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Full text of "Journal für Psychologie und Neurologie"

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JOURNAL 



FÜR 



PSYCHOLOGIE UND NEUROLOGIE 



BAND I 



ZUGLEICH 

ZEITSCHRIFT FÜR HYPNOTISMUS, BAND XI 



HERAUSGEGEBEN VON 

AUGUST FOREL und OSKAR VOQT 

REDIGIERT VON 

K. BRODMANN 



MIT 12 TAFELN 




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LEIPZIG 

VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH 

1902—1903 



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Inhalts -Verzeichnis. 



Band I. 
Abhandlungen. 

Sfitc 

Brodmann, K., Plethysmographische Studien am Menschen. Erster Teil: 
Untersuchungen über das Volumen des Gehirns und Vorderarms 
im Schlafe (Tafel i— 8) lO 

— Experimenteller und klinischer Beitrag zur Psychopathologie der 

polyneuritischen Psychose. 1 225 

Forel, A., Die Berechtigung der vergleichenden Psychologie und ihre 

Objekte 3 

— Beispiele phylogenetischer Wirkungen und Rückwirkungen bei den 

Instinkten und dem Körperbau der Ameisen als Belege für die 
Evolutionslehre und die psychophysiologische Identitätslehre . .r*- 99 

Jung, C. G., Ein Fall von hysterischem Stupor bei einer Untersuchungs- 
gefangenen 1 10 

Lewandowsky, M., Nachruf auf Friedrich Goltz 89 

— Über den Muskeltonus, insbesondere seine Beziehung zur Gross- 

hirnrinde 72 

Oppenheim, H., Kleine Beiträge zur Neuropathologie 129 

Riklin, F., Hebung epileptischer Amnesien durch Hypnose .... 200 

Ringier, Ein spiritistisches Medium 247 

Stransky, E., Über diskontinuierliche Zerfallsprozesse an der peripheren 

Nervenfaser. (Mit Tafel 9 — 12) . . . 169 

Vogt, O., Psychologie, Neurophysiologie und Neuroanatomie (Zur Ein- 
führung in die neue Folge unseres Journals) i 

— Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen 

Bedeutung (III. Teil) 146 

Besprechungen und Buchanzeigen. 

Baer, A., Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter 163 

Ballance, Ch. and Stewart, P., The healing of nerves 248 

V. Bechterew, W., Die Energie des lebenden Organismus und ihre 

psychobiologische Bedeutung 251 

Benedikt, M., Das biomechanische (neovitalistische) Denken in der 

Medizin und in der Biologie 254 

Beyer, H. v.. Das Sauerstoff bcdürfnis der Nerven 256 

— Zur Kenntnis des Stoffwechsels in den nervösen Zentren . . . 256 



Borchert, M., Experimentelle Untersuchungen an den Hintersträngen des ^^^'^^ 

Rückenmarks 249 

Bruce, A., A topographical Atlas of the spinal cord 162 

V. Bunge, G., Lehrbuch der Physiologie des Menschen. I. u. II. Band 124 
Cajal, S., Ramon, J., Studien über die Hirnrinde des Menschen. III. 127 
Eisler, R., W. Wundt's Philosophie und Psychologie in ihren Grund- 
lehren dargestellt 252 

Farez siehe B^rillon. 

Forel, A., Der Hypnotismus und die suggestive Psychotherapie . . . 165 

Forel, A. et Mahaim, A., Crime et anomalies mentales Constitution eil es 165 

Foerster, O., Physiologie und Pathologie der Koordination .... 81 

Frenkel, H. T., Die Behandlung der tabischen Ataxie mit Hilfe der Übung 81 

Fuhrmann, M., Das psychotische Moment 253 

Giessler, Die Gemütsbewegungen und ihre Behandlung 165 

Gross, O., Die cerebrale Sekundärfunktion 254 

Halliburton siehe Mott and Halliburton. 

Hellpach, Die Grenzwissenschaften der Psychologie 255 

Kraepelin, E., Einführung in die psychiatrische Klinik 83 

V. Kries, J., Über die materiellen Grundlagen der Bewusstseinserscheinungen 123 

Kronthal, P., Von der Nervenzelle und der Zelle im allgemeinen . . 250 

Löwenfeld, L., Der Hypnotismus 252 

Mahaim, A., siehe Forel et Mahaim. 

Marbe, K., Experimentell psychologische Untersuchungen über das Urteil 1 24 

Moll, A., Die ärztliche Bedeutung des Hypnotismus 164 

Mott, F. W. and Halliburton, W. D., The chemistry of nerve-degeneration 161 
Mott, F. W., Vier Vorlesungen aus der allgemeinen Pathologie des 

Nervensystems i6i 

Oppenheim, H., Zur Psychotherapie der Schmerzen ....... 83 

— Zur Prognose und Therapie der schweren Neurosen 256 

Pick, A., Über eine neuartige Form von Paramnesie 164 

Pohl, J., Die mikroskopischen Veränderungen am menschlichen Kopf- 
haar unter dem Einfluss nervöser Erregungen 166 

Rissart, P., Der Hypnotismus, seine Entwickelung und seine Bedeutung 

in der Gegenwart 166 

Seiffer, W., Atlas und Grundriss der allgemeinen Diagnostik und 

Therapie der Nervenkrankheiten 255. 

Specht, G., Über den pathologischen Affekt in der chronischen Paranoia 163 

Stewart siehe Bailance. 

Wiedeburg, Über die ])sychischen Einflüsse auf Patienten in offenen 

Heilanstalten mit Ausschluss der direkten ärztlichen Behandlung 83 

Wille, O., Nervenleiden und Frauenleiden 256 

Nachweis zu den Tafeln. 

Tafel I — 8 : Brodmann. Tafel 9 — 12: Stransky. 



Journal für Psychologie und Neurologie. 

Band 1. Heft i und 2. 



Psychologie, Neurophysiologie und Neuroanatomie. 

Zur Einführung in die neue Folge unseres Journals. 

Von 

Oskar Vogt. 

Am Schluss der ersten Folge unserer Zeitschrift haben wir das Programm 
für die nunmehr beginnende neue Folge dahin zusammengefasst, dass wir aus 
dem Gebiet der normalen, pathologischen und vergleichenden Psychologie und 
Neurobiologie (Anatomie und Physiologie des Nervensystems) solche Arbeiten 
bringen wollen, die 

i. von spezieller Bedeutung für ein anderes der von uns gepflegten 
Wissensgebiete oder 

2. speziell ärztlich-psychologischer Natur sind und zwar 

a) entweder die psychische Genese, Therapie oder Prophylaxe von 
Krankheitssymptomen oder 

b) psychopathologische Probleme berühren. 

Gegen früher wollen wir also mehr als bisher das Gebiet der Neuro- 
biologie berücksichtigen. Wir wollen ein Journal schaffen, das die ver- 
schiedenen Gebiete der Psychologie und der Neurobiologie in gleicherweise 
zu fördern bestrebt sein wird. Die vereinigte Pflege dieser verschiedenen » 
Gebiete soll das Charakteristikum der neuen F'olge unserer Zeitschrift bilden. 

Es sind verschiedene Gründe, welche uns zu dieser Vereinigung 
veranlassen. Wir wollen sie hier kurz erörtern. 

Alle unsere Erfahrungen sprechen dafür, dass dann in ims seelische Er- 
scheinungen auftreten, wenn gewisse vitale Prozesse im Gehirn stattfinden. 
Diese Thatsache berechtigt uns gelegentlich zu Schlussfolgerungen auf die 
Existenz der einen Reihe, wo die andere beobachtet wird. Ja solche Schluss- 
folgerungcn können in gewissen Thalien sogar über die Existenz zur Art der 
betreficnilcn Phänomene vordringen. 

Des weitem können sich Neuro])hysi()logie und Neuroanatomie gegen- 
seitig fördern. Wir können unter Umständen aus dem Bau gewisser nervöser 
Gebilde auf ihre spezielle Funktion schliessen oder auch umgekehrt. In 
andern Phallen können Befunde der einen Wissenschaft wenigstens zu bestimmten 
Fragcstelltmgen in der andern die Veranlassung geben. So wird z. B. eine 

Journal für Psychuloi;ie uud Ncurulogie. Bd. I. 1 



OSKAR VOGT. J^"^ iJe^- ""' 



auf histologischen Differenzen aufgebaute Einteilung der grauen Substanz der 
verschiedenen Hirn teile den Physiologen Anhaltspunkte für präzisere experi- 
mentelle Fragestellungen bieten und sie kann daher zu ganz bestimmten Ver- 
suchsreihen in der Hirnphysiologie Veranlassung geben. 

Dieses Verhältnis gegenseitiger Wechselbefruchtung zwischen Psychologie, 
Neurophysiologie und Neuroanatomie zu fördern, ist eins der Motive, die uns 
zur Erweiterung des Programms unserer Zeitschrift veranlasst haben. 

Von solchen Schlussfolgerungen aus einem unserer Wissensgebiete auf 
ein anderes ist nun aber andererseits von manchen Autoren in ganz ein- 
seitiger Weise Gebrauch gemacht worden. Das wäre nicht geschehen, wenn die 
betreffenden Autoren auch über die Methoden und das vorhandene Thatsachcn- 
material des andern Wissensgebietes orientiert gewesen wären. Diese Orien- 
tierung einerseits zu fördern und unvorsichtigen und unberechtigten Schluss- 
folgerungen andererseits entgegenzutreten, ist ein weiterer Zweck unserer ge- 
meinsamen Pflege der verschiedenen Wissensgebiete. 

Ein dritter Zweck ist die Vertiefung unseres Wissens von den Beziehungen 
zwischen den körperlichen und den psychischen Phaenomenen. Diese Ver- 
tiefung ist nicht nur von hervorragendster allgemeiner, sondern speziell auch 
von grosser ärztlicher Bedeutung. Speziell für diejenige Wissenschaft, welcher 
unser Journal seinen Ursprung verdankt, die Psychotherapie, ist jeder weitere 
Einblick in jene Beziehungen von äusserster Wichtigkeit. Der Weg nun, der 
uns am ehesten weitere Einblicke verspricht, ist der einer Vereinigung der 
klinischen, d. h. psychologischen Untersuchung des lebenden Kranken, resp. 
der physiologischen Untersuchung eines operierten Tiers mit der späteren 
anatomischen Untersuchung des Gehirns. Ich will hier nicht auf weitere Einzel- 
heiten in betreff dieses Punktes eingehen, da ich zusammen mit Cecile Vogt 
denselben anderweitig ausführlicher erörtert habe. ^) Nur so viel sei betont, 
dass wir im einzelnen Fall der Beobachtung der vitalen und derjenigen der 
anatomischen Abnormität mehr als es bisher zumeist geschehen ist, eine 
gleich massige Berücksichtigung gewähren und dass wir ferner durch Aus- 
bildung genauerer physiologischer und psychologischer Massmethoden, sowie 
durch Schaffung eines „Normalstatus" auf physiologischem, psychologischem 
und auf anatomischem Gebiet die ganze Forschungsart noch weiter verfeinern 
müssen. Diese Verfeinerung wollen wir eben so sehr wie die gleichmässige 
Pflege der verschiedenen Seiten dieser Forschungsmethode in unserem Journal 
zu fördern bestrebt sein. 

Endlich kommt noch für uns ein vierter Gesichtspunkt in Betracht. Der 
Parallelismus zwischen gewissen körperlichen und den psychischen Erschcinimgcn 
muss uns dazu führen, das Erkennbare an den psycho-physiologischen Er- 
scheinungen sowohl von der körperlichen (d. h. physiologischen und indirekt 
anatomischen), wie von der seelischen Seite zu erforschen. Die eine Er- 
scheinung wird für uns mehr von der somatischen, die andere mehr von der 
psychischen Seite aus fassbar sein. Diese Sachlage muss uns auf ärztlichem 



*) ereile u. Oskar Vogt, Zur Erforschung der Hirnfascrung in O. Vogt, Neurobiologische 
Arbeiten. Jenaische Denkschrilten. Bd. IX. 



*^- *» ™!^ * "• *• DIE BERECHTIGUNG DER VERGLEICH. PSYCHOLOGIE ETC. 



190S 



Gebiete dazu fuhren, die Symptomatologie und weiterhin die Aetiologie der 
vor allem psychologisch in Erscheinung tretenden oder psychisch bedingten 
Krankheitsphänomene von beiden Seiten in Angriff zu nehmen, um so in 
möglichst weitem Umfang eine wissenschaftliche Therapie und Prophylaxe 
psychisch-nervöser Störungen anzubahnen. Und was in dieser Beziehung vom 
Pathologischen gilt, besteht auch für das Normale zu Recht Wir müssen die 
normalen psycho-physiologischen Phänomene von den beiden Seiten aus zu 
erforschen suchen. Dabei müssen die Resultate der beiden Erkenntniswege sich 
gegenseitig fördern. Nur so werden wir uns dem Erkennbaren möglichst weit 
nähern. 

Solchen Erkenntnisbedingungen wird aber ein beide Forschungswege 
gleichmässig förderndes Journal am nützlichsten sein. 






Die Berechtigung der vergleichenden Psychologie 

und ihre Objekte. 

Von 

A. Forel. 

Auf den sogenannten psycho-physiologischen Parallelismus gestützt, 
haben in den letzten Jahren Bethe, Uexküll, Beer, Lob u. a. m. die 
Berechtigung der vergleichenden Psychologie in Abrede gestellt. Weil es 
unmöglich ist, physiologische Erscheinungen direkt in psychologische über- 
zuführen, könne man sich keine Ticrseele vorstellen, ohne in den gröbsten 
Anthropomorphismus zu verfallen. Was wir am Tiere wahrnehmen, sei nur 
Bewegung und gehöre zur Physiologie und Biologie. Was man bis jetzt von 
der Tierseele gefaselt habe, sei gleich der Alchymie oder der Astrologie. 
Alles müsse von neuem begonnen werden. Demgemäss haben diese Autoren 
versucht, eine rein physiologische Nonienclatur für alle psychischen Er- 
scheinungen der Tiere einzuführen. Für Geruch sagen sie z. B. — Chemo- 
reflex, für Gesicht — Photoreflex, für Familiengeruch — Familienchemoreflex- 
stoff u. dergl. mehr. 

Auf dem internationalen Zoologenkongrcss zu Berlin, am 13. Aug. 1901, 
habe ich die vollständige Unrichtigkeit der Anschauungsweise genannter 
Forscher gezeigt. Mein bezüglicher Vortrag (die psychischen Fähigkeiten der 
Ameisen und einiger anderer Insekten, mit einem Anhang über die Eigen- 
tümlichkeit des Geruchssinns bei jenen Tieren) ist im Verlag von Ernst 
Reinhardt, München, Maxiniiliansplatz 3, erschienen. Ich verweise auf den- 
selben, will jedoch meine Ergebnisse hier kurz mitteilen: 

Die introspektiv (psychologisch) beobachtete Seelenthätigkeit ist nur der 
innere, selbstreflektierte Ausdruck eines Teiles unserer Gehirnthätigkeit. Dafür 



A TTr^TJ-PT Journal f. Psychologie 

A. rut^tLi.. und Neurologie. 



spricht alles, was wir durch die induktive Wissenschaft kennen; dagegen 
stemmen sich nur gewisse metaphysische Spekulationen und der mystische 
Wunderglaube. Genannte innere Anschauung als parallel mit der gleichen, 
von aussen (physiologisch), man kann nicht sagen beobachteten, aber, indem 
man sie zu enträtseln versucht, mit groben Experimenten noch durchaus 
mangelhaft untersuchten Hirnthätigkeit (Neurokymthätigkeit) zu bezeichnen, kann 
nur zu Missverständnissen führen. Von einem Parallelismus ist nichts zu 
merken. Die Psycho-Physiologie, welche das Verhältnis der psychologischen 
Erscheinungen zu den physiologischen im Central nervensystem zu ermitteln 
sucht, stösst auf eigentümliche Schwierigkeiten: 

Allerdings erscheint die physiologische Seite in sich geschlossen zu sein 
und gehorcht unbedingt dem Energiegesetz. Dafür aber entgeht uns bei ihr 
alle und jede Feinheit des inneren Getriebes, dessen Komplikation uns nur 
durch die Psychologie verraten wird. Bei gewissen, z. B. bei optischen Er- 
scheinungen zeigt jedoch die Vergleichung beider Reihen, dass in Wirklichkeit 
die Neurokym- Physiologie noch viel komplizierter sein muss, als die Er- 
scheinungen unseres Bewusstseins, denn entschieden physiologische Wellen- 
komplexe erscheinen uns als psychologische Einheiten. Ferner verrät die 
Psychologie einen fortwährenden Synthesenprozess , nach welchem das, was 
* anfangs psychologische Vielheit war, später durch Synthese zur psychologischen 
Einheit wird. 

Umgekehrt scheint die psychologische Reihe dem Energiegesetz nicht 
zu gehorchen. Scheinbar ohne Ursache treten Erscheinungen in ihr ein, 
und die psychologisch konstruierten Ursachen anderer psychologischen Er- 
scheinungen erweisen sich bei näherer Betrachtung als durchaus unvollständig. 
Was lag näher als diese fehlenden Ursachen in der physiologischen Reihe 
zu suchen? Daraus entstand das Fechner-Wcbersche Gesetz der Psycho- 
Physiologie. Dieses Gesetz will aber bekanntlich nicht stimmen, oder, besser 
gesagt, stimmt nur in sehr beschränktem Masse. Warum? Soll dieses ein 
.Triumph für die dualistische Mystik bedeuten? Durchaus nicht. Eine sorg- 
fältige Beobachtung der Gehirnverhältnisse giebt darauf die Antwort. Die 
psychologischen Erscheinungen (der Inhalt unseres gewöhnlichen Bewusstseins) 
spielen sich in einem beschränkten Teil unserer Grosshirnthätigkcit ab. Sie 
bestehen hauptsächlich aus der Reihenfolge der Aufmerksamkeitsmaxima. Nun 
aber befindet sich zwischen dem Vorderhirn und den der Physiologie zugäng- 
lichen peripheren Teilen des Nervensystems ein grossartiger Komplex von 
Nervencentrcn, deren Thätigkeit sich nicht direkt in unserem gewöhnlichen 
Bcwusstsein spiegelt und zugleich dem physiologischen Experimente ganz oder 
fast ganz unzugänglich ist. Indirekt, ohne dass wir es wissen, wird aber 
der Inhalt unseres Bewusstseins von den Thätigkeiten (Reizverstärkungen, 
Hemmungen, Bahnungen), jener Centrenkomplexe hochgradig beeinflusst. Ist 
es nun zu verwundern, wenn da kein psycho-physiologisches Gesetz stimmen 
will? Wir können sogar beweisen, dass ein grosser Teil des Details unserer 
Grosshirnthätigkcit dem associierten Komplex unseres gewönlichen Bewusstseins- 
inhaltes entgeht, oder so rasch wieder vergessen wird, dass wir ihn für un- 
bewusst halten. 



^^' '' ^^^9M ^ "' *' ^^ BERECHTIGUNG DER VERGLEICH. TSYCHOLOGIE ETC. 5 



Die Erscheinungen des Hypnotismus, des Somnambulismus und des 
Traumes liefern uns femer den unzweideutigen Beweis, dass es so zu sagen 
eine Unter-Psychologie giebt, das heisst Unterbewusstseinserscheinungcn , die 
in der Regel infolge von Amnesien oder Dissociationsprozcssen unserem ge- 
wöhnlichen Bewusstsein (Oberbewusstsein) unbekannt bleiben. Wir gewinnen 
jedoch einen Einblick darin durch die ebengenannten Erscheinungen (Hypno- 
tismus) etc. 

Was liegt da näher, als anzunehmen, dass die Lücken unserer Psycho- 
logie sich aus dieser ihrer Dissociation erklären, und dass in That und Wahr- 
heit jede physiologische Nerventhätigkeit ihre Introspektive oder innere Reflex- 
seite in „Unterbewusstseinen** besitzt, deren Inhalt jedoch unserem gewöhnlichen 
Bewusstsein (Oberbewusstsein mit seiner Erinnerungenkette) entgeht? 

Diese Überlegungen führen uns zur Überzeugung, dass darin allein der 
scheinbare Widerspruch der Psychologie mit dem Energiegesetz liegt. Daraus 
folgt aber die Anschauung der psycho-physiologischen Identität. Die psycho- 
logische Reihe kann unmöglich der physiologischen „parallel** erscheinen. 
Das sogenannte physiologische Korrelat einer jeden psychologischen Einheit 
entspricht aber zweifellos mit der letzteren zusammen einer einzigen, wenn 
auch komplexen, wirklichen Wesenheit. Mit Syllogismen lässt sich dies frei- 
lich nicht nachweisen. So gut wir jedoch wissenschaftlich, das heisst induktiv, 
das Recht haben, die Gültigkeit der Atomtheorie und des Energiegesetzes 
anzunehmen, so • lange die Thatsachen damit übereinstimmen und uns das 
Gegenteil, das heisst ihre Fehlerhaftigkeit, nicht erwiesen ist, so gut haben 
wir auch dasjenige, die Psycho-Physiologie auf die Identitätstheorie zu be- 
gründen, weil sie allein uns über die Thatsachen Rechenschaft giebt. 

Einen Parallelismus aufzustellen, nur um dem Dualismus und der Mystik 
die Thüre offen zu lassen, entspricht der wissenschaftlichen Induktionsmethode 
nicht. Lassen wir der Mystik ihre Methoden! Wenn sie mit Hilfe des 
Spiritismus die Realität ihrer Erscheinungen wissenschaftlich bewiesen haben 
wird, wird erst für die Wissenschaft die Zeit gekommen sein, zu untersuchen, 
worin ihre bisherigen Fehler gelegen haben mögen. Soweit sind wir aber 
noch lange nicht, trotz aller gegenteiliger Behauptungen selbst sehr respek- 
tabler Personen, welche jedoch die Erscheinungen des normalen und vor allem 
des pathologischen Hirnlcbens nicht oder ganz ungenügend kennen. Es giebt 
nichts Gesünderes, um einen Mystiker zu ernüchtern, als ein längerer Aufent- 
halt in einer Irrenanstalt. Nirgends kann man den realen Wert der Hallu- 
cinationen, Erinnerungsfälschungen, Ahnungen u. dergl. mehr, durch Ver- 
gleichung besser abschätzen und prüfen lernen. 

Unsere Psychologie kann aber im weitern streng genommen nur indivi- 
duell sein. Es bedarf schon eines Analogieschlusses, um die Psychologie 
vieler Menschen zu einer Psychologie im weitern Sinne zu vereinigen. Logisch 
und direkt kann ich meine Psychologie in diejenige meines Bruders so wenig 
überführen, wie in die Physiologie meines Gehirns. Die Sprache, die Münze 
des Denkens, giebt mir aber mächtige Analogieschlüsse, mit Hilfe welcher 
ich eine menschliche Psychologie konstruieren kann. Doch ist es nicht nur 
die Sprache, mit Hilfe welcher ich die Psychologie der anderen Menschen 



A TTnuTTT Journal f. Psychologie 

A. VKjr^^i^. ^^j Neurologie. 



erkenne; ich wäre sonst ein schlechter Psycholog". Nicht umsonst sagte 
Talleyrand, die Sprache sei dem Menschen gegeben worden, um seine Ge- 
danken zu verkleiden. Die Handlungen, die Ausdrucksweise der Gemüts- 
bewegungen geben uns vielfach bedeutend sicherere psychologische Anhalts- 
punkte, als die Sprache. Die wissenschaftliche Methode lehrt uns aber zur 
Erkenntnis alles das zu benutzen, was wir benutzen können. Je mehr wir die 
Psychologie bei uns fernerstchenden Menschen studieren, desto unsicherer 
wird für uns das Verständnis ihrer Sprache, desto massgebender dagegen ihre 
Handlungen, Sitten und Geberden, sowie die Art, wie sie ihre Sinneseindrücke 
verwerten. Nehmen wir als Beispiele die Kinder, die Frauen, die Wilden, 
das ungebildete Volk. Soll uns dies das Studium der Psychologie jener letzt- 
genannten Mitmenschen verbieten? Im Gegenteil. Je verschiedener die Objekte 
sind, deren Psychologie wir per Analogieschlüsse studieren, desto eher lernen 
wir die den Individuen und Varietäten eigenen Merkmale und Unterschiede 
kennen. Auf diese Weise aber gelangen wir zugleich zu der Sichtung jener 
Unterschiede von den tieferen, phylogenetisch älteren, gemeinschaftlichen 
psychologischen Zügen aller unserer Mitmenschen. 

Somit sehen wir, dass bereits die menschliche Psychologie eine ver- 
gleichende Psychologie ist und sein muss. Ja noch mehr, sie allein führt uns 
schon zur Erkennung und Bestätigung des Evolutionsgesetzes, der Phylogenic 
des Menschen. Aber auch schon bei ihr finden wir in der Form des Ego- 
morphismus (man verzeihe den Ausdruck) den bei der Tierpsychologie so 
üblichen Fehler des Anthropomorphismus. Beide Fehler liegen in der Natur 
des P'orschungsgegenstandes. Sie sind nie ganz zu vermeiden, müssen aber 
beständig bekämpft und eingedämmt werden, wenn man der Wahrheit immer 
näher kommen will. Noch komplizierter wird die Sache bei Gehirnkrankheiten 
und Geistesstörungen, aber gerade hier verrät sich am schönsten die Wahrheit 
der Identitätstheorie. Hier sieht man wie Zerstörungen und Störungen der 
Gehirnclemente ihren psych(ilogischen Ausdruck bekommen. Die patho- 
logischen Gesetze dienen dazu, die psycho-j)hysiol()gischen zu erklären. Eine 
wahre Offenbarung bietet uns das Studium der Übergangsreihen zwischen 
den erworbenen Geisteskrankheiten und den ererbten Charakterfehlern oder 
Charakterabnormitäten. Die fortschreitende Hirnschrumpfung nach Syphilis 
(progressive Paralyse) ist eine wahre psycho-pathologische, aber auch psycho- 
physiologische Fundgrube, die fast unerschöpflich ist. Unsere heutige Rechts- 
gelehrthcit liegt noch fast ganz im mystischen Dunkel einer veralteten ,, an- 
gewandten Metaphysik" gefangen. Erst in den letzten Jahren haben 
bedeutende Juristen angefangen unsere Rechtssprechung aus diesem Sumpf 
zu ziehen. Dazu bedürfen sie aber der Hilfe psychologischer und psycho- 
pathologischer Forschungen. 

Nun kommen wir zur vergleichenden Psychologie im engeren Sinne, oder 
Tierpsychologie. Dass es eine solche gicbt, und dass ihr Studium berechtigt 
ist, geht aus dem oben Gesagten klar hervor. PVeilich fehlt den Tieren eine 
Sprache zur Verkleidung, aber auch zur Äusserung ihrer Gedanken und dennoch 
können selbst Tiere mit ihrer Mimik simulieren. Soweit haben wir also schon 
z. B. die Psychologie des Hundes erkannt. Leider ist bisher die Psychologie 



®^- ^' ^^ ^ "• *• DIE BERECHTIGUNG DER VERGLEICH. PSYCHOLOGIE ETC. / 

der höheren Säugetiere meistens von psychologisch Ungebildeten und von 
Unberufenen betrieben worden. Solche Studien, wie diejenigen von Romanes, 
Lubbock, der Prinzessin Therese von Bayern (an ihrem Coati) u. a. m. sollten 
vertieft, und in grossem Umfange vorgenommen werden. Man müsste den be- 
züglichen Tieren grosse Freiheit geben und ihnen normale Daseinsbedingungen 
verschaffen. Den wilden Tieren sollte viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt 
werden, statt es bei dem Jägerlatein bewendet sein lassen, und über denselben 
zu spotten. Die Anthropoiden Affen sollten in ihrer Heimat und intim studiert 
werden. Es ist geradezu ein Jammer und eine Schande, wie von Seiten der 
Jäger mit diesen unseren nächsten Verwandten verfahren wird. Man muss 
ferner (wie bei unseren Schulkindern!) die rein reproduktiven Dressurerschei- 
nungen sorgfältig von der spontanen Vernunft- und Kombinationsfähigkeit bei 
der Schätzung der Intelligenz unterscheiden. Ebenso müssen das Gefühlsleben 
und der Wille stets neben dem reinen Intellekt (Erkenntnisseite des psychischen 
Lebens) geprüft werden. 

Man sollte förmliche, mit den Tiergärten verbundene vergleichend 
psychologische Versuchsstationen errichten. Alle möglichen Tierklassen bieten 
Stoff für höchst interessante Studien. Ich mache z. B. auf die Studien des 
Psychologen Delboeuf über die Psychologie der Eidechsen aufmerksam (La 
Psychologie des lezards. Revue scientifique 1891). Zwar sind diese Studien 
nicht frei von anthropomorphischen Deutungen, aber ich habe selbst die 
Experimente Delboeufs mit angesehen und kann deren Exaktheit bestätigen. 

Die Psychologie der Wirbeltiere verrät unzweideutig eine grosse Zahl 
gemeinschaftlicher Züge mit derjenigen des Menschen. Diese Züge liegen 
vor allem im Gefühls- und Instinktsleben, in den Trieben etc. Aber die zwei 
Mauptformen der centralen Nerventhätigkeit, die plastische, individuell an- 
passungsfähige, und die automatische (Reflexkomplexe) finden sich überall, in 
verschiedenen Verhältnissen. • 

Für die Psychologie der Wirbellosen verweise ich auf meine anfangs 
erwähnte Arbeit. Auch hier lassen sich zweifellos durch Analogieschlüsse 
psychische Grundeigenschaften nachweisen. Ich habe bei Ameisen, Bienen etc., 
mit Huber, Lubbock, Wasmann, von Buttel-Repen u. a. m., Gedächtnis, 
Wahrnehmungen, Assoziation von Wahrnehmungen und Erinnerungen, Affekte, 
Willensentschlüssc und Angewöhnungen nachgewiesen. Obwohl die Automa- 
tismen des Instinktes hier ungeheuer überwiegen, lassen sich doch individuelle 
vernünftige Anpassungen und Kombinationen derselben zu bestimmten Zwecken, 
besonders da nachweisen, wo unerwartete Schwierigkeiten den gewohnten 
Gang des Instinktes stören. Auch die Zähmung gewisser Insekten beweist 
ihre Plasticität. In jüngster Zeit hat Adele Fielde (Proc. Acad. Nat. Scie. 
Philadelphia, Sept. and Nov. 1901), durchaus bestätigende Beobachtungen 
gemacht, indem sie längere Zeit hindurch einzelne Individuen einer Ameisen- 
art (Stenamma fulvum) genauer beobachtete. Die psychologische Beobachtung 
niedrigerer Insekten, sowie der Würmer, Echinodermen etc., liegt noch sehr 
im Argen, aber soviel scheint mir festzustehen, dass bereits bei ihnen die 
Differenzierung zwischen plastischer und automatischer Thätigkeit sich zu ver- 
wischen beginnt. 



8 A. FOREL. -"TodSÄt^' 



Wie steht nun die Sache bei den einzelligen Tieren, bei welchen sich 
noch kein Nervensystem differenziert hat? Früher glaubte man, das Leben 
des Protoplasma als etwas sehr einfaches hinstellen zu dürfen; man glaubte 
nicht weit davon zu sein, Protoplasma chemisch herstellen zu können. Man 
meinte, mit einfachen mechanistischen Erklärungen auszukommen. Aber siehe 
da! die lebende Zelle, ihr Kern, ihre Struktur, ihre Biologie, ist bereits eine 
Welt für die Forschung geworden. Nach dem vortrefflichen Kapitel „Idealis- 
mus und Mechanismus" aus dem zweiten Band des Lehrbuches der Physiologie 
des Menschen von G. v. Bunge, Leipzig, bei Vogel, 1901, S. 7 möchte ich 
ferner folgende Beobachtung von Engelmann citieren (Th. W. Engelmann, 
Beiträge zur Physiol. des Protoplasmas. Pflügers Archiv, Bd. II, S. 307, 1869): 

„Die Arcellen sind gleichfalls einzellige Wesen, aber insofern kompli- 
zierter wie die Vampyrella, als sie Kerne haben und eine Schale absondern. 
Diese Schale hat eine konvex-konkave Form. In der Mitte der konkaven 
Seite der Schale befindet sich eine Öffnung, aus welcher die Pseudopodien 
hervortreten und am Rande der Schale als glashelle Protuberanzen zum Vor- 
schein kommen. Bringt man einen Wassertropfen, der Arcellen enthält, unter 
das Mikroskop, so triffl es sich häufig, dass eine der Arcellen sozusagen auf 
den Rücken fällt, d. h. mit der konvexen Fläche die Unterlage berührt, so 
dass die am Rande der Schale hervortretenden Pseudopodien nirgendwo einen 
Anhaltspunkt finden. Dann sieht man an der einen Seite in der Nähe des 
Randes in dem Protoplasma Gasblasen entstehen; diese Seite wird spezifisch 
leichter, sie hebt sich; das Tier kommt auf den gegenüberliegenden scharfen 
Rand zu stehen. Jetzt gelingt es ihm, mit den Pseudopodien an die Unter- 
lage sich anzuheften und umzukehren, so dass alle am Rande hervortretenden 
Pseudopodien die Unterlage berühren. Jetzt werden die Gasblasen eingezogen 
und das Tier kriecht dahin. — Bringt man einen Tropfen mit Arcellen an 
die untere Fläche des Deckgläscheas der Glaskammer, so sammeln sie sich 
zunächst, der Schwere folgend, an der unteren Fläche des Tropfens. Finden 
sie hier keinen Anhaltspunkt, so entwickeln sie grosse Gasblasen, durch welche 
das ganze Tier spezifisch leichter wird als das Wasser, und steigen in dem 
Wassertropfen empor. Kommen sie oben an der Glasfläche in einer solchen 
Stellung an, dass sie nicht Fuss fassen können, so werden die Gasblascn an 
der einen Seite verkleinert oder an der andern vergrössert, bisweilen auch 
gleichzeitig an der einen verkleinert und an der andern vergrössert, bis die 
Tiere mit dem Rande der Schale die Glasfläche berühren und sich umkehren 
können. Sobald dieses erreicht ist, sieht man die Gasblasen verschwinden; 
das Tier kann nun auf der Glasfläche kriechend sich fortbewegen. Macht 
man sie durch vorsichtige Berührung mit einer feinen Nadel von der Ober- 
fläche los, so fallen sie zunächst wieder zur untern Fläche des Tropfens hinab, 
entwickeln dann aufs Neue Glasblasen, steigen empor und so fort. Und wie 
man sich auch bemühe, sie in eine unbequeme Lage zu bringen, immer 
wissen sie durch Entwicklung von Gasblasen, an der entsprechenden Stelle 
und von der entsprechenden Grösse sich in die zur Fortbewegung geeignete 
Lage zurück zu versetzen. Sobald dieser Zweck erreicht ist, verschwinden stets 
wieder die Bläschen.'* 



^^ '* ^IW^. ^ "* ** ^^ BERECHTIGUNG DER VERGLEICH. PSYCHOLOGIE ETC. 



„Man kann nicht leugnen**, sagt Engelmann, ,,dass diese That- 
sachen auf psychische Prozesse deuten**. 

Man mag" den Ausdruck „psychisch** billigen oder nicht, soviel steht fest, 
dass diese Art Reaktion der plastischen Anpassung eher, als dem Reflex 
gleicht, dessen Starrheit sie nicht besitzt. Über Worte wollen wir nicht streiten. 
Allem Anscheine nach haben sich in der Evolution sowohl die starren Auto- 
matismen des Instinktes wie die komplizierten plastischen Reaktionen der Nerven- 
centren aus derartigen noch undifferenzierten protoplasmatischen Reactions- 
fähigkeiten entwickelt. Es ist ja selbstverständlich, dass man den Anthropo- 
morphismus auf die Spitze und ad absurdum führen würde, wenn man glauben 
würde, die subjektive Qualität unseres Bewusstseins, unsere auf der Synthese 
enorm komplizierter Gehirnprozesse beruhende menschliche, psychologische 
Introspektion in diejenige einer Arcelle hineihlegen zu können. Eine Arcellen- 
seele ist für uns gänzlich unvorstellbar. Selbst die Analogien der Amcisen- 
seele, für welche wir Worte aus der menschlichen Psychologie brauchen 
müssen, dürfen in uns nicht den Glauben erwecken, als ob wir uns die Wahr- 
nehmungen, Erinnerungen und Aff*ekte einer Ameise ohne weiteres durch Ver- 
gleich mit den unserigen vorstellen könnten. Ableiten heisst aber nicht 
identifizieren, ebensowenig wie vergleichen identifizieren heisst. Mit dem Aus- 
druck „Töne** bezeichnen wir sowohl das Quaken der Frösche, wie eine 
Symphonie von Beethoven. Identisch sind deshalb beide nicht. 

Hier entsteht natürlich die Streitfrage zwischen Vitalismus und Mechanis- 
mus. Nach meiner Ansicht ist dies ein Wortstreit, sofern der Vitalist (Neovitalist) 
keine mystische Lebenskraft annimmt. Das Wesen der unorganischen Natur ist 
uns mindestens so unbekannt, wie das Wesen unserer Psychologie. Wir er- 
kennen nur Verhältnisse zwischen den durch unsere Sinne unserem Gehirne 
symbolisierten Naturerscheinungen. Wissenschaftliche Induktionsschlüsse machen 
es höchst wahrscheinlich, dass die Gesetze des Protoplasmalebens aus den 
Gesetzen der leblosen Natur, wie das Protoplasma selbst aus unorganischem 
Stoff*, entstanden sind. Zur Feststellung jener Ableitung fehlt uns aber gegen- 
wärtig noch jeder Schlüssel, sogar jeder Anhaltspunkt. Die Kluft zwischen 
Chemie und Leben ist noch unübcrbrückt, und ihre Überbrückung scheint je 
länger, je mehr in die Ferne rücken zu wollen. Hoffen wir, dass es einst 
dem Menschen gelingt, eine lebende Zelle mechanisch herzustellen. Das wird 
fast so viel, wie der ersehnte Homunculus der alten Alchymisten bedeuten. 
Bis dahin aber halten wir ein, und geben wir uns nicht immer wieder Blossen 
mit falschen mechanistischen Deutungen der Lebenserscheinungen. Die be- 
schreibenden Naturwissenschaften, somit auch die vergleichende Psychologie, 
werden bis zu der eben erhofften ,, epochemachenden Entdeckung'* eines 
künftigen Jahrhunderts, und noch lange nachher, mit der Induktionsmethode 
der Analogieschlüsse ihre volle Berechtigung beibehalten, was die Chemie, 
die Physik, und ihre Anwendung bei physiologischen Forschungen keineswegs 
beeinträchtigen, sondern vielmehr fördern helfen wird. 

Die beschreibenden Naturwissenschaften werden übrigens in ihren Methoden 
allmählich exakter und kritischer. Sie haben auch ihre biologischen Experi- 
mentationsmethoden, welche zu neuen Erkenntnissen führen. Und andererseits 



lO DR. K. BRODMANN. -^Tnd NeSe°'" 



kann man mit formell exakten Methoden höchst unexakt und unkritisch experi- 
mentieren. Gerade Bethe hat davon gründliche Beweise gegeben. 

Zum Schluss verwahre ich mich von vornherein gegen eine etwaige 
Deutung, ich plaidiere für den Dilettantismus und die voreilige Verallgemeinerung. 
Dieselben bilden eine gefahrliche Klippe, gegen welche ebenso energisch, wie 
vor der bornierten Facheinseitigkeit gekämpft werden muss. Vor beiden kann 
nie genug gewarnt werden. 



(Aus der psychiatrischen Klinik zu Jena und dem neurobiologischen Institut in Berlin.^) 

Plethysmographische Studien am Menschen. 

Erster Teil: 

üntersachangen aber das Volumen des Gehirns und Vorderarms im Schlafe. 

Von 

Dr. K. Brodmann. 

Neurobiologisches Institut,* Berlin. 

Die in vorliegender Abhandlung mitgeteilten Beobachtungen über das 
Verhalten der Volumenkurven des Gehirns und Vorderarms während des 
Schlafes bilden den ersten Teil einer Untersuchungsreihe, welche ich im Frü- 
jahr und Sommer 1899 an einem mit Defekt des Schädeldaches behafteten 
Kranken der psychiatrischen Klinik in Jena zum Teil in Gemeinschaft mit 
Herrn Dr. Berger angestellt habe. Der nächste Zweck meiner Untersuchungen 
war das Studium der plethysmographischen Wirkungen seelischer Vorgänge, 
während Dr. Berger (i) eine Untersuchung medikamentöser und physiologischer 
EinlBüsse auf die Plethysmogramme beabsichtigte. Veranlasst wurde ich zu 
diesen Studien einesteils durch die bekannten Arbeiten Mo ssos (2) und durch 
das damals eben erschienene Werk A. Lehmanns (3) über die körperlichen 
Äusserungen seelischer Zustände, andernteils durch die günstigen Verhältnisse, 
welche unser Patient für die Beobachtung der Gehirnbewegungen darbot. 

Neben den eigentlich psychologischen Versuchen und unabhängig von 
denselben hat sich mir nun im Verlaufe meiner experimentellen Studien häufig 
Gelegenheit geboten, bei unserer Versuchsperson Schlafzuständc und die damit 
parallel gehenden Veränderungen an den Volumkurven zu beobachten. Im 
Hinblick auf die relativ grosse Zahl meiner Beobachtungen und die wider- 
sprechenden Auschauungcn, welche über die vasomotorischen Begleiterschei- 
nungen des Schlafes in der Litteratur noch herrschend sind, habe ich mich 



*) Die diesen Studien zu Grunde liegenden Versuche wurden bereits vor 2 Jahren in Jena 
angestellt. Zeit und Mittel zur Bearbeitung derselben habe ich erst jetzt als Assistent des neuro- 
biologischen Instituts gefunden. 



^^' ^' ^^ ^ "* ** PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 1 1 

daher entschlossen, die von Schlafzuständen abhängigen Vorgänge an den 
plethysmographischen Kurven von den plethysmographischen Äusserungen 
anderartiger psychischer Zustände abzutrennen und in einem besonderen Teil 
als einen Beitrag zur Physiologie des Schlafes zu besprechen. 

Der Schlaf gehört mit zu den elementarsten Funktionen des tierischen 
Organismus. Der Mensch teilt die Eigenschaft, sein Leben im Wechsel von 
Schlaf und Wachen zuzubringen, mit einer grossen Anzahl der Tiere, vielleicht 
mit allen; er ist zur Erhaltung des Lebens in gewissem Sinne unentbehrlicher 
als die Nahrungsaufnahme. Dennoch wissen wir über die unmittelbaren Ur- 
sachen des Schlafes, d. h. die physiologischen Veränderungen, welche den 
Schlaf im gegebenen Fall herbeiführen, so gut wie nichts. „Es wäre kaum 
möglich**, schreibt Exner (4) in Hermanns Handbuch der Physiologie 
unter dem Kapitel Schlaf, „alle die zum Teil sehr abenteuerlichen Theorien 
über den Schlaf anzuführen, welche seit den Zeiten der griechischen Philo- 
sophen aufgestellt wurden. Es giebt vielleicht kein Kapitel der Physiologie, 
über welches so viel und mit so wenig Resultat geschrieben worden ist, wie 
der Schlaf". Selbst jene rein experimentellen registrierenden (sphygmo- 
graphischen, plethysmographischen und manometrischen) Arbeiten, welche sich 
lediglich mit den Cirkulationsverhältnissen im Schlafe beschäftigten und den 
Schlaf auf veränderte Blutverteilung im Körper zurückzuführen suchen, stehen 
in einem durchgehenden Widerspruch zueinander. So verlockend es scheinen 
möchte, eine Kritik dieser zahllosen Cirkulationstheorien der Schlafes zu geben, 
muss ich mich doch auf den Hinweis beschränken, dass im allgemeinen drei 
Hauptrichtungen von Cirkulationstheorien Bedeutung gewonnen haben: eine 
Kongestionstheorie, eine ihr direkt entgegenstehende Anämietheorie und eine 
sog. gemischte Theorie. Die erste Richtung betrachtet einen hyperämischen 
Zustand des Gehirns als Ursache des Schlafes; es sind darunter aus älterer Zeit 
(nach Foster) (5) eine grosse Zahl namhafter Gelehrter zu nennen, wie A. v. 
Haller, Hartlcy, Cabanis, Holland, M. Hall, Clutterbach, Sieveking, 
Dickson, Macnish, Carpentcr; von neuern Forschern erwähne ich Lan- 
glet (6), Czerny (7), Pick (8), Basch (9), Lange (10). Von den Vertretern 
der Anämietheorie, welche, im Gegensatz zu den Vorgenannten, den Schlaf 
mit verminderter cerebraler Blutfüllung, d. h. mit einem anämischen Gehirn- 
zustande in Zusammenhang bringen, sind zu nennen Blumenbach, Kennedy, 
Donders (nach Foster) (5), Durham (11), Hammond (12), Bruns (13), 
Krauss (14), Reynards (15), Bradford-Brown (16), Caldwell und Blumen- 
berg (17), Pierrot (18), Fazio (19), Frangois Franck (20), Salathe (21), 
Nathanson (22), Tarschanoff (23), How^ell (24), Lehmann (3), unter den 
Physiologen Hermann (25), Exner (4), v. Bunge (26) u. A. Die Anhänger 
der gemischten Theorie schliesslich leugnen entweder überhaupt jede Beziehung 
zwischen Schlaf und Gchirnkreislauf oder wenigstens nehmen sie kein festes 
Verhältnis zwischen dem Blutgehalt im Gehirn und dem Schlafe an, wie 
Mays (27), Mosso (2), L. 11111(28), Cappie (29), Rummo e Ferranini (30), 
Makenzie (31). 

Es kann nun keineswegs meine Aufgabe sein, die hier zu Tage tretenden 
Widersprüche auf Grund meiner experimentellen Beobachtungen lösen zu 



12 DR. K. BRODMANN. ^""Tnd L^nc^oglc^' 



wollen. Ich verhehle mir nicht, dass Untersuchungen an einer einzelnen 
Person immer nur ein individueller Wert zukommt, und dass allgemeine Schluss- 
folgerungen aus solchen Versuchen nur mit grösster Vorsicht zu machen sind. 
Was bisher über die Cirkulationsverhältnisse im Schlafe aus experimentellen 
Untersuchungen bekannt geworden ist, reicht zu einer hinreichend begründeten 
physiologischen Schlaftheorie nicht aus, und auch ich möchte mich nicht unter- 
fangen, eine solche zu geben. Nur als einen individuellen Beitrag zur Physio- 
logie des Schlafes, enger gefasst zu den vasomotorischen Ausdrucksbewegungen 
der Schlaferscheinungen, möchte ich diese Arbeit betrachtet wissen. Gerade 
weil so vielfach auf Grund von Einzclbeobachtungen hypothetische und ganz 
irrtümliche Anschauungen über das Wesen des Schlafes und seine physio- 
logischen Grundlagen verbreitet worden sind, lege ich Gewicht darauf, diesen 
Standpunkt von vornherein zu kennzeichnen. Erst wenn es gelingen sollte, 
unter Einhaltung dieses Standpunktes, weitere übereinstimmende Thatsachen 
von geeigneten Versuchspersonen vorurteilslos zu sammeln und unbefangen 
zu sichten, werden wir mit der Zeit zu einer physiologischen Erklärung des 
Schlafes fortschreiten können. 

I. Bemerkungen Ober die Versuchspereon und die Versuchstechnilc. 

Im Hinblick auf die im zweiten Teil meiner Arbeit behandelten psycho- 
logischen Versuche halte ich einige nosographische Notizen über unsere Ver- 
suchsperson für angebracht; namentlich ist eine Kenntnis des psychischen 
Gesamtzustandes desselben für das Verständnis der dort auftauchenden psycho- 
logischen Probleme unerlässlich. Die Versuchstechnik hat in der Parallel- 
Arbeit Bergers (i) bereits eine Darstellung erfahren, ich beschränke mich 
daher auf kurze Bemerkungen über die Apparate, die äussere Anordnung und 
den Gang der Versuche. 

I. Die Versuchsperson. Albert Th., 47 Jahre alt, Stationssekretär, zur 
Zeit der Versuche zwei Jahre (seit Dez. 1897) in der psychiatrischen Klinik in 
Jena in Behandlung, war im Februar 1898 wegen Hirndruckerscheinungen, 
welche auf einen Tumor des Occipitallappens bezogen wurden, und das Leben 
unmittelbar bedrohten, trepaniert worden. Eine Geschwulst oder sonstige er- 
kennbare Veränderung der Hirnoberfläche wurde nach Eröffnung des Schädels 
nicht gefunden, dagegen bestand eine starke intracranielle Drucksteigerung. Nach 
der Operation bildete sich durch das offen gebliebene Trepanloch über dem 
linken Hinterhaupte ein mächtiger, gut Hühnerei grosser Vorfall von Hirn- 
substanz, der nur von einer ganz dünnen, infolge narbiger Veränderungen 
fast durchscheinenden Hautlamclle bedeckt war und mit blossem Auge Hirn- 
bewegungen ausserordentlich deutlich erkennen Hess. Wiederholt machte sich 
in der Folgezeit eine Punktion des Prolapses wegen stärkerer Hirndruck- 
steigerungen notwendig, späterhin erholte sich Patient aber zusehends und 
auch die anfangs vorhandenen Herderscheinungen bildeten sich zum Teil zurück. 
Zur Zeit unserer Untersuchungen bestand von körperlichen Dauersymptomen 
in der Hauptsache eine spastische Parese der rechten Körperseite mit Steigerung 
der Sehnenphänomene und Kontrakturbild ung, spastisch paretischer Gang und 



^^' ^ ^SL^ ^ "• *• PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 1 3 



1903 



rechtsseitige Hemianopsie. Zuweilen bestand eine geringe Puls verlangsam ung 
(zwischen 60 — 78 Pulsschlägen) mit massig gesteigerter Arterienspannung, Er- 
brechen und Schwindelanfälle kamen nicht mehr vor, dagegen klagte Patient öfter 
über Kopfschmerzen und Ziehen in der rechten Körperseite, besonders im Beine. 

In psychischer Beziehung fiel bei dem Kranken vor allem eine grosse Apathie 
und Indolenz mit vermehrtem Schlafbedürfnis, ohne eigentliche Soporzustände, 
auf. Die geistige Trägheit war jedoch nicht so hochgradig, dass sie das 
Experimentieren unmöglich gemacht hätte. Patient befand sich dauernd ausser 
Bett und unterhielt sich gerne mit den Mitkranken. Seine Aufmerksamkeit 
war leicht zu fesseln, und wenn sich auch bald Ermüdungserscheinungen zeigten, 
so konnten doch ausgedehnte klinisch-psychologische Analysen mit ihm aus- 
geführt werden. Meinen plethysmographischen Untersuchungen brachte er, 
da sie eine Abwechslung für sein monotones Leben bedeuteten, sogar ein 
gewisses Interesse entgegen. Die Stimmung war manchmal gedrückt und 
unzufrieden, im allgemeinen jedoch glcichmässig ruhig und indifferent, wohl 
aber bestand eine lebhafte affektive Erregbarkeit mit Neigung zu^ Zornesaus- 
brüchen. Wo besondere abnorme Gemütszustände vorlagen, habe ich vor 
Beginn der Versuche in meinen Protokollen stets Notierungen gemacht, wie 
ich auch ungewöhnliche äussere Umstände, welche auf den Verlauf der Ver- 
suche von Einfluss sein konnten, stets vermerkt habe. Die Intelligenz des 
Kranken war in merklichem Grade herabgesetzt. Neben der allgemeinen 
Intelligcnzschwäche bestanden wechselnde aphasische Symptome sensorischen 
Charakters, welche indessen die Verständigung mit dem Kranken nicht be- 
einträchtigten. 

2. Äussere Versuchsanordnung. Die Untersuchungen begannen Mitte 
März und wurden im Anfang fast täglich, gemeinsam mit Herrn Dr. Berger, 
zu wechselnden Tagesstunden ausgeführt. Die Zahl der Einzelversuche beträgt 
mehrere Hundert, die der Versuchstage gegen achtzig. Ursprünglich war geplant, 
die Bewegungen des Gehirns, des Vorderarms und der Atmung gleichzeitig 
zu registrieren. Wegen der Schwierigkeit der technischen Durchführung bei 
unserer Versuchsperson mussten wir jedoch bald von der Aufzeichnung der 
Respiration abschen und haben wir uns auf die plethysmographischen Kurven 
des Gehirns und linken Vorderarms beschränkt. Nachdem ich später genötigt 
war, die Experimente allein fortzusetzen, konnte ich von Kurve 110 ab nur 
noch das Plethysmogramm des (iehirns berücksichtigen, da es mangels ge- 
eigneter Assistenz unmöglich war, zugleich die Registrierapparate und die 
Versuchsperson zu beobachten und gleichzeitig die Versuche zu leiten. 
Zweifellos hat diese isolierte Darstellung der Volumkurve eines Organs 
gegenüber der multiplen Pulsschreibung manche Nachteile, sie bringt aber 
auch Vorzüge mit sich. Die Übersicht über den Verlauf eines Versuches 
ist erleichtert, der Kranke befindet sich unter normaleren Verhältnissen und 
ist weniger beengt, als wenn eine grössere Anzahl von Apparaten an seinem 
Körper appliziert ist. Es war dies auch daran zu erkennen, dass Th. in der 
ersten Zeit häufig bei den Versuchen ungeduldig und missmutig wurde, während 
in der Folgezeit, als nur die Gehirnkurve registriert wurde, meist völlige Gleich- 
gültigkeit und Gemütsruhe vorlag. 



14 DR. K. BRODMANN. J»"™^ ^^?Ä*" 



und Neurologie 



3. Als Apparate verwendeten wir einen Hydrosphygmographen nach 
Mo SSO zur Registrierung- des Armvolumens und einen Plethysmographen mit 
Luftübertragung, ebenfalls nach Mossos Angaben konstruiert, zur Aufzeichnung 
der Hirnbewegungen. Da bei unserer Versuchsperson eine grössere Partie 
der Hirnoberfläche aus der Schädellückc sich vorwölbte, haben wir mit Hilfe 
eines Gipsabgusses eine Guttaperchaform nach Art einer Kappe verfertigt, 
welche sich durch leichtes Erwärmen absolut luftdicht anf der glatt rasierten 
Haut der knöchernen Umrandung der pulsierenden Gehirnpartie festkleben 
und jederzeit bequem abnehmen Hess. Jede andere Art der Befestigung, wie 
sie von vielen Experimentatoren beschrieben wurde, durch Bindentouren, 
Heftpflasterstreifen, Verdichten durch Kittmassen, scheint mir durchaus unzuver- 
lässig und unbrauchbar, da die hierbei unvermeidlichen Verschiebungen der 
Guttaperchaform und das Undichtwerden notwendig Entstellungen der Kurven 
herbeiführen müssen. Die Übertragung der Schwingungen auf den Schreib- 
apparat geschah mittelst eines langen elastischen Schlauches, in den für den 
Arm ein Flaschenventil, für das Gehirn eine Mareysche Klarinette zur Aus- 
gleichung zu starker Volum- und Druckschwankungen angebracht war. Zur 
Registrierung diente ein Federkymographion und ein Marcy scher Tambour. 
Leider hatte das Kymographion den grossen Nachteil, dass seine Rotiergeschwindig- 
keit mit zunehmender Entspannung der Feder sich verringerte, so dass mit 
dem Ablauf des Uhrwerks die Pulslänge auf der aufgeschriebenen Kurve sich 
fortschreitend verkürzte, ein Umstand, der das Ausmessen absoluter Pulslängen 
ausserordentlich erschwerte. Mit Rücksicht auf diese Mangelhaftigkeit des 
Apparates musstc ich auf genauere zahlenmässige Angaben über die Puls- 
länge, die im Interesse dieser Untersuchungen erwünscht gewesen wären, Ver- 
zicht leisten; ich muss das Ausmessen der Einzelpulse an meinen Tafeln dem 
Leser überlassen und beschränke mich daher im Text bezüglich der Ver- 
änderungen der Pulslänge auf das allgemeine Urteil „grösser'* — „kleiner*' u. 
„länger" — „kürzer", resp. auf die Hervorhebung zeitlicher Schwankungen 
und gewisser Gruppenbildungen in den Pulslängen. 

Als Schreibhebel dienten uns anfangs kürzere Fischbeinlamcllen, wie 
sie von dem Fabrikanten geliefert werden, später fertigten wir uns die Hebel 
selbst nach Bedarf aus Strohhalmen an, die sich durch grosse Leichtigkeit 
und bequeme Handhabung auszeichneten; ihre Länge betrug ca. 20 cm. Wir 
haben mit denselben sehr feine und glcichmässige Pulskurvenlinicn, die alle 
Details der einzelnen Pulsationen scharf erkennen lassen, erhalten. 

Bei 'der Reproduktion und Ausmessung der Kurven wurden die 
von f^ehmann angegebenen Gesichtspunkte berücksichtigt. Um mit möglichster 
Exaktheit Fehler zu vermeiden, habe ich selbst die Originalkurvcn zum Zwecke 
der Reproduktion auf durchsichtiges Papier durchgepaust; die Pausen wurden 
auf photographischem Wege vervielfältigt. Der durch die Re])roduktion ver- 
ursachte Fehler, d. h. die lineare Abweichung vom Original beträgt, wie ich 
mich durch Ausmessungen überzeugt habe, nicht mehr als Lehmann für 
seine Tafeln angiebt, im allgemeinen ca. 2 — 3 mm auf 700 mm Kurvenlänge, 
eine Fehlergrösse, welche als unwesentlich zu betrachten ist. Die Zeit wurde 
mittelst eines Metronoms im Sekundentakt markiert. 



^' ^* "iS^ ^ "• *• PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 1 5 



1902 



II. Die allgemeinen plethysmographischen Erscheinungen. 

An jedem Plethysmogramme sind 2 Gruppen gesetz massiger Funktionen 
zu unterscheiden, die wir zunächst kurz besprechen wollen: 

i) Volumschwankungen, d. h. wellenförmige, rhythmische Hebungen und 
Senkungen des Niveaus der Gesamtkurve. 

2) Pulsschwankungen — feinere, meist nur durch Messungen festzustellende 
Veränderungen an den die Kurve zusammensetzenden Einzelpulsationen. Diese 
Veränderungen betreffen sowohl die Form der einzelnen Pulswcllen wie ihre 
Zahl und Grösse und verlaufen wie die Volumschwankungen in mehr oder 
weniger rhythmischen Perioden. 

Diese beiden Arten physiologischer Funktionen von Volumkurven haben 
wir nunmehr ganz allgemein kennen zu lernen. 

I. Die Volumschwankungen. Man kann an allen Volumkurven von 
Körperorganen, des Gehirns sowohl wie eines peripheren Körperabschnittes, 
dreierlei Arten von wellenförmigen Volumschwankungen beobachten: 

i) Schwankungen I. Ordnung oder Pulsationen. Jede dieser kleinsten, 
absolut konstanten und regelmässigen Wellen entspricht einer Ilerzkontraktion 
oder einem Pulsschlage. Sie decken sich mit den Pulswellen der Sphyg- 
mogramme. 

2) Schwankungen II. Ordnung oder Atemschwankungen, auch 
respiratorische Oscillationen genannt. Dieselben treten synchron mit 
den Bewegungen der Atemmuskulatur auf und umfassen je nach der Frequenz 
der Atemzüge 3 — 5 Einzelpulse, sind aber weniger konstant wie diese. 

3) Schwankungen III. Ordnung oder Undulationen (Mosso), das sind 
in langen Perioden und nicht immer in regelmässigem Rhythmus verlaufende 
Wellenbewegimgen des Gesamtvolumens einer Kurve, auf welche die Schwan- 
kungen I. und II. Ordnung aufgesetzt sind. Nach ihren Entdeckern werden 
sie auch Traube-IIeringsche Wellen (32) genannt. 

Über die Volumschwankungen I. Ordnung oder Pulsationen werden 
wir bei den speziellen Pulsschwankungen zu sprechen haben. Was die respira- 
torischen Oscillationen betrifft, so gehen die Ansichten über den Einfluss 
der Atmung auf die Volumkurve des Gehirns von jeher weit auseinander. 
Schon die ältesten Autoren, welche den Ilirnbewcgungen teils an den Fonta- 
nellen von Kindern, teils am viviscciertcn Tiere ihre Aufmerksamkeit schenkten, 
fanden, dass die Hemisphären dem Rhythmus der Atembewegungen folgten, 
nur über den zeitlichen Zusammenhang dieser Bewegungen und der Respira- 
tionsphasen ist auch bis jetzt keine Einigung zu erzielen gewesen. In Her- 
manns Handbuch der Physiologie (Bd. 4, p. 289) wird als konstantes Ver- 
hältnis angenommen, ,,(lass die Pulskurvenreihe immer im Anfange der In- 
spiration ihren tiefsten Stand einnimmt, dann aber während der Inspiration 
emporsteigt, um im Anfange der Exspiration ihren höchsten Stand einzunehmen 
und während der Exspiration bis in den Anfang der nächsten Inspiration 
wieder zu sinken**. Es wird jedoch auch hier betont, dass verstärkte Atem- 
züge dieses Verhalten ändern, man sehe zuweilen nur Fallen der Kurvenreihe 



I6 DR. K. BRODMA NN. ^Tnd 5eug°'" 

bei der Inspiration und Steigen bei der Exspiration. Langlet, welcher an 
Kindern die Bewegungen der Fontanellen studierte, spricht den ruhigen Atem- 
bcwegungen überhaupt jeden Einfluss auf die Hirnbewegungen ab, einen 
solchen fand er nur bei angestrengtem Atmen. Auch Mosso meint, dass 
eine regelmässige und oberflächliche Respiration so geringen Einfluss auf die 
Bewegungen des Gehirns habe, dass sie sich beinahe dem Auge entzieht. 
Seinen Aufzeichnungen nach entspricht jedoch jeder Inspiration (auch bei 
forcierter Atmung) eine Senkung der Gesamtkurve und jedem Exspirium 
eine Hebung derselben. Bei sehr tiefer Inspiration macht sich, nach Mosso, 
vor allem ein erheblicher Einfluss auf die Form des Pulses geltend; der 
Puls wird in der Inspiration kleiner und frequenter, in der Exspiration höher. 
Nach beendeter Exspiration erfolge eine zweite Abnahme des Hirnvolumens, 
langsamer aber tiefer und anhaltender als die inspiratorische und der Puls ist 
klein und katakrot, verschwindet zuweilen ganz (Fig. 53). Fr6d6ricq (33) — 
fasst das Ergebnis seiner plethysmographischen Untersuchungen über das Ver- 
hältnis von Respiration und Hirncirkulation beim Hunde in die Sätze zusammen: 
bei der Exspiration steigt die Hirnkurve an, bei der Inspiration fällt sie; es 
könne aber auch umgekehrt der Fall sein, sobald der arterielle Druck über- 
wiege. Zu demselben Resultate kam Salathe (21), dabei behauptet er mit 
Langlet, dass in Ruhe und im Schlafe beim Kinde keine respiratorischen 
Fontanellenbcwegungen zu sehen seien; beim Tiere kehre künstliche Atmung 
das Verhältnis von Respiration und Circulation um. Rag o sin und Mendel- 
sohn (34) behaupten beim Menschen ebenfalls synchron mit der Inspiration 
eine Abnahme und mit der Exspiration ein Steigen der Hirnkurven; diese 
Volumschwankungen entsprechen den respiratorischen Schwankungen des 
artiellen Blutdrucks. Bin et und So liier (35) schreiben auf Grund von 
Beobachtungen am Menschen mit Defekt des Schädeldachs, der Inspiration 
einen schwachen, der Exspiration einen starken Puls zu, die Inspiration ver- 
laufe im Beginn mit raschem Abfall, dann mit Anstieg, die Exspiration mit 
Hebung der Volumkurve. L. Hill (28) kommt zu dem Schlüsse, dass das 
Gehirn, in Abhängigkeit vom Venendruck, seine grösste Ausdehnung in der 
Exspiration, und nicht in der Inspiration habe. Siven (3(3) fand, im direkten 
Gegensatz zu den vorstehenden Autoren, am Hundegehirn, wie schon vor ihm 
Wertheimer (37) an den Extremitäten, dass in der Mehrzahl der Fälle 
während der Insi)iration die Kurve ansteige und während der Exspiration ab- 
falle. Wertheimer indessen hebt ausdrücklich hervor, dass es sich auch 
umgekehrt verhalten könne; Siven sucht die Ursache dieser wechselnden 
Verhältnisse an den respiratorischen Schwankungen auf analoge Verschieden- 
heiten des arteriellen Blutdruckes zurückzuführen. 

Den Einfluss der Atembewegungen auf die Volunikurve des Armes 
haben insbesondere Binet und Courtier (38) an der Capillarcirkulation 
der Hand nach der Methode von Hallion und Conite (39) studiert. Sie 
beschreiben eingehend die respiratorischen Oscillationcn. Die Länge und 
Höhe dieser Wellen ist nach ihnen einem grossen Wechsel unterworfen, oft 
kommen 8 Pulse auf eine respiratorische Welle, der längere Schenkel fällt in 
den absteigenden Teil der Welle, das Verhältnis des absteigenden zum auf- 



®^' '» ^"^ ^ "• *• PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. \^ 



steigenden Wellenschenkel ist wie das von 5 zu 3 Pulsen. Über den zeit- 
lichen Verlauf der Volumschwankung in Beziehung zu den Reöpirationsphasen 
lesen wir: „Im Moment, wo die Inspiration beginnt, ist die volumctrische 
Kurve auf ihrem niedersten Punkte, sie hebt sich langsam und kontinuierlich 
von den folgenden Pulsationen und diese Erhebung entsteht nicht erst im 
Beginne der Exspiration, sondern vielmehr gegen die Mitte der Inspiration, 
ebenso nimmt auch das Sinken der volumetrischen Kurve vor der Inspiration 
seinen Anfang und zwar in voller Phase der Exspiration". Mit anderen 
Worten kann man also sagen, dass die Inspiration dem Ende des Sinkens 
und dem Beginne des Stcigens entspricht, die Exspiration dagegen dem Ende 
des Stcigens und dem Beginne des Abfalles der Kurve. Beschleunigte Atmung 
erzeugt nach ihnen beschleunigte respiratorische Oscillationen und Sinken der 
Capillarkurve, verlangsamte Atmung hat die umgekehrte Wirkung. 

Die Schwankungen III. Ordnung schliesslich, auch Undulationcn oder 
Traube-Heringsche Wellen genannt, sind ihrer Natur wie Entstehungsweise 
nach gleich unbekannt. Sic sind teils als vasculäre, teils als vasomotorische, 
teils als respiratorische Wellen aufgefasst worden, andere Autoren haben ihre 
Herkunft überhaupt offen gelassen. Auf Seiten der Physiologen besteht die 
Neigung, diese Art von Spontanbewegungen der Organe auf eine periodische, 
nach Hering (32) der Innervation der quergestreiften Atemmuskeln associierte 
Thätigkeit des allgemeinen Vasomotorencentrums, d. h. der Herz- und Gefäss- 
nerven zurückzuführen. Mosso, von dem die Bezeichnung ,,Undulation** für 
die Wellen III. Ordnung herstammt, hat eine physiologische Erklärung derselben 
versucht. Er unterscheidet ihrem physiologischen Ursprünge nach 2 Arten von 
Undulationcn: aktive und passive. Die aktiven Undulationen des Gehirns sind 
bedingt durch primäre rhythmische Kontraktion und Dilatation der Gefässwände 
und durch entsprechende Pulsänderungen ausgezeichnet; der Gefässkontraktion 
entspricht der Tiefstand der Welle mit niedrigen Pulsationen, der Relaxation der 
Gefässwände der Hochstand mit hohen Pulsen. Zu den passiven Undulationcn 
rechnet er erstens diejenigen plethysmographischen Schwankungen, welche 
durch den, in einer Steigerung (oder Abnahme) des arteriellen Blutdruckes be- 
gründeten, verstärkten (rcsp. geschwächten) Blutzufluss zum Gehirn bedingt 
sind und zweitens jene Volumschwankungen, welche von einer Änderung des 
venösen Abflusses abhängen. Die passiven Undulationen verlaufen ohne 
Änderung in der Pulshöhe, d. h. in der Innervation der Gcfässwandung. 
Fr^dericq (33) versuchte, wie mir scheint, ohne stichhaltige Gründe, 
die Heringschen Wellen als Schwankungen II. Ordnung oder Atmungs- 
schwankungen zu erklären, für die Wellen III. Ordnung schlug er die Be- 
zeichnung ,, Sigmund Mayerschc Wellen** vor. Aus den Abbildungen 
von Hering geht jedoch unzweifelhaft hervor, dass diese Art von Organ- 
bewegungen mit der Atmung nicht zusammenfallen und von den respiratorischen 
Wellenbewegungen scharf zu trennen sind. 

2. Die Pulsschwankungen. Man versteht darunter alle jene Ver- 
änderungen der Einzelpulse, welche, wie den Physiologen allgemein bekannt, 
auch bei vollkommener Ruhe durch rein physiologische Einflüsse, einerseits 
von der Respiration, andererseits von den Gefässwänden (wahrscheinlich von 

Journal für Psychologie und Neurologie. Bd. I. 2 



1 8 DR. K. BRODMANN. J<'3» NeuÄ'*'*' 



periodischen Schwankungen der Vasomotorenthätigkeit) herrührend, fortwährend 
hinsichtlich der Pulsfrequenz und der qualitativen Pulsbeschaffenheit stattfinden. 
Wo in einschläg"ig"en Arbeiten gute plethysmographische Kurven abgebildet sind, 
lassen sich derartige rhythmische Spontanschwankungen der Pulsationen fast 
regelmässig nachweisen. Dieselben betreffen i. die Pulslänge, 2. die Pulshöhe 
und 3. die spezielle Pulsform. Einzelheiten hierüber werden wir unten an der 
Hand unserer Kurven besprechen. 

III. Der Wachzustand bei unserer Versuchsperson. 

Bevor wir in eine Besprechung der bei unserer Versuchsperson fest- 
gestellten plethysmographischen Schlafsymptome, resp. der vasomotorischen 
Äusserungen psychischer Reize eintreten, wollen wir erst diejenigen Erschei- 
nungen an den Volumkurven näher analysieren, welche im Wachzustande bei 
Th. vorhanden sind. Wir werden sehen, dass diese Plethysmogramme ständige 
Veränderungen durchmachen, die wir als den Ausdruck physiologischer Vor- 
gänge zu betrachten haben. Diese physiologischen Funktionen der Volum- 
kurven sind in den mir vorliegenden einschlägigen Arbeiten meist gänzlich 
unberücksichtigt geblieben, obwohl sie einen im Experiment nicht beabsich- 
tigten dauernden Einfluss auf die Gestaltung der Kurvenbilder ausüben. Als 
solche Spontanbewegungen der plethysmographischen Kurven haben wir nicht 
nur die grossen wellenförmigen Schwankungen des Gesamtvolumens zu be- 
trachten, sondern vor allem alle spontanen, d. h. ohne äussere Einwirkungen 
eintretenden Veränderungen in der Grösse und Frequenz der Einzelpulsationen. 
Da wir diesen Spontanveränderungen der Volumkurven auch unter normalen 
Verhältnissen im Wachsein regelmässig begegnen, so müssen wir sie bei der 
Beurteilung der unter experimentellen Bedingungen entstehenden Plethys- 
mogramme stets in Rechnung setzen. 

Ich möchte die im Wachsein von Th. aufgenommenen Kurven in 2 Gruppen 
trennen. Von den im normalen unbeeinflussten Wachsein aufgezeichneten 
Kurven sondere ich diejenigen ab, welche entweder unter dem Einflüsse 
körperlicher Vorgänge oder während eines abnormen Gemütszustandes ent- 
standen sind. Die erstcre Gruppe bezeichne ich als den Normalzustand. In 
die zweite Gruppe rechne ich einmal alle mit respiratorischen Abweichungen 
zusammenhängenden Veränderungen der Plethysmogramme (wie forcierte In- 
und Exspirationen, Husten, Seufzen, Räuspern etc.), ferner die Äusserungen 
einfacher Muskelaktionen an den Wachkurven (ungewollte Bewegungen der 
Glieder oder des Kopfes, Schluckbewegungen, Sprechen etc.). Unter den 
abnormen Gcmütszustäntlcn werde ich die Grenzfalle von Schlafen und Wachen 
und die Schläfrigkeit besonders behandeln. Den eigentlichen Gemütsbewegungen 
begegnen wir im II. Teil dieser Arbeit. 

A. Der normale Wachzustand. 

Dass von einem Normalzustande im strengen Sinne des Wortes bei Th. 
nicht die Rede sein kann, versteht sich aus den vorausgeschickten noso- 
graphischen Notizen von selbst. Abgesehen von der psychischen Schwäche 



^' '* ^^^ ^ "* ** PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. I9 



zeigte Th., wie bereits erwähnt, eine gewisse Stumpfheit und Schläfrigkeit. 
Dass letztere Eigentümlichkeit das Experimentieren in mancher Hinsicht be- 
günstigte, unterliegt keinem Zweifel. In anderer Hinsicht war sie entschieden 
von Nachteil. Gerade wo es darauf ankam, normale Vergleichskurvcn zu 
erhalten, machte die im Anfange der Versuche meist vorhandene Schläfrig- 
keit des Patienten eine Entscheidung darüber oft schwierig, ob das Plethys- 
mogramm einem normalen Wachsein entspricht oder der Ausdruck veränderter 
psychischer Verhältnisse ist. Ob und inwieweit die organische Gehirnerkrankung 
oder der geistige Defekt als solcher einen Einfluss auf die Beschaffenheit der 
plethysmographischen Kurven ausübte, vermag ich nicht zu entscheiden. 

In Übereinstimmung mit dem, was durch die Physiologie von jeher ge- 
lehrt wurde, sehen wir nun bei unserer Versuchsperson, dass auch bei voll- 
kommener Ruhe, d. h. wenn keinerlei äusserer Reiz auf sie einwirkt und wenn 
sie im Gemütsgleichgewichte sich befindet, gleichwohl beständige Veränderungen 
an den Volumkurven des Gehirns und Vorderarms sich abspielen. Wir müssen 
auch hier Volumschwankungen und Pulsschwankungen auseinander halten. 

I. Die Volumschwankungen im Normalzustande. 

Dieselben treten bei Th. im Normalzustande sowohl am Gehirn, wie an 
der Vorderarmkurve in den drei typischen Formen von Wellenbewegungen, 
die oben skizziert wurden, auf, als Pulsationcn, respiratorische Oscillationen 
und Undulationen. Ausnahmslos waren die Pulsationen vorhanden; ein 
völliges Verschwinden derselben habe ich nie beobachtet. Ihre physiologischen 
Spontanschwankungen werden wir unten eingehend erörtern. Die von der 
Atmung herrührenden Wellenbewegungen, die respiratorischen 
Oscillationen, waren bald an beiden Kurven, bald nur an einer vorhanden, 
bald traten sie in Verbindung mit undulatorischen Schwankungen, bald ohne 
solche auf. 

Das Verhältnis der respiratorischen Volumschwankungen zu den Atem- 
phasen ist, wie wir bereits oben angedeutet haben, ein sehr verwickeltes 
und viel imistrittenes. Auch bei Th. lässt sich eine feste Gesetzmässigkeit 
nicht auffinden, keinesfalls ist es richtig, wie viele Autoren angeben (Fr^dericq, 
Salath^, Ragosin und Mendelsohn, Binet und Sollier), dass die Zu- 
nahme der Hirnkurve sich durchaus mit der Exspiration decke, die Volumen- 
abnahme mit der Inspiration. Schon aus den Arbeiten von Siv^n, Wert- 
hcimer, Binet und Courtier geht die Unrichtigkeit dieser Auffassung hervor. 
In Kurve 7 (Tafel 2 D), 11, 12 und 41 (I B, C und D) ist die Beziehung zwischen 
Atmung und respiratorischen Oscillationen anschaulich gemacht, an Kurve VII 
und 40 (2 B und D) tritt sie ebenfalls hervor. Wir sehen an allen diesen Kurven, 
dass die Phasen einer Atmungsbewegung und einer Atmungswelle ineinander 
übergreifen, ohne sich zu decken. In Kurve 7 und 12, wo wir eine sehr 
ruhige und gleichmässige Atmung haben, fällt der Beginn der Exspiration noch 
mit dem absteigenden Schenkel der Atmungswclle am Armplcthysmogramm 
zusammen und nimmt dann den ganzen aufsteigenden Schenkel ein, die In- 
spiration liegt im Anfang des absteigenden Schenkels. Kurve 1 1 (bei Schläfrig- 
keit aufgenommen) zeigt, dass das Ende der exspiratorischen Phase noch in 

2* 



20 DR. K. BRODMANN. "^'^f NeS?SSl!^ 



den Beginn der Volumenabnahme fällt. In Kurve 41, in deren Verlauf ein 
deutlicher Wechsel des Atmungstypus eintritt, sehen wir am Schlüsse, dass 
die Erhebung der Volumkurve nicht immer erst im Beginne der Exspiration 
entsteht, sondern gegen Ende der Inspiration; auch kann die Inspiration noch 
mit dem Gipfelpunkte der Elevation zusammenfallen; umgekehrt nimmt, wie 
auch Binet und Courtier fanden, das Sinken der volumetrischen Kurve manch- 
mal vor der Inspiration seinen Anfang und zwar „in voller Phase der Ex- 
spiration**. Durch welche Momente die jeweilige Gestaltung der respiratorischen 
Volumenschwankungen bestimmt wird, vermag ich aus meinen Kurven nicht 
zu entscheiden. Soviel aus Kurve 41 zu sehen ist, hängt dieselbe von der 
Atmungsform nicht ab. Dass die Ausgiebigkeit der Atmungsbewegungen 
nicht allein massgebend ist, geht aus Kurve VII (2 B) hcr\'or, an der, trotz sehr 
ausgiebiger Atmung, am Gehirn keine deutlichen Respirationsbewegungen sicht- 
bar sind, während das Armplcthy smogramm gewaltige Atmungsschwankungen 
durchmacht. In Kurve 40 (2 D) sieht man allerdings synchron mit einer 
Verringerung der Atmungstiefe auch ein Klcinerwerden der respiratorischen 
Oscillationen am Gehirn und Vorderarm eintreten, gleichzeitig findet ein ge- 
ringes Sinken des Hirnvolumens statt; in Kurve i (I E) dagegen bleibt eine 
solche Rückwirkung der Atmungsveränderung auf die Plethysmogramme aus. 
Dasselbe findet sich in Kurve i8a (5 E). Also kann auch die Atmungstiefe 
nicht der einzige Grund für die Grösse der respiratorischen Wellen der plethys- 
mographischen Kurven sein. 

Neben den respiratorischen Oscillationen begegnen wir bei Th. auch den 
Wellen III. Ordnung oderUndulationen, doch sind dieselben weniger konstant 
als die pulsatorischen und respiratorischen Volumenschwankungen; ganz selten 
habe ich sie am Arinplethysmogramm gesehen. Am Gehirn kommen im 
Normalzustande sowohl aktive wie passive Undulationen im Sinne Mossos vor. 
Aktive Undulationen liegen vor in Kurve 99 (2 C) und 164a (4 E); die Wellen- 
thäler sind durch niederige Pulse ausgezeichnet, die Wellengipfel durch höhere, 
dasselbe ist noch deutlicher an Kurve 1 1 1 bei Schläfrigkeit (I A) und in 95 
(5 A und B) im Übergangsstadiuni vom Wachen zum Schlafen zu beobachten. 
Piussive Undulationen des Gehirns bestehen in Kurve 172 (4 C) (und an zahl- 
reichen Schlaf kurven). Eine stärkere, spontane, undulatorische Volumschwankung 
des Armplethysmogranims ist in Kurve VII (2 B) abgebildet. Das Armvolumen 
steigt hier ohne erkennbare äussere Ursache bei gleichbleibender Atmung und 
ohne Veränderung der IIirnkur\'e an und sinkt dann (VII b) allmählich wieder ab. 

Noch einer Eigentümlichkeit bezüglich der Undulationen, für die mir eine 
ausreichende Erklärung fehlt, möchte ich hier gedenken. Es fiel mir bei 
Durchsicht meiner Kurven von jeher auf, dass die ersten Kurven vom 
Beginne unserer Experimente grösstenteils ohne deutliche undulatorische 
(und respiratorische) Volumschwankungen sind, während ich bei den späteren 
Versuchen fast ausnahmslos gewaltige Wellenbewegungen besonders am Gehirn 
registrierte. Auf die Versuchstechnik möchte ich diese Erscheinung nicht 
zurückführen, vielleicht aber hängt dieselbe damit zusammen, dass die Versuchs- 
person in der ersten Zeit der Versuche meist sich in einer gewissen Spannung 
befand, die erst später einer grösseren Indiftcrenz Platz machte. 



®^- ^» ™^ ^ "• *• PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 21 

An den späteren Kurven habe ich ausserdem in einzelnen Fällen (allerdings 
nicht im Normalzustand) noch eine vierte Art rhythmischer Wellenbewegung-en 
des Gesamtvolumens beobachtet, welche weder den Oscillationen noch den Undu- 
lationen zugehören (Vgl. Kurve 95 Tafel 5 AB). Sie nehmen vielmehr eine 
Zwischenstellung zwischen den Schwankungen zweiter und dritter Ordnung 
ein und umfassen, ohne mit den grossen undulatorischen Wellen zusammen- 
zufiden, zwei oder mehrere Oscillationen. 

Diese verschiedenen Wellenbewegungen der Volumkurven können nun 
in sehr verschiedener Weise an einem Plethysmogramme zusammenwirken 
und so das Kurvenbild beeinflussen. Ich verzichte indessen auf eine statistische 
Zusammenstellung aller einzelnen im Wachsein aufgenommenen Beobachtungen. 
Vielfach handelte es sich um unreine Fälle, indem irgendwelche Neben- 
umstände störend einwirkten und den Verlauf der Normalkurven veränderten; 
aber auch bei ganz gleichbleibenden Versuchsbedingungen machen sich so 
zahlreiche Abänderungen geltend, dass von der Aufstellung eines Grundtypus 
einer Normalkurve bei meiner Versuchsperson nicht die Rede sein kann. Als 
Normalkurven sind demnach solche plethysmographische Aufzeichnungen von 
Th. anzusehen, welche im ruhigen, unbeeinflussten Wachzustande registriert 
wurden, unbekümmert um das jeweilige Kurvenbild. Eine Erklärung des über- 
aus wechselnden Verhaltens dieser Normalkurven hinsichtlich ihrer physiolo- 
gischen Spontanschwankungen möchte ich trotz der grossen Zahl von Einzel- 
beobachtungen nicht versuchen ; ich beschränke mich vielmehr darauf, die haupt- 
sächlichen Modificationen des Kurvcnbildcs der beiden Volumkurven im Wachen 
mitzuteilen und an der Hand einiger prägnanter Abbildungen zu beschreiben. 

Im Einzelnen lassen sich folgende Combinationen von Volumschwankungen 
im Wachzustande bei Th. feststellen.: 

I. Beide Kurven lassen alle 3 Typen von Volumschwankungen gleich- 
zeitig erkennen. Sowohl am Gehirne wie am Vorderarm verlaufen Pulsationen, 
Oscillationen und Undulationen neben einander. Diese Verhältnisse finden 
sich angedeutet in den Kurven 107 (Tafel 2 A.) 65 (2 C.) und 75 c (3 D.). 
Die Pulsationen sind in den beiden letzteren Kurven tricuspidal in Kurve 107 von 
wenig charakteristischer Form, an manchen Stellen tritt der tricuspidale Typus 
hervor, an anderen Stellen mehr die katakrote Form. Die Armpulse sind überall 
ausgeprägt katakrot. Die respiratorischen Volumschwankungen zeigen sich an 
allen 3 Kurven deutlich und umfassen 3 — 5 Pulsationen. In Kurve 107 haben 
die Atmungsschwankungen an der Hirnkurve einen ganz anderen Verlauf als 
an der Armkurve, der höchste Punkt des Volumenanstiegs liegt an der Hirn- 
kurve am Ende der Welle, dem vierten Pulse entsprechend, an der Armkurv^e 
in der Mitte der Oscillation, dem dritten Pulse entsprechend. Am schwächsten 
sind die Undulationen; man kann diese Niveau -Veränderungen am Gesamt- 
volumen der Plethysmogramme vielfach nur dadurch nachweisen, dass man 
die Basis der Einzelpulsationen mit einem Lineal verbindet und daran die 
Abweichung von der geraden Linie erkennt, oder indem man die tiefsten 
Punkte der Kurven von der Niveaulinie mit dem Zirkel abmisst. Auf diese 
Weise lassen sich an den drei Kurven geringe spontane Niveauschwankungen 
erkennen; am stärksten treten sie am Gehirn in Kurve 65 und 75 c hervor- 



_22 DR. K. BRODMANN . ^^^ N-eSSi^i?^^ 

2. Beide Kurven weisen neben den Pulsationen gleichzeitig nur eine 
Form von Wellen höherer Ordnung auf, entweder Oscillationen oder Undu- 
lationen. Häufig findet man das Vorkommen von Atmungschwankungen bei 
im übrigen gleichbleibendem Niveau der Gesamtkurve, d. h. ohne Undulationen. 
Die respiratorischen Wellenbewegungen sind dabei oft nur schwach angedeudet 
wie in den Kurven 12 (Tafel I B.) und 7 (2 D.); stärkere Oscillationen ohne Undu- 
lationen finden sich in Kurven 74 (I C), 73 (3 C.) und loi (3 A.). Kurve 73 
zeigt dasselbe Verhältnis der Atmungsschwankungen am Gehirn und Vorderarm 
wie in Kurve 107; auch hier haben die Oscillationen an den beiden Organen 
einen miteinander nicht übereinstimmenden Verlauf. Dabei prägt sich in 
Kurve 73 am Gehirn der respiratorische Pulsformwechsel viel charakteristischer 
aus: in den aufsteigenden Schenkel der Oscillation, d. h. zusammen mit der 
Exspiration fallen durchweg die höheren (und auch die längeren) Pulse, in die 
absteigenden Schenkel die kleineren (und kürzeren). Dieses Verhalten ist an 
Kurve 107 am Gehirnvolumen nur auf kurze Strecken zu sehen, an manchen 
Strecken liegen dagegen die niedrigeren Pulsationen gerade im aufsteigenden 
Schenkel der Atmungswelle. Die Pulsationen des Armplethysmogramms ver- 
halten sich an Kurve 73 bezüglich ihrer Höhe ganz anders, wie am Gehirne; 
die höchste pulsatorische Erhebung liegt hier im Scheitel der Atmungswelle 
und entspricht dem dritten Pulsschlage einer Atemphase, während sie am 
Gehirn mit dem zweiten Pulsschlage zusammenfällt. Typisch ist in Kurve 73 
auch der Wechsel der speziellen Pulsform am Gehirn im Verlauf einer Atem- 
phase, die anakrotischc Elevation liegt am Ende einer Oscillation stets höher 
als am Anfang, gleichzeitig wird die Gipfel welle niedriger; die höchste Gipfel- 
welle zeigt durchgehend der zweite Puls. 

3. Nur ein Organ, entweder Gehirn oder Vorderarm, zeigt alle drei Formen 
von Wellenbewegungen. Dieses Verhalten findet sich in Kurve 99 (2 C.) und 
9ic(4B), wo das Hirnplethysmogramm deutliche Pulsationen, Oscillationen 
und Undulationen zeigt, während am Vorderarm ausser den Oscillationen 
keine wellenförmigen Schwankungen bestehen. Kurve VII (2 B.) zeigt 
Schwankungen I., II. und III. Ordnung am Armplethysmogramm und nur 
Wellen I. Ordnung am Gehirn. 

4. Nur eine Kurve hat Wellen höherer Ordnung und zwar entweder 
respiratorische oder undulatorische, die andere Kurve zeigt nur Pulsationen. 
Kurve 92 b (Tafel 5 C.) zeigt, unmittelbar nach dem Erwachen, nur am Gehirn 
Oscillationen, das Armvolumen verläuft ohne alle Schwankungen. Dasselbe 
Verhalten im Schlafe ist am Schlüsse der Kurve 18 a (5 E.) vorhanden, 
während umgekehrt in Kurve IV b, welche ebenfalls im Schlafe registriert 
ist, nur am Arme Atmungsschwankungen bestehen. 

Ein völliges Fehlen aller spontanen Wellenbewegungen derart, dass beide 
Kurven nur Wellen erster Ordnung oder Pulsationen zeigen, habe ich bei Th. 
kaum je beobachtet. Selbst dort, wo alle secundären Schwankungen zu fehlen 
scheinen, lassen sich durch genauere Messungen geringe rhythmische Hebungen 
und Senkungen des Niveaus, den Atmungsbewegungen entsprechend, nach- 
weisen (z. B. Kurve 71, Tafel 3 A. und Kurve i, 12, 18 b). 



^^* '* ^Ift7 ^ "* *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 23 



Eine ungewöhnliche Form der Spontanbewegungen zeigt Kurve 103 (5 D.); 
das Armplethysmogramm ist hier durch sehr grosse respiratorische Wellen 
ausgezeichnet, während an der Himkurve nur ein rhythmisches Kleiner- und 
Grösserwerden der einzelnen Pulsationen nicht aber ein synchrones An- und 
Abschwellen des Volumens sichtbar wird. Dieser periodische Wechsel der 
Pulshöhe steht offenbar in Beziehung zur Atmung; er entspricht ganz dem 
Rhythmus der Oscillationen an der Armkurve, indem jeder vierte oder dritte 
Puls deutlich kleiner ist; neben diesem respiratorischen Pulswechsel besteht 
nun aber noch ein in längeren Perioden verlaufendes Zu- und Abnehmen der 
Pulshöhe am Gehirn, das offenbar undulatorischen Ursprungs ist. Kurve 103b 
zeigt 4 solcher Perioden von je 10 Pulsationen, davon gehören wieder je 2 
zu einer Gruppe enger zusammen. Solche rhythmische Schwankungen der 
Pulsationshöhe bei Gleichbleiben des Volumens sind schon von Mosso be- 
obachtet worden. Auch Berger bildet entsprechende Kurven ab (Fig. 26, 
27, 28) und führt diese Erscheinung auf eine Behinderung des venösen Ab- 
flusses zurück. Dass sie nicht durch Änderung in der Ausgiebigkeit der Herz- 
kontraktionen bedingt sein können, ist an der gleichzeitig registrierten Arm- 
kurve zu erkennen. Später werden wir ähnlichen spontanen rhythmischen 
Schwankungen der Pulsationshöhe bei den Schlaferscheinungen begegnen. 

2. Die Pulsschwankungen im Normalzustande. 

Einem ähnlichen periodischen Wechsel, wie ihn die plethysmographischen 
Kurven am Gesamtvolumen erkennen lassen, unterliegen nun auch die Wellen 
der Einzelpulse bei Th. und man kann an zahlreichen Kurven aus dem Wach- 
zustande ein rhythmisches Schwanken der Pulslänge, der Pulshöhe und der 
speziellen Pulsform beobachteten. 

a) Die Pulslänge hängt von der Pulsfrequenz, d. h. von der Zahl der 
Herzschläge in der Zeiteinheit ab. Der Rhythmus und die Häufigkeit der 
Herzkontraktionen ihrerseits unterliegen nun aber, wie wir gesehen, unab- 
änderlichen physiologischen Einflüssen seitens der Atmung einerseits und 
seitens periodischer Schwankungen des vasomotorischen Zentrums anderseits. 
Mentz (40) hat diese physiologischen Schwankungen der Pulslänge näher 
analysiert und gefunden, dass drei Faktoren für dieselben verantwortlich zu 
machen sind. Die Atemphase, die speziellere Atemform und die Undulationen. 
Auch Binet und Courtier (38) beschreiben periodischen Wechsel der Puls- 
form, der Pulsgrösse und der Pulsgeschwindigkeit in Abhängigkeit von den 
respiratorischen Oscillationen. In gleichem Sinne unterscheiden Lombard und 
Pillsbury (41) 3 rhythmische Bewegungsformen des Herzens an plethys- 
mographischen Kurven, entsprechend den 3 wellenförmigen Bewegungen des 
Volumens und zwar i. die Pulsbewegungen (die einzelnen Herzkontraktionen), 

2. den respiratorischen Rhythmus, eine rhythmische Verlangsamung und Be- 
schleunigung der Schlagfolge des Herzens synchron mit den Atemphasen und 

3. Vasomotorische Undulationen des Herzrhythmus, aus 2 Phasen der Be- 
schleunigung und V^erlangsamung des Pulses bestehend, über 4 — 5 Respirationen 
sich erstreckend und ganz unabhängig vom respiratorischen Herzrhythmus. 



24 DR. K. BRODMANN. •"'3'n^Ä«" 



Die beiden Forscher haben auch beobachtet, dass der respiratorische Herz- 
rhythmus unabhängig von der Atmung, d. h. bei aufgehoberner Atmung fort- 
bestehen kann. 

Bezüglich der Atemphase konnte Mentz durch Ausmessen zahlreicher 
Puls-Kurven feststellen, dass mit fortschreitender Inspiration die Pulslänge ab-, 
mit fortschreitender Exspiration dagegen wieder zunimmt. Bin et und Courtier 
fanden ebenfalls ein regelmässiges Variieren der Pulsfrequenz während der 
ganzen Dauer einer respiratorischen Oscillation. „Die Schnelligkeit erreicht 
ein Maximum am Ende der Inspiration, dann sinkt sie regelmässig während 
der Exspiration und bis zum Ende der Exspiration, wo sie ein Minimum er- 
reicht, von da ab nimmt sie während der Pause zu und fährt fort zu wachsen 
bis zum Ende der Inspiration." Dass diese Variationen der Pulsamplitude 
mechanischen Momenten ihre Entstehung verdanken, bestreiten die Ver- 
fasser aufs Entschiedenste, denn der kurze Puls finde sich in der Ascension 
der Kurve. Lombard und Pillsbury betonen auf Grund spezieller Versuche 
hierüber die grosse Schwierigkeit, die Beziehungen zwischen Herzbeschleunigung 
und den Phasen einer Respiration zu bestimmen, sie meinen, dass die Phäno- 
mene sich nicht immer decken, immerhin komme in der Regel gleichzeitig 
mit der Inspiration eine Ilerzbeschleunigung zu Stande. 

Den Einfluss der Atemphase auf die Pulsationen, insbesondere auf die 
Pulslänge bei unserer Versuchsperson sehen wir in Kurve iii, 99 (Tafel i A., 
2 C). Besonders typisch tritt dieser respiratorische Herzrhythmus in Kurve 99 
hervor. Man kann an den respiratorischen Oscillationen derselben einen 
sehr prägnanten Typus von Gruppenbildung bezüglich der Pulslänge und 
gleichzeitig der Pulshöhe und Pulsform erkennen. Eine Atmungsphase um- 
fasst abwechselnd 3 und 4 Pulse. Es ist nun zunächst am Hirnpulse auch 
ohne genauere Messung zu sehen, dass im aufsteigenden Schenkel einer 
respiratorischen Welle die Pulsationen deutlich länger und höher sind, als im 
absteigenden. Dabei rückt die anakrotische Elevation des tricuspidalen Pulses 
mit dem Fortschreiten der Atmungswelle immer höher nach dem Gipfel der 
Pulsation hinauf. Ausserdem sieht man, dass immer eine Gruppe von 8 Pulsen 
nach Form und Grösse zusammengehören, jeder achte (nur einmal der zwölfte) 
Puls ragt mit seinem Gipfel über die Kurvenlinie hinaus. Die Basislinie der 
Kurve verläuft wellenförmig, da ausser den respiratorischen Schwankungen 
eine starke undulatorische Senkung des Gesamtniveaus mit nachfolgendem 
Anstieg zu Stande kommt (aktive Undulation im Sinne Mossos). Im Gegen- 
satz hierzu verläuft die Armvolumcn-Kurve fast horizontal, nur die Atmungs- 
schwankungen mit dem respiratorischen Herzrhythmus fallen wie an der Gehirn- 
kurvc, deutlich in die Augen. Auch die Gruppenbildung prägt sich hier am 
Arm nur schwach aus. 

Den Einfluss der speziellen Atem form auf die Pulsationen können 
wir an unseren Kurven nur selten im Einzelnen verfolgen, da eine Registrierung 
der Atmungsbewegungen meist unterblieb. Im allgemeinen haben Mentz 
und A. bei Vertiefung und Beschleunigimg der Atmung Zunahme der Puls- 
frequenz gefunden und umgekehrt bei Verflachung oder Verlangsamung der 
Atemzüge Abnahme der Pulszahl. Dass übrigens die durch Änderungen der 



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Atmungsform hervorg^erufenen Pulsvariationen äusserst verwickelte sind und 
sich nicht immer eindeutig erklären lassen, haben die meissten Autoren an- 
erkannt. So sehen wir, wie auch Mentz hervorhebt, dass sich die Atmung^- 
wirkungen auf den Puls häufig* direkt entgegenarbeiten, z. B. wenn gleich- 
zeitig Vertiefungen und Verlangsamung oder Verflachung und Beschleunigung 
der Respiration vorliegt. In solchen Fällen heben sich die antagonistisch 
wirkenden Kräfte mehr oder minder vollständig auf. Häufig genug hat Mentz 
ein völliges Divergieren des Pulses und der Atmungsveränderungen bei seinen 
Versuchspersonen festgestellt, so dass von einer strengen Gesetzmässigkeit des 
Abhängigkeitsverhältnisses von Pulslänge und Atmung jedenfalls nicht die 
Rede sein kann. In Kurve 40 B sehen wir einen Wechsel der Atemform 
eintreten , ohne dass eine deutliche Veränderung der Pulslänge ersicht- 
lich wäre. 

Charakteristischer tritt auch in unseren Kurven der Einfluss der Undu- 
lationen oder Traube-Heringschen Schwankungen auf die Pulslänge 
hervor. Mentz fand, dass auf grösseren Strecken der Pulskurven, 3 bis 
12 Atemzüge umfassend, an Gehirn wie Extremität, die Pulslänge allmählich 
zu- und dann ebenso allmählich wieder abnimmt, um dasselbe Spiel von Neuem 
zu wiederholen. Vergleichen wir die verschiedenen Phasen der grossen Undu- 
lationen an mehreren meiner Kurven, so können wir schon durch eine ober- 
flächliche Messung denselben rhythmischen Wechsel in der Pulslänge konsta- 
tieren und zwar besteht eine gesetzmässigc Beziehung der Pulslänge zu den 
Schwingungsphasen einer Undulation, das eine Mal derart, dass im absteigenden 
Schenkel die Pulslänge grösser, im aufsteigenden dagegen geringer ist, 
(Kurve iii) ein anderes Mal dagegen sind die Pulse im absteigenden 
Schenkel kürzer, im aufsteigenden länger. Hering hat diese den vasculären 
Wellen synchronen Pulsschwankungen nicht regelmässig beobachtet; er meint, 
dass die Pulsfrequenz, wie auch Traube richtig angebe, im aufsteigenden 
Schenkel der Welle meist eben so gross sei als im absteigenden, nur in 
seltenen Fällen im aufsteigenden Schenkel etwas kleiner. 

b) Die Pulshöhe unterliegt ähnlichen, wenn auch nicht so konstanten, 
spontanen Schwankungen wie die Pulsfrequenz. Eine Beziehung zu den 
respiratorischen Phasen und zu den Undulationen ist vielfach ohne weiteres 
zu erkennen. Mentz stellte an seinen Kurven fest, dass bei ruhiger Respira- 
tion die Pulsationen während des Einatmens niedriger, und während der Ex- 
spiration höher sind. An Solliers Kurven entsprechen gleichfalls der In- 
spiration, welche zugleich mit einer brüsken Volumensenkung verbunden ist, 
schwächere Pulsationen, der Exspiration mit Volumenanstieg die stärkeren und 
höheren Pulse (Cfr. Fig. 7. Archiv de Physiol. 1895). Salathe, der an tre- 
panierten Tieren eine Verminderung des Gehirnvolumens während der In- 
spiration sah, behauptet im übrigen, dass nur bei angestrengter Atmung ein 
Einfluss derselben auf die Hirnbewegungen, also auch auf die Pulshöhen, 
nachzuweisen sei, während bei ruhiger Atmung die Himbewegungen lediglich 
von dem Einfluss des Herzens abhängen sollen. Er nimmt ein alternierendes 
Verhältnis zwischen Pulswelle und Atmungsschwankungen derart an, dass die 
Pulsationen um so grösser seien, je geringer die respiratorischen Volumen- 



26 DR. K. BRODMANN. -^'3' NcS!°^'' 



bewegungen sind, starke respiratorische Oscillationen bei sehr forcierter Atmung 
sollen die Pulsationen ganz zum Schwinden bringen können. 

Jedenfalls besteht auch bei Th., soviel aus meinen Kurven ersichtlich 
ist, ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis der Pulshöhe von der Atmung speziell 
von den Atemschwankungen des Volumens der Plethysmogramme. Auf der 
Höhe einer respiratorischen Oscillation sind die einzelnen Pulswcllen im all- 
gemeinen höher und meist auch von steilerer spitzer Form, während sie 
im Wellenthal einer Oscillation niedriger sind. Oft entspricht indessen das 
Verhältnis mehr der Darstellung von Binet und Courtier, indem mit der 
Ascension der Atmungswelle die höheren Pulsationen zusammenfallen mit 
der Desccnnion die niederen und langen Pulse, in anderen Fällen da- 
gegen liegen in der Ascension der Welle gerade die längeren und sicht- 
lich höheren Pulse. Vergl. die Kurven 107, 73. (Tafel 2 A., 3 C). Ein 
Verhältnis zwischen Oscillation und Pulshöhe, wie es Salathe an Tieren 
beschrieben hat, besteht bei Th. jedoch nicht; nicht selten waren bei Th. 
gerade mit starken respiratorischen Oscillationen auch starke Hirnpulsationen 
verbunden, während umgekehrt bei fehlenden Oscillationen häufig kleine 
Pulsationen bestanden. In Kurve 40 (2 D.) entsprechen sogar den stärkeren 
respiratorischen Volumschwankungen auch relativ höhere Pulswellen und um- 
gekehrt. 

Der Einfluss undulatorischer Volumschwankungen auf die Pulshöhe 
ist ein verschiedener, je nachdem es sich um eine aktive oder passive Undu- 
lation handelt. Wir wissen, dass nach Mosso die aktiven Undulationen 
von den passiven nur durch die verschiedene Form, welche die Kontraktion 
oder Erschlaffung der Gefässwände den einzelnen Pulsationen des Gehirns 
erteilt, sich unterscheiden. Wenn eine aktive Volumschwankung vorliegt, so ist 
mit jeder Senkung der Kurve eine Gefasscontraktion d. h. Verkleinerung der 
einzelnen pulsatorischen Erhebungen verbunden, ist die Volumschwankung eine 
passive, so tritt dagegen keine Pulsveränderung ein. Wo also Undulationen 
aktiven Charakters in rhythmischem Verlaufe auftreten, müssen wir auch rhyth- 
misch wiederkehrende Schwankungen der Pulshöhe erwarten. Derartige mit 
undulatorischen Volumschwankungen verlaufende Variationen der Pulshöhe, 
auf spontanen Gefässbewegungen beruhend, liegen vor in Kurve iii, 99, 95, 
164 (i A., 2C., 5 A.B., 4E.). 

Nun habe ich aber auch eine in Perioden verlaufende Variation der Pulshöhe 
verschiedentlich bei völlig gleichbleibendem Gehirnvolumen beobachtet. Ein 
solcher undulatorischer Wechsel der Pulshöhe ohne undulatorische Schwankungen 
des Volumens besteht in Kurve 103 b (Tafel 5 D.), wo zweimal ein deutliches 
Grösser- und Kleinerwcrden der Pulse in langen Perioden unschwer zu erkennen 
ist. Eine ähnliche Erscheinung liegt in Kurve 156 und 157 (allerdings nicht 
aus dem Wachzustande) vor; wir werden geeigneten Orts auf dieselben zu 
sprechen kommen. Kurve 156 zeigt am Ende, unmittelbar nach dem Er- 
wachen, ebenfalls ein plötzliches Kleinerwerden der Pulshöhe bei unverändertem 
Hirnvolumen. Berger hat ähnliche rhythmische Schwankungen der Puls- 
höhe bei Gleichbleiben des Gehirnvolumens zweimal bei willkürlichem Anhalten 
der Atmung (Fig. 26 und 27 seiner Arbeit) und einmal ohne erkennbare Ur- 



^^' '' ^^ * "' ** PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 2/ 



Sache im Schlafe eintreten sehen (Fig. 28) und glaubt, dass diese Art 
von Schwankungen von einer Behinderung des venösen Abflusses abhängig 
seien. 

c) Was schliesslich die Pulsform anlangt, so unterliegt dieselbe natur- 
gemäss in erster Linie Veränderungen, welche mit den physiologischen 
Schwankungen der Pulslänge und Pulshöhe einhergehen. Es sind also zunächst 
von den oben genannten respiratorischen und undulatorischen Gehirn- 
bewegungen abhängige Spontanschwankungen. In der That finden wir bei 
Th., in Übereinstimmung mit Binet und Courtier, an vielen Kurven im 
aufsteigenden Schenkel einer respiratorischen Welle ausser den kleineren und 
kürzeren Pulsen einen vermehrten Dicrotismus. Vielfach, namentlich wenn 
die Atmungswellen stark ausgebildet sind, bilden die zu einer respiratorischen 
Oscillation gehörigen Pulsationen eine typische Gruppe: jeder Puls innerhalb 
einer Atemwelle unterscheidet sich von allen anderen, zu derselben Atemphase 
gehörigen, durch eine ganz charakteristische Form, die in jeder folgenden 
Welle an der selben Stelle wiederkehrt. Ein solcher, von der Atmung 
abhängiger rhythmischer Wechsel der speziellen Pulsform (nicht nur der Puls- 
höhe) findet sich nun aber auch dann zuweilen, wenn respiratorische Volum- 
schwankungen fehlen. In Kurve in, 103, 99, 73, 75, 95 sind respirato- 
rische Pulsformschwankungen angedeutet. 

Die undulatorischen Schwankungen der Pulsform verlaufen parallel 
den undulatorischen Schwankungen des Gesamtvolumens, dass jene aber 
auch ohne diese vorkommen können, haben wir bereits gesehen (Kurve 103, 
Tafel 5D.). 

Auf die Frage, ob es einen speziellen, dem Gehirne eigentümlichen, und 
von dem Puls der peripheren Körperteile abweichenden Pulstypus giebt, lässt 
sich eine absolut eindeutige Antwort nicht geben. Mosso, dem ich mich bezüg- 
lich der Nomenclatur in Folgendem anschliessen werde, (Vergl. bei Mosso §7 
und ff. Über den Kreislauf) behauptet, dass kein Körperteil einen, seiner Form nach 
so veränderlichen Puls zeige als das Gehirn, doch sei die häufigste und wohl 
als normal anzusehende Form des Hirnpulses die tricuspidale, mit anderen 
Worten jene Form, welche am Scheitel jeder Pulswelle drei Erhebungen hat, 
deren mittlere die höchste ist und den Gipfel der Welle bildet. Spezielle 
auf die Beantwortung dieser Frage gerichtete Untersuchungen führten jedoch 
Mosso zu der Ansicht, dass der tricuspidale Puls nicht ausschliesslich dem 
Gehirn eigen ist, sondern häufig am Vorderarm, an der Carotis und den grossen 
intrathoracischen Gcfässen vorkommt und dass die Pulsform, wie überhaupt 
die sphygmischen Erscheinungen, mit der einzigen Ausnahme des Rhythmus 
und zum Theil auch der Pulshöhe, nichts mit dem Herzen zu thun haben, 
sondern von dem Zustande der Gefässe abhängen. Fredericq, welcher eine 
ausführliche Analyse der cerebralen Pulswelle giebt, beschreibt 3 Formen des 
tricuspidalen Hirnpulses beim Tier. Eine Beobachtung am Menschen ergab 
ebenfalls eine tricuspidale Form des Gehirnpulses, die sogenannte erste Form 
mit verdoppelter arterieller und fehlender venöser Welle. Mays hat ebenfalls 
oft die tricuspidale Form konstatieren können, jedoch nicht so regelmässig wie 
Mosso; er vermisst sie gerade im Schlafe und bei Ruhe, wo nach Mosso das 



_28 DR. K. BRODMA NN. ^TndNcat"'" 

Zustandekommen des tricuspidalen Pulses am häufigsten sein soll. S cia- 
mann a (42) hat bei 3 Versuchspersonen überhaupt keine tricuspidalen Pulse 
erhalten, sondern durchgehends katakrote. 

Bei der Versuchsperson Th. zeigt sich fast ausnahmslos, wie ein Blick 
auf die Kurven lehrt, der tricuspidale Hirnpuls. Die spezielle Form desselben 
wechselt aber ausserordentlich; meist liegt die anakrotische Elcvation tief am 
aufsteigenden Schenkel, der Gipfel der Kurve, die Elevation S nach Mos so, 
ist mehr oder weniger hoch und spitz oder aber etwas abgerundet; an den- 
selben schliesst sich gleich zu Anfang des absteigenden Schenkels eine starke 
katakrote Elevation (Rückstosselevation nach Landois oder dicrotischer Nach- 
schlag, wie sie Mosso nennt). Nicht selten sind Pulse mit 2 oder mehr 
katakrotischen Erhebungen (Elasticitätselevationen). Ausser dem tricuspidalen 
Hirnpuls haben sich nun auch bei Th. während desselben Versuchstages oder 
sogar an einer und derselben Kurve andere Pulstypen aufgezeichnet. 
Kurve 11 1 und 109 z. B. zeigt einen ausgesprochen katakroten Puls, während 
er unmittelbar nachher auf den folgenden Kurven wieder tficuspidal ist. Einen 
rhythmischen mit den Respirationsphasen und den respiratorischen Oscillationcn 
synchronen Wechsel der Pulsform haben wir oben kennen gelernt. 

Die Pulsform des Plethysmogramms vom Vorderarm bedarf keiner 
besonderen Besprechung. Hier ist, wie auch in anderen Arbeiten erwähnt 
wird, die katakrote Form überwiegend, doch sieht man ebenso wie an den 
Hirnpulsationen die Form öfter wechseln. Einen tricuspidalen Vorderarmpuls 
zeigen die Kurven I, IV, VII, 7, 18, (i E., 4 D., 2 B., D. u. 5 E.). 

Diese Modifikationen der speziellen Pulsform möchte ich in meinen späteren 
Ausführungen nur nebenbei erwähnen, ohne eine Deutung derselben zu ver- 
suchen. Ich halte alle Versuche, feinere qualitative Unterschiede in der Form 
der Pulswellen messen und mit bestimmten physiologischen oder psycho- 
logischen Vorgängen in Beziehung bringen zu wollen, für verfrüht. Kries (43) 
hat experimentell gezeigt, welchen grossen^ Fehlerquellen wir hierbei zum 
Opfer fallen können, indem er willkürliche Varationen der Pulsform lediglich 
durch Abänderung der Registriermethode erzeugte. Eine Berücksichtigung 
der feineren Züge des Pulsbildes wird in der Psychographik erst möglich sein, 
wenn die Physiologie in der Erklärung desselben weiter gekommen ist. 



B. Der Einfluss von Lageveränderungen, Muskelaktionen, Sprech- 
bewegungen und vertieften Atemzügen auf die Plethysmogramme. 

Vielfach ist, besonders auf Grund von Tierversuchen, von Experimenta- 
toren behauptet worden, dass die Körperstellung und Lageveränderungen von 
wesentlichster Bedeutung für die Gestaltung der Plethysmogramme des Gehirns 
sowohl wie peripherer Körperteile seien. Berger hat an unserer Versuchs- 
person diesen Einfluss in seiner Parallelarbeit ausführlich behandelt. Ich 
komme auf diese Verhältnisse nur soweit zurück, als ich glaube, dass die 
Kenntnis derselben für die Beurteilung plethysmographischer Wirkungen von 
Affekten und ungewollten Muskelaktionen, die namentlich beim Erwachen 
nicht immer zu vermeiden waren, unerlässlich sind. 



BD. I, HE^ 1 u. «. PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 29 



1902. 



Was zunächst die Körperstellung im allgemeinen betrifft, so will ich nur 
kurz erwähnen, dass bei Rückenlage der Versuchsperson stets kleine tricuspidale 
Hirnpulse mit abgerundeter Gipfelwelle registriert wurden und grössere undula- 
torische oder respiratorische Schwankungen des Hirnvolumens ganz fehlten 
(es ist dies bei der ursprünglichen Versuchsanordnung im Beginne unserer 
Experimente stets der Fall), während in aufrechter Stellung oder bei sitzender 
Haltung mit etwas erhöhten Beinen und leicht nach vorn geneigtem Kopfe 
(unserer späteren Versuchsanordnung) in der Regel hohe und steile Pulsationen 
vorkamen und, wie wir bereits gesehen haben, Volumenschwankungen stets 
vorhanden waren. Es steht dieser Befund im Einklänge zu den Beobachtungen 
Sciamannas (42), der behauptet, dass der Hirnpuls um so umfangreicher 
sei, je mehr sich die Lage des Individuums der Vertikalen nähert. 

Durch Kopfbewegungen verursachte plethysmographische Ausschläge sind 
in Kurve loib, 163 und 103a (Taf. 3 A, 7 B und 5 D) anschaulich gemacht. 
Es geht daraus hervor, dass denselben durchaus keine so entscheidende Rolle 
für den Verlauf einer Gesamtkurve beizumessen ist, als es von anderer Seite 
geschieht, auch lehrt ein Vergleich der verschiedenen Kurven, dass die 
Wirkung gleicher Kopibewegungen nicht immer die gleiche ist. (Vgl. auch 
in den Abbildungen Bergers JCurve 29 mit Kurve 30. Erstere zeigt bei 
Rückwärtsbewegung des Kopfes eine Zunahme des Hirnvolumens mit Ver- 
minderung der Hirnpulsationen, letztere dagegen ebenfalls bei Bewegimg 
des Kopfes nach hinten Abnahme des Hirnvolumens, während die nach- 
herige Vorwärtsbewegung des Kopfes ein kurzes Auf- und Abschnellen der 
Kurven zur Folge hat.) In Kurve loib (3 B) wird bei t S auf Geheiss von 
der Versuchsperson eine forcierte Vor- und Rückwärtsbewegung des Kopfes 
ausgeführt diese bedingt an der Hirnkurve einen plötzHchen starken Abfall 
und ein ruckartiges Anschwellen des Niveaus, während das Armvolumen 
unverändert bleibt; auch die Veränderungen des Hirnvolumens sind nur 
ganz momentane, rasch wieder sich ausgleichende, eine bleibende Entstellung 
der Plethysmogramme findet nicht statt. In Kurve 163 ti (/B) erwacht 
Th. durch ein leises Geräusch. Er dreht beim Erwachen kurz den Kopf 
nach rückwärts, als Folge davon sieht man am Hirnplethysmogramm einen 
geringfügigen Ausschlag; erst bei der Marke Ig, wo dem Patienten eine Ver- 
warnung erteilt wird und ein starker Affekt einsetzt, macht sich, offenbar 
als Ausdruck dieses Affektes, der ohne sichtbare äussere Muskelaktionen ver- 
läuft, eine intensive plethysmographische Wirkung geltend; es findet eine 
enorme, auf aktiver Gefässkontraktion beruhende Verminderung des Gehirn- 
volumens, mit Pulsbeschleunigung statt, die sich erst nach ca. 20 Pulsen all- 
mählich wieder ausgleichen. Der Abfall des Hirnvolumens ist ein so starker, 
dass die Entspannungsklappe (Ventil) geöffnet werden musste, da der Schreib- 
hebel auf dem Rande des Tambours aufsass und dadurch die Pulsationen 
verwischt werden. Kurve 103 a (5 D) zeigt den Einfluss ungewollter tiefer 
Rcspirationsstösse mit gleichzeitiger brüsker Kopf bcwegung. Das Hirnvolumen 
schnellt hierbei einige Male auf und ab und bleibt dann unter dauernd ver- 
stärkten Pulsationcn auf dem früheren Durchschnittsniveau verharren. Die 
Armkurve erfährt, trotz der Ausgiebigkeit der stattgehabten Muskelaktionen 



30 DR. K. BRODMANN. •'°3',5iÄ'°''' 



und Neurologie. 



nur eine unerhebliche, vorübergehende Entstellung einiger Pulswellen, das 
Gesamtvolumen verändert sich während der Bewegungen überhaupt nicht. 

Bewegungen des Rumpfes (sich Recken, Aufrichten) sind bei unserer 
Versuchsperson stets von brüsken Anstieg und Abfall der Hirnkurve mit hohen 
Pulsen begleitet, während dieselben auf das Armvolumen nicht immer ent- 
stellend einwirken (vgl. Kurve 75 a u. b, Tafel 3 D u. E; Kurve 163 B, Tafel 7 B). 
Bewegungen der Extremitäten bewirken in vielen Fällen gar keine sichtbare 
Veränderung der Hirnkurve; die brüsken Bewegungen des Armes z. B. in 
Kurve 95 (5 A u. B) bleiben ohne den geringsten Einfluss auf den Verlauf 
des Hirnplethysmogrammcs; man vergleiche im Gegensatz dazu die Abwehr- 
bewegung in Kurve 135 ij (Tafel 8E) unter dem Einflüsse eines Schmerzaffektes. 
An der Armkurve dagegen verursachen Muskelaktionen des Armes stets Aus- 
schläge (Kurve 95, Tafel 5 A u. B) und zwar steilen Anstieg und Abfall 
des Volumens mit zittrigen, kleinen Pulsen. Man vergleiche auch Kurve 1 1 
(Tafel I C), welche am Ende eine leichte Muskelunruhe des Armes bei 
Schläfrigkeit erkennen lässt. Aufgetragene Bewegungen einzelner Muskel- 
gruppen haben nicht selten, namentlich bei gespannter Aufmerksamkeit, 
auffallend geringe plethysmographische Begleiterscheinungen im Gefolge. 
Kurve lOi a u. b (3 A u. B) veranschaulicht eine Reihe solcher willkürlicher 
Muskelaktionen: bei i^ wird durch das Signal ,, Aufpassen" die Aufmerksam- 
keit gefesselt, dann erfolgt auf entsprechende Aufforderung bei ig zweimaliges 
Offnen und Schliessen des Mundes, bei I3 Beugen und Strecken der Finger 
der rechten Hand, bei I4 kräftiges Faustballen und bei I5 energische Vor- 
und Rückwärtsbewegung des Kopfes. Alle diese Muskelaktioncn bleiben, 
mit Ausnahme der Kopfbewegung, welche ein starkes Ab- und Wieder- 
anschwellen des Hirnvolumens und starke Verkleinerung der Armpulsationen 
erregt, fast ganz ohne Einfluss auf die Kurven. 

Sprechbewegungen verursachen, wohl infolge der damit verbundenen 
Atmungsvorgänge, ausnahmslos ein kurzes An- und Abschwellen des Hirn- 
volumens analog dem durch Hustenstösse, Pressen und Räuspern erzeugten. 
Das Armvolumen bleibt dabei, soweit nicht affektive Erregungen mitspielen, 
unverändert (vgl. hierzu Kurven 101 b, 73, 75, Tafel 3 B, C u. D; Kurve i6oi4, 
70I1 u. ig» Tafel 8 B u. D). 

Die respiratorischen Veränderungen der Volumenkurven im allgemeinen 
haben wir bereits oben besprochen. Vertiefte Atemzüge kommen in Kurve 
41 (i D), 107 R (2 A), VII b (2 B), 40 (2 D), 75 (3 D), 172 R (4 C) u. IVb (4 D) 
graphisch zum Ausdruck. Ich beschränke mich, darauf hinzuweisen, dass die 
durch Atmungsänderungen verursachten Volumenschwankungen auch bei 
unserer Versuchsperson nicht immer übereinstimmende sind. Eine Erklärung 
dieses verschiedenartigen Einflusses von Respirationsbewegungen auf die 
Plethysmogramme gehört nicht in diesen Zusammenhang. Keinesfalls finde 
ich die Ansicht jener Autoren bestätigt, welche behaupten, dass immer 
mit forcierter Inspiration eine Volumensenkung des Gehirns einhergehe. 
Schon Frangois Franck zeigte, dass mit der Inspiration das eine Mal eine 
Abnahme, das andere Mal eine Zunahme des Volumens erfolgt. Siven fand 
sogar häufiger Zu- als Abnahme. Berger bildet 2 Kurven von Th. ab. 



^^' ^* "töo7 ^ "* *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 3 1 



welche den Einfluss vertiefter Atemzüge zeigen; in der einen (Fig. 17) ent- 
spricht der Inspiration ein starkes Absinken, in der anderen (Kurve 18) eine 
vorübergehende Zunahme des Hirnvolumens. Von meinen Abbildungen 
zeigen Kurve 107 R u. VII b (2 A u. B) synchron mit der Einatmung starkes 
Ansteigen des Hirnvolumens; in VII b besteht während der inspiratorischen 
Atempause von J bis E stark vermehrtes Hirn-, weniger stark vermehrtes Arm- 
volumen; mit der Exspiration findet in beiden Fällen Sinken der Himkurve 
statt. Auch Kurve 75 zeigt während einer verstärkten Inspiration ein leichtes 
Ansteigen des Hirnvolumens aber ohne nachheriges Sinken in der Exspiration. 
Kurze Exspirationsstösse hatten stets einen starken steilen Anstieg mit sofortigem 
Abfall der Kurve im Gefolge; eine bleibende Veränderung des Verlaufs der 
Kurve wurde durch solche nicht ausgelöst. Ich stelle diese widerstreitenden 
Befunde einander gegenüber, weil ich glaube, dass wir angesichts solcher 
Thatsachen nicht berechtigt sind, plethysmographische Ausschläge, welche 
sich unter bestimmten psychischen Bedingungen einstellen und stets gleich- 
sinnige sind, lediglich auf respiratorische Einflüsse zurückführen zu wollen. 
Ich halte es z. B. für durchaus verfehlt, eine Volumenverminderung, die sich 
an unseren Kurven beim Erwachen regelmässig zeigt, nur als Ausdruck der 
mit dem Erwachen einhergehenden veränderten Atmung aufzufassen oder 
gär aus dieser Volumenverminderung auf eine forcierte Inspiration zurück- 
schliessen zu wollen. Damit will ich die Bedeutung der Atmungsvorgänge 
für die Gestaltung plethysmographischer Kurven keineswegs in Abrede stellen, 
ich möchte nur der Meinung Ausdruck geben, die ich im Folgenden (und im 
zweiten Teile) noch näher zu begründen gedenke, dass psychischen Faktoren, 
namentlich den Affekten, bei unserer Versuchsperson ein nicht minder grosser 
und unmittelbarer Einfluss auf die Kurvenbilder zukommt, als irgend welchen 
körperlichen Vorgängen. 

C. Die Schläfrigkeit. 

Streng genommen lassen sich die Erscheinungen der Schläfrigkeit von 
denen des Einschlafens nicht abgrenzen; dennoch ziehe ich eine getrennte 
Besprechung vor, da ich als plethysmographische Wirkungen des Einschlafens 
nur diejenigen relativ seltenen Beobachtungen mitteilen möchte, wo es mir 
möglich war, den Übergang aus dem wachen Zustand in den Schlaf in 
seinem ganzen Verlaufe oder wenigstens in seinem Endresultate aufzuzeichnen, 
während ich unter der Rubrik Schläfrigkeit jene Übergangsphasen vom 
Wachen zum Schlafen zusammenfasse, welche nur vorübergehend sich der 
Beobachtung darboten, ohne zu einem wirklichen Schlafe sich auszubilden. 
Den Zustand des Halbschlafes, der als ein Stadium des Einschlafens, weder 
von der Schläfrigkeit noch von dem Schlafe abzutrennen ist, halte ich für 
zweckmässig, gemeinsam mit den plethysmographischen Kurven vom Schlafe 
zu behandeln. 

Grössere oder geringere Grade von Schläfrigkeit waren bei Th. sehr oft 
zu beobachten; meist bedurfte er sogar, bevor ich in die eigentlichen Experi- 
mente eintreten konnte, erst der Überwindung der Schläfrigkeit, welche 
sich während der Vorbereitung zu den Versuchen bei der Versuchsperson 



32 DR. K. BRODMANN. J""^ L^Äl"«'' 



und Neurologie. 



einzustellen pflegte. In der Regel war die Schläfrigkeit mit motorischer Un- 
ruhe verknüpft, die Versuchsperson gähnte viel, machte Kratzbewegungen, 
reckte sich, schloss und öffnete abwechselnd die Augen; im linken Arm, der 
vom Glascylinder eingeschlossen war, stellten sich oft unwillkürliche ruckartige 
Muskelaktionen oder Zittern ein. 

Als Repräsentanten von Schläfrigkeitskurven sind Kurve ii, 91 c, 92 a, 
95, 111, 164 a, 157 und 172 auf den Tafeln abgebildet. 

Kurve ii (Tafel i C). Scbläfrigkeit, bei durchaus ruhigem Verhalten. R. regelmässig und 
mitteltief. H. zeigt geringe undulatorische Wellen, keine respir. OsciUationen. Das Armvolumen 
verläuft in gleichbleibendem Niveau unter ausgebildeten respiratorischen Schwankungen. Am Schlüsse 
der Kurvenstrecke macht sich leichtes Zittern im Arm durch Unregelmässigkeiten der Pulsationen an 
der Armkurve bemerkbar. 

Kurve 91 c (Tafel 4 B), einige Zeit nach 91b (Aufwecken durch Stich) aufgezeichnet. A. 
und H. sind stark angestiegen. Es besteht bei Th. grosse Schläfrigkeit oder ein Zustand von Halb- 
schlaf. Die Ilirnkurve zeigt 2 lange regelmässige Undulationen von ca. 20 Pulsschlägen, ausserdem 
starke respiratorische OsciUationen mit respiratorischem Herzrhythmus: im aufsteigenden Schenkel der 
Oscillation lange, im absteigenden kurze Pulse; Pulshöhe und Pulsform sind ohne charakteristische 
Schwankungen. Das Armvolumen verläuft unter geringen Atmungsschwankungen ganz horizontal. 
Die Pulsform ist an der Armkurve von grösserer Regelmässigkeit als an der Hirnkurve. 

Kurve 92a (Tafel 5 C): Schläfrigkeit, absolute Ruhe. Die Versuchsperson sitzt mit ge- 
schlossenen Augen ohne eigentlich zu schlafen. Die Kurve ist direkt nach C. 91 geschrieben und 
zeigt ganz ähnliche Verhältnisse wie die Schlafkurven 91a und 91b. Hirn- und Armkurve verlaufen 
zunächst ganz horizontal unter rhythmischen Atemschwankungen des Volumens. Ich lasse dann in 
SekundenintervaUen 3 leise Glockenschläge am Metronom ertönen (|i, 2, 3) Zunächst erfolgt an den 
Hebeln keine sichtbare Veränderung, dagegen ergibt eine genaue Ausmessung der Kurve sofort eine präg- 
nante Pulsverlängerung mit dem ersten Glockenschlage bei gleichbleibendem Volumen und bei gleich- 
bleibender PulsbeschafTenheit. Erst 6 Pulsschläge nach Ertönen des ersten Glockensignals beginnt 
das Himvolumen langsam zu steigen, im ganzen ca. 12 mm, während das Armvolumen eine merk- 
liche Senkung durchmacht. Nach einer Kurvenpause ist das Hirnvolumen wieder auf seiner ersten 
Höhe angelangt, während die Armkurve etwas über das ursprüngliche Niveau gestiegen ist. Beide 
Kurven verlaufen jetzt im Wachen ohne aUe Schwankungen. 

Kurve 95 (Tafel 5 A u. B) zeigt den plethysmographischen Ausdruck grosser Schläfrigkeit 
charakteristischer, als ich es an irgend einer anderen Kurve demonstieren könnte. Sie wurde etwa 
3 Stunden nach Tisch wie die übrigen Kurven in sitzender Stellung mit zurückgelehntem Rumpf 
und erhöhten Beinen und leicht nach vorn geneigtem Kopfe aufgenommen. Th. war anfangs sehr 
missmutig gewesen und hatte über Kopfschmerzen geklagt. Allmählich beruhigte er sich und zeigte 
Neigung zum Einschlafen, er kämpfte aber gegen den Schlaf an, öffnete und schloss die Augen 
häufig und machte auch wiederholt Bewegungen mit dem im Plethysmographen steckenden Arm. 
Während der ganzen Dauer des Versuchs sind pulsatorische Bewegungen des Kopfes, sog. Retro- 
pulsionen zu sehen. Bei Beginn unserer Aufzeichnung ist Th. ruhig. 

Das Hirnplethysniogramm der Kurve 95 setzt sich aus 5 hohen, ca. 30 Einzelpulse um- 
fassenden gewaltigen Undulationen zusanmien. Es beginnt auf der Höhe einer undulatorischen WeUe 
mit hohen, spitzen Pulsationcn, senkt sich allmählich unter zunehmender Pulsverlängerung und Puls- 
verkleincrung , um mit höher und kürzer werdenden Pulsen wieder anzusteigen. Solcher Phasen 
macht die Kurve 5 durch, immer entsprechen dem Gipfel einer llndulalion sehr hohe und relativ 
kürzere Pulsationen, dem Wellenth.d dagegen niedrige und lange Pulse (aktive Undulation [Mosso] 
mit undulatorischen Herzrhythmus). Ausserdem zeigt die Hirnkurve respiratorische OsciUationen mit 
Pulsformwechsel und respiratorischem Herzrhythmus. 4 Pulse werden zu einer Gruppe zusammen- 
gefasst, von denen 2 in der Regel im Scheitel der Atmungswelle katakrot und spitz, 2 niedrig und 
tricuspidal sind. 

Das Armplethysmogramm zeigt ein vom Gehirn in allen Stücken abweichendes Verhidten. 
Alle der Hirnkurve entsprechenden grösseren undulatorischen Volumschwankungen fallen am Vorder- 
arm weg. Die Armkurve verläuft, abgesehen von einzelnen aperiodischen Unregelmässigkeiten, 



^°- '» ^5U7 ^ "' *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 33 



welche auf Maskelanrahe zurückzuführen sind (Bi u. Bs), ziemlich in einer Horizontalen. Auf dem 
im allgemeinen gleichbleibenden Niveau heben sich zeitweise jedoch geringste Volumschwankungen 
periodischen Charakters ab, welche weder mit den am Gehirn hervortretenden grossen Undulationen 
noch mit den respiratorischen Phasen sich decken. Etwa vom i8. Pulse ab nach Beginn der Kurve 
treten ohne nachweisbare Ursache sanfte Wellenbewegungen der Niveaulinie des Armplethysmogramms 
auf, welche zunächst (Reihe A) zwischen 5 — 7 Pulsationen umfassen, später (Reihe B) länger werden 
and sich über 9 — II Pulse erstrecken. Respiratorische Oscillationen , welche mit den Atem- 
schwankungen des Gehirns zusammenfallen, fehlen an der Armkurve. Die stärkeren einmaligen 
Volumschwankungen bei Bi und B2 stammen von unwillkürlichen Bewegungen des im Plethysmo- 
graphen befindlichen Armes her. 

Stellen wir nochmals die an letzterer Kurve beobachteten Verhältnisse zu- 
sammen, so können wir in der Hauptsache eine absolute Unabhängigkeit der 
beiden Plethysmogramme des Hirns und Vorderarms sowohl was das Gesamt- 
volumen wie die einzelnen Schwankungen der Pulsationen betrifft, konstatieren. 
Im besonderen sehen wir am Gehirn und Arm Pulsationen, Oscillationen und 
Undulationen ablaufen, welche weder ihren Bewegungsphasen, noch ihrer 
Höhe nach in irgend ein Verhältnis zu einander gebracht werden können. 
Am Gehirn sind steile Wellenbewegungen des Volumens von ungewöhnlicher 
Grösse, Höhendifferenzen zwischen 11 und 36 mm und in einer Länge von 
(22 bis 38 Pulsationen) durch die ganze Kurve vorhanden; am Armplethys- 
mogramme hingegen nur stellenweise sanfte Wellen, welche 5 — 10 Pulse um- 
fassen. Die Gehirnkurve zeigt wohl ausgebildete respiratorische Schwankungen, 
am Arm sind sie kaum angedeutet. Die Gehirnpulse machen überall einen 
typischen respiratorischen Wechsel ihrer Form, Grösse und Länge nach 
durch, während am Arm ein Einfluss der Atmung auf die Pulshöhe und 
Pulsform nicht zu erkennen ist. Am Gehirn prägen sich mit den Undula- 
tionen parallel gehende Modifikationen der Pulswellen aus im Sinne perio- 
discher Zu- und Abnahme der Pulshöhe (undulatorische Pulsschwankungen), 
welche am Arme fehlen und zwar ist mit dem Sinken der Volumenkurve 
des Gehirns jeweils ein beträchtliches Kleinwerden der Pulswellcn zu konsta- 
tieren, mit dem Anstieg dagegen werden die Pulsationen wieder ausgiebiger. 
Schliesslich sind an der Armkurve starke unregelmässige Ausschläge, durch 
motorische Unruhe bedingt, zu sehen (B i und B 2), die ohne jeden Einfluss 
auf den Verlauf des Gehirnplethysmogramms bleiben. 

Eine physiologische Erklärung dieser verschiedenartigen Erscheinungen 
schliesst sich am besten der von Mosso gegebenen Einteilung der Undulationen 
an. Mosso unterscheidet, wie wir wissen, ,, passive Undulationen", welche von 
einer Veränderung der Pulsationen nicht begleitet sind und durch vermehrten 
Zu- resp. Abfluss von Blut aus anderen Körperteilen entstehen, und zweitens 
„aktive Undulationen**, welche im Ablauf der Welle mit einer Kontraktion der 
Gefässwände und dadurch bedingten Verringerung der Pulshöhe einhergehen. 
Die mit den Wellen des Gesamtvolumens parallel verlaufende periodische Zu- 
und Abnahme der Pulsationshöhe in Kurve 95 spricht durchaus für eine aktive 
Undulation; die (primäre) aktive Kontraktion der Gehirngefässe bedingt Ab- 
nahme der Pulshöhe und dadurch verminderten Blutzufluss zum Gehirn, d. h. 
Abnahme des Gehirnvolumens, die darauf erfolgende Relaxation der Gefässwände 
bewirkt vermehrten Blutzufluss, Verstärkung der Pulsationen und damit zugleich 

Journal fijr Psychologie und Neurologie. Bd. I. 3 



34 DR. K. BRODMANN. "'''3? n.!Sw!!*^ 



und Neurologie. 



Vermehrung des Hirnvolumens. Dass es sich hierbei um einen rein lokalen, 
auf das Gehirn beschränkten vasomotorischen Vorgang- handelt, erkennen 
wir an dem Fehlen entsprechender Volumen- und Pulsschwankungen am 
Plethysmogramm des Arms. Derselbe Umstand beweist auch, dass nicht 
rhythmische Änderungen in der Ausgiebigkeit der Herzkontraktionen die Ur- 
sache der Schwankungen der Pulsationshöhe sein können. Welche inneren 
(physiologischen) Vorgänge aber in letzter Instanz diesen rhythmischen Inner- 
vationsanstössen der Vasomotoren des Gehirns zu Grunde liegen, lässt sich 
natürlich aus meinen Beobachtungen nicht entscheiden; selbst Mosso ist an 
deren Erklärung gescheitert. 

Kurve III (Tafel l A.) ebenfaUs bei ausgeprägt schläfriger, im übrigen aber ruhiger Stimmung 
aufgezeichnet, enthält nur das Hirnplethysmogramm. Die Kurve setzt sich aas anderthalb grossen 
wellenförmigen Erhebungen und Senkungen zusammen, welche als aktive Undulationen aufzufassen 
sind ; das Volumen steigt ausserdem als Ganzes etwas an. In Übereinstimmung mit Kurve 95 lässt 
auch diese Kurve den undulatorischen und respiratorischen Herzrhythmus deutlich feststellen, femer sind 
an ihr, wie in Kurve 95, nur graduell geringer, respiratorische und undulatorische Pulsformschwan- 
kungen zu erkennen. Was zunächst den Kinfluss der Undulationen anlangt, so ist unverkennbar, dass im 
Wellenthal die Pulsationen deutlich niedriger sind als auf der Höhe der undulatorischen Welle, es 
handelt sich also auch hier um aktive Undulationen ; der Herzrhythmus ist im aufsteigenden Schenkel 
beschleunigt und wird mit dem Beginn der Volumenschwankung im absteigenden Schenkel verlangsamt; 
wir haben also kürzere Pulse im aufsteigenden, längere Pulse im absteigenden Schenkel der Undalation. 
Die physiologische Wirkung der Atmung auf das Plethysmogramm macht sich hier in mehrfacher 
Richtung geltend. Zunächst sind auf die grossen undulatorischen Volumenschwankungen charakteristische 
respiratorische Oscillationen aufgesetzt. An den Oscillationen indessen ist eine charakteristische Gruppen- 
bildung von je 4 Pulsationen zu erkennen; dem aufsteigenden Wellenschenkel entsprechen 2 höhere 
und längere Pulse (der 2. Puls einer Atmungswelle ist durchweg der längste), dem absteigenden 
Schenkel 2 niedrige und kürzere Pulse. Auch die Pulsform beteiligt sich an der Gruppenbildung, 
indem jeder vierte Puls, und zwar durchgehends die Gipfelpulsation einer Oscillation von tricuspidaler 
Form ist, während die anderen ausgesprochen katakrot sind. 

Kurve 157 (Tafel 6 A, Schlussstrecke). Der Anfang der Kurve ist im leichten Schlaf auf 
genommen. Während der Aufzeichnung ist Th. langsam aufgewacht (bei ^i); nach dem Erwachen 
ist leichte Schläfrigkeit zurückgeblieben. Die Himkurve zeigt jetzt grosse undulatorische Schwankungen. 
Diese Volumenschwankungen sind passive Undulationen und unterscheiden sich in keiner Weise von 
den vor dem Erwachen im Schlafe bereits bestehenden. 

Dasselbe Verhalten ist an Kurve 164a (Tafel 4 E) zu beobachten. Ausser regelmässigen sanften 
Undulationen von 16 Pulsationen (auf der Tafel ist nur eine solche Undulation ganz abgebildet), 
bestehen hier respiratorische Oscillationen mit deutlichem respiratorischem Herzrhythmus (wie in 
Kurve iii) aber ohne undulatorischen Wechsel der Pulslänge. Die Pulsform ist im Gegensatz zu 
K. 95 und III rein tricuspidal; eine von der Atmung abhängige periodische Veränderung derselben 
ist darin zu erblicken, dass die im aufsteigenden Schenkel einer Atmungswelle liegenden Pulse etwas 
höher sind, die anakrotische Elevation an diesen 2 Pulsen relativ niedrig, an den 2 anderen relativ 
höher liegt. Ks würde demnach hier der inspiratorischen Phase einer Oscillation entsprechen: die 
grössere Pulsfrequenz, geringere Höhe der Pulsationen und ein Höherliegen der anak roten Elevation 
des tricuspidalen Pulses. 

Auch Kurve 172 (Tafel 4 C) ist bei Schläfrigkeit registriert. Dabei bestand hier zugleich 
eine Unluststimmung. Die Undulationen sind dementsprechend weniger regelmässig wie in 164 a 
die res{)iratorischen Oscillationen umfassen im allgemeinen nur 3 Pulse, lassen also auf eine 
beschleunigte Atmung schliessen. Pulsschwankungen sind nicht zu erkennen, die Pulslängen lassen 
sich nicht ausniessen, da infolge einer Störung am Apparat die Zeitmarkierung ganz ungleichmässig 
ist. Bei R. seufzt Th. und macht forcierte, tiefe Atemzüge. Die dadurch verursachte Entstellung der 
Kurve ist nur eine unbeträchtliche und besteht in einem kurzdauernden Ansteigen und Abfiülen des 
Volumens bei höheren Pulsationen; im übrigen erfahren die Volumenschwankungen keine Unter- 



^^* '* ^t^ ^ "' *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 35 



brechung durch die tiefe Atmung, die undulatorische Wellenbewegung verläuft vielmehr nach wie 
vor weiter. 

Als Ergebnis dieser Beobachtung möchte ich hervorheben, dass bei Th. 
die plethysmographischen Verhältnisse des Gehirns und Vorderarms unter 
Schläfrigkeit sich in keinem wesentlichen Punkte von den unter normalen 
Bedingungen des Wachseins aufgenommenen Volumkurven unterscheiden. 
Dieselben spontanen Schwankungen, die wir an den Kurven des „Normal- 
zustandes" kennen gelernt haben, lassen sich auch bei Schläfrigkeit nach- 
weisen. Nur insofern besteht eine gewisse Abweichung, als im allgemeinen 
bei Schläfrigkeit eine vermehrte Neigung zum Auftreten von grosseji 
undulatorischen Wellenbewegungen des Gehirnvolumens zu konsta- 
tieren war. In diesem Punkte stehen unsere Feststellungen in Übereinstimmung 
mit den von Lehmann gemachten Beobachtungen am Armplethysmogramm. 
Lehmann behauptet von seinen Versuchspersonen, dass überall, wo schwankende 
Bewusstseinszustände bestehen, welche die Aufmerksamkeit nicht zu fesseln 
vermögen, Undulationen bei vermehrtem Armvolumen und verstärkten Puls- 
schlägen sich finden. („Die körperlichen Äusserungen ..." S. 60.) Bezüglich 
des Hirnvolumens können wir diese Ansicht nur bestätigen; so oft Kurven bei 
schläfriger Stimmung aufgenommen wurden, traten mehr oder weniger starke 
teils aktive, teils passive Undulationen am Gehirn hervor. Hierin jedoch ein 
grundsätzliches physiologisches Unterscheidungsmerkmal vom Plethysmogramm 
des normalen Wachzustandes erbHcken zu wollen, wäre entschieden irrtümlich, da 
wir nicht selten auch im normalen Wachsein starke undulatorische Schwankungen 
an der Gehirnkurve Th.'s gesehen haben. Immerhin stammen die ausgiebigsten 
Wellenbewegungen des Gehirns bei Th. von Zuständen der Schläfrigkeit resp. 
des Halbschlafs (vgl. Kurve 95, iii, 157). Am Armvolumen haben sich bei 
unserer Versuchsperson überhaupt kaum je Undulationen nachweisen lassen. 
Die Gründe hierfür kenne ich nicht; vielleicht hängt es damit zusammen, 
dass die Versuchsperson, sobald der Hydroplethysmograph am Vorderarme 
angelegt wurde, in einen abnormen Gemütszustand (wahrscheinlich Spannung 
infolge der Unbequemlichkeit) versetzt wurde, welcher die Ausbildung von 
grossen wellenförmigen Bewegungen des Volumens verhinderte. In der That 
haben wir, wie schon oben angedeutet, in der ersten Zeit der Versuche, so 
lange Arm- und Hirnvolumen gleichzeitig registriert wurden, auch am Gehirn 
viel seltener und viel weniger ausgiebige Undulationen erhalten, als später, wo 
die Gehirnbewegungen allein aufgezeichnet wurden. 

Über die relative Höhe des Volumens sowie über die Verstärkung der 
Pulsationen bei Schläfrigkeit (Lehmann) Hessen sich nur dann sichere An- 
gaben machen, wenn es möglich wäre, den Übergang aus normalem Wachsein 
in einen schläfrigen Zustand durch permanente Registrierung zu verfolgen. 
Dazu fehlten uns die nötigen Einrichtungen. Wir können nur indirekt aus 
den plethysmographischen Vorgängen beim Einschlafen schliessen, dass 
auch die Schläfrigkeit durch eine relative Vermehrung des Hirnvolumens 
ausgezeichnet ist. Dass zugleich das Arravolumen eine Neigung zum An- 
steigen hat, wie auch Lehmann behauptet, geht aus Kurve 63 a und b und 
91 c hervor (Tafel 6 D und 4 B). 



36 DR. K. BRODMANN. ■"»™»' L^ÄI»«'« 



und Neurologie. 



Die Höhe der Pulsationen war bei Th. meist relativ gross, aber nicht 
immer übereinstimmend am Arm- und Gehirnplethysmogramm ; in Kurve 95 
(Tafel 5 A u. B) z. B. sind die Hirnpulse, wenigstens auf der Höhe einer 
Undulation, ungewöhnlich hoch und spitz, die Armpulse dagegen kaum 
mittelgross ; umgekehrt bestehen in Kurve 92 a (5 C) während Schläfrigkeit an 
der Armkurve grössere pulsatorischc Wellen als an der Hirnkurve. 

Von den übrigen plethysmographischen Erscheinungen hebe ich an 
meinen Schläfrigkeitskurven ausdrücklich nervor: regelmässige respiratorische 
Oscillationen auch bei ganz ruhiger Atmung, ferner das häufige Vorkommen 
von respiratorischen und undulatorischen Pulsschwankungen (Kurven iii und 
95), sowohl hinsichtlich der Länge und Höhe, wie der speziellen Form einer 
Pulswelle und schliesslich die grosse gegenseitige Unabhängigkeit der Arm- 
und Himkurve in den einzelnen sphygmischen Erscheinungen. 

IV. Der Einfluss von Sinnesreizen auf das Gehirn- und Armvolumen im Schlafe. 

Schon Mays (27) beobachtete gelegentlich einen Einfluss äusserer Reize 
auf die Hirnkurven während des Schlafes. Es fiel ihm auf, dass oft zufällige 
Geräusche bei seinen Versuchspersonen im Schlafe ohne die geringste Änderung 
an der Hirnkurve verliefen, während ein andermal eine Steigerung des 
Volumens eintrat (Kurve 35 seiner Abbildungen). Bei der einen seiner Ver- 
suchspersonen war das Abfallen der Kurve auf äussere Reize eine so regel- 
mässige Erscheinung, dass nach Ansicht des Verfassers ein ursächlicher Zu- 
sammenhang nicht zu verkennen ist. Mays sucht die verschiedene Art, wie 
im Schlaf auf äussere Reize reagiert wird, von der Tiefe des Schlafes abhängig 
zu machen. Bei den Versuchspersonen Mossos hatte ein den Schlafenden 
treffender Sinnesreiz, wenn er nicht zum Erwachen führte, als konstante Er- 
scheinung eine Volumvermehrung des Gehirns und eine Höhenzunahme der 
Pulsationen im Gefolge (man vergleiche daselbst Tafel Vil Reihe 9 — 11, 
Tafel VIII Reihe 21, 24, 27, 28, Tafel IX Reihe 34 und Figur 24 u. 25). 
Bei seiner Versuchsperson Thorn war dieselbe von einer Änderung im 
Rhythmus der Herzschläge nicht begleitet, und Mos so meint daraus den 
Schluss ableiten zu können, dass die Volumenzunahme des Gehirns von der 
Kontraktion der Gefässe in den Extremitäten und anderen extracraniellen 
Köqjcrtcilcn abhänge. Die Kurve Bertinos jedoch lässt, was Mosso 
entgangen ist, durch genauere Ausmessung regelmässig eine geringe, den 
Reiz überdauernde Verlängerung der Hirnpulse auf einen Schlafreiz er- 
kennen. Dasselbe Verhalten ist an der Vorderarmkurve von Caudana bei 
dem Aufziehen des Breguetschen Uhrwerks (ohne Erwachen der Versuchs- 
person) zu sehen, verbunden mit gleichzeitiger Volumsteigerung und Ver- 
minderung der Pulshöhe. Auch bei der einen Versuchsperson von Mays 
lässt sich durch Ausmessung nachweisen, dass die Einwirkung eines aku- 
tischen Reizes auf den Schlafenden ausser der Volumenzunahme des Gehirns 
von einer Verlängerung der Pulse (Verminderung der Pulszahl) gefolgt ist, 
eine Thatsache, welche übrigens Mays übersehen zu haben scheint. Diese 
Beobachtungen stehen ganz im Einklang mit den Experimenten von Mentz, 



^' '* "902!^ ^ "' *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 3/ 



der bei akustischen Reizen zugleich mit der Empfindung eine regelmässige Ver- 
längerung des Pulses (und meist auch der Atmung) konstatierte. Auch bei 
Tasteindrücken findet nach Mentz im Schlafe eine Pulsverlängerung statt, 
welche einige Zeit den Reiz zu überdauern pflegt. 

Meine eigenen Feststellungen über die Einwirkung unter der Weck- 
schwelle bleibender Schlafreize auf die Cirkulationsvorgänge im Gehirn und 
Vorderarm sind in Tabelle I statistisch zusammengefasst. Im ganzen stehen 
mir 10 Einzelbeobachtungen zur Verfügung, darunter 4, in denen Arm- und 
Hirnkurve registriert wurde, 2 mit gleichzeitiger Aufzeichnung der Atmung. 
Alle nicht absolut eindeutigen Fälle, z. B. den Einfluss des im Beginn jedes 
Versuches durch das Ingangsetzen des Kymographions verursachten Geräusches 
habe ich unberücksichtigt gelassen. Es stehen mir zahlreiche Beobachtungen zur 
Verfügung, wo eine Kurve bald mit einer Senkung, bald mit einem Anstieg be- 
ginnt Gerade hier wäre es häufig schwierig zu sagen, ob die Volumschwankung 
einer spontanen negativen oder positiven Welle entspricht oder durch die 
vom Uhrwerk herrührende akustische Reizeinwirkung veranlasst wurde. 

Kurve 18 a (Tafel 5 E) in oberflächlichem Schlafe bei Rückenlage registriert. Die Atmung 
ist tief und regelmässig, Hirn- und Armvolumen gleichbleibend unter geringen respiratorischen 
OsciUationen ; bei ^ werden in Pausen von 2 Sekunden Glockensignale am Metronom ausgelöst, 
die Atmung wird darauf langsamer und flacher, das Himvolumen sinkt langsam minimal und steigt 
später wieder, das Aimvolumen bleibt auf derselben Höhe, zeigt aber vom Reiz ab keine Atmungs- 
schwankungen mehr. Die Armpulse sind deutlich kleiner, werden später wieder höher. Die un- 
mittelbar nachher aufgenommene Strecke b (5 E) zeigt die Veränderungen bei einem Stich. 

Kurve 51 (nicht abgebildet) ist 45 Minuten nach einer Ergotininjektion , nachdem bereits 3 
andere Kurven vorangegangen waren, niedergeschrieben. Strecke a entspricht einem leichten ruhigen 
Schlaf. Nach einer Pause von einigen Minuten, während welcher Th. ruhig schlief, wird Strecke b 
aufgenommen. Es erfolgt zunächst an der Hirnkurve eine sanfte positive Welle mit raschem AbfaU, 
wahrscheinlich dadurch bedingt, dass Versuchsperson durch das Geiäuch etwas wacher geworden ist. 
Die Atmung mitteltief und gleichmässig, erleidet keine sichtbare Veränderung. Die Armpulse sind etwas 
unregelmässig, das Armvolumen bleibt gleich, zeigt aber respiratorische Schwankungen, welche an der 
Himkurve fehlen. Die Pulsfrequenz, erst etwas beschleunigt, nimmt nach ca. 8 Pulsen langsam aber 
deutlich ab, was ebenfalls für ein vorübergehendes Wachwerden im Beginne spricht. Bei ^ 1 berühre ich 
die Versuchsperson mit einem Haarpinsel leise an der Wange. Eine merkliche äussere Reaktion 
derselben erfolgt nicht, doch zeigen die Aufzeichnungen, dass der Reiz von dem Schlafenden perci- 
piert worden ist. Die Atmungskurven werden unregelmässig, die Armkurve sinkt etwas ab, die 
Pulsationen des Armes sind momentan höher geworden. Das Hirnvolumeu macht eine leichte 
positive Welle über 15 Pulse durch, die Pulslänge ist beträchtlich und momentan vergrössert und 
kehrt erst allmählich zur ursprünglichen Frequenz zurück. 

Kurve 91a nach K. 90 geschrieben (Tafel 4 A.). Th. schläft tief und ruhig. Die Hirnkurve 
beginnt mit einer starken undulatorischen Senkung des Volumens und geringen respiratorischen 
Schwankungen und Pulsveränderungen. Die Armkurve verläuft im ganzen horizontal unter respira- 
torischen OsciUationen, die Pulse sind etwas ungleich. Bei ^ i Pinselberührung ohne äussere Reaktion, 
die Himkurve steigt momentan riemlich steil an und bleibt höher. Die Pulsationen werden niedriger, 
die Pulsfrequenz ist erst beschleum'gt, dann wieder langsamer. Die Armkurve sinkt unwesentlich 
allmählich ab, ihre Pulsationen werden sehr hoch. Bei ^^ erfolgt dann Erwachen durch Anruf 
mit charakteristischem Abfall des Hirnvolumens. 

Kurve 91b (Tafel 4 B.). Die Strecke ist kurz nach a und nachdem Th. in der Pause wieder 
eingeschlafen war, aufgezeichnet. Es gehen zunächst stärkere Spontanundulationen der Hirnkurve 
vorher, auch etwas Schlafunruhe prägt sich in den unregelmässigen und entstellten Armpulsen aus. 
Arm- und Hirnkurve verlaufen dann 9 Pulse horizontal, letztere zeigt respiratorische Schwankungen. 
Bei ^i räuspere ich mich laut, ohne dass Th. erwacht, und sofort tritt ein starker AbfaU des Arm- 



38 DR. K. BRODMANN. •'"Tod'N.Ät*" 



und Neurologie. 



Volumens anter sehr hohen zittrigen Pulsen ein, während das Hirnvolumen ganz allmählich aber 
deutlich ansteigt bis zum Weckreiz (|«), der die typischen plethysmographischen Wirkungen hervor- 
ruft. Die Pulsfrequenz wird auch hier etwas beschleunigt auf den akustischen Reiz. Es Hesse sich 
denken, dass dieser im Schlafe zu einer affektvollen Traumerregung geführt hat. 

Kurve 137a (Tafel 7 F) 2 h. p. m. (i Stunde nach dem Essen). Th. schläft seit ca. */j Stande 
mit Unterbrechungen, 2 Kurven sind bereits geschrieben; bei Beginn der Kurve ist er ziemlich tief 
eingeschlafen und verhält sich völlig ruhig. Die Hirnkurve beginnt mit einer kurzen Hebung und 
Senkung (8 Pulse), wahrscheinlich als Reaktion auf das Geräusch des Uhrwerks. Nachdem dann 
10 Sekunden ein ganz horizontaler Verlauf der Volumkurve aufgezeichnet ist, berühre ich leise die 
Wange des Schlafenden mit einem Pinsel. Sofort steigt das Volumen unter beträchtlicher Puls- 
verlungsamung sanft an und fallt ebenso wieder ab unter zunehmender Pulsbeschleunigung (Welle 
von 24 Pulsen). Die Volunisenkung ist tiefer als vor Einwirkung des Reizes. Die Pulsationen sind 
im allgemeinen höher geworden, behalten aber die typische tricuspidale Form bei. 

Kurve 149, früh 6 V/2 Uhr in leisem Schlafe geschrieben, zeigt auf einen Sinnesreiz an der 
Himkurve ebenfalls eine aus ganz horizontalem Verlauf sich erhebende positive Welle mit 
stärkerem Abfall, die sofort mit dem einwirkenden Reiz (Nadelberührung am Ohr) beginnt. Massige 
Pnlsverlängerung im an- und beträchtliche Pulsbeschleunigung im absteigenden Schenkel der Welle; 
gleichzeitig mit der Volumenzunahme prägen sich an der Kurve auch stärkere respiratorische Oscilla- 
tionen aus. 

Nicht so klar liegen die Verhältnisse, wenn die Kurve grosse Spontanschwankungen aufweist 
wie in Kurve 153, 156 und 160. Entweder bleiben die Undulationen unbeeinflusst durch den Reiz 
oder es findet in dem an- resp. absteigenden Kurvenschenkcl eine geringe Unterbrechung der Linie statt 
und es bildet sich eine sekundäre Welle aus mit leichtem Anstieg. Kurve 156 (Tafel 6 C.) zeigt 
den Einfluss wiederholter taktiler Reize bei j^i, ^2 und ^3. Das Hirnvolumen steigt anhaltend an 
und sinkt erst mit dem Erwachen 'J'4 stark ab. Kurve l6oc (Tafel 8 F.) zeigt ähnliche Verhältnisse. 

Das Ergebnis aus den 10 Einzelbeobachtungen ist also folgendes: Nur 
in einem Falle findet eine minimale Volumabnahme des Gehirns bei Ein- 
wirkung eines unterschwelligen Reizes im Schlafe statt (C 18 Taf. 5 E), 
7 mal steigt das Volumen mehr oder weniger beträchtlich an and fällt wieder 
ab, 2 mal bleiben die schon vorher vorhandenen Wellenbewegungen unbe- 
einflusst. Das Armvolumen verhält sich in den 4 Fällen, in denen es registriert 
wurde, verschieden: 3 mal ist es ohne merkliche Veränderung, i mal fällt 
es deutlich ab. Die Pulse werden meist unregelmässiger, besonders am 
Armplethysmogramm. Die Hirnpulsationen sind in der Mehrzahl der Fälle 
höher, nur 2 mal deutlich niedriger, auch der Armpuls wird 2 mal auf den 
Reiz hin stark erhöht. Die Pulsfrequenz ist 6 mal verlangsamt, 3 mal etwas 
beschleunigt, i mal unverändert. Respiratorische Oscillationcn treten nach 
dem Reiz zweimal in verstärktem Masse auf 

Im allgemeinen lässt sich sagen, dass dieses Ergebnis in der H.iupt- 
sache in Übereinstimmung steht mit dem, was Andere berichtet haben. Mosso 
meint, dieselben Veränderungen, die in unserem Körper während des Wachens 
durch die geistige Thätigkeit hervorgebracht werden, wiederholen sich auch im 
Schlafe bei äusseren Einwirkungen auf unsere Sinnesorgane. Ein beliebiger 
Sinneseindruck sei im stände, den Rhythmus der Atmung zu ändern, Kon- 
traktion der Vorderarmgefässe, Vermehrung des Blutdruckes und verstärkten 
Blutzufluss zum Gehirn zu veranlassen und die Frequenz der Herzschläge zu 
erhöhen. Als konstanteste Erscheinung sahen wir bei unserer Versuchs- 
person die Volumvermehrung des Gehirns und, im Gegensatz zu Mossos 
Angabe mit Mentz, eine wenigstens anfängliche Verlangsamung der 
Herzthätigkeit mit nachheriger Beschleunigung. Nicht so konstant 



^^' '* ^^0^^ ^ "' *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 39 



ist die Abnahme des Armvolumens und die Steig^erung der Hirn- 
pulsationen bei unserer Versuchsperson. Wie gross die Übereinstimmung 
zwischen den plethysmographischen Folgewirkungen von Sinnesreizen im Wachen 
und Schlafen ist, geht aus zahlreichen meiner Kurven hervor. Man vergleiche 
nur Kurve 92 (Tafel 5 C) welche bei Schläfrigkeit aufgenommen wurde, mit 
den Schlaf kurven 91 a u. b. In beiden Fällen tritt auf einen ähnlichen Reiz 
eine Vermehrung des Hirnvolumens mit Verminderung des Armvolumens ein. 
Später werden wir die gleiche Übereinstimmung hinsichtlich der sphyg- 
mischen Begleiterscheinungen von Schmerzreizen finden, welche das eine Mal 
im Wachen, das andere Mal im Schlafe ausgelöst werden und zum Er- 
wachen führten. Auch das sog. Latenzstadium, d. h. ein längeres Ausbleiben 
der Veränderungen an den Volumkurven nach Einwirkung eines Sinnes- 
eindruckes habe ich sowohl im Wachen wie im Schlafe bei Th. gesehen. 
Mo SSO, der das Latenzstadium ebenfalls verzeichnet hat, führt diese Er- 
scheinung darauf zurück, dass im Schlafe ein Keiz längere Zeit brauche, 
um zur bewussten Perception zu gelangen als im Wachen. Diese Deutung 
ist jedenfalls nicht zutreffend; wir finden z. B. an Kurve 92 im Wachen (bei 
Schläfrigkeit) ein grosses, an 91 a im Schlafe gar kein solches Latenzstadium. 
Ob überhaupt ein wirkliches Durchdringen des Reizes zum Bewusstsein statt- 
finden muss, um die Volumen- und Puls Veränderungen hervorzurufen, muss 
noch als offene Frage gelten. Meine Versuchsperson bewahrte jedenfalls, 
soweit ich sie nach dem Erwachen daraufhin explorieren konnte, keine Er- 
mnerung an die während des Schlafes einwirkenden Sinneseindrücke. Sie 
gab stets an, tief geschlafen zu haben und durch den zweiten Reiz erweckt 
zu sein. Mosso berichtet, dass bei einer seiner Versuchspersonen der Schlaf- 
reiz im Traume eine charakteristische Umdeutung erfahren habe. Ähnliches 
konnte ich nicht feststellen. 

Es wäre nun noch die Frage zu streifen, ob diese plethysmographischen 
Veränderungen nicht einfach Folgeerscheinungen einer durch den Sinnes- 
eindruck bedingten Modifikation der Atmung seien. Dieser Auffassung wäre 
entgegenzuhalten, was schon Mentz zeigte, dass im Schlafe die Atmung 
auf ein Geräusch, im Widerspruch mit der regelmässigen Pulsverlängerung, 
auch frequenter und sogar höher werden kann, während doch nach der all- 
gemeinen Annahme Vertiefung und Beschleunigung der Respiration eine Pulsver- 
kürzung nach sich ziehen sollte. Aus Mossos Darstellung geht übrigens die 
Divergenz der Puls- und Atmungserscheinungen unwiderlegbar hervor. 

V. Das Einschlafen in seinen Wiricungen auf das Gehirn- und Arm- 

plethysmogramm. 

Die Registrierung der während des Einschlafens sich vollziehenden 
sphygmischen Erscheinungen begegnet natürlicherweise grösseren Schwierig- 
keiten als die der übrigen plethysmographischen Sclilafvorgänge, z. B. des 
ausgebildeten tiefen Schlafens oder gar des Erwachens. Die Gründe hierfür 
sind naheliegende. Sie beruhen in dem protrahierten, willkürlich nicht zu be- 
einflussenden Verlaufe des Vorgangs des Einschlafens und in der Eigenartig- 



40 DR. K. BRODMANN. '''"Zd n~Ä1°''' 



und Neurologie. 



keit des damit verbundenen Bewusstseinszustandes, welcher ein äusserst vor- 
sichtiges Experimentieren erfordert, wenn man nicht das Zustandekommen 
des Schlafes stören und den Versuch dadurch unterbrechen will. Ich besitze 
von Th. II Kurven, welche den Einfluss des Einschlafens auf die Volum- 
kurven zur Anschauung bringen, darunter 5 Kurven mit gleichzeitiger 
Registrierung des Arm- und Hirnvolumens. In Tabelle II sind alle während 
des Einschlafens an den Plethysmogrammen beobachteten Erscheinungen 
statistisch zusammengestellt. Abgebildet habe ich nur die Kurven 63 b (6 D), 
91 c (4 B), 137 (7 F u. A), 142 (7 D) und 142 b (8 A). 

Kurve 50 (unter Seealewirkung) veranschaulicht an der Grenze zwischen a und b die Volum- 
veränderungen, welche am Gehirn und Vorderarm durch das Einschlafen hervorgerufen werden. In a 
war Th. aufgeweckt worden; während einer Pause, in der die Trommel nicht rotierte, die Hebel 
aber in der ursprünglichen Lage weiter pulsierten, schlief er~^wieder ein. Nachdem aus dem ver- 
änderten Respirationstypus und dem absolut ruhigeren Verhalten der Versuchsperson geschlossen 
werden konnte, dass der Schlaf eingetreten war, wurde das Uhrwerk wieder im Gang gesetzt und 
Strecke b aufgezeichnet. Schon die ersten Pulsation lassen eine geringe aber deutliche Volum- 
vermehrung sowohl am Gehirn wie an der Extremität erkennen; beide Kurven sind über das Niveau, 
das sie im Wachen (Schlussteil der Strecke a) eingenommen hatten, gestiegen, beide verlaufen ohne 
wellenförmige Schwankungen, nur am Arm treten leichte respiratorische OsciUationen, welche im Wachen 
fehlten, auf. Eine Veränderung in der Lage des Patienten oder in der Stellung des Kopfes war 
nicht bemerkt worden. Am Schlussteil der Strecke b C. 50 sehen wir nochmals die Wirkung der 
Schläfrigkeit resp. des Einschlafens. Nachdem durch Klatschen wiederum Erwachen herbeigeftlhrt war, 
sehe ich nach 1 5 Sekunden, dass Th. die Augen schliesst und anfängt einzuschlafen. Ich mache die 
Marke 'Ja und kann von diesem Augenblick an die Zunahme des Hirnvolumens deutlich verfolgen 
bis zum Ende der Kurve. Das Armvolumen verändert seine Höhe nicht, doch treten wieder stärkere 
respiratorische Wellen auf; auch werden die Pulsationen am Arme niedriger, während sie an der 
Gehirnkurve aus der tricuspidalen in eine vorwiegend katakrote Form übergehen. Ein sicheres 
Urteil über das relative Volumen des Gehirns nach dem Einschlafen lässt sich an dieser Kurve nicht 
abgeben, da sowohl vor als nach der Marke "f 3 Wellenbewegungen bestehen, welche ebenso wohl 
als Spontanschwankungen aufgefasst werden könnten. Unzweideutig ist nur der Pulswechsel am 
Gehirn und das Auftreten verstärkter OsciUationen am Arm auf das Einschlafen zu beziehen. Dazu 
kommt eine massige Abnahme der Atemhöhe und der Atemfrequenz. 

In Kurve 63a (6 D) entspricht dem allmählichen Einschlafen nach dem Aufwecken bei ^i ein 
ebenso langsames Ansteigen des Hirnvolumens, das nach einer längeren Pause noch auf einer Höhe 
beharrt (Strecke b und c), welche das im Wachen innegehabte Niveau übersteigt. Auch das Arm- 
volumen ist etwas vermehrt, die Pulsationen sind höher. 

Kurve 91b zeigt die Verhältnisse des Erwachens unter Schreck und schmerzhafter Unlust. 
Da die Hirnkurve im Wachen infolge zu starken Absinkens des Hiruvolumens nicht mehr aufgezeichnet 
wurde, habe ich die Registrierung unterbrochen und beobachte eine längere Zeit ohne eine Ver- 
änderung an der Hebelstellung vorzunehmen die Schwingungen der Hebel und das Verhalten der 
Versuchsperson. Der Affekt verliert sich, und es stellt sich wieder Schlaf ein. Ich setze jetzt das 
Kymographion in Gang und lasse Strecke c in der ursprünglichen Hebelstclluug schreiben. Es 
findet ein starker Anstieg des Hirnvolumens während der Pause, in der Th. einschlief, statt; der- 
selbe beträgt im Minimum 24 mm, derjenige des Armvolumens 9 mm Höhendifferenz. Die Arm- 
pulsationen sind beträchtlich niedriger, die Hirnpulsationen wieder höher geworden. An Arm- und 
Himkurve treten ausgeprägte rhythmische Atmungschwankungeu, am Gehirn ferner un regelmässige 
undulatorische Wellenbewegungen auf, die Pulsverlangsamung mit Abklingen des Affektes und Wieder- 
einschlafen ist sehr erheblich. 

In Kurve 136 kann man den Einfluss des tieferen Einschlafens an dem Himplethysmogramme 
verfolgen: im Anfang der Registrierung niedriges Niveau und sanfte Undulation, mit Vertiefung des 
Schlafes steilere, grössere Wellenbewegungen und Höherwcrden des Gesamtvolumens (Übergang in 
Strecke b). 



^^' '* ^9M ^ "' ** PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 4I 



Auf Kurve 137 b (Tafel 7 A) ist die Wirkung des beginnenden Schlafes nach schreckhaftem 
Aufwecken zu sehen. Auf das tiefe Abfallen der Himkurve beim Erwachen (7 F 1 2) folgt zunächst 
(nach Offnen des Ventils) eine kurze Volumzunahme und eine langsame Volumverminderung. Marke ^^ 
bedeutet, dass Th. anfangt einzuschlafen. Die Kurve sinkt von da ab noch 6 Pulse und steigt 
dann sehr allmählich, aber kontinuierlich ohne grössere Schwankungen bis zum abermaligen Auf- 
wecken ("f 4)} das mit stärkeren Undulationen und Volumenabnahme verbunden ist, insgesamt 25 Pulsa- 
tionen an. Das Höher- und Längerwerden der Pulsationen ist hier sehr ausgeprägt und kommt 
wohl teils auf Rechnung des sich verlierenden Affektes, teils des Einschlafens. 

Weniger durchsichtig liegen diese Verhältnisse in Kurve 142 (Tafel 7 D), wo ebenfalls nach 
brüskem, affektvollem Erwachen Schlaf eintritt Auf die starke dem Ewachen entsprechende Volumen- 
verminderung folgen Undulationen, deren Wellenthäler jedoch nicht so tief liegen, wie der tiefste 
Punkt der Kurve im vollem Wachsein, zum wenigsten bt es nicht niedriger als nach dem Erwachen. 
Deutlicher lässt Strecke b derselben Kurve (Tafel 8 A) die Vermehrung des Gesamtvolumens 
während des Einschlafens erkennen. Der steilen Senkung (entsprechend einem vorübergehenden 
Wachwerden mit kurzem Augen aufschlag) schliesst sich hier ein dauernder Anstieg der Himkurve 
an, bis der Schlaf eingetreten ist. Die Abweichungen der Pulshöhe und Pulsfrequenz enthalten in 
Kurve 142 wenig Charakteristisches für das Einschlafen. Die erste Strecke (Tafel 7 D) ist kompli- 
ziert mit einem Affekt und sind die Pulsveränderungen auf das Abklingen desselben zu beziehen. 
An Strecke b (Tafel 8 A) sehen wir auf die mit dem Erwachen einhergehende Pulsverlangsamung 
eine unbeträchtliche Pulsbeschleunigung sich ausbilden, aber immerhin bleibt die Pulsfrequenz hinter 
der anfangs bestehenden zurück, das Einschlafen wäre also in diesem Falle mit einer relativen Puls- 
verlängerung verknüpft 

An Kurve 160 entspricht dem Vorgange des beginnenden Einschlafens zunächst eine sanfte 
Hebung des Gesamtvolumens; wo die Marke ^g steht, senkt Tb. den Kopf mid scheint einzuschlafen, 
sofort fallt die Kurve 7 Pulse steil ab, steigt dann gewaltig an, um nochmals etwas zu sinken imd 
auf einer mittleren Höhe, welche etwas über dem während des ganzen vorigen Experiments inne- 
gehabten liegt, stehen zu bleiben. 

Wir sehen aus der vorstehenden Zusammenstellung', dass, wie bei 
Schläfrigkeit, so auch während des Einschlafens das Hirnvolumen bei Th. 
ausnahmslos einen mehr oder minder starken Anstieg erfährt und dass auch 
das Armvolumen eine Tendenz zum Ansteigen erkennen lässt. Nur in 
Kurve 136 a ist eine deutliche Volumenvermehrung nicht nachweisbar, davon 
Anfang an zu starke Spontanschwankungen der Gesamtkurve bestehen; am 
grössten ist die Volumzunahme des Gehirns in Kurve 91 c, [42 b und 142. 
Das Armvolumen erfährt namentlich in 91 c zugleich mit dem Hirnvolumen 
eine unverkennbare Zunahme beim Einschlafen; ohne merkliche Volumver- 
änderung bleibt die Armkurve in 50 c und 63 a. Im allgemeinen treten mit 
dem Einschlafen am Gehirn stärkere respiratorische Oscillationen auf, in 
Kurve 137 werden dieselben am Gehirn ausnahmsweise geringer. Die Puls- 
frequenz erfahrt keine sichere Veränderung, viermal tritt Pulsverlangsamung 
(am stärksten in Kurve 91 c und 142 b), wahrscheinlich als Folge eines vor- 
ausgegangenen und jetzt abklingenden Affektes, ein einziges Mal (142 b) eine 
massige Pulsbeschleunigung ein. Die Einzelpulsationen am Gehirn werden 
durchweg höher, eine Ausnahme bildet nur 142 b, auch prägen sich an den 
Pulswellen beim Einschlafen wie bei Schläfrigkeit typische respiratorische 
Schwankungen aus. Die Armpulse werden zweimal höher, zweimal niedriger. 

Als konstante plethysmographische Symptome des Einschlafens 
in II Fällen unserer Beobachtung haben wir also bei Th. die Zunahme 
des Hirn- und häufig auch des Armvolumens gefunden, ferner das 
Grösserwerden der Hirnpulse und die Verstärkung der respirato- 



42 DR. K. BRODMANN. -"""rd viStli"''' 



und Neurologie. 



ri sehen Schwankungen. Dies deutet auf eine Vasodilatation des Gehirns 
und meist auch der Gliedmassen mit vermehrter Blutfüllung dieser Organe hin; 
zuweilen bestand allerdings neben der Ge fässers chlaffung mit Volumsvermehrung 
am Gehirn eine geringe, wie aus den kleineren Pulsationen zu entnehmen ist, 
durch primäre Gefässkontraktion bedingte Volumsverminderung des Vorder- 
arms während des Einschlafens. 



VI. Die plethysmographischen Erscheinungen während des Schlafes. 

Das Verhalten der Volumkurven im ruhigen Schlafe unterscheidet sich 
so wenig von demjenigen des Wachzustandes, dass ich glaube, auf eine Dar- 
stellung der speziellen Symptomatik aller Kurven im Einzelnen verzichten zu 
können. In Tabelle III sind die von unserer Versuchsperson aufgenommenen 
Schlafkurven mit den speziellen sphygmischen Erscheinungen zusammengestellt. 
Ich greife nur einige von diesen Kurven heraus, um einerseits das Überein- 
stimmende mit dem bei Th. im Wachen vorhandenen Verlauf der Plethys- 
mogramme zu zeigen, andererseits bestimmte Abweichungen von den typischen 
Kurvenbildern näher zu analysieren. Auch hinsichtlich der verschiedenen 
Schlaftiefe konnte ich keine durchgreifenden Differenzen an den Volumkurven 
Th's. feststellen. 

Kurve i8a (5£) in oberflächlichem Schlafe, bei ruhigem motorischem Verhalten der 
Versuchsperson registriert, zeigt von Anfange an (vor der Marke ^), regelmässige tiefe Atmung, ein 
durchaus gleichbleibendes Hirnvolumen ohne alle Schwankungen und kleine, regelmässige tricuspidale 
Pulsationen des Gehirns; am Plethysmogramm des Vorderarms rhythmische Atmungsschwankungen 
bei fast unverändertem Niveau des Volumens und regelmässige katakrote Pulse. Vergleichen wir 
damit Kurve l8b unmittelbar nachher, nachdem Th. aufgeweckt worden war, registriert, so finden 
wir, abgesehen von den vorübergehenden Veränderungen, welche durch das Erwachen bedingt 
wurden, in allen wesentlichen Punkten eine volle Übereinstimmung mit den sphygmischen Erscheinungen 
des Schlafes. Das Armvolumen im Wachen (l8b) lässt hier resp. Oscillationen vermissen. Über 
die relative Höhe des Volumens der beiden Kurven lässt sich aus diesen Aufzeichnungen nichts 
entnehmen, da in der Pause zwischen a und b die Hebel versteUt worden waren. 

Man vergleiche femer Kurve 62 und 64 (Tafel 2 E), welche beide in ruhigem Schlafe auf- 
gezeichnet sind, mit der bald darauf, nach eingetretenem Erwachen registrierten Kurve 65 (Tafel 2C). 
In aUen diesen 3 Kurven fmden sich die verschiedenen Kombinationen von Spontanschwankungen der 
Organpulse, die wir früher besprochen haben. Kurve 62 zeigt undulatorische und respiratorische 
Schwankungen des Volumens an beiden Plethysmogrammen, Kurve 64 nur am Gehirn, während das 
Armvolumen ohne alle Schwankungen verläuft, Kurve 65 schliesslich zeigt im Schlafe Undulationen 
und Oscillationen des Hirnvolumens, dagegen nur OsciUationen des Armvolumens. An allen 
3 Kurven, am deutlichsten an Kurve 62 und 65, ist der Einfluss der Volumschwankungen auf die 
Form und Grösse der einzelnen pulsatorischen Erhebungen zu sehen. 

Desgleichen beachte man Kurve 63 a und b (Tafel 6 D). Beide zeigen im Schlafe respira- 
torische Oscillationen am Gehirn und Vorderarm, während das Gesamtvolumen keine Niveauver- 
änderungen durchmacht. 

Dasselbe Bild zeigt Kurve 7 (Tafel 2 D) im Wachzustande (Atmungsschwankungen beider 
Volumkurven ohne Undulationen) und in stärkerer Ausprägung 

Kurve 73 (3 C), hier mit typischem respiratorischem Pulsformwechsel. 

Man halte ferner Kurve 67 und 70 (8 C und D) der Kurve 71 (3A) gegenüber. Die 
beiden ersteren sind im tiefen Morphiumschlafe aufgenommen, die letztere ebenfaUs unter Morphium^ 
Wirkung unmittelbar nach 70, aber im Wachsein der Versuchsperson. AUe 3 Kurven zeichnen sich 
dadurch aus, dass sie keinerlei spontane Schwankungen des Volumens aufweisen. Die Überein- 
stimmung zwischen Kurve 70 und 71, erstere vom Schlafe, letztere vom Wachsein, ist hier sogar 



^^' '* ^iw^ ^ "' *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 43 



noch grösser als diejenige zwischen den beiden Schlafkurven 70 und 67 ; C 70 und 7 1 sind durch sehr 
hohe, wohlausgebildete tricuspidale Hirnpulsationen ausgezeichnet, während die Pulswellen in C 67 
flacher und von weniger charakteristischer Form sind. Auffallend sind in Kurve 67 die Ver- 
änderungen, welche an den Pulsationen des Gehirns beim Aufwachen und nach dem Erwachen 
hervortreten. Unmittelbar nach dem Weckreiz ^1, ist am Gehirn eine deutliche Vasokonstriktion 
mit Kleinerwerden der Pulswellen über ca. to Pulse zu sehen, während nachher im Wachzustande 
die Pulsationen höher sind als im Schlafe und einen typischen respiratorischen Formwechsel mit 
respiratorischem Herzrhythmus, welcher im Schlafe fehlte, erkennen lassen. Das Armvolumen steigt 
in dieser Kurve beim Übergange aus dem Schlafe zum Wachen an. 

Kurve 91 c (Tafel 4 B) kurze Zeit nach eingetretenem Erwachen (91 b | 2) bei Schläfrigkeit 
registriert, stimmt bezüglich der einzelnen sphygmJschen Erscheinungen ganz mit den Kurven 91 
a und b, erstere aus tiefem, letztere aus weniger tiefem, etwas unruhigem Schlafe stammend, überein. 
Man vergleiche die Anfangsstrecken von 91 a und b auf der Tafel 4, bevor die Schlafreize ein- 
wirkten, mit 91 c; man findet in allen Versuchen übereinstimmend Atmungsschwankungen von Gehirn 
und Vorderarm, kombiniert mit undulatorischen Wellenbewegungen am Gehirn. 

Halten wir aus den späteren Versuchen, wo nur die Hirnbewegungen aufgezeichnet wurden, 
die Schlafkurven 137 a (7 F), 142 a und b (7 D und 8 A), i6oa und c (8 B und F), 161 (7 E) 
und 163 (7B), der im Wachen aufgenommenen Kurve 135 (Tafel 7C und 8 E) gegenüber, so 
sehen wir auch hier, soweit nicht experimentelle Eingriffe im Verlauf der Registrierung stattgefunden 
haben, bezüglich der einzelnen plethysmographischen Symptome keinerlei principiellen Unterschiede. 
Sowohl im Wachen wie im Schlafe treten gewaltige undolatorische Hebungen und Senkungen des 
Himvolumens bald mit, bald ohne Atmungsschwankungen auf. Die einzelnen pulsatorischen Er- 
hebungen sind hoch mit schön ausgebildeten sekundären Elevationen. Die spezielle Form der 
Pulsationen ist hier wie dort die tricuspidale. Respiratorische Formschwankungen der Pulswellen 
kommen nur selten und iu schwacher Andeutung vor. 

Eine genauere Besprechung erfordern die Kurven 156 und 157 wegen der an ihnen auf- 
tretenden ungewöhnlichen Schwankungen. 

Kurve 157 (Tafel 6 A). Th. ist oberflächlich eingeschlafen, verhält sich ganz ruhig, der 
Kopf ist leicht nach vorne gesunken und zeigt Retropulsionen, die Atmung zeigt den Typus des 
Schlafens. Zunächst registriere ich eine längere, auf Tafel 6 nur mit 7 Pulsen abgebildete Strecke, 
welche keinerlei Schwankungen aufweist. Das Volumen bleibt absolut gleich ohne respiratorische 
Schwankungen. Die Pulsationen sind hoch und typisch tricuspidal von grosser Regelmässigkeit. 
Ohne irgend erkennbare äussere Veranlassung und bei unveränderter Atmung werden nun die Pulsationen 
des Gehirns plötzlich viel niedriger; die Höhe einer Pulswelle beträgt kaum mehr die Hälfte der 
vorigen Pulsationen, gleichzeitig beginnt das Gesamtvolumen starke undulatorische Schwankungen 
durchzumachen. Auch die Pulsfrequenz erfahrt eine deutliche Veränderung, zunächst im Sinne 
einer Beschleunigung, dann einer Verlangsaniung. Die Verkleinerung der Pulse besteht über 
24 Herzschläge zunächst bei niedrigem Durchschnittsniveau, dann im ab- und schliesslich im auf- 
steigenden Schenkel einer Undulation. Bei der Marke |l nähere ich dem Ohre des Schlafenden 
eine tönende Stimmgabel (c), sofort werden die Pulsationen höher, ohne die ursprüngliche Höhe zu 
erreichen, und frcquenter. Das Hirnvolumen bleibt 6 Pulse im Scheitel der Undulation annähernd 
unverändert. Th. wacht unter Verstärkung des Stimmgabeltones langsam auf und nickt beim Er- 
wachen leise mit dem Kopf. Von da an beginnt das Volumen stark zu sinken und die Pulsationen 
werden höher und steiler. Ein zweiter akustischer Sinnesreiz, durch eine Stimmgabel (C3) hervor- 
gerufen, veranlasst ein weiteres Sinken der Kurve, während die Pulse niedriger und noch frequenter 
werden. Das Volumen des Gehirns ist jetzt nach dem Erwachen geringer, als das ursprüngliche 
Volumen im Schlafe am Beginn des Versuches war. Unter dem Einfluss psychischer Thätigkeit 
erfährt dann im weiteren Verlaufe des Versuches (der nicht abgebildet ist) das Gehhrn wieder eine 
stärkere Zunahme seines Volumens. 

Kurve 156 a und b (6 B und C) _wurde vor der Kurve 157 unter denselben Bedingungen 
wie diese, aber in tieferem Schlafe aufgenommen. Das Hirnvolumen zeigt hier von Anfang an, 
trotz der Tiefe des Schlafes, ungewöhnlich starke undulatorische Schwankungen (passive Undu- 
lationen Mossos). Die Kurve beginnt auf der Höhe einer Undulation mit mittelhohen Pulsen, 
senkt sich dann, indem die Pulsationen zunächst höher und länger werden, unter leichten, sekun 



44 DR. IC BRODMANN. J°"™;' ^ Psychologie 

* ^ und Neurologie. 

dären Undulationen, welche i8 — 24 einzelne Pulsschläge umfassen, über etwa 70 Pulse (bis zum 
Ende der Reihe B in Tafel 6), um dann bis zum Aufwachen (Reihe C ^ 4) etwas rascher wieder 
auf das erste Niveau anzusteigen. In Reihe B sehen wir nun während des Schlafes neben den hohen 
Schwankungen des Gesamtvolumens und leichten respiratorischen OsciUationen plötzlich ganz ungewöhn- 
liche periodische Schwankungen der Pulsationen, ähnlich der einmaligen Variation der Pulshöhe und Puls- 
form^in Kurve 157, eintreten. Die Pulsationen werden hier im Gipfel der dritten Undulation vom 
Beginn der Aufzeichnung an plötzlich so klein, dass man kaum mehr eine Pulswelle erkennen kann, 
gleichzeitig findet eine starke Frequenzsteigerung des Herzens statt. Nach 3 Herzkontraktionen nehmen 
diePulsationen unter starker Volumenverminderung des Gehirns wieder aUmählich an Höhe und Länge 
zu und erreichen im Wellenthal der Undulation ihre grösste Höhe. Indem das Volumen sodann wieder 
langsam ansteigt, tritt im aufsteigenden Schenkel der undulatorischen Welle eine zweite, der vorigen 
ähnliche Schwankung an den Pulsationen ein, nur dass hier die Schwankung, das Kleinerwerden 
der Pulswellen, zunächst mit einer über 3 Pulse sich erstreckenden Frequenzabnahme einhergeht. 
Vom dritten Pulse ab beginnt eine starke Frequenzsteigerung, die Pulsationen nehmen zugleich 
wieder allmählich an Höhe zu, und steigt das Volumen mit zunehmender Pulshöhe beträchtlich 
an, um nach 8 Pulsen langsam zu sinken, während jetzt die Pulsfrequenz wieder abnimmt. Das 
Wellenthal ist wie vorher durch hohe und lange Hirnpulse ausgezeichnet. Im daran sich an- 
schliessenden zweiten Teile der Kurve (Reihe C), während das Volumen gewaltig ansteigt, bleiben 
solche Variationen der Pulswellen aus. Wir sehen an dieser Reihe C den Einfluss unterschwelliger 
Schlafreize (|i, ^2, ts^ ^^^ Erwachens (|^) und eines Affektes (^s) auf das Gehirnvolumen. 
Bei ^fi versetze ich der Versuchsperson unmittelbar nach dem Erwachen einen derben Nadelstich. 
Sie fährt erschreckt zusammen und zeigt Unwillen. Dem reflektorischen Zusammenfahren mit An- 
spannen der Muskulatur entspricht ein momentanes Auf- und Abschnellen des Himvolumens; darauf 
findet eine zweite starke, 7 Pulse dauernde Vermehrung des Volumens mit Pulsbeschleunigung statt und 
daran erst schliesst sich eine definitive und anhaltende Volumen Verminderung an. Die Kurve sinkt 
jetzt, obwohl schon beim Aufwachen ein starker Abfall stattgefunden hatte, so weit, dass ich durch 
Öffnen des Ventils (V) einen Ausgleich des negativen Druckes im Tambour herbeiführen muss. 
Später nimmt das Volumen wieder zu, bleibt aber relativ niedriger als im Schlafe. Nach Abklingen 
der affektiven Erregung beobachte ich nun nochmals, während des Wachzustandes, 2 rhythmische 
spontane Pulsschwankungen an der Hirnkurve, analog den vorher im Schlafe aufgetretenen. In der 
Tafel 6 ist nur eine solche Schwankung (am Ende der Reihe C) angedeutet. Beidemal findet im 
absteigenden Schenkel einer undulatorischen Welle ein plötzliches Kleinerwerden der Pulshöhe statt, 
worauf wieder eine allmähliche Zunahme der Pulshöhe folgt. Über das Verhalten der Pulsfrequenz 
während dieser letzteren Schwankungen kann ich keine Angaben machen, da die Zeitregistrierung 
mit dem Ablauf des Uhrwerks unregelmässig geworden war. Eine erkennbare äussere Ursache 
für das Zustandekommen der genannten Puls Variationen konnte ich auch hier nicht auffinden. 

Die Erkenntnis, die wir aus den Kurven dieser Gruppe gewinnen, ist eine 
relativ geringe. Was zunächst die Grösse des Gesamtvolumens von Gehirn 
und Vorderarm betrifft, so geben uns die Kurven keinen direkten Aufschluss 
über die im Schlafe vorhandene relative Blutmenge der einzelnen Organe. 
Wir können nicht erkennen, ob das Ilirnvolumen im Schlafe grösser oder 
geringer ist als im Wachen, ob also während der Dauer des Schlafes das 
Gehirn durch vermehrte und die Extremitäten durch verminderte Blutfüllung 
ausgezeichnet ist, oder ob es sich gerade umgekehrt verhält. Unmittelbaren 
Aufschluss hierüber vermögen wir nur mit Hilfe einer permanenten Puls- 
schreibung zu erhalten. Mittelbar können wir sie aber auch aus unseren Ver- 
suchen schliessen und zwar aus dem Verhalten der Organkurven beim Über- 
gange von einem Zustande in den anderen. Nun haben wir aber gesehen, 
dass beim Einschlafen das Gehirnvolumen Th's. stets eine Tendenz zum Grösser- 
werden hat; wir dürfen daraus entnehmen, dass das Einschlafen von vermehrter 
Blutfülle des Gehirns, sei es arterieller Hyperämie oder venöser Stauung, begleitet 
ist. Auf der anderen Seite fanden wir, wie später gezeigt werden soll, beim Er- 



^^* ^* ^iS»^ ^ "' *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM \rENSCHEN. 45 



wachen und einige Zeit nach dem Wachwerden durchgehends eine Volumen- 
verringerung am Gehirn, woraus wiederum hervorgeht, dass beim Übergang vom 
Schlafe zum Wachen eine Verminderung der cerebralen Blutfüllung eintritt. 
Diese beiden Thatsachen stehen in innerem Einklang miteinander und lassen es 
als wahrscheinlich erscheinen, dass auch während des Schlafes das Gehirn 
unserer Versuchsperson eine relativ grössere Blutmenge enthält, 
als unter gewöhnlichen Umständen im Wachen. Der Verlauf der 
Volumkurven während der Dauer des Schlafes gestaltet sich, wie wir durch 
Vergleiche mehrerer Aufzeichnungen ohne weiteres sehen, sehr verschieden. 
In Übereinstimmung mit Lehmann hatten wir als kennzeichnend für die 
Schläfrigkeit starke Volumenschwankungen erhalten. Nun behauptet aber 
Lehmann unter Berufung auf Mos so, dass im ruhigen Schlafe, ebenso wie 
bei Konzentration oder Denkthätigkeit, alle undulatorischen Erhebungen der 
Kurven fehlen sollen. Diese Auffassung können wir nicht teilen. Allerdings 
haben wir nicht selten im tiefen Schlafe Kurven vom Gehirn und Vorderarm 
registriert, welche alle grösseren Spontanschwankungen vermissen Hessen, anderer- 
seits stehen uns aber, vornehmlich aus der späteren Zeit der Versuche, zahlreiche 
Beobachtungen zur Verfügung, wo gerade bei durchaus ruhigem und 
tiefem Schlafe das Gehirnplethysmogramm gewaltige Undulationen 
aufweist. (Vgl. Kurve 156). Auch bezüglich der übrigen plethysmographischen 
Symptome haben wir keinerlei Gesetzmässigkeit, welche für den Schlaf im 
Gegensatz zum Wachzustand als charakteristisch anzusehen wäre, nachweisen 
können. Die verschiedenen Kombinationen physiologischer Eigenbewegungen 
der Plethysmogramme, die im Wachzustande vorkommen können, fanden 
sich gelegentlich auch im Schlafe; ein andermal fehlten im Schlafe 
Spontanschwankungen der Volumkurven überhaupt. Gründe hierfür 
bin ich nicht in der Lage anzugeben. Die Frequenz der Herzschläge ist im 
Schlafe etwas vermindert, doch lässt sich dieses Ergebnis aus unseren Auf- 
zeichnungen nicht sicher entnehmen, da, wie eine nähere Betrachtung der 
Kurven ergiebt, der Rhythmus der Herzbewegungen während des 
Schlafes sehr erhebliche Schwankungen erleidet. 

Auch die Deutung der in Kurven 156 und 157 vorliegenden eigenartigen 
Schwankungen begegnet Schwierigkeiten. In beiden Kurven treten periodisch 
neben gewaltigen Undulationen spontane, d. h. durch sichtbare Ursachen 
nicht erklärbare und von den Undulationen unabhängige Modifikationen der 
Einzelpulsationen hinsichtlich der Pulshöhe und Pulsfrequenz auf. In Kurve 156a 
nimmt die Pulshöhe im Schlafe plötzlich zweimal so stark ab, dass die Puls- 
wellen fast ganz verschwinden, die Pulsfrequenz ist dabei zunächst verlangsamt, 
erfährt aber nach wenigen Schlägen eine rapide Beschleunigung, die sich mit 
der allmählichen Rückkehr zur früheren Pulshöhe, nach 7 — 1 2 Herzkontraktionen, 
wieder verliert. Dieselbe Erscheinung an den Pulsationen sehen wir nach ein- 
getretenem Erwachen (Schlussstrecke von 156b) nochmals in ähnlicher Weise 
sich abspielen. Suchen wir zu einer Erklärung dieser Vorgänge am Zirkulations- 
apparat zu kommen, so können wir zunächst feststellen, dass die Variationen 
des Pulses von mechanischen Momenten (Reibung des Hebels an der Schreib- 
fläche, übermässiger Spannung des Hirnprolapses etc.) unabhängig sind. 



46 DR. K. BRODMANN. J»""!? £J!'Äl'"'* 



und Neurologie. 



Dies geht daraus hervor, dass das eine Mal die Pulsschwankungen mit einer 
Zu- das andere Mal mit Abnahme des Gesamtvolumens zusammen treffen, 
während sie ein drittes Mal bei gleichbleibendem Hirnvolumen (unveränderter 
Kurvenhöhe) entstehen. Gegen die mechanische Bedingtheit spricht vor allem 
auch die damit parallel gehende Änderung der Herzfrequenz. Dieselben 
Umstände beweisen die Unabhängigkeit der Pulsschwankungen von den un- 
dulatorischen Schwankungen des Volumens. Handelte es sich um sogenannte 
aktive, durch primäre (lokale) Gefasskontraktion und -diiatation bedingte Un- 
dulationen, so müssten die niedrigeren Pulsationen stets im Wellenthal einer 
Undulation liegen, dies ist aber nicht der Fall. Wir können diese einmaligen 
Veränderungen der einzelnen Pulswellen also nur auf spontane Schwankungen 
der Herzthätigkeit und zwar sowohl in der Energie wie Frequenz der ein- 
zelnen Herzkontraktionen zurückführen. Ähnliche, allerdings in regelmässigen 
Perioden verlaufende Modifikationen der Pulshöhe des Gehirns, aber dort 
ohne Veränderungen des Volumens, haben wir im Wachzustände an Kurve 103 
kennen gelernt. Schon Mos so hat gezeigt, dass derartige Variationen der 
Frequenzen und Energie der Herzschläge im Schlafe vorkommen und dass 
diese Schwankungen der Pulsationen mit der Tiefe und Folge der Atem- 
bewegungen in keiner Weise zusammenhängen. Aus unseren Beobachtungen 
geht indessen hervor, dass die Herzthätigkeit auch im Wachen mehr oder 
weniger periodische Schwankungen sowohl hinsichtlich ihrer Schlagfolgc wie 
ihrer Ausgiebigkeit durchmachen kann. 

Was schliesslich die Abhängigkeit der Undulationen von den Schwankungen 
der PulswcUen anlangt, so sehen wir in den Kurven 156 und 157 kein festes 
Verhältnis zwischen diesen beiden plethysmographischen Vorgängen ; bald steigt 
die Kurve, während die Pulse kleiner und frequenter werden, an, bald sinkt 
sie unter denselben Bedingungen und umgekehrt. Diese Thatsache würde 
allerdings nicht im Widerspruch stehen mit den Untersuchungen Mossos, 
welcher bald Vermehrung, bald Verminderung des Hirnvolumens gefunden 
hat, wenn die Frequenz der Herzschläge abnimmt. Dennoch dürfte es nicht 
wohl angehen, die Schwankungen des Volumens in Kurve 156 und 157 auf 
Änderungen der Herzthätigkeit zurückzuführen. Der grösseren Energie der 
Herzkontraktionen müsste dann auf alle Fälle bei gesteigerten Pulsationen 
eine Zunahme des Hirnvolumens, d. h. ein Ansteigen der Kurve entsprechen. 
Nun finden sich aber in Kurve 156 die ausgiebigsten pulsatorischen Erhebungen 
gerade im Wellenthal einer Undulation, also bei vermindertem Hirnvolumen. 
Die Volumenschwankungen in Kurve 156 und 157 können also weder durch 
veränderte Thätigkeit des Herzens bedingt sein, noch lassen sie sich den so- 
genannten aktiven Undulationen Mossos, bedingt durch primäre spontane 
Gefässbewcgungen des Gehirns, unterordnen; wir müssen sie vielmehr zu den 
passiven Undulationen rechnen und zwar nach der Form der Wellen zu jenen 
Volumschwankungen, welche von einer Änderung des venösen Blutabflusses 
abhängen. Ein Organ kann zweifellos an Volumen zu oder abnehmen, wenn 
der arterielle Blutziifluss steigt oder sinkt, während der venöse Abfluss der- 
selbe bleibt, oder aber das Volumen kann eine Veränderung erfahren, wenn 
bei gleichbleibendem Zuflüsse aus den Arterien der Abfluss durch die Venen 



BD. I, HEFT 1 u. S. PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 47 



190S. 



vermehrt oder vermindert wird. Der letztere Fall liegt offenbar in unserem 
Beobachtungen vor. (Man vergleiche damit Fig. 71 bei Mosso, der Kreislauf.) 
Wir haben demnach in Kurve 156 und 157 Pulsschwankungen, welche von 
periodischer Variation der Herzthätigkeit herrühren und andererseits Volumen- 
schwankungen, die durch Änderungen im Venenkreislauf des Gehirns be- 
dingt sind. 

Wir sehen also im Schlafe ein Zusammenwirken von Kräften, welchfe 
das Kurvenbild des Plethysmogramms vom Gehirn in der mannigfaltigsten 
Weise zu beeinflussen vermögen; bald überwiegt die arterielle, bald die 
venöse Blutwelle, der regelmässige Rhythmus der Blutversorgung, wie er im 
normalen Wachzustande vorhanden ist, ist gestört, es besteht, wie sich 
Maudsley ausdrückt, ein fluctuierender Zustand des ganzen Cerebrospinal- 
systems, speziell seines Cirkulationsapparates. Dabei muss es unentschieden 
bleiben, ob die regellosen wellenförmigen Schwankungen des Blutstromes im 
Schlafe nicht nur cerebrale Vorgänge überhaupt, sondern geradezu psychisch- 
cerebrale Thätigkeiten, d. h. EJrregungen der psychischen Centra, die aber 
unbewusst bleiben, wie Mosso vermutet, unbewusst bleibende Träume zur 
Ursache haben. 

Mosso fasst alle diese während des Schlafes zu beobachtenden Reflex-, 
bewegungen des Cirkulationsapparates (und der Atmung) als einen wirklichen 
Verteidigungsapparat für den Organismus auf, durch den eine unbewusste 
Überwachung schädlicher Einflüsse der Aussenwelt stattfinde und der, sobald 
Gefahr droht, die stofflichen Bedingungen des Bewusstseins herstelle, indem 
er die psychische Centra aus der tiefen Ruhe zur Thätigkeit überführe. 
Während des tiefen Schlafzustandes, schreibt er, ,, fährt ein ganzes System 
von Nervenfasern und Ganglienzellen zu fungieren fort und überwacht die 
Einwirkungen der Aussenwelt. Es genügt ein Laut, ein fernes Geräusch, ein 
Lichtstrahl, der durch die Augenlider dringt, eine leise Berührung oder eine 
beliebige äussere Einwirkung, damit die Atmung sich sofort bethätige, die 
Gefässe der extracephalischen Organe sich kontrahieren, die Herzschläge kräftiger 
und frequenter werden, der Blutdruck steige und das Blut in reichlicherem 
Masse dem Gehirne zuströme". 



VII. Die Veränderungen der plethysmographischen Kurven von Hirn und 

Vorderarm beim Erwachen. 

Ich besitze insgesamt 30 Kurven, welche das Verhalten des Gehirnolumens 
beim Erwachen darstellen. In Tabelle IV sind diese Kurven rein statistisch 
ohne Rücksicht auf die für die verschiedenen Vorgänge des Erwachens 
charakteristischen plethysmographischen Erscheinungen in der Reihenfolge, 
in der sie bei unseren Versuchen aufgenommen wurden, zusammengestellt. 
Der Besprechung im Texte möchte ich jedoch eine andere Einteilung zu 
gründe legen, und zwar behandle ich die hierher gehörigen Kurven in drei, 
nach der Art der beim Erwachen stattfindenden psychischen Reaktion abzu- 
trennenden Gruppen. Zur ersten Gruppe rechne ich alle Kurven, welche die 
plethysmographischen Vorgänge des ruhigen Aufwachens aus normalem Schlafe 



48 DR. K. BRODMANN. J'^* NeSgltt""' 

veranschaulichen; zur zweiten diejenigen, welche die Veränderungen beim Er- 
wachen mit Affekt zeigen; zur dritten diejenigen, welche beim Erwachen aus 
medikamentösem Schlafe registriert wurden. 

I. Das normale Erwachen. 

Im ganzen habe ich 14 Einzelbeobachtungen über das Verhalten des 
Blutumlaufes beim Übergang aus ruhigem Schlafe in einen normalen Wach- 
zustand gemacht, darunter befinden sich 5 gleichzeitige Registrierungen von 
Hirn- und Armvolumen. 

Kurve 63 a (Tafel 6 D). Beginn der Kurve bei ruhigem Schlaf. Arm- und Himvolumen sind 
im Schlafe absolut gleichbleibend, weisen nur unmerkliche respiratorische Schwankungen auf. Nach 
wiederholten Unterbrechungen der Registrierung, während welcher ich keinerlei Veränderungen an 
den pulsierenden Hebeln beobachte, zeichne ich erst 13 Pulse bei ganz horizontalem Verlaufe, 
darauf klatsche ich einmal in die Hände. Th. erwacht langsam und öfihet verschlafen die Augen 
ohne seine Lage zu verändern. Mit dem Signal '\ ^ (Klatschen) faUt das Himvolumen sofort 1 1 mm 
über 3 Pulse ab, steigt dann wieder einige Pulse an, lüeibt aber auf einem niedrigeren Niveau 
als im Schlafe. Indem Th. nach ca. 12 Sekunden langsam wieder einschläft, steigt die Himkurve 
allmählich an und kehrt mit eingetretenem Schlafe zu dem ersten Niveau zurück, auf dem sie bis 
zum Schlüsse verbleibt. Das Armvolumen lässt beim Aufwachen zunächst 10 Pulse keine deutliche 
Zu- resp. Abnahme erkennen, erst mit steigender Hirnkurve hebt sich auch die Armkurve um einige 
Millimeter. Die Himpulse sind beim Erwachen kleiner und unregelmässiger geworden, die Arm- 
pulse eher etwas höher; die Pulsfrequenz ist beschleunigt. 

Kurve 63 Strecke b (Tafel 6 D) nach 63 a registriert. Th. schiäff ruhig weiter. Die 
Aufzeichnungen waren einige Zeit unterbrochen, eine kurze ohne Hebel Verstellung registrierte 
Zwischenstrecke zeigt, dass Hirn- und Armkurve ganz gleich geblieben sind. Nach mehrereü 
Minuten beginne ich wieder zu registrieren. Bei ^g rufe ich sodann: „Th . . ., wach bleiben". Ich 
registriere eine sofortige deutliche Senkung des Himvolumens mit starken respiratorischen Oscillationen 
und niedrigeren unregelmässigen Pulsationen. Das Armvolumen fällt zunächst einige Pulse ab und 
kehrt dann zum früheren Niveau zurück. Die Pulsationen der Armkurve sind deutlich verstärkt, die 
Pulsfrequenz unverändert. 

Kurve 64, ebenfalls in ruhigem Schlafe, kurz nach C 63 aufgezeichnet, zeigt dasselbe Ver- 
halten, nur dass der Abfall des Hirnvolumens beim Erwachen hier ein viel stärkerer und momentanerer 
ist. Die Senkung unter das Anfangsniveau bleibt im Wachen dauernd bestehen. Die Armkurve 
ist leider eine Strecke weit nicht deutlich registriert, immerhin lässt sie eine anfängliche Senkung 
mit nachträglicher Hebung über das Schlafniveau erkennen. Die Hirnpulsationen sind niedriger als 
vorher, die Armpulse unbestimmt, Pulsfrequenz wenig erhöht. 

Kurve 91 (Tafel 4 A, B) vom 24. IV 00 zeigt zweimal die Volum- und Pulsveränderungen 
beim Aufwachen, nachdem ein unterschwelliger Schlafreiz vorangegangen war. 

Kurve 91 a bietet beim Erwecken durch Anrufen steilen Abfall des Himvolumens und mini- 
male Zunahme des Armvolumens. Das Himvolumen erfahrt eine so starke Verminderung, dass der 
Hebel auf dem Rande des Tambours aufsitzt und eine gerade Linie beschreibt. Ich unterbreche 
daher hier den Versuch, sehe jedoch durch Beobachten des Hebels, wie das Volumen langsam 
ansteigt und indem die Versuchsperson wieder einschläft, zum Ausgangsniveau zurückkehrt. Die 
Pulsationen sind beim Eintritt des Erwachens an beiden Kurven kleiner geworden, die Schlfigfolge 
des Herzens unwesentlich beschleunigt. 

Dass es sich hier um ein ganz normales Wachwerden ohne jeden Affekt handelt, beweist, 
abgesehen vom äusseren Verhalten des Reagcnten, die ziemlich gleichbleibende IHdsfrequenz. Das 
Gegenstück dazu bietet Strecke b dieser Kurve, wo es sich um ein Erwachen mit nachdauernder 
lebhafter Gemütsbewegung handelt (siehe unten). 

Die folgenden Kurven enthalten nur die Aufzeichnung des Hirnvolumens. 

Kurve 136 vom 2. VI. CXD bietet weniger charakteristische Verhältnisse dar als die vorigen 
Kurven, Th, scheint oberflächlich eingeschlafen, das Hirnvolumen zeigt beim Beginn der Aufzeichnug 
eine grosse Undnlation, auf der Höhe derselben nähere ich dem Ohre der Versuchsperson eine 



^^' '* ^^ ^ "' ** PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 49 



tönende Stimmgabel. Nach 6 Pulsen sagt Th. „Hm" und giebt zu erkennen, dass er wach geworden 
ist. Die Himkurve bleibt von Anfang an im absteigenden Schenkel der grossen Welle, sinkt aber 
viel stärker von dem Momente an, wo die Versuchsperson zu erkennen giebt, dass sie anfangt zu 
erwachen; erst nach 26 Pulsen Hingt die Kurve wieder an allmählich zu steigen. Jedenfalls hat auch 
hier das Erwachen keinen vermehrten Blutzufluss zum Gehirn zur Folge gehabt, denn während des 
allmählichen Aufwachens sinkt die Volumenkurve des Gehirns wie während des Schlafens weiter ab 
und erreicht den tieüsten Punkt, nachdem volles Erwachen eingetreten ist 

Ganz typisch prägt sich die Volum Verminderung des Gehirns mit dem affektlosen Obergang 
aus dem Schlafen zum Wachen in Kurve 142 b vom 6. VI. 00 aus (Tafel 8 A). Hier findet nach 
einer sanften undulatorischen Hebung des Gesamtvolumens mit dem Weckreiz '\ (Pinselberührung) 
ein sofortiges steiles Sinken der Kurve (auf 2 Pulse 17 mm) statt Kennzeichnend fiir den affekt- 
freien Zustand nach dem Erwachen ist die deutliche Puls verlangsamung, die sofort mit Einwirkung 
des Sinnesreizes einsetzt 

Das Gegenstück zu diesem Teil der Kurve bietet Strecke a derselben Kurve (Tafel 7 D), wo das 
Aufwecken sehr brüsk und unter starkem Erschrecken durch lautes Klatschen bewirkt worden war. 

Kurve 156 a und b (Tafel 6 B und C) zeigt zunächt in ihrer ersten Hälfte (6B) gewaltige 
Volumen- und Pulsschwankungen im ruhigen Schlafe, in der zweiten Hälfte (6 C) veranschaulicht 
sie die Veränderungen des Himvolumens beim Eintritt des Erwachens durch kumulierenden Weck- 
reiz von der Marke 'fg bis '\^ (leichte Stichelchen in die Schläfe), nachdem vorher mehrere unter- 
schwellige Reize nicht zum Erwachen, aber zu einer geringen Volumensteigerung geführt hatten. 
Auch hier tritt ein starker steiler Abfall des Himvolumens mit dem vollen Erwachen bei 'f^ ein. 
Die Pulsfrequenz wird dabei wenig beschleunigt. Unmittelbar nach dem Erwachen versetzte ich der 
Versuchsperson einen derben Stich in den Unterschenkel ('\f^\ Die durch den unerwarteten Schmerz- 
reiz hervorgerufenen plethysmographischen Affektwirkungen sind in dieser Kurve überaus deutlich. 
Eine genauere Besprechung derselben folgt im IL Teil. 

In übereinstimmender Weise prägt sich in Kurve 160 (vom 30. VI., Y2 Stunde nach dem 
Essen) 3 mal nacheinander die volumvermindemde Wirkung des Erwachens am Gehirn aus. In allen 

3 Fällen kommt es durch 3 verschiedene Reize (leises Pfeifen, Anruf und sanftes Anblasen des 
Gesichtes) zu einem dem physiologischen entsprechenden Aufwachen, und jedes Mal verbindet sich 
mit dem Wachwerden ein beträchtliches, sofort einsetzendes Sinken des Himvolumens ohne vor- 
herige oder nachträgliche Zunahme desselben. Im ersten Fall wird die Pulsfrequenz einige Pulse 
verlangsamt, in den beiden anderen unwesentlich gesteigert, die Pulshöhe erfährt eine unerhebliche 
Vermindenmg gleichzeitig mit der Volumabnahme. Von diesen 3 Beobachtungen ist nur die eine 
Strecke 160 a (Tafel 8 B) abgebildet Die Atmung wird beim Aufwachen nicht sichtbar verändert. 

In Kurve 163 a (5. VII. 3 h. p. m.), bei ruhigem tiefem Schlafe registriert, macht das Him- 
volumen, nachdem es vorher 18 Pulse ohne Schwankungen verlaufen war, auf den Weckreiz (Be- 
rührung im Gesicht) zunächst einige Pulse einen schwachen Anstieg durch, wahrscheinlich dadurch 
bedingt, dass der Sinnesreiz erst nach einem längeren Latenzstadium das volle Wachsein herbeiführt 
Sobald Th. zu erkennen giebt dass er wach geworden, d. h. mit dem Augenaufschlag, findet eine 
augenblickliche, 7 Pulse anhaltende Abnahme des Blutgehaltes im Gehirn statt die so stark ist, 
dass der Hebel aufsitzt und die Pulsationen nicht mehr aufgezeichnet werden. Die Herzaktion ist 
frequenter, 85/80 Schläge, die Pulshöhe ohne prägnante Veränderung. 

Unmittelbar nach dieser Strecke registriere ich eine weitere Strecke (Kurve 163 in der 
Tafel 7 B). Die Versuchsperson schläft wieder. Während vorher im Schlafe das Hirnvolumen 
keine Spontanschwankungen zeigte, bestehen jetzt „aktive Undulationen". In der Tafel 7B sind 
zwei solcher undulatorischer Wellen des Gehirns abgebildet. Bei der Marke ^i verursache ich ein 
Geräusch, indem ich eine Nadel vom Tisch werfe. Th. öffnet sofort die Augen und es tritt über 

4 Pulse eine geringe Volumenabnahme ein; indem er dann nach dem Erwachen den Kopf um- 
wendet, findet eine stärkere, aber im Vergleich zu den dabei stattfindenden Muskelaktionen und 
Lageveränderungen doch relativ geringe Volumenzunahme des Gehirns statt. Wegen dieser unge- 
wollten Bewegung rüge ich die Versuchsperson in barscher Weise (|i). Sofort sinkt jetzt das 
Hirnvolumen so stark ab, dass die Pulsationen wegen des im Tambour entstehenden negativen 
Drucks nicht mehr aufgezeichnet werden und ich das Ventil öffnen muss. Auch nach Öffnen des 
Ventils sinkt das Himvolumen unter kleinen und frequenten Pulsen noch weiter ab; allmählich 

Journal für Psychologie und Neurologie. Bd. I. ^ 



so DR. K. BRODMANN. "''"ISf NeSS^l!*' 



beruhigt sich dann Th. und mit dem Schwinden des Affektes beginnt auch das Hirnvolumen wieder 
langsam anzusteigen. Gleichzeitig werden die Pulsationen höher und die Herzaktion wird langsamer. 

Bei Marke '\ 2 verursache ich ein ähnliches Geräusch wie vorher durch Herabwerfen eines leichten 
Gewichtes. Die plethysmographische Reaktion im Wachen ist auf dieses Geräusch eine viel geringere 
als beim Erwachen auf denselben Sinnesreiz. 

Kurve I70 (20. VII , ii h. a. m.) zeigt vollkommen dasselbe Verhalten bei Aufwecken aus 
oberflächlichem Schlaf (Klatschen) wie Kurve 163 a. Der Abfall des Volumens tritt erst 6 Pulse 
nach dem Klatschen ein (Latenzstadium) und ist unbedeutender und hält weniger lang als dort; die 
Pulsfrequenz bleibt die gleiche wie im Schlaf. 

Als hauptsächliches Resultat dieser Untersuchungen konstatiere ich kurz 
folgendes : 

1. Dass in allen Fällen meiner Beobachtung der von psychischer Er- 
regung oder stärkeren körperlichen Reaktionen nicht begleitete, affektfreie 
Übergang aus dem Schlafe zum Wachsein, wie er dem spontanen Er- 
wachen entspricht, mit einer mehr oder minder beträchtlichen Ab- 
nahme des Hirnvolumehs einhergeht. Diese Verminderung ist bald 
eine brüske und momentane und bedingt ein einmaliges starkes Sinken der 
plethysmographischen Kurve, bald vollzieht sie sich allmählich, zuweilen erst 
nach einem gewissen Latenzstadium nach Einwirkung des Weckreizes und 
führt zu einer langsamen und anhaltenderen Senkung der Hirnkurve mit dem 
Wachwerden. 

2. Dass die Nachdauer der Volumenabnahme am Gehirn beim Erwachen, 
soweit ich dieselbe an meinen Kurven verfolgen konnte, verschieden ist. In 
der Regel bleibt das Hirnvolumen auch während des wachen Zu- 
standes auf annähernd demselben Niveau wie während des Er- 
wachens, also niedriger wie im Schlafe, manchmal tritt jedoch auf die 
das Aufwachen begleitende Senkung der Kurve nach kurzer Zeit ein lang- 
sames, oft wellenförmiges Wiederansteigen der Hirnkurve ein. Eine relative 
Volumenverminderung bleibt jedoch stets bestehen. 

3. Dass das Armplethysmogramm meiner Versuchsperson unmittel- 
bar beim Erwachen aus ruhigem Schlafe nur geringfügige Schwankungen, 
meist eine kurze Senkung mit folgendem leichtem Anstieg durch- 
macht, dass aber das Durchschnittsniveau der Armkurve im Wachzustande 
sich nicht merklich von dem des Schlafes unterscheidet. 

4. Dass die Pulsfrequenz, im Gegensatz zum Erwachen mit Affekt, bei 
affektlosem Erwachen in der Regel keine wesentliche Beschleunigung, 
zuweilen sogar eine Verlangsamung erfährt. 

5. Dass die Pulshöhe am Gehirn bei ruhigem Erwachen meist etwas, 
aber nur unbeträchtlich niedriger wird. 

2. Das Erwachen mit Affekt. 

Ein wesentlich anderes plethysmographisches Bild erhält man, wenn der 
Schlaf durch einen Sinnesreiz unterbrochen wird, der zu brüskem Erwachen 
führt und von einer mehr oder weniger lebhaften Gemütsbewegung, sei es 

• • • • 

Schreck, Ängstlichkeit, Arger oder sei es Schmerzerregung, gefolgt ist. 
Schon die ersten Schlafkurven, die ich unter günstigen Bedingungen auf- 



^' '* ^Im^ ^ "* *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 5 I 



nehmen konnte, zeigten mir Verschiedenheiten in den plethysmographischen 
Erscheinungen je nach der Art des Aufwachens, und ich habe mich später 
davon überzeugt, dass die das Erwachen begleitenden Veränderungen der 
Volumkurven viel weniger von dem Vorgange des Wachwerdens selbst ab- 
hängen, als vielmehr von der Art des psychischen Gesamtzustandes, speziell 
von Affekterregungen, welche beim Eintritt in den wachen Zustande bestehen. 
Die Art des Weckreizes also oder vielmehr die auf denselben erfolgende 
Gemütsreaktion müssen wir als ausschlaggebend für die plethysmographischen 
Vorgänge beim Erwachen betrachten. Dass diese Thatsache von den früheren 
Experimentatoren völlig übersehen wurde, ist zweifellos der Hauptgrund für 
die zahllosen widersprechenden Cirkulationstheorieen des Schlafes; nur bei 
Mays findet sich der Gedanke angedeutet, dass das verschiedene Verhalten 
der Hirnkurven während des Erwachens bei den verschiedenen Versuchs- 
personen durch begleitende Gefühlsmomente bedingt sein könnte. Zu einer 
klaren Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung begleitender Affekte für das 
Zustandekommen plethysmographischer Äusserungen ist jedoch auch er noch 
nicht gelangt. 

Diesen Einfluss einer Gemütsbewegung beim Aufwachen erkennen wir 
besonders charakteristisch an folgenden Kurven: 

Kurve IV b (Tafel 4D), am 22.111. bei Rückenlage in ruhigem Schlafe registriert. Him- 
und Armvolumen verlaufen horizontal, das Armvolumen zeigt regelmässige Atmungsschwankungen. 
Bei der Marke ^ wird Th. durch lautes Anrufen geweckt; er fahrt erschreckt zusammen und macht 
einige tiefe Respirationen. Sofort steigt das Himvolumen an, sinkt dann stark ab und bleibt 
niedriger als im Schlafe. Das Armvolumen steigt ebenfalls etwas an und bleibt höher. 

Kurve 91b (4 B). Th. war, wie wir oben bei Besprechung von 91a gesehen haben (vgl. 
S. 48), in a aufgeweckt worden; in der Pause ist er wieder eingeschlafen. Arm- und Himkurve 
besitzen während des Schlafes nicht ganz rh)'thmische undulatorische Schwankungen und respira- 
torische Oscillationen. Unwillkürliche Bewegungen (Schlafbewegungen), welche gelegentlich an den 
Fingern und am Arm zu sehen sind, sowie die diesen entsprechenden Unregelmässigkeiten des 
Armplethysmogramms deuten auf einen unruhigen und oberflächlichen Schlaf (mit Traumvorstellungen ?) 
hin. Ein unterschwelliger Schlafreiz mit den charakteristischen Ausdrucksbewegungen an den 
Kurven ist bei ^ 1 vorausgegangen ; bei ^ 2 versetze ich der Versuchsperson einen derben Nadelstich in 
die linke Nackenseite; sie fahrt erschreckt zusammen und giebt beim Erwachen eine lebhafte erregte 
Unluststimmung zu erkennen, wird aber durch Ermahnen genötigt, sich ruhig zu verhalten. 

Ausserordentlich charakteristisch für den hier während des Erwachens vorliegenden Affekt- 
zustand ist nun das Bild, das die Plethysmogramme darbieten. Die Hirnkurve sinkt zunächst mit 
dem Stich momentan steil ab und schnellt ebenso rasch wieder an; eine ganz analoge Schwankung 
nur in antogonistischem Sinne, erst Hochschnellen und dann rasches Abfallen, macht die Armkurve 
durch. Ks tritt also zunächst am Gehirn auf den schmerzhaften Weckreiz eine momentane Vaso- 
konstriktion mit nachfolgender Erschlaffung der Gefässe, am Vorderarm dagegen eine starke Vasodila- 
tation mit späterer Gefassverengerung ein. Nach 8 Pulsen erst kommt, während volles Wachsein ein- 
getreten ist, an der Himkurve eine gleichmässige und andauernde Verminderung des Gesamtvolumens 
zustande, die einen solchen Grad erreicht, dass infolge des negativen Drucks im Marey sehen Tam- 
bour der Hebel aufsitzt und die Pulsationen nicht mehr aufgezeichnet werden. Im Gegensatz dazu 
steigt das Armvolumen an und bleibt unter starken respiratorischen Oscillationen und hohen 
schnellenden Pulsen (Nachwirkimg des Affektes) auf mittlerer Höhe bis zur Unterbrechung des Ver- 
suchs. Die Himpulsationen sind kleiner geworden, die Herzthätigkeit hat eine ungemeine Be- 
schleunigung erfahren und ist von 70 Schlägen auf etwa loo gestiegen. 

Nach einigen Minuten ist der Affekt abgeklimgen, Th. sitzt ruhig atmend, mit geschlossenen 
Augen, aber nicht eigentlich schlafend da. Das Uhrwerk wird jetzt wieder in Gang gesetzt und 
Strecke c der Kurve 91 registriert; jetzt ist zu erkennen, dass Hirn- und Armvolumen beträchtlich 

4* 



52 DR. K, BRODMANN. ^"ZinÄS!?^ 



Über das vorher innegehabte Niveau angestiegen sind, wShrend die Hirnpolse höher, die Armpnlse 
niedriger and gleichmässiger geworden sind. 

In Kurve 126 (nur Himkarve), unmittelbar nach dem Essen geschrieben, finden sich im 
Prinzip mit der vorigen übereinstimmende Verhältnisse beim Erwachen: erst Vermindemng , dann 
stärkere und anhaltendere Zunahme des Volumens und schliesslich Abfall der Kurve unter die im Schlaf 
eingehaltene Höhe. Die Pulsbeschleunigung ist eine geringere. Das Erwachen war in diesem Falle 
durch lautes Klatschen erzeugt und hatte ein leichtes Erschrecken der Versuchsperson bewirkt 
OfTenbar lag hier ein etwas anders gearteter und einfacherer Affekt, reiner Schreck, im Gegensatz 
zu dem gemischten Affekt im vorigen Falle vor und erklären sich daraus die quantitativen Ab- 
weichungen in den Volumen und Pulsschwankungen; qualitativ sind die am Gefasssystem hervor- 
tretenden Erscheinungen in beiden Versuchen dieselben. 

Die Kurven 137a und b, 142 a und 149 enthalten ebenfalls Komplikationswirknngen des 
Erwachens mit einem begleitenden erregenden Affekte an der Volumenkurve des Gehirns. In Kurve 
137a (Tafel 7F ^i) und 149 war das Erwachen durch Stich, in 142 a (Tafel 7D 'f 1) durch Klatschen 
und in Kurve 137 b (Tafel y A '\i) durch lauten Anruf veranlasst worden, jedesmal war die 
Gemütserregung Th's. beim Wachwerden unverkennbar. Ubereinstimraend findet sich in allen vier 
Fällen mit der Reizeinwirkung synchron ein Ansteigen des Himvolumens und dann ein nachhaltiges 
stärkeres Abnehmen desselben, so dass schliesslich nach eingetretener Ruhe bei vollem Wach- 
bewusstsein das Hirnvolumen niedriger ist als vorher im Schlafe. Regelmässig tritt eine Frequenz- 
Steigerung der Herzschläge ein, die Pulsationen werden beträchtlich kleiner und ungleichmässig, 
ausser in 149, wo sie keine deutliche Formveränderung erleiden. 

In Kurve 161 (Tafel 7E '\i) begleitet ebenfalls eine heftige Schreckwirkung das Erwachen 
aus ruhigem tiefen Schlaf durch lautes Klatschen. Der Affekt des Erschreckens ist im Moment des 
Wachwerdens sehr deutlich, Th. fährt reflektorisch zusammen und macht eine kurze Atempause. 
An der Himkurve giebt sich der Affekt durch eine anfängliche steile Volumenvermehrung und eine 
nachträgliche stärkere Volumenverminderung kund, ferner durch erhebliche Pulsbeschleunigung und 
kleine unregelmässige Pulsschläge. 

Analoge Verhältnisse wie in Kurve 126 treten in Kurve i6oc (Tafel 8F "fj) hervor, wo 
Th., nachdem bereits eine längere Strecke in tiefem Schlafe mit grossen Undulationen registriert 
war, dadurch aufgeweckt wird, dass ein Schlüsselbund zu Boden geworfen wird (j"»). Er wacht 
wiederum unter Schreck auf, an der Himkurve zeigt sich erst ein steiler, kurzer Abfall mit Kleiner- 
und Frequenterwerden der Pulsationen; auf den Abfall folgt ein 6 Pulse umfassender Anstieg; zum 
Schlüsse sinkt das Hirnvolumen II Pulse unter das frühere Niveau. Das Durchschnittsniveau der 
Hirnkurve bleibt niedriger, nachdem das Erwachen eingetreten und der Affekt vorübergegangen ist, 
als es während des Schlafes war. 

Das Ergebnis dieser Feststellungen ist folgendes: Für die Art der 
beim Erwachen sich abspielenden Veränderungen der Zirkulationsverhält- 
nisse im Körper ist der das Erwachen begleitende Gemütszustand von 
grösserer Bedeutung, als der Vorgang des Aufwachens selbst. Ein starker 
Affekt, der gleichzeitig mit dem Wachzustande durch den Weckreiz herbei- 
geführt wird, hat vasomotorische Wirkungen von solcher Intensität im Gefolge, 
dass dadurch die für das physiologische (normale) Erwachen charakteristischen 
plethysmographischen Vorgänge verdeckt oder vollständig in ihr Gegenteil 
verkehrt werden. Während wir als typisch für den ruhigen affektfreien Vor- 
gang des Erwachens bei Th. konstant eine Verminderung des Hirn- und nur 
unwesentliche Veränderungen des Armvolumens nachgewiesen haben, zeichnet 
sich sich das Erwachen unter Affektwirkung regelmässig durch 
stärkere Schwankungen der Kurven aus: zunächst entsteht meistens eine 
beträchtliche Zunahme des Hirnvolumens mit stärkerem sekundärem 
Abfall desselben unter klcinenund frequenten Pulsen, häufig ein momen- 
tanes durch die reflektorischen Muskelkontraktionen und Atmungsbewegungen 



^^* '' *i»M? ^ "* *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 53 



veranlasstes starkes Auf- und Abschnellen der Hirnkurve und dann ein den Affekt 
überdauerndes Sinken des Hirnvolumens, mit oder ohne wellenförmige Schwan- 
kungen, unter das Schlafniveau. Da gleichzeitig mit dem Hirn- auch das 
Armvolumen eine Vermehrung erfahrt, so kann man schliessen, dass 
jeder den Schlaf unterbrechende affektstarke Weckreiz zu einer 
Erschlaffung des allgemeinen Gefässtonus (Vasodilatation) mit 
nachfolgender Gefässkontraktion im Gehirn und zu einer Beschleu- 
nigung der Herzthätigkeit mit Verminderung der Energie der 
Herzkontraktionen führt. Die spezielle Art der plethysmographischen 
Begleiterscheinungen eines bestimmten Affektes werden wir im zweiten Teil 
dieser Studien kennen lernen. Hier kommt es nur darauf an, zu zeigen, dass 
der Einfluss einer Gemütsbewegung auf die plethysmographischen Vorgänge 
die durch das Erwachen bedingten Vasomotorenwirkungen überwiegt. Bei 
sehr heftigem Affekt kommt es sogar vor, dass an Stelle der beim Eintritt 
des Erwachens zu erwartenden Veränderungen der Volumkurven Erscheinungen 
treten, welche lediglich als vasomotorische Ausdrucksbewegungen des beim 
Aufwachen vorhandenen Affektzustandes aufgefasst werden können. Man 
vergleiche z. B. die Kurven i6i (/E), und 137a (7F) mit Kurve 135 (8E) und 
156 b ts (6C). Die beiden letzteren Kurven stellen die am Hirnplethysmo- 
gramm im wachen Zustande durch die Einwirkung eines heftigen Stiches und 
die dadurch bedingte Affekterregung ausgelösten Vorgänge dar, während an 
den erstgenannten Kurven die Erscheinungen zu sehen sind, welche das Auf- 
wachen mit Affekt (in Kurve 137 a ebenfalls durch einen Stich herbeigeführt) 
begleiten. Die Übereinstimmung ist augenfällig: in beiden Reihen sowohl 
beim Erwachen wie im vollen Wachsein findet zuerst eine starke Vermehrung 
des Hirnvolumens über mehrere Pulse (Vasodilatation) statt, darauf folgt unter 
niedrigen und frequenten Pulsationen eine die vorangehende Zunahme über- 
treffende Abnahme des Hirnvolumens (Vasokonstriktion) , welche längere Zeit 
anhält. Auch aus Kurve 91 b geht diese Übereinstimmung hervor. Wir 
können daraus entnehmen, wie schon Andere z. B. Mosso, Lehmann (45), 
Ziehen (46), Mentz behauptet haben, dass die körperlichen, speziell die 
plethysmographischen Äusserungen von Affektzuständen bei weitem intensiver 
und nachhaltiger sind, als diejenigen anderer psychologischer Vorgänge, z. B. 
des Erwachens, und dass wir daher bei allen derartigen Untersuchungen dem 
jeweils vorhandenen Gemütszustande mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, 
als es bisher zu geschehen pflegte. 

3. Das Erwachen aus einem abnormen Schlafe. 

Wiederholt ist es vorgekommen, dass Th. in Schlaf verfiel, nachdem 
ihm zu experimentellen Zwecken ein Medikament eingegeben war. Die unter 
derartigen Bedingungen beim Übergange vom künstlichen Schlafe zum Wachen 
sich abspielenden plethysmographischen Veränderungen erfordern eine ge- 
sonderte Besprechung. Ich teile zunächst drei beim Erwachen aus dem 
Morphiumschlafe registrierte Kurven mit. 

Kurve 67 (Tafel SC). 17. I\^ 00, i Stunde 20 Minuten nach einer subkutanen Injektion 
Yon 0,02 Morphium geschrieben. Th. schläft tief und ruhig. Arm und Himkurve verlaufen ohne 



54 DR. K. BRODMANN. ^""Zä^X^^^^ 



jede V^olum- oder Pulsschwankung. Nachdem bereits mehrere Minaten die Bewegungen beobachtet 
and mit Pausen registriert sind, wecke ich bei ^i die Versuchsperson durch lautes Rufen seines 
Namens auf. Es fmdet sofort über 3 Pulse ein leichtes An- und Abschwellen des Hirnvolumens 
und dann ein horizontaler Verlauf mit verstärkten respiratorischen Oscillationen statt. Eine bleibende 
Senkung oder Hebung der Kurve tritt nach dem Erwachen nicht ein. Das Volumen des Vorderarms 
erfahrt eine leichte dauernde Vermehrung im Wachen. Die Hirnpulse werden anfangs kleiner und 
verunstaltet und machen später einen typischen respiratorischen Formwechsel durch, die Pubationen 
der Armkurve zeigen zunächst nur vermehrte Elastizitätselevationen im katakroten Schenkel, die 
Pulshöhe wird später um wenig niedriger, die Pulsfolge frequenter. 

Kurve 69. I Stunde 45 Minuten nach der Morphiuminjektion in tiefem Schlafe auf- 
genommen. Arm- und Himvolumen bleiben sich genau gleich. Bei ^i erfolgt Aufwecken durch 
einen Glockenschlag. Hirn- und Armvolumen erfahren keine erkennbare Veränderung, dagegen werden 
die Pulsationen an beiden Kurven höher, später am Arm wieder niedriger. Die Pulsfrequenz ist 
geringer geworden. 

Deutlicher prägen sich in Kurve 70 (Tafel 8 D), 2^4 Stunden nach der Injektion, die 
Wirkungen des Aufwachens, durch Zuruf herbeigeführt, aus, Hirn- und Armvolumen, welche, wie in 
den vorigen Kurven während des Schlafes ohne alle Schwankungen sind, erleiden mit dem Aufwachen 
beträchtliche Abänderungen, Das Hirnvolumen steigt zunächst einige Pulsschläge mit verminderter 
Pulshöhe an und sinkt dann anhaltend unter das mittlere Niveau ab, das Armvolumen fällt ebenfalls 
merklich ab und die Pulsationen am Armplethysmogramm werden gleichfalls niedriger. Die Puls- 
frequenz erfahrt eine geringe vorübergehende Steigerung. 

An zweiter Stelle erwähne ich kurz eine unter Ergotinwirkung (0,2 See. comut. subcut.) 
während des Schlafens resp. Erwachens geschriebene Kurve. 

Kurve 50. Th. ist 35 Minuten nach der Injektion oberflächlich eingeschlafen, er macht 
zuweilen leichte Schlalbewegungen im Arm. Das Hirnvolumen unduliert leicht, auf Anrufen sagt Th. 
„Jawohl", es findet ein einmaliges Hoch- und Niederschnellen (Exspirationsstoss beim Sprechen), 
dann eine geringe Senkung des Volumens statt ; nachdem die Himkurve eine zweite sanfte positive Welle 
durchgemacht hat, bleibt sie schliesslich dauernd niedriger als vorher im Schlafe. Die Armkurve zeigt 
nur einzelne verunstaltete Pulse, sonst bleibt sie unbeeinflusst. Eine zweite Strecke, nachdem Th. 
wieder eingeschlafen und durch Klatschen (ohne Schreck) geweckt ist, bietet ähnliche Verhältnisse, 
erst Abfall des Hirnvolumens, dann stärkere Undulationen , welche eine sichere Entscheidung über 
die relative Grösse des Volumens nicht zulassen. Auch das Armvolumen nimmt zunächst etwas ab, 
bleibt dann auf der früheren Höhe; die Pulsfrequenz ist diesmal beschleunigt. 

Die besprochenen Verhältnisse bedürfen keines Kommentars; wir ersehen 
ohne weiteres die Inkonstanz der plethysmographischen Vorgänge beim Er- 
wachen aus tiefem Morphiumschlaf: einmal bleibt das Erwachen ausser einer 
geringen Vcrgrösserung der Pulsamplitude ohne jeden Einfluss auf Hirn- und 
Armkurve, ein zweites Mal macht das Hirnvolumen eine minimale positive 
Welle durch und bleibt im Wachen auf derselben Höhe wie im Schlafe, 
während hier das Armvolumen zunimmt, im dritten Falle schliesslich wird das 
Volumen sowohl des Gehirns wie des Vorderams im Wachzustande beträchtlich 
vermindert. Ich brauche nur an die eingangs mitgeteilten widersprechenden 
Angaben älterer Autoren über Blutverteilung im Chloral- und Chloroformschlaf 
(speziell Hammond, Durham, Howell, Langlet u. a., sowie über die 
Wirkungen des Opiums und Äthers auf den Hirnkreislauf zu erinnern, um dar- 
zuthun, wie kompliziert und wechselvoll die im medikamentösen Schlafe vor- 
liegenden Verhältnisse sind und wie sehr dieselben noch eine experimentelle 
Autklärung erheischen. Die geringe Zahl meiner Versuche berechtigt mich 
nicht zu irgend welchen Schlussfolgerungen in dieser Richtung. Es lässt sich 
nur sagen, dass die beim Erwachen aus normalem Schlafe sich abspielenden, 
als typisch erkannten plethysmographischen Vorgänge beim Erwachen aus 



^^* '' ^^ ^ "* *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 5 S 



1902. 



dem Morphiumschlafe eine Veränderung erlitten haben und dass diese Ver- 
änderungen bei meiner Versuchsperson trotz gleichbleibender äusserer Be- 
dingungen keine konstanten und übereinstimmenden sind. 

Ich schliesse mich damit der Ansicht Langlets an, dass der durch 
Medikamente erzielte Schlaf, wenigstens hinsichtlich seiner plethysmographischen 
Begleiterscheinungen, nicht dem natürlichen Schlafe entspricht, und dass ausser- 
dem die Resultate der verschiedenen Beobachter zu widersprechende sind, um 
zu einem Urteil speziell über die Wirkung des Morphiums auf die Gehirnzirkulation 
zu gelangen. Ich führe nur kurz an, dass Berg er die von ihm an unserer 
Versuchsperson im Morphiumschlaf beobachtete Abnahme der Pulsationshöhe des 
Gehirns auf eine Verminderung des arteriellen Zuflusses zum Gehirn und das 
verlangsamte Absinken der katakroten Schenkel der Pulswellen (vgl. Kurve 71 
Tafel 3A meiner Abbildungen) auf verminderte Strömungsgeschwindigkeit 
oder Behinderung des venösen Abflusses aus dem Schädel zurückführen will, 
während dagegen Bock und Verhoogen (44) behaupten, Morphium erzeuge, 
ohne die Abflussmenge des venösen Hirnblutes zu ändern, in der Hirnrinde 
Anämie, an der Hirnbasis Hyperämie. 

Vlii. Schlussbetrachtungen. 

Ohne auf das unsichere Gebiet der Hypothesen über das Wesen des 
Schlafes abzuirren, können wir aus den vorgeschilderten experimentellen Fest- 
stellungen einige Thatsachen von allgemeinerer Bedeutung ableiten, welche uns 
in die physiologischen Begleiterscheinungen der Schlafvorgänge am Zirkulations- 
apparat tiefere Einblicke zu geben vermögen. Ob diese vasomotorischen Schlaf- 
symptome die physiologische Grundlage oder gar die einzige Ursache für das 
Zustandekommen der einzelnen Schlafphänomene bilden oder ob vielmehr, 
wie Mo SSO meint, ausser der Änderung der Zirkulationsverhältnisse noch 
andere und wesentlichere Änderungen in der Erregbarkeit und den Ernährungs- 
verhältnissen der Nervenzentra dem Schlafe zu Grunde liegen, kann dahin- 
gestellt bleiben. Es muss genügen, bestimmte Beziehungen zwischen einem 
psychophysischen Vorgange, dem im Schlafe gegebenen veränderten Bewusst- 
seinszustande und dessen körperlichen Äusserungen nachgewiesen und diese 
Beziehungen als gesctzmässige erkannt zu haben. 

Als erste solche allgemeine Thatsache haben wir zunächst festgestellt, 
dass bei unserer Versuchsperson, sowohl im Schlafe wie im Wachzu- 
stande rhythmische Volumschwankungen am Gehirn oder Vorder- 
arm oder an beiden Organen zugleich vorkommen, die weder von 
ungewöhnlich starken Atemzügen, noch von irgend nachweisbaren 
äusseren Eindrücken abhängen und die wir mit Mosso Undulationen 
genannt haben. Der Ursprung und das Wesen dieser periodischen plethys- 
mographischen Hebungen und Senkungen des Organvolumens ist trotz der grund- 
legenden Untersuchungen Mossos noch grösstenteils unbekannt. Unschwer 
lassen sich auch bei Th. die zwei Hauptgruppen von Undulationen, welche Mosso 
unterschieden hat, auseinanderhalten: Passive Undulationen, identisch mit den 
„wellenförmigen Schwankungen des Blutdrucks" Traube-Herings, welche von 



56 DR. K. BRODMANN. "'""^a i^Äi'*'* 



und Neurologie. 



der Zu- oder Abnahme des Blutdrucks ohne aktive Beteiligung der eigenen 
Gefässe des betreffenden Organs abhängen, und zweitens „aktive Undu- 
lationen**, von spontanen rhythmischen Bewegungen (Kontraktionen und 
Dilatationen) der Gefäss Wandungen eines Organs selbst berührend. Schon 
Mosso hat gezeigt, dass es keine Beziehung giebt zwischen dem 
Rhythmus dieser Eigenbewegungen der Gefässe und demjenigen 
der Innervation für die Atmungsbewegungen. Dasselbe haben wir 
bei unserer Versuchsperson Th. bestätigt gefunden. Wir müssen uns eben 
das Gefässsystem auch unter ganz normalen Verhältnissen als in beständiger 
Bewegung begriffen denken, ohne in die Natur der diesen Bewegungen zu 
Grunde liegenden inneren Vorgänge des Organismus einstweilen einen Ein- 
blick zu bekommen. Als Ausdruck dieser spontanen Gefässbewegungen haben 
wir femer bei Th. zuweilen auch periodische Schwankungen des Pulses (rhyth- 
mische Variationen der Pulshöhe undPulsform) bei unverändertem Organ- 
volumen vorgefunden. 

Als weiteres und hauptsächlichstes Ergebnis unserer experimentellen 
Untersuchungen konnten wir sodann konstatieren, dass beim Übergange 
vom Wachen zum Schlafe und umgekehrt beim Übergange vom 
Schlafe zum Wachsein, mag dieser sich allmählich oder plötzlich, 
stürmisch oder ruhig vollziehen, der Blutumlauf im Gehirn und 
Vorderarm Th's. eine Reihe succesiver Veränderungen erleidet. 
Diese Veränderungen lassen unter gleichbleibenden Bedingungen eine ge- 
wisse Gesetzmässigkeit nicht verkennen und berechtigen uns, jene auf dem 
Gebiete der Vasomotorenthätigkeit sich abspielenden Vorgänge als wesentlich 
für das Zustandekommen der Schlaferscheinungen anzusprechen. Mosso 
war ursprünglich auf Grund plethysmographischer Messungen am Vorder- 
arm zu der Ansicht gekommen, dass im Schlafe in den Gliedmaasen eine 
durch Erschlaffung der Gefässwände bedingte Erweiterung der Gefässe mit 
Volumvermehrung stattfindet, welcher im Gehirn eine Volumenabnahme ent- 
spreche, während das Erwachen immer von einer Kontraktion der Vordcr- 
armgefässc, allgemeiner von einer spastischen Ischämie der Extremitäten 
begleitet sei, welche ihrerseits als peripherische Ursache einer allgemeinen Druck- 
steigerung im Gefässsystem zu einer Volumszunahme des Gehirns führe. 
Daraus leitete er eine rein mechanische Theorie des Schlafes ab, wonach das 
Blut beim Erwachen aus den Extremitäten verdrängt und gegen die Zentral- 
organe des Nervensystems getrieben würde, um die Thätigkeit der Nervenzentra 
anzuregen; er meinte sogar, wenn sich auch die Hirngefässe beim Erwachen, 
wie dies bei plötzlichem Erwachen zuweilen vorkomme, zusammenziehen, so 
bewirke doch die allgemeine Zunahme des Blutdruckes gleichwohl eine Be- 
schleunigung des Blutstromes in den Grosshirnhemisphären d. h. eine vermehrte 
cerebrale Blutfüllung. Später hat er dann allerdings durch plethysmographische 
Messungen am Gehirn festgestellt, dass das Gehirn häufig beim Erwachen 
statt einer Zunahme eine Abnahme des Volumens erfährt, dass also das Ge- 
hirn im ersten Augenblick des Erwachens thatsächlich weniger Blut führen 
kann, als während des Schlafes. Dass auch Mays an seinen Versuchs- 
personen die gleichen Beobachtungen machte, ist schon oben bemerkt. 



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Bei Th. haben wir nun, um nochmals kurz das Wesentliche zu resumiren, 
folgende Verhältnisse gefunden: Dem Einschlafen geht regelmässig eine Zu- 
nahme des Hirnvolumens mit gesteigerten Pulsationen parallel; wir dürfen 
daraus auf einen vermehrten Blutgehalt des Gehirns unmittelbar während des 
Eintritts des Schlafes schliessen. Aus der Steigerung der Pulshöhe ergiebt 
sich gleichzeitig eine Erschlaffung der Gefasswandungen (Vasodilatation) und ein 
vermehrter arterieller Blutzufluss zum Gehirn. Das Armvolumen erfährt gleich- 
zeitig meist eine Zunahme, seltener eine Verminderung. Wir haben damit eine 
zweite sehr wichtige Thatsache festgestellt, welche aufs Bestimmteste die Un- 
haltbarkeit der Anämietheorie für unsere Versuchsperson beweist. Jedenfalls 
können wir so viel sagen, dass bei Th. der Eintritt des Schlafes nicht un- 
mittelbar durch eine Verminderung der cerebralen Blutfüllung be- 
dingt wird, wie es zahlreiche Autoren behaupten, und es würde diese eine 
Beobachtung schon genügen, um die Unrichtigkeit der Annahme zu beweisen, 
es beruhe der Schlaf auf einer Ischämie des Gehirns. Wissen wir ja doch auch, 
dass gerade Blutarme häufig an hartnäckiger Schlaflosigkeit leiden. Ho well (24) 
hat noch neuerdings eine eigene vasomotorische Schlaftheorie aufgestellt, die er 
auf plethysmographische Beobachtungen an den Extremitäten gründete. Weil 
er im Schlafe regelmässig eine Vergrösserung des Armvolumens und eine 
Erweiterung der Hautgefässe fand, glaubte er daraus, unter Annahme eines 
Antagonismus zwischen Gehirn- und Armkreislauf, eine Verminderung des 
zentralen Blutstromes nach dem Einschlafen ableiten zu dürfen, insbesondere 
fuhrt er aus, die Ableitung des Blutes zu den Hautgefassen habe notwendig 
eine Abnahme des Arteriendruckes an den basalen Gefässen des Gehirns zur 
Folge und damit sei die Bedingung für die cerebrale Anämie, die unmittelbare 
und unter normalen Verhältnissen notwendige und bestimmende Ursache des 
Schlafeintrittes gegeben. Die Periodizität dieser Zirkulationsänderungen führte 
er auf das Vasomotorenzentrum direkt zurück und zwar auf eine rhythmische 
Ermüdung der vasomotorischen Zellen selbst. Es bedarf keines weiteren Be- 
weises, dass diese Annahme hinfällig ist. Übrigens hat auch noch Lehmann 
aus der von ihm beobachteten Vermehrung des Armvolumens beim Ein- 
schlafen und der Verminderung desselben beim Erwachen irrtümlicher Weise 
auf eine Abnahme des Gehirnvolumens resp. der cerebralen Blutmenge während 
des Schlafes den Rückschluss gemacht. Auch er stützt sich hierbei, wie so 
viele andere Forscher, auf die Voraussetzung eines alternierenden Verhältnisses 
zwischen dem Volumen der Organe im Körperinnern (speziell des Gehirns) 
und dem Volumen peripherer Körperteile (der Gliedmassen). 

Nun haben wir aber als weitere Thatsachen festgestellt, dass bei 
Th. weder im Schlafe noch im Wachen ein solcher Antagonismus 
zwischen Gehirn- und Armkreislauf besteht. Die vermutete Wechsel- 
beziehung zwischen Füllung der Körper- und Hirngefässe fehlt, wie auch 
Sarlo e Bernardini (48) feststellte, thatsächlich; es muss daher nur zu 
Irrtümern führen, wenn man aus dem Verhalten der Volumkurve eines 
Organs auf die Zirkulationsvorgänge in einem anderen Organe zurück- 
schliessen oder wenn man auf einen solchen Schluss gar eine eigene Theorie 
aufbauen wollte. Allerdings sehen wir bei Th. häufig, dass dem Anstieg 



58 DR. K. BRODMANN. •""'.^ L^Stll"'" 



und Neurologie. 



des Gehirnvolumens ein Absinken des Armvolumens mit Kleinerwerden des 
Armpulses entspricht und in diesem Falle ist man wohl berechtigt zu sagen, 
dass die Volumszunahme des Gehirns und die Volumsabnahme der Extre- 
mitäten in einer unmittelbaren (ursächlichen) Beziehung zu einander stehen: 
der durch primäre Kontraktion der Armgefässe bedingte Abfluss des Blutes 
aus der Peripherie kann die Ursache des vermehrten Blutzuflusses zum Gehirn 
werden. Andererseits haben wir aber, wie schon Mosso an seinen Versuchs- 
personen zeigte, nicht selten gesehen, dass die Schwankungen des Gehirns 
und die des Vorderarms einander nicht entsprechen, dass synchron mit der 
Zunahme des Gehirnvolumens auch eine Vermehrung des Armvolumens erfolgt, 
oder aber eine dritte Möglichkeit, dass die eine der beiden Kurven rhythmische 
wellenförmige Hebungen und Senkungen (Undulationen) des Volumens durch- 
macht, während die andere ein absolut unverändertes Volumen beibehält. 
Wenn man auch nicht so weit gehen will wie Eider (49), auf Grund solcher 
Beobachtungen zu behaupten, die Gehirngefasse würden durch einen eigenen, 
von der Kontrole des allgemeinen Vasomotorenzentrums unabhängigen lokalen 
Mechanismus reguliert, so liegt es doch nahe, daraus zu folgern, dass die 
Eigenbewegungen der Gefässe in den einzelnen Organen vonein- 
ander unabhängig sind, mit anderen Worten, dass die Vasomotoren- 
thätigkeit in den verschiedenen Körperabschnitten eine grosse 
lokale Selbständigkeit besitzen muss. 

Wir haben sodann weiterhin gesehen, dass diese Selbständigkeit der 
Vasomotorenthätigkeit während des Schlafes grösser ist als im Wachen. Die 
rhythmische Innervation der Gefässe des Gehirns scheint im Schlafe und schon 
bei Schläfrigkeit häufig vollkommen gestört und der „Kontrolle des allgemeinen 
Vasomotorenzentrums entzogen" zu sein. Man beobachtet zuweilen im Schlafe 
Schwankungen des Gehirnvolumens und der Hirnpulsationen, welche nur durch 
einen lokalen, auf das Gehirn beschränkt bleibenden Vorgang an den Ge- 
fässen erklärt werden können. 

Was schliesslich den Vorgang des Erwachens betrifft, so konnten wir 
feststellen, dass die an den Plethysmogrammen sich äussernden Reaktionen 
beim Erwachen nicht lediglich als der physiologische Ausdruck der mit 
der Unterbrechung des Schlafes und dem Eintritt des Wachzustandes einher- 
gehenden Zirkulationsveränderungen in den Organen betrachtet werden dürfen, 
sondern dass dieselben in nicht geringerem Grade die Resultante psycho- 
logischer Faktoren darstellen. Ausschlaggebend für das Zustande- 
kommen der plethysmographischen Begleiterscheinungen des 
Erwachens sind demnach, abgesehen von der im Erwachen selbst 
gelegenen Bewusstseinsveränderung, einerseits die Natur des Weck- 
reizes, anderseits der durch den Weckreiz verursachte psychische 
Zustand, speziell der Gemütszustand, in dem sich das Individuum 
während des Aufwachens befindet. Dies gilt in höherem Masse für die 
Plethysmogramme des Gehirns wie das peripherer Körperteile (Vorderarm- 
plethysmogramm). 

Der allmähliche Übergang aus dem Schlafe in den Wachzustand, wie er 
durch schwache Weckreize, sanfte Berührungen, leise Geräusche, Annähern 



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einer tönenden Stimmgabel an das Ohr des Schlafenden etc. herbeigeführt 
wird, und der in dem spontanen Erwachen sein Analagon hat, ist charakterisiert 
durch eine mehr minder beträchtliche Abnahme des Gesamtvolumens am 
Gehirn und durch eine dieser nicht entsprechende geringe Verminderung des 
Armvolumens. Das Hirnvolumen, mit anderen Worten die Blutfüllung des 
Gehirns ist also in der ersten Zeit nach dem Erwachen geringer als im Schlafe. 
Im Gegensatz dazu prägt sich der plötzliche, von einer Affekterregung be- 
gleitete Eintritt des Wachzustandes unter der Einwirkung eines heftigen Sinnes- 
reizes an der Gehirnkurvc Th's. in der Regel durch eine momentane starke 
Zunahme des Hirn- und eine geringere Vermehrung des Armvolumens unter 
kleinen und frequenten Pulsationen aus, welcher eine stärkere und nach- 
haltigere Volumsverminderung am Gehirne nachfolgt. Diese letzteren plethys- 
mographischen Erscheinungen sind offenbar der Ausdruck einer durch die 
Gemütsbewegung ausgelösten momentanen allgemeinen Gefässerschlaffung mit 
nachfolgender Gefässzusammenziehung im Gehirn und eines lähmenden Ein- 
flusses des Affektstosses auf den Herzhemmungsnerven. Auch nach Aufhören 
der Affektwirkungen bleibt das Hirnvolumen (die cerebrale Blutfüllung) nach 
eingetretenem Erwachen geringer als vor dem Erwachen. Der abnorme, unter 
medikamentösem Einfluss stehende Schlafzustand schliesslich hat andere plethys- 
mographische Begleiterscheinungen als der normale Schlaf. Durch welche 
physiologischen Umstände dieselben bestimmt werden, lässt sich aus unseren 
Versuchen nicht erkennen. 

Aus den bescheidenen Ergebnissen dieser Untersuchungen sehen wir 
das eine: Die Frage nach der Blutverteilung im Körper während des Schlafes, 
beim Einschlafen und beim Erwachen speziell nach den Zirkulationsverhält- 
nissen im Gehirn birgt noch so zahlreiche ungelöste Probleme in sich, dass 
wir weit davon entfernt sind, aus individuellen Beobachtungen wie es die Vor- 
geschilderten sind, eine Theorie des Schlafes aufbauen zu können, geschweige 
denn dass es möglich wäre, daraus Anhaltepunkte für eine tiefere Erkenntnis 
krankhafter Störungen des Schlafes und der ihnen zu Grunde liegenden 
materiellen Ursachen oder gar für eine physiologisch begründete Therapie 
der Schlaflosigkeit zu gewinnen. Diesen Problemen näher zu kommen, muss 
weiteren experimentellen Untersuchungen mittelst graphischer Methoden an 
geeigneteren Versuchspersonen, nicht am Tiere, wie ich ausdrücklich hervor- 
heben will, womöglich unter Zuhülfenahme multipler Pulsschreibung und 
permanenter Registrierung vorbehalten bleiben. Den Anstoss hierzu zu geben, 
ist das Hauptbestreben meiner Arbeit. 




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70 



64 



12 I 91a 



91b 



Datum 



Weckreiz u. Ver- 
halten der 
Versuchsperson 



Hirnvolumen 
vorher 



Hirnvolumen beim 
Erwachen 



Nachheriges 
Durchschnitts- 



niveau 



22. in. 



II. IV. 



5. IV. 



17. IV. 



»» 



y* 



24. IV. 



»> 



14 126. U.' 30.V. 



Erschrecken in- 
folge lauten Rufens 

Leiser Schlaf mit 
Schlafbeweg., An- 
ruf, Versuchsperson 
öffn d.Augen:„Ja", 
sonst ohne Keakt. 

Aufwecken durch 
Klatschen, Kopf- 
bewegung 

LeiserPfiff, erwacht 



Wecken durch 
Anruf 

I mal Klatschen, er- 
wacht ohne motor. 
Reaktion 

Wecken durch An- 
ruf, schläft wieder 
ein 

Morphiumschlaf, 

ih 20' port. injekt. 

Anruf, Wach 

Morphiumschlaf, 
l h 45' post injekt. 
(0,02) Glockenschi, 
erwacht 
Morphiumschlaf, 
Wecken durch An- 
ruf 

Aufwecken durch 

Berührung, keine 

Bewegung 



Anruf, Erwachen 



Leichte Schlafbe- 
wegungen, Aufw. 
durch Stich, Zu- 
sammen! ahren 



Klatschen, Er- 
schrickt 



1 Langsam. Erwach. 

15 136 b 2. VI. durch Ertön, einer 
I I Stimmgabel: „Hm** 

' i I 



Ganz gleichbleib. 



Horizontale Kurve, 

minimale Hebung 

und Senkung 



Ohne Schwankung 



9 Pulse 



Ganze K. = 



= respir. Oscill. 



= respir, Oscill. 



Leichte Welle 



Undulierend, 
leichte Erhebung 

Durchschnitts- 
niveau unt. Undul. 
gleichbleibd., 16 P. 
horizontal 

Grosse Welle, ab- 
steigend. Schenkel 



Kurz ansteigend , dann 
stärker abfallend 

I Puls anschnell, (spricht), 

3 Pulse Abfall unter mittler. 
Niveau, 6 P. leichte Hebung 
(4 mm) u. längs. Senkung 
(18 P. 5 mm) unt. Schlafniv. 

4 Pulse Abfall, dann 5 P. 
leichte ansteig. Welle mit 
stärk. Senk. (14 P. 12 mm), 
Undulationen fortdauernd 

3 P. deutliche Senk., dann 
leichte ansteigende Welle 



2 P. steiler Abfall, dann 
7 P, Anstieg 

Sofort 3 P. 8 mm abfallend, 

sanfter Anstieg, bleibt 

niedriger 

Momentan sanfte Senkung 

(14 P. 9 mm), starke resp. 

Oscill. entstehend 

6 P. unregelm. Schwank 

(Anstieg), dann Abfall unter 

Niveau 15 P,, verstärkte 

respir, Oscill. 

Ohne deutliche Niveau- 
veränderung 

Momentane Senkung, sanft. 
Anstieg u. stärkere Senkung 
unter Niveau ( lO P. II mm) 

Steiler Abfall (4 P. 19 mm), 
geringerer Anstieg (2 P. 
10 mm), dann horizontal 
mit verstärkt, respir. Ose. 

Sofortiger steiler Abfall 

(l P. 21 mm), minimale 

Hebung (3 P. 5 mm) u, 

scharfe Senkung 30 mm 

Steuer AbfaU (2 P. 8 mm), 
Anstieg (5 P.) zum ur- 
sprüngl. Niveau u. Abfall 
b. Hebel aufsitzt(8P. 1 7mm) 

Sofort steil, absink, 9 mm, 
6 P. stark. Anstieg (22 mm) 
u. langsames Sinken (17 P. 
28 mm) unter Schlafniveau 

Sinkt anhaltend 21 P. ab 

(39 mm), steigt später 

wieder an 



Niedriger 



Bleibt niedriger 

(4 mm) als im 

Schlaf 



Undulationen 



Undulation 



Höher 



Niedriger 19 P. 



Niedriger 14 P. 



Bleibt ohne wesent- 
liche Niveauver- 
änderung 



Niedriger 



Bleibt niedriger 
ca. 6 mm 

Bleibt 30 mm 

tiefer 

K. unterbr. (Hebel 

sitzt auf) 

Starke Senkung bis 
Hebel aufsitzt 



Niedriger 8 mm 



Wellenthal tiefer 
als im Schlaf 



^^' '* ^1^ * "* *' PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 



67 



Kurven beim Erwachen. 



Annvol. 
vorher 



ArmTolomen beim 
Erwachen 



Nachher 
Durch- 

schnitts- 
niveau 



Hirnpuls 



Amrpuls 



Pulszahl 



Bemerkungen 



= respu. 
OsdUat. 



Senkung 

auf 
Schlafreiz 



Mit dem Abfall des 
Hirnvolumens zu- 
nehmend 



5 P.Senkung u, Hebung 
dann = 

2 P. Senkung, leichte 
ansteigende Welle u. 
Rückkehr z. ursprüng- 
lichen Niveau 

Minimale Senkung 
und Hebung 



Erst =, dann kaum 
merklicher Anstieg 



Senkung u, Hebung 
bleibt etwas niedriger 



Moment, u. dauernde 
sanfte Hebung 



Unverändert 



Deutl. Senkung 14 P. 



Einige P. abfallend^ 
(Kurve entstellt) 

4 P. seichte Erhebung 

u. entspr. Senkung, 
dann horizont. Verlauf 

Starkes Hochschuellen 
(Zuckung) u. Abfallen 

u. wieder Anstieg, 
verstärkte resp. Ose, 



Höher 



Eine Spur 
niedr. 1 1 P. 



Bleibt 
höher 



Bleibt nie- 
driger 14 P. 



Höher als 

vor dem 

Erwachen 



Kleiner 



Vorüber- 
gehend höher 



Ohne deutliche 
Veränderung 



Flacher 



Flacher, un- 
gleich 



Flacher und 
ungleich m. 

Flacher, resp. 
Veränderung 
ausgeprägter 

Sehr ungleich, 

zunächst klein., 

starke respir. 

Schwankungen 

Höher, stärkere 
resp. Schwank. 



Abgeflacht 



Kleiner, 
ungleich 



Kleiner, un- 
gleich m. Pulse 



Kleiner u. 
ungleich 



Viel niedriger 

Wechs. Höhe, 
ein. Pulse höh., 
in der Tiefe der 
Welle niedrig. 



Kleiner 



4 P. unregelm., 

vorübergehend 

höher 



Etwas unregel- 
mässig 



Unregelmässig 



Höher 

Höher, stärker, 
respir. Puls- 
schwankungen 
Höher ca. 12P. 

Vorübergehend 
höher 



Etwas 
niedriger 



Deutlich 
höhere Pulse 



Niedriger (die 



Viel kleiner, 
verunstaltete P. 



Kleiner 



Ungleich m. 

höher, einzeln. 

sehr hohe 

spitze Pulse 



Un- 
bestimmt 



= (92) 



Beschl. 
96 (90) 



Beschl. 
82 (70) 



+ 76 (70) 



3 P, verlän- 
gert, dann 
beschl. 



= 74 



Dauernde 
Beschl. 
78 (68) 



68 (72) 



78 (72) 



Beschl. 
78 (72) 



+ 78 (74) 



+ 88 (68) 



+ 84 (74) 



Einige P. 

beschleun. 

dann = 



Tafel 4D 



Seealewirkung 
Atmung vertieft 



Atmung vertieft 
u. beschleunigt 



I flach. Inspir., 
(leichter Affekt) 



Tafel 6D 



Tafel 6D 



Morphium- 
wirkung 
Tafel 8C 



Talel 8D 



Tafel 4 A 



Tafel 4B 



I 



5* 



68 



DR. K. BRODMANN. 



Journal t Ptychologi« 
und Neurologie. 



Tabelle IV. (Fortsetzung.) 



Verhalten der plethysmographischen 



No. 



Kurve 



l6 



17 



18 



19 



20 



21 



137a 



137 b 



142 



142 b 



149 



152 



22 



23 



24 



25 



153 I 



156 



160 a 



160 n 



Datum 



Weckreiz u. Ver- 
halten der 
Versuchsperson 



Himvolumen 
vorher 



Himvolumen beim 
Erwachen 



2. VI. 



6. \^. 



13. VI. 



28. VI. 



30. VI. 



>> 



26 160 m 



27 



160C 



fy 



28 161 



29 



30 



tf 



163 I 5. VII. 



170 II 



• « 



Stich in die Hand, 

Schreck u. Schmerz 

zuckt zusammen 



Wecken durch An- 
ruf, „Jawohl" 



Brüskes Erwachen 
nach 2m al Klatsch. 



Erwachen unter 
Pinselberührung 

Erwachen nach 

Slich ins Ohr mit 

2 tiefen 

Inspirationen 

Klatsch., erwacht, 
leichtes Kopfnick. 

Macht Schluckbew. 

u. erwacht spontan, 

öffnet Augen 

Zunehmen. Stichel- 
chen m. langsamem 
Erwachen 

Erwecken durch 

leisen Pfiff, keine 

motor. Reaktion 

Unmittelbar nach 

Wiedcreinschlafen 

d. Anruf geweckt 

Durch Anblasen 
längs. Erwachend 



Sanfte Undulation 

7 p. = 



Längs, ansteigend 



Leicht, allmählich, 
Ansteigen 



Leichtes Ansteigen 



Jähes An- u. Abschwellen (K. verunstaltet, 
Hebel abgeschleudert) K. sinkt 12 P. 80 
stark ab, dass das Ventil geöffnet werden 
muss, um den negativen Druck im 
Tambour auszugleichen 

Vorübergehende Zunahme (8 P.), dann 
wieder Abnahme u. Undulation 

Weiteres Ansteig.(7P. 17 mm), dann stark. 

Absinken (20 P. 46 mm) bis unter Niveau 

vor dem Wecken 28 mm, wieder einschlaf« 

unter Undulationen u. Anstieg 

Sofortiges Absinken (2 P. 17 mm) lang- 
samer Anstieg wellenförmig, ursprünglich. 
Schlafniveau nach 22 P. 



1 i. j. o^ 1 Sofort starker Anstieg 4 P., dann stärkerer 

zuletzt gr. Strecke Aurn ,, r» » c ui r • 

*• Abfall IIP, unter Schlafniveau 



horizontal 



2 gewalt. spontane 
Wellen im Schlaf 



Ganz langsames 
sanftes Sinken 



Grosse Undulation, 

längs, ansteigende 

Welle 

Fast horizontal, 
leichte Elevation 



14 P. feist horizont. 



Leichte Undulat. 



Schlüssel zu Roden Grosse steile Un- 
geworf., erschrickt ! dulationen 



Aufwecken durch 

Klatschen, Erschr. 

lebhaft 

Sanftes Erwachen 

durch Berührung 

der Wange 

Erwachen aus lei- 
sem Schlaf durch 
Klatschen 



Grosse Undulat. 



18 P. ganz = 



Unmerkliche 
Schwankung 



Rasches Ansteigen u. langsameres Ab- 
sinken u. wieder Ansteigen 

2 Pulse minimal ansteigend, dann lang- 
sames Sinken (7 mm 10 P.) unter 
Schlafniveau 

Leichte sekundäre Elevation (6 P. 9 mm) 

unter den Stichen, mit Augenöffnen 

jäher Abfall (10 P. 45 mm) 



Sofort anhaltendes Sinken (17 P. 34 mm) 



Sofort starker Abfall (16 P. 27 mm) 



10 Pulse sanftes Ansteigen (5 mm) mit 
Augen öffnen steiles Absink. (7 P. 30 mm) 



2 P. steiler Abfall, 6 P. starkes Ansteigen 
u. schliesslich 1 1 P. stärkeres Sinken 

Starkes Anschnellen 34 mm u. scharfer 
Abfall (22 P. 50 mm) unter das ursprüng- 
liche Niveau, wellenförmiges Wieder- 
ansteigen 

Bleibt 4 P. gleich, steigt 2 P. 4 mm, 

fallt dann anhaltend bis zum Schluss ab 

(Hebel sitzt auf) 

Minimaler Anstieg, dann Abfall 17 mm 
u. massige Elevation 



^^' '' ^^^. ^ "* ** PLETHYSMOGRAPHISCHE STUDIEN AM MENSCHEN. 



69 



Kurven beim Erwachen. 



Nachheriges 
Durchschnitts- 



mveau 




Pulszahl 



Bemerkungen 



Tiefer abgesunken als 

das Durchschnittsvolumen 

im Schlaf 



Niedriger 



Im Wachen niedriger 



Niedriger als im Schlaf 



Bleibt unter Schlafniveau 



Undulationen (keine deut- 
liche Senkung) 



Tiefer als vorher 



Bleibt stark unter 
Schlaf niveau 



Bleibt niedriger 



Bleibt niedriger 



Bleibt niedriger 



Ist niedriger, und ulier t 
nachher 



Niedriger 



Stark vermindert 



Erreicht die frühere 
Höhe nicht 



Viel kleiner 

(8/15 mm> 



Kleiner 



Kleine, unregel- 
mässige Pulse 



Bleibt hoch u. 
regelmässig 



Hoch wie vor dem 
Erwachen 



Höher u. spitzer 



Kleiner 



Kleiner 



Wenig kleiner 



Kleiner 



Kleiner 



Kleiner 



Kleiner, ungleich 



Zunächst einige Pulse 
kleiner, dann höher 



Etwas unregelmässig 



Starke Beschleunigung 

86 (72) 



Stark beschleunigt 



Starke Beschleunigung 
94 (70) 



Verlangsamung 

66(74) 



Leichte vorübergehende 
Beschleunigung 

? 

Metronom 

ungleich massig 

Momentane Beschleu- 
nigimg 72 (68) 



Etwas beschleunigt 
(Metronom) 

Zunächst Verlangsamung 
einiger Pulse, dann be- 
schleunigt 

Wenig beschleunigt 



Beschleunigt 80 (75) 



Stark beschleunigt 
(72) 88 



Enorme Beschleunigung 
von 75 auf über ICX) P. 



Bcschl. 85 (80) 



= 76 



Tafel 7 F 



Tafel 7 A 



Tafel 7 D 



Tafel 8A 



(Schmerzwirkung 
und Erregung) 



(Leichte 
Affektwirkung) 



Tafel6Ct3t4 



Tafel 8 B I , 



Tafel 8 F 1 2 



Tafel 7 E 



^0 LTTTERATURVERZEICHNIS. •^^""^f L^SSL°^** 



und Neurologie. 



LITTERATÜRVERZEICHNIS. 



i) Berger, H., Zur Lehre von der Blutzirkulation in der Schädelhöhle des Menschen 
namentlich unter dem Einfluss von Medikamenten (Experimentelle Untersuchungen). 
Habilitationsschrift. G. Fischer. Jena 1901. 

2) Mo SSO, Über den Kreislauf des Blutes im menschlichen Gehirn. Leipzig 1881. 

— Die Temperatur des Gehirns. 1894. 

— Die Diagnostik des Pulses in Bezug auf die lokalen Veränderungen desselben. 
Leipzig 1879. 

— Sopra un nuovo metodo per scrivere i movimenti dei vasi sanguigni nelP uomo. 
Reg. Acad. d. scienze di Torino. XL 1875, 

3) Lehmann, Die körperlichen Äusserungen psychischer Zustände. Erster Teil. 

Plethysmographische Untersuchungen. Leipzig 1899. 

4) Exner, Aus Hermanns Handbuch der Physiologie. IL 2. S. 292 ff. 

5) Foster, The necessity for a new Standpoint in sleep theories. The Americ. Joum. of 

Psychol. XIL 190 1. S. 145 ff. 

6) Langlet, Etüde critique sur quelques points de la physiologie du sommeil. Thtee de 

Paris 1872. 

7) Czerny, Zur Kenntnis des physiologischen Schlafes. Jahrbücher f. Kinderheilk. 1896. 

Bd. 41. 

8) Pick, F., Über experiment. Beeinflussung der Gefasswei^. Prag, med, Wochenschr. 

Bd. 23. 1898. S. 588. 

9) Basch, Wiener medizin. Jahrbücher 1876. 

10) Lange, C., Über Gemütsbewegungen. Eine psychophysiol. Studie. Leipzig 1887. 

11) Durham, The Physiology of Sleep. Guys Hosp. Reports 1860. Vol. VI und Psych. 

Joum. Vol. V. 

12) Hammond, Sleep and its Derangement. New York med. Joum. 1865. 

13) Bruns (nach Mosso, Der Kreislauf etc.). 

14) Krauss (nach Langlet 1. c). 

15) Reynards (nach Langlet 1. c). 

16) Bradford Brown. Americ. Joum. of the Med. Science. 1860. 

17) Caldwell und Blumenberg (nach Langlet). 

18) Pierrot, De Pinsomnie. Th^se des Strasbourg. 1868. 

19) Fazio, Sul sonno naturale. II Morgagni VIII. 

20) Franck, Fran<^ois, Recherches cliniques et experimentales sur les mouvements 

altematifs d'expansion et de resserrement du cerveau dans leurs rapports avec la 
• circulation et la respiration. Journal de l'Anat. 1877. 13. S. 267. 

21) Salathe, Recherches sur le mecanisme de la circulation dans la cavite cephalo- 

rachidienne. Paris 1876. Femer: Recherches sur les mouvements du cerveau. 1877. 

22) Nathanson, Die Blutzirkulation im Gehirn. Die Mechanik des Schlafes. Sitzungs- 

bericht der Königl. Akad. d, Wissensch. in Krakau. 1883. 

23) Tarchanoff, Quelques observations sur le Sommeil normal. Arch. Ital de Biologie. 

XXI. 2. 1894. Ferner: Lancet 1895. 

24) Ho well, A Contribution to the Theory of Sleep. Joum. of Exp. Med. 1897. II. S. 313 ff. 

25) Hermann, Lehrbuch der Physiologie. 1882. 

26) V. Bunge, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Erster Band. 1901. 

27) Mays, Über die Bewegungen des menschlichen Gehirns. Virchow, Arch. Bd. 88. 1882. 

28) Hill, L., The Physiology and Pathology of the Cerebral Circulation. London 1896. 

— Arterial Pressure in Rest and Sleeping. Joum. of Physiol. 1898. 

— On Rest, Sleeping and Work. Lancet 1898. 

29) Cappie, The causation of Sleep. Edinburgh 1882. 

— The Intracranial Circulation and its Relation to the Physiology of the Brain. Edin- 
burgh 1890. 



^^' '* ^w^ * "' *' LlTTERATUR\nERZEICHNLS. 7 r 

30) e Ferranini, R., La circulation du sang dans le cerveau de l'homme pendant le 

sommeil. Verband des X. internal. Kongresses zu Berlin 1890. Bd. II. 

31) Makenzi<s, Circulation of the blood and lymph in the cranium during sleep and 

sleeplessness with observations of hypnotics. Joum. of ment. Science Bd. 37. 1891. 

32) Hering, Über den Einfluss der Atmung auf den Kreislauf. I. Mitteilung: Über die 

Atembewegungen des Gefasssystems. Sitzungsber. d. math.-naturw. Klasse d. Königl. 
Akad. d. Wissensch. 60. Bd. II. 1869. 

33) Frcdericq, Recherches sur la respiration et la circulation. La courbe plethysmo- 

graphique du cerveau du chien. Arch. de Biol. 1885. 

— Note sur les mouvements du cerveau de Phomme. Arch. de Biol. 1886. 

— Was soll man unter „Traube-Heringschen Wellen" verstehen.»* Arch. f. Anat. 
u. Physiol. Physiol. Teil. 1887. S. 351. 

34) Ragosin und Mendelsohn, Graphische Untersuchungen über die Bewegungen des 

Gehirns beim lebenden Menschen. St. Petersb. med. Wochenschr. 1880. 

35) Binet und Sollier, Recherches sur le pouls cerebral dans ses rapports avec les attitudes 

du Corps, la respiration et les actes psychiques. Arch. de Physiol. 1895. S. 719. 

36) Siven, Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss der Körperstellung und 

Respiration auf die Gehimbewegungen beim Hunde. Zeitschr. f. Biol. Bd. 35. 1897. 

37) Wertheimer, Sur les variations de volume des membres liees k la respiration. Arch. 

de Physiol. 1895. S. 744. 

38) Binet und Courtier, Circulation capillaire de la main dans ses rapports avec la 

respiration et les actes psychiques. L'annee psychol. II. 1895. 

39) Hallion und Comte, Recherches sur la circulation capillaire chez Phomme ä Petude 

d'un nouvel appareil plethysmographique. Arch. de physiol. 1894. 

40) Mentz, Die Wirkung akustischer Sinnesreize auf Puls und Atmung. Wundts Philos. 

Stud. XL 1895. 

41) Lombard und Pillsbury, Secondary Rythm of the normal human heart. Amer. 

Journ. of Physiol. III. 1899. 

42) Sciamanna, II polso cerebrale nelle diverse posizioni del soggetto. Riv. sper. di 

Freniat. 25. 1899. S. 162. 

43) Kries, Über ein neues Verfahren zur Beobachtung der Wellenbewegungen des Blutes. 

Arch. f. Anat. u. Physiol. Phys. Teil. 1887. S. 254. 

44) Bock und Verhoogen, Contribution k Tetude de la circulation cerebrale. Joum. de 

med. 1890. Vol. 90. 

45) Lehmann, Die Grundgesetze des Gefühlslebens. 

46) Ziehen, Sphygmographische Untersuchungen an Geisteskranken. Jena 1887. 

47) Maudsley nach Makenzie (31). 

48) Sarlo e Bernardini, Richerche sulla circolazione cerebrale durante Tattivitä psychica. 

Riv. sperim. XVIL S. 503. 

49) Eider, The intracranial circulation in someof its aspects. Brit. med. Joum. 1897. S. 1414. 



72 DR. M. LEWANDOWSKY. ^""""ZH vi^u^i!^'^ 



und Neurologie. 



(Aus der speciell-physiologischen Abteilung des physiologischen Instituts der Universität Berlin.) 

Über den Mnskeltonus, insbesondere seine Beziehung zur 

Orosshirnrinde. 

Von 

Dr. M. Lewandowsky 

z. Z. Assistent des neurobiologischen Instituts. 

Die folgenden Bemerkungen beziehen sich zunächst auf Ausführungen, 
welche Hitzig in seinen ,, Alten und neuen Untersuchungen über das Gehirn** ^) 
über den Tonus der Extremitäten nach Verletzung der motorischen Zone des 
Grosshirns gemacht hat. Hitzig kommt hier auf die schon früher von ihm 
vertretene Auffassung zurück, dass die Ausschaltung des Gyrus sigmoideus 
beim Hunde einen Zustand bedingt, welcher der cerebralen Lähmung des 
Menschen und des Afifen analog, wenn auch nicht äquivalent ist in dem 
Sinne, dass durch jene Operation „stetige Erregungen — eine Art von 
Tonus**, welche von dem Gyrus sigmoideus aus den Extremitäten zufliessen, 
beseitigt werden. 

In der zweiten der erwähnten Abhandlungen geht Hitzig ausführlich 
auf Untersuchungen von Bianchi^) ein, der zu ganz entgegengesetzten Folge- 
rungen gekommen war. Bianchi behauptet nämlich, dass die Entfernung des 
Gyrus sigmoideus zu einem erhöhten Tonus der Glieder, zu einer tonischen 
Streckstellung derselben führt. Er betont weiter, dass die Glieder bei Reiz- 
versuchen noch mehr gestreckt werden, und schliesst, dass der stärkere 
Spannungszustand der Extensoren qualitativ der posthemiplegischen Kontraktur 
des Menschen zu vergleichen und nur quantitativ von ihr unterschieden ist. 
Der Gegensatz zwischen den beiden Forschern ist also der denkbar grösste, 
da Hitzig den Zustand der Glieder mit einer Lähmung, Bianchi ihn mit 
einer Kontraktur vergleicht. 

Die Erklärung nun, welche Hitzig für die entgegengesetzten Ergebnisse 
Bianchis giebt, scheint uns nach eignen Versuchen nicht zutreffend zu sein. 
Hitzig betrachtet nämlich die von Bianchi beobachtete tonische Streck- 
stellung als abnorm und beruhend ,,auf der Dazwischenkunft ungewöhnlicher 
Umstände" (S. 325), welche sowohl cerebral als spinal bedingt sein können. 
Spinal würden sie bestehen in passiven Bewegungen der Extremitäten oder 



1) Arch. f. Psychiat. XXXI\^ S. 17., XXXV. S. 313 ff. 

^ Die Arbeiten Bianchis (erschienen in der Psichiatiia 1883, 1885) sind mir im Original 
nicht zugänglich. Ich citiere nach dem Bericht Hitzigs. 



^^' '* ^QM * "* ** ÜBER DEN MUSKELTONUS ETC. 73 



analogen Reizzuständen, welche Änderungen des Spannungszustandes im Ge- 
folge haben könnten. Cerebrale Reizzustände werden Hitzig wahrscheinlich 
durch das gleichzeitige Bestehen von Epilepsie in einem seiner Fälle, und er 
glaubt sogar, das häufige oder regelmässige Vorkommen der kontraktur- 
ähnlichen Zustände bei den Hunden Bianchis durch die Vermutung erklären 
zu sollen, Bianchi hätte nicht aseptisch operiert und in vielen Fällen Wund- 
eiterung bekommen. 

Dieser Erklärungsversuch ist irrtümlich. Vielmehr ist eine tonische, 
kontrakturähnliche Streckstellung der Extremitäten bei jedem Hund nach Ab- 
tragung des Gyrus sigmoideus zu erzielen, auch wenn die Wunde nicht eitert, 
sondern per primam heilt und Zeichen für eine Reizung in keiner Weise vor- 
handen sind; auch ist das nicht nur bald, sondern noch Monate nach der 
Operation möglich, anscheinend so lange und in dem Masse, als überhaupt 
noch Folgen derselben nachzuweisen sind. Wenn Hitzig sagt, dass eine 
Spannungszunahme in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle durch irgend- 
welche Manipulationen, welche man mit dem Hunde vornimmt, nicht hervor- 
gebracht werden kann, müssen wir das Gegenteil behaupten. Zu diesen 
Manipulationen, welche sehr geeignet sind eine Spannungszunahme zu erzeugen, 
gehört gerade auch das Aufhängen des Hundes in der Schwebe, bez. das 
Aufheben desselben an der Rückenhaut, eine Massnahme, auf welche Hitzig 
bei Bestimmung der Spannung der Glieder einen fast ausschliesslichen Wert 
legt; das einfache Emporheben an der Rückenhaut hat fast regelmässig zu- 
nächst eine sehr erhebliche Spannungszunahme der der Operationsseite kon- 
tralateralen Glieder zur Folge, derart, dass sie im Ellbogengelenk gestreckt 
senkrecht zur Körperachse vom Körper abstehen. Auch Fuss- und Zehen- 
gelenke sind gestreckt. Die Glieder sind durch Muskelwirkung in dieser 
Stellung so fixiert, dass sie passiven Bewegungen einen ganz erheblichen 
Widerstand entgegensetzen und, wenn man solche forciert, federartig wieder 
in die Streckstellung zurückschnellen. Es setzen also die Muskeln, wie im 
Gegensatz zu Hitzig behauptet werden muss, passiven Bewegungen durchaus 
einen stärkeren Widerstand entgegen als die der normalen Seite. Es ist der 
Zustand der Muskeln im Augenblick von einer Kontraktur nicht zu unter- 
scheiden, die tonische Streckstellung unterscheidet sich aber dadurch von der 
Kontraktur, dass sie eben nur durch bestimmte Manipulationen — wenn auch 
durchaus regelmässig — wieder hervorgerufen werden kann und durch 
Schaffung anderer Bedingungen — ebenso regelmässig — zu beseitigen ist. 

Legen wir den Hund nämlich auf den Tisch und beschäftigen uns eine 
Zeit mit ihm, indem wir ihn durch Streicheln u. s. w. möglichst in Ruhe zu 
bringen versuchen, so finden uir nun in der That, wie Hitzig behauptet, die 
Glieder abnorm schlaff; wir können alle Gelenke abnorm weit und leicht 
beugen und strecken, ohne dass der Hund sich dagegen irgend wehrt: ein 
Zustand beträchtlicher Hypotonie bis zur vollständigen Atonie. Heben wir 
ihn an der Rückenhaut in die Höhe, so haben wir sofort wieder die Hyper- 
tonie, die kontrakturähnliche Streckstellung. Lassen wir den Hund jetzt 
längere Zeit in der Schwebe hängen, so kommt es meist zu einem Nachlassen 
der Starre, so dass man die Atonie sehr wohl auch im weiteren Verlauf der 



74 DR. M. LEWANDOWSKY. '""Zä L^l^.t''' 



und Neurologie. 



Schwebe konstatieren kann. Zwischen diesen entgegengesetzten Zuständen 
finden sich nun alle Übergänge. 

Wenn wir nun die Bedingungen prüfen, unter denen der hypertonische 
Zustand eintritt, so ist Hitzig geneigt, ihn in den seltenen Fällen, in denen 
er ihn überhaupt beobachtete, als Mitbewegung zu deuten. Demgegenüber 
ist festzustellen, dass er auch unter Umständen zur Beobachtung kommt, wo 
von Mitbewegung keine Rede sein kann. Das lässt sich z. B. zeigen, indem 
man die afficierten Glieder — am besten die vordere Extremität — über 
den Rand des Tisches führt und zwar soweit, dass auch die Gegend des 
Ellbogengelenks nicht mehr auf der Tisdiplatte aufruht. Man wird dann fast 
immer sofort die tonische Streckstcllung eintreten sehen, während die Glieder 
der anderen Seite ruhig und in den normalen Grenzen beweglich auf dem Tische 
ruhen. Wohl kann eine Streckstellung durch Mitbewegungen verstärkt werden, 
aber sicherlich ist sie nur in den seltensten Fällen nichts als Mitbewegung. 

Die Bedingungen nun, unter denen die Hypertonie zu stände kommt, 
sind so variabel, dass es schwer ist, sie bestimmt zu definieren. Wenn wir 
zweckmässig zunächst von den Bedingungen der Atonie sprechen, so tritt 
eine solche immer dann ein, wenn das Tier möglichst in Ruhe ist und 
keinen Grund hat, seine Muskeln überhaupt in Spannung zu versetzen. Dann 
sind die Muskeln der afficierten Seite abnorm schlaff, schlaffer als die der 
gesunden. Dem gegenüber kann man im allgemeinen behaupten, dass die 
Hypertonie nur dann hervortritt, wenn der Hund die Tendenz hat zu inner- 
vieren. Eine solche Tendenz kommt nun z. B. auch dann zum Ausdruck, 
wenn man den Hund an der Rückenhaut in die Höhe hebt. Man hat hier 
entschieden den Eindruck — nur von einem solchen kann man hier sprechen, 
und insbesondere bleibe es durchaus dahingestellt, in wie weit die eintretende 
Bewegung als eine im eigentlichen Sinne willkürliche aufzufassen ist — als 
wenn das Tier das Bestreben hat, den Erdboden wieder zu erreichen und die 
Streckbewegung zeigt sich thatsächlich nicht nur auf der kranken, sondern 
auch auf der gesunden Seite, nur ist sie hier nicht so stark und wird schnell 
wieder korrigiert. Es ist eine im Prinzip gleiche Bewegung auch beim Menschen 
zu beobachten, den man schnell von hinten umfasst und in die Höhe hebt. 
Auch der Mensch zeigt dann durch eine reflexartig erfolgende Streckung der 
Beine unter Plantarflexion des Fusses das Bestreben, möglichst sich an dem 
Erdboden festzuhalten. 

Desgleichen ist die Streckbewegung eines Gliedes, das man über den 
Tischrand hinaus führt, physiologisch vorgebildet. Man mache den Versuch, 
einen Hund auf eine Tischplatte zu stellen so, dass seine Hinterbeine nahe dem 
Tischrand stehen und stosse sie dann schnell und überraschend über den Tisch- 
rand hinweg, so wird man, ehe der Hund sich wieder aufrafft und mit einer 
Beugung die Beine wieder hinaufschwingt, sie zunächt weit in Extension nach 
unten fahren sehen. Man halte einen Hund rasch im Nacken mit dem Vor- 
derkörper über den Rand des Tisches, so wird man fast immer eine Streckung 
der Vorderbeine beobachten. Selbstverständlich darf man solche Versuche 
nicht zu oft wiederholen, dann unterbleiben diese Reaktionsbewegungen, die 
im übrigen ihrer Intensität nach von vielen anderen Umständen, so auch von 



^^* '' ^Sm^ ^ "* *' ÜBER DEN MUSKELTONUS ETC. 7 5 



dem Temperament des Tieres abhängig sind. Es bestehen überhaupt auch 
beim normalen Tier hier eine grosse Reihe von Reaktionen, die bisher un- 
bekannt sind, eine der sichersten ist z. B. folgende: Man lege den Hund 
ruhig auf die Seite, so wird er gewöhnlich die Vorderbeine in allen Gelenken 
leicht gebeugt etwas nach vorn halten. Nun fasse man das eine Bein in der 
Gegend des Ellbogengelenks und schiebe es als ganzes nach hinten. Sofort 
wird man sehen, wie sich das Fussgelenk und die Zehen strecken, so ener- 
gisch, dass sie passiven Bewegungen erheblichen Widerstand entgegensetzen. 
Nach Verletzung des Gyrus sigmoideus treten alle diese Bewegungen in ganz 
abnormer Stärke auf und werden nicht korrigiert. 

Wer sich längere Zeit mit solchen Tieren beschäftigt, wird auch im all- 
gemeinen zu dem Ergebnis kommen, dass diese tonische Streckstellung dann 
auftritt, wenn die Tendenz dazu auch auf der normalen Seite vorhanden ist, 
und es wird nicht schwer fallen, sie in verschiedener Art und Abstufung zu 
erzielen. Sicherlich in der grossen Mehrzahl der Fälle ist die tonische Strcck- 
stellung nur die nach Stärke und Dauer pathologische Übertreibung einer physio- 
logischen Haltung. 

Dieser Hypertonie steht aber gegenüber die Atonie, welche immer dann 
zur Erscheinung kommt, wenn auch physiologisch die Tendenz zur Ruhe, 
zur Entspannung der Muskeln vorhanden ist, z. B. auch dann, wenn der Hund 
einige Zeit ruhig in der Schwebe gehangen hat. Hitzig hat also durchaus 
Recht, wenn er atonische Zustände beschreibt, ebenso Recht hat aber auch 
Bianchi, wenn er die Hypertonie hervorhebt. Beide sind im Irrtum inso- 
weit, als letzterer die Atonie nicht berücksichtigt, ersterer die Hypertonie 
leugnet, bezw. nicht als normale Folge der operativen Eingriffe gelten lassen 
will. Es wechseln vielmehr je nach den Umständen Atonie und Hypertonie 
miteinander ab. Will man die beiden Zustände unter einen Hut bringen, so 
könnte man sie passend als Dystonie bezeichnen. 

Charakteristisch für das uns beschäftigende Symptom ist nur 
dies, dass der Spannungszustand des von der Operation be- 
troffenen Gliedes von dem normalen abweicht, und dass diese 
Abweichung bald nach der negativen, bald nach der positiven 
Seite statthat. Bezeichnet man als Tonus, wie das ja häufig geschieht 
(vgl. darüber S. ^^) den Spannungszustand der Muskeln bei grösstmöglicher 
Ruhe, so kann man freilich mit Hitzig von Atonie sprechen. Aber für die 
Erklärung ist mit dieser Feststellung nichts gewonnen. Es macht vielmehr die 
Thatsache, dass nebeneinander Verminderung und Erhöhung des Spannungs- 
zustandes bestehen, zunächst eins sicher, dass es sich bei dieser Abweichung 
nicht um ein eigentlich motorisches Symptom handeln kann. Wir sehen ja, 
dass die Möglichkeit einer abnorm starken Innervation gegeben ist, und das 
ist wohl ein Beweis gegen die von Hitzig angenommene Analogisierung der 
Atonie mit der Lähmung des Menschen. 

Wenn man dem Worte Lähmung einen bestimmten Sinn beilegen will, 
so dürfte damit die Unmöglichkeit bezeichnet sein, eine Bewegung überhaupt 
auszuführen. Es bezeichnet also ein reines Symptom der Motilität. Wenn 
beim Menschen oder beim Affen Verletzungen der Grosshirnrinde eine 



76 DR. M. LEWANDOWSKY. •"^f ^Ä^ri^"'' 



und Neurologie. 



„Lähmung" zur Folge haben, so beweist dieses Verhalten, dass bei diesen 
Species die Anregung zu allen oder fast allen Bewegungen der quergestreiften 
Muskulatur im Grosshirn lokalisiert ist. Inwieweit in diesem Sinne das allge- 
meine Verhalten des Hundes nach Abtragung des Gyrus sigmoideus auch 
als Lähmung aufgefasst werden kann, insofern gewisse Bewegungsimpulse, 
z. B. die zu isolierter Bewegung ausfallen, steht hier nicht zur Erörterung. 
Das Symptom der Atonie hat mit Lähmung nichts zu thun. Es widerspricht 
allen Begriffen einer solchen, dass eine Bewegung sogar ungewöhnlich ener- 
gisch ausgeführt werden kann. 

Die Möglichkeit der Abweichung des Spannungszustandes der Muskeln 
von der Norm nach der Seite der Atonie und der Hypertonie deutet viel- 
mehr von vornherein auf einen sensiblen Ursprung des Symptoms. Es ist 
das gerade das Charakteristische der durch Störungen der Sensibilität bedingten 
Störungen der Motilität, dass die Bewegung nicht nach einer bestimmten 
Richtung verändert ist. Die Regulierung der Bewegung durch die Sensi- 
bilität ist verloren gegangen. In welcher Richtung sich im Einzelfall die 
Störung der Motilität zeigt, ist nur bei genauester Kenntnis aller Umstände 
— d. h. gewöhnlich gar nicht — zu berechnen. Ich erinnere hier an die 
Bewegungsstörungen bei der Tabes dorsalis des Menschen, welche nach dieser 
Richtung von Frenkel eine eingehende Darstellung erfahren haben. 

Ich bemerke ferner, dass genau die gleichen Schwankungen des Span- 
nungszustandes der Muskeln, welche oben als Folge der Verletzung der Gross- 
hirnrinde geschildert worden sind, als regelmässige Folge von Kleinhirn- 
verletzungen beim Hunde zur Erscheinung kommen. Hier hat sich mir auch 
zuerst die Deutung dieser Zustände ergeben. Die Differenzen zwischen Atonie 
und Hypertonie sind hier noch sehr viel ausgesprochener und durch Herbei- 
führen gleicher Umstände immer wieder mit maschinenartiger Sicherheit zu 
producieren. Auch hier entspricht diese Störung der Motilität einer primären 
Störung der Sensibilität, nämlich des Muskelsinns, welche von mir als Folge 
der Verletzung des Kleinhirns festgestellt worden ist.^) Der Stand der Frage 
war hier auch genau so controvers, wie beim Grosshirn, da der Lehre Lucia- 
nis'^) von der (motorischen) Atonie die alten Experimente von R. Wagner^) 
entgegen standen, welcher eine Neigung zu tonischer Streckstellung beobachtete. 
Beides ist vorhanden, und die Erklärung ist die gleiche, wie für die Folgen 
der Grosshirnverletzung, wie dann überhaupt das Kleinhirn für die Aus- 
führung der Bewegung beim Tier durchaus gleichartiges leistet, wie die 
Extremitätenzonen der Grosshirnrinde: die Beherrschung der Bewegung 
unter Leitung der Sensibilität. Wie innerhalb der Grenzen dieser 
Definition die Bedeutung der beiden Organe dennoch eine verschiedene ist, 
wird an anderer Stelle gezeigt werden. 

Um zu unserem eigentlichen Thema zurückzukehren, so besteht ja 
heute kein Zweifel mehr, dass infolge der Abtragung des Gyrus sigmoideus 



*) Centralbl. f. Physiol. 1901, 20. Juli. 

^) Das Kleinhirn, Leipzig 1892. 

') üüttiuger gelehrte Anzeigen 1858, HI, S. 32 1. 



^^' ^' ^^ * "■ *' ÜBER DEN MUSKELTONUS ETC. 77 



ausgesprochene Sensibilitätsstörungen und zwar insbesondere solche des 
Muskelsinnes auftreten, wie zuerst Fritsch und Hitzig gezeigt haben. Geben 
wir zu, dass die Dystonie ein motorisches Symptom im eigentlichen Sinne 
nicht sein kann, so ist sofort klar, dass zunächst die Atonie nicht nur als 
Symptom der Lagesinnstörung, sondern als die Lagesinnstörung selbst auf- 
gefasst werden kann. Wenn wir die „Atonie** dadurch festgestellt haben, dass 
wir die Gelenke des Gliedes abnorm weit gestreckt oder gebeugt haben, so 
haben wir doch das Glied in abnorme Lagen gebracht. Da diese abnorme 
Lage der Glieder vom Tiere nicht korrigiert wird, die Reaktion ausfällt, und 
wir beim Tiere ja doch immer nur auf Reaktionen angewiesen sind, so 
kann in der That die Atonie geradezu als Demonstration der Muskelsinn- 
störung gelten, vorausgesetzt, dass — wie wir annehmen zu müssen glauben — 
Störungen der Motilität nicht bestehen. 

Wie andererseits die Hypertonie zu stände kommt, ist zu verstehen, 
wenn wir uns erinnern, dass ein Übermass der Bewegung so oft durch 
Störungen der Sensibilität hervorgerufen wird, z. B. beim Tabiker, dass auch 
die Bewegungen unseres Hundes oft übermässig sind, dass er den Fuss oft 
zu hoch — ebenso oft auch zu wenig — hebt. Nun haben wir aber im 
Grunde gar kein Recht mehr, die Lehre vom Tonus von der Lehre von der 
Bewegung überhaupt abzutrennen. 

Was ist .überhaupt Tonus .^ Bestimmend auf die Auffassung desselben 
wirkt noch immer die Definition von Johannes Müller ein, dass nämlich 
,,die Muskeln beständig dem Prinzipe der Nerven auch im Zustande der Ruhe 
ausgesetzt sind.** So werden auch nach Hitzig den Muskeln „stetige** Er- 
regungen zugeleitet. Ja wo ist dieser ,, Zustand der Ruhe** und wo jene „be- 
ständigen** und ,, stetigen Erregungen?** Welchen Zustand wollen wir als den 
der Ruhe annehmen, den möglichster willkürlicher Entspannung, den des 
Schlafes oder gar den tiefster Narkose.'* In tiefster Narkose ist der Tonus 
thatsächlich aufgehoben, die Glieder lassen sich überstrecken und übermässig 
flektieren, und das ist der einzige Zustand, in dem man von einer Beständig- 
keit reden könnte. Dass der Tonus der Muskeln im Schlaf kein konstanter, 
sondern ein für die einzelnen Muskeln verschiedener und von der allgemeinen 
Körperhaltung abhängig ist, weiss jeder. Bleibt übrig der Tonus bei mög- 
lichster willkürlicher Entspannung. Dieser Zustand kann natürlich nur beim 
Menschen mit Sicherheit gemessen werden, beim Tiere sind wir auf eine 
vage Beurteilung des jeweiligen Ruhezustandes angewiesen. Praktisch dia- 
gnostisch ist bekanntlich die Feststellung des Masses der passiven Beweglich- 
keit von grosser Bedeutung. Aber wir erhalten dieses Mass — darüber muss 
man sich klar sein — durch Herbeiführung eines Reizzustandes, indem wir 
nämlich den Muskel, dessen Tonus wir messen wollen, dehnen. Es ist von 
Tschirjew^) gezeigt worden, dass der Tonus eines Muskels abhängig ist von 
seiner Belastung, und Tschirjew nimmt an, dass ein unbelasteter Muskel 
überhaupt keinen Tonus hat. Er führt dafür die Erschlaffung eines Muskels 
bei Annäherung seiner Ansatzpunkte an. In der That haben wir gar kein 



Arch. f. Physiol. 1879. 



;8 DR. M. LEWANDOWSKY, J»"™^ JJ^ÄL"*'' 



und Neurologie. 



Mittel, das Mass der Spannung eines nicht gedehnten Muskels zu bestimmen. Es 
ist also die Messung des Tonus im klinischen Sinne die Messung einer 
Reaktion auf einen gewissen Reiz. Von einer Messung des Tonus im physio- 
logischen Sinne als eines Zustandes der Ruhe kann gar keine Rede sein. 

Ob überhaupt ein Tonus in der Ruhe besteht, ist also eine 
ganz müssige Frage: thatsächlich giebt es keine Ruhe, der Spannungs- 
zustand eines Muskels ist in jedem Augenblick bedingt durch die einwirkenden 
sensiblen Reize. Während die reflektorische Natur des Rückenmarktonus schon 
längst durch die Versuche von Brondgeest sichergestellt ist, ist man sich 
über den Tonus, der vom Klein- und Grosshirn ausgeht, nicht in demselben 
Sinne klar gewesen (Luciani, Hitzig u. a.) und es war die Aufgabe dieser 
Zeilen besonders für den Grosshirn tonus den sensiblen Ursprung nachzuweisen, i) 

Es ist der sogenannte Tonus nichts anderes als die Beobachtung einer 
gewissen Haltung, für welche die gleichen Gesetze gelten, wie für die Aus- 
führung einer Bewegung. Ist doch die Grenze zwischen Bewegung und Haltung 
recht schwer zu ziehen. Es handelt sich ja nie um einen beliebigen „Spannungs- 
zustand der Muskeln*', sondern um ein kompliziertes Zusammenwirken 
der Muskeln zu einem bestimmten Zweck und wir sehen in der Dystonie 
so nur ein Symptom der Ataxie, der Inkoordination. Setzen wir Tonus gleich 
Haltung, so ist ohne weiteres klar, wie kunstvoll die Reaktionen des Organismus 
sich gestalten, um die Haltung des Körpers im ganzen und der Glieder im 
einzelnen den jeweiligen Umständen anzupassen und sie so zu einer zweck- 
mässigen zu gestalten. Wie die Unzweckmässigkeit das einzige allgemeine 
Charakteristikum der Ataxie ist (vergl. bes. FrenkeP) und Foerster^), 
so ist sie auch das einzige der Dystonie, und ich möchte glauben, dass sich 
bei jeder Atonie, auch der tabischen*), Atonie und Hypertonie der Muskeln 
nebeneinander finden. Aus der Schwere der Aufgaben, welche der Tonus, 
der stets wechselnde Spannungszustand der Muskeln, im Säugetier- 
organismus zu erfüllen hat, dürfte es sich auch dann erklären, warum nicht 
nur oder vorzugsweise das Rückenmark, wie beim Frosch, sondern insbeson- 
dere das Kleinhirn und, wie wir hier zu zeigen versuchten, auch das Gross- 
hirn für seine Vermittlung in Anspruch genommen wird. 



Schliesslich sei es mir noch gestattet, ein Wort vom physiologischen 
Standpunkt aus über die Kontraktur des Menschen zu sagen, mit der die 



^) Ob der Ewaldsche Labyrinthtonus nicht auch sensiblen Ursprungs ist, darüber bin ich mit 
Versuchen beschäftigt. 

'-*) Freukel, Bchandhmg der taktischen Ataxie. Leipzig 1900. 

') Foerster, Physiologie und Pathologie der Coordination. Jena 1902. 

**) Frenkel, der immer nur von Hypotonie spricht, unterscheidet, soweit ich sehe, nicht 
sicher zwischen Hypotonie der Muskeln und abnormer Beweglichkeit der Gelenke. Letztere, deren 
Bedeutung schon v. Leyden hervorhob, kann gerade auch durch erhöhte Spannung einer Muskel* 
gruppe bei Atonie der Antagonisten zur Erscheinung kommen. Wenn Frenkel den steifen Gang 
der Tabiker auf Störungen der Gelenksensibilität zurückführt, während die Muskelsensibilität intakt 
ist, halte ich das für ganz hypothetisch, da wir thatsächlich kein Mittel haben, um Gelenk- und 
Muskclsensibilitrit praktisch zu trennen, und wir ja noch immer vor der Frage stehen, inwieweit die 
Muskelseusibilität Gelenksensibilität ist oder umgekehrt. 



^^* ^' ^i^V * "• *' ÜBER DEN MUSKELTOXUS ETC. 79 



1908. 



geschilderte Hypertonie also nichts zu thun hat, schon aus dem einen Grunde 
nicht, den Hitzig bereits gegen Bianchi hervorhebt, dass die Kontraktur 
Wochen zu ihrer Entwicklung braucht, während das Bianchische Symptom 
sogleich in Erscheinung tritt. 

Für die menschliche posthemiplegische Kontraktur, welche mit der von 
H. Munk studierten des Affen nach Entfernung der Extremitätenzone identisch 
ist, ist von einer Reihe von Forschern die Erklärung gegeben und wohl augen- 
blicklich die verbreitetste, dass es sich hier um den Ausfall einer Hemmung 
handelt. Es ist hier nicht der Ort, auf die anderen Theorien, welche zur 
Erklärung der Kontraktur aufgestellt sind, einzugehen. Nur das möchte ich 
betonen, dass das Intervall zwischen Insult und Kontraktur die Annahme des 
Fortfalles einer Hemmung im physiologischem Sinne durchaus und voll- 
ständig unmöglich macht. Hemmung ist die Beseitigung eines Erregungs- 
zustandes durch einen Reiz und ihr Ausfall äussert sich sofort nach der Ver- 
letzung der betreffenden Bahn wie z. B. beim Vagus. Dass die Vertreter der 
Hemmungstheorie aber eine Hemmung im strengen Sinne meinen, ergiebt 
sich daraus, dass sie, wie z. B. Mann^), der allerdings ausser der Hemmung 
noch Lähmung annimmt, von Hemmungs fasern der Rinde sprechen, deren 
Unterbrechung zur Kontraktur führe. Darüber, dass die Kontraktur erst Wochen 
und Monate nach der Unterbrechung dieser Hemmungsfasern auftritt, glauben 
sie sich hinwegsetzen zu können. 

Soweit ich sehen kann, schliesst das lange Ausbleiben der Kontraktur 
jede Hemmung im eigentlichen Sinne aus, und ich möchte hier zur möglichen 
Erklärung derselben auf Erfahrungen hinweisen, welche ich bei Untersuchungen 
über das sympathische System gemacht habe, 2) und die mir eine Analogie 
zu den Erscheinungen am ccrebrospinalen System darzubieten scheinen. Es 
handelt sich um die vom Sympathikus versorgten glatten Muskeln des Auges, 
zu denen auch der Dilatator pupillae gehört. Die Innervationsverhältnisse 
dieser Muskeln sind sehr einfache, insofern wir mit Langley annehmen, dass 
ein im Cerebrospinalsystem entspringendes Neuron im Ganglion supremum 
endet und von dort ein zweites Neuron beginnt, das bis zur Peripherie reicht. 
Wir haben nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass auf diesem Wege 
andere als erregende Impulse den glatten Augenmuskeln zugehen. Denn wir 
können durch Reizung der Nerven auf dem Wege vom Centralorgan bis zur 
Peripherie nie etwas anderes als Kontraktion der Muskeln erzielen. Dement- 
sprechend ist die Folge der Durchschneidung dieser Nerven zunächst eine 
Lähmung. Zu dieser Zeit sind die Muskeln gegenüber vom Blut aus ein- 
wirkenden Reizen, z. B. der Kohlensäure, unerregbar oder sehr wenig erreg- 
bar. Aber im Laufe der Tage, Wochen und Monate geht die Lähmung all- 
mählich zurück (trotzdem nicht etwa eine Wiedervereinigung der durch- 
schnittenen Nerven eingetreten ist) und es entspricht dem Rückgang der 
Lähmung die Entwicklung einer peripheren Erregbarkeit, welche ich festgestellt 



*) Monatsschr, f. Psych, u. Neurol. IV, S. 45. 

•) Die Automatic des sympathischen Systems nach am Auj^e angestellten Beobachtungen Ber. 
d. Berl. Akad. d. Wisscnsch. 1900. 



80 DR. M. LEWANDOWSKY. J**"™^ nJ^iJ^«.*^* 

habe. Es ist die Entwicklung dieser peripheren Erregbarkeit etwas durchaus 
Neues, sozusagen Pathologisches; sie ist keine eigentliche Ausfallserscheinung, 
der Muskel, dessen Nervenverbindungen intakt sind, besitzt sie gar nicht oder 
nur in sehr geringem Masse. Nach Durchschneidung der Nerven erwächst 
dem Muskel eine Selbständigkeit, welche vorher nicht bestand, trotzdem 
er sich durchaus nicht unter dem Einfluss von Hemmungen befand. Von 
minderer Wichtigkeit für die Analogie mit der Kontraktur ist die Thatsache, 
dass es nun auch nicht gleichgültig ist, wo — ob vor oder hinter dem 
Ganglion — wir die zuführenden Nerven durchschneiden, dass vielmehr die 
Erhaltung des Ganglions auch noch einen hemmenden verzögernden Einfluss 
auf die Entwicklung der peripheren Erregbarkeit ausübe, trotzdem auch von 
hier Hemmungen nicht ausgehen. Aber wichtig ist wieder, dass sich diese 
Erregbarkeit zu einem übernormalen Grade entwichein kann. Jedenfalls ist der 
mittlere Spannungszustand der Muskeln nach Exstirpation des Ganglions immer 
ein grösserer, als nach Durchschneidung des Sympathikus und es ist interessant, 
dass Langendorff^) dafür den Reiz der Degeneration verantwortlich machen 
wollte, d. h. also die Theorie aufstellte, welche Charcot auf die Folgen der 
Unterbrechung der Pyramidenbahn anwandte. 

Thatsächlich ist die Analogie zwischen der posthemiplegischen Kon- 
traktur und dem kontrakturähnlichen Zustand der glatten Augenmuskeln eine 
sehr weitgehende. Insbesondere ist die Latenz des abnormen Spannungs- 
zustandes und die allmähliche Zunahme derselben in beiden Fällen vorhanden, 
wenn auch im zweiten geringer. Dass die glatten Augenmuskeln selbst er- 
regbar werden, während der quergestreifte Muskel immer vom Centralnerven- 
system aus beherrscht wird, ist kein prinzipieller Unterschied. Im Prinzip 
handelt es sich nur um die Deutung eines abnormen Kontraktionszustandes aus 
der Entwicklung einer abnormen selbständigen Erregbarkeit gleichviel welcher 
Gebilde und an welchem Orte. Für die posthemiplegische Kontraktur ist 
nicht mit Sicherheit zu sagen, wo wir den Ort dieser abnormen Erregbarkeit 
anzunehmen hätten, jedenfalls ist er nicht im Rückenmark, da Querschnitts- 
läsionen des Rückenmarks schlaffe Lähmung machen, und man würde wohl 
hier auf die Annahme einer pathologischen Erregbarkeit in subcorticalen 
Mechanismen*) zu schliessen haben. Jedenfalls dürfte im Prinzip die vorge- 
schlagene Deutung der Kontraktur aus einem Mechanismus, wie er für die 
glatten Augenmuskeln beschrieben wurde, in Erwägung zu ziehen sein. 



^-^^^^^^ 



') Klin. Monatsblätter f. Aiigenheilk. 1900. 

*) In einem soeben erschienenen Aufsatze (Rerl. Klin. Wochenschr, 1902, Nr. lyJlS) nimmt 
Roth mann eine Selbständijjkeit der Vierhügelb.ilinen an in dem Sinne, dass selbst die nach Henii- 
jdej^ien beim Menschen sich wiedereinstellenden willkürlichen Bewerbungen dieser Selbständigkeit 
der subcorticalen (entren zu danken wären. Es sei ausdrücklich bemerkt, d.iss die oben gegebene 
Analogie sich nun auf die Entstehung der Kontraktur, nicht auf die Wiederaufnahme der willkür- 
lichen Bewegung beziehen soU und beziehen kann. 



BD. r, HEFT 1 u. 2. 
1902. 



REFERATE. 



8l 



REFERATE ÜBER BÜCHER UND AUFSÄTZE. 



H. T. Frenkel. Die Behandlung der tabischen 
Ataxie mit Hilfe der Übung. Leipzig, 
Vogel, 1900. 287 S. 
0. Foerster. Physiologie und Pathologie der 
Coordination. Eine Analyse der Be- 
wegungsstörungen bei den Erkrankungen 
des Centralnervensystems und ihre ratio- 
nelle Therapie. G. Fischer, Jena. 1902. 
316 S. 
I. Frenkel giebt in dem ersten der 
zu besprechenden Bücher eine umfassende 
und einheitliche Darstellung der von ihm 
begründeten Übungstherapie der Tabes dor. 
salis. Es ist diese Einheitlichkeit des Werkes 
nicht zum wenigsten der theoretischen Be- 
gründung der Übungstherapie und der Theorie 
der tabischen Koordinationsstörung selbst 
zu verdanken, welche der Verf. vorausschickt. 
Es hängen in der That das Prinzip und die 
Ausbildungsfähigkeit des Verfahrens so un- 
mittelbar von der klaren Anschauung der 
Pathologie der unter dem Namen der Koor- 
dinationsstörung zusammengefassten Symp- 
tome ab,dass eine selbst technisch praktischen 
Zwecken dienende Abhandlung auf eine Dar- 
stellung derselben nicht verzichten kann und 
ebenso wird auch der Praktiker in der Übungs- 
therapie keine Erfolge erzielen, der nicht 
die Pathologie der Störung sowohl im All- 
gemeinen, wie auch in jedem einzelnen F'alle 
beherrscht. Andererseits sind in der That 
die Erfolge der Frenkel sehen Übungsthera- 
pie ein zwingender Beweis für die v. Leyden- 
sche sensorische Theorie der Tabes, wenn 
es eines solchen nach den Forschungen 
von Leyden und Goldscheider noch be- 
dürfte. In sehr anziehender und überzeugen- 
der Weise setzt der Verf. die — man darf 
sagen: logische — Unmöglichkeit der soge- 
nannten motorischen Theorien der tabischen 
Koordinationsstörung auseinander aus der 
unendlichen Mannigfaltigkeit der koordina- 
torischen Akte. Unmöglich kann jede dieser 
koordinierten Bewegungen — und jede Be- 
wegung der normalen Organismen ist koordi- 
niert — eine besondere koordinierende Faser 
in Anspruch nehmen. Die Projektionsfasem 
für alle diese Bewegungen sind an Zahl be- 
schränkt, der zeitliche Ablauf der Erregungen 
in ihnen, die Regulierung der wechselseitigen 

Journal für P&ycholcgie und Neurologie. Bd. I. 



Erregungsintensität wird geleitet vom Central- 
organ auf Grund der Nachrichten, welche 
die Sensibilität dauernd über den Zustand 
der motorischen Organe übermittelt. Dem- 
entsprechend ist das einzige allgemeine 
Charakteristikum der tabischen Ataxie die 
Unzweckmässigkeit der Bewegung, was 
der Verf. mit Recht immer wieder hervor- 
hebt. Als Mass der Zweckmässigkeit dient 
das Verhalten des normalen Organismus. 
Auch diese Zweckmässigkeit wird im wesent- 
lichen schon erreicht durch Übung. Die 
Bewegungen des Kindes sind ataktisch, weil 
ungeübt, und auch der Erwachsene kann die 
Koordination, d. h. die Zweckmässigkeit be- 
sonderer Kunstfertigkeiten — etwa des Billard- 
spiels oder des Schlittschuhlaufens — nur 
durch Übung erreichen, und so braucht der 
Tabiker, dessen Sensibilität vermindert ist, 
schon für die Verrichtungen des täglichen 
Lebens die Übung. 

Es kann die Bedeutung der Ausführungen 
des Verf. über die Theorie der Tabes und 
ihrer Therapie nicht berühren, wenn der 
Ref. in einigen — wenn auch vielleicht nicht 
unwichtigen — Punkten den Ausführungen 
des Verf. nicht zu folgen vermag. Wenn 
der Verf. auf die „Hypotonie der Muskula- 
tur" einen ganz besonderen Wert für die 
Ableitung der tabischen Bewegungsstörung 
legt, so hat der Ref. seine Anschauungen 
über den Tonus der Muskeln in einem Auf- 
satz dieses Heftes dargelegt, dahin gehend, 
dass die Störungen des Tonus ein Symptom 
der Ataxie, nicht ein Symptom neben der 
Ataxie sind. Die Darstellung würde wohl 
an Klarheit gewinnen, wenn der Verf. ein- 
fach von abnormer Beweglichkeit der Ge- 
lenke spräche. Mit diesem Punkte hängt 
zusammen die Unterscheidung, welche Verf. 
zwischen Muskelsinn und Gelenksinn macht. 
Ref. kann nicht zugeben, dass wir auf Grund 
einer einfachen Prüfung der Empfindung 
einerseits für passive, andererseits für aktive 
Bewegung irgendwelche Schlüsse auf Gelenk- 
und Muskelsinn zu machen in der Lage 
sind. Vielmehr müssen wir uns durchaus 
mit der Angabe des objektiven Thatbestandes 
in jedem einzelnen Fall begnügen. Im all- 
gemeinen kann man nur sagen, dass die 

6 



82 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



Schwere der Ataxie von der Schwere der 
Sensibilitätsstörung abhängig ist, aber es 
ist durchaus verfrüht, gewisse motorische 
Störungen von Defekten des Gclenksinnes, 
andere von denen des Muskelsinnes abhängig 
zu machen, und gar von einer Kompensation 
des Gelenksinnes zu sprechen. Ebensowenig 
können wir der Erklärung des Verf., welche 
er für die brüsken und grösseren Exkursionen 
der Gelenke bei stärkerer Sensibilitätsstörung 
giebt, beistimmen, dass nämlich „offenbar" 
Verminderung der Sensibilität eine ent- 
sprechende \'ergrösserung der Muskelarbeit 
und der Exkursionen fordere. Es ist eine 
ganz unbewiesene und das Wesentliche der 
Koordinationsstörung auch nicht berührende 
Vorraussetzung, dass dem Centralorgan eine 
bestimmte Summe von EiTegungen zugeführt 
werden müssten und der Verf. beraubt sich 
durch eine solche Annahme ohne Not der 
Möglichkeit, die übermässige Bewegungen 
und die paretischen Zustände der höheren 
Grade aus einem Gesichtspunkt zu erklären. 
Über den Hauptteil des Buches in dem, 
Frenkel die Praxis der Übungstherapie 
auseinander setzt, kann nicht in kurzem 
referiert werden. Er erfordert das eingehende 
Studium eines Jeden, der sich mit der Thera- 
pie der Tabes beschäftigen will. Hervor- 
gehoben seien die Bemerkungen über den 
Nutzen und Schaden von Apparaten bei der 
Übungstherapie. Eine grosse Anzahl von Ab- 
bildungen veranschaulichen die Ausführungen 
des Verf. Der Stil des Buches ist klar und 
eindringlich, eines Mannes, der seinen Gegen- 
stand nach allen Richtungen beherrscht. 

2. Auch Foerster, der Verf. des zweiten 
zu besprechenden Buches hat trotz des all- 
gemeinen Titels im wesentlichen sich auf 
die Besprechung der spinalen bez. tabischen 
Ataxie beschränkt. Die wenigen Seiten, die 
der cerebralen und insbesondere der cere- 
bellaren Ataxie gewidmet sind, behandeln 
weder in der Sache noch in der Litteratur 
das vorliegende Material in einigermassen 
angemessener Weise, wenngleich gerade 
auf diesen so schwierigen Gebieten in sehr 
bestimmten Ausdrücken, so dass der Leser 
sich schwer diu-über klar wird, dass alles 
was der Verf. z. B. gerade über das Klein- 
hirn und seine Beziehung zum Grosshirn 
berichtet, reinste Hypothese ist. Es ist also 
die Abrundung, welche das Buch durch dieses 
Kapitel erhält, nur eine scheinbare. 

Was die Theorie der tabischen Ataxie 



betrifft, so schliesst sich der Verf. im wesent- 
lichen der sensorischen Theorie an, indem 
er betont, dass die Koordinationsstörung 
nicht allein durch eine Störung der be- 
wussten Empfindung zu erklären sei. Was 
der Verf. sich übrigens darunter vorstellt, 
wenn er — ein Entgegenkommen gegenüber 
der Erbschen Theorie — eine innervieren- 
de und eine regulierende im Rückenmark 
absteigende Bahn annimmt, wenn auch bei 
der Tabes unbeteiligt sein lässt, kann der 
Ref. nicht verstehen. 

Die eigentliche Arbeit besteht in der 
methodischen Beschreibung der tabischen 
Bewegungsstörung nach dem Anteil, den der 
Funktionsausfall der einzelnen Muskeln an 
der Verfehlung bestimmter Aufgaben hat. 
Während sich die Autoren bisher fast aus- 
schliesslich darauf beschränkt haben, die 
Effektstörung, z. B. die Gehstörung als solche 
zu beschreiben und zu zergliedern, eine 
Methode, welche, wie der Verf. anerkennt, 
dem praktischen Bedürfnis durchaus genügt, 
will der Verf. die elementaren Komponenten, 
d. h. die Aktion einzelner Muskeln oder 
Muskelgruppen darstellen, bez. die Folge 
ihres Ausfalles beschreiben. Er will also 
für die Tabes die Aufgabe lösen, welche 
Duchenne für die eigentlichen motorischen 
Störungen gelöst hat. Es liegt in der Natur 
der sensorischen Ataxie, dass die Zahl 
dieser motorischen Einzelstörungen unend- 
lich gross ist. 

Trotzdem ist es natürlich von grossem 
Wert und insofern ist die Arbeit des Verf. 
grundlegend, bei bestimmten Verrich- 
tungen, z. B. beim Gange, die typische 
Störung auf die Störung der einzelnen Muskel- 
aktionen zurückzuführen. Der Verf. betont 
sehr richtig, dass sowohl das Zuviel, wie das 
Zuwenig der Innervation an derselben Ur- 
sache, dem Fehlen centripetalen Erregungen 
abzuleiten ist. Im einzelnen dürfte die 
vom Verf. getroffene Einteilung der Muskel- 
wirkungen zwar etwas schematisch erscheinen, 
aber ein gewisser Schematismus zu einer 
Annäherung an die Lösung der Aufgabe 
doch unumgänglich sein. Es ist selbstver- 
ständlich, dass auch für die rationelle Thera- 
pie der Tabes die vom Verf. für die ganze 
Körpermuskulatur durchgeführte Analyse 
nicht ohne Bedeutung sein kann, wie der 
Verf. im einzelnen ausführt. 

M. Lewandowsky (Berlin). 



BD I, HEFT 1 u. 1 
1902. 



REFERATE. 



83 



Oppenheim. Zur Psychotherapie der 
Schmerzen. Kurze Mitteilung. Sonder- 
abdruck aus der „Therapie der Gegen- 
wart", 1900. 

Schon vor Jahren hat Verf. auf die 
therapeutisch sehr wichtige Differentialdiag- 
nose zwischen der echten Brachial neuralgie 
und der Brachialgie neurasthenischen, hyste- 
rischen, hypochondrischen, psychogenen Ur- 
sprungs hingewiesen, welche auf dem Boden 
eines krankhaften Seelenzustandes entsteht 
und daher ausschliesslich einer psychischen 
Behandlung zugänglich ist. Als ein geeig- 
netes psychotherapeutisches Verfahren, das 
in einigen hartnäckigen Fällen von Brachi- 
algie zur Heilung gefuhrt hatte, nachdem 
andere Behandlungsversuche, auch die Hyp- 
nose erfolglos gewesen waren, hat sich nun 
dem Verf. die von ihm ausgebildete sog. 
„Ablenkungsmethode" bewährt. „Sie besteht 
m systematischen Übungen zur Erlangung 
der Fähigkeit, Reize, die von der schmerz- 
haften Körpergegend ausgehen, zu vernach- 
lässigen." Zu dem Zwecke lässt Verfasser 
den Patienten seine ganze Aufmerksamkeit 
dem Schlage einer vor das Ohr gehaltenen 
Taschenuhr zuwenden, „bis zu dem Masse, 
dass er Berührungen, die den Schmerzort 
treffen, nicht empfindet"; der Kranke lernt 
auf diese Weise allmählich seine Aufmerk- 
samkeit von dem schmerzhaften Teile, dem 
sie in krankhaftem Masse zugewandt war, 
abzulenken und verliert so seine Schmerzen. 

An drei kurz skizzierten Fällen wird diis 
Verfahren und seine Wirksamkeit erläutert. 
Wie alle psychotherapeutischen Methoden 
stellt auch die Ablenkungsmethode, wie Verf. 
beobachtet, grosse Anforderungen an die 
Geduld des Arztes sowohl wie des Kranken. 
Wir können es nur mit Freuden begrüssen, 
dass Arzte von der Bedeutung O.'s an der 
Ausgestaltung der speziellen Psychotherapie 
so thätigen Anteil nehmen, wie es die kleine 
Abhandlung beweist. 

Brodmann (Berlin). I 

Wiedebnrg. Über die psychischen Ein- l 

flüsse auf Patienten in offenen 

I 

Heilanstalten mit Ausschluss der 
direkten ärztlichen Behandlung. 
Sonderabdruck aus der „Zeitschrift für 
diätetische und physikalische Therapie", 
1 900/1 901, Bd. IV, Heft 5. 

Nicht in Form einer wissenschaftlichen 
psychologischen Auseinandersetzung, sondern ' 



als Gegenstand einer Jedermann verständ- 
lichen Plauderei werden hier die mittelbaren 
psychischen Heilfaktoren jeder Art Anstalts- 
behandlung, die dem Leser dieser Zeitschrift 
wohlbekannt sind, entwickelt. Überraschen 
muss die Auffassung des Verf., in dem Um- 
stände, dass fast alle in Betracht konunenden 
Anstalten „mehr oder minder ähnlich wie 
Hotelbetriebe gehalten werden", einen unbe- 
dingt günstigen Einfluss auf Nervenkranke 
zu erblicken. Ref. meint vielmehr, dass ge- 
rade das Verhältnisse sind, welche im Interesse 
unserer Kranken unbedingt überwunden wer- 
den müssen, mag eine derartige im Hotel- 
stil eingerichtete Anstalt auch noch so 
sehr Anziehungspunkt für müssige Sommer- 
frischler sein. 

Brodmann (Berlin). 

Emil Kraepelin. Einführung in die psy- 
chiatrische Klinik. 30 Vorlesungen. 
Leipzig. J. A. Barth 1901. VIII. 328 Seiten. 

Verf. hat sich in dem vorliegenden Buche, 
dem jüngsten Werke seiner fruchtbaren 
schriftstellerischen Thätigkeit, die Aufgabe 
gestellt, seinen Hörern eine „Anleitung zur 
klinischen Betrachtung Geisteskranker" zu 
geben. Aus dem Geiste heraus, der das 
psychiatrische Schaffen Kraepelins kenn- 
zeichnet, sind in diesem den Lernenden 
gewidmeten Werke diagnostische Gesichts- 
punkte überall in den Vordergrund gestellt. 
Der einzelne Vortrag giebt ein anschauliches 
und lebendiges Bild dessen, was der Schüler 
in einem gut geleiteten psychiatrischen Unter- 
richt sieht und hört oder vielmehr was er 
sehen und hören soll. Wer die Entwickelung 
des Kraepe linschen Systems der Psychia- 
trie in den letzten Jahren miterlebt und wer 
verfolgt hat, wie früher unbeachtet gebliebene 
kleine Züge in einem Zustandsbilde eine 
überwiegende Bedeutung für die Diagnose 
sowohl wie für die Beurteilung des ganzen 
Kranklieitsfalles gewonnen haben, der wird 
den Wert einer Betrachtungsweise, wie sie 
dieser Einführung zu Grunde gelegt ist, zu 
schätzen wissen und er wird es auch ver- 
stehen, dass der Lehrer, welcher an dem 
Ausbau unserer klinischen Psychiatrie den 
thätigsten Anteil genommen hat, in erster 
Reihe darauf bedacht ist, seinen Zuhöhrem 
die Sinne zu schärfen, d. h. sie sehen zu 
lernen und ihren diagnostischen Blick zu 
üben. Man kann wohl sagen, dass diese 
Absicht hier in meisterhafter Weise erreicht 



84 



ERKLÄRUNG DER TAFELN. 



Journal t Psychologie 
und Neurologie. 



ist. Der Beobachtung am kranken Individuum, 
mit anderen Worten einer verfeinerten kli- 
nisch-symptomatischen Analyse und der 
differential - diagnostischen Abwägung der 
beobachteten Erscheinungen ist der erste 
Raum angewiesen, das „Lehrbuchwissen" und 
die Systematik treten dem gegenüber ganz 
zurück. Jeder, der genötigt war, sich durch all 
die neuen und alten Systeme unserer psychia- 
trischen Lehrbücher hindurchzuarbeiten, wird 
in dieser Beschränkung nur eine Auszeich- 
nung erblicken; für den Anfanger in der 
Psychiatrie wird sie zu einer Wohlthat. Wir 



begrüssen daher dieses Buch des unermüd- 
lichen Forschers mit Freuden und können 
es allen Lernenden eifrig empfehlen. Es ist 
eine Einführung im besten Sinne des Wortes. 
Wesentliche Abweichungen von den 
klinischen Auffassungen der neuesten Auflage 
des Lehrbuches der Psychiatrie desselben 
Verf. bestehen nicht, und da wir eine Be- 
kanntschaft mit den Grundlagen seines psychi- 
atrischen Lehrgebäudes voraussetzen, so liegt 
kein Grund vor, in eine Besprechung von 
Einzelheiten einzutreten. 

Brodmann (Berlin). 



Erklärung der Tafeln. 

Die Kurven sind von rechts nach links zu lesen. Die Bezeichnung der Kurven ist 
aus Zweckmässigkeitsgründen in den Tafeln dieselbe wie auf den Originalkurven. R = 
Respiration. A = Kurve des linken Vorderarms. H = Hirnkurve. Z = Niveaulinie mit 
Sekundenmarkierung. Auf jeder Kurve findet sich das Datum und die Tageszeit des Ver- 
suches vermerkt. 

Tafel I. 

Reihe A, Kurve in. Schläfrigkeit, Versuchsperson im Lehnstuhl sitzend mit 
erhöhten Beinen, verhält sich ganz ruhig. Das Hirnvolumen ist allein registriert. Die 
Kurve zeigt grosse Undulationen des Gesamtvolumens (aktive Undulationen) und ausge- 
prägte respiratorische Oscillationen. An den Oscillationen sind regelmässige Pulsform- 
schwankungen mit respiratorischem Herzrhythmus zu erkennen. Ausserdem lässt sich der 
Einfluss der Undulationen auf Pulslänge und Pulshöhe erkennen (siehe Text Seite 34). 

Reihe B, Kurve 12. R, H und A im Wachzustand bei absoluter Gemütsruhe 
aufgezeichnet. Grosse Regelmässigkeit der Kurven. Minimale respiratorische Oscillationen 
der Armkurve und der Hirnkurve. 

Reihe C, Kurve 74. Wachzustand. Starke respiratorische Oscillationen mit 
respiratorischen Herzrhythmus und Pulsformwechsel an der Hirnkurve. | bis i Geruchsreiz, 

Kurve 11. Schläfrigkeit, Unruhe im Arme, welche Unregelmässigkeit 
der Pulsbilder . an der Armkurve bedingt. Respiratorische Oscillationen von A. Beziehung 
derselben zu den Atemphasen (R). H ohne Schwankungen. 

Reihe D, Kurve 41. Wachzustand. Unruhige Atmung. Wechsel des Respi- 
rationstypus. Oscillationen an beiden Kurven, Verhältnis derselben zu den Atemphasen. Von 
Marke | bis l wird durch Wassereingiessen ein Geräusch verursacht. Wirkung desselben: 
Pulsverlängerung mit nachheriger starker Pulsbeschleunigung, geringer Anstieg des Hirn- 
volumens dann Senkung. 

Reihe E, Kurve i. Wachzustand in ruhiger Rückenlage. Die Atmungskurve ist 
mangelhaft. H und A ohne Schwankungen. Pulsationen klein. 

Reihe F, Kurve 104. Ruhiger Wachzustand in sitzender Haltung. Starke 
respiratorische Schwankungen der Armkurve bei ruhiger Atmung. Hirnkurvc ohne Volumen- 
schwankungen. Rhythmischer respiratorischer Wechsel der Pulshöhe an H. 

Tafel 2. 

Reihe A, Kurve 107. Ruhiger Wachzustand nach Kaffecgenuss. Respiratorische 
Oscillationen an beiden Volumenkurven, verschiedenes Verhalten derselben am Gehirn und 
Vorderarm, K = tiefer Atemzug. Geringe Niveauveränderungen des (lesamtvolumens beider 
Kurven, nur kurzes An- und Abschwellen von H. 



^^' ^ ^i9m ^ "• ** ERKLÄRUNG DER TAFELN. 85 



Reihe B, Kurve VII a. Wachzustand. Ruhige Atmung. Gehimkurve ohne 
Schwankungen, Armkurve mit gewaltigen respiratorischen Oscillationen und einer undu- 
latorischen Volumveränderung bei gleichbleibender Atmung. 

Kurve VII b. Unmittelbar nach a ohne Aussetzen der Registrierung 
aufgezeichnet; es fehlen nur etwa 30 Pulsschläge. Einfluss einer tiefen In- und Expiration ^ 
mit Anhalten der Atmung. Beide Kurven steigen an bei der Inspiration und fallen später 
ab. Die Hebel von R und H werden herausgeschleudert und die Kurven dadurch einige 
Sekunden entstellt. 

Kurve VII c. Unmittelbar nach VII b, nur wenig6 Pulse fehlend. Atmung 
vertieft. H zeigt jetzt ebenfalls respiratorische Oscillationen wie A. Das Volumen der 
Organe ist ungefähr dasselbe wie am Beginne von Kurve VII a. 

Reihe C, Kurve 99. Völlig ruhiger Wachzustand, zerstreut. Respiratorische 
Oscillationen am Gehirn und Vorderarm, an ersterem respiratorische Pulsformschwankungen 
mit Gruppenbildungen. Undulationen des Himvolumens mit Einfluss auf die Pulshöhe 
(aktive Undulat.). 

Kurve 65. Ruhiger Wachzustand. Armvolumen mit Atemschwan- 
kungen und geringer Hebung des Gesamtvolumens in der Mitte, Hirnvolumen mit deut- 
licher aktiver Undulation und respiratorischen Oscillationen. Pulsationen auf der Höhe 
der Undulation grösser als in der Tiefe, im aufsteigenden Schenkel kürzer, als im ab- 
steigenden. 

Reihe D, Kurve 7. Normaler Wachzustand. Hirnkurve und Armkurve mit 
geringen Atmungsschwankungen bei ruhiger, gleichmässiger Respiration; die Kurve zeigt 
das Verhalten der respiratorischen Oscillationen zu den Atemphasen. 

Kurve 40. Normalzustand. Einfluss der Atemtiefe auf die respira- 
torischen Volumenschwankungen an A und H. Die Hirnkurve macht eine geringe Senkung 
durch während der Abflachung der Respiration. Bei f spricht Versuchsperson auf Frage. 
Reihe E, Kurve 62. Ruhiger Schlaf. Respiratorische Oscillationen mit Puls- 
schwankungen und Undulationen an Hirn und Armkurve. Die undulatorischen Schwan- 
kungen erfolgen an beiden Organen in antagonistischem Sinne, an beiden Kurven ver- 
laufen die Undulationen mit starken Veränderungen der Pulshöhe. 

Kurve 64. Ruhiger Schlaf. Armvolumen ohne Schwankungen, Hirn- 
volumen mit Undulationen und respiratorischen Oscillationen (vgl. Kurve 65 im Wachen). 

Tafel 3. 

Reihe A, Kurve 71 unter Morphiumwirkung im ruhigen Wachzustand. 
Keinerlei Schwankungen an Hirn- und Armkurve. 

Reihe A und B, Kurve loi a u. b. Wachsein unter geringer Spannung 
Respiratorische Oscillationen an beiden Organkurven, am Gehirn mit Pulsschwankungen. 
Einfluss verschiedener willkürlicher Muskclaktionen auf die Kurven, ii Spannung der 
Aufmerksamkeit. I2 zweimaliges brüskes Mundöffnen und -Schliessen. I3 Beugen und 
Strecken der Finger. I4 Kräftiges Faustballen, i,-, Rasche Bewegung des Kopfes nach 
rückwärts und vorwärts. Bei Sp spricht Th. 

Reihe C, Kurve 73. Normalzustand mit Atmungsschwankungen an Gehirn- und 
Vorderarmkurve. Von Marke |i ab ertönen in Pausen von Sekunden 4 leise Glocken- 
schläge. Bei I Spr sagt Th: was soll ich zählen. Darauf erfolgt Verwarnung mit Volumen- 
senkung, Kleiner- und Frequentcrwcrden der Pulse von A und H (Affekt). 

Reihe D, Kurve 75 a. Wachzustand mit Unruhe. Volumenschwankungen der 
Hirnkurve unter dem Einflüsse von Muskel aktionen und Atmungsbewegungen. 

R -]- B = Ungewollte Kopfbewegung nach hinten und tiefere Atemzüge. 

Insp. =[^Seufzende Inspiration. 

Spricht = Äussert Ungeduld und macht Rumpf bewegungen. 

Kurve 75 c. Nach eingetretener Beruhigung. Respiratorische. 
Oscillationen der Armkurve, respiratorische Pulsvcrändorungen der Hirnkurve, schwaches 
Undulieren des Hirnvolunicns, minimaler Anstieg des Armvolumens in der Mitte der Kurve. 



86 ERKLÄRUNG DER TAFELN. "^^"^^ NcS^b^l^^* 

Reihe E, Kurve 75b zwischen 75a und c geschrieben. Wachzustand mit 
innerer Unruhe und Unluststimmung. Bei B Rumpfstreckung, sonst ohne äussere 
Reaktionen. Volumenschwankungen von H bei gleichbleibendem Armvolumen. 

Tafel 4. 

Reihe A, Kurve 91a. Tiefer Schlaf, fi Pinselberührung ohne Erwachen. 
1 2 Wecken durch leisen Anruf. Ruhiges Elrwachen unter Augenaufschlag mit Abfall von H 
und Anstieg von A. 

Reihe B, Kurve 91b. Leiserer Schlaf einige Minuten nach a. |i Räuspern 
des Experimentators. ^2 Wecken durch Nadelstich in die Halsseite. Erwachen unter 
Affekt mit Schmerz. Abfall von H, Anstieg von A unter beschleunigten Pulsen. 

Reihe B, Kurve 91c. Th. ist unmittelbar nach dem Erwachen (in 91b) wieder 
leicht einschlafend. Die Kurve wurde ohne Hebelverstellung weitergeschrieben (es 
fehlt zwischen 91 b und 91 c nur eine kurze Strecke.) Sie zeigt, dass beide Volumenkurven 
nach Abklingen des Affektes im Übergang vom Wachen zum Schlafe angestiegen sind; 
ausserdem sind jetzt respiratorische Oscillationen beider Organe und Undulationen am 
Gehirn vorhanden. 

Reihe C, Kurve 172. Passive Undulationen der Hirnkurve im Wachen bei Un- 
geduld. R bedeutet einen tiefen Atemzug. 

Reihe D, Kurve IV a. Schlaf. Hirnkurve ohne Schwankungen, Armkurve mit 

regelmässigen respiratorischen Oscillationen. Verhältnis der respiratorischen Oscillationen 

zu der Atmung. 

Kurve IV b. Fortsetzung von a. f Aufwecken. Verhalten von R, 

H und A während desselben. 

Reihe E, Kurve 164a. Regelmässige sanfte aktive Undulationen der Himkurve, 

direkt nach dem Aufwachen; geringe respiratorische Volumen- und Pulsschwankungen. 

An den Pulsationen ist sowohl der respiratorische Herzrhythmus wie die Veränderung der 

Pulsform erkennbar. 

Kurve 164 b. Kappe undicht. Hirnvolumen ohne Niveauveränderung. 

Pulsverlängerung bei | Geräusch (Pochen auf den Tisch). 

Tafel 5. 

Reihe A und B, Kurve 95a und b. Übergangszustand vom Wachen zum 
Schlafen. (Vgl. Text pag. 32.) Bei B^ und B., motorische Unruhe im Arm. 

Reihe C, Kurve 92 a. Halbschlaf. Leise Glockensignale bei |,, 2» 3- Undula- 
tionen und respiratorische Oscillationen des Gehirns vor den akustischen Reizen. Zu- 
nahme des Hirn- und Abnahme des Armvolumens von |i ab. 

Kurve 92b. Wachzustand, nachdem Th. in der Pause, zwischen der 
Registrierung von Kurve 92 a und 92 b vollständig aufgeweckt worden war. Armvolumen 
ohne Schwankungen, Hirnkurve mit leichten respiratorischen Oscillationen. Das Volumen 
von. H ist jetzt wieder auf das frühere Niveau zurückgekehrt, A ist angestiegen. 

Reihe D, Kurve 103a. Ruhiger Wachzustand, Respirationsstösse mit Kopf- 
bewegung bei I . Starke respiratorische Oscillationen der Armkurve, am Gehirn fast völlig 

fehlend. 

Kurve 103 b. Fortsetzung von 103a im Wachen. Das Armvolumen hat 

sich gesenkt, zeigt starke respiratorische Schwankungen; die Hirnkurve ohne Niveau- 
veränderungen aber mit undulatorischem Wechsel der Pulshöhe im Rhythmus von 
IG Pulsationen. 

Reihe E, Kurve 18 a. Leichter Schlaf mit 3 Glockensignalen bei | Es tritt, 
ohne dass Versuchsperson erwacht, eine deutliche Reaktion von R, H und A ein. 

Kurve 18 b. Fortsetzung von 18 a nach vollem Erwachen. Bei | leiser 
Stich in die Schläfe. (Hebelverstcllung zwischen a und b.) 

Tafel 6. 
Reihe A, Kurve 157. Halbschlaf. Anfangs gleichbleibendes Volumen, dann 
plötzlich grosse passive Undulationen und spontaner Wechsel der Pulshöhe mit Schwan- 
kungen der Pulsfrequenz ohne erkennbare Veranlassung. 



^^* '' "iw? * "' ** ERKLÄRUNG DER TAEELN. 8/ 

f 1 Annähern einer tönenden Stimmgabel an das Ohr des Schlafenden und lang- 
sames Erwachen mit Kopfnicken. Die IHilsationen werden sofort höher, das Volumen 
sinkt langsam ab. 

|j Hoher Stimmgabelton vor dem R, Ohr. Schläfrige Gesamtstimmung. 

Reihe B, Kurve 156a. (Niveaulinie mit Zeitmarkierung unten: Za). Tiefer 
ruhiger Schlaf. Langsames Absinken des Hirnvolumens vom Beginn der Kurve über 
76 Pulse, dann ebenso allmählicher Anstieg bei fortdauerndem Schlafe. Undulationen 
mit zweimaligem spontanen Wechsel der Pulsform und Pulsfrequenz (ähnlich wie 
Kurve 157). 

Reihe C, Kurve 156b. (Unmittelbare Fortsetzung von 156a). Volumen wieder 
ansteigend im Schlafe. 

|i Leise Berührung der Hand ohne Reaktion des Schlafenden. 

1« Leiser Stich an derselben Stelle ohne Reaktion. 

Is Wiederholte leise Stiche in die Hand mehrere Sekunden (kumulierende Reize). 

^4 Erwachen unter Augenaufschlag, sonst äusserlich ruhig. 

|b Tiefer Nadelstich in den Schenkel unter lebhaftem Zusammenzucken und 
Schmerzäusserung. Die starke Volumenverminderung macht bei V das Öffnen des 
Ventils nötig. 

Reihe D, Kurve 63a. Oben A unten H. Ruhiger Schlaf. 

fi Aufwecken durch einmaliges Händeklatschen. Senkung von H. Schläft 
wieder ein unter wellenförmigem Anstieg von H und geringem Anstieg von A bis zum 
Schluss der Strecke a. 

Kurve 63b. Ist wieder eingeschlafen. 

{v Anruf: „Th. wach bleiben!" Erwachen unter Verminderung des Hirnvolumens. 
Das Armvolumen macht erst eine kurze Senkung und Hebung durch und bleibt dann im 
Wachen ebenfalls etwas niedriger als im Schlafe. 

Tafel 7. 

Reihe A, Kurve 137 b. (Fortsetzung von Kurve 137 a, Reihe F dieser Tafel.) Niveau- 
linie oben gezeichnet. Sekundenmarkierung in der ersten Hälfte unbrauchbar, da das Uhr- 
werk des Kymographions aufgezogen wurde und die Umdrehungsgeschwindigkeit der 
Trommel sich infolge dessen beschleunigte. Th. war unter heftigem Affekt (in a Reihe F) 
aufgeweckt worden, schläft nach Abklingen des Affektes wieder ein. 

I3 Beginnendes Einschlafen mit kurzer Senkung und dann dauerndem Anstieg 
des Hirnvolumens bis zum Wecken. 

^4 Lautes Anrufen. Versuchsperson erwacht unter leichter Erregung, antwortet: 
, Jawohl" 4,4. Passive Undulationen nach dem Erwachen. 

Reihe B, Kurve 163. Ruhiger Schlaf seit mehreren Minuten. Sanfte Undu- 
lationen. 

|i Geräusch durch Fallen einer Nadel. Th. erwacht, öffnet die Augen und dreht 
den Kopf um. Relativ geringe Volumenschwankung trotz der Kopfbewegung. 

ii Energische Verwarnung wegen der Bewegung. Starker Abfall des Volumens als 
Ausdruck des Affektes, Offnen des Ventils. Pulse kleiner und frequenter (Affekt.) 

|i Geräusch durch Herabfallen eines Gewichtes (1 g) vom Tisch. 

l B. Th. reckt sich (Rumpfbewegung). 

Reihe C, Kurve 135. (Sekundenmarkierung auf derselben Niveaulinie wie C 163, 
Marken nach unten zeigend.) Wachzustand unter Depression bei motorischer Ruhe. 

|i Dreimaliges Händeklatschen ohne Zusammenfahren. 

li Ausdruck des Erstaunens: „was war jetzt das?" Affektwirkung am Hirn- 
plethysmogramm. 

Reihe D, Kurve 142. (Niveaulinie unten). Tiefer Schlaf. 

Ii Händeklatschen. Th. spricht leise vor sich hin und bewegt sich. 

|i Hintenstoss und volles Erwachen mit starker Volumensenkung. Am Schlüsse 
der Kurve wieder eingeschlafen unter Volumenzunahme. 



88 ERKLÄRUNG DER TAFELN. ^""""Td Ll7o]og\^^'*' 



Reihe E, Kurve i6i. (Niveaulinie unten). Schlaf beim Beginn des Versuches; 
Th. wird durch das Ingangsetzen des Kymographions etwas wacher (Undulation). 

|i Aufwecken durch Klatschen; erschrickt heftig, starke motorische Reaktion. 

Reihe F, Kurve 137a. (Vor 137b Reihe A aufgenommen.) Ruhiger Schlaf. 
Kopf herabgesunken. 

|i Pinselberührung im Schlaf ohne äussere Reaktion. Anstieg der Kurven. 

I2 Aufwecken durch schmerzhaften Stich in die Hand. A = Apnoe mit 
enormem Anstieg, dann starkem Abfall des Himvolumens (Ventilöffnen). 

Tafel 8. 

Reihe A, Kurve 142b. (Niveaulinie oben.) Nach Aufwecken ist Versuchsperson 
wieder tief eingeschlafen (vgl. Tafel 7, Reihe D). 

|i Vorübergehendes Wecken durch Pinselberührung. Mit dem Erwachen kurzer 
Augenaufschlag und Volumensenkung, dann Wie der einschlafen unter Volumenzunahme. 

Reihe B, Kurve i6oa. Ruhiger Schlaf nach dem Essen. 

|i Leises, gedehntes Pfeifen. Erwachen ohne motorische Reaktion; Volumen- 
verminderung. 

I« Spannung der Aufmerksamkeit: „Aufpassen". 

^3 Unterweisung der Versuchsperson: „Sie sollen Farben betrachten". 

t* ^ wird eine Farbentafel mit Tiefblau gezeigt. 

4,4 Th. sagt: „Blau". 

Reihe C, Kurve 67. Tiefer Morphiumschlaf. 

'l Wecken durch Anrufen. Festhalten der Versuchsperson. Antwortet. 

Reihe D, Kurve 70. Wie 67 im Morphiumschlaf. 

|i Aufwecken, ii Spricht: , Jawohl". 1« Aufgabe: 5X2? ^2 Antwort: „10". 

Reihe E, Kurve 135. (Sekundenmarkierung auf der Niveaulinie von C 70). 
(Schlussstrecke von Reihe C, Tafel 7.) Wach, deprimiert, äusserlich ruhig. 

f 1 Heftiger Stich im Wachzustand. 

li Starke Schmerz- und Abwehrreaktion. Th. sucht an der schmerzenden 
Stelle zu reiben. (Vgl. das Verhalten der Volumkurve beim Erwachejti nach Stich. 
Kurve 137, Tafel 7 F.) 

Reihe F, Kurve 160 c. Schläft. Eine grössere Kurvenstrecke mit hohen und 
langen Undulationen war vor der abgebildeten Kurve c aufgezeichnet. Leise Glocken- 
schläge waren im Schlafe ohne Einfluss auf den Verlauf dieser regelmässigen Undu- 
lationen gewesen. 

|i Geräusch durch herabfallende Nadel ohne Erwachen. 

^2 Schlüsselbund wird unter grossem Lärm zu Boden geworfen. Aufwachen unter 
Erschrecken. Ventil = Öffnen des Ventils wegen starker V^olumensenkung. . 



Journal für Psychologie und Neurologie. 

Band I. Heft 3. 



Friedrich Goltz, f 

Friedrich Leopold Goltz ist am 4. Mai 1902 gestorben. Es ziemt 
sich wohl, an dieser Stelle eines Mannes zu gedenken, der die Aufgabe seines 
Lebens in die Erforschung der Verrichtungen des Nervensystems gesetzt, und 
diese Lehre in treuer und beharrlicher Arbeit mächtig gefördert hat. In dieses 
ganzen Forschungsgebietes einheitlicher Umfassung ist ihm niemand zu ver- 
gleichen, und es ist der Stempel und das Zeichen seiner wissenschaftlichen 
Persönlichkeit, dass er unter der Vielheit der Thatsachen und der Mannig- 
faltigkeit der Befunde, welche er ans Licht förderte, den Blick immer festhielt, 
nicht nur auf den Zusammenhang, sondern auf das Ganze, auf die Einheit der 
Verrichtungen des Nervensystems. 

So tritt uns Goltz schon in der ersten Gruppe seiner Arbeiten, die von 
den „Funktionen der Nervencentren des Frosches** handelt (bis 1869), 
entgegen. Hier lesen wir die Überschrift eines Aufsatzes: „Über den Sitz 
der Seele des Frosches**, und ersehen daraus, dass Goltz von vornherein 
nicht gesonnen war, sich mit Kleinigkeiten abzugeben. Er verschmähte den 
berüchtigten Ausdruck ,,Sitz der Seele** nicht, um es klar zu bekennen, dass, 
wer Physiologie des Gehirns und sei es auch nur des Frosches, treiben will, 
zugleich auch Psycholog sein muss, ohne psychologische Definition nicht aus- 
kommen kann: ,, Mögen nun die Seelenvermögen des Frosches so klein sein, 
wie sie wollen, und mag die Ansicht von der Natur der Vorgänge, aus denen 
wir auf Seele schliessen, noch so verschiedenartig sein, Jedermann muss ein 
hervorragendes Interesse haben, zu erfahren, welche Körperteile notwendig 
sind, damit jene Thätigkeiten noch zustande kommen, als deren Ursache wir 
Seele annehmen'*. Zu dieser Erklärung gehörte ein gewisser Mut in einer 
Zeit, als ein Mann von der Bedeutung A. Ficks erklärte, dass ,,die Frage 
nach der Beseelung eines Objekts gar keine Frage der Naturwissenschaft** sei. 
Wer mit Definitionen rein körperlicher Beziehung die Verrichtungen des Gehirns 
erschöpfen will, erscheint wie jemand, der mit Messer und Gabel einen Teller 
Suppe isst und sich dabei noch einbildet, satt zu werden. Goltz hat dem 
gegenüber immer daran festgehalten, die Veränderungen im Verhalten der 
Tiere, welche er nach seinen Operationen beobachtete, auf ihre psychische 
Wertigkeit zu untersuchen. 

Gewiss ist die Erforschung des Zusammenhangs zwischen der materiellen 
und den Bewusstseinserscheinungen nur ein ideales Ziel. Kein Columbus wird es 

Journal für Psychologie und Neurologie. Bd I. 7 



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und Neurologie. 



erreichen. Aber nur die dunkle Ahnung dieses Zieles kann ermutigen, den harten 
Weg mit unseren unvollkommenen und bescheidenen Hilfsmitteln zu betreten. 
„Wir werden ihr (der verstümmelten Tiere) Gebahren sorgfältig ver- 
gleichen mit dem Verhalten unversehrter Tiere; und dann werden wir 
sagen; weil das Tier die und die Erscheinungen nicht mehr zeigt, deshalb 
glaube ich, dass es das nicht mehr besitzt, was wir Seele nennen.** „Wie 
die Sachen liegen, scheint mir das richtigste, das Hauptgewicht zu legen auf 
eine möglichst genaue Schilderung der thatsächlichen Vorgänge. Diese be- 
halten ihren Wert für jedermann, er mag den Begriff Seele fassen, wie er 
wolle, er mag von den Natur der Seele denken, was er will." Dieses Pro- 
gramm hat Goltz in allen seinen Arbeiten treulich durchgeführt und die 
Erfassung des Endzieles auf der einen, die minutiöse Beachtung jedes Zeichens 
am Wege auf der anderen Seite geben seinen Arbeiten das Gepräge, ebenso 
wie ein drittes: die tiefe Liebe zur Natur, die aus seinen Arbeiten leuchtet, 
die seinen Blick insbesondere für die Regungen der Tierseele schärfte und so 
mancher seiner Arbeiten einen eigentümlich warmen Unterton verleiht. 

Diese ersten Arbeiten enthalten nun einen prinzipiellen Standpunkt: 
„Übrigens muss ich meine Ansicht dahin aussprechen, dass sich ein scharfer 
Unterschied zwischen willkürlichen und reflektorischen Bewegungen gar nicht 
angeben lässt." Das würde heissen, es giebt in den Bewegungen des Tieres 
keine scharfe Grenze zwischen bewusstem und mechanischem Geschehen. 
Merkwürdigerweise hat Goltz diesen so fruchtbaren Standpunkt doch in seinen 
ersten Arbeiten noch nicht zu einer festen Grundlage seiner Darlegungen 
gemacht, er giebt sich vielmehr ganz unverhältnismässig viel Mühe, eine 
Definition der „Seele*' zu geben. „Erst dann, wenn die Bewegungserscheinungen 
so verwickelter Natur sind, dass mein Denkvermögen nicht ausreicht, um 
uns eine Maschine vorzustellen, die das alles verrichtet, erst dann entschliesse 
ich mich dazu, zu sagen: „Hier spielt das mit, was wir Seele nennen.** Es 
liegt auf der Hand, dass solch subjektivistische Definition, die nicht ohne den 
Einfluss Lotzes entstanden ist, keine objektive Abgrenzung ermöglichen kann. 
Was des einen Denkvermögen sich noch vorstellen kann, kann das des anderen 
sich eben nicht mehr vorstellen, und dann würde mit der obigen Definition 
die Lehre von der Seele geradezu von dem jeweiligen Stande der Technik 
abhängig werden. Gewiss braucht man nicht mit Pflüger dem Rückenmark 
eine Seele mit überlegendem Bewusstsein zu verleihen, aber man darf doch 
ausser Stande sein, eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Reflex- 
bewegungen und der von Goltz sogenannten Antwortbewegungen aufzustellen, 
welche er als Reaktion seines „centralen Anpassungsvermögens'* beschrieb. 

Die Schwäche dieser Definition hinderte nun aber Goltz nicht, in diesen 
Aufsätzen eine Fülle neuer und geistreicher Beobachtungen zu beschreiben, 
indem er sich an das objektive Problem hielt, das er zuerst in aller Klarheit 
stellte: Inwieweit beeinflussen nach Entfernung gewisser Gehirnteile, insbesondere 
des Grosshirns, Sinneseindrücke noch die Bewegungen? Wie verhalten sich 
diese Reaktionen zu denen des normalen Tieres? 

Diese Betrachtungsweise führte er durch erstens für den Umklammerungs- 
krampf des Froschmännchens bei der Begattung, und für die Haltung und 



^°* ' iwF^ ** FRIEDRICH GOLTZ, f 9 1 



Wiederherstellung des Gleichgewichts, dessen Centralorgan er in den Lobi 
optici lokalisierte. 

Insbesondere beschäftigte er sich aber hier schon mit dem Teile des 
obigen Problems, der nach der Bedeutung der höheren Sinne, insbesondere 
des Auges für das Verhalten des Tieres ohne Grosshirn fragte. Diesbezüg- 
liche Untersuchungen waren es auch, die ihn im Gegensatz zu Flourens und 
vielen anderen zu dem Schluss führten, dass auch die Hirnteile unterhalb der 
Grosshirnhemisphären — immer mit Ausnahme des Rückenmarkes — psychische 
Qualitäten besässen. Goltz bestätigte die Beobachtung von Schiff, dass 
Frösche ohne Grosshirn noch sehen können. Während aber nach Schiff 
solche Tiere das, was sie sehen, nicht mehr verwerten können für die Be- 
stimmung ihrer Bewegungen, wies Goltz auf das unzweideutigste das Gegen- 
teil nach. Insbesondere zeigte er, dass solche Tiere imstande sind — auch 
unter erschwerenden Bedingungen — wenn man sie z. B. am Gebrauch einzelner 
Gliedmassen verhindert — Hindernisse in mannigfacher und zweckmässiger 
Weise zu umgehen. Diese und ähnliche Thatsachen schienen Goltz aus- 
reichend, um dem verstümmelten Tiere noch Seclenvermögen zuzuschreiben. 
In die psychologische Bewertung trat er hier nicht weiter ein: „Dass ich ratlos 
bin, wie ich das Stück Seelenvermögen nennen soll, welches der des Gross- 
hirns beraubte Frosch noch sein nennt, liegt erstlich in der natürlichen Un- 
vollkommenheit unserer Sprache. Es erscheint mir fürwahr komisch, wenn 
ich mich darüber äussern soll, ob ich einem des Grosshirn beraubten Frosch 
bewusstes Empfinden und bewusstes Wollen, Überlegung, Urteil und Gedächtnis 
zutrauen soll, da ja das unversehrte Tier kaum den Keim von alledem besitzt.*^ 
Die positive Eigenart der Leistungen der Grosshirnhemisphären suchte Goltz 
vorzüglich in der Vermittlung der Affekte und der Spontaneität der Be- 
wegungen, der Ortsbewegung, der Nahrungsaufnahme, der Stimmäusserung etc. 

Es hat sich später gezeigt, dass auch diese Bestimmung noch zu weit 
war. Goltz selbst hat sogar beim grosshirnlosen Hund spontane Fortbewegung 
beschrieben. Spontane Nahrungsaufnahme beim Frosch hat Schrader beob- 
achtet, während diese beim Säugetier und beim Vogel allerdings in gewisser 
Weise vom Grosshirn abhängig zu sein scheint. Schrader, einer der vor- 
trefflichsten Schüler von Goltz, leider früh gestorben, hat später (1889, 
1892) die Forschungen Goltz* am Frosch wieder aufgenommen und sie 
auch auf die Vögel ausgedehnt. Er bewies insbesondere für die Taube — 
wie Goltz für den Frosch — über allen Zweifel (durch Anfertigung von 
Serienschnitten), dass vom grosshirnlosen Tier Gesichtseindrücke mannigfach 
und zweckmässig verwertet, dass insbesondere Hindemisse vermieden werden, 
dass diese Tiere sehen. Diese, wie die oben schon erwähnte Beobachtung, 
dass Tauben ohne Grosshirn wieder spontaner Fortbewegung fähig werden, 
sind Thatsachen von grösster Wichtigkeit, die aber immer wieder in dem be- 
kannten Vorlesungsexperiment der stumpfsinnig auf einer Stange sitzenden 
Taube gefälscht werden. 

Den Grundcharakter der ersten Arbeiten Goltz* haben wir oben zu 
zeichnen versucht. Es bleibt noch übrig, auf die Behandlung einer besonders 
wichtigen Funktion des Nervensystems hinzuweisen, die Lehre von der 



92 M. LEWANDOWSKY. J»""^ LSSrÄ«*' 



und Neurologie. 



Hemmung, insbesondere der Hemmung der Reflexe. Goltz ging dabei aus 
erstens von seinem bekannten Quakversuch, welcher ihm zeigte, dass vom Gross- 
hirn aus Einflüsse ausgehen müssen, die das regelmässige Zustandekommen 
dieses Reflexes hindern. Neu war in diesem Versuch die hemmende Wirkung 
des Grosshirns überhaupt, ebenso die Hemmung eines taktilen Reflexes. 
Ein zweites Beispiel war für Goltz das Ausbleiben seines „Klopfversuches** 
(1862) bei gleichzeitiger Reizung der äusseren Haut. Er glaubte aus diesen 
Beobachtungen allgemein schliessen zu dürfen, „dass ein Centrum, welches 
einen bestimmten Reflexakt vermittelt, an Erregbarkeit für diesen einbüsst, 
wenn er gleichzeitig von irgend welchen anderen Bahnen, die an jenem Reflex- 
akt nicht betheiligt sind, in Erregung versetzt wird.** Zu diesen anderen 
Bahnen gehören eben auch die vom Grosshirn kommenden. Die Annahme 
von Hemmungscentren (Setschenow) lehnte er ab. Der Vorgang der 
Hemmung selbst aber spielt in seinen späteren Arbeiten eine grosse Rolle, aus 
ihm erklärt er, wie wir noch sehen werden, eine grosse Zahl von Erscheinungen. 
Ausgehend von diesen am Frosch gewonnenen Erkenntnissen nahm nun 
Goltz nach seiner Berufung nach Strassburg die Erforschung des Nerven- 
systems der Säuger, insbesondere des Hundes, in systematisch um- 
fassenden Untersuchungen in Angriff*, und zwar beschäftigte sich hier eine 
erste Gruppe von Arbeiten mit den Funktionen des (vom Vordertier getrennten) 
Rückenmarkes. Die eine Reihe dieser Versuche bezog sich auf die Be- 
ziehungen des Rückenmarkes zu den vegetativen Funktionen, zu den Be- 
Bewegungen des Darms und der Blase, zu Schwangerschaft und Gebärakt, 
wie zum Tonus der Gefässe. Durch diese Versuche, deren Ergebnisse heut 
zum Katechismus der Physiologie gehören, wurde bewiesen, dass das Rücken- 
mark Reflexcentrum einer grossen Reihe^ von Bewegungen des sympathischen 
Systems ist. Goltz ist dann später in einer seiner letzten Arbeiten (1890), 
noch weiter gegangen. Er hat in Gemeinschaft mit Ewald Hunden das 
Rückenmark nicht nur durchschnitten, sondern, soweit das ohne Gefahrdung 
der für die Atmung unentbehrlichen Teile des Halsmarkes möglich war, auch 
exstirpiert. Die Arbeit, ,,Der Hund mit verkürztem Rückenmark**, giebt den 
Bericht über diese glänzenden Ermittelungen, welche zu dem Ergebnis führten, 
dass eine grosse Reihe von recht komplizierten Bewegungsformen des sym- 
pathischen Systems ganz ohne Anregung durch das Cerebrospinalsystem ver- 
laufen können, wie das Goltz für den Tonus der Gefässe schon längst bewiesen 
hatte. Auch gegen die Annahme einer notwendigen trophischen Abhängigkeit 
der Peripherie vom Centralnervensystcm bringt diese Arbeit die definitiven 
Beweise. Ihre Schlusssätze lauten: „Das Hauptergebnis unserer Untersuchungen 
ist der Nachweis, dass auch bei den höheren Tieren und dem Menschen die 
wichtigsten Lebensvorgänge decentralisiert sind. Unser Organismus gleicht 
einem wohlverwalteten Staatswesen. Jede Gemeinde soll zunächst in den 
wichtigsten Fragen für sich selbst zu sorgen wissen. Sie soll nicht darauf 
angewiesen sein, zur Sicherung ihrer Daseinsbedürfnisse bei jeder Gelegenheit 
die weit entfernte Regierung anzurufen. Dieser fällt dagegen die Aufgabe zu, 
einzuschreiten, da, wo es gilt, gemeinsame Interessen vieler Gemeinden zu 
wahren und entlegene Bezirke zu zweckmässigem Handeln zu verknüpfen. 



^^* SJm^ ^' Friedrich Goltz, f 93 



Erschütterungen im Bereich der obersten Staatsgewalt pflanzen sich fort und 
benachteiligen das Leben auch der kleinsten Gemeinden. Diese aber können 
sich von dem Stosse erholen, wenn die örtlichen Daseinsbedingungen gesund 
geblieben sind." Goltz ist also der Meinung, dass die peripheren Organe 
schon normalerweise jene selbständige Thätigkeit besitzen, die durch den 
Stoss, die Hemmung der Operation zeitweilig aufgehoben wird. Es ist 
hier nicht der Ort zu streiten, aber wir dürfen wohl bemerken, dass 
dieser Shock, diese nervöse (nicht etwa mechanisch oder cirkulatorisch 
bedingte) Hemmung in Goltz' Auffassung nicht nur dieser Gruppe von Er- 
scheinungen, sondern auch der Grosshimverletzungen eine unverhältnismässig 
grosse und nicht immer glückliche Rolle spielt. Nach Versuchen, welche sich 
auf einen anderen Tqil des sympathischen Systems beziehen, scheint es, dass 
die Selbständigkeit der peripheren Organe nicht durch einen Stoss von oben 
vernichtet wird, dass diese vielmehr sich erst eine Selbständigkeit erwerben, 
wenn sie von den höheren Stellen abgetrennt sind. Um in dem Goltz*schen 
Bilde einer Regierung zu bleiben: So lange der Minister anwesend ist, trägt 
er die Verantwortung für den ganzen Regierungsapparat. Ist er an der Aus- 
übung seiner Thätigkeit verhindert, so werden seine Räte sie auch besorgen 
können, und je länger ihre Herrschaft dauert, um so mehr werden sie sich 
in die Geschäfte einarbeiten. Sollten auch sie ausgeschaltet werden, nun so 
geht es vielleicht allmählich „auch so**, d. h. mit den niederen peripheren 
Organen. Dass diese Bemerkungen den fundamentalen thatsächlichen Wert 
der von Goltz in Gemeinschaft mit Ewald gemachten Ermittelungen nicht 
berühren, versteht sich von selbst. 

Die zweite Reihe dieser Arbeiten des Goltz'schen Laboratoriums über 
die Verrichtungen des Rückenmarkes beim Hunde beschäftigte sich mit den 
Reflexen der (quergestreiften) Körpermuskulatur. Auch darüber lagen 
Mitte der siebziger Jahre noch so gut wie gar keine brauchbaren Versuche 
vor, da die Haltung von Hunden mit durchschnittenem Rückenmark in jener 
septischen Zeit ein grosses Maass von zäher Geduld und mühseliger — oft 
getäuschter — Arbeit erforderte. Neben Goltz hat sich insbesondere sein 
Schüler Freusberg um dieses Gebiet verdient gemacht. Es ist sein Verdienst, 
die anscheinend freiwilligen Bewegungen des Rückenmarktieres — 
deren eine als Freusbergsches Phänomen (rhythmisches Taktschlagen der 
Beine) bekannt geblieben ist — auf Reflexe zurückgeführt zu haben, und zwar 
auf Reflexe, welche durch Sensationen des Muskelsinnes ausgelöst werden, eine 
Gruppe, welche bald in der menschlichen Pathologie als Sehnenreflexe zu so 
grosser Bedeutung kommen sollten. In sehr scharfsinnigen Ausführungen setzt 
Freusberg die Ursache dieser rhythmischen Bewegungen auseinander dahin, 
dass ein geleisteter Effekt sich selbst hemmt und dann als Ursache einer neuen 
Bewegung auftritt. Das Verdienst dieser Ausführungen war kein kleines zu 
einer Zeit, als Naunyn und Eichhorst auf Grund ähnlicher Beobachtungen 
eine Regeneration der Leitung im Rückenmarke annehmen wollten. 

Wir müssen hier noch einer isoliert stehenden Arbeit von Goltz ge- 
denken, die bereits in das Jahr 1870 fällt, betitelt: „Über die physiologische 
Bedeutung der Bogengänge des Ohrlabyrinths'*. Wenn im allgemeinen 



94 M. LEWANDOWSKY. ^'"3'L^Ä!°^' 



und Neurologie. 



die Arbeiten von Goltz über das Gehirn eher unterschätzt werden, so wird 
gerade die Bedeutung dieses kleinen Aufsatzes gewöhnlich überschätzt. Dass 
die Bogengänge mit dem Hören nichts zu thun hatten, war schon Flourens 
bekannt. Auch die sonstigen Befunde von Goltz gehen nicht viel über die 
von Flourens hinaus. Von Bedeutung ist die Hypothese der Wirkung der 
Spannungsänderung der Flüssigkeit in den Bogengängen bei Bewegungen des 
Kopfes, übertrieben die Wichtigkeit des Gleichgewichtes des Kopfes für den 
Rumpf, bestechend der Name „Sinnesorgan des Gleichgewichts**. Aber das 
Gleichgewicht ist unserer Meinung nach keine einheitliche Funktion und erfährt 
auch keine einheitliche Definition. Die Benutzung dieses scheinbar harmlosen 
Wortes hat — will uns scheinen — zur Entstehung einer grossen Verwirrung 
beigetragen, die bis heut noch nicht ganz behoben ist. Wie bekannt, hat 
später in Goltz' Laboratorium Ewald das Studium der Verrichtungen der 
Bogengänge wieder aufgenommen und eine grosse Reihe neuer Beobachtungen ans 
Licht gefördert, ohne zu ihrer Deutung wohl das letzte Wort gesprochen zu haben. 

Seine ganze Kraft aber setzte Goltz nun in die Erforschung der „Ver- 
richtungen des Grosshirns** von der eine Reihe von 8 Abhandlungen 
(1876 -1899) in Pflügers Archiv Kunde geben. Von diesen 8 Abhandlungen 
ist nur die letzte dem Grosshirn des Affen gewidmet, die übrigen dem des 
Hundes. Ihr Schlussstein ist die berühmte Arbeit: „Der Hund ohne Grosshirn**. 

Wenn wir uns die Bedeutung dieser Reihe grosser Arbeiten vergegen- 
wärtigen wollen, so ist oft die Meinung zu hören und zu lesen, dass ihr Inhalt 
weiter nichts sei als ein Kampf gegen die Lokalisationslehre. Dieser 
Kampf sei zu Ungunsten von Goltz entschieden und somit der Wert jener 
Arbeiten ungefähr gleich Null. Es erübrigt sich naturgemäss für jene Igno- 
ranten, sie zu lesen. 

Die Behandlung der Lokalisationslehre ist jedoch nur eins von vielen 
Problemen, die hier behandelt werden. Um aber diesen einen Punkt hier 
vorwegzunehmen, so muss allerdings zugestanden werden, dass Goltz in 
seinen ersten Arbeiten die Thatsache und die Bedeutung einer Lokalisation 
der Grosshirnverrichtungen durchaus verkannt hat, so sehr, dass er in der 
Schilderung der Ergebnisse seiner Operationen am Grosshirn die Angabe des 
Ortes der Verletzung unterlässt, weil davon die Erfolge der Verletzung ganz 
unabhängig seien. Von diesem extremen Standpunkt ist Goltz dann allerdings 
sehr bald zurückgekommen. Er hat ausdrücklich zugegeben, dass „die Lappen 
des Grosshirns sicher nicht dieselbe Bedeutung haben**, und hat sich selbst 
sogar ein wesentliches Verdienst an der Feststellung dieser Thatsache zu- 
geschrieben, was wohl kaum berechtigt war. Er ist vielmehr in der positiven 
Fassung dieser Unterschiede in den Verrichtungen der einzelnen Himteile 
keineswegs glücklich gewesen. Diese gründete sich hauptsächlich auf Diffe- 
renzen, welche Tiere mit Verlust der vorderen Quadranten der Hemisphären 
aufzeigten gegenüber solchen, welche die hinteren Quadranten verloren hatten. 
Neben entgegengesetzten Charakterveränderungen in den beiden Fällen, die 
wohl keine Bedeutung haben, nahm er für die letzteren insbesondere eine 
allgemeine Wahrnehmungsschwäche in Anspruch, für die ersteren neben 
Störung der Bewegung Ilerabminderung der Tastempfindung. Die Existenz 



^^' \^^ ^' I^RIEDIUCH GOLTZ, f 05 



besonderer Sinnesphären, der Zusammenhang also gewisser begrenzter Ab- 
schnitte der Hemisphären mit gewissen Sinnesempfindungen, die spezifische 
Beziehung des Occipitallappens zum Sehen, des Temporallappens zum Hören, 
welche durch die Forschungen Hermann Munks über allen Zweifel hinaus 
sichergestellt sind, hat Goltz nie anerkannt. 

Die Ursache dieses zweifellosen Irrtums war zuerst wohl Goltz* Operations- 
methode der Ausspülung grosser Mengen von Gehirnsubstanz unter Wasser- 
druck. Dass mit dieser rohesten aller Methoden keine Lokalisation festzustellen 
ist, ist beinahe selbstverständlich. Dass Goltz das nicht selbst einsah und 
auch später die Zuverlässigkeit seiner Methoden nicht genügend prüfte, ist der 
Ausdruck eines entschiedenen Mangels an anatomischer Beurteilung und 
der Verkennung des dokumentarischen Werts, den ein genaues anatomisches 
Studium der operierten Gehirne haben kann. Was Goltz als zerstört angab, 
das war zerstört, aber was sonst noch, sei es von der Rinde, sei es vom 
Hirnstamm der Behinderung der Cirkulation oder der Entzündung zum Opfer 
gefallen war, das wurde nicht beachtet. Mit der oberflächlichen Feststellung 
der Ausdehnung der Narbe war die Untersuchung zu Ende, wir wüssten nicht, 
dass nur einmal auch nur von einer frontalen Teilung des verletzten Gehirns 
die Rede ist, von Serienschnitten ganz zu geschweigen. Auch Goltz' Gegner 
übrigens standen mit der anatomischen Untersuchung auf nicht viel besserem 
Fusse. Sie entgingen aber — wenigstens zum Teil — den Gefahren ihrer 
Vernachlässigung dadurch, dass sie kleinere und vorsichtige Verletzungen setzten, 
später unter Innehaltung des aseptischen Verfahrens, das Goltz anscheinend 
nicht beherrschte, aber auch heute sind es nur vereinzelte Forscher, welche 
die Erkenntnis bethätigen, dass die lückenlose Schnittreihe das gute Gewissen 
des Hirnphysiologen verkörpert. 

Wie der anatomischen Untersuchung, so schenkte Goltz auch den Er- 
gebnissen der klinischen Beobachtung am Menschen nicht die genügende 
Beachtung, eine Unterlassungssünde der meisten Physiologen, die sich noch 
immer schwer gerächt hat. Hätte Goltz im Anfang seiner Untersuchungen 
die klinische Litteratur über die Lokalisation genügend gewürdigt, so wäre 
er wohl mit anderen Erwartungen und Vorstellungen, die notwendigerweise 
den Gang auch der objektivsten Versuche beeinflussen, an die Frage heran- 
getreten. Die Klinik wartete damals auf eine physiologische Bestimmung und 
Begrenzung der Lokalisation. Man kann zweierlei Meinung darüber sein, ob 
die Lokalisation ein „physiologisches Postulat** (H. Munk) war, ein klinisches 
war sie sicherlich. 

Gerade unter dem Eindruck der klinischen Thatsachen, welche eine 
Lokalisation forderten, sind auf Grund besonders der elektrischen Reizversuche 
jene übertriebenen Lokalisationslehren entstanden, welche die ganze Rinde 
aus punktförmigen, aneinanderliegenden, kleinen Centren bestehen Hessen. 
Es ist das Verdienst von Goltz auch um die Lokalisationslehre, dass er diese 
Uebertreibungnn vernichtete. Dass gerade die Erfolge der elektrischen Reizung 
der Grosshirnhemisphären praktisch sehr wichtig, aber für das Zustandekommen 
der willkürlichen Bewegung ohne wesentliche Bedeutung sind, tritt immer 
mehr hervor; ebenso lässt sich die Lehre von der Projektion der äusseren 



96 M. LEWANDOWSKY. J°T„h L!:S:!Ü'±«'"* 



und Neurologie. 



Sinnesflächen auf die Hirnrinde schon aus einfachen psychologischen Über- 
legungen nicht aufrecht erhalten, noch weniger die Lokalisation der Er- 
innerungsbilder. 

Aber nicht in der Richtung der Zurückdämmung übertriebener lokalisa- 
torischer — man möchte sagen partikularistischer — Tendenzen liegt das 
Hauptverdienst von Goltz, das vielmehr in der Erkennung der Ver- 
richtungen des Grosshirns selbst, nicht in der Feststellung ihrer 
Verteilung zu suchen ist. 

Goltz erkannte von vornherein, dass zu seinem Ziele unumgängliche 
technische Bedingung war, Tiere mit grossen Verletzungen lange Zeit, Monate 
und Jahre, am Leben zu erhalten. Er war der erste, dem das in grösserem 
Massstabe gelang Nur diejenigen Folgen des operativen Eingriffs, welche 
dauernd bestehen bleiben, betrachtete Goltz als Ausfallserscheinungen, 
die vorübergehenden führte er auf Hemmungen zurück. In der Definition 
der Hemmung ging Goltz, worauf weiter oben schon hingewiesen wurde, wohl 
etwas zu weit. Jedenfalls aber war er auf Grund seiner Versuche, welche ihm 
eben bald bleibende Ausfallserscheinungen zeigten, in der Lage, den Satz 
von Flourens zu widerlegen, der behauptet hatte, dass grosse Verluste an 
beiden Hälften des Grosshirns ohne bleibende Störung überwunden werden, 
indem der erhaltene Rest die Funktionen der vernichteten Masse mit über- 
nimmt. Die Ansicht, dass die Masse des Grosshirns in verschwejiderischem 
Überflusse angelegt sei, ist Goltz ein „verhängnisvoller Irrtum". 

Die dauernden Störungen sind nur zum geringen Teil solche der Be- 
wegung. Von Lähmungen einzelner Muskeln kann beim Hunde gar keine 
Rede sein. Dass dem beim Menschen nicht so ist, wollte Goltz übrigens 
nicht recht anerkennen, wie er denn überhaupt das Bestreben zeigte, die 
Differenzen in den Verrichtungen der Hirnteile verschiedener Spezies mehr als 
berechtigt zu nivellieren. Dagegen machte Goltz zuerst auf die Erscheinung 
aufmerksam, dass Hunde, welche eine ausgedehnte Hirnverletzung erlitten 
haben, sehr lange Zeit unfähig sind, die Pfote der Gegenseite als Hand — 
zum Ergreifen von Knochen u. s. w. — zu benutzen. Goltz hat diese Störung 
zuerst für eine dauernde gehalten, das aber wenigstens für einseitige auch 
totale Zerstörungen später widerrufen. Goltz machte ferner die ausserordent- 
lich wichtige, prinzipielle Beobachtung, dass ein abgerichteter Hund nach 
Verletzung des Grosshirns die Fähigkeit verliert, auf Aufforderung die Pfote 
zu reichen. Es war ihm das auch ein Beweis, dass die Bewegungsstörungen 
nicht sämtlich auf Störungen der Empfindung, insbesondere des Muskelsinnes, 
zurückzuführen sind. ,,Mir drängt sich vielmehr auf Grund der unbefangenen 
Zergliederung der Thatsachen eine andere Deutung auf. Wenn ich das Tier, 
indem ich seine rechte Pfote berühre, schmeichelnd auffordere, mir diese Pfote 
zu geben, so kann ich aus seinem Gesichtsausdruck sehr deutlich ablesen, 
dass es meinen Befehl versteht, und wenn es schliesslich, wie aus Verzweiflung, 
mir übers Kreuz die linke Pfote hinüberreicht, so ersehe ich daraus weiter, 
dass das Tier auch den besten Willen hat, meinen Wunsch zu befriedigen. 
Aber es ist ihm unmöglich das zu thun, was ihm geheissen wird. Zwischen 
dem Organ des Willens und der Nerven, die den Willen ausführen, hat sich 



BD. ^.j^PT a. FRIEDRICH GOLTZ, f 97 

irgendwo ein unbesiegbarer Widerstand aufgebaut. Dem Tiere erscheint die 
Gliedmasse vielleicht wie bleiern, unbeweglich. Nur wenn der Willensimpuls 
zum Gehen oder Laufen gegeben wird, spielt die rechte Vorderpfote in dem 
r^elmässigen Maschinengetriebe mit. In der späteren Zeit verringert sich 
der mächtige Widerstand zwischen dem Willensorgan und den Nerven der 
rechten Pfote etwas, und dann lernt das Tier wieder, wenn auch mit grosser 
Anstrengung, seine alte Fertigkeit. Für immer aber scheint der Verkehr 
zwischen dem Willen und den Werkzeugen der rechten Seite ein erschwerter zu 
bleiben." Man sieht hier Zug um Zug die Auffassung einer Störung, welche in der 
menschlichen Pathologie heute als „Seelenlähmung** bezeichnet werden würde. 

Sein Hauptaugenmerk wandte Goltz den Störungen der Sinnesempfin- 
dungen zu, welche durch Grosshirnverletzungen bedingt werden, indem er „die 
innige thatsächliche Verknüpfung feststellen wollte, welche zwischen den Sinnes- 
funktionen besteht und dem, was wir Intelligenz nennen.** Er stellt die grund- 
legende Thatsache auf, dass die Vermittelung der Sinnesempfindungen 
nicht durchaus an die Substanz der Grosshirnhemisphären gebunden 
ist. Hitzig hatte gefunden, dass durch Eingriff in das Grosshirn Blindheit 
hervorgebracht werden kann. Goltz zeigte, dass es sich um eine tiefgehende 
Sehstörung handelt, welche aber nicht den reinen Charakter der Blindheit 
hat. Solche Tiere scheuen nicht die Flamme, sie fürchten sich nicht vor Be- 
drohung, sie halten den vorgehaltenen Finger für Fleisch. Die Tiere sehen, 
aber sie erkennen nicht, was sie sehen.** Denn dass sie sehen, zeigt, dass 
sie Hindemisse vermeiden, dass sie nicht erkennen, geht daraus hervor, 
dass sie auch eingebildete Hindemisse, z. B. Stücke weissen Papiers, die auf 
den Fussboden gelegt werden, ebenso vermeiden. Munk hat die Verteihmg 
dieser Sehstörung als hemianopisch erkannt, aber mit aller Energie und unter 
Vorweisung eines grossen Materials hat Goltz bestritten, dass es sich bei 
dieser Störung um volle Blindheit handle. Vielmehr besteht nur eine Hirn- 
sehsch wache, für die ein einheitlich bezeichnendes Wort nicht existiert, die 
vielmehr in ihren Einzelheiten zu definieren ist. 

Die analoge Betrachtung führte Goltz für den Tastsinn durch, auch 
hier bestritt er, dass eine „Aufhebung** der Tastempfindung durch Grosshim- 
verletzung bedingt werden kann. In der That haben seine Gegner nie den 
Beweis erbracht, dass die Tastempfindung, sondern nur dass einzelne Reaktionen 
der Tastempfindung aufgehoben werden. Keineswegs hat auch Goltz die 
Gemeingefühle mit den Tastempfindungen völlig verwechselt; wenn er auch 
keine scharfe Grenze zieht, betont er doch Reaktionen auf feine Tastreize und 
das ganze Verhalten der Tiere macht von vornherein die völlige Aufhebung 
der Tastempfindung im höchsten Masse unwahrscheinlich. 

Den Prüfstein seiner Ermittelungen bildete für Goltz die Beobachtung 
jenes Hundes, dessen Geschichte er in der berühmten Abhandlung: „Der 
Hund ohne Grosshirn** niedergelegt hat. Es war ihm gelungen, einen 
Hund, dem die Grosshirnhemisphären vollständig entfernt waren, 1Y2 Jahre 
am Leben zu erhalten. Dieser Hund zeigte spontane Lauf bewegungen , er 
lernte wieder zu fressen und zu saufen, wenn man seine Schnauze in Berührung 
mit der Nahrung brachte. Der Hunger veranlasste ihn zu lebhafteren Bewegungen, 



98 M. LEWANDOWSKY. ^"'Z^ h^!:.t'^' 



und Neurologie. 



Er verfügte über mannigfache Stimmäusserungen. Er reagierte auf Sinnesreize. 
Durch akustische Eindrücke konnte er aus dem Schlaf geweckt werden. Er 
schmeckte, da er mit Chinin getränkte Fleischstücke wieder ausspie. Ob er 
sah, ist nicht ausgemacht, da er nur auf Belichtung mit grellem Licht mit 
Augenschluss und manchmal mit Abwendung des Kopfes reagierte. Es kann 
jedoch gerade auf das Verhalten des Gesichtssinnes bei diesem Hund kein 
entscheidender Wert gelegt werden, weil Nebenverletzungen des Thalamus 
und der Vierhügel bestanden. Deshalb hält es Goltz auch für möglich, dass 
Hunde mit reiner Operation auch in anderer Beziehung noch weniger Störungen 
zeigen würden. Im ganzen jedenfalls keine Aufhebung auch der spontanen 
Bewegung, keine Aufhebung der Empfindung, keine Aufhebung elementarer 
Gemeingefiihle (Hunger). 

„Meiner Vermutung nach ist der wichtigste Ausfall, welcher nach Ent- 
fernung des Grosshirns zu beobachten ist, der Wegfall aller der Äusserungen, 
aus welcher wir auf Verstand, Gedächtnis und Überlegung schliessen.** Der 
Hund ohne Grosshirn behandelt alle ihn antastenden Menschen in derselben 
Weise, er kennt nicht einmal mehr den Unterschied von Mensch und Tier. 
Er knurrt und bellt ebenso, wenn er sich an einem toten Gegenstande stösst 
und gleicht in dieser Beziehung dem ganz kleinen Kinde, das ärgerlich nach 
dem Tische schlägt, an dem es sich verletzt hat. Der grosshirnlose Hund 
ist wesentlich nur noch ein Kind des Augenblicks. Er erlebt überhaupt nichts 
mehr. Er lernt nichts mehr. Er kennt nicht den Ausdruck der Freude, 
ebensowenig des Neides und der Missgunst. 

Kann man diesen Hund einen empfindungslosen Automaten nennen? 
,,Ich möchte darauf aufmerksam machen, zu welchen Folgerungen es führen 
muss, wenn man die Handlungen eines Tieres ohne Grosshirn für Reflex- 
bewegungen erklärt. Ein Hund ohne Grosshirn wird unruhig und fangt 
schliesslich an zu heulen, wenn er lange nichts zu fressen bekommen hat. Er wird 
ruhig und legt sich zum Schlafe hin, wenn er gefüttert ist, gegebenenfalls 
selbständig gefressen hat. Gewöhnlich deutet man das Verhalten eines solchen 
Tieres so: Es legte sich hin und schlief, weil es satt war. Auch werden die 
meisten es nicht als einfachen Reflex ansehen, dass der Hund ohne Grosshirn 
nach der Hand beisst, die ihn anfasst." Die Fragestellung ist die gleiche, 
von der Goltz ausging, als er über den „Sitz der Seele" des Frosches 
handelte. Der Name ist gefallen, das Ziel ist geblieben. Die Antwort ist 
resignierter, aber stolz und konsequent: „Ich halte es für eine Ansichtssache 
und der Mühe nicht wert, wo die Grenze zwischen Reflexbewegung und ge- 
wollter Bewegung zu suchen ist." Es giebt keine Schranke, nur Übergänge, 
der Naturforscher hat sich zu bescheiden, objektiv zu beobachten, zu ver- 
gleichen, seine Versuche immer wieder zu bestätigen. „Beständen alle unsere 
Erfahrungen aus solchen Beobachtungen, so wäre alles weitere Theoretisieren 
unnötig und die Theorie wäre eine schlichte Erzählung der Thatsachen, von 
denen die eine die Konsequenz der andern ist." (Johannes Müller.) Im 
Geiste des grossen Meisters der Physiologie hat Goltz gearbeitet. 

Aber mit Goltz ist mehr dahingegangen als ein erfolgreicher Forscher; 
ihn umgab der Zauber einer wissenschaftlichen Persönlichkeit grossen Stils, 



^^' 'i9wf " ^' BEISPIELE PHYLOGENETISCHER WIRKUNGEN ETC. 99 



kraft der Grösse und Einheitlichkeit des Zieles, das er mit klarem und ernstem 
Blick in unermüdlicher, wuchtiger Arbeit verfolgte. Der Wahrheit ins Angesicht 
zu schauen, ist niemandem beschieden; denen aber, die die Wahrheit suchen, 
hat Friedrich Goltz eine weite Strecke Weges bereitet. 

M. Lewandowsky. 




Beispiele phylogenetischer Wirkungen und Rückwirkungen 
bei den Instinkten und dem Körperbau der Ameisen als 
Belege für die Evolutionslehre und die psychophysiologische 

Identitätslehre. 

Von 

Dr. Aug. Forel in Chigny. 

Immer fester steht die Evolutionslehre. Sie hat den Naturwissenschaften 
die mächtigsten Impulse gegeben. Im Gegensatz zu den Folgen unreifer, 
hypothetischer Irrlehren haben die zahllosen thatsächlichen Ergebnisse der 
Forschungen, welche aus jenem Impulse entstanden sind, zu einer überein- 
stimmenden Befestigung der Lehre geführt, dass alle organisierten Lebewesen 
durch langsame Formumwandlung sich aus einander entwickeln, d. h. stamm- 
verwandt sind. 

Über das „wie" gehen freilich die Theorien auseinander; das ändert aber 
nichts an der Thatsache. Es ist daher geradezu unglaublich, dass das Vor- 
urteil vieler Staatsbehörden es noch heute möglich macht, dass an sehr vielen 
Gymnasien und höheren Töchterschulen die Evolutionslehre konsequent auf 
höheren Befehl hin totgeschwiegen wird. Es wird dort der Jugend geradezu 
das Gegenteil von dem gepredigt, was sie später auf der Hochschule lernen muss. 

Die Theorie der Evolution soll uns hier nicht beschäftigen. Immerhin 
muss ich einleitend bemerken, dass die ursprüngliche Idee eines stetigen Fort- 
schrittes, einer immer grösseren Komplikation und Diversifikation in der 
Evolution den Thatsachen nicht entspricht. Die Paläontologie hat uns ja den 
Nachweis geliefert, dass die Tertiärzeit viel formen- und lebensreicher war, 
als die Jetztzeit. Unzählige Arten gehen zu Grunde; viele andere bleiben 
stationär; sehr viele bilden sich körperlich wie geistig zurück. Manche andere 
schreiten allerdings noch vorwärts und entwickeln sich höher. Die Detail- 
forschung hat aber vor allem festgestellt, dass die Evolution je nach den 
Arten, der Zeit, dem Ort, den äusseren Bedingungen überhaupt ganz ungleich- 
massig fortschreitet. Wir kennen heute Artgruppen, die unbedingt durch 



100 A. FOREL. ^""^'NeSZiy' 

Variationen sich zu vermehren und zu vervielfältigen im Begriff stehen, andere, 
deren Evolution vollendet ist und die höchstens noch absterben können, andere 
wiederum, welche durch Rückbildungsprozesse (Parasitismus z. B., also durch 
Vereinfachung) günstigere Bedingungen ihrer weiteren Evolution finden. 

In einem Aufsatz der „International Monthly" (Human Perfectibility in 
the Light of Evolution, August 1901) habe ich zu zeigen gesucht, wie die 
menschliche Vervollkommnungsfähigkeit und Kultur auf der Basis des evolutiven 
Weges entstanden sein muss. So lange das Gehirn im Kampf ums Dasein 
langsam wuchs, indem der Schlauere den Dümmeren vertilgte, vermochte sich 
allmählich ohne Kulturtradition aus irgend einem Pithecanthropus irgend ein 
Neanderthal- Mensch zu entwickeln. Das war einfach die Fortsetzung der 
höheren Evolution eines Säugetieres mit mächtigem Gehirn. Als jedoch dieses 
Gehirn eine etwas kompliziertere Tiersprache mit grösserer Registrierfähigkeit 
des Gedächtnisses entwickelte, entstand allmählich eine mündliche Tradition, 
so dass Erfahrungen der Eltern von ihren Nachkommen benützt werden konnten. 
Das war die erste Stufe der menschlichen Perfektibilität oder Kultur. Wenn 
wir die, der evolutiven Vergrösserung oder organischen Verfeinerung des 
Gehirns adäquat angepasste, langsame, aber dafür angeborene und erbliche 
Erhöhung der Intelligenz einer Tierart mit dem Ausdruck: „evolutive Perfekti- 
bilität** bezeichnen, können wir das Wort „Zusatzperfektibilität** für alle Formen 
des Kulturfortschrittes (menschliche Perfektibilität) anwenden, welche ohne 
organische Änderung (Vergrösserung oder Verfeinerung) des Baues des Gehirnes 
sich bildet. 

Die Zusatzperfektibilität, welche unter den heute noch lebenden Wesen 
nur dem Menschen eigen ist, zeigt drei grosse, prähistorische und historische 
Stufen, die sozusagen von einer arithmetischen zu einer geometrischen Pro- 
gression der Kultur geführt haben: 

1. Die rein mündliche Tradition. 

2. Die Tradition durch bleibende Gegenstände, wie Hieroglyphen, Ur- 
Schriften und dergleichen mehr, welche bereits den Beginn einer bleibenden 
menschlichen Encyklopädie bildeten. 

3. Die eigentliche Schriftsprache und ihre Vervielfältigung durch den 
Druck. 

Besonders die letztere hat die Möglichkeit gegeben, ohne organischen 
Fortschritt des Gehirns die Fortschritte früherer Generationen encyklopädisch 
zusammen zu stellen, zu benützen, und auf deren Synthese weiter zu bauen. 

Leider wird kritik- und gedankenlos die Zusatzperfektibilität mit der 
evolutiven verwechselt, weshalb sich die grössten heutigen Dummköpfe so viel 
gescheiter wähnea, als unsere Vorfahren des Altertums. 

Eine Thatsache steht fest: von den heutigen Lebewesen hat sich der 
Mensch allein, aber je nach seinen Rassen und Völkern eine ungeheuer un- 
gleiche Zusatzperfektibilität angeeignet, und wir können auch sicher annehmen, 
dass die niedrigsten lebenden Menschenrassen auch noch evolutiv auf einer 
tieferen Gehirnstufe stehen als wir und infolgedessen an sich allein nur zur 
Erhaltung einer niedrigen Stufe von Zusatzperfektibilität fähig wären. Nur 
die Dressur durch höhere Rassen färbt sie mit höherer Kultur, so lange sie 



^^' \^^ '* BEISPIELE PHYLOGENETISCHER WIRKUNGEN ETC. lOI 

mit denselben im Kontakt verbleiben. Es ist ja klar, dass die Zusatzperfekti- 
bilität sich nur ganz allmählich auf die evolutive aufg-epfropft hat, und dass 
letztere sich nebenbei ganz langsam noch lange fortentwickelt hat. Ob sie 
es heute noch thut, ist freilich fraglich. 

Intim verbunden mit der Evolutionslehre ist die Lehre der psycho- 
physiologischen Identität oder des Monismus. Der alte Dualismus lehrte, 
dass unsere Seele auf unseren Körper und unser Körper auf unsere Seele 
wirkt, weil er glaubte, dass die Seele etwas anderes sei, als der Körper. Dies 
war einigermassen glaublich und erklärlich, so lange man nicht wusste, dass 
unsere Seele und unser lebendes Gehirn eine untrennbare Einheit bilden. 
Die Thatsachen bleiben natürlich die gleichen. Was aber früher als Ein- 
wirkungen einer mysteriösen Seelenkraft auf unsern Körper oder als mindestens 
so mysteriöse Einwirkung unseres „materiellen** Körpers auf jene „rein geistig** 
gedachte Seele erschien, erklärt sich heute sehr einfach, wie folgt: Unsere 
Seele ist die, sich im Bewusstsein selbst reflektierende Thätigkeit des lebenden 
Gehirnes. Durch die Sinnesnerven wirkt die Aussenwelt auf das Gehirn, somit 
auf die Seele. Durch die Bewegungsnerven, Drüsennerven etc. wirkt seiner- 
seits das Gehirn (die Seele) auf die Muskeln, Drüsen etc. d. h. auf den 
übrigen Körper, und inittelst desselben auf die Aussenwelt. Jeder von uns 
kennt freilich nur sein Bewusstsein, aber die Analogie und Vergleichung der 
Gehirne und der Psychologie anderer Menschen und aller Tiere lassen mit 
einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass jede Nerven- 
thätigkeit überhaupt ihr selbst reflektiertes Bewusstsein besitzt. Was uns als 
rein geistig bei uns imponiert, ist einfach die reine, innere Thätigkeit des 
Gehirns im Gegensatz zu seinen eben bezeichneten Beziehungen zur Aussen- 
welt. Das Gehirn hat viele komplizierte Abteilungen. Ein grosser Teil ihrer 
Thätigkeit kommt nicht zu unserem Oberbewusstsein; dadurch allein erscheint 
uns die Sache so mysteriös. Wichtig ist für uns die Thatsache, dass die lang- 
same Entstehung des Menschen und seiner Seele aus tierischen Organisationen 
mit jener psychophysiologischen Identitätsauffassung vollständig klappt. Das 
Studium des normalen und des pathologischen Menschenhirnes, sowie der 
normalen und der pathologischen Menschenseele ergiebt nichts, was nicht 
durch das Studium der Evolution der Tierseele zu erklären wäre. Mein Zweck 
ist hier, einige Beispiele der Evolution bei den Ameisen anzuführen, welche 
diese allgemeine Wahrheit einigermassen illustrieren und zeigen, dass angeb- 
liche Wirkungen und Rückwirkungen von Körper auf Seele oder von Seele 
auf Körper nichts anderes sind, als Wirkungen und Rückwirkungen einzelner 
Energien auf andere Energien und absolut nichts gegensätzliches zwischen 
Seele und Körper enthalten, indem jede Energie ihr sogenanntes „materielles 
Substrat**, d. h. ihre materielle und wahrscheinlich, wenn auch nicht wissen- 
schaftlich nachweisbar, ihre mehr oder minder elementar seelische Erscheinungs- 
seite besitzt. 

Die pilzzüchtendc Gruppe der Attii. 

Man weiss, dass die Fauna Central- und Südamerikas — auch neo- 
tropische Fauna genannt — seit ausserordentlich alten Zeiten von der alt- 



T02 A FHRFT Journal f. Psychologie 
*^^ A. tUlULl^. und Neurologie. 

weltlichen Fauna getrennt ist, denn sie weist ganz eigene Tierfamilien und 
-Gattungen auf, und ihre Arten sind samt und sonders (abgesehen von den 
durch Schiffe später eingeschleppten Kosmopoliten u. dgl.) von den altwelt- 
lichen absolut verschieden. Die Fauna Nordamerikas war dagegen vor der 
Eiszeit mit der europäischen verbunden und ist erst seit derselben von ihr 
getrennt, so dass die Artunterschiede viel geringfügigere sind. Soweit es lang- 
same klimatische Anpassungen gestatteten, haben sich indessen verschiedene 
Formen der neotropischen Fauna in die nearktische (Nordamerika) eingeschlichen 
und umgekehrt. An der Grenze (Texas, Mexiko, Kalifornien etc.) findet 
vielfach ein Ineinandergreifen beider Faunen statt. Die Unterschiede sind 
jedoch so gross und so charakteristisch, dass man eigentlich für jede Art 
ziemlich sicher sagen kann, ob sie dem neotropischen oder dem nearktischen 
Stamm entsprungen ist. Letzterer ist ja, sahen wir, mit der arktischen, alt- 
weltlichen Fauna (paläarktischen) sehr nahe verwandt. 

Innerhalb der neotropischen Fauna unterscheidet man Gruppen oder 
Gattungen, welche diese Fauna mit der altweltlichen gemeinschaftlich besitzt. 
Solche Gattungen sind die phylogenetisch älteren. Nennen wir bei den Säuge- 
tieren die Katzengattung (Felis). Diejenigen Gattungen dagegen, welche 
ausschliesslich neotropisch sind (wie z. B. Tukane), sind (sofern nicht Über- 
reste in der alten Welt ausgestorbener Urformen) jüngere phylogenetische 
Derivate. Sie haben sich erst seit der Trennung der neotropischen Fauna 
von einer urtropischen differenziert 

Die Gruppe der Attii ist eine Gruppe rein neotropischer Gattungen, die 
jedoch äusserlich voneinander zunächst so verschieden erscheinen, dass man 
sie früher nicht zu einer Sippe vereinigt hatte. Ein näheres Studium ihres 
anatomischen Baues und eine Detailvergleichung neuer Übergangsformen, 
die im tropischen Amerika entdeckt wurden, veranlassten mich jedoch, im 
Jahre 1884 die jetzigen Attii zu einer ziemlich gut definierten morphologischen 
Gruppe zu vereinigen. Zu jener Zeit kannte man die eigentlichen Sitten der 
Attii nicht. Man wusste nur, dass die Arten der einen Gattung Atta die 
Blätter der Bäume schnitten und in ihr Nest schleppten Man glaubte, diese 
Blätter dienten zum tapezieren des Nestes, und nur Thomas Belt (1874) 
hatte die Wahrheit vermutet, nämlich, dass jene Ameisen auf diesen Blättern 
bestimmte Pilze züchten, von welchen sie sich ernähren. 

Erst die wunderbaren Forschungen von Alfred Moeller in Blumenau 
(Südbrasilien) brachten mit einem Schlage eines der wunderbarsten Kapitel 
der Ameiseninstinkte und zugleich der Naturgeschichte zum Vorschein (,,Die 
Pilzgärten einiger südamerikanischen Ameisen.** Jena, Gustav Fischer, 1893). 
Ich muss jedoch vorausbemerken, dass ich bereits 1892 in den „Mitteilungen 
der schweizerischen entomologischen Gesellschaft**, Band VIII, Heft 9 (Attii 
und Cryptocerii), darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die Gruppe der 
Attii mit einer andern, in allen Weltteilen verbreiteten Gruppe: Dacetii 
zunächst verwandt ist, und dass vor allem zwei neotropische Gattungen der 
(iruppc der Dacetii, nämlich die Gattungen Rhopalothrix und Ceratobasis 
die allernächsten heutigen Verwandten der Attii sind. 

Durch sorgfältige Beobachtungen und Experimente, sowohl in der 



®^- \SJ^^ '• BEISPIELE PHYLOGENETISCHER WIRKUNGEN ETC. IO3 



Natur als in künstlich angelegten Ameisenkolonien, stellte Mo eil er folgen 
des fest: 

Die Ameisen der Gattung Atta Fab. (Untergattung Acromyrmex Mayr, 
die allein in Blumenau vorkommt), schneiden Stücke aus den Blättern der 
Bäume, bringen dieselben in eine grössere Höhlung, die ihnen als Nest, sei 
es unterirdisch, sei es in hohlen Bäumen u. dgl. dient. Dort werden die 
Blätter von den grossen Arbeitern (bei den Atta- Arten giebt es grosse, 
grossköpfige , mittlere und ganz kleine Individuen unter den Arbeitern), 
zerschnitten und zermalmt. Diese Blatttrümmer werden zu einem hohlen 
Labyrinth mit Kammern und Gängen verarbeitet, das den Ameisen als 
Nest für sich und ihre Brut dient. Auf diesen zusammengepressten Blatt- 
trümmern wächst aber ein besonderer Pilz, dem der Botaniker Moeller 
seine ganze Aufmerksamkeit widmete und den er Rhozites gongylophora 
nannte. 

Zunächst sieht der sogenannte Pilzgarten der Ameisen wie ein von kurzem 
weissen Schimmel bedecktes Labyrinth aus, das etwa die makroskopische 
Struktur eines groblöcherigen Schwammcs hat. Was zeigt nun die nähere 
Beobachtung der Ameisen und des Pilzes? Eine Schar der allerkleinsten 
Arbeiter ist Tag und Nacht das ganze Jahr hindurch damit beschäftigt, das 
Mycelium des Pilzes (die Schimmelfäden) mit ihren Oberkiefern abzubeissen. 
Lässt man nur einige Stunden ein Stück Pilzgarten ameisenfrei in einer feuchten 
Schachtel liegen, so ist die Schachtel bereits mit langen, weissen Pilzfaden 
vollständig angeschimmelt. Nur durch die beständige Gärtnerarbeit der Kleinsten 
kann der Pilzgarten Ameisenwohnung bleiben. Zugleich aber bewirkt jene 
Arbeit eine Änderung der Pilzvegetation. Der Rhozites produziert nun feine, 
knollige Massen eigener Art, ein förmliches, eiweissreiches Gärtnereiprodukt, 
das Moeller Ameisenkohlrabi genannt hat. Dieses Produkt tapeziert alle 
Wände des Pilzgartens und bildet die Nahrung der Ameisen und ihrer Brut. 
Sobald die als Nährgelatine funktionierende Blättermasse vom Pilz ganz auf- 
gesogen ist, wird die so unbrauchbar gewordene Abteilung des Pilzgartens in 
Form von braunen Kügelchen von den Ameisen abgerissen und neben einem 
Nesteingang weggeworfen. 

Ich habe selbst 1896 in Columbien die Pilzgärten der grossen, eigent- 
lichen Atta-Arten (sexdens und cephalotes) entdeckt. Es war geradezu 
grossartig, an einem i m hohen und ca. 5 — 6 m im Durchmesser messenden 
Nest jene kolossalen Gärtnereiwerkstätten zu beobachten. Durch einzelne 
Offnungen traten Tausende mit grünen Blattstücken beladene Ameisen ein; 
aus anderen warfen ebensoviele braune Kügelchen heraus. Ich griff das 
Nest mit Hilfe eines Indianers und schnitt es mit einer Schaufel an. Zu Tausenden 
stürzten sich die grossen Arbeiter auf uns; der halbnackte Indianer lief davon 
und ich musste auch mehrfach mit total blutigen Händen den Rückzug an- 
treten; aber das Innere des Nestes war blossgelegt. Dasselbe besteht aus 
einem Convolut von mächtigen Höhlungen, welche 15 — 20 cm lang, 8 — 12 cm 
hoch und meistens jede von einem Pilzgarten ausgefüllt sind, der ziemlich 
genau so aussieht, wie der einzige Pilzgarten der Acromyrmex- Arten. Im 
Labyrinth dieses grau bis braunen Pilzgartens lagen Tausende der kleinsten 



I04 A. FOREL. ^"""""^i Psychologie 
_^ und Neurologie. 

und mittleren Arbeiter, sowie die g-anze Brut der Ameisen. Mächtige Weibchen- 
larven fanden sich darin, umhüllt von einer förmlichen Hülse von Arbeitern 
jeder Grösse und sahen aus, wie so viel Igel. Die Arbeiter hielten diese 
Larven so zäh umklammert, dass ich sie in die Hand nahm, ohne dass sie 
losliessen und ich sie so in Situ in Weingeist tötete. Die grossen Atta-Nester 
besitzen somit nicht nur einen Pilzgarten, sondern vielleicht Hunderte von 
solchen. Die pilzgartenhaltigen Kammern kommunizieren untereinander durch 
weite, 2 — 3 cm breite Erdgänge. 

Dr. Moeller hat festgestellt, dass der von mir gefundene Pilz der grossen 
Atta der gleiche Rhozites gongylophora ist, den er bei den Akromyrmex 
gefunden hatte. Diese grossen Atta-Arten sind aber die grössten Wald- 
zerstörer Süd- und Centralamerikas. Von Ihering hat nun die wunderbare 
Thatsache entdeckt, dass jedes aus dem Nest ausfliegende jungfräuliche Atta- 
Weibchen eine Kugel Pilzgarten in den Oberkiefern mitnimmt. Nach der 
Begattung (die bekanntlich bei den Ameisen mehrmals, aber nur an einem 
Tage in der Luft stattfindet, und nach welcher das Weibchen, dank der Ein- 
richtimg des Receptaculum seminis, viele Jahre hindurch ohne weitere Be- 
gattung befruchtet bleibt und Millionen Eier legen kann), gründen nun solche 
Weibchen in einer geschlossenen Zelle neue Kolonien, indem sie mit den 
eigenen Leibessäften einige kleine Arbeiter-Larven füttern. Sind diese er- 
wachsen, verpuppt und ausgeschlüpft, so laufen die jungen Ameisen hinaus, 
schneiden frische Blätter und kleben sie dem Rest der Pilzgartenkugel der 
Mutter an, wodurch die weitere Fortpflanzung des Pilzes, und damit der Bestand 
der neuen Ameisenkolonie gesichert ist. 

Ausserhalb des Nestes sind die Atta ausserordentlich friedfertig; nur 
wenn man ihren Pilzgarten angreift, werden sie wütende Krieger. Wie und 
auf welche Weise hat sich nun ein so wunderbarer Instinkt, sowie auch der 
sehr eigentümliche körperliche Bau der Atta- Arten entwickelt? Diese Tiere 
sind nämlich mit Höckern und Dornen massenhaft besetzt und zeigen einen 
ungeheuren Dimorphismus; das Weibchen der cephalotes ist z. B. 2 cm lang 
und 8 mm dick, während der kleinste Arbeiter nur etwas über 2 mm lang 
und o,6 mm breit ist. Den Schlüssel dazu hat Moeller gegeben: 

Alle Arten der übrigen kleinen Galtungen der Attii bauen nämlich, wie 
Moeller und zum Teil ich entdecken, mit Ausnahme von Cyphomyrmex, 
Pilzgärten. Doch sind diese Pilzgärten unvollkommener und je nach den 
Gattungen und Arten mehr oder weniger entwickelt. Die niedrigste Unter- 
gattung der Gattung Atta (Trachymyrmex) schneidet bereits nur wenige 
Blumenblätter und sammelt zum Pilzgarten anderes Material. Die Aptero- 
stigma und einige Cyphomyrmex sammeln nur noch Raupenkot, Stärke- 
stückchen und andere ähnliche organische Stoffe, züchten einen anderen Pilz 
und bauen überhaupt viel unvollkommenere Pilzgärten. Ja, Moeller hat fest- 
gestellt, dass von zwei Apterostigma-Arten, welche den gleichen Pilz- 
züchten, die eine (A. Wasmanni) schönere und vollkommener geformte Kohl- 
rabi zustande bringt, als die andere (A. pilosum). 

In der Gattung Cyphomyrmex bilden verschiedene Arten rudimentäre 
Pilzgärten, ähnlich, aber weniger gut als die Apterostigma. Einzelne Arten 



^^' \£f" *' BEISPIELE PHYLOGENETISCHER WIRKUNGEN ETC. IO5 



aber bilden nur temporäre (Wheeler) oder gar keine (MocUer) Pilzgärten. 
Hätte man nicht diese Thatsachen, so könnte man sich kaum vorstellen, wie 
die Atta zu ihrem Instinkt gekommen sind. Bedenkt man aber, dass die mit 
Cyphomyrmex zunächst verwandten Dacetii (Ceratobasis und Rhopa- 
lothrix), diejenigen Cyphomyrmex, die keine Pilzgärten bauen und die 
die ganze Welt bewohnende Dacetii-Gattung Strumigenys meistens unter 
morscher Baumrinde oder im Humus, im detritusreichen Waldboden leben 
und dort beständig mit Pilzen und Schimmel in Berührung kommen, die sie 
offenbar als Nahrung gebrauchen, so ist eine fast ununterbrochene Kette 
gegeben, welche die allmähliche Entwicklung des Pilzgärtnerei-Instinkts erklärt. 

Aber die Sache wird erst lichtvoll, wenn man beachtet, dass die morpho- 
logische Phylogenie der Attii vollständig mit derjenigen des Pilzgärtnerei- 
Instinktes einhergeht. Es ist klar, dass jene neotropische Gruppe sekundär 
aus der allgemeinen urweltlichen der Dacetii und Konsorten entstanden sein 
muss, und nicht umgekehrt. Die sehr nahe Verwandtschaft der Cyphomyrmex 
mit den Ceratobasis etc. zeigt jedoch, dass der Pilzgärtnerei-Instinkt gerade 
bei jener ersten Gattung begonnen hat, welche den Übergang der Dacetii 
zu den Attii bildet. 

Wir können somit mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit 
annehmen, dass die grossen Atta den rezentesten Zweig der Gruppe bilden, 
der sich phylogenetisch ungefähr aus den Cyphomyrmex, Myrmicocrypta, 
Sericomyrmex, Aptcrostigma, Mycocepurus, Trachymyrmex, Acro- 
myrmex und durch dieselben aus den Dacetii entwickelt hat. 

Wir können aber weiter gehen und behaupten, dass die höhere Aus- 
bildung des Gärtnerei-Instinktes mittelst Blattschneidens bei kleinen Attii 
denselben eine unermessliche Nahrungsquelle eröffnet hat und dadurch nach 
und nach die Bildung mächtig grosser Arten mit ungeheuer völkerreichen 
Kolonien gefördert hat. Dass die bedeutende Grösse der Männchen, Weibchen 
und grossen Arbeiter der eigentlichen Atta eine sekundäre Folge der Blatt- 
schneiderei ist, wird noch dadurch sehr wahrscheinlich gemacht, dass bei 
diesen Arten ausserordentlich kleine Arbeiter vorhanden sind. Jene kleinsten 
Arbeiter mussten sich deshalb erhalten, weil die grossen zum Mycelium 
ausjäten absolut nicht geeignet sind. Die kleinsten Arbeiter aber sind den 
fast monomorphen Arbeitern der kleinsten Attii sehr ähnlich; sie haben auch 
viel kürzere Domen als die mittleren und grossen. Man muss sie deshalb 
schon als die phylogenetisch ältere Individuenform betrachten, die sich aus 
funktionellen Zweckmässigkeitsgründen neben den vergrösserten Individuen 
erhalten hat. 

Fragt man sich etwa, ob die Körperbeschaffenheit der Atta durch den 
Pilzgärtnerei-Instinkt oder letzterer umgekehrt durch erstcren bedingt worden 
ist — d. h. ob der Körper durch den Geist, oder der Geist durch den Körper 
beeinflusst wurde — so müssen wir diese Fragestellung als falsch zurückweisen. 
Der Pilzgärtnerei-Instinkt ist gegenwärtig eine direkte Funktion des Attii- 
Gehimes. In der phylogenetischen Entwicklung haben unzählige verwickelte 
Energien aufeinander gewirkt, nicht zum mindesten selektive und von aussen 
kommende. Instinkt und Körperform sind der harmonische Ausdruck jener 

Journal ftir Psychologie und Neurologie. Bd. I. o 



zahllosen in Tausenden von Generationen wirksam gewesenen Wirkungen und 
Rückwirkungen. Hat einmal irgend eine Trachymyrmex-Art unter günstigen 
Verhältnissen begonnen, grüne Blätter zur Vervollständigung ihres Pilzgartens 
abzubeissen, und hat sich durch Zuchtwahl diese Variation des Instinktes 
verstärkt, so war dadurch die Vorbedingung zu einer stärkeren körperlichen 
Entwicklung gegeben, wozu lebende Zellenmaterie und ihre Funktion sich 
gegenseitig anpassten. Sehen wir ja nicht, wie überhaupt in den Ameisen 
die Grosshirn -Hemisphären bei den mit komplizierten Instinkten versehenen 
Arbeitern allein sich hoch entwickelt haben, dagegen bei den Weibchen viel 
schwächer und bei den Männchen fast ganz verkümmert sind, indem die 
letzteren ausser der simpeln Begattung in der Gesellschaft nichts zu thun 
haben und bald darnach sterben. Auch hier sind „Geist" und „Körper**, 
d. h. das Leben des Gehirns, wie des übrigen Körpers, zugleich an die 
Artverhältnisse, wie jene an die äusseren Umstände angepasst. Wo bleibt da 
Raum für eine mysteriöse, dualistische, körperlose Seele? 

Ich will hier nicht dasjenige wiederholen, was ich in meinem Vortrage: 
„Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen** (München, Ernst Reinhardt, 1901) 
gesagt habe. Dort habe ich den Nachweis geliefert, dass solche vorhanden 
sind, dass es eine Ameisen-Psychologie giebt, dass mit dem leeren Wort 
Instinkt nichts gesagt und dass die hervorragendste Grund eigenschaft der 
Menschenseele, nämlich ihre Plastizität, sowie die Bildung von Gedächtnis- 
bildern, Schlüssen, Gewohnheiten, Affekten, Willensentschlüssen etc., wenn 
auch in sehr geringem Massstabe, bei sozialen Hymenopteren, wie bei höheren 
Tieren vorhanden ist. 

Sklaverei-Instinkt. 

• 

Bekanntlich hat der Genfer Forscher Peter Huber die Entdeckung 
gemacht, dass gewisse Ameisen die Puppen anderer Arten rauben, dass die 
aus jenen Puppen ausgeschlüpften Ameisen einer schwächern arbeitsamen 
Art sich bei ihren Räubern zu Hause wähnen, dort alle Arbeit verrichten 
und sowohl ihre Räuber wie deren Brut füttern und pflegen. Huber be- 
obachtete zwei solcher Raubameisen. Die erste Polyergus rufescens 
(Amazonen-Ameise), zieht in gedrängten Scharen zum Raub. Ihre Oberkiefer 
sind umgebildet, sichelförmig und zahnlos, zu einem doppelten Zweck ange- 
passt: i) um die geraubten Puppen zu umklammern und so unter dem Kopf 
und zwischen den Beinen bequem zu tragen, 2) wie ich später zeigte, um 
solchen Verteidigern des angegriffenen Nestes, die sie an den Beinen zurück- 
halten wollen, das Gehirn zu durchstechen und lahm zu legen. Dieses wunder- 
bare Tier hat ausser dem Raub jeden Arbeits-Instinkt verloren; die Sklaven 
thun alles absolut allein; sie bauen das Nest, füttern die ganze Brut, sogar 
ihre Räuber selbst; denn diese haben sonderbarer Weise sogar den Instinkt 
des Fressens verloren. Sie sind nicht mehr imstande, selbst zu fressen, nicht 
einmal, wenn man ihnen Honig vorlegt; höchstens schlucken sie etwas davon, 
wenn man es ihnen an den Mund pappt. 

Die zweite Art, Formica sanguinea, ist dagegen noch durchaus 
arbeitsfähig. Ihre Kiefer sind gezähnt und nur eine kleine Einkerbung am 



^^'\^M^ ^ BEISPIELE PHYLOGENETISCHER WIRKUNGEN ETC. lO/ 



Kopfschild lässt den Beginn der Entstehung eines Raumes für die getragenen, 
geraubten Puppen vermuten. Dennoch ist ihr Raub-Instinkt sehr entwickelt. 
Sie erzieht eine geringere Zahl von Sklaven aus den geraubten Puppen als 
der Polyergus und frisst offenbar einen Teil der Letzteren. Aber sie über- 
lässt den Hauptteil der Hausarbeit, der Brutpflege und der Blattlausmelkerei 
ihren Sklaven. Kurz, sie steht auf dem besten Wege, zu dem sich umzu- 
wandeln, was der Polyergus geworden ist, obwohl ihre nächsten Verwandten 
in Europa lauter arbeitsame Arten der Gattung Formica sind. Immerhin 
habe ich die Entdeckung gemacht, dass unter letzteren Arten einige der 
kräftigeren (Formica truncicola, exsecta, pratensis etc.) in sehr seltenen 
Fällen mit Individuen der schwächeren Sklaven- Arten (Formica fusca und 
rufibarbis) in Gemeinschaft leben, deren Puppen sie offenbar nach einem 
Kriege, wo sie Sieger geblieben waren, zufällig aufgezogen hatten. In neuerer 
Zeit konnte ich übrigens feststellen, dass einzelne ähnliche gemischte Kolonien 
dadurch entstehen, dass befruchtete Weibchen verschiedener, jedoch meistens 
anderer Arten zur Gründung einer Kolonie sich assoziieren. 

Es gibt aber in einer ganz anderen Ameisengruppe (Myrmicinae) eine 
sonderbare Gattung, Strongylognathus, deren Oberkiefer genau so gebildet 
ist, wie bei Polyergus, imd die in gemischten Kolonien mit einer anderen 
Alt, Tetramorium caespitum, lebt. Während aber die eine Art 
(Str. testaceus) kleiner und schwächer ist als Tetramorium, ist die andere, 
Str. Huberi, etwas grösser und stärker. Schenk und v. Hagens hatten schon 
festgestellt, dass in den Kolonien von Str. testaceus ausserordentlich wenig 
„Arbeiter**, dagegen sehr viele Weibchen und Männchen dieser Art und eine 
ungeheuere Schar Tetramorium vorhanden sind, woraus v. Hagens schloss, 
dass Sr. testaceus zum Raub unfähig ist. Diese Ansicht bestätigend, ver- 
anstaltete ich künstliche Kriege, bei welchen ich feststellte, dass allerdings 
Str. testaceus schwächer ist als Tetramorium und im Zweikampf mit ihm 
unterliegt, jedoch in seiner Kampfart genau die Manieren von Polyergus 
rufescens zeigt und den ohnmächtigen und sinnlosen Versuch macht, den 
harten Kopf seines Gegners mit seinen Sicheln zu durchbohren. 

Als ich jedoch 1872 im Kt. Wallis den bis dazumal unbekannten 
Str. Huberi entdeckte, stellte ich zwei Dinge fest: i. dass der Arbeiter, im 
Gegensatz zu testaceus, in gros$er Anzahl in der Kolonie vorhanden ist, 
2. dass, wenn man einen Sack voll fremder Tetramorium mit Puppen in 
die Nähe stellt, dieselben von einer Armee Str. Huberi ganz ä la Polyergus 
angegriffen, geschlagen und ihrer Puppen beraubt werden. Ich habe jene 
Experimente vor zwei Jahren mit gleichen Erfolgen wiederholt. Natürliche 
resp. spontane Raubzüge von Str. Huberi sind jedoch noch nie beobachtet 
worden. Das Tier ist etwas weniger arbeitsunfähig als Polyergus, doch 
nicht viel, ebenso Str. testaceus. 

Inzwischen hatte Pater Erich Wasmann das Rätsel der Str. testaceus- 
Kolonie gelöst. Es gelang ihm, durch tiefes Ausgraben in derselben zwei 
befruchtete Mutterweibchen zu entdecken und zwar das eine vom Strongy- 
lognathus und das andere vom Tetramorium. Die Sache geht also be- 

Str. testaceus wohl folgendermassen vor sich: Ein befruchtetes Strong.- 

8* 



^08 A. FOREL. J°rS'N.MI°"' 

Weibchen verfolgt ein befruchtetes Tetram.-Weibchen und verbindet sich mit 
ihm zur Gründung* einer Kolonie. Die Tetram. -Brut füttert und erzieht dann 
die faule Strong.-Brut. Da die geflügelten Weibchen und Männchen des Str. 
viel kleiner sind und daher weniger Mühe zum Erziehen geben, als die 
Tetram.-Weibchen und Männchen, vernachlässigen die Tetram. ihre eigenen 
Geschlechtstiere, um diejenigen ihres Schmarotzers aufzuziehen! So absurd 
die Sache erscheint, so ist sie doch buchstäblich wahr. Im ganzen erziehen 
die Ameisen überhaupt am liebsten diejenige Brut, die am wenigsten frisst. 
Diese Entdeckung Wasmanns hat mich stutzig gemacht, und ich vermute 
(dies bleibt freilich noch nachzuweisen), dass auch Str. Huberi nicht mehr 
aktiv und spontan raubt, sondern bereits nach dem Schmarotzersystem seines 
nächsten Verwandten Str. testaceus zu wirtschaften begonnen hat. 

Der Vollständigkeit halber erwähne ich noch, dass bei der Gattung 
Anergates, welche ähnlich wie Str. testaceus bei Tetram. caespitum 
schmarotzt, der unnütz gewordene Arbeiterstand sekundär vollständig zu 
Grunde gegangen ist. Es giebt bei ihr nur noch Weibchen und Männchen, 
letztere dazu flügellos. 

Nun kommen in Nord-Amerika verschiedene nearktische Formen (Rassen 
oder Varietäten) der Formica sanguinea vor. Die gewöhnlichste derselben, 
rubicunda Emery, hatte ich reichlich Gelegenheit zu beobachten. Ihre 
Sitten und Raubart gleichen ungemein denjenigen der europäischen sanguinea; 
sie macht aber viel mehr Sklaven als dieselbe, obwohl sie noch durchaus arbeits- 
fähig ist. Dagegen habe ich bei Toronto, Canada, eine bisher noch unbe- 
kannte, sehr dunkel gefärbte Abart der sanguinea entdeckt, die ich aserva 
genannt habe und die dort im High-Park eine mächtige Kolonie (mehr als 
12 durch Ameisenstrassen verbundene Nester) bildete. Diese Ameisen, die ich 
sehr gründlich untersuchte, besassen absolut keine Sklaven, obwohl die der 
rubicunda als Sklave dienende Formica subsericea in der Umgebung 
sehr zahlreich vorkam. Auch der Instinkt dieses Tieres, eine aus vielen, 
mehrere Meter voneinander entfernt stehenden Nestern gebildete Kolonie zu 
gründen (polycalische Kolonie von mir genannt), würde sich mit der Sklaven- 
macherei nicht zusammenreimen; denn eine einnestige sanguinea-Kolonie 
genügt bereits, um nach wenigen Jahren die umgebenden Kolonien der 
Sklavenart zu erschöpfen. Man kann daher wohl annehmen, dass die Rasse 
aserva normaliter keine Sklaven macht. Nun machte ich aber sofort ein 
Kontrollexperiment und setzte einen Sack voll in Nord -Amerika als Sklaven 
dienender Arten mit P-uppen in die Nähe eines aserva- Nestes. Nach wenigen 
Minuten erfolgte ein typischer sanguinea- Angriff* mit Puppenraub und 
zwar so charakteristisch, wie er bei anderen Formica- Arten niemals 
vorkommt. 

Wenn man sorgfältig die eben erwähnten Thatsachen erwägt, wird man 
sich mit mir dem Schlüsse nicht entziehen können, dass sowohl Str. testaceus 
als Formica sanguinea Rasse aserva und erst recht Str. Huberi (falls es 
sich herausstellt, dass letztere Art gegenwärtig keine spontanen Raubzüge 
mehr unternimmt und in ihren Kolonien ein befruchtetes Tetramorium- 
Weibchen enthält) von Vorfahren stammen, welche Sklaverei-Raubzüge unter- 



Ö0.I,OTPT8. BEISPIELE I»HYL0GENET1SCHER WIRKUNGEN ETC. I09 



nahmen. Woher hätten sie sonst die zweifellos vorhandenen, aber normaliter 
nicht mehr bethätigten Überreste des Raubinstinktes? Woher auch die ent- 
sprechenden körperlichen Anpassungen (sichelförmige Mandibeln bei der einen, 
Einschnitt am Kopfechild bei der andern Art)? Es handelt sich also um 
phylogenetische Überreste eines bei den Vorfahren vorhandenen Sklaverei- 
Instinktes, deren ganze Entstehung und Rückbildung die heute noch lebenden 
Arten unzweideutig verraten: Durch Sklavenhalterei zum Schmarotzertum. 
Diese Thatsachen sind nicht neu, aber ich habe sie hier erwähnt, um 
den anfangs aufgestellten Satz weiter zu begründen. Man sieht, wie „psy- 
chische** Eigenschaften ganz genau den gleichen Gesetzen folgen, wie „körper- 
liche**. Beide sind eben nur eins, nämlich Evolutions - Erscheinungen des 
lebenden Gehirnes mit ihren Wirkungen und Rückwirkungen auf die anderen 
Körperorgane. 

Lestobiose. 

Da aller guten Dinge bekanntlich drei sind, nehme ich noch ein drittes 
Beispiel. Im Jahre 1869 (Observations sur les moeurs du Solenopsis fugax) 
habe ich zum erstenmal die Sitten einer ganz kleinen, europäischen Ameise 
aufgedeckt. Sie baut ihr Nest, in der Regel wenigstens, in den Zwischen- 
wandungen der Nester grösserer Arten. Die winzigen Arbeiter infiltrieren sich 
dann durch ganz kleine Öffnungen der Wände unter die Brut der grösseren 
Art und fressen sie auf. Damit haben sie es ausserordentlich bequem, ihre 
eigenen dicken Weibchen und Männchen zu füttern und aufzuziehen. Nur 
ihre Kleinheit, ihre Zahl und ihr Stachel schützen sie; denn sie stehen feindlich 
zu den grossen Arten, neben welchen sie leben. Nun hat es sich später heraus- 
gestellt, dass diese Lebensweise den meisten Arten der formenreichen Gattung 
Solenopsis und einiger anderer, wie Oligomyrmex, Aeromyrma, einem 
Monomorium und vor allem der Gattung Carebara eigentümlich ist. Ich 
habe den Ausdruck Lestobiose dafür angewendet, ein Ausdruck, der mir 
besser als Wheelers Ausdruck Cleptobiose zu passen scheint; denn es handelt 
sich um kleine Raubmörder und nicht um Diebe; sie fressen gelegentlich 
auch kranke Ameisen. Die Gattungen Aeromyrma und Carebara nisten 
in den Zwischenwänden der Nester der grossen Südafrikanischen Termiten. 
Herr Haviland hat nun den Haushalt der Carebara vidua entdeckt. Das 
Weibchen dieses Tieres ist 23 mm lang und 8—9 mm breit am Hinterleib. 
Der monomorphe Arbeiter (grosse Arbeiter giebt es keine) ist dagegen bloss 
1,5 — 1,7 mm lang und dazu recht schmal. Dennoch kann er die ganze Brut 
seiner mächtigen Männchen und Weibchen aufziehen, weil er neben sich die 
fettleibige Termitenbrut als unerschöpflichen Futtervorrat besitzt. 

Auch hier sehen wir, wie Körpergestalt und psychische Eigentümlich- 
keiten harmonisch zusammenhängen und einander gegenseitig bedingen. Ich 
könnte jene Beispiele noch stark vermehren; denn die ganze Ameisen-Biologie 
ist eigentlich nur eine fortgesetzte Illustration des Gesagten. Ja, selbst ihre 
Anatomie, ihr Receptaculum seminis, ihr mächtiger, elastischer Vormagen 
oder Kropf (sozialer Magen), welcher der Gemeinschaft mehr als dem Individuum 
dient, indem die Arbeiterameise den liauptteil seines Inhaltes unter ihre Ge- 



t lö r a tTTNf^ Journal f. Psychologie 
**^ ^» U. JUJNU. und Neurologie. 

fährtinnen und ihre Brut verteilt, ist eine lebendige Illustration der monistischen 
psychophysiologischen Identität. 

Freilich erwidern die alten Carthesianer, die Tiere seien Maschinen, und 
nur der Mensch habe eineSeele. Die Falscheit dieses Satzes ist aber so evident 
durch die induktive Forschung nachgewiesen, dass es sich nicht mehr lohnt, 
ihn mit Dialektik zu widerlegen. Erstens ist die „Maschinerie" des Lebens 
noch absolut unbekannt und undarstellbar. Will man aber das Gehirnleben 
der Tiere mit dem Worte Maschinerie bezeichnen, so hat zweitens die Er- 
forschung des Menschenhimes den Nachweis geliefert, dass es ebenso sehr 
eine, nur kompliziertere Maschinerie ist, wozu die Psycho-Pathologie täglich 
neue Beweise liefert. Übrig bleibt nur das introspektive Spektrum des Be- 
wusstseins eines jeden Ichs. Was aber davon übrig bleibt, wenn man die 
„Maschinerie" entfernt, deren Thätigkeit es wiederspiegelt, nämlich das reinste 
Nichts, haben wir an anderem Orte zur Genüge erörtert. 




Ein Fall von hysterischem Stupor bei einer Untersnchungs- 

gefangenen. 

Von 

Dr. C. G. Jung, 

I. Assistenzarzt an der Heilanstalt Burghölzli« 

Nachstehender Fall eines hysterischen Stupors bei einer Untersuchungs- 
gefangenen wurde der hiesigen Klinik zur Begutachtung zugewiesen. Ab- 
gesehen von der Ganserschen und den Raeckeschen Publikationen ist die 
casuistische Litteratur über derartige Fälle eine sehr spärliche, sogar ihre 
klinische Stellung scheint angesichts der Niss Ischen Polemik eine unsichere 
zu sein. Es erschien mir darum von Interesse, einen solchen Fall zu all- 
gemeiner Kenntnis gelangen zu lassen, um so mehr auch, als das vorliegende 
spezielle Krankheitsbild von einer gewissen Wichtigkeit ist für die Psycho- 
pathologie der Hysterie im allgemeinen. 

Die Fat. Godwina F. ist am 15. V. 1854 geboren. Die Eltern der Fat soUen gesund 
gewesen sein. Von den vier Schwestern der Fat. sind zwei an Lungenschwindsucht und eine im 
Irrenhaus gestorben; eine ist gesund. Ein Bruder ist ebenfalls gesund und sehr solid. Der zweite 
Bruder ist der Gewohnheitsverbrecher Carl F. Die beiden illegitimen Töchter der Expl. sind 
gesund. Von frühern erheblichem Krankheiten ist nichts bekannt. Fat. stammt aus ärmlichen Ver- 
hältnissen; arbeitete seit dem 14. Jahre in einer Fabrik. Mit 17 Jahren fing sie ein Verhältnis an, 
gebar mit 18 ihr erstes Kind, mit 28 ihr zweites. Beide sind illegitim. Fat. lebte ganz von 
ihrem Liebhaber, der sie stets mit Geld unterstützte. Vor drei Jahren hatte Fat. ca. 2OO0O Mark 
angeblich von ihrem Liebhaber erhalten, welche sie aber rasch verschleuderte. Infolgedessen kam 



BD. I, HEFT S ^j^ p^L VON HYSTERISCHEM STUPOR ETC. 1 1 1 



I90f. 



sie in finanzielle Bedrängnis; liess ihre Hotelschulden auf eine grössere Summe anwachsen; verliess 
dann das Hotel, indem sie den Wirt immer wieder durch das Versprechen, bald bezahlen zu wollen 
(resp. sobald sie die loooo Mark von ihrem Liebhaber erhalten habe), vertröstet hatte. Infolge 
eines Verdachtes auf Diebstahl wurde Fat. am 3 1 . Mai abends 5 h. verhaftet. Im Verhör am gleichen 
und an den folgenden Tagen benahm sie sich völlig korrekt, ebenso war ihr Verhalten in der Haft 
ein durchaus ruhiges und anständiges. 

Ihre Tochter giebt an, dass Fat in letzter Zeit gereizter und deprimierter Stimmung gewesen 
sei, was aber in Ansehung der schwierigen Situation vollständig erklärlich ist Sonst konnte gar 
nichts Abnormes eruiert werden. 

Als am Morgen des 4. VI. 02 um 6^« h. die Zelle geöffnet wurde, stand Fat. „steift an der 
Thüre und kam „ganz steif "* auf das Dienstmädchen zu, indem sie heftig verlangte, „sie solle ihr 
das Geld, das sie ihr gestohlen, wieder geben^. Das Essen, das ihr hingestellt wurde, wies sie 
zurück, mit der Bemerkung, „es sei Gift drin''. Sie fing darauf an zu wüten und zu schimpfen, 
sprang in der Zelle hin und her, verlangte beständig ihr Geld, sie wolle sofort vor den Richter etc. 
Auf das Rufen des Dienstmädchens kamen dann der Gefangenwart, dessen Frau und Knecht und 
suchten die Aufgeregte zu beruhigen. Eis scheint dabei zu einer ziemlich lebhaften Scene gekommen 
zu sein. Man hielt sie an den Händen fest und „schüttelte^ die Fat. auch (Angaben des Dienst- 
mädchens). Schläge werden in Abrede gestellt. Die Fat. wurde darauf wieder eingeschlossen. Als 
um II h. die Zelle wieder geöffnet wurde, hatte Fat. ihre Oberkleider zerrissen. Sie war noch 
immer sehr aufgeregt; gab an, der Gefangenwart habe sie auf den Kopf geschlagen; man habe ihr 
Geld, das sie von ihrem Manne bekommen habe, gestohlen; sie habe loooo Frs. erhalten und 
dasselbe, lauter Gold, auf den Tisch gezählt etc. Vor dem Gefangenwart bezeugte sie lebhafte Furcht. 

Im Laufe des Nachmittags war Fat. ruhiger. Abends 6 Uhr konstatierte der Bezirksarztadjunkt, 
dass Fat total desorientiert war. Ausserdem zeigte sie folgende erwähnenswerte Symptome: Nahezu 
gänzlich fehlendes Gedächtnis, leicht zu erregender Stimmungswechsel, Grössenwahnideen, stolpenlde 
Sprache, vollständige Unempfindlichkeit für tiefe Nadelstiche, starkes Zittern der Hände und des 
Kopfes, zitternde, lückenhafte Schrift Fat wähnt sich in einem prächtigen Hotel, speist an reicher 
Tafel, das Dienstpersonal ihrer Umgebung verkennt sie als Hotelgäste. Sie ist sehr reich, besitzt 
Millionen. Nachts habe sie ein Mann überfallen, der sich kalt anfühlte. Sie ist zeitweise aufgeregt 
ruft und schreit unverständliches Zeug. Sie weiss ihren eigenen Namen nicht, ebenso weiss sie 
nichts über ihr Vorleben und ihre Familie anzugeben. Sie kennt das Geld nicht mehr. 

Auf dem Transport in hiesige Anstalt zeigte sich Fat ungemein schreckhaft und furchtsam; 
erschrak über jede Kleinigkeit in ganz übertriebener Weise; klammerte sich an den Begleiter an. 
Fat. wurde am 4. VI. 02 Abends 8 Uhr in der Klinik aufgenommen. 

Fat ist von mittlerer Grösse und ordentlichem Ernährungszustand. Sie sieht übernächtig und 
sehr verwelkt aus. Der Gesichtsausdruck ist ein ängstlich-weinerlicher und drückt totale Hilf- und 
Ratlosigkeit aus. 

Der Kopf, die vorgestreckte Zunge und die Hände zittern. Die Gegend der grossen Fonta- 
nelle ist vertieft. Der Umfang des Kopfes beträgt 55 cm. Biparietal: 15 cm, Occipitofrontal : 18,5 cm. 
Die Fupillen reagieren auf Licht und Accomodation normal. Der Gang ist etwas unsicher. Keine 
Ataxie, kein Romberg. Vorderarm-, Fatellar- und Achillessehnenreflexe lebhaft. Der Rachenreflex 
ist vorhanden. 

5. VL Nachts ist Fat. ganz ruhig. Liegt heute völlig ruhig und teilnahmlos zu Bette. Isst 
in geordneter Weise, hält sich reinlich. Zeigt keine spontanen psychischen Regungen. Der Gesichts- 
ausdmck verrät eine ängstlich-unbehagliche Stimmung ohne ausgesprochenen Affekt. Fat. sieht Ref. 
mit ratlosem Blicke an, erschrickt bei allen plötzlichen Fragen und raschen Bewegungen. Ihre 
Stimmung ist sehr labil und in hohem Grade abhängig vom jeweiligen Gesichts- 
ausdruck des Untersuchenden. Ein ernstes Gesicht bringt sie ohne weiteres zum Weinen, ein 
lachendes zum Lachen, auf ein strenges reagiert sie sofort mit lebhafter Furcht, wendet sich ab, 
verbirgt ihr Gesicht in den Kissen und sagt: „Nicht hauen !'^ 

Erscheinungen einer stärkern Gesichtsfeldeinengung bestehen nicht (Eine genaue Früfung ist 
des psychischen Zustandes wegen nicht möglich.) Die HautsensibUität, resp. die Schmerzempfind- 
lichkeit zeigt ein eigentümliches Verhalten: An den Unterschenkeln und Füssen besteht bei der 
ersten Untersuchung totale Analgesie für tiefe, verdeckt ausgeführte Nadelstiche, während an Kopf 
nnd Armen anscheinend normale Schmerzempfindlichkeit existiert. Nach einigen Minuten zeigt sich 



1 1 ^ r a TTttJa Joumal t Psychologie 
^^ ^' ^' JUJNtr. und Neurologie. 

indes ein ganz anderes Bild: totale Analgesie am linken Arm nnd normale Sensibilität an den 
untern Extremitäten und zwar n. b. genau an den gleichen Stellen, wo kurz zuTor der entgegen- 
gesetzte Zustand vorhanden gewesen war. Die analgetischen Zonen wechseln regellos, anscheinend 
unabhängig von suggestiven Momenten. (Jedoch sind letztere durchaus nicht mit Sicherheit aus- 
geschlossen!) Auffallend ist das Benehmen der Fat. bei dieser Untersuchung: Sie wehrt sich gegen 
dieselbe, aber in unpersönlicher Weise, indem sie gar nicht darauf achtet, dass nnd wie sie Ref. 
sticht, trotzdem dies absichtlich offen vor ihren Augen geschieht Sie sucht vielmehr, wie mit 
bewusster Negation des wirklichen Sachverhaltes, irgend eine unbekannte Ursache 
des Schmerzes in ihrem Hemd und in den Bettdecken. 

Es entspinnt sich nun folgende Unterhaltung mit der Fat: 

Wo sind Sie? „In München. ** — Haus? „In einem Hotel."* — Zeit? „Ich weiss nicht ** 

— Name? „Ich weiss nicht." — Vorname? „Ida." (Ida ist der Vorname ihrer zweiten Tochter.) 

— Geboren? „Ich weiss nicht" — Seit wann hier? „Ich weiss nicht." — Heissen Sie Meier oder 
Müller? „Ida Müller." — Haben Sie eine Tochter? „Nein." — Doch! „Ja." — Ist sie verheiratet? 
„Ja." — Mit wem? „Mit einem Mann." - Was ist er? „Weiss nicht" — Ist er nicht Fabrikdirektor? 
„Ja, er ist Fabrikdirektor." (Unrichtig.) — Kennen Sie eine Godwina F.? „Ja, die ist in München." 

— Sind Sie die G. F.? „Ja." — Sie heissen ja Ida Müller? „Ich heisse Ida." — Waren Sie auch 
schon in Zürich? ,Jn Zürich war ich noch nie, aber ich war beim Schwiegersohn," — Kennen 
Sie Benz? (Name des Schwiegersohnes.) „Den Benz kenne ich nicht, hab* nie mit ihm geredet." — 
Nicht wahr, Sie haben bei Benz gewohnt? „Ja." — Kennen Sie Carl F.? (ihr Bruder.) „Den 
Garl F. kenne ich nicht.*' — Wer bin ich? „Der Oberkellner." — Was ist das? (Notizbuch.) 
„Speisekarte." — Uhr, die ii h. zeigt „I Uhr." — 3X4 = ? »2." — Wie viel Finger (5)? 
„3.'* — Nein! passen Sie auf! „7." — Zählen Sie! „i, 2, 3, 5, 7." — Zählen Sie bis 10. 
„I, 2, 3. 4, 5, 6, 7, 10, 12." 

Das ABC kann Fat. nicht, ebensowenig das Einmaleins. Beim Versuche zu schreiben, tritt 
ausserordentlich starker Tremor auf: Fat. kann mit der rechten Hand kein einziges lesbares Wort 
schreiben. Mit der linken schreibt sie etwas besser. Lesen kann Fat nur mit grösster Muhe, ver- 
wechselt leicht die einzelnen Buchstaben miteinander. Zahlen werden noch schlechter gelesen; Fat 
kann 4 und 5 nicht unterscheiden. Vorgehaltene Gegenstände benennt sie richtig. Keine aprak- 
tischen Erscheinungen. Fat. ist sehr suggestibel. Sie steht z. B. im Hemd neben dem Bett. Es 
wird ihr nun gesagt, sie habe ein schönes seidenes Kleid an. Fat sagt: ,Ja, sehr schön", streicht 
dazu mit der Hand über das Hemd und sieht an sich hinunter. Sie will sich dann wieder zu Bett 
legen. Ja, wollen Sie denn mit den Kleidern zu Bett? Fat knöpft nun schweigend ihr Hemd auf, 
hält aber plötzlich inne: „Ich habe ja kein Hemd an!" 

6. Vr. Der Zustand ist im allgemeinen derselbe. Fat. weiss aber jetzt, dass sie F. heisst 
als Vornamen giebt sie aber noch „Ida^* an; kennt jetzt ihr Alter. Sonst aber total desorientiert 

7. VI. Wie lange hier? „Schon lange." — Schon 20 Jahre? „Ja, schon lange." — Sie 
sind erst 8 Tage hier? „So; erst 8 Tage?** — Wo sind Sie? „In München, muss ich immer 
sagen.** — Haus? „Im Spital. Es hat viele Kranke da, aber ich bin nicht krank." — Was fehlt 
diesen Kranken? „Kopfweh.** — Wer bin ich? „Der Herr Doktor.** — Haben Sie mich auch 
schon mal gesehen? „Nein.** — Also heule ist es das erste Mal? „Nein gestern.** — Wochentag? 
„Sonntag.** (Unrichtig.) — Monat? „Mai.** — Tag? „Der zweite.'* — Jahr? „Ich weiss nicht." — 
1899? „Ja.** — Nein 1892! „So.** — Oder 1902? ,Ja, ja 1902** (in lebhaft bestimmendem Tone) — 
„nein, wir haben 1900, ja 1900, ich bin verkommen.** — Waren Sie nicht in letzter Zeit im Ge- 
fängnis? „Nein, ich war nie im Gefängnis. Ein Mann mit einem Bart hat mich gehauen.** — 
Geschah das bei uns? „Ja.** — Haben Sie Schulden? „Nein.** — Doch! „So, ich habe viel 
Geld.** -- Woher? (Keine Antwort.) — Wie viel? „Ganz viel.** — Wie viel? „Ich weiss es 
nicht, ich habe es nie gezählt. Es gehört meiner Tochter.** — Von wem haben Sie Ihre Kinder? 
„Er ist schon lange gestorben.** — Wie alt sind Sie? „50'*. — In welchem Jahre geboren? ,Jm 
Mai.** — In welchem Jahre geboren? „Das weiss ich nicht.** — Ist Ihre Tochter schwanger? 
(Dieselbe ist hoch schwanger.) „Was ist das?'* — Bekommt Ihre Tochter ein Kind? „Nein, das 
ist gestorben.** — Haben Sie bloss eine Tochter? ,Ja, bloss eine." — Sie haben ja zwei Töchter! 
„Ja.*' — Wie heisst der Mann Ihrer verheirateten Tochter? „Das weiss ich nicht** 

Das Sprechen geht heute ziemlich gut Fat. stolpert nur noch über schwierigere Worte. 
Das Lesen geht langsam, aber ziemlich fehlerlos. Die Auffassung des Gelesenen ist hanptsächlich 



®^- \SI^^ • EIN FALL VON HYSTERISCHEM STUPOR ETC. 1 13 



infolge der hochgradigen Störang der Merkfähigkeit sehr beeinträchtigt. Nur ganz kurze 
Sätze von banalem Inhalt werden aufgefasst und reproduziert. Längere Sätze werden weder ver- 
standen noch können dieselben reproduziert werden, jedoch kommt Pat. allen Aufforderungen richtig 
nach. Kann heute das Alphabet fehlerlos hersagen. Die Zahlenreihe zeigt Lücken: 10, II, 12, 
13 — 15, 16, 17, 18 — 20. 

4 nnd 5 werden beim Schreiben noch verwechselt. Pat. kann jetzt schreiben ; die Schrift ist 
aber ziemlich stark entstellt durch den Tremor. 

An den fofgenden Tagen zeigt Pat. im wesentlichen noch dasselbe Bild. 

9. VL Befindet sich heute besser, reagiert rascher, begrüsst Ref. freundlich. Sie ist örtlich 
otientierty heisst Godwina F. Hat keine Ahnung, wann, wieso und warum sie hierher gekommen 
ist. Sie weiss nur von einer Tochter, Ida. Von der Existenz ihres Bruders Carl F. weiss 
sie nichts, ebensowenig von ihrer VerhaJftung, von ihrem Schwiegersohn etc. Grobe Sensibilitäts- 
störungen sind nicht mehr nachweisbar. 

10. VL Erhielt heute Morgen Besuch von ihrer Tochter Ida. Sie erinnert sich abends 
noch an den Besuch. Die Orientierung ist erhalten. Nach dem Datum hat sie sich bei der 
Wärterin erkundigt. 

Bei der Mitteilung, sie sei in Untersuchungshaft, gerät Pat. in lebhaften Affekt, weint stark, 
will diese Nachricht nicht glauben. 

11. VL Wieder etwas besser als gestern. Pat. ist zeitlich und örtlich orientiert, klagt über 
lebhafte Kopfschmerzen. Sie liegt ruhig, anscheinend sehr erschöpft zu Bett. Sie ist sehr zerstreut 
und muss zu allen Antworten quasi geweckt wenlen. Die Erinnerung für die Ereignisse vom 
9. VL 02 rückwärts bis mehrere Monate vor ihrer Verhaftung i^t schwer gestört. Über ihren letzten 
Züricher- Aufenthalt hat sie ganz nebelhafte Vorstellungen. Sie weiss, dass sie zuletzt noch in einem 
Hotel bei einem Herrn König wohnte ; an den Namen des Hotels kann sie sich nicht mehr erinnern, 
trotzdem ihr derselbe sehr nahe gelegt wird. Für die Zeit unmittelbar vor ihrer Verhaftung, 
sowie für diejenige ihrer Haft hat sie eine absolute Amnesie. Sie kann sich nur daran 
erinnern, da«s sie ,,ein Mann geschlagen habe, nicht hier, an einem andern Orte, wahrscheinlich in 
einem andern Spital.'* 

Die Erinnerung setzt etwa mit dem 10. VI. wieder ein. Pat. erinnert sich noch an 
den gestrigen Besuch ihrer Tochter, erinnert sich aber nicht mehr an ihre schmerzliche 
Aufregung über die Mitteilung, dass sie Untersuchungsgefangene sei. Sie weiss vom 
9. oder vielleicht noch von früher her, dass es ihr anfangs vorkam, sie sei in München (wo sie 
vor ca. */« J*^'' war). Trotz eindringlicher Exploration kann nichts weiteres eruiert werden. 

Pat ist sehr ängstlich und schrickt bei jeder Kleinigkeit zusammen. Sie ist sehr ermüdbar 
und schliesst während des Gesprächs mehrmals erschöpft die Augen. 

12. VI. Völlig orientiert. Macht &ich heute verschiedene Gedanken über ihre Situation. Sie 
meint, sie sei hierher gekommen, weil sie krank sei, sie habe starkes Kopfweh und Flimmern vor 
den Augen. Man habe ihr mitgeteilt, dass die Polizei sie hierher gebracht hat. (Durch die Wärterin 
erfahren.) Sie erinnere sich aber absolut nicht daran. Sie sei im Gefängnis gewesen; wie lang 
wisse sie nicht, vielleicht 8 Tage. Im Gefängnis habe man sie geschlagen, weil sie gesagt habe, 
sie sei bestohlen worden. Es sei ihr nämlich gewesen, als hätte sie Geld auf den Tisch gelegt, 
das dann plötzlich verschwunden sei. 

Pat. erinnert sich jetzt auch an die Höhe ihrer Schulden und an die Anklage wegen Dieb- 
stahle. Sie ist ungemein ängstlich, stark ermüdbar, ziemlich unklar und muss sich auf alle Antworten 
lange besinnen. 

An den folgenden Tagen keine wesentliche Änderung. 

18. VI. Weniger schreckhaft und ermüdbar. Giebt heute eine zusammenhängende Anamnese, 
die aber noch ziemlich viele Zerstreutheitsfehler, namentlich in den Zeitangaben aufweist. Ihre 
Erinnerung reicht ziemlich klar bis zum Tage der V^erhaftung (31. V.), von da an 
wird sie unsicher. Pat muss sich lange besinnen, bis ihr der Ort, wo sie verhaftet wurde, 
wieder einlKllt (mittags statt abends 5 Uhr). Sie weiss, dass sie verhört wurde, angeblich nur 
einmal; ca. 8 Tage lang war sie in der Zelle eingesperrt Das Verhör fand am ersten oder zweiten 
(2. VL) Tag der Haft statt. (In Wirklichkeit unmittelbar nach der Verhaftung abends 6 h. und am 
folgenden Morgen; sodann war sie bei mehreren Zeugenverhören zugegen.) Pat. erinnert sich noch 
dunkel daran, ihre Tochter im Verhör wiedergesehen zu haben. (Die Tochter wurde unter gleicher 



IIA CG TUNG Journal t Psycholog!« 



und Neurologie 



Anklage verhaftet.) Sie habe auch etwas unterschreiben müssen; was, wisse sie nicht mehr. In 
der zweiten oder dritten Nacht habe sie ,,ganz sicher gemeint, sie hätte die erwarteten loooo Mark 
aof den Tisch gelegt''. Sie habe eine grosse Freude an dem Geld gehabt. Da sei es ihr aber 
plötzlich gewesen, als gehe die Thür auf und ein schwarzer Mann komme in gebückter Haltung 
herein, fasse sie mit kalten Händen bei den Schultern und drücke sie in die Kissen. Da kam ihr 
plötzlich der Gedanke: , Jesus, der will mir mein Geld nehmen!'' Vor lauter Schrecken sei sie 
dann „zu sich gekommen", sie fühlte noch die kalten Hände an den Schultern; überzeugte sich, 
dass die Thüre geschlossen war und sah dann nach ihrem Geld auf dem Tisch. Es war Ter- 
schwunden. Fat. geriet darob in Verzweiflung; konnte sich in ihrer Umgebung gar nicht mehr 
zurecht finden und wusste nicht mehr, wo sie war. Am Morgen kamen zwei Männer und zwei 
Frauen, die sie nicht kannte. Ein Mann packte sie an den Haaren und schlug sie. Sie schrie und 
„müsse dann das Bewusstsein verloren haben." „S'ist gerad, wie wenn ich tot gewesen war." Als 
sie wieder zu sich kam, lag sie hier (in der Anstalt) im Bett. Es kam ihr dabei vor, als sei sie 
in München. Die Wärterin habe ihr aber gesagt, sie sei in Zürich. 

Sie befinde sich jetzt ordentlich, abgesehen von Kopfweh und schlechtem Schlaf Nur nachts 
habe sie ängstliche Träume, z. B. sie liege auf jungen Katzen, oder es klammerten sich zahlreiche 
Katzen an sie an. 

Fat ztigt noch immer starken Torpor und erhebliche herabgesetzte Merkiähigkeit bei guter 
Auffassung. Gelesenes referiert sie, was blosse Gedächtnisleistung betrifft, sehr schlecht, bei langem 
Geschichten versagt sie vollständig. Einfachere und kurze Rechnungen gehen gut, längere Aufgaben 
z. B. 3 X 17? 7 y(. ^7* 35 «ö» 112 + 73 können nicht gelöst werden, da Fat. beständig den einen 
Teü der Rechnung wieder vergisst. Infolge starker Ermüdbarkeit rasch erlahmende Aufmerksamkeit 

Eine genaue Sensibilitätsprüfung ergiebt durchgehends eine unsichere Unterscheidung der Tast- 
und Temperaturqualitäten, welche an den untern Extremitäten besonders stark ist. Die Perimeter- 
messung ergiebt normales Gesichtsfeld. Keine Analgesie. 

Abends wird Fat. mittelst einiger „Passes" und einfacher Schliessung der Augen in kürzester 
Zeit in hypnotischen Somnambulismus versetzt. Fat. trinkt aus einem leeren Glase auf ent- 
sprechende Suggestion Wein und Essig. Ein Tintenlappen wird auf Suggestion als Apfel angebissen 
und als gut sauer gerühmt 

Auf entsprechend vorsichtige Fragen zeigt es sich, dass in der Hypnose die als retrograd 
aufzufassende Amnesie für die Zeit vom 31. V. bis zur Nacht des 3./4. VI. gehoben 
ist. Fat erzählt, dass sie abends 5 h. auf dem Bellevueplatze , wo sie mit ihrer Tochter spazierte, 
verhaftet wurde. Die Tochter wurde zuerst angehalten, worauf Fat., die etwas zurückgeblieben war, 
herbeikam. Abends 6 h. wurde sie verhört, ebenso am folgenden Morgen etc. (Die Details wurden 
durch die Tochter bestätigt) Die- totale Amnesie für die Zeit vom 3./4. VL bis lo. VI. 
widersteht der Hypnose; es kann trotz mehrfacher Bemühungen keine Erinnerung an diese 
Zeit geweckt werden. 

Das Kopfweh wird wegsuggeriert. Auf die Nacht wird tiefer Schlaf suggeriert, ebenso 
Amnesie für den ganzen Inhalt der Hypnose. Nach dem Aufwecken sind die Kopfschmerzen be- 
deutend gebessert und nachts schläft die Fat. 8 Stunden ununterbrochen. 

An den folgenden Tagen wird Pat ziemlich regelmässig mit gutem Erfolge hypnotbiert Sie 
zeigt in den einzelnen Hypnosen jeweils Erinnerungskontinuität mit den frühem. 

24. VI. Fat. ist jetzt dauernd ausser Bett, beschäftigt sich mit Handarbeiten; ausser etwas 
träumerischem und zerstreutem Wesen, bietet sie keine auffallenden Symptome mehr. Die retro- 
grade partielle Amnesie und die totale bestehen in unverändertem Umfang. Pat. 
erweist sich als sehr suggestibel, auch posthypnotische Suggestionen realisieren sich. 

27. VT. Heute gelingt es durch einen Kunstgriff in die totale Amnesie einzudi Ingen. 

Pat. wird auf gewöhnliche Weise eingeschläfert. Sie ist sofort kataleptisch und tief analgetisch. 

Frage; Sind Sie jetzt hypnotisiert? ,Ja." — Schlafen Sie? ,Ja." — Aber Sie schlafen doch 
nicht, Sie sprechen ja mit mir! „Ja, richtig, ich schlaf nicht." — Fassen Sie auf, ich werde Sie 
jetzt hypnotiftieren ! (Die Procedur wird nochmals genau so wiederholt, wie vorher. Pat. liegt ganz 
schlaff da. Leichte Zuckungen in den Armen, welche jeweils in der Hypnose auftreten, hören auf.) 
Schlafen Sie Jetzt? Keine Antwort. — Schlafen Sie? Keine Antwort — Sie werden sofort sprechen 
können! (Fasses um den Mund.) Schlafen Sie? (leise und zögernd) ,Ja." — Wie sind Sie hierher 
gekommen? „Ich weiss nicht" — Sie sind jetzt in der Untersuchungshaft in der Zelle, nicht wahr? 



^^* ' 1^"^ ^ ^^ FALL VON HYSTERISCHEM STUPOR ETC. 1 1 5 



„Ja." — Und nun geht die Thüre auf — ^a, und da kommt ein Schutzmann herein, der bringt 
mich in die Irrenanstalt** — Wie kommen Sie denn hierher? ,Jn einem Wagen." — Sie sind 
jetzt im Wagen! ,Ja, ich hab' schrecklich Angst in der Droschke, es blitzt und donnert und es 
regnet furchtbar. Ich hab' immer Angst vor dem grossen, dicken Mann, der mich geschlagen hat.'* 
— Jetzt hält die Droschke, Sie sind in der Anstalt, wie viel Uhr ist es? „Es ist 8 Uhr. Ich sitze 
in einem kleinen Zimmer, ein Herr mit einem Bart kommt und sagt, ich brauche keine Angst zu 
haben, ich werde nicht mehr gehauen — da kommen noch zwei Frauen und noch eine — man 
thut mich ins Bett" — 

Hier schneidet die Erinnerung wieder ab. Die Angaben der Fat stimmen genau mit der 
Wirklichkeit Sie wurde von einem Polizeisoldaten in einer Droschke, während eines starken 
Gewitters abends 8 h. in die Anstalt gebracht. Unterwegs klammerte sie sich beständig an den 
Polizisten an, indem sie lebhafte Angst äusserte, ,,sie werde wieder gehauen**. Bei der Aufnahme 
war ein Arzt zugegen, ferner zwei Oberwärterinnen und kurze Zeit nachher war noch die Stations- 
wärterin gekommen. 

Im Laufe der folgenden 14 Tage besserte sich unter zeitweiliger Anwendung der Hypnose 
der Allgemeinzustand erheblich. Der Umfang der Amnesien blieb unverändert. 

2. Vir. In der Nacht springt Pat. plötzlich aus dem Bett, ist total verwirrt, zeigt die grösste 
Angst, ist ganz desorientiert und lässt sich erst auf langes Zureden wieder soweit beruhigen, dass 
sie sich zu Bette legt Liegt heute Morgen zu Bette, zittert, schrickt stark zusammen, wenn man 
sie anredet, äussert unbestimmte Angst Iclagt über Schwindel und Kopfweh. 

Durch sofortige Nachforschung wird eruiert, dass Pat gestern anlässlich eines Konzertes in 
der Anstalt einen Patienten wiedergesehen hat, der ihr vor seiner Intemierung dadurch eine sehr 
unangenehme Situation bereitet hatte, dass er in dem Hotel, wo sie vor ihrer Verhaftung gewohnt 
hatte, die ganze Geschichte ihres Bruders, des Gewohnheitsverbrechers, zum Besten gegeben hatte. 
Sie hatte schon im Konzert und auch nachher sich über den unangenehmen Eindruck, welchen ihr 
der Pat verursachte, beklagt Pat wird nach 2 stündiger Bettruhe, die einen sehr günstigen Einfluss 
hat, in möglichst vorsichtiger Weise exploriert; sie giebt an: 

Als sie gestern Abend zu Bette ging, hatte sie Schwindel und „Läuten** im Kopf. Sie habe 
aber sehr gut geschlafen und fühle sich jetzt ganz klar im Kopf. An irgend etwas Unangenehmes, 
das im Laufe des gestrigen Tages passiert wäre, könne sie sich nicht erinnern. Auf die Frage, ob 
sie sich an das gestrige Konzert erinnere, bekommt sie plötzlich einen roten Kopf und nasse Augen, 
sagt aber mit gleichgültiger Stimme, sie erinnere sich ganz gut an das Konzert; was sie durch 
Erzählung verschiedener Einzelheiten beweist Im Konzert habe sie nichts unangenehm berührt 
Alle indirekten Fragen bleiben ohne Erfolg, erst die direkte Frage, ob sie den Patienten M. gesehen 
habe, erinnert sie an den Vorfall. Sie erzählt nun, ohne irgendwie einen auffallenden Affekt zu 
äussern, in ziemlich gleichgültigem Tone die Affaire. 

22. Vir. Nacht völlig ruhig. Keine Verschlimmerung. 

In der heutigen Hypnose wird die Amnesie für den gestrigen Dämmerzustand 
ohne weiteres gehoben. Pat wird wieder in den Zustand jener Nacht versetzt durch die 
Suggestion, dass sie Angst habe und nicht wisse, wo sie sei. Sie giebt darauf an, wie sie aus dem 
Bett springt. Die Wärterin ruft: „Fräulein F., seien Sie ruhig und gehen Sie ins Bett** Sie geht 
aber nicht, sucht sich zu verkriechen, hat furchtbare Angst, dann kommt eine Mit-Pat. K., die sie 
tröstet und beruhigt. (Die einzelnen Details ihrer Schiderung konnten objektiv bestätigt werden.) 

24. VII. Klagt immer noch über Kopfweh und schlechten Schlaf. 

Es zeigt sich jetzt plötzlich, dass Pat auch ohne die doppelte Hypnotisierung 
die hypnotische Wiedererinnerung an den Dämmerzustand vom 4. bis 10. VI. hat 
Die Erinnerung erstreckt sich jet^t auch auf den Morgen des 5. VI , von welchem sie die Scenen 
der Visite und der Untersuchung mit zahlreichen Einzelheiten reproduziert. Auch aus den Tagen 
nach dem 5. lässt sich verschiedenes eruieren, was aber mangels an genauen Notizen nicht verifiziert 
werden kann. Als posthypnotische Suggestion wird die Erinnerung an die Episode aus dem 
Dämmerzustand aufgegeben. Statt des kurzen Schlafes nach der Hypnose tritt hysterischer 
Somnambulismus ein, in welchem Pat. den Ref. als ihren Liebhaber verkennt und zärtlich mit 
„Ferdinand** anredet. Durch einige Passes und energische Schlafsuggestion wird der Dämmerzustand 
koupiert und in einfachen Schlaf übergeführt Nach dem Aufwachen totale Amnesie. Die post- 
hypaotische Suggestion der Erinnerung an die Aufnahmeepisode realisiert sich nicht 



T t6 C a lima Journal f. Psychologie 

* ^" U U. JUJNlJ. ^ Neurologie. 



Pat. wurde am 25. VII. entlassen und polizeilieb ausgescbaiTl. 

Unterm 4. Vm. 02, schreibt Pat in einem Brief an eine Bekannte in der Anstalt: ^^so lange 
icb jetzt bier (im Ausland) bin, bin icb immer unwobl, nachts, wenn ich aufwache, weiss ich absolut 
nicht, wo ich bin, und ich bekomme so ein Gefühl, wie wenn ich nimmer denken könnte; ich muss 
aufspringen und im Zimmer herumlaufen, bis ich wieder weiss, wo ich bin.** 

Pat. befindet sich, wie sie schreibt, in einer schwierigen Situation der Finanzen wegen. 



Dieser Fall bietet verschiedene interessante Eigentümlichkeiten. Zweifellos 
handelt es sich um eine rein hysterische Erkrankung. 

Pat. erkrankt in der Haft an einem delirösen Dämmerzustand, 
welcher nach kurzem Bestände in ein stuporähnliches Stadium übergeht, 
welches durch das Symptom der unsinnigen Antwort, starke Störung 
der Merkfähigkeit bei relativ guter Auffassung, hohe Suggestibilität, 
Ermüdbarkeit, Desorientiertheit, Schreckhaftigkeit, Ängstlichkeit, 
Abwesenheit katatonischer Symptome, und durch Sensibilitäts- 
störungen charakterisiert ist. 

In seinem Vortrag über „einen eigenartigen hysterischen Dämmerzustand** 
beschrieb Ganser^) 1897, allerdings nur skizzenhaft, Zustände, die meist bei 
Untersuchungsgefangenen beobachtet wurden. Die Kranken bieten meist das 
Bild einer hallucinatorischen Verwirrtheit, viele zeigen lebhafte Angst, daneben 
wechselnde Sensibilitätsstörungen. Meist tritt nach wenigen Tagen ein auf- 
fallender Wechsel, resp. eine Besserung ein, welche mit Amnesie für den 
Krankheitsanfall verknüpft ist. Das charakteristische Gepräge erhalten diese 
Zustände durch das „Symptom der unsinnigen Antwort**, welches darin 
besteht, dass die Kranken ,, Fragen allereinfachster Art, die ihnen 
vorgelegt wurden, nicht richtig zu beantworten vermochten, obwohl 
sie durch die Art ihrer Antworten kund gaben, dass sie den Sinn 
dej- Fragen ziemlich erfasst hatten und dass sie in ihren Antworten 
eine geradezu verblüffende Unkenntnis und einen überraschenden 
Ausfall von Kenntnissen verrieten, die sie ganz bestimmt besessen 
hatten oder noch besassen.** (Ganser.) 

Der wechselnde Bewusstseinszustand mit Erinnerungsdefekten im Zu- 
sammenhang mit anderweitigen hysterischen Symptomen begründet die Diagnose 
eines hysterischen Dämmerzustandes. In eingehender Weise hat Raecke *) 
die hierher gehörigen Fälle und namentlich das Symptom der unsinnigen 
Antwort studiert. Die nicht ganz einheitlichen und vielleicht auch nicht ganz 
einwandfreien Fälle, welche Raecke in seiner ersten Arbeit publizierte, gaben 
NissH) Veranlassung zu einer scharfen Kritik, wobei er Raecke eine mangel- 
hafte Diagnose vorwarf und behauptete, dass das „Gansersche Symptom 
des Vorbeiredens in erster Linie eine eigenartige Äusserung des 



1) Archiv für Psychiatrie. XXX, S. 633. 

*) Raecke: „Beitrag zur Kenntnb des hysterischen Dämmerzustandes." Allg. Zdtschr. f. 
Psych. LVni, S. 115. 

•) Nissl: „Hysterische Symptome bei einfachen Seclenstörungen.^* Centr. Bl. f. Nerven, 
heilkunde u. Psych. XXV, S. 2. 



^' \9M^ * EIN FALL VON HYSTERISCHEM STUPOR ETC. 1 1/ 



katatonischen Negativismus darstellt." Das Vorbeireden der Hebe- 
phrenen und Katatoniker ist eine sehr bekannte Erscheinung und ich glaube 
nicht, dass ein einigermassen erfahrener Beobachter das „Vorbeireden" mit 
der „unsinnigen Antwort des Hysterischen" verwechseln kann. Höchstens 
kann eine Katatonie, die sich unter hysteriformen Erscheinungen verbirgt, 
übersehen werden. Sind aber die inadäquaten Antworten direkter Ausfluss 
der Katatonie, so sind sie durch den bezeichnenden Ausfall des emo- 
tiven Elementes und durch die associative Anknüpfung am Neben- 
sächlichen in der Frage deutlich als katatonisch charakterisiert und unter- 
scheiden sich wesentlich von der eigentlich gesucht unsinnigen Antwort 
des Hysterischen. Das Vorbeireden des Hebephrenen beruht häufig bloss 
auf dem Mangel an Interesse, auf der charakteristischen „Wurstigkeit" der- 
artiger Patienten, vielleicht auch auf negativistischem Zwang; die „unsinnige 
Antwort" aber ist in dem einen Falle das Produkt einer quasi absicht- 
lichen Verneinung, welche antagonistisch dem Bemühen, adäquat 
zu antworten, gegenüber tritt, in dem andern Falle ein Produkt der 
tiefen Bewusstseinseinengung, welche die bewusste Association der 
zur adäquaten Antwort nötigen Elemente verhindert. Als bezeichnende 
Begleiterscheinung dieses letztern Falles ist das stuporähnliche Verhalten der 
Mehrzahl der betreffenden Patienten hervorzuheben. In seiner zweiten Arbeit ^) 
auf diesem Gebiete bringt Raecke einige derartige Stuporfalle zur Darstellung, 
nachdem er schon in der ersten Publikation bei drei von den fünf Fällen ein 
stuporähnliches Verhalten konstatiert hatte. 

Das Symptom einer vorübergehenden schwereren intellektuellen Einbusse 
ist auf dem Gebiete der Hysterie keine allzuseltene Erscheinung. Ich erinnere 
nur an die Fälle des alternierenden Bewusstseins, wie sie von Azam*), 
Weir-MitchelP), Schroeder van der Kolk^), Mac Nish*^) etc. be- 
schrieben wurden. Einige dieser Kranken hatten nach einem prodromalen 
Schlafstadium die Kenntnisse selbst der einfachsten Dinge verloren. Weir- 
Mitchells Fall wusste nicht einmal mehr die Worte sinngemäss anzuwenden. 
Ahnliche intellektuelle Defekte werden auch bei den Moria-Zuständen jugend- 
licher Hysterischer beobachtet. 

Der klinische Rahmen, in welchem sich das besprochene Phänomen in 
unserem Falle bewegt, ist aber ein wesentlich anderer, und dasselbe gewinnt 
auch durch Kombination mit verschiedenen andern Symptomen ein besonderes 
Aussehen. Wenn man unter dem Ganserschen Symptomenkomplex 
einen vorübergehenden Zustand von amnestisch abgetrennter Be- 
wusstseinsänderung mit negativistisch übertriebener Unsinnigkeit 



^) Raecke: ^^Hysterischer Stupor bei Strafgefangenen**. AUgem. Zeitschrift für Psych. 

Lvm, s. 409. 

') Azam: „Hypnotisme - Double conscience.'^ Paris 1887. FaU Albert X. 
•) Weir -Mitchell: „'l'ransactions of the coUege of physicians of Philadelphia**, April 1888. 
FaU Mary Reynolds. 

*J Schroeder van der Kolk: „Pathologie und Therapie der Geisteskrankheiten'*. 1863, S. 31. 
') Mac Nish: ,,Philosophy of sleep.'^ Cit. bei Bin et: ,,Les Alt^ratious de la personnalit^.*« 



„8 C. G. JUNG. J"™? LÜÄIf' " 



und Neurologie. 



der Antworten versteht, so ist eine innere Verwandtschaft zu dem von 
Raecke beschriebenen Stupor der Strafgefangenen unverkennbar. Letzterer 
tritt ebenfalls häufig bei Kriminellen auf, meist bald nach der Verhaftung und 
darf als Folge der durchgemachten Aufregungen und Strapazen angesehen 
werden. Ein hallucinatorisches Prodromalstadium, das dem Stupor vorangeht, 
tritt auch beim Ganserschen Symptomenkomplex unter den gleichen klinischen 
Erscheinungen auf und kann längere oder kürzere Zeit die Situation be- 
herrschen. Ebenso sind die Sensibilitätsstörungen beiden gemeinsam. Die 
Frage der Ausdehnung der Amnesie liegt fast ganz im Dunkeln ; sie ist eben, 
wie die meisten hysterischen Amnesieen, schwierig und oft gar nicht scharf 
zu umschreiben. Ebenso unbestimmt ist Verlauf und Prognose. Man kann 
sagen, dass in dieser Beziehung das Gleiche gilt, wie bei der traumatischen 
Neurose, dass nämlich die Krankheit in einem Reziprözitätsverhältnis zur 
ätiologischen Schädlichkeit steht. 

Unser Fall erscheint mir vor allem passend, einiges Licht zu werfen 
auf die noch wenig erforschten, weil schwer zu beobachtenden Seiten des 
Ganser-Raeckeschen Krankheitsbildes, nämlich auf die noch offene Frage 
der Amnesie und des psychologischen Mechanismus der charakteristischen 
Symptome. 

Bei unserer Pat, welche anamnestisch gar keine Besonderheiten bietet, 
entwickelt sich unter dem offensichtlichen Einfluss der Haft das von Raecke 
sikizzierte Krankheitsbild in seltener Reinheit. Pat. hatte sich in der Einsamkeit 
der Isolierhaft natürlich intensiv mit dem plötzlich über sie hereingebrochenen 
Unglück beschäftigt, ferner quälte sie die Sorge um ihre hochschwangere 
Tochter, dazu trat die Angst und die Aufregung wegen der Anklage auf 
Diebstahl (die sich nachträglich als falsch herausstellte): Auf dieser Grundlage 
kam es in der vierten Nacht der Haft zum Ausbruch eines deliriösen Zustandes 
mit heftiger motorischer Erregung. Als Inhalt des Deliriums finden wir 
hauptsächlich jenen Symptomenkomplex, den „jede im Gefängnis vor- 
kommende Psychose vorübergehend darbieten kann.*'^) Es handelt 
sich um jenes bekannte Gemisch von wunscherfüllenden und von be- 
einträchtigenden Hallucinationen und Wahnideen. Als solches Haftsymptom 
ist jene von der Pat. berichtete Episode anfzufassen, welche wie ein lebhafter 
Traum mit einer wunscherfüllenden Illusion beginnt und mit einem Zustand 
von ängstlicher Rat- und Urteilslosigkeit endet; in welchem trotz des relativen 
Erwachens nicht mehr korrigiert werden kann: Pat. träumt, sie hätte das er- 
wartete Geld, die loooo Mk., erhalten und auf den Tisch gelegt; eine schwarze 
Gestalt, die plötzlich hercintritt, erschreckt sie heftig; sie fährt auf; die Hallu- 
cinationen verschwinden; aber zurück bleiben die Beeinträchtigungswahnideen 
des Bestohlenseins, des Vergiftetwerdens etc. Im Laufe des folgenden Tages 
überwiegt wieder mehr der wunscherfüllende Wahn: Pat. befindet sich in 
einem prächtigen Hotel; sie ist sehr reich; besitzt Millionen. Daneben zeigt 
sie schon deutlich die tiefe intellektuelle Einengung, welche den herbei- 
gerufenen Gefängnis- Arzt eine Dementia paralytica vermuten lässt. 



*) Rüdin; „Klinische Formen der Gefängnispsychosen." AUg. Zcitschr. f. Psych. LVm, S. 458. 



^^' ''läP^ *■ EIN FALL VON HYSTERISCHEM STUPOR ETC. 1 1 9 



Diese Steigerung der wunscherfiillenden Wahnidee zur eigentlichen 
Grössenidee darf vielleicht auf Rechnung der hochgradigen Einengung des 
geistigen Gesichtsfeldes gesetzt werden, indem, wie Wem icke ^) zeigt, bei dem 
Mangel orientierender Vorstellungen und bei dem Überwiegen egoistischer 
Vorstellungsreihen leicht Grössenideen zu stände kommen. Auch Raecke 
hat bei seinen Fällen Ähnliches beobachtet. 

Bei der Aufnahme in der Anstalt bietet Pat. das Bild der tiefsten Be- 
wusstseinseinengung mit dem lebhaften ängstlichen Affekt der Ratlosigkeit 
Etwas später geht dieser Zustand in ein ruhigeres Stadium über, welches 
durch absolute psychische Inhaltslosigkeit ausgezeichnet ist: Das Bewusstsein 
der Pat. ist so viel wie tabula rasa. Die Kontinuität aller Erinnerungen 
scheint gelöst zu sein, mehr aufs Geratewohl und nur mit entferntem Anklang 
an ihr früheres Leben, als aus wirklicher delirierender Verkennung der Um- 
gebung, wähnt sich Pat. in einem Hotel. Sie hat die allereinfachsten Kennt- 
nisse, sogar die Kenntnis ihres eigenen Namens verloren und nennt, wie mit 
traumhafter Zufälligkeit, den Namen ihrer Tochter als den ihrigen. In auf- 
fallendem Kontrast zu dieser tiefen intellektuellen Einschränkung steht das 
gute Auffassungsvermögen. Pat. versteht Aufforderungen und Fragen gut; 
erst in der Beantwortung resp. in der centrifugalen psychischen Leistung tritt 
die Störung zu Tage. Diesem Verhalten entsprechend ist die Merkfähigkeit 
fast gänzlich aufgehoben, so dass der ganze psychische Prozess in anscheinend 
absolut zusammenhangslose Momente zerfällt. Ergänzend tritt zu diesem 
Bilde die Suggestibilität: Was man der Pat sagt oder wozu man sie 
drängt, giebt ihrer geistigen Leere den einzigen Inhalt, ein Verhalten, das 
völlig demjenigen in der Hypnose entspricht. 

Dieser stuporähnliche Zustand entfernt sich soweit vom Stupor der Ka- 
tatonie, dass letzterer gar keine differentialdiagnostische Bedeutung für unsem 
Fall erhält. 

Trotz dieser anscheinend absoluten geistigen Leere haben wir doch eine 
Reihe von Anhaltspunkten, welche die Annahme eines psychischen Prozesses, 
der aber abnormerweise vom Bewusstsein nicht beleuchtet ist, stützen. 

Auf die Frage nach ihrem Vornamen antwortet Pat.: „Ida.** Ida ist 
der Vorname der mit ihr verhafteten Tochter. Ob sie eine Godwina F. 
kenne? „Ja, die ist in München." Pat. war früher in München. Die Idee, 
dass sie jetzt in München sei, diese leise Erinnerungskontinuität mit ihrer 
frühern Persönlichkeit, vermittelt der Pat. offenbar die schattenhafte Vor- 
stellung ihres frühern wirklichen Aufenthaltes in München und damit eine 
Wiedererkennung ihres eigentlichen Namens. 

Ob sie auch schon in Zürich gewesen sei? „In Zürich war ich noch 
nie, aber ich war beim Schwiegersohn." Der Schwiegersohn wohnt that- 
sächlich in Zürich. Der Name „Zürich" erweckt jedenfalls die Erinnerungen 
an die unangenehmen Geschichten, die sie hier erlebte, mit denen auch ihr 
Schwiegersohn hauptsächlich verknüpft ist. Diese doppelte Verknüpfung stellt 
die Erinnerung an den Schwiegersohn in den Vordergrund, während die 



*) Wem icke: „Gnmdriss der Psychiatrie**. S. 316. 



120 CG TTTNa Journal f. Psychologie 

^^^ U IJ. JUJNU. und Neuroloeie. 



und Neurolope. 



zunächst liegende Antwort, dass sie auch schon in Zürich gewesen sei, ab- 
gelehnt wird. Wir werden diesem eigentümlichen, für die hysterische Affektion 
bezeichnenden Mechanismus noch mehr begegnen. 

Auf die Frage, woran die Kranken in diesem Hause litten, antwortet 
Pat. „Kopfweh." Diese Antwort zeigt, dass Pat. unbewusst ordentlich orientiert 
ist über ihre Umgebung, dass ihr Oberbewusstsein aber nur eine entferntere 
Association zur richtigen Vorstellung zu produzieren vermag. 

Ganz ähnlich ist die Psychologie folgender Antwort. Auf die Frage, ob 
Pat. im Gefängnis gewesen sei? antwortet sie: „Nein, ich war nie im Ge- 
fängnis. Ein Mann mit einem Bart hat mich gehauen.** Auch hier kann die 
richtige Antwort nicht gegeben werden, resp. sie wird direkt negiert und 
dafür eine nahe mit der richtigen Antwort associierte Vorstellung entäussert. 
Auch das Umgekehrte kommt vor, dass nämlich infolge der Suggestibilität 
eine affirmative Frage zugegeben, aber infolge des eigentümlichen Negativismus 
gleich darauf negiert werden muss. Auf die Frage, ob wir jetzt 1902 hätten? 
antwortet Pat: „Ja, ja — 1902 — nein wir haben 1900, ja 1900 — ich bin 
verkommen.** 

Ganz unverkennbar wird aber die Orientierung in der oben berichteten 
Episode mit der Suggestion des seidenen Kleides: Die Suggestion, dass sie 
ein seidenes Kleid anhabe, realisiert sich sofort und besteht so lange, bis sich 
Pat. entkleiden wül, um zu Bett zu gehen, in diesem Momente bricht aber die 
unbewusste Orientierung durch; Pat. hält plötzlich inne und sagt: „Ich habe 
ja kein Hemd an.** Pat. weiss unterbewusst, dass sie im Hemd dasteht und 
dass sie völlig nackt ist, wenn sie dasselbe auszieht. Der Affekt der Scham- 
haftigkeit ist stärker als die Suggestion und hindert Pat. am Ausziehen, aber 
nicht mit der richtigen Motivation, sondern mit einer der Fremdsuggestion 
angepassten Association zur richtigen Vorstellung. 

Bei der am 9. VI. eintretenden Besserung zeigt sich bei ziemlich guter 
zeitlicher und örtlicher Orientierung ein auffallender Erinnerungsdefekt für 
alle unangenehmen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit mit 
Einschluss aller derjenigen Personen, die irgend mit unangenehmen Erinnerungen 
für Pat. verknüpft sind. So erinnert sich Pat. bloss an ihre Tochter Ida, 
während sie von ihrer andern Tochter und dem Schwiegersohn, mit welchem 
sie in Streit lebt, und auch von ihrem Bruder, dem Verbrecher, nichts weiss. 
Trotzdem Pat. am 10. VI. Erinnerungskontinuität mit dem vorhergehenden 
Tage zeigt, erinnert sie sich nicht mehr an die mit lebhaftem Affekt empfangene 
Mitteilung von ihrer Untersuchungshaft; also wiederum eine Verdrängung des 
Unangenehmen aus dem Bereiche des Bewusstseins. 

Wie aus der Krankengeschichte zu ersehen ist, restituierte sich allmählich 
der Umfang des Bewusstseins wieder mit Ausnahme des bis zum Schlüsse 
der Beobachtung irreparabeln Erinnerungsdefektes für die Zeit des Dämmer- 
zustandes. Wie berichtet, gelang die Aufklärung der summarischen Erinnerung 
für die Zeit von dem Augenblick der Verhaftung bis zum Ausbruch der 
Psychose in der Nacht vom 3./4. VI., ohne irgend welche Schwierigkeit. 
Bedeutend grössere Hindernisse stellten sich der hypnotischen Aufklärung 
des Dämmerzustandes in den Weg. Sie gelang mir aber trotzdem unter 



^' S^."^ ^* ^^ ^^^^^^ ^^^ HYSTERISCHEM STUPOR ETC. ^ 1^1 

Anwendung zweier in der Litteratur bekannten Kunstgriffe. Der eine stammt 
von P. Janet*). Um bei seinem bekannten Medium Lucie zu bestimmten 
Zwecken einen tiefern Schlaf zu erzielen, hypnotisierte er Lucie II (also die 
bereits bis zum hypnotischen Somnambulismus hypnotisierte Lucie I) mittelst 
Passes, wie wenn sie noch nicht hypnotisiert wäre. Jan et entdeckte mittelst 
dieser Prozedur den Zustand der Lucie III, deren Gedächtnis wie ein 
grösster Kreis die kleinern Gedächtniskreise von Lucie II und I 
einschloss, d. h. über Erinnerungen verfügte, welche sowohl I als II unzu- 
gänglich waren. Als Zwischenzustand zwischen Lucie II und III beobachtete 
Janet einen tiefen Schlaf, in welchem Lucie ganz unbeeinflussbar war. ^) Bei 
unserer Pat wurde ähnliches beobachtet. Der kurze Schlafzustand, welcher 
der zweiten Hypnotisierung folgte, und aus welchem Pat. ziemlich schwer zum 
Sprechen zu bringen war, dürfte dem von Janet angeführten Zwischenstadium 
entsprechen. 

Der zweite Kunstgriff, der zur Verwendung kam, war die von Forel in 
dem berühmten Naef sehen •'*) Falle angewendete Methode, welche darin bestand, 
dass man den Pat. jeweils suggestiv in die betreffende Situation versetzte. 
Dadurch wurden dem Pat. Anhaltspunkte gegeben, an welche dann die übrigen 
Associationen wie Krystalle anschössen. 

Mittelst dieser beiden Methoden gelang es, exakt nachzuweisen, dass 
unsere Annahme einer unbewussten, aber nichtsdestoweniger sichern Orien- 
tierung — auch in der Zeit des tiefsten Dämmerzustandes — richtig war. Wir 
finden also die bemerkenswerte Thatsache, dass die anscheinend 
schwere Störung des psychischen Prozesses im Ganser-Raecke- 
schen Dämmerzustand eine bloss oberflächliche, ausschliesslich 
den Umfang des Bewusstseins betreffende Affektion ist, dass also 
mithin die unbewusste Geistesthätigkeit wenig oder gar nicht in 
Mitleidenschaft gezogen ist. 

Der psychologische Mechanismus des Zustandekommens einer solchen 
Störung wird sehr schön illustriert durch die Geschichte des kleinen Recidivs, 
das in der Anstalt beobachtet wurde: Pat. erlebt ein unangenehmes Wieder- 
sehen, das sie lebhaft beschäftigt. Am Abend hat sie Schwindel und Läuten 
in den Ohren, nachts erwacht sie plötzlich total desorientiert und ängstlich 
verwirrt. Andern Tags hat sie Amnesie für den nächtlichen Zufall und zeigt 
bei der Exploration auf das ätiologische Moment einen systematischen Nega- 
tivismus, welcher sie an die Erzählung des richtigen Ereignisses hindert, trotzdem 
ihr dasselbe so nahe wie möglich gelegt wird. Merkwürdigerweise äussert 
Pat. bei der Erzählung gar keinen adäquaten Affekt, obschon ihr plötzliches 
Erröten und ihre nassen Augen darauf hinweisen, dass der wunde Punkt be- 
rührt wurde. 



*) P. Janet: „L'Automatisme psychologique." S. 87. 

*) Janet 1. c: „C'est lä cet 6tat de syncope hypnotique que j'ai dejh signal6, je Tai reou 
souvent depuis, et chez certains sujets, il m'a pani former une transition in^vitable entre les divers 
6ta^s psychologiques.^^ 

•) Naef: „Ein FaU von temporärer, totaler, teilweise retrograder Amnesie.'* Inaug. Diss. 
1S98. Publiziert in der Zeitschrift für Hypnotismus. VI, S. 32 1. 

Journal für Psychologie und Neurologie. Bd. I. O 



t^^ C. G. JUNG. J°3f L^^^ 

Wir haben hier dasjenige Urphänomen der Genese hysterischer Er- 
scheinungen vor uns, welches Breuer und Freud als hysterische Kon- 
version^) bezeichneten. Nach der Auffassung von Breuer und Freud hat 
jeder Mensch ein bestimmtes Mass, innerhalb dessen er nicht „abreagierte" 
Affekte ertragen und sich summieren lassen kann. Was darüber geht, führt 
cum grano salis zur Hysterie. In der Sprache von Breuer und Freud ist 
das Mass der Fat. durch die Verhaftung voll und übervoll geworden, und der 
nicht abreagierte Affekt, die „von der affektiven Vorstellung ausgehende Er- 
regung", läuft in abnormen Bahnen ab, sie wird „konvertiert*'. Das „Wie" 
des Ablaufens ist meist zufällig resp. individuell „determiniert", d. h. der 
locus minoris resistentiae ist bei der einen Kranken der Krampf-Mechanismus, 
bei (Jer andern die Sensibilität, bei einer dritten die Bewusstseinsstörung etc. 
In unserm Falle scheint, wenigstens nach allen einschlägigen Momenten der 
Krankengeschichte zu schliessen, die determinierende Grösse die Vorstellung 
des Vergessens zu sein. Das Nicht-mehr- Wissen entpuppt sich teils als 
unbewusstes, teils als Halb-Bewusstes Nicht-Wissen-Wollen. Raecke meint, 
das auffallende Nichtwissen seiner Kranken beruhe vielleicht auf der Furcht, 
das Einfachste nicht mehr zu wissen, was durch Autosuggestion zum effektiven 
Nichtwissen führe. Dies mag häufig der Fall sein. Bei unserer Fat. aber 
war die quasi absichtliche Verdrängung alles Unangenehmen aus dem Bewusst- 
sein eine so auffallende und durchaus beherrschende Erscheinung, dass das 
Gansersche Symptom daneben als ganz accessorisch erscheint. Es darf 
direkt als pathologisch übertriebene Folge des unbewussten Dranges zum 
Vergessen aufgefasst werden, indem sich das Bewusstsein gewissermassen nicht 
nur von den affektbetonten Vorstellungen, sondern auch von andern Gedächtnis- 
gebieten zurückzieht. 

Was die klinische Stellung unseres Falles anbetrifft, so ist er im Sinne 
Raeckes als ,, hysterischer Stupor bei Strafgefangenen" zu bezeichnen. 
Abgesehen von dem „Haftkomplex" der Hallucinationen und Wahnideen darf 
diese spezielle Form hysterischer Erkrankung auf Grund des bis jetzt bekannten 
kasuistischen Materials als „Haftpsychose" bezeichnet werden, indem die 
bis jetzt bekannten Fälle mit wenig Ausnahmen nur bei Häftlingen beobachtet 
wurden. 

Zum Schlüsse spreche ich meinem hochverehrten Chef, Herrn Pro- 
fessor Bleuler, meinen besten Dank aus für die liebenswürdige Überlassung 
dieses Falles. 



*) Breuer und Freud: „Studie über Hysterie.** S. 177 ff. 



<♦»■ 



BD. I, HEFT 8. 
1908. 



REFERATE. 



123 



REFERATE ÜBER BÜCHER UND AUFSÄTZE. 



J. ▼. Kries. Ueber die materiellen Grundlagen 
der Bewusstseinserscheinungen. Tübingen, 
Mohr, 1901. 54 S. M. I.—. 
Verf. unterwirft in dem ersten Teil der 
vorliegenden Schrift zuerst die Benutzung 
des Leitungsprinzips zur Deutung psycho- 
logischer Vorgänge einer Kritik. Das Leitungs- 
prinzip, das aus der Physiologie des Nerven- 
systems, und zwar zunächst des peripheren 
Nervensystems in die Psychologie über- 
nommen ist, beruht auf dem Begriff der 
Erregung oder der Thätigkeit. Die 
nervöse Substanz kann durch gewisse An- 
stösse aus dem Indifferenzzustand eben in 
den der Thätigkeit versetzt werden. Ob 
man der nervösen Substanz die Möglichkeit 
zweier entgegengesetzter Verhaltungsweisen 
zuschreibt, ist gleichgültig. Die Physiologie 
hat bisher keine Möglichkeit, über die 
quantitative Seite des Vorganges hinaus- 
zugehen. Der Versuch, die psychischen 
Erscheinungen an einen solchen einfachen 
physiologischen Grundbegriff anzulehnen, hat 
zu seiner Erweiterung bez. Beschränkung 
durch die Annahme einer spezifischen 
Energie geführt, welche das psychische 
Ergebnis der Erregung von der Beschaffen- 
heit der erregten Substanz in mehr oder 
minder strenger Weise abhängig sein lässt. 
Der zweite Bestandteil des Leitungsprinzipes 
ist eben der Begriff der Leitung selbst, der 
gleichfalls aus der Physiologie der peripheren 
Nervenfaser in die Physiologie des Central- 
nervensystems und die Psychologie über- 
nommen worden ist. Man hatte ihn durch 
die Vorstellung ergänzt, dass der Erregungs- 
vorgang eine Mehrheit von Wegen antreffe, 
und der Weg, den er einschlage, durch das 
Mass der Widerstände, die er antreffe, be- 
stimmt würde. Auch der Gedanke der Be- 
festigung bestimmter Leitungswege konnte 
für die Erklärung der Association ver- 
wendet werden. Die Exnersche Lehre von 
der Bahnung und Hemmung geht über 
die Grundvorstellungen des Leitungsprinzipes 
vollständig hinaus, indem sie dem in einer 
Faser laufenden Erregungsvorgang den Erfolg 
zuschreibt, in der Nachbarschaft desjenigen 
Punktes, wo die Faser etwa zu Ende geht, 
eine andere Bahn zu öffnen und zu sperren. | 



Trotzdem ist sie nicht im Stande die Aus- 
bildung von sogenannten Associationen zu 
erklären. Die Entstehung derselben müsste 
immer schon p r ä fo r m i e r t sein, und die Aus- 
schleifung schon bestehender Bahnen 
kann die Leitungslehre selbst in dieser Form 
erklären. Eis ist ferner die einfache That- 
sache der associativen Wirkung der 
Komplexe, welche dem einfachen Leitungs- 
prinzip ein sehr ernstes Hindernis entgegen- 
setzt. Darunter versteht Verf. die Thatsache, 
dass ein aus sehr vielen einzelnen Erregungen 
sich zusammensetzender (z. B. optischer) Ein- 
druck eine bestimmte und einheitliche 
associative Wirkung hervorbringt, welche 
sich nicht additiv aus der Gesamtheit der 
einzelnen Affekte ableiten lässt (Winkel und 
Linien). Ebensolche Schwierigkeiten setzen 
dem Leitungsprinzip die zeitlich entwickelten 
Associationsreihen entgegen. Selbst die An- 
nahme einer zeitlichen Qualifikation be- 
sonderer Art würde noch nicht den associa- 
tiven Erfolg, der eine bestimmte gleiche 
Empfindung mehrfach wiederholenden Rhyth- 
men verständlich machen. Die ernsteste 
Schwierigkeit erwächst dem Leitungsprinzip 
endlich aus dem Problem der Generali- 
sation, der Zusammenfassung von psycho- 
physischen Vorgängen, die nicht identisch, 
sondern gleichartig oder irgendwie ähnlich 
sind, die Subsumption unter sogenannte 
Allgemeinvorstellungen. Zwei Eindrücke, die 
wir nach Massgabe ihres psychologischen 
Effekts ähnlich nennen, besitzen also eine 
Summe von Erregungseffekten in bestimmter 
räumlicher Verteilung aufgefasst, gar nichts 
gemeinsames. Es wird sich, ohne dass man 
zu ganz neuen Annahmen greift, niemals 
verständlich machen lassen, wie die Spuren, 
die eine bestimmte räumliche Verteilung der 
Erregungen hinterlässt, nun auch irgend 
welchen anderen, die eben nur „ähnlich" zu 
sein brauchen, zu Seite kommen können. 
Die Annahme, dass die ph>'siolog^schen Sub- 
strate räumlicher Formen in den Muskel- 
gcfühlen oder ähnlichen Begleiterschei- 
nungen des optischen Eindrucks sucht, 
verschieben die Schwierigkeit nur, bringen 
sie aber ihrer Lösung um keines Haares- 
breite näher. 

9* 



124 



oul r. Ptfchalacie 



Verf. geht dann noch darauf ein, ob 
den associativen Verknüpfungen wirklich ein 
so dominierender Einfluss lugeschrieben 
werden dürfe, wie das vielfach geschieht. 
Insbesondere scheint ihm die Psychologie 
des Urteils dem zu widersprechen. Die 
Beziehung hierauf, insbesondere auf das 
GeltungsgefQhl, dürfte manchen Widerspruch 
herausfordern. Jedenfalls kommt der Verf. 
schon aus der Erweiterung der associativen 
Prozesse selbst lU dem Ergebnis, dass es 
sich vielfach nicht um die Entwicklung von 
Leitungsbahnen handeln kann, die entfernte 
Teile in Verbindung setzen, sondern um eine 
vorderhand nur bildlich zu bezeich- 
nende Formierung einheitlicher Ge- 
biete, vermöge deren die Koexistenz ver- 
schiedener Zustände besonders erleichtert ist. 
Man kann auch weiter annehmen, dass die 
Koexistenz gewisser Zustände diese oder jene 
besondere Färbung erhält, was durch die 
Bezeichnung der Konformierung zum Aus- 
druck gebracht werden kann. 

Der zweite kürzere Teil der Arbeit giebt 
die eigene Anschauung des Verf. wieder, 
der die in Frage kommenden Erscheinungen 
nicht auf eine Ausbildung irgend welcher 
intercellulärer Verbindungen, sondern auf 
eine Ditfereniierung innerhalb der einzelnen 
Zellen zurückführt, sie als intracelluläre 
Leistungen auffasst. Er geht so weit, Zellen, 
welche allerdings mit dem System ihrer Aus- 
läufer durch das ganze Gebiet des optischen 
Einflusses sich erstreckten . eine verall- 
gemeinernde Aufbewahrung optischer 
Bilder zuiuschreiben. Es soll eine in der 
Zelle bleibende Differenzierung zuerst einer 
individuell bestimmten, dann auch eine Ge- 
samtheit ahn lieber Zustände begünstigen. Verf. 
hält es für „recht einleuchtend, anzunehmen, 
dass jeder Art von Zellen ganz bestimmte 
Arten von generalisierender Aufbewahrung, 
von associativer oder sonstiger Verknüpfung 
obliegen." Es darf vielleicht mit einigem 
Recht gefragt werden, wie in diese Betrach- 
tungen nun die Zelle hineinkommt? Es 
möchte daran das Bestreben Schuld sein, 
für die Anatomie des Gehirns doch noch 
etwas von der Psychologie zu retten, wenn- 
gleich der Verf. nicht umhin kann, seine 
Bedenken gegen die Auschauung zu äussern, 
es wäre eine „wahrhaft naive Voraussetzung, 
dass man die Funktional ehre eines Organs, 
wie das Gehirn entwickeln könne, ohne das 
Organ selbst zu kennen." 



Es ist zu hotfen, dass die Ausführungen 
des Verf. über das absolut Unzureichende 
der Leitungslehre fiir die Deutung psychischer 
Vorgänge intensive Beachtung finden. 

M. Lewandowsky. 
K. flirbe. Elxperimentell psychologische 
Untersuchungen ober das Urteil. Leipzig, 
Engelmann, 1901. 103 S. M. 2.S0. 
Die Schrift fuhrt den Untertitel: „Eine 
Einleitung in die Logik." Wer aber einer 
psychologischen Einführang in die Logik 
misstrauisch entgegengesehen hat, wird an- 
genehm enttäuscht, wenn er zum Schlüsse 
erfährt, dass der Psychologe lur Ausbildung 
der Logik nichts beizutragen hat, dass sich 
diese vielmehr „so un psycho logisch als mög- 
lich" zu gestalten habe. Ob der Untertitel 
dann allerdings in seinem Wortlaut logisch 
unanfechtbar war, dürfte bezweifelt werden 
können. Verf. bezeichnet als Urteile die 
Bewusstse ins Vorgänge, auf welche die Prädi- 
kate richtig oder falsch eine sinngemässe 
Anwendung finden. Es ist also selbstver- 
ständlich, dass Vorstellungen nur dann Ur- 
teile werden , wenn sie in Beziehung zu 
anderen Vorstellungen gedacht und in Ver- 
gleichung mit diesen Vorstellungen in Bezug 
auf ihre Uebe rein Stimmung eben als richtig 
oder falsch charakterisiert werden. Verf. hat 
nun eine Reihe von Versuchen angestellt, um 
zu erfahren, ob das Urteil — sei es in Form 
der Urtcilsvorstellung, der Urteilsgebärde, 
des Urteilswortes oder des Urteilssatzes — von 
bestimmten psychologischen Bedingungen 
abhängig sei in der Weise, dass er die Ver- 
suchsperson ihre inneren Wahrnehmungen 
bei einer der bezeichneten Arten der Urteils- 
fällung zu Protokoll geben liess und fand, 
dass es überhaupt keine psychologischen 
Bedingungen des Urteils giebt, welcher Art 
auch die Erlebnisse sein mögen, die im 
einzelnen Fall zum Urteil werden. Dasselbe 
gilt von dem Verstehen und Beurteilen von 
Urteilen in verschiedenen Formen, Mit dem 
Urteil können natürlich Gefühle und Vor- 
stellungen verknüpft sein, mit dem Vorgang 
der Urteile als solchen haben sie aber nichts 

M. Lewandowsky. 

G. T. BuDge. Lehrbuch der Physiologie 
des Menschen. Erster Band: Sinne, 
Nerven, Muskeln, Fortpflanzung 
in achtundzwanzig Vorträgen. Mit 
67 Abbildungen und 2 Tafeln. Zweiter 



BD. I, HEFT 3. 
190S. 



REFERATE. 



125 



Band: Ernährung, Kreislauf, At- 
mung, Stoffwechsel in sechsund- 
dr eisig Vorträgen. Mit 12 Abbildungen. 
Leipzig, Vogel, 1901. M. 25. — , geb. 
M. 27.50. 

Das vorliegende Lehrbuch lehnt sich, 
wie im Vorworte zum ersten Bande bemerkt 
wird, an die Vorlesungen des Verfassers 
über Physiologie an. Wer das Buch mit 
Aufmerksamkeit liest, wird den Wunsch 
seiner Schüler wohl verstehen, diese Vor- 
träge gedruckt zu besitzen. Wenn man nicht 
weiss, dass der Verfasser ein Gelehrter ist, 
der durch sein Eintreten für reformatorische 
Bestrebungen auf den verschiedensten Ge- 
bieten praktischer Lebensführungsich hervor- 
thut, so muss man diesen Eindruck aus 
seinem Lehrbuche der Physiologie gewinnen. 
Man fühlt auf jeder Seite, dass der Verfasser 
es liebt, seine wissenschaftlichen Überzeu- 
gungen — und um solche handelt es sich 
vielfach mehr, als um wissenschaftliche That- 
sachen — aus der Gelehrtenstube in die 
Öffentlichkeit hinaus zu tragen. Er versteht 
es meisterhaft, seinem Fache Beziehungen 
zum Leben abzugewinnen. 

Damit soll ein Hauptvorzug des Buches 
ausgesprochen sein. Der Lernende wird aus 
ihm, im Gegensatz zu vielen anderen Lehr- 
büchern, die Überzeugung fortnehmen, dass 
er es in der Physiologie nicht mit einem 
trockenen theoretischen Wissensgebiete zu 
thun hat, sondern mit einem Stoff, dem ein 
Hauch des wirklichen Lebens anhaftet. Manche 
Kapitel lesen sich so leicht und flott wie 
eine Unterhaltungslektüre (ich nenne nur 
dasjenige über Gall), überall aber ist es 
fesselnd und anregend geschrieben und wäre 
es auch nur, dass es zu Zweifeln an den 
kundgegebenen Auffassungen anregte. Diesem 
Vorzuge steht der grosse Nachteil gegenüber, 
dass die für einen Anfänger wissenswerten 
und notwendigen physiologischen Thatsachen 
und Daten überaus dürftig behandelt oder 
gar ganz unerwähnt sind. Dagegen giebt 
es kein Kapitel, in dem nicht die aktuellsten 
Fragen der praktischen Medizin kritisch be- 
trachtet oder wenigstens gestreift werden. 
Man könnte allerdings darüber streiten, ob 
eine Diskussion über Himchirurgie- und 
Epilepsiebehandlung, die Frage der Zweck- 
mässigkeit der Ehe zwischen Blutsver- 
wandten u. a. in ein Lehrbuch der Physio- 
logie gehört. Die Bedeutung der Physiologie 
als eines propädeutischen Faches für das 



Studium de rpraktischen Medizin wird da- 
durch den Studierenden allerdings veranschau- 
licht. Freilich darf dabei der stark subjektive 
und vielfach polemische, um nicht zu sagen 
tendenziöse Zug, der uns in dem Lehrbuche 
V. Bunges überall entgegentritt, nicht ausser 
Acht gelassen werden, wenn man nicht auf 
Abwege geraten will. 

Den Inhalt der beiden umfangreichen 
Bände auch nur andeuten zu wollen, muss 
ich mir versagen. Nur dasjenige, was unserem 
Gebiete am nächsten liegt und unseren Wider- 
spruch herausfordert, soll berührt werden. 

Die ersten 10 Vorträge des ersten 
Bandes behandeln die Sinnesphysiolog^e. 
Von besonderem Interesse ist hier, was Verf. 
über die Neuronlehre sagt. Er hält dieselbe 
trotz der neuesten Forschungen nicht für 
erschüttert. Die Annahme, welche neuer- 
dings der Neurontheorie entgegengestellt 
wurde, dass alle wesentlichen Funktionen 
des Nervensystems in Fibrillen verlaufen und 
das Protoplasma, in dem sie eingeschlossen 
liegen, nur der Ernährung diene, erklärt er 
für willkürlich. Es sei ebensowohl möglich, 
dass die Vorgänge, welche das Wesen der 
Nervenfunktion ausmachen, in dem die Fi- 
brillen umgebenden Protoplasma verlaufen. 
Diese Auffassung habe sogar mit Rücksicht 
auf den halbflüssigen Aggregatzustand des 
Protoplasmas, welches eine grössere Ver- 
schiebbarkeit der Moleküle erlaube, mehr 
Wahrscheinlichkeit für sich. Die Unter- 
brechung des protoplasmatischen Mantels 
an den Ran vi er sehen Schnürringen spreche 
nicht dagegen. Verf. hält an der entwicke- 
lungsgeschichtlich-anatomischen wie an der 
physiologischen Einheit des Neurons fest. 
Vielleicht wäre es aber gut, diese beiden 
Seiten der Neurontheorie für Studierende 
noch schärfer, als es geschehen ist, hervor- 
zuheben. Auch hätte wohl neben dem Namen 
von Bethe und Apathy in diesem Zu- 
sammenhange derjenige Nissls wenigstens 
eine Erwähnung verdient. Im Anschluss an 
den Tastsinn lässt sich Verf. weiter, als man 
es sonst von Lehrbüchern der Physiologie 
gewohnt ist, auf psychologische Fragen ein, 
er giebt einen prägnanten Abriss der Lehre 
von der Unterschiedsempfindlichkeit und 
kommt zu einer strikten Ablehnung des 
Fechn ersehen Gesetzes, was wohl in dieser 
Allgemeinheit zu weit geht. Von den Aus- 
fühnmgen über den Gesichtssinn wird der 
Gedanke vielfach Anstoss erregen, dass 



126 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



möglicherweise bereits in der Retina Licht- 
und Farbenempfindungen uns „zum Bewusst- 
sein kommen" können. Ref. muss gestehen, 
dass er diesem Gedankengange nicht zu 
folgen vermag. 

Der II. bis 17. Vortrag handelt von der 
Physiologie des Nervensystems. Die Physio- 
logie des Gehirnes ist für den Verf. „das 
anziehendste Kapitel" seines Faches, sie er- 
streckt sich nicht nur auf die materiellen 
Himprozesse, sondern „umfasst zugleich noch 
die Grundlage der gesamten Geisteswissen- 
schaften — die Psychologie". Dass das 
Gehirn zweifellos der „Sitz des Bewusstseins" 
sei, dafür werden die bekannten Argumente 
sorgfaltig ins Feld geführt, die Frage aber, 
ob alles bewusste Seelenleben ausschliesslich 
im Grosshim sich abspiele, bleibt nach dem 
Stande des Streites zwischen Munk und 
Goltz, der eingehend diskutiert wird, un- 
entschieden, obwohl Verf. persönlich geneigt 
ist, auch subkortikalen Grosshimterritorien 
psychische Funktionen zuzusprechen. Bezüg- 
lich der genaueren lokalisatorischen Funk- 
tionen des Grosshirns (15. Vortrag) stellt sich 
Verf. auf den bekannten Flechsigschen 
Standpunkt. Er nimmt in unkritischer Weise 
die Behauptungen Flechsigs über die Ver- 
teilung der Projektionsfasem in der Hirnrinde 
als festsehende anatomische Thatsachen an 
und macht von da aus den weiteren Schritt zu 
dessen haltlosen physiologischen Deduktionen 
über Associations- und Sinneszentren mit. 
Die hiergegen erhobenen Einwände von 
Dejerine, Vogt, Monakow, Sachs, 
Hitzig, (Siemerling wird nicht genannt), 
weist Verf. als nicht stichhaltig zurück; 
Flechsigs Lehre gilt ihm daher auch nicht 
für widerlegt. Die Art indessen, wie Verf. 
die Associationszentren zu stützen sucht, 
muss als bedenklich und verwirrend bezeichnet 
werden. Bekanntlich hatte Flechsig seine 
Associationszentrcnlehre in ihrer physio- 
logischen Bedeutung ausschliesslich aus 
anatomischen Voraussetzungen abgeleitet, 
indem er behauptete, dass ein grosser Teil 
der Hirnrinde, nämlich derjenige Teil, den 
er Associationszentren nannte, keine Pro- 
jektionsfasem besitzen. Diese Annahme war 
der Ausgangspunkt und ist auch heute noch 
die Voraussetzung der ganzen Lehre; wird 
sie widerlegt, so fallt auch das ganze darauf 
aufgebaute System der Kindenlokalisation 
Flechsigs zusammen. Nun macht aber 
V. B. gegenüber dem thatsachlich geführten 



Nachweis, dass alle Rindengebiete Projektions- 
fasem zeigen, folgende Argumente geltend: 
erstens meint er, es könne ein sehr grosser 
gradueller Unterschied zwischen den Asso- 
ciationszentren und den Sinneszentren be- 
stehen, die Zahl der Stabkranzfasem in den 
ersteren sei nur eine relativ geringe, zweitens 
könnten die von den Associationsfasem aus- 
gehenden Projektionsfasem ebensogut psy- 
chischen Funktionen, nicht sensiblen und 
motorischen dienen. Das alle psychischen 
Funktionen ausschliesslich in der Rinde ihren 
Sitz haben, sei ein Vorurteil. Wir müssen, 
meint er, die Möglichkeit zugeben, dass eine 
Stabkranzfaser auch eine Associationsfaser 
sein könne. Letztere Annahme ist nun aber 
eine reine Hypothese und hat keinen Halt an 
den heutigen physiologischen Anschauungen ; 
sie ist eine willkürliche Hilfshypothese, um 
weitere Hypothesen im Sinne der Flechsig- 
schen Lehre darauf au&ubauen. Offenbar 
umgeht Verf. mit dieser Argumentation — 
und hierin liegt das Bedenkliche der Sache 
— einfach den Grundgedanken der Lehre 
Flechsigs und verschiebt damit den ganzen 
Streit um die Associationszentren. 

Ebensowenig entspricht es der sachlichen 
und historischen Bedeutung der Lehre Galls, 
dass ihm ein besonderes Kapitel gewidmet 
ist. Verf. geht in seiner Bewundemng der 
Persönlichkeit Galls, die er mit Möbius 
teilt, entschieden zu weit, wenn er ihn den 
Begründer der modemen Lokalisationslehre 
nennt. Die Physiologie des Kleinhirns dreht 
sich fast auschliesslich um die Diskussion 
der G all sehen „Vermutung**, dass das Klein- 
him der Sitz der Geschlechtsfunktion sei; 
wenn Verf. diese Vermutung für möglich 
hält, so wird man nichts dagegen einzuwenden 
haben ; nur hat er die Litteratur, welche durch 
klinische und experimentelle Erfahrungen das 
Gegenteil beweist, übersehen. 

Mit einem Worte: Die allzustark polemi- 
sierende Darstellung dieser Kapitel wird dem 
Lernenden ein zutreffendes Bild von dem 
heutigen Stande der Lokalisationslehre kaum 
zu geben vermögen. Zu welch' schiefen 
Auffassungen muss es z. B. einen angehenden 
Mediziner führen — um nur noch Eins zu 
erwähnen — wenn Verf. schreibt, dass nach 
allem, was wir bisher wissen, „die beiden 
Hemisphären des Grosshirns keine wesentlich 
verschiedenen Funktionen haben." Es braucht 
nur an die Lokalisation des aphasischen 
Symptomkomplexes erinnert zu werden, um 



BD. I, HEFT 8. 
1902. 



REFERATE. 



127 



einen doch sicherlich sehr wesentlichen 
funktionellen Unterschied zwischen der linken 
und rechten Hemisphäre zu statuieren. 

Drei besondere Vorträge (18, 19 und 20) 
sind den verwandten Themata Schlaf, Winter- 
schlaf und Hypnotismus gewidmet. Verf. 
erweist sich als ein sehr gründlicher Kenner 
auch der jüngsten Litteratur auf diesen Ge- 
bieten, sucht den widerstreitenden Lehr- 
meinungen gerecht zu werden und sie soweit 
als möglich zu einem abschliessenden Urteil 
zu vereinigen. Wer sich über das Schlaf- 
problem unterrichten will, wird, auch wenn 
er völliger Laie ist, gemeinverständlich alles 
Wissenswerte hier zusammengetragen finden. 
Die einzelnen Schlaftheorien, die in eine 
biologische, eine physiologische, eine psycho- 
logische und eine histiologische Richtung 
zerfallen, sind mit der gleichen Ausführlich- 
keit erörtert, wie spezielle psychologische 
Untersuchungen über die Symptomatik des 
Schlafes. Verf. bekennt sich als einen An- 
hänger der Anämietheorie des Schlafes, doch 
muss es entschieden befremden, wenn er zu 
deren Gunsten die Behauptung ins Feld 
fuhrt, dass die meisten Menschen (Rechts- 
händer) auf der rechten Seite schlafen, weil 
sich dabei die linke Kopfhälfte abkühle und 
so die linke Hemisphäre als die der meisten 
Ruhe bedürftige auch am blutärmsten werde. 
Bei Linkshändern soll es sich umgekehrt 
verhalten I Diese Ausfuhrungen kann man 
nur als eine wissenschaftliche Entgleisung 
bezeichnen. Immerhin ist es als ein er- 
freuliches Zeichen zu betrachten, dass bei 
v. Bunge auch physiologische Probleme, 
welche sonst als Stiefkinder der Wissenschaft 
handelt werden und in vielen Lehrbüchern 
der Physiologie überhaupt nicht erwähnt 
sind wie der Schlaf und die schlafverwandten 
Zustände zu ihrem Rechte kommen. 

In den Schlusskapiteln über Fortpflan- 
zung, Vererbung und Regeneration tritt Verf. 
an die allgemeinsten und aktuellsten Fragen 
der Wissenschaft wie des praktischen Lebens 
heran ; ich erwähne nur diejenigen nach dem 
Ursprung des Lebens, das Rätsel der Ur- 
zeugung, die Kontinuität des Lebens, die 
Vorzüge geschlechtlicher und ungeschlecht- 
licher Zeugung, die Zusammenhänge zwischen 
Menstruation und Befinchtung, Folgen der 
Kastration u. s. w. Der Vortrag über Ver- 
erbung enthält eine ebenso überzeugend wie 
fesselnd geschriebene Kritik der Pangenesis, 
in der sich Verf. streng auf den Standpunkt 



Weismanns stellt. Darin, dass wir die 
Vererbung erworbener Eigenschaften leugnen 
müssen, sieht er keinen Hinderungsgrund der 
Vervollkommnung desMenschengeschlechtes ; 
die Menschheit besitzt, so führt Verf. aus, 
in der rationellen geschlechtlichen Zuchtwahl 
das wirksamste Mittel zu ihrer Auffrischung 
und Veredelung. Vergeblich wird man bei 
V. Bunge in dem Streite um die Pangenesis 
nach dem Namen Hack eis suchen, auch 
im Autorenverzeichnis fehlt derselbe ganz. 

Der zweite Band ist zugleich eine 
f ü n f t e A u f 1 a g e des „ Lehrbuches der physio- 
logischen und pathologischen Chemie** des 
Verf., welches durch Aufnahme der Kapitel 
über die Mechanik des Kreislaufes und der 
Respiration zu einer Physiologie des Stoff- 
wechsels erweitert wurde. Wie im ersten 
Bande sucht auch hier der Verf. überall den 
Konnex mit der praktischen Medizin auf- 
recht zu erhalten. Jeder pathologische Pro- 
zess ist für ihn physiologisches Experiment, 
das die Natur selbst anstellt und daher fallen 
auch die pathologischen Störungen des Stoff- 
wechsels (Diabetes, Fieber, Infektion u. s. w.) 
in seinen Betrachtungsbereich. Diese Fragen 
brauchen wir hier nicht zu erörtern. 

Von allgemeinerem Interesse — und sehr 
lesens- und beachtenswert — ist der erste 
Vortrag des zweiten Bandes: „Idealismus 
und Mechanismus". Verf. erweist sich hier 
als ein ebenso strenger Skeptiker in der 
BeurteilungjenerphysiologischenForschungs- 
richtung, welche alle Lebenserscheinungen 
auf physikalische und chemische, im letzten 
Grunde also auf medizinische Gesetze zu- 
rückführen will, wie als ein glühender Idea- 
list. Das allein uns Bekannte ist die Innen- 
welt und wir müssen von dieser ausgehen, 
um das Unbekannte, die Aussenwelt zu er- 
klären. Dem Satze Johannes Müllers: 
Psychologus nemo nisi Physiologus stellt er 
die These gegenüber Physiologus nemo nisi 
Psychologus. Brodmann (Berlin). 

S. Ramon y Gajal. Studien über die Hirn- 
rinde des Menschen. Deutsch von 
J. Presler. 3. Heft: Die Hörrinde. 
Mit 21 Abbildungen. J. A. Barth, 
Leipzig 1902. M. 3. — . - , 
Gleich den beiden ersten Heften der 
„Studien" beschäftigt sich auch das dritte 
Heft mit der überaus wichtigen Frage, ob 
einem bestimmten funktionellen Centrum 
der grossen Hirnrinde, hier speziell den 



128 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



Temporal- und Inselwindungen, welche Be- 
zirke von den Pathologen für den Haupt- 
sitz des Hörvermögens gehalten werden, ein 
bestimmter anatomischer Bau zukommt, der 
es von allen anderen Zentren auszeichnet 
und der, topographisch der physiologischen 
Lokalisation der Hörfunkton entsprechend, 
uns als Richtschnur für eine bessere Ab- 
steckung der Grenzen der letzteren dienen 
kann. Verf. hat nun, in der Hauptsache 
und vielleicht nur einseitig mit der Silben- 
methode nach Golgi, als positives Ergeb- 
nis seiner Untersuchungen festgestellt, dass 
eine bestimmte Art von Zellen, die er als 
„akustische Spezialzellen" bezeichnet, ob- 
wohl weder deren Verbindung mit den aku- 
stischen Fasern noch ihre physiologische 
Bedeutung erwiesen ist, als anatomisches 
Hauptcharakteristikum des akustischen Zen- 
trums der Rinde anzusehen sei, da diese 
Zellen mit absoluter Konstanz und nur in 
der Hörrinde vorkommen, während alle an- 
deren Zellen in verschiedenen Rindengebieten 
angetrofTen werden. Diese Zellen sind in 
der ersten Temporalwindung über alle Schich- 
ten, mit Ausnahme der ersten, verbreitet, 
am zahlreichsten in der 6. und 7. Schicht. 
Im Golgibild sind es Zellen von ungewöhn- 
licher Grösse, spindelförmiger oder drei- 
eckiger Gestalt mit horizontalem Achsen- 
cylinder; sie lassen sich nach Ansicht des 
Verf. am ehesten mit den grossen Stern- 
zellen der Sehrinde vergleichen. Verf. 
schreibt diesen Spezialzellen natürlich auch 
eine spezifische Funktion zu und meint, dass 
sie zur Leitung der akustischen Eindrücke 
dienen, während die grossen Pyramiden die 
Leitung der akustisch-motorischen Muskel- 
reflexe und die kleinen und mittelgrossen 
Pyramiden die Herstellung der interen- 



cephalen Verbindungen besorgen sollen. Für 
diese rein hypothetische Konjektur fehlt 
dem Verf., wie er selber zugesteht, jede ana- 
tomisch-physiologische Stütze. 

Im Anschluss an die Hörrinde des 
Menschen behandelt Verf. kurz die Hörrinde 
bei den gyrencephalen Säugetieren. Die- 
selbe hat beim Hunde und der Katze be- 
sondere Zelltypen, die denen beim Menschen 
ähnlich sind. Gemeinsam ist beiden: Vor- 
handensein einer Kömerschicht, ausserordent- 
liche Entwickelung der tiefen Schichten, 
Existenz der Zellen mit langem Achsencylin- 
der und ohne Radiärschaft. Als Haupt- 
unterschied zwischen dem Gehirn (der Hör- 
rinde) des Menschen und der höheren Säuge- 
tiere fand Verf. nichts anderes „als die ausser- 
ordentlich grosse Zahl der Zellen mit kurzem 
Achsencylinder und besonders der gebüschel- 
ten Zellen" , also von Zellen mit kurzen 
Associationsbahnen. Es ist daher für den 
Verf. über jeden Zweifel erhaben, dass ge- 
rade diese Zellarten bei der Entstehung 
psychischer Vorgänge eine wichtige Rolle 
spielen. Auch für die Inselwindungen hat 
Verfasser einen charakteristischen Bau nach- 
gewiesen. Sie nähern sich hinsichtlich ihrer 
Stuktur am meisten der Hörrinde (i. Tem- 
poralwindung), mit der sie besonders die 
spezifischen Riesenzellen mit langem Achsen- 
cylinder teilen. Abweichend von ihr ist bei 
den Inselwindungen: das Fehlen einer Schicht 
oberflächlicher grosser Pyramiden, die ge- 
ringe Entwickelung und unbestimmte Ab- 
grenzung der Körnerschicht, das Vorhanden- 
sein einer siebenten fibrocellulären Schicht, 
die Existenz des Clanstrums und vor allem 
die besondere Form der Pyramiden der 
fünften Schicht. 

Brodmann (Berlin). 




Journal für Psychologie und Neurologie. 



Band I. Heft 4. 



Kleine Beiträge zur Neuropathologie. 

Von 

H. Oppenheim. 

I. Zur Differentiaidiagnose der Neuritis (und Neuralgie). 

Während sich der Krankheitsbegriff der Polyneuritis nach meinen 
Erfahrungen im ärztlichen Publikum noch nicht recht eingebürgert hat und 
ich oft genug dieses Leiden zu diagnosticieren Gelegenheit finde in Fällen, 
in denen mir der Kranke unter der Annahme einer Rückenmarksaffektion 
präsentiert wird, lehrt mich die tägliche Beobachtung, dass die Diagnose 
Neuritis im allgemeinen noch viel zu oft gestellt und dass diese namentlich 
mit den Algien hysterischen und neurasthenischen Ursprungs noch zu häufig 
verwechselt wird. 

Ich habe schon wiederholentlich, und am eindringlichsten in meiner 
Abhandlung über die Brachialgie und Brachialneuralgie ^) auf diese Thatsache 
hingewiesen und die Kriterien angeführt, die uns gemeiniglich in den Stand 
setzen, diesen Irrtum in der Beurteilung von Schmerzen zu vermeiden. Wenn 
ich heute noch einmal auf das Thema zurückkomme, so drängt mich dazu in 
erster Linie die Wahrnehmung, dass die therapeutischen Konsequenzen dieses 
diagnostischen Fehlgriffes den Verlauf recht ungünstig beeinflussen und dem 
Eintritt der Genesung direkt entgegenarbeiten können. Durch die Verordnung 
absoluter Schonung und Ruhigstellung der ergriffenen Extremität, die durch 
Einpackung in Watteverbände und einmal selbst durch Applikation von Schienen 
erstrebt wurde, durch den Hinweis darauf, dass jede Bewegung, jede Zerrung, 
jeglicher Druck auf den entzündeten Nerven eine Lähmung herbeizuführen im 
Stande sei, war es erreicht worden, dass die als Neuritis gedeutete Algia 
hysterica oder neurasthenica sich fixiert hatte, dass die Aufmerksamkeit des 
Kranken an dem Schmerz festhaftete und ihn bis zur Unerträglichkeit wachsen 
Hess. Einige Male hatte die Fixation der Extremität auch eine erhebliche 
Inaktivitätsatrophie zur Folge gehabt. Ich konnte in diesen Fällen feststellen, 
dass der Schmerz nicht durch einen Entzündungszustand im Nerven bedingt 
war, sondern in der allgemeinen Nervosität bezw. Hysterie wurzelte, es gelang 



») BerUner Klin. Woch. 1898. Nr. 26. 
Journal für Psychologie und Neurologie. Bd I. lO 



I30 H. OPPENHEIM. -""Ta' 4^"^!°«" 



und Neurologie. 



mir auch meistens, durch sofortige Unterbrechung der örtlichen Behandlung, 
durch Einleitung einer entsprechenden Allgemeinkur und nicht zum wenigsten 
durch die psychische Beeinflussung das Leiden zurückzubringen oder bedeutend 
zu bessern. Da ich diese Frage schon am anderen Orte behandelt habe, ist 
eine weitere Ausführung nicht erforderlich. 

Es ist aber ein anderer Gesichtspunkt, der zu weiteren Erörterungen 
Anlass giebt. In fast allen diesen Fällen, in denen die Diagnose Neuritis zu 
Unrecht gestellt war, hatte die Druckempfindlichkeit des entsprechenden 
Nerven oder Nervengebietes das objektive — und zwar das einzige ob- 
jektive — Krankheitszeichen gebildet. Es ist auch allgemein anerkannt, dass 
die Empfindlichkeit des Nervenstammes gegen Druck zu den häufigen und 
wertvollen Zeichen der Nervenentzündung gehört. Aber gerade bei der 
Feststellung und Beurteilung dieser Erscheinung ist man der Gefahr grosser 
Täuschung ausgesetzt. In der schon angeführten Abhandlung habe ich 
zwar besonders die Brachialgie der ächten Neuralgie gegenübergestellt, aber 
die bezüglich des Symptoms der Druckempfindlichkeit angestellten Betrach- 
tungen haben in differentialdiagnostischer Hinsicht dieselbe Gültigkeit für die 
Neuritis. Ich sagte: ,,Bei der Untersuchung auf Druckpunkte ist das Ergebnis 
ebenfalls ein unsicheres. Es wird zwar der Druck auf einzelne Nerven oder 
Nervenpunkte oft genug als schmerzhaft bezeichnet und bei oberflächlicher 
Untersuchung könnte man in der That Valleixsche Druckpunkte konstruieren. 
Bei genauer Betrachtung beschränkt sich diese Hyperästhesie jedoch nicht 
auf diese Nervenpunkte, sondern ist auch an anderen Stellen, auch ausserhalb 
des Bereiches der Nerven, z. B. am Condylus internus oder externus humeri, 
am Olecranon etc. nachzuweisen und steht in inniger Beziehung zur Aufmerk- 
samkeit, oder es handelt sich um eine Steigerung der mechanischen Erreg- 
barkeit der sensiblen Nerven, die aber eine allgemeine ist, etc." 

Wenn in diesen Ausführungen auch besonders auf die Gefahr der Sug- 
gestion von Druckpunkten und die durch die allgemeine Hyperästhesie 
bedingte Vortäuschung von Druckpunkten hingewiesen ist, so hat doch auch 
die Thatsache Erwähnung gefunden, dass die mechanische Erregbarkeit der 
sensiblen Nerven bei neuropathischen Individuen gesteigert sein kann. Auch 
an anderen Stellen, z. B. in meiner Darstellung der traumatischen Neurosen ^) 
wird auf dieses Moment S. 163 hingewies^: „Ebenso kommt eine Steigerung 
der mechanischen Erregbarkeit sensibler Nerven vor, wie ich andererseits ein 
Fehlen der bekannten Parästhesien auf Nervendruck (besonders im Gebiet des 
Ulnaris) auf der anästhesischen Seite beobachtete.** 

Dass die Thatsache auch anderen erfahrenen Neurologen bekannt ist und 
von vielen gebührend gewürdigt wird, lehrt ein Blick auf die entsprechende 
Litteratur. Ich will nur eine Bemerkung Remaks*) über diesen Punkt wieder- 
geben: ,,Dass bei sensiblen und hysterischen Personen der Ner\'endruck be- 
sonders schmerzhaft ist, ist ebenfalls zu berücksichtigen.** 



*) 2. Aufl., Berlin, 1892. A. Hirschwald. 

') Remak und Fla tau: Neuritis und Polyneuritis. Nothnagels Spec. Pat, und Therapie. 
Bd. IX. Teil HI. Abt. 3. 



^^'^\^^^' KJ.EINE BEITRÄGE ZUR NEUROPATHOLOGIE. I3I 



Immerhin ist diese Kenntnis noch nicht recht in das ärztliche Publikum 
gedrung'en, und auch aus einzelnen wissenschaftlichen Abhandlungen geht es 
(Jeutlich hervor, dass die Verkennung oder Nichtbeachtung dieser Thatsache 
dazu verleitet, die Druckempfindlichkeit eines oder mehrerer Nerven als eine 
ausreichende Basis für die Diagnose Neuritis zu betrachten. Ich will auch das 
nur an einem Beispiel erhärten. 

F. Franke hat in seinen sonst beachtenswerten Abhandlungen über 
Nachkrankheiten der Influenza ^) sich besonders auch über die Neuritis ver- 
breitet, die er für eine sehr häufige Affektion im Nachstadium dieser Infektions- 
krankheit hält. Es ist ihm namentlich darum zu thun, zu zeigen, dass die 
Neuritis der Intercostal- und Lumbalnerven eine Erkrankung der Brust- und 
Bauchorgane vorzutäuschen vermag, und er bringt eine grosse Anzahl von 
Krankengeschichten bei, die sowohl die Häufigkeit der Neuritis nach Influenza 
als auch die ihrer Verwechslung mit Affektionen der inneren Organe illustrieren 
sollen. Sieht man nun zu, auf welche Kriterien sich die Diagnose der Neuritis 
stützt, so ist es in der überwiegenden Mehrzahl ausschliesslich die Druck- 
empfindlichkeit der Nerven und daneben noch eine Erscheinung, auf die 
Franke grosses Gewicht legt: die Schmerzhaftigkeit, welche sich beim Erfassen 
einer Hautfalte über dem afficierten Gebiet oder bei leichtem Kneifen derselben 
geltend macht. Dass auch dieses letztere Symptom nichts für Neuritis be- 
weist, sondern besonders bei Hysterie — ich erinnere an das sog. Brodie- 
sche Zeichen der Arthralgien, namentlich der Coxalgia hystcrica — vorkommt, 
ist zu bekannt, als dass ich die Thatsache weiter zu erörtern brauchte. 

Die Druckempfindlichkeit der peripherischen Nerven ist, wie ich ausführte, 
eine Erscheinung, die bei neuropathischen Individuen nicht selten gefunden 
wird. Einmal kann sie durch die Untersuchung suggeriert, andermalen die 
Teilers.cheinuug einer allgemeinen Hyperästhesie sein, schliesslich glaubte ich 
aber annehmen zu dürfen, dass eine wirklich auf die Nerven beschränkte 
Druckschmerzhaftigkeit, eine Steigerung der mechanischen Erregbarkeit der 
sensiblen Nerven, als Symptom der Neurasthenie, Hysterie und Hystero- 
neurasthenie vorkomme. Wenn nun auch über diese Frage schon einzelne 
Angaben (ausser mir haben Remak, v. Frankl- Hochwart, bei Besprechung 
des von Hoffmann beschriebenen, von Schlesinger, Chvostek jun. u. A. 
bestätigten Symptomes der Erhöhung der mechanischen Erregbarkeit der sen- 
siblen Nerven bei Tetanie, Laufenauer u. a. die Thatsache erwähnt) vorliegen, 
so schien es mir doch erforderlich, ihr weitere Untersuchungen zu widmen und 
ihre Bedeutung an einem grösseren Material zu prüfen. Ich habe deshalb 
während einiger Monate in der Poliklinik wie in der Privatpraxis bei meinen 
Patienten festzustellen gesucht, wie sich die Nervenstämmc, besonders die der 
oberen Extremitäten, gegen leichte mechanische Reizung verhalten. 

Dabei machte sich sofort als ein die Beurteilung wesentlich erschwerender 



*) F. Franke: Beitrag zur Dift'ereutiaUliaguose bei Erkrankungen der Brust- und Bauch- 
organe. Allg. med. Centralzcitung. 1896. Nr. 42. 

Derselbe: Über einige chirurgisch wichtige Komplikationen und Nachkrankheiten der Influenza. 
Mitt aus d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurgie. Bd. V. 1900. 

10* 



132 H. OPPENHEIM. •""'™5' 1^'*:?:°«'' 



und Neurologie. 



Umstand die Thatsache geltend, dass uns exakte Methoden weder zur Abstufung 
der Reizintensität, noch gar zur Bestimmung der Schmerzintensität zur Verfügung 
stehen. Da nun starker Druck auch an den Nerven Gesunder schmerzhafte 
Empfindungen auslöst, war es erforderlich, eine Intensität des Druckes anzu- 
wenden, auf welche die Nerven gesunder Individuen nicht mit Schmerz und 
anderen spezifischen Unlustgcfühlen reagieren. Aber gerade da macht sich 
der Mangel exakter Untersuchungsmethoden zur Messung der Reizgrössen in 
störender Weise fühlbar. Das ist schon bei der Diskussion, die für und 
wider das sog. Ulnarissymptom Biernacki's — vergl. die Angaben von 
Gramer^), Boedeker und Falkenberg 2), Orschansky'^), GoebeH), Hess^), 
Sarbo ^) u. A. — geführt wurde, hervorgehoben worden. 

Wir sind hier auf das subjektive Moment der Schätzung angewiesen und 
damit können wir dem Ergebnis unserer Untersuchung auch nur einen relativen 
Wert beimessen. 

Ich suchte also zunächst bei Gesunden festzustellen, wie stark man den 
N. Ulnaris, Radialis u. a. durch Druck, durch Rollenlassen unter dem Finger 
reizen kann, ohne einen Schmerz und ohne ausstrahlende Parästhesien zu 
erzeugen. Dann übte ich mich darauf ein, in der gleichen Weise an den 
Nerven der Neuropathen zu manipulieren. Ich rechnete hierhervdie an Neu- 
rasthenie, Hysterie und Hysteroneurasthenie leidenden Individuen unter Aus- 
schliessung aller derer, bei denen ein die Neurose komplizierendes organisches 
Leiden oder Alkoholismus vorlag. Die Untersuchung erstreckte sich auf 180 
in diese Kategorie hineingehörende Personen: 102 Frauen, 78 Männer. Ich 
ging so vor, dass ich an den entblössten Extremitäten die Stellen aufsuchte, 
an denen die Nerven dem mechanischen Reiz leicht zugänglich sind, und übte 
dann an dieser Stelle einen leichten Druck auf sie aus. Kam es zu Schmerzens- 
äusserungen, so überzeugte ich mich, dass diese nur von den Nervenpunkten 
aus auszulösen waren und betrachtete das Ergebnis der Prüfung nur dann als 
ein positives. In der Regel beschränkte ich mich auf die Nervenstämme der 
oberen Extremitäten, oft wurden auch die der unteren und zuweilen die des 
Trigeminus der Untersuchung unterzogen. 

Unter den 180 Personen fanden sich nun 36, — 23 weibliche, 13 männ- 
liche — bei denen das Resultat ein positives war. Und zwar handelte es sich 
bald um eine auf die Nervenpunkte beschränkte lokalisierte Druckschmerz- 
haftigkeit, bald, aber doch viel seltener, um ausstrahlende Empfindungen in 
der Nervenbahn, die mit einem Unlustgefühl verknüpft waren. Die Parästhesien 
wurden in das peripherische Verbreitungsgebiet der Nerven projiziert, aus- 
nahmsweise erstreckte sich die Sensation centralwärts , eine Strecke weit dem 
Nerven in centripetaler Richtung folgend. In der Regel lag bei den Individuen, 
bei denen schon ein schwacher Druck einen Schmerz an den Nervenpunkten 



*) Neurol. Centralbl. 1894. S. 500. 

^) Ebenda. 1895. S. 188. 

') Inaug. Diss. Berlin, 1895. 

*} Neurol. Centralbl. 1895. S. 718. 

*; Ebenda. 1896. 

®) Ebenda. 1896. S. 351- 



^^' SSa^ ** KLEINE BEITRÄGE ZUR NEUROPATHOLOGIE. I33 



hervorrief, nach unserer Schätzung" auch die Reizschwelle für die Auslösung" 
der ausstrahlenden Empfindung" zu tief, doch war diese Beziehung" keinesweg"s 
immer festzustellen. Nur bei dem kleineren Teil dieser Individuen waren ent- 
sprechende subjektive Beschwerden vorhanden: Einschlafen der Glieder bei 
länger dauerndem Druck, z. B. bei Sitzen auf hartem Stuhl, beim Sitzen mit 
überg"eschlagenen Beinen, beim Aufstützen des Armes u. s. w. Dabei konnten 
wir noch bemerken, dass diese Parästhesien auch von den intellig"enten Ver- 
suchspersonen keinesweg"s immer in das ganze Verbreitung"sg^ebiet des Nerven 
projiziert werden. So wurde bei Druck auf den N. Ulnaris oft nur der fünfte 
oder der vierte Finger, bei Druck auf den N. Radialis oft nur der Daumen 
als Ort der Ausstrahlung" angegeben. Waren die Angaben ungenau, unsicher, 
widerspruchsvoll, so schied der Fall als unverwertbar aus. 

Einigemale erhielt ich die Angabe, dass der Druck zwar nicht schmerz- 
haft empfunden werde, aber eine eigentümliche, schwer zu schildernde Empfin- 
dung — ein Unlustgefühl, das von zwei der Versuchspersonen als Schaudern 
bezeichnet wurde — auslöse. 

Die krankhaft erhöhte Reaktion der sensiblen (bezw. gemischten) Nerven 
auf mechanische Reize wurde nun keineswegs immer an allen Nerven gefunden, 
sondern sie war manchmal beispielsweise am N. Ulnaris ausgesprochen, während 
sie am N. Radialis nicht deutlich hervortrat, oder sie beschränkte sich — 
wenigstens in einzelnen Fällen — auf die Nerven des rechten Armes, während 
sie an denen des linken nicht mit Sicherheit nachweisbar war. Ich will hinzu- 
fügen, dass auch keineswegs das Verhalten der motorischen Nerven gegen 
die mechanische Reizung dem der sensiblen parallel ging, muss aber bekennen, 
dass auf diesen Eimkt nur in dem kleineren Teil der Fälle geachtet wurde. 

Wenn wir, wie schon angeführt, diesen Untersuchungen auch nicht den 
Wert eines mit exakten Methoden ausgeführten Experimentes beijnessen können, 
so haben wir doch das Recht aus ihnen zu schliessen, dass eine krankhaft 
erhöhte Druckempfindlichkeit der peripherischen Nerven, die nicht auf ent- 
zündlichen Veränderungen beruht, bei neuropathischen Individuen kein seltenes 
Vorkommnis bildet. 

Wir haben festgestellt, dass auch nach Ausschaltung suggestiver Ein- 
flüsse u. s. w. noch ein nicht kleiner Prozentsatz von Fällen gefunden wird, 
in denen ausschliesslich der Druck auf die Nerven schmerzhafte Sensationen 
auslöst, und haben im Gegensatz zu unserer früheren Annahme nachweisen 
können, dass diese Erhöhung der mechanischen Erregbarkeit sensibler Nerven 
nicht immer eine allgemeine ist, sondern sich auf einzelne Gebiete be- 
schränken kann. 

Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Ursache dieser Überempfindlichkeit 
in der Peripherie, an den Nervenstämmen selbst — etwa in einer angeborenen 
Strukturanomalie, in einer schwächeren Ausbildung des Nervenmarkes u. s. w. — 
zu suchen ist, es ist vielmehr anzunehmen, dass die Erhöhung der Erregbarkeit 
ihren Sitz in den entsprechenden Empfindungscentren hat. Wir können uns 
nun leicht vorstellen, dass diese Hyperästhesie zu Zeiten durch äussere und 
innere Einflüsse noch wesentlich erhöht und lokalisiert werden kann. In 
diesem Sinne kann ein Trauma wirken, sowohl durch die mechanische — 



134 H. OPPENHEIM. ■'°""d N.SZ^'Si'"'' 



und Neurologie. 



molekulare (denn ich sehe von allen wirklichen, dem Entzündung'sprozess mehr 
oder weniger nahe kommenden Läsionen des Nerven ab) — Erschütterung, 
als auch besonders dadurch, dass die Aufmerksamkeit dem verletzten Gliede 
zugewandt und die perzipierenden Centren auf die von demselben ausgehenden 
Reize stärker eingestellt werden. Infektionskrankheiten und erschöpfende 
Krankheiten anderer Art mögen in ähnlicher Weise auf das Gehirn wirken 
können. Auch psychische Einflüsse, die Idee — mag sie nun in dem Kranken 
selbst entstanden oder ihm durch den Arzt suggeriert sein — , dass eine Ent- 
zündung der Nerven vorliege, kann in diesem Sinne auf die Centralorgane 
der Empfindung wirken, so dass ein den Nerven treffender, an und für sich 
schon schmerzhafter Druck nun eine sich mehr und mehr und selbst ad 
maximum steigernde Schmerzempfindung auslöst. Ebenso begreifen wir es, 
dass eine einen Nervenzweig einbettende Narbe, ein Fremdkörper u. s. w. 
durch fortdauernde Erregung der perzipierenden Centren eine derartige Er- 
höhung der Erregbarkeit in denselben zeitigen kann, dass auch der leichteste 
den Nerven an irgend einer Stelle treffende Reiz einen Schmerzanfall hervorruft. 
Wir dürfen es somit als erwiesen betrachten, dass auch der nicht ent- 
zündlich veränderte Nerv bei neuropathischen Individuen gegen mechanische 
Reize in dem Masse empfindlich sein kann, dass er sich gegen Druck und 
Berührung wie ein entzündeter verhält. Die Druckschmerzhaftigkeit des 
Nervenstammes kann also als ein zur Begründung der Diagnose 
Neuritis ausreichendes Symptom nicht betrachtet werden. 

il. Zur Symptomatologie der Paralysis agitans. 

In den von A. Heimann in seiner bekannten Dissertation^) mitgeteilten 
Krankengeschichten, welche sich auf die von mir in der Nervenklinik der 
Charit^ beobachteten und eingehender untersuchten Fälle bezieht, finden sich 
einzelne Erscheinungen angeführt, denen wir damals eine besondere Bedeutung 
nicht beigemessen haben und die auch in der Folgezeit weder von uns noch 
von anderen hinreichend gewürdigt worden sind. Eines dieser Symptome 
wird aber nach meinen neueren Erfahrungen bei Paralysis agitans so häufig 
gefunden und kann eine so lästige Beschwerde bilden, dass es grössere Be- 
achtung verdient, ich meine: den Speichel fluss. 

In der Dissertation von Hei mann findet sich nur in einigen Kranken- 
geschichten eine flüchtige Bemerkung über diese Erscheinung, so heisst es 
auf S. i8 (Fall III): , »Gegenwärtig läuft der Kranken der Speichel aus dem 
Munde", auf S. 66 (Fall XIV): „Es wurde ihm plötzlich übel, und das Wasser 
lief ihm im Munde zusammen** etc. Es ist begreiflich, dass wir aus diesen 
vereinzelten Beobachtungen nicht den Eindruck gewinnen konnten, dass es 
sich hier um eine zum Krankheitsbild gehörende selbständige Erscheinung 
handele. Und so finde ich weder in meinem Lehrbuch der Nervenkrank- 
heiten, noch bei Gowcrs, Erb, Ziemssen, Wollenberg, Strümpell u. a. 
eine Notiz über den Ptyalismus als Symptom der Paralysis agitans. 



') Über Paralysis agitans (SchütteUähmiing\ Berlin, 1888, 



^^'\Si^^^ KLEINE BEITRAGE ZUR NEUROPATHOLOGIE. I3S 



Nur in der gründlichen Besprechung, welche Eulen bürg diesem Leiden 
in der Realencyklopädie (1898) widmet, wird das Symptom in folgender 
Bemerkung gestreift: „Öfters hingegen bietet die herausgestreckte Zunge ein 
leichteres oder stärkeres Zittern dar und so kann es auch zu einer gewissen 
dysarthrischen Störung des Sprachvermögens kommen; die Worte werden 
mühsam, zitternd und in explosiver Weise hervorgestossen, besonders im Be- 
ginn des Sprechens. Dabei findet sich nicht selten der Mund reichlich mit 
Speichel angefüllt." 

Also auch hier wird die Erscheinung zwar gewürdigt, aber ihr doch nur 
die Bedeutung eines secundären, subordinierten Phänomens zugeschrieben. 

Nachdem ich im vorigen Jahre einen Fall beobachtet hatte, in dem der 
Speichelfluss zu den lästigsten Symptomen gehörte, bin ich auf dieses Zeichen 
aufmerksam geworden und muss es nach den Erfahrungen, die ich seitdem 
gesammelt habe, als ein keineswegs seltenes betrachten. Ich will zunächst 
über meine Beobachtungen kurz berichten: 

I. H. J., 63 Jahre alt, Kaufmann aus Russland. Leidet seit 5 Jahren an 
Zittern im rechten Arm, das sich seit zwei Jahren auch auf das rechte Bein 
verbreitet hat. Er empfindet eine Schwere im ganzen Körper, kann sich 
schlecht drehen, nur langsam vom Stuhle aufkommen, kommt leicht ins 
Schwitzen und hat auch sonst lästige Hitzeempfindungen. Am meisten 
quält ihn ein Speichelfluss, der seit dem Beginn des Leidens be- 
steht und bisher keiner Medikation gewichen ist. 

Status: Typische Haltung des Kopfes, Rumpfes, der Gliedmassen. Steifig- 
keit der Nacken- und Rumpfmuskeln. Starrer Gesichtsausdruck. Sprache gut. 
Zittern, das aus rhythmischen Stösscn von langsamer Folge besteht, im rechten 
Arm, besonders in der Hand und zwischen Daumen und Zeigefinger. Der 
Tremor ist fast andauernd vorhanden, wird nur durch aktive Bewegungen mo- 
mentan gehemmt. In geringerem Grade zittert das Bein. 

Aktive Bewegungen verlangsamt, ganz besonders eingeschränkt sind die 
der Finger und Zehen an den rechten Gliedmassen. 

Keine Gefühlsstörung. Sehnenphänomene normal, kein Fusszittern, auch 
falscher Fussclonus nicht hervorzubringen. 

Während der Untersuchung läuft dem Kranken das Wasser häufig 
im Munde zusammen, so dass er den Mund mit dem Taschentuch aus- 
wischt oder ausspcit. Wenn er das versäumt, kommt es auch vor, dass 
ihm der Speichel das Kinn hinabfliesst. Man sieht aber nicht, dass 
er durch das Speicheln zu häufigem Schlucken veranlasst wird. Auch im 
Schlaf soll es oft vorkommen, dass ihm der Speichel aus dem Munde heraus- 
fliesst und das Kissen nässt. 

Die Untersuchung des Mundes (Beschaffenheit der Zähne etc.) giebt 
keine Erklärung für die Salivation. 

Behandlung mit Hyoscininjektionen hat auch auf den Speichelfluss einen 
mildernden Einfluss. Fat. steht nur kurze Zeit in meiner Behandlung. 

II. M. W., Rentier, 69 Jahre alt. Vater an einer Lungenkrankheit, 
Mutter im Alter von 96 Jahren gestorben, drei Geschwister an Tuberkulose, 



136 H. OPPENHEIM. ^°r„H vJ^Älf*'* 



und Neurologie. 



ein Bruder an „Schüttellähmung", eine Schwester angeblich an „Bulbärparalyse** 
gestorben. 

Pat. selbst war früher stets gesund bis auf eine Lungenkrankheit mit 
Bluthusten, an der er im Alter von 33 und in den folgenden Jahren litt, und 
von der er sich völlig erholte. 

Keine Lues etc. In den letzten Jahren viel Erregungen. 

Seit Beginn des Jahres 1901 bemerkt er ein Zittern im linken Arm und 
Bein, das in letzterer Zeit auch die Mundmuskeln befallen hat. Es wird be- 
sonders stark bei Erregungen. Schon viele Jahre, bevor das Zittern in die 
Erscheinung trat, hat sich ein Speichel fluss bei ihm eingestellt, der ihm 
sehr lästig ist, namentlich seitdem er in den letzten Jahren an Intensität 
zugenommen hat. Besonders stark macht sich die Beschwerde bei Erregungen 
geltend. 

Andere Klagen sind: Kopfdruck, Flatulenz etc. Pat. ist hypochondrischer 
Stimmung und leicht erregbar. Gute körperliche Konstitution. Typische 
Haltung des Kopfes und Rumpfes, leichter rhythmischer Ruhetremor im linken 
Arm und Bein, in geringerem Grade auch an den Kinn- und Lippenmuskeln. 
Keine erhebliche Beeinträchtigung der aktiven Motilität, nur Kehrtmachen etc. 
verlangsamt. Sensibilität, Sehnenphänomene, Reflexe normal. 

Häufiges Speicheln, das ebenso wie der Tremor bei Erregungen zu- 
nimmt. Man sieht den Patient häufig ausspeien. Auch nachts fliesst ihm der 
Speichel aus dem Munde. 

Therapie: Hyoscininjektioncn, Mundspülung mit einer Lösung von einigen 
Tropfen T. Jodi in Rotwein. Im Lauf der nächsten Wochen bessert sich der 
Zustand, insbesondere auch die Salivation. 

III. W. T., Zahlmeister. Stellt sich in der Poliklinik am 28. August 1902 
vor. Klagt über Zittern im rechten Arm, das sich seit einem Jahre und zwar 
zuerst beim Schreiben eingestellt hat, ausserdem über eine gewisse Schwer- 
fälligkeit bei den Lokomotionen des Körpers. Kein Hitze- oder Kältegefühl, 
dagegen klagt er über starkes Schwitzen und Speichelfluss. 

Er stammt aus gesunder Familie und ist selbst immer gesund gewesen. 
Man beobachtet in der Ruhe einen rhythmischen Tremor der rechten 
Hand von circa 4 — 5 Oscillationen in der Sekunde, der bei aktiven und pas- 
siven Bewegungen aufhört. Es besteht auch ein leichter Tremor capitis. 
Abduktion des Oberarms, Schreibestellung der Hand. Gesichtsausdruck starr. 
Kein Lidschlag, aber reflektorisch erfolgt derselbe prompt. 

Beim Versuch zu lachen, entwickelt sich der mimische Ausdruck schnell, 
gleicht sich aber langsam wieder aus. Lippenbewegungen etwas verlangsamt. 

In den Extremitäten keine wesentliche Muskelspannung, keine Pro- und 
Retropulsion. 

An der rechten Hand aktive Bewegungen verlangsamt. Geringer Ruhe- 
tremor im rechten Bein. Neigung zu paradoxer Contraction im Fuss. Bei 
Bewegungen der rechtsseitigen Zehen Mitbewegungen der linken. 

IV. (i. G., 5 7 jähriger Häusler. Ist vor zwei Jahren in einen mit Wasser 
gefüllten Wiesengraben gefallen, will sich dabei zwar nicht wesentlich verletzt, 
aber erschreckt und erkältet haben. Nach einigen Tagen verspürte er Schwere 



^^' \S^^ ** KLEINE BEITRÄGE ZUR NEUROPATHOLOGIE. 1 3/ 



190S. 



im Körper, Zittern im rechten Arm, wieder einige Tage danach Zittern auch 
im rechten Bein. 

Typische Haltung: Rumpf nach vorn und links geneigt, Kopf in Ver- 
tikalstellung fixiert, Oberarme abduziert, die rechte Hand in Schreibestellung. 
Starrer Gesichtsausdruck. Deutliche Muskelspannung am Platysma. Nach 
seiner Schildenmg besteht Propulsion. 

In der rechten Hand besteht in der Ruhe ein rhythmischer Tremor, 
der durch aktive und passive Bewegungen momentan sistiert wird. Die Finger- 
bewegungen sind stark verlangsamt. In den Extensoren des rechten Fusses 
besteht ein leichter rhythmischer Tremor. 

Neigung zu falschem Fussclonus nicht ausgesprochen, Gefühl überall 
erhalten. 

Sprechapparat wird langsam in Bewegung gesetzt. Schlucken gut. 

Seit Beginn der Krankheit hat Patient viel an Speichel fluss zu leiden, 
auch an Hitzegefühl und übermässiger Schweissabsonderung. 

V. K. R., 68 jähriger Eisenbahnbeamter a. D. 

Keine Überanstrengung, keine Verletzung; viel Gemütsbewegungen, keine 
Lues. War in seinen 35 Dienstjahren nie krank. Klagt über fortwährende 
Zitterbewegungen in beiden Händen, besonders in der rechten, und in den Beinen. 
In den letzteren soll der Tremor aber nur beim Sitzen und Liegen vorhanden sein, 
während er beim Stehen und Gehen authört. Ferner hat er über Spei che 1- 
fluss und über Zittern in der Mundmuskulatur zu klagen. Er komme beim 
Laufen ins Vorwärtsschicssen, beim Aufstehen vom Stuhle oder aus dem 
Bette ins Rückwärtstaumeln. Im Schlafe soll er ganz ruhig liegen, während 
bei allen Erregungen das Zittern erheblich zunehme. Die schlechte Kopf- 
haltung bestehe seit vielen Jahren, während das Zittern erst vor 4 — 5 Jahren 
begonnen habe. 

Gegenwärtig erzeugt der Tremor fortwährende Kaubewegungen, an den 
Händen sind es besonders Pro- und Supinations- sowie Beugebewegungen, 
ferner Pillendrehbewegungen zwischen Daumen und Zeigefinger. Auch der 
Kopf zittert im Sinne von Dreh- und Nickbewegungen. 

Das rechte Bein hält Patient über das linke geschlagen, dabei wird der 
redhte Fuss durch den Tremor abwechselnd gebeugt und gestreckt und der 
ganze Unterschenkel hin und hergeworfen. Im linken Bein ist das Zittern jetzt 
wenig ausgesprochen. Es besteht aus langsamen, ausgiebigen Schwingungen, 
nimmt zu, sobald man eine Frage an den Kranken richtet. Gesicht hat einen 
starren Ausdruck, der Lidschlag erfolgt selten. 

Die Sprache ist etwas verschliffen und leicht nasal. Er will jetzt viel 
schwitzen und an Speichelfluss leiden, hat bisher kein Hyoscin oder 
Duboisin gebraucht. 

Sehnenphänomene an den Beinen lebhaft, aber kein Clonus. Zehenreflex 
bei völlig abgelenkter Aufmerksamkeit plantar. 

Aktive Bewegungen des Ober- und Unterschenkels erhalten, kraftvoll, 
während Patient die Zehen nur sehr wenig bewegen kann. Die aktiven Be- 
wegungen hemmen den Tremor; nur bei dem Versuch, die Finger und Zehen 
zu bewegen, nimmt das Zittern — vielleicht infolge psychischer Erregung 



138 H. OPPENHEIM. J°"^L^Ä!.°«" 



und Neurologie. 



wegen des Nichtkönnens — zu. Nach seinen Angaben kommt es zuweilen 
ohne jeden Anlass zu einer lebhaften Steigerung des Zitterns. 

VI. A. B., 45 Jahre alt. Seit Juli 1901 verspürt er ein Ziehen und eine 
Steifigkeit im rechten Arm, weniger in den übrigen Gliedmassen. Kein Zittern, 
keine Propulsion. Steifigkeit im rechten Arm, Hand in Schreibestellung. 
Cyanose der Haut an der rechten Hand. Hand- und Fingerbewegungen ver- 
langsamt, insbesondere ist Patient nicht im stände, die Finger einzeln zu 
bewegen. Kraft gut. Sensibilität erhalten. 

Gesichtsausdruck starr, bis auf den lebhaften Lidschlag (Conjunctivitis!). 
Kopf wird steif gehalten und lässt sich auch passiv nur unvollkommen bewegen. 

Seit April hat er unter Speichelfluss zu leiden, das Wasser läuft 
ihm im Munde zusammen, und er muss alle paar Augenblicke ausspeien. 
Nachts ist das Kissen vom Speichel nass. Im April hat er auch an 
nächtlichen Schweissen gelitten, es kam zu drei- bis sechsmaligen Ausbrüchen, 
so dass er das Hemd wechseln musste. Gegenwärtig ist der Mund, besonders 
die Wangentaschen, mit Speichel gefüllt. Die Sprache ist leise, wohl auch ein 
wenig guttural, aber es lassen sich weder Lähmungserscheinungen noch Zittern 
an den entsprechenden Muskeln nachweisen. Überhaupt fehlt jeder Tremor. 
Schlucken ohne Hindernis. 

Im rechten Bein etwas Steifigkeit. Zehenbewegungen verlangsamt, fuhren 
zu Mitbewegung in den Zehen des linken Fusses. Im rechten M. tib. ant. 
paradoxes Phänomen. Reizt man die rechte Fusssohle, so verharrt nachher 
der M. tib. ant. in dauernder Anspannung, links ist das nicht der Fall. 



Aus dieser Zusammenstellung dürfen wir entnehmen, dass der Speichelfluss 
zu den häufigen Symptomen der Paralysis agitans gehört und dass er in der Regel 
schon im Beginn des Leidens, manchmal selbst als Vorbote desselben auftritt. 

Bei dem Versuch, die Erscheinung zu deuten, könnte man zunächst ge- 
neigt sein, sie für eine secundäre, mechanische zu halten, entweder in dem 
Sinne, dass man sie von dem Tremor der Zungen-, Lippen-, Kiefer-Muskulatur 
ableitet (diesen Entstehungsmodus scheint die Bemerkung Eulenburg s an- 
zudeuten) oder von der Starre dieser Muskelgebiete. Man kann sich nämlich 
vorstellen, dass der Starre des Gesichtsausdrucks, die doch einen Ausfall der ent- 
sprechenden mimischen, automatischen und Reflexbewegungen mit sich bringt, 
ein entsprechendes Verhalten der Zungen-, Gaumen- und Schlundmuskeln 
parallel geht, durch welches die Bewegungen ausfallen oder eingeschränkt und 
seltener werden, welche zur Beförderung des Speichels in den Magen dienen. 

Dem zunächst angeführten Moment, dem Tremor der Lippen- und Zungen- 
muskeln, kann ich deshalb keine wesentliche Bedeutung beimessen, weil in 
einem Teil meiner Fälle ein Zittern dieser Muskelgruppen nicht bestanden 
hat und in anderen der Ptyalismus dem Auftreten des Tremors vorangegangen 
ist. Die frühe Entwickelung dieser Erscheinung spricht auch gegen die 
Richtigkeit oder doch gegen die generelle Bedeutung der anderen Erklärung. 

Wenn ich auch nicht in Abrede stelle , dass die Muskelspannung 
und die durch sie bedingte Inaktivität der Lippen-, Zungen- und Gaumen- 
muskeln u. s. w. in einem Teile der Fälle in der Vermittlung der Salivation 



®^* SS5" *• KLEINE BEITRAGE ZUR NEURO PATHOLOGIE. 1 39 



1908. 



eine Rolle spielt, schliesse ich doch aus meinen Erfahrungen, dass es sich 
dabei in der Regel um eine primäre Secretionsstörung handelt, um eine 
Hypersecretion des Speichels, die der Hyperidrosis entspricht und, wie es 
scheint, auch meistens mit diesem Symptom verknüpft ist. 

Die Frage der Beziehung des Speichelflusses zu der Symptomatologie 
der Paralysis agitans ist eng verknüpft mit der nach den Bulbärsymptomen 
dieses Leidens. Ich darf aber dieses Gebiet nicht berühren, ohne erwähnt 
zu haben, dass ich auf die Bulbärsymptome der Paralysis agitans, denen ich, 
wie aus der letzten Autlage meines Lehrbuches hervorgeht, bis da wenig Be- 
achtung geschenkt habe, durch eine Zuschrift von Bruns aufmerksam gemacht 
worden bin, in der dieser Autor über eigene wertvolle Beobachtungen ent- 
sprechender Art berichtet. 

Ist in unserer damaligen Korrespondenz auch von der Salivation nicht 
speziell die Rede gewesen, so hat Bruns mir doch nachträglich auf meine 
Anfrage mitgeteilt, dass er auch in Bezug auf diese Erscheinung persönliche 
und weit zurückreichende Erfahrungen besitzt. 

Im Einverständnis mit Bruns gebe ich seine brieflichen Notizen hier 
kurz wieder: „Ich sah 3 Fälle von Paralysis agitans mit schweren bulbären 
Symptomen und zwar schwere Dysphagie, Dysarthrie mit Bewegungsstörung 
der Zunge. In zwei dieser Fälle bestand auch reichlicher Speichelfluss. Bei 
dem einen betraf das Zittern sehr stark die Gesichts- und die Kaumuskeln, 
die Zunge und das Gaumensegel. Bei dem anderen waren solche die Dys- 
phagie und Dysarthrie sowie den Ptyalismus erklärende Momente nicht vorhanden. 
Im dritten Falle bestand kein Speichelfluss, aber schwere Dysphagie und Dys- 
arthrie u. s. w. Auf der Strasse hier sah ich durch Jahre einen Mann mit 
ausgesprochener Paralysis agitans und Dextroversio des Rumpfes, ihm floss 
immer der Speichel aus dem rechten Mundwinkel.'* 

Ich hoff*e, dass Bruns die Frage der Bulbärsymptome der Paralysis 
agitans noch selbst behandeln wird und will deshalb hier nur anführen, dass 
sich in den Krankengeschichten der Heimannschen Dissertation ein paar 
beachtenswerte Notizen zu dieser Frage finden und dass ich vor kurzem einen 
Fall beobachtete, in dem sich an das Trinken jedesmal ein kurzdauernder An- 
fall von Dyspnoe — eine Anzahl schnell aufeinander folgender tiefer, geräusch- 
voller Inspirationen — anschloss. Ich deutete die Erscheinung so, dass der 
Verlust der Fähigkeit, die einmal angespannten Muskeln schnell erschlaflen 
zu lassen — wie er sich bei Paralysis agitans im vorgeschrittenen Stadium 
in einem grossen Teil der Körpermuskulatur geltend macht — sich hier auf 
die den Kehlkopf beim Schlucken abschliessenden Muskeln erstreckte.^) 

iii. Bemerkungen zur Lehre vom Tic. 

Die krampfhaften Zustände, welche von den französischen Autoren mit 
der Bezeichnung der ,,Tics" belegt werden, haben vor kurzem eine sehr 
gründliche, an eigenen Beobachtungen und originellen Gedanken reiche Be- 

*) Bruns macht mich soeben auf eine Lyoner These (1902) von Paul Comp^re: ,, Etüde 
dinique des formes anormales de la maladie de Parkinson" aufmerksam, in welcher auch des Symptoms 
der Salivation bei Paralysis agitans gedacht wird. 



I40 H. OPPENHEIM. ■'°T„d LJ^Äi"*" 



und Neurologie. 



arbeitung ^) durch zwei Schüler Brissauds, Meige und Feindel erfahren. Es 
ist ihr besonderes Verdienst, den Beg-riff des Tic in Anlehnung an ihren 
Lehrer schärfer gefasst und die Scheidung zwischen den Tics und den Muskel- 
spasmen deutlicher und bestimmter vollzogen zu haben. Der Spasmus ist ein 
motorischer Akt, hervorgerufen durch einen krankhaften Reizzustand an irgend 
einem Punkte des spinalen oder bulbospinalen Reflexbogens. Der Tic ist 
dagegen immer ein psychomotorischer Akt, und zwar entweder eine krankhaft 
ausgeartete Ausdrucksbewegung (im weiteren Sinne des Wortes), oder eine 
habituell gewordene, nach Wegfall des ursprünglichen Reizes, also zwecklos 
fortbestehende und zu einem psychomotorischen Akt gewordene Reflex- 
bewegung. 

Es ist zu bedauern, dass die in jeder Hinsicht gediegene und auch in 
dem geschichtlichen Teil nicht oberflächliche Arbeit die deutsche Litteratur 
nur unvollkommen würdigt. So konnte es geschehen, dass über Brissauds 
Lehre vom „Torticollis mental*' der von Friedreich im Jahre 1881 geschafl'ene 
Begrifl" der ,, Koordinatorischen Erinnerungskrämpfe*', sowie die „psychischen 
Krämpfe** Rombergs übersehen wurden. Wenn die Paradigmata Fried r ei chs 
auch nicht glücklich gewählt waren, geht es doch aus seiner Darlegung zweifellos 
hervor, dass er diese Zustände gekannt und richtig gedeutet hat. Er sagt: 
,,Mit dieser Bezeichnung möchte ich gewisse, allerdings nur sehr selten zur 
Beobachtung kommende Krampfzustände unterscheiden, welche dadurch charak- 
terisiert sind, dass sie eine bei erhaltenem Bewusstsein erfolgende, 
unwillkürliche Wiederholung einer früheren, sei es auf dem Wege des 
Reflexes, sei es in willkürlicher Weise zu Stande gekommenen 
koordinierten Aktion darstellen** u. s. w. Weniger gilt das für Romberg, 
der unter seine psychischen Krämpfe recht Verschiedenartiges zusammenfasst, 
doch hat Westphal diese Bezeichnung ganz in dem Sinne des „Torticollis 
mental** in seinen Vorlesungen gebraucht. 

Meine eigenen Erfahrungen über den Tic und meine Beiträge zu dieser 
Frage kennen die Autoren nur aus der letzten Auflage meines Lehrbuches, 
und doch reichen sie bis in die Zeit zurück, in der die grundlegende Arbeit 
„Gilles de la Tourettes** 2) erschien. Meine ersten Beobachtungen aus den 
Jahren 1883 — 85 wurden in der Dissertation von Färber'^) veröffentlicht unter 
Hinweis auf die kurz vorher erschienene Arbeit de la Tourettes. Einen 
ungewöhnlichen und nicht sicher zu deutenden Fall konnte ich dann bald 
darauf in der Gesellschaft der Charit^-Ärzte '*) und ebenda zwei Jahre später 
einen besonders schweren typischen Fall vorstellen.^) Eingehender Hess ich 
die Frage dann in der Dissertation von Otto Müller*'), in der ein Teil unserer 



*) H. Meige und E. Feindel: „Les tics et leur traitement." Paris, 1902. Masson et Cie. 

•) Etüde sur une affection nerveuse, caracteris^e par de Tincoordination motrice accompagn^e 
d'echolalie et de coprolalie, Arch. de Neurologie. 1885. 

') Über atypische Formen und Komplikationen der Chorea. Inaug. Diss. Berlin, 1885- 
(Vergl. Beob. VII und VIU,) 

*f Eine seltene Motilitätsneurose u. s. w. Bcrl. Klin. Woch. 1887. S. 309. 

») Berl. Klin. Woch. 1889. S. 575. 

^) Über die als „maladie des tics^^ beschriebene Krankheit. Inaug. Diss. Berlin, 1889. 



^^' ^Mffl^ ** KLEINE BEITRÄGE ZUR NEUROPATHOLOGIE. I4I 



Fälle zusammengestellt wurde, behandeln. In allen diesen Mitteilungen wird 
das Wesen des Tic, seine Psychogenesis und seine innige Beziehung zum 
Seelenleben deutlich gekennzeichnet. 

Ich bin aber weit davon entfernt, für die angeführten deutschen Autoren 
und speziell für mich Prioritätsansprüche erheben zu wollen — ich habe auf 
diese Abhandlungen nur hingewiesen, weil sie in der ersten und sonst so 
sorgfaltigen Monographie, die über diesen Gegenstind erschienen ist, nicht 
hätten unberücksichtigt bleiben dürfen. 

In den besonders ausführlichen Kapiteln des Meige-Feindelschen 
Werkes, welche die Symptomatologie behandeln, vermisse ich den Hinweis 
auf die Enuresis diurna als Symptom des Tic g^n^ral. Da diese Erscheinung 
auch in der übrigen Litteratur unbeachtet geblieben ist, möchte ich ihre Be- 
deutung hier noch einmal hervorheben. Schon in der Dissertation von Müller 
wird dieses Symptom unter Anführung eines Falles unserer Beobachtung er- 
wähnt. „Ausserdem sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass es — wofür 
wiederum Fall 5 ein Beispiel abgiebt — manchmal zu unwillkürlicher Harn- 
entleerung kommt, die in der Hauptsache wohl der krampfhaften Kontraktion 
derjenigen Muskeln zugeschrieben werden muss, welche die Bauchpresse 
bilden; inwieweit die glatte Blasenmuskulatur sich beteiligt, dürfte schwer 
festzustellen sein." 

Ich bin dann, nachdem ich mehrere Fälle gesehen hatte, in denen die 
Enuresis zu den hartnäckigeren und peinlichsten Symptomen dieses Leidens 
gehörte, auf die Frage zurückgekommen*) und habe in der letzten Auflage 
meines Lehrbuchs der Nerv-enkrankheiten die Erscheinung wieder gewürdigt 
und betont, ,,dass es sich dabei auch um eine Äusserung des Grundleidens 
handelte, indem entweder die Vorstellung des Hamens sofort den entsprechen- 
den motorischen Akt auslöste oder die entsprechende Sensation sich sofort 
in die Bewegung umsetzte, da die Fähigkeit, hemmend einzuwirken, beein- 
trächtigt war — oder schliesslich die schon angeführte Zerstreutheit dieser 
Individuen beschuldigt werden musste.'* — 

Die Darstellung der Symptomatologie könnte noch zu mancher Be- 
merkung Anlass geben. Weit wichtiger scheint es mir jedoch, auf die 
Frage der Prognose dieses Leidens noch einmal zurückzukommen. Ich 
habe schon mehrfach betont, dass ich das Leiden — wenn es auch sehr 
hartnäckig ist und meistens wohl ungeheilt bleibt — nach meinen Er- 
fahrungen für heilbar halten müsse, und bin damit in einen gewissen Gegen- 
satz zur Schule Charcots, insbesondere zu Gilles de la Tourette getreten. 
Meige und Feindel stellen die Prognose zwar nicht so ungünstig wie dieser, 
indem sie dafür eintreten, dass der Tic durch eine zweckentsprechende 
Behandlung geheilt werden kann, — aber sie lassen die Auffassung Gilles 
de la Tourettes im vollen Umfang gelten für seine ,,maladie des tics convul- 
sifs." Sie sagen: ,,Ainsi, selon M. Gilles de la Tourette, le tic abandonn^ 
ä lui-meme ne gu6rit pas. Cette formale est applicable en effet ä la maladie 



*). Oppenheim: nciixii'iecKOML XapaKxepii utKOTopuxt paacrpoücrii aicroBT. uoneH- 
cnycKaHi^ etc. Medicinskoe Obosrenje. 1901. 



H2 H . OPPENHEIM. ^Tnd NcS^g" 

des tics teile que Ta decrite M. Gilles de la Tourette. Mais il n'en est pas 
de meme de tous les tics. Le tic, r^gulierement traite, peut etre am^lior^, 
et meme g-ueri.** 

Ich hatte nun aber Gelegenheit festzustellen, dass auch die schwere Form 
der Maladie des Tics, wie sie Gilles de la Tourette beschrieben hat, in 
definitive Heilung ausgehen kann. Bei der grossen Bedeutung" dieser Frage 
halte ich es für wichtig genug, diejenigen meiner Beobachtungen, über die 
ich genauere Notizen besitze, hier mitzuteilen. 

Der erste Fall ist in der Dissertation von Müller beschrieben, aber zu 
einer Zeit, in der das Leiden noch in voller Entwicklung stand, resp. nur 
Remissionen erfahren hatte. Ich will nach Wiedergabe der Krankengeschichte 
über den weiteren Verlauf berichten. 

Die i2jährige Klempnerstochter C. J., deren Vater im Alter von 52 Jahren nach 
einer 4jährigen Geisteskrankheit starb, will selbst, bis auf Windpocken und schwere Diph- 
therie, keine Krankheit überstanden haben. 

Schon seit ihren ersten Kinderjahren bemerkte man zuweilen, dass sie plötzlich den 
Mund krampfhaft verzog oder die Augen weit aufriss. Im Laufe des Sommers 1887 (als 
sie in ihrem 11. Lebensjahr stand) stellten sich Zuckungen und Schüttelbewegungen des 
Kopfes ein. Ab und zu trat Kopfschmerz auf. Später gesellte sich Augenblinzeln hinzu 
und seit einiger Zeit werden die Zuckungen von unartikulierten, schnalzenden Lauten be- 
gleitet. Geringes Auffassungsvermögen und Gedächtnisschwäche bewirkten, dass die Lei- 
stungen des Mädchens, das früher sehr intelligent gewesen sein soll, hinter denen ihrer 
Mitschülerinnen zurückstanden. 

Bei ihrer Aufnahme in die Nervenklinik der Charite werden fast fortwährend Be- 
wegungen beobachtet, die gewöhnlich blitzförmig auftreten und symmetrische Muskeln des 
Gesichts, des Halses, der oberen, weniger der unteren Extremitäten befallen. Blepharoclonus 
und Halsmuskelkrämpfe standen im Vordergründe; manchmal ist es auch nur ein Arm oder 
eine Hand, die mehrmals schnell hintereinander proniert oder supiniert wird. Besonders 
stark beteiligt ist der Phonations- und Artikulationsapparat; es werden häufig abgerissene 
Schnalz-, Pfauch- und Zischlaute ausgestossen, zuweilen auch Worte, ähnlich wie Taback, Put, 
Kritteldei u. a. Beim Essen sollen die Zuckungen Veranlassung zum Verschlucken geben. 
Zuweilen kommt es zu einer krampfhaften Exspiration oder zu zwei schnell aufeinander 
folgenden heftigen Exspirationsstössen. 

Während des Schlafes unterbleiben die Zuckungen; auch werden sie durch willkür- 
liche Bewegungen, namentlich solche, welche die betroffenen Muskeln in Anspruch nehmen, 
unterdrückt. Ebenso übt das Lesen und das Gespräch einen beruhigenden Einfluss aus 
und zwar in um so höherem Grade, je mehr die Aufmerksamkeit der Kranken gefesselt ist. 
Es macht aber den Eindruck, als ob nach derartigen Unterbrechungen die Zuckungen 
mit grösserer Heftigkeit wiederkehren. 

Störungen der Sensibilität fehlen, auch sonst ist das Ergebnis der objektiven Unter- 
suchungen ein negatives. Auch in Bezug auf den psychischen Zustand wird nichts Ab- 
normes bemerkt. 

Nach 5 monatlicher Behandlung — innerlich Antipyrin, Bromkalium, Arsen etc., ausser- 
lieh Haarseil, Exstirpation eines kleinen Muskelstückes am Unterarm — konnte das Mädchen 
am 2. Februar 1889 scheinbar geheilt entlassen werden. 

Aber schon nach einer W^oche kam es zu einem Rückfall und das Leiden steigerte 
sich bald wieder bis zu dem Grade, dass eine abermalige Aufnahme in die Charite er- 
forderlich wurde. 

Auf ein rasches Schütteln des Kopfes, verbunden mit Zwinkern der Augen, erfolgt 
eine kurze Drehbewegung des Rumpfes, als ob die Kranke von einem Schüttelfrost befallen 
sei, und zuletzt ein Aufstampfen mit dem rechten Fusse. Dabei werden die unartikulierten 
Laute jetzt fortwährend ausgestossen, und häufiger als vorher schieben sich deutliche Worte 
ein : kritsch, kritsch-kratsch, Quatsch, krumm, dumm, o wie dumm, o wie bist du dumm u. s. w. 



^^* \^^ *• KLEINE BEITRÄGE ZUR NEUROPATHOLOGIE. I43 



190S. 



Die Kranke sagt, es komme ihr manchmal vor, als lege ihr jemand die Worte in 
den Mund und zwinge sie, dieselben auszusprechen. Ihr Zustand hindert sie nicht am 
Einschlafen, auch fühlt sie sich durch die Zuckungen nicht besonders ermüdet. Sie hören 
auf, sobald die Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch genommen ist. Momentan kann 
man sie durch äussere Manipulationen, z. B. Aufheben und Kneifen einer Hautfalte im 
Nacken, unterdrücken. 

Patientin wird jetzt mit Hyoscininjektionen behandelt. 

Die Intensität des Leidens ist grossen Schwankungen unterworfen, es treten kürzere 
oder längere Remissionen ein, während welcher die Erscheinungen zuweilen so sehr ab- 
nehmen, dass man an eine bevorstehende Genesung glauben könnte. 

Immerhin wurde Patientin ungeheilt (im Jahre 1888 oder 1889) ent- 
lassen. 

Als ich sie nach drei Jahren wieder bestellte, um sie in einem Kurse 
zu demonstrieren, war von dem früheren Leiden nichts mehr nachzuweisen 
und zwar sollte die Heilung" bald nach der Entlassung aus dem Krankenhaus 
mit dem Eintritt der Menses erfolgt sein und jetzt schon 2V2 Jahre andauern. 
5 Jahre später sah ich das junge Mädchen wieder, sie hatte sich inzwischen 
verlobt und war andauernd (nun schon circa 7 — 8 Jahre lang) frei von allen 
Erscheinung-en des Tic geblieben. 

Meine zweite Beobachtung ist nicht weniger lehrreich. 

Im Jahre 1886 wurde mir ein i6jähriger Knabe Z. vorgeführt mit der Angabe, dass 
er seit seinem 12. Lebensjahre an Zuckungen leide, die mit der Zeit an Intensität zuge- 
nommen und besonders im letzten Jahre in quälender Heftigkeit aufgetreten seien. Der 
seinem Alter entsprechend entwickelte Knabe bietet auf den ersten Blick ausser einer 
leichten motorischen Unruhe nichts Besonderes. Bei längerer Betrachtung und wieder- 
holter Untersuchung machen sich folgende Erscheinungen bemerklich : Augenblinzeln, 
Aufreissen des Mundes, Kopfschütteln durch Zuckungen der Stemocleidomastoidei, Cucullares 
und tiefen Halsmuskeln, Greifbewegungen, Hüsteln (VHem, hem**), wiederholtes zwangartiges 
Betasten von Gegenständen, die sich in seiner Nähe befinden. Seltener kommt es zu einem 
Aufstampfen mit dem Fusse. Ferner fallt es auf, dass Patient Worte, die in seiner Gegen- 
wart gesprochen werden, häufig wiederholt, und dass er die an ihn gerichteten Fragen 
gewissermassen explosiv beantwortet, d. h. scheinbar ohne jede Ueberlegungspause. 

Zeitweilig ist er im stände, durch energische Willensanspannung die ungewollten 
motorischen Akte für einige Minuten zu unterdrücken ; in Zeiten der Erregung gelingt ihm 
das nicht, die Zuckungen erreichen dann vielmehr einen beträchtlichen Grad von Stärke, 
und die Ruhepausen werden dann immer kürzer. Am besten ist es, wenn er die Auf- 
merksamkeit möglichst einer bestimmten Beschäftigung zuwendet, so geht z. B. die Nahrungs- 
aufnahme fast unbehindert vor sich. 

Bezuglich der objektiven Untersuchung enthält das Journal nur die Notiz, dass sich 
ausser den motorischen Reizerscheinungen nichts Abnormes nachweisen Hess. 

Ich habe den Pat. nur etwa eine Woche beobachtet und behandelt und 
ihn dann aus den Augen verloren. 

Im Juli des Jahres 1899 wurde mir dann in der Sprechstunde ein dreijähriges 
Kind vorgeführt, das an Epilepsie litt. Erst im Laufe der Unterhaltung er- 
zählte mir der Vater, dass er vor circa 13 Jahren wegen eines ebenfalls krampf- 
haften Leidens in meiner Behandlung gestanden hätte. Es stellte sich heraus, 
dass es sich um den Z. handelte, den ich in seinem 16. Lebensjahre an maladie 
des tics behandelt hatte. Nach seiner Mitteilung hatte das Leiden unter 
Remissionen noch zwei Jahre gedauert, war dann vollkommen zurückgetreten, 
so dass er Soldat wurde und alle mit dem Militärdienst verknüpften Obliegen- 
heiten anstandslos erfüllen konnte. Er wurde Kaufmann, hat sich im Alter 



144 H. OPPENHEIM. •»"••"'d L^Ä"''* 



und Neurologie. 



von 25 Jahren verheiratet, 2 Kinder erzeugt, von denen das älteste seit einigen 
Monaten an Krämpfen leidet. 

Die genaueste Beobachtung und Untersuchung lässt bei ihm keine Spur 
des früheren Leidens entdecken, obgleich er durch die Eröffnungen, die ich 
ihm betreff seines Kindes machen musste, recht erregt war. — 

Bedenkt man, dass doch eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein muss, 
damit ein und derselbe Arzt die Affektion auf der Höhe ihrer Entwickelung 
zu beobachten und dann das Individuum nach einer langen Reihe von Jahren 
wiederzusehen Gelegenheit findet — und zwar nicht als hilfesuchendes, da 
Heilung erfolgt ist — , so wird man sich nicht wundern können, dass der 
einzelne Beobachter, auch wenn er dieses Leiden sehr häufig sieht, doch nur 
2 Krankengeschichten von sicher konstatierter Heilung beibringen kann. 

Ich verfüge aber noch über eine dritte, aus der jüngsten Zeit stammende 
Beobachtung, die ich ebenfalls hierher rechnen darf, wenn es sich in derselben 
auch nicht um vollständige Heilung handelt. 

Am 9. Sept. d. J. wurde mir in der Poliklinik ein achtjähriger Knabe 
mit den typischen Erscheinungen des Tic g^n^ral vorgeführt. 

Seine ihn begleitende Mutter, die jetzt 37 Jahre alt ist, erzählt, dass sie 
früher an derselben Krankheit gelitten habe und macht im einzelnen folgende 

Angaben: 

Ihre Mutter starb an „paralytischem Blödsinn", Vater an Lungenleiden, eine Schwester 
der Mutter war blödsinnig, ein Bruder, der beschränkt war, ist durch Selbstmord gestorben ; 
die jüngere Schwester der Patientin sei sehr nervös. 

Sie selbst war, solange sie sich entsinnen kann, immer blutarm und nervenschwach; 
sie fiel leicht in Ohnmacht, besonders wenn sie von fremdem Leid und Krankheit hörte, 
wenn sie zum Arzt ging u. s. w., auch in der Schwangerschaft. 

Seit ihrer Kindheit stellten sich ungewollte Bewegungen ein, die auf Ermahnen der 
Mutter zwar zeitweilig unterdrückt werden konnten, dann aber, wenn sie unbeobachtet war, 
um so stärker auftraten. Der Charakter dieser Zuckungen war ein wechselnder: Dreh- 
und Schüttelbewegungen des Kopfes, Schütteln der Arme, Schlenkern mit den Beinen, 
Grimassieren der Gesichtsmuskeln u. s. w. Diese Bewegungen bestanden nicht alle gleich- 
zeitig, sondern lösten einander ab. Auch Zwangsideen, die sich in Handlungen umsetzten, 
waren vorhanden, so lief sie z. B. fün^fmal zu ihrem drei Etagen hoch gelegenen Zimmer, 
um sich immer wieder davon zu überzeugen, dass sie es abgeschlossen hatte; ebenso 
musste sie Geld immer wieder abzählen u. s. w. Während der Schuljahre war das Leiden 
am stärksten entwickelt, nach dem 14. Jahre wurde es milder, um mit dem 20. fast ganz 
zurückzutreten bis zu dem Grade, dass nur noch ganz selten leichte Zuckungen der Gesichts- 
muskeln, d. h. ein leichtes Augenzwinkern und Fingerbewegungen vorkommen. Ohn- 
mächten sind seit 5 Jahren (letzte Schwangerschaft) nicht wieder aufgetreten. Während 
der Beobachtung der Patientin und der Unterhaltung mit ihr sind motorische Reiz- 
erscheinungen nicht wahrzunehmen. 

Geht aus diesen Mitteilungen hervor, dass auch die Formen des schweren 
generalisirten Tic als unheilbar nicht hingestellt werden dürfen, so bedarf es 
für die leichten, lokalisierten, deren Heilbarkeit auch von Mcige und Feindel 
zugegeben wird, nicht mehr des Beweises. Übrigens ist das auch schon in 
der Diskussion, welche im Anschluss an meinen in der (iesellschaft der 
Charite-Ärzte i. J. 1889 gehaltenen Vortrag stattfand^), von Mehlhausen u. A. 
betont worden. — 



») Berl. Klin. Woch. 1889. S. 575. 



®^- \5?"' *• KLEINE BEITRÄGE ZUR XEUROPATHOLOGIE. 145 



Die Frage der Therapie ist von Meig;-e und Feindel besonders ein- 
gehend behandelt worden, und es ist ja ein Verdienst der Brissaudschen 
Schule, die gymnastische Behandlung, das „traitement r^^ducateur*', ausgebildet 
zu haben. Die genannten Autoren sind sogar geneigt, in dieser Therapie die 
„conditio sine qua non" für die Heilung zu erblicken. Wenn ich auch nicht 
so weit gehe, bin ich doch, noch bevor die entsprechenden Mitteilungen 
Brissauds zu meiner Kenntnis gelangt waren, zu denselben Behandlungs- 
prinzipien gelangt. Da Meige und Feindel wiederum nur das kennen und 
zitieren, was ich in der 3. Auflage des Lehrbuchs der Nervenkrankheiten über 
diesen Punkt gesagt habe und damit zu dem Verdikt kommen, dass ich nur 
wiederholt hätte, was Brissaud schon lange vorher ausgeführt habe, möchte 
ich hier meine ,, kurze Notiz zur Ubungstherapie** ^), deren Inhalt doch über 
das „traitement r^educatcur'* des „Torticollis mental'* weit hinausgeht, im 
Wortlaut anführen. 

„In den der Bedeutung systematisch ausgeführter Muskelbewegungen für die Heilung 
von Nervenkrankheiten gewidmeten Abhandlungen hat, soviel ich weiss, eine Frage keine 
Berücksichtigung gefunden, deren Erörterung dort am besten Platz gefunden hätte: die 
der systematischen Übung in der Hemmung und Unterdrückung von Muskel- 
bewegungen. Dass die mangelhafte Ausbildung und Beherrschung der Hemmungs- 
apparate in der Symptomatologie der Neurosen eine grosse Rolle spielt, ist eine bekannte 
Thatsache. Die Notwendigkeit der Ausbildung und Schulung des heranwachsenden Men- 
schen in dieser Hinsicht ist auch längst empirisch erkannt und als Erziehung zur motorischen 
Ruhe in der Schule, beim Turnunterricht und besonders im Militärdienst zur Geltung ge- 
bracht worden. Die Krankenbeobachtung zeigt jedoch, dass diese Form der Hemmungs- 
gymnastik, ganz abgesehen davon, dass nicht jeder Gelegenheit findet, sich ihr zu unter- 
ziehen — nicht immer für die Bekämpfung pathologischer Zustände und die zielbewusste 
Verhütung derselben ausreicht. 

Um diesen Indicationen zu genügen, lasse ich unter ärztlicher Aufsicht, bezw. unter 
Aufsicht eines sorgfaltig instruierten Turnlehrers, Heilgehilfen oder auch eines Anverwandten 
des Patienten einen Cyclus genau vorgeschriebener Übungen täglich oder mehrmals am 
Tage in einer für den einzelnen Fall festgesetzten Zeitdauer ausführen. Zu diesen Übungen 
gehört das Ruhigstehen, Stillesitzen, das Ruhighalten der erhobenen, in bestimmte Stellungen 
gebrachten Extremitäten für die Dauer von Sekunden, Minuten und darüber hinaus, die 
plötzlich auf Kommando ausgeführte Unterbrechung einer vorher schnell und rhythmisch 
ausgeführten Bewegung, z. B. der Armrollung, das Haltmachen im Laufschritt u. dergl. 
Auch die Unterdrückung von Aflfektbewegungen unter bestimmter Voraussetzung — z. B. 
das bekannte, von Kindern scherzweise oft geübte Unterdrücken des Lachens beim scharfen 
Ansehen — kann zweckmässig sein. Besonders wertvoll kann ferner die Übung in der 
Bekämpfung von Reflexbewegungen sein. Hierher rechne ich die Unterdrückung des Lid- 
schlags bei Annäherung eines Gegenstandes, z. B. einer Flamme, ans Auge, die des Nasen- 
reflexes bei Reizung der Nasenschleimhaut, des Sohlenreflexes beim Kitzeln, Streichen, 
Kratzen der Fusssohle u. s. w. Auch von anderen Hautpartien aus kann die Hemmung 
der Abwehrbewegungen bei Applikation leicht- schmerzhafter Reize geübt werden. Ebenso 
können die Geruchs- und Geschmacksreflexe in den Kreis dieser Behandlung gezogen 
werden. 

Diese Art von Hemmungsgymnastik wende ich in jenen Fällen an, in denen die 
Zeichen einer mangelhaften Beherrschung der Hemmungsapparate vorliegen, in denen die 
Neigung zur Muskelunruhe, zu ungewollten Muskelbewegungen, besonders unter dem Ein- 
fiuss psychischer Vorgänge (Affekte) bekundet, dass diese die motorische Sphäre in einem 
krankhaft erhöhten Masse in Aktion versetzen. 



*) Therap. Monatshefte. Januar 1899. 
Journal för Fsydiologie und Neurologie. Bd. I. II 



146 O.VOGT. •"■TndN-JXt"'" 



und Neurologie. 



So eignen sich für diese Therapie viele Fälle von Hysterie, Neurasthenie, Tic Con- 
vulsif, Tic general, Zwangsbewegungen, lokalisierten Muskelkrämpfen u. s. w. Auch bei 
Chorea hat das Verfahren sich in einigen Fällen nützlich erwiesen. Besonders aber be- 
währte es sich bei einer Anzahl meist jugendlicher Individuen, bei denen sich auf dem 
Boden einer neuropathischen oder psychopathischen Diathese eine Art von Muskelunruhe 
bemerklich machte, die als eine krankhafte Steigerung der Verlegenheitsbewegungen be- 
trachtet werden musste. 

Wenn man es vermeidet, bei diesen Übungen zu hohe Anforderungen an die Auf- 
merksamkeit und Energie des Patienten zu stellen, wird man nie Schaden mit dieser 
Behandlung stiften und recht häufig erfreuliche Erfolge erzielen.** 

Ich habe die Notiz in extenso wiedergegeben, weil sie kaum in Referate 
übergegangen ist und deshalb nicht viel Beachtung gefunden hat. Jedenfalls 
lässt sie deutlich erkennen, dass die in ihr enthaltenen Vorschläge sowohl in 
Bezug auf die Prinzipien der Behandlung als auch hinsichtlich der Indikationen 
über das traitement reeducateur Brissauds hinausgehen. 




Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer 

ärztlichen Bedeutung. 

Eine programmmässige Übersicht. 

Von 

Oskar Vogt. 

(3- Teil.) 

C. Durch ihre Gefühlsbetonung wirksame inteJIelctuelle Erscheinungen. 

Wir haben in den beiden ersten Teilen ^) unserer programmartigen Über- 
sicht die unmittelbare, sei es durch ihre Intensität (Stärke, häufige Wieder- 
holung oder lange Dauer), sei es durch ihren Inhalt eine ärztliche Bedeutung 
gewinnenden intellektuellen Erscheinungen betrachtet. Wir kommen nunmehr 
zu denjenigen intellektuellen Erscheinungen, welche durch ihre mittelbaren 
Wirkungen eine medizinische Wichtigkeit bekommen. 

In diesem Abschnitt werden wir einmal die durch ihre Gefühlsbetonung 
und dann die durch ihre associativen Anregungen ärztlich bedeutungsvoll 
werdenden intellektuellen Erscheinungen zu betrachten haben. 

Die Besprechung der durch ihre Gefühlsbetonung wirksamen intellek- 
tuellen Erscheinungen ist das schwierigste und doch gleichzeitig eins der 
wichtigsten Kapitel unserer gesamten Darstellung. Auf seine hervorragende 

») Vgl. Zcilschr. f. Hypnotismus. Bd. IX, S. 353. Bd. X, S. 22. 



"^* \Sif^ ^' ^^^ MÖGLICHEN FORMEN SEELISCHER EINWIRKUNG ETC. 147 



Bedeutung" und gleichzeitig" auf die grossen Schwierigkeiten seiner Behandlung 
hat erst vor nicht langer Zeit O. Binswanger ^) aufmerksam gemacht, indem 
er gleichzeitig mit Recht auf unsere Unkenntnis in der normalen Gefühls- 
psychologie als die Hauptursache dieser Schwierigkeiten hinwies. Uns fehlt 
hier eben noch in zu weitem Masse die normalpsychologische Basis. Wir 
wissen weder, was alles an Bewusstseinserscheinungen zu den Gefühlen zu 
rechnen ist, noch überblicken wir die volle psychophysiologische Bedeutung 
der Gefühle. So lässt sich auch nicht vermeiden, dass die folgende Skizze 
den subjektiven Standpunkt wiederspiegelt, den der Autor selbst in der Gefühls- 
lehre einnimmt.-) Eine weitere Schwierigkeit ist dann noch die, dass die 
psychophysiologische Wirkung eines jeden Gefühls eine so verschlungene ist, 
dass alle klassifikatorische Zergliederung derselben etwas sehr Gezwungenes 
an sich haben wird. So können denn auch die folgenden Ausführungen nur 
einen vorläufigen Entwurf darstellen, der weiterer Ergänzungen, Detaillierungen 
und Verbesserungen dringend bedürftig sein wird. 

Bei einem in seiner Gesamtheit in Erscheinung tretenden Gefühl, d. h. 
bei einem emotionellen Gesamtphänomen, können wir meiner Ansicht 
nach drei Bestandteile unterscheiden: 

1. den als intellektuelles Substrat des emotionellen Gesamtphänomens 
auftretenden intellektuellen Bestandteil, 

2. den das essentielle Element des emotionellen Gesamtphänomens aus- 
machenden emotionellen Bestandteil oder das eigentliche Gefühl: das 
essentielle, subjektive, meiner Ansicht nach nicht in die Ausscnwelt projicierte 
Moment der Freude, der Trauer, des Zornes etc., 

3. die als emotionelle Folgewirkung des emotionellen Bestandteils 
auftretenden Phänomene. 

Entsprechend dieser Zusammensetzung des emotionellen Gesamtphänomens 
haben wir im gegenwärtigen Teil unserer Übersicht zu untersuchen, in welcher 
Weise intellektuelle Erscheinungen mittelbar einmal durch ihre Gefühls- 
betonung und dann durch die P'olgewirkungen dieser ihrer Gefühls- 
betonung ärztlich wichtige Phänomene hervorrufen können. 

Bevor wir aber diese Untersuchung beginnen, möchte ich zunächst noch 
einige Worte über das intellektuelle Substrat sagen. 

Da wo mir eine ausreichend genaue Untersuchung eines Gefühls möglich 
war, habe ich stets ein intellektuelles Substrat nachweisen können. Es fehlte 
nie ein solches. Dasselbe braucht nicht in jedem Moment bewusst zu sein. 
Auch bildet es nicht die einzige Ursache für die Qualität und die Intensität 
des Gefühls. Aber es stellt doch immer die wesentlichste Bedingung für das 
Auftreten eines Gefühls dar und verdient so durchaus seinen Namen. 

Chemikalien wie Opium, Alkohol etc. wirken nur indirekt durch Änderung 
der gesamten centralen Erregbarkeitsverhältnisse auf unser Gefühlsleben ein. 



*j B ins wanger, ,,Die psychologische Denkrichtun«; in der Heilkunde." Jena 19CX5. Referat, 
Zcitschr. f. Hypnot. Bd. X. 

*) Vgl. vor aUem: O. Vogt, „Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der 
Hysterie." Zeitschr. f. Hypnot. Bd. VUI. 

II* 



iaR O VOGT Journal f. Psychologie 



und Neurologie. 



rufen aber nicht etwa mit Umgehung- intellektueller Substrate direkt Gefühle 
hervor. 

So besteht also die ärztliche Bedeutung des intellektuellen Substrates 
darin, dass dieses den Träger jedes medizinisch wichtigen Gefühls bildet. Auf 
diese Weise gewinnen die intellektuellen Erscheinungen neben ihrer unmittel- 
baren ärztlichen Bedeutung dank der Wirkung ihrer Intensität oder Qualität 
für uns eine weitere mittelbare Bedeutung durch ihre Gestaltung des Ge- 
fühlslebens. 

Rücksichtlich ihrer Einwirkung auf dieses können wir einfache und 
komplexe intellektuelle Substrate unterscheiden. 

Zu den ersteren gehören diejenigen intellektuellen Erscheinungen, welche 
weder komplizierte Vorstellungsgebilde mit mehr oder weniger zu einem 
Gesamtgefühl verschmolzenen Gefühlsbetonungen darstellen, noch ihrerseits 
neue Vorstellungen associativ in der Form erregen, dass die Gefühlstöne dieser 
Vorstellungen mit dem Gefühlston jener primären intellektuellen Erscheinung 
sich innig vereinigen. So ruft die Empfindung des Schmerzes auch dann ein 
ausgesprochen unangenehmes Gefühl hervor, wenn es nicht durch unangenehme 
Gefühlstöne associativ geweckter Vorstellungen verstärkt wird. So kann auch 
das angenehme Gefühl der Empfindung des Süssen ein rein primäres Gefühl 
darstellen und jeder associativen Verstärkung entbehren. 

Eine pathogene Bedeutung können einfache intellektuelle Substrate nur 
dann gewinnen, wenn sie sehr intensive oder lang anhaltende intellektuelle 
Bewusstseinserscheinungen darstellen. Denn nur diese sind von einer genügend 
intensiven Gefühlsbctonung begleitet, um dank dieser eine pathologische Er- 
scheinung darzustellen oder eine pathologische Folgewirkung zu haben. Hierher 
gehört z. B. die durch einen Schmerz ausgelöste Ohnmacht. Letztere ist — 
meiner Meinung nach — nicht etwa als direkte Folgewirkung der Schmerz- 
empfindung, sondern als solche der Gefühlsbetonung des Schmerzes aufzufassen. 
Ein weniger starker Schmerz ruft neben dem unangenehmen Gefühl eine 
gewisse ,, Erregung*' hervor. Diese Erregung setzt sich meiner Ansicht nach 
aus einem Gefühl der Erregung und gewissen emotionellen Folgewirkungen 
dieses Gefühls zusammen. Wir sehen ^) als derartige Folgewirkungen dieses 
Gefühls der Erregung bei experimenteller Hervorrufung von Schmerzempfin- 
dungen sofort Zunahme des Tonus der Streck- und Inspirationsifiuskulatur 
und Verstärkung reflektorischer und willkürlicher Bewegungen. Bei längerer 
Dauer des Schmerzes entsteht eine allgemeine motorische Unruhe und die 
Tendenz zu starken Entladungen. Wir haben das Symptomenbild einer ge- 
steigerten Reizbarkeit auf emotioneller Grundlage. Eine solche 
emotionelle gesteigerte Reizbarkeit tritt als pathologisches Phänomen sehr oft 
vereinigt mit der neurasthenischen, durch Erschöpfung und Ermüdung 
bedingten Reizbarkeit in Erscheinung, indem der ncurasthenische Zustand das 
Auftreten erregend wirkender Sensationen begünstigt, die durch diese Sensa- 



^) Vgl. darüber O. Vogt, Psychologie des scndments, Comptes rendus du Coogr^ de 
Psychologie. 1900. 



^^' \S^^ *• DIE MÖGLICHEN FORMEN SEELLSCHER EDTOTRKUNG ETC. I49 



190t 



tionen aber geschaffene Erregung dann wieder zu erschöpfenden Bcthä- 
tigungen führt. 

Therapeutisch kommen einfache intellektuelle Substrate in Betracht zur 
Hervorrufung angenehmer Gefühle, die dann ihrerseits der Ausgangspunkt 
einer gewissen euphorischen Stimmung werden können. In dieser Richtung 
können z. B. warme Bäder wirken. Oder aber man bedient sich einfacher 
intellektueller Substrate zur Hervorrufung des Gefühls der Erregung. Ich 
zitiere hier Kältereize oder gewisse Gerüche. Das durch diese ausgelöste 
Gefühl der Erregung giebt dann dem Kranken das subjektive Bcwusstsein 
einer Kräftigung und kann so der Ausgangspunkt einer günstigen psychischen 
Einwirkung werden. 

Wenn so auch primäre Gefühlstöne gelegentlich eine ärztliche Bedeutung 
gewinnen können, so sind doch die meisten stärkeren und damit ärztlich 
bedeutungsvollen Gefühle an komplexe intellektuelle Substrate gebunden. 

Derartige komplexe intellektuelle Substrate können auf zweifache Weise 
entstehen: durch emotionelle oder intellektuelle Association. 

Zu den Folgewirkungen eines Gefühlstones gehört diejenige, dass ein 
Gefühlston die Ideenassociation dahin beeinflusst, dass solche Vorstellungen 
geweckt werden, die einen ähnlichen Gefühlston zeigen. Bei heiterer Stimmung 
denken wir an heitere, bei trauriger an traurige Sachen. Eine auf diese Weise 
zustande gekommene Association bezeichnen wir als eine emotionelle Asso- 
ciation. Nach öfterem Auftreten einer derartigen Association kommt es dann 
vor, dass die associerte Vorstellung selbst nicht mehr bis zum Bewusstsein 
erregt wird, dass vielmehr nur noch ihr Gefühlston bewusst wird. Die Folge 
davon ist, dass die primäre intellektuelle Erscheinung eine stärkere Gefühls- 
betonung zeigt als früher. Die Gefühlsbetonung hat eine associative Ver- 
stärkung erfahren. Ein Mensch hat in der letzten Zeit eine Reihe von Ent- 
täuschungen gehabt. Die Art derselben war so verschieden, dass die eine 
nicht infolge intellektueller Association die Erinnerung an die anderen weckte, 
sondern der gleiche Gefühlszustand war es, der bei jeder neuen Enttäuschung 
gleich die Erinnerung an die vergangenen hervorrief. Allmählich tauchen diese 
Erinnerungen nicht mehr auf. Aber man beobachtet, dass der betreffende 
Mensch jetzt bei weiteren Enttäuschungen viel stärker gemütlich reagiert als 
bei den ersten. Der Prozess der associativen Erregung der Erinnerungsbilder 
der früheren Enttäuschungen hat nicht aufgehört. Er spielt sich jetzt nur 
unter der Schwelle des Bewusstseins ab, indem sich dieses Abspielen für den 
Kundigen durch Verstärkung des Gefühlstones der letzten Enttäuschung 
dokumentiert. 

Es liegt dabei im Wesen der emotionellen Association, dass sie stets 
zur Verstärkung des primären Gefühlstones führen wird. 

Anders ist es in den Fällen, wo das komplexe intellektuelle Substrat 
durch intellektuelle Associationen zustande gekommen ist, d. h. durch 
Associationen infolge gleichzeitigen Auftretens oder intellektueller Ähnlichkeit. 
Wenn der Anblick von Trauerkleidern einen Menschen traurig macht, weil 
er ihm eine traurige Zeit zurückruft, in der er selbst Trauerkleider trug, so 
ist diese traurige Verstimmung auf eine Glcichzeitigkeitsassociation zurück- 



T CO r\ xrnrT Journal f. Psychologie 



und Neurologie. 



zuführen. Wenn weiter jemand durch rote Farbe unang-enehm berührt wird, 
weil sie ihn an Blut erinnert, so handelt es sich um eine Ahnlichkeitsassociation. 
In beiden Fällen stellen die in Betracht kommenden Associationen Unterarten 
der intellektuellen Associationen dar. Da also bei den auf diese Weise zu- 
standekommenden komplexen intellektuellen Substraten intellektuelle Momente 
die bedingenden Faktoren sind, so können natürlich einmal Komplexe gleich- 
artig gefühlsbetonter, dann aber auch solche ungleichartig betonter elementarer 
intellektueller Substrate zustande kommen. Im ersteren Fall wird das primäre 
intellektuelle Substrat einfach ein verstärktes primäres Gefühl zeigen. Im 
zweiten Fall kann das resultierende Gefühl dem primären verwandt sein, aber 
durch entgegengesetzte Elemente an Intensität verloren haben. Oder aber es 
kann durch fremde Elemente komplizierter oder endlich durch das Überwiegen 
entgegengesetzter Bestandteile gerade das Gegenteil vom primären Gefühl 
geworden sein. 

Soviel von den intellektuellen Substraten! Gehen wir nunmehr zu der 
ärztlichen Bedeutung der Gefühle selbst über! 

I. Durch ihre Gefühlsbetonang wirksame intellektaelle Erscheinnngen. 

Schon oben habe ich darauf hingewiesen, dass die Anschauungen über 
den Umfang solcher Erscheinungen, die als Gefühle aufzufassen sind, weit aus- 
einander gehen. Ich muss daher wenigstens kurz meinen Standpunkt präzisieren, 
indem ich in Bezug auf Einzelheiten auf andere meiner Publikationen verweise. 

Zunächst ist zu konstatieren, dass eine paarweise Gruppierung der Ge- 
fühle möglich ist, wie sehr man auch über die Zahl solcher Paare streiten 
mag. Ein solches Paar besteht immer aus zwei einander entgegengesetzten 
Gefühlen. So ist dem Angenehmen das Unangenehme entgegengesetzt. An- 
genehm und Unangenehm zusammen bilden das Paar des Angenehm-Unan- 
genehmen. 

Meine Ansicht geht nun weiter dahin, dass es mehrere solcher Paare 
giebt. Neben dem früher bereits besprochenen Gefühl der Aktivität und 
Passivität muss man wenigstens noch drei Paare unterscheiden: Angenehm- 
Unangenehm, Erregung-Hemmung, Spannung und Lösung. Wenn ich bei 
einem Reaktionsversuch nach Ertönen des ersten Signals das zweite erwarte, 
so beobachte ich während dieser Zeit in mir einen Zustand, bei dem eine 
Spannung gegenüber dem Unangenehmen sehr vorherrscht. Die Spannung 
scheint mir weiter in eine primäre Spannung und verschiedene sekundäre 
Organempfindungen wie z. B. eine gewisse Opprcssion, eine starke Kontraktion 
verschiedener Muskeln etc. zerlegt werden zu können. Diese primäre Span- 
nung fasse ich als ein selbständiges, von dem des Unangenehmen vollständig 
trennbares Gefühl, die sekundären Organempfindungen als Folgewirkungen 
dieses Gefühls auf. Des Weiteren ruft bei mir der Geruch des Äthers oder 
der Geschmack einer nicht zu starken Salzlösung einen Zustand von Er- 
regung hervor, dem gegenüber ein Gefühl von Angenehm oder Unan- 
genehm sehr in den Hintergrund tritt. Auch in dem Zustand der Erregung 
sehe ich — wie ich schon für die durch nicht zu starken Schmerz veranlasste 



^^' ^Sml "^ *' ^lE MÖGLICHEN FORMEN SEELISCHER EINWIRKUNG ETC. 1 5 I 



Erreg'ung ausführte — eine Kombination von einem primären Gefühl der Er- 
regung und einer Reihe sekundär durch dieses ausgelöster Folgewirkungen. 
Solche und vielleicht noch andere elementare Gefühle kombinieren sich 
nun zusammen mit ihren sekundären Organcmpfindungen zu jenen komplexen 
Gefühlszuständen der Freude, der Trauer, des Schreckens, der Furcht, der 
Angst, der Hoffnung, der Erwartung, der geschlechtlichen Erregung etc., die 
wir als Affekte bezeichnen, und die als die stärkeren und anhaltenderen Ge- 
fühlsäusserungen vor allem unsere Aufmerksamkeit verdienen. 

Wir wollen uns nunmehr der Frage zuwenden, welche Wirkungen die 
einfache Thatsache des Auftretens derartiger Gefühle in unserem Bewusstsein 
auf uns ausüben kann. Welche psychophysische Wirkung hat die emotionelle 
Bewusstseinserscheinung an sich.^ Das ist die Frage, der wir hier zunächst 
näher treten möchten. 

Diese Wirkung scheint mir sich in eine allgemeine und eine spezielle 
gliedern zu lassen. 

a) Allgmeine Wirkung der Gefühle: 
a) vorhandener Gefühle. 

Wir haben schon früher hervorgehoben, dass sich in der Vorgeschichte 
Neurasthenischer meist auch starke Gemütsbewegungen nachweisen lassen. Bei 
dem einen Kranken ist zu konstatieren, dass er in letzter Zeit nicht nur sehr 
stark gearbeitet hat, sondern dass dieses des Weitern unter der ständigen 
Furcht geschehen ist, mit der betreffenden Arbeit nicht zu dem bestimmten 
Termin fertig zu werden. Ein anderer stand ständig unter dem Affekt der 
Examensangst, ein anderer endlich unter der aufregenden Einwirkung von 
Börsenspekulationen u. s. w. Ob in diesen Phallen die emotionellen Bestand- 
teile der Gemütsbewegungen ihrerseits einen pathogenen Einfluss ausübten, 
ist, wie wir schon früher konstatierten — möglich, aber nicht zu entscheiden. 
Wir befinden uns hier auf einem Gebiete, das noch weiterer Bearbeitung 
gründlich bedarf. 

Was dann weiter die therapeutische Bedeutung der Gefühle anbelangt, 
so glaube ich mit Toennies, Paulsen und anderen Vertretern einer volun- 
taristischen Psychologie, dass Selbstbeobachtung wie biologische Betrachtung 
darauf hinweisen, dass das Bewusstwerden der verschiedensten Gefühle eine 
vitale Notwendigkeit für eine gesunde Persönlichkeit darstellt. Paulsen*) 
erwägt im Anschluss an Aristoteles die Frage, warum die Anschauung 
des Schmerzlichen und Schrecklichen in der Tragödie gefalle, und gelangt 
zu der Antwort, dass die Natur, die zur Bethätigung der verschiedensten 
Gefühle im wirklichen Leben drängt, in ihrer sympathischen Erregung durch 
die Dichtung erleichternde Entladung findet. Die Rolle des Schauspiels muss 
oft auch von uns Ärzten übernommen werden. Wir müssen für einen hin- 
reichenden Wechsel im Gefühlsleben unserer Patienten Sorge tragen. Wir 
müssen unseren Kranken Gelegenheit zur Befriedigung ihrer Bethätigungstriebe, 
zu social nützlicher Arbeit, zur Teilnahme am Glücke und Unglücke anderer 



») Ethik. Bd. I. S. 236. 



152 O. VOGT. J°3' Ne^g' 

u. s. w. gewähren, wir müssen speziell auch der Regelung des Geschlechtslebens 
unserer Patienten volle Beachtung schenken: Momente, die ebenfalls von 
grösster prophylaktischer Bedeutung sind, wenn auch ihre Wirkungsart nicht 
einzig und allein ii\ die jetzt betrachtete Rubrik fällt und im einzelnen auch 
noch mancher Klärung bedarf. 

ß) fehlender Gefühle. 

An pathologischen Erscheinungen sind hier allgemeine gemütliche 
Stumpfheit und einseitig sich bethätigendes Gefühlsleben zu nennen, so weit 
dieselben auf Mangel an Gelegenheit zu einem reicheren und mannigfaltigeren 
Gefühlsleben zurückzuführen sind. 

Therapeutisch und prophylaktisch kommt hier die Bekämpfung, 
resp. Verminderung aller solcher Gefühle in Betracht, die — vielleicht auch 
direkt durch ihr emotionelles Moment — erschöpfend wirken. Die Bekämpfung 
jeglicher Hast, die Beseitigung von Ungewissheiten sind hier zu nennen. Dann 
können wir hier der heilbringenden Rolle gedenken, die der Arzt — der 
wahre Hausarzt! — einnimmt, wenn er seinen Klienten in den Wechselfällen 
des Lebens als Freund und Tröster zur Seite steht. 

b) Von spezieller Wirkung. 

Unter dieser Rubrik wollen wir die Wirkung betrachten, die das einzelne 
Gefühl auf die übrigen Gefühle ausübt. Es handelt sich um die Phänomene 
der Verdrängung, der Beeinflussung durch Kontrast, der Kompletierung, der 
Verstärkung, der Hemmung eines Gefühles durch ein anderes. 

a) Vorhandensein entsprechender Gefühle. 

Zu pathologischen Erscheinungen führt hier vor allem die relativ sehr 
intensive Verstärkung, welche eine vorhandene Gefühlstendenz oder Stimmung 
durch ein verwandtes Gefühl erfährt. Ich erinnere nur an die starke Beein- 
flussung des Melancholikers, des Hypochonders, des Pessimisten, des zu stark 
oder zu wenig Selbstbewussten durch eine Bewusstscinserscheinung, deren 
Gefühlsbetonung der Stimmung des Kranken gleicht. 

Von grosser Bedeutung ist die therapeutische Seite dieser speziellen 
Bedeutung der Gefühle. Ganz besonders kommt hier die Bekämpfung der 
depressiven Gefühle in Betracht, an denen nicht nur Nervenkranke, sondern 
ein grosser Teil anderer chronischer Kranker auch leiden. Als intellektuelle 
Substrate dieser Verstimmung entgegenwirkender Gefühlstöne kommen die 
verschiedensten intellectuellen Erscheinungen in Betracht: die Gefühlsbetonung 
der verschiedensten ,, Zerstreuungen", nützlicher Arbeit, physikalischer Heil- 
verfahren und endlich direkt suggerierte Gefühlstöne. 

ß) Fehlen entsprechender Gefühle. 

Da, wo solche hemmende Gefühlstöne fehlen, ist stets die Gefahr einer 
einseitigen Gestaltung des Gefühlslebens da. Diese Einseitigkeit wird einen 
pathologischen (irad um so eher annehmen, als aus anderen Gründen eine 
Tendenz zu ihr besteht. Therapeutisch und prophylaktisch kommt hier 



^^'SaM^*" ^^ MÖGLICHEN FORMEN SEELISCHER EINWIRKUNG ETC- 153 



die Beseitigung" aller Gefühlstöne in Betracht, die solche Tendenzen zu ein- 
seitiger Gestaltung des Gefühlslebens verstärken würden. 

II. Durch ihre emotionellen Folgewirkangen wirksame intellektuelle Erscheinungen. 

Die verschiedenen Gefühle geben sich nun nicht nur ihrem Träger sub- 
jektiv kund, sondern sie zeitigen auch objektive Symptome. Muskeltonus, 
Reflexbewegungen, Willkürbewegungen, Puls und Atmung ändern sich in 
charakteristischer Weise nach dem Auftreten auch schon schwacher Gefühle. 
Stärkere Gefühle führen sogar zu speziellen Bewegungen und Drüsensecretionen. 
Alle diese objektiven Symptome können bei genügender Intensität auch von 
ihrem Träger wahrgenommen werden. Sie führen so sekundär zu psychischen 
Erscheinungen und zwar speziell zu Organempfindungen. Wir empfinden das 
Erröten und Erbleichen, die gesteigerte Herzthätigkeit und die Kontraktionen 
der Skeletmuskulatur. Aber diese Wahrnehmungen sind erst die sekundäre 
Folge primär körperlicher Erscheinungen. 

Neben diesen primär körperlichen Erscheinungen treten im Anschluss 
an Gefühle andere Phänomene ausgesprochen psychischer Natur auf. Ich 
erwähne die allgemeine Steigerung des psychischen Lebens bei Freude, die 
Thatsache, dass wir uns an stark gefühlsbetonte Erlebnisse der Vergangenheit 
besser erinnern als an indifferente Vorkommnisse, die Erscheinung endlich, 
dass wir bei trauriger Stimmung vorzüglich an traurige Sachen denken. 

Alle diese primär körperlichen oder primär psychischen Erscheinungen 
sind unserer Auffassung nach die sekundäre Folgewirkung der Gefühlszustände. 
Letztere sind zwischen den intellektuellen Substraten und diesen sekundären 
Folgewirkungen als Zwischenglieder eingeschaltet. 

Die Tendenz zu solchen Folgewirkungen wechselt nach der Qualität 
und vor allem nach der Intensität der verschiedenen Gefühle. Da wo diese 
Tendenz infolge einer intensiven Gefühlsbetonung eine sehr starke ist, sprechen 
wir von einer triebartigen Tendenz. Das fortgesetzte „Denkenmüssen** an 
ein gemütserschütterndes Ereignis, die unüberlegte Handlung im Zornaffekt, ein 
Aufschreien bei einem plötzlichen Schmerz sind solche starken Gefühlen ent- 
springende Triebhandlungen. 

Soweit die hierher gehörenden Folgewirkungen sich nicht auf das intel- 
lektuelle Substrat beziehen, können sie in Erscheinung treten oder weiter fort- 
existieren, wenn auch das intellektuelle Substrat und der Gefühlston selbst zur 
Zeit nicht bewusst sind. Der Hysterische kann z. B. an einem körperlichen 
Symptom leiden, das auf eine Gemütsbewegung zurückzuführen ist, ohne dass 
diese zur Zeit einen Bestandteil des Bcwusstseinsinhaltes des Kranken darstellt. 
Und was in dieser Beziehung für den Hysterischen gilt, hat auch für den nor- 
malen Menschen seine Bedeutung. Wir können nach einem Schrecken das 
Herzklopfen behalten, ohne noch an diesen Schrecken zu denken. Trotzdem 
aber die Folgewirkung ohne bewusstes Gefühl und dieses ohne intellektuelles 
Substrat auftreten können, ist doch die Intensität der Folgewirkungen — 
wenigstens weitgehend — proportional der Bewusstseinsbelcuchtung und der 
Intensität des Gefühls, wie die Intensität des letzteren zu der Bewusstseins- 



ICA O VOGT Journal f. Psychologie 
^ J^ ^' V<^<Ji. uad Neurologie. 

beleuchtung des intellektuellen Substrats ein gewisses proportionales Ver- 
hältnis^) zeigt. 

Schliesslich müssen wir noch auf eine Korrelativität hinweisen, die 
zwischen den verschiedenen Folgewirk ungen eines Gefühles besteht. Das be- 
sondere Hervortreten einer Folgewirkung veranlasst die Verminderung anderer. 
Man kann hier noch eine individuelle und eine temporäre Korrelativität 
unterscheiden. Eine Erscheinung der letzteren ist das momentane Überwiegen 
einer Folgewirkung auf Kosten anderer. Auf der individuellen Korrelativität 
beruht die individuelle Reactionsweise auf Gefühle, soweit sie einzelne Folge- 
wirkungen zu gunsten anderer hervortreten lässt. Das gleichgefühlsbetonte 
Erlebnis veranlasst den einen zum Nachdenken, den anderen zum Handeln. 
Hierher gehört auch die Thatsache, dass der eine Hysterische wesentlich 
„psychische*' und der andere wesentlich , »körperliche*' Symptome zeigt. 

Auf Grund dieser Fakta giebt es zwei Entstehungsursachen für ärztlich 
bedeutungsvolle emotionelle Folgewirkungen. Entweder liegen diese im Gefühl 
als solchem oder in der Korrelativität der Folgewirkungen begründet. 

Was nun weiter speziell das Gefühl als solches anbetrifft, so stellt in 
gewissen Fällen seine Qualität die Ursache dar. Die Association mit 
einem Gefühl der Furcht führt zur ReaHsation einer pathogenen, die mit einem 
solchen der Hoffnung zu einer therapeutischen Autosuggestion. Auf der 
anderen Seite ist es der Mangel an Reue, der den moralisch Defekten seine 
Triebhandlungen fortsetzen lässt, und es ist die Beseitigung depressiver Stim- 
mung, welche auch gleichzeitig dem Denken an lauter traurige Sachen ein 
Ende macht. 

In anderen Fällen ist es die Intensität (oder die zu lange Dauer oder 
das zu häufige Auftreten) des Gefühls, die zu pathologischen oder therapeu- 
tischen emotionellen Folgewirkungen führt. Auf eine starke Gemütsbewegung 
irgendwelcher Art reagiert der Hysterische mit einer pathologischen Folge- 
wirkung. Im übrigen macht sich die Rolle der Intensität hauptsächlich da- 
durch bemerkbar, dass irgend eine Gefühlsquahtät sehr oft einer mehr oder 
weniger ausgesprochenen Intensität bedarf, um eine ärztlich wichtige emotio- 
nelle Folgewirkung zu zeitigen. 

Erst ein ausgesprochener Grad emotioneller Erregung führt zu patho- 
logischen Zornausbrüchen. Nicht Ehr- noch Elternliebe vermag die Energie- 
losigkeit einer Hysterischen zu beseitigen; erst als sich die Kranke verliebt, 
entsteht in ihr ein Gefühl von heilbringender Intensität. Das Fehlen gefühls- 
starker Leitmotive, wie sie das Handeln des normalen Menschen lenken, führt 
zum pathologischen Mangel an Ausdauer, wo immer die Bethätigung auf irgend- 
welche Schwierigkeiten stösst Und endlich braucht man durchaus nicht immer 
ein Gefühl gänzlich zu beseitigen, sondern es genügt eine Verminderung seiner 
Intensität, um gewissen pathologischen Folgewirkungen ein Ende zu machen. 
Dabei zeigt sich dann öfter noch speziell, dass die Art der Folgewirkungen 
der gleichen (iefühlsqualität nach ihrer Intensität stark wechselt. 



M Vgl. O. Vogt, „Zur Kritik der psychogenetischen Erforschung der Hysterie**, Zeitschr. £• 
Hypnot. Bd. VIII. 



^^* SSf "^ ** OIE MÖGLICHEN FORMEN SEELISCHER EINWIRKUNG ETC. 1 5 5 



ItfOi. 



Endlich hängt es von der Bewusstseinsbeleuchtung- des Gefühls ab, 
in welchem Grade uns hier interessierende emotionelle F'olgewirkung'en auf- 
treten und wie diese beschaffen sind. Ein voUbewusstes Gefühl verhält sich 
darin anders als ein dunkelbewusstes oder gar uhbewusstes. Eine Hysterische 
klagt über Herzklopfen. Über die Ursache befragt, findet sie nach längerer 
Selbstbeobachtung in einer zunächst nicht bewussten Erinnerung an eine 
frühere Gemütsbewegung die Ursache. In dem Masse nun aber, wie ihr diese 
Erinnerung zum Bewusstsein kommt, nimmt das Herzklopfen in einer auch 
objektiv nachweisbaren Form zu *). 

Was nun die ärztliche Bedeutung der Korrelativität der Folgewirkungen 
anbelangt, so müssen wir davon ausgehen, dass, wo immer ein Gefühl entsteht, 
sich eine gewisse Summe nervöser Reizenergie entladet. Einmal kann sich 
diese Entladung in associativer Thätigkeit äussern. Es handelt sich um eine 
— sicherlich noch auf einem sehr komplizierten Übertragungsmechanismus be- 
ruhende — sog. transkortikale Entladung. Wenn man bei heiterer Stimmung 
an heitere Sachen denkt, so ist das vom Standpunkte der Entladung nichts 
anderes, als dass ein Teil der sich entladenden Reizenergie zu associativer An- 
regung bestimmter Ideengänge verbraucht wird. Die andere Form der Ent- 
ladung ist eine zentrifugale , die hinwiederum zahlreiche Unterarten zeigt. 
Die Bedeutung der Korrelativität besteht nun darin, dass wir durch Unter- 
drückung gewisser Entladungen andere verstärken und umgekehrt durch Ver- 
stärkung gewisser andere schwächen können. Eine solche Einwirkung auf 
gewisse Entladungen ist auf verschiedene Weise möglich. Sie kann einmal 
eine willkürliche sein. Ich unterdrücke willkürlich in mir die Tendenz, 
mich wegen einer Beleidigung zu rächen. Aber dafür äussert sich meine innere 
Erregung in einem allgemeinen Zittern. Oder aber ich kann suggestiv die 
Tendenz zu gewissen Entladungen beeinflussen. Da, wo eine einzelne Willens- 
handlung oder eine einzelne suggestive Beeinflussung nicht zum Ziele führt, 
gelingt es wenigstens einer fortgesetzten Willensgymnastik oder einer 
suggestiven Erziehung. Eine andere Form endlich ist die, durch ge- 
wisse periphere Reize oder durch Anregung ganz bestimmter Ideen- 
gänge auf gewisse Entladungstendcnzen bahnend, respektive hemmend zu 
wirken. 

Die gesamten sekundären Folgewirkungen der Gefühle lassen sich nun 
aber noch von einem anderen Gesichtspunkte aus in zwei Gruppen scheiden: 
in die Folgewirkungen allgemeiner und die spezieller Natur. Wir werden 
diese Einteilung der folgenden Betrachtung zu Grunde legen. 

a) Die Folgewirkungen allgemeiner Natur. 

Darunter verstehen wir die Einwirkung der Gefühle auf die Intensität des 
psychophysischen Lebens in seiner Gesamtheit. Diese Einwirkung ist bald 
eine steigernde, eine ,,sthenische", z. B. bei der Heiterkeit, bald eine herab- 
setzende, eine „asthenische*', z. B. bei der Traurigkeit. Jegliche derartige 



*) Andere Beispiele finden sich in O. Vogt, ,,Zur psychologischen Erforschung der Hysterie"^ 

r f TTvrknnf JiA VTTT 



Zeitschr. f. Hypnot. Bd. Vm. 



_i56 o- VOGT. J'^'N.ar.'r'" 

Einwirkung giebt sich sowohl in einer Intensitätsveränderung des psychischen 
Lebens im engeren Sinne kund, wie auch in einer solchen aller derjenigen 
rein körperlichen Prozesse, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zum 
psychischen Leben stehen. Ein sthenisches Gefühl führt ebensowohl zu ge- 
steigerter associativer Thätigkeit, zur Bethätigung grösserer Willensenergie etc., 
wie es gesteigerte Herzaktion, Zunahme des Muskeltonus etc. veranlasst. Und 
auf der andern Seite beobachten wir bei dem asthenischen Gefühl nicht nur 
einen entgegengesetzten Einfluss auf den Vorstellungsablauf und die Willens- 
bethätigung, sondern wir beobachten auch Verlangsamung der Atmung und 
des Pulses, sowie eine Erschlaffung der Muskulatur. 

An pathologischen Erscheinungen sind hier die Bewusstseinstrübungen 
der Hysterie aufzuzählen , die nichts anderes als derartige emotionelle 
Hemmungen des psychischen Lebens darstellen. Dann sind hier die Fälle 
zu erwähnen, in denen Erschlaffung des Muskeltonus, Abnahme des Körper- 
gewichts und der Wärmeproduktion, Trägheit der Verdauung und der Herz- 
thätigkeit, mit einem Wort, Verminderung des Turgor vitae als Folge Wirkungen 
einer depressiven Stimmung in Erscheinung treten. 

Therapeutischerseits verdient hier die Heilung von Abulien durch 
Hebung der Stimmung des Kranken Erwähnung. Ein sthenisches Gefühl giebt 
dem Kranken die erforderliche Willensenergie zu einer ersten Überwindung 
seiner Schwäche. Diese Überwindung bedeutet aber einen ersten Schritt auf 
dem Wege der Besserung. Dann sei hier auf die Beseitigung emotionelle 
Folgewirkungen darstellender körperlicher Schwächezustände durch Beseitigung 
der ätiologisch bedeutungsvollen Depression hingewiesen, wie überhaupt die 
Schaffung, resp. die Erhaltung einer ungetrübten Stimmung die Überwindung 
eines jeden Krankheitsprozesses erleichtert. 

b) Die Folgewirkungen spezieller Natur. 

In Bezug auf die Folgewirkungen spezieller Natur wollen wir diejenigen, 
welche sich auf das intellektuelle Substrat beziehen, von denjenigen unter- 
scheiden, welche sekundär hinzutretende Phänomene betreffen. 

a) Mit Rücksicht auf das intellektuelle Substrat. 

Die erregende Einwirkung des Gefühls auf das intellektuelle Substrat 
äussert sich in drei Thatsachen: 

1. in der Dauer. Gefühlsstarke intellektuelle Erscheinungen bleiben 
länger im Bewusstsein als gefühlsschwache. 

2. in der Tendenz zur Rückkehr ins Bewusstsein. Gefühlsstarke 
Bewusstseinserscheinungen haben mehr Tendenz, reproduziert zu werden, als 
gefühlsschwache. 

3. in der intensiveren Bewusstseinsbeleuchtung des intellektuellen 
Substrates: Diese äussert sich in den Fällen, wo das intellektuelle Substrat 
eine Zielvorstellung darstellt, in einer gesteigerten Tendenz zu ihrer Realisation. 
Gefühlsstarke Suggestionen, gefühlsstarke Willenszielvorstellungen werden eher 
zur That als gefühlsschwache. Einfache Erinnerungsbilder dagegen zeigen 



^^* S5«^ ** ^^ MÖGLICHEN FORMEN SEELISCHER EINWIRKUNG ETC. 157 



eine der Stärke ihrer Gefiihlsbetonung proportionale Lebhaftigkeit und beweisen 
so den Einfluss des Gefühls auf die Bewusstseinsbeleuchtung-, 

aa) Vorhandensein solcher Folgewirkungen. 

Die Tendenz gefühlsstarker intellektueller Substrate zu längerer Dauer 
und zu öfterer Rückkehr ins Bewusstsein äussert sich im Gebiete der Patho- 
logie darin, dass der Inhalt der Zwangsvorstellungen meist stark gefühls- 
betonte intellektuelle Erscheinungen darstellt. Hierher gehört auch die Ein- 
engung des Bewusstseins (des Wach- und des Traum-Bewusstseins) nach einem 
Shok auf dieses, wie sie für das Prodromalstadium der traumatischen Hysterie 
charakteristisch ist. Ein pathologisches Beispiel für die grössere Lebhaftigkeit 
gefühlsstarker Erinnerungsbilder ist ihr Auftreten mit sinnlicher Lebhaftigkeit. 
Leicht gemütlich erregbare Personen leiden öfter wochenlang unter der sinnlich 
lebhaften Erinnerung an eine besonders eindrucksvolle Scene. Die grössere 
Tendenz zur Realisation endlich, die wir bei gefühlsstarken Zielvorstellungen 
finden, hat eine ganz eminente pathogene Bedeutung in der Form angstbetonter, 
das Auftreten von Krankheitsphänomenen betreffender Autosuggestionen. Jeder 
chronische Kranke ist mehr oder weniger Nosophobe und fürchtet deshalb 
Recidive oder Verschlimmerungen seines Leidens. Und gerade diese Furcht 
ist es, die das suggestive Her\orrufen von Recidiven und Verschlimmerungen 
so sehr begünstigt. 

Therapeutisch kommt hier das — übrigens immerhin vorsichtig zu 
handhabende — Verfahren in Betracht, durch Drohungen, Hervorrufung von 
Schmerzen etc. einen Angstaffekt im Kranken zu schaffen und so Krankheits- 
phänomene hemmenden Kontrastvorstellungen die genügende Stärke zu ver- 
leihen. Sodann ist hier vor allem der Heilmethode Erwähnung zu thun, durch 
Erregung starker Gefühle Willensäusserungen zu erzielen und so Abulien zu 
beseitigen. Nach inniger associativer Verknüpfung zeigen die Willensziel- 
vorstellungen dann selbst eine — wenn auch sekundäre — starke Gefühls- 
betonung und können dank dieser jetzt zur Handlung führen. Endlich ist hier 
zu erwähnen, dass wir bei jedem suggestiven Eingriff bemüht sein müssen, 
möglichst gefühlsstarke Suggestionen zu geben. 

aß) Fehlen solcher Folgewirkungen. 

Das Fehlen gefühlsstarker Leitmotive, wie sie das Handeln des normalen 
Menschen lenken, führt zum pathologischen Unterlassen normaler Hand- 
lungen und zu einer krankhaften Unstätigkeit der Wülensbethätigung. Vom 
Standpunkt der Therapie und der Prophylaxe ist hier auf das weite Gebiet 
hinzuweisen, den intellektuellen Erscheinungen, die durch ihre Gefühlsstärke 
pathogen werden, dieselbe zu nehmen. Vor allem ist hier der Bekämpfung 
der angstbetonten Autosuggestionen zu gedenken. Wir müssen auch speziell 
von dem Gesichtspunkt aus eine Beseitigung der gegenwärtigen Beschwerden 
erstreben, dass wir den Kranken die Furcht vor der Zukunft und damit die 
Tendenz zu pathogenen angstbetonten Autosuggestionen nehmen. 



iCÄ r» \mr"r Journal f. Psychologie 
^J^ ^- v^^^' und Neurologie. 

ß) mit Rücksicht auf sekundär hinzutretende Phänomene. 

In dieser Rubrik sind alle diejenigen sekundär hinzutretenden Phänomene 
zu erwähnen, welche nicht als Folgeerscheinungen der allgemeinen Intensi- 
tätsveränderung des psychophysischen Lebens aufzufassen, sondern auf spe- 
zielle Innervations Vorgänge zurückzuführen sind. Ebenso wie bei den Folge- 
wirkungen der allgemeinen Intensitätsveränderungen des psychophysischen 
Lebens können wir hier primär körperliche und primär psychisch sich 
äussernde Innervationsvorgängc unterscheiden. Die ersteren stellen die spe- 
ziellen körperlichen Äusserungen oder Rückwirkungen der einzelnen Gefühle 
dar: das Lachen bei Heiterkeit, das Erröten bei Zorn, die körperliche Unruhe 
bei Schmerz etc. Die letzteren betreffen die Beeinflussung der Ideenassociation 
in einer für jedes Gefühl charakteristischen Weise: und zwar nach dem Prinzip, 
dass die Gefühlsbetonung einer intellektuellen Erscheinung dahin tendiert, ebenso 
gefühlsbetonte intellektuelle Phänomene associativ zu wecken. Der heitere 
Mensch denkt an heitere, der deprimierte an traurige Sachen: das ist eine 
Erfahrung des täglichen Lebens. Daneben ist aber noch hervorzuheben, dass 
jedes starke Gefühl, soweit seine asthenische Wirkung nicht zu sehr vorherrscht, 
die Ideenassociation im allgemeinen mehr anregt als ein schwaches. 

Alle diese sekundär hinzutretenden Phänomene treten mit mehr oder 
weniger Intensität auf. Da wo sie mit einer nicht durch den Willen unter- 
drückbaren Macht auftreten, nehmen sie — wie wir schon oben sahen — den 
Charakter von Triebhandlungen an. Soweit sie dabei primär körperlicher 
Natur sind, führen sie zu äusseren Triebhandlungen. Ich erinnere nur an 
die unbesonnene rächende Ohrfeige des Beleidigten. Soweit andererseits 
die sekundär hinzutretenden Phänomene primär psychischer Natur sind, bilden 
sie die inneren Triebhandlungen: das vollständige Beherrschtsein von ein- 
seitig gefühlsbetonten Ideengängen. Diese äusseren und inneren Triebhand- 
lungen sind dann weiterhin der ontogenetische Ausgangspunkt für die Sug- 
gestiverscheinungen, wie für die Willenshandlungen. Wir haben in- 
dessen diese beiden letzten Gruppen von Phänomenen schon früher betrachtet, 
so dass wir auf dieselben hier nicht näher einzugehen brauchen. 

ßa) Primär körperliche Phänomene. 

ßaa) Das Vorhandensein solcher Phänomene. 

An pathologischen primär körperlichen sekundär hinzutretenden 
Phänomenen seien zunächst spezielle Beeinflussungen der Herzthätigkeit, der 
Menstruation, der Darmthätigkeit etc. durch Gemütsbewegungen erwähnt. Dann 
gehören hierher die meisten hysterischen Krampf- und Lähmungserscheinungen, 
die nach meinen Erfahrungen — wenigstens bei ihrem ersten Auftreten — 
meist nicht auf Autosuggestion beruhen, sondern pathologisch intensive spe- 
zielle Folgewirkungen von Gemütvsbewegungen darstelllen. 

Hier ist ferner der krankhaften Triebhandlungen zu gedenken, welche 
einen Ausfluss pathologischer Zornausbrüche, sexueller Erregungszustände etc. 
darstellen. 



^^* ^' ^?S?^*' DIK MÖGLICHEN FORMEN SEELISCHER EINWIRKUNG ICTC. 159 



Vom therapeutischen oder prophylaktischen Standpunkt sind hier 
die Versuche zu erwähnen, durch Entladung in die Peripherie pathogene Gemüts- 
bewef^un^en abzuschwächen. Man beobachtet bei manchen Hysterischen, dass 
sich dieselben nach einer (iemütsbewegung- erleichtert fühlen, sobald ein durch 
die Gemütsbeweg'ung nach einij^er Zeit hervorg"erufencr Krampfanfall vorüber 
ist. Man kann sich diese Erfahrung" zu nutze machen und bei solchen Kranken 
dann, wenn ihnen eine Gemütsbewegung nicht erspart bleiben kann, einen 
erleichternden Paroxysmus möglichst schnell auf künstliche Weise auslösen. 
Hierher gehört auch das „Sich auslaufen", ,,Sich ausweinen'*, „Sich aus- 
schimpfen", ,,Sich ausschreiben", ,jSich aussprechen", welches manche unserer 
Kranken von pathogcnen Einwirkungen starker Gefühle befreit oder sie vor 
diesen schützt. Wir können nicht immer vom ärztlichen Standpunkt aus die 
„Selbstbeherrschung" als das erstrebenswerte Ideal unseren Kranken em- 
pfehlen. 

ßaß) Das Fehlen solcher Phänomene. 

Es ist schon eine tägliche Erfahrung, dass solche Personen, welche bei 
Gemütsbewegungen sich nicht nach aussen äussern, mehr darunter leiden. 
Dieser normal psychologischen Beobachtung entsprechend, habe ich die patho- 
logische gemacht, dass alle meine schwersten Fälle von Hysterie gerade 
solche Personen betrafen, welche ganz besonders „verschlossen" waren und 
deshalb die trüben Erfahrungen ihres Lebens in sich ,, hineingefressen" hatten. 

Therapeutische und prophylaktische Bedeutung hat die Beseitigung, 
respektive die Verminderung primär körperlicher sekundärer Folgewirkungen 
in allen denjenigen Fällen, in denen diese Folgewirkungen eine pathologische 
Intensität angenommen haben oder anzunehmen drohen. Die verschiedenen 
Wege, auf denen wir zu diesem Ziel gelangen können, haben wir schon oben 
kurz skizziert. 

ßß) Primär psychische Phänomene. 

ßßa) Das Vorhan« lensein solcher. 

Eine pathogenc Bedeutung gewinnt der Einfluss einer Stimmung auf 
die Ideenassociation in manischen und depressiven Stimmungen, wo die durch 
diese angeregten gleichgefühlsbctonten Ideengänge zu Steigerungen der primären 
Stimmung beitragen. Hier ist dann auch des Misanthropen zu gedenken, der 
dauernd von Erinnerungen an die bitteren Erfahrungen seines Lebens be- 
herrscht wird. Diese Erinnerungen bilden einen durch emotionelle Associa- 
tionen geschaffenen Komplex, der fortwährend sein Bewusstsein beherrscht. 
Endlich ist auch bis zum gewissen Cirade hier der hysterischen Paroxysinen zu 
gedenken. Die meisten derselben sind auf einen Shok zurückzuführen. Nun 
haben aber schon Breuer und Freud') mit Recht darauf hingewiesen, dass meist 
nicht ein einzelner Shok, sondern erst mehrere, in associativc Verbindung 
getretene Shoks zur Auslösung des hysterischen Phänomens führen. Diese 
associative Verbindung ist nun nicht immer eine intellektuelle, sondern auch 



*j Breuer und Freud, ,, Studien über Hysterie**. 



l60 O.VOGT. Joum^ t Psychologie 

• und Neurologie. 

zeitweise eine emotionelle. Soweit diese letztere aber eine Rolle spielt, gehört 
die Genese der hysterischen Paroxysmen hierher. 

Eine therapeutische und prophylaktische Bedeutung gewinnt der 
Umstand, dass eine einmal angeregte euphorische Stimmung durch Anregung 
euphorischer Gedankengänge diese unterhält oder gar noch steigert. Hierher 
gehört auch die gleichartige Steigerung der depressiven Stimmung in den- 
jenigen Fällen, wo diese zur Erziehung von Psychopathen indiziert ist. Dann 
muss hier die Erziehung explosiver Naturen zur associativen Verarbeitung sie 
treffender Gemütsbewegungen Erwähnung finden. Endlich müssen wir in diesem 
Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass alle grossen Leitmotive 
unseres Handelns, wie Ehrliebe, Pflichtgefühl, Wahrheitsliebe etc., Ideenkom- 
plexe bilden, bei deren Bildung die emotionelle Association von grosser Be- 
deutung ist. Die Schaffung solcher Komplexe spielt eine sehr grosse ärztliche 
Rolle bei der Besserung und der Erziehung psychisch Minderwertiger. 

ßßß) Das Fehlen solcher. 

Von pathogener Bedeutung ist das Fehlen euphorischer Gedanken- 
gänge bei dem Mangel einer euphorischen Stimmung. Ferner führt das Fehlen 
hinreichender emotioneller Associationen bei manchen Deg^n^r^s zum Fehlen 
der normalen höheren Leitmotive unseres Handelns. 

Vom therapeutischen und prophylaktischen Standpunkt ist hier zu 
erwähnen, dass man auch deswegen bei den meisten unserer Kranken die 
depressive Stimmung zu bekämpfen bemüht sein muss, weil sie durch An- 
regung weiterer deprimierender Ideengänge diese Stimmung zu erhalten oder 
gar noch zu vermehren tendieren. Ebenso können wir misanthropisch veran- 
lagten Menschen von grossem Nutzen sein, wenn wir durch Bewahrung vor 
neuen trüben Erfahrungen und durch Ablenkung ihrer Tendenz zum Grübeln 
über die bisherigen Ungemache ihres Lebens energisch entgegentreten. 




BD. I, HEFT i. 
19US 



REFERATE. 



l6l 



REFERATE ÜBER BÜCHER UND AUFSÄTZE. 



The chemistry of nerve-degeneration , by 
F. W. Mott, M. D., F. R. S. and W. D. 
Halliburton, M. D., F. R. S. Philo- 
sophical Transactions of the Royal Society 
of London. S. B. Vol. 194. pp 437 — 466. 
1901. 3 Shillings. 

Ce travail est interessant pour tous ceux 
qui emploient la methode de Marchi, et de 
plus, il ouvre peut-6tre une voie nouvelle 
au diagnostic differentiel entre les maladies 
nerveuses organiques et fonctionnelles. 

Les auteurs ont trouve d'une part que 
dans les maladies degeneratives du Systeme 
nerveux on peut mettre en evidence des 
produits de decomposition de la mati^re 
nerveuse dans le liquide cerebro-rachidien 
ainsi que dans le sang des malades. Un 
de ces produits est la choline que Ton peut 
reconnaitre par deux reactions : l'une chimique, 
Pautre physiologique. Cette choline a ete 
trouvee dans le sang et le liquide cephalo- 
rachidien, d'abord de paralytiques generaux, 
puis de malades atteints d'affections diverses 
du Systeme nerveux central ou peripherique. 
La presence ou Tabsence de choline dans 
le sang pourrait donc dtre employee comme 
moyen de diagnostic, dans les cas difficiles, 
entre les maladies organiques ou fonctionnelles 
du Systeme nerveux. 

Les auteurs out etudie d'autre part, la 
reaction micro-chimique de Marchi. La 
coloration de Marchi etant donnee par la 
graisse ordinaire, il etait probable que cette 
coloration etait düe ä la desintegration de 
la lecithine : la choline et la portion phosphoree 
de la molecule etant liberees, la partie grasse 
serait mise en liberte et donnerait lieu ä la 
coloration de Marchi. Des experiences 
preliminaires sur des möelles humaines 
presentant une degenerescence unilaterale 
justifi^ent cette vue, car la quantite de 
graisse phosphoree fut trouvee tr^s diminuee 
du cote deg^nere. La coloration de Marchi 
serait donc due k la Substitution k la graisse 
phosphoree nerveuse d'une graisse non 
phosphoree. 

Pour etablir ce point experimentalement 
M. M. Mott et Halliburton produisirent une 
degenerescence Wallcrienne chez 18 chats, 
par section des deux sciatiques. Les animaux 

Journal Ar Psychologie und Neurologie. Bd. I. 



furent tuesde i ä 106 jours apr^ l'operation: 

Jusqu'au 3«« jour, les nerfe rest^rent 
excitables. 

Apr^s le 3™« jour apparurent les pre- 
miers signes de degenerescence: diminution 
legere de la quantite de phosphore dans le 
nerf, augmentation legere de la quantite 
de choline dans le sang. 

Le 8rae jour, la reaction de Marchi est 
tr^ marquee, ce qui coincide avec la pre- 
mi^re grande diminution du phosphore dans 
le nerf et l'apparition d'une grande quan- 
tite de choline dans le sang. 

La reaction de Marchi reste k son 
apogee jusqu'au 13™« jour et la quantite de 
phosphore baissc de plus en plus. La quan- 
tite de choline baisse un peu dans le sang, 
ce qui laisse k croire que des produits de 
desintegration de la lecithine, dest la cho- 
line qui est la premifere resorbee, puis vient 
le phosphore sous forme d'acide phospho- 
rique; Penfin la graisse est resorbee la der- 
nifere. 

Le 27™« jour, le phosphore a presque 
disparu et le 29™« jour il a totalement dis- 
paru, la resorption de la graisse a com- 
mence et il est probable qu'en plus des 
leucocytes, d'autres cellules, peut ßtre les 
cellules proliferees du nevrilemme jouent aussi 
un röle dans cette resorption. 

Le 44™e jour, presque toute la graisse 
a disparu. Le 60™« jour ou plus tot si le 
nerf a ete suture, commence la regeneration. 

Du ioo«»c au io6™e jour, la regeneration 
est tr^s marquee, surtout dans les fibres sensi- 
tives. Les Premiers signes du retour du 
phosphore coincident avec le commence- 
ment de la myelinisation (60™« jour) et sont 
tr^ marques le io6«>« jour. 

Quant k la quantite d'eau dans le nerf, 
eile augmente pendant la dcgeneration, reste 
elevee pendant l'absorption et revient k la 
normale ä partir du moment oü commence 
la regeneration. Cecile Vogt. 

Fr. W. Mott. Vier Vorlesungen aus der 
allgemeinen Pathologie des 
Nervensystems, gehalten vor den! 
Royal College of Physicians of London. 
Übersetzt von Dr. Wallach. Wiesbaden, 
Bergmann 1902. 112 S. 59 Fig. im Text. 

12 



l62 



REFERATE. 



Journal £ Psychologie 
und Neurologie. 



In den vier Vorlesungen bringt der Ver- 
fasser alte und neue Gedanken, Experimente 
und Beobachtungen über die Degeneration 
des Nervensystems. Teils sind dieselben 
schon andernorts veröffentlicht (vgl. obiges 
Referat), teils handelt es sich um neue, 
durchaus originelle Untersuchungen. Was 
diesen Mitteilungen einen besonderen Reiz 
verleiht, ist die Art und Weise, wie der 
Verf. es versteht, alle Einzelheiten in ein 
einheitliches geschlossenes Ganze, gewisser- 
massen in ein wissenschaftliches Programm 
einzuordnen. So erhalten wir in vier Kapi- 
teln einen Überblick über alle wichtigen 
Fragen der allgemeinen Pathologie des 
Nervensystems, wie sie sich von dem Stand- 
punkte des Verf. aus darstellen. 

Die erste Vorlesung behandelt die Grund- 
thatsachen der Neuronlehre in klarer und 
anschaulicher Weise. Verf. erörtert histo- 
risch kritisch den heutigen Stand der Neuron- 
theorie. Trotz Bethe, Apathy, Nissl u. A. 
ist an der Neuronlehre festzuhalten; die Ent- 
wickelungsgeschichte und der Verlauf der 
sekundären Degeneration beweisen die gene- 
tische und trophische Unabhängigkeit der 
nervösen Einheiten. Es besteht jedoch ein 
funktionellesGleichgewicht verwandter Neura- 
systeme, deren Störung zu den mannigfach- 
sten funktionellen Krankheiten führt. Diese 
gegenseitige Abhängigkeit associierter funk- 
tionell verwandter Neura erkennt Verf. auch 
darin, dass sie, nach neueren Untersuchungen 
des Verf., einer gemeinschaftlichen regres- 
siven Atrophie verfallen, wenn eines ihrer 
Glieder erkrankt ist. So konnte Verf. bei 
einem linksseitigen Thalamusherd mit rechts- 
seitiger Hemiplegie Atrophie der linken Hemi- 
sphäre, der rechten Kleinhirnhälfte und der 
motorischen Neura der Hals- und Lenden- 
anschwellung des Rückenmarks, ferner ab- 
steigende Degeneration des rechten ge- 
kreuzten Pyramidenstranges und linken Vor- 
derseitenstranges nachweisen. 

Die zweite Vorlesung schildert an der 
Hand sorgfaltiger Spezialuntersuchungen den 
Einfiuss bestimmter ein Neuron treffender 
äusserer Schädlichkeiten auf die einzelnen 
Teile des Neurons, auf Markfaser und Gang- 
lienzelle, insbesondere die Wirkung von 
Verletzungen, von Blutmangel und verän- 
derter Blutbeschafifenheit, von Hyperpyrexie 
und toxischen Zuständen des Blutes und 
der Lymphe, schliesslich den elektiven Ein- 
fluss der Gifte. 



Der dritte Vortrag deckt sich inhaltlich 
im wesentlichen mit der oben referierten 
Arbeit; er bringt eine eigene Theorie der 
chemischen Vorgänge bei der Entartung 
und der Marchifarbung und versucht die 
primäre Neurondegeneration als mögliche 
Ursache von Autointoxikationen hinzustellen. 

Den Inhalt der vierten Vorlesung, einige 
chronische Vergiftung szustän de betitelt, bil- 
den höchst interessante Ausführungen über 
die beiden hauptsächlichsten, mächtigsten 
und hartnäckigsten Gifte, welche Degenera- 
tion des Neurons herbeiführen, den Alkohol 
und die Syphilis. Verf. tritt für die enge 
ätiologische und pathologische Verwandt- 
schaft der beiden postsyphilitischen Erkran- 
kungen des Centralnervensystems, der Tabes 
und allgemeinen Paralyse ein. Tabes und 
allgemeine Paralyse sind ein und derselbe 
Krankheitsvorgang, welcher nur verschiedene 
Teile des Nervensystems befallt; beide Krank- 
heiten beruhen auf einem primär fortschrei- 
tenden Zerfall der Nervenelemente. 

Die zahlreichen, den Text illustrierenden 
Mikrophotogramme sind das Beste, was 
Ref. in dieser Art kennt. 

K. Brodmann (Berlin). 

A. Bruce. A topographical Atlas of the spinal 
cord. Williams and Norgate. London 1901. 
Der Verf. schlägt in diesem Atlas den 
Weg ein, der einzig und allein imstande 
ist, die Anatomie des Centralnervensystems 
wirklich zu fördern, das heisst, er veröffent- 
licht möglichst naturgetreu Abbildungen und 
fügt dann einen kurzen beschreibenden Text 
hinzu, der sich auf das beschränkt, was aus 
den Abbildungen hervorgeht. Verf. färbte 
von einem in Chromalaun-Kupferlösung ge- 
härteten Rückenmark jeden 10. Schnitt nach 
Heller und eine andere solche Auswahl mit 
Toloidin - Blau. Von diesen Präparaten hat 
Verf. dann eine Auswahl von 32 Mark- 
scheidenpräparaten bei zehnfacher Ver- 
grösserung und eine Auswahl von 34 Nissl- 
präparaten bei zwanzigfacher Vergrösserung 
abgebildet. Die Präparate wurden photo- 
graphiert und als Heliogravüren reproduziert. 
Die Markscheidenpräparate zeigen sehr gut 
die Configuration der weissen Substanz in 
den verschiedenen Höhen des Rückenmarks. 
Die Abbildungen der Nisslpräparate lassen 
in guter Weise die Verteilung der grossen 
Ganglienzellen erkennen. 

O.Vogt 



BD. I, HEFT 4. 
190». 



REFERATE. 



163 



A. Baer. Der Selbstmord im kindlichen 
Lebensalter. Eine social -hygienische 
Studie. Leipzig 1901. 84 Seiten. M. 2. — . 
Das vorliegende Schriftchen enthält eine 
eingehende Untersuchung des für Ärzte und 
Erzieher gleich wichtigen Problems des 
Kinderselbstmordes nach den beiden Gesichts- 
punkten seiner Häufigkeit und seiner Ur- 
sachen. Der erste Abschnitt, über die 
Häufigkeit des kindlichen Selbstmordes, bringt 
unter Zugrundlegung der offiziellen Statistik 
Preussens vom Jahre 1869 — 1898 ein umfang- 
reiches tabellarisch verwertetes Zahlenmaterial 
über Gesamtfrequenz und jährliche Schwan- 
kungen der Selbstmordhäufigkeit in dem 
angegebenen Zeitraum, über den Anteil der 
Geschlechter und der verschiedenen Alters- 
perioden, über Art imd Motive des Selbst- 
mordes etc. Wir erfahren die interessante 
Thatsache, dass, während die Selbstmord- 
häufigkeit in der Gesamtbevölkerung sich 
mehr als verdoppelt hat, „der Anteil der 
Kinderselbstmorde an dieser fast gleich ge- 
blieben" ist. Verf. schliesst aus diesen 
Zahlen, „dass bei dem Selbstmord im kind- 
lichen Alter nicht dieselben Ursachen und 
Beweggründe vorherrschen wie bei dem Selbst- 
mord der Erwachsenen." Er teilt im IL Ab- 
schnitt die Selbstmordmotive in innere und 
äussere und kommt zu dem Schlüsse, dass 
der Selbstmord im kindlichen Alter ein Pro- 
dukt unseres modernen Kultur- und sozialen 
Lebens sei. „Degeneration und Geistes- 
störung auf der einen, schlechte Erziehung 
und Frühreife auf der anderen Seite erkläre 
das relativ häufige Vorkommen der Kinder- 
selbstmorde und ihre Zunahme in der neueren 
Zeit." K. Brodmann. 

6. Specht. Über den pathologischen 
Affekt in der chronischen Para- 
noia. Erlangen und Leipzig, Deichert, 
1901. 30 Seiten. M. i.— . 
Gegenüber der bisher von fast allen 
Seiten festgehaltenen dogmatischen Lehre 
vom primär-intellektuellen Charakter der zur 
Paranoiagruppe gehörigen Geistesstörungen, 
macht Verf. den Versuch, die genetische 
Grundlage der paranoischen Krankheits- 
formen auf eine affektive Basis zu stellen 
und glaubt beweisen zu können, dass wenig- 
stens bei der chronischen einfachen Ver- 
rücktheit, nicht weniger wie bei den so- 
genannten Affektpsychosen, das Gefühlsleben 
primär krankhaft ergriffen ist. Der Ge- 



dankengang, dem Verf. hierbei folgt, ist 
einfach und durchsichtig, ob in allen Punkten 
stichhaltig und einwandfrei, dürfte bezwei- 
felt werden. 

Verf. geht aus von einer genaueren 
begrifflichen Bestimmung des Wahns; die 
gebräuchliche Determinierung der Wahnidee 
nach ihrem Inhalt ist ebenso oberflächlich 
wie unzureichend; man hat an jeder Wahn- 
idee vielmehr zu unterscheiden zwischen 
Wahnrichtung, Wahnform, Wahnfabel und 
Wahnmaterial. In der Wahnrichtung allein 
steckt das psychogenetische Problem des 
Wahns und das einzige charakteristische 
Moment der Wahnidee ist die Centralstel- 
lung des Ich; wo diese egocentrische Be- 
ziehung fehlt, liegt überhaupt keine Wahn- 
idee vor; es ist also keine Wahnvorstellung, 
wenn ein Kranker Kieselsteine für Diamanten 
hält oder wenn ein anderer die oft citierte 
Äusserung thut „das Weltall wird fett, 
schwarz ist nicht schwarz . ." Irrtum und 
Aberglauben stehen in enger psychologischer 
Fühlung mit dem Wahne, es ist aber nicht, 
wie noch vielfach angenommen wird, die 
mangelnde Zugänglichkeit für Korrektur, 
welche die Wahnidee vom Falschurteil 
trennt, sondern was dieses in die Nähe des 
Wahnes rückt, ist einzig und allein die ein- 
seitig gefälschte Auffassung vom Wohl und 
Wehe der eigenen Person. Ausschliesslich 
in den beiden Urteilsrichtungen der Förde- 
rung und Beeinträchtigung liegt das Wesen 
der paranoischen Wahnidee, welche sich 
klinisch nur in den zwei Formen des Grössen- 
und Verfolgungswahns äussern können. Hierin 
offenbart sich, meint der Verf., die Eigenart 
des wahnbildenden Faktors und damit ist 
auch der Schlüssel zu des Rätsels Lösung 
gegeben. Es giebt nämlich nur einen ein- 
zigen Elementarbestandteil unseres Bewusst- 
seins, der dieselbe Beziehung zum Subjekt 
hat, wie der Wahn, und dieser Elementar- 
bestandteil besitzt wiederum, nach des Verf. 
Anschauung, — eine Ansicht, mit der sich 
wenige werden befreunden können — wie der 
Wahn die Sondereigenschaft, dass die Zahl 
seiner Grundqualitäten lediglich auf zwei be- 
schränkt ist — es ist das Gefühl. Also muss 
das Gefühl, so theoretisiert Verf. weiter, die 
Grundlage und Wurzel jedes Wahns sein. 

Diese theoretischen Erwägungen sucht 
nun Verf. durch eine eingehendere chrono- 
logische und psychologische Analyse des 
klinischen Krankheitsbildes zu stützen. 

12* 



164 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



Der schon im Initialstadium hervortre- 
tende Beziehungswahn der Paranoiker ist 
nicht, wie Weisser und mit ihm die meisten 
Psychiater meinen, ein paranoisches Primär- 
symptom, sondern er lässt sich auf eine 
affektive Wurzel zurückführen. Die krankhafte 
Eigenbeziehung entsteht also erst sekundär 
aus dem primär vorhandenen Affekt des 
Misstrauens; dieses ist die primär krank- 
hafte wahnbildende Stimmungslage der 
Krankheit. Der paranoische Grössenwahn 
andererseits ist der unmittelbare Ausfiuss der 
Steigerung des Selbstgefühls, welche von 
jeher bei der Paranoia anerkannt wurde, 
und ebenso gehört das gehobene Selbstge- 
fühl zu den unentbehrlichen psychologischen 
Voraussetzungen des paranoischen Verfol- 
gungswahns. Die psychologische Situation 
des paranoischen Wahns ist demnach eine sehr 
komplizierte; der der Wahnbildung zu Grunde 
liegende Gefühlszustand ist ein Mischaffekt, 
zusammengesetzt aus einer depressiven Miss- 
trauensstimmung, die zur Idee der Verfol- 
gung führt, und der grössenwahnsinnigen 
Affektkomponente des exaltierten Selbstge- 
fühls. Mit diesem Nachweise glaubt Verf. 
das Wahnproblem, speziell die paranoische 
Wahnentwickelung, auf eine einheitliche 
psychologische Formel zurückgeführt zu 
haben. Wenn dies gelungen wäre, so hätte 
unstreitig unsere Wissenschaft einen grossen 
Erfolg zu verzeichnen; aber auch so darf 
man dem Verf. dafür danken, dass er die 
Diskussion über die Wahnbildung wieder in 
Fluss und gleichzeitig in ein anderes und 
besseres Fahrwasser gebracht hat. 

K. Brodmann (Berlin). 

* * 

A. Piok. Über eine neuartige Form von 
Paramnesie. Jahrb ücher für Psychiatrie 
XX. I. 1901. 
Verf. beschreibt an der Hand einer 
einzelnen Beobachtung eine neue Form von 
Gedächtnisstörung, welche darin besteht, 
„dass eine kontinuierliche und in der Haupt- 
sache sich gleichbleibende Reihe von Erleb- 
nissen in der Erinnerung nachträglich in 
ein Mehrfaches zerfallt, deren einzelne, ziem- 
lich gut in der Erinnerung haftende Teile 
dem Kranken selbst dann als eine Wieder- 
holung des ersten derselben imponieren". 
Das Symptombild ist ein Gegenstück zu jener 
anderen, häufigeren Form von Paramnesie, 
bei der der Kranke glaubt, eine eben sich 
vollziehende Situation schon einmal in 



der gleichen Weise durchlebt zu haben 
(Kraepelin's identifizierende Erinnerungs- 
falschung); sie wird vom Verf. den Erschei- 
nungen des doppelten oder alternierenden 
Bewusstseins nahegestellt. Die Erklärung 
dieser eigenartigen Störung sucht Verf. nicht 
in einer Schwäche der Erinnerungsbilder 
selbst oder ausschliesslich in Erinnerungs- 
illusionen, noch auch in einer Störung des 
Bewusstseins, vielmehr in einer Störung der 
Identifikation; der Kranke identifiziert nicht 
mehr die gegenwärtigen Eindrücke mit den 
Erinnerungsbildern adäquater Erlebnisse 
früherer Zeit, die Kontinuität des psychischen 
Geschehens geht ihm dadurch verloren und 
die ununterbrochene Reihe von Erlebnissen 
zerfallt ihm in differente Gruppen von Er- 
innerungsbildern. Daraus erklärt sich auch 
seine völlige Desorientiertheit in Ort und Zeit 
und die abspringende, dissoziierte Redeweise. 
Es handelt sich also nach Ansicht des 
Verf. bei dem überaus interessanten Krank- 
heitsbilde um eine pathologische Multiplizi- 
tät der Erinnerungen auf Grund einer Störung 
der Identifikation. Damit ist allerdings die 
psychologische Erklärung des eigentümlichen 
Phänomens nicht zu Ende geführt, es bleibt 
zu erklären, wie in letzter Instanz der 
associative Mechanismus des Vorstellungs- 
l&bens in seinen Elementen geschädigt ist 
und worauf die Identifikationsstörung ihrer- 
seits zurückzuführen ist. Nur das Experiment 
könnte uns darüber Aufschluss geben, warum 
sinnlicher Eindruck und Erinnerungsbild 
nicht mehr zu einer Einheit verschmolzen 
werden, ob und in wie weit ein abnorm 
rasches Abblassen des Erinnerungsbildes eine 
Rolle dabei spielt, oder ob pathologische 
Reproduktionstendenzen oder schliesslich be- 
stimmt geartete associative Hemmungen vor- 
liegen und welcher Art dieselben sind. 

K. Brodmann. 

A. Moll. Die ärztliche Bedeutung des 
Hypnotismus. Berliner Arzte -Corre- 
spondenz No. 27. 1902. 
Verf. referiert kurz die verschiedenen 
Fälle, in denen der Hypnotismus von ärzt- 
licher Bedeutung werden kann. Er stellt 
sich dabei auf den Standpunkt, dass neben 
seiner historischen Bedeutung der Hypnotis- 
mus in einer Reihe von Fällen zur Steigerung 
der Suggestibilität des Wachseins, und ge- 
legentlich als Schlafkur oder zur Erinnerungs- 
steigerung von Wert sein kann. 

O. Vogt. 



BD. I, HEFT 4. 
1908. 



REFERATE. 



165 



A. Porel. Der Hypnotismus und die 
suggestive Psychotherapie. IV. um- 
gearbeitete Auflage. Stuttgart. Enke. 
1902. 256 Seiten. M. 5.— ; geb. M. 6. — . 
Wir wollen nur kurz die Leser darauf 
aufmerksam machen, dass von Foreis Lehr- 
buch des Hypnotismus eine vierte Auflage 
erschienen ist. Die zahlreichen Verbesse- 
rungen und Erweiterungen, die vorliegen, 
sind teils anderweitigen Arbeiten Foreis, 
teils Veröffentlichungen der Zeitschrift für 
Hypnotismus entnommen. Dabei hat das 
Buch aber durchaus nicht seinen originellen 
Charakter verloren. Es wird auch diese 
neue Auflage sicher dazu beitragen, die 
Kenntnis des Hypnotismus und der sug- 
gestiven Psychotherapie verbreiten zu helfen. 

O. Vogt. 

A. Porel et A. Mahaim. Crime et anomalies 
mentales constitutionnelles. Gen^ve. 
Kündig. 1902. 302 Seiten. 
Die Verf. analysieren einige Fälle von 
konstitutionellen psychischen Anomalien, die 
in der französischen Schweiz viel von sich 
haben reden machen, um an diesen Bei- 
spielen die schon öfter von Forel vertretenen 
Ansichten zu erläutern : dass die Gesellschaft 
das Recht und die Pflicht hat, sich gegen 
die Degeneres zu schützen, dass sie diese 
in geeigneten besonderen Anstalten unter- 
bringen muss, um sie so zu verhindern zu 
schaden und sich fortzupflanzen und dass 
die heutige milde strafrechtliche Verfolgung 
dieser Degeneres als vermindert Zurechnungs- 
fähiger weder im Interesse der Gesellschaft, 
noch in dem der Degeneres selber ist. 

Zunächst behandelt Forel die Anar- 
chisten und speziell Luccheni. Dann schildern 
beide Autoren den Fall eines Querulanten, 
der gleichzeitig an Pseudologia phantastica 
leidet und der insofern von allgemeinerem 
sozialen Interesse ist, als er in der Schweiz 
noch zum Abgeordneten erwählt worden ist, 
nachdem gewisse Strafverfahren gegen ihn 
wegen Unzurechnungsfähigkeit eingestellt 
worden sind. Sodann analysiert Forel einen 
sehr interessanten Fall von pathologischen 
Schwindeleien. Dieser wurde von den Rich- 
tern für zurechnungsfähig befunden und zu 
einer gewissen Freiheitsstrafe verurteilt. 
Forel weist in überzeugender Weise nach. 
wie derselbe nach Verbüssung dieser Strafe 
sicherlich wieder rückfallig werden wird und 
wie deshalb eine derartige Verurteilung weder 
im Interesse der menschlichen Gesellschaft, 



noch in dem des Verurteilten ist. Hernach ana- 
lysiert Mahaim einen äusserst interessanten 
Fall eines auf der Grundlage einer konstitu- 
tionellen Psychopathie fortgesetzt rückfalligen 
Urkundenfalschers. Es handelt sich um 
einen begabten Schriftsteller, Verfasser von 
Arbeiten eines gewissen moralischen Wertes, 
der nüchterner Überlegung bar und zu im- 
pulsiven Handeln tendierend, so unfähig 
ist, seine eigenen Verhältnisse zu ordnen, 
dass er fortgesetzt in Not gerät und dann 
bei seinem impulsiven Charakter für wenig 
Franken schwereUrkundenfalschungen begeht. 
Er hat infolgedessen zahlreiche Bestrafungen 
durchgemacht, die natürlich erst recht hinter- 
her ihm die Erringung geordneter Lebens- 
verhältnisse erschwert haben. Mahaim ist 
der Ansicht, dass der Kranke ein nützliches 
Mitglied der menschlichen Gesellschaft wer- 
den könnte, wenn sein äusseres Leben von 
anderer Seite geregelt würde und er dann 
Ruhe fände, sich ganz seiner Schriftstellerei 
hinzugeben. Endlich geht Forel noch auf 
die Natur der Alkoholiker ein. Auch in 
Bezug auf diese, so schliesst Forel, hat die 
menschliche Gesellschaft das Recht, sie ge- 
waltsam zu internieren, sei es um sie zu 
heilen, sei es um sie zu hindern, Schaden 

anzustiften. r\ \r 

O. Vogt. 

Oiessler. Die Gemütsbewegungen und 
ihre Behandlung. J. A. Barth. Leipzig 
1900. 68 Seiten. 1,20 Mk. 
Einem gemeinnützigen Zwecke verdankt 
die vorliegende kleine Schrift ihre Entstehung. 
Der Verf. will die im Zuge unserer Zeit 
liegende praktische Verwertung wissenschaft- 
licher Kenntnisse an der Lehre von den Ge- 
mütsbewegungen erproben. Er sieht einer- 
seits in dem psychologischen Verständnis 
der Affektvorgänge und andererseits in einer 
systematisch durchgeführten Willensübung 
und der Verstärkung ethischer Vorstellungs- 
regungen ein wirksames Korrektivmittel gegen 
das Umsichgreifen starker Affekte. Leiden- 
schaftliche Temperamente erhalten aus theo- 
retischen Voraussetzungen abgeleitete Rat- 
schläge für eine Psychoprophylaxe ihrer 
Affektentladungen. Nach dieser Richtung 
wird die von der besten Absicht geleitete 
Broschüre sicher manchen Nutzen stiften, 
wenn auch der Leserkreis, an den sie sich 
richtet, eine etwas populärere Darstellung 
zweckmässiger erscheinen Hesse. 

Brodmann (Berlin). 



i66 



REFERATE. 



Jovnul t Fiychologie 
and Neurologie. 



P.Rissart. Der Hypnotismus, seineEnt- 
wickelung und seine Bedeutung 
in der Gegenwart. Eine naturwissen- 
* schaftliche Studie. Paderborn 1902. 
Jungfermann. 69 Seiten. M. 1.25. 
Es handelt sich um eine jener nicht 
seltenen Tendenz -Schriften, welche unter 
wissenschaftlicher Flagge segelnd, ohne 
irgend etwas Neues zu bringen, mit einer 
willkürlichen und oberflächlichen Litteratur- 
verwertung gegen den Hypnotisnius zu Felde 
ziehen. Verf. plädiert dafür, dass auch die 
„sog. wissenschaftliche Anwendung des Hyp- 
notismus" gesetzlich verboten werden müsse, 
und zwar sowohl die ärztlich-therapeutische 
wie die psychologisch-experimentelle. Wir 
glauben unsere Leser vor derartigen litte- 
rarischen Erzeugnissen warnen zu müssen. 

Brodmann (Berlin). 

J. Pohl (Pincus) - Berlin. Die mikros- 
kopischen Veränderungen am 
menschlichen Kopfhaar unter dem 
Einfluss nervöser Erregungen. 
— Abdruck aus der Zeitschrift für an- 
gewandte Mikroskopie, V. Bd., 9. Heft. 
Verf. macht den Versuch, die allgemein 

bekannte Einwirkung seelischer Erregungen 



des Mensdien auf das Kopfhaar an mikros- 
kopischen Befunden zu erläutern und zu 
einem Verständnis dieser wunderbaren 
seelisch - körperlichen Wechselbeziehung zu 
gelangen. Jede Willensanspannung, welche 
einige Zeit dauert und mehrfach von starker 
Gemütserregung begleitet ist, hat nach den 
Beobachtungen des Verf. zur Folge, dass 
ein Teil der Kopfhaare mit luftlosem Mark- 
strang gebildet wird. Bei normaler Gesamt- 
konstitution gleicht sich nach Abklingen 
der Gemütsbewegung diese Erscheinung 
aus und die Haare bekommen wieder 
ihren lufthaltigen Markstrang; hat jedoch 
der Organismus unter der Überanspannung 
der Gemütserregung gelitten, so genügt eine 
kurze Ausspannung nicht, um einen normalen 
(lufthaltigen) Markstrang entstehen zu lassen. 
Verf. meint, dass der Reflex einer starken 
Gemütsbewegung (Schreck, Zorn) nicht direkt 
auf die Haarbälge wirke, sondern durch 
Vermittelung von dazwischen geschobenen 
Ganglien, welche im allgemeinen regulierend 
wirken; nur unter bestimmten individuellen 
Bedingungen versage die Regulation und 
dann komme es zu der geschilderten Ab- 
normität der Haare. 

Brodmann (Berlin). 




Journal für Psychologie und Neurologie. 

Band I. Heft 5 und 6. 



Aus der k. k. I. psychiatr. Univ. Klinik (Prof. Dr. I, v. Wagner) in Wien. 

Über disoontinuierliche Zerfallsprozesse an der peripheren 

Nervenfaser. 

Auszugsweise vorgetragen auf der 74. Versammlung deutscher Naturforscher 

und Arzte zu Karlsbad, 1902. 

Mit 4 Tafeln. 
Von 

Dr. Erwin Stransky 

jetzt Assistent der Klinik. 

Während die Prozesse bei. der Wallerschen Degeneration und der Re- 
generation der zu Grunde gegangenen Nervenfasern schon seit langem zum 
Gegenstande zahlreicher Untersuchungen geworden sind, sind die atrophischen 
und entzündlichen Prozesse, die sich an der Nervenfaser abspielen, in ihren 
histologischen Details vielfach noch recht wenig gewürdigt worden. Es kann 
uns daher auch nicht Wunder nehmen, wenn mangels eingehender Unter- 
suchungen auf diesem Gebiete bezüglich der Abgrenzung der einzelnen histo- 
logischen Typen gegeneinander noch bis zum heutigen Tage eine gewisse 
Begriffsverwirrung herrscht, so dass die einzelnen Termini demnach nicht nur 
nicht mit jener Strenge wie anderwärts auseinandergehalten, sondern dass sie 
geradezu promiscue gebraucht werden. Die Unklarheit der herrschenden 
Begriffe führt hier zu Wort- und Begriffsncubildungen , wie „degenerative 
Atrophie" „retrograde Degeneration** und ähnlichen Ausdrücken, die ja 
eigentlich nichts anderes als Gradmesser für unsere Unkenntnisse auf diesen 
Gebieten vorstellen. Aus unserer Klinik sind in den letzten Jahren eine Reihe 
von Arbeiten hervorgegangen, in welchen auf die vielerlei Lücken aufmerksam 
gemacht wurde, die es noch auszufüllen gilt, ehe wir in der pathologischen 
Histologie der nervösen Elemente zu grösserer Klarheit gelangen. 

Als einen der Hauptgründe, warum der tote Punkt hier nicht über- 
wunden werden kann, müssen wir wohl den Umstand betrachten, dass das 
histologische Studium der feineren Veränderungen an der Nervenfaser bisher 
so stiefmütterlich behandelt ward, was uns freilich in einer Zeit, wo das 
Streben, Veränderungen in den Ganglienzellen zu finden, die T^hätigkeit der 
mikroskopischen Anatomen absorbiert, nicht Wunder nehmen kann. Nur 
so können wir uns die sonst schwer zu verstehende Thatsache erklären, wie 

Journal fQr Psychologie und Neurologie. Bd. I. I3 



1 70 DR, ERWIN STRANSKY. J*»"^^^ nJ^IÄI***^* 



und Neurologie. 



SO manche wertvolle Anregung aus früherer Zeit bisher kaum fruchtbaren 
Boden finden konnte*- Wie wäre es sonst erklärlich, dass bisher trotz der 
offenkundigen Bedeutung, welche die von Go.mbault im Jahre 1880 genauer 
beschriebenen segmental-neuritischen Prozesse besitzen, von deutscher Seite 
diese Befunde des französischen Forschers so wenig beachtet — abgesehen 
vielleicht von der kurzen Erwähnung ähnlicher Prozesse durch S. Mayer — , 
geschweige denn einer eingehenderen Nachprüfung unterzogen worden sind? 

Zweck der vorliegenden Arbeit, welche nicht unwesentlich durch die 
aus unserer Klinik seit 1899 hervorgegangenen, schon oben erwähnten Ar- 
beiten von Elzholz, Pilcz und Raimann angeregt wurde, war es, die 
Gombaultschen Untersuchungen von neuem aufzunehmen, sie angesichts 
der ihnen von vielen Seiten entgegengebrachten Skepsis zu überprüfen und 
ihren Resultaten auch in der deutschen Litteratur jenen Platz zu sichern, der 
ihnen ihrer Bedeutung nach wohl zukommen dürfte. 

Schon teilweise vor Gombault, beziehungsweise unabhängig von ihm, haben 
andere Beobachter, besonders Ranvier, Neumann, Westphal und S. Mayer, 
darauf hingewiesen, dass auch in normalen Nervenfasern, eingeschaltet zwischen 
ganz normale Segmente, solche vorkommen, die dünner sind und eine zartere 
Markscheide besitzen. Mayer nannte. sie Schaltstücke, intercaläre Segmente. 
Ihre Herkunft und Bedeutung blieb indes in Dunkel gehüllt, war doch damals 
die Möglichkeit, dass auch einzelne Segmente der Nervenfaser isoliert erkranken 
können, noch nicht in Diskussion. Gombault zeigte nun zuerst, dass bei 
Tieren (Meerschweinchen), welche experimentell durch Bleisalze chronisch 
vergiftet wurden, ein eigenartiger Prozess in den markhaltigen Nervenfasern 
sich etablirt, dem er den Namen „n^vrite segmentaire periaxile" gab. Das 
Wesen des Prozesses besteht darin, dass mitten in der Continuität einer sonst 
ganz normalen Nervenfaser ein oder mehrere Segmente entweder ganz oder 
nur teilweise die Zeichen des Markzerfalls aufweisen, mit der charakteristischen 
Eigentümlichkeit, dass das Mark nicht wie bei der Wallerschen Degeneration 
zuerst in grössere cylindrische Schollen, die erst später durch Protoplasma- 
wucherung und Phagocytose zerkleinert werden, sondern von vornherein in 
einen feinkörnigen Detritus zerfallt, wobei der Achsencylinder als solcher er- 
halten, wenn auch nicht ganz intakt bleibt. Der Prozess setzt meist an einem 
Ranvierschen Schnürring, bisweilen jedoch auch in der Mitte eines Segments 
ein. Er kann eine Faser in ihrem Verlaufe auch an mehreren Stellen befallen. 
Er erweist sich als ein exquisit entzündlicher, indem nach Gombault gegen- 
über der Wallerschen Degeneration die Protoplasmawucherung und Kern- 
vermchrung viel beträchtlichere Dimensionen annimmt. Der Prozess kann 
das Vorstadium echter Wallerscher Degeneration bilden, wenn der Achsen- 
cylinder selber im Verlaufe des Prozesses in seiner Continuität unterbrochen 
wird. Andernfalls ist jedoch eine restitutio ad integrum möglich, und zwar 
geht die Regeneration der Markscheide von der nach Gombault meist erhalten 
gebliebenen innersten Marklage aus. In diesem Stadium erscheinen die sich 
regenerierenden Segmente dünn, gehen jäh in die normale Umgebung über, 
erscheinen also den May ersehen Schaltstücken identisch. Der Prozess spielt 
sich folgendermassen ab: 



^^•'»™'"'*"-^- ÜBER DISCONTINUIERLICHE ZERFALLSPROZESSE ETC. l/l 



Die Markscheide zerfällt entweder an einer oder aber an mehreren Stellen 
der Faser und zwar meist im direkten Anschlüsse ^n einen Ranvierschen 
Schnürring in einer eigenartigen, von dem Vorgang bei der Wall ersehen 
Degeneration vollkommen verschiedenen Weise: Die äusseren Lagen 
derselben wandeln sich in einen feinkörnigen Detritus um, die inneren bleiben 
zunächst erhalten; der Achsencylinder, welcher an der normalen Osmiumfaser 
verdeckt ist und auch durch Pikrocarminfarbung nicht sichtbar gemacht werden 
kann, tritt an dieser Stelle mehr oder minder deutlich zu Tage als ein längs- 
gestreiftes, rot tingiertes Band. Der Zerfall kann auf dieser Stufe stehen 
bleiben; es schliesst sich an die degencrative Phase die Restauration an, 
die innere erhalten gebliebene Markschicht wird zur Matrix des neugebildeten 
Markes. Man sieht den Achsencylinder umgeben von einer ganz feinen rosen- 
kranzartig bald dünneren bald dickeren Myelinschichte, welche späterhin sich 
segmentiert; stellenweise erblickt man, in ihre Substanz eingebettet, rotgefärbte 
Kerne der Schwannschen Scheide, die eine beträchtliche Vermehrung er- 
fahren haben, wie überhaupt der ganze Prozess sich unter lebhafter Wucherung 
der Schwannschen Scheide abspielt. Die ncugebildeten Segmente sind im 
Vergleiche zu jenen normalen Fasern anfangs kurz, ihre Längenausdehnung 
schwankt an ein und demselben Fasernabschnitt in mehr oder minder weiten 
Grenzen. — 

Degenerations- und Restaurationsphase sind keinesfalls scharf von einander 
geschieden; sie gehen zeitlich fliessend und unmittelbar ineinander über, auch 
das morphologische Bild am Ende der ersteren unterscheidet sich kaum von 
jenem am Beginn der letzteren. 

Im weiteren Fortschreiten der Restauration haben wir zu unterscheiden 
zwischen äusserer und innerer Marklage. Diese erscheint nahezu homogen, 
jene hingegen buchtig, zerklüftet, wie aufgefasert, von zahlreichen Kernen 
durchsetzt; erstere nimmt deutliche Osmiumfärbung an, letztere erscheint kaum 
noch imprägniert. 

Eine Verwechslung dieses Bildes mit jenem, welches das Nervenmark 
im Zerfallsstadium darbietet, erscheint trotz des Vorhandenseins einer Differen- 
zierung in 2 Schichten hier wie dort nicht gut möglich. Hier drückt die 
granulierte, dort die wellig zerklüftete Struktur der äusseren Lage den 
Stempel auf 

Im weiteren Verlaufe des Prozesses lässt Gombault die beiden Mark- 
schichten zur homogenen Markscheide der normalen Nerven verschmelzen. 

Dies die eine Art, wie sich der Prozess abwickeln kann; der Endausgang 
kann aber nach Gombault auch ein anderer sein. Einmal betont Gombault, 
dass der Achsencylinder keineswegs ganz intakt bleibt, auch er bietet gewisse 
Veränderungen dar, die auf sein Mitergriffensein deutlich hinweisen. Man 
sieht denselben stellenweise anschwellen, er wird blasser und endlich tritt 
seine Längsstreifung deutlicher hervor. Schliesslich schwillt er massig an, 
füllt oft den ganzen Raum der Schwannschen Scheide aus; das nächste 
Stadium ist dann die Ruptur: Der Achsencylinder zeigt an einer oder mehreren 
Stellen Kontinuitätsunterbrechungen, der Zcrfallsprozcss ist ein dissezierender 
geworden; damit ist das Schicksal des peripherwärts von der Untersuchungsstclle 

13* 



172 DR, ERWIN STRANSKY. ^'*",mH N.,^row;l°*'* 



und Neurologie. 



gelegenen Nervenabschnittes besiegelt; er fällt der sekundären, Wallerschen 
Degeneration anheim. 

Es stellt sich sohin nach Gombault der segmentäre Zerfallsprozess als 
zunächst qualitativ eigenartiger pathologischer Vorgang dar: es ist ein neu- 
ritischer Prozess. Seine entzündliche Natur verrät sich durch die Mächtigkeit 
der Protoplasma- und Kernwucherung, welche neben dem primären Myelin- 
zerfall die Szene beherrscht, und die gleichartigen Vorgänge bei der Wallerschen 
Degeneration weitaus übertrifft. 

Die Entzündung ist keine interstitielle, sondern sie betrifft das Parenchym 
der Nervenfaser selbst, sie afficiert Schwannsche Scheide, Myelin und Achsen- 
cylinder. Sie ist einer Ausheilung fähig, wenn der Achsencylinder, wenn auch 
miterkrankt, doch in seiner Continuität nicht unterbrochen wird; andernfalls 
wird sie zur Vorstufe Wallerscher Degeneration. 

Dieselben neuritischen Prozesse sind es, sagt der Autor weiterhin, die 
wir auch am zentralen Ende durchtrennter Nerven sehen; was sich hier ab- 
spielt ist periaxiale Neuritis, nicht sekundäre Degeneration. Schliesslich ver- 
weist er auch auf die Versuche Ranviers, der ähnliche Zerfallsbilder erhielt, 
wenn er Kochsalzlösung auf die Nerven einwirken lässt. Gleichwie in der 
Mehrzahl von Gombaults Fällen begann auch bei Ran vi er der Prozess 
an den Schnürringen als den Ein- und Ausgangspforten für Ernährungs- bezw. 
Ausscheidungssubstanzen der normalen Faser, aber auch für auf diese schädigend 
einwirkende chemische Stoffe« 

So im Wesentlichen Gombaults Darstellung. 

Gombault selber hat bereits bei amyotrophischer Lateralsklerose und 
anderen Erkrankungen in den vorderen und hinteren Wurzeln Befunde gemacht, 
welche denen im Tierexperiment vollkommen gleichen. In späterer Zeit 
wurden auch von anderen Autoren seine Befunde mehrfach bestätigt. Meyer 
fand sie bei Diphtherielähmungen, Dreschfeld bei einer alkoholischen 
Lähmung wieder. Pitres und Vaillard beschrieben sie in einem Falle an 
den Nerven einer gangränös gewordenen Oberextremität. Sie fanden neben 
Waller'schen Degenerationen in den Nerven zwei von ihnen als verschiedene 
betrachtete Zerfallsformen: in der einen löst sich das Mark diskontinuierlich 
in feinste Körnchen auf, die sich zu rundlichen Massen gruppieren, für welch 
letztere Pitres und Vaillard die Bezeichnung „corps granuleux*' acceptieren; 
zwischen ihnen tritt die Schwannsche Scheide streckenweise frei zu Tage; in 
der zweiten Art, die sich schon mehr der Wallerschen Degenerationsform 
nähert, zerfällt das Mark aber gleichfalls nur stellenweise in gröbere Partikel, 
wobei die Kernvermehrung geringeren Umfang annimmt als beim Zerfall nach 
dem vorher beschriebenen Typus. In beiden Fällen gehe jedoch an 
Ort und Stelle der Affektion der Achsencylinder zu (irunde. Ich wül 
bemerken, dass die Autoren mit Osmium-Pikrokarminfärbung arbeiteten. Sie 
glauben sich auf Gnmd ihrer Befunde zu dem Schlüsse berechtigt, dass jedes 
interannulärc Segment nicht bloss eine trophische, sondern auch eine mor- 
phologische und physiologische Einheit darstelle. Abweichend von Gombault 
ist ihnen ferner die segmcntale Degenerationsform, für die sie natürlich auch 
den Xamen „nevrite p^riaxile" nicht gelten lassen wollen, keineswegs eine 



^^*''"l^?*" *' ÜBER DISCONTINUIERLICHE ZERFALLS PROZESSE ETC. 173 



Art Vorstufe der Wallerschen Form, sondern so wie diese eine Art der 
Nervendegeneration sui generis. Pitres und Vaillard gehen sogar so weit, 
zu behaupten, dass auch die echte Wall ersehe Degeneration eine Faser 
bloss segmentweise betreffen könne. 

Korsakoff und Serbski fanden die Gombaultschen Prozesse in einem 
Falle von Polyneuritis alcoholica, in einem ebensolchen Giesc und Pagen- 
stecher. Pr^vost und Binet haben sich gleichfalls mit positivem Erfolge 
mit diesem Gegenstande beschäftigt und kamen zu ähnlichen Resultaten wie 
seiner Zeit Gombault selber. 

Ihre Arbeit ist eine experimentelle. Die wesentlichsten Befunde rühren 
von Meerschweinchen her, die mit der Nahrung täglich, in nicht bestimm- 
barer Dosis, geringe Mengen kohlensauren Bleis erhielten. Die Färbungs- 
methode war wie in den älteren Arbeiten Osmium-Pikrokarmin. Wesentliches 
descriptives Detail bringt diese Arbeit ebenso wie die vorangegangenen freilich 
nicht. Hingegen sind die Angaben der Autoren von Wichtigkeit, dass der 
Prozcss viel rascher zur Ausheilung führe wie die echte Wall er 'sehe De- 
generation, im anatomischen wie parallel dazu im physiologischen Sinne. 
Bei einem durch 4 Monate chronisch vergifteten Tiere, bei dem die nervösen 
Erscheinungen — Parese der Hinterbeine, besonders der Extensoren, und 
Areflexie — recht ausgesprochen waren, glichen sie sich innerhalb einer 
I4tägigen Erholungsdauer rasch wieder aus. Epileptische Insulte haben diese 
Forscher nicht häufig bei ihren Versuchstieren gesehen. In jüngster Zeit hat 
noch Dopter diese Befunde kurz bestätigt. 

Auch Gudden fand bei der Alkoholneuritis intercaläre Segmente, an 
deren degenerativer Natur er nicht zweifelt. Sie direkt aus neuritischen 
Prozessen hervorgehen sah er nicht. Elzholz fand in alten Amputations- 
stümpfen solche dünne Faserstücke, die ganz plötzlich an normaldicke sich 
anschlössen. Er neigt zu der Annahme, dass diese nach Art der Schalt- 
stücke conform der Beschreibung Gombaults entstanden sind, denkt also an 
die Möglichkeit segmental-neuritischer Veränderungen. Andrerseits hat Elzholz 
in den genannten Fällen das Vorhandensein von dünnen Fasern in abnorm 
reichlicher Anzahl konstatieren können. Es gelang ihm ferner, im zentralen 
Stumpfe durchtrennter Nervenfasern, Gebilde, die ich nach dem Vorgange von 
Pilcz Elzholzsche Körperchen benennen möchte, in besonders grosser An- 
zahl in den betreffenden Nervengebieten nachzuweisen. Er beschreibt sie als 
meist rundliche, zwischen Markscheide und Seh wannscher Scheide, besonders 
auch in der als „Kern der Schwannschen Scheide** bezeichneten perinuclearen 
Protoplasma-Anhäufung liegende, mit Osmiumsäure, aber auch nach Flemming 
und Marchi sich schwarz färbende Gebilde, die spärlich auch in den gesunden, 
in gehäufter Zahl aber in den Fasern des zentralen Stumpfes auftreten. 

Auch Pilcz und Raimann, die in ihren Arbeiten die grundverschiedene 
Natur der Vorgänge im centralen und im peripheren Teil durchtrennter 
Nervenfasern betonten, verwiesen neben den Elzholzschen Befunden auf 
diejenigen Gombaults zur Bekräftigung ihrer dahin formulierten Meinung, 
dass das Auftreten von mit unseren Methoden nachweisbaren Degenerations- 



174 DR. ERWIN STRANSKY. -^'3' NcrÄl"*" 



Produkten im centralen Anteil der Nervenfaser uns noch nicht berechtigt, 
von Degeneration daselbst zu sprechen. Denn die von Elzholz als normale 
bezeichneten, in der atrophierenden Faser blos in gehäufter Zahl auftretenden 
Körperchen färben sich nach Marchi ebenso schwarz wie das nach dem 
Gombaultschen Modus zerfallende Mark. Entsprechen also auch die 
chemischen Veränderungen jenen bei der echten Wall ersehen Degeneration, 
so sind doch die morphologischen und wohl auch pathologisch-anatomischen 
Unterschiede viel zu gross, als dass man alle diese Vorgänge als identisch 
aufzufassen berechtigt wäre. 

Die bisher kurz skizzierte Geschichte dieser Frage zeigt bereits deutlich, 
dass den Com b au It' sehen Befunden auch über ihr rein morphologisches 
Interesse hinaus eine prinzipielle Bedeutung für eine Reihe von Fragen zu- 
kommt. Es erschien mir daher auch als eine dankbare Aufgabe, dieselben 
einer Nachprüfung mit teilweise neueren Methoden zu unterziehen. Es sei 
mir im Folgenden nun gestattet, über Methode und Ergebnisse meiner Arbeit 
zu berichten. 

Gleichwie bei Gombault waren auch in unserem Falle die Versuchstiere 
Meerschweinchen und zwar im ganzen 30, von denen das Resultat freilich 
nur in etwa der Hälfte der Fälle positiv ausfiel, da einerseits die ersten Tiere 
meist Unrichtigkeiten in der Versuchsanordnung zum Opfer fielen, anderseits 
eine Reihe von Tieren zu früh getötet ward, ehe noch deutliche pathologische 
Veränderungen an den Nerven zu sehen waren. Als Gift kam vorwiegend 
Blei in Form von kohlensaurem Bleioxyd in Verwendung, und zwar in der 
Weise, dass es einem Mehlbrei beigemengt uud den Tieren täglich in einer 
allmählich steigenden Menge von 5 bis 20 ctg. pro Tier per os beigebracht 
wurde. Auf das Unzweckmässige anderer Applicationsmethoden haben Prevost 
und Bin et aufmerksam gemacht. Weniger gut bewährte sich arsenige Säure 
in Form des Liquor Kalii arscnicosi, in der Dosis von 3 steigend auf 6 Tropfen 
pro Tag und Tier dem zur Verfütterung gelangenden Mehlbrei beigemischt. 
Während nämlich die Bleiliere schon nach etwa 2 wöchentlicher Vergiftung 
deutliche, nach 3 wöchentlicher schon ganz ausgesprochene Veränderungen 
der Nerven aufwiesen, zeigten sich bei Arsentieren selbst nach 5 wöchent- 
licher Vergiftungsdauer bloss die Erscheinungen einfacher Atrophie, stärkere 
Anhäufung Elzholzscher Körperchen als de norma, Auftreten vieler dünner 
Fasern, doch nicht von Schaltstücken. Daneben fand sich wohl vereinzelt 
Wal 1er sehe Degeneration, doch nirgends segmentäre Veränderungen, und 
überdies erscheint es, seit S. Mayer auf das Vorkommen einzelner degene- 
rierender Fasern auch in ganz normalen Nerven aufmerksam gemacht hat, 
nicht statthaft, solche singulare Befunde irgendwie zu verwerten. Wir werden 
ims deshalb wie Gombault im folgenden hauptsächlich an die satuminen 
Veränderungen halten. 

Was das Verhalten der Versuchstiere intra vitam anbetrifft, so ist hierüber 
folgendes zu sagen. Es zeigte sich bei allen Tieren schon nach kurzer Zeit- 
dauer der (liftein Wirkung eine zunehmende Abmagerung und Mattigkeit. Die 
früher recht munteren Tierchen kauerten meist reihenweise aneinander gedrückt 



^^*^?^*"**' ÜBER DISCONTINUIERLICHE ZERFALLSPROZESSE ETC. I/S 



in einer Ecke des Käfigs, nur bei der Procedur des Fütterns kam noch etwas 
Leben unter sie, wenngleich auch hier eine gewisse Abnahme des geleisteten 
Widerstandes unverkennbar war. Die Extremitäten fühlten sich kühl an, er- 
schienen cyanotisch, die Haare begannen auszufallen, so dass sich mehrfach 
alopecieartige Stellen fanden. Auch Dermatosen traten manchmal zu Tage. 
Alle Bewegungen der Tiere wurden kraftlos, energielos; namentlich die Hinter- 
beine wurden öfters etwas nachgeschleppt, ohne dass indess, und auch hierin 
kann ich vollkommen den Angaben Gombaults und Charcot-Gombaults 
beipflichten, von den sogleich zu besprechenden postepileptischen Zuständen 
abgesehen, jemals irgendwelche elective Lähmungserscheinungen zu constatieren 
gewesen wären. 

Die auffälligste Erscheinung bei den mit Blei — nicht aber bei den 
mit Arsen — vergifteten Tieren waren die epileptischen Anfalle, die oft schon 
einige Tage nach der Verabreichung des Giftes auftraten, meist durch ein 
plötzliches, oft von durchdringendem Quieken begleitetes mehrere Sekunden 
dauerndes rasendes Kreisläufen eingeleitet wurden, worauf das betreffende Tier 
unter tonischen Krämpfen hinstürzte, während späterhin klonische Krämpfe die 
Szene beherrschten. Aus den Nasenlöchern trat blutiger Schaum hervor, auch 
Fäces und Urin gingen ab. 

In einer Zahl von Fällen erholten sich die Tiere rasch wieder, nur 
zeigte sich in den Hinterbeinen die Parese noch hochgradiger als sonst, ein 
Verhalten, welches jedoch nur von vorübergehender Dauer war; bald hatten 
sich die Tiere gänzlich erholt, torkelten nicht mehr, boten ihr gewöhnliches 
Zustandsbild dar. In anderen Fällen zeigte sich nach den Insulten ein aus- 
gesprochener „Verworrenheitszustand**. Die Tiere rannten ziellos im Kreise 
umher, versuchten triebartig an der Wand des Käfigs emporzuklettern, endlich 
trat auch hier Erholung ein. In einer dritten Reihe von Fällen kam es zu 
einem wahren Status epilepticus, ein Anfall jagte den andern, und dies war 
auch meist der Zustand, in dem die Tiere, soweit sie nicht vorher schon 
getötet wurden, zu Grunde gingen. Manche Tiere überstanden indes auch 
mehrere solcher Status. — Die Section ergab bei den meisten Tieren heftige 
Entzündungserscheinungen im Magendarmtractus , die Nieren zeigten sich ge- 
schwellt, blutreicher, von atrophischen Prozessen in ihnen konnte noch nichts 
wahrgenommen werden. In den vorgeschritteneren Fällen war die Atrophie 
der Haut, des Fettgewebes und der Muskulatur höchst augenfällig, die Tiere 
waren „nur noch Haut und Knochen.** 

Die Blei-Tiere wurden nach i — 6 wöchentlicher Vergiftungsdauer unter- 
sucht, wobei ich bemerke, dass bei gehäuften Anfallen oft durch i — 2 Tage 
die Verabreichung von Blei sisticrt, oder die Dosis herabgesetzt ward. Einigen 
Tieren wurde nach 5 — 6 wöchentlicher Vergiftungsdauer circa i Monat Zeit 
zur Erholung gelassen, dann wurden sie getötet. Die Arsenticre gingen fast 
sämtlich spontan nach 2 — 5 Wochen zu Grunde, sie hatten nie Anfalle. Bei 
der Section zeigte sich Atrophie wie bei den Bleitieren, doch nicht in so 
hohem Grade wie dort, bei gleichlanger Vergiftungsdauer; daneben ergab 
sich gleichfalls Entzündung im Magendarmkanal. 



176 DR. ERWIN STRANSKY. "'"'"^d Ne^to^^*** 

Die Schilderung der Untersuchungsmethode sei der Gegenstand 

der folgenden Zeilen. 

Zur Untersuchung gelangten von den teils frbch getöteten, teils möglichst bald nach 
dem Tode sezierten Tieren die Nerven des Plexus brachialis in ihrem Verlaufe von der 
Achselhöhle bis zu den feineren Muskelästen; die Ischiadici und endlich die Femorales. 
Am geeignetsten erwiesen sich die zuerst angeführten mit ihren breiten gut isolierbaren 
Fasern; schon minder brauchbare, wenn auch immerhin noch für Zupfpräparate verwendbare 
Objekte gaben die Ischiadici ab. Recht schwer isolierbar, namentlich bei Anwendung der 
Osmiummethode, erwiesen sich jedoch die Femorales, die sich noch eher zu Schnitten eignen. 

Die meisten der Präparate sind Zupfpräparate. Diese Methode ist wohl mühevoller 
als das Schneiden, doch liefert sie für das Studium feiner histologischer Details un- 
vergleichlich bessere und übersichtlichere Bilder. — Als Fixations- bezw. Färbemethoden 
gelangten zur Anwendung: die Osmiumsäure-Färbung, die Flemmingsche und die 
Marchische Methode. Zur Achsencylinder- und Kemfarbung wurde vorwiegend Saf&anin, 
Anilinblau und bisweilen Toluidinblau verwendet. Das Zerzupfen bezw. Einschliessen ge- 
schah in Glycerin, für die nachgefärbten Präparate in Parafifinöl. Querschnitte wurden nach 
der Parafiinmethode angefertigt. — 

Es sei mir gestattet, auf einzelne technische Details etwas in extenso einzugehen. 

Die Nerven wurden sorgfaltig, unter möglichster Vermeidung direkter Berührung 
oder Quetschung, mit Schere und Pincette frei präpariert, dann möglichst nahe ihrem 
Austritte aus dem Wirbelkanal einerseits, andererseits mit Einschluss jener Muskelpartie, in 
der sie sich in feinere Ästchen auflösten, herausgeschnitten, in physiologische Extension 
auf Hölzchen gespannt und in die Fixierungsflüssigkeiten eingelegt Von jedem Tier wurden 
Osmium- und Marchi-, von einzelnen auch Flemmingpräparate angefertigt. 

Die Osmiumsäure kam entweder in ^U^lo'iger Lösung zur Venvendung, worin dann 
die Nerven 24 Stunden blieben, oder sie wurden 2—4 Stunden in i7o Lösung gehärtet 
und sodann gründlich in destilliertem Wasser ausgewaschen, worauf sie beliebig lange 
Zeit in Glycerin aufbewahrt, oder aber sogleich zerzupft wurden. Bei stärkerer Konzentration 
der Lösung, bezw. längerem Verweilen in derselben, litt meist die Isolierbarkeit der Nerven 
beträchtlich. — 

Behufs Herstellung von Flemmingpräparaten blieben die Nerven 2—3 Tage in 
Flemmingschem Gemisch, wurden dann 12—24 Stunden in fliessendem Wasser aus- 
gewaschen, und wie die Osmium präparate weiterbehandelt. Die Resultate mittels dieser 
Methode waren nicht sehr zufriedenstellende. 

Bei Anwendung der Marchi sehen Methode kamen die Nerven zunächst auf 
8 — IG Tage in Müllersche Flüssigkeit, die mehrmals gewechselt wurde; dann direkt in 
die Marchische Mischung, woselbst sie mindestens eine Woche lang verblieben. Die Auf- 
bewahrung geschah nach vorherigem Auswaschen in Wasser und Alkohol (95V0) ^^ Glycerin. 

Das Zerzupfen bei Behandlung nach den beiden letztgenannten Methoden gestaltete 
sich ungleich leichter als nach reiner Osmiumbehandlung. Doch sind Osmiumpräparate zur 
Kontrolle nicht zu entbehren. — 

Zur Nachfarbung wurden die Osmiumpräparate schon darum in geringerem Masse 
als die anderen herangezogen, weil die Osmiumimprägnierung das nachträgliche Eindringen 
anderer Tinktionsmittel nahezu unmöglich macht. Will man insbesondere den Verlauf des 
Achsencylinders schön verfolgen, so sind Osmiumpräparate zur Nachfarbung vollends 
unbrauchbar. Die nachgefärbten Präparate sind daher wesentlich solche nach der 
Marchi- Methode. 

Zur Nachfarbung wurde anfanglich das von Gombault verwendete Pikrocarmin 
nach der Ran vi ersehen V^orschrift versucht. Die Resultate waren jedoch keineswegs 
glänzende. Die schönsten Bilder lieferte das Saffranin. Nervenstämmchen von V*— V« ^^ 
Dicke kamen auf 3 — 4 Stunden in eine SaflfraninlÖsung von 2 : 200 Aqu. dest. + 20 absol. 
Alkohol, wurden dann in Wasser ausgewaschen, in Alkohol entwässert, in reinem Xylol 
oder Origanumöl aufgehellt und in Paraffinöl zerzupft und aufbewahrt. 

Ein zweiter vielfach von uns angewendeter Farbstoff ist das Anilinblau. Ursprünglich 



'^^*''"iSm' *"*^' ÜBER DISCONTINUIERLICHE ZERFAIXSPROZESSE ETC. \^^ 



versuchte ich es mit der von Stroebe angegebenen Methode, doch legte ich mir bald 
für Zupfpräparate eine eigene Modifikation zurecht Die nach Marchi vorbehandelten 
Präparate kamen in Form von Stämmchen von der oben angegebenen Dicke auf ca. 6 Stunden 
in eine gesättigte, stets frisch zu bereitende wässerige Lösung von Anilinblau, wurden dann 
in Wasser ausgewaschen, in Atzkalialkohol (nach Stroebe' s Vorschrift bereitet) ganz kurz 
differenziert, bis sie einen mattblauen Farbenton angenommen hatten, hierauf kurz in 
absolutem Alkohol entwässert, wie oben aufgehellt und in Paraffinöl weiterbehandelt. 

Endlich wurde auch die MÖnckeberg-Bethesche Toluidinblau-Methode versucht. 
Doch gab sie an Zupfpräparaten keine wesentliche anderen Bilder als die Anilinblaufärbung, 
insbesondere sind Zupfpräparate zum Studium der Fibrillen kaum geeignet. 

Als Zerzupfungs-, bezw. Aufbewahrungsflüssigkeit gelangte, wie schon mehrfach er- 
wähnt, bei den nachgefärbten Präparaten ausschliesslich das von mir in die histologische 
Technik eingeführte Paraffinöl in Verwendung. Gerechtfertigt erscheint dies durch die 
in einer früheren Mitteilung beleuchteten üblen Eigenschaften des Glycerins und die un- 
leugbaren Vorzüge des Paraffinöls. 

Nur sei hier noch bemerkt, dass die Umrandung der eingeschlossenen Präparate 
mittelst Paraffin sehr vorsichtig geschehen muss, weil sonst von diesem leicht etwas unter 
das Deckglas fliesst und dann darunter erstarrt. Daher ziehe man bei Paraffin öleinschluss Um- 
randung des Deckglases etwa mit Canadabalsam oder Damarlack oder Gummi arabicum vor. 

Die Präparate wurden nach dem Zerzupfen unter Deckglas gebracht, die Deckgläser 
mit Paraffin oder Damarlack umrandet, und so Dauerpräparate hergestellt. 

Die Verhältnisse, wie sie sich am Osmiumpräparate der normalen Faser 
darstellen, sind zu bekannt, als dass ich näher darauf eingehen müsste. 
Natürlich ist die Herstellung solcher Präparate zur Kontrolle der Bilder in 
anderen Präparaten sowohl als auch zum Studium der Markscheidenverände- 
rungen unerlässlich. Hat man aber einmal sein Auge daran gewöhnt, so giebt 
auch das Marchi -Präparat sehr instruktive Bilder; an gut gefärbten solcher 
Präparate kann man ganz gut einen centralen dunkleren Streifen, dem Achsen- 
cylinder entsprechend, von der etwas lichteren Markscheide unterscheiden, 
während die Seh wann sehe Scheide weisslich glänzend, mit einem Stich 
ins Grüne, sich präsentiert. Auch die Neurilemmkerne sind deutlich wahr- 
zunehmen. Ist das Präparat mit Saflfranin nachgefärbt, so erscheint der 
Achsencylinder leuchtend kirschrot, ebenso die Kerne des Protoplasmas der 
Schwannschen Scheide, das Mark mehr mattrot und heller, das Protoplasma 
ganz lichtrot, fein gekörnt. 

Die Markzerfallsproducte erscheinen braun- bis grauschwarz und heben 
sich besonders an Saflfraninpräparaten äusserst scharf ab. Von MarkfälteUmgen 
sind sie wohl ohne weiteres für das halbwegs geübte Auge durch Drehen der 
Mikrometerschraube zu unterscheiden. — Am Anilinblaupräparat erscheint 
der Achsencylinder und die Kernsubstanz tiefblau, das Mark licht taubengrau. 

Ich habe mir erlaubt, auf das Technische etwas breiter einzugehen, weil 
ja diesbezüglich die grössten Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Be- 
obachtern herrschen. Es sei mir nur gestattet, an die Beschreibung der 
histologischen Befunde selbst zu schreiten. 

Was zunächst jene Bilder anbetrifft, welche Meerschweinchen in der 
ersten Woche der Vergiftung geben, so ist zu bemerken, dass sie sich 
eigentlich wenig von der Norm unterscheiden. Vielleicht fallt an einzelnen 
Fasern schon eine leichte Vermehrung jener Gebilde auf, die ich Elzholzschc 
Körperchen nenne. Es sind dies kleine meist rundliche, in Marchi- Präparaten 



178 DR. ERWIN STRANSKY •''*"^d NcurÄ^***" 

tiefschwarz gefärbte Gebilde etwa von der durchschnittlichen Grösse eines 
Erythrocyten, die sich in sehr spärlicher Zahl auch in normalen Nervenfasern 
finden. Sie liegen zwischen Markscheide und Schwann scher Scheide oder 
vielmehr, wie sich vielfach direkt nachweisen lässt, im Protoplasma, insbesondere 
in jenen Anhäufungen desselben, die sich konstant um die Kerne der 
Schwannschen Scheide finden, femer in der Nähe der Schnürringe. — 

Hier will ich gleich eine kleine Bemerkung einschalten. Ich werde 
prinzipiell als „Kerne" der Schwannschen Scheide nur diese selbst und 
nicht, wie es immer noch vielfach in der Litteratur geschieht, jene perinucleären 
Anhäufungen von Protoplasma bezeichnen, die sich de norma in jedem Segmente 
finden. Sie stellen nichts dar als die Proliferationsstelle jener cylindrischen 
Hohlröhrenzelle, die als Schwann sehe Scheide von einem Schnürringe zum 
anderen reicht, dort direkt an die Nachbarzelle stösst, und mit ihr zu einer 
siebförmigen Platte verschmilzt, durch die der continuierlich von der Ganglien- 
zelle zur Peripherie verlaufende Achsencylinder, mit seinen Fibrillen strahlen- 
förmig auseinanderweichend (Mönckeberg und Bethc), hindurchbricht. In 
pathologischen Fällen, wenn das Protoplasma anschwillt, kann man deutlich er- 
kennen, dass es continuierlich längs des Markmantels sich hinzieht und an der 
Proliferationsstelle nur zu einem besonders mächtigen Tumulus angewachsen 
ist, in welchem der Kern vergrössert ist, und Teilungsfiguren bezw. Vermehrung 
zeigt. Doch davon später. — 

Die ersten manifesten pathologischen Erscheinungen variieren selbstredend 
bezüglich des Zeitpunktes ihres ersten Einsetzens sowohl individuell als 
auch von Tier zu Tier. Nerven von Arsentieren zeigen auch noch nach 
4 — 5 Wochen nichts als dieses Stadium, bei Bleitieren jedoch kann man 
schon in der 2. Woche am Osmium- und besonders aber am Marchi-Präparate 
eine ganz augenfällige quantitative Zunahme der Elzholzschen Körperchen 
wahrnehmen, dazu gesellen sich dann späterhin noch andere Erscheinungen, 
die jenem Stadium, dem Vorläufer der eigentlichen segmentalen Veränderungen, 
ein charakteristisches Gepräge geben. — 

Am schönsten sind diese Verhältnisse, wie schon bemerkt, an Marchi- 
Präparaten zu sehen; im Osmiumnerven werden die Körperchen vielfach durch 
das geschwärzte Mark selber gedeckt. 

Was also hier zunächst in die Augen springt, ist die kolossale Vermehrung der 
Elzholzschen Körperchen; bis zu 10 in einem Segment ist das gewöhnliche Zahlenmass, 
aber selbst 20, 30, ja mehr zählt man nicht selten. Dabei halten sie sich durchaus nicht 
an ihre normalen Prädilectionsstellen mehr, wie sie oben angeführt wurden, sondern finden 
sich allenthalben im Protoplasma, oft zu 6 bis 8 reihenweise hintereinander. Anderemale 
findet man sie wieder zu traubenförmigen Häufchen gruppiert, selbst scheinbar zu grösseren 
Ballen verschmolzen. Der Sitz dieser Formen ist insbesondere die Nachbarschaft der 
Schnürringe. Oft sieht man von hier aus eine ganze Gruppe dieser Gebilde auf eine 
grössere Strecke hin die Faser occupieren; es schwankt auch ihre Grösse, indem sich 
unter ihnen Abstufungen in den Dimensionen zeigen von feinsten Körnchen und Stäubchen 
an bis zu grösseren, deren Durchmesser bisweilen um mehr als das Doppelte den normalen 
übertrifft. Nicht unwichtig ist es auch, sich zu erinnern, dass schon Elzholz selber 
Körperchen beschrieben hat, die nicht die schöne Rundform besitzen. Hier finden sich 
derlei Elemente häufiger als in normalen Nerven. 

Zuweilen liegen die Körperchen in so dichten Gruppen beieinander, dass es gewisse 



^^* '* 190«^ * "' * ÜBER DISCONTESrUIERLICHE ZERFALLS PROZESSE ETC. 1/9 



Schwierigkeiten bietet, sie gegeneinander abzugrenzen. Es wollte mir übrigens mehrfach 
scheinen, als würden thatsächlich stellenweise mehrere solche Körperchen zu grösseren 
Ballen verschmelzen. 

In Bezug auf die Färbungsintensität herrscht die tief schwarzbraune oder schwarze 
Färbung bei allen Körperchen vor. Lichtgraue, schattenartige Gebilde, wie sie Elzholz 
mehrfach gesehen hat, konnte ich auf dieser Stufe nicht wahrnehmen. 

Schon das Vorhandensein dieser enorm reichlichen Menge von Producten, die schon 
durch ihre Färbung ihre myelinogene Abkunft verraten, und ein Verhalten zeigen, wie 
es sonst nur den Zerfallsprodukten des Marks zukommt, lässt darauf schliessen, dass inner- 
halb der Markscheide Veränderungen vor sich gegangen sein müssen, die zumindest auf 
einen pathologischen Stoffwechsel der Faser hinweisen. Wir sehen femer, dass schon um 
diese Zeit Protoplasmawucherung und Kemvermehrung einzusetzen beginnen, und, was das 
Wesentliche an der Sache ist, dass diese Wucherung sich sehr oft gerade dort etabliert, 
wo die Körperchen in gehäufterer Menge zu liegen kommen. Man sieht dann dort einen 
recht breiten PJasmasaum der verschmälerten Markscheide anliegen. Diese selbst aber zeigt 
sich an Ort und Stelle oft nicht nur an Durchmesser reduziert sondern bietet auch einen 
eigentümlich zackig -buchtigen, wie arrodierten Contur, so dass man Bilder erhält, die eine 
gewisse Ähnlichkeit mit den von Gombault beschriebenen haben; nur davon konnte ich 
mich nicht überzeugen, dass schon in diesem Stadium bei noch intacter innerer, periaxialer 
Markschichte, die äussere zu einer feinen Emulsion zerfallen wäre, wie dies Gombault be- 
schreibt; in jenem Stadium, dem dieser feinstkörnige Zerfall des Markes angehört, sah ich, 
wie ich hier antecipando bemerken will, die innere Marklage nur selten und nur auf ganz 
kurze Strecken hin erhalten. 

Ganz besonders gewuchert zeigte sich das Protoplasma manchmal an einzelnen Stellen 
wo es spindelförmig angeschwellt war, und dort fanden sich in einem meiner Fälle be- 
sonders schön ausgeprägt, innerhalb desselben eingelagert mehrfach vereinzelt, öfters aber 
noch in Gruppen zu mehreren beisammen, concentrisch geschichtete, vom gelben, von der 
Farbe des Markes, auf das Marchi-Bild bezogen, nicht wesentlich abstechenden bis zum 
mittleren Braun in der Farbenscala spielende Gebilde, in ihrer Grösse von den Dimensionen 
eines grösseren Elzholzschen Körperchens bis zu jener grösseren Degenerationsscholle 
von der Breite einer ganzen Faser schwankend, im letzteren Fall blasseren Degenerations- 
schollen durchaus ähnlich. Wieting hat solche Gebilde gleichfalls bei der De- und Re- 
generation durchschnittener Nerven gesehen, spricht sich aber nicht bestimmt darüber aus; 
er neigt der Ansicht zu, dass es sich um Gebilde handeln könnte, welche mit den Amyloid- 
körperchen im Centralnervensystem Ähnlichkeit haben und vielleicht wie diese ihre Ent- 
stehung einer langsamen allmählichen Einschmclzung des Marks verdanken ; auch Stroebe 
scheint ähnliche Dinge gesehen zu haben. Diese Anschauung, der ich auch ursprünglich 
huldigte, hat ja manches Bestechende an sich. Doch ist es mir nicht gelungen, eine 
Färbungsreaction zu erzielen, welche dem Verhalten des Amyloids entsprechen würde. An 
mit Hämalaun tingirten Präparaten bleiben gerade diese Körperchen ungefärbt, während 
sich der Achsencylinder beispielsweise blau färbte, ebenso die Kerne. Es scheint mir plau- 
sibler, dass es sich da um die gewöhnlichen Zerfallsproducte handelt. 

Besonders oft und in besonders mächtiger Ausbildung treten uns diese Gebilde an 
Fasern entgegen, deren Markscheide zwar noch erhalten, aber beträchtlich verdünnt und 
deren Protoplasma und Kerne bereits stark gewuchert sind. Nicht selten findet man dann 
mehrere solcher Gruppen längs des Verlaufes einer Faser. Die Ähnlichkeit mit Garnituren 
— der Ausdruck rührt von S. Mayer her, — wird hierdurch eine noch mehr in die Augen 
springende. Gar nicht selten liegen in solchen spindelförmigen Plasmaanhäufungen neben 
den beschriebenen Gebilden auch Kerne und Elzholzsche Körperchen in grösserer Anzahl. 

Diese Anschwellungen, deren Grösse gleichfalls in beträchtlichen Grenzen schwankt, 
liegen meist wandständig und stellen dann namentlich im Verhältnis zu der meist stark 
reduzirten Breite der Faser, mächtige Protuberanzen derselben dar. Manchmal wiederum 
erscheint die ganze Faser gleichmässig spindelförmig aufgetrieben, es ist dann der Achsen- 
cylinder mit seiner Markhülle zur Seite gedrängt und durch die Plasmaanschwellung 
eingebuchtet. 



1 80 DR. ERWIN STRANSKY. -^^""»^ fij^^l'!^'' 



Wir müssen hier noch kurz der an Qsmium- wie an Marchipräparaten nicht selten 
zu sehenden Lichtung der Fasern bezw. „Markretraction" in der Nähe der Schnörringe 
gedenken, die, ^ wie dies schon frühere Autoren hervorhoben und wie man sich leicht 
überzeugen kann, eine cadaveröse Erscheinung ist, wenngleich sie von Korsakoff und 
Serbski und erst jüngst wieder von Rossolimo als pathologischer Befund beschrieben 
wurde. Auch die „Tüpfelung", (Teuscher, Hammer) die man auch an normalen 
Nervenfasern, die mit Osmium überfarbt sind, sieht, was schon Kuhn t erwähnte, nie jedoch 
an Marchipräparaten wahrnimmt, halte ich nicht für etwas Pathologisches. 

Ein weiterer Punkt, welcher hier hervorzuheben wäre, ist der Umstand, dass in den 
Präparaten aus diesem Stadium schon ziemlich viele dünne Fasern zum Vorschein kommen, 
die auch blasser gefärbt sind als die normal dicken. Wie schon erwähnt, sind sie meist 
auch der Sitz von Protoplasmaveränderungen, wie sie oben beschrieben wurden. Niemals 
hingegen konnte ich in diesem Stadium Schaltstücke zu Gesicht bekommen. Ich zweifle 
nicht, dass diese dünnen Fasern nicht regenerativer Natur, sondern möglicherweise durch 
Atrophie zu stände gekommen sind. 

Damit wäre die Beschreibung der wesentlichen Veränderungen, welche 
das normale Bild der Nervenfaser in jenem Stadium erleidet, in der Haupt- 
sache beendigt. Eine eingehendere Besprechung desselben hebe ich mir für 
den Schluss des descriptiven Teiles auf und gehe sofort an die Beschreibung 
jener Bilder, wie sie uns beim ausgesprochenen segmentären Zerfall 
entgegentreten. — Nerven von Tieren nach Beginn der vierten Ver- 
giftungswoche zeigten diese Bilder am ausgeprägtesten. 

Man sieht hier, wie ein Blick auf die beigegebenen Abbildungen lehrt, am Osmium- 
präparat wie am Marchibild mitten in einer Faser von sonst normalem Aussehen ein 
Stück, welches die Erscheinungen des Markzerfalls darbietet. Die Länge dieses Stückes ist 
verschieden. Oft erstreckt sich der Zerfall bloss über eine kleine Strecke eines Segmentes, 
andere Male wiederum ergreift er einen Nerven über eine Strecke von mehreren Segmenten 
hin. Was schon Gombault beschrieb, fand auch ich bestätigt, dass nämlich der Prozess 
sehr häufig an einem Schnürring einsetzt und von da die Faser nach aufwärts zieht. Doch 
zeigen manche Fasern auch mitten im Segment initiale Veränderungen. Manchmal befallt 
der Prozess ein und dieselbe Faser an verschiedenen Stellen. 

In den initialen Stadien zeigt sich die Faser — wir wählen das Marchibild zum 
Ausgangspunkt unserer Betrachtungen — über ein relativ kurzes Stück hin wie übersäet 
mit den beschriebenen schwarzen Tröpfchen. Doch zeigen sich hier in der Grössenskala 
die beträchtlichsten Differenzen. Einerseits treten zahlreiche feinste Tröpfchen auf, die 
Faser zeigt sich stellenweise wie durch einen Detritus occupiert, der in seinen Farben- 
nuancen von lichtbraun bis schwarz schwankt. Mitten unter diesen feinsten Tröpfchen 
finden sich wieder gröbere und grössere Ballen von meist rundlicher Konfiguration. 

Dort, wo man diese ersten manifesten Veränderungen zu Gesicht bekommt, zeigt 
die Markscheide in ihrer Beschaffenheit ein verschiedenes Verhalten. Es gelingt manch- 
mal, durch eine solche Stelle hindurch noch deutlich ihren Contour wahrzunehmen. Auch 
an Querschnitten durch Nervenbündel aus diesen Stadien kann man sehen, dass, während 
die äussere Lage des Markes durch Zerfallsprodukte substituiert ist, eine innere Schicht 
derselben noch deutlich ausgenommen werden kann. Manchmal sieht man auch, dass in 
einem längeren, Markzerfall zeigenden Stück an einzelnen Stellen diskontinuierlich strecken- 
weise die Innere Marklage noch erhalten geblieben ist, während der Raum, den in der 
normalen Faser die äusseren Markschichten einnehmen, von schwarzen Tröpfchen und 
Krümeln der oben beschriebenen Art occupiert wird. 

Das Protoplasma zeigt sich überall mächtig gewuchert, die Kerne stark vermehrt. 
Wir haben schon an den Nerven, welche als Repräsentanten des vorhergehenden Stadiums 
dienten, Protoplasmawucherung und nicht selten auch schon Kemvermehrung konstatieren 
können. Doch war erstere dort räumlich beschränkter, ging nicht allzuweit über jenes 
Gebiet, wo normalerweise der Kern lagert, hinaus, und wir konnten hier oft zwei Kerne 



^^* '' "9^2^ * "* ^' ÜBER DISCONTINUIERIJCHE ZERP^ALLSPROZESSE ETC. 1 8 1 

finden statt eines einzigen; auch erscheinen die Kerne vergrössert. Jetzt hingegen sehen 
wir über das zerfallende Gebiet hin auf eine Strecke, die der Länge eines Ran vi ersehen 
Segmentes ungefähr gleichkommt, Kerne in sehr gehäufter Zahl auftreten, 8, 10, ja oft 
noch viel mehr. Die Kerne sind auch nicht mehr längsoval in der Faserrichtung an- 
geordnet, wie früher, sie bieten in Gestalt und Lagerung ein buntes Durcheinander dar, 
wir sehen rundliche, ovale, dreieckige, viereckige, polygonale, sanduhrformige, kurz die 
verschiedenartigsten Formen. Öfters hatten wir den Eindruck, den schon v. Büngner 
empfangen hatte, dass die Gestalt der Kerne, welche allenthalben zwischen den mehr minder 
grossen und verschieden gestalteten Zerfallsprodukten hervorlugen, wesentlich durch die 
Verhältnisse des freien Raumes bedingt sind, den sie zwischen jenen finden; so erklären 
sich manche der verschiedenartigen Gestalten in ungezwungener Weise. Während also in 
der normalen Faser der Kern die Marksubstanz einbuchtet, so dass er gleichsam in die- 
selbe eingebettet erscheint, passt er sich hier umgekehrt in seiner äusseren Form den 
Markzerfallsprodukten an; da wir keineswegs annehmen können, dass diese letzteren etwa 
eine grössere Konsistenz besitzen als Mark im normalen Zustande, ja eher das Gegenteilige 
wahrscheinlich ist, so bleibt nur die allerdings recht plausible Annahme, dass das Kern- 
stroma der jungen Kerne viel weicher und plastischer ist als im Reifestadium. 

Auch in der Grösse variieren die Kerne sehr; sowohl nach oben wie nach unten hin 
zeigen sich Differenzen gegenüber dem normalen Verhalten. 

Die Breite der befallenen Faserstücke hält sich entweder in den normalen Grenzen, 
oder es ist die Anschwellung der protoplasmatischen Zone so stark, dass die Faser dort 
breiter als eine gesunde erscheint, niemals aber zeigt sich ihr Durchmesser verschmälert. 

Der Übergang in die normal gebliebene Umgebung ist in den anfanglichen Zerfalls- 
stadien ein allmählicher. In der Mitte des betroffenen Stückes liegen die Zerfallselemente 
meist dichter und sind grösser, so dass sie den Achsencylinder und die etwa noch vor- 
handene Marklage bisweilen total verdecken. Gegen die beiden Enden hin lichten sich 
die am Marchipräparat schwarz gefärbten Haufen allmählich, Achsencylinder und Mark- 
scheide treten zwischen und unter ihnen wieder recht deutlich zutage, ersterer oft deut- 
licher als in nonnalen Faserbildem. An den Grenzen des erkrankten Faserstückes finden 
sich vereinzelte Tröpfchen, oft von dem Aussehen El zholzscher Körperchen. Irgend eine 
schärfere Umgrenzung bezw. Gruppenbildung der Zerfallsprodukte im Protoplasma, wie wir 
das bei der Betrachtung von Bildern späterer Stadien in der Regel zu Gesicht bekommen, 
gehört hier zu den Seltenheiten. 

Dies ungefähr das Bild, wie es sich uns in jenen Stadien darbietet. Wir 
können diese Befunde in Kürze dahin zusammenfassen, dass in der Continuität 
einer sonst central wie peripher intacten Faser Stellen von meist über die 
Ausdehnung eines oder zweier Segmente nicht hinausgehender Länge auftreten, 
welche die Zeichen eines eigenartigen Markzerfallcs zeigen, welcher entweder 
von vornherein das Myelin in seiner ganzen Dickenausdehnung oder anfänglich 
nur dessen äussere Lage betrifft; der Achencylinder bleibt zunächst ganz un- 
versehrt. Nirgends bekommen wir Bilder zu sehen, welche sich als Resultate 
eines bereits abgelaufenen Processcs darstellen würden. Gehen wir nun in 
unserer Betrachtung einen Schritt weiter. Wir stossen da auf Bilder, wo der 
Zerfall sich über grössere Strecken hinzieht. Wir sehen da nicht nur einen 
quantitativen Unterschied gegenüber dem, was wir früher zu Gesicht bekommen 
hatten: Die Befunde stechen von den voranstehend geschilderten auch qualitativ 
beträchtlich ab, wie wir sehen werden, vor allem insofern die Läsion nunmehr 
tiefer greift. Das Protoplasma ist jetzt überall sehr stark gewuchert, die 
Kerne stark vermehrt (siehe Figur.) Die Zerfallsprodukte erfüllen das Proto- 
plasma jetzt meist nicht mehr so diffus wie früher, sondern sie erscheinen 
angehäuft zu spindelförmigen Gruppen von verschiedener Grösse, die meisten 



l82 DR. ERWIN STRANSKY. ^"""lld L^lxogic^^ 

derselben etwa von der Dicke eines normalen Faserquerschnittes. Gerade an 
diesen Stellen ist auch die Anhäufung^ der Kerne am stärksten. 

Anfänglich ist die Differenzierung- dieser spindelförmigen Gruppen keines- 
wegs eine so scharfe; je fortgeschrittener aber die durchmusterten Präparate 
sind, desto schärfer und desto abgesetzter treten diese Gebilde hervor. Es 
ist klar, dass sie den „Garnituren" Mayers vollständig entsprechen. Wir 
hoffen später darthun zu können, welche Bewandtnis es mit ihnen habe, und 
dass es sich hier wohl um mehr als um blosse Haufen markresthaltigen Proto- 
plasmas handeln dürfte. 

Es sei hier übrigens bemerkt, dass es hie und da auch an Stellen mit 
noch nicht so weit vorgeschrittenem Zerfall, wo wir nur über ein kleines Stück 
hin schwarze Tropfen eingelagert sehen, bisweilen gelingt, dieselben als 
spindelförmig abgegrenzte Gruppe innerhalb des stark gewucherten den Kern 
umgebenden Protoplasmas abzugrenzen. Selbst im ersten Stadium kann man 
bisweilen die Körperchen spindelförmig im Kerngebiet gruppiert sehen. 

Zwischen diesen Protoplasmaanhäufungen nun sehen wir die Continuität 
der Faser hergestellt durch Bildungen, wie sie auch bei der Regeneration 
durchschnittener Nerven im peripheren Stumpf auftreten, und wie sie Elzholz 
auch im centralen Stumpf amputierter Nerven vorgefunden hat. Es sind dies 
lange, meist ziemlich schmale, am Osmiumpräparate grünlich, im Marchibilde 
lichtgelblich, am Marchi-Saffraninpräparat blassrosafarbene Protoplasma-Bänder, 
teils mit Kernen besetzt, teils vorderhand wenigstens noch auf jener kurzen 
Strecke, auf der wir sie jetzt rein zu Gesicht bekommen, kernlos verlaufend. 
In der Regel nun gelingt es, in ihrer Mitte den Achsencylinder schön rot ge- 
färbt sich schart abhebend verlaufen zu sehen. Der Achsencylinder ist da meist 
eine Spur blässer als im normalen Faseranteile, doch gleichwohl scharf be- 
grenzt; er erscheint verbreitert, seine Substanz hin und wieder streifig. 

Was den Achsencylinder im allgemeinen auf jenen Bildern anbetrifft, so 
ist zu bemerken, dass er sich fast überall schön erhalten zeigt. Wir sehen 
ihn continuierlich aus dem normal gebliebenen Faserstück, welches von dem 
affizierten Gebiet in der Regel durch einen Schnürring abgesetzt ist, herüber- 
treten und zwischen den Protoplasmamassen weiter verlaufen; bisweilen taucht 
er zwischen den gewaltigen Anhäufungen von Zerfallsmassen unter, doch nie- 
mals, um spurlos zu verschwinden; wo die Krümeln und Kugeln eine freie 
Lücke zwischen sich übrig lassen, hebt er sich — am Saffraninpräparate — 
leuchtend rot von dem mattrosafarbenen Protoplasmauntcrgrundc ab, meist um 
abermals wieder durch schwarze Massen verdeckt zu werden. Am anderen 
Ende der Spindeln taucht er dann wieder auf, um in den oben beschriebenen 
Bändern, dem gewucherten, verdickten aber homogenisierten, kein Mark mehr 
umschliesscnden Plasma der Schwann sehen Scheide bis zur nächsten Spindel 
deutlich sichtbar weitcrzuverlaufen. — 

Nur selten behält der Achsencylinder seine centrale Lage wie in der 
physiologischen Nervenfaser. Er windet sich zwischen den ihn von allen 
Seiten umlagernden Protoplasmamassen, Kernen und Markresten hindurch und 
wird dabei oft wandständig. Recht schön sind jene Bilder, wie sie die Figur 
zeigt, wo der Achsencylinder durch Garnituren ganz an diesen Rand gedrückt 



^^' *' ^^ ^ "* ^' ÜBER DISCONTINUIERLICHE ZERFALT^ PROZESSE ETC. 1 83 



1009. 



hinzieht; nicht selten nimmt er aber auch in den markrestfreien homogenen 
Plasraabändern einen excentrischen Verlauf, wie dies gleichfalls unsere Figur 
illustriert. In der Regel erscheint der Achsencylinder im affizierten Gebiete 
gegen die Norm etwas verbreitert, heller, und leicht streifig contouriert; 

Bis zu diesem Punkte hätten wir Bilder vor uns, in denen das leitende 
Element der Faser, der Achsencylinder, zwar kein völlig normales Aussehen 
darbietet, doch, was das Wesentliche ist, innerhalb pathologisch veränderter 
Zwischengebiete in seiner Continuität nirgends unterbrochen erscheint, so dass 
uns das segmentale Auftreten der Affektion mit dem Standpunkte der Neu- 
ronenlehre wenigstens nicht ganz unvereinbar vorzukommen vermag. Wir 
werden nun aber sogleich Bilder kennen lernen, welche mindestens das eine 
mit Sicherheit lehren, dass in dem Zerfall zeigenden Zwischenstücke einer 
sonst normalen Faser die Veränderungen so tief greifen können, dass der 
AchsencyHnder dort streckenweise seine Färbbarkeit verliert, also jedenfalls 
schwer alteriert sein muss. 

In weiter fortgeschrittenen Stadien sehen wir die pathoIogischen^Faserstrecken 
umgewandelt zu Bändern, welche je nach der Längenausdehnung, die der Zerfallsprozess 
gewonnen hatte, in longitudinaler Richtung Masse aufweisen, welche sich zwischen Teilen 
eines Segmentes und der Länge mehrerer Segmente bewegen. Die beschriebenen Bänder 
bestehen aus Protoplasma, färben sich bei reiner Osmiumbehandlung grünlichgelb, etwa 
weingelb, bei Marchibehandlung erscheinen sie hell mit einem Stich ins Grünlichgelbe. 
Im Innern erscheinen sie im allgemeinen homogen; in Marchipräparaten, die mit Saffranin 
nachgefärbt sind, erscheinen sie oft recht deutlich in eine innere, etwas intensiver gefärbte 
und eine äussere, kaum noch leicht rosafarben tingierte Zone geschieden: stellenweise gelingt 
es wohl auch, in der inneren Zone fibrilläre Structur zu sehen ; constant ist dieser Befund 
nicht, allzugrosses Gewicht würde ich auf ihn gleichfalls nicht legen. Wohl zu unterscheiden 
von diesem centralen Streifen ist der Achsencylinder, der sich in vielen Präparaten noch 
ganz deutlich sichtbar inmitten der Plasmabänder durchzieht und nach beiden Seiten hin 
vollkommen continuierlich in den Achsencylinder der nicht affizierten Faseranteile sich ver- 
folgen lässt. Ich glaube das umsomehr betonen zu müssen, als es recht gut gelingt, diese 
beiden Befunde in derselben Nervenstrecke nebeneinander zu machen. Ich kann in dem 
Vorhandensein dieser centralen Zone vorderhand nichts anderes erblicken, als eine Diffe- 
renzierung des Plasmas in eine dichtere innere und eine weniger dichte äussere Schicht, 
welch' letztere schon durch das Vorhandensein zahlreicher Kerne aufgelockert erscheint. 

Die Kerne erscheinen in diesem Stadium sowohl in ihrer Form wie auch in ihrer 
Anordnung bei weitem regelmässiger configuriert als in den Befunden, die sich uns in 
früheren Stufen des Prozesses darboten. Während sie dort in den verschiedenartigsten 
Gestaltungen erschienen waren und höchstens das eine Regelmässige in ihrer Anordnung 
dargeboten hatten, dass sie sich entsprechend den Anhäufungen von Markreslen in grösserer 
Dichtigkeit und Häufung gefunden hatten, sehen wir sie jetzt in ziemlich regelmässigen 
Abständen und recht häufig in wechelständiger Anordnung die beschriebenen Bänder um- 
fassen, bezw. in ihre äussere Schicht umgelagert. Sie erscheinen auch etwas kleiner und 
fast alle regelmässig, elllpsoidisch configuriert. 

Besonderes Interesse aber beanspruchen jene spindelförmig-ovoiden 
Anhäufungen von Protoplasma, welche die zerfallenen Marktrümmer be- 
herbergen. Wir sehen sie in diesem Stadium vor allem spärlicher wie früher; femer er- 
scheinen sie etwas kleiner, in ihrer Gestalt hingegen meist etwas abgerundeter; drittens 
aber, und das kommt hier am wesentlichsten in Betracht, grenzen sie sich in viel schärferer 
distincterer Weise als früher gegen ihre Umgebung ab. Sie zeigen sich meist durch eine Art 
Cuticula, wohl entsprechend der alten Schwannschen Scheidenmembran, ringsum begrenzt; 
in ihrem Innern beherbergen sie stets Kerne in verschiedener Zahl. Topographisch genommen 
ragen sie oft weit, selbst um Faserbreite und mehr, über den Aussenrand der Bänder heraus. 



I84 DR. ERWIN STRANSKY. ^""Tnd Lu'oXo^^'^^ 

Es ist wohl kein Zweifel, dass es sich hier um Gebilde cellulärer Dignität 
handelt, um Zellen, hervorgegangen aus den die Schwannsche Scheide kon- 
stituierenden Elementen, welche im Laufe des pathologischen Prozesses die 
Rolle von Phagocyten übernommen haben Von deutschen Autoren war es 
Stroebe, der zuerst die Auffassung verfochten hat, dass diese „spindelförmigen 
Anhäufungen von Protoplasma" — wohl identisch mit den „Garnituren" 
Mayers, — wie wir sie auch im Verlaufe echter degenerativer Prozesse als 
Aufnahmestätten der Markzerfallsprodukte antreffen, nicht blosse Anhäufungen 
innerhalb eines im übrigen nicht weiter differenzierten Protoplasmastranges 
seien, sondern dass sie wohldifferenzierte Zellindividualitäten darstellen; jeden- 
falls hat Stroebe zuerst diese Anschauung litterarisch schärfer formuliert. 
Ich kann auf Grund meiner Befunde seiner Anschauung rückhaltlos beipflichten. 
Gleich ihm fand ich übrigens manche dieser Zellen später im Verlauf einer 
Bandfaser ganz continuierlich eingeschaltet, von ihrer Umgebung nur unscharf 
abgehoben, die Markreste in ihrem Innern abgeblasst, ähnlich den von Elzholz 
beschriebenen Schattengebilden, auch an Zahl reduziert; einzelne solcher Fett- 
krümel, von verschiedener Form und Färbungsintensität, meist aber recht klein 
an Umfang, fanden sich wohl auch frei im Protoplasma. 

Die Phagocyten werden wohl aber nicht alle mit dem Lymphstrom als Wanderzellen 
weggeschafft, sondern ein Teil von ihnen mag sich wohl in der Continuität der sich 
regenierenden Faserstrecken an dem Wiederaufbau der Schwannschen Scheiden beteiligen, 
indem sie sich wieder zu gewöhnlichen Schwannschen Scheidenzellen rückumwandeln (eine 
Art Kreislauf der Funktion). 

Die Breite der besprochenen Bänder ist stets geringer als die der normalen Faser- 
partien, zwischen welchen sie intercaliert sind; bisweilen ist die Differenz nur gering, 
aber sie reicht auch herab bis zu einem Dritteil oder Viertel des normalen Fasercalibers; 
gewöhnlich trifft man, zumal in längeren Bandstücken, auch verschieden breite Partien. 

Sehr häufig nun zeigt sich in diesem Stadium, dass der Achsencylinder, 
der sich als scharf tingiertes Gebilde eine Strecke weit in ein solches Band 
hineinverfolgen lässt, plötzlich abschneidet, um erst in der Nähe des anders- 
scitigen normalen Faseranteiles wieder ebenso scharf in Erscheinung zu treten 
und sich dort in dieselbe continuierlich fortzusetzen. Ich will gleich hier be- 
tonen, dass solche Bilder ja nicht mit anderen schon oben beschriebenen ver- 
wechselt werden dürfen, wo der Achsencylinder nur streckenweise von besonders 
massigen (Garnituren verdeckt wird, aber zwischen denselben ganz distinct wieder 
auftaucht; solche Bilder gehören einem früheren Stadium an, während hier der 
Achsencylinder eine grosse Strecke weit, ohne durch Garnituren verdeckt zu 
werden, weder mit Saflfranin noch mit Anilinblau dargestellt werden kann, also 
jedenfalls sehr schwer alteriert ist, ohne dass die central- und peripherwärts 
davon gelegene F'ascrstreckc ein pathologisches Aussehen böte. Solche Be- 
funde werden auch von Pitres und Vaillard erwähnt, indes nicht näher be- 
schrieben. Gombault lässt den Achsencylinder zwar gleichfalls auf der Höhe 
des Prozesses mit Pikrokarmin nicht mehr hervortreten, dann aber habe eben 
der Zerfall auch ihn ergriffen, seine Continuität unterbrochen, und es trete 
nunmehr Wallersche Degeneration peripherwärts von dieser Dissektionsstelle 
ein. Ich habe nur das F'ehlcn Wall erscher Degeneration peripherwärts von 
solchen Stellen häufig konstatieren können. Niemals konnte ich mich mit 



^^•''^^^"•^- ÜBER DISCONTINUIERLitHE ZERFALLSPROZESSE ETC. 185 

Sicherheit überzeugen, dass segmentaler und Wallerschcr Zerfall ineinander 
übergegangen wären, obschon ich die Möglichkeit eines solchen Überganges 
a priori wenigstens nicht direkt in Abrede zu stellen vermag. 

Schliesslich sieht man nicht selten in das Protoplasma wie in die Phagocyten Vacuolen 
von oft beträchtlicher Grösse eingelagert. 

Das wäre also das Bild, welches uns am Ende der Zerfallsperiode ent- 
gegentritt; wie ersichtlich, greifen, gleichwie dies auch die neueren über De- 
und Regeneration arbeitenden Autoren sämmtlich hervorheben, Destruktions- 
und Restitutionsvorgänge eng ineinander. Im eben geschilderten Stadium 
haben erstere bereits ihren Höhepunkt überschritten, und unsere nunmehr 
folgende Beschreibung wird sich daher fast ausschliesslich mit den letzteren 
zu befassen haben, soweit sie uns bei unseren Prozessen entgegentreten. 

Zum Zwecke des Studiums der ergriftenen F'asergebietc in der Periode 
der Restitutionsvorgänge wurde die durch 5 — 6 Wochen fortgesetzte Ver- 
fütterung von kohlensaurem Bleioxyd nach Ablauf dieser Zeit abgebrochen 
und die Tiere nach 4 — 5 wöchentlicher Erholungsfrist getötet. Das Bild, 
welches die Nerven dieser Tiere in Zupfpräparaten darboten, war ein äusserst 
instruktives. 

Zunächst fiel es da auf, dass die absolute Masse der Degenerationsprodukte nicht 
mehr so wie im früher beschriebenen Stadium das Gesichtsfeld beherrschte. Die affizierten 
Faserpartien präsentierten sich als mehr oder minder lange Bänder, von verschiedener, 
doch stets hinter der normalen zurückbleibender Dicke, an Osmiumpräparaten grünlich, 
an Marchi Präparaten grünlich- weingelb gefärbt; bei Nachfarbung mit Saffranin nahmen sie 
einen schönen mattrosafarbenen Ton an. Sie erschienen nicht mehr wie früher an vielen 
Stellen wie übersäet mit Degenerationsprodukten, sondern waren auf weite Strecken hin 
von diesen ganz frei. Phagocyten sassen in ihrer Seitenwand in viel geringerer Anzahl 
als früher, ja es fanden sich manche Bänder von recht stattlicher Längenausdehnung, 
in welchen längs ihres ganzen Verlaufes nichts mehr von Markkrümeln zu entdecken war, 
so dass man ohne Kenntnis der früheren Stadien direkt hätte zu dem Eindruck verleitet 
werden können, als wäre in die Kontinuität einer ganz normalen Nervenfaser auf eine 
beträchtliche Strecke weit ein Bindegewebsstrang eingeschaltet. Die noch vorhandenen 
Phagocyten erschienen ihrer Mehrzahl nach in allen l^imensionen kleiner als in den vor- 
her beschriebenen Bildern; während ein Teil von ihnen sich noch scharf, vielleicht sogar 
um eine Nuance schärfer von den Bandfasern abgrenzte wie dort, war bezüglich eines an- 
deren Teiles gerade die gegenteilige Wahrnehmung zu machen; die spindelförmigen Körper 
(Garnituren) waren als solche wohl noch zu sehen, aber verloren sich mit verwascheneren 
Grenzen in ihre Umgebung; Kerne waren darin nicht mehr in solcher Zahl auszunehmen 
wie früher. Die darin enthaltenen Markrestc waren meist kleiner; in ihrem Farbenton 
oft lichtgrau, ähnlich den von Elzholz beschriebenen Schattcngebilden, sie grenzten sich 
auch ihrerseits nicht so haarscharf von ihrer protoplasmatischcn Umgebung ab wie dies 
in früheren Stadien der Fall war. Ich hatte, gleichwie Elzholz bei den von ihm be- 
schriebenen Gebilden, den Eindruck einer Auflösung, Verflüchtigung dieser Gebilde; auch 
an den frei im Protoplasma vorkommenden Mru-kpartikelchen sah ich dieselbe Erscheinung, 
vielleicht in noch ausgeprägterem Masse. 

Unsere Auffassung dieser Dinge haben wir schon an früherer Stelle skizziert, be- 
halten uns eine Erörterung an einer späteren Stelle dieser Arbeit noch vor. Da wir 
phagocytäre Gebilde gleich vielen anderen Autoren wohl auch manchmal frei im Binde- 
gewebe gesehen haben, doch bei weitem nicht in einer Zahl, welche der Häufigkeit ihres 
Vorkommens in den Fasern entsprochen hätte, so liegt im Zusammenhalte mit den eben 
besprochenen Befunden die Annahme nahe, dass die alten Markreste nicht samt und 
sonders fortgeschwemmt werden, sondern beim Funktionswechsel, bezw. der Umwandlung 

Journal für Psychologie und Neurologie. Bd. I. I4 



l86 DR. ERWIN STRANSKY. ^"""^^ NcS3l^?i°^*' 

der sie beherbergenden Phagocyten zu Schwann sehen Scheidenzellen von diesen wieder 
ausgestossen werden. 

Nun zu den neugebildeten Markscheiden selber! Durchmustert man Prä- 
parate aus den genannten Stadien, so bekommt man dergleichen Bildungen in verschiedenen 
Ausbildungsgraden zu Gesicht. Anfanglich sieht man stellenweisse in den Bändern, und 
zwar stets im Anschlüsse an eine normale Nervenpartie, doch nicht in direkter Verbindung 
mit derselben, über die besprochenen Faserbänder einen ganz dünnen, rauchgrauen 
Schleier ausgebreitet, der sich nach der andern Richtung allmalig verliert. Man sieht 
zunächst keinerlei Segmentierung derselben, späterhin aber, in ausgebildeteren Fällen, kann 
man schon innerhalb dieser feinsten Markfasern Ranviersche Schnürringe ausnehmen, 
meist in nicht regelmässigen Abständen. Nach und nach verdichtet sich der charak- 
teristische Farbenton dieser neuen Scheiden immer mehr, und wenn nun ein solches 
Bandfaserstück seiner ganzen Länge nach derart ummarkt ist, dann haben wir typische 
Schaltstücke, segments intcrcalaires, vor uns. Ihre Genese wird oft noch durch den Um- 
stand deutlich veranschaulicht, dass man an ihrem Rande entlang noch hier und da 
Phagocyten, freie Markreste, Plasmaschwellung und Kernvermehrung findet. 

Auch an Marchi -Präparaten, nicht bloss bei reiner Osmiumfixierung, gelingt es, 
diese Verhältnisse zur Darstellung zu bringen; allerdings, um die Farbendifferenzen 
zwischen markloscn Bandpartien und solchen mit feinster Ummarkung wahrzunehmen, 
dazu gehört ein weit geübteres Auge als für die sofortige Osmiumfixierung; oft ist dies 
überhaupt kaum möglich; aber es giebt einen anderen Wegweiser, um zwischen marklosen 
und markhaltigen Partien zu unterscheiden: das ist einmal das Vorhandensein Ran vi er scher 
Schnürringe, die sofort mit dem Beginn des Markzerfalls aus dem Faserbild verschwunden 
sind und erst dann wieder auftauchen, wenn sich neue Markscheiden gebildet haben; 
wo diese aber noch fehlen, erkennen wir das Vorhandensein von Mark sicher aus dem 
Auftreten jener als Schmidt-Lant ermann sehen Einkerbungen bekannten Veränderungen 
des Markes, die auch an feinsten Markscheiden deutlieh auftreten und naturgemäss 
wiederum nur dort in Erscheinung treten, wo Mark vorhanden ist. Dergestalt wird es 
ermöglicht, Marchipräparate, die, wie erwähnt, viele Details schärfer hervortreten lassen 
und zur Nachfarbung ungleich geeigneter sind als reine Osmiumnerven, auch gleichzeitig 
zum Studium dieser Prozesse neben den hier allerdings wesentlich massgebenden Osmium- 
bildern heranzuziehen. 

Während die Endstücke der unverändert gebliebenen Faserstrecken des Nerven in 
den Bildern früherer Stadien nicht wesentlich verschieden aussahen als die übrige Verlaufs- 
strecke der bezüglichen Faser und höchstens dadurch sich etwas von dieser abhoben, dass 
die El zholzschen Körperchen daselbst etwas gehäufter lagen, zeigten sich hier die Ansatz- 
stücke eigentümlich in ihrer Konfiguration verändert; sie erschienen meist kolbig verdickt. 
Die Begrenzung dieser kolbigen Verdickungen war nicht immer eine einfache Bogenlinie, 
sondern eine mehrfach gebuchtete Kontur, in einer Weise, wie dies seit Neu mann zahl- 
reiche Beobachter am distalen Ende des centralen Stumpfes von in der Kontinuität unter- 
brochenen Nervenfasern in der Regenerationsperiode gesehen haben. Im unmittelbaren 
Anschluss daran, doch von der Markscheide des intakten Faserstückes durch einen Schnür- 
ring getrennt, zudem auch an Kaliber scharf abgesetzt, sehen wir nun in der Regel die 
neue Markscheide des Schaltstückes in Erscheinung treten; andererseits kommt es aber 
auch vor, dass zwischen diese und das gewucherte Ende der alten Markseheide einige 
gröbere Markschollen eingeschoben sind, welche häufig die Tendenz zeigen, sich an dieser 
Stelle zu conglobieren, so dass von einer direkten Kontinuität keine Rede sein kann; man 
kann auch ohne dieses letztere Vorkommnis manchmal sehen, dass der neue Markbelag 
erst eine Strecke weit vom normalen Faserende anhebt, um sich nach der anderen Seite 
hin allmählig wieder zu verlieren, ohne das jenseitige unverändert gebliebene Faserende zu 
erreichen. Schliesslich wäre auch noch zu erwähnen, dass die junge Markscheide sich nicht 
nur häufig exccntrisch an die alte inseriert, sondern dass sich beide manchmal neben 
einander verschieben, so dass die junge Faser seitlich in die alte Faserstrecke eingepflanzt 
erscheint; man sieht dann die junge Scheide mit ganz scharfen Rändern authören. Alles 
Dinge, die auf eine diskontinuierliche Entwickelung der jungen Markscheide hinweisen. 



^^''* ^M2^*"'^* ÜBER DISCONTINUIERLICHE ZEIiPALLSPROZESSE ETC. 187 



Bezüglich des Verhaltens der Kerne in diesem Stadium ist her^'orzuheben , dass sie 
an Zahl und Grösse beträchtlich zurückgegangen sind; auch sind sie meist wieder längs- 
oval in der Faserrichtung eingestellt wie in der physiologischen Faser. Die Protoplasma- 
schwellung ist gleichfalls eine bloss massige, die Anhäufungen von Protoplasma sind spär- 
licher und kleiner; an vielen Orten ist von diesen pathologischen Veränderungen über- 
haupt nichts mehr zu sehen; ein solches Schaltstück unterscheidet sich dann in nichts 
mehr von den physiologischer Weise in jedem Nerven in einer gewissen Anzahl vor- 
kommenden feinen Fasern. Die zu langen dünnen spindelförmigen Elementen aus- 
gewachsenen Zellen des gewucherten Plasmas, deren vormalige phagocytische Periode man 
noch aus dem Verhandensein vereinzelter Myelintröpfchen in ihrem Innern zu erschliessen 
vermag, legen sich nach und nach aneinander und formieren so den langen, sehr dünnen 
Protoplasmabelag der normalen Fasern, der sich zur Schwannschen Scheide verdichtet, 
die alten Schwannschen Scheiden bezw. ihre Reste sieht man oft diesen neuen Fasern 
flottierend adhärieren. 

Die Frage, ob, wie manche Autoren beliaupten, bei der Bildung der Schwannschen 
Scheide eine innere, dünne Schicht von Protoplasma zurückbleibt, vermag ich nicht zu 
entscheiden. Sicher ist, dass eine solche Protoplasmaschicht, die sich unter pathologischen 
Verhältnissen häufig von der Schwannschen Scheide differenziert, unter normalen Verhält- 
nissen in der Regel nicht zu bemerken ist. - 

Der Achsencylinder zeigt in den Bändern, so weit sie noch nicht markhaltig sind, ein 
verschiedenes Verhalten, manchmal ist es in den Zerstörungsprozess manifest nicht mit- 
hineingezogen, man vennag ihn dann etwiis verbreitert und blasser, deutlich von den nor- 
malen Partien her hindurch zu verfolgen. Anderwärts wiederum ist er als distinct- 
tingiertes Gebilde nicht zu sehen; man sieht ihn vor oder in dem afficierten Gebiete 
tinctoriell scharf abschneiden und erst jenseits desselben wieder als roten bezw. blauen 
Streifen ebenso scharf einzusetzen. Niemals aber habe ich den Achsencylinder in jenen 
Faserstrecken vermisst, die bereits einen Markbelag aufweisen. — 

Über die Deutung und Bedeutung' dieser Befunde wollen wir an späterer 
Stelle sprechen. Hier sei uns noch eine differentialdiagnostische Bemerkung 
gestattet. Man sieht in P^asern mit eben beginnender Segmentaffektion sehr 
häufig auf kurze Strecken ein morphologisch noch so ziemlich intaktes, nur 
verschmälertes Stück Markscheide zwischen die Zerfallsprodukte eingeschaltet; 
man könnte bei dem Ineinandergehen von de- und regenerativen Vorgängen 
vielleicht zu der Annahme verleitet werden, als w^ürde es sich da nicht etwa 
um noch erhaltene, sondern um bereits restituierte Scheiden handeln; doch 
bei genauerem Zusehen erkennen wir sogleich, dass hier eine X^erwechselung 
unmöglich ist. Die alte Markscheide erscheint wohl etwas verschmälert, aber 
mit deutlichem breitem Doppelkontur und von tieklunkler Färbungsintensität. 
Die junge Scheide ist aber in toto leicht rauchgrau und zeigt einen feinsten 
linearen Kontur, unbeschadet ihrer Breite, welche in verschiedenen Grenzen 
unterhalb des Normalwertes schwanken kann. 

Schliesslich sei noch bemerkt, dass der Übergang der jungen in die alte 
Faserpartie nicht immer so scharf markiert ist, wie es dem gewöhnlichen Typus 
entspricht, den wir oben beschrieben haben. Namentlich wenn nur eine kürzere 
Teilstrecke eines Segmentes betroffen war, erfolgt der Übergang in das nor- 
male Gebiet mehr allmählich, die Kaliberdititerenzcii sind nicht wesentliche 
und nur die morphologische und tinctorielle Beschailenheit charakterisiert die 
pathologisch veränderte Stelle als solche. 

Die Frage nach der Regeneration der Achsencylinder Hess sich an meinen 
Präparaten nicht recht entscheiden. Ich habe, wie bemerkt, den Achsencylinder 

14* 



l88 DR. ERWIN STRANSKY. "^^^^ NcSolog°i?^'*' 

als feinen, aber distinkten roten bezw. blauen Faden stets in jenen Schalt- 
stücken gesehen, die bereits einen Markbelag aufwiesen. Fehlte dieser, dann 
sah ich öfters die Achsencylinderfärbung unterbrochen. Wie aber die Regeneration 
desselben zu stände kommt, darüber konnte ich weder aus Längsschnitten noch 
aus Zupfpräparaten ein hinreichend sicheres Urteil schöpfen. Es ist dies bei 
den von uns geschilderten Präparaten umso schwerer, als man sich weder an 
diesen noch an jenen ein genügend sicheres Urteil darüber bilden kann, was 
zentral und was peripher gelegen ist. Ich muss daher diesen Punkt in suspenso 
lassen und mich darauf beschränken zu sagen, dass jedenfalls auch der Achsen- 
cylinder als tinktorielle Einheit Schaden leiden kann, ohne dass das periphere 
Stück des Nerven degeneriert. Ob es sich aber thatsächlich um eine wahre, 
disseciercnde Neuritis im Sinne Gombaults handelt, ob, wie es Pitres und 
Vaillard wollen, der Achsencvlindcr wirklich in seiner Kontinuität unter- 
brechen wird, ohne jede konsekutive Affektion des peripheren Stückes, das 
ist eine Frage, die sich nur unter Zuhilfenahme der feinsten technischen Hilfs- 
mittel wird lösen lassen und die jedenfalls eine gesonderte Bearbeitung ver- 
langt, welche ich mir für die nächste Zukunft vorbehalte. 

Querschnitte, welche ich in den verschiedenen Stadien durch die erkrankten 
Nerven anlegte und von denen ich mehrere hier abbilde, lehren in Ergänzung 
dessen, was man schon am Zupfpräparatc sieht, dass in den meisten Nerven- 
bündeln nur recht wenige Fasern intakt geblieben sind. Vergleicht man mit 
dieser augenfälligen Thatsache den weiteren Umstand, dass die von den Tieren 
dargebotenen Motilitätsstörungen im Grunde genommen nur geringe gewesen 
sind, so gewinnt sie ein hohes Interesse. Wenn wir nicht annehmen wollen, 
dass den intercalären Bandstücken, wie dies seit Neu mann und Mayer viele 
Autoren und erst in letzter Zeit wieder Ho well und Hub er aufgestellt haben, 
eine Rolle als leitendes Element zukommt, so bliebe doch nur die Möglich- 
keit, dass in denselben der Achscncylinder, wenn auch in einem Grade ge- 
schädigt, dass er tinktoriell nicht mehr distinkt dargestellt werden kann, weiter 
persistiert und seine Funktion als leitendes Element, wenn auch mit Defekt, 
versieht. So Hesse es sich auch ungezwungen erklären, dass die Kontinuität 
desselben in den regenerierten Schaltstücken nach beiden Seiten hin eine 
intakte ist, peripherwärts ebensowohl wie zentralwärts. Ich bin daher, so lange 
wir mit unseren Hilfsmitteln nicht im stände sind, die bezüglichen Verhältnisse 
in einer jeden Zweifel ausschliessendcn Weise darzustellen, geneigt, eine Per- 
sistenz des wenn au(:h tiefer geschädigten Achsencylinders anzunehmen. 

Das Querschnittsbild liefert uns auch insofern eine Ergänzung zu den 
Zupfpräparaten, als es uns zeigt, wie die Markzerfallsprodukte oft noch neben 
einem dünnen Markringe liegen; wie man sieht, ein ganz anderes Bild als bei 
der Wall ersehen Degeneration. Vergleicht man die früheren Stadien — mit 
starker Vermehrung der Elzholzschen Körperchen — mit jenen Bildern, wie 
sie am Querschnitte der Stadien mit ausgesprochenem Zerfalle erscheinen, so 
merkt man wohl das kaum mehr als Graduelle des Unterschiedes. Betrachtet 
man wiederum die beschriebenen Bilder als Ganzes, so kann man sich unschwer 
des Eindruckes erwehren, dass ähnliche Querschnittsbilder von früheren Autoren 
in der Regel schlechtweg als für das Bestehen von ,, degenerativem Zerfall" be- 



^^' '' ^^ ^ "' ^' ^^ER DISCONTINUIERLICIIE ZERFALLSPROZESSE ETC. 1 89 



weisend angesehen worden sind. Und doch als wie grundverschieden lässt 
uns das Zupfpräparat beide Prozesse erscheinen! Es heisst die Zerfaserung-s- 
methode, deren Grenzen für die Erkenntnis so vieler Details soeben aufgezeig"t 
worden sind, keineswegs überschätzen, wenn man betont, dass bei häufigerer 
Anwendung gerade dieser Methode die histologischen Irrtümer, welche ihre 
Wurzel in der generalisierenden Anwendung des Begriffes ,, Degeneration** 
haben, vielleicht schon früher hätten vermieden werden können. 

Es sei uns nun gestattet, auf zwei Arbeiten einzugehen, die seinerzeit 
ungefähr gleichzeitig mit der G o mb au It sehen erschienen sind und von ganz 
anderen Prämissen ausgehend und ganz andere Ziele verfolgend, dennoch 
vielfach Verwandtes zu Tage förderten; gemeint sind die Arbeiten von Neu- 
mann und von S. Mayer. 

Die Neumann sehe Arbeit bezieht sich eigentlich auf die vielumstrittene 
Frage der Degeneration und Regeneration lädierter Nerven. Uns interessiert 
vor allem, dass Neu mann von den im zentralen Stumpf gequetschter Nerven 
sich abspielenden Prozessen eine Beschreibung giebt, welche sich so ziemlich 
deckt mit dem, was Gombault und ich in grossen Zügen geschildert haben. 
Allerdings ist Neu mann nicht geneigt, in diesen Prozessen etwas anderes zu 
sehen, als eine langsamer verlaufende Form von ,, Degeneration**. Weiterhin 
ist für uns von Wichtigkeit die von Ranvier übernommene Angabe Neu- 
manns, dass auch im peripheren Stück im Verlaufe der Regenerationsphase 
öfters einzelne Segmente in ihrer Entwickclung etwas zurückbleiben. 

Von noch grösserem Belange sind für uns die Angaben von S. Mayer. 
Dieser Forscher hat die am gesunden Nerven de norma sich abspielenden 
Zerfallsprozesse studiert. Er hat scharf und klar ausgesprochen, dass im Ver- 
laufe einer sonst völlig unveränderten Nervenfaser einzelne Segmente krank- 
hafte Veränderungen zeigen können. Die Abbildungen, in weniger ausführ- 
lichem Masse freilich die Beschreibung, welche er giebt, lassen erkennen, dass 
er im Grunde genommen unabhängig und nahezu gleichzeitig mit Gombault 
segmentäre Zerfallsprozesse am Nerven gesehen und, wie wir wohl auch sagen 
dürfen, in ihrer Bedeutung gewürdigt hat; wir werden ja darauf noch zurück- 
kommen müssen. In gewissem Sinne sind also die Ranvier-Gombaultschen 
Befunde wohl auch deutscherseits, wenn auch nicht früher und vielleicht 
nicht so eingehend, so doch unabhängig erhoben worden. 

Mayer konnte sich auch davon überzeugen, dass die Schaltstücke — 
dieser deutsche Ausdruck für die Segments intercalaires rührt von ihm her — 
nichts sind als solche afficierte Segmente im Stadium der Regeneration. 

Neben den Schaltstücken, die nach beiden Richtungen hin scharf gegen 
ihre Nachbargebiete abgesetzt sind, unterschied er noch Ansatzstücke, die nur 
nach einer Richtung hin sich scharf gegen die normal gebliebenen Faseranteile 
hin abgrenzen. 

Es mag gleich hier Erwähnung finden, dass Mayer für diese Zerfalls- 
form zwar die Bezeichnung ,, Degeneration" gebraucht, doch ausdrücklich be- 
merkt, dass dieser Ausdruck hierfür keine andere Bedeutung als eine reine 
provisorische beanspruchen könne; denn mit der echten Wall ersehen 



1 90 DR. ERWIN STR ANSKY. -^-^J» NcÄt^" 



Degeneration haben die diskontinuierlichen Zerfallsprozesse, die sich unab- 
hängig" vom Centralorgan abspielen, nichts gemein, es sind Prozesse sui generis. 
Dieser Bemerkung Mayers dürfen wir uns wohl rückhaltlos 
anschliessen. Der Begriff „Degeneration'* wird auch noch bis zum heutigen 
Tage viel zu weit gefasst. Sicherlich hat vieles von dem, was auch in der 
Litteratur unter diesem Namen figuriert, nichts damit gemein, sondern ist dis- 
kontinuierlicher Zerfall. Einige Beispiele mögen dies illustrieren. So ist 
höchstwahrscheinlich vieles von dem, was Oppenheim und Siemcrling in 
ihrer Arbeit über periphere Nerv^enerkrankungen und neuritische Prozesse bei 
der Tabes als degenerative Veränderungen ansprechen, als diskontinuierlicher 
Zerfall anzusehen; es sei hier insbesondere hingewiesen auf den Fall XXIX 
der genannten Autoren (Polyneuritis alcoholica), wo sich vorzüglich im 
Saphenus major zahlreiche Stellen fanden, entsprechend denen das Myelin 
bei Osmiumfärbung lichtgrau erschien und Zerfall teils in grössere Klumpen, 
teils kleine Tröpfchen zeigte; auch solche Stellen präsentierten sich im Prä- 
parate, wo man nichts sehen konnte als leere Seh wann sehe Scheiden; nach 
den Autoren wäre dieser Prozess als ,, einfache parenchymatöse Degeneration 
mit Endausgang in Atrophie" zu bezeichnen; oder Fall XXXII (Alcoholismus 
chron.): Im Radialis viele Fasern wie gebläht aussehend, in Osmium zerzupft 
von körniger Struktur, stellenweise auch Einlagerung gröberer. Markblöckc; 
an mehreren Stellen auch nichts von Achsencylinder zu sehen; ähnliche 
Bilder auch mehrfach in anderen Nerven vom selben Individuum, noch in 
einigen anderen der aufgeführten Fälle war das Bild der Beschreibung nach 
ein ähnliches. Oppenheim und Siem erlin g reihen diese von ihnen als 
Neuritiden aufgefassten Prozesse in das Gebiet der parenchymatösen Degenera- 
tion ein, scheinen sie also nicht sonderlich scharf von der Wallerschen zu 
trennen. Ahnlich dürfen wir wohl Mendels Beschreibung der Veränderungen 
in einem Falle von Diphtherielähmung am Oculomotorius auffassen: die Mark- 
scheiden färbten sich übermässig stark mit Karmin, einzelne enthalten keine 
Achsencylinder; soweit sich solche präsentieren, sind sie von verschiedener 
Grösse; zwischen den Querschnitten der Nervenfasern zeigen sich eigenartige 
schollige Gebilde; die Ncurilemmkerne gewuchert. Goldflam beschreibt 
einen Fall von Bleilähmung mit ,, degenerativen'* Veränderungen in den peri- 
pherischen Nerven; wie weit beispielsweise dieser Autor in der Ausdehnung 
und Anwendung des Begriffes der Degeneration geht, erhellt aus seiner Be- 
schreibung, wonach diese „Degeneration" sich in der Weise abspielt, dass die 
Fasern allmählich dünner werden, das Myelin schliesslich ungefärbt bleibt, 
bis endlich nur mehr die Seh wann sehe Scheide zu sehen ist; welch weit- 
herzige Auffassimg I In Preisz' Arbeit, welche wiederum die Diphtherie- 
lähnnmg zum Gegenstände hat, werden gleichfalls ,, degenerative" Prozesse an 
den peripheren Nerven beschrieben: An Stelle der Markscheide erscheinen 
vieltaeh körnige Massen, durch die der Achsencylinder öfters gleichsam an die 
Wand gedrückt wird (oftenbar handelt es sich um Garnituren). Das Mark ist 
auch stellenweise in schwarze krümelige Massen zerfallen; oft ist dieses auch 
ganz geschwunden, so dass die Schwannsche Scheide, deren Kerne lebhaft 
gewuchert sind, nur mehr den Achsencylinder beherbergt. 



^^* ^' ^OM^ * "* ^* ÜBER DISCONTINUIERLICIIE ZERFALLSPROZESSE ETC. IQI 



Auch Flatau scheidet nicht mit Schärfe zwischen degenerativen und 
neuritischen Veränderungen. Ef thut wohl auch der Gombaultschen Resultate 
Erwähnung. Doch sind diese segmentären Prozesse für ihn nichts als gleich- 
falls „Degeneration** milderen Grades, nicht wesentlich unterschieden von der 
Wallerschen. Flatau wendet sich auch gegen die absolute Gültigkeit des 
Wall ersehen Gesetzes und beruft sich zu diesem Behufc auf die Lehre von 
der „retrograden Degeneration", der er anhängt. 

Nonne beschreibt einen Fall von Tbc. pulmonum, wo es durch Druck 
der stark vorspringenden Claviculae auf die Stämme des Plexus brachialis zu 
Parese sowie sensiblen und vasomotorischen Störungen in den Armen kam; 
Entartungsreaktion. Bei der Autopsie waren die Nerven an der Druckstelle 
bis auf leichte Abplattung normal. Mikroskopisch erschien an der Druckstelle 
das Mark bei Weigert- Färbung heller, der Achsencylindcr etwas gequollen. 
Während zentralwärts davon nun die Nervenfasern kein pathologisches Aus- 
sehen darboten, fanden sich in den peripheren Nerven im Osmiumzupfprä- 
paratc vereinzelte Körnchen und Kugeln in den Markscheiden, ohne dass 
Zeichen weiter fortgeschrittenen Zerfalles zu konstatieren gewesen wären. Offen- 
bar ein dem unsrigen möglicherweise nahe verwandter Prozess! 

Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit, auf alle bezüglichen in der 
Litteratur vorfindbaren Fälle einzugehen, deren Anzahl gewiss ebenso gross 
ist, als die Ncuritislitteratur histologisch untersuchte Fälle umfasst. Es sollten 
hier nur einige besonders typische Beispiele herausgegriffen werden, die 
gleichsam klassische Paradigmata dafür abgeben, w^ie auch von autoritativer 
Seite nicht immer mit Nachdruck Unterschiede betont worden sind, welche 
sonst in der pathologischen Histologie durchwegs Geltung haben. Mit der 
Erörterung speziell dieses Fragenkomplexes befasst sich nun schon eine Reihe 
grösstenteils aus unserer Klinik hervorgegangener Arbeiten. Die ersten hierauf 
bezugnehmenden Untersuchungen rühren von Elzholz her; wir haben sie 
schon an früherer Stelle gewürdigt. Hier ist auch der Ort, zu erwähnen, dass 
ein Seitenstück zu den bisher erwähnten Angaben diejenigen von A. West- 
phal darstellen, welcher Forscher in den Nerven von Säuglingen öine im 
Vergleich zum Erwachsenen noch unvollständige, und, was für uns von Belang 
ist, auch auf ein und dieselbe Faser bezogen, ungleichmässig starke Mark- 
entwickelung feststellte; oft ist die Markscheide in ihrem Verlaufe eine Strecke 
weit unterbrochen. Westphal weist darauf hin, es sei diesen Befunden ent- 
sprechend wohl der Satz berechtigt, dass die Nervenfaser im Jugendzustande 
ein ähnliches Bild darbiete, wie bei den insbesondere von Gombault be- 
schriebenen pathologischen Prozessen einerseits, im Stadium der senilen In- 
volution (Elzholz) andererseits. 

Nehmen wir den Faden unserer Erörterung des weiteren auf, so stosscn 
wir zunächst auf die experimentelle Arbeit von Pilcz, welcher sich den Aus- 
führungen Elzholz und seinen Schlussfolgerungen rückhaltslos anschliesst. 
Bald darauf hat sich auch Raimann dem Thema der regressiven und degenera- 
tiven Prozesse im peripherischen Nervensystem zugewandt und auf Grund 
seiner Versuche speziell den Begriff der retrograden Degeneration scharf zurück- 
gewiesen. Im Speziellen hat dieser Autor auf die Fehlerquellen aufmerksam 



192 DR. ERWIN STRANSKY. ^^'^d NeuSi2lriL°^** 



und Neurologie. 



g^emacht, die von zahlreichen Forschern, welche die von ihm zurückgewiesene 
Lehre aufgestellt beziehungsweise acceptiert hatten, so insbesondere von Forel, 
Marinesco, Klippel, Durante und Anderen unbeachtet gelassen worden 
waren; insonderheit kommt hier die Continuitätsunterbrechung eines Nerven 
vermittelst der Ausreissung in Betracht, die ja freilich ein so schweres Trauma 
setzt, dass auch die Ursprungszelle, nicht allein die Faser als solche in Mit- 
leidenschaft gezogen werden muss; es hat auch diese Argumentation Raimanns 
eine Bestätigung durch die jüngst aus unserer Klinik hervorgegangene Arbeit 
von Sträusslcr erhalten, welcher den Nachweis geführt hat, dass bei Aus- 
reissung eines Nerven die zugehörigen cellulären Elemente im Rückenmark 
stets schwere Veränderungen aufweisen, Veränderungen, die bei blosser Durch- 
schneidung stets ausbleiben. — Raimann hat, unter gleichzeitigem Hinweise 
auf eine Reihe in der Litteratur niedergelegter Beobachtungen, auf Grund 
seiner Versuchsergebnisse den Satz aufgestellt, dass es sich bei den im centralen 
Abschnitt durchschnittenen oder sonstwie ohne anderweitiges Trauma glatt 
durchtrennten Nerven niemals um Wallersche Degeneration, sondern stets 
entweder um einfach atrophische Prozesse — im Sinne von Elzholz — oder 
aber um solche entzündlicher Natur — wahrscheinlich segmentärer Natur secd. 
Gombault — handle; letzterer Art ist die sogenannte „traumatische Degenera- 
tion** früherer Autoren. 

Seither haben die Raimann sehen Ergebnisse bereits eine Bestätigung 
erfahren, durch die Mitteilungen von Brodmann und ganz neulich erst 
wiederum von Murawjeff. 

So sehen wir also in einer Reihe von Arbeiten aus der letzten Zeit das 
Bestreben vorwalten, etwas mehr System als bisher in unsere neurologische 
Bcgriffsbildung zu bringen. — 

Kehren wir nun wieder zu den Ergebnissen unserer Untersuchung zurück. 
Gewiss muss zugegeben werden, dass die blosse Vermehrung Elzholzscher 
Körperchen auch den rein atrophischen Involutionsprozess kennzeichnet, aber 
wir haben ja hervorgehoben, dass zu dieser Vermehrung von Produkten, die 
wir als Indikatoren des Mvelinzerfalles anzusehen haben, in unseren Bildern 
noch etwas zweites hinzukommt, was von- vornherein diese Bilder modifiziert. 
Es ist das die Protoplasmawucherung, wie sie in unseren Präparaten schon 
in diesem Stadium deutlich in Erscheinung tritt, wie auch aus den beigefügten 
Figuren ersichtlich ist. Wir können auch unschwer die Wahrnehmung 
machen, dass an diesen Stellen zwar nicht die Struktur der Faser im all- 
gemeinen wesentlich geändert, wohl aber bereits das Dicken-Volumen der 
Markscheide sichtlich reduziert ist, auf deren Kosten das Protoplasma an 
Masse gewonnen hat, wobei an solchen circuniscripten Stellen auch gar nicht 
selten KernvermcliruniL;' |)latzi^"reift. 

Vergleichen wir nun mit diesen Bildern jene der weiter vorgeschrittenen 
Stadien, so sehen wir, dass der Übergang ein kontinuierlicher ist. Die Zer- 
fallsj)rozcsse haben /uiiächsl nur an Intensität und Extensität zugenommen. 
Die Zcrralls|)r()cluktc schwanken in (irosse und Form in noch weiteren Grenzen 
wie dort, die Markscheide ist entweder total aufgebraucht oder aber es ist 
slcllcn weise noch ihre innere Lage erhalten, der Achsencylinder da wie dort 



^^' '* ^^ * "* ^' ÜBER DISCONTINUIERLICHE ZERFALLSPROZESSE ETC. I93 



deutlich erhalten. Das Protoplasma in noch höherem Grade gewuchert, die 
Kerne in maximaler Vermehrung. 

Bleiben wir an diesem Punkte einen Augenblick stehen. Was hatten 
wir zunächst? Sagen wir Atrophie mit Reizerscheinungen; das Gift schädigt 
die Nervenfaser zunächst in zweierlei Weise, einmal zerfällt das Mark viel 
rascher als unter dem Einflüsse des normalen Stoffwechsels, zweitens aber 
intumesciert das Protoplasma; es ist dabei gleichgiltig und lässt sich auch 
nicht entscheiden, ob diese letztere Erscheinung eine primäre direkte Gift- 
wirkung vorstellt oder durch einen secundären Reiz, als den wir uns den 
Markzerfall vorstellen könnten, bedingt ist; ich würde allerdings eher das 
Erstere glauben, denn es schien mir, als ob nicht an den Schnürringen, wo 
anfänglich die Myelinkrümmel am dichtesten liegen, freilich, da ja dort das 
Thor für den Stofi\vechsel der einzelnen Segmente sich befindet, sondern in 
der den Kern umgebenden Protoplasmazone der Ausgangspunkt der Wucherung 
wäre ; item die Wucherung ist da, das Gesamtvolumen der Faser dabei stellen- 
weise vermehrt, nirgends gegen die Norm verringert; (lombault giebt auch 
an, Plasma und Kernevermehrung erreichten viel höhere Grade als bei der 
secundären Degeneration. 

Wir hätten also gleich am Anfang alle Charakteristica eines paren- 
chymatös-entzündlichen Prozesses : Untergang einzelner Strukturelemente, 
Wucherung anderer, bei Erhaltensein der morphologisch wesentüchen Be- 
standteile: Achsencylinder und Seh wann sehe Scheide; denn die dazwischen- 
liegende Markscheide wird ja nicht als ein morphologisch festes Gebilde, 
sondern als ein Ausscheidungsprodukt, entweder des crsteren oder der letzteren 
angesehen. — 

Der Prozess macht nun nicht etwa am Achsencylinder Halt, er zieht 
auch diesen in den Kreis der Veränderungen; auch hier kann ich mich insofern 
völlig an Gombault und manche andere frühere Forscher anschliessen. Ich 
kann allerdings auf Grund meiner Befunde nicht so weit gehen, wie eine 
Reihe kühnerer Autoren, welche gleich den Achsencylinder an jenen Stellen, 
wo er — mit ihren Hilfsmitteln — färberisch nicht mehr zum Vorschein kam, 
zu Grunde gegangen sein lassen: sah ich doch ebensowenig peripher- wie 
zentralwärts die Faser degeneriert. Ich halte es für ein gewagtes Beginnen, 
auf Grund von Untersuchungen, die mit unseren technischen Hilfsmitteln ge- 
macht sind, gegen die Neuronenlehre anzukämpfen, was ja der Fall wäre, 
wenn man annähme, dass der Achsencylinder an einer Stelle der Faser zer- 
stört werden kann, ohne dass nicht nur pcripherwärts davon keine Degeneration, 
sondern sogar bei Möglichkeit der Erholung in loco Regeneration eintreten 
kann. Es wäre dies in Anlehnung an die neueren Versuche von Ho well 
und Huber, welche in den Protoplasniabändern an der Grenze des Zerfalls 
und Regenerationsstadiums gleich vielen früheren Autoren — so nenne ich 
nur S. Mayer — embryonale Fasern sehen, welche die Funktion der aus- 
gebildeten Faser su[)plicrend übernehmen können, gewiss verlockend; boten 
ja auch meine Tiere wie die Gombaults keine ausgesprochenen motorischen 
Ausfallssymptome dar, obzwar die Querschnitte auf ein diffuses Ergrifiensein 
der Fasern in allen Bündeln hinweisen. Aber angesichts des Umstandes, dass 



194 DR. ERWIN STRANSKY. •''*3' NcSoJJril''^*" 



ein genaueres Studium all dieser Dinge bisher nur an Zupfpräparaten möglich 
ist, an denen ich andererseits wegen zu grosser Dicke der Fasern die ohne- 
dies technisch äusserst launenhaften Fibrillen-Darstellungen nach Mönckeberg- 
Bethe — das relativ feinste technische Hilfsmittel, über das wir derzeit ver- 
fügen — nicht durchzuführen vermochte, erscheint es mir gewissenhafter, nicht, 
wie etwa Pitres und Vaillard es thaten, zu sagen: am Orte der Erkrankung 
ist auch der Achsencylinder zerstört — sondern mich mit der Feststellung 
zu begnügen, dass dort auch er tief erkrankt sein muss, so dass er vermut- 
lich seine Färbbarkeit eingebüsst hat. Denn es liegt uns ferne, in den von 
Stroebe mit Recht getadelten Fehler von Galeotti und Levi zu verfallen 
und auf Grund einseitiger und mit unseren technischen Hilfsmitteln noch lange 
nicht eindeutiger Befunde die Ncuronentheorie zu verleugnen, ohne dass wir 
vorderhand im stände wären, etwas besseres an ihre Stelle zu setzen. 

Aus dem Umstände, dass ich stets dort, wo in den Schaltstücken bereits 
Mark vorhanden war, auch einen Achsencylinder deutlich sehen konnte, glaube 
ich mit V. Kölliker und anderen mich der Anschauung anschliessen zu sollen, 
dass da5 Auftreten der Markscheide mit der normalen Thätigkeit des Achsen- 
cylindcrs innig vergesellschaftet ist. Ein morphologisch abgegrenztes Gebilde 
vermag ich in ihr nicht zu sehen. Ich halte sie vielmehr für ein Stoffwechsel- 
produkt und vermute gleich v. Kölliker, dass sie schon aus dem Grunde 
mit dem Achsencylinder und nicht mit dem Protoplasma in Beziehung steht, 
weil die zentralen Fasern wohl der Schwan nschcn Scheide, nicht aber des 
Myelinmantels entbehren. Wenn ich gleichwohl des öfteren keine Kontinuität 
zwischen der Markscheide der regenerierten und der normalen Faser sah, so 
ist dies wohl kein Widerspruch, denn ich halte die Markscheide für kein 
mor|)hologisches Gebilde, sondern für ein Ausscheidungsprodukt, welches den 
Achsencylinder mantelförmig innerhalb der Ilüllzcllgrenzcn umgicbt, also von 
einem Schnürringe bis zum anderen. 

Es bedarf ferner nach dem Obengesagten eigentlich keiner weiteren 
Erwähnung, dass ich in den aus Schwann sehen Scheidenzellen formierten 
Zellbändern nicht etwa, wie manche Autoren, nervöses, sondern Bindegewebe 
sehe (Stroebe, E. Ziegler u. a.). Gleichwohl halte ich die Schwann- 
schen Scheidenzellen für (Gebilde, die für den Regcnerationsprozess, sei es 
auch nur indirekt, eine hohe Bedeutung haben; ich sehe ab von ihrer mehr 
sekundären Bedeutung als Phagocyten : sie spielen gewiss auch beim normalen 
wie beim pathologischen Stoffwechsel der Faser eine grosse Rolle. An ihrer 
Grenze, am Schnürring, ist das Einfallsthor für Giftwirkungen, ist das Ausfalls- 
thor für Zerfallsprodukte. Ich darf hier wohl, abgesehen von den von Gom- 
bault gemachten und meinerseits bestätigten Beobachtungen, nochmals auf 
die schönen Versuche Ranvicrs hinweisen, der schon vor Gombault bei 
Einwirkung von Kochsalzlösungen auf die Nerven gerade an den Schnürringen 
das Einsetzen des Markzcrfalls nachweisen konnte. Ich darf andererseits 
darauf verweisen, dass ceteris paribus der sich regenerierende Nerv stets das 
Bestreben zeigt, in der alten Seh wann sehen Scheide weiter zu wachsen, ein 
l^mstand, dessen Bedeutung ja allerdings durch die sehr bemerkenswerten 
Versuche r\)rssmanns einigermassen herabgemindert wird, welcher Autor 



^^* ^' ^^ * "* ^* ÜBER DLSCOXTINUIERLICHE ZERF.UXS PROZESSE ETC. IQS 



g-efunden hat, dass zerfallendes Nervengewebe, ja selbst ein aus Hirnsubstanz 
hergestellter Brei von derselben Tierspezies auf die Fasern im centralen Stumpfe 
einen spezifischen Wachstumsreiz ausüben, so dass letztere die Tendenz zeigen, 
selbst auf Umwegen dorthin und nicht in gerader Richtung zu wachsen, falls 
in der Nähe des centralen Stumpfes ein Stück Nerv oder ein Röhrchen mit 
Hirnbrei implantiert wiid. Ich kann aber schliesslich noch die Bemerkung 
nicht unterdrücken, dass mir das Nebeneinander zweier Umstände recht be- 
merkenswert erscheint: das Fehlen Seh wann scher Scheiden im Centralorgan 
und das Fehlen der Regeneration im Centralnervensystem der höheren Tiere, 
worüber Stroebe in einer Arbeit und seiner grossen litterarischen Studie das 
Nähere niedergelegt hat. Die Seh wann sehe Scheide ist eben wohl mehr 
als eine blosse Bindegewebshülle, ein blosses Leitband, sondern sie giebt den 
Boden ab, auf dem sich der Nerv ungehindert entwickeln kann. So erklärt 
sich auch das ungeheure Aufgebot von Protoplasma bei der Regeneration, 
welches v. Büngner zu der Annahme verleitet hat, als würde dasselbe direkt 
zur Faserregeneration beitragen. Vielleicht licsse es sich so auch erklären, 
dass trotz der so schweren und tiefgreifenden Schädigung des Achsencylinders 
entsprechend dem Orte der Afifcktion dennoch das periphere Stück nicht 
leidet. Das Protoplasma hat hier wohl eine konservierende Wirkung, es 
schützt den Achscncylinder durch seine reaktive Wucherung vor endgültiger 
Zerstörung durch, weitere Gifteinwirkung. 

Wir erblicken jedoch, wie bemerkt, die Bedeutung unserer Befunde 
weniger in diesen Punkten, die ein mehr morphologisch -physiologisches 
Interesse beanspruchen, als in der pathologischen Seite, die man ihnen 
abgewinnen kann. — 

War in den früheren diesbezüglichen Arbeiten insbesondere das Be- 
streben ersichtlich, in die verworrene Degencrationsfrage an sich mehr Klar- 
heit zu bringen, so würde es uns als Hauptzweck der vorliegenden Studie 
erscheinen, die aus unseren Vorgängen gezogenen Schlüsse auf die Lehre 
von der Neuritis sinngemäss anzuwenden. Zu diesem Behufe haben wir die 
Gombaultschcn Experimente wieder aufgenommen und darzulegen versucht, 
dass den Befunden dieses Forschers, die wir in grossen Zügen, wenn auch 
nicht in allen Einzelheiten, mit modernen Mitteln geprüft, acceptieren, eine Be- 
deutung zukommt, für das Kapitel der pathologischen Anatomie der Neuritis. 
Wir konnten gleichfalls zeigen, dass ein so exquisites peripheres Nervengift, 
wie es das Blei darstellt, dass bis zu einem gewissen Grade auch das Arsen 
Veränderungen in den peripheren Nerven hervorrufen, die man bisher eines 
genaueren Studiums nicht genügend gewürdigt und schlechtweg in das grosse 
Sammelbecken ,, Degeneration'* geworfen hat; konnten wir dies ja auch an 
einigen markanten Beispielen aus der Litteratur ad oculos demonstrieren. 
Insbesondere seit Einführung der Marchi-Methode hat sich, trotzdem es hier 
an warnenden Stimmen, allerdings nach ganz anderer Richtung hin (Kirch- 
gässer u. A.) nicht fehlt, mehr und mehr die merkwürdige Logik heraus- 
gebildet, dass alles, was schwarz ist, auch degeneriert sei. Umso wichtiger 
war es für uns, eerade dieser feinsten Reaktion auf Mvelinzerfall einen breiten 
Spielraum bei der Technik unserer Untersuchungen einzuräumen und den Be- 



1 96 DR. ERWIN STRANSKY. >3» ÄcurÄ'" 



weis zu liefern, dass Schwarzfärbung nur der Ausdruck einer Erkrankung, 
nicht jedoch bloss des degenerativen Zerfalls ist; denn bedarf es noch des Bei- 
satzes, dass unsere Prozesse von der typisch ablaufenden Wallerschen 
Degeneration toto coelo verschieden sind? Hier feinkörnig -krümliger 
Zerfall des Marks, dort Segmentierung desselben zu Cylindern, Ovoiden, 
groben Schollen, die schliesslich weiter zerbröckeln. Hier Erhaltenbleiben 
und späteres Ergriffenwerden des Achsencylinders , dort mit dem Markzerfall 
fast gleichzeitiges Untergehen und Zerreissen desselben in zahlreiche Stücke. 
Hier Intaktbleiben der peripherwärts von der afficierten Stelle liegenden 
Faserstrecke, dort zu Grunde gehen des peripherwärts gelegenen Stückes! 
Hier synchrones Einsetzen der Plasmavermehrung mit den übrigen patho- 
logischen Erscheinungen, dort secundäre Wucherung derselben nach bereits 
eingetretenem Markzerfall! Hier Beschränktbleiben des pathologischen Prozesses 
auf ein kurzes Stück der Faser, und, consecutive Restitution an Ort und Stelle, 
dort Ausbreitung desselben über die ganze periphere Nervenstrecke und un- 
ausbleiblicher Untergang derselben. Der Unterschiede genug, um einzusehen, 
dass es sich in beiden Fällen um zwei vollkommen disparate Dinge handelt. 

Es thut also wohl dringend not, unter Zuhilfenahme der Marchischen 
und last not Icast der Zupfmethode, von der wir hier wohl wesentlich mehr 
Aufschlüsse zu erwarten haben, als von Schnitten, wo sich solche Details 
niemals so schön zur Darstellung bringen lassen, das Kapitel der pathologischen 
Anatomie der Neuritis zu revidieren. Es wird sich dann sicherlich wohl 
zeigen, dass vieles von dem, was bisher unter dem Namen „Degeneration'* 
geläufig war, damit nichts zu thun hat. 

Die Frage, ob die vom Gifte zum Angriffspunkte genommenen Segmente 
in irgend einer Weise dazu besonders disponiert sind, können wir leider nicht 
entscheiden. Es liegt aber die Annahme nahe, dass es vielleicht jene Seg- 
mente sind, die, wenn wir uns den Ausführungen Mayers anschhesscn dürfen, 
schon den Anforderungen des normalen Stoffwechsels unterliegen. Gombault 
hat angenommen, es seien gerade die peripherstcn Nerven, die der Gifteinwir- 
kung am stärksten ausgesetzt sind, offenbar war er von der Anschauung aus- 
gegangen, dass die Bleiwirkung von der Peripherie aus ccntralwärts fortschreitet. 
Prevost und Binet haben aber auf chemischem Wege gezeigt, dass dieselbe 
der Berechtigung entbehrt. Wir neigen wohl heute mehr zur Annahme hin, 
dass alle Teile des Nervensystems der Bleiwirkung ausgesetzt sind; allerdings 
stellen die peripheren Nerven eine Prädilektionsstelle derselben dar, wie es 
auch die klinische Erfahrung lehrt. Ich habe stets den ganzen Nerven von 
der Austrittsstellc bis zu den feineren Verzweigungen hin untersucht. Ich 
hatte nicht den Eindruck, dass peripherwärts die Veränderungen stärkere oder 
andersartige gewesen wären als ccntralwärts. 

Noch eine Frage verdient hier gestreift zu werden: Kommen vielleicht 
auch für die [)athül()gischcn Prozesse an den intracentralen Nervenfasern ähn- 
liche Gesichtspunkte in Betracht? Gibt es auch hier diskontinuierliche neu- 
ritische Prozesse, die einer Ausheilung fähig sind und nichts mit der Waller- 
schen Degeneration, also nekrotischem Zerfall, zu thun haben? v. Wagner 
hat schon vor Jahren diese Möglichkeil hervorgehoben, und der Umstand, 



®^- '' "9^^' ^ "•^- ÜBER DISCONTINUIERUCHE ZERFALLSPROZESSE ETC. I97 

dass SO viele akute Erkrankungen der Centralorgane eine Restitutio ad integrum 
gestatten, trotz der mangelhaften Regenerationsfähigkeit derselben, spräche 
auch dafür; freilich müsste das Bild dadurch eine Modifikation erleiden, dass 
die Schwannsche Scheide, die in der Peripherie eine so grosse Rolle spielt, 
in den Centralorganen fehlt. Eben dieses Nichtvorhandensein derselben wird 
wohl auch die Herstellung von Zupfpräparaten von Gehirn- und Rückenmark- 
teilen sehr erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Hier müsste man also 
seine Zuflucht zu sehr feinen und exakten Längsschnitten nehmen. Immerhin 
sollte auch hier nach dieser Richtung hin eingehender untersucht werden. 

Wenn ich also am Schlüsse die Ergebnisse unserer Arbeit nochmals 
rekapitulieren darf, so will ich sie in die folgenden Sätze zusammenfassen: 

Unter dem Einfluss gewisser — toxischer — Schädlichkeiten kommt es 
m peripheren Nerven zu pathologischen Prozessen, deren wesentliche Merk- 
male sind: i. die Diskontinuität, das Bcschränktbleiben auf eine mehr minder 
lange Strecke — oder mehrere derselben — innerhalb der Kontinuität einer 
sonst normal bleibenden Faser; 2. der allmähliche, feinkörnig-krümelig-tropfen- 
förmige Zerfall des Myelins; 3. die Wucherung des Plasmas und der Kerne 
der Seh wann scheu Scheide und — teilweise bloss temporäre — Umwand- 
lung eines Teiles ihrer Elemente zu Phagocyten; 4. die allmähhch stärkere 
Intensitätsgrade annehmende Mitbeteiligung des Achsencylinders im Verlaufe 
der erkrankten Stelle, der etwas breiter, dann nach und nach blässer wird, 
und schliesslich mit unseren Tinktionsmitteln nicht mehr dargestellt werden 
kann; es bleibt noch unentschieden, ob er in seiner Kontinuität total unter- 
brochen werden kann, ohne dass hierdurch der typische Ablauf des Prozesses 
modifiziert beziehungsweise Wall er sehe Degeneration herbeigeführt würde; 
5. der Prozess ist einer Restitutio ad integrum fähig, indem in den nach 
Ablauf des Zerfallsstadiums restierenden Protoplasniabändern wieder ein Achsen- 
cylinder und eine feine Markscheide sichtbar wird; 6. die rekonvalescenten 
Strecken präsentieren sich als Schaltstücke; 7. der Prozess ist ein neuritischer, 
parenchymatös entzündlicher und hat mit Wallerscher Degeneration, einem 
nekrotisierenden Prozesse, nichts zu thun; die Wall ersehe Degeneration wäre 
überhaupt besser als Nekrose zu bezeichnen, da ja der Begriff der , »Degene- 
ration'* nicht notwendig ein Absterben von Gewebsteilen postuliert, sondern 
nur eine an sich auch restitutionsfähige Entartung derselben, während dort 
das periphere Achsencylinderstück unwiederbringlich zu (Gründe geht; 8. die 
pathologische Histologie der Neuritis ist einer Revision nach der Richtung hin 
bedürftig, ob nicht die geschilderten Prozesse bei ihr die Hauptrolle, die echt 
degenerativen, bisher vielfach fälschlich mit jenen koufundiert, bloss eine Neben- 
rolle spielen. 



igg CITIERTE ARBEITEN. '^'^'^d NeLToril^^'*" 



Citierte Arbeiten. 

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— Die allgem. Histol. d. Degen, u. Regen.-Prozesse im centnal. u. periph. Nervensyst. nach 

d. neuest. Forschungen. Centralbl. f. allgem. Pathol. 1895. 



^^' '* 'i^ ^ "* ^' BESCHREIBUNG DER ABBILDUNGEN. I99 



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Forssman, Über d. Ursachen, welche d. Wachstumsrichtg. d. periph. Nervenfasern b. d. 

Regener. bestimmen. Beitr. z. allg. Path. u. path. Anatom. Bd. XXIV. 
— Zur Kenntn. d. „Neurotropismus". Beitr. z. allgem. Path. u. path. Anat. Bd. XXVII. 
V. Wagner, Über d. körperl. Grundlag. d. akut. Psychosen. Jahrb. f. Psychiatr. Bd. X. 
Ziegler, E., Lehrb. d. allg. Path. u. path. Anat. Jena 1895. 



Beschreibung der Abbildungen (Tafel 9, 10, 11 und 12). 

(Alle Figuren wurden nach der Natur in Farben gezeichnet, die Figuren der Tafel 9— ii photographisch um 
ca. Va verkleinert und durch Lichtdruck reproduziert; die Figuren 14, 15, i8 der Tafel la sind um ^jj verkleinerte 
farbige Nachbildungen der Originalzeichnungen. — Bezeichnung in allen Figuren: a = Achsencylinder, b = Mark- 
scheide, c = Seh wann sehe Scheide, d =i Kerne, e = Elzholzsche Körperchen, f = MyelinkrQmcl, g = Garnituren). 

Fig. 1—3: Zupfpräparate aus dem Plexus brachialis von Bleitieren, die 12 — 14 Tage lang 
lebten (Vorstadien). 

Fig. i: Marchi (Reichert, Oc. 3, Immersion, Tub. 195); p = gewuchertes Protoplasma. 

Fig. 2: Marchi- Saffranin-Paraffinöl (Reichert, Oc. 3, Obj. 9, Tub. 195). 

Fig. 3: Marchi -Glycerin-Zupfpräp., Meerschw., 14 T. (Reichert, Oc. 3, Obj. 9, Tub. 195); 
a = Achsencylinder (im affizierten Stück nicht recht sichtbar), f = Myelinkrümel in 
einer affizierten kurzen Strecke. 

Fig. 4: Aus einem Querschnitt durch ein Bündel des Plex. brachialis, Marchifarbung; 
Bleitier mit ausgesprochenem segmentärem Zerfall (drei Wochen; gez. mit Obj. 7a. 

^^S* 5- Querschnitt, Verhältnisse wie in Fig. 4, gezeichnet mit Obj. 3. 

Fig. 6 und 8: Marchi -Zupfpräparate, Plex. brachialis, Tiere lebten 3 — 4 Wochen; aus- 
gesprochene scgmentäre Zcrfallsprozesse. Gez. mit Reichert, Oc. 3, Obj. 8. T. 195). 
f^ Myelinkrümel (in Fig. 8 deutlich in spindelförmigen Garnituren gruppiert). 

Fig. 7 und 9: Dasselbe wie in Fig. 6 und 8, bei Osmiumfarbung; b = die streckenweise 
noch unversehrte innerste Marklage. 

Fig. 10: Dasselbe Stadium wie Fig. 6 — 9, Marchi -Glycerin-Zupfpräp., ca. 3 Wochen 
(Oc. 3, Immersion). 

Fig. II — 13: Dasselbe Stadium wie in Fig. 6 — 10, bei Marchi-Saffranin-ParaffinÖlbehandlung, 
bei g die Garniturenbildung recht scharf ersichtlich. 

Fig. 14: Meerschw., 5 Wochen (Bleitier) vergiftet, Plex. brach., Marchi - Saffranin - Paraffin- 
ölbehandlung (Reichert, Obj. 8, Oc. 3, T. 195). p ^^ Protoplasmaband, r = Schnürring. 

Fig. 15: Dasselbe wie in Fig. 14 bei Marchi- Anilinblau -Paraffinölbeh.; a = Achsencylinder 
(im affizierten Stück nicht darstellbar). 

Fig. 16: Dasselbe, bei Immersion gez. Marchi- Anilinblau-Parafinöl-Zupfpr. 

Fig. 17: Restitutionsstadium: Meerschw. 6 Wochen vergiftet, 4 Wochen erholt (Reichert, 
Oc. 3, Obj. 7 a, T. 195); Osmiumfarbg. s = Schaltstücke. 

Fig. 18: Dasselbe Stadium wie in Yig. 17, bei Marchi -Saffranin -Paraffinölbeh.; langes 
Schaltstück, r = Schnürring. — Diis Schaltstück lässt deutlich einen feinen Mark- 
belag erkennen, der Saffranin intensiver angenommen hat als das Protoplasma. 




200 FRANZ RIKLIN. -"rndNeSl""" 



(Aus der psychiatrischen Klinik der Universität Zürich.) 

Hebung epileptischer Amnesien durch Hypnose. 

Von 

Franz Riklin. 

I. Assistenzarzt an der psychiatrischen Klinik in Burghülzli. 

In neuerer Zeit wird den epileptischen Bewusstscinstrübungen und Amnesien 
ein wachsendes Interesse entgegengebracht, namentlich seitdem es gelungen 
ist, solche Amnesien in der Hypnose zu beseitigen. 

Nach der Näfschen Publikation über einen Fall von temporärer, totaler, 
teilweise retrograder Amnesie bei einem Hysterischen^) gelang es Grat er 
(Ein Fall von epileptischer Amnesie durch Hypermnesie beseitigt*) unter der 
Leitung Foreis' bei einem Alkoholepileptiker, die Erinnerung für eine 
siebentägige, totale, zum Teil retrograde Amnesie in der Hypnose wach- 
zurufen, llilger (Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie^) 
konnte in einigen Fällen bei typischen Epileptikern die Erinnerungen an Hallu- 
cinationen vor oder während der Anfälle in somnambuler Hypnose wecken; 
immerhin sind seine Resultate in dieser Hinsicht spärlich. Bei einem schon 
ziemlich blöden Epileptiker unserer Anstalt konnte Herr Dr. v. Muralt (Zur 
Frage der epileptischen Amnesie^) die Erinnerung an einen Dämmerzustand 
mit totaler und zum Teil retrograder Amnesie von i8 Tagen in der Hypnose 
beseitigen. 

Das therapeutische Resultat war insofern kein sehr günstiges, als der 
Patient die Erlebnisse aus der Zeit der Amnesie nicht in ihrer zeitlichen Auf- 
einanderfolge richtig einordnen konnte und schliesslich alle Thatsachen durch- 
einanderwarf. 

Andere Fälle, wo epileptische Amnesien durch Hypnose beseitigt wurden, 
sind mir nicht bekannt» 

Bins wanger (Über einen Fall von totaler retrograder Amnesie^) veröffent- 
lichte einen Fall von epileptischer retrograder Amnesie, die sich auf 15 Monate 
erstreckt. Die Wiederbelebung dieses Erinnerungsdefektes in der Hypnose 
wurde nicht vorgenommen, doch betont Binswanger, dass es dringend ge- 
boten sei, in solchen Fällen künftig die Hypnose anzuwenden, um das Ver- 
hältnis der hysterischen heilbaren zur epileptischen, angeblich irreparablen 
Amnesie festzustellen. 



*) Zeitschrift lur Hypnotismus, Band VII, 1898. 
*^) Zeitschritt für Hypnotismus^ Band VIII. 1899. 
^) Zuitschritt lür Hypnotismus, Band IX, 1900. 
*) Zeitschrift für Hypnotismus, Band X, 1900. 
'') Leydensche Festschrift. II, Band. Berlin 1902. 



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1902. 



Ich hatte in unserer Anstalt mehrere Male Gelegenheit, Epileptiker zu 
hypnotisieren. Es gelang mir, die Erinnerung an Dämmerzustände und an 
epileptische Anfalle in der Hypnose zu wecken. 

Da die Kasuistik über diese Frage noch nicht sehr reichhaltig ist, dürften 
die folgenden Fälle einiges Interesse beanspruchen. 

Erster Fall. 

J. Pf. ist 37 Jahre alt, Tagelöhner, von H. Kt. Z.; er wurde am 9. VIII. 1902 ins 
Burghölzli aufgenommen. Der Vater lebt noch, handelt als Hausierer und ist in seiner 
Gemeinde als Schnapstrinker bekannt. Die Mutter war Epileptikerin, ist schon lange ge- 
storben. Patient hat keine lebenden Geschwister mehr. Drei starben als kleine Kinder, 
sollen Krampfanfalle gehabt haben. Das vierte, an das sich Patient erinnert, war ein ca. 
zehnjähriger Knabe; er habe auch an Anfallen gelitten. Patient wurde nicht gut enogen, 
unregelmässig in die Schule geschickt. Damals schon traten epileptische Anfalle auf, also be- 
vor er anfing zu trinken. Nach der Entlassung aus der Volksschule wurde Patient angehalten, 
als Tagelöhner und Fabrikarbeiter sein Brot zu verdienen. Er begann nach dem Beispiel 
des Vaters zu trinken, hier und da auch Schnaps. Er galt als sehr reizbar; für intelligent 
hielt man ihn nicht. Mehrmals wurde er wegen Vagantität von der Polizei aufgegriffen 
und nach der Heimatgemeinde abgeschoben. Einmal sass er wegen Landstreicherei fünf 
Tage, ein zweites Mal wegen Diebstahl einen Tag und zum dritten Male wegen Diebstahl 
drei Tage im Gefängnis. Vor einem Jahre internierte ihn seine Gemeinde in eine Arbeits- 
anstalt, um ihn an regelmässiges Arbeiten zu gewöhnen und vom Trinken abzuhalten. 

Man bekam dort den Eindruck, dass er geistig nicht ganz normal sei. Oft wurde 
er von epileptischen Anfallen heimgesucht, jedoch immer nur nachts, und war dann am 
darauffolgenden Tage meistens arbeitsunfähig. Leicht erregbar, geriet er oft in Jähzorn, 
glaubte sich von den anderen verfolgt und wäre dann leicht zum Dreinschlagen bereit ge- 
wesen. Dem Anstaltsvorsteher gelang es verhältnismässig leicht, durch freundliches, aber 
bestimmtes Zureden ihn zu beruhigen. Oft geriet er in Händel, von denen er sich nur 
schwer abbringen Hess, und wollte immer das letzte Wort haben. 

Der Arzt der genannten Anstalt bezeugt: Pf. ist mit typischer Epilepsie behaftet, 
wurde ein Jahr lang von mir beobachtet und zeitweise mit Bromsalzen behandelt. In der 
letzten Hälfte seiner Detention sind zeitweise schwerere psychische Störungen aufgetreten, 
sich äussernd in Tobsucht, verbunden mit Verfolgungswahn. 

Am 8. Juli 1902 wurde er dort entlassen, begab sich nach K., um Arbeit zu suchen, 
wurde aber wegen seiner Epilepsie nicht angenommen. Patient selber giebt an, dass er 
vom Unternehmer zum Kassenarzt in Zürich geschickt wurde; als man wegen seiner An- 
falle Bedenken gemacht habe und er 50 Centiines für die Untersuchung hätte zahlen sollen, 
sei er aufgebraust und davon gelaufen und habe anderswo Arbeit gesucht. Weiter erzählt 
Patient, dass er nachher noch an verschiedenen Orten als Tagelöhner gearbeitet habe: im 
Güterbahnhof Zürich bei den Akkordanten K. & P., wo er Kohlen auslud; femer in der 
Backsteinfabrik H. bei Zürich, wo man ihn entliess, als seine Anfalle bekannt wurden, da 
die Arbeiter in gemeinsamen Räumen schliefen. Ob er zuletzt im Güterbahnhof oder 
in der Backsteinfabrik gearbeitet hat, kann er nicht genau angeben. In der 
letzten Zeit habe er gewöhnlich in der Herberge zum P. in Zürich III logiert, hie und da 
auch in der Wirtschaft z. r. H. in Zürich III, einmal auch in der Wirtschaft zum S. in 
Zürich V, als er in angeheitertem Zustande zornig geworden sei und deshalb sonst nirgendswo 
Herberge gefunden habe. 

Mehr wusste Patient über diese letzte Zeit vor seiner Aufnahme in unsere Anstalt 
absolut nicht anzugeben, bevor er hypnotisiert wurde. Er wusste nicht recht, ob er am 
8. Mai, 8. Juni oder 8. Juli aus der Arbeitsanstalt entlassen worden sei. 

Objektiv steht fest, dass er noch am 20. Juli ds. J. in der Kantine der Backstein- 
fabrik im Vorschuss Speisen bezog, und nachher nicht mehr. Die Angaben über das 
Arbeitsuchen in K. sind richtig. Erkundigungen an den übrigen erwähnten Orten wurden 

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202 FRANZ RIKLIN. ^TndLB i"'" 

nicht beantwortet. Am 7. August wurde er von der Stadtpolizei Zürich wegen Vaganti tat, 
Arbeits- und Mittellosigkeit seiner Heimatgemeinde H. zugeschickt. 

Wir fragten nachträglich die Stadtpolizei an und erhielten am 16. September ds. J. 
(nachdem bereits zwei hypnotische Sitzungen mit dem Patienten stattgefunden hatten), 
folgenden Bericht: 

„Pf. wurde am 7. August ds. J. in den Anlagen der G.-allee wegen Schriften- und 
Mittellosigkeit arretiert. Er benahm sich bei der Arrestation absolut normal 
und hat weder beim Transporte, noch auf der Wache gesungen oder ge- 
lärmt. Derselbe gab an, sich seit einem Monat beschäftigungslos in Zürich aufzuhalten 
und habe meistens in der Herberge z. P. in Zürich III logiert." 

Im Bezirksgefangnis in H. benahm sich dann Pf. zwei Tage lang so ungebärdig, 
brüllte, jauchzte, fhichte, sang Tag und Nacht, dass der Arzt beigezogen werden musste, 
der den Patienten unserer Anstalt zuwies. Nach Beendigung der hypnotischen Sitzungen 
wurden zur Verifikation noch weitere Erkundigungen in H. eingezogen, nach welchen fest- 
steht, dass Patient bei der Ankunft in H. zuerst vor den Gemeindeschreiber geführt wurde, 
einen entfernten Vetter; dieser bestätigt, dass er mit dem Patienten geschimpft habe, wie 
es letzterer in den Hypnosen angiebt. Im Gefängnis in H. bekam er einen epileptischen 
Krampfanfall und fing nachher an zu lärmen und zu toben, worauf man den Arzt, Dr. A., 
holte, der den Patienten im Gefängnis untersuchte. Auf dem Transport nach Zürich 
lärmte Patient furchtbar. Er hatte früher schon verschiedene Aufenthalte im Bezirks- 
gefängnis gemacht, einmal ging er nach der Entlassung, soviel bekannt ist, nach R., seinem 
früheren Wohnorte. 

Aus dem körperlichen Befund. 

Schädel brachycephal. Umfang desselben 54 cm. Fliehende, schmale Stirn. Taumelnder 
Gang. Patellarreflexe äusserst lebhaft, beim Beklopfen wird beiderseits ein formlicher Klonus 
ausgelöst. Übrige Reflexe nicht erhöht. Pupillen beiderseits gleich, auf Licht prompt 
reagierend. Kein Tremor, keine Sensibilitätsstörung. Links und rechts von der Zungen- 
spitze Bissnarben. Stark behaartes Ohrläppchen, nicht verwachsen. Augenbrauen stossen 
an der Nasenwurzel zusammen. Am linken Oberschenkel eine Narbe, von einem Messer- 
stich herrührend. Habituelle Luxation des rechten Handgelenks, für welche eine Bandage 
nötig ist. Innere Organe ohne Besonderheiten; Urin ohne pathologische Bestandteile. 

Mit dem Verschwinden des Dämmerzustandes schwand auch der taumelnde Gang; 
dagegen blieb er breitspurig und schwerfallig; die Patellarreflexe waren noch ziemlich lebhaft. 

Psychischer Befund. 

Sprache langsam, eintönig, hesitierend, ohne Artikulationsstörungen. Während des 
Dämmerzustandes aber machte Patient bei der Aussprache schwieriger Worte eine Menge 
Fehler. Schrift unbeholfen; ganz willkürliche Interpunktionen. Inhalt der Schriftstücke 
schwachsinnig-epileptisch. Lesen ziemlich gut. Bei der Reproduktion des Gelesenen ge- 
rät Patient leicht ins Fabulieren; hält man ihn aber energisch zum richtigen Erzählen des 
Gelesenen an, so sieht man, dass er die kleinen Geschichten ziemlich gut wiederholen 
kann. Auffassung verlangsamt, sowohl während als nach dem Dämmerzustände. Merk- 
fahigkeit herabgesetzt. Schulkenntnisse schlecht; praktische Kenntnisse hat er nur, soweit 
sie zusammenhängen mit seinen recht dürftigen Lebenserfahrungen und Bedürfnissen. 
Gedächtnis in und nach dem Dämmerzustande ganz unscharf, abgesehen von der Amnesie. 
Er kann nur in ganz allgemeinen Umrissen seinen Lebenslauf beschreiben. 

Die Orientierung in den klaren Zeiten ist ziemlich gut; im Dämmerzustande ist er 
in der Zeit immer um einige Tage voraus. 

Gegenstände im Räume kennt er richtig, kann angeben, zu welchem Zwecke sie 
diontMT. Dagegen legt Patient ein Unverständnis für bildliche Darstellungen an den Tag, 
(las geradezu verblüfft. Es ist ihm nicht einmal möglich, sehr gute Photographien ihm 
wohl bekannter Personen mit letzteren zu identifizieren. 

Ks fehlt ihm das Verständnis für Perspektive. Er verkennt hauptsächlich im Sinne 
ihm bekannter Dinge oder Gegenden. Auch lässt sich nachweisen, dass die Erklärung 
eines Hildes in hohem Masse von den vorausgegangenen beeinflusst wird, indem Patient 



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203 



an den Vorstellungen, die das erste Bild in ihm wachgerufen hat, lange hängen bleibt. Es 
ist hier nicht möglich, dieses Symptom gebührend zu untersuchen. Ich muss nur be- 
merken, dass diese schweren Verkennungen auch in der klaren Zeit bestanden haben. 

Nur einige Beispiele. 

In einem Bilderbuche (Meggendorfer, „Nimm mich mit*) hält er ein Kamel für 
einen Hahn, ein Herdfeuer für eine Rose; nachher hält er noch Trauben und andere Dinge 
für Rosen. Die Wespe an der Traube sei ein Krebs. Nachher müssen auch abgebildete 
Molche, Schmetterlinge und Käfer Krebse sein. Die genannte Verkennung von Traube 
und Wespe trat fast immer auf, in und nach dem Dämmerzustande; Patient erinnerte sich 
nachher nicht, diese Bilder auch schon gesehen zu haben. Einen Bildschnitzer, der an 
einer kleinen Madonna schnitzt, hält er für seinen Vater, die kleine Madonna für seine 
Mutter. Nachher werden sozusagen alle Abbildungen von Frauen als seine Mutter be- 
trachtet, die von Männern als sein Vater, ohne Wahl. Zum Bilde: „Ritter Tod und 
Teufel" von Dürer giebt er folgende Erklärung: Das ist aus Kriegszeiten, fremde Kriege; 
der Hund auf dem Bilde sei ein Wild, der Teufel der Kopf eines Hirsches; vom „Tod" sagt 
er: „Ja da führen sie halt Krieg, eben da die Rosse und alles miteinander." „Christus- 
bild" von Rubens: „Das ist der Heiland. Die (nämlich Christusbilder) habe ich gesehen 
im Kloster W. (am oberen Zürichsee) und gegen Luzem hin am Wege und vom Richters- 
weilerberge (am Zürichsee) gegen Einsiedeln. Christus sei ans Kreuz geschlagen worden 
„durch Kriegszeiten", weil er sich gewehrt habe für das Gebiet und gedacht habe, er 
wolle lieber das Leben lassen als dass die andern das Leben lassen müssen. 

Referent fragt: „Ist der Heiland denn in den Krieg gezogen?" 

Patient: „Ja eben, durch Kriegszeiten, weil sie das Zeug wollten, wo er drin war, und 
sagte, er wollte sich wehren fürs Leben u. s. w. Darum wurde er gekreuzigt und darum 
ist der Heiland denen, welche Charakter und Verstand haben, immer noch lieb. Soviel 
Charakter hab' ich noch immer gehabt und es noch nie verspottet. Ja, dort hat es viele 
Kreuze und Pilgerzüge, einer nach dem andern in der Wallfahrtszeit und dauern zwei, drei, 
vier Tage; und in der Kirche wird auch gebetet und wehren sich für alles. Ich bin auch 
einmal hingegangen, um das zu sehen." 

(Auf Fragen:) „Der Heiland kam auf die Welt, weil er eine rechte Sache hatte. Er 
hat sich auch gewehrt fürs Zeug, soviel ich es verstehe." (Frage: War er ein Mensch?) 
„Ja, ein armer Mensch, hat sich gewehrt und geschafft und so; mehr kann ich nicht sagen." 

Es giebt kaum ein hübscheres Bildchen, um die Diagnose in kurzen Zügen zu 
zeichnen, als dieses kurze Gespräch. Die Beispiele für Bilderverkennen lassen sich kaum 
erschöpfen. Ein hölzernes Pferd, mit dem ein Kind spielt und dem Haushund zeigt („Vor- 
stellung"), hält er für ein wirkliches Pferd; also totale Unkenntnis der gegenseitigen Grössen- 
verhältnisse ! Und das Pferd steht auf einem Brett mit kleinen Rädern! Eine Anzahl 
Bilder mit mehr oder weniger landschaftlichen Zuthaten erklärt er alle für: Anlagen in 
der Enge (Zürich), trotz allen möglichen und verschiedensten Darstellungen dieser Bilder. 
Imbecille und epileptische Symptome verschmelzen hier, denn in der Missdeutung zeigt 
sich ein auffallendes Hängenbleiben an der zuerst angetönten Vorstellung und eine 
Anlehnung an die ihm wohlbekannten Dinge aus seinem höchst engen, kindlich-imbecillen 
Vorstellungskreis. In perspektivischen Darstellungen begeht er die elementarsten Fehler 
in der Deutung. Eine horizontale Geländerstange, perspektivisch dargestellt, an der ein 
Mann lehnt, hält er für das Gewehr, auf das sich dieser Mann stütze! 

Die Assoziationen des Patienten auf bestimmte Reizworte verraten auf Schritt und 
Tritt den epileptischen Schwachsinn; überall bleibt er hängen, bezieht alles mögliche auf 
seine Person und seine dürftigen Erlebnisse. 



Ich führe folgende Beispiele an: 

Lied: Buch. 
Kartoffel: Rüben. 
Faulenzen: gut arbeiten. 
Kaffee: Milch. 
Opfer: Anken (Butter). 



Hochzeit: Liebe. 
Grossmutter: Vater. 
Jetzt: komme ich. 
Bös: frei (= gut). 
Sodass: am Morgen. 



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FRANZ RIKLIN. 



Journal t Psychologie 
und Neurologie. 



Komm: morgen. 

Jahr: Mutter. 

Drohen: Appenzell. (Patient verstand Trogen, 
Ort in Kt. Appenzell.) 

Lang: ist das heil (eine Verletzung). 

Anstalt: Burghölzli. 

Sauer: Spital. 

Reich: arm, 

Leiden: muss ich. 

Auge: Kopf. 

Doktor: Frei (wohnt in R.). 

Sonntag: Montag. 

Jugend: Zug (war s. Z. dort bei der Zuger- 
Katastrophe). 

Gieb acht: Brot. 

Wirtschaft: nicht gut. 

L^ppi: komm. 

Familie: Pf. ... . (sein Name). 

Kummer: haben die Eltern. 

Aufpassen: jetzt wieder. 

Endlich: wieder gesund. 

Faust: Arm. 

Da: bin ich „pressiert" (blessiert, verwundet). 

Volk: in Zürich. 

Mörder: bin ich nicht. 

Überall: Aarau. 

Rechnen: nicht gut. 

Küssen: keine Freude daran. 

Natürlich: bin ich wieder gesund. 

Schlecht: ist's mir gegangen. 

Zeit: ziemlich lange. 

Reif: hab^ ich gemacht. 

Reich: arm. 

Lump: bin ich nicht. 

Band: habe ich bekommen (meint eine 



Grund: es fehlt nicht an mir. 

Spiel: machen. 

Arm: bin ich immer gewesen. 

Gang: geht gut. 

Zanken: thu' ich nicht. 

Blau: Blauen (Montag) hab' ich nie gemacht. 

Sofa: Bett. 

Tausend: Franken. 

Lieben: mach' ich nicht. 

So : bin ich wieder frei (= gut). 

Wild: bin ich gewesen (wild = zornig). 

Thränen: hab* ich gehabt. 

Schon: haben's mich wieder. 

Krieg: haben sie in Afrika gehabt, die Buren. 

Treue: bin ich immer gewesen. 

Einmal: alleweil. 

Wunder: von dem weiss ich nichts. 

Blut: Milch. 

Kranz: Trompete. 

Wählen: Weberei (verstand Weben). 

Scheiden: von dem versteh' ich nichts; ich 

bin nicht verheiratet. 
Recht: hab' ich gehabt. 
Müssen: ins Burghölzli. 
Gewalt: hab' ich gemacht. 
Rache: hab' ich ausgeübt. 
Hoffnung: es gehe besser. 
Klein: gross. 

Beten: hab' ich auch gemacht. 
Lieb: Bin ich auch. 
Wo? bei der Mutter. 
Alt: 36 (sein Alter). 
Freiheit: hab' ich gehabt. 
Ungerecht: Bin ich nicht gewesen. 
Welt: ist gross. 



Bandage^ die er letzthin erhielt). 

Zwei Monate nach der Aufnahme dieser Assoziationen kommt mir die Dissertation 
von Manfred Fuhrmann*) zu Gesicht. Es sind schon seit mehr als einem Jahre an 
unserer Klinik eine Menge von solchen Assoziationsversuchen bei verschiedenen Psychosen 
aufgenommen worden. Das Resultat für Epileptiker dürfte ungefähr mit dem von Fuhr- 
mann übereinstimmen. 

Patient hat in der Anstalt viele epileptische Anfalle erlitten. Wir haben ge- 
sehen, dass er am 7. August 1902 im Bezirksgefangnis einen Anfall bekam, nach welchem 
er in einen Dämmerzustand geriet, der erst am Morgen des 1 5. August ganz verschwunden 
war, nach einem konvulsiven Anfalle in der Nacht vom 14. zum 15. August. Solche An- 
falle typisch-epileptischer Natur bekommt Patient seither häufig, immer in der Nacht und 
gewöhnlich nur einen per Nacht. 

Zur Übersicht lasse ich die Daten der Anfalle folgen: 
August: 14., 15., 18., 19., 26., 31. September: 2., 6., 8., 12., 17., 21., 22. 
Oktober: 5., 9., ii., 18., 21., 27. November: 6. u. s. f. 

Ziehen wir noch die grosse Reizbarkeit des Patienten — er kann wegen Kleinig- 
keiten in heftige Wut geraten und bekommt häufig Streit — seine Selbstgerechtigkeit, 



') M. Kuhrniaun: Analyse des Vorstellungsniaterials bei epileptischem Schwachsinn. Giessen 1902. 



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Gerechtigkeitsgefühl, Umständlichkeit, Unbeholfenheit, Alkoholintoleranz und seine Ver- 
stimmungen in Betracht, so ist die Diagnose genuiner Epilepsie gesichert. Daneben 
ist sowohl angeborener als epileptischer Schwachsinn vorhanden. Hysterische 
Symptome sind beim Patienten nicht vorhanden. 

Beobachtungen in der Anstalt. 

Bei der Aufnahme am 9. August, im Dämmerzustand, redet er die Ärzte bald an 
mit: „Herr Doktor", nachdem ihn dieselben über Verschiedenes • gefragt haben. Er be- 
hauptet, er sei auch schon dagewesen, ist örtlich nicht orientiert. Er verlangt dringend 
nach Wasser, stösst von Zeit zu Zeit einen jauchzenden Schrei aus, weil er lustig sei. Er 
verlangt laut nach Musik, wirft sich plötzlich auf den Boden, erhebt sich dann auf Befehl 
ruckweise und fuchtelt mit den Händen in der Luft herum. 

Patient wird nach dem üblichen Reinigungsbad bei der Aufnahme zuerst im un- 
ruhigen Wachsaal zu Bett gebracht, kommt aber schon nach etwa einer halben Stunde 
wegen seiner starken Aufregung ins Dauerbad, wo er mehrere Stunden, bis zum Abend, 
bleibt. Er kehrt sich dort um, legt sich auf den Bauch, die Hände gegen den Boden der 
Badewanne gestemmt und taucht in ziemlich kurzen Intervallen (einhalb bis eine Minute) 
mit dem Kopf unter; dann erhebt er den Kopf wieder aus dem Wasser, und ruft ein 
langgezogenes „Tüh!" ungefähr das Blasen eines Feuerhorns nachahmend. Das wieder- 
holt er, so lange er im Bad verbleibt. Dazwischen ruft er von Zeit zu Zeit laut: „Musik!** 
oder wiederholt jeweilen den Anfang eines Jodeis. Er fasst die an ihn gestellten Fragen 
auf und giebt über seine Personalien richtig Aufschluss. Auf die Frage nach dem Tages- 
datum antwortet er, wir haben heute den achten (es war der neunte); auf die Frage nach 
Monat und Jahr giebt er keine Antwort mehr, fangt aber nach jeder Frage an energischer zu 
jodeln und zu rufen; weitere Auskunft über Orientierung u. s. f. kann man heute von ihm 
nicht mehr bekommen. Wie er aber die gelegentliche Äusserung des Arztes hört, er habe 
vagabundiert, wehrt er sich gleich gegen diese Behauptung. Plötzlich sagt er: „Ich muss 
jetzt beten" und faltet die Hände. 

IG. August. War in der vergangenen Nacht noch lange unruhig, trotz 4 g Chloral ; 
rief häufig „Tüh!" oder „Puh!" Nach Mitternacht beruhigte ersieh und schlief gegen den 
Morgen hin. Heute wiederholt er hie und da seine Rufe, aber weniger häufig, ist ruhiger; 
man lässt ihn daher im Bett im Wachsaal für Unruhige. Örtlich ist er nicht orientiert; 
er weiss nicht, wo er sich befindet, redet den Arzt jedoch mit „Herr Doktor" an. Er 
weiss nur das Jahr anzugeben: 1902. Monat und Tag kennt er am Morgen nicht. Seine 
Personalien giebt er richtig an. Am Abend meint er, es sei der 8. Juli oder August 1892, 
korrigiert dann bald: 1902. 

Er befinde sich hier seit gestern. Vom Bad weiss er jedoch nichts mehr. Er will 
sich an das Jodeln erinnern, er habe eben etwas zu viel getrunken. Von woher und mit 
wem er gekommen, weiss er gar nicht. Vorgelegte Gegenstände erkennt er richtig. Er 
ist ziemlieh ruhig, aber ängstlich, glaubt, er befinde sich neben einem Abgrund, schaut in 
den Zwischenraum zwischen Bett und Wand hinab, meint, er falle hinunter. Dann sieht 
er wieder mit starrem ängstlichem Blick gegen die Wand hin: ,.Nein, seht doch all das 
Wasser an, das da herunterkommt — bis über das Hühnerhaus — Leute springen über 
den Steg." Er starrt so gegen die Wand hin, als ob er diese Dinge jenseits derselben 
sehen würde. „Seht doch all diese Bäume!" „Schaut, wie sie brennen." Man lässt ihn 
die Wand befühlen: Das sei glatt, von Glas. (Die Mauer ist mit brauner Ölfarbe an- 
gestrichen.) Wenn Patient jemanden im Zimmer oder auf dem Korridor reden hört, ruft er: 
„Vater!" und als ob er Antwort bekomme, fragt er weiter: „Wie? Was sagst du?" u. s. f. 
Lacht über den unruhigen Nebenpatienten B. 

II. August. Da Patient ruhig ist, wird er zur genauem körperlichen Untersuchung 
ins Untersuchungszimmer gebracht. Ist sehr ängstlich, meint, man wolle ihm verstohlen 
etwas Schlimmes zufügen, dreht sich nach allen Seiten; jedes kleinste (jeräusch, jede Be- 
wegung der beiden Ärzte, die ihn untersuchen, schreckt ihn. Bei der Prüfung der Reflexe 
meint er, man wolle ihm die Beine abschlagen, oder den Arm, oder er glaubt, man wolle 
ihn direkt totschlagen, meint, es gehe von hinten auf ihn los; im Bett sei etwas an- 



206 FRANZ RKUN. •"'3f NeSi°'*' 



gebracht, um ihm zu schaden. Als gestern der Vater und die Stiefmutter dagewesen seien, 
habe es geheissen, er müsse „verreisen". Sie haben darum geweint und gesagt, es wäre 
doch schade um ihn, wenn sie ihn auf diese Art verlieren müssten. 

Eigentümlich ist, dass sich Patient gegen die gefürchtete Untersuchung nicht sträubt. 
Nadelstiche z. B. empfindet er schmerzhaft, zuckt und verzieht das Gesicht; doch kommt 
es ihm nicht in den Sinn, sich dagegen zu wehren und den Arm zurückzuziehen. In 
gleicher Weise reagiert er, als ihm hierauf gedroht wird, man wolle ihm di^ Augen aus- 
stechen und dergl. Er hat grosse Angst, widersetzt sich aber nicht im mindesten. Da- 
neben kommt ein eigentümlicher Humor bei ihm zur Geltung; lachend sagt er: „Ja, ja ich 
weiss schon, dann giebt's einen Schlag von hinten und dann ist's aus!" Ortlich ist er 
gegenwärtig orientiert, zeitlich annähernd: wir haben den 12. oder 13. August 1902. Es 
sei Freitag (in Wirklichkeit ist Montag), er sei hier seit Dienstag (er ist seit vorgestern, 
Samstag, hier)» Der Gemeindeschreiber von H. (sein Verwandter) sei gestern auch hier 
gewesen; er habe ebenfalls gesagt, es wäre schade, wenn Patient umkommen müsste. — 
Gestern habe er ein Zucken und Stechen in den Fingern gespürt, wie wenn man Nägel 
hineingeschlagen hätte. 

Abends ist Patient wieder unruhig im Bett, schaut fortwährend links, rechts, unter 
das Bett; er glaubt, er werde erschossen, protestiert dagegen; meint die Mitpatienten zielen 
auf ihn; wenn einer derselben lärmt, hält er das für ein Zeichen, dass jetzt auf ihn ge- 
schossen werden soll; er ruft: „Vater, adieu Vater." Trotzdem kennt er den Arzt als 
solchen, ebenso Wärter und Mitpatienten, wenn man ihn recht darauf aufmerksam macht. 
Im nächsten Augenblick hält er wieder an seinen Ideen fest, dass man ihn von hinten 
überfallen wolle und ähnliches; er sei in der Polizeikaserne; Datum: 12. August 1902. In 
der Nacht ruhig, schläft. 

12. August. Heute ruhig, euphorisch, anerkennt teilweise seine gestrige Angst als 
Unsinn, ist aber immer noch ein wenig misstrauisch. Er sei hier in der Polizeikaseme ; 
er deutet aber die Personen in seiner Umgebung richtig. Hält daran fest, dass gestern 
sein Vater und seine Stiefmutter in der Nähe gewesen seien, wenigstens gehört habe er 
dieselben. Amnesie für die früheren Erlebnisse seines Dämmerzustandes. 

13. August. Ruhig, gehobener Stimmung; behauptet immer noch, jedoch weniger 
lebhaft als gestern, Vater und Stiefmutter draussen in der Nähe gehört zu haben. Heute 
sei der 14. August 1902. Er glaubt, wenn man ihn einlässlich darüber fragt, hier einmal 
kurze Zeit im Bad gewesen zu sein. Sonst vollständige Amnesie; weiss nicht, wie er 
hierhergekommen oder was er sonst erlebt hat. Er weiss nur, dass ihn Referent gestern 
auch hier besucht hat. Auf die Frage, ob er jetzt wisse, wo er sei, ob er hier im Burghölzli 
sei, erwidert er, das Burghölzli könne das nicht sein, sondern die medizinische Klinik. 

Abends wieder unruhig, glaubt von neuem, die Mitpatienten wollen ihm ein Leid 
zufügen, auf ihn schiessen, schaut zur Vorsicht unter das Bett. 

14. August. Teilweise Einsicht für das Unmotivierte seiner Angst von gestern Abend. 
Beim Vorweisen der Meggendorfer Bilder erinnert er sich, dieselben gestern oder vor- 
gestern schon gesehen zu haben. Patient macht ebenso grosse Verkennungen der Bilder 
wie das erste Mal. An seinen Gehörshallucinationen hält er nicht mehr fest, lässt ihre 
Richtigkeit dahingestellt. Sonst Amnesie für den Dämmerzustand. 

15. August. Letzte Nacht ein kurzer epileptischer Krampfanfall, ein- 
geleitet durch einen kurzen, durchdringenden Schrei. Am Morgen Amnesie für denselben. 
Sonst ist Patient klar, örtlich und zeitlich orientiert, korrigiert seine letzten Hallucinationen, 
er habe es wahrscheinlich nur gemeint. — 

Da Joh. Pf. nun völlig orientiert und ruhig war, Hess man ihn aufstehen, und seit 
dem 25. August arbeitete er regelmässig mit anderen Patienten auf dem Felde, half auch 
beim Abteilungsdienst. 

Die Amnesie. 

Am 8. September wurde nochmals zu einer genauem Untersuchung des Patienten 
geschritten. Für den Dämmerzustand, der nachweisbar am 8. Aug^ust im Bezirks- 
gefangnis in H. einsetzte, bestand trotz aller Fragen eine vollständige Amnesie; ebenso 



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Hess sich eine retrograde Amnesie feststellen, die bis über die Zeit seiner Verhaftung, 
7. August 1902 zurück total ist, aber nicht an einem bestimmten Zeitpunkt einsetzt, sondern 
sich allmählich in den Erlebnissen seit seiner Entlassung aus der Arbeitsanstalt verliert. 

Wir haben an einer früheren Stelle die Erlebnisse aus jener Zeit, soweit sich Patient 
daran erinnert und die sich teilweise objektiv verifizieren Hessen, aufgeführt und bemerkt, 
dass sich Patient die zeitliche Aufeinanderfolge derselben nicht gut merken kann. Während 
des Dämmerzustandes reichte das Gedächtnis an frisch Erlebtes je weilen nur auf kurze 
Zeit zurück: In den letzten Tagen, als sich der Dämmerzustand aufzuhellen begann und 
Patient zeitweise und teilweise Einsicht in seinen Zustand hatte, erinnerte er sich jeweilen 
an die Erlebnisse von i — 2 Tagen rückwärts, aber in diesem Abstand von i — 2 Tagen, 
für welche die Erinnerung erhalten blieb, folgte die Amnesie dem gegenwärtig Geschehenden, 
bis dann ungefähr am 15. August, also nach dem Einsetzen des ersten epileptischen 
Krampfanfalls, ein ziemlich normaler Zustand hergesteHt war. Beim gleichmässigen Ver- 
lauf der täglichen Arbeit war es dem Patient zur Zeit der Untersuchung, am 8. September 
nicht mehr möglich, genau zu sagen, seit wieviel Tagen er wieder aufstehe und arbeite; 
andere markante Erlebnisse hat Patient in jenen ersten klaren Tagen eben nicht zu ver- 
zeichnen. Jedenfalls lässt sich konstatieren, dass die Amnesie bis zum 15. August fort- 
geschritten ist, denn Patient erinnert sich später gar nicht mehr, dass er die Stimme 
seines Vaters und seiner Mutter gehört haben soll. Zum zweitenmal ins Untersuchungs- 
zimmer geführt (8. September), behauptet er, er sei noch gar nie darin gewesen, erkennt 
die Möbel und Gegenstände im Zimmer nicht wieder. Das Buch mit den Meggendorfer 
Bildern, das ein auffallendes Format und grellroten Deckel hat, habe er noch gar nie 
gesehen; die Bilder darin sind ihm vollständig neu, trotzdem er, wie wir sehen werden, 
zum grossen Teil die gleichen Bilder wieder im gleichen Sinn verkennt. Den Wachsaal, 
in welchem er sich noch in den ersten klaren Tagen aufgehalten hatte, erkennt er nur 
mit Mühe wieder. 

Es Hess sich also eine totale, teilweise retrograde Amnesie feststeUen, die 
mindestens den Zeitraum von 8 Tagen umfasst und noch in die Zeit vor demselben 
einen amnestischen Schatten warf, der die Erinnerung an die vorausgegangenen Erlebnisse 
verdunkelte. 

Hypnose. 

Es interessieren uns nun vor allem die in der Folge durch die Hypnose gewonnenen 
Resultate. 

Die erste hypnotische Sitzung fand am 13. September 1902 statt, also vor 
dem erwähnten Polizeirapport, in welchem von der Verhaftung des Patienten die Rede ist. 
In der Hypnose nach der kombinierten Methode kam es bald zur Katalepsie; beim Er- 
wachen Amnesie für das in der Hypnose Gesprochene, wie es suggeriert worden war. Nur 
an das zum Erwachen gegebene Zeichen (das Wort „Jetzt** und zumachen der Thüre) 
erinnert sich Patient, klagt auch über leichtes Zucken in den Beinen. In der Hypnose 
will sich Patient nicht erinnern, die Stimme von Vater oder Mutter (die tot ist) gehört zu 
haben; wenigstens gesehen habe' er die beiden nicht; man habe ihn auch schon darüber 
gefragt. Wohin er gegangen sei nach seinem Aufenthalt in der Backsteinfabrik H. weiss 
er nicht. 

Zweite Hypnose, 15. September 1902. Patient schläft rasch ein. Ausgesprochene 
Katalepsie, lallende Sprache. Ueber die Stimmen von Vater und Stiefmutter wiederholt 
er seine eben genannten Aussagen. Er führt die verschiedenen ihm als von selber ent- 
stehend angegebenen Bewegungen mit der Hand langsam, absatzweise, aber richtig aus, 
schreibt so auch seinen Namen, absatzweise. Patient erinnert sich an viele der Fragen, 
welche in der letzten hypnotischen Sitzung an ihn gerichtet worden waren, erwähnt einzelne 
davon. Wird unruhig, weil er sein Alter nicht ausrechnen kann, findet endlich das 
Resultat; beruhigt sich. Ist aber ängstlich. Wie man ihm z. B. den Bleistift zum Schreiben 
in die Hand giebt, fahrt er bei der ersten Berührung desselben zusammen. Es wird ihm 
suggeriert, er spüre nichts, wenn man ihn mit einer Nadel steche; da fahrt Patient wieder 
zusammen, ohne dass man ihn sticht. Hierauf wird dem Patient mitgeteilt, er werde auf 



208 FRANZ RIKUN. """^ NeSJlt>!^' 



„Jetzt** erwachen, die Schuhe anziehen, zum Zimmer herauskommen, dort dem Referent 
guten Tag sagen und die Hand auf dessen Schulter legen. Patient erwacht auf das ge- 
gebene Zeichen mit Ächzen und Recken der Glieder, kommt nachher heraus, auf den 
Referent zu, schüttelt ihm auffallend intim die Hand, legt sie ihm aber nicht auf die 
Schulter. Er wird gefragt, ob er nicht das Gefühl habe, er müsse noch etwas ausführen, 
z. B. die Hand auf des Referenten Schultern legen, führt letzteres hastig aus, erinnert sich 
jetzt an den Befehl dazu. Sonst Amnesie für die Erlebnisse in der Hypnose, wie ihm 
suggeriert worden. Er weiss von nichts, als dass ihn der Wärter hergebracht habe; er 
weiss gar nicht, ob und was in der Hynose gesprochen worden ist. Fühlt sich etwas müde 
in den Beinen, geht wieder zur Arbeit. 

Bei der Abendvisite erinnert sich Patient an Einzelheiten aus der letzten Hypnose ; 
dass er aufs Bett gelegen sei , dass man ihn nach Vater und Mutter gefragt habe, dass er 
auf „Jetzt" erwacht und aufgestanden sei und die Schuhe angezogen habe. 

Dritte Hypnose, 17. September. Im ziemlich tiefen hypnotischen Schlaf wird an 
den unterdessen eingetroffenen Polizeirapport angeknüpft, in welchem die Rede ist von 
seiner Verhaftung am 7. August. 

Referent fragt: Nachdem Sie an der Ziegelei H. angestellt gewesen waren, passierte 
einmal etwas in der Gessnerallee. Was ist Ihnen dort begegnet? 

Patient berichtet nun ziemlich zusammenhängend nach einigem Besinnen, in etwas 
schwer verständlicher, lallender Sprache: Ja, dort in der Gessnerallee kam der Polizist X. 
vom III. Stadtkreis; er forderte mich auf, mit auf den Polizeiwachtposten zu kommen, da 
ich gebettelt habe. Ich hatte Hunger gehabt und nur ein Stück Brot gebettelt. Auf der 
Wache sagten sie, ich müsse in die Heimatgemeinde geschoben werden und sie brachten 
mich per Bahn nach H. hinauf. Dort führten sie mich zuerst vor den Gemeindeschreiber, 
einen Vetter von mir. Ich sagte „Guten Tag Herr Vetter." Da schimpfte dieser mit mir 
und antwortete, ich brauche ihn nicht mehr Vetter zu nennen, wenn ich doch so ein 
Lump sei u. s. f. Dann brachten sie mich im Gerichtshaus ins Gefängnis; das war nicht 
recht; das wäre gar nicht nötig gewesen, sie haben ja noch ein Spritzenhäuschen für 
Aufgeregte, ins Gefängnis gehörte ich nicht; ich habe kein Verbrechen begangen. 

Auf weitere Fragen des Referenten, was dann weiter geschehen sei, antwortet 
Patient: Im Gefängnis musste ich Holz spalten. Nachher Hessen sie mich 
wieder frei, ich ging nach Rüti; weil ich aber ein wenig bettelte, brachte 
man mich in die Heimatgemeinde H. ins Gefängnis; das war nicht recht, 
das hätte man nicht thun sollen. 

Aus dem Gefängnis wurde ich wieder entlassen; ich ging nach Zürich, 
arbeitete im Güterbahnhof beim Kohlenabladen. Dann habe ich einmal 
gebettelt und bin von der Polizei abgefasst worden in der Gessnerallee; ich 
wurde in die Heimatgemeinde H. transportiert und dort in das Gefängnis 
gesteckt. 

Wir werden nachher bei der weiteren Besprechung des Falles auf die beiden eben 
angeführten, den Thatsachen nicht entsprechenden Einschaltungen in die Erzählung des 
wirklichen Sachverhaltes noch näher eingehen. Patient kommt beim dritten Anlauf end- 
lich wieder ins richtige Geleise, indem er von nun an in der Erzählung des wirklich 
Geschehenen fortfahrt: 

Im Gefängnis musste ich Holz spalten, nachher wurde ich zum Arzte hinunter ge- 
führt. (Patient wird unruhig, weil er zuerst dessen Namen nicht findet) zu Dr. A., damit 
er mich untersuche. Er that es und verordnete, dass man mich ins Burghölzli schicke. 

Auf die Frage des Referenten, ob er denn aufgeregt, lustig gewesen sei, erwidert 
Patient: Ja, eben, ich war „im Zeug" drin, infolge der Anfalle, die ich im Gefängnis be- 
kommen hatte, ich sang und war lustig. 

Der Gemeindeschreiber ging mit mir zum Arzt (umgekehrt^ nachher erschien der 
Sigrist von H. und brachte mich ins Burghölzli (richtig). Wir fuhren in einem Karren, 
(später: Krankenwagen; in Wirklichkeit fuhr er mit der Eisenbahn bis nach Zürich). In die 
Anstalt selber sei er zu Fuss gekommen mit dem Sigrist (richtig), man habe ihn in ein 



^^* '* ^^ ^ " *• HEBUNG EPn.EPTLSCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 2O9 



190X. 



Zimmer geführt; nachher sei er im Bad gewesen, etwa eine halbe Stunde, worauf man 
ihn zu Bett gebracht habe. 

Hier wurde die Hypnose abgebrochen. Die Sprache war lallend, undeutlich, das 
Gesicht maskenartig, starr und änderte seinen steifen Ausdruck nicht, als Patient, wie er 
den Namen des Arztes in H. nicht gleich finden konnte, unruhig wurde. — Auf das ver- 
abredete Zeichen zum Erwachen (dreimal Geräusch mit dem Fingernagel) das ihm zuerst 
noch einmal vorgemacht wurde, wollte er schon erwachen, konnte aber wieder zum schlafen 
gebracht werden. Etwas saccadiertes Einatmen. 

Patient erwacht dann auf das verabredete Zeichen, schlägt die schlaftrunkenen 
Augen auf, streckt seine Glieder, ächzt und gähnt, wie .wenn er recht lange und tief ge- 
schlafen hätte. Er führt hierauf einen Befehl aus, der ihm in der Hypnose gegeben 
wurde, nämlich dem Referenten die linke Hand zum Grusse zu reichen; es kommt ihm 
aber recht sonderbar vor, er findet es nicht in Ordnung, dass man mit der linken Hand 
grüsse, erinnert sich trotz gegenteiliger Suggestion, dass ihm dieser Auftrag in der Hyp- 
nose erteilt worden sei. Von den sonstigen Fragen und Antworten aus der Hypnose weiss 
er nichts mehr; es wurde ihm während des Schlafens Amnesie dafür suggeriert. Er fragt 
sogar beim Hinuntergehen auf seine Abteilung, warum ihn der Wärter eigentlich herauf- 
geführt habe. Er fühlt sich etwas müde. In der Hypnose erinnert er sich, dass er in der 
vorhergehenden Sitzung seinen Namen geschrieben hat. In der Zwischenzeit fehlte diese 
Erinnerung. 

Am Abend des 17. September will sich Patient nur noch erinnern, dass er nach der 
Hypnose habe sagen müssen: Guten Tag, Herr Doktor! und dem Referenten auf die 
Schulter „geklopft" habe. Referent habe ihn in der Hypnose nichts gefragt, er wisse sonst 
von nichts und wenn man ihm selbst den Kopf spalten würde. Wird gereizt und auf- 
geregt. Dieser Zustand hält noch am folgenden Tag an. 

Vierte Hypnose, 19. September 1902. Vor dem Einschlafen weiss Patient nur, 
dass er dass letze Mal erwacht sei, weil Referent dreimal geklopft habe (ungenau: es war 
kein Klopfen), dass ihn dieser nach seinem Alter gefragt habe (richtig) und dass er ihm 
die linke Hand anstatt der rechten gegeben habe; letzteres, den Arzt mit der Linken 
zu grüssen, sei nicht recht. 

Im hypnotischen Schlafe giebt nun Patient folgende weitere Auskunft: Im Gerichtshaus 
in H. sei er zwei bis drei Tage geblieben; dort habe er, wie es ihm in Erinnerung sei, einen 
Anfall bekommen. Der Gefangenwart G. ging dann fort, kam mit dem Gemeindeschreiber 
zurück und man führte ihn zum Arzte. Dieser behauptete, der Zustand komme vom 
Saufen, er solle nicht mehr saufen. Der Polizist, der ihn nach H. begleitete, hiess E. 
oder CS war der T. Sie seien miteinander per Bahn nach Ef. gefahren und dort um- 
gestiegen in den Zug nach H. Damals sei er ganz gesund gewesen. Nach der Ankunft 
im Burghölzli sei er gewaschen worden oder so etwas. 

Patient wird hierauf gefragt, ob er in H. nicht gemeint habe, der Bahnhof brenne. 
Da ereignet sich etwas Unerwartetes: Patient wird im Schlafe unruhig, meint, man wolle 
etwas Böses über ihn aussagen, er sollte den Bahnhof angezündet haben; halb glaubt er, 
er könnte es in seinem Zustand gethan haben. Er lässt sich nicht mehr beschwichtigen, 
regt sich auf, erwacht aus dem hypnotischen Schlafe, nachdem er lange mit geschlossenen 
Augen sich beschwert hat und lässt sich nicht vom Gedanken und Zweifel abbringen, er 
habe den Bahnhof in H. angezündet. 

Da die reizbare Stimmung des Patienten in den folgenden Tagen anhält, wird er 
erst wieder hypnotisiert, nachdem eine Beruhigung eingetreten ist. 

Bei guter Stimmung des Patienten fünfte Hypnose am 25. September. Es wird 
ihm vor allem suggeriert, die Hypnose sei ein Schlafmittel erster Güte, wertvoller als alle 
Schlafpillen. Referent habe damit schon grosse Erfolge erzielt. Patient werde dann im 
Schlafe weniger von Anfallen gestört, er merke nichts mehr davon. Der Arzt der Arbeits- 
anstalt in U. hatte ihm nämlich zeitweise Pillen zum Schlafen verschrieben, deren Wirkung 
Patient sehr rühmte. Es muss ihm die Hypnose darum als therapeutisch wirksamer dar- 
gestellt werden, um ihm sein Misstrauen gegen die ihm vorher ungewohnte Methode zu 
nehmen. 



2 1 . FRANZ RIKUN. i"^^ Ü.S-''' 



Zweitens wird ihm die intensive Suggestion gegeben, dass die Hypnose sein Ge- 
dächtnis in ganz ausserordentlichem Masse stärke, so dass er viele Dinge aus seinem 
Dämmerzustande, die ihm sonst ganz entschwunden seien, wieder genau vor sich habe 
und dadurch Beruhigung finde. Er bedürfe ja notwendig eines Mittels, um sein durch 
die Anfalle geschwächtes Gedächtnis zu stärken. Zur Wiederbelebung der Erinnerungen 
aus dem Dämmerzustand wird angeknüpft an seine Aufnahme in die Anstalt, da, wo er in 
der dritten Hypnose mit der Erzählung abgebrochen hatte. 

Er erinnert sich, dass er gebadet hat, dass der gleiche Wärter L., den er jetzt als 
Wärter seiner Abteilung kennt, ihn ins Bad geführt hat. (Es sei hier ausdrücklich bemerkt, 
dass von den Wärtern natürlich niemand etwas von den in Hypnose III erzählten Details 
weiss, dass ihnen strenge verboten wurde, dem Patienten irgend etwas mitzuteilen, was auf 
sein Benehmen während des Dämmerzustandes Bezug hatte.) Dann sei er ins Bett, 
und nachher nochmals ins Bad gebracht worden, etwa zwei Stunden. Im Bad habe er 
„gepflatscht" mit Händen und Füssen. Er sei nicht auf dem Rücken, sondern mehr 
auf der Seite oder vielmehr auf dem Bauch gelegen. Mit dem Kopf sei er ab- 
wechselnd unter- und aufgetaucht. Was er dabei gerufen habe, weiss er nicht mehr 
genau. Referent erklärt ihm, er habe „Tüh!" gerufen. Patient erinnert sich nun, dass er 
geglaubt habe, er befinde sich im Utlibergbahnhof, bei den Lokomotiven, beim Kohlen- 
laden, dort habe er so gerufen. Im Bett habe er nachher Angst gehabt; er glaubte, die 
anderen wollen ihm etwas anthun, ihn umbringen, totschlagen, wie es etwa Händel gäbe 
in einem Wirtshaus. Referent fragt nun den Patienten, ob er sich denn zu jener Zeit 
auch schon einmal im Untersuchungszimmer befunden habe, in welchem er jetzt hypnoti- 
siert werde. (In den ersten klaren Zeiten konnte er sich, wie schon erwähnt wurde, absolut 
nicht daran erinnern, auch wenn man ihn hineinführte und ihm verschiedene Gegenstände 
darin zeigte). Jetzt erzählt Patient ausführlich, wie er zum erstenmal vom Abteilungs- 
wärter L. ins Untersuchungszimmer heraufgeführt worden sei. Er hatte keine anderen 
Kleider getragen als einen grossen Schlafmantel. Referent und ein zweiter Arzt, der 
grösser sei als Referent, haben ihn hier untersucht. (Diese Einzelheiten stimmen ganz 
genau; den erwähnten zweiten Arzt hat Patient sonst nur wenige Male gesehen). Er habe 
geglaubt, man wolle ihm hier etwas anthun, ihn operieren oder ähnliches, darum sei er 
voll Angst und Misstrauen gewesen. Abends im Bett von ^Wasser" geredet zu haben, 
kann er sich nicht erinnern; dafür fragt er jetzt den Referenten, ob er nicht hinausgehen 
dürfe, um sein Bedürfnis zu verrichten — eine unerwartete Assoziation! Es wird darum 
die Hypnose bald abgebrochen; Patient erwacht auf das verabredete Zeichen aus einem 
ziemlich tiefen Schlaf, reckt und strekt sich umständlich. Amnesie für das im Wach- 
zustand Erzählte wurde ihm nicht suggeriert. In seiner Schilderung wich er mehrmals vom 
Thema ab, z. B. nannte er bei Erwähnung des Bahnhofs noch eine Reihe von Orten, an 
denen er als Tagelöhner gearbeitet hatte. 

Sechste Hypnose, 27. September. Patient schläft bald ein, erinnert sich nur an 
seine Angst, nicht an seine Hallucinationen von Überschwemmung, Abgrund und dergl. 
Dagegen macht er weitere Angaben über die erste Untersuchung. Referent habe ihm 
damals Bilder gezeigt, Rosen, Kühe, Krebse, Fische und ähnliches. Hierauf habe er ihm 
Bilder auf dem Korridor gezeigt. Nachher habe Referent vom Stechen gesprochen, er 
habe grosse Angst gehabt (laut Befund vom 11. August). Im Bad habe er von Musik 
geredet, weil er lustig gewesen sei und man dann häufig Musik höre, da und dort, wo 
man vorbeigehe; man ahme dann auch etwa die Eisenbahn nach, wie er es im Bad auch 
gemacht habe. Referent fragt ihn: Haben Sie nicht etwas geträumt wie von Feuerwehr? 
Patient wird unruhig, will nichts davon wissen, lässt sich diesmal beschwichtigen. 

Nach der Hypnose bittet er den Referenten, an seine Gemeinde zu schreiben, ob 
er etwas angezündet habe und warum er hier sei. Patient wird jetzt in das Zimmer ge- 
führt, wo er während des Dämmerzustandes im Bett lag, und aufgefordert, sich dasselbe 
recht einzuprägen, damit ihm in der nächsten Hypnose weitere Erinnerungen auftauchen. 
Das Zimmer kennt er wieder nach einigem Besinnen, auch einige Patienten, vor denen er 
sich damals am meisten gefürchtet hatte; über andere Patienten macht er unrichtige An- 
gaben. Weiter kann er sich an nichts Neues erinnern. 



^^* '* "l9M * "* ^' HEBUNG EPILEPTISCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 2 1 1 

In der siebenten Hypnose am 30. September kommt wenig Neues zum Vor- 
schein. An seine Hallucinationen erinnert er sich nicht. Gesehen habe er seine Eltern 
sicher nicht. Er ist fortwährend in etwas gereizter Stimmung. 

Mit der achten Hypnose wurde zugewartet bis zum 15. Oktober; auf der einen 
Seite wollte man eine Zeit abwarten, wo Patient wieder besserer Laune 'sei, anderseits 
trugen äussere Umstände zu diesem Aufschübe bei. Patient war jetzt wieder gut aufgelegt, 
konnte aber im Wachzustand keine neuen Thatsachen aus seinem Dämmerzustand erzählen. 
Patient schläft rasch ein und ist ausgesprochen kataleptisch. Suggestion: Die letzte Zeit 
seines Anfalls und die ersten Tage der Klarheit kämen ihm deutlich zum Bewusstsein; er 
selbst werde, wenn er alles wisse, was im Anfall passiert sei, sich sehr beruhigen; der 
Kopfechmerz, die Folge eines Krampfanfalls in der vorausgegangenen Nacht, werde sogleich 
verschwinden, der Schlaf werde fester, so dass ihn seine nächtlichen Anfalle nicht mehr 
zu stören vermögen und er nichts mehr davon spüre, sein Gedächtnis werde klarer. 

Patient erinnert sich wieder an seine Angst vor den Mitpatienten; er habe auch in 
der Angst gegen die Wand geschlagen (nicht ganz richtig! Er schaute nur hin gegen die 
Wand und hatte dabei grosse Angst). Die Erinnerung an die ersten klaren Tage, wo er 
auf der Abteilung half, ist sehr deutlich. In der Angst habe er auch gedacht, es wäre 
schade um ihn, wenn er umkommen sollte in den besten Jahren. Er glaubt, auf spezielle 
Frage hin, es sei möglich, dass er gemeint habe, Bekannte stehen vor der Thüre, dagegen 
habe er sie nicht gesehen. 

Suggestion: Nochmalige klare Vorstellung jenes Zimmers; dann werde alles bis 
morgen in seinem Gehirns verarbeitet, ohne dass er weiter daran zu denken brauche; 
morgen in der Hypnose treten ihm die Erlebnisse von damals klar vor das Auge, ganz 
von selber. 

Am folgenden Tage, 16. Oktober, neunte Hypnose. Ganz allgemein wird dem 
Patienten im tiefen Schlafe deutliche Erinnerung an die ersten klaren Tage und an die 
letzte Zeit des Dämmerzustandes eingegeben, laut gestriger Suggestion. Wenn er dann 
alles gefunden habe, überkomme ihn ein Gefühl grosser Beruhigung und Erleichterung 
u. 8. f. Zuerst erzählt Patient von den ersten Tagen, wo er aufstehen konnte. Der 
Wärter K., der ihn von Jugend auf kenne, habe ihn zur Arbeit herangezogen. (Dies ist 
wieder eine Vermengung von Thatsachen: Auf seiner Abteilung befindet sich ausser dem 
Wärter L., der ihn früher nie kannte, der ihn aber wirklich in den ersten Tagen der 
Klarheit zur Hausarbeit zuzog, ein anderer Wärter K., der den Patienten von Jugend auf 
kennt, bei dem Patient aber erst später auf dem Felde arbeitete.) Während der letzten 
Tage im Bett habe er vor den Mitpatienten grosse Angst gehabt und immer geglaubt, 
man wolle ihn umbringen. Er habe eine Ueberrschwemmung vor Augen gehabt, wie er 
früher, z. B. bei der Brunau, Überschwemmungen der Sihl mitangesehen habe. Eine grosse 
Angst habe ihn erfasst; viele Leute seien über die Brücke (nennt eine Sihlbrücke beim 
Namen) gelaufen. Dann habe er geglaubt, die ganze Überschwemmung komme über 
das Heim seines Vaters, der auch Hühner hielt, und überflute alles. Es sei wohl möglich, 
dass der Vater an jenen Tagen hierhergekommen sei, um sich draussen über das Ge- 
schehene zu erkundigen; er habe gemeint, er sei da, er habe ihn aber nicht sehen können. 
Referent fragt den Patienten, ob denn die Stiefmutter nicht dabei gewesen sei? Dieser 
will aber von seiner Stiefmutter nichts wissen, geht gar nicht auf die Frage ein ; er möchte 
lieber seine rechte Mutter aus dem Grabe herausgraben. 

Dieser Gedanke an seine Familienverhältnisse fesselt ihn und macht ihm augen- 
blicklich viel mehr Eindruck als die Bemerkung, jetzt liege ja die Zeit des Dämmerzustandes 
klar vor ihm und er könne sich jetzt deshalb freuen, weil ihn nichts mehr beunruhige. 

Dennoch scheint er eine gewisse Freude am Resultat zu haben, spricht darüber bei 
der Arbeit u. s. f. Auf das verabredete Zeichen erwacht Patient, reckt und streckt sich 
sehr, und macht allmählich die Augen auf. Das Kopfweh seit dem letzten nächtlichen 
Anfall hat Patient verloren. 

In diesen neun hypnotischen Sitzungen ist somit das Wesentliche vom 
Inhalt des Dämmerzustandes aufgedeckt worden. 



_^ FRANZ RIKLIN. ^^"u"d Ne^To^?"" 

Die Amnesie im Falle Pf., der Verlauf des Dämmerzustandes und die 
Resultate der Hypnose bieten verschiedene Eigentümlichkeiten. 

Der Dämmerzustand setzte, wie sich nachträglich konstatieren lässt 
und wie Patfent selbst in der Hypnose angeben konnte, nach einem epilep- 
tischen Anfall ein. Patient hat zwar viel getrunken, aber zur Zeit seiner Ver- 
haftung war er nüchtern; leider lässt sich die Menge Alkohol, die er kurze 
Zeit vor der Verhaftung zu sich genommen, nicht feststellen. Vom Falle 
Gräters ^) unterscheidet sich der unsrige wesentlich, hat aber mit dem von 
L. V. Mural t publizierten 2) in diesem Punkt eine grosse Ähnlichkeit. Voll- 
ständig klar war Patient erst wieder, nachdem er in der Nacht vom 14. auf 
den 15. August einen Krampfanfall bekommen hatte; dagegen war schon 
in den vorhergehenden Tagen eine zunehmende Besserung und zeitweise 
Klarheit nachzuweisen. 

Die Erinnerung für die Zeit der retrograden Amnesie ist im 
ganzen präziser als diejenige für den Dämmerzustand selber; für die Zeit der 
lichteren Momente während der letzten Tage der Verwirrung (z. B. Unter- 
suchungszimmer) ist sie deutlicher als für die Zeit, wo er stark hallucinierte 
und die Bewusstseinstrübung sich steigerte. 

In groben Zügen ist die zeitliche Lokalisation der deliriösen Erlebnisse 
vorhanden. Von einer Genauigkeit der zeitlichen Einordnung in dem Grade 
des Grat ersehen Falles ist aber nicht die Rede, es ist dem Patienten nicht 
möglich, die Erlebnisse auf einen bestimmten Tag zu fixieren. Wie lange der 
Zustand gedauert hat, kann Patient nur ungefähr angeben; auf ein paar Tage 
mehr oder weniger kommt es ihm nicht an. Dieser Befund entspricht dem 
Gedächtnis des Patienten in normalen Zeiten. Gegenüber dem Patienten 
V. Muralt's, dem schliesslich die zeitliche Aufeinanderfolge des im Delirium 
Erlebten durchaus fehlte, stellt sich der unsrige wesentlich besser. Ob die 
Unklarheit über die zeitliche Aufeinanderfolge der Vorkommnisse in der Zeit 
zwischen der Entlassung aus der Arbeitsanstalt und dem Beginn des Dämmer- 
zustandes dem gewöhnlichen Zustand des Gedächtnisses beim Patienten ent- 
spricht, oder ob hier nicht die auffallende Unsicherheit eine retrograde Affek- 
tion ist, wage ich nicht zu entscheiden. Es scheint mir doch, dass Patient 
seine frühere Lebensgeschichte etwas zusammenhängender erzählt, obwohl 
man auch da vergeblich auf präzise Daten wartet. 

In der Gräterschen Arbeit wird erwähnt, dass sein Patient in der 
Erzählung aus dem Dämmerzustand zweimal die Erlebnisse je 
eines Tages ganz überging, weil er sich je weilen in zwei aufeinander- 
folgenden Tagen ungefähr um die gleiche Zeit in einer analogen Situation 
befunden hatte, z. B. in der gleichen Wirtschaft. Patient schildert nun den 
Hergang der Dinge bis zum Wirtschaftsbesuch am ersten Tage, geht von 
da an in seiner Erzählung unvermerkt auf die Einkehr am folgenden Tage 
über und übergeht so die Schilderung eines ganzen Tages, ohne sich dessen 
vorläufig bewusst zu werden. 

») Zeitschrift für Hypnotisnius, Bd. VIII, 1899. 
*) Zeitschrift für Ilypnotismus, Bd. X, 1902. 



^^' '* ^^S7 ^ "■ ^' HEBUNG EPILEPTISCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 2 1 3 



190t. 



Ähnliches kommt in unserem Fall vor, wie mir scheint, in noch 
höherem Masse. In der Schilderung der Hypnosen habe ich diese Vorkomm- 
nisse durch die nötigen objektiven Korrekturen bereits angemerkt. Diese 
auffallende Erleichterung der Substitution einzelner Vorstellungen und ganzer 
Komplexe durch ähnliche scheint das epileptische Gedächtnis neben vielen 
anderen Merkmalen zu charakterisieren. 

Es sollen hier einige Beispiele dieser Art angeführt werden. 

In der Hypnose III erzählt er von seiner Verhaftung (7. VIII.) und 
seinem Transport in das Bezirksgefängnis seiner Heimat; anstatt nun weiter 
zu erzählen, dass der Arzt geholt worden sei, schaltet er zwei Entlassungen 
aus dem gleichen Bezirksgefängnis ein, die gar nicht dazu gehören. Es ist 
ziemlich sicher, dass er, nach einer seiner mehrmaligen Verhaftungen aus 
diesem Gefängnis entlassen, wirklich nach R. ging; der Assoziationsstrom 
geriet also zweimal sozusagen in ein benachbartes Geleise, um beidemal 
glücklich wieder zum Ausgangspunkt zurückzufliessen und dann seine richtige 
Bahn fortzusetzen. 

Patient erzählt ferner in mehreren Hypnosen, er sei dann aus dem Be- 
zirksgefängnis zu einem Arzt geführt worden. Thatsächlich kam aber der 
Arzt zu ihm ins Gefängnis. Der Weg zum Arzt ist ihm natürlich bekannt, 
und es macht dem Patienten keine Mühe, sich in Gedanken zur Wohnung 
des Arztes zu begeben, während der Arzt in Wirklichkeit zu ihm kam. — 
Ferner: In der II. Hypnose wird dem Patienten befohlen, nachher dem Refe- 
renten die Hand auf die Schulter zu legen, in der 111. Hypnose, dem Refe- 
renten nach derselben die linke Hand zum Grusse zu reichen. Am Abend 
nach der III. Hypnose behauptet er nun, er habe heute dem Referenten nach 
dem Aufwachen aus derselben auf die Schulter klopfen müssen. Von Schulter 
war aber nur in der II. Hypnose die Rede; auch wurde ihm nur befohlen, 
ihm nach der II. Hypnose die Hand auf die Schulter zu legen, nicht zu 
klopfen. Vor der IV. Hypnose erklärt Patient, er sei nach der III. aufgewacht, 
da Referent dreimal geklopft habe; in Wirklichkeit war es ein dreimaliger 
mit zwei Fingernägeln hervorgebrachtes Geräusch. — In der VI. Hypnose be- 
hauptet Patient, Referent habe ihm bei der ersten Untersuchung, die er 
ziemlich detailliert schildert, die Bilder aus dem roten Buch (Meggendorfer) 
gezeigt und ihn nachher auf den Korridor geführt, um sich von ihm die 
Bilder an der Wand erklären zu lassen. Die Ungenauigkeit besteht hier 
darin, dass Patient von der ersten Untersuchung, wo ihm nur Meggendorfer 
Bilder vorgelegt wurden, auf eine viel spätere überspringt, wo ihm zuerst 
auch die Meggendorfer und nachher die Wandbilder im Korridor gezeigt 
wurden. — Hiermit glaube ich dieses Symptom genügend dargestellt zu haben. 
Eigentümlich ist bei unserem Patienten das Verhalten der gemüt- 
lichen Reaktion während der Hypnose. Als er darauf zu sprechen 
kam, dass man ihn verhaftet habe wegen des bisschen Betteins und dass man 
ihn gleich ins Bezirksgefängnis geliefert habe, schimpfte er ohne Ende über 
diese Ungerechtigkeit, ebenso über seinen Vetter, den Gemeindeschreiber; 
er kann gar nicht davon abgelenkt werden. 

Von seiner Stiefmutter will er auch nichts mehr wissen, es ist unmöglich, 



214 FRANZ RIKIJN. ■'""^S' iiS:^^'*'' 



und Neurologie. 



Auskunft ZU bekommen, ob er deren Stimme gehört hat. Er will gar nicht 
von ihr reden, schimpft aufgebracht über dieselbe; alles das in Hypnose. 
Ganz auffallend reizbar und epileptisch ist sein Benehmen in der IV. Hypnose, 
wo er sich im Zweifel sieht, ob er im Bahnhof in H. nichts angestellt habe, 
furchtbar aufgeregt wird, nicht mehr weiter schlafen will und immerfort am 
gleichen, angetönten Thema hängen bleibt Reizbar ist Patient auch im 
Wachzustand, z. B. einmal bei der Frage, ob er nicht in der Nacht einen 
Anfall gehabt habe u. s. f. Er kann über die harmlosen Äusserungen von 
Mitpatienten in grosse Wut geraten, will immer gleich dreinschlagen und 
lässt sich dann schwer beruhigen. Während der gereizten Tage war die 
hypnotische Ausbeute jeweilen gering. Es hielt verhältnismässig schwer, vom 
Patienten Auskunft über seine letzten Hallucinationen, speziell über die 
Stimmen des Vaters und der Stiefmutter, zu erhalten. Der Umstand, dass in 
den letzten unklaren Tagen Patient zur allmählichen Einsicht kam, unterstützt 
durch die vielen Fragen, ob die Stimmen genannter Personen nicht auf 
Täuschung beruhen, mag es mitbringen, dass er sich das wirkliche Verhalten 
intensiv eingeprägt hat und darum fast nicht zur Erinnerung an die Stimmen 
in der Hypnose zu bringen ist. An die Stiefmutter will er sich einfach 
nicht erinnern, gerät in Affekt. Der Inhalt der Erlebnisse im Dämmer- 
zustand ist aus dem engen epileptischen Vorstellungsfeld im Wachszustand 
genommen. Wenig neue Phantasie. Es handelt sich um Stimmen von Be- 
kannten, um eine Überschwemmung, die Patient mit angesehen, um Kohlen- 
laden, Bahnhof, Eisenbahn und Prügeleien, Wirtschaftsszenen und dergleichen. 

Der Alkohol scheint an der Herbeiführung des Dämmerzustandes 
ziemlich unbeteiligt gewesen zu sein. Denn vor dem Anfall war Patient 
nicht unruhig, sondern klar und normal; von Angetrunkensein spricht die 
Polizei nichts. 

Der Dämmerzustand schliesst sich an den Anfall im Gefängnis an und 
schwindet mit dem ersten Krampfanfall in der Anstalt. Eigentliche Haftsymptome 
lassen sich nicht nachweisen. Wir haben es mit einem post- und in gewissem Sinne 
mit einem präepileptischen Dämmerzustand zu thun, wenn wir ihn nicht „inter- 
epileptisch** bezeichnen wollen. Der Alkohol hat gewiss auch einen Einfluss 
auf die Krankheit gehabt; Patient selber weiss, dass er oft mehr Anfälle 
bekommt, wenn er viel getrunken hat, und dass er bei zu vielem Trinken in 
eine äusserst gereizte Stimmung gerät; niemand will ihm Nachtquartier geben. 
Es muss aber betont werden, dass die Anfälle da waren, bevor Patient trank, 
schon in der Schulzeit. Es ist dies für die Diagnose wichtig, weil es sich im 
Grätcrschcn Fall um eine Alkoholepilepsie handelt, so dass es wünschens- 
wert war, auch richtige Epilepsien zu hypnotisieren. In dem von v. Muralt 
publizierten P'all kann es sich dagegen um nichts anderes mehr handeln, als 
um genuine Epilepsie. 

Ein ,, Hineinfragen" in der Hypnose war in vielen Punkten zum vorn- 
herein ausgeschlossen, weil Referent häufig erst nachträglich die kompetenten 
Behörden um Auskunft angehen konnte. 

Welches war nun der Wert der hypnotischen Behandlung des Patienten 
im therapeutischen Sinne.^ Ich gestehe, dass mich mehr wissenschaftliche 



^^ '' "^ * "* ^* HEBUNG EPILEPTISCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 2 1 5 

als praktische Gesichtspunkte verlockten; aber einiges konnte doch erreicht 
werden. Patient lebte, so lange er nicht wusste, was im Dämmerzustand 
passiert war, im Zweifel, ob er nicht etwas Dummes angestellt habe, und 
dachte viel darüber nach; er war auch gereizter Stimmung, wenn er über be- 
stimmte Punkte keine Auskunft geben konnte. Es fragt sich nur, ob Patient 
von sich aus überhaupt sich Gedanken über den Gedächtnisdefekt gemacht 
hätte. Seine übrigen Erinnerungen sind doch nicht so genau und zeitlich ge- 
ordnet, dass es ihm auf den Erinnerungsverlust von ein paar Tagen sehr an- 
kommt. Ich glaube, man hätte seine ganze Wissbegierde mit der Antwort, 
er sei aufgeregt, ,,im Zeug" gewesen, stillen können. Das Interesse kam erst 
einigermassen mit dem Fragen. Als ihn Referent am Schluss der Hypnosenserie 
darauf aufmerksam machte, dass er jetzt ganz im Klaren sei, was er in seinem 
Zustand gemacht habe, war er zwar befriedigt; gleichzeitig war er aber mit 
seinen Familienverhältnissen, speziell mit seiner Stiefmutter in Gedanken be- 
schäftigt, und dieses Thema nahm seinen Affekt viel mehr in Anspruch als 
alle aktuellen Ergebnisse der Hypnose. Über die hypnotische Behandlung 
äussert sich Patient sehr befriedigt, auch Wärtern und Mitpatienten gegenüber, 
weil er angeblich viel weniger Anfälle hat. Nun haben sich in Wirklichkeit 
die letzteren nicht wesentlich vermindert, aber die Folgensymptome, z. B. das 
lästige Kopfweh beim Erwachen, verschwanden, nachdem ihm fortwährend 
suggeriert worden war, dass er nichts mehr von Anfällen merken werde. Die 
Anfälle treten immer nachts ein, Patient fühlt am Morgen selten die frühere 
Mattigkeit und weiss infolgedessen meistens überhaupt nicht mehr, dass in der 
Nacht etwas vorgefallen ist. 

Resume. 

Wir haben es also mit einem Epileptiker zu thun, der zwar viele Alkohol- 
exzesse beging, bei dem aber der Eintritt des Dämmerzustandes nicht direkt 
auf solche zurückzuführen ist; vielmehr trat derselbe auf nach einem Anfall, 
den Patient im Bezirksgeföngnis bekam, nachdem er wegen Schriftenlosig- 
keit u. s. w. verhaftet und in seine Heimatgemeinde transportiert worden war. 
Diese Art der Entstehung ist für uns wichtig, weil im Falle von Gräter nicht 
die Diagnose genuine, sondern Alkoholepilcpsic gemacht wurde und der 
Dämmerzustand nach starkem Alkoholmissbrauch einsetzte, der allerdings eine 
starke Verstimmung zur Ursache hatte. 

Die Amnesie erstreckt sich zurück über den ganzen Dämmerzustand von 
sechs Tagen und retrograd über die Zeit der Verhaftung, um sich in 
unbestimmten Grenzen in der Erinnerung an die letzten Arbeitsplätze zu 
verlieren. In der letzten Zeit des Dämmerzustandes war die Erinnerung an 
frisch Erlebtes wenig dauerhaft und reichte jeweils höchstens auf ein bis zwei 
Tage zurück. Der Dämmerzustand hörte auf mit dem Eintritt eines epileptischen 
Krampfanfalls. Die Amnesie für den Dämmerzustand und die direkt 
vorausgehende Zeit konnte durch Hypnose ziemlich vollständig 
gehoben werden. Die Resultate der Hypnose bieten eine Reihe von Eigen- 
tümlichkeiten dar, die wohl als charakteristisch für Epilepsie angesehen werden 
müssen und sich durch den epileptischen Schwachsinn erklären lassen. 



2l6 FRANZ RIKUN. ^'""S'N^S^g'' 

Im Falle von Muralt sind Schwachsinn und Suggestibilität so gross, dass 
der Patient schliesslich alle Erlebnisse aus dem Dämmerzustand kunterbunt 
durcheinanderwirft; unser Patient ist in dieser Beziehung besser gestellt, und 
man kann wirklich von einem therapeutischen Wert der Hypnose reden, weil 
sich Patient durch die Erinnerung an die Dämmerzustandserlebnisse, aber 
mehr noch wegen der suggerierten Besserung der Anfalle beruhigt. Immerhin 
möchte ich den Hauptwert der Hypnose in diesem Fall im wissenschaftlichen 
und nicht im praktischen Resultate finden. 



Ein zweiter Fall, bei dem die Hypnose Aufschluss über Inhalt und Wesen mit 
Amnesie verbundener epileptischer Bewusstseinsstörungen gab, betrifft die 32 jährige Frau 
L. G., die am 30. August 1902 ins Burghölzli aufgenommen wurde. 

Heredität. 

Vater war gesund, Mutter, eine Schwester und zwei Brüder trunksüchtig, einer der 
letzteren beging Suicid. 

Mutter, sowie die drei Schwestern der Patientin ausserdem überspannt, nervös auf- 
geregt. Ein uneheliches Kind litt an Gichtem, wurde 8 Jahre alt. Drei eheliche Kinder 
litten an Krämpfen, starben in den ersten Lebensmonaten. 

Anamnese. 

(Quellen: Die Patientin selbst, ihr Mann, verschiedene Polizei rapporte, ärztliches 
Zeugnis zur Aufnahme.) 

Als Kind einmal Hirnentzündung, sonst gesund. Mit 19 Jahren illegitime Geburt, 
seither Anfalle. Mit 22 Jahren Heirat. Trank schon damals. Im Anfang keine konvulsiven 
Anfalle, sondern eigentümliche Absencen, in denen sie an sich herumtastete und Be- 
wegungen machte, wie wenn sie Ungeziefer von sich ablesen wollte, sie rieb und zupfte an 
sich herum. Dazu kauende Bewegungen. Manchmal sang sie oder redete unverständliches 
Zeug, sagte oft „Nein", schüttelte den Kopf. Später begann sie, sich in diesen Anfallen 
zu entkleiden. Häufig sass sie stundenlang am gleichen Fleck und sah starr in eine Ecke. 
Über die Anfalle will der Mann nie mit der Patientin gesprochen haben, warum sie z. B. 
das und dies gethan habe. Er sei froh gewesen, wenn sie vorüber waren. Mit 30 Jahren 
(1900) Verschlimmerung der Anfalle. Patientin wurde dabei — vor und nachher — auf- 
geregt, zertrümmerte zu Hause Geschirr und Fenster. Hier und da traten dann zwei bis 
drei Anfalle im Tag auf. Aus diesen Gründen wurde Patientin zweimal, im April und 
Juli 1900 von der Polizei auf die städtische Notkrankenstube verbracht; im August 1901 
wurde sie aus dem gleichen Grund in die Privatanstalt K. aufgenommen, blieb dort 
20 Wochen. Nach der Entlassung wieder die gleiche Art von Anfallen wie vor Jahren, 
ohne Aufregung. Wahrscheinlich trank Patientin wieder. In den letzten Tagen vor der 
Aufnahme in unsere Anstalt traten schwere Krampfanfalle auf, mit Schaum vor dem Mund, 
nämlich drei in der Nacht vom 28./29. August, einer vom 29./30. August 1902. Am 
30. August brach der Dämmerzustand aus, der die Versorgung veranlasste. Sie zog johlend 
und schreiend durch die Strassen, wie betrunken, und wurde auf den Sanitätsposten ge- 
bracht. Sie bekam dort einen epileptischen konvulsiven Anfall. Nachher war sie ruhiger, 
antwortete nicht, oder machte verworrene und unrichtige Angaben. Auf dem Transport 
ziemlich ruhig; dagegen weinte und schrie die Patientin, als sie vom Wagen in die Anstalt 
hineingeführt wurde. 

Über ihr sonstiges Leben ist nur bekannt, dass sie viel trank, mit ihrem Mann und 
anderen Leuten viel im Streit lag und schon öfters wegen Schlägereien von der Polizei 
abgeführt werden musste. 

Körperlicher Befund bei der Aufnahme. 

Kleine Frau. Muskulatur und Fettpolster spärlich. Kopfumfang 50 cm. Steifer 
Blick. Gesicht symmetrisch. Mehrere Hautschürfungen. Zunge ohne Narben, belegt, 



®^- '» "S7 ^ " *• HEBUNG EPILEPTISCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 2 1 ^ 



gerade. Anliegende Ohren, Lappchen verwachsen. Um die Augen herum ausgedehnte 
Sugillationen. Beiderseits prompte Reaktion der Pupillen auf Licht. Sehnenflexe vor- 
handen, rechts Fussklonus. Kein Romberg. Keine Sprachstörungen. Keine Sensibilitäts- 
störungen. Keine hysterischen Stigmata. 

Psychisches Verhalten. 

Bei der Aufnahme giebt Patientin folgende Antworten: 

„Wo sind Sie?" In W. im Schönengrund. (Patientin wohnte früher dort mit ihrem 
Mann.) „Haben Sie Kinder?" Ja. „Wieviel?" Hundert. „Nicht io8?" Ja, io8. „Und 
103?" Ja, und 103. „Was haben wir jetzt für einen Monat?" Hundert. Auf die Frage, 
warum sie bei ihrer Ankunft so geweint habe, giebt sie zur Antwort, sie habe aus Liebe 
zu den Menschen geweint. Dann plötzlich in Wut geratend, ergreift sie einen Stuhl, 
schmettert ihn zu Boden, stösst Schmähungen aus auf die Umgebenden, um sofort wieder 
ruhig zu werden. Ihr weiteres Benehmen wechselt zwischen wildem Toben und stumpfer, 
brütender Ruhe, während welcher sie wirr und unzusammenhängend redet. Kommt in 
den Wachsaal, schläft mit i ' ^ g Chloral, bekommt aber nach kurzer Zeit einen 2 Minuten 
dauernden konvulsiven Anfall mit Schaum vor dem Mund. In der Nacht noch elf kurze 
konvulsive Anfalle. Beginn gewöhnlich mit Zuckungen der beiden geballten Fäuste. 

Am Tage nach der Aufnahme liegt Patientin völlig apathisch zu Bett, wehrt einmal 
die Fliegen ab, die sich auf ihr Gesicht setzen. Auf Fragen antwortet sie äusserst langsam. 
„Wo sind Sie?" Im Schönengrund, das geht gegen W. „Wer bin ich?" Weiss es nicht. 
„Wie heissen Sie?" Frau (j. „Wann geboren?" 1870 (richtig). „Geburtstag?" Im März, 
am fünften (richtig). „Heutiges Datum?" Weiss es nicht. ,Jahr?" 1806? 99? „1902?" 
Ja. „1891?" Nein. „Doch!" Nein. „Was ist hier für ein Haus?" Da sind wir daheim 
„Bei den Eltern?" (Sie wohnen in Seh. bei W.) Ja. „Bin ich Ihr Vater?" Sie wollen 
gewiss alles sein! „Bin ich Ihr Vater?" Ja. „Bin ich Ihre Mutter?" Ja (in gleich- 
gültigem Tone). „Wieviel Kinder haben Sie?" Sechs. „Nicht 100?" Nein, nein. „Lebt 
Ihr Mann noch?" Ja. „Er ist doch gestorben?" Nein. Sie rechnet: 24-2 = 41 4^-5=9; 
54-5= 10; 5x6 = 30; 7x8 = 56; 25 : 5 = ? „Was sind hier für Leute? sind es 
Bekannte?" Das sollten sie sein. „Wer sind diese Leute?" Wer will das sein? Die, die 
es sein wollen. 

Befehle werden richtig ausgeführt, ebenso werden verschiedene Gegenstände richtig 
aufgefasst. Bilder versteht Patientin absolut nicht. Auf den Befehl, bis zehn zu zählen, 
öflfhet Patientin den Mund und zeigt ihre Zähne. 

In den folgenden Tagen ist Patientin ganz ruhig, teilnahmslos, isst fast nichts. 
Allmählich wird sie geordneter, orientierter, freier, hat aber immer den steifen Blick, 
fixiert meistens nicht, giebt kurze, häufig negative Antworten, oft an Witze anklingend, 
selbstironisierend. Seit dem 10. September ausser Bett, arbeitet. Der Dämmerzustand 
dauerte also ca. zehn Tage. Am 18. September: Stimme singend, sehr aflTektvoll; Gemüts- 
stimmung labil, Patientin weint beim Vorlesen der Anamnese bei der gemeinsamen ärzt- 
lichen Untersuchung. 

Nachher erzählt sie gemütlich lachend. Örtlich und zeitlich jetzt orientiert, kennt 
auch die Umgebung etwas, aber z. B. die Ärzte nicht mit Namen. Rühmt sich und ihren 
Mann in gerührten Ausdrücken. Auffassung verlangsamt. Beim Grüssen sehr umständlich. 
Grosse Freude, wenn sie Bilder richtig erkennt. Am 26. September Hess man sie auf eine 
Reihe von Reizworten assoziieren, z. B. sagte sie auf: 

Weihnachten: Geschenk. Tinte: die Feder. 

Ostern: Eier. Nadel: nähen. 

Sonntag: das Kleid. Brot: das Messer. 

Winter: die warmen Schuhe. Lampe: der Stock. 

See: Ei. Pauline: die Schwester. 

Schüler: das Lernen. Baum: Der Stock. 

Vater: Gut lernen. Berg: hoch oben. 

Tisch: der Sessel. Haar: der Kamm. 

Kopf: Sinn. Salz: die Suppe. 

Journal für Psychologie und Neurologie. Bd. I. 16 



2l8 



FRANZ RIKLIN. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



Holz: zum brennen. 
Traum: in der Nacht. 
Heft: zum schreiben. 
Papier: zum packen. 
Buch: zum lernen. 
Bleistift: zum schreiben. 
Schule: zum lernen. 
Singen: das Kind. 
Ring: ein Geschenk. 
Zahn: zum beissen. 
Fenster: zum sehen. 
Frosch: im Wasser. 
Blume: auf dem Hut. 
Kirsche: zum essen. 
Anstalt: für Kinder. 
Wärterin: für den Kranken. 
Klavier: zum spielen. 
Farnkraut: (ist der Patientin unbekannt). 
Ofen: zum heizen. 

(Patientin wird aufgefordert, sich nicht mehr 
in dieser stereotypen Form weiter auszu- 
drücken). 
Spazieren: Wetter. 
Kochen: Gemüse. 
Wasser: trinken. 
Tanzen: Saal. 
Katze: Mäuse. 
Dutzend: Menschen. 
Dunkel: in der Nacht. 
Herz: Menschen. 
Vogel: im Freien. 
Schwimmen: Kinder. 



Weiss: das Kleid. 
Spiel: für Kinder. 
13: Zahl. 

Mond: im Himmel. 
Schlagen: die Menschen. 
Trotzdem: der Mann. 
Anzünden: das Streichholz. 
Stern: im Himmel. 
Streicheln: der Mann. 
Grossartig: der Mensch. 
Kind: im Freien. 
Dunkelrot: das Blut. 
Süss: der Zucker. 
Reiten: das Pferd. 
Freundlich: die Leute. 
Drei: die Zahl. 
Schneiden: die Schere. 
Er: ist da. 

Krone: das Haus zur „ Krone ".(^Virtschaft). 
Du: beim Menschen. 
Grünlich: das Gras. 
Dagegen: sagt der Mensch. 
Rauh: die Frucht. 
Stinken: beim Tiere. 

Grell: (Patientin weiss nicht, was das be- 
deuten soll). 
Süss: Zucker. 
Sieben: die Zahl. 
Gefängnis: das Haus. 
Scheiden: beim Menschen. 
Krank: die Leute. 



Diese Assoziationen mit Hängenbleiben an den gleichen Vorstellungen, häufiger 
Gemütsbetonung derselben, Klebenbleiben an der gleichen grammatikalischen Form in der 
Antwort, Armut des Vorstellungsschatzes gelten als charakteristisch für epileptische Ver- 
blödung. Die geringen Schulkenntnisse zeigen an, dass eine leichte Imbecillität vor- 
handen ist. 

Patientin ist bei der Visite immer sehr freundlich, höflich, umständlich, erzählt 
alles in einem singenden, glücklichen Ton, wie es ihr jetzt gut gehe, dass sie keine 
Anfalle mehr spüre, dass sie vielleich bald heimgehen dürfe. Sie spielt einmal den 
Ärzten am Klavier vor, leierkasten massig, singt ein Liedchen dazu. Ist sehr glücklich 
und geruht. Für ihren Alkoholmissbrauch ganz uneinsichtig. 

In den letzten Tagen vor der Entlassung tritt am linken Auge ein starkes Recidiv 
einer Conjunctivitis auf. Behandlung mit argent nitric. und Zinkwasser. Feuchter Sublimat- 
verband. Dass sie denselben bei der Entlassung tragen soll, bringt sie in eine starke 
Verstimmung, geradezu Entrüstung. Die vorher euphorische Patientin wird reizbar und 
wortkarg. Am 31. Oktober 1902 Entlassung auf Drängen des Mannes und mit Erlaubnis 
ihrer lleimatgemeinde. 

Anfälle. 

Ausser den zwölf Krampfanfallen in der ersten Nacht nach dem Ausbruch des ca. 
7.elintägigen Dämmerzustandes (30. zum 31. August) kamen bei der Patientin in der Folge 
eine Reihe von Anfallen und Bewusstseinsstörungen vor. 

I. Vier konvulsive Anfälle in der Nacht vom 21. zum 22. September, mit nach- 
folgender Amnesie. 



^^' '* ^9WL * "' *' HEBUNG EPILEPTISCHER A^LNESIEN DURCH HYPNOSE. 2 IQ 

2. Anfälle mit koordinierten Reibe- und Abstreifbewegungen; davon fallt 
einer in die Zeit zwischen 31. August und 20. September, je ein Anfall auf den 27. Sep- 
tember, 2. und 3. Oktober, zwei auf den 14. Oktober und einer auf den 18. Oktober, alle 
mit Amnesie. Diese Anfalle traten tagüber auf. 

3. Absencen ohne solche Bewegungen, mit Hallucinationen. Patientin ist dabei 
gewöhnlich mit ihrem Mann und ihren Angehörigen beschäftigt. Sie fallen auf den 
15. und 20. Oktober. Nachher Amnesie, nur an die letzte Absence kurzdauernde Erinnerung. 

4. Am 24. Oktober hatte Patientin einen Anfall von Wachhallucinationen mit ähn- 
lichem Inhalt, ohne Amnesie. 

Die Anfalle wurden von einer Wärterin beobachtet mit dem Auftrag, alles, was 
Patientin mache und spreche, sofort zu notieren, so dass wir eine ziemlich gute objektive 
Kontrolle für die Aussagen der Patientin in den folgenden Hypnosen hatten. Während 
der Anfalle reagierte Patientin nicht auf Anrufen. 

Wir führen hier der Reihenfolge nach die Berichte des Wartepersonals und der 
beobachtenden Arzte über die Anfälle an. 

20. Oktober. Kurzer Anfall am Morgen. Patientin lässt ihre Strickarbeit 
fallen, fahrt fort, mit der Hand Strickbewegungen auszuführen, nur sind diese Bewegungen 
intensiver, konvulsionierend. Nachher ist Patientin verwirrt und giebt folgende Antworten : 

„Wo sind Sie?** Im Schöngrund. (Patientin hatte dort früher einmal mit ihrem 
Mann bei ihren Eltern gewohnt und zwar in einem Stübchen im oberen Stockwerk). 
„Wer bin ich?** Weiss es nicht. „Haben Sie mich schon einmal gesehen?" Nein. 
Hierauf beginnt Patientin unverständliches Zeug zu reden, schlägt dabei unbeholfen, pöbel- 
haft gegen den anwesenden Arzt, ohne eigentlich bösartig oder aggressiv zu sein. Ihre 
Antworten erfolgen langsam, sie spricht noch gedehnter als gewöhnlich. Die Erinnerung 
an den Anfall fehlt. Sie kann sich nicht erklären, wie sie plötzlich ohne Strickarbeit da- 
sitze. Nach und nach klarer, erkennt den Arzt und ihren Aufenthaltsort, ist aber immer 
noch stark benommen. Auch für das Stadium der Verwirrtheit nach dem Anfall besteht 
Amnesie. 

Anfälle vom 27. September, 2. und 3. Oktober. Dauer ca. zwei Minuten. 
Patientin sitzt gewöhnlich ab, lässt die Strickarbeit fallen, verdreht die Augen ganz nach 
oben, so dass man nur noch die Sklera sehen kann. Dann beginnen Bewegungen der 
Hände und Füsse: Rockabputzen, oder Schuhe mit den Füssen abstreifen, Waschen, oder 
Patientin scheint etwas am Boden zu suchen. Mit dem Taschentuch machte sie einmal 
so energische Waschbewegungen, dass es zerriss. Keine Reaktion auf Anrufen. Amnesie 
für diese Anfalle. Manchmal Selbstgespräch, oft schwer zu verstehen. Im letzten Anfall 
sprach sie zuletzt von ihrem Mann, der zu einem dritten dies und jenes gesagt habe. Der 
letztere habe ihn dann eingeladen, er möge in die obere Wohnung herauf kommen. 

Zwei Anfälle am 14. Oktober. Erster Anfall morgens 8 Uhr: Au genverdrehen 
Händereiben, dann Kleider abwischen. Hierauf zieht Patientin die Stricknadeln aus den 
Strümpfen, an denen sie eben arbeitete, legt die Strümpfe über ihren Arm und geht auf 
den Korridor hinaus. Kommt nach kurzer Zeit wieder in den Arbeitssaal herein, nimmt 
bald die Arbeit wieder auf, erinnert sich nicht an das Vorgefallene. Keine Krämpfe. 
Dauer drei Minuten. 

Zweiter Anfall abends 4 Uhr. Augenverdrehen. Patientin lehnt sich rückwärtz über 
die Bank hinunter, auf der sie sitzt, reibt mit der Schürze, wischt am Rocke. Vor dem 
Anfalle ass sie Brot. Während des Anfalles nun kaut sie ruhig weiter, reisst mit der Hand 
kleine Stücke von ihrem Brote ab und steckt sie in den Mund. Amnesie. 

Nach dem ersten Anfalle von heute Morgen kam der Mann der Patientin, um sie 
zu sehen, da Besuchszeit war. 

Am 15. Oktober nachmittags kurze Absence, ohne Schliessen der Augen. 
Während der Absenze redet Patientin von ihrem Vater: „Ja, wir kommen gleich, es ist 
jetzt bald recht." Auf Fragen der Wärterin sagt sie weiter, ohne die letztere zu kennen: 
j»J^ j^ wir kommen gleich" u. s. f. Nach der Absenze sitzt Patientin noch während einiger 
Zeit still. Die Wärterin erfährt von ihr, der Mann sei eben dagewesen. Bei der Abend- 
visite weiss Patientin nichts mehr vom Vorfalle. 

16* 



220 FRANZ RIKLIN. -"rnd ÄÄt'" 



i8. Oktober. Am Morgen beim Aufstehen ein kurzer Anfall. Patientin 
hatte sich eben angekleidet und stand in der Nähe der Thüre, als sie die Augen ver- 
drehte und umsank. Giebt keine Antwort. Knöpft ihr Kleid auf, zieht die Schürze aus, 
steht auf, geht ein wenig umher, die Schürze mit beiden Händen in der Luft bewegend, 
wie zum Ausstauben. Zieht die Schürze wieder an, knöpft ihre Jacke zu. Amnesie. 

20. Oktober. Nachmittags kurze Absence. Starrer Blick, biegt den Körper, 
auf der Bank sitzend, etwas zurück, antwortet nicht, hält ihre Strickarbeit in der Hand, 
singt ein Lied, etwas undeutlich, so dass man nur die Melodie, nicht den Text verstehen 
kann. Mit den Gliedmassen ruhig. Nachher Amnesie; bei der Abendvisite weiss sie 
nichts vom Geschehenen. 

24. Oktober 1902. Am Nachmittage im Wachzustande hallucinatorischer 
Anfall. Redet dabei mit inrem Manne: „Ja, ja, wir kommen jetzt bald, es ist jetzt bald 
recht." Horcht noch längere Zeit in aufmerksamer Haltung, antwortet der Wärterin nach 
einer bestimmten Zeit, sie sei in W. gewesen, da haben ihre Verwandten gerufen, sie solle 
hereinkommen ins Haus. Sie habe nein gesagt. Ihr Mann sei dagewesen, nicht in Wirk- 
lichkeit, aber in ganz lebhafter Vision. So sehe sie hie und da auch den Arzt vor sich. 

Hypnosen. 

Mit dem Wunsche, die Amnesien für die Anfalle der Patientin durch die Hypnose 
zu beseitigen und darüber Aufschluss zu erhalte», ob den zum Teil koordinierten Be- 
wegungen der Extremitäten entsprechende Vorstellungen zu Grunde liegen — oder 
wenigstens parallel gehen, begann Referent die hypnotische Behandlung der Patientin. 

Zur Erzielung des hypnotischen Schlafes wurde gewöhnlich die kombinierte Methode 
mit Fixation und Verbalsuggestion angewendet. In den meisten Sitzungen lag Patientin 
auf einem Bett. 

Referent übernahm am i. Dezember den Abteilungsdienst und kannte damals weder 
die Patientin, noch ihre Anfalle genauer. Den Bericht über die paar vorausgehenden 
Anfiille erhob er erst nach der ersten Hypnose beim Wartepersonal zur Verifikation. 

Im ganzen fanden 7 Sitzung'en statt. 

Übersicht über die Hypnosen: 

Erste am 4. Oktober. Resultat: Erinnerung an die Träume der vorhergehenden 
Nacht (konnte nicht verifiziert werden). Erinnerung an die letzten Anfalle mit koordinierten 
Bewegungen. Mit den Füssen habe sie die Schuhe abziehen wollen, um die Kinder nicht 
zu stören u. dergl. Mit den Händen habe sie gewaschen, den staubigen Rock abgeputzt, 
Geschirr abgetrocknet. (Dies entspricht den Bewegungen der Hände in diesen Anfallen.) 
Amnesie nach der Hypnose. Posthypnotische Wirkungen. 

Zweite am 9. Oktober. Suggestion von Träumen. In der Hypnose wird post- 
hypnotische Erinnerung für einige Details aus dem letzten Anfalle (vom 3. Oktober) er- 
reicht; es handelt sich um ein Gespräch, das ihr Mann und ihr Vater führten; Kontrolle 
durch die Beobachtungen der Wärterin. Suggestion von Kartoffelschälen; diese Bewegung 
wird automatisch weitergeführt. Erinnerung an ihren Zustand während der konvulsiven 
Anfalle. Traumerinnerungen. 

Dritte am Abend des 14. Oktober, leichte Hypnose. Resultat: Summarische Er- 
innerung an den zweiten Anfall dieses Tages. 

Vierte am 15. Oktober. Resultat: Erinnerung an die Erlebnisse in den beiden An- 
fallen von gestern; die Einzelheiten aus dem ersten und zweiten Anfalle werden durch- 
einandergeworfen. Durch Wachsuggestion wird am Abend die Erinnerung an die Absence 
von diesem Tage bewusst. 

Fünfte am 18. Oktober. Resultat: Ungenaue Erinnerung an den Anfall vom Morgen 
des gleichen Tages. In tiefer Hypnose Suggestion eines Anfalles, die gelingt. Statt 
eines konvulsiven Anfalles tritt einer mit koordinierten Bewegungen auf. Weiterschlafen auf 
Suggestion, Aufwachen in leichtere Hypnose: Patientin befindet sich in einem Dämmer- 
zustände. Weiterschlafen auf Suggestion, sofort nachher, wie eingegeben wird. Erwachen 
aus der Hypnose. Patientin ist klar, für die ganze Hypnose amnestisch. 

Sechste am Nachmittag des 18. Oktober. Resultat: Korrekturen über den Anfall in 



^^* '' ^i^ * "■ ^' HEBUNG EPILEPTISCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 221 



1908. 



der Morgenfrühe. Erinnerung an den in der Hypnose produzierten Anfall und an den 
Dämmerzustand. Reproduktion mehrerer kleiner oder rudimentärer Anfalle mit Kon- 
vulsionen, Hallucinationen u. dergl. 

Siebente am Abend des 20. Oktober. Resultat: Erinnerung an die Absence vom 
Nachmittag des gleichen Tages, während dessen sie ein Lied sang. Sie glaubte, sie spiele 
und singe am Klavier. Singt auf Verlangen das gleiche Lied noch einmal vor, spielt auf 
dem suggerierten Klavier u. s. f. 

Erste Hypnose am 4. Oktober 1902. Patientin schläft rasch, wird kataleptisch. 
Eis wird ihr bald darauf Hypermnesie für ihre letzten Anfalle (vom 27. September und 2. 
und 3. Oktober) suggeriert, und um ihr die Wirkung der Hypnose plausibel zu machen, 
wird die Amnesie für die Anfalle mit der Amnesie für die meisten Träume im Wach- 
zustande verglichen. Dadurch angeregt, erzählt die Patientin zuerst stückweise, dann zu- 
sammenhängend einen Traum, den sie heute morgen vor dem Erwachen gehabt habe. 
Sie bewegte sich dabei in ihren alten Bekannten- und Verwandtenkreisen in W., wo sie 
früher gewohnt hat. Nachdem ihr fortwährend Hypermnesie für ihre letzten Anfalle 
suggeriert worden ist, fangt sie an, die Prodrome zu schildern: sie bekomme jeweilen 
Heimweh, dann Kopfschmerzen, und dann sei es ihr plötzlich, als fallen die Augen zu. 
(In Wirklichkeit fallen nicht die Augenlider zu, sondern der Bulbus dreht sich stark nach 
oben.) Dann sitze sie ab. Auf die Frage, was sie in den letzten Anfallen mit Händen 
und Füssen gemacht habe, was sie dabei denke, giebt sie, in Absätzen, folgende Auskunft: 
sie habe die Schuhe ausziehen müssen (sie streifte wirklich die Hausschuhe in einem der 
letzten Anfalle mit ihren Füssen ab), weil sie die Finken habe anziehen wollen, letztere 
seien gut genug für das Haus; sie denke an die kleinen Kinder, damit sie diese nicht wecke. 

Referent: „Und mit den Händen?" Patientin: Geschirr habe sie abgetrocknet. 
Referent (der von ihren Bewegungen sonst nichts Genaueres weiss): „Vielleicht haben Sie 
noch anderes gemacht?" Patientin, plötzlich: Der Rock war staubig, ich musste den Staub 
vom Rocke abwischen." Referent: „Und sonst?" Patientin: Die grosse Wäsche — ich 
habe waschen müssen. 

Referent suggeriert diesmal der Patientin Amnesie für das eben in der Hypnose 
Erzählte und befiehlt ihr, posthypnotisch, mit Amnesie für den Auftrag, ihn mit der linken 
Hand zu grüssen. Beide Suggestionen gelingen. Während der Hypnose traten zeitweise 
leichte Zuckungen in den Extremitäten auf. 

Es ist also schon beim ersten Versuche gelungen, die Amnesie über diese Art von 
Anfallen in der hypnotischen Hypermnesie zu beseitigen und nachzuweisen, dass den Be- 
wegungen der Gliedmassen parallel gehend bestimmte entsprechende Vorstellungen im 
Dämmerbewusstsein vorhanden sind. 

Zweite Hypnose am Q.Oktober 1902. Patientin schläft rasch; starke Katalepsie. 
Patientin soll erzählen, was sie in der letzten Nacht geträumt habe. Ihre Erzählung macht 
den Eindruck, als ob sie diese Träume zum Teil vorweg produziere und erlebe. 

Gefragt, was sie in den letzten Anfallen geredet habe, kann sie sich zuerst nicht gut 
erinnern. Dann besinnt sie sich, dass sie für sich geredet habe: „Was habe ich jetzt zu 
thun? Was muss ich jetzt arbeiten? Soll ich zuerst den Staub abwischen oder waschen?" — 
Dann plötzlich fallt ihr ein, sie habe sich mit dem Hans, ihrem Manne, unterhalten. 

Während der Hypnose wurde dieses Thema abgebrochen, und Patientin erst abends, 
im Wachzustande, weiter gefragt, nach der energischen Suggestion, ihr Gedächtnis für den 
zuletzt angeführten Anfall habe auffallend zugenommen. Patientin kann jetzt — was ihr 
vorher noch nicht möglich war, angeben, dass sie, wie sie in der letzten Hypnose erzählt 
habe, an ihren Mann dachte; dieser habe mit ihrem V^ater zu Hause wegen eines Stübchens 
im oberen Stockwerke verhandelt, wo sie mit ihrem Manne nach der Entlassung wieder 
wohnen wollte (vergl. Aussagen der Wärterin oben pag. 24 der Dissertation). 

In der Hypnose am Morgen noch wurde Patientin aufgefordert, die Kartoffel, die 
ihr Referent in die Hand gebe, mit dem Messer, welches ihr ebenfalls überlassen werde, 
zu schälen. In Wirklichkeit wurde ihr in die Linke ein Holzplessimeter und in die Rechte 
ein Zungenspatel gedrückt. Sie führt nun längere Zeit Bewegungen des Kartoffelschälens 



222 FRANZ RIKLIN. ^'"ulS'ay 

aus. Die Bewegungen der kartoffelschälenden Hand sind leicht saccadiert, erfolgen in 
kleinen Schüben. 

In tiefer Hypnose giebt Patientin auch über ihre Krampfanfälle Auskunft 
(vorher im Wachzustande weiss sie nichts davon, so wenig, wie von ihren Anfallen mit 
koordinierten Bewegungen). Sie gerate in Furcht, die Augen verdrehen sich, ein Schwindel 
befalle sie, sie müsse immer denken, was wohl noch komme. Sie weiss aus eigener Er- 
innerung in der Hypnose, dass sie dann zuckt und zittert, vorher am ganzen Körper steif 
wird. Sie denke dabei immer, was denn das sei. Ein bitterer Geschmack trete dann 
im Munde auf, der nach dem Anfalle noch vorhanden sei, so dass sie daran erkannt habe, 
dass wieder etwas passiert sei. Sie müsse dann Milch trinken, damit dieser Geschmack 
vergehe. Den eigentlichen Krampfanfällen scheinen also keine Vorstellungen 
zu Grunde zu liegen, die die Zuckungen motivieren. Auf ein gegebenes Zeichen er- 
wacht Patientin langsam aus dem hypnotischen Schlafe. Ihr Gesicht ist stark gerötet. Sie 
fühlt sich ganz wohl, geht in den Unterhaltungssaal ihrer Abteilung. Dort schläft sie noch- 
mals für längere Zeit ein — sie müsse einfach schlafen gehen, sagt sie zur Wärterin. Nach 
dem Aufwachen fühlt sie sich vollständig wohl und arbeitsfähig, ebenso abends bei der Visite. 

Die Barzahlungen in der Hypnose sind ausgesprochen affektvoll, werden in einem 
süss-glücklichen Tone vorgebracht. 

Dritte und vierte Hypnose, 14. Oktober, abends und 15. Oktober, mor- 
gens. Patientin wird in der Hypnose über die beiden Anfalle vom 14. Oktober gefragt. 
Sie zählt die meisten Einzelheiten richtig auf, doch ist es ihr nicht möglich zu unter- 
scheiden, welche Details sich im ersten, und welche sich im zweiten Anfall ereignet haben. 
Ähnliche Ungenauigkeiten sind uns ja auch im Fall Pf. begegnet. Vor diesen Hypnosen 
wusste sie nichts von den beiden letzten Anfallen, fühlte sich glücklich in der Meinung, sie 
habe jetzt schon lange keine Anfalle mehr gehabt. Erst nachher kam ihr in den Sinn, dass 
am Nachmittag des 14. Oktober etwas passiert sein könnte, da der bekannte bittere Geschmack 
im Munde aufgetaucht sei. In der Hypnose weiss sie sofort von zwei Anfallen zu be- 
richten. Sie erinnert sich ferner spontan an das Händereiben, das Herausziehen der Strick- 
nadeln aus der Arbeit; im Korridor habe sie frische Luft schöpfen müssen. Sie habe am Rock 
gewischt, der voller Löcher gewesen sei. Sie habe währenddessen das Vesperbrot gegessen. 

An die Absence vom 15. Oktober, für die sie zuerst amnestisch ist, erinnert sie 
sich, nachdem im Wachszustand die früher in der Hypnose gegebene Suggestion 
erneuert worden war, dass es ihr gelingen werde, sich nach dem Erwachen aus den 
Anfallen an dieselben zu erinnern. Sie erzählt, entsprechend der Beschreibung der Wärterin, 
dass sie im Anfall ihren Mann bei sich gehabt habe; sie habe sich zu Hause in W. 
geglaubt und zu ihrem Vater und den übrigen gesagt: „Wir kommen bald" u. s. f. Sie 
erklärt, im Wachen sehe sie oft deutlich ihren Mann, oft auch den Referenten vor sich. 
Sie könne das aber nachher von der Wirklichkeit unterscheiden. Hier und da weine sie 
eine Thräne bei solchen Visionen. Dies stimmt zum Bericht des Wartpersonals, dass Frau G. 
von Zeit zu Zeit ganz still dasitzend vor sich hinstarre und nachher eine Thräne fallen lasse. 

Fünfte Hypnose, am 18. Oktober. Die Amnesie für den heutigen Anfall wird 
zum Schwinden gebracht. Patientin erzählt allerhand Einzelheiten aus demselben, dass sie 
die Schürze ausgezogen habe, weil etwas daran gefehlt; sie weiss vom Aufknöpfen der 
Kleider u. s. f. Einige Dinge erzählt sie ungenau oder unrichtig. Die Geschmacksaura war 
wieder aufgetreten. 

In tiefer Hypnose, erzielt durch Anwendung des Kunstgriffs von P. Janet (Suggestion 
einer neuen Hypnotisierung in der Hypnose), versucht Referent die Erinnerung an ihre 
konvulsiven Anfalle der Patienten wiederzugeben. Es wird ihr ganz lebhafte Erinnerung 
daran suggeriert, so dass sie einen solchen Anfall formlich wieder erlebe. Dann intensive 
Verbalsuggestion, sie bekomme wirklich einen solchen Anfall. 

Es ereignet sich dabei folgendes: Patientin schüttelt ihre Arme, ballt dazu die 
Fäuste, zittert mit den Beinen, alles das gerade so, wie es bei ihr im Beginn der kon- 
vulsiven Anfälle in der ersten Nacht beobachtet worden war. Dann aber beginnt sie 
krampfhaft mit einer Hand an den Fingern der andern zu zupfen, sie dreht krampfhaft, 
stöhnend den Kopf und Oberkörper nach links, streift die Füsse aneinander ab, putzt mit 



^^* ^' ^09^ * "* *' HEBUNG EPILEPTISCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 223 



der rechten Hand krampfhaft den Rock ab und reibt noch mit beiden Händen an ihren 
Kleidern. Der Kopf wird nun ächzend nach rechst hinübergedreht. Patientin reagiert 
nicht auf Anreden. Augen bleiben geschlossen während der ganzen Zeit. Lichtreaktion 
der Pupillen wurde leider nicht untersucht. Schliesslich macht Patientin die Augen auf, 
ohne jemanden zu fixieren, redet nichts. Es wird ihr gesagt, dass sie ruhig fortschlafen 
werde wie vor dem Anfall. Gleich schläft sie weiter. Wie nun dieses Zeichen gegeben 
wird, macht Patientin die Augen auf. Starrer Blick, fixiert nicht; Patientin weiss nicht, wo 
sie ist, verkennt den Referenten, schaut ihn lange an, will ihn lebhaft umamien, singt ein 
Liebesliedchen. Referent fragt sie eindringlich, wer er denn sei? Sie antwortet mehrmals: 
Und dann? und dann? in schalkhaftem Tone; endlich sagt sie zum Referenten, den sie 
duzt: „Oder bist du etwa der Schreiner St. aus der Neubrücke in W.? 

Patientin kümmert sich sonst um nichts, was im Zimmer vorgeht: Mit einigen Passes 
und Worten suggeriert ihr Referent Fortdauer des hypnotischen Schlafes für kaum 
I Minute. Dann erwacht Patientin auf ein gegebenes Zeichen, ist vollständig klar, kennt 
den Referent. Amnesie für Anfall und Dämmerzustand, die sich in der Hypnose 
ereignet hatten. Auf die Frage, ob sie vielleicht einen Schreiner St. aus der Neubrücke 
bei W. kenne, antwortet sie ganz harmlos: „Gewiss, der Vater arbeitet bei ihm.** Von 
dem Vorgefallenen, oder dass etwas mit dem St. gewesen sei, weiss sie gar nichts. 

Als Referent, der die übrigen Anfalle der Patientin nicht mit eigenen Augen gesehen 
hatte, der Wärterin den Anfall aus der Hypnose vordemonstrierte, war diese sehr verblüfft: 
Genau so, in dieser Reihenfolge gehen diese Anfalle vor sich. Wir haben es hier also 
mit einem Anfall zu thun, der in der Hypnose durch Suggestion ausgelöst 
wird, den übrigen Anfallen der Patientin ganz gleicht, mit nachfolgendem Dämmer- 
zustand, unterbrochen von einem suggerierten, ganz kurzen Schlaf, nach welchem sie 
von einer tiefen Hypnose erwachen soll. Der Dämmerzustand selber wird durch einen 
weiteren suggerierten Schlaf coupiert und beim Erwachen, das ihr kaum eine Minute 
nachher suggeriert wird, ist Patientin vollständig klar und amnestisch für den Vorfall. 

Sechste Hypnose, am Nachmittag des gleichen i8. Oktober. Es gelingt, in 
tiefer Hypnose und entsprechender Suggestion eine Reihe von kleinen oder allgemeiner 
rudimentären Anfallen auszulösen, mehr konvulsiver Natur (eine bestimmte Art von An- 
fallen wurde nicht suggeriert) auch einige Absenzen, in denen sich Patientin mit ihrem 
Mann abgiebt. Femer kann die Erinnerung an den Anfall und Dämmerzustand aus der 
letzten Hypnose wachgerufen werden. Im letzteren habe sie sich mit ihrem Mann unter- 
halten, ihn geherzt und umarmt. Sie wiederholt diese Szene in ähnlicher Weise wie in 
der letzten Hypnose ganz plastisch, dreht sich dann plötzlich gegen den Referenten, der 
ihr immer vom Schreiner St. spricht. An diesen will sie sich nicht erinnern, sondern will 
plötzlich den Referenten umarmen (wie in der letzten Hypnose) mit dem Bemerken: „Oder 
waren Sie es am Ende, den ich umarmen wollte?^ Erwachen wie gewöhnlich. Patientin 
ist klar, amnestisch. 

Siebente Hypnose am Abend des 20. Oktober. Am Nachmittage dieses 
Tages war die Absence aufgetreten, während der die Patientin ein Liedchen sang. Nun 
wird sie auf einer Bank im Korridor ihrer Abteilung hypnotisiert. Suggestion: Klare Er- 
innerung an alle Vorkommnisse des Nachmittags. Patientin macht folgende Angaben: 
„Ich habe gespielt, am Klavier, und habe ein Lied dazu gesungen (singt): „Mein Lieb' ist 
eine Älplerin, gebürtig aus Tirol'* u. s. f. Referent: „War es wirklich dieses Lied? Es 
war doch ein anderes?" Patientin: „Nein, es war ganz bestimmt dieses Lied." Referent 
lässt die Wärterin kommen, die den Anfall gesehen hat. Patientin singt das genannte 
Lied nochmals vor, und die Wärterin erkennt es an der Melodie ganz sicher als das, 
welches sie im letzten Anfalle sang. Referent suggeriert dann der Patientin noch ein 
Klavier, auf welchem Patientin nun ihr Lied begleitet und zwar, soviel sich aus den 
Fingerbewegungen und Stellungen kontrollieren lässt, richtig. Nachher schliesst Patientin 
auf Suggestion den angeblichen Deckel des Klaviers, schliesst es mit einem suggerierten 
Schlüssel schön zu und giebt den Schlüssel dem Referenten ab. Dann wacht sie auf das 
angegebene Zeichen auf. Die frühzeitige Entlassung der Patientin vereitelte weitere 
Studien und Beobachtungen. 



224 FRANZ RIKLIN. ^Tnd NeBi!^' 

Diagnose und Ergebnisse. 

Der Mangel an hysterischen Symptomen einerseits, die Menge der 
psychisch -epileptischen Symptome, die typisch -epileptische Verblödung, die 
neben dem leichten angeborenen Schwachsinn vorhanden ist, sowie die 
körperlichen Symptome (z. B. der Gesichtsausdnick) zwingen uns zur Diagnose 
Epilepsie, wenn ich auch direkt keinen schweren konvulsiven Anfall beobachtet 
habe. Die ganze Art und der Verlauf dieser Anfälle spricht für Epilepsie. 
Anfälle mit koordinierten, relativ stereotypen Wisch-, Putz-, Streichbewegungen, 
vor oder nach dem Anfall oder als selbständige Absencen kommen bei 
Epileptikern ungemein häufig vor. Herr Kollege Dr. Ulrich an der Schweiz. 
Anstalt für Epileptische in Zürich hat mir bereitwilligst mehrere solcher Fälle 
gezeigt, die sich in den Absencen auskleiden, oder den Boden abwischen, 
oder eine Katze, eine Züge zu streicheln glauben u. s. f. Daneben werden bei 
all diesen Leuten auch typisch-epileptische Konvulsivanfälle, zum Teil sehr 
schwere, beobachtet, welche die Diagnose erhärten. Die koordinierten Anfalle 
sind ziemlich gleichförmig, treten meist ein ohne wahrnehmbare Ursache, stören 
Patientin nicht im geringsten in ihrer Euphorie. Die Anfälle beginnen plötzlich, 
häufig mit Geschmacksaura; nachher Amnesie. Von typisch - hysterischen 
Symptomen ist wie gesagt nichts zu entdecken. Dass in der Hypnose Anfälle 
erzeugt werden können, findet seine Analogie in folgenden Fällen, die ich 
mit Erlaubnis des Herrn Kollegen Dr. Ulrich, der sie mir freundlichst zur 
Verfügung gestellt hat, hier kurz anführe und in denen Anfalle durch psy- 
chische Momente ausgelöst werden: 

Bei einem 37 Jahre alten Lehrer kommen typisch-epileptische Anfalle mit 
intellektueller Aura seit zwei Jahren vor, während diese Aura (angenehmes, sonder- 
bares Gefühl, vom Magen bis zum Kopfe aufsteigend ; dann kommen dem Patienten 
jedesmal die gleichen Gedanken) schon seit mehr als 20 Jahren als selbständiger 
Anfall periodisch aufgetreten ist. Für uns bemerkenswert ist, dass seit ungefähr 
einem Jahr die Aura immer vor den nämlichen Schülern und zur nämlichen Zeit 
auftritt, so dass sich Patient geradezu fürchtet, in diese Klasse zu gehen. 

Ein sechsjähriges Mädchen hat typisch - epileptische Anfälle seit zwei 
Jahren. Sie treten ein bei jedem Erschrecken: Thüre zuschlagen, Klopfen, 
überhaupt bei jedem unerwarteten Geräusch. 

Es wird in Epileptikeranstalten, speziell in Zürich, häufig beobachtet, 
dass Anfalle durch energisches Anrufen, sobald sich die Aura einstellt, auf- 
geschoben werden können. Löwenfeld i) erwähnt desgleichen, dass durch 
Willensakte die Anfälle aufgeschoben oder coupiert werden können. 

Ferner erzählt mir der Herr Kollege Ulrich, dass bei Anstaltsfesten, Aus- 
flügen, auch von stundenlanger Dauer, Anfälle merkwürdig selten sind, selbst 
bei sehr grosser Tcilnchmerzahl. Warum sollte es also nicht auch durch die Hyp- 
nose gelingen, die Anfälle zu beeinflussen, im speziellen Fall einen auszulösen? 

Es konnte also im Falle der Frau G. nachgewiesen werden, dass 

I. Die Erinnerung an ihre Anfälle mit koordinierten Bewegungen, mit Kon- 
vulsionen, sowie an die Absencen durch die Hypnose geweckt werden konnte. 



'j Löweufeltl, Lehrbuch der gesamten Psychotherapie. I. Auflage, Wiesbaden 1897. 



^^' '* ^^ * "' ^" HEBUNG EPILEPTISCHER AMNESIEN DURCH HYPNOSE. 22$ 



2. Dass den Anfallen mit koordinierten Bewegungen parallelgehende 
Vorstellungen entsprechen. Ob der motorische Anfall oder diese Vorstellungen 
das Primäre sind, ist noch nicht zu entscheiden. 

3. Den elementaren, konvulsiven Anfällen scheinen keine entsprechenden 
Vorstellungen zu Grunde zu liegen. 

4. Es gelang in der Hypnose, Anfälle auszulösen, speziell einen, der 
die häufigsten Anfälle der Patientin treu kopierte. — Ferner war es möglich, 
den auf den ersten derartigen Anfall folgenden Dämmerzustand durch Ver- 
balsuggestion zu coupieren. 

5. Therapeutisch konnte bei der Patientin eine ziemlich anhaltende 
Euphorie erzeugt werden. 

Die beiden beschriebenen Fälle sollen ein Beitrag sein zum Beweis, dass 
die epileptischen Amnesien keineswegs irreparabel, sondern nur funktioneller 
Natur sind. 

Ich habe die Hypnose noch in drei anderen Fällen von typischer Epi- 
lepsie angewendet; bei zwei schon ziemlich blöden Kranken bekam ich keine 
brauchbare Auskunft über ihre postepileptischen Dämmerzustände, doch wurde 
der Versuch viel zu wenig lange fortgesetzt. Anfall ähnliche Zuckungen 
konnten in einem Fall hervorgerufen werden. In einem dritten Fall, ähnlich 
dem der Frau G., scheint das Resultat günstig werden zu wollen, soweit ich 
es nach der erst ganz kurzdauernden hypnotischen Behandlung beurteilen kann, 
wenigstens förderte schon die erste Hypnose Positives zutage. 

Zum Schlüsse danke ich vor allem meinem hochverehrten Chef, Herrn 
Professor Dr. Eugen Bleuler für seine Anregung zur Arbeit und die liebens- 
würdige Überlassung der Fälle. Auch dem Herrn Kollegen Dr. Ulrich bin 
ich für seine bereitwilligen Mitteilungen zu grossem Dank verpflichtet. 




(Arbeit aus der städtischen Irrenanstalt zu Frankfurt a. M.) 

Experimenteller und klinischer Beitrag zur Psychopathologie 

der polyneuritischen Psychose. 

Von 

Dr. K. Brodmann. 

Assistent am Neurobiologischen Institut der Universität Berlin. 

An Versuchen, die experimentellen Methoden der modernen physio- 
logischen Psychologie in den Dienst der Psychiatrie zu stellen, hat es in den 
letzten Jahren nicht gefehlt. Die Erkenntnis, dass eine rein klinische Be- 
trachtungsweise, trotz aller Verdienste, die ihr in der Abgrenzung und Gruppic- 



226 DR. K. BRODMA KN. ^°T.'d' N«5g'" 

rung psychopathologischer Zustandsbilder zufallen, dem Bedürfnisse nach einem 
tieferen, psychologischen Verständnisse der den Geisteskrankheiten zu Grunde 
liegenden Veränderungen elementarer seelischer Prozesse nicht genügt, forderte 
dazu heraus, experimentelle Methoden und Hilfsmittel, deren sich die Normal- 
psychologie bedient, für die Untersuchung krankhafter geistiger Vorgänge 
nutzbar zu machen, um auf diesem Wege dem Mechanismus psychischer 
Störungen auf den Grund zu kommen. 

Aus diesem Bestreben ist jene neue Richtung psychiatrischer Forschung 
hervorgegangen, welche sich die Aufgabe gestellt hat, für die Psychopatho- 
logie geeignete Experimentalmethoden auszubilden und ihre Anwendung auf 
Geisteskranke zu prüfen. Kraepelins Verdienst vor allem ist es, die Aufgaben, 
welche der psychologischen Arbeit in der Psychiatrie für die nächste Zeit 
vorgezeichnet sind, grundsätzlich formuliert und die Wege zu deren Lösung 
angegeben zu haben. Danach sind dem psychologischen Experiment auf dem 
Gebiete krankhafter Scelenzustände in der Hauptsache zwei Richtungen ge- 
wiesen. Die eine Richtung hat zum Ziele, an Einzel funktionen die Breite 
persönlicher Eigentümlichkeiten sowohl im geistig gesunden wie im geistig 
erkrankten Zustande zu bestimmen. Sie läuft im Grunde darauf hinaus, eine 
einzelne psychische Funktion unter möglichst verschiedenartigen normalen und 
krankhaften Bedingungen nach experimentellen Methoden zu messen; der 
Psychiater sucht dabei zu ermitteln, ob und wie weit eine bestimmte geistige 
Fähigkeit bei einem Kranken oder bei verschiedenartigen Krankheitsformen 
Abänderungen erleidet. Der andere Weg hält sich an das Einzelindividuum, 
resp. den Krankheitstypus und sucht bei einem Menschen alle oder wenig- 
stens möglichst viele fundamentalen psychischen Prozesse mit verschiedenen 
experimentellen Methoden zu analysieren; sein Ziel ist es, ein vollständiges 
Gesamtbild aller der Störungen zu erhalten, welche ein bestimmter Krankheits- 
zustand erzeugt hat, um auf diese Weise einen experimentellen Individualstatus 
jeder Krankheitsform und jedes Krankheitsfalles aufstellen zu können. 

Es wäre verfrüht, heute schon entscheiden zu wollen, welche von den 
beiden Forschungsrichtungen die aussichtsreichere ist. Vielfach werden sich 
die beiden Verfahren ergänzen müssen. Im Einzelfalle wird der Weg des 
Experimentes bestimmt werden durch die Art des vorliegenden Krank- 
heitsfalles, durch die Individualität des Kranken und durch die besonderen 
Zwecke, die der Experimentator jeweils verfolgt. Für das erstere Unter- 
suchungsverfahren werden naturgemäss solche psychische Krankheitsformen 
sich am geeignetsten erweisen, welche durch isolierte Ausfälle einer einzigen, 
bestimmt umgrenzten geistigen Fähigkeit, sei es des Wahrnehmungsvorganges 
oder des Gedächtnisses, sei es der Vorstellungsbildung oder des V^or- 
stcllungsablaufcs, sei es des Gefühlslebens oder der Willenshandlungen, 
ausgezeichnet sind, ohne gröbere Störungen auf anderen Gebieten erkennen 
zu lassen. Dieser Voraussetzung scheint das Krankheitsbild der polyneuritischen 
Psychose nach Korsakow in besonderem Masse zu entsprechen. Bei der 
Korsakowschen Psychose bestehen, wie wir wissen, als hervorstechendstes 
Symptom (ieHächtnisstörungen, speziell Störungen jener Seite des Gedächt- 
nisses, die Wem icke ,, Merkfähigkeit*' genannt hat. Dieselben treten zuweilen 



^^* '* ^^ ^ "• ^" EXPERIMENTELLER UND KLINISCHER BEITRAG ETC. 22/ 



190S. 



derart in den Vordergrund, dass sie den Charakter einer selbständigen Krank- 
heitsform annehmen und zu der Bezeichnung der ,, amnestischen Geistesstörung" 
Veranlassung gaben. In einem solchen Falle liegen die Verhältnisse für 
das psychologische Experiment am günstigsten. Es wird hier darauf an- 
kommen, experimentell festzustellen, nicht nur ob diese Gedächtnisstörungen 
in allen Fällen gesetzmässige und nur für diese Form der Geisteskrankheit 
charakteristische sind, sondern auch welcher Art und welchen Grades sie im 
Einzelfalle sind und auf welche elementareren Störungen im associativen Prozesse 
oder in der Beschaffenheit des Gedächtnismaterials sie zurückgeführt werden 
müssen. Die klinische Analyse lässt hier gerade bezüglich der wichtigsten 
Fragen ganz im Stiche und nur das Experiment wird uns darüber Aufschluss 
zu geben vermögen. 

Im Hinblick darauf habe ich an zwei Kranken vom Typus der Korsa- 
kowschen Psychose in der städtischen Irrenanstalt zu Frankfurt a. M. experimen- 
telle Untersuchungen in der letztgedachten Richtung vorgenommen. Nur bei dem 
einen Kranken konnten allerdings die Prüfungen annähernd in dem Umfange 
durchgeführt werden, als es in meiner Absicht lag und auch zu einem gewissen 
Abschlüsse gebracht werden. Der andere verliess die Anstalt vorzeitig und war 
auch sonst wenig für psychologische Experimente geeignet; ich bin daher hier 
über einige orientierende Prüfungen nicht hinausgekommen. Gleichwohl möchte 
ich die Resultate als Vergleichsmaterial, wenn auch nur anhangweise, mitteilen. 

Dem experimentellen Teile schicke ich, in absichtlich breiter Ausführung, 
einen klinischen voraus. Ich gebe die klinischen Aufzeichnungen grösstenteils 
unverkürzt wieder in dem Gedanken, dass einerseits aus der möglichst ein- 
gehenden Kenntnis des klinischen Krankheitsbildes* und Krankheitsablaufcs 
die auf experimentellem Wege gewonnenen Einblicke in das abnorme Getriebe 
der geistigen Vorgänge nur eine Vertiefung erfahren können und dass anderer- 
seits von den im Experiment zu Tage tretenden elementaren Störungen Licht 
auf das psychische Gesamtbild des Kranken zurückfallen wird. Indem wir die 
Resultate beider Betrachtungsweisen, der klinischen Beobachtung und der 
experimentalpsychologischen Untersuchung vereinigen und einander gegenüber- 
stellen, gewinnen wir einen Massstab für das, was jede von ihnen in der 
Erkenntnis des einzelnen Falles zu leisten vermag. Und gerade dieser metho- 
dologische Gesichtspunkt in erster Linie ist es, der mich zur ausführlichen 
Darstellung meiner Untersuchungen veranlasst. 

A. Klinischer Teil. 

I. Wilhelm M. , geb. 29. Juli 1846 zu F. in Rheinhessen, war vom 17. Juni 1900 bis 
20. August 190I in der Städtischen Irrenanstalt zu Frankfurt a. M. in Behandlung. Zur Anamnese 
wurden folgende Angaben gemacht: 

Patient hat Volksschulbildung genossen. Er verbrachte seine Jugend im Eltemhause, wo er teils 
in der Landwirtschaft,, teils in der Bäckerei seines Vaters arbeitete und nebenbei seinen Vater in der 
Postagentur des Ortes unterstützte. Mit 20 Jahren diente er bei den Gardejägem in Friedberg, 
machte als 24 jähriger den Feldzug gegen F'rankreich mit und kämpfte in mehreren Schlachten, 
besonders bei Gravelotte^ und vor Metz mit. Vor Orleans erkrankte er an Typhus, wurde als 
Rekonvalescent nach Hause zurücktransportiert und lag dann längere Zeit in einem Feldlazarett in 
Friedberg. Nach Beendigung des Feldzuges führte er gemeinsam mit seiner Mutter — der Vater war 



228 DR. K. BRODMANN. ^°"iSd Ner'ologie?^** 

inzwischen am 2. Sept. 1870 verstorben — die Wirtschaft auf dem elterlichen Gute in H. Er verheiratete 
sich am 15. Mai 1873 und bekam drei Kinder, von denen zwei leben. 1876 trat M. in den Zolldienst 
über und diente als Grenzaufseher an der holländischen Grenze bis l. Mai 1881; dann kam er als 
Steueraufseher nach Frankfurt a. M. und rückte hier 1888 zum Hauptsleueramts- Assistenten auf. Als 
solcher versah er am gleichen Orte bis zu seiner Erkrankung eine Zollabfertigungsstelle teils am 
Zollhafen, teils am Güterbahnhofe, teils an der Post. 

Im Jahre 1896 starb seine Frau; von da an führte er gemeinsamen Haushalt mit seiner ver- 
heirateten Tochter Frau M., erst in Sachsenhausen, zuletzt in Bockenheim. Seit dem Tode der Frau 
ging, nach Angabe der Töchter, eine Veränderung mit dem Patienten vor. Früher stets solid und 
nüchtern, fing er jetzt an, unmässig zu trinken, besonders viel Likör. Seit einem halben Jahre 
verschlimmerte sich diese Neigung zum Trünke zusehends, er war sehr häufig betrunken, gleichzeitig 
veränderte sich sein ganzes Wesen; er wurde heftig, unverträglich und reizbar von Charakter, in 
seinem dienstlichen Verhalten unordentlich und unpünktlich, seine Angehörigen vernachlässig» e er, 
auf Kleidung und Umgang legte er keinen Wert mehr. Dabei war er im Dienst bis unmittelbar vor 
dem Eintritt in die Irrenanstalt. Erst zwei Tage vor der Intemierung kam es zum Ausbruch schwererer 
geistiger Störungen. Schon früher war eine grosse Vergesslichkeit und Zerstreutheit an ihm auf- 
fällig gewesen ; in den letzten Tagen nahmen diese Erscheinungen zu, er vergass alles, wurde in seinen 
Reden ganz konfus, wusste nie, was er eben gesagt und gethan hatte, widersprach sich infolge 
dessen in Allem und redete zeitweise gänzlich irre. Dabei zeigte er eine grosse Unruhe und Unstetig- 
keit, wanderte in der Wohnung umher, suchte ständig nach einem Trambahn- Abonnement, das er 
seit Jahren nicht mehr besass, hatte allerlei unsinnige Einfälle, behauptete z. B. zu seiner auswärts 
wohnenden Schwester reisen zu müssen, es sei etwas Schreckliches passiert, war in dauernder Ängstlich- 
keit (Panphobie) und ruheloser Geschäftigkeit. Er verlangte die letzten Tage fortwährend zu trinken, 
trieb sich bis in die tiefe Nacht hinein in den Wirtshäusern umher, warf mit Geld um sich und regalierte 
Jedermann. Die Nacht vor seiner Einlieferung in die Irrenanstalt wurde er vollkommen verwirrt, 
er fing an Lärm zu machen, blieb nicht zu Bett, behauptete iritten in der Nacht in den Dienst zu 
müssen, es sei schon spät am Tage, verlief sich in der eigenen Wohnung, wusste nicht mehr wo 
sein Bett stand, urinierte ins Zimmer und musste, da er nicht mehr zu halten war und für die 
Umgebung störend wurde, vom Schwiegersohn zur Anstalt gebracht werden. 

Über den körperlichen Zustand bei der Aufnahme ist zu bemerken: Gesicht kongestioniert, 
starker Tremor der Muskeln um den Mund, kein Tremor der Zunge und der gespreizten Finger, 
Patellarsehnenreflexe abgeschwächt, Druck auf die grösseren Nervenstämme schmerzhaft, Pupillen 
reagieren prompt, Gang etwas unsicher. Im übrigen liess das äussere Verhalten des Patienten, wie 
er zur Anstalt kam. Auffälliges zunächst nicht bemerken. Er hatte ein sicheres, entschiedenes Auf- 
treten, antwortete rasch und schlagfertig, was er sagte machte einen überlegten, durchaus zusammen- 
hängenden und logischen Eindruck. 

Bei den Verhandlungen wegen seines freiwilligen Eintrittes in die Anstalt entwickelte er 
eine grosse Hartnäckigkeit und brachte allerlei triftige Gründe dagegen vor, so dass der Arzt 
zunächst daran zweifelte, einen schwer Geisteskranken vor sich zu haben. Erst durch Vernehmung 
des Schwiegersohnes wurde ersichtlich, dass das Meiste, was Patient erzählt hatte, freie Erfindung 
war, z. B. wohne er gar nicht in Sachsenhausen, sondern in Bockenheim, tr sei wohl vor Jahren 
am Hauptbahnhof angestellt gewesen, gegenwärtig aber am Zollhaien, ferner sei er jetzt gar nicht 
im Besitze eines Trambahnabonnements, habe ein solches aber vor langer Zeit besessen. 

Als der Arzt eine hcdbe Stunde später den Kranken wieder sah, hatte Patient von dieser ganzen 
ziemlich erregten Verhandlung keine Erinnerung mehr; er glaubte zum Militärdienst eingezogen zu 
sein, erzählte, dass er sich heute am Hauptmehieamt und in der Kaserne gemeldet habe und nun 
ins Lazarett geschickt worden sei, warum wisse er nicht. Davon, dass er von seinem Schwieger- 
sohn zur Anstalt gebracht und dass er hier von Dr. A. nach langer Verhandlung aufgenommen 
wurde, weiss er nichts mehr. Er erinnert sich überhaupt nicht, den Dr. A. schon gesehen zu haben 
und verwechselt ihn mit dem früheren Arzt seiner verstorbenen Frau, Dr. v. T. 

Über (las Verhalten und das psychische Bild des Kranken im weiteren Verlaufe geben folgende 
Protokolle aus dem Krankeujournal Auskunft. 

18. VI. OD. Patient ging nachts öfter aus dem Bett, klagte über Durst, verlangte Bier, glaubte 
in der Kneipe zu sein. Bei der Visite entwickelt sich folgende Unterhaltung, wobei Patient durchaus 
schlagfertig und mit grosser Sicherheit auf alle Fragen antwortet: Wie geht es? „Ich kann nicht 



^^* '' ^^ ^ "* ^* EXPERIMENTELLER UND KLINISCHER BEITRAG ETC. 229 



sagen, ob es mir besser geht oder schlechter. Ich bin eingezogen bei den 8l ern als Landwehr- 
mann.** — Wie alt sind Sie denn? „Ich bin eingezogen , . 54 Jahre.** — Wie lange sind Sie schon 
eingezogen? „Ein paar Tage biu ich jetzt hier in der Kaserne ... in der Gutleutstr.** — Wer 
hat Sie hergebracht? »»Ich weiss selber nicht.*' — Wo sind Sie hier? ,Jm Bockenheimer Lazarett . . 
jetzt bin ich eingezogen als Landwehrmann." — Wo ist Ihre Frau? „Die ist tot vor 3 Jahren. Die 
Sache ist nicht so ganz klar, ich bin Zollbeamter, da war ich .in der Grenze seit 76, dann kam 
ich 1888 hierher nach Frankfurt, zuerst am Hauptbahnhof, dann am Güterbahnhof zur Zollabfertigung.'* 
(Arbeitet tha'sächlich jetzt am Zollhafeu.) — Welches Jahr ist jetzt? „1891.** — Monat? „Juli, 
ich bin ja Kassierer am Hauptbahnhof, da muss ich doch wissen, welcher Monat ist?" — Wo 
wohnen Sie? „In Sachsenhausen wohne ich — Strasse . . merkwürdig, die weiss ich jetzt nicht . . 
Schweizerstrasse, nein . . nein . . na, da bin ich krank geworden, ich wurde dann hierher 
versetzt.** — W^o hier? ,,lm Spital . . nu weiss ich nicht . . ich bin eigentlich als Steuer- 
aufseher angestellt**. — Wie lange schon hier? „Seil Freitag*' (Sonntag). — Heute? „Ist 
M(mtag . . als Landwehrmann bin ich eingerückt**. — Was heute schon gemacht? „Heute 
schon fest Übungen gemacht." 

20. VI. Geht am Tage viel ausser Belt, wandert im Saal umher, macht sich an Schränken 
zu schaffen, verlangt Wein und Bier, nimmt seine Speisen nur teilweise. Nachts schlaflos, unruhig, 
führt delirante Selbstge".piäche, sucht seine Kleider, drängt stürmisch fort, er müsse Dienst thun. 
Über Tag- und Nachtzeit ist er nie orientiert. 

An den folgenden Tagen wiederholt sich dasselbe Bild. Die örtliche und 
zeitliche Desorientiertheit bleibt wie bisher; zeitweise besteht leichte motorische 
Unruhe mit P^ortdrängen auf Grund einer völligen Verkennung der Situation 
und auf Grund von Erinnerungsfälschungen. Die Fähigkeit, sich aus seiner 
gegenwärtigen Lage Erfahrungen zu sammeln und aus denselben ein Bild der 
örtlichen und zeitlichen Verhältnisse zu konstruieren, ist ebenso wie das Ver- 
mögen, irgendwelche primitive Sinneswahrnehmungen im Gedächtnis festzuhalten 
und willkürlich zu reproduzieren, verloren gegangen. Patient lebt infolgedessen 
gar nicht in der Wirklichkeit, seine (iegenwart ist nur eine Scheinwirklichkeit, die 
jeden Augenblick wechselt, ein Phantasiegebäude aus beliebig sich zusammen- 
fügenden Elementen des früheren Lebens, das im Moment entsteht und ver- 
geht um einem neuen ebenso vergänglichen Phantasma Platz zu machen. 
Dabei sind ganze Bruchstücke seines Lebens, besonders der letzten Jahre, aus 
der Erinnerung ausgeschaltet, sie werden als associative Elemente überhaupt 
nicht mehr verwertet; so kommt es, dass Patient auch vielfach bezüglich seiner 
eigenen Person den gröbsten Täuschungen unterliegt, er irrt sich über seinen 
eigenen Stand und seine Thätigkeit, er glaubt Steueraufseher zu sein, was er vor 
Jahren war, er meint am Hauptbahnhof angestellt zu sein, während er am 
Hafen Dienst thut, er weiss nicht, dass er Witwer geworden ist, zuweilen 
wähnt er sich noch an der holländischen (irenze wie vor 20 Jahren oder sogar 
in seiner Jugend auf dem väterlichen Gute. Das stört ihn aber nicht, sein 
Alter im selben Atemzuge annähernd richtig anzugeben. Diese Widersprüche 
können ihm eben gar nicht bcwusst werden, da er seine eigenen Worte 
sofort wieder vergisst und da ihm die elementare Fähigkeit, sich etwas im 
Gedächtnis einzuprägen, gänzlich verloren gegangen ist. 

Wie rasch ihm neue Eindrücke und auch die eigenen Phautasieprodukte wieder entschwinden, 
ist aus folgender Aufzeichnung ersichtlich: 

Wie geht es heute? .,Ich habe heute Nacht nicht hier geschlafen, war zu Hause bei meiner 
Familie, ich bin mit der Trambahn hergefahren; heute morgen um ^.,6 l^hr mussten wir schon 
anfangen ausladen, dann haben wir alles ausgeladen und um '^8 Uhr habe ich mich gelegt.** — 
Was haben Sie also heute schon gemacht? Patient erzählt eine ganz andere Geschichte, es sei heute 



230 DR. K. BRODMANN. -"""w nÄ'SL"«'' 



Sonntag, er sei in der Kirche gewesen: „man muss am Sonntag doch in die Kirche gehen," — 
Haben Sie heute schon gearbeitet? ^»Nein, am Sonntag arbeiten wir nicht,'* — Was heute schon 
gethnn? Elrzählt jetzt von einem längeren Spaziergang nach Seckbach und kommt schliesslich darauf 
hinaus, er sei nicht in der Kirche gewesen, er habe den ganzen Vormittag gearbeitet. — Haben 
Sie nicht gesagt, dass Sie am Sonntag nicht arbeiten? „Nein, wir arbeiten doch nicht am Sonntag, 
wir waren in der Kirche.** 

22. VL Eine ähnliche Unterredung am folgenden Tage ergab: Was heute gemacht? „Heute 
in aller Früh war ich in der Kirche, Dann war meine Schwester da und der Herr Rössler, mit 
denen sind wir nach Haus gegangen und haben Kaffe getrunken,** (Hatte keinen Besuch.) — 
Wo sind Sie hier? „Zu Hause.** — Wo ist das zu Haus? „Militärlazarett 5 oder 7.'* — Haben 
Sie mich schon gesehen? „Dr. v. T, (Dr. B.) Ich bin schon einmal bei Ihnen zur Sprechstunde gewesen." 

— Wer ist das (Wärter)? „Ach das ist ja em alter Bekannter, sein Name fahrt mir im Munde 
herum.** — Was fehlt Ihnen? „Magenleiden,** — Was ist für ein Jahr? „1891 . , August.** — 
Wo wohnen Sie? „In Sachsenhausen, ich war Jäger beim ersten Gardejägerbataillon in Friedberg." 

— Haben Sie Kinder? „Zwei: Anna, Lehrerin und Grethe, verheiratete Michel, die ist etwas über 
ein Jahr verheiratet (5 Jahre). Sie waren doch auch früher Arzt meiner Frau.** — Wann ist Ihre 
Frau gestorben? „Vor drei Jahren . . 1898.** — Was ist jetzt für ein Jahr? „1901I** 

24. VI, Patient äussert heute bei der Visite: „Gestern habe ich iu Sachsenhausen gearbeitet uml 
umladen lassen." — Wo sind Sie hier? „Im Lazarett.** — Welchen? „Es gibt verschiedene." — 
Haben Sie Ihre Töchter schon gesehen? „Gestern morgen waren sie hier alle zwei** (waren that- 
sächlich noch nie hier). — Was ist für ein Jahr? „1901!** — Monat? „Juli.** — Wie lange sind 
Sie hier? „Seit 9. oder 10. Juli , . 4 Wochen. Eine Zeit lang habe ich in Bockenheim im 
Lazarett gelegen, von dort kam ich hierher.** 

Dasselbe Bild äusserer Unorientiertheit bei erhaltener Besinnlichkeit, die- 
selbe schwere Störung* der Merkfähigkeit, und dieselbe Neigung-, die fehlende 
Erinnerung für die Wirklichkeit durch Pseudoreminiscenzen und teilweise ganz 
phantastische Konfabulationen zu ersetzen, dieselbe totale Amnesie für die 
gesamte Jüngstvergangenheit bleiben in der Folgezeit bestehen. Eine Reihe 
anderer Merkmale, wie die grosse Tendenz zu stereotypen Redewendungen, 
eine ausgeprägte Perseveration, verbunden mit grosser Monotonie des Vor- 
stellungsinhaltes, eigentümliche Anomalien des Stimmungslebens treten all- 
mählich im weiteren Verlaufe der Beobachtung schärfer hervor. Nicht selten 
sind Erinnerungstäuschungen ähnlichen Charakters (identificierende Erinnerungs- 
fälschungen Kräpelins) wie jenes merkwürdige Phänomen der Verdoppelung 
einer Situation, resp. eines Erlebnisses in der Erinnerung, wie es neuerdings 
Pick beschrieben hat. So meint Patient öfters, er wäre, bevor er hierher 
kam, schon in einem anderen, ganz ähnlichen Krankenhaus gewesen, ebenfalls 
4 — 5 Wochen wie hier, habe dort dieselben Ärzte und dieselben Kranken gesehen 
wie hier und sei von dort hierher versetzt worden. Mit Sicherheit ist festzustellen, 
class im Laufe der weiteren Beobachtung die Schwere der örtlichen und zeitlichen 
Desorientiertheit noch mehr zunimmt, ohne dass sich für dieselbe in anderen 
klinischen Symptomen eine zureichende Begründung gefunden hätte. Das 
Bewusstsein war zu dieser Zeit, abgesehen von leichten nächtlichen Delirien 
in den ersten Tagen, niemals getrübt gewesen, Sinnestäuschungen waren nicht 
nachweisbar, Sprachstörungen, Erscheinungen von Seelenblindheit und ähn- 
licher Art Hessen sich ausschliessen; trotzdem fanden bezüglich der Orientierung 
im Kaum und in der Zeit immer grössere Abirrungen von der Wirklichkeit 
statt, die Täuschungen des Gedächtnisses wurden inkonstanter und widerspruchs- 
voller. Einige Protokolle aus späterer Zeit mögen dies zeigen. 



^^' '* ^M? ^ "■ ^' EXPERIMENTELLER UND KLINISCHER BEITRAG ETC. 23 I 



17. Vn. Welches Jahr jetzt? „1899/' — Wir schreiben 1900! „Ach Herr Doktor, ich habe 
so viel zu denken, da merkt man als Kind vom Lande nicht so leicht." — Welches Jahr also? 
„ . . . 1894 haben Sie gesagt'* (bestimmt I) — Wo hier? ,,In Bockenheim im Militärlazarett . . . 
Nummero 5 oder 7, wir sind alle eingezogen." — Sind Sie krank? „Sonst bin ich nicht krank, ich soll 
hier noch aushalten, also daheim habe ich niemand der die Arbeit macht.** — Welche Arbeit? „Na, 
die Arbeit in unserem Geschäft, wir haben doch eine Bäckerei und Landwirtschaft, da muss man 
seinen Mann stellen ^ das hab ich für meinen Vater immer besorgt, jetzt muss er es machen." — 
Lebt Ihr Vater noch? „Ja, der lebt freilich noch." — Wie alt? „ . . Na 1806 geboren . . . 
dann ist er 72 Jahre alt." — W^elche Jahreszahl jetzt? „1893". — Wie alt also Ihr Vater? „1806 
geboren . . 87 Jahre." — Wir schreiben doch 1900. „Ja freilich, 1900." — Lebt Ihr Vater wirklich 
noch? „Das heisst, mein Vater ist tot, 1870 ist er gestorben, im September . . den Tag weiss ich nicht 
mehr so genau." — Lebt Ihre Mutter noch? „Ja, die lebt noch." — W^ann geboren? „1816.** — 
Wie alt? „84 Jahre." — Welche Jahreszahl jetzt? „1896 . . 1877 . . 1878 . . 1893" • • (gerät 
in grosse Verlegenheit). — Monat? „September . ., August" . . — Tag? „Den 25. oder 26." — 
Tageszeit? „Vi '2 Uhr, nein, es wird 5 Uhr nachmittag sein." (9 LTir früh!) — Warum Nach- 
mittag? „Wir haben doch eben zu Mittag gegessen.** — Wiis heute schon gemacht? „Heute früh 
war ich in Sachsenhausen, dann war ich in der Kirche, um 9 Uhr kam ich zurück und habe wieder 
eine Stunde Dienst gethau hier im Garten." — Wo, hier? ,,In einer Art Lazarett, im Kranken- 
haus." — Was thun Sie hier? „Als krank bin ich hier." — Auch Dienst gethan? „Ja, ich bin 
als Beamter herkommandiert zur Zollabfertigungsstelle." — Was sind Sie als Beamter? „Steuer- 
kontrolleur . . halt, ich bin doch nicht Steuerkontrolleur, ich bin Steueraufseher . . . nun erlauben 
Sie mal, Herr Doktor, das ist ja in der letzten Zeit . . . Hauptsteueramtsassistent ... so ist es.** 

— - Sind Sie krank? ,.Ja." — Womit beschäftigen Sie sich hier? „Als Kranker thue ich doch 
keinen Dienst. Wir werden nur zu den Wachen herangezogen." — Sind .Sie denn krank? „Ach 
woher, mit den Kranken haben „wir" nichts zu thun, nur wenn die W^aren kommen werden sie 
hier unter Zollkontrolle abgeladen.** — Lebt Ihr Vater noch? „Ja." — Wie alt ist er? „Na, er 
ist 1806 geboren . . . dann ist er jetzt Sy Jahre alt.** — W^ir schreiben doch jetzt 1900! „Nein, 
es ist jetzt nicht 1900** (mit lächelnder Miene). — Wann ist Ihr Vater also gestorben? „Vor drei 
Jahren, am 3, September.'* — W'ie alt ist er also? „1806 geboren . . . also wird er 82 Jahre." (!) 

— Wer führt jetzt Ihr Geschäft zu Hause? „Die Bäckerei führt meine Mutter jetzt, seit dem 
Tode des Vaters, wir betreiben sie gemeinsam." — Wie alt ist Ihre Mutter? „75 Jahre.** 

I. Vni. Patient ist meist vergnügter Stimmung, macht scherzhafte Bemerkungen bei den Viiitcn, 
Zeigt aber oft plötzlichen Stimmungsumschlag in Weinerlich keit. Er ist nach wie vor vollkommen 
unfähig, sich über seinen Aufenthaltsort und die Situation, in der er sich befindet, sowie über zeitliche 
Verhältnisse ein zutreffendes Urteil zu bilden. Mit einer gewissen zwangsartigen Stereotypie kehrt in 
letzter Zeit die Angabe wieder, dass er sich in einer Art Militäilazarett und in einem ihm selbst 
nicht ganz durchsichtigen militärischen Verhältnisse befinde. Jeder geringste Einwand, eine Suggestiv- 
frage, eine Zwischenbemerkung seitens des Arztes wirft seine ursprünglichen Angaben über den 
Haufen und er kann dann mit derselben subjektiven Sicherheit wenige Minuten später behaupten, 
er befinde sich eben in Sprechstunde bei Dr. v. T. oder er sei am Güterhafen etc. Über die 
Zeit seines augenblicklichen Aufenthaltes kommen während ein und derselben Unterredung die wider- 
sprucbvoUsten Angaben zu Tage, ohne dass dies dem Kranken bewusst würde. 

Auf der Abteilung findet sich Patient nie zurecht, er verläuft sich regelmässig, wenn er aufs 
Kloset w.ill, weiss aus der Erinnerung nicht zu sagen, wo sein Bett steht, ist aber um eine Ausrede 
nie verlegen, z. B. erklärt er kurzweg, er gehe Abends stets nach Ilau^e schlafen, nachdem er soeben 
behauptet hatte, sie schlafen alle zusammen in der Baracke 4 nebenan. 

Nachts wird er noch zuweilen unruhig, steht auf, sucht nach seinen Sachen, er müsse Nacht- 
posten stehen an der Grenze (Reminiscenz aus der Zeit vor 20 Jahren, wie er an der holländischen 
Grenze als Zollwächter angestellt war). Wenn man ihn zurückhält, wird er heftig, er bekomme die 
grössteu Unannehmlichkeiten, wenn er den Dienst versäume. Am folgenden Morgen hat er nie 
eine Erinnerung für diese nächtlichen Vorkommnisse, er behauptet, gar nicht hier gewesen zu sein, 
er sei auf Posten gewesen, oder er habe die ganze Nacht durchgeschlafen. 

4, Vni. W^er bin ich? „Der Herr Dr wir kennen uns ja schon lange.** — Wie 

heisse ich? „Dr. v. T., .Sie haben ja meine Frau behandelt und waren gestern noch bei uns zu 
Besuch und haben was verordnet.'' — Ich bin doch Dr. B. I „Ach ja, Sie waren gestern nicht 



232 DR. K. BRODMANN. Journal t Psychologie 



und Neurologie. 



hier, Sie* haben Ihren Vertreter geschickt, den Namen habe ich nicht gehört.** — Wie heisse ich 
also? „Dr. . ., na, Dr. v. T." — Ich sagte doch eben Dr. B.? ,JDen Namen hab ich noch nie 
gehört; wenn man so viel zu denken hat, Herr Doktor, hat man keinen Sinn für fremde Dinge.'* — 
Was haben Sie zu denken? „Das wissen Sie ja auch, Sie sehen das Elend taglich, wenn man eine 
kranke Frau zu Hause liegen hat und unversorgte Kinder und ist selbst unpässlich.** — Sind Sie 
uicht wohl? „Das alte Leiden . ., der Magen ist immer nicht in Ordnung, Sie haben mich ja 
längst in Behandlung,** — Seit wann? „Schon paar Wochen . . wie ich noch unten war im Lazarett 
da sind Sie doch täglich gekommen?*' In welchem Lazarett? „Am Bahnhof unten, dort ist unser 
Lazarett, d. h. es ist ein Spital für die Güterabfertigung, wir sind dann hieher verlegt worden." — 
Was ist das hier für eine Anstalt? „Das ist so eine Art Militärlazarett, das Lazarett No. 5.*' — 
Was hat das mit dem Militär zu thun? „Wir sind doch eingezogen zur Übung und sind gestern 
hierher kommandiert worden, vorher haben wir drüben gelegen in der anderen Baracke.** — Was 
sind das für Leute? „Alte Kameraden, Unteroffiziere und Gefreite, ein paar Gemeine sind auch 
darunter." — Sind das nicht Kranke? ,,Ob sie krank sind, kann ich nicht sagen, viel kann ihnen 
nicht fehlen, sie thun ja Dienst mit.** — Haben Sie heute schon Dienst gethan? ,Ja, wir sind um 
5 Uhr ausgerückt, wir lagen drei Stunden drausseu, dann war ich doch beim Herrn Doktor in der 
Sprechstunde." — Bei mir? ,Ja, Bockenheimer Anlage.** — Für wen halten Sie mich? „Dr. v. T.'* 
— Nicht Dr. B? „l-^en kenn ich gar nicht, das heisst im anderen Lazarett war auch so ein Herr, 
der sah aus, wie Sie." — Kommen nicht noch andere Ärzte her? „Doch, auch die Stabsärzte gehen 
zusammen durch, die Namen hab ich nicht behalten. '^ — Wie lange waren Sie im anderen Spital? 
„Auch 3 — 4 Wochen." (!) — Wann hierher verlegt? „Heute früh," — Was vorher gemacht: 
„Bis 9 Uhr Apell gehabt." — Es ist doch eben erst 9 Uhr? ,Ja, man kann sich mal um i Stunde 
täuschen, wenn man seine Uhr nicht bei sich hat." — Wo ist ihre Uhr? „Die hängt drinnen au 
einem Waudtäschchen" (Patient besitzt thatsächlich seit seinem Anstaltsau feuth alt keine Uhr). — 
Wissen Sie meinen Namen noch? „Ich denke Dr. v. T." 

Abends hat Patient die ganze Unterredung total vergessen und lebt wieder in einem völlig 
neuen Gedankenkreis. 

12. Vni. Patient ist immer noch nicht imstande, sich einen Namen aus seiner Umgebung 
zu merken, er vermag die Namen von drei Ärzten, die ihm täglich bei der Visite vorgesagt 
werden und die er selbst jedesmal laut nachsprechen muss, nicht zu behalten, zuweilen reproduziert 
er einzelne Buchstaben oder auch nur den Anfangsbuchstaben oder bringt ein ganz entstelltes 
fremdes Wort vor; meist bezeichnet er jeden der Arzte als Dr. v. T. Ebensowenig kennt er 
Namen seiner ständigen Umgebung, er belegt die Wärter wahllos mit beliebigen Namen, hält die 
Kranken für alte Bekannte und benennt sie demnach. Die Persönlichkeiten als solche erkennt er 
wieder, unterscheidet die Arzte von dem Personal, die Oberwärter von den Abteilung!»wärteru, einen 
W^ärter bezeichnet er regelmässig mit einem bestimmten (erdichteten) Namen. 

Was heute gemacht? „VMr sind drüben in Sachsenhausen gewesen und haben Güter ab- 
geschätzt, dann sind wir nach Bockenheim gefahren, dort habe ich gefrühstückt, dann war ich in 
der Kirche, die Katholiken haben Feiertag (unrichtig), nachher hab' ich mit einem alten bekannten 
eine Flasche Wein getrunken, da ist immer eine gemütliche Gesellschaft beisammen, in unserer alten 
Stammkneipe, nachher war ich auf einen Augenblick zu Hause und hab' nach Frau und Kinder 
gesehen, meine Frau liegt doch schon lange krank und jetzt bin ich hier zu Ihnen zur Sprechstunde 
gekommen." — Zu welchen Zweck? „Ich bin wieder unpässlich, es ist eigentlich schon länger, hab' 
immer mit dem Magen zu thun und friere den ganzen Tag, ich wollte den Herrn Doktor um ein 
Attest bitten, damit ich mich ein paar Tage vom Bureauvorstand dispensieren lassen kann.** — Wo 
ist der Bureauvorstand? „Drüben auf seinem Zimmer, um diese Zeit ist er stets da." — Welche 
Zeit ist jetzt? „Es muss bald 12 Uhr sein" (V29 Uhr). Haben Sie schon gefrühstückt? „Das 
giebts bei uns nicht, wenn man im Dienst ist, wir haben den ganzen Vormittag am Zollhafen Güter 
in Empfang genommen, da gchts durch bis 4 Uhr, wir haben englische Dienstzeit." — Haben Sie 
ihren Burcauvorsteher heute schon gesehen? ,Ja, er hat mich rufen lassen, ich soll das Attest mit- 
bringen.'* 

Aufgefordert in das Bureau zu gehen, läuft Patient mit grosser Bestimmtheit erst nach dem 
Schlafsaal, von da ins Kloset, in die Spülküche, ins Bad, rüttelt an verschlossenen Thüren und 
kommt, kaum 2 Minuten später, ohne im geringsten verlegen zu sein über den Misserfolg seines 



^^' '' "90?^ * "' ^* EXPERLMEX TELLKR UXD KLIXISCHER liElTRAG ETC. 233 

Suchens, zum Arzt zurück und berichtet, der Herr Vorstand sei bereits weggegangen und habe 
ihm hinterlassen, er solle morgen das Zeugnis mitbringen. 

Eine ähnliche Scene wiederholt sich an den folgenden Taj^en regcl- 
mässi|^ in stereotyper Weise. Patient tritt stets in rapportierender Weise auf 
den Arzt zu, meldet ihm, dass er sich unwohl fühle und bittet um ein Attest, 
oder er schickt ein imaginäres Ciespräch voraus und fragt, ob er nachher das 
versprochene Attest holen könne, er müsse es Mittag vorlegen. Auffallend 
ist dabei die monotone Gleichförmigkeit seiner Äusserungen, es sind immer 
fast wörtlich dieselben Redewendungen, mit denen er Tag für Tag an den 
Arzt herantritt: ,,llerr Dr. entschuldigen Sie, nachher kann ich doch das Attest 
abholen** . . oder ,,lleute brauche ich doch nicht Dienst zu thun, Sie sind 
so freundlich und besorgen mir ein Zeugnis" . . oder ,,Herr Dr., das Attest 
liegt drüben auf Ihrem Tisch, es fehlt nur noch die Unterschrift, ich kann 
es nachher doch abholen oder soll ich gleich mitkommen?" Die äussere 
Unorientiertheit bleibt vollkommen die gleiche, die Erinnerung für diese 
stereotypen, täglichen Unterredungen fehlt vollständig, es kommt sogar vor, 
dass Patient dieselben Redensarten und dieselbe Bitte während einer Visite 
besonders wenn man ihm in ein Gespräch verwickelt, wiederholt in kurzen 
Zwischenräumen vorbringt, ohne sich dessen bewusst zu sein. 

I. IX. Patient klagt in den letzten Tagen mehr über subjektive Beschwerden, ist häufig 
deprimiert und weinerlich, hat ein vages Kraukheitsbewusstsein, jammert über seine traurige Lage, 
verfäUt dann häufig im selben Augenblick wieder in tue frühere Euphorie und Geschwätzigkeit und 
bringt die unsinnigsten Konfabulationen vor wie bisher. 

,,Herr Dr. es ist mir nicht so wohl wie sonst, es fehlt überall.*' — Wie lange? „Schon 
paar Tage.^' 

Auf Detailfragen äussert Patient folgende Klagen: AUgemeines Frostgefühl, Übelkeit und 
Unwohlsein, Mattigkeit, Reissen in den Gliedern, Kribbeln und Taubsein in den Händen. 

5. IX. Dieselben auf Polyneuritis zu beziehenden Beschwerden, daneben subjektives Schwindel- 
gefühl und Schwindelanfälle, Nebligsehen, Schwäche der Augen, Kopfschmerzen, AppetiUosigkeit. 

In seinem äusseren Verhidten ist Patient jetzt entschieden verändert, er ist vorwiegend miss- 
vergnügt, eher apathisch, sitzt unthätig umher und grübelt vor sich hin, fühlt sich unwohl und 
bleibt häufig aus eigenem Antrieb zu Bett. Nachts geht er noch zuweilen ausser Bett, fragt nach 
der Zeit, ob er schon zum Dienst müsse, torkelt beim Gehen und fällt wiederholt der Länge nach 
zu Boden. 

15. IX. Bleibt dauernd zu Bett, stürzt zu Boden sobald er aufstehen will, „es wird mir so 
sdiwindlig vor den Augen'*, klagt auch Schwindel im Bett. Mehr apathisch und somnolent. Er- 
innerungsvermögen und Orientierung wie bisher: weiss nie, wo er sich befindet und wie lange er hier 
ist, kennt weder die Namen eines Arztes noch eines Wärters. Weniger produktiv in phantastischen 
Konfabulationen, äusserst regelmässig: „es ist mir gar nicht so recht zu Mute, schon ein paar Wochen 
lieg ich herum." 

I. X. Noch ganz zu Bett, dieselben subjektiven Klagen, stürzt auf ebener Erde zusammen, 
sobald er Gehversuche macht; psychisch teilnahmslos und stumpf, öfters deprimiert: „mit mir stehts 
wohl schlecht?" „Nennt heute auffallenderwcise zum erstenmal seinen richtigen Aufenthaltsort, ist 
aber entschieden schwerer besinnlich, antwortet unsicher und langsam, giebt zuweilen ganz verworrene 
Antworten. 

Wo fehlt es? „Ach Herr Dr., Sie wissen ja, ich bin immer noch Patient . . mein Magen 
ist nicht in Ordnung . . es ist schon lange her.** — Wo befinden Sic sich hier: „In der 
Anstalt . . . Irrenanstalt in Frankfurt.*^ — Seit wann hier? .,4—5 Wochen . . vorher 
bin ich unten in der Nähe vom Bahnhof gewesen, auch in so einer Anstalt, es kamen 
auch immer Herrn hin." — Wie heisst die Anstalt? „Zuerst war ich doch wegen des Magens 
am Bahnhof ... in unserem Lazarett . . . die Zollabfertigungsstelle, da kommt auch 
Journal für Psychologie und Neurologie. Cd. I. 17 



234 DR. K. BRODMANN. ^^^ SJ^Xt*'* 



ein Arzt wie hier, nachher kam ich herauf nach dem Hauptamt, dann nach dem 
Hafen, da war ich aber nicht krank, dann kam ich zum Hauptamt und wieder zum 
Hafen zurück und dann kam ich hierher, hier werde ich vom Hafen aus behandelt, 
vom Herrn Dr. . . . der Dr. . . . der hat immer nach mir gesehen.'^ — Wann hierher 
gekommen? „Hier bin ich schon lange . . . 4 — 5 Wochen, im Juli war's." — Welchen Tag 
schreiben wir jetzt? „August 1892 . . 1893." — Wie alt sind Sie heute? „47 Jahre . . 56 Jahre" 
(rechnet in Gedanken vor sich hin und zählt an den Fingern), „ich geh ins 57" (nach 3 '). — 
Wann geboren? „Am 28. Juli 1846, am 29. Juli in Fürfeld in Rheinhesseu." — Wie alt also? 
„Na, das sind 57 Jahre" . . . (wie vorhin abzählend), „1846, jetzt 1896, macht 50 . . . das stimmt 
aber nicht, nehmen Sie mirs nicht übel, ich habe lang nicht geschrieben." 

Der körperliche Status aus dieser Zeit ergab folgenden Befund: Guter Ernähningszustand, 
Muskulatur schlaff, ohne nachweisbare lokale Atrophieen, Haut feuqht, schwitzt stark, von geringem 
Turgor, Gesicht kongestioniert, Akne rosacea (Kupfernase), Schleimhäute bleich, chronischer Rachen- 
katarrh. Haare stark ergraut, Nägel abschilfernd und rissig. Zunge dick belegt, fuetor cxore, 
Gingivitis. 

Innere Organe o. B. Urin frei von pathologischen Beimengungen, Stuhlgang und Wasser- 
lassen i. O. Puls 82, regelmässig. Normale Temperaturen. 

Augenbewegungen frei, extreme Blickrichtungen unter nystagmischen Zuckungen; leichte 
Kunvergeuzschwäche. 

Zunge zittrig und wogend, aber gerade vorgestreckt. 

Gaumen symmetrisch innerviert. 

Innervation der Gesichts muskulatur ohne Differenz. Facialisflattern. 

Arm- und Beiubcwegungen in Rückenlage in keiner Richtung beschränkt, aber von geringer 
grober Kraft, rasch ermüdend; feiner statischer Tremor der Hände, keine Ataxie, (Eine elektrische 
Untersuchung ist nicht gemacht worden.) 

Im Stehen unsicher, setzt die Beine breit auf, sucht nach Hidt, taumelt; ebenso im Gehen; 
geht mit kleineu tastenden Schritten ängstlich vorwärts, breitbeinig und ausfahrend, droht zu stürzen. 
Bei geschlossenen Augen vermehrtes Schwanken des Körpers unter Schwindelempfindungen. (Atak- 
tisch-paretisch.) 

Pupillen eng und ungleich, reagieren auf Licht wenig ausgiebig, etwas träge, auf Konvergenz 
ausgiebiger. 

Kuiephänomen R. schwach, L, lebhafter. 

Achüles-sehuenphänomen R. gar nicht erhältlich, L. minimal. 

Anconaeus-sehueuph. beiderseits abgeschwächt. 

Hautreflexe schwach und unsymmetrisch. 

Berührungsempfindlichkeit: tactil ohne gröbere Störungen (unbestimmte Angaben); für Stiche 
an den Beinen hyperalpetisch. 

Druckempfindlichkeit: Erreichbare gröbere Nervenstämme druckschmerzhaft, besonders R. 
Ischiadicus, L. Ulnaris, beide Crurales u. Peronei, R. ^ L. Femer besteht Druckschmerzhaftigkeit 
der Muskulatur der Waden, der Brust und des R. Oberschenkels; keine Spinalirritation; Kopfperkussion 
nicht schmerzhaft. Infraorbital-Mental- und Temporidpunktc beiderseits auf Druck erheblich empfindlich. 

Sprachartikulation intakt. 

Ophth<dmoskopischer Befund: Brechende Medien durchsichtig, Papillen etwas blass, Gelasse eng. 

Visus: Liest R. kleineu Zeitungsdruck auf lo cm, L. auch grösseren Druck nur mit Schwierig- 
keiten (Myop.) Zählt Finger R. auf 10, L. auf 7 m. (Patient behauptet ohne Brille nicht lesen 
zu können.) 

Gehör ohne gröbere Störungen. 

10. X. Die geschilderten objektiven Symptome und subjektiven Beschwerden bestehen auch 
heute uüch unverändert; Patient liegt dauernd zu Bett, fühlt sich krank, kommt körperlich herunter; 
psychisch i^>t er vorwiegend apathisch und schläfrig, öfters leicht benommen, zuweilen Ausbrüche von 
hefiigeni Weinen: „mit mir ist es zu Ende." Zeitweise wird er erregt und will fort, stürzt aber 
unter Taumeln zu Buden, sobidd er aufzustehen versucht. 

l-'ber den i)sychischen Zustand im einzelnen während dieser Zeit giebt folgende Unterhaltung 
näheren Aufschluss. Besonders auffallend und durchaus unerklärlich ist die Angabe des Patienten, 
dass er sich in Aachen befinde. 



^^' '' "i9o7 ^ "' ^' EXPERIMENTELLER UND IvTJNLSCHER BEITRAG ETC. 235 



16. X. Wie heisseu Sie? „M., Wilhelm M/' — Wiis sind Sie? ,,In erster Linie Bäcker 
und dann betreibe ich auch Ackerbau, ich bin vom Laude, da ist das meist zusammen.'^ — 
Wie alt? „Ich bin 46 geboren, also das sind . . . was schreiben wir . . . 96 . . . doch also 
50 Jahre alt.'^ — Welches Jahr haben wir jetzt? „1897/^ — Datum? „4. oder 5. Oktober, d. h. 
das weiss ich nicht . . . ach nein . , . wir haben schon Allerheiligen gehabt, wir sind im November, 
der 4. oder 5. ... es ist Sonntag'' (Freitag), — Wie lange hier? „Seit i. August/^ — In 
welcher Stadt? Wahrscheinlich soU das eine Vorstadt von Aachen sein/' — In was für einem 
Haus sind Sie? „In einer Art Militärliizarctt , . . die Nummer weiss ich nicht." — Wer hat Sie 
hergebracht? „Der Amtsdieuer unten . . . ach wie heisst doch das Bureau." — Mit was für Leuten 
sind Sie hier zusammen? „Hier ... da ist ein Unteroffizier oder zwei und ein Oberlehrer liegt 
hier, die anderen sind Gefreite und Gemeine, ich bin ja auch einer von den Auscrwählteu, die mal 
General werden sollen" (Scherzhaft gemeint). — Wo waren Sie vor einem Monat? „Auch hier, d. h. 
da bin ich in dem anderen Bau gewesen." (Unrichtig.) — W'o vorige Weihnachten? „Zu Haus, in 
Hoppstedten, Kreis Meiscuheim" (wo das väterliche Gut gewesen war). — Warum sind Sie hier? 
., Wegen meiner Krankheit . . , der Magen spielt eine grosse Rolle bei uns inbetrefT des Unwohl- 
seins. Auch das Hämorrhoidalleiden." (Hat nie Hämorrhoidiübcschwerdcn geklagt.) 

21. X. Anhaltende schwere Depression und l^rostration; vorübergehende panphobische An- 
wandlungen mit ängstlicher Unruhe, weint viel: , .jetzt gehts zum Letzten mit mir." Zeitweise ist 
Patient stärker benommen, schläft viel und versteht nicht was um ihn vorgeht; er ist kaum zu fixieren, 
muss erst aus seiner Lethargie aufgerüttelt werden, wenn man sich mit ihm unterhalten will und 
giebt dann verworrene, oft gänzlich incohärcnte Antworten. Dazwischen hat Patient freiere Stunden, 
in denen er klarer und geordneter zu antworten vermag und sich im Sinne seiner früheren Situations- 
täuschungen äussert; er meldet sich regelmässig beim Arzte, bittet um Beurlaubung vom Dienst, 
verlangt ein Krankheitsattest, um es dem Vorsteher „hinübertragen" zu können. 

I. XL In den letzten Tagen hat sich in dem Allgemeinbefinden insofern eine Besserung 
eingestellt, als die Schwindelan fälle, die Benommenheit und Sonmolenz zurücktraten, der Appetit 
sich besserte und die Gehfähigkeit wiederkehrte. Deliriöse Zustände wurden nicht mehr beobachtet. 

10. XI. Patient hat sich allmählich weiter erholt und fühlt sich besser; er steht einige 
Stunden auf, ist noch immer leicht schwindlig, kann aber jetzt ohne Unterstützung und ohne umzu- 
fidlen gehen. Er klagt viel über Reissen in den Beinen und über „Magenverstimmung"", Im übrigen 
objektiv unverändert. Er meint nur einige Tage zu Bett gelegen, aber zwischen durch Dienst gethan 
zu haben; er weiss den Namen seines Abteilungsarztes immer noch nicht, kennt keinen W^ärter bei 
Namen, ist über Ort und Zeit völlig uuorientiert. Grosse Stimmungslabilität. 

20. XI. Macht rasche Fortschritte in seinem körperlichen Befinden; er ist wieder lebhafter, 
steht auf und geht viel herum, klagt aber noch immer »Stechen und Reissen in den Waden und in 
der R. Hüfte (Ischiiis); zuweilen grosse Geschäftigkeit verbunden mit Redseligkeit, wie früher; 
kommt durch jede Wendung im Gespräch leicht ins Weinen. 

Erzählt heute spontan, er habe Besuch von seiner Mutter gehabt, sie sei vor acht Tagen hier 
gewesen, daran knüpft sich folgendes Zwiegespräch : 

Lebt Ihre Mutter noch? ,Ja, sie ist 84 Jahre alt jetzt, eine gesunde Frau." — Wann ge- 
boren? „1816." — Welche Jahreszahl jetzt? ,,1896 . . . 1899" . . . (besinnt sich unter lebhaftem 
Unlustaffekt) ,,l8cx) schreiben wir." — Wie alt ist Ihr Vater? ,,Der ist 1806 geboren, lebt auch 
noch . . . nein, der ist gestorben ... er ist 90, 96, 94 Jahre alt ... so ist es richtig ... er 
ist jetzt 94 . . , 1806 geboren . . . der Tag ist mir entfallen." — Wo wohnt Ihre Mutter? „Die 
wohnt eigentlich bei mir in Hoppstedten . . . wir haben eine Bäckerei, ich habe die Bäckerei 
gelernt." — Was haben Sie zuletzt getrieben? ,.Na, ich bin Bäcker, d. h. ich war schliesslich am 
Hauptsteueramt hier, hab' aber mein Geschäft weiter betrieben." — Wo ist das Geschäft? „In 
Hoppstedten, Kreis Meisenheini." — Wo wohnt Ihr Vater? „Der ist 1870 also gestorben." — 
Lebt Ihre Mutter noch? ,Ja . . . ach nein, die ist doch auch gestorben, da hab' ich mich wirklich 
versprochen.'' — W^o ist Ihre Frau? „Die ist auch gestorben . . . schon 1887." — W^ie viele 
Jahre ist das her? , Jetzt ist doch 1893 • ■ ^^QSi ^^^'-^ ... na 4, ... 8 Jahre wird es sein." — 
Haben Sie Kinder? ,,3 Töchter, eins ist mit 4 Jahren gestorben." — Wie lange ist das her? 
„Vor 2 Jahren!" — Wie idt ist die älteste Tochter? „1874 geboren ... die ist 31 Jahre idt . . 
1874 • • • ^^^^ 29 Jahre ist sie." — 2. Tochter? „1877 geboren ... die ist 18 Jahre jetzt." — 
Wie alt Sie? „Genau genommen sinds 47 ... 57 Jahre." — Kennen Sie meinen Namen? „Ich 

17* 



236 DR. K. BRODMANN. ■""'"S' NcSd^" 



kenne doch den Herrn Dr. . . . Sie haben mich ja lange genug behandelt." — Name? „Nun ist 
er mir entfallen'' . . . (Sucht peinlich.) „Dr. . . . Dr. . . . der Name fährt mir im Mund herum, 
Dr. V. T." — Bin ich nicht Dr. B.? „Ach doch . . . freilich.'' — Hab' ich nicht Ihre Frau be- 
handelt? „Gewiss . . . Sie behandeln sie doch noch weiter." — Ist Ihre Frau krank? ,Ja, schon 
Jahre lang liegt sie herum, das ist mein Unglück, das bringt mich noch um meinen Verstand, was 
ich in der letzten Zeit durchgemacht habe . . ich komm* noch ins Irrenhaus." (Weint.) 

Dieser Zustand blieb in den folgenden Wochen ohne wesentliche Ver- 
änderung bestehen. Der Kranke befand sich damals in einer gleichmässigeren, 
ruhigeren Verfassung, hatte sich mehr in seine Lage gefunden, und wurde 
durch seine Erinnerungsillusionen weniger alteriert. Das Sensorium war dauernd 
klar, Delirien kamen auch nachts nicht mehr vor; Desorientiertheit, Merk- 
schwäche, Amnesien, Erinnerungsfälschungen und perseveratorisches Festhalten 
an stereotypen Gedankengängen und Redewendungen waren im ganzen die- 
selben; auch die Stimmungslage blieb wie bisher sehr labil, bald vorwiegend 
euphorisch, mit Neigung zu witzelnden Bemerkungen, nicht unähnHch der 
eines Paralytikers, bald mehr gedrückt, bald, wenn auch seltener als früher, 
ausgesprochen ratlos-ängstlich, von unbestimmtem Krankheitsgefühl beherrscht; 
tagelang bestand grosse Apathie. Auf der Abteilung fand sich Patient immer 
noch nicht zurecht, Tages- und Jahreszeit verwechselte er meist, dagegen 
fing er an, sich selbst Beschäftigung zu suchen, indem er beim Verteilen der 
Speisen, beim Reinemachen etc. freiwillig mithalf. 

Anfang Januar 1901 begann ich mit den ersten experimentellen Ge- 
dächtnisprüfungen; dieselben führten jedoch, wie im zweiten Teil näher erörtert 
werden soll, zunächst nicht zu brauchbaren Ergebnissen; ich musste bald ein- 
sehen, dass bestimmte Versuchsverfahren bei meinem Kranken nicht anwendbar 
waren; gerade die „Erlernungsmethode*' nach Ebbinghaus, auf die ich mein 
Hauptaugenmerk gerichtet hatte, musste ich ausschHessen, da der Kranke da- 
mals überhaupt nicht fähig war, eine Silbenreihe im Zusammenhange sich 
einzuprägen und frei zu reproducieren. Erst nach Wochen konnte ich, mit 
Hilfe des „Trefferverfahrens" (Müller-Piltzecker), die ersten Ilauptversuchs- 
reihen beginnen und registrieren. Auf die Prüfungen selbst reagierte Patient 
klinisch kaum, er gab sich alle Mühe, der gestellten Aufgabe gerecht zu werden 
und brachte den Untersuchungen selbst ein grosses Interesse entgegen, behielt 
aber im Anfang keinerlei Erinnerung für die Art der Versuchsanordnung; 
nach Stunden hatte er meist vollkommen vergessen, dass überhaupt Versuche 
mit ihm angestellt wurden. Die sinnliche Perception war damals für klinische 
Methoden ungeschädigt, die Aufmerksamkeit eine gute. Eine diesbezügliche 
Prüfung ergiebt: Patient erkennt vorgelegte oder im Bilde gezeigte Gegenstände 
sofort und bezeichnet sie richtig, er benützt alltägliche Gebrauchsgegenstände 
zweckentsprechend. Vom akustischen Erinnerungsbilde aus werden Objekte resp. 
Sprachlaute gleichfalls erkannt und richtig identificiert. Das Sprachverständnis 
ist durchaus intakt. Es kommt also im Gegensatz zum Alkoholdelirantcn weder 
zu dem für den Dclirantcn so typischen Verkennen und Versprechen, noch auch 
zu parapraktischen Handlungen. Dass zuweilen Anklänge an verbale Paraphasie, 
wie sie beim Alkoholdelirantcn regelmässig beobachtet wird, vorkommen, geht 
aus einer Reihe von Protokollen hervor, doch ist es unverkennbar, dass hierbei 



*^^" ^' "^2^ ^ "'^* KXI'EF<IMKNTELLER UiNl) KLlXISUItR BEirRAG EIT. 237 



pathologische Pcrsevcrationstendcnzen eine Hauptrolle spielen. Das Kleben- 
bleiben an einem einmal reproduzierten Klangbilde oder an einer geweckten 
begrifflichen Vorstellung, nicht etwa falsches Verständnis, bedingt die Fehlant- 
worten oder das Versprechen. Verhören, mit anderen Worten falsche Auffassung 
eines Wortklangbildes konnte bei M, obwohl scharf darauf geachtet wurde, nie 
festgestellt werden. Auch waren mit Sicherheit, selbst in den Zeiten stärkerer 
Benommenheit (im Oktober und November), Sinnestäuschungen stets aus- 
zuschliessen gewesen. Die phantastischen Erzählungen und irrigen Behaup- 
tungen entsprachen nicht hallucinatorischen Erlebnissen oder illusionären Um- 
deutungen , sondern waren Produkte von Pseudorcminiscenzen und freier 
confabulatorischer Phantasiethätigkeit. Im Widerspruch mit dem scheinbaren, 
der ideenflüchtigen Redseligkeit des Patienten entsprechenden Wortreichtum, 
war dabei der Vorstellungsschatz ein sehr geringer. Er vermochte aus einer 
bestimmten Begriffskategorie nur ganz vereinzelte Begriffe frei aufzuzählen und 
wurde um so gehemmter, je mehr er sich auf eine solche Aufgabe zu konzen- 
trieren suchte. Städte, Länder, Personennamen, Flüsse, Hauptwörter etc. 
konnte er, wenn man ihn dazu aufforderte, immer nur ganz vereinzelte nennen 
und stockte dann, unter zunehmender Befangenheit und Unruhe, bald voll- 
ständig: ,,es fällt mir gar nichts mehr ein". (Gerade hierin äussert sich die 
enorme Verlangsamung der Vorstellungsentwickelung und des associativen 
Ablaufs, welche geradezu eine, mit der wortreichen Redseligkeit kontrastierende, 
geistige Verarmung vortäuschte. 

Wie es mit den übrigen intellektuellen Fähigkeiten bestellt war, geht 
aus folgenden klinischen Prüfungen hervor: 

Patient rechnet mit zweistelligen Zahlen prompt und zuverlässig, er beherrscht das grosse 
Einmaleins sehr gut; kleinere Zinsrechnungen macht er rasch und mühelos im Kopfe, Schwierigkeiten 
treten erst bei drei- und mehrstelligen Zahlen ein, wenn Patient Teilrechnungen behalten soU; hier 
versagt er vollständig und gerät infolge des Missliugens in aOektive Erregung, die ihn zum Weinen 
bringt; z. B.: 6X8 = „48"; 6X18 = „108'* (prompt); 6 X 188 = „600 ... 6 X 8 ist 48 . . 
480*', macht zusammen 4080 und 6X6 ist 36 . . also 360» . . . und jetzt hab ich alles vergessen 
. . wie der Blitz sind alle Zahlen fort, das ist doch komisch". Öftere Wiederholung derselben 
Aufgabe führt zu keinem besseren Resultat, Patient vergisst immer wieder den Anfang der Rechnung 
und kommt so zu keinem Ziel; rasche Ermüdung spielt hierbei jedoch ebenfalls eine Rolle. Beim 
einfachen Zahlenmerken beobachtet man Ahnliches: 3 — 5 stellige Zahlen kann er nach einmaligem 
Vorsagen richtig nachsagen; bei zwei dreistelligen treten bereits Verwechslungen ein, sieben- und 
mehrstellige werden nicht mehr behalten; z. B : 45963 = „45 963'^ 616 und 429 = , ,616 und 
421"; 248 und 397 = 248 und 39 . . .", 987 654 321 = ,,984 621 354"; 123 456 789 = „124 
387 . . vergessen**. SteUt man ihm eine Reihe von Aufgaben gleichzeitig (Jahreszahl, Name eines 
Ortes und Gegenstand merken), so vergisst er sofort alles. Andere Aufträge vergisst Patient ebenso 
rasch; dabei treten neben dem eigentlichen Ausfall durch Vergessen in stärkerem Masse freie Zu- 
thaten durch Erinnerungslälschungen der verschiedensten Art hervor. Patient soll die Gegenstände 
und Möbel in seinem Schlafsaal, den er schon seit Monaten bewohnt, merken und frei aufzählen, 
er nennt 3 Betten (statt 5), I Tisch, i Stuhl (statt 4), vergisst den Ofen und die Bilder an der 
Wand, dichtet dafür frei hinzu: i Regulator, i Zcitungshalter, i Nachttischchen und sagt schliesslich 
„meine Taschenuhr hängt im Etui an der Wand . . oder nein, sie liegt auf dem Nachttischchen.'* 
Offenbar handelt es sich hier um identificierende Erinnerungsfälschungen (Kraepelin), welche 
Bruchstücke von alten Erinnerungen an seine eigene Wohnung zu Hause mit Erinnerungen an 
neuere in der Anstalt erworbene Eindrücke zusammenschmelzen. Giebt man dem Kranken den 
Auftrag, irgend eine Besorgung zu macheu, so vergisst er innerhalb von Minuten meist nicht nur 
den Inhalt des Auftrages, sondern auch diesen selbst, er weiss überhaupt nicht mehr, dass er 



238 DR. K. BRODMANN. ■'°"™d'N™X?i?'" 



soeben mit dem Arzte gesprochen hat und behauptet z. B. : „der Herr Doktor ist doch an mir vor- 
beigegangen, ohne mit mir zu sprechen, und hat nur guten Morgen gesagt**. Ein anderesmal ver- 
gisst Patient den Auftrag selbst nicht; z. B. als Patient seine stereotype Bitte um ein ärtzliches Attest 
wieder vorbringt, wird er aufgefordert, sich das Attest in seinem Bureau zu holen; ohne Besinnen 
und ohne die Gegenvorstellung, dass sein Bureau gar nicht hier ist, macht er sich auf den Weg, 
stösst sich nicht daran, dass er in den Wachsaal gelangt, läuft von einem Raum in den anderen 
und kommt schliesslich ohne jede Verlegenheit zum Arzte zurück und berichtet, das Urlaubsgesuch 
wäre nicht mehr im Bureau, er habe es bereits heute früh dem Herrn Zollinspektor persönlich über- 
reicht und sei von diesem vom Dienste dispensiert worden. Ähnliche Vorkommnisse ereignen sich 
fast täglich. Es zeigt sich bei allen diesen Ereignissen die für Kranke, denen die Erinnerung für 
das Nächstliegende fehlt, charakteristische Art der Confjibulation; die Antworten auf Fragen sind 
Augenblicksprodukte, dazu erfunden, eine momentane Unsicherheit oder ein Fehlen der Rückerinnerung 
zu verdecken; die Kranken sind daher nie um eine Antwort verlegen, sie ergänzen oder fälschen 
die Wirklichkeit mit grosser Erfindungsgabe aus ihrer Phantasie, ohne dass ihnen diese Fälschung 
als solche bewusst wird. Die verminderte Intensität des Vorstellungsablaufcs, vermöge welcher eine 
Zielvorstellung häufig überhaupt nicht erreicht wird, sowie das Symptom der Perseveration liabcn bei 
diesen Antworten allerdings eine grosse Bedeutung neben der fehlenden Erinnerung. 

Die Schrift des Patienten ist damals in hohem Masse gestört. Ein auf ärztliches Gchciss ab- 
gefasster Lebenslauf ist sowohl seinem Inhalte nach wie durch die Art der Ausführung für tlcn 
damaligen geistigen Zustand sehr bezeichnend. Patient braucht mehrere Tage für wenige ge- 
schriebene Seiten und sitzt oft stundenlang ohne ein Wort zu Papier zu bringen. Die erste Hälfte 
des Schriftstückes lautet wörtlich: , »Frankfurt a. M. den 20. August 1890 (1893 und 1900 darüber 
geschrieben). Lebenslauf des Hauptamtsassistenten M. — Geboren zu F., im Kreise Alzei, Rhein- 
hess am 29. Juli 1846 besuchte ich von meinem sechsten Jahre ab die Volksschule meines Heimath- 
dorfes, F. in .Kreise Alze Rheinhessen. Von meinem vierzehnten Jahre ab erlernte ich die Bäckerei 
im Elternhause und half gleichzeitig im Ackerbau. Mit cinzwanzig Jahre wurde ich als Soldat zum 
L Gr. Hess. Jäger-Bataillon einberufen, diente zwei Jahre und wurde zur Disposition entlassen. 
Im Früjar 1870 wurde ich eingezogen und machte den Feldzug 1870/71 gegen Frankreich in vor- 
stehenden Bataillon mit. Im Dezember 1870 erkrankte ich an Typhus und kam, nachdem ich so- 
weit hergestellt, war. Schlachten und Gefechte hhabc ich mitgemacht Ite am 18. August bei (Metz) 
Gravelotte) Belagerung von Metz, Schlachten bei Orleans. Orleans Typhus gehabt, von Mitte 
Dezember bis Anfangs Februar. Hierauf als Reconvelsent bin nach Deutschland Garisonsort Fried- 
berg. Grenzwärter bin ich an der holl. Grenze cira 4 Jahre gevcsen hierauf kam ich als Steuer- 
aufseh nach Ffrankfurt a/M. am I, April 1889. Hier im Irrenhaus bin ich jetzt seit Ostern hier 
und weite nichts zuthun jus Essten Trinken und schlafen hier . . ." etc. 

Die Schreibweise hat manche Ähnlichkeit mit derjenigen eines Paralytikers; es kommen Aus- 
lassungen von Buchstaben, Silben und Worten vor, ebenso Verdoppelungen von Buchstaben („hhabe", 
„Ffrankfurt"), zuweilen fällt Patient wie der Paralytiker ganz" aus der Konstruktion, vergisst einen 
Nachsatz oder wiederholt Satzteile; die Interpunktion fehlt grösstenteils ganz, ebenso die Punkte auf 
dem i. Die Schriftzüge selbst sind zittrig, unordentlich und atactisch, deutsche und lateinische Buch- 
staben stehen durcheinander. Inhaltlich i.st dagegen zu bemerken, dass Patient den Gedankengang 
und den Zweck seines Schreibens nicht vtillig aus dem Auge verliert, er kommt, wenn man ihn 
inmier wieder autreibt, schliesslich ans Ziel, trotz mancher Gedankensprünge und trotz der grossen 
Gedächtnislücken und der enormen Vorstellungshemmung. Besonders auffallend ist au dem Schrift- 
stücke, dass Patient die so sehr wichtigen Ereignisse aus der Zeit seines Aufenthaltes in Frankfurt 
(etwa I Jahrzehnt) v»)Ilk<)nnnen zu erwähnen vergisst. 

Auch nach niehrwuchcntlicher Dauer der Experimente war eine wesentliche Besserung in 
diesem psychischen Hilde nicht eingetreten; Patient vergisst von einem Tag auf den anderen, was 
mit ihm «geschehen ist; wenn man ihn nach den Versuchen fragt, so giebt er entweder sein Nicht- 
wissen cinlacii zu (..ich habe keine Ahnung mehr^) oder er macht Ausflüchte, wie: ^ich wäre froh, 
(he Sache wäre vorüber*^. Welche Sache? „Na wozu wir eingerufen sind; wir sind doch ein- 

gezogen zum Militär, ich bin doch hier ein paar Monate.** 

Wozu eini^ezo^^cn? „Es wird eine Art Mol)iImachnng sein, hier ist das Lazarett oder ein 
Vci NvaitungNi^ebäude liir (he La/arelte; es sind doch Patienten und Arzte da,** 



^^' '' ?M^ * "* ^* EXPERIMENTELLER UND KLLMSCHER BEITRAG ETC. 239 



Wozu hier? „Ich weiss nicht, wozu man mich zum Soldaten macht in meinen alten Tagen 
und von der Steuerbehörde wegnimmt." 

Heutiges Datum? „Dienstag (richtig) . . . Februar anfangs 1900. Wenn man Hausstand hat, 
hat man keine Zeit an solche Dinge zu denken, da geht einem viel im Kopf herum . . . ich habe 
doch Frau und Kinder zu Hause.** 

Wie viele Kinder? „Zwei; die älteste ist 26 Jahre, die andere 4 Jahre jünger, 22 Jahre." 

Wann die I. geboren? „1873, 7. Juli" (7. Juli 1874). 

Wann die 2. geboren? ,,l877> 27. Februar" (27. Februar 1878). 

Wann geheiratet? „15. Mai 1872" (24. Juni 1873; 15. Mai ist Geburtstag der Frau). 

In welchem Alter? ,,27 Jahre, 46 geboren, 73 verheirjitet, macht 27 Jahre." (Giebt jetzt 
Vermählungsjahr spontan richtig an!) 

Wie alt die Frau? „geb. 15. Miu 1853, die ist jetzt 46 Jahre alt." 

Was macht die Frau? „Meine Frau ist doch tot. Die ist schon lange tot ... da muss 
ich mich besinnen . . . die liegt in Oberrad . . . Sachsenhausen begraben, nein in Bockenheim 



war es." 



Ist nicht 64 Jahre alt? „Nein . . . versprochen, wenn sie noch lebte, wäre sie doch hier." 

Wo? „In Frankfurt.** 

Nicht hier im Hause? „Nein, ich kann doch meine Frau nicht ins Irrenhaus bringen,*' 

Sind Sic im Irrenhaus.^* „Nein, ich bin hier im Lazarett. Ich hab mich nur versprochen; 
es ist ein Militärlazarctt, es sind doch idles Soldaten, was da ist, alle sind eingezogen wie ich auch." 

Wozu eingezogen? „Die Zeitungen habe ich nicht verfolgt, wie die Geschichte liegt, auf 

jedenfall ist was los mit Frankreich oder im Innern von Deutschland selbst es wird wohl 

Krieg sein." Heute früh habe er Uniform angehabt. 

Aus diesem Protokoll (vom Anfang- Februar 1901) ist zu ersehen, dass 
allerdings eine gewisse Besserung des Erinnerungsvermögens für die frühere 
Vergangenheit eingetreten war; auf eine Reihe von Familiendaten, die ganz 
der Vergessenheit anheimgefallen waren, vermag sich Patient jetzt ziemlich 
zuverlässig" zu besinnen; dagegen bleibt die Merkfähigkeit für die Jüng^st- 
verg-ang-enheit im selben Umfange geschwächt wie bisher und auch die Situations- 
täuschung-en , die örtHche und zeitliche Desorientiertheit, die Erinnerungs- 
fälschungen bleiben unverändert bestehen. Wie sich im einzelnen im Laufe 
von vielen Wochen hierin ein allmählicher Wandel vollzog, Hesse sich nur an 
der Hand ganz detailierter Protokolle darstellen. Ich muss mich darauf be- 
schränken, kurze Hinweise auf die Ilauptetappen in dem psychischen Genesungs- 
prozess zu bringen. Eine grössere Treue des Gedächtnisses auch für neuere 
Eindrücke und teilweise sogar eine, wenn auch nur vorübergehende Orien- 
tierungsfähigkeit (Monat, Tageszeit, Aufenthalt) war unverkennbar im Anfang 
März 1901 eingetreten und zwar Hand in Hand mit der später zu schildern- 
den Besserung der Vcrsuchsresultate. Allerdings war auch jetzt ein stabiler 
Status nicht aufzustellen, die einzelnen psychischen Leistungen waren einem 
ständigen Wandel innerhalb kürzester Frist unterworfen. Was der Kranke 
heute richtig erinnerte, konnte er morgen wieder völlig vergessen haben; hatte 
er eben noch annähernd richtige örtliche und zeitliche Daten angegeben, so 
war er im nächsten Augenblick wieder durchaus desorientiert. Dauernd blieb 
nur bestehen ein unklares Bewusstsein an die Irrenanstalt, das den Patienten 
um jene Zeit schwer bedrückte und Anlass zu allen möglichen angstvollen 
Confabulationen und zu vorwaltend deprimierter Stimmung wurde. Manche 
Tage kam Patient aus dem ihn zwangsartig beherrschenden (ledanken, dass 
ihm etwas Schreckliches bevorstehe, dass er an einen anderen Ort überführt 



240 DR. K. BRODMANN. J^^» nJÄ^" 



werden, in ein Irrenhaus kommen soll, oder dass ein grosser Krieg, eine 
Revolution ausgebrochen sei, nicht heraus. Offenbar war diese Gedankenreihe 
durch einen damals vorbereiteten Transport von unheilbaren Kranken nach der 
Pflegcanstalt, von welchem Patient zufällig gehört hatte, ausgelöst worden. 
Er bestürmt den Arzt bei jeder Visite mit derselben Bitte, ihn hier zu lassen; 
auch noch nach Monaten (z. B. im Juni) kamen gelegentlich Sccnen, wie die 
folgende vom Anfang März, vor: 

„Ach, Herr Doktor, schaffen Sie mich doch nicht fort, es ist eine traurige Aussicht, ins 
Irrenhaus zu kommen." (Unter Thränen). — Sie sollen doch hier bleiben, warum weinen sie denn? 
„Ist es nicht schlimm genug für einen Menschen mit gesundem Verstände ins Irrenhaus eingesperrt 
zu sein und neben Narren leben zu müssen; eine Kugel aus dem Gewehr wäre besser als so 
weiter leben.'* — Haben Sie denn ein Gewehr? „Wir haben doch alle unsere eigenen Gewehre, 
es ist doch alles uniformiert, wir sind lauter alte Kameraden hier, aber es ist jetzt bald zu Ende 
mit dem Krieg, die alten Jahrgänge sollen nach Hause entlassen werden". 

Auf den Einwand, dass doch hier nirgends Soldaten und Uniformen zu sehen seien und dass 
doch nur Kranke hier liegen, rektifiziert Patient seine Angaben lächelnd: ,,ach, da habe ich mich 
versprochen, und glauben Sie doch so etwas nicht von mir, ich werde doch keinen solchen Unsinn 
schwatzen . , , aber nicht wahr, ins Irrenhaus komme ich doch nicht.** 

Wieso ins Irrenhaus? ,,Ich soll doch fortkommen, soviel ich gehört habe.** 

Wohin? „Nach Weilmünster, wo die anderen auch hinkommen (Pflegeanstalt für F.)." 

Woher wissen Sie das? „Das ist eine Kombination von mir . . morgen geht ein Transport, 
und weil ich gewogen worden bin, dacht ich, ich komme auch mit." 

Haben Sie davon sprechen hören? „Nein, das ist nur eine Vermutung, es wird aber wohl 
so sein." 

Sie haben doch eben gesagt, davon gehört zu haben! „Das kann ich nicht gesagt haben, 
denn ich hab nichts gehört." 

Haben Sie Ihren Namen nennen hören? „Nein, es ist nur im allgemeinen von Köppern ge- 
sprochen worden" (Filitüe der Anstalt). 

Sic sagten doch erst Wcilmünstcr ! „Nein, Köppern, ich habe doch nicht Weilmünster gesagt." 

Wie sich Patient an anderen Tagen um diese Zeit verhält, crgiebt folgen- 
des Protokoll (6. 111. 1901). Deutlich ist hier die Besserung der Mcrkfähig- 
keit und auch der Orientierung. Über die Art der mit ihm vorgenommenen 
Versuche weiss er leidlich Bescheid. 

W^ann haben wir zuletzt Prüfungen gemacht? „Es sind ein paar Tage her, 4—5 Tage, ich 
weiss nicht genau." (Thatsächlich waren die Versuche 8 Tage pausiert worden). 

Gestern nicht? „Gestern doch nicht, soviel ich weiss." 

Was heute früh getban? „Heute früh gar nichts . . ich habe ein bischen in der Küche ge- 
holfen (richtig) unten in der Küche, wo wir cs.sen." 

Wo unten? „Unten wo wir liegen im Lazareth, es ist nicht numeriert.*' 

Wie kommen Sie von dort hierher? „Eine Treppe herauf, dann durch den kleinen Garten 
und einen Gang, es ist ja nur ein paar Schritte." (Thatsächlich führt der Weg von dort zum 
Untersuchungszimmer durch einen grossen Saal für Paralytische, einen Vorplatz und zwei Korridore; 
es ist aber weder eine Treppe noch ein Garten zu begehen, man kommt nur an einer Treppe vor- 
bei und sieht von den Korridoren aus in den Garten), 

Was haben wir bisher für Versuche gemacht? (In der Hauptsache handelt es sich um sinn- 
lose Silbenreihen von je 4 Paaren, welche abwechselnd 8, 13 oder l8nial vorgelesen und nach 
gewissen Pausen paarweise reproduziert werden). „ . . Sie lesen mir Silben vor . . . Silbenzusammen- 
setzungen, so ist es, und ich muss sie nachsagen." 

Was für Silben? „Fs giebt verschiedene Wörter . , . zweisilbige Wörter." 

W;is für lk'<lcutung: „Die haben verschiedene Bedeutung, es giebt so viele zweisilbige 
Wiirter . . ich weiss sie augenblicklich nicht mehr," 



'^^ '' "j02?^ "' *^' EXPERIMENTELLER UND KLINISCFIER REITRAG ETC. 24 1 

Haben die Wörter einen Sinn gehabt? ^Ja, in den meisten Fällen, wir haben noch nicht 
viele gehabt, die keinen Sinn gaben." 

Wie oft lese ich die Wörter vor? ,Je nachdem, einmal, manche auch mehrmal/* 
Wie viele solche zweisilbige Wörter kommen jeweils vor? ,,Das ist verschieden, 4 oder 5." 
Wie lange machen wir schon solche Übungen? ,.3 — 4 Wochen." (6 — 7 Wochen.) 
Wissen Sie jetzt meinen Namen? ,,Dr. B. (richtig^ den hab ich doch immer gewusst." 
Wann haben Sie Mittag gespeist? „Etwa 12 Uhr, oder schon etwas vorher ist es ge- 
wöhnlich (richtig)." 

Wie lange ist es her? „20 Minuten wird es sein" (thatsächlich l'.., St.). 
Welche Uhr jetzt? ,,12' .> Uhr" (l';., Uhr). 
Welches Datum? .,Marz, anfang März". 

Jahr? ,,1893 ... ich bin so konfus . . 1 900 oder 1901, der Kalender ist fort, da weiss ich 
es nicht.'* 

Welches Haus hier? „Ein Krankenhaus, die Irrenanstalt in Frankfurt, wir sind zur Be- 
obachtung hier.*' 

Von den Tagesereignissen weiss Patient um diese Zeit, im Frühjahr 1901, obwohl er täglich 
Zeitung liest, gar nichts, er glaubt wohl etwas vom Burenkrieg gehört zu haben, das müsse aber 
schon lange her sein, von der Expedition nach China hat er keine Ahnung, Obwohl ihm fast 
täglich Jahreszahl und Mouatstag vorgesagt wird, kann er sich dieselben nicht merken, ist zum 
wenigsten sehr unsicher bei der Reproduktion, auch bestimmte Merkaufgaben vergisst er innerhalb 
von Stunden. Auch in den nächsten Monaten ändert sich daran nur wenig, wohl aber ist die 
Orientierung im Orte und über die eigene Person vom Juli ab eine zuverlässige, er weiss, wo und 
in welchen Verhältnissen er sich befindet, furchtet nur noch ständig, nach einer anderen Anstjüt über- 
fuhrt zu werden. Situationstäuschungen und Irrungen über die Umgebung kamen nicht mehr vor. 
Er erhält regelmässig einmal in der Woche Besuch von seinen Töchtern und kann nachher meist 
auch annähernd angeben, wann er zuletzt Besuch hatte. Die Namen der Arzte und der Abteilungs- 
wärter, sowie der älteren Patienten kann er jet:?t stets nennen. Bis Anfang August hat die Besserung 
solche Fortschritte gemacht, dass Patient (4. August) auf einige Stunden nach Hause beurlaubt wird. 
Hier findet er sich, nach Angaben des Schwiegersohnes, sofort zurecht und erinnert sich an alle 
Einzelheiten der Wohnung; dagegen scheint der Besuch und die Neuartigkeit der frischen Eindrücke 
eine Verwirrung bei ihm angerichtet zu haben, denn wie er abends zur Anstalt zurückkehrt, ist er 
ganz konfus, giebt verworrene Antworten, meint zwei Tage abwesend, auf Besuch gewesen zu sein, 
kennt den Namen des Arztes nicht, verwechselt ihn mit dem früheren Hausarzt, spricht von seiner 
Frau etc. Am folgenden Tag ist er wieder geordneter, wie vorher, und macht von da an in jeder 
Hinsicht stetige Fortschritte. Ich füge nur noch ein kurz vor der Entlassung des Kranken auf- 
genommenes Protokoll an, das den damaligen psychischen Gesamtzustand, den Grad und Umfang 
der Besserung erkennen lässt. Körperlich hatte sich Patient sehr erholt und zeigte keine nach- 
weisbaren neuritischen Symptome mehr. 

Protokoll von Mitte August: Seit wann sind Sie hier? ,,Es ist über ein Jahr." 

Wann und wie hergekommen? „Das weiss ich nicht mehr ... ich muss in meinem Geist 
gestört gewesen sein, zuerst lag ich drüben im Parallelbau (unrichtig), ich erinnere mich nur noch, 
dass ich Weihnachten schon hier war, der Baum stand in dieser Ecke (richtige Erinnerung) es war 
sehr schön.'' 

Merken Sie sich das Datum 17. Juni 1900, wo Sie hierherkamen. 

Was wissen Sie sonst noch ? ,,Ich weiss, dass mein Schwiegersohn mich hergebracht, von 
der späteren Zeit ist alles fort; erst später, wie wir die t'bungen gemacht haben, kam mir das Ge- 
dächtnis wieder, das ist auch schon ein paar Monate her, genau weiss ich es nicht." 

Welches Datum ist heute? „Dienstag (richtig), Mitte Juli I90I, den Tag weiss ich nicht, 
wir haben keinen Kalender. (Bei anderen Prüfungen hat Patient häufig das Datum richtig an- 
gegeben.) 

Wann zuletzt Besuch gehabt? „Am Simntag kommen meine Töchter immer her (richtig)." 

Wie heissen die Ärzte in der Anstalt? Nennt alle Namen richtig; ebenso kennt er die 
älteren Wärter und die Mehrzahl der Patienten bei Namen. 

Wie hiess Ihr früherer Uausar/t? .,Dr. v. T., der hat meine Frau behandelt." 



242 DR. K. BRODMANN. "'"""S' n£ÄI°^" 



und Neurologie. 



Wie geht es Ihrer Frau? „Die ist schon lange tot , . das war ja das Unglück, was über 
mich kam/' 

Wann gestorben? „1891 ungeföhr, wann weiss ich nicht mehr genau . . . auf Weihnachten, 
nein, da war die jüngste Tochter gestorben, gerade das ist mir noch so unklar.** 

Wie lange war die Frau krank? ,,Schon wie ich hierherkam nach Frankfurt, im Jahre 81, 
sie hat an Drüsen gelitten.** 

Wann Heirat? „15. Mai . . nein, da war ihr Geburtstag . . . 24. Juni 1873 (richtig).*^ 

Wann war der Geburtstag Ihrer Frau? „15. Mai 1853.*' 

Wann Ihr eigener Geburtstag? „29. Juli 1846 , . also 55 Jahre alt.** 

Alter des Vaters? „Der war 64 Jahre alt, gestorben am 2. Sept. 70; 1806 geboren (that- 
sächlich 18 10).** 

Alter der Mutter? „Starb in Main 91 oder 92 (1892) war 1816 (1815) geboren. 

Auch bezüglich der Personalien der Kinder macht Patient im ganzen durchaus zutreffende 
Angaben, nur bezüglich des Todesjahres der jüngsten Tochter ist er unsicher und je mehr er seine 
Unsicherheit fühlt, desto konfuser wird er und wirft schliesslich die Daten wieder ganz durcheinander. 

Wann war also das Todesjahr Ihrer Frau? „1889 . . . nein 91.** 

Wann hierhergekommen? „Juli . . 14. Juli vorigen Jahres . . 1900*'. 

Über seinen eigenen I-ebensgang verfasst Patient in gutem Deutsch einen fliessend ge- 
schriebenen ausfuhrlichen Bericht, der sich in allen Daten und Einzelheiten als richtig erweist. Die 
Erinnerung für Einzelheiten aus dem Feldzuge ist eine ungewöhnlich gute, erst für den Tod seiner 
Frau und für die letzte Zeit vor der Einlieferung in die Anstalt bestehen Erinnerungslücken; für die 
ganze Dauer der Krankheitshöhe besteht nach wie vor fast vollkommene Amnesie. Zu meiner grössten 
Überraschung Hessen sich jedoch einzelne richtige Erinnerungen für Vorgänge während der Höhe 
der Erkrankung, die Patient damals sofort wieder vergessen hatte, jetzt nachweisen; so erinnerte 
er sich auffallend gut an die Bescherungsfeierlichkeit in der Anstalt, er wusste, dass die Ärzte und 
ein Geistlicher durchkamen, dass Damen dabei waren und konnte genau angeben, wo der Baum ge- 
standen hatte, wie er aussah, Wiis beschert wurde etc. Sein Allgemeinwissen erweist sich jetzt, wo 
die Hemmungen und auch die Gedächtnisschwäche grösstenteils wegfallen, als ein recht gutes, sein 
Auffassungsvermögen ebenfalls; er rechnet jetzt 7 X '88 ohne Schwierigkeiten prompt „1316" und 
7 X II 88 in wenigen Sekunden „8386'* (statt 83 1 6), bei grossen Rechnungen vergisst er allerdings 
noch leicht die Teilzahlen, kommt aber stets zu einem Resultat. Am wenigsten zuverlässig ist noch 
das Behalten von einzelnen Merkworlen, doch kam es vor, dass Patient eine sechsstellige Zahl, 
die ihm einmal vorgesagt war, noch nach 4 Tagen richtig reproducierte. 

Am 20. August wurde Patient von seinen Angehörigen wesentlich gebessert nach Hause ab- 
geholt. Spätere Erkundigungen ergaben, dass M. sich draussen ganz geordnet führte, ohne durch 
sein pychisches Verhalten aufzufallen Verkehr mit alten Bekannten pflegte und auch hinsichtlich des 
Gedächtnisses für neue Eindrücke sich noch weiterhin besserte. Vom Dienst Hess er sich pensionieren. 

An zweiter Stelle bring-c ich einen Auszug" aus der Krankeng-eschichte 
einer an polyncuritischer Psychose erkrankten Frau, mit der ich ebenfalls, 
aber nur kurze Zeit psychologische Versuche g-emacht habe. 

2. Frau H., geboren den 24. Juli 1866 zu Frankfurt a. M,; in die städt. Irrenanstalt auf- 
genommen am 4. Okt. 1900, ungeheilt enüassen am 16. Mai 1901. 

Anamnese (nach Angaben des Mannes): Convergierende erbliche Belastung (Hysterie und 
Trunksucht der Mutter, Trunksucht und Schwachsinn mit verbrecherischen Neigungen bei Geschwistern). 
Heirat 1888, 3 Aborte, 3 Kinder am Leben, sind schwächlich, I Kind an Krämpfen gestorben. 
Patientin selbst litt mit 22 Jahren an hysterischen Krämpfen, ob auf Grund von Alkoholismus, ist 
nicht sicher. Früher tüchtige Hausfrau, thätig im Geschäft, gutmütig von Charakter. 

Seit 1897 wurde es dem Manne bekannt, dass Patientin trunksüchtig ist; sie hielt Alkohol im 
Kleiderschrank versteckt, verschatVte sich auf jede Weise Kognak, lag tagüber betrunken zu Bett, ass 
nicht und behandelte die Kinder schlecht. Offenbar hat Patientin schon seit Jahren getrunken, hatte 
aber ihren Zustand dem Manne gut zu verbergen gewusst, sie schützte oft Magenbeschwerden und 
Unwohlsein vor, wenn sie getrunken hatte. Seit etwa 2 Jahren auffallende Gedächtnisschwäche, 
seit I Jahr /unehniende gemütliche Stumpfheit, sie wurde interesselos, kümmerte sich nicht mehr 



^^' '' ^10^ * "* ^' EXPERIMEXTETJ.ER l^ND KTJNISCHER BEITRAG ETC. 243 



um Kinder und Haushalt; seit derselben Zeit ,,Rheumatismus" mit Schmerzen in den Waden und 
Schulterblättern, dabei viel Klagen über Kopfweh und allgemeine Schwäche; zeitweilig konnte 
Patientin kaum gehen, schleppte sich an den Möbeln fort. Verschlimmerung des Zustandes ver- 
gangenen Sommer (1900). Die Gedächtnisschwäche nahm zu, besonders auffallend für die Jüngst- 
vergangenheit, sie vergass alles, wusste nie, was sie kurz vorher gethan oder gesagt hatte, erteilte 
wiederholt dieselben und bereits ausgeführte Aufträge, verursachte infolgedessen Unordnung im Ge- 
schäft. Auf Fragen vermochte sie zuweilen kaum eine richtige Antwort zu geben, sie warf alles 
durcheinander, vermischte Wahres und Falsches, kannte sich in der Zeit nicht mehr aus, redete 
zeitweise ganz verwirrtes, zusamnienh.mgloses Zeug, besonders brachte sie unklare Verfolgungsideen 
vor, man bestehle sie, das Dienstpersonal rede ihr übles nach (Sinnestäuschungen nicht nachweisbar); 
in letzter Zeit fing sie auch an, Geld zu verschleudern, machte unsinnige Einkäufe, nahm dem 
Manne heimlich Geld fort, zeigte grosses Misstrauen gegen jedermann. — In den letzten Wochen 
meist betrunken, trank und schlief abwechselnd. 

Bei der Aufnahme, am 4. Okt. 1900, ist Patientin hochgradig erregt, sie schreit und weint, 
wirft sich auf den Boden, klammert sich an den Mann fest, äussert sexuelle Beeinträchtigungsideen 
gegen die Arzte, man wolle sie hier zu Grunde richten, muss mit Gewalt zur Abteilung gebracht 
werden. Körperlich ist zu bemerken: Gedunsenes Gesicht, livide Ilautförbung, Tremor der Hände 
und Zunge, Gang unsicher, schwankend (Rombergsches Phänomon); Gcsichtsinnervation symmetrisch, 
Pupillenreaktion prompt, Patellarsehnenreflexe nicht erhältlich, Druckschmerzhaftigkeit der Nerven- 
Stämme. Genauere Sensiliilitätsprüfung nicht durchführbar, wegen der Ängstlichkeit und des Sträubens 
der Kranken. 

In den ersten Tagen ist Patientin relativ klar und geordnet, sie weiss, dass sie sich in der 
Nervenanstalt in Fr. befindet und von ihrem Manne hergebracht wurde, eigentliche Krankheitseiusicht 
fehlt. Potus wird abgeleugnet. Zeitlich ist sie mangelhaft orientiert, sie verwechselt Datum und 
Wochentage; Jahreszahl, Geburtstag und Lebensalter giebt sie dagegen meist richtig an; ihre 
Stimmung ist äusserst schwankend, meist weinerlich, durch unbestimmte Beeinträchtigungsvorstellungen 
und grosses Mi>strauen beherrscht, olt auch plötzlich in unmotivierte Heiterkeit umschlagend. 

Auf eine körperliche Untersucluing und get^nlnetc, zusammenhängende Unterhaltung lässt sich 
Patientin nicht ein, sie vermutet über;dl Feindseligkeiten. Das charakteristische Bild der Korsakow- 
schen Psvchose tritt erst im Verlaufe der weiteren Beobachtung klar zu Tage, nachdem man 
in der Lage war, alle ihre einzelnen Äusserungen und Handlungen zu kontrollieren. Am markantesten 
zeigen sich auch bei ihr (iedäclUnissstr)rungen, teils anmestischer teils paraninestischer Art; der Verlust 
der Merkfähigkeit ist nicht so hochgradig wie bei M. , doch bei näherem Eingehen auf ihren Vor- 
stellungsinhalt unverkennb.ir. Auch sie vermag >ich über ihre augenblickliche Lage nur ein unklares 
und durch verworrene Beeinträchtigungsideen, namentlich sexuellen Inhalts getrübtes Bild zu machen, 
Sie äussert häufig, man wolle sie hier nur krank macheu, sie fühlt — in wahnhafter Umdeutung körper- 
licher Sensationen (Ziehen in den Beinen und Kribeln der Hände) — wie an ihr herum manipuliert wird 
und weicht den Ärzten ängstlich aus. Ihre örtliche Orientierung bleibt dauernd besser als bei M. ; sie 
fand sich zwar auch in ihrer nächsten Umgebung nur mangelhaft zurecht, verlief sich oft in den 
Anstaltsräumen, fand ihr eigenes Zinnner nicht, wusste aus der Erinnerung nie anzugeben, wie die 
Einrichtung in demselben w;«r oder welchen Weg sie zu gehen hatte, um nach einem bestimmten 
Orte zu gelangen, dagegen konnte sie itti Gegensatz zu M. stets ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort 
und meist auch die Jahreszahl richtig (zuweilen allerdings auch Täuschungen um I — 2 Jahre) an- 
geben; besonders intensiv und d.iuerntl war das Erinnerungsvermögen lür d.is allerjüngst Vergangene 
geschädigt; dabei war hier zu l)enierken, wie auch Korsakow beschreibt, dass die Kranke die Er- 
eignisse manchmal wohl wusste. nicht aber auch nur ungefähr Mch der Zeit des Geschehenen erinnerte. 
Sie konnte sich d.ibei um Wochen täu.schen: so kam es vor, dass sie zuweilen sich an den Besuch 
ihres Mannes oder ihrer Schwester mit aulfallender Treue erinnerte, aber dtr Meinung war, derselbe 
habe heute vor einigen Stunden slattgelundeii, während sclion Tage d.irüber vergangen waren oder 
umgekehrt. Dieselbe Erscheinung war be/üglicli der ärztlichen Visiten zu beol>achten: häufig wusste sie 
allerdings nicht, ob die Arzte schnn bei ihr gewesen waren oder auch ob sie schon gegessen hatte, 
es kam indessen auch vt)r, da<s sie sicli an ein/eine Fragen i\c^ Arztes erinnerte, sich aber in der 
Tageszeit irrte; auch bezüglich der zeitlichen Orientierung war eben gerade die jüngste Vergangenheit 
am meisten getrübt; ob ein Kieignis vor wenigen Minuten oder vor Stunden stattgefunden, vermochte 
sie kaum oder meistens nur sehr unsicher anzugeben; jedenfnlls waren durch Suggestivfragen ihre 



244 DR. K. BRODMANN. •"'"■;-' nIÄI"'" 



und Neurologie. 



Antworten in beliebiger Weise zu bestimmen. Aufträge, Rechenexempel , Zahlen etc. vergass sie 
augenblicklich. Die Namen der Arzte behielt sie nie; Dr. S. bezeichnete sie trotz täglicher Korrektur 
stets als Dr. Wolf (Hausarzt). Dadurch ist es zu erklären, dass sie der Pflegerin immer mit ein 
und denselben Fragen ungezählte mal am Tage in den Ohren lag, und dass sie in ihren Reden den 
Eindruck monotonster Stereotypie machte. Die Erinnerung der ferneren Vergangenheit war weniger 
stark gestört, obwohl auch hier für viele Eindrücke und Vorkommnisse der letzten Jahre vollkommene 
Amnesie bestand; ihr eigenes Geburtsjahr und Datum z, B. konnte sie stets richtig angeben, dagegen 
verwechselte und fälschte sie andere Daten, wie Alter und Geburtsjahr ihrer Kinder, das Jahr ihrer 
Vermählung, das Alter ihres Mannes etc.; eine frühere Wohnung, in der lange Zeit das Geschäft 
gewesen war, hatte sie vollkommen vergessen, wusste auch nicht mehr, dass sie jemals in dem be- 
treffenden Hause gewohnt hatte. Die Zeit der schlimmsten Trinkexzesse (aus den letzten Monaten) 
schien völlig aus ihrem Gedächtnisse verwischt zu sein, so vermochte sie sich an Auftritte mit dem 
Dienstpersouc-ü und an geschäftliche Vorkommnisse gar nicht mehr zu erinnern ; auch die Erinnerung 
an ihren eigenen traurigen Zustand in der letzten Zeit, an die häufige Betrunkenheit, an ihre Zer- 
würfnisse mit der Familie, an ihr körperliches Kranksein überhaupt, schien abgeblasst, teilweise 
völlig verloren. Dabei suchte sie die fehlende Erinnerung durch freierfundene Pseudoreminiszenzen 
zu ersetzen und zeigte dabei ebenfalls wie M, nicht selten eine ungewöhnliche Perseveration der 
einmal produzierten Er in nerungs falsch ungen, welche, in auffallendem Gegensatze zu dem sonstigen 
raschen Abblassen der Erinnerungsbilder, auf dieselben Fragen noch nach Tagen und Wochen immer 
wieder zu denselben Fehlantworten führte — eine Erscheinung, welche ihrerseits wiederum nach 
aussen hin das Symptom der stereotypen Redewendungen und der Gedankenmonotonie hervorrief 
und der wir in übereinstimmender Weise (ausgeprägter noch als bei M.) bei der Schilderung der 
experimentellen Gedächtnisprüfungen wieder begegnen werden. So nannte Patientin auf Fragen 
immer dieselben Damen, mit denen sie angeblich im Garten oder im Konzert gewesen sein wollte; 
neben richtigen kamen hierbei auch falsche, aber immer wieder die gleichen fingierten Namen vor; 
nach einem Konzertbesuche glaubte sie im Theater gewesen zu sein und gab meist dasselbe Stück 
an, dessen Aufführung sie beigewohnt haben wollte etc. 

Neben den eigentlichen Amnesieen und neben dem Verlust der Merkfähigkeit bestand also 
auch bei Frau H. das Symptom der pathologischen Perseveration sowie eine ausgesprochene Neigung 
zu den verschiedenen Formen der Erinnerungstäuschung. Aus dem Zusammenwirken dieser Faktoren 
wird wenigstens teilweise die mangelnde Orientierung über Ort, Zeit und gesamte Situation verständlich. 

Dazu kommen nun noch die für die Korsakowsche Verwirrtheit hinreichend bekannten 
Stimmungsanomalieen, die wir, ohne Details anzuführen, nur kurz aufzählen wollen: grosse Stimmungs- 
labilität mit teils ganz unvermitteltem plötzlichen Umschlagen einer Afiektlage in ihr Gegenteil, 
teils mehr oscillierende Schwankungen der Stiihmung, also abwechselnd weinerlich niedergeschlagene 
und freudig gehobene Gemütsverfassung ; letztere mit gesteigertem Selbstgefühl, Renomiersucht, Neigung 
zu albernen Scherzen und bei dieser Kranken anzüglichen Redensarten erotischen Charakters ein- 
hergehend, erstere oft gepaart mit unbestimmter Ängstlichkeit und Unruhe ohne klaren Angstinhidt; 
daneben Zeiten grösster Reizbarkeit und Unzufriedenheit mit Ausfällen und Schimpfereien gegen ihre 
Angehörigen und ihre Umgebung. 

Ein letzter Zug schliesslich in diesem individuellen Krankheitsbilde ist die Vorstellungsarmut 
mit Hemmung des Gedankenablaufs und die geringe Auffassungsgabe der Patientin, (icrade diese 
psychischen Eigentümlichkeiten der Frau H. erwiesen sich bei den experimentellen Untersuchungen 
als sehr hinderlich und wurden bald Anlass zur Sistierung der Versuche. Offenbar handelt es sich 
bei dieser Kranken, im Gegensatz zu M., wie auch anamnestische Erhebungen ergaben, um eine 
ab origine etwas beschränkte Frau von geringen intellektuellen Fähigkeiten und schwacher moralischer 
Witlerstandskraft. Inwieweit diese Eigenschaften dem psychischen Symptombilde ein bestimmtes Ge- 
präge verliehen, werden wir im zweiten Teile erörtern. 



Ich habe diesen Krnnkheitsprotokollcii nur wenig hinzuzufüg'en. In beiden 
Phallen meiner Ik^obachtung handelt es sich um typische Formen der poly- 
neuritischen Psychose ((x^ebropathia psychica toxaemica) nach Korsakow 
mit charakteristisclicr Ausi)rägimg der Symptomatologie wie des Verlaufes. 



^^' ^' "m" ^ "* ^' KXPKRIMENTELLER UND KLINISCHER BEITRAG ETC. 245 



Individuelle Besonderheiten erklären sich teils aus der Verschiedenheit der 
psychischen Persönlichkeiten, teils aus der Schwere der Erkrankung. Der Zu- 
stand von M. war, zeitweise wenigstens, entschieden ernster als derjenige der 
Frau H., dagegen nahm der Krankheitsverlauf bei M. rascher eine günstige 
Wendung. M. war ein intelligenter, lebhafter, hinsichtlich seines Wissens und 
seiner Auffassungskraft eher über dem Durchschnitt stehender Mensch, während 
Frau H. von jeher eine massige Begabung zeigte und eine torpide, geistig 
träge Natur war. Dadurch wird auch der so überaus verschiedene Ausfall 
der experimentellen Untersuchungen bei den beiden Kranken erklärlich. Auf 
eine Besprechung von Einzelheiten in den klinischen Krankhcitsbildern möchte 
ich an dieser Stelle nicht eingehen, da eine genaue psychologische Analyse 
der Einzelsymptome an der Hand der durch das Experiment gewonnenen 
Befunde im zweiten Teil folgen soll. Nur die llauptzüge sollen nochmals 
kurz skizziert werden. 

Das psychische Bild wurde während der ganzen Krankheitsdauer be- 
herrscht durch die beiden klinischen Cardinalsymptome einer tiefen Des- 
orientiertheit und hochgradigen Gedächtnisschwäche. Erstere führt zu äusserst 
charakteristischen Irrungen in Bezug auf Ort, Zeit und Situation, letztere er- 
zeugt eine fast reine Form akuter Amnesie, wobei die Erinnerung an das 
Jüngsterlebte in intensivster Weise gestört ist, während im Vergleich dazu der 
frühere geistige Besitzstand noch verhältnismässig gut im (Gedächtnis haftet. 
Da die Unfähigkeit, sich neue Eindrücke im Gedächtnis einzuprägen, d. h. der 
Verlust der Merkfähigkeit, auch die eigenen Reden und Handlungen betrifft, so 
geraten die Kranken mit sich selbst in ständigen Widerspruch. Sie vergessen 
thatsächlich momentan alles, was um sie vorgeht und was sie selbst gethan und 
gesagt haben. So kommt es, dass sie bei klarem Bewusstsein nicht wissen, 
wo sie sind, obwohl sie sich im eigenen Zimmer befinden, dass sie sich Hand- 
lungen und Äusserungen zuschreiben, die sie nie gethan haben, die Personen 
ihrer Umgebung verwechseln und mit fingierten Namen oder Namen alter 
Bekannter belegen. Sie vermischen hierbei thatsächliche, der WirkÜchkeit 
entsprechende Erlebnisse mit alten Erinnerungen und zufälligen, rein äusserlich 
angeregten Gedankenverbindungen. Dadurch kommt es zu den seltsamsten 
Erinnerungsfälschungen und zu ganz unmöglichen Confabulationen. Die fehlende 
Wahrerinnerung an ein wirkliches Erlebnis wird durch beliebig auftauchende 
Rudimente alter Erlebnisse und durch zufällige Augenblickseinfälle ersetzt. 
Eine äussere Wahrnehmung giebt der Phantasie bald nur den ersten An- 
stoss zur weiteren selbständigen Hervorbringung des identischen Erinnerungs- 
bildes (indentificierende Erinnerungsfälschung Kraepelins) bald vermittelt sie 
die Anknüpfung phantastischer Scheinreminiscenzen oder allgemeiner Anklänge 
an gegenwärtige Eindrücke (associierende Erinnerungstalschung Kraepelins), 
bald auch sind es zwangsartig sich aufdrängende Erinnerungsbilder, oft ängst- 
lichen Charakters, welche immer wieder eine imaginäre Reihe von Ereignissen 
vorspiegeln, die nichts anderes als eine ständig variierte Wiederholung ver- 
gangener Erlebnisse darstellt. Die flagranten Kontraste zwischen den rasch 
vergänglichen realen Eindrücken und diesen Pliantasiebildern bleiben den 
Kranken dabei völlig verborgen. Infolge einer eigentümlichen Perseveration 



246 DR. K. BRODMANN. ■'"Tna ÄeuÄl"'" 



und Neurologie. 



einmal angeregter Gedankenverbindungen werden immer ein und dieselben 
Fragen wiederholt, ein und dieselben Redensarten gebraucht, so dass oft 
der Eindruck monotonster Stereotypie erzeugt wird. Diese krankhaft ge- 
steigerte Perseverationtendenz auf der einen Seite und die verlangsamte Ent- 
wicklung von Erinnerungsbildern auf der anderen Seite können zeitweilig 
einen fast völligen Stillstand im associativen Prozess verursachen; die Ge- 
danken bewegen sich in einem enggeschlossenen Kreise ohne zum Ziele zu 
kommen und wir sehen Erscheinungen, wie sie von M. am i. Okt. 1900 
(S. 233) protokolliert sind, wo Patient die Überführung nach der Anstalt 
schildern soll. (Seit wann hier? ,,4 — 5 Wochen . . vorher bin ich unten in 
der Nähe vom Bahnhof gewesen, auch in so einer Anstalt, es kamen auch 
immer Herrn hin.*' — Wie hcisst die Anstalt? ,, Zuerst war ich doch wegen 
des Magens am Bahnhof . . in unserem Lazarett . . die Zollabfertigungsstelle, 
da kommt auch ein Arzt wie hier, nachher kam ich herauf nach dem Haupt- 
amt, dann nach dem Hafen, da war ich aber nicht krank, dann kam ich zum 
Hauptamt und wieder zum Hafen zurück und dann kam ich hierher, hier 
wurde ich vom Hafen aus behandelt . .*' etc.) Wie man sieht, sind es also 
auch Störungen der Associationsthätigkeit, welche die Vielgestaltigkeit des 
Krankheitsbildes bedingen. Worauf diese ihrerseits beruhen, soll im nächsten 
Teil zu begründen versucht werden. 

Neben den associativen Störungen sind es sodann die für die poly- 
neuritische Psychose charakteristischen Stimmungsanomalien, welche dem 
Krankheitsbild den Stempel aufdrücken. Das Stimmungslcben hat, wie wir 
sahen, viele Ähnlichkeit mit dem der progressiven Paralyse, es ist von der 
grössten Unbeständigkeit und bewegt sich in krassen Gegensätzen. 

Dass im Anfange der Krankheit vorübergehend auch stärkere Trübungen 
des Bewustseins mit deliriöser Verwirrtheit und Unruhe bestanden, erwähne ich 
nur nebenbei, da dies intercurrente Erscheinungen sind, welche für unsere 
Fragen nicht in Betracht kommen. Im allgemeinen waren unsere beiden 
Kranken, abgesehen von jenen Zwischenfällen, während der ganzen Dauer 
der Erkrankung bei klarer Besinnlichkeit. Im auffallenden Gegensatze zur 
schweren Desorientierthei tzeigten sie Verständnis für alle Fragen und konnten 
auch auf schwierigere Aufgaben selbst längere Zeit koncentriert werden; 
ihre sinnHche Wahrnehmung war ungetrübt. Nur infolge der erhaltenen Auf- 
merksamkeit und des freien Sensoriums waren experimentelle Untersuchungen 
von dem Umfange möglich, wie ich sie mit diesen Kranken angestellt habe. 

(Fortsetzung folgt). 




^^' '* ^90^ ^ "' ^* ^^- KJ^<^IER. KIN SPIRITISTISCHES MEDRTM. 247 



Ein spiritistisches Medium. 

Von 

Dr. Ringier. 

Vor einij^en Jahren präsentierten sich bei mir zwei Spiritisten mit einem 
Herrn, der jüngst aus Deutschhuid zugereist war und sich in hiesigen spiri- 
tistischen Kreisen als Medium ausj^^ab. Die beiden Herrn erzählten mir, dass 
infolge des Auftretens dieses Mediums eine Spaltung" in spiritistischen Kreisen 
entsUuiden sei, indem die einen das Medium als solches anerkannten, sie aber 
dieser Meinunjj;- nicht beipflichten könnten. Ich möchte daher untersuchen, 
wie dem sei, ob das Medium sie betrüge oder nicht. Ich war natürlich auf 
die Sache sehr g'espannt. Das Medium, ein ca. 30jährig-er gutgebauter junger 
Mann, setzte sich nun auf einen Lehnstuhl und fing an, unter verschiedenen 
Verdrehimg^en und Kraftanstrengung'en des Körpers und Gesichts sich in einen 
Zustand hineinzuwinden, in dem er schliesslich ruhig" mit g^eschlossenen Aug"en 
ausgestreckt auf dem Lehnstuhl blieb und hin und wieder irgend welche 
körperliche oder mimische Beweg"ung machte. Als ich ihn untersuchte, fand 
ich starre Fixation der Augen, und was besonders charakteristisch war, Empfin- 
dungslosigkeit auf Nadelstiche, die auch bei tieferem Stechen nicht bluteten. 
Nach ca. fünf Minuten wand sich das Medium wieder unter verschiedenen 
Kraftanstrengungen aus seinem Zustand und wurde wach. Sofort fingen auch 
die Nadelstiche an zu bluten. Ich erklärte den beiden Herrn, dass das 
Medium sich in einem Zustande von Autohypnose befunden habe und zwar in 
einer tiefen somnambulen. Das Medium wurde auf die Gefahr solcher Ex- 
perimente aufmerksam gemacht und war hocherfreut, dass ich durch meine 
Aussage, es hätte nicht betrogen und sei in einem anderen Bewusstseins- 
zustand gewesen, seine Ehre gerettet hatte. Die beiden Herren schieden als 
Zweifler von mir. 

Es ist wohl so viel als sicher, dass bei allen diesen spiritistischen Ge- 
schichten der grösste Teil der sogenannten Medien sich auf irgend eine Art 
autohypnotisiert, wie man ja angenommen hat; es schien mir aber doch wichtig, 
diese Beobachtung mitzuteilen, da solche Beobachtungen seltene Fälle sind. 




248 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



REFERATE ÜBER BÜCHER UND AUFSÄTZE. 



Charles Ä. Ballance, M. S., F. R. C. S. and 
Purves Stewart, M. A., M. D., M. R. C. P. 
The healing of nerves. i6 Planches et 
I figure dans le texte. ii2pages. London, 
Macmillan and Co. 1901. 

Les auteurs sont des adhcrents de la 
theorie de la regcneration peripherique des 
nerfs pcripheriques. D'apres cux, dans le 
Segment distal d'un nerf sectionne les nou- 
vellcs fibres (cylindre-axe, gaine de myeline 
et ncvrilemme) sont formees par des cellules 
precxistantes dans le segment distal lui-meme. 
Ces nouvelles fibres du segment distal se 
soudent plus tard aux fibres du segment 
central, et ainsi la conductibilite est retablie 
dans le tronc nerveux. 

Partant de leurs nombreuses experiences 
sur des animaux et de quelques cas cliniques, 
les auteurs arrivent aux conclusions suivantes: 

Apr^s section d'un nerf, les c hange - 
ments cellulaires sont les premiers a 
apparaitre. Six heures apres l'extravasation 
sanguine initiale il y a diapedcse des leuco- 
cytes, diapedese qui atteint son maximum 
vers la iS^e heure. Cette diapedcse se 
produit dans tout le segment distal du nerf, 
tandis que dans le segment proximal, eile 
ne se produit qu'au voisinage de la blessure. 
Au bout de 3 jours, des cellules de tissu 
conjonctif commencent a prendre la place 
des leucocytes qui, k partir de ce moment 
deviennent de moins en moins nombreux. Au 
bout de 2 semaines ils ne sont plusen exces. 

Les cellules conjonctivcs commencent 
k prolifercr le 2™« jour apres le traumatisme. 
De meme que les leucocytes, elles envahissent 
le segment distal dans sa totalite et le seg- 
ment proximal seulement au voisinage de 
la blessure. Le 4^6 jour, elles commencent 
k absorber la substance graisseuse des gaines 
de myeline et ce processus continue jusqu'ä 
ce que toute la myeline, y compris les 
cylindres-axes dcgcncrcs ait etc completemcnt 
absorbce. La date oü Tabsorption est com- 
plete n'est pas fixe, ccpendant au bout de 
5 semaines eile est tres avancee. A mesure 
que les debris graisseux diminuent les cellules 
de tissu conjonctif deviennent moins nom- 
breuses et ce sont fmalemcnt les cellules de 
nevrilemme cjui sont en major itc. 



Les cellules de nevrilemme commencent 
k proliferer le 2»«« jour apres le traumatisme. 
Au debut, leur proliferation est plus intense 
que Celle des cellules de tissu conjonctif, et 
pendant cette periode elles ont une action 
absorptive sur la myeline degenerce. Mais 
bientot, les cellules de nevrilemme cessent 
d'attaquer la myeline, laissant cette fonction 
aux cellules conjonctivcs, et continuent a 
proliferer en formant des colonnes. Les 
jeunes cellules de nevrilemme gardent la 
direction longitudinale originale de leurs 
cellules meres et, de leurs deux poles opposes, 
elles envoient de fins prolongements proto- 
plasnnques qui graduellement augmentent 
de longueur. 

Aucun changement dans les cylindres- 
axes et les gaines de myeline n'est 
appreciable (chez le chat) jusqu'au 4'"« jour. 
A cette date la fragmentation des cylindres- 
axes et des gaines de myeline commence, 
probablement k la suite d'une alteration 
preliminaire chimique ou molcculaire. Les 
fibres fines possedent une plus grande 
resitance que les fibres epaisses, car leur 
fragmentation commence plus tard que celle 
des fibres epaisses. 

Les cylindres-axes fragmentes qu'on 
pouvait d'abord distinguer au dedans des 
fragments de myeline perdent bientot leur 
individualitc. Par suite d'un ,. processus 
katabolique"* ils disparaissent au sein des 
fragments de myeline et sont rcsorbcs 
avec eux. 

Ce Processus de degcneration est accom- 
pijgnc d^un processus de regcneration. 
Que le nerf ait ete suturc ou non le processus 
de regcneration est le meme, la seule 
diffcrence qui existe est une diffcrence de 
degre, car les fibres nerveuses nouvelles 
n'arrivent pas k maturite dans le segment 
distal si celui-ci n'est pas reuni au segment 
proximal. 

a. Regeneration dans le segment proxi- 
mal d'un nerf divise. Apr^s 24 heures on 
a ce que les auteurs appelent „le bourgeon 
terminal primitif**, du au recourbement des 
extremites libres des fibres sectionnees. De 
nouveaux cylindres-axes et de nouvelles 
gaines de myeline prennent place sur ce 



BD. I, HEFT 5 u. 6. 
1902 



REFERATE. 



249 



bourgeon terminal primitif qui forme le 
squelette sur lequel se depose le bourgeon 
terminal permanent. La regcneration se fait 
comme dans le segment distal par les cellules 
du nevrilemme qui secretent de courts 
Segments de cylindres-axes et de gaines de 
myeline: segments qui se souderont ensuite 
bout ä bout pour former des cylindres-axes 
et des gaines de myeline Continus. 

b. Regeneration dans le segment distal 
apr^ suture. Les auteurs ont ctudie cette 
regcneration sur des coupes colorees par les 
methodes de Golgi, Weigert, Stroebe, van 
Gieson. 

Les Premiers signes de regcneration 
apparaissent au bout de 3 semaines. A 
cette epoque, dans des preparations im- 
pregnees par la methode de Golgi, on voit 
de nombreuses cellules „araignees*^ disposccs 
en rangees longitudinales et envoyant de 
leurs deux polcs de jeunes cylindres-iL\es 
presentant des renflements comparables aux 
grains d'un chapelct. La premiere etape de 
la formation d'un nouvcau cylindre-axe (colo- 
ration de Stroebe) consistc dans le depot sur 
le cöte d'une cellule de nevrilemme fusi- 
forme d'un mince filament qui, croissant en 
longueur, depasse les limites de la cellule 
mere et s'etend vers son voisin le plus proche 
de la meme rangee longitudinale, auqucl 
finalement il s'accole. Ainsi, en dedans de 
chaque vieillc gaine de myeline sont deposes 
de nombreux courts segments de fibres 
nouvelles. Ces segments deviennent Continus 
et forment le nouvcau cylindrc-axe rcgenere, 
avec ses nombreux renflements. A mesure 
que les nouveaux cylindres-axes croissent en 
diamfetre, les renflements deviennent moins 
accentues et finissent par disparaitre. 

Les nouvelles gaines de myeline (colorees 
par la methode de Weigert) n'apparaissent 
pas avant la 4™«= semaine. Elles sont aussi 
deposees par un proccssus de s^cretion Ic 
long d'un cote d'une cellule fusiforme de 
nevrilemme, la gaine de myeline ctant pro- 
bablement enroulee autour d'un jeune cylindre- 
axe preforme. Comme pour le cylindrc- 
axe, chaque segment de myeline croit en 
longueur jusqu'a ce qu'il atteigne le segment 
voisin avec lequel il s'anastomose. On a 
enfin une gaine continue renflee en chapelet 
de la meme fac^on que le cylindre-itxe, et 
qui en s'epaississant, perd peu a peu ses 
renflements. 

Si le nerf n'a pas ete suture, la rcgene- 

Jouraal für Psychologie und Neurologie. Bd. I. 



ration dans le segment distal se fait selon 
le meme proccssus que si le nerf avait ete 
suture. Le proccssus est cependant un peu 
plus lent. Les nouveaux cylindres-axes et 
les nouvelles gaines de myeline ont apparu 
chez le chat d'une fac^on bien disscminee, 
au bout de 4 semaines. Ils sont un peu 
plus nombreux au bout de 5 semaines, date 
apr^s laquclle ils augmentent rapidement en 
nombre. Mais ils n'atteigucnt jamais leur 
pleine matürite; ils restent pcrpetuellement 
au Stade en chapelet si le segment distal 
n'est pas Joint au segment proximal. 

Au cas oü il y a transplantation d'un 
segment de nerf entre les deux bouts 
sectionncs, ce segment degcn^re, puis il se 
produit en lui un proccssus de regcneration. 
Mais cette regcneration n'est pas produite 
par Pactivite des cellules de la grefle clle- 
meme. Les jeunes vaisscaux sanguins venant 
ä la fois du segment proximal et du segment 
distal envahissent la grefle. Le long de ces 
vaisscaux se trouvent de nombreuses cellules 
de nevrilemme migratrices. Celles-ci pro- 
duisent de nouvelles gaines de myeline et 
de nouveaux cylindres-axes de la fsLc^on 
ordinaire. La partie de la grefle oü les 
nouvelles fibres apparaissent en dernier licu 
est le centre. La grefle n'cst donc qu'un 
squelette sur lequel les ncuroblastes migra- 
teurs forment les nouvelles fibres. 

Les auteurs finissent par quelques con- 
siderations sur la thcoric du neurone, et ils 
concluent de la facon suivante: 

La thcoric du neurone, du moins en 
ce qui regarde le Systeme nerveux pcriphe- 
rique, doit etre ecartee. Le Systeme nerveux 
pcripherique doit etre considerc comme un 
enscmble de chaines de cellules, placccs 
bout k bout et dont les prolongements axilcs 
se fusionnent pour former des voies continues: 
les cylindres-axes peripheriques. 

Cecile Vogt. 

Max Borchert. Experimentelle Unter- 
suchungen an den Hintersträngcn 
des Rückenmarks. (Inauguraldiss. 1902 
Leipzig, Veit; auch Archiv f. Anat. und 
Phys. 1902.) Autorreferat. 

Ein Überblick über die Geschichte der 
Physiologie der Hinterstränge leitet die Arbeit 
ein. Es herrscht in der Physiologie die An- 
sicht vor, diiss die langen Hinterstrangbahnen 
den Sinnesnerv für die Berührungsempfindung 
darstellen, sodciss nach ihrer Durchschnei- 

18 



2 so 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



dung die Berührungsempfindung und in 
gleicher Weise die Lageempfindung für 
immer erloschen ist. Diese Lehre ist von 
Schiff in den fünfziger Jahren begründet 
und bis in unsere Zeit durch zahlreich variierte 
Versuche verfochten worden. Verfasser hat 
nun dreizehn Hinterstrangdurchschneidungen 
teils am Halsmark teils am unteren Brust- 
mark von Hunden ausgeführt und ist zu dem 
übereinstimmenden, durch genaue mikrosko- 
pische Untersuchung gewährleisteten Ergeb- 
nis gelangt, dass in allen Fällen, in denen 
die Hinterstränge vollständig durchschnitten 
waren, die Berührungsempfindung, die grobe 
Lageempfindung und das grobe Lokalisations- 
vermögen entweder schon bei der ersten 
Untersuchung der aus der Narkose erwachten 
Tiere oder wenige Tage später nachge- 
wiesen werden konnten, und dass die Be- 
rührungs- und Lageempfindung nur in 
denjenigen Fällen verloren ging, in denen 
die Operation zu einer sehr erheblichen 
Verletzung des Seitenstrangs geführt hatte. 

Mit diesem Ergebnis ist dieLehreSchiffs 
widerlegt und der befremdliche, öfters 
beleuchtete Widerspruch zwischen der Phy- 
siologie des Menschen und Hundes gelöst. 
Für den Menschen haben nämlich anatomisch- 
klinische Beobachtungen längst erwiesen, dass 
auch bei nahezu vollständiger Entartung des 
Systems der langen Hinterstrangbahnen die 
Berührungsempfindung erhalten sein kann. 
Nur darüber sind die Ansichten geteilt, ob 
diese Empfindung im gesunden Zustande 
ausschliesslich an Erregungen der langen 
Hinterstrangbahnen gebunden ist, für welche 
erst nach Aussclialtung derselben die sen- 
siblen Bahnen zweiter und höherer Ordnung 
eintreten, oder ob schon im gesunden Zu- 
stande die sensiblen Bahnen zweiter und 
höherer Ordnung der Leitung der Berührungs- 
erregungen fähig sind. Hier zeigt nun das 
Experiment, dass die Berührungsempfindung 
der Tiere schon kurze Zeit nach Ausschaltung 
der sensiblen Leitung erster Ordnung, d. i. 
Durchschneidung der Hinterstränge, nach- 
weisbar ist. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass 
in dieser kurzen Zeit die Umschaltung der 
Leitung aus einem sensiblen System erster 
Ordnung in ein sensibles System zweiter Ord- 
nung stattgefunden haben sollte; vielmehr 
sprechen diese Versuche dafür, dass die 
sensiblen Bahnen zweiter und höherer Ord- 
nung schon im gesunden Zustand imstande 
sind, die Erregungen der Berührung zur 



Fühlsphäre zu leiten. — Was nun die eigent- 
liche Funktion der Hinterstränge anlangt, so 
wird Verf. durch Betrachtungen verschie- 
denster Art zu der Annahme geführt, dass 
ein wesentlicher Teil ihrer Funktion in der 
Leitung isolierter Gefühiserregungen zur Gross- 
hirnrinde besteht, d. i. in der Verfeinerung 
des Ortssinns. Dadurch findet auch das 
Fehlen jeder gröberen . Empfindungs- und 
Bewegungsstörung bei einem hinsichtlich 
seines Lokalisationsvermögens derart abge- 
stumpften Tiere wie dem Hunde seine Er- 
klärung. 

Paul Kronthal. Von der Nervenzelle und 
der Zelle im Allgemeinen. Mit 
6 chromolithographischen und 6 helio- 
graphischen Tafeln und 27 Figuren im 
Text. Jena, G. Fischer, 1902. 274 S. 

Verf. behandelt in einer Reihe von Ka- 
piteln die verschiedensten, zum Teil nur in 
recht losem inneren Zusammenhange stehen- 
den Gebiete der Biologie. Was er in be- 
sonderen Abschnitten über Urzeugung, Ver- 
erbung, Entstehung von Geschwülsten, über 
Form und Funktion der Zelle, über den Tod, 
über Freiheit des Denkens und Willens zu 
sagen weiss, reizt uns nicht zu einer kritischen 
Erörterung, obwohl er, wie in den näher zu 
besprechenden Fragen, auch hier sich allent- 
halben „aus den Vorstellungsarten seiner Zeit 
herauszuarbeiten" bestrebt ist. Form und 
Funktion der Zelle werden als ausschliesslich 
durch Kräfte bestimmt angesehen, welche am 
Orte ihres Lebens walten, und Erscheinungen, 
die wir an der Zelle wahrnehmen, sind nur 
Ausdruck von Kräften, die von aussen auf die 
Zelle wirken. Anpassung ist nichts anderes als 
eine Umformung der Organismen, durch die 
Kräfte des Milieus bedingt; unter den Ver- 
erbungsfaktoren spielen die am Orte der 
Geburt wirksamen äusseren Verhältnisse 
mindestens dieselbe Rolle wie elterliche Erb- 
masse ; auch der Tod tritt nur durch äussere 
Umstände ein, die Lebensdauer ist nicht, 
wie Weismann lehrt, im Organismus selbst 
begründet, sondern: „es giebt nur eine Todes- 
art für die Zelle, und das ist der Hunger- 
tod." 

Von grösserem Interesse für uns, als 
diese rein theoretischen Betrachtungen, sind 
die im ersten Abschnitte niedergelegten histo- 
logischen Untersuchungen des Verf. über die 
Nervenzellen und die daraus gezogenen 
Schlussfolgerungen. K. gerät hier so sehr in 



BD. I, ITEFT 5 u. 6. 
1909. 



REFERATE. 



251 



Widerspruch nicht nur mit den heutigen 
Auffassungen von der Entstehung und der 
physiologischen Bedeutung der Ganglien- 
zellen, sondern auch mit sonst unbestrittenen 
anatomischen Thatsachen, dass es, im Hin- 
blick auf seine dürftige Beweisführung, schwer 
hält, ihn ernst zu nehmen. Um die Resultate 
seiner Untersuchungen vorwegzunehmen, so 
behauptet K. zweierlei: i. Die Nervenzelle 
teilt sich niemals, weder im Embr>'o, noch 
im selbständigen Individuum, die Nerven- 
zellen gehen vielmehr dauernd unter und 
entstehen durch Verschmelzung von Lcuko- 
c>'ten dauernd neu. 2. Die Nervenzelle ist 
überhaupt kein Organismus, d. h. keine Zelle 
im biologischen Sinne, da sie weder wächst 
durch Assimilation von Nahrungsstoffen, mit 
anderen Worten sich nicht ernährt, und 
daher auch „keine ihr eigene Thätigkeit" 
haben kann, noch sich fortpflanzt. 

Den Beweis für seine (übrigens nicht 
neue) grundstürzende These, dass die Nerven- 
zellen alle aus Lymphkörpern abstammen, 
hat sich Verf. leicht gemacht. Er behauptet 
einfach „Niemand hat eine Nervenzelle im 
normalen Rückenmarke oder Gehirne sich 
teilen sehen". Diese Ansicht widerspricht 
allerdings meiner Erfahrung vom jugend- 
lichen Gehirn diametral. Dass Mitosen im 
Centralnervensystem vorkommen können, be- 
streitet auch K. nicht, aber sie sind selten, 
und er ist der Überzeugung, (I) „dass die 
in Teilung begriffenen Zellen entweder noch 
keine Nervenzellen waren oder durch die 
Teilung aufhörten, solche zu sein'*. Das 
„noch" und „aufhörten" sind glänzende 
Argumente! Hiergegen lässt sich mit Ver- 
nunftgründen nicht angehen. Da also die 
(janglienzelle sich nicht teilt, muss sie durch 
Verschmelzung von anderen Zellen sich ver- 
mehren und neu entstehen. Da andererseits 
alle nicht nervösen Zellen des Nervensystems, 
wie K, behauptet, Leukocytcn sind, so können 
nur diese das Bildungsmaterial der Nerven- 
zellen abgeben. K. lässt sie, ohne hierfür 
Beweise zu haben, aus der Cercbrospinal- 
flüssigkeit einwandern und mit Nervenzellen 
und -fasern unter Verlust ihres leukocytären 
Charakters in X'^erbindung treten. Er hat sie 
überall sehr zahlreich im Centralnervensystem 
gesehen und auch abgebildet, nur schade, 
dass das, was er abbildet, eben keine Leuko- 
cytcn sind, zum mindesten nicht als solche 
erwiesen sind, da sie ja ihren leukocytären 
Charakter verloren haben. Was er Leuko- 



cyten, lymphoide Zellen etc. nennt, wird 
von den Histologen und Pathologen als gliöse 
Elemente angesehen; die als besonders 
charakteristisch durch Form und Grösse vom 
\'erf. hervorgehobenen Zellarten sieht man 
zahllos in (Gliomen in Verbindung mit Glia- 
fasern und kein Mensch wird behaupten, dass 
diese Gliomzellen Leukocyten seien; und 
auch die reihenweise Anordnung dieser Zellen 
(der Leukocyten Kronthals) längs der von 
den umgebenden Häuten in die Ner\'enmasse 
eindringenden pialen Fortsätzen, worauf K. 
besonderen Wert legt, zeigt an guten Glia- 
präparaten (nach Weigert), dass man es 
hier mit Gliazellen zu thun hat; gerade hier 
sieht man häufig diese protoplasmaarmen 
Zellen (Gliakernc) mit Gliafasern in Beziehung 
treten unter Bildung der sog. Pseudoastro- 
cyten. Eine Verwechslung mit Leukocyten 
ist an solchen Präparaten garnicht möglich. 
— Kronthal wird daher wohl nach anderen 
Beweismitteln sich umsehen müssen, um 
seiner Lehre Geltung zu verschaffen. Was 
er hier bringt, spricht eher gegen als für ihn. 

K. Brodmann. 

W.V.Bechterew. Die Energie des leben- 
den Organismus und ihre psycho- 
biologische Bedeutung. Grenzfragen 
des Nerven- und Seelenlebens. XVL 
Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1902, 132. S. 

Es ist schwierig, den weit ausholenden 
Gedankengängen v. Bechterews in dieser 
Arbeit zu folgen, ganz unmöglich aber, den 
Inhalt derselben referierend wiederzugeben. 
B. geht den grösstcn Problemen, welche sich 
der Menschengeist jemals gestellt hat, mit 
spekulativem Geiste kühn zu Leibe. In erster 
Linie ist es das Verhältnis von Leib und 
Seele, dem er sich zuwendet. Dabei begnügt 
sich Verf. nicht, wie es im allgemeinen 
die naturwissenschaftlichen Richtungen der 
Psychologie zu thun pflegen, gewisse gesetz- 
mässige Beziehungen zwischen körperlichen 
und seelischen Vorgängen aufzusuchen und 
die (jcsetze des psychophysischen Geschehens 
in feste Formeln zu bringen, er will vielmehr 
das Wesen dieser Beziehungen selbst erklären, 
und geht schliesslich so weit, nach den 
letzten Ursachen des Seelischen und der 
Materie selbst zu fragen. 

Als gemeinsame Ursache beider Arten 
von Daseinserscheinungen, der psychischen 
wie der physischen, nimmt nun B. ein in 
der Natur des Universums verbreitetes, im 

18* 



252 



REFERATE. 



Journal f. Psj'chologie 
und Neurologie. 



Weltäther als Milieu wohnendes „aktives 
Prinzip" an, dessen Äusserungen Verf. „in 
den beständigen Stoffumsetzungen um uns 
herum" zu erkennen meint. Eine besondere 
Form dieses aktiven Prinzips, welche jedem 
lebenden organischen Milieu zukommt, sind 
die „latentenEnergieen", im eigentlichen Sinne 
immaterielle gemeinschaftliche Entstehungs- 
ursachen seelischkörperlicher Vorgänge. 

Hören wir den Verf. selbst: „der Weg 
der Beobachtung", führt zu dem Schlüsse, 
^materielle Veränderungen des Nerven- 
systems und subjektive Erscheinungen des 
Bewusstseins seien nicht bloss zwei einander 
parallele Reihen von Erscheinungen, die unter 
einander bestimmte Wechselbeziehungen auf- 
weisen, sondern seien bedingt durch ein be- 
sonderes aktives Prinzip, welches in Gestalt 
elektrochemischer Erscheinungen im Organis- 
mus und besonders im Centralnervensystem 
desselben sich äussert"; und weiter: „Neben 
Lebensprozessen begegnen wir dabei subjek- 
tiven Zuständen des Bewusstseins, die bis zu 
einem gewissen Grade als innere Zeugen 
äusserer Wechselbeziehungen zwischen Orga- 
nismus und umgebender Natur auftreten"; 
ferner: „Leben und Psyche entspringen jenem 
aktiven Prinzipe, welches als elektrochemi- 
sche Energie zum Ausdrucke kommt und 
welches eine der Erscheinungsformen der ein- 
heitlichen allgemeinen Weltenergic darstellt.** 
Wie man sieht, bewegt sich Verf. in 
diesen allgemeinen Ausführungen auf rein 
metaphysischem Boden; von naturwissen- 
schaftlichem Standpunkte aus sind dieselben 
einer Kritik unzugänglich. Man kann den 
Versuch einer einheitlichen theoretischen 
Erklärung psychophysischer Vorgänge mit 
Vergnügen oder Abneigung lesen, man kann 
den Begriff der ..latenten Energieen" an- 
nehmen oder verwerfen, ohne mit feststehen- 
den naturwissenschaftlichen Thatsachen in 
Konflikt zu geraten. Was aber Verfasser an 
solchen Thatsachen bringt, zeugt von einer 
gründlichen Behandlung und tiefen Durch- 
dringung dos Stoffes. Man wird selten Ge- 
legenheit haben, ein reichhaltigeres Material 
aus den sich berührenden Gebieten der 
Elektro-, speziell der Hirnphysiologie, der 
Hirnpathologie, der feineren Histologie der 
Hirnrinde u. s. w. in gedrängter Kürze be- 
handelt zu sehen. Wer sich hierüber unter- 
richten will, findet in der Abhandlung B.'s 
reiche Anret^im»; imd Belehrung. 

K. Brodmann. 



L. Löwenfeld. Der Hypnotismus. Hand- 
buch der Lehre von der Hypnose und 
der Suggestion. Mit besonderer Berück- 
sichtigung ihrer Bedeutung für Medizin 
und Rechtspflege. Wiesbaden, Bergmann 
1901. 522 S. 

Anlässlich der Besprechung von Löwen- 
felds „Lehrbuch der gesamten Psycho- 
therapie" (Ztschr. f. Hypnose, VI, H. i) hat 
Ref. sein Bedauern darüber geäussert, dass 
das Kapitel über Hypnose zu kurz geraten 
sei. Dieser damals empfundene Mangel ist 
durch das vorliegende Handbuch der Hypnose 
abgestellt. Theorie und Praxis des Hypno- 
tismus erfahren hier unter Berücksichtigung 
der Litteratur bis zur Gegenwart und in 
kritischer, teilweise scharf polemischer Durch- 
arbeitung des reichen Materials eine gleich 
erschöpfende und gründliche Behandlung. 
Abgesehen von den zunächst den Mediziner 
interessierenden Kapiteln über hypnotische 
Suggestivbehandlung, in denen Verf., wie 
bekannt, den Standpunkt der Nancyer Schule 
einnimmt, werden auch andere, mehr 
wissenschaftliches Interesse beanspruchende 
Fragen, wie Hypnose und verwände Zustände 
(Kap. XII), die Hypnose bei Tieren (Kap. XIII), 
Hypnotismus und Psychologie (Kap. XVII), 
die Suggestion in ihrer Bedeutung für das 
geistige Leben der Massen (Kap. XVIII) etc. 
eingehend besprochen. Zu den theoretischen 
Anschauungen des Verf. ist in unserer Zeit- 
schrift wiederholt Stellung genommen worden, 
und auch Meinungsverschiedenheiten hin- 
sichtlich mancher praktischen Fragen der 
Hypnotherapie wurden vom Ref. kurz nach 
Erscheinen des Handbuches (Ztschr. f. Hypnot. 
X, H. 6) bereits erörtert. Wir verweisen da- 
her nur auf die dortigen Ausführungen, um 
uns nicht zu wiederholen und wünschen im 
übrigen dem Buche einen gi'ossen Leserkreis. 

K. Brodmann. 

R. Eisler. W. Wundts Philosophie und 
Psychologie in ihren Grundlehren 
dargestellt. Leipzig, J. A. Barth, 1902. 
209 S. 
Eisler giebt ein abgerundetes Bild der 
philosophischen Weltanschauung und der 
psychologischen Grundlehren Wundts. Er 
gliedert den Stoff in die 3 Kapitel: Psycho- 
logie, Erkenntnistheorie und Metaphysik und 
bringt in einem vierten Abschnitte die in 
zahlreichen, teils sehr voluminösen Arbeite n 
zerstreuten wissenschaftlichen Anschauungen 



BD. I, HEFl' 5 u. 6. 
1908. 



REFERATE. 



253 



Wundts in einen übersichtlichen, klaren und 

auch dem Nichtfachmanne verständlichen 

Zusammenhang. Bei der Bedeutung, welche 

die Wundtschen Lehren für weitere Kreise 

heute erlangt haben, ist das Schriftchen 

sicherlich vielen ein willkommener Führer 

beim Studium der Originalwerke. Gebildeten 

Laien wird es unter Umständen ein Ersatz 

für letztere sein können. 

K. Brodmann. 

M. Fuhrmann. Das psychotische Moment. 
Studien eines Psychiaters über Theorie, 
System und Ziel der Psychiatrie. Leipzig, 
J. A. Barth, 1903. 
Fuhrmann unternimmt in seinen 
95 Seiten umfassenden „Studien" nichts ge- 
ringeres, als eine völlige Umwälzung der 
gesamten theoretischen und praktischen 
Psychiatrie. Er ist auf seine Kollegen nicht 
gut zu sprechen, einerseits wegen ihres 
Mangels an philosophischem Geiste, anderer- 
seits wegen des „lähmenden Stumpfsinns der 
Färbetopfherrschaft", dem heute die ganze 
Psychiatrie verfallen ist. Man hörel Die 
Psychiater sind „mit Geistesarmut geschlagene 
Handwerker . . die mit der Ausdauer eines 
Katatonikers fixieren, härten, färben, schnei- 
den"; statt sich auf den Höhen der Philo- 
sophie zu bewegen, sind sie ganz in dem 
Bannkreis materialistischer Anschauungsweise 
befangen. „Die moderne Psychiatrie ist 
ein wilder Orgiasmus in Färbekunststück- 
chen" etc. Aus diesen Aussprüchen lässt 
sich am besten der Massstab gewinnen, mit 
dem die weiteren Resultate dieser „Studien" 
zu messen sind. 

An Stelle der modernen psychiatrischen 
Bestrebungen, insbesondere der hirnanatomi- 
schen Forschung, hat nach dem Vorschlage 
des Verf. diejenige von den Wechselbeziehun- 
gen zwischen Psyche und Morphologie des 
Körpers zu treten; „es gilt hier die Bahnen 
Galls wieder aufzunehmen**. Das Studium 
der groben Morphologie (Schädel, äusserer 
Habitus, Proportionen der einzelnen Teile 
zu einander, Morphologie der inneren Organe, 
feinere Gestaltung der Hände und Füsse, Haar- 
studien I) muss die Hirnhistologic ablösen. 

Das „psychotische Moment", auf das 
Verf. seine Theorie und seine Zukunft der 
Psychiatrie aufbaut, ist eine Art Prädestination 
der ganzen Menschheit für geistige Erkran- 
kungen, auf jedes Glied der menschlichen 
Gesellschaft überkommen wie die Erbsünde. 
„Da das psychotische Moment so alt ist wie 



die Menschheit, und also überall im Keim- 
plasma potentiell gegenwärtig ist, so finden 
wir psychotische Motive bei allen Indivi- 
duen." Es giebt daher nur eine einzige 
Genese aller Geisteskrankheiten, die genea- 
logische Belastung! „Das alte, schauerliche 
Dogma von der Prädestination kommt hier 
zu seinem grausamen Rechte." Nach einer 
Ätiologie der Psychosen überhaupt zu fragen, 
ist unsinnig. Wer geisteskrank wird, war 
diizu prädestiniert. Punktum I 

Damit fallt natürlich auch jeder Unter- 
schied zwischen funktionellen und organischen 
Psychosen. Luespsychosen giebt es nicht, 
Alkoholismus, Morphinismus entspringen der- 
selben Wurzel, wie die periodisch-cirkulären 
Formen, wie Katatonie, Idiotie und Paranoia, 
der Endogenesis oder dem psychotischen 
Moment und zwar diesem einzig und allein. 
Trauma, Erschöpfung, Affekte und wohl 
auch Intoxikation und Infektion, welche 
unter den Ursachen geistiger Erkrankungen 
in den Lehrbüchern der Psychiatrie noch so 
zahlreich „paradieren"', sind ohne ursäch- 
liche Bedeutung für die Psychosen ; sie dafür 
verantwortlich zu machen, ist , unstatthaft". 
Also (trotJ: der Verwahrung des Verf.) 
das ..alte schaurige Dogma** von der Ein- 
heitspsychose, bereits mehrere Dezennien von 
der Wissenschaft überwunden, das hier zu 
seinem grausamen Rechte kommt! Dieser 
historisch ebenso rückständige wie sachlich 
unkritische Standpunkt muss notwendiger- 
weise zum ödesten praktischen Pessimismus 
führen. F. zieht nur die logische Konsequenz 
seiner fatalistischen Ideen, wenn er den 
nackten therapeutischen Nihilismus predigt. 
Er spottet ebenso über die Bäderbehand- 
lung in den Irrenanstalten wie über die 
anderen modernen Heilbestrebungen oder 
über die X^ersuche, erregte Kranke zu be- 
ruhigen. Der Kampf gegen den Morphinis- 
mus ist ein Unding und ebenso aussichtslos 
wie derjenige gegen den Alkohol. Der Al- 
koholist muss trinken. Die Anhänger der 
Abstinenzbewegung sind moderne Don 
Quichottes. Überhaupt hat in der Zukunfts- 
psychiatrie, wie sie sich der Verf. träumt, 
der national-ökonomische Gesichtspunkt in 
der Irrenfürsorge gegenüber dem ärztlichen 
mehr in den X'ordergrund zu treten. An 
Stelle der Irrenanstalten, dieser „herrlich 
eingerichteten Grabdenkmäler des Blödsinns 
und des Wahns" hat die koloniale und die 
I familiäre Irrenpflege zu treten. Dann wird es 



254 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



mit einem Schlage nur noch „fröhliche, mit 
ihrem Schicksal ausgesöhnte Kranke" geben, 
welche ihren Anteil an den Pflichten gegen 
die Gesellschaft erfüllen. Daneben wird — 
bei verbrecherischen Kranken — die Todes- 
strafe am besten im weitesten Umfange auf- 
recht erhalten, schon um gewisse psycho- 
pathologische degenerierte Individuen „aus- 
zumerzen." — Sapienti satl 

Man muss sich, angesichts dieses un- 
geheuerlichen Standpunktes, billig fragen, 
warum denn nicht gleich jeder, der einer 
psychopathischen Beschaffenheit hinreichend 
verdächtig (oder besser noch schuldig) be- 
funden wird, „ausgemerzt" werden soll. Das 
wäre einfachei" und jedenfalls auch konsequen- 
ter. Was dem einen recht ist, ist dem anderen 
billig, und die C^emeingefährlichkeit beginnt 
nicht immer erst beim Verbrechen. Manche 
durch „Urtcilsschwäche mit gehobenem 
Selbstgefühl" ausgezeichnete „Grenzfalle" 
sind als soziale Schädlinge nicht minder 
streng zu bewerten, wie der „Verbrecher". 
Eine Ausmerzung im Sinne des Verf. wäre 
hier ebenso am Platze wie dort. 

K. Brodmann. 

Otto Gross Die cerebrale Sekundär- 
funktion. Leipzig, Vogel, 1902, 69 S. 

Unter cerebraler Sekundärfunktion oder 
„Nachfunktion" versteht G. im Gegensatz zur 
..Primärfunktion'*, jener Thätigkeit eines ner- 
vösen Elementes resp. Rindenfeldes, „welche 
das Auftreten einer Vorstellung im Bewusst- 
sein bedeutet", den nach Ablauf jener Be- 
wusstseinserscheinung im nervösen Element 
beharrenden Erregungszustand, welcher an 
sich kein direktes Korrelat mehr im Be- 
wusstsein hat, aber für die weitere Richtung- 
nahme der Associationsthätigkeit massgebend 
sein soll. Wie man ohne weiteres sieht, ist 
die cerebrale „Sekundärfunktion" des Verf. 
nur ein anderes Wort für die latenten mate- 
riellen Dispositionen, welche als Grundlage 
jeder Associationsthätigkeit, insbesondere der 
Gedächtnisfunktionen, von der physiologi- 
schen Psychologie von jeher angenommen 
werden. In diesem hypothetischen Begriffe 
glaubt nun Verf. den Schlüssel zum Ver- 
ständnis der grossartigon Mannigfaltigkeit 
des Seelenlebens, sowohl in seinen normalen | 
wie in seinen krankhaften Aussenmgen, ge- ' 
funden zu haben. Die excessiven Anoma- 
üeen der Sekundärfunktion bilden die Grund- 
lage der Degeneration, ihre physiologischen 



Verschiedenheiten die Grundlage der Ver- 
schiedenheiten der Charaktere. Die Ord- 
nung des eigentlichen Denkens, i. e. des Zu- 
standekommens noch nicht vorgebildeter 
Vorstellungsverbindungen beruht, wie G. aus- 
führt, gleichfalls auf ihr. 

Wie Gross diesen Gedanken im Ein- 
zelnen für die Erklärung psychopathologi- 
scher Erscheinungen und für die Individual- 
psychologie, speziell die Charakterologie 
durchzuführen sucht, ist im Originale nach- 
zulesen. Das Wesen der degenerativen 
Konstitution (IL Kap.) sieht Verf. in einer 
habituellen diffusen V^eränderung der Sekun- 
därfuntion und unterscheidet demnach zwei 
Typen von psychopatisch Minderwertigen, je 
nach der Dauer und Intensität der Sekundär- 
funktion. Entweder besteht nämlich eine Ver- 
minderung der letzteren, dann spricht er von 
psychopathischer Minderwertigkeit mit ver- 
flacht-verbreitertem Bewusstsein oder umge- 
kehrt eine Zunahme der Sekundärfunktion, 
das sind Minderwertige mit verengt-vertief- 
tem Bewusstsein. Den akuten Psychosen 
(III. Kapitel) entsprechen erworbene dif- 
fuse Veränderungen der Sekundärfunktion 
bei gleichzeitiger Alteration der Primär- 
funktion, während die paranoiden Zu- 
stände (IV. Kap.) auf circumskripte 
Anomalieen der Sekundärfunktion zurück- 
geführt werden. Die physiologischen In- 
dividualitäts-Verschiedenheiten bewegen sich 
zwischen den beiden Extremen des verflacht- 
verbreiterten und des verengt-vertieften Be- 
wusstseins der Degenerierten und deren gra- 
duellen Abstufungen der Sekundärfunktion. 
Eine Kritik dieser Anschauungen hätte 
am Fundamente der ganzen Theorie an- 
zusetzen. Man könnte die Frage aufwerfen, 
ob es überhaupt einen Zweck hat, ob mit 
anderen Worten unsere psychiatrische Er- 
kenntnis auch nur im mindesten dadurch ge- 
fördert wird, auf einen rein aus der Phantasie 
geschöpften Begriff, wie es die „cerebrale 
Sekundärfunktion" ist, ein bis in alle Einzel- 
heiten der Symptomatologie durchgeführtes 
psychiatrisches System, mag dasselbe auch 
noch so geistreich sein, aufzubauen. Diese 
Frage könnte unter Umständen verneint 
werden müssen. K. Brodmann. 

M. Benedikt. Das biomechanische (neovitalis- 
tische) Denken in der Medizin und in der 
Biologie. Jena. G. Fischer. 1903. 
Verf. hält die mechanischen, chemischen 

und physikalischen Gesetze in der Welt des 



BD. I, HEFT 5 u. 6. 
1902. 



REFERATE. 



255 



Lebens zwar für gültig, aber für nicht aus- 
reichend zur Erklärung, nimmt vielmehr noch 
höhere Kräfte an. Von diesem Standpunkt 
aus, den er den „biomechanischen" nennt, ver- 
breitet er sich über eine Reihe vonThematen, 
über das Zellenleben, die Fern Wirkungen, 
insbesondere des Nervensystems, das Wachs- 
tum, den Blutstrom, die Fortpflanzung. Es 
ist dem Ref. nicht möglich, den Gedanken- 
gängen des Verf. zu folgen, und es muss 
dem einzelnen Leser das Urteil überlassen 
bleiben, ob der Verf. berufen ist, die Denk- 
methotik^ in der Medizin auf eine neue (nach 
ihm früher nur von J. Skoda erreichte) Höhe 
zu bringen, und der durch ^methodische 
Denkfehler bedingten Dcnkschlamperei** ein 
Ende zu machen. In einem merkwürdigen 
Gegensatz zu dem Urteil über den Wert der 
physikalischen-chemischen Gesetze steht die 
Sucht des Verf nach mathematischer Aus- 
drucksweise. Der Mathematik was der Mathe- 
matik ist: die biomechanische Lebensformel 
des Verf., die jedem Mediziner so geläufig 
sein soll, wie eine Glaubensbekenntnisformel, 
dürfte denn doch kaum mehr als eine un- 
berechtigte Spielerei sein. 

Auch in den Abschnitten, deren Themata 
speziell den Neurologen interessieren, schiebt 
der Verf. seine Denkmethotik doch zu weit 
in den Vordergrund vor die Tatsachen. Es 
wird wohl wenige Fachleute geben, die sich 
noch darüber in eine Diskussion einlassen, 
dass ,.in den hinteren Wurzeln eine centri- 
fugale Leitung stattfinde, deren Ausfall die 
tabetische Ataxie bedingt**. Wenn \'erf. es 
auch anderweitig und zwar auf Grund der 
Wechselseitigkeit von Associationen für 
„sichergestellt** hält, dass es doppelseitig 
leitende Fasern, nämlich die Associations- 
fasem gäbe, so kann der Ref. auf Grund 
seiner Denkmethodik erstens den ver- 
schlungenen Pfaden, auf welche dieser Ge- 
danke den Verf. führt — unter anderem 
zu dem Ausspruch, dass der Kalkhunger der 
Chlorotischen „gewiss"* durch die Endothel- 
nerven vermittelt wird — nicht folgen, und 
muss zweitens diesen Satz selbst für absolut 
unbewiesen halten. Es Hessen sich noch 
unendlich viele Stellen anführen, aus denen 
hervorgehen würde, dass die Denkmethodik 
des Verf. jedenfalls nicht die gewöhnliche 
und dass beim Lesen dieser Schrift eine un- 
gewöhnliche Dosis von Skepsis dringend 
geboten ist. 

M. Lewandowsky (Berlin). 



Hellpach. Die Grenzwissenschaften der 
Psychologie. Leipzig. Dürr 1902. 

Verfasser teilt seinen Stoff in: Anatomie 
des Nervensystems, animale Physiologie 
(worunter merkwürdigcnveise auch die Zeit- 
vorstellung behandelt wird), Neuropathologie, 
Psychopathologie und Entwicklungspsycho- 
logie. Das Buch ist seinem ganzen Tenor, 
der Auswahl und Verwertung des Stoffes 
nach weniger für den Fachmann, als für den 
Laien bestimmt. Eis erübrigt daher, in eine 
sachliche Kritik einzutreten. Für den Laien 
wäre allerding's wohl auch eine eingehendere 
Darstellung der Psychologie selbst als Mittel- 
punkt des Ganzen wünschenswert gewesen. 
M. Lewandowsky (Berlin). 

W. Seiffer. Atlas und Grundriss der all- 
gemeinen Diagnostik undTherapie 
der Nervenkrankheiten. Lehmanns 
Medizinische Handatlanten. Band XXIX. 

Der Verfasser, welchen das reichhaltige 
Material der ihm unterstellten Nervenabteilung 
und Xervenpoliklinik der psychiatrischen und 
Nervenklinik der Charite zur Bearbeitung des 
vorliegenden Werkes angeregt hat, hat in der 
Reihe der Lehmannschen Atlanten eine Lücke 
in glücklicherweise ausgefüllt. Die allgemeine 
Diagnostik, der erste Teil seines Kompendiums, 
vereinigt, nach Vorbesprechung derAnamnese, 
in den Kapiteln Motilität, Sensibilität und 
sensorische Störungen, Reflexerregbarkeit und 
Muskeltonus, vasomotorische, trophische, 
sekretorische und viscerale Störungen, und 
Degenerationszeichen alle für die Unter- 
suchung des Nervensystems in Betracht 
kommenden Ergebnisse klinischer, anato- 
mischer und physiologischer Forschung. 
V^on praktischen Gesichtspunkten aus auf 
Grund reicher Erfahrung hat der Verfasser 
in klarer, knapper, präziser und anschau- 
licher Darstellung, unterstützt durch zahl- 
reiche wohlgelungene und instruktive Ab- 
bildungen das gesamte Material verarbeitet. 
Dem therapeutischen Teile kommen dieselben 
Vorzüge in Bezug auf Inhalt und Form zu. 
Er bringt den Stoff in gedrängter Fassung 
und doch gründlicher Behandlung, bei der 
die neuesten therapeutischen Methoden ge- 
bührend berücksichtigt sind. Der Wert der 
den Bedürfnissen des Praktikers entgegen- 
kommenden Ausführungen erhöht sich durch 
die Illustrationen, welche den therapeutischen 
Apparat in seiner Anwendung am Kranken 
zeigen. 



2;6 



REFERATE. 



Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 



Das Buch verdient als wertvolles Hülfs- 
mittel dem Studierenden, dem angehenden 
Spezialisten und dem praktischen Arzte für' 
die Ausbildung in der Untersuchung und 
Behandlung Nervenkranker empfohlen zu 
werden. Krause. 

H. V. Beyer. Das Sauerstoffbedürfnis 
des Nerven. Ztschr. f. allg. Physiol. 
II. S. 169. 

Derselbe. Zur Kenntnis des S t o f f - 
wechseis in den nervösen Centren. 
ebend. II. S. 265. 
Verf. findet, dass der Nerv durch Liegen 
in indifferenten (jasen (Stickstoff^) unerregbar 
wird, und bezieht das auf eine Erstickung 
der Nerven, welche er durch Sauerstoffzufuhr 
wieder aufheben kann. In der Wärme geht 
der Prozess schneller vor sich als bei ge- 
wöhnlicher Temperatur. 

An künstlich mit Salzlösungen durch- 
spülten Fröschen stellt der \'erf. durch Be- 
obachtung der Strychninreflexe fest, dass in 
der (ianglienzelle die organischen Verbin- 
dungen in solcher Menge im Vorrat sich 
befinden müssen, dass die Zellen auch ohne 
organische Nahrung noch viele Stunden trotz 
angestrenj^ter Arbeit allein durch Sauerstoff 
in ern^gbarem Zustand erhalten werden 
können. Bei niederer Temperatur muss die 
erschöpfte (ianglienzelle mehr Sauerstoff 
speichern, ehe sie wieder erregbar wird, als 
bei höherer. Die Impulse beim Strychnin- 
tetanus haben, wit; der Verf. durch Versuche 
am Capillarelektnmieter feststellt, in der 
Kälte geringere Frecpienz als in der Wärme. 
M. Lewandowsky < Berlin). 

H. Oppenheim. Zur Prognose und Thera- 
pie der schweren Neurosen. Samm- 
lung zwangloser Abhandlungen aus dem 
fWbiete der Nerven- und ( leisteskrank- 
heiten. Bd. III, H. 8. Halle. Marhold 
1902. 37 Seiten. 1,50 Mk. 
\'erf. hat sich die dankenswerte Aufgabe 
gestellt, durch casuistische Belege zu be- 
weisen, dass auch jene Formen schwerer, 
vielfach als unheilbar j^eltcnder Neurosen, 
wflclu' unter dem Bilde der Akinesia algera, 



der Phobieen, Zwangsvorstellungen und 
Psychulgien verlaufen, bei einer systematisch 
geleiteten und konsequent durchgeführten 
Behandlung in Heilung übergehen können, 
selbst wenn sie schon Jahre oder Jahrzehnte 
lang bestanden haben. Er teilt eine Reihe 
von derartigen Krankheitsfallen mit, ent- 
wickelt die Grundlinien der hier einzu- 
schlagenden Psychotherapie, bespricht im 
einzelnen die verschiedenen Mittel und Wege 
der Behandlung und kann schliesslich, trotz 
aller Wechselfalle der Behandlung und trotz 
der Hartnäckigkeit des Leidens, in den mit- 
geteilten Fällen den Ausgang in dauernde 
Genesung konstatieren. K. ßrodmann. 

Otto Wille. Nervenleiden und Frauen- 
leiden. Stuttgart, Enke, 1902, 48 S. 
Die Grenzgebiete des Nerven- und Frauen- 
arztes bilden den (legenstand vorliegender 
Abhandlung. \'erf. geht, obwohl selbst 
Frauenarzt, den Irrtümern und V^orurteilen 
vieler Gynäkologen hinsichtlich nervöser 
Störungen bei Frauen mit kritischer Schärfe 
zu Leibe. Er erklärt die gynäkologische 
Symptomlehre selbst in den wichtigsten 
Punkten für viel zu unsicher und wider- 
spruchsvoll, als dass man daraus Schlüsse 
auf ihre Bedeutung für das allgemeine Be- 
finden einer Patientin ableiten könnte. „Die 
Erkrankungen der weiblichen Geschlechts- 
organe sind \on auffallend geringer All- 
gemeinwirkung — Ausnahmen abgerechnet 
— '*, von geringerer als die physiologischen 
Geschlechtsfunktionen (Gravidität und Men- 
struation;. Ein grosser Teil der die g)'näko- 
logische Behandlung suchenden Frauen ist 
nicht genitalkrank, sondern neurotisch oder 
anämisch. Die Kastration bei Nervösen ist 
zu verwerfen. 

Die Kenntnis dieser den Nervenärzten 
längst bekannten Thatsachen ist bei den prak- 
tischen Ärzten und leider auch bei den Gynä- 
kologen noch viel zu wenig verbreitet. Die 
kleine Streitschrift kann in dieser Richtung 
auiklärend wirken. Sie ist dem praktischen 
Arzte ebenso wie dem Spezialisten warm zu 
emi)fehlen. K. Brodmann. 




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Journal f. Psychol. u. Neurol. Bd. I. 

(Stransky, Zerfallsprozesse.) 




Tafel 11. 





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Stanford, California 



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please retum it as soon as possiblc^ b 
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