätte  er  zuvor  nid.t  erkannt,  wie  vid,  mit  .vie  grofser  ^Virkung,  C^^,rian  b" 
rats  gelastd,    w:e  Mand>es   nod»  gesd.dxen  müsse,    um   den  Geist  der  Tonkunst  völlig     u   mvecken 
^enn  wu-  m  der  Zuschrift  der  Werke  des  Andreas  Gabridi,   die  san  Neffe  Johannes  nad.  dessen  Tode' 
herausgab    .hnrdunen  hören:    „wer  diese  Werke  kennen  gelernt,   wisse  nun  erst,  was  wahrha  te  ßlwe 
gung  desGemuthes  sa;  aus  d,nen  gd.e  offenkundig  hen^or,  der  Meister  sd  dnzig  gewesen  in  Ernndun. 
von  Klangen,  wdche  die  Kraft  der  Rede  und  der  Gedanken  ausdrückten:'  so  fnin  wir  die L  Lob  vTr' 
nem.bch  durch  seme  Madrigale  bestätigt,    allan  aud.  auf  seine  geistlichen  ^Verke   (deren  er  „ach  ZeuT 
n.  s  der   m  der  Buchersammlung   zu  IMünd.en    behndlichen    ungefähr   dne   gldd.e  Anzahl   herausgegeben 
h  ben   ..rd)   smd   d.ese   Vorzüge   auf  sinnige    Art   übertragen.      Der   gewählte   Kirchenton   tritt   in^  d  n« 
nd.  alen  sanen  Kennzad.en   n.t  Sduirfe   und  Bestimmtheit  heraus;    nid^t  sowohl  die  Entfalt.m/der 
mann.gfad.en    anem  jeden  zu  Gebote  stehenden  Anklänge  ist  erstrebt,  als  die  mdodisch  bedeutsame'son 
denmg  der  anzdnen    Gheder  des   Gesanges,    das  deutliche   Hervorheben   dnes  jeden   in  der  StiZent 

hat!:!'  ^  r  r".'.'"  '^^•^^'^  ^^'"  ^-"^^ ''--'''  ^^^^^'•^'--  ^«  - '--  .wö.fs.immige ;: 

handlung  des  .eben  und  sed.z.gsten  (nach  der  Vulgata  des  66ten)  Psahns  ^).  Dra  Chöre,  einer  von 
üefen,  aner  von  hohen,  der  mittlere  von  den  vier  gewöhnlid.en  Singstimmen  sind  von  dninder  Jon 
dert;  anem  „m.gen,  frommen  Gebete  glddi  beginnt  der  Gesang  in  dem  tieferen  Chore:  „Gott  sei  uns' 
gnädig  und  segne  uns;"  „er  lasse  san  Antlitz  uns  leuchten"  fährt  in  gldd.em  Sinne  der  mittlere  Chor 
ort;  der  höhere  sddiefst  im  Wed.sd  mit  beiden  die  Worte  an:  „dafs  wir  erkennen  auf  Erden  sanen 
^^"»-     ^»"«tm.m.g  nun  tönt  es  von  allen  dra  Chören:  „unter  allen  Hdden  san  Heü."    Eben  das  Wort: 

':  /;  iinim/ip    cmiger    n  erke  seines  damals  kürzlich  verstorbenen    Oheims. 

«..  r.  Miulcrfcl.1.  Jok.  Cabricli  u.  s.  ZeitjUcr 

16 


—      122     — 

„sein  Heil"  \'»ircl  mil  besonders  feierlidiem  Ernst  herausgehoben,  und  dadurch  vor  allem  tritt  es  hervor, 
dafs  es  nicht  von  allen  Chören,  auch  nicht  von  einem  einzelnen,  sondern  von  erlesenen  Stimmen  je- 
den Chores  in  volltönender  Verwebinig  avisgesprochen  wird.  Wir  schweigen  davon,  we  lebendig  und 
fcun'g  der  Gesang  ,.cs  danken  dir  Gott  die  Völker,  es  danken  dir  die  Völker"  im  Wechsel  der  Chöre 
ertönt;  wie  sinnig  der  Meister  die  Worte  „die  Völker  freuen  sich  und  jauchzen"  durch  Wechsel  des 
Maafses  und  wiederum  Verschränkung  erlesener  Stimmen  aus  allen  Chören  hervortreten  läfst;  wie  das 
Gebet  „es  segne  uns  Gott,  unser  Gott"  durch  feierlich  clioralmäfsigen  Gesang,  durch  phrygische  und 
mixolydische  Anklänge  innerhalb  der  ionischen  Tonart,  der  das  Ganze  angehört,  sich  Jiervorhebt.  Worte 
geben  ohnehin  nur  ein  schwaches  und  trübes  Abbild  von  der  Ilerrhchkeit  des  Gesanges.  Darum  jedoch 
bedurfte  es  dieser  allgemeinen  Andeutung  an  diesem  Orte,  um  näher  zu  zeigen,  wie  der  Meister  seine 
Gesänge  geordnet  habe,  ■\\'ie  ein  tieferer  Sinn  für  das  Leben  der  Töne  ihm  aufgegangen  sei,  wie  nicht 
allein  inniges  Gefühl  von  dem  Wesen  der  Harmonie  seine  Melodieen  ihn  bilden,  sie  mehrstimmig  ent- 
falten gelehrt,  wie  sie  auch  in  Maafs  und  Bewegung  ihm  Gestalt  gewonnen.  Nicht  etwa,  dafs  vor 
ihm  Andeutungen  davon  gemangelt  hätten,  dafs  den  frülieren  Meistern  eben  diese  Seite  gänzlich  fremd 
geblieben  sei.  Josquin  des  Pres,  in  vieler  Rücksiclit  so  belebend  für  seine  Zeit,  durch  seine  Einwirkung 
auf  Adrian  Willaert  auch  für  die  venedische  Schule,  zeigt  uns  das  Gcgentheil;  und  sollte  nicht  schon 
der  Volksgesang,  der,  ein  Erzeugnifs  des  bewufsllosen  Kunsttriebes  früherer  Zeit,  auf  so  verschiedenen 
Pfaden  seinen  ^Veg  in  die  Kirche  gefunden,  eben  durch  das  IMaafs  seinen  Weisen  Gestalt  und  Bedeutung 
verliehen  haben?  Was  wir  aus  jener  früheren  Zeit  davon  kennen,  lehrt  uns,  dafs  es  also  gewesen.  Bei 
Antlrcas  Gabrieli  jedoch  sehen  -wir,  was  zuvor  in  Andeutungen  allein  vorhanden  war,  mit  künstlerischer 
Besonnenheit  zu  einem  bedeutsamen  Bilde  gestaltet.  Und  so  giebt  er  uns  Gelegenlicit,  nachdem  wir  in 
dem  nächstvorhergehenden  Abschnitte  von  dem  \^esen  der  Kirchentöne  gehandelt,  und  gezeigt  haben, 
wie  in  ihnen  das  Leben  der  Melodie  im  Klange  aufgegangen  sei,  in  der  Harmonie  sich  völlig  entfaltet 
habe,  nunmehr  auch  zu  der  Betraclitung  überzugehen,  wie  es  in  Maafs  und  Bewegung  kiuul  ge- 
worden sei. 

Wir  können  jedoch  diesen  Abschnitt  nicht  beschUefsen,  ohne  mit  einigen  Worten  noch  Claudio 
Jflerulo's  zu  gedenken,  des  verdienten  Amisgenossen  unseres  Andreas,  und  eben  mit  Beziehung  auf  das 
zuvor  beschriebene  Eindringen  des  ^'olksgesanges  in  die  Kirche.  In  der  niederländischen,  in  der  deut- 
schen Schule,  blieb  man  nocli  lange  bei  der  Gewohnheit,  eine  gemeine  Sangweise  den  Messen,  den  Mag- 
nificat  als  Thema  unterzidegen ;  die  römische  Schule,  wenn  auch  die  bisherige  Art  der  Behandlung  bei 
behaltend,  zog  es  doch  vor,  ihre  Themen  aus  dem  Kirchengesange,  oder  auch  selbsterfundencn  geistliche 
Gesängen  berühmter  Meister  zu  entlehnen,  in  deren  durch  die  Mefshymnen  anklingenden  ^Vorten  auf 
eine  zarte  Weise  an  die  Bedeutung  der  eben  begangenen  Kirclienfeste  zu  erinnern;  die  venedische,  wie 
sie  freie  Erfindung  allem  Andern  vorzog,  obgleich  dem  einen  imd  dem  andern  Verfahren  bisweilen  sich 
anschhefsend ,  scheint  doch  beides  bald  hintangesetzt  zu  haben,  nadidcm  sie  sich  eigenthümlich  gestaltet 
hatte.  Von  IVIerulo  besitzen  wir  zwei  Messen,  die  er  als  Greis  verfertigt  hat,  und  die  von  seinem  INeffen 
Hiacynth  Mcrulo  nach  seinem  Tode  herausgegeben  sind.  Die  eine,  acbtstiinmig  zu  zwei  Chören,  auf 
ein  fünfstimmiges  Bladrigal  des  Jaques  de  ^'Sert:  Cava  la  vita  mia;  die  andere,  z«  ölfstinmiig  zu  drei 
Chören,   auf  ein  Motett  seines  Amtsgenossen  Andreas  Gabrieli:   Benedicam  Domino  in  omni  tempore  '). 


)S 

i 


')   Beide  sind  1609   :«   Venedig  hei  Ait^elo   Gardnno  und  seinen   Brüdern  er.trhienen. 


—      123     — 

Das  Madrigal,  welches  der  achtsliinniigen  Messe  zu  Grunde  liegt,  ist  iiavh  (■vpnjiiis  VN'eise  goselzl,  so, 
dafs  alle  Stimmen,  meist  zugleicli  mit  einander  fortgehend,  dem  Gewicht  der  einzehien  Sylbcn  sich  genau 
anschliefsen ;  nur  ein  kleiner  Theil  desselben  zeigt  ein  leises  Streben  nach  künstlicher  Stimmenverwebuna; ; 
häufig  sondern  die  Stimmen  sich  in  zwei  Chöre,  so  dafs  in  dem  durch  die  tieferen  gebildeten  dasjenige 
wiederklingt,  Mas  in  dem  höheren  eben  zuvor  gehört  worden  war.  Diese  Beschafl'enheit  seines  Musters 
machte  es  dem  IMerulo  leichter,  den  musikalischen  Hauptgedanken,  wie  er  den  Worten  angepafst  war, 
überall  aufzufassen  und  anklingen  zu  lassen,  als  halte  er  ein  bereits  künstlerisch  mannigfach  durcligebil- 
detes  Ganze  zertrennen  und  zerlegen  müssen,  um  aus  solchen  zerstückelten  Gliedern  —  wie  es  bei  vielen 
seiner  Zeitgenossen  geschähe  —  ein  neues  Ganze  in  verschiedenem  Sinne  zu  bilden.  Haben  wir  mi- 
sern  Blick  aber  eine  ^V  eile  auf  seinem  Muster  ruhen  lassen,  und  überschauen  luuimehr  sein  neugcbildetes 
Werk,  so  ergreift  uns  eigenthümliche  Rührung,  wenn  wir  sehen,  wie  er  jenes  in  demselben  anklingen 
läfst.  Dort  ist  von  einem  Liebenden  die  Rede,  der  auch  in  böser  Zeit  der  unwandelbaren  Treue  der 
Geheblcn  sich  freut;  hier  linden  wir  die  zartesten  Liebesworte,  durch  die  Töne,  in  denen  sie  laut  gewor- 
den waren,  auf  den  Erlöser  bezogen.  Die  Melodie  der  Stelle  seines  Musters  wo  es  heifst:  ,, diese  tlieuren 
Liebesworte,  die  einzigen  der  Welt,  die  meine  herbe  Qual  zu  sänftigen  vermögen"  finden  wir  in  der 
Messe  dem  Salze  angepafst:  „du  allein  bist  hcihg,  allein  Herr,  allein  der  Höchste;"  wo  in  ihr  von  dem 
gekreuzigten  Erlöser  die  Rede  ist,  klingen  uns  die  \^'o^te  wieder  „icli  schaue  es  mit  den  Augen,  dieses 
heitre  AntUtz,  ich  höre  die  süfse  Rede."  Dafs  es  Absicht  des  Meisters  gewesen,  der  in  seinem  lan-^en 
und  tliätigen  Kunslleben  sicli  geislhcher  wie  weltlicher  Tonkunst  in  gleichem  Maafse  beflissen,  uns  anzu- 
deuten, wie  an  der  Grenze  seines  zcitUclien  Seins  alles  irdische  Lieben  ihm  aufgegangen  sei  in  die  ewige 
Liebe,  wird  uns  noch  klarer,  wenn  wr  mit  dieser  ersten  seine  zweite  Messe  vergleichen,  in  welcher  durch 
voUere,  prächtigere  Chöre  nocli,  die  Worte  wiederklingen:  ,,ich  will  den  Herren  loben  allezeit."  Viele 
edle  Dichter  früherer  und  späterer  Zeit  haben  einen  Kreis  von  Liebesgesängen  mit  einem  frommen  Liede 
beschlossen  und  geheiligt.  Dem  Petrarca  \'\ar  in  der  heiligen  Jungfrau  ein  Sinnbild  der  ewicjen  Liebe 
aufgegangen,  sein  letztes  Lied  ist  ein  (iebet  an  sie;  Merulo's  gvofser  Zeilgenosse,  Michael  Angelo  Buona- 
rotti,  endet  einen  Kranz  zarter  und  tiefsinniger  Sonette  mit  einem  Gedidit  an  die  ewige  Liebe,  die  vom 
Kreuze  auf  ihn  herabschaut.  Am  Schlüsse  eines  thaten-  und  gesangreichen  Lebens  erschien  diesen  IMei- 
stern,  was  sie  geleistet,  gegen  das,  was  sie  gewollt,  was  dem  ßewufstsein  ihres  inneren  Wesens  zufolge 
sie  erstrebt,  zwar  gering,  in  jener  edlen  Liebe  und  Begeisterung,  in  der  sie  gewirkt,  aber  gereinigt  imd 
geheiligt,  jeder  Irrthum  getilgt;  ihr  Scheidegrufs ,  wenn  auch  ein  ^^ehmülhiger,  ist  doch  von  jener  wohl- 
thuenden  Heiterkeit  überstrahlt,  welche  das  Bewufst^ein  darum  erzeugt.  Von  einem  jüngeren  Zeitgenossen 
Merulo's  dagegen,  dessen  wir  schon  ehrenvoll  gedacht  haben,  Luca  Marenzio,  wird  uns  durch  Gio. 
Vittorio  Ros.si^)  berichtet,  das  Andenken  an  seine  Liebesgesänge  habe  noch  seine  letzten  Augenbhcke 
vergiftet  „0  mein  Vater'  (soll  er  dem  Glovenale  Ancina,  einem  geschätzten  Tonknnstler,  seinem  Freunde, 
und  wohl  auch  Beichtvater,  zugerufen  haben)  „o  mein  V^ater,  hätte  ich  doch  jene  Töne  nimmer  Jiören 
lassen,  oder  könnte  ich  bis  auf  die  letzte  Spur  sie  mit  meinem  Blute  vertilgen."  Der  Erzähler  nennt 
jene  Gesänge  „wenig  züchtige:"  doch  sind  sie  reineren  Inhalts,  als  die  der  meisten  Zeitgenossen,  und  nur 
in  einigen  herrsclit  sinnlich  leidenschaftliche  Glut.  Ob  er  überhaupt  die  völlige  ^Vahrheit  bericlite.  ob 
er  nur  einen   ^'orübergehenden  Augenblick   der  Angst   und    des  Z^^eifels   absichtlich   hervorgehoben  habe, 


')  Jaahii   Kiythiari  pmacothcca   etc.   (CnK     ^gr.   IGi^J  pag.    MG. 

irr 


—      124     — 

wissen  wir  niclil ;  fast  aber  mödilen  wir  es  vermulhen,  da  er  auch  andere  Meisler  in  ähulicliem  Sinne 
reden  läfst,  oder  mit  frommen  Achselzucken  an  iliren  letzten  Augenblicken  vorübergeht.  Das  aber  ist 
eewifs:  icner  Sinn,  dem  alle  Kunst,  nur  durch  die  Lust  des  Lebens  gehalten,  endlich  als  irdische  Tän- 
delei unl ergeht;  jener  Sinn,  der  den  sonst  verbotenen  Genufs  durch  trügerische  Verkleidung  des  Un- 
heiligen in  frommes  Gewand  zu  reclitfertigen  meint,  ist  ein  völlig  anderer  als  derjenige,  welcher  um  die 
Zeit  der  Glaubensreinigung  aucli  das  Frevelhafte  und  Ausgelassene  heihgte;  das  Verderben  aller  heiligen 
Kunst  beginnt  mit  jener  unseligen  Vermisclnmg,  die  sie  zur  Dienerinn  sinnlicher  Lust  herabwürdigt, 
nicht  minder  jedocli  mit  jener  unerfreidichcn  Strenge,  in  der  sie  aller  wahrhaften  Begeisterung,  alles  fri- 
schen Lebens  in  lierbcr  Abscliliefsung  sicli  entäufsert. 


SIEBENTES  HAUPTSTÜCK. 


Die  Rhythmik  der  älteren  Tonmeister, 

Jl^ie  Tonkunst,  ihrem  Wesen  nach  an  die  Zeit  geknüpft,  und  defshalb  an  die  Bewegung,  ist  ohne  die- 
selbe, so  wie  diese  wiederum  ohne  ordnendes  IVLiafs  nicht  zu  denken.  In  Klängen  zwar  kündet  sie  Uir 
Leben,  in  der  Beziehung  auf  einen  gemeinsamen  Millelpunkt  gestalten  sicli  diese  zu  Mclodieen;  allein 
nicht  ein  ruhendes,  mit  einem  Blicke  zu  überschauendes  Bild  wird  uns  dadurch  gegeben.  Wie  die 
Klänge,  der  eine  den  andern  verdrängend,  im  Wechselspiele  uns  vorübergehen,  sollen  ^^^r  es  auflassen 
und  unserem  inneren  Sinne  einprägen;  vermöchten  wir  dieses  ohne  lebendige  Ghederung  in  jenem  sonst 
nur  vci-wirrenden  Weclisel?  Das  Gesetz,  nach  welchem  diese  erfolgt,  nennen  wir  Maafs,  die  einander 
entsprechenden  Glieder,  weldie,  durch  dasselbe  geregelt,  sich  gestalten,  heifsen  wir  Rhythmen,  und 
rhythmische  Glieder  wiederiun  die  lebendigen  Bestandtheile  dieser  letzten;  nach  diesen  Beziehungen 
geordnet  tritt  die  Melodie  völlig  in  das  Leben.  ^Jun  hören  wir  oft  behaupten:  von  der  Diclitkunst,  mit 
der  sie  von  jeher  im  früliestcn  innigsten  Bunde  geslanden,  habe  die  Tonkunst  ihre  Rhythmik  enllelmt; 
und  vieles  freilich  scheint  diese  Meinung  zu  bestätigen.  Die  griechischen  Toidchrer,  die  auf  uns  ge- 
kommenen geringen  Uebcrblcibsel  griechisclier  Tonkunst,  bieten  uns  nur  Zeichen  für  Höhe  und  Tiefe, 
nicht  die  Dauer  der  Klänge;  sollten  so  doch  ofl"enbar  diese  an  das  IMaafs  der  Verse  gebunden,  durch 
dasselbe  geregelt  werden.  Allein,  zugestanden  auch,  es  sei  liienach  der  Rliythmus  der  Rede  überfra- 
gen worden  auf  den  Gesang,  so  haftete  er  ja  eben  an  dem  Tönenden  in  jener,  dieses  erheischte  ihn 
zu  seiner  vi'illigen  Durchbildung;  auf  dem  Wege  der  Steigerung  der  Rede  zum  Gesänge  gestaltete  er  sich, 
und  sclion  eine  oberflächliclie  Betraclitung  zeigt  uns,  dafs  er  in  dem  Gesänge  allgemach  zu  einer  Man- 
nigfaltigkeit sich  ausgebildet  habe,  durcli  welche  der  rhythmische  Rcidithum  der  Poesie  bei  -weilein  über- 
troffen worden,  einer  Mannigfalligkeit,   frei  entwickelt  aus  dem  Leben  der  Töne,   wie  es  dem  Sinne  der 


—     125     — 

mit  ainen  vermählten  Rede,  den  Bildern  welche  sie  bot,  den  Sllmmungen  die  sie  erweckte,  lebendig  er- 
blülit  war,    an  ^Vorten  und   Sylben   in  so   veit  ferner   nur   haftend,    als   sie   deren   ursprünghches   Maafs 
niclit  verletzte.     Seinem  tieferen  Ursprünge  nach  halten  wir  daher  den  Rliyümius  am  innigsten  und  frü- 
hesten eben  der  Tonkunst  ver^vandt;  seine  Gesetze,  >vie  jene  der  Harmonie,  wie  alles  dessen  überhaupt, 
wodurch  das  Bilden  und  Schaffen  des  Menschen  Gestalt  und  Bedeutung  gewinnt,  leben  in  dessen  Innern, 
sem  Thun  und  ^Mrken  .>ird  auch  unbcMufst  durch  sie  geregelt;    dafs   er   sie  erkenne   in  dem   von    ihm 
Geschaffenen,    mit  Be^^'ufstsein  nach  ihnen   fortwirke,    Ist  ihm  als  Aufgabe  gestellt.     In   allen  ihren  Ver- 
zweigungen strebt  die  Kunst  das  Leben  in  höchster  Bedeutung  zu  oflenbaren.     Die  Gestalt,  voUendet  in 
dem  Sinne  der  In  die  Natur  durch  den  Scliöpfer  gelegten  büdenden  Kraft,    vüllig  durchdrungen  und  be- 
seelt von    dem  ^In^ oluienden  Geiste,    durch  ihn  verklärt;   das  ^Vort,  niclit  nothwendige  Vermittelung  ge- 
genseitigen Verständnisses  allein,   sondern  das  Innerste  des  Geistes  deutend,  in  Laut  und  Maafs,  als  Be- 
hältnifs  des  kösÜiclisten  Inlialts  würdig  geschmückt,  oder  ^delmehr  durcJi  Hin  von  Innen  heraus  gestaltet; 
der  Ton,  dem  ^yorte  nahe  venvandt,  in  Klang  mid  Bewegung  es  gehelmnlfsvoU  verklärend,  durcli  beide, 
auch  von  jenem  getrennt,    dem   Inneren   Sinne  noch  verständlich,   in  MclocUeen  Ihm  wiederum  Gestalten 
hmzaubemd  —  alle  woUen  sie  endlich  nur  eines  und  dasselbe,    das  grofse  Geheiimiifs  des  Lebens  ent- 
falten, das  um  uns,  das  in  uns  waltet;  in  verschiedenem  Stoffe,  durch  andere  IMIttel  ein  jedes,  in  denen 
der  Künsüer  das  Wesen  wie  die  Schranken  seines  Wirkens  zu   erkennen   hat.     Denn   erkennen  .soU 
er  die  Gesetze,  nach  denen  er  scliafft,  nicht  sie  eigenmächtig  erfinden,   aus  einzelnen  Walirnehmungen 
an  den   äufseren  Dingen   sie  wUIkülirhch   erklügeln.     Darmn   sollen   wir   auch   nicht   fragen,    durch   wen 
der  Rhythmus  erfunden  worden;    waren  doch  seine  Keime,    wo  der  Gesang  hervortrat ,°  mit   ihm  schon 
unmittelbar  gegeben,  um  herrlicher,  völliger,  im  Fortgange  der  Zeit  sich  zu  entfalten;    das  wahrhaft  Er- 
fundene hegt  auf  dem  ^^'ege  dieser  Entfaltung. 

Forsclien  -svlr  nun  dem  Gange  derselben  nach,    so  finden.    In  wie  entferntere   Zelten  wr  zurück- 
gehen,  ^vegen  IMangcls  an  Werken  der  Tonkunst,   an  unmittelbarer  lebendiger  Anschaumig,  Mir  uns  im- 
mer verlassener,  und  nur  der  Unterschied  zwischen  einfachem  kircldiclien,  und  gemessenem  Gesänge  — 
cantus  planus  et  mensurntus  —  den  wir  schon  friilie  antreffen,  scheint  darauf  zu  deuten,  dafs  man'' dem 
klrdillchen  Ernste  das  ^Vechselspiel  verschiedener  Rhythmen  für  ungeziemend,  und  es  nur  dem  weltlichen 
Gesänge  für  angemessen   erachtet  habe.     Gewifs  aber  dürfte  daraus  nicht  folgen,    dafs  der  heilige  Gesan- 
von  Anbeginn  des  Rhjihmus  vöUig   entbehrt  habe;    denn  er  war  zum  Tlieile  ja    rhythmischer  Rede  ver^ 
bunden,  und  sollte  er,  ein  Werk  der  Begeisterung,  ohne  alle  BcriÜirung  mit  jener  belebenden,  gestalten- 
den Kraft  geblieben  sein?  Der  Eifer  jedoch  für  seine  Reinheit  mag  die  Ansicht  herbelgefülirt  haben,  dafs 
ihm  das  Maafs  überall  niclit  gezieme,  und  frülie  schon  mag  aUes  iMannIgfalllge.   Bewegte,  als  Verimstal- 
tung  von  ihm  ausgeschieden  worden  sein,  Um  zu  ehier  Strenge  und  Einfalt  zurückzufiihren,  wie  man  sie 
allein  für  Hin  geeignet  hielt;    ein  Schicksal,    das  der  Kirchengesang  der  Evangehschen  In   spälerer  Zeit 
niclit  minder  hat  erfahren  müssen.     Der  In  der  letzten  Hälfte  des  ÄDttelalters  überall  wieder  'er\vacliende 
Kunsttrieb  drang  aber,   wenn  auch  am  spätesten,   doch  mächtig  in  die  helUge  Tonkunst  ein.     Ein  Zeug- 
nlfs  davon  legt  uns  der  ^deder  erwachende  Eifer  ab  für  die  Reinheit  des  Kirchengesanges.     Li  der  schon 
fmher  gedaclilen  ^^erordnung  Johannes  XXII.  ')  hören  wir  den  Papst  eifern  „gegen  jene  Anhänger  einer 
neuen  Schidc,    weldie  auf  Zeltmaafs  bedacht  neue  Töne  ersinnen,    heber  eigene  erfinden,    als  die  alten 

')  Extravag.  comm.   I.  III.     Je   fita   et   >,o„estale  ckriconim.     Johannes  XXII,  (c.  an.   132>  AvcnioniJ. 


T' 


—      12«J      — 

nift^en,    den    ernslen    gleithmäfsl-en  Gesang   iheilen    und  wieJcrnm   Üiellen  '),    die   Töne   hervor- 
gclihichzend  ilin  zertrennen,^)"  und  dergleichen  und  anderes  als  entstellende  Milsbräuche  unter  Androhung 
von  Strafen  verbieten.     Mifsbräuche  waren  es  ohne  Zweifel;    weltliche  Gesinnung,   durch  den  Ernst  des 
kirchlichen  Gesanges  zurückgeschreckt,    hatte  gcwifs   nicht  minderen   Einfhifs  auf  das  Streben,  ihn  durch 
rhYlhmisrhc  IMannigfalligkeil  zu  schmücken,  als  der  lebendig  in  der  Tonkunst  wieder  erwachte  Bildungs- 
Irieb:    aber  wir  dürfen  diesen,  irre  geleitet  wie  er  hier  sich  zeigt,  auch  in  seinen  Aussch\\eifungen  nicht 
verkennen.     Trug  man   nun  damals  auf  den  alten,    überlieferten  Kirchengesang  unmittelljar  jenes  so  hart 
getadelte  Zeitniaafs  über,  ihn  verändernd  und  verkünstelnd,  oder  umgab  man  ihn,  Tongebäude  von  meh- 
ren Stimmen  zuerst  versuchend,    mit  gemessenem  (Jesange,    auch  ihn  dadurch   mittelbar   einem  fremden 
Maafse  unterwerfend,  und  ihn  verdunkelnd?   Das  eine  vie  das  andere  mag  der  Fall  gewesen  sein;    denn 
der  Papst  sdiilt  auch   jene:   „die   nicht   wissen,   worauf  sie   bauen,   welche  die   Tonarten   nicht  kennen, 
»ie  nicht  unterscheiden,  sie  verwechseln,   durch  einen  Haufen  von  Tönen  den  keuschen  Aufschwung,  das 
gemäfsigtc  Senken   des  einfachen   kirchliclicn  Gesanges,  in  welchem    die  Tonarien    sich  kund   geben,    un- 
kenntlich machen." 

Es  ist  eine  schwierige  Aufgab«^  das  Verhältnifs  der  geistlichen  Tonkunst  zu  der  weltlichen—  aus 
welcher    ohne    Zweifel    das    rhythmisch -Bewegte    in    jene    hineinzudringen   strebte    —   wie    es    zu   jener 
Zeit  (dem  Beginne  des  vierzehnten  Jahrhunderts)   bestand,   genügend   darzi\legen.      An   Ueberresten  welt- 
liclier  GesäM'-e  fehlt  es  zwar  nicht  ganz,  allein  die  Ouellen,  aus  denen  sie  geschöpft  werden  können,  sind 
selten  und  zerstreut,  die  Tonzeichen  jener  Zeit,  so   weit   sie    die   verhältnifsmäfsige   Dauer    der   einzelnen 
Töne  andeuten    sollen,    unbestimmt  und  vieldeutig,    und   vornehndich  hat   der  Forscher   vor   der   einem 
jeden    unhewufst   beiwohnenden  Neigung   sich  zu  hüten,  dafs  er  Aelleres  nicht  im  Sinne   der    Gegenwart 
deute,    wo   dessen   immittelbares   Versländnlfs    ihm   erschwert   ist.      Eine,    auf  jene   Zeit   eigends   gerich- 
tete Forschung  wird  künftig  vielleicht  alle   jene   Schwierigkeiten   überwinden,    uns   ilire   Gestalt  lebendig 
zur  Anschauung  bringen.     Können   ^^ir  jedoch   aus   dem   Gange,    den   Lehre    und   Kimstübung   in   einem 
späteren,  an  Denkmalen  reicheren  Zeitalter  nahmen,  mit  einiger  Sicherheit  auf  jenes  fridiere  zurückschhefsen, 
in  welchem  sich  vorbereitete,  was  später  gedacht  und  gebildet  wurde:  so  dürften  folgende  Behauptungen 
von  der  Wahriieit  wenig  entfernt  liegen.     Der  Geist  der  Harmonie  regte  um  jene  Zeit  zuerst  in  einzelnen 
Keimen  sich  kräftiger  als  voriiin,  mit  ihm  wurde  auch  der  Sinn    für  IMaafs   und   Bewegung  >vacher   und 
lebendiger;  die  ältesten  Versuche,  das  Verständnils  beider  zu  gewinnen,  es  den  Zeitgenossen  zu  eröffnen, 
fallen  in  diese  und  die  nächst  vorhergehende  Zeit;  allein  die  Neigung,  sichere,   feste  Regeln  für  das  nur 
eben  sich  Entfaltende  aufzustellen,    ein   in   sich  begründetes   Lehrgebäude  dafür  zu  besitzen,    Gesetze   zu 
"■eben,    statt   der  Erkcnnlnifs    des   immer    mächtiger  sich   regenden   Triebes   nachzustreben,    verdunkelte 
das  wahre  Verständnifs,  ver*\inie  und   erschwerte   die   Kunstübung.     In  einer  solchen  Verwirrung  treffen 
wir  um  die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  am    meisten   die   Lehre;    mid    wenn  wir  derselben   auch 
nicht  in  alle  ihre  Verzweigungen  zu  folgen  gesonnen  sind,  weil,  ohne  genügende  Anschauung  zu  gewäh- 
ren, wir  fürchten  müfsten,  viele  Blätter  dabei  nur  zwecklos  anzufüllen,  so  bedürfen  wir  doch  eines  allge- 
meinen Ueberblickes  derselben,  um  ihr  Veriiällnifs  zu  der  Kirnst  einzusehen,  und  uns  zu  überzeugen,  dafs 
hier,    wie  bei  der  harmonischen  Belebung  der  Kirchentöne,    aus   gleichen   Gründen    es  sich   ganz  ähnlich 

')   In   semibreves   et    minimas    Ecclcsiaslicn    caninntur.        ^)  Melutlias  hoqueüs    inleriecanl.     rergl.  Franconii    miisica   et 
tantut  mensurabilis.      Cap.   XIII.  de   Ochetis  (Gerberl  scrlplores  III.  p.   l'^-J 
,,  Ochelus  trunealio  <>tl  cauliis,  sectis   omissisgiie   vocibits  fnincafe  prolatiis. 


—      127     — 

gestaltet  habe.  Einer  diesem  Gesiclitspunkle  geinäfs  zu  gebenden  gedrfmgtcn  Uebersicht  schicken  wir 
bilh'gerweise  einen  kurzen  Bcridit  über  die  Tonzeidien  voran,  in  soweit  sie  Dauer  und  al)gestufte  Geltung 
der  Töne  ausdrücken. 

Es  galt  zunächst  als  allgemeine  Regel:  das  gröfsere  Tonzeichen  fafst  das  der  Geltung  zufolge 
nächst  geringere  entweder  dreimal  in  sich,  und  heilst  dann  vollkommen,  oder  zweimal,  und  wird 
dann  unvollkommen  genannt.  In  solchen  Verhältnissen  führte  man  die  Abstufung  diu-cli  drei  Grade 
fort;  von  dem  gröfseslen  Tonzeichen  fmaximaj  hinab  zu  dem  langen,  (longaj  von  diesem  zu  dem 
kurzen  ('brevlsj  bis  hinunter  zum  halbkiu'zcn  (^semibrevisj ,  das  seinerseits  zwar  \vicderum  das  kleinste 
CmiuimnJ  in  gleichen  ^^erhältnissen  befallsle,  jedoch  als  Grenze  dieser  Abstufungen;  denn  die  folgenden 
kleineren  Tonzeichen  der  semimlnima.  fitsa,  und  semifusa  —  unsere  Viertel,  Achtel  und  Sechzehntheil- 
Noten,  durch  Orgel  und  Instrumentenspieler  zu  Bezeichnung  schnell  daliinrollender  Töne  erfunden  — 
wurden  damals  nur  in  den  Verhältnissen  des  Doppelten  und  der  Hälfte  angewendet.  —  Drei  Arten  des 
Maafses  nun  wurden  jener  dreifachen  Abstufung  zufolge  angenommen,  von  denen  jede  das  gröfsere  dar- 
stellte als  gemessen  durch  das  an  Geltung  nächst  kleinere,  welchem  JMessenden  in  dieser  Bedeutung  das 
der  Zeitdauer  nach  völlig  unbestimmte  Gewicht  eines  Schlages  (taciusj  beigelegt  war.  Diese  drei  Arten 
des  Slaafses  führten  die  iNamen  modus,  tcnqms  und  vrohtilo,  deren  Uebersetzung  durch  die  Worte  Art, 
Zeit  und  Austönen  wir  versuchen,  deren  wir  in  dem  Folgenden,  wo  es  schicklich  sein  wird,  uns  zu  be- 
dienen gedenken.  Das  gröfste  und  lange  Tonzeichen  war  in  der  Art  das  Gemessene,  und  hienach  ^vllrde 
sie  in  die  grofse  imd  kleine  Cmodiis  major  et  minorj  getheUt;  das  kurze  Tonzeichen  in  der  Zeit;  in 
dem  Aus  tönen  endlich  das  halbkurze  Tonzeichen,  für  welches  dieser  Name  bei  dem  angenommenen 
doppelten  ^'erhältnisse  der  Abstufung  nur  schwankend  und  unzureichend  erscheint.  Eine  besondere  Vor- 
zeichnung deutete  bei  jedem  Tonstücke  an,  welche  dieser  verscliledcnen  Gattungen  dos  IVIaafses  in  dem- 
selben vorwalte.  Der  Kreis  war  ihnen  allen  gemeinsam;  in  der  vollkommenen  gröfseren  Art  (mo- 
dus mnjor  perfrclusj  war  ihm  die  3,  in  der  kleineren  Cm.  minor  p.J  die  2  beigefügt;  beide  Zahlen 
wurden  auf  gleiche  Weise  einem  ungeschlossenen  Halbkreise  beigefügt,  die  unvollkommene  gröfsere 
und  kleinere  Art  zu  bezeichnen.  Der  einfache  Kreis  und  Halbkreis  waren  die  Zeichen  für  die  vollkom- 
mene, für  die  unvollkommene  Zeit;  beide  Gattungen  des  Austönens  anzudeuten  wurde  diesen  Zeichen 
in  der  Mitte  ein  Punkt  beigefügt.  Daneben  finden  wir  noch  einer  verminderten  Zeil,  eines  vermin- 
derten Austönens  gedacht,  und  die  gewöhnlichen  Zeichen  beider  ursprünglichen  Gattungen  vermittelst 
des  Durchmessers  getheilt  oder  nach  der  Rechten  zu  gcsclilosseu ,  um  ihnen  die  Bedeutung  jener  Ver- 
minderung —  des  um  die  Hälfte  gekürzten  Wertlies  der  Tonzeichen  —  beizulegen  ')  Vergleichen  wir, 
abgesehen  von  der  Geltmig  der  Tonzeichen,  welche  jede  dieser  Gattungen  als  gemessene,  als  mes- 
sende in  sich  begreift,  dieselben  mit  einander,  so  werden  ynx  keinen  wesentUchen  Unterschied  zwischen 


n 


03        02        C3        C2 

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G      G 


—     128     — 

ihnen  fesüialten  können.  Denn  dafs  das  Gemessene  in  der  einen  an  Gellung  gröfser,  in  der  andern 
eerino^er  war,  konnte,  da  das  Messende  (überall  das  nächst  kleinere)  ohne  Ausnahme  die  gleiche 
Dauer  eines  Schlages  hatte,  für  die  Ausführimg  keinen  Unterschied  begründen,  es  wäre  denn  jener  ge- 
wesen, dafs  dem  Meistgeltenden  die  äufserste  Grenze  der  Abstufung  am  fernsten  blieb,  in  einen  Schlag 
also  mehr  des  Mindergeltenden  zusammengcfafst  werden  konnte,  als  auf  der  nächst  niedem  Stufe;  ein 
Unterschied,  der  durch  Erweiterung  der  Grenzen  nach  dem  Kleineren  bin  AÜlilg  A\ioder  aufgehoben 
wurde.  Nun  stellen  ältere  Tonlehrer  •)  den  Begriff  von  Maafs  dahin  fest,  dafs  es  sei  „die  Güede- 
runn-  der  Bewegung  durch  Abiheilungen  oder  Schläge,  ftactusj  welche  den  Tonzeichen  und  Pausen 
jeden  Gesanges  ihrer  Gellung  nach  ihr  rechles  Verhällnifs  gewähre;"  damit  dieses  geschehen  könne,  be- 
durfte man  aber  eines  allgemein  Messenden,  wenn  auch  an  sich,  seiner  Zeitdauer  nach,  nicht  Be- 
stimmten, doch  der  einmal  willkührlich  festgesetzten  zufolge,  die  Dauer  aller  übrigen  Tonzeichen  verhält- 
nifsmäfsio-  Reirelnden.     Slillsciiwcisrendc   Uebercinkunft  setzte   als  solches  das  halbkurze  Tonzeichen   fest, 

unsere  —  Note,  das  Messende  in  der  Zeil.     So  bildete  sich  zuerst  die  Anschauung  von  demjenigen,  was 

4 
wir  jetzt  Tact  heifsen,   was  man  damals,    dem   Gemessenen   zufolge,   Zeitmaafs  Cmensura  temporisj 

nannte;  jene  Regel,   durch   welche  gleichgcgliederte,   durch   ein   Tonstück   sich  hinziehende  Zeilabschnitte 

von  glciclier  Dauer  entstehen,  und  seine  Bewegung  gestalten;  vollkommene  oder  unvollkommene  —  dem 

nns  geläufigem  Ausdruck  zufolge  ungerade  oder  gerade  Tacte  —  je  nachdem  sie  drei  oder  zwei  Scldäge 

befafslen. 

Dafs  die  Bewegung  der,  die  Schläge,  und  mit  ihnen  das  Zeitmaafs  angebenden  Iland  eine  doppelte 
sei,  ein  Niederschlagen  und  Erheben  zu  ferncrem  Schlage,  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Bei  älteren 
Tonlehrern  jedoch  bis  zu  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  finden  wir  Auf-  und  Niederschlag  nicht 
unterschieden,  also  auch  nicht  sogenannte  gute  und  schlechte  Theilc  des  Zeitmaafses;  ein  Beweis,  dafs 
die  so  einflufsreiche  Anschauung  des  Tactgewichts,  des  wahrhaft  Belebenden,  Gestaltenden  für  das 
Zeitmaafs,  wenn  auch  ohne  Zweifel  der  Kunstübung,  docli  ihnen  gar  nocli  nicht  aufgegangen  war,  oder 
sehr  im  Hintergrunde  ihrer  Erkcmitnlfs  lag. 

Auf  die  so  eben  beschriebene  Weise  war  denn  freilich  jedes  Tonstück  in  sich  geregelt;  es  blieb 
jedoch  seine  mehr  oder  muider  beschleunigte  Bewegung  näher  zu  bestimmen,  sei  es  im  Ganzen,  sei  es 
einzelner  Thelle  in  Beziehung  auf  einander.  Strenge  ^^erhältnifsmäfsigkeit,  eine  solcJie,  die  durdi  Zahlen, 
dem  Bezeichnenden  für  alle  Klangverbältnisse,  dem  Schlüssel  \\ie  der  Ton  lehre,  um  so  mehr  nun  auch 
der  Lehre  von  den  Maafsen  ausgedrückt  werden  könne,  war  es,  der  man  liier  nachstrebte.  Und 
so  finden  wir  denn  seit  dem  fünfzehnten  Jahrhundert,  bis  hinein  selbst  noch  in  das  .siebzelmle  —  wenn 
gleich  damals  weniger  allgemein  —  den  rascheren  oder  langsameren  Fortschritt  der  Gesänge  durch  ein 
Zahlengewebe  geregelt,  dessen  Bedeutung  in  der  Lehre  von  den  Proportionen  durch  ältere  Tonlehrer 
entwickelt  Avird. 

Ein  jedes  Verhällnifs  setzt  ein  Bekanntes  voraus,  mit  dem  ein  Unbekanntes  verglichen  und  danacli 
näher  bestimmt  wird.  In  der  Proportionenlebre  war  dieses  Bekannte  wiederum  das,  einem  Schlage  gleicli- 
gellende  halbkurze  Tonzeichen,  seiner  Zeitdauer  nach  zwar  unbestimmt,  durch  stillschweigende,  allgemeine 
Uebereinkunft  jedoch   der  Dauer  eines  mäfsigen   Erhebens  und  Scnkens  der  Hand  gleichgeachtet,    und 


')    l'ergl.  Scbald  Ueyden:  de  arte  canendi     Nürnberg  1540.  pag.  56". 


hienach  als  Maafs  des  wesentlichen  Werüies  der  Tonzeid.en  -  essentlaUs  raloris  notulamm   -   anor- 
nommen.     ]M,t  Rücksieht  auf  diesen  festgesteUtcn ,  wesentlichen   Wcrth,  ^vurden   zwei  Zahlen,    nach  A,f 
eines  Braches  gerade  übereinandergestellt,  den  Gesängen  beigcRigt,  üiren  mehr  oder  minder  raschen  Fort- 
schntt  zn  regeln.     Entweder  nun  ging  die  obere  in  der  unteren  völlig  auf  CproporUo  dupla,  Mpla  e(c ) 
oder  diefs  war  nicht  der  Fall,  sondern  das  von  der  oberen  Uebrighleibende  stellte  zu  der  unteren  erst  ein 
solches  Verhältnifs  dar,  es  war  deren  Hälfte,   Drittel   etc.    (proportio  ses^nialtera,  sesquitertia  etc.)     In 
dem  ersten  FaUe  deutete  die  untere  Zahl  die  Schläge,  die  obere  das  ^-erhältnifs  der  Tonzciclien   zu  den- 
selben an.     Die  Zalilen  ^  z.  B.  bezeichneten,  dafs  die  von  einem  Schlage  ausgerdlite  Zelt  mm  von  drei 
halbkurzen  Noten  zu  erfüllen  sei,  deren  sonst  jede  einzelne  die  Daner  eines  Schlages  habe;  die  Bewegun«^ 
war  hienach  um  das  Dreifache  zu  beschleunigen,  und  die  auf  die  erwähnte  ^\eise  bezeichnete  pronorZ 
trtpla  gehörte  zu  den,  die  wesentliche  Geltung  der  Tonzeichen  mindernden.     Die  umgekehrte  Zahlen- 
steUung  ^  dagegen  deutete  an,  dafs  ein  von  drei  ScMägen  gewöhnlich  erfüllter  Zeitraum  durch  das  sonst 
nur  den  dritten  Theil  dieser  Dauer  einnehmende   Tonzeichen   zu   erfüllen   sei;    die   hierin    gegebene  pro- 
Portio  suUripla  gehörte  also  zu  den,    die   wesentliche   Geltung   der   Tonzeichen    mehrenden.      In   dem 
zweiten  FaUe  -  des  nicht  unmittelbaren  Aufgehens  der  einen  Zalil  in  der  andern,  wohl  aber  des  Restes 
m  der  theUenden  -  wurde  durch  beide   Zalden    das  Verhältnifs   der   Tonzeichen   unter   sich   angedeutet 
mit  Rücksiciit  entweder  auf  den  wesenllichen  AVerlh  des  allgemeinen  Maafses  für  alle  Zeitdauer" im   Ge- 
sänge, (der  semibrevis,)  oder  den  zufälligen  Wcrtli,  welchen  dieses  dnrcli  eine  frülier   etwa   vorgeschrie- 
bene  Proportion  erlangt  hatte.      Denn  war  durch    eine   vorangegangene   Proportion   die   wesentlit^he   Gel- 
tung der  semibrevis,  und  im  Verhältnifs   gegen  sie,    auch   die  der  minderen   Tonzeichen  bereits   gemehrt 
oder  gemindert,  jene  Proportion  aber  durch  das  Zeichen  der  entgegengesetzten    nicht   ansdrückllch   aufge- 
hoben worden,  so  bezog  sich  die  neu  bezeichnete  jederzeit  auf  die,  durch    die  vorangehende   festgestelHe 
Geltung  der   Tonzeichen,    den   durch   sie   geregelten    Gang   der  Bewegung.      Dieses   vorausgesetzt'^    sollte 
z.  B.   die  Bezeichnung  ,^  andeuten,  der  in  der  angenommenen  Art  des  Maafses  sonst  durch  zwei  Tonzei- 
chen ausgefüllte  Zeitraum  soUe  nunmehr  von  dreien  erfüUt,    die  zufolge  der  Tonzeiclien  an   sich   eintre- 
tende Bewegung  um  die  Hälfte  beschleunigt  werden.     Wir  finden  es  daher  in  jener  Zeit   eben  so  wohl 
bei   sokhen   ungeraden    Tacten    angewendet,    deren  Theile  semibreves  (ganze),    als  minimae  (halbe   Tact- 
noten)  sind;  mit  den  Allen  zu  reden,  sowohl  in  der  vollkommenen  Zeit  (tempore  perfecto)  als  dem  voU- 
kommnen  Austönen  (prolatione  perfecta.)     Kam  es   dort   vor,    so   sagte  es  aus,    die  von   drei   ganzen 
Schlägen  sonst  zu  erfüllende  Zeitdauer   soUe   nun  bei  unverändertem  Zeitmaafse   auf  eine   nur  durch 
zwei  Schläge  erfüllte  beschränkt  werden;    fand  es  sich  hier,    so   soUte    ein   Gleiches  bei    einer  Zeitdauer 
von  drei  halben  Schlägen  eintreten,  hier  we  dort  also  jede  Note  danach  verhältnifsmäfsig  rascher  vorge- 
tragen werden.     Die  umgekehrte  ZahlensteUung  ^  bezeichnete  unter  beiderlei  Bedingungen  das  umgekehrte 
Verhältnifs,  imd  eben  so  sind  die  Zeichen  ^  und  ^  zu  verstehen  und  selbst   zusammengesetztere  noch, 
welche  die  Spitzfindigkeit  einzelner  Tonkünstler  hin  und  wieder  anwendete;    mufsten  gleich  verstandige 
Tonlehrer  ')  zugestehen,  dafs  mit  der  3  und  4  die  Reihe  der  im  Gesänge  ausführbaren  mehrenden   und 
mindernden  Verhältnisse  sich  beschliefse,  dafs  die  übrigen  zwar  in  Zahlen  leicht  darzusteUen,  im  Singen 
jedoch  nicht  füglich  zu  tretfen  seien. 


')  Seb.   Heyden  p.   99.  /.   c. 
f.  V.  Winlcrfcld.  Jut.  UaiirieU  u.  i.  Zoitalter. 


17 


—     130     — 

Die  Voraussel-Aiing,  oline  Verhüll  iiifsmäfsigkcit  der  Bewegungen  eines  Tonstücks  finde  keine  kimst- 
cemäfse  Ausfiilirung  desselben  statt,  ist  unbezweifelt  richtig,  und  jeden  geübten,  erfahrenen  Anführer 
eines  Cliores  wird  ein  sidieres  Gefülil  unstreitig  dahin  leiten,  dieselbe  zu  beobacliten.  Die  Forderung 
mathematisch  genauen  Abmessens  nach  einer  gegebenen  Gröfse,  zumal  wo  eben  diese  nicht  ein  mit  ma- 
ihematisclier  Genauigkeit  bestimmter  Maafsstab  war,  wird  damals  wohl  so  wenig  streng  erfüllt  worden 
sein,  als  es  gegenwärtig  würde  geschehen  können.  Für  uns  namentlich  liegt  in  der  Bezeichnung  der 
Proportionen  dadurch  ein  Verwirrerndes,  dafs  ähiüiche  Zeiclien,  bei  völlig  verschiedenen  Grundsätzen  der 
Bezeichnung,  uns  so  ganz  Anderes  bedeuten;  weil  vnr  namentlicli  —  die  bei  Brüchen  gebräucldichen  Be- 
nennungen als  die  allgemein  verständlichen  beizubehalten  —  durch  die  Zähler  der  imseren  Tonstücken 
vorangesetzten  Ziffern  meistens  das  Maafs,  durch  den  Nenner  das  Gemessene  ausdrücken;  so  dafs 
z.  B.  die  Bezeichnungen  ^  und  "j  aussagen,  dafs  in  den  Tonstücken,  denen  sie  voranstehen,  halbe,  oder 

Ja  \ 

Viertchioten  durch  drei  Schläge    gemessen  werden;    eine  Bezeichnimg,    die  in  unseren  sogenannten  tri-  i 

plirten  Tacten  wiederum  eine  andere  Deutung  erhält,    indem  sie,    wie  z.  B.  in  dem  Tacte,  f 

ohne  die  Tacttlieile  zu  nennen,    nur  die  Tactglieder  zählt.     Bei  den  älteren  Tonlehrern   dagegen  bedeu- 

teten  die  Zeiclien  ^,    ^   so  völlig  Verschiedenes:  die  Zeiclien     ~^  und        aber   würden  bei  ihnen    mit 

2     4  o  4  A 

so   wie    y  mit       völhg  Gleiches  angedeutet  haben,  da  Zähler  und  Nenner,  mit  einander  verglichen,    dort 

ein  gleiches  Verhältnifs  ausdrücken.  Abgesehen  selbst  davon  aber,  liegt  in  dieser  Lehre  von  den  Pro- 
portionen aucli  eine  nahe  Veranlassmig  zu  ^'erwechslung  der  Begriffe  von  Zeitmaafs  —  jener  stetigen, 
durch  ein  TonsLück  sich  hinziehenden,  es  in  gleichartige  Zeitabschnitte  theilenden  Güederung  —  und 
rascherem  oder  langsamerem  Fortschritte  der  Bewegung,  welcher  bei  gleiciien  Maafsen  offenbar  statt  finden 
kann.  Denn  nehmen  wir  die  beiden  von  Sebald  Heydcn  aufgestellten  allgemeinen  Regeln  (regulae  ca- 
tholicaej  ')  ihrem  buchstäblichen  Sinne  gemäfs  an,  (wie  wir  es  müssen,  weil  alle  ihnen  vorangehende 
und  folgende  Erklärungen  diesem  ^^  ort  verstände  gemäfs  abgefafst  sind);  diese  nämlich: 

1.  dafs  in  allen  Gesängen,  wahrhaft  kunstgemäfs,  nur  einerlei   und   zwar    die    einfachste   Art   der 
Schläge  anzuwenden, 

2.  alle  Zeiclien,  mindernde  oder  mehrende,  auf  den  wesentlichen  Werth  der  seinibrevls,   als   die 
Grundlage  der  gesammten  ProporlioTienlehre  zurückzuführen  seien: 

so  ergiebt  sich  uns  daraus  die  augenscheinlich  widersinnige  \  orschrift  für  den  Chorführer,  er  habe  durch 
den  Gesang  hin,  die  Hand  senkend  und  hebend,  nur  jenen  wesentlichen  Werth  der  semibrevis  zu  be- 
zeichnen^ und  den  Ausführenden  zu  überlassen,  in  diese  Reihe  von  Schlägen  —  gleichsam  wie  der  Maler 
in  ein  über  ein  Gemälde  gespanntes  Netz  —  alle  verschiedenen  Theile  und  Verhältnisse  des  Gesanges 
hineinzufügen ;  eine  Forderung,  welche  wohl  die  wenigsten  Sänger  ohne  künstllclie  und  mühsame  Abricli- 
tung  zu  erfüllen  geschickt  gewesen  wären,  und  die  den  Schlag  offenbar  nur  als  IMaafs  des  Fortschrit- 
tes der  Bewegung,  nicht  des  Zeltmaafses  (nach  unserer  Art  zu  reden,  des  Tactes)  voraussetzt,  dieses  da- 
durch völlig  zerstört.  Richtiger  offenbar  ist  daher  die  Ansicht  Glareans,  *)  der  die  mehrenden  und  min- 
dernden Zeichen  auf  Beschleunigung  oder  Verzögerung  der  Schläge  deutet,  nach  Verhältnifs  zu  dem  als 
Maafs  angenommenen  wesentlichen  Werthe  eines  Schlages,  wodurch  das  Zeitmaafs  festgehalten,    die  Be- 


')  Lib.  IL  cap.  6.  pag.  100.      ')  Dodecachord:  hih.  III.    Cap.   t'IJI.  pag.  205. 


-     131     J- 

wegung  auf  fafsliche  Weise   durch   den   Chorführer  geleitet,    der  wesenthche  Unterschied  beider  gehörig 
festgehalten  wird. 

Es  giebt  ein  lebendiges  Wissen,  die  aus  der  allseitigen  Betrachtung  des  zu  erforschenden  Ge- 
genstandes hervorgehende  Erkenntnifs  der  Bedingungen  seines  eigenthüiTdichen  Daseins;  ein  unfrucht- 
res  dagegen,  das  nur  einerlei  Bedingungen  für  jedes  Dasein  annehmend,  ihnen  alle  Dinge  unterthan  zu 
machen  strebt,  dabei  den  Gegenstand  seiner  Forschung  bald  verliert,  und  sich  in  sich  selber  fortspinnt. 
Dieser  Art  war  ohne  Zweifel  eben  jenes  künstliche  Lehrgebäude  der  älteren  Tonlehrer  von  den  Maafsen 
und  Verhältnissen.  Ueber  ihren  scharfsinnigen  Abtiicilungen  und  Unterabtheilungen,  aus  der  Zahlenlehre 
auf  die  Tonkunst  übertragen,  vergafsen  sie  eben  des  Wichtigsten.  Mit  vollem  Rechte  nennen  wr  es  so, 
denn  es  ist  nichts  anderes,  als  die  Erkenntnifs  des  Tongewichts,  jener  Bedeutung,  die  ein  Ton  vor 
den  übrigen  ilim  gesellten  durch  seine  Stellung  zu  ihnen  gewinnt,  so  dafs  die  Folge  und  gegenseitige 
Beziehung  aller  das  IMaafs  erst  erschafift,  und  die  gleichförmigen  Zeitabschnitte,  welche  dadurcli  entstehen 
nicht  etwa  nur  jenem  Netze  gleichen,  das  der  IMaler  über  ein  Bild  ausspannt,  um  dessen  einzelne  Theile 
für  seine  Nachbildung  leichter  aufzufassen,  sondern  dafs  sie  lebendige  Pulse  werden,  welche  durch  den 
Gesang  hin  schlagen,  und  das  Lebensblut  durch  alle  seine  Glieder  ergiefsen.  War  jene  Zeit  —  die  Grenze 
zwischen  dem  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderte,  und  die  erste  Hälfte  dieses  letzten  —  eine  Zeit 
des  frischen  AufbliUiens  der  Tonkunst,  wie  jene  frühere,  von  der  wir  ausgingen,  ihres  Aufkeimens,  so 
haben  jene  Pulse,  wo  nicht  ihr  Leben  durch  erklügelte  Regeln  der  Kunstübung  willkührlich  gehemmt 
war,  aucli  unerkannt,  gewifs  mächtig  und  belebend  geschlagen;  waren  sie  doch  unerlafsliche  Bctlingung 
des  Lebens  jeder  Melodie  überhaupt,  durch  den  immer  mächtiger  hervortretenden  BildungsLrieb  in  der 
Tonkunst  also  nothwendig  mit  erweckt.  Wir  werden  an  ihrem  Orte  sie  in  jenen  einfachen  ^'olksgesän- 
gen  wieder  erkennen,  aus  denen,  ^^^e  das  tiefere  Leben  der  Harmonie,  so  auch  der  Bewegung  für  die 
Kunst  erblülite;  in  jenen  Gesängen,  von  denen  Glarean,  der  selbst  so  tief  in  der  einseitigen  Richluns;  seiner 
Zeit  Befangene,  er,  welcher  der  Lehre  von  den  Verhältnissen  nachrühmt:  „nur  sie  allein  sei  gebildeter 
Ohren  werth,  denn  sie  falle  unter  unzweifeUiafte  ^Forschriften  der  Kunst,"  ')  doch  mit  Begeisterung  aus- 
zurufen sich  gednmgen  fühlt:  *)  „sie  rühren  AUer  Gemüth,  prägen  sich  dem  Geiste  ein,  haften  so  in  un-' 
serem  Gedächtnisse,  dafs  sie  uns  beschleichen,  ohne  dafs  wr  an  sie  denken,  dafs,  wie  aus  dem  Schlafe 
erwacht,  wir  singend  in  sie  ausbrechen."  Auch  in  der  Lehre,  (bis  gegen  das  Ende  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts Seth  Calvisius  die  rechte  Bedeutung  des  Tactgewichts  wohl  zuerst  erkannte),  fehlt  es  niclit  an 
einzelnen  Andeutungen,  dafs  man  sie  mindestens  geahnet  habe.  Frülier  jedoch  erdrückte  jene  willkühr- 
lich ausgebildete  Lehre  jede  freie  Bewegung.  Aus  der  am  frühesten  den  Tonlchrern  aufgegangenen  An- 
schauung von  der  Fortbewegung  war  sie  ursprünglich  entstanden,  aus  der  ^Vahrnehmung  des  längeren 
oder  kürzeren  Lebens  der  Töne  in  der  Zeit;  das  Streben  sie  zu  messen,  \ielfacli  abzustufen,  auf  manclierlei 
Weise  ihre  Bewegung  verhältnifsmäfsig  zu  beschleimigen  und  aufzuhalten,  war  daraus  entsprungen;  das 
Gefdlil  der  Bedeutung  des  Tactgewichtes  dämmerte  nur  leise  in  den  L^nterabtheilungen  und  Abstufimgen 
nach  der  Drei  und  Zwei.  Fein  und  künsthch  fortgesponnen,  verdunkelte  die  Proportionenlehre  dieses 
Gefühl  immer  mehr;  bald  gestaltete  sie  sich  zu  einer  von  der  Tonkunst,  und  namentlich  der  Rhytiimik 
im  ächten  Sinne,  %'öllig  gesonderten  Wissenschaft,  auf  ähnliclie  Weise  fast  wie  auf  dem  Gebiete  der  Har- 
monik,   die  in   sich  einseitig  forlgebildete  kanonische  Kunst.      Die  Menge   verschiedenartiger  Zeichen, 


')  Dodecachord:  L.  III.   Cap.   VUJ.  pag.  205.      ')  Jb.  JI.  Cap.  38.  pag.  174. 

17 


—     132     — 

die  man  erriinden,  die  voibeselirleijeneii  drei  Ai'ten  des  Maafses,  deren  Unlcrabllieilungen,  die  mannig- 
fallii^eii  Pr()|)()rlioiieii  aii.s/.iidrückeii.  die  grofse  Anzahl  nnd  Vieldeutigkeit  jener  Zeichen  —  fast  ein  jeder 
Tonkünsller  und  Tonlehrcr  bediente  sicli  ihrer  in  anderem  Sinne  —  machten  die  blofsc  Kenntnifs  des 
äufsercn  Gerüstes  der  Kunst  zu  einer  höchst  schwierigen,  veranlafsten  nnaufliürlichen  Hader  unter  den 
Tonlehrern,  unl(')sl)are  \'erwirrung  unter  den  Lehrlingen,  mid  dampften  allen  geistigen  Aufschwung.  ') 
Auch  hier  finden  ^^ir  wieder  Josijtiin  des  Pres  unter  den  ersten,  Avelche,  jede  lähmenden,  nur  durch 
menscliliche  Willkiihr  bereiteten  Bande  zeiTcifsend,  solche  Schranken  allein  anerkennen,  die  durch  den 
Gegenstand  und  die  IMittel  der  Thätigkeit  gegeben  sind.  Sehr  lebhaft  und  auf  merkwürdige  Weise  äufsert 
sein  Schüler  Adrian  Petit  CocJicus  ^)  die  mit  der  seinen  übereinstimmende  Gesinnung  seines  Meisters  j in 
dem  von  iinn  verfafsten  Ilandbucbe  der  Tonkunst.  „IMit  voller  Ueberzeugung,"  schreibt  er,  „wünsche 
ich  der  Jugend  es  unaufhörlich  an  das  Herz  zu  legen,  imd  werde  nicht  müde,  sie  zu  ermahnen,  dafs  sie 
nicht  zu  lange  an  den  Sclniften  der  mathematischen  Tonkünstler  klebe,  die  so  viele  Arten  mehrender 
und  mindernder  Zeichen  ersonnen  haben,  ans  denen  kein  Nutzen,  wohl  aber  allerhand  Gezänk  und 
Zwietracht  hervorgeht,  und  die  eine  an  sich  leichte  Sache  höchst  schwierig  machen;  sondern  dafs  sie 
alle  Kraft  des  Geistes  dahin  wende,  zierhch  singen,  und  die  Worte  gehörig  unterlegen  zu  lernen.  Denn 
Gott  hat  uns  die  Tonkunst  gegeben,  um  die  Töne  auf  anmutliige  Weise  zu  verbinden,  nicht  um  zu  ha- 
dern, imd  für  einen  rechten  Tonkünstler  darf  gelten,  nicjjt,  wer  von  Zahlen,  Prolationen,  Zeichen,  Gel- 
tungen, Vieles  zu  schwatzen  und  zu  schreiben  weifs,  sondern  wer  angenehm  und  regelrecht  singt,  jedem 
Tone  die  gebülnende  Sylbe  zutheilt,  und  so  setzt,  dafs  er  fröhlichen  Worten  muntere  Maafse  giebt,  xmd 
umgekehrt.  —  In  den  Belgischen  Städten,  wo  die  Sänger  Belohnungen  erhalten,  wo  man,  ihrer  theilhaft 
zu  werden,  keine  Mühe  scheut,  um  zu  dem  Ziele,  einem  ausgebildeten  Gesänge,  zu  gelangen,  wird  in 
den  Schulen  kein  Heft  in  die  Feder  gesagt  noch  nachgeschrieben.  So  auch  hat  mein  Lehrer  Josquin 
des  Pres  nie  ein  solches  Heft  verfafst  noch  vorgelesen.  Denn  er  hielt  seine  Schüler  nicht  mit  langen 
und  eitlen  Vorschriften  hin,  sondern  im  Gesänge  selber  lehrte  er  mit  wenigen  Worten  die  Regel  durch 
deren  Ausübimg  unmittelbar  kennen.  Sähe  er  die  Seinen  gesangsfest,  in  guter  Aussprache,  angemessener 
Verzierung,  zweckmäfsiger  Unterlegung  der  VN'orte  woldgeübt,  so  lehrte  er  sie  die  vollkommenen  und 
unvollkommenen  \^^ohlklänge  kennen ,  über  einen  Kirchengesang  eine  begleitende  Stimme  erfinden,  u.  s.  w. 
Nahm  er  nun  wahr,  dafs  einer  munteren  und  regen  Geistes  sei,  so  lehrte  er  ihn  mit  wenigen  Worten 
dreistimmig,  dann  vier-  fünf-  seclissümmig  setzen,  immer  an  Beispielen  ihn  fortleitend.  Denn  nicht  alle 
hielt  Josquin  zu  Tonsetzern  für  geschickt,  xmd  es  war  sein  Grundsatz,  nur  solche  dahin  auszubilden, 
die  ein  besonderer,  innerer  Drang  zu  dieser  herrlichen  Kunst  hinzog;  denn  —  sagte  er  —  es  giebt  so 
viele  anmuüiige  Werke  dieser  Kunst,  dafs  Achnliches,  oder  Besseres  kaum  einer  unter  Tausenden  her- 
vorbringen wird." 

Es  ist  einleuchtend:  jener  verständige,  erfahrne  Meister,  der  (wie  wir  gesehen  haben)  die  tiefere 
Bedeutung  der  Harmonie  zuerst  geahnet  hatte,  dem  die  belebende,  gestaltende  Kraft  des  Rhythmus  nicht 
entgangen  war,  habe  die  Seinen  von  einem  imfruchtbaren,  verwirrenden  Wissen  zu  unmittelbarer  An- 
schauung des  Lebens  zurückführen,  sie  in  den  Stand  setzen  wollen,  die  Kunstmittel  als  Organe  der  in 
ihnen  lebenden,  schöpferischen  Kraft  sich  anzueignen;  damit  eben  nur  dieser  Bahn  gemacht  werde,  die 
\'erwinung    aufhöre,     welche    leere  Gelehrsamkeit,    dürftiges    Spiel    mit    den  Kunstmitteln,     ja  mit  den 

')  Seth.   Call:  exercitalio  de  origine  et  progressu  musices  etc.      Lips.   1600.   Cp-    131    —    135.^     ')    CompenJ,   musices. 
Norib,  1552.     Pars  II.  de  musica  Jtgurali. 


—     133     — 

blofsenZei dien  herbeigeführt,  habe  er  nur  Solrhe  in  die  lieferen  Geheimnisse  der  Kmist  eingeweilit,  denen 
er  lebendiges  Eindringen  in  dieselben,  und  dessen  Betliätigung  in  eigenem  Schaffen  zugetraut;  er  sei  um 
defswillen  zu  den  Wiederherstcllern   der  Kunst,    und,    (wenn  auch   nur  mittelbar),    zu  den  Reinigern  der 
Lehre  zu  rechnen.     Und  dennoch,  betrachten  ^ir   seine  ^^crke,  wie  sehr  zeigt  er  sich  noch  in  der  Rich- 
tung seiner  Zeit  befangen;  und  dürfen  wir  von  demjenigen,   Avas  sein  Schüler  aus   seinem  Munde   aufge- 
zeichnet, zurückschlicfsen  auf  den  Inhalt  seiner  Lehre,  >vie  wenig  wufste  er  sich  und  den  Seinigen  Rechcn- 
scliaft  zu  geben  von  demjenigen,  wodurch  die  Lehre   nicht   aUein  von  dem  Ueberflüssigen   und    Verbilde- 
ten gereinigt,  sondern  aucli  wahrhaft  erneut  und  belebt  werden  konnte!     VYir  woUen  jener  wunderüchen 
Tonstücke  hier  nicht  gedenken,  die  wir  bei  ihm  eben  so  wie  bei  seinen  Zeitgenossen  finden;    jener  Ge- 
sänge,    deren    ganze    Schwierigkeit   allein  in  der  gewählten  Bezeichnung  liegt,    in  denen  jede   der  ein- 
zelnen  Stimmen   eine  Art  des  IMaafses  und  der  ihm  zukommenden   Zeichen  darlegt,   welche  der,   in   den 
andern  %orkommenden  völlig   zu   widersprechen   scheint,    und  wo   dieser,    durch   die   gewählten   Zeichen 
mühsam  gesteigerte  ^yiderstreit  durch  beigefügte  Zeichen  eben  so  mülisam  ersonnener  Proportionen  wie- 
der aufgehoben  wird.     Jene  seltsamen  RäÜisel  sind  dem  Auge  und  dem  Verslande  aUein  bestimmt;  dem 
Hörer  versclnvinden  sie  bei  der  Ausfidirung  völlig,  und  wohl  mochte  der  iMeister  seinen,    in   ihrem   ver- 
meintlidien   Wissen   aufgebliÜiten   Zeitgenossen   nur  zeigen   wollen,   dafs   er  ihre  Künsteleien  nicht  darum 
verachte,    weil  er  sie  nidit  zu  handhaben  wisse.     Audi   aus  jener  andern  Art   von  Gesängen  wollen  wir 
kein  Zeugnifs  wider  ihn  hernehmen,  in  denen,  scheinbar  aus  blofser  WiUkülir  ohne  künstlerische  Absicht, 
widerstrebende  Maafse   verknüpft  sind;    wie  in  jenem  fünfstimmigen  —  einer   Prophezeihung  der  Babylo- 
nischen  Gefangenschaft,  —  wo,  wiihrend  vier  Stimmen,   nach  unserer  Art  zu  reden,    durdi  den  ^   Tact 
geregelt  sind,    (die  Zusammensetzung  zweier  prolaüonum  perfectarum,    durch  welche  diese  Tactart  ent- 
steht), in  der  fünften  durchaus  der  ^  Tact  Ctempus  perfectinnj  angewendet  ist;  denn  es  gewinnt  fast  das 
Ansehen,    als  habe  er  in  trotzigem  Ankämpfen  gegen  jene   andere  Art  der  Künstelei,  welche  das  in  der 
Aufzeidnnmg  widerstrebend  Erscheinende  durdi  Enlräthselung  als  übereinstimmend  darzustellen  aufforderte, 
zeigen  woUen,  dafs  audi  das  wahrhaft  Widerstrebende  sich  vereinigen  lasse,  und  dafs  es  eine  würdigere 
Aufgabe  sei,  auf  diese  Art  seiner  31elsler  zu  werden.     AUein  so  unverkennbar  auch  ein  tieferes  Verstand 
nlfs  des  Lebens,  das  der  Gesang  durch  den  Rhythmus  gewinnt,  In  seinen  besten  Werken  sidi  bethätigt, 
ein  wie  genügendes  Zeugnifs  unter  andern  auch  jenes  so  hodi  von  Glarean  gerülimte  Ave  Maria  davon 
ablegt;  so  erscheint  Josquin  dodi  in  bei  weitem  den  meisten  auch  auf  diesem  Gebiete  nur  als  Componist, 
Zusammenfügender;   einzelne  RhyÜmicn  In  verschiedenen  Stinmien   künstlich  verschränkend,    statt   einen 
ganzen  Gesang  durdi  rhythmlsdie  Entfaltung  wahrhaft  künstlerisch  zu  beleben;  ein  merkwürdiges  Beispiel, 
wie  die  Madit  der  Gewohnheil  und  des  Herkommens  auch  über  den  aufstrebendsten  Geist  herrscht,  und 
dafs  es  nicht  genüge,   des  Unfreien  zu  spotten,    sich  selber   als  frei  bekennend,    sondern  dafs  man  lerne 
es  zu  werden. 

Dafs  eine  freie,  rhythmische  Entfaltung  überall  vorbereitet  wurde,  haben  wir  aber  dem  richtigen 
Gefühle  Josquins  und  seiner  Zeltgenossen  zu  danken,  das  Ihre  Aufmerksamkeit  den  Volkswelsen  zuwen- 
dete, jenen  Früchten  des  unbewufsten  Kunsttriebes,  die  aus  dessen  frisdier  Fülle  hervorgegangen, 
eben  defshalb  am  ersten  geeignet  waren,  den  durch  Irre  geleitete  Lehre  verdunkelten  Bhck  wiedenun  zu 
erfrisdien,  das  getrübte  Auge  für  lebendige  Ansdiauung  zu  schärfen.  Denn  defshalb  eben  lebten  jene 
Weisen  In  AUer  Munde,  weU  sie  den  allgemeinen  Bildungsgesetzen  gemäfs  lebendig  entstanden  waren, 
welche,  wie  sie  durch  die  ganze  Natur  liln  walten,  so  auch  der  Brust  desEinzeben  tief  eingeprägt  sind, 


—     134     — 

wenn  sie  auch  nicht  überall  klar  erkannt  werden.  Wir  dürfen  hier  nicht  wiederholen,  was  über  die 
verfehlte  Anwendung  volksniäfsiger  Gesänge  zu  Belebung  gröfserer,  künstlicher  Kirchenstücke  bereits  ge- 
sagt worden ;  allein  der  ungemein  grofsen  Einwirkung  alter  Liederweisen  auf  harmonische  Entfaltung,  imd  in 
ihr  auf  tieferes  Verständnifs  der  Tonkunst,  des  Zusammenhanges  derselben  mit  der  damals  allgemein  vor- 
waltenden Richtung  auf  Erneuerung  und  Herstellung  des  kirchlichen  Lebens,  müssen  wir  uns  hier  erinnern. 
Wie  nun  keine  wahrhaft  lebendige  Einwirkimg  jemals  eine  einseitige  bleibt,  wie  das  mit  Liebe  und  Lust 
Aufgefafsle  jederzeit  mit  seinem  ganzen  Sein  und  Wesen,  mit  allen  seinen  Kräften  auf  denjenigen  einwirkt, 
der  sich  ihm  hingiebt,  so  auch  hier,  nachdem  die  Kunst  von  spitzfindigen  Berechnungen,  willkülirlich 
erklügelten  Grundsätzen,  dem  Leben  wiederum  sich  zugewendet  hatte.  Das  eigentliümliche  W  esen  der 
Harmonie  war  in  der  venedischen  Schide  durch  Willaerts  imd  Cyprians  W^erke  zur  Anschauung  gekom- 
men; andere  Zöglinge  der  deutschen  und  niederländisclien  Schule  hefsen  die  belebende  Kraft  desRhj'thmus 
in  ihren  W^erken  wiederum  erkennen.  So  Andreas  Gabrieli,  tiefer  noch  sein  Neffe  Johannes;  tmd  irren 
wir  nicht,  so  sehen  wir  die  Einwirkung  des  deutsclien  Volksliedes  durch  des  einen  Lehrling,  des  andern 
Mitschüler  Hans  Leo  Hafsler  liier  wiederum  vermittelt,  wie  ja  überhaupt  Deutschland  und  Venedig  fort- 
währenden, gegenseitigen  Einflufs  auf  einander  übten. 

Es  ist  nach  allem  diesen  imscrcr  Forschung  nicht  unwerth,  ja,  ein  unerlafsliclier  Theil  derselben, 
zu  seilen,  wie  jene  alten  Gesänge  rhythmisch  geghedert  waren,  und  dazu  finden  wir  hier  uns  mehr  be- 
fähigt, als  früherhin.  Der  Schlufs  des  fünfzehnten,  der  Beginn  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  sind  eine 
an  Denkmalen  der  Tonkunst  reichere  Zeit,  als  das  vierzehnte;  vieles  aus  derselben  ist  uns  durch  die 
immer  mehr  sich  verbreitende  Buclidruckerkunst  erhalten  worden,  ^^^e  denn  auch  das  Vorhandene  durch 
allgemeinere  Verbreitung  einflufsreicher  geworden  v,ar.  IMcist  alle  die  alten  Gesänge  sind  nocli  auf  uns 
gekommen,  nach  denen  Josquin  und  seine  Zeitgenossen  ihre  Messen  bildeten,  sie  nach  ihnen  benannten. 
Einen  grofsen  Theil  derer,  die  der  fromme  Sinn  jener  Zeit  zu  Kirchenweisen  lieifigte,  zeigen  umfassende 
Sammlungen  uns  in  ihrer  ursprüngfichcn  Gestalt;  mit  ihnen  liegen  uns  alte  Clioralgesängc  in  ihrer  frühesten 
liannonischen  Bearbeitung  vor,  entweder  augenscheinlich  dem  Volksgesange  unmittelbar  entnommen,  oder 
doch  im  Sinne  und  Geiste  desselben  in  jener  Zeit  entstanden,  mannigfach  rhythmisch  belebt  gegen  ihre  spä- 
tere Gestalt,  wo  frommer  Eifer  alle  Mannigfaltigkeit  dieser  Art,  als  der  Kirche  mifsziemend,  ausgetilgt,  sie  zu 
jener  Gleichförmigkeit  hingefülirt  hatte,  welche  ihm  kirclilicher  ^V  ürde  allein  angemessen  scliien.  Bestimm- 
tere Bezeichnung  der  Dauer  aller  einzelnen  Tonzeichen  setzt  ims  in  den  Stand,  ihre  rhytlniiischen  Bezie- 
hungen genauer  zu  prüfen ,  ohne  fürchten  zu  dürfen ,  dafs  wir  die  Ansichten  der  Gegenwart  willkührUch 
auf  die  aus  diesen  Rhytlmien  hervorgehenden  \^  eisen  übertragen;  und  fehlt  es  gleieli  hier  wiederum 
nicht  an  Räthseln,  indem  das  einzelne  Tonzeichen  seiner  Stellung  zufolge  oft  eine,  durch  dasselbe 
an  sich  niclit  ausgedrückte  Geltung  erhält:  so  finden  dergleichen  doch  in  der  Regel  nur  bei  den  vollkom- 
menen —  durch  die  Drei  geregelten  —  Maafsen  statt,  wo  das  Messende  in  bestimmter  Stellung  gegen  das 
Gemessene  dasselbe  um  den  Betrag  seiner  Geltung  kürzt  (^imperjicitj  und  mit  ihm  zusammengenommen 
erst  das  Maafs  vollkommen  erfüllt;  dann  aber  sind  sie  durch  die  vorhandenen  Regeln  auch  leicht  zu  lö- 
sen, und  nach  einiger  Uebung  darf  man  kaum  mehr  besorgen,  zu  irren. 

Der  Unterschied  des  durch  die  Drei  oder  die  Zwei  geregellen  Maafses,  des  ungleichen  und  des 
gleichen,  ist  der  erste,  bei  jenen  Gesängen  sich  uns  darbietende;  durch  ihn  M'ird  auch  jetzt  noch 
in  unserer  Tonkunst  jede  rhythmische  Gestaltung  in  ihren  allgemeinsten  Grundzügen  geregelt.  Es  ist 
eben  der  Unterscliied  des  gleichmäfsig  ruiügen  und  des  bewegteren   Fortschrittes,    sei  er  nun  strebendes 


—     135     — 

Andringen,  anmuthig  leichtes  Dahinschweben ,  feierlicli  gemessenes  Einlierschrciten.  Eben  weil  die  be- 
wegteren, erselieinen  die  durch  die  Drei  geregelten  Gesänge  jener  Zeit  auch  die  schärfer,  bestimmter  ge- 
stalteten; und,  vne  ein  richtiges  Gefiilil  den  Unterschied  der  Drei  und  Zwei  als  Regel  der  Maafse  In  der 
Lehre  voranstellte,  so  mag  ein  gleiches  auch  die  Benennung  des  vollkommenen  jMaafses  für  das  durch 
die  Drei  geregelte  gewählt  haben,  niclit  allein  der  reiclieren  Untcrabtlieilung,  der  gröfseren  Fülle  des 
darin  Befafsten  halber,  sondern  auch  der  schärferen  rhytlimischen  Gestaltung,  welche  ilim  eignete. 

Das  aber  befremdet  uns,  —  gewöhnt  wie  wir  sind,  durcli  unsere  Tonstücke  ein  bestimmtes  Maafs 
unverändert  sich  hinziehen,  einzelne  Theile  derselben  durch  verschiedenes,  aber  iimerhalb  ilirer  wiederum 
streng  festgehaltenes  Maafs  sich  scharf  von  den  übrigen  sondern  zu  sehen,  —  dafs  wir  in  jenen  Gesängen  oft», 
mals  innerhalb  der  Glieder  desselben  Rhythmus  die  Drei  mit  der  Zwei  wecliselnd  antreffen.  Ein  regel- 
mäfsiges  Fluthen  zwischen  dem  ruhigen  und  bewegten  Fortscliritte  erscheint  in  ihnen  als  der  in  dem 
Ganzen  vorherrschende,  belebende  Pulsschlag;  das  IMaafs  —  jene  überein  gegliederte,  durch  das  Ganze 
sonst  auf  gleiche  Weise  vorwaltende  Zeitabtheilung  —  zieht  sicli  in  den  Rhythmus  zurück,  die  in  ihm 
durcli  dasselbe  gestalteten  gröfseren  Glieder  bestimmen  in  ihren  gegenseitigen  Verhältnissen  den  inneren 
Bau  des  Ganzen.  Bald  beginnt  der  Gesang  in  bewegterem,  durcli  die  Drei  geregelten  Fortschritte,  und 
das  folgende  Ghed  des  Rhytlimus  schliefst  sich  in  ruliigem,  durch  die  Zwei  bestimmten  Gange  an;  bald 
liebt  er  ruhig  an,  und  schwebt  am  Sclilusse  des  Rliytlimus,  sich  steigernd,  bewegter  daher;  bald  sdJiefst 
das  eine  oder  das  andere  Wechselspiel  dieser  Art  in  der  Mitte  des  Ganzen  solche  Rliythmen  ein,  deren 
gleichmäfsig  ruliiger  Fortschritt  allein  durch  die  Zwei  geregelt  ist.  Docli  ist  hier  nicht  jener  Wechsel 
gemeint,  der  zwsclien  verscliieden  gegliederten,  an  Zeitdauer  jedoch  gleichen  Abschnitten  sich  darstellt. 
Auch  ein  solcher  war  damals  nicht  selten.  Je  lebendiger  die  Anschauung  von  der  gestaltenden  Kraft 
des  Tactgewichtes  in  das  ßewufstsein  getreten  war,  um  so  verschiedener  hatte  die  früliere Bedeutung 
manclier  Proportionen  in  der  Folge  sich  ausgebildet.  IMan  war  zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  eine  wesent- 
lich abweichende,  durch  das  Gewicht  bedingte  Gliederung  könne  auch  innerhalb  gleicher  Zeitabschnitte 
statt  haben;  und  müsse  da,  wo  ein  solcher  bisher  durch  zwei  gleichgemessene  Töne  erfüllt  gewesener 
Abschnitt  nun  durch  deren  drei,  unter  sich  an  Zeitdauer  ebenfalls  gleiche  eingenommen  werden  solle, 
die  Bewegung  eines  jeden  einzelnen  von  ihnen  auch  verhältnifsmäfsig  beschleunigt  werden,  so  erleide 
die  durch  den  Gesang  sich  liinziehende  Abtheilung  auf  diese  Weise  in  ihrem  Gleichmaafse  docli  keine 
Veränderung;  die  Proportion  beziehe  sich  allein  auf  die  verhältnifsmäfsig  gekürzte  oder  gemehrte  Dauer 
einzelner,  gleich  bezeichneter  Töne,  innerhalb  gleicher  Abtheilungen.  Sollte  ein  Wechsel  der  Drei  mit  der 
Zwei  in  diesem  Sinne  schnell  vorübergehend  eintreten,  so  pflcgie  man  ilin  durch  Schwärzung  der  sonst 
offenen  Tonzeichen  anzudeuten ;  drei  minimae  z.  B.  welche  die  Dauer  von  deren  zwei  ausfüllen  sollten 
wurden  unseren  Viertehioten  gleicli  dargestellt,  oder  die  jetzt  ungewöhnliche  Bezeiclinung  eines  schwarzen 
Notcukopfes  ohne  Stiel  angewendet,  wo  eine  mit  einer  minima  wechselnde  semibrevis  eintrat.  Ganz 
anders  verhält  es  sich  mit  jenem  Weclisel  der  Drei  und  Zwei,  den  wir  hier  im  Sinne  haben.  Die 
Tonzeichen  bleiben  ihrer  Geltung,  Ilirer  Zeitdauer  nacli,  dabei  völlig  unverändert,  ein  Wechsel  der  Bewe- 
gung, wie  Ihn  die  Proportionen  ausdrückten,  tritt  nicht  ein;  das  versclüedene  Gewicht  jedoch,  das  die 
einzelnen  Töne  in  geordnetem  Wechsel  in  andere  ^  crhältnisse  zu  einander  bringt,  läfst  dennocli  das 
Gefülü  des  bewegteren,  des  riüiigcrn  Fortschrittes  in  ims  entstehen.  Es  zeigt  sich  eine  Proportion,  aber 
in  völlig  umgekehrtem  Sinne  wie  jene  vorhin  er\vähnte.  Dort  erschien  Innerhalb  gleicher  Zeitabschnitte 
Theilung  und  Gliederung  ungleich,  aber  nach  einem  bestimmten  Gesetze  verhältnifsmäfsig;    hier,  (die 


—     136     — 

eiii7.elnen  Töne  für  sich  angesehen)  finden  wir  gleiche Theilung  und  Unterahlheilung,  ein  cigcnthümliclj 
gestallendes  Gcselz  aber  bildet  ungleiche,  auf  dieselbe  Weise  jedoch  verhältnifsmäfsige  Zeitab- 
schnitte -wie  zuvor  ihre  Theile,  ihre  Glieder  es  waren  ').  Die  Bezeichnung  des  Eintrittes  solcher  ver- 
änderten Verhiillnisse  suchen  wir  vergebens  in  der  Tonschrift  jener  Zeit,  aucli  konnte  sie  nicht  wohl 
vorhanden  sein.  Die  Zeichen  der  Proportionen  drückten  ein  ganz  anderes,  späterhin  eben  das  umgekehrte, 
aus  •  die  Anwendung  eines  verschiedenen  Zeichens  in  der  Mitte  des  Rhythmus  hätte  diesen  anscheinend  zer- 
trennt den  Ausfiilirenden  verwirrt.  Seinem  Gefiilile  also  blieb  es  überlassen,  das  richtige  Gewicht,  die 
angemessene  Betonung  zu  treffen,  welche  dem  Aufmerksamen,  von  der  Zeit  Getragenen,  sich- wohl  über- 
all von  selber  aufdrang;    weniger  freilich  uns,    die  wir  an  das    Glelchmaafs  gewöhnt,    durch  ein  Flulhen 

solclier  Art  wie  es   neuere   geistvolle  Tonkünsller   meist   nur  neckend  und   scherzend  angewendet  lia- 

^jgjj  uns  leicht  beunruhigt  fühlen,    uiul  Indem  wir  auch  hier  das  Glelchmaafs  geltend  machen  wollen, 

das  An-^ehörige  trennen,  das  Gewicht  unrichtig  verthcllen,  den  lebendigen  Gliedern  des  Gesanges  lähmende 
Fesseln  anlegen.  Sollte  jene  Zeit  —  obgleich  sie  nirgend  darüber  sich  ausspricht  —  in  den  einzelnen, 
für  die  Ausfülirenden  bestimmten  Gesangsslimmen  gröfserer  Tonwerke  die  Tactstriche,  deren  es  zu  bes- 
serer Verthellung  des  Einzelnen  unter  das  zu  Anfange  vorgezelehnete  Maafs  sonst  bedurft  haben  würde, 
absichtlich  weggelassen  haben,  weil  eine  solche  strenge  Verthellung  überall  nicht  statt  finden  sollte? 
Partituren  die  uns  darüber  Aufklärung  geben  könnten,  kommen  in  jener  Zeit  selten  vor,  denn  die- 
jenigen Prachlwerke  wird  man  nicht  so  nennen  wollen,  in  denen  ein  Buch  auf  je  zwei  einander  gegen- 
überstehenden, in  der  Mitte  getheilten  Selten,  alle  Stimmen  eines  Tonwerks  umfafst;  sie  sind  Stimm- 
bücher wie  jene,  und  ermangeln  der  Tactstriche  wie  sie.  Finden  wir  aber  wirklich  —  wie  meistens 
erst  zu  Ende  des  sedizehnten ,  zu  Anfang  des  siebzehnten  Jahrhunderts  —  alle  Stimmen  zu  gemein- 
schafthcher  Uebersicht  auf  einem  Blatte  über  und  untereinandergestellt,  so  sind  mehr  die  einzelnen 
Glieder    als    die    Tacte    des    Ganzen    durch    Striche  gesondert,    und    eine  Abtlieilung  dieser  letzten  Art 


')   Zivei  Choräle  der  evangelischen  ICirche  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt,  rhythmisch  (nicht    tactischj  eingetheilf, 
werden  das  hier  Gesagte  verdeutlichen  f  die    ll'eise  des  letzten  von  ihnen  gehört  urkundlich  einem  l'olksliede  an. 


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/.     Herr  Christ,  der  einig'  Gott's  Sohn  etc. 

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fergl.  auch  die  Notenbeispiele  I.  B.  4.  o  und  b. 


—     137     - 

konnte  auch  da  erst  recht  amvendbar,ja  Bedüvfnifs  ^verden,  als  das  Glcichmaafs  die  unbedingte  Ilerrscliaft 
gewonnen  halte,    als  zu  Bezeichnung   schnell  dahinrollender,  unter  sich  nach  mannigfachen  Verhältnissen 
der  Lange  und  Kürze  verbundener  Töne  eine  Menge  Zeichen  erfunden  waren,  welche,  immer  mehr  ver 
^-Ielfalt■st  und  mannigfacher  abgestuft,  es  wünschenswerlh  machten,  die  in  einen  Tact  zusammenzufassenden 
durcl,  dessen   sichtbare  Abgrenzung  erkennbar  zu  machon,    damit  sie  leichter   in  die  gehörige  Bezielmnc 
zu  bnngen  seien,    das   zukommende   Gewicht  ihnen   sicherer  zugetheilt   werden  könne.     Tonstücke  von 
grolserem  Lmfange  vermögen  frellicli  nicht,  eine  so  leicht  übersichtliche   rhythmische  Gliederung  da«ule 
gen,  als  em  Lied  von  wenigen  Zeilen.     Haben  wir  j.doch  einmal  die  Eigenthümlichkeit  jener  Ghedmm. 
w,e  Sic  ni  \olksgesängen  jener  Zeit  hervortritt,  recht  aufgefafst,    sie  in  unser  Gefühl  lebendig  auf.enom 
mcn,  so  werden  mu-  sie  aucli  in  dem  Baue  grofser  und  kimstreicher  Gesänge  leicht  wiederfinden    "inner 
halb  des   ernsten,    ruhigen  Flusses  kirclilicher  Gesänge  spielt  die  Woge  bewegteren,    zarteren  Gefüldes 
hmem,  durch  jenen  \A  echsel  dessen  wir  gedachten;  das  durch  die  Drei  geregelte  Maafs  tritt  im  Lob-^esan-^e 
bedeutend   hervor,    m    seinen   schärfer,    bestimmter   gestalteten    Gliedern  bricht   die  Begeisterung   mächtl-^ 
heraus,  oft  ist  in  dem  lorangehenden  es  schon  zart  und  leise  angedeutet:    gewöhnlich  aber,  ja  wir  dürf 
ten  sagen  jederzeit,    endet  das  Ganze  wiederum  in  jenem  breiten,    ruhigen,    durch   die  Zwei  ^erec^elten 
Strome  des  Gesanges.     Ja,  wir  finden  ganze  heihge  Lieder  -  me  Palestrina's  allbekanntes  Stabatmattr  _ 
auf  jenen  Wchsel  der  Drei  und  der  Zwei  gegründet,  wie  Um  sclion  das  trocliäische  Maafs  des  Gedichtes 
hervorrufen  mufste.     In  jeder  einzelnen  Zeile  bricht  die  Drei  hervor  aus  der  Zwei,  und  sinkt  wiederum 
in  sie  zurück.     Als  in  der  Mitte  des  Ganzen,  was   früher  Erzählung,  theilnehmende  Klage  n-e^vesen      zu 
einer  Anrufung  der  Mutter  des  Herrn  sich  gestaltet,  tritt  das  Maafs  der  Drei,  lange  vorgedeutet,  nun  un 
bedingt  herrschend  hervor,  im  voUsten  Glänze  stralJt  es  aus  in  den  erweiterten  Rhythme^n  auf  die  WortT- 
„dals  ich  mit  dir  traure,    gieb"  —  „lafs   mein   Herz  in  Lieb'  erglühen  gegen  meinen   Gott  und  Her- 
ren" ')—  dann  zieht  es  allgemach  wiederum  in  jenen  anfänglichen  Weclisel  sich  zurück,  und  die  letzten 
Töne  des  Ganzen  werden  durch  das  ruhig  ernste  IShäk  der  Zwei  geregelt.     So  bricht  die  Passionsblume 
in  ihrer  wunderbaren  Gestalt  hervor  aus  der  unscheinbaren  Knospe,    um,    wenn  sie   ihren  vollen  Glanz 
entfaltete,  in  die  grüne  Umliüllung  die  ilin  bisher  verbarg,  keusch  zurückzusinken. 

Auf  vielfache  Weise  geben  heilige  Gesänge  jener  Zeit  das  allgemein  ervvacbte  Streben  nach  rhyth 
mischer  Entfaltung  kund.  Das  aber  erscheint  dabei  überaU  als  das  Bezeiclmende,  dafs  das  stren-e  Maafs 
sich  verbirgt,  das  an  sich  Gleichgemessene  durch  das  Gewicht  dennoch  verschieden  gestaltet  Mird.  Das 
Gefülil  von  der  grofsen  Bedeutung  erweiterter  Rhythmen,  durch  welche  der  Strom  des  Gesan-es  z^u 
mächtiger  Breite  unerwartet  anschwUlt,  zeigt  sich  besonders  lebendig;  und  nicht  allein  auf  solche  \^  eise 
finden  wir  jene  Erweiterung  angewendet,  dafs  ein  bereits  früher  eingeführter  RhyÜimus,  das  ^'erhältnifs 
seiner  GUeder  bewahrend,  sich  vor  uns  ausbreitet:  auch  wo  ein  solcher  zuerst  erscheint,'  dehnt  er  in  der 
Mitte  oft  sich  aus,  verweilend  und  schwebend,  gleichsam  um  auf  der  Höhe  des  Gesanges  die  frische  Lust 
des  Ausstrahlen«  der  Töne  recht  zu  geniefsen  ^).  Diese  Elgenthümliclikeit  haben  wir  vorzüglich  zu  be- 
achten, wenn  wir  das  innere  Verhältnifs  seiner  Ghederung  recht  erforschen,  und  ihn  nicht  nadi  den  Re 
geln  unserer  heutigen  Tonkunst  beurthellen  wollen,    durch  welche  er  nicht  gemessen  werden  darf.     Zu 

')  Fac  ut  tecum  lugeam.  

Fac  vi  ardeat  cor  meum 
In  amando  Christum  Deum. 

»)    rergl  den  vierten  und  fünf  ten   Tact  des  ersten  Soprans  in  dem  Xotenbeispiele  I.  A.  7. 
C.  V.  Wiaterfeld  Job   Gabrlell  u.  i.  Zeitalter.  -  ^ 


—     138     — 

dieser  besonderen  Art  rhythmischen  Baues  mögen  die  Gesangsformehi  für  die  Psahnen  und  heiligen  Lie- 
der Veranlassung  gegeben  haben,  deren  verweilendes  Schweben  auf  einem  Tone  in  der  Mitte,  dessen 
Zeitdauer  durch  die  Länge  des  llim  zugelheilten  Verses  bedingt  war,  wir  darin  wieder  erkennen. 

Die  Synkope  —  damals  eine  neue  Erfindung  und  allgemein  beliebt  —  hebt  in  einer  oder  meh- 
ren der  zusammenklingenden  Stimmen  das  Maafs  völlig  auf,  während  eine  derselben  es  festliält.  Das 
ordnende  Maafs  verbirgt  sicli  ohne  dadurch  un^virksam  zu  werden,  denn  eben  weil  seine  Wirkung  leben- 
dig &|rtempfunden  wird,  erhält  ihre  Störung  einen  eigenlhümlichen  Reiz.  In  dem  durch  die  Zwei  geord- 
neten Maafse  hat  sie  vornehmlich,  wenn  auch  nicht  ausschliefslich,  ihren  Sitz,  wie  Erweiterung 
und  \'erengung  der  Rhythmen  in  dem  durch  die  Drei  geregelten;  denn  auch  eine  Verengung  finden  wir, 
wenn  gleich  mehr  in  der  weltUchen,  als  kirdilichen  Tonkunst  jener  Zeit.  Kommt  sie  in  dieser  vor,  so 
haben  wir  in  der  Regel  sie  mehr  als  Synkope  zu  betrachten;  denn,  im  strengsten  V^erstande  genommen, 
hebt  sie  das  IMaafs  der  Drei  plötzUch  und  unerwartet  auf,  zerschneidet  den  Tact  in  zwei  durch  die  Drei 
gemessene  Hälften,  und  das  Gefühl  empfindet  in  ihr  mehr  eine  plötzhche,  störende  Rückung,  als  jenes 
die  Rhythmik  jener  Zeit  bezeiclmende,  geregelte  Hinüberwogen. 

Ein  anderes  noch  ist  es,  wodurch  die  Synkope  in  der  damaligen  Tonkunst  bemerkenswerth  er- 
scheint. Sie  und  der  Durchgang  (celeritasj  waren  die  einzigen  Mittel  in  jenen  Tagen  zu  Einfidirung 
der  Dissonanzen,  deren  man  sich  damals  nur  als  einer  zufälligen  Würze  bediente.  Im  Durchgange, 
im  schnellen  Dahinrauschen,  sollten  dieselben  so  gestellt  werden,  dafs,  von  vorangehenden  und  folgenden 
Wohlklängen  umfchlofsen,  fie  bei  lebendiger  Bewegimg  ohne  Verletzung  des  Ohres  zugelafsen  werden 
könnten,  dafs  zum  Nachtheile  rhythmischer  Mannigfaltigkeit  ihr  Eintreten  nicht  vermieden  werden  dürfe. 
Die  Synkope  aber  fiihrte  sie  eben  als  solche  ein;  ihr  Eintritt  war  auf  den  guten,  ilire  Auflösung  auf 
den  schlechten  Tlieilen  des  Tactes  ausdrücklich  vorgeschrieben;  die  Aufhebung  des  IMaafses  sollte  durch 
sie  auch  als  Trübung  des  Wohlklanges  angekündigt,  dieser  in  der  Nähe  des  Mifsklanges  fast  nur  geduldet 
werden,  bis  er  bei  Wiederkehr  der  Ordnung  imi  so  freucfiger  wiederuni  ausstrahle.  An  vielen  Orten 
äufsern  alte  Tonlehrer  sicli  darüber,  in  welchem  Sinne  IMifsklänge  A'on  ihnen  angewendet  werden.  „Töne 
wollen  nicht  verschmelzen"  sagt  Seth  Calvisius,  „wenn  kein  harmonisches  Verhältnifs  sie  befafst;  ein 
jeder  strebt  dann  aus  aller  Macht,  seine  Eigentliümllchkeit  zu  bewahren,  und  defshalb  stehen  sie  einander 
feindlich  entgegen,  und  dringen  mit  Beschwerde  in  das  Ohr.  Dennoch  dienen  sie  (wenn  der  Sinn  der 
Worte  es  erheischt)  als  Uebergänge,  als  ftllttel  die  Harmonie  raulier  zu  madien,  sie  zu  schmücken  und 
zu  vermannigfaltigen.  Denn  besteht  die  Harmonie  gleich  meistens  imd  vorzügüch  aus  den  Wohlklängen, 
so  wird  doch,  wenn  diese  Sättigung  hervorgebracht  (wie  es  bei  älmhchen  Dingen  zu  geschehen  pflegt) 
dieser  Ekel  durch  die  Mifsklänge  gehoben;  die  folgenden  Wohlklänge  erscheinen  dem  Ohre  süfser  und 
angenehmer,  wie  nach  der  FInsternifs  das  Licht,  das  Süfse  nach  dem  Bittern  uns  doppelt  ergötzt. " 

Ueberschauen  wir  imnmehr,  nach  Inhalt  der  gegenwärtigen  Ausführung,  und  der  vorangehenden 
Abthellungen ,  wie  den  älteren  Tonkimstlem  ilire  Kunst  harmonlscli  und  rhythmisch  sich  gestaltet  habe, 
so  erkennen  wdr:  die  Lust  an  dem  Klange  war  bei  ihnen  das  Vorherrschende,  und  in  Ihr  wiederum  die 
Freude  an  den  Wohlklängen,  an  deren  bedeutsamer  Beziehung  auf  einen  gemeinsamen  Mttelpunkt; 
das  Maafs,  das  überall  regelnde  und  gestaltende,  wollten  sie  heber  in  den  einzelnen  Gliedern  Ihrer 
Gesänge  als  das  ordnende  wahrnehmen,  in  deren  Verhältnissen  übereinstimmenden  Bau  erkennen,  als 
durch  das  Ganze  hin  das  Maafs  unbedingt  streng  walten  sehen.  Je  gröfsere  IMacht  eine  Weile  die  Zahl 
über  sie  geübt,  um  desto  mehr  wollten  sie  fühlen,  dafs  das  Ge\vicht  das  eigentlich  Belebende  und  Gestal- 


—     139     — 

tende  sei,  dafs  auch  in  freiem  \VecIisel  das  Maafs  dadurch  nicht  aufgehoben,  sondern  in  \"\'ahrhcil  ersl 
erschaffen  werde,  dafs  ohne  dasselbe  die  Bewegung,  mannigfach  abgemessen  und  durch  die  Zahl  bc 
schleunigt  oder  aufgehalten,  nur  ein  formloses  Dahinrauschen  der  Töne  sei.  Je  mehr  die  Lehre  versäumt 
hatte,  ihre  Betrachtung  auf  dassell)e  zu  richten,  um  so  eindringlicher  sollte  es  die  Kunstübung  als  das  Bele- 
bende darstellen,  in  seiner  scheinbaren  Aufhebung  sollte  seine  JMacht  erst  recht  fiililbar  werden.  Je  mannin-fa- 
dier,  bunter,  leidenschaftlicher  be^^•egt  das  Leben  erschien,  um  so  mehr  sollte  die  Kunst,  wenn  auch 
überall  in  Uebcreinstimmung  mit  dessen  reicher,  glanzvoller  Erscheinung,  das  Ridiige,  Gemessene,  würdig 
Ernste  darlegen;  an  ihm  ^\ollte  das  Gemiith  sich  erheben  und  beridiigen.  Jene  Fülle  von  Mifsklängen, 
deren  Verbindung  das  Gemülh  aufregt,  luid  im  \'ereine  des  Widerstrebenden  dennoch  dem  Ohre  nüt 
Wolillaut  schmeichelt,  jene  keck,  gewaltig,  stürmisch  anstrebenden,  brausend  hinabrollenden,  sanft  dahin- 
gleitenden Rliythmen,  mit  denen  unsere  Tonkunst  das  in  ihr  streng  festgehaltene  Gleichmaafs  mannig- 
facli  übcrkleidet,  alles  dasjenige,  wodurch  sie  den  inneren  Sinn  in  bedeutungsvollem  Spiele  anzuregen, 
zu  beleben,  zu  erfrischen  strebt,  lag  der  I^unsl  jener  Tage  fern;  in  der  Verwandtschaft  der  Klänge  wie 
sie  in  der  Natur  hervortritt,  sollten,  nachdem  die  kindische  Kunst  lange  nur  bewufstlos  mit  ihnen  ge- 
spielt, fromme  Stimmungen  des  Gemüthes  sich  abspiegeln,  die  tiefsten  Beziehungen  zu  dem  ewigen  Quell 
alles  Seins  kund  werden;  in  dem  Wechsel  der  Töne  sollte  Gleiches  und  Ungleiches,  mannigfach  geson- 
dert und  gepaart,  hervortreten,  eine  höhere  Ordnimg  da  kund  werden,  wo  das  ordnende  Gesetz  scheinbar 
zurücktrat.  Dafs  nach  vielerlei  Mifsverständuissen  die  rhyünnische  Kunst  auf  diese  Weise  sich  gestaltete, 
haben  wir  dem  Abwenden  von  wülkülirhch  ersonnenen  Gesetzen,  der  Ilinneigimg  zu  den  Erzeugnissen 
des  unbewufsten  Kunsttriebes  in  dem  \  olksgesange  zugeschrieben;  und  forschen  Mir  nach  anderen,  äufse- 
ren  Beziehungen,  um  iliren  Bildungsgang  zu  erklären,  so  finden  wr  diese  leicht  in  der  immer  mehr  wach- 
senden Liebe  zu  dem  klassischen  Alterthume,  der  sich  ausbreitenden  Bekanntschaft  mit  demselben.  Die 
lyiisdien  Maafse  der  Alten  scheinen  die  gebildeten  Tonkünstler  jener  Zeit  durch  ihren  eigenthümlichen 
Schritt  besonders  angezogen,  sie  zu  musikalischer  Darstellung  derselben  vermocht  zu  haben.  L^m  1.534 
gab  Ludwig  Senfl  seine  Bearbeitung  horazischer  und  anderer  antiker  3Iaafse  heraus;  die  Vorrede  und 
Zueignung  des  Simon  MinerAius  an  Bartliolomäus  Sclirenck,  Patricier  zu  jMünchen,  berichtet,  dafs  friüier 
sollen  Peter  Tritonius  eine  solche  versucht,  seine  Arbeit  aber  aus  Bescheidenheit  zurückgehalten  und 
auf  Senfl  als  den  tüchtigem,  einem  solchen  Unternehmen  mehr  gewachsenen  Meister  hingewiesen  habe. 
Glarean  erzählt  uns,  er  habe  um  1508  als  Jüngling  von  zwanzig  Jahren  vor  den  versammelten  MitgUe- 
dem  der  Universität  Colin  den  Ilerrmann  v.  d.  Busche  '),  (nach  des  Erasmus  Zeugnifs  einen  trefflichen 
Dichter  jener  Zeit)  ein  Lobüed  auf  jene  alte  Reichsstadt  in  heroischen  Versen,  und  in  der  ionischen  Ton- 
art, zu  seinem  grofsen  Ergötzen  absingen  hören.  Er  selbst  habe  die  musikalische  Bearbcilung  einiger 
horazischen  Oden  versucht;  man  habe  sie  ohne  seinen  ^^illen,  und  ohne  ihn  zu  nennen,  in  Deutschland 
herausgegeben,  und,  seiner  Absicht  entgegen,  die  nur  einem  bestimmten  Gedichte  angeeigneten,  von 
ihm  erfundenen  Gesangsweisen,  auch  auf  andere  von  gleichem  IVIaafse  übertragen,  was  jedenfalls  unzweck- 
mäfsig  ersclieine.  Da  in  allen  diesen  alten  IVIaafsen  der  PJiythmus  überwiegend  hervortritt,  strenge  Gleich- 
mäfsigkeit  des  Tactes  im  Siime  unserer  Tonkunst  auf  sie  nicht  angewendet  werden  kann,  wie  es  Glarean 
zugesteht,  mit  dem  Bemerken,  dafs  seine  Behandlung  derselben  affcktvolle  Stellen  —  nolulae  nffectnum  — 


')  Derselbe ,     der  nachmals  vm  die   Zeit   der    Wiedertüuferischen    Vnruhen  sieh   !n   Münster  befand,    und  nährend  der- 
selbeit  zu   nUlmen   starb.      Cap.    /'.  p.   85.  86.    l'Il.  p-   124.    Jochnius.   Geschichte  der  liirchenreformation   tu  Miinster. 

IS' 


—      140     — 

enthalte,  die  er  des  Lesers  Urtheil  anheimgebe,  so  zeigten  sie  ein  demjenigen  Aehnliches,  was,  von 
innerem  Triebe  bewufstlos  bewegt,  auch  der  Volksgesang  offenbart  hatte;  die  Hinneigung  zu  diesem,  so 
wie  die  Riclitnng  auf  Wiederbelebung  des  Altcrtlunns,  treffen  auf  eigenthümliche  Weise  zur  Ausbildung 
der  Tonkunst  zusammen.  Wir  haben  schon  erwähnt,  dafs  Seth  Calvisius  in  der  Lehre  den  Lnterschied 
des  Tactgewichtes  zuerst  ausgesprochen  habe,  jener  verschiedenen  Bedeutung,  welche  die  Töne  ge- 
winnen, sofern  die  Senkung  oder  Hebung  der  Hand  bei  Andeutung  der  Schläge  auf  sie  trifft.  Diese 
erkennt  er  jedoch  nur  in  dem  durch  die  Zwei  geregelten  Maafse,  mindestens  spricht  er  nur  in  Bezie- 
hung auf  dasselbe  sie  deutlich  aus.  Durch  sie  erhielt  dieses  Maafs  vier,  je  zwei  und  zwei  unter  sich 
gleichwiegende  Theile,  der  erste  und  diitte  als  auf  den  INiedcrschlag  treffend,  von  gröfserem  Gewichte. 
Des  vollkommnenen,  durch  die  Drei  geregelten  Zeitmaafses,  des  durch  das  Gewicht  begründeten  Unter- 
schiedes seiner  Theile  —  so  viel  bestimmter  und  scliärfer  derselbe  aucli  hervortreten  möge  —  finden  wir 
bei  ihm  nicht  gedacht.  Glarean  dagegen  macht  diesen  Unterscliied,  wenn  auch  nur  beiläufig,  an  der 
Metrik  der  Alten  deutlich.  Im  siebzehnten  Capitel  des  dritten  Buches  seines  Dodecachords  bemerkt  er: 
„es  seien  Einige,  welche  die  jenem  Maafse  widerstrebende  zweilheilige  Scheidung  bei  demselben  anwen- 
deten," und  in  dem  folgenden  achten  Capitel:  „er  möge  dieses  Maafs  am  liebsten  das  trochäische 
nennen,  werde  auch  zuweilen  ein  Jambus  oder  Tribrachys  angewendet."  Forscht  man  dem  Sinne  dieser 
beiden  Aeufscrungen  in  ihrer  gegenseitigen  Beziehung  ferner  nach,  so  gelangt  man  leicht  zu  dem  Ergeb- 
nisse: dafs,  wenn  drei  semibreves  axif  einen  Schlag  —  jenen  präclitigen  und  erhabenen,  wie  Glarean 
ilm  nennt  —  gerechnet  werden,  die  Anwendung  der  Zwei  auf  diese  Art  des  Maafses  nur  auf  den  Auf- 
und  Niedersclilag  sich  beziehen  könne;  dergestalt,  dafs,  wo  es  trochäisch,  mit  voi'anslehender  Länge, 
erscheine,  dem  Niederscldage  zwei,  dem  Aufschlage  ein  TheU;  wo  jambisch,  dem  INiederschlage  ein, 
dem  Aufschlage  zwei  Theile  des  Maafses  angehört;  wo  tribrachysch,  zwar  eine  gleiclie  Abtlieilung 
als  die  letzterwähnte  statt  gefunden,  jedoch  ohne  das,  dem  Aufschlage  durch  sein  Längenverhältnifs  gegen 
den  Niederschlag  beigelegte  Uebergewcht.  Als  das  Bezeichnende  nahm  man  also  hier  eine  durcligängig 
ungleichartige  Vertheilung  des  Gewichts  inid  IMaafses  innerhalb  der  einzehien  Schläge  waln-,  im  Ge- 
gensatz des  graden,  durch  zwei  Längen  gleich  gemessenen,  und  daher  auch  wohl  spondäisch  genan- 
ten Maafses.  Eben  defshalb  vieUeiclit  ist  die  firühere  Benennuns;  vollkommenen  luid  unvollkom- 
meuen  Maafses  nachmals  durch  die  des  ungleichen  und  gleichen  verdrängt  worden,  mit  Beziehung 
auf  die  verscliiedene  Zeitdauer  der  Senkung  und  Hebung  innerhalb  eines  Schlages. 

So  erneuend  und  fruchtbar  aber  auch  der  Eintritt  des  Volksgesanges  in  die  heilige  Tonkunst,  die 
wachsende  Kenntnifs  des  Alterthums,  für  dieselbe  sich  zeigt,  so  müssen  wir  doch  jener  alten  Proportio- 
nenlehre, erkünstelt  und  einseitig  in  sich  fortgebildet  wie  sie  sein  mochte,  dennoch  zugestehen,  sie  sei 
nicht  völlig  unfruchtbar  fiir  die  Kunst  gewesen.  Als  der  fiir  die  Tonkunst  neu  erwachte  Sinn  ihr  Leben 
in  der  Zeit  erkannt  hatte,  das  flüchtige  Dahingleiten,  das  endliche  ^'erschw^nden  der  Töne,  war  es  sein 
Bestreben,  diesem  Strome  ein  Bett  zu  ebnen,  in  w  elchem  er  wohlgeregelt  fortzurollen,  dem  Beschauer  die 
ruhige  Beobachtung  seines  Laufes  zu  gönnen  vermöge;  sein  rasclieres,  sein  ruhigeres  \  or^värtsstreben 
sollte  sicheren  Gesetzen  sich  fiigen.  Aber  nidit  in  der  Bewegung  als  solcher  allein,  offenbart  sich  der 
Geist  der  Tonkunst,  sofern  ihr  Leben  an  die  Zeit  geknüpft  ist,  also  aucli  nicht  ansschliefslich  in  den  ge- 
regelten Verhältnissen  ihres  schnelleren,  ihres  langsameren  Fortschrittes.  Die  dahinschwindenden  Töne 
sollen  auch  als  Gestalten  uns  erkennbar  werden,  niclit  den  flüchtigen,  wenn  auch  grofsartigen  Eindruck 
eines  gewaltigen  Stromes  allein,  auch  den  eines,  unserem  inneren  Sinne  sich  entfaltenden,  vor  ihm  dahin- 


—     141     — 


t^t:;rl:'^:^1  e„tschwu„de„    doch  fest  anseprägten  Bildes  sollen  sie  uns  gewahren.     So 
geslalteten  s,ch  die  Gheder  des   Gesanges,    In  den  durch  das  TongewJcht  Reo-ebenen    schönferischen   C. 

f^Geir 'T,rf ",  '"r'"^'^'  ''-''  ''-'-  -  ^'-"  V:rhaUnIssLfu  ::L^^^^^^^^ 

v.^^^^^^^^^^^^^^  ^"  '^^^-^--     ^-»^  ^--  ß'^.— „g  entzog  siei.  die  lebend| 

eTb  IdelT^^      r   '  f""  Glcichgemessenen  in  mannigfachen  Verhältnissen  die  GlLder  ihrer  Gestal 

Befirnnf™^^^^      H    "  J""'    ""'''^"  "'"   '"   '^^"  'P'^'"^  ^"'^  ^'--  «-  vorübergehende 
,W  XX^^^^^^  ^'V- ""''■'  ^'^  — "^^-'d  völlig  weg,  dem  müchtIgen'vYaHen 

P^äTZtlCZ^         -  gan^bcher  PLngebung  sieh  überlassend.     Allein   der  Verstand, ^mmerdar 
Srltetr,  .      p'r''"^r'^'"'  '"  ''^"•^"'  S-«*^^-»'  S-^ärkt  eben  in  dieser  Hingebung,  befesti-^te 

one,  sa  es  der  dnich  s.e  gebddeten  Gheder  des  Gesanges,  und  strebte  zu  dessen  lebendiger  Anschauung 
undurch.udnngen.   ^^^  er  nun  zuvor  Gleiches  und  Ungleiches  übereinstimmend  abzngrelen   ve  3 
(da    durch  die  Zwe.  und  die  Drei,  auch  M^ohl  künstlidiere  Zalilen  Geregelte)  entdeckte  er  eTlcrdTfl' 
oudi  eme  Veremigung  beider  müglich  sei;  Abschnitte,  gleichgemessen  dutch     iet    ^    i:  d^^;  1^^^^^ 
lungen  geghedert  durch   die  Drei.     So   entstand  die  Anscliauun-^  triplirter  T.h/  , 

Toi^ehre  sie  nenn,  gebUd.  durch  das  Fortwirken  der  Richtu^,  ::lr^;/^^o::Z::  ^ 
hatte,  wenn  auch  iese  m  dner  früheren  Gestalt  nicht  mehr  voriianden  war.  Etwas  dieser  T  tar  A  hn 
hchcs  zeigt  Sich  bereits  in  Tonwerken  der  ersten  Hälfte  des  seclizehnten  Jalirhunderts,  ocl^^W  t^^^ 
dasselbe  uixi  ^eseZcit  hervortHt.,  die  Lehre  immer  noch  die  Drei  als  das  allein  Regelnde  T  I^LZ 

zt;- irr  r.  rr,r  f: -.--:-;  *  r-,i— x: 

.e„.c  T„„o  «,„e„srfafi.  „.*„  sollten,  «.eil  v„„  sechs  »„.■„„•,„■„„■.  dleZei.H„„„  ausjll™  L 
welche  SCSI  deren  vier  eingenommen;  «  „eil  die  von  ™ei  „„„;„„-,  erfullle  Zeitdaner  nun  .„„  ,,.     ' 

d.  se  laelart  als  o,„e  gerade,  in  ihren  beiden  Ahlheilun-en  durch  die  Drei  ge-liederle  zu  denken  tl     I 
nee  s,e   m,.|  und  se,*  dieser  Proportion  das  Zeiche.:  der  doppeUen  Vel  „de™  g  ,"  rt      "^c   "^ 

!!  i::  rixtie'  iir  ^-t-  ""•"-'•  ^■™'"  ■»"• '-  '^  -*»  .-od',.™:  :^ 

rius  sich  vorlllid       „    1        f  """         f™"  "  »■"■  '"'  ™  »'»  ßel^pi*  derselben   bezieht  Prä.o- 
Ich     '^"''"',"'"''/'J™'-     r™»<«scl,e  Tanzmeistcr,  so  erzählter,  halten  allezeit  den   un.|ciel>en  Ta« 

HldTd  des  A  7"'^"  ','""  »'""'""  ^'■''"''"  ^™*"'  ''™'  "-'■'  "■  hä"r«;eBo.ves„n.  d 

uL  „och  uhHg  is,,^i:rdie";::„;:r  "ter^^^^^^       i:-. *'■;-":-»■ 


')  JUegahjaodia  Sionia  iN>.  14. 


einzelner  Meister,  ihre  Werke  durcli  dieselbe  inRäthscl  zu  kleiden. 


—     142     — 

„nd  etwa  die  Benennung  Proportion  oder  Proporz  für  den  SchlufssaU  einzelner  Tanzslücke,    ^venn 
...  i,n  «n-^eradon  Tacle  gleiche  Bewegung  hallen  soll  mit  dem  ^'orangehenden ,    nach   geradem    Tacte   ge- 
messenen"   Auch  in  der  Wahl  der  ^otengattung  für  Motetten   und  Madrigale   dämmert  noch   etwas  von 
•hr-  für  i'ene  werden  die  gröfseren  Noten  gewählt,  ihnen  das  Zeichen  beschleunigter  Bewegung  vorange- 
'  tzf    die  kleineren  für  diese,    mit    der   Vorzeichnung  langsamer  Bewegung;    dem    Wesenthchen    nach 
werden    beide  Notengattungen    dadurch    vüUig    ausgeglichen   -  wie  in  jenen   früheren  ProporLonalrath- 
sein   -  und  der  Sinn  bleibt  endlich  nur  der,    dafs   auch  bei  gleicher  Bewegung,    dort  em  nachdruckh- 
eher     ernster,   hier  ein  leicliter  Vortrag  eintreten  solle.     In  diesem  Sinne,    von  ihrem  früheren  S^"^  «b-  f 
weiiend,    stehen  bei  Prätorius  nun  z.  B.  die  Zeichen  ?  und  ^  gegenüber,  den  Motetten  jenes,  den  Ma- 
drigalen dieses  angeeignet;  eben  so  im  geraden  Tacle  die  Zeichen  des  ungeschlossenen,  und  des  nach  der 
Rechten  lün  von  dem  Durchmesser  begrenzten  Halbkreises,    wie  beide  nocl.  jetzt  m  unserer  Tonsdmft 
übhch  sind;  doch  gesteht  Prätorius  zu,  man  habe  sich  ihrer  schon  damals  nicht  m  gleichem  Smne,  gleich- 1 
.eiti-^e    selbst  neben  einander  lebende  Meister  oft  in  ganz  verschiedenem  bedient.     Die  Bewegung   zu  be- 
zeichnen schienen  sie  daher  unzureichend;  und  bald  beschränkten  einzelne  Meister,  wo  sie  es  für  erfor- 
derlich  hielten,  sich  darauf,  ihre  Absicht  durch  Worte   im   Allgemeinen   anzudeuten;   „ein   hochnolliig   tn- 
ventwn"  (wie  es  Prätorius  nennt)  um  Verwirrungen  vorzubeugen.  ') 

Wir  haben  in  dem  Vorigen  die  Proportionenlehre  mit  der,  eine  Zeitlang  gleich  einseitig  ausgebil- 
deten kanonischen  Kunst  verglichen;  so  eben  haben  wir  der  Motetten  und  Madrigale  zu  er>vähnen 
Gelegenheit  gehabt,  sie  in  unmittelbarem  Zusammenhange  mit  der  Pxliylhmik,  und  deren  Beze.clinung  in 
mittelbarer  Beziehung  auf  dieselbe  betrachtet.  Wir  finden  hierin  den  Anknüpfmigspunkt  für  einen  kurzen 
Bericht  über  diese  Gattungen  von  Tonstücken  und  Uire  Benennungen,  welcher  die  Stelle,  die  er  hier  ein- 
nimmt, durch  sicli  reclitfertigen  möge. 

Was  wir  jetzt  Canon  nennen,  hiefs  bei  den  alten  Tonlchrern  und  Meistern  Fuge,    die   strenge 
Nachahmung  einer  Stimme   durch  andere,  nach  einem  bestimmten  Zeit-   und   Tonverhältnisse  ihr  nach- 
folgende   mit  ihr  zusammenkhngende.     Man  sähe  es  an,  als  treibe  die  eine  Stimme   die   andere   vor   sich 
her-  defshalb  der  Name  von  der  im  mittleren  Latein  vorkommenden  Bedeutung  des  Wortes  fuga   als 
Jacrd  und  Ja-dredit.  ^)     Eben  jene  strenge  Nachahmung  fülirte  leicht  darauf,  dafs  eine  Stimme   als  Keim 
des  Ganzen  die  anderen  enthalte,  dafs  diese  aus  ihr  entwickelt  werden  könnten.     Der  Neigung  jener  Zeit 
zufol-e    in  welcher  Harmonie  und  Rhythmus  zuerst  wieder  aufzideben  begannen,  wurde  nun   ein   ganzes 
TonsÜick  jener  Art  gchcimnifsvoU  und  räthseUiaft  in  eine  Stimme  verschlossen;  zur  Lösung  des  Räthsels 
mufste  das  Ton-,  das  Zeitverhältnifs  gefunden  werden,  in  welchem  eine,  oder  mehr  folgende  Stimmen  der 
gesehenen  sich  anschliefsen  sollten.     Dazu  bedurfte  es  einer  Regel,  am  dringendsten  da,  wo  die  folgenden 
Stimmen  in  ihren  Wendungen,  in  der  Geltung  ihrer  einzelnen  Töne,  der  ersten  nicht  unverändert,  wenn 
^uch  in  diesen  Abweichungen  streng  durch  sie  geregelt,  nachfolgen  soUten.     Diese  Regel,   oft  wiederum 
in  den  wunderlichsten  Sprüchen  als  Räthscl  gefafst,  nicht  das  Tonstück  selbst,  hiefs  Cano».     Beides 
ergiebt  schon  der  Wortverstand  unmittelbar,  läfst  auch  die  spätere  Bedeutung  des  Wortes   Canon  sich 
rechtfertigen,  da  eine  Gattung,  in  welcher   eine   Stimme   die  streng  bindende  Regel  für  eine  aus  ihr  zu 

^rergleiche  wegen  dieser  letzten  Aeußervng  Syntagma  III.  Cap.   VlI.  pag.  51.  und  wegen  des   Vorhergehenden,    V>. 

pae:.  73  "6-     T^"  sextuplo  seit  tactii  trochaico  diminuto.J 

»)   D«   Gange  ad  loe:  Fuga.      Call:    Oiasse  vel  chace :    Venatio,  yis  venationh.   quia  venando  fugantur  ferae  etc. 


—     143     — 

entwickelnde  iMehrheit  in  sich   schlofs,    wohl  vor   andern  den  INamen   der  regelrechten,    ja   einer   Regel 
selbst,  verdiente.     Wir  haben  früher  die  Ansicht  aufgestellt:  jene,  einem  strengen  inneren  Bau  unterwor- 
fene, alle  Freiheit  ausscliliefsende  Gattung,  wie  in  diesem  Baue  sie   eben  nur   dem  die   Tonzeichen   über- 
schauenden Auge  völlig  verständlich  sei,  deute  zugleich   auf  eine  abhängige   Stellung  der  als   Kunst  ihre 
Gestaltung  beginnenden  IMusik  zu  den  bildenden,  auf  der  Bahn  ihrer  Entwickelung  bei  weitem  mehr  vor- 
geschrittenen Künsten;  in  dieser  Abhängigkeit  werde  zugleich  die  Erscheinung  gerechtfertigt,  dafs  so  sinn- 
reiche Tonverwebungen   als  die   ältesten  Erzeugnisse  der  Kunst  mehrstimmigen  Gesanges  hervorträten. 
Dafs  in  der  ganzen  \\  eise  der  Gestaltimg  solcher  Tonverwebungen  aber  die  frühesten,  rohesten  Ansichten 
von  Bewegung  und  Zusammenklang  thätig  sind,    eben  nur  Treiben  und  Eilen,    Vorangehen  und  Folgen 
ergötzt,  eben  nur  die  Lust  daran  hervortritt,  dafs  diese  nebeneinander  hingehenden,  einzelnen  Tonverbin- 
dungen iliren  gemeinsamen    Lauf  wohlkhngend  ohne    lästige  Mifstöne   zu  vollenden   vermögen  —   alles 
dieses  mufs  unsere  Verwunderung  damber  mindern,  dafs  eine  eben  nur   beginnende   Kunst  in   Bildungen 
hahe  hervortreten  können,  an  denen  jetzt  imr  der  vollendete  Meister  sich  bewähre.     Denn  sie  waren  und 
sind  eben  nicht  Kunstwerke  im  höchsten  Sinne;  damals  kindische  Spiele  mit  den  Kunstmitteln,  an  denen 
der  neu  erwadite  Bildungstrieb  seine  Kraft  übte;  Uebungen  jetzt,  an  welchen   die   erworbene  Kraft   sicli 
erprobt.  Versuche,  auch  da  noch  höheren  Forderungen  zu  genügen,  wo  jedes  Aufstreben   durch  wilUcühr- 
liche,  beengende  Schranken  gehemmt  wird.     Jenem  rüstigen  Drängen  und  Treiben,  wie  es,    an  eine  bin- 
dende Regel  streng  geknüpft,  die  Anfänge  der  harmonischen  Kunst  in  der  Canonik  bezeiclinet,    wäre   die 
Verbindung  mit  einem  ruhig,  gleichmäfsig,  selbständig  Fortschreitenden  schon  des  Gegensatzes  AviUen  na-^ 
türUch   gewesen,    es  würde   einen  solchen  aufgesucht    haben,    hätte  es  ihn  nicht  bereits  vorgefunden  in 
jenem  alten,  überlieferten  Kirchengesange,  welchen  zu  schmücken,  ihn  mannigfaltig  zu  lunspielen,    in  die- 
sem Spiele  die  Bedeutung  der  Kunst  wie  man  sie  damals  erkannte,  zu  offenbaren,  eben  jene  Zeit  strebte. 
Aber  das  Zeit-,    das  Tonverhältnifs,  wodurch  jenes  Spiel  geregelt  werden  soll,    mag  der  Bhck  des  die 
Stimmen  überschauenden  Kundigen,  mag  vielleicht  selbst  das  Ohr  des  einfachen  Hörers  wahrnehmen;    es 
bleibt  immer  nur  das  Bedingende,    nicht  ist  es  das  Belebende,    durch   das   Ganze  hin  mächtig  Vor- 
herrschende und  Gestallende.     Ist  der  Lauf,  den  es  regeln  soll,  einmal  losgelassen,  so  geht  er  stetig  fort,, 
imd  mag  an  einzelnen  Punkten  uns  auch  gestattet  sein,    jene  ursprünghchen   N'erhältnisse  wieder  zu  er- 
kennen,   so  entsch\^^ndcn  sie  ims   docli  bald  wieder  in  jenem  rastlosen  Forteilen.      Eines  gemeinsamen 
Mittelpunktes  also  bedarf  es,  von  welchem  aus  eine  belebende  Kraft  jenen  Lauf  regle   und  gestalte;    und 
diesen  giebt  zuvörderst  die  rhythmische   Entfaltung,    die   Gestaltung  des  Zeitverhältnisses,    damit, 
was  in  der  Zeit,    sich  verdrängend,  auf  einander  folgt,  dem  Sinne  als  ein  ruhendes,    aus  neben  einander 
bestehenden  Theilen  hervorgehendes  Bild  erkennbar  werde.     Wie  aber  in  verschiedenen  W^endungen  und 
Stellungen  seiner  Glieder  ein  lebendiger  Leib   erst  recht  das  Wesen   ihrer  Verhältnisse,    seiuc  aus  ihren 
Beziehungen  hervorgehende  Bedeutung  darlegt;   so  soll  auch  das  Tonbild,  damit  es  vollkommen  gestaltet 
sei,  dem  Zeitleben  seiner  BestandÜieile  gemäfs,    ein  imter  mannigfach  wechselnden  Bedingungen  erschei- 
nendes, dennoch  aber  stets  dasselbe  sein.     Eine  höhere  Regel  offenbart  sich  nunmehr  in  den  durch  rhyth- 
mische Entfallung  hervorgehenden  Motiven;    der,  jene  künstlichen  Tonverbindungeu  bewegenden  Kraft,, 
aber  auch  den  stetigen,  das  BewegKche  gestaltenden,  das  Ganze   oder  einzelne  Theile  desselben  beleben- 
den Grundgedanken.     Die  Seele  jenes  Bewegenden,  wie  des  Gesammtlebens  alles  dessen,  was  durch  das- 
selbe gestaltet,  zu  einem  gemeinsamen  Bilde  sich  vereinigt,  erschliefst  uns   aber  die  harmonische  Ent- 
faltung.    Durch  sie  erhiJt  das   sonst  willkülullch   angenommene   Tonverhältnifs,  in  welchem  der  be 


—     144     — 

"-iuuenden  Stimme  die  fol2;cnde  sich  anschlicfst,    seine  ^vahre   Bedeutung,    die  rechte  Fühlharkcit,    durch 
die    es   dem    äurseicn   wie    dem    inneren    Sinne   sich   einprägt.      Das' Zeitverhältni  fs   aber  ist   in   der 
rhythmischen  Entfaltung  lebendig  geworden.    In   ihr  haben  die  wechselnden  Töne  vor  unserem   Sinne 
Gestalt  und  feste  Umrisse  erhalten,  das  Bild  was  sie  ilmi  boten,  haben  wir  in  seinen  durch   die  Zeit  ge- 
o-ebenen   Beziehunscn  erkannt ;  und  wie  nun  dieses  in  allen  Stimmen  nach  inid  nach  sich  entw  ickelt,  aus 
jeder  einzelnen  und  allen  zusammengenommen  uns  immer  reiclier  entgegcnblühl,  empfinden  wir  auch  das 
Zeitvcrhällnifs  als  ein  lebendiges  inid  notln\ endiges,  in  welchem,  wie  in  der  einfachen   Gesangsweise    die 
einzelnen  Töne,  so  hier  Bild  und  Abbild  in  verschiedenen  Stimmen  einander  ^^ec]lselnd  verdrängen.     Dafs 
in  diesem  Wechsel  zunächst  das  Verhältnifs  der  Quinte  und  Quarte,  sofern  dadurch   die   gegenseitige   Be- 
ziehung des  Haupt-  und  Nebentons  ausgedrückt  wird,  sodann  diejenigen  Tonverhältnisse,  welche  aus  den 
der  gewählten  Tonart  eigenthümlichen  Verwandtschaften   sich  ergeben,    die  hei'vortretenden  sind,   beruht 
in  dem  Wesen  harmonischer  Entfaltung.     Der  Unterschied  des  Haupt-   und   INebentons   erscheint   liier  in 
der  eigenthümlichen  Gestalt,  welche  das  Älotiv,  die  belebende  Gesangsweise,    gewinnt,    sofern   sie  in  der 
gröfseren  oder  kleineren  Hälfte  der  Octave  sich  bewegt,  nach  der  Quinte  hin  aufstrebt,   mit  dieser  begin- 
nend in  den  Grundton  zuriickkehrt,  als  bedeutungsvoll  und  nothwendig.     Durch  eine  belebende  Regel  ist 
nun  die  äuTserhch,  willkührhch  bindende  zmiickgedrängt,  durch  den  ersten  Schritt   hat   der  IMeister   nicht 
sein  ganzes  W^erk  unwiderruflich  im  Voraus  bestimmt,  er  bleibt  Herr  seines  Gewebes,  um,  nacli  innerer 
Nothwendigkeit  zwar,  doch  seinem  Sinne  gemäfs,  es  fortzuw  irkcn ;  es  schiefst  nicht,  den  Crystallen  gleich, 
in  festbestimmter,    unabänderlich   gleicher  Gestaltung  ein  Tlieil  dem  anderen  an,    sondern    es  blüht   einer 
Pflanze  ähnlich,  in  seinem  V'Suchse  und  seiner  Gestaltung  durch  ein  Grundgesetz  geregelt,    dennoch  frei, 
ja  in  ansclieinender  WiUkühr  hervor.     Gesänge  solcher  Art,  im   Fortgange  der  Kunst   allmählig   ausgebil- 
det, heifsen  nicht  mehr  Fugen,  sondern  fugenartige  Cad  fugam.)     Eine  Fuge  im  Sinne  unserer  heu- 
tigen Tonkunsl,  ein  aus  strengeren  oder  freieren  Nachahmungen  in  bestimmter  Folge,  nach  einem  gewis- 
sen Zuschnitte  zusammengewebtes,  mehrstimmiges  Tonstück,  finden  wir  in   den  Werken  der  Meister  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  nicht  vor;  aucli  ist   in  dieser  Zeit,    wo  nicht  ein  streng  durchgefülirter   Canon 
in  der  Bedeutung  der  Gegenwart,  eine  bis  an  das  Ende  fortgehende  fuga  gleicher  Art  in  dem  Sinne  der 
alten  Meister  statt  fand,  immer  nur  von  Fugen  innerhalb  eines  Tonstücks,  nicht  von  einem  solchen  als 
einer  Fuge  die  Rede.     So  redet  davon  Prätorius,  ')  in  seiner  cigenthümhchen  Weise  die  Ansicht  seiner 
Zeit  darlegend.    Fugen  sagt  er,  sind  häufige  Wiederklänge  (crebrae  resultationesj  desselben  musikalischen 
Gedankens  in  verschiedenen  Stimmen,  die  durch  Pausen  getrennt,  auf  einander  folgen ;  die  Italiener  nennen 
sie  ricercari;  denn  ricercare  bedeutet  forschen,   suchen,   auswählen,  „dieweil  in  Traktirung  einer  guten 
Fugen  mit  sonderbarem  Fleifs  und  Nachdenken  aus   aUen  Winkeln   zusammengesucht  werden  niufs,    wie 
und  auf  mancherlei  Art  und  Weise  dieselbe  in  einander  gefügt,  geflocliten,  ordentlich,    künslhch  und  an- 
muthig  zusammengebracht  und  bis  zum  Ende  hinaus  gefiilirt  werden  können."     Denn  das  ist  der  wahre 
Prüfstein  eines  Tonkünstlers,  wenn  er,  der  Eigenthümlichkeit  des  bewegenden  Gedankens  zufolge   (pro 
certa  motorum  natura)  schickliche  Fugen  aus  ihm   entwickeln  (enierej ,    und   die   von  ilmr  erfundenen 
zu  gutem,  lobenswerthem  Zusammenhange  rcclit  zu  verbinden  weifs. 

Bei  fugenartigen,  oder  fugirten  Tonstücken  pflegen  nun  Schriftsteller  des  sechzehnten  Jahrhun- 
derts zu  unterscheiden  zwischen  dem  Styl  der  Motetten  und  Madrigale,    ohne  dafs  wir  vermöcliten 


')  Synlagma  III.  21. 


—     145     — 

das  Bezeichnend,  beider  Behnndinn.sweisen  mit  reclUer  Schärfe  nufznfnssen,  weder  dnrcl.  ihre  Berichte 
nod.  ans  den  lonstucken  selber,  denen  .vir  die  eine  oder  die  andere  ßenennnn,  beigelegt  finden.  L  i 
räch  :st  de,en.se  Unterschied  anfzn.eigen,  den  der  Gegenstand  der  Ge  ä„ge  ersieht.  Die  M 
te  ten  behandcl.en  Stellen  ans  der  heiligen  Schrift;  ein ''xhell  eines  Gregoria,  Ische^  G  sanges  w  r 
entweder  d.eGrnndIage  Cr^n.,.  y^n.u.J ,  nn.  welche  die  übrigen  SthJen  sich  bewegten'  oder 
ser  T^  l  r  S'?"-"  '''«"S-vebes  waren  ans  einen,  solchen  entnommen.  Name  nnd  Behandlung  die- 
ser  Art  n,ehrs,.mm.ger  Gesänge  scheint  .„folge  einer  Stelle  des  elften  Abschnitts  In  Francos  Knnst  des 
gemessenen  Gesanges  etwa  nm  die  Mille  des  drel.ehnlen  Jahrhunderts  aufgekommen  zu  sein.  Drei  Jahr- 
hunderle früher  noch  wnfste  Hucbald  eine  ^.irchenwelse  nur  durch  eine  Folge  von  Quarten  oder  Oulnlen 
^.schmucken;  hundert  Jahre  nach  Ihm  führte  Guido  die  Abwechselung  verschiedener  begleItenden\vohl- 

TlvrW  ''"""''"  '"'"■'  ^'"'''"  ""''  ^'^?<^"'^'^^^'^Ji""g  ""'1  zieren  schicklichen  ^Vechsel  beobachten  und 
auch  31,rsklange  nicht  versclnnähend,  vier  bis  fünf  Stimmen  auf  diese  Art  zusammenfügen.  Dabei  unter 
schcdet  er  em  doppeltes  ^  erfahren:  dasjenige,  welches  sein  Tongebäude  auf  eine  einzige  Grundlage 
auHuhre  (w.e  es  m  Canlilenen,  R.mdgesängen  und  dem  Klrchengesange  geschehe);  ein  anderes,  das  ihrer 
2WP.  anwende.      Iher  bedient  er  sich   der  früher  nicht  vorkommenden   Benennung   „Motetten"  indem 


zwei 


,  '"•    — »^"^   >"i.v,jimiiLiun,-ii   Benennung   „luoietten     mdem 

er  bemerkt,   diese   Gattung  von   Tonslücken   habe    eine   drille,    wiederum   einer   Gnmdlage   gleichgellende 
Stnnme.     Auf  einen  heiligen  Spruch,    auf  dessen    überlieferte   alte  Kirchenweise,  so  scheint  es.    gründete 
sich  also  das  Ganze;    allein   auch   eine   andere   Gesangswelsc  noch,    jener   ersten   gegenüber  „Sprüchlein" 
CmolefusJ  genannt,   eine  barbarische  AYortblldung  nach  dem  Franzüslschen   „Motr   ent^^Ickelte  aus  sich 
abermals  eine  andere  begleitende  Stimme,    und   dieses   Doppelppar   Murde   so  eingeriditet,    dafs  es  wohl- 
khngend  mit  einander  sich  fortbewegen  konnte.     Dem    dreizehnten   Jahrhundert   aber   gehört   diese  Erfin- 
düng  wahrscheinhch  an,  well  Marchelto  von  Padua,  der  um  die  letzte  Hälfte  dieses  Zellabschnitles  schrieb, 
des  Franco  als  seines  Vorgängers  er.^ähnt,  Papst  Johann  XXII.   endlich.    In    seiner  ofter.vähnten   Verord- 
nung vom  Jahre  1-322  jene  Tripeln,  Motetten,  jene  Art  des  Hervorschluchzens  der  Gesänge,  welche  Franco 
unter  dem  gleich  barbarischen  Namen  ..Ochefus'  zuerst    von    den   uns  bekannten  älteren  Tpnlehrern  an- 
wendete,   als  Erilndungen  einer  neuen  Schule  bezeichnet,    also    einer  In   das   vorangehende  Jahrhundert 
schwerlich  weit  zurückgehenden.     Die  Beziehung  auf  Franco  ^^  Ird  noch  deutlicher  dadurch,  dafs  der  Papsl. 
nachdem  er  denen  gezürnt,  welche  dem  Kirchengesange  eine  üppige,  begleitende  Stimme  hinzufügen,    ja 
durch  gemeine  Sprüchlein  und  Tripeln  ihn  überbauen,  seinen  Gang  und  seine  Tonart  unkenntUch  machen,  ' ) 
die  N'ergünstigung  hinzufügt,  bei  feierlicher  Gelegenheit  hin  und   Avieder   einzelne   mittönende   Wohlklänge 
anzuwenden.      Wir  erkennen  daraus,    eben   jenes,    bald  ]Mit-   bald   Gegen-   bald   Auseinanderbewegen    der 
Stimmen,    das   Franco    gelehrt,    habe   als   unkirchliche  Ueppigkeit   seinen  Unwillen   erregt;    jene   einfache 
Art  begleitenden  Gesanges,    etwa   nach  Guidos  ^^'cisc,    habe  er   zurückgewünscht.     So   können   wir   uns 
denn  —  auch  bei  dem  Mangel  an  Beispielen  von  Motetten  aus  diesem  Zeltaller  Ihrer   Kindheit   —    über 
die  Zeit  ihres   Entstehens,    Ihre   früheste   Beschaffenheit   einigermaafsen    unterrichtet   halten:    nachdem  sie 
jedoch  bis  gegen  den  Ausgang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  sich  mannigfach  ausgebildet,    vermögen  wir 
das  wesentlich  Interscheldciidc  Ihrer  Behandlung  von  der  In  den  Madrigalen  vorkommenden  kaum  mehr 
festzuhalten.     Die  IMadrigale  behandeilen  Meltliche  Gegenstände,  materialia;  davon  ist  offenbar,   so  vielen 

•'  discaiifibus  lubricant,   IrijiHs  et  molelis    iiilgaribiix  nonniinguam    inculcant,    adeo    vf    itilerdum    anliphoiiurii   et    Gra- 

ihalis  fundamenta  rlespiciant,  ignorent  siipfr  quo  nedißcant,  fonos  iiescianf  etc. 
C.  r.  Wiiil»rfeia.  Juli.  Galiricii  u.  4.  Zcitaltir.  ig 


—      146     — 

geschraubten  Erklärungen  gegenüber,  ihr  Name  auf  die  natürlichste,  ungezwungenste  Weise  herzuleiten. 
Im  Wesentlichen  aber  zeigte  die  Behandlungswelse  bei  ihnen  und  den  Motetten  sich  übereinstimmend. 
Kurze,  fugirto  Sätze  wechselten  mit  einander,  dort  waren  die  IMotivc  meist  aus  dem  Kirchengesangc,  hier 
von  Volksweisen  cntleJmt,  oder  von  den  Tonmeistern  eigends  erfunden;  jene  daher  strenger,  ernster, 
diese  geschmeidiger,  lebhafter.  In  den  Ausweichungen,  in  der  Behandlung  der  Harmonie  überhaupt,  läfst 
bis  um  die  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  kaum  eine  Verschiedenheit  sich  wahrnehmen.  Die  Kunst 
harmonischer  Stimmverwebung,  in  der  Kirche  entstanden,  trug,  als  man  sie  auf  weltliche  Gesänge  anzu- 
wenden begann,  die  Farbe  ihres  Ursprunges  auch  zu  diesen  liinüber:  Cyprian  de  Rore,  Luca  Marenzio, 
der  Fürst  von  Venosa,  übersdirilten  zwar,  wie  wir  gesehen,  in  ihren  IVIadrIgalen  die  Grenzen  der  durch 
harmonische  Entwickelung  der  Kirchentöne  herbeigeführten  zufälligen  Erhöhungen  und  Erniederungcn 
einzelner  Töne;  ihre  chromatischen  Madrigale  jedoch  bildeten  innerhalb  der  allgemeinen  Gattung  solcher 
Gesänge  nur  eine  abgesonderte  Art,  die,  auf  weltUche  und  geistliche  Tonkunst  gleichen  Einflufs  übend, 
dem  grofseren  Kreise,  dem  sie  angehörte,  eine  scliarfe,  bestimmte  Abgrenzung  zu  gewähren  nicht  ver- 
moclite.  Je  freier,  lebendiger,  frischer  der  Motettenstyl  nachmals  sich  ausbildete,  je  öfter  selbsterfundene 
Motive  an  die  Stelle  der  allen,  streng  Gregorianischen  traten,  um  so  weniger  konnte  eine  solche  Abgren- 
zung sich  gestalten,  und  vergebens  finden  wir  einzelne  Forscher  und  Künstler  bemüht,  die  den  Motetten 
ausschlicfsend  eigentliümhche  Art  festzustellen.  •)  W^oUte  Plühpp  de  Monte,  des  Orlando  Lasso  Schü- 
ler, den  Namen  Motette  (nacli  ihm  Mutette)  von  mutare  (verändern,  wechseln)  herleiten,  wegen  des 
Weclisels  der  Fugen  und  Harmonieen,  so  fand  ein  solcher  Wechsel  ja  nicht  minder  bei  den  Madrigalen 
statt;  wollte  Johann  Magirus  die  Benennung  Motecta  (so  schreibt  er)  n  modo  tecto,  d.  h.  davon  herge- 
nommen wissen,  dafs  der  Tenor,  der  alten  Lehre  zufolge  die  Stimme,  welche  die  Tonart  darstelle  und 
recht  erkennen  lasse,  bedeckt  wie  er  sei  durch  das  künstliche  Toiigewebe  der  ihn  tragenden  und  über 
ihm  scliwebenden  Stimmen,  sie  nur  verhüllt  anzeige,  so  \var  auch  dieses  wiederum  von  den  Madrigalen 
zu  sagen.  Die  meisten  mitlebenden  und  späteren  Schriftsteller  kommeii  darin  überein .  dafs  die  rechte 
Motettenart  bei  dem  Orlando  sich  zeige;  und  doch  läfst  sein  IMotettenstyl  von  der  Behandlung  seiner 
Madrigale  kaum  sich  unterscheiden,  ja  nicht  einmal  der  früherhin  bezeiclmende ,  mehr  jedoch  von  dem 
Stofif  als  seiner  Behandlung  hergenommene  LTnterschled  sich  festhalten,  nach  den  Motiven  nämlich,  sofern 
sie  aus  dem  Kirchengesangc  entlehnt,  oder  eigene  Erluidung  des  Meisters  sind.  So  finden  wir  z.  B. 
in  der  1587  von  ihm  zu  Nürnberg  bei  Catharina  Gerlacliln  in  zwei  Thellen  herausgegebenen  Sammlung 
geistlicher  Gesänge,  gemeinhin  Motetten  genannt  (qiias  vvlgo  ntvletas  vocant)  deren,  wo  eine  alte 
Kirchenweise  bald  Grundlage,  bald  Motiv  des  Gesanges  ist  (das  Te  lieiim  z.B.;)  andere  dagegen,  wo  bei 
dringender  Aufforderung  einen  alten,  feierlich  schönen  Kirchengesang  harmonisch  zu  behandeln,  dennoch 
selbsterfundene  Motive  überall  vorgezogen  sind  (den  Hymnus  f'eni  crealor  sptr'tlus.J  Der  ^on  Kircher 
gesetzte  Unterschied  zwischen  geistlichem  sogar,  und  IMotettenstyl,  dem  streng  geregellen,  über  eine 
alle  Kirchenweise  künstlich  gewirkten  Tongewebe,  imd  der  freien  Behandlung  aus  einer  solchen  entnom- 
mener Motive,  ist  zwar  ein  deutlich  ausgesprochener,  durch  Beispiele  aus  älteren  Meistern  *u  belegender, 
doch  ist  er  in  ihrem  Spracligebrauche  nicht  begründet,  und  mag  nur  das  von  jenem  gelehrten  Forscher 
aufgestellte  Fach  werk  rechtfertigen,  Ueber  das  wesentllcli  Unterscheidende  der  Moteltenart  von  der  ma- 
drigahschen  glebl  er  uns  keinen  Aufschlufs;  denn  was  allen,  von  jener  befafsten  Abarten,  als  gemelnschaft- 


')  Vergl.  Prätoriui  l.  c.  p.  8.  9.  Kircher:  Musurgia  J.  p.  401.  5S5.  sejj. 


—     147     — 

lieh,  stillschweigend  vorausgesetzt  wird,  der  unmittelbare  Ursprung  aus  dem  alten  Kirchengesange ,  lärsl 
sich  eben  durch  das  Beispiel  der  anerkannt  trefflichsten  Meister  als  ein  solches  Gemeinsame  nicht  nach- 
weisen. Gegen  das  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  scheint  man  die  Benennung  Motetten  oft  absicht- 
lich vermieden  zu  haben;  wir  finden  sie  durch  die  Ausdrücke  ,,Cantiones  sacrae,  moduli,  st/mphoniae 
etc."  umgangen;  dann  Madrigal  und  IMotclt  nur  dem  geistlichen  und  weltlichen  Inhalte  der  Gesänge  zu- 
folge auseinandergehalten,  aucli  diesen  Unterschied  aber  wiederum  durch  die  Benennung  ,,madrigalia 
sa^ra"  getrübt,  die  man  zumeist  geistlichen  Gesängen  in  der  Muttersprache  beilegte. 

Wir  gedenken  in  dem  Folgenden  beider  Ausdrücke,  Madrigal  und  Motett,  nur  im  Allgemeinen  mit 
Bezug  auf  geistlichen  oder  weltlichen  Inhalt  der  Gesänge  uns  zu  bedienen,  die  wir  unserer  näheren  Be- 
trachtung unterwerfen.  Wo  innerhalb  beider  Kreise  wirklich  eine  eigenthümliche  Art  der  Behandlung 
sich  gestaltet  hat,  werden  wir  ihr  Wesen  mit  möglichster  Bestimmtheit  darzulegen  versuchen,  gleichzeiti- 
ger Benennimgen  aber  nur  vorübergehend  gedenken,  und  da  allein  sie  ausschliefsend  anwenden,  wo  ihr 
Gebrauch  in  jener  Zeit  eine  solclie  Anwendung  rechtfertigt. 


ACHTES  HAUPTSTÜCK. 


tlohannes  Gabrieli  in  seiner  früheren  künstlerischen  TTiäUgkeit  bis  %tim 

Ausgange  des  sechzehnten  JTahrhunderts.     Sein  Verhältnijs  %u 

Palestrina  und  Orlando  Lasso. 

14.JrchUche  Bilder,  aller  grofsen  Mannigfaltigkeit  ihrer  Gegenstände  ungeachtet,  lassen  dennoch  eine 
doppelte  Art  des  Sinnes,  in  dem  sie  geschaffen  worden,  als  wesentlich  Unterscheidendes  erkennen.  Auf 
vielen  finden  wir  nicht  ein  bestimmtes  Ereignifs  der  heiligen  Geschichte  dargcstellL  Fromme  Männer 
und  Frauen,  auch  der  verschiedensten  Zeiten,  durch  die  Kirche  einander  nahe  gerückt,  durch  die 
ewige  Gegenwart  des  himmUschen  Vaterlandes,  (erscheinen  sie  auch  in  des  Einen  vormaliger,  irdischer 
Heimath)  sind  in  heiliger  Rulie  neben  einander  gestellt,  verklärt  ein  jeder  auf  eigenthiimhche  Weise  durch 
den,  der  Alles  ist  in  Allem.  Oder  es  erscheint  Einer  in  der  Umgebung  seines  früheren,  irdisciien  Le- 
bens, in  einem  Augenblicke,  der  diesem  angehört,  einem  solchen  aber,  von  dem  die  heilige  Geschichte 
schweigt,  und  schweigen  mufs,  weil  nichts  in  ihm  sich  zugetragen  hat,  oder  gewirkt  worden  ist,  wovon 
mit  Worten  sich  etwas  aufzeichnen  und  überliefern  liefse;    aber  die  Gestalt,    \ne   sie   nns   vor  das  Auge 

19' 


—     US     — 

cefülirl  wird,  thut  kuiid,  dafs  ein  Geisl  sie  belebe,  getränkl  durch  jenen  Strom  des  Lebens,  der  in  das 
ewige  rinnt.  So  steht  Cäcilia  da,  dem  Gesänge  der  Engel  horchend,  irdisches  Tonwerkzcng  verbrochen 
zu  ihren  Füfsen,  ja,  die  Orgel  ihren  Hunden  entsinkend;  Paulus  und  IMagdalena  zu  ihren  Seiten;  der 
V'erfolger,  dann  das  auser\\ iildtc  Rüstzeug  der  Kirche,  gestützt  auf  das  Schwert,  das  er  in  blinilem  Ijfer 
gegen  die  Heiligen  gezückt,  durch  das  er,  der  Sage  zufolge,  das  Marterthmn  erlitten;  die  Büfserin, 
das  Salbgefäfs  tragend,  einst  das  Werkzeug  eitler  Ueppigkeit,  dann  dem  Dienste  des  HeiTn  geheiligt,  ihn 
zum  letzten,  schweren  Gange  zu  rüsten.  Beiden  sind  zugesellt  der  heilige  Seher  Johannes,  der  Vater 
der  Kirche  Augustinus,  die  begeisterten,  tiefsinnigen  ^'erkündiger  der  Herrlichkeit  von  der  Stadt  Gottes, 
die  im  Anschauen  des  Bildes  unserem  geistigen  Auge  sich  eröffnet;  der  das  Irdische,  Eitle,  Vergänghche 
fremd,  von  ihr  ausgeschlossen  bleibt,  in  die  aber  auch  die  Sünder  eingehen,  duidi  des  Herrn  Gnade  und 
Macht  geheiligt,  der  unsem  nichtigen  Leib  verklärt,  und  gleich  macht  seinem  unvergänglichen  Leibe.  — 
So  sehen  wir  iMaria  sitzen  am  Kornfelde,  in  dem  bescheidenen  Gewände  der  Gärtnerin;  das  Buch  in  dem 
sie  gelesen  im  Arme,  umfafst  sie  liebevoll  den  Knaben,  dessen  Händchen  danach  zu  langen  scheint,  dessen 
ernstes  Auge  in  ihr  reines,  demüthig  gegen  ihn  gesenktes  scliaut,  während  der  kleine  Johannes,  knieend 
auf  dem  Rasen  zu  ihren  Füfsen,  mit  kindlidter  Ehrfurcht  hinblickt  zu  dem  künftigen  ^^  elterlöser.  Flur 
und  Strom  und  Gebirge  von  dem  heitersten  Frühlinge  überglänzt,  erscheint  nur  als  Abglanz  des  himmli- 
schen FrühUngcs,  der  in  dem  Herzen  der  Jungfrau  und  der  Kinder  imvergänglich  wohnt.  Auf  das  Ein- 
dringlichste reden  diese  stummen  Gebilde  zu  uns;  nicht  etwa  als  äufserliche  Zeichen  eines  in  sie  nieder- 
gelegten tieferen  Sinnes,  sondern  als  lebendig  gewordene,  in  Gestalten  erblühte  Gedanken  ihres  begeister- 
ten Schöpfers.  So  aiicli  reden  Töne  zu  uns,  und  möchten,  flüchtig  luid  enteilend  wie  sie  sind,  uns  die 
Herrlichkeit  des  himmlischen  Vaterlandes,  jenes  über  allen  Wechsel  erhabenen,  ewigen  Seins  verkünden; 
sie  gesellen  sich  heiligen  Worten,  sie  in  der  eigenthümlichen  Weise  ihres  im  Klange  sich  erscliliefsenden 
Lebens.  geheimnifsvoU  zu  verklären;  nicht  durch  bedeutsame  Betonung  allein,  sich  hineinbildend  in  das 
Wort,  sondern  dem  Worte  einen  neuen  vergeistigten  Leib  schaffend,  es  auflösend  in  Töne,  und  in  sie 
umgestaltend.  So  ersclieint,  was  wir  IMelodie,  Gesangsweisc ,  nennen;  der  lebendig  gewordene  Gedanke 
des  Tonmeisters,  wie  dort  die  Gestalt  des  Bildners,  und  doch  nur  die  verschlossene  Knospe,  die  in 
harmonischen  Zusammenklängen,  wie  die  Bhnne  in  Farbenglanz  und  Duft,  ihr  inneres  Leben  erst  völlig 
entfallet.  Eben  ein  Entfalten  solcher  Art  ist  das  Dahinströmen  heihger  Gesänge:  das  Erschhefsen  des 
ganzen,  gegen  das  Ewige  gerichteten  Lebens,  niclit  das  Heraustreten  einer  einzelnen,  leidenschaftlichen 
Regimg,  die  eine  gleiche  in  uns  will  anklingen  lassen.  Könnten  heilige  Bilder,  wie  wir  sie  beschrieben, 
auch  in  Tönen  ihr  Leben  ausstrahlen,  sie  würden  so  zu  imserem  Ohre  sprechen;  so  würden  jene 
Töne,  wäre  ihnen  vergönnt  in  sichtbare  Gestalten  sich  zu  verköi-pern,  vor  unser  Auge  hintreten.  Meist 
mit  solclien  Bildern,  fast  mit  solchen  Gesängen  allein,  sclimücklc  die  ältere  Zeit  Kirche  und  (Got- 
tesdienst. 

Aber  heilige  Geschichte  und  Sage  bieten  dem  Künstler  ein  weites,  reiches  Feld  für  seine  Bildun- 
gen. JSicht  immer  ist  es  das  lebendige  BeAvufstsein  einer  heiligen  Gemeinschaft,  das  ihn  begeistert,  das 
zu  Bildern,  zu  Tönen  reift  in  seiner  Seele,  in  ihnen  sich  offenbart.  Es  ist  auch  das  einzelne  Ereignifs 
des  heiligen  Lebens,  das  Leiden  wie  die  That,  die  mannigfachen  Gegend virkungen  menschlichen  Slrebens, 
menschhcher  Leidenschaft,  aus  denen  die  bedeutsame  Begebenheit  sicli  gestallet,  das  ihn  anregt  und 
ergreift.     Der  Heiland,  sein  Kreuz  tragend  und  unter  dessen  Last   erliegend;    die   Mutter   ohnmächtig   da- 


—     149     — 

hingesunken,  Magdalena  aufgelöst  in  ücfen  Schmerz;  der  Streit  roher  ßlulgier  oder  knechtisch  kalter 
Grausamkeit  mit  der  Mutterhebe  bei  dem  Morde  der  Kinder  zn  ßeüdchem;  oder  der  Sieg  des  Glaubens 
über  das  Ileidenthum,  das  vergebliche,  trotzige  Ankämpfen  des  Frevels  gegen  das  IleiUge,  wie  im  Leo 
und  Altila,  oder  Constanlins  Schlacht.  Hier  zeigt  sich  die  einzelne,  mächtig  hervortretende  Regung,  hier 
Ringen  und  Anstreben,  nicht  ^vie  dort,  ruhige  Entfaltung  des  ganzen  inneren  Lebens.  Wird,  ^ie  der 
Bildner,  so  der  Sänger  auf  diese  Weise  ergriiTen,  dann  bildet  diesem  der  Ton  vorzugsweise  sieh  ein  in  das 
Wort;  und  möge  er  auch,  von  demselben  getrennt,  eine  eigenthümliche  Gesangsweise  gestalten,  immer 
hat  diese  in  der  rechten,  bedeutsamen  Betonung  des  ^Vortes,  nicht,  wie  dort,  in  dessen  Vergeistigung 
erst  ilir  Leben  gewonnen.  Bilder,  und  zumahl  Gesänge  dieser  Art,  sind  erst  geschaffen  worden,  nach- 
dem jene  anderen  bereits  in  AÜlIiger  P.eife  zur  Anschauung  gelangt  waren. 

^icllt  etwa,  weil  diese  später  gerelfte  Richtung  auch  erst  nach  jener  andern  Uiren  Anfang  genom- 
men, oder  aus  derselben  als  höhere  Blüthe  sich  entwickelt  liätte.  Beide  A-ielmehr  sind  gleich  wesentUch 
und  noth^endig,  und  zu  gleicher  Zeit  entstanden,  wenn  auch  bei  dem  Vorherrschen  der  einen  die  an- 
dere hinter  ihr  eine  Weile  zurückbleiben  mufstc.  Auf  dem  Gebiete  der  bildenden  Kunst  haben  beide 
aus  jenen  herben  Anfingen  sich  entMickelt,  welche  die  Gestalt  eben  nur  als  Siimbild,  als  äufscres  Zeichen 
des  Gedankens  darstellen;  in  denen  ein  bestimmtes  ^■erhältmfs  der  Gesichtszüge,  ein  gewisser  Zuschnitt 
der  Tracht  oder  deren  Farbe,  ein  mitgegebenes  Beiwerk,  einen  gefeierten  Heiligen  völlig  kennbar  machen, 
Ruhe  und  [Majestät,  heilige  ^Vürde,  durch  Bewegungslosigkeit,  Abgemessenheit  bis  zur  Steifheit,  ausge- 
drückt M-crdcn  sollte;  während  in  jener  anderen  Richtung  die  vereinzelte  Gebcrdc  als  Zeichen  des 
Strebens,  der  Leidenschaft,  der  daraus  entsprungenen  That  gelten  mufstc;  bis  endlich  jene  starren 
Züge  sich  allmählig  belebten ,  jene  steifen  Glieder  sich  anmuthig  entfalteten,  imd  auch  in  heihgcr  Ruhe 
und  Stille  die  herrlichste  Lebensrülle  des  vergeistigten  Leibes  offenbarten;  bis  die  ganze  IMannigfaltigkeit 
der  BcAvegungen  des  strebenden,  des  erliegenden  Leibes  zu  lebendiger  Anschauung  gebracht  wurde. 


Auf  ähnliche  \Veisc  verhält  es  sich  in  der  Tonkunst.  Wie  in  der  Bildncrci  anfangs  die  Gestalt 
Zeichen  des  Gedankens,  so  sollte  hier  die  überlieferte  Gesangsweisc  die  für  alle  Zelt  allgemein  gültige 
Einfassung  heiliger  Worte  sein;  stammte  sie  doch  aus  jenen  ersten,  dem  Quelle  der  Offenbarung  so  viel 
näheren  Zeiten  frommer  Begeisterung.  Eine  bestimmte  Zahl  von  Formeln  sollte  die  Keime  aller  In  jenen 
Welsen  erscheinenden  Mannigfaltigkeit  in  sich  schliefsen;  bis  die  Fülle  des  Klanges  endlich  durchbrach, 
jene  Keime  anfingen  zu  treiben,  und  nun  das  Ueberlicferte  nicht  verdrängt,  sondern  neu  begeisligt,  nacli 
allen  Selten  hin  sprlefsend  nnd  blühend,  ein  Leben  entfaltete,  ein  lange  in  AJmung  gehegtes,  jetzt  zu 
scliöncr  Erfüllung  an  das  Lldit  dringendes. 

^Venn  wir  nun  fragen:  wie  es  docli  geschehen  sei,  dafs  jene  doppelte  Richtung  in  der  bildenden, 
der  Kirche  geweihten  Kunst  fast  neben  einander  entstehen,  ja  ihre  höchste  Entfaltung  in  demselben  gros- 
sen Meister  habe  finden  können,  eben  demjenigen,  dessen  Werke  wir  zuvor  angedeutet;  In  der  Tonkunst 
lUe  Blüthe  der  einen  und  der  anderen  weiter  als  lun  ein  Jahrhundert  auseinander  hege,  beide .  anfangs 
sich  trennen,  bis  zuletzt,  nachdem  es  nur  wenigen,  erlesenen  IMeistern  gelungen,  wenn  sie  aucl»  der  einen 
vorzugsweise  huldigen,  doch  die  andere  auch  In  ihren  Werken  darzulegen,  endhch  die  frühere  in  die 
spätere,  ganz  dem  ^ Veitlichen  ergebene,  in  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinung  versinkende,  völlig  auf- 
geht, und  der  helligen  Tonkimst  nur  ein  zwitterhaftes  Scheinleben  übrig  bleibt:    so  düifen  wir  die  genü- 


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gende  Lösung  dieser  Frage  nur  von  dem  Fori  gange  der  Geschichte  erwarten.  Nicht  abgewiesen,  nur 
an  ihre  Slellc  verwiesen  sei  also  deren  Beantwortung,  welche,  so  hoffen  wir,  durch  jeden  Fortschritt 
der  Darstellung  mehr  wird  vorbereitet  werden.  Hier  galt  es  jene  beiden  Wege  anzudeuten;  verweilen 
dürfen  wir  nur  bei  dem  ersten,  früheren. 

Die  erste  Pflegerin  der  Tonkunst,  die  Kirclic,  wie  sie  das  Ewige  innerhalb  des  Wechsels  und 
Flusses  mensclilichcr  Dinge  zu  bewahren  strebt,  hatte  anfangs,  wie  wir  gesehen,  in  diesem  Sinne  das 
Ueberlieferle,  aus  einer  vor  allen  heilig  gepriesenen  Zeit  stammende,  zu  bewahren,  es  vor  der  Vergäng- 
lichkeit zu  schützen  gestrebt.  Docli  nicht  in  dem  Festhalten  der  Erscheinung  liegt  die  Gewähr  ungestör- 
ter Dauer.  Das  innere  Leben  war  siegreich  durchgebrochen;  in  viel  höherem  Sinne,  als  die  Pfleger 
gewähnt,  war  in  dem  irdischen  Stoffe  ein  Abbild  des  Himmels  kund  geworden.  Ein  solches  war  früher 
schon  in  der  Baukunst  erschienen,  der  Kunst,  welche  der  Kirche  auf  Erden  ihre  Heiligthümer  geschaffen 
halte.  Dircm  innersten  Wiesen  nach  sLeUt  sie,  an  den  härtesten  Stoff  gebunden,  das  Feste,  Ruhende, 
W ohlbegründelc  dar;  so  aucli  sollte  das  Heiligthum  im  Wechsel  des  Lebens  erscheinen.  In  der  streng- 
sten, erhabensten,  grofsartigsten  Gestalt,  bildete,  diesem  Sinne  zufolge,  das  Alterthum  seine  dorischen 
Tempel;  doch  im  Fortgange  der  Zeit  sehen  wir  immer  mehr  das  Strebende,  Bewegliche,  Sprossende 
hineindringen  in  diese  strenge  Buhe.  Die  Säulen,  jene  festen,  starken  Träger,  wachsen  schlanker  empor, 
Abbilder  des  Lebenden  schmücken  immer  zierlicher  ihr  Haupt,  bis  in  der  korinthischen  Ordnung  es  durch 
volles  Laubwerk  umkrönt  wird.  So  keimt  das  Leben  der  Mitte  der  Zeiten  immer  mehr  entgegen.  Nicht 
mehr  Sims  und  Gebälk  tragen  nun  Säulen:  über  festgegründeten  Pfeilern  wölbt  sich,  leicht  schwebend, 
ein  Abbild  des  Firmaments,  die  Kuppel  empor;  in  dem  hellen  Scheine  des  Goldes,  von  welchem  sie 
glänzt,  auf  dessen  Hintergrunde  geheimnifsvoU  die  Gestalten  des  Erlösers  und  seiner  Heiligen  sich  erhe- 
ben, sclieint  ein  inneres  Licht  sicli  zu  entzünden,  die  Gläubigen  zu  überstrahlen.  Nirgend  aber  bedeu- 
tungsvoller und  mannigfaltiger  ersclieint  dieses,  dem  ewigen,  unerschöpflichen  Quelle  in  reicher  Fülle  im- 
mer neu  entspriefsende  Leben  dem  harten  Stoffe  eingeprägt,  als  in  der  deutschen  Baukunst.  Aus  schlan- 
ken Pfeilerbüscheln,  als  den  Stämmen,  scliiefsen.  Zweigen  gleicli,  die  Rippen  des  Gewölbes  zusammen; 
jeden  dieser  Stämme  krönt  mannigfaches  Laubwerk.  Hier  falten,  wie  im  Keime  zart  verschlossen,  Blätter 
sich  dicht  zusammen,  dort  dehnen  sie  schwellend  sich  auseinander,  dort  sehen  wir  sie  üppig  entfaltet. 
Durch  den  Farbenglanz  bunter  Fenster  dringt  Licht  in  das  Heiligthum;  vielfach  harmonisch  verschränkte 
Farbenkreise  erheben  sich  über  den,  auf  glänzendem  Grunde  tlironenden  Gestalten  der  Heihgen;  dem  in 
das  lebendige  Spiel  Dires  Glanzes  sich  versenkenden  Auge  scheinen  hier  die  Blüthen  jener  wunderbaren 
Stämme  sich  immer  aufs  Neue  zu  crschliefsen ,  und  wo  der  letzte  Glanz  der  scheidenden  Sonne  durch 
die  bunte  Fensterrose  noch  in  das  Heihgthum  dringt,  die  wundervollste,  köstlichste  Blume  sich  zu  ent- 
falten. Dem  festgegründeten,  unbeweglich  ruhenden  Baue,  war  so  die  ganze  FüUe  des  bewegten,  keimen- 
den, wachsenden,  blühenden  Lebens  entsprossen;  jener  Kunst,  die  nur  den  Augenblick  zu  haschen, 
ihn  für  die  Dauer  festzuhalten  vermag,  war  es  auf  unbegreifliche  Weise  gelungen  aucli  den  Wechsel  der 
Zeiten  zu  bannen.  In  Heiligihümer  solcher  Art  trat  nun  die  Tonkunst  ein,  die  bewegliche,  flüchtige, 
sclmell  voriibcrrauschende ;  ein  schönes  aber  vergängliches  Leben  gewährten  ihr  diese  weiten,  tönenden 
HaUen.  Je  mehr  sie  aber  sich  fühlte  als  die  lebendige,  diesen  hehren  Räumen  verhehenc  Stimme,  je 
mehr  im  Bewufstsein  ihres  wahrhaften  Wesens  ihre  früheste  Richtung  zurücktrat,  kraft  deren  sie,  nur 
dem  Auge  übersehliche,  dem  Ohre  nicht  vernehmbare,  sinnreiche  und  künstliche  Baue  in  den  Tonzeichen 


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aufzuführen  gestrebt  hatte,  um  so  mehr  mufste,  jener  verwandten  Kunst  entgegenstrebend,  welche  ihr 
die  Heimath  geschaffen,  sie  dahin  trachten,  auch  in  der  Fülle  der  Bewegung  Stetigkeit  und  heilige  Ruhe 
zu  offenbaren;  so  nur  konnte  der  innigste  Bund  zwischen  beiden  gesclilossen  werden.  In  dem  weiten 
Baume  erwacht  zuerst  eine  einzelne  Stimme;  anfangs  die  höheren,  nachhallend  sodann  die  tieferen  ent- 
falten einfach  harmonisch  ihren  Gesang.  Eine  zweite  Stimme  nun,  eine  neue,  eigentliümlicli  verschiedene 
Gesangsweise  gestaltend,  gesellt  sich  der  beginnenden;  durch  sie  geweckt,  antworten  ihnen,  an-  und  nach- 
klingend, die  übrigen  Stimmen,  bis  in  diesem  Wechsel,  dem  Tongewebe,  das  durch  ihn  sich  zusammen- 
flicht, jede  dieser  beiden  Melodieen,  bald  in  der  tiefsten  Stimme  die  übrigen  tragend,  bald  in  der  höclisten 
durch  sie  getragen,  bald  von  ihnen,  nach  den  Worten  des  frommen  Lutlier,  in  himmliscliem  Tanzreihen 
heblich  umspielt,  endlich  ihr  volles  Leben  ausgetönt  hat.  Wenn  unser  Ohr  diese  Klänge  vernimmt,  so 
sclieint  es  als  sehe  imser  Auge  eine  Knospe  schwellend  sich  erschliefsen ,  die  zart  gefärbten  Blätter  sich 
immer  weiter,  immer  reicher,  in  stets  erhöhtem  Farbenglanze  ausdehnen,  bis  die  volle  Rose  ihre  ganze 
Pracht  und  Fülle  vor  uns  entfaltet  hat,  in  Glanz  und  Duft  ihr  holdes  Leben  uns  entgegenströmt.  So 
gewinnen  die  verfliegenden  Töne  Gestalt  und  Dauer;  was  in  den  harten  Stein  gebildet  wir  neben  ein- 
ander vor  uns  sehen,  tritt  in  den  versclüedenen  Augenbhcken  seiner  Entwickelung  vor  unseren  Sinn, 
dafs  wir  es  werden  fülden,  die  Bedeutung  seiner  Gestalt  sich  uns  tiefer  einprägt.  So  nicht  das  Zarteste 
allein,  auch  das  Erhabenste  und  Gröfseste:  das  gcheimnifsvolle  Wehen  des  Geistes,  das  den  ganzen  Bau 
erfüllt,  das  einfache  Grundverhältnifs ,  aus  dem  in  reicher  FüUe  von  Beziehungen  unserem  Auge  ein 
so  wunderbares  Leben  sidi  erschliefst,  durch  das,  als  ihre  Einheit,  diese  unendliche  Mannigfaltigkeit 
gedeutet  wird.  Werden  wechselnde  und  sich  vereinende  volle  Chöre  in  der  ganzen  Pracht  der  Harmo- 
nie vor  uns  laut,  suchen  wir  anfangs  in  diesem  Strome  von  Klängen  vergeblich  in  einer  einzelnen  Stimme 
die  durch  alle  sich  hinziehende  IMelodie,  möchte  dem  überraschten  Hörer  eben  hier  eine  zwar  mächtige, 
klangreiche,  aber  gestaltlose  Tonfülle  entgegentreten:  da  leiht  der  Kirchenton,  wenn  auch  anfangs  nur 
geahnet,  wie  dem  Gemülhe  die  Stimmung,  so  dem  Tonstrome  feste  Gestalt  und  Bedeutung;  nicht  mehr 
formlos  wogt  er  hin  und  her,  ein  geordnetes,  inneres,  ganzes,  dem  Höchsten  eigentliümlicli  zugewandtes 
Leben  strömt  er  aus.  So  ist  nun  der  Bmid  gescldossen  z\vischen  zweien  Künsten,  welche,  an  die  zu- 
meist entgegengesetzten  Stoffe  geknüpft,  ihrem  innersten  \^'esen  nach  einander  zu  widerstreben  scheinen. 
Das  irdische  Heiligtlium  der  Kirche  ist  nicht  mehr  ein  kaltes  Sinnbild  des  Dauernden,  des  Ewigen  in 
dem  Wechsel  des  ZeitUchen,  es  ist  eine  Heiniath  des  Lebens  geworden.  Die  Töne  verhaUen  nicht  mehr 
flüchtig,  ein  leerer  Sinnenrausch;  wie  dem  ewigen  Leben  der  Quell  des  irdischen  zuströmt,  sind  sie,  dem 
Stoffe  nacli  dessen  eigenstes  Bild,  zu  Verkündigern  des  ächten  Seins  geworden;  und  verkhngen  sie  auch 
sclinell  dem  äufscren  Ohre,  ihr  Bild  vermögen  sie  fest  dem  Gemüthe  einzuprägen,  das  sie  in  Glauben 
und  Liebe  bewalirt,  in  Hoflliung  einer  Zukunft  entgegensehend,  wo  einer  sehgen  Gegenwart  ewige  Lob- 
lieder enttönen  werden.  So,  in  einem  doppelten  Gesichte,  hat  das  Wesen  des  himmlischen  Paradieses 
dem  grofson  Dichter  sich  erschlossen.  Einen  klaren  Strom  erbhckt  Dante,  von  dessen  Ufern  tausend 
Blumen  hinunterblicken  und  sich  spiegeln  in  ihn;  leuclitendc  Tropfen  sprühen  aus  ihm  in  die  Kelche 
der  Blumen ;  dann ,  durch  ihren  Duft  erfrischt  und  berauscht ,  tauchen  sie  wieder  liinab  in  die  Fluth. 
Kaum  aber  hat  nur  der  Saum  seiner  AugenUeder  von  jenen  Tropfen  getrunken,  so  thut  in  wachsendem 
Lichte  seinem  immer  mehr  gestärkten  Auge  die  Schaar  der  Seligen  sicli  kund,  einer  weifsen  Rose  gleich^ 
welclie  Duft  des  Lobes  der  ewigen  Früldingssonne  zuliaucht,  in  welche  die  Schaar  der  Engel,  Friede 
bringend,  heiüge  Gluth  anfachend,  den  Bienen  gleich  sich  hinabsenkt. 


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Mön^c  in  diesen  Bildern,  diesen  Worten,  Denjenigen,  wcldie  die  MaelU  der  Tonkunst,  an  sich  er- 
fuhren, auch  nur  einigermaafsen  die  Ueberzeugung  sich  erneut  haben,  dafs  ihres  Zeitlehens  ungeachtet, 
iene  "■ehciuinirsvolle  Kunst  eine  Ahnung,  ja  ein  Abbild  des  Ewigen  zu  gehen  fiiJiig  sei,  und  dofshalb 
in  ihrer  höchsten  Bedeutung  den  INanien  der  heiligen  wohl  verdiene;  dafs  jene  beiden  (ieslaltun- 
gen,  die  eine,  in  der  mannigfache,  reiche,  xnid  dennoch  durch  einen  Grundgedanken  beherrschte  Bczie- 
hun"-en  hervortreten,  die  Fugenkunst;  die  andere,  einfachere,  in  der  eine  eigentbümlirh  gestaltete 
Tonfolge  in  schliciitcn  Zusammenklängen  ihr  Leben  ausströmt,  die  Choralkunst,  aus  innerer  ISotlnven- 
dio-kcit  ihr  vorzüglich  eignen.  So  ist  denn  der  Chorgesang  vor  allein  in  ihr  heimisch;  in  den  frühe- 
sten Zeiten  der  Kirche  und  der  Kunst  dargcslollt  durch  die  ganze  versammelte  Gemeine,  sodann  allge- 
mach durch  eine  besondere,  kunstmäfsig  geübte,  erlesene  Zahl  von  Sängern,  als  Vertretern  der  Gemeine. 
So  erscheint  der  Sängerchor  in  der  Kirche,  woldier  unser  INIeistcr  angehörte,  der  katholischen;  so  wird 
er  in  jeder  Gestalt  der  christlichen  Kirciie  erscheinen  müssen,  welche  die  Tonkunst  nicht  ^iillig  von  sich 
abweis't.  Denn  die  bedingte  Ausschlicfsung  des  Gesanges  der  Gemeine,  die  IS'othwendigkelt  eines  schul- 
gerecht geübten  Chors  führt  jene  Kunst  überall  mit  sich,  mo  sie  als  solche  eintritt  in  den  Gottesdienst. 
Was  wir  also  hier  über  den  Sinn  zu  sagen  haben,  in  welchem  der  Chor  \ertretcr  der  Gemeine  zu 
nennen  sei,  wird,  wenn  auch  zunächst  auf  den  kathohschcn  Gottesdienst  bezüglich,  docli  auf  jede  an- 
dere Gestalt  cliristltcher  Gottesverehrung  ebenfalls  anzuwenden  sein. 

Nicht  darin  allein  aber  besteht  der  Beruf  des  Chores,  die  allgemein  menschliche  Theilnahme  der 
Gemeine  an  dem  jedesmal  gefeierten  Ereignisse  der  heiligen  Geschiclitc,  ihr  dadurcli  gewecktes  Gefühl 
oder  geistiges  Bedürfnifs  darzustellen,  sie  auf  diese  Weise  zu  vertreten.  Betrachten  wir  jenes  Bild  der 
Feier  eines  einzelnen  Festes,  wie  es  in  den  vorangehenden  Blättern  niedergelegt  ist,  so  linden  wir  den 
Chor  oft  der  Gemeine  auch  entgegengesetzt  als  A'erkündigcr  an  dieselbe,  in  einfacher  Erzählung  der 
eben  gefeierten  Thatsache  der  heiligen  Geschichte,  in  geheimnifsvoll  prophetisch  darauf  gedeuteten  Wor- 
ten der  Schrift.  So  in  der  Kunde  von  der  Engel  Erscheinung  am  Grabe  des  Herrn;  so  in  der  Zusam- 
menstellung der  Worte  Jehovah's  an  Moses  aus  dem  feurigen  Busche  mit  \  ersen  aus  den  drei  ersten 
Psalmen;  der  geheimnifsvollen  Deutung  des  Auszugs  aus  Aegypten  auf  den  versöhnenden  Tod  des  Herrn, 
die  Erlösöng  von  der  Knechtschaft  der  Sünde.  W^o  wir  aber  den  Chor  wirklich  als  ^  ertrcter  der 
Gemeine  antreffen,  da  ist  es  seine  Bestimmung,  ihr  allgemein  menschhchcs  Gefühl  zum  frommen  za 
heiligen  und  zu  läutern;  vertretend  zwar,  doch  vorbildlich  nocJi  mehr,  den  tiefsten  Sinn  des  gesun- 
genen Wortes  in  Tönen  zu  entfalten.  In  diesem  Sinne  aber  vertritt  er  die  Gemeine  auf  zwiefache  Weise. 
Im  Gebete  einmal,  wie  in  verschiedenen  Theilen  der  Mefsgesänge,  in  vielen  Besponsorien  und  Aulipho- 
nieen,  wo  die  gebundene  Seele  Hülfe  erfleht  von  oben.  „Du  Lamm  Gottes,  das  der  Welt  Sünde  tilgt, 
erbarme  dich  unser,  gieb  uns  deinen  Frieden  —  Herr  erhöre  mein  Gebet,  und  lafs  mein  Sclireien  vor 
dich  kommen  —  O  Herr  Jesu  Christ,  der  du  an  das  Kreuz  für  ims  gescldagen,  mit  Galle  und  Essig  ge 
tränkt  wurdest,  wir  bitten  dich,  lafs  deine  Wunden  unserer  Seele  Arznei,  und  unser  Leben  sein  —  Ich 
sprach:  Herr  sei  mir  gnädig,  heile  meine  Seele, -denn  ich  habe  an  dir  gesündigt  (Ps.  11,  5.  Vulg.  XL.  4.) 
Herr  kehre  dich  wieder  zu  uns  endlich,  und  sei  deinen  Knechten  gnädig  (Ps.  90,  13;  LXXXIX,  15.) 
Deine  Güte  Herr  sei  über  uns,  wie  wir  auf  dich  hoffen."  (Ps.  33,  22;  XXXII,  22)  Im  Lobgesa nge 
sodann,  wo  die  befreite  Seele,  ihrer  Sehgkeit  bewufst,  in  Tönen  ihr  Entzücken  ausströmt.  „Heilig  ist 
Gott,  der  Herr  Zebaoth,  alle  Lande  sind  seiner  Ehre  voll  —  Ehre  sei  Gott  in  der  Höhe,  und  Friede  auf 


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Erden,   und  den  Menschen  ein  Wohlgefallen  —  Meine  Seele  erhebet  den  Herrn,    und  mein  Geisl  freut 
sich  Gottes  meines  Heilandes."  —  Oft  auch  schliefst  den  Worten  der  Verkündigung  eines  und  das  andere 
unmittelbar  sich  an,  Gebet  oder  Lobgesang.     Zu  allen  Zeiten  nun  hat  man  es  wohl  gefühlt,  dafs  überall 
wo  Worte  der  heiligen  Schrift,  Geschehenes  oder  Künftiges,  oder  göttliche  Geheimnisse  unmittelbar  verkün- 
dend, bei  kirchlicher  Feier  im  Gesänge  zu  uns  reden  sollen,  dieser  ein  besonderes   Gepräge  des  Feierli- 
chen und  Ernsten  tragen  müsse,    das  ihn  von  weltlicher  Tonkunst  völUg  fern  halte.     Niclit  so  bei  dem 
Gebete,  bei  dem  Lobgesange.     Sehr  oft  hat  man  die  Behauptung  gehört,  und  neuerlich  noch  ist  sie  ver- 
nontunen  worden:    die  Kirche  verdanke   der  Oper   gröfsere   Lebhaftigkeit   des  Ausdrucks  ihrer   heihgen 
Gesänge ;  ja  als  ein,  diesen  lange  freventlich  vorenüialtenes  Recht,  hat  man  einen  lebhafteren,  heifserfen  Aus- 
druck der  Gefühle  für  sie  in  Anspruch  genommen.     Allein   wir  werden  gestehen  müssen:    es   sei  nicht 
der  Ausdruck  eines  erregten,  gesteigerten  Gefühles,  es  sei  jener  tiefe,  innige  Friede  des  Gemüthcs,  welcher 
durch    die  Laute    der  Freude,    wie   der  Trauer,    der  Sehnsucht,  wie    des    seligen   Genügcns   hinklingt, 
der  in  ächten,  heiligen  Gesängen  uns  so  wunderbar  entzückt  und  ergreift.     In  unseren  Gemüthem  finden 
sie  durch  jene  menschlichen  Gefülile  Anklang;    für   ims,    aus  unseren  Herzen  heraus  sind  sie  gesungen; 
jener  Friede  aber  ist  es,    der  das  menschliche  Gefülil  in  ihnen  läutert  und  heiligt;    nicht  mehr  der  irdi- 
sclien,  streitenden.  Bedürftigen  Kirche,  der  heiligen  Gemeine  ist  der  Gesang  entströmt.     Die  heilige  Kunst 
würde  fehlen,    wo  wir  jenen  läuternden,    seligen  Frieden  vermifsten;    athmete  er  nicht  in  mensclilichen 
Gefühlen,    so  würden  jene  Töne   als   ein  Fremdes  und  Unverständliches   an  uns   vorüberklingen.     Diese 
Vereinigung  des  MenschUchen,  Irdischen,  mit  dem  Heiligen  und  Ewigen,  wie  sie  in  der  Mitte  der  Zeiten 
uns  offenbart  worden,    hat  von  jeher  in  mannigfachen   Gebilden  die   christliche  Kunst  immer  aufs  Neue 
zur  Anschauung  zu  bringen  gestrebt;  von  hier  aus  die  Tonwelt  anschauend,  in  diesem  Sinne  die  Gesetze 
erkennend,    denen    zufolge  die  Natur  den   einen  Klang  aus   dem   andern   entstehen  läfst,    hat  die  kircb. 
liehe  Tonkunst  die  Formen   gefunden,    in   denen   frei  und  mannigfach   sich  bewegend,    sie  Uire  Werke 
schafft.     Aber,    wird  man  einwenden,    gicbt  es  nicht  viele   kirclihche   Gesänge  —  nur   das  Dies  irae  in 
der  Todteinnesse  zu  nennen  —  in  denen  die  geängstete  Seele  betend  ringt,  jenen  Frieden,  den  verlornen, 
otler  in  seiner  ganzen  Fülle  nie  gekannten  erst  zu  gewinnen?    Wir  mögen  es  so  empfinden,  weil  neuere 
treffliche  Tonmeister  jenen  Gesang  theilweise  in  diesem  Sinne  aufgefafst  haben;    er  ist  aber  gewifslich  in 
demselben  nicht  gedichtet.     Jener  Zeitpunkt,    welchen  alte  Weissagungen   als  den   der  Zerstörung  alles 
Irdischen  voraus  verkündet,  ^vird  in  diesem  Liede  uns  gegenwärtig  vor  das  Auge  gerückt;    aus  Staub 
und  Asche  wieder  erstanden,    sieht  der  Mensch  dem   Richter  sich  gegenüber,    vor  dem  kein  Lebendiger 
gereclit  ist;  jener  furchtbare  Richter  jedoch  ist  zugleich  sein  Erlöser,   der  sein  grofses  Werk  nicht  verge- 
bens begonnen  haben  wird;    so  gewifs  dem  Zeugnisse  des   heiligen  Sängers  und  der  alten  Prophetin  zu- 
folge die  Herrlichkeit  der  Wdt  einst  zusammenbricht,  so  ge\vifs  auch  bleibt  es  dem  Gläubigen,  dafs  Der- 
jenige, welcher  den  reuigen  Schacher  losgesprochen,  auch  ihm  die  siclier  ^erheifsene  Hoffnung  der  Selig- 
ligkeit  erfüllen  werde,    um  die  er  betet.     So  wird  das  heilige  Lied  zu  uns  reden,  wenn  wr  unbefangen 
uns  ilim  hingeben;   in  diesem   Sinne  haben  die  ältesten  Meister  heiliger  Kunst  es  aufgefafst.     AVie  all- 
mälillg,  eben  an  ihm,  die  Aufgabe  sich  gestaltet  habe,  das  Bild  des  Endes  der  Zeiten  anschauhch,  gegen- 
wärtig, vor  uns  hinzustellen;  wie  daraus  das  Bestreben  hervorgegangen  sei,  die  mannigfachen  Bewegungen 
des  Gemüthes  zu  entfalten,  gegenüber  diesem  grofsartigen  Bilde  der  in  Gegenwart,  und  eine  ewige  Ge- 
g-cnwarl.    nacli  dem  Aufliören  alles  Zeillichen,  umgewandelten   Zukunft;    wie  hierin  ein  bedeutsames  Be- 
gegnen   sich  darstelle  jener  beiden  von  uns  zuvor  angedeuteten  Richtungen  —  alles  dieses  wird  an  sei- 

C.  r.  WilitcrfulJ    Juh.   üobricU  u.  i    Z»ilait  r.  20 


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nein  Oift^  küiiflig  uns  ausführlich  beschäftigen.  Dafs  die  Tonkunst,  wie  sie  das  Innerste  und  Tiefste 
menschhchcr  (iefülile  zu  erscldiefsen  vermag,  jenen  Kampf  der  geängsteten,  um  Gnade  ringenden  Seele 
darzustellen  fähig  sei,  ist  nicht  zu  leugnen;  allein  je  besser  sie  es  leistet,  um  so  weniger  wird  sie  auf 
den  JNamen  der  kircli liehen  Anspruch  machen  dürfen.  Die  Kirche  in  ihrer  zeitlichen  Erscheinung 
soll  der  menschlichen  Claubensbedürftigkeit  aufhelfen,  indem  der  Einzelne  in  ihr  das  Bewufstsein  seliger 
Gemeinschaft  des  Glaubens  erneuert.  Von  ihm,  dem  Bedürftigen,  Leidenden,  fordert  sie  also  mit  Recht, 
dafs  in  sie  eintretend  er  sein  besonderes  Leiden  von  sicli  werfe,  und  von  ihr  gehalten  und  getragen 
wird  er  es  am  ersten  vermögen.  Blickt  er,  in  dem  Bewufstsein  der  in  ihr  lebendig  ihm  wieder  aufge- 
gangenen Einigung  mit  Gott  zurück  auf  sein  inneres  Verderben,  seine  mannigfachen,  daraus  hervorgehenden 
Fehler  und  Uebertretungen,  auf  jedes  Leiden,  das  sonst  ihn  drückt,  so  wird  auch  der  herbste  Schmerz 
sich  lindern,  das  geängstete  imd  zerschlagene  Herz,  Dem  gegenüber,  der  es  nicht  verschmäht,  lebendig 
fühlen,  dafs  seine  Nähe  auch  die  bittersten  Thräncn  des  Schmerzes  und  der  Reue  in  Seligkeit  und  Wonne 
auflöst.  Im  gläubigen  Gebete  aber  wird  er  inne  werden,  dafs  ein  solches,  in  der  völligen  Hingebung  des 
eigenen  Willens,  in  dem  seligen,  daraus  erblühenden  Frieden,  die  Gewähr  seiner  Erhörung  schon  in 
sich  trage,  ^"ielfacli  zu  Kampf  und  That  zwar  fordert  das  Leben  auf,  in  schmerzlichem  Ringen  oft  wird 
erst  das  Ewige  gewonnen,  und  wer  hätte  nicht  den  Zustand  eines  verlassenen  und  zerschlagenen  Her- 
zens erfahren,  das  im  Gebete  hindurchzudringen  strebt  zu  Gott?  Ein  solches  aber  bringt  der  Bedürftige 
im  einsamen  Kämmerlein  vor  den  Herrn,  und  nicht  naht  er  mit  demselben,  als  Vertreter  der  Gemeine, 
seinem  Angesichte;  denn  gehört  er  gleich  der  Kirche  an,  sofern  er  um  ihn  weifs,  so  ist  er  doch  aufser 
derselben  indem  er  ihn  erst  sucht,  um  so  weniger  also  zu  ihrem  Vertreter  berufen.  Ein  Abbild  jenes 
Ringens,  w'enn  es  die  Kunst  mis  bietet,  werden  wir  weder  verschmähen,  noch  verwerfen  —  wie  denn 
der  Mensch  sein  Leben  und  Sein  auf  vielfache  Weise  in  der  Kunst  abgespiegelt  anschauen  will;  —  was 
aber  im  Leben  wir  kämpfend  erst  erbauen,  von  dem  wollen  in  der  Kirche  wir  uns  erinnern,  dafs  in 
Gott  wir  es  bereits  haben,  die  Krone  des  Lebens  schon  besitzen,  und  in  diesem  Sinne  erbaut  sein. 

Die  heiligen  Gesänge  der  letzten  Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  tragen  auf  wahrhaft  grofs- 
artige  Weise  dieses  Gepräge  des  Kirchlichen,  und  eben  durch  die  Kirchentöne.  Harte  und  weiche  Ton- 
art, Trübes  und  Heiteres,  wie  wir  bereits  sahen,  sind  auf  eigenthündiche  \'Seise  in  ihnen  gemischt,  untl 
dem  Trübsten  steht  das  Heiterste  wiederum  zunächst.  Eine  zarte  Beweglichkeit  gewinnen  sie  durch  die 
mannigfachen  Anklänge,  welche  die  Verwandlung  einer  Tonart  In  die  andere,  ohne  die  Grenzen  der  ver- 
wandelten zu  s'erlassen,  erzeugt.  Nicht  zufällig,  sondern  Im  Geiste  heiliger  Tonkunst  tief  begründet,  er- 
schien uns  bereits  in  der  den  Kirchentönen  besonders  gewidmeten  Betrachtung,  die  Thatsache,  dafs  alle 
In  denselben  sich  bewegenden  helligen  Gesänge,  harmonisch  entfaltet,  mit  dem  harten  Dreiklange  schlies- 
sen,  sollten  sie  auch  einer  weichen  Tonart  angehören.  Der  harte  Dreiklang,  so  sagten  wir  dort,  in  der 
Folgereihe  der  nach  einander  sieb  erzeiigendcn  Töne  gegeben,  der  helle,  heitere,  ist  nicht  allein  der  ur- 
eprünglldi  naturgcmäfse ;  wenn  er  auf  dem  Grundtone  jeden  Kirchentones  schliefsend  ruht,  stellt  auch 
das  ihm  elgenthümllche  Verhältnlfs  der  grofsen  Terz  den  Leitton  derjenigen  Tonart  dar,  aus  welcher 
wir  den  eben  beschlossenen  Kirchenton,  Im  Kreise  der  Verwandtschaft  aller,  als  zunächst  entsprossen 
denken  müssen;  und  besonders  lebendig  tritt  diese  Beziehung  hervor  In  den  sogenannten  halben,  fast 
durcligängig  vorwaltenden  Schlüssen,  welche  dem  schliefsenden  Dreiklange  den  auf  der  Unterquinte  seines 
Grundtones  ruhenden  (sei  es  der  welche  oder  harte)  vorangehen  lassen.  Nun  hat  zwar,  wenn  wir  alle 
Kirchentöne  aus  der  Versetzung  der  diatonischen  Leiter  als  entstanden  uns  denken,  nur  das  lonisclie  wirk- 


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lieh  einen  Leitton  in  dem  Sinne  unserer  heutigen  Tonkunst;  allein  das  Bediirfnifs  eines  solchen  wurde 
auch  frülierhin  nicht  minder  als  ein  allgemeines  empfunden,  und  wir  hahen  gesehen,  dafs  die  mixolvdischp 
Tonart  durcli  Verwandlung  in  die  nächst  verwandte  ionische  ihn  finde,  die  dorische  ohne  Verlust  ihrer 
eigenthümhchen  Tonverhältnisse  ihn  gewinne,  die  aeolisclie  an  sich  ihre  Eigenthümlichkeit  durch  ihn 
nicht  cinbüfse,  wenn  sie  auch  mit  ihm  um  so  öfter  in  das  Dorische  hinüberklinge;  dafs  nur  der  phrygi- 
schen  —  dem  letzten  Kirchentone  in  der  Reihe  der  Verwand tscliaften  aller,  —  er  fehle,  dafs  jedoch  An- 
und  riinüberkhngen  des  Phrygischen  in  das  Ionische  durch  unmittelbare  \'crschmclzung  der  Tonreilien 
beider  sich  bilde.  In  allen,  bis  auf  eine,  den  Kreis  der  Verwandtschaften  beschlicfsende,  ist  er  daher 
wirkhcli  vorhanden;  und  hören  wir  in  den  Schlüssen  heihger  Gesänge  ihn  anklingen,  so  klingt  in  ihm 
auch  das  Gefühl  in  »ins  an,  dafs  eine  jede  Tonart  auf  einen  höheren  Ursprung,  ein  allen  gemeinsames 
Band  zurückweise;  dafs  der  heilige  Gesang,  der  in  ihr  sich  bewegt,  habe  er  auch  sein  Eigenstes  in  ihr 
ausgetönt,  den  Grundton  seines  Gefühles  in  ihr  gefunden,  doch  nicht  sich  lostrennen  und  vereinzeln,  son- 
dern in  diesem  gehelmnifsvoUen  Anklingen  demüthig  verhallen  wolle.  So  weht  also  Demulli  und  heili- 
ger Friede,  die  Seele  jedes  wahren  Gebetes,  durch  alle  heiligen  Gesänge,  deren  Inhalt  ein  solches  ist; 
in  diesem  Sinne  vertritt  hier  der  Chor  die  Gemeine. 

Auf  ähnliche  Weise  auch  verhält  es  sich  mit  heiligen  Lobgesängen.  Denn  ist  in  den  Kirchen- 
tftnen  dem  Herbsten  das  Heiterste  nahe  verwandt,  so  zieht  auch  wiederum  durch  das  Heiterste  sich  das 
Gefülil  heihger  Sehnsucht,  frommen  Ernstes,  ja  das  ßewufstsein  tiefer  Bedürftigkeit,  demütliigcr  Zerknir- 
schung. Wie  mächllg  und  grofsartlg  also  auch  der  Gesang  in  ihnen  dahertöne,  er  wird  nie  —  dem 
Siime  eines  frommen  Lobliedes  entgegen  —  in  wilden,  weltlichen  Jubel,  in  stolzen  Triumphgesang  aus- 
arten können,  \lele  jener  aus  der  heiligen  Schrift  in  die  kirchliche  Feier  aufgenommenen  Lobgesänge, 
ja  die  meisten,  erinnern  aber  zugleich  wiederum  an  geheimnifsvolle,  wunderbare  Ereignisse  der  heiligen 
Geschichte.  So  das  Dreimalheillg ,  der  Gesang  der  Cherubim  in  dem  Gesichte  des  .lesaias,  das  Gloria, 
das  Lobhed  der  Engel  bei  der  Geburt  des  Herrn,  das  Magnificat,  der  demüthig- fromme  Lobgesang  der 
Maria;  so  die  Psalmen  Davids,  die  aus  ihnen  für  kunstreiclieren  Gesang  zusammengestellten Responsorien 
und  Antiphonieen.  Hier  also,  wie  in  jenen  prophetisch  verkündenden  Gesängen,  ertönt  wiederum  eine 
.Stimme  von  Oben,  sei  es  der  himmlischen  Heerschaaren ,  sei  es  eines  selig  Vollendeten  aus  alter  Zeit, 
dessen  Geist  lebendig  fortlebt  in  der  Gemeine,  dessen  frommer  Gesang,  für  alle  Zeit  güllig,  in  ihr  fort- 
lönt,  ihr  das  Wort  des  Lobliedes  leiht,  das,  wie  zu  ihr  geredet,  so  wiederum  aus  ihr  laut  wird.  Meist 
die  dorische  Tonart,  die  feierlich  ernste,  finden  wir  bei  solchen  Lobliedern  angewendet,  und  nicht  ohne 
Bedeutung  ist  es,  dafs  in  den  Messen  jenes  Jahrhundcris  das  Gloria  mit  den  Worten:  „Ehre  sei  Gott 
in  der  Höhe"  durchaus  von  dem  Liturgen  allein  angestimmt,  von  dem  Chore  aber  erst  mit  den  Worten 
„und  Friede  auf  Erden,"  aufgenommen  wird,  so  dafs  hier  der  höclisle  Ton  des  Lobliedes  nicht  erklingt, 
und  erst  dem  Dreimalheihg  bei  der  Weihung  des  Brotes  und  Kelches  aufbehalten  bleibt;  wogegen  in 
die  Antiphonleen  und  Responsorien  der  Wellinachtszeit ,  als  ihr  besonders  angehörig,  das  Gloria  um  so 
festlicher  hineintönt  bei  der  Verkündigung  von  der  Geburt  des  Erlösers.  Mit  zarter  Rücksicht  ist  überall 
die  Eigenthümhchkeit  jedes  Festes  beachtet,  und  auch  bei  Lobliedern  wiederum  vertritt  der  Chor  die 
Gemeine  auf  würdige  Weise. 

So  bildete  die  heilige  Tonkunst  um  die  letzte  Hälfte  des   sechzehnten  Jahrhunderts  in  Italien  sich 
eigenthümlich  aus,    und  erfreute  sich  einer  Blüthe,   deren  schönere  Entfaltung  ohne  Zweifel   (wie  bereits 

20* 


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angedeutet  worden)  wir  den  grofsen  kirchlichen  Bewegungen  zu  Anfange  des  Jahrhunderts  zuschreiben 
müssen,  deren  Rückwirkung  auch  bis  dahin  sich  erstreckte,  wo  die  Kirclienverbesserung ,  wie  in  Italien, 
niclit  eindrang.  Der  schöne,  reine,  strenge  Sinn,  mit  welchem  jene  Kunst  in  eine  Zeit  mannigfachen 
sittliclien  Verderbens  eintrat,  mufste  jedoch  bald  der  Weltlust  und  Prachtliebe  weichen,  eben  wie  ein 
verkehrtes  und  mifsvcrstandenes  Trachten  nach  Wiederbelebung  des  klassischen  Alterthums  auf  jene 
schöne  Begeisterung  für  dasselbe  folgte,  die  dessen  reiche  Lebenskeime  zu  neuer  Blütlie  für  die  Gegen- 
wart jener  Tage  gezeitigt  hatte.  Ehe  man  noch  völlig  sich  bewufst  geworden  war,  was  man  erstrebe, 
hatte  die  Zeit  schon  einen  Umschwung  herbeigeführt,  die  Ansichten  verwirrt,  und  mit  der  ersten  Hälfte 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  (wir  dürfen  es  behaupten)  hatten  namentlich  die  Kirchentöne  aufgehört,  le- 
bendige Organe  der  Darstellung  zu  sein,  und  waren  für  die  Mehrzalil  nur  eine  äufsere,  willkührlich  be- 
engende Schranke  geworden.  Widersprechend,  wie  es  scheinen  mag,  dennoch  ist  es  Avahr:  wir  haben 
den  Geist  der  Kirclieutöne  in  späterer  Zat  fast  nur  bei  Denen  zu  suchen,  welche  äufserlich  von  denselben 
sich  lossagten.  Denn  der  Begeistermig  für  den  heiligen  Gesang  sich  frei  überlassend,  eigneten  sie  oft 
unbewufst  die  elgcnthümlichen  Züge  friUierer  kirchlicher  Kunst  sich  an ;  wogegen  Solchen,  die  den  alten, 
glelcli  unvollkommenen,  als  von  ihnen  mifsverstandenen  Vorschriften  sich  anschlössen,  und  nicht  in  leben- 
diger Entfaltung,  sondern  strenger  Aussonderung  des,  ihrer  Ansicht  nach  Fremdartigen,  das  acht  Kirchliche  zu 
leisten  wähnten,  in  solcher  Verneinung  die  wahre  Bedeutung  des  von  ihnen  Erstrebten  verloren  gehen  mufste. 
In  DeutsclJand  schien  durch  lebendige  Verknüpfung  des  Gesanges  der  Gemeine  mit  den  Leistungen  eines 
kuustgeüblcn  CJiores,  von  denen  wir  in  den  VVerken  trefflicher  evangelischer  Meister  bis  zu  Anfang  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts  überall  Spuren  finden,  der  heiligen  Tonkunst  im  Bunde  mit  dem  Gottesdienste  ein 
secgenreiches  Morgenroth  anbrechen  zu  wollen.  Allein,  wie  eine  scliwere,  das  innerste  Lebensmark  aufzeh- 
rende Seuche  ras'te  in  diesem  Jahrhunderte  der  verderblichste  Krieg  in  unserem  Vaterlande ;  und  als  nach 
dreifsig  Jahren,  w  ie  aus  einem  düsteren,  verwirrenden  Traume  es  wiederum  erwachte,  da  war  die  Erinnerung 
an  das  Meiste,  was  man  frülierhin  erstrebt,  verdunkelt  und  erloschen,  die  schönsten  Keime  zerknickt  und 
zertreten,  und  nicht,  wie  früher,  im  lebendigen,  geistigen  Verkehr,  sondern  im  Bewufstsein  der  Blaltigkeit 
und  Erschöpfmig  suchte  man  bei  Fremden  Heil,  willig  theilnehmend  an  dem  Verderben,  das  in  die  Kinist 
dort  eingedrungen  war.  Glorreich  ragen  einzelne  edle  IMeister  hervor  in  diesen  Tagen  der  Verwirrung, 
Lebenskeime  aus  früherer  Zeit  fortpflanzend,  entfaltend,  bis  nahe  hin  zu  unseren  Tagen  in  ihren  Nach- 
folgern und  Schülern  das  Dasein  einer  heiligen  Kunst  bewährend,  eine  frische  Lebensblüliie  derselben 
zeitigend,  zu  unserem  Bewnnidem,  unserer  Begeisterung.  Aber  in  den  herrlichsten,  tiefsinnigsten  dieser 
IMeister  haben  oft  ihre  Landesgenofsen  und  Mitlcbenden,  entweder  nur  die  Gewandheit  der  Hände,  die 
Fertigkeit  in  dem  Machwerke  angestaunt,  oluie  einen  Blick  in  ihre  von  dem  Höchsten  ergriffene  Seele 
zu  thun;  oder  sie  haben  Fremden  überlassen  Ihren  ganzen  Werth  zu  erkennen,  die  Entfaltung  einer 
Kraft  zu  fördern,  die  in  dem  Vaterlande  niemals  vielleicht  zu  vollem  Bewufstsein,  zu  genügender  Ent- 
wickelung  gediehen  sein  würde,  obgleich  sie  aus  ihm  stammt,  ihm  wahrhaft  angehört. 

Doch,  es  genüge  hier  die  flüchtige  Andeutung  der  äufseren  Elntvirkungen ,  welche  dazu  beitrugen 
die  Zelt  einer  schönen  Blüthe  kirchlicher  Kunst  in  Italien,  wie  in  Deutschland  zu  verkürzen;  haben  wir 
ja  die  nähere  Betrachtung  und  Erörtening  derselben  schon  zu  Anfange  unseres  Abschnittes  dahin  ver- 
wiesen, wo  unsere  Darstellung  bis  zu  den  späteren  Lebensjahren  Gabrieli's,  seiner  Theiliiahine  an  der 
überhand  nehmenden,  veränderten  Richtung  seiner  Zeit-  und  Kunstgenossen,  seinem  mäclitigen  Einflüsse 


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auf  dieselbe,  vorgerückt  sein  wird.  Hier  haben  wir  nur  zu  bewahrheiten,  was  xuvor  nur  als  allgemeine 
Behauptung  hingestellt  wurde:  dafs  Gabrieli  in  der  früheren,  dem  sechzehnten  Jahrhunderte  angehörigen 
Zeit  seines  Kunsllebens,  jene  eigenlhümliche,  schöne  Blüthe  heiliger  Tonkimst  im  älteren  Sinne  —  deren 
Wesen  wir  so  eben  zu  entwickeln  versuchten  —  in  seinen  Werken  darstelle.  Nicht  unwillkommen 
wird  dabei  eine  Vergleichung  sein  zwischen  seiner  Art  und  Kunst,  und  der  von  zweien  seiner  Zeitgenossen, 
die,  um  Weniges  nur  älter  als  er,  öfter  jedocli  von  der  Gegenwart  genannt  werden  —  des  Römers  Palestrina, 
des  Niederländers  Orlando  Lasso.  Nicht,  damit  unser  Meister  etwa  ihnen  vorangestellt  werde,  sondern 
damit  beurtlieilt  werden  könne,  was  in  seinen  Werken  der  Zeit  angehört  habe,  was  den  besten  Meistern 
derselben  gemeinsam,  was  dagegen  ihm  und  einem  jeden  dieser  beiden  andern  eigenthümUch  gewesen 
sei.  Nur  so  werden  wir  den  Standpunkt  mit  Sicherheit  erkennen,  welchen  Gabrieli  in  seinem  Zeitalter 
einnimmt. 

Gabrielas  frühere  Werke  erscliienen,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  zu  Venedig  in  den  Jahren  15S7 
und  1597;  denn  jene  ältere  Sammlung  des  Cosimo  ßottegari  vom  Jahre  1575,  da  sie  nur  weltliche  Ge- 
sänge enthält,  bleibt  an  diesem  Orte  unserer  Betraclitung  fem,  wo  uns  die  heilige  Tonkunst  ausschliefsend 
beschäftigt.  Sie  enthält  nur  ein  IMadrigal  Gabrieh's,  die  fünfstimmige  Behandlung  eines  scherzhaften  Ge- 
dichtes, der  Klage  eines  Alten,  dafs  in  jungen  Jahren  er  wohl  Gmist  bei  den  IMädchen  gefunden,  nun 
aber  jede  ihn  lieifse  ein  anderesmal  wiederkommen.  In  der  Sanunlung  von  1587  hat  unser  Kleister  den 
Nachlafs  seines  Oheims  und  Lehrers  Andreas  zusammengestellt  mit  einigen  seiner  eigenen  Werke.  Es 
sind  deren  zehn,  fünf  geistlichen,  und  eben  so  viel  weltlichen  Inhalts;  von  diesen,  wie  jenen,  eines  sechs-, 
sieben-,  acht-,  zehn-  und  zwölfstimmig,  eine  Stimmenzahl,  in  der  sie  sich  den  übrigen  sieben  und  sechzig 
Gesängen  des  Andreas  anschliefsen.  Der  erste  Thell  der  symphoniae  saci-ae  des  Johannes  Gabrieli,  1597 
zu  Venedig  erschienen,  und  den  vier  Söhnen  des  Marcus  Fugger  als  Ilochzeitgabe  von  ilun  zugeeignet, 
enthält  sechs  und  vierzig  Gesänge  und  siebzehn  Instrumentidstücke ;  diese  zu  acht,  zehn,  zwölf  und 
fünfzehn  Stimmen,  selten  mit  Angabe  der  anzuwendenden  Instrumente;  jene  mit  Anwendung  der  schon 
in  der  früheren  Sammlung  gebrauchten  Stimmenzahl,  daneben  aber  je  einer  noch  zu  vierzehn,  fünfzehn 
und  sechzehn  Stimmen.  In  beiden  Werken  sind  vier  andere  Gesänge,  drei  zu  sieben,  und  einer  zu  acht 
Stimmen,  nicht  enthalten,  welclie  wir  später  in  deutschen  Sammlungen  antreffen;  zwei  in  dem  zweiten 
Theile  der  zu  Nürnberg  1598  imd  1600  bei  Paid  Kaufmann  erschienenen  sympheniae  saeme,  die  beiden 
andern  in  dem  zweiten  Theile  des  von  Schadaeus  zu  Strafsburg  l&ll  —  1617  lierausgegebenen  promp- 
tuarii  miisici.  Sic  tragen  jedocli  auf  das  Unverkennbarste,  wie  das  Gepräge  der  Werke  unseres  IMelsters 
überhaupt,  so  insbesondere  das  seiner  früheren  Zeit;  auch  werden  wir  an  geeignetem  Orte  die  Gründe 
darlegen,  wefshalb  sie  muthmaafsUch  in  die  erwähnten  venedischen  Sammlungen  nicht  mit  aufgenommen; 
sind.  Auf  eigene  Anschauung  von  sieben  und  siebenzig  Tonstücken  Gabrieli's  gründen  wir  hienacli  unser 
Ürlheil  über  das  Wesen  seiner  Kunst  in  seiner  früheren  Zeit;  doch  beschränken  wir  uns  hier  auf  seine 
Gesangstücke,  einem  eigenen  Abschnitte  dasjenige  vorbehaltend ,  was  über  die  Instrumentalmusik  seiner 
Zeit  überhaupt,  und  seine  Leistungen  in  derselben  insbesondere  zu  sagen  ist 

Die  fünf  geistlichen  Gesänge  der  Sammlung  von  1587  bewegen  sich  in  drei  Kirchentönen:  dem 
aeolischen  und  phrygischen  in  ihrer  ursprünghchen  Tonhöhe  und  Versetzung,  dem  dorischen  in  dieser 
letzten  Gestalt,  ^^ir  heben  unter  ihnen  di-ei  heraus,  um  durch  sie  erkennen  zu  lernen,  wie  unser  Mei- 
ster die  Kirchenlöne  behandelt  habe,  \\\c  Fugen-  und  Choralkunst  bei  ihm  sich  darstelle. 


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Die  beiden  ersten  Verse  des  seclis  und  aclitzigstcn  Psalms  ')  (nach  Luthers  BibelüberseUung;  Vulg. 
85)  sind  der  Gegenstand  des  sechsslimmigen  unter  diesen  drei  Gesängen.  „Neige  deine  Ohren  Herr,  und 
erhöre  mich,  denn  ich  bin  arm  imd  elend;  bewahre  meine  Seele,  denn  ich  bin  heilig.  Deinem  Knechte 
hilf  dn,  mein  Gott,  der  sich  verläfst  auf  dich."  Die  Tonart  ist  die  versetzte  acolische;  sie  erscheint  in 
dem  tieferen,  ursprünglich  der  dorischen  angehörigcn  Umfange,  daher  denn  auch  neben  der  Grundstimme 
und  zweien  Tenoren,  zwei  tiefe  Alte  und  ein  Sopran  in  den  mittleren  und  liefen  Tönen  das  ganze  Ge- 
webe bilden.  Jeder  lliilfte  einer  jeden  einzelnen  Zeile  der  biblischen  Worte  ist  eine  besondere  Gesangs- 
weise angeeignet;  nachdem  sie  in  allen  Stimmen  erschienen,  mannigfach  in  ihnen  verwoben  worden  ist, 
und  jene  nunmehr  zu  einem  Schlufsfalle  sich  hinwenden,  schlicfsen  die  Worte  der  andern  Iliilfle  der  Zeile 
mit  einer  neuen  Gesangsweise  sich  an,  die  aus  der  ersten  gleichsam  hervorblidit,  und  entweder  sich  ihr 
noch  verbindet,  oder  einem  neuen  Gewebe  als  Grundlage  dient,  so  dafs  nirgend  ein  Stillstand  in  dem 
Gesänge  eintritt,  so  wenig  man  aucli  die  zu  dem  Versländnisse  erforderlichen  Ruhepunkte  vermissen  wird. 
So  schreitet  das  Ganze  fort  bis  zu  dem  halben  Schlüsse  in  den  liavten  Dreiklang  von  D,  womit  es  en- 
det, einer  Zurückweisung  auf  das  versetzte  Dorische,  in  dessen  ursprünglichen  Grenzen,  wenn  auch  mit 
veränderten  Tonverhältnissen,  der  Gesang  sich  bewegt  hat.  Diese  Art  der  Behandlung,  wie  sie  eben  be- 
schrieben worden  ist,  schliefst  den  heiligen  Worten  so  bedeutsam  dadurch  sicli  an,  dafs  jedem  einzelnen 
Satze,  jedem  Wortgebilde,  dafs  wir  so  sagen,  das  Tongebild  in  welchem  es  laut  wird,  so  eigends  ent- 
spricht, den  Sinn  desselben  in  Tönen  darlegend  und  entfallend;  das  Tongewebe,  auch  von  den  Worten 
«'ctrennt,  bleibt  so  noch  verständlich,  wie  nahe  sonst  es  ihnen  sich  anschliefst.  Wie  im  frommen  Gebete 
der  Erlösungsbedürftige  in  demütliiger  Beugung  sich  niederwirft  vor  Dem,  von  welchem  allein  die  Hülfe 
kommt,  dann  aber  vertrauend  und  sehnsüchtig  das  Auge  zu  ihm  erhebt,  so  auch  beugt  die  Gesangsweise 
im  Beginne,  nachdem  sie  mit  der  Quinte  angehoben,  sich  herab  in  den  Grundton,  und  wenn  sie  eine 
Weile  still  in  ihm  gerulit,  erhebt  sie  durch  seine  kleine  Terz  sich  hinauf  zu  seiner  kleinen  Sexte,   durch 


'), 


=SE^^ 


In 


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z==z=z=:fi:t:: 


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-  -  cli  - 


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tu  -   -   -   -  am 


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na      Do  -  mi 


:t 


cU  -  - 


:0:: 


etf. 


■  no        Do  •  mi  ■  ne      ou  - 


—     159     — 

sie  den  Schlufsfall  findend  in  seine  Obeiquarfe,  aber  aucli  die  Tonart  des  Ganzen  durch  dieses  Aufstre- 
ben auf  das  Nachdrücklichste  bezeichnend.  Beides  nun,  das  dcmüthigc  Hinsinken,  das  vertrauensvolle 
Aufblicken,  wird  in  den  einzelnen  Stimmen,  wie  eine  der  andern  sich  allmählich  anschlicfst,  auf  bedeut- 
same Weise  verwoben,  und  wie  eben  beides  allezeit  mit  einander  ist,  das  eine  durch  das  andere  auf  das 
Eindringlichste  hervorgehoben  wird,  erscheint  in  dem  Ganzen  das  bedürftige  Flehen,  die  heiligende,  trö- 
stende Nähe  des  Herren,  das  Gebet  und  seine  Erhörung.  auf  eine  Art  vereint,  wie  es  nur  der  Tonkunst 
möglich  ist.  Auch  den  eigenthümlichen  Klang  einer  jeden  Stimme  auf  den  verschiedeneu  Stufen  ihres 
Umfanges  finden  wir  in  diesem  Gesänge  geistreich  benutzt,  und  lernen  daran  erkennen:  nicht  die  Ton- 
höhe an  sich,  sondern  das  Verhältnifs  jedes  erklingenden  Tones  zu  dem  Grundtone  der  Stimme,  welcher 
er  angehört,  bilde  die  besondere  Farbe  seines  Klanges.  So,  gegen  den  Schlufs  des  Ganzen,  scheint  der 
Tenor  in  seinen  höheren  Tönen  die  übrigen  Stimmen  zu  überflügeln;  defshalb  nur,  weil  sie  in  ihren 
mittleren  Tönen  einhergehen,  während  sie  doch  über  ihm  sich  bewegen. 

Wichtiger  nocli  wegen  der  Behandlung  der  darin  vorheiTSchenden  Tonart,  der  versetzten  phrygischen, 
und  seines  ganzen  inneren  Baues,  ist  der  nächstfolgende  siebenslimmige,  aus  verschiedenen  Psalmenversen 
zusammengesetzte  Gesang.  ')  ,,Icli  sprach:  Herr  sei  mir  gnädig  —  heile  meine  Seele,  denn  ich  habe  an 
dir  gesündigt  —  Hen',  kehre  dich  wieder  zu  uns  endlich,  und  sei  deinen  Knechten  gnädig  —  deine  Güte 
Herr  sei  über  uns,  v4e  wir  auf  dich  hoffen."  —  Bald,  wie  zu  Anfange,  tritt  die  künslüche  Stimmenver- 
flechtung des  fugirten  Styles  in  ihm  hervor;  dann  breitet  eine  Reihe  von  Dreiklängen,  zart  ausgehaucht 
zuerst,  dann  mächtig  anschwellend  vor  uns  sicli  ans,  zusammengewebt  dennoch,  wie  genauere  Prüfung 
zeigt,  aus  Nacliahmungen  in  den  einzelnen  Stimmen,  welche  durch  nachdrückUche  Betonung  des  Wortes 
„sann/'  heile,  (meine  Seele)  jenen  einfachen  Zusammenklängen  in  ihrem  Anwachsen  und  Verhallen  ein 
eif'entliüinliclies  Leben  verleihen;  dann  wieder  rufen  alle  Stimmen,  zu  vollem  Chore  vereint,  die  heiligen 
Worte  uns  kräftig  entgegen,  oder  die  tieferen  hallen  in  zarten  Klängen,  betend,  demüthig  bekennend,  wie- 
der, was  in  den  höheren  zuvor  auf  gleiche  \^  eise  erklungen  war.  Ein  hoher,  ein  tiefer  Chor,  in  einander 
eingreifend,  sondert  sicli  dann  aus,  bald  rhythmisdi  bewegt,  bald  den  breiten,  mächtigen  Strom  der  Har- 
monie ergiefsend  in  die  Klänge  des  andern,  und  mit  ihm  sodann  in  feierlichem  Scldusse  verhallend. 
Wie  der  Text  dieses  Gesanges  zusammengewebt  ist  aus  ^'erscn  verschiedener  Psalmen,  des  ein  und  vier- 
zigsten, neunzigsten,  drei  und  dreifsigsten,  alle  jedoch  ihrem  Sinne  nach  auf  einander  bezüglich  sind,  so 
hat  auch  unser  INIeister  sein  Werk  vor  vielen  gleichzeitigen  dadurch  ausgezeichnet,  dafs  es  bestimmte 
Ruhepunkte  enthält.  Nicht  wie  sonst,  wird  durch  eine  einzelne  in  den  Schlufsfall  eintretende  Stimme, 
die  dem  folgenden  Harmonieengewebe  das  Grundbild  gewährt,  der  Strom  des  Gesanges  liier  ohne  äufsere 
Unterbrechung  fortgelcitet,  sondern  das  Folgende  stellt  sich,  völlig  gesondert,  neben  das  Vorangegangene; 
selbständig  zwar,  aber  in  sinniger,  harmonischer  Beziehung  dennoch  bedeutsam  mit  ihm  verbunden.  So 
bewegt  der  erste  Abschnitt  des  Gesanges  sich  in  der  versetzten  phrygischen  Tonart  (A  mit  der  kleinen 
Secunde);  ^^ie  nun  seinen  Worten:  „Ich  sprach:  Herr  sei  mir  gnädig"  die  folgenden  sich  anreihen  „heile 
meine  Seele,"  eben  in  jener  Reihe  von  Dreiklängen,  deren  wir  zuvor  gedachten,  beginnt  der  Gesang  in  den 
mittleren  Stimmen  mit  dem  zart  ausgehauchten  Dreiklange  von  C,  gegründet  auf  die  kleine  Oberterz  von 
dem  Grundtone  des  unmittelbar  ihm  vorangegangenen  Zusammenklanges  (auf  A  mit  der  grofsen  Terz.) 
Dadurch  zugleich  tönt  uns  die  der  phrygischen   Tonart   eigene,   mixolydische  Beziehung  entgegen;    denn 


')   S.  lieispiebammjung.      /•    -f-    1- 


—     160     — 

dorn  in  der  natürlichen  Tonreihe  zum  zweiten  Male  geschärft  wiederkehrenden  Grundtone,  wenn  er  die 
crofse  Terz  (den  phrygisclien  Grundton)  aus  sich  erzeugt  hat,  folgt  sodann  seine  Oberquinte,  die  kleine 
Terz  des  ihr  vorangegangenen  Tones  (der  mixolydischc  Grundton),  und  in  dieser  Folge  berulit  beider  Tonar- 
ten Verwandtschaft,  wie  schon  früher  entwickelt  worden.  Heller,  kräftiger  bricht  in  das  Phrygisclie  seine 
ionische  Beziehiuig  hinein,  die  seines  Grundtons  zu  seiner  grofscn  Unlcrterz;  sie  hat  unser  Meister  dem 
Scldufssatze  seines  Gesanges  vorbehalten;  milder  ertönt  die  mixolydischc,  hier  wie  eine  Friedensalmung, 
welclie  dem  Betenden,  Heilung  seiner  Seele  Erflehenden,  die  Erhörung  seines  Gebetes  verkündet 

Aber  auch  den  Ausdruck  des  Gefüliles  tiefer  Verlassenheit,  wo  des  Herrn  Nähe  mangelt,  hat  Ga- 
brieli  für  die  Worte  gefunden:  „kehre  dich  wieder  zu  uns  endlich  Herr,"  imd  ebenfalls  durch  eine  be- 
sondere, seiner  Zeit  ungewöhnliche,  liarmonische  Beziehung.  Oefter  im  Fortgange  dieser  Darstellung  ist 
bemerkt  worden,  dafs  ein  jeder  Sclilufs  in  den  Kirclientönen  durch  den  harten  Dreiklang  erfolge,  dafs 
in  diesem  eine  Beziehung  auf  die  nächstvorangehende  Tonart  anklinge,  ein  gemeinsames,  alle  umschlingen- 
des Band  darin  kund  werde.  Hier  schliefst  Gabricli  den  weichen  Dreiklang  auf  E  an  den  vorangehen- 
den gleichartigen,  auf  A;  mit  der  kleinen  Terz  dieses  lang  austönenden  Zusammenklanges  ist  jene  wohl- 
lliätige,  beruhigende  Bczicliung  ausgetilgt,  die  Töne  verhallen,  wie  in  fruclitloser,  getäuschter  Sehnsucht: 
ein  Gefühl,  zu  herbe  vielleicht  für  ein  frommes  Gebet,  wäre  es  nicht  vorübergehend,  und  gemildert  bald 
durch  das  Folgende.  Denn  unser  Meister  läfst  alle  Töne  seines  Zusammenklanges,  den  höchsten  (e)  aus- 
genommen, verklingen;  diesem  aber,  der  eine  Weile  einsam,  und  nun  auch  ersterbend  fortgetönt  hat,  baut 
er  wieder  den  harten  Dreiklang  von  A  unter,  den  frülieren,  herben  Eindruck  sänftigend. 

Die  heiterste  Verwandtschaft  des  Phrygisclien,  die  ionische,  .inklingen  zu  lassen,  hat  Gabrieli 
dem  Schlüsse  seines  heiligen  Liedes  vorbehalten:  da  aber  tritt  sie  aucli  A'erklärend  ein,  das  Ganze  mit 
himmlischem  Lichte  überglänzend.  Es  ist  bei  den  Worten:  „deine  Gnade  sei  mit  uns  Herr,  wie  wir 
auf  dich  hoffen. "  Auch  hier  wiederum  vereint  sich,  dem  Kunstwerke  das  Gepräge  des  Heiligen,  Kirch- 
liclien  verleihend,  Gebet  und  Erhörung:  das  Flehen  um  göttliche  Gnade  wird  ausgesprochen,  und  schon 
umwallt  auch  ihr  reiner,  beseligender  Strom  den  Betenden.  Zu  wiederholen,  wie  jene  ^'erwandtschaft 
beider  Kirchcnlöne  sich  darstellt,  wäre  nicht  erforderhch,  da  es  erst  kurz  zuvor  gesagt  worden  ist;  doch 
knüpft  an'  die  Art,  wie  sie  eben  hier  eingeführt  wird,  sich  eine  für  Gabrieli's  Art  und  Kunst  nicht  un- 
wichtige Betrachtung,  welche  daher  alles  um  ihrcntAvillen  Wiederholte  entschuldigen  möge. 

Der  Gesang,  den  wir  so  eben  betrachten,  bewegt  sich  in  der  versetzten  phrygischen  Tonart; 
in  F  also,  als  der  grofsen  Unterterz  ihres  Grundtons  A,  würde  ihre  ionische  Beziehung  sich  darstellen. 
So  aber  nicht  in  dem  uns  vorliegenden  Gesänge.  In  denselben  Tonverhältnissen  zwar,  doch  nicht 
In  derselben  Tonhöhe  wird  die  Verwandtschaft  ausgesprochen;  denn  dem  weichen  Dreiklange  aufC  folgt 
der  harte  auf  Es,  der  grofsen  Unterterz  seines  Grundtons.  In  dem  Umfange  von  G  und  seiner  Oberoc- 
tave  daher  wird  hier  das  Phrygisclie  gedacht;  und  dafs  dem  so  sei,  zeigt  sich  deutlicli  durch  den  bald 
darauf  erscheinenden  Ton  as,  die  kleine  Obersecunde  von  G,  bezeichnend  als  solche  mithin  für  die  phry- 
gische  Leiter,  wenn  jener  Ton  als  ihr  Grundton  gedacht  wird.  Der  Ton  as,  so  haben  wir  in  unseren 
vorangehenden  Untersuchungen  gefunden,  hegt  niclit  in  dem  Kreise  derjenigen  Hülfstöne,  welche  durch 
die  harmonisdie  Entfaltung  der  Kirchentöne  eingeführt  waren;  er  ist  um  defswillen  in  dem  früher  ent- 
wickelten Sinne  ein  chromatischer,  und  wir  fuiden  nach  allem  diesem  bei  unserem  Meister  in  einem 
heiligen  Gesänge,  dem  wir  aus  vielen  Gründen  mit  voller  Ueberzeugung  diesen  Namen  beigelegt  haben, 
eine  Wendung,    die  wir  als  unkirchlich   bezeichnen  müfsten.     Allein  seine  Reclilfertigung  ergiebt  sich 


—     161      — 

dadurd.,  dafs  er  ja  nicht  ein  Tonverhältnifs  eingeführt  hat,  das  dem  diatonischen  Klan-es.hle<I,lo  nn 
dem  Orte  Widerspräche,  wo  es  sich  zeigt,  dafs  sein  fremder,  umgefärbter  Ton  ihm  nur\lazn  dient  in 
der  von  ihm  gewählten  Tonart  eine  Uir  eigenthiimhche  Beziehung  nachdrückHcli  zu  bezeichnen-  eine  solche 
die  eben  an  dem  Orte  wo  er  sie  hat  erscheinen  lassen,  nicht  erwartet  werden  konnte:  und  in  dieser 
Gestalt  darf  das  auch  be.  .hm  hervortretende  Chromatische  nicht  der  Unkirchlichkeit  beschuldigt 
werden.  Es  .st  em  anderes,  als  das  des  Cvprian  de  Rore,  dessen  Streben  dahin  gerichtet  war.  die  GreL 
en  der  bestehenden  Tonarten  zu  erweitern;  de,m  GabrieU  will  U.ren  Geist,  ihr  Wesen  auch  unvermuthet 
hervorbrechen   lassen  durch  seine  Neuerung.  ""vermutJiet 

Betrachten   wir  die  Kirchentöne  in  ihrer  Versetzung,    dem   sogenannten  weichen   Svsteme  der 
alten  Tonme.s  er,  so  drängt  sich  uns  bald  die  Bemerkung  auf,  dafs  in  dieser  Gestalt  sie  an  ihrem  äufser 
sten  Grenzpunk^e,  dem  Phrygischen,   eine  Ausweichung  zulassen,   welche  ihnen  fehlt,  wenn  sie  in  ihrer 
«rsprunshdien  Tonhöhe  (dem  harten  Systeme)  sid.  bewegen.     ^Vir  gewinnen  diese  Ueberzeugung,  ™ 
v..r    den    Kre.s    von   Hulfstönen    uns   zurückrufen,    der    den   alten    Tonkünstlem   regelmäfsig   zu   Gebote 
sU.nd.     Aus  dem   weichen  Systeme  war  nämlich  der  Ton   es,    das  um   einen  Halbton  erniedrigte  e     d 
(nterqumte  des  diesem  System  eigenen   b,    übergegangen  mit  ihm  aud.  in   das  harte;    aus   diesem'.' 
derum  m  jenes  d,e  Töne  f,»,  eis,  gU,   deren  Ursprung   wir  bereits   ausführlich   betrachtet  haben      dI' 
e.nen,  wie  dem  andern  gemeinschafthd»  in  der  Kunstübung,   dienten  diese  Hülfstöne  jenen  manni'ofache" 
Anklangen,  durch  welche  man  das  Gefühl  der  \Wandtschaft  der  Kirchentöne  lebendig  zu  erlnUe^   1 
Jener  letzte  Ton  nun ^i,,  nicht  sowohl  als  aeohsdier  Unterhalbton,  sondern  vielmd.r,  sofein  m.n    in 
betrachtete    als  che  auf  das  Aeollsche  zuriickwdsende  grofse  Terz  des  ursprünglichen  phrygisd.en  Grund 
tons,    gewahrte  dem  versetzten  phrygischen  (A-)  den  Unterhalbton,    durch  den  es'in  das  lonisl 
sich  zu  verwandeln  vermochte;  eine  Ver^vandlung,  deren  Möglidikeit  ohne  einen  neuen,  zußlli.  erhö^i' 
ten  Ton    C^.sJ,    dem   Phrygisdien  auf  seiner  ursprünglidien  Tonhöhe  abgeht.     Eine   nahe  Veradassut 
xu  einer  Erhöhung  dieser  Art    damit,  hier  wie  dort,  man  sidi  mit  gleicher  Freiheit  bewegen  könne  Z 
offenbar  diese   ßetraditung.     Auch  diesen   zufälüg  erhöhten  Ton  finden  wir   in  unseres  Meisters  älren 
Werken  emige  Mal  angewendet,  namentlich  in  sdnem  sechssHmmigen  Miserere  vom  Jahre  1597-  anS^e 
nend  m  dem  zuvor  beschnehenen   Sinne,    um  das  Phrygische  in   das  Ionische  zu   ver.vanddn     um  d" 
ph^gisdienTonschM,         bfaliend  im  Basse  durch  die  kleine  Obersecunde  in  den  Grunit  ^^frt^g 
m  der  Oberstimme  durdi  die  kleine  Oberseptime  des  Grundtons  zu  dessen  Octave,  und  dem    chliefsend  n 
hären  Dreddange  den  Sextenaccord  voransteUend  _  auch  eine  Quinte  höher  in  den  Tönen  .    Ä      arzu 
ste  len     wozu  es  der  gro  sen  Oberterz  dieses  letzten  Tones,  dis,  bedurfte.     AUein  durch  andere 'stXn 
gieb    dieser  Gesang  zu  erkennen,   dafs  es  dem  Mdster  hier  nicht  sowohl  angdegen  gewesen  sd    Te.e 

i^:l:xi  TT'''"'  r^^'^^>  -^^^  -'-'-'-  ^^^  -  -^^•^-'  ^'«  ^^^2^nZ 

Ausdrudcsmittel  zu   bedienen     sollten  sie   auch  dem   diatonischen  Systeme   fremd  sdn.     So   sdireitet 
durch  drei  halbe  Tone  fort,  diesen  Gang  in  drd  Stimmen  nachahmend:  er  sdirdbt  die  verminderte  Ouarte 
vor  ,m  Absteigen  ^e,  gis,-  f,  cisj,    und   auch   diese   melodische  Wendung   läfst   er   nachahmend   in  drd 
Stimmen   vernehmen;    er  .drd   dadurch,    obgleich  eben   hier  keine   fremden   Hülfstöne   anwendend 
chromatisch  im  engem  Sinne;    ja  sofern  er  (wenn  gldch  an  verschiedenen  Orten)   den  Ton  di.  audi 
als  e,     den  Ton  ^,,,  audi  als  a.  anwendet,    dürfte  man   ihn  enharmonisch   nennen.     Wie  dieser  Ge 

'7    w-rJu^cT?  ^"'  "  "'"'"  'P'"'^'"  ^^^*^"  hervortretenden  Kunstrichtung  enthaUe:    wie  er' 

21 


—     162     — 

obgleich  würdig  und  emst,  den  heiligen  Worten  eng  sich  anschliefsend,  doch  an  die  Grenzen  des  Gebietes 
kirclihcher  Tonkunst  im  älteren  Sinne  streife,  einerseits  den  Verfall  dieser  Kunst,  aber  auch  das  Aufblü- 
hen einer  neuen  eigenthümliclien  Anschauung  des  Lebens  der  Töne  andeute  —  alles  dieses  werden  wir 
näher  betrachten  in  dem  besonderen  Abschnitte,  den  wir  den  spätem  Werken  unseres  Meisters  widmen. 
Sofern  wir  ihn  nach  neuen,  dem  Diatonischen  fremden  Ausdrucksmitteln  streben  sehen,  kann  ims 
schon  hier  nicht  entgehen,  dafs  er,  dessen  Gesänge  die  reichste,  bedeutsamste  Entfaltung  der  Kirchen- 
töne darlegen,  auch  sclion  deren  Verfall  erkennen  lasse.  Dafs  eben  in  dem  Phrygischen,  an  der 
Grenze  der  quintenweisen  Beziehung  der  kirclihchen  Tonarten,  dieser  Verfall  am  frühesten  hervortrat, 
ist  leicht  erklärlich.  Unser  Meister  zwar  erkannte  noch  den  innigen  Zusammenhang  dieser  Tonart  mit 
der  ionischen,  er  legte  auf  die  bedeutungsvollste  Weise  ein  Zeugnifs  davon  ab  in  seinen  Werken;  seine 
Naclifolger  dagegen,  die  nur  an  seine  Neuerungen  sich  liielten,  empfanden  in  dem  Aufhören  dieser 
quintenweisen  Beziehungen  eine  beengende  Schranke;  die  Lehre  ihrer  Zeit,  welche  die  dem  Phrygischen 
eigenthümliclien  Ausweichungen  niclit  aus  dessen  innerem  Wesen  herleitete,  sondern  sie  nur  als  Abwei- 
chungen bezeichnete,  veranlafste  leicht  zu  Versuchen,  Lehre  und  Ausübung  mit  einander  auszugleichen, 
imd  das  immer  mehr  sich  verherende  lebendige  Gcfüld  von  dem  Wesen  der  Kirchentöne  fdlirte  im  Ver- 
folge dieser  Ausgleichungen  endlich  imser  heutiges  diatonisch -chromatisches  System  herbei. 

Wir  kehren  zurück  zu  der  Betrachtung  der  älteren  kirchlichen  Gesänge  Gabrieli's.  Der  dritte 
aus  der  frühesten  Sammlung  derselben  '),  den  Mar  dieser  Betrachtung  gleich  anfangs  vorbeliielten, 
ist  zehnstimmig:  ein  tiefer,  ein  hoher  Chor  zu  fünf  Stimmen  wecliseln  zuerst  mit  einander,  dann  ver- 
einen sie  sich  zu  vollem  harmonischen  Gesänge.  Als  ein  Beispiel  der  ßehandlimg  solcher  Wechselchöre, 
und  des  Sinnes,  in  welchem  Gabrich  die  Choralkunst  geübt,  haben  wir  ihn  gewählt.  Wird  liier  die 
Choralkunst  genannt,  so  haben  wir  dabei  nicht  jene  einfach  harmonische  Behandlung  geistlicher  Lieder 
im  Sinne,  wie  die  evangelische  Kirche  sie  liebt,  jenes  unbedingte  Vorherrschen  einer  Gesangsweise,  die 
in  harmonischen  Zusammenklängen  ihr  inneres  Leben  ausströmt.  Wir  setzen  die  Choralkunst  liier  der 
Fugenkunst  entgegen;  wie  ein  melodischer  Grundgedanke  in  dieser  durch  mehre,  kunstreich  in  einander 
gewebte  Stimmen  entfaltet  wird,  so  in  jener  die  Tonart  als  solclie:  die  Tonreihe,  in  der  sie  er- 
scheint, die  ■  mannigfachen  Verhältnisse  ihrer  Glieder  zu  ihrem  Grundtone,  die  Beziehungen,  welclie  dadurch 
zu  anderen,  verwandten  Tonreihen  sich  bilden;  so  dafs  hienach  die  Tonart  als  harmonischer  Grund- 
gedanke (Motiv)  des  Ganzen  hervortritt.  Wie  aber  innerhalb  der  einfachen  ReUie  von  Tönen,  in  welclier 
die  Tonart  erscheint,  die  Melodie  durch  den  Wechsel  der  hatmonischen  Beziehungen  jener  Glieder  der- 
selben gebildet  wird;  wie  ein  mehrstimmiges  Tongewebe,  wenn  auch  zumeist  durch  einen  harmoni- 
schen Grundgedanken  beherrscht,  doch  wiederum  iu  seinen  einzelnen  Theilen  einen  Wechsel  solcher 
Art,  einen  melodischen  also,  darstellt,  geregelt  durch  gemeinsame  Beziehung;  wie  ein  solches  Gewebe 
daher  durch  den  Verein  verschiedener  Melodieen  erst  wirklich  in  das  Leben  treten  kann:  so  ist  äugen- 
scheinhch  auch  hier  das  Älelodische  nicht  ausgeschlossen,  nur  dafs  es  nicht  das  Bewegende,  das  Regelnde 
ist,  sondern  wie  es  dort  herrschte,  liier  aus  dem  durch  den  harmonischen  Grundgedanken  geleiteten  Stimm- 
vereine lebendig  hervorbiüht,  in  dem  Zusammenklange  aller  Stimmen  erst  ^virklicli  erscheint  ,^  in  der  ein- 
zelnen, gesangreich  und  fliefseud  wie  sie  sein  möge,  nicht  völlig  zur  Anschauung  kommt.    Diese  durch 


')  S.  Beispiel  J.  A.  2. 


—     163     — 

das  Ganze  verhüllt  hindurchscheinende  Melodie,  die  eben  nur  erschlossene  Blüthe  des  Gesanges,  gewährt 
helligen  Liedern  dieser  Art  aus  früherer  Zeit  jenen   geheimnifsvoUen  Reiz,  der  für  die  Verkündigung  der 
tiefsten   Geheimnisse  heihger  Worte  durch  die  Tonkunst   diese  Behandlung  vorzüglich  geeignet  macht. 
Die  Worte,  auf  welche  Gabrieli  sie  hier  angewendet  hat,  sind  die  fünf  ersten  ^'^e^se  des  drei  und  sech- 
zigsten Psalms,    ein   frommes  Gebet,    wie    es  die  zuvor  betrachteten  Gesänge  darstellen.     „Gott  du  bist 
mein  Gott,  frühe  wache  ich  zu  dir  —  es  dürstet  meine  Seele  nach  dir,  mein  Fleisch  verlanget  nach  dir  — 
in  einem  trockenen  und   dürren  Lande,    wo  kein  Wasser  ist  —  daselbst   sehe   ich  nach   dir  In  deinem 
Heiligthume,    wollte  gerne  schauen  deine  Macht  und  Ehre  —  denn  deine  Güte  ist  besser  denn  Leben. 
Meine  Lippen   preisen  dich.     Daselbst  wollte  ich  dich  gerne  loben  mein  Leben  lang,   und  meine  Hände 
in  deinem  Namen  aufheben."  —  Die  gewählte  Tonart  ist  die  aeolische  in  ihrer  ursprünglichen  Tonhöhe. 
Ein  regelmäfsiger  Wechselgesang,  In  welchem  der  liefere  Chor  beginnt,  eröffnet  das  Ganze;    ohne  fugen- 
artige Behandlimg  Im  engeren  Sinne,   zeigt  dieser  Chor  vorübergehende,    aber   nicht  ohne  Bedeutsamkeit 
elngefiüirte   Nachalimungen ,    im   Gegensatze   gegen   den  höheren,    welcher   rein   harmonisch   dahinströmt. 
Nur  in  den  Schlufs  des  vorhergehenden  Chores  tritt   erst  jeder  folgende  ein;   in  die  verhallenden,   tiefen 
Töne  des  beginnenden  mischen  sich  leise  die  hellen  Klänge  des  höheren,   welche  allmählig  anschwellend, 
während   jene  ersterben,    dann  im  vollen    Glänze   allein   vorherrschen;    wiederum   bauen  sich   die  milden, 
tiefen  Laute  des  andern  Chores,  den  sanft  ausgehauchten,  lielleren  Klängen  des  höheren  unter,  sie  endlich 
in  ihr   ernstes  Dunkel  verhüllend.     Der  beginnende   tiefe  Chor    hält    die  Tonart   zu  Anfange,    dem  Sinn 
der  helligen  Worte  gemäfs.  In  Ihrer  herberen  Beziehimg  zu  der  phrygischen  fest;   dann,  wie  der  höliere 
eintritt,  der  Ausdruck  der  Bedürftigkeit,   der  Trauer,  aber  auch  der  Sehnsucht  wächst,  klingt  vorüberge- 
hend die  dorische,  mixolydische.  Ionische  Verwandtschaft  an,  die  Hoffnung  Inmitten  des  innigen  Flehens; 
Wort  und  Ton  aber  vereinen  ^ich  bei  der  Stelle:   „denn  deine  Güte  ist  besser  als  Leben"  zu  dem  Aus- 
drucke des  lebendigsten,  kräftigsten  Glaubens.     Der  höhere  Chor  hat  im  dorischen  Tone  geschlossen,  der 
tiefere  stimmt  nunmehr  den  mixolydischen,  dadurch  ungezwungen  vorbereiteten  Dreiklang  an,  der  höhere 
mischt  hier  zuni  ersten  Male  durch  einen  gleichen  Eintritt  seine  Töne  dauernd  mit  jenem;  In  der  kräftig- 
sten Tonfülle  hebt  jene  heitere  Beziehung  sich  hervor,   prägt   den  Sinn  der  helligen  Worte  auf  das  Ein- 
dringlichste In  unser  Gemüth:    beide   Chöre  strömen  nun   in   raschem  Wechsel,    lebendigem  Ineinander- 
greifen, endhch  vereint  dem  Scldusse  zu. 

Bisher  haben  ^vIr  die  frühesten  heiligen  Gesänge  unseres  Meisters  betrachtet,  sofern  sie  als  Ge- 
bete sicli  darstellen,  und  seine  elgenthümhche  Art  den  phrygischen  und  aeolischen  KIrchenfon  zu  be- 
handeln, daran  kennen  gelernt.  Wir  gehen  nunmehr  über  zu  seinen  um  zehn  Jahre  später  erschienenen 
Werken,  die  In  der  frülieren  Sammlung  übrigen  zwei  geistlichen  Gesänge  für  jetzt  übergehend,  ungeachtet 
der  eine  als  Lobgesang,  der  andere  als  Verkimdigung  sich  darstellt,  imd  also  eine  Betrachtung  besonderer 
Art  sich  daran  würde  anknüpfen  lassen.  Denn  es  scheint  angemessener  —  da  jene  Gesänge  gegen  die 
zehn  Jahre  späteren  gehalten,  nicht  eben  eine  abweichende  Art  der  Behandlung  darlegen  —  zunächst  die 
gleichartigen  der  späteren  Sammlung,  die  Bittgesänge  also,  uns  näher  vorüberzufdhren. 

Zwei  dieser  Gesänge  heben  wir  demnach  heraus,  in  welchen  die  sinnreiche  Auffassung  der  mixo- 
lydischen Tonart  unsere  Aufmerksamkeit  verdient  Nahe  verwandt,  dennoch  aber  innerlich  entgegen- 
gesetzt, erscheinen  das   MLxolydlsche  und  das   so   eben   näher  betrachtete   Phrygische.     Nahe  verwandt, 

21' 


—      164      — 

denn  sie  Iheilcn  dieselbe  Bezieliuiig,  das  Hinneigen  z,uni  Tonisclien;  wie  dieses  auf  der  nalürliclien  Ton- 
folge, dem  an  der  Grenze  derselben  nahe  zusammengerückt  erscheinenden  harten  Dreiklange  beruhe,  ist 
vor  Kurzem  wiederholt  erläutert  worden.  Aber  auch  innerlich  entgegengesetzt  erscheinen  beide  Tonarten, 
eben  durch  die  Art  wie  jene  ihnen  gemeinsame,  eigenthümliche  Beziehung  in  sie  hineintrilt.  Der  mixo- 
lydische  Grundton  entspringt,  einem  durch  alle  Tonarten  hin  bis  zur  phrygischcn  gleiclnnäfsig  wallenden 
Gesetze  zufolge,  immittclbar  aus  dem  ionischen;  die  Gliederung  der  mixolydischen  Tonreihe  führt  durch 
die  ihr  wesentliche,  auf  dem  harten  DrcikJange  ruhende  kleine  Septime  mächtig  zurück  auf  ihn;  leicht 
und  natürlich  erscheint  hier  das  Aufstreben  nach  dem  Ionischen,  einem  sauft  wachsenden  Lichte  gleich 
tritt  sein  hellerer  Glanz  hinein  in  den  milderen  des  Mixolydischen.  Das  Phrygische,  gegründet  auf  den 
weichen  Dreiklang,  herbe  abfallend  in  seiner  melodischen  Gliederung  durch  die  kleine  Secundc,  wenn 
auch  küJiner  aufstrebend  durch  die  kleine  Septime  bei  wesenthchem  Mangel  des  Unterhalbtons,  trägt  ein 
düsteres,  ernst  feierliches  Gepräge;  unmittelbar  weis't  sein  Grundton  zurück  auf  das  weiche,  klagende 
Acolische,  durch  dessen  eigenthümlichen  Ausdruck  sein  herber  Ernst  gemildert  wird.  Tritt  nun  das 
Ionische  hinein,  als  näcliste  Beziehung,  hi  das  Phrygische,  so  wird  es  plötzlich  überstrahlt  von  hellem 
Glänze  "und  verklärt,  es  erscheint  alles  in  ihm  verwandelt  und  erneuert.  Ist  aber,  was  beide  Tonarten 
einander  nähert,  hienacli  eben  ■wiederum  dasjenige,  was  sie  cigenthümlich  von  einander  sondert,  so  offen- 
bart diese  Sonderung  sich  noch  mehr  in  ihrer  allgemeinen  Beziehung  zu  ihren  Wrwandtschaften.  AUe 
Ausweichungen  des  Phrygischen  ohne  Ausnahme  sind  erheiternde;  sie  sänftigen  seinen  düsteren  Ernst, 
wie  die  nach  dem  weichen  Aeolischen,  sie  überglänzen  es  mit  hellerem  oder  milderem  Lichte,  wie  die 
ionisdie,  die  durch  dasselbe  vcnnittelte  mixolydische:  eine  trübe  Einfassung  bringt  uns  heitere  Bilder 
entgegen.  Das  Mixolydische,  durch  die  fortwährend  ausgesprochene,  in  seinem  eigentlichen  Sclüusse 
fortklingende  ionische  Beziehung  trägt  im  Ganzen  das  heitere  Gepräge  gestillter  Sehnsucht;  seine  Neigung 
jedoch  zum  Dorischen,  die  auf  die  vorbeschriebene  Art  vermittelten  phrygischen  Anklänge,  tragen  heiligen, 
ja  feierlich  trüben  Ernst  liinüber  in  jene  heitere  Einfassung.  So  stehen  denn  beide  Kirchentöne  in  ihren 
Grundbeziehungen  sich  völlig  entgegen,  und  eben  diesen  Gegensatz  hat  unser  Kleister,  die  eine  wie  die 
andere  wählend  als  Grundton  für  Bittgesänge,  geistreicli  mid  sinnig  aufgefafst. 

So  zuerst  in  einem  achtstimmigen,  dem  Inhalte  zufolge  der  Passionszeit  angehörigen  Gesänge,  ob- 
gleich er  nicht  in  die  Liturgie  ausdrücklich  mit  aufgenommen  ist').  „O  Herr  Jesu  Christ,  ich  bete  dich 
an,  der  du  an  das  Kreuz  für  uns  geschlagen,  mit  Galle  und  Essig  getränkt  wurdest;  icli  flehe  dich  an. 
lafs  deine  Wunden  meiner  Seele  Arznei,  und  mein  Leben  sein."  Zwei  Chören,  einem  hoher,  dem  andern 
tiefer  Stimmen,  hat  der  Meisler  diese  Worte  zugetheilt;  bald  sind  Beide  gegenübergestellt,  bald  kräftig 
ineinandergreifend  verwoben.  Sclion  sein  Inhalt  theilt  diesen  Gesang  in  zwei  Abschnitte.  Anbetung  der 
erste,  demütliiges  Hinsinken,  gläubiger  Aufschwung  zu  dem  Geber  aller  Gnade.  Hier  ist  anfangs  die 
ionische  Beziehung  die  vorwaltende;  eine  jede  andere,  durch  Verflechtung  der  Stimmen  herbeigeführte 
wird  diuch  sie  bald  verdrängt.  Dann  aber  tritt  das  Bild  des  verwundeten,  fiir  unsere  Sünde  geschlagenen 
Erlösers  mächtig  vor  die  Seele;  die  feierlich  ernste  dorische  Beziehung,  die  sanft  trauernde  aeolische, 
die  herbe  phrygische  treten  nun  überwiegend  hervor;  bei  dem  Worte  feile,  wo  die  Stimmen  zu  einem 
aeolisclien  Sclilusse  sich  hinneigen,  wird  der  grofsen  Terz  des  Bafstons  E,  (gis)  dessen  kleine  Se.xte  (c) 


' )  Beispiel  I.  A.  3. 


—     165     — 

vcrbundeti.    deren    IIcrbhciL   Wellcidit   nialcrisrli   auf  das   dabei   ausgesprochene   \Yort   „Galle"  Jiindeuten 
soU.     So  bildet  sicli  der  Ucbergang  zu  dem    zweiten  AbscluiiUe,   dem  Bitlgesange.     Eingeleitet  wird  er 
durch  die  Worte  .Je  dcprecor''  ich  flehe  dicJi  an.     Dreimal  treten  sie  hinein  in  die  \^  echselgesänge  des 
h.ilieren  und  tieferen  Chores  in  synkopisclicr  Aufhebung  des  Maafses,    und  eben   dadurch  gegen  jene,  in 
welchen  aUe  Stimmen  gleichmäfsig  mit  einander  sich  fortbewegen,  den  entschiedensten  Gegensatz  bildend; 
inniges,  flehentliches  Anstreben  in  dem  „ich  flehe  dich  an,"  ruhiges,  demüthlges  Aussprechen  des  I.dialtes 
der  Bitte  m  den  ^Vorten:    „lafs  deine  ^Vunden  meiner  Seele  Arznei  sein."     Bedeutsam   sind  in  diesem 
Wechsel  der  Chöre  verschiedene  Tonarten  in  übereinstimmender  Tonhöhe  entgegengesetzt,  so  wie  gleich- 
namige m  verschiedener;  mit  den  alten  Tonlehrern  zu  reden:  das  harte  dem  weichen  System.     Aus  dem 
Dorischen  entwickelt  sicli  hier  das  versetzte  Aeolische,  das  mit  ihm  gleichen  Umfang  theüt;  das  weiche 
Phrygische,   dessen  Grundton  so  leicht  in  das   ursprüngliche  hinüberfülnt,   steflt  sich  dort  diesem  entge- 
gen;   das  Aeolische  leitet  in  das   lonlsclie,    so  wie  dieses  (in  die  mixolydlsche  Tonhöhe  versetzt)  in  das 
Dorische  leicht  hinüber.     Wie   aber  die  zufällige  grofse  Terz    auf  dem   dorischen  Grundtone  zugleich  der 
Unterhalbton  ist  des.    In  das  lonisci.e,  verwandelten  IMLxolydlschen,  so  wird  die  Rückkehr  in  die  Grund- 
tonart dadurcli  wiederum  vermitteil;    das  heilere  Licht  des  Ionischen,  eine  Weile  zurückgedrängt,  strahlt 
wiederum   dauernd   hervor;    der  streng   mixolydlsche   Schlufs  hält   diese   Beziehung  fest.     Das   Kreuz   ist 
nicht  mehr  allein  das  Werkzeug  der  Marter  des  geliebten,  bitter  leidenden  Erlösers,  sondern  auch  seiner 
Erhöhung,    sein  Anblick  tilgt  die   schmerzlichen  Wunden  der  Seele,    das   Leben   blüht  hervor  aus  dem 
Tode.     Das  Gebet  ist  erhört,    denn  der  Herr  ist  erhöhet  In   dem   Herzen,    und  welche  an  ihn  glauben 
werden  nicht  sterben,  sondern  das  ewige  Leben  behalten. 

Der  zweite  jener  Bittgesänge,    die   ^^i^  gewählt  haben,    Gabriells  Behandlung  des  Mixolydischen 
daran  kennen  zu  lernen,   ist  aus  dem  hundert  und  zwcilcn  (\  ulg.   lOL)  Psalm,  und  dessen  zweiten  und 
dritten  \  erse  entlehnt  ').     Die  kathollsclie  Kirche  bedient  sich   desselben   iMIttwoch's   in  der  Leidenszeit; 
die  \'orlesmig  des  drei  und  fünfzigsten  Kapitels  aus   dem  Jesaias  geht  ihm  voran,   die  Prophezeiung  von' 
dem  Herrn,  der  unsere  Krankheit  und  Schmerzen  getragen,  auf  dem  die  Strafe  liegt,   damit  wir  Friede 
hätten;    ihm  folgt   der  Bericht   von  der  Kreuzigung    des  Herrn  nach   dem  Lidcas,    ausgezeichnet   vor  den 
Erzählungen   der  andern   E\angellstcn    durch   die    tröstliche  Verlielfsung   an    den   reuigen   Schacher.      Die 
Worte   unseres   Gesanges,    die  früher  aucli  und  später  an  der  Feier   desselben  Tages    durch  Gesang  und 
Gebet  hinklingen,  lauten  also:    „Herr  höre  mein  Gebet,  und  lafs  mein  Schreien  zu  dir  kommen:   verbirg 
dein  Antlitz   niclit  vor   mir  in  der  NoUi,    neige   deine  Ohren   zu  mir;    wenn   Ich   dich  anrufe,    so  erhöre 
micli  bald."     Zehn  Stimmen  hat  unser  Kleister  hier  in  zwei  fiinfstimmige  Chöre  geordnet,    den  beginnen- 
den nur  um  Weniges  tiefer  gehalten,  als  den  anderen.     Aeltere  Tonlehrer  würden  hier  das  MIxolydische 
mit  dem  Hypomixolydlschen  verbunden  antreffen;   denn  der  Tenor  des  höheren  Chores  bewegt  sich  zwi- 
schen dem  mixolydischen  Grundtone  und  dessen  Oberoctave,  der  des  tieferen  zwischen  dessen  Unterquarte 
und  Oberquinte.     Der  Ausdruck  gläubiger  Zuversicht,    und  In  ihm  heilige  Feier  und  >\ürde  liegt  in  der 
gleich   anfangs   hervortretenden    ionischen   Beziehung;    ein   elgentliümllches   Leben    offenbart    sicli  in   dem 
Verhältnisse  der  oberen  Stimme  jeden   Chores  zu  den  übrigen.     In   dem  tieferen,    beginnenden  Chore, 
tritt  sie  ihnen  nach,    in  dem  höheren  geht  sie   Urnen  voran:    während  dort  auf  dem  Worte  „exaudi" 


•)  Beispiel  I.  A.  4. 


—     166     — 

(erhöre)  der  volle  Chor  den  ionischen  Dreiklang  anscliwellend  bereits  hat  ertönen  lassen,  schwingt,   ihm 
naclifolgend ,   die  Oberstimme  mit  anwachsender  Stärke  sich  hinauf  von  dem  Grundtone  in  dessen  Ober- 
quarle;    melodiscli  und  harmonisch  gleich  bedeutsam  straldt  die  Tonart  hervor.     So  nun  tönt  wiederum 
in  den  Schlufsfall  des  beginnenden  Chores  die  Oberstimme  des  höheren  zuerst  hinein,    die  übrigen  sich 
nachziehend;    diesen  folgen  die  vier  tieferen  Stimmen  des   zweiten  Chores,    ihnen   endlich  dessen  Ober- 
stimme.    Dreimal  hebt  in  diesem  vollen  Chorgesangc   die   Betonung   des  Wortes    exaudi  sich  bedeutsam 
hervor.      Mit   ihm   schwingt   die   erste  Stimme   des   höheren   Chores    sich   auf  zu  dem  mixolydischen 
Grundtone,    von   dessen  Dreiklange  begleitet;    ihr  folgt   dessen  zweite  Stimme,    zu  dem  Dreiklange  des 
Ionischen  dessen  Grundion  berührend;  külmcr  noch  strebt  zu  diesem  die  höchste  Stimme  des  tieferen 
Chores  empor,  doch  läfsl  die  Wendung  des  Basses  nun  den  aeoli  sehen  Dreiklang  zu  ihm  ertönen.    Das 
Ohr,  in  die  Fülle  dieser  Klänge  versunken,  diese  nachdrückliclien ,  wechselnden  Betonungen  vernehmend, 
glaubt  getäuscht  einem  dreifachen  Chore,  statt  einem  doppelten,  sich  gegenüber.    Wir  haben  an  dem  begin- 
nenden Chore  ein  auffallendes  Beispiel  derjenigen  Art  von  Modulation,  die  wir  als  „verwandelnde"  früher 
bezeichneten.     Seine  Wendung  nach  g,  dem  mixolydischen  Grundlone,  wird  durch  Einfülirung  von  dessen 
kleiner  Terz  CbJ  eine  Ausweichung  in  das   versetzte  Dorische,   das  den  Grundton  mit  dem  Mixoly- 
dischen theilt;    der  in  den  Schlufsfall  des  tieferen  Chores  eintretende   höhere  wird  dadurch  befähigt  jene 
letzte  Tonart  wiederum   in  ilircm    ursprünglichen   Umfange   darzustellen;    dann  aber,    ausweichend   im 
enteren  Sinne,  führen  beide  vereinte  Chöre  durch  das  Aeolische  sie  hinüber  zu  dem  ursprünglichen  Do- 
rischen.    In  dem  folgenden  ^Vechsel  beider  Chöre  geschieht  abermals,  was  wir  in  dem  zuvor  betrachteten 
Gesänge  wahrnehmen;  die  Darstellung  gleicher  Tonarten  in  verschiedenen  Tongrenzen.     So  wendet  sich 
der   obere  Chor,    nacli   dem  gemeinschaftlichen   Riüiepunkte    beider,    mit   den  Worten:     „und  lafs   mein 
Schreien  vor  dich  kommen"   hinüber  in   das  Aeolische;    dessen  Grundton  n  ergreifend,    dieselben  Worte 
wiederholend,    schreitet  der   tiefere  zurück  nacli  d;    indem  er  jedoch  die  kleine  Sexte   dieses  Tones,   b, 
anwendet,  welche  dem  Aeolischen  eigenthümlicli  ist,  stellt  er  wiederum  diese  Tonart  dar,  dem  beginnen- 
den Chore  auf  eine  Weise  nachklingend,    wie   es  eben  nur  in  den  Kirchenlönen  möglich  ist.     Zugleich 
aber  wird  durch   diese  Wendimg  der  Rückschritt  in   das  Mixolydische   vorbereitet,    dessen   Grundton  die 
Unterquinte  des  versetzten  Aeohschen  ist.     Die  Grundstimme  des  höheren  Chores  ergreift,  einsam  zuerst 
in  den   Schlufs   des   tieferen   hineinrufend,    den    Grundton   seines  letzten   Zusammenklanges;    mit   lautem, 
mächtigem,  einmülhigem  Rufe  folgen  ihr  dann  beide  vereinte  Chöre,  in  vollslimmiger Pracht  den  mixoly- 
dischen Dreiklang  um   sie  herbreitend;    nur  der  tiefere  Tenor   des   zweiten  Chores    sondert  sich  aus  von 
diesem,  einzeln  eingreifend  in  den  Gesang  der  Grundstimme  des  ersten,  die  er  nachahmt,  und  so  wieder- 
um treten  in  dem  Folgenden  zwei  andere  Stimmen  des  höheren  Chors  zu  einander  in  ein  ähnliches  Ver- 
hältnifs :  überall,  auch  wo  vereinte  Chöre  ein  gemeinsames  Leben  darstellen,  entwickelt  irgend  ein  Beson- 
deres sich  bedeutungsvoll  in  diesem.     Ein  solches  lebendiges  Ineinandergreifen  der  beiden  CJiöre,  der  ein- 
zelneu Stimmen,  und  dieser  wiederum  in  die  Chöre,  bezeichnet  diesen  Gesang  vor  allen  andern,  und  am 
Grofsartigsten  tritt   es  hervor  gegen   den  Schlufs   des   Ganzen,    wo    eines  immer  näher   dem   andern  sich 
anschliefst  in  dringendem  Flehen:  „wenn  ich  dich  anrufe,  so  erhöre  mich  bald."     Hier  nun  —  wie  aucli 
in  anderen  heiligen   Gesängen   Gabrieh's  —  schwebt  in  ihren  äufsersten  Tönen   die   höchste   Stimme   des 
oberen  Chores,    während  die  übrigen   das   Maafs    festhalten,    über  ihnen,    es   synkopisch   aufhebend;    auf 
den  Wellen  ihres  Tonstroms  sich  wiegend,   ihr  stürmendes  Anstreben   beherrschend:    ein  grofsartiger,  in 
die  lebhafte  Bewegung  eben  des  gegenwärtigen  Gesanges  ernste  Ruhe  hineintragender  Ausdruck.     Diese 


—     167     — 

lebhaftere  Bewegung  auch  hat  unsem  !\Ieister  hier  zu  dem  ungewöhnliclieren ,  vollen  mlxolydischcn 
Schlüsse  hingeleitet:  die  kleine  Terz  (TjJ  über  dem  Grundtone  weis't  hinüber  in  das  Dorische,  doch  der 
letzte  Zusammenklang  ninmit  die  grofse  ChJ  ^^^ede^  auf;  in  ihr  klingt  das  Gefiild  der  Giundtonart  um 
so  mehr  ungetrübt  an,  als  bereits  im  Beginne  die  ionisclie  Beziehung  so  mächtig  und  bedeutsam  hervor- 
gehoben war,  und  durch  das  Ganze  ^'v^ederholt  ertönte.  So,  durch  seinen  ganzen  inneren  Bau,  durch 
seine  Stellung  bei  dem  Gottesdienste,  gewinnt  dieser  heilige  Gesang  eine  eigenthümlichc,  liefe  Bedeutung. 
Wie  der  Herr  einst  auf  den  Wellen  des  stürmenden  Meeres  gewandelt,  so  schwebt  er  siegend  am  Kreuze 
über  den  Schmerzen  ''"S  Todes;  der  gläubigen  Zuversicht,  die  zu  ihm  sich  erhebt,  stillt  er  die  bangen 
Zweifel,  verkündet  ihr  Worte  des  Friedens:  darum  dafs  seine  Seele  gearbeitet  hat,  sieht  er  seine  Lust 
und  hat  die  Fülle,  die  Menge  ist  ihm  zur  Beute  gegeben,  und  die  Starken  zum  Raube. 

Die  Betrachtung  dieses  Bittgesanges,  des  bewegtesten  unter  allen,  die  wir  von  GabrieU  besitzen, 
bahnt  uns  den  Uebergang  zu  seinen  Lobgesängen,  da  sie  im  Ausdruck,  in  der  Behandlung,  ilim  sich  zu- 
nächst anschliefsen.  Wir  wählen  unter  der  ftlenge  derselben  fünf  heraus,  da  eben  sie  in  lelclUer  Ueber- 
sicht  uns  zeigen  können,  was  alle  anderen  auszeichnet. 

Zuerst  sei  hier  das  Responsoriiun  des  zweiten  Ostertages  erwähnt:  *)  „Er  ist  auferstanden  der 
gute  Hirte, "  dessen  wir  in  der  Beschreibung  der  kirchlichen  Feier  bereits  ausfülirlich  gedachten.  Das 
Halleluja  zieht  sich  hin  durch  diesen  Gesang,  seine  einzelnen  Abschnitte  treimend,  und  ihn  beschliefsend; 
in  dem  elgenthümlidien  Verhältnisse  zu  dem  Ganzen,  das  er  ihm  gegeben,  zeigt  Gabriel!,  in  welchem 
Sinne  er  kirchUclie  Lobgesänge  aufgefafst  habe.  Auch  hier  hat  er  zehn  Stimmen  in  zwei  fünfstimmige 
Chöre  gesondert,  einen  höherer,  den  andern  lieferer  Stimmen.  Külni  aufstrebend  in  den  weiteren  Ton- 
verhältnissen der  Quinte  und  Octave,  verkünden,  einander  nachalunend,  die  einzelnen  Stimmen,  in  dem 
höheren  Chore  zuerst,  dann  in  dem  tieferen,  in  beiden  vereinten  Chören  zuletzt,  die  Auferstehung  des 
Erlösers ;  ein  kurzer,  bewegter,  durch  die  Drei  geregelter  Salz  wiederholt  diese  Kunde ;  beide  Chöre  nim- 
mehr greifen  nachahmend  in  einander;  endlich  tritt  die  höchste  Stimme  Ihnen  einzeln  nach,  Indem  sie 
die  Untersllmme  ihres  Chores  (einen  Tenor)  nachahmt;  während  sie  über  dem  Ganzen  beherrschend 
sdiwebt,  wird  auch  hier  die  Täuschung  erregt,  als  trete  ein  dritter  Chor  hinzu.  Nun  folgt  das  Halleluja, 
aber  nicht  jubelnd;  feierUch  gemessen  steigen  die  Oberstimmen  der  mit  ihm  wechselnden  Chöre  die  dia- 
tonischen Stufen  hinauf  und  liinab,  als  solle  in  den  Scli\\'ung  des  Lobliedes  heiliger  Friede  und  Ernst 
durch  sie  einkehren,  das  hohe,  gclieimnifsvolle  Wunder  der  Auferstehung  in  tiefer  Anbetung  gefeiert  wer- 
den. So  Ist  das  Halleluja  auch  ferner  zwischen  die  Hauptabsätzc  des  Gesanges  hineingewoben,  im  Ge- 
gensatze gegen  das  kühnere  Hinauf-  und  Hcrabschwingen  der  Rlelodle  in  denselben;  in  diesem  Sinne  be 
schhefst  es  endlich  das  Ganze.  In  der  Grundtonarl  desselben,  der  versetzten  dorischen,  ist  die  Nei- 
gung zum  Aeollschen,  IMixolydischen  und  Ionischen  die  vorherrschende.  Eine  Wendung  nach  A  mit 
vollem  Schlüsse  würde  (mit  Rücksicht  auf  den  Grundion  des  Ganzen,  G  mit  kleiner  Terz)  ims  eine  Aus- 
weichung nach  dem  welchen  Phrygischen  mit  gänzlicher  Aufhebung  seiner  EigenthümUchkeit,  völliger 
Verwandlung  desselben  in  das  Ionische  erscheinen  können,  belelirte  uns  nicht  die  kurz  vorangegangene 
Modulation  nach  D  mit  bestimmt  vorherrschender  grofser  Sexte  eines  anderen;  wie  sie  ohne  Zweifel  ein 


')  Beispiel  I.  B.  1. 


—     168     — 

Uebergang  ist  in  das  iirsprünglidie  Dorische,  nicl»t  das  versetzte  Aeolische,  so  ist  jene  sich  an  sie  schlie- 
fsende eben  so  offenbar  eine  \^endung  in  das  ursprüngliche  Aeolische,  und  die  Bemerkung,  z.u  welcher 
unseres  IMeislers  sechsstiinmiges  Miserere  uns  früher  veranlafstc,  findet  hier  nicht  Anwendung. 

Aehnlich  ist  das  Verhiiltnifs  des  Ilalleiuja  in  einem  siebenstimmigen  Gesänge  mixoivdi.scher  Ton- 
art für  das  Plingstfest.  ')  Er  gehört  2U  denen,  von  welchen  wir  im  Eingänge  erwähnten,  dafs  sie  in  der 
Sammhuig  der  symplioniae  sacrae  nicht  enthalten  sind,  die  unser  Meister  im  Jahre  1597  zu  Venedig 
herausgab,  und  den  vier  Sölmen  des  Marcus  Fugger  zueignete.  Zuerst  findet  er  sich  in  dem  zweiten 
Theile  einer  unter  gleichem  Titel  zu  Nürnberg  bei  Paul  Kaufmann  in  den  Jahren  1598  und  1600  er- 
schienenen Sammlung  geisthcher  Gesänge  deutscher  und  italienischer  IMeisler;  in  einer  ebenfalls  gleich- 
namigen Sammlung  sodann,  welche  Kaspar  Hafsler  um  1613  ebendaselbst  herausgab,  sämmiliche,  in  beiden 
Theilen  der  früheren  zerstreuten  Werke  Gabrieli's,  im  Ganzen  sechs  und  zwanzig,  darin  zusammenfassend. 
Wahrsclieiulicli  kam  er  durch  Hans  Leo  Hafsler,  des  Herausgebers  Bruder,  Gabrieli's  Freund,  -s'ielleicht 
als  ein  Geschenk,  nach  Deutschland,  imd  erschien  defshalb  früher  dort,  als  in  des  IMeisters  Vaterstadt. 
Entschietle  auch  nicht  das  erste  Jahr  seiner  Bekanntmachung  (ist  es  schon  das  letzte  des  seclizehnten 
Jahrhimderts,)  so  würde  doch  sein  ganzer  innerer  Bau  uns  veranlassen  ihn  der  früheren  Periode  GabrieU's 
angehörig  zu  halten. 

Die  ihm  zu  Grunde  liegenden  Worte  zeigen  eine  ähnliche  Anordnung,  ein  gleiches  Hineingreifen 
des  Ilalleiuja,  als  das  so  eben  betrachtete  Responsorium.  ..Heute  sind  vollendet  die  Tage  der  Pfingsten, 
Halleluja:  heute  erscliien  feurig  der  heilige  Geist  den  Jüngern,  Halluja:  und  geAvährle  ihnen  die  Gaben 
der  Gnade,  Halleluja:  und  sandte  sie  aus  in  die  ganze  V^elt,  zu  predigen  und  zu  bezeugen,  dafs  wer 
glaube  und  die  Taufe  empfange  selig  werde,  Halleluja,  Halleluja,  Halleluja."  AucJi  hier  ist  das  Halleluja 
zwischen  die  einzelnen  Absclmitte  des  Gesanges  hineingewoben,  und  durch  seine  ganze  Gestaltung  vor 
ihnen  ausgezeiclmet.  Jene  zeigen  kurze  Sätze  in  geradem  Tacle,  fheils  fugirte,  tJieils  die  Stimmen  in 
Wechselchöre  theilende,  theils  beide  Arten  der  Behandlung  verbindende;  das  Halleluja  erscheint,  durcli 
die  Drei  gemessen,  belebter,  bewegter.  Nun  ist  es  aber  hier  die  harmonische  Behandlung,  wie  dort  die 
melodische,  welche  bei  allem  erhöhten  Aufschwimge,  ihm  des  Gepräge  feierlichen  Ernstes  leiht.  In  den 
Hauptsätzen  nämlich  nämlich  tritt  die  heitere,  ionische  Beziehung  des  Slixolydischen  allezeit  herrschend 
hervor,  wie  es  dem  frohen  Feste  geziemt;  jeder  andere  Anklang  wird  durch  sie  bald  verdrängt,  das  ver- 
setzte, dann  das  ursprüngliche  Phrygische,  wie  es  in  den  getheilten  Chören  des  dritten  Abschnittes  vor- 
übergehend erscheint,  dient  nur  dazu,  jener  vorherrschenden  Ausweichung  ein  noch  festlicheres  Gepräge 
zu  geben.  Das  Halleluja  dagegen  bezeichnet  durchgängig  der  milde  Ernst  des  Dorischen,  den  bewegteren 
Schritt  des  Rhythmus  sänftigend;  in  diese  Tonart  wendet  überall  das  Mixolydische  gleich  Anfangs  sich 
hin,  und  das  Aeolische  wird  nur  ergriffen  um  sogleich  in  das  Dorische  zurückzukehren.  Endlich  behaup- 
tet auch  in  dem  letzten  Hauptsatze  das  Dorische  den  Vorrang  über  das  Ionische,  und  dieses  klingt  erst 
in  dem  letzten  Halleluja  wiederum  an,  das  aber  nunmehr  das  Maafs  nicht  ferner  ändert,  sondern  gleichen 
Schrittes  mit  dem  Hauptsatze  dem  Ende  entgegengeht.     So   ist  durch  das  Ganze  ein  gleicher  Ton  har- 


')  Behpiel  I.  B.  t. 


—     169     — 

monisch  festgehalten,  dasselbe  erreicht,  ^vie  in  dem  Kesponsorium  des  Osterfestes,  obgleich  der  Mannigfaltig 
keit  unbeschadet,  denn  es  ist  durdi  verschiedene  Älittel  geschehen.  Die  Stimmführung  bei  dem  schliefsenden 
Halleluja  ')  zeigt,  wenn  wir  die  guten  Tacttheile  allein  beachten,  eine  Folge  von  fünf  Octaven  zwischen 
zwei  mittleren,  von  vier  Quinten  in  den  äufsersten  Stimmen,  beides  im  Absteigen,  sind  sie  auch  durch 
Zwischenwendungen  der  einen  von  ihnen  für  das  Auge  vermieden,  durch  Bindungen  und  \  orhalte  auch 
für  das  Ohr  fast  durchaus  vertilgt.  \VolIte  unser  Meister  vielleicht  durch  die  That  zeigen,  auf  welche 
Weise  ähnliche  Fortschreitungen,  die  wir  sonst  niemals  bei  ihm  antrefien,  eingeführt  werden  dürften,  der 
Regel  ungeachtet,  welche  sie  verbiete?  Wir  fmden  einen  ähnlichen  Gang  bei  seinem  Schüler  Heinrich 
Schütz,  *)  den  Gabrieli  also  wahrscheinUch  mit  seinen  Ansichten  auch  hierüber  hekannt  machte,  imd  ihn 
überzeugte;  eine  blofse  Nachläfsigkeit  hat  bei  der  offenbar  hervortretenden  Absichtlichkeit,  bei  der  fleifsi- 
gen  Ausarbeitung  aller  seiner  Tonstücke,  gewifs  hier  nicht  statt  gefunden. 

Den  höchsten  Ton  des  Lobhedes  stimmt  Gabrieh  an  in  einem  Abschnitte  des   sieben  und  vierzig- 


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')  S.  den  Sehlu/s  des  Beispiels  II.  A.  8  i«m  vorletzten  (V.)  Ahschnitte  des  iweifen  Uauptstückes  im  Zteeiten  Theile.  Gäu 
ge  ähnlicher  Art  waren  in  der  ersten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  sehr  beliebt,  vnd  kommen  bei  den  besten  Mei- 
stern vor:  to  finden  wir  bei  Herrmann  Schein  in  seinem  ., Israel' s  Briinnlein"  Leipzig  1623.  den  folgenden: 


V.  V.  Wiuicrfeld.  Job.  Gabrieli  u.  s.  Zeitalter. 


22 


—     170     — 

gten  (Vul^.  46.)  Psalmes,  der  für  das  Fest  der  Himmelfahrt  bestimmt  ist  ')  Ein  Theil  der  Worte  dieses 
Psalmes  folgt  unmittelbar  dem  Eingänge  zu  dem  Hochamte  jenes  Tages;  einzelne  Verse  Idingen  durch 
die  ganze  Feier  des  Festes  hin.  „Alle  Völker,  froldocket  mit  Händen,  und  jauclizet  Gott  mit  fröhlichem 
Schalle.  Denn  der  Herr,  der  Allerhöchste,  ist  erschrecklich,  ein  grofser  König  auf  dem  ganzen  Erdboden. 
Er  wird  die  Völker  unter  uns  zwingen  und  die  Leute  unter  unsere  Füfse.  Er  erwählet  uns  zum  Erb- 
tlieil,  die  Herrliclikeit  Jakobs,  den  er  hebet.  Gott  fähret  auf  mit  Jauchzen,  und  der  Herr  mit  heller  Po- 
saune, Halleluja!"  Vier  Chöre  von  abgestufter  Höhe,  ein  jeder  zu  vier  Stimmen,  finden  sich  liier  ver- 
einigt. In  kurzen  Zwischenräumen  tritt  gleich  zu  Anfange  dem  beginnenden  höchsten  Chore  die  volle 
Harmonie  der  übrigen  allmählich  hinzu,  die  ganze  Klangfülle  sechzehn  wesentlich  wirksamer  Stimmen 
vor  dem  Hörer  ausbreitend;  dann  wirken  jene  vier  Chöre,  bald  gleich  vier  einzelnen  Stimmen  gegenein- 
ander, (meist  in  dem  gemessenem,  ruliigeren  Theile  des  Gesanges,  der  durch  die  Zwei  geregelt  wird)  bald 
treten  sie,  in  dieser  Verbindung  mannigfach  wechselnd,  in  zwei  achtstimmigen  Chören  sich  gegenüber,  deren 
innerer  Bau  aber  ein  reges  Leben  aller  einzelnen  Stimmen  zeigt,  und  dieses  in  den  bewegteren,  durch  die 
Drei  geordneten  Abschnitten,  bei  den  Worten:  „frohlocket  mit  Händen"  „Gott  fähret  auf  mit  Jauchzen," 
Endlich  in  dem  Sclilufssatze  „und  der  Herr  mit  heller  Posaune,"  lös't  das  Ganze  sich  auf  in  lebhafte 
Nachahmungen  einzelner  Stimmen,  und  ihre  Verbindung  zu  besonderen  Chören  tritt  gänzlich  zurück;  die 
übrigen  Stimmen,  in  gehaltenen  Tönen  eine  quintenweise  Folge  harter  und  weicher  Dreiklänge  ausstrah- 
lend, bilden  die  Grundlage,  auf  welclier  dieses  rege  Leben  sicli  bewegt,  eine  ernste,  feierliche  Einfassung 
um  jenes  reiche  Bild.  UnwillkührUch  werden  wdr  dabei  erinnert  an  jenes  Gesiclit  Dantes  im  Paradiese 
von  dem  klaren  Strome,  aus  welchem  leuchtende  Tropfen  sprühen  in  die  Kelclie  der  Blumen  die  ihn 
umkränzen,  und  dann  wieder  hinabtauchen  in  seine  Fluth.  Und  damit  jene  grofsartige  Pracht  auch 
kirchUches  Gepräge  trage,  ist  das  Dorische  in  seinen  ursprüngUchen  Grenzen  als  Grundton  gewählt,  und 
durch  das  Ganze  hin  unbedingt  vorherrschend;  die  ionischen,  mixolydischen  Anklänge  bezeidmen  nur  die 


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Pur  den  Kunstwerth  der  Hervorbringungen  jener  Zeiten  werden  ir fr  tie  billigerweise  nicht  zum  Maafsstabe  wählen. 
»)  Beispiel  I.  B.  3. 


—     171     — 

helleren  Lichtpunkte.  Es  möchte  niclit  das  Streben  allein  gewesen  sein,  die  Feier  jenes  Festes  der  \n- 
herrlicliung  des  Erlösers  auf  würdige  Art  zu  schmücken,  welche  unseren  Meisler  bewogen  hat,  eine  solche 
Fülle  von  Glanz  neben  allem  heihgen  Ernste  eben  hier  vor  uns  zu  entfalten.  Ein  vaterländisches  Fest 
Vcnedig's  schlofs  unmittelbar  jener  Feier  sich  an,  das  der  Vermählung  mit  dem  Meere;  und  sind  jene 
Psalmenvcrse  auch  der  kirchlichen  Feier  ausschliefsend  angehörig,  so  dafs  sie  bei  dem  vaterländischen 
Feste  nirgend  vorkamen,  so  erinnert  doch  Einzelnes  in  ihnen  an  dasselbe;  eben  zu  Anfange  jene  Ver- 
heifsung  der  Herrschaft,  deren  dieses  Fest  (wenn  auch  in  anderem  Sinne)  als  eines  dauernden  Besitz- 
timms sich  freute.  Damals  aber  durfte  eine  sinnbildhche  Handlung  wie  jene,  welcher  das  ganze  Fest 
als  seinem  Mittelpunkte  sich  anschlofs,  noch  eine  bedeutungsvolle  genannt  werden,  nicht  war  sie,  wie 
später,  herabgesunken  zu  einem  blofsen,  der  Schaulust  dienenden  Prunkaufzuge.  iNoch  herrschte  Vene- 
dig, wenn  auch  schon  verfallend,  wirklich  auf  dem  Meere;  ein  glorreicher  Sieg  über  den  Erbfeind  der 
Christenheit  lebte  noch  in  frischem  Andenken;  der  Venediger,  gewohnt,  das  Leben  des  Staates,  wo  es 
öffentlich  hervortrat,  in  bedeutsamen  Sinnbildern  dargestellt  zu  sehen,  wo  es  sich  verbarg,  als  eine  ge- 
heime, den  Feind  der  Ordnung  unausweichhch  und  sicher  ereilende  Macht  zu  fürchten,  bhckte  mit  Ver- 
ehrung und  heüiger  Scheu  auf  jene  geheimnifsvollen  Begehungen,  aber  auch  mit  dem  stolzen  ße%vufst- 
sein,  selber  ein  GHed  jenes  erlauchten  Freistaates  Cserenissima  repnblicaj  zu  sein.  So  dürfen  denn  An- 
klänge dieses  Gefühles  bei  unserem  Meister  nicht  befremden,  ziunal,  wenn  wir  uns  erinnern,  dafs  eben 
jenes  Jahr,  in  welchem  der  von  ims  betrachtete  Gesang  öffentlich  erschien,  und  wahrscheinlich  auch  ge- 
schaffen ist  (1597)  durch  ein  anderes  seltenes  vaterländisches  Fest,  die  Krönung  der  Gemalilln  des  Doge, 
verherrlicht  wurde,  dessen  Feier  (am  vierten  Mai)  den  Tag  der  Himmelfahrt  nahe  berührte,  die  festliche 
Stimmung,  und  deren  ganze,  durch  Ort  und  Zeit  bedingte  eigenthümliclie  Färbung  dauernd  erhielt. 

Ist  in  diesem  und  den  meisten  der  im  Vorigen  vorübergeflÜirten  Gesänge  jener  Wechsel  des  Ge- 
wichts bei  bleibender,  gleichgemessener  Zeitdauer  der  einzelnen  Töne  (dessen  wir  als  einer  Besonderheit 
der  älteren  Tonkunst  gedachten)  mehr  oder  minder  vorherrschend,  so  tritt  er  in  Gabrieh's  achtstimmiger 
Behandlung  des  achten  Psalmes  *)  „Herr  unser  Herrsclier,  wie  herrhch  ist  dein  Name  in  allen  Landen" 
auf  bedeutsame  Weise  als  Grundcharakter  des  Ganzen  heraus.  Nicht  verhält  es  sich  hier  wie  in  Palestri- 
nas  achtstimmigem  Stabat  mater,  wo  in  dem  Wechsel  der  Chöre  aus  der  Zwei  gleichmäfsig  die  Drei 
hervorblülit,  dann  jene  völlig  zurückdrängt,  in  erweiterten  Rhythmen  majestätisch  sich  entfaltend,  bis  sie 
ruhig  am  Schlüsse  wiederum  in  jene  sich  zurückzieht;  der  hohe,  prophetische  Ton  dieses  Lobliedes  er- 
laubte nicht  eine  ruhige  Entfaltung  solcher  Art.  Ein  scheinbar  willkülirliches  Hin-  und  Herwogen  der 
Töne  tritt  uns  hier  entgegen,  doch  läfst  es,  genauer  betrachtet,  einen  geordneten  Bau  erkennen,  der,  von 
dem  inneren  Sinne  auch  lebhaft  gefühlt,  bei  allem  grofsartigen ,  begeisterten  Schwünge,  doch  jede  leiden- 
schaftüche  Beweglichkeit  ausschliefst.  Es  ist  die  wachsende  Wärme  der  immer  lebendiger  in  das  Be- 
wufstsein  tretenden  Begeisterung,  die  nach  der  Eigentliümhchkeit  jedes  heiligen  Gesanges,  auf  ver- 
schiedene Weise  sich  offenbart  bei  unserem  Meister.  Läfst  er  in  anderen  seiner  Gesänge,  hier,  eine  der 
mittleren  Stimmen  aus  der  Tiefe  sich  aufscliwingen,  bis  an  die  äufserste  Grenze  ihres  Umfanges  sich 
hinbewegen,  und  melodisch  bedeutsam  hervortreten  vor  den  übrigen;  läfst  er  sie,  obgleich  von  ihnen 
umgeben,  ihnen  scheinbar  unterliegend,  dennoch  das  Ganze  beherrschen;  läfst  er  dort  in  dem  Vereine 
mehrer  Stimmen  die   eine  über   alle   hinausschreiten,    und   harmonisch  bedeutsam,    den  Zusammenklang 


'")   Beispiele  I.    B.   4.   n.  b. 

22 ' 


—     17-2     — 

eigenthümlich  gestalten  und  färben:  so  ordnen  in  unserem  Psalme  Töne  von  durchgängig  gleich  gemesse- 
ner Zeitdauer  in  feierlich  ernstem  und  dodi  anmuthigen  Wechsel  zu  Gliedern  verschieden  geordneten 
inneren  Baues  sich  zusammen.  Bald  erscheinen  sie  gedrängter,  bald  mehr  ausgebreitet,  und  wie  sie  sich 
zusammenziehen,  dann  sich  geraumer  entfalten,  entsteht  jene  Täuschung,  als  finde  eine  beschleunigte, 
eine  langsamere  Bewegung  statt,  während  ein  gleiches  Maafs,  ein  unverändertes  Verhältnifs  der  einzelnen 
Töne  in  ihrer  Zeitdauer,  durch  das  Ganze  hin  obwaltet.  Defshalb  auch  ist  jeder  einzelnen  Stimme  das 
Zeichen  des  geraden  Tactes  vorangesetzt,  die  durchhin  herrschende  Abstufung  nach  dem  Doppelten  und 
der  Hälfte  anzudeuten.  Nun  könnte  daraus  zwar  die  Folseruna:  erwachsen,  es  sei  nicht  wirklicher 
Wechsel  des  Gewichtes  vorhanden  wo  man  lim  anzutreffen  meine,  sondern  jene  vorübergehende  Auflie- 
bung  desselben  durcli  tlle  Synkope  sei  gemeint.  Allein  dieser  Meinung  wlderspriclit  schon  der  Anfang 
des  Gesanges  auf  das  Bestimmteste;  denn  hier  finden  wir  beides,  Wechsel  des  Gewichts  und  Synkope, 
ein  jedes  In  seiner  vollen  Eigenthümllchkelt  gegenüber  gestellt.  Bei  jenem  gehen  alle  Stimmen  glelch- 
mäfsig  mit  einander  fort,  Länge  und  Kürze  der  Tonzeichen  entspricht  der  redegeniüfsen  Betonung  jeder 
einzelnen  Sylbe  der  gesungenen  heih'gen  Worte;  hienach  gestalten  sich  ungezwungen  verschiedene,  eigen- 
thümlich gegliederte  rhythmische  Abtheilungen  des  Gesanges.  Ein  durchgehend  gleichförmiges  Gewiclit 
\vürde  der  Anführende  hier  nur  durch  Bewegung  seines  Körpers,  oder  merklich  hörbares  Niederschlagen 
festhalten  können,  und  Beides  finden  wir  bereits  von  Zeitgenossen  ausdrücklich  verboten,  oder  als  zweck- 
widrig getadelt,  und  mit  vollem  Rechte;  denn  das  Gewicht,  der  belebende  Pulsschlag  jeden  Gesanges,  soll 
in  den  Tönen  allein  sich  offenbaren,  welche  die  Ausführenden  vortragen;  diesen  nur  soll  der  Tactscldag 
das  gleichförmige  Zusammenstimmen  erlelclitern,  nicht  soll  er  dem  Hörer  auf  störende  Welse  durch  fremd- 
artiges Geräusch  im  Verständnisse  nachhelfen  wollen.  Auf  Weclisel  des  Gewichts  wie  er  hier  beschrie- 
ben v/orden,  wo  keine  Proportion  im  Sinne  der  älteren  Tonlehre  statt  findet,  und  die  Schläge  allerdings 
durchhin  gleich  bleiben,  darf  jene  Vorschrift  Sebald  Heydens  wörtlich  gedeutet  werden:  dafs  Innerhalb 
eines  Tonstücks  überhaupt  nur  einerlei,  und  zwar  die  einfachste  Art  der  Schläge  anzuwenden  sei;  dann 
aber  deuten  sie  auch  nur  das  Zeltmaafs  Im  engeren  Sinne  an,  ohne  das  Gewicht  zu  bezeichnen. 
Ganz  anders  stellt  die  Synkope  sich  dar,  wie  sie  bald  nacliher  zu  Anfange  unseres  Gesanges  eintritt. 
Dem  beginnenden  tieferen  Chore,  wenn  er  auf  die  beschriebene  Weise  die  Worte  vorgetragen  hat:  „Herr 
unser  Herrscher,  wie  herrlich  Ist  dein  Name"  sclillefst  dann  der  höhere  sich  an,  und  In  den  vollen  Klän- 
gen beider  Chöre  ertönen  nunmehr  die  Worte  „In  allen  Landen."  Sechs  Stimmen,  In  kanonischer  Nach- 
ahmung begriffen,  halten  In  dieser  ein  gänzlich  gleichförmiges  Tactgewicht  fest,  während  zwei  andere, 
(die  Ober-  und  die  Unterstimme  des  höheren  Chores,)  auf  ähnliche  Welse  nachahmend  verflochten,  das 
Gewicht  durchaus  verscliieben,  und  In  dem  Gegensatze  gegen  jene  die  eigenthümllche  Wirkung  der  Syn- 
kope erst  hervorbringen.  In  dem  Eingange  des  Psalmes  Ist  durch  das  gleiche  Maafs,  während  im  begei- 
sterten Aufschwünge  der  Gesang  seine  Glieder  mannigfach  entfallet,  docli  heilige,  hohe  Ruhe  bewahrt;  es 
gemahnt  uns  jener  rhythmische  Wechsel,  jene  durch  ihn  offenbarte  steigende  \Värme  der  Begeisterung, 
an  Dante's  Paradies,  wo  die  Seligen  im  freudigen  Wiedersehen  der  Ilirlgen  von  hölicrem  Lichte  verklärt 
glänzen,  und  diese  Freude  doch  nicht  eine  leidenschaftliche  ist,  sondern  nur  ein  Abglanz  des  Lichtes,  das 
aus  dem  Quelle  e^vige^  Liebe,  ewigen  Lebens  stammt,  das  bald  in  die  Tiefe  des  Innern  sicli  zurückzieht, 
dann  nadi  Aufsen  dringend  die  Erscheinung  verklärt,  und  dennoch  Immer  dasselbige  bleibt.  —  Ueber 
dem  vollen.  In  geordneter  Bewegung  sodann  hinwogenden  Tonstrome  beider  Chöre  herrsclit  aber  auch 
hier  wiederum  (%vie  in  jenem  Bittgesänge   für  die  Leidenszelt)  die   obere   Stimme  vor  i'ber  alle  andere, 


—     173     — 

indem  sie  das  Gewicht  aufhebt;  wie  die  Macht  und  Herrlichkeit  des  Herrn  über  alles  Erschaffene  ver- 
breitet ist,  Ordnung  und  Waafs  auch  da  offenbarend,  wo  beides  sicli  unserem  Auge  verbirgt.  Und  wie 
gleich  Anfangs  das  Gemüth  sich  emporgeschwungen  zum  Anschauen  dieser  Herrlichkeit,  so  entfaltet  sie 
auch  im  Fortgange  sich  vor  ihm,  bald  in  mächtigeren  bald  in  zarteren  Klängen:  auf  gleiche  Weise  wie 
im  Beginne  sind  die  Worte  gesungen:  „aus  dem  Munde  der  Kinder  und  Säuglinge  hast  du  dein  Lob 
bereitet"  „Mas  ist  der  Mensch,  dafs  du  sein  gedenkest,  und  des  ]\Ienschen  Kind,  dafs  du  seiner  dich  an- 
nimmst," nur  dafs  sie  hier  in  den  helleren  Tönen  des  höheren  Chores  erklingen.  Der  Schlufs  des  Gan- 
zen aber,  dem  Psalme  übereinstimmend,  der  mit  seinen  Anfangsworten  endet,  fülirt  auch  den  Beginn  des 
Gesanges  Aviederum  zurück;  allein  nun  kündigt  er  in  den  vollen  Tönen  beider  Chöre  sich  an,  grofsar- 
tiger  und  nachdrücklicher  den  heiligen  Lobgesang  krönend. 

Wir  können  die  Betrachtung  der  von  unserem  Meister  durch  seine  Töne  belebten  kirchlichen 
Lobgesänge  nicht  schliefsen,  ohne  sie  zuvor  nocli  einem  derselben  zugewendet  zu  haben,  den  seine  Zeit 
unter  allen  besonders  hochhielt;  nicht  die  kathohsche  Kirche  allein,  sondern  auch  die  evangelische.  Es 
ist  das  Magni/icaf,  der  Lobgesang  der  Maria,  von  dem  Evangelisten  Lucas  im  sechs  und  vierzigsten  bis 
fünf  und  fünfzigsten  Verse  seines  ersten  Kapitels  aufgezeichnet.  In  ihm  erklingt  die  letzte  prophetische 
Stimme,  welche  das  Heil  verkündet,  das  nun,  da  die  Glitte  der  Zeiten  gekommen,  sichtlich  ersclieinen 
werde  in  der  sündigen  Welt.  In  demüthiger,  gläubiger  Hoffnung  preiset  es  diejenige,  welche  zum  Werk- 
zeuge seiner  Erscheinung  gewählt  worden  war,  xmd  in  üirem  IMunde  tönt  der  Gesang  als  eine  Ahnung 
des  Frühlings,  der  nun  herbeikomme,  da  der  ^Vinter  Aergangen  sei,  die  Blumen  hervorspriefsen  im  Lande ; 
jener  heiligen  Erneuung  des  Herzens,  da  das  steinerne  liinweggenommen ,  das  fleischerne  an  seine  Stelle 
gesetzt  sein  werde;  jener  Zeit  der  Gnade,  da  des  Herrn  Barmherzigkeit  für  und  für  bleibe  mit  denen,  die 
ihn  fürchten,  da  er  seinem  Diener  Israel  auflielfe,  seiner  erlösenden  Liebe  und  Gnade  eingedenk.  In 
diesem  Sinne  setzt  die  katliolisdie  Kirche  diesen  Lobgesang  bei  der  Feier  des  Abendgottesdienstes  (der 
Vesper)  bedeutsam  entgegen  den  prophelisclien  Worten  des  hundert  und  zehnten  (^  ulg.  109)  Psalmes 
von  dem  neuen  Königreiche  des  Herrn,  auf  welches  er  selber  hindeutet  (Malth.  XXII.,  42  —  45;)  aber 
sie  stellt  ihn  auch  an  den  Festen  der  Maria  mit  anderen  Psalmen  In  Verbindung,  durch  welche  sie,  die 
hohe  Stelle  rechtfertigend,  welche  in  Ihrem  gottesdienstlichen  Leben  der  IMutler  des  Herren  beigelegt 
wird,  diese  selber  als  bedeutungsvolles  Vorbild  der  Kirclie  darzustellen  strebt.  Denn  betrachten  wir  das 
ganze  kunstreiche  Gebäude  des  katholischen  Gottesdienstes,  so  finden  wir,  dafs  darin  überall  die  christ- 
liche Kirche  ersclieint  als  eine  schon  in  ihrer  irdischen  Gestalt  vollendete  \'erklärung  des  alten  jüdischen 
Gesetzdienstes.  Dort  nun  galt  Jerusalem,  die  heilige  Stadt,  als  erwählter  Sitz  des  Herrn,  als  der  Ort, 
wo  allein  ihm  die  Gaben  seines  Volkes  dargebracht  werden  durften:  Diejenige,  in  welcher,  leiblich  und 
geistig,  er  \Vohnung  gemacht,  in  der  sein  irdisches  Leben  herangereift  war,  die  seine  erste  Pflegerin  ge- 
wesen, die  Worte  der  Verhelfsung,  die  Zeichen  der  Erfüllung  in  reinem  Herzen  demülhig  bewegt  hatte, 
ihm  zuletzt  bis  unter  das  Kreuz  gefolgt  war,  sollte  nun  audi  als  sein  heiligster  Tempel  gefeiert  werden, 
als  Fürbitterin  gelten  bei  ihm,  die  Gebete  der  Gläubigen  vor  ihn  bringen.  Und  so  sind  denn  auch  der 
hundert  und  ein  und  zwanzigste,  hundert  und  sechs  und  zwanzigste  und  hundert  und  sieben  und  vier- 
zigste Psalm,  alle  bezüglich  auf  die  heilige  Stadt,  an  den  Festen  der  IVIaria  in  prophetischen  Zusammen- 
hang gebracht  mit  ihrem  Lobgesange,  welcher  die  Abendfeier  schliefst,  wie  mit  den  weissagenden  Worten  des 
hundert  zehnten  Psalmes,  welche  sie  beginnen.  In  diesem  Sinne  ertönen  die  Verse:  „Ich  freue  mich 
dessen,  das  mir  geredet  ist,  dafs  wir  werden  in  das  Haus  des  Herrn  gehen,  und  dafs  imsere  Füfse  wer- 


—     174     — 

(Ion  sielicn  in  deinen  Thorcn,  Jenisalem;    Wo  der  Herr  nicht  das  Haus  bauet,  so  arbeiten  umsonst,    die 
daran  bauen;  Preise  Jerusalem  den  Herren,  lobe  Zion  deinen  Gott."     So    freilich   ehrt   nicht   die   evange- 
lische Kirche  die  Mutter  des  Herrn,  und  ihren  in   der  heiligen  Schrift  aufgezeichneten  Lobgesang;    sie 
preiset  nicht  selig  „den  Leib  der  ilui  getragen,  und  die  Brüste,  die  ihn  gesäugt,"  wie  jenes  Weib,    deren 
Rede  er  bericlitigte,  sondern  seinem  Ausspruche  gemäfs  „die  Gottes  Wort  (wie  Maria  gethan)  hören  imd 
bewalnen. '     Sie  verwarf  und  verwirft  jenen  Dienst,  der  die  Anbetung,    welche  dem  Schöpfer   allein  ge- 
bührt, auf  das  Geschöpf  überträgt,  und  Hülfe  und  Erlösung  bei  derjenigen  sucht,    die  den  Herrn  geprie- 
sen, der  ihre  Niedrigkeit  angesehen,  die  (nach  Luthers  Auslegung  unseres  Lobgesanges)  „sich  aller  Güter 
und  Ehren  nichts  angenommen,  und  nichts  mehr,  denn  eine  fröhliche  Herberge  und  wilUge  Wirlhin  sol- 
chen Gastes  gewesen,  die  einfältig  und  gelassen  gebheben,  dafs  sie  darum  nicht  hätte    eine   geringe   Magd 
unter  sich  gehallen. '     Aber  mit  dem  grofsen  Anfänger   der  Glaubensreinigung  hält  sie  jenen  Lobgesang 
hoch  „dessen  Wort  daher  gehet  aus  grofser  Inbrunst  und  überschwängUclier  Freude,    darin  sich  Gemüth 
und  Leben  von  inwendig  im  Geiste  erhebt;"  und  eben  so  preis't   sie  mit   ihm  Maria  selig   „welche  nicht 
mehr,    denn  Gottes  Gütigkeit  angesehen,    und  nur  in  derselben  ihre  Lust   und  Freude  gehabt,"    welches 
(nach  seinen  Worten)  ist  „eine  hohe,  reine,  zarte  Weise  zu  lieben  und  zu  loben,  die  wohl  eignet  einem 
solchen  hohen,  zarten  Geiste,  als  dieser  Jungfrauen  ist."     Um  defsvnllen  blieb  denn   auch   das  Magnificat 
den  Evangelisclien  eine  herrliche  Aufgabe  für  die  heilige  Tonkunst,  in   deren   Lösung   sie   gern   dem   Ge- 
brauche der  alten  Kirche  sich  anschlössen.     „So  hoch   (sagt  Prätorius   in   der   Vorrede    zu   semer  Mega- 
lynodia  Sionia  1611)  hielten  die  frommen  Alten   jenen  herrlichen  Lobgesang,    dafs   sie  in  allen  Tönen 
imd  ihren  Abarten  ihn  abzusingen  hebten,  nach  Gelegenheit  der  Sonn-  und  Festtage;"    auch  Luther,   der 
hohe  Mann,  nannte  dieses  hohe  Lied  „einen  Meistergesang,  werth  eine  Stelle  bei    dem   abendlichen   Got- 
tesdienste einzunehmen;"  denn  mit  IMaria  dankt  am  Abende  dem  in  den  letzten  Zeiten,  im  neuen  Bunde 
erschienenen  Messias  die  demüthige,    unwürdige  Kirche,    und  freut  sich  der  Barmherzigkeit  Gottes  gegen 
die  Niedrigen  und  Verachteten,  der  Macht  Christi  über  die  Stolzen  und  Verächter,  der  Treue  des  Herrn, 
womit  er  seine  Verheifsungen  erfüllt."     Von  den  Verirrungen  der  Lehre,  eines  ausgearteten  Dienstes,  un- 
gestört, forsclite  man  so  dem  frommen  Sinne  nach,  der  in  beiden  ursprünglicli  ruhte,  obgleich  mannigfach 
überkleidet  und  entstellt;  die  Kunst,  meist  die  heihge  Freistätte,  in  die  er  sich  zurückzieht,  lehrte  ihn  am 
sichersten  erkennen,  und  so  finden  wr,  selbst  in  jener  Zeit  der  durch  die  Lehre  immer  tiefer  gehenden 
Spaltung,  des  immer  schrofler  hervortretenden  Gegensatzes,    auch  solche  Gesänge  treffhcher  ItaUenischer 
Meister,  deren  Worte  die  heilige  Jungfrau  ganz  in  kathohschem  Sinne  preisen  imd  sie  anrufen,  von  Evan- 
•^ehschen  hochgeehrt  und  vn\]ig  aufgenommen;  die  Worte  freihch  allezeit  so  gewendet,    dafs  wenn   auch, 
dem  Geiste  der  Töne  gemäfs,  die  Verklärung  der  Demuth,  das  aus  zarter,  jungfräuhcher  Blüthe  ahnimgs- 
voU  entspriefsende  höchste.  Alles  erlösende  Leben  gefeiert  blieb ,  die  Ehre  doch  allein  Dem  gegeben  wurde, 
dem  sie  überall,  und  an  heiliger  Stätte  zumal,  ausschliefsend   gebülirt,    und    Bitte  und  Dank  Demjenigen 
zugewendet,  aufser  welchem  kein  Heil,  und  kein  Name   den  Menschen  gegeben  ist,   als  der  Seine,  darin 
sie  könnten  selig  werden.      Solche  Aufnahme  des   wirklich   Geisligen,    Frommen,    Erhebenden   aus   dem 
Dienste  der  alten  Kirche,  rechtfertigt  —  selbst  bei  demjenigen,  was  die  evangelische  Kirche  am  schärfsten 
von  der  kathohschen  schied,  dem  Mefsopfer,  der  Anrufung  der  Heiligen  —  Prätorius  (in   der  Vorrede  za 
seiner  ßJis.sudia  SioniaJ    auf  seine  eigenthümliche  Weise.     „Von  jenem   eiteln,  abergläubigen  Dienste 
durcli    Gottes   Gnade    erlöst  (sagt  er),    tragen    wir  doch  seinen  Gesang  auf  Gottes  wahre  und  fromme 
Verehrung  mit  Recht  über,    nicht  anders,    wie  die   Kinder  Israel  die   goldenen  und  silbernen   GefaEse, 


—     175     — 

den  Raub   der  Aegypter,    womit   diese    Mifsbrauch  getrieben,    dem  rechten   Gebrauche  im   HelligtJiume 
weihten. 

Darin  nun,  dafs  man  beiderseits  in  der  harmonischen  Entfall ung  des  Lobgesanges  der  Maria  am 
liebsten  „den  Tönen  und  ihren  Abarten"  (tonis  fonommque  differentns)  sich  anschlofs,  offenbart 
sich  auch,  dafs  man  ihn,  seinem  Sinne  gemäfs,  mehr  als  demüthiges  Danklied,  denn  als  festlichen  Jubel- 
gesang aufgefafst  habe.  Wenn  Prätorius  an  der  angefülirten  Stelle  jenes  in  der  Ursprache  und  Ueber- 
setzung  mitgetheilten  Ausdrucks  sich  bedient,  so  hat  er  dabei  nicht  die  Kirchentöne  im  Sinne,  wie  die- 
selben nach  der  Lehre  des  Seth  Calvisius  von  xms  früher  betrachtet  worden  sind,  sondern  er  meint  da- 
mit die  alten  kirchlichen  Intonationen  oder  Tropen,  eingedenk,  dafs  ihnen  ältere  Tonmeister  eben  hier 
sich  vorzugsweise  angeschlossen  hatten;  jenen  ehrwürdigen,  altertliümlichen  Ueberresten,  deren  Kenntnifs 
auch  Seth  Calvisius  empfiehlt,  obgleich  er,  den  Tonarten  gegenüber,  von  ihnen  aussagt,  „dals  sie  das 
Wesen  derselben  weder  richtig  andeuten,  noch  entfalten,  selten  innerhalb  ihrer  wahren  Grenzen  anheben, 
meist  auf  ungehörige  Weise  schUefsen."  Defshalb  herrsdit  bei  ihnen  und  ihrer  harmonischeu  Entfaltung 
die  weiche  Tonart  auch  bei  weitem  vor  über  die  harte,  welche,  streng  genommen,  nur  zweimal,  im 
secJisten  und  achten  Tone,  bei  ihnen  angetroffen  -svird.  W^ollten  wir  (wie  es  Spätere  gethan)  des  Seth 
Calvisius  Lehre,  seiner  bestimmt  ausgesprochenen  Verwahrung  entgegen,  auch  auf  die  Tropen  anwenden: 
so  wären  freilich  die  vier  ersten  dorischer  und  phrygisclier  Art,  also  Molltöne  im  Sinne  unserer  heutigen 
Tonkunst;  die  vier  letzten  lydischcr  und  mixolydischer  Abkunft,  imd  mithin  Durtöne;  beide  hienach,  die 
harte,  wie  die  weiche  Tonart  in  gleichem  Maafse  bei  ilmen  anzutreffen.  Allein  bei  diesen  vier  letzten 
vornelmdich  zeigt  es  sich,  wie  richtig  Seth  Calvisius  über  sie  geurtheilt,  wie  sehr  durch  den  allgemeinen 
Gebrauch  der  Zeitgenossen  sein  LTrtheil  sich  rechtfertige.  Die  kirchUche  Intonation  des  fünften  Tones 
nämlich  (welcher  ■\aelen  für  lydisch  oder  doch  ionisch  gelten  soll)  schliefst  niclit  in  y,  sondern  in  a,  der 
Oberterz  dieses  Tones;  als  wirklichen  Scblufston  aber,  nicht  in  der  gedachten  Beziehung  auf  das  für  den 
Grundton  des  Ganzen  angenommene  f  haben  die  vorzüglichsten  Meister  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
jenes  a  immer  angesehn,  wenn  sie  diese  Intonation  harmonisch  entfalteten,  sei  es  dafs  sie  dieselbe  als 
festen  Grundgesang  ihrem  Tongewebe  unterlegten,  oder  die  belebenden,  bewegenden  Gedanken  aus  der- 
selben entnahmen.  So  Palestrina  in  seinem  Magnificat  des  fünften  Tones  zu  vier  Stimmen,  so  die  Nie- 
derländer Leschenel  und  Orlandus  Lassus  in  den  ihrigen  (1557,  1567),  so  endUch,  .den  von  Choron  in 
neuester  Zeit  herausgegebenen  Bruchstücken  zufolge,  wiederum  Palestrina  in  einem  fünfstimmigen 
Magnificat,  Bonifazio  Pasquale  von  Bologna,  Cristoforo  Morales  ').  Durcli  einen  solchen  Schlufs- 
fall  aber  wird  der  vollstimmige  Gesang,  wenn  er  aucli  in  der  ionischen  Tonart  anhebt,  doch  endlich  in 
das  Aeolische  hinübergeleitet,  ja,  durch  Anwendung  des  h  in  das  versetzte  Phrygische:  die  Freude  geht 
über  in  das  Gefülil  demütliigen  Dankes  oder  tiefer  Anbetung.  Die  siebente  der  kirchliclien  Intonationen 
wendet  sich  in  der  Älitte  nacli  d  und  endet  in  a;  von  den  alten  Tonlehrern  hätte  keiner,  mochte  ihnen 
aucli  der  siebente  Ton  (aber  in  ganz  anderem  Sinne)  für  mixolydisch  gelten,  eben  sie  dieser  Tonart  an- 
seeignet.  Ihre  harmonische  Entfaltung  zeigt  bei  den  besten  Meistern  jener  Zeit,  den  melodischen  Wen- 
dungen angemessen,  allezeit  vorherrschenden  dorischen  Charakter  (höclistens  mit  zufalliger  Hinwendung 
nach  der  mixolydischen  Tonart)  und  aeolischen  Schlufs.  So  in  Palestrina's,  so  in  Orlandus  Lassus  Mag- 
nificat des  siebenten  Tons  (1567),  so  endhch  in  den  von  Choron  aufgestellten  Beispielen,  drei  ausgenom- 


')  S.  Ckuron.  principes  de  eompositiou  des  e'coles  d'Italie  etc,  Tom  IIJ.  Cmqaieme  ton.     Beispiel  3.  4.  5. 


—     176     — 

men  (das  erste,  zweite  und  sechste),  welche  wirklich  mixolydisch  sind,  und  denen  zufolge  er  hier,  wie 
bei  dem  fiinflen  'l'onc,  die  Intonation  und  die  Tonart  völlig  verwechselt,  sein  sonst  verdienstliches  und 
lelirreiches  \Verk  fiir  den  Lernenden  zu  einer  Quelle  von  Zweifeln  und  Verwirrungen  gemacht  hat.  — 
Dieses  nun  erwogen,  so  erhalten  wir  unter  den  achtfachen  Magnificat  jener  Zeit,  \'ier,  von  entschieden 
weicher  Tonart  (die  der  vier  ersten  Töne),  zwei,  welche  in  der  weichen  Tonart  enden,  bei  denen  die 
harte  sich  anllös't  in  jene  (die  des  fünften  und  siebenten  Tones)  und  nur  zwei  endlicli  von  entschieden 
harter  Tonart,  in  so  weit  nämUch  das  Ionische  und  Mixolydische  mit  unseren  Durlönen  übereinstimmen, 
die  Magnificat  des  sechsten  und  achten  Tones.  Bei  weitem  also  herrscht  die  weiche  Tonart  hier  über 
die  harte;  die  Demuth,  das  Bewufstsein,  so  Grofses  sei  der  Lobsingenden  geschehen  ohne  Verdienst,  sie 
habe  es  empfangen  als  ein  Geschenk  der  Gnade,  spricht  vor  Allem  als  Grundgefiihl  sich  aus.  Hieraus 
wird  es  erklärlich,  wefshalb  auch  die  spätere  Zeit,  selbst  da,  wo  sie  der  kirclilichen  Intonation  sich  nicht 
anschlofs,  dennoch  dem  Magnificat  am  hebslen  eine  weiche  Tonart  aneignete.  Audi  Johannes  Gabrieli, 
dessen  Magnificat  durchaus  freie  Erfindungen  sind ,  verfuhr  bereits  auf  gleiche  Weise.  Seine  symphoiiiae 
sacrae  vom  Jahre  1597  enthalten  zwei  Magnificat ;  das  eine  in  zwei  vierstimmigen  Chören  in  der  ursprüng- 
lichen dorischen  Tonart,  das  zweite  zu  drei  Chören  in  der  versetzten  Tonart  gleichen  Namens.  Der 
nach  seinem  Tode  von  Aloys  Grani  um  1615  herausgegebene  zweite  Theil  dieser  Sammlung,  meist  seine 
späteren  Werke  entlialtend,  hat  uns  drei  Magnificat,  zu  zwölf,  vierzehn  und  siebzehn  Stimmen  aufbewahrt. 
Von  diesen  ist  nur  das  zwölfstimmige  ionisch  (aus  dem  sechsten  Tone)  und  da  es,  den  Schlufs  und  das 
Gloria,  so  vie  die  vorangehende  Intonation  abgerechnet,  durchaus  im  ungeraden  Tacte  gehalten  ist,  stellt 
es  sich  dar  als  ein  Versuch  (für  eine  besondere  Gelegenheit  vielleicht)  auch  diesem  demüthigen  Lobge- 
sange  das  Gepräge  hoher  Festlichkeit  zu  geben,  wie  es  sonst  keiner  der  heiligen  Gesänge  unseres  Mei- 
sters in  diesem  Maafse  darstellt.  Die  Betrachtung  seiner  späteren  Werke  wird  uns  GelegenJieit  geben 
noch  einmal  darauf  zurückzukommen.  Seine  anderen  beiden  Magnificat  zeigen,  das  vierzehnstimmige  die 
versetzte  dorische,  das  siebzehnstimmige  die  versetzte  aeolische  Tonart.  Unter  fünfen  also  ist  nur  eines 
einem  harten  Tone  angehörig,  und  eben  dieses  tritt  auf  ganz  besondere  Art  aus  dem  Kreise  aller  seiner 
Werke  hervor. 

Das  ältere  dorische  Magnificat  Gabrieli's  zu  acht  Stimmen  '),  welche  in  zwei  Chöre,  der  eine  nur 
um  weniges  tiefer  gehalten  als  der  andere,  verlheilt  sind,  zeigt  die  Tonart  selber  als  harmonisch  beleben- 
den Grundgedanken,  wie  wir  eine  ähnliche  Behandlung  schon  bei  seiner  Bearbeitung  des  zwei  und  sech- 
zigsten Psalmes  fanden.  In  weiteren,  in  engeren  Zwischenräumen,  M'ie  es  der  Inhalt  der  heiligen  AVorte 
erheisclite,  wechseln  die  Chöre  oder  treten  zu  vollslimmigem  Gesänge  zusammen;  Stellen,  wie  jene:  „es 
werden  mich  selig  preisen  alle  Kindeskinder"  „an  mir  that  Grofses"  „defs  Name  heilig  ist"  „die 
Hungrigen  füllet  er  mit  Gütern"  werden  durch  solchen  Verein  beider  Chöre  vor  den  andern  aus- 
gezeichnet, und  auch  hier  wiederum  sind  es  mannigfache  Anklänge  verwandter  Tonarten,  durch  welche 
im  Wechsel  der  Chöre  beide  vor  einander  herausgehoben,  und  doch  in  die  innigste  Beziehung  gesetzt 
sind,  in  welchen  die  trösthchen  Aussprüche  der  heiligen  Worte  auf  das  Zarteste  und  Kräftigste  erklingen. 
So,  in  ruhigem  Flusse,  strömt  der  heilige  Gesang  dahin,  bis  zu  der  Doxologie  „Ehre  sei  dem  Vater  und 
dem  Sohne  und  dem  heiligen  Geiste  u.  s.  w. ;"  zum  erstenmal  an  dieser  Stelle  ersclieint  der  Ton  des 
festlichen  Lobgesanges  bestimmter  ausgesprochen,    das   Ganze  rhytlimisch  belebter,   vde  denn  auch  hier, 


')  S.  Beispiel  J.  A.  5. 


—     177     — 

wenn  gleich  nur  auf  kurze  Zeil,  der  ungerade  Tact  eintritt.  Das  Ganze  schliefst  sich  völh'g  der  Behand- 
hing der  Vesper  im  ältesten  Kirchengcsange  an,  xuul  scheint  aus  den  von  Adrian  ^Villae^t  erfundenen 
gelheilten  Chören  lebendig  hervorgegangen,  welche  zunächst,  wie  wir  gesehen  haben,  auf  diese  Behand- 
lungsart gegründet  waren  ;  nur  dafs  bei  unserem  IMeister,  was  dort  nur  in  verschlossener  Knospe  ruhte, 
der  Geist  der  Tonarten,  hier  in  lebendiger  und  kräftiger  Entfaltung  sich  zeigt. 

Von  den  Tonwerken  Gabrieli's,  welche  der  Maria  als  Lob  und  Bittgesänge  besonders  geweiht 
sind,  heben  wir  zwei  heraus ;  einmal,  weil  sie  zu  denen  gehören,  die  auch  von  evangehschen  Zeitgenossen 
aufgenommen  wurden,  und  wir  daraus  auf  den  allgemeinen  Beifall  schliefsen  dürfen,  den  sie  damals  ge- 
nossen; dann  aber  auch,  weil  ihr  innerer  Bau  uns  zu  anziehenden  Betrachtungen  Veranlassung  giebt. 
Beide  sind  einander  auf  gewisse  Art  entgegengesetzt:  der  eine  beginnt  mit  Gebet,  und  schliefst  mit  Lob- 
gesang, wogegen  der  andere  mit  dem  Preise  der  heiligen  Jungfrau  anhebt,  und  mit  einem  Gebete  an  die- 
selbe endet.  In  dem  ersten  ')  wird  zu  Maria  gebetet:  „dafs  sie  den  Elenden  helfen,  die  Schwachen  stär- 
ken möge"  u.  s.  w.,  Bitten,  welclie  die  deutsche  Ausgabe  dieses  Gesanges  an  den  Erlöser  richtet.  Eine 
einzelne  Tenorstimme,  in  einer  einfachen  durch  zwei  ganze  Töne  (f — g  —  a.)  aufsteigenden  kirchlichen 
Intonation  beginnt  mit  dem  Anrufe  ..Saiicta  Maria"  und  diese  Intonation  ist  dann  der  bewegende 
Grundgedanke  der  folgenden  Stimmenverflechtung;  in  ihren  lang  aushallenden  Tönen  mit  einem  lebhafter 
bewegten  melodischen  Satze  verbunden,  auf  die  Worte:  „succurre  viiseris"  (liilf  den  Elenden)  wird  sie 
durch  diesen  Gegensatz  bedeutsam  hervorgehoben.  Dadurch  aber  gewinnt  diese  ganze  Ausführung  eine 
besondere  Klarheit,  dafs,  nachdem  ihr  Grundgedanke  im  Beginne  von  einer  einzigen  Stimme  vorgetragen 
worden,  er  sodann  zuerst  von  drei  der  höheren,  darauf  drei  der  tiefereu,  unter  den  sieben,  das  Ganze 
bildenden  Stimmen,  einfach  harmoniscli  entfaltet,  dem  inneni  Sinne  dadurch  nachdrücklich  eingeprägt 
wird,  dafs  die  reichere,  melodisch -harmonische  Entfaltung,  welche  dieser  einfacheren  sich  anreiht,  aus 
ihr  als  liöhere  Blüthe  sich  vor  uns  erschliefst,  so  wie  jene  aus  wenigen  einfachen  Tönen,  als  dem  Keime 
des  Ganzen  erwuchs.  Dieses  zarte,  imd  doch  feierliche  Ausbreiten  der  Töne  giebt  dem  heiligen  Gesänge 
einen  eigenen  Reiz,  und  es  ist  eine  sinnvolle  Anordnung  des  Ganzen,  dafs  die  folgenden  Bitten  kürzer 
gehalten  sind,  bis  zu  dem  preisenden  Schlufssatze,  der,  wie  das  Vorangehende  durch  die  Zwei  geregelt 
war,  nun  durch  die  Drei  beherrscht  wird,  deren  Eintritt  schon  in  dem  ^^orhergehenden ,  wo  die  Bitte 
leise  verhallt,  durch  rhythmischen  \^  eclisel  angekündigt  wurde ;  dafs  nun  statt  jenes  zarteren  Tongewebes, 
wie  es  der  Bitte  geziemte,  über  einen  scharf  rhythmisch  gestalteten  Grundgedanken  ein  anderes  angelegt 
wird,  in  welchem  der  Ton  des  Lobliedes,  das  am  Sclilusse  wiederum  in  einen  breiten,  feierlich  verrin- 
nenden Tonstrom  ausgeht,  auf  das  Bestimmteste  erklingt,  im  Gegensatze  gegen  das  beginnende  Gebet. 
Die  Tonart  des  Ganzen  ist  die  versetzte  ionische;  zu  Anfange  hat  Gabrieh  sogar  die  lydischc  anklingen 
lassen,  indem  er  bei  der  einhich  harmonischen  Entfallung  des  Grundgedankens  den  Tritonus  (in  seiner 
Versetzung  als  verminderte  Quinte)  sowohl  in  den  höheren  als  den  liefern  Stimmen  hören  läfst;  dem 
Tone  g  seine  Untersexte  ä  als  Unterslimme  beigesellt  imd  dieser  deren  falsche  Oberquinte  /  hinzufügt. 
In  der  Folge  erscheint  dieses  Tonverhält nifs  nur  noch  einm.il  in  der  Gestalt  des  Tritonus  b,  e.  gemildert 
jedoch  durch  die  kleine  ünterseptime  in  der  Grundstimme;  der  wesentliche  Septimenaccord,  eine  seltene 
Erscheinung  in  der  äUcren  Tonkunst,  die  gewöhnlichste  in  der  unsrigen,  tritt  hier  seiner  Seltenheit  we- 
sen  mit  überraschender  ^Virkun";  her^■o^. 


')   S.   Beispiel  1.   A.   6. 

t'.  ».  WUtcrfeW    Job.   Ualiricli    u.   I    ZrilillT  23 


—      178     — 

Aiulcis,  aber  nicht  weniger  sinnvoll  liat  unser  IMcisler  den  zweiten  * )  seiner  Gesänge  an  die  heilige 
Junnfrau  "corclnct,   dessen  ^^or^e   wir   vollständig  niitlheilen,   um   seine   Behandlung   daran    verfolgen   zu 
können:    «''^elig  bist  du  Jungfrau  jMaria;   was  du  geglaubt  hast,   ist  nun  alles  erfüllet,  was  dir  verheifsen 
worden;  siehe  nun  bist  du  erhöhet  über  die  Chöre  der  Engel.     Vertritt  uns  bei  Gott,  unserem  Herren!" 
Die  deniülhige,  gläubige  Hingebung  wird  hier  zuerst  gepriesen,   deren  Verherrliclmng  daim  gefeiert,    end- 
lich folüt  das  Gebet:  in  diesem  Sinne  auch  schliefst  den  Worten  die  Tonkunst  sicli  an.     Sechs  Stimmen 
bilden   das  Ganze,    die  Tonart  ist  die   aeolische.     Im  Beginne  des  Gesanges  waltet  diese  ausschlielsend 
vor,    und  auch  hier  wiederum  sondern   sich  zuerst  die  Stimmen  in   zwei  einander  nachklingende  Chöre; 
ein  höherer,  aus  den  drei  oberen  Stimmen  gebildet,  geht  voran,  ein  tieferer  hallt  seinen  Gesang  wieder. 
Doch  findet   nicht  blofse  einfach   harmonische  Entfaltung  eines  Grundgedankens  statt,    sondern   dieser  er- 
sclieint  sofort  in  dem  oberen  Chore,  und  sodann  in  dem  tieferen  ausgeführt  in  einem  dreistimmigen  Satze 
enger  ISaciialmmngen,   welche  endlich  im  Vereine  aller,  zu  einen  rein  seclisstimmigen  Satz  sich  verflech- 
tender Stimmen  beider  Chöre,   um  so    voller,   nachdrücklicher  erklingen.      Die  Tonart  allein   jedoch  läfst 
hier  sdion  nicht  zu,  dafs  der  höchste  Schwung  des  Lobliedes  ertöne;   dieser  bleibt  der  IMItte  des  Gesan- 
ges vorbehalten,   wo  die  Ionische  Tonart,    nachdem  bei  den  Worten   „was  dir  verheifsen"  sie  allmählich 
eln<^eleltet  worden,    hell  und  festlich  hervorstrahlt  bei  der  Stelle  „Siehe  mm  bist  du  erhöhet,"  und  nun 
eine  Verflechtung  z^^eIer  melodisclier  Sätze  beginnt,  eines  feierlich  langsam  sich  erhebenden,  um  welchen 
ein  lebendig  aufstrebender  In  fröhlichem  Jubel  sich  bewegt ;  als  solle,  wie  wir  es  auf  alten  Bildern  sehen, 
die  aus  dem    Blumengrabe   sicli   erhebende,    von   Engeln    umschwebte    Himmelskönigin  unserem   inneren 
Sinne   dargestellt  \\'erden.     Das  Gebet  einzuleiten,    welches  das   Ganze  sclillefst,    wird   hier  die  aeolische 
Tonart  zurückgeführt,    doch   erscheint  Uire  Rückkehr    nicht  als  ein   matter  Abfall;    eine  ^erbindung   von 
drei   einfachen   Dreiklängen   vielmehr  bringt    eine   völlig   enigegengesetzte   \Airkung   hervor.     Der    Gesang 
ist  in  das  Dorische  hin  übergeleitet  worden;  auf  dem  Grundtone  desselben,  J5,  ertönt  der  harte  Dreiklang 
zu  dem  Schlüsse  der  Worte  „Siehe  nun  bist  du  erhöhet,"    und  nun  bei   den  folgenden  „über  die  Chöre 
der  Engel"  bricht  unerwartet  der  Ionische  Dreiklang  heraus  aufC,  als  der  hellste,  strahlendste  Lichtpunkt 
des  Ganzen;    es   ist  als  offenbare   sich  uns   die  ganze  FüUe   einer  überschwänglichen  Herrlichkeit,    xmd 
wenn  nun  durch  den  so  leicht  und  ungezwungen  sich  anreihenden,  welchen  Dreiklaiig  auf  A  die  aeolische 
Tonart   wiederkehrt,    tritt   dieser   Schlufs  uns   entgegen  als    demüthiges  Hinsinken   vor  dieser  glänzenden 
Erscheinung.     So,    auf  ganz  gleidie  Welse  gefühlt,    erscheint  in  Händeis  älterem  Te  Deum   der  Schlnfs 
des  Heilig,  (nach  Hillers  lateinischer  Unterlegung  zu  den  Worten  „majestalis  glortae  tuae^')  nur  dafs 
dort  der  frülier  angestimmte  Ton   des   Lobliedes  auch   das  Gonze  kiönt,    und  dieses  nlclit  in   demüthi- 
ger  Anbetung  endet. 

Dem  Gebete  nun,  das  unseren  Gesang  beschliefst,  ist  ein  kurzer  Satz  mit  phrygischem 
Anklänge,  als  ruhender,  nicht  bewegender  Grundgedanke  untergelegt;  der  gebräuchlichen  Kunstworte 
uns  zu  bedienen,  nicht  als  Rlotiv,  sondern  als  cantus  ßrmus:  um  Um,  als  die  erste  Hälfte  des  Schlnfs- 
satzes  „Vertritt  uns"  soll  der  letzte  Theil  desselben  „bei  Gott  unserem  Herren"  im  Gesänge  sich  bewe- 
gen, ihn  belebend,  und  auch  von  ihm  Leben  empfangend.  Diesen  Grundgedanken  nun  läfst  Gabrieh, 
wie  er  es  in  dem  kurz  zuvor  betrachteten  Gesänge  getlian,  von  drei  der  höheren  Stimmen  zuerst,  dann 
von  den  drei  tieferen  einfach  harmonisch  entfalten;  dann  endlidi  strahlt  er,  von  dem  Gewebe  der  übrigen 


')  Beispiel  I.  A. 


—     179     — 

Stimmen  bald  umgeben,  bald  in  der  iiöchsten  Stimme  getragen,  bald  in  der  tiefsten  Stimme  das  ganze 
künstlielie  Gebäude  tragend,  in  ernster  Ruhe  vor  allen  lieraus.  So  wendet  das  Ganze  dem  Schlüsse  sieh 
zu,  der  auf  das  Dorische  zurückweist,  nachdem  kurz  vor  seinem  Eintritt  nach  das  Ionische,  der  Mittel- 
punkt des  Ganzen,  bedeutungsvoll  angeklungen  ist.  Dafs  unser  !\Ieister,  der  harmonischen  Entfaltung  im 
Sinne  seiner  Zeit  auf  seltene  Weise  mächtig,  mit  zartem  und  tiefem  Sinne  auch  das  Wesen  melodischer 
Entfaltung  aufgefafst  habe,  zeigen  uns  die  beiden  eben  vorübergcfüln-ten  Gesänge;  die  einfache  Gesaugs- 
weise  in  besclieidener  Einfalt,  wie  sie  ihr  iiuicres  Leben  zuerst  in  schlichten  Zusammenkläniren  ausströmt, 
dann  ein  ganzes  künstliches  Tongewebe  hen-schend  belebt,  ruhend  von  ihm  verklärt  wird. 

Schon  im  \  orhcrgchenden  ist  erwähnt  worden,  dafs  in  deutschen  Sammlungen  gleichzeitiger,  erle- 
sener geistliclier  Gesänge,  deren  vier  von  Gabricli  angetroffen  werden,  welche  ihrem  ganzen  \Vescn  zufolge 
seinem  frülieren  Kunstleben  angehören,  in  seinen  um  1597  zu  Venedig  erschienenen  symphoniis  saerlä 
aber  so  wenig,  als  deren  später  erschienenem  zweiten  Theile  mit  abgedruckt  sind,  obgleich  dieser  selbst 
einige  Werke  der  Sammlung  von  1587  wieder  mit  aufgenommen  hat.  Einen  dieser  Gesänge  haben  wir 
bereits  im  Verlaufe  dieser  Darstellung  näher  betrachtet,  jenen  siebenstimmigen,  dem  Pfingslfcste  angehöri- 
gen;  einen  zweiten  übergehen  wir,  da  er  nur  eine  wenig  verändernde  siebenstimmige  Umgestaltung  eines 
in  dem  ersten  Theile  der  symph.  sacr.  enthaltenen  aclitstimmigen  Gesanges  ist,  welche  (walirsclieinlich 
für  einen  uns  imbekannten,  besonderen  Zweck)  das  bearbeitete  Tonwerk  um  eine  Stimme  verminderte, 
die  Grundstiinme  aber  in  dem  ilir  friUier  ange\viesenen  bedeutenden  umfange  in  der  Tiefe  bescln-änkte; 
eine  Bearbeitung,  die  nachmals  von  dem  Meister  nicht  weiter  beachtet,  wohl  in  die  Hände  seiner  deut- 
schen Freunde  überging,  und  von  üinen  bekannt  gemacht  wurde."  Es  bleiben  uns  also  noch  zwei  dieser 
(iesänge  übrig,  deren  nähere  Belraclitung  wir  an  diesem  Orte  anschliefsen,  weil  sie,  der  eine  als  Lob-, 
der  andere  als  Bittgesang  ilire  Stelle  am  zweckmäfsigsten  hier  finden,  wo  wir  eben  von  diesen  beiden 
Formen  kirchlicher  Tonwerke  geredet  haben. 

Der  erste  derselben,  der  Lobgesang,  kommt  in  der  Gestalt,  wie  er  uns  vorliegt,  in  der  katholischen 
Liturgie  nicht  vor.  Er  zeigt  eine  Zusammensetzung  einiger  ^  erse  des  hundertsten  (Vulg.  99),  des  hundert 
acht  mid  zwanzigsten  (\  ulg.  127)  und  hundert  vier  uuil  dreifsigsten  Psalms ,  in  welcher  die  Beziehung 
auf  eine  besondere  Gelegenheit  nicht  zu  verkennen  ist.  „Jauchzet  dem  Herrn  alle  Welt '):  also  wird 
gesegnet  der  Mann,  der  den  Herrn  fürchtet.  Jauchzet  dem  Herrn  alle  Welt!  Der  Herr,  der  Gott  Israels 
vereine  euch,  und  er  selber  sei  mit  euch;  er  sende  euch  Hülfe  aus  dem  Heiligthume,  und  schütze  euch 
von  Sion.  Jauchzet  dem  Herrn  alle  \\elt!  Euch  segne  der  Herr  aus  Sion,  der  Himmel  und  Erde  ge- 
macht hat.  Jauchzet  dem  Herrn  alle  Welt,  dienet  ihm  mit  Freuden!"  Wir  sehen,  das  beginnende,  immer 
wiederkehrende,  das  Ganze  bescliLefsende ,  freudige  LoIj,  bildet  die  Einfassung  des  Gesanges;  dazwischen 
stehen  Segenswünsche,  weniger  an  eine  versammelte  Gemeine,  als  an  besondere  Personen  gerichtet. 
Dürften  wir  eine  Vermuthung  wagen,  welche  von  allen  \veiteren  historischen  Zeugnissen  zwar  cntblöfst. 
jedoch  nicht  ohne  innere  Wahrscheinlichkeit  ist,  so  hat  Gabrieh  diesen  Gesang  für  die  Krönung  der  Do- 
garessa  Morosina,  die  dabei  staltgefundene  kirchliche  Feier,  gefertigt;  jene  Festlichkeit,  deren  Bild  wir  be- 
reits vorüberführten,  als  wir  unseres  Meisters  Lebensereignisse,  das  Merk^\Tirdigste,  was  unter  seinen  Au- 
gen in  seiner  Vaterstadt  sich  zutrug,  berichteten.  Der  hundert  sieben  mul  zwanzigste  Psalm,  aus  welchem 
Vieles  in  unserem  Gesänge  entnommen  ist,  war  und  ist  noch  im  katholischen  Gottesdienste  bei  feierlicher 


')  Beispiel  I.  A.  8. 

•2,S 


—     180     — 

Einsegnung  der  Ehen  üblich;    nur  das   ßild   der  Frucht  barkeil,    das   er   uns  darstellt,    ist  hier   nicht  auf- 
genommen, denn  es  wird  nicht  ein  neuer  Bund  gesegnet,  sondern  ein  bereits  bestehender,  von  Eheleuten 
in  schon   vorgerücklem  Aller,    ein   Bund,    dadurch  erneuert,    dafs  der  zu  der  höchsten  Würde   erhobene 
Mann,  auch  seine  Gattin  zu  derselben  feierlich  emporhebt.     Diese  Kröumig  fand  statt  um  das  Jahr  1597, 
zu  derselben  Zeil,  wo  Gabrieh  den  ersten  Theil  seiner  symphoniae  sacrae  herausgab,  ihn  seinen  Gönnern 
und  Freunden,    den  vier  Brüdern  Fuggcr  in  Augsburg  zueignete;    was  aber  dem   gefeierten  Fürstenpaare 
damals  besonders  gewidmet  war,  durfte  ohne  Verletzung  des  Schicklichen  nicht  leicht  in  eine  Sammlung 
aufgenommen  werden,    welche,   laut  ilijer  Zueignung,   bei  einer   ähnlichen  Veranlassung  den  auswärtigen 
Freunden   des   Meisters  als   Ilochzeitgeschenk   dargeboten   wurde.     Wahrscheinlich   also  ist   um   jene  Zeit 
unser   Gesang  —  wie    überhaupt    gelegentliche   Kunstwerke  —  besonders   abgedruckt,    und   als   einzelnes 
Blatt  bei   der  von  Gabrieli's  Schüler,  Aloys  Grani,  achtzehn  Jahre  später  veranstalteten  Herausgabe  seines 
Nachlasses  übersehen  worden;  wogegen  Georg  Gruber,  sein  Nürnberger  Freund,  der  in  demselben  Jahre 
(1C15)   Gabrieli's   und  Hafslcr's   „Reliquien"   herausgab,    ihn   in   seine  Sammlung  aufgenommen    hat.     Er- 
schienen war  er  bereits  zwei  Jahre  früher  (um  1613)  zu  Strafsburg,  in  dem  dritten  TheiJe  von  Abraham 
Schadäus  prowi^j/HnrtMwi  niHsicnm,  einer  höchst  schätzbaren  Blumenlcse  heiliger  Gesänge  der  letzten  Hälfte 
des   sechzehnten   Jahrhunderts;    auch   erwähnt  seiner   gelegcnthch   Friedrich  Weissensee   schon    eilf  Jahre 
zuvor  (1602)   in  der   Vorrede   seiner    unter   dem   Titel   ..opus   meliriim"  zu   Magdeburg  herausgegebenen 
Sanunlung  eigener  Beispiele  von  Behandlung  der  Tonarten.     Dafs  er  also  dem  sechzehnten  Jahrhunderte 
angehöre,  dürfen  wir,  zeigte  es  auch  nicht  sein  ganzer  innerer  Bau,   doch  aus  äufseren  Umständen  eben- 
falls schhefsen.     Mit  besonderer  Liebe  ist  er  gearbeitet,  und  ohne  Zweifel  eines  der  vorzügliclisten  Werke 
unseres  Meisters.     Die  Tonart  ist  die  ionische  in  ihrem  ursprünglichen  Umfange ;  die  Stimmen  sind  durcli- 
gängig  in  ihren   hohen  Tönen  angewendet,    das  helle,    glänzende,    festliche  Gepräge   der  Tonart  nocli  zu 
vermehren.     Wir  besitzen  zwar  viele  Gesänge  aus   jener  Zeit  —  und  einige  unseres  Meisters   haben   wir 
schon  früher  betrachtet  —  durch    welche  ein   oftmals   wiederkehrender  Zwischensatz   hingewoben  ist, 
wie  das   Ilalleluja  durch   die  Gesänge   des   Osler-  und   Ptlngslfestes ;    in   dem   vorhegenden   aber  ist  jenes 
wiederkehrende:   „Jauchzet  dem  Herrn  alle  Well"   der  Hauptsatz  des  Ganzen;    der,  wenn  auch  immer 
unverändert  zurückgefiilirle,  doch  mannigfach  entfaltete  Grundgedanke;  und  dieser  Art  finden  wir  We- 
niges unter  den  Werken  der  Zeitgenossen.     In  zwei  Stimmen  und  ihrer  engen  kanonischen  Nachahmung 
erscheint  allezeit  dieser  Grundgedanke;  in  den  höchsten  zuerst,  dann  kehrt  er,  absteigend,  immer  in  zwei 
gleich  gepaarten  wiederum  zurück.     Den  beiden  oberen  Stimmen,  wie  sie  erst  langsam  aufsteigend,  dann 
sinkend  um  sich   wieder  höher   zu  erheben,    in  schnell  hinrollcnden  Tönen   endhch  sich  aufzuschwingen, 
einander  jubelnd  überschreiten,  sich  nachahmend  überflügeln,  treten  im  Beginne,  fast  nur  eine  volle  Har- 
monie aUmähhg  ihnen  unterbauend,  die  andern  hinzu;  dann,  wie  der  Hauptgedanke  in  den  tieferen  Stim- 
men nach  und  nach  ersclieint,  gesellen  auch  sie  sich  dem  fröhlichen  Aufschwünge  des  Gesanges,  die  hö- 
heren zumal;   nur  die  tiefsten  Sthnmen,    obgleich  allmähhg  lebhafter  bewegt,  haben  bei  dreimaliger  Wie- 
derkehr des   „Jauchzet"   das  Gepräge   der   ernsten   Grundlage    des   Ganzen   nocli   nicht  ^•erlol•en:    da   tritt 
endhch  auch  in  sie  der  Hauptgedanke  ein,    der  nun  alle  Stimmen  bewegt,    alle  im  Strome  der  Begeiste- 
rung forlreifst.     Diese  allmälilige,  sinnige  Entfaltung,  wie  wir  sie  in  den  Werken  unseres  Meisters  schon 
öfter  wahrgenommen   haben,    zeigt   sich   hier   auf    eigenthündiche   Weise   das   Ganze    durchdringend,    es 
in   immer    erneuetem   Schwünge    erhebend;     dabei    ist    durch    das    allezeit    festgehaltene,     durch    ein- 
zelne Anklänge  verwandter  Tonarten  nur  zuweilen  unterbrochene  Ionische   ein  Glanz  ergossen  über  den 


—     181 


Gesang,  wohlgcziemcnd  dem  heiteren  Gepränge,   das,  wie  wir  gern  voraussetzen,  ihn  umgab,  durch  ihn 
eine  neue,  tiefere  Bedeutung  erliielt. 

Der  zweite  von  den  unserer  Betrachtung  hier  vorbchaltenen  Gesängen  ist  siebenstimmig,  entlehnt 
aus  dem  Gebete  Salomons  bei  der  Weilie  des  Tempels  (1  Könige  8,  28  ff.)  ').  „Wende  dich  zum  Gebet 
deines  Knechtes,  und  zu  seinem  Flehen,  HeiT,  mein  Gott,  auf  dafs  du  hörest  das  Lob  und  Gebet,  das 
dein  Knecht  heute  vor  dir  thut,  dafs  deine  Augen  offen  stehen  über  dieses  Haus,  Nacht  und  Tag."  Als 
Responsorium  begleiten  diese  Worte  die  Vorlesungen  aus  der  Gescliichte  der  Könige  Juda,  denen  in  der 
katholischen  Kirclie  die  Zeit  vom  Trinitatissonntage  bis  zum  ersten  August  geweiht  ist;  bedeutsam  treten 
sie  hinein  zwischen  die  ^Vorte  der  Erzaldung  von  der  Salbung  Salomons,  seiner  ^Vahl  der  Weisheit  vor 
allen  Gütern,  der  Herrlichkeit  des  Ilerni,  die  sein  Haus  erfüllt,  der  Wiederauölndung  des  Gesetzes  unter 
Josias,  der  endliclien  Zerstörung  des  Tempels:  liier  wederum,  wie  so  oft,  eine  prophetische  Hindeutung 
auf  die  in  der  Kirche  offenbarte  Verklärung  des  alten  jüdisclien  Dienstes.  Allein  befremdend  ist  es,  eben 
sie  in  dem  römischen  Ponlifical  nicht  unter  denjenigen  zu  finden,  die  bei  den  mannigfachen  Gebräuchen 
für  Weihung  neuerbauter  Kirchen  vorgeschrieben  sind.  Dennocli  —  bei  so  manclien  Abweichungen  der 
venedischen  Liturgie  von  der  römischen,  ihrer  rein  gregorianischen  Grundlage  ungcaclitet  —  möcliten 
wir  behaupten,  Gabrieli  habe  sein  Werk  für  eine  Feier  solcher  Art  besonders  geschaffen,  und  es  bei  die- 
ser Gelegenheit  einzeln  herausgegeben;  es  verhalte  sicli  also  mit  ihm  auf  ähnüclie  Weise,  wie  mit  dem 
kurz  vorher  betrachteten.  Zwei  Fälle  der  Weihung  neuer  Kirchen  nämhch  ereigneten  sich  zur  Zeit  sei- 
ner Amtsfülirung,  während  der  höchsten  Blütlic  seines  frülieren  künstlerischen  Strebens.  Venedigs  Doge 
und  Senat  hatten,  um  1576,    während  in  der  Stadt  die  furchtbarste  Pest  wüthete,    ein  Gelübde  gethan, 


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etc. 


—     182     — 

wcim  die  Wulh  der  Seuche  nachlasse,  dem  Erlöser  eine  Kirche  zu  erbauen.  Schon  im  August  desselben 
Jahres  ')  erhielten  Augustin  ßarbadigo  inul  Anton  ßragadin  den  Auftrag,  einen  schicklichen  i'lalz  für  den 
Aufbau  auszusuchen;  am  ein  und  zwanzigsten  September  \\ählle  der  Senat  unter  den  vorgeschlagenen 
denjenigen,  wo  sie  noch  jetzund  auf  der  Gludecca  steht  '^).  Im  folgenden  Jahre  1577  am  dritten  Mai 
lc"ie  Johannes  Trivisano.  damals  Patriarch,  den  Grundstein  ^),  fünfzehn  Jahre  später  war  sie  vollendet, 
und  erhielt  am  sieben  luul  zwanzigsten  September  1592  •*)  die  Weihe  durch  den  Patriarchen  Lorenz 
Priuli  im  achten  Jahre  der  Amtsführung  unseres  iMeistcrs,  und  fünf  Jahre  nachdem  er  neben  den  nachge- 
lassenen Werken  seines  Oheims  Andreas,  auch  treffliche  eigene  Gesänge  herausgegeben  hatte. 

Aclit  Jahre  später  jedoch  (um  1600)  ^)  weihte  der  ebengenannte  Patriarch  abermals  eine  zweite, 
nicht  neu  erbaute,  aber  durch  den  fiommcn  Eifer  einer  edlen  \'enedigerin,  Perpetua  Pasquahgo,  erneuerte 
Kirclie.  Es  war  die  der  heihgeu  Jnstina,  seit  dem  glorreichen  Siege  zu  Lepanto,  (1571)  der  an  dem 
Festtage  dieser  Heiligen  erkämpft  wurde,  das  Ziel  eines  jährlichen,  feierlichen  Kircligangs  des  Doge,  imd 
für  Venedig,  jener  Veranlassimg  wegen,  ein  besonders  w  erlh  geachtetes  Heiligthnm.  Zwischen  den  beiden 
fesüiclien  Tagen  der  einen  und  der  andern  Weihe  schwankt  imsere  Vcrmulhung;  doch  möchten  wir  uns 
lieber  für  den  letzten  entscheiden,  als  denjenigen,  welchem  Gabrieli  sein  Werk  bestimmt  habe;  denn 
eben  hier  war  keine  Veranlassung  für  Ihn  vorhanden,  dasselbe  von  der  um  1597  herausgegebenen  Samm- 
lung auszuscldicfsen ;  leichter  dürfte  es,  um  1600  einzeln  erschienen,  bei  der  späteren,  erst  nach  dem 
Tode  unseres  Meisters  von  seinem  Schüler  veranstalteten,  übersehen  worden  sein.  Auch  hier  verdankt 
Deutschland  seinem  Freunde  Gruber  in  INurnberg  die  Bekanntmachung  eines  trefflichen  \Verkes,  wenn 
aucli  nicht  die  früheste;  denn  uni  1612  schon  hatte  es  Abraham  Schadäus  In  den  zweiten  Tliell  seines 
zu  Strafsbnrg  erschienenen  jjronqjluarü  musicl  aufgenommen. 

Dieser  Gesang  Ist  eines  der  vorzüglichsten  Werke  unseres  Kleisters  im  fugirten  Stile  seiner  Zeit. 
Jedem  Hauptgedanken  der  heiligen  Worte  schliefst  sich  ein  melodischer  Satz  innig  an,  und  wird  von 
den  einzelnen  Stimmen,  meist  in  enger  Nachahmung,  doch  ohne  sich  au  streng  kanonische  Folge  zu  bin- 
den, ausgefüJn-t;  dann  tritt  ein  zweiter  den  folgenden  Worten  angeeigneter  hinzu,  und  so  bis  zum  Schlüsse 
flicht  sich  das  Gewebe  der  Stimmen  fort.  In  nie  unlerbrochenem  Strome  des  Gesanges.  W  ie  der  Eintritt 
jeder,  den  Hauptgedanken  des  eben  vorwaltenden  Satzes  entfaltenden  Stimme,  so  Ist  auch  das  Hineindrin- 
gen  jedes  -neuen  bewegenden  Gedankens  bezelclmend  und  nachdrücklich  herbeigeführt;  eine  jede  Stimme 
scheint  nur  Ihrer  selbst  willen  da  zu  sein,  und  dennoch  wird  Ihre  Bedeutung  erst  dann  recht  lebhaft  ge- 
fülilt,  wenn  sie  den  andern  sich  anschliefst;  daneben  tritt  dann  auch  die  Eigenthümllchkcit  der  Grund- 
tonart, der  aeollschen,  ihre  Hinneigung  zu  der  phrygischcn  und  ionischen,  so  wie  zu  der  dorischen,  über- 
all bedeutsam  hervor.  Eben  dieser  besonderen  Liebe  wegen,  welche  In  der  Ausfülirung  überall  hervor- 
leuchtet, und  in  dem  kurzen  Zeiträume  weniger  Minuten  ein  so  belebtes,  vollendetes  Bild  uns  vorüber- 
führt, ist  nicht  zu  glauben,  dafs  Gabrieli  dieses  sein  Werk  anders  als  für  eine,  ihm  besonders  werthe 
Feier  geschaffen  habe,  oder  dafs  er  es,  einmal  vollendet,  von  einem  Kreise  solcher  Werke  habe  ausschlie- 
fsen  wollen,  die  er  lieben  Freunden  und  liochgeachteten  Gömiem  als  ehrende  und  erfreuhche  Gabe  dar- 
bot —  eine  genügende  Ursache  für  die  Annahme,  dafs  es  zu  der  späteren  Weihe  der  Kirche  der  heiligen 
Juslina  um  1600  bestimmt  gewesen ,  damals  In  einzelnem  Abdrucke  erschienen ,  und  dann ,  sei  es  seiner 
in  Vencdi-  schon  allgemeinen  Verbreitung  wegen,  oder  weil  die  Handschrift  des  Meisters  nicht  mehr  vor- 


'^    f'ergl.  Flaminü  Coroelii  etc.  Eccleaiae  f'eneiac  XJ.  p.  13.      ')  Ib.  p.   17.      ')  p.    18.      ')  p.  19.      ')  p.  209. 


—     183     — 

handen  war,  in  die  nacli  seinem  Tode  in  seiner  Vaterstadt  herausgekommene  Samndung  seines  iSachlasses 
nicht  wieder  aufgenommen  worden. 

Es  Weihen  ims  nunmehr  solche  Gesänge  unseres  Meisters  allein  zu  hetracliten  noch  übrig,  die 
wir  darstellende  nennen  möchten,  verkündende  imd  weissagende;  die  mit  Worten  der  Schrift  oder  auch 
der  Sage,  Geschehenes  imd  Künftiges,  oder  heilige  Geheimnisse  ofFenbaren.  Eine  viel  gröfsere  Ausdeh- 
nung nehmen  diese  ein  in  der  katholischen,  als  in  der  evaugchschen  Kirche.  Hier  war  es  nur  die  Schrift, 
die  ilinen Eingang  sichern  konnte;  dort  war  auch  die Ueberlieferung  geheiligt,  sei  es  nun  die  blofs  münd- 
lich fortgepflanzte,  oder  die  neben  den  Urkunden  heiliger  Offenbanmg  durch  die  Berichte  glaubwürdiger 
Scliriftzengen  aufbewahrte.  Auch  diese  läfst  dort  in  heiligen  Gesängen  sich  hören  In  der  Kirche,  und 
fanden  wir  am  Osterfeste,  neben  anderen,  wörtlich  aus  der  heihgen  Schrift  entlehnten  Gesängen,  in  der 
Sequenz  ein  GespräcJi  der  Jünger  mit  Rlagdalena,  nicht  dem  Buchstaben,  doch  dem  wesentlichen  Inlialte 
nach  auf  die  Schrift  gegründet,  eine  dichterische  Erweiterung  des  dort  Aufgezeichneten;  so  lassen  an  an- 
dern Festen  auch  die  Stimmen  von  Glaubenszeugen  späterer  Jalirhunderte  zwischen  ^  orlesungen  und 
Gebeten  sich  yernelimen;  ja  völlig  persönlich,  gegenwärtig,  treten  diese  hervor,  als  gesdiehe  ihnen  vor 
den  Augen  der  Gemeine  eben  dasjenige,  wodin-ch  sie  ihren  Glauben  bewährten.  So  ertönt  im  Gesänge 
die  Kunde  von  der  heihgen  CäciUa,  welche  der  Sage  gemäfs  ihr  Leben  von  jedem  irdischen  Genüsse 
entfernt  hielt,  es  der  Betrachtung  göttlicher  Dinge  allein  weihte,  und,  nachdem  sie  ihren  heidnischen  Ver- 
lobten, dessen  der  Abgötterei  eifriger  noch  ergebenen  Bruder  bekehrt  hatte,  mit  Ihnen  den  ]\Iartertod 
erlitt.  „Als  nun  die  Flöten  (des  Iloclizeitreigens)  ertönten,  tönte  es  in  Cäcilia's  Herzen  allein  ihrem  Her- 
ren, und  sie  sprach:  „„Erhalte,  o  Herr,  Geist  und  Leib  mir  unbefleckt,  dafs  ich  nicht  zu  Schanden 
werde.""  So  hören  wir  sie  zu  dem  Bruder  Ihres  Verlobten  reden:  „„Heute  nenne  Ich  dich  wahrhaft 
meinen  Bruder,  da  die  Liebe  Gottes  dich  gelehrt  hat  che  Abgötter  verachten.  Gottes  Liehe  machte  deinen 
Bruder  mir  zum  Gemahl,  dich  mir  zum  Blutsverwandten.""  So  tritt  der  Apostel  Andreas  vor  uns  hin 
und  sein  Rlartertlmm,  in  jenem  Responsorium:  „Als  Andreas  das  Kreuz  erblickte  rief  er  aus:  „„o  du 
wunderwiirdiges ,  begehrenswerthes  Kreuz,  das  du  über  die  ganze  Welt  hin  strahlest,  nimm  auf  einen 
Jünger  Christi,  und  durcli  dich  nehme  Derjenige  mich  auf,  der  an  dir  starb  und  mich  erlöste."  Ganze 
Gespräche  selbst  ziehen  sicli  hin  durch  Psalmengesang  und  Vorlesungen.  So  \drd  am  Feste  des  helligen 
Laurentius  dessen  Zusammentieflen  mit  dem  zum  Tode  gehenden  römischen  Bischöfe  Sixtus  uns  vor- 
übergeführt ;  die  Klage  des  frommen  Priesters,  seinem  Biscliofe  niclit  folgen  zu  können,  dessen  Weissagung 
seines  baldigen  Martertodes.  „W^ohln  gehest  du,  ^'ater,  ohne  deinen  Sohn,  wohin  hcihger  Priester  ohne 
deinen  Helfer?"  Fröhhcli  eile  ich  zum  Tode.  „Also  verlassest  du  mich,  mein  Vater?  was  denn  an  mir 
hat  dir  mlfsfallen?  Siehe  zu  ob  du  einen  würdigen  Diener  an  mir  erwählt,  des  Herren  Leib  und  Blut 
zu  spenden!"  Nicht  verlasse  Ich  dich  mein  Sohn;  sondern  ein  grofserer  Kampf  erwartet  dich  für  Christi 
Glauben.  Einen  leichteren  Gang  zu  gehen,  ist  uns  Greisen  zugetliellt,  dich  aber  erwartet  ein  Sieg,  ruhm- 
würdi"-er  nocli,  über  den  Wüthericli."  —  Oft  und  mit  Vorliebe  finden  wir  um  jene  Zeit  Gesänge  eben 
solclier  Art  von  den  besten  Meistern  behandelt.  Von  l'alestrina  besitzen  wir  das  erwähnte  Responsorium 
der  heiligen  CäciUa  fünfstimmig');  von  Johann  Asula  aus  Verona  das  Gespräch  der  Heiligen  SLxtus 
und  Laurentius  achtstimmig  zu  zwei  Chören;  auf  älmhclie  Weise  hat  Leo  Leoni  aus  Vicenza  das  Ge- 
sprädi  Christi   mit  Petrus  behandelt  von    dem  Weiden  der  Schafe  und    dem  Amte   der  Sclilüssel    (aus 


')  Lib.  III.  Motel torum  etc.  t'eitetiis  1575. 


—     184     — 

Joli.  XXI.,  15  — 17.  uiul  Malth.  XVI.,  18.  19.  zusammengeseUt,  ohne  die  dort  befindlichen  verbindenden 
Worte  der  Erziibhmg);  so  anch  des  Herrn  Rede  zu  Paulus  bei  seiner  Bekehrung  und  des  Apostels  Ant- 
worten (Apost.  Gesch.  XX.,  3  —  6.)  ' ).  Unseres  Meisters  Werke  enthalten  ebenfalls  nianelies  hieher  zu 
redinende;  luul  können  wir  Gesänge  der  eben  betrachteten  Art,  wie  wir  es  zuvor  getlian,  darstellende 
nennen,  haben  wir  neben  diesen  noch  verkündende  und  weissagende  genannt;  so  wühlen  wir  nun 
aus  dem  ^'orrathc  der  Werke  Gabrieli's  drei  heraus,  wie  sie  jenen  drei  Arten  angehören,  vun  an  ihnen 
die  möglichst  allseitige  Betrachtung  seiner  eigenthümhchen  Behandlung  geistUcher  Tonkunst  während 
seiner  früheren  Wirksamkeit  fortzideiten  und  zu  beschhefsen. 

Die  Benennung  „darstellende  Gesänge"  freilich  dürfte  mancher,  und  nicht  zu  verwerfenden  Ein- 
wendung unterliegen.  Denn  die  Kunst  jeghcher  Art,  so  fern  sie  das  innerlich  Geschaute  hineinstellt  in 
das  Gebiet  der  Erscheinung,  ist  darstellend;  eine  Benennung  also,  die  einem  jeden  KunstAverke  ohne 
Ausnahme  gebührt,  möchte  wenig  geeignet  sein,  eine  gewisse  Kunstrichtung  ausschliefsend  zu  bezeichnen. 
Darstellend  also  wären,  von  dieser  Seite  betrachtet,  nicht  minder  solche  Gesänge,  in  denen,  durch  den 
Sängerchor  vertreten,  im  Gebet  und  Lobgesange  die  Gemeine  ilire  fromme  Stimmung  ofTenbart;  darstel- 
lend solche,  in  denen  eben  dieser  Chor  Vergangenes  ihr  als  gegenwärtig  vorüberfülirt,  als  alte,  heilige 
Kunde  es  in  das  Gedäclitnifs  ruft,  oder  Verheifsungen,  ewig  fortgehende,  und  ewig  wiederum  erfüllte  Weis- 
sagungen, in  tiefster  Bedeutung  vor  ihr  ausspricht.  Darin  jedoch  finden  wir  die  Rechtfertigung  jener  Be- 
nennung, dafs,  im  Gebet,  im  Lobgesange,  die  Gemeine,  höre  sie  auch  schweigend  einem  kunstgeübten 
Chore  zu,  doch  gedacht  \vird  als  von  ihm  vertreten,  singend  und  spielend  dabei  in  ihrem  Herzen,  ein- 
stimmend innerlich  in  jeden  Laut,  der  zu  Ihrem  Ohre  dringt ;  als  mit  thätig  also,  nicht  als  Hörerin  allein ; 
wo  aber  das  Vergangene,  das  Verheifsene,  aus  dem  Munde  der  Sänger  zu  ihr  redet,  als  verstummend  erscheint 
vor  der  heihgen  Kunde,  in  stiller  Demuth  ilir  horchend;  aufnehmend,  dem  ilir  Dargestellten  gegen- 
über, dessen  Urheber,  der  Sängerchor,  den  Namen  des  Darstellenden  um  so  mehr  verdient,  je  gegenwär- 
tigei",  anschauhcber,  das  Bild  ist,  welches  er  hervorruft.  In  diesem  Sinne  wünschen  wir  jene  Benennung 
aufgenommen  zu  sehen;  möge  das  Folgende  sie  rechtfertigen. 

Darstellend  hionach  im  engeren  Sinne,  die  verkündete  Begebenheit  der  heiligen  Geschichte  ge- 
genwärtig, anschaulich  vorüi)erfuhrend ,'^  erscheint  ims  Gabrieli's  achtstimmige  Behandlung  des  Responso- 
riums  für  die  Feier  des  ersten  Ostertages,  das  wir  bei  der  Darstellung  des  hieher  gehörigen  Tlieiles  der 
katholisclien  Liturgie  bereits  ausführlich  mittheilten,  hier  aber,  der  Vollständigkeit  wegen  wiederholen  ''). 
„Der  Engel  des  Herren  kam  vom  Himmel  herab,  trat  hinzu,  wälzte  den  Stein  von  der  Thür,  setzte  sich 
darauf,  und  sprach  zu  den  Weibern:  Fürchtet  euch  niclit,  ich  weifs,  dafs  iiir  Jesum  den  Gekreuzigten 
suclit.  Er  ist  nicht  hier,  er  ist  auferstanden,  -svie  er  gesagt  hat.  Kommt  her,  und  sehet  die  Stätte,  da 
der  Herr  gelegen  hat.  Halleluja!"  Das  grofsarlige  Bild  des  herabschwebenden  Engels,  wie  er,  die  Scbwin 
gen  entfallend,  sich  erst  erhebt,  dann  herniedersenkt,  in  stiller  Majestät  hinzutritt,  den  Stein  wegv.'ilzt 
vom  Grabe  und  auf  ilnn  ruht,  wie  er  mit  sanft  tröstender  Stimme  den  Frauen  zuspricht,  in  frohem  .(übel 
endheh  die  Auferstehung  verkündet,  einem  Jubel,  der  das  Ganze  im  vereinten  Gesänge  beider  Cliöre 
schliefst  —  alles  dieses  stellt  der  Meister  hier  unserem  innerem  Sinne  dar.  Er  wählt,  wie  es  s[)älerc 
grofse  ronkünstlcr  bei  ähnlichen  Darstellungen  auch  gethan,  im  Anfange  zwei  schhchte  melodische  Fi- 
guren.    Die  eine  erbebt  sich  durch  die  Stufen  der  diatonischen  Leiter,  langsamer  zuerst,  dann  schneller; 

')  Alles  dreies    ist   m  dem  dritten   Tkelle   von    Abraham    Schadäas  promptuarium    musicum  CStraßburg  1613>  zu  finden. 
=  )  Beispiel  I.  B.  5.  a. 


—     185     — 

schliefst  in  dieser  einfaclien  Bewegung  jede  andere  Anscliauung  aus.  als  die  des  Aufschwunges.  Einfach 
\uid  langsam  senkt  sich  die  andere  durch  nur  drei  Töne.  Jene  verflechten  und  entfalten  zuerst  vier  ein- 
zelne Stimmen  in  enger  kanonisclier  jNachahnrung;  diese  ertönt  durch  jene  vier  Stimmen,  von  der  höch- 
sten hinab  bis  zu  der  tiefsten,  so,  dafs  jede  folgende  hineingreift  in  den  Schlul'sfall  der  vorangehenden. 
Dann  aber  «ird  das  Bild  des  Aufsch\\ingens,  des  Medersenkens,  grofsartiger  noch  \or  uns  entfaltet:  mIc 
zuvor  durcli  vier  Stimmen,  so  breiten  die  Nachahmungen  nunmehr  durch  deren  achl  sich  aus;  wie  anfangs 
nur  die  einzelne  Stinnne  eingriiTin  die  andere,  greift  nunmehr  ein  voller  Chor  hinein  in  den  andern.  \Yo  der  her- 
abgekommene Engel  zu  dem  Steine  des  Grabes  liitt,  da  krönt  das  ganze  Bild  seiner  Er.scheinmig,  abermal.s, 
wie  in  jenem  zuvor  betrachteten Lobgesange  an  die  heilige  Jungfrau,  die  überraschendcZusannnenstellungzweier 
Dreiklänge.  Dem  anfc.  dem  ionischen  (Jrundlone,  von  welciiem  aus  die  IModidalion  anscheinend  in  rnliisem 
Fortgange  nach  f  hinstrebt,  schliefst  unmittelbar,  unerwartet,  der  Dreiklang  des  darunter  liegenden  ganzen 
Tones,  i,  sich  an:  als  eine  himmlische  Erscheinung  erkennen  wir  nun  in  der  Nähe,  ^^as  auf  so  grofs- 
artige  \\else  schon  aus  der  Ferne  sich  uns  ankündigte.  Die  \\orte  des  Engels  sind  einfacher  Choral- 
gesang; wo  er  die  Kunde  der  Auferstehung  ausspricht'),  wo  er  ib"e  Frauen  hinweis't  zu  der  Stelle,  wo 
der  Herr  gelegen,  und  nun  nicht  mehr  zu  finden  ist,  wird  er  belebter;  hier  vereinen  beide  Chöre  ihren 
Gesang  in  lebendiger,  gemeinsamer  Stimmverflechtung;  es  ist  als  gehe  der  Glaube  au  das  herrliche  Wun- 
der nun  in  aller  Herzen  auf,  im  \^  echselchore  schliefst  das  Halleluja  sicii  an,  ein  Lobgesang  der  Engel, 
wie  derer,  denen  so  Grofses  verkündet  wurde. 

Zu  einer  ähnlichen  Behandlimg,  so  scheint  es,  \üirde  der  zweite  der  von  uns  ausgewählten 
Gesänge  unseres  IMeisters,  dem  Inhalte  seiner  ^^  orte  zufolge,  ihn  haben  aidTordern  nüissen.  Es  ist 
ein  ries])onsorium  für  das  Weihnachtsfest,  zu  zwölf  Stimmen  in  zwei  Chören,  einem  hohen,  einem 
tiefen.  .,Der  Engel  sprach  zu  den  Hirten:  Ich  verkündige  euch  grofse  Freude,  denn  euch  ist  heute  der 
Heiland  der  ^Velt  geboren,  Halleluja!  Ehre  sei  Gott  in  der  lliihe.  und  Friede  auf  Erden,  und  den  Men- 
schen ein  VVoblgcfallen,  Halleluja!"  Hier  tritt  jedoch  in  schlichtem  Choralgesange ,  der  nur  in  der  Einlei- 
tung durch 'den  Verein  beider  Chöre  eine  geheimnifsvolle  Kunde  andeutet,  die  Verkündigung  uns  ein- 
fach entgegen;  nur  die  Worte  noch:  „grofse  Freude*'  prägt  der  Aolle  Gesang  beider  Chöre  naciidrücklich 
ein;  der  tiefere  sonst  ist  der  allein  verkündende.  Sein  Schlufs  wendet  aus  dem  Phrygiscben,  (!er  (Jrnnd- 
tonart  des  Ganzen,  Melche  hier  in  strenger  Behandlung  erscheint,  zu  dem  I^Iixoh dischcn  sich  hin.  eine 
Ausweichuna;,  welche  zweifeUiaft  erscheinen  könnte  wegen  der  kurz  zuvor  sehörten  kleinen  Terz  6  des 
mixolydischen  Grundtons,  wüfsten  wir  nicht,  dafs  bei  v{dlen  mixolydischen  Tonschlüssen  durch  dieses 
Tonverhältnifs  ein  Anklang  nach  dem  Dorischen  hin  sich  bilde.  Nun  schliefst,  durch  die  Drei  geregelt, 
im  Wech.selgesange  beider  Chöre  das  Halleluja  sich  an;  ionisch  zuerst,  wie  dem  mixolydisciien  Dreiklange 
leicht  und  natürlicli  der  Dreiklang  dieser  Tonart  folgt,  dann  aeolisch  scliliefsend.  Der  Grundion  des  Aeo- 
lisdien  aber  wird  nun  als  der  des  versetzten  Pbrvgischen  angesehen,  tnid  auf  dessen  grofser  Unlerlerz  /", 
dem  Grundtone  des  versetzten  Ionischen,  in  vollem  Gesänge  aller  Stimmen,  ertönt  das  (iloria.  Leise 
nur  liefs  im  Anfange  unser  Meister  die  ionische  Verwandtschaft  des  Phrygiscben  anklingen;  bestimmter 
zwar,  doch  zarter  auch,  schlofs  in  der 'Mitte  dem  mixolydisciien  St-hlusse  das  Ionische  sicii  an:  hier  bricht 
es  heraus  in  voller  Kraft,  im  schärfsten  Gegensatze  gegen  das  Phrygische.  und  dennoch  ihm  am  nächsten 


'     .S.  /.  li.  h   b. 

l'.  ».  Wiutr-i-M.l-  .iL.b.  G^ilriill  u.  ».  ZiilillM.  2-1 


—     186     — 

verwandt;    unerwartet,    well  beule    Tonarten  hier  nicht  in    ihren   ursprünglichen  Grenzen   erscheinen:    in 
den  Gesang  strahlt  es  hinein,  wie  das  göttliche  Licht  der  Offenbarung  in  die  dunkle,  sündige  Welt. 

Weissagend  endlich  dürfen  wir  vorzugsweise  jenen  Gesang  zum  Eingange  der  Feier  des  Oster- 
festes nennen,  den  wir  auch  schon  in  dem  Vorigen  betrachteten,  welcher  >Vorte  des  vierzehnten  Verses 
aus  dem  dritten  Kapitel  des  zweiten  Buches  IMose  mit  Stellen  aus  den  drei  ersten  Psalmen  verknüpft; 
die  Erlösung  Israels  aus  der  aegyptischen  Knechtschaft,  durch  Jehova  im  feurigen  Busche  dem  Moses 
verkündet,  prophetisch  deutend  auf  die  Erlösung  von  der  Knechtschaft  der  Sünde  und  des  Todes  durch 
den  auferstandenen  Heiland,  wie  schon  David,  der  heilige  Sänger  sie  verkünde.  „Ich  hin,  der  ich  bin; 
ich  wandle  nicht  im  Rathe  der  Gottlosen,  sondern  habe  Lust  zum  Gesetze  des  Herrn,  Halleluja!  Ich 
habe  geheischt  von  meinem  Vater,  Halleluja,  und  er  hat  mir  die  Heiden  zum  Erbe  gegeben,  der  Welt 
Ende  zum  Eigenlhum,  Halleluja!  Ich  lag  und  schlief  und  bin  erwacht,  denn  der  Herr  hält  mich,  Hal- 
leluja I"  Es  sind  diese  letzten  Worte,  welche  Gabrieli  zum  Mittelpunkte  des  Ganzen  gemacht  hat.  Der 
in  der  Kirche  des  helligen  Marcus  zu  Venedig  üblichen  lateinischen  Psalmenübersetzung  zufolge,  deuten 
sie  beslinuuter  noch  auf  den  Tod  und  die  Auferstehung  des  Herrn,  als  Luthers  Uebertragung  dieser 
Stelle.  (^Ego  dormhii  et  sontnum  cepi ;  et  resurrexi,  quoniam  Dominus  suscepit  tne.  Ich  habe  ge- 
schlafen und  des  Schlummers  genossen,  und  bin  auferstanden,  denn  der  Herr  hat  mich  aufgenommen.) 
Das  versetzte  lonisclie  ist  der  Grundton  des  Ganzen,  mixolydische  Anklänge  durch  die  Hinwendung  nach 
der  Oberquarte  tönen  feierUch  bereits  in  den  Anfang  hinein;  zwei  gleiche  vierstimmige  Chöre,  der  eine 
meist  der  Nachklang  des  andern,  wechseln  mit  einander,  und  kräftig  klingt  zwischen  die  einzelnen  pro- 
phetischen Worte  in  vollem  Gesang  aller  Stimmen  das  Halleluja  hinein.  Nun  werden  jene,  auf  des  Her- 
ren Tod,  seine  Auferstehung,  deutenden  Worte  ausgesprochen:  geheimni fsvoll  tritt  hier  zum  ersten  Male 
die  phrygische  Tonart  hinein  in  das  Ganze;  ihr  aufsteigender  Schlufsfall  durch  einen  ganzen  Ton,  ilir 
abfallender  durch  einen  halben,  beide  eben  ihr  allein  eigen,  für  sie  daher  auf  das  Schärfste  bezeichnend, 
werden  in  den  zwei  Unterstinmien  beider  Chöre  verbunden;  alle  Stimmen  halten,  leisen  Lautes,  sich  in 
ihren  tiefsten  Tönen;  es  ist  die  Rrdie,  die  Stille  des  Grabes,  die  aus  ihnen  spricht:  „ich  h^be  geschla- 
fen '). "  Aber  ein  Strahl  des  Lebens  dringt  in  diesen  geheininifsvollen  Schlummer;  die  lonart,  ihre 
Grenzen  nicht  verlassend,  verwandelt  sich  in  die  aeolische;  auch  hier  wiederum  stehen  die  harten  Drei- 
klänge auf  dy  auf  c  unmittelbar  neben  einander;  eine  eigenthümllche  Beziehung  des  Lichtes  und  des  To- 
nes giebt  jenem  letzten  Dreiklange  gegen  den  vorhergehenden  jenen  hellstrahlenden  Glanz,  den  hier,  wie 
in  anderen  Werken  unseres  Meisters,  die  eine  gleiche  Verbindung  uns  zeigt f^n,  jeder  Hörer  lebendig  fiili- 
len  wird.  Der  Herr  hat  des  Schlummers  genossen,  aber  das  göttliche  Leben  bricht  siegreich  durch  die 
Bande  des  Todes  —  er  ist  auch  auferstanden;  imn  strebt  der  Gesang  wieder  hinauf  in  das  hebte  Ionische, 
bewegter,  in  glänzender  Fülle.  Nur  dreistimmig  zwar  greifen  beide  Chfire  ineinander;  aus  beiden  jedoch 
sondern  sich  zwei  einzelne  Stimmen  aus,  der  Tenor  aus  dem  ersten,  der  Alt  aus  dem  zweiten,  und  tre- 
ten in  gleichen  Ton  und  Zeitverhältnissen,  wie  jene,  einander  nach;  einen  Wechsel  von  vier  Chören 
glauben  wir  so  zu  vernehmen,  bis  alles  zu  einem  kräftigen  Zusammenklange  verschmilzt  bei  der  Stelle 
„denn  der  Herr,**  und  nun  in  den  beiden  wechselnden  Chören,  die  Worte:  „hat  mich  aufgenommen" 
durch  zartes,  synkopisches  Hingleiten  der  beiden  Oberstimmen  das  Gepräge  liebenden  Hinneigens  erhal- 
ten; es  ist  der  N'ater,  der  den  Sohn,  an  dem  er  Wohlgefallen  hat,  der  zurückkehrt  zu  ihm,  wieder  auf- 
nimmt zu  seiner  Rechten. 
I)  Belsjjiel  I.  a.  6. 


—     187     — 

Es  dürfte  befremden,  nachdem  von  mehren  Werken  unseres  Meislers  ausführlich  gehandelt  wor- 
den, kfine  einzige  Messe  von  ihm  erveähnt  zu  finden,  da  dieser  Mittelpunkt  der  katholischen  Liturgie 
bei  späteren  Tonmeistern  gewöhnlich  als  Hauptaufgabe  ihrer  Tonschöpfungen  erscheint.  Allein  hier  eben, 
wo  der  bedeutende  Umfang  und  die  Verscliiedeuartigkeit  der  Gesangsworte  den  Späteren  besonders  will- 
kommen war,  um  eine  Mannigfaltigkeit  von  Tonbildern  an  ihnen  zu  entwickeln,  erscheinen  die  Aelteren 
zumeist  strenge  und  ernst.  Die  Durciiführung  eines  einzigen  (Grundgedankens  in  allen  Theilen  des  Gan- 
zen war  fast  allezeit  als  Aufgabe  gestellt,  durch  sie  erstrebte  man  äufsere  Einlieit  dieser  bedeutenden 
Massen;  eigenthüm liehe  Färbung  aber  suchte  man  über  sie  zu  verbreiten  durch  die  Wahl  dieser  Grund- 
gedanken; durch  sinnreiche  Anklänge  aus  fremden,  sei  es  geistlichen  oder  weltlichen  Gesängen,  bezüglich 
auf  das  gefeierte  Fest  oder  die  Persönlichkeit  des  Meisters,  gewählt  vielleicht  auch  nur  wegen  ihres  lieb- 
lichen Gesanges,  ihres  für  kunstreiche  Ausfuhrung  besonders  geeigneten  Fortschrilles.  .Tedenfalls  aber 
herrscht  in  den  Messen  jener  Zeit,  geistreich  wie  einzelne  Meister  aucli  sie  zu  beleben  gewufst,  das  Her- 
kömmliche vor;  und  wer  ältere  Tonmeister  in  ihrer  vollen  Eigenthümhchkeit  will  kennen  lernen,  hat 
mehr  zu  forschen  in  ihren,  durch  die  IMesse  oder  andere  Theile  des  Gottesdienstes  nach  ^  erschiedenheit 
der  Feste  wechselnd  hindurchgewobenen  Gesängen,  wo  kein  Herkömmliches  sie  hinderte,  sich  frei  und 
mannigfaltig  zu  bewegen,  als  in  ihren  IMessen,  in  denen  die  meiste  äufsere  Uebereinstimmung  hervortritt, 
die  in  vielen  Fällen  unserem  Zeitalter  sogar  als  Einerleiheit  erscheinen  dürfte. 

Um  jedoch  von  unserem  Meister  in  möglichster  ^'ollsländigkeit  zu  handeln,  dürfen  N'N-ir  nicht  über- 
gehen, dafs  die  beiden  venedischen  Sammlungen  seiner  W'erke  nur  zwei  Bruchstücke  von  IMessen  enllial- 
len,  von  denen  das  in  die  frühere  von  1597  aufgenommene,  Kyrie,  Gloria,  Sanctus  und  ßcnedictus  iim- 
fafst;  das  in  der  späteren  von  1615  mitgcthcilte,  dieselben  Gesänge  mit  Ausschlufs  des  Gloria.  Nur  das 
letzte  Bruchstück  hat  der  Verfasser  dieser  Blätter  aus  den  vorhandenen  Stimmbüchern  vollständig  herzu- 
stellen vermocht;  von  dem  andern  war  ihm  mir  die  Einsicht  eines  einzigen  Exemplars  vergönnt,  das 
nicht  alle  Stimmbücher  enthielt,  und  von  dem  die  vorhandenen  eben  in  diesem  Theile  unvollständig 
waren.  Es  läfst  sich  daher  nur  über  eines  dieser  Bruchstücke  vollständig,  über  das  andere  nur  in  so 
weit  berichten,  als  die  vorhandenen  Theile  desselben  einigen  Ueberblick  gewährten. 

Dem  Herkömmlichen  hat  unser  Meister  darin  sich  angeschlossen,  dafs  ein  bestimmter  Grundge- 
djinke,  wenn  auch  niclit  überall  streng  ausgeführt,  doch  angedeutet  mindestens,  allen  einzelnen  Mefsgc- 
sängen  (bis  auf  das  Benedictus)  gemeinsam  ist.  Doch  läfst  er,  wider  den  Gebrauch  seiner  Zeitgenossen, 
nicht  sofort  alle  Stimmen,  sei  es  in  Chöre  gesondert,  oder  allmählig  ein  volles  Ilarmoniegewebe  zusam- 
menflechtend, in  Thäligkeit  treten.  Sein  älteres,  wie  sein  späteres  Bruchstück,  auf  zwölfstimmigen  Satz 
in  drei  Chören  angelegt,  wendet  im  ersten  Kylie,  und  dem  folgenden  Christc,  das  eine  in  jedem  nur 
acht,  das  andere  zuerst  nur  fünf,  dann  acht  Stimmen  an;  erst  das  letzte  Kyrie  tritt  mit  sollen  Chören 
hervor,  so  dafs  die  ganze  Pracht  der  Harmonie  gegen  das  Gloria  hin  sich  zuerst  entfaltet.  Sanctus  und 
Benedictus  des  früher  erschienenen  Bruchstücks  haben  nicht  vollständig  hergestellt  werden  können;  die 
des  späteren  gehören  unbezweifelt  zu  den  vorzüglichsten  Werken  unseres  IMeisters,  und  hätte  er  die  Messe 
vollendet,  so  würden  sie  gewifs  auf  die  Avürdigste,  bedeutsamste  \^'eise  ihren  Mittelpunkt  gebildet  haben. 
Das  Sanctus  zeigt  den  Gnmdgedanken  des  Ganzen  zuerst  in  jedem  einzelnen  der  drei  Chöre,  dann  in  ihrem 
vollen  Zusammentönen,  in  enger  IS'achahinung  entfaltet  zu  den  ^Vorten:  „Heilig  ist  Gott,  der  Herr  Ze- 
baoth;  "  dann  greifen  alle  Stimmen  kühn  und  mächtig  in  einander,  eine  breite,  volle  Harmoniemasse  bil- 
dend zu  den  Worten:  „alle  Lande  sind  deiner  Ehre  voll;"  auf  den  höchsten   Gipfel  erhebt   sich   die   Be- 

24* 


—      18S      — 

celslpruiio-  In  dirn  ..  [losinnnn  in  der  Ili'ilip,"  wo  in  ^  ti  nnilprlc  m  Rhyllinnis  die  Droi  als  licrrsrliciid  her- 
voiUill.  ^||||  <'ilöiil,  einlach  und  z.arl  das  l?i'ncdirhis  ')  {(icsognci,  der  da  kommt  in  dem  Naiaou  des 
JfeiTii)  in  .scliiicliten,  harmonisclieii  INaclikliingen  dreier  (^liöre,  eines  Jiolier,  und  eines  anderen  tiefer  Slim- 
men,  zwischen  denen  in  der  !\litte  ein  dritter  schA\eht.  der  durch  die  gewölmhchen  vier  Singstimmen  ge- 
bildet wird.  In  der  Tiefe  heben  diese  zarten  Klänge  an,  in  der  Tiefe  verkhngen  sie  wieder,  inid  das 
feurige,  bewegte  Hosianna,  in  derselben  Cestalt  wiederkehrend  wie  anfangs,  krönt  sodann  das  Ganze,  zu- 
letzt in  einem  breiten,  durch  die  Zwei  geregelten  Tonstrome  verhallend. 

Diese  beiden  Gesänge  tragen  so  ganz  das  Gepräge  der  frülieren  Kunstrichtung  unseres  IVIeisters, 
das  CJnisle  und  das  letzte  Kyrie  schliefsen  in  so  völlig  gleichem  Sinne  sich  ihnen  an.  dafs  wir  sie,  unge- 
achtet sie  erst  inii  das  Jahr  1(515  erschienen  sind,  deiuioch  seinen  früheren  Werken  beirechnen  miifsten. 
Denn  die  in  jenem  .Tahre  herausgegebene  Sammlung  hat  neben  späteren  aucli  solclie  Gesänge  abermals 
aufgenommen,  welche  bereits  1587  gedruckt  waren,  und  wir  dürften  daher  nicht  anstehen  durch  innere 
Kennzeichen  unsere  Beurtheilung  ihres  Alters  leiten  zu  lassen.  Allein  das  ersle  Kyrie  erregt  wiederum 
Zweifel,  da  es  auf  das  Entschiedenste  seinen  späteren  Hervorbringungen  gleicht,  und  dennoch  seinen 
Zusammenhang  mit  dem  Folgenden,  theils  durch  den  gemeinsamen  Griuidgedanken,  Iheils  die  forlsclirei- 
tendc,  ihn  später  entfaltende  Stimmenfulle ,  unzweideutig  zu  erkennen  gicbt.  Es  ist  ein  fünfstimmi- 
ger Satz,  imd  ein  solclier  zeigt  in  seinen  früheren  Werken  sich  niemals,  in  denen  wir  nie  weniger  als 
seclis  Stimmen  angewendet  finden;  es  ist  auf  Begleitung  musikalischer  Instrumente  angelegt,  und  auch 
diese  wird  dort  nirgends  angetroffen.  Zwar  ist  der  Name  keines  dieser  Instrumente  angegeben,  die  Worte 
auch  einer  jeden  Stimme  vollständig  untergelegt;  allein  die  der  Oberstimme  ausdrücklich  beigefügte  Be- 
zeichnung Voce  (wie  sie  in  seinen  späteren  ^Verken  vorkommt,  wo  die  Anwendung  beslimmter  musika- 
lisclier  Instrumente  den  AusriUirenden  überlassen  blieb)  giebl  zu  erkennen,  dafs  nur  sie  allein  von  einer 
menscbliclien  Stimme  habe  vorgetragen  werden  sollen.  Gesangsverzierungen,  wie  die  spätere  Zeit  sie 
erfunden,  kommen  in  der  Singstimme  vor,  und  werden  von  den  Instrumenten  nachgeahmt:  ja,  zuletzt 
tönen  diese  nur  die  Harmonie  einfach  durch  mehre  Tacle  aus,  während  die  Singstimme  einen  kur/,en 
recitativisclien  Gang,  einmal  mit  voller,  dann  wiederholend  mit  leiser  Stimme  vorliägt,  (eine  hier  aus- 
drücklich vorgesclniebene  Vortragsweise)  in  einem  raschen  Laufe  sidi  in  die  Höhe  aufschwingt,  und  mit 
einem  langen  Triller  auf  dem  Unterhalbtone  endet.  ^)  Ungeachtet  dieser,  gegen  frühere  \A  erke  imsercs 
Meisters  so  bedeutend  verschiedenen  Behandlung,  und  troz  des  augenscheinlichen  Zusammenhanges  der 
folgenden  CJesänge  mit  diesem  vorangehenden,  so  wie  ihrer  gleichzeitigen  Erscheinung  nach  dem  Tode 
ihres  Urhebers,  bleibt  aber  dennoch  die  Vermuthung  nicht  ausgesclilossen ,  dafs  jene  zuerstgenannten  sei- 
ner früheren  Zeit  wirklich  angehörten.  Er,  der  uns  überall  so  strebend  erschien,  hat  von  Gesängen  denen 
seine  Kirche  eine  bedeutende  Stelle  bei  dem  Gottesdienste  einräumte,  nur  einzelne  Bruchstücke  hinter- 
lassen. Es  drängt  die  Vermuthung  sich  auf,  dafs  er,  durch  das  Herkömmliche  beengt,  hier  eine  freiere 
Behandlung,  wie  sie  nur  immer  vergönnt  gewesen,  erstrebt,  zu  verscliiedenen  Zeiten  ^  ersuclie  darin  ge- 
macht, sich  vielleicht  niemals  völlig  habe  genügen  können,  und  so  mag  vielleicht  Sanctus  und  Benedictus 
am  frühesten  entstanden,  in  gleichem  Sinne  ihnen  das  Christe  und  das  letzte  Kyrie  gesellt  ^vorden  sein; 
das  einleitende  Kyrie  aber  bei  einer  durcliaus  anderen  Richtung  seines  künstlerischen  Strebens  erst  später 


')  Beispiel  J.  A.  9.      »)  Beispiel  I.  B.  7. 


—     189     — 

einen  Pliitx  nobrii   ilnien  i;criin.1.>ii  li;.l)(>ii.  uin!   nur  dun-li  den  Cnnidiifdanken    in  einige  äufscrliche   Rexicr 
hung  /.u  iliiicn  gesel/.l  worden   sein. 

INIil  dem  Aovliegeiideii  Absclmitle  liaben   ^^'n■   die   DaislelluDg   der   fiülieren    Kunslrlehtung   unseres 
Meisters  besdilossen.     Sie  gehört  Mescnllicli  jener  alleren  Zeit  an,   in  der  die  Künste   in   innigem    Bunde 
mit    der    Kirche    .standen,    unler    deren    .Seluit/.    und    Pflege    der    den    Geiuütliern    der   iMenschen    oinge- 
pflauzle  schaffende  'J'rieb  am  frühesten  xu  vollem  Bewul'slsein  erwacht  war;    wie  in  den  bildenden   Kün- 
sten,  so  in  der  Tonkunst,   wenn  auch  hier  nacli  längerem  .Schlummer.     AMe   die  Tonkunst  in   den   Lei- 
stungen eines  kunstgeübten,  die  Gemeine  vertretenden,  die  >Vorte  der  Verkündigung,  der  Verheifsung  ihr 
offenbarenden,  das  Gescheliene,  das  Künftige  ihr  gegenwärtig  vorüberführenden   Chores  in   das   Leben  ge- 
treten sei  bei  dem    Gottesdienste,    haben  vir   darzustellen   versuchl.      Als   \  edrcter   der   Gemeine    fanden 
wir  den  Chor  berufen  /.u  Darstellung  frommer,  jedes  irdische  Gefühl  reinigender,  verklärender  Gemüths- 
stimmungen,  im  Gebete,  im  Lobgesange;  nicht  jenes  flüchtigen,  rastlosen  \\  echsels   von  Empfindungen 
also,  wie  die  weltliche  Tonkunst  ilm  darlegt,  sondern  des  Bleibenden,  Ruhenden,  den  güttlichen  Ursprung 
im  menscliHclien  Gemüthe  kündenden,  desjenigen,  wodurch,  wie  allen  Kegungen  desselben,  so  den  Bestre- 
bungen des  schaffenden  Triebes  das  Gepräge  des  Christlichen  aufgedrückt  vinl.     In   diesem   Sinne   sahen 
wir ''die  Tonkunst,  ihrem  flüchtigen,    an   die   Zeit  gebundenen   Stoffe   Daner   und  Gestalt  verleihend,    der 
Baukunst  gegenüber  sich  heranbilden.     Auf  diesem  Gange  ihres  Bestrebens  trat  die  Entwickelung  bestimm- 
ter   wiederkehrender  Grundformen  ihrer  Darstellungen  tms   entgegen,    der   Kirchentöue;    Grundfor- 
men   durch  jene  geistige  Richtung,  durch  eine  von  ihr  bedingte,  eigenthümliche  Naturanscliauung  gebildet, 
eben  defshalb  nothwendige  IMittel  der  Offenbarung  beider,  Gedanken,  wie  Gefühle  erst  lebendig  gestaltend. 
In  scharfen    aber  rohen  Unnissen  fanden  vir   diese  ausgeprägt  in  alt-überlieferten,    der  ersten  Zeit   christ- 
licher Begeisterung  nahe  stehenden  Kirchengesängen,  solchen  Ursprunges  halber  mit  besonderer Ehrfurcl.t 
hocli-ehalten.     Auch  wir,    um  des   geistigen  Lebens  willen  dessen  Erzeugnisse  sie  sind,   der  oft  wunder- 
baren  Durchdringung  des  noch  ungebildeten  Stoffes,   die  aus  ihnen  hervorscheint,    dürfen   ein   ehrfurchts- 
volles Anerkennlnifs^hnen  nicht  versagen,  müssen  wir  auch  bedauern,  dafs  in  herbem  ISIifsverstande  man 
lange  Zeit  an  ihnen  festhielt  als  für  alle  Zeiten  allgemein  gültigen,  die  heilige  Kunst  vüllig  erschüpfenden 
Fr7euonissen;    dasjenige  also,  was  belebende  Form   der  Darstellung  in  ihnen  werden  konnte,    und  spater 
geworden  ist,  in  eine^eengendc  Schranke   umwandelte.      Eine   ungenügende   Lehre   war  bestrebt,    selbst 
bis  hin  '/u  den  Zeiten,  in  welchen  wir  einer   solchen   Belebung   uns   bcreils    ..rfreuen  dürfen,    aus   ihnen, 
anknüpfend  an  unvollkommene  UeberUeferungen  aus  dem    Alterthume.   einen   Kreis   von   Formeb    auszu- 
scheiden    als  llülfsmitteln  zu  besserem  Verständnisse   des  bereits  Gebildeten,    nicht   als   Typen,    Grund- 
formen für  neue  Bildungen.     Denn  wo  die  Kunst  irgend  im  Wachsen   begriffen  ist,    werden   deigleiclien 
nicht  auf  serlich  als  Regeln  für  die  Kunstübung  festgesetzt:    sollen  sie  in  achtem  Snine  sein,    was  jene 
Benennunc^  aussagt,  Grundformen,  in  denen   der   schaffende   Trieb    sich   offenbart,    so  erzeugen  sie     auch 
ohne  äufsere  Vorschrift,  kraft  innerer  Aothwendigkeit,   sicli  immer  wieder  von  selbst  in  seinen  Ilervor- 
brin.un.en,  und  irgend  ein  äufseres  Gebot,    das  ihretwegen   etwa  ergeht,    spricht  dann  nur  bekraf  igend 
undVilllend  aus,  was  auch  ohne  dasselbe  bereits  Regel  geworden  war.     ^^  as   aber  jene  Fonueln  früher 
wirklich  gewesen,  Typen,   nach    denen  jene  alten   heiligen   Gesänge   von   innen  heraus   sich   nothwend.g 
gestaltet  hatten,  das  sollten  sie  im  Verfolge  jener  grofsen,  lange  vorbereiteten,  geistigen  Bewegung,  durch 
Welche  die  Kirchenverbesserung   hervortrat,    m  noch  viel  höherem  Maafse  werden.      Bisher  hatte   man, 
künstlich  und  sinnreich,    jene  alten,    heilig  gehaltenen   Gesänge    mit  anderen  Stimmen   umbaut    und  ge- 


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stlimückt.  jenen,  auf  älterer  Kunslübung  gegründeten  Regeln  sich  dabei  strenge  angeschlossen,  jene,  durch 
sie  festgesetzten  Grundformen  dabei  zur  Anschauung  zu  bringen  gesucht,  in  sorgsamer  Anwendung  der 
Kunstmittel  die  Kunst  beinahe  verloren.  Auf  anderem  Gebiete  hatte  diese,  der  Diclitkunst  unterthan, 
eine  Weile  forlgewaltet;  in  jenen  mannigfachen  Lebenskreisen,  welche  neben  der  Kirche  gebildet,  im 
höclisten  Sinne  doch  von  ihr  umfafst  und  gelragen,  durclx  sie  geheiligt  werden  sollen.  Dafs  dieses  ge- 
.schehe,  die  Kirche  nicht  als  gesonderte  JMachl  länger  dastehe  neben  jenen  Lebenskreisen,  dafs  sie,  die 
von  jeher  die  allgemeine  Multer  sich  genannt,  dieses  in  der  That  werde,  ihr  Geist  alles  lebendig  durch- 
dringe, nicht  die  äufsere  Satzung  als  solche  mehr  gelle,  sondern  sofern  sie  durch  innere  jNoth wendigkeit 
o-eheiligt,  durch  den  Ausspruch  der  Offenbarung  bestätigt  sei  —  alles  dieses  erstrebte  die  Klrcbenverbes- 
serung;  die  Sehnsucht  danach  hatte  in  den  herrlichsten  Erzeugnissen  aller  Künste  sich  lange  zuvor  grofs- 
arlig,  tiefsinnig,  rührend  ausgesprochen.  Jener  Zweig  der  Tonkunst  nun,  einer  fremden  Kunst  gesellt, 
mit  und  in  ihr  zum  Leben  erwacht,  allein  dennoch  durch  kein  äufseres,  z-^^ingendes  Gebot  gehemmt, 
hatte  in  unbewufstem  Walten  des  scliaffenden  Triebes  bald  zarte,  licbliclie  Blütlien  gezeitigt;  ein  eigen- 
iJiümUcher  Geist  hatte  in  ihnen  sich  erschlossen ,  die  Offenbarung  der  Tonkunst  als  einer  frei  mit  der 
Dichtkunst  verschwlslcrtcn.  ihre  ^Verke  verklärenden,  nicht  nothwendig  imd  für  immer  ihr  dienstbaren 
Kunst.  Jene  herbe,  strenge,  kirchliche  Kunst,  überlieferten  Kunsterzeugnissen,  bindenden,  aus  ihnen  her- 
«^eleiteten  Regeln  dienstbar,  suchte  nun,  in  Uebereinstimmung  mit  der  aus  dem  Innern  mächtiger  stets 
hervordringenden  Geistesrichlung,  sich  zu  stärken  und  zu  erquicken  an  jenen  frisclien,  lebendigen  Blüthen, 
an  ihnen  des  mächtiger  aus  der  Tiefe  des  GcmüÜies  sich  entfaltenden  Triebes  bewufsl  zu  werden.  Wie 
anfangs  \  ermischung  des  herkömmlich  Kirclilichen  und  des  W'eltliclien,  dann  Verklärung  und  lebendige 
Durchdringung  dieses  letzten  durch  jenes,  hervorgegangen  sei  aus  diesem  Streben,  wie  jene  alten  Grund- 
formen des  Kirchengesanges,  die  Kirchentöne,  als  wahrhafte  Typen  erkannt  worden,  ihr  Geist  und  ihre 
Bedeutung  auf  zarte  Weise  auch  dem  in  die  Kirche  lebendig  aufgenommenen  Volksgesange  sich  mitgetheilt 
habe,  in  ihnen  und  durch  sie  eine  eigenthümliche ,  neue  kirchliche  Kunst  entfaltet  worden  sei  —  das 
hoffen  wir  zu  einiger  Ueberzeugung  in  dem  Vorangehenden  dargelegt,  und  durch  die  Betraclitung  einzel- 
ner Werke  unseres  Meisters  bewährt  zu  haben.  . 

Aber  wir  haben  aucli  jene  ältere  kirchliche  Kunst,  als  eigenthümliche  Offenbarung  des  schaffen- 
den Geistes  eine  in  sicli  vollendete  genannt;  und  dennoch  werden  wir  nicht  leugnen  dürfen,  sie  stehe 
nicht  frei  da,  sie  scliliefse  sich  einer  vorhandenen  Form  des  Gottesdienstes  noth^^'endig  an,  ihr  wahrhaf- 
tes Verständnifs  erscheine  an  diese  geknüpft,  ihre  Leistungen  durch  sie  bedingt;  ihre  Erzeugnisse,  ver- 
einzelt, von  geringem  Umfange,  seien  jenen  grofsartigen  Werken  späterer  Zeit  nicht  zu  vergleichen, 
die  eine  Gesammtheit  einzelner  Tonbilder  durch  einen  gemeinsamen  IMittelpimkl  lebendig  verknüpfen, 
frei  dastehend  von  allen  äufseren  Bedingungen  ihrer  Ersclieinung  und  ihres  Verständnisses.  Sollte  uns 
also  jene  ältere  Kunst  nicht  vielmehr  als  eine  Andeutung  dessen  erscheinen,  was  später  erst  in  hö- 
herem Sinne  geleistet  worden;  und  wenn  wir  den  ohne  Widerspruch  so  viel  bedeutenderen  Umfang 
von  Kunstmitteln  erwägen,  dessen  die  spätere  Zeil  sich  zu  erfreuen  hat,  die  so  viel  gröfsere  Geschmei- 
digkeil tmd  Biegsamkeit  ihres  Tonsystems,  sollte  uns  die  ältere  dagegen  nicht  vielmehr  beschränkt  und 
arm  erscheinen? 

Es  ist  gewifs  zuerst:  frei  soll  die  Kunst  sein,  ihre  Erzeugnisse  in  sich  versländhch,  keiner  Erklä- 
rung, noch  irgend  einer  äufseren  Einrichtung  zu  ihrem  \erständnisse  bedürftig.  Unwiderruflich  aber  und 
überall  ist  die  heilige  Tonkunst  in  ihren  tiefsinnigsten  Erzeugnissen  geknüpft  an  das  Wort  der  Offenba- 


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mng;  sie  ist  es  also  in  jenen  Werken  späterer  Zeit  nicht  minder,  als  den  Hervorbringungen  der  früiieren. 
Sind  aber  Wort  wie  Ton  dasjenige,  wodurch  sie  als  Kunst  erst  in  das  Leben  treten  kann,  worin  der 
schaffende  Geist  zwar  gebunden,  aber  auch  wiederum  gestaltet  und  offenbart  wird,  so  ist,  nicht  minder 
als  alle  übrigen  Künste,  auch  die  ältere,  wie  spätere  heilige  Tonkunst  frei  tu  nennen  in  diesem  Zusam- 
menhange mit  dem  Worte,  die  eine  auf  gleiche  \\eise  mit  der  andern.  Die  eine  aber  wie  die  andere 
lös't  ihre  höclisten  Aufgaben  innerhalb  des  christlichen  Gebietes;  je  heimischer  der  Hörer  ist  in  demsel- 
ben, um  so  mehr  ist  ihm  das  Verständuifs  beider  gegeben,  da  sie  Blülhen  eines  und  desselben  Stammes 
sind.  Aber  mögen  wir  die  Werke  der  früiieren  Zeit  auch  defshalb  niclit  geringer  achten,  weil  sie  bei 
dem  ersten  Anblicke  uns  vereinzelter,  beschränkter  erscheinen.  Jene  einzelnen  Verse  der  Psalmen  und 
heiligen  Lieder,  jene  aus  den  Worten  des  Heilandes  und  der  Apostel  entnommenen  Sprüche,  finden  alle 
in  der  gröfsesten  That  der  Geschichte  ihren  IVIittelpunkt,  um  deren  einzelne  Momente  in  besonderen  Fe- 
sten durch  den  Lauf  des  ganzen  Jahres  wiederum  eigenthündiche  Kreise  der  Darstellung  sich  bilden.  In 
Gebet  und  Lobgesang,  in  W'eissagung  und  Verkündigung  auf  diesen  gemeinsamen  IVIittelpunkt  hindeutend, 
treten  jene,  anscheinend  vereinzelte  Tonbilder  zusammen  in  ein  einziges,  grofsartiges  Ganze,  ein  Faden 
der  Liebe  und  der  Begeisterung  zieht  sich  hin  durch  alle;  in  geheimnifsvoller  Verwandtscliaft  verknüpft, 
offenbart  ein  Kreis  von  Tönen  die  innere  Seele  des  heiligen  Wortes.  So  trat  jedes  einzelne  Kunstwerk 
dem  Hörer  einst  entgegen  in  der  bedeutsamsten  Umgebung,  im  Zusammenhange  mit  dem  Leben  der 
Kirche,  wie  es  an  den  verschiedenen  helligen  Zeiten,  an  den  einzelnen  Festen,  in  immer  wiederkehren- 
dem Kreislaufe  sich  offenbarte.  Getragen  von  allem  diesen,  dadurch  vorbereitet,  vermochte  er  es  reiner 
aufzufassen,  inniger  sich  anzueignen.  Das  Kunstwerk  erfreute  sich  einer  Heimalh,  der  Hörer  einer  Ver- 
mittelimg;  nicht  dafs  er  ihrer  zum  Verständnisse  des  Kinistwerkes  unumgänglich  bedurft  hätte,  aber  sie 
entfernte  von  ihm  alles  Störende  und  Zerstreuende,  stellte  ihn  demselben  in  der  rechten  Stimmung  ge- 
genüber: was  ihm  zu  Theil  wurde,  war  nicht  blofser  Kunstgenufs  in  beschränktem  Sinne,  sondern  wahr- 
hafte Erbauung.  Jenes  gröfseste  Werk  heiliger  Tonkunst  der  späteren  Zeit,  das  in  einer  Fülle  von 
Bildern  die  ewige  That  der  Erlösung,  wie  kein  anderes,  vor  uns  hinstellt,  schliefst  freilich  keinem  kirch- 
lichen Gebrauche  sich  an,  keiner  einzelnen  heiligen  Zeit,  weil  es  allen  angehört;  es  vermag  mit  keiner 
Art  des  Gottesdienstes  in  ^'e^bindung  gesetzt  zu  werden,  es  hat  bisher,  wenn  auch  zur  Erscheinung  ge- 
bracht an  heiliger  Stätte,  in  der  Kirche  noch  niemals  seine  wahre  Heimath  gefunden ;  jeder  Tempel  scheint 
für  dasselbe  zu  eng,  jede  Anknüpfung  an  bestimmten  Zeitunifang  zu  beschränkt,  es  fordert  uns  auf,  ein- 
zu'^ehen  in  dasselbe,  wie  in  einen  heiligen  Tempel  selber,  in  tiefer  Andacht  zu  vernehmen  ,^  was  uns  in 
ihm  verkündet  wird.  Und  wahrlich,  könnte  es  eine  Zeit  geben,  wo  Hörer  wie  Ausfidirende  in  diesem 
Sinne  völlig  in  dem  grofsartigen  Werke  lebten,  so  wären  jene  gelieimnifsvollen  Worte  der  Offenbarung 
erfüllt  von  der  Stadt  Gottes,  die  keines  Tempels  bedarf,  noch  der  Somie  und  des  Mondes  dafs  sie  in 
ihr  scheinen,  da  der  Herr,  der  allmächtige  Gott,  luul  das  Lamm,  das  der  Welt  Sünde  getragen,  ihr  Tem- 
pel ist,  und  die  Herrlichkeit  des  Herrn  sie  erleuchtet,-  die  höchste  Aufgabe  der  heiligen  Kunst  wäre  in 
ihm  gel(>st.  Allein,  wir  versauuneln  uns  ihm  gegenüber,  wie  zu  j^eder  andern  Erholung,,  wie  zu  dem 
leichtesten  Kunstgenüsse;  Ort  und  Zeit  gestatten  auch  dem  Fremdartigsten  unsere  Samndung  zu  stören, 
wenn  wir  sie  irgend  gewinnen  konnten;  demjenigen,  das  als  künstlcrisclie  Leistung  uns  entgegentritt, 
o-eccnüber.  können  wir  nicht  lunhiu  zu  prüfen,  in  wiefern  es  den  AusliUircnden  gelungen  sei,  ihre  grofse 
Aufgabe  zu  lösen,  und  so  geht  uns  oft  genug  das  hingebende  Aufnehmen,  das  Üiätige  Aneignen  verloren. 
In  sich  beschlossen  ^^^ar,    aber  heimathlos,    steht  so  das  grofse  Werk  da,    prophetisch;    und  so  wenig 


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liiöflil."  es  jpiJKiI.s  lile.iii-.len  seine  wahre,   genügende  Stelle    finden,    als    die    evan-.-ll.sihe    Kirche   in   ihrer 
tiefslen   Hededlnna,,  ihrem  waiiren  Wesen,  jemals  vollständig  ^^ird  können  erhaul  'sveidi-n  anf  Krden. 

Micht   etwa,    als  sei  in   der  katholischen  Form  des   Gottesdienstes  (die  ja  überall,    wo  der  Kalho- 
lieismus  herrschend  gehliehen  ist.  im  Ganzen  sich  nnverändert  erhallen  hat)  ancli  der  ächte  Styl  der  liei- 
lio^en   Tonkunst   allein   lieimiseh;    denn    s<nist  miifsle    er  noch    jet/.t   ansschliel'send    dort   an/.ulreiTen    sein, 
was  doch  offenbar  nicht  ist.  und  nur  dershall),  weil  der  lebendige  Zusammenhang  der  Tonkunst  mit  der 
kirchlichen    Feier  und  ihrer    Bedenlung  längs',    gelöst  ist,    weil  neuere    Aleisler    last   ausschliefscnd  an  die 
Messe,   ihre  gröCseren  liturgischen  IMassen,  als  für  ein  ausgeführtes,  umfangreiches  Kunsli>verk  am  meisten 
geeignet,  sich  gehalten,  als  solches  sie  möglichst  selbständig  hin/AisIcllen  getrachtet  haben;  hier  aber,  wo 
alte  Meister  in  fast  herber  Strenge  ein  heiliges  Cielieimnifs  feierlen,     nur  eine  Begebenheit  sahen,   an  die 
ein   möglichst  reiches   Spiel    wechselnder   F.mplindungen   geknüpft   werden   könne,    die    eine    Reihe   glän- 
zender, mannigfalliger  Bilder  darbiete,  die  nun   den  Hörer  flüchtig  umgaukeln,  ihn  ergöl/.en  und  unterhalten, 
daim  mid  wann  auch  vielleicht    eine    fruchtlose,    vorübergehende   lUduung   in  ihm   Ijcrvorbringen.     Jener 
frühere,  lebendige  Zusammenhang  der  Kunst  mit  der  kirchlichen  Feier,  beruhte  aber  auch  nicht  auf  dem- 
jenigen, was  wir  jetzt,    im  (Jegensatzc  gegen  das   Evangelische,    katholisch  zu  nennen  pflegen;    was  ihn 
vermiltelte,   war   vielmehr   der   geistige,  christliche   Gehalt  jener  Form  des  Gottesdienstes,  eben  dasje- 
nin-e,   worauf  jene  grofse  kirchliche  Bewegung  zn  Anfange  des  sechzehnten  Jahrhunderts  neu  begeisligend 
einwirkte;    eine   Bewegung,    die   unzweifelhaft    diejenigen  'l'heile   der    christlichen    ^^  elt   ohne    Ausnahme 
duTclidrang,    erschütterte,    umgestaltete,    die    irgend     bisher    in    lebendigem    Zusammeidiange    geblieben 
waren;    deren    Einwirkungen,    auch   unbewul'st,    von    denjenigen    erfahren   wurden,    deren   Aeufserungen 
ein  ganz  anderes  Verhältnifs  zu  ihr  sollten  vermuthen  lassen.     Denn  Sinn  mid  Geist  eines   Zeitalters  hat 
man  nicht  sowohl  in  den.  ausdrücklich  in  ihm  darüber  lautgewordenen  Reden  zu  erforschen,  als  in  seinen 
Thaten,  ja  seinen  dichterischen  und  künstlerischen  Ilervorbringungen,  welche  nicht  minder  dahin  zu  rech- 
nen sind.     So  rühmt  Gabricll  seinen  Freunden,   den  vier  Brüdern  Fugger.  nach,  während  er  ihnen  seine 
eeistlichen  Gesänge   überreicht,    dafs  sie  mitten  in    dem  Hader  in  Deutschland   den    katholisclien  Glauben 
in  seiner  Reinheit  bewahrt  hätten;   und  wir  dürfen  voraussetzen,   dafs  er  selber  ihm  eifrig  und  aufrichtig 
angehangen  habe,  dafs  seine  Kirche,  die  er  durch  seine  AVerke  verherrlichte,  ihm  eine  wahrhafte  geistige 
Ilcimath  gewesen  sei.     Er  ähnele  aber  wohl  kaum,    dafs  jene  Blüthe  tiefer  Frömmigkeit,    deren  reinster 
Abdruck  die   meisten   seiner  Gesänge  sind,    durch    jene,    vor   ihrem    gewaltsamen  Ausbruche  lange   schon 
still  fortwirkende  Regung  wesentlich  gezeitigt  worden,    welche  auch  den  ihm  so  verhafsten  Jlader  mittel- 
bar veranlafst  hatte;   dafs  eben,  was  durch  sie  in  der  Kunst  lebendig  erschlossen  worden,  auch  dasjenige 
war,   was  ihn  mit  seinen  anders  glaubenden  Freunden  zu   innigem   Bunde   vereinigte;    dafs   jener   Hader, 
wie  er  in  allmähliger  Auflösung  des  alten  Kaiserreiches  hervortrat,  in  leerem  Schulgezänk,  in  den  Gräueln 
der  Wiedertäufer,  dem  Wahnsinne  des  Bildersturms,  und  denjenigen,  der  um  sicli  her  nur  fest  gesicherte 
gesellschaftliche   Bande   erblickte  und   kirchliche  Einigkeit,    in    dem  AYerke  das   eine   Kirchenverbesserung 
zu  sein  sich  rühmte,  und  dennoch  scheinbar  solche  Früchte  trug,  nur  gotteslästerlichen    Frevel   erblicken 
lassen  mufste,  Auflösung  alles  Gehorsams,  Verderbnifs  aller  Lehre,  Losgebundenheil  aller  Sitte,  Zerstörung 
aller  Kunst,  und   seinen  tiefsten  Abscheu  erregen  —  dafs  jener  Hader,    nicht  das   Werk  dieser  wahrhaft 
reinigenden  Bewegung  gewesen,    sondern   der,    in   jeder  aufgeregten   Zeit  mit   erwachenden,    selbstischen, 
leidenschaftlichen,  verkehrten  Neigungen  des  menschlichen  Herzens,  deren  zerstörender  Einflufs  das  inner- 
lich wesenhaft  Thätige    nicht  ungetrübt   zur   Ersclieinung   kommen  liefs;    jener   dunkeln    Mächte,    welche 


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lange  zurückgehalten  durch  eine  äufserliche,  nun  plöb-luli  zusammenbrechende  Schranke,  nicht  innerlich 
besiegt  und  gebrochen  durch  die  geistige,  reinigende  Macht  des  gölthchen  Wortes,  nun  in  aller  ihrer  un- 
heilbringenden Gewalt  sich  hervordrängten,  und  nicht  etwa  bei  denen  allein,  die  man  als  Neuerer  be- 
zeichnete, sondern  auch  denen,  die  bei  dem  Alten  verharrten,  und  jedes  menschlichen  Gefühles  sich  ent- 
äufsern  zu  dürfen  meinten  gegen  diejenigen,  welche  mit  ihnen  nicht  länger  auf  demselben  Wege  fort- 
gingen. Und  endlich,  hätte  er  es  ahnen  können,  dafs  seine,  wenige  Jahre  zuvor  ehe  er  dieses  schrieb 
als  vorzüglich  rechtgläubig  und  fromm  gerühmte  Vaterstadt,  etwa  um  ^ben  so  \'iele  Jahre  später  den 
Fluch  des  obersten  Kirchenhauptes  auf  sich  laden,  und  dennoch,  oluie  jenen  Ruhm  irgend  dadurch  ge- 
trübt zu  wähnen,  diesen  Flucli  als  einen  nichtigen  imbeachtet  lassen  werde,  in  dem  Bewufstsein,  sie 
habe  nur  unveräufserliche ,  mit  ihrem  innersten  Leben  zusammenhängende  Rechte  vertlieidigt?  —  Niclit 
also  in  dem  Zurückkehren  zu  jener  Form  mögen  wir  nach  allem  diesem  das  Heil  kirchlicher  Kunst  su- 
chen, da  nicht  sie  es  war,  welche  das  Gedeihen  jener  an  sich  nothwendig  bedingte,  aber  auch  nicht  ver- 
gessen, dafs  in  dem  Geistigen,  Lebendigen  in  ihr  die  heilige  Kunst  auf  die  erfreulichste  Weise  sich  er- 
schlossen habe,  dafs  sie  von  ihr  getragen  worden  sei,  dafs  die  ehrwürdige  alte  UeberUeferung,  wie  die 
frische  Blüthe  der  Gegenwart,  in  dieser  Kunst  eine  eigcnthümliche  ßegeistigung  erfahren  habe,  dafs  es 
ihr  gelungen  sei,  statt  beschränkender  Regeln,  wesentlich  lebendige  Grundformen  (Typen)  für  ihre  Dar- 
stellungen zu  bilden,  in  Urnen  den  Geist  heiliger  Worte  darzidegen;  und  mögen  wir  alsdann,  indem  wir 
jener  Form  ein  gerechtes  Anerkenntnifs  nicht  versagen,  dieser  Kunst,  da  sie  ihre  Aufgabe  vollständig 
gelüs't  hat,  auch  den  Rulnn  einer  in  sicli  vollendeten  zugestehn. 

Was  aber  jenen  gröfsern  Umfang  von  Kunstmitteln  betrifft,  den  wir  der  neueren  Kunst  gleich 
anfangs  bereitwillig  zugestanden  haben,  so  mögen  vnr  nicht  vergessen  dafs  jedes  Kunstmittel  doch  nur  in 
sofern  walirhaft  ein  solches  ist,  als  die  Kunst  seiner  bedarf  um  ihre  Aufgaben  zu  lösen,  dafs  es  für  sie  gar 
nicht  vorhanden  ist,  sofern  diese  Lösung  ohne  dasselbe  geschehen  kann ;  dafs,  selbst  wenn  wir  diese  Kunst- 
mittel als  einen  gesammelten,  aufgespeicherten  Vorrath  ansehen  \^  ollten,  es  dennoch  dem  Künstler  nicht  zur 
L'nehre  oder  mindestens  nicht  als  Mangel  angerechnet  werden  dürfe,  wenn  er  von  einem  jeden  nicht  Gebrauch 
machen  können;  uns  also  hüten  in  die  so  oft  gehörten  Worte  einzustimmen,  dafs  dieser  oder  jener  ältere, 
oder  auch  der  Gegenwart  zu  früh  entrückte  Künstler,  wenn  ihm  das  zu  Gebote  gestanden,  was  von  seinen 
Nachfolgern  leicht  gehandhabt  worden,  noch  viel  Grölseres  würde  geleistet  haben.  Selbst  die  Biegsamkeit 
und  Geschmeidigkeit  des  Tonsystems,  deren  allerdings  die  spätere  Zeit  in  höherem  Maafse  sich  erfreut  als  die 
ältere,  ist  dieser  nicht  als  wesentlicher  Mangel  fülilbar  gewesen.  Den  Kreis  von  Tönen,  dessen  sie 
zu  lebendiger  Entfaltung  ihrer  Grundformen  —  welche  wir  ja  auf  eine  eigenthümliche  Naturanschauung 
gegründet  fanden  —  bedurfte,  hatte  sie  selber  sicli  geschaffen;  aus  einem  doppelten  Grunde  aber  ging 
seine  Erweiterung  hervor.  Einmal,  aus  dem  Streben,  das  Wesen  jener  Grundformen  auf  jeder  möghchen 
Tonhöhe  darzustellen,  ohne  umviderruflich  an  eine  bestimmte  gebunden  zu  sein;  ein  solches  Streben 
fanden  wir  in  den  Werken  unseres  Meisters,  und  in  seinem  Sinne  war  es  allerdings  ein  Erweitern  der 
Kunstmiltel  im  Geiste  der  altern  Zeit,  der  Erwerb  des  möglichst  gröfsesten  Reichthums  an  denselben, 
dessen  Fülle  freilich  das  Wesen  ihrer  Aufgabe  ihr  endlich  entrückte.  Dann  aber  auch  gründete  sich 
jener  Erwerb  neuer  Kunstmiltel  auf  einer  neuen  Aufgabe,  in  deren  Lösung  wir  schon  unsers  Mei- 
sters Vorgänger,  Cyprian  de  Rore  bcgriiTen  fanden,  der  Darstellung  des  Wechsels  mannigfacher  Gern üth s- 
bewegungen,  einer  Aufgabe,  völlig  aufserhalb  des  Kreises  kirchlicher  Tonkunst.  Eine  Mannigfaltigkeit 
neuer  Ausdrucksmiltel  wurde  auf  diesem  Wege  nothwendig,    eine  ganz   andere  Anschf<uung  der    Töne 

C.  r.  Wintcrfeld  Joh.  GabrUli  n.  s.  ZeidJler.  25 


—     194     — 

und  ihres  Zusammenhanges  mufste  sich  hilden;  auf  dieser  Seite  liegen  die  Andeutungen  der  neueren 
Kunst,  und  hier  allerdings  war  für  deren  ältere  Bestrebungen  in  nur  unvollkommenem  Maafse  vorhanden, 
was  dieselbe  in  so  viel  reicherer  Fülle  in  ihrem  vollkommen  ausgebildeten  diatonisch -chromatischen 
Systeme  sich  endlich  angeeignet  hatte. 

Dafs  aber  die  Aufgabe  der  älteren  kirchhchen  Tonkunst  einer  mannigfaltigen  Lösung  fiihig  gewe- 
sen, zeigt  uns  auf  das  Anschauhcliste  das  Beispiel  der  drei  gröfsesten  Meister  jener  älteren  Zeit:  des 
Orlando  Lasso,  Palestrina  und  Gahrieli.  In  diesem  letzten  können  wir  die  reichste,  vollste  Entfaltung 
der  früheren  venedischen  Schule,  ihre  ganze  Eigenthümlicldceit  erkennen.  Hatte  Willaert  in  seinen  ge- 
ihelltcn  Chören  die  Tonart  zuerst  als  harmonischen  Grundgedanken  ahnen  lassen,  war  Cyprian  weit 
hinübergeschweift  über  die  damals  bestehenden  Grenzen  des  Tonsystems,  nach  neuen  Ausdrucksmitteln 
für  seine  Gedanken,  so  sehen  wir  die  tiefste  Eigenthümllchkeit  der  Tonarten,  die  zartesten  Beziehungen 
der  einen  zu  den  andern  hervortreten  in  Gabriel i\  Werken;  in  der  Fülle  von  Anklängen,  die  er  uns 
vorüberfülirt,  begegnet  uns  etwas  Aehnliches  wie  jenes  zarte  und  doch  kräftige  Farbenspiel,  das  man 
als  besonders  bezeichnenden  Vorzug  der  venedischen  Mahlerschule  anzuführen  pflegt.  Das  Herkömm- 
liche, die  unmittelbare  Beziehung  auf  die  überlieferte  Kirchenweise,  da  ausgenommen,  wo  er  seine  Ge- 
sänge, dem  Kirchengebrauche  gemäfs,  durch  sie  anstimmen  lassen  mufs,  hat  er  ganz  verlassen;  um  so 
inniger  aber  in  dem  zuvor  gedachten  Sinne  der  Grundform  sich  angeschlossen,  in  welcher,  durch  innere 
JJotliwendigkeit  bedingt,  jene  alten  KiTchenweisen  erscliienen  waren.  Eben  so  tritt  die  strenge  kano- 
nische Form  nirgend  mehr  absichtlich  und  als  solche  bei  Uim  hervor:  belebend  überall,  nicht  bedingend, 
soll  der  bewegende  Grundgedanke  sein,  und  auf  wie  mannigfaltige  Weise  er  ihn  auszuprägen,  durch  das 
ihm  Beigegebene  ihn  herauszuheben  verstanden,  hoffen  wir  gezeigt  zu  haben.  Jene  sinnreichen  Ver- 
flechtungen der  alten  kirchlichen  Kunst  aber,  sofern  sie  das  Ohr  nicht  mehr  zu  vernehmen  vermag, 
sind  völlig  bei  ihm  ausgescldossen ;  nur  zu  dem  Sinne  allein  soll  die  Kunst  reden,  dei',  ihrem  Wesen  zu- 
folge, sie  allein  aufzunehmen  vermag,  und  zaubert  sie  dem  Hörer  auch  bestimmte  Bilder  hin,  so  sollen 
diese  doch  nur  durcli  jenen  Sinn  vermittelt  werden. 

Als  Zögling  der  alten  niederländischen  Schule  dagegen  erscheint  uns  In  seinen  Weiken  Orlando 
Lasso.  Mehr  als  die  früheren  IMoistcr  derselben  zwar  pafst  er  dem  Tone  das  Wort  an,  doch  hat  die 
Stimmenverwebung  bei  ihm  durchaus  vor  der  Entfaltung  das  Uebergewicbt.  Ist  also  aucli  jedem 
Wortsatz  ein  angemessener  Tonsatz  verbunden,  er  sei  nun  des  Meisters  Erfindung,  oder  aus  dem  Kir- 
chengesange  entnommen,  so  waltet  das  Streben  jeden  dieser  einzelnen  Tonsätze  in  enger  Nacliahmung, 
künstlicher  Verwebung,  baldmöglichst  hören  zu  lassen,  doch  überwiegend  vor;  in  diesen  relclien,  mannig- 
faltigen Verflechtungen  erscheint  uns  die  Seele  jedes  TonbUdes  nicht  selten  gebunden,  verhindert  sich 
frei  zu  entfalten.  Allein  als  Meister,  beides,  der  Stlmmverwebung  und  harmonischen  Entfaltung,  thuf 
er  sich  kund  in  denjenigen  seiner  Gesänge,  welchen,  sei  es  als  ruhender  oder  bewegender  Grundgedanke, 
eine  kirclihclie  Intonation  durch  mehre  Abschnitte  hin  zu  Grunde  Hegt,  wie  In  vielen  einzelnen  Theilen 
seiner  achtfachen  jMagnIficnt.  Die  elgenthümllchen  Wendungen  jener  alten  Gesangsformeln  werden  hier 
durcli  das  sie  umgebende  und  tragende  Tongewebe  In  ihrer  vollen  Bedeutung  erst  recht  hervorgehoben; 
es  ist  bewundernswerlh,  mit  welcher  Erfindungsgabe,  der  selbstgewählten  Beschränkung  ungeachtet,  er 
seinen  Stoff  beherrscht.  Ihn  geistig  durchdringl.  Nur  tiefe  Andacht  will  er  hier  ausdrücken,  gänzliches 
Versenken  des  Einzelnen  in  Gelt,  verschwinden  soll  jedes  irdisclie  Gefühl  bis  auf  dessen  leisesten  An- 
klang;   nur  was   der  Ivirchenton  ausspricht,    wie  er  in  dem  durch  die  KIrclie  geheiligten   Gesänge  sich 

/ 


—     195     — 

verkörpert,  soll  bleiben,  das  besondere  Verhältnifs  der  betenden  Gemeine  zu  dem  Herrn.  Dem  Kirclion- 
gebrauche  zufolge,  trug,  mit  dem  einfachen  Gesänge  der  Geistlichen  Strophe  um  Strophe  wechselnd,  in 
der  Regel  der  Chor  Gesänge  vor,  in  denen,  vne  bei  dem  Magnificat,  eine  Gesangsformel  bleibend  durch 
alle  Abschnitte  sich  hinzieht,  oder,  wie  in  dem  Te  Deum,  mehre  Gesangsstrophen,  bald  sich  wiederho- 
lend, bald  wechselnd  dem  Ganzen  zu  Grunde  liegen.  In  dem  Chorgesange  nun  läfst  Orlando  bald  ein- 
zelne, bald  alle  Stimmen  zusammentreten;  bald  unverändert,  bald  durch  Gesangeswendungen  verziert, 
füliren  sie  die  uralte  Kirchenweise  aus,  ohne  durch  den  ihr  geliehenen,  bescheidenen  Schmuck  ihren 
eigenthümliclicn  Fortschritt  zu  verduidceln;  bald  ahmen  alle  Slimmcn  sie  vollständig  nach,  bald  sind  ein- 
zelne Abschnitte  derselben  unter  sie  verlheilt.  Je  weniger  der  verflochtenen  Stimmen  sind,  desto  mei- 
sterhafter ist  gewöhnlich  die  Ausführung;  an  Klarheit,  Fülle  des  Klanges,  zartem  Spiel  der  Beziehungen 
der  Kirchentöne  zu  einander  kommen  diesen  Sätzen  wenige  ihrer  Zeit  gleich.  Die  enge  Nachalimung, 
sonst  weniger  fafslich,  tritt  hier  mit  mehr  Klarheit  heraus,  eindringlicher  das  Verhältnifs  der,  den  Kir- 
cliengesang  umgebenden  Stimmen  zu  ihm  selber.  Ist  er  (wie  in  dem  Te  Deum  bei  dem  Satze:  te  pro- 
phetarum  etc.J  zuweilen  nur  zwei  hohen  Stimmen  übertragen,  so  entfaltet  sich  vor  uns  das  rei- 
zendste Spiel,  wenn  beide,  sinnig  ihn  ausschmückend,  einander  überflügeln,  dann  sich  zart  an  einander 
schmiegen,  sich  wiederum  entfernen,  eine  Fülle  der  reinsten  und  zartesten  Klänge  in  ihren  hellen, 
klaren  Tönen  ausströmen.  In  dieser  Verklärung  des  alten  Kirchengesanges,  wo  ilim  gestattet  ist  seine 
Ausführung  durch  mehre  auf  einander  bezügliche  Sätze  auseinanderzubreitcn,  ist  Orlando  ohne  Zweifel 
unübertroflen  in  seiner  Zeit;  eben  hierin,  obgleich  sie  darüber  sich  nicht  deutlicher  ausdrückt,  fand  sie 
vielleicht  jene  „rechte  Motettenart"  deren  Besitz  vor  Allem  sie  ihm  nachrühmt.  Doch  in  dem 
Choralmäfsigen  aucli  vermissen  wir  nicht  die  reiclie  Beweglichkeit  seines  Geistes.  Einsam  zuerst  hören 
wir  den  Grundton  laut  werden,  seine  Quinte  und  Unteroctave  dann  sich  ihm  gesellen,  mit  seiner  Ober- 
octave  endhch  seine  grofse  Terz,  den  vollständigen  Dreiklang  ausstraldend ,  ertönen.  Jene  letzten  beide 
kh'ngen  aushallend  fort,  allein  der  Gang  der  anderen  Stimmen  verwandelt  sie,  jene  in  die  kleine  Terz, 
diese  in  die  Oberquinte  eines  neuen  Bafstones.  Dieser  Wechsel  des  Forttönens  und  Fortbewegens  in 
den  einzelnen  Stimmen,  die  Veränderung  seines  Verhältnisses,  die  auch  das  Unbewegliche  erfährt, 
jenes  allmäldige,  tiefe  Anschwellen  des  Gesanges  durch  den  Hinzutritt  mehrer  Stimmen,  verbreiten  über 
seine  choralmäfsigen  Sätze  ein  frisches  Leben,  einen  besonderen  Glanz. 

Strenge  und  bedeutsam  fanden  wir  Palesfrina  einen  rh)i;hmischen  Grundgedanken  durch  einen 
Gesang  von  beträchthchem  Umfange  festhalten:  sein  stabat  mater  erschien  uns  zuvor  als  ein  Musler 
rhythmischer  Entfaltung.  In  ähnUcher  Reinheit  und  Strenge  hält  er  überall  die  gewählte  Tonart  fest, 
und  versclimäht  jene  mannigfaltigen  Anklänge,  in  denen  Gabrieli  vor  Allem  sich  wohlgefällt.  Alle  Härte 
jedoch  weifs  er  in  dieser  Strenge  zu  vermeiden,  jede  Reibung  zwischen  den  sich  mannigfach  durchkreu- 
zenden Stimmen;  nur  Wohlklang  sollen  sie  erzeugen  wo  sie  einander  begegnen.  Eben  mn  jenes  Klang- 
reichen  seiner  Gesänge  willen,  ihrer  Keuschheit  und  Heiligkeit  wegen  (dafs  wir  es  so  bezeichnen)  welche 
jeden  Schmuck  abweis't,  hat  man  ihn  oft  als  denjenigen  Meister  genannt,  dessen  Werke  am  reinsten 
das  Gepräge  des  Kirchlichen  tragen;  und  in  der  That,  da  jene  Beschränkung  nicht  eine  äufserUch  hem- 
mende, sondern  aus  dem  ganzen  inneren  Wesen  dieses  Meisters  hervorgehende  ist,  so  fühlen  wir  sie 
auch  'als  eine  nothwcndige,  dem  kirchlichen  Ernste  allerdings  vorzüglich  geziemende:  nur  mögen  -mr 
niclit,  alles  eigenthümllcJie  Leben  der  Kunst  vernichtend,  sie  als  eine  allgemeine  dahin  übertragen,  wo 
sie  alle  freie  Entfaltung  zurückdrängen  müfste. 

25* 


—     196     — 

Eine  alte,  nicht  gehörig  verbürgte  Sage  erzählt  uns,  dafs  die  Reinheit  und  Keuschheit  der  Gesänge 
Palestrina's  die  mit  dem  Untergange  bedrohte  heilige  Kunst  gerettet  habe;  ein  frommer  Zeitgenosse 
schreibt  einem  Gesänge  des  Orlando  Lasso,  der  das  strenge,  kirclihcli  Ueberliefertc  so  liebücli  und 
bedeutungsvoll  zu  entfalten  wufste,  die  Kraft  zu,  düstre  Wolken  zu  vertreiben,  und  die  Sonne  hcrvorzu- 
locken;  ein  begeisterter  Schüler  Gabricli's  will  seinem  klangreichen,  tief  ergreifenden  Meister  sogar  die 
tragische  Muse  der  Alten  vermälden.  Möge  jene  alte  Sage  unseren  Zweifel,  aber  auch  imsere  Forschungs- 
lust reizen  ');  mögen  wir  lächeln,  nicht  minder  über  jenen  frommen,  einfältigen  Glauben,  als  diese  prun- 
kende Lobrede:  eingestehen  müssen  wir,  dafs  in  allem  diesen  ein  Gefülil  von  der  wahren  Eigenthümlich- 
keit  der  drei  Meister  dämmert,  und  so  schliefsen  wir,  auf  alle  den  Wunscli  ausdehnend,  den  ein 
anderer  Schüler  GabrieU's  prophetisch  über  seinen  Meister  ausspricht:  dafs  ihre  grofse  Tüchtigkeit  und 
Meisterschaft  auch  bis  zu  denen  dringen,  von  ihnen  lebendig  erkannt  werden  möge,  welche  nimmer  ihr 
Angesicht  geschaut  haben. 


')  Für  Ermittelung  der   IV'ahrheit  ist  Jetzt  durch  Baini's  Vorsehungen  fiele«  geschehen,     l'ergl.  seine  Memorie  ttorico 
eriliche  sopra  la  vila  e  Ic  opere  di  Giovanni  Picrluigi  da  J'alcslrina  etc.   Tom.  J.  Sa,  11,   Cup.  8. 


197     — 


BEILAGEN  ZUM  ERSTEN  THEILE. 


/.     Ver%eichnifs  der  Sängermeister  mid  Organisten  an  der  Kirche   des 

heiligen  Marcus  laut  deren  Archiven, 

Ifieses  Verzeichnifs,  einem  beglaubten  Auszuge  „dei  libri  actorum  deW  archivio  della  cliiesa  di  S. 
Marco''  gleichlautend,  erscheint  hier  mit  allen  Unfolgerechtigkeiten  der  Schreibweise  der  Namen,  (zumal 
der  Taufnamen)  die  wahrscheinlich  den  verscliiedenen  Personen  beizumessen  sind,  welche  die  jedesmali- 
gen Eintragungen  der  Wahlen  besorgten.  Weder  die  Namen  der  Vicemeister  noch  die  Tage  ihrer  Wahl 
and  in  demselben  angezeigt;  nur  bei  Rovella,  der  bis  zu  seiner  endlichen  Erwählung  eine  solche  Stelle 
bekleidet  zu  haben  scheint,  findet  eine  Ausnahme  statt,  und  bei  Furlante,  dessen  Wahl  bereits  in  die 
Zeit  nach  dem  Aufhören  des  alten  Venedig  fällt.  Bei  denen  imter  den  Sängermeistem,  die  zuvor  Orga- 
nistenstellen bekleideten,  ist  durch  die  Buchstaben  B.  C.  und  die  laufende  Nummer  angedeutet,  wo  die- 
selben in  den  Verzeichnissen  der  Organisten  an  beiden  Orgeln  zu  finden  sind:  auch  sind  sie  durcli  ge- 
sperrte Schrift  ausgezeichnet. 

Die  Naclirichten  über  die  Sängermeister  reichen  bis  über  das  Ende  des  alten  \'enedig  hinaus,  die 
über  die  Organisten  an  der  ersten  Orgel  hören  bald  nach  der  Mitte,  die  von  denen  an  der  zweiten  Orgel 
schon  vor  den  ersten  zwanzig  Jahren  des  achtzehnten  Jahrhunderts  auf. 


3Iaestri  dcUa  Ducal  Caitella  di  S.  Marco,   tratti  dei  libri  actorum   deW   archivio 

della  chiesa  di  S.  3Iarco. 

1.  D.  P.  de  Ca  Fossis, eletto  Tanno  1491  a'    31.  Agoalo. 

1.  D.  Adriano  0VillaertJ  Fiammingo 1527  12.  Decemhre. 

3.  D.  Cipriano  Bore 1563  18.  Oltobrc. 

4.  P.  Iseppo   Zarlino 1565  5.  Luglio. 

5.  P.  Baldisscra  Donali 1590  9.  Marzo. 

(3.  P.    Ziiane  Croce  (^Giovanni  Croce  detfo  ChiozzoltoJ  ....  1603  13.  Luglio. 

7.  P.  GiuHo  Ccsare  ^larlinengo 1609  22.  Agosto. 

8.  D.  Claudio  Montcverde 1613  19.  Agosto. 

9.  D.  Giovanni  Rovetla 1649  (43)     8.   OUobre. 

(^21.  Febbrajo.J 

10.  D.  Francesco  Coletto  detto  Cavalli  (C.   11.)       ..    .     .  1668  20.  Novembre. 


—     198     — 

11.  P.  ISadal  Monferralo eUUo  luimo  1676     d     30.  Agoslo. 

VI.  P.   Zuanc  Legi-emi 16S5  23.  Aprile, 

13.  P.  Gio.  Batt.  Volpe  (B,  23.)  detto  Roettino      .  1690  6.  Agosto. 

14.  P.  Gio.  Dometiico  Partenio   .     .    , 1692  10.  Maggie. 

16.  P.  Antonio  Bißi 1701  5.  Febbrajo. 

16.  D.  Aritonio  Lotli  (B.  25.) 1736  2.  Aprile. 

17.  D.  Antonio  Polaroli 1740  22.  Maggie. 

18.  D.  Giuseppe.  SarateUi 1749  24.  Settetnbre. 

19.  Baldassarro  Gahippi  detto  Biiranello       ....  1762  6.  Aprile. 

20.  Ferdinando  Bertoni  (B.  27.) 1784  21.  Gennajo. 

21.  Bonaventura  l'urlante  ff^icemaesfroj      ....  1797  23.  Decembre. 

22.  Giannone  Perotti 1817  2.  Maggio. 


1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

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8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

23. 

24. 

25. 


B.      Organisti   del  priino    Org 

Mistro   Zuchetlo eletto  Fatmo  1318 

—      Francesco  da  Pesaro 1337     a' 

Gio.  Domenico  Dattolo 1368 

Andrea  de  San  Silvestro 1375 

Joannino  Tagiapietra 1379 

Fra  Antonio  de"  Sert^j 1389 

—  Giacomo  Filippo  de'  Servj 1397 

—  Maestro   Zuane 1406 

Maestro  Bernardino 1419 

Bernardo  Mured 1445 

Barlolamio  Battista 1459 

Aluise  Arciero 1j18 

Giulio  Segnal 15i»0 

Baidissera  da  Imola 1533 

dachet  (Fiammingo) 1541 

Girolamo  Parabosco 1551 

Claudio  {Merulo  da  CorreggioJ 1557 

Zuane  Gabrieli , 1584 

Gio.  Paolo  Vavij 1616 

Gio.  Batt.  Grillo 1619 

Carlo  Fillago 1623 

Massimiliano  Neri 1644 

Gio.  Batt.  Volpe  detto  Roettino 1664 

Carlo  Francesco  Pollarolo 1690 

Antonio  Lotli 1693 


ano. 

(ohne  Angabe  des  Monatslages.) 
10.  Aprile. 
20.  Gennaro. 
8.  Novembre. 
Marzo. 


12, 

10. 

1. 

7, 
3, 


Luglio. 
Agosto. 


IJecembre. 

Aprile, 
15.  Aprile. 
22.  Setlembre. 
21.  Febbrajo. 
10.  Novembre. 
29.  Marzo. 
15.  Luglio. 
(ohne  Angabe) 
2.  Luglio. 
7.  Novemhre. 
10.  Agosto. 

Decembre. 

Maggio. 

Decembre. 

Gennaro.  (s.  A.   13.) 


30, 
1. 
18 
11, 
13, 


Agosto. 


31.  Luglio.  (s.  A,  16.) 


—     199     — 

26.  Agoslino  Coletti elello  Vanno  1736 

27.  Ferdinando  Bertoni 1752 

C      Organisti   del  secondo 

1.  Francesco  Davo    . eletto  Fanno  1490 

2.  Zuane  de  Marin '   .     .  1502 

3.  Fra  Dionisio  Memo 1507 

4.  Fra  Armuno 1516 

5.  Annihal  Padovano 1552 

6.  Andrea  CGalrleliJ  da  Canareio 1556 

7.  Vicenzo  Bei  (BelVaverJ 1586 

8.  Iseppo  Guammj 1588 

9.  Paolo  Giusto 1591 

10.  Zan  Pietro  Bcrij 1624 

11.  Francesco  Cotelto  detlo  Cavalli 1638 

12.  Pietro  Andrea   Ziani 1668 

13.  P.  Giacomo  Filippo  Spada 1677 

14.  Benedetto   Vinaccsi    .     •• 1704 

15.  P.  Aluise  TaveUi 1719 


o*    21.  Maggio. 

27.  Agosto.  (s.  A.  20.) 


Orgatio, 

a'     20.  Agosto. 

6.  Fehbraro. 

22.  Setletnbre. 
16.  Settembre. 

29.  Novemhre. 

30.  Settembre. 
30.  Deccmbre, 
30.   Ottobre. 

15.  Settembre. 

16.  Settembre, 

23.  Gennaro.   (s.  A.  10.) 
20.  Geunaro. 

16.  Gennaro. 

7.  Settembre. 
30,  Giiigno. 


—     200     — 


II.     Notendruck  und  Musikhandel  %u  Venedig  im  sechzehnten  und 

siebzehnten  tiahrhunderte. 

Unter  den  Städten  Italiens  war  Venedig  vor  allen,  wie  die  erste,  die  geschätzte  Tonwerke  durch  den 
Druck  bekannt  machte,  so  die  vorzüglichste  Beforderin  der  Verbreitung  derselben;  auch  Werke  berühm- 
ter Meister  aus  anderen  Theilen  der  Halbinsel  finden  wir  im  Laufe  des  sechzehnten  und  siebzelmten 
Jahrhunderts  zumeist  dort  gedruckt.  Der  früheste  Drucker  und  Verleger  praktischer  IMusikwerke  daselbst 
scheint  Ollavio  Petrucci  aus  Fossonibrone  gewesen  zu  sein.  Um  das  Jahr  1502  finden  wir  bei  ihm  fünf 
Messen  von  Josquin  sehr  sauber  und  geschmackvoll  in  einzelnen  Stimmen  gedruckt,  so,  dafs  die  Zahl 
der  einzelnen  Blätter,  von  der  höchsten  Slimmb  anfangend,  durch  alle  hin  bis  zum  Schlüsse  des  Basses 
fortläuft.  Dort  steht  die  Bemerkung:  Impressum  Venetiis  per  Octavianum  Petrutitim  Forosempronien- 
»em  die  27.  Decembrls  1502.  Cum  privilegio  invictissimi  Dominii  Venetiarum,  quod  nullus  possit 
rantum  JJguratum  imprimere,  sub  poena  in  ipso  privilegio  conlenta.  Die  Titel  der  Messen  sind :  läomme 
arme  super  voces  musicales.  —  La  sol  Ja  re  mi.  —  Gaudeamus.  —  Fortuna  desperata.  —  liomme 
arme  sexli  toni;  und  dieser  letzten  ist  noch  ein  vierstimmiges  Ecce  pulchra  es,  amica  mea,  angehängt. 
Diesen  Messen  folgten  1503  (am  24.  März)  fünf  dergleichen  von  Ohrecht;  eben  so  viel  am  17.  Juni 
desselben  Jahres  von  Brumel,  am  15.  Juli  deren  vier  von  Johannes  Ghiselin,  fünf  am  31.  October  von 
Pierre  de  la  Rue,  und  eine  gleiche  Anzald  am  23.  März  des  folgenden  Jahres  1504  von  Alexander 
Agricola.  Noch  mehre  dergleichen  von  Petrucci  verlegte  IMessenwerke ,  jedocli  ohne  Angabe  der  Jahr- 
zahl, findet  man  pag.  96.  97  der  zu  Amsterdam  1829  gedruckten  Preissclirift  des  Herrn  Hofraths  Kiese- 
vsetter  zu  Wien  (über  die  Verdienste  der  Niederländer  um  die  Tonkunst)  verzeichnet,  wie  man  denn 
eben  da  (pag.  93  —  95)  sich  über  die  in  den  Jahren  1503  bis  1508  bei  diesem  rüstigen  Musik  Verleger 
erschienenen  Lieder  und  Motettensammlungen  näher  unterrichten  kann.  Um  das  Jahr  1514  jedoch,  wo 
bei  ihm  das  erste  Buch  der  Moteiti  della  Corona  (einer  mit  diesem  Zeichen  versehenen  Sammlimg  von 
Motetten  zumeist  niederländischer  Meister)  erschien,  befand  sich  Petrucci  bereits  wieder  in  seiner  Vater- 
stadt Fossombrone,  vielleicht,  weil  sein,  nur  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Jahren  erthoiltes  Privilegium 
erloschen  war,  und  man  Bedenken  trug  es  zu  erneuern.  Dennoch  scheint  es  eine  Weile  gedauert  zu 
haben,  ehe  der  Musikverlag  zu  Venedig  bedeutend  in  Aufnahme  kam;  die  Verleger  hauptsächlich  theore- 
tischer, wenn  auch  mit  INotenbeispielen  versehener  Werke  tragen  wir  aber  Bedenken,  hier  mit  Musikver- 
leg€rn  in  eine  Reihe  zn  stellen.  In  diesem  Sinne  beginnt  erst  um  1537  durch  Antonio  Gardano  zu 
Venedig  die  Blütlie  des  Musikverlages.  In  jenem  Jahre  finden  wir  durch  diesen,  eigene  Gesänge,  und  der- 
gleichen von  niederländischen  Meistern  herausgegeben,  deren  Namen  der  Verfasser  dieser  Nachrichten  an- 
zumerken unterlassen  hat.  In  dem  folgenden  (1538)  erschienen  bei  ihm  25  vierstimmige  französische  Ge- 
sänge von  Clement  Jannequin,  Certon,  Des  Fruz,  Damien  Uauriey,  Besdin,  Heurtcur,  Passereau, 
in  2  Büchern;  in  dem  folgenden  (1539)  unter  den  Titel  „Motetli  del  Frutto"  Geistliche  Gesänge  von 
Claudin,  Guarnier,  Jaquet  etc.,  und  seitdem  sehen  wir  seine  Presse  in  allen  folgenden  Jahren  (mit  eini- 
gen Ausnahmen)  in  ununterbrochener  Thätigkeit,  so  dafs  bis  zum  Jahre  1571 ,  wo  seine  Söhne  Angela 
und  Alexsandro  auf  den  Scliauplatz  traten,  imierhalb  eines  Zeitraums  von   drei   und  dreifsig  Jahren  hun 


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dert  und  zwölf  meist  umrängliche  Tonwerke  durch  ihn  an  das  Licht  getreten  sind  (blofser  Wiederabdrucke 
nicht  zu  gedenken;)  eine  Anzahl,  die  wahrscheinlich  um  Vieles  sich  erhöhen  würde,  wenn  nicht  eine 
Menge  jener  alten  Werke  durch  JNichtachtung  und  Nacliläfsigkeit  verloren  gegangen  wären,  wenn  wir 
mindestens  über  alles  Erschienene  sichere  und  genaue  Nachrichten  besäfsen,  oder  auch  nur  das  noch  Vor- 
handene zu  allgemeiner  Uebersicht  zusammenstellen  könnten, 

Gardano's  Söhne  finden  ^^-ir  bis  zum  Jahre  1575  als  gemeiuschafthche  Herausgeber  von  Ton- 
werken; erst  von  da  an  scheint  Angela  Gardano,  wenn  auch  schon  seit  1570  hin  und  wieder  allein 
auftretend,  von  seinem  Bruder  Alessandro  sich  getrennt,  und  einen  selbständigen  Musikverlag  eingerichtet 
zu  haben.  Alessandro  kommt  noch  um  1580  zu  Venecb'g  vor,  seit  1584  aber  zu  Rom;  vielleicht  also 
wurde  die  Trennung  der  Brüder  durcli  das  Unternehmen  veranlafst,  einen  Zweig  der  von  ihrem  V^ater  ge- 
stifteten sich  immer  mehr  ausbreitenden  Musikhandlung  nacli  der  Hauptstadt  Italiens  zu  verpflanzen.  In 
den  neunziger  Jahren  des  seclizehnlen  Jahrhunderts  ist  auf  den  Titeln  zu  Venedig  erscliienener  Tonwerke 
häufig  nur  der  Druckerei  des  Gardano  fStampa  del  Gardano)  gedacht:  zuweilen  wird  dabei  Barto- 
lommeo  Magni  als  Herausgeber  genannt,  andere  Male  nicht.  \Vir  sind  also  nicht  berechtigt,  diesen  bis 
in  die  Mitte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  hin  rüstigen  Musikverleger  als  späteren  Eigenthümer  dieser 
Druckerei  anzusehen,  und  dürften  nur  annehmen,  dafs  gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts  auch  Angela 
Gardano  seinem  Vater  nachgefolgt,  das  früher  unter  diesem  Namen  geführte  Verlagsgeschäft  aber  nun- 
mehr in  das  einer,  gewifs  aber  noch  sehr  umfänglichen,  blofsen  Notendruckerei  übergegangen  sei.  Diese 
finden  wir  noch  länger  als  hundert  Jahre  nach  Antonio  Gardano's  Erscheinen  in  voller  Thätigkeit:  um 
1650  ist  unter  andern  dort  eine  Sammlung  drei  bis  fünfstimmiger  Completorien  von  Biugio  G/ierardi, 
Capellmeister  am  Dome  zu  Verona,  gedruckt. 

Fast  gleichzeitig  mit  Antonio  Gardano  tritt  Marcfiio  Sejsa  (1539)  auf  die  Bahn,  und  nur  ein 
Jahr  später  (1540)  sehen  wir  Girolamo  Scoto,  nächst  Gardano  wohl  den  bedeutendsten  Musik- 
verleger Venedigs,  dort  erscheinen,  und  mit  geringen  Unterbrechungen  fast  jedes  folgende  Jahr  bis 
1573  seine  Presse  in  Thätigkeit.  Doch  möchten,  was  uns  Unterbrechungen  scheinen,  wohl  nur  Lücken 
unserer  Kenntnifs  von  dem  gesammten  Umfange  seines  Verlages  sein:  wie  denn  ohnehin  alle  diese  An- 
gaben nur  ungefähre  sein  können,  da  sie  auf  den  Bemerkungen  beruhen,  die  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
der  Verfasser  dieser  Blätter  über  die  in  den  bedeutendsten  Büchersammlungen  Deutschlands  und  Italiens 
ihm  durch  die  Hände  gegangenen  älteren  Musikwerke  zu  einem  anderen  Zwecke  aufgezeichnet  hat.  Um 
1573  schon  erscheinen  aufser  Girolamo  Scoto  auch  dessen  Erben,  daher  denn  jenes  Jahr  mit  ziemlicher 
Gewifsheit  als  sein  Todesjahr  anzunehmen  ist. 

Weniger  bedeutend  als  Musikverleger  zu  Venedig  scheinen  im  sechzehnten  Jahrhimdert  gewesen 
zu  sein:  Francesco  Rampazzotto,  (seit  1566)  Claudio  da  Coreggio  —  der  als  Organist  und  Tonsetzer 
so  ausgezeichnete  ßlertdo  —  den  wir  in  eben  dem  Jahre  viermal  mit  Fausto  Belhanio  zu  einem 
solchen  Geschäfte  vereinigt  finden;  Zuan  Giacomo  de'  Zorzi  (^aW  insegna  del  cagniuoloj  1569;  Jo- 
»ephus  Guglielmtts  1576;  Ricciardo  Amadino,  seit  dem  Jahre  1583  in  Gemeinschaft  mit  Giacomo 
Vincenti,  bis  um  1586,  wo  beide  sich  trennen,  und  jeder  ein  abgesondertes  Geschäft  beginnt.  Nach  den 
ersten  fünfzehn  Jahren  des  folgenden  Jahrhunderts  verschwinden  beide  Namen,  und  auch  das  Geschäft 
des  Amadino  scheint  seitdem  aufgehört  zu  haben:  allein  nun  tritt  Alessandro  Vincenti  bedeutend  auf, 
vielleicht  ein  Sohn,  oder  doch  Erbe  des  Giacomo,  und  Fortführer  seiner  Verlagsunternehmungen.  Zwi- 
schen ihm  und  Bartolommeo  Magni  scheint  seitdem  der  Älusikverlag  in  Venedig  sich  getheilt  zu  haben, 

f.  r.  WiiitcrMJ   JoL.  üabricli  u.  s    Zeitiller.  26 


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doch  bleibt  immer  d;is  üebergewitlit  auf  VinfeniVs  Seite,  dem  wir  innerhalb  der  sieben  und  dreifsig 
Jahre  von  1620  bis  1657  —  wobei  uns  doch  aus  bereits  erwähnten  Gründen  über  die  Jahre  1621, 
1624  1631,  1632  nähere  Angaben  mangeln  —  zweihundert  und  vier,  meist  sehr  bedeutende  Verlags- 
artikel dieser  Art  nachrechnen  können,  während  wir  von  Magni  zwisclien  1616  und  1644  (innerhalb 
acht  und  zwanzig  Jahren)  nur  deren  neun  und  achtzig  verzeiclinet  finden.  Für  Vincenli  war  das  Jahr 
1637  das  ergiebigste,  wo  er  dreizehn  Werke  herausgab,  nächstdcm  die  Jahre  1628,  1640  wo  er  deren 
elf,  1636,  1649,  1650  wo  er  deren  zehn  verlegte:  für  Magni  die  Jahre  1640  und  164l  in  deren  jedem 
zwölf  Werke  seine  Presse  verhefsen.  Mit  1651  kömmt  s\.üi\.  Bar lolommeo,  Francesco  Magni  vor,  wahr- 
scheiidich  wiederum  dessen  Sohn  un^  Erbe;  mid  dessen  Gescliäft  können  wir  bis  zum  Jahre  1665  verfolgen. 
Am  längsten  durch  beide  Jahrhunderte  pflanzt  sich  hienacli  des  Gardano  Wirksamkeit  fort ;  nächst 
ihm  die  der  Vincenti,  von  1583  bis  1657,  durch  vier  und  siebzig  Jahre,  endUch  die  der  Magni,  durch 
deren  fünfzig.  Fast  ein  jeder  von  diesen  Venedischen  Musikverlegern  fülnt  ein  besonderes  Sinnbild,  mit 
dem  die  bei  ihm  erschienenen  Werke  geschmückt  sind,  wenn  nicht  deren  Urheber  vorzogen,  sie  einem 
hohen  Gönner  cigends  zu  widmen,  und  sein  Wappen  auf  dem  Titelblatte,  ein  Zeichen  gewissermaafsen 
des  von  ihm  begehrten  und  erwarteten  Schutzes,  ilinen  voranzustellen.  Auf  Antonio  Gardano's  und 
seiner  Nachfolger  Ausgäben  halten  Löwe  und  Bär  eine  aufgeschlossene  Rose,  in  deren  Mitte  eine  Lilie 
sich  zeigt,  das  Ganze  mit  der  Umschrift:  Concordes  virtute  et  naturae  mlracidis.  Girolamo  Scoto  führt 
als  Sinnbild  Palme  und  Oelzweig,  durdi  den  Anker  zusammengehalten,  das  Ganze  auf  einem  hohlen 
Stamme  ruhend  mit  Waben,  aus  denen  Bienen  hervorscliwärmen ;  die  dabei  befindllclien  Buchstaben  S. 
O.  S.  wüfsten  wir  nicht  zu  deuten.  Alessandro  Vincenti  hat  eine  Pinienfrucht  mit  der  Umschrift: 
aeque  honnm  atque  tutum ;  Ricciardo  Amadino  eine  Orgel  mit  einem  Herzen  in  der  Mitte,  und  dem 
Denkspruche:  magis  corde  quam  organo;  und  so  Andere  Anderes.  IVIit  dem  Ausgange  des  siebzehnten 
Jahrhunderts,  jemelir  die  Oper  allgemeiner  beliebt,  und  statt  eines  blofsen  Prachtschauspiels  an  Fürsten- 
höfen zu  einem  Volksschauspiele  wurde,  nimmt  die  Thätigkcit  der  Pressen  ab,  die  wir  bis  dahin  fast  in 
gleichem  IMaafse  beschäftigt  finden  geisthche,  wie  weltliche  Ton%\  crke  zu  verbreiten.  Man  hat  nun  täglicl» 
Gelegenheit  die  neuesten  und  glänzendsten  Erzeugiiisse,  durch  die  hervorragendsten  Talente  ausgefülirt, 
zu  vernehmen,  man  geniefst  sie  wie  die  Erzeugnisse  der  Jahreszeit,  und  läfst  ihr  Verwelken  sich  niclit 
kümmern,  weil  ja  der  nächste  Früliling  neue  Blumen  bringen,  der  Herbst  neue  Früchte  reifen  werde. 
Statt  der  Notenpressen  werden  nun  Abschreiber  beschäftigt,  die  das  Neueste,  Glänzendste,  Behebteste,  oft 
verstohlen,  verbreiten.  Eines  der  letzten  grofsen,  durch  die  Presse  \n\  achtzehnten  Jahrhundert  verbrei- 
teten geistliclien  Tonwerke  scheinen  Bcnedetto  Marcello's,  (wiederum  eines  Venedigers)  erste  50  Psalme 
für  eine  bis  vier  Stimmen  zu  sein,  die  in  den  Jahren  1724  bis  1727  unter  dem  Titel:  Estro  poetico 
armonico  herauskamen:  ein  Werk,  das  noch  gegenwärtig,  unter  allen  Tonwerken  fast  das  einzige,  in 
Itahen  als  ein  nationales  anerkannt  wird,  und  noch  zu  Anfange  des  laufenden  Jalirhunderls  (1803),  nach- 
dem Sehastiano  Valle  wiederum  eine  Notendruckerei  zu  Venedig  angelegt  hatte,  dort  abermals  neu  auf- 
gelegt ist.  Wenn  nun  gleich  die  Riclitung  der  Zeit  und  die  dermaligen  Verhältnisse  diesem  Verleger 
nicht  gestatten  konnten,  mit  einem  Gardano,  Scoto,  Vincenti,  Magni  zu  wetteifern:  so  gcbülirt  ihm 
doch  das  Lob,  nach  Kräften  zu  Verbreitung  gediegener,  mindestens  anerkannter,  geistlicher  Tonwerke 
thätig  gewesen  zu  sein:  wie  denn  auch  das  vierstimmige,  begleitete  Miserere  von  Ferdinando  Bertoni,  des 
letzten  Sängermeisters  des  alten  Venedig,  von  Ilim  im  Jahre  1802  herausgegeben  ist. 


Date 

Due 

J/!N  T  0  'Pf 

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Y 

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1 

-n. 

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Cal.  No.  1137 

780.9  W73s 


^     3  5002  02027  2071 

Winterfeld,  Carl  Georg  August  Vivegens  v 
Johannes  Gabneli  und  sein  Zeitalter.  Zu 


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From  the  Library 


ML  290.2  . V4  W7  1 

-2 

Winterfeld,  Carl 

Georg 

Augus-t  Vivigens 

von. 

1784- 

Johannes  Gabrlell 

und 

sein 

Zeitalter 

!i